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Fritz Riemann, 1979 im Alter von 77 Jahren verstorben, war nach einem Studium der Psychologie und der Ausbildung zum Psychoanalytiker in Leipzig und Berlin Mitbegründer des Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie in München. Dort wirkte er als Dozent und Lehranalytiker und führte eine eigene psychotherapeutische Praxis. Seine Verdienste um die Psychoanalyse brachten ihm die Ehrenmitgliedschaft der »American Academy of Psychoanalysis« in New York. In diesem Buch entwirft der Autor, ausgehend von den Grundängsten der menschlichen Existenz, eine Charakterkunde, die den fachgebundenen Rahmen sprengt und Lesern aller Schichten Einsicht in die psychoanatytische Praxis gewährt. Seine »Grundformen« — schizoide, depressive, zwanghafte und hysterische Persönlichkeiten — sind fester Bestandteil der Psychologie geworden.
Fritz Riemann
Grundformen der Angst Eine tiefenpsychologische Studie
Ernst Reinhardt Verlag München Basel
Die Deutsche Bibliothek - CiP-Einheilsaufnahme Riemann, Fritz: Grundformen der Angst: eine tiefenpsychologische Studie / Fritz Riemann. - 600. Tsd. - München ; Basel: E. Reinhardt, 1997 ISBN 3-497-00749-8
© 1961,1997 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co, Verlag, München Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany
Inhaltsverzeichnis
Einleitung Vom Wesen der Angst und von den Antinomien des Lebens
7 7
Die schizoiden Persönlichkeiten Der schizoide Mensch und die Liebe Der schizoide Mensch und die Aggression Der lebensgeschichtliche Hintergrund Beispiele für schizoide Erlebnisweisen Ergänzende Betrachtungen
20 24 30 34 41 47
Die depressiven Persönlichkeiten Der depressive Mensch und die Liebe Der depressive Mensch und die Aggression Der lebensgeschichtliche Hintergrund Beispiele für depressive Erlebnisweisen Ergänzende Betrachtungen
59 66 70 74 85 96
Die zwanghaften Persönlichkeiten Der zwanghafte Mensch und die Liebe Der zwanghafte Mensch und die Aggression Der lebensgeschichtliche Hintergrund Beispiele für zwanghafte Erlebnisweisen Ergänzende Betrachtungen
105 117 123 129 137 146
Die hysterischen Persönlichkeiten Der hysterische Mensch und die Liebe Der hysterische Mensch und die Aggression Der lebensgeschichtliche Hintergrund Beispiele für hysterische Erlebnisweisen Ergänzende Betrachtungen
156 163 170 173 184 193
Schlußbetrachtung
199
Meiner Frau
Einleitung
Vom Wesen der Angst und von den Antinomien des Lebens Angst gehört unvermeidlich zu unserem Leben. In immer neuen Abwandlungen begleitet sie uns von der Geburt bis zum Tode. Die Geschichte der Menschheit läßt immer neue Versuche erkennen, Angst zu bewältigen, zu vermindern, zu überwinden oder zu binden. Magie, Religion und Wissenschaft haben sich darum bemüht. Geborgenheit in Gott, hingebende Liebe, Erforschung der Naturgesetze oder weltentsagende Askese und philosophische Erkenntnisse heben zwar die Angst nicht auf, können aber helfen, sie zu ertragen und sie vielleicht für unsere Entwicklung fruchtbar zu machen. Es bleibt wohl eine unserer Illusionen, zu glauben, ein Leben ohne Angst leben zu können; sie gehört zu unserer Existenz und ist eine Spiegelung unserer Abhängigkeiten und des Wissens um unsere Sterblichkeit. Wir können nur versuchen, Gegenkräfte gegen sie zu entwickeln: Mut, Vertrauen, Erkenntnis, Macht, Hoffnung, Demut, Glaube und Liebe. Diese können uns helfen, Angst anzunehmen, uns mit ihr auseinanderzusetzen, sie immer wieder neu zu besiegen. Methoden, welcher Art auch immer, die uns Angstfreiheit versprechen, sollten wir mit Skepsis betrachten; sie werden der Wirklichkeit menschlichen Seins nicht gerecht und erwecken illusorische Erwartungen. Wenn nun auch Angst unausweichlich zu unserem Leben gehört, will das nicht heißen, daß wir uns dauernd ihrer bewußt wären. Doch ist sie gleichsam immer gegenwärtig und kann jeden Augenblick ins Bewußtsein treten, wenn sie innen oder außen durch ein Erlebnis konstelliert wird. Wir haben dann meist die Neigung, ihr auszuweichen, sie zu vermeiden, und wir haben mancherlei Techniken und Methoden entwickelt, sie zu verdrängen, sie zu betäuben oder zu überspielen und zu leugnen. Aber wie der Tod nicht aufhört zu existieren, wenn wir nicht an ihn denken, so auch nicht die Angst. Angst gibt es auch unabhängig von der Kultur und der Entwicklungshöhe eines Volkes oder eines Einzelnen - was sich ändert, sind lediglich die Angstobjekte, das, was jeweils die Angst auslöst, und andererseits die Mittel und Maßnahmen, die wir anwenden, um Angst zu bekämpfen. So haben wir heute im allgemeinen keine Angst mehr vor Donner und Blitz; Sonnen- und Mondfinsternisse sind für uns ein interessantes Naturschauspiel geworden, aber
nicht mehr ein Angsterleben, denn wir wissen, daß sie kein endgültiges Verschwinden dieser Gestirne oder gar einen möglichen Wettuntergang bedeuten. Dafür kennen wir heute Ängste, die frühere Kulturen nicht kannten - wir haben etwa Angst vor Bakterien, vor neuen Krankheitsbedrohungen, vor Verkehrsunfällen, vor Alter und Einsamkeit. Die Methoden der Angstbekämpfung haben sich dagegen gar nicht so sehr gewandelt. Nur sind an die Stelle von Opfern und magischem Gegenzauber heute moderne, die Angst zudeckende pharmazeutische Mittel getreten - die Angst ist uns geblieben. Die wohl wichtigste neue Möglichkeit der Angstverarbeitung ist heute die Psychotherapie in ihren verschiedenen Gestalten geworden: sie deckt erstmalig die Geschichte der Angstentwicklung im Individuum auf, erforscht ihre Zusammenhänge mit individuell-familiären und soziokulturellen Bedingungen und ermöglicht die Konfrontation mit der Angst, mit dem Ziel fruchtbarer Angstverarbeitung durch Nachreifen. Offenbar besteht hier eine der Ausgewogenheiten des Lebens: Gelingt es uns, durch Wissenschaft und Technik Fortschritte in der Welteroberung zu machen und dadurch bestimmte Ängste auszuschalten, zu beseitigen, tauschen wir dafür andere Ängste ein. An der Tatsache, daß Angst unvermeidlich zum Leben gehört, ändert sich dadurch nichts. Nur eine neue Angst scheint zu unserem heutigen Leben zu gehören: Wir kennen zunehmend Ängste, die durch unser eigenes Tun und Handeln gesetzt werden, das sich gegen uns wendet. Wir kennen die Angst vor den zerstörerischen Kräften in uns selbst - denken wir nur an die Gefahren, die der Mißbrauch der atomaren Kräfte mit sich bringen kann, oder an die Machtmöglichkeiten, die durch Eingriffe in natürliche Lebensabläufe gegeben sind. Unsere Hybris scheint sich wie ein Bumerang gegen uns selbst zu richten; der Wille zur Macht, dem es an Liebe und Demut fehlt, der Wille zur Macht über die Natur und das Leben, läßt in uns die Angst entstehen, zu manipulierten, sinnentleerten Wesen gemacht zu werden. Hatte der Mensch früherer Zeiten Angst vor den Naturgewalten, denen er hilflos ausgeliefert war, vor bedrohenden Dämonen und rächenden Göttern, müssen wir heute Angst vor uns selbst haben. So ist es wieder eine Illusion, zu meinen, daß der »Fortschritt« der immer zugleich auch ein Rückschritt ist - uns unsere Ängste nehmen werde; manche gewiß, aber er wird neue Ängste zur Folge haben. Das Erlebnis Angst gehört also zu unserem Dasein. So allgemeingültig das ist, erlebt doch jeder Mensch seine persönlichen
Abwandlungen der Angst, »der« Angst, die es so wenig gibt, wie »den« Tod oder »die« Liebe und andere Abstraktionen. Jeder Mensch hat seine persönliche, individuelle Form der Angst, die zu ihm und seinem Wesen gehört, wie er seine Form der Liebe hat und seinen eigenen Tod sterben muß. Es gibt also Angst nur erlebt und gespiegelt von einem bestimmten Menschen und sie hat darum immer eine persönliche Prägung, bei aller Gemeinsamkeit des Erlebnisses Angst an sich. Diese unsere persönliche Angst hängt mit unseren individuellen Lebensbedingungen, mit unseren Anlagen und unserer Umwelt zusammen; sie hat eine Entwicklungsgeschichte, die praktisch mit unserer Geburt beginnt. Wenn wir Angst einmal »ohne Angst« betrachten, bekommen wir den Eindruck, daß sie einen Doppelaspekt hat: einerseits kann sie uns aktiv machen, andererseits kann sie uns lähmen. Angst ist immer ein Signal und eine Warnung bei Gefahren, und sie enthält gleichzeitig einen Aufforderungscharakter, nämlich den Impuls, sie zu überwinden. Das Annehmen und das Meistern der Angst bedeutet einen Entwicklungsschritt, läßt uns ein Stück reifen. Das Ausweichen vor ihr und vor der Auseinandersetzung mit ihr, läßt uns dagegen stagnieren; es hemmt unsere Weiterentwicklung und läßt uns dort kindlich bleiben, wo wir die Angstschranke nicht überwinden. Angst tritt immer dort auf, wo wir uns in einer Situation befinden, der wir nicht oder noch nicht gewachsen sind. Jede Entwicklung, jeder Reifungsschritt ist mit Angst verbunden, denn er führt uns in etwas Neues, bisher nicht Gekanntes und Gekonntes, in innere oder äußere Situationen, die wir noch nicht und in denen wir uns noch nicht erlebt haben. Alles Neue, Unbekannte, Erstmals-zu-Tuende oder Zu-Erlebende enthält, neben dem Reiz des Neuen, der Lust am Abenteuer und der Freude am Risiko, auch Angst. Da unser Leben immer wieder in Neues, Unvertrautes und noch nicht Erfahrenes führt, begleitet uns Angst immerwährend. Sie kommt am ehesten ins Bewußtsein an besonders wichtigen Stellen unserer Entwicklung, da, wo alte, vertraute Bahnen verlassen werden müssen, wo neue Aufgaben zu bewältigen oder Wandlungen fällig sind. Entwicklung, Erwachsen-Werden und Reifen haben also offenbar viel zu tun mit Angstüberwindung, und jedes Alter hat seine ihm entsprechenden Reifungsschritte mit den dazugehörenden Ängsten, die gemeistert werden müssen, wenn der Schritt gelingen soll. Es gibt demnach völlig normale, alters- und entwicklungsgemäße Ängste, die der gesunde Mensch durchsteht und überwächst, deren Bewältigung für seine Fortentwicklung wichtig ist. Denken
wir etwa an die ersten selbständigen Laufschritte des Kindes, bei denen es erstmals die haltende Hand der Mutter loslassen und die Angst vor dem Alleingehen, vor dem Alleingelassen werden im freien Raum überwinden muß. Oder denken wir an die großen Zäsuren in unserem Leben. Nehmen wir den Schulanfang, wo das Kind aus dem Schoß der Familie in eine neue und zunächst fremde Gemeinschaft hineinwachsen und sich in ihr behaupten soll. Nehmen wir die Pubertät und die ersten Begegnungen mit dem anderen Geschlecht unter dem Drang erotischer Sehnsucht und sexuellen Begehrens; oder denken wir an den Berufsbeginn, an die Gründung einer eigenen Familie, an die Mutterschaft und schließlich an das Altern und die Begegnung mit dem Tod - immer ist an einen Anfang oder vor ein erstmals zu Erfahrendes auch eine Angst gesetzt. Alle diese Ängste gehören gleichsam organisch zu unserem Leben, weil sie mit körperlichen, seelischen oder sozialen Entwicklungsschritten zusammenhängen, mit der Übernahme neuer Funktionen in der Gemeinschaft oder der Gesellschaft auftreten. Immer bedeutet ein solcher Schritt eine Grenzüberschreitung und fordert von uns, von etwas Gewohntem, Vertrautem uns zu lösen und uns in Neues, Unvertrautes zu wagen. Neben diesen Ängsten gibt es eine Fülle individueller Ängste, die nicht im obigen Sinne typisch für bestimmte Grenzsituationen sind, die wir deshalb bei anderen oft nicht verstehen können, weil wir sie bei uns selbst nicht kennen. So kann bei dem einen Einsamkeit schwere Angst auslösen, bei einem anderen Menschenansammlungen; ein dritter bekommt Angstanfälle, wenn er über eine Brücke oder über einen freien Platz gehen will; ein vierter kann sich nicht in geschlossenen Räumen aufhalten; wieder ein anderer hat Angst vor harmlosen Tieren, vor Käfern, Spinnen oder Mäusen usf. So vielfältig demnach das Phänomen Angst bei verschiedenen Menschen ist - es gibt praktisch nichts, wovor wir nicht Angst entwickeln können - geht es bei genauerem Hinsehen doch immer wieder um Varianten ganz bestimmter Ängste, die ich deshalb als »Grundformen der Angst« bezeichnen und beschreiben möchte. Alle überhaupt möglichen Ängste haben mit diesen Grundformen der Angst zu tun. Sie sind entweder Extremvarianten und Zerrformen von ihnen, oder aber Verschiebungen auf andere Objekte. Wir haben nämlich die Neigung, nicht verarbeitete, nicht gemeisterte Ängste an harmlosere Ersatzobjekte zu heften, die leichter vermeidbar sind, als die eigentlichen Angstauslöser, vor denen wir nicht ausweichen können.
Die Grundformen der Angst hängen mit unserer Befindlichkeit in der Welt zusammen, mit unserem Ausgespanntsein zwischen zwei großen Antinomien, die wir in ihrer unauflösbaren Gegensätzlichkeit und Widersprüchlichkeit leben sollen. Ich möchte diese beiden Antinomien an einem Gleichnis verdeutlichen, das uns in überpersönliche Ordnungen und Gesetzmäßigkeiten einfügt, deren wir uns im allgemeinen nicht bewußt sind, die aber dennoch wirklich sind. Wir werden in eine Welt hineingeboren, die vier mächtigen Impulsen gehorcht: Unsere Erde umkreist in bestimmtem Rhythmus die Sonne, bewegt sich also um das Zentralgestirn unseres engeren Weltsystems, welche Bewegung wir als Revolution, »Umwälzung«, bezeichnen. Gleichzeitig dreht sich dabei die Erde um ihre eigene Achse, führt also die Rotation, »Eigendrehung« benannte Bewegung aus. Damit sind zugleich zwei weitere gegensätzliche bzw. sich ergänzende Impulse gesetzt, die unser Weltsystem sowohl in Bewegung halten, wie diese Bewegung in bestimmte Bahnen zwingen: die Schwerkraft und die Fliehkraft. Die Schwerkraft hält unsere Welt gleichsam zusammen, richtet sie zentripetal nach innen, nach der Mitte strebend, aus, und hat etwas von einem festhalten und anziehen wollenden Sog. Die Riehkraft strebt zentrifugal, die Mitte fliehend, nach außen, sie drängt in die Weite und hat etwas von einem loslassen, sich ablösen wollenden Zug. Nur die Ausgewogenheit dieser vier Impulse garantiert die gesetzmäßige, lebendige Ordnung, in der wir leben, die wir Kosmos nennen. Das Überwiegen oder das Ausfallen einer solchen Bewegung würde die große Ordnung stören bzw. zerstören und ins Chaos führen. Stellen wir uns einmal vor, die Erde würde einen dieser Grundimpulse aufgeben. Gäbe sie z. B. die Revolution, die Umkreisung der Sonne auf und würde nur noch die Rotation, die Drehung um die eigene Achse vollziehen, würde sie die Größenordnung eines Planeten übersteigen und sich als Sonne gebärden, als Mittelpunkt, um den sich die anderen Planeten zu drehen hätten. Sie würde sich also nicht mehr in die ihr vorgeschriebene Bahn um die Sonne einfügen, sondern nur noch ihr eigenes Gesetz leben. Gäbe die Erde dagegen die Rotation, ihre Eigendrehung, auf und würde sie nur noch um die Sonne kreisen, sänke sie von der Planetenstufe auf die eines Trabanten, eines Mondes herab, der Sonne immer die gleiche Seite zuwendend in größter Abhängigkeit. In beiden Fällen würde sie also ihre Planeten gesetzlichkeit, abhängiges Sicheinfügen und dennoch unabhängige Eigendrehung zu haben, durchbrechen.
Weiter: Hätte die Erde keine Schwerkraft, das Zentripetale, würde sie nur der Fliehkraft unterliegen und chaotisch zerbersten, aus der Bahn kommen, und vielleicht mit anderen Weltkörpern zusammenstoßen. Und würde sie schließlich nur der Schwerkraft gehorchen ohne den Gegenimpuls der Fliehkraft, des Zentrifugalen, müßte das zu völliger Erstarrung und Unveränderlichkeit führen, oder zu passivem Aus-der-Bahn-gezogen-Werden durch andere Kräfte, denen sie keine eigene Kraft entgegenzusetzen hätte. Und nun zu dem Gleichnis: Nehmen wir einmal an - was eigentlich sehr nahe liegt - daß der Mensch als Bewohner unserer Erde und als winziges Teilchen unseres Sonnensystems auch dessen Gesetzmäßigkeiten unterworfen sei, und daß er damit die beschriebenen Impulse als unbewußte Triebkräfte und zugleich als latente Forderungen in sich trage, so führt uns das zu sehr überraschenden Entsprechungen. Wir brauchen nämlich nur jene Grundimpulse auf der menschlichen Ebene ins Psychologische zu übersetzen, also nach ihren Entsprechungen im seelischen Erleben zu fragen, dann stoßen wir auf die erwähnten Antinomien, zwischen denen unser Leben ausgespannt ist und, wie wir sehen werden, zugleich auf jene Grundformen der Angst, die im Zusammenhang damit stehen und so einen tieferen Sinn bekommen. Der Rotation, der Eigendrehung, entspräche psychologisch sinngemäß die Forderung zur Individuation, also dazu, ein einmaliges Einzelwesen, ein Individuum zu werden. Der Revolution, der Bewegung um die Sonne als unserem Zentralgestirn, entspräche die Forderung, sich einzuordnen in ein größeres Ganzes, unsere Eigengesetzlichkeit, unser eigenes Wollen zu begrenzen zugunsten überpersönlicher Zusammenhänge. Damit hätten wir die erste Antinomie umschrieben, die die gegensätzlichen Forderungen enthält, daß wir sowohl wir selbst werden, als uns in überindividuelle Zusammenhänge einfügen sollen. Dem Zentripetalen, der Schwerkraft, entspräche auf der seelischen Ebene unser Impuls nach Dauer und Beständigkeit; und schließlich dem Zentrifugalen, der Fliehkraft, entspräche der Impuls, der uns immer wieder vorwärts, zur Veränderung und Wandlung treibt. Damit haben wir auch die andere Antinomie umschrieben: Sie enthält die wiederum gegensätzlichen Forderungen, daß wir nach Dauer und andererseits nach Wandlung streben sollen. Nach dieser kosmischen Analogie sind wir vier grundlegenden Forderungen ausgesetzt, die wir als einander widersprechende und doch zugleich sich ergänzende Strebungen in uns wiederfinden. In wechselnder Gestalt durchziehen sie unser ganzes Leben und wollen in immer neuer Weise von uns beantwortet werden.
Die erste Forderung, in unserem Gleichnis der Rotation entsprechend, ist, daß wir ein einmaliges Individuum werden sollen, unser Eigensein bejahend und gegen andere abgrenzend, daß wir unverwechselbare Persönlichkeiten werden sollen, kein austauschbarer Massenmensch. Damit ist aber alle Angst gegeben, die uns droht, wenn wir uns von anderen unterscheiden und dadurch aus der Geborgenheit des Dazugehörens und der Gemeinsamkeit herausfallen, was Einsamkeit und Isolierung bedeuten würde. Bei aller Breite, in der wir durch Rasse, Familien- und Volkszugehörigkeit, durch Alter, Geschlecht, durch unseren Glauben oder unseren Beruf usf. bestimmten Gruppen angehören, denen wir uns verwandt und vertraut fühlen, sind wir doch zugleich Individuen und damit etwas Einmaliges, von allen anderen Menschen deutlich Unterschiedenes. Das kommt schon in der bemerkenswerten Tatsache zum Ausdruck, daß allein unser Daumenabdruck genügt, um uns von jedem anderen Menschen unverwechselbar zu unterscheiden und eindeutig zu identifizieren. So gleicht unsere Existenz einer Pyramide, deren breite Basis sich aus Typischem und Gemeinsamkeiten aufbaut, die aber zur Spitze hin sich immer mehr aus den verbindenden Gemeinsamkeiten herauslöst und im einmalig Individuellen endet. Mit dem Annehmen und Entwickeln unserer Einmaligkeit, mit dem Individuationsprozeß, wie C.G.Jung diesen Entwicklungsvorgang genannt hat, fallen wir aus der Geborgenheit des Dazugehörens, des »Auch-wie-die-anderen-Seins« heraus, und erleben die Einsamkeit des Individuums mit Angst. Denn je mehr wir uns von anderen unterscheiden, um so einsamer werden wir, und sind damit der Unsicherheit, dem Nichtverstanden-, dem Abgelehnt-, u.U. dem Bekämpftwerden ausgesetzt. Riskieren wir aber andererseits nicht, uns zu eigenständigen Individuen zu entwickeln, bleiben wir zu sehr im Kollektiven, im Typischen stecken, und bleiben unserer menschlichen Würde etwas Entscheidendes schuldig. Die zweite Forderung, in unserem Gleichnis der Revolution entsprechend, ist die, daß wir uns der Welt, dem Leben und den Mitmenschen vertrauend öffnen, uns einlassen sollen mit dem Nicht-Ich, dem Fremden, in Austausch treten sollen mit dem Außer-uns-Seienden. Es ist damit gemeint, die Seite der Hingabe - im weitesten Sinne - an das Leben. Damit ist aber verbunden alle Angst, unser Ich zu verlieren, abhängig zu werden, uns auszuliefern, unser Eigensein nicht angemessen leben zu können, es anderen opfern und in der geforderten Anpassung zu viel von uns selbst aufgeben zu müssen. Es geht hier also vor allem um die
Seite unserer Abhängigkeiten, um unser »Geworfensein«, und darum, daß wir trotz dieser Abhängigkeiten und Gefährdungen unseres Ichs, die uns unsere Ohnmacht fühlen lassen, uns dem Leben zuwenden, uns aufschließen sollen. Riskieren wir das nicht, bleiben wir isolierte Einzelwesen ohne Bindung, ohne Zugehörigkeit zu etwas über uns Hinausreichendem, letztlich ohne Geborgenheit und werden so weder uns selbst noch die Welt kennenlernen. Wir sind mit dieser ersten Antinomie auf die eine paradoxe Zumutung gestoßen, die das Leben uns auferlegt: Wir sollen sowohl die Selbstbewahrung und Selbstverwirklichung leben, als auch die Selbsthingabe und Selbstvergessenheit, sollen zugleich die Angst vor der Ich-Aufgabe, wie die Angst vor der Ich-Werdung überwinden. Und nun zu den beiden anderen Forderungen, die wiederum im polaren Verhältnis des Widerspruches und der Ergänzung stehen, wie die eben beschriebenen: Die dritte Forderung, in unserem Gleichnis dem Zentripetalen, der Schwerkraft entsprechend, ist, daß wir die Dauer anstreben sollen. Wir sollen uns auf dieser Welt gleichsam häuslich niederlassen und einrichten, in die Zukunft planen, zielstrebig sein, als ob wir unbegrenzt leben würden, als ob die Welt stabil wäre und die Zukunft voraussehbar, als ob wir mit Bleibendem rechnen könnten - mit dem gleichzeitigen Wissen, daß wir »media in vita morte sumus«, daß unser Leben jeden Augenblick zu Ende sein kann. Mit dieser Forderung, zu dauern, uns in eine Ungewisse Zukunft zu entwerfen, ja, überhaupt Zukunft zu haben, als ob wir damit etwas Festes und Sicheres vor uns hätten - mit dieser Forderung sind alle Ängste gegeben, die mit dem Wissen um die Vergänglichkeit, um unsere Abhängigkeiten und um die irrationale Unberechenbarkeit unseres Daseins zusammenhängen: Die Angst vor dem Wagnis des Neuen, vor dem Planen ins Ungewisse, davor, sich dem ewigen Fließen des Lebens zu überlassen, das nie stillsteht und auch uns selbst wandelnd ergreift. Das liegt wohl in dem Ausspruch, daß niemand zweimal in den gleichen Fluß steigen könne - der Fluß und auch man selbst ist stets ein anderer. Würden wir aber andererseits auf die Dauer verzichten, könnten wir nichts schaffen und verwirklichen; alles Geschaffene muß in unserer Vorstellung etwas von dieser Dauer haben - sonst würden wir gar nicht anfangen, unsere Ziele zu verwirklichen. So leben wir immer, als ob wir glaubten, unbegrenzt Zeit zu haben, als ob das endlich Erreichte stabil wäre, und diese uns vorschwebende Stabilität und Dauer,
diese illusionäre Ewigkeit, ist ein wesentlicher Impuls, der uns zum Handeln treibt. Und schließlich die vierte Forderung, im Gleichnis dem Zentrifugalen, der Fliehkraft entsprechend. Sie besteht darin, daß wir immer bereit sein sollen, uns zu wandeln, Veränderungen und Entwicklungen zu bejahen, Vertrautes aufzugeben, Traditionen und Gewohntes hinter uns zu lassen, uns immer wieder vom gerade Erreichten zu lösen und Abschied zu nehmen, alles nur als Durchgang zu erleben. Mit dieser Forderung, uns immer lebendig weiterzuentwickeln, uns nicht aufzuhalten, nicht zu haften, dem Neuen geöffnet und das Unbekannte wagend, ist nun die Angst verbunden, durch Ordnungen, Notwendigkeiten, Regeln und Gesetze, durch den Sog der Vergangenheit und Gewohnheit festgelegt, festgehalten zu werden, eingeengt, begrenzt zu werden in unseren Möglichkeiten und unserem Freiheitsdrang. Es droht also hier letztlich, im Gegensatz zur vorbeschriebenen Angst, wo der Tod als Vergänglichkeit erschien, der Tod als Erstarrung und Endgültigkeit. Würden wir aber den Impuls zur Wandlung, zum Wagnis des Neuen, aufgeben, so blieben wir im Gewohnten haften, einförmig schon Daseiendes wiederholend und festhaltend, und die Zeit und die Mitwelt würde uns überholen und vergessen. Damit haben wir die andere Antinomie skizziert, die weitere Zumutung des Lebens an uns: Daß wir zugleich nach Dauer und nach Wandlung streben sollen, daß wir dabei sowohl die Angst vor der nicht aufzuhaltenden Vergänglichkeit, wie die Angst vor der unausweichlichen Notwendigkeit überwinden müssen. So haben wir vier Grundformen der Angst kennengelernt, die ich noch einmal zusammenstellen will: 1. Die Angst vor der Selbsthingabe, als Ich-Verlust und Abhängigkeit erlebt; 2. Die Angst vor der Selbstwerdung, als Ungeborgenheit und Isolierung erlebt; 3. Die Angst vor der Wandlung, als Vergänglichkeit und Unsicherheit erlebt; 4. Die Angst vor der Notwendigkeit, als Endgültigkeit und Unfreiheit erlebt. Alle möglichen Ängste sind letztlich immer Varianten dieser vier Grundängste und hängen mit den vier Grundimpulsen zusammen, die ebenfalls zu unserem Dasein gehören und sich auch paarweise ergänzen und widersprechen: Als Streben nach Selbstbewahrung und Absonderung, mit dem Gegenstreben nach Selbsthingabe und
Zugehörigkeit; und andererseits als Streben nach Dauer und Sicherheit, mit dem Gegenstreben nach Wandlung und Risiko. Zu jeder Strebung gehört die Angst vor der Gegenstrebung. Und doch, wenn wir noch einmal auf unser kosmisches Gleichnis zurückgreifen, scheint eine lebendige Ordnung nur möglich zu sein, wenn wir eine Gleichgewichtigkeit zwischen diesen antinomischen Impulsen zu leben versuchen. Eine solche Gleichgewichtigkeit bedeutet indessen nicht etwas Statisches, wie man meinen könnte, sondern sie ist voll ungemeiner innerer Dynamik, weil sie nie etwas Erreichtes, sondern etwas immer wieder Herzustellendes ist. Dabei müssen wir beachten, daß die Art der jeweils erlebten Angst und ihr Intensitätsgrad in großem Maße abhängig sind sowohl von unserer mitgebrachten Anlage, von unserem »Erbe«, als auch von den Umweltbedingungen, in die wir hineingeboren werden; sowohl von unserer körperlichen und seelisch-geistigen Konstitution also, wie auch von unserer persönlichen Biographie, der Geschichte unseres Gewordenseins. Denn auch unsere Ängste haben eine Geschichte, und wir werden sehen, von wie großer Bedeutung dafür unsere Kindheit ist. So ist Angst bei jedem Menschen durch Anlage und Umwelteinflüsse mitgetönt, was zum Teil auch erklärt, warum uns manche Ängste anderer schwer einfühlbar sind - sie entstanden bei ihnen aus Lebensbedingungen, die von den unseren zu sehr abwichen. Anlage und Umwelt - zu welcher neben der Familie, dem »Milieu«, auch die Gesellschaft gehört - können also bestimmte Ängste begünstigen, andere zurücktreten lassen. Der weitgehend gesunde Mensch - der in seiner Entwicklung nicht Gestörte - wird im allgemeinen mit den Ängsten umgehen und sie vielleicht auch überwinden können. Der in seiner Entwicklung Gestörte erlebt Ängste sowohl intensiver als häufiger, und eine der Grundformen der Angst wird bei ihm das Übergewicht haben. Schwer belastend und krank machend kann eine Angst werden, wenn sie entweder ein gewisses Maß übersteigt, oder wenn sie zu lange anhält. Am schwersten belastend sind Ängste, die zu früh in der Kindheit erlebt werden, in einem Alter, wo das Kind noch keine Abwehrkräfte gegen sie entwickeln konnte. Immer, wenn eine Angst durch Intensität oder Dauer zu groß wird, oder wenn sie uns in einem Alter trifft, wo wir ihr noch nicht gewachsen sind, kann sie schwer verarbeitet werden. Der aktivierende positive Aspekt der Angst fällt dann fort; Entwicklungshemmungen, Stehenbleiben oder auch Zurückgleiten in frühere, kindlichere Verhaltensweisen, sowie Symptombildungen sind die Folge. Verständlicherweise werden wir nicht altersgemäße Angsterlebnisse
sowie zu große Angstquantitäten, die das Maß des Erträglichen übersteigen, besonders im Kindesalter antreffen. Das schwache, in der Entwicklung begriffene Ich des Kindes kann gewisse Angstquantitäten noch nicht verarbeiten; es ist dafür auch die Hilfe von außen angewiesen und wird Schädigungen davontragen, wenn es mit solchen übergroßen Ängsten alleingelassen wird. Beim Erwachsenen können seltenere Ausnahmesituationen wie Krieg, Gefangenschaft, Lebensgefährdungen, Natur- und sonstige Katastrophen, aber auch innerseelische Erlebnisse und Prozesse ebenfalls seine Toleranzgrenze für Ängste überschreiten, so daß er mit Panik, mit Kurzschlußhandlungen oder Neurosen darauf reagiert. Unter normalen Bedingungen hat aber der Erwachsene dem Kinde gegenüber eine viel reichere Auswahl an Antwortmöglichkeiten und Gegenkräften gegen die Angst: Er kann sich wehren, seine Situation durchdenken und die Angstauslöser erkennen; er kann vor allem verstehen, woher seine Angst stammt; er kann sie mitteilen und so Verständnis und Hilfe bekommen, und er kann die möglichen Gefährdungen richtig einschätzen. All das steht dem Kind noch nicht zur Verfügung; je kleiner es ist, desto mehr ist es nur Objekt seiner Ängste, ihnen hilflos ausgeliefert, ohne Wissen, wie lange sie anhalten werden und was alles geschehen kann. Wir werden sehen, wie das Überwertigwerden einer der vier Grundängste - oder, von der anderen Sicht her gesehen, das weitgehende Aufgeben eines der vier Grundimpulse - uns zu vier Persönlichkeitsstrukturen führt, zu vier Arten des In-der-Welt-Seins, die wir in Abstufungen alle kennen und an denen wir alle mehr oder weniger akzentuiert Anteil haben. Diese Persönlichkeitsstrukturen sind also zu verstehen als einseitige Akzentuierung in bezug auf die vier Grundängste. Je ausgeprägter und einseitiger die zu beschreibenden Persönlichkeitsstrukturen sind, desto wahrscheinlicher ist es, daß sie aufgrund frühkindlicher Entwicklungsstörungen entstanden sind. Dementsprechend wäre es als ein Zeichen von seelischer Gesundheit anzusehen, wenn jemand die vier Grundimpulse in lebendiger Ausgewogenheit zu leben vermöchte was zugleich bedeutete, daß er sich auch mit den vier Grundformen der Angst auseinandergesetzt hat. Die vier Persönlichkeitsstrukturen sind zunächst Normalstrukturen mit gewissen Akzentuierungen. Wird indessen die Akzentuierung zu ausgesprochener Einseitigkeit, erreicht sie Grenzwerte, die als Zerrformen oder Extremvarianten der vier normalen Grundstrukturen zu verstehen sind. Wir stoßen damit auf die neurotischen Varianten der Strukturtypen, wie sie die Psychotherapie
und Tiefenpsychologie in den vier großen Neuroseformen der Schizoidie, der Depression, der Zwangsneurose und der Hysterie beschrieben hat. Diese neurotischen Persönlichkeiten spiegeln also jeweils nur in zugespitzter oder extremer Form allgemeinmenschliche Daseinsformen, die wir alle kennen. Es handelt sich damit letztlich um vier verschiedene Arten des In-der-Welt-Seins; bei ihrer Schilderung will ich die Folgen jener Einseitigkeit von noch durchaus gesund zu nennenden Erscheinungsformen über leichtere, schwere bis zu den schwersten Störungen beschreiben. Konstitutionell entgegenkommende Anlagen sollen dabei berücksichtigt werden; vor allem aber wird unser Interesse den lebensgeschichtlichen Hintergründen gelten. Zuvor noch eine Zwischenbemerkung: Soweit die Beschreibung der vier Persönlichkeitsstrukturen den Charakter einer Typenlehre anzunehmen scheint, unterschiede sich diese von anderen Typologien insofern, als sie - vorwiegend auf psychoanalytischen Erkenntnissen und Erfahrungen der Psychotherapie und Tiefenpsychologie aufbauend - weniger fatalistisch und endgültig festlegend wäre, als vergleichsweise aus der Konstitution oder dem Temperament abgeleitete Typen; die letzteren stellen sich als schicksalhaft gegeben und unabänderlich dar - sie sind nur hinzunehmen. Mir geht es hier um anderes. Nicht nur, weil ich einen bestimmten Körperbau habe, bin ich so oder so, sondern weil ich eine bestimmte Einstellung, ein bestimmtes Verhalten zur Welt, zum Leben habe, das ich aus meiner Lebensgeschichte erworben habe, prägt das meine Persönlichkeit und verleiht ihr bestimmte strukturelle Züge. Was daran schicksalhaft ist - die mitgebrachte psychophysische Anlage, die Umwelt unserer Kindheit mit den Persönlichkeiten unserer Eltern und Erzieher, sowie die Gesellschaft mit ihren Spielregeln, in die wir hineingeboren werden - ist in gewissen Grenzen durch uns selbst zu gestalten, kann verändert werden, ist jedenfalls nicht nur ein Hinzunehmendes. Die hier gemeinten Persönlichkeitsstrukturen wollen als Teilaspekte eines ganzheitlichen Menschenbildes verstanden werden. Die Nachentwicklung zunächst schicksalhaft ungenügend entwickelter, vernachlässigter, fehlgeleiteter oder überfremdeter und unterdrückter Teilaspekte unseres Wesens kann die erworbene Struktur verändern und vervollständigen zugunsten jener vorschwebenden Ganzheit oder Reife, Abrundung, in dem Ausmaß, wie es der einzelne für sich zu erlangen vermag. Wir gehen also hier von vier allgemeingültigen Grundeinstellungen und Verhaltensmöglichkeiten aus gegenüber den Bedingungen und Abhängigkeiten unseres Daseins, wobei uns das kos-
mische Vorbild der lebendigen Ordnung und Ausgewogenheit scheinbar unvereinbarer Gegensätze vorschwebt. Das Beibehalten der Begriffsbezeichnungen aus der Neurosenlehre für die vier Strukturtypen, auch für den sogenannten Gesunden, hat praktische Vorteile, weil bei diesen Begriffen immer zugleich die lebensgeschichtliche Entstehung und die neurotische Variante mitgesehen werden kann; zugleich haben sie sich inzwischen so weit eingebürgert, daß eine Neubenennung überflüssig erscheint. Der Leser wird das vermutlich bald verstehen, wenn ihm die Begriffe der Schizoidie, Depression usf. aus der Schilderung geläufig und plastisch in seiner Vorstellung geworden sind. Ich habe es in diesem Buch vermieden, die im Schrifttum meist anzutreffende Unterscheidung zwischen Angst und Furcht aufzugreifen. Sie war mir für mein Grundkonzept unwesentlich; zudem erscheint sie mir auch nicht zwingend und überzeugend genug, wie es in der Unsicherheit der Verwendung beider Begriffe im üblichen Sprachgebrauch zum Ausdruck kommt: Wir sprechen sowohl von Todesangst wie von Todesfurcht und können die beiden Begriffe nicht ohne Gewaltsamkeit differenzieren. Der gewöhnlich gemachte Unterschied, Furcht auf etwas Bestimmtes, Konkretes zu beziehen, Angst dagegen auf etwas Unbestimmtes, mehr Irrationales, mag eine gewisse Berechtigung haben, ist aber auch nicht immer stichhaltig, wie etwa bei der Gottesfurcht, die nach obiger Unterscheidung Gottesangst heißen müßte. Ich habe daher bewußt darauf verzichtet, eine begriffliche Trennung von Angst und Furcht hier vorzunehmen. Dieses Buch ist geschrieben, um dem einzelnen leben zu helfen, um ihm mehr Selbst- und Fremdverständnis zu vermitteln, und um die Wichtigkeit unserer Anfangsjahre für unsere Entwicklung deutlich zu machen. Es ist auch geschrieben, um den Sinn zu wekken, wieder zu erwecken, für die großen Zusammenhänge, denen wir eingefügt sind und von denen wir, wie ich meine, Wesentliches lernen können.
Die schizoiden Persönlichkeiten »Auf, laß uns anders werden als die Vielen, die da wimmeln in dem allgemeinen Haufen.« (Spitteler)
Wir wollen uns nun den Persönlichkeiten zuwenden, deren grundlegendes Problem - von der Seite der Angst her gesehen - die Angst vor der Hingabe ist und die zugleich - von der Seite der Grundimpulse her betrachtet - den Impuls zur »Eigendrehung«, das hieße psychologisch also: zur Selbstbewahrung und Ich-Abgrenzung, überwertig leben. Wir nennen sie die schizoiden Menschen. Wir alle haben den Wunsch, ein unverwechselbares Individuum zu sein. Wie sehr, merken wir etwa daran, wie empfindlich wir reagieren, wenn jemand unseren Namen verwechselt oder entstellt: wir wollen nicht beliebig austauschbar sein; wir wollen das Bewußtsein unserer Einmaligkeit als Individuum haben. Das Bestreben, uns von anderen zu unterscheiden, ist uns ebenso mitgegeben wie das dazu gegensätzliche, als soziale Wesen zu Gruppen oder Kollektiven dazuzugehören. Wir wollen sowohl unseren persönlichen Interessen leben dürfen, als wir auch in partnerschaftlicher Verbundenheit und mitmenschlicher Bezogenheit und Verantwortung stehen möchten. Wie wird es sich nun auswirken, wenn ein Mensch, die Hingabeseite vermeidend, vorwiegend die Selbstbewahrung zu leben versucht? Sein Streben wird vor allem dahin gehen, so unabhängig und autark wie möglich zu werden. Auf niemanden angewiesen zu sein, niemanden zu brauchen, niemandem verpflichtet zu sein ist ihm entscheidend wichtig. Deshalb distanziert er sich von den Mitmenschen, braucht er Abstand zu ihnen, läßt er sie sich nicht zu nahe kommen, läßt er sich nur begrenzt mit ihnen ein. Wird diese Distanz überschritten, empfindet er das als Bedrohung seines Lebensraumes, als Gefährdung seines Unabhängigkeitsbedürfnisses, seiner Integrität, und wehrt sich schroff dagegen. So entwickelt er die für ihn typische Angst vor mitmenschlicher Nähe. Nun läßt sich aber Nähe im Leben nicht vermeiden, und daher sucht er nach Schutzhaltungen, hinter denen er sich gegen sie abschirmen kann. Er wird dann vor allem persönlich-nahe Kontakte vermeiden, niemanden im Intimen an sich heranlassen. Er scheut Begegnungen mit einem Einzelnen, einem Partner, und versucht, menschliche Beziehungen zu versachlichen. Wenn er sich unter Menschen begibt, fühlt er sich am wohlsten in Gruppen oder Kollektiven, wo
er anonym bleiben kann, und doch über gemeinsame Interessen ein Dazugehören erlebt. Am liebsten hätte er die Tarnkappe des Märchens verfügbar, unter deren Schutz er unerkannt am Leben der anderen teilnehmen und in es eingreifen könnte, ohne etwas von sich preisgeben zu müssen. Auf die Umwelt wirken solche Menschen fern, kühl, distanziert, schwer ansprechbar, unpersönlich bis kalt. Oft erscheinen sie seltsam, absonderlich, in ihren Reaktionen unverständlich oder befremdend. Man kann sie lange kennen, ohne sie wirklich zu kennen. Hat man heute zu ihnen scheinbar einen guten Kontakt gehabt, verhalten sie sich morgen so, als hätten sie uns nie gesehen; ja, je näher sie uns gerade gekommen waren, um so schroffer wenden sie sich plötzlich von uns ab, uneinfühlbar, oft mit grundlos erscheinender Aggression oder Feindseligkeit, die verletzend für uns ist. Das Vermeiden jeder vertrauten Nähe aus Angst vor dem Du, vor sich öffnender Hingabe, läßt den schizoiden Menschen mehr und mehr isoliert und einsam werden. Seine Angst vor der Nähe wird besonders da konstelliert, wo jemand ihm oder wo er jemandem zu nahe kommt. Da Gefühle der Zuneigung, der Sympathie, der Zärtlichkeit und Liebe uns einander am nächsten kommen lassen, erlebt er sie als besonders gefährlich. Das erklärt, warum er gerade in solchen Situationen abweisend, ja feindlich wird, den anderen abrupt zurückstößt: Er schaltet plötzlich ab, bricht den Kontakt ab, zieht sich auf sich selbst zurück und ist nicht mehr zu erreichen. Zwischen ihm und der Umwelt klafft dadurch eine breite Kontaktlücke, die mit den Jahren immer breiter wird und ihn mehr und mehr isoliert. Das hat nun immer problematischere Folgen: Durch die Ferne zur mitmenschlichen Umwelt weiß er zu wenig von anderen; es entstehen zunehmend Lücken in der Erfahrung über sie, und daraus Unsicherheiten im mitmenschlichen Umgang. So weiß er nie recht, was im anderen vorgeht, denn das erfährt man, wenn überhaupt, ja nur in vertrauter Nähe und liebender Zuwendung. Daher ist er auf Vermuten und Wähnen angewiesen in seiner mitmenschlichen Orientierung, und deshalb wieder zutiefst unsicher, ob seine Eindrücke und Vorstellungen von anderen, ja schließlich sogar, ob seine Wahrnehmungen nur seine Einbildung und Projektion, oder aber Wirklichkeit sind. Ein Bild, das wohl Schultz-Hencke zuerst in diesem Zusammenhang gebraucht hat für die Schilderung der Weltbefindlichkeit dieser Menschen, soll das Gemeinte deutlicher machen - wir haben diese Situation alle schon einmal erlebt: Wir sitzen in einem Zug
im Bahnhof; auf dem Nachbargleis steht ebenfalls ein Zug; plötzlich bemerken wir, daß einer der beiden Züge sich bewegt. Da die Züge heute sehr sanft und fast unmerklich anfahren, haben wir keine Erschütterung, keinen Ruck verspürt, so daß wir nur den optischen Eindruck einer Bewegung feststellen. Wir vermögen uns nun nicht gleich zu orientieren, welcher der beiden Züge fährt, bis wir an einem feststehenden Gegenstand draußen zu realisieren vermögen, daß etwa unser Zug noch steht, und der Nachbarzug sich in Bewegung gesetzt hat, oder umgekehrt. Dieses Bild kann uns sehr treffend die innere Situation eines schizoiden Menschen deutlich machen: Er weiß nie genau - in einem Ausmaß, das alle auch beim Gesunden mögliche Unsicherheit weit übersteigt - ob das, was er fühlt, wahrnimmt, denkt oder sich vorstellt, nur in ihm selbst existiert, oder auch draußen. Durch seinen lockeren Kontakt zur mitmenschlichen Welt fehlt ihm die Orientierungsmöglichkeit in ihr, und so schwankt er in der Beurteilung seiner Erlebnisse und Eindrücke zwischen dem Zweifel, ob er sie als Wirklichkeit hinaus verlegen kann, oder ob sie nur seine »Einbildung« sind, nur seiner Innenwelt angehören: Blickt mich der andere wirklich spöttisch an oder bilde ich mir das nur ein? War der Chef heute wirklich besonders kühl mir gegenüber, hat er etwas gegen mich, war er anders als sonst - oder meine ich das nur? Habe ich etwas Auffälliges an mir, stimmt etwas nicht an mir, oder tausche ich mich, daß mich die Leute so komisch ansehen? Diese Unsicherheit kann alle Schweregrade annehmen, von immer wachem Mißtrauen und krankhafter Eigenbezüghchkeit bis zu eigentlich wahnhaften Einbildungen und Wahrnehmungstäuschungen, bei denen man dann innen und außen tatsächlich verwechselt, ohne daß die Verwechslung als solche erkannt wird, weil man nun seine Projektionen für die Wirklichkeit hält. Man kann sich vorstellen, wie quälend und zutiefst beunruhigend es sein muß, wenn diese Unsicherheit ein Dauerzustand ist, vor allem, weil man ja gerade wegen des erwähnten Mangels an Nahkontakt, sie nicht korrigieren kann. Denn jemanden darüber zu befragen, ihm seine Unsicherheit und Angst mitzuteilen, würde eine vertraute Nähe voraussetzen; da man diese zu niemandem hat, glaubt man befürchten zu müssen, nicht verstanden, verlacht oder gar für verrückt gehalten zu werden. Voller Mißtrauen und aus ihrer tiefen Ungeborgenheit heraus, die, wie wir noch sehen werden, sowohl primär Ursache als sekundär auch Folge ihres lockeren mitmenschlichen Kontaktes ist, werden schizoide Menschen zur Sicherung nun besonders stark die Funktionen und Fähigkeiten entwickeln, die ihnen zu einer besse-
ren Orientierung in der Welt zu verhelfen versprechen: Die Wahrnehmung durch die Sinnesorgane, den erkennenden Intellekt, das Bewußtsein, die Ratio. Da sie besonders alles Emotionale, Gefühlshafte verunsichert, streben sie die von Gefühlen abgelöste »reine« Erkenntnis an, die ihnen Resultate zu liefern verspricht, auf die sie sich verlassen können. Man kann schon hier verstehen, daß sich schizoide Menschen vor allem den exakten Wissenschaften zuwenden, die ihnen diese Sicherheit und AbgelÖstheit vom subjektiven Erleben vermitteln sollen. Gegenüber der Entwicklung dieser rationalen Seiten bleibt die des Gefühlslebens zurück; denn dafür ist man auf ein Du, auf einen Partner angewiesen, auf emotionale Bezogenheit und Gefühlsaustausch. So ist es für diese Menschen charakteristisch, daß sie, bei oft überdurchschnittlicher Intelligenzentwicklung, im Emotionalen zurückgeblieben wirken; das Gefühlshafte bleibt bei ihnen oft unterentwickelt, ja zuweilen verkümmert. Das ergibt eine breite Kontaktunsicherheit, die der Grund für unendlich viele Schwierigkeiten im Alltagsleben bei ihnen werden kann; es fehlen ihnen die »Mitteltöne« im mitmenschlichen Umgang, sie haben dafür keine Nuancen verfügbar, so daß ihnen schon einfachste Kontakte zum Problem werden können. Dafür ein Beispiel: Im Rahmen seiner Ausbildung sollte ein Student ein Referat halten. Kontaktlos, wie er war, zugleich »arrogant« - hinter welcher Haltung er seine Unsicherheit verbarg - kam er nicht auf den Gedanken, einen Kollegen zu fragen, wie so etwas üblicherweise gehandhabt würde. Er quälte sich allein mit Problemen herum, die nur in ihm, nicht in der Sache lagen. Er war sich völlig unsicher darüber, ob seine Ausführungen den Erwartungen entsprechen würden, schwankte in ihrer Beurteilung zwischen Selbstüberschätzung und Minderwertigkeitsgefühlen, indem sie ihm einmal großartig, ja einmalig-genial erschienen, dann wieder als völlig banal und ungenügend. Es fehlten ihm eben die Vergleiche mit den Referaten anderer. Er meinte, es sei vor den Kollegen peinlich und er würde sich etwas vergeben, wenn er sie um Rat gefragt hätte - er wußte nicht, daß so etwas durchaus üblich war. So hatte er wegen seiner Unbezogenheit ganz überflüssige und überwertige Ängste, die er sich weitgehend hätte ersparen können, wäre er in natürlichem, kollegialem Kontakt gestanden. Solche und ähnliche Situationen und Verhaltensweisen häufen sich im Leben schizoider Menschen; sie tragen viel dazu bei, ihnen schon banale und alltägliche Situationen ungemein zu erschweren; sie realisieren nicht, daß ihre Schwierigkeiten auf der Kontaktebene liegen und nicht in einem Mangel an Fähigkeiten.
Der schizoide Mensch und die Liebe Wie schon gesagt, werden dem schizoiden Menschen besonders die Entwicklungsschritte zum Problem, bei denen es um mitmenschlichen Kontakt geht: Der Eintritt in den Kindergarten, in die Klassengemeinschaft; die Pubertät und die Begegnung mit dem anderen Geschlecht; die partnerschaftlichen Beziehungen und alle Bindungen. Da bei ihm jede Nähe Angst auslöst, muß er sich um so mehr zurücknehmen, je näher er jemandem kommt, je mehr er vor allem in die Gefahr des Liebens oder des Geliebtwerdens kommt, das er sich nur als ein Sichausliefern und Abhängigwerden vorstellen kann. In der Kindheit auftretende Schwierigkeiten im mitmenschlichen Kontakt sollten von Eltern und Erziehern als beginnende schizoide Problematik erkannt werden, die vielleicht noch aufzufangen oder doch gemildert werden kann, bevor sie sich tiefer eingespurt hat: Wenn ein Kind Kontaktschwierigkeiten im Kindergarten oder in der Klasse hat; wenn es keinen Freund findet; wenn es sich als Außenseiter und Einzelgänger erlebt oder von anderen so erlebt wird; wenn ein junger Mensch um die Pubertät herum Beziehungen zum anderen Geschlecht meidet, sich statt dessen in Bücher vergräbt, Kontakten aus dem Weg geht, Basteleien oder sonstige Dinge tut, bei denen er immer allein ist; wenn er schwere weltanschauliche Krisen in dieser Zeit durchmacht, mit einsamen Grübeleien über den Sinn des Lebens, ohne sich mit anderen darüber auszutauschen - all das sind Alarmzeichen, die man verstehen, bei denen sich die Eltern beraten lassen sollten. Noch problematischer pflegt für schizoide Persönlichkeiten die Zeit der zur Partnerschaft drängenden Nachpubertät zu werden. Denn in der Liebe kommen wir einander am nächsten, seelisch und körperlich. In jeder liebenden Begegnung ist unser Eigen-Sein und unsere Unabhängigkeit gleichsam gefährdet, um so mehr, je mehr wir uns dem Du öffnen, um so mehr aber auch, je mehr wir uns selbst bewahren wollen. Daher werden diese Begegnungen oft zu den Klippen, an denen ihnen ihre Problematik, die bisher vielleicht noch unbewußt, ihnen selbst verborgen war, nun schmerzlich bewußt wird. Wie soll ein solcher Mensch die nun wachsende Sehnsucht nach Nähe und Austausch, nach Zärtlichkeit und Liebe, wie soll er vor allem das aufkommende sexuelle Begehren an einen anderen herantragen? Auf Grund der beschriebenen Kontaktlücken und der fehlenden »Mitteltöne« im mitmenschlichen Umgang, die sich bis zu diesem Alter bereits zu einer weitgehenden Ungeübtheit im Verkehr mit Menschen ausgewachsen haben,
ist für ihn das Integrieren der Sexualität besonders schwierig. Ihm fehlen die Zwischentöne des Sich-Verhaltens auch hier: Ihm steht weder die werbend-erobemde, noch die verführend-hingebende Seite zur Verfügung. Zärtlichkeit, verbaler oder emotionaler Ausdruck von Zuneigung, sind ihm fremd, und ihm fehlt auch weitgehend die Einfühlung, das Sich-in-einen-anderen-versetzen-Können. Die Lösungsversuche des Konfliktes zwischen dem drängenden Begehren und der Angst vor mitmenschlicher Nähe können verschieden aussehen. Häufig so, daß er sich nur auf unverbindliche, leicht zu lösende, oder auf rein sexuelle Beziehungen einläßt, in denen er die Sexualität von seinem Gefühlserleben gleichsam abspaltet. Der Partner ist für ihn dann nur noch »Sexualobjekt«, das der Befriedigung seiner Sinne dient, darüber hinaus nicht mehr interessiert. Aber auch wegen der emotionalen Unbeteiligtheit sind seine partnerschaftlichen Beziehungen leicht austauschbar. So schützt er sich davor, daß, bei tieferem Sicheinlassen mit dem Du, seine ganze Unbeholfenheit und Unerfahrenheit in Gefühlsdingen offenbar würde, zugleich auch vor der Gefahr des Liebens. Aus dem gleichen Grund pflegt er auch Zeichen der Zuneigung von seiten des Partners abzuwehren - er weiß nicht, wie er sie beantworten soll, sie sind ihm eher peinlich. Ein Mann ging auf ein Ehevermittlungsbüro und suchte sich nach den ihm vorgelegten Fotografien die Frau aus, die ihm am wenigsten gefiel - sie konnte ihm wenigstens nicht gefährlich werden, konnte keine Liebesgefühle in ihm auslösen. Eine Frau konnte sich einem Mann nur dann körperlich hingeben, wenn sie wußte, daß sie ihn danach wahrscheinlich nie wiedersehen würde. Ein verheirateter Mann hatte in der gleichen Stadt, in der er mit seiner Familie wohnte, noch eine geheime Wohnung; in Abständen zog er sich in diese zurück, war dann für jedermann unerreichbar, bis er wieder die Neigung fühlte, zu seiner Familie zu gehen. Er brauchte das, um sich vor zuviel Nähe und dem Gefühlsanspruch seiner Frau und seiner Familie abzuschirmen (die ihrerseits gerade wegen diesem Sichentziehen ihn fester zu binden versuchten, damit nun wieder sein Bedürfnis nach seiner Zuflucht verstärkten). Aus den Beispielen läßt sich ersehen, wie groß die Angst schizoider Menschen ist, sich zu binden, sich festzulegen, abhängig oder überrannt zu werden; nur so lassen sich ihre oft seltsam und unverständlich anmutenden Reaktionen begreifen. Das einzige, was dem schizoiden Menschen wirklich gehört und ihm einigermaßen vertraut ist, ist er selbst; daher seine Empfindlichkeit gegen
wirkliche oder vermeintliche Gefährdung seiner Integrität, gegen Übergriffe und ihn überfremdende Einbrüche in seine Distanz, die er braucht, um seinen Halt an sich selbst nicht zu verlieren. Natürlich läßt solches Verhalten eine Atmosphäre von Vertrautheit oder gar Innigkeit gar nicht aufkommen. Aus seinem Lebensgefühl heraus empfindet er Bindungen als Zwang, zu viel von sich aufgeben zu müssen, was natürlich vor allem bei Partnern möglich wird, die viel Zuwendung und Nähe des anderen brauchen. Die Bindungsscheu kann soweit gehen, daß er noch vor dem Traualtar oder dem Standesamt umkehrt. Ein junger Mann verlobte sich auf das Drängen seiner Freundin sie kannten sich schon seit Jahren, er wollte sich aber nicht binden. Er kam mit den Ringen zu ihr und sie feierten zusammen die Verlobung. Als er ihr Haus verließ, warf er einen bereits vorher geschriebenen Brief in ihren Briefkasten, der die eben geschlossene Verlobung wieder aufhob. Ähnliche Verhaltensweisen sind bei schizoiden Menschen gar nicht selten. Oft sind sie aus der Ferne gute und zugewandte Briefschreiber, nehmen sich aber im persönlichen Nahkontakt sofort wieder zurück und verschließen sich. Durch die erwähnte Abspaltung der Sexualität vom Gefühlsleben wird das Triebhafte gleichsam isoliert gelebt; der Partner wird dadurch nicht nur zum »Sexualobjekt«, sondern das ganze Liebesleben kann, sich in einem nur noch funktionellen Vorgang erschöpfen. Er kennt dann kein zärtliches Vorspiel, keine Erotik, sondern geht unbekümmert um die Bedürfnisse des Partners direkt auf sein Ziel los. Zärtlichkeit artet leicht in dem Partner Wehtun aus, in harten Zugriff oder sonstiges Zufügen von Schmerzen. Dahinter kann unbewußt der Wunsch nach einer spürbaren Reaktion des Partners stehen. Weiterhin besteht die Neigung, den Partner nach der erreichten Befriedigung baldmöglichst wieder loszuwerden. »Nachher« - gemeint war der Geschlechtsakt - hätte ich sie am liebsten hinausgeworfen« war der charakteristische Ausspruch eines schizoiden Mannes, der seine Angst vor den Gefühlsansprüchen der Partnerin zeigt. Schwieriger wird es, wenn der Schizoide die schroffe Ambivalenz zwischen Liebes- und Haßgefühlen, seinen tiefen Zweifel in das Geliebtwerdenkönnen, am Partner austrägt. Dann setzt er diesen immer neuen Bewährungsproben aus, fordert von ihm immer neue Liebesbeweise, die seinen Zweifel beheben sollen. Das kann sich bis zum seelischen und zum eigentlichen Sadismus steigern. Sein Verhalten kann dann ausgesprochen destruktiv werden; Liebesbeweise und Zeichen der Zuneigung des Partners werden abge-
wertet, bagatellisiert, analysiert, angezweifelt oder in diabolisch geschickter Weise als Tendenz umgedeutet. So wird etwa eine spontane Zuwendung des Partners als Ausdruck eines schlechten Gewissens, von Schuldgefühlen oder als Bestechungsversuch (»was willst du damit erreichen?«; »du hast wohl etwas gutzumachen?«) gedeutet. Die meist vorhandene gute theoretisch-abstrakte psychologische Kombinationsgabe bietet unendliche Möglichkeiten für solche tendenziösen Umdeutungen. In dem Roman »Das Ruhekissen« hat Christiane Rochefort eine solche Beziehung ausgezeichnet geschildert, besonders überzeugend auch dargestellt, wie eine liebesfähige Frau durch den schizoiden Partner mit der Zeit an ihre Toleranzgrenze gebracht wird. Nicht selten zerstört der schizoide Partner auch alle zärtlichen Regungen bei sich und dem Partner durch Zynismus, um sich von ihnen nicht erfassen zu lassen. In einem Augenblick besonders inniger Zuwendung des Partners, trifft er diesen seelisch an seiner verletzlichsten Stelle, indem er seine Haltung, seinen Gesichtsausdruck oder seine Worte ironisierend ins Lächerliche zieht: »Mach doch nicht so hündisch treue Augen«; »wenn du wüßtest, wie komisch du eben ausgesehen hast«; oder: »laß doch diese albernen Liebesbeteuerungen und kommen wir endlich zur Sache« usf. Natürlich wird so im Partner systematisch alle Liebesbereitschaft zerstört, es sei denn, daß er eine ungewöhnliche Liebesfähigkeit hat, oder der masochistisehe Gegentypus ist, der aus Schuldgefühlen, aus Verlustangst oder anderer Motivierung glaubt, das alles mit in Kauf nehmen zu müssen, oder Lust am Gequältwerden empfindet. Sonst muß er sich schließlich zurücknehmen oder zu hassen beginnen, was dann von dem schizoiden Partner mit einem Triumphgefühl erlebt werden kann (»jetzt kommt dein wahres Wesen zum Vorschein«), ohne zu realisieren, wie weit er den anderen durch sein Verhalten erst soweit gebracht hat. Die autobiographischen Romane Strindbergs enthalten viel von solcher schizoiden Tragik, bringen zugleich eindrucksvolle Beschreibungen der lebensgeschichtlichen Hintergründe solcher Persönlichkeitsentwicklungen (z.B. »Der Sohn einer Magd«). Auch Axel Borg, die Hauptgestalt seines Romanes »Am offenen Meer«, ist ein glänzend geschilderter schizoider Mensch, mit deutlich autobiographischen Zügen. Ist die Gefühlskälte noch weiter fortgeschritten, steigert sie sich ins Extreme und Krankhafte, kann die Grenze zu Vergewaltigungen bis zum Lustmord schmal sein, vor allem, wenn auf den Partner unverarbeitete Haßgefühle und Rachehaltungen unbewußt projiziert, »übertragen« werden, wie die Psychoanalyse es nennt,
die ursprünglich den ehemaligen Bezugspersonen der Kindheit gegolten haben. Eine nicht in das Persönlichkeitsganze integrierte, abgespaltene Triebseite ist indessen immer gefährlich; kommt dazu die weitgehende Unfähigkeit, sich in den Partner einzufühlen und die Gefühlsverkümmerung, sind alle Triebverbrechen denkbar. Aus der Schwierigkeit, mit einem Partner eine Gefühlsverbindung einzugehen, ja überhaupt einen Partner zu finden, suchen Schizoide auch oft, allein auszukommen, gleichsam sich selbst zum Partner zu nehmen in ausschließlicher Selbstbefriedigung. Oder sie weichen auf Ersatzobjekte aus, wie es etwa beim Fetischismus der Fall ist. Natürlich kann sich an solchen Ersatzobjekten ihre Liebesfähigkeit nicht entwickeln, obwohl auch diese Formen gestörter Liebesfähigkeit noch Elemente des Liebenwollens enthalten, noch Ausdruck ihrer suchenden Sehnsucht sind. Man findet bei schizoiden Menschen nicht selten eine infantil gebliebene Sexualentwicklung auch bei sonst hochdifferenzierten Persönlichkeiten. Die manchmal anzutreffende Wahl geschlechtlich unreifer Kinder oder Jugendlicher als Sexualpartner läßt sich daraus verstehen, daß der schwer Kontaktgestörte diesen gegenüber weniger Angst hat und mit dem kindlichen Zutrauen rechnen kann. Manchmal kommt bei ihm die unterdrückte Liebesfähigkeit und Hingabesehnsucht als extreme Eifersucht bis zum Eifersuchtswahn zum Durchbruch. Er spürt, wie wenig liebenswert er sich verhält, wie wenig liebesfähig er ist, und ahnt, daß er so kaum jemanden halten kann. Daher muß er überall Rivalen wittern, die er - oft mit Recht - für bessere Liebende und für liebenswerter hält. Harmlose, ganz natürliche Verhaltensweisen des Partners werden dann von ihm voller Spitzfindigkeit und Haarspalterei ins Hintergründige, Absichtliche und Dämonische umgedeutet. Das kann sich bis zum Beziehungswahn steigern, die Partnerschaft mit der Zeit unerträglich werden lassen und sie schließlich zerstören, mit einer Lust am Zerstören, unter der er selbst leidet, sich aber nicht anders verhalten kann. Die Motivierung kann dann so aussehen: Wenn es schon nicht möglich scheint, daß ich geliebt werden kann, zerstöre ich lieber selbst, was ich doch nicht halten kann - dann bin ich wenigstens der Handelnde und nicht nur der Erleidende. So kann man Verhaltensweisen verstehen, daß er gerade da, wo er lieben und geliebt werden möchte, sich besonders wenig liebenswert gibt. Wendet sich dann der Partner von ihm ab, ist ihm das weniger schmerzlich, als wenn er sich wirklich um ihn bemüht hätte, und dennoch verlassen würde. Solche Enttäuschungspro-
phylaxe ist bei schizoiden Menschen nicht selten; sie enthält meist unbewußt - zugleich den Aspekt einer Bewährungsprobe für den Partner: Wenn er mich trotz meines Verhaltens noch liebt, liebt er mich wirklich. Überall läßt sich dahinter erkennen, wie schwer es solchen Menschen ist, sich für liebenswert zu halten. In Extremfällen kann das Mißtrauen und die Eifersucht bis zum Mord führen: Wenn der Partner mich nicht liebt, soll er auch keinen anderen lieben können. Bewußt wird die Hingabeangst von schizoiden Menschen meist nur als Bindungsangst erlebt. Die Sehnsucht nach Hingabe, die ja auch zu unserem Wesen gehört, staut sich durch die Unterdrükkung auf und verstärkt die Angst, so daß Hingabe dann nur noch als völliges Sichausliefern, als Ich-Aufgabe und Verschlungen werden vom Du vorgestellt werden kann. Dadurch kommt es zu einer Dämonisierung des Partners, die nun rückwirkend wieder die Angst verstärkt, und manche sonst unverständliche Verhaltensweisen schizoider Menschen verständlicher macht, vor allem ihren plötzlichen Haß, der aus dem Gefühl der Bedrohtheit durch ein übermächtiges Du entsteht, ohne daß sie erkennen, daß ihre eigene Projektion dem anderen erst solche Macht verleiht. So fällt es dem schizoiden Menschen schwer, eine dauerhafte Gefühlsbeziehung zu wagen. Er neigt mehr zu kurzfristigen, intensiven, aber wechselnden Beziehungen. Die Ehe ist für ihn eine Institution mit allen Unvollkommenheiten menschlicher Einrichtungen, daher selbstverständlich auflösbar, wenn sie nicht mehr als befriedigend erlebt wird. Sie sollte den menschlichen Bedürfnissen mehr Rechnung tragen, und an sie angepaßt werden. Untreue ist seiner Meinung nach in einer Dauerbeziehung unvermeidlich; er fordert für sich Freiheit und ist - das allerdings mehr theoretisch und nicht immer so selbstverständlich in der Realität - bereit, sie auch dem Partner zuzugestehen. Oft ist er ein Theoretiker der Ehe, ein Ehereformer; zumindest wagt er es, gegen Konventionen und Traditionen seinen eigenen Lebensstil durchzusetzen und nach seiner Überzeugung zu leben. Darin zeigt er oft mehr Ehrlichkeit und Zivilcourage als viele andere. Manchmal hat er durchaus dauerhafte Beziehungen, schreckt nur vor deren Legalisierung zurück, weshalb es bei ihm häufiger zu eheähnlichen Bindungen ohne Heirat kommt. Bei frühem Ausfall einer Mutterbeziehung oder nach Enttäuschungen an der Mutter, findet man nicht selten Bindungen an ältere, mütterliche Frauen; diese können ihn vieles nachholen lassen, was er als Kind entbehren mußte. Solche Frauen vermögen manchmal Wärme und Geborgenheit zu geben ohne große eigene Ansprüche; es sind schenkende Frauen, die ein un-
mittelbares Verständnis für seine Situation haben, von ihm nicht erwarten, was er nicht geben kann, und ihn gerade dadurch mehr binden, als er es sonst zulassen könnte. Nur die tiefer Gestörten mit entsprechenden Früherfahrungen entwickeln einen ausgesprochenen Frauenhaß mit Racheimpulsen der Frau gegenüber. Da von dem Schizoiden in seiner Lebensgeschichte das Weibliche als unvertraut und bedrohlich erlebt wurde, finden wir bei ihm nicht selten die Hinwendung zum gleichen Geschlecht; oder sie wählen eine Partnerin, die durch quasi männliche Züge ihm nicht so »ganz anders« erscheint, wie eine sehr weibliche Frau. Die Beziehung ist dann oft eine mehr geschwisterlich-kameradschaftliche, fußt mehr auf gemeinsamen Interessen, als auf der erotischen Anziehung der Geschlechter. In allen Beziehungen erträgt er dauernde Nähe schwer - getrennte Schlafzimmer etwa sind ihm selbstverständliches Bedürfnis, und die Partnerin muß Verständnis dafür haben, will sie ihn nicht in die Abwehr und eine dann erzwungene Distanzierung treiben. Zusammenfassend können wir sagen, daß der schizoide Mensch aus welchen Gründen, werden wir noch besser verstehen - es wohl am schwersten hat, seine Liebesfähigkeit zu entwickeln. Er ist ungemein empfindlich gegen alles, was seine Freiheit und Unabhängigkeit einzuschränken droht; er ist in der Gefühlsäußerung karg und am dankbarsten, wenn ihm der Partner eine unaufdringliche Zuneigung, ein Stück Heimat und Geborgenheit gibt. Wer ihn zu nehmen versteht, kann mit seiner tiefen Zuneigung rechnen, die er nur nicht recht zeigen und zugeben kann. Der schizoide Mensch und die Aggression Hier und in den folgenden Abschnitten über die Aggression habe ich es vorgezogen, von Aggression statt von Haß zu sprechen, weil Aggression die häufigste Ausdrucksform des Hasses ist und in ihren verschiedenen Erscheinungsformen einleuchtender zu beschreiben ist. Angst und Aggression hängen eng zusammen; wahrscheinlich lösen ursprünglich Unlust und Angst erst die Aggression aus, wobei Unlust wohl die Vorform, die archaische Form der Angst in unserer Frühzeit ist. In dieser haben wir die späteren Möglichkeiten der Unlustverarbeitung und Angstüberwindung noch nicht zur Verfügung, sondern sind der Unlust und Angst hilflos ausgeliefert. Was sie in der Frühzeit auslöst, sind intensive Frustrationen wie Hunger, Kälte, Schmerzen; Störungen des Ei-
Penrhythmus und der Integrität des Lebensraumes; Überbelastungen der Sinnesorgane und Einschränkung der Bewegungsfreiheit; Überfremdung des Eigen-Seins durch zuviel überrennende Nähe und Eingriffe anderer; Einsamkeit. Angst ist in dieser Zeit also vor allem intensive Unlust; in jenen Situationen fallen beim Kleinstkind Angst und Aggression zeitlich praktisch noch zusammen: was Unlust und Angst auslöst, löst gleichzeitig Aggression, Wut aus. Was hat das Kleinstkind nun für die Angstbewältigung und für die Abfuhr von Unlust zur Verfügung? Zunächst nur ohnmächtige Wut, die sich im Schreien, später im Strampeln und Umsichschlagen, also in motorischer Entladung und Abreaktion äußert. Da es in der Frühstzeit noch keine Unterscheidung von Ich und Du gibt, sind diese Aggressionsäußerungen noch ganz ungerichtet, auf niemanden bezogen -sie sind einfach Abreaktionen von Unbehagen und Unlust zur Entlastung der Befindlichkeit, zur Entlastung des Organismus. Wir können hier von der archaischen Form der Aggression sprechen; sie äußert sich elementar, spontan, unkontrolliert und menschlich noch unbezogen, daher rücksichtslos und ohne Schuldgefühle - diese würden ja eine mitmenschliche Bezogenheit voraussetzen. Die Intensität der archaischen Angst ist ungemein groß, weil sie durch die völlige Hilflosigkeit des Kleinstkindes, von ihm als seine Existenz bedrohend erlebt wird, als Bedrohung seines gesamten Daseins. Entsprechend total wird die Aggression und die Wut erlebt - das Kind ist in solchen Situationen »ganz Wut« oder »ganz Angst«, nur noch besessen von dem Drang, sie abzureagieren, sie loszuwerden. Reflexhaftes sich Zusammenziehen, sich Zurücknehmen von der Welt, oder der beschriebene Bewegungssturm sind wohl die beiden Urformen der Reaktion auf Angst und Unlust auch bei anderen Lebewesen: die Flucht nach hinten, das sich Zurücknehmen bis zum Totstellreflex, oder die Flucht nach vorn, der Bewegungssturm, der Angriff. Bleibt nun ein schizoider Mensch weiterhin bindungslos, erlebt er sich auch weiterhin als ungeborgen, ungeschützt, ausgesetzt und gefährdet, wird er wirkliche oder vermeintliche Angriffe und Bedrohungen weiterhin als seine gesamte Existenz gefährdend erleben. Dementsprechend sind seine Reaktionen darauf noch ganz archaisch im oben beschriebenen Sinne: sofortige rücksichtslose Aggression, die nur bedacht ist auf das Beseitigen der Angst bzw. des Angstauslösers, auf die Entlastung seiner Befindlichkeit - »to get it out of one's System« sagen die Engländer sehr treffend. Man kann sich wohl vorstellen, wie gefährlich diese archaischen schizoiden Aggressionen werden können, die aus dem Gefühl der
existentiellen Bedrohtheit bei Menschen stammen, die kaum Bindungen kennen. Sie werden bei ihnen durch nichts gehalten, gebunden, sie sind nicht integriert in ihre Gesamtpersönlichkeit. So bleiben sie elementare Triebabfuhr ohne Rücksicht. Wie wir es schon bei der Sexualität gesehen hatten, bleibt auch ihre Aggression, bleiben ihre Affekte vom Gesamterleben isolierte, abgespaltene, rein triebhafte Abreaktion, sind nicht eingeschmolzen in ein ganzheitliches emotionales Erleben. Da es ihnen auch weitgehend an Einfühlung mangelt, sind praktisch keine bremsenden Kräfte vorhanden. So dient die Aggression weiterhin nur der Entlastung von Spannungen, wird unkontrolliert und ohne Schuldgefühle ausgelebt. Hinzu kommt, daß schizoide Menschen aus ihrer mitmenschlichen Unbezogenheit heraus keine Vorstellung von der Wirkung ihrer Affekte und Aggressionen auf andere haben - sie haben sich ja »nur« abreagiert; der andere ist ihnen dabei gar nicht so wichtig gewesen. Daher sind sie oft zu scharf, verletzend und brüsk, ohne es zu wissen. In einer Tageszeitung war zu lesen, daß ein Jugendlicher einen Knaben umgebracht hatte. Auf die Frage nach seinen Motiven gab er achselzuckend zur Antwort, er hätte keine besonderen Gründe gehabt - der Junge habe ihn irgendwie gestört. So gefährlich kann eine isolierte, vom Gesamterleben abgespaltene, durch nichts gebundene Aggression werden, die aus einer Bereitschaft zum Haß kommt, die durch kleinste Anlässe ausgelöst werden kann. Sie kann sich verselbständigen und alle denkbaren Extremformen annehmen, besonders, wenn sie sich mit dem ebenfalls nicht integrierten Sexualtrieb verbündet. Das »Selbstporträt des Jürgen Bartsch« gibt davon ein erschütterndes Zeugnis. Der amerikanische Psychiater Kinzel hat an Gefangenen festgestellt, daß die Aggressiven unter ihnen (violent men) einen doppelt so großen Schutzkreis (circle of protection) hatten, wie die nicht Aggressiven. Die Aggressiven - wir würden sie unter die Schizoiden rechnen - reagierten beim Überschreiten dieses Schutzkreises, dieser unsichtbaren, imaginären Grenze durch einen anderen, mit Panik, die sofort in wilden Angriff umschlug. Ein eindrucksvolles Beispiel für schizoide Weltbefindlichkeit, die ein Patient einmal so formulierte: »Wenn man meine Distanz durchbricht, kommt Haß auf.« Man wird an die von Konrad Lorenz beschriebenen Reaktionen bei Tieren erinnert, die mit heftiger Aggression den angreifenden, der ihre Reviergrenze übertritt (Konrad Lorenz: »Das sogenannte Böse«). Seine mitmenschliche Ungeborgenheit und Bindungslosigkeit, sowie das aus ihnen resultierende Mißtrauen, lassen den schizo-
iden Menschen die Annäherung eines anderen als Bedrohung erleben, die er zuerst mit Angst, der sofort die Aggression folgt, beantwortet. Dieses Lebensgrundgefühl Schizoider macht manche oft unverständlichen Reaktionen verstehbar. Eine archaische, nicht integrierte, abgespaltene Aggression kann bis zur Gewalttätigkeit gehen, die einen anderen wie ein lästiges Insekt beseitigt, wenn man sich durch ihn bedrängt fühlt. Wie alle ungebundenen, vom Gesamterleben abgespaltenen Triebe, kann sich auch die Aggression gefährlich verselbständigen und dann ins Asoziale oder Kriminelle führen. Aber auch abgesehen von solchen Extrembeispielen ist es für schizoide Menschen nicht leicht, ihre Aggressionen zu kontrollieren. Sie selbst leiden im allgemeinen nicht unter ihnen, um so mehr leidet aber ihre Umwelt. Was ursprünglich Angstabwehr war, kann bei ihnen zur lustvollen Aggressivität werden, die dann um ihrer selbst willen ausgeübt wird, bis zu allen möglichen Formen der Grausamkeit, des Sadismus. Schroffheit, plötzliche verletzende Schärfe, eisige Kälte und Unerreichbarkeit, Zynismus und sekundenschnelles Umschlagen von Zuwendung in feindselige Ablehnung sind ihre häufigsten Ausdrucksmöglichkeiten von Aggressionen. Ihnen fehlen auch hier die »Mitteltöne« beherrschter, gekonnter, situationsangemessener Aggression - letzteres allerdings nur von außen gesehen, denn aus ihrem Erleben heraus finden sie ihr Verhalten durchaus situationsadäquat. Bei schizoiden Menschen hat aber die Aggression oft noch eine andere Funktion als die der Abwehr und des Schutzes. Im Sinne der Urbedeutung des Wortes ad-gredi — an jemanden herangehen, ist sie für ihn ein Mittel, Kontakt aufzunehmen, oft das einzige, das ihm hierfür zur Verfügung steht. Aggression kann bei ihm daher eine Form der Werbung sein, die uns vergleichsweise erinnert an die noch ungekonnten Versuche der Annäherung an das andere Geschlecht, wie sie für die Pubertät charakteristisch sind. Hier wie beim Schizoiden besteht die gleiche Mischung aus Angst und Begehren, das Verbergen der Gefühle, das rauhe, aggressive Anfassen statt der nicht gewagten oder nicht gekonnten Zärtlichkeit, die Angst, sich zu blamieren, die Bereitschaft, sich sofort zurückzunehmen, das Umschlagen von Zuneigung in Abneigung und der Zynismus bei wirklichem oder vermeintlichem Abgelehntwerden. Es ist für den Umgang mit schizoiden Menschen wichtig, zu wissen, daß bei ihnen Aggressionen auch diese Bedeutung einer Werbung haben können. Aggressivität fällt ihnen leichter, als das Äußern von Zuneigung und anderen positiven Gefühlen. Auf
Grund ihrer großen Lücken im mitmenschlichen Kontakt haben sie auch hier eine breite Unsicherheit. Aus der psychotherapeutischen Arbeit mit ihnen wissen wir, daß, wenn man ihnen in gleichmäßiger Zuwendung die Zeit dafür läßt, ihre Kontaktlücken aufzufüllen, es ihnen am ehesten möglich wird, ihre Aggressionen zu integrieren, es zu lernen, mit ihnen adäquat umzugehen. Der lebensgeschichtliche Hintergrund Wie kann es nun zu schizoiden Persönlichkeitsentwicklungen kommen, zu jener überwertigen Angst vor der Hingabe und, entsprechend, zu dem überwertigen Betonen der »Eigendrehung«, der Selbstbewahrung? Konstitutionell entgegenkommend ist dafür einmal eine zartsensible Anlage, eine große seelische Empfindsamkeit, Labilität und Verwundbarkeit. Als Selbstschutz legt man dann eine Distanz zwischen sich und die Umwelt, weil man zu große physische und psychische Nähe wegen der radarähnlich fein reagierenden Sensibilität und gleichsam Durchlässigkeit als zu »laut« empfindet. So ist für den Schizoiden die Distanz notwendig, damit er überhaupt der Welt und dem Leben gewachsen ist. Die Distanz schafft ihm die Sicherheit und den Schutz, nicht von anderen überfremdet, überrannt zu werden; er ist von der Anlage her gleichsam ein zu offenes System, zu »hautlos«, muß sich daher abgrenzen und teilweise verschließen, um nicht von der Fülle aller aufgenommenen Reize überschwemmt zu werden. Die andere Möglichkeit ist die, daß eine besonders intensive motorisch-expansive, aggressiv-triebhafte Anlage vorliegt, eine geringe Bindungsneigung oder -fähigkeit, Anlagen, durch die man von früh an leichter als lästig oder störend empfunden wird. Dann macht man immer wieder die Erfahrung, daß man abgewiesen, zurechtgewiesen, in seiner Eigenart nicht bejaht und angenommen wird, und entwickelt daran das mißtrauische Sichzurücknehmen, das für diese Menschen so charakteristisch ist, zu einem typischen Wesenszug von ihnen wird. Nicht eigentlich zur Konstitution im eben verwendeten engeren Sinne zu rechnen, aber doch im Körperlichen liegend, zugleich aber bereits deutlicher auf die Umwelt als auslösenden Faktor weisend, wären körperliche oder sonstige Wesensmerkmale zu nennen, durch die ein Kind von Anfang an die Erwartungen und Wunschvorstellungen seiner Eltern, vor allem der Mutter, enttäuscht. Das kann schon darin liegen, daß es nicht das erwünschte
Geschlecht hat, aber auch an beliebigen anderen physischen Merkmalen, die es der Mutter schwer machen, ihm die Zuwendung und Zuneigung zu geben, die es hier braucht; auch unerwünschte Kinder sind hier zu erwähnen. Zu diesen konstitutionellen Aspekten - bei denen aber oft die Reaktion der Umwelt darauf mehr für die schizoide Entwicklung verantwortlich zu sein pflegt, als die Anlage selbst - kommen aber nun Umweltfaktoren als wesentlichste Auslöser schizoider Persönlichkeitsentwicklungen hinzu. Um das besser verstehen zu können, müssen wir uns die Situation des Kindes nach der Geburt und in den ersten Lebenswochen vor Augen führen. Im Gegensatz zu anderen Lebewesen ist das Kind nach der Geburt in einer sehr lange währenden extremen Hilflosigkeit und völligen Abhängigkeit von seiner Umgebung. Adolf Portmann hat in diesem Zusammenhang vom Menschen als einem zu früh Geborenen gesprochen. Damit sich das Kind allmählich vertrauend der Umwelt zuwenden und die erste Du-Findung vollziehen kann, muß ihm diese Umwelt annehmbar und vertrauenerweckend erscheinen. Annehmbar im Sinne von altersgemäß seinen Bedürfnissen entsprechend. Das Kleinstkind braucht eine Atmosphäre, die man am ehesten als Geborgenheit, sich Aufgehobenfühlen, sich Behaglichfühlen beschreiben kann, als Eingebettetsein in ihm angemessene Lebensbedingungen. Diese »paradiesische« Phase selbstverständlich erfüllter Bedürfnisse sollte es erleben dürfen, weil erst aus solchem Urvertrauen es allmählich wagen kann, die Hingabe an das Leben zu riskieren, ohne die Angst, vernichtet zu werden. Seltsamerweise haben wir von diesen dem Kleinstkind nötigen Lebensbedingungen lange nur sehr unbestimmte Vorstellungen gehabt; meist wurde die Differenziertheit und Wahrnehmungsfähigkeit des Säuglings weit unterschätzt, die Wirkung von Außeneinflüssen auf ihn ebenfalls. Sehr eindrucksvoll dafür sind die Untersuchungen des Schweizer Kinderarztes Stirnimann an Neugeborenen. Aus seinem Buch »Psychologie des neugeborenen Kindes« nur ein paar Zitate dafür: »In durchaus seriösen Büchern . . . wird die Schmerzempfindung bis zur 6. Woche für ausgeschlossen gehalten; . . . Daß dies nicht der Fall ist, beobachtete ich bei Injektionen, bei denen ich mit der Sicherheit eines Experimentes . . . voraussagen konnte, daß Neugeborene bei der zweiten Injektion am folgenden Tage schon bei der Desinfektion weinen.« Und über das Gedächtnis: ».. . es gibt auch eine vorgeburtliche Erinnerung: Kinder von Wirtsfrauen sind nach den Beobachtungen unserer Nachtschwestern oft bis nach Mitternacht wach, ohne dabei zu
schreien, während Kinder von Bäckersfrauen morgens 2 bis 3 Uhr häufig unruhig werden. Durch die Tagesarbeit und die Nachtruhe der Mutter hat sich das Kind vor der Geburt schon an den rhythmischen Wechsel zwischen Bewegung und Ruhe gewöhnt.« Hier ist offensichtlich noch viel zu erforschen; mit Sicherheit dürfte aber aus diesen und anderen Beobachtungen Stirnimanns hervorgehen, daß wir das Empfindungs-, Wahrnehmungs- und Gefühlsleben des Neugeborenen weit unterschätzt haben. Sachgemäße Säuglingspflege, Ernährung und Hygiene schienen lange Zeit das Wichtigste und völlig Ausreichende für das Kleinstkind zu sein. Erst durch die sorgfältige Erforschung der frühen Kindheit, vor allem auch durch die Psychoanalyse Freuds und seiner Schüler, haben wir hier ganz neue Einsichten gewonnen, ergänzt durch die Verhaltensforschung. Wir verdanken ihnen das Wissen um die prägende Bedeutung von Ersteindrücken und Früherfahrungen, besonders auch das Wissen um die Bedeutung der ersten Lebenswochen. Zwar hatte schon Goethe (Gespräch mit Knebel 1810) die gleiche Erkenntnis gehabt, wenn er sagte: »Ein Grundübel bei uns ist, daß auf die erste Erziehung zu wenig gewandt wird. In dieser aber liegt größtenteils der ganze Charakter, das ganze Sein des künftigen Menschen«. Solche intuitiven Einsichten blieben aber vereinzelt, und es wurden nicht die nötigen Folgerungen daraus gezogen. Heute wissen wir, daß die erste Umwelt dem Kinde neben der erwähnten unerläßlichen Säuglingspflege auch emotionale Wärme, Zuwendung, ein ihm angemessenes Maß sowohl an Reizen wie an Ruhe und eine gewisse Stabilität des Lebensraumes bieten muß, damit es sich vertrauend und aufgeschlossen antwortend zu ihr einstellen kann. Von großer Wichtigkeit ist dabei besonders, daß das Kind genügend körpernahe Zärtlichkeit erlebt. Erfährt das Kind dagegen in dieser Frühstzeit die Welt als unheimlich und unzuverlässig, als leer, oder aber als überrennend und überschwemmend, wird es sich von ihr zurücknehmen, abgeschreckt werden. Anstatt sich vertrauend der Welt zuzuwenden, wird es ein ganz frühes und tiefes Mißtrauen erwerben. Sowohl die Leere der Welt, die das Kind erlebt, wenn es zu oft und zu lange allein gelassen wird, als auch ein Übermaß an Reizen und wechselnden Eindrücken, oder eine zu große Intensität der Reize, wirken schizoidisierend auf es; es wird dann bereits im ersten Ansatz seiner Weltzuwendung gestört und gleichsam auf sich selbst zurückgeworfen. Rene Spitz hat in seinen Untersuchungen an Heimkindern gezeigt, daß Kinder, die in den ersten Lebenswochen zu lange von
der Mutter getrennt wurden, und so einen ganz frühen Ausfall an mütterlicher Zuwendung erlebten, schwere bis irreparable Schädigungen in ihrer Entwicklung nahmen - selbst bei bester Ernährung und einwandfreien hygienischen Bedingungen, die sie in einem Heim vorfanden, in dem 10 Kinder auf eine Kinderschwester kamen. Alle ganz früh vernachlässigten oder durch ein Reizüberangebot verschreckten Kinder werden zumindest erhebliche Verspätungen, Einseitigkeiten, Ausfälle oder nicht altersangemessene Frühreife in ihrer Entwicklung aufweisen, weil sie die hier notwendigen Lebensbedingungen nicht oder nicht ausreichend erhielten, und dadurch altersunangemessenen Ängsten ausgesetzt waren. Besonders leicht kommt es zu solchen frühen schizoidisierenden Schädigungen auch bei den von Anfang an ungeliebten oder unerwünschten Kindern; weiter bei solchen, die frühen Trennungen etwa durch längeren Klinikaufenthalt wegen Erkrankungen, oder dem Verlust der Mutter ausgesetzt waren. Gleiches gilt bei lieblosen oder zu gleichgültigen Müttern, bei zu jungen Müttern, die für die Mutterschaft noch nicht reif waren, gilt auch für die »goldeneKäfig-Kinder«, die oft lieblosem oder gleichgültigem »Personal« überlassen werden, weil die Mutter »keine Zeit« für sie hat; auch die Mütter, die nach der Geburt zu früh wieder arbeiten und das Kind zu lange sich selbst überlassen müssen, können ihm nicht das geben, was es hier braucht. Neben solchem Mangel an liebender Zuwendung in der Frühstzeit als einer Quelle für schizoide Persönlichkeitsentwicklungen, ist die andere das Reizüberangebot, wie es bei den Müttern vorliegt, die das Kind nicht in Ruhe lassen und keine Einfühlung in seine Bedürfnisse haben. Das erscheint vielleicht weniger einleuchtend und soll deshalb noch näher beschrieben werden: Für die beginnende Orientierung des Kleinstkindes ist es unerläßlich, daß seine Umgebung eine gewisse Stabilität aufweist, wodurch sie ihm allmählich vertraut wird, so daß es Vertrauen zu ihr fassen kann - Vertrautwerden ist die Basis des Vertrauenkönnens. Ein zu häufiger Wechsel der Bezugspersonen, ein Zuviel an Wechsel der Umgebung und an Sinneseindrücken, kann von ihm nicht verarbeitet werden (z. B. anhaltende lärmende Geräuschkulissen durch Radio und Fernsehen, helle Beleuchtung bis in die Schlafenszeit des Kindes, häufige unruhige Reisen usf.). Solche Unruhe der Umgebung und die Mütter, die gleichsam in das Kind einbrechen, sein Bedürfnis nach Ruhe und Alleinsein überrennen, indem sie sich zuviel mit ihm beschäftigen, es überall mit sich herumschleppen und ihm keine Möglichkeit zu seinen Eigenimpulsen lassen, bewirken ebenfalls, daß das Kind sich zurücknimmt und sich
ängstlich und irritiert verschließt. Neben diesen Milieus gibt es auch solche, die das Kind früh überfordern und dadurch schizoidisierend wirken, weil sie ihm kein organisches Wachstum ermöglichen. Es sind diejenigen, in denen sich das Kind zwischen sehr schwierigen oder unreifen Erwachsenen hindurchlavieren muß, die mit ihren eigenen Schwierigkeiten bzw. mit dem Leben nicht fertig werden. Es muß dann zu früh Stimmungen erspüren und Situationen verstehen, um die an sich gespannte und zugleich labile Atmosphäre nicht noch mit sich selbst zu belasten, ja, es muß nicht selten die Elternrolle für sich selbst und die Eltern übernehmen, weil es an ihnen keinen Halt findet und sie selbst keinen in sich haben. Das ist natürlich eine grenzenlose Überforderung für ein Kind; bevor es sich selbst gefunden hat, wird es in die Elternrolle geschoben, muß ein Verständnis für die Erwachsenen aufbringen, daß es gar nicht dazu kommt, es selbst zu sein, weil es immer nach allen Seiten denken, vermitteln, verstehen und ausgleichen muß, auf solche Weise das Leben der anderen mehr leben muß als es sein eigenes leben kann. Damit wird es nicht nur um seine Kindheit betrogen, sondern es bleibt auch sein Wesenskern unentwickelt, die Sicherheit in sich selbst, und es wird ihm zum Lebensgrundgefühl, auf brüchigem Boden zu stehen. Stand man so in der Welt, wird man bemüht sein, sich unverletzlich zu machen wie Siegfried durch das Bad im Drachenblut, um wenigstens der Welt keine Blößen zu zeigen - es werden aber immer verwundbare Stellen übrig bleiben. Wie kann man sich unverletzlich machen? Offenbar, indem man sich gefühlsmäßig nicht mehr erreichen läßt, indem man gleichsam mit einer Tarnkappe unerkannt und anonym durch die Welt geht. Man legt sich eine glatte Fassade zu, hinter die niemand blicken kann, so daß andere nie wissen, woran sie mit einem sind. Soweit dennoch Gefühle nicht vermeidbar sind, entwickelt man die Fähigkeit, sie bewußt zu steuern, zu dosieren. Man reflektiert sie also und lernt es, sie bewußt zuzulassen oder abzustellen, wird sich ihnen aber keinesfalls spontan überlassen, denn das könnte gefährlich werden. Als die Freundin einer jungen Patientin dieser mitteilte, ihre Eltern hätten sich bei ihr beschwert, daß die Patientin so kalt und feindselig zu ihnen sei, sagte sie nach kurzem Überlegen: »Gut, dann werde ich meinen Haß abstellen« - woraufhin ihr Verhältnis zu den Eltern noch ferner und unbezogener wurde. Es sei hier angefügt, daß wir auch noch als Erwachsene eine Toleranzgrenze gegenüber Sinneseindrücken haben; es ist bekannt, daß wir, wie es in manchen Ländern bei Verhören angewendet wird, durch anhaltende Geräuschkulissen oder Lichtein-
Wirkung, sowie durch Abgehaltenwerden vom Schlaf seelisch zermürbt werden können; lang anhaltende Einsamkeit und Dunkelheit können ähnliche Wirkungen hervorrufen. Natürlich ist die Toleranzgrenze des Kleinkindes eine viel engere. Von hier aus gesehen bekommt es auch eine besondere Bedeutung, ob ein Kind an der Brust oder mit der Rasche gestillt wird. Die regelmäßige Wiederkehr der Mutter und die beide beglückende Innigkeit beim Bruststillen ermöglicht dem Kinde nicht nur das allmähliche Wiedererkennen der Person, von der ihm so verläßlich alle Bedürfnisbefriedigung kommt, sondern läßt in ihm auch die ersten Ansätze von auf einen Menschen gerichteter Hoffnung, von Dankbarkeit und Liebe entstehen. Beim Flaschenkind können immer wieder wechselnde Personen, die sich dazu noch sehr verschieden dem Kind gegenüber verhalten mögen, diesen Entwicklungsvorgang zumindest erschweren. Es ist dabei komplizierteren Lernvorgängen ausgesetzt, und wird sich schwerer so intensiv an einen Menschen gebunden fühlen, wie das Brustkind. Wenn wir für die Entstehung der Schizoidie den Mangel an Bindung als ein entscheidendes Charakteristikum erkannten, können Ansätze dazu schon hier gelegt werden durch den Ausfall der geschilderten Innigkeit zwischen Mutter und Kind. Die Folge aller beschriebenen Störungen ist jedenfalls, daß das Kind sich von Beginn an gegen die Welt wehren und vor ihr schützen muß, oder von ihr enttäuscht wird. Wenn es draußen keinen adäquaten Partner findet, greift es auf sich selbst zurück, nimmt sich selbst zum Partner, und vollzieht den Schritt von sich weg auf das Du hin unzureichend. In der Weiterentwicklung und wenn es später keine korrigierenden Erfahrungen machen kann, entstehen daraus die oben beschriebenen Lücken, die Neigung zur Unabhängigkeit und die Egozentrizität, die Selbstbezogenheit. So sehen in großen Zügen die Umweltfaktoren aus, die schizoide Persönlichkeitsentwicklungen begünstigen. Wir können hier nur andeuten, daß die Generation, in deren Frühzeit der Krieg fiel, der für viele Kleinkinder ähnliche wie die oben erwähnten Umweltbedingungen bedeutete (Unruhe in den ersten Lebenswochen und darüber hinaus durch nächtliche Bombenangriffe, Flüchtlingsschicksale, Trennung der Familie, Verlust der Heimat usf.), daß diese Generation gehäuft schizoide Züge aufweist: ihre Abneigung gegen familiäre Bindungen; die Neigung zu Gruppenbildungen und Massenveranstaltungen, bei denen man sich als zugehörig erleben und doch anonym bleiben kann; und die Unverbindlichkeit in der Beziehung der Geschlechter, können hierher gerechnet werden. Das Halbstarkenproblem ist hiermit in Zusam-
menhang zu sehen, das auftrat, als diese Generation in die Pubertät kam. Auch manche Züge der modernen Kunst, die durch den »Verlust der Mitte«, wie man es genannt hat, charakterisiert werden können. Schizoide Kunst wirkt am ehesten aufrüttelnd, oft ist sie aber abstoßend. Nach Fuhrmeister und Wiesenhütter (»Metamusik«) soll sich in Orchestern, die vorwiegend moderne Kompositionen aufführen, häufig das gesamte Musikerensemble nach Proben solcher Stücke krank fühlen. Aber auch die gesamte Umweltsituation des westlichen Menschen wirkt sich schizoidisierend aus: die Welt gibt uns immer weniger Geborgenheit; trotz allem Komfort fühlen wir uns immer gefährdeter, und unser Lebensgefühl wird labilisiert durch die Überfülle an Reizen, denen wir ausgesetzt sind und gegen die wir uns nur schwer abschirmen können; das Schreckgespenst möglicher Kriege und das Wissen, daß wir heute in der Lage sind, uns selbst total zu vernichten, die gefährliche Machbarkeit und Beeinflußbarkeit auch lebendiger Entwicklungen durch Technik und Naturwissenschaften, haben in uns ein Gefühl existentieller Bedrohtheit entstehen lassen, wie wir es für die Entstehung schizoider Strukturmerkmale erkannt hatten. Als Gegenbewegung läßt sich die zunehmende Neigung zum Yoga, zu meditativen Übungen bewerten, und das spürbar werdende Bedürfnis nach einer Rückbesinnung auf die Innenwelt läßt sich noch im Gebrauch der Drogen erkennen; die Hippies und Gammler wollen bewußt auf die Errungenschaften einer Technik und Zivilisation verzichten, deren unkontrollierte Herrschaft uns allen immer fragwürdiger geworden ist. Die Beherrschung der Natur, die Zeit und Raum überwindende Technik, und die Lebensbedingungen, unter denen wir unseren Existenzkampf durchführen müssen, drohen unsere gemüthaften Seiten immer mehr verkümmern zu lassen, so daß wir von einem Schizoidisierungsprozeß der westlichen Gesellschaft sprechen können. Mangel an altersgemäßer Geborgenheit in der frühesten Kindheit ist also gleichsam die Kurzformel für die Entwicklung schizoider Persönlichkeitsstrukturen, soweit sie mit den Umwelteinflüssen zusammenhängen. Ob und wie weit vorgeburtliche, intrauterine Einflüsse über den mütterlichen Organismus hier schon mit hereinwirken, ist noch zu wenig erforscht, wenn auch durchaus wahrscheinlich. So gibt Stirnimann in seinem schon erwähnten Buch an, daß es gelang, die Hörfähigkeit schon vor der Geburt nachzuweisen: Man stellte eine schwangere Frau vor den Röntgenschirm und ließ eine Autohupe ertönen, woraufhin das Kind zusammenzuckte. Möglicherweise kann über das emotionale und af-
fektive Erleben der Mutter, über ihre gefühlsmäßige Einstellung zur Schwangerschaft und zum Kinde, jene Ungeborgenheit bereits im Mutterleib beginnen, wenn die Mutter statt Bejahung und freudiger Erwartung - aus welchen Gründen auch immer - feindselige, ablehnende oder haßerfüllte Einstellungen zu dem werdenden Kind hat. Beispiele für schizoide Erlebnisweisen Ein begabter, aber sehr eigenwilliger und fast kontaktloser Musiker lebte in einer schwierigen finanziellen Situation. Von einem Bekannten bekam er eine Stellung vermittelt, die gut bezahlt war, auch im Rahmen seiner Interessen lag, und so eine entscheidende Hilfe für ihn bedeutet hätte. Am Tage, an dem er die Stelle antreten sollte, die er bereits zugesagt hatte, blieb er unentschuldigt weg und verlor die Chance. Vor sich selbst argumentierte er, der Freund habe ihm nur seine Überlegenheit zeigen und ihm seine klägliche Lage vor Augen führen wollen - vielleicht habe er sogar homosexuelle Motive gehabt. Statt also annehmen zu können, was ihm wohlwollend angeboten worden war, bekam er Angst, abhängig zu werden und dem anderen dankbar verpflichtet sein zu müssen. Er mußte das vor sich selbst umdeuten, indem er dem Freunde fragwürdige Motive unterschob. Etwas tiefer unter dieser schwer verständlichen Haltung lag aber zugleich, daß er dem anderen eine Bewährungsprobe zumutete: Wenn er es mit seinem Helfenwollen wirklich ernst meint, und sich durch mein Verhalten nicht abschrecken läßt, wenn er mich trotzdem nicht fallen läßt, bedeute ich ihm wirklich etwas. Hier sieht man recht klar die Aussichtslosigkeit, aus solchem verhängnisvollen Zirkel herauszukommen und neue Erfahrungen mit Menschen zu machen: Wann ist für ihn die Garantie gegeben, daß er an eine echte Zuwendung glauben könnte? Und wer wäre andererseits bereit, sich soviel zumuten zu lassen, und sich um das Verständnis der Hintergründe solchen Verhaltens zu bemühen? Dazu ist die Welt im allgemeinen in keiner Weise geneigt. Dabei lag die Situation bei diesem Mann insofern noch komplizierter, als er fast gleich stark wünschte, der Bekannte möchte sich trotz seines Verhaltens weiter um ihn bemühen, wie daß er ihn fallen ließe. Im ersten Falle hätte er nämlich seine Meinung von den Menschen einmal korrigieren müssen und vertrauen können, wonach er sich sehnte. Im zweiten Falle wäre er in seiner Weltan-
schauung, daß die Menschen doch nicht vertrauenswürdig seien, bestärkt worden, und hätte sich weiter »berechtigt« voll Bitterkeit in seine heroische Einsamkeit und seine Menschenverachtung zurückziehen können, was bequemer war. Dieser Musiker hatte häufig wechselnde Freundinnen, die er jeweils bald verließ, weil ihm bei der einen die Art wie sie sich kleidete, bei der anderen die Beine, bei einer dritten ihre Bildung usf. nicht zusagten - Rationalisierungen für seine Bindungsangst und zugleich ein Schutz davor, jemanden vielleicht doch einmal zu lieben und sich damit allen Gefährdungen auszusetzen, die »Lieben« bedeutet. Biographisch sei hier nur angedeutet, daß er ein außereheliches Kind war, das früh immer wieder zu verschiedenen Verwandten gegeben und von diesen als lästig empfunden wurde. Ein weiteres Beispiel für diese Persönlichkeitsstruktur: Ein Mann in mittleren Jahren erlebte sich immer wieder in quälender Form als Außenseiter. Er hatte das Gefühl, daß er nirgends wirklich dazugehörte, daß andere Menschen ihn ablehnten oder spöttischkritisch ansahen. Er litt darunter, es machte ihn unsicher, und seine berufliche Laufbahn drohte immer wieder daran zu scheitern, daß er von anderen als Fremdkörper und als »äußerst schwierig« empfunden wurde und nun, im typischen verhängnisvollen Zirkel, in seiner Reaktion darauf tatsächlich immer schwieriger zu behandeln war. Er wurde öfter plötzlich, scheinbar ganz unmotiviert, ausfällig, gegen Vorgesetzte verletzend ironisch, »schnitt« Arbeitskollegen grundlos, fiel in Kleidung und Lebensführung so aus dem Üblichen heraus, daß man sich immer mehr von ihm zurückzog, nichts Gemeinsames mit ihm hatte. Auf Grund der zunehmenden Distanz und Vereinsamung projizierte nun nicht nur er vieles auf seine Umwelt, sondern, wie es dann in regelmäßig zu findender Wechselseitigkeit zu sein pflegt, die Umwelt projezierte ihrerseits ebensoviel auf ihn, wie wir ja immer dazu neigen, auf uns fremd, ungewohnt oder unheimlich Erscheinendes eigene Probleme und nicht integrierte, unbewußte Seelenanteile zu projizieren. So wurde er mehr und mehr gleichsam zum schwarzen Schaf, zum Sündenbock des jeweiligen Kollektivs, in dem er lebte und wirkte. Da man ihn wenig wirklich kannte, war er den meisten Kollegen irgendwie unheimlich, ohne daß sie sich indessen jemals bemühten, sich über die Gründe ihrer Ablehnung klar zu werden. So bildeten sich bald Gerüchte um ihn; vielleicht sei er »nicht ganz in Ordnung«; vielleicht stimme es mit seiner Sexualität nicht; vielleicht sei er politisch nicht zuverlässig usf., kurz - er schien verdächtig zu sein, ohne daß man recht wußte wie und warum. Daß man dabei eigene unverarbeitete Probleme
auf ihn projizierte, war niemandem bewußt. Nichts von alledem wurde indessen ihm gegenüber je ausgesprochen; er verspürte nur die wachsende, ihm unverständliche Distanzierung der anderen, erfaßte hier und da einen mißtrauischen Blick oder sah, wie sie sich untereinander mit Blicken verständigten, die er nicht deuten konnte - kurz, von beiden Seiten sich aufschaukelnd, ergab sich ein Teufelskreis, der unlösbar wurde. Ich will nun den biographischen Hintergrund dieses Mannes etwas breiter schildern, um aufzuzeigen, wie dort die Keime gelegt wurden zu seiner Schizoidie, zu den späteren sozialen und Kontaktschwierigkeiten, die er selbst zunächst gar nicht in diesem Zusammenhang sehen konnte; er empfand sie nur als rätselhaft und wie schicksalhaft. Er stammte aus einem ungewöhnlichen Milieu. Der Vater war Reiseschriftsteller und in der frühen Kindheit des Sohnes, des einzigen Kindes, sehr erfolgreich. Er verdiente damals viel Geld und lebte in großem Stil mit rauschenden Festen. Die Mutter ging in diesem gesellschaftlichen und luxuriösen Leben ganz auf und hatte für das Kind wenig Zeit - tiefer gesehen, wenig Interesse und Liebe. So war er von klein auf weitgehend einem Hausmädchen und danach, ebenfalls noch sehr früh, einem schwarzen Diener überlassen. Er meinte zu erinnern, daß beide immerhin nicht ausgesprochen unfreundlich zu ihm gewesen seien. Als er 5 Jahre alt war, erfolgte die Scheidung der elterlichen Ehe, die schon in den Jahren vorher kaum eine wirkliche Gemeinschaft genannt werden konnte, da beide Eltern - sie hielten das für modern und für ein Zeichen von Freizügigkeit - mehrfach auch intime Beziehungen zu anderen Partnern hatten. Er blieb beim Vater, und ihm wurde zunächst nur mitgeteilt, die Mutter ginge »für längere Zeit fort«, ohne Kommentar. Bald darauf kam übrigens die Mutter - was er erst viel später erfuhr - für etwa 2 Jahre in eine Nervenklinik wegen einer Geisteskrankheit. Wir können danach vermuten, daß sie auch vorher seelisch nicht gesund gewesen war. Der Vater heiratete kurz nach der Scheidung eine Schwester der Mutter - es war seine dritte Ehe. Diese Stiefmutter hatte einen alten Haß gegen ihre Schwester, die zu Hause immer die Bevorzugte gewesen war; sie beging später, als der Junge 15 Jahre alt war, Selbstmord, worauf der Vater ein viertes Mal heiratete. In diesem Milieu wuchs Herr X. auf. Er fühlte sich immer als fünftes Rad am Wagen; niemand kümmerte sich wirklich um ihn; er hatte schon früh das Gefühl, zu stören, eigentlich überflüssig und letztlich unerwünscht zu sein. Verstärkt wurde das noch durch folgende Umstände: Das elterliche Haus lag außerhalb der Stadt auf
einem isolierten Hügel in einer noch wenig besiedelten Umgebung, so daß für den Jungen auch keine Spielkameraden verfügbar waren. Der Vater, ein Eigenbrötler, trank häufig und lebte einen eigenwilligen Lebensstil; er machte die Nacht zum Tage, arbeitete nur nachts, weil er da am ungestörtesten war, und schlief am Tage, so daß der Sohn ihn kaum zu Gesicht bekam; auch war er oft wochenlang auf Reisen. Er hielt nicht viel von kollektiven Ordnungen, machte sich über sie lustig - sie seien nur für die Dummen und Schwachen, war seine Argumentation. So wurde der Sohn, als er ins Schulalter kam, auch nicht in die Schule geschickt, sondern bekam Privatunterricht von - wieder mehrfach wechselnden - Hauslehrern. Erst mit 10 Jahren wurde er eingeschult. Nun tauchten seine Kontaktprobleme erstmals auf, nach der angedeuteten Vorgeschichte kaum verwunderlich. Er hatte ja buchstäblich keine Erfahrungen mit Gleichaltrigen bis dahin gemacht, war noch nie in einer Gemeinschaft gewesen. Aus Unsicherheit suchte er nun nach einer Rolle, die er in der Klasse spielen, hinter der er sich verstecken konnte. Da er bei einigen Gelegenheiten, wo er ungewollt komisch wirkte, Sympathie und wohlwollendes Lachen erlebt hatte, wurde er erst zum Klassenclown, später zu dem, was wir heute einen Halbstarken nennen würden. Er warb um die Sympathie seiner Kameraden, indem er alles ironisierte, die Lehrer verulkte, gleichgültig gegen Warnungen und Strafen war, die Schule schwänzte usf. Seinem Vater machte das bei seiner Einstellung eher Spaß, so daß er sogar noch etwas an väterlicher Sympathie bekam - der Vater war stolz, daß sich der Sohn genauso wenig wie er kollektiven Ordnungen beugte. Ein freundschaftlicher Kontakt gelang ihm bei aller Sehnsucht danach nicht, weil er von den anderen als zwar interessanter und amüsanter, aber letztlich doch komischer Außenseiter empfunden wurde. Da er zugleich sehr begabt und gescheit war, hatte er eine gewisse Anerkennung der Kameraden, aber keinen wirklichen Freund. Mit 12 Jahren begann dann, was er selbst später seine »große Krankheit« nannte: Schmal, blaß, hoch aufgeschossen und anfällig für Krankheiten, wie er war, ließ ihn die Stiefmutter vom Turnen befreien und untersagte ihm jede Art von Sport, »wegen deines Herzens und weil du zu schnell gewachsen bist«. Das Ergebnis war unter anderem, daß er kein gesundes Körpergefühl entwickeln konnte, sich in seinem Körper nicht zu Hause fühlte, und die dafür charakteristischen Züge von Gehemmtheit und Linkischkeit aufwies; damit fiel ein weiteres Glied möglichen Kontaktes, leiblicher Nähe und gesunden Rivalisierens aus.
Die Stiefmutter schleppte ihn, hinter Überbesorgtheit ihre Abneigung gegen ihn verbergend, von Arzt zu Arzt. Er mußte lange im Bett liegen, ohne daß etwas Bestimmtes gefunden wurde. Die Ärzte spielten das Spiel mit, bis es endlich einem von ihnen gelang, eine latente Lungentuberkulose festzustellen. Nun wurde er für über 2 Jahre auf sein Zimmer und meist sogar auf das Bett beschränkt. In dieser Zeit las er Unmengen von Büchern, wahllos, was ihm gerade zugänglich wurde, aus der reichhaltigen väterlichen Bibliothek. Er formulierte einmal in der Behandlung sehr treffend über sich: »Ich bin emotional 10 Jahre jünger als intellektuell« - was ein typischer Ausspruch schizoider Menschen sein könnte. »Ich weiß nicht, ob ich homo- oder heterosexuell bin«, war eine andere Feststellung von ihm, die Unsicherheit über sein Geschlechtsempfinden ausdrükkend. Mit über 14 Jahren kam er dann erst wieder in die Schule, und dieser zweite Versuch verlief kontaktmäßig nicht glücklicher als der erste. Die 2 Jahre der Isolierung, gerade um die Pubertät herum, die er wieder abgesondert von Gleichaltrigen erlebte, wodurch er vorwiegend auf seine Phantasie angewiesen und ohne Partner war, hatten ihn verständlicherweise noch mehr auf sich selbst zurückgeworfen und seine Kommunikationsschwierigkeiten verstärkt. Wieder wurde er von den anderen als Fremdkörper erlebt - er kam ja zudem als Neuling in ein Klassenkollektiv, das schon durch Jahre zusammengewachsen war. In einem Testfragebogen nach zukünftigen Berufswünschen schrieb der 15jährige »Berufsraucher«. Man reagierte sauer auf diese Halbstarkenironie und sah nicht die dahinterstehende Not und Hilflosigkeit, verstand sein Verhalten nicht als Alarmsignal an die Umwelt. Als Student trat er in eine schlagende Verbindung ein -etwas ihm völlig Ungemäßes, aber ein erneuter Versuch, »dazuzugehören«, sich mit Gleichaltrigen zu messen und sich männlich zu bewähren. Aus den gleichen Beweggründen meldete er sich später freiwillig zum Militär, blieb aber auch hier ein Sonderling, der nur häufig durch seine Ungeschicklichkeit die anderen zu gutmütigem Spott reizte. Nach dem Militär setzte er seine Studien fort; er studierte Geschichte, Sprachen und Literatur. Nach Abschluß des Studiums ging er ins Lehrfach und wurde ein fachlich anerkannter Eigenbrötler, der nur in der Welt der Bücher zu Hause war. Die Schüler schätzten seine profunden Kenntnisse und sahen ihm seine Schwächen nach. Mit 24 Jahren heiratete er - richtiger wäre es zu sagen: wurde er geheiratet. Die Frau beklagte sich bald, daß ihn seine Bücher und Studien mehr interessierten als sie - was er gar nicht
verstand, da er ihr das ihm mögliche Maß an Zuwendung gab, und seinerseits enttäuscht war, daß sie zu wenig auf seine geistige Welt und seine Interessen einging. So fielen in die noch junge Ehe bald beiderseitige Untreuen, auf seiner Seite auch homosexuelle Erlebnisse, auf die er dann mit schweren Schuldgefühlen und an Verfolgungswahn grenzenden Reaktionen antwortete, die ihn schließlich zur Psychotherapie brachten. Die mitgeteilte Biographie enthält manches Typische in bezug auf den lebensgeschichtlichen Hintergrund schizoider Persönlichkeitsentwicklungen: Zu große Ferne, Gleichgültigkeit und unregelmäßige Verfügbarkeit der Bezugspersonen von Beginn an; dazu Mangel an körpernaher Zärtlichkeit und Verständnis für die Bedürfnisse des Kindes. Ferner der Ausfall an Führung, und Alleingelassenwerden bei wichtigen Entwicklungsschritten; zu wenig Kontakt und gemeinsames Erleben mit Gleichaltrigen, zu wenig Zugehörigkeit zu Gruppen, zu einer Gemeinschaft. Ungenügende Entwicklungsmöglichkeiten für die Gefühlsseite, für das Vertrauenkönnen. All das läßt Lücken im Umgehen mit anderen Menschen entstehen, einen Mangel an Lebenstechnik, der einen immer wieder auf sich selbst zurückwirft, nicht zuletzt durch die Reaktionen der Welt, die einen solchen Menschen noch mehr auf die Rolle des Außenseiters festlegen. Man kann wohl verstehen, daß auf solcher Basis die eine Grundform der Angst, die vor der Hingabe und Nähe, sich entwickelt, daß dementsprechend der Impuls zur Selbstbewahrung überwertig werden muß, und die Autarkie als einzige Möglichkeit der Selbsterhaltung erscheint. Denn nun macht der Schizoide sozusagen aus der Not eine Tugend, indem er seine Einsamkeit zu einem Wert erhebt. Das kann sich steigern bis zu extremen Formen des Narzißmus und zu verbitterter Feindschaft gegen alle und alles, zur Menschenverachtung, zum Zynismus und Nihilismus. Dahinter indessen, von niemandem bemerkt und ängstlich verborgen, besteht eine tiefe Sehnsucht nach Nähe, Vertrauen, nach Lieben und Geliebtwerdenwollen. Man kann wohl auch verstehen, daß von hier aus die Entwicklung leicht ins Asoziale und Kriminelle gehen kann - es bedarf manchmal nur noch einiger zusätzlicher Auslöser dafür. Die Steigerung der Verhaltensweisen Schizoider von anfänglichem Mißtrauen über Ablehnung, Indifferenz, Kälte bis zum Haß und zur Menschenverachtung, ist meist die Reaktion auf ihre Umwelterfahrungen, die zu dem oben beschriebenen Teufelskreis führen. Noch ein kurzes Beispiel, eine Selbstschilderung, die die fehlende emotionale Kontaktbezogenheit und den Versuch, sie durch
rationale Mittel der Orientierung zu ersetzen, besonders plastisch schildert - ein schizoider Patient sagte einmal: »Ich habe immer den Eindruck, daß da, wo andere aus dem Gefühl heraus reagieren, bei mir ganz schnell eine Reihe von Schaltprozessen abläuft.« Eine ausgezeichnete Beschreibung davon, daß bei schizoiden Menschen die ungeübte Gefühlsbeziehung durch intellektuelle Wachheit und radarähnliche Sensibilität der Sinnesorgane und Denkvorgänge - die »Schaltprozesse« - ersetzt wird. Schwere Belastungen und Konflikte, die sie nicht bewältigen können, setzen sich dann in körperliche Symptome um; bei ihnen werden entsprechend ihrer Problematik vor allem die Sinnesorgane, sowie die Organe des Kontaktes und des Austausches betroffen, die Haut und die Atmung; asthmatische Beschwerden und Ekzeme gehören hierher, die manchmal schon sehr früh auftreten. Die Haut ist ja das Organ, das uns sowohl abgrenzt von der Umwelt, als auch mit ihr in Berührung bringt, und an ihr drücken sich die Kontaktschwierigkeiten schizoider Menschen bevorzugt aus, in Durchblutungsstörungen, Psoriasis und Schweißen usf. Ergänzende Betrachtungen Fassen wir noch einmal zusammen: Beim schizoiden, »gespaltenen« Menschen ist der ganzheitliche Erlebniszusammenhang seiner seelischen Eindrücke, Antriebe und Reaktionen in verschieden hohem Maße zerrissen; vor allem seine Vitalimpulse sind isoliert, vom Gefühlserleben abgespalten. Bei ihm ist, mit anderen Worten, die Integration der verschiedenen Erlebnis- oder Persönlichkeitsschichten durch das einschmelzende Gefühl nicht geglückt. Vor allem zwischen Verstand und Gefühl, zwischen Rationalität und Emotionalität, besteht ein großer Unterschied des Reifegrades; Gefühlsabläufe und Verstandeserfahrungen laufen gleichsam getrennt, verschmelzen nicht zu einheitlichem Erleben. Weil er sich von früh an durch den Verstand und die Sinneswahrnehmungen orientieren mußte, da er keine ausreichende emotionale Orientierung lernen konnte, stehen ihm keine Gefühlsnuancen zur Verfügung; er kennt vorwiegend die primitiven Vorformen des Gefühls, die Affekte; es ist, als ob auf der Palette seiner Ausdrucksmöglichkeiten die Mitteltöne fehlten, nur die Extreme schwarz und weiß vorhanden sind. All das sind Folgen des Ausfalls an emotionalen mitmenschlichen Bindungen. Als Schutz gegen seine Angst vor der Nähe versucht der schizoide Mensch die größtmögliche Unabhängigkeit zu erreichen. Mit
solcher Neigung zur Autarkie und mit dem Ausweichen vor Nahkontakten ist aber ein Kreisen um sich selbst, eine zunehmende Egozentrizität unvermeidbar verbunden, die ihn mehr und mehr in die Isolierung treibt. Man kann verstehen, daß solche Menschen wohl die intensivsten Ängste überhaupt erleben, denn Einsamkeit und Isolierung wirken angstverstärkend. Vor allem die Angst, verrückt zu werden, kann bei ihnen unerträgliche Grade annehmen auch in ihr spiegelt sich das Erleben des Anders-als-die-anderenSeins und der Ungeborgenheit in der Welt. Ein solcher Patient sagte einmal: »Angst ist die einzige Realität, die ich kenne«; charakteristischerweise konnte er die Angst nicht als Angst vor etwas Bestimmtem, Konkretem, schildern, sondern er erlebte sie als total. Und ein anderer: »Ich kenne keine Angst; irgendwo hat etwas in mir wahrscheinlich Angst, aber diese Angst ist nicht in meinem Ich« - er hatte sich völlig von seiner Angst distanziert, sie schien gar nicht mehr in seinem Bewußtsein zu sein; aber man kann sich denken, wie labil ein solcher Zustand ist, wie leicht das Ich von der abgespaltenen Angst überschwemmt werden kann. Schon das Mitteilenkönnen einer Angst ist eine Erleichterung. Wenn man das aber nie wagt, weil man fürchtet, sich dadurch den anderen auszuliefern oder für verrückt gehalten zu werden, wenn man sich ihnen in seiner ganzen Schwäche und Ungeschütztheit zeigen würde, kann Angst durch Anhäufung über lange Zeit Grade erreichen, die nicht mehr auszuhalten sind. Dann kann es zu Durchbrüchen der Angst kommen bis zur Psychose als letztem verzweifelten Versuch, der Angst zu entrinnen. Man wird »verrückt«, man »ver-rückt« die realen Maßstäbe und rettet sich in eine irreale Welt, in der man selbst gesund und die Außenwelt krank erscheint - was in manchen Fällen sogar stimmen kann. Man verlegt damit seine Ängste auf Objekte der Außenwelt, wo man sie leichter vermeiden, bekämpfen oder beseitigen kann; vor der Innenangst gibt es kein Entrinnen. Mit wachsendem Autismus verliert der schizoide Mensch immer mehr das Interesse an der Welt und den Menschen, ein Vorgang, den man als Objektverlust bezeichnet hat und der von ihm selbst oft als Weltuntergangserlebnis beschrieben wird. Wenn man nämlich seine interessierte Anteilnahme an der Welt, seine emotionale Zuwendung zu ihr, immer mehr zurücknimmt, verarmt die Welt, sie »geht unter«, wird zu nichts, wird ver-nichtet. Ein solches Lebensgefühl drücken die Träume schizoider Menschen oft aus: »Ich befinde mich auf einer großen rotierenden Scheibe, wie ein Teufelsrad, das schneller und schneller kreist; ich kann mich kaum noch halten, rutsche dem äußeren Rand immer näher und kann jeden
Augenblick ins Nichts hinausgeschleudert werden.« Oder: »Eine Festung aus Zementmauern mit wenigen kleinen Gucklöchern in einer riesigen Sandwüste; die Festung ist schwer bewaffnet und mit Lebensmitteln für Jahre ausgestattet; ich bewohne sie allein.« Die Einsamkeit, Abschirmung, die Angstabwehr und das Autarkiebedürfnis lassen sich kaum treffender darstellen. »Eine öde Schneelandschaft; im Hintergrund ein paar abgeknickte Bäume, im Vordergrund eine kleine Wanne mit warmem Wasser; ich fühle mich sehr einsam.« Dieser Traum stammt von einem Jugendlichen und schildert seine Situation: Er wurde als drittes und letztes Kind nach der Rückkehr des Vaters aus dem ersten Weltkrieg geboren. Der Vater hatte eine Kopfverwundung, durch die er ungemein störbar und reizbar war, und für die Verwaltung des Bauernhofes, auf dem die Familie lebte, weitgehend ausfiel. Die Mutter war sehr um ihn bemüht, übernahm zugleich die Führung des Hofes und hatte für das Kind wenig Zeit in der Sprache des Traumes: Das Wenige an Wärme, wie es in der Wanne dargestellt ist. Der Junge fühlte sich sehr einsam und konstruierte als etwa 12jähriger folgende »Verbindung« zu der Mutter: sie pflegte abends, wenn er schon im Bett lag, Klavier zu spielen; er verband eine Taste durch einen Draht und eine Batterie mit einem Lämpchen an seiner Bettwand, das aufleuchtete, wenn die Mutter beim Spielen diese Taste niederdrückte. Ähnliche psychodynamische Hintergründe liegen nicht selten technischen Erfindungen zugrunde, die unbewußt ein Mangelerlebnis der Kindheit korrigieren sollen, hier ein ungesättigtes Kontaktbedürfnis. Man könnte schizoides In-der-Welt-Sein kaum prägnanter darstellen als es solche Träume tun. Eine ähnliche Gestimmtheit scheint Maxim Gorki gekannt zu haben, der eine sehr schwere Kindheit hatte und sehr früh auf Wanderschaft ziehen mußte, um Geld zu verdienen. Als er einmal Tolstoi besuchte, erzählte er diesem einen Traum, in dem er auf einer der endlosen winterlichen russischen Straßen ein paar Stiefel marschieren sah - nur die Stiefel. Man könnte Einsamkeit kaum knapper darstellen. Das sich Zurücknehmen von der Welt und das sich auf sich selbst Zurückziehen führt also allmählich zum Weltverlust, der mit großer Angst erlebt wird, als ein Fallen ins Nichts, in die absolute Leere, wie im Traum mit dem Teufelsrad. Häufig nehmen bei schizoiden Menschen Angstvorstellungen und Träume auch die Form von Weltkatastrophen apokalyptischer Art an. Wer sich selbst zu fest halten will, droht die Welt zu verlieren, so daß er schließlich nur noch allein zu existieren meint.
Schildern wir die Folgen, die sich aus der Angst vor der Nähe und der überwertigen »Eigendrehung« ergeben, noch an einigen Beispielen. Die damit gegebene mißtrauische Wachheit droht dann immer mehr zu krankhafter Eigenbezüglichkeit zu werden; solche Menschen hören dann, wie der Volksmund sagt, »das Gras wachsen« und »die Flöhe husten«, das heißt, sie vermeinen immer und überall Gefahren zu wittern und vermuten noch hinter der harmlosesten Bemerkung beunruhigende Motive. Als ich in meinem Praxisraum einmal ein Bild umgehängt hatte, vermutete ein schizoider Patient sofort, daß ich damit eine bestimmte, auf ihn bezogene Absicht gehabt, seine Reaktion auf die Veränderung hätte testen wollen. Neben der fast paranoiden Eigenbezüglichkeit fällt an diesem Beispiel auf, mit welcher fein registrierenden Sinnenwachheit Schizoide auch die geringsten Änderungen in der Umwelt wahrzunehmen pflegen, die anderen überhaupt nicht auffallen. Sie sind eben zu ihrer Weltorientierung fast ausschließlich auf ihre Sinneswahrnehmungen angewiesen, die sie deshalb so geschärft haben. Ein anderes Mal, als während seiner Therapiestunde das Telefon ein paarmal klingelte, meinte der gleiche Patient, ich hätte diese Anrufe bestellt, um zu prüfen, wie er auf die Störung reagieren würde. Wenn man so fast alles, was man draußen wahrnimmt, in Beziehung zu sich setzt - was jemandem anderen mit mehr Kontakt und lebendigerer Beziehung zur mitmenschlichen Umwelt gar nicht in den Sinn käme - unterliegt man mehr und mehr einem Beziehungs- und Bedeutungswahn, der bis zum eigentlichen Wahnsystem ausgebaut werden kann und dann nicht mehr zu korrigieren ist. Dann begegnet einem nichts und niemand mehr zufällig, dann geschieht draußen nichts mehr, was nicht in einer geheimen Beziehung zu einem selbst steht und eine besondere Bedeutung hat, die man nun zu ergründen bemüht ist. Das ist natürlich äußerst quälend und beunruhigend; so verliert man nicht nur alle Unbefangenheit, sondern man ist gleichsam dauernd auf dem »qui vive?«, immer bereit, sich gegen plötzliche Überraschungen und vermeintliche Gefahren abzuschirmen. Man streckt daher nur äußerst vorsichtig seine Kontaktfühler wie eine Schnecke auf die Welt hin aus, bereit, sie sofort zurückzuziehen, wenn einem jemand zu nahe kommt. Ein junger Mann, der schon mehrfach im Berufe versagt und gerade wieder einen Mißerfolg erlitten hatte, verarbeitete das Gefühl des Versagthabens wahnhaft. Er wollte sich sozial emporarbeiten, aber er hatte ein zu geringes Selbstvertrauen und auch keine Unterstützung von zu Hause, wo man meinte, er wolle nur unbedingt
etwas »Besseres« sein und »zu hoch hinaus«, er solle doch lieber in die väterlichen Fußstapfen treten und auf dem Bauernhof bleiben -Schuster bleib' bei deinen Leisten! So war er besonders ehrgeizig bemüht, es zu schaffen, es den anderen zu zeigen; daher trafen ihn seine Mißerfolge besonders schwer - schienen sie doch der Familie Recht zu geben. Wir hatten diese Zusammenhänge schon mehrfach zu verstehen versucht, uns bemüht, seine wahnhaften Vorstellungen durch genaue Realitätsprüfung aufzulösen. Aber als er die oben erwähnte Niederlage erlebt hatte, verfiel er wieder in die wahnhafte Verarbeitung: Er kam niedergeschlagen in die Behandlung und sagte bitter und fast herausfordernd: »Wollen Sie diesmal vielleicht wieder sagen, daß es nur ein Zufall war, daß ich heute auf dem Bahnhof einen Mann sah, der einen abgerissenen Anzug anhatte, der genau meinem einzigen guten Anzug glich in Farbe und Stoffart - ist das nicht ein eindeutiger Hinweis, daß er mir damit zu verstehen geben wollte, daß ich ein Versager, heruntergekommen bin?« Hier können wir die wahnhafte Verarbeitung seines Minderwertigkeitsgefühls, seines Versagthabens gut erkennen, auch die psychodynamischen Hintergründe, die ich kurz angedeutet habe. Hier sieht man auch, wie nahe Vorurteile an solche wahnhaften Vorstellungen grenzen - wir könnten cum grano salis sagen, daß ein Vorurteil schon einen Ansatz zum Wahn aufzeigen kann: Wir pflegen an Vorurteilen genauso affektiv festzuhalten, nicht bereit, sie einer gründlichen Realitätsprüfung zu unterziehen, um sie vielleicht zu korrigieren, wie jener Patient an seiner wahnhaften Vorstellung festhielt. Ansätze zu solchem Beziehungswahn kennen wir aber auch bei uns selbst, in seelisch belastenden Zeiten, oder wenn wir nicht verarbeitete Ängste oder Schuldgefühle haben. Wer etwa im Dritten Reich gegen die Partei und die Machthaber eingestellt war und öfter etwas gegen sie geäußert hatte, unterlag leicht einem gewissen Verfolgungswahn und sah in jedem SA- oder SS-Mann einen gefährlichen Feind, der vielleicht durch Denunziation gehört hatte, was man gesagt hatte, oder sonst etwas über einen wußte, was ausgereicht hätte, einen ins Konzentrationslager zu bringen. Einsamkeit und Isolierung sowie mitmenschliche Ungeborgenheit und reale Gefährdungen begünstigen wahnhafte Reaktionen. Wer nachts allein in einem fremden Haus, vielleicht noch in einem fremden Land ist und ein ihm unbekanntes Geräusch hört, wird leichter dazu neigen, es falsch und gleichsam wahnhaft zu deuten, besonders wenn er seelisch aufgewühlt oder voll Angst oder Schuldgefühl ist, als wenn er entspannt in der schützenden Gesellschaft ihm vertrauter Menschen sich befindet. So enthüllt uns der
Beziehungswahn schizoider Menschen auch nur wieder ihr Grundproblem: ihre Isoliertheit und ihre mitmenschliche Ungeborgenheit. Die Beispiele zeigen aber zugleich, wie schmal die Grenze zwischen gesund und krank ist, wie wir in Ausnahmesituationen Reaktionen zeigen, die wir sonst nur bei Kranken kennen - weil eben diese Kranken lange Zeit unter solchen Ausnahmebedingungen standen, an denen sie ihre »krankhaften« Reaktionen entwikkelten - entwickeln mußten als Selbstschutz. Noch ein Beispiel dafür, wie bei einem anderen schizoiden Patienten seine unterdrückte Kontaktsehnsucht und seine Zärtlichkeitswünsche wahnhaft verarbeitet wurden: Ein sehr einsamer und fast kontaktloser Mann in den späten Zwanzigern saß einmal im Konzert neben einem jungen Mann, der ihn außerordentlich anzog. Immer wieder blickte er ihn unauffällig von der Seite an und verspürte ein zunehmendes Verlangen, Kontakt mit ihm aufzunehmen, ihn anzusprechen. Ungeübt im Umgang mit Menschen und mit seinen eigenen Impulsen, wurde er mehr und mehr von einer Angst ergriffen, die ihn zunächst nur unbestimmt beunruhigte, dann aber sich zu einer Panik steigerte, als er vermeinte, von dem Mann farbige Kreise ausgehen zu sehen, die sich um ihn legen wollten, als ob jener ihn damit einkreisen, einfangen wolle, kalter Schweiß brach ihm aus und er mußte den Konzertsaal fluchtartig verlassen. Hier ist gut zu erkennen, wie die unterdrückten Wünsche nach Kontakt, Zärtlichkeit und dahinter auch nach homosexueller Annäherung, die er dem Manne gegenüber nicht anzudeuten, zu erkennen zu geben wagte, nun von ihm als von jenem ausgehende Bemächtigung projiziert wurden. Auch hier ist die wirkliche Situation gleichsam ver-rückt, die Innenangst wird nach außen als Bedrohung verlegt, der er sich nur durch Flucht entziehen konnte. Ist man so labil und ungeschützt der Welt innen und außen ausgesetzt, kann man verstehen, daß schizoide Menschen eine Lebenstechnik zu entwickeln versuchen, durch die sie nichts mehr wirklich an sich heranlassen, die es ihnen ermöglicht, unberührt und ungerührt zu bleiben, immer sachlich, distanziert und möglichst überlegen, durch nichts aus dem Gleichgewicht zu bringen, aber auch durch nichts mehr wirklich zu erreichen. Das kann alle Grade von kühler Distanz, Arroganz, Unnahbarkeit bis zu Eiseskälte und Gefühllosigkeit annehmen, oder, wenn diese Schutzhaltungen nicht mehr ausreichen, zu plötzlichen Schärfen und explosiven Aggressionen führen, wie wir sie beschrieben hatten. Hier kann die jeweilige Umwelt eine echte Hilfe für ihn werden, wenn sie mehr von den Zusammenhängen seines Verhaltens weiß, wenn
sie versteht, aus welcher inneren Not seine Verhaltensweisen kommen. In der Therapie schizoider Menschen kommt man mit Grenzzuständen in Berührung, die die Gefährdetheit menschlicher Existenz aufleuchten lassen. Gerade deshalb können wir von ihnen lernen, was für den Menschen existentiell wichtig ist, welche familiären und sozialen Umweltfaktoren andererseits unsere Entwicklung in einem Ausmaß gefährden, das, wenn überhaupt, nur sehr schwer ausgeglichen werden kann. Geniale Menschen entwickeln sich manchmal auf solchem Hintergrund, im Annehmen des Gefühls totalen In-Frage-gestellt-Seins, womit wir die oft schmale Grenze zwischen Genialität und Psychose angedeutet haben. So viel ist jedenfalls sicher: wenn diese Menschen es vermögen, ihr Leid und ihre Ängste durchzustehen und zu überwinden, können sie höchste Menschlichkeit erreichen. Es sei noch betont, daß schizoide Züge sehr verschiedene Intensität annehmen können. Wenn wir versuchen, eine Reihe schizoider Persönlichkeiten aufzustellen, die von durchaus noch gesund zu nennenden, über leichter und schwerer Gestörte bis zu den schwerst Gestörten führt, kämen wir etwa auf die folgende: leicht Kontaktgehemmte - Übersensible - Einzelgänger - Originale Eigenbrötler - Käuze - Sonderlinge - Außenseiter - Asoziale Kriminelle - Psychotiker. Es finden sich unter ihnen gar nicht selten geniale Begabungen. Beim Genialen wirkt sich die Einsamkeit und Ungebundenheit positiv aus, indem er freier von Traditionen und Rücksichten Dinge erkennen kann, die der Geborgene und Traditionsgebundene nicht sieht oder zu sehen wagt. Seine exponierte Situation läßt ihn zu Erkenntnissen kommen, die Grenzen überschreiten können, von denen andere sich respektvoll fernhalten. Wenn ihr Gefühlsleben nicht verarmt ist, nur scheu zurückgehalten wird, sind Schizoide sehr differenzierte und sensible Menschen, die eine tiefe Abneigung gegen alles Banale und Flache haben. Nur bei Gefühlsverarmung und Gefühlskälte können sie hinter dem eigentlich Menschlichen zurückbleiben. In ihrem Verhältnis zur Religion sind sie meist Skeptiker, oft Zyniker, scharfsinnig im Aufweisen der »Unsinnigkeit« des Glaubens, kritisch gegen Riten, Traditionen und alles Formalistische. Sie entzaubern und ernüchtern überhaupt gern, bis zur ehrfurchtslosen »Erklärung« des Unerklärlichen - wofür ja eine aufgeklärte und vorwiegend naturwissenschaftlich orientierte Zeit Möglichkeiten genug anbietet. So sind sie oft die Rationalisten, denen für bestimmte Erlebnisgebiete das Organ fehlt, weshalb man mit ihnen auch darüber nicht diskutieren kann.
Aber oft scheint es, als ob diese Einstellung zur Religion oder zum Glauben auch eine unbewußte Enttäuschungsprophylaxe ist: Sie wagen es nicht zu glauben, um nicht enttäuscht zu werden, und warten heimlich doch auf den »Beweis«, der sie überzeugen könnte. Manchmal sind sie nihilistisch und destruktiv, genießen es diabolisch, wenn sie anderen ihren Glauben zerstören können. Aber in dem Bestreben, andere zu ihrem eigenen Unglauben zu bekehren, läßt sich doch wieder die Fragwürdigkeit ihrer Einstellung erkennen; vielleicht wollen sie auch nur mit ihrem Unglauben nicht allein bleiben. Die Schwergestörten unter ihnen können aus nie erlebter Geborgenheit und Liebe nicht gläubig sein und neigen zum Atheismus. Sie machen sich dann oft selbst zum Maßstab aller Dinge, was bis zu größenwahnsinniger Überheblichkeit und zur Selbstvergottung führen kann. Es ist dann, als ob die Zurücknahme ihres Interesses an der Welt und die immer ausschließlichere Zuwendung des Interesses auf die eigene Person, dieser eine Macht und eine Bedeutung gibt, die allmählich das ganze Bewußtsein ausfüllt. Manche können aber auch im Religiösen die nie erlebte Geborgenheit suchen und finden; es wird aber kein kindlicher Glaube sein, auch kein Glaube an einen persönlichen liebenden Gott. Viel eher das Annehmen von etwas überpersönlich Unerforschlichem, dem er die Würde des bedingt freien Individuums gegenüberstellt und das Bewußtsein der humanen Aufgabe des Menschen als Mensch, die für ihn verpflichtend ist. Ethik und Moral erscheinen dem Schizoiden eher fragwürdig. Er hält nicht viel von Forderungen, die den Menschen, wie er nun einmal ist, überfordern und dadurch in Schuldgefühle stürzen. Er neigt überhaupt weniger als andere zu Schuldgefühlen. Durch seinen Kontaktmangel ist er weniger sozial angepaßt; egozentrisch, lebt er mehr die selbstbewahrenden Seiten und wertet danach, was ihm angemessen ist. So kann er eine »Herrenmoral« entwickeln, die er nur für sich selbst als gültig anerkennt, voll Verachtung für die »Schwachen«, die sich durch moralische Bedenken gebunden fühlen, was ihm vorwiegend als Feigheit und mangelnder Mut zu autonomer Eigenständigkeit erscheint. Sind sie starke Persönlichkeiten, leben sie eine Eigengesetzlichkeit, für die der Satz »der Starke ist am mächtigsten allein« mit allen darin liegenden Möglichkeiten und Gefahren gilt. Nur der Starke hat die Kraft, sein früh ihm bewußt gewordenes Anderssein als die anderen als Wert zu setzen, wie es das Motto in diesem Kapitel ausdrückt. Der Schwächere und Brüchigere zieht sich beobachtend von der Welt zurück und sucht sich durch den Ausbau einer Privatwelt einen Ausgleich zu schaffen, um die anderen nicht zu brauchen. Auffal-
lende, manchmal fast ausschließliche Hinwendung zu Tieren oder zur toten Materie kann so zustande kommen. Sind sie tiefer gestört, haben sie oft eine destruktiv-zersetzende Wirkung, werden asozial und benutzen andere skrupellos für ihre Zwecke. Schizoide Eltern und Erzieher geben dem Kind zu wenig Wärme; sie bleiben ihm zu fern, können die Gefühlsbedürfnisse des Kindes nicht adäquat annehmen und erwidern, ironisieren oft alles Gefühlshafte bei ihm. Sie verunsichern das Kind leicht, indem sie es durchschauen und seine Motive zu früh psychologisch aufdekken, drängen es dadurch zu früh in die Selbstreflexion. Es friert in ihrer Umgebung und wird gestört durch ihre abrupten, ihm schwer einfühlbaren Reaktionen, die es gleichsam in Alarmbereitschaft halten. Es findet bei ihnen zu wenig Möglichkeiten für die liebende Identifikation, sie sind zu unerreichbar für das Kind. Sie haben aber oft eine gute Beziehung zum Kleinkind, demgegenüber sie auch Zärtlichkeit zulassen können. Später verbergen sie ihre Zuneigung gern hinter spöttischer Ironie, die es dem Kinde schwer macht, das Gefühl zu bekommen, daß seine Liebe ein Wert sein, dem anderen etwas bedeuten könnte, weil es sich im Gefühl nie ernstgenommen erlebt. (»Mein Herr Sohn hat ja plötzlich zärtliche Anwandlungen«; »Mein Fräulein Tochter möchte wohl etwas aus mir herausholen, weil sie heute so liebenswürdig zu mir ist«.) Auf Grund ihrer Struktur bevorzugen sie Berufe, die sie nicht in nahen Kontakt mit anderen bringen. Sie haben eine Neigung zu theoretisch-abstrakten Gebieten. Exakte Naturwissenschaftler, Astronomen, Physiker, Mathematiker und Ingenieure finden sich unter ihnen besonders häufig. Wenn sie sich wissenschaftlich mit dem Menschen beschäftigen, geschieht dies gleichsam indirekt, auf Umwegen: über psychologische Testverfahren, über Mikroskope und Röntgenapparate oder, wie in der Pathologie, über den Toten. Die Seele wird ihnen leicht zu einer Anhäufung physiologischer Reflexe, und sie könnten mit Schopenhauer sagen: »Lieber Gott, wenn es dich gibt, rette meine Seele, wenn ich eine habe.« Ihre Psychologie hat oft etwas Aufdeckendes, Entlarven-Wollendes. Sie sind als Ärzte mehr Forscher als Therapeuten, oft mit einer besonderen Beziehung zur Psychiatrie und zu den Grenzwissenschaften; als Theologen neigen sie mehr zur Religionswissenschaft als zum praktizierenden Geistlichen. Oft wenden sie sich vom Menschen ab, den Tieren, Pflanzen und Gesteinen zu, und erforschen die Welt mit den verbesserten Sinnesorganen von Mikroskop und Fernrohr mikro- und makroskopisch. Man kann sich vorstellen, wie gefährlich in den Händen eines schwer schizoiden Wissenschaftlers Erkenntnisse und Machtmög-
lichkeiten werden können, der, menschlich ungebunden, autistisch nur seinen Ideen lebt und sie zu verwirklichen sucht. Neben Neigung und Begabung wird die Berufswahl bei ihnen oft dadurch motiviert, daß sie Gebiete suchen, auf denen sie eine von subjektiven Gefühlen ungetrübte verläßliche Erkenntnis zu finden hoffen. Als Philosophen sind sie oft die lebensfernen abstrakten Denker, wie ihnen ganz allgemein die Theorie mehr liegt als die Praxis. In der Politik vertreten sie gern die revolutionären bis anarchistischen Elemente, ausgeprägte Extremstandpunkte, den Radikalismus; oder aber, sie sind politisch weitgehend desinteressiert Politik »geht sie nichts an«, aus ihrem solipsistischen Standpunkt heraus, den die Gemeinschaft, welcher Art auch immer, nicht interessiert. In der Kunst liegt ihnen mehr die abstrakt-ungegenständliche Richtung, sie versuchen, ihre komplizierten Innenerlebnisse zu gestalten und drücken diese eher verschlüsselt und symbolisch aus; oder sie sind die scharfen Kritiker, Satiriker und Karikaturisten. Ihr Stil ist meist eigenwillig, unkonventionell, jedenfalls originell, manchmal zukunftweisend. Wenn sie sich in ihrer Unbezogenheit an kein bestimmtes Publikum wenden, sondern über sich hinaus allgemein Menschliches und Grundsätzliches ausdrücken, können sie neue Entwicklungen auslösen. Sie erfassen oft psychologischatmosphärische Dinge, deuten Unsagbares an und ragen in Bezirke, die von anderen nicht gesehen oder gemieden werden, so daß ihre Werke unser Wissen vom Menschen vertiefen können. Sie sind selten zu ihren Lebzeiten populär. Der Beruf wird ihnen leicht zum Job, weil es für sie letztlich unwichtig ist, womit sie ihren Unterhalt verdienen - sie führen ihr Eigenleben außerhalb des Berufes, bei ihnen findet man die meisten Liebhabereien und Hobbys. Sie ergreifen auch gern Berufe, die mit viel Einsamkeit verbunden sind und die wenig mitmenschliche Kontakte erfordern. Die Hinwendung zur Welt der Tiere, Pflanzen und Mineralien in irgendeiner Form ist nicht selten. Elektriker, das Verkehrswesen und andere Berufe, in denen sie unbewußt und symbolisch ihr Bedürfnis nach Kontakt und Verbundenheit gleichsam abstrakt erfüllen können, liegen ihnen. Schizoide Menschen von Format können die Auslöser großer Umschwünge, Pioniere und Initiatoren sein. Denn diese die Fragwürdigkeit des menschlichen Daseins intensivst Erlebenden nehmen Dinge wahr, erleben Inferni und erleiden in ihrer Einsamkeit und Ausgesetztheit Grenzzustände, von denen sich Geborgenere keine Vorstellung machen.
Das Alter kann sie noch mehr vereinsamen und eigenartiger werden lassen. Aber manche verstehen es auch, weise zu werden. Im allgemeinen kann man sagen, daß schizoide Menschen leichter als andere zu altern verstehen; dank ihrer ihnen schon gewohnten Unabhängigkeit und Isolierung ertragen sie die Vereinsamung besser. Sie haben sich schon früh eine Eigenwelt aufgebaut, in der sie leben können, ohne zu sehr auf mitmenschliche Anteilnahme angewiesen zu sein. Sie fürchten auch den Tod weniger, nehmen ihn als Faktum unsentimental und stoisch hin. Da sie nicht so viel in die Welt und in die Menschen investiert haben, haben sie auch weniger zu verlieren und aufzugeben; sie hängen an nichts besonders stark, nicht einmal an sich selbst, und können daher leichter loslassen. Die positiven Seiten schizoider Menschen zeigen sich vor allem in souveräner Selbständigkeit und Unabhängigkeit, im Mut zu sich selbst, zur Autonomie des Individuums. Scharfe Beobachtungsgabe, affektlos-kühle Sachlichkeit, kritisch-unbestechlicher Blick für Tatsachen, der Mut, die Dinge so zu sehen wie sie sind, ohne mildernde oder beschönigende Verbrämungen, gehören zu ihren Stärken. Sie sind am wenigsten beengt durch Traditionen und Dogmen irgendwelcher Art, sie machen sich von nichts abhängig, übernehmen nichts, bevor sie es nicht geprüft und durchdacht haben. Unsentimental, hassen sie allen Überschwang, alle Unklarheit und Gefühlsduselei. Sie vertreten ihre Überzeugungen klar und kompromißlos und haben über alles ihre eigene selbständige Meinung. Sie haben meist eine ironisch-satirische Seite und einen scharfen Blick für die Schwächen anderer; man kann sie daher schwer täuschen und sie sind im mitmenschlichen Kontakt oft »unbequem«, weil wenig bereit, Unechtheit und Fassadenhaftes gelten zu lassen. Sie glauben an ihre Fähigkeiten und vermögen es, weitgehend ohne Illusionen zu leben; das Geschick möchten sie meistern, Schicksal ist ihnen etwas zu Überwindendes - der Mensch als Selbstgestalter seines Schicksals. Zu erwähnen sind noch die schizoiden Menschen, die eine starke schizoide Struktur haben, aber darunter nicht leiden, sich daher als gesund empfinden. Sie bejahen ihre Autarkie und Bindungslosigkeit als Wert und leben sie auf Kosten anderer aus, die unter ihrer Rücksichtslosigkeit leiden. Hierher gehören viele Machthaber, überhaupt Menschen, die über andere verfügen und sie ohne Bedenken für ihre Zwecke benutzen - aus einer tiefen Menschenverachtung heraus. Wenn hier und im folgenden die »positiven« Vertreter der einzelnen Strukturtypen in der Beschreibung zu kurz kommen, liegt
es daran, daß das Prinzipielle der vier Persönlichkeitsstmkturen gerade an den randständigen Formen klarer aufzuzeigen ist; ich hoffe, daß niemand daraus eine Wertung ableitet; jede Struktur hat ihre Möglichkeiten der Entfaltung zu hohem Niveau. Für den schizoiden Menschen ist es am wichtigsten, den Gegenpol zu seinem Streben nach Selbstbewahrung und Autarkie, die Seite der Hingabe, nicht zu vernachlässigen, sondern sie zur Ergänzung in dem Maße zu integrieren, daß die einseitige und überwertige »Eigendrehung« sich nicht verabsolutiert und ihn in die krankmachende Isolierung treibt, die ihn aus allen Bindungen fallen läßt. »Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei«; der Bindungslose wird zu leicht unmenschlich. Wie wir im letzten Kapitel sehen werden, besteht bei allen vier Persönlichkeitsstrukturen die Neigung zur Faszination durch den jeweiligen Gegentypus; darin möchte ich einen uns unbewußten Drang zur Ergänzung, zur Befreiung von krankmachender Einseitigkeit sehen; denn wir können keinen der vier Grundimpulse einfach auslassen und vor der ihm entsprechenden Angst ausweichen, ohne Schaden zu nehmen. Im Wagen vertrauenden sich Zuwendens, im Wagen der Selbstvergessenheit liegt die Hilfe, die aus gefährdender Vereinzelung herausfinden läßt und die Chance enthält, Zuneigung und Bindung nicht nur als Last, Fessel und Gefahr zu erleben, sondern auch als Gehaltenwerden, als Gemeinsamkeit des Erlebens und der Entwicklung und als Erweiterung unserer Ichbegrenzung durch einen Partner.
Die depressiven Persönlichkeiten »Vergiß dein Ich, dich selbst verliere nie« (Herder)
Wenden wir uns nun der zweiten Grundform der Angst zu, der Angst, ein eigenständiges Ich zu werden, die zutiefst erlebt wird als das Herausfallen aus der Geborgenheit. Von den Grundimpulsen her gesehen, handelt es sich dabei nach unserem Gleichnis um die Menschen, die die »Revolution«, also die Bewegung um ein größeres Zentrum, überwertig leben und die »Eigendrehung« vermeiden wollen; wir bezeichneten damit die Seite der Hingabe im weitesten Sinne. Der Wunsch nach vertrautem Nahkontakt, die Sehnsucht, lieben zu können und geliebt zu werden, gehört zu unserem Wesen und ist eines der Merkmale der Menschlichkeit überhaupt. Als Liebende haben wir den Wunsch, den geliebten Menschen glücklich zu machen; wir fühlen uns in ihn ein, wir wollen seine Wünsche erraten, denken mehr an ihn als an uns selbst, können uns selbst vergessen und den beglückenden Austausch des Gebens und Nehmens erleben, der uns mit ihm zu einem Wir zusammenschmilzt, das die Getrenntheit der Individuen aufhebt, wenigstens für Augenblicke. Das Urbild solcher Liebe ist die Mutter-KindBeziehung, und vielleicht sucht alle Liebe das wieder herzustellen, wieder zu finden, was wir in der frühesten Kindheit erlebten: bedingungslos uns geliebt zu fühlen, einfach als die wir sind, und zu erfahren, daß unser Dasein, das, was wir zu geben haben, was wir sind, den anderen ebenso beglückt. Wir bringen die Liebesfähigkeit als eine unserer Anlagen mit; aber sie muß angesprochen, geweckt werden, um sich entfalten zu können. So gibt uns die empfangene Liebe sowohl das Gefühl unseres eigenen Wertes, als sie auch unsere Liebesbereitschaft ermöglicht, die Empfangenes zurückgeben möchte. Wir wollen uns nun wieder überlegen, wie es aussehen wird, wenn ein Mensch, die Ich-Werdung vermeidend, überwiegend die Ich-Aufgabe und Hingabe zu leben versucht. Die erste Folge wird sein, daß dadurch das Du, der jeweilige Partner, einen Überwert bekommt. Liebendes Sich-hingebenWollen bedarf eines Partners, ist gebunden an das Da-Sein eines anderen Menschen und ohne ihn nicht möglich. Damit ist bereits eine Abhängigkeit gesetzt, und hier liegt das zentrale Problem der Menschen, die wir als die depressiven bezeichnen wollen: Sie sind
mehr als andere auf einen Partner angewiesen. Sei es durch ihre Liebesfähigkeit und Liebesbereitschaft, sei es durch ihr Bedürfnis nach Geliebtwerden - zwei Seiten, die sich mit Erich Fromms Worten aus seinem Buch »Die Kunst des Liebens« in die beiden Sätze zusammenfassen lassen: »Ich brauche dich, weil ich dich liebe« und »Ich liebe dich, weil ich dich brauche«. Einmal braucht man also jemanden, um ihn zu lieben, um seine Liebesfähigkeit anwenden zu können; oder man braucht den anderen, weil man von ihm geliebt werden will und Bedürfnisse hat, die man aus sich selbst heraus nicht glaubt erfüllen zu können. Wenn nun ein Mensch einen anderen so dringend braucht, wird er danach streben, die trennende Distanz zwischen sich und ihm soweit wie möglich aufzuheben. Ihn quält die trennende Kluft zwischen Ich und Du - die Distanz also, die der schizoide Mensch gerade so unbedingt brauchte und aufrecht zu erhalten bemüht war zum Selbstschutz. Im Gegensatz dazu will der Depressive dem Du so nahe wie möglich sein und bleiben. Je weniger er an »Eigendrehung« entwickelt hat, um so mehr erlebt er jede Distanz, jede Entfernung und Trennung von einem Partner mit Angst, und wird versuchen, es nicht dazu kommen zu lassen. Für ihn bedeutet Ferne: Alleingelassenwerden, Verlassen werden, und das kann ihn in tiefe Depressionen bis zur Verzweiflung führen. Was kann man aber tun, um nicht der quälenden Trennungsund Verlustangst ausgesetzt zu sein? Die einzige Hilfe wäre, so viel an Eigenständigkeit und Unabhängigkeit zu entwickeln, daß man nicht so restlos auf einem Partner angewiesen ist. Aber gerade das fällt dem Depressiven schwer, denn dafür müßte er ja die enge Bindung an den anderen lockern, und das würde sofort wieder die Verlustangst auslösen. So sucht er nach anderen Sicherheiten, die sein Problem lösen sollen, aber, wie wir sehen werden, es nur verschlimmern. Abhängigkeit scheint ihm solche Sicherheit zu geben; entweder indem er sich von einem anderen, oder diesen von sich abhängig zu machen sucht. Wer von jemandem abhängig ist, braucht ihn, und Gebrauchtwerden verspricht daher scheinbar eine gewisse Garantie, die Garantie, nicht verlassen zu werden. Die eine Möglichkeit scheint also zu sein, einen Menschen fest an sich zu binden, indem man möglichst kindlich-hilflos und abhängig von ihm bleibt, um damit zu demonstrieren, daß man nicht verlassen werden darf - wer könnte so hart und lieblos sein, ein hilfloses Wesen zu verlassen? Die andere Möglichkeit scheint darin zu liegen, den anderen von sich abhängig zu machen, indem man ihn gleichsam zum Kinde macht; sie ist das Gegenbild des
vorbeschriebenen Bildes, mit umgekehrten Vorzeichen - die Motivation ist die gleiche: eine Abhängigkeit herzustellen. Bei den depressiven Persönlichkeiten ist die Verlustangst die dominierende, in ihren verschiedenen Ausformungen als Angst vor isolierender Distanz, vor Trennung, Ungeborgenheit und Einsamkeit, vor dem Verlassenwerden. Sie suchen die größtmögliche Nähe und Bindung, wo der vorbeschriebene schizoide Gegentypus die größtmögliche Distanz und Ungebundenheit suchte, um sich vor seiner Angst zu schützen. Bedeutet dem Depressiven Nähe: Sicherheit und Geborgenheit, so dem Schizoiden: Bedrohung und Einschränkung seiner Autarkie; bedeutete dem Schizoiden Distanz: Sicherheit und Unabhängigkeit, so dem Depressiven Bedrohung und Alleingelassenwerden. Wenn der Depressive erkennt, daß schon das Ich-Werden, die Individuation, unvermeidlich ein trennendes Anderssein bedeutet, verzichtet er entweder bei sich darauf, oder er gesteht es dem Partner nicht zu. In der Sprache unseres Gleichnisses: Der Depressive versucht seiner Angst dadurch zu entgehen, daß er die »Eigendrehung« aufgibt oder sie dem anderen nicht zugesteht. Er ist der Trabant eines anderen, oder er macht diesen zu seinem Trabanten. So lebt er ein gleichsam mondhaftes, echohaftes, nur zurückspiegelndes Leben, oder er drängt es dem anderen auf. Bewußt ist ihm dabei höchstens die Verlustangst; die Angst vor der Individuation, die das eigentliche Problem ist, bleibt weitgehend unbewußt. Seine Angst, daß die eigene oder die Selbständigkeit des Partners zu einem sich voneinander Wegentwickeln und damit zu einem möglichen Verlust führen könne, enthält den richtigen Kern, daß jede Individuation und Eigenständigkeit uns ein Stück isoliert. Je mehr wir wir selbst werden, um so mehr unterscheiden wir uns von anderen, um so weniger Gemeinsames haben wir mit ihnen. Individuation bedeutet immer auch, aus der Geborgenheit des Auch-wie-andere-Seins herauszufallen, und ist daher mit Angst verbunden; der Herdentrieb will diese Angst aufheben, wie auch das Eintauchen in eine Masse die Angst vor der Individuation aufhebt. Der depressive Mensch ist dieser Angst besonders ausgesetzt. Bei ihm kann schon ein sich von anderen Unterscheiden, ein anderes Denken oder Fühlen die Verlustangst konstellieren, weil er es als Entfernung und Entfremdung erlebt. Deshalb versucht er, alles ihn vom anderen Unterscheidende aufzugeben. Machen wir uns das noch etwas deutlicher. Je weniger wir gelernt haben, unser Eigen-Sein, unsere Selbständigkeit zu entwikkeln, um so mehr brauchen wir andere. So stellt sich die Verlustangst heraus als die Kehrseite der Ich-Schwäche. Daher muß der !•••
Versuch, sich gegen die Verlustangst dadurch zu sichern, daß man immer mehr von sich aufgibt, scheitern, ja das Gegenteil bewirken. Denn wer sein Ich nicht stark entwickelt, braucht ein stärkeres Ich draußen als Halt, von dem er immer abhängiger wird, je schwächer er selbst bleibt. Wer aber so abhängig wird, muß eine immerwährende Angst haben, diesen Halt zu verlieren - hat er doch alles auf den anderen gesetzt, an ihn so viel delegiert, daß er ohne ihn nicht lebensfähig zu sein glaubt, weil seine Existenz ganz im anderen ruht. Depressive Menschen suchen daher die Abhängigkeit, die ihnen Sicherheit zu geben verspricht; mit der Abhängigkeit steigert sich aber die Verlustangst; daher wollen sie so dicht wie möglich am anderen haften, reagieren deshalb schon bei kurzen Trennungen mit Panik. So kommt es zu dem hier typischen Teufelskreis, der nur im Wagnis der Ich-Werdung, des autonomen Subjekt-Seins durchbrochen werden kann. Wenn der schizoide Mensch sich vor vertrauender Nähe unter anderem dadurch schützte, daß er an der Meinung festhielt, die Menschen seien gefährlich und nicht vertrauenswürdig, um damit seiner Angst vor der Hingabe auszuweichen, neigt der Depressive auch hierin zum Gegenteil: Er idealisiert die Menschen eher, vor allem die ihm nahestehenden, verharmlost sie, entschuldigt ihre Schwächen oder übersieht ihre dunklen Seiten. Er will nichts Erschreckendes oder Beunruhigendes an ihnen wahrnehmen, weil das seine vertrauenwollende Beziehung gefährden würde. Dadurch entwickelt er zu wenig Phantasie für das Böse im Menschen - im anderen und in sich selbst; denn um so restlos vertrauen und uneingeschränkt lieben zu können, muß er Zweifel und Kritik unterdrücken, läßt er sie gar nicht bewußt werden; er geht Spannungen aus dem Weg, vermeidet Auseinandersetzungen »um des lieben Friedens willen«, und weil sie ihm vom Partner zu entfremden drohen. Er idealisiert den Partner und sieht überhaupt die Menschen also zu gut, was neben naheliegenden Gefahren des Ausgenutztwerdens, eine bei ihm häufig zu findende, lang anhaltende Naivität und Kindlichkeit mit sich bringt. So betreibt er Vogel-Strauß-Politik und versteckt seinen Kopf vor den Abgründen des Lebens im Sand, indem er an dem Glauben festhält, daß der Mensch gut sei. Für die erstrebte Harmonie und ungetrübte Nähe muß der Depressive nun seinerseits »gut« sein, und befleißigt sich daher aller altruistischen Tugenden: Bescheidenheit, Verzichtsbereitschaft, Friedfertigkeit, Selbstlosigkeit, Mitgefühl und Mitleid, um nur die wichtigsten zu nennen. Sie können bei ihm alle Grade annehmen: Überwertige Bescheidenheit, die für sich selbst nichts fordert;
Überanpassung und Unterordnung bis zur Selbstaufgabe, im Extrem bis zu masochisti seh-hörigen Verhaltensweisen. All das läßt sich auf den gemeinsamen Nenner bringen: durch das Aufgeben eigener Wünsche, durch den Verzicht auf das Eigen-Sein, die Verlustangst, die Angst vor der Einsamkeit zu bannen, und sich der deshalb gefürchteten Individuation zu entziehen. Hierbei kann es zu einer gefährlichen Selbsttäuschung kommen: Indem er aus diesen Verhaltensweisen eine Ideologie macht, verbirgt er nicht nur deren Motivierung aus der Verlustangst vor sich selbst, sondern er kann sich auch noch moralisch überlegen vorkommen gegenüber denen, die weniger bescheiden, friedfertig usf. sind. So macht er recht eigentlich aus der Not eine Tugend und meint, etwas hinzugeben und zu opfern, was er noch gar nicht entwickelt hat und besitzt: sein Ich. Dieses Ausweichen vor der Individuation wird aber teuer bezahlt. Damit, daß er alles, was an Wünschen, Impulsen, Affekten und Trieben in ihm ist, nicht zu leben wagt. Er erlaubt sie sich aus Angst oder aus seiner Ideologie heraus nicht - er kann doch nicht auf einmal selbst das tun, was er an anderen verurteilt hat. Dadurch ist er aber immer mehr darauf angewiesen, daß ihm seine Wünsche und Erwartungen, die er natürlich weiter hat, von anderen erfüllt werden. Wer nicht nehmen kann, hofft, zu bekommen vielleicht sogar als Belohnung für seine Besheidenheit; und wenn nicht hinieden, dann wenigstens im Himmel, wie es die christliche Ideologie verspricht. Daraus entstehen die passiven Erwartungshaltungen Depressiver, die sie indessen nicht vor Enttäuschungen und daraus folgenden Depressionen schützen, weil das Leben diese Erwartungen nicht erfüllt. Verzichten sie andererseits auch noch auf diese Belohnungserwartung, käme die Depression erst richtig zum Durchbruch. Depressive Menschen kommen im Leben gleichsam immer wieder in die Lage des Tantalus: Sie sehen die Früchte und das Wasser vor sich, die sich aber ihnen entziehen, weil sie nicht zugreifen gelernt haben, oder es sich nicht erlauben. Sie können nicht fordern, sich etwas nehmen; sie können nicht gesund aggressiv sein, und all das wirkt sich zusätzlich so aus, daß sie ein geringes Selbstwertgefühl entwickeln, das nun seinerseits wieder ihren Mut zum Fordern und Zupacken schwächt. Einige Beispiele für depressives Verhalten: Eine verheiratete junge Frau sagt: »Mein Mann geht jetzt öfters mit einem jungen Mädchen aus; ich kenne es auch, es ist sehr attraktiv und mein Mann ist leicht verführbar. Ich sitze dann zu Hause und heule; aber das soll er nicht merken. Wenn ich ihm Vorwürfe
machen würde, hielte er mich für kleinbürgerlich eifersüchtig, und ich habe Angst, ihm dadurch auf die Nerven zu fallen und ihn erst recht von mir fortzutreiben. Er sagt, Männer seien nun einmal so, und wenn ich ihn wirklich liebte, würde ich es ihm zugestehen.« Sie ist offensichtlich unsicher, was sie ihrem Mann »zugestehen muß«, um seine Vorstellung moderner Partnerschaft nicht zu enttäuschen, die sie selbst nicht teilt. Sie ist unsicher darüber, was sie hinnehmen muß, oder wo sie sich gegen etwas ihrem Wesen Fremdes wehren könnte; da sie zugleich ein geringes Selbstwertgefühl hat, überschätzt sie jede Rivalin. Anstatt ihre Meinung zu vertreten, und sich zu ihrer Toleranzgrenze zu bekennen, anstatt vielleicht ihrerseits den Mann eifersüchtig zu machen, der ihrer viel zu sicher zu sein glaubt, hat sie zuviel Angst, ihn zu verlieren. Sie überfordert sich, um nicht kleinbürgerlich zu wirken, meint, sich immer mehr anpassen zu müssen an seine Wünsche, was er nun wieder ausnützt. Als sie spürte, daß er ihr immer mehr zu entgleiten drohte, glaubte sie durch noch mehr Bereitschaft zum Verständnis ihn halten zu können. Sie war völlig ratlos als sie erkennen mußte, daß er sie daraufhin nur verachtete. Da sie sich selbst nicht ernst nahm, wurde sie auch von ihm nicht ernst genommen. Heute findet man häufig ähnliche Situationen; eine allgemeine Unsicherheit über Freiheit und Bindung, über Treue und sexuelles Sichausleben, die durch manche Propaganda noch unterstützt wird, läßt viele, vor allem depressive Menschen, sich überfordern und Dinge tun, die sie eigentlich gar nicht wollen, aus der Angst »nicht modern« zu sein und den »Trend der Zeit« nicht begriffen zu haben. Diese junge Frau stand auch sonst im Leben unter vielen altruistischen Forderungen, die sie an sich stellte: Zu Weihnachten hatte sie alljährlich eine Liste von annähernd hundert Personen, an die sie schreiben oder denen sie ein Geschenk machen »mußte«, so daß sie schon Wochen vor dem Fest in Zeitängste und Depressionen geriet, wie sie das alles schaffen sollte neben den üblichen Aufgaben des Alltags. Sie kam aber nie auf den Gedanken, daß sie das ändern könnte, und bekam schon Schuldgefühle, wenn sie manchmal Unlust darüber empfand, die vielen Solls erfüllen zu müssen. In die Richtung des »Pechvogels«, den wir unter Depressiven häufiger finden, geht folgendes Beispiel: »Ich kann mir noch so viel Mühe geben, es geht doch immer wieder alles schief bei mir. Gestern war ich beim Friseur; der hat mir die Frisur völlig verpatzt, völlig verschnitten. Dann hat mich ein bestellter Handwerker sitzengelassen - so was passiert auch nur mir. Zum Trost wollte ich mir
eine Bluse kaufen; zu Hause gefiel sie mir nicht mehr - ich hatte eigentlich ganz was anderes gewollt.« Hier läßt sich gut erkennen, wie solche Menschen ihre Wünsche nicht klar genug ausdrücken, oder daß sie überhaupt unklare, unbestimmte Wünsche haben. Dadurch werden sie immer wieder enttäuscht und lasten es irgendwelchen äußeren Umständen, oder eben ihrem Pech an. Weder hatte sie dem Friseur eindeutig genug gesagt, wie sie ihr Haar haben wollte, noch hatte sie beim Blusenkauf eine bestimmte Vorstellung davon, was sie wirklich wollte sie wollte sich nur zum Ausgleich für die Enttäuschungen »etwas Gutes« tun. Sie hatte Mitleid mit sich selbst und das Gefühl, immer Pech zu haben, vom Leben benachteiligt zu werden; sie realisierte aber nicht, daß die Unbestimmtheit ihrer Wünsche und das nicht gekonnte Fordern das eigentliche Problem war. Die Erfahrung mit dem Handwerker, die ja heute an der Tagesordnung ist, legte sie sich auch tendenziös so aus, daß sie sich bedauern und für einen Pechvogel halten konnte, und verschleierte sich damit die Möglichkeit, ihren eigenen Anteil an dem Geschehenen zu erkennen. In dem »50 etwas kann auch nur mir passieren« verschob sie die Ursache von sich weg auf die »böse Welt«, und konnte damit ihre Gehemmtheit und Angst als Schuld des Schicksals sehen, das sie zum Pechvogel verdammte. Sie bezog aus diesem Selbstmitleid eine gewisse Befriedigung - und brauchte sich nicht zu ändern. Die Konflikte Depressiver drücken sich körperlich bevorzugt in Störungen des Aufnahmetraktes aus, der ja symbolisch-repräsentativ für alles sich Nehmen, sich Einverleiben, Zugreifen und Fordern steht. Es kommt bei ihnen in Konfliktsituationen psychosomatisch leicht zu Affektionen des Schlundes, der Rachenmandeln, der Speiseröhre und des Magens. Auch Fettsucht und Magersucht können psychodynamisch mit solchen Konflikten zusammenhängen. Der Volksmund spricht treffend vom »Kummerspeck« und bezeichnet damit die Erfahrung, daß wir nach Enttäuschungen oder Verlusten uns gern durch Essen oder Trinken entschädigen. Von hier führt oft eine schmale Grenze zu Süchten aller Art, die als Ersatzbefriedigung oder als Weltflucht zu verstehen sind. Die Schwierigkeit, sich etwas anzueignen, von etwas Besitz zu ergreifen, kann sich bei Depressiven auch in, wie sie es zu nennen pflegen, »Gedächtnisschwäche« äußern. Sie können sich schwer etwas merken, vergessen schnell, und meinen, das sei ein organisches Symptom. Bei genauerem Hinsehen stellt sich indessen meist heraus, daß sie Eindrücke gar nicht voll apperzipieren, sie nicht wirklich mit Interesse und Aufmerksamkeit aufnehmen, weil
sie Angst haben, starke Reize zuzulassen; denn das brächte sie in den Konflikt, intensiv etwas zu wollen und es sich doch nicht nehmen zu können; so schalten sie vor viele Reize gleichsam einen Filter und resignieren zu früh. Das kann auch zu Lernschwierigkeiten oder zu einer allgemeinen Müdigkeit und Teilnahmslosigkeit führen, die die gleiche Funktion eines Schutzfilters haben und nun rückwirkend die Depressionen verstärken, weil man so immer wieder versagt und von sich enttäuscht wird. Solche scheinbare Gedächtnisschwäche Depressiver ist also häufig nur ein Anzeichen für ihre Resignation, für ihre tiefe Überzeugung, daß es ihnen doch nicht glücken würde, von etwas Besitz zu ergreifen. Sie verzichten dann lieber im voraus - dann können sie höchstens noch angenehm enttäuscht werden. So betreiben sie eine Saure-Trauben-Politik, indem sie das, was sie eigentlich möchten, aber nicht glauben sich nehmen zu können oder zu dürfen, vor sich abwerten, als nicht erstrebenswert hinstellen. Damit ersparen sie sich zwar die mögliche Enttäuschung, etwas haben zu wollen und doch nicht zu bekommen - aber zugleich wird die Welt damit für sie immer farbloser, grauer und reizloser, denn ohne eigene Wünsche an das Leben wird es zunehmend leerer und langweiliger. So sitzen sie gleichsam an der vollgedeckten Tafel des Lebens und trauen sich nicht, zuzulangen, müssen dann aber voller Neid sehen, daß andere frisch zugreifen und es sich schmecken lassen - und sich dabei auch noch wohlfühlen. Immer wieder kommt der Depressive an die Grenze seiner Anpassungsfähigkeit und Verzichtsbereitschaft. Im Erkennen, daß er vor dem Subjektsein nicht ausweichen kann, will er nicht zugrunde gehen an einer dauernden Überforderung durch seine »Tugenden«, oder aber einen »fressenden Neid« empfinden denen gegenüber, die sich ohne Schuldgefühl und Angst vom Leben das nehmen, was sie bekommen können, kann der Gesundungsansatz liegen. Der depressive Mensch und die Liebe Liebe, Liebenwollen und Geliebtwerdenwollen ist dem depressiven Menschen das Wichtigste im Leben. Hier kann er seine besten Seiten entwickeln, hier liegen zugleich seine größten Gefährdungen. Nach dem bisher Geschilderten ist es verständlich, daß es bei ihm vor allem in seinen partnerschaftlichen Beziehungen zu Krisen kommen kann. Spannungen, Auseinandersetzungen, Konflikte in diesen sind ihm quälend, ja unerträglich, und sie belasten ihn meist
mehr als nötig, weil sie seine Verlustangst aktivieren. Für ihn unverständlich, führen oft gerade seine Bemühungen um den Partner zu Krisen, weil dieser sich aus der zu engen Umklammerung zu befreien versucht. Der Depressive reagiert dann mit Panik, mit tiefen Depressionen, und in seiner Angst greift er manchmal zu erpresserischen Mitteln bis zum angedrohten, auch versuchten Selbstmord. Er kann sich schwer vorstellen, daß der Partner nicht das gleiche Bedürfnis nach Nähe hat wie er selbst, der gar nicht genug davon bekommen kann. Das Bedürfnis nach Distanz beim Partner erlebt er daher schon als mangelnde Zuneigung oder als Anzeichen, daß der ihn nicht mehr liebt. Die Fähigkeit zur einfühlenden Identifikation, dazu also, einen anderen Menschen in liebender Zuneigung in seinem Wesen zu erfassen, und in transzendierender Teilhabe ihn mitzuerleben, ist für depressive Menschen besonders charakteristisch, und eine ihrer schönsten Eigenschaften. Echt gelebt ist sie ein wesentliches Element alles Liebens, ja aller Menschlichkeit. Ihre Identifikationsbereitschaft kann sich bis zu medialer Einfühlung steigern, in der dann tatsächlich die trennende Grenze zwischen Ich und Du aufgehoben ist - Ursehnsucht aller Liebenden, und Sehnsucht der Mystiker, in grenzauflösender Transzendenz eins zu werden mit dem Göttlichen oder der Schöpfung, worin sie vielleicht unbewußt die grenzenlose Beziehung zur Mutter in der frühen Kindheit auf höherer Ebene wiederzufinden hoffen. Wir werden noch sehen, daß für die Entwicklung unserer Liebesfähigkeit unsere frühe Muttererfahrung von entscheidender Bedeutung ist. Im gesunden Menschen mit depressiven Einschlägen liegt eine große Liebesfähigkeit, Hingabe- und Opferbereitschaft, die Fähigkeit auch Schweres mit dem Partner durchzutragen; er kann Geborgenheit geben, Gefühlsinnigkeit und Unbedingtheit der Zuwendung. Beim tiefer gestörten Depressiven überwiegt in der Liebesbeziehung die Verlustangst; bei ihm kommt es dadurch zu den schwierigeren, den eigentlich depressiven Partnerbeziehungen. Die beiden häufigsten Formen sehen etwa folgendermaßen aus: Man versucht, gleichsam nur noch durch den Partner zu leben, in völliger Identifikation mit ihm. Das ermöglicht tatsächlich die größte Nähe. Man ist gleichsam der Andere geworden, hat aufgehört, ein von ihm getrenntes Eigenwesen zu sein, ein Eigenleben zu haben. Man denkt und fühlt wie er, man errät seine Wünsche, »liest sie ihm von den Augen ab«; man weiß, was er ablehnt und was ihn stört, und räumt es ihm aus dem Weg; man übernimmt seine Ansichten und teilt seine Meinungen - kurz, man lebt, als ob schon ein Andersdenken, eine andere Meinung, ein anderer Geschmack,
überhaupt ein Sich-von-ihm-Unterscheiden und Man-selbst-Sein gefährlich wäre und die Verlustangst heraufbeschwören würde. So geht man ganz im Partner auf und lebt im Bewußtsein aufopfernder Liebe und Selbstlosigkeit. Die Echtheit oder Unechtheit solcher Liebe unterscheidet sich darin, ob man vor der »Eigendrehung« und der zu ihr gehörenden Verlustangst ausweichen will, oder ob man trotz des Bewußtseins der Gefährdetheit alles Liebens, sich selbst und den anderen für die Eigenentwicklung freigeben kann und ihn trotzdem zu lieben wagt. Hier wird das »wo du hingehst, da will ich auch hingehen« gleichsam verabsolutiert. Für den Partner ist zwar eine solche Beziehung in vieler Hinsicht recht bequem; wer aber mehr von einer Partnerschaft erwartet, als im anderen ein Echo von sich selbst zu finden oder einen immer dienstbaren Geist, wird darin enttäuscht werden. In ähnlicher Richtung liegt es, wenn man aus Verlustangst sich selbst so weit aufgibt, daß man praktisch wieder zum Kind wird. Man delegiert dann alles an den Partner, was man eigentlich selbst tun könnte und sollte, wird damit immer abhängiger von ihm und hilfloser ohne ihn, aus der Vorstellung heraus, der andere könnte meinen, man brauche ihn nicht mehr, wenn man selbständiger würde, ja man glaubt, ihn durch die eigene Hilfsbedürftigkeit am sichersten halten zu können. Hier wiederholt man unbewußt deutlich eine Vater- oder Mutter-Kind-Beziehung in der Partnerschaft - es sind gar nicht wenig Ehen, die so aussehen. Ähnlich liegen die Dinge auch bei den Menschen, die, verwitwet, möglichst sofort wieder heiraten, obwohl sie den verstorbenen Partner auf ihre Weise geliebt haben: Sie haben zu wenig Eigenleben und können sich auf jeden neuen Partner einstellen und sich anpassen Hauptsache sie bleiben nicht allein. Was auf diesen Wegen angestrebt wird gleicht einer Symbiose, einer Aufhebung der trennenden Grenze zwischen Ich und Du. Man erstrebt eine Verschmelzung, in der sich Ich und Du nicht mehr unterscheiden und wo, wie einmal ein Depressiver sagte »man nicht mehr weiß, wo man selbst aufhört und der andere anfängt.« Am liebsten würde man sich ganz im anderen auflösen oder ihn »vor Liebe auffressen«, so daß man unverlierbar im anderen enthalten wäre oder ihn unverlierbar in sich trüge. In beiden Fällen liegt das Problem darin, daß man selbst vor der Individuation ausweicht oder sie dem anderen nicht zugesteht. Häufig findet man in der Partnerbeziehung auch die Form des »wenn ich dich Hebe, was geht's dich an«. Das ist ein großartiger Versuch, die Verlustangst zu vermeiden: Der Partner kann sich verhalten wie er will - man liebt letztlich sein Gefühl zu ihm mehr
als ihn selbst, und ist damit nur noch von sich selbst und seiner Liebesbereitschaft abhängig; so kann man Ewigkeit und Unverlierbarkeit erreichen. Schwieriger ist die andere Form depressiver Partnerbeziehung, die erpresserische Liebe. Sie kleidet sich gern in Überbesorgtheit, hinter der sich Herrschsucht, die hier auch aus der Verlustangst stammt, verbirgt. Erreicht man damit nicht, was man erreichen möchte, greift man zu stärkeren Mitteln, zu Selbstmordandrohungen und vor allem zum Erwecken von Schuldgefühlen im Partner; wenn auch das nicht ausreicht, verfällt man in tiefe Depressionen und Verzweiflung. Formulierungen wie »wenn du mich nicht mehr liebst, will ich nicht mehr leben«, bürden dem Partner die Verantwortung auf, daß von seinem Verhalten das Leben des anderen abhängt. Ist er zu weich und neigt er zu Schuldgefühlen, durchschaut er die Situation nicht, können sich hier Tragödien abspielen, die ausweglos werden, wenn die gegenseitige Verstrickung schon zu tief ist. Dann ergibt es jene Beziehungen, die vom Partner nur noch aus Angst, Mitleid und Schuldgefühlen gehalten werden, in denen Haß und Todeswünsche unter der Oberfläche schwelen. Auch Krankheit kann als erpresserische Waffe gebraucht werden und zu ähnlichen Tragödien führen. Wir können wieder sehen, daß auch die Ängste und Konflikte depressiver Menschen etwas allgemein Gültiges haben: Je tiefer wir lieben, umsomehr haben wir zu verlieren, und bei der Gefährdetheit menschlichen Lebens suchen wir alle nach einem Stück Geborgenheit, die wir am tiefsten in der Liebe zu finden hoffen. Wir haben aber auch gesehen, daß das Ausweichen vor der Individuation keine Sicherheit vor der Verlustangst gibt. Im Gegenteil; weil wir damit vor etwas uns Aufgegebenem ausweichen, konstellieren wir gerade das, was wir vermeiden wollten. Zum PartnerSein gehört eine schöpferische Distanz, die es beiden Partnern ermöglicht, sie selbst zu sein, sich zu sich selbst zu entwickeln. Wirkliche Partnerschaft ist nur möglich, zwischen zwei eigenständigen Individuen, nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis des einen vom anderen, wobei der eine zum Objekt gemacht würde. Wer sich nicht traut, ein eigenständiger Partner zu sein, dem droht gerade dadurch die Gefahr des Verlustes; denn durch die Abhängigkeit und die zu geringe Selbstachtung gerät er in die Gefahr, die Achtung des anderen zu verlieren und fordert damit heraus, nicht »für voll« genommen zu werden. Wer andererseits den Partner zum unmündigen Kinde zu machen versucht, muß damit rechnen, daß dieser sich irgendwann befreien und seinerseits ernst genommen werden will, oder daß er seine Toleranzgrenze überschreitet,
und Liebe sich in Haß verwandelt. Es sei denn, man lebt eine Neurose zu zweien, die aber ein stagnierendes Verhältnis ist, ohne Weiterentwicklung, meist eine fast wörtliche Wiederholung einer Kindheitsbeziehung. Die Sexualität ist depressiven Menschen weniger wichtig als Liebe, Zuneigung und Zärtlichkeit. Bekommen sie diese, können sie sich auch im Körperlichen beglückend schenken, sind auch hier einfühlend und haben die Einstellung, daß Liebe keine Grenzen verträgt hinsichtlich dessen, was erlaubt oder unerlaubt ist. In Fällen großer Abhängigkeit finden sich hier alle möglichen Formen des Masochismus bis zur Hörigkeit, wohinter nicht selten die Vorstellung steht, es sei die einzige Möglichkeit, den Partner zu halten, indem man sich völlig seinem Willen ausliefert. Wieviel Freiheit oder Bindung der einzelne braucht, erträgt oder nicht erträgt, ist nie durch allgemeine Regelung zu lösen; hier muß jeder die ihm gemäße Lösung finden. Die Menschen selbst, ihre Anlagen, ihre Lebensgeschichte und ihre soziale Situation sind zu verschieden, als daß man für alle gültige Forderungen für die Partnerschaft aufstellen, davon abweichende als falsch oder schlecht verurteilen könnte. Wir müssen wohl soviel menschliches Verständnis füreinander aufbringen, daß wir auch uns ferner liegende Liebesformen respektieren; sonst verurteilen wir zu leicht gerade die, die an sich schon Mangelerlebnisse in ihrer Kindheit erlebten, daher schwer zu einer reifen Liebe finden konnten und nun noch dafür bestraft werden. Der depressive Mensch und die Aggression Nach allem Vorhergesagten wird man verstehen, daß das Umgehen mit seinen Aggressionen und Affekten für den depressiven Menschen ein großes Problem ist. Wie kann er aggressiv sein, sich behaupten und sich durchsetzen, wenn er voller Verlustangst ist, sich als abhängig erlebt und so auf Liebe angewiesen ist? Der Abhängige kann doch den nicht angreifen, von dem er abhängig ist, den er braucht. Das würde bedeuten, den Ast abzusägen, auf dem er sitzt. Andererseits sind Aggressionen und Affekte unvermeidlich, so wie die Welt und die Menschen sind, und wie man natürlich auch selbst ist. Was kann man aber mit seinen Aggressionen machen, wenn sie einem so gefährlich erscheinen? Eine Möglichkeit ist es, ihnen auszuweichen. Das läßt sich vielleicht dadurch erreichen, daß man eine Ideologie der Friedfertigkeit entwickelt. Dann nimmt man Gelegenheiten zur Aggression
und diese selbst nicht mehr wahr, in und außer sich. Wo man sich durchsetzen, sich auseinandersetzen sollte, wo man sich eigentlich wehren müßte, entschärft man die Situation, indem man sie umdeutet und verharmlost - der andere hat es ja gar nicht so gemeint; es lohnt sich doch nicht, wegen einer Kleinigkeit aggressiv zu werden, man vergibt sich damit nur etwas. Je mehr man im Rahmen einer solchen Ideologie sich zurücknimmt, sich kränken läßt, ohne sich zu wehren, sich eigene Affekte nicht erlaubt, umsomehr muß man zum Ausgleich diese Haltungen kompensieren durch das Gefühl moralischer Überlegenheit - ohne daß man indessen erkennt, daß das auch eine - sublime - Form der Aggression ist. Diese Haltung läßt sich steigern bis zur Dulderrolle, die bis zum seelischen, moralischen oder sexuellen Masochismus führen kann. Dabei kommt es zu jener seltsamen Wechselwirkung, daß man das nicht Gelebte, nicht Gewagte, in der Identifikation mit dem anderen miterlebt, an den man es gewissermaßen abtritt, delegiert. Wer sich so zum Objekt eines fordernden, zugreifenden und aggressiven Partners macht, erlebt in der Identifikation mit ihm nicht nur diese in sich unterdrückten Seiten mit, sondern er hat besonders stark jenes Gefühl moralischer Überlegenheit: Als der Erleidende ist er der Bessere und glaubt, nicht schuldig zu sein, wenn er den anderen schuldig werden läßt. Hieran kann die Fragwürdigkeit einseitig gelebter »Tugenden« deutlich werden: Während man bewußt der Leidende zu sein glaubt, macht man unbewußt den anderen zum Leidenden; das sadomasochistische Verhältnis kehrt sich um; der »Heilige« wird zum Quäler, der »Sünder« zum Gequälten. - »Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig« heißt ein Bühnenstück von Franz Werfel. Denn indem man den anderen aggressiv, »böse« und damit schuldig werden läßt in duldender Demut, erweckt man in ihm immer mehr Schuldgefühle; wird man gar noch wegen ihm krank, kommt er aus den Schuldgefühlen gar nicht mehr heraus, während man selbst der unschuldig Leidende bleibt. Hier können sich makabre Dinge abspielen, die etwas von der Intensität der Affekte ahnen lassen, die hinter schweren Depressionen stehen, ohne daß sie dem Betreffenden als Aggression bewußt werden - er würde tief erschrecken, wenn man ihm diese Deutung anböte. Wir hatten schon erwähnt, daß sich auch hinter der überbesorgten Liebe depressiver Menschen unbewußte Aggressionen verbergen; mit solcher Überbesorgtheit kann er den Partner geradezu ersticken, ihn »weich vergewaltigen«. Ebenfalls unbewußt bleiben die Aggressionen, in der vielleicht häufigsten Form depressiver Aggression: im Jammern, Klagen
und Lamentieren. Daß diese auf den Partner zermürbend wirken können, ist den Depressiven nicht bewußt. Sie jammern, daß ihnen alles zuviel ist, daß die Menschen so böse sind, so rücksichtslos; sie tragen eine Miene zur Schau, die wortlos anklagt und erwecken auf vielerlei Weise im anderen Schuldgefühle, so daß er sich zu immer größerer Rücksicht und Anteilnahme im Umgang mit ihnen gezwungen sieht. Oder aber, es wird dem Partner zuviel, er durchschaut die Situation und befreit sich von den Schuldgefühlen, die ihm der Depressive auflastet. Findet die Aggression keinen der hier angedeuteten Wege, kann sie sich zunächst in Selbstmitleid äußern und sich schließlich gegen die eigene Person richten, wie es am intensivsten beim Melancholiker der Fall ist. Aus dem ihm unlösbar gewordenen Konflikt zwischen Aggression, Schuldgefühlen und gleichzeitiger Angst vor Liebesverlust, muß er alle ursprünglich einem anderen geltenden Anklagen, Vorwürfe und seinen Haß gegen sich selbst richten, bis zum Selbsthaß und zur bewußten oder unbewußten Selbstzerstörung. Wahrhaft tragisch ist solche Selbstzerstörung aus ehemals berechtigten Haß- und Neidgefühlen der Kindheit, die man nie äußern durfte, weil man seine Situation dadurch nur verschlimmert und sich als böse erlebt hätte. Weil man keine Möglichkeit, kein Ventil fand, seine Affekte loszuwerden, und weil man sie mit Schuldgefühlen erlebte, mußte man sie gegen sich selbst richten, auch als Selbstbestrafung. Die größten Tragödien spielen sich in der Kindheit ab; hier darin, daß das Kind sein Abgelehntwordensein als Selbsthaß nach innen nehmen und aus Verlustangst und Ungeborgen heit seine Aggression als zu große Belastung seiner gefährdeten Situation erleben mußte. So lernt es der später Depressive von früh an nicht, mit seinen Aggressionen umzugehen. Das hat weiterhin regelmäßig zur Folge, daß er zu spät oder nicht realisiert, wo und wann er hätte aggressiv sein können oder sollen; daß er falsche Vorstellungen davon hat, welches Ausmaß an Aggression er einsetzen müßte, um etwas zu erreichen, sich zu behaupten oder sich durchzusetzen - er resigniert vor der Vorstellung, daß dafür enorme Aggressionsquanten nötig wären, die er nicht zur Verfügung hat; und daß er schließlich weit übertriebene Vorstellungen auch davon hat, was die möglichen Folgen einer geäußerten Aggression sein würden, die er sich aus seiner Angst und aus seiner Schuldgefühlsbereitschaft heraus viel zu groß vorstellt - er hat immer die Angst vor einem Bumerang, der ihn mit der doppelten Wucht trifft, mit der er geworfen wurde. Erkennen, wann er aggressiv sein sollte; erkennen, daß oft nur ein fester Blick, eine bestimmte Haltung ausreichen können, um respektiert
zu werden, und die Einsicht in die Überschätzung der möglichen Folgen seiner Aggressionsäußerung sind die Nahtstellen, an denen der Depressive es üben kann, neue Erfahrungen mit seinen Aggressionen zu machen. Wir können sagen, daß die unterdrückte Aggression Depressiver eine ansteigende Linie erkennen läßt, die von der Überbesorgtheit, dem Ideologisieren von Bescheidenheit, Friedfertigkeit und Demut, über das lamentierende Jammern und die Dulderhaltung zur Wendung gegen sich selbst in Selbstvorwürfen, Selbstanklagen, Selbstbestrafungen bis zur Selbstzerstörung führt. Zur Wendung der Aggression gegen sich selbst gehört auch die bereits erwähnte Somatisierung; manche schweren oder unheilbaren Krankheiten können sich psychodynamisch auf solchem Boden entwickeln, gleichsam als letzte unbewußte Selbstbestrafung und zugleich Rache in der Selbstzerstörung. Affekte und Aggressionen, die man nicht äußern kann oder darf, die somit kein Ventil finden, werden nicht nur äußerst quälend; sie führen auch zu einer allgemeinen Antriebsschwäche bis zur Passivität und Indolenz, die gleichzeitig Folge der gehemmten Aggressivität sind, sekundär wieder zu deren erneuter Hemmung werden. Haß, Wut und Neid sind auch im Leben des Kindes unvermeidbar, werden aber erst dann gefährlich, wenn sie sich innen aufstauen und zum Hintergrund von Depressionen werden. Ohnmächtige Wut, frustrierte Aggressionen, Haß- und Neidgefühle, die wir unterdrücken müssen, machen uns auch im späteren Leben noch depressiv, »nieder-geschlagen« - wieviel mehr als Kind, wenn wir sie wegen unserer Abhängigkeit und Hilflosigkeit nicht zulassen dürfen. Erst wenn das Kind seine Affekte und seine Aggressivität äußern durfte, kann es lernen, mit ihnen umzugehen, sie je nach der Situation angemessen einzusetzen oder auf sie zu verzichten. Wenn ein Kind auffallend still und brav ist, wenn es sich langweilt und mit der Welt nichts anfangen kann, wenn es keine Initiative zeigt und zu jeder Aktivität angeregt werden muß, wenn es eine unkindliche Neigung zu Antriebslosigkeit hat, wenn es sich nicht allein beschäftigen kann und auf Alleingelassenwerden überwertig reagiert, sind das Anzeichen einer beginnenden Depressivitä't, auf die man achten sollte. Die reife Form der Aggressionsverarbeitung kann man nur dadurch erwerben, daß man Erfahrungen mit seiner Aggressivität macht. Die gesunde und gekonnte Aggressivität ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Selbstwertgefühles, des Gefühls für die Würde unserer Persönlichkeit und für einen gesunden Stolz. Das geringe Selbstwertgefühl Depressiver hat eine wichtige Wurzel
in ihrer nicht gewagten, nicht gekonnten Aggressivität. Goethes Wort aus den »Wahlverwandtschaften«: »Gegen große Vorzüge eines anderen gibt es keine Rettung als die Liebe«, ist eine Sublimierung des Neides, aber - sublimieren kann ein Kind noch nicht. Wir wollen uns nun wieder fragen, wie es zu depressiven Persönlichkeitsentwicklungen kommen kann, wie in einem Menschen die Verlustangst und die Angst vor der Ich-Werdung so überwertig werden können. Der lebensgeschichtliche Hintergrund Konstitutionell entgegenkommend kann eine betont gemüthaftgefühlswarme Anlage sein, Liebesbereitschaft und Liebesfähigkeit, sowie eine große Einfühlungsgabe. Oft sind diese Züge verbunden mit einer gewissen haftenden Schwerblütigkeit und Anhänglichkeit im Gefühl, die es dem Depressiven überhaupt schwer machen, sich von etwas zu lösen, was ihm gefühlsmäßig etwas bedeutet und in das er viel investiert hat. Eine Gefühlsstruktur also, die zur Treue, Beständigkeit und zur liebenden Einfühlung neigen läßt, wie man es bei Menschen mit leichten melancholischen Einschlägen häufig findet. Dabei müssen wir es offen lassen, wie weit diese Züge auch schon wieder Folge der erkannten Unmöglichkeit oder zumindest der dauernden Gefährdetheit sind, seine Veranlagung so zu leben, wie man es möchte. Zugleich tritt bei diesen Menschen - ebenfalls anlagemäßig - meist das aggressive Durchsetzungsvermögen zurück; sie haben zu wenig »Ellenbogen«, sind von Natur friedfertig, gutartig und wenig kämpferisch. Eine andere konstitutionelle Komponente kann in einer sensiblen Vitalschwäche liegen, in einer Durchlässigkeit und gleichsam Hautlosigkeit, einem Mangel an »dickem Fell«, das sie mehr angewiesen sein läßt auf Beschütztwerden und Gestütztwerden, wodurch sie leicht eine Bevaterung oder Bemutterung unbewußt herausfordern. Wahrscheinlich kann auch eine angeborene Neigung zum Phlegma und zur Bequemlichkeit zu den anlagemäßig begünstigenden Faktoren gerechnet werden - obwohl auch hierbei die Frage, was Anlage, was reaktive Antwort ist, schwer beantwortet werden kann. Wieder werden sich die konstitutionellen mit den biographischen Gegebenheiten überschneiden. Die biographischen Zusammenhänge, die depressive Persönlichkeitsentwicklungen begünstigen, verstehen wir am besten, wenn wir uns wieder die Situation
des Kleinkindes vergegenwärtigen, jetzt in der zweiten Phase seiner Entwicklung. Im Unterschied zur Frühstphase, in der das Kind ganz allmählich begann, seine Umwelt bewußt wahrzunehmen, hat es nun schon die Mutter als die Quelle aller seiner Bedürfnisbefriedigungen erkannt, wofür ihre regelmäßige und verläßliche Wiederkehr entscheidend wichtig ist. Das Kleinkind bildet für längere Zeit mit der Mutter ein »Wir«, wie das Kunkel einmal formuliert hat: Mutter und Kind leben in einer Symbiose, bilden so weitgehend eine Einheit, daß das Kind nur allmählich beginnt, sich von der Mutter zu unterscheiden. Zunächst ist die trennende Grenze zwischen ihm und der Mutter für sein Bewußtsein noch nicht vorhanden. Im Maße es nun die Mutter als etwas außerhalb von ihm Seiendes begreift und zugleich erkennt, daß von ihr alle Befriedigung und Beglückung kommt, erkennt es auch seine Abhängigkeit von ihr. Es braucht die Mutter und ist voller Angst, wenn sie sich entfernt. Es ist ganz auf sie angewiesen und auf sie ausgerichtet, sie ist sein wichtigster Bezugspunkt. Das Kind nimmt ihr Bild und ihr Wesen mit allen Sinnen in sich auf. Durch die lange Dauer seiner totalen Abhängigkeit von der Mutter prägt sich ihr Bild tief in seine Seele ein. So wird die Mutter »ver-innerlicht«, wird zu einem ungemein wichtigen Seelenbestandteil des Kindes: Wie es die Mutter in ihrer Einstellung zu sich erlebt hat, das ergibt die Grundlagen dafür, wie es auch später im Tiefsten zu sich selbst steht. Das innen sich abbildende, wie die Psychoanalyse sagt »introjizierte« oder »inkorporierte« Mutter-Bild, die individuelle Muttererfahrung, spiegelt sich später in unserer Einstellung zu uns selbst. Wer das Glück hatte, eine liebende Mutter sich einbilden zu können, hält sich zutiefst für liebenswert; wer das Unglück hatte, eine harte und ablehnende Mutter in sich abbilden zu müssen, hält sich zutiefst für nicht liebenswert, und er wird lange Zeit und viel neue Erfahrungen brauchen, um glauben zu können, daß auch er liebenswert ist. So liegt in einer geglückten Muttererfahrung ein Kapital, das man gar nicht hoch genug einschätzen kann. Bei einer guten Mutterbeziehung besteht ein Verhältnis wechselseitigen Gebens und Nehmens, das von Mutter und Kind als beglückend empfunden wird. Echohaft spiegelt das Kind, was ihm entgegengebracht wird; es beantwortet das Lächeln der Mutter mit Lächeln, und später ruft sein Lächeln das Lächeln der Mutter hervor. Es besteht eine innige Verbundenheit, ein erratendes Verstehen zwischen beiden, das zum Beglückendsten gehört, was das Leben gewähren kann, und wir können verstehen, daß sich hier die ersten Ansätze von Dankbarkeit, Hoffnung und liebender Zu-
neigung bilden. Noch ist das Kind in der kurzen Paradieszeit seines Lebens, in der nichts von ihm gefordert wird, in der seine Bedürfnisse erraten und befriedigt werden und es sein Dasein mit Lust und Behagen erlebt - erleben sollte. Was also vor allem neu ist in dieser zweiten Phase der flühkindlichen Entwicklung, ist die nun erkannte Abhängigkeit von einem Menschen und zugleich das erwachende Bedürfnis nach vertrauter Nähe zu ihm, üblicherweise zur Mutter. Es ist von größter Wichtigkeit, daß die Mutter dem Kind diese Möglichkeiten bietet, damit es in die Lage kommt, einen Menschen »in sein Herz zu schließen«. Das Bild der Mutter und ihres Wesens bildet sich ja dem Kinde zugleich als seine ersten Eindrükke vom Menschen, vom Menschlichen überhaupt, ein. Ob es hier erstmals Zuneigung oder Ablehnung erfährt, sich als geliebt oder ungeliebt erlebt, hängt davon ab, wie die Mutter es anblickt, anfaßt, behandelt und mit ihm umgeht, wobei die Sensibilität und Beeindruckbarkeit des Kindes schon auf feinste Eindrücke reagiert. Sein Verhältnis zu sich selbst wird hier grundlegend »eingespurt« und ergibt die tiefste Basis für sein Selbstwertgefühl - »wie man in den Wald hineinruft, so schallt es zurück«. Fragen wir uns nun, worin die Störungsmöglichkeiten in dieser Phase Hegen, durch die der Impuls zur »Eigendrehung« statt mit Freude, mit Angst und Schuldgefühlen erlebt wird. Es gibt dafür zwei charakteristische Fehlhaltungen der Mütter, die wir mit Verwöhnung und Versagung bezeichnen können. Zunächst zur Verwöhnung. Hier finden wir vor allem die ausgesprochenen Kleinkindmütter, die »Gluckenmütter«, denen es am üebsten wäre, wenn das Kind immer ein Baby bliebe, hilflos und abhängig, sie brauchend und auf sie angewiesen. Mütter also, die oft selbst zum depressiven Strukturkreis gehören und aus unbewußter Verlustangst und Lebensängstlichkeit, oder aus Angst vor Liebesverlust das Kind verwöhnen. Sie überschütten es mit Zärtlichkeit, wagen ihm nichts zuzumuten an gesunden und notwendigen Verzichten. Manchmal kommen schicksalhafte Faktoren hinzu; so bei Frauen, die von der Ehe enttäuscht sind oder den Partner verloren haben, und für die das Kind nun der ganze Lebensinhalt wird. Sie brauchen das Kind zu sehr, brauchen seine Liebe, und tun alles, was es ihnen dankbar verpflichten soll. Je älter das Kind wird, um so problematischer werden sie für das Kind. Sie sehen mit Schrekken, wie seine Entwicklung vorangeht, wie es größer und selbständiger wird. Das bedeutet für sie: Es entwickelt sich von mir fort, es wird mich bald nicht mehr brauchen und sich anderen Menschen
zuwenden. Wahrscheinlich kommt diesem Festhalten- und Kleinhaltenwollen des Kindes ein tiefer Mutterinstinkt entgegen; darüber hinaus darf man die großen Opfer über lange Zeit, die eine Mutter dem Kind bringen muß, nicht unterschätzen - wer läßt schon gern los, was er über lange Zeit liebend aufgezogen hat. Sie verwöhnen das Kind von Anfang an, schon mit dem Stillen, nehmen es bei jedem Schreien - das oft nur vitale Selbstbetätigung ist, auf, und ersticken so eine Vitalimpulse, beantworten jede Unlustreaktion des Kindes mit zudeckender Zärtlichkeit, so daß es kaum eine Chance hat, Affekte zu äußern oder eigene Lösungen für seine Unbehagen zu finden. Sie sind dauernd für das Kind da, ziehen wie ein Magnet seine Aufmerksamkeit und seine Gefühle auf sich und leben mit ihm, in der Boxersprache ausgedrückt, in einem dauernden Clinch, in einer gegenseitig verstrickten Nähe, in der keiner sich mehr frei bewegen kann. Auch weiterhin versuchen sie aus den gleichen Motiven, dem Kind alles abzunehmen, vorwegzunehmen, ihm alles »vorzukauen« und sich als Puffer zwischen das Kind und die Welt zu schieben, es auf jede Weise zu beschirmen. Sie können gesunde und unvermeidliche Affekte des Kindes nicht annehmen und reagieren darauf gekränkt oder mit Tränen, so daß es Schuldgefühle bekommt, schon wegen ganz normaler Verhaltensweisen, die altersadäquat sind. Das alles bindet das Kind nicht nur immer mehr an die Mutter, sondern führt auch dazu, daß es zu wenig Chancen für seine Eigenimpulse hat und von früh an es gar nicht anders kennt, etwas ohne die Mutter oder ohne die Genehmigung der Mutter zu tun. Das kann so weit gehen, daß es schließlich nicht einmal mehr eigene Wünsche hat; es hat dann resigniert und gleitet in eine passive Indolenz, gleichzeitig aber mit der Erwartung, daß man nun seine Wünsche erraten und erfüllen müßte, weil es selbst das Wünschen verlernt, aufgegeben hat. So entstehen Bequemlichkeitshaltungen, passive Erwartungshaltungen, die Vorstellung vom Leben als einem Schlaraffenland, die die darunterliegende Depression verdecken. In seinem Roman »Oblomow« hat Gontscharow eine solche Entwicklung glänzend dargestellt. Der weitgehende Ausfall an Wünschen, Wollen und Impulsen, bringt weiterhin eine allgemeine Ungeübtheit im Umgang mit der Welt mit sich, durch die man sekundär wieder mehr auf andere angewiesen bleibt. Häufig schildern solche Mütter dem Kind noch die Welt draußen als böse und gefährlich, so daß es in seiner Weiterentwicklung das Gefühl bekommt, Wärme, Geborgenheit, Verständnis und Sicherheit gibt es nur daheim bei der Mutter. Das schwächt zusätzlich seine Impulse, sich der Welt zuzuwenden,
glaubt es doch, daheim das Bestmögliche zu haben. Solche Mütter lassen nach Möglichkeit niemanden an das Kind heran und hüten es eifersüchtig; Freunde und Freundinnen werden abgewertet, oder die Mutter reagiert traurig und gekränkt auf Freundschaften, wie auf eine Untreue ihr gegenüber, da sie in jedem anderen einen potentiellen Rivalen sieht, der ihr das Kind nehmen könnte. So wird das Kind »weich vergewaltigt«, oft bis weit über die Pubertät hinaus; seine Eigenimpulse werden erstickt in der einhüllenden Watte mütterlich besorgter Liebe. Nichts Rauhes, Hartes und Kaltes kann an das Kind herankommen, an dem es sich bewähren könnte. Es bleibt darauf angewiesen, daß die Welt draußen weiterhin so verwöhnend ist und versagt, wenn es mit ihr zusammenprallt. Dann erlebt es die eigene Untüchtigkeit und Schwäche, vor der es wieder in die alte Geborgenheit flüchtet. Durch seine IchSchwäche erscheint ihm die Lebensbewältigung als eine so ungeheure Aufgabe, daß es davor zurückschreckt und resigniert. Solche Mütter können also das Kind nicht rechtzeitig und jeweils altersgemäß loslassen und freigeben für seine eigene Entwicklung. Sie binden es durch ihren Liebesanspruch an sich, der nicht einmal die Zuneigung des Kindes sich frei äußern läßt, sondern sie fordert: »Sei lieb zu mir«, »gib mir einen Kuß«. Sie nehmen ihm alles ab: »Laß nur, ick mach es dir schon«, »das ist noch zu schwer für dich«; »das kannst du ja doch noch nicht«, und durchbrechen seine Eigenimpulse »willst du nicht damit spielen?«, »hör doch jetzt damit auf«, ohne zu ahnen, was sie damit anrichten. Denn so töten sie im Kind alle gesunde Selbstentfaltung und schließlich auch die so wichtigen vorübenden Phantasien auf das Leben hin in den ersten Ansätzen vorausgreifener Weltbewältigung. Kann das Kind unter solchen Bedingungen seine »Eigendrehung« nicht lernen, bleibt es an die Mutter fixiert, bleibt reagierendes Echo, und lernt so weder die Welt noch seine eigenen Möglichkeiten und Grenzen kennen. Es bleibt passiv und anpassungsbereit mit Erwartungen an das Leben als einer weiterhin verwöhnenden Mutterinstanz. Natürlich sind so Enttäuschungen unvermeidlich, und sie pflegen zum Ausbruch der bisher latenten, schleichenden Depression zu führen. Die Situation der Mutter dem Kinde gegenüber kann durch Schicksale verschiedener Art erschwert werden, durch Scheidung, Verwitwung, durch Geburt des Kindes in eine schwierige Ehephase, durch zu dicht aufeinanderfolgende Geburten usf. Einzelkinder sind verständlicherweise im allgemeinen in dieser Hinsicht gefährdeter als Kinder mit Geschwistern, wo sich die bemächtigende Liebe der Mutter nicht nur auf ein Kind ergießt. Ein Patient, ein
Einzelkind, sagte einmal sehr drastisch: »Wenn meine Mutter das Füllhorn ihrer Liebe über mir ausschüttet, bekomme ich blaue Flekke davon.« Das Loslassenmüssen der Kinder ist eine Notwendigkeit, die alles Mutter-Sein in diesem Sinne zu einer undankbaren Aufgabe macht, umsomehr, je mehr man Dank erwartet oder gar fordert. Wenn man nicht die Reife besitzt oder erwirbt, das gesunde SichEntwickeln der Kinder als Belohnung seiner Liebe, seiner Mühen, Opfer und Verzichte zu sehen, wird man sich und ihnen vermeidbares Leid zufügen. Die innere Situation solcher Kinder ist aber noch komplizierter. Sie können gar nicht anders, als auch Haß zu empfinden gegen die Mutter, die sie so entmachtet und sich ihrer bemächtigt. Wagen sie aber, nur etwas davon zu äußern, erweckt sie in ihnen Schuldgefühle durch das Aufzählen, was sie alles für das Kind getan und geopfert habe. Das ist natürlich auch richtig, nur von dem Kind ja so nicht gefordert worden, so daß es für etwas dankbar sein muß, was es nicht nur gar nicht gewollt hatte, sondern was es sogar geschädigt hat. Es muß sich beschämt als äußerst undankbar vorkommen und seine Befreiungsversuche aus Schuldgefühlen aufgeben. Vor allem sensible Kinder können darunter schwer leiden und Schädigungen davontragen, wie wir sie in den Beispielen noch kennenlernen werden. Sie wagen die altersentsprechenden Schritte der Ablösung von der Mutter nicht zu vollziehen. Die ganze Gefahr zu enger Bindung und zu großer Abhängigkeit leuchtet hier auf. Das Kind muß dann eher auf seine Eigenentwicklung verzichten, sie opfern, als daß es die Schuldgefühle ertragen kann, der Mutter so viel Kummer zu machen - eine vom Kind her gesehen gar nicht anders zu lösende Situation. Es gibt kaum etwas Belastenderes für ein Kind, als eine solche »Erziehung« durch Schuldgefühlserweckung; es ist eine der großen Sünden, die der Erwachsene später seinen Eltern schwer verzeihen kann, wenn er je so weit kommt, sich davon zu distanzieren und das unnötige Leiden zu erkennen, das ihm aus vermeintlicher Liebe zugefügt wurde. Dafür ein im Typischen gar nicht so seltenes Beispiel: Wenn das Kind in den Augen seiner Mutter ungezogen war - was meist nur hieß, daß es nicht sofort gehorchte, oder etwas tat, was ihr nicht paßte - legte sie sich auf das Sofa und »starb« - das heißt, sie rührte sich längere Zeit nicht und reagierte auf die Bitten des Kindes nicht, bis es in verzweifeltes Weinen ausbrach. Ähnliche, Schuldgefühle erweckende Drohungen sind häufig - »ich gehe und komme nicht wieder«, »du bringst mich noch ins Grab« usf.
War die erste Motivierung der Verwöhnung der Wunsch, vom Kind geliebt zu werden und es sich dankbar zu verpflichten, ist die zweite Motivierung wieder anders kompliziert und für das Kind meist noch tragischer. Gemeint ist die Situation, wo eine Mutter das Kind nicht gewollt hat oder es, aus welchen Gründen auch immer, ablehnt und feindselige Gefühle gegen es hat, gleichzeitig aber von sich verlangt, ihm eine gute Mutter zu sein und Schuldgefühle bekommt, weil sie es nicht sein kann. Sie verwöhnt dann das Kind aus Schuldgefühlen und gleichsam Wiedergutmachungsbestreben. Ist das schon für die Mutter schwierig genug - diese Situation ergibt sich verständlicherweise besonders leicht Stiefkindern gegenüber - so erst recht für das Kind. Es spürt die Bemühung, aber dahinter auch die Ablehnung oder Feindseligkeit, den Mangel an echter Liebe, den die Verwöhnung nicht nur nicht ausgleichen kann, sondern die es zudem in die Lage bringt, für etwas dankbar sein zu müssen, was ihm nicht gern gegeben wird. Hier kann es dazu kommen, daß das Kind schon sein Dasein als Schuld empfindet, sich als Zumutung erlebt, weil es spürt, daß es der Mutter eine Last ist, daß es eigentlich kein Lebensrecht hat und froh sein muß, wenn es geduldet wird. Wir wollen nun die Seite der Versagung betrachten, die den anderen biographischen Hintergrund depressiver Persönlichkeitsentwicklungen abgibt. Die hier gemeinten kargen, wenig mütterlich-liebesfähigen, oft harten Frauen sind meist in ihrer eigenen Kindheit liebesmäßig zu kurz gekommen und haben aus eigener Erfahrung kein Vorbild für das Mutter-Sein, wissen zu wenig über die Bedürfnisse des Kindes Bescheid. Noch relativ harmlos sind die »Programm-Mütter«, die aus Unsicherheit und mangelnder Einfühlung das Kind nach einem starren Schema stillen und erziehen, ohne Rücksicht auf seine individuellen Bedürfnisse, wie es aus folgendem Tagebuch einer Mutter, ihren erstgeborenen Sohn betreffend, hervorgeht: »Der Knabe schreit seit mehreren Stunden, aber seine Zeit zum Füttern ist noch nicht gekommen.« Diese Eintragung wiederholt sich im Tagebuch über längere Zeit. Wir wollen nicht unerwähnt lassen, daß hierbei - wie auch sonst so oft - als »wissenschaftlich« ausgegebene Privatmeinungen von Ärzten eine manchmal verhängnisvolle Rolle spielen. Das Kind wird aber überfordert, wenn ihm zu früh eine Anpassung an Lebensbedingungen zugemutet wird, die seinem individuellen Bedürfnis zu wenig Rechnung tragen. Wenn es zu unregelmäßig gestillt wird, wenn es nach dem Stillen sofort in sein Bettchen zurückgelegt wird ohne darauffolgende längere Zuwendung, wenn die Mutter zu wenig Zeit für es hat und den Stillakt hastig
und ungeduldig vornimmt, sind das einige der häufigsten Beispiele für hier mögliche Überforderungen. Da es sich noch nicht wehren und seine Bedürfnisse ausdrücken kann, nimmt das Kind allmählich resignierend die Welt hin, wie sie ist, stellt sich darauf ein, daß von ihr offenbar nicht mehr zu erwarten ist. Das ergibt das Lebensgrundgefühl vieler Depressiver: eine weitgehende Hoffnungslosigkeit; sie können nicht an die Zukunft glauben, auch nicht an sich selbst und ihre Möglichkeiten, sie haben es nur gelernt, sich anzupassen. Das Gefühl der Aussichtslosigkeit beherrscht sie, sie sind nur stark im Ertragen und Verzichten. Anstatt erwartungsvoll und hoffend in der Welt zu sein, erwarten sie immer das Schlimmste, sind ausgesprochene Pessimisten und können sich schwer vorstellen, daß das Leben auch für sie einmal etwas Frohes, Leichtes und Beglückendes bringen könnte. Und wenn es doch einmal geschieht, bekommen sie Schuldgefühle und fragen sich, womit sie das verdient haben. Sie können sich gar nicht richtig freuen und zerstören sich manche Glücksmöglichkeiten durch ihre Enttäuschungsprophylaxe: Da sie meinen, daß ihnen doch nichts glücken kann, versuchen sie es gar nicht mit der nötigen Intensität, weil dann das Mißglücken nur noch schmerzlicher wäre; wenn man von vornherein nichts Gutes erwartet, kann man nur noch angenehm enttäuscht werden. Ein Beispiel für solche frühen Versagungserlebnisse, die prägend wirken, wieder aus dem Tagebuch einer Mutter: »Du warst von Anfang an ein mickeriges Kind. Ich habe dich die ersten 6 Wochen ganz genährt, mußte aber sehr oft nachfüttern, weil du erbrachst und ich dann nichts mehr hatte. Schon in den ersten 10 Tagen, wo ich in der Klinik lag, weigertest du dich, die Brust zu nehmen. Es dauerte oft 5-10 Minuten, bis man dich darangequält hatte mit Nase zuhalten usf. Dein Kotzen hing sicher nicht mit Cardiospasmus zusammen, wenigstens stritten die Ärzte das ab. Es war mehr eine allgemeine Überempfindlichkeit und Nervosität, wie du ja auch nie eine Nacht durchschliefst die ersten 6 Monate. Zu Hause hatte ich nach 3 Wochen, wo ich wieder mit Arbeit anfing, nicht sehr viel Zeit. Als du nach 3-4 Monaten das Normalgewicht noch nicht erreicht hattest, ließ ich dich nochmals untersuchen; der Arzt fand nichts, aber ich gab dich der Sicherheit halber in eine Kinderklinik; die Kinderärztin dort sagte, daß du für dein Alter einen so »vernünftigen Blick« hättest. Du hattest in der Kinderklinik einen Fensterplatz und warst nur mit einer Decke bedeckt; zu Hause hatten wir dich wärmer gehalten. Erfolg: du bekamst eine Lungenentzündung. Ich war in dieser Zeit schrecklich nervös, ging aber wenigstens die ersten Tage hin zum Nähren; ich fing damals an,
alles schwarz zu sehen. Im übrigen warst du in deiner Kindheit mein einziger fester Halt, da Pappi in diesen Jahren durch seine öfteren Ausbrüche und Unberechenbarkeiten äußerst schwierig war. Dadurch habe ich zweifellos vielleicht in deiner Erziehung Fehler gemacht, oft ein gewisses System mit viel Ausgehen und früh schlafen zu krampfhaft festgehalten, sonst wäre nie Ordnung und Gleichmäßigkeit in dein Leben gekommen. Riesenschiß hattest du immer vor ärztlichen Behandlungen, da hast du gebrüllt. Als du mal eine Otitis hattest, mußte der herbeigerufene Arzt unverrichteter Sache abziehen, ziemlich angeekelt und verärgert über die schlechte Erziehung<.« Dieser Bericht spricht wohl für sich selbst - er enthält so ziemlich alle Punkte, die hier prägend und belastend für ein Kind sein können. Frühe Versagungserlebnisse haben für das Kind eine doppelte Folge. Es lernt einmal, zu früh zu resignieren. Dadurch wird es gehemmt auf allen Gebieten des Sich-etwas-Nehmens, des Forderns und Zugreifens. Wer aber so verzichtsbereit ist und nicht angemessen zugreifen kann, wird schwer den Neid vermeiden können, wenn er sieht, wie andere sich unbefangen das nehmen, was er sich zu nehmen nicht getraut. Da man wegen des Neides wieder Schuldgefühle bekommt und sich schlecht vorkommt, versucht man, diese zu vermeiden, indem man aus der Not eine Tugend macht: Man erhebt seine Gehemmtheit zu einem Wert, zu einer Ideologie der Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit, wie oben beschrieben, und hat nun wenigstens den Trost einer moralischen Überlegenheit. Die andere Folge von frühen Versagungserlebnissen ist, daß sie dem Kind das Gefühl geben, nicht liebenswert zu sein. Das pflegt die Basis tiefer Minderwertigkeitsgefühle abzugeben - man muß es ja einmal erlebt haben, geliebt worden zu sein, um sich für liebenswert halten zu können, und wenn man es nicht erlebt hat, muß es wohl an einem selbst liegen, ist man eben nicht liebenswürdig. Dieses Minderwertigkeitsgefühl hängt auch damit zusammen, daß das Kind noch keine Vergleichsmöglichkeiten in diesem Alter hat; es kann daher nicht realisieren, daß seine Eltern nicht liebesfähig sind; seine Welt ist für es »die« Welt und wie seine Eltern sind, sind offenbar »Eltern überhaupt«. Bei schweren Minderwertigkeitsgefühlen kann auch hier das Gefühl entstehen, daß man eigentlich kein Lebensrecht hat, daß man sich dieses verdienen muß und eine Existenzberechtigung nur hat, wenn man für andere lebt. »Schon mein Dasein ist Schuld«, sagte eine depressive Patientin mit so einer Kindheit. Das kann zu schuldhafter Fixierung an die Mutter oder die Eltern führen, mit
Wiedergutmachungstendenzen ihnen gegenüber; dann opfert man sein Leben auf dem Altar elterlicher Egoismen und findet es noch ganz selbstverständlich. Im Endeffekt ist die Auswirkung von Verwöhnung und Versagung eine ähnliche: beide führen meist zur Entwicklung einer depressiven Persönlichkeitsstruktur. Das verwöhnte Kind kommt nur meist erst später in Angst und Krisen, wenn nämlich das Leben nicht mehr so verwöhnend ist wie einst die Mutter und wenn keine Ersatzmütter - zu denen eine Versorgungsehe, staatliche Institutionen, Sozialversicherungen usf. gehören können - gefunden werden. Dann stellt sich heraus, daß man den Härten und Anforderungen des Lebens nicht gewachsen ist, und es kommt zum Ausbruch der Depression. Häufig wird dann auch der Ausweg in irgendeine Sucht gesucht. Das unter Mangelerlebnissen und Versagungen aufgewachsene Kind lernt es früher, zu früh, zu verzichten. Es wird zum stillen, anspruchslosen Kind, das schüchtern und angepaßt, für die Eltern sehr bequem ist, die hinter diesen Verhaltensweisen die Depression nicht erkennen. Es ist so daran gewohnt, sich zurückzustellen, keine Ansprüche zu haben, daß es auch später immer auf andere ausgerichtet ist und deren Forderungen und Erwartungen zu erfüllen bemüht ist. Es hat der Welt zu wenig an Eigen-Sein entgegenzustellen, ist zu wenig Subjekt und wird so zum Objekt anderer. Da es ihm immer unmöglicher wird, alle die vermeintlichen Forderungen zu erfüllen, weil es schließlich alles als Forderung erlebt, die es meint, erfüllen zu müssen, gerät es in immer neue Schuldgefühle und diesen folgend Depressionen. Deshalb scheuen viele depressive Menschen den Kontakt mit mehreren Personen - wie könnten sie all deren divergente Forderungen erfüllen - das kann man, wenn überhaupt, vielleicht bei einem einzelnen Menschen versuchen. Manche finden vielleicht zu der Lösung, anderen das geben zu wollen, was sie selbst nie bekamen; sie versuchen, das erlebte Liebesdefizit zu sublimieren in helfenden Tätigkeiten, in aufopfernder Nächstenliebe, in caritativen Berufen - aber auch sie wollen dafür geliebt oder belohnt werden, sonst würden sie sich überfordern. Welche Formen es annehmen kann, wenn man schließlich alles als Forderung erlebt, mögen folgende Beispiele skizzieren: »Wenn die Sonne scheint, habe ich das Gefühl, daß ich mich darüber freuen soll - das verdirbt mir dann schon den ganzen Tag.« - Ein Student war nicht in der Lage, ein Buch zu Ende zu lesen, selbst wenn es ihn zunächst interessierte; nach einigen Seiten Lektüre schlich sich bei ihm das Gefühl ein, daß das Buch von ihm gelesen
werden wollte. Nicht er wollte also subjekthaft das Buch lesen, sondern es wurde ihm zur Forderung, es machte ihn gleichsam zum Objekt, und er verlor die Lust daran. Man kann sich unschwer vorstellen, wie solche Erlebnisweise schließlich zu völliger Resignation und Apathie führen muß, zur Ablehnung aller Forderungen. Wir sehen, welche Extremformen depressives In-der-Welt-Sein annehmen kann. Daher ist so ein »Streik« noch ein gutes Zeichen, weil sich darin noch etwas gegen das dauernde Sollen und Müssen auflehnt. Werden solche Menschen nun weiter gezwungen etwas zu leisten, ohne daß man ihnen die Zeit und Möglichkeit gegeben hat, erst einmal nachzuholen, was sie nie durften: wollendes, aus eigenen Impulsen und Wünschen handelndes Subjekt zu sein, treibt man sie in die äußerste Verzweiflung. Sie können sich dann nur retten in zunehmende Indifferenz, Gleichgültigkeit und Apathie, sie werden zu »Versagern« oder flüchten sich in die Sucht oder den Selbstmord. Denn sie befinden sich in einer für sie unlösbaren Situation: versuchen sie, sich immer mehr aufzugeben und die Forderungen zu erfüllen, haben sie keine Freude am Leben; versuchen sie, sich den Forderungen zu entziehen, geraten sie in schwere Schuldgefühle. Unbewußt wiederholen sie so die Situation ihrer Kindheit. Ich hatte weiter oben beschrieben, wie das Kind das Bild der Mutter in sich hereinnimmt, und wie abhängig seine Einstellung zu sich selbst von seiner Muttererfahrung ist. Eine nach innen genommene feindselig-ablehnende oder überfordernde Mutter ist nicht selten die tiefste Ursache des Selbstmordes als letztmöglicher Resignation. Sie wird zu einer innerseelischen Instanz des Kindes, durch die es sich selbst ablehnt bis zum Selbsthaß und zur Selbstzerstörung. Der unvermeidliche Haß gegen die Mutter würde so schwere, so unerträgliche Schuldgefühle auslösen, daß es lieber den Haß auf sich selbst richtet. Solche Zusammenhänge von Haß, Schuldgefühlen, einer introjizierten ablehnenden Mutter und Selbsthaß, sind die psychodynamischen Hintergründe schwerer Melancholien. Die hier auftretenden Selbstmordneigungen sind auf sich selbst verschobene Mordtendenzen und zugleich die Selbstbestrafung für den Haß gegen die Mutter. Es wurde wohl deutlich, daß das zentrale Problem depressiver Menschen die nicht geglückte »Eigendrehung«, die mangelnde Entwicklung des Subjekt-Seins ist. Weil sie der Welt nur ein so schwaches Ich entgegenzusetzen haben, wird für sie alles zur Forderung; sie sehen überall nur Berge von Forderungen, vor denen sie schließlich verzweifelt resignieren. Aus der gleichen Ich-
Schwäche kommen sie weder dazu, starke eigene Impulse, Wünsche und Zielsetzungen zu haben, noch gelingt es ihnen, in reifer Form die Überforderungen abzulehnen, ja sie überhaupt als solche zu erkennen; depressive Menschen können schwer »nein« sagen, aus Verlustangst und aus Schuldgefühlen, die sie danach bekämen. Ihnen bleibt nur die Depression oder der unbewußte Streik, wenn ihre Toleranzgrenze überschritten wird, was sie aber auch nicht von ihren Schuldgefühlen befreit. Der in der Tiefe aufgestaute Haß und Neid, den sie nie zu äußern wagten, kann ihr ganzes Lebensgefühl vergiften oder muß in immerwährenden Selbstanklagen und Selbstbestrafungen abgesühnt werden. Solange sie versuchen, die Angst vor der Ich-Werdung dadurch zu vermeiden, daß sie immer mehr auf ihr Eigen-Sein verzichten, ist die Situation unlösbar. Was hier helfen kann, ist nur das Wagnis, ein eigenständiges Individuum zu werden.
Beispiele für depressive Erlebnisweisen Gehen wir wieder zu Beispielen über. Ein junges Mädchen lernt im Cafe einen Mann kennen, der sie in eine Unterhaltung zieht, durch Schilderung seiner Lage - Ehescheidung, Einsamkeit - ihr Mitleid zu erwecken versteht. Er hängt sich an sie, bittet immer wieder um ein Treffen, belegt sie immer mehr mit Beschlag und will sie schließlich heiraten. Obwohl er ihr nie besonders sympathisch war und sie ihn keineswegs liebte, hatte sie das Gefühl, ihn nicht enttäuschen zu dürfen, wo er sie doch so zu brauchen schien. Sie kann nicht nein sagen im rechten Augenblick und hätte sich schon viel früher ablehnend verhalten sollen; ohne es zu wollen und zu merken macht sie ihm durch ihr Verhatten Hoffnungen und gerät in Schuldgefühle, als sie ihm schließlich eine Absage gibt. Das Beispiel zeigt viel Charakteristisches für depressives In-derWelt-Sein; eine noch tiefer Gestörte hätte den Mut zu dem »nein« gar nicht mehr aufgebracht. Depressive versetzen sich in die Situation des anderen, sie identifizieren sich mit ihm so weit, daß sie den eigenen Standpunkt und die eigenen Interessen darüber weitgehend vergessen. Weil sie zu wenig Eigenimpulse und Eigenwünsche haben, die sie denen anderer entgegenzusetzen hätten, unterliegen sie den Wünschen und Impulsen anderer um so leichter. Sie sind es gewohnt, die Erwartungen anderer zu erfüllen, daß sie in Lagen kommen, die sie nicht gewollt, aber unbewußt doch mitkonstelliert haben. So kommen sie leichter als andere in schwierige Verwicklungen und werden zum Opfer rücksichtsloser Men-
sehen, die ihre Schwäche ausnutzen. Sie können sich dann schwer aus solchen Situationen befreien, aus Schuldgefühlen und auch, weil sie Beschämung über die eigene Gutgläubigkeit empfinden und die Demütigung dem gegenüber, der sie ausnutzte, nicht zugeben wollen. Dieses Mädchen stammte aus schwierigen Familienverhältnissen. Ihr Vater hatte in zweiter Ehe nach dem Tod der ersten Frau ein einfaches Mädchen »unter seinem Stand« geheiratet; er war damals schon in den Sechzigern und zeigte Anzeichen einer Altersdemenz, als die Patientin etwa 8 Jahre alt war. Sie lebte mit den erwachsenen Stiefgeschwistern im gleichen Haus, in dem unten ein Geschäft war, das ursprünglich aus dem Besitz der ersten Frau ihres Vaters stammte, und an dem auch noch 2 Schwestern der verstorbenen Mutter beteiligt waren, die ebenfalls im gleichen Haus wohnten und sich gegen die neue Frau feindselig einstellten. Diese, an sich schüchtern und durch ihren Mann nicht unterstützt, fühlte sich mit ihrem Kind nur geduldet. Sie hatte Angst, wenn sie für das Kind etwas Neues anschaffte, es durfte das dann nur heimlich tragen und hatte Schuldgefühle, als ob es den Stiefgeschwistern damit etwas weggenommen hätte. Tochter und Mutter empfanden sich durch das Verhalten der väterlichen Familie als die Dazugekommenen, die unerwünscht Hereingeschneiten, die schon durch ihr Dasein den anderen etwas wegnahmen. Sie wurden geduldet bis der Vater starb und dann aus dem Haus gewiesen; die Mutter konnte sich nicht wehren und ging auf Arbeit. Sie suchte zwar einmal einen Anwalt auf, der ihr sagte, sie könne nicht hinausgeworfen werden, aber sie hatte nicht die Kraft, war nicht hart genug, sich durchzusetzen. So wuchs das Kind mit dem Gefühl auf kein Lebensrecht zu haben. »Die Mutter hatte Angst; nicht einmal hatte ich ein Sichbehaupten an ihr erlebt. Sie klagte hinten herum über die Verwandtschaft, gab aber immer nach, nörgelte dafür dann ewig, war ewig unzufrieden. Sie lief dauernd in die Kirche; sie schleppte mich in die Totenkapelle neben der Kirche und wir beteten für die armen Seelen und um ein bißchen Gelingen, um ein bissei Brot aus der Schüssel des Lebens viel konnte es ja nicht sein, was sie zu vergeben hatten, denn es waren ja arme Seelen. Die Stiefschwestern hatten alles; die müssen wie Prinzessinnen gehalten worden sein. Ihre Mutter war jung gewesen, der Vater damals auch. Ich habe dann einen Lösungsversuch gemacht: Wenn mich schon niemand liebt, will ich arm sein, mir darf nichts gehören ~ armes Kind - liebes Kind. Habe daraus eine Tugend gemacht nach christlichem Vorbild: Arm sein, besitzlos sein, Nachahmung Christi«.
Fräulein M. lebte mit einer Kollegin in einer gemeinsamen Wohnung, sie arbeiteten auch im gleichen Büro. Weil Fräulein M. ein Auto hatte, die Kollegin nicht, war es ihr zur Gewohnheit geworden, diese immer zum Arbeitsplatz mitzunehmen. Die Kollegin, die weniger gewissenhaft war, trödelte morgens gern herum, so daß Fräulein M. ihretwegen öfter zu spät zur Arbeit kam, was ihr bei ihrer Pflichteinstellung sehr unangenehm war. Sie nahm die Kollegin auch häufiger auf ihre Wochenendfahrten mit, sich fast dazu verpflichtet fühlend, wo doch die andere kein Auto hatte. Dabei fiel ihr auf, daß sie an solchen Tagen merkwürdig oft Kopfschmerzen und Magenbeschwerden bekam, die sie sich nicht erklären konnte. In der psychotherapeutischen Behandlung stellte sich heraus, daß sie - was ihr selbstverständlich schien - bei diesen Gelgenheiten auch die Benzinkosten immer allein trug - es war ja ihr Auto. Die Kollegin kam gar nicht auf den Gedanken, sich an den Spesen zu beteiligen. Die Patientin ärgerte sich darüber, brachte es aber weder fertig, eine Kostenbeteiligung zu fordern, noch sich ihren Ärger zuzugestehen; sie kam sich im Gegenteil schäbig vor, überhaupt so kleinliche Gedanken zu haben - das sei doch ihrer nicht würdig. So ließ sie sich überfordern und ausnutzen, »fraß« ihren Groll in sich hinein und merkte erst durch ihre Symptome, daß offenbar etwas nicht in Ordnung war, daß ihr Unterbewußtsein Alarmsignale gab und mit Symptomen reagierte, die nun körperlich das ausdrückten, was sie bewußt nicht zu leben wagte: den Ärger durch die Kopfschmerzen, ihr Nicht-fordern-Können durch die Magensymptome. Erschwerend kam noch hinzu, daß sie Halbjüdin war und meinte, die Kollegin würde denken, es sei das Jüdische an ihr, wenn sie so auf das Geld aus wäre - das Jüdische in ihr hatte sie immer als etwas Negatives geglaubt sehen zu müssen. Als sie trotz ihrer Bedenken es schließlich fertigbrachte, der Kollegin die Mitbeteiligung an den Benzinkosten vorzuschlagen und diese zu ihrer Überraschung darauf einging, verschwanden nicht nur die Wochenendsymptome, sondern die Beziehung beider wurde sogar zu einer Freundschaft. Ihr Verhalten der Kollegin gegenüber war nur ein Beispiel für viele ähnliche in ihrem Alltag. Der Alltag depressiver Persönlichkeiten ist durchzogen von solchen Verhaltensweisen, bei denen das Sich-Behaupten, das SichDurchsetzen oder Neinsagen, das Subjekt-Sein nicht gewagt wird. Da es ihnen zur zweiten Natur geworden ist, nachzugeben, zu verzichten, sich nicht zu wehren, sind sie sich gar nicht bewußt, daß mit diesen Verhaltensweisen ihre anscheinend grundlosen Depressionen zusammenhängen, die sie wie eine Veranlagung, wie ein Schicksal hinnehmen, an dem nichts zu ändern ist. Der Arzt
pflegt ihnen antidepressive Medikamente zu verschreiben, da er auch keine äußeren Auslöser für die Depression sieht, und so können sie von Medikamenten abhängig werden, die bestenfalls eine vorübergehende Erleichterung verschaffen, im übrigen aber das Problem nur zudecken. Ich will nun den biographischen Hintergrund dieser Patientin breiter schildern: Sie war das einzige Kind in einer sehr schwierigen Mischehe - die Mutter war Jüdin. Von ganz früh an erlebte sie schwere Auseinandersetzungen zwischen den Eltern mit. Häufig sah es für das Kind so aus, daß eine Trennung der Eltern nicht mehr aufzuhalten schien. Bei manchen dieser Szenen wurde die Situation so bedrohlich, daß sie fürchtete, sie würden sich etwas antun. Mehrfach wurden die Trennungsabsichten der Eltern ihr gegenüber geäußert; es hieß dann: »Papi und Mami wollen sich trennen; du mußt entscheiden, bei wem du bleiben willst, wenn du lieber hast.« Dies einer Vierjährigen, die so in eine unlösbare Situation gebracht wurde. Sie hing an beiden Elternteilen und hätte sich gar nicht entscheiden können, und wenn doch, dann nur mit Schuldgefühlen, dem »verratenen« Elternteil gegenüber. So versuchte sie verzweifelt - und das war über Jahre fast ein Dauerzustand in ihrer Kindheit - zwischen den Eltern auszugleichen und zu vermitteln. Der Mutter sagte sie heimlich, der Vater habe es ja nicht so schlimm gemeint, er sei eben aufbrausend und sie dürfe das nicht so ernst nehmen, der Vater selbst habe ihr das neulich gesagt, und er bedauere sein Verhalten. Zum Vater sagte sie ebenso heimlich, wie unglücklich die Mutter über die angedrohte Trennung sei, und daß sie ganz genau wisse, daß die Mutter ihn wirklich liebhabe, wenn sie es auch oft nicht so zeigen könne. Zum Teil durch diese ihre Vorarbeit, zum Teil aus anderen Gründen wurde dann die Trennungsabsicht immer wieder aufgeschoben. Aber die Patientin hatte das Gefühl, auf einem Vulkan zu leben, der jederzeit ausbrechen konnte. So bekam sie in der elterlichen Ehe eine wichtige Funktion: Sie schien das Zünglein an der Waage zu sein oder, wie sie es einmal nannte, »der Kitt und das Gleitmittel« zwischen den Eltern - mit anderen Worten, sie bekam das Gefühl, daß es von ihr abhinge, ob die Eltern beisammen blieben oder sich trennten. Man kann sich vorstellen, daß sie unter diesen Bedingungen nie wagen konnte, die so labile und gefährdete Beziehung zwischen den Eltern womöglich noch mit ihren eigenen Nöten und Problemen zu belasten - für ihre Vorstellung wäre dann alles zusammengebrochen. So konnte sie nie unbefangen altersentsprechend kindlich sein, sie selbst sein. Alle eigenen Wünsche, Impulse, Sorgen, Affekte und Ängste stellte sie allmählich automatisch-reflexhaft zurück;
sie kamen scheinbar gar nicht mehr auf in ihr. Dafür entwickelte sie Symptome: Sie bekam sehr früh starken Haarausfall, lockere Zähne, ihre Haut schuppte sich am ganzen Körper ab, und sie hatte ein sehr lästiges und ihr peinliches Symptom: Wenn sie mit anderen Leuten zusammen war, bekam sie oft ein laut hörbares Magenglucksen, das sie als unbewußten Protest gegen sie überfordernde Situationen verstehen lernte, gegen die sie sich glaubte nicht wehren zu können. Man kann dieses Symptom als Vorläufer der Magenschmerzen sehen, die sie später bei der Kollegin bekam. So entwickelte sie sich zu einem Menschen, der ausgezeichnet »funktionierte«, wenn er in einer bestimmten Forderung stand, die sie gewissenhaft und vorbildlich, unter Zurückstellung der eigenen Person erfüllte. Aber sie kam in Bedrängnis und war hilflos, wenn sie sich durchsetzen sollte oder im Büro von anderen etwas fordern mußte - dann bekam sie unbestimmte Ängste und machte es lieber selbst, was von ihren Arbeitskollegen natürlich ausgenutzt wurde. Ähnlich sieht der Hintergrund mancher Sonntags- und Freizeitneurosen aus. Die ungewohnte Freiheit ängstigt, weil sie geheime, verdrängte, als verboten erlebte Wünsche aufkommen läßt, zu deren Erfüllung der Alltag weniger Gelegenheit gibt, wo einen das Gefordertsein durch Pflichten der Angst enthebt, man selbst zu sein. Ein Beispiel für das Nicht-nein-sagen-Können: Eine Patientin, eine junge Amerikanerin, wohnte in der Nachkriegszeit in Untermiete bei einer Familie in Deutschland, wo sie eine Ballettausbildung machte. Wenn sie vom Training heimkam und unbemerkt in ihr Zimmer schlüpfen wollte, erwischte die Wirtin sie regelmäßig und zog sie »zu einem kleinen Plausch« in die Küche. Obwohl sie müde war und vor dem abendlichen Auftritt noch ausruhen wollte, konnte sie nicht nein sagen. Weil es den Deutschen nach dem Krieg noch schlecht ging, »mußte« sie nun die ganze Familie - Hausfrau, etwas ältliche Tochter, Sohn und Schwiegertochter, die nicht recht angenommen war in der Familie und sich durch arrogante Ansprüche dafür rächte - zum Kaffee einladen, der damals hier noch eine Seltenheit war. Die Tochter bewunderte mit deutlichem Neid das hübsche Kleid der Patientin, bis diese ihr eines von den ihren schenkte, das sie selbst noch gern trug. Der Sohn kokettierte mit ihr, und obwohl sie sich nichts aus ihm machte, »mußte« sie hier und da ihm einen Blick zurückgeben, um ihn nicht zu enttäuschen, und schließlich »mußte« sie noch die Schwiegertochter ins Gespräch ziehen, um die spürbaren intrafamiliären Spannungen auszugleichen. Nach fast zwei Stunden vertaner Zeit ging sie endlich erschöpft in ihr Zimmer und begann heißhungrig-
süchtig zu essen - wegen dieses Freßdranges, der bis zum Stehlen von Süßigkeiten aus den Garderobeschränken von ihren Kolleginnen ging, war sie in die Therapie gekommen. Immer finden sich in der Lebensgeschichte depressiver Menschen Umwelteinflüsse, die die Entwicklung des Kindes zum autonomen Selbst erschwert oder verhindert haben. Auch sie war ein Einzelkind in einer unglücklichen Ehe und mußte es von früh an lernen, sich zurückzustellen, die Eltern in ihren Problemen zu verstehen, bevor sie ihr eigenes Wesen hatte entdecken und entfallen können. - Nun ein Beispiel für eine verwöhnende Umgebung: Herr S. war ebenfalls das einzige Kind seiner Eltern in einer durchschnittlich guten Ehe. Die Mutter, die wenig eigene Interessen hatte, war nicht unglücklich in der Ehe, aber in irgendeiner ihr selbst unklaren Weise unausgefüllt. Als nach einigen Jahren das Kind geboren wurde, stürzte sie sich mit der ganzen Wucht ihrer unerfüllten Wünsche darauf, und es wurde ihr wichtigster Lebensinhalt. Sie hütete es wie ihren Augapfel, war überbesorgt und versuchte, das Kind vor allem in ihren Augen Rauhem, Hartem und Gefährlichem zu behüten. Und was hielt sie alles für gefährlich! Ging ein frischer Wind, sah sie schon eine Lungenentzündung bei dem Jungen voraus und mummelte ihn so ein, daß ihn die Kameraden verlachten (wofür solche Mütter kein Verständnis zu haben pflegen). Spielte das Kind im Sand, war dieser für sie voller heimtückischer Bakterien. Radfahren - wie leicht kann man da stürzen und sich etwas brechen oder überfahren werden! Fahrten mit der Klasse oder mit einigen Kameraden - was konnte da nicht alles passieren, angefangen mit dem Übernachten in Heustadeln und ohne die gute, nahrhafte und nach Gesundheitsaspekten zusammengestellte mütterliche Küche, bis zu möglichen Verführungen und homosexuellen Attakken! Sie badete den Sohn noch bis über die Pubertät, schrubbte ihm den Rücken, brachte ihm das Frühstück ans Bett - kurz, er lebte in einem Schlaraffenland, aber um den Preis, keinen eigenen Willen haben zu dürfen und nicht in die männliche Welt hineinwachsen zu können. Als er einmal um die Pubertät herum einen Rebellionsversuch wagte und gegen den Willen der Mutter mit Kameraden eine längere Radtour unternehmen wollte, stellte sie sich mit ausgebreiteten Armen vor die Kellertür, hinter der das Rad eingeschlossen war, und rief mit dramatischem Pathos »nur über meine Leiche«. Der Sohn resignierte und wurde mit seinem Lieblingsgericht und gehäuften mütterlichen Zärtlichkeiten belohnt. Nach der Pubertät ließ es die Mutter nicht an Warnungen vor den Mädchen fehlen. Es hieß etwa
in wechselnden Versionen: »Die wollen ja nur dein Geld«; »laß dich nur nicht einfangen, die wollen geheiratet werden, um versorgt zu sein; die wissen ja, daß du mal alles erbst und spekulieren nur auf dein Vermögen« usf. Natürlich konnte kein Mädchen, sobald er begann, sich für eines zu interessieren, vor den kritischen mütterlichen Augen bestehen. An allen fand sie etwas auszusetzen; die einen kamen aus »keinem guten Stall«; andere waren erotisch zu herausfordernd angezogen und daher undiskutabel; wieder andere waren ihr gegenüber nicht respektvoll genug gewesen, und letztlich »bist du mir zu gut für sie«. So wertete sie alle Mädchen vor ihm ab, und da er gewohnt war, die Welt durch die Augen seiner Mutter zu sehen, fand er meist bald, daß sie eigentlich recht habe und rationalisierte so zugleich seine Angst davor, ein Mädchen zu erobern. Zu seinem Unglück starb der Vater, als Herr S. fünfzehn Jahre alt war. Damit war sein Schicksal zunächst besiegelt. Nun hatte die Mutter nur noch ihn, und er konnte sie doch nicht allein lassen, was ihm in verschiedener, aber hartnäckiger Form zu verstehen gegeben wurde. Er bekam Schuldgefühle, wenn er abends einmal länger ausblieb - die Mutter machte sich dann solche Sorgen! Alle Wochenenden und die Ferien verbrachte er mit ihr. Als er sein Studium in einer nahen Stadt begann, gab es einen herzzerreißenden Abschied, als ginge er auf einen anderen Kontinent oder ab wäre es ein Abschied fürs Leben - dabei war ausgemacht, daß er jedes Wochenende nach Hause kommen würde. Die Mutter wußte alles von ihm; nicht, daß er einen solchen Mitteilungsdrang gehabt hätte, aber sie fragte immer alles aus ihm heraus, bis es ihm zur Gewohnheit geworden war, ihr alles zu erzählen. Die Mutter war stolz darauf, sagen zu können: »Mein Sohn hat keine Geheimnisse vor mir.« Er selbst war so an diese Distanzlosigkeit gewöhnt, daß er es auch nicht als unangemessen fand, wenn sie selbstverständlich seine Briefe öffnete und las. Drohte doch einmal aus inneren oder äußeren Zusammenhängen dieser Gemeinschaft eine »Gefahr«, wurde die Mutter im rechten Augenblick krank und band den Sohn auf diese Weise fester an sich. So wuchs er als ewiger Sohn heran. Seine wenigen mißglückten Abnabelungsversuche wurden mit von der Mutter genährten Schuldgefühlen erlebt und bald ganz aufgegeben. Er blieb auch sonst im Leben der »gute Sohn«, ein reiner Tor, freundlich und hilfsbereit, aber etwas farblos und wie geschlechtslos. Vor Frauen hatte er eine zunehmende Angst entwickelt und war ihnen gegenüber linkisch und scheu. Er hätte nicht gewußt, wie man eine Frau erobert, denn er hatte ja nur die Gute-Sohn-Haltung erlernt, verstand sich daher am besten mit älteren, mütterlichen Frauen - da
kannte er sich aus, sie schienen als Frauen ungefährlich und waren begeistert von dem höflichen und aufmerksamen jungen Mann. Fand eine altersentsprechende Frau Gefallen an ihm und suchte sie seine Bekanntschaft, so verschanzte er sich hinter den mütterlichen Ermahnungen, die rechtzeitig in ihm aufklangen: Sie ist ja nur hinter meinem Geld her. So band ihn die Leere seines Lebens und die mit den Jahren immer peinlicher empfundene Unfähigkeit, Freundschaften mit Männern oder gar mit Frauen anzuknüpfen, sekundär immer wieder an die Mutter, die auf seine Kosten erstaunlich jung blieb in dieser für sie befriedigenden »Ehe« mit dem Sohn-Geliebten. Auf der anderen Seite war er durch ihre Verwöhnung ungemein anspruchsvoll, ihm selbst nicht bewußt, weil es ihm zu gewohnt und selbstverständlich war. Nach Abschluß des Studiums bot sich ihm durch Freunde des Vaters eine Stelle als Vertreter in einer bedeutenden Firma. Durch die Überschätzung von seilen der Mutter, sicher auch kompensatorisch für seine Schwächen, hielt er sich für etwas Besonderes, was die anderen auch ohne entsprechende Leistung von seiner Seite hätten erkennen sollen. Er war empfindlich gegen Kritik und verärgerte seine Vorgesetzten dann durch arrogante Haltungen. Durch sein höfliches Wesen gewann er aber doch rasch Kunden, wenn auch seine Fach- und Sachkenntnis der »Materie« nicht überragend waren. Er hatte die Neigung, Dinge aufzuschieben, sich zwischendurch (im Außendienst war das möglich) einen freien Nachmittag zu machen, sich in ein Kaffee zu setzen, baden oder ins Kino zu gehen. Natürlich kam er auf diese Weise nicht so rasch vorwärts, wie er es sich vorgestellt hatte; er meinte aber, man würde seine Fähigkeiten nicht genügend erkennen bzw. schätzen. Auf einer seiner geschäftlichen Reisen wurde er unter Alkoholeinfluß doch einmal von einem Mädchen verführt, erlebte sich, auch nach erneuten Versuchen, dabei als impotent. Das wurde der Anlaß, daß er sich in eine psychotherapeutische Behandlung begab gegen den Willen der Mutter, was für ihn sehr viel bedeutete und prognostisch ein gutes Zeichen war. Und nun noch ein Beispiel für einen Menschen, dessen Wesen durch frühe Versagungen geprägt wurde. Herr A. war das dritte außereheliche Kind seiner Mutter, wieder von einem anderen Mann, unerwünscht von Anfang an, und aufgewachsen mit dem oft gehörten Satz »wenn du doch gar nicht geboren wärst!« Er brachte einmal eine Zeichnung in die Behandlung mit, wo er sich als Schuljunge gezeichnet hatte, die Hände auf den Rücken gebunden, durch einen Wald von Verbotstafeln gehend, auf denen stand: »Wehe, wenn du ...«; »Laß das sofort sein«; »Na warte, wenn du nach
Hause kommst«; »Wo hast du dich wieder herumgetrieben?«; »Wenn das noch einmal passiert, dann ...« usf. Er bekam von früh an das Gefühl, kein Lebensrecht zu haben, bestenfalls geduldet zu werden und dafür noch dankbar sein zu müssen. Die Mutter lebte in ärmlichen Verhältnissen, und er hatte das Gefühl, daß sie ihm keinen Bissen gönnte. Er hatte gelernt, sich so klein und unauffällig wie möglich zu machen; auf der Behandlungscouch lag er mit den Händen an den Hosennähten, wagte sich anfangs kaum zu bewegen und brachte so zum Ausdruck, was ihm zur zweiten Natur geworden war: Nur nicht auffallen, möglichst gar nicht bemerkt werden und niemanden reizen - dann besteht wenigstens eine gewisse Chance, nicht zu stören oder weggeschickt zu werden. So verhielt er sich auch im Leben: Er versuchte so wenig Raum wie möglich für sich zu beanspruchen, war überbescheiden und lernte es gar nicht erst, eigene Wünsche und Pläne zu haben. Überall zu kurz gekommen, immer verzichten müssend und ohne Hoffnung auf Zukunft, mußte er schon sehr früh Geld verdienen durch Zeitungen austragen; das wenige dabei verdiente Geld hatte er restlos zu Hause abzuliefern. Er blieb bei diesem Beruf, wurde Zeitungsverkäufer und die kleinen Freuden seines Lebens bestanden darin, sich einen heißen Grog zu leisten, wenn er stundenlang an einem kalten Tag an einer zugigen Ecke gestanden hatte und durchfroren war, oder am Abend ein Zigarillo zu rauchen und hier und da einmal ins Kino zu gehen. Er lebte sehr einsam; vor Frauen hatte er Angst - er sah in ihnen immer die harte, fordernde und lieblose Mutter, und hatte das Gefühl, daß von ihnen nichts Gutes zu erwarten war. Seinen Vater hatte er nie gekannt. Die Sehnsucht nach einer väterlichen Leitfigur war aber wach in ihm, und als ein älterer Mann ihm ein homosexuelles Angebot machte, ging er sofort darauf ein. Er hatte nun dauernd Angst vor dem Entdecktwerden und geriet in ein Abhängigkeitsverhältnis von dem Freund, das Züge von masochistischer Hörigkeit annahm. Er ließ alles mit sich machen, war zu allem bereit, nicht zuletzt aus der Angst, sonst das Interesse des Freundes zu verlieren. Denn trotz aller Zumutungen und Erniedrigungen, die er sich in der Beziehung gefallen ließ, war sie doch ein Stück menschlicher Zuwendung und gab ihm das Gefühl, jemandem etwas zu bedeuten, auch etwas zu geben zu haben. Manchmal freilich kam in ihm plötzlicher Haß auf, wenn er sich von dem anderen so benützt und zum Objekt gemacht erlebte. Aber dann war doch die Verlustangst stärker; so fügte er sich und versuchte sogar, den Freund auf neue Weise an sich zu interessieren, und genoß in dieser sadomasochistischen Beziehung in der Identifikation mit ihm seine eigene sadistische Seite, wie der Freund durch ihn
seine masochistische. Er hatte nur ein Hobby: Er schrieb heimlich an einem Lustspiel, von dem er sich Großes erwartete, das aber nie fertig wurde - vielleicht zu seinem Glück, denn diese Illusion, die ihm seine einsamen Abende verschönte mit Träumen zukünftigen Ruhmens, wäre dann auch noch zerstört worden. Eine Frau, Anfang der 40, wandte sich brieflich wegen einer psychotherapeutischen Behandlung an mich. Wir hatten eine Vorbesprechung, nach der sie mir folgenden Brief schrieb (ich hatte sie in diesem Erstgespräch unter anderem gefragt, was sie sich von der Behandlung erhoffe): »Meine Kindheit war so beängstigend, daß es sicher eine Katastrophe gegeben hätte, wenn ich sie mit vollem Bewußtsein wahrgenommen hätte; daher bin ich sozusagen unter Wasser getaucht. Ich hoffe, daß Sie die Gespenster verscheuchen, mich ans Land ziehen und mich Ordnung lehren, in der Zeiteinteilung, den Dingen und Menschen gegenüber, die mich umgeben. Daß Sie mit mir den Kampf aufnehmen gegen Schlafmittel, Nikotin und Alkohol, und mich lehren, mich gegenüber anderen Leuten durchzusetzen, auch wenn ich anderer Meinung bin als sie, anstatt Berge von Affekten in der Tiefe aufzuspeichern, die soviel Kraft kosten. Ich habe mit großen Widerständen zu kämpfen, die immer nicht ernst genommen werden, wohl weil ich äußerlich sehr gefügig bin. Ich habe noch immer keine echte Beziehung zur Arbeit und bin außerordentlich träge. Für mich drüfte wohl die Beziehung zum Vater die schwerwiegendste in meiner Kindheit gewesen sein. Und dennoch bleibt er verborgen und erscheint in keinem Traum.« Hinter dieser Selbstschilderung stand eine wahrhaft tragisch zu nennende Kindheit: Der Vater war geisteskrank gewesen und lebte bis zu seinem Tod (sie war damals etwa 12 Jahre alt) mit einem Pfleger in der Familie. Er war zugleich Alkoholiker und bekam unter Alkohol Jähzornausbrüche und Tobsuchtsanfälle, die das Kind miterlebte. Die Mutter war sehr labil und bekam bei der Schwangerschaft mit dem um 3 Jahre jüngeren Bruder eine Wochenbettpsychose, von der ihr längere Zeit schwere Zwangsvorstellungen verblieben - sie müsse ihre Kinder auf grausame Weise töten, indem sie ihnen eine Nadel in den Kopf bohrte. In diese Atmosphäre fiel in ihrem fünften Jahr folgendes Ereignis: In einem seiner Jähzornanfälle unter Alkohol stürzte der Vater in das Zimmer, wo sie sich mit der Mutter aufhielt, schoß mit einem Revolver knapp über ihren Kopf hinweg und rannte wieder aus dem Zimmer. Die Mutter wollte die Polizei oder einen Arzt rufen, aber das Kind sagte: »Wir wollen es doch dem Pappi sagen, der wird uns schon helfen.«
Hier war offensichtlich die Toleranzgrenze des Kindes überschritten, so daß es seine Angst nur so bewältigen konnte, daß es die Wahrnehmung von seinem Gefühlsleben abspaltete. Wir verstehen nun den Satz aus ihrem Brief besser, wo es hieß, daß es sicher eine Katastrophe für sie bedeutet hätte, wenn sie ihre Kindheit mit vollem Bewußtsein wahrgenommen hätte, verstehen auch, daß der Vater in ihren Erinnerungen noch verborgen blieb und in keinem Traum erschien. Es wäre unerträglich für sie gewesen, die erlebte Bedrohung und Angst bewußt mit dem Vater zu verbinden - das hätte sie völlig ihrer Angst und Ungeborgenheit ausgeliefert. So vollzog sie gleichsam diesen Übersprung und rettete das Bild eines guten und beschützenden Vaters, indem sie seine bedrohende Seite von ihm abspaltete, als wäre es ein fremder Mann gewesen, der sie bedroht hatte; wenn sie sich nun um Hilfe an ihn wandte, war die Bedrohung von ihm abgelöst und er konnte für ihr Bewußtsein der helfende Vater bleiben, den sie so dringend brauchte. Aber welcher Grad von Angst und Verzweiflung ist nötig, daß ein Kind eine solche Leistung vollbringen kann, vollbringen muß, um ein Geschehen zu verarbeiten! Natürlich war diese Szene nur ein besonders traumatisches und quälendes Erlebnis gewesen; man kann sich vorstellen, wie ungeborgen, angstvoll und verzweifelt die Realität ihrer Kindheit auch sonst ausgesehen haben wird. Wohin hätte sie sich flüchten können, wo hätte sie wirklichen Schutz finden können? Davon blieb ihr unter anderem - neben den erwähnten Süchtigkeiten - ein Leben wie in einem Traumzustand: Sie war eigentlich nie voll in der Wirklichkeit; als Schutz vor erwarteten, immer möglichen Gefahren und Bedrohungen blickte sie nichts mehr klar und scharf an, zog ihre Gefühlsanteilnahme von der Welt zurück, um nicht noch einmal so traumatisch getroffen werden zu können, und auch ihre Süchtigkeit war letztlich der Ausdruck für ein Sich-aus-der-Wirklichkeit-Nehmen, am liebsten in das Ungeborensein. So war wohl auch ihre Neigung zu verstehen, sich mit offenen Augen und um die Knie gefalteten Händen in das Wasser seines Sees sinken zu lassen, durch das Wasser in den Himmel blickend, was sie mit tiefem Glücksgefühl erlebte. So rettete sie sich in ein gleichsam traumwandlerisches Leben, um die Realität überhaupt zu überleben, so stand sie zwischen Depression und Psychose, die sie vor weiteren unerträglichen Zusammenstößen mit der Wirklichkeit schützen sollten. Ein 32jähriger Diplomat kam wegen länger anhaltender Impotenz in die Behandlung. Auf den Hinweis, daß Potenzstörungen (organisch lag bei ihm keinerlei Befund vor) nicht nur ein Eigenproblem,
sondern auch partnerbezogen seien, ergab sich folgender Hintergrund der Störung: Wenn er abends von seiner Tätigkeit heimkam, badete, wickelte und fütterte er den etwa halbjährigen Sohn, während seine Frau rauchend auf dem Sofa lag und las. Er war der mittlere von drei Brüdern; der älteste war ein aktivaggressiver Junge gewesen, wild und schwer zu bändigen, und wurde deshalb von der Mutter abgelehnt. Er spürte mit dem Instinkt des Kindes, wie die Mutter ihn haben wollte: als braven Sohn, der ihr alles zuliebe tat; er verzichtete auf alles Jungenhafte, Männliche, half dagegen der Mutter in der Küche, hielt sich sauber und ordentlich und wurde ihr Liebling, stach so den älteren Bruder bei ihr aus, aber auf Kosten seiner Männlichkeit. Diese Haltung des guten Sohnes setzte er in der Ehe fort - er war auch hier mehr der brave Sohn als der Ehemann, spielte die erlernte Rolle weiter, überforderte sich selbst und ließ sich von seiner Frau überfordern, ohne seinen Ärger darüber ausdrükken zu können, aus Angst, die Liebe seiner Frau zu verlieren wie früher die der Mutter, wenn er sich gegen sie aufgelehnt hätte. Er hatte es nicht gelernt, seinerseits etwas zu fordern oder einmal nein zu sagen. Sein Symptom war eine Lösung aller Konflikte: Es war seine Rache und die Bestrafung seiner Frau, indem er sie nicht mehr befriedigen konnte - aber ohne Schuldgefühle haben zu müssen, denn es war ja ein »körperliches Symptom«, für das er nichts konnte; gleichzeitig war es eine Selbstbestrafung für seine untergründigen Aggressionen gegen seine Frau - all das natürlich nicht bewußt. Als er diesen Zusammenhang verstand, kam es bei ihm zu einem Durchbruch: Er trank sich den ersten Rausch seines Lebens an und rauchte seine erste Zigarre (Rauchen und Trinken mochte die Mutter nicht, und er hatte ihr zuliebe darauf verzichtet), kam, erstmals in seiner Ehe, erst gegen vier Uhr morgens recht angeheitert heim, anstatt wie sonst sofort vom Dienst; seine Frau war erschrocken, aber froh, daß er wieder da war; da sie letztlich eine vernünftige Frau war, die einen richtigen Mann wollte und keinen Sohn, nahm sie ihn lachend in die Arme, verführte ihn, und es kam zum ersten geglückten Verkehr seit langem.
Ergänzende Betrachtungen Die Beispiele haben wohl gezeigt, wie die Angst und die Angstvermeidung bei den depressiven Persönlichkeiten im Prinzip aussieht. Die zweite Grundform der Angst, die Angst vor der »Eigendrehung«, vor dem Subjekt-Sein, mit der sich daraus ergebenden Verlustangst und der Angst vor dem Alleingelassenwerden, vor der
Einsamkeit, unterscheidet sich deutlich von der gegensätzlichen Angst Schizoider vor der Nähe und Hingabe. Weicht man vor der Ich-Werdung, der Individuation aus, bleibt man aber seinem Mensch-Sein etwas Wesentliches schuldig und wird mehr und mehr zum Objekt des Lebens. Wahrscheinlich hängt die Schuldgefühlsbereitschaft depressiver Menschen auch damit zusammen, daß sie fühlen, vor einer der großen Forderungen des Lebens auszuweichen, indem sie nicht voll erwachsen werden wollen. Versuchen wir, das Erscheinungsbild depressiver Persönlichkeiten abzurunden. Wenn man, die Individuation vermeidend, die Hingabeseite überwertig lebt, ist, wie wir sahen, die allgemeinste Folge, daß dadurch der jeweilige andere einen Überwert bekommt, man selbst entsprechend an Wert verliert. Positiv ergibt das Zurückstellen des eigenen Ichs zunächst alles, was auf der Linie verstehender Einfühlung, des Mitgefühls und Mitleids liegt. Man denkt immer erst an den anderen, an dessen Situation und Interessen, fühlt sich in ihn ein bis zur Identifikation. Das ermöglicht ein tiefes Fremdverständnis, ein Sich-in-andere-versetzenKönnen, das zunächst etwas sehr Positives ist. Der eigentlich Depressive bleibt aber nun gleichsam in der Identifikation stecken und nimmt sich nicht wieder zu sich selbst zurück; er verliert dadurch zuviel an eigenem Standpunkt und kann zum Echo des anderen werden - man könnte sagen, er mißverstehe die christliche Forderung des »liebe deinen Nächsten wie dich selbst« als ein »mehr als dich selbst«. Wie die Welt und die Menschen sind, wird man mit solcher Einstellung meist sehr bald ausgenutzt. Die Erwartungsvorstellung, daß andere die gleiche Grundeinstellung hätten wie man selbst, ebenso rücksichtsvoll, einfühlend und anpassungsbereit seien, wird nur selten erfüllt. Man macht im Gegenteil die Erfahrung, daß die anderen viel unbefangen-egoistisch er sind und damit sogar mehr erreichen. Hier liegt die kritische Stelle - wir haben schon beschrieben, wie man dann aus der Not eine Tugend machen muß, sein Verhalten zur Ideologie erheben muß, um den Neid zu verarbeiten und daraus das Bewußtsein moralischer Überlegenheit als Trost zu beziehen. Denn es gehört Größe dazu, anderen ohne Neid das zu gönnen, was man sich selbst verbietet bzw. nicht erreichen kann - es sei denn, daß solche Haltungen kollektiven oder religiösen Idealen entsprechen, wie es bei manchen Forderungen des Christentums der Fall ist. Die Ideologien depressiver Menschen sind - wie letztlich alle Ideologien - schwer zu korrigieren. Sie mögen sie schon deshalb nicht aufgeben, weil sie sie so viel gekostet haben an Verzicht und
Neidverarbeitung, weiter wegen der moralischen Genugtuung, die sie daraus beziehen - und schließlich kann man doch nicht auf einmal selbst das tun, was man an anderen so abgelehnt und verurteilt hat. Hinzu kommt, daß so viele Weisen des Umgangs mit der Welt und den Menschen ungeübt und daher ungekonnt sind, daß man auch deshalb sie nicht wagt - es fehlt einem ein Stück Lebenstechnik, das einen immer wieder in die alten Bahnen fallen läßt. So fängt man sich immer mehr in den Schlingen seiner Ideologie, die keine echte Lösung ist, weil sie eine Schwäche überbrücken soll, eine Angst. Die Fähigkeit zu echter Sublimierung, wie sie das oben zitierte Goethewort ausspricht, ist selten; der aus einer Ideologie heraus Bescheidene und Demütige wird nicht um den Neid herumkommen, um Bitterkeit über die »Ungerechtigkeit« des Lebens. Der Alltag enthält eine Fülle an sich banaler, unwichtiger Situationen, in denen sich depressives Verhalten im neurotischen Sinne manifestiert und tiefer einspurt, aber auch ändern läßt, wenn man erst einmal darauf achtet. Hat der Depressive etwa Gäste oder ist er bei jemandem zu Gast - immer wird er das Gefühl haben, allein für das Gelingen des Abends verantwortlich zu sein, die Unterhaltung in Gang halten zu müssen. Er bekommt Minderwertigkeitsgefühle oder Schuldgefühle, wenn eine Einladung nicht recht geglückt ist; aber seine krampfhaften Bemühungen lassen gerade keine Lockerheit aufkommen. Er kommt gar nicht auf den Gedanken, daß andere ja auch ihren Teil dazu beitragen werden, und daß überhaupt etwas Glück dazugehört, daß so etwas »glückt« - er fühlt sich immer für zuviel verantwortlich. So befand sich ein Patient immer in einer von ihm als quälend erlebten Situation, wenn er Freunden von sich einen neuen Bekannten vorstellte: er konnte das nie unbefangen tun, sondern bangte darum, ob den Freunden der Neue, ob diesem die Freunde gefallen werden. Ging er in ein Konzert, konnte er es auch nicht gelöst genießen; er identifizierte sich sowohl mit dem Künstler wie mit dem Publikum in der doppelten Angst, der Künstler könne versagen und das Publikum enttäuschen, oder jener könnte enttäuscht werden über zu geringen Beifall des Publikums. So war er eigentlich nie richtig er selbst, sondern immer in einer merkwürdigen Zwischenposition zwischen sich und anderen, unbewußt dabei seine Frühsituation wiederholend, daß er sich immer schon in die Menschen seiner Umgebung hatte einfühlen müssen, sie verstehen und zufriedenstellen wollend, sich selbst dabei zurückstellend, um das Stück an Geborgenheit oder Liebe, das sie ihm gaben, nicht aufs Spiel zu setzen. Was hier wie eine Eigenbezüglichkeit anmuten mag, ist nur eine schein-
bare und ganz anders gelagerte, als wir sie beim Schizoiden erlebten: bei diesem konnte es zu einem Beziehungswahn kommen aus Kontaktlosigkeit. Beim Depressiven ist die scheinbare Ichbezogenheit in Wirklichkeit eine extreme Du-Bezogenheit: wenn er sich für alles verantwortlich fühlt, so nicht aus gleichsam Größenwahn, sondern ganz im Gegenteil aus fehlender Ich-Stärke, die ihn mehr in anderen leben läßt, als in sich selbst. Es ist wohl auch verständlich, daß schließlich als letzter - unbewußter und daher nicht schuldhaft erlebter - Selbstschutz vor dem Sich-überfordern-Lassen, das man anders nicht abwehren kann, körperliche Symptome auftreten können. Solche Menschen können dann eine Krankheit und einen Krankenhausaufenthalt tief genießen - dann haben sie endlich auch einmal das Recht, andere für sich sorgen zu lassen und sich um nichts kümmern zu müssen wenn sie es sich nicht auch noch übelnehmen und als Schuld erleben, daß sie überhaupt krank wurden und »versagten«. Das nicht gelebte Subjekt-Sein führt also fast unvermeidlich zum Hassenmüssen, aus Neid, aus ohnmächtiger Schwäche und aus Bitterkeit über das Sich-ausnutzen-Lassen. Dann scheint es eine mögliche Rettung vor diesen Gefühlen zu sein, die quälend sind und mit Schuldgefühlen erlebt werden, die Ideologie der Bescheidenheit, Demut, Friedfertigkeit und Bedürfnislosigkeit zu entwickeln; dann kann man vielleicht hoffen, Ruhe in sich zu finden - aber es ist eine immer wieder gefährdete Ruhe, unter der die zugedeckten Affekte weiter schwelen. Es wäre eine Sonderstudie wert, zu untersuchen, wieso das Christentum, das sich die Religion der Liebe nennt, in seiner Geschichte so viel Haß, Grausamkeit und Kriege aufzuweisen hat. Ob das mit der christlichen Ideologie der Demut zusammenhängt, die von der Machtpolitik der Kirchen ausgenutzt wird, um die Gläubigen unmündig zu halten, mit dem Versprechen einer Belohnung im Jenseits für die Demut im Diesseits? Die dennoch weiterbestehenden Haß- und Neidgefühle werden dann sanktioniert in nun »legitimer« Intoleranz im Kampf gegen die Andersgläubigen oder Abtrünnigen, wie es sich etwa in der Hexenverbrennung und Ketzerverfolgung und in der Inquisition gezeigt hat, wo sich dann ein ungemeiner Sadismus austobte. Jede Ideologie wird gefährlich, wenn sie vereinfachend einen der Grundimpulse verabsolutiert oder einen anderen auszuklammern versucht; um so sicherer konstelliert sie damit das Vermiedene. Unsere Seele, unser Unbewußtes hat eine besondere Fähigkeit, uns auf solche Einseitigkeiten aufmerksam zu machen, die eine Gefährdung der fruchtbaren Spannung zwischen den antinomischen Kräften bedeutet, die Leben heißt: durch Träume und
Fehlleistungen, durch Partnerbegegnungen und vor allem durch die Angst - wir müssen sie nur zu deuten verstehen. So hat der Überbescheidene und Friedfertige Träume, in denen das Unterdrückte in extremer Form auftritt, meist auf andere Personen verschoben, aber als Hinweis für das, was er in sich integrieren sollte. Eine ähnliche Aufforderung zur Ergänzung kann auch in der Partnerwahl liegen, da man sich oft vom Gegentyp stark angezogen, ja fasziniert fühlt, weil man unbewußt ahnt, daß man von ihm das lernen kann, was man selbst sich nicht zu leben wagt - die Chance zumindest ist darin enthalten. Wir werden darauf noch zurückkommen. Immer wieder begegnen wir bei den Grundimpulsen dem Phänomen, daß der nicht gelebte, unterdrückte Impuls innen oder außen konstelliert wird. Entweder man trifft auf eine Situation oder auf einen Partner, die hier ohne den Mut zum Subjekt-Sein zum unlösbaren Konflikt werden, oder man gerät an seine Toleranzgrenze und wird dadurch zu anderen Verhaltensweisen gezwungen. Dann kann es zu Durchbrüchen des Unterdrückten kommen, die durch den Stau zerstörerisch werden. Alle unserer Persönlichkeit nicht integrierten Seelenanteile können sich so gleichsam verselbständigen und dann in archaischer Form sich äußern, wie wir es etwa bei der jungen Frau mit dem Freß- und Stehldrang sahen. Auch für die depressive Persönlichkeitsstruktur gibt es eine Linie von Menschen mit durchaus noch völlig gesund zu nennenden depressiven Einschlägen über leichtere bis zu den schweren und schwersten depressiven Persönlichkeiten; wir können sie folgendermaßen skizzieren: Kontemplation, Beschaulichkeit - stille Introvertierte - Bescheidenheit, Schüchternheit - Gehemmtheit im Fordern und sich Behaupten - Bequemlichkeit, rezeptive Passivität - passive Erwartungshaltungen (Schlaraffenerwartungen vom Leben) - Hoffnungslosigkeit - Depression - Melancholie, triebt selten steht am Ende dieser Linie der Selbstmord oder die völlige Apathie und Indolenz, oder es wird ausgewichen in eine Sucht, die aber nur vorübergehend das Ich stärkt, die Depression aufhebt. Die manisch-depressive Gemütskrankheit - charakteristischerweise sprechen wir hier von Gemütskrankheit und nicht, wie beim Schizoiden, von Geisteskrankheit, was anzeigt, daß die Genese beider Erkrankungen auf verschiedenen Ebenen ansetzt - spiegelt in den wechselnden Abläufen manisch-hochgestimmter und depressiv-niedergeschlagener Phasen (»himmelhoch jauchzend - zu Tode betrübt«) oft den biographischen Hintergrund besonders plastisch. In der manischen Phase fallen alle Hemmungen und
Verzichtshaltungen für einige Zeit fort, der Kranke ist überschwänglich heiter, kauft Unmengen ein, macht Schulden, ist voller Optimismus und verschwenderisch - bis die depressive Phase einsetzt, in der alles wieder zurückgenommen wird und er in Selbstanklage, Mutlosigkeit, Resignation und Apathie verfällt. Wenn wohl zum Leben überhaupt ein gewisser rhythmischer Wechsel zwischen Hochstimmung und Niedergedrücktheit gehört, findet man bei diesen Kranken in der Lebensgeschichte meist einen besonders schroffen Wechsel zwischen hoffnungsvollen Lichtblicken und hoffnungsloser Verzweiflung, während in der Melancholie nur noch die Hoffnungslosigkeit besteht. Depressive Menschen sind oft religiös; in der Religion zieht sie die Erlösungsidee, die Erlösung vom Leiden und die Vergebung der Schuld am stärksten an. Ihre Sehnsucht geht oft auf mystische Erlebnisse der Allverbundenheit und Einheit, die sie auf meditativem Weg zu finden hoffen. Sie haben außer zur christlichen Religion, an der sie der Gedanke der Demut und des läuternden Leidens anspricht, oft auch eine Beziehung zum Buddhismus und seiner Weltentsagung. Alle Glaubensformen, die die Selbstvergessenheit und die Loslösung vom Ich anstreben, sprechen sie an. In kindlicherer Form glauben sie, die ihr Leben hier nicht erfüllt gestalten konnten, an ein besseres Jenseits und daran, daß die sich hier erniedrigt haben oder es wurden, dort erhöht werden. Seit der zunehmenden Skepsis in solche ausgleichende Gerechtigkeit im Jenseits finden die Berufe, die große Selbstaufopferung und Entsagung fordern, wie viele pflegerische, immer schwerer Nachwuchs. Vielleicht haben es Depressive am schwersten, die Erschütterungen ihres Glaubens zu ertragen, die durch Erkenntnisse moderner Naturwissenschaften in ihnen hervorgerufen werden können. Ihr Glaube gibt ihrem Leben Sinn und trägt sie. Die oft so einseitig das Rationale, Meßbare und Beweisbare betonenden Wissenschaften werten den Glauben ab, versuchen religiöse Gefühle »zurückzuführen« auf eine enge, unmetaphysische Psychoiogisierung oder erklären sie als Naivität oder reines Wunschdenken. Der Depressive erkennt dann oft nicht, daß diese Wissenschaften mit ihren quantitativ-kausalen Methoden nur einen begrenzten Teilaspekt des Lebens und der Welt erfassen können, den toten Aspekt der Natur, und daß eine Wissenschaft, der es vorwiegend darum geht, Macht über die Natur zu erlangen, früher oder später sich in ihren eigenen Netzen fängt - wofür bereits Anzeichen zu bemerken sind. Aber andererseits neigen Depressive auch dazu, Gott und dem Teufel zu viel zu überlassen. Wir tragen Himmel und Hölle in uns
selbst, auch die Verantwortung dafür; wie wir es lernen müssen, das Böse in uns zu erkennen, anzunehmen und zu bekämpfen und es nicht auf den Teufel oder ein Feindbild zu projizieren, sollten wir auch das Gute, den göttlichen Kern in uns selbst, suchen und zu verwirklichen versuchen, um seiner selbst willen und um unser selbst willen, nicht wegen einer Belohnung im Jenseits. Depressive sehen leicht allzuviel als »Gottes Willen« und Fügung an und können sich damit der Eigenverantwortung entziehen in falsch verstandener Demut. Im Krankheitsfall kann es bei Depressiven zum religiösen Wahn kommen, zur Christusidentifikation, zum Erlöserwahn und ähnlichen Erscheinungen. Der gesunde Mensch mit depressiven Einschlägen kann in seiner Religiosität eine große Innigkeit und Tiefe erreichen, die nicht selten mystische Erlebnisse ermöglicht. Den Tod erlebt er am ehesten als Erlösung und die Demut des Sterbens findet man hier am häufigsten. Das »dein Wille geschehe« kann zu einer Schicksalsergebenheit führen, die eine große Kraft bedeutet. So hat er zum Schicksal oft eine hinnehmende Einstellung, in der reifsten Form etwa im Sinne des amor fati; er neigt leicht dazu, Schicksalsschläge zu ausschließlich im Zusammenhang mit eigener Schuld zu sehen, ist zur Sühne bereit und kann leicht das Opfer derer werden, die das auszunutzen verstehen. In der Ethik nimmt er oft Gebote und Verbote zu wörtlich, fühlt sich dadurch überfordert und in seiner Schuldgefühlsbereitschaft bestärkt. Entsagung, Verzicht, Opfer und Askese liegen ihm, können aber auch zu einem Mittel für ihn werden, sich der Welt und der Auseinandersetzung mit ihr zu entziehen. Wie immer, spielt sich auch hier unser Leben auf Messers Schneide ab, und es ist ein nur kleiner Schritt vom Echten zum Unechten. Als Eltern und Erzieher sind die Menschen mit depressiven Strukturanteilen kontaktfähig und bemüht, sich in das Kind einzufühlen, es zu verstehen. Ihre Gefahr liegt darin, das Kind aus Lebensängstlichkeit und Verlustangst zu sehr an sich zu binden; sie sind überbesorgt und können es schwerer altersgemäß für seine Entwicklung freigeben, halten oft auch nicht die notwendige Distanz zu ihm ein. Es fällt ihnen schwer, konsequent und wenn nötig, auch hart zu sein; sie schonen das Kind an falschen Stellen, muten ihm nicht gern etwas zu, auch weil sie seine Liebe nicht verlieren wollen. Die Fragwürdigkeit aller zu nahen Bindung kann an ihnen am deutlichsten werden. Die Mütter mit eigener karger Kindheit haben oft die Einstellung: »Mein Kind soll es besser haben«, aus der heraus sie dann leicht des Guten zuviel tun. Beruflich neigen sie vor allem zu gleichsam mütterlich-sorgli-
chen, zu den helfenden, dienenden, pflegenden Tätigkeiten, wo sie aufopferungsfähig, geduldig und einfühlend, wie sie sind, ihre besten Möglichkeiten entfalten können. Soziale und fürsorgerische, ärztliche und psychotherapeutische, gemeinnützige Tätigkeiten liegen ihnen. Sie können »warten«, im schönen Doppelsinn des Wortes - einmal der Geduld, und dann auch im Sinne des Pflegerisch-Gärtnerischen, das in dem Wort liegt. Als Ärzte, Geistliche und Pädagogen usf. sind sie diejenigen, die weniger aus Prestige oder aus finanziellen Gründen den Beruf wählen, sondern aus Berufung; der Beruf ist ihnen selten nur ein Job. Gärtner, Förster, Gastwirte, die Lebensmittelbranche und verwandte gleichsam mütterliche Tätigkeiten liegen ihnen. Die Träume depressiver Menschen - soweit sie das für sie Strukturspezifische ausdrücken - zeigen besonders häufig die Eßthematik, oft verbunden mit Enttäuschungen und Resignation, die das nicht gewagte Zugreifen verdeutlichen. Sie kommen im Traum etwa an eine gedeckte Tafel - es ist aber kein Platz mehr für sie, oder kein Gedeck, oder alles ist schon aufgegessen - Situationen, die wir als Tantalussituationen bezeichnen können. Die Gehemmtheit im Zulangen kommt auch darin zum Ausdruck, daß der Traum mit einem Wunsch, mit einem Impuls beginnt, dem sich aber lauter Hindernisse in den Weg stellen, so daß der Träumer nicht einmal im Traum zu seinem Ziel kommt und verzichten muß. Wer nicht zugreifen darf, ist darauf angewiesen, daß ihm seine Wünsche erfüllt werden - das gibt den Hintergrund ab für Schlaraffenträume, wo einem alles Gewünschte mühelos zufliegt; so wird er mit seiner Bequemlichkeit und mit seinen passiven Ansprüchen konfrontiert. Oder aber, er träumt von Seeräubern, Dieben und Verbrechern, die ihn verfolgen, womit ihm seine eigenen verdrängten Tendenzen zum Rauben und Stehlen vor Augen geführt werden, als der Zerrform seines nicht gesund Zugreifenkönnens. Auch das Thema des sich Überforderns oder Überfordernlassens, das für die Entstehung seiner Depression so wichtig ist, wird ihm durch Träume gespiegelt, wie etwa in folgendem: »Ich mache mit meinem Vater eine Bergwanderung; der Weg ist sehr steil, ich trage den Rucksack, dazu noch seinen Mantel und ein Paket mit Sachen von ihm.« Der gesunde Mensch auf dieser Linie ist charakterisiert durch Einfühlung und die Bereitschaft, sich dem Mitmenschen zuzuwenden, ihn »anzunehmen«. Fürsorgliche, hilfsbereite und verstehende Haltungen zeichnen ihn aus. Er kann verzeihen, kann geduldig warten und Dinge reifen lassen und hat einen wenig ausgeprägten Egoismus. Er ist anhänglich in seinen Gefühlsbeziehungen; eher
schlicht und anspruchslos in seinen Bedürfnissen, fallen ihm notwendige Verzichte eher leicht. Das Leben empfindet er dagegen meist als schwer, kann aber als Gegengewicht Humor entwickeln, einen Humor etwa im Sinne des »Humor ist, wenn man trotzdem lacht«. Er entwickelt oft eine tiefe Frömmigkeit, nicht unbedingt im kirchlichen Sinn, eher als eine Lebensfrömmigkeit, die um unsere Abhängigkeiten und Gefährdungen weiß, und trotzdem ja sagt zum Leben und es liebt. Ausharren und Ertragenkönnen sind Haupttugenden von ihm. Depressiven Menschen könnte man das Wort von Spitteler aus seinem »Prometheus und Epimetheus« ans Herz legen: »Des Eigenwertes schamhaft eingedenk« zu sein - sie stellen ihr Licht eher unter den Scheffel, so daß man sie »entdekken« muß. Sie sind oft die stillen Wasser, die tief sind; Gemüthaftigkeit, Gefühlstiefe und Wärme gehören zu ihren schönsten Eigenschaften. Sie sind in der Tiefe dankbar für das, was sie haben; was ihnen glückt, schreiben sie weniger sich selbst und ihren Fähigkeiten zu, als daß sie es als Geschenk und Gnade empfinden, so die Demut in echtem Sinne lebend.
Die zwanghaften Persönlichkeiten »Einmal zu Stein erstarren! Einmal dauern.1« (H. Hesse)
Die Sehnsucht nach Dauer ist eine sehr frühe und tiefe in uns. Wie wir gesehen haben, ist die verläßliche Wiederkehr des Gewohnten und Vertrauten in unserer Kindheit ungemein wichtig für unsere Entwicklung. Sie ermöglicht uns erst die Entfaltung spezifisch menschlicher Eigenschaften, unserer Gefühls- und Gemütsseite und unserer Liebesfähigkeit, läßt uns Vertrauen und Hoffen lernen. Wir sahen beim schizoiden Menschen, wie bei häufigem Wechsel der Bezugspersonen oder beim weitgehenden Ausfall einer festen Bezugsperson in der Frühstzeit diese Seiten unterentwickelt bleiben oder verkümmern. Dauer und verläßliche Wiederkehr der gleichen Eindrücke ist aber ebenso wichtig für die Entwicklung unseres Gedächtnisses, für Erkenntnis und Erfahrung, überhaupt für unsere Orientierung in der Welt. Eine chaotische Welt ohne erkennbare und verläßliche Gesetzmäßigkeiten und Ordnungen ließe uns jene Fähigkeiten gar nicht entfalten - dem äußeren würde ein inneres Chaos entsprechen. So erscheint sicheres Wissen und die Möglichkeit, gültige Erkenntnisse zu erwerben, gleichsam als die innerseelische Spiegelung oder Entsprechung der Ordnungen und Gesetzmäßigkeiten unseres Weltsystems. Eine Mondlandung etwa wäre nie möglich gewesen, wenn der Mond eine willkürliche, unberechenbare Bahn beschriebe ohne erkennbare Bahngesetze. Am klarsten hat diesen Zusmamenhang von Makro- und Mikrokosmos die Astrologie erkannt, die heute wieder eine Renaissance entgegenzugehen scheint. In seinem »Testament der Astrologie« hat Oskar Adler den bekannten Ausspruch Kants, daß ihn zwei Dinge immer wieder mit tiefster Ehrfurcht erfüllten: der gestirnte Himmel über uns und das moralische Gesetz in uns, so angewendet, daß das moralische Gesetz in uns die Spiegelung oder Entsprechung der kosmischen Ordnung sei, des »gestirnten Himmels über uns«, Wären wir uns dieses Eingegliedertseins in kosmische Ordnungen bewußter, fänden wir ein Ordnungsprinzip in uns vor, das über allen Ideologien stände, weil es nicht von Menschen erdacht wurde und zugleich die fundamentale Bedingung für unsere Existenz und unseren Lebensraum ist. Das eingangs verwendete Gleichnis kann das verdeutlichen. Das Streben nach Dauer gehört also zu unserem Wesen; neben
der Sehnsucht nach der Unverlierbarkeit eines geliebten und uns liebenden Wesens, ist es sicher eine Wurzel der religiösen Gefühle. In der Vorstellung der Zeitlosigkeit, Ewigkeit und Allgegenwärtigkeit eines Göttlichen hat sich der Mensch dieses Bedürfnis nach Dauer erfüllt. Wie tief dieses Bedürfnis in uns ist, ist uns nicht immer bewußt; wir erleben es aber sofort, wenn Vertrautes, Gewohntes, für unveränderlich Gehaltenes plötzlich sich zu ändern beginnt, oder gar aufzuhören, nicht mehr zu existieren droht. Dann greift der Schauder der Vergänglichkeit nach uns, und wir werden uns erschreckend unserer Abhängigkeit bewußt, unserer Zeitlichkeit. Wir wollen nun zur Schilderung der dritten Grundform der Angst übergehen, die damit gegeben ist: der Angst vor der Vergänglichkeit. Sie befällt uns um so heftiger, je mehr wir uns gegen sie absichern wollen. Malen wir uns zunächst wieder aus, welche Folgen es haben wird, wenn ein Mensch die Angst vor der Vergänglichkeit überwertig erlebt oder, von der Impulsseite her gesehen, überwertig das Streben nach Dauer und Sicherheit zu leben versucht - in der Sprache unseres Gleichnisses also das Zentripetale, das der Schwerkraft entspricht, einseitig betont. Die allgemeinste Folge wird sein, daß er die Neigung hat, alles beim alten zu belassen. Änderungen jeder Art erinnern an die Vergänglichkeit, die er ja so weit wie möglich vermeiden will. Daher sucht er, immer das Gleiche, schon Bekannte und Vertraute wiederzufinden oder wiederherzustellen. Wenn sich etwas verändert, fühlt er sich gestört, beunruhigt, ja geängstigt. Er wird deshalb versuchen, Veränderungen zu unterbinden, aufzuhalten oder einzuschränken, wenn es geht, zu verhindern und zu bekämpfen. Er wendet sich gegen Neuerungen, wo sie ihm begegnen, was aber immer mehr zu einer Sisyphusarbeit wird, denn das Leben ist immer im Fluß, alles ist in fortwährender Wandlung begriffen, »alles fließt« in immerwährendem Entstehen und Vergehen, das sich nicht aufhalten läßt. Wie kann dieser Versuch überhaupt aussehen? Man wird etwa an Meinungen, Erfahrungen, an Einstellungen, Grundsätzen und Gewohnheiten eisern festhalten und sie nach Möglichkeit zum immer gültigen Prinzip, zur unumstößlichen Regel, zum »ewigen Gesetz« machen wollen. Neue Erfahrungen wird man ausweichen, oder, wenn das nicht möglich ist, sie umdeuten und versuchen, sie an das schon Bekannte und Gewußte anzugleichen. Das kann bis zur bewußten oder unbewußten Unredlichkeit gehen, indem man etwa Details des Neuen übersieht, sie tendenziös mißversteht oder
einfach affektiv ablehnt mit Begründungen, die, oft fadenscheinig genug, durchschimmern lassen, daß es einem nicht um Objektivität geht, sondern um die Rettung einer festgehaltenen Einstellung, die nicht erschüttert werden darf. Die Geschichte der Wissenschaft ist voller Beispiele dafür und von unfruchtbarem Streiten darüber, wer »Recht« hat. Hält man so am Bekannten und Gewohnten fest, geht man an alles Neue unvermeidlich bereits mit einem Vor-urteil heran, das einen vor Überraschung, vor Ungewohntem und Unbekanntem absichern soll. Dann verfällt man zwar nicht der Gefahr, Dinge ungeprüft hinzunehmen in naivem Fortschrittsglauben, unterliegt aber um so mehr der anderen Gefahr, Neuem gegenüber zu wenig geöffnet zu sein und dadurch Entwicklungen - auch die eigene - zu bremsen, zu hemmen, manchmal sogar zu verhindern. Das Grundproblem zwanghafter Menschen können wir also in ihrem überwertigen Sicherungsbedürfnis erkennen. Vorsicht, Voraussicht, zielbewußte Planung auf lange Sicht, überhaupt die Einstellung auf Dauer, hängen damit zusammen. Von der Seite der Angst her gesehen, können wir ihr Problem beschreiben als Angst vor dem Risiko, vor Wandlung und Vergänglichkeit. Sie gleichen jenem Mann, der erst ins Wasser gehen wollte, wenn er schwimmen konnte - sie sind sozusagen die Trockenkursier des Lebens. Diese Verhaltensweisen und Einstellungen können nun wieder alle Schweregrade annehmen und sich in den seltsamsten Formen äußern. Ein Mann, Mitte der dreißig, besaß eine umfangreiche Bibliothek. Er ging indessen immer in Leihbüchereien und benutzte seine eigenen Bücher nicht, mit der »Begründung«, er könne einmal an einen Ort versetzt werden, wo es keine Leihbücherei gebe - was täte er dann, wenn er die eigenen Bücher schon alle gelesen hätte? Hier hat die Voraussicht und die Angst davor, daß etwas einmal zu Ende gehen könne, schon einen recht grotesken Grad angenommen. Manche Menschen mit zwanghaften Zügen haben volle Kleiderschränke, tragen aber immer nur die alten Sachen, um »Reserven« zu haben; das Herz tut ihnen weh, wenn sie etwas Neues benutzen sollen - lieber riskieren sie es, daß die Sachen altmodisch oder von Motten zerfressen und niemals getragen werden. Etwas Neues benutzen heißt ja, es der Zeit und damit der Vergänglichkeit auszusetzen, es abzunutzen und damit schon sein Ende absehen zu können. Alles, was zu Ende geht, erinnert aber an die Vergänglichkeit, letztlich an den Tod. Wir alle haben diese Angst in uns und den Wunsch nach Dauer
und Unsterblichkeit; wir alle suchen nach etwas, das unendlich ist und empfinden eine tiefe Befriedigung, wenn wir bestimmte Dinge so wiederfinden, wie wir es gewohnt sind, wie wir sie verlassen haben. Das läßt auch unseren Sammeltrieb verstehen: Was man auch sammelt - ob Briefmarken, Münzen oder Porzellan - ein meist nicht bewußtes Motiv dafür ist, so ein Stück Ewigkeit, eine Garantie der Unendlichkeit zu haben, denn man wird seine Sammlung nie vollenden können, immer werden einem noch Dinge fehlen. Andere suchen nach Dauer und Ewigkeit in Erfindungen, die das Leben verlängern sollen oder suchen nach dem perpetuum mobile; oder man erhebt seine eigenen Ansichten und Theorien ins Allgemeine und Zeitlose, und holt sich so in ihrer angestrebten ewigen Gültigkeit etwas die Zeit Überdauerndes. Schon das Festhalten an lieben Gewohnheiten und unsere Empfindlichkeit, wenn wir sie zu ändern gezwungen oder in ihnen gestört werden, läßt diesen Wunsch nach Dauer erkennen. Die gleiche Tendenz der Vermeidung der Angst vor Wandel und Vergänglichkeit finden wir wieder im starren Festhalten am Überkommenen, auf allen möglichen Gebieten. Traditionen familiärer, gesellschaftlicher, moralischer, politischer, wissenschaftlicher und religiöser Art führen zum Dogmatismus, Konservatismus, zu Prinzipien, Vorurteilen und zu verschiedenen Formen des Fanatismus. Je starrer man sie vertritt, desto intoleranter wird man jedem gegenüber, der sie angreift oder in Frage stellt. Immer steht dahinter die Angst, daß das Gewohnte, Gelernte, Geglaubte, Erkannte, das einem Sicherheit gibt, durch neue Einsichten und Entwicklungen relativiert werden könnte, daß es sich vielleicht als Täuschung oder Irrtum herausstellt, und man sich deshalb umstellen, wandeln müßte. Je enger der eigene Horizont und Lebensraum ist, je mehr man ihn unverändert beibehalten will, um so mehr muß man fürchten, seine Sicherheit zu verlieren durch neue Entwicklungen. Je mehr wir also das Alte festzuhalten versuchen, um so mehr müssen wir die Angst vor der Vergänglichkeit empfinden; je mehr wir andererseits uns gegen Entwicklungen sträuben, um so sicherer konstellieren wir die Gegenkräfte nur um so schroffer, wie wir es besonders deutlich beim Kampf der Generationen erleben können: Das zähe Festhalten am Bestehenden und die schroffe Ablehnung des Neuen bei der alten Generation, zwingt die junge oft erst zu extremistischen Verhaltensweisen. Natürlich hat Tradition und hat das Festhalten an erkannten Werten zunächst eine durchaus positive Bedeutung; wir sollen und müssen auch nach dem Prinzipiellen und Absoluten suchen, das
Bestand hat - nur so können wir überzeitliche Gesetzmäßigkeiten finden. Aber hier geht es um das Zuviel, um die mangelnde Fähigkeit oder Bereitschaft zu Neuorientierungen, um das sich Sträuben gegen fällige Entwicklungen, gegen das Hinzulernen und Korrigieren bisheriger Erfahrungen, wozu uns das Leben immer wieder zwingt. Die alte Wahrheit des »tempera mutantur et nos mutamur in illis«, soll für den zwanghaften Menschen nicht gelten; aber er bezahlt sein Streben nach starrer Unveränderlichkeit mit der Angst vor der Wandlung. Er versucht, das Leben in Schemata und Regeln zu zwingen und setzt Unduldsamkeit und eigensinnige Ablehnung ein gegen alles was ihn, weil es neu und anders als das Gewohnte ist, beunruhigt. Aber was man so zwingen will, wird einem selbst zum Zwang. So steht hinter jeder Gewohnheit, hinter jedem Dogma und jedem Fanatismus, immer auch eine Angst, die Angst vor der Wandlung und der Vergänglichkeit, letztlich die Angst vor dem Tod. Deshalb können sich zwanghafte Menschen schwer damit abfinden, daß etwas oder jemand sich ihrer Macht entzieht, ihrem Willen nicht untersteht. Sie möchten alle und alles dazu zwingen, so zu sein, wie es ihrer Meinung nach sein sollte. Aber gerade dadurch scheitern sie immer wieder am Leben, und wie ein Bumerang kommt auf sie selbst als Zwang zurück, was sie zwingen wollten: Wenn man Lebendiges zwingen will, wenn man nicht mit sich geschehen lassen kann, weil man alles selbst bestimmen möchte, ist man mehr und mehr gezwungen, schließlich nur noch darauf achten zu müssen, daß sich nichts ändert und dem eigenen Willen entzieht. So wird mit einer eindrucksvollen Konsequenz der Zwingenwollende zum Gezwungenen, worin wir wieder die Einseitigkeiten ausgleichende Kraft des Lebens glauben erkennen zu können. Der zwanghafte Mensch kann es schwer annehmen, daß es im Bereich des Lebendigen keine Absolutheit, keine unveränderlichen Prinzipien gibt, daß Lebendiges nicht völlig vorausberechenbar festgelegt werden kann. Er glaubt, alles in ein System einfangen zu können, um es lückenlos übersehen und beherrschen zu können, und vergewaltigte so das Natürliche - Nietzsche hat einmal gesagt, daß der Wille zum System immer schon ein Stück Unaufrichtigkeit enthält - eben, weit man damit die Vielfalt des Lebendigen gewaltsam vereinfacht. Im Bereich des Mitmenschlichen wirken sich zwanghafte Verhaltensweisen ähnlich aus. Bewußt oder unbewußt möchte man dem anderen zuviel vorschreiben, wie man ihn haben will. Besonders in bezug auf den Partner, auf Abhängige und Kinder pflegt
das deutlich zu werden. Das Generationsproblem, der Konflikt zwischen den Generationen konstelliert sich in diesen Menschen besonders schroff, wie schon angedeutet wurde. Indem sie alles Neue, Ungewohnte, Unübliche ablehnen oder unterdrücken wollen, führen sie ihre Einstellung leicht ad absurdum und rufen gerade dadurch die gefürchteten Gegenkräfte auf den Plan, den Rebellen und Revolutionär, der nun seinerseits meint, sie mit den Mitteln des anderen Extrems bekämpfen zu müssen, und dabei oft das Kind mit dem Bad ausschüttet. Hierin liegt wohl ein Stück unvermeidlicher menschlicher Tragik, unvermeidlicher aber nicht unüberwindlicher, wenn man die Bereitschaft zeigt, das Neue anzunehmen und verstehen zu wollen. Diese Menschen haben immer die Angst, daß alles sofort unsicher, ja chaotisch würde, wenn sie auch nur ein wenig lockerer ließen, dem Andersartigen sich öffneten und nur etwas nachgäben, oder sich einmal spontan überließen, ohne die immerwährende Selbst- und Fremdkontrolle. Sie fürchten dauernd, daß das in ihnen Unterdrückte, Verdrängte, oder draußen das, was ihrer Meinung nach nicht sein darf, alles überschwemmen würde, wenn sie es auch nur ein Mal zuließen - sie sind wie ein Herakles, der schon im voraus zu wissen glaubt, daß der Hydra mindestens zwei Köpfe nachwachsen, wenn er ihr einen abgeschlagen hat. So haben sie Angst vor dem »ersten Schritt« der, einmal vollzogen, in ihrer Vorstellung Unübersehbares auslöst. Sie sind daher immer darauf bedacht, durch immer mehr Macht, Wissen und Übung dahin zu kommen, daß nichts Ungewolltes und Unvorhergesehenes »passiert«, und leben nach dem Motto »what - if«: was kann es für Folgen haben, wenn ich dies oder jenes tue; so können sie zu jenen »Trockenkurslern« werden, die vor lauter Absicherung und Vorbereitung nicht zum Leben kommen. Ein Patient, aufgefordert, sich auf der Couch zu entspannen und seinen Einfällen zu überlassen, sagte entrüstet: »Aber dann kommt doch die ganze Scheiße hoch« - damit drastisch ausdrückend, wieviel er verdrängt hatte und durch dauerndes Sich-Kontrollieren und »Zusammennehmen« in der Verdrängung hielt. Absicherung gegen alles, was nicht sein darf, was man vermeiden will, wird für den zwanghaften Menschen zum wichtigsten Lebensprinzip, für dessen Erhaltung er sehr erfinderisch ist. Sehen wir uns das an einigen Beispielen an: Eine Möglichkeit, sich aus dem lebendigen Fluß des Geschehens herauszunehmen, ist das Zaudern, Zögern und Zweifeln. Aus dem Brief einer so strukturierten (zwanghaften) Persönlichkeit - es ging darum, ob sie eine psychotherapeutische Behand-
hing bei mir vornehmen oder statt dessen eine Kur machen wollte: »Herzlichen Dank für Ihren Brief! Er hat mich in schwerste Konflikte gebracht, ich weiß nicht, ob meine Entscheidungsneurose schon bei Ihnen in unserem ersten Gespräch zur Sprache kam. Wahrscheinlich nur ganz oberflächlich. Ich hatte gerade an Bad X geschrieben, von wo man mich um definitive Zu- oder Absage bat, daß ich am 15. 7. mich entscheiden und schreiben solle. Inzwischen kam Ihr Brief mit der Mitteilung, daß ich doch evtl. bei Ihnen arbeiten kann. Seither bin ich nun am Schwanken, der Zustand ist abscheulich. Das Ende vom Lied wird sein, daß Bad X auch besetzt ist, wenn ich mich dafür entscheiden sollte. Dabei ist eigentlich die Entscheidung ganz einfach: ich habe nämlich für München nicht genügend Geld. Ich setze die Summen, die notwendig sind, immer wieder untereinander, aber es will nicht reichen. Also gehts doch nicht. Und dann denke ich immer wieder, wie sehr notwendig es wäre, wie dringend sogar. Ich male mir aus, daß sich vielleicht die ewigen, anscheinend organischen Erkrankungen bessern könnten, eben doch etwas für mein Allgemeinbefinden und meine Schwierigkeiten, die da sind, Positives ergeben könnte. Dann habe ich ja auch keine Unterkunft in München. Nach Bad X könnte ich dieses Jahr sicher wieder - aber ist es nicht zu anstrengend, täglich (von dort nach München) zu fahren? Ich darf das unter gar keinen Umständen wieder tun. Wenn ich daran denke, daß ich wieder so ins Ungewisse fahren soll, wird mir angst und bange. Ein Krieg kommt ja wohl anscheinend nicht! Ich nehme an, daß Sie entsetzt sind über meine Unentschiedenheit. Aber Sie sind ja Analytiker! Und Sie wissen, daß ich selbst einen Mann, den ich gern hatte, nicht geheiratet habe, weil ich mich nicht entscheiden konnte dazu. Und hinterher war's zu spät! Und jetzt wird's mit der Reise auch so werden. Schließlich geht weder das eine noch das andere. Es bleibt immer bestehen, daß München, was das Geld anbelangt, etwas ängstlich ist. Das ist eine Realität. Sorgt man nicht normalerweise erst besser fürs Geld und reist dann in Ruhe? Nächstes Jahr im Mai und Juni könnte ich bestimmt gut so weit sein. Bis jetzt bekamen wir zweimal nur halbes Gehalt. Von jetzt ab geht's dann aber normal. Ich denke ich nehme Bad X, selbst wenn ich hinterher auch nach München schreie. Das ist das, was ich geldlich gut, ohne Sorge erschwingen kann. Bekomme ich nun von da die Nachricht, daß man mir so lange nichts reservieren konnte, entscheide ich mich dann vielleicht doch noch für München. Und für diesen Eventualfall möchte ich von Ihnen gerne wissen, ob ich die Stunden am 15. 9.
bezahlen kann und ob ich vom 7. 8. bis 7. 9. arbeiten kann mit Ihnen. Das ist eine schwere Geburt!!... Wenn ich dies alles so hinschreibe, meine ich, unbedingt sofort ein Stück weiter analytisch arbeiten zu müssen, aber - es bleibt, wie es ist. P. S.: Ich kann mich nicht entscheiden, es ist quälend. Ich will mal sehen, ob Bad X noch freigehalten hat. Wenn ich nur wüßte, ob Sie bis zum 7. 9. da sind und ob ich am 15. 9. bezahlen könnte. Vielleicht schicke ich ein Telegramm.« (Das tat sie dann auch und entschloß sich doch zur Analyse). Man kann sich vorstellen, wie quälend solches Zögern und sich Nichtentscheidenkönnen werden kann, vor allem, wenn es sich um gewichtigere Entscheidungen als die hier zu fällende handelt. Man sieht auch, wie ein solcher Mensch seine Entscheidungen von irgendwelchen äußeren Dingen abhängig macht - nicht wenige zählen Entscheidungen an den Knöpfen ihres Jacketts ab oder sie würfeln usf.; wir werden später sehen wie es zu solcher Angst vor der Selbstverantwortung kommen kann. Ein weiteres Beispiel dafür, wie sich zwanghafte Menschen den Weg zu unbefangenem Erleben verbauen; ein Patient erzählt in der Analyse einen Traum und fährt dann fort: »Hat es überhaupt einen Sinn, Träumen eine Bedeutung zu geben? Es ist doch immer alles relativ, man kann da alles mögliche hineinlegen oder herauslesen - wer sagt mir, daß ich den richtigen Einfall gefunden habe? Vielleicht habe ich den Traum schon beim Erzählen verändert oder gar nicht mehr genau erinnert? Wird damit nicht alles fragwürdig? Träume sind ja doch nur Schäume, die Beschäftigung mit ihnen ist unwissenschaftlich. Freud und Jung haben sogar ganz verschiedene Auffassungen vom Traum gehabt und Träume verschieden ausgelegt. Da gibt es doch offensichtlich nichts Verbindliches und Verläßliches. Und die Einfälle! Was soll mir schon einfallen... das führt doch ins Unkontrollierbare ... da verliert man sich doch völlig ins Ungewisse ... außerdem fällt mir auch gar nichts ein...«. Das sich Absichern, hier durch gut gekonnte Rationalisierung, die vor das Erleben geschoben wird, vor dem er sich abschirmt, ist gut zu erkennen; seine Angst vor dem »Unkontrollierbaren« wird deutlich - es ging ja gar nicht darum, über Träume wissenschaftlich zu diskutieren, er sollte sich ja nur seinen Einfällen überlassen. Mancher mag hier vielleicht denken, daß die Zweifel des Patienten bezüglich der Träume ganz berechtigt waren - er übersähe dabei indessen, daß der Patient sie nur zum Ausweichen benutzte; darüber hinaus waren seine Zweifel keineswegs nur auf Träume be-
schränkt - er hatte Angst vor allem, was er als »unsicher« ansah und suchte es zu vermeiden. Viele zwanghafte Menschen bleiben aus ähnlichen Motiven der Absicherung in den Vorbereitungen zu etwas stecken, wie das ein Witz sehr treffend illustriert: Ein Mann kommt in den Himmel, sieht dort zwei Türen mit den Aufschriften »Tor ins Himmelreich« und »Tor zu Vorträgen über das Himmelreich« - und er geht durch das zweite Tor. Es ist ein seelisches Gesetz, daß alles, was wir verdrängen, sich aufstaut; dadurch steigert sich der Innendruck, und der Zwanghafte braucht daher immer mehr Zeit und Kräfte, um das Verdrängte in Schach zu halten; so entsteht der zwanghafte Teufelskreis, der nur dadurch zu lösen ist, daß man die »andere Seite«, das Verdrängte, annimmt und sich mit ihr auseinandersetzt. Nur dann kann man das Gemiedene und Gefürchtete integrieren und vielleicht mit Erstaunen erleben, daß das Unterdrückte sogar gute Kräfte enthält, und daß die »sinnlosen« Träume einem sehr Wesentliches zu sagen haben. Man kann sich wohl denken, wie eng und starr, wie prinzipiell und intolerant, wie »eisern konsequent« ein Mensch mit solcher Einstellung wird, wie unlebendig sein Leben wird, wenn er ihm solche Absolutheit und seine Bedingungen aufzwingen will. Bewußt ist dem Zwanghaften dabei nur, daß er das »Richtige« vertreten will (wie jener Patient den »richtigen« Einfall finden zu müssen glaubte und gerade dadurch die freien Einfälle unmöglich machte), nicht die dahinterstehende Angst vor Risiko. Nimmt man alles so prinzipiell, wird lebendige Ordnung zu pedantischer Ordentlichkeit, notwendige Konsequenz zu unbelehrbarer Starrheit, vernünftige Ökonomie zu Geiz, gesunder Eigenwille zu trotzigem Eigensinn bis zur Despotie. Reicht das alles noch nicht aus, um die Angst zu bewältigen, weil die Fülle des Lebens sich nicht in starre Regeln einfangen läßt, kommt es zur Entwicklung von Zwangssymptomen und Zwangshandlungen. Sie haben ursprünglich die Funktion, Angst zu binden, verselbständigen sich aber allmählich und werden zu einem inneren Müssen. »Es« zwingt sie dem Menschen auf, und selbst wenn sie ihm sinnlos erscheinen, kann er sie nicht mehr unterlassen. Wasch-, Grübel-, Zähl- und Erinnerungszwang sind solche Zwangshandlungen. Immer, wenn man einen Zwang zu unterlassen oder aufzulösen versucht, werden die darin gebundenen Ängste frei. So verschieden Zwänge sein können, immer ist es zuletzt die Angst vor dem Wagnis, vor unbekümmerter Spontaneität, auf die wir stoßen. Immer ging es bei ihrer Entstehung darum, etwas zu
vermeiden, sei es etwas Neues, Unbekanntes, Unsicheres, Verbotenes, sei es eine Versuchung, ein Abweichen vom Gewohnten. Wenn alles so bleibt, wie es ist: die Gegenstände auf dem Schreibtisch in geheiligter Ordnung; die Meinung über etwas in unverrückbarer Gültigkeit; ein moralisches Urteil in paragraphenhafter Starre; eine Theorie in unangreifbarer Behauptung; ein Glaube in unerschütterlicher Absolutheit - dann scheint die Zeit stillzustehen. Alles ist dann voraussehbar, die Welt ändert sich nicht mehr und das Leben bringt nur mehr die Wiederholung des Gleichen und schon Bekannten - dann ist aus lebendig pulsierendem Rhythmus gleichförmig-stereotyper Takt geworden. In solchen Haltungen kann manchmal eine gewisse Größe liegen, aber es ist letztlich eine tragische Größe, weil das hartnäckige Zwingenwollen und Bändigenwollen der Gewalten des Lebens, der Mangel an Elastizität und die Unmöglichkeit des Unterfangens an sich schon den Keim des Mißglückens in sich trägt. Und zur Tragik gehört das Scheitern an einer Absolutheit, die man als wirklich oder scheinbar unausweichliche Forderung erlebt, die man erfüllen muß oder zu müssen glaubt. Ein einfaches Beispiel kann uns das Prinzipielle an zwanghaftem Verhalten verdeutlichen - wobei, wie so oft im Leben, Tragik und Komik dicht beieinander liegen: Versuche man doch einmal, ein Zimmer absolut staubfrei zu halten - dann erlebt man die ganze Tragikomik dessen, der ein unaufhaltsames Geschehen nicht zulassen und die Zeit anhalten will. Er schöpft Wasser in das bodenlose Faß der Danaiden. Weil aber der Staub für etwas anderes steht, das man eigentlich bereinigen will, wird das Staubwischen so lange zum Zwang werden, solange das eigentliche Problem, das man auf den Staub verschoben hat, nicht gelöst ist. Denn die angestrebte absolute Staubfreiheät gilt etwas Wesentlicherem, das man rein erhalten will, etwa der moralischen Sauberkeit, die man durch Versuchungen gefährdet erlebt. Indem man das eigentliche Problem auf Banales verschiebt, wird es gerade dadurch zum Zwang; die echte Auseinandersetzung mit unseren Problemen wird uns nicht zum Zwang. Immer, wo wir das irrationale Gefühl des Müssens bei Tätigkeiten haben, die letztlich belanglos sind, sollten wir uns fragen, welcher wesentlichen Auseinandersetzung oder Entscheidung wir uns dadurch entziehen wollen. In humorvoller Weise hat F. Th.Vischer in seinem Roman »Auch Einer« zwanghafte Problematik geschildert. Der Held des Romans ist in dauerndem Kampf gegen die »Tücke des Objekts«, wie es dort heißt. Ihm passieren immer wieder Fehlleistungen, die aus verdrängten Affekten und Impulsen, vor allem aggressiven,
kommen, die er aber den Objekten als ihre Tücke in die Schuhe schiebt. Wenn er seiner ihm unsympathischen Tisch nachbarin »aus Versehen« die Sauce über ihr Kleid schüttet, ist das eben die Tükke des Objekts, hier der Sauciere und seines Anzugknopfes, an dem sie hängenblieb, nicht der Ausdruck seiner unterdrückten Abneigung und Aggression gegen die Dame. Gerade bei zwanghaften Menschen finden sich solche von Freud so benannten Fehlleistungen besonders häufig, weil sie soviel an lebendigen Impulsen verdrängen. In den Fehlleistungen - Versprechen, Vergessen, »aus Versehen« jemanden anrempeln usf. - setzt sich bei ihnen das jeweils Unterdrückte durch, aus Versehen, also ohne eigene Schuld und bewußtes Wollen; sie »passieren« ihnen, entschlüpfen der sonstigen Kontrolle und verraten, was sie verbergen wollen. In ihrer Steigerung können Zwänge beim eigentlich Zwangskranken einen schaurig-makabren Zug bekommen, indem sie zunehmend sein Leben ausfüllen und mit geradezu dämonischer Macht ein Eigenleben führen. Man kann es gut verstehen, wenn frühere Zeiten, die die psychologischen Zusammenhänge noch nicht kannten, diese unheimlichen Zwänge, die man ausführen muß, auch wenn man ihre Unsinnigkeit erkennt, als Besessenheit vom Teufel oder von bösen Geistern sich vorstellten. Und der Zwangskranke selbst erlebt das Ausführenmüssen seiner Zwangshandlungen oft wie unter einer fremden Macht stehend, weil sie ihm ichfremd vorkommen. Jeder Zwang hat aus sich heraus die Neigung - um einen Vergleich aus dem somatischen Krankheitsgeschehen zu nehmen Metastasen zu bilden, also gleichsam zu wuchern und sich auf andere, bisher noch nicht von ihm ergriffene Gebiete auszudehnen. Dadurch kann ein Leben mehr und mehr eingeengt, von Zwängen ausgefüllt werden, wie wir an späteren Beispielen sehen werden. Die beschriebenen Vorgänge können sich nun auch nur innerseelisch abspielen, etwa in der Abwehr von beunruhigenden, »bösen« Gedanken, Wünschen und Impulsen, die man glaubt unterdrücken zu müssen. Dann wird ein großer Teil der Zeit und Kraft darauf verwendet, gegen sie anzukämpfen. Man wird das etwa dadurch zu erreichen versuchen, daß man gleichsam einen Gegenzauber gegen sie anwendet. Will man sich etwa gegen böse, sündige, schmutzige Gedanken oder Wünsche wehren, muß man zwanghaft jedesmal, wenn sie aufzutauchen drohen, sofort eine Gegenmaßnahme ergreifen. Vielleicht spricht man nur eine magische Formel aus (»Jesus - Maria - Josef«), oder man muß sonst etwas tun, was das zu vermeidende aus dem Bewußtsein drängt. In
einer schwereren Form kann das zu Selbstbestrafungen führen, wie wir sie vor allem aus Bereichen von religiösem Fanatismus kennen - man denke etwa an die Flagellanten. Die »Metastasen«, die sich ausweitenden Wucherungen solcher Zwänge, können sich dann auf immer mehr erstrecken, was man vermeiden muß: Schon harmlos lautlich oder sonstwie assoziativ mit dem zu Meidenden verbundene Worte oder Begriffe werden dann als verdächtig empfunden und müssen ebenfalls vermieden werden, wie es der Witz vom »christlichen Einmaleins« karikiert, wo »eins - zwei - drei vier - fünf - pfui - sieben« gezählt werden muß, weil die Sechs an das verpönte Sexuelle erinnert und daher ausgelassen werden muß. So gerät man auch hier in die Lage dessen, der sein Zimmer absolut staubfrei halten wollte. Man wird an das lateinische Sprichwort erinnert: »Naturam expellas furca, tarnen usque recurret« - die Natur, das Leben, läßt sich nicht gewaltsam austreiben oder unterdrücken, auf irgendeine Weise kommt sie immer wieder zurück. Das kann manchmal eine so raffinierte Form annehmen, wie in folgendem Beispiel, wo unter dem bewußten Aspekt der Abwehr das Abgewehrte gleichsam hintenherum wieder eingeführt wird: Eine zwangsneurotische Patientin mit einem Waschzwang, der unbewußt symbolisch ihren »schmutzigen« sexuellen Impulsen, nämlich der Selbstbefriedigung galt, die sie als Sünde aufzufassen gelehrt worden war, mußte dementsprechend ihre Genitalregion als die eigentlich »sündhafte«, besonders intensiv und so häufig waschen, daß sie damit die verbotenen Lustgefühle bis zum Orgasmus »hintenherum« wieder einführte und befriedigte - aber nun »ungewollt« und daher ohne Schuldgefühle, da sie bewußt ja sich nur rein erhalten wollte. Die christliche Kirche beider Konfessionen hat durch die Verdammung der Sexualität und durch die Schuldgefühle, die sie damit erweckte - und leider auch heute noch manchmal erweckt manche ecclesiogene Neurose verschuldet. Ihre Leibfeindlichkeit hat in vielen jungen Menschen vermeidbare Ängste und Schuldgefühle gesetzt, vor allem in der Pubertät. Anstatt, wie es bei den sogenannten Primitiven in ihren Initiationsriten der Fall ist, die Jugendlichen in diese so wichtige Entwicklungsphase zu führen, etwa im Schulunterricht oder in Gruppenabenden und themengerichteten Gruppengesprächen, in denen sie ihre Fragen äußern können, gab es lange Zeit nur einen Konfirmandenunterricht, der überwiegend daraus bestand, Gesangbuchverse und den Katechismus auswendig.zu lernen, und die »peinlichen« Fragen tunlichst zu vermeiden. Darin ist glücklicherweise manches anders geworden,
und die Jugend hat sich vieles von dem selbst genommen, was ihr vorenthalten wurde. Wer einige Jahrzehnte psychotherapeutisch tätig gewesen ist weiß, welche verheerenden Folgen die religiösfundierte Leibfeindlichkeit gehabt hat, meist beginnend mit dem Kampf gegen die Onanie, die von schrecklichen körperlichen und seelischen Schädigungen gefolgt sein sollte, daher schwerste Ängste und Schuldgefühle setzte und nicht selten bei Jugendlichen im Selbstmord endete, wenn der vergebliche Kampf gegen die »Sünde« nicht durchzuführen war. Der zwanghafte Mensch und die Liebe Die Liebe, dieses irrationale, grenzüberwindende, transzendierende Gefühlserleben, das sich zu gefährlicher Leidenschaft steigern kann, ist diesen Menschen an sich schon zutiefst beunruhigend. Hier ist offenbar etwas, das man nicht »machen« kann, das seine eigenen Gesetze zu haben scheint, das sich dem Willen entzieht, das einen überfallen kann wie eine Krankheit und womöglich dazu bringt, wider die Vernunft zu handeln. All das ist schwer mit den Sicherungstendenzen und dem Machtwillen zwanghafter Menschen zu vereinen. Menschen mit zwanghafter Persönlichkeitsstruktur versuchen daher, ihre Gefühle in der »Hand zu behalten«, unter ihrer Kontrolle zu halten. Denn auf Gefühle ist kein Verlaß, sie sind zu subjektiv, zu schwankend und vergänglich. Leidenschaft ist ihnen noch verdächtiger; sie ist völlig unberechenbar, unvernünftig und eher ein Zeichen von Schwäche. Sie sind daher in ihrer Gefühlszuwendung eher sparsam-dosierend, können sich schwer ihren Gefühlen überlassen und haben auch für die des Partners wenig Verständnis. Durch Sachlichkeit zur unrechten Zeit können sie in Gefühlsbeziehungen ungemein ernüchternd wirken. Dafür haben sie in allen partnerschaftlichen Beziehungen Verantwortungsgefühl und stehen zu ihren Entscheidungen, wenn sie sie einmal gefällt haben. Es fällt ihnen nicht leicht, den Partner als gleichberechtigt anzuerkennen; sie neigen mehr zu einer vertikalen Ordnung: oben oder unten, Hammer oder Amboß sein erscheint ihnen als unvermeidliches »Entweder/Oder« - und wer möchte schon Amboß sein? So wird eine Bindung bei ihnen leicht zum Machtkampf um die Überlegenheit. Wollte der depressive Mensch den Partner aus Verlustangst von sich abhängig machen, so der zwanghafte aus Machtbedürfnis: er will den Partner nach seinem Willen formen. Es fällt ihm daher schwer, das Anderssein
des Partners gelten zu lassen; er faßt ihn zu leicht als seinen Besitz auf, als sein Eigentum, das seinem Willen untersteht. So ist es in den Partnerbeziehungen nicht selten der Fall, daß der Zwanghafte auf Kosten des anderen lebt, von dem er zuviel Anpassung und Sichfügen fordert. Andererseits hat eine Bindung für ihn etwas Schicksalhaftes. Er hat eine große Tragfähigkeit und Belastbarkeit; Treue ist ihm schon aus Ökonomischen Gründen naheliegend. Ehen werden nicht selten aus Vernunftsgründen geschlossen, und materielle Gesichtspunkte und sonstige Sicherungen pflegen dabei eine nicht unbedeutende Rolle zu spielen. Bevor er eine Bindung eingeht, können lange Zweifel einsetzen; das ergibt dann oft überlange Verlobungszeiten und wiederholte Aufschübe des Heiratstermins. Hat er sich dann entschlossen, wird die Bindung oft als unauflösbar angesehen - sei es aus religiöser oder ethischer Motivierung, sei es auch nur, weil man nicht aufgeben will, auch wenn man selbst oder der Partner darunter leidet, oder wenn dieser die Beziehung auflösen möchte. Als eine Frau ihren Mann fragte, warum er nicht in die Scheidung einwilligen wolle, die sie schon lange vorgeschlagen hatte, wo doch ihre Ehe, gerade auch seinem Gefühl nach, unerträglich geworden sei, antwortete er nur: »Weil wir verheiratet sind«, als ob damit etwas immer Gültiges geschaffen worden wäre. Er sagte das nicht aus religiösen oder anderen verständlichen Gründen, sondern nur, weil er nun einmal geheiratet hatte. Gewohnheit spielte dabei eine Rolle, sein Machtbedürfnis, und außerdem schien es ihm wohl besser, am Bestehenden festzuhalten, als ein neues Risiko einzugehen. So kann es zu Ehen kommen, in denen schwelender Haß und gegenseitiges Sichquälen die ganze »Bindung« ausmachen, wo schließlich jeder auf den Tod des anderen wartet. Je stärker die zwanghaften Züge sind, umsomehr wird die Ehe als ein juristischer Kontrakt angesehen, mit streng festgelegten Rechten und Pflichten. Das Formale bekommt dann einen Überwert, auf das man sich immer berufen kann. Solange das im vernünftigen Rahmen des »clara pacta - boni amici« bleibt, ist dagegen nichts einzuwenden. Wenn aber das Formale die Gefühlsbeziehung ersetzen soll, kann es zu einem Pochen auf vermeintliche Rechte und bis ins Sadistische reichende Prinzipien kommen, wo unter dem Deckmantel der Korrektheit feindselige Gefühle und Machtansprüche ausgelebt werden. In einer Ehekrise geht eine Frau zum Anwalt und läßt sich von ihm einen Vertrag aufsetzen, in dem die Häufigkeit des ehelichen Verkehrs, die von ihr dabei gewünschte Zimmertemperatur festgelegt wurden; zugleich enthielt der Vertrag das Verbot für den Mann,
im Schlafzimmer zu rauchen und genau festgesetzte Geldbußen beim Übertreten oder Nichteinhalten dieser Bedingungen. Wenn der Ehemann diesen Vertrag unterschrieb, wolle sie die Ehe mit ihm weiterführen. Sie war im Ernst der Überzeugung, daß das ein sachlicher und fairer Vorschlag von ihr war, der die Weiterführung der Ehe ermöglichen sollte. - Hier wurden regelhafte Bedingungen aufgestellt, anstatt das Problem da anzugehen, wo es lag: im emotionalen Sich-nicht-Verstehen und im Erzwingenwollen ihrer Wünsche. In Krisen und Auseinandersetzungen ist der zwanghafte Mensch wenig einsichtig; nachzugeben fällt ihm schwer, auch wo er sein Unrecht einsehen sollte. Er klebt an der Vergangenheit, und rechnet dem Partner pedantisch und mit genauen zeitlichen und sonstigen Belegen vor, was dieser früher und nun schon wieder falsch gemacht habe, wie oft dieses oder jenes vorgekommen sei. In Krisen hat er oft seltsame Vorstellungen davon, wie ihnen abzuhelfen wäre - das eben gebrachte Beispiel läßt das erkennen. Da er von Gefühlen nicht viel hält, macht er dem Partner ihm vernünftig erscheinende Programmvorschläge, versucht Regeln auf zustellen, an die sich beide Partner halten sollen. Wenn sich die Frau etwa beklagt, daß er sonntags immer bei seinen Briefmarken oder Basteleien sitzt und sie sich langweile, mehr mit ihm gemeinsam tun möchte, wird er einen Kompromißvorschlag machen. Er wird ein Programm aufstellen, wonach er etwa nur jeden zweiten Sonntag seinen Liebhabereien nachgehen, an den anderen etwas mit ihr zusammen unternehmen werde. Das wird dann auch programmäßig eingehalten - darin ist sein Versuch der Zuwendung und des Sichbemühens zu erkennen. Aber alles ist zu sehr gewollt und setzt am falschen Ende an, denn er führt dann eine sich selbst auferlegte Pflicht aus und meint, damit seinen Teil getan zu haben. Er ist dann sehr erstaunt und ärgerlich, wenn die Frau trotzdem nicht zufrieden ist, weil sie seine Unlust spürt und letztlich mehr Zuwendung von ihm wollte, keinen Pflichtausflug. Dieses Beispiel kann für viele ähnliche Verhaltensweisen stehen, durch die zwanghafte Menschen ihre Partnerprobleme zu lösen versuchen. Dadurch erhält aber der Partner nie das, was er eigentlich will: mehr Freude, mehr Spontaneität und spürbare Zuneigung, mehr Abwechslung und Heiterkeit im Alltag. Der Zwanghafte bekommt dann solchen »Ansprüchen« gegenüber als solche muß er sie aus seiner Kargheit und Zurückhaltung empfinden - das Gefühl der Unersättlichkeit des Partners, und so können beide aneinander vorbeileben und die Probleme schaukeln sich immer höher auf.
Eine besondere Rolle spielen bei ihnen Zeit und Geld, Pünktlichkeit und Sparsamkeit in der Partnerschaft; an ihnen pflegen Machttrieb, Pedanterie und Starre am deutlichsten hervorzutreten. Das Essen muß »auf die Minute genau« auf dem Tisch stehen; das Haushaltsgeld wird zuerteilt mit geforderter Abrechnung »auf Heller und Pfennig«, oder der Mann muß seinen Lohn, sein Gehalt zu Hause abliefern und bekommt ein Taschengeld zuerteilt usf. Nötige Neuanschaffungen werden zu einer Tragödie; ihre Notwendigkeit wird endlos diskutiert oder sie ist ein Zeichen für die Verschwendungssucht des Partners oder dafür, wie achtlos er mit den Dingen umgeht, daß »schon wieder« eine Neuanschaffung nötig ist. Geldprobleme sind in solchen Ehen häufigste Krisenauslöser. Im Patriarchat mit seinen Privilegien des Mannes gab es häufig Ehen, die auf Kosten der Frau gingen. Allein schon »die eheliche Pflicht«, zu der man die Sexualität der Frau herabwürdigte, sie selbst damit erniedrigend, ist ein Beispiel dafür. Wir werden im nächsten Kapitel über die Hysterie sehen, wie sich die Frau dafür rächte. Im Patriarchat waren Ehen an der Tagesordnung, wo der Mann alles in den Händen hatte, die Frau gleichsam entmündigt, zumindest wie ein unreifes Kind angesehen, behandelt und in völliger Abhängigkeit gehalten wurde. Bei schweren zwanghaften Zügen ist es solchen Menschen am wichtigsten, daß der Partner »funktioniert«, pünktlich, genau, zuverlässig und reibungslos wie eine gut geölte Maschine, ohne eigene Wünsche oder gar Gefühlsansprüche. Statt lebendigem Austausch, statt wechselseitigem Geben und Nehmen, gibt es dann nur noch Bedingungen und Vorschriften, wie sich der Partner zu verhalten habe. Man kann sich vorstellen, wie kalt und programmiert eine solche Ehe aussieht, in der oft auch das Sexuelle nach festgelegtem Fahrplan ausgeübt wird, wie eine Pflichtübung, nicht nach Neigung und Gestimmtheit - man schläft zusammen, wenn oder weil es »dran« ist. Die Einstellung zur Sexualität wie zu allen Lebensfreuden und Genußmöglichkeiten wird mit zunehmend zwanghaften Seiten immer problematischer. Es wurde schon angedeutet, daß auch die Sexualität oft »eingeplant« wird. Dadurch bekommt das ganze Liebesleben etwas Erosfeindliches und atmosphärisch Ernüchterndes, völlig Undionysisches. Das kann schon die erste Begegnung mit dem anderen Geschlecht im Ansatz mißglücken lassen - man denke hier auch an die häufigen Katastrophen der Hochzeitsnacht. Der Mangel an Einfühlung in den Partner, der Mangel an erotischer Phantasie läßt das Liebesleben weiter in den einmal einge-
fahrenen Bahnen verlaufen. Nicht selten hat die Sexualität Zwanghafter einen sadistischen Einschlag, im Zwingenwollen des Partners, in der Vermischung der Intimbeziehung mit dem Machtwillen. Aber auch das Erhaltenbleiben früh erworbener Schamgefühle und Schuldgefühle im Zusammenhang mit der Sexualität kann die Intimbeziehung zu etwas Gequältem, Unfrohen und Phantasielosen machen, das nur erlaubt ist im festen Rahmen und unter bestimmten Bedingungen. Das kann so weit gehen, daß langes Zweifeln oder eine Ekelschranke als Schutz vor den »verbotenen« Trieben aufgerichtet wird oder sonstige Skrupel und Rationalisierungen, wie in folgendem Beispiel: Ein junger Mann lernt ein Mädchen kennen, das ihm sehr gefällt. Nach der ersten Begegnung zu Hause angekommen, beginnt er zu grübeln: »Was kann diese Beziehung (die noch gar nicht existierte) für Folgen haben? Aus was für einer Familie kommt das Mädchen wohl? Ob sie schon viele Männer gehabt hat? Ob sie wohl gesund ist? Was sie wohl für eine Vorstellung von der Liebe hat? Wenn es zu einer Schwangerschaft käme? Vielleicht stecke ich mich bei ihr an? Sie hatte etwas so Sinnliches um den Mund - wer weiß, vielleicht schläft sie mit jedem? Und überhaupt - warum soll ich mich mit ihr einlassen? Wer garantiert mir, daß es kein Reinfall wird? Eigentlich steht nichts dafür ... ich bin ja noch jung, warum soll ich mich schon binden?« (was ja noch gar nicht zur Diskussion stand). Man sieht die ungemeine Vorsicht und die Absicherungen; es werden alle negativen Möglichkeiten vorweggenommen, oft an den Haaren herbeigezogene Rationalisierungen, nur um sich nicht entscheiden oder handeln zu müssen, um ja kein Risiko einzugehen. Der junge Mann hatte auch sonst noch zwanghafte Züge - s o überlegte er z. B. bereits in den letzten Semestern, welchen Schlips er beim Staatsexamen tragen solle, und legte ihn dafür zurück. Er litt zudem an einem Erinnerungszwang: Nach jedem Zusammensein mit jemandem mußte er sich genau ins Gedächtnis zurückrufen, was er und die anderen gesagt hatten, ob er auch nichts Verfängliches gesagt habe, ob in den Reden des anderen nicht vielleicht etwas Hintergründiges enthalten war, das ihm entgangen sein könnte. Er verbrachte oft Stunden damit, die Gespräche zu rekonstruieren; auch dieses Symptom war eine Sicherung, vor allem vor der Spontaneität. Häufig trägt der zwanghafte Mensch seinen Leistungswillen auch in die Sexualität; die sexuelle Beziehung wird dann für ihn zur Bewährung seines Leistungsvermögens, seiner Potenz, die
Partnerin damit zum Objekt seiner Leistungsprüfung. Die deutsche Sprache drückt den Zusammenhang zwischen sexueller und finanzieller Potenz durch das gleiche Wort »Vermögen« aus, und bei diesen Menschen findet man oft die gleiche Einstellung zu ihrer sexuellen Potenz, die sie auch zum Gelde haben: sie wollen entweder zeigen, daß sie »vermögend« sind, oder sie geizen mit ihrer Potenz aus der Angst, sie hätten nur eine begrenzte Potenz zur Verfügung und müßten sie daher einteilen, ihr »Pulver nicht verschießen« - wie sie auch mit ihrem Geld umgehen. Die erotisch-sexuelle Liebesbeziehung ist bei ihnen leicht störbar, oft abhängig von bestimmten Bedingungen, die erfüllt sein müssen: Geräusche, Gerüche, die Lichtverhältnisse, ungenügend verschlossene Türen und andere äußere Umstände können sie so stören, daß ihnen die Lust vergeht oder sie nicht potent sind. Manche von ihnen brauchen lange Waschvorbereitungen und nehmen damit schon im voraus dem intimen Zusammensein alles Erregende; oder sie entziehen sich ihm durch regelmäßig vorher noch zu erledigende »Pflichten« - irgend etwas muß erst noch aufgeräumt, zu Ende gebracht werden. Gern wird auch Müdigkeit, Arbeitsüberlastung vorgeschützt - es gibt natürlich viele Möglichkeiten, vor lebendiger Partnerschaft und erwarteter Zuwendung auszuweichen. Sie finden nur schwer zu unbefangener Sinnenfreude. Wenn sie sich nicht von der Vorstellung frei machen können, den Partner als ihren Besitz anzusehen, neigen sie zur Eifersucht, die hier indessen mehr ein Machtproblem ist: der Partner soll sich nicht ihrer Macht entziehen. Versucht dieser es, werden sie ihn immer mehr einengen und sich seiner versichern wollen, wodurch die Situation nur verschärft wird. Wahrscheinlich erfand ein Zwanghafter seinerzeit den Keuschheitsgürtel. Häufig findet man auch bei ihnen eine scharfe Trennung von Liebe und Sexualität, von Zärtlichkeit und Sinnlichkeit, derart, daß sie da, wo sie lieben, nicht begehren können, andererseits nur dort begehren können, wo sie nicht lieben, denn sie können ja die ihnen als schmutzig erscheinende Sexualität nicht einer Frau zumuten, die sie lieben - das würde diese herabwürdigen. So sind unter ihnen Menschen nicht selten, die eine Frau verehren, ihre Sexualität aber bei Dirnen ausleben. Die gesunden Menschen auf dieser Linie, die nur leichte zwanghafte Züge haben, sind im allgemeinen keine leidenschaftlich Liebenden, dafür verläßlich und stabil in ihrer Zuneigung. Sie können eine gleichmäßige Wärme und damit dem Partner das Gefühl der Sicherheit und des verantwortlichen Zu-ihm-Stehens, des geschützten gut Aufgehobenseins geben. Sie sind vorsorgliche Ehe-
partner, und ihre Familie erweckt oft den Eindruck einer »heilen« Gemeinschaft in durchaus positivem Sinne, die auf gegenseitiger Achtung, Zuneigung und Verantwortung stabil aufbaut. Der zwanghafte Mensch und die Aggression Auch der zwanghafte Mensch hat Schwierigkeiten mit seinen Aggressionen und Affekten. Er hat es zu früh lernen müssen, sich zu kontrollieren und zu beherrschen; spontane Reaktionen sind, wie wir bei der Betrachtung seiner Lebensgeschichte sehen werden, angstbesetzt; Äußerungen von Wut, Haß, Trotz und Feindseligkeit usf. mußte er von der Kindheit an unterdrücken, sie wurden bestraft oder waren von Liebesentzug gefolgt. Aber im Leben sind sie unvermeidlich - was also mit ihnen tun? Da sein Ich schon etwas kräftiger entwickelt ist, als beim Depressiven, hat er als Kind nicht dessen Verlustangst, derentwegen er seine Affekte aufgibt, sondern er mußte aus Strafangst sich seine Aggressionen verbieten. Sehen wir uns die Möglichkeiten an, die für ihn in solcher Situation übrig bleiben. Die häufigste wird sein, daß er mit seinen Affekten und Aggressionen sehr vorsichtig umgeht; er wird zögern und zweifeln, ob er in einer Situation aggressiv sein darf, und wenn er es war, danach oft die Neigung haben, das Geäußerte wieder abzuschwächen, zu mildern, oder zurückzunehmen, zu widerrufen, wie in diesem Beispiel: Als ein Patient in einer Behandlungsstunde einmal eine etwas aggressive Bemerkung über seine Frau gemacht hatte, über die er sich mit Recht geärgert hatte, sagte er sofort abschwächend: »Das war natürlich übertrieben von mir gesagt; ich habe es nicht ausschließlich so gemeint, nur zur Verdeutlichung; bitte mißverstehen Sie mich nicht, Sie könnten sonst einen falschen Eindruck bekommen - wir verstehen uns im allgemeinen sehr gut.« Hier sieht man gut, mit welchem Schrecken und folgenden Schuldgefühlen eine Aggressionsäußerung erlebt wird; diese Abschwächungstendenz kann sich bis zur Wiedergutmachung oder zur Selbstbestrafung steigern. Auch beim zwanghaften Menschen kann es zu einer Ideologiebildung kommen als weiterem Lösungsversuch des Konfliktes, Affekte zu haben, sie aber nicht äußern zu dürfen. Bei ihm wird der Verzicht auf die Affekte meist über die Ideologisierung der Selbstbeherrschung und Selbstzucht vollzogen: Affekte zu äußern ist dann ein Zeichen von Sichgehenlassen, von Sich-nicht-in-derHand-Haben, ein Verhalten, das unter seiner Würde ist. So ge-
sund das in gewissen Grenzen ist, besteht dabei doch die Gefahr, daß er sich damit überfordert, daß die Affekte zu sehr abgedrosselt werden und sich nun innen aufstauen, dann immer mehr Kontrolle brauchen, damit sie nicht durchbrechen. Daraus können sich Zwangssymptome entwickeln wie bei einer Frau, die ihre feindseligen Gefühle gegen ihren Mann nie äußerte, dafür eine Angst vor Messern und spitzen Gegenständen entwickelte, die sie sofort wegräumen mußte, wenn sie ihr zu Gesicht kamen - sie hätten die unterdrückten Aggressionen auslösen können, wenn sie länger in ihrem Blickfeld geblieben wären, und wer weiß, wozu sie dann fähig gewesen wäre. Hätte sie sich mit ihrem Mann auseinandergesetzt, wären ihre Aggressionen gar nicht so bedrohlich geworden, wie es durch die Stauung der Fall war. Eine weitere Möglichkeit für zwanghafte Menschen in jenem Dilemma ist es, nach gleichsam legitimen Möglichkeiten für ihre Aggressionen zu suchen, nach Anlässen und Gelegenheiten, die ihnen Aggressionsäußerungen nicht nur erlauben, sondern sogar noch als einen Wert erscheinen lassen - was ja in manchen Berufen möglich ist. Dann bekämpfen sie all das was sie sich selbst verbieten mußten nun überall, wo sie darauf stoßen. So können Fanatiker auf allen möglichen Gebieten entstehen, die unerbittlich, kompromißlos und rücksichtslos immer gegen irgendetwas kämpfen sei es auf hygienischem, auf triebhaftem, moralischem oder religiösem Gebiet. Sie richten die Aggression nicht mehr gegen sich selbst, wie die Depressiven, sondern gegen etwas oder jemanden draußen, mit gutem Gewissen, weil sie überzeugt sind, damit etwas Notwendiges zu tun. Man kann sich vorstellen, wie gefährlich das werden kann; denn wenn man vor allem nach einem Ventil für seine Aggressionen sucht, wird man überall etwas finden, gegen das man »aus Überzeugung« angehen kann. Das erlaubt ihnen sogar massivste Aggressionen, die durch den Zweck nun geheiligt werden können - wir hatten bei den christlichen Ideologien schon darauf hingewiesen. Auch hier ist die Grenze zwischen dem Gesunden und dem Kranken sehr schmal, denn die Aggression verbindet sich nun mit Normen, die an sich einen Wert bedeuten, zumindest bedeuten können. Wie katastrophal es sich auswirken kann, wenn man etwa ein Kollektiv dazu bringt, seine Aggressionen in den Dienst einer Ideologie zu stellen, konnten wir in der Judenverfolgung im Dritten Reich erleben, können wir bei allen Kriegen sehen, in denen die Vernichtung des Feindes zur Tugend erhoben und womöglich von der Kirche noch sanktioniert wird. Eine etwas mildere Variante der beschriebenen »legitimierten«
Aggression ist die übermäßige Korrektheit, die, neben der Unterdrückung der Aggression, wohl die häufigste Form zwanghafter Aggressionsäußerung ist - ohne daß dem Zwanghaften hierbei die Aggression bewußt zu sein pflegt. Die Möglichkeiten, seine Affekte durch solche Korrektheit auszuleben bis zu ans Sadistische grenzenden Verhaltensweisen, sind außerordentlich zahlreich: der Beamte, der auf die Minute pünktlich den Schalter schließt, auch wenn er leicht noch jemanden abfertigen könnte; der Lehrer, der den kleinsten Interpunktions- oder Unaufmerksamkeitsfehler ankreidet; der Prüfer, der nur die haargenau von ihm erwartete Antwort als richtig gelten läßt; der Richter, der sich an den Buchstaben des Gesetzes hält, für den Tat Tat ist, ohne Berücksichtigung der Motivation - es ließen sich noch viele Beispiele für solche Aggressionsäquivalente finden. Sie alle leben auf solche scheinbar legitime Weise durch Überkorrektheit ihre Aggressionen aus, mißbrauchen ihre Macht, und tarnen ihr Verhalten vor sich selbst damit, daß sie ja nur konsequent etwas Richtiges, einen Wert vertreten. Das ist aber gerade das Gefährliche an der Aggression Zwanghafter, daß sie sich so oft auf Werte berufen, wodurch dann schwer zu erkennen ist, was für die Sache notwendig, was Selbstzweck dabei ist. Natürlich, »Ordnung muß sein« - aber eine lebendige, und keine pedantische Ordentlichkeit; und Sittlichkeit ist ein Wert - aber eine lebensfeindliche Moral ist es nicht mehr. Von hier aus führt eine direkte Linie zu allem, was wir als Dressur bezeichnen können, als Drill, wie wir ihn vom Militär her kennen. Für die Aggression Zwanghafter ist es, wie wir sahen, überhaupt charakteristisch, daß sie sich an Normen, Regeln und Prinzipien hält; sie geschieht bevorzugt »im Namen von . ..« und pflegt eng mit dem Machttrieb gekoppelt zu sein. Dadurch kann man ihnen die Aggression oft schwer nachweisen, und sie bekommt gleichsam etwas Überpersönliches, Anonymes, wohinter sich die persönliche Lust an der Aggression verbirgt. Ein weiteres Charakteristikum für die zwanghafte Aggression ist ihre Verbindung mit dem Machtwillen; sie ist nicht mehr nur Abwehr, Selbstschutz und Abreaktion von Angst wie beim Schizoiden, sondern bei ihr geht es um Macht. Die Aggression der Zwanghaften dient der Macht, und die Macht dient wieder der Aggression. Daher finden wir zwanghafte Menschen in Berufen, die Macht verleihen und gleichzeitig die Möglichkeit bieten, ihre Aggressionen legal auszuleben, im Namen der Ordnung, der Zucht, des Gesetzes, der Autorität usf. Es wird uns daher nicht wundern, daß viele Politiker mehr oder minder ausgesprochen zu diesem Strukturtypus gehören, Militärs, Polizei, Beamte, Richter,
Geistliche, Pädagogen und Staatsanwälte. Es hängt dann von der Reife und Integrität der jeweiligen Persönlichkeit ab, wie sie mit Macht und Aggression umgeht. Wie jede Gesellschaft bietet auch die unsere mit ihren Ordnungen und Hierarchien dem Zwanghaften reiche Möglichkeiten, unter dem Deckmantel eines guten Prinzips, seine Aggressionen und seinen Haß legitim auszuleben. Elternhaus, Schule und Kirche sind die ersten erzieherischen Milieus bzw. Institutionen, die durch Drill, Dressur, lieblose Erziehungsmethoden, durch das Erwecken von Schuldgefühlen und durch Strafen einen dankbaren Boden abgeben für spätere zwanghafte Persönlichkeitsentwicklungen der Kinder - wir werden das im nächsten Kapitel noch besser verstehen. Eine Form zwanghafter Aggression, der man schon in der sprachlichen Bezeichnung ihre Herkunft ansieht, ist die Verschlagenheit, also die hinterlistig-feige, versteckte Aggression, die aus dem Hinterhalt zuschlägt. Wir finden sie bei Menschen, die in ihrer Kindheit für ihre Aggressionsäußerungen schwer bestraft wurden; sie durften Trotz, Affekte usf. nie offen austragen, nur heimlich und hinterrücks - sie wurden eben im wörtlichen Sinne »verschlagen«, sobald sie es wagten. Die Grenze zur Tücke, Heimtücke, zum »Wolf im Schafspelz« ist dann eine sehr schmale. Eine weitere Folge zu strenger Strafen vor allem für die motorisch-expansiven und affektiv-aggressiven Verhaltensweisen des Kindes ist es, daß das Kind dadurch kein gesundes Körpergefühl entwickeln kann. Es lernt nicht richtig, mit seinem Körper umzugehen, fühlt sich in ihm »nicht zu Hause«. Denn um Freude an seinem Körper zu bekommen, muß man ihn frei betätigen dürfen, eine Bewegungsfreiheit haben, die man lustvoll erlebt. Muß man dagegen dauernd darauf achten, nirgends »anzuecken«, erwirbt man nicht nur eine motorisch-aggressive Gehemmtheit, sondern zugleich eine breite Unsicherheit im sich Bewegen, die wir in ihrer ausgeprägten Form als Linkischkeit zu bezeichnen pflegen, und die in schweren Fällen zur Tölpelhaftigkeit werden kann. Hier kann sich dann die Aggression nur noch in den schon erwähnten Fehlleistungen durchsetzen. Dem Ungeschickten, Linkischen, dem Tölpel »passieren« dann seine Aggressionen »ungewollt«, scheinbar ohne Absicht. So lebt er seine unterdrückten Aggressionen und Affekte nun in der Form aus, daß ihm »aus Versehen« die kostbare Vase aus den Händen fällt, die er mit Wasser füllen sollte, daß er stolpert und die Stehlampe dabei umreißt usf. Man kann sich dann zwar über ihn ärgern, ihn aber für das, was er angerichtet hat, nicht verantwortlich machen - er genießt dadurch eine gewisse Narrenfreiheit, und man hat ihm gegenüber vielleicht
sogar ein gewisses wohlwollend-mitleidiges Überlegenheitsgefühl - so fein gesteuert können seine Rachehaltungen an der Umgebung verlaufen, die ursprünglich die Schuld daran trug, daß er »lauter Daumen« erwarb, und nicht selten ergibt sich dann noch ein weiterer Gewinn für ihn: man nimmt ihm alles ab, weil er es ja doch falsch tun würde, und so kann er sich um viel Lästiges drücken. Am Rande sei noch erwähnt, daß das immerwährende sich Zusammennehmenmüssen und die überwertige Selbstkontrolle auch einen Ansatz abgeben kann für hypochondrische Selbstbeobachtung; diese kann nun wieder als Aggressionsäquivalent benutzt werden, indem man die Umwelt mit seinen hypochondrischen Ängsten und Symptomen quält und auf diese Weise alle heiteren Stimmungen zerstört. Dann kann der wirklich oder vermeintlich nicht richtig funktionierende Stuhlgang etwa eine Familienkatastrophe werden usf. Als Aggressionsäquivalent bei zwanghaften Menschen können wir noch zwei Verhaltensweisen beschreiben, in denen sich - wiederum ihnen selbst nicht bewußt und daher ohne Schuldgefühle erlebt - ihre unterdrückten Aggressionen und Affekte durchsetzen: das Trödeln, die Umständlichkeit, die Unentschlossenheit, womit sie ihre Umwelt erheblich quälen und belasten können eine sehr feine, versteckte Form der Aggression. Hierher gehören die Frauen, die vor jedem Konzert- oder Theaterbesuch mit ihrer Toilette nicht fertig werden und den Partner zur Weißglut bringen können; oder die Männer, die für die Erklärung des einfachsten Tatbestandes, sozusagen bei Adam und Eva anfangen, wie in folgendem Beispiel eines zwanghaften Patienten, der mir erklären wollte, warum er sich heute um »fast zwei Minuten« (!) verspätet hatte: »Ich habe mein Büro pünktlich wie immer um 18.15 Uhr verlassen; ich bin in meinem gewöhnlichen Schritt zur Omnibushaltestelle gegangen; der Bus kam knapp 3 Minuten zu spät, holte aber dann etwa 1 Minute auf. Ich kam dann mit dieser Verspätung an der Haltestelle an, wo ich aussteigen muß, um zu Ihnen zu kommen; ich wollte davon noch etwas aufholen durch schnelleres Gehen, wurde aber von einer Frau aufgehalten, die mich nach einer bestimmten Straße fragte, und der ich natürlich Auskunft geben mußte - es war nicht ganz leicht, ihr den Weg zu beschreiben - die letzten Meter zu Ihnen bin ich dann im Dauerlauf gerannt.« Das hätte er - wenn die zwei Minuten Verspätung überhaupt erwähnenswert gewesen wären - in dem Satz zusammenfassen können: »Entschuldigen Sie, daß ich mich etwas verspätet habe.« Er war auch einer der Patienten, die mit der Minute genau zu ihrer Stunde auf die Klingel
drücken -sie demonstrieren damit eine Neutralität, die unangreifbar ist: weder kommen sie zu früh, was man als aufdringlich verstehen könnte oder als ein Zeichen, daß sie vielleicht gern kommen, es nicht erwarten können; noch zu spät, was ihnen als Unhöflichkeit oder böswillige Absicht ausgelegt werden könnte. Eine Variante hiervon ist das Zurückhalten, das nicht Hergeben, soweit es nicht durch vernünftige Überlegungen begründet ist. Zwanghafte Menschen benutzen es ebenfalls als Aggressionsventil, als gleichsam indirekte Aggression. Der Ehemann, der prinzipiell sich um jeden noch so kleinen Betrag bitten läßt; das trotzige oder tödliche Schweigen, an dem der andere abprallt, sind Beispiele dafür. Man wird dann nicht offen aggressiv, so daß einem nichts vorgeworfen werden kann, und kann damit doch den anderen viel mehr treffen und verletzen. Man könnte allgemein sagen, daß der Zwanghafte mehr zu den Unterlassungs- als zu den Begehungssünden neigt - Unterlassungssünden sind schwerer nachzuweisen. Gleichsam das Gegenstück dazu wäre die Aufdringlichkeit, die Distanzlosigkeit, die sich auch in der vom Volksmund so benannten »Rederitis« äußern kann, dem pausenlosen Reden, mit dem man jemanden mit Beschlag belegt, indem man »ohne Punkt und Komma« spricht. Und schließlich ist noch das Nörgeln zu erwähnen, das eine typische Aggressionsform Zwanghafter ist. Sind Straf- und Gewissensangst und die Schuldgefühle im Zusammenhang mit seinen aggressiven Impulsen für den zwanghaften Menschen zu stark, so daß ihm auch die oben beschriebenen Möglichkeiten und Aggressionsäquivalente nicht mehr zur Verfügung stehen, kommt es auch bei ihm zur Somatisierung. Herz- und Kreislaufstörungen, Blutdruckschwankungen (vor allem Hochdruck, nicht selten der Vorläufer von Schlaganfällen), Kopfschmerzen bis zur Migräne, Schlafstörungen und Darmaffektionen (Koliken u. a.) können die Folgen bzw. der Ausdruck zu lang unterdrückter Affekte und Aggressionen in der Körpersprache sein. In ihnen spielt sich der für sie unlösbare Konflikt ab zwischen aggressiv sein wollen und nicht dürfen, zwischen zwingenwollender Macht und nicht gewagtem nachgebenden Mit-sich-Geschehenlassen. Es kann aber auch durch den Stau der Affekte und den damit wachsenden Innendruck zu Durchbrüchen des Unterdrückten kommen bis zum Amoklaufen, zu Jähzornsausbrüchen und einem wahllosen Vernichtungswillen. In seinem Roman »Malte Laurids Brigge« hat Rilke einen solchen motorischen Durchbruch faszinierend beschrieben. - Ein Beispiel noch für die Somatisierung von Affekten und Aggressionen:
Ein sehr korrekter und selbstbeherrschter Mann in hoher und verantwortlicher Position hatte seine mitmenschlichen Beziehungen so versachlicht und neutralisiert, daß in ihnen kaum noch etwas Emotionales enthalten war, vor allem keinerlei Affekthaftes. Er hatte sich dahin gebracht, weder Trauer noch Freude, weder Zorn noch Ungeduld jemals zu zeigen - er war durch nichts mehr zu erschüttern oder zu reizen in diesem Stoizismus, und er war stolz darauf, sich so in der Hand zu haben, seelisch unanfechtbar und immer überlegen zu sein. Aber er hatte doch eine verwundbare Stelle: In Situationen, in denen er eigentlich hätte ärgerlich, ja heftig werden wollen, es aber aus Prestigegründen und wegen seines Leitbildes von sich selbst nicht zuließ, bekam er immer häufiger deutlich wahrnehmbare Pulsbeschleunigungen und Herzschmerzen - seine Panzerung war offensichtlich nicht völlig geglückt. Als diese Symptome sich in einer Berufskrise, in der er viele Angriffe und Rivalitäten auszuhalten hatte, verschlimmerten, stellte der konsultierte Arzt einen drohenden Herzinfarkt fest, wenn er sich nicht mehr entspannen und entlasten würde - wobei, wie so oft, die berufliche Belastung gar nicht das Ausschlaggebende war, sondern seine ungemeine, unnatürliche Selbstbeherrschung und »Haltung«, die ihm kein Ventil offenließ für seine Affekte. Von Bismarck wissen wir, daß er aus Affektstau zu Weinkrämpfen neigte und in Teppiche biß. Es kann oft eine Tragik darin liegen, daß Menschen mit starken Affekten in Ämtern stehen, wo sie glauben, sich Affekte nicht leisten zu dürfen, wegen ihres Images oder wegen eines selbstauferlegten Leitbildes. Ich will noch eine Aggressionsabwehr erwähnen, die vor allem für den Zwanghaften charakteristisch ist: Er kann sich vor seinen Aggressionen dadurch schützen, daß er die Person, der sie gelten, idealisiert und dadurch unangreifbar macht - nach der Kindheit finden wir das vor allem in Schüler-Meister-Beziehungen wieder letztlich bleibt man aber so immer noch ein Stück Sohn oder Tochter; das gilt auch für den religiösen Bereich. Der lebensgeschichtliche Hintergrund Wir wollen uns nun wieder fragen, welche konstitutionellen Faktoren und welche Umwelteinflüsse die Entwicklung zwanghafter Persönlichkeitsstrukturen begünstigen. Konstitutionell scheint eine besonders lebhafte motorisch-aggressive, sexuelle und allgemein expansive Veranlagung dabei eine Rolle zu spielen, auch anlagemäßig betont eigenwillige, eigenständige Charaktere. Anla-
gen also, mit denen ein Kind durchschnittlich leichter und öfter »aneckt«, von den Eltern als unbequem empfunden und daher in seinem Verhalten häufiger gebremst, gedrosselt wird, als ein vergleichsweise stilleres, »braveres« Kind. Aber auch anlagemäßige Sanftheit und Anpassungsbereitschaft mit der Neigung zur Nachgiebigkeit und Fügsamkeit kann eine Rolle spielen, weil sich das Kind dann selbst zu wenig spontane Reaktionen erlaubt und sich mehr anpaßt, als ihm bekommt. Ferner scheint eine angeborene Neigung zum Nach-denken, zu gründlich-grüblerischer Genauigkeit, sowie ein stärkeres gefühlsmäßiges Haften an der Vergangenheit in Betracht zu kommen, wodurch sich alle Eindrücke tiefer einprägen und länger anhalten. Wieder müssen wir es offen lassen und können es nicht entscheiden, ob und wieweit solche Merkmale Anlage oder bereits wieder Reaktion auf Umwelteinflüsse und Erziehung sind, wieweit also solche Verhaltensweisen mehr Folge als Ursache sind. Diese Frage wird sich nie befriedigend lösen lassen - man müßte dafür ein und dasselbe Kind in verschiedenen Milieus aufwachsen lassen können. Sicher ist, daß es den Faktor Anlage gibt, den man bei vorwiegendem Interesse für die Umweltforschung zu leicht vernachlässigt, wie man früher bei vorwiegend auf die Erbfaktoren gerichteter Aufmerksamkeit die Umwelt unterschätzte. Wie sehen aber nun die Umwelteinflüsse aus, durch welche das Bedürfnis nach Sicherung und Dauer einerseits, die Angst vor der Vergänglichkeit und Veränderung andererseits überwertig werden? Um das zu verstehen, müssen wir auf die Entwicklungsphase näher eingehen, die auf die beiden früher beschriebenen folgt. Es ist die Zeit um das 2. bis 4. Lebensjahr, wo das Kind erstmals mit Geboten und Verboten seiner Umwelt zusammenstößt. Damit fällt es aus der kurzen Paradieszeit der »unschuldigen« frühesten Kindheit heraus, in der noch nichts von ihm verlangt und gefordert wurde, in der noch nichts verboten war, alle seine Bedürfnisse befriedigt wurden ohne eigenes Bemühen. Es kommt nun zum ersten Mal in die Lage, mit seiner Umwelt in Konflikt zu geraten, in den Konflikt zwischen seinen eigenen Wünschen und Impulsen, seinem Willen, und dem Willen und den Forderungen seiner Erzieher. Es hat nun schon ein Alter erreicht, in dem man etwas von ihm fordern kann; es hat aber auch schon so viel Ich, so viel Eigensein entwickelt, so viel an Bewegungsdrang und Ausdrucksvermögen, daß es nun seinerseits auf die Welt zugehen und mit ihr etwas anfangen will, während in den Vorphasen ihm noch alles gebracht werden mußte. Es kann seine Wünsche und Affekte mehr und mehr - auch sprachlich - ausdrücken; es erobert den
Raum und probiert seine Kräfte aus, versucht seinen Willen gegen Widerstände durchzusetzen. Nach der Zeit der völligen Abhängigkeit von der Mutter erlebt es nun eine Ablösungsphase mit wachsender Neigung zur Selbständigkeit - es ist die Zeit, in der es erstmals »Ich« sagt, als Ausdruck für die erkannte, erlebte Unterscheidung von der Mutter, von jener Symbiose mit ihr, in der Ich und Du noch nicht unterschieden waren für sein Erleben. Mit der gleichzeitig immer mehr erworbenen Fähigkeit, mit seinem Körper umzugehen, richtet sich seine Motorik, seine Angriffslust, seine Expansionslust und sein Eigenwillen, immer mehr auf seine Umwelt. Es lernt dadurch sowohl den Widerstand der »Materie« im Zusammenprall mit ihr kennen, als auch die Reaktionen der Umwelt auf sein Verhalten. Daran erfährt es sowohl sein Können, seine Macht, als auch deren Grenzen. Hieran erwirbt es unter anderem, aber sehr wesentlich für diese Entwicklungsphase, erstmals die Orientierung an Erlaubtem und Unerlaubtem, den Vorformen der Kategorien von gut und böse. Jedes Kind muß seine individuelle Lösung finden zwischen seinem Eigenwillen und dem Gehorchen müssen, zwischen sich Durchsetzen und sich Anpassen. Immer hängt das Resultat dieses Lösungsversuchs ab von seiner Anlage und von seiner Umwelt, mit der sie zusammentrifft. Die ersten wichtigen und bestimmte Verhaltensweise bereits tief einspurenden Möglichkeiten für Erlebnisse seines Eigenwillens oder aber des Gehorchenmüssens bietet die Sauberkeitserziehung. Hier kann bereits der Grund gelegt werden sowohl für eine gesunde Selbstbestimmung des Kindes, als auch für Trotzhaltungen oder aber für nachgiebige Gefügigkeit, je nachdem, wie das Kind bei der Sauberkeitserziehung behandelt wird: ob man ihm Zeit läßt, diesen Schritt allmählich zu vollziehen; ob man seinen Trotz konstelliert durch zu forcierte Dressur, oder ob man schließlich seinen Eigenwillen ganz früh bricht durch Erzwingen und Strafen. Aber mit den vorbeschriebenen, dem Kind immer mehr zuwachsenden Fähigkeiten, und durch sein Bedürfnis, etwas mit der Welt anfangen, etwas mit den Dingen tun zu wollen, entstehen immer mehr Situationen, in denen es mit der Welt zusammenstossen kann, stört, und sich durch die Reaktionen der Umwelt als »böse«, »unartig« erlebt. In dieser Zeit etwa des 2. bis 4. Lebensjahres wird im ersten Ansatz das Schicksal seiner expansiv-motorischen und aggressiven Triebe, sowie die Ausformung seines Eigenwillens entschieden; seine hier erlernten Verarbeitungsweisen werden zu Verhaltensmodellen für seine Persönlichkeitsentfaltung.
Es ist nun von entscheidender Wichtigkeit, wann und wie diese ersten Gebote und Verbote an das Kind herangetragen werden. Mit dem Erleben der ersten Ansätze von Gut-oder-böse-Sein wird ja erst ein »Sündenfall« möglich. Nun heißt es erstmals »du sollst« oder »du darfst nicht« oder »du darfst jetzt nicht« usf., und das Kind erfährt sich im Gehorchen als gut, im Trotzen als böse beurteilt. Wird es zu früh oder zu spät mit diesen Forderungen konfrontiert; handhabt man sie zu starr und zu prinzipiell, oder zu lasch und zu inkonsequent; werden Trotz und Ungehorsam im ersten Ansatz gebrochen, oder durch liebevolle Führung in freiwillige Leistung übergeleitet - all das ergibt jene frühen Prägungen, die hier vor allem das Umgehen mit seinem Eigenwillen und mit seiner Spontaneität als weitestem Überbegriff der betroffenen Impulse grundlegend vorformt. So entsteht hier die tiefste Grundlage dafür, ob ein Mensch später ein gesundes Selbstbewußtsein, gesunden Eigenwillen und Zivilcourage besitzt, oder ob er Autoritäten gegenüber sich trotzig auflehnt, oder gefügig anpaßt, und damit bereits die Ansätze zu einer später zwanghaften Persönlichkeitsstruktur erwirbt. So werden durch die Erfahrungen der ersten Zusammenstöße seines Wollens mit dem Sollen und Müssen, dem Dürfen und nicht Dürfen, in dem Kind die Weichen gestellt für die Freiheit oder Unfreiheit seiner Willensimpulse, für die Strenge oder Milde seines moralischen Gewissens, seines »Über-Ichs«, wie die Psychoanalyse diese in der Kindheit erworbene Instanz, den umweltbedingten Anteil des übergreifenden Gewissens, nennt, sowie für den Grad seiner unbefangenen Spontaneität oder aber Gehemmtheit durch überwertige Selbstkontrolle. Es nimmt die Reaktionen der Umwelt auf sein Verhalten jetzt auch wieder nach innen, aber nun als einen Richter, der in ihm die ursprünglich von außen gesetzten Gebote und Verbote vertritt, so das Gelernte und Eingespurte fortsetzend. Bei den später zwanghaften Persönlichkeiten finden wir in ihrer Lebensgeschichte mit großer Regelmäßigkeit, daß in ihrer Kindheit altersmäßig zu früh und zu starr die lebendigen, aggressiven, affektiven, die gestalten und verändern wollenden Impulse, ja oft jede Spontaneität, jede Äußerung gesunden Eigenwillens gedrosselt, gehemmt, bestraft oder unterdrückt wurden. Und das in der Entwicklungsphase, in der die Entfaltung dieser altersgemäß fälligen und neu hinzuzulernenden Fähigkeiten und Verhaltensweisen notwendig ist, die zu größerer Eigenständigkeit und Unabhängigkeit führen sollen. Wie wir überall im Bereich des Lebendigen sehen können - man denke etwa an die Forschungsresultate der
Verhaltensforschung - haben Ersteindrücke und Ersterfahrungen besonders dann eine prägende Wirkung, wenn sie sich auf neu zu Lernendes, auf fällige Entwicklungsschritte beziehen; dann vor allem bekommen sie so leicht eine schicksalhafte Bedeutung und prägen kategoriale Verhaltensweisen auf dem Gebiet des neu zu Lernenden im Erstansatz. Es beginnt etwa damit, daß alles in der Umgebung des Kindes immer nur in einer ganz bestimmten Weise geschehen und getan werden darf, daß es Abweichungen von dieser Norm als gefährlich oder als sein Bösesein erlebt. Die Reaktionen der Umwelt auf sein »Fehlverhalten«: Tadel, Warnungen, Drohungen, Liebesentzug und Strafen, assoziieren, verbinden sich in ihm hinfort mit seinen der Umwelt offenbar unerwünschten Impulsen. Es macht etwa die Erfahrung, daß die Mutter es vorwurfsvoll und tadelnd ansieht oder straft, wenn es laut ist, etwas umwirft oder kaputt macht. Es wird durch solche, sich wiederholende Erfahrungen zumindest vorsichtiger, zögernder, kontrollierter, vielleicht auch schon verunsichert und gehemmt werden; bei schweren Ängsten wird sich mit dem Aufkommen eines Impulses in der gefährlichen Richtung allmählich ein Reflex einfahren, der ihn sofort abbremst oder unterdrückt. Hier kann man den eingangs erwähnten Zusammenhang zwischen Umwelt und konstitutionell Entgegenkommendem bei der Entwicklung zwanghafter Persönlichkeitsstrukturen besser verstehen: lebhafte, impulsive, motorisch-vitale, aggressiv-expansive Kinder werden naturgemäß öfter gerügt, gebremst und strenger gezügelt als stille Kinder; bleibt es nicht beim Rügen, kommt es zu Androhungen des Liebesentzuges oder zu Strafen, werden die Folgen entsprechend schwerer sein. Altersgemäße Überforderungen können darin liegen, daß das Kind zu früh sauber sein soll, »anständig« bei Tisch sitzen und essen soll, nichts kaputtmachen, keinen - auch keinen berechtigten - Affekt äußern darf. Eins der groteskesten Beispiele dafür: In einer Familie mußten die Kinder eine Münze in die Achselhöhle pressen, damit sie sich beim Essen nicht zu breit machten und »gute Manieren« lernten ~ die Münzen durften nicht herunterfallen. Ein gut funktionierendes, dressiertes Kind ist natürlich für die Eltern bequemer und für die weitere Umwelt ein Vorführkind, an dem sich die Erziehungsmethoden der Eltern stolz aufweisen lassen, mit dem man sich nicht zu schämen braucht. Nimmt man noch die in Großstädten leider fast zur Regel gewordenen Wohnungsverhältnisse an, die für Kinder zum Gefängnis werden, wenn sie keinen angemessenen Auslauf haben, weiß das Kind buchstäblich
nicht, wohin mit seinen Vitalbedürfnissen. Wenn es so viel zu früh lernt, auf sich aufzupassen, sich »zusammenzunehmen«, geht das nicht nur mehr und mehr auf Kosten seiner natürlichen Unbefangenheit und Spontaneität, sondern auch die Strafangst und die Schuldgefühlsbereitschaft werden überwertig gesetzt. Geschwistergeburten in diesen Jahren pflegen schwer verarbeitet zu werden, weil die Kain-Abel-Problematik in diesem Alter am schroffsten konstelliert wird, wo das Kind schon seinen Eigenwillen und seine Aggressivität entwickelt hat und das nachfolgende Geschwister bewußt als Rivalen empfindet. Wenn die Eltern dafür kein Verständnis haben und ihm die Situation nicht erleichtern, kann es zu schwer belastenden Situationen für das Kind kommen, das dann wegen seiner feindseligen Gefühle und Aggressionen gegen das Geschwister mit Schuldgefühlen reagieren muß, die schon früh eine zwanghafte Absicherung erzwingen. Das einzige Kind einer Mutter, die durch Migräneanfälle besonders störbar und empfindlich war, mußte stets, wenn es vom Spielen im Garten oder auf der Straße heraufkam, die Schuhe vor der Wohnungstür ausziehen, um keinen Lärm und keinen Schmutz zu machen. Wenn es in der Wohnung spielte, den Impuls hatte, der Mutter etwas zu zeigen, in ihr Zimmer lief und dabei die Teppichfransen dort in Unordnung brachte, war nur letzteres wichtig: es wurde seufzend getadelt, daß es nie aufpassen könne; die Mutter holte einen Kamm und kämmte die Teppichfransen wieder peinlich »akkurat« (was ein Lieblingswort von ihr war), und das eigentliche Anliegen des Kindes fiel völlig unter den Tisch. Oder das Kind mußte immer wieder hören: »Stör mich doch nicht gerade jetzt; du siehst doch, daß ich Kopfschmerzen habe; daß ich lese; beschäfigt bin; keine Zeit habe«. Man kann sich wohl selbst ausmalen, wie solche Erfahrungen, auf lange Zeit ausgedehnt, sich auswirken müssen. Aber das kann noch viel früher beginnen; aus dem Tagebuch einer Mutter über ihr erstes Kind (das oft solchen Maßnahmen am stärksten ausgesetzt ist, weil man alles so richtig machen will und soviel darüber gelesen hat); die Notizen beziehen sich auf das erste Lebensjahr des Kindes: »Ich habe schon im dritten Monat begonnen, dich an das Töpfchen zu gewöhnen - du solltest so bald wie möglich sauber sein. Du warst ein unruhiges und lebhaftes Kind; wenn du beim Füttern nicht still hieltest, mußte ich dir ordentlich was hinten drauf geben, bis du es gelernt hattest, still zu halten später genügte es meist schon, wenn ich dich drohend ansah, daß du brav warst. So habe ich von ganz früh an darauf gesehen, daß du deinen Trotz nicht durchsetzen konntest, wie ich es in einem Buch
gelesen hatte: man soll den Trotz im ersten Ansatz brechen. So habe ich auch, wenn du brülltest, wenn ich aus dem Zimmer ging, dir ein paar Kräftige hinten drauf gegeben; du brülltest dann erst noch mehr, aber ich habe dich allein gelassen, bis du dich müde geschrien hattest - es war zu deutlich, daß du mich nur ärgern wolltest. Du warst dann auch lieb; später hat es keinen solchen Machtkampf mehr gegeben und die Leute wunderten sich, daß du ein so gehorsames Kind warst und schon mit Blicken regiert werden konntest. Manchmal mußte ich mich selbst überwinden, so hart zu sein - aber ich sah ja, daß es so am besten für dich war und dachte, du würdest später schon verstehen, daß ich nur das Beste für dich wollte und daß ich aus Liebe so streng zu dir war. Vater war ja in diesen Jahren im Krieg, und ich hatte allein die ganze Verantwortung für dich; wenn er zurückkam, sollte er doch ein wohlerzogenes Kind vorfinden«. Das genügt wohl, um zu zeigen, daß ein solches Kind es von ganz früh an lernen muß, seine Impulse sofort abzubremsen, abzudrosseln, um nicht abgewiesen zu werden oder zu stören. Das schleift sich mit der Zeit so ein und wird ihm zur »zweiten Natur«, zu Reflexen, die sich schließlich automatisieren. Man schiebt dann später zwischen jeden Impuls und seine Ausführung ein An-sichHalten, gleichsam einen Hiatus, eine Unterbrechung, weil man erst überlegen muß, ob man es riskieren kann, dem Impuls nachzugeben, oder ob man besser darauf verzichtet. Das führt immer mehr dazu, daß durch die Unterbrechung und das Nachdenken der Impuls schon so abgeschwächt wird, daß er sich nicht mehr durchsetzt; oder er bleibt gleichsam im Zweifel stecken, ob man darf oder nicht darf; dieses Zweifeln kann so ausgedehnt werden, daß es sich verselbständigt zu einem zwanghaften Zweifeln-müssen, das sich bei jedem als gefährlich erscheinenden Impuls einstellt, ihn gleichsam annulliert. Man kann hiernach verstehen, daß bei zwanghaften Persönlichkeiten der Zweifel in allen möglichen Variationen eine große Rolle spielt. Er ist ein Schutz vor gefährlicher Spontaneität, vor dem Sich-zu-etwas-hinreißen-Lassen, was man bereuen müßte. So kann sich das Zweifeln mehr und mehr verabsolutieren, zum Selbstzweck und damit zum Ersatz für lebendiges Tun werden. Alle diese Zweifel lassen sich biographisch letztlich auf den Urzweifel zurückführen: Darf ich ich selbst sein und tun was ich will, oder muß ich gehorchen und auf meine Impulse verzichten - muß ich also »gut« oder darf ich »böse« sein, bzw. ist das, was ich tun möchte, gut oder böse? Dieses Zweifeln bewirkt bei zwanghaften Menschen auch die für sie charakteristische Neigung zum Zau-
dem, Zögern, zur Unentschlossenheit und zum Aufschieben, Hinausschieben. Sie geraten gleichsam immer wieder in die Lage von Buridans Esel, der zwischen zwei Heubündeln verhungert, weil er sich nicht entscheiden kann, mit welchem er anfangen soll; nur daß es beim Zwanghaften der Mut zur Tat und die Angst vor Strafe ist, zwischen denen er sich nicht entscheiden kann. So ist bei ihnen die Entscheidung durch den Konflikt erschwert zwischen der ursprünglichen Neigung, und der andressierten Angst, dieser Neigung zu folgen. Schematisch kann man sagen, daß die Stärke ihrer Zwänge davon abhängt, wie das Verhältnis von Triebimpuls und Strafangst in ihrer Kindheit ausgefallen ist. Das zweifelnde Zögern und Zaudern, das quälende Sich-nichtentscheiden-Können wird noch verständlicher, wenn man weiß, daß für diese Menschen einmal gefaßte Entschlüsse und Entscheidungen etwas Endgültiges haben, etwas Unwiderrufliches; sie müssen »absolut« richtig sein, denn sonst müssen sie ja mit einer Strafe rechnen. Dadurch können für sie auch schon belanglose Entscheidungen zum Problem werden - sie müssen ja immer die richtige Lösung finden, sonst setzt Angst ein. Je zwanghafter man ist, umsomehr nehmen solche Zwangszweifel den Platz sinnvollen Tuns ein; sie können sich bis zur Zweifelsucht steigern und sich reflexhaft so einfahren, daß schon jeder Gedanke mit dem Gegengedanken beantwortet werden muß. Wenn sich die Aufeinanderfolge von Impuls und Gegenimpuls immer rascher vollzieht, kommt es schließlich dazu, daß sie fast gleichzeitig auftreten: erst ist die Pause, der Hiatus zwischen Impuls und Gegenimpuls, noch länger; dann wird sie immer kürzer, gleichsam zu einem ganz schnell aufeinanderfolgenden ja-nein-janein, das, ins Körperliche übertragen, zum Zittern oder Stottern führen kann, je nachdem, ob es sich um das Etwas-tun-Wollen und nicht Dürfen, oder um das Etwas-aussprechen-WoIlen und nicht Dürfen handelt. Schließlich können beide entgegengesetzten Impulse praktisch zeitlich zusammenfallen und sich völlig paralysieren in totaler Blockierung und katatoner Starre: wenn man gleichzeitig sprechen und nicht sprechen, zuschlagen und sich zurückhalten will, muß das zu völliger Lähmung führen. Am Ende dieser Linie werden Reize und Impulse gar nicht mehr wahrgenommen, sie treten nicht mehr ins Bewußtsein, weil die Abwehr so reflexhaft eintritt, daß sie den Impuls schon im Entstehen abwürgt. Der zwanghafte Mensch hat also in seiner Kindheit zu früh die Erfahrung gemacht, daß in der Welt vieles nur in einer ganz bestimmten Weise getan werden darf, und daß vieles verboten war, was er gern getan hätte. So entstand in ihm auch die Vorstellung,
daß es offenbar immer so etwas wie das absolut Richtige geben müsse, woraus sich sein Hang zum Perfektionismus entwickelt. Diesen Perfektionismus erhebt er zum Prinzip; er möchte allem Lebendigen Bedingungen stellen, wie es seiner Meinung nach sein sollte, »weil« - wie Morgenstern seinen Palmström sagen läßt »nicht sein kann was nicht sein darf«. Aber auch ein Kind, das in einem chaotischen Milieu aufwächst, kann zwanghafte Züge entwickeln, hier aber reaktiv und kompensatorisch: Es findet in seiner Umwelt keine Orientierungsmöglichkeit, keinen Halt, erlebt eine Freiheit, die es ängstigt, weil darin alle Möglichkeiten der Willkür enthalten sind. Es sucht dann nach einem inneren Halt, weil es draußen keinen findet. Es wird versuchen, aus sich heraus Ordnungen und feste Grundsätze zu entwikkeln, an die es sich halten kann und die ihm Sicherheit geben. Diese nehmen dann zwanghafte Formen an, weil sie durch seine Umgebung immer wieder gefährdet werden, daher um so mehr an ihnen festgehalten werden muß. Beispiele für zwanghafte Erlebnisweisen Den Ansatz zur Bildung von Zwangssymptomen auf der Basis einer schon bestehenden, aber noch unauffälligen zwanghaften Persönlichkeitsstruktur kann uns folgendes Beispiel zeigen: Ein junger Mann, um einiges zu wohl erzogen nach gut bürgerlichen Prinzipien, bringt seine Tanzstundendame nach dem Schlußball nach Hause. Das Mädchen gefällt ihm sehr, und auf dem Heimweg kommen in ihm Wünsche auf, sie in den Arm zu nehmen und zu küssen. Er erschrickt so vor der Kühnheit seiner Phantasie, hat zugleich soviel Angst, sich ungeschickt zu benehmen und von ihr abgewiesen zu werden, daß er beginnt, die Bäume an der Straße zu zählen. Das lenkt ihn von seinen gefährlichen Impulsen ab auf etwas Neutrales. Einmal so vorgebahnt, fuhr es sich bei ihm ein, daß er in Situationen, in denen er Angst- oder Schuldgefühle wegen seiner Triebwünsche bekam, zwanghaft etwas zu zählen begann, was sich gerade anbot. So rettete er sich aus für ihn gewagten Situationen vor Entscheidungen und aktivem Handeln in diesen Zählzwang, der solange anhielt, bis die Versuchung vorüber war. Er durchschaute den Zusammenhang nicht, war nur betroffen von diesem ihm unverständlichen Zwang, der sich ihm aufdrängte und den er als lästig empfand. Hier kann man Anlaß, Entstehen, Sich-Einfahren und die Funktion eines Zwangssymptomes gut erkennen: Der Anlaß ist eine
Versuchungssituation, die mit Angst besetzt ist; um sich nicht entscheiden zu müssen, ob er verzichten solle oder zugreifen dürfe, schiebt er eine neutrale Tätigkeit zur Ablenkung ein, die ihn vor dem Handeln bewahrt, bis die Gefahr vorüber ist. Bei diesem jungen Mann hatte das bereits eine Vorgeschichte: Seine Mutter war früh verwitwet und hatte selbst deutlich zwanghafte Züge. Nach dem Tode ihres Mannes war sie bemüht, alles in der Wohnung so zu lassen, wie es zu seinen Lebzeiten gewesen war, was so weit ging, daß zu den Mahlzeiten das Gedeck des Vaters immer mit aufgelegt wurde. Sein Schreibtisch und seine Bücher wurden von ihr peinlich so gehalten, wie er es getan hatte, mit der Begründung: Wenn der Vater wiederkäme, solle er alles so vorfinden, wie er es verlassen hatte. So hatte die Atmosphäre zu Hause etwas Museales, durchdrungen von einer geheiligten Tradition, die sich auch auf jemals geäußerte Ansichten und Aussprüche des Vaters ausdehnte, die als unumstößliche Wahrheiten dargestellt wurden. Dadurch blieb der Vater für den Sohn unerreichbar - er schien fehlerlos und vollkommen gewesen zu sein; aber zugleich wurde damit auch seine Beziehung zur Frau erschwert: Er bekam durch die Mutter den Eindruck, daß Frauen offenbar etwas ungemein Feines und Zartes seien, daß die Männer mit ihnen verglichen, ungehobelte Kerle seien, die mit Frauen nicht umzugehen verstanden, wobei wieder nur der Vater eine Ausnahme gewesen war: Er hatte die Mutter jahrelang umworben, ohne je zudringlich zu werden, er war immer voller Rücksicht gewesen und hatte sie »auf Händen getragen«. So hätte er offenbar auch sein müssen, um Frauen zu gefallen, hätte das unerreichbare mütterliche Idealbild eines Mannes erfüllen sollen. Hätte sein Zwangssymtpom nicht mehr ausgereicht als Schutz gegen seine Impulse, hätte er stärkere Sicherungen aufrichten müssen. Dann wäre etwa schon beim Gedanken an Sexuelles die Abwehr durch die Schutzmaßnahme aufgetreten. Oder er hätte in kritischen Situationen eine »Bewußtseinsstörung« bekommen können, eine plötzliche kurzfristige Absenz, die ein wirkungsvolleres Aussteigen aus der gefährlichen Situation bedeutet hätte; er hätte vielleicht auch eine plötzliche Müdigkeit verspürt, kurz, es gibt verschiedene Möglichkeiten, auf zwanghafte Weise vor Versuchssituationen auszuweichen, Konflikte zu vermeiden. Herr B. litt an einer Wochenendneurose. Sobald der Samstag herankam, fühlte er unbestimmte und unerklärliche Ängste und schuldgefühlhafte Stimmungen, Unlust mit körperlichen Symptomen wie Müdigkeit, Kopfschmerzen und Zerschlagenheit, was sich bis zu Erschöpfungszuständen steigern konnte. Diese Befindlichkeit
hielt den Sonntag über an und klang erst gegen Montag nachmittag ab, mit ihm rätselhafter Regelmäßigkeit. Nach längerer psychotherapeutischer Arbeit ergab sich folgender Hintergrund seiner Beschwerden: Die Eltern von Herrn B. führten eine ausgesprochen schlechte Ehe. Am dramatischsten waren mit ziemlicher Regelmäßigkeit die Wochenenden, an denen sie sich gründlich zusammen zu betrinken pflegten. Dabei kam es zu lauten Szenen, Krächen und Handgreiflichkeiten zwischen ihnen, die der Junge und seine kleine Schwester mit großer Angst und widerstreitenden Gefühlen erlebten. Sie fürchteten, der jähzornige Vater könne der Mutter etwas antun, sie womöglich umbringen, was er im Rausch öfter drohend ausgesprochen hatte. Zu der Angst gesellten sich Haßgefühle, vor allem gegen den Vater, die noch dadurch verstärkt wurden, daß dieser in angetrunkenem Zustand den Sohn oft bloßstellte, lieblos kritisierte, dann in plötzlichem Umschwung in Sentimentalität ihn aufforderte, ihm einen Kuß zu geben, was das Kind aus Angst, aber mit Abscheu tat. Wenn die Kinder am Sonntagabend schlafen gegangen waren, hörten sie oft noch heftige Auseinandersetzungen zwischen den Eltern, gegenseitige Anklagen, Scheidungsandrohungen usf. Am Montagmorgen war der Vater schon früh zur Arbeit gegangen; die Mutter schlief ihren Rausch aus, und die Kinder mußten sich das Frühstück selbst machen, so daß sie, wenn sie danach zur Schule gingen, beide Eltern noch nicht wieder gesehen hatten. In der Schule fühlte sich Herr B. am Montag morgen noch schlecht; einerseits verfolgten ihn Ängste - er hatte ja die Eltern seit Sonntagabend vor dem Schlafengehen nicht mehr gesehen - was konnte in dieser Zwischenzeit zu Hause alles passiert sein, ob er beim Heimkommen noch alles beim alten vorfinden würde, oder ob die Mutter vielleicht, wie sie öfter angedroht hatte, inzwischen davongelaufen war? Zugleich hatte er ein tiefes Schamgefühl und Trauer darüber, daß in seiner Familie solche Dinge vorkamen, daß er nicht, wie die Kameraden, von einem schön verbrachten Wochenende erzählen konnte. Er versuchte daher, sich solchen Gesprächen zu entziehen, um nicht gefragt zu werden, was sein ganzes Elend geoffenbart hätte. Das verstärkte begreiflicherweise wieder seinen Haß gegen die Eltern. Seine Gefühlslage wurde noch dadurch kompliziert, daß er mit beiden zugleich auch Mitleid empfand, spürte er doch, wie sie sich gegenseitig quälten und selbst unglücklich waren. Kam er am Montag gegen Nachmittag nach Hause und fand alles beruhigt, keine Katastrophe vor, klangen seine Ängste wieder ab, er war erleichtert und hoffte, daß nun alles wieder gut sei - bis zum nächsten Wochenende, dem er schon mit Angst entgegensah. Er
konnte also nie an den Wochenenden unbeschwert sein und sich auf die Freizeit freuen; das Geschehen zwischen den Eltern überschattete nicht nur alles, sondern er hatte sogar die Vorstellung, daß es vielleicht diesmal nicht so schlimm würde, wenn er nur recht brav sei, auf eigene Wünsche verzichtete, gleichsam als Opfer und Gegenzauber. Das hatte sich mit den Jahren bei ihm so eingefahren, daß er die Wochenenden weiterhin mit den alten, nun gar nicht mehr wirklichkeitsgerechten Ängsten und Schuldgefühlen erlebte, und den »Gegenzauber« durch Verzichte ausübte, als ob er immer noch Schlimmes und Drohendes verhüten müsse, das jederzeit geschehen konnte. So war er weiterhin froh, wenn das Wochenende vorüber war und er wieder seiner Arbeit nachgehen konnte, natürlich auch, weil er mit Freiheit und Freizeit nichts anzufangen wußte. Hätte er als Junge seinen Impulsen nachgegeben, hätte er dem Vater einmal gründlich die Meinung gesagt, ihm seine Bitterkeit und seinen Haß ins Gesicht geschleudert, vielleicht den Impuls zu Schlimmerem gehabt. Aber wie hätte er als Kind diesen Konflikt lösen können? Der Vater hätte ihn seiner Vorstellung nach halb tot geschlagen, sicher hätte es die Situation zu Hause nur verschlimmert; die Mutter hätte vielleicht seine Partei ergriffen, damit aber den Zorn des Vaters nur mehr auf sich gelenkt usf. Allen diesen komplexen und komplizierten Problemen wurde seine Neurose gerecht: sie schützte ihn vor gefährlichen Handlungen, hatte die Funktion eines magischen Gegenzaubers und war Reue, Buße, Opfer und Selbstbestrafung in einem. Da die Affekte von Haß, Bitterkeit und Enttäuschung, da auch seine Sehnsucht, seine Trauer, die Scham- und die Schuldgefühle nie geäußert werden konnten, gaben sie erst durch ihre Unterdrückung die Basis für die späteren Zwangssymptome ab. Hätte er sich mit den Eltern auseinandersetzen, ihnen oder jemandem anderen sagen können, was alles in ihm vorging, wie er litt und zerrissen war von widerstrebenden Gefühlen, hätte er eine Ausdrucksmöglichkeit gefunden, und es wäre nicht zur Symptombildung gekommen. Es gibt Milieus, die ebenfalls zwanghafte Entwicklungen der Kinder begünstigen, in denen zum Einfluß der Persönlichkeiten der Eltern noch deren soziale Rollen und Prestigeforderungen hinzukommen, z.B. in Militärkreisen, bei Lehrern und Geistlichen oder sonstigen Berufen der Väter, die stark auf äußere Wirkung und Prestige ausgerichtet sind und quasi zwanghafte Verhaltensweisen erfordern. So war bei den Militärs - vor allem bei den alten preußischen - das Sich-Zusammennehmen, das Sich-am-RiemenReißen und das Sich-nicht-Gehenlassen eine männliche Berufs-
ideologie; »Haltung« wurde schon durch die hohen steifen Uniformkragen der Offiziere unterstützt. Ein hoher Offizier hatte zwei Söhne: Er war sehr ehrgeizig für sie; sie sollten seine sehr bestimmten Erwartungen erfüllen. Die Erziehung war preußisch im angedeuteten Sinn; Gefühlsäußerungen, gar Weinen, waren verpönt (»ein deutscher Junge weint nicht«). Alles mußte zu Hause wie am Schnürchen verlaufen, die Familie mußte funktionieren wie gut gedrillte Rekruten auf dem Kasernenhof. Zum Schlafengehen mußten sich die Söhne in strammer Haltung »zum Zubettgehen abmelden«, der ältere genau um eine Stunde später als der ein Jahr jüngere, als ob er einen höheren Dienstgrad hätte mit mehr Freiheiten. Der Jüngere, ein eher musisches und gemüthaftes Kind, erschien dem Vater schon deshalb als weichlich; »du bist überhaupt kein richtiger Junge«, bekam er zu hören, wenn er Zärtlichkeitsbedürfnisse zeigte oder ihm die Tränen kamen, weil er bei den väterlichen Abhärtungsmethoden im Winter blaugefrorene Hände bekam, die ganz gemein weh taten - Handschuhe waren unmännlich; Abhärtung wurde auf allen möglichen Gebieten groß geschrieben. Der Vater wollte den Sohn auf eine der damals berühmten Führerschulen schicken, in denen der nationalsozialistische Nachwuchs erzogen wurde. Natürlich wurde der Sohn gar nicht gefragt - Kinder haben zu parieren und Väter wissen genau, was für sie gut ist. Mit 15 oder 16 Jahren kam er auf eine solche Schule mit ihrem militärischen Drill, und war todunglücklich, machte dort auch keine gute Figur. Nicht lange darauf geriet er bei einem Appell, wo er bei einer Meldung scharf angefahren wurde, ins Stottern, das sich bald so verschlimmerte, daß er für die Schule nicht mehr in Frage kam, die ja in jeder Hinsicht eine Auslese heranzüchten sollte. So machte er dem Vater mit seinem Symptom einen Strich durch die Rechnung, ohne dafür verantwortlich zu sein. Zugleich war es der einzige Ausweg, die einzige Lösung, der auch der Vater sich beugen mußte; eine bewußte Auflehnung gegen ihn wäre undenkbar gewesen und hätte mit Sicherheit zu noch strengeren Maßnahmen geführt - aber an so etwas überhaupt zu denken, wäre ihm gar nicht in den Sinn gekommen. Das Unbewußte fand im Symptom das Mittel, zu erreichen, was erreicht werden sollte; die verhaßte Schule loszuwerden, keine Schuld daran zu haben, keinen offenen Widerstand gegen den Vater zu leisten, und gleichzeitig seine Rache an ihm zu befriedigen, da er dem Symptom gegenüber machtlos war; im Leidensdruck - denn das Stottern war ja auch etwas Quälendes und Peinliches lag auch noch eine unbewußte Selbstbestrafung für seine Auflehnung.
So notwendig die gesunde Begrenzung und eine erlebte überzeugende Autorität der Eltern für das Kind ist, so gefährlich ist eine autoritäre Erziehung, die unbedingten Gehorsam fordert, ohne daß das Kind nach dem Warum und dem Sinn der Verbote fragen darf. Der Kadavergehorsam als äußerste Form solcher »Erziehung« schafft den Massenmenschen, der in früh anerzogenem blinden Gehorsam zu allem fähig ist, was ihm befohlen wird. Die antiautoritäre Erziehung - schon als »anti« sollte uns skeptisch machen, denn eine »nichtautoritäre« Erziehung wäre völlig ausreichend - fällt in das andere Extrem einer freigegebenen Willkür, die für Freiheit zu halten gefährlich ist. In schweren Fällen kann eine Trotzhaltung das ganze Leben durchziehen. Man ist dann immer in der Auflehnung gegen wirklichen oder vermeintlichen Zwang, kann schon ganz natürliche Ordnungen als Zwang empfinden und gegen sie anlaufen. Das sind die schwierigen Menschen, die ihr Selbstgefühl aus ihrem Eigensinn beziehen, prinzipiell »nein« zu allem sagen, querulatorisch an allem etwas auszusetzen haben, und so auf neurotische Weise das nachholen, was sie als Kind nicht durften. In den Familien, in denen die »persona«, wie Jung sie nennt, die Rolle, die man in der Welt spielt oder glaubt spielen zu müssen, sehr wichtig genommen wird, kommt es besonders häufig vor, daß die Kinder unter dem Zwang stehen, als vorbildlich erzogen gelten zu müssen. Diese Haltung, die die Eltern aus »Standesgründen« einnehmen »müssen«, und die die Welt auch von ihnen erwartet, verpflichtet die Kinder zu Musterkindern, die unter Beweis zu stellen haben, daß sie wohlerzogen sind, sich durch gute Leistung und Benehmen von anderen abheben und den Eltern »keine Schande« machen dürfen. Erschwert wird das bei Lehrern noch, wenn das Kind etwa Schüler in der Schule des Vaters ist. Durch die Kinder aus solchen Milieus muß gleichsam immer die Persönlichkeit des Vaters oder der Rang der Familie hindurchschimmern - es wäre undenkbar, wenn sie versagten oder die Familie sonstwie blamierten. Das kann bei ihnen zur Basis zwanghafter Entwicklungen werden - wenn sie nicht stark genug sind, sich in die Rebellion zu retten und »aus der Art zu schlagen«, wie es dann zu heißen pflegt. Das ist an sich gesünder, wird ihnen aber nicht verziehen; von den Eltern nicht, denn für diese ist es nun der Beweis, für den »schlechten Charakter« des Kindes, nicht für ihre falsche Erziehung; aber auch die weitere Umwelt - vor allem in Dörfern und Kleinstädten, wo jeder jeden kennt - verzeiht es ihnen nicht; die »Nachbarn« verbergen dann hinter der moralischen Entrüstung ihre Schadenfreude.
Solcher Berufspersona, dem gesellschaftlichen, standesgemäßen oder sozialen Prestige, werden viele Kinder geopfert; es gehört offenbar menschliche Größe dazu, das Wohl der Kinder über den sozialen Ehrgeiz zu stellen. Damit kommen wir noch auf etwas für zwanghafte Menschen Charakteristisches: Um sich abzusichern, machen sie sich zu abhängig von der öffentlichen Meinung, von dem, was »die Leute« sagen, was »man« sagt und tut, nicht sagt und nicht tut, von der jeweiligen Konvention. Sie spiegeln damit auch ihre Erziehung wider, in der es immer nur hieß, »das tut man nicht« usf., ohne dem Kind vernünftige Erklärungen über das Warum zu geben. Wenn solche Gebote und Verbote gefordert werden, ohne dem Kind verständliche Begründungen zu geben, wird es wenig bereit sein, sie zu erfüllen. Im heute ausklingenden Patriarchat war es üblich, daß die Eltern immer recht hatten und ihre Autorität nicht angezweifelt werden durfte. Schon im Paradiesmythos wird dem ersten Menschenpaar ein Baum verboten ohne Begründung, was natürlich, so wie der Mensch ist, gerade seine Neugier herausfordert und so den Sündenfall konstelliert. Vielleicht ist an den Beispielen deutlich geworden, wie vielseitig und kompliziert die Hintergründe zwanghafter Persönlichkeitsentwicklungen aussehen können, was hier nur sehr verkürzt und gleichsam im Zeitraffer dargestellt werden konnte. Denn jedes Leben spielt sich ja auf einem ungemein vielschichtigen Hintergrund ab, und man müßte ein Dichter sein, um all das zu erfassen und darstellen zu können, was schließlich den Menschen ergibt, der wir sind. Eine schwer Zwangskranke Mitte der 30 brauchte zum An- oder Ausziehen bis zu 1,5 Stunden, zum Baden 2 Stunden. Als sie in die Behandlung kam, wusch sie sich täglich bis zu 6 Stunden; sexuelle Beziehungen zu ihrem Mann hatte sie völlig aufgegeben. Ihre Kinder durften sie nicht mehr anfassen, sie lag fast den ganzen Tag im Bett und durfte selbst fast nichts mehr berühren, ohne die Angst, unrein oder schwanger zu werden. Sie mußte gefüttert werden, weil alles, was sie anfaßte, durch sie unrein wurde, so daß sie als »Metastasen« eine zwanghafte Berührungsangst entwickelte, die so weit ging, daß sie sogar die Vorstellung hatte, unrein zu werden, wenn sie »Unreines« nur ansah - etwa eine Türklinke, die viele Leute angefaßt hatten usf. Wie dem sagenhaften König Midas alles zu Gold wurde, was er anfaßte, wurde ihr alles unrein, was sie berührte. In der Vorbesprechung saß sie mit angezogenen Beinen und fest
um die Knie gefalteten Hände so starr da, daß am Ende der Stunde ihre Extremitäten eingeschlafen waren und sie sich kaum noch bewegen konnte. Wenn sie in das Behandlungszimmer kam, sagte sie sich minutenlang flüsternd vor: »Ich bin nicht schmutzig« und konnte sich erst dann mir zuwenden. Kam sie mit einem Gegenstand in Berührung, mußte sie, außer dem Waschen, sich auch immer jenen Satz vorsagen, wie einen magischen Gegenzauber. Diese Frau, die schon ein Grenzfall zur Psychose war, stammte aus einem puritanischen Milieu einer Kleinstadt in den Südstaaten der USA. Die Mutter war streng und moralisch überfordernd, der Vater weich, leicht kränkbar und lebensängstlich. Am Hochzeitstag der Tochter fühlte er sich so unwohl, daß er sich ins Bett legen mußte und an der Feier nicht teilnehmen konnte. Sie wurde ganz in Rücksicht auf die Eltern erzogen, durfte ihnen keinen Kummer machen, und die Eltern waren stolz darauf, daß sie und ihr Bruder als die besterzogenen Kinder der Kleinstadt galten. Sie sollten in jeder Hinsicht vorbildlich sein; Rauchen, Trinken, Tanzen, Kartenspielen war verboten; bis zu ihrer Ehe (30jährig) ging sie in die Sonntagsschule, wo die Geschlechter streng getrennt saßen. Die Eltern waren »so gütig«, nie gab es Schläge oder harte Worte - »We killed each other with kindness« sagte sie einmal sehr charakteristisch. Mit9 Monaten war sie sauber. Als sie 14 Jahre alt war, führte ein Mann, der im Kino neben ihr saß, ihre Hand an sein Glied; sie ließ es erst geschehen, lief aber dann davon, hatte schwere Schuldgefühle, sprach aber mit niemandem darüber, löjährig passierte es ihr beim Petting im Auto, daß etwas Samen auf ihre Hand und ihren Mantel kam - das wurde der Beginn ihres Waschzwanges, der zunächst nur so aussah, daß sie sich häufiger und gründlicher als sonst wusch. Sie kam sich sündhaft vor, hatte - unaufgeklärt wie sie war - eine irrationale Angst, schwanger geworden zu sein, und entwickelte Schwangerschaftssymptome, bekam Erbrechen und die Periode blieb aus. Sie sprach indessen auch darüber mit niemand wie hätte sie die Eltern so enttäuschen können, daß ihr so etwas passiert war! In der Behandlung kam u. a. heraus, daß der um 3 Jahre jüngere Bruder der ausgesprochene Liebling der Mutter gewesen war; er galt in der Familie als genial, für sie unerreichbar; sie selbst meinte höchstens durchschnittlich zu sein, konnte aber vielleicht durch immer mehr Bemühung um Perfektion doch auch liebenswert werden. Auf dieser Linie war natürlich jedes »Böse-Sein« unmöglich; sie unterdrückte ihre Eifersucht, ihren Neid und ihren Haß auf den vorgezogenen Bruder, indem sie ihn und die Eltern idealisierte. Ihre Berührungsangst zwang sie dazu, Türen auch zu Hause nur noch
aufzumachen, indem sie die Klinke mit dem Ellenbogen niederdrückte. Das wurde zwar bemerkt, aber übersehen »aus Rücksicht« und Takt - es könnte ihr ja peinlich sein, darüber zu sprechen. So fand sie außen keine Hilfe, und ihre Zwangssymptome verstärkten sich immer mehr. Übrigens hatte sie - wie das zu sein pflegt - vor Ausbruch der eigentlichen Zwangskrankheit schon früher Ansätze zu Zwangssymptomen gezeigt: 7-8jährig konnte sie nicht in die Schule gehen, bevor ihre Halbstrümpfe nicht genau gleich hoch an jedem Bein waren - ein Alarmsignal, das aber niemand verstand. Schlimmer wäre es noch gewesen, wie es gar nicht selten der Fall ist, wenn man sie wegen ihrer Symptome bestraft oder verlacht hätte; dann hätte sie noch schwerere, geheimere Schutzmaßnahmen entwickeln müssen; hier war man nur zu »taktvoll«, darüber zu sprechen; was aber natürlich auch hieß, daß sie alleingelassen wurde mit ihren Problemen. Als ich nach einiger Zeit andeutete, daß sie wohl doch ihre Familie idealisiert habe, denn in einer so »heilen« Umgebung wie sie meinte sie gehabt zu haben, hätte sie ihre Symptome nicht zu entwickeln brauchen, und es schiene mir, als ob sie die Affekte und Aggressionen, die sie sich nie habe zugestehen, geschweige denn äußern dürfen, gegen sich selbst gewandt habe, blickte sie mich voll Haß an und beteuerte, daß ihre Eltern »nur gütig« gewesen seien. Jedoch lautete im Widerspruch dazu ihr Initialtraum: »Ich sehe das Grab meiner Mutter mit einem Datum, das ich vergessen habe« (die Mutter lebte noch). Die Eltern wissen noch heute nichts von ihrer Krankheit: »Wenn ich ihnen schreiben sollte, daß ich voreheliche Beziehungen hatte, würde ich sie so kränken, daß sie es nicht überleben würden; lieber bleibe ich krank.« So konnte sie daheim auch zu keinem Arzt gehen, weil sie dann über Sexualität und ihre vorehelichen Beziehungen hätte sprechen müssen; sie dachte daher, sie müsse mit ihren Zwängen weiterleben. Die auslösende Situation in ihrer Ehe, die zur Verschlimmerung der Symptomatik geführt hatte, war gewesen, daß ihr Mann, ein vitaler und sinnenfreudiger Mensch, größere sexuelle Ansprüche an sie stellte - für sie war Sexualität nur freigegeben für den einzig erlaubten Zweck der Kinderzeugung.
Ergänzende Betrachtungen In gewissem Sinne kann man sagen, daß Gewohnheiten schon Ansätze zu Zwängen sind. Bestimmte Zeremonielle in der Reihenfolge des Aufstehens, sich Waschens und Ankleidens oder andere »liebe Gewohnheiten«, die sich eingefahren haben, geben uns eine gewisse Befriedigung und es verstimmt uns leicht, wenn wir sie nicht wie gewohnt ausüben können. Aber diese Gewohnheiten werden nicht als quälend empfunden, nicht als Zwang; sie sind weitgehend durch zeit- und kräftesparende Ökonomie entstanden, und wir können sie ändern, wenn wir wollten, wenn es uns zweckmäßig erschiene. Solche Zeremonielle reichen in großer Breite in unser soziales, gesellschaftliches und religiöses Leben hinein. Es gehört eben auch zu unserem Dasein, daß wir uns Ordnungen und Verhaltensregeln schaffen, die wir gleichmäßig einhalten. Erst wenn man nicht mehr anders kann, als bestimmte Dinge nur in bestimmter Form zu tun, auch wenn es sinnlos ist, können wir von Zwängen sprechen. Wir haben gesehen, daß zu starre Erziehungsmethoden, zu autoritäre und prinzipielle Haltungen der Eltern und Erzieher zum Auslöser zwanghafter Entwicklungen werden können, vor allem, wenn sie zu früh an das Kind herangetragen werden. Das Vermeidenmüssen aller unerwünschten Verhaltensweisen von früh an bahnt den Weg zum Perfektionismus, zur Unduldsamkeit gegen sich und andere, in der Steigerung zu diktatorischen und dogmatischen Zügen. Dieser Perfektionismus läßt sich beim zwanghaften Menschen immer irgendwo aufzeigen, und er kann zu lebensfernen und lebensfeindlichen Haltungen führen. Er möchte dem Leben immer vorschreiben, wie es sein sollte. Aber im Maße, wie er das Leben zwingen will - ursprünglich das Lebendige in sich selbst zwingen mußte - wird ihm dies Bemühen selbst zum Zwang. Denn nur die immer wache Kontrolle über das »Chaos« und dessen Festlegen in Regeln und Gesetze kann die Garantie geben, daß nichts geschieht, was nicht geschehen darf. Schon ein etwas schief hängendes Bild kann ungemein irritieren - nicht nur aus ästhetischen Gründen, sondern weil dadurch die Ordnung, das Gesetz, wie Bilder zu hängen haben, gestört wird. Alle noch so geringen Abweichungen von der »Norm« erinnern an mögliche Gefahren, etwa in dem Sinne: wenn schon Bilder anfangen schief zu hängen, wer weiß, was dann sonst noch alles in Unordnung geraten und sich meiner Kontrolle entziehen kann. So gesehen werden manche Verhaltensweisen zwanghafter Menschen verständlicher: ihre große Störbarkeit und Empfindlichkeit, mit der sie auf Kleinigkeiten
reagieren - für sie kann eben bereits eine Kleinigkeit der »Anfang vom Ende« sein, eine kleine Unregelmäßigkeit und ein kurzes Nachlassen der Aufmerksamkeit kann zum Durchbruch des Unterdrückten führen, zum letzten Schneepartikelchen werden, das die Lawine des Verdrängten unaufhaltbar ins Rollen bringt. Die Geologen haben einen paradoxen Satz geprägt, der das Gemeinte verdeutlichen kann: da man beim Befreien von Versteinerungen leicht zu viel des Guten tut, und beim Abschlagen des umgebenden Gesteins das Fossil verletzen kann, geben sie den Rat, man solle nie »den letzten Schlag tun«. Das gerade fällt dem zwanghaften Menschen schwer; sein Perfektionismus drängt ihn immer wieder zu äußerster Präzision. So richtig und notwendig das auf Gebieten ist, wo Präzision die Grundbedingung ist, etwa für das Funktionieren einer Maschine, für die Stabilität und Solidität eines Baues usf., so einengend kann sie sich auswirken im Bereich des Lebendigen, auch des lebendigen, lebensnahen Denkens. Nur zwanghaften Geistern konnte der Gedanke kommen, ernsthaft darüber nachzugrübeln, wieviele Engel auf der Spitze einer Nadel Platz haben; zwanghaftes Denken verrennt sich leicht in sterile Bahnen und kann zur hemmenden Schranke für freie Schöpferkraft werden. Das Sich-absichern-Müssen gegen mögliche Fehler und Irrtümer nimmt bei ihnen überwertige Formen an und kann auch dazu führen, daß man nie mit Korrekturen und Verbesserungen fertig wird, weil die Perfektion noch immer nicht erreicht ist. Immer sind daher zwanghafte Menschen in der Gefahr, an sich richtige Erkenntnisse und Einsichten ad absurdum zu führen, indem sie sie zur absoluten, simplifizierenden Immer-Gültigkeit erheben wollen. Aber vielleicht erfüllen sie damit, aus weiterer Sicht gesehen, ein Gesetz des Lebens: indem durch ihre festgelegten und festlegen-wollenden Meinungen eine Gegenbewegung ausgelöst wird, die lebendiger und wirklichkeitsnäher das Behauptete korrigiert, wieder relativiert, und damit den Anstoß zu Weiterentwicklungen gibt, aus der Sterilität herausführt. Zwanghaftes »quod dixi, dixi« - »was ich gesagt habe, habe ich ein für alle Male«
gesagt, ließe keine lebendige Entwicklung mehr zu. Für zwanghafte Einstellung könnte der Satz eines Experimentalpsychologen über die Seele als charakteristisch zitiert werden: »Wir wissen zwar nicht genau, was wir messen - aber was wir messen, messen wir genau.«
Im Alltag kann die Linie vom Noch-einmal-nachsehen-Müssen, ob der Gashahn wirklich zugedreht, die Wohnungstür wirklich verschlossen wurde beim Weggehen, zu immer schwereren und zeitraubenderen Zwängen führen, die dann gleichsam ihr Eigenle-
ben führen. Sie werden auch meist von dem Betreffenden wie ein ich-fremdes Geschehen erlebt, das ihm aufgezwungen wird: er kann nicht anders. Versucht er doch, einen solchen Zwang nicht auszuführen, treten unbestimmte Ängste und Gefühle der Beunruhigung auf. Charakteristisch pflegt noch zu sein, daß man vor sich und anderen seine Zwänge rationalisiert, sie als vernünftig zu begründen sucht, wohl weil man das Unnatürliche des Nicht-anders-Könnens spürt und nicht zugeben will. Wenn jemand auf einer fremden Toilette den Sitzring mit Toilettenpapier auslegt, beim Verlassen die Türklinke mit dem Ellenbogen niederdrückt und das mit der Infektionsgefahr begründet, ist das schon reichlich übertrieben; aber das kann steh zu einer Infektionsangst ausweiten, die überall Bakterien wittert, und den Lebensraum immer mehr einschränkt. Die Hilfe kann nur liegen im Bewußtmachen der eigentlichen Hintergründe der Zwänge und im Zulassen und Integrieren der gefürchteten und deshalb gemiedenen, lebendigen Impulse. Meistens handelt es sich bei diesen um aggressive, affektive und sexuelle Impulse. Ich hatte schon angedeutet, daß man dadurch, daß man das Verpönte dauernd abwehrt, sich indirekt dauernd mit ihm beschäftigen kann. Das wirft auch ein Licht auf die Menschen, die fanatisch gegen etwas ankämpfen: Der Keuschheitsfanatiker spürt überall Sexuelles auf, und im Kampf für die Keuschheit ist er nun fortwährend mit dem »schmutzigen Sexuellen« beschäftigt - aber aus »moralischen Motiven« - wie es überhaupt zum zwanghaften Menschen gehört, daß er mehr gegen das Böse als für das Gute kämpft. Ein Patient mit zwanghafter Persönlichkeitsstruktur konnte stundenlang vor einem Wasserfall sitzen, fasziniert von dem, was er selbst nicht vermochte: sich fallen zu lassen, sich zu verströmen, ohne die Angst, daß plötzlich nichts mehr nachkommt, daß etwas zu Ende geht. Man kann verstehen, daß die sichernden Haltungen gegen die Vergänglichkeit sich bei zwanghaften Persönlichkeiten vor allem auf den Umgang mit der Zeit und dem Geld erstrecken. Hier spüren wir die Vergänglichkeit und zugleich die Möglichkeit am stärksten, die Illusion der Dauer und Sicherheit in unserer Macht zu haben: wie ich mit meiner Zeit und mit meinem Geld umgehe, hängt nur von meinem Willen ab. In seinem Roman »Das Fräulein« hat Ivo Andric eine zwanghafte Persönlichkeit mit aller ausweglosen Tragik ausgezeichnet dargestellt. Schon ans Makabre grenzend im Nichtanerkennenwollen der Vergänglichkeit und des Todes ist der Brauch amerikanischer Beerdigungsinstitute, Tote so lebenswirklich herzurichten, daß sie
noch zu leben scheinen. Das wird noch übertroffen von geschäftstüchtigen Unternehmern, die Tote für teures Geld einfrieren eines Tages wird die Wissenschaft soweit sein, sie wieder aufzutauen und zum Leben zu erwecken. Aber - unsterblich sind nur, die vom Tod nichts wissen, und das Einbeziehen des Todes, auch des eigenen, gehört zum Menschen und macht ihn recht eigentlich erst menschlich. Wir wollen nun wieder die Verhaltensweisen zwanghafter Persönlichkeiten den wesentlichen Gebieten des Lebens gegenüber anzudeuten versuchen. In der Religion neigen sie zum Dogmatismus und zur Orthodoxie, mit der dazugehörenden Intoleranz gegen Andersgläubige. Die Gottesvorstellung hat bei ihnen oft den Aspekt des strengen und rächenden Vatergottes, der alle patriarchalischen Eigenschaften aufweist, unbedingten Glauben und Gehorsam fordert. Sie unterliegen jedoch auch häufig abergläubischen und magischen Vorstellungen. Sie sind empfänglich für Riten und Zeremoniells, deren Einhalten ihnen wichtiger werden kann als der eigentliche Glaube. Die Idee der käuflichen Absolution und der Ablaßbriefe konnte wohl nur zwanghaften Gehirnen entsprießen. Gebetsmühlen und Rosenkränze werden ihnen, wenn sie nicht der Konzentration und Verinnerlichung dienen, leicht zum schablonenhaften Erfüllen einer Vorschrift. In seiner Erzählung »Der Gaukler Pamphalon« hat Nicolaus Ljesskow eine solche perfektionistisch-zwanghafte Frömmigkeit eindrucksvoll beschrieben, und ihr in dem Gaukler eine schlichte Menschlichkeit gegenübergestellt. Überall halten zwanghafte Menschen an Institutionen, Regeln und Prinzipien fest, und lassen sie im buchstäblichen Erfüllen mechanisch und sinnlos werden; je mehr sie ihnen unbewußt einen Angstschutz bedeuten, um so unduldsamer werden sie, wenn an ihnen gerüttelt wird - denn das bedroht ihren Angstschutz. Aber gerade wegen der angestrebten Absolutheit ist ihr Glaube immer in Gefahr, von Zweifeln angegriffen zu werden, weil sie sich keine Fragen und keine Zweifel gestatten; deshalb kann man bei ihnen wohl die schwersten Glaubenskämpfe finden und das immer neue Bemühen, die Zweifel zu unterdrücken oder zu widerlegen. Wie bei allen Verdrängungen kann das Unterdrückte plötzlich einmal durchbrechen, hier in der Form blasphemischer Gedanken. Soweit die Kirchen aus Machtpolitik die Religion dazu mißbrauchen, die Gläubigen in Angst- und Schuldgefühlen zu halten, werden sie zwanghafte Züge in ihnen heranzüchten, wovon viele ecclesiogene Neurosen zeugen; heute wird ein Befreiungsversuch spürbar, ein sich Wehren gegen solche Entmündigung.
Bei zwanghaften Persönlichkeiten kommt es am ehesten zu Krisen, wenn ihre starr festgehaltenen Prinzipien, Meinungen, Theorien usf. mit neuen Entwicklungen zusammenstoßen, mit neuen Erkenntnissen und Fortschritten, die ihre bisherige Orientierung bedrohen und sie zum Aufgeben ihres Systems zwingen; oder wenn ihre Sicherheit und ihr Besitz bedroht erscheinen. Als Eltern sind zwanghafte Persönlichkeiten verläßlich, konsequent und verantwortungsbewußt. Sie vertreten überzeugt Werte, und geben Halt und Führung. Mit zunehmender Zwangsstruktur werden diese Haltungen immer starrer und absoluter. »Solange ich lebe wird nichts geändert«; »wir haben das in unserer Kindheit auch nicht gedurft«; »wenn das noch einmal vorkommt, ist es aus zwischen uns« usf. wären typische Beispiele. Sie beachten das Alter und die Eigenstruktur des Kindes zu wenig, lassen ihm zu wenig Spiel-Raum in jedem Sinne, und haben zu unelastische Vorstellungen davon, wie es zu sein hat; überall gilt für sie der Grundsatz: »Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht.« Sie sind oft der »Basta«Typ, bei dem ein »nein« nein ist und bleibt, weil man es einmal gesagt hat, ohne Widerrede oder Begründung, was den blinden Gehorsam des Kindes fordert, es entmündigt. Sie geben dem Kind das Gefühl, daß Fehler schwer wiedergutzumachen sind, sind oft nachtragend, so daß schon kleine »Vergehen« einen überwertigen Stellenwert bekommen und die Angst vor Schuld und Strafe, die Gewissensangst, unnötig verstärkt wird, auch durch lange Unversöhnlichkeit und schwer zu erlangende Verzeihung. Sie setzen dem Kind meist zu früh Grenzen, immer in der Angst, ein Lockerlassen könnte es sich gefährlich entwickeln lassen. Sie haben zu wenig Vertrauen in natürliche Entwicklungen, weil sie sie selbst nicht erlebt hatten. Altersentsprechendes ausprobierendes Tun des Kindes wird als Ausdruck gefährlicher Charakterzüge angesehen, und das Kind wird überfordert, indem es zu früh zu viel und zu perfekt können soll - etwa sinnlose Pünktlichkeit um ihrer selbst willen, pedantische Ordentlichkeit; »es muß alles essen, was auf den Tisch kommt«; auch die ihm vorgelegte Menge, die es nicht selbst bestimmen durfte, muß in jedem Fall aufgegessen werden usf. Zeigt es altersentsprechende Trotzhaltungen, sehen sie darin schon den späteren Rebellen, den man ihm rechtzeitig austreiben muß. Durch das überfordernde Alles-zu-früh-schon-können-SolIen wird das Kind verunsichert und bekommt Minderwertigkeitsgefühle; sein Geliebtwerden ist immer nur von der Leistung abhängig. So kann man Strebertypen oder Versager aus Angst und Überfordertwerden heranziehen. Die Erziehung drosselt die expansiven und aggressiven, vor allem die sexuellen Impul-
se des Kindes. Wenn es mit seiner Motorik noch nicht umgehen kann und versehentlich etwas umwirft usf., wird es gemaßregelt, als ob das Geschehene nicht nur der Wirkung, sondern auch der Absicht nach zerstörerisch gewesen sei. Das kann sich zu einer Unsicherheit im Vertrautsein mit dem eigenen Körper bis zur Linkischkeit auswirken, wie wir sahen. Zugleich werden so die vorübenden Versuche des Kindes für die später konstruktiven und gestalterischen Fähigkeiten schon im Keim erstickt. So züchten solche Eltern bestenfalls Spalierbäume statt frei sich entfalten könnende Bäume, sie dressieren mehr, als daß sie erziehen, und machen die Kinder zu Marionetten. Sie halten in der Erziehung viel von Strafen, und hier wirkt sich oft ihre sadistische Seite aus, in der Härte der Strafen, im Erzwingenwollen des Gehorsams, in Strafen, die das Kind die Macht der Eltern spüren lassen sollen und es oft erniedrigen. »In die Ecke stellen« war neben der Prügelstrafe eine beliebte Strafform in den Schulen und Familien noch zu Beginn unseres Jahrhunders. Auch das Abbitte-Ieisten-Müssen {»ich will das nie wieder tun«) usf. gehört zu den Maßnahmen, die das Gefühl der persönlichen Würde im Kinde zerstören können, zugleich Unerfüllbares fordern. Selbst eingeengt und zwanghaft erzogen, fällt es diesen Eltern schwer, den Kindern eine Freiheit zuzugestehen, die sie selbst nicht gehabt haben, und so geben sie die Tradition, in der sie aufgewachsen sind, unverändert weiter, obwohl sie selbst darunter gelitten hatten. Zwanghafte Eltern geraten deshalb auch am heftigsten in Konflikte mit der jungen Generation, der sie ihr Generationsgesetz schwer einräumen können. Sie vertreten weiter die »bewährten« Erziehungsmethoden und merken nicht, daß sich die Welt inzwischen ein Stück weitergedreht hat, und daß die Jugend in eine veränderte Welt hineinwachsen muß. So kommt es bei ihnen oft zu den schroffsten Auseinandersetzungen zwischen alt und jung; sie meinen ihre Macht und Überlegenheit weiter zeigen zu müssen, und können schwer eigene Fehler zugeben, als ob sie sich damit etwas vergäben. Sie meinen absolute Autorität sein und den Jugendlichen den Eindruck der Unfehlbarkeit geben zu müssen. Die Träume zwanghafter Menschen zeichnen sich oft durch besondere Magerkeit und Farblosigkeit aus. Sie träumen im allgemeinen seltener, d. h. sie behalten ihre Träume schwerer im Gedächtnis als andere, wie sie ja überhaupt nur schwer Zugang zu den tiefen unbewußten Seelenschichten finden. Sie haben eher Mißtrauen in die Träume, die sie lieber als Schäume bezeichnen, als sie ernst zu nehmen. Ihre Träume benutzen gern technisch-
mechanische Bilder für lebendige Vorgänge, als Ausdruck ihres Entferntseins vom Leiblich-Natürlichen; Themen der Peinlichkeit und anale Themen sind häufig, die oft den Hinweis auf die Entstehung ihrer Zwänge im Zusammenhang mit der Sauberkeitserziehung aufzeigen. Die gehemmte Aggression kommt in den Träumen in elementaren Durchbrüchen zum Ausdruck (Vulkanausbrüche, Erdbeben, Staudammbrüche u.a.). Auch die Thematik von Impuls und Gegenimpuls, von begangener Tat, die dann im gleichen Traum wieder aufgehoben wird, ist häufig. Menschen mit zwanghaften Strukturanteilen neigen neben den schon erwähnten Berufen, die mit Macht verbunden sind, strukturspezifisch zu Berufen, in denen es auf Genauigkeit, Solidität, Präzision, Sorgfalt, Verantwortung und Übersicht ankommt, die Ausdauer, Gründlichkeit und Geduld mehr erfordern als Initiative, Elastizität und schöpferische Freiheit. Sie erwerben sich meist eine ausgezeichnete Sachkenntnis auf ihrem Fachgebiet, sind zuverlässig und gleichmäßig im Einsatz. Je nach dem Grad zwanghafter Züge können sie Höchstleistungen erreichen oder sich Tätigkeiten zuwenden, in denen ihnen genaue Vorschriften eigene Entscheidungen abnehmen; die Improvisation liegt ihnen nicht. So stellen sie sowohl den pflichtbewußten, verantwortlichen, wie den pedantischen Beamten; Handwerker, bei deren Handwerk es auf Präzision ankommt; exakte Naturwissenschaftler, Juristen, Chirurgen, Finanzbeamte und Bankiers, Pädagogen und Geistliche, Systematiker auf allen möglichen Gebieten. Die Grenze ist recht schmal, wo sich die positiven Eigenschaften dieser Persönlichkeitsstruktur mit den negativen berühren. Der Richter etwa kann sowohl der verantwortungsbewußte, um Objektivität bemühte Richter sein, als auch der unmenschliche Paragraphenmensch, für den Tat Tat ist und der nach Motiven und psychosozialen Hintergründen gar nicht fragt, weil sie sein System verunsichern würden, das nach dem Buchstaben verurteilt, ihm nicht nur Macht gibt, sondern ihm auch die eigene Entscheidung und vielleicht Skrupel erspart. Der Geistliche kann hier sowohl der vorbildliche Vater der Gemeinde sein, wie der unerbittliche Moralprediger, der mit dem Drohen von Höllenstrafen und mit dem Erwecken von Angst- und Schuldgefühlen eine ans Sadistische grenzende Macht sich anmaßt. Zwanghafte Menschen haben meist Interesse für alles Geschichtliche; die Geschichte als solche interessiert sie, auch die Geschichte der Kunst, der Medizin, der Philosophie usf.; was schon vergangen ist, kann nicht mehr vergehen, und so hat die Beschäftigung damit etwas Zeitloses. Archäologie, Altertumskun-
de und verwandte Gebiete ziehen sie besonders an; unter den Philologen sind sie die Altphilologen, unter den Historikern die Prähistoriker usf. Die Politik reizt den Zwanghaften aus Machtgesichtspunkten besonders; hier kann er seine Machtwünsche am legitimsten ausleben, und es hängt von seinem menschlichen Format ab, wie er damit umgeht. Allgemein gesehen neigt er mehr zum Konservatismus und dazu, der jeweiligen Partei oder dem vorhandenen Regime treu zu bleiben, nicht zuletzt aus der Einstellung, daß das Alte immerhin erprobt und bekannt ist. Alles Extremistische und Experimentieren lehnt er als seinem Wesen ungemäß ab. Verständlicherweise pflegen zwanghafte Züge sich im Alter eher zu verstärken, wo aus einem tiefen Lebensinstinkt heraus der Mensch überhaupt dazu neigt, festzuhalten, was er noch hat, und den Fluß der Zeit aufhalten möchte. So können bei ihm die früher geschilderten zwanghaften Haltungen gesteigerte Formen annehmen: er will seine Macht, seine Position um jeden Preis weiter festhalten, seinen Platz nicht aufgeben, auch wenn er, überaltert, nicht mehr voll dazu in der Lage ist, ihn auszufüllen, was bis zum Haß gegen alles Neue und Junge gehen kann. Altern wird ihm auch deshalb besonders schwer, weil er so ganz auf Leistung und Wollen eingestellt ist, und nun lernen muß, mit sich geschehen zu lassen, loszulassen. Er hält sich gern für unersetzlich; das Nachlassen der Kräfte führt bei ihm leicht zu hypochondrischen Zügen, zu ängstlicher Selbstbeobachtung und zum Gesundheitsfanatismus. Weil er nur das Nachlassen der Kräfte, der gewohnten Leistung beachtet, nimmt er die Chancen des Alterns nicht wahr, die im Freiwerden von Pflichten und im Mehr-mit-sich-geschehen-Lassen liegen. Bei stark zwanghaften Zügen kann der starre Eigenwille das Sterben besonders quälend werden lassen, da er jedes Nachgeben als Schwäche ansieht, so daß es hier oft zu den härtesten Todeskämpfen kommt. Manchmal erreichen diese Menschen aber gerade im Alter eine patriarchalische Größe und Ehrwürdigkeit und können zum Symbol der von ihnen vertretenen Werte werden. Ihnen ist der Tod dann eine Naturnotwendigkeit, gegen die sich zu sträuben keinen Sinn hat; er ist die letzte Realität, der man sich beugen muß und die man mit Haltung und Würde anzunehmen hat, wenn es soweit ist. Sie ordnen rechtzeitig ihre Angelegenheiten, machen ihr Testament beizeiten. Manche versuchen, durch testamentarische Bestimmungen noch über ihren Tod hinaus Macht auszuüben. Erreicht er nicht diese Reife, kann er den ganzen Lebenssinn nur noch darin sehen, um jeden Preis weiterzuleben, was zu
makabren Daseinsformen führt; die verdrängte Todesangst verschiebt sich dann darauf, daß man nichts wegwerfen kann, überflüssige Dinge um sich häuft und alles vermeidet, was an die Vergänglichkeit und das Ende erinnert. Versuchen wir wieder eine Linie zu skizzieren die vom gesunden Menschen mit zwanghaften Strukturanteilen über stärker Zwanghafte bis zu den eigentlichen Zwangskranken führt, lassen sich zwei Möglichkeiten erkennen: bei den anlagemäßig vitalstarken Persönlichkeiten führt die Linie von sachlichen, pflichttreuen, verläßlichen Menschen über zunehmende Nüchternheit zum ehrgeizigen Streber - zum unbelehrbar Eigensinnigen und Querulanten zum tyrannischen Machtmenschen, Despoten und Autokraten, bis zum Zwangskranken verschiedenen Grades; am Ende der Linie stände das Krankheitsbild der psychotischen Katatonie. Für die Vitalschwächeren sähe die Linie etwa so aus: unauffällig Angepaßte - vorwiegend sich sichernde Lebensängstliche - Zweifler und Zauderer - Pedanten und Nörgler - der Kriecher und »RadfahrerTyp« - asketische Hypochonder; am Ende stehen auch hier die Zwangskranken im engeren Sinne. Der gesunde Mensch mit zwanghaften Strukturanteilen ist ausgezeichnet durch Stabilität, Tragfähigkeit, Ausdauer und Pflichtgefühl. Er ist strebsam und fleißig, planvoll und zielstrebig; da er meist auf weite Ziele ausgerichtet ist, interessiert ihn mehr, was er erreichen will, als was er schon hat, weshalb er oft die Gegenwart zu wenig zu genießen versteht. Mit seiner Konsequenz, Tüchtigkeit und Zähigkeit, mit seinem Verantwortungsbewußtsein und seinem ausgeprägten Wirklichkeitssinn, kann er Großes erreichen. Solidität, Korrektheit, Zuverlässigkeit, Beständigkeit und Sauberkeit - auch im übertragenen sittlichen Sinn - gehören zu seinen Tugenden. Im Gefühl ist er eher zurückhaltend, aber dauerhaft in der Zuwendung, wie er überhaupt alles auf Dauer anlegt und sich nicht leicht vom einmal Geplanten ablenken läßt. Seine Grundgestimmtheit ist eher ernst; er steht zu seinen Meinungen, ist gewissenhaft und um Objektivität bemüht. In seinem Buch »Philipp II.« hat Reinhold Schneider einen Menschen großen Formates dieses Strukturkreises geschildert. Die Gefahr dieser Menschen liegt also immer darin, daß sie ihr Bedürfnis nach Dauer und Sicherheit zu einseitig betonen. Es ist daher für sie besonders wichtig, die damit gegebene Möglichkeit zum Erstarren zu erkennen. Sie sollten den Gegenimpuls der Bereitschaft zur lebendigen Wandlung mehr integrieren und das wagen, wogegen sie glauben sich sichern zu müssen: das Annehmen der Vergänglichkeit. Sie sollten es mehr lernen, nicht immer nur
zu wollen, sondern auch mit sich geschehen zu lassen. Im Rahmen des Volksganzen haben sie die wichtige Funktion, die Tradition zu erhalten, aufzubauen; sie sind in mancher Hinsicht die »Stützen der Gesellschaft«, wenn sie nicht durch Überhandnehmen ihrer sichernden oder machtgierigen Seiten zu entwicklungshemmenden Faktoren und dann durch lebendigere Gegenkräfte überwunden werden.
Die hysterischen Persönlichkeiten »Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. ..« (Hesse)
Der Zauber des Neuen, der Reiz, Unbekanntes kennenzulernen, die Freude am Wagnis - sie gehören ebenso zu unserem Wesen wie der Wunsch nach Dauer und Sicherheit. Das Abenteuer lockt uns; ferne Länder üben eine Anziehung auf uns aus; wir kennen sowohl das Heimweh wie das Fernweh, die Sehnsucht nach vertrauter Geborgenheit wie nach Eindrücken und Erlebnissen, die den uns gewohnten Rahmen sprengen, uns bereichern, neue Seiten in uns ansprechen und uns wandeln. Wir suchen neue Menschen; es drängt uns, alle Möglichkeiten unseres Wesens kennenzulernen und auszuschöpfen, in mitmenschlichen Begegnungen uns zu weiten, zu reifen und vollständiger zu werden. Damit kommen wir zur vierten und letzten Grundform der Angst, der Angst vor dem Endgültigen, Unausweichlichen, vor der Notwendigkeit und vor der Begrenztheit unseres Freiheitsdranges. Diese Angst ist das Spiegelbild der beim zwanghaften Menschen besprochenen Angst. Wenn der zwanghafte Mensch die Freiheit, die Wandlung und das Risiko scheute, geht es bei den nun zu schildernden hysterischen Persönlichkeiten um genau Gegensätzliches. Sie streben ausgesprochen nach Veränderung und Freiheit, bejahen alles Neue, sind risikofreudig; ihnen ist die Zukunft, die mit ihren Möglichkeiten offen vor ihnen liegt, die große Chance. Dementsprechend fürchten sie nun alle Einschränkungen, Traditionen und festlegenden Gesetzmäßigkeiten, die gerade die Werte für den zwanghaften Menschen waren. Wieder mit einem Sprichwort ausgedrückt: sie leben nach dem Motto »einmal ist keinmal« - das heißt, nichts ist letztlich verbindlich und verpflichtend, nichts hat Anspruch auf ewige Gültigkeit. Für sie soll alles relativ, lebendig und farbig bleiben - nur die Gegenwart, der Augenblick ist wichtig. »Carpe diem« - »nutze die Gelegenheit«, vielleicht kommt sie nie wieder. Vergangenheit ist vergangen und interessiert nicht mehr; die Zukunft ist das weite Feld der Möglichkeiten; aber sie wird nicht eigentlich geplant - das wäre schon wieder zu viel Festlegung - sondern wichtig ist nur, daß man immer offen für sie ist, bereit, sich vom Gegebenen zu lösen. Wie wird es nun aussehen, wenn man, in der Sprache unseres Gleichnisses, die zusammenziehende, konzentrierende Schwerkraft vernachlässigt, und überwiegend den Gegenimpuls der mit-
telpunktflüchtigen Fliehkraft zu leben versucht? Das würde bedeuten, daß man von Augenblick zu Augenblick lebt, nicht mit festen Plänen und klaren Zielen, sondern immer in der Erwartung von etwas Neuem, auf der Suche nach neuen Reizen, Eindrücken und Abenteuern, ablenkbar daher und verführbar durch den jeweils gerade vorherrschenden Reiz oder Wunsch, der sich außen oder innen anbietet. Vor allem braucht man das Gefühl der Freiheit, weil Ordnungen und Gesetzmäßigkeiten die Angst vor dem Festgelegtwerden, vor dem Nicht-ausweichen-Können konstellieren. Allgemein gültige, verbindliche Ordnungen werden vorwiegend unter dem Aspekt der Freiheitsbeschränkung erlebt, und daher, wenn möglich, abgelehnt oder vermieden. Die so erstrebte Freiheit ist mehr eine Freiheit von etwas als für etwas. Was geschieht nun, wenn man gültige Spielregeln des zwischenmenschlichen Zusammenlebens, wenn man Natur- und Lebensgesetzlichkeiten nicht anzunehmen bereit ist? Dann lebt man wie in einer Gummiwelt, die scheinbar beliebig nachgiebig und willkürlich dehnbar ist, deren Ordnungen man letztlich nicht ernstzunehmen braucht, weil ja auch sie sich immer wieder verändern. In einer solchen Welt findet man immer ein Hintertürchen, um sich etwaigen Konsequenzen seines Handelns zu entziehen. Das Gesetz der Kausalität z.B., der Zusammenhang von Ursache und Wirkung, mag im Bereich der physikalischen Natur zutreffen - ich bin nicht bereit, ihn für mich anzuerkennen, und wer weiß, vielleicht gilt er gerade hier und heute nicht. Natürlich muß man dann am meisten all das furchten und wenn möglich meiden, was uns nun einmal unausweichlich festlegt und begrenzt: biologische Gegebenheiten, wie die Geschlechtsrollen von Mann und Frau, das Altern und den Tod, aber auch Konventionen, Spielregeln aller Art, die sich ein Kollektiv für den mitmenschlichen Umgang geschaffen hat, Vorschriften und Gesetze. Wenn wir all das zusammenfassen: man furchtet am meisten die uns unvermeidlich begrenzenden Seiten des Lebens und der Welt, die wir als die Wirklichkeit, die »Realität« zu bezeichnen pflegen. Die Welt der Tatsachen also, an die wir uns anpassen, die wir hinnehmen müssen, aus der Erkenntnis unserer Abhängigkeit von Lebe nsgesetzlichkeiten. Mit dieser Realität geht man nun recht großzügig um: man stellt sie in Frage, man relativiert, bagatellisiert oder übersieht sie, man versucht sie zu sprengen, sich ihr zu entziehen und was es sonst noch an Möglichkeiten gibt, ihr auszuweichen, sie nicht anzuerkennen. Damit erlangt man eine Scheinfreiheit, die mit der Zeit immer gefährlicher zu werden pflegt, weil man so in einer unwirk-
liehen, illusionären Welt lebt, in der es nur Phantasie, Möglichkeiten und Wünsche gibt, keine begrenzenden Realitäten. So lebt man mehr und mehr in einer Pseudorealität, in einer »unwirklichen Wirklichkeit«. Aber je mehr man sich von der Realität entfernt, um so mehr bezahlt man seine Scheinfreiheit damit, daß man sich in der »wirklichen Wirklichkeit« nicht auskennt, mit ihr nicht umgehen kann. Das führt dann dazu, daß die Versuche, sich doch mit ihr einzulassen, zu wenig gekonnt sind, und daher enttäuschend verlaufen, woraufhin man sich mehr in seine Wunschwelt zurückzieht, und die Kluft zwischen Wunschwelt und Wirklichkeit immer größer wird - der Teufelskreis bei Menschen mit hysterischer Struktur. Gehen wir auf den Aspekt der Pseudowirklichkeit näher ein. Eine der Realitäten unseres Daseins ist das schon erwähnte Kausalitätsgesetz von Ursache und Wirkung, Handlung und Folge. Es zwingt uns in eine Gesetzlichkeit, die wir nicht ungestraft bagatellisieren können. Aus dem Gefühl, daß ihn dieses Kausalgesetz nur einengt, zur Konsequenz und zu Verzichten zwingt, versucht der Hysteriker, sich ihm durch Vogel-Strauß-Politik zu entziehen. Er tut so, als ob die Kausalität nicht existiere. Besessen von dem jeweils in ihm dominierenden Wunsch, dessen mögliche Folgen er gar nicht überprüfen will, handelt er gleichsam nach dem Motto »nach mir die Sintflut«. Er neigt naiv dazu, zu hoffen, daß vielleicht gerade für ihn die Kausalität und die Folgerichtigkeit von Geschehensabläufen nicht gilt, oder wenigstens nicht in der gerade in Frage stehenden Situation. Er ist so von seinem Wunsch erfüllt, von dem, was er im Augenblick haben, erreichen möchte, daß er sich über die möglichen Konsequenzen hinwegsetzt; er denkt sozusagen nur final und überspringt die Kausalität, was ihm eine ungemein suggestive Wirkung verleihen kann. Dafür ein Beispiel zur Verdeutlichung: Eine Schulklasse sollte für einen wohltätigen Zweck Abzeichen verkaufen. Jede Schülerin bekam eine Sammelliste, in welche die eingenommenen Beträge vom Spender eingetragen werden sollten, und eine bestimmte Menge zu verkaufender Abzeichen. Die dreizehnjährige Inge ging mit dem ihr eigenen Charme unbefangen und mit gewinnendem Lächeln auf die Leute zu, so daß jeder das Gefühl hatte, ihr nichts abschlagen zu können. In kurzer Zeit hatte sie ihre Abzeichen verkauft. Sie hatte nun den intensiven Wunsch, sich etwas Gutes anzutun, verspürte einen plötzlichen Heißhunger auf etwas Süßes - sie war ja so besonders tüchtig gewesen, und hatte sich das doch wohl verdient. Zugleich war das Geld eine Versuchung; es bot so viele Möglichkeiten - an die Herkunft und den Zweck des
Geldes dachte sie gar nicht mehr - im A ugenblick jedenfalls »gehörte es ihr«. Sie konnte den Wunsch nicht aufschieben, nahm von dem eingenommenen Geld etwas weg, und kaufte sich ihre Lieblingssüßigkeit - mit der für solche Menschen charakteristischen vagen Vorstellung, sie werde das schon wieder »irgendwie« in Ordnung bringen, nur erfüllt von einem Bedürfnis, das Sofort-Befriedigung verlangte. Hier ist zunächst schon charakteristisch für hysterische Persönlichkeiten: der kurze Spannungsbogen, die weitgehende Ungeneigtheit oder Unfähigkeit, Bedürfnisspannungen zu ertragen. Jeder Impuls, jeder Wunsch, muß möglichst sofort befriedigt werden, weil Warten unerträglich ist. Darin liegt ihre große Verführbarkeit - sie können Versuchungen schwer widerstehen. Am selben Tag sollten die Listen und Gelder in der Schule abgeliefert werden. Was tun? Sie ging zu ihrer Lehrerin und bat sie um weitere Abzeichen; sie könne sicher noch mehr verkaufen, und werde dann die gesammelten Gelder insgesamt abliefern - das schon eingenommene Geld habe sie inzwischen zu Hause gelassen (dabei einige Ausreden zuviel erfindend, was ebenfalls charakteristisch ist, denn eine Ausrede oder Schwindelei braucht umsomehr »Begründungen« um sie glaubhaft zu machen, auf je schwächeren Füßen sie steht, mehr jedenfalls, als ein wahrheitsgemäßer Tatbestand). Sie bekam neue Abzeichen - nun war erst einmal Zeit gewonnen, und vielleicht geschah inzwischen irgendein »Wunder«, das die Situation für sie lösen würde (dieses Zeitgewinnen und andere durch Versprechungen hinhalten ist ebenfalls typisch). Inzwischen war es Abend geworden und damit der letzte Termin zur Ablieferung der Gelder herbeigekommen. Sie kam auf einen - wie ihr schien - glänzenden Einfall: Sie ging zur Wohnungsnachbarin und fragte sie, ob sie ihr den fehlenden Betrag bis morgen leihen könne - sie brauche dringend ein Paar Schulhefte; die Mutter sei gerade bei einer Freundin, und sie könne sie daher im Augenblick nicht erreichen. Sie bekam den Betrag, und wieder war Zeit gewonnen und Raum offen für ein Wunder; zunächst jedenfalls war sie in der Lage, das Geld vollzählig abzuliefern. Die Nachbarin und der ihr geschuldete Betrag wurden vergessen, mit der leisen Hoffnung, daß durch ihr eigenes Nicht-daran-Denken vielleicht auch die Nachbarin nicht mehr an die »paar Pfennige« denken würde. Solche unbestimmten Erwartungsvorstellungen von möglichen Wundern und Patentlösungen haben diese Menschen virtuos ausgebildet; sie haben eine erstaunliche Naivität darin, an sie zu glauben und sich damit den Forderungen der Wirklichkeit zu entziehen, etwa nach dem Motte: »Was ich nicht weiß, macht mich nicht
heiß«. Und - schließlich kann doch jeder Mensch einmal etwas vergessen . . . Hier kann man gut die Verschiebungstendenz erkennen, das Eigentliche, nämlich das entwendete Geld, ist bereits vergessen; im Gedächtnis haftet nur noch, daß man von der Nachbarin einen kleinen Betrag ganz legal geliehen hat, den man ihr natürlich zurückgeben wird (das Wie und Wann interessiert im Moment nicht). Sollte sie einen mahnen, bevor man das Geld zurückgeben konnte, kann man immer noch sagen, man habe doch wahrhaftig nicht mehr daran gedacht, sie möge entschuldigen. Vielleicht vergißt sie es auch - für sie ist es doch nur ein kleiner Betrag, und ich habe ihr doch auch schon manche Gefälligkeit erwiesen. Oder - vielleicht bekomme ich plötzlich »irgendwoher« Geld geschenkt, oder kann es mir durch eine Hilfeleistung verdienen - »kommt Zeit kommt Rat«. Nach einigen Tagen bat die Nachbarin Inges Mutter um das Geld, die ganze Sache kam auf und war nun viel unangenehmer, als es das Zugeben zur rechten Zeit gewesen wäre. Das Nichtverzichtenkönnen auf die Sofortbefriedigung ihres Wunsches wurde zum Auslöser einer ganzen Kette von unangenehmen Folgen, die den kurzfristigen Genuß viel zu teuer erkaufen ließen. Das Beispiel ist in vieler Hinsicht aufschlußreich und charakteristisch; es zeigt eine ganze Reihe typischer hysterischer Verhaltensweisen: die Wunschbesessenheit mit dem Drang zur Sofortbefriedigung, die im Augenblick an nichts anderes denken läßt; die irrreale Einstellung im Mißachten der Konsequenz des eigenen Tuns, des Zusammenhanges von Tat und Folge; das Zeit-gewinnenWollen und auf ein Wunder hoffen; die einfallsreiche Geschicklichkeit, sich Konsequenzen zu entziehen, wobei man allerdings dadurch, daß man ein Loch zustopft, ein anderes aufreißt; die wunschgemäße Umdichtung und Verfälschung der »Geschichte«, also des eigentlichen Herganges; die Geschicklichkeit im Vergessen unangenehmer Dinge, vor allem eigener Schuldgefühle; und schließlich das Ausweichen vor unbequemen Notwendigkeiten wie verzichten, warten und zu seinen Handlungen stehen müssen. Auf diese Menschen paßt das Nietzsche-Wort besonders gut: »Das habe ich getan«, sagt mein Gedächtnis, »das kann ich nicht getan haben« - sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich - gibt das Gedächtnis nach. Ähnlich großzügig geht der Hysteriker mit einer anderen Realität um, mit der Zeit. Pünktlichkeit, Zeitplanung und Zeiteinteilung sind ihm lästig, erscheinen ihm als pedantisch und kleinlich, was nicht selten allerdings auf Kosten anderer geht. Oder nehmen wir die biologische Realität, unsere Abhängigkeit
von geschlechtsbedingten Gegebenheit, von Reifungsprozessen und vom Altern. Auch da will man sich nicht festlegen lassen; man möchte möglichst lang unverbindliches Kind, zumindest jugendlich bleiben, weil einem die Welt dann noch manches nachsieht und man noch nicht voll verantwortlich zu sein braucht. Denn Verantwortung ist auch einer jener unbehaglichen Begriffe, die einen festlegen wollen, an das Kausalitätsgesetz und an unliebsame Konsequenzen erinnern. Und das Altern - das kann man ja durch mancherlei Mittel aufhalten; man ist so alt wie man sich fühlt, und braucht nicht jedem sein wahres Alter zu nennen. Wenn man nur alles vermeidet, was einen alt erscheinen läßt, kann man die Illusion ewiger Jugend aufrecht erhalten. Angefangen mit der Kleidung, durch die man sich jugendlich machen kann, gibt es viele Möglichkeiten kosmetischer Mittel, kosmetischer Chirurgie, die jene Illusionen unterstützen; Sorgen und Aufregungen läßt man möglichst nicht an sich heran; man kann sich gegen sie wehren, indem man erklärt, daß man sie jetzt gerade nicht ertragen kann, und wenn sie unausweichlich sind, kann man immer noch krank werden und sich ihnen so entziehen. Ähnlich ist es mit der Ethik und der Moral. Wo käme man hin, wenn man sie verbindlich nähme, und wer tut das schon wirklich? Einmal ist eben keinmal und trägt noch keine Konsequenzen in sich. Wer weiß schon, was gut und böse ist; letztlich ist ja doch alles relativ und abhängig vom Standpunkt, von dem aus man es betrachtet. So wird die Welt angenehm plastisch und biegsam, und begangene Fehler lassen sich immer irgendwie begründen. Und vor allem: wer weiß, was in einem vorgeht, vorgegangen ist? Glücklicherweise sind die Gedanken frei, und wenn man überzeugend genug versichert, daß alles so gewesen ist, wie man will, daß es gewesen sein soll - wer kann das Gegenteil beweisen? Auch die Logik ist eine so lästige Realität. Aber auch ihr kann man sich weitgehend entziehen - die eigene Logik ist eben eine andere, als die der anderen, darum aber nicht minder logisch. Wenn man schon Gedankensprünge macht, bei denen der andere nicht mitkommt und die er deshalb als unlogisch bezeichnet, so ist das sein Problem; ich selber verstehe sie und finde sie logisch. Und welche phantastischen Möglichkeiten bietet die Sprache, wenn man erst einmal dahintergekommen ist, was man alles mit ihr machen und wie man andere mit ihr matt setzen kann! So entwikkelt man eine Pseudologik, die bis zur bewußten oder unbewußten Lüge gehen kann, in der man kaum je zu fassen ist. Wieder wird solchen Menschen die eigentliche Angst - hier vor der Notwendigkeit und Endgültigkeit - nicht bewußt. Die Ängste,
die man stattdessen bei ihnen findet, sind Platzangst und Straßenangst (Agoraphobie), die Angst, sich in geschlossenen Räumen aufzuhalten, in Fahrstühlen, Eisenbahnabteilen usf. (Klaustrophobie). Auch Tierphobien sind häufig. Diese Ängste sind Verschiebungen der eigentlichen Angst auf Nebensächliches und Harmloses, vor allem auf Vermeidbares. Hat man etwa eine Fahrstuhloder Brückenangst, kann man Fahrstühle und Brücken im allgemeinen meiden und damit vor seiner Angst ausweichen. Die eigentliche Angst: etwa vor der Freiheitsbeschränkung oder vor einer Versuchungssituation, der man nicht gewachsen ist, weil man weder echt verzichten will, noch sich das Gewünschte zu nehmen wagt, dieser innere Konflikt wird auf äußere Angstobjekte verschoben, die den Konflikt dadurch »lösen«, daß man wegen seiner Angst gar nicht mehr in die Lage kommt, der Versuchung ausgesetzt zu werden. Denn wenn ich nicht mehr - zumindest nicht mehr allein - auf die Straße gehen kann, kann ich auch keinen Versuchungen mehr ausgesetzt sein. Natürlich ist dieses Ausweichen keine wirkliche Lösung und auch kein verläßlicher Angstschutz - irgendwie wird man doch immer wieder mit seiner Angst konfrontiert und zu Auseinandersetzungen mit ihr gedrängt. Wenn man sich dennoch in die Enge getrieben fühlt und keinen Ausweg mehr sieht, kommt es zu Panikreaktionen, zur »Flucht nach vorn«, die kein vernünftiges Durchdenken der Situation mehr ermöglicht. Wir wollen nun aufzeigen wie sich die für hysterische Menschen charakteristischen Fehlhaltungen allmählich summieren und sie in immer ausweglosere Situationen bringen. Was kann man tun, um sich Verpflichtungen und Endgültigem erfolgreich zu entziehen? Die sicherste Methode scheint zu sein, immer nur im jeweiligen Augenblick zu leben, als habe er keine Vorgeschichte und keine Folgen. Habe ich etwa gestern einen Fehler gemacht, eine Dummheit begangen, ist man mir auf die Schliche gekommen - so hat es eben kein Gestern gegeben und das Leben fängt erst heute an. Durch das Durchbrechen zeitlicher und kausaler Zusammenhänge erreichen die hysterischen Persönlichkeiten ihre ungemeine Plastizität; sie leben gleichsam geschichtslos, ohne Vergangenheit. So werfen sie zwar einen erheblichen Ballast ab, aber andererseits kommt dadurch in ihr Leben etwas Punktförmiges, Fragmentarisches und Schillerndes, ein Mangel an Kontinuität. Sie können sich chamäleonartig jeder neuen Situation anpassen, entwickeln aber zu wenig von jener Ich-Kontinuität, die wir als Charakter zu bezeichnen pflegen. Sie erscheinen daher unberechenbar und sind schwer zu fassen. Da sie immer irgend-
eine Rolle spielen, die auf den jeweiligen Augenblick und seine Bedürfnisse, sowie auf die jeweilige Bezugsperson ausgerichtet ist, wissen sie zuletzt vor lauter Rollenspielen nicht mehr, wer sie selbst sind. So entwickeln sie eine Pseudopersönlichkeit ohne Kontinuität, klare Konturen und charakterliche Prägung. Eine weitere Möglichkeit, wenn man Angst bekommt, weil man sich in die Enge getrieben fühlt, ist es, den »Spieß umzudrehen«, indem man die Schuld auf den anderen schiebt. Selbstvorwürfe werden dann in Fremdvorwürfe verwandelt, was reflexhaft vor sich geht, wie bei Kindern: wenn das eine etwa sagt »du bist dumm«, antwortet das andere reflexhaft mit »selber dumm«. Wird man kritisiert und werden einem Vorwürfe gemacht, verwandelt man sie sofort in Gegenkritik und Gegenvorwürfe, die unter Umständen von anderswo hergeholt werden und gar nicht zur Diskussion stehen - aber sie entlasten im Augenblick und machen die Selbsteinsicht unnötig. Dieses Projizieren eigener Schuldgefühle als Vorwurf nach außen kann so gesteigert werden, daß man zuletzt selbst fest daran glaubt, der andere sei Schuld gewesen, nach der Methode des »haltet den Dieb«. Natürlich führt das zunehmend zu einer Unaufrichtigkeit sich selbst gegenüber, die schließlich zur umfassenden Lebenslüge werden kann. Das bringt dann ein untergründiges Gefühl von Unsicherheit und unbestimmte Ängste mit sich; im äußersten Notfall kann man immer noch eine Rolle finden, die einen vor Konsequenzen und dem Annehmenmüssen der Realität schützt: die »Flucht in die Krankheit«, die einen zumindest wieder Zeit gewinnen läßt.
Der hysterische Mensch und die Liebe Der hysterische Mensch liebt die Liebe. Er liebt sie wie alles, was ihn in seinem Selbstwertgefühl zu steigern vermag: den Rausch, die Extase, die Leidenschaft; er steigert sich gern in Höhepunkte des Erlebens. Könnte man das Appollinische als eine Sehnsucht des mehr auf der zwanghaften Linie liegenden Menschen sehen, so ist die Sehnsucht dieser Menschen das Dionysische. Grenzüberschreitendes Erleben zieht ihn an; aber nicht wie beim Depressiven als Ich-Aufgabe, sondern bei ihm in der Ich-Weitung, gleichsam in der Apotheose des Ichs. Suchte der Depressive in der die Ich-Grenze auflösenden Hingabe und in symbiotischer Verschmelzung, über sich hinaus zu transzendieren, so sucht der hysterische Mensch sich zu steigern in einer Erlebnisintensität, die ihn über sich selbst hinauswachsen läßt.
In seinen Liebesbeziehungen ist der Mensch mit hysterischen Wesenszügen daher intensiv, leidenschaftlich und fordernd. Er sucht vor allem die Bestätigung seiner selbst; er möchte sich an seiner Liebe und an der des Partners berauschen, erwartet davon Höhepunkte des Lebens. Er versteht es, eine erotische Atmosphäre zu schaffen und kann auf vielerlei Weise bezaubern, ist oft ein Meister der Erotik. Er versteht auf diesem Instrument zu spielen; vom Rirt über die Koketterie bis zur Verführung beherrscht er alle Nuancen. Er versteht es meisterhaft, dem Partner das Gefühl der eigenen Liebenswürdigkeit zu geben, was viel zu seinem Charme und seinem Sexappeal beiträgt. Er besitzt große Suggestivkräfte, denen man sich schwer entziehen kann - das Bewußtsein seiner Vorzüge und Reize wird so überzeugend dargelegt, daß man sie ihm glauben muß. In der Liebe setzt er die früher erwähnte starke Wunschkraft besonders ein. Er ist der Mensch des »veni-vidi-vici« und erobert die Festung im Sturm, nicht in langer Belagerung. Er versteht mit dem anderen Geschlecht umzugehen; Beziehungen mit ihm sind nie langweilig. Er liebt oft die Liebe mehr als den jeweiligen Partner, und möchte sie in möglichst vielen ihrer Formen und Gestalten kennenlernen, voller Neugier und Lebenshunger. Er liebt Glanz und Pracht, Feste und Feiern, er kann »die Feste feiern wie sie fallen« und versteht es auch, sie zu gestalten, ist auf ihnen meist Mittelpunkt, durch Charme, Temperament, Gewandtheit und Direktheit. Todsünde ist nur, ihn nicht liebenswert zu finden, das kann er schwer ertragen und kaum verzeihen. Man kann mit ihm »Pferde stehlen«; je sensationeller das Leben ist, um so besser Langeweile ist mordend, und er langweilt sich leicht, wenn er allein ist. So sind sie farbige, lebendige, zugewandte Partner, spontan in ihren Gefühlsäußerungen, fähig, den Augenblick intensiv zu leben. Sie sind genußfroh, phantasiereich und verspielt. Treue ist ihnen nicht so wichtig - zumindest die eigene; heimliche Liebschaften haben einen besonderen Reiz für sie, und geben ihrer romantischen Phantasie Raum. Im Sexuellen liegen die Dinge schwieriger; erotisches Spiel, zärtliches Vorspiel, ist ihnen oft wichtiger als die Erfüllung sexueller Wünsche; sie möchten zum Augenblick sagen »verweile doch, du bist so schön«, und ihn so tief wie möglich genießen, das Ende hinauszögern. So möchten sie auch die Flitterwochen, den honeymoon, verewigen, und sie ertragen das Absinken der Hoch-Zeit in den Alltag schwer. Sie lieben die Abwechslung. Wenn die gesunde Einstellung zur eigenen Geschlechtlichkeit und zum Gegengeschlecht nicht geglückt ist, kommt es leicht zu Beeinträchtigungen
der Liebesfähigkeit bis zur Frigidität und zu Potenzstörungen. Beide Geschlechter sehen im Sexus gern ein Mittel zum Zweck, sowohl zur Steigerung ihres Selbstwertgefühls, als auch ihres Machtwunsches über den Partner; weniger, wie beim Zwanghaften, um den Partner zu zwingen, als um den Rausch der Machtausstrahlung ihres Wesens zu erleben. Frauen besonders mißbrauchen im Sich-Geben oder Sich-Verweigern leicht die Sexualität auf erpresserische Weise. Je mehr es sich nun um eigentlich hysterische Persönlichkeitsstrukturen handelt, um so mehr wächst die fordernde Haltung, und das Bedürfnis nach Bestätigtwerden wollen nimmt überwertige Formen an. Dann wird die Liebesbeziehung eine Einrichtung, die man zur Selbstbestätigung braucht, die immer erneut von der eigenen Unwiderstehlichkeit Zeugnis ablegen soll. Denn das Selbstwertgefühl wird bei ihnen vorwiegend aus solchen Erfolgen aufgebaut, aus der von einem anderen zurückgespiegelten Bewunderung, aus dem Begehrtwerden. Verständlicherweise wird das mit dem Altern immer schwieriger, wenn die Anziehungskraft, die vorwiegend auf dem Äußeren beruhte, nachläßt, weshalb es bei ihnen die ausgesprochensten Alterskrisen gibt. Der Hysteriker braucht den Partner; aber nicht, weil er ohne ihn nicht lebensfähig zu sein glaubt, wie der Depressive, sondern als Spiegel, in dem er sich als liebenswert gespiegelt sehen will, zur Aufwertung seines labilen Selbstwertgefühls. Sein Narzißmus, seine Eigenliebe bedarf immerwährender Bestätigung; er unterliegt deshalb leicht Schmeicheleien, die er nur zu gern glaubt. So braucht er den Partner vor allem, daß der ihn seines Charmes, seiner Schönheit, seiner Bedeutung und sonstiger Vorzüge versichert. Er neigt daher auch zur narzißtischen Partnerwahl; aber nicht aus Angst vor dem »ganz anderen« des Gegengeschlechtes, wie der Schizoide, sondern weil er im Partner etwas ihm selbst möglichst Ähnliches sucht, weil er im Partner sich selbst wiederfinden und lieben möchte. Nicht selten suchen hysterische Menschen beiderlei Geschlechts indessen aber auch unscheinbare Partner, von denen sie sich umso glänzender abheben, und von denen sie restlos bewundert werden. Das erinnert an die Fabel vom Pfau, der eine einfache Henne heiraten will; auf dem Standesamt drückt die standesbeamtete Krähe ihr Erstaunen darüber aus, daß ein so prächtiger Pfau die unscheinbare Henne ehelichen wolle, worauf er gravitätisch nur sagt: »Ich und meine Frau lieben mich bis zum Wahnsinn.« Solche so stark auf dem Bestätigt-werden-Wollen fußende Beziehungen sind natürlich keineswegs krisenfest; der Partner kann
diese Bedürfnisse kaum ausreichend erfüllen. Dann sucht man nach einem neuen Partner, mit dem sich das gleiche abspielt. Ausgesprochene Schürzenjäger und Männerverbraucherinnen liegen auf dieser Linie, die gleichsam Skalpe sammeln und deren Selbstwertgefühl von der Zahl ihrer Opfer abhängt, für die Liebe ein Spiel ist, in dem sie um jeden Preis gewinnen müssen. Da ihr Liebesanspruch zu groß ist, durchziehen Enttäuschungen ihr Leben; Unzufriedenheit, Launen, Verstimmungen und fordernde Anklagen nach immer erneuten Liebesbeweisen, bei denen finanzieller Aufwand und öffentlicher Erfolg des Partners, in dem man sich, als sei es der eigene, spiegeln möchte, spielen dabei keine geringe Rolle. Da man sein Selbstwertgefühl fast ausschließlich aus den Liebesbeweisen bezieht, ist man darin unersättlich, und die Mittel und Wege, sie zu erzwingen, sind vielfältig: Vergleichen des Partners mit anderen, die »wirklich« lieben; Hinweis darauf, was ein anderer Partner alles für einen tun würde; Szenen und leidenschaftliche Vorwürfe, weil einem »zu wenig geboten« wird; Katastrophenreaktionen, wenn der Partner sich distanziert. Bei alldem findet man häufig eine schwer durchschaubare Mischung aus Gefühl und Berechnung, so daß der Partner nie recht weiß, woran er ist. Wenn man von der Liebe oder der Ehe illusionäre Erwartungen hat und mehr fordert, als man selbst zu investieren bereit ist, muß man immer wieder enttäuscht werden; gewöhnlich erkennt man diesen Zusammenhang indessen nicht und bleibt auf der Suche nach der »großen Liebe«. Man findet daher in den Partnerbeziehungen hysterischer Persönlichkeiten die häufigsten Trennungen und Neuanfänge; weil die letzteren jeweils für die vergangenen Enttäuschungen entschädigen sollen, werden neue Beziehungen von Beginn an überfordert, worin bereits wieder der Keim zum Scheitern liegt. Wir alle machen unsere ersten Erfahrungen am anderen Geschlecht an unseren Eltern und Geschwistern. Die Beziehung der Eltern zueinander, die an ihnen erlebte Ehe oder sonstige Gemeinschaft, die Erfahrungen mit unseren Geschwistern, formen unsere Erwartungen von Partnerschaft, Liebe und Sexualität. Hatten wir das Glück, unsere Eltern auch als Paar lieben zu können, ohne sie idealisieren zu müssen, ohne sie andererseits bedauern oder verachten, ja vielleicht hassen zu müssen; konnten wir ihre Begrenztheit, ihre Sorgen und Probleme, ihr Bemühen miterleben, aber auch ihre Freuden, ihr Zueinander-Stehen, ihr Verständnis für und ihr Vertrauen zueinander, haben wir mehr Aussichten, einen Partner zu finden, der solchen Erwartungen ent-
spricht, und haben zugleich für unser eigenes Partner-Sein ein realisierbares Bild vorschweben. Eltern, die vor dem Kind ihre Überlegenheit und Unfehlbarkeit glauben aufrecht erhalten zu müssen, die vor ihm eine ideale Ehe spielen, die hinter den Kulissen sehr anders aussieht, lassen in ihm die Vorstellung einer möglichen Idealehe entstehen, die es später glaubt finden zu können. Und Eltern, die das Bedürfnis des Kindes nach geschlechtsspezifischen Vorbildern nicht erfüllen, ihm etwas Enttäuschendes oder Abschreckendes vorleben, tönen seine Erwartungen von der Partnerschaft entsprechend negativ. Das Liebesleben hysterischer Persönlichkeiten ist nun dadurch erschwert, daß sie länger als andere Menschen an ihre ersten gegengeschlechtlichen Bezugspersonen fixiert bleiben, sich von der Identifikation mit ihnen schwerer lösen können. Denn die Hysterie setzt in der letzten der kindlichen Entwicklungsphasen an etwa um das 4.-6. Jahr, in der das Kind, wie wir noch sehen werden, sich mit den vorgefundenen Vorbildern identifiziert und die ersten Vorformen seiner späteren Einstellung zum eigenen und zum anderen Geschlecht erwirbt. Prinzipiell gibt es dann folgende Möglichkeiten: man wiederholt die einstige -kindlich-verehrende oder idealisierende Einstellung zum gegengeschlechtlichen Elternteil oder einem Geschwister am Partner, erwartet also von ihm den Traum-Mann, die Traum-Frau. Oder man überträgt die alten Enttäuschungen, Angst oder Haß, die man an den kindlichen Bezugspersonen erworben und nicht verarbeitet hat, also seine negativen Erfahrungen, auf den Partner als Erwartung, so daß die späteren Beziehungen von vornherein mit dem Vor-urteil belastet sind, daß Männer oder Frauen so seien, wie man sie erstmals erlebt hatte. Man projiziert dann das ehemalige Vater- oder Mutter-Bild auf den Partner oder die Partnerin, und stellt sich auf diese seine Projektion so ein, wie man zu den Urbildern eingestellt war, wird dann weder dem Partner noch seiner eigenen Partnerrolle gerecht, weil man zu sehr in der alten Sohn- oder Tochter-Rolle stecken bleibt. Der von der Mutter enttäuschte Sohn kann einen Frauenhaß entwickeln und sich an den Partnerinnen für die ehemaligen Enttäuschungen rächen, indem er etwa wie Don Juan Frauen verführt und dann wieder verläßt, nun ihnen das zufügend, was er einst von der Mutter erlebte. Die am Vater enttäuschte Tochter rächt sich auf ihre Weise am Mann: Sie kann einen Männerhaß entwickeln, oder zur falsch verstandenen emanzipierten Frau werden, die, nicht aus Gerechtigkeitssinn und Selbstwertgefühl die Gleichwertigkeit der Geschlechter anstrebt, sondern den Spieß umdrehen
möchte, und aus Rache in der Forderung nach Gleichberechtigung eigentlich die Vormacht der Frauen meint. Oder, sie wirft sich an viele Männer weg, um den Vater damit zu treffen (»wenn du mich nicht liebst, bin ich eben nichts wert und kann mich wegwerfen« der psychodynamische Hintergrund mancher Dirnen). Oder sie wird zur Circe, die die Männer nur am Sexus packt, sie »zu Schweinen macht«, wie es in der Odyssee heißt, sie also benutzt, erniedrigt und sich sexuell hörig zu machen versucht. Nahebei liegen die Frauen, die den Mann physisch, seelisch oder materiell überfordern, ihn ausnutzen, aussaugen, entmachten, »kastrieren«, indem sie seine Männlichkeit abwerten. Solche dämonisch-zerstörerischen Frauen finden sich in den Romanen und Bühnenstücken Strindbergs häufig dargestellt. Schließlich kann bei beiden Geschlechtern die Enttäuschung am Gegengeschlecht, oder die Angst vor ihm, zur Gleichgeschlechtlichkeit führen. Immer kann auch ein Bruder oder eine Schwester stellvertretend die Rolle von Vater oder Mutter dabei übernehmen. Die Bindung an unsere ersten gegengeschlechtlichen Bezugspersonen ist ein allgemeinmenschliches Phänomen, das die Franzosen so ausdrücken: »On revient toujours ä ses premiers amours.« Ein weiteres Beispiel für die Abhängigkeit von den frühen Bezugspersonen, von ihrem »Familienroman«, ist bei hysterischen Menschen darin zu erkennen, daß sie nicht selten in Dreiecksbeziehungen geraten, in denen sie unbewußt ihre Stellung zwischen den Eltern wiederholen, was vor allem bei Einzelkindern dieses Strukturkreises zu finden ist. Sie geraten, scheinbar ungewollt und wie schicksalhaft, in solche Dreiecksbeziehungen - oft von ihnen so formuliert, daß es offenbar ihr Verhängnis sei, daß alle Frauen bzw. Männer, die ihnen gefallen, immer schon gebunden seien. In Wirklichkeit suchen sie indessen bereits gebundene Partner - sie lassen sich mit ihnen schon mit dem Wissen ein, daß sie nicht frei sind, und wiederholen damit die alte Rivalität, die sie als Sohn oder Tochter zum Vater bzw. zur Mutter hatten. Sie sind daran fixiert geblieben, in die Beziehung zweier Partner einzudringen und den einen dem anderen wegzunehmen, indem sie mit dem gleichgeschlechtlichen Partner rivalisieren und ihn auszustechen versuchen, scheuen aber zugleich eine Beziehung, in welcher der Partner frei ist, weil sie dann ernsthafter, verbindlicher und ganzheitlicher gefordert würden. Man muß die Lebensgeschichte solcher Menschen kennen, um ihr Verhalten zu verstehen; sie geben meist nur die Sünden weiter, die an ihnen begangen wurden: sie hatten in ihrer Familie nicht die Möglichkeit, ihre Weiblichkeit oder Männlichkeit gesund zu ent-
wickeln, sie wurden zu sehr an die Familie gebunden; oder sie hatten keine Vorbilder für die Entwicklung ihrer Geschlechtsrolle, sei es, daß sie abgelehnt wurden in ihr, sei es, daß in ihnen das Geschlechtliche zu früh und nicht angemessen angesprochen, und so das Männchen- oder Weibchenhafte in ihnen konstetliert wurde, bevor sie so viel Identität mit sich selbst und so viel Selbstwertgefühl erworben hatten, daß der Mann oder das Weib sich in ihnen entwickeln konnte, bevor sie also für das Geschlechtliche seelisch reif waren. Als Hauptproblem hysterischer Menschen in bezug auf die Liebe und die Partnerschaft kann man ihre illusionären Erwartungsvorstellungen vom Leben, von Liebe, Ehe und vom anderen Geschlecht ansehen. Fordernde Haltungen und die Bereitschaft zu geben, pflegen in keinem gesunden Verhältnis zu stehen, und gerade das wird ihnen immer wieder zum Auslöser neuer Enttäuschungen, aus denen sie lernen könnten, daß ihre Grundeinstellung auf einer Täuschung beruht, die die Ent-täuschung notwendig macht. Immer wache Sehnsucht und erwartungsvoller Anspruch, ohne nach dem eigenen Einsatz zu fragen, ist ihre problematischste Seite. Das drückt sich bei der Partnerwahl schon darin aus, daß materielle und Prestigegesichtspunkte - Stellung, Vermögen, Titel und äußere Vorzüge des Partners - ihnen wichtiger sind, als charakterliche Werte. Sie bleiben auch hierin lange Kinder, lassen sich zu leicht durch Äußerlichkeiten imponieren, die ihnen ein schönes Leben zu vermitteln scheinen; Enttäuschungen lasten sie dann gewöhnlich dem Partner an. Die Angst vor dem Erleben ihres eigenen Unwertes kann bei ihnen zur Sucht nach Bestätigung werden, die, wie jede Sucht, nie befriedigt werden kann, weil sie »außen« etwas sucht, das man eigentlich in sich selbst realisieren müßte: hier das Bemühen um eine echte Liebesfähigkeit, die ein echtes Selbstwertgefühl zu erzeugen vermag. Die Neigung, eigene Mängel zu projizieren, wird in der Partnerschaft natürlich besonders problematisch. Sie kann alle Grade annehmen von immer neuem Streit, wer an etwas »schuld« war, über Anklagen und tendenziöse, Tatsachen entstellende »Logik« bis zur Verleumdung und Intrige. Besonders schwierig pflegen Verbindungen zwischen einem hysterischen und einem zwanghaften Partner zu sein, die ja Gegentypen sind. Je mehr der zwanghafte Partner unerbittlich-konsequent darauf besteht, die jeweils in Frage stehende Situation haargenau durchzudiskutieren und zu beweisen, daß er im Recht ist, um so mehr entzieht sich der hysterische Partner durch unfaßbare »Logik«, durch »Rösselsprünge« im
Denken, wie sie Schultz-Hencke, in Anlehnung an die Fortbewegung des Springers im Schachspiel, treffend genannt hat; denn er spürt deutlich die Tendenz des anderen, ihn ausweglos festlegen zu wollen auf begangene Fehler, wogegen er sich mit allen ihm verfügbaren Mitteln sträubt. Ist man elastischer, baut man ihm eine Brücke und hält man ihm einen Rückweg offen, geht es schon viel besser. Anstatt ihn also in die Enge zu treiben, sollte der zwanghafte Partner vielmehr versuchen, die Situation auch aus der Sicht und dem Erleben seines Partners verstehen zu wollen. Schizoiden Partnern weicht der hysterische Mensch instinktiv eher aus - sie durchschauen ihn zu leicht und haben zu wenig Bereitschaft, sein Bedürfnis nach Bestätigt- und Bewundertwerden zu erfüllen. Dagegen wählen sie sich gern depressive Partner, die diese Bereitschaft haben und auch die weitere, sich überfordern zu lassen; auf die Dauer pflegt eine solche Bindung zu einseitig auf Kosten des depressiven Partners zu gehen. Bindungen zwischen zwei Menschen des hysterischen Strukturkreises gehen nur gut, wenn die hysterischen Strukturanteile nicht zu ausgeprägt sind - sonst wird die Rivalität und das Einander-ausstechen-WoIlen zur unvermeidbaren Klippe. In der Literatur finden sich viele Beispiele ausgezeichnet dargestellter hysterischer Frauen, wie etwa S.Maughams »Luise« oder die Scarlett in dem Roman »Vom Winde verweht« von Margaret Mitchell. In den Briefen Puschkins und Fontanes lassen sich die Schwierigkeiten mit einer Partnerin von vorwiegend hysterischer Struktur gut erkennen. Auch das Märchen vom »Fischer und siner Fru« können wir hier anführen. Der hysterische Mensch und die Aggression Die spezifische Aggressionsform, die das Kind im Alter zwischen dem 4. und 6. Lebensjahr hinzu erwirbt, ist das Rivalisieren und Konkurrieren. Dabei bleiben, wie bei jedem neuen Entwicklungsschritt, die früheren Aggressionsformen weiterhin erhalten. Es geht nun um die geschlechtsspezifische Aggression in ihren Grundformen des Werbens und Eroberns, allgemeiner um den Kampf für alles, was den eigenen Wert bestätigen hilft, um den Kampf gegen alles, was diesen zu bedrohen scheint. Aggression äußert sich also hier vor allem im Wettstreit mit anderen, im Sich-bewähren-Wollen; sie wird in den Dienst des Geltungsstrebens gestellt. Im Gegensatz zum vorbeschriebenen zwanghaften Menschen, ist die Aggression beim hysterischen Menschen elastisch, spontan,
unbekümmert, und oft unüberlegt, dafür weniger nachhaltend und nachtragend. Sie reicht von allen Graden impulsiver Äußerung bis zur Willkür, ist weniger sach- als personenbezogen. Je stärker die hysterischen Züge sind, um so mehr wird die Aggression für den Geltungsdrang eingesetzt; hybride Selbstglorifizierung bis zur Hochstapelei sind die Extremformen, eine ungemeine reizbare Empfindlichkeit gegen narzißtische Kränkungen. Angeberei, unersättliche Geltungssucht treten dann auf; man schiebt sich immer in den Vordergrund, will die »erste Geige« spielen; jeder gleichgeschlechtliche Andere ist ein potentieller Rivale, den es auszustechen gilt zur Erhöhung des eigenen Glanzes. Häufig finden wir die Form des »Imponiergehabes«; man will unbedingt Eindruck auf andere machen, Mittelpunkt sein, und dieses Imponierenwollen kann um so höhere Grade annehmen, je größer die Unsicherheit dahinter ist, die Diskrepanz zwischen Schein und Sein, zwischen Wunsch-Ich und Real-Ich. Aus Mangel an Selbstkritik und Selbstkontrolle hat die Aggression hier etwas zu Impulsives; man läßt sich leicht von ihr hinreißen und geht zu weit, wie ja überhaupt das Übertreiben zu diesen Persönlichkeiten gehört. Charakteristisch ist auch die Tendenz zur Verallgemeinerung; bei Aggressionen gegen den Partner sind »alle Männer Waschlappen«, »alle Frauen dumm« usf. Die hysterische Aggression steht oft dem archaischen Bewegungsturm nahe; aber während dieser beim Schizoiden Ausdruck seiner Daseinsbefindlichkeit existentieller Bedrohtheit war, wird er hier mehr zur Dramatisierung benutzt, zum Beeindrucken des anderen. Der Hysteriker ist in seiner Aggressionsäußerung der Überraschungssieger; er überrumpelt gern, weil ihm das erfolgversprechender scheint als geplante Strategie. Für ihn ist der Angriff die beste Verteidigung. Weiter könnte man die hysterische Aggression als »unlogisch« bezeichnen. Dafür ein Beispiel: Auf die sachlich berechtigte und ruhig vorgebrachte Kritik ihres Mannes wegen einer Nachlässigkeit, gerät die Frau in wilde Affekte, geht auf das Eigentliche überhaupt nicht ein, sondern überhäuft ihn ihrerseits mit einer Flut von Vorwürfen, die mit der gemeinten Angelegenheit überhaupt nichts zu tun haben, sich auf völlig abseitige Dinge beziehen. Sie dreht also einfach den Spieß um, der Realität ausweichend in einer Flucht nach vorn. Das läßt sich letztlich nur verstehen aus dem leicht störbaren, labilen Selbstwertgefühl hysterischer Persönlichkeiten, das sie schon bei leichter Kritik und kleinsten Angriffen so gekränkt reagieren läßt; wegen der mangelnden Identität mit sich selbst ruht es
auf einer schmalen Basis und ist daher sofort zu erschüttern; schon leichte Kränkungen der Eigenliebe können intensivste Haßgefühle auslösen, deren Zusammenhang mit der Angst vor dem Nichtlieben swert-Sein deutlich zu erkennen ist. Eine besondere Form hysterischei Aggression ist die Intrige. Auch ihr kann man die familiäre Entstehung ansehen: Man wiederholt in ihr unbewußt die Situation, in der man als Kind zwischen den Eltern und eventuellen Geschwistern stand, zwischen ihnen hin und her lavieren mußte, weil man von einem Ekernteit gegen den anderen oder gegen ein Geschwister ausgespielt und so zum Objekt ungelöster familiärer Probleme gemacht wurde, zum Objekt, auf dessen Rücken die ehelichen Konflikte ausgetragen wurden. Intrigen, Abwertung eines anderen bis zum Rufmord und bis zu seiner Vernichtung, ausgeprägte Rachehaltungen können so entstehen. Kommt hierzu noch der Geschlechterhaß, kann die Rachsüchtigkeit extreme Formen annehmen. Die hysterische Aggression neigt zu »Szenen«, bei denen man sich in eine immer größere Intensität hineinsteigert, wobei ein Stück schauspielerisch-darstellerischer Begabung angewendet wird, die deutlich auf »Publikum« ausgerichtet ist. Flammende Entrüstung, pathetische Gesten und leidenschaftliche Anklagen sind typische hysterische Aggressionsäußerungen, die oft in sich zusammenfallen, wenn kein Publikum mehr vorhanden ist. Ein Beispiel für den Männerhaß und die Rachehattung einer Frau mit stark hysterischen Zügen: Mit dem Anspruch auf Rücksicht wegen ihrer schwachen Nerven und zarten Gesundheit, durfte ihr Mann - auch im Winter - nur auf dem Balkon der Wohnung Zigarre rauchen, weil sie den Rauch nicht vertrug. Wenn er sich im Fernsehen ein Fußballspiel ansah, machte sie ihn vor den Kindern wegen solcher Primitivität lächerlich, wie sie überhaupt alles abwertete, woran sie nicht teilnehmen konnte, wofür sie kein Interesse hatte oder worin sie ihm unterlegen war. Er hatte eine bessere Allgemeinbildung als sie; Bücher, die er ihr empfahl, fand sie langweilig, weil sie sie nicht verstand bzw. sich gar nicht die Mühe machte, sie zu verstehen. Seine sexuellen Wünsche waren ihr eine Zumutung, der sie sich mit immer neuen Begründungen entzog. So wertete sie ihn in jeder Hinsicht ab und nahm, ihr unbewußt, an ihm Rache für die Enttäuschung an ihrem Vater, der die intelligentere Schwester vorgezogen hatte. Und ein Beispiel für das Intrigieren: Nach längerer Zeit sagte mir ein Patient, daß er, gleichzeitig mit seiner Behandlung bei mir, auch bei einem Kollegen eine psychotherapeutische Behandlung angefangen hatte. Er wollte ausprobieren, wer von uns besser sei, welche
Methode ihm mehr zusage. Bei mir machte er den Kollegen und seine Arbeitsweise schlecht, bei ihm tat er das gleiche mit mir, ohne daß einer von uns ahnte, daß er gleichzeitig in zwei Behandlungen war; denn er schilderte jedem von uns die Behandlung bei dem anderen als eine zeitlich weit zurückliegende. So spielte er uns gegeneinander aus, wie er einst die Eltern gegeneinander ausgespielt hatte. Er rächte sich für den Mißbrauch, den sie ursprünglich mit ihm getrieben hatten, indem sie ihn hinter dem Rücken des einen gegen den anderen Elternteil aufhetzten und ihn für sich zu gewinnen versuchten. Er wiederholte diese Rache, um wie damals seinen Vorteil daraus zu ziehen, daß er, wie von den Eltern, nun von uns beiden profitieren wollte; zugleich war er, ebenfalls wie damals, keinem von uns gegenüber aufrichtig und boykottierte die therapeutische Situation auf diese Weise.
Der lebensgeschichtliche Hintergrund Wie kann es nun dazu kommen, daß die Angst vor der Notwendigkeit und Endgültigkeit so überwertig erlebt wird oder daß, von der Impulsseite her gesehen, der Impuls zum Zentrifugalen, Mittelpunktsflüchtigen, also zur Veränderung, so einseitig gelebt wird? Wenn wir uns zunächst wieder nach anlagemäßig entgegenkommenden Faktoren umsehen, können wir eine angeborene Lebhaftigkeit und Ansprechbarkeit im Emotionalen vermuten, große Spontaneität und den lebhaften Drang, sich auszudrücken, sich mitzuteilen, inneres Erleben nach außen darzustellen; eine Kontaktfreudigkeit also, ein Kontaktbedürfnis sowie ein betontes Geltungsbedürfnis. Durch solche Anlagen ist man stärker auf den Mitmenschen, auf dessen Sympathie und die Bestätigung durch ihn angewiesen. Das wirkt sich positiv aus in Lebendigkeit, Aufgeschlossenheit, Anpassungsfähigkeit und Wandlungsfähigkeit; auch in einer Lebensintensität, die etwas Mitreißendes haben kann solche Menschen sind nie langweilig; sie brauchen Anregung, sind aber auch selbst anregend. Angeborener Charme und oft auch Schönheit bringen es mit sich, daß sie von früh an Sympathie erwecken; sie sind leicht liebzuhaben und es daher gewohnt zu gefallen, einfach weil sie sind, wie sie sind; sie werden als reizend empfunden und spüren das natürlich bald. Daß diese Vorzüge auch ein Danaergeschenk sein können, hängt vor allem damit zusammen, daß sie auf diese Weise die Erfahrung machen, geliebt und bewundert zu werden, ohne etwas dafür leisten zu müssen. Das kann schon sehr früh den Weg dazu bahnen, sich auf seine
äußeren Vorzüge zu verlassen, und es weckt die Erwartung, immer und überall selbstverständlich geliebt zu werden. Damit sich solche Anlagen problematisch auswirken, bedarf es gewisser Umwelteinflüsse, auf die wir nun eingehen wollen. Nach den Erfahrungen der Psychoanalyse liegt der Ansatz zu möglichen hysterischen Entwicklungen um das 4. und 6. Lebensjahr. In diesem Alter hat das Kind, nun dem Kleinkindaiter entwachsend und erwachsener werdend, wichtige Entwicklungsschritte zu vollziehen. Es hat inzwischen reichere Fähigkeiten und Verhaltensmöglichkeiten erworben, wird aber nun auch vor neue Aufgaben gestellt: es soll allmählich in die Welt der Erwachsenen hineinwachsen, deren Spielregeln kennenlernen; es soll in den ersten Ansätzen seine Geschlechtsrolle als Mädchen oder Junge, und vorahnend die Zukunft vorwegnehmen, als ein Feld der Bewährung und des sich Messens mit anderen. Das bedeutet auch, daß es seine bisherige magische Wunschwelt mit den Vorstellungen unbegrenzter Möglichkeiten aufgeben soll zugunsten dessen, was wir als Realität zu bezeichnen pflegen, auch der Realität der Begrenztheit seines eigenen Wollens und Könnens. Seine innere und äußere Erlebniswelt ist weiter und reicher geworden, und umfaßt im wesentlichen bereits alle Erlebnisbereiche, die zum Leben des Erwachsenen gehören. Man erwartet von ihm zunehmend Einsicht, Verantwortlichkeit und Vernunft kurz, das Kind hat hier in vieler Hinsicht die Realitätsprüfung, Realitätsfindung und Realitätsannahme zu vollziehen, die zum Erwachsenwerden gehören. Wenn diese Reifungsschritte gelingen sollen, braucht es dafür überzeugende Vorbilder, an denen es sich ausrichten kann. Es muß etwas vorgelebt bekommen, das ihm erstrebenswert erscheint; die Welt der Erwachsenen muß ihm reizvoll, die von ihnen vertretenen Ordnungen und Lebensformen nachahmenswert erscheinen. Die Eltern werden in dieser Zeit in neuer Form gefordert; sie haben nicht mehr das Kleinkind vor sich, für das sie überlegene Halbgötter waren, sondern ein Kind, das kritisch beobachtet, das einen zunehmenden Wissensdrang hat, das fragt, und Begründungen hören will für Gebote und Verbote, das als Gesamtperson angenommen und sich als liebenswert erleben will, und das vor allem erfahren möchte, daß auch seine Liebe den Eltern etwas bedeutet, daß es etwas zu geben hat. Es bildet in den ersten Ansätzen seine geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen aus, werbend oder erobernd, und will damit ernst genommen werden. Die Reife und das Verständnis der Eltern ist hier besonders wichtig, braucht
doch das Kind nun gesunde Leitbilder für seinen tastenden Entwurf von sich selbst, der zu einem gesunden Selbstwertgefühl und schließlich zur Identitätsfindung führen soll. Den hysterischen Persönlichkeiten hat es gerade in dieser Zeit, in der das Bedürfnis nach Führung und Vorbildern am stärksten ist, daran gefehlt. Um aus dem Kleinkindalter herauszuwachsen, und die Realtität des Lebens anzunehmen, auf kindliches Verh'alten zu verzichten, um es aufzugeben, unverantwortliches Kind zu bleiben, zugunsten von Verantwortung, von Einsicht in Notwendigkeiten - um alle diese neuen Aufgaben auf sich zu nehmen, muß die Welt für das Kind Ordnungen aufweisen, die ihm sinnvoll erscheinen; müssen die Eltern in ihm den Wunsch erwecken können, auch so zu werden wie sie, es muß sich mit ihnen identifizieren wollen. Nur dann wird es bereit sein, die früheren kindlichen Verhaltensweisen und Freiheiten aufzugeben. Es muß Erlebnisse altersgemäßen Könnens und geschlechtsspezifischer Bestätigung haben, damit ihm das Bewältigen der neuen Aufgaben Freude macht, es mit Stolz und gesundem Selbstwertgefühl erfüllt. Stellen wir uns nun ein Milieu vor, das schillernd oder chaotisch ist, wo heute bestraft wird, was morgen gar nicht bemerkt oder sogar anerkannt wird; ein Milieu, in dem das Kind weiter als Kleinkind behandelt wird, das man nicht ernstzunehmen braucht, als sei man im keine Aufrichtigkeit schuldig, als sei es noch zu klein und zu dumm, zu unwichtig, um seine Fragen ernst zu nehmen und wahrhaftig zu beantworten. Oder man denke an Eltern, die heftige Szenen und Auseinandersetzungen vor dem Kind haben, mit der Vorstellung, daß es das alles noch nicht verstehe und daß man sich vor ihm nicht zusammennehmen brauche, die aber gleichzeitig von ihm erwarten, daß es sich vernünftig verhalten soll. Verhält es sich dann ähnlich, wie es ihm vorgelebt wurde, wird es plötzlich gerügt, und gar die Frage nach dem Warum, wo doch die Eltern dasselbe getan hätten, als Frechheit bestraft nach dem Motto »quod licet Jovi, non licet bovi«; vor allem die Milieus also, die chaotisch, widerspruchsvoll, unverständlich und ohne Führung und gesunde Leitbilder sind, geben dem Kind zu wenig Orientierung und Halt. Es zieht dann vor, unverantwortliches Kind zu bleiben. - Ein Beispiel (aus dem Tagebuch einer Jugendlichen): »Sei außerordentlich und du fällst auf. Sei krank, und deine Mutter kümmert sich um dich, sei gesund und mormaU, und man findet es selbstverständlich. Deswegen: sei raffiniert, spiele Theater, gib einerseits den Leuten, was sie haben wollen - ein sunnygirl, ein Präsentierkind, das strahlend jedermann umarmt und als >süß< be-
zeichnet wird - um andererseits dir auch das zu holen, was du brauchst. Und wenn sie dich nicht so lieben, daß du dein Ziel mit Zärtlichkeit erreichst, dann wird dich ihre Sorge um dich zum Ziel bringen. Je mehr krank, um so mehr geliebt. Der Konflikt kam erst in der Pubertät und vor allem, seit ich erwachsen bin. Einmal, ich mochte 12 oder 13 sein, kam eine Tante auf Besuch. Ich stürzte in altgewohnter Weise die Treppe hinunter und ihr um den Hals; >sei nicht so exaltiert, mahnte meine Mutter. >Was ist exaltiert?<, fragte ich. > Übertrieben, überspannt. < Ich verstand überhaupt nichts. Was bisher immer >süß<, >reizend< gewesen war, sollte nun plötzlich überspannt sein? Langsam begriff ich, daß jedes Alter seine Gesetze hat. Daß man einem Kind alles verzeiht, einem Teenager schon viel weniger und einem Erwachsenen nichts. Ich lernte eine neue Masche, die sich aufs Beste bewähren sollte beim starken Geschlecht: die Masche des naiven, unschuldigen, unerfahrenen Mädchens, das mit hilflosen, großen, rührenden Augen der Welt nur alles Gute zutraut.< Gott, ich war ja wirklich naiv, aber sobald mir eine ältere Bekannte klarmachte, wie himmlisch naiv ich sei, wurde ich auch sehr berechnend naiv. Die größten Don Juans waren angesichts meiner Naivität hilflos und wagten plötzlich nicht mehr, sich mir mit unsittlichen Anträgen zu nähern. Meine Mutter sagte vorgestern, als ich sie über meine Kindheit ausquetschte: >Als du im Kinderheim warst, vergaß ich dich zuzeiten direkt. Ich dachte immer, du seiest sehr glücklich im Kinderheim, deine Briefe klangen immer sehr fröhliche Sie, die hellhörige Mutter, die sonst das Gras wachsen hört, was mich betrifft, sie hat sich von diesen zensierten Briefen blenden lassen! Ich mußte im Kinderheim bleiben, trotz meiner flehentlichen Bitten. Da gibt es nur eine Waffe: Krankheit.« Ein anderes junges Mädchen sagte: »Warum soll ich in einer Welt von Narren« (sie meinte ihre Familie) »erwachsen werden und vernünftig sein? Da müßte ich viel zu sehr leiden.« Ein weiteres Beispiel für hysterisierende Milieuverhältnisse: Ein Mann, Mitte der Dreißig, kommt wegen phobischer Symptomatik in die Behandlung; er konnte im Kino nur auf einem Eckplatz sitzen, konnte nicht mit einem Schnellzug (»wegen der langen Strekken zwischen zwei Stationen; wenn ich der Zugführer wäre, ginge es - dann könnte ich halten und aussteigen, wenn ich Angst bekomme«), nicht mit dem Lift, nicht über eine Brücke fahren (dann mußte er aus dem Auto aussteigen und zu Fuß dicht am Geländer hinübergehen); er bekam quälende Angst, wenn er allein im Zimmer war, die Decke könnte über ihm zusammenstürzen; zugleich hatte er die Angst, er könne auf Grund dieser von ihm selbst als unsinnig angesehenen Ängste verrückt werden. Diese Angst vor
dem Verrücktwerden war in den letzten Jahren seine schlimmste geworden (ein Bruder war in einer Anstalt wegen einer Geisteskrankheit und dort gestorben). In großen Zügen einige Hinweise auf seine Biographie, die seine Ängste verständlich machen können: Als einziger Sohn für längere Zeit - der Bruder war 8 Jahre jünger als er - wurde er von der Mutter sehr verwöhnt. Der Vater war ein korrekter, stark zwanghafter Beamter, der immer Arbeit vom Büro mit nach Hause nahm, so daß ihn die Familie außer bei den Mahlzeiten kaum zu Gesicht bekam. Die Mutter verwöhnte ihn hinter dem Rücken des Vaters, steckte ihm heimlich Geld zu, kaufte ihm viele Anzüge und schob sich immer als Puffer zwischen ihn und die Welt, bei Schulschwierigkeiten usf. Der Vater merkte von all dem nichts, war auch nicht weiter daran interessiert und froh, wenn man ihn mit Unangenehmem in Ruhe ließ. Als Kind war der Patient viel krank gewesen, und das gab der Mutter noch mehr Anlaß, ihn zu verwöhnen; an der Ehe mit dem viel älteren und sehr nüchternen Mann enttäuscht, wurde der Sohn ihr das Wichtigste, und sie suchte sich seine Liebe durch Verwöhnen zu erhalten. In der Nachpubertätszeit machte der Sohn mit einem Freund Schwarzhandelsgeschäfte, wobei er gut verdiente und ein großes Leben führte, mit vielen Mädchen. Nur die Mutter wußte von diesen Geschäften, die dem Vater bei seiner Einstellung und Position höchst verwerflich erschienen wären (der Vater war so korrekt, daß er, wenn er den Omnibusschaffner wegen Überfüllung nicht zum Billettlösen erreichen konnte, am nächsten Tag für sich zwei Fahrscheine löste). Der Sohn ging nun nicht mehr regelmäßig zur Schule, hatte aber deswegen und wegen seiner heimlichen und verbotenen Geschäfte, die jederzeit entdeckt werden konnten, zunehmend Ängste. Er führte ein Doppelleben - vor dem Vater war er der korrekte Sohn, hinter seinem Rücken eine Spielernatur, von der Mutter gedeckt. So reizvoll dieses Leben an sich war, bekam er doch immer häufiger Herzbeschwerden mit Schwindelgefühlen, die der somatisierte Ausdruck dafür waren, daß sein Leben weitgehend auf Schwindel aufgebaut war. Er hatte keinen wirklichen Halt, weder in sich selbst noch draußen. Sich mit dem Vater zu identifizieren war nicht nur wenig reizvoll, weil dessen Welt nur aus Pflichten bestand, sondern noch dadurch erschwert, daß die beiden zu wenig Kontakt miteinander hatten. Wenn er z. B. sonntags einmal zum Vater in dessen Arbeitszimmer kam - da sonst nicht betreten werden durfte - saßen sich Vater und Sohn in großem Abstand gegenüber, der Vater die Zeitung lesend, der Sohn eine Illustrierte; es wurde kaum ein Wort zwischen ihnen gewechselt - sie hatten sich nichts zu sagen, bzw. sie fanden aus beiderseitiger Verlegenheit keinen Weg zueinander. Er
fand den Vater und seine Lebensweise komisch; mit der Mutter lachte er hinter seinem Rücken über »den Alten«, wegen dessen Eigenbröteleien und Überkorrektheit. Die Mutter, die sehr jung den wesentlich älteren Mann geheiratet hatte, vor allem wegen seiner guten Position, war in der Ehe selbst Kind geblieben und in Opposition zu ihm. Über den Sohn genoß sie das »große Leben« mit, nach dem sie selbst sich sehnte, war daher gar nicht in der Lage, ihm einen Halt zu geben, gab ihm nur einen falschen Schutz bei Schwierigkeiten. So fand er nirgends eine echte Orientierung, hatte keinen festen Boden unter den Füßen, aber die dauernde Angst vor einer Katastrophe, davor, daß alles über ihm zusammenbrechen könnte (die Zimmerdecke einstürzen) und nichts ihn tragen würde (die Brükkenangst); die anderen Ängste bezogen sich auf Situationen, in denen er nicht »aussteigen« konnte, wenn er es wollte; der ganze »Schwindel«, auf dem sein Leben aufgebaut war, konnte ja plötzlich zutage kommen (die Herzbeschwerden mit Schwindelanfällen). Die Angst, verrückt zu werden, hing zum Teil mit dem Bruder zusammen, zum Teil war sie auch Ausdruck des dumpfen Bewußtseins, daß es so nicht lange weitergehen könne. Aber auch die »goldenen Käfig-Milieus« der sogenannten besseren Kreise begünstigten hysterische Entwicklungen. In ihnen ist der Schein betont; das gesellschaftliche Prestige ist wichtiger als die Kinder, die weitgehend irgendwelchem »Personal« überlassen werden, wobei ihnen gleichzeitig eingeschärft wird, »wer sie sind«, und welche Rolle die Eltern draußen in der Welt spielen. Sie werden von den Klassenkameraden beneidet, weil sie »alles zu haben« scheinen, und müssen so auch noch die Rolle glücklicher Kinder spielen - sonst wären sie ja undankbar; so überspielen sie schließlich ihr Elend in einer Arroganz, die niemand versteht, und finden sich womöglich tatsächlich beneidenswert. Sind die Eltern zu wenig wirkliche Vorbilder für das Kind, bleiben ihm nur zwei Möglichkeiten offen. Entweder, es identifiziert sich trotzdem mit ihnen und ihren Scheinwerten, oder es nimmt die Eltern nicht mehr ernst, fühlt sich dann aber völlig verlassen. Wird es erwachsen, verhält es sich so, wie ihm das Erwachsensein vorgelebt wurde, oder es bleibt in der Opposition stecken, will dann »nur nicht werden wie die Eltern«, was aber natürlich kein konstruktives Leitbild ist. Schwierig ist es für ein Kind auch, wenn bei seinen Eltern die Geschlechtsrollen vertauscht sind, wenn die Mutter »die Hosen anhat« und der Vater ein »Pantoffelheld« ist. Es sollen damit nicht von der Gesellschaft festgelegte Geschlechtsrollen gemeint sein,
wie sie also von der gerade geltenden Konvention gefordert werden, die hier vertauscht sind, sondern Zerrformen des Männlichen und Weiblichen. Der Pantoffelheld ist ja ein von der Frau entmachteter Mann, der Angst vor ihr hat; und die Frau, die sich »aufmannt«, hat ja eine Rivalitäts- oder Haßeinstellung zum Männlichen, und eine Verachtung gegenüber ihrem eigenen Geschlecht. Das Kind bekommt dann kein angemessenes Vorbild für seine Geschlechtsrolle, was zumindest seine Entwicklung in dieser Beziehung erschwert und später in seiner Einstellung zum anderen Geschlecht problematisch zu werden pflegt. Die geglückte Einstellung der Eltern zu ihrer Geschlechtlich keit ist einer der wichtigsten Faktoren für das Kind, damit es sich mit einer ihm reizvoll erscheinenden Gestalt des Väterlich-Männlichen bzw. Mütterlich-Weiblichen identifizieren kann. Die Gesellschaft sollte für Mann und Frau vielfältigere Möglichkeiten anbieten, ihre Geschlechtsrolle zu übernehmen, um der Vielfältigkeit des Mann- oder Frau-Seins gerechter zu werden. Einseitige Festlegung darauf, wie »der« Mann oder »die« Frau sein und sich verhalten müsse, um vom Kollektiv als solche angenommen zu werden, entspringt hierarchischen oder ideologischen Machtansprüchen, die wir heute abzulegen beginnen, zugunsten einer Emanzipation von solchen »Rollen«, die beide Geschlechter betrifft und sie aus solchen festlegenden Fesseln befreien will. Die Tatsache, daß Männliches und Weibliches in verschiedenen Kulturen sehr verschieden gelebt wird, sollte uns klar machen, daß jene Rollen zeitbedingt sind und nicht, wie wir meist meinen, biologische Gegebenheit sind. Jede Gesellschaft schafft sich die Rollen von Mann und Frau, die sie braucht, und sie beginnt bereits in der frühen Kinderaufzucht damit. Margaret Mead bringt in ihrem Buch »Mann und Weib« eindrucksvolle Beispiele dafür. Hysterische Entwicklungen begünstigend sind auch unglückliche Elternehen in diesem Alter des Kindes, vor allem für Einzelkinder, und wenn das Kind von einem Elternteil als Partnerersatz genommen wird. Damit wird es nicht nur altersmäßig überfordert, weil es in eine Rolle geschoben wird, für die es noch nicht reif ist, sondern es fällt auch zu früh aus der unbefangenen Kindheit heraus, wird in vieler Hinsicht frühreif, bevor es die Möglichkeit hatte, die altersgemäßen Entwicklungsschritte zu vollziehen. Der Sohn wird etwa zum Tröster oder Verbündeten der Mutter, die vom Vater enttäuscht ist; es werden ihm Dinge anvertraut, die noch nicht in sein Alter gehören und ihn nur belasten; er bezahlt die Rolle des Vertrauten der Mutter, die eine zu nahe, zu intime ist, auch damit, daß sie ihn in eine Gegnerschaft zum Vater bringt
und ihm oft die Beziehung zu diesem zerstört, weil er ihn nur durch die Augen der Mutter sieht. Die gesunde Möglichkeit, die Eltern als Paar zu lieben, beiden seine Zuneigung ohne Schuldgefühle zuwenden zu können, kann nicht erlebt werden. Altklugheit steht dann neben infantilen Zügen, und die reifende Auseinandersetzung mit dem Vater wird so gleichsam übersprungen, die für die spätere Bewährung in der Welt der Männer so wichtig ist. Mutatis mutandis gilt das gleiche für die Tochter; beiden wird die Möglichkeit genommen, sich eine gesunde Beziehung zum andersgeschlechtlichen Elternteil aufzubauen. Das hat zur weiteren Folge, daß die dem Kind aufgezwungene Rolle, die ja nicht seinem eigentlichen Wesen entspricht, sondern nur eine Funktion ist, in die es gedrängt wurde, ihm keine echte Sicherheit gibt. Meistens wird es dabei gleichzeitig in anderer Hinsicht weiter als Kind behandelt, und dieses Nebeneinander von Erwachsen-sein-Sollen und als Kind behandelt werden ist zutiefst verwirrend und vermittelt ihm überdies noch Minderwertigkeitsgefühle, wenn es die Erwartungen nicht erfüllen kann, weil es nicht erkennt, daß sie Überforderungen sind. Eltern, die unbefriedigt sind, weil sie im Leben nicht das erreicht haben, was ihnen vorschwebte, können hysterische Entwicklungen beim Kinde begünstigen, wenn sie es dazu benutzen, daß es nun das von ihnen nicht Erreichte erreichen soll. Sie können ihm dann nicht nur kein Vorbild sein und ihm die nötige Führung geben, sondern drängen es in eine Rolle, die oft seinen eigenen Neigungen überhaupt nicht entspricht. Auf dieser Basis entstehen oft hysterisch-depressive Mischstrukturen. Zu ähnlichen Folgen führt es, wenn das Kind in die Rolle gedrängt wird, »Väterchens oder Mütterchens Sonnenschein« zu sein. Solche Kinder müssen immer strahlen, heiter und guter Dinge sein und die Eltern erfreuen; sie werden zwar dafür geliebt und bewundert, müssen aber eine Fassade leben, durch die sie nur schwer und spät zur Identität mit sich selbst finden. Die Rolle kann ihnen so sehr zur zweiten Natur werden, daß sie völlig an sich selbst vorbeileben, und es pflegt zu schweren Depressionen oder Zusammenbrüchen zu führen, wenn die Rolle später nicht mehr trägt oder nicht mehr gebraucht wird. Schwierig sind auch die Milieus, die sich, aus welchen Gründen auch immer, vom allgemein üblichen zu weit absetzen, die etwa ein bestimmtes soziales Standesbewußtsein oder eine Minorität im Kollektiv vertreten. Das Kind lernt dann zu Hause Einstellungen und Verhaltensweisen, die zwar in der Familie gelten und hier sogar honoriert, aber draußen abgelehnt werden. Das Kind
kommt dann - meist im Schulalter einsetzend - in Krisen und erlebt Situationen, auf die es nicht oder falsch vorbereitet ist. Die Enttäuschung an der Welt, Gefühle der Unsicherheit und des Blamiertseins, und die bittere Erkenntnis, daß das daheim Gelernte draußen untauglich ist, fixieren das Kind nun regressiv wieder stärker an die Familie. Auf solcher Basis entstehen oft hysterischschizoide Mischstrukturen. Das zentrale Problem hysterischer Persönlichkeiten ist also, daß sie die Identität mit sich selbst nicht gefunden haben. Entweder finden sie aus der Identifikation mit den Vorbildern ihrer Kindheit nicht heraus, oder sie bleiben in der Rebellion gegen diese stekken, oder sie übernehmen sonstige ihnen aufgedrängte oder sich anbietende Rollen. Außer den angeführten hysteriebegünstigenden Milieus kann sich eine solche Persönlichkeitsstruktur auch in einer ausgesprochen zwanghaften Umwelt entwickeln, dann aber im Protest gegen starre, einzwängende, alle lebendigen Impulse beschneidende erzieherische Haltungen, die den gesunden Freiheitsdrang dieses Alters unterbinden. In der Opposition dagegen steigert man sich in extreme Verhaltensweisen und schüttet gleichsam das Kind mit dem Bade aus, indem man nun nicht nur die überwertigen Einschränkungen ablehnt, sondern in bewußter oder unbewußter Herausforderung in allem das Gegenteil davon lebt, was von einem erwartet wurde. Das kann manches »ungeratene« Kind in besonders strengem, prüdem oder autoritär-engem Milieu erklären. Das ist dann keine »echte« Hysterie mehr, sondern eine reaktive. Wir wollen noch kurz die historische Tatsache streifen, daß man früher die Hysterie ausschließlich den Frauen zuordnete, was ja schon in der Bezeichnung liegt, da das Wort Hysterie abgeleitet ist vom griechischen hystera = Gebärmutter. Das kann uns nachdenklich machen und vielleicht das Verständnis für die Bedingungen hysterischer Entwicklungen noch deutlicher werden lassen, wenn wir uns fragen, warum offenbar Frauen besonders häufig hysterisch erkrankten. Zugleich mag es uns zur Vorsicht mahnen, wissenschaftliche Meinungen ungeprüft zu übernehmen, aus einem falschen Respekt vor der Wissenschaft, die ja gerade, wenn sie etwas über den Menschen aussagt, oft unbewußt tendenziös wird - manchmal wohl auch bewußt. Das Leben der Frau in unserer westlichen Kultur war früher fast ausschließlich auf den Bereich der Ehefrau, Hausfrau und Mutter beschränkt. Ihr Lebenssinn und die Rolle, die die Gesellschaft von ihr erwartete, lag in der Familie (»und drinnen waltet die züchtige
Hausfrau...« heißt es in Schillers Glocke), im Gegensatz zum Manne, dem viel reichere Möglichkeiten für seine Selbstverwirklichung offenstanden. Dadurch bekam die Partnerbeziehung für die Frau einen anderen Stellenwert als für den Mann. Zugleich war die soziale Rolle des Mannes in vieler Hinsicht eine bevorzugte; das Männliche wurde allgemein höher bewertet, die Leistung der Frau minder eingeschätzt und bezahlt, die Frau juristisch und wirtschaftlich in Abhängigkeit gehalten. So überall benachteiligt, in ihren Entfaltungsmöglichkeiten auf Heim und Familie beschränkt, dazu gedrängt, mehr die Wunschbilder und Erwartungen der Männer und der Gesellschaft zu erfüllen, als ihr eigenes Wesen, kollektiven Vorurteilen unterlegen, die ihr lange Zeit sogar die Seele absprachen, und später keine eigene Sexualität zugestanden, war die Lage der Frau im Patriarchat keine beneidenswerte. Da wurde die Hysterie sozusagen die einzige Waffe der Frau, ihre Wünsche und Ansprüche gegen die übermächtige Männerwelt durchzusetzen, und sich zugleich an ihr zu rächen. Man möchte fast sagen: sie »erfand« die Hysterie als das Verhalten, gegen das »kein Kraut« gewachsen war, demgegenüber der Mann sich als hilflos empfand und resignierte. Hysterisches Verhalten ist so irrational, unlogisch, undurchschaubar und nicht zu fassen, daß der Mann mit seinen Mitteln der Ratio und Logik ihm gegenüber machtlos war: was war an den Reaktionen der Frauen Absicht, was Krankheit; was war Nicht-Wollen, was Nicht-Können; die dramatische Szenen, die körperlichen Symptome, die Verzweiflungsausbrüche bis zu Selbstmordandrohungen, legten dem Mann Rätsel über Rätsel vor, an denen er oft genug scheiterte, wollte er nicht die »Widerspenstige« mit der Peitsche Nietzsches »zähmen«, damit aber eine Partnerschaft endgültig zerstören. Die zur »ehelichen Pflicht« herabgewürdigte Sexualität der Frau war häufig die Ursache ihrer »Frigidität«, mit der man wiederum ihr den schwarzen Peter zuschob. Hinter dieser Hybris des Mannes, hinter seinem Machtund Besitzanspruch aber lag, vorsichtig gehütet und verborgen, seine tiefe Angst vor dem Weibe, vor der »anderen Seite« des Lebens, die um so gefährlicher und bedrohlicher erlebt wird, je einseitiger man das Männliche vertritt und überbewertet. Mit der Genialität des Unbewußten fand die Frau das Gegengewicht gegen die männliche »Überlegenheit« in der Hysterie, die zugleich Selbstverteidigung und Rache war. Es ist kein Zufall, daß im allmählich ausklingenden Patriarchat die sogenannte klassische Hysterie seltener geworden ist; eine als gleichwertig anerkannte und in ihren Entfaltungsmöglichkeiten nicht unterdrückte Frau braucht sie nicht mehr.
Was wir daraus über die Genese der Hysterie lernen können, ist: Unterdrückung, Abwertung, Unfreiheit, Zwänge und Uneinsichtigkeit des jeweiligen Partners, der Gesellschaft, lassen als Gegenreaktionen hysterische Verhaltensweisen entstehen, unabhängig vom Geschlecht. Auch die anderen als hysteriebegünstigend beschriebenen Milieus sind geschlechtsunabhängig. Wir haben in großen Zügen den genetischen Hintergrund hysterischer Persönlichkeitsentwicklungen aufgezeigt, auf dem es zu der für sie charakteristischen Angst vor dem Festgelegtwerden, vor der Endgültigkeit und Notwendigkeit kommt. Aus der Enttäuschung, mit ihren erlernten Verhaltensweisen nicht den erwarteten Erfolg zu haben - den sie, je öfter sie Niederlagen erlebt haben, umso schneller und früher erwarten - erleben sie zu wenig echte Befriedigungen ihres Könnens; das erhöht ihr Geltungsbedürfnis, das sie nun wieder mit ungenügenden Mitteln zu erreichen versuchen, was zum hysterischen Teufelskreis führt, der nur zu durchbrechen ist durch konsequent erworbenes Wissen und Können. Auch ihre große Verführbarkeit wird so besser verständlich: ihre allgemeine Unzufriedenheit mit sich und dem Leben macht sie reizhungrig; sie sind immer auf der Suche nach neuen Reizen, nach Veränderungen, von denen sie sich das Erhoffte versprechen; sie meinen immer, das zu Ändernde läge draußen, nicht in ihnen selbst - das zu erkennen ist der Ansatz zur Gesundung. Die Hilfe kann für sie nur darin liegen, nicht mehr vor der Realität auszuweichen, sondern ihre Spielregeln, Ordnungen und Gesetze in ihrer Folgerichtigkeit zu erkennen und anzunehmen, mit der Bereitschaft zur Selbsteinsicht und zum Nachreifen. Dazu gehört der Mut zur Echtheit und die Bereitschaft zu notwendigen Verzichten, die wir alle leisten müssen. Nur dann zeigt ihnen die Realität auch ihre positiven Seiten, und kann ihnen das Maß an Befriedigung und Erfüllung geben, das auch für sie möglich ist. Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß der Begriff der Hysterie so oft abwertend gebraucht wird; für den zwanghaften, depressiven oder schizoiden Menschen haben wir im allgemeinen mehr Verständnis, sind wir bereiter, ihnen als Leidenden zu sehen; bezeichnen wir dagegen jemanden als hysterisch, schwebt den meisten etwas vor, was ihn zur moralischen Überlegenheit zu berechtigen scheint. Das mag damit zusammenhängen, daß man die Vorstellung hat, der Hysteriker spiele nur krank, könne durchaus vernünftig usf. sein, »wenn er nur wolle«; vielleicht auch damit, daß wir hier alte Vorurteile übernommen und beibehalten haben. Vielleicht ist indessen aus den mitgeteilten Krankengeschichten deutlicher geworden, daß Hysterie eine Krankheit ist, mit einer aufzeig-
baren Entwicklungsgeschichte, und daß der hysterisch erkrankte Mensch ebenso ein Leidender ist, wie andere Kranke. Vielleicht wird unser Vorurteil auch dadurch bestärkt, daß es - von außen gesehen - oft vom Leben Begünstigte zu sein scheinen, die an Hysterie erkranken, denen wir daher sozusagen das Recht nicht zusprechen wollen, daß sie erkrankten; kennt man ihre Lebensgeschichte, wird man seine Meinung revidieren müssen; letztlich leiden wir alle an nicht genügend verarbeiteter Vergangenheit; bei wem sie so beschaffen war, daß er sein Leben dennoch fruchtbar gestalten konnte, weil er aus ihr mehr Hilfen als Schädigungen mitbekam, der sollte aus der Dankbarkeit dafür Verständnis und Toleranz gegenüber den weniger Glücklichen aufbringen.
Beispiele für hysterische Erlebnisweisen Kommen wir wieder zu einigen Beispielen. Eine vermögende Frau suchte mich wegen ihres 16jährigen Sohnes auf, weil sie Grund zu der Befürchtung haben zu müssen glaubte, daß er eine Neigung zur Homosexualität habe. In der Besprechung mit ihr war es ihr offensichtlich am wichtigsten, daß sie sich - im wörtlichen wie im übertragenen Sinne - ins beste Licht setzte: sie rückte sowohl den Stuhl so, daß ihr Gesicht am besten zur Geltung kam und eine etwas dicke Backe im Schatten lag (für die sie sich entschuldigte - es wäre ihr heute morgen ein Zahn gezogen worden), als sie sich auch als Mutter recht großzügig mit Selbstlob bedachte, dagegen ihren Ehemann erheblich kritisierte und abwertete. In der Besprechung mit dem Sohn kamen folgende Details heraus: Die Eltern lebten seit Jahren in einer sehr schwierigen Ehe, die sie aber nicht scheiden lassen wollten aus gesellschaftlichen Gründen. Die Mutter machte häufig große Reisen, auf die sie den Sohn immer mitnahm. Er wurde dann in die Rolle des kleinen Kavaliers geschoben; sie wohnten nur in den vornehmsten Hotels, und sie schlief auf diesen Reisen bis über seine Pubertät hinaus mit ihm im selben Zimmer. Sie war eine attraktive Frau und es machte ihr Spaß, auf den Sohn verführerisch zu wirken, ihm ihren Körper beim An- und Auskleiden so weit sehen zu lassen, daß sie seine verhaltene Neugier und Erregtheit spürte, zugleich seine Befangenheit, die sie »süß« fand. Sie ließ sich von ihm wie von einem Pagen verehren; wenn aber der Sohn, die ihm aufgedrängte Rolle übernehmend, »eigenmächtig« im Speisesaal des Hotels sich etwas bestellte, machte sie ihm vor dem Ober wieder zum kleinen Kind, dem das nicht zustand. Er hatte also nur die Funktion, die Mutter zu verehren und so etwas wie ihr Spielzeug zu sein.
Die Beziehung zum Vater hatte sie ihm weitgehend zerstört, indem sie ihn gegen diesen einnahm und eifersüchtig reagierte, wenn er sich dem Vater zuwendete. Der Vater seinerseits spürte die Entfremdung des Sohnes, sah aber keine rechte Möglichkeit, ihn für sich zu gewinnen, da die Mutter schon zeitlich im Vorteil war, weil er den Sohn viel seltener sah als sie, er auch eine Abneigung dagegen hatte, ihn auf gleiche Weise gegen die Mutter einzunehmen und ihr abzuwerben. Der Sohn seinerseits legte das als Gleichgültigkeit aus und sah darin fast etwas wie ein Schuldbekenntnis des Vaters - die Mutter hatte offenbar doch recht, wenn sie immer sagte, sie liebe ihn mehr als der Vater, der sich nicht viel aus ihm mache. So wurde er von ihr ganz für ihre Zwecke und als Racheobjekt gegen ihren Mann benutzt, ohne daß sie sich Gedanken darüber machte, was sie ihm damit antat. Sie rächte sich für die Enttäuschung an ihrer Ehe, für die sie dem Mann allein die Schuld gab, weil er ihr »zu wenig bot«. Das einzige Kind in einer sehr problematischen Ehe, ein sehr charmantes Mädchen, wurde von der Mutter für die Erfüllung ihres eigenen unbefriedigten Geltungsbedürfnisses mißbraucht. Mit vier Jahren mußte es bereits auf dem Laufsteg Kinderkleider vorführen. Die Mutter saß unterhalb des Laufsteges, und das Kind hatte große Angst, etwas falsch zu machen, sich ungraziös zu bewegen usf.; die, wie sie sagte, kalten und harten Augen der Mutter registrierten jeden »Fehler«. Ging alles gut, umarmte und küßte die Mutter es zärtlich vor dem Publikum und gab ein rührendes Bild ihrer Mutterliebe; hatte es einen Fehler gemacht, wurde es zu Hause heftig gescholten und weiter trainiert, mit Androhung, daß so etwas nicht noch einmal passieren dürfe. Das Kind bekam das Gefühl, daß die Liebe der Mutter nur zu erreichen war, wenn es sie nicht enttäuschte und gut funktionierte; zugleich erhielten so äußere Vorzüge einen Überwert, ja, sie schienen überhaupt der einzige wirkliche Wert zu sein. Die mit Neid gemischte Bewunderung anderer Kinder war ihm nur ein geringer Trost. Später wurde sie ein gesuchtes Mannequin mit viel Erfolgen, aber einer zunehmenden Angst vor dem Älterwerden, da ja ihre ganze Existenz und ihr Selbstwertgefühl auf ihren körperlichen Reizen beruhte, ihre Beziehungen zu Männern ebenfalls. Sie hatte dementsprechend viele »Affären«, die sie letztlich aber unbefriedigt ließen, sehnte sich unbestimmt nach der »großen Liebe«. Sie wollte nicht älter als 30 Jahre werden - danach schien ihr das Leben keinen Sinn mehr zu haben. Sie reagierte mit schweren Depressionen auf schon geringe Gewichtszunahmen, weiterhin von der Mutter scharf kontrolliert und unnachsichtlich beurteilt auf ihren Markt-
wert hin; die Mutter vermittelte ihr Beziehungen zu vermögenden Männern und erhoffte sich von einem reichen Schwiegersohn soviel Sicherheit, daß für ihr Alter gesorgt wäre. Ein fast geglückter Selbstmordversuch brachte sie schließlich in die Psychotherapie, und ließ das ganze Elend hinter der schönen Fassade erkennen, um die so viele sie beneidet hatten - ein in vieler Hinsicht typisches Schicksal in diesem und ähnlichen Berufen. Eine Frau mit stark hysterischen Zügen suchte ihren Mann völlig zu beherrschen. Schon in ihrer elterlichen Familie war der Vater mehr oder weniger als komische Figur angesehen gewesen, gut genug, für die Familie den Lebensstandard zu verdienen, aber sonst eine »quantite negligeable«. Sie sah ihren Mann ebenso, vorwiegend als Erwerbsquelle, darin von der Mutter unterstützt, bei der sie häufiger sich aufhielt, als in der eigenen Wohnung. Die Mutter wertete den Schwiegersohn häufig ab - sie meinte, ihre Tochter hätte »etwas Besseres« verdient; der Schwiegersohn war Lehrer und somit zwar »sicher« und pensionsberechtigt, große Reichtümer waren indessen von ihm nicht zu erwarten. Sie hetzte die Tochter auf, soviel wie möglich aus ihm herauszuholen, und sich das Leben bequem zu machen. So ging die Tochter ihren Neigungen und Vergnügen nach, vernachlässigte den Haushalt. Sie wollte keine Kinder, und lebte mit der Einstellung, ihr Mann müsse eigentlich froh sein, etwas so Charmantes und Begehrenswertes wie sie lieben zu dürfen. Der Mann, der erst seine Freude an ihrem kapriziösen Wesen gehabt hatte, hoffte, daß sich ihre schwierigen Seiten in der Ehe und durch eine Mutterschaft legen würden. Das geschah indessen nicht; auch wollte die Frau die enge Bindung an die Mutter nicht aufgeben - sie blieb mehr deren Tochter, als daß sie seine Frau wurde und zu ihm stand. So wurde die Entfremdung zwischen ihnen immer größer; als der Mann eine Beziehung zu einer anderen Frau anknüpfte, strich die Ehefrau mit einer großzügigen Geste die Vergangenheit und ihren Anteil an dem Geschehen aus und hielt sich nur an das aktuelle Faktum seiner Untreue, die ihn zum Schuldigen machte. Sie war nicht bereit, sich einmal mit sich selbst und ihrem Verhalten zu konfrontieren, worin eine Chance zur Einsicht und zu Gesprächen gelegen hätte, die sie einander vielleicht wieder näher gebracht hätten - das wäre zuviel verbindliche Realtität gewesen, hätte zuviele unangenehme Selbsteinsicht erfordert und zu anstrengende Konsequenzen gehabt. In diesem Falle war die Frau noch gar nicht von ihrer Familie, vor allem von der Mutter, abgelöst; sie war noch tief in der Identifikation mit ihr steckengeblieben, und hatte damit deren Maßstäbe
und Ansichten ungeprüft übernommen. Solche nicht vollzogenen Ablösungen von den frühen Bezugspersonen sind ein Charakteristikum für hysterische Persönlichkeiten. Dafür ein weiteres Beispiel mit etwas breiterer Schilderung des Milieuhintergrundes: Fräulein P. war die einzige Tochter in einer sehr schwierigen Ehe. Der Vater war ein großzügiger Politiker, erfolgreich, aber zu Hause tyrannisch, voller Willkür und Intoleranz, ein ausgesprochener Despot. Die Mutter, selbst aus einer Familie stammend, wo die Männer patriarchalische Vorrechte genossen, die Frauen an zweiter Stelle rangierten, war in der Ehe eine kleinbürgerliche Glucke geblieben, ängstlich und unselbständig, zugleich aber unbelehrbar zäh festhaltend an übernommenen Vorurteilen und Meinungen, wie sie in ihrer Familie vorgeherrscht hatten. Nie hatte sie sich die Mühe gemacht, sich über Menschen oder Lebensfragen ein eigenes Urteil zu bilden; sie vertrat das Übernommene umso starrer, je unsicherer sie in sich selbst war, und lebte so in einer »Man-Welt«, in der es keine Probleme gab, weil sie immer wußte, wie »man« sich zu verhalten hatte. Sie bewunderte den erfolgreichen und bekannten Mann restlos, überließ ihm alle Entscheidungen (»du verstehst das ja doch besser«; »ich bin ganz deiner Meinung« - als gute Ehefrau hatte »man« der Meinung seines Mannes zu sein), ordnete sich ihm völlig unter und kam so auch in der Ehe zu keiner Weiterentwicklung, woran dem Mann allerdings auch nicht viel lag. Er war zufrieden, in ihr ein so gefügiges, für ihn sorgendes und ihn bewunderndes Wesen zu haben, das ihn, wenn er von seinen häufigen Reisen heimkam, verwöhnte. Aber andererseits wurde sie ihm dadurch auch langweilig, weil sie so wenig anregend und eigenständig war. Da sie sich selbst nicht ernst nahm, nahm auch er sie nicht ernst, und hatte bald andere Frauenbeziehungen. Sie kam dahinter und er leugnete es auch gar nicht ab; sie wollte sich nicht scheiden lassen, weil sie das auf die eigenen Füße gestellt hätte; er wollte es aus Bequemlichkeit nicht, hatte er doch so seine Abenteuer und trotzdem ein Zuhause außerdem hatte eine Scheidung vielleicht seinem Ruf geschadet. Sie reagierte hilflos auf die Situation, machte ihm erst verzweifelte Szenen und Vorwürfe, die ihn aber nur langweilten und abstießen. So blieb alles wie es war, nur daß sie sich in ihrer Not mehr und mehr an die Tochter klammerte. Sie vertraute dem Kind schon früh ihren Kummer an, belastete es damit nicht nur altersunangemessen, sondern erreichte auch, daß es den Vater durch die Augen der Mutter als bösen Mann sah, zugleich als abschreckendes Beispiel dafür, wie »die Männer« waren. Die Tochter hielt sich mehr an die Mutter,
weil diese sie verwöhnte und viel mehr für sie da war, als der immer beschäftigte, viel auf Reisen abwesende und so ungeduldige und unberechenbare Vater. Der Vater seinerseits begann an ihr erst mehr Interesse zu bekommen, als sie in die Pubertät kam und ein recht anziehendes junges Mädchen wurde. Er flirtete mit ihr, zog sie deutlich der Mutter vor, machte anerkennende Bemerkungen über ihre Figur und tätschelte sie auf nicht mehr nur väterliche Weise. Es entwickelte sich zwischen beiden eine erotisch getönte Beziehung, durch die sie sich ihrer körperlichen Reize bewußt wurde. Zugleich kam sie in eine schwierige Gefühlssituation, indem sie durch das Verhalten des Vaters zur Rivalin der Mutter gemacht wurde, die sie doch wegen ihrer Verläßlichkeit und immer Verfügbarkeit so brauchte. So schmeichelte ihr einerseits die männlich-anerkennende Zuwendung des Vaters, die ihr ein ganz neues Selbstwertgefühl gab, andererseits empfand sie Schuldgefühle der Mutter gegenüber, weil diese bei Anwesenheit des Vaters gleichsam zur Haushälterin degradiert wurde, während die reizvollen Dinge - Ausgehen, Stadtbummel usf. - der Vater nur mit ihr unternahm, zugleich empfand sie indessen auch einen geheimen Triumph darüber, daß sie die Mutter so beim Vater ausgestochen hatte - sie hatte nur Angst, sich die Liebe der Mutter zu verscherzen, denn letztlich war, bei aller Enge und Kleinbürgerlichkeit, es doch immer die Mutter gewesen, zu der sie mit ihren Sorgen hatte kommen können und auf die sie zählen konnte, von der sie Gefühlswärme bekam. So wurde sie hin und her gerissen von sich widersprechenden Gefühlen: der Vater war für sie der Repräsentant der »großen Welt«, und erweckte durch seinen Lebensstil in ihr unbestimmte Erwartungen und vage Vorstellungen eines Lebens, von dem sie klar fühlte, daß die Mutter es nie würde erfüllen können - die Mutter war viel mehr auf Bescheidenheit und Verzichten eingestellt, und hatte eher Angst vor jener Welt, in der sie fürchtete, sich nicht behaupten zu können und die ihr ja, wie sie meinte, den Mann weggenommen hatte. Diese Problematik wurde verschärft, als die Eltern sich trennten, ohne sich zu scheiden; der Vater zog in eine größere Stadt, und sie blieb mit der Mutter im gewohnten Rahmen. So schien mit dem Weggang des Vaters die »große Welt« zunächst für sie unterzugehen. Sie hielt sich wieder enger an die Mutter, die ihrerseits nun in der Tochter den ihr verbleibenden Lebensinhalt sah. Durch Verwöhnung und durch Erwecken von Schuldgefühlen, wenn die Tochter ihr eigenes Leben führen wollte und die Mutter häufiger allein ließ, band sie die Tochter an sich, und wiederholte so ihre
Haltung, die sie dem Manne gegenüber schon eingenommen hatte. Vom Vater enttäuscht, holte nun die Tochter aus der dazu nur zu bereiten Mutter heraus, was herauszuholen war. In unbewußter Identifikation mit dem Vater, durch die sie seinen Verlust auszugleichen versuchte, tyrannisierte sie nun ihrerseits die Mutter, und behandelte sie, wie der Vater es getan hatte. So setzten beide Frauen die alte eheliche Situation fort, nur mit dem Rollentausch von Vater und Tochter; sie kritisierte die Mutter, wie es der Vater getan hatte, ließ sich von ihr verwöhnen und bedienen, und ließ ihre Unzufriedenheit und ihre Launen an ihr aus, die die Mutter aus Verlustangst ertrug. Die Tochter sah den Vater nur noch in großen Abständen, wenn er sie zu sich in die Großstadt einlud. Sie war inzwischen herangewachsen und noch anziehender geworden, und der Vater konnte voll väterlichen Stolzes mit einer jungen Dame ausgehen, nach der sich die Männer umsahen, und die er für kurze Zeit wie eine Freundin verwöhnte. Während er die Mutter knapp hielt, so daß Mutter und Tochter recht bescheiden leben mußten, entfaltete er in den Tagen des kurzen Zusammenseins mit der Tochter den ganzen Glanz seines Lebens. Er ging mit ihr in elegante Restaurants, kaufte ihr teure Kleider und Schmuck, nahm sie in die Oper mit usf. Aber ebenso plötzlich wie der Glanz aufgeleuchtet war, verblaßte er wieder für unbestimmte Zeit: die Tochter wurde zur Mutter zurückgeschickt, in deren kleinbürgerliche Welt, in welche die Kleider, der Schmuck und die erweckten Ansprüche in keiner Weise mehr hineinpaßten, hier nur ihre Unzufriedenheit steigerten. So lernte sie, Ansprüche zu haben, die sie sich nicht durch eigene Leistung erfüllen konnte, Ansprüche, die sie an das Leben stellte, als ob sie ihr zuständen » womit sie nicht einmal völlig im Unrecht war, denn der Lebensstil des Vaters hätte sie ihr ermöglichen können; hätte er sich mehr um sie gekümmert, wäre ihre Entwicklung wohl anders verlaufen. Die Mutter nahm ihr soviel wie möglich ab, um von der Tochter gebraucht zu werden; aus ihrer Angst, auch noch die Tochter zu verlieren und dann ganz allein zu sein, war sie gar nicht daran interessiert, daß diese etwas Vernünftiges lernte das hätte ja ihre Zweisamkeit bedroht. Die Meinung des Vaters dazu war: »Meine Tochter hat es nicht nötig, zu arbeiten« - eine bei Selfmademen nicht selten zu findende Einstellung ihren Kindern gegenüber; der Stolz über das, was sie erreicht haben aus eigener Kraft, der Stolz, daß sie »es sich leisten können«, daß ihre Töchter kein Geld zu verdienen brauchen, läßt sie die Folgen für diese vergessen. Sie selbst hatte keine ausgeprägten Neigungen zu irgendeinem Beruf, lebte unbewußt damit wohl auch eine Rache an den
Eltern, daß sie auf sie angewiesen blieb, die man etwa so hätte formulieren können: »Wenn ihr mir schon alles so schwer gemacht habt, daß ich nicht weiß, wo ich hingehöre, sollt ihr wenigstens weiter sorgen für mich« - was an die Redensart erinnert: »Es geschieht meinem Vater ganz recht, wenn ich mir die Hände erfriere, warum kauft er mir keine Handschuhe«, hinter deren makabrem Humor oft Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung stehen. So wuchs Fräulein P. heran; sie war charmant, anspruchsvoll, verstand es, sich zu kleiden und »Konversation zu machen«, hatte die vom Vater übernommenen großen Allüren - allerdings ohne dessen Tüchtigkeit und Können. Nicht gewohnt zu arbeiten, lebte sie wie ein Dornröschen, das auf den sie befreienden Prinzen wartet. Es tauchte aber keiner auf, weil sie zu solchen Kreisen keinen Zugang hatte, und andererseits schlichtere Männer ihr »zu wenig zu bieten hatten«. Hinter den nach außen gezeigten Haltungen von Stolz, Anspruch und Sicherheit, war sie ein kleines, unsicheres Mädchen geblieben, gehemmt und muttergebunden, das diese Unsicherheit vor sich selbst und der Welt verschleiern mußte durch arrogantes Auftreten. Sie gewöhnte sich einen ihr als vornehm dünkenden leicht näselnden Tonfall an, und machte auf den ersten Blick den Eindruck einer leicht gelangweilten jungen Dame der »besseren Kreise«, die sich in der Welt auskannte. Auf diesem skizzierten Hintergrund entwickelte Fräulein P. zunehmend Angstzustände. Sie konnte ohne die Mutter nichts mehr unternehmen, nicht einmal mehr allein ausgehen. Sie bekam eine Angstneurose mit lärmender Symptomatik, die sich auch in körperlichen Symptomen wie Herzjagen, Schwindelgefühlen und Schlafstörungen äußerte, deretwegen sie - mit der Mutter - von Arzt zu Arzt zog - die Rechnungen bekam der Vater, der sich aber bald weigerte zu zahlen. Ihre eigentliche Angst, die Angst vor der Realität, vor dem sich Bewähren, vor dem Etwas-Lernen und vor klaren Entscheidungen, wie sie ihr Leben gestalten wollte, sowie vor dem Aufgeben ihrer kindlich-unreifen Haltungen, wurde auf diese Ängste verschoben, die nun die Entschuldigung dafür abgeben sollten, daß sie all das eben nicht konnte - sie war ja krank. Die Angstneurose hatte folgende Funktionen: sie band die Mutter als Schutz und Puffer vor der Welt an sich; sie ersparte ihr die Enttäuschung, zu erkennen, daß sie zwar große Wünsche an das Leben hatte, die sie in Tagträumereien breit ausfantasierte, für deren Verwirklichung aber die Fähigkeiten in ihr nicht entwickelt worden waren; sie war eine Rache an den Eltern, und sie hatte nun eine »legitime« Entschuldigung dafür, sich allem Unliebsamen entziehen zu können.
Natürlich ist auch dieses Beispiel noch zu vereinfacht, gleichsam im Zeitraffer gezeichnet; aber bei allen möglichen Variationen eines hysteriebegünstigenden Milieus, läßt es doch viele dafür typische Züge erkennen, die noch einmal zusammengefaßt werden sollen: Eine schwierige elterliche Ehe, in die das Kind - noch dazu als Einzelkind - in altersunangemessener Weise einbezogen wird; der Mangel an echter Führung und geschlechtsspezifischen Vorbildern; ein Milieu voller Widersprüche, mit zu wenig gesunden Orientierungsmöglichkeiten in der Welt; zu lange Bindung an einen Elternteil; Ausfall an solidem Können und Wissen; Verführung und Erwecken von vagen Erwartungen für die Zukunft; aus alledem keine geglückte Identität mit sich selbst. Fräulein P. wußte nie recht, was denn die »Wirklichkeit« eigentlich sei: Die großzügige Welt des Vaters, oder die enge, aber doch gefühlswarme und verwöhnende Mutter. Wie sollte sie selbst sein? Sollte sie eine große Dame werden - aber wie wurde man das? Oder sollte sie wie die Mutter werden - aber wie reizlos und langweilig war das! Und was sollte sie tun, wenn die Mutter einmal starb? Das war gar nicht auszudenken und veranlaßte sie, bei allem Quälen und Ausnutzen der Mutter, doch immer wieder nett zu ihr zu sein, um sie sich möglichst lange zu erhalten. So kann man die Ausweglosigkeit der Beziehung beider Frauen verstehen - sie brauchten sich gegenseitig zu sehr, um sich loslassen zu können - das Erwachsenwerden einer von ihnen hätte ihre sie schützende Neurose zu zweien bedroht, hätte beide zu Reifungsschritten gedrängt, vor denen sie Angst hatten. Die Erkrankung der Tochter war ein Alarmsignal des noch gesunden Teils in ihr, daß es so auf lange Sicht nicht weitergehen könne. Ulrike war das dritte Kind ihrer Eltern nach zwei vorangegangenen Schwestern, Sie hätte deshalb ein Junge sein sollen. War sie nun schon kein Junge und insofern eine Enttäuschung, hielten die Eltern trotzdem an ihrem Wunsch fest, und erzogen sie wenigsten wie einen Jungen. Sie wurde Uli gerufen, bekam Jungenskleidung, kurzen Haarschnitt, und man versicherte sich und ihr immer wieder, daß sie wie ein Junge aussehe, was sie, da es mit deutlicher Anerkennung ausgesprochen wurde, auch gern hörte und was dazu führte, daß sie sich auch jungenhaft benahm und bewegte. Sie spielte nur mit Jungen und bemühte sich, es ihnen gleich zu tun, war stolz, wenn jemand ihr sagte, sie könne es mit jedem Jungen aufnehmen. In der Pubertät war sie unglücklich, als die sekundären weiblichen Geschlechtsmerkmale bei ihr auftraten; in den Tagen ihrer Periode
war sie erst recht aktiv, um nicht hinter den Jungens zurückzustehen. Da sie dennoch zu einem recht aparten, knabenhaften Mädchentypus heranwuchs, mit dessen spezifischem Charme, fand sie bald Anklang bei Männern; da sie bisher zum Männlichen nur kameradschaftlich gestanden hatte, ging sie naiv-selbstverständlich schon bald mit einem Mann auf eine Wochenendreise, war aber hilflos entsetzt und empört, als dieser etwas von ihr wollte, womit sie gar nicht gerechnet hatte, und entzog sich ihm mit heftiger Abwehr. Der Vater, der seine Töchter abgöttisch liebte und Großes mit ihnen vorhatte, war einer jener »Erfinder«, die immer auf ihre große Erfindung warten, die sie nie machen; mit ihm wartete die ganze Familie darauf, und bedauerte den armen Vater, der so begabt war und nur nicht entdeckt wurde von der Welt. Ulrike hatte in der Schule bei kleinen Aufführungen gewisse Erfolge gehabt und ein gewisses schauspielerisches Talent gezeigt; nun versuchte der Vater plötzlich, seinen unerfüllten Ehrgeiz über die Tochter auszuleben: Sie sollte Schauspielerin werden. Sie bekam Schauspielunterricht; zu ihrem Glück - oder Unglück - wurde ihr Typ für ein Stück gesucht, und sie bekam ihre erste größere Rolle, die sie mehr ihrem Typ, als ihrem Können verdankte. Danach bekam sie keine weitere Rolle; der Vater schrieb Unmengen von Briefen, mit Fotos der Tochter und übertriebener Beschreibung ihrer Talente, an Bühnen und Agenturen. Sie wurde hier und da zum Vorsprechen gebeten; an sich kein großes Talent, fühlte sie sich doppelt gehemmt durch die vorangegangenen väterlichen Anpreisungen und die dadurch geweckten Erwartungen - und versagte. Dann versuchte sie es inzwischen - ohne daß die Hoffnung auf die schauspielerische Laufbahn aufgegeben wurde-in anderen Stellungen, für die sie aber zu wenig Vorkenntnisse mitbrachte, und die sie daher enttäuschten, so daß entweder bald ihr gekündigt wurde, oder sie nach einer Probezeit aufgab. Mit 25 Jahren begab sie sich in eine psychotherapeutische Behandlung wegen Angstzuständen (Agoraphobie); sie konnte nicht mehr allein aus dem Haus gehen und war arbeitsunfähig; ihre ganze Desorientiertheit und Hilflosigkeit kam darin zum Ausdruck. Das Beispiel ist vor altem charakteristisch für die Erschwerung der Hinfindung zur weiblichen Rolle und für die Schwierigkeit, die es für ein Kind bedeutet, wenn es Wunschvorstellungen der Eltern erfüllen soll, ohne dafür die Fundierung mitzubringen.
Ergänzende Betrachtungen Hysterische Persönlichkeiten leben in einer Pseudorealität, die wir bei ihnen auf allen möglichen Gebieten aufzeigen konnten. Die Frage der Echtheit ist ihr zentrales Problem - es ist die innere Spiegelung ihres Ausweichens vor der Realität in »Rollen«. Die Religion wird ihnen leicht zu einem unverbindlichen Glauben aus Pragmatismus - man kann nie wissen, ob man die Kirche nicht doch einmal braucht; auch hier ist ihnen oft der Schein wichtiger als die Echtheit; es genügt, wenn man die Form erfüllt. Der Gedanke, daß man durch Reue und Beichte alle Schuld loswerden, und wieder in aller Unschuld wie neugeboren anfangen kann, sagt ihnen sehr zu. Sie halten gern an der Vorstellung eines persönlichen Gottes im Sinne eines guten Vaters fest, der natürlich sie besonders liebt und das schon irgendwann zeigen wird. So bleiben sie in vielem kindlich-unreif, naiv und wundergläubig, sind verführbar durch Heilsversprechungen, die helfen wollen ohne große eigene Anstrengung. Sie sind daher oft Anhänger entsprechender Sekten, die auch ihr Sensationsbedürfnis ansprechen. Als Patienten in der Psychotherapie möchten sie sich am liebsten hypnotisieren lassen, mit der Erwartung, ihre Schwierigkeiten im Handumdrehen loszuwerden ohne eigene Anstrengung. In der Ethik haben sie ähnliche naiv-unverbindliche Einstellungen. Die Möglichkeit, alles zu relativieren und den Sündenbock draußen, im anderen, nur nicht bei sich selbst, zu suchen, wird reichlich benutzt. Das erschwert ihnen die Selbsteinsicht und Selbstkritik, weshalb sie aus Krisen selten etwas lernen. Auch bei ihnen geht es letztlich um allgemein Menschliches, an dem wir in verschiedener Akzentuierung teilhaben, weil wir alle auch diese uns prägende Entwicklungsphase unserer Kindheit durchlaufen müssen, mit den zu ihr gehörenden Aufgaben und Ängsten. Wir kennen den gleichen Vorgang des Projizierens eigener Mängel und Schuldgefühle auf andere zur Entlastung auch in Kollektiven, wo er eine große und gefährliche Rolle spielt. Hier eignet sich für solche Projektionen der »Feind« besonders gut, und man bekommt den Eindruck als müßten Feinde erfunden werden zur Entlastung eigener Schuld. Ganze Völker, Glaubensgemeinschaften und Rassen pflegen aufeinander das zu projizieren, was sie bei sich selbst nicht wahrhaben wollen, und von gewissenlosen Machthabern kann diese Projektionsbereitschaft angeschürt und politisch oder ideologisch ausgenutzt werden. Solche unkontrollierten und aufgeheizten Projektionen sind als psychodynamischer Hintergrund am Zustandekommen von Kriegen, Rassenhaß und
Glaubenskämpfen entscheidend mitbeteiligt. Das sich Befreienwollen von belastender und schuldhafter Vergangenheit ist ein allgemein menschliches Bedürfnis. Im Gegensatz zum Depressiven, der sich für zu vieles schuldig hält, neigt der Hysteriker dazu, eigene Schuld zu vergessen oder abzuleugnen. Die Eigenart der deutschen Sprache, daß sie die Bezeichnung für »Vergehen« im zeitlichen wie im sittlichen Sinn durch dasselbe Wort ausdrückt, kann uns nachdenklich machen - vergehen unsere Vergehen mit der Zeit? Dem hysterischen Anteil in uns wäre das sehr recht. Als Eltern und Erzieher können Menschen mit hysterischen Persönlichkeitsanteilen begeistern und mitreißen; sie haben eine starke Suggestivkraft, können überzeugen, und dem Kind das Gefühl geben, daß das Leben schön und lebenswert ist. In der Gefühlszuwendung sind sie mehr spontan als gleichmäßig; die Kinder empfinden ihre Eltern als liebenswert und sind stolz auf sie, bewundern sie; das Elternhaus hat »Atmosphäre«, ist gastfreundlich, und sie werden von vielen um ihre Eltern beneidet - oft allerdings nur so lange, bis sie das Fassadenhafte erkannt haben. Bei überwiegend hysterischer Struktur der Eltern liegt die Schwierigkeit vor allem im Mangel an Konsequenz in der Erziehung; Verwöhnen und Versagen liegen bei ihnen schroff nebeneinander, so daß das Kind sich schwer orientieren kann, nie recht weiß, womit es zu rechnen hat, auch, weil das Verhalten der Erwachsenen zu stimmungsabhängig, weniger von objektiven Tatsachen bestimmt ist. So vermitteln sie oft ein seelisches »Aprilklima«, das verunsichernd oder chaotisierend auf das Kind wirkt. Häufig erwecken sie in ihm falsche Lebenserwartungen. Wenn sie das Kind enttäuscht haben, oder von ihm einen notwendigen Verzicht fordern müssen, machen sie ihm unbestimmte Versprechungen auf irgendeine ferne Zukunft - »wenn du erst einmal erwachsen bist« - und lenken es so davon ab, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und einen notwendigen Verzicht einzusehen; jeder Verzicht wird dann beim Kind mit der Erwartung einer demnächst fälligen Belohnung verbunden. Das erweckt in ihm jene gefährliche Erwartung einer Zukunft voller Wunder, die irgendwann geschehen werden, und so unterstützen sie seine illusionären Wunschvorstellungen, anstatt es an die Realität heranzuführen. Sie geben ihm so und auf andere Weise kein rechtes Handwerkszeug mit auf seinen Weg, zu wenig vernünftige und tragende Erfahrungen, was den Ansatz legt für spätere Enttäuschungen an sich selbst und am Leben. Einerseits binden sie das Kind zu intim an sich, andererseits stoßen sie es plötzlich wieder weg: wenn es für sie zum Anspruch, zur Last und Verantwortung wird, wenn es
Verständnis sucht für seine Probleme, fühlt es sich plötzlich alleingelassen, und muß erkennen, daß die Liebesbeteuerungen letztlich schöne Worte waren. Sie vertragen die Kritik des Kindes nicht, nehmen sie als persönliche Kränkung, und können schwer eigene Fehler zugeben - im Unterschied zum zwanghaften Menschen, nicht wie dieser aus Machtanspruch und Perfektionismus, sondern aus verletzter Eitelkeit und Eigenliebe. Werden sie vom Kind gestellt, zur Rechenschaft gezogen, gehen sie darauf gar nicht ein, sondern betonen nur, daß sie immer das Beste gewollt und soviel Opfer gebracht haben, so daß das Kind Schuldgefühle bekommt wegen seiner Undankbarkeit, anstatt daß es ernst genommen wird in seinen Schwierigkeiten. Gefährlich ist auch ihre Neigung, die Kinder zu Vorführkindern zu »erziehen«; sie sollen dann zum Ruhm der Eltern glänzen und dürfen nicht enttäuschen, da sie sonst deren Liebe verlieren. Überhaupt ist die Gefahr, das Kind in eine Rolle zu schieben, bei ihnen am größten. Teils weil sie das Kind mißbrauchen, um ihr eigenes Ansehen zu heben, teils weil es ihre eigenen nicht erfüllten Wünsche für sie erfüllen soll - ich erinnere an das Beispiel des Mannequins. In der Politik vertreten die hysterischen Persönlichkeiten gern die liberalen oder revolutionären Parteien, nicht zuletzt aus Sensationsbedürfnis, sowie aus einer unbestimmten Unzufriedenheit und ebenso unbestimmten Zukunftserwartungen. Sie sind aber Revolutionäre nicht mit der Härte und Konsequenz Schizoider: sie sind fortschrittsgläubig, oft in naiver Weise, indem sie an das Neue glauben, nur weil es neu und anders ist - hierin wieder deutlicher Gegenpol zum zwanghaften Menschen, der am Alten hing, weil es zumindest bekannt und erprobt ist. Ein Politiker von Format mit hysterischen Einschlägen ist, nach der Darstellung von Andre" Maurois, wohl Benjamin Disraeli gewesen. Auch als Politiker sind sie die mitreißenden, begeistern könnenden Redner, die nur gern zu viel versprechen. Oft sind sie Führernaturen, denen es mehr liegt, Dinge in Gang zu bringen, neue Wege aufzuzeigen, als die dann notwendige Kleinarbeit in der Durchführung ihrer Ideen zu leisten. Aber sie können auch die Verführer sein, die geschickt die geheimen Wünsche ihrer Wähler benutzen, um sich hochzuspielen, und die nach dem Grundsatz leben »après moi le déluge«, »nach mir die Sintflut«, die sich nicht mehr um das kümmern, was sie ausgelöst haben; manchmal sind sie die Vabanque-Spieler, die viel riskieren, und auch nach Niederlagen wie ein Stehaufmännchen immer wieder auf ihre Füße fallen. In der sozialen Gemeinschaft eignen sie sich für alle Berufe, die
einen persönlichkeitsgebundenen Einsatz erfordern, elastisches Reagieren auf den jeweiligen Augenblick, Wendigkeit, Kontaktfreudigkeit und Anpassungsfähigkeit, und die zugleich ihrem Geltungsbedürfnis, ihrem Wunsch persönlich zu wirken, entgegenkommen. So liegen ihnen alle Tätigkeiten, in denen sie repräsentieren können, in denen sie Würden und Ämter vertreten, die ihnen eine symbolhafte Bedeutung verleihen, da sie sich weitgehend mit dem Amt oder der Würde als Rolle identifizieren. Dabei ist ihnen Amt und Würde weniger Verpflichtung, wie dem zwanghaften Menschen, sondern die Möglichkeit, den Glanz ihrer Persönlichkeit zu erhöhen, weshalb ihnen Orden und Titel besonders reizvoll erscheinen. Alle Tätigkeiten, bei denen es auf Kontaktfähigkeit ankommt und die ihr Bedürfnis nach mitmenschlicher Bezogenheit, ihren Wunsch nach »Publikum« befriedigen, liegen ihnen. Sie sind der überredende Vertreter oder der überzeugende, suggestive Verkäufer, der dem Kunden einen Ladenhüter als besonders günstigen Kauf aufdrängt, oder einen anderen, der nur eine Krawatte kaufen wollte, ganz eingekleidet entlassen. Sie sind überall am Platz, wo es auf Charme, körperliche Vorzüge, auf Gewandtheit und spontane Zielstrebigkeit ankommt, auf Improvisation, auf Überraschungs- und Überrumpelungssiege. Alle Berufe ziehen sie an, die unbestimmte Hoffnungen auf ein Leben in der »großen Welt« versprechen oder damit in Berührung bringen; Fotomodelle, Mannequins, Geschäftsführer; das Schmuck- und Verschönerungsgewerbe, sowie das Hotelwesen liegen ihnen. Sie sind in ihren Leistungen mehr personen- als sachbezogen, so daß diese sehr abhängig sind von demjenigen, für den sie vollbracht werden. Bei entsprechender Begabung können sie ihre Anlagen und Eigenschaften, die starke Wunsch- und Einbildungskraft, die Ausdrucksfähigkeit und Darstellungsfreude, ins Künstlerische sublimieren, vor allem ins Schauspielerische und Tänzerische. Das Alter und der Tod sind die letzten nicht vermeidbaren Realitäten unseres Lebens, die sich auf die Dauer nicht wegleugnen lassen. Ungewohnt, Realitäten anzunehmen und Notwendigkeiten sich zu beugen, haben die hystersichen Persönlichkeiten die Neigung, auch vor diesen Realitäten solange wie möglich die Augen zu verschließen. Das Alter und den Tod gibt es natürlich, das läßt sich nicht leugnen, aber wohl mehr für die anderen, nicht für einen selbst. Sie versuchen daher, die Illusion ewiger Jugend möglichst lange aufrecht zu erhalten, die Vorstellung einer immer noch vor ihnen liegenden Zukunft voller Möglichkeiten. Sie sind besonders empfänglich für alle Methoden und Praktiken, die ein langes Jungbleiben versprechen, sowie für Lehren, die das Fortleben nach
dem Tode, möglichst als Weiterbestehen ihrer Person, ansprechen. Eine häufigere Folge des Ausklammems ihres eignen Todes ist, daß sie nicht rechtzeitig ihr Testament machen und ihre Angelegenheiten ordnen, so daß sie manchmal ein Chaos hinterlassen. Im Alter kommt es bei ihnen nicht selten, unter dem Druck der Todesnähe, zu plötzlichen, scheinbar radikalen Umorientierungen und Änderungen ihres Verhaltens, die an den Spruch »Junge Hure, alte Betschwester« erinnern, und bei genauerer Betrachtung opportunistisch wirken, so daß die Echtheit solcher Wandlung fraglich ist. Sie verstehen es vielleicht am schwersten, mit Würde zu altern, haben dafür die Fähigkeit, ihre Vergangenheit zu verklären und in Erinnerungen zu leben, die sie wunschgemäß abgewandelt haben, und in denen sie die Hauptrolle spielen. Manche vermögen es indessen auch, ihrem Sterben Glanz zu verleihen, und können den Abgang von der Bühne des Lebens zu einem beeindruckenden Schauspiel machen durch eine heroische Größe im Sterben. Die Kunst in allen ihren Formen ist die bevorzugte Domäne hysterischer Persönlichkeiten; was sie schaffen, trägt unverkennbar ihre persönliche Note; manchmal neigen sie zu einem gewissen Exhibitionismus; sie sind gute Brief Schreiber und auch Autobiographie und Selbstdarstellung liegen ihnen. Farbigkeit, Originalität, Lebendigkeit sind ihre Stärken. Das Formale ist ihnen oft nicht so wichtig. Sie neigen auch besonders zu Tagträumereien, die die Gefahr in sich tragen, daß die Phantasie nicht in gesunder Weise sich vorübend auf das Leben hin richtet, sondern sie von ihm abzieht in eine Traum- und Wunschwelt, die sie immer mehr von der Wirklichkeit entfernt - nur der Künstler vermag daraus etwas Schöpferisches zu gestalten. Die Träume hysterischer Persönlichkeiten - soweit sie die strukturspezifische Problematik spiegeln - zeigen häufig in naiver Form Wunscherfüllungen, haben etwas Illusionäres an sich, weil die Gesetze der Realität in ihnen aufgehoben sind, so daß es in ihnen oft wie im Märchen zugeht. Patentlösungen bestehender Probleme werden geträumt - in einer ausweglosen Situation etwa kann man plötzlich fliegen, oder man hat magische Fähigkeiten, oder irgendein deus ex machina taucht plötzlich auf und rettet die Situation. Die verdrängte Angst in der Tiefe drückt sich nicht selten im Traume so aus, daß man keinen festen Boden unter den Füßen hat, plötzlich vor einem Abgrund steht - Situationen also, die man mit dem Bild des Reiters über dem Bodensee charakterisieren könnte. Ihre Träume sind meist farbig, lebendig, voller Geschehen, und auch lange Träume werden oft gut erinnert. Charakteristisch ist
weiter nicht selten, daß die Lösung einer schwierigen Aufgabe, die Anstrengungen kosten würde, nicht vom Träumer selbst vollbracht wird, sondern andere Personen nehmen es ihm ab. Versuchen wir, eine ansteigende Linie hysterischer Persönlichkeitsstrukturen aufzuzeigen vom gesunden Menschen mit hysterischen Persönlichkeitsanteilen, bis zu leichteren und schweren Störungen in diesem Strukturkreis, sähe diese etwa so aus: lebendigimpulsive Menschen mit betonterem Geltungsdrang und Eigenliebe - narzißtisches Bedürfnis nach Bestätigtwerden und Mittelpunkt-sein-Wollen - überwertiger Geltungsdrang und Kontaktsucht-Vater-Töchter und Mutter-Söhne, die sich nicht vom Familienroman abgelöst haben - hysterische Unechtheit, Rollenspiel und Realitätsflucht bis zur Hochstapelei - ewige Backfische und Jünglinge - männer- oder frauenfeindliche Persönlichkeiten, die ihre Geschlechtsrolle nicht annehmen, nicht selten in die Homosexualität ausweichen - »kastrierende«, destruktive Frauen mit ausgesprochenem Männerhaß, und Don-Juan-Typen mit Rachehaltungen der Frau gegenüber - Phobien - schwer hysterische Krankheitsbilder mit seelischer und körperlicher Symptomatik, welch letztere sich auf kein Organsystem festlegen läßt, bei einer Bevorzugung der Extremitäten (Lähmungserscheinungen). Der gesunde Mensch mit hysterischen Strukturanteilen ist risikofreudig, unternehmenslustig, immer bereit, sich Neuem zuzuwenden; er ist elastisch, plastisch, lebendig, oft sprühend und mitreißend, lebhaft und spontan, gern improvisierend-ausprobierend. Er ist ein guter Gesellschafter und nie langweilig, bei ihm ist »immer etwas los«; er liebt alle Anfänge und ist voll optimistischer Erwartungsvorstellungen vom Leben. Jeder Anfang scheint ihm alle Chancen zu enthalten, ist erfüllt mit dem Zauber, der allem Anfang innewohnt, wie es das Motto zu diesem Kapitel ausdrückt. Er bringt alles in Bewegung, rüttelt an Traditionen und veralteten, erstarrten Dogmen und hat etwas bezwingend Suggestives, viel Charme, den er bewußt einzusetzen weiß. Er nimmt nichts zu ernst - außer vielleicht sich selbst - weil er um die Relativität der meisten Dinge im Leben weiß; er ist stärker im Impulse-Setzen und Etwas-in-Gang-Bringen als in der Ausdauer und geduldigen Durchführung von Geplantem. Aber gerade seine Ungeduld, seine Neugier und Unbeschwertheit von Vergangenheit, läßt ihn manche Chance sehen und ergreifen, die anders Geartete nicht sehen, oder die diesen ein Halt, eine Grenze bedeuten würde. So kann er eigenwillig und wagemutig das Leben wie ein buntes Abenteuer sehen, und der Sinn des Lebens liegt für ihn darin, es möglichst reich, intensiv und füllig zu leben.
Schlußbetrachtung »Wenn jeder altes von dem andern wüßte, Es würde jeder gern und leicht verzeihen, Es gäbe keinen Stolz mehr, keinen Hochmut«. (Hafis)
Hinter den vier Grundformen der Angst stehen allgemein-menschliche Probleme, mit denen wir alle uns auseinandersetzen müssen. Jedem von uns begegnet die Angst vor der Hingabe in einer ihrer verschiedenen Formen, die als Gemeinsames das Gefühl der Bedrohtheit unserer Existenz, unseres persönlichen Lebensraumes, oder der Integrität unserer Persönlichkeit haben. Denn jedes vertrauende sich Öffnen, jede Zuneigung und Liebe kann uns gefährden, weil wir dann ungeschützter und verwundbarer sind, etwas von uns selbst aufgeben müssen, uns einem anderen ein Stück ausliefern. Daher ist alle Angst vor der Hingabe verbunden mit der Angst vor einem möglichen Ich-Verlust. Jedem begegnet auch die Angst vor der Ich-Werdung, vor der Individuation, die in den verschiedenen Formen ihres Auftretens als Gemeinsames die Angst vor der Einsamkeit hat. Denn jede Individuation bedeutet ein sich Herausheben aus bergenden Gemeinsamkeiten. Je mehr wir wir selbst werden, um so einsamer werden wir, weil wir dann immer mehr die Isoliertheit des Individuums erfahren. Jedem begegnet auch die Angst vor der Vergänglichkeit auf seine Weise; unvermeidlich erleben wir immer wieder, daß etwas zu Ende geht, aufhört, plötzlich nicht mehr da ist. Je fester wir etwas halten, beibehalten wollen, um so mehr erliegen wir dieser Angst, deren verschiedene Formen als Gemeinsames die Angst vor der Wandlung erkennen lassen. Und jeder begegnet schließlich auch der Angst vor der Notwendigkeit, vor der Härte und Strenge des Endgültigen, bei deren verschiedenen Ausformungen das Gemeinsame die Angst vor dem unausweichlichen Festgelegtwerden ist. Je mehr wir eine unverbindliche Freiheit und Willkür anstreben, desto mehr müssen wir die Konsequenz und die Grenzen der Realität fürchten. Da sich die großen Ängste unseres Daseins, die so wichtig für unsere reifende Entwicklung sind, nicht umgehen lassen, bezahlen wir den Versuch, vor ihnen auszuweichen, mit vielen kleinen, banalen Ängsten. Diese neurotischen Ängste können sich praktisch auf alles werfen, und sie sind letztlich nur aufzulösen, wenn wir die dahinterliegende eigentliche Angst erkannt haben, und uns mit
dieser auseinandersetzen. In der Verschiebung, Verharmlosung und gleichsam karikierenden Verzerrung der Daseinsängste, erscheinen die neurotischen Ängste als unsinnig - sie quälen und belasten nur noch. Wir sollten sie indessen als Alarmzeichen verstehen, als Hinweis darauf, daß wir auf irgendeine Weise nicht »richtig liegen«, daß wir etwas vermeiden wollen, statt uns damit auseinanderzusetzen, etwas Wesentlicheres, das die verschobene Angst zudecken will. Die Begegnung mit den großen Ängsten ist ein Teilaspekt unseres reifenden Weiterschreitens; die Verschiebung auf jene stellvertretenden neurotischen Ängste hat nicht nur eine lähmende und hemmende Wirkung, sondern sie zieht uns auch von wesentlichen Aufgaben unseres Lebens ab, die zu unserem Menschsein gehören. So bekommt die Angst in ihren beschriebenen Grundformen eine wichtige Bedeutung: sie ist nicht mehr nur ein möglichst zu vermeidendes Übel, sondern, und das von ganz früh an, ein nicht wegzudenkender Faktor unserer Entwicklung. Wo wir eine der großen Ängste erleben, stehen wir immer in einer der großen Forderungen des Lebens; im Annehmen der Angst und im Versuch, sie zu überwinden, wächst uns ein neues Können zu - jede Angstbewältigung ist ein Sieg, der uns stärker macht; jedes Ausweichen vor ihr ist eine Niederlage, die uns schwächt. Wie aus den lebensgeschichtlichen Beispielen wohl zu ersehen war, hat unsere Angst eine Vorgeschichte, eine Entwicklungsgeschichte. Ausmaß, Intensität und Objekt unserer Ängste als Erwachsene, sind immer auch durch unsere Kindheitsängste vorgeformt und mitbestimmt. Der Mensch mit einer weitgehend geglückten Kindheit ist, wenn ihn nicht außergewöhnliche Schicksalsschläge treffen, im allgemeinen in der Lage, die Grundängste zu verarbeiten, soweit zumindest, daß er nicht an ihnen erkrankt, weil er ein stabiles Fundament seiner Persönlichkeit aufbauen konnte. Wer dagegen zu früh altersunangemessenen Ängsten und Schicksalsbelastungen ausgesetzt war und in seiner Umgebung keine Hilfe fand, erlebt Angst auch später als viel gefährdender und erdrückender, denn sie aktiviert bei ihm alte, unverarbeitete Ängste aus seiner Frühzeit. Diese aufzuarbeiten kann ihm die Psychotherapie in einer ihrer Formen helfen. Es kann ihm aber vielleicht schon eine Hilfe sein bei schwer erträglichen Ängsten, die, von der Wirklichkeit her gesehen, das Ausmaß der Angst nicht verständlich machen, sich klar zu machen, daß es sich dann mit Sicherheit um die Wiederbelebung von Kindheitsängsten handelt, denen er damals hilflos ausgeliefert war, gegen die er aber inzwischen Kräf-
te verfügbar hat, die ihm damals fehlten: Vertrauen, Hoffnung, Einsicht und Mut. Wenn Rilke einmal vom Menschen gesagt hat: »Mach, daß er seine Kindheit wieder weiß, das Unbewußte und das Wunderbare, und seiner ahnungsvollen Anfangsjahre unendlich dunkelreichen Sagenkreis« - so ist das gewiß ein tiefsinniges Wort. Aber leider trifft es für viele so nicht zu: ihre Anfangsjahre waren mehr dunkel als reich, mehr bedrückend als ahnungsvoll, mehr frustrierend als wunderbar. Aber auch für sie kann es eine Hilfe sein, in einem psychotherapeutischen Nachentwicklungsprozeß ihre Vergangenheit zu verarbeiten, und sich so weit wie möglich von deren Schädigungen zu befreien. Das Zusammentreffen unserer Anlage mit der Umwelt, in die wir hineingeboren werden - Umwelt im weitestmöglichen Sinne verstanden - macht das aus, was wir Schicksal nennen; dieses unser Schicksal wird in seinen Anfängen durch unsere Kindheit vorgeformt, beginnt mit ihr - es ist die »geprägte Form, die lebend sich entwickelt«. Aber gerade die Psychotherapie hat uns Möglichkeiten gegeben, manches von dem, was wir früher als Schicksal glaubten hinnehmen zu müssen, als Folgen früher Umweltschädigungen zu erkennen, die nachträglich wieder gutgemacht werden können. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, daß bei diesen Frühprägungen die jeweilige Gesellschaft eine entscheidende Rolle spielt. Wenn sie hier vernachlässigt wurde, dann nicht, weil ihre Bedeutung unterschätzt wurde, sondern deshalb, weil in den frühen Kindheitsjahren die Eltern die Hauptbezugspersonen sind. Soziopsychologische Einwirkungen treffen das Kind zunächst nur mittelbar über seine Eltern, als deren Einstellung zur Gesellschaft, zur Autorität, zur Leistung, zur Religion und zur Sexualität usf. Deshalb ist in den aufgewiesenen Fehlhaltungen der Eltern dem Kind gegenüber immer auch ein Stück Gesellschaftskritik mitenthalten, soweit eben die Eltern als Mitglieder einer Gemeinschaft, einer Kultur, einer Gesellschaftsklasse oder einer herrschenden Ideologie, deren Forderungen dem Kind übermitteln. Auch die Gesellschaft, der Staat usf. müssen sich mit den vier Grundängsten auseinandersetzen, und ihre Antwort darauf fällt verschieden aus, je nach den herrschenden Ideologien. Mit den vier Grundformen der Angst, bzw. mit den vier Grundimpulsen oder Grundforderungen, ist etwas allgemein Gültiges und Grundsätzliches gemeint, das nicht weiter ableitbar zu unserer Existenz gehört. Das scheint auch daraus hervorzugehen, daß wir prinzipiell immer vier Möglichkeiten haben, auf eine Lebenssituation zu antworten; zu jeder mitmenschlichen Beziehung, zu jeder
Aufgabe oder Forderung können wir uns auf viererlei Weise einstellen: wir können uns erkennend von ihr distanzieren, oder uns mit ihr liebend identifizieren; wir können sie wie ein Gesetz auf uns nehmen, oder sie unseren Wünschen gemäß umzuwandeln versuchen. Jede wesentliche Aufgabe, jede Entscheidung, jede wesentliche menschliche Begegnung, jedes schicksalhafte Geschehen trägt potentiell alle vier Antwortmöglichkeiten in sich. Sie verfügbar zu haben und sie je nach den Gegebenheiten der Situation und unseren eigenen Anlagen anzuwenden, zumindest sie bei unseren Entscheidungen als verschiedene Möglichkeiten einzubeziehen, ist ein Zeichen von Lebendigkeit. Aber nicht nur das; oft fordert etwa eine menschliche Beziehung, daß wir praktisch gleichzeitig alle vier Impulse in lebendiger Durchdringung leben müssen. Denken wir etwa an die Erziehung: sie erfordert vom Erzieher sowohl die nötige schöpferische Distanz, die er braucht, um das Kind in seinem Eigensein zu erkennen und es ihm zuzugestehen; sie erfordert eine liebende Einstellung, um dem Kind Vertrauen zu ermöglichen und es einfühlend zu verstehen; sie erfordert gesunde Härte und Konsequenz, um es Ordnungen erleben zu lassen; und sie erfordert schließlich Zutrauen in die und Respekt vor der Eigengesetzlichkeit des Kindes, um es nicht nach eigenen Wünschen zu formen und damit zu überfremden. Solche »Vollständigkeit« ist aber dem einzelnen immer nur begrenzt möglich, da wir als Menschen unvollkommen und unvollständig sind. Es scheint mir aber wichtig zu sein, die uns individuell begrenzenden Einseitigkeiten unseres Wesens an der vorschwebenden Vorstellung einer solchen Ganzheit auszurichten. Jeder von uns hat auf Grund seiner ererbten körperlich-seelischen Konstitution, auf Grund seiner vorgefundenen Umwelt und ihrer Einflüsse, auf Grund seiner individuellen Erfahrungen und erworbenen Verhaltensweisen, auf Grund seiner Lebensgeschichte also, die seine Persönlichkeit und seinen Charakter formten, seine individuellen Möglichkeiten und Grenzen, seine Unvollständigkeiten und Einseitigkeiten. Der eine wird nun versuchen, seine Begrenztheit und Einseitigkeit zu bejahen und möglichst fruchtbar zu leben, weil er weiß, daß die »Ganzheit« nicht erreichbar ist. So kann er gleichsam zum Repräsentanten einer der vier Grundeinstellungen werden, zum Exponenten eines der vier Grundimpulse, den er in größtmöglicher Vollkommenheit lebt. Und ein anderer wird versuchen, sich der Ganzheit, der Vollständigkeit immer mehr zu nähern, weil er wsiß, daß »Vollkommenheit« nicht erreichbar ist, und daß die reichste Selbstverwirklichung nur aus dem eigenen Wesen heraus nicht möglich ist. Kann die Größe des einen im
bewußten Verzicht auf auch noch Mögliches, und im konsequenten Vervollkommnen seines Wesens in seinen Grenzen liegen, so die des anderen darin, möglichst viel von ihm zunächst Wesensfremdem und Fernliegendem in sich zu integrieren und sich damit immer erneut zu weiten. Vollkommenheit und Vollständigkeit die beiden menschlichen Idealziele, die beide nicht zu erreichen sind, denen wir uns in unseren Grenzen nur anzunähern vermögen. Auf die vier Grundstrebungen angewandt: immer können wir versuchen, uns selbst treu zu bleiben, unsere Individualität zu bewahren, Abhängigkeiten zu vermeiden und durch Erkenntnis die Welt zu verstehen und furchtlos unser Eigensein zu leben. Immer können wir versuchen, vom uns einengenden Ich freizukommen in mitmenschlicher Verbundenheit, in einfühlender Liebe und Selbstlosigkeit, in grenzüberschreitender, transzendierender Hingabe und Selbstaufgabe. Immer können wir versuchen, das, was uns als wahr, gut und schön erscheint, als etwas ewig Gültiges anzuerkennen, für dessen Dauer wir uns einsetzen gegen kurzfristig wechselnde Einflüsse, die es erschüttern und zerstören wollen, können die Gesetze und Ordnungen, die wir als notwendig erkannt haben, fest vertreten. Und immer können wir schließlich unsere Freiheit wollen, den immerwährenden Wandel des Lebens bejahen, im Gegensatz zur vorbeschriebenen »apollinischen« eine »dionysische« Haltung einnehmen, die das Leben in seiner ganzen Großartigkeit und Furchtbarkeit bejaht, und beide in der eigenen Seele wiederfindet. Und immer können wir - gleichsam schizoid - aus Angst vor dem Ich-Verlust den nahen mitmenschlichen Kontakt vermeiden; können wir - gleichsam depressiv - aus der Angst vor Trennung und Einsamkeit in Abhängigkeiten verbleiben; immer können wir - gleichsam zwanghaft - aus der Angst vor Wandel und Vergänglichkeit am Gewohnten festhalten, oder können wir schließlich gleichsam hysterisch - der Willkür verfallen, um die Angst vor der Notwendigkeit und Endgültigkeit zu vermeiden. Das führt dann jeweils zum Ausweichen vor einer oder mehreren der großen Forderungen, und im gleichen Maße wird unsere Menschlichkeit fragmentarischer. Es sei noch angedeutet, daß je zwei sich antinomisch ergänzende Persönlichkeitsstrukturen oft eine instinktive Anziehung aufeinander ausüben, eine Faszination - denn nichts pflegt uns stärker zu faszinieren, als wenn ein anderer überzeugend das darlebt, was wir selbst auch als Möglichkeit in uns ahnen, aber vielleicht unter-
drückt, oder nicht zu leben gelernt haben, bzw. nicht leben durften. Es scheint so zu sein, daß wir durch den jeweiligen Gegentyp zur »Ganzheit« kommen möchten, zu einer Vollständigkeit, die uns aus unserer individuellen Begrenztheit und Einseitigkeit befreien soll, was ja auch einen wesentlichen Teil der geschlechtlichen Faszination ausmacht. In diesem Sinne pflegen einerseits schizoide und depressive, andererseits zwanghafte und hysterische Persönlichkeiten sich anzuziehen. Ob darin unsere unbewußte Sehnsucht nach Er-gänzung zum Ausdruck kommt, der Wunsch, am Partner das zu finden, was uns selbst fehlt; ob wir darin die Möglichkeit ahnen, aus den Fesseln schicksalhafter Strukturfestgelegtheit erlöst zu werden? Jedenfalls kann in der antinomischen Anziehung der Gegentypen eine Chance für solche Ergänzung liegen. Aber nur, wenn wir bereit sind, das Anderssein des anderen anzunehmen, ihn ernst nehmen und verstehen wollen, können wir hoffen, dieses Andere auch in uns selbst zu entdecken und zu entwickeln. Freilich - in der Realität des Lebens sieht das meist anders aus: Da versucht jeder, den anderen in seine Bahn zu ziehen, will ihn sich selbst möglichst ähnlich machen, wodurch nicht nur die schöpferische Spannung verloren geht, sondern erbitterte Kämpfe zu entstehen pflegen. Oder man mißversteht das Anderssein des anderen hoffnungslos, weil man nicht bereit ist, hinzuzulernen, oder weil man dessen Verhalten nur mit den eigenen Maßstäben mißt, die für ihn nicht zutreffen. Wenn sich schizoide und depressive Partner instinktiv anziehen, hat das meist folgende Grundlage: Der Schizoide ahnt die Liebesbereitschaft und Liebesfähigkeit des Depressiven, seine Opferbereitschaft, sein einfühlendes Sich-Bemühen und sich selbst Zurückstellen; er ahnt hier, wenn überhaupt, die Chance der Erlösung aus seiner Isolierung, die Möglichkeit, am Partner etwas nachzuholen, was er nie erleben durfte: vertrauen und sich aufgehoben fühlen. Hier bestände die Faszination darin, daß der Schizoide im Depressiven Möglichkeiten spürt, die auch in seinem Wesen angelegt sind, aber nicht ausgesprochen wurden in seiner Entwicklung. Und andererseits fasziniert den Depressiven am Schizoiden, daß dieser etwas lebt, was er sich nicht zu leben gewagt hat, bzw. nicht leben durfte: unabhängiges Individuum zu sein, ohne Verlustangst und Schuldgefühle. Zugleich spürt er, daß hier jemand ist, der seine Liebesbereitschaft dringend braucht. Wie sehr das mißglücken kann, sahen wir an dem früher geschilderten Beispiel. Denn wenn der Schizoide den festhalten wollenden Sog des Depressiven spürt, konstelliert das seine zentrale
Angst vor der Abhängigkeit; und wenn der Depressive den Unabhängigkeitsdrang des Schizoiden spürt, konstelliert das seine zentrale Verlustangst. Dann spitzen beide gerade ihre Abwehrhaltungen zu in endlosem tragischen Mißverstehen. Den als zwanghaft beschriebenen Menschen fasziniert die farbige Buntheit, Lebendigkeit, die Risikofreudigkeit und Aufgeschlossenheit für alles Neue seines hysterischen Gegentypus, weil er selbst so überwertig am Gewohnten festhält, immer auf Sicherheit bedacht ist, und so sein Leben, wie er selbst spürt, unnötig einengt. Und entsprechend ist, wie wir schon andeuteten, der auf der hysterischen Linie liegende Mensch fasziniert von seinem Gegentyp, weil dieser die Stabilität, Solidität, die Konsequenz und Verläßlichkeit, dieses In-der-Ordnung-Leben hat, das ihm so fehlt. Aber wieder kann es zu tragischen Verstrickungen und zum Mißverstehen kommen, wenn jeder seine Art dem anderen gegenüber aus seiner spezifischen Angst zu behaupten versucht. Dann wird der zwanghafte Mensch durch immer mehr Gründlichkeit, Pedanterie und Nörgelei, durch rechthaberische Starrheit und Machtanspruch, durch seine Neigung zum Erzwingen wollen, den Partner nur mehr in seine Hysterie hineinsteigern, weil dieser den Eindruck bekommt, es würde ihm die Luft zum Atmen genommen. Die Korrektheit, Nüchternheit und Sachlichkeit des zwanghaften Partners, der hinter diesen Haltungen seine zentrale Angst vor der Wandlung versteckt, läßt den hysterischen Partner das Leben mit ihm als programmiert, festgelegt, ohne Glanz und Abwechslung erleben, ohne Improvisation und Auflockerung des Alltags durch kleine Lichter, die er ebenso braucht wie das Bestätigtwerden durch den Partner, das dieser ihm zu sparsam gibt, aus Angst, ihn zu verwöhnen. Der hysterische Partner wird dann aus seiner zentralen Angst vor zuviel Festgelegtwerden den Zwanghaften immer tiefer irritieren und beunruhigen, oder aber resignieren lassen vor seiner nun bewußt zur Abwehr eingesetzten, jener unfaßbaren Unlogik, Widersprüchlichkeit und Unverbindlichkeit, vor allem aber durch seine Ansprüche, die den zwanghaften Partner nun wieder zu immer strengeren Maßnahmen verleiten. Auch hier leben beide aneinander vorbei und verpassen die Chance, das Ergänzende zu integrieren. In beiden Fällen kann die Hilfe nur darin liegen, das Anliegen des jeweils anderen zu verstehen, ernst zu nehmen, und nicht aus Angst die eigene Struktur zu verhärten. Aber bei sehr extremer Ausbildung der Gegentypen ist das kaum zu schaffen, weil dann beide Partner ihre Angst durch das Anderssein des anderen gesteigert erleben, und sich dagegen abschirmen müssen; dann empfin-
den sie nicht mehr die Faszination durch den Gegentyp, sondern nur noch Beunruhigung und Befremdung. Unter diesen Aspekten kann das Wissen um die vier Grundeinstellungen und Grundängste auch für die Partnerbeziehungen hilfreich sein, wie auch für sonstige mitmenschliche Beziehungen. Bei der heute so häufig zu findenden Neigung, Partnerschaften aufzulösen, wenn erste Enttäuschungen aufkommen, nimmt man sich oft gerade die Chance, sich durch das Verstehen des anderen selbst ein Stück weiter zu entwickeln. Weil es sich bei den vier Formen des in-der-Welt-Seins um grundsätzlich zu unserem Wesen gehörende Möglichkeiten handelt, hat es sie immer gegeben und wird es sie immer geben. Verschiedene Zeiten, Kulturen, soziale Strukturen und kollektive Lebensbedingungen; zeitgebundene Ideologien und Wertsetzungen; ethische und religiöse, politische und wirtschaftliche Einstellungen, lassen jeweils die vier Grundängste verschieden akzentuiert erleben, die Strukturtypen verschieden bewerten. So können ganze Epochen unter der Dominanz eines der vier Strukturtypen stehen, so daß sich in ihnen der ihnen gemäße Einstellungstyp besser entwickeln kann, weil schon die Kinder auf ihn hin erzogen werden, der Gegentyp dagegen schlechter, weil er kollektiv abgelehnt oder abgewertet wird. So wird eine bäuerlich-seßhafte Kultur die bewahrenden Züge begünstigen, also die Ausrichtung auf Tradition, auf unverändert weitergegebene Erfahrungen, auf Sicherheit, Besitz und Dauer Züge also, wie wir sie beim Zwanghaften beschrieben hatten. Die Verstädterung und Industrialisierung, die wir heute erleben, die uns aus vielen natürlichen Bindungen herausgerissen hat, die für so viele unbeseelte Tätigkeiten fordert, und zu Vermassungsprozessen zu fuhren droht, hat, wie jede Entwurzelung, eine deutlich erkennbare Schizoidisierung mit sich gebracht, im dort beschriebenen Sinne wachsender Bindungslosigkeit, Vernachlässigung der Gemütsseite, unterstützt durch eine Technokratie, der alles machbar geworden ist. Um so wichtiger ist es für uns, einerseits den positiven Aspekt der Schizoidie zu betonen, nämlich das Streben nach der Individuation - nicht als isolierende Selbstverwirklichung und egozentrische Einmaligkeit, sondern als Aufgabe, die einem größeren, überindividuellen Ganzen zugute kommen sollte; andererseits, die antinomische Einstellung der Besinnung auf emotionale und humane Werte bewußter zu pflegen. Das offenbar zu Ende gehende Patriarchat mit seinen typischen Zügen von absoluter Macht und Autorität, seinem Festhalten an Traditionen und an von ihm errichteten Institutionen, war Aus-
druck der Vorherrschaft des Zwanghaften; aber nicht mehr auf organisch-lebendiger Basis, wie in den bäuerlichen Kulturen, sondern viel stärker auf Macht ausgerichtet, auf Unterdrückung und Ausnutzung der Abhängigen und Schwachen. Damit konstellierte es den Gegenpol umso schroffer, wie es im Extrem etwa in der Forderung nach antiautoritärer Erziehung, in der Sexwelle und in der Auflösung von Tabus, positiv im Suchen nach neuen Freiheiten zum Ausdruck kommt. Denn immer ist auch in einem Kollektiv die Neigung zur Er-gänzung vorhanden, zum Ausgleich von krankmachenden Einseitigkeiten, ein Selbstregulierungsprozeß, der allerdings meist erst spät bewußt wird, und dann in rhythmischen Abläufen zum Durchbruch des Unterdrückten führt, zu umso extremeren Durchbrüchen, je extrem-einseitiger die Einstellung vorher war. Es besteht zweifellos auch ein Zusammenhang zwischen den vier Formen des In-der-Welt-Seins und den Lebensaltern, also zwischen den Grundimpulsen und biologischen Abläufen. Nach den erwähnten frühkindlichen Entwicklungsphasen überwiegt üblicherweise in der Jugend das Zentrifugale, das optimistische Gefühl, daß wir selbst und die Welt voller Möglichkeiten sind, die Zukunft vor uns liegt und wir uns ins Leben entwerfen voll Hoffnung und Abenteuerfreude. In den sogenannten »besten Jahren« wächst die Neigung, sich einen stabilen Lebensrahmen zu schaffen und sich darin einzurichten; die zentripetalen Kräfte mit der Neigung zu bestimmten begrenzten Zielsetzungen überwiegen, wir bauen unseren Macht- und Besitzbereich aus. Es kommt zur Selbstverwirklichung in Beruf, Partnerschaft, Elternschaft. Nach der Lebensmitte erleben viele dann eine Wandlung; der Wunsch nach Verwirklichung von Wesensmöglichkeiten, die der Alltag mit seinen Pflichten und Forderungen nicht zuließ, wird stärker. In größerer Selbstvergessenheit möchten wir von unserer Ichhaftigkeit loskommen; Sinnfragen treten in neuer Form auf, metaphysisch-transzendente Bedürfnisse, und wir müssen schon das Loslassen allmählich lernen, die Vergänglichkeit auch für uns selbst annehmen. Und schließlich im Alter, im Bewußtsein des näherrückenden Todes, werden wir mit der Einsamkeit in neuer Form konfrontiert, und können vielleicht weise werden im Annehmen unserer letzten Einsamkeit; andererseits im uns Zugehörig-Fühlen zum »Menschlichen an sich«, im Bewußtsein, daß wir ein Teil eines großen Ganzen sind, in das wir wieder eingehen werden wie es unsere Sprache in dem Wort »all-ein« ausdrückt, das sowohl das isolierte Alleinsein bezeichnet, als auch das uns bergende Alleins-Sein. Natürlich sind diese Altersentsprechungen nur gewisse
Akzentuierungen, aber sie lassen vermuten, daß sich eine Lebensgesetzlichkeit in ihnen äußert. Und vielleicht reicht diese noch weiter. Etwa von der Lebensmitte an scheinen wir die Frühphasen unserer Entwicklung auf höherer Ebene rückläufig nochmals zu durchlaufen, wobei wir die entsprechenden Ängste aufs neue überwinden müssen: Es beginnt damit, daß wir realisieren, daß die vor uns liegende Zukunft begrenzt ist, daß wir nicht mehr die Fülle aller Möglichkeiten vor uns haben - so begegnen wir erneut der Angst vor der Endgültigkeit. Dann erkennen wir, daß auch das von uns Geschaffene, materielle Güter und geistiger Besitz, sich unter unseren Händen verändern, daß auch unsere Vitalität nachläßt, daß es keine Absolutheit und keine Dauer gibt - womit wir aufs neue die Angst vor der Vergänglichkeit erfahren. Dann erleben wir Trennungen; die Kinder verlassen uns und gründen eigene Familien; wir verlieren uns nahestehende Menschen durch den Tod, und wir beginnen zu verstehen, daß wir allmählich das Loslassen lernen müssen - wodurch sich die Angst vor der Einsamkeit auf neue Weise konstelliert. Und in der letzten Phase unseres Lebens wartet der Tod auf uns selbst, das Sterben, das wir mit niemandem teilen, in das wir niemanden mitnehmen können - und wir begegnen zum letzten Mal der Angst vor der Selbsthingabe, nun an den Tod. Der Kreis unseres Daseins schließt sich mit diesem letzten Schritt in das große Unbekannte, aus dem wir mit unserem ersten Schritt heraustraten. Freilich, manche Menschen, die jene Schritte nicht zu vollziehen wagten, wiederholen dann auf viel wörtlichere Weise die Rückläufigkeit: sie nehmen das Altern nicht an und wollen um jeden Preis jung bleiben; sie hängen um so mehr am Besitz, je mehr sie ihre Zeit und ihre Kräfte schwinden fühlen; sie werden im Alter wieder zu Kindern, haben nur noch Interesse an Essen und Trinken, an ihrer Verdauung, ihrer Gesundheit, und enden schließlich als hilflose Greise, die sich kaum noch vom hilflosen Kleinkind unterscheiden. Der Leser wird vielleicht enttäuscht sein, wenn er bei dem Versuch, sich selbst in einer der beschriebenen vier Persönlichkeitsstrukturen wiederzuerkennen, zu keiner eindeutigen Zuordnung gelangt, sondern wahrscheinlich von allen etwas in sich entdeckt, wie auch von jeder der Grundängste. Das scheint mir aber gerade für die Lebensnähe, Wirklichkeitsnähe der Grundängst und der Strukturtypen zu sprechen, daß sie sozusagen nicht »rein« vorkommen. Denn solche Eindeutigkeit entspräche viel mehr unserem rationalen Bedürfnis nach klaren Festlegungen und abgren-
zenden Systemen, als der Wirklichkeit des Lebens, der es immer Gewalt antut. Wenn es sich außerdem bei den Grundimpulsen und den dazugehörenden Ängsten um allgemeinmenschliche Gegebenheiten handelt, und wenn ihre Ausformung mit dem Durchlaufen frühkindlicher Entwicklungsphasen zusammenhängt, die wir alle durchmachen müssen, müssen wir sie auch alle als Möglichkeit und im Ansatz in uns kennen. Wir können danach sogar sagen, daß wir in gewissem Sinne um so lebendiger sind, je mehr wir in allen vier Bereichen zu Hause sind, bzw. wenn keiner der Grundimpulse in uns völlig ausfällt - das würde bedeuten, daß wir die Kindheitsphasen, in denen die Impulse und Ängste ihre Erstprägung erhalten, relativ gesund durchlaufen konnten. Einseitig überbetonte Persönlichkeitsstrukturen sind daher eher gefährdet, und führen uns die Bedeutung der frühen Kindheit für unsere gesunde Entwicklung besonders deutlich vor Augen. Das Schicksal, das die vier Grundimpulse in unserer Entwicklung erfahren, hängt von dem Zusammentreffen folgender Faktoren ab: wir bringen eine »erste Natur« mit, über die am ehesten die Astrologie über unser Horoskop etwas auszusagen weiß; dazu kommt unsere Erbanlage, die wir aber erst im Laufe unserer Entwicklung kennenlernen; und wir erwerben in der Begegnung und Auseinandersetzung mit unserer frühen und späteren Umwelt unsere »zweite Natur«, die durch die Umwelteinwirkungen immer schon gleichsam eine Trübung bzw. Überfremdung unserer ersten Natur ist. Ist diese Überfremdung eine zu große, besteht zwischen unserer primären Natur und Anlage und der uns anerzogenen und erworbenen zweiten Natur eine zu große Diskrepanz, werden wir krank. Die mitgeteilten Beispiele zeigten wohl sehr deutlich, in welchem Ausmaß unsere frühe und auch noch spätere Umwelt sich pathogenetisch auswirken kann. Vor allem unsere frühe familiäre Umwelt, die aber immer bereits auch die weitere soziokulturelle Umwelt insofern mit einbegreift, als unsere Eltern - bewußt oder unbewußt - die herrschenden kollektiven Maßstäbe, zustimmend oder ablehnend, in der Erziehung vertreten oder bekämpfen, wodurch das Kind über sie bereits kollektive Wertsetzungen übernimmt, oder ebenfalls ablehnt. Wenn wir von groben Vernachlässigungen oder Schädigungen der Kinder absehen, die ein Zeichen von Krankheit der Eltern sind, können wir sagen, daß nicht nur Eltern ihren Kindern, sondern daß auch Kinder ihren Eltern zum Schicksal werden. Die ungemeine Differenziertheit, der Reichtum an Anlagen, die so großen Unterschiede der individuellen Persönlichkeiten, zugleich die so lange frühkindliche Abhängigkeit und große Störbarkeit in
seiner Entwicklung, machen das Wesen Mensch gefährdeter als andere Lebewesen. Ob uns als Eltern ein Kind »liegt«, ob es für uns leicht liebzuhaben ist, ob unsere Liebesfähigkeit ihm mühelos zufließen kann, ob es uns in seinem Wesen entgegenkommt - noch ganz abgesehen von bestimmten Wünschen, wie wir möchten, daß es sein und sich entwickeln sollte; ob es andererseits für uns schwer einfühlbar und verstehbar ist in seiner Eigenart, ob es uns befremdet, und wir uns Mühe geben müssen, es so zu lieben, wie wir es vermögen und von uns erwarten; ob es uns Sorgen macht, die uns ihm gegenüber hilflos erleben lassen, ob es uns fühlen läßt, daß es uns als Eltern auch nicht so annehmen kann, wie es möchte und es brauchte - all das wird ihm und uns auch zum Schicksal und liegt jenseits aller Schuld. Was wir aber tun können, schwere Schädigungen des Kindes zu vermeiden, ist vor allem mehr Wissen zu erwerben über seine frühen Bedürfnisse und über unsere eigenen möglichen Fehlhaltungen in seiner Frühzeit; ist andererseits die Chance, solche Schädigungen früh zu erkennen und vielleicht zu korrigieren. Dafür stehen uns heute neben der »großen Psychotherapie« viele Möglichkeiten zur Verfügung: Spieltherapie, Erziehungsberatung, Familientherapie; Verhaltens- und Kommunikationstherapie; Eheberatung, Ehepaargruppentherapie, oder Einzeltherapie desjenigen Familienmitgliedes, das die anderen belastet, oder des dadurch gestörten Kindes. Wir haben bei den somalischen Erkrankungsmöglichkeiten schon lange die selbstverständliche Bereitschaft, obligatorisch prophylaktische Schuluntersuchungen vorzunehmen, bzw. ziehen wir im somatischen Krankheitsfall selbstverständlich den Arzt hinzu. Aber wir haben seltsamerweise noch keine entsprechenden prophylaktischen Maßnahmen für obligatorische Untersuchungen unserer Kinder bezüglich ihres seelischen Zustandes und der Konflikte der Eltern-Kind- und Lehrer-Schüler-Beziehung, obwohl wir heute wissen, daß viele somatischen Erkrankungen seelische Hintergründe, und daß frühe seelische Schädigungen so schwere Folgen haben. Hier sind wir noch Barbaren, wenn das Wort meinen soll, daß wir aus Unwissenheit, die wir doch bei einigem Bemühen beheben könnten, fortfahren, Schäden zu setzen aus der Trägheit des Herzens. Eltern, Erzieher und staatliche Institutionen sollten sich zusammentun und mehr auf die Prophylaxe neurotischer Entwicklungen achten - schon in ihrem eigensten Interesse. Und noch einmal zum Thema Angst: Wenn wir uns quälende Ängste auch als Hinweis verstehen, daß wir in irgendeiner Fehlhaltung befindlich sind, oder vor einer der großen Forderungen
des Lebens zurückscheuen, einen Entwicklungsschritt nicht wagen, kann uns das helfen, den Aufforderungscharakter der Angst zu erkennen, über unsere jeweilige Entwicklungsstufe hinauszuwachsen in eine neue Freiheit, zugleich in eine neue Ordnung und Verantwortung. Dann kann sie uns ihren positiven, schöpferischen Aspekt zeigen und zum Anstoß für eine Wandlung werden. Und vielleicht kann uns das eingangs verwendete Gleichnis dabei eine Hilfe sein, im Bewußtsein unserer Teilhabe an dynamischen Kräften, die bei aller Widersprüchlichkeit und Gegensätzlichkeit doch durch eine eherne Ordnung in lebendigem Gleichgewicht gehalten werden, das nie Stillstand oder statische Ruhe bedeutet, aber auch nie zum Chaos entartet. Jede Überbetonung, oder jeder Ausfall einer der kosmischen Bewegungsimpulse würde unser Sonnensystem gefährden, vielleicht zerstören - auf der menschlichen Ebene: jede Vereinseitigung, oder der Ausfall einer der Grundimpulse, gefährdet unsere innere Ordnung und kann uns krank machen. In der Teilhabe an diesen kosmischen Kräften, und andererseits in unserem Geprägt werden durch unsere mitmenschliche Umwelt, kommt der Doppelaspekt unseres Daseins zum Ausdruck: der Mensch mit seinem Anteil an den überzeitlichen, überpersönlichen Ordnungen und Gesetzen und am Gesamtmenschlichen sein überzeitlicher, ewiger Aspekt. Und der Mensch als historisches Wesen und einmaliges Individuum, mit der Auseinandersetzung zwischen seiner Anlage und der vorgefundenen Umwelt, in der er aufwachsen muß - sein zeitlicher Aspekt. Als zeitlich begrenztes Wesen haben wir unsere individuelle Biographie und unsere Eigenprägung erworben, mit ihren Einseitigkeiten und Beschränkungen; als Mensch überhaupt, als Teil »des Menschlichen«, haben wir eine Ahnung von Vollkommenheit und Vollständigkeit in uns, die uns über unsere Vergangenheit und die in ihr erworbenen Begrenzungen hinausheben kann, in der Besinnung auf das uns als Menschen Gemeinsame, das nicht an Zeit, Kultur und Rasse gebunden ist, sondern »das Menschliche an sich« meint. Wenn es jemanden gäbe, der sowohl die Angst vor der Hingabe in echtem Sinne verarbeitet hätte, und sich in liebendem Vertrauen dem Leben und den Mitmenschen öffnen könnte; der zugleich seine Individualität in freier, souveräner Weise zu leben wagte, ohne die Angst, aus schützenden Geborgenheiten zu fallen; der weiterhin die Angst vor der Vergänglichkeit angenommen hätte, und dennoch die Strecke seines Lebens fruchtbar und sinnvoll zu gestalten vermöchte; und der schließlich die Ordnungen und Gesetze unserer Welt und unseres Lebens auf sich nähme, im Be-
wußtsein ihrer Notwendigkeit und Unausweichlichkeit, ohne die Angst, durch sie in seiner Freiheit zu sehr beschnitten zu werden wenn es einen solchen Menschen gäbe, wir würden ihm zweifellos die höchste Reife und Menschlichkeit zuerkennen müssen. Aber wenn wir uns dem auch nur eingeschränkt nähern können, erscheint es doch als wesentlich, überhaupt das Bild einer vollen Menschlichkeit und Reife als Zielvorstellung zu haben; sie ist keine von Menschen erdachte Ideologie, sondern eine Entsprechung der großen Ordnungen des Weltsystems auf unserer menschlichen Ebene.