Michael Kurland
Eine Studie in Zauberei
Lord Darcy und sein ungewöhnlichster Fall! Aufruhr im geheimnisumwitterten Rei...
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Michael Kurland
Eine Studie in Zauberei
Lord Darcy und sein ungewöhnlichster Fall! Aufruhr im geheimnisumwitterten Reich der Azteken: In einem alten Tempel wird der junge Prinz ermordet aufgefunden. Irgend jemand hat ihm das Herz aus der Brust gerissen. Von jenseits des Ozeans wird Lord Darcy gerufen. Der Meisterdetektiv vom anglo-französischen Hof soll das furchtbare Verbrechen aufklären. Wurde der Prinz das Opfer eines grausamen Ritualmordes? Oder soll ein Krieg zwischen den Azteken und dem anglo-französischen Reich vom Zaune gebrochen werden? Lord Darcy und sein Meistermagier Sean O Lochlain müssen äußerst behutsam ermitteln, wollen sie die Neue Welt nicht in einen teuflischen Abgrund stürzen – und ihr eigenes Leben verlieren. ISBN: 3-404-20.178-7 Original: A Study in Sorcery Verlag: Bastei Erscheinungsjahr: 1992 Umschlaggestaltung: Quadro Grafik, Bensberg Titelillustration: James Warhola
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Autor Der 1987 verstorbene RANDALL GARRETT hat sich mit Lord Darcy, dem ungewöhnlichsten Detektiv der Fantasy, einen Namen gemacht. Nun erzählt MICHAEL KURLAND neue Abenteuer von Mord und Magie.
1 Zum vielleicht tausendsten Mal verfluchte Colonel Hesparsyn den Allerhöchsten, Lord Chiklquetl; aber wie immer tat er es bei sich im stillen. Es wäre einfach schrecklich unpassend, als Repräsentant von John IV, König und Kaiser, den Abgesandten einer fremden Macht zu beleidigen. Und es wäre für jedermann geradezu tollkühn, den Mexicatl Teohuatzin, den Zauberer und Oberhaupt aller Unterpriester des Aztekischen Reiches, zu verprellen. Wieder einmal war die gesamte Delegation plötzlich wie angewurzelt stehengeblieben, und wieder sprang Lord Chiklquetl aus seiner Sänfte, kniete nieder, stieß den dicken Hartholzstab mit seinem massiv-goldenen, froschförmigen Kopf vor sich auf den Boden, preßte die Stirn auf die braune Erde und lauschte mit seinem inneren Ohr auf die Botschaften von Tlaltecuhtli, dem Gott der Erde. Und wieder wurde die Plattform, die die Ewige Flamme für die neue Weihungszeremonie trug, von den zwölf Sklaven, auf deren Schulter sie ruhte, auf die Erde gesetzt. Und die zehn auserwählten Priester der Flamme, die schon vorher auf dem Boden lagen, führten das komplizierte Ritual von Tsaltsaluetol, dem Gott des Feuers, aus, um die Flamme gnädig zu stimmen, während sie warteten. Mit vielen Unterbrechungen schritten sie langsam das Tal des Pethmotho-kahgoh empor, des ›Großvaters aller Flüsse‹; der örtliche Name des breiten Flusses, der den größten Teil des Kontinents von Neuengland bis zum Golf von Mechicoe durchzog. Colonel Hesparsyn dachte sich, daß es die Delegation und deren verfluchte Ewige Flamme 3
bei dieser Geschwindigkeit wohl kaum bis zum Juli nach New Borkum schaffen könnten. Das aber würde ihm Herzog Charles arg verübeln. Von der Legion des AngloFranzösischen Reichs wurde erwartet, daß sie ihren Auftrag ungeachtet aller Unbilden und Widrigkeiten und trotz aller Mühsal und Härten erledigte. Ihr Motto lautete: »Die Legion macht das schon.« Aber wie man einen übervorsichtigen aztekischen Oberzauberer dazu brachte, einen gemeinsamen Plan zu erstellen, wenn man nicht die gleiche Zeitrechnung oder den gleichen Kalender benutzte, wußte er auch nicht. Die Azteken lehnten es ab, Pferde zu reiten, obwohl sie diese als Packtiere benutzten. Sie durften das Rad nicht verwenden, weil sie es als heilig ansahen. Und er konnte sie nicht dazu bewegen, schneller zu reisen und sich mehr zu bemühen. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als sie zu beschützen, während sie sich langsam, aber eindrucksvoll daherbewegten. Colonel Hesparsyn hob die rechte Hand und senkte sie wieder, worauf die Kompanie B der herzoglichen Armee von ihren Pferden absaß. Sollten doch seine Männer so oft wie möglich von ihren Pferden absitzen; das käme Mann und Tier zugute. Für einen Moment blieb Colonel Hesparsyn noch auf seinem Pferd, um sich einen besseren Überblick darüber zu verschaffen, was innerhalb der aztekischen Priesterschaft vor sich ging, die sich in der Mitte seiner kleinen Karawane versammelt hatte. Auf sein Signal hin rückten vier berittene Kundschafter in alle vier Richtungen aus, um ein Auge auf ihre Umgebung zu behalten. Lord Chiklquetl stand aufrecht und streckte die Arme der Sonne entgegen. Dann deutete er mit einer weitausladenden Geste hinter sich. Die Sklaven ließen die anderen drei Sänften zu Boden gleiten. Drei weitere hochrangige aztekische Zauberpriester stiegen aus und versammelten sich um ihren Oberzauberer. Colonel 4
Hesparsyn wurde nie dazu eingeladen, an ihren Beratungen teilzunehmen. Sie schnüffelten auf der Erde, spähten in den Himmel und vollführten einen kurzen, undurchschaubaren Tanz um den sechs Fuß hohen Froschstab herum. Der aufgeblähte goldene Frosch an der Spitze des Stabes hielt mit seinen dünnen Klauen einen großen, rosafarbenen Edelsteinkristall umklammert. Während seine Priester tanzten, plazierte Lord Chiklquetl vorsichtig einen hochglanzpolierten kupfernen Wappenschild auf dem Kopf des Frosches. Blauer Rauch quoll daraufhin in dicken, gleichmäßigen Stößen aus dem Maul und den Ohren des Tierstabs. Die Doppelreihe der jungen, graduierten Zauberpriester, die die Sänften flankierten, stand steif wie Statuen in ihren rot- und blaugeschmückten weißen Mänteln, während sie auf die Anordnungen ihres Oberhauptes warteten. Jeder von ihnen trug einen sorgfältig zusammengerollten, ledernen Kriegsbeutel, der die komplizierten Gerätschaften enthielt, mit denen Kriegsmagie ausgeübt wurde. Die Reihen der Krieger, welche mit polierten Brustharnischen und Schildern, die in der Nachmittagssonne blitzten, das priesterliche Kontingent eskortierten, blieben auf der Hut und spähten grimmig zur Priestergruppe hinüber, während sie in ihren Stellungen verharrten. Jeder Krieger trug ein bronzenes Kurzschwert, das durch die Geheimnisse der Zauberpriester so gehärtet war, daß es der Stahlklinge gleichkam. Zwei von dreien besaßen sechs Fuß hohe messingbespitzte Kriegsspeere, während jeder dritte Krieger eine Zündschloßmuskete mit einer weiten Trichteröffnung trug, die mit Schießpulver und drei Unzen Kupferkugeln geladen waren. Jede der erdnußgroßen Kugeln war in Gestalt eines der vielen aztekischen Kriegsgötter gegossen und mit einem 5
mächtigen Zauber belegt worden. Für die Azteken schien das Leben eine sehr ernste Angelegenheit zu sein. In den vier Monaten, in denen Colonel Hesparsyn mit ihnen zusammen war, konnte er sich nicht erinnern, einen erwachsenen Azteken jemals lächeln gesehen zu haben. Das Leben jener Stämme, die in der unmittelbaren Umgebung der Azteken lebten, dürfte wohl ebenso humorlos sein. Obwohl sie schon vor einem Jahrhundert die Blutopfer aufgegeben hatten, hielten sich die Azteken immer noch Sklaven. Und wenn das Sklavendasein bei den Azteken heute auch nicht mehr dem Dasein eines Stiers im Schlachthaus glich, so war es doch letztlich nicht besser als das Dasein eines Ochsen vor dem Pflug, dachte Colonel Hesparsyn. Und außerdem gab es da noch die immer wiederkehrenden Gerüchte, wonach die Aztekenpriester in einigen entfernten Gegenden ihres Reiches nach wie vor Blutopfer für Huitzlipochtli praktizierten, indem sie jungen Sklaven – und gelegentlich auch einem Freiwilligen – das Herz herausrissen, um sicherzustellen, daß die Sonne am nächsten Morgen wieder aufginge, daß das Getreide wüchse und die Azteken die Herren der Schöpfung blieben, so wie sie es schon die vergangenen achthundert Jahre gewesen waren. Colonel Hesparsyn stieg endlich vom Pferd und führte es zum hinteren Ende der Kolonne. Dann signalisierte er dem Magieoffizier seiner Kompanie, Lieutenant MacPhearling, sich ihm anzuschließen. »Was denkt Ihr?« fragte er MacPhearling. »Was mag bei denen vorgehen?« Der junge Lieutenant, der außer seinem militärischen Offizierspatent auch den Grad eines Gesellen in der Zauberergilde innehatte, drehte sich herum, um die gestikulierende Gruppe der alten aztekischen Priester zu beobachten. »Sie halten Ausschau nach dem Feind«, 6
kommentierte er ruhig. »Welchem Feind?« fragte Colonel Hesparsyn nach. »Sie sind fest entschlossen, einen zu finden«, erwiderte der Magieoffizier, der mit dem Zeigefinger über seinen sorgfältig gepflegten Schnurrbart strich. »Ich glaube, daß die meisten Stämme, deren Gebiete wir durchqueren, mehr oder weniger die Feinde der Azteken sind.« Der Colonel nickte. »Das ist sicherlich so«, stimmte er zu. »Aber sie scheinen meines Ermessens etwas übervorsichtig zu sein. Für ein Volk mit solch einer blutrünstigen Geschichte, das über Jahrhunderte hinweg Hunderttausende von Gefangenen der blutigen Vernichtung anheimgegeben hat, haben sie zweifellos eine gewisse Vorsicht entwickelt. Vermutlich ist das eine Reaktion darauf, daß sie die Blutopfer schließlich aufgegeben haben.« Der Kupferschild erzitterte, schüttelte sich und ließ dann mit einem hohen, schrillen Pfeif ton den Kopf des goldenen Frosches unter sich, während er sich langsam in die Luft erhob, wobei er an Fluggeschwindigkeit zunahm. Er stieß in einer schnurgeraden Bahn bis zu einer Höhe von einigen hundert Fuß über dem Froschstab empor. »Ihr mißversteht die Azteken, Sir«, teilte Lieutenant MacPhearling seinem Kommandeur mit, während sie zu dem kupfernen Oval hinaufstarrten, das wie eine untergehende Sonne am späten Nachmittagshimmel flimmerte. »Sie sind nicht aus Furcht vor ihren Feinden so vorsichtig. Ich meine, daß sie tatsächlich ganz und gar nicht vorsichtig sind. Wie Ihr sicher bemerkt habt, ist es nicht besonders geschickt, seinen Marsch durch ein feindliches Gebiet zu verlangsamen oder gar zu stoppen, um auf diese Weise einen Angriff zu vermeiden.« Der Colonel stimmte zu: »Das ist genau das, was ich 7
auch gerade dachte. Ich schätze eher, sie wollen angegriffen werden. Und wie gewöhnlich stehen wir mal wieder zwischen den Linien.« »Jawohl, Sir«, sagte der Lieutenant. »So scheint es zu sein. Es ist nur mein persönlicher Eindruck, versteht Ihr, Sir, aber meiner Meinung nach haben sie im Laufe des Tages immer ärgerlicher ausgesehen, als sich herausstellte, daß sich kein einheimischer Stamm von den Hügeln her auf sie stürzen würde.« »Ganz recht«, sagte Colonel Hesparsyn und hielt seine Augen weiter auf das hoch über seinem Kopf schwebende, strahlende Objekt gerichtet. Das schwache, aber klare Pfeifen, das von ihm herabklang, schwoll einen Moment an und fiel dann wieder ab, so ähnlich wie das Trillern eines dampfbetriebenen Vogels. Nach dem Muster der sich abwechselnden Farben drehte er sich auf der Stelle, mit ungefähr einer Umdrehung alle fünf oder sechs Sekunden. »Das Ding da oben ist so eine Art Späher, nicht wahr?« fragte er seinen Magieoffizier. »Nun …«, der Lieutenant zögerte nachdenklich und versuchte zu ergründen, nach welcher magischen Antwort der Kommandant suchte. »Ja«, sagte er dann nach einem Moment des Nachdenkens, »aus dem Stegreif heraus würde ich es so ausdrücken. Es versetzt einen dieser Priester in die Lage – ich glaube sogar Lord Chiklquetl selbst –, sich aus der Vogelperspektive ein Bild von der Umgebung zu verschaffen. Dieses Bild spiegelt sich in dem Kristall zwischen den Händen des Frosches wider.« »Ich frage mich, was er wohl sieht«, überlegte Colonel Hesparsyn. »Habt Ihr Eure Zaubersprüche losgelassen und irgendeinen Eindruck davon bekommen können?« »Nein, Sir«, sagte der Magieoffizier, »aber Ihr müßt verstehen, daß sich in diesem Zusammenhang ein 8
interessantes Problem ergeben hat. Die meisten Zaubersprüche, die wir verwenden, um unsere Truppen vor Überraschungsangriffen zu schützen, sind so angelegt, daß sie feindliche Absichten aufspüren. Und das bewältigen sie auch sehr gut.« »So?« fragte der Colonel. »Es ist doch eigentlich nicht üblich, jemanden anzugreifen, ohne zuvor feindliche Absichten entwickelt zu haben, oder sollte ich mich darin irren?« »So ist es, Sir, genauso, wie Ihr sagt – normalerweise. Aber in diesem Fall hegt keiner der ortsansässigen Stämme irgendwelche feindlichen Absichten gegen uns, wenn ich so sagen darf. Wir stehen mit den Tunica, den Choctaw, den Quapaw und den Osage auf sehr gutem Fuße. Und schlimmstenfalls werden sie durch uns hindurchbrechen, um zu den Azteken zu gelangen, wenn sie sich dazu gezwungen sehen.« »Warum sind wir dann Eurer Meinung nach bis jetzt noch nicht angegriffen worden?« »Ich nehme an, daß sie sich sammeln, Sir. Ich denke, wir werden schon noch angegriffen, und das sehr bald.« Der Colonel nickte. »Das vermuten die Späher auch«, sagte er. »Wir sind durch mehrere Jagd- und Siedlungsgebiete gezogen, in denen wir zu dieser Jahreszeit normalerweise hätten den einen oder anderen antreffen müssen. Bis jetzt haben wir aber noch kein einziges bewohntes Eingeborenenlager gesehen. Das ist nicht natürlich. Meiner Meinung nach ist das, was nicht natürlich ist, künstlich.« »Dann seid Ihr also meiner Meinung, Sir?« »Ja, Lieutenant MacPhearling, wir werden es erleben. Und zwar, wie Ihr sagtet, schon sehr bald. Lieutenant, ich gehe sogar so weit zu behaupten, daß sie vorgewarnt 9
worden sind. Die hiesigen Stämme sammeln sich, um uns einen vernichtenden Schlag zuzufügen, wobei sie ganz genau wußten, daß wir kommen würden.« »Vorgewarnt?« »Aber gewiß. Das ist der einzige Reim, den wir uns darauf machen können, daß wir auf unserer Route nicht einmal eine Jagdgesellschaft getroffen haben.« »Wir haben aber ein paar Jäger gesehen.« »Und sie haben uns gesehen. Späher, die unsere Route beobachtet haben. Welche Magie auch immer Ihr in Euren Taschen habt, Lieutenant, Ihr solltet sie bereithalten, denn ich glaube, daß wir sie schon sehr bald brauchen werden. Wir stehen da wirklich vor einem interessanten Problem.« »Welches meint Ihr, Sir?« »Wir sind mit der Mission beauftragt, diese Delegation zu beschützen, nicht wahr? Nun, ich glaube, sie wird wohl von einer Gruppe von Stämmen angegriffen werden, die dem Anglo-Französischen Reich freundlich gesonnen sind. Stämme, die irgendwie vor dem Eintreffen der aztekischen Delegation auf ihrem Land sowohl gewarnt als auch dazu provoziert worden sind, gegen sie anzugehen.« Das schrille Pfeifen nahm langsam ab, als der Kupferschild in Spiralen sanft zu Boden sank, woraufhin einer der Unterpriester sich aufmachte, ihn zu bergen. Lord Chiklquetl breitete die Arme aus und intonierte eine hochtönende, schnelle Folge von Silben, die sofort von den anderen Hohepriestern und dann auch von den niederen Priestergarden aufgenommen wurde, bis sie die Luft mit einem schrillen, nervtötenden Lärm erfüllte. Aus heiterem Himmel brach plötzlich der Gesang ab, als hätte man ihn durch einen Schalter abgedreht. Lord Chiklquetl sprach ein paar Worte zu einem seiner 10
Unterpriester, der sich daraufhin umwandte und die Botschaft mit klarer, weithallender Stimme der aztekischen Versammlung verkündete. Da, wo die Krieger gestanden hatten, setzten sie sich nun mit gekreuzten Beinen auf den Boden. Einer der Unterpriester trippelte hastig in kurzen Schritten zu Colonel Hesparsyn hinüber. »Wir bleiben heute nacht hier«, sagte er in einer gutturalen Annäherung ans Anglische. Der Colonel zuckte resigniert mit den Schultern. Er hatte schon früher versucht, diesbezügliche Einwände vorzubringen. Doch da, wo Lord Chiklquetl rasten wollte, dort wurde schließlich auch immer gerastet. Die Sklaven legten ihre Traglasten ab und fingen an, die Lastpferde abzuladen. Nach zehn Minuten sollten die Kochfeuer brennen, die großen Töpfe mit Mais darüber aufgehängt sein, und die Vorbereitungen für das Nachtlager würden in vollem Gange sein. Colonel Hesparsyn rief den Sergeant seiner Kompanie heran. »Das war’s dann für heute, Sergeant Tavis«, sagte er. »Laßt die Leute rasten und das Abendbrot ausgeben. Stellt doppelte Feldwachen für die ganze Nacht auf. Und gebt die Parole aus, daß ich sofort informiert werden möchte, wenn auch nur das geringste passiert.« »Zu Befehl, Sir«, sagt Sergeant Tavis schneidig, »wird gemacht, Sir.« Er salutierte und stapfte davon. »Sagt, Lieutenant«, fragte Colonel Hesparsyn seinen Magieoffizier, »wer hat die stärkste Magie oder die besseren Zaubersprüche, oder wie immer Ihr es nennen wollt? Wir oder die anderen?« »Ihr meint die Azteken, Sir?« fragte der Lieutenant zurück. »Das läßt sich nicht so einfach beantworten. Lord Chiklquetl ist sicherlich viel bewanderter als ich, denn ich bin nur ein Geselle. Aber ihre Magie basiert auf so 11
unterschiedlichen Prämissen, daß wir schon eine direkte Auseinandersetzung wagen müßten, um es herauszufinden. Genau dies würde einer unserer Meister wohl auch tun. Auf lange Sicht ist unsere Magie überlegen, wie sich in der ›Schlacht der Drei Gefangenen‹ vor zweihundert Jahren erwiesen hat. Sommerson, Master Methuane und die Hundertschaft des Königs stoppten die Kälte des aztekischen Kriegsmagiers. Dies war der Grund, warum die Aztekenpriester die Menschenopfer aufgaben: Sie sahen, daß wir ohne sie die besseren Resultate erzielten. Und in der praktischen Magie sind Resultate alles. Aber Vergleiche sind schwierig, Sir.« »Was ist der Unterschied?« fragte Colonel Hesparsyn. »Ich dachte, Magie sei gleich Magie.« »Zu Hause ist das auch so, Sir«, erklärte Lieutenant MacPhearling. »Aber hier haben sie sich von einer anderen Grundlage aus entwickelt. Ihr höchster Gott war Huitzlipochtli, ein Sonnengott. Eine ihrer Hauptpflichten war es, ihm Speisen zu bringen. Weil er nur menschliches Blut annahm, führte dies zur Entwicklung einiger sehr seltsamer, aus unserer Sicht sogar bizarrer Bräuche. Ihre gesamte Magie beruht, wie Ihr seht, auf dem Blutopfer.« »Ich dachte, das praktizieren sie nicht mehr.« »Sie opfern keine Menschen mehr, zumindest nicht mehr in der Öffentlichkeit, aber sie opfern durchaus immer noch Blut. Ihr eigenes Blut. Und Blut ist ein sehr mächtiges Symbol.« »Symbol! Zur Hölle damit!« stieß Colonel Hesparsyn hervor. »Wollt Ihr etwa behaupten, daß sie sich selbst aufschlitzen?« Lieutenant MacPhearling nickte. »Sie entnehmen das Blut ihren Ohren, Wangen, Schultern, ihrer Brust und den Oberschenkeln. Dies ist Teil des Rituals ihrer wichtigsten 12
Bannsprüche und Zaubereien.« »Das klingt für mich aber ganz nach schwarzer Magie«, knurrte Colonel Hesparsyn, wobei er auf eine Gruppe aztekischer Hohepriester blickte. »Magie ist, wie Ihr euch erinnern werdet, eine Sache der Absicht«, erklärte ihm sein Magieoffizier. »Im AngloFranzösischen Reich würde solche Magie ebenso zerstört wie sein Opfer. Aber hier verlief die Geschichte anders. Der kulturelle Hintergrund ist unterschiedlich und die generelle Absicht eine andere. Ich weiß nicht sicher, wie schwarze Magie hier aussehen würde. Und wie Ihr wißt, Colonel, habe ich auch keineswegs die Absicht, es herauszufinden.« Die B-Kompanie der Leibgarde des Herzogs richtete sich ein Stück weiter hinten, links vom Lager der Azteken, für die Nacht ein. Dabei vermischten sich die Gruppen in keiner Weise. Es war nicht etwa so, daß die Krieger der Azteken etwas gegen einen anglo-französischen Kavalleristen unternommen hätten, der sich zwischen ihnen bewegte, nein, in keiner Weise. Sie schienen sie vielmehr überhaupt nicht wahrzunehmen. Und ignoriert zu werden war nicht gerade die beste Voraussetzung, um sich bekannt zu machen. Hesparsyns Männer, die darin geübt waren und auch darin bestärkt wurden, sich mit den Eingeborenen des Reichs anzufreunden, hatten wenig Interesse daran gezeigt, sich mit irgend jemandem aus der Delegation der Azteken vertraut zu machen. Die letzteren waren zugeknöpft wie ein Steuereintreiber nach dreißig Dienstjahren. Grimmige, halsstarrige und unnachgiebige Spießgesellen mit dem Geruch von Blut, dachte Colonel Hesparsyn. Der Colonel setzte sich an den kleinen beweglichen Reisetisch in dem kleinen beweglichen Kommandantenzelt und verfaßte beim Licht seiner kleinen 13
beweglichen Alkohollampe seinen kleinen alltäglichen Bericht. Der Glühstrumpf der Lampe war magisch derart behandelt worden, daß er in der Alkoholflamme in reinem Weiß glühte. Er verbrauchte dadurch zwar doppelt soviel Brennstoff, gab aber das Dreifache des Lichts eines unbehandelten Glühstrumpfes ab. Hesparsyn hatte gerade geschrieben: ›… und deshalb nehme ich stark an, daß die Möglichkeit feindlicher Handlung seitens ortsansässiger Stämme besteht, obwohl wir bisher noch keine Anzeichen von ihnen gesehen haben‹, als ein Pfeil vier Fingerbreit neben seiner Hand in die Tischplatte einschlug. Der Colonel sprang auf, zog seine.36er MacGregor Legionsausführung aus dem Halfter und rannte nach draußen. Die Dämmerung war mittlerweile zur Nacht geworden, und das einzige Licht kam von den Sternen und den drei kleinen Lagerfeuern, die seine Männer unterhielten. Außerhalb des Lichtkreises lauerte die undurchdringliche Schwärze der Nacht. Hesparsyn blieb für einie Minute wie angewurzelt stehen. Er starrte in die Dunkelheit und lauschte, aber jenseits der Lagerfeuer war es totenstill. Die Wache außerhalb des Zeltes stand dort in lascher Haltung. »Ich nehme an, Ihr habt nichts gesehen?« fragte Hesparsyn sie. »Was meint Ihr, Sir?« fragte die Wache. »Ach, nichts weiter«, erwiderte Colonel Hesparsyn. »Schickt nach Lieutenant MacPhearling und nach dem Ersten Sergeanten.« Er drehte sich um und sah zurück zu seinem Kommandantenzelt. Da erkannte er, was für ein gutes Ziel er in dem intensiven weißen Licht abgegeben haben mußte, das die magische behandelte Alkohollampe aus der Zeltöffnung warf. Der Zeltstoff selbst war so 14
präpariert, daß kein Licht ihn durchdringen konnte; deswegen brauchte Hesparsyn sich in Zukunft nur daran zu erinnern, die Zeltklappe immer geschlossen zu halten. Lieutenant MacPhearling kam die Reihe der Schlafzelte entlanggerannt, wobei er noch mit den Knöpfen seiner Hose kämpfte. Als er das Kommandantenzelt erreichte, tauchte gerade Sergeant Tavis von der anderen Seite auf und ging ruhig auf den Eingang zu. Er sah aus wie für eine Parade gekleidet. »Sir!« stieß Sergeant Tavis hervor, nahm Haltung an und grüßte am Zelteingang. »Worum geht es, Colonel?« fragte Lieutenant MacPhearling, wobei er sich bemühte, einigermaßen Haltung anzunehmen und einen hastigen Gruß zuwege zu bringen. Colonel Hesparsyn erwiderte die Grüße und winkte die beiden Männer heran. »Hier, seht, was ich gerade erhalten habe«, forderte er sie auf. Sie schritten in das Zelt, und Colonel Hesparsyn zeigte auf den fremden Gegenstand, der aus seinem Reisetisch herausragte. Sergeant Tavis beugte sich vor und zog ihn heraus. »Das ist von den Quapaw, Sir«, sagte er. »Ein Nachrichtenpfeil der Quapaw.« »Er wurde in meinen Tisch geschossen«, empörte sich Colonel Hesparsyn. »Vier Fingerbreit weiter rechts, und er hätte meine Hand durchbohrt. Wir müssen einen Weg finden, sie davon abzuhalten, ihre Nachrichtenpfeile auch künftig auf solche Weise zu verschicken. Lieutenant MacPhearling, funktioniert der Abwehrzauber um das Lager herum noch?« »Er funktioniert noch gut, Sir«, entgegnete der Magieoffizier. »Ich vermute, daß der Pfeil von jenseits der 15
effektiven Reichweite des Zauberspruchs abgeschossen wurde.« »Ich verstehe«, brummte der Colonel. »Können wir nicht die effektive Reichweite des Zauberspruchs erweitern, bis sie die effektive Reichweite von Quapaw-Pfeilen übertrifft?« »Nein, Sir«, erwiderte Lieutenant MacPhearling. »Das geht nicht so einfach. Nicht für ein Nachtlager. Nicht mit einem bloßen Zaubergesellen als Magieoffizier der Kompanie. Das schaffen wir nicht.« »Ich verstehe«, antwortete Colonel Hesparsyn. »Sergeant, würdet Ihr bitte die Botschaft vom Pfeil abrollen und mich einen Blick darauf werfen lassen?« Der Sergeant zerriß die Fäden, welche die Botschaft festhielten, und rollte sie auf. Es war ein Blatt dünnen Papiers, das dem Aussehen nach aus einer europäischen Manufaktur stammte. Es hatte die Standardblattgröße von sechs mal acht Zoll. Sergeant Tavis glättete es, indem er es über die Kante des Pultes zog und reichte es Colonel Hesparsyn. »Ein gedruckter Briefkopf«, bemerkte Colonel Hesparsyn laut. Er las: DER-ZULETZT-LACHT, M.A. O.A.E. HÄUPTLING DES REGIERUNGSRATES STAMM DER OSAGE An den Ehrenwerten Colonel-Commander Hesparsyn Kompanie B des Neuengland-Regiments Seiner Herzogs Gnaden Bei der Anglo-Französischen Kaiserlichen Legion Ich entbiete Euch meinen Gruß. Wir haben die Absicht, die verfluchten Aztekenhorden zu einem bestimmten Zeitpunkt in naher Zukunft anzugreifen. 16
Da wir Euch und Eurer Prachtvollen Kompanie von Legionären nichts Böses wollen, schlagen wir Euch dringend vor, das Gebiet zu verlassen, so daß wir nicht genötigt werden, irgend jemanden von Euch zu töten oder zu verwunden. Wenn Ihr Euch entscheiden solltet, dies nicht zu tun, so haben wir Verständnis dafür, aber bedenkt dabei, daß es um Eure Köpfe geht. Kein Krieger der Azteken wird jemals wieder einen aus unserem Volk gefangennehmen, solange das Gras wächst und die Wasser fließen. So haben wir geschworen. In der Hoffnung, daß Ihr Euch bester Gesundheit erfreuen möget, verbleibe ich als Euer Der-zuletzt-lacht »Was haltet Ihr davon?« fragte Colonel Hesparsyn seinen Magieoffizier. »Ein äußerst gebildeter Bursche«, antwortete Lieutenant MacPhearling.
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2 Der Wachposten, der gerade auf den oberen Zinnen der Feste St. Michael patrouillierte, hielt inne, um die große, einsame Gestalt zu beobachten, die oben auf der Mauer stand und auf die Bucht hinabschaute. An der Robe des Mannes erkannte ihn der Posten als einen Priester, den er seines ausgemergelten Gesichts wegen auf Anfang Sechzig schätzte. Doch darin irrte der Wachposten. Vater Adamsus war in seinem zweiundfünfzigsten Lebensjahr und bei bemerkenswert guter Gesundheit. Erstaunlicherweise, bedachte man einige der schweren Belastungen, die er in seinem ereignisreichen Leben ertragen hatte. Niemand konnte jedoch mit jenen fertig werden, denen Vater Adamsus begegnet war, ohne daß die Erlebnisse ihre Spuren hinterließen. Vater Adamsus war ein Exorzist. In den fünfzehn Jahren seines einsamen Weges hatte er vielen Intelligenzen, zahlreichen Wesen und Kräften gegenübergestanden. Manche von ihnen waren selbst Opfer gewesen, sklavische Werkzeuge des verqueren Talents eines menschlichen Hexenmeisters. Andere waren, wie Vater Adamsus wußte, nicht die Werkzeuge von etwas Menschlichem oder Engelhaftem gewesen. Sie hatten ihrem Meister auf bösartige Weise gedient. Vater Adamsus hatte diese üblen Geschöpfe viele Male im Schattenland ritueller Zauberei bekämpft und sie jedes Mal vertrieben, indem er sie von der Person oder dem Ort, an dem sie uneingeladene und unwillkommene Besucher waren, verbannte. Er hatte sie nicht vernichtet, konnte es nicht, denn einem Sterblichen war es nicht vorherbestimmt, einen 18
Unsterblichen zu vernichten. Er wußte jedoch allzugut, daß dieses Gesetz nicht in umgekehrter Weise galt. Die Macht würde ihn zerstört haben, wenn er beim Exorzieren jemals einen Fehler begangen hätte. Und der Tod war mit Sicherheit das geringste Übel, das ihm widerfahren konnte. Vater Adamsus lehnte an der schießschartenbewehrten Mauer des Südturms, während die Kälte der Steine tastend durch seine Kleider kroch. Er bemerkte es jedoch kaum, weil er immer wieder auf die große Bucht hinausschaute. Schiffe waren kaum zu sehen, was wegen des stürmischen Märzwetters nicht überraschte. Blasser Dunst bewegte sich in schnellen Wirbeln über das Wasser. Von diesem günstigen Aussichtspunkt an der südlichen Spitze der langen, schmalen Saytchem-Insel konnte man weit draußen in der Bucht gut das kleine Eiland mit dem mächtigen Gebäude erkennen, das seine Oberfläche völlig bedeckte. Es war eine uralte Stufenpyramide der Azteken. Vater Adamsus hatte nur eine gesehen, die größer war, jene in Tenochtitlan, der großen Stadt im Herzogtum von Mechicoe, der historischen Hauptstadt des Aztekenreiches. Vor vier Jahren war er dort gewesen, als Mitglied des königlichen Botschaftsgefolges Seiner Majestät, John IV, von Gottes Gnaden König und Kaiser von England, Frankreich, Schottland, Irland, Neuengland und Neufrankreich, Verteidiger des Glaubens und gegenwärtiger Inhaber des achthundert Jahre alten Throns der Plantagenets. Bei seinem Aufenthalt in Tenochtitlan hatte Vater Adamsus am Fuß der großen Pyramide gestanden, während andere der Delegation fröhlich hinaufgestiegen waren. Sicherlich besaß keiner der anderen ein sensitives Talent, vielleicht zu ihrem Glück, denn sie waren alle 19
Berufspolitiker und Höflinge. Doch der Priester, ein Sensitiver ersten Ranges – und das war eine Grundvoraussetzung für jeden Exorzisten –, konnte eine Welt sehen, die sich sehr von der unterschied, die aus normaler Sicht wahrgenommen wurde. Und er sah Blut. Die Pyramide war ihm als blutrotes Schlachthaus erschienen, eine gigantische, in Blut getränkte Treppenflucht. Das Bild war eine Phantomüberlagerung mit der ›realen‹ Welt. Wäre es nur visuell gewesen, hätte er es ertragen können, aber er hatte die Schreie gehört, den … Brand … gerochen und hatte das Entsetzen, die Agonie von im Laufe der Jahrhunderte hingemordeten Blutopfern gespürt, als wären es seine eigenen Qualen gewesen. Es hatte seine ganze Konzentration gefordert, um das einfache Schutzritual durchzuführen. Und selbst dann waren die Eindrücke noch nicht vollständig verschwunden, sondern schienen sich wie ein ferner Streit fortzusetzen, der vage durch die Steinwälle einer Festung vernehmbar blieb. Seine eigene Dummheit hatte das verursacht, wie Vater Adamsus mit Verdruß feststellte. Er wußte, daß seit zwei Jahrhunderten auf der Pyramide kein Menschenopfer mehr stattgefunden hatte, seit die Azetekenpriester – teils aus eigener Willenskraft, teils unter der wohlwollenden Führung der Legionsräte des Anglo-Französischen Reiches und dessen katholischer Missionare – ihre blutigen Götter zugunsten einer pazifistischen Götterwelt aufgegeben hatten. Er wußte auch, daß drei Generationen von Priestern das Gelände gesegnet und Läuterungsrituale durchgeführt hatten. Doch konnte man nicht in jedem Fall die Blutflecken vom Stein scheuern; manchmal mußte der 20
Stein bis auf den Grund abgetragen und gelegentlich sogar zu Staub zermahlen und in alle Winde verstreut werden. Es besteht wenig Hoffnung, daß das in diesem Fall geschieht, dachte Vater Adamsus. Er starrte hinaus auf die massive Pyramide auf der kleinen Insel rechts vom Hafen. Es war ein solider Haufen aus Granit, der in einem Zwillingstempel gipfelte. Einer dieser Tempel, der größere, war der blutigsten Gottheit gewidmet, die je in der langen menschlichen Geschichte blutiger Götter erfunden worden war. Die Pyramide hatte fünf Jahrhunderte dagelegen, ohne verwendet zu werden, seit die größte Ausdehnung des Aztekenreiches mit seiner unausweichlichen Kontraktion auf seine natürlichen Grenzen begonnen hatte. Aber nun wurde sie wieder benutzt. Kaum mehr als ein paar hundert Meilen entfernt bewegte sich eine aztekische Delegation zu Vertragsverhandlungen auf Nova Eboracum zu, der Königlichen Kolonie in der Mitte der Niederlassung im südzentralen Teil der Saytchem-Insel. Wie Vater Adamsus wußte, war Lord Chiklquetl, der Hohepriester der Azteken, Mitglied dieser Abordnung. Als Teil der Zeremonie zur Vertragsunterzeichnung sollte die Ewige Flamme im anderen Tempel der Pyramide entzündet werden, demjenigen, der Tsaltsaluetol geweiht war, einem friedlicheren Gott als seinem Gefährten auf der Insel. Es sollte mit einer Fackel aus der Pyramide von Tenochtitlan geschehen, die vom Hohepriester mitgeführt wurde. Und ich würde liebend gern wissen, wer auf DIESE Idee gekommen ist, dachte Vater Adamsus mit reichlich unpriesterlichem Ärger; sicher war es kein Priester oder lizensiertes Mitglied der Zauberergilde gewesen, der so weitsichtig angeregt hatte, eine Fackel neben der Tür einer 21
Munitionskammer auflodern zu lassen. - Aber man wird es tun, was bedeutet, daß Lord John und ich morgen zur Pyramideninsel hinausfahren und diesen Steinhaufen läutern müssen, um ihn wieder zu dem zu machen, was er zu sein scheint: zu einer leeren, lange verlassenen Steinstruktur. Sofern wir das überhaupt können. Vater Adamsus war keineswegs sicher, daß dieser Plan tatsächlich durchgeführt werden konnte. Das hatte er keine vierundzwanzig Stunden zuvor schon dem Erzbischof erzählt. »Das wird keine einfache Läuterung, Euer Gnaden«, hatte er ausgeführt. »Die übliche Technik ist zwar bei der Reinigung von Gebäuden wirksam, die für böse Zwecke mißbraucht wurden, auch wenn dieses Böse sich über eine lange Zeitspanne hinweg ereignet hat. Aber das da …« Vater Adamsus hatte mit einem Finger hinaus auf den sich absetzenden Nebel hinter dem großen geteilten Fenster gewiesen, das in die Südwand der St. Brigid Kathedrale eingesetzt war. »… das Ding da draußen ist nicht einfach nur ein Gefäß, das einen unheilvollen Trank enthält. Es ist für Böses erschaffen worden. Stein um Stein wurde mit diesem Gedanken und zu diesem Zweck aufeinander getürmt. Der Haupttempel war ursprünglich Huitzlipochtli geweiht – wenn ich dieses heilige Wort in solch einem diabolischen Sinn verwenden darf –, der ein Gott des Krieges, des Mordes und Hasses war – und der es in einigen Gegenden von Mechicoe heute noch ist. Ich bin ein Exorzist und ein Priester und will handeln, wie mir aufgetragen wurde. Dennoch ist es meine Pflicht, darauf hinzuweisen, daß der Ritus des Exorzismus ein Wesen von einem Platz vertreibt, auf den es kein Recht hat. Es wird nicht angestrebt, eine Gottheit aus ihrem eigenen Haus hinauszuwerfen.« 22
»Sagt Ihr damit«, hatte Erzbischof Patrique nachgefragt, »daß Ihr es nicht tun könnt?« Seine Gnaden enthielt sich der Bemerkung, daß Vater Adamsus in wenigstens einer Einzelheit die Angelegenheit übertrieben hatte; niemand, auch nicht der Heilige Vater, konnte einem Exorzisten zu dieser Aufgabe den Befehl erteilen. In der Ausübung religiöser – oder weltlicher – Dinge durfte man zwar eines Menschen Leben riskieren, aber niemals seine unsterbliche Seele. Während er nun auf der Brustwehr der Feste St. Michael stand, erinnerte sich Vater Adamsus seiner Erwiderung. Nein, hatte er gesagt, nicht, daß ich es mit der Hilfe von Lord John nicht vollbringen könnte. Nur möglicherweise reicht es in diesem Fall nicht. Was immer für bösartige Wesen dort drin lauern, sie werden vertrieben werden. Aber wir müssen lange Zeit in Alarmbereitschaft bleiben. Seht Ihr, Euer Gnaden, sie könnten sonst nämlich geradewegs nach Hause zurückkehren. Schnelle Schritte näherten sich, deren scharfes Stakkato von den Steinen widerhallte. »Ehrwürdiger Vater?« Es war der Wächter. Ein junger Mann, noch keine zwanzig, der die grüne und azurne Uniform der herzoglichen Wache trug und den Lehenseid Seiner Gnaden Charles, dem Herzog der Are, Kaiserlichen Statthalter von Neuengland, geleistet hatte. »Ja? Was ist, mein Sohn?« »Eine Botschaft kam eben über die Sprechröhre, Ehrwürdiger Vater. Ein Teleklang-Anruf aus der Residenz für Euch.« Vater Adamsus bemerkte augenblicklich die ehrerbietige Betonung, mit der der junge Mann das Wort Residenz aussprach, und wußte, daß es sich nur um eine Residenz handeln konnte: den Palast von Herzog Charles. »Du wirst 23
mir den Weg weisen müssen, denn ich bin nicht so vertraut mit der Feste St. Michael, wie ich es gern wäre.« »Sicher, Ehrwürdiger Vater, einen Augenblick bitte.« Nachdem er durch die Sprechröhre aus Messing hinunter ins Wachhaus gepfiffen hatte, um eine Ablösung hochzuschicken und die Erlaubnis einzuholen, seinen Posten zu verlassen, führte der junge Wachmann, noch bevor diese eintraf, Vater Adamsus durch ein Labyrinth von Korridoren und Treppenhäusern hinunter. Vorbei an flackernden Fackeln in Wandhaltern – nur der Palast verfügte bis jetzt über Gasbeleuchtung – und gewebten Wandbehängen, die wenig dazu beitrugen, die Märzkälte zu lindern. Auf ihrem Weg ertappte Vater Adamsus sich dabei, daß er über den Teleklang nachgrübelte. Er hatte gehofft, daß er mit seinen Gedanken für eine Weile allein sein könnte und war aus diesem Grund hinunter zur Feste St. Michael gekommen. Er überlegte, daß solch ein strategischer Außenposten wie die Feste mit ihrem Ausblick – und ihren Geschützen – unzweifelhaft die Aufgabe hatte, einen Bereich der Bucht und die Meerenge, die in den Ozean dahinter führte, zu beherrschen. Unmittelbare Verständigung mit dem Palast war kein bloßer Luxus, sondern vielmehr eine Notwendigkeit. Lange Jahre waren Teleklangs eine Seltenheit gewesen. Die Geräte, die aus zwei tassenähnlichen Schalen bestanden, die auf eine kleine, hölzerne Kiste montiert waren, funktionierten aufgrund von Prinzipien, die noch nicht einmal den besten theoretischen Thaumaturgen völlig klar waren. Sobald der richtige Zauberspruch auf den Kristall im Teleklang gesprochen war, konnte es jeder verwenden, indem er einfach eine der Schalen gegen das Ohr hielt und in die andere sprach. 24
Der Zauberspruch, um ein Teleklangpaar zu aktivieren, war jedoch nicht nur verwickelt und schwierig, sondern hatte auch die Tendenz, sich nach einer gewissen Zeit zu verbrauchen. Dieser Aufwand hatte das Gerät nur für wenige Privilegierte erschwinglich gemacht. Aber kürzlich war eine neue Ausführung des Gerätes durch Sir Thomas Leseaux, Th. D. dem führenden Theoretischen Hexer im gesamten Anglo-Französischen Reich, entwickelt worden. Sir Thomas hatte die paarigen Kristalle durch dünne Scheiben, die beinahe die Konsistenz von Membranen auf wiesen, ersetzt. Das einfache Ausrufen eines Wirkspruchs mit einem gewöhnlichen Sympathieritual bewirkte, daß zwei Scheiben, die durch eine beliebige Länge von Symbolkupferdraht verbunden waren, im Einklang vibrierten. Dies geschah unabhängig davon, wie weit voneinander entfernt sie lagen (solange der Draht nicht durch oder über rinnendes Wasser lief, denn kein Zauberspruch würde bei einer solchen Barriere funktionieren). Wenn einer in die Sprechröhre eines Teleklangs sprach, versetzte das die Scheibe am anderen Ende des Symbolkupferdrahts in Schwingung. Dabei vibrierte die Scheibe im Ohrstück des anderen Teleklangs in präzise der gleichen Art und reproduzierte den Klang der Stimme deutlich, wenn auch nicht in völliger Übereinstimmung. Die Präparation der Teleklangs stellte für einen geschickten Sachverständigen kein Problem mehr dar, und selbst ein Wanderhexer konnte das elegante und simple Aktivierungsritual, das Sir Thomas ersonnen hatte, meistern. Und bald werden es alle tun, dachte Vater Adamsus schwermütig, während er sich dahinschleppte. Nun ja, man sagt, daß man den Fortschritt nicht aufhalten kann. In Kürze würde das Teleklang überall sein, und die meisten 25
Menschen würden es als wunderbare Annehmlichkeit empfinden. Es war schwierig, solchen Leuten zu erklären, daß ein so angenehmes Gerät auch Rückwirkungen haben würde, daß der damit einhergehende Verlust den Gewinn aufzehren könnte. Die Zauberei, dachte Vater Adamsus, entwickelt sich zu schnell weiter. Warum können wir über diese Dinge nicht ein wenig mehr nachdenken, bevor wir sie in die Tat umsetzen? Eben erreichten die beiden Männer eine Tür aus Eichentafeln gegenüber der Torhalle. Soweit Vater Adamsus es beurteilen konnte, hatte ihre Wanderung sie zu einem Ort weniger als hundert Fuß von ihrem Ausgangspunkt entfernt geführt. Ihr Startpunkt befand sich jetzt direkt über ihnen. Die Torwache öffnete die Tür für Vater Adamsus, und der Priester blickte in einen kleinen fensterlosen Raum. Sein Führer eilte in die gegenüberliegende Torhalle, brachte schnell eine Spirituslaterne und befestigte sie an einer Wandhalterung im Raum. Im Schein ihrer ruhigen Flamme sah Vater Adamsus einen kleinen schmucklosen Stuhl und einen Tisch. Auf dem Tisch stand ein Teleklang: eine polierte hölzerne Kiste mit etwas, das wie eine schwarze Kaffeetasse aussah, in die hineingesprochen wurde, und etwas wie ein schwarzes Weinglas, das dazu diente, ans Ohr gehalten zu werden. Eine kleine Silberglocke war dazu gedacht, die Aufmerksamkeit der Person zu erregen, die das Empfangsteleklang besaß. Ein eigens dafür eingerichteter kleiner Raum, dachte Vater Adamsus, wie nobel. Er nahm das Teleklang auf und sprach hinein: »Hier ist Vater Adamsus.« Viele Male hatte er die Geräte bereits benutzt, insbesondere während der langen Jahre in 26
England und Frankreich; aber nie konnte er sich einem leisen Gefühl von Lächerlichkeit entziehen, wenn er laut in eine Kaffeetasse sprach. »Hier ist Lord John Quetzal, Ehrwürdiger Vater.« Lord John sprach perfekt anglisch ohne jeden spürbaren, mechicanischen Akzent. Er war darin von Jugend an im Herzogtum seiner Geburt unterrichtet worden und hatte es in London im Laufe der Jahre perfektioniert, die er mit dem Studium der Zauberei verbracht hatte. Vater Adamsus lächelte gezwungen. »Woher wußtet Ihr, daß ich hier bin, Eure Lordschaft?« »Ich habe es deduziert.« »Wirklich?« Vater Adamsus reagierte auf diese Antwort sowohl neugierig als auch amüsiert. »Und wie habt Ihr es deduziert?« »Ganz einfach, wirklich.« Lord John war ebenfalls vergnügt. »Als ich in Eure Wohngemächer im Palast ging und herausfand, daß Ihr gegangen ward, bemerkte ich, daß Ihr Euren schwersten Umhang mitgenommen hattet. Es ist frostig draußen, aber nicht so frostig, jedenfalls nicht bei einem einfachen Spaziergang. Besonders, da der priesterliche Wechsel von Winterwolle zu Frühlingsbaumwolle in diesem Kirchspiel erst in sechs Wochen vorgesehen ist. So habt Ihr also eindeutig geplant, Euch für einige Zeit im Freien aufzuhalten. Ich fragte beim Seneschall nach und erfuhr, daß Ihr ohne ein Wort über Eure Absicht abgereist seid. Äußerst untypisch für Euch, offensichtlich wolltet Ihr also allein sein.« »Hm, ja«, stimmte Vater Adamsus zu. »Das ist soweit richtig.« »Gut. Ihr wolltet für Euch allein sein, ohne Zweifel, um über unser morgiges … Vorhaben … nachzudenken. Und Ihr habt erwartet, an einem Ort draußen zu sein, an dem es 27
kälter als gewöhnlich wäre. Es gibt da ein paar gute Möglichkeiten, aber nur eine davon weist eine Aussicht auf den Tempel des Huitzlipochtli auf. Quod erat demonstrandum.« Vater Adamsus lachte, zum ersten Mal an diesem Tag. »Als ich Euch in London traf, erinnere ich mich, wart Ihr ein junger Wanderhexer mit dem brennenden Wunsch, ein Gerichtshexer wie Sean O Lochlainn zu werden. Nun, da Ihr dieses Ziel erreicht habt, scheint es, daß Ihr plant, ein Meister der Deduktion zu werden wie Master Seans Kollege, Lord Darcy.« Lord John Quetzal erwiderte das Lachen. »Gütiger Himmel, Vater, bitte erwähnt das niemals gegenüber Lord Darcy, und aus dem gleichen Grund bitte auch nicht gegenüber Master Sean. Ich muß noch einen langen Weg gehen, bevor ich auch nur anfangen kann, mich mit Master Seans forensischer Geschicklichkeit zu messen. Ich möchte nicht, daß er denkt, ich wäre anmaßend und würde mich ihm als Gerichtshexer gleichstellen. Und was Lord Darcy anbelangt, so weiß der Himmel allein, wo er seine wunderbare Deduktionsfähigkeit hernimmt. Sie ist sicherlich nicht magisch oder zumindest keine Magie, in der ich unterrichtet worden wäre.« »Euer Geheimnis ist bei mir sicher, Euer Lordschaft. Aber nun werde ich mich ein wenig in Deduktion üben. Etwas ist los, und es muß ziemlich unangenehm sein. Sonst hättet Ihr mich nicht gestört, da Ihr doch wußtet, daß ich mir ein bißchen Alleinsein wünschte.« »Das ist wahr, Ehrwürdiger Vater. Wenn Ihr mir die Unterbrechung vergebt, möchte ich Euch gern treffen, ehe wir uns zur Nacht zurückziehen. Ich erwarte Euch in meinen Gemächern. Wir haben Probleme. Zusätzliche Probleme.« 28
»Ich mache mich gleich auf den Rückweg«, erwiderte Vater Adamsus. Lord John Quetzal ging in seinen Gemächern im Westflügel des Palastes langsam auf und ab. Das war kein Ausdruck von Ungeduld, da Hexenmeister nicht dazu neigten, unproduktiven Gefühlsregungen nachzugeben. Er fand ganz einfach, daß er besser nachdenken konnte, wenn er sich dabei bewegte, und im Moment hatte er über eine ganze Menge nachzudenken. Er war in der Nähe des herzoglichen Palastes aufgewachsen und hatte sich danach überwiegend in London seiner magischen Ausbildung gewidmet, wo das Tun von König und Parlament das Herzblut der hohen wie niederen Gesellschaft darstellt. Lord John resignierte über die Art, wie die Politik sämtliche Aktivitäten oberhalb einer gewissen Stufe durch wob. Auch weil das Unterzeichnen von Verträgen nur in einem politischen Zusammenhang von Bedeutung war, mußte man mit einer überdurchschnittlichen bürokratischen Einmischung in die eigene Arbeit rechnen. Aber warum das? Welchem irdischen (oder sonstigen, dachte er verkniffen) Zweck mochte es dienen, wenn ein königlicher Beobachter beobachtend herumstand, während er und Vater Adamsus ihre schwierige und anspruchsvolle Arbeit leisteten. Der Graf war kein Hexer, tatsächlich hatte er keinerlei magische Ausbildung aufzuweisen. Er war auch kein Sensitiver. Deswegen konnte er nicht helfen, konnte nicht wirklich etwas spüren; er würde nur im Weg herumstehen und möglicherweise in Gefahr geraten, wenn sich da oben etwas Abscheuliches in den residualen psychischen Kräften regte. Und dabei gab es für den Grafen kaum etwas zu sehen. Er würde von dem, was passierte, herzlich wenig verstehen. Warum war es für ihn also überhaupt nötig, 29
anwesend zu sein? Was dachte derjenige, wer immer ihn gesandt hatte, was er dort wohl sehen könne? Lord John hielt für einen Moment inne und betrachtete sein Bild in dem gewaltigen goldgerahmten Spiegel, der den halben Raum einer der Wände des Wohngemachs einnahm. Er war schon zum Abendbrot gekleidet, in das zweiteilige blausilberne Gewand, das die übliche Kleidung eines Hexenmeisters war. Die Farben bildeten einen auffallenden Kontrast zum dunklen Rötlichbraun seines Gesichtes. Unter dem Schopf schwarzer Haare betrachteten die beinahe ebenso dunklen Augen ohne Begeisterung ihr Spiegelbild. Lord John mußte sich eingestehen, daß Graf de Maisvin keine bösen Absichten hegte. Darüber bestand gar kein Zweifel, denn sonst wäre der Mann kein kaiserlicher Abgesandter gewesen. Unmittelbar Seiner Herrschaftlichen Majestät John IV zu unterstehen, war eine Ehre und ein Vertrauen, das nur wenigen widerfuhr. Wahrhaftig, de Maisvin hatte wirklich ein seltsames Gebaren an sich, einen Ausdruck von Wachsamkeit und zugleich von Distanziertheit und Zurückgezogenheit – doch bei der Verantwortung, die er zu tragen hatte, war das kaum überraschend. Nur kurz hatte Lord John ihn bei einem Empfang früher am Tage getroffen, und sein unmittelbarer Eindruck von dem Grafen war der eines nachdenklichen, hingebungsvollen und ernsthaften Mannes. Lord John unterbrach seine Wanderung. Irgend etwas stimmte hier nicht. Sein Unterbewußtsein versuchte, ihm etwas mitzuteilen. Aber es betraf wahrscheinlich nicht den Grafen. Er hatte keinen logischen Grund anzunehmen, daß de Maisvin morgen überhaupt irgendwelchen Ärger verursachen würde, nicht 30
nach dem, was er in dem Mann erkannt hatte. Was die Anwesenheit eines Fremden bei einem forensischen Ritual betraf, so war dies ein recht praktischer Aspekt in Lord Johns Ausbildung in London gewesen, denn den Luxus des Alleinseins durfte man bei der rituellen Arbeit, während der man ein Verbrechen untersuchte, wenn überhaupt, so nur selten genießen. Es würde mehr ein Problem für Vater Adamsus sein, der es sich nicht leisten konnte, abgelenkt zu werden, während er den eigentlichen Exorzismus durchführte. Als Mann des Königs mußte der Graf aber sowohl hochintelligent als auch hochmotiviert sein; er würde also der Vernunft zugänglich sein. Besonders da klar war, daß alles, was Vater Adamsus verwirren könnte, verhängnisvolle Folgen für sämtliche Umstehenden haben konnte. Gemeinschaftlich würden er und Vater Adamsus heute Nacht rituelle Vorkehrungen treffen, um jede Möglichkeit einer Gefährdung des Grafen – oder ihrer selbst – zu verhindern, indem sie die Anwesenheit de Maisvins auf eine bloße Belästigung reduzierten. Was stört mich also? Könnte es sein … Da ertönte ein Klopfen an der offenen Tür, und Lord John schaute auf, um Vater Adamsus zu begrüßen. »Ihr habt Euch wohl sehr beeilt, Vater.« Vater Adamsus legte seinen schweren Wollumhang ab und hängte ihn über einen Stuhl neben der Feuerstelle. »Der Hauptmann der Wache war so freundlich, mir ein Pferd zu leihen. Hätte ich bei dem Zustand, in dem die Straßen sind, die Kutsche benutzt, wäre ich erst zu der Zeit angekommen, zu der ich wieder los muß.« Lord John runzelte die Stirn. »Ist diese Straße denn nicht gepflastert? Ich dachte …« »Ich vergesse immer wieder, daß Ihr lange nicht hier 31
gewesen seid. Ja, der Große Weg ist tatsächlich gepflastert, aber er ist nur auf der Strecke zwischen dem nördlichen Ende von Saytchem und dem Palast sowie nach Nova Eboracum – oder, wie die Einheimischen es nennen, New Borkum – in gutem Zustand. Unmittelbar südlich der Stadt verwandelt er sich im Sommer in die staubigste Straße des Reiches. Zur Zeit ist er ein flacher Kanal mit einer dünnen Eiskruste.« Der mechicanische Zauberer lachte. »Ihr klingt, als wärt Ihr in keiner besseren Stimmung als ich. Wir scheinen uns auf unsere Arbeit morgen wirklich nicht recht freuen zu können, stimmt’s?« Vater Adamsus betrachtete ihn einen Moment lang eindringlich. »Nein«, sagte er nach einer Pause, »das tun wir wahrlich nicht. Ihr aus Euren eigenen privaten Gründen und ich aus meinen.« »Vater …« Der Priester hielt eine Hand hoch. »Versteht mich richtig, ich meine das keineswegs kritisierend. Ich kenne den Grund für Eure Bedrücktheit zum Teil. Ihr müßt Euch erst an die Tatsache gewöhnen, daß es Eure eigenen Vorfahren waren, die diese Pyramiden erbaut und eine Atmosphäre des Bösen Beschaffen haben, die zu vertreiben nun unsere Absicht ist.« Lord John lächelte traurig. »In der Tat, Vater. Das ist genau dasselbe, was auch ich gedacht hatte. Und wer sollte es besser wissen als Ihr?« »Man braucht kein Sensitiver zu sein, um zu erkennen, worüber Ihr Euch Gedanken macht, John. Mal sehen, ob nicht eine andere Sichtweise dazu beitragen kann. Erinnert Ihr Euch an den Ersten Lehrsatz?« »Ich denke schon«, lächelte Lord John. Die neuen Lehrsätze waren das erste, was ein grünschnäbliger 32
Zauberer zu lernen hatte. »Magie ist die Kunst, Veränderungen in Übereinstimmung mit dem Willen herbeizuführen.« »Ganz recht; und das bedeutende Wort für uns ist jetzt Wille. Und nicht, wie Ihr bemerkt, Natur. Magie hat wenig Interesse an dem, was Ihr seid, sondern für sie gilt nur, was Ihr tut. Wir wählen unseren Geburtsort, soweit wir wissen, nicht selbst aus – wir haben den freien Willen, um aus dieser Situation zu machen, was wir wollen.« Vater Adamsus hielt inne, durch eine Erinnerung unterbrochen. »Eines Tages, nun, es muß vor einem Dutzend Jahren gewesen sein, ergab es sich, daß ich ein Gespräch mit Seiner Majestät führte – es hatte mit dem Problem der Wasserspeier von St. Arthur zu tun, erinnert Ihr Euch? Einerlei, ich sagte jedenfalls etwas in dem Sinne zu Ihm, wie stolz Er doch darauf sein könne, den Namen der Plantagenets zu tragen. Darauf blickte Er mich für einen Moment enttäuscht an und sagte: ›Wir versuchen, es nicht zu sein. Unsere Autorität ist nicht auf den Namen Unserer Ahnen gegründet. Wenn Wir stolz sein sollten – und das sind Wir, wiewohl eher in vernünftigem Ausmaß –, dann liegt es daran, soweit Wir überhaupt feststellen können, daß Wir mit Unseren Ratgebern Glück hatten. Sollten Wir jedoch einmal so etwas wie Selbstgefälligkeit empfinden, so starren Uns die Reihen der Plantagenets von den Palastwänden herab an und erinnern Uns daran, was andere in diesem Namen zuwege gebracht haben. Dies läßt Uns stets wieder bescheiden werden. Und dann beten Wir, daß Wir weiterhin Unser Bestes geben dürfen und dann nach nichts anderem beurteilt werden als nach der Tatsache, daß Wir alles getan haben, was getan werden konnte. Wir hoffen, nach keiner anderen Maxime gehandelt zu haben, wären Wir auch in eine Familie von Böttchern oder Bierkutschern hineingeboren worden.« 33
Lord John Quetzal starrte für mehrere Sekunden in die glimmenden Funken der Feuerstelle. Dann sagte er: »Der König ist ebenso weise, wie ich dumm bin.« »Seid nicht so hart mit Euch selbst, Euer Lordschaft. Ihr seid sicherlich nicht der einzige Mann, der sich am Vorabend einer schwierigen Aufgabe den Kopf zerbrochen hat. Nicht einmal der einzige Mann in diesem Raum.« Dies zauberte ein ungetrübtes Lächeln auf Lord Johns zweifelndes Gesicht. »Nun«, fuhr Vater Adamsus fort, während er sich ein kleines Glas Xerez einschenkte, »was bedrückt Euch? Wofür bin ich durch Schlamm und Regen zu Euch galoppiert?« »Ihr habt natürlich recht«, sagte er einige Minuten später, nachdem ihm Lord John von dem kaiserlichen Beobachter berichtet hatte. »Der König, der wahrscheinlich hinter dem Wunsch Seiner Gnaden des Herzogs steht, muß einer gewichtigen Grund dafür haben, de Maisvins Anwesenheit zu befehlen, einen Grund, dessen Kenntnis uns Seine Majestät nicht aufbürden will. Es ist eben eine dieser Angelegenheiten, mit denen man sich herumärgern muß, aber ich teile Eure böse Ahnung. Wie Ihr, sehe auch ich keine wirklich großen Schwierigkeiten; wir werden während der ganzen Zeit ziemlich einfache Standardrituale durchführen. Aber wie Euch ist auch mir bei unserer Aufgabe nicht ganz wohl, und die Anwesenheit von Graf de Maisvin stellt einen weiteren Punkt dar, den es zu berücksichtigen gilt. Wir tragen die Verantwortung, falls ihm irgend etwas geschieht.« »Das fiel mir dazu auch ein«, sagte Lord John. »Habt Ihr den Grafen schon kennengelernt?« 34
»Nein«, erwiderte Vater Adamsus. »Habe ich nicht. Und, so unhöflich es klingen mag, im Moment will ich es auch nicht besonders. Morgen wird es dafür noch früh genug sein.«
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3 Der eisige Wind peitschte den Bug des kleinen Kutters, während über Lord Johns Kopf die neuen schweren Segel in einer wahllosen Abfolge kleiner knatternder Geräusche hin und her geworfen wurden. Aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz war die Dämmerung hell und klar. Die Sonne schien sogar mit einem beinahe übernatürlichen Glanz und verwandelte die unruhigen Wasser der Bucht in zahllose blinkende Spiegel. Lord John umklammerte die glatte Mahagonireling und dachte über das Wetter nach. Zu jeder anderen Zeit hätte ich mich darüber gefreut, daß der Regen aufhört, wenn ich draußen zu arbeiten gehabt hätte. Und weiter: Huitzlipochtli ist ein Sonnengott. Es war dumm, es war absurd. Wenn es geregnet hätte, dachte Lord John, dann hätte ich darin eine Art von Omen gesehen. Ich muß wieder einen klaren Kopf bekommen. Er kehrte in die Wärme der kleinen Kabine zurück. Den Messingdrehknopf schon in der Hand, hielt er inne und schaute zu der gebieterischen Gestalt, die allein am äußersten Ende des Vordecks stand. Graf Maximilian de Maisvin war von durchschnittlicher Statur, vermittelte aber irgendwie den Eindruck eines großen Mannes. Das mochte teilweise an der kerzengeraden Haltung liegen, aber zum weit größeren Teil ergab es sich aus der bloßen Kraft seiner Persönlichkeit, einer Kraft, die man sogar dann spüren konnte, wenn de Maisvin – wie jetzt – seine 36
Aufmerksamkeit ausschließlich auf die herannahende Insel richtete. Der Graf hatte beeindruckende Gesichtszüge: tiefliegende schwarze Augen, eine falkenartige Nase über einem grausamen Mund und einen kleinen, sorgfältig gestutzten schwarzen Spitzbart. Am beeindruckendsten aber war die Mähne von blauschwarzem Haar, weitaus voller als Lord Johns eigenes Haar, die auf seine Schultern fiel und die in einem ausgeprägten Schwung über seiner breiten Stirn lag. Seine Kleidung war von strengem, beinahe förmlichem Zuschnitt und vollkommen schwarz, vom seidenen Halstuch bis zu den polierten Stiefeln. An drei Stellen stach Silber aus dem Schwarz hervor: die Insignien des Reichs auf dem Mantelaufschlag, der mit einer riesigen schwarzen Perle besetzte massive Fingerring und der MacGregor-Revolver Kaliber.40 in dem verzierten schweinsledernen Halfter an seiner Seite. Lord John wußte, daß es mit dem Revolver eine besondere Bewandtnis hatte. Das eingravierte Wappen – vier englische Löwen, die die Lilien Frankreichs umgaben – wiesen ihn als ein persönliches Geschenk seiner Majestät John IV aus. MacGregor & Sohn fertigten diese Waffen vom Kaliber.40 ausschließlich für Seine Majestät, die diese als Beweis Ihrer Gunst vergab, und jede Patrone wurde im Selkirk-Werk der Gesellschaft handgefüllt. Lord Darcy, der ebenfalls eine derartige Waffe besaß, hatte Lord John erzählt, daß der König diese Geschenke nicht nur als Repräsentationsstücke, sondern auch zur tatsächlichen Verwendung vorsah. Das ganze Können der MacGregors ging in die Fertigung dieser Waffen ein, die tödlich genaue Mannbremser waren. Die wenigen, die sie ihr eigen nennen konnten, trugen sie voller Stolz – und machten guten Gebrauch von ihnen. 37
Lord John betrat die Kabine. An einem Tisch saß Vater Adamsus, der die Hände an einem Becher dampfenden Kaffee wärmte. Er sah auf. »Was macht unser Freund?« Lord John blickte durch die vordere Luke hinaus. »Er scheint hier genauso unglücklich zu sein wie wir. Er hat es gerade noch bis zum Dock geschafft, bevor wir ablegten, und seitdem er an Bord kam, hat er nicht mehr als zehn Worte von sich gegeben.« Vater Adamsus runzelte die Stirn. »Das spricht für seinen gesunden Menschenverstand. Niemand, der die Wahl hat, wäre jetzt hier draußen. Hat er Euch erzählt, warum er mitgekommen ist?« »Der Herzog befahl es. Und de Maisvin untersteht dem Befehl des Herzogs. Aber anscheinend folgte er dem Befehl aus keinem stärkeren Motiv als aus Furcht vor dem Herzog. D’Are macht sich sehr viele Sorgen, daß die verschiedenen Zeremonien gut vonstatten gehen, und daher nehme ich an, daß er eine umfassende persönliche Berichterstattung wünscht, vor allem von einem neutralen Beobachter.« Vater Adamsus grinste, was ihn sogar selber erstaunte. »Im Augenblick sieht er tatsächlich sehr neutral aus.« Nach einer Pause fuhr er fort: »Wie hält er es ohne einen Mantel da draußen aus? Spürt er die Kälte nicht?« »Anscheinend nicht. Aber«, Lord John schaute noch einmal aus der Luke, »Ihr könnt ihn ja selber fragen. Da kommt er.« Graf de Maisvin trat ein und schloß die Tür sorgfältig hinter sich. Er zitterte und fröstelte keineswegs. Was die Wirkung auf ihn betraf, hätte das Wetter draußen ebensogut hochsommerlich sein können. Er goß sich einen Becher Kaffee ein und wandte sich dem Priester und dem 38
Hexer zu. »Leider war auf dem Dock nur Zeit für eine kurze Begrüßung«, sagte er. Seine Stimme klang tief und wohltönend. »Natürlich kann ich mir vorstellen, daß uns zu der Zeit all Mögliche im Kopf herumging.« Er hielt für einen langen Moment inne und starrte die beiden Männer nacheinander mit einem neugierigen und eindringlichen Blick an. »Ich weiß, wie Ihr darüber denkt … nicht, muß ich schnell hinzufügen, daß ich das wörtlich meine. Ich bin kein Sensitiver, Vater, und glaubt mir, ich werde Euch ganz und gar aus dem Weg gehen. Wenn ein Magier weiß, was er tut, gebe ich mich völlig damit zufrieden, einfach still zuzusehen.« Lord John konnte dieser Eröffnung nicht widerstehen. »Und wenn ein Magier nicht weiß, was er tut?« »Dann«, antwortete de Maisvin und nahm einen Schluck von seinem dampfenden Becher, »möchte ich lieber nicht in seiner Nähe sein.« Die drei Männer blieben am Anfang der langen hölzernen Treppe stehen, die vom Pier herüberführte, und betrachteten die Pyramide, die sich vor ihnen erhob. Sie waren allein auf der Insel. Vater Adamsus war angewiesen worden, darauf zu bestehen, daß der Kapitän und seine vier Mann Besatzung an Bord des Kutters zurückblieben, doch diese Anweisung hatte sich als überflüssig erwiesen. Die Seeleute hatten nicht die Absicht, auch nur einen Fuß auf die Insel zu setzen, und der Kapitän hatte klargestellt, daß er um so glücklicher wäre, je früher die Aufgabe der kleinen Delegation, die an Land ging, beendet wäre, damit sie wieder ablegen konnten. Die grauweißen Steine der Pyramide strahlten hell im 39
gleißenden Sonnenlicht. Für ein Bauwerk, das fünf Jahrhunderte überdauert hatte und der Unbill des Wetters der Atlantikküste Neuenglands ausgesetzt war, wirkte es bemerkenswert unbeschädigt. Wenn man von einigen vereinzelten geborstenen Stellen absah, hätte es in der Tat scheinen können, als wäre es erst gestern erbaut worden. Lord John stellte fest, daß er sich eine zerbröckelnde Ruine vorgestellt hatte, eine Erwartung, die er aus dem Anblick der vielen Pyramiden abgeleitet hatte, welche er als Kind gesehen hatte. Die Witterungsbedingungen waren hier sicherlich ebenso hart; vielleicht machte der Granit des Nordens den Unterschied aus. Es machte einen einfach nervös: Die Pyramide sah fast völlig neu aus. Sie wirkte gewissermaßen gebrauchsfertig. Vater Adamsus merkte, daß auch er auf eine paradoxe Weise aufgeregt war. Und zwar gerade deshalb, weil er es eben nicht war. Er hatte sein Schutzritual vollzogen, sobald sie das Schiff verlassen hatten, noch bevor er sich der hölzernen Treppe anvertraut hatte. Doch selbst hinter einem solchen Schild konnte der Sensitive die Anwesenheit von Entitäten, von psychischen Vibrationen entdecken; denn es war der verheerende emotionale Inhalt derartiger Eindrücke, der da sichtbar wurde. Daher war Vater Adamsus vorbereitet und spürte jetzt, als er den Fuß der Pyramide erreichte … … nichts. Überhaupt nichts. Gewiß, da gab es zwar den Bannfluch, der von den anglo-französischen Hexern ausgesprochen worden war, um die Unbedachten für das vergangene Jahrhundert von der Pyramide fernzuhalten, aber das war ein vertrauter Eindruck, der keine Nebentöne des Bösen aufwies, weil mit ihm nichts Böses beabsichtigt war. 40
Er versuchte sich selbst davon zu überzeugen, über diese Entwicklung erleichtert zu sein, darüber, daß er es nicht mit einem übernatürlichen Anschlag zu tun hatte wie jene, den er in Tenochtitlan erlebt hatte. Doch das vermochte er nicht. Es war so seltsam wie der Anblick einer Person im Sonnenlicht, die keinen Schatten warf. Selbst de Maisvin schien von dem Ort angezogen zu werden, und er sagte nichts, beobachtete die beiden anderen Männer dafür aber mit einem Ausdruck zweifelnder Sorge. Als sie sich den Steinstufen näherten, wurde der Bannfluch stärker, was Vater Adamsus als besonders störend empfand, weil es ihn sowieso nicht danach drängte, sich, dort aufzuhalten. Lord John stellte eine kleine Messingpfanne aus seiner Hexentasche auf die erste Stufe und zündete die Holzkohle darin vorsichtig an. Sie flammte unnatürlich schnell auf und fing dann an, hell zu glimmen. »Das kostet uns nur einen Augenblick«, sagte er. »Es ist ein einfacher Zauberspruch.« Er schüttete etwas Pulver in sein Weihrauchgefäß und plazierte eine der glühenden Kohlen obenauf. Als Lord John das Weihrauchgefäß um seinen Kopf kreisen ließ und einige undeutliche Worte vor sich hin murmelte, entwich dem Gefäß auf der einen Seite grüner und auf der anderen Seite roter Rauch. Nach zwei kurz hervorgestoßenen Wörtern, die lateinisch klangen, obgleich sie Vater Adamsus nicht geläufig waren, verschwand der Rauch plötzlich, die Luft wurde klar und Vater Adamsus verspürte nun nichts weiter als seine natürliche Abneigung, die Pyramide zu besteigen. »Ich nehme die Pfanne mit«, sagte Lord John und hob sie behutsam an einem ihrer drei Beine auf. »Ich werde sie 41
gleich noch brauchen. Laßt uns mit dem Aufstieg beginnen.« Sie stiegen die mittlere Treppe hinauf, wobei Vater Adamsus und Lord John die Führung übernahmen und Graf de Maisvin einige Stufen dahinter folgte. Als sie etwa ein Drittel des Aufstiegs geschafft hatten, blieb Vater Adamsus stehen und warf Lord John Quetzal einen fragenden Blick zu. Lord John schüttelte den Kopf. »Nichts«, sagte er. »Überhaupt nichts.« Damit meinte er, daß es keinen Hinweis auf das Wirken schwarzer Magie gab. Das war Lord John Quetzals besondere Gabe, die er zusätzlich zu seinem Talent als Hexer besaß. Wenngleich er kein Sensitiver war, war er doch geistig darauf eingestellt, das Wirken von Magie wahrzunehmen, die in böser Absicht oder auf negative Weise angewendet wurde. Allgemein bekannt als ›Hexenriechen‹, handelte es sich dabei um eine sehr seltene Fähigkeit. Von allen magischen Talenten war es das seltenste, wenn man von der Hellseherei absah. Dies war auch einer der Gründe, warum Lord John für die heutigen Aufgaben ausgewählt worden war. Vater Adamsus schüttelte verwundert den Kopf. Da müßte doch eigentlich irgend etwas sein, was der eine oder andere von ihnen spüren konnte. Mit Lord John an der Spitze, nun vor Vater Adamsus gehend, setzten die drei Männer ihren Aufstieg zu den beiden Tempeln fort, die sich den Gipfel der Pyramide teilten. Als sie auf gleicher Höhe mit den Tempeln waren, machte sich der magische Druck, den Vater Adamsus erwartet hatte, endlich bemerkbar. Ja, es gab hier doch das Empfinden von Bösem, von Blut und Tod. Aber irgendwie stimmte etwas damit nicht. Was er empfand, war nicht die kollektive Todesagonie vieler Menschen, sondern nur die 42
von einem oder zweien – ein plötzlicher durchdringender Schock, kein langgezogener qualvoller Tod. Aber nichtsdestoweniger schrecklich. Und was immer er auch wahrnahm, es hatte sich nicht erst vor fünf Jahrhunderten oder auch nur vor fünf Wochen ereignet. Dies war vielmehr ein Grauen, das im Zeitraum der letzten Tage oder vielleicht sogar Stunden geschehen war. »Spürt Ihr es?« fragte Lord John Quetzal und merkte, daß er flüsterte. Lord John zeigte Erstaunen. »Spüren? Nein. Wie ich Euch sagte, gibt es hier nicht die geringste Spur von Zauberei, die in böser Absicht angewendet wurde.« Für einen winzigen Augenblick glaubte Vater Adamsus, verrückt zu werden, aber dieser Gedanke verschwand und wich einer eisernen Entschlossenheit. Ich irre mich nicht, der Tod ist hier. Und wenn es nicht magisch ist, dann ist es etwas anderes. Der Tempel zur Rechten, der Tsaltsaluetol geweiht war, wo die Ewige Flamme wiederentzündet werden würde, lag offen und leer vor ihnen, und seine gewaltigen Holztore längsschiffs schwangen weit, so wie es auch die letzte Woche gewesen war, in der man auf die rituelle Reinigung und die Wiedereinsegnung durch die aztekischen Priester gewartet hatte. Aber der Gegenstand ihres gegenwärtigen Interesses war der Tempel zur Linken, der früher das Heim von Huitzlipochtli gewesen war, des blutrünstigsten aller blutrünstigen Götter. Die massiven Doppeltüren des Tempels waren mit einem schweren Bronzeschloß verriegelt, das vor einem Jahrhundert mit einem Bannfluch installiert worden war, um das Innere vor jener befremdlichen Sorte von Leuten zu schützen, die sich von einem Haus des Teufels sogar dann noch angezogen 43
fühlten, wenn der Teufel dort schon längst nicht mehr residierte. Ein Wachssiegel mit dem Abdruck des herzoglichen Siegels war über dem Schlüsselloch angebracht. Vater Adamsus hatte den riesigen Schlüssel von Herzog Charles selbst erst eine Stunde, bevor das Schiff die Landungsbrücke des Palastes verlassen hatte, erhalten. Siegel und Schloß waren aber nur die sichtbaren Teile des Verschlusses. Tür und Schloß waren zusätzlich mit einem hermetischen Bannspruch versehen worden, der, sofern er nicht entfernt wurde, jeden davon abhalten würde, die bronzenen Riegel innerhalb des Schlosses mit oder ohne Schlüssel zu bewegen. Der Palastchronik zufolge war dieser Bann ebenso wie der, den sie schon entfernt hatten, im Laufe des letzten Jahrhunderts achtmal erneuert worden. Vater Adamsus prüfte das herzogliche Siegel. Es war unversehrt. Er zog es vorsichtig ab, führte den Schlüssel in das Schloß ein und versuchte ihn zu bewegen. Der drehte sich jedoch nicht. So wandte sich Vater Adamsus an Lord John Quetzal. »Jetzt liegt es an Euch.« Lord John nickte. Er stellte die Pfanne ab und nahm einige kleine Gegenstände aus seiner Hexertasche. Er ließ eine kleine Handvoll irgendeiner dunklen Substanz in die Pfanne auf die Holzkohle rieseln, worauf sie zu brennen begann. Als die Rauchwolke aufstieg, streute Lord John Pulver aus einem kleinen Zerstäuber auf Schloß und Schlüssel. Dann sprenkelte er aus einer kleine Phiole noch mehr von dem gleichen Pulver über die brennende Pfanne. Auf der Stelle nahm der Rauch eine karmesinrote Farbe an und stieg nun nicht mehr gerade nach oben, um schließlich vom Wind verweht zu werden, sondern bog 44
sich auf die Tür zu und begann Schloß und Riegel mit einer roten Wolke zu umwallen. Nun nahm Lord John einen kleinen Zauberstab, in dessen Spitze ein blauer Stein eingelegt war, aus der Tasche. Er hielt ihn mehrere Sekunden lang in den Rauchwirbel, während seine Lippen lautlos seltsame Worte bildeten. Dann zog er den Zauberstab aus dem Rauch zurück und hielt ihn waagerecht in der Mitte fest. Er drehte den Stab zwischen Daumen und Fingern. Als er das tat, drehte sich der Schlüssel auf dieselbe Weise im Schloß. Irgendwo im Mechanismus klickte es, und die Tür öffnete sich einen Spalt breit. »Tadellos«, sagte Vater Adamsus. Er hatte sich so in die Arbeit des jungen Zauberers vertieft, daß er zumindest für eine Weile seine eigenen, viel größeren Probleme vergessen hatte. »Master Lord John, ich habe es noch niemanden besser machen gesehen.« Lord John Quetzal errötete beinahe bei diesem Kompliment. »Dann habt Ihr noch nicht Master Sean O Lochlainn gesehen«, sagte er. »Er selbst hat mir diese Technik beigebracht.« »Gut. Gehen wir hinein?« Lord John nickte und zog das Tor ganz auf. Die drei Männer traten ein, und das Sonnenlicht in ihrem Rücken flutete durch die Tür, wobei es das Innere des Tempels erhellte. Dieses wäre allerdings besser im Dunkeln geblieben. Vater Adamsus starrte finster auf die Szene vor ihm und bemerkte, daß sie ihn nicht einmal überraschte. Er wußte, daß er auf eine seltsame Weise dies oder etwas Ähnliches erwartet hatte, seit er beim Aufstieg jene merkwürdige Empfindung verspürt hatte. Jetzt spürte er nicht mehr als Müdigkeit und Erschöpfung der Seele. 45
Im Mittelpunkt des Tempels thronte das Techcatl, der große Opferstein, ein neun Fuß langer Block aus einem weißen Mineral. Er trug die unauslöschlichen Blutmale vergangener Jahrhunderte. Auf ihm lag ein junger Mann, nicht älter als Lord John und von der gleichen rotbraunen Hautfarbe. Er war bis zur Hüfte entkleidet. Neben dem Kopf des jungen Mannes befand sich ein mit Ornamenten geschmücktes Messer aus Knochen und Obsidian, das in einem Lichtstrahl, der sich dorthin verirrt hatte, aufblitzte. Die Obsidianklinge war von getrocknetem Blut verkrustet. In der Brust des Mannes klaffte ein Loch, wo das Herz freigelegt und herausgerissen worden war. Das Blut hatte schon vor einiger Zeit aufgehört, aus dieser furchtbaren Wunde zu schießen, aber ein erfahrenes Auge erkannte sofort, daß es erst kürzlich getrocknet war. Der Mann war noch keinen Tag tot. Das Herz war nirgends zu sehen.
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4 »Land ahoi! Zwei Strich nach Steuerbord!« Bei diesem Ruf des Ausgucks im Masttropp hoch über seinem Kopf steckte Lord Norman Scrivener, einer der vierzehn Erste-Klasse-Passagiere auf dem Postdampfschiff H.I.M. Aristoteles, seinen sorgfältig frisierten blonden Kopf in den Salon der ersten Klasse und gab die gute Nachricht weiter. »Die sagenhafte Neue Welt erwartet uns, My Lords, Gentlemen«, stellte er mit offensichtlichem Vergnügen fest. »Und Euch auch, My Lady.« Der schlanke Mann im roten Umhang schaute von dem Buch auf, das er gerade las. »Eine schnelle Passage«, sagte er zu seinem faßförmigen Begleiter. »Wir sind kaum eine Woche auf See gewesen. Mit etwas Glück sind wir im Hafen, wenn es dunkel wird.« Sein Gefährte, der einen schwarzen Reiseumhang über der braunen Alltagsrobe eines Hexenmeisters trug, konzentrierte sich darauf, einen silbernen Reifen und eine Spindel vor sich in der Luft zu halten, wobei sich die Spindel in der Mitte des Reifens befand. Er verringerte seine Konzentration und ließ die Gegenstände vor sich auf den Tisch fallen. »Aye, My Lord«, sagte er und sammelte sie auf, um sie in einer kleinen Flanelltasche zu verstauen. »Und ich hoffe inständig, daß wir schon um meines Magens willen dieses Glück bald haben werden.« »Es war eine stürmische Überfahrt, Master Sean«, sagte Lord Darcy freundlich. »Der März ist nicht gerade der Monat, den ich für eine Atlantiküberquerung auswählen würde.« 47
»Ich ebenfalls nicht, My Lord«, sagte Master Sean O Lochlainn, Erster Gerichtshexer am Adelsgerichtshof mit Nachdruck zu seinem alten Freund und Vorgesetzten Lord Darcy, seines Zeichens Oberermittlungsrichter desselben kaiserlichen Gerichtshofes. Lord Darcy lüpfte eine Braue. »Nun, Master Sean«, sagte er, »für diese übereilte Reise könnt Ihr mich sicherlich nicht verantwortlich machen. Es war der ausdrückliche Wunsch Seiner Majestät, daß wir diese Untersuchung für ihn durchführen.« »Aye, My Lord«, stimmte Master Sean zu. »Und ist es ein bloßer Zufall, daß Eure Lordschaft sich bei mir vor nur zwei Wochen über das Ausbleiben interessanter Verbrechen in Europa beklagt haben? Ich gebe höchsteigene Worte Eurer Lordschaft wieder: ›Der europäische Kriminelle weist heutzutage einen beklagenswerten Mangel an Vorstellungskraft auf‹, sagten Eure Lordschaft. ›Es gibt keine nennenswerten Verbrechen mehr, an denen sich der subtile forschende Intellekt schärfen könnte. Nur eine endlose Reihe trivialster Probleme« »Habe ich das gesagt?« fragte Lord Darcy amüsiert. »Ja, My Lord. Wortwörtlich.« Master Sean nickte. »Und wenn Eure Lordschaft das Schicksal auf diese Weise herausfordert, was kann Eure Lordschaft dann anderes erwarten, als ausgerechnet Mitte März über den Ozean geworfen zu werden, um ein Verbrechen zu untersuchen, das dem Geschmack Eurer Lordschaft etwas mehr entspricht?« »Nun, das ist wahr«, erwiderte Lord Darcy. »Der Fall der Comfiture-Diamanten?« fragte Master Sean. »Eine einfache Aufgabe«, antwortete Lord Darcy, 48
»wenn man erst einmal die Bedeutung der Fußabdrücke auf der Zimmerdecke verstanden hatte.« »Die Sache mit Lord Champhire und den trainierten Pelikanen?« »Eine elementare Übung in Deduktion«, dozierte Lord Darcy und trank einen Schluck Kaffee. »Ich fand es spannend genug«, bemerkte Master Sean. »Und, wie Ihr Euch sicher erinnern werdet, hattet Ihr die Aufregung einer Kugel aus einer Douglass-Bizet Kaliber.23 in Eurer Wade.« »Ah ja«, sagte Lord Darcy und rieb bei dieser Erinnerung automatisch sein rechtes Bein. »Aber doch nichts, um den Intellekt zu stimulieren, Master Sean, und der Intellekt ist alles!« »Für mich war es Stimulation genug«, beharrte Master Sean dickköpfig. »Tja, da, mein alter Freund, seht Ihr den Unterschied zwischen uns beiden«, sagte Lord Darcy. »Ihr seid ein Hexenmeister und ein einfallsreicher Gerichtshexer. Und daher besteht für Euch das Problem im objektiven Beweis, im Restbestand der Fakten, die zur Aufdeckung und Erklärung durch die Hexerei übrigbleiben. Es ist sozusagen die Natur selbst, die Euer Gegenspieler ist, dem ihr die Geheimnisse abringt. Ihr seid immer dabei, die Grenzen des magischen Wissens mit Hilfe Eurer Experimente zu erweitern. Die Gerichtshexerei ist heute sehr viel weiter fortgeschritten als vor zwanzig Jahren, und dies ist größtenteils eine Frucht Eurer Arbeit.« »Ich danke Euch, My Lord«, sagte Master Sean, während sein rundes Gesicht durch das unerwartete Kompliment erstrahlte. »Aber ich habe keine Substanz an Wissen, die ich erweitern könnte«, sagte Lord Darcy, »außer denjenigen 49
Fertigkeiten des systematischen Denkens, die mich in die Lage versetzen, den genauen Entwurf eines dunklen Verbrechens aus den wenigen zufälligen und unbeabsichtigten Schlüsseln zu entwickeln, die der Verbrecher übersieht. So wie ein osteomantischer Hexer in der Lage ist, ein seit langem ausgestorbenes Tier aus einem versteinerten Unterkieferknochen wiederzuerschaffen, muß ich die Substanz eines Verbrechens aus einigen übersehenen Stückchen seines Skeletts zusammenfügen. Und um meine Fähigkeit, Probleme zu lösen, angemessen zu schärfen, habe ich einen fortwährenden Bedarf an neuen, erstaunlichen Problemen, um sie dagegen ins Feld zu führen. Mich dürstet nach dem Verborgenen, Master Sean. Das Gewöhnliche schläfert meine Fähigkeiten ein. Das Bizarre, das Groteske, das schier Erstaunliche – das ist es, was mir die nötige Stimulation verschafft!« »Ihr mögt Eure Fähigkeit als bloßes systematisches Denken betrachten, My Lord«, sagte Master Sean. »Aber wie ich Euch oft erklärt habe, ist mehr daran als nur das. Ihr sammelt alle Fakten, die Ihr bekommen könnt, und macht dann einen wilden Sprung ins Unbekannte, wobei Ihr irgendwie mitten auf der Wahrheit landet. Es handelt sich nicht um Magie, My Lord, soweit ich das beurteilen kann. Aber ich will verdammt sein, wenn ich weiß, was es sonst ist.« »Und wie ich gesagt habe«, erwiderte Lord Darcy, »mag es für einen Außenstehenden so aussehen – wenn Ihr mir vergebt, daß ich Euch sogar in diesem Zusammenhang einen Außenstehenden nenne –, aber alles, was Ihr seht, ist die Übung einer wohlgeschulten und praktizierten Fähigkeit zur Deduktion. Daran ist nichts Geheimnisvolles.« »Aye, My Lord«, stimmte Master Sean zu, »so wie Ihr 50
es darstellt …« Lord Darcy lächelte über den Zweifel, der in der Stimme seines Freundes mitschwang. »Betrachtet es so, Master Sean«, fuhr er fort. »Was Ihr mit Eurem Weihrauchgefäß und den wirbelnden Zauberstäben ausrichtet, erscheint für einen Beobachter ebenso geheimnisvoll.« »Daran ist nichts Geheimisvolles, My Lord«, gab Master Sean leicht pikiert zurück. »Es ist nur gute, sauber angewendete Magie.« »Für mich ist es ein Mysterium«, erklärte ihm Lord Darcy. »Ah, Eure Lordschaft, so mag es sich verhalten. Aber Ihr müßt wissen, daß ich meine Techniken jedem beibringen könnte, der das Talent besitzt. Das habe ich schon oft getan.« »Und Ihr meint, was ich mache, könne man nicht lehren? Nun, vielleicht trifft das zu, aber ich bin sicher, daß Ihr Euch da irrt. Vielleicht ist meine Gabe, worin auch immer sie bestehen mag, einfach nur seltener.« »Ich sage, sie ist einzigartig, My Lord«, unterstrich Master Sean Lord Darcys Vermutung. »Davon würde ich nicht ausgehen«, schränkte Lord Darcy ein. »Aber das werden wir bald herausfinden. Ich habe vor kurzem daran gedacht, eine weitere Monographie zusammenzustellen, ein kleines Buch über die Kunst der Deduktion, das mich zwingen würde, exakt darzulegen, wie ich tue, was ich tue.« »Ich werde einer der gewissenhaftesten Leser dieses Buches sein, My Lord«, beteuerte Master Sean. »Jetzt denke ich, wäre es gut, zur Kabine zurückzugehen und zu packen. Ich glaube nicht, daß es zu einer Verzögerung beim Vonbordgehen kommen wird, nachdem das Schiff einmal angelegt hat.« 51
»Ihr habt wahrscheinlich recht, Master Sean«, erwiderte Lord Darcy. »Aber da ich bereits gepackt habe, glaube ich, daß ich hierbleiben und einen letzten Ouiskie mit Schuß zu mir nehmen sollte, bevor wir unser neues Problem angehen.« Master Sean stand auf und ging mit bedachtsamer Vorsicht über den leicht schwingenden Boden des Salons zur Tür des Gangs, während Lord Darcy dem Steward winkte, um eine Ouiskie mit Schuß zu bestellen, und sich umdrehte, um durch die große, doppelt verglaste Öffnung neben seinem Tisch hinauszublicken. Er holte die geschwungene, klotzige Meerschaumpfeife aus der linken Tasche hervor und den wasserdichten Beutel, der Tabak und Streichhölzer enthielt, aus der rechten. Nachdenklich stopfte er den Robertia-Tabak in den ausladenden Pfeifenkopf und ließ die Ereignisse von vor acht Tagen Revue passieren, von dem Tag an, an dem sie an Bord der Aristoteles gegangen waren. Es war spät am Abend gewesen, und Lord Darcy hatte sich in seiner Wohnung in London aufgehalten, wo er an den Korrekturfahnen seiner jüngsten Monographie, einem Essay mit dem Titel Reflektionen über den kriminellen Geist arbeitete, als die Vorladung kam, und es war wahrscheinlich eine seltsame Vorladung. Seine Majestät aufzusuchen war für Lord Darcy kein ungewöhnliches Ereignis mehr. Als Oberermittlungsrichter am Adelsgerichtshof während der letzten sechs Jahre empfing er sowohl Befehle von Seiner Majestät, wie er Seiner Majestät auch über viele Fälle direkt Bericht erstattete, die ihm hinreichend wichtig waren, um sich persönlich darum zu kümmern. Aber um zehn Uhr nachts persönlich von Lord Peter Whiss, dem Chef des Innersten Geheimdienstes, vorgeladen und dann in einem Brotwagen direkt zu einem 52
Seiteneingang des Winchesterpalasts gebracht zu werden, war Lord Darcy in seiner ganzen langen Laufbahn noch nie passiert. Und um dem Ganzen eine bizarre Qualität zu geben, die das gesamte Gespräch in der Rückschau unwirklich erscheinen ließ, wurde er daraufhin noch in einen schwarzen Umhang gewickelt und von sechs Soldaten der Palastwache mit gezogenen Pistolen umringt, bevor er die Treppe hinauf in die Gegenwart des Königs gestoßen wurde. Aber so war es wirklich gewesen. »Wie immer ist es ein Vergnügen, Euch zu sehen, My Lord Darcy«, sagte König John, als er sich vom Fenster abwandte, aus dem er gerade geblickt hatte, während sich Lord Darcy von seinem Umhang befreite. Dann durchquerte er den kleinen Raum, der an die königlichen Gemächer angrenzte, und kniete nieder, um seinen Souverän zu grüßen. John IV, Dei Gratia König von England, Irland, Schottland und Frankreich, Kaiser der Römer und Germanen, Oberster Häuptling des Moqtessumid-Klans, Sohn der Sonne – ein stattlicher Mann mit kraftvollem Blick, der im sechsten Lebensjahrzehnt stand und von den Jahren, die an ihm vorbeigestrichen waren, gezeichnet war, wie auch er ihnen seinen Stempel aufgedrückt hatte. Nicht daß er älter aussah, als er an Jahren zählte. Sein Haupthaar war immer noch größtenteils blond, wenngleich sein Bart schneller ergraute und das dünne, glatte Haar, das gerade zurückgekämmt war, vielleicht nicht mehr ganz so voll wirkte wie früher. Aber jeder Tag eines jeden Jahres hatte seine Spuren hinterlassen. Deutlich konnte man dies in dem Gesicht des Plantagenets erkennen, in dem die feinen Linien um Augen und Mund dreißig Jahre voller Wahrheiten widerspiegelten, die nicht ausgesprochen werden durften, 53
Lasten, die mit niemandem geteilt werden konnten, und Entscheidungen, die nicht mehr rückgängig zu machen waren. »Wir sind sicher, daß Ihr Uns die unzeremonielle Art vergeben werdet, mit der Ihr hierher gebracht wurdet«, sprach John und wies Lord Darcy mit einer Handbewegung an, sich zu erheben. »Wir werden Euch mehr entgegenkommen als in der nicht eben großmütigen Art, in der Ihr empfangen wurdet. Denn für ein Leben der Hingabe an Krone und Reich gebührt Euch, My Lord, Unsere ganze Dankbarkeit.« »Und so, wie mein Leben noch nicht vorbei ist, Sire, verhält es sich auch mit meiner Hingabe an die Vorhaben meines Herrschers«, erwiderte Lord Darcy, während er aufstand und sich ein wenig streckte, um seine angespannte Muskulatur zu lösen. Der König lächelte. »Eine feine Art, My Lord, um zu sagen ›Was, zum Teufel, mache ich zu dieser Stunde hier und warum bringt man mich auf diese Weise her?‹, nicht wahr?« »Ich würde um nichts in der Welt mit Eurer Hoheit uneins sein«, sagt Lord Darcy und verbeugte sich leicht, mit der Spur eines Lächelns auf den Lippen. »Kommt, setzt Euch, My Lord«, sagte König John und schritt ihm voran zu dem schweren Holztisch in einer Ecke des Raums. »Wieder einmal benötigen Wir Eure Dienste. Alles wird Euch jetzt erklärt werden. Wir warten nur noch auf die Ankunft von Lord Peter Whiss, der auf dem Weg hier herauf im Ockerraum warten mußte. Leistet Uns bei einem Glas Brandy Unseres Urgroßvaters Gesellschaft, während Wir ihn erwarten.« König John nahm die glockenförmige Flasche mit dem Ouiskie Imperial von einer Anrichte und goß etwa ein 54
Fingerbreit von der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in die grünen Kristallgläser. Eines davon reichte er Lord Darcy und ließ sich dann auf einem der sechs schweren Eichenstühle nieder, die um den Tisch herumstanden, wobei er Lord Darcy erlaubte, auf einem anderen Platz zu nehmen. Man saß nicht, während der König stand. »Ich bin auf doppelte Weise geehrt, Eure Majestät«, hob Lord Darcy an. »Einen Ouiskie Imperial aus dem Jahre achtzehnhundert … wie ich auf dem Etikett erkennen kann … zweiundneunzig eingeschenkt zu bekommen, und das von den Händen Eurer Majestät. Das macht mich unruhig.« »Der König dient allen seinen Untertanen«, sagte König John, wobei er sich in seinem Stuhl zurücklehnte und einen Schluck vom Ouiskie seines Urgroßvaters nahm, »wenngleich normalerweise nicht auf eine ganz so direkte Weise. Was meint Ihr mit ›unruhig‹?« »Es läßt mich annehmen, daß die Geheimnisse, die ich gleich hören werde, in der Tat sehr geheim sind, und daß das, was immer Eure Majestät veranlaßt hat, nach mir zu schicken, von größter Wichtigkeit ist. Daher mache ich mir sowohl Sorgen über die Bedrohung des Königreichs wie auch darüber, ob ich den Erwartungen Eurer Majestät zu entsprechen vermag.« Lord Darcy nahm das Glas und hob es an die Lippen, wobei er das reiche Bukett des feinen Ouiskies des Anglo-Französischen Reiches tief einsog, bevor er einen kleinen Schluck nahm. Auch dieses Getränk wollte, wie alle guten Dinge, mit bedächtigem Genuß ausgekostet werden. »Geheimnisse? Bedrohung des Königreichs?« Seine Majestät beugte sich vornüber und blickte Lord Darcy eindringlich an. »Welche Geheimnisse, My Lord? Was wißt ihr über eine Bedrohung des Königreichs?« 55
»Ach, aber Eure Majestät«, entgegnete Lord Darcy, »ich bin immer noch Euer Oberermittlungsrichter. Wie könnte ich Euch nützlich sein, wenn ich unfähig wäre, aus den Geschehnissen der letzten halbe Stunde die Existenz eines Staatsgeheimnisses zu deduzieren? Aber ich muß zugeben, daß ich vom Inhalt dieses Staatsgeheimnisses keine Vorstellung habe. Und was die Bedrohung des Königreiches betrifft, die auf irgendeine Weise mit dem Geheimnis zu tun hat … was sonst würde die Aufmerksamkeit Eurer Majestät; und auch Lord Peters mit einer solchen Dringlichkeit um zehn Uhr in der Nacht erregen? Dazu kommt der Besuch im Ockerraum, von dem allgemein angenommen wird, daß er den Eingang einer Zimmerflucht des Palastes darstellt, die vom Innersten Geheimdienst Eurer Majestät belegt wird.« »Ah, My Lord, Wir sind erleichtert«, sagte Seine Majestät. »Eure Fähigkeit, die Existenz eines Ozeans aus wenigen Wassertropfen zu deduzieren, ist Uns gut bekannt, aber manchmal versäumen Wir es, das in Betracht zu ziehen. Zur Befriedigung Unserer eigenen Neugier – wie habt Ihr die Hypothese von der Existenz und Wichtigkeit dieses Staatsgeheimnisses aufgestellt?« »In diesem Fall war der deduktive Prozeß kaum in irgendeiner Weise gefordert, Eure Majestät«, erklärte Lord Darcy. »Wenn ein Mann im Geheimen in den Palast gebracht wird und dann vermummt die Hintertreppe hinaufkommt, bedarf es für diesen Mann keiner großen Anstrengung an deduktiver Überlegung, um zu dem Schluß zu gelangen, daß es nicht wünschenswert ist, daß seine Anwesenheit bekannt wird. Ebenso stellt es eine vernünftige Deduktion dar, daß, wenn der König in einem kleinen Raum außerhalb der königlichen Gemächer seinen eigenen Ouiskie einschenkt, um nicht davon zu sprechen, daß er dabei einen Gast bedient, es den Dienern nicht 56
erlaubt ist, diesen Raum zu betreten. Und warum sonst als aus Gründen der Sicherheit? Und da die Palastdiener in hohem Maße vertrauenswürdig sind, muß das Geheimnis in der Tat von höchster Wichtigkeit sein, wenn sie vorsorglich ausgeschlossen werden. Denn daß es sich zusätzlich um eine mögliche Bedrohung des Königreichs handelt, wie ich ausgeführt habe, würde der hohe Rang derjenigen, die damit beauftragt sind, mit Sicherheit anzeigen.« »So ist es«, gab der König zu. »Und es erscheint offensichtlich, wenn Ihr es erklärt. Wir werden die Vorkehrungen zu Unserer Sicherheit überdenken müssen, um das Unerwartete auszuschließen. Obwohl Wir es Uns in diesem Fall, da die Zeit so drängte, schwerlich vorstellen können, wie es anders möglich gewesen wäre.« Man hörte ein flüchtiges Klopfen an der Tür, und Lord Peter Whiss betrat den Raum. Als kleiner, lebhafter Mann mit einem wunderbaren Sinn für Details brachte es Lord Peter wie immer fertig, inmitten höchster Aktivität jbedachtsam und gelassen zu erscheinen. »Eure Majestät«, sagte er, »Lord Darcy. Ich entschuldige mich für die Verzögerung. Von der Verbindung gibt es nichts Neues zu berichten, Eure Majestät. Ich habe eine Überfahrt für zwei Personen auf dem Postdampfer Aristoteles reserviert, der morgen früh um sieben Uhr ablegt. Ich vertraue darauf, daß Lord Darcy zu dieser Zeit bereit sein kann.« »Wir denken, Ihr solltet Lord Darcy besser darüber aufklären, wo er hinfährt«, sagte Seine Majestät trocken, »und aus welchem Grund.« »Zweifellos«, stimmte Lord Peter zu und nahm Platz. »Einen Augenblick«, warf Lord Darcy ein und nahm seinen Füllhalter und ein kleines Notizbuch aus der Innentasche seines Jacketts. »Wenn, wie ich annehme, die 57
zweite Passage für Master Sean O Lochlainn vorgesehen ist, beauftragt bitte freundlicherweise jemanden, ihm diese Nachricht zu bringen. Je mehr Zeit er hat, um sich vorzubereiten, um so besser. Es ist nicht klug, Hexer anzutreiben.« »Ich werde sofort veranlassen, ihm Eure Nachricht zu überbringen, My Lord«, sagte Lord Peter. »Bitte enthüllt nicht mehr als notwendig.« »Das wird einfach sein«, sagte Lord Darcy zu ihm. »Im Augenblick weiß ich nichts außer der bloßen Tatsache, daß es etwas zu wissen gibt.« »Übermittelt nicht einmal das, My Lord«, erwiderte Lord Peter. »Nur die wesentlichen Informationen, daß Master Sean besser für eine größere Reise packen sollte«, sagte Lord Darcy und kritzelte einige Zeilen auf das Blatt, das er dann aus dem Buch riß. »Und daß wir am frühen Morgen aufbrechen. Das wird keine Überraschung für ihn sein, obwohl das Reiseziel eine sein könnte. Wir brechen häufig auf eine knappe Nachricht hin zu einer Untersuchung auf.« Er übergab Lord Peter die Botschaft, der sie zur Tür brachte und nach einer Wache rief. »Nun«, sagte Lord Peter, nachdem er die Botschaft mit entsprechenden Hinweisen übergeben hatte, »laßt mich Euch von einem interessanten Problem erzählen, welches auf der Linie Eurer Geschäfte zu liegen scheint.« Lord Darcy nahm einen weiteren Schluck des Ouiskies Imperial und hörte weiter zu. »Das Anglo-Französische Reich steht kurz vor der Unterzeichnung eines Freundschaftsund Beistandsvertrages mit dem Reich der Azteken. Dazu mußten wir einige Zeit verhandeln«, sagte Lord Peter, während er vor dem Tisch auf und ab ging. Er richtete den 58
Blick unverwandt auf die eigenen Hände, die er vor sich gefaltet hatte. »Er wird die Grenzen zwischen unserem neuenglischen Territorium von Robertia und den Ländern der Azteken festlegen, die komplexe, zwiespältige Situation unseres Herzogtums von Mechicoe regeln, Handels- und Jagdrechte absichern und ähnliches mehr; und er wird den Austausch von Emissären, Missionaren und Geschäftsreisenden der unterschiedlichsten Art ermöglichen.« »Davon habe ich etwas gehört«, sagte Lord Darcy. »Ja, gut, und Ihr werdet in naher Zukunft vieles mehr darüber hören«, fügte Lord Peter hinzu. »Ich stelle mir vor, daß Ihr so etwas wie ein Experte auf diesem Gebiet werden müßt.« »Wie kommt das Herzogtum von Mechicoe in die Sache hinein?« fragte Lord Darcy. »Ich vertraue darauf, daß es nichts ist, was sich nachteilig für den gegenwärtigen Herzog auswirkt.« »Ah ja, ein Freund von Euch, Darcy?« fragte Seine Majestät. »Eigentlich sein Sohn, Euer Majestät. Master Lord John Quetzal. Ein feiner junger Mann und ein vielversprechender Gerichtshexer.« »Natürlich«, sagte Seine Majestät. »Wir sind dem jungen Burschen begegnet. Gutes Blut.« »Ihr wißt wohl auch, My Lord«, fuhr Lord Peter fort, »daß es zwei Herzöge von Mechicoe gibt. Einen von uns, den Vater Eures Freundes, und einen von ihnen. Und es gibt zwei Herzogtümer. In diesem Fall jedoch beanspruchen beide das gleiche Territorium.« Lord Darcy überdachte diese Information. »Interessant«, sagte er. »Wie funktioniert es? Wie kann das funktionieren?« 59
»Bis jetzt hat es nur aufgrund der Angst funktioniert, die die Azteken nach dem Drei-Gefangenen-Zwischenfall im Jahre 1789 immer noch haben. Sie denken an die lächerliche Kleinigkeit, mit der ihre Armee zum Zeichen unserer militärischen und magischen Überlegenheit vom Tisch gefegt wurde. Die Angst, die sie empfinden, hat im Laufe der Jahre noch zugenommen. Dieses Gefühl haben wir vorsorglich genährt.« »Ich verstehe«, sagt Lord Darcy. »Die Herrscherklasse der Azteken hat eine sehr beschränkte Sicht von sich selbst und von der Welt um sie herum«, erläuterte Lord Peter. »All jene, die sie übervorteilen können, sind ihre Sklaven – oder sollten es sein. Und alle, von denen sie übervorteilt werden können – was bis jetzt nur die kaiserliche Legion vollbracht hat –, sind Dummköpfe, wenn sie sie nicht versklaven. Es ist eine ziemlich überschaubare, vereinfachende und unsympathische! Philosophie. Die eingeborenen Herzöge, die zum AngloFranzösischen Reich überwechselten und das Christentum übernahmen, wie de Mechicoe und d’Eucatanne, werden als das akzeptiert, was sie sind. Aber es waren auch die neuen Herzöge! dafür vorgesehen, ihren Platz einzunehmen. Das ergibt einen merkwürdigen Sinn. Schließlich hat der Adel der Azteken eine zusätzliche religiöse Funktion, an der ihre christlichen Vettern nicht teilhaben konnten.« »Dieser Vertrag ist für Unsere Regierung von großer Wichtigkeit, My Lord Darcy«, sagte König John, während er sich auf seinem Sitz zurücklehnte. Das Gaslicht, das in seinem Haar widerschien, ließ den Eindruck eines Heiligenscheins entstehen und erinnerte Lord Darcy an ein mittelalterliches Gemälde des heiligen Thomas, das er einmal gesehen hatte. »Auf beiden Seiten gibt es 60
Personen, die daran interessiert sind, daß er nie unterzeichnet wird.« »Auf beiden Seiten, Euer Majestät?« »Auf unserer Seite«, erklärte Lord Peter, »glauben einige unserer weniger erleuchteten Bürger, daß sich die Sünden der Väter über die Söhne und Enkel und über die Generationen vererben. Auf der Basis dieses kleinlichen Glaubens meinen sie, daß es für das Anglo-Französische Reich sündhaft sei, wenn es etwas mit dem Reich der Azteken zu tun habe, dessen Herrscher Huitzlipochtli verehrten, einen Kriegsgott, der Menschenopfer verlangte, bis wir diese Praxis unterbanden. Seinen Opfern wurde auf blutigen Steinaltären auf dem Gipfel massiver Pyramiden das Herz herausgerissen.« »Ich habe von dieser Zeremonie gelesen«, bemerkte Lord Darcy. »Nun gut, wie Ihr wißt, wurde die Zeremonie vor hundert Jahren abgeschafft und seitdem in keinem der zivilisierten Teile des Aztekenreiches mehr praktiziert. Religionen werden erwachsen wie Menschen oder Kulturen. Und wir alle neigen dazu, in unserer Jugend recht barbarisch zu sein. Aber es gibt jene im Reich, Kleriker und andere, die selektiv die Barbarei unserer eigenen Jugend vergessen und darauf bestehen, daß diese üblen Praktiken der frühen Azteken ihre Urenkel als Verhandlungspartner inakzeptabel machen. Die ›das Blutkann-nie-von-diesen-Steinen-abgewaschen-werden-‹Art des Denkens.« »Das ergibt einen Sinn«, warf Seine Majestät milde ein, »insofern nämlich das Blut niemals von diesen Steinen abgewaschen werden kann.« Lord Peter hielt inne und warf seinem Herrscher einen Blick zu, um dann wieder seine gefalteten Hände zu 61
betrachten. »So ist es, Hoheit«, sagte er. »Aber die Schuld der Verantwortlichen ist schon lange von einem höheren Gericht als dem unseren bestimmt worden.« Er sah zu Lord Darcy auf. »Und dann gibt es noch jene, die der Meinung sind, wir sollten dem Aztekenreich den Krieg erklären, um die Ansprüche der Herzöge von Mechicoe und Misogohelli und des anderen eingeborenen Adels zu unterstützen, die den christlichen Glauben angenommen haben und die Ihrer Majestät Lehnstreue schulden.« »Welche Ansprüche?« fragte Lord Darcy. »Nun, da liegt das Problem«, sagte Lord Peter und nahm seinen Gang wieder auf. »Die eingeborenen christlichen Adligen haben keine territorialen Ansprüche gestellt, die über das hinausgehen, was sie bereits besitzen. Und dieser Vertrag würde eben diesen Besitzstand bestätigen. Sie halten Frieden mit ihren aztekischen Brüdern. Und Seine Majestät hat den Titel des Obersten Häuptlings des Moqtessumid-Klans angenommen und einen Bischof von Mechicoe eingesetzt, um Sein dauerhaftes königliches Interesse zu zeigen. Mir scheint, daß die christlichen Adligen im Augenblick über das Beste von beiden Welten verfügen. Sie wären sehr töricht, etwas zu unternehmen, was das Boot zum Schaukeln bringen könnte. Und sie kommen mir nicht gerade töricht vor. Auf Seite der Azteken gibt es eine sogenannte ›Kriegspartei‹ innerhalb des Adels, die der Auffassung ist, daß sie ihr uraltes Recht auf das Gebiet, welches wir Neuengland nennen, nicht aufgeben sollten; und damit meinen sie die gesamte Ostküste des Kontinents. Die Tatsache, daß sie sich mehr als vierhundert Jahre vor unserer Ankunft daraus zurückgezogen haben und daß die Fünfzehn Nationen, jene lose Konföderation eingeborener Stämme des Nordostens, einen viel größeren Anspruch darauf haben als sie selber, falls wir verschwinden sollten, 62
ist für sie irgendwie nicht maßgeblich.« Lord Peter klang persönlich gekränkt. »Wir haben für Euch ein Dossier vorbereitet, Lord Darcy«, sagte der König, »das Ihr in Ruhe studieren könnt. Ihr werdet ungefähr eine Woche erzwungener Ruhe haben, während Ihr den Atlantik überquert.« »Bislang, Eure Majestät, habe ich keine Geheimnisse vernommen«, sagte Lord Darcy. »Was ist geschehen, das diesen Vertrag gefährdet?« Der König wandte sich Lord Peter zu. »Ein Mord ist geschehen«, erklärte Lord Peter. »In einem alten Aztekentempel des Huitzlipochtli, der auf dem Gipfel einer Pyramide auf einer kleinen Insel im Hafen von Nova Eboracum oder New Borkum, wie man es allgemein nennt, steht. Ein Exorzistenpriester und ein Magier besuchten den Tempel, um ihn in Vorbereitung der Ankunft der aztekischen Delegation zu reinigen. Als ein Symbol für etwas … ich bin mir nicht sicher wofür … wird eine Ewige Flamme aus der Hauptstadt der Azteken dahingebracht, damit sie in dem benachbarten Tempel auf dem Gipfel der Pyramide entzündet werden kann. Als sie die Pyramide erstiegen und den Tempel geöffnet hatten, der ein Jahrhundert lang versiegelt war, fanden sie darin einen menschlichen Körper. Er war erst vor kurzem gestorben, und man hatte ihm das Herz herausgerissen. Sie konnten das Herz nicht finden.« »Interessant«, sagte Lord Darcy und zog nachdenklich an seinem Ohr. »Wer war das, äh, Opfer?« »Sein Name war Prinz Ixequatle. Er war ein offizieller Gesandter des Herrschers der Azteken. Ich glaube, er war der Neffe des Herrschers. Anscheinend war er einige Wochen früher angereist, um dafür zu sorgen, daß wir den Empfang des Hohepriesters und der Ewigen Flamme auf 63
angemessene Weise durchführen. Seine Gnaden von Are sagen, daß Prinz Ixequatle ihm eine große Hilfe gewesen sei.« »Ich verstehe«, sagte Lord Darcy. »Ich will mich mit Fragen zurückhalten, die offensichtlich besser am Schauplatz des Verbrechens oder zumindest auf demselben Kontinent beantwortet werden können. Wann wurde der Mord verübt?« Der König wandte sich Lord Peter zu, der stehenblieb und den Blick des Königs erwiderte. Für einen langen Augenblick sprach keiner der beiden ein Wort. Lord Darcy schaute von einem zum andern, »Ist dies also das Geheimnis?« fragte er. »Worin besteht das Problem, Eure Majestät?« König John nickte. »Wir räumen ein, daß es ein Problem ist«, sagte er. »My Lord Darcy, Ihr seid in der Tat einer unserer vertrautesten Ratgeber, und Ihr seid derjenige, den Wir ein ums andere Mal gerufen haben, um verwickelte Probleme zu lösen, wie Wir es in der Tat auch in diesem Fall tun. Es gibt vielleicht fünf Geheimnisse des Reichs, in die Ihr nicht eingeweiht seid oder die Euch nicht offenbart werden würden, wenn Ihr danach fragtet – und dies nur deswegen, weil Eure Kenntnis in diesen Fällen nicht vonnöten ist. Dieses nun ist – oder besser war – eines dieser fünf. Und nun werdet Ihr zu einem der drei Dutzend Männer und Frauen gehören, die Zugang zu diesem Wissen haben.« »Vierunddreißig«, sagte Lord Peter. »Hütet es gut«, sagte König John. »Man bezeichnet es als das Gemini-Geheimnis«, sagte Lord Peter. »Ihr müßt es als heiliges Versprechen betrachten und es keiner lebenden Seele gegenüber ausplaudern oder auch nur seinen Namen erwähnen. Ihr 64
dürft nicht einmal mit jemandem, der dieses Wissen teilt, darüber sprechen, außer im Falle unmittelbarer und unabwendbarer Not; und; dies auch nur dann, wenn Ihr allein seid und Euch davon ausreichend überzeugt habt.« »Gut!« erklärte sich Lord Darcy einverstanden. »Legt Ihr darauf Euren Eid ab?« fragte Lord Peter. »Bei meinem Schwur als Peer und bei meiner Ehre, die mir das Heiligste ist«, antwortete Lord Darcy mit den althergebrachten und heiligen Worten. Lord Peter nickte. »Ich werde Euren Namen der Liste hinzufügen«, sagte er. »Nun gibt es fünfunddreißig.« »Wenn wir ein Gesetz haben, My Lord«, erklärte König John etwas verlegen, »dann muß es auch von jemandem eingehalten werden, andernfalls wäre es kein wirkliches Gesetz.« »Ich verstehe vollkommen, Eure Majestät, und stimme Euch zu«, beeilte sich Lord Darcy zu sagen. Lord Peter nahm Platz und fixierte mit gefalteten Händen über den Tisch hinweg Lord Darcy. »Als Antwort auf Eure Frage«, sagte er, »heute morgen.« »My Lord?« fragte Lord Darcy nach. »Der Mord oder zumindest dessen Entdeckung fand heute morgen statt.« Lord Darcy überdachte das einen Augenblick. »Aber …« wollte er wissen. »Genau«, sagte Lord Peter. »Wie?« fragte Lord Darcy. »Habt Ihr einen Weg gefunden, das Teleklang über das Wasser hinweg zu betreiben?« »Nein, My Lord«, erklärte Lord Peter. »Unsere besten theoretischen Thaumaturgen scheinen der Ansicht zu sein, daß dies ein unerreichbares Ziel sei. Fernwirkende Magie 65
funktioniert nicht über fließendem Wasser.« »Aber wie dann …?« »Es scheint neben der Magie noch andere Kräfte im Universum zu geben, My Lord«, erklärte König John. »Die Methode, die es Uns gestattet, Informationen aus verschiedenen entfernten Teilen Unseres Königreiches zu empfangen, hat uns gute Dienste geleistet, und ihr Geheimnis muß bewahrt bleiben.« »Ich verstehe, Eure Hoheit«, sagte Lord Darcy. »Laßt es uns so ausdrücken, daß wir über einige Mittel der Kommunikation mit dem herzoglichen Palast in New Borkum verfügen und vielleicht mit ein oder zwei weiteren Orten, und zwar in der Tat ohne Verzögerung«, führte Lord Peter aus. »Wenn es jemals einen Grund für Euch geben sollte, diese Methode kennenzulernen, dann werdet Ihr darüber verständigt werden. Die bloße Tatsache, daß diese Methode existiert, ist der Kern des Gemini-Geheimnisses, das zu bewahren von Euch gewünscht und gefordert wird.« König John lächelte. »Sie wollten es selbst Uns nicht enthüllen, My Lord Darcy«, sagte er, »aber Wir bestanden darauf.« »Ich werde keine weiteren Fragen mehr stellen, die die Methode betreffen, My Lord«, sagte Lord Darcy zu Lord Peter. »Erzählt mir mehr über den Mordfall.« »Bedauerlicherweise wissen wir nicht mehr als Ihr«, mußte Lord Peter zugeben. »Wir gehen davon aus, daß der Fall von Lord John Quetzal zumindest so weit verfolgt wurde, wie die Gerichtshexerei es erlaubt. Schließlich befindet er sich am Schauplatz. Der Oberste Ermittler des Herzogs von Are ist ein Mann namens De Pemmery – aber nach unseren letzten Informationen hielt er sich in einiger Entfernung auf, denn er besuchte gerade das Gebiet um 66
FitzLeeber-Land und Garretton, wo er Streitigkeiten untersuchte, die anglo-französische Angelegenheiten unter den Fünfzehn Nationen betrafen.« »Wissen sie, daß ich komme?« wollte Lord Darcy wissen. »Zwei Personen sind informiert«, antwortete Lord Peter. »Seine Gnaden der Herzog von Are und noch jemand. Aber es wird den Anschein haben, daß sie keine Kenntnis davon haben. Eure Reise muß zufällig und beiläufig erscheinen.« »Ich verstehe«, sagte Lord Darcy. »Das, äh, GeminiGeheimnis muß bewahrt bleiben.« »In der Tat«, stimmte Lord Peter zu. »Der örtliche Agent des Innersten Geheimdienstes in Nova Eboracum heißt Muffin … ein Kodename natürlich. Ich gehe davon aus, daß Muffin überprüft, ob bei diesem Mordfall irgend etwas von Interesse für den Geheimdienst ist. Wir wollen hoffen, daß dies nicht der Fall ist, da es vermutlich auf eine polnische Verbindung hinweisen würde. Falls Muff in mit Euch Kontakt aufnehmen muß, wird er den Kodenamen und das Wort ›Opera‹ im selben Satz verwenden.« »Opera, My Lord?« »Ja. Ihr kennt doch diesen italienischen Musikzirkus …« »Mir ist das Wort geläufig, My Lord.« »Es wurde als eine unwahrscheinliche, aber gerade noch plausible Kombination von Worten gewählt, My Lord«, erklärte Lord Peter. »So ist es«, stimmte Lord Darcy zu. »Und wenn ich mit Muffin sprechen will?« »Sprecht mit dem Herzog«, sagte Lord Peter. »Und wartet auf jemanden, der ›Muffin‹ und ›Opera‹ in einem 67
Satz flüstert.« »Ah!« stieß Lord Darcy hervor. »Nun erinnert Euch an die Gemini-Sache«, ermahnte ihn Lord Peter. »Darüber darf nicht gesprochen werden.« »Master Sean O Lochlainn muß darüber informiert werden«, wandte Lord Darcy ein. »Ich sehe nicht, wie man das Geheimnis vor ihm bewahren kann. Er ist ein intelligenter, aufmerksamer Mann und ein Hexenmeister. Das ungewöhnliche Zusammentreffen der Ereignisse wird ihm auffallen, auch wenn er nicht informiert ist.« Lord Peter erwog die Sache. »Das trifft zu«, mußte er einräumen. »Wir überlassen es Eurer Lordschaft, ihn den Eid auf das Gemini-Geheimnis ablegen zu lassen, und ich werde seinen Namen ebenfalls in die Liste eintragen. Nummer sechsunddreißig.« »Könnt Ihr mir noch irgend etwas über den Mordfall berichten?« wollte Lord Darcy wissen. »Ich betrachte es als Master Scans und meine Aufgabe, den Mörder zu identifizieren. Falls Ihr noch etwas für uns habt, solltet Ihr es uns jetzt mitteilen. Wenn dies nicht der Fall ist, gehe ich besser nach Hause und packe.« »Ihr müßt den Mörder fassen, My Lord Darcy«, fügte König John hinzu, »wenn möglich, bevor das Gefolge der Gesandtschaft des Aztekischen Reichs Nova Eboracum erreicht. Wir sagen ›wenn möglich‹, weil Wir nicht wissen, wann es eintreffen wird. Es könnte vor Euch ankommen, und Wir wissen nicht, wie die Azteken den Mord an einem ihrer königlichen Prinzen beantworten werden, aber es wird wohl kaum wünschenswert sein. Wir hoffen ernsthaft, daß der Mörder kein anglo-französischer Untertan ist, doch der Mord geschah auf anglofranzösischem Gebiet und das Opfer war ein Gast des kaiserlichen Gouverneurs und daher auch Unser Gast. Wer 68
immer der Mörder war, er muß gefaßt und bestraft werden.« »Was verleiht diesem Vertrag eine derartige Bedeutung, Majestät?« fragte Lord Darcy. »Könnte der Mord ein Versuch sein, den Vertragsabschluß zu sabotieren?« »Das ist sicher eine Möglichkeit«, antwortete Seine Majestät. »Und er kann in der Tat diese Auswirkungen haben. Ihr, My Lord, müßt dafür sorgen, daß es nicht dazu kommt.« »Was die Bedeutung des Vertrages betrifft«, führte Lord Peter weiter aus, »so ist sie für sich gesehen eher gering. Das Reich der Azteken und die Länder Neuenglands und Neufrankreichs liegen zum gegenwärtigen Zeitpunkt in keinerlei Streit. Aber wir fürchten, daß die Hand – und der rechte Arm – Seiner polnischen Majestät König Kasimir sich für die Westlichen Kontinente zu interessieren beginnt.« »Ah!« stimmte Lord Darcy zu. Es war wirklich nicht überraschend. Das polnische Reich unter Kasimir IX. versuchte fortwährend dem Anglo-französischen Reich auf die eine oder andere Weise Nadelstiche zu versetzen. Und falls diese Nadelstiche von Erfolg gekrönt wären, würde ihnen kurz darauf ein scharfer Knall folgen. Man konnte von der Serka, der polnischen Geheimpolizei – der Name leitet sich von einer Redensart ab, die etwa ›Der rechte Arm des Königs‹ bedeutet –, nicht erwarten, daß sie dem Zugriff des Anglo-französischen Reichs auf zwei ganze Kontinente tatenlos zusehen würde. »Nun lassen wir Euch besser gehen, Lord Darcy«, sagte Seine Majestät. »Wir sind sicher, daß Eure Lordschaft noch viel zu erledigen hat, bevor das Schiff ablegt.« »Wem soll ich im Verlauf meiner Nachforschungen Bericht erstatten?« fragte Lord Darcy. 69
»Unser Cousin, der Herzog von Are, der königliche Gouverneur von Neuengland, genießt unser volles Vertrauen«, antwortete Seine Majestät. »Ihr könnt Seiner Gnaden ohne Einschränkung Bericht erstatten. Ihr und Master Sean werdet vermutlich in der Residenz von New Borkum untergebracht sein.« Seine Majestät erhob sich und veranlaßte Lord Darcy und Lord Peter dadurch, etwas überhastet aufzustehen. »Auch Ihr habt Unser volles Vertrauen, My Lord, und Wir sind sicher, daß es gut angelegt ist.« Er reichte ihm die Hand, und Lord Darcy ergriff sie und verbeugte sich. »Ich danke Euch, Eure Majestät«, sagte er. Seine Majestät schüttelte den Kopf. »Wir sind in der Tat in einer glücklichen Lage«, sagte er. »Wir übertragen Unseren Untertanen mit einer kurzen Notiz lästige und unmögliche Aufgaben, und sie danken Uns auch noch dafür. Geht mit Gott, Lord Darcy.« »Ich gehe davon aus, daß es Euch nichts ausmacht, in einem geschlossenen Fleischwagen zu Eurer Wohnung zurückzukehren?« fragte Lord Peter. »Etwas Besseres konnten wir angesichts einer solch kurzfristigen Benachrichtigung nicht bereitstellen.«
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5 Es war sechs Uhr abends, als das Postdampfschiff Ihrer Majestät, die Aristoteles, im Arthur River am Pier der königlichen Marine längsseits ging. Auf dem Hauptdeck warteten Lord Darcy und Master Sean mit den anderen Passagieren auf den für die Ankunft zuständigen Hafenoffizier von Nova Eboracum. Dieser würde ihnen erst nach einer eingehenden Befragung die Erlaubnis erteilen, von Bord gehen zu können. In Netze verpackt, wartete unten am Fuß der Gangway auf dem Pier schon das Gepäck auf sie. Oben auf dem Deck neben der Gangway war ein großer hölzerner Tisch für den Hafenoffizier aufgestellt worden, während einige der Schiffsoffiziere mit den Passagieren warteten. Lady Ephram, eine stämmige Matrone, die das vierzigste Lebensjahr schon überschritten hatte und die einzige Dame während dieser Reise war, beschwerte sich laut bei ihrem Mann, während sie warteten. »Ich kann nicht begreifen, warum wir dies erdulden müssen«, sagte sie. »Wir sind anglo-französische Bürger, Untertanen Seiner Majestät, die von einem Teil Seines Königreiches in einen anderen reisen. Es gibt doch auch keine derartigen Kontrollen, wenn man von Frankreich nach Belgien reist.« »So ist es, Liebling«, stimmte ihr Ehemann zu. Er war ein kleiner Mann und genauso beleibt wie seine Frau. Lord Ephrams Kleidung bestand aus einer leuchtend scharlachroten Tunika und einer grünen Hose, wodurch er unangenehm an eine große, überreife Tomate erinnerte. »Und selbst wenn die Befragung der anderen erforderlich wäre, so sollten doch sicherlich zumindest die Angehörigen des Adels, die auf einem königlichen 71
Marineschiff reisen, davon ausgenommen werden. Der reine Bürokratismus, meine Liebste«, sagte er. »Du weißt doch, diese Kolonialisten. Ich sollte dem London Courier davon schreiben.« »Die königlichen Postdampfschiffe nehmen Passagiere nur aus Freundlichkeit mit, Euer Lordschaft, aber nicht aufgrund ihres gesellschaftlichen Ranges«, erwiderte freundlich ein großer, bärtiger Mann in der blaugoldenen Uniform eines Marineoffiziers, während er seine Pfeife aus dem; Mund nahm und sie an einem am Schott angebrachten Aschenbecher ausklopfte. »Zuständig für die Ankunftsformalitäten ist ein Offizier der Küstenwache von Neuengland, der unter dem direkten Befehl Seiner Gnaden des Herzogs steht. Ich bin sicher, daß er für sein Handeln triftige Gründe haben wird.« »Ihr solltet in der Wahl Eurer Worte vorsichtiger sein, wenn Ihr Euch in einer Gesellschaft aufhaltet, die weit über Euch steht, junger Mann«, wies Lady Ephram den Offizier zurecht, wobei sie hochmütig zu ihm aufsah. »Ich sollte Euch dem Kapitän melden.« »Ich bin der Kapitän, Euer Hochwohlgeboren«, sagte der Offizier, wobei er gemütlich an seiner Pfeife zog. Der Hafenoffizier, ein kleiner, stämmiger, rotgesichtiger Mann mit schwarzen Haaren, der die rotbetreßte Uniform der Neuenglischen Küstenwache trug, stieg die Gangway hinauf und schritt auf die auf dem Hauptdeck wartende Gruppe zu. »Euer Lordschaften!« rief er, wobei er den Passagieren mit einem Bündel von Formularen zuwinkte. »Willkommen in Neuengland. Ich bin Lieutenant Assawatan, zu Ihren Diensten. Leider müssen noch einige Formalitäten erledigt werden, bevor Euer Lordschaften von Bord gehen könnt. Bitte verhaltet Euch ruhig, damit ich Euch nur so kurz wie möglich zu belästigen brauche. 72
Zuerst eine allgemeine Ansprache zur Einführung und zur Warnung, die ich allen halten muß, die zum erstenmal an diese Gestade kommen. Ich wäre Euch zu Dank verpflichtet, wenn Ihr die Formulare ausfüllen würdet, während ich spreche. Die Formulare sind leicht verständlich.« Lieutenant Assawatan verteilte die Formulare und Federhalter an diejenigen, die keinen eigenen zur Hand hatten. Dann stemmte er sich auf den Tisch und setzte sich darauf. »Auf den Landkarten, die Ihr zu Hause gesehen haben werdet, wird die gesamte nördliche Hälfte dieses großen Kontinents ›Neuengland‹ genannt, das von der Von-Helsing-Landenge bis weit in den Norden reicht, während sich die südliche Hälfte ›Neufrankreich‹ nennt«, erklärte er. »Diese Benennung kann man jedoch höchstens als eine höfliche Umschreibung bezeichnen. In Wirklichkeit ist die Situation keineswegs so einfach. ›Neuengland‹ besteht aus einer Gruppe von anglofranzösischen Kolonien, die wahllos entlang der Ostküste dieses riesigen Kontinents verstreut sind. Sie sind völlig von Eingeborenenstämmen umgeben. Der größte Teil des Landes, der um die nördlicheren dieser Kolonien herum liegt, steht unter der Kontrolle des einen oder anderen Stammes aus den Fünfzehn Nationen, wie sich der lose Zusammenschluß von einheimischen Stämmen nennt. In der unmittelbaren Umgebung, jedoch auf der anderen Seite des Arthur Rivers, sind dies die Pequot und Wappinger. Weiter im Inland, rund um die königlichen Handelsstationen von FitzLeeber-Land, Garretton und Martensville, von denen ich vermute, daß einige von Euch diese zum Reiseziel gewählt haben, werden jene Lordschaften auf die Mahican, die Mohawk, die Seneca, die Cayuga und einige kleinere Stämme treffen.« »Entschuldigung, Lieutenant, aber warum diese Lektion 73
in Ethnographie?« fragte Lord Norman Scrivener, wobei er sich das Haar zurückstrich, das in der leichten Brise etwas durcheinander geraten war. »Weil wir festgestellt haben, daß die meisten von Euch keine Vorstellung davon haben, was es bedeutet, die Grenzen des anglo-französischen Reichs zu verlassen«, sagte; Lieutenant Assawatan etwas grob. »Viele ehemals nützliche und gesetzestreue Bürger gehen in die Wildnis und fangen an, sich wie unverantwortliche Narren zu verhalten. Sie bringen sich in Schwierigkeiten, und manchmal kommen sie sogar dabei ums Leben. Nun, es ist ihre Entscheidung und auch ihre Angelegenheit, wenn sie sich einmal dafür entschieden haben. Aber sie bringen auch die Kolonie und die Stadt, aus der sie kamen, in Schwierigkeiten mit den ansässigen Stämmen. Wenn diese Leute sich wie besonders große Narren benommen haben, schaden sie damit dem gesamten Reich.« Lieutenant Assawatan sah sich bei seinen Zuhörern um. Einige betrachteten ihn mit einem nachsichtigen und amüsierten Blick; andere schienen leicht verängstigt zu sein. Der Rest, einschließlich Lord Darcy und Master Sean, lauschte teilnahmslos, aber aufmerksam seinen Worten. »Unsere Aufgabe ist es, dies zu verhindern«, fuhr er fort. »Deshalb ist es meine Aufgabe, Euch zu warnen. Sobald Ihr die Grenzen der königlichen Kolonien verlassen habt, seid allein Ihr für all Eure Handlungen verantwortlich. Wir haben eine Art Frieden mit den fünfzehn Nationen und werden jenen nicht besonders freundlich begegnen, die diesen Frieden brechen. Und was die anderen Stämme, die nicht zu den Fünfzehn Nationen gehören, betrifft, so ist das Beste, was man von ihnen sagen kann, daß sie in keiner Weise berechenbar sind. Wenn Ihr mit einem von ihnen Ärger bekommt, gibt es wenig, womit wir Euch helfen könnten, unabhängig von 74
dem Umstand, ob Ihr im Recht wart oder nicht.« »Ihr seid doch selbst ein Eingeborener, nicht wahr?« fragte Lady Ephram mit lauter Stimme. »Ich bin es durch Abstammung«, stimmte Lieutenant Assawatan zu. »Ein Tuskegee. Sie leben unten bei Nova Burgundia. Mein Großvater konvertierte zum Katholizismus und schickte meinen Vater auf die St.Thomas-Akademie in London und später nach Oxford. Der wiederum schickte mich dorthin, als ich das entsprechende Alter erreichte. Aber ich bin der erste, der der Küstenwache beigetreten ist. Auf jeden Fall ist es keine gute Idee, mit einem dieser einheimischen Stämme in Schwierigkeiten zu geraten. Sie sind nicht alle Katholiken, und einige der vorherrschenden Religionen ermutigen zu Praktiken, von denen Ihr nicht einmal etwas wissen möchtet.« »Ihr sagtet, daß die Regierung uns nicht beschützen könne. Nun, wie steht es denn dann mit den königlichen Legionen?« fragte einer der Passagiere. »Sind sie nicht dort stationiert?« »Zwölf Kompanien der Legionäre für die gesamte Küste von Nova Centium bis Nova Hebridia«, sagte der Lieutenant, »und die haben viel zu tun, glaubt es mir. Nun …«, er zog ein Blatt hervor und las davon ab, »… die folgenden Dinge sind, wie man Euch schon vor Eurer Abfahrt in England informiert haben dürfte, durch das Dekret Seiner Majestät verboten: Feuerwaffen, außer einem Seitengewehr und einer Jagdflinte für den persönlichen Gebrauch. Diese müssen wieder vorgezeigt werden, bevor Ihr abreist; deshalb solltet Ihr sie nicht verlieren. Weiterhin lebende Pflanzen, ungekochte Früchte oder Getreide. Ebenso Tiere, außer Hunden oder genehmigten Haustieren. Und Steinwurz. Schließlich magische Hilfsgeräte, Apparate, Götzen oder Zubehör, 75
außer wenn es unter dem Siegel eines Bischofs steht und für einen lizenzierten Benutzer oder Händler bestimmt ist oder für den persönlichen Besitz, oder unter der persönlichen Kontrolle eines ordentlich lizenzierten Meisters oder Gesellen der Magie, der Zauberei oder der Thaumaturgie. Wenn Ihr irgendeinen von diesen beschriebenen Gegenständen besitzen solltet, gebt diesen bitte auf dem Formblatt an und beschreibt etwaige spezielle Umstände, die Euch erlauben könnten, ihn in Eurem Besitz zu behalten. Sonst wird er konfisziert und hier im Lagerhaus der Küstenwache verwahrt, und Ihr könnt ihn erst bei Eurer Abreise wieder zurückerhalten. Wenn es sich bei dem fraglichen Gegenstand um ein lebendes Tier handeln sollte, dann wird Euch ein angemessener Betrag für dessen Unterhalt berechnet werden.« »Und Steinwurz?« stieß Lord Darcy hervor. »Ich werde es Euch später erklären, My Lord«, flüsterte Master Sean ihm zu. »Ah!« sagte Lord Darcy. »Wenn es sich um etwas Magisches handelt, kümmert Euch nicht weiter darum, Master Sean. Ich würde es ohnehin nicht verstehen.« Die Gruppe füllte die Formulare aus, in denen lediglich nach Namen, Titeln, Beruf, Adressen, Bestimmungsort, voraussichtlicher Dauer des Aufenthaltes und nach den nächsten Verwandten gefragt wurde. Lieutenant Assawatan sammelte sie alle wieder ein und nickte. »Das war’s«, sagte er. »Euer Gepäck wird kontrolliert, wenn Ihr es am Pier in Empfang nehmt.« »Entschuldigt, Lieutenant, welches College?« fragte Lord Norman Scrivener. Der Lieutenant drehte sich zu ihm hin. »College?« 76
»In Oxford«, erklärte Lord Norman. »In welchem College wart Ihr? Ich selbst war in St. David.« »Magog«, er widerte der Lieutenant. »Siebenundsiebzig.« »Ah!« sagte Lord Norman. »Ihr könnt nun alle gehen. Ich wünsche Euch einen angenehmen und erfolgreichen Aufenthalt. Genießt New Borkum. Master Sean O Lochlainn, würdet Ihr einen Moment herüberkommen? Wegen Eurer magischen Tasche müßt Ihr noch einige zusätzliche Formulare ausfüllen.« Während die anderen Passagiere hintereinander die Laufplanken hinunterschritten, gingen Master Sean und Lord Darcy zu dem jungen Offizier hinüber. »Es tut mir leid, wenn ich Euch Ungelegenheiten bereite, Master Sean«, sagte Lieutenant Assawatan. »Und Ihr müßt Lord Darcy sein. Ich nehme an, My Lord, Ihr selbst wart ein Magogmann.« »Vierundfünfzig«, bestätigte Lord Darcy. »Als ich dort war, wurden immer noch Geschichten über Euch erzählt«, sagte der Lieutenant. »Die Formulare, Lieutenant?« fragte Master Sean. »Oh, ja.« Lieutenant Assawatan beobachtete, wie der letzte Passagier die Laufplanken hinunter stieg. »Eigentlich wollte ich Euch und Lord Darcy nur von der Herde trennen, wenn Ihr versteht, was ich meine. Ich habe Befehl, Euch ohne größeres Aufhebens zur Residenz zu bringen. Wenn Ihr mir also bitte folgen würdet …« »Sobald wir unser Gepäck erhalten haben«, erwiderte Lord Darcy. »Meine Männer werden bereits Euer Gepäck in meine Barkasse geladen haben«, bemerkte Lieutenant 77
Assawatan. »Dort unten steht ein Dutzend Leute, die sehen werden, daß wir mit Euch gehen«, wandte Lord Darcy ein. »Ihr begleitet mich zum Bischof«, erklärte ihm Lieutenant Assawatan, »damit wir für Eure magischen Requisiten die Genehmigung erhalten, Master Sean.« »Ich sehe, Ihr habt an alles gedacht«, sagte Lord Darcy. »Wir bemühen uns«, sagte der Lieutenant. »Master Sean benötigt tatsächlich eine Genehmigung, irgend etwas, um zu bestätigen, daß er die andere Art der hier praktizierten Magie versteht … ich bin sicher, Ihr wißt besser als ich, was das alles bedeutet, Master Scan … aber normalerweise hätten wir darauf vertraut, daß Ihr von Euch aus dorthin gegangen wäret. Abgesehen davon wird Euer Besuch in der Residenz ohnehin bald auf der ganzen Insel bekannt sein. Ich bin nur instruiert worden, dabei kein Aufsehen zu erregen, und so wollen wir auch verfahren.« »Ich verstehe«, sagte Lord Darcy. »Sagt mir, Lieutenant, habt Ihr eine Ahnung, worum es sich überhaupt dreht?« »Nein, überhaupt nicht, My Lord«, sagte Lieutenant Assawatan heiter. »Ich erfahre nur das, was ich wissen soll.« Er geleitete sie die Gangway hinunter und hinüber auf die dampfbetriebene Barkasse der Küstenwache, die gegenüber am Pier lag. »Ist einer von Euch jemals zuvor hier gewesen?« fragte er. »Nein? Nun, die Residenz liegt rund zwei Meilen flußaufwärts. Sie ist eines der drei größten Gebäude auf der Insel: die Residenz, die Kathedrale und die Feste St. Michael.« »›Die Residenz‹«, sagte Master Sean amüsiert. »Ist dies Eure Bezeichnung für den herzoglichen Palast?« 78
»So ist es«, bestätigte Lieutenant Assawatan. Er gab den Befehl abzulegen und rief seiner kleinen Mannschaft einige knappe Kommandos zu. Dann wandte er sich wieder seinen Gästen zu. »Ich hoffe, daß ich Gelegenheit haben werde, während Eures Aufenthaltes mit Euch zu sprechen, Lord Darcy«, sagte er. »… Kommilitone von derselben Fakultät, und so weiter … Vielleicht kann ich Euer Lordschaft während Eures Aufenthalts zu einem Dinner in der Offiziersmesse einladen. Und Euch ebenfalls, Master Sean.« »Es wird uns ein Vergnügen sein«, erwiderte daraufhin Lord Darcy dem jungen Offizier. »Werdet Ihr lange bei uns bleiben?« fragte der Lieutenant. »Seid Ihr auf Veranlassung Seiner Majestät hier oder in eigener Sache?« Er sah, wie Master Sean für einen Moment leicht die Stirn runzelte, woraufhin das Lächeln von seinem Gesicht verschwand. »Oh!« sagte er. »Es tut mir schrecklich leid, daß ich so eine persönliche Frage gestellt habe. Ich entschuldige mich dafür. Wie vermessen von mir. Wir sind hier nicht so formell, und weil wir fast nur unter uns sind, vergesse ich manchmal meine Manieren.« »Nein, nein, das ist schon in Ordnung«, sagte Lord Darcy lächelnd. »In der Tat sind wir geschäftlich und zum Vergnügen hier, in Angelegenheiten Seiner Majestät und in eigenen. Ich habe hier einige kleine Ländereien … Familienbesitz, müßt Ihr wissen. Sie werden meines Wissens ganz gut von einem Verwalter geführt. Aber es gibt nichts Besseres als einen persönlichen Kontakt von Zeit zu Zeit. Und während wir hier sind, wird sich Master Sean einen Einblick in die hiesige Gerichtshexerei verschaffen. Er ist ein …« »Ich weiß, glaubt mir, ich weiß alles über Master Sean. 79
So detailliert, wie es ein Laie nur begreifen kann«, fiel ihm der Lieutenant Assawatan lachend ins Wort. »Ihr werdet es mir vergeben, Master Sean, ich meine es nicht respektlos, aber Master Lord John Quetzal ist ein guter Freund von mir, und wir dinieren regelmäßig zusammen. Es war stets die Rede von Master Sean O Lochlainn. Besonders wenn ich versucht habe, ihm für etwas, das ihm gut gelungen war, ein Kompliment auszusprechen. ›Das war ein hübsches Stück Magie, das Ihr da heute gezeigt habt‹, sagte ich zum Beispiel. ›Wenn Ihr das meint, dann habt Ihr noch niemals Master Sean O Lochlainn arbeiten gesehen‹, erwidert er darauf. Dann beschreibt er etwas, das Ihr im Unterricht oder bei der Arbeit an einem Fall getan habt, und es klingt immer wie die Beschreibung eines Wunders. Wenn Ihr so gut seid, wie Lord John es immer erzählt, Master Sean, dann seid Ihr kein Magier, sondern ein Heiliger!« Lord Darcy hatte Master Sean noch nie so kurz vor dem Erröten gesehen wie in diesem Moment. »Ja«, bestätigte Sean, »Seine Lordschaft ist einer meiner Lieblingsschüler und einer der besten, die ich jemals unterrichtet habe. Neben seiner natürlichen Fähigkeit des Hexenriechens ist er einfach einer der fähigsten, natürlichen Allgemeinhexer, den ich kenne. Die Gerichtshexerei wird durch seine Entscheidung, sie zu praktizieren, bestimmt keinen Schaden erleiden.« »Ich werde ihm erzählen, was Ihr gesagt habt, Master, nur wird ihn das Lob schier umfallen lassen«, sagte Lieutenant Assawatan. Lord Darcy sah sich fasziniert um, während das lärmende Fahrzeug den Fluß hinauf zur Residenz tuckerte. Zur Rechten lag die Feste St. Michael an der Spitze der Saytchem-Insel, und dann kam eine Meile lang Weideland, bevor die Stadt New Borkum anfing. Zur 80
Linken trennte ein Steilufer aus Granitstein den Fluß von einem dichten, unberührten Wald, der bis zürn Rand der Klippen reichte. Vor ihnen glitt ein flachgebauter Lastkahn ohne sichtbaren Antrieb quer über den Fluß auf das entfernte Steilufer zu. »Was ist das?« fragte Lord Darcy, wobei er auf den kastenförmigen Lastkahn zeigte, der ihren Weg kreuzte. »Die Fähre von Langert Street«, erklärte der Lieutenant. »Sie arbeitet mit unter Wasser verlaufenden Zugseilen. Es ist die beste und schnellste Möglichkeit, den Fluß zu überqueren, auch wenn sie ein bißchen zu weit vom Weg abliegt – ein ganzes Stück südlich der Stadt … um vollkommen bequem zu sein.« Nach weiteren zehn Minuten hatten sie die Residenz erreicht, ein gedrungenes Steingebäude, das sich über mehrere Blocks erstreckte und sich scheinbar nicht entscheiden konnte, ob es ein Palast oder eine Feste sein wollte. Es verfügte über eine eigene Anlegestelle, und so wurden sie bereits eine Viertelstunde, nachdem sie das Deck der Aristoteles verlassen hatten, im Thronsaal Seiner Gnaden, dem Herzog Charles d’Arc, Königlicher Gouverneur von Neuengland, angekündigt. Der Thronsaal, der in leuchtenden Farben prangte, quoll von Höflingen in der bunten Pracht ihrer reich verzierten Hofgewänder und von Militäroffizieren in teuren Ausgehuniformen der verschiedensten Waffengattungen aus einer Vielzahl von Ländern über. Es gab auch ein paar einfach gekleidete, hartgesottene Männer, die eine Aura von Kompetenz um sich verbreiteten, die ebenso unmißverständlich fühlbar war wie der Geruch der Höflinge. Lord Darcy und Master Sean näherten sich dem Thron und knieten vor ihm in der jahrtausendalten Zeremonie 81
nieder, mit der sie dem Souverän und seinem Repräsentanten, dem Herzog d’ Are, ihre Loyalität erwiesen. Seine Gnaden war ein schmächtiger, gutaussehender Mann, der sein sechstes Lebensjahrzehnt gerade erst überschritten hatte, mit dem Aussehen eines Menschen, der ein erfülltes und aktives Leben führte und einen Großteil seiner Zeit im Freien verbrachte. Im Moment sah er besorgt aus. »Willkommen in Nova Eboracum, Lord Darcy, Master Sean O Lochlainn«, sagte er. »Ihr kommt in einem günstigen Moment … zumindest für uns. Aber wir fürchten, daß wir Eure Pläne durchkreuzen müssen. Als wir durch Eure Cousine Lady Irene Eagleson von Eurer bevorstehenden Ankunft erfuhren, sorgten wir dafür, daß Ihr vom Schiff hierher gebracht wurdet. Wir hoffen, Ihr werdet die Zwänge der Regierungsgeschäfte verzeihen, My Lord.« »Wie ich annehme, ist ein Mord geschehen, Euer Gnaden«, sagte Lord Darcy, wobei er sich erhob. »In der Tat«, erwiderte Seine Gnaden. »Ein abscheuliches und sinnloses Verbrechen ist verübt worden. Ein Verbrechen, das die Beziehungen zwischen uns und dem Königreich der Azteken beeinflussen könnte. Unser eigener Untersuchungsleiter, Major DePemmery, befindet sich in der Gegend von Garreton, rund dreihundert Meilen westlich von hier. Wir haben ihm eine Botschaft geschickt, aber es ist unwahrscheinlich, daß er sie bereits erhalten hat. Ich fürchte, Lord Darcy, wir müssen es Euch aufbürden und Euch bitten, dieses Verbrechen aufzuklären.« »Wie Euer Lordschaft wünscht«, sagte Lord Darcy, »wir werden natürlich Eurem Vorschlag entsprechen. Wir können unsere persönlichen Angelegenheiten für den Augenblick aufschieben, und uns in den Dienst der Krone 82
stellen.« »Wie Ihr es schon so viele Jahre getan habt, My Lord. Und wenn die Geschichten, die wir über Euch und Master Sean gehört haben, wahr sind, habt Ihr dies sehr gut getan. Wir haben für Euch eine Suite in der Residenz herrichten lassen. Lady Irene wird Euch zu den Räumlichkeiten geleiten. Wir sind sicher, daß Ihr eine Menge mit Eurer Cousine zu besprechen habt. Wenn Ihr Euch eingerichtet habt, möchten wir mit Euch sprechen. Sagen wir heute abend um neun, My Lord?« Lord Darcy verbeugte sich. »Ich denke, daß Master Sean und ich uns bis dahin eingerichtet haben, Euer Gnaden. Vielen Dank.« »Sehr gut, My Lord«, sagte Seine Gnaden. Er wandte sich um und rief: »Lady Irene?« Eine schlanke junge Dame trat aus der Gruppe links von Lord Darcy hervor und näherte sich dem Thron. Lord Darcy bemerkte als erster ein hellblaues Kleid und eine Wolke von blondem Haar. Sie machte einen Hofknicks vor Seiner Gnade, der ihn mit einer entlassenden Handbewegung erwiderte, während er sich in seine inneren Gemächer zurückzog. Nun erst wandte sie sich zu Lord Darcy. »Cousin. Wie gut es tut, Euch wiederzusehen.« »Das Vergnügen ist ganz meinerseits«, entgegnete Lord Darcy. »Ihr habt Euch, äh, sehr verändert, seit wir uns das letzte Mal getroffen haben. Ich glaube nicht, daß ich Euch wiedererkannt hätte.« Lady Irene lachte. »Sicherlich habe ich mich verändert«, stimmte sie zu. »Das tut eine Frau nun mal zwischen sieben und sechsundzwanzig.« »Ist es schon so lange her?« fragte Lord Darcy. »Kommt und zeigt Master Sean und mir unsere Gemächer, und wir 83
werden über alte Zeiten plaudern.« Lady Irene führte sie durch die vielen Korridore der Residenz zu der Suite, die für Lord Darcy und Master Sean reserviert worden war. Als sie endlich die Tür hinter sich geschlossen hatte, lehnte sie sich von innen dagegen. »Wir sind tatsächlich miteinander verwandt, müßt Ihr wissen, My Lord, obgleich wir uns noch nicht kennen und der Grad unserer Blutsverwandtschaft entschieden geringer ist, als das, was man normalerweise mit dem Begriff ›Cousin‹ umschreibt.« »Lady Irene Eagleson?« sagte Lord Darcy. »Ich bin erfreut, eine so schöne und charmante Verwandte zu entdecken, aber ich muß gestehen, daß mir die Einzelheiten dieser Verwandtschaft unbekannt sind.« »Meine Mutter, die Baronesse Saltire, ist die erste Cousine der Herzogin von Pemberton, My Lord, und weil der Herzog der Bruder Eurer Mutter ist, macht uns dies zu, hm, entfernten Cousins zweiten Grades.« Lord Darcy lachte. »Ich verlasse mich auf Euer Wort«, sagte er. »Genealogie war noch nie meine besondere Stärke, obwohl ich ein- oder zweimal wegen eines Falles, an dem ich arbeitete, darauf zurückgreifen mußte. Master Sean, begrüßt meine Kusine Lady Irene. Ich kenne sie, seit sie Zöpfe trug, oder genau genommen tut es mir leid, daß ich sie nicht kannte.« »Es ist mir ein Vergnügen, My Lady«, sagte Master Sean. »Ich bin nicht sicher, warum man annimmt, daß ich Euch bereits so lange kenne«, sagte Lady Irene, »aber es macht mich bei den Frauen in der Stadt recht beliebt. Sie beide sind wohl die angesehensten Junggesellen, die in letzter Zeit nach New Borkum gekommen sind. Sie sind doch unverheiratet, Master Sean, nicht wahr?« 84
»Ja, My Lady«, sagte Master Sean mit einer ziemlich beunruhigten Miene. »Aber ich glaube, daß Hexer sehr armselige Ehemänner abgeben.«
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6 Colonel Hesparsyn grunzte und wälzte sich unter seiner Decke herum. Jemand rüttelte ihn an der Schulter. Er öffnete ein Auge, aber es nützte nichts. Die Welt um ihn herum blieb pechschwarz. Für einen Moment war er orientierungslos. Dann kehrte mit seiner Erinnerung auch sein Verantwortungsgefühl zurück. »Ist schon gut, ich bin wach«, sagte er mit leiser Stimme. »Was ist los?« »Corporal Buchanan, Sir«, ertönte ein Flüstern aus der Dunkelheit. »Corporal der heutigen Nachtwache, Sir. Lieutenant MacPhearling befahl mir, Euch aufzuwecken. Er vermutet, daß irgend etwas im Gange ist, Sir.« »Was?« fragte der Colonel, während er sich von seiner Decke befreite und aufrichtete. »Er ist sich nicht sicher, Sir.« Colonel Hesparsyn unterdrückte den Impuls zu sagen: »Schon gut, kommt wieder, wenn er sich sicher ist.« Hier sprach aber bloß sein Unterbewußtsein, das in einem verzweifelten Schlafbedürfnis nach irgendwelchen Entschuldigungen suchte. Die Disziplin vieler Jahre in der Armee hatte ihn jedoch befähigt, sich über solche körperlichen Bedürfnisse hinwegzusetzen. Statt dessen sagte er: »Danke, Corporal. Sagt dem Lieutenant, daß ich gleich erscheinen werde.« Er griff nach seinen Stiefeln. Die ersten undeutlichen Anzeichen des anbrechenden Morgengrauens kündigten sich am äußersten östlichen Rand des sternenlosen Himmels an, als Colonel Hesparsyn sein Zelt verließ. Die Feuchtigkeit des frühen Märzmorgens drang durch seine wollene Uniform und umschloß seinen langsam erwachenden Körper. Er eilte in 86
kurzen Schritten zum Kommandantenzelt, wobei er die Hände in dem Bemühen, sie aufzuwärmen, gegen seine Arme schlug. Im Zelt befand sich ein roter Glasschirm über der Alkohollampe; bei Nacht wurde die Sicht durch rotes Licht am wenigsten behindert. Lieutenant MacPhearling und Lieutenant Duggen, der wachhabende Offizier, saßen an einem kleinen Tisch. Der Offizierhexer hielt eine kleine, goldene Wünschelrute über einer verknitterten Karte, die auf der Tischplatte befestigt war. »Nein, nein, bleibt sitzen, meine Herren«, sagte Colonel Hesparsyn, als die beiden Offiziere sich bei seinem Eintritt anschickten, sich zu erheben. »Macht mit allem weiter, womit Ihr gerade beschäftigt seid, und berichtet mir, was sich ereignet hat.« Er ging zur großen Kaffeekanne hinüber, die im Zelt bereitstand, und schenkte sich eine dampfende Tasse voll ein. Eine Variante des Erhaltungszaubers, der über der Kanne lag, sorgte dafür, daß der Kaffee heiß blieb. »Ich bin mir nicht sicher, Colonel«, sagte Lieutenant MacPhearling, während er die grob gezeichnete Karte eingehend studierte. »Hier geschieht so einiges im Bereich des Lagers, aber ich kann nicht genau sagen, was es ist.« Er bewegte seine Wünschelrute, die er behutsam zwischen Ringfinger und Daumen seiner Hände hielt, über die Oberfläche der Karte, wobei er sie jedesmal aufmerksam beobachtete, sobald sie nach oben oder unten ausschlug. »Da draußen befinden sich Menschen, viele Menschen, die in kleinen Gruppen umherstreifen.« »Pferde?« fragte der Colonel. »Ja, ich denke schon. Die Wünschelrute ist zwar auf Menschen ausgerichtet, aber ich erhalte ein Signal, das von irgendeinem großen Tier zu kommen scheint. Wenn dieses Jahr die Wapitis nicht schon früher wandern sollten als sonst, sind dort draußen vermutlich Pferde.« 87
»Hm«, brummte der Colonel und schaute seine beiden Offiziere an. Unausgesprochen dachte jeder daran, daß die ansässigen Stämme zu abergläubisch waren, um bei Nacht zu kämpfen. Sie würden nicht vor Morgengrauen angreifen. Doch der Morgen näherte sich rasch. »Colonel, kämpfen wir wirklich nur, um die da zu schützen – die Azteken?« fragte Lieutenant Duggen. »Das ist nicht gerade eine populäre Maßnahme bei unseren Leuten.« »Ich weiß«, sagte Colonel Hesparsyn. »Offen gesagt, mir gefällt das auch nicht. Aber Seine Hoheit, der Herzog Charles d’Arc, würde vermutlich ziemlich verärgert sein, wenn wir es zuließen, daß die Abgesandten zur Unterzeichnung des Vertrages auf dem Weg nach New Borkum abgeschlachtet würden.« »Also haben wir die Kerle, die wir mögen, daran zu hindern, diejenigen Kerle anzugreifen, die wir nicht mögen«, sagte Lietenant Duggen. »Ist es nicht immer so?« »Es steht uns nicht zu, über kaiserliche Politik zu entscheiden«, sagte Colonel Hesparsyn. »Die Regierung Seiner Majestät erhöht nur allmählich und unmerklich den äußeren Druck auf die Nation der Azteken, und letzten Endes, um besser mit ihr auszukommen. Aber es nützt nichts, wenn ihre Abgesandten, unter denen sich auch Lord Chiklquetl befindet, einer der obersten ihrer auserwählten Hohenpriester, getötet und skalpiert würden.« »Genauso ist es, Sir«, stimmte Lieutenant Duggen zu. »Auf der anderen Seite, Sir«, ergänzte Lieutenant MacPhearling, »wirkt es sich nicht besonders gut auf unsere Beziehungen mit den hiesigen Eingeborenen aus, wenn ein Haufen von ihnen bei diesem Versuch – und das halte ich für sehr wahrscheinlich – abgeschlachtet würde. 88
Ich vermute nämlich, daß Lord Chiklquetl und seine Jungs irgend etwas in ihren langen, faltenreichen Ärmeln versteckt halten.« »Wie interessant«, sagte Colonel Hesparsyn. »Habt Ihr irgendeine Vorstellung, was das sein könnte?« »Nicht im mindesten, Sir. Aber ich traue diesen Kerlen nicht, solange sie sich in meinem Blickfeld aufhalten, und erst recht nicht, wenn sie sich außerhalb davon befinden.« »Was machen die jetzt gerade, könnt Ihr das mit diesem silbernen Stab herausfinden?« fragte Hesparsyn. Für eine kurze Weile hielt Lieutenant MacPhearling seine Wünschelrute über die Karte, während die anderen zuschauten. »Also, sie sind wach«, sagte er. »Oder zumindest viele von ihnen. Ich kann Euch nicht sagen, was sie machen, aber sie scheinen sich nicht viel umherzubewegen.« »Wissen sie von Kriegern, die sich versammeln?« »Selbstverständlich wissen sie das«, erwiderte Lieutenant MacPhearling. »Wahrscheinlich sogar besser als ich.« »Mit Sicherheit sind sie denjenigen – wer auch immer sich dort draußen herumtreibt – zahlenmäßig in einem Verhältnis von drei oder vier zu eins unterlegen«, erläuterte der Colonel. »Vielleicht sogar noch mehr. Aber soweit ich weiß, sind ihre Krieger verdammt gut. Wie bewährt sich ihre Kriegsmagie gegen die einheimischen Stämme?« »Da müßte ich raten«, sagte Lieutenant MacPhearling, »aber ich vermute, daß die Kräfte ungefähr ausgeglichen sind. Wie Ihr wißt, ist es schwer, in der Hitze des Gefechts die Magie effektiver einzusetzen. Ihre Priestermagier sollten ihr Handwerk eigentlich so weit verstehen, daß sie sich selbst verteidigen können, aber ich glaube nicht, daß 89
sie ihren Gegnern während des Kampfes Schaden zufügen können. Jedenfalls nicht annähernd soviel, wie es die Krieger mit ihrem Arsenal an scharfen und spitzen Waffen anrichten werden. Die magischen Versuche beider Seiten könnten sich die Waage halten.« Colonel Hesparsyn schüttelte den Kopf. »In was für einer wunderschönen Lage wir doch sind«, spottete er. »Gefangen zwischen zwei Parteien, die sich gegenseitig an den Kragen wollen.« Er ging zum Zelteingang und sprach die davorstehende Wache an. »Soldat, holt den Herold! Und weckt den Koch auf; sagt ihm, daß er den Männern eine Kanne Kaffee kochen und irgendein Frühstück zubereiten soll.« »Jawohl, Sir«, sagte die Wache. »Der Koch ist auf, Sir. Bereits seit Stunden. Man kann schon die kleinen Kuchen riechen.« Natürlich, jetzt bemerkte der Colonel es auch. Wie dumm von ihm. Für den Koch begann der Tag normalerweise eine ganze Weile vor Morgengrauen, damit die Männer irgend etwas Warmes zum Frühstück haben konnten. In dieser Armee wurde den Köchen zu wenig Anerkennung geschenkt. Innerhalb von drei Minuten erschien Captain Humphrey Flagg, der Kompanieherold und zweite Befehlshaber, im Zelt. Der Captain, der einer der verläßlichsten und fähigsten Offiziere war, mit denen Colonel Hesparsyn jemals zusammen gedient hatte, war ein großer und kräftig gebauter Mann mit einem groben und häßlichen Gesicht. Irgendwie mangelte es ihm an Führungsqualitäten, die ihn zu einem hochrangigen Stabsoffizier gemacht hätten, aber er schien es auch zu wissen und ließ sich dadurch nicht beirren. »Ja, Sir?« fragte er. »Eine hervorragende Zeit, um einen Mann aufzuwecken.« 90
»Den letzten beißen die Hunde, Flagg«, erwiderte Colonel Hesparsyn, während er ihm eine Tasse voll Kaffee reichte. »Wenn ich aufstehe, dann steht Ihr auch auf.« »Das habe ich schon bemerkt, Colonel«, sagte der große Mann lächelnd und nahm den Becher entgegen. »Nun, was liegt heute an, Kameraden?« fragte er, als er sich zu den beiden Offizieren umdrehte, die um den Tisch herumstanden. »Eine schreckliche Schlacht schlagen, um die Schutzlosen zu verteidigen? Brauen sich die Wolken des Krieges gegen uns zusammen?« »So sieht es aus, Captain«, antwortete Lieutenant MacPhearling. »Um uns herum ziehen sich die Horden mit Haß im Herzen gegen ihre aztekischen Vettern zusammen«, präzisierte Colonel Hesparsyn. »Der Lieutenant glaubt, daß unsere aztekischen Freunde irgend etwas in ihren geheimnisvollen Ärmeln verborgen halten. Ich persönlich glaube, daß sie lediglich an arroganter Selbstüberschätzung leiden. Aber in jedem Fall werden wir uns zwischen zwei Stühle setzen.« Lieutenant Duggen schaute zum Colonel auf. »Der Stolz der Armee«, sagte er, ohne nachzudenken. »Was soll das heißen, mein Sohn?« fragte der Colonel. »Ich habe mich gerade an ein Gedicht erinnert, Sir«, antwortete Duggen und sah verlegen aus. »Der Stolz der Legion von Lord Dif.« »Das ist richtig, Lieutenant«, entgegnete Colonel Hesparsyn, als auch er sich daran erinnerte. »Es, äh, klingt in der gegenwärtigen Situation an, nicht wahr?« Lord Dif, der als inoffizieller Hofdichter der Legion galt, hatte das kleine Lied mit dem Titel Der Stolz der Legion anläßlich der Grenzkriege der deutschen Fürstentümer 1892 91
geschrieben. »Das würde ich auch sagen, Sir«, erwiderte Lieutenant Duggen. Mit klarer, tiefer Stimme rezitierte er: Es war ein Grenzscharmützel, Tausend auf jeder Seite, Aber die Legion war geschickt, zu erhalten den Frieden, Um zwischen ihnen zu stehen, zu wahren den Frieden, Zu zahlen den Preis, den sie verlangten für Frieden, Und das war der Stolz der Legion. Die Legion stand zwischen ihnen, Schlug sich auf keine Seite, Die Legion stand, bis die Kämpfe versiegten, Verblieben in Stellung, bis die Kämpfe versiegten, Einige starben, doch die Kämpfe versiegten, Und das war der Stolz der Legion. An diesem Tag stand ich in der Legion, Einer der wenigen, der ihnen trotzte, Den Grenzbaronen, ihre Niederlage war entschieden, Um der Legion zu erhalten ihren Frieden Ich zahlte den Preis, die Legion hatte ihren Frieden, Denn ich war einer, der dafür starb. All ihr Söhne der Legion verstreut über weit und breit, Gleich zwei Seiten einer Münze ist in der Legion der Frieden, Das ist der schreckliche Preis in der Legion für den Frieden Und mußt du zahlen in der Legion den Preis für den Frieden, Leg du ihn nieder mit Stolz. »Ja«, sagte Lieutenant MacPhearling, »ich habe immer gedacht, daß dies ein ziemlich abgedroschenes Gedicht sei. Aber wenn man es so hört …« »Genauso ist es«, sagte der Captain. »Was war, das wird sein. Das Rad dreht sich, und es ist ein Rad. Und in Kürze wird der Morgen anbrechen. Es ist besser, wenn ich gehe und die Männer aufwecke.« 92
»Ohne den Morgenappell zu blasen«, sagte der Colonel zu ihm. »Kein Horn ertönt!« »Selbstverständlich nicht, Sir«, antwortete Flagg. »Humphrey, seht Ihr zu, daß die Männer etwas zu frühstücken bekommen, wenn wir es einrichten können«, sagte Colonel Hesparsyn. »Mindestens ein Brötchen und einen Becher Kaffee. Die Brötchen sollten inzwischen fertig sein; der Koch ist schon seit Stunden auf.« »Jawohl, Colonel«, erwiderte Captain Flagg, salutierte und bahnte sich seinen Weg aus dem Zelt hinaus. Der Colonel hielt seine Armbanduhr unter das rote Glas der Alkohollampe und warf einen Blick darauf. »Fünf Uhr fünfunddreißig«, sagte er, »noch ungefähr zwanzig Minuten bis zum Morgengrauen. Die Stämme werden frühestens eine halbe Stunde danach angreifen, wahrscheinlich werden sie sogar über eine Stunde warten.« Er rieb sich das Gesicht und strich sein ausgedünntes Haar zurück. »Wir haben eine Stunde Zeit, um uns zu entscheiden, was wir machen. Dann, befürchte ich, werden die Wolken des Krieges tatsächlich über uns sein.« »Die Wolken?« Lieutenant MacPhearling schaute auf. »Colonel, ich glaube, ich habe eine Idee.« »Das würde ich sehr begrüßen«, entgegnete ihm Colonel Hesparsyn. »Wie kommen wir bloß mit Würde und möglichst allen Soldaten unversehrt aus diesem Schlamassel heraus? Ich wüßte keine Lösung, außer einer magischen, Lieutenant, deswegen muß es schon Magie sein. Gibt es einen Zauberspruch, der uns die Arbeit abnimmt?« »Das könnte sein«, antwortete Lieutenant MacPhaerling seinem Vorgesetzten. »Ich hatte dies alles von der falschen Seite aus gesehen, Sir. Wir sind nicht daran 93
interessiert, diese Menschen zu bekämpfen – egal, auf welcher Seite sie stehen.« »Nicht, wenn wir die Wahl hätten«, stimmte der Colonel zu. »Wir sind daran interessiert, sie vom Kämpfen abzuhalten«, fuhr der Lieutenant fort, wobei er zunehmend schneller und mit mehr Nachdruck sprach, während seine Ideen wie von selbst in seinem Geist Gestalt annahmen. »Wir wollen Bedingungen schaffen, die eine Schlacht verhindern. Dies ist ein besonderer Fall, bei dem uns ganz bestimmte magische Techniken zur Verfügung stehen, die bei den, äh, beiden Kriegstruppen nicht gebräuchlich sind.« »Was schlagt Ihr also vor, Lieutenant, einen Regentanz?« fragte der Colonel lächelnd. »Nein, Sir«, entgegnete Lieutenant MacPhearling. »Wie Ihr wißt, erfordert ein Regentanz eine Menge an Vorbereitungen, für die wir nicht genügend Zeit haben. Und außerdem liegt die Erfolgsrate nur bei ungefähr dreißig Prozent. Und ich habe so ein Gefühl, daß diese beiden Gruppen nicht zu kämpfen aufhören, wenn sie naß werden. Aber vielleicht, Sir, ist Regen gar nicht notwendig! Schließlich wird keine von ihnen irgend etwas von uns erwarten, das über die üblichen Zaubersprüche zur Selbstverteidigung hinausgeht. Was wir tun, wird sie als völlige Überraschung treffen.« »Und Ihr habt an etwas gedacht, das wir auch durchführen können?« fragte Colonel Hesparsyn. »Ja, das glaube ich, Sir. Etwas, was wir nicht tun könnten, wenn wir selber kämpfen würden. Aber genau das tun wir nicht. Etwas, das sie nicht aufhalten würde, wenn sie darauf vorbereitet wären. Aber das werden Sie nicht sein.« 94
»Schießt los, Lieutenant«, sagte der Colonel. Colonel Hesparsyn schwang sich behende in den Sattel. Routinemäßig ließ er seinen Blick über die nähere Umgebung und die grasbewachsene Ebene, die sich in einer leichten Neigung von links nach rechts erstreckte, schweifen. Ungefähr eine Meile voraus in Richtung Norden stand eine Reihe von alten, dicken immergrünen Bäumen, die wie der Rand eines ausgedehnten Waldes erschienen. Zwei Meilen entfernt, zu seiner Rechten, verlief der Fluß, der aber hier unpassierbar war. Die Sonne war schon erwartungsgemäß im Osten aufgegangen und leuchtete hell in dem klaren blauen Himmel, über den nur noch die schwachen Spuren einiger Wolken hinwegzogen. Die Azteken hatten ihr morgendliches Exerzieren beendet und formierten sich, um den Marsch fortzusetzen, so als ob nichts Außergewöhnliches geschehen wäre. Das einzige Anzeichen, daß nichts mehr so wie am Vortage war, bestand darin, daß jeder der Priester – ob von hohem oder niederem Rang – am ganzen Körper grell mit rot und blau kontrastierenden Streifen bemalt war. Colonel Hesparsyn vermutete stark, daß die roten Streifen aus einer Mixtur ihres eigenen Blutes bestanden. Die Krieger – genau sechshundertsiebenundzwanzig von ihnen, aus Gründen, die in der aztekischen Mythologie verborgen lagen – hatten nur unauffällige, einfache Zeichen auf ihren Gesichtern; aber der Colonel bemerkte, daß sie die gehärteten Beinschienen und Armbinden aus Leder angelegt hatten, die sie normalerweise in ihrem Gepäck mit sich führten. Zur Linken erstreckte sich quer über den Horizont eine Reihe unerschütterlicher kupferhäutiger und silberbewaffneter Krieger der örtlichen Stämme, in einem Abstand von zehn Yards zueinander, die die Azteken bei 95
den Vorbereitungen zu ihrem Aufbruch beobachteten. Jeder von ihnen trug neben einem Speer entweder einen Bogen oder etwas, das nach Ansicht von Colonel Hesparsyn dem neuen Dumberly-FitzHughRepetiergewehr verdächtig ähnelte. Dem mußte er unbedingt nachgehen, wenn er … falls er zur Feste St. Michael zurückkehrte. Sollte jemand die Eingeborenen mit Dumberly-FitzHughs versorgen, dann müßte derjenige hart ins Gericht genommen werden. Die wartenden Krieger machten keine Anstalten anzugreifen, und die Azteken ignorierten sie vollständig, während sie ihre Vorbereitungen zum Aufbruch trafen. Colonel Hesparsyn schlußfolgerte, daß die Hauptstreitmacht der Stämme sich in den Wäldern vor ihnen befinden müßte. Aber die Azteken hatten das sicherlich auch erkannt und würden die Wälder nicht betreten. Lasse niemals deinen Gegner den Zeitpunkt und den Ort der Schlacht bestimmen, dachte der Colonel. Die Azteken würden auf dem Feld vor den Wäldern halten und sich in Kampfformation begeben. Die Eingeborenen würden aus den Wäldern heraus Pfeile auf sie abfeuern, jedoch wegen der großen Distanz nur wenig Wirkung erzielen. Die Dumberly-FitzHugh-Repetiergewehre, falls es sich tatsächlich um solche handelte, könnten schon mehr ausrichten, aber für zielgenaues Schießen auf große Entfernung waren sie nicht konstruiert. Deswegen müßten die Stammeskrieger hervorkommen und kämpfen. Aber sie konnten sich aussuchen, wann und wo sie innerhalb der aztekischen Aufstellung am härtesten zuschlagen würden. Es war wie ein gigantisches Schachspiel. Ein Schachspiel, in welchem die geschlagenen Figuren nicht vom Schachbrett genommen wurden, sondern bloß an der Stelle, wo sie gefallen waren, liegenblieben und zu Tode verbluteten. 96
Und was, fragte sich Colonel Hesparsyn, werden wir tun? Das Interessante an der ganzen Sache war, daß keine der beiden Seiten sich darum sorgte. Möglicherweise hofften sie, daß die Legion einfach nicht in etwas eingriff, was sie nichts anging. Unglücklicherweise konnte Colonel Hesparsyn dem nicht zustimmen. Der Colonel ritt in Begleitung seines Sergeants die Zweierreihe seiner auf gesessenen Männer ab, wobei er jeden Mann und jedes Pferd mit schnellem und scharfem Blick inspizierte. Dreihundert schmuck gekleidete und kampfbereite Männer auf dreihundert gut trainierten und kräftigen Pferden. Jeder Mann hatte in seiner Halterung, die am Steigbügel befestigt war, eine acht Fuß lange Lanze mit Stahlspitze stecken, die starr nach oben wies. Die Stahlspitze jeder Lanze war sorgfältig in Lappen eingewickelt. Diese hatte man mit kochendem Öl und Talg getränkt, dem verschiedene andere Öle und pulverisierte Essenzen aus Lieutenant MacPhearlings Beständen beigefügt waren. Am Ende der Reihe zügelte Hesparsyn sein Pferd und wandte sich Sergeant Tavis zu. »Ausgezeichnet, Sergeant«, sagte er. »Ich habe immer gewußt, daß wir diese Lanzen eines Tages brauchen werden.« »Sir!« sagte der Sergeant in leicht beleidigtem Ton. Die Lanzen waren eine alte Tradition und wurden heutzutage nur noch für Exerzierparaden verwendet. Das war nach Sergeant Tavis’ Meinung Grund genug für den Einsatz. »Die Männer fertig machen zum Ausscheren, Sergeant«, sagte der Colonel. »Achtet auf mein Signal.« »Jawohl, Sir!« Tavis salutierte, während sich sein Pferd mit wirbelnden Hufen aufbäumte. Ich könnte schwören, daß er auch seinem Pferd 97
beigebracht hat zu salutieren, dachte Colonel Hesparsyn, als der Sergeant die Reihe entlangtrabte, wenn es nicht der linke Huf des Tieres gewesen wäre. Die Sonne schien hell, aber die Luft war frostig. Die aztekische Gesandtschaft brach auf; ihre Trommler schlugen auf Pumahauttrommeln den Marschrhythmus. Das Podest, auf dem man das Ewige Feuer trug, wurde von Sänften flankiert, in denen die höherrangigen Priester getragen wurden, wobei das Ganze wiederum von niederen Priestern und Kriegern umgeben war. Es war ein wilder und prächtiger Aufzug. Lieutenant MacPhearling trabte zum Colonel hinüber. Die besonders weiten Satteltaschen des berittenen Magiers gaben seinem Pferd das Aussehen, als ob es kleine, stummelige Flügel besäße. »Ich bin soweit, Colonel«, sagte er. Colonel Hesparsyn nickte. »Wollt Ihr Euch mitten zwischen die Linien stellen?« fragte er. »Das würde wahrscheinlich das beste sein«, entgegnete der Lieutenant zustimmend. »Dann nichts wie hin.« Sein schmales Gesicht war ausdruckslos, als er seinen Platz an der Spitze der Formation einnahm. Er erhob seinen rechten Arm, drehte seine Hand in einem kleinen Kreis und gab damit das Signal zum Aufbruch. Vom Trompeter erschollen die blechernen Töne von England und St. George, woraufhin sich die Kompanie in Bewegung setzte. Mit stolz aufragenden Lanzen trabte die Zweierreihe auf die Bäume zu. Die Reihen der Legionäre passierten die aztekischen Krieger und trabten zu einer Stelle, die sich ungefähr fünfzig Yards vor dem Wald befand. Dort schwenkten sie aus, bis sie sich zu einer einzigen Linie aufgereiht hatten, 98
die sich zwischen den Bäumen und den sich nähernden aztekischen Kolonnen erstreckte. Colonel Hesparsyn nahm den Platz in der Mitte der Linie ein, und Lieutenant MacPhearling gesellte sich ihm zu. »Es könnte ein bißchen zu spät sein, um das jetzt noch zu fragen, MacPhearling, aber wird es funktionieren?« Der Colonel schaute auf die große Messingschale, die vorn am Sattel des Lieutenants befestigt war. »Ich denke doch, Colonel«, antwortete MacPhearling. »Der magische Teil auf jeden Fall.« Der Colonel schaute hinüber zum Ende der Aufstellung, an der Captain Flagg und fünf seiner ausgesuchten Männer warteten. Wenn nichts schiefging, würde der Plan wie ein Zauber funktionieren. Doch es gab da draußen zwei Gruppen von Kriegern, die entschlossen waren, dafür zu sorgen, daß die Sache schiefging. Colonel Hesparsyn mutmaßte argwöhnisch, daß dort alle möglichen Arten von Zauberei zu finden wären. Die aztekische Gesellschaft erreichte einen Punkt, der ungefähr fünfzig Yards von der Stelle entfernt lag, an der die Legion ausgeschwärmt war, und begann, wie vorhergesagt, sich in Kampfformation aufzustellen. Die Sänften wurden auf dem Boden abgestellt, während Lord ChiklquetI inmitten der anderen älteren Zauberpriester seinen Platz an der Spitze der Formation einnahm. Das Podest, auf dem sich die Ewige Flamme befand, wurde auf der rechten Seite hinter der Formation nahe dem Fluß abgestellt. Es schien die Priester wenig zu kümmern, daß eine schmale Reihe von berittenen Legionären zwischen ihnen und ihrem Feind im Wald stand. Nachdem sie ihre Aufstellung und Vorbereitung abgeschlossen hatten, erstarrten die Azteken an Ort und Stelle. Sie warteten. Colonel Hesparsyn hatte den 99
Eindruck, daß ihnen nicht die leiseste Regung anzumerken war, es sei denn die Bereitschaft zur Bewegungslosigkeit. Anscheinend waren sie imstande, den ganzen Tag reglos abzuwarten; vielleicht sogar – wenn nötig – das ganze Jahr. Im Wald entstand eine leichte Unruhe, als schließlich ein Läufer erschien, der eine weiße Flagge trug. Er rannte schnurstracks zu der Stelle, wo Colonel Hesparsyn wartete, schaute dabei weder nach rechts noch links und händigte dem Colonel eine Rolle aus, die mit einem Riemen zusammengebunden war. Mit einer kaum wahrnehmbaren Unterbrechung in seinem Lauf drehte er sich wieder um und rannte zurück zum Wald. »Gut, immerhin haben sie es nicht mit einem weiteren Nachrichtenpfeil probiert«, sagte Colonel Hesparsyn ironisch zu Lieutenant MacPhearling. »Gott weiß, wen er getroffen hätte!« Er rollte die Schriftrolle auf und las. »Kurz und bündig«, sagte er und reichte sie dem Lieutenant. Colonel, Ihr steht im Weg, Kein guter Platz, sich aufzuhalten, mit bestem Gruß, Der-zuletzt-lacht »Was meint Ihr, wie lange es noch dauert, bis sie angreifen?« fragte Lieutenant MacPhearling. »Ich zöge es vor, bis zum letztmöglichen Moment abzuwarten.« »Jederzeit«, antwortete ihm Hesparsyn. »Es gibt keinen Anlaß, noch zu zögern. Sie werden das Zentrum der Formation mit Fußtruppen angreifen, und dann wird ihre Kavallerie um die linke Flanke herumstürmen.« »Ist das eine Prophezeiung, Colonel?« »Taktik, Lieutenant. Das ist es, was ich selbst tun würde, 100
um den aztekischen Linien den Rückweg abzuschneiden.« Der Lieutenant starrte grübelnd auf die Schlachtanordnung der aztekischen Truppen. »Ich glaube nicht, daß die in irgendeiner Form die Absicht haben, sich zurückzuziehen«, sagte er. »Da stimme ich Euch zu«, sagte Colonel Hesparsyn. »Sollte Euer Plan funktionieren, kriegen wir einiges zu tun.« »Nun, Sir, das wird sich in Kürze zeigen«, entgegnete Lieutenant MacPhearling. »Ich denke, es ist an der Zeit anzufangen.« »Viel Glück, Lieutenant«, sagte Hesparsyn, »obwohl ich mir vollkommen darüber im klaren bin, daß Glück nichts mit Magie zu tun hat, denke ich, daß es dennoch nicht schaden kann.« Er nickte und ritt auf die Spitze der Linie zu. MacPhaerling öffnete die Laschen seiner übergroßen, mit Symbolen dekorierten Satteltaschen und holte einen dünnen, metallenen Dreifuß heraus, dessen Beine von unterschiedlicher Länge waren. Ein Bein des Dreifußes paßte in eine Lederhalterung seines rechten Steigbügels, während die anderen zwei am vorderen und hinteren Teil des Sattels befestigt waren, so daß der Dreifuß einen recht stabilen Aufsatz zur rechten Seite von Mann und Pferd bildete. Der Lieutenant schob die blecherne Schale in den Befestigungsring, der sich an der Spitze des Dreifußes befand, und befestigte diese wiederum mit drei Messingschrauben, um sie sicher an ihrem Platz zu halten. Jetzt konnte er, solange sein Pferd sich nicht dazu entschloß, sich über den Boden zu wälzen, seine Magie ausüben. Drei kleine Stücke Holzkohle aus seiner Satteltasche 101
wanderten in die Kohlenpfanne. Es folgte aus einem bereits präparierten Paket sauber getrennte Holzkohle, die mit verschiedenen pulverisierten Metallen und Erzen sowie mit ein paar sorgfältig ausgesuchten, zu Pulver verarbeiteten, organischen Substanzen vermischt war. Ein helles, blaues Licht flammte aus der Kohlenpfanne auf, als MacPhearling ihr einen mit mehreren Schlitzen versehenen Deckel überstülpte. Für ungefähr eine Minute schien das Licht durch die enge Öffnung noch hell weiter, bevor es erlosch. Ein mattes, purpurnes Glühen umgab nun die Kohlenpfanne, das anscheinend unabhängig vom inneren Feuer war, das noch immer mit einem strahlenden Blau durch das verwobene Schlitzmuster hindurchschien. Der Magier hielt seine Hände ausgebreitet über die Glut und starrte direkt hinein, während er unverständliche, geheime Wörter mit einer tiefen, festen Stimme murmelte. Seine Augen und auch die Augen seines Pferdes schienen in diesem seltsamen Licht grün zu leuchten. Der zweifache Trommelschlag der aztekischen Krieger erklang über der Wiese und wurde von den Eingeborenen mit dreifachen Hornstößen erwidert. Beide Seiten waren bereit, anzugreifen. Und die schmale Linie der Kompanie B der Herzoglichen war das einzige, was noch zwischen ihnen stand. Feine Schwaden von blauem Rauch quollen durch die Schlitze des Kohlenpfannendeckels und verschlangen sich zu einem Muster, wie es durch keine Luftströmung hätte verursacht werden können. Als sich schließlich die Rauchschwaden in einer Höhe von ungefähr zwölf Fuß über dem Boden befanden, verteilten sie sich und zogen entlang der aufgereihten Soldaten vorbei. In dem Moment, da die Spitzen der Rauchschwaden die mit Lumpen umwickelten Lanzenspitzen der Soldaten berührten, flammten die Lampen stumm auf, während Wogen 102
gelbdurchfärbten weißen Rauches von jeder entzündeten Lanze quollen. Ein Geruch, der die Erinnerung an geröstete Rüben wachrief, erfüllte die Luft. Die Linie zwischen den gegnerischen Streitkräften war mit dem dichten, gelbweißlichen Rauch angefüllt, vereinzelt nur unterbrochen durch die mit Lanzen bewaffneten Legionäre auf ihren Pferden. Das dreifache Ja-Tara des Horns ertönte wieder, als die Truppen der Eingeborenen an ihrer gesamten Front begannen, sich nach vorne in Marsch zu setzen. Die Azteken schlugen ihre Trommeln weiter und rückten ebenfalls vor. Der Rauch verteilte sich und wurde immer undurchdringlicher. Colonel Hesparsyn starrte in den wogenden Rauch und versuchte die Bewegung der vor ihm befindlichen Eingeborenen Krieger zu erkennen. Bisher war noch kein Gewehr abgefeuert worden, und noch kein Pfeil hatte die Luft durchschnitten. Beide Seiten warteten bis zur letztmöglichen Sekunde ab, um ihre Feindseligkeiten zu beginnen. Sie wollten sich einander so weit nähern, daß die erste Salve den Ausschlag geben würde. Und die erste Salve würde durch seine Männer hindurchgehen müssen, um den Feind zu treffen. Kein guter Platz, sich aufzuhalten, dachte Colonel Hesparsyn ironisch, falls der Plan seines Kriegsmagiers nicht funktionieren würde. Und bis jetzt hatte er nichts anderes als Rauch produziert. Colonel Hesparsyn widerstand dem Zwang, zum Lieutenant hinüberzureiten und ihm über die Schulter zuzuschauen. Es war nicht klug, einen Hexer bei seiner Arbeit zu stören, selbst wenn man sein vorgesetzter Offizier war. 103
Der Rauch hatte sich mittlerweile so verbreitet, daß er über die volle Länge der Front zwischen den sich gegenüberstehenden Streitkräften eine Wand bildete. Sie war schätzungsweise dreihundert Yards lang, ungefähr zwanzig Fuß dick und zwölf Fuß hoch. Innerhalb des Rauchs war die Sicht auf die Hand vor dem eigenen Gesicht begrenzt. Aber dies für sich allein genommen, würde die Schlacht noch nicht aufhalten; es würde lediglich die Wirksamkeit der Gewehre und Bögen vermindern. Wenn man aber wegen des Rauchs näher als drei Fuß an seinen Gegner herangehen mußte, um ihn überhaupt zu sehen, würde der Kampf Mann gegen Mann mitunter tödlich ausgehen. Die Pfeife des Ersten Sergeants schrillte auf – zwei scharfe Pfiffe –, und die berittenen Soldaten der Kompanie B teilten sich der Zahl nach auf. Männer mit einer geraden Zahl bewegten sich im leichten Trab nach vorn. Männer mit einer ungeraden Zahl drehten ihr Pferd herum, so daß sie in die entgegengesetzte Richtung schauten, den Rücken den Eingeborenen zugewandt, und rückten einen kurzen Schritt vor. Der Rauch Vorhang breitete sich aus. Die aztekischen Reihen bewegten sich im Trab vorwärts und mußten den schützenden Schild des Rauchs durchbrechen, bevor die Eingeborenen von der anderen Seite durch ihn hindurchrannten und angriffen. Dort marschierte der Haupttrupp der Eingeborenen aus dem Wald hervor und gelangte gleichzeitig in die sich noch immer ausbreitende Rauchwand. Mittlerweile umhüllte der Rauch die ganze Umgebung, und alles roch nach gerösteten Rüben. Jetzt konnte man auch die ersten Schüsse hören, aber wer sie auf wen gezielt und abgefeuert hatte, war unmöglich zu bestimmen. Mit hell sirrendem Pfeifen zischte ein Pfeil an Colonel Hesparsyns Ohr vorbei. Der Colonel ritt langsam 104
zu der Stelle hinüber, an der er Lieutenant MacPhearling verlassen hatte, und kam gerade hinzu, als der ein kleines Bündel getrockneter Zweige irgendeiner schwarzen, öligen Pflanze in seine Kohlenpfanne warf. »Außerhalb des Rauchvorhangs selber geschieht nichts«, sagte der Colonel dem Magier. »Das werden sie auch weiterhin glauben«, entgegnete der Lieutenant ihm, ohne aufzublicken. »Der Zauberspruch wirkt nämlich schon seit einer Weile auf die sich gegenüberstehenden Streitkräfte ein. Er wurde so ausgesprochen, daß er – vor allem diejenigen befällt, die sich im Kampfrausch befinden und deren Herzen mit Haß erfüllt sind. Wären wir in die Schlacht miteinbezogen, könnten wir diesen Zauberspruch nicht anwenden. Selbst in dieser Form wird er noch einige Nebenwirkungen auf unsere Truppen haben. Aber zumindest sind sie gewarnt worden und wissen, was sie erwartet.« Irgendwo in der Ferne zur Rechten des Colonels schrie jemand: ein hoher, unerwartet schriller Schrei. Es war kein Kampfschrei, sondern ein Schrei der Angst. »Ich glaube, es beginnt zu wirken«, sagte der Lieutenant und nickte befriedigt. »Würden sich die beiden Gruppen nicht gegenseitig hassen, dann hätte so ein Wanderhexer, wie ich es bin, den Zauberspruch nie zur Anwendung bringen können. Wären wir auf irgendeiner Seite beteiligt, könnte selbst der größte Meisterzauberer des Reichs nichts ausrichten.« Nun wurden Gewehre ziellos abgefeuert. Inmitten seltsamer, unkriegerischer Rufe und Schreckensschreie brach das Feuer stürmisch aus allen Richtungen hervor. Hört sich für mich wie Dumberly-FitzHughs an, dachte der Colonel. Seine Gnaden d’Arc wird darüber nicht sehr erfreut sein. Irgend etwas erschien am Rande seines Blickfeldes, verschwand aber wieder, als er sich 105
umwendete, um es anzuschauen. Obwohl er es nicht klar gesehen hatte, wußte er, daß es etwas Schreckliches gewesen war. Es hat angefangen, dachte er. Copliquetle der Unbesiegbare, Erster Krieger der Nördlichen Puma von den Aztekenhorden, kroch mit angezogenen Knien auf dem Boden umher. Mit der linken Hand hielt er seinen Schild schützend über den Kopf, während er mit der rechten unablässig mit einem Speer in dem Nebel über sich stocherte, wobei er die Worte des Zauberspruchs murmelte, den seine Mutter ihm einmal beigebracht hatte, um das Böse abzuwenden. Überall um sich herum sah er die Schädel von toten Kriegern; die huschten grinsend und schwatzend von einer Seite zur anderen, starrten ihn an und lachten ihn aus. Sie flüsterten ihm zu und forderten ihn heraus, Tlachtli zu spielen. Und sie teilten ihm mit, daß er dabei als Ball dienen würde. »Ich habe keine Angst!« schrie er sie an. »Ein Pumakrieger kennt keine Furcht! Kommt, schlüpft in eure Körper und kämpft mit mir! Ich kann nicht mit blanken Schädeln kämpfen!« Einer der Schädel schoß auf ihn zu, bis er direkt vor seinem Gesicht stand – Auge in Augenhöhle sozusagen. »Du sollst voller Angst weiterleben«, flüsterte der Schädel. »Wenn du tot bist, kannst du nicht mehr behaupten, daß du keine Angst hast. Das ist doch offensichtlich. Durchbohre mich mit deinem Speer, o Krieger, stoße ihn in meine leere Augenhöhle, denn ich bin du, bin du, bin du …« Copliquetle schrie. Etwas bewegte sich in dem weißen Nebel. Weiser Fuchs, der Kriegschef des Catahaw-Stammes, bemerkte am Rande seines Blickwinkels eine Bewegung. Er senkte seinen Bogen, der in dem Nebel ohnehin nicht zu 106
gebrauchen war, und löste seine Kriegsaxt. Da war es wieder. Er drehte sich herum, um der Bedrohung entgegenzutreten. Zuerst sah er nichts, obwohl er spüren konnte, daß etwas da war. Und dann … Es war etwas Großes, riesiger als ein Baum. Eine formlose schwarze Masse, die aus dem Nebel quoll. Nein, nicht gänzlich schwarz, sie war leer. Eine große, sich grotesk windende Masse von etwas, das nicht da war. Weiser Fuchs hob sein Kriegsbeil bis in Kopfhöhe und versuchte den Schlachtruf der Catahaw auszustoßen, aber das Innere seines Mundes war staubtrocken, und die Worte blieben ihm im Hals stecken. Das formlose schwarze Ding näherte sich. Im Inneren konnte er verschiedenartige Lichter, Farben, Formen und Wesen sehen, die vor- und zurückschnellten und ihn anstarrten, wenn sie vorbeiflogen. Die Schwärze umschloß ihn. Er fand sich auf einer konturenlosen Ebene wieder, die sich in alle Richtungen in unnatürlichen und ständig wechselnden Winkeln erstreckte. Eine nackte Frau mit großen Brüsten und dem Kopf einer Schlange zischte ihn an. Dann fiel sie plötzlich zur Seite. Sie fiel nach rechts, als wenn diese Richtung auf einmal unten wäre. Ein großer Wapitihirsch kam auf ihn zu, und dann noch einer und ein dritter. Sie schlugen mit den Hinterläufen aus, während sie über seinem Kopf dahinzogen. Ihre Körper waren von der Brust bis zum Bauch aufgeschlitzt, und ihre Eingeweide schleiften auf dem Boden, aber immer noch konnten sie springen. Der Untergrund öffnete sich unter ihm, und eine Hand langte heraus und tastete nach seinen Füßen. Mit einem Schrei des Erschreckens sprang er zur Seite. Der weiße Rauch verzog sich schnell. Colonel 107
Hesparsyn gab Captain Flagg ein Signal. Der schob seinen mächtigen Körper aus einer Gruppe handverlesener Männer und rannte zurück zu den Linien des aztekischen Lagers. Die aztekischen Krieger waren immer noch am selben Ort, aber sie bemerkten die sich nähernde anglofranzösische Einheit nicht. Jeder von ihnen schien seinen eigenen Privatkrieg zu führen. Einige standen steif und intonierten ein unartikuliertes Kriegsgeschrei. Sie stießen mit ihren Speeren nach unsichtbaren Gegnern. Anderen wanden sich auf dem Boden im Griff irgendeiner Wahnvorstellung. Den Zauberpriestern schien es am schlimmsten zu ergehen: Manche von ihnen sahen wie eingefroren aus und starrten auf irgendeinen unvorstellbaren Schrecken. Mehrere wurden von unsichtbaren Dämonen verfolgt, rannten unaufhörlich in kleinen Kreisen umher und schrien sinnlose Worte, bis sie vor Erschöpfung zusammenbrachen. Captain Flaggs Männer erreichten die hinteren Linien der Azteken, wo die Plattform mit der Ewigen Flamme stand. Die zwölf Sklaven der Flamme saßen an den Ecken der Plattform auf dem Boden und beobachteten verwundert, wie ihre aztekischen Herren mit unsichtbaren Feinden kämpften. Die Legionäre scheuchten die Sklaven hoch und machten deutlich, daß sie die Plattform anheben sollten. Captain Flagg benutzte dabei die wenigen Worte PidginNahuatl, die erkannte. »Kommt, Bewegung!« rief er. »Schnell, schnell!« Gleichmütig hoben die Sklaven die Plattform hoch und trotteten über das chaotische Schlachtfeld. Die fremdartige und erschreckende Szenerie um sie herum schien sie nicht zu berühren. Es war nicht ihre Angelegenheit, sich zu wundern oder sich über die Welt ringsum Gedanken zu 108
machen. Für sie gab es nur Hochheben und Tragen, Haferschleim essen und Schlafen, wenn sich dazu die Gelegenheit ergab, und vielleicht dem Gott dafür zu danken, der über die Sklaven wachte – falls es einen solchen geben sollte –, daß ihre Herren fast keine Menschenopfer mehr darbrachten. Colonel Hesparsyn wies seine Kompanie durch Zeichen an, sich aufzustellen, während Lieutenant MacPhearling die magischen Instrumente abbaute. Um ihn herum lag das sicherlich fremdartigste Schlachtfeld, das er in siebenundzwanzig Jahren Dienst bei der Legion jemals gesehen hatte. Auf engstem Raum waren Hunderte von Männern verstreut, die entweder wild kämpften, vor Erschöpfung zusammengebrochen waren oder in erbärmlichen Abwehrhaltungen auf dem Boden kauerten. Und nirgends war irgendein Feind zu sehen. Jeder der Männer blickte in seine eigene private Hölle, kämpfte gegen seine tiefsten Ängste, ohne auf Freund oder Feind zu achten. »Das habt Ihr gut gemacht«, lobte der Colonel seinen Offiziershexer. »Letztendlich habt Ihr viele Leben gerettet. Wie lange wird die Wirkung dieses Zauberspruchs andauern?« Lieutenant MacPhearling schloß seine Satteltasche und sicherte sie. »Schwer zu sagen, Sir«, sagte er. »Der Zauberspruch wird beeinflußt von der – ich würde es Psyche nennen – der Individuen, denen er widerfährt. Die meisten unserer Leute haben, weil sie nicht direkt betroffen waren, nur einen kleinen Hauch davon abbekommen, und der ist jetzt schon verweht. Für diese anderen« – dabei deutete er mit seiner Hand auf das Schlachtfeld vor ihm – »kann es einige Stunden oder vielleicht noch länger dauern.« »Bis dahin sollte Lord Chiklquetl bei uns und damit 109
auch bei seiner kostbaren Ewigen Flamme angekommen sein«, sagte der Colonel. »Da wir die Flammenplattform hier bei uns haben, wird er nicht dazu kommen, die hiesigen Stämme anzugreifen.« »Wenn er herausbekommt, was passiert ist, und das wird er tun, könnte er sich dazu entschließen, gegen uns anzugehen«, sagte Lieutenant MacPhearling. »Wäre das nicht ein schöner Schlamassel?« fragte Colonel Hesparsyn, während er der B-Kompanie mit dem Arm das Zeichen zum Abrücken gab. »Nein, das wird er nicht tun, Lieutenant. Nicht nach dieser Vorstellung von Magie, die Ihr ihm gerade gegeben habt.« »Aber wir können es nicht gegen ihn verwenden, wenn er uns angreift«, protestierte Lieutenant MacPhearling. »Es wird nicht funktionieren, wenn wir in einen Kampf verwickelt sind.« »Das mag ja sein, Lieutenant«, erwiderte der Colonel, »aber er weiß das nicht.«
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7 Eine Reihe von Wachsoldaten in grünen Mänteln nahm Haltung an und salutierte, als der Kutter am Pier anlegte. Einer von ihnen fing die Leine, die ihm zugeworfen wurde, und wachte das Boot fest. Der kommandierende Hauptmann, der für die Wache verantwortlich war, trat hinaus aufs Dock. Mit zerfurchter, gutmütiger Miene und sorgfältig gestutztem Bart erschien er neben dem Schiff, um sich eine Übersicht über die Menschen an Bord zu verschaffen. »Ist einer der Herren Lord Darcy?« rief er. »Das bin ich.« Lord Darcy sprang behende vom schwankenden Kutter auf den Pier und verhielt kurz, um die gigantische Pyramide anzusehen, welche die Insel beherrschte. Dann drehte er sich zu dem Wachmann um. »Was kann ich für Euch tun, Hauptmann?« »Gar nichts, Eure Lordschaft«, sagte der Wachhabende, wobei er eine Hand an den Rand seiner Uniformmütze legte. »Hauptmann Karlus, von der Herzoglichen Garde, zu Euren Diensten. Wir wurden angewiesen, Euch zu empfangen und niemanden außer Eurer Lordschaft selbst und seiner Begleitung auf die Insel zu lassen.« »Sehr gut, Hauptmann Karlus«, sagte Lord Darcy. »Erlaubt, daß ich meine Begleitung vorstelle: Master Scan O Lochlainn, Vater Adamsus und Master Lord John Quetzel. Ich bin hier in der Funktion als Herzog Charles’ Sonderermittler, und dieses sind meine Assistenten. Wir sind auf Weisung des Herzogs gekommen, um das Vergehen eines Mordes zu untersuchen, das hier begangen wurde.« »Sehr wohl, Eure Lordschaft«, stieß der Hauptmann hervor, trat zurück und grüßte Lord Darcy militärisch. 111
»Wenn wir Euch irgendwie behilflich sein können, laßt es mich wissen.« Die Wichtigkeit der Tradition wurde im AngloFranzösischen Reich nicht unterschätzt. Von der Herzoglichen Garde wurde erwartet, daß sie einem Herzoglichen Ermittler selbstverständlich jede Unterstützung gewähren würde – doch nicht ehe die Garde offiziell darüber informiert war, daß der Mann ein Ermittler und gegenwärtig mit der Untersuchung eines Verbrechens beauftragt war. Lord Darcys offizieller Titel eines Oberermittlungsrichters am Adelsgerichtshof erforderte mehr als das übliche Entgegenkommen, doch nicht die geringste Unterstützung eines Wachmanns im Dienst, es sei denn, es wurde in einem Verbrechen ermittelt. Wenn ein Ermittler nicht aktiv im Dienst war, hatte er Anspruch auf die volle Achtung seines Ranges, aber nicht auf die seines Titels. Nur während er in einem Verbrechen ermittelte, sprach ein Herzoglicher oder Königlicher Ermittler mit der vollen Macht und Autorität des Herzogs oder Königs. Diese Bestimmungen konnten im Handbuch der Garde nachgeschlagen oder aus anderen Bestimmungen abgeleitet werden, aber sie waren nur das Resultat eines seit ewigen Zeiten anerkannten Verhaltenskodexes. Ihre Macht ergab sich nicht aus irgendwelchen parlamentarischen Gesetzen oder königlichen Ordern, sondern aus einer jahrhundertealten Tradition, die von einer Bedeutung und Macht war, die stärker als jedes Gesetz wirkte. »Wie viele Männer habt Ihr auf der Insel, Hauptmann?« fragte Lord Darcy. »Sechsundzwanzig, My Lord. Achtundzwanzig, wenn ich mich selbst und meinen Sergeanten mitzähle. Ich habe zwölf Mann an der Küstenlinie postiert, sechs gehen 112
Streife und acht stehen in Reserve.« »Habt Ihr irgendwelche Unannehmlichkeiten gehabt, Hauptmann?« »Nicht die Spur, My Lord.« »Sehr gut. Macht weiter so. Ich gehe davon aus, daß für Eure Ablösung gesorgt wird.« »Ja, My Lord.« »Wenn irgend etwas passieren sollte, egal wie unbedeutend, sorgt bitte dafür, daß ich sofort unterrichtet werde, Hauptmann Karlus. Ich verlasse mich auf Euch.« »Keine Sorge, My Lord«, versicherte ihm der furchengesichtige Hauptmann. »Es wird nichts geschehen, solange ich und meine Jungs hier sind.« »Gut. Falls aber doch irgend etwas geschehen sollte, unterrichtet mich.« »Das werde ich, My Lord.« »Sehr gut.« Lord Darcy wandte sich an seine Begleiter. »Nun, Lords und Masters. Sollten wir nicht die Pyramide erklimmen und nachschauen, was uns erwartet?« Die Vier stiegen die hölzernen Stufen von der Pier hinauf und begannen, zu den Zwillingstempeln auf der uralten Pyramide hochzuklettern. »Ich sehe oder – ich sollte besser sagen – fühle, daß Ihr den Rückweisungsbannspruch für die Pyramide nicht wieder erneuert habt«, bemerkte Lord Darcy zu Lord John Quetzal, als sie ungefähr ein Drittel des Weges zur Spitze der massiven Steinkonstruktionen hinter sich gebracht hatten. »Das ist wahr, My Lord«, entgegnete Lord John. »Die Wachmannschaft wurde sofort hierher geschickt, und er hätte die Dinge für sie extrem unangenehm gemacht. Der 113
ursprüngliche Bannspruch hätte das nicht getan, aber ich gestehe, ich war mir nicht sicher, wie ich ihn auszuführen hatte.« »Und wieso das, Lord John?« fragte Master Scan. »Der ursprüngliche Bann, den ich entfernte, als Vater Adamsus, Graf de Maisvin und ich hier eintrafen, war sorgfältig auf den Grund des Besuchs abgestimmt. Keiner, der mit einem rechtschaffenden Grund zu Besuch kam, hätte seine Wirkung gespürt.« »Das ist eine sehr umfassende und schwierige Arbeit – sozusagen Fenster in einen Bann wie diesen einzufügen«, bemerkte Master Sean. »Warum sollte sich jemand diesen Ärger aufhalsen?« »Und warum habt Ihr und Vater Adamsus dann seine Auswirkungen gespürt?« fragte Lord Darcy. »Ich kann Master Seans Frage nicht beantworten«, erwiderte Lord John. »Wir müßten die herzoglichen Aufzeichnungen durchsehen, um denjenigen zu ermitteln, der diesen Bann ausgesprochen hat.« »Und selbst dort mag es nicht erwähnt sein«, fügte Master Sean hinzu. »Es könnte ebensogut eine bloße Laune des Hexers gewesen sein, meint Ihr nicht, meine Herren?« »So ist es«, stimmte Lord John zu. Lord Darcy hielt für eine Sekunde inne und schaute erst hinunter, um zu sehen, wie weit sie schon gekommen waren, und dann hinauf, um festzustellen, wieviel sie noch vor sich hatten. »Das ist aber eine ziemliche Klettertour«, fügte er hinzu. »Ich habe gar nicht gewußt, daß diese Dinger so steil sind.« Vater Adamsus setzte sich auf eine Stufe und wischte sich die Stirn mit einem großen, weißen Taschentuch, das 114
er aus seinem Umhang zog. »Ich glaube, ich kann Eure Frage beantworten, Lord Darcy«, entgegnete er leicht prustend von der Anstrengung des Aufstiegs. »Wir spürten die Wirkung des Rückweisungsbannspruchs, weil wir nicht dort waren, um etwas zu erledigen, was der ursprüngliche Schöpfer des Banns als ein legitimes Anliegen bezeichnet hätte. Tatsächlich war es gerade das Gegenteil davon. Wir waren dort, um einen der Tempel wieder zu aktivieren. Natürlich nicht den unheiligen Tempel von Huitzlipochtli, aber ich bezweifle dennoch, daß irgendein Bann so präzise gesetzt werden kann, um so etwas zu unterscheiden.« »Ich verstehe«, erwiderte Lord Darcy und dachte darüber nach, während sie ihren Weg über die hohen und schmalen Stufen fortsetzten. »Dieser Fall hat einige interessante Aspekte. Ich bin gespannt auf … ah! Jetzt sind wir auf dem Gipfel.« Lord Darcy stemmte sich hinauf und hielt inne, um sich umzusehen. »Ein majestätischer Ausblick«, sagte er. »Ich glaube, dies muß der höchste Punkt der ganzen Gegend sein.« »Das ist er auch, My Lord«, stimmte Vater Adamsus zu. Lord Darcy wandte sich ab, um die Fassaden der beiden Tempel zu untersuchen, die sich auf dem massigen Steinhaufen zusammenduckten. Er stellte fest, daß ihre Bauweise ganz und gar nicht harmonisierte. Die beiden waren unterschiedlich in Größe und Gestaltung. Ihre Abmessungen waren verschieden, und ihre baulichen Details stimmten jeder in Form noch Stil überein. Jeder für sich hätte mitten auf der Pyramide beeindruckend ausgesehen. Aber beide zusammen wirkten wie ein überstürzter, schlecht geratener Kompromiß. Die zwei Tempel saßen zusammengepfercht auf der Spitze. Ein Fußweg verlief zwischen ihnen und dem Rand der Pyramide. Seine Breite variierte zwischen acht Fuß an 115
der Frontseite bis zu weniger als vier Fuß auf der Rückseite. Der Tempel des Huitzlipochtli zu Lord Darcys Linken war das bei weitem massigere Gebäude. Obwohl winzig, verglichen mit der Pyramide, auf der er ruhte, thronte er ausladend auf der kleinen Plattform der Spitze. Etwa dreißig Fuß breit und fünfzehn Fuß hoch, hatte er ein spitz zulaufendes Dach, das etwa zehn Fuß zusätzlich an Höhe brachte. Er war umgeben von hüfthohen, kompliziert ornamentierten Steinen, die in einem Abstand von wenigen Fuß in die Mauer eingelassen waren. In zehn Fuß Höhe auf der Außenwand, ganz um das Gebäude herum, verlief ein breiter Fries, der in den Stein gehauen war. Lord Darcy starrte ihn eine Minute lang an, bis er erkannte, daß der Fries aus einer dreifachen Reihe grinsender Schädel bestand. Direkt neben ihm, mit weniger als einem Fuß Abstand zwischen den beiden Wänden, war der kleinere Tempel des Tsaltsaluetol errichtet. Das war der Gott des Feuers, und dort sollte auch die Ewige Flamme wieder entzündet werden. Die Steinmauern dieses Tempels waren mit aztekischer Bilderschrift bedeckt. Sie schienen von rechts nach links in senkrechten Reihen angeordnet zu sein und eine fortlaufende Geschichte zu erzählen. Lord Darcy stellte fest, daß es dort sehr viel weniger Schädel zwischen den Ornamenten gab, die in die Oberfläche gemeißelt waren. Das Dach des Tempels war leicht gewölbt. Der ein Fuß schmale Zwischenraum zwischen den beiden Tempeln war hüfthoch angefüllt mit Schutt und Gebäudetrümmern, gerade so, als ob die Steinmetze sich nicht darum gekümmert hätten, ihre Abfälle von der Pyramide zu schaffen. Es gab Anzeichen dafür, daß der Zwischenraum einmal durch eine dünne Mauer ausgefüllt gewesen war. Doch war sie im Laufe der Jahrhunderte 116
zerbröckelt. Die großen hölzernen Eingangstore beider Tempel standen weit offen. Lord Darcy ging hinüber zum Tor auf der rechten Seite, also zum Tempel des Tsaltsaluetol, und spähte hinein. Das Innere bestand aus einem annähernd quadratischen Raum, der durch eine Reihe von waagerechten Schlitzen beleuchtet wurde, die dicht unter dem Dach in die Wände eingelassen waren. Außer einer sehr kleinen Hintertür, welche ebenfalls offen stand, war der Raum ohne Möbel oder sonstige Ausstattung. »Dies ist der Tempel des Tsaltsaluetol, des Feuergottes, nicht wahr?« fragte Lord Darcy. »Tsaltsatuetol«, verbesserte Master Lord John Lord Darcys Aussprache. »Ja, das ist er.« »An welcher Stelle soll die Ewige Flamme aufgestellt werden, sobald sie eintrifft?« fragte Lord Darcy. »Es gibt hier keinen Altar oder Feuerplatz.« »Der Hohepriester, Lord Chiklquetl, bringt den Altar noch«, informierte ihn Lord John. »Als der Tempel vor dreihundert Jahren aufgegeben wurde, nahmen die Priester die Ewige Flamme mit. Jetzt wird sie zurückgebracht.« »Ach so«, sagte Lord Darcy. Er betrat den Tempel und sah sich neugierig zwischen den kahlen Wänden um. »Der ermordete Mann befindet sich im anderen Tempel, My Lord«, erläuterte Vater Adamsus. Es erstaunte ihn nicht, daß er sich nicht überwinden konnte, den Namen des Gottes zu nennen, dem das Gebäude nebenan geweiht war; auf jeden Fall nicht, solange er sich so dicht neben dem Tempel des abwesenden Gottes befand. »Ich weiß, Vater«, bestätigte Lord Darcy. »Deshalb bin ich auch in diesem Tempel.« »Oh«, sagte der ehrwürdige Vater verblüfft. 117
»Diese Türen sind noch nicht lange geöffnet«, bemerkte Lord Darcy. »So ist es, My Lord«, bestätigte Lord John. »Die Türen zu diesem Tempel wurden wenige Tage, bevor wir eintrafen, geöffnet, um den, äh, Tempel nebenan zu reinigen. Vor drei Tagen, glaube ich.« »Durch jemanden, der zweifellos einen berechtigten Grund hatte«, sagte Lord Darcy lächelnd. »Sonst hätte er die Wirkung des äußerst sorgfältigen, jahrhundertealten Rückweisungsbannspruchs erleiden müssen.« »Prinz Ixequatle«, flüsterte Lord John verhalten. Lord Darcy drehte sich um und sah ihn an. »Der junge Mann, dessen Körper nebenan liegt?« »So ist es.« »Was hat er dort gemacht?« fragte Lord Darcy. »War er allein?« »Er kam hierher, um herauszufinden, welche Vorbereitungen erforderlich waren, bevor der Tempel des Tsaltsaluetol wieder geweiht werden und das Heilige Feuer aufnehmen konnte«, erklärte ihm Lord John. »Ich nehme an, daß er allein war.« »Faszinierend!« sagte Lord Darcy. »Ohne Zweifel kam er mit einem Kutter, und die Mannschaft wartete unten. Wir müssen die Seeleute ausfindig machen und mit ihnen sprechen. Ich vermute, er konnte den Tempel des Huitzlipochtli seinerzeit nicht betreten.« Vater Adamsus merkte, daß er zurückfuhr, als der uralte Name ausgesprochen wurde. Ich muß aufpassen, dachte er. Entweder werde ich überempfindlich, oder es gibt etwas an diesem Ort, das ich als Sensitiver fühlen kann. Ich sollte besser herausfinden, was es ist. »Es gab keine Möglichkeit für ihn, diese Türen zu 118
öffnen, My Lord«, sagte Lord John. »Der Verschlußbann war nicht gebrochen, und auf keinen Fall hatte er die Schlüsselformel dazu.« »Ihr habt selbstverständlich die Möglichkeit einer Entstofflichung überprüft?« erkundigte sich Master Sean. »Um die Wahrheit zu sagen, nein, das habe ich nicht«, gab Lord John ziemlich verlegen zu. »Aber da Prinz Ixequatle selbst kein Zauberer war, schien mir das sehr unwahrscheinlich zu sein.« »Ist es auch, ist es auch«, versicherte Master Sean dem jungen Hexenmeister. »Aber trotzdem werden wir das überprüfen. Bevor wir nicht die Schlacke des Unwahrscheinlichen beseitigt haben, können wir nicht das verbleibende goldene Korn der Wahrheit finden, wie My Lord Darcy uns immer wieder zu erinnern beliebt.« »Ich nehme an, deshalb ist dieser Raum so sauber«, folgerte Lord Darcy. »Ich hatte erwartet, den Staub von Jahrhunderten hier vorzufinden, aber der Prinz muß ihn hinausgefegt haben.« Er sah jeden seiner Begleiter für eine Sekunde aufmerksam an, als ob er eine Reaktion erwarten würde. Als dies nicht geschah, fuhr er mit seiner sorgfältigen Untersuchung fort. Er verwendete weitere zehn Minuten darauf, sich systematisch in dem kleinen Raum umzusehen. Dabei suchte er die schattigen Ecken mit Hilfe einer Taschenlaterne und eines Vergrößerungsglases ab, das er aus einer Innentasche seines Umhangs hervorholte. Dann stand er auf und begutachtete den gesamten Raum, indem er sich langsam auf seinen Fersen herumdrehte, um sich einen vollkommenen Überblick zu verschaffen. »Faszinierend«, sagte er. Die anderen sahen sich verständnislos in dem leeren Raum um. 119
»Was gibt es hier, was Ihr faszinierend findet, My Lord?« fragte Master Sean. »Es ist genau das, was nicht hier ist, Master Sean«, erklärte ihm Lord Darcy. »Es ist der fehlende Staub, der mich fasziniert. Seht Ihr, meine Herren, es gibt soviel davon.« Vater Adamsus rieb seine Hände aneinander. »Mit Sicherheit haben wir hier ein Scherzrätsel«, schmunzelte er. »Ihr betont uns gegenüber die Anwesenheit der Abwesenheit von Staub, My Lord. Und dennoch habt Ihr selbst vor wenigen Minuten eine Erklärung angeboten, als Ihr vorschlugt, der arme, unglückliche Bursche, dessen Leichnam uns nebenan erwartet, den Raum selbst ausgefegt haben muß, nachdem er ihn geöffnet hatte.« Lord Darcy wandte sich an den Exorzisten. »Ach, kommt bitte, Vater«, sagte er, »könnt Ihr Euch ernsthaft einen jungen Aztekenprinzen vorstellen, der einen Besen hier heraufschleppt und ihn dann auch noch benutzt? Ich finde diese Idee höchst unwahrscheinlich und nicht mit meiner Vorstellung von Jugend oder Adel vereinbar.« »Nun gut«, gab ihm Vater Adamsus recht, wobei er seine Fingerspitze auf die Unterlippe legte, »wenn Ihr es so seht …« Lord Darcy wandte sich an Master Sean. »Gibt es irgendeinen Bannspruch oder Zauber oder einen anderen Weg, der den Staub zurückruft, der diesen Boden vorher bedeckt hat – sagen wir, so, wie er vor einer Woche war?« Master Sean sann eine Minute lang darüber nach, bevor er den Kopf schüttelte. »Ich fürchte, nein, My Lord«, entgegnete er. »Es gibt dafür keinen Kausalnexus, müßt Ihr wissen. Für den Staub spielt es keine Rolle, wo er liegt – hier oder sonstwo. Er war niemals mit diesem Raum verbunden oder befestigt.« 120
»Das habe ich befürchtet«, sagte Lord Darcy. »Aber ich nehme an, man kann keine Wunder erwarten. Kommt, laßt uns nach nebenan gehen und den Schauplatz des Verbrechens untersuchen.« Der Tempel des Huitzlipochtli befand sich noch genau im selben Zustand wie in der vergangenen Woche, also so, wie er die letzten fünf Jahrhunderte gewesen war. Drei parallele, waagerechte Schlitze hoch oben in der Südwand ließen die strahlende Nachmittagssonne eindringen. Sie ergoß sich über den uralten Altar, der den Raum beherrschte und neun Fuß lang, drei Fuß tief und vier Fuß hoch maß und aus einem einzigen Block ehemals weißen Granits gemeißelt war. Der geschwungene Altar, befleckt mit dem Blut von Menschenopfern aus vielen Jahrhunderten, duckte sich vor ihnen, brütete sozusagen auf dem uralten Schrecken. So empfanden sie es alle, Vater Adamsus vielleicht stärker als die anderen. Auf dem Stein lag der Körper von Prinz Ixequatle. Er ruhte noch so wie in der letzten Woche. »Was soll mit dem Tempel geschehen?« fragte Lord Darcy. »Ich gehe davon aus, daß er für nichts benutzt wird?« »Bestimmt für nichts Religiöses oder Rituelles, My Lord«, sagte Vater Adamsus. »Ich werde bei Seiner Gnaden darauf bestehen, daß er mit Mörtel und durch die mächtigsten Banne, die ein Hexer der Kirche zuwege bringen kann, versiegelt wird. Und schließlich muß er bis zu den Grundmauern abgerissen und jeder Stein zu Pulver zerrieben und in alle Winde zerstreut werden.« »Ein bißchen viel«, sagte Lord Darcy. »Das Wesen, das hier gehaust hat, kann nicht ernst genug genommen werden«, betonte Vater Adamsus. »Ich habe erfahren, daß Ihr an dem Tag, an dem Ihr den 121
Leichnam entdecktet, kein Exorzismusritual abgehalten habt«, sagte Lord Darcy zu Vater Adamsus. »Ihr kamt zwar hier hoch, um es auszuführen, aber es wurde nie vollbracht.« »Ich, äh, riet ihm ab, My Lord«, sagte Lord John Quetzal. »Und außerdem schlug ich Vater Adamsus vor, dem Verstorbenen nicht die letzte Ölung zu geben. Ich wollte keine Beweismittel zerstören.« »Oh, natürlich, natürlich – Ihr habt recht getan«, erwiderte Lord Darcy. »Ich habe mich nur gefragt, ob dies das sonderbare Gefühl erklären kann, daß mich jener Stein dort beobachtet.« »Ich habe das gleiche Empfinden, My Lord«, bestätigte Vater Adamsus. »Es ist seltsam genug, denn keines der Wesen, welches körperliche oder geistige Übel auch immer in diesem Tempel geherrscht haben mag, ist noch anwesend gewesen. Und ich fühle mit Sicherheit, daß es zahllose, äh, unliebsame Erscheinungen gewesen sein müssen. Der Steinaltar ist völlig frei von jeglicher Bösartigkeit, auch wenn er in Blut gebadet wurde.« »Wirklich?« erkundigte sich Master Sean. »Das ist sehr seltsam, sehr seltsam, wirklich. Könnt Ihr das erklären, Vater?« Vater Adamsus schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht«, sagte er, »es ist mir ein Rätsel.« »Könnte nicht zu einer früheren Zeit bereits ein Exorzismus ausgeführt worden sein?« überlegte Lord Darcy. »Vielleicht vor Jahrhunderten, als der Tempel versiegelt wurde und der Rückweisungsbann zum erstenmal auf die Pyramide gelegt wurde?« »Das wäre möglich, My Lord, zweifelsohne«, entgegnete Vater Adamsus. »Aber es ist nicht geschehen! Wie Ihr wißt, muß jeder Exorzismus vom örtlichen 122
Bischof genehmigt werden, und es gibt keinen Aktenvermerk über eine solche Genehmigung.« »Sehr merkwürdig«, sinnierte Lord Darcy, während er auf die Steine des Tempelbodens blickte, die ebenso mit dem Blut von Jahrhunderten befleckt waren wie der Altar. »Man würde doch die Anwesenheit der Dunklen Macht – wenn ich diesen unpräzisen Ausdruck in der Gegenwart von professionellen Kollegen einmal verwenden darf – an diesem Ort als überwältigend vermuten. Würdet Ihr das bestätigen, Master Sean?« »Ja«, entgegnete Master Sean, »sehr sogar, My Lord. Und Ihr, Vater Adamsus, was meint Ihr? Wart Ihr überrascht von der Abwesenheit feindlicher Wesenheiten, die Ihr Eurem Exorzismus unterwerfen wolltet?« »Master Sean, ich war erstaunt«, sagte der schlanke Priester und legte seine Fingerspitzen vor der Brust zusammen. »Meine einzige frühere Erfahrung mit einer dieser Pyramiden hatte mich anderes erwarten lassen.« »Wir müssen also voraussetzen, daß die Riten eines Exorzismus in diesem Tempel zu irgendeiner Zeit in der Vergangenheit tatsächlich vorgenommen wurden – unabhängig von den Aufzeichnungen der Kathedrale«, sagte Lord Darcy, »da diese Wesen nicht von selbst weggehen, wie ich glaube.« »Bestimmt nicht«, stimmte Vater Adamsus zu. »Sie sind an den Ziegel und den Mörtel gebunden, der bei ihrer Anrufung und Erschaffung benutzt wurde; oder in diesem Fall an den Stein und das Blut. Nur das Heilige Ritual des Exorzismus der Mutter Kirche kann sie von diesem Zwang befreien, dort zu verweilen, wo sie sind. Selbst dann können sie sich unter Umständen dazu entscheiden heimzukehren, wie ich vor einigen Wochen Gelegenheit hatte, es gegenüber dem Bischof zu erwähnen. Deshalb 123
habe ich das starke Gefühl, daß die, äh, Heimstatt entfernt – zerstört – ausgetilgt – werden muß, bevor das Wesen, das hier einst gewohnt hat, sich entscheidet, doch noch zurückzukehren.« »Ich verstehe«, sagt Lord Darcy. »Master Sean, habt Ihr irgend etwas in Eurer Reisetasche, das uns Anhaltspunkte geben könnte, wann der mutmaßliche Exorzismus vorgenommen wurde?« »Ich fürchte nein, My Lord«, sagt Master Sean. »Die Wesen der Zwischenwelt sind genaugenommen nicht die Angelegenheit lizensierter Magier. Einige Arten der Zauberei mögen danach streben, sie zu beherrschen oder zu lenken, aber alle diese Formen fallen in das Reich der Schwarzen Magie.« »Gibt es nicht einige Zauberpriester, die mit diesen Kreaturen umgehen?« fragte Lord Darcy. »Ja«, stimmte Master Sean zu. »Aber nur, um sie zu befragen. Nicht, um sie zu beherrschen oder zu lenken, wenn Ihr versteht, was ich meine.« »Es ist eine eigenartige Sache«, sagte Vater Adamsus, »daß keiner der Priester, der die Gabe des Exorzismus hat, unter den Zauberpriestern ist. Sie können sich zwar mit der Geisterwelt verständigen, aber sie können sie aus irgendeinem Grund nicht bannen.« »Ich denke, das kann ich erklären, Vater«, sagte Lord John mit einem leichten Aufleuchten in seinen schwarzen Augen. »Es ist eine Frage des Glaubens.« »Glaubens?« Vater Adamsus blickte irritiert. »Ja. Seht, meine Herren, bei einem Exorzismus muß man aus ganzem Herzen sagen: ›Hinfort Geister – kommt nie wieder her.‹ Das ist eine der Schlüsselermahnungen, nicht wahr?« 124
»Auf Latein«, ergänzte Vater Adamsus und nickte. »Aus irgendeinem Grund scheinen die Kreaturen der Zwischenwelt auf Latein besser zu reagieren.« »Und man muß es wirklich so meinen«, fügte Lord John hinzu. »Absolut«, stimmte Vater Adamsus bei. »Aber wenn der Zauberpriester dies sagt, so meint es zwar der Priester in ihm, aber der Zauberer in ihm wispert dabei, ›wart mal ’nen Augenblick, es gibt da noch ein paar Fragen, die ich dir stellen möchte‹.« Master Sean kicherte. »Ja, so wird es sein«, stimmte er zu. »Katzen und Zauberer neigen eher dazu, vor Neugierde zu sterben als an etwas anderem.« Lord Darcy suchte mit seiner Lupe in der Hand vornübergebeugt den Raum ab. Er inspizierte den nackten Steinboden und die Wände des alten Tempels mit jener strengen Sorgfalt und Aufmerksamkeit für alle Einzelheiten, die er immer für die unmittelbare Umgebung, in der ein Verbrechen begangen worden war, aufbrachte. »Lord John«, sagt er, »würde es Euch etwas ausmachen zu berichten, welche Schritte Ihr nach der Entdeckung der Leiche unternahmt?« »Erstens schickte ich Lord de Maisvin mit dem Kutter zurück, um die Obrigkeit zu informieren und um einen Chirurgen herbeizurufen«, entgegnete Lord John. »Danach untersuchte ich den Körper und die Umgebung auf irgendwelche physikalischen Einwirkungen. Außer dem Messer mit der Obsidianklinge fand ich fast nichts bei der Leiche. Vater Adamsus war so gut, bei mir zu bleiben und meine Notizen zu bestätigen, von denen nur eine knappe halbe Seite von Wert ist, fürchte ich.« Lord John schüttelte bedauernd den Kopf. »Aha, Ihr könnt schlecht etwas finden, was gar nicht da 125
ist«, sagte Master Sean. »Manchmal ist das eben so.« »Das ist wahr«, stimmte Lord John zu, »aber man kommt nicht umhin, sich zu fragen, ob dies nicht einer jener Augenblicke ist, in dem man etwas übersehen hat, das jemand, der klüger oder erfahrener ist, finden würde. Jedenfalls geht es mir so.« Lord Darcy wandte sich um, um den jungen mechicainischen Gerichtshexer anzublicken. »Ich glaube, diese Frage werdet Ihr Euch während Eures gesamten Berufslebens stellen«, sagte er. »Das gibt Euch den gewissen Biß, der Euch an der Spitze Eurer Zunft halten wird. Wer selbstzufrieden ist, wird nachlässig und unzuverlässig. Ihr seid ein Vorbild Eurer Zunft, My Lord. Wenn Master Sean nicht greifbar wäre, fiele mir niemand ein, den ich bei einer Untersuchung lieber an meiner Seite hätte.« »Ich danke Euch, My Lord«, sagte Lord John. »Was hat denn der Chirurg gesagt?« fragte Lord Darcy. Dabei wandte er sich der Untersuchung des nackten Bodens in der hinteren linken Ecke des Tempels zu. Lord John zog seine breiten Schultern hoch. »Was konnte er über das Offizielle hinaus schon sagen? Prinz Ixequatle wurde einige Stunden früher vermutlich mit dem Knochenmesser mit Obsidianklinge getötet, das bei seinem Körper gefunden wurde. Seine Brust war rituell aufgerissen und das Herz herausgenommen.« »Ja, und dann?« fragte Lord Darcy. »Was habt Ihr getan?« »Ich legte einen Konservierungsspruch auf die Leiche, beließ sie so, wie Ihr sie jetzt vor Euch seht, und ging fort.« Lord John sprach sehr bedacht. »Ich habe nichts weiter getan. Was hätte ich sonst tun können? Ich war vom Herzog nicht autorisiert, eine gerichtliche 126
Untersuchung vorzunehmen, und deshalb habe ich sie auch nicht durchgeführt. Sollte ich mich an dem Körper noch zu schaffen gemacht haben, wird es sich zeigen, wenn Master Sean seine Prüfungen vornimmt. Aber ich versichere Euch, daß ich nichts dergleichen getan habe.« Lord Darcy stand auf und wandte sich Lord John Quetzal zu. Er sah ihn verwundert an. »Was …«, sagte er. »Oh! Natürlich. Ich bitte um Entschuldigung, Lord John, daß ich das nicht früher erklärt habe. Ihr steht in diesem Fall nicht unter Verdacht. Nicht mehr als irgend jemand sonst, der kein nahezu perfektes Alibi hat. Etwa eines, das belegt, daß er sich auf der anderen Seite des Atlantiks befand, als der Mord geschah. Ihr habt mein Wort.« »Lord John unter Verdacht?« fragte Master Sean schnaubend. »Unglaublich!« »Das hat er zumindest gedacht«, sagte Lord Darcy. »Habe ich recht?« Lord John nickte. »Ja«, bestätigte er, »was sollte ich sonst denken? Der einzige Oberste Gerichtshexer in der Stadt, und nicht mit der Untersuchung betraut? Herzog Charles hatte keine Möglichkeit zu wissen, daß Ihr und Master Sean Euch auf der Anreise befandet. Warum sonst sollte er mich ferngehalten haben? Er glaubte, weil der Prinz und ich demselben Volk angehören, könnte ich das Verbrechen begangen haben. Das war zumindest meine Überlegung, als der Herzog bestimmte, daß die Leiche vorläufig unangetastet bleiben sollte.« »Ich kann Euch versichern, mein junger Freund, daß der Herzog mir gegenüber keinen solchen Verdacht geäußert hat, als wir heute morgen diesen Fall besprachen«, bekräftigte Lord Darcy. »Es wurde Herzog Charles zu bedenken gegeben, daß Eure Gegenwart als katholischer Mechicainer die erwartete aztekische Abordnung 127
beleidigen könnte. Ich weiß, daß es eine unverhohlene Feindschaft zwischen diesen beiden Gruppen gibt.« »Das ist wahr«, gab Lord John zu. »Als mein Urgroßvater, der damalige Herzog von Mechicoe, sich mit dem Christentum einließ, erklärte Quachititiquotl, der damalige Kaiser der Azteken, meinen Urgroßvater und alle seine Verwandten für tot und das Herzogtum Mechicoe als wieder verfügbar. Er ernannte einen ›neuen‹ Herzog, dessen Familie den Titel noch heute innehat. Unsere beiden Familien ignorieren einander sehr sorgfältig.« »Wie groß ist denn das Herzogtum Mechicoe?« fragte Master Sean. »Und wie entscheiden die beiden Herzöge, wer über die Anlagen verfügt oder die Einkünfte einstreicht?« »Es ist ein mittelgroßes Stück des nördlichen Zentralgebietes des mechicainischen Arms, oder vielleicht sollte ich es lieber das Bein von Neuengland nennen. Es schließt die Hauptstadt Tenochtitlan ein.« »Ah ja«, sagte Vater Adamsus. »Ich war vor vier Jahren einmal dort. Übrigens hielt ich mich in dem Palast Ihres Vaters auf. Ihr wart in England, um Hexerei zu studieren. Euer Vater war sehr stolz auf Euch.« »Magie ist sehr wichtig in unserer Familie«, sagte Lord John. »Wir erhalten unseren Titel, unseren Palast und wahrscheinlich unser Leben nur aufgrund der Überlegenheit der christlichen Magie über die aztekische. Auf diese Weise wird unser Leben geformt.« »Das kann ich gut glauben«, stimmte Lord Darcy zu. »Ihr müßt Euer Gemüt von dem Gedanken befreien, daß Ihr in diesem Verbrechen unter Verdacht steht. Ich jedenfalls verdächtige Euch nicht und ebensowenig der Herzog. Sein einziges Anliegen war, Euch, einen 128
Mechicainer, der nicht zum regulären Stab der Ermittlungsrichter Seiner Hoheit gehört, in diesen Mordfall nicht hineinzuziehen, um nicht die erwarteten aztekischen Gäste zu beleidigen. Er hatte gehofft, daß Major Sir John DePemmery, sein offizieller Ermittler, und Master Bryce Comrich, sein offizieller Gerichtshexer, rechtzeitig zurückkehren würden, wo immer sie sich aufgehalten haben mochten, um die Ermittlung aufzunehmen. Und statt dessen bekam er mich und Master Sean.« »Aha, My Lord«, sagte Master Sean und sah besorgt drein, »ich hoffe, es wird keine Schwierigkeiten mit der Genehmigung geben, daß Lord John hier als mein Assistent arbeitet?« »Wenn Ihr ihn braucht und er gewillt ist«, sagte Lord Darcy, »sehe ich darin keine Schwierigkeiten. Solange wir mit der Untersuchung betraut sind, können wir jede Unterstützung erhalten, die wir anfordern. Und wie immer gebe ich eine solche Wahl in Eure fähigen Hände, Master Sean.« »Schön, schön«, äußerte sich Master Sean. »Ich erwarte, daß einige ziemlich langwierige und schwierige Prozeduren notwendig sein werden, und dafür wird Sir Johns’ Assistenz unbezahlbar sein. Wie wäre es, wenn Ihr einwilligtet, mir zu helfen, Sir John?« »Ich wäre hocherfreut, Master Sean«, sagte Sir John aufrichtig. »Mit Euch zu arbeiten war mir in der Vergangenheit immer eine lehrreiche Erfahrung, und ich hoffe, daß ich niemals zu alt und zu eingebildet sein werde, um zu lernen.« Lord Darcy ging zu dem uralten Altar hinüber und starrte auf den Leichnam. »Ein junger Mann«, dozierte er, »irgendwo zwischen fünfundzwanzig und dreißig, würde 129
ich schätzen. Haut und Gesichtszüge verraten aztekische Abstammung. Wurde er eindeutig identifiziert?« »So eindeutig wie möglich«, entgegnete Lord John. »Das heißt, ich kann ihn nicht als Prinz Ixequatle identifizieren, da ich dem Prinzen nie in Tenochtitlan begegnet bin. Aber er ist der Mann, der in New Borkum angekommen ist und sich als Prinz Ixequatle ausgegeben hat. Alle seine Diener glaubten von ihm, daß er der Prinz sei.« »Eine feine Sicherheit«, spöttelte Lord Darcy. »Welche Prüfungen möchtet Ihr vorgenommen haben, My Lord?« fragte Master Sean. »Laßt mich überlegen«, sinnierte Lord Darcy. »Was können wir hoffen herauszufinden?« Er wanderte langsam um den Altar herum, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, wobei er den Leichnam von allen Seiten begutachtete. Nur das nervöse Zucken seines Daumens zeigte die unterdrückte Energie hinter seinem passiven Äußeren. »Die Todesursache wäre ein guter Ausgangspunkt«, sagte er. »Ihr meint, außer dem großen, klaffenden Loch in seiner Brust?« fragte Vater Adamsus, wobei er auf die Leiche starrte. Ihm war, als ob die Zeit gerade rückwärts gelaufen wäre und ihn um eine Woche zurückversetzt hätte. Der Konservierungsspruch hatte die Leiche so erhalten, wie sie zurückgelassen worden war, einschließlich des nicht vollständig geronnenen Blutes, das aus dem Körper gelaufen war. Es war noch halbflüssig und hatte die rote Farbe von Leben und strafte die fürchterliche Starre des Körpers Lügen, aus welchem es herausgeflossen war. Lord Darcy wandte sich an Lord John. »Seid Ihr vertraut mit der aztekischen Zeremonie, mit welcher Menschenopfer dargebracht werden?« fragte er. 130
»Sie wurde mir beschrieben«, sagte Lord John gelassen. »Beschreibt sie mir, wenn es Euch nichts ausmacht«, bat Lord Darcy. Vater Adamsus schnappte nach Luft. »My Lord!« entrüstete er sich, »doch nicht hier!« Er wedelte mit den Armen, um auf das Innere der Tempelmauern hinzuweisen. »Das wäre sehr unklug!« »Selbstverständlich«, sagte Lord Darcy. »Entschuldigt mich, Vater. Master Sean, ich würde gern wissen, wie Prinz Ixequatle den Tod fand und auch wo. Ich möchte, daß Ihr den ziemlich aufwendigen Lendenschurz, den er trägt, untersucht …« »Maxtlatl«, sagte Lord John. »Das Kleidungsstück wird Maxtlatl genannt.« »Danke sehr, My Lord«, gab Lord Darcy zurück. »Ich möchte Euch ebenfalls bitten, das Blut um den Körper herum zu untersuchen. Stellt fest, ob es alles von ihm stammt. Mehr fällt mir im Moment nicht ein. Wenn Ihr selbst der Lord John an etwas denkt, was hilfreich sein könnte, so bitte ich Euch, es nur auszusprechen.« »Hmm«, brummte Master Sean, setzte seinen mit Symbolen verzierten Reisesack ab und schaute grüblerisch auf den Schauplatz des Mordes. »Das Gesetz von Synecdoche ist in solchen Fragen hilfreich«, sagte er. »Aber wie wendet man es am besten an? Lord John, vielleicht bemüht Ihr Euch und entfernt den Konservierungsspruch, den Ihr auf den Körper gelegt habt, während ich mal nachsehe, was ich in meinem Beutel hier finde.« Lord Darcy und Vater Adamsus verließen den Tempel, während die beiden Hexer sich auf ihre Arbeit stürzten. »Wie wollt Ihr das angehen?« fragte Vater Adamsus. »Ich meine, den Mörder des armen Kerls zu finden?« 131
»Das hängt davon ab, welche Informationen er über sich hinterlassen hat«, sagte Lord Darcy. »In einigen Fällen, ja, in vielen Fällen tun die Gerichtshexer meine Arbeit für mich. Wenn Master Sean mir empfiehlt, nach einem großen, braunhaarigen Mann Mitte vierzig von burgundischer Herkunft, mit einer Narbe an seinem rechten Arm zu suchen, dessen Vorname Guilian ist, dann kann ich den Fall einfach an die Wachen übergeben. Es gibt Fälle, wo Master Sean in der Lage ist, die genaue Identität des Mörders zu nennen, und wie Ihr wißt, ist der Bericht eines lizensierten Gerichtshexers als Beweismittel in Kriminalfällen anerkannt.« »Und in diesem Fall?« fragte Vater Adamsus unsicher. Lord Darcy schüttelte seinen Kopf. »Ich glaube, dieses Mal wird es nicht so sein«, sagte er. »Ich werde verdammt noch mal dankbar sein – entschuldigt meine Sprache, Vater – für alles, was Master Sean und Lord John herausfinden können, aber ich bezweifle, daß es so einfach sein wird.« Ein leichter Weihrauchgeruch wallte aus der offenen Tempeltür. Das Gemurmel lateinischer Sprüche, vorgetragen mit einem starken keltischen Akzent, war zu hören. »Gut«, fügte Lord Darcy hinzu, »wir werden es bald wissen.«
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8 Charles, der Herzog von Are, war nicht erfreut. Und wenn der Herzog von Are nicht erfreut war, hatten die Menschen, die sich dann in seiner Nähe befanden, für gewöhnlich wenig Grund zum Lachen. »Drei Tage, My Lord Darcy«, verkündete er mit seiner hohen, prägnanten Stimme. Er saß in einem Stuhl aus massiver Eiche hinter dem übergroßen Schreibtisch. Er beugte sich vor, während er mit dem Zeigefinger auf den Tisch klopfte: »Drei Tage seid Ihr nun schon hier; Ihr und Euer Hexenmeister O Lochlainn. Ihr stöbert überall herum, fahrt da- und dorthin, aber habt nichts vorzuweisen. Nichts! Wir hätten genausogut den jungen Mechicainer damit beauftragen können.« Seine Gnaden von Are war beunruhigt, denn er hatte Sorgen, und es lag außerhalb seiner Macht, diese zu beseitigen. Er hatte viel riskiert und dabei ein Staatsgeheimnis aufs Spiel gesetzt, um nach Lord Darcy zu schicken. Das Wenigste, was Lord Darcy hätte tun können, war, dieses Verbrechen innerhalb kürzester Zeit aufzuklären. Immerhin galt Lord Darcy als ein Meister seines Fachs. Lord Darcy erfaßte die Situation und verneigte sich schweigend vor dem Herzog. Sein Gesicht verriet keinerlei Gefühlsregung. Es war manchmal ein Hindernis, den Ruf zu haben, ein nahezu hellsichtiger Jäger von Gaunern und Schurken zu sein. Er kam sich vor wie ein Hofnarr, der ständig bedrängt wurde, komisch zu sein. »Nun?« fragte Seine Gnaden gereizt. »Setzt Euch, My Lord, und berichtet uns. Die Ankunft der aztekischen Gesandtschaft ist schon wieder um drei Tage 133
nähergerückt, eigentlich sind die Azteken schon längst überfällig. Wir wünschen nicht, daß der Mord an einem Aztekenprinzen immer noch unaufgeklärt ist, wenn sie hier eintreffen.« »Ich verstehe, Euer Gnaden«, sagte Lord Darcy, während er dem Herzog gegenüber Platz nahm. »Ihr müßt jedoch verstehen, daß das Aufklären eines Verbrechens sich nicht planen läßt wie der Ablauf einer Parade. Es ist eher so, als fische man im Trüben: Man wirft immer wieder ohne Erfolg die Netze aus und hat keine Möglichkeit, schneller voranzukommen.« »Aber ein Teich kann auch trockengelegt werden, My Lord«, erwiderte der Herzog, der sich in seinen Stuhl zurücklehnte, ohne seinen bohrenden Blick von Lord Darcy zu wenden. Lord Darcy hob eine Augenbraue. »Ah, Ihr habt mich mit meinen eigenen Waffen geschlagen, Euer Gnaden«, entgegnete er, »vorausgesetzt, daß ›der Teich trockengelegt werden kann‹. Die Notwendigkeit zur Eile erkenne ich durchaus an. Aber bedenkt, ich tue, was ich kann. Ich habe zwanzig Geheimpolizisten abkommandiert, die bei der Befragung der Diener und Freunde von Prinz Ixequatle helfen und herausfinden sollen, wo er sich seit seiner Ankunft überall aufgehalten hat. Ich würde noch mehr Männer einsetzen, wenn ich eine sinnvolle Verwendung für sie hätte.« »Glaubt Ihr, daß die Lösung dort verborgen liegt?« fragte der Herzog. Sein Zorn verflog, er war jetzt bereit zuzuhören. Lord Darcy wußte, daß Seine Gnaden, abgesehen von einigen gelegentlichen launischen Zornesausbrüchen, ein hervorragender Administrator auf einem schwierigen Posten war: Gouverneur des größten, neuesten und wildesten Gebietes des Reiches. 134
»Ich weiß es wirklich nicht, Euer Gnaden. Es scheint logisch. Normalerweise müßte es eine Begegnung mit jemandem gegeben haben, aus der sich ein Motiv für den Mord ablesen ließe. Wir suchen nach einer solchen Begegnung.« »Meint Ihr, daß es ein Ritualmord gewesen sein könnte?« fragte der Herzog. »Das jedenfalls glaubt de Maisvin. Seiner Meinung nach könnte es ein fanatischer Azteke, der in Nova Eboracum lebt, oder jemand aus dem Gefolge des Prinzen gewesen sein. Es war bei denen nicht ungewöhnlich, laut de Maisvin, daß sie zumindest früher Angehörige ihres eigenen Königshauses geopfert haben. Über diese aztekische Tradition hat er weitgehende Nachforschungen angestellt.« »Was für eine Art Mann ist der Graf de Maisvin?« erkundigte sich Lord Darcy. »Und überhaupt, was tat er eigentlich dort draußen mit Vater Adamsus und Lord John Quetzal?« »Ihr meint wohl, er sei überflüssig gewesen, nicht wahr?« fragte der Herzog. »Nun, das wäre dann unser Fehler, Lord Darcy, denn wir haben ihn geschickt. In der Tat setzten wir den Grafen als unseren persönlichen Bevollmächtigten und Stellvertreter ein. Wenn wir etwas nicht selbst in Augenschein nehmen können, schicken wir de Maisvin. Natürlich nur, wenn es keine Staatsangelegenheiten betrifft. Nun zurück zu der Frage, zu welcher Sorte von Männern der Graf gehört: Er ist hochintelligent und absolut loyal.« Herzog Charles musterte Lord Darcy einen Moment lang. »Ihr haltet ihn wohl für einen der Verdächtigen, nicht wahr? Gut, das ist verständlich. Aber bedenkt, alle unsere Offiziere, also auch de Maisvin, mußten einen sie bindenden Treueeid schwören: ›Ich werde, so wahr mir Gott helfe, getreulich die Befehle meines Herrschers 135
befolgen, die er selbst in eigener Person, durch seine Lehnsherren oder durch seine Adjutanten gibt. Ich werde seine Interessen stets bei allen meinen Handlungen an die oberste Stelle setzen. Das schwöre ich mit meinem ganzen Herzen, und so sei es.‹ Natürlich glauben wir nicht, daß dieser Eid tatsächlich einen von ihnen abhielte, einen Mord zu begehen, gesetzt den Fall, das Reich wird nicht darin verwickelt, oder wenn der Betreffende glaubt, daß es zum Wohle des Reiches geschehe. Aber ein Mord, der den Interessen Seiner Majestät schadet, ist durch diesen magischen Eid völlig unmöglich. Das würde ihnen wahrscheinlich den Verstand rauben oder ähnliches bewirken, wie uns unser persönlicher Zauberer, Master Poul Hosmer, versicherte.« Lord Darcy registrierte, daß auch Herzog Charles einen solchen Verdacht gehegt hatte. Ansonsten hätte er sich nicht bei Master Poul erkundigt. »Gut, Euer Gnaden«, sagte er gleichmütig. »Was wäre, wenn der Mörder aus den Reihen Eurer eigenen Offiziere stammte, und er davon überzeugt wäre, daß das, was er tat, zum Wohle des Reichs geschah?« Der Herzog von Are dachte einen Augenblick darüber nach. »Ihr entwickelt die merkwürdigsten Theorien«, entgegnete er. »Was den Grafen de Maisvin betrifft, so war es unsere Idee. Er wollte nicht mit Vater Adamsus und Lord John auf die Pyramideninsel gehen. Wir wollten damit sicherstellen, daß alles richtig ausgeführt wird. In diesem Fall, das geben wir zu, eine etwas übertriebene Vorsicht. Denn weder wir noch de Maisvin könnten sagen, ob ein Zauberer oder ein Exorzist etwas falsch gemacht hat. Ihre Hoheit, unsere herzogliche Gemahlin, hält uns auch für etwas zu vorsichtig. Vielleicht hat sie damit recht.« »Es ist stets besser, übervorsichtig zu sein denn allzu 136
gleichgültig, Euer Gnaden«, unterstützte ihn Lord Darcy. i »Ja, ja«, pflichtete der Herzog bei. »Das sagen wir auch immer. De Maisvin ist tatsächlich ein Mann, der beeindruckt, wißt Ihr. Was auch immer ihm aufgetragen wird zu tun, gelingt ihm auch. Wir sind froh, ihn zu haben. Bedenkt, er trägt eine Handfeuerwaffe, eine.40 MacGregor, die ihm von Seiner Majestät übergeben wurde. Wir vermuten, daß auch Ihr eine habt, nicht wahr, My Lord?« »Ja, in der Tat, das habe ich«, bestätigte Lord Darcy. »Ein spezielles Kaliber und eine Sonderanfertigung, die von Mac-Gregor auf Anordnung Seiner Majestät des Königs hergestellt wurde. Ich bin sehr stolz, sie zu tragen.« »Jedenfalls schätzen wir uns glücklich, Euch beide bei uns zu haben«, sagte Herzog Charles. »Und vertrauen darauf, daß einer von Euch dieses kleine Mysterium bald aufklären wird.« »Untersucht de Maisvin denn auch diesen Mord?« erkundigte sich Lord Darcy. »Ja, auf unseren ausdrücklichen Befehl«, erwiderte der Herzog. »Natürlich befolgt er Eure Anweisungen. Er hat die Weisung, Euch im Laufe des heutigen Vormittags aufzusuchen. Aber wir möchten, daß er seine eigene Theorie weiter verfolgt. Bedenkt, es könnte tatsächlich ein Ritualmord gewesen sein.« »Euer Gnaden, Master Sean O Lochlainn und Lord John Quetzal warten im Vorraum«, sagte Lord Darcy. »Erlaubt mir, sie hereinzubitten. Ihr seid sicher an Lord Johns Beschreibung über den Ablauf des aztekischen Rituals der Menschenopfer interessiert.« »Das würde uns sehr faszinieren«, antwortete Seine Gnaden. »Aber nur aus zweiter Hand, wie wir hoffen.« Er 137
hob die Hände und winkte ab. »Wir scherzen, My Lord, es war nur ein Scherz. Laßt sie herein, in Gottes Namen.« Lord Darcy erhob sich und betrat durch eine schwere Tür das Vorzimmer, in dem eine Anzahl von Leuten aus dem Hofstaat warteten, um einen Blick auf den Herzog zu erheischen. Eine Wache vor der Tür hielt sie zurück, und ein Seneschall an einem kleinen Pult daneben wählte aus, wer vorgelassen wurde. »Würdet Ihr Master Sean O Lochlainn und Lord John Quetzal zu Seiner Gnaden und mir bitten«, flüsterte Lord Darcy dem Seneschall zu. Seine beiden Gefährten saßen zwar nur ein paar Schritte entfernt, aber das Protokoll mußte eingehalten werden. »Lord John erklärte es mir vor zwei Tagen«, berichtete Lord Darcy dem Herzog, als der mechicanische Zauberer und Master Sean es sich auf der anderen Seite des Tisches bequem gemacht hatten. »Ich bat ihn, das Opferritual zu beschreiben. Unter anderem erfuhr ich dabei, daß es nicht nur eines, sondern eine Vielzahl von Opferritualen gibt.« »Ja, das stimmt«, nickte Lord John bestätigend. »Und es gibt viele Götter, denen Opfer gebracht werden. Einige sind sogar noch grausamer als Huitzlipochtli. So trugen beispielsweise die Priester von Xipe für gewöhnlich eine frisch abgezogene Menschenhaut bei ihren religiösen Zeremonien.« »Erzählt Seinen Gnaden die Geschichte von Huitzlipochtli«, bat Lord Darcy. »Huitzlipochtli war … ist … einer der wichtigsten Götter, der Gott der Sonne«, begann Lord John. »Dem alten Ritual zufolge ernährte er sich von Menschenblut, und das brauchte er jeden Tag. Einmal im Jahr oder in schlechten Zeiten auch öfter trank er das Blut eines Prinzen.« 138
»Ein Prinz!« Herzog Charles wandte sich an Lord Darcy. »Dann könnte de Maisvin recht haben!« »Es ist möglich, Euer Gnaden«, sagte Lord Darcy. »Aber es gehört noch mehr zu der Legende …« »Ein Gefangener oder gelegentlich ein Freiwilliger wurde eigens für die Zeremonie zu einem Prinzen ernannt«, fuhr Lord John fort. »Für die Zeit von sechs Monaten war er wirklich ein Prinz: Er lebte in einem Palast, trug edle Kleidung und aß vom Allerfeinsten. Auch wurde er mit einer Prinzessin vermählt, und sein Rat wurde zusammen mit dem der anderen Prinzen in politischen Angelegenheiten eingeholt. In Wort, Tat und Benehmen war er wie jedes andere Mitglied des Königshauses im Lande. Aber es kam unausweichlich der heilige Tag, an dem das Blut eines Prinzen Huitzlipochtli geopfert werden sollte. Es wurde gelost, und das Los fiel stets auf unseren Sechsmonats-Prinzen. Das gesamte Ritual war voller symbolischer Bedeutung: Der Ausgang der Wahl war vorherbestimmt, wie das Leben vorherbestimmt ist. Der Prinz wurde seiner kostbaren Kleider entledigt, um die Vergänglichkeit von Reichtum und Besitztümern zu zeigen. Dann wurde er an das Ufer eines Wassers geführt und in ein Ruderboot gesetzt, worauf seine Frau und seine Diener ihn verließen, um auch die Vergänglichkeit menschlicher Bindungen zu versinnbildlichen. Der Prinz ruderte eigenhändig zu der Pyramide. Beim Emporsteigen der letzten Treppenstufen wurden ihm auch die restlichen Kleider vom Leibe gerissen. Wenn er den Tempel von Huitzlipochtli erreichte, ergriffen ihn vier Priester und warfen ihn rücklings auf den Altar. Der obere Teil des Altarsteins war erhoben, so daß sich sein Oberkörper vorwölbte, wenn er an Armen und Beinen niedergehalten wurde. Dies erweiterte den 139
Raum zwischen den Rippen und vereinfachte den Dolchstoß. Der Hohepriester stieß die Obsidianklinge seines Dolches zwischen die dritte und vierte Rippe und schnitt den Brustkorb auf. Das noch schlagende Herz wurde herausgeschnitten und hoch zum Angesicht Huitzlipochtlis gehoben.« Stille breitete sich aus, als Lord John aufhörte zu sprechen. Dann sagte Herzog Charles »Nun ja!« und starrte vor sich hin. »Nicht gerade schön«, pflichtete Master Scan bei. »Kein Wunder, daß Vater Adamsus annahm, einen schwierigen Exorzismus vor sich zu haben; die Kreatur, die sich – magisch – vom Blut des Opfers ernährte, muß an Macht gewonnen haben, bis sie von grauenhafter Bösartigkeit besessen war.« »Ich war lange von dem Studium der pantheistischen Theologien fasziniert«, gab Lord John zu, »wie Ihr vielleicht verstehen könnt. Wenn ein niederer Dämon für ein paar Jahrhunderte wie ein Gott behandelt wird, kann seine Macht in der Unterwelt und auch unter den Menschen zu unvorstellbarer Größe anwachsen. Wenn die ersten Missionare und Entdecker aus dem AngloFranzösischen Reich, die hierherkamen, nicht ein vollständiges Wissen von beidem, Magie und Dämonologie, gehabt hätten, wären sie von den blutrünstigen Wilden, die meine Vorfahren waren, mit Leichtigkeit überwältigt worden.« »Macht Eure Vorfahren nicht schlechter, als sie waren, My Lord«, unterbrach Herzog Charles. »Blutrünstig waren sie vielleicht, aber keine Wilden. Für ein Volk, das sich weigerte, das Rad zu benutzen, hatten sie ein vorbildliches Straßensystem. Und ihre Bewässerungsmethoden waren 140
brillant.« »Die haben sie von den Mayas übernommen, Euer Gnaden«, lächelte Lord John. »Alles Kluge haben die Azteken von den Mayas übernommen. Genauso wie Master Sean mir immer erzählte, daß die Anglo-Franzosen all ihr Kluges von den Iren gestohlen haben.« »Nun ja, My Lord«, sagte Master Sean und blickte peinlich berührt drein. »Das ist nicht exakt das, was ich gesagt habe. Zwar fast. Das gestehe ich Euch zu, aber nicht exakt!« Lord Darcy kicherte, und der Herzog lachte. »Im Grunde genommen, Master Sean«, meinte der Herzog, »dürftet Ihr recht haben.« Lord Darcy erhob sich. »Am besten machen wir uns auf den Weg. Wir haben viel Arbeit vor uns. Wenn irgend etwas aufgedeckt wird, Euer Gnaden, könnt Ihr versichert sein, daß ich es sofort an Euch weiterleite.« »Was ist mit de Maisvins Theorie?« fragte Herzog Charles. »Glaubt Ihr, daß sie noch von Bedeutung ist?« »Es könnte sein, Euer Gnaden. Doch, wenn irgend jemand glauben sollte, daß die Täter das alte Opferritual für Huitzlipochtli nachgeahmt haben, dann beweist das seine Unkenntnis der Rituale. Dieser Mann war tot, bevor sein Herz herausgerissen wurde. Habe ich nicht gerade zu verstehen gegeben, daß dies eben nicht dem Ritual entspricht?« »War das so?« fragte Seine Gnaden. »Zuerst getötet und dann das Herz herausgeschnitten?« »Ja, Euer Gnaden«, stimmte Master Sean zu. »Da gibt es gar keinen Zweifel. Das Blut eines lebendigen Herzens hätte sich völlig anders verhalten. Der Körper wurde auf den Altarstein gelegt, nachdem er schon tot war. In dem Stein war kein magischer Schock verblieben, versteht Ihr? 141
Natürlich waren die schwachen Spuren früherer Tode vorhanden, aber die waren ganz leicht auszugrenzen.« »Sehr merkwürdig«, sagte der Herzog von Are. »Weshalb sollte jemand einer Leiche das Herz herausnehmen?« »Eine gute Frage, Euer Gnaden«, bemerkte Lord Darcy. »Also, von wo wurde der Körper dort hingeschafft? Ich habe das Gefühl, daß uns die Antworten auf diese beiden Fragen zum Mörder fuhren werden. Aber es wird nicht leicht sein, die Antwort zu erhalten. Wir sollten am besten sofort die Verfolgung aufnehmen. Wenn Ihr uns entschuldigen wollt, Euer Gnaden?« Der Herzog erhob sich. »Haltet uns auf dem laufenden, Lord Darcy. Und wenn Ihr irgend etwas braucht, was auch immer es sei, dann bedient Euch.« »Vielen Dank, Euer Gnaden.« Lord Darcy verneigte sich und verließ mit den beiden Gerichtshexern den Raum.
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9 Lord Darcy schob die Papiere auf seinem Schreibtisch beiseite und warf einen Blick auf die verschnörkelte Horry-Uhr an der Wand. Dieses vergoldete Meisterwerk von einem der geschicktesten Uhrmacher im Herzogtum Überstein hatte vier Zifferblätter und auf jedem davon eine Fülle von Zeigern. Sie zeigte das Datum, die Mondphasen, die Gezeiten von vier Orten gleichzeitig und die Zeit von Sonnenaufgang- und Sonnenuntergang. Darüber hinaus wies sie die astrologischen Sonnen- und Mondzeichen auf, die Positionen der wichtigsten Planeten, die Lage der Sonneneklipsen auf der Erdoberfläche für das nächste Jahrhundert, die Sternenzeit, den exakten Längengrad, wo gerade Mitternacht war, und die präzise Ortszeit. Es war zwei Minuten vor zwei am Nachmittag. Um zwei Uhr sollten Graf Maximilian de Maisvin und Lord John Quetzal kommen, um Lord Darcy bei den persönlichen Verhören der Gefolgschaft und des Bekanntenkreises des toten Prinzen zu unterstützen. Lord Darcy hatte bereits die Berichte der Untersuchungen gelesen, die von Hauptmann Vincetti und seinen Männern geführt worden waren. Er las sie jetzt gerade noch einmal. Aber Worte auf Papier, besonders die formale Sprache offizieller Berichte, waren leblos und kein Ersatz dafür, persönlich mit den Beteiligten zu sprechen. Er raffte die Unterlagen zusammen und legte sie zurück in die Kladde. Dann gähnte er, streckte sich, langte nach einem Notizbuch und klingelte seinem Diener. Daraufhin erschien Mullion, ein ziemlich behäbiger, fast kahlköpfiger Mann in der sorgfältig geschneiderten Livree des Herzogtums von Are. Er war nur ein armseliger Ersatz 143
für Ciardi, der während des größten Teils der drei Jahrzehnte, die Lord Darcy schon in Oxford gelebt hatte, sein persönlicher Diener gewesen war. Nicht nur, daß der schlanke, asketische Ciardi sich um Lord Darcys Wohlergehen gekümmert hatte, er hatte auch die Fähigkeit besessen, schon am Aussehen zu erkennen, ob es jemandem gutging. Ciardis Interessen waren darauf beschränkt gewesen, für Lord Darcy zu sorgen, französische Liebesromane zu lesen und sich über den Hofklatsch auf dem laufenden zu halten. Lord Darcy hatte ihn als idealen Diener geschätzt und ihm vertraut. Aber als der Befehl des Königs kam, war Ciardi gerade auf seinem halbjährlichen Besuch bei seiner Mutter in Burgund – sie mußte jetzt schon auf die 90 zugehen – gewesen und Lord Darcy hatte keine andere Wahl gehabt, als ihn zurückzulassen. Der beleibte Mullion war ein Günstling des Herzogs und damit beauftragt, sich für die Dauer von Lord Darcys Aufenthalt in der Residenz um dessen Bedürfnisse zu kümmern. Er versah seinen Dienst zufriedenstellend, war sauber und pünktlich und tat genau das, was von ihm verlangt wurde. Ganz genau. Ohne Furcht, Vorlieben, Phantasie, Bemerkungen, Voraussicht oder Findigkeit. Wenn Lord Darcy nach einer Tasse Kaffee verlangte, bekam er eine Tasse Kaffee. Wenn er nicht dazu gesagt hatte, daß er sie mit Sahne nahm, mußte Mullion noch einmal zurückgehen, um Sahne zu holen. Gab es keine Sahne in der Küche, war Mullion in Schwierigkeiten. Nachdem er nun schon an drei Tagen hatte zurückgehen müssen, um Sahne zu holen, war es ihm fast gelungen, Lord Darcys Gewohnheit zu brechen, keine Sahne zusammen mit dem Kaffee zu bestellen. Das war weder Halsstarrigkeit noch Rebellion gegen seine Position als Diener, dachte Lord Darcy, noch unüberwindliche 144
Dummheit. Der Mann schien intelligent genug zu sein. Es mußte wohl ein völliges Desinteresse an seiner Arbeit sein, kombiniert mit ausgesprochen engagierter Naivität. »Sagt mir, Mullion«, erkundigte sich Lord Darcy, als der Bedienstete vor ihm stramm stand, die Arme an der Hosennaht und das unbeteiligte Gesicht seiner Lordschaft zugewandt, »habt Ihr irgendwelche Hoffnungen oder Träume, beruflich weiterzukommen?« »Wie meinen, Eure Lordschaft?« fragte der füllige Diener. Ein verwirrter Ausdruck glitt über seine sonst unbewegten Züge. »Wäret Ihr nicht zum Beispiel gerne eines Tages Haushofmeister der Residenz?« beharrte Lord Darcy. »Oder würdet Ihr nicht Seiner Gnaden Dienste verlassen wollen, um ein eigenes Lokal zu eröffnen?« »Nein, Eure Lordschaft.« »Strebt Ihr vielleicht nach einem akademischen Beruf und lernt deshalb für die Arthur-III.-Prüfungen?« Lord Darcy spielte auf die jährlichen Gelehrtenprüfungen an, die von den Aspiranten aller Altersstufen für die Zulassung zur Königlichen Universität verlangt wurden. Sie waren gleichzeitig die Voraussetzung für eine Karriere in den akademischen Berufen oder in der kaiserlichen Bürokratie und nach König Arthur III. benannt, der sie als erster ins Leben gerufen hatte. »Nein, Eure Lordschaft.« »Nun, dann seid Ihr möglicherweise daran interessiert, in die Legion einzutreten? Als einfacher Soldat zu beginnen und die militärische Karriereleiter zu erklimmen? Oder hofft Ihr, eines der westlichen Gebiete zu kolonisieren, wenn sie freigegeben werden?« »Nein, Eure Lordschaft«, erwiderte Mullion und zeigte keinerlei Interesse an irgendeinem Aspekt dieser 145
Befragung. Es war deutlich, daß er über eine einsilbige Verneinung hinaus nichts weiter zum Besten geben würde. Deshalb brach Lord Darcy sein Verhör für den Moment ab. Die widerstandslose, seelenruhige Unnachgiebigkeit schlug ihm ins Gesicht. »Entschuldigt die unnötig persönlichen Fragen, Mullion. Ich hoffe, daß ich Euch nicht gekränkt habe«, sagte er. »Würdet Ihr mir bitte eine Tasse Kaffee bringen – mit Sahne. Und dann mein schweres braunes Cape holen – wo auch immer es hingekommen ist – und es an einen Haken neben die Tür hängen. Ich vermute, es wird schneien.« »Sehr wohl, Euer Lordschaft«, erwiderte Mullion, vollzog eine korrekte, knappe Verbeugung und ging leise den Weg zurück, den er gekommen war. Lord Darcy spürte, daß es hier ein Rätsel gab. Aber das mußte erst einmal hinter dem noch größeren Rätsel zurückstehen. Er legte das Notizbuch vor sich auf den Schreibtisch und schlug die nächste leere Seite auf. Eine Minute lang starrte er auf das Papier und schwang die Hand mit dem Stift in planlosen Mustern über dem unbeschriebenen, linierten Blatt. Dann listete er übersichtlich und präzise alles auf, was er über das Gefolge des Prinzen wußte und was er wissen wollte. Zur gegebenen Zeit kam Mullion zurück und setzte das Kaffeetablett neben ihn auf den Tisch. Lord Darcy schenkte sich eine Tasse voll ein, schlürfte sie gedankenverloren und starrte auf die blaue Schrift in seinem Notizbuch. Prinz Ixequatle, angekommen Freitag, den 13. Februar, hatte schon etwas über drei Wochen in Nova Eboracum verbracht, als er ermordet wurde. Er und seine Begleitung waren mit dem Schiff von Mechicoe nach England gereist und von dort weiter nach Nova Eboracum. Der Einbruch des Winters hatte eine Überlandreise ausgeschlossen. Lord 146
Darcy grübelte darüber nach, ob die Azteken abergläubisch waren, was die Zahl 13 anging. Die Reisebegleiter des Prinzen waren Lord Lloriquhali, ein älterer Adliger, der den Prinzen in aztekischen Belangen unterrichtete, und Don Miguel Potchatipotle, ein Spanier, der in eine adlige Aztekenfamilie eingeheiratet und den Familiennamen seiner Frau angenommen hatte. Don Miguel sollte den Prinzen in anglo-französischen Angelegenheiten beraten, weil er, als der Prinz abreiste, der einzige in Tenochtitlan war, der einem Experten nahe kam. Über seine Vergangenheit war nichts bekannt, zumindest nicht den anglo-französischen Untersuchungsbeamten. Er beanspruchte, der jüngere Sohn eines jüngeren Sohns einer spanischen Adelsfamilie zu sein, und das war auch überprüft worden. Unglücklicherweise konnte der Bericht der Behörden in Aragon nicht rechtzeitig ankommen, um von Nutzen zu sein, weil die Anfrage zwei oder drei Monate brauchte, um die Rundreise nach Saragossa und zurück zu machen. Der persönliche Diener des Prinzen, ein junger, kleinwüchsiger Kerl namens Chichitoquoppi, seine persönliche Leibwache aus zwölf Kriegern und eine Anzahl zusätzlicher Sklaven, die ebenfalls mit ihm gereist war, lebten nun alle zusammen in einem offenbar gemieteten Haus irgendwo in New Borkum. Don Miguel war der hauptsächliche Ansprechpartner; Lord Lloriquhali sprach kein anglisch, und auch keiner der Krieger. Die Sklaven konnten sich nicht einmal gut in Nahuatl verständigen. Hauptmann Vincetti hatte sich auf Don Miguels korrekte Übersetzung verlassen müssen, was – so überlegte Lord Darcy – keine gute Ermittlungsmethode war. Aus diesem Grunde nahm er Lord Quetzal mit. Die vorbereiteten Berichte waren in einer Hinsicht klar: 147
Außer Lord Lloriquhali, der offensichtlich hinter jedem Busch eine Verschwörung witterte, konnte sich niemand ein Motiv für den Mord an dem jungen Prinzen vorstellen, noch kannte man jemanden, der ihn hätte töten wollen. Es gab sicherlich viele unter den Eingeborenenstämmen Neuenglands, die die Azteken haßten, aber größtenteils im Süden. Hier im Norden hatte die aztekische Besatzung vor zu langer Zeit stattgefunden. Es gab nur noch Legenden darüber. Und die Eingeborenen, die ein Ziel für ihren Haß suchten, wählten entweder einen anderen Stamm oder die Anwesenheit der Anglo-Franzosen. Aber neben Haß gab es auch andere Gründe, jemanden zu töten. Manche Leute, dachte Lord Darcy schmerzlich, töten Menschen, die sie nicht einmal kennen. Ein lautes Klopfen ertönte an der Wohnungstür. Zwei Minuten später wurde leicht an die Tür des Arbeitszimmers gepocht, und Mullion trat ein, um Lord John Quetzal einzulassen sowie einen dunklen, finster blickenden Mann, ganz in schwarz und Silber gekleidet, den er als Graf Maximilian de Maisvin ankündigte. »Lord John«, grüßte Lord Darcy, indem er sich erhob. »Eine erwartete Freude. Graf de Maisvin, ich war darauf gespannt, Euch zu begegnen.« »Ich ebenfalls, My Lord«, erwiderte de Maisvin und schritt auf Lord Darcy zu, um seine Hand zu ergreifen. »Ich habe von Seiner Gnaden soviel über Euch gehört und in solch eindrücklichen Worten, daß ich zugeben muß, ich erwartete schon, Ihr würdet Feuer ausatmen und Steinwände mit Eurer Stimme umstürzen lassen. Es ist ein wenig enttäuschend zu sehen, daß Ihr sterblich seid, zumindest Eurer äußeren Erscheinung nach.« »Zuviel der Ehre, Euer Gnaden«, antwortete Lord Darcy. »Das Vergnügen, große Anerkennung zu genießen, wird 148
etwas getrübt durch das Problem, ihr auch entsprechen zu müssen.« Er lächelte. »Seine Gnaden hat auch eine sehr hohe Meinung von Euch, My Lord.« »Ich werde mein Bestes tun, um dem zu genügen«, entgegnete de Maisvin. »Sollen wir aufbrechen?« »Bevor wir gehen«, meinte Lord John und schlug den Mantel um, »möchte ich vorschlagen, daß wir deutlich machen, daß meine Dienste lediglich als Übersetzer genutzt werden. Ich meine, daß es nicht von Vorteil ist, wenn ich als Urheber irgendeiner der Fragen in Erscheinung trete, die dem Gefolge von Prinz Ixequatle gestellt werden.« »Warum, My Lord?« erkundigte sich Lord Darcy. »Ich meine es mit Hinsicht auf meine Position und darauf, wer ich bin. Die Leute des Prinzen könnten es möglicherweise übelnehmen, wenn sie auch nur vermuten, daß ich sie persönlich verhöre. Wenn deutlich wird, daß Ihr mich lediglich als Übersetzer einsetzt, sollte es weniger Probleme geben.« »Das ist verständlich, My Lord«, meinte Lord Darcy. »Falls Euch irgendwelche Fragen einfallen sollten, werdet Ihr sie mir sorgfältig in den Mund legen.« Er zog seinen schweren braunen Mantel über und nahm einen dicken braunen Filzhut von einem Bord neben der Tür. »Schneite es eigentlich, als Eure Lordschaften hereinkamen?« »Riesige, dicke weiße Flocken«, erwiderte Lord John, und seine ausdrucksvollen Augen leuchteten auf. »Ihr müßt wissen, daß ich noch niemals Schnee gesehen hatte, als ich mit dreiundzwanzig Jahren nach London kam. Ich finde ihn immer noch sehr bemerkenswert.« Sie verließen die Residenz durch die großen Vordertüren und wandten sich nach links auf den Great Way zu. Lord Darcy winkte der Kutsche ab, die für sie bereitstand. 149
»Wenn es den beiden Gentlemen recht ist«, schlug er vor, »würde ich es vorziehen zu laufen. Soviel ich weiß, ist es nicht sehr weit. Da ich mit der Stadt nicht so vertraut bin, hätte ich auf diese Weise die Möglichkeit, ein Gefühl für sie zu bekommen.« »Es ist mir ein Vergnügen, durch den Schnee zu spazieren«, sagte Lord John. »Obwohl er zu schmelzen scheint, sobald er den Boden berührt.« Graf de Maisvin schritt schweigend neben ihnen her. Ob es ihm gefiel, durch den Schnee zu laufen, oder ob er es als lästig empfand, war seinen unbewegten Zügen nicht zu entnehmen. »Von hier aus ist es nur wenig weiter als eine Meile«, stellte er fest. »Ich zeige Euch den Weg.« »Ihr wißt nicht zufällig«, fragte Lord Darcy den Grafen, »warum der Prinz mit seinem Gefolge nicht in der Residenz aufgenommen wurde? Das wäre doch eigentlich selbstverständlich gewesen, wenn man seinen Stand bedenkt.« »Mit Sicherheit«, stimmte de Maisvin zu. »Man bot ihm eine Suite an, aber er lehnte ab. Ich bin der Meinung, daß der Prinz sie gerne angenommen hätte, aber der alte Mann in seiner Begleitung stellte sich dagegen.« »Lord Lloriquhali«, murmelte Lord John. »Genau der«, bestätigte de Maisvin. »Seine ablehnende Haltung gegen meine Familie ist nur noch mit seiner Kompromißlosigkeit vergleichbar«, erzählte Lord John. »Er empfindet jede Veränderung, die in den letzten zweihundert Jahren stattgefunden hat, als persönlichen Affront.« »Und er wurde beauftragt, Prinz Ixequatle zu beraten?« »Ich bezweifle, daß Prinz Ixequatle seinen Rat befolgte«, meinte Lord John. »Ich vermute, daß er dem Prinzen von der konservativen Fraktion am Hof aufgedrängt wurde. Ihr 150
werdet es genießen, mit ihm zu sprechen, My Lord, und Ihr werdet einen Einblick in eine faszinierende Weltsicht erhalten.« Der Great Way verlief in dieser Gegend als breite, sorgfältig geebnete Allee: die Fahrbahn aus Kopfsteinpflaster, der Bürgersteig mit Steinplatten belegt. Es herrschte nur schwacher Verkehr, der größtenteils aus Fuhrwerken bestand, die ihre Waren zu den Märkten in der Stadtmitte transportierten. Die Häuser, die die Straße säumten, waren zweiund dreigeschossige Fachwerkhäuser mit Geschäften im Erdgeschoß und Wohnungen in den oberen Stockwerken. Lord Darcys erster Eindruck war, daß diese Stadt, abgesehen von der Straßenbreite, die in den jahrhundertealten Städten Europas ungebräuchlich war, genausogut irgendwo im Anglo-Französischen Reich hätte liegen können. Dann fielen ihm nach und nach andere Unterschiede auf. Zum Beispiel waren die Häuser sauberer und standen weiter auseinander, mit Durchfahrten für Fuhrwerke. Die dominierende Farbe war weiß. Jedes bißchen freie Oberfläche war weiß gekalkt, als ob der Anblick von rohem Holz ein Verstoß gegen die Natur sei. Weiße Lattenzäune umgaben akkurate Gärten. Die meisten Gebäude hatten rote Verzierungen, obwohl es auch eine Ahnung von Blau und einen Hauch Braun gab. Die Leute, an denen sie vorbeikamen, waren wie die rechtschaffenen Männer und Frauen einer jeden Stadt: meistenteils korrekt gekleidete, seriöse Ladenbesitzer und einige Männer rauherer Sorte, die die Wagen lenkten oder als Tagelöhner auf der Straße arbeiteten. Aber, beobachtete Lord Darcy, es gab noch eine andere Sorte Männer, an denen sie vorüberkamen, eine Sorte, die auch in Herzog Charles’ Audienzsaal vertreten war. Das waren Männer, die hier fehl am Platze und durch die 151
schmalen Straßen von New Borkum eingeengt wirkten, die sich so kleideten und bewegten, als brauchten sie offenes Land und den Anblick eines fernen Horizonts um sich herum. Die meisten trugen Lederbekleidung mit Fransen und breitkrempige Lederhüte, und sie nahmen nicht mehr Notiz von dem Schnee, der um sie herum fiel, als ein Falke vom Nebel. »Diese Männer da«, erkundigte sich Lord Darcy und deutete auf eine Vierergruppe, die vor einem Mietstall miteinander sprachen, »wer sind sie? Was tun sie?« De Maisvin zuckte mit den Schultern. »Trapper, Kartographen, Jäger, Landvermesser, Forscher, Führer, Kundschafter, nennt sie, wie Ihr wollt, und heuert sie dementsprechend an. Wir nennen sie zusammenfassend Pioniere. Man macht sich schwerlich klar, daß diese geordnete, kleine Stadt sich am Rande eines weiten, unerschlossenen Grenzgebiets befindet. Dies sind die Männer, die die Grenzen des Territoriums von Neuengland so schnell vorantreiben, wie sie nur vorwärtskommen, und so schnell, wie die Eingeborenenstämme es zulassen. Manchmal auch schneller.« »Das habe ich mir wohl gedacht«, bemerkte Lord Darcy, »aber wer sind sie?« De Maisvin blickte ihn scharf an. »Ihr meint, woher sie kommen? Welche soziale Schicht? Was für einen Hintergrund sie haben?« »Ja«, erwiderte Lord Darcy. »Ich nehme an, das meinte ich.« »Sie kommen aus jeder Schicht, von jedem Ort und aus jedem Beruf des Reiches«, erklärte de Maisvin. »Es sind Galgenvögel und kleine Beamte, die Söhne von Barmädchen und die Söhne von Herzögen, unzufriedene 152
Zahnärzte, wißbegierige Magier, gelangweilte Anwälte und abenteuerlustige Seneschalle. Es gibt starke Männer, die kommen, um ihre Kräfte mit dem Unbekannten zu messen, und schwache, die kommen, um stark zu werden oder eben bei diesem Versuch sterben. Einige kommen, um das Leben in seiner Fülle auszukosten, und manche, um zu sterben. Jeder bekommt gewissermaßen das, was er gesucht hat.« »Sie scheinen diese Leute studiert zu haben«, sagte Lord Darcy. »Das habe ich«, meinte de Maisvin. »Ich finde sie hochinteressant. Ich würde gern verstehen, was sie dazu gebracht hat, das zu werden, was sie sind; und auch die Motive, die sie dazu treiben, weiterzumachen.« »Gibt es auch Frauen darunter?« erkundigte sich Lord Darcy. »O ja. Genauso viele Sorten. Und aus ebenso verschiedenen Milieus wie die Männer. Ich zähle dazu nicht die Anhängsel, die ortsansässigen Damen, die diese starken, ruhigen Männer faszinierend finden. Ich spreche lediglich von den Frauen, die dorthin gehen, wohin auch die Männer gehen, und das gleiche tun. Die Bandbreite reicht von der Hochgeborenen bis zur Tellerwäscherin, von der Schlichten bis zur atemberaubenden Schönheit. Der einzige Zug, den sie neben der Wanderlust gemeinsam haben, ist der, daß jeder Mann, der sich ihnen ohne Aufforderung nähert, riskiert, mit gespaltenem Schädel zu enden.« »Verwegene Ladys«, kommentierte Lord John. »Verwegene Ladys, so werden sie gewöhnlich genannt«, erklärte de Maisvin, »aber eine sehr beeindruckende Art von Frauen. Genau wie das hier sehr beeindruckende Männer sind. Und das müssen sie auch sein, My Lords, 153
denn sie gewinnen einen Kontinent für das Reich und bezahlen dafür mit ihrem eigenen Blut.« Daraufhin wendete sich de Maisvin nach rechts und führte sie über die Allee auf die Garvey Lane, eine enge, kurvige Straße, die nach Osten zum Igerne führte, wie der schmale, östliche Arm des Arthur-Flusses hieß, der die Saytchem-Insel zur Insel machte. Die Häuser an der Straße wurden kleiner und standen weiter auseinander, je mehr sie vorankamen. Jedes stand auf seinem eigenen Stückchen Land. »Welcher Stadtteil ist das?« fragte Lord John. »Ich kenne mich hier nicht aus.« »Die ›Stadt‹ als solche ist entlang beider Ufer der Insel gewachsen«, erzählte Graf de Maisvin. »Wir durchqueren gerade die Mitte mit den kleinen Farmen. Von dort kommen die frischen Waren, die wir hier in solchem Überfluß genießen können.« Der Schneefall ließ nach, und ein paar Minuten später hatte es völlig aufgehört zu schneien, bis auf ein paar zufällige, verwehte Flocken, die noch zu Boden schwebten. Sie schmolzen von der Straße weg, so schnell, wie sie landeten, aber es lag immer noch eine feine, weiße Schicht auf den Feldern neben der Straße. Wenige Minuten später waren sie zur Hast Road gelangt, die parallel zum Igerne verlief. Sie führte zu den Docks und Kais am Flußufer und den gegenüberliegenden Lagerhäusern. Sechs oder sieben Handelsschiffe lagen unmittelbar vor ihnen an einer Reihe von Docks. Der Bug war jeweils fast bis zur Straße hochgezogen, und die Bugspriete ragten so hoch über sie hinaus, daß sie beinahe die oberen Stockwerke der Gebäude auf der anderen Straßenseite berührten. Am Pier entlud ein Trupp von Ladearbeitern eines dieser riesigen Schiffe, während eine 154
Reihe von Fuhrwerken geduldig auf ihre Ladung wartete. Die Fuhrleute versammelten sich derweil mit Zinnkrügen in der Hand um ein kleines Feuer. »Was befindet sich wohl in diesen Bechern«, überlegte Lord Darcy nebenbei, als sie an der gedrängten Gruppe vorbeikamen. »Kaffee, Tee oder Ouiskie?« »Vermutlich heißer Rum von den südlichen Inseln, My Lord«, meinte Graf de Maisvin. »Für Rum muß ja kein Zoll bezahlt werden!« Sie gingen die Hast Road weiter in Richtung Norden. »Ein seltsamer Bezirk für unseren aztekischen Freund, um sich dort niederzulassen«, bemerkte Lord Darcy. »Meint Ihr nicht auch, Lord John?« »Gewiß«, stimmte Lord John zu. »Vielleicht hielt er es für nötig, sich soweit wie möglich von der Residenz und der Kathedrale fernzuhalten.« »Das mag seine Richtigkeit haben«, meinte Graf de Maisvin. »Aber Ihr werdet bemerken, daß die Azteken sich immer noch in erreichbarer Entfernung befinden. Nichts in New Borkum ist weit voneinander entfernt. Die Stadt nimmt nur einen Teil des südlichen Drittels der Saytchem-Insel ein, die ja selbst auch nicht sehr groß ist.« »Warum treibt so ein kleiner Ort soviel Handel?« fragte Lord Darcy und deutete dabei auf die riesigen Schiffe in ihrer Umgebung. »Waren von und nach ganz Neuengland, My Lord«, erklärte Graf de Maisvin. »Das Reich meines Herzogs ist wesentlich größer, als diese kleine Stadt ahnen läßt, obwohl sie die Herzogliche Residenz ist. Die Entfernungen hier sind einfach unermeßlich. Man kann es sich nur schwer vorstellen. Dies ist der wichtigste Anlaufhafen im Norden und so ziemlich der beste auf dieser Atlantikseite. Er beliefert Siedlungen über Hunderte 155
von Meilen hinweg – natürlich mit Ausnahme des Ostens.« »Sicher«, stimmte Lord Darcy zu. »Vor uns an der Ecke und auf der anderen Straßenseite seht Ihr drei Lokale«, erzählte der Graf weiter. »Der ›Seelord‹ an der Ecke, das ›Bon Richard‹ und das ›Earl Orkney‹ auf der anderen Straßenseite, das nach dem letzten Königlichen Gouverneur benannt wurde. Die Azteken übernahmen das ›Bon Richard‹ mit allem Drum und Dran. Ihr Abkommen mit dem Besitzer schloß sogar ein, daß er und seine Angestellten für die Dauer ihres Aufenthalts auszogen. Die befinden sich jetzt im ›Earl Orkney‹.« »Die Azteken schätzen eben ihren Privatbereich«, kommentierte Lord Darcy. »Ich glaube, es ist eine Frage des Vertrauens«, meinte Lord John. »Sie trauen den Anglo-Franzosen nicht, und mit Sicherheit mißtrauen sie den hiesigen Stämmen.« »Das ist verständlich, wenn man ihre Weltsicht bedenkt«, sagte Graf de Maisvin. »Die Azteken wissen genau, was sie uns antun würden, wenn sie könnten, und wundern sich ununterbrochen darüber, daß wir nicht das gleiche tun.« Lord John nickte. »Das trifft es wohl«, stimmte er bei. Sie gingen zum ›Bon Richard‹ hinüber, einem kastenförmigen, dreistöckigen Gebäude in der Mitte des nächsten Blocks. Auf dem Schild, das über dem Eingang baumelte, blickte ein Ritter in voller Rüstung und mit Federbusch auf dem Helm streitlustig in die Welt. Die Tür war verriegelt. Als sie durch das Flügelfenster spähten, konnten sie sehen, daß der Raum im Parterre leer war. »Sie erwarten keine Gäste«, bemerkte Lord Darcy. Graf de Maisvin klopfte an die Tür. »Sie gehen niemals 156
aus«, sagte er. »Sie müssen irgendwo dort drinnen sein.« »Ausgezeichnete Logik«, sagte Lord Darcy trocken. Ein Paar muskulöser, kupferfarbener Beine tauchte auf der Treppe auf und kurz darauf folgte der Rest des Körpers. Einer der aztekischen Krieger kam herunter, um zu sehen, wer gegen die Tür pochte. Er näherte sich dem Fenster und blickte zu ihnen hinaus. »Nicht kommen rein«, rief er durch das Glas. »Nicht kommen rein! Nicht wollen jemand reinkommen! Sehr beschäftigt!« »Wir sind Wachmänner«, rief de Maisvin zurück. »Untersuchungsbeamte. Müssen mit Don Miguel sprechen. Hol Don Miguel!« »Nicht kommen rein!« rief der Krieger nachdrücklich. Er drehte sich um und ging zurück zur Treppe. »Ich glaube nicht, daß er irgend jemanden holt«, sagte Lord Darcy. Lord John rief etwas in der rauhen, gutturalen NahuatlSprache, und der Krieger kehrte völlig erstaunt auf dem Absatz um. »Ich hoffe, Ihr entschuldigt, daß ich Euch so einfach zu Wachmännern degradiert habe, My Lords«, sagte de Maisvin. »Ich hatte das Gefühl, daß die Feinheiten der Rangordnung das Fassungsvermögen des Herrn im Lendenschurz übersteigen.« Der Krieger kam zur Tür zurück. Er und Lord John führten ein lautes Gespräch, bevor er sich abwendete und die Stufen wieder hinauf eilte. »Sie sind gerade dabei, eine religiöse Zeremonie für den toten Prinzen zu beenden«, erklärte Lord John. »Aber er wird jemanden herunterschicken, sobald er kann.« Weniger als eine Minute später erschien ein weiteres Paar Beine auf der Treppe. Ein älterer Azteke in 157
prächtigem Federputz und mit einem reich verzierten, langen Stab stürmte hinunter, quer durch den Schankraum und warf die Tür auf. Ein Schwall Nahuatl brach aus ihm hervor, als ob er sich eine Zeitlang angestaut hätte. Bei jedem Satz gestikulierte er nachdrücklich. »Was erzählt er uns da?« erkundigte sich Graf de Maisvin bei Lord John. »Das ist Lord Lloriquhali«, erklärte Lord John. »Er möchte wissen, warum ihm der Leichnam seines Prinzen noch nicht zurückgegeben wurde. Er möchte wissen, was wir mit der Leiche des Prinzen Ixequatle machen.« »Berichtet Seiner Lordschaft, daß die Leiche ihm so bald wie möglich übergeben wird«, sagte Lord Darcy. »Ich sehe keinen Grund dafür, sie zurückzuhalten. Wir haben alle Untersuchungen abgeschlossen. Das haben wir doch, oder nicht, Lord John?« »O ja«, bestätigte Lord John. »Master Scan war ziemlich gründlich.« »Dann sollten wir die Leiche Seiner Lordschaft übergeben. Fragt ihn, wohin er sie gebracht haben möchte.« Während Lord John sprach, blickte Lord Lloriquhali ausschließlich Lord Darcy an, als sei der junge Hexenmeister gar nicht vorhanden. Als Lord John eine Pause machte, antwortete Lord Lloriquhali mit einem Wortschwall, den er direkt an Lord Darcy richtete. »Er tut so, als sei ich nicht da«, sagte Lord John. »Aber glaubt mir, das kränkt mich nicht. Er zieht es vor, die Leiche selbst abzuholen, damit nicht noch mehr uneingeweihte Hände die leere Hülle des Prinzen berühren.« »Macht darüber einen Vermerk, de Maisvin«, bat Lord Darcy. »Lord John, teilt Seiner Lordschaft bitte mit, daß 158
sein Wunsch erfüllt wird. Danach sagt ihm bitte, daß wir gerne mehr über den Prinzen und sein Gefolge erfahren würden, um seinen Mörder zu fangen. Teilt ihm des weiteren bitte mit, daß man mich mit der Leitung der Untersuchung beauftragt hat und ich seine Hilfe brauche. Ich möchte mit jeder Person im Haus sprechen.« Lord John übersetzte, und Lord Lloriquhali tat sein möglichstes, um deutlich zu machen, daß er in Wirklichkeit Lord Darcy zuhörte. Schließlich nickte er, drehte sich dann um und ging zurück ins Haus. Er stampfte dreimal mit dem Stab auf die Treppe, bevor er zum hinteren Raum durchging. »Sollen wir ihm folgen?« fragte de Maisvin. »Ich nehme es fast an.« »Kommt, Gentlemen«, forderte Lord Darcy auf und führte sie hinter Lord Lloriquhali her. Der Raum, den Lord Lloriquhali betreten hatte, war der Schankraum des Lokals: ein riesiger, rechteckiger Raum mit einem Tresen an der einen Seite, einem Kamin in der Mitte der gegenüberliegenden Wand und Platz für eine Menge Tische. Der größte Teil des Raums war dennoch leer. Sämtliche Tische und die dazugehörigen Stühle hatte man an einer der Seitenwände aufgetürmt. In der Mitte des Fußbodens lagen kopfgerade Steine in einem Kreis von ungefähr zwei Fuß Durchmesser, und ein Holzkohlenfeuer schwelte darin. Lord Darcy blickte hoch und folgte der dünnen Linie des aufsteigenden Rauchs. Er sah, daß genau über dem Steinring ein Abzug in die Decke gehackt worden war. »Sie müssen einen ziemlich duldsamen Vermieter haben«, wunderte sich Lord Darcy, »sofern er davon weiß.« »Ich nehme an, daß er nicht gerade erfreut darüber 159
wäre«, bemerkte de Maisvin. »Und Herzog Charles auch nicht, wenn er es erführe. Seine Gnaden mußte nämlich versprechen, den Wirt zu entschädigen, bevor der gute Mann den Azteken erlaubte, hier einzuziehen.« »Für diese Art von Schaden?« fragte Lord Darcy. »Für alles, Feuer, Flut und höhere Gewalt eingeschlossen«, erklärte de Maisvin. »Der Wirt, Edelmann Malterby, hielt nichts davon, Heiden in seinem Haus zu beherbergen. Das machte er dem Herzog auch deutlich.« »Sieht so aus, als hätte er recht«, sagte Lord Darcy. Der Rest der aztekischen Gesandtschaft strömte von oben herunter, und ohne den Besuchern auch nur einen Blick zuzuwerfen, versammelten sie sich in einem Doppelkreis um die glühende Kohle und hockten sich auf den Boden. Lord Lloriquhali ließ sich auf einem kleinen, dreibeinigen Hocker fast schon über dem Feuer nieder und begann einen langen, monotonen Singsang, dem die anderen aufmerksam lauschten. Nachdem das ein paar Minuten so weitergegangen war, zog Lord Darcy Lord John beiseite. »Was geht da vor sich?« fragte er. »Ein knappes Gebet an einen nicht näher bezeichneten Gott, um dem unbekannten Mörder des Prinzen verschiedene Demütigungen intimster und äußerst schmerzhafter Natur zuzufügen«, erzählte Lord John. »Es ist ziemlich einfallsreich.« »Das kann ich mir vorstellen«, sagte Lord Darcy. »Wird es noch lange dauern?« »Das glaube ich nicht. Da – es klingt schon ab. Noch eine Minute oder so.« Der Gesang wurde leiser und hörte schließlich ganz auf. 160
Lord Lloriquhali sprang auf den Hocker und sprach schnell und schrill etwa zwei Minuten lang auf die Männer ein, die um ihn herumhockten. »Er weist sie an, mit Euch zusammenzuarbeiten«, meinte Lord John und klang überrascht. »Er sagt, daß Ihr der große Lord Darcy seid, der die Götter mit seiner Fähigkeit, Mörder zu fangen, eifersüchtig macht. Er behauptet, daß Ihr den Mörder von Prinz Ixequatle bald fangen und zur Bestrafung an sie übergeben werdet. Er erklärt gerade, daß ihm dies die Götter mitgeteilt hätten.« »Gut!« meinte Lord Darcy. »Sagt er das? Ich werde versuchen, ihn nicht zu enttäuschen, obwohl ich mir über den Teil, daß ich ihnen den Mörder ausliefern werde, nicht so sicher bin.« »Er fährt fort, daß dieses Beispiel des guten Willens von Seiten des mächtigen Herrschers der Anglo-Franzosen es seinen Leuten ermöglichen werde, den Vertrag zu unterzeichnen, sobald sie hier ankommen werden«, fügte Lord John hinzu. »Die Implikation ist klar«, flüsterte Graf de Maisvin. »Kein Mörder, kein Vertrag. Seine Gnaden wird sicherlich entzückt sein.« »Nun gut«, entschied Lord Darcy. »Da ich jetzt Hilfe bekomme, wenn auch für einen wesentlich höheren Preis, als ich es gewohnt bin, sollte ich lieber mit der Befragung anfangen. Ist der spanische Gentleman hier?« »Don Miguel?« fragte de Maisvin. »Er hockt da drüben. Der mit der doppelten Federreihe am Helm.« »Ich hätte es schon am Schnurrbart erkennen sollen«, sagte Lord Darcy. »Wie ist Euer Spanisch, My Lord?« »Angemessen«, sagte de Maisvin. »Vermutlich spricht Don Miguel etwas Anglisch. Wartet ein oder zwei Minuten und schickt ihn dann zu mir in den 161
vorderen Raum«, bat Lord Darcy. »Die anderen können hier warten, bis ich nach ihnen rufe. Ihr könnt ihn als Übersetzer verwenden, ich schicke ihn dann zurück. Lord John, kommt bitte mit mir.« Lord Darcy und Lord John kehrten in den vorderen Raum zurück, wo Lord Darcy einen kleinen Tisch von der Wand abrückte und einen Holzstuhl mit gerader Lehne dahinterschob. »Es ist dunkel hier«, bemerkte er. »Ich nehme an, daß unsere aztekischen Gäste etwas dagegen hätten, wenn wir Tür und Fenster öffnen, um etwas mehr Licht hereinzulassen. So müssen wir zu künstlichen Hilfsmitteln greifen. Dieses Haus scheint keine Gasleitung zu haben. Vielleicht ist diese abgelegene Gegend noch nicht angeschlossen. Lord John, würdet Ihr einmal nachsehen, ob Ihr ein paar Laternen entdecken und sie hier aufstellen könnt? Ich sehe gern, mit wem ich spreche.« Lord John stöberte einige Kerosinlampen in einem Wandschrank auf, wo der abwesende Wirt sie wahrscheinlich versteckt hatte, und hängte sie an Wandhaken, bevor er sie anzündete. In der Zwischenzeit fand Lord Darcy einen weiteren Stuhl und stellte ihn auf die andere Seite des Tisches. »Stellt eine Lampe hier herüber«, bat er. »Ein wenig zur Seite, so daß sie meinem Zeugen nicht direkt ins Gesicht leuchtet. Ich möchte ihn nicht nervös machen, aber ich möchte ihn gerne genau beobachten können.« »Wo soll ich mich aufstellen, My Lord?« erkundigte sich Lord John. »Nehmt Euch einen Stuhl mit in die Ecke dort drüben«, antwortete Lord Darcy. »Ihr werdet im Schatten hinter meiner rechten Schulter sitzen. Um jetzt die Möglichkeit zu verringern, daß irgendeiner dieser aztekischen Gentlemen verärgert wird, weil Ihr eigentlich die Befragung durchführt, werde ich nicht Euch ansehen, 162
sondern ununterbrochen auf den Zeugen blicken, in höflicher und unanstößiger Weise natürlich. Das sollte dazu führen, daß er seine Augen bei mir behält und Eure Anwesenheit dadurch weniger offenkundig wird. Ihr werdet so psychologisch zu einer Stimme hinter den Kulissen, wenn Ihr versteht, was ich meine.« »Ich könnte sogar mit sehr wenig Aufwand vollkommen unsichtbar werden, My Lord«, schlug Lord John vor. »Ihr könntet … oh, Ihr spielt auf den Tarnkappeneffekt an, die magische Fähigkeit, dafür zu sorgen, daß andere überall hinschauen, nur nicht dorthin, wo man sich befindet«, schmunzelte Lord Darcy. »Ich bin der Meinung, daß die Auswirkung einer völlig körperlosen Stimme auf meine Zeugen den Vorteil, den Eure offensichtliche Abwesenheit brächte, neutralisieren würde. Aber vielen Dank für den Vorschlag.« Lord John zuckte mit den Schultern und nahm seinen Platz ein. »Es war nur so eine Idee«, bemerkte er. Lord Darcy drehte sich auf dem Stuhl herum. »Eine Frage an Euch, My Lord«, sagte er. »Könntet Ihr mit Eurem Hexengeruchssinn Böses in einem überfüllten Raum spüren, wie zum Beispiel in dem, den wir gerade verlassen haben?« Lord John überlegte. »In einem spezifischen Sinne, My Lord«, antwortete er. »Und es kommt darauf an, wie Ihr das Böse definiert. Jemanden, der in irgendeiner Weise Schwarze Magie praktiziert, sicherlich, aber jemanden, der sich nur einen Schilling stiehlt, wahrscheinlich nicht.« »Laßt uns die Situation überdenken, My Lord«, meinte Lord Darcy. »Laßt uns annehmen, daß einer der Leute im Raum seinen Prinzen in einer heidnischen Zeremonie dem Sonnengott geopfert hat. Wäre das böse genug für Euch, um es zu spüren?« 163
»Ja«, erwiderte Lord John. »Schwarze Magie ist eine Sache von Symbolen und Absicht, wie Ihr wohl wissen werdet. Die Symbolik einer solchen Zeremonie und ihre Absicht läßt mit Sicherheit eine Spur im Bewußtsein des Täters zurück, und zwar eine sehr deutliche. Ich hätte sie gespürt.« »Danke, My Lord«, schloß Lord Darcy ab. »Da ich Eure Fähigkeiten sehr gut kenne, schließt das eine der Möglichkeiten präzise aus.« Don Miguel Potchatipotle schritt durch den kurzen Flur in den vorderen Raum. »Ihr wolltet mit mir sprechen?« erkundigte er sich und lächelte gewinnend mit seinen goldgefüllten Zahnstümpfen. Sein Anglo-Französisch wurde durch etwas entstellt, was wohl einmal ein spanischer Akzent gewesen sein mochte. Jetzt aber war es noch weiter mit einem befremdlichen Klang und einer unberechenbaren Verstümmelung der Konsonanten belastet. Lord Darcy seufzte, als er sich erhob, um den aztekischspanischen Grande zu begrüßen. »Bitte, setzt Euch, Don Miguel«, forderte Lord Darcy ihn auf und sprach dabei langsam und deutlich. »Es freut mich, daß Euer Anglisch so gut ist, daß wir uns in einer Sprache unterhalten können, die wir beide verstehen.« Don Miguels Lächeln wurde breiter und zeigte noch mehr Gold. »Ihr seid zu liebenswürdig«, entgegnete er. »Das kann sein«, erwiderte Lord Darcy hintergründig, lächelte und deutete auf den Stuhl. Sie setzten sich gleichzeitig. Don Miguel Potchatipotle war ein kleiner, dunkelhaariger Mann mit leichtem Spitzbauch und einem breiten, üppigen Schnurrbart, den er sorgfältig gewachst und an jedem Ende emporgezwirbelt hatte. Dieses Spitzenbeispiel des edlen spanischen Schnurrbarts wirkte 164
ausgesprochen deplaziert auf der Oberlippe eines Mannes im Gefolge eines aztekischen Häuptlings. »Wie lange lebt Ihr schon unter den Azteken, Don Miguel?« fragte Lord Darcy, zog sein Notizbuch hervor und schlug eine leere Seite auf. Don Miguel blickte an die Decke und murmelte vor sich hin, während er die Finger seiner linken Hand mit der rechten abzählte. Er ging die Finger einige Male durch. »Es sind jetzt wohl so ungefähr zwölf Jahre«, sagte er schließlich. »Ich bin fast neun Jahre verheiratet, das ist der Grund, weshalb ich jetzt einen aztekischen Namen trage. Meine Frau ist ein liebliches Mädchen, hat noch alle ihre eigenen Zähne. Ihre Familie ist von hoher Herkunft – sehr hoher. Ich bin ihnen in europäischen Angelegenheiten sehr nützlich.« »Ich verstehe«, bemerkte Lord Darcy. »Sagt mir, mußtet Ihr Eure Religion aufgeben, um in diese aztekische Familie einheiraten zu können?« »Oh, nein«, erwiderte Don Miguel und bekreuzigte sich. »Santa Maria, nein!« Er griff in den Halsausschnitt seines messingbesetzten, ledernen Brustharnischs und zog ein kleines, goldenes Kreuz am Ende einer dünnen Goldkette hervor. »Ich bin immer noch ein guter Christ«, sagte er, »ein guter Katholik. Vielleicht werde ich meine ganze Familie dazu bewegen zu konvertieren. Das braucht seine Zeit. Ich gehe zwei- oder dreimal im Jahr zur Kirche. Wenn ich es kann.« »Eure aztekische Familie weiß davon?« fragte Lord Darcy. »Oh, ja, wir haben ein Übereinkommen. Ich bin gut zu ihnen – sie sind gut zu mir.« Lord Darcy nickte. Es war wirklich eine komplexe und wunderbare Welt, in der sie lebten. »Wie lange kennt Ihr 165
den Prinzen Ixequatle schon?« fragte er weiter. »Nicht lange, nicht gut. Der Prinz, Königsblut. Prinzen – Ihr versteht? Dagegen weiß ich über ihn viel Gutes. Ein sehr ernster junger Mann. Wollte die Religion seiner Leute reformieren. Er erhob Quetzalcoatl zum Gott-DerMenschen-Hilft. Sehr ähnlich dem christlichen Gott. Die anderen Götter sollten verschwinden. Das Blutopfer auch. Nicht gut.« »Ich dachte, daß Euer Wahlvolk schon vor einem Jahrhundert die Blutopfer aufgegeben hat«, bemerkte Lord Darcy. »Oh, ja, das haben sie, das haben sie«, versicherte Don Miguel ernst. »Aber wie die heimlichen Magier in der alten Welt – sehr illegal, wird jedoch immer noch getan.« »Ist das ein großes Problem?« fragte Lord Darcy. »Nein, nein – kein Problem. Ein Ärgernis, eine Plage. Versteht Ihr?« »Ja«, meinte Lord Darcy. »Berichtet mir, welche Art europäischer Hilfe Ihr Eurer aztekischen Familie gebt?« »Die Familie hat ein ehrgeiziges Vorhaben«, erzählte Don Miguel und lächelte ernst. »Sie wollen Lehrer in europäischen Dingen – in anglo-französischen Belangen. Sie wollen die alten Wege aufgeben und neue, bessere Wege beschreiten.« »Und habt Ihr damit großen Erfolg?« erkundigte sich Lord Darcy. Don Miguels Lächeln verschwand, und er schlug traurig die Augen nieder. »Sehr schwierig«, gab er zu. »In zweierlei Hinsicht: Viele Azteken haben wenig Bedürfnis, etwas zu verändern. Wie die meisten Menschen an den meisten Orten fühlen sie sich wohl mit dem, was sie kennen. Auf der anderen Seite wollen viele Europäer 166
keine Azteken unterrichten. Es ist leicht, Missionare zu bekommen, aber keine Lehrer. Die Azteken wollen Veränderungen, aber nicht die Religion wechseln. Lehrer si, Missionare no.« »Ich dachte, Missionare seien gute Lehrer«, sagte Lord Darcy. »An Orten, wo sie nicht aufgeben müssen, Missionare zu sein«, erklärte Don Miguel. »Lehrer, Heiler, andere schöne Berufe. Aber Missionare wollen nicht ihren Gott aufgeben, um zu unterrichten oder zu heilen. Und Azteken haben ihren eigenen Gott. Ist ein schwieriges Problem.« »Das verstehe ich wohl«, entgegnete Lord Darcy. »Wie kommt es, daß Ihr den Prinzen begleitet habt?« »Er brauchte jemanden, der anglo-französisch spricht und die Sitten und die Denkweisen der Anglo-Franzosen kennt«, sagte er ernst. »Ich bin im Moment der einzige in Tenochtitlan, der einem Experten am nächsten kommt. In Wirklichkeit bin ich kaum qualifiziert, weil ich meine Jugend in Spanien verbracht habe, ohne jemals die Grenze zu irgendeinem benachbarten Königreich zu überschreiten. Aber Spanien ist England wesentlich näher als Tenochtitlan, so wurde ich zum Experten erklärt. Das ist immer noch besser, wie die Azteken zu sagen pflegen, als ein kleines Erdbeben.« »Wie war der Prinz?« fragte Lord Darcy. »Mochtet Ihr ihn?« »Er war ein verschlossener junger Mann«, sagte Don Miguel. »Die Sorte, die man nicht so leicht gern hat, auch wenn man mit ihr einer Meinung ist. Aus dem gleichen Grund war es schwierig, ihn so weit abzulehnen, daß man ihm etwas antat. Er war so ernst – so eifrig. Und dennoch gab es nichts Böses an ihm, wenn Ihr versteht, was ich meine.« 167
»Ich verstehe«, meinte Lord Darcy. »Aber trotzdem hat ihn jemand getötet und sein Herz herausgerissen.« »Es ist mir ein Rätsel«, stimmte Don Miguel zu. »Alles, was ich mir vorstellen kann, ist, daß es vielleicht jemand getan hat, um die Azteken in Verruf zu bringen. Aber das scheint sehr umständlich für einen derart geringen Effekt zu sein.« »Ganz meine Meinung. Denkt Ihr, daß es ein Ritualmord von jemandem in der aztekischen Gemeinschaft gewesen sein könnte? Nicht notwendigerweise jemand, mit dem Ihr zusammen gekommen seid, sondern jemand anderes?« Don Miguel zuckte mit den Schultern. »Wer?« fragte er. »Es gibt nicht viele Menschen aztekischer Herkunft hier in Nova Eboracum, und die meisten davon sind wie Euer Freund Lord John Quetzal. Sie gehören nicht mehr der alten Religion an. Diese Leute, mit denen ich gekommen bin, hätten so etwas mit Sicherheit nicht getan. Darüber hinaus war der Prinz der einzige Abwesende an dem Morgen, als die Tat geschah.« »Warum ging er allein, ohne eine Leibwache?« fragte Lord Darcy. »Er dachte nicht, daß er eine brauchen würde«, erwiderte Don Miguel. »Er wollte sich mit jemandem treffen.« Lord Darcy hob den Blick vom Notizbuch. »Was wollte er?« »Er wollte jemanden treffen.« »Wen?« Don Miguel schüttelte den Kopf. »Das weiß niemand von uns. Prinz Ixequatle erwähnte Lord Lloriquhali gegenüber, daß er jemanden treffen wolle, der Informationen über die Pyramide hätte, sagte aber nicht, wer es wäre.« 168
»Was für Informationen?« »Auch das hat er leider nicht gesagt.« Lord Darcy erhob sich. »Danke, Don Miguel«, sagte er, »Ihr wart mir eine große Hilfe.« »Es war mir ein Vergnügen«, sagte Don Miguel und erhob sich ebenfalls. »Auch ich sehe die Notwendigkeit, den Mörder zu fangen. Wenn es noch etwas gibt, das ich tun kann, wendet Euch doch bitte an mich.« »Das werde ich«, versicherte Lord Darcy. Lord Lloriquhali marschierte herein, als Don Miguel den Raum verließ. Er blieb vor dem Tisch stehen und ignorierte den Stuhl. Dann hob er die rechte Hand und begann seine Ansprache. Er sprach das Nahuatl so deutlich aus, daß es sogar ein Kind verstehen konnte, und ignorierte die Stimme von Lord John, der übersetzte. Er machte deutlich, daß er den Prinzen Ixequatle davor gewarnt hätte, an jenem Tag auszugehen. Daß der, wen immer der Prinz hätte treffen wollen, einer der Mörder gewesen sein mußte. Daß jeder sich gegen sie verschworen hätte. Daß er, Lord Lloriquhali, Lord Darcy vertraue, weil klar sei, daß Lord Darcy ein Gesandter der Götter sei, der den Prinzen rächen würde. »Was schlagt Ihr vor, was ich tun soll?« fragte Lord Darcy. »Verhaftet jeden, der irgend etwas mit der Verschwörung zu tun haben könnte«, forderte Lord Lloriquhali bestimmt. »Foltert sie, bis die Schuldigen gestehen. Danach gebt sie an uns weiter.« »Warum glaubt Ihr, daß es mehr als ein Mörder war?« »Weil dies das Werk eines Feiglings ist. Und kein Feigling würde es wagen, einem Azteken allein gegenüberzutreten«, erklärte Lord Lloriquhali. 169
»Aha«, meinte Lord Darcy. Lord Lloriquhali wendete sich ab und ging entschiedenen Schrittes zurück in den Nebenraum. Nach ein paar Minuten wurde sein Platz von Chichitoquoppi eingenommen, dem Leibdiener des Prinzen. Chichitoquoppi war ein kleiner, dünner Mann in den Zwanzigern mit gebeugten Schultern und einem riesigen Kopf. Er trug lediglich einen gebleichten, weißen maxtlatl, die aztekische Version des Lendenschurzes, und einen einfachen Wollumhang, den er über seiner linken Schulter zusammengeknotet hatte. Das Haar war kurz geschoren, und seine wenigen Kleidungsstücke waren penibel sauber. Er schlich sich in den Raum, als sei er nicht ganz davon überzeugt, daß man ihn nicht anschreien würde, stellte sich hinter den Stuhl und klammerte sich schutzsuchend an der Lehne fest. »Fordert ihn auf, sich zu setzen«, sagte Lord Darcy nach hinten gewandt über seine Schulter. Lord John übersetzte, und der dünne, nervöse Mann zog den Stuhl heran und setzte sich vorsichtig. »Wie lange warst du Prinz Ixequatles Diener?« begann Lord Darcy. Chichitoquoppi warf einen Blick auf Lord John Quetzal, als dieser übersetzte und richtete dann seine Aufmerksamkeit auf Lord Darcy. »Seit sechs Monaten«, antwortete er. »Davor arbeitete ich auch schon im Palast. Ich war Barbier. Prinz Ixequatle mochte die Art, wie ich seinen Bart schnitt, und er nahm mich in seinen persönlichen Dienst, als mein Vorgänger mit der Arbeit aufhören mußte, weil er Probleme mit dem Magen hatte.« Chichitoquoppi hielt sich den Bauch, um das zu illustrieren. »Er hatte große Schmerzen.« »Wie geht es ihm jetzt?« unterbrach ihn Lord Darcy. 170
»Stuppitiquti? Es geht ihm wesentlich besser. Er hat sich zurückgezogen und einen Pulque-Laden aufgemacht.« »Das ist eine Art Wein aus Agavensaft«, fügte Lord John auf Lord Darcys fragenden Blick hinzu. »Was für ein Mann war der Prinz?« fuhr Lord Darcy fort. Chichitoquoppi dachte nach und kratzte sich die Schläfe. »Sehr bestimmt«, sagte er. »Klug«, fügte er hinzu. »Als er beschloß, Eure Sprache zu lernen, brauchte er sechs Monate, um sie fließend zu beherrschen.« »Er sprach anglisch?« erkundigte sich Lord Darcy. Chichitoquoppi nickte. »Er sprach es sehr gut, hat man mir erzählt. Ich selbst verstehe es nicht.« »Gut«, meinte Lord Darcy zu Lord John, »das erklärt etwas, das mir bisher ein Rätsel gewesen ist. Es fällt mir leichter, mir vorzustellen, daß der Prinz mit jemandem fortgegangen ist, jetzt, da ich weiß, daß er mit ihm hat sprechen können.« Er wandte sich wieder an Chichitoquoppi. »Welche Arbeiten hast du für deinen Herrn verrichtet?« fragte er. »Ich brachte das Essen. Ich sorgte dafür, daß seine Kleidung sauber war und daß er sich sorgfältig kleidete. Seine Mutter hatte ihm das Versprechen abgenommen, sich warmzuhalten. Deshalb sorgte ich dafür, daß er den Wollumhang mitnahm, wenn er ausging. Ich machte Besorgungen für ihn und übermittelte Nachrichten. Ich tat, was immer der Prinz von mir verlangte.« »Hast du ihm an dem Morgen, als er getötet wurde, seinen Wollmantel mitgegeben?« fragte Lord Darcy. Chichitoquoppi nickte nachdrücklich. »Es war kalt«, sagte er. »Der Prinz trug seinen bestickten Wollumhang und auch baumwollene Fußwickel in den Sandalen.« 171
»Danke, Chichitoquoppi, du kannst gehen«, entließ ihn Lord Darcy. Der kleine Mann huschte aus dem Raum. »Was, meint Ihr wohl, geschah mit dem wollenen Umhang?« fragte Lord Darcy, stand auf und streckte sich. »Er trug ihn jedenfalls nicht, als wir ihn fanden«, meinte Lord John. Lord Darcy schlenderte zur Verbindungstür und öffnete sie. »Ich möchte mir das Zimmer des Prinzen ansehen«, teilte er Don Miguel Potchatipotle mit, der mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden beim Feuer saß. »Sofort, Eure Lordschaft«, sagte Don Miguel und schob sich auf die Füße. »Ich werde Euch selbst dorthin führen.« »Sehr schön«, sagte Lord Darcy.
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10 Master Sean O Lochlainn stellte seinen mit Symbolen verzierten Reisesack auf den großen, glatten Holztisch und öffnete die Krokodilkieferbügel. »Das wird eine knifflige Angelegenheit, My Lord«, meinte er, »aber mit ein bißchen Glück wird es schon gehen.« Lord Darcy, Master Sean und Lord John Quetzal befanden sich in einem der hinteren Zimmer im Flügel des Residenzgebäudes, den Herzog Charles ihnen für die Ermittlungen zur Verfügung gestellt hatte. Die Räume lagen direkt hinter dem regulären Wachraum rechts vom Haupteingang, gleich wenn man hereinkam. Der Leiter des Geheimdienstes, Hauptmann Vincetti, kontrollierte seine Häscher vom Nebenzimmer aus, in dem sein Sekretär die ständig hereinkommenden Berichte in Aktenordner sortierte. Stündlich legte er ein paar neue Ordner auf den wachsenden Stapel. »Ihr müßt so viel Spreu sammeln, wie Ihr könnt«, hatte Lord Darcy den schlaksigen Geheimdienstleiter angewiesen, »damit wir etwas aussortieren können, sobald wir gelernt haben, den Weizen zu erkennen.« Master Scan zündete eine Bienenwachskerze an und stellte sie auf die eine Seite des Tisches. Dann nahm er eine Rolle feines, weißgebleichtes Pergament aus seinem Reisesack, rollte ein Blatt auseinander und legte es vor sich hin. Mit einem langen, dünnen, goldenen Zauberstab, der einen von fünf goldenen Fingern eingefaßten Katzenaugenopal an der Spitze trug, berührte er alle vier Ecken und danach die Mitte des Blattes, während er ein paar lateinische Sätze intonierte. Das Pergament auf dem Tisch wurde sichtlich steifer, so als ob es gerade magisch 173
gestärkt und geplättet worden wäre. Er nickte befriedigt. »Würdet Ihr bitte das gesamte Material, das Ihr im Gemach des Prinzen aufgelesen habt, auf das eine Ende des Blatts legen, Lord John, wenn ich bitten darf?« bat er. »Während Ihr dies macht, beschreibt präzise jeden Eurer Handgriffe, wenn es Euch nichts ausmacht. Bedenkt, Absicht ist alles.« Lord John zog an der Schlaufe des ledernen Beutels, den er in der Hand hielt. »Das Material in diesem Beutel besteht aus Partikeln, die ich persönlich in dem Gemach gesammelt habe, das der Aztekenprinz Ixequatle früher benutzt hat … überwiegend aus dem Bereich seiner Garderobe. Ich lege es jetzt zur Separation auf das zu mir weisende Ende des magisch aufgeladenen Pergaments«, erläuterte er deutlich vernehmbar, während er den Inhalt des Beutels vorsichtig auf das weiße Blatt schüttete und mit dem stumpfen Ende eines silbernen Federhalters verteilte, den er aus seiner Hemdtasche gezogen hatte. »Sehr gut, My Lord«, sagte Master Sean. Er nahm die Bienenwachskerze, die jetzt eine kleine Mulde von geschmolzenem Wachs an der Spitze unter dem Docht gebildet hatte, und drückte den Docht mit zwei angefeuchteten Fingern aus. Mit einem kleinen Pinsel, der aus den Haaren eines Fuchsschwanzes gefertigt war, zeichnete er eine Linie aus geschmolzenem Bienenwachs quer über das Pergament. »Wie Ihr wissen werdet«, sagte er, »zieht Gleiches Gleiches an, und durch die richtige Anwendung des Gesetzes der Gleichheit kann diese Anziehungskraft über Entfernungen hinweg wirksam sein. Keine großen Entfernungen in diesem Fall, jedoch für unseren Zweck ausreichend.« Mit einem Lächeln lauschte Lord Darcy der Lektion des Hexenmeisters, der weitersprach, während er arbeitete. 174
Master Sean konnte sich besser konzentrieren, wenn er seine Handlungen beschrieb. Die Notwendigkeit einer klaren Beschreibung zwang ihn, völlig bei der Sache zu bleiben. Und es machte ihn außerdem zu einem vorzüglichen Lehrer in der Kunst und im Handwerk der Magie. Nach langen Jahren der Unterweisung verstand Lord Darcy nun die meisten der gewöhnlichen magischen Vorgänge innerhalb der Gerichtshexerei. Natürlich konnte er immer noch keinen der Zauber selbst bewerkstelligen, denn kein noch so großes magisches Wissen konnte das Talent ersetzen. Und wenn es daran fehlte, dann funktionierte die Magie einfach nicht. Es war eines der Geheimnisse des Universums, dessen Lösung noch in weiter Ferne zu sein schien: die Frage, warum die Gesetze der Magie bei einer Person funktionierten und bei einer anderen nicht. Aber es war auf jeden Fall eine Tatsache. Genau wie Haar- und Augenfarbe, Farbenblindheit, hohe Intelligenz und die Fähigkeit zu regieren, schien diese Eigenschaft erblich zu sein. Man hatte eine viel größere Chance, wenigstens über eine Spur von magischem Talent zu verfügen, wenn die Eltern Kelten waren und nicht, beispielsweise, Friesen. Wenn die Eltern Normannen waren, konnte man sein ganzes Leben lang in einen Kristall starren und niemals etwas anderes darin sehen als das eigene Spiegelbild. Die Polen waren ebenfalls ein Volk bar jeden magischen Talents. Aber die König Kasimir untertänigen Magyaren besaßen es dafür in einem solchen Übermaß, daß das Gleichgewicht gewahrt blieb. »Ich nehme jetzt diese aufgeladenen Wollfasern«, erläuterte Master Scan, »und lege sie auf die gegenüberliegende Seite hinter der Bienenwachslinie. Es ist eine Art magische Version eines natürlichen Magneten, seht Ihr, jedoch eben artspezifisch. Gleiches zieht Gleiches an, wie ich schon sagte. Jetzt sind sie auf derselben Ebene 175
wie die Partikel, die wir prüfen wollen, und wir werden es gleich herausfinden … Da, jetzt!« Einige Fasern des kleinen Haufens ausgestreuter Partikel aus dem prinzlichen Gemach hatten begonnen, sich ruckartig in die Richtung der anderen Wollfäden zu bewegen. Es war eine Art torkelnder Gang, ähnlich dem eines Betrunkenen, wenn er versuchte, nach Hause zu kommen. Langsam und zielstrebig trennten sie sich von den sie umgebenden Staubteilchen und staksten über die Oberfläche des gestärkten weißen Pergaments, bis sie die Wachslinie erreicht und überquert hatten. Auf der anderen Seite angekommen, schienen sie das Interesse verloren zu haben und blieben nach ein paar weiteren kleinen Sprüngen dort liegen, wo sie sich gerade befanden. »So sieht es aber nicht aus, wenn ein Magnet Eisenstückchen anzieht«, kommentierte Lord John. »Es gibt keine exakte Analogie«, entgegnete Master Sean, während er seinen wollenen Magneten vom Pergament herunternahm. »Also, was haben wir jetzt Neues herausgefunden?« fragte Lord Darcy. »Höchstens, daß diese tanzenden Stückchen Wollfasern sind. Ist das richtig?« »So ist es, My Lord«, entgegnete der findige Gerichtshexer, während er die Partikel durch ein kleines, aber starkes Vergrößerungsglas betrachtete, das er aus seinem magischen Reisesack gezogen hatte. »Aber wenn man annimmt, daß der Raum nicht für Kleidungsstücke oder Bettzeug benutzt wurde und daß der vermißte Umhang das einzige unverpackte wollene Kleidungsstück des Prinzen war, dann gehe ich davon aus, daß die meisten dieser Partikel höchstwahrscheinlich von Prinz Ixequatles Umhang stammen.« »Es ist sicherlich das Experiment wert«, pflichtete Lord 176
Darcy bei. »Fahrt fort, Master Scan.« Nachdem er die Lupe beiseite gelegt hatte, nahm Master Sean sorgfältig alle Wollteilchen mit dem Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand auf und rollte sie zu einer Kugel von Erbsengröße. »Ihr seht also, daß wir jetzt unsere Methode ändern müssen. Das Gesetz der Gleichheit hat uns alle Informationen gegeben, die wir aus ihm beziehen können. Wir geben uns jetzt nicht länger mit Gleichheiten ab, sondern mit Identitäten. Die Frage heißt nicht mehr: ›Ist das ein Stückchen Wolle?‹, sondern ›Stammt dieses Stückchen Wolle von Prinz Ixequatles Mantel, und wenn ja, wo befindet sich der Mantel jetzt?‹« Master Sean nahm aus seinem mit Symbolen verzierten Reisesack einen geschliffenen, kristallenen Behälter von der Größe und Form einer Taschenuhr und schraubte die klare, kristallene Spitze ab. Er legte sie sorgfältig auf den Tisch, ließ vorsichtig das Wollkügelchen hineinfallen und schraubte das Oberteil wieder fest. »Das Gesetz der Synecdoche sagt uns, daß das Ganze und die Summe seiner Teile austauschbar ist. Wenn ein Objekt eine einzigartige und kraftvolle Identität aufweist, dann ist jedes seiner Teile auch ein Teil dieser Identität. Und die Teile, die vom Ganzen abgetrennt worden sind, werden bestrebt sein, ihre Position … ihre Identität … wieder einzunehmen, als ein Teil des Ganzen. Wenn sie sorgfältig aufgeladen worden sind, dann wird das Suchen aktiv werden, anstatt latent zu bleiben. Laßt uns nun sehen, ob wir dieses Wollkügelchen aufladen können, damit es sein Zuhause in dem Mantel von Prinz Ixequatle sucht.« Master Sean steckte die Kerze wieder an und stellte sie an das Ende des Tisches, ungefähr fünfzehn Zentimeter vor den Kristallbehälter. Dann verteilte er sorgsam eine genau Bemessene Menge eines feinen, silbrig 177
gesprenkelten grünen Puders auf einem kleinen Spiegel, den er zwischen zwei Fingern hielt. Lord Darcy bemerkte, daß Lord John den irischen Hexenmeister genau beobachtete, während er die exakten Positionen und Bewegungen jeder Geste notierte. Dabei bewegte der junge Mechicainzauberer in einer Nachahmung von Master Scans ausgreifenden Bewegungen leicht die Hände, um das Vorgehen in sein Muskelgedächtnis einzuprägen. Lord Darcy fand, daß diese Art der Nachahmung weit über bloße Schmeichelei hinausging. Lord John war trotz allem ein Meister auf seinem Gebiet (oder hieß es bei einem Magier oder Priester ›Meister des eigenen Ritus‹?). Seine Handlungsweise bewies die Tiefe seiner Überzeugung, daß Sean O Lochlainn ein wahrer Hexenmeister war. Master Sean maß den Winkel zwischen der Kerzenflamme und dem Kristallbehälter mit den Augen ab, und dann, nachdem er einen probaten Spruch dazu gemurmelt hatte, blies er mit einem einzigen Puff den Puder durch die Kerzenflamme hindurch auf den Kristall. Es gab eine kleine, helltönende Explosion, und die ganze Umgebung wurde von einem grünlichen Glühen erfüllt. Myriaden von hellerleuchtenden Pünktchen stoben davon, als würden für einen kurzen Moment unzählige Glühwürmchen durch den Raum schwirren. Als das Geflimmer verschwunden war und ihre Augen sich wieder beruhigt hatten, sah Lord Darcy, daß der Kristallbehälter in einem sanften grünen Licht glühte, das irgendwo aus seinem Inneren zu kommen schien. Master Sean starrte auf den Kristall hinunter und drehte ihn von einer Seite auf die andere. »Es scheint funktioniert zu haben, meine Herren«, stellte er fest. »Die Kugel aus Wolle wird nun sympathiemagisch von dem größeren wollenen Objekt angezogen, dem sie gehört. Ihr seht, wie 178
sie gegen die, äh, südliche Seite des Kristallbehälters drückt, ganz egal, wie ich ihn drehe.« »Dann befindet sich der Mantel … falls es der Mantel ist … irgendwo südlich von uns?« fragte Lord Darcy. »Ich entschuldige mich für die banale Frage, aber ich habe gelernt, in magischen Angelegenheiten immer das auszusprechen, von dem ich annehme, daß es gerade geschieht, weil es einfach zu oft nicht dem entspricht, was tatsächlich vor sich geht.« »Diesmal habt Ihr recht, My Lord«, bestätigte Master Sean. »Obwohl die Richtungsfindung mit dem Kristallbehälter nur eine ungefähre Angabe darstellt, solange man nicht ziemlich dicht an das gesuchte Objekt herangekommen ist, schätze ich, daß sich der Mantel irgendwo südlich von uns befinden muß.« »Also dann, laßt uns aufbrechen mit der Aussicht auf unsere synecdochische Belohnung«, schlug Lord Darcy vor. »Ich werde ein paar Wachmänner mitnehmen, weil es ungewiß ist, was wir an unserem Bestimmungsort vorfinden werden, wo auch immer er liegen mag. Aber ich sage Euch eins, Master Sean: Ich werde furchtbar enttäuscht sein, wenn unsere Suche uns zu einer Wiese führt, und es sich herausstellt, daß ein Bauer an diesem Ort ein Schaf gehalten hat.« »Das ist sehr unwahrscheinlich, My Lord«, entgegnete Master Sean. »Diese Wollfasern wurden gewaschen, gekämmt, und einige von ihnen wurden sogar rot gefärbt.« »Ah!« rief Lord Darcy aus. »Das ist sehr ermutigend. Laßt uns also losgehen und ›dieser Straße folgen, wo auch immer sie hinführen mag, und sollte es bis ans Ende der Welt sein‹, wie der Dichter so schön sagt.« Lord Darcy stieß die Tür zum Nebenzimmer auf. »Es ist mir unangenehm, Euch zu behelligen, Hauptmann 179
Vincetti«, rief er, »aber ich muß mir zwei von Euren Soldaten ausleihen, falls Ihr nichts dagegen habt. Wir müssen eine kleine Reise unternehmen.« »Natürlich habe ich nichts dagegen, My Lord!« rief der Leiter der Geheimpolizei zurück. »Es werden zwei meiner besten Männer auf Euch warten, wenn Ihr aufbrecht. Wie lange werdet Ihr sie brauchen, My Lord?« »Das kann ich im Augenblick noch nicht sagen«, erwiderte Lord Darcy. »Ich denke, nicht allzulange. Was meint Ihr, wie weit es bis zum Ende der Welt ist?« »My Lord?« »Ist schon in Ordnung, Hauptmann Vincetti. Ich denke, ich werde Eure Jungs nicht einmal über Nacht behalten. Sollte es länger dauern, werdet Ihr benachrichtigt.« »Oh, das geht in Ordnung, My Lord. Ich wollte nur wissen, ob ich den Männern sagen muß, daß sie sich Kleidung zum Wechseln mitnehmen sollen.« »Sie werden mit den Kleidern auskommen müssen, die sie anhaben«, sagte Lord Darcy. »Wir werden in wenigen Augenblicken aufbrechen. Und, Hauptmann, achtet darauf, daß die Männer zusätzlich zu ihren Kurzschwertern mit Pistolen bewaffnet sind.« »Sehr wohl, My Lord.« Lord Darcy schloß die Tür und wandte sich wieder seinen Begleitern zu. Seine Augen funkelten verschmitzt. »Habt Ihr alles gepackt, Master Sean?« fragte er. »Dann laßt uns aufbrechen. Irgendwo im Süden erwartet uns die Wahrheit!« Er nahm den schweren Umhang vom Haken neben der Tür und warf ihn sich um die Schultern. »Und Ihr meint, daß es wirklich wichtig sein könnte, diesen Mantel zu finden, My Lord?« fragte Lord John. »Wollt Ihr das bezweifeln?« gab Lord Darcy zurück. 180
»Wo auch immer wir ihn finden und was auch immer mit ihm verbunden ist, wird unser Wissen über das Verbrechen erweitern. Bisher haben wir uns darauf beschränkt, Tatsachen über das Opfer herauszufinden. Nun fühle ich mich von dem Gedanken an die Bedeutung des Mantels angezogen wie eine Motte vom Licht, nur daß in diesem Fall – wie Master Scans Kristallbehälter uns mitteilt und wir inständig hoffen – der Mantel das Licht ist.« Sie verließen die Diensträume mit den beiden bewaffneten Männern, die im Gleichschritt hinter ihnen gingen, traten durch die große Eingangstür aus dem Residenzgebäude und eilten den Great Way entlang nach Süden. Etwa zwanzig Minuten später waren sie am Südende der Stadt angelangt und passierten die Fähre an der Langert Street, die gerade ablegte, als sie vorbeigingen. Die Feste St. Michael war undeutlich in der Ferne zu sehen und wurde ständig größer, während sie die Allee hinuntergingen. Als sie noch ungefähr eine Meile von der Feste entfernt waren, blieb Lord Darcy plötzlich stehen. »Heißt es nicht«, fragte er Master Sean, »daß magische Sprüche nicht über fließendes Wasser hinweg wirksam seien?« »So ist es«, erwiderte Master Sean, blieb stehen und blickte von seinem Kristallbehälter auf. »Auch dieser nicht?« »Dieser? Oh, ich verstehe, was Ihr meint. Nun, My Lord, dies ist ein ganz spezieller Fall. Der Zauberspruch wirkt nicht über das Wasser hinweg. Aber der Zauberspruch ist hauptsächlich dazu da, um das Wollkügelchen zu sensibilisieren. Das Verhalten des sensibilisierten Kügelchens ist das, was wir eine sympathetische Reaktion 181
nennen. Sie ist nicht streng magisch und sie kann über große Distanzen hinweg wirken. Natürlich stört das Wasser den Effekt ein wenig und in unvorhersagbarer Weise – weshalb er nicht für eine Kommunikation über das Wasser hinweg benutzt werden kann – aber das Wasser hebt den Effekt nicht auf.« »Also wäre es auch möglich, daß sich der Umhang überhaupt nicht auf der Saytchem-Insel befindet?« »Das ist richtig, My Lord.« »Das habe ich befürchtet«, meinte Lord Darcy. Er wandte sich wieder an Lord John. »Ich denke, wir werden uns ein Boot besorgen müssen. Aber vorher müssen wir uns noch Gewißheit verschaffen. Würdet Ihr zurück zu den Docks gehen und eines von den Küstenwachbooten für uns bereit – Wachen? Wir werden es abholen, sobald wir herausgefunden haben, ob Master Seans Kristall noch immer nach Süden zeigt, nachdem wir die Insel verlassen haben.« »Selbstverständlich, My Lord«, sagte Lord John und verschwand in einer kleinen Nebenstraße, die zum Dock der Küstenwache führte. Lord Darcy und Master Sean setzten ihren Weg fort und folgten dem Drängen der Wollkugel im Inneren des Kristallbehälters. Sie umrundeten die Feste St. Michael und wurden dadurch belohnt, daß sie sahen, wie die kleine Kugel sich noch immer gegen die Seite des Behälters preßte und beständig nach Südwesten strebte. Sie drängte deutlich zu einem Ziel hin, das sich hinter der Festung und hinter der Küstenlinie irgendwo draußen in der großen Bucht befand. »Nun, My Lord, was meint Ihr?« wollte Master Sean wissen, als sie auf dem Steinwall an der Südspitze der Saytchem-Insel standen und auf das bewegte Wasser 182
hinausblickten. »Ich denke, der vermißte Mantel ist entweder dort auf der Pyramideninsel oder auf einem Boot, das sich auf den südlichen Kontinent zubewegt.« Etwa zwanzig Minuten später erschien Lord John mit einem Dampfschiff der neuenglischen Küstenwache unter dem Kommando seines Freundes Lieutenant Assawatan. Das Boot hob und senkte sich mit den Wellen, und Lord Darcy und Master Scan sprangen vorsichtig an Bord, gefolgt von den beiden bewaffneten Männern. »Lord Darcy!« Lieutenant Assawatan rief von der schmalen Brücke zu ihnen hinunter. »Master Sean! Willkommen an Bord! Ich stehe Euch zur Verfügung, Gentlemen. Wohin soll es gehen?« »Zur Pyramideninsel, wenn Ihr so freundlich wärt, Lieutenant Assawatan!« rief Lord Darcy zurück. »Schlagt auf jeden Fall bis auf weiteres diese Richtung ein!« »Wir werden in zwölf Minuten dort sein, My Lord!« erwiderte Lieutenant Assawatan. Das Schiff stieß Rauch aus und schlingerte herum. Mit einem gewaltigen Dröhnen der Maschine und unter schwerfälligem Drehen seiner beiden seitlich befestigten Schaufelräder wendete es zur Bucht hin und nahm Fahrt auf. Lord Darcy ging nach vorn und starrte auf die Pyramide, der sie sich langsam näherten. Sie schien ihm so sehr Teil einer fremden Kultur zu sein, als wäre sie von gigantischen Ameisen – von Bewohnern eines anderen Planeten gebaut worden. Woran lag das? Die Form der Pyramide war nicht typisch für die Azteken oder die Mayas. Selbst die ägyptische Version hatte weder Treppen, die an den Seiten hinaufführten, noch einen Tempel an der Spitze. Aber irgend etwas an dem Haufen 183
Steine, der undeutlich und irgendwie lauernd vor ihm lag, zeugte von einem Bewußtsein, das fremde Gedanken dachte und fremde Ziele verfolgte. Und es stimmte, überlegte Lord Darcy, ihre Ziele waren tatsächlich fremdartig. Zum Beispiel gab es das Spiel tlachtli, das dem Fußball, der im Anglo-Französischen Reich gespielt wurde, sehr ähnlich war, bei dem jedoch ein kleiner harter Gummiball benutzt wurde, der mit Leichtigkeit einen Spieler zum Krüppel machen konnte. Lord John Quetzal hatte die Meisterschaftsspiele beschrieben, die in Tenochtitlan bis vor etwa fünfzig Jahren veranstaltet wurden. Es waren harte Spiele und quälende Übungen, bei denen keine Gnade gewährt und auch keine erwartet wurde. Am Ende des Spiels wurde der Kopf des Kapitäns, der das Gewinnerteam führte, zeremoniell abgeschnitten und in einen Brunnen hinabgeworfen. Der Kopf des Kapitäns vom Gewinnerteam. Wäre es der Kapitän des Verliererteams gewesen, der enthauptet wurde, dann hätte man diese Sitte nur als grob, grausam und wild empfunden. Aber der Kapitän des Gewinnerteams? Es gab in diesem Zusammenhang etwas so Groteskes und Unverständliches für das anglofranzösische Denken, daß es einen schon aufregte, wenn man bloß daran dachte. Lord Darcy warf Master Sean einen fragenden Blick zu, als sie sich der Insel weiter näherten. Master Sean nickte. Die aufgeladene Kugel zeigte tatsächlich in die Richtung der Pyramide. Irgendwo auf der Insel mußte sich Prinz Ixequatles Wollmantel befinden. Oder was von ihm übrig war. In einem Akt mechanischer Virtuosität drehte das Dampfschiff in letzter Sekunde in einem weiten Bogen bei und legte am Pier der Pyramideninsel an. Hauptmann Karlus kam auf den Pier gerannt und schlang dabei seinen 184
Schwertgurt um die Hüfte. »Euer Lordschaft«, rief er aus, während er Habtachtstellung einnahm und zackig salutierte. »Was für ein unerwartetes Vergnügen. Ich hoffe, es ist nichts passiert?« Die beiden Seeleute befestigten schnell einen Landesteg und Lord Darcy und sein kleiner Troß gingen hinüber auf den Pier. »Keine Probleme, Hauptmann«, erwiderte Lord Darcy. »Wir müssen nur noch einige Untersuchungen durchführen, das ist alles. Hat es irgendwelche Zwischenfälle gegeben, seit ich das letzte Mal hier draußen war?« Hauptmann Karlus schüttelte den Kopf. »Keinen einzigen Vorfall, Euer Lordschaft«, antwortete er. »Jedenfalls nicht, seit ich hier bin, und es wurde mir auch nicht berichtet, daß während meiner Abwesenheit etwas geschehen ist.« »Ihr fahrt zum Schlafen zurück nach New Borkum, nicht wahr?« fragte Lord Darcy. »Nein, My Lord«, erwiderte Hauptmann Karlus. »Wir haben Zelte und Feldbetten mitgebracht. Ein Versorgungsschiff bringt uns einmal am Tag warme Mahlzeiten, und die Männer bekommen alle zehn Tage abwechselnd zwei Tage frei.« »Ich verstehe«, sagte Lord Darcy. »Sehr umsichtig und vorausschauend von Euch.« Erblickte sich um. »Wo habt Ihr die Zelte aufstellen lassen?« »Oh, nicht auf der Insel selbst«, meinte Hauptmann Karlus. »Irgendwie schien mir das nicht günstig zu sein. Und außerdem sagen einige der Männer, daß sie wegen der riesigen Pyramide, die so bedrohlich über ihnen aufragt, nicht schlafen können. Ich empfinde das irgendwie genauso, wenn ich ehrlich bin.« »Also wo dann?« 185
Hauptmann Karlus zeigte nach rechts hinüber zum waldbedeckten Festland. »Dort drüben, My Lord. Es ist ein ganzes Stück näher als New Borkum«, meinte er. »Nicht weiter als eine halbe Meile entfernt. Wir besitzen ein Wachboot, und wir haben noch ein weiteres Boot am anderen Ufer gefunden, das wir zeitweise benutzen, solange es der Besitzer nicht für sich beansprucht. Es ist eine Art Ruderboot, wie die Fischer es benutzen. Nun, man könnte sagen, wir haben fast schon eine kleine Flotte, My Lord. Dort drüben, etwas weiter rechts, gibt es eine Lichtung und eine Straße. Nicht direkt eine Straße, sondern eher ein Feldweg, aber gut genug für einen Mann oder ein Pferd. Die Männer können ihn benutzen, um in der Nacht ins Lager zurückzukehren. oder am Morgen … bevor sie wieder ihre Pflicht tun müssen. Es ist nur ein Weg von einer halben Stunde bis zum Westufer der Fähre von Langert Street.« »Das klingt so, als hättet Ihr die Situation fest im Griff, Hauptmann Karlus«, sagte Lord Darcy. »Leistet weiterhin so gute Arbeit. Ich denke, das Ganze wird sich ohnehin nicht mehr lange hinziehen.« Master Sean hielt den Kristallbehälter vor sich und stieg langsam die Stufen der Pyramide hinauf, wobei ihm Lord Darcy und Lord John dicht folgten. Danach kamen die beiden angeworbenen Soldaten. Plötzlich, kurz vor dem Gipfel, blieb Master Sean stehen. »Wir haben ihn passiert«, sagte er. »Was meint Ihr damit?« fragte Lord Darcy. »Er ist nicht mehr über uns, My Lord«, erläuterte Master Sean. »Er ist jetzt unter uns.« »Also, das soll doch …« Lord Darcy stampfte auf der Stufe herum. »Er ist hier drinnen! Er ist in der Pyramide!« 186
»Das glaube ich auch, My Lord«, stimmte Master Sean zu. »Aber ich dachte, diese Dinger wären kompakt«, wunderte sich Lord Darcy. Er wandte sich an Lord John. »Sind sie denn nicht kompakt?« »Nicht ganz, My Lord«, erwiderte Lord John. Lord Darcy drehte sich um und setzte sich auf die Stufen der Pyramide. »Aber was sind sie dann, My Lord?« »Soviel ich weiß«, antwortete Lord John, »aber weit davon entfernt, ein Experte auf diesem Gebiet zu sein …« »Von allen, die mit uns zusammenarbeiten, kommt Ihr jedenfalls einem Experten am nächsten«, unterbrach ihn Lord Darcy verbindlich. »Das stimmt allerdings, My Lord. Nun, der Kalender der Azteken verläuft in Zyklen von zweiundfünfzig Jahren.« Lord Darcy lehnte sich auf seine Ellenbogen zurück, während Master Sean auf einem bequemen Steinsims Platz genommen hatte, und beide richteten sich darauf ein, ihm zuzuhören. Wenn Lord John die Absicht hatte, seine Erläuterungen darüber, warum die Pyramide vermutlich hohl wäre, mit einem Abstecher zum Kalender der Azteken zu beginnen, dann würde das zweifellos sehr verzwickt werden. »Fahrt fort, My Lord«, ermunterte ihn Lord Darcy. »Ihr müßt wissen, daß die Welt am Ende eines dieser Zyklen untergehen wird.« »Und ist jetzt etwa gerade einer zu Ende?« fragte Master Sean. »So lehrt es die Religion der Azteken. Das Problem ist nur, daß sie nicht wissen, nach welchem Zyklus sie untergehen wird. Sie glaubten, daß schon frühere Welten untergegangen sind, wenn ein Zyklus sich vollendet hatte, 187
und daß ihre Welt auch dazu bestimmt ist. Aber es kann ebensogut dieser Zyklus sein wie irgendein späterer, doch welcher es sein wird, weiß keiner.« »Das muß tatsächlich ein Problem sein«, sagte Lord Darcy. »Allerdings. Deshalb bereiten sich die Azteken am Ende jedes dieser Zyklen von zweiundfünfzig Jahren auf den Weltuntergang vor. Um den Göttern zu zeigen, daß sie bereit sind, zerstören sie alle persönlichen und öffentlichen Besitztümer.« »Und eine Pyramide ist natürlich öffentliches Besitztum«, folgerte Lord Darcy. »So ist es.« »Aber diese Pyramide steht hier seit mehr als fünfhundert Jahren«, warf Master Sean ein. »Und ich glaube, in Mechicoe gibt es viele, die noch erheblich älter sind.« »Ganz gewiß, Master Sean«, entgegnete Lord John. »Und es gibt dafür zwei Erklärungen, die sich beide auf die Tatsache gründen, daß es ziemlich schwierig ist, eine Pyramide zu zerstören.« »In der Tat.« Master Sean nickte und schaute sich um. »Man müßte schon etliche Tonnen magisch geladenen Schießpulvers aufwenden, um diesem Ding einen spürbaren Schaden zuzufügen. Und so etwas haben die Azteken Gott sei Dank nicht. Mindestens zwanzig Jahre muß es sie gekostet haben, das Ganze aufzubauen, und es würde sie weitere zwanzig Jahre kosten, es niederzureißen.« »Es wird doch wohl eher zweihundert Jahre gedauert haben, um so etwas zu bauen, könnte ich mir vorstellen«, meinte Lord John. 188
»Warum denn das?« fragte Lord Darcy. »In Etappen natürlich, nicht am Stück. Versteht Ihr, man wird mit einer kleinen Pyramide angefangen haben, vielleicht ein Viertel so groß wie diese. Und dann hat man am Ende des Zyklus das gesamte Innere zerstört – falls es überhaupt eine Innenkammer gegeben hat – und ebenso alles im Tempel oben.« »Um sich auf den Weltuntergang vorzubereiten«, warf Lord Darcy ein. »Ganz recht, My Lord. Und dann, wenn sie sicher waren, daß der neue Zyklus tatsächlich angefangen hatte und die Welt nicht untergegangen war, füllten sie die alte Pyramide.mit Schutt auf und errichteten darüber eine neue, so daß das Ganze vielleicht um ein Drittel größer wurde.« »Ich verstehe«, sagte Lord Darcy. »Und dann am Ende des nächsten Zyklus … wiederholte sich alles. So entstand schließlich nach drei oder vier Zyklen eine Riesenpyramide wie diese, vollgestopft mit Schutt und oben auf der Spitze ein oder zwei Tempeln.« »Warum denn vollgestopft mit Schutt?« fragte Lord Darcy. »Weil man die alten Kammern aus den vorangegangenen Zyklen nicht wieder gebrauchen durfte. Das hätte nämlich bedeutet, daß man sich nicht wirklich auf das Ende der Welt vorbereitet hätte, versteht Ihr, wenn man schon die Absicht gehabt hätte, irgend etwas vom vorherigen Zyklus wieder zu benutzen.« »Ach so!« Lord Darcy nickte. »Traditionsgemäß müßte also diese Pyramide, da sie mindestens aus drei Zyklen stammt, in ihrem Inneren bis oben hin vollgepackt sein mit Schutt, und der einzige noch benutzbare Raum befände sich dann in den Tempeln.« 189
»Wenn jetzt aber irgend jemand den Wunsch verspürt hätte, mit dieser Tradition zu brechen und genügend Schutt im Inneren wegzuräumen, um eine Art Versteck daraus zu machen?« erkundigte sich Lord Darcy, wobei er mit seinem Spazier stock gegen die Stufen der Pyramide stieß. »Wo würde diese Person Zugang finden, um ihr Vorhaben in Angriff zu nehmen?« »Das weiß ich nicht, My Lord«, entgegnete Lord John. »Ich glaube, daß sich nach der Tradition der Eingang zum Pyramideninneren im Tempel auf ihrer Spitze verbarg.« »Nun, dann wäre das der Ort, wo man anfangen könnte«, sagte Lord Darcy und sprang auf die Füße. »Kommt, laßt es uns herausfinden.« Die Tempel sahen genauso aus wie an dem Tag, als sie sie verlassen hatten, ja sie machten sogar den Eindruck, als wenn sie sich, sollten sie noch ein weiteres Jahrhundert oder ein Dutzend Jahrhunderte lang bestehen, trotzdem nicht verändern würden. Es lag etwas Zeitloses über ihrer Leere, diesen abgelegten Hüllen der Vergangenheit, die auf die Zukunft warteten. »Nehmen wir uns erst Huitzlipochtlis frühere Wohnstätte vor«, schlug Lord Darcy händereibend vor, während er prüfend die vorderen Portale betrachtete. »Ich vermute beinahe, daß immer, wenn irgendein Unheil im Schwange ist, er damit zu tun hat.« »Der verschwundene Mantel befindet sich jetzt bestimmt unter uns«, sagte Master Sean, während er mit einem Kristallgefäß hantierte. »Nur ein kleines Stückchen unter uns, glaube ich.« Lord Darcy wies die beiden Soldaten an, draußen zu warten und sich bereitzuhalten, damit sie sofort herbeieilen könnten, wenn man sie rief; und sie sollten sich über nichts wundern. Dann betraten er und die beiden 190
Hexenmeister den verlassenen Tempel des Huitzlipochtli und blieben unmittelbar am Eingang stehen. »Der Zugang müßte eigentlich irgendwo im Fußboden sein«, vermutete Lord Darcy, »obwohl die Wände auch dick genug sind.« »Vielleicht der Altarstein?« schlug Lord John vor. »Aber bitte bedenkt, daß das nur eine Vermutung ist. Die Menschen, die dies hier errichtet haben, mögen von meiner Rasse gewesen sein, aber sie gehörten nicht meinem Glauben an. Von ihrer Handlungsweise verstehe ich nicht viel.« »Ich glaube nicht, daß es leicht sein wird, ihn zu finden«, sagte Lord Darcy. »Immerhin hatten sie Jahrhunderte lang Zeit, auszutüfteln, wie sie ihn am besten verbergen konnten.« Er betrachtete den nackten, grauen Stein ringsumher. »Gibt es irgendeine Möglichkeit, diesen Raum zu ›verzaubern‹? Irgendeine Art Zauberspruch, der bewirkt, daß Verborgenes sich enthüllt, wenn Ihr wißt, was ich meine?« Master Sean dachte einen kurzen Augenblick lang nach, während er vor sich hinstarrte, die eine Hand in die Seite gestützt, die andere an den Lippen, und wandte sich dann Lord John zu. »Vielleicht könnte man etwas mit dem Gesetz der Ersten Ursachen anfangen, was meint Ihr?« fragte er. »Hmm.« Lord John nahm unbewußt eine Pose an, die die von Master Sean parodierte. »In der Tat! Das könnte wirken. Das könnte tatsächlich wirken. Es hängt davon ab, wie stark sich die Absicht auf den Stein überträgt – aber natürlich, das klingt machbar.« »Die Frage ist, welche Permutation sich am besten dazu eignet«, murmelte Master Sean, kniete nieder und ließ seine Finger ganz leicht über den Steinboden gleiten, als ob er mit seinen Fingerspitzen Geheimnisse lesen würde, 191
die in der Schrift des Steins selbst verborgen lagen. Lord Darcy ging hinüber zu dem niedrigen Sims, der an einer der Wände entlanglief, und setzte sich darauf, lehnte sich gegen die Wand und zwang sich zu völliger Ruhe. Von den Füßen aufwärts ließ er eine Welle der Entspannung über seinen Körper gleiten. Im Augenblick konnte er nichts Besseres tun; seine beiden Magier arbeiteten für ihn, und einen Zauberer zu hetzen war nicht ergiebiger, als wollte man die Gezeiten zur Eile antreiben. »Ich schlage vor, wir gehen in zwei Etappen vor, Master Sean«, sagte Lord John. »Eine für das Vorbereiten des Steins, die andere für das Gefügigmachen des Steins.« »Ja, genau, so müssen wir vorgehen. Nur steht fest, daß wir als erstes die Hände auflegen und als zweites Richtung geben müssen, sonst erhalten wir nur lauter unartikulierte Schwingungen im Stein.« »Natürlich, ganz recht«, stimmte Lord John zu. »Natürlich«, murmelte auch Lord Darcy, aber nur leise. »Erinnert Ihr Euch an den Aufsatz von Sir Percy Erdnase?« fragte Master Sean. »Jenen, der, glaube ich, im letzten Oktober im Journal der Anglo-Französischen Zauberergilde erschienen ist?« »Ich muß gestehen, daß ich mit der Lektüre des Journals einige Monate hinterherhänge«, sagte Lord John. »Aber wartet, den Artikel, von dem Ihr sprecht, kenne ich tatsächlich. Wie hieß er doch gleich? Ach ja, ›Die Erste Ursache als Doppeltgefaltete Matrix betrachtet‹. Wirklich eine faszinierende Abhandlung.« »Gewiß. Sir Percy ist sowohl ein brillanter Theoretiker als auch einer der besten Praktiker der Thaumaturgie. Aber, mein Freund, erinnert Ihr Euch auch an die Mathematik dabei?« 192
»Ich glaube schon«, entgegnete Lord John. Er griff in seine blaulederne, mit Symbolen bedeckte Zaubertasche und zog einen silbernen Zauberstab heraus. Er drehte sich um und zeichnete einige Symbole in die Luft, aus feinen Linien, die ein scharfes, blaues Licht in die Dunkelheit des Tempels rissen. »Das meintet Ihr doch, nicht wahr?« Nun nahm Master Sean seinen Zauberstab hervor und füllte geschwind die Luft um Lord Johns Symbole herum aus. Seine Zugaben glommen purpurfarben und bestanden aus etwas dickeren Linien als die von Lord John. »Im Prinzip habt Ihr es getroffen«, sagte er, »aber Ihr müßt die Funktionen auf beiden Seiten in einer aufsteigenden Progression ausfüllen. Hier – und da – und beachtet bitte das ein wenig hängende Subskriptum hier.« »Oh«, sagte Lord John, »aber natürlich!« »Aber natürlich«, fügte auch Lord Darcy im stillen hinzu, während er vor sich in die Luft starrte, die erfüllt war von sich windenden, bunten Würmern. Noch zehn Minuten oder länger schrieben die beiden Zauberer ihre Formeln in die Luft, und als sie sich endlich auf den passenden modus thaumaturgi geeinigt hatten, öffneten sie ihre Reisetaschen und begannen, das für ihr Rezept erforderliche Zubehör herauszusortieren. Langsam verblaßten die leuchtenden, farbigen Linien in der Luft, und wieder einmal herrschte Dunkel in dem vormaligen Tempel des Huitzlipochtli. »Es wird noch ein paar Minuten dauern, My Lord«, sagte Master Sean, während er drei kleine Stückchen Holzkohle in sein Weihrauchgefäß aus Messing tat und vorsichtig ein Päckchen öffnete, das ein feines Pulver von der Farbe der Patina alter Bronze enthielt. »Gebt mir Bescheid, wenn Ihr fertig seid«, sagte Lord Darcy, der es an der Zeit fand, die Beine zu strecken. Er 193
stand auf und wanderte zu den beiden Soldaten hinaus. Wieviel Zeit die Zaubersprüche der beiden Magier auch beanspruchen mochten, das physische Beklopfen, Stoßen, Ziehen und Untersuchen jedes Steins im Fußboden und in den Wänden hätte noch viel länger gedauert. Denn es handelte sich hier nicht um ein Herrenhaus mit einer Scheintür hinter einer dünnen Holztäfelung, sondern jeder dieser Steine im Fußboden und in der Wand war über eine Tonne schwer. Lord Darcy hielt viel davon, jegliche Plackerei durch wissenschaftliche Magie aus seinem Leben herauszuhalten. Es war zwar mitten am Nachmittag, doch blies seit dem Morgen eine kühle Brise. Lord Darcy zog seinen Mantel dichter um sich und betrachtete die Schaumkronen, die in der Bucht einander jagten. Eine schmucke Bark nahm Kurs hinaus durch die Meerenge, mit gesetzten Segeln und bereit, zwei oder drei Wochen lang als winziger Punkt auf dem weiten Ozean zu verbringen – eine lange Zeit, in der die Mannschaft gänzlich vom Rest der Menschheit abgeschnitten wäre, bevor sie einen Hafen in England oder Frankreich anlaufen würde. Es war denkbar, überlegte Lord Darcy, daß innerhalb der nächsten zwanzig Jahre die Zeit der Segelschiffe langsam zu Ende ging, wenn nämlich die Dampfmaschine noch perfekter und man noch bessere Zaubersprüche entdeckt haben würde, um deren Wirksamkeit und Stärke zu vervollkommnen. Und das würde einen Verlust bedeuten, fand er. Die Postdampfer waren für ihre Zwecke ausgezeichnete Schiffe, die den Ozean in einem Drittel der Zeit überquerten, die im Durchschnitt ein Segelschiff benötigte. Aber es waren laute, schmutzige Dinger, und ihr Anblick in der Ferne ließ ein Menschenherz nicht hüpfen wie die Dreimastbark mit ihren weißen Segeln, die sich im steten Wind blähten. 194
Vielleicht sollten die Zauberer besser an einer Methode arbeiten, die den Wind kontrolliert und nicht das Schiff, erwog Lord Darcy. Alle reden dauernd über das Wetter, dachte er, aber keiner weiß es zu nutzen. »Wir sind soweit, My Lord!« rief Master Sean. »Ich kann nicht beschwören, daß irgend etwas geschehen wird, aber sollte etwas geschehen, könnte es ja sein, daß Ihr gern dabei wärt.« »Um keinen Preis würde ich das verpassen wollen«, erklärte Lord Darcy. Er kehrte in den dunklen Tempel zurück, wo Master Sean und Lord John eine viereckige Feuerschale aufgestellt hatten, die abwechselnd rosa und weißen Rauch ausstieß. »Ich setze mich hier in die Ecke«, sagte er, »wo ich nicht im Wege bin.« »Verzeiht, My Lord«, sagte Master Sean, »aber Ihr solltet Euch nirgends hinsetzen, und von den Ecken würde ich mich auch fernhalten, bis wir diesen Versuch beendet haben. Ich will damit sagen, My Lord, daß wir nicht genau wissen, was sich währenddessen bewegen oder verschieben oder öffnen könnte. Und wir wollen sichergehen, daß, was auch immer geschehen mag, wir die Möglichkeit haben, ihm auszuweichen, sobald es geschieht. Falls es geschieht.« »Ich kann Euren Standpunkt verstehen, Master Sean.« Lord Darcy schritt vorsichtig zur Mitte des Raumes, wo die beiden Zauberer standen. »Was könnte denn eigentlich geschehen?« »Nun, Eure Lordschaft, das Gesetz der Ersten Ursachen legt uneingeschränkt dar, daß eine erste Ursache zu ihrer ursprünglichen Bestimmung werden, beziehungsweise – mit geringstem Aufwand an Energie – auf diese zurückgeführt werden kann. Das bedeutet in diesem Fall, daß, wenn ein Gegenstand zu etwas gebraucht wird – zu 195
etwas Wichtigem –, dieser Gebrauch zu seiner ursprünglichen Bestimmung wird. Und folglich: Wenn ein Gegenstand durch Magie dazu bewegt wird, etwas zu tun, wird das, was er als erstes, und zwar ohne jede Schwierigkeit tut, seine erste Ursache sein.« »Und wie läßt sich das auf diesen Steinhaufen anwenden, Master Sean?« fragte Lord Darcy, wobei er mit einer umfassenden Handbewegung auf den umgebenden Tempel zeigte. »Nun, My Lord, seht Ihr, für die meisten dieser Steine steht die erste Ursache einfach darin, als Teil des Tempels dazuliegen. Aber wenn, wie wir annehmen, einige dieser Steine eine zweite Bestimmung haben, nämlich die, einen geheimen Durchgang zu der darunterliegenden Pyramide zu bilden, dann ist während der vergangenen paar Jahrhunderte, in denen dieser Tempel nicht als Tempel benutzt wurde, sondern diese Steine tatsächlich als Eingang dienten, dieses ihre erste Ursache geworden.« »Jedenfalls hoffen wir das, My Lord«, fügte Lord John hinzu. »Könnt Ihr uns folgen?« fragte Master Sean. »Es ist zwar nicht so deutlich, wie es sein könnte, aber ich befürchte, es ist so deutlich, wie es sein kann«, sagte Lord Darcy. »Vielleicht gelingt es Euch ja auch, und ich werde dann schon sehen, was ich zu sehen bekomme.« »Sehr schön, My Lord, das verspricht interessant zu werden. Ich hoffe, daß wir es nicht geheimzuhalten brauchen. Ich würde es nämlich gern für das Journal aufzeichnen, falls wir irgendein Ergebnis erzielen sollten.« Master Sean bückte sich und zog die Feuerschale an ihrer langen Messingkette empor. »Die werde ich herumtragen, und wenn Ihr, Lord John, so freundlich sein wollt, währenddessen die Linien der Kraft festzuhalten …« 196
»Das werde ich tun«, erwiderte der junge mechicainische Zauberer mit ernstem und gespannten Blick. Er spreizte die Beine, hob die Arme, ballte die Hände zu Fäusten und konzentrierte sich. Die Muskeln in seinen Schultern und Armen spannten sich. Master Sean schritt langsam im Raum umher und schwenkte bei jedem Schritt das Weihrauchgefäß auf und nieder. Durch die Löcher in der Spitze quoll der Rauch hervor, bald rosa, bald weiß, während Master Sean die Worte der Macht murmelte, die die Zaubersprüche wirksam machen sollten. Leben und Lebensprozesse sind nur ein unwesentlicher Teil des Ganzen, das das Universum ausmacht, Intelligenz und die Entwürfe der Intelligenz nichts als ein in den Sand gezeichnetes Muster. Und dennoch kann jenes Muster, das das Leben ist, vieles in sein Netz ziehen, das nicht zum Leben gehört, und ihm eine Bedeutung, eine Funktion verleihen und eine Bestimmung zuweisen, die das Leben, das es hat entstehen lassen, transzendiert hinsichtlich aller pysikalischen Maßstäbe von Masse, Raum und Zeit. So wird die Entropie in einem kleinen Maße vereitelt, zufällig verteilt auf Nischen im ganzen Universum. Der Raum erdröhnte, als Master Sean sich rührte. Er schien selbst in Bewegung zu sein, sich zusammenzuziehen, als ob er einer Absicht folgte. Bildete sich Lord Darcy das nur ein oder waren die Ecken viereckiger, die Wände gerader, der Fußboden ebener geworden? Und der Altar – wirkte der nicht runder, glatter, und zeigte sich dort nicht der Abdruck eines auf dem Rücken liegenden Körpers mit gespreizten Armen und Beinen, der auf das Messer wartete? Die erste Ursache, dachte Lord Darcy und starrte auf den wartenden Altar. Jahrhundertelang waren diese Steine 197
nichts als die Behausung eines bösen Gottes. Und das ist es, woran sie sich erinnern. Aber was weiß ein Stein schon von Gut und Böse. Ein tiefes Raunen erfüllte den Raum, und Lord Darcy hatte das unheimliche Gefühl, daß die Steine zu sprechen versuchten. Aber keiner der Anwesenden kannte die Sprache der Steine, und welche Botschaft sie auch enthalten mochten, sie blieb im Granit verschlossen. Nachdem er den Tempelraum zweimal umkreist hatte, hörte Master Sean auf zu räuchern und brachte das Weihrauchgefäß zurück zu seinem Dreifuß in der Mitte des Raums. Dann stellte er sich Lord John gegenüber und nahm die gleiche Haltung an wie dieser: die Arme und Beine gespreizt, den Kopf erhoben und den Blick starr zur Decke gerichtet. Seine Muskeln spannten sich. Das Dröhnen der Tempelsteine wurde tiefer und dumpfer, bis der Klang unterhalb des menschlichen Hörvermögens lag; Lord Darcy konnte ihn durch die Sohlen seiner Schuhe hindurch spüren. Aber ein Stein, ein Abschnitt, ein Teil der rechten Wand stieg im Ton an, während die anderen im Ton sanken. Dieser Ton wurde schriller und schriller, bis es beinahe schmerzte, und dann, ganz plötzlich, verstummte er. Das Dröhnen brach ab. Alles war still. Mit einem ganz leisen, quietschenden Geräusch bewegte sich der Stein in der rechten Wand nach innen, drehte sich in seiner Länge und enthüllte so einen Einstieg, der in den engen Gang zwischen den Tempeln führte. Einen Augenblick lang herrschte eine außergewöhnliche Stille, und dann, mit einem tiefen, gequälten Laut, trat einer der massiven Steine im Hintergrund derselben Mauer hervor und gab einen Ausschnitt von der Größe zweier kauernder 198
Menschen frei. Die Öffnung im Stein war von einem schweren Eisenring umrahmt. Master Sean legte den massiven Deckel auf das Weihrauchgefäß, um den Rauch zu dämmen. Lord John streckte sich, gähnte und bewegte seinen Kopf hin und her, um sich von der seelischen Anspannung zu befreien. »Wir scheinen eine mehrfache Reaktion erreicht zu haben«, stellte er fest. Master Sean nickte. »Ich glaube, Sir Percys Gleichungen haben gestimmt«, bemerkte er. »Eine sehr interessante Differenzierung.« Lord Darcy blickte von einem zum anderen. »Tadellose Arbeit«, sagte er. »Eines unserer Rätsel ist nun gelöst: Das Loch in der Wand zeigt, wie der oder das, was den Tempel benutzt hat, hereinkommen konnte, ohne das Siegel, das Schloß oder den Riegel vor der Tür zu beschädigen. Der Platz ist auch gut gewählt: Wenn sich jemand in diesen Durchgang zwischen den Tempeln einschleichen sollte, könnte man ihn von unten nicht sehen. Nun laßt uns herausfinden, wohin der drehbare Stein in der Ecke denn führt.« Er ging hinüber zur anderen Seite, um den Stein zu untersuchen. »Genial«, rief er begeistert. »Hätten wir den hier auch ohne diese Probe Eurer Zauberkunst gefunden? Höchstwahrscheinlich nicht.« Master Sean und Lord John starrten gemeinsam mit ihm auf die Öffnung im Stein. »Dieser Stein muß gänzlich in einer Angel ruhen«, sagte Lord John. »Und die Balance muß ausgezeichnet sein; ein Block von dieser Größe wiegt sicher über eine Tonne, sogar wenn er ausgehöhlt ist wie dieser.« Er streckte seine Hand aus und stieß den Stein leicht an. »Vorsichtig, My Lord«, warnte Master Sean. »Es könnte mehr dahinterstecken.« 199
Master Sean hob das silberne Ankh-Kreuz, das an einer schweren Kette um seinen Hals hing, hoch und hielt es vor sich in die steinerne Höhlung. In einer bestimmten Stellung flimmerte ganz leicht der geschlossene Kreis oben an der crux ansata. »Das habe ich vermutet«, sagte Master Sean. »Wartet einen Augenblick.« Er sah sich nach seinem Stab um und ging dann zur Tür, wo er ihn abgestellt hatte. »Seht Euch das an«, sagte er und steckte den Stab in das Loch im Stein. Nichts geschah. »Hmm«, äußerte Master Sean. »Noch subtiler, als ich dachte.« Er nahm ein kleines, scharfes Messer aus seinem Sack, stach sich mit einer schnellen Bewegung in den Daumen und ließ ein paar Tropfen Blut auf den Knauf des Stocks fallen. Dann steckte er den Stab aufs neue in die eisenbeschlagene Höhlung. Es gab einen plötzlichen Blitz und ein unvermitteltes Krachen. Ein dünner Eisenstab war auf Gürtelhöhe durch das Loch geschnellt und krachte haarscharf am Zauberstock vorbei in die gegenüberliegende Wand. Dann kehrte er in die Nische im Eisenring zurück, die ihn verborgen hatte. Master Scan wickelte sich ein Stück saubere Gaze um seinen Finger und band sie fest. »Man kann mit einem offenen Schnitt nicht vorsichtig genug sein, bei all den Stoffen, die ich verwende«, erklärte er. Lord John untersuchte die Menschenfalle. »Auf Menschenblut geeicht, meint Ihr nicht auch, Master Scan?« »In der Tat«, antwortete dieser, »mit einem ganz speziellen Wort der Macht versehen, um sie harmlos zu machen. Und der Ring und der damit verbundene 200
Zauberspruch sind neueren Datums – und anglofranzösisch. Sie sind weder alt noch aztekisch, das kann ich beschwören! Da wir keine Zeit haben, nach dem Wort zu suchen, halte ich es für das Beste, einfach die Zauberformel zu entfernen. Wenn Ihr mir einen Augenblick Eurer Zeit und eine kleine Spur Eures Wissens schenken wollt, My Lord?« »Ich stehe zu Euren Diensten, Master«, sagte Lord John. Mit qualmendem Weihrauchgefäß und schwingendem Zauberstab machten sie sich an die Arbeit. Vier Minuten später deckte Master Sean sein Räuchergefäß zu und stellte es beiseite. »Jetzt ist die Falle so harmlos wie ein neugeborenes Baby«, stellte er fest. »Vielen Dank, My Lord.« »Das heißt also, daß der Ring eine anglo-französische Zugabe zu dem alten Aztekenstein ist, nicht wahr?« sagte Lord Darcy. »Dieser Fall wird ja immer interessanter. Verstecken sich noch andere Fallen in diesem Stein, Master Scan?« fragte er und blickte respektvoll auf den nun nicht länger verborgenen Eingang ins Pyramideninnere. »Am besten gehen wir vorsichtig vor, My Lord«, erwiderte der rundliche Zaubermeister. »Na schön«, sagte Lord Darcy. »Master Sean, wir beide gehen durch diesen geheimen Durchgang hindurch – denn ich gehe davon aus, daß diese Vorrichtung zu einem geheimen Durchgang gehört –, während Ihr, Lord John, hier für den Fall wartet, daß es Schwierigkeiten gibt.« Lord John Quetzal schien einen Augenblick lang widersprechen zu wollen, besann sich dann aber eines besseren und sagte: »Wie soll ich wissen, ob Ihr in Schwierigkeiten seid? Die Steinwände lassen keinerlei Geräusche durch.« 201
»Das stimmt«, räumte Lord Darcy ein. Master Sean drehte sich um und wühlte eine Weile in seinem Reisesack. »Hier«, sagte er und überreichte Lord John eine kleine, runde Scheibe. »Das ist eine von zwei aufeinander abgestimmten Scheiben. Die andere werde ich in meiner Tasche behalten. Wenn wir Hilfe brauchen, werde ich hineinpfeifen, und dann haltet Ihr Eure an Euer Ohr, sobald Ihr das Pfeifsignal hört.« »Genial, Master Sean!« rief Lord John aus und drehte die kleine Scheibe in seinen Händen. »Eine Art tragbares Teleklang, nicht wahr? Aber kabellos.« »Dasselbe Prinzip, mit ein paar kleinen Varianten«, bestätigte Master Sean. »Verwendbar über eine Entfernung von ein paar hundert Yards, und das ohne Kabel. Es funktioniert unter allen Umständen, außer natürlich, wie das Teleklang auch, über fließendem Wasser.« »Raffiniert«, warf Lord Darcy ein und betrachtete die Erfindung in Lord Johns Händen. »Was wird sich die moderne Zauberkunst wohl als nächstes einfallen lassen?« Master Sean lächelte beinahe verlegen. »Ich habe es selbst erfunden«, gestand er. »Das habe ich mir gedacht, mein Freund«, sagte Lord Darcy. »Ihr müßtet Euch beim Patentanwalt um ein Königliches Patent bewerben. Dies hier wird sich als ebenso nützliche wie geniale Erfindung erweisen. Also, wollen wir gehen?« Sie mußten sich bücken, um durch das eisenumrahmte Loch zu steigen. Lord Darcy stieß gegen die rechte Wand, und langsam drehte sich der gewaltige Steinblock, um sie in der Mauer einzuschließen. »Ha!« rief Lord Darcy. »Hier sind Stufen unter dem Stein. Vorsicht, Master Sean! Ich werde vor Euch hinuntersteigen. Hier, wartet eine 202
Sekunde.« Lord Darcy zog eine Erfindung aus der Tasche, die zu den Geheimwaffen des anglo-französischen Geheimdienstes gehörte. Es war eine dünne Röhre mit einer Serie von Zinkkupferpärchen, die eine Kraftquelle lieferten, die man sich noch nicht richtig erklären konnte. Diese Erfindung erhitzte einen Stahldraht bis zur Weißglut, heiß genug, um den Draht in einem einzigen Augenblick verdampfen zu lassen, falls er nicht geschützt wurde. Doch den Draht schützte eine Zauberformel, die ihn so weit bändigte, daß er zwar mit einem weißen Licht kräftig leuchtete, sich aber trotzdem nicht verzehrte. Unter dem Draht bündelte ein parabolischer Reflektor das Licht zu einem Strahl und ließ das Gerät so der vertrauten Blendlaterne ähnlich erscheinen, nur daß es viel heller, kleiner und bequemer war. Bei der Berührung von Lord Darcys Daumen, und zwar nur von seinem Daumen, da die Erfindung auf ihn abgestimmt war, hatte Lord Darcy eine Lichtquelle von der Stärke Hunderter von Kerzen zu seiner Verfügung. Er drückte den Knopf, und der Lichtstrahl flammte auf. Während er die Stufen hinunterleuchtete, ging er vorsichtig weiter, wobei er sich mit jedem Schritt seinen Weg umsichtig ertastete und die Wände und die Decke dieses engen, außergewöhnlichen abschüssigen Treppengewölbes mit wachsamen Blicken betrachtete. Master Sean hielt sich dicht hinter ihm, das Kreuz in der Hand, und murmelte beim Hinabsteigen schützende Zaubersprüche. Nach etwa fünf Metern machte die Treppe eine Biegung, dann wieder und dann nochmals. Nach der dritten Biegung, über dreißig Fuß unterhalb des Tempelniveaus, öffnete sich das Treppengewölbe und führte in einen großen Raum. Lord Darcey ließ sein Licht durch den Raum wandern – 203
Sein wirkliches Ausmaß war schwer zu bestimmen, da in Abständen von etwa sechs Fuß hochaufragende Säulen den Raum für das Auge in zahlreiche kleine Bereiche unterteilten. Öllampen hingen an jeder Säule von Wandarmen herab, und zusätzlich waren alle zehn Fuß an den Wänden Lampen befestigt. Lord Darcey holte sein Feuerzeug und Master Sean seinen Feuerstab heraus. Beide gingen sie im Raum umher und entzündeten die Lampen. »Die Luft hier drinnen ist gut«, stellte Lord Darcey fest, während eine weitere Lampe unter seinen Händen aufflammte. »My Lord, Ihr solltet lieber einmal hierherkommen«, rief Master Sean. »Ich glaube, ich habe den Mantel des Prinzen gefunden.« Lord Darcey eilte zu Master Sean hinüber. Dort lag zwischen zwei Säulen ausgebreitet das wollene Gewand. Der Körper eines Mannes ruhte auf ihm. Die Seiten seines Kopfes waren geschoren, und allein über den Scheitel lief ein Haarstreifen. Er trug die Winterhosen aus gefärbtem Leder, wie sie bei den Eingeborenenstämmen üblich waren. Von der Taille an aufwärts war er nackt. Ein Loch klaffte in seiner Brust, dort, wo das Herz gesessen hatte.
204
11 »Ein Mohawk, soweit ich sehe, Euer Gnaden«, sagte Lord Darcy. »Das ist wohl die vorläufige Identifikation, basierend auf seiner Haartracht und seiner Kleidung. Aber damit wissen wir immer noch nicht, wer er ist. Ein Bote wurde zum Häuptling des Mohawkstammes geschickt, damit jemand herunterkommt und ihn identifiziert.« Im privaten Audienzzimmer Seiner Gnaden von Are waren versammelt: Lord Darcy, Master Sean O Lochlainn und Lord John Quetzal. Wieder einmal nahmen sie an dem riesigen Schreibtisch dem Herzog gegenüber Platz. Seine Gnaden zeigte sich nicht gerade erfreut. »Wir hoffen, daß dies nicht der Beginn einer Epidemie von Ritualmorden ist, My Lord«, sagte er zu Lord Darcy. »Vielleicht hätten wir die Pyramideninsel für alle außer der anreisenden Aztekendelegation sperren sollen. Obgleich wir einräumen müssen, daß die Insel in den vergangenen Jahrhunderten ohnehin fast unerreichbar gewesen ist. Da auf der Pyramide der Rückweisungszauber lag, hat sich niemand in all diesen Jahren der Insel nähern können. Außerdem gibt es dort ja nichts weiter als die Pyramide.« »Ich fürchte«, sagte Lord Darcy, »das Ritual hatte damit nichts zu tun. Mir scheint die Pyramideninsel nicht unerreichbar, sondern vielmehr der Mittelpunkt eines großangelegten und sehr geheimen Schmuggelunternehmens zu sein.« »Schmuggel, My Lord? Wer sollte was schmuggeln und zu welchem Zweck?« Herzog Charles sah verwirrt und betroffen aus. »Wir können nur mutmaßen, Euer Gnaden«, sagte Lord Darcy. »Master Seans Untersuchungsbericht liegt auf 205
Eurem Schreibtisch. Wenn Ihr ihn jetzt vielleicht einmal durchgehen möchtet …« Seine Gnaden von Are wandte sich zu dem kleinen irischen Hexer um. »Berichtet mir einfach von Euren Befunden, Master Sean«, sagte er. »Wir haben Euch gerade hier und können so gleich fragen, wenn wir etwas nicht verstehen.« »Sehr gut, Euer Gnaden«, stimmte Master Sean zu. »Ich beginne also am Anfang, wenn’s recht ist?« »Dem Anfang von was? Nicht zu weit zurück, hoffen wir«, entgegnete Seine Gnaden, ein wenig in sich hineinlachend. »Beginnt einfach mit der Entdeckung dieser neuen Leiche, wenn Ihr so gut sein wollt.« Master Sean verzichtete darauf, dem Herzog zu erzählen, daß eben dies seine Absicht gewesen war, und nickte nur. Der Ausdruck ›Anfang‹ hatte für den Herzog offensichtlich nicht dieselbe Bedeutung wie für ihn; vielleicht deshalb, weil er seinen Stammbaum nicht über elf Jahrhunderte zurückverfolgen konnte. »Lord Darcy, Lord John Quetzal und ich entdeckten einen geheimen Durchgang im ersten Tempel des Huitzlipochtli auf der Spitze der Pyramide«, berichtete Master Sean, an seinem Anfang beginnend. »Es gibt da eine Geheimtür, die in den Tempel führt. Sie liegt verborgen im Schutt zwischen beiden Tempeln. Getrennt davon gibt es überdies noch einen verborgenen Einlaß zum Durchgang. Er führt über eine Steintreppe hinunter zu einem verborgenen Raum in der Pyramide selbst. Dieser Raum, der die Form eines Quadrats von sechzig Fuß hat, hat eine acht Fuß hohe Decke, die durch ein Gitter von drei Fuß breiten steinernen Pfeilern gestützt wird. Als die Pyramide noch kleiner war, befand sich ein Tempel auf ihrer Spitze. Wir haben bisher nicht feststellen können, 206
welchem Gott oder welcher Göttin der Tempel geweiht war, nur daß es nicht Huitzlipochtli oder ein anderer der Großen Bösen war.« »Was meint Ihr damit, Master Sean, daß die Pyramide früher ›kleiner‹ war?« fragte Herzog Charles. »Hat sie denn seit ihrer Vollendung nicht immer die gleiche Größe gehabt?« Master Sean sah zu Lord John hinüber, der die Erklärung dieser Besonderheit des aztekischen Pyramidenbaus übernahm. »Wir verstehen«, sagte der Herzog, nachdem er Lord Johns Beschreibung gehört hatte. »Dann war dieser Tempel einst also voller Schutt gewesen?« »Ja«, bestätigte Lord John, »und später ist er ausgeräumt worden. Wahrscheinlich erst vor ganz kurzer Zeit.« »Master Scans gerichtliche Untersuchungen, die er mit Hilfe von Lord John durchführte, ergaben, daß der Raum zum Lagern von Schmuggelware benutzt worden war«, erklärte Lord Darcy. »Was für eine Art von Schmuggelware?« verlangte Seine Gnaden zu erfahren. »Und wie lange ist das her?« »Schießpulver«, sagte Master Scan. »Die Spuren weisen eindeutig auf Schießpulver hin und auf eine Art von dickem Schmierfett, das für Schiffseisen und Stahlmaschinen benutzt wird, um sie vor Rost zu schützen. Ich glaube, der Raum wurde bis zum Zeitpunkt des Mordes vor zwei Wochen als Lager für diese Dinge benutzt.« Seine Gnaden beugte sich vor. »Was für Maschinen?« »Ich kann es nur vermuten, Euer Gnaden«, sagte Master Sean. »Aber wenn Ihr meine Vermutung hören wollt – es waren wohl Gewehre.« 207
Herzog Charles nickte. »Das ist auch unsere Ansicht«, stimmte er zu. »Die Stämme haben irgendwoher eine kleine Menge Repetiergewehre bekommen. Das ist soweit kein ernstes Problem. Leider wissen wir aber nicht, wer ihnen die Gewehre beschafft hat. Außerdem hängt das offenbar mit dem Versuch zusammen, die eingeborenen Stämme durch Betrug und Verrat gegen uns aufzubringen. Das ist es, was Major DePemmery gegenwärtig in FitzLeeber Land erforscht, obwohl wir uns dabei bemühen, nicht viel Wirbel um die ganze Sache zu machen. Bleibt die Frage, wie gelangten die Schmuggler in die Pyramide hinein, selbst wenn sie die Geheimtür benutzten? Es war doch ein Schutzzauber über sie verhängt worden, nicht wahr?« »Jawohl, Euer Gnaden. Und nach Lord Johns Ansicht sogar eine besondere Art von Schutzzauber.« »Er wies Lücken auf«, sagte Lord John. »Master Sean nannte sie ›Fenster‹, und das ist eine gute Beschreibung. Der Zauber war so angelegt, daß jeder, der aus einem legitimen Grund zur Pyramideninsel kam, sich der Pyramide nähern und sie besteigen konnte.« »Schmuggel nennen wir keinen ›legitimen Grund‹, bei Gott!« sprach Herzog Charles entrüstet und schlug zur Betonung seiner Aussage mit der Hand auf den Tisch. »Natürlich nicht, Euer Gnaden, aber seht Ihr, für die Schmuggler war es einer«, erklärte Master Sean. »Außerdem muß der ursprüngliche Zauberspruch so angelegt gewesen sein, daß eine solche Auslegung möglich war. Magie ist oft eine Sache der Absicht. Und bei diesem Zauberspruch war die Absicht nicht ganz die, die sie hätte sein sollen.« »Wir wissen zur Zeit noch nicht, ob es an einem unglücklichen, fehlerhaften Zauberspruch lag, aus dem die 208
Schmuggler Vorteile zogen, oder an einem stillschweigend geduldeten Verrat«, fuhr Lord Darcy fort. »Vater Adamsus wird morgen die Aufzeichnungen der Kathedrale heraussuchen, um für uns die Bindungen des ursprünglichen Spruchs und jeder seiner Abwandlungen aufzuspüren. Das mag sich als hilfreich erweisen oder nicht; wir werden sehen.« »Und der ermordete Mann?« fragte Seine Gnaden. »Starb zur selben Zeit wie der Prinz«, erwiderte Master Sean. »Das Interessante ist, Euer Gnaden, daß Prinz Ixequatle ebenfalls in jenem Raum getötet wurde. Es gibt dort eindeutige Spuren seines Blutes. Aber es war seine Leiche und nicht die des anderen –, welche die Stufen zum Tempel hochgebracht wurde, obwohl der andere Ermordete auf Ixequatles wollenem Umhang lag, als er gefunden wurde.« »Das ist ja interessant«, sagte Herzog Charles. »Das ist wie ein Rätsel, nicht wahr, Lord Darcy? Wir können richtig sehen, wie man sich bei dem Versuch, es zu lösen, immer mehr darin verstrickt. Warum sollte der Mörder eine Leiche am Tatort liegen lassen und die andere die Steintreppe zum Tempel hochschleifen? Wir gehen doch recht in der Annahme, daß sie beide von derselben Person getötet wurden?« »Ich glaube, das darf man als gesichert annehmen, Euer Gnaden«, sagte Lord Darcy. »Und ich glaube auch zu wissen, warum die Leichen getrennt wurden.« Der Herzog starrte ihn eine Minute lang an und sagte dann: »Sprecht, Lord Darcy, wir sind ganz Ohr.« »Der Prinz wurde die Treppe hochgeschleppt, weil der Mörder wußte, daß man ihn vermissen und nach ihm suchen würde. Der andere Mann wurde unten liegengelassen, weil der Mörder wußte, daß man diesen 209
nicht suchen würde.« »Fahrt fort«, sagte Seine Gnaden. »Man brauchte Zeit, um das Warenlager – jenen bestimmten Raum in der Pyramide – auszuräumen. Es gab mehrere Steine, die sich von innen her bewegen ließen und die eine größere Tür auf der Südseite öffneten, welche sich auf gleicher Höhe mit dem Raum befand. Das war geradezu ideal für einen schnellen Transport ihrer verbotenen Güter. Dennoch hat man sicherlich einige Zeit dafür benötigt, den Raum auszuräumen. Wenn sich also jemand auf die Suche nach dem Prinzen gemacht und herausgefunden hätte, daß er zuletzt auf dem Wege zur Pyramideninsel gesehen worden war, hätte man den geheimen Raum vielleicht schon früher gefunden. Es könnte auch schon jemand danach gesucht haben – versteht Ihr? –, und zwar auf die gleiche Weise, wie wir es schließlich taten, als wir nach dem Umhang des Prinzen suchten. Der Mörder brachte die zweite Leiche nicht nach oben, weil er entweder nicht die Zeit dazu hatte oder weil er uns nicht verwirren wollte.« »Das nenne ich gut durchdacht«, sagte Master Scan. »Sehr schlau von ihm, gewiß«, stimmte Lord Darcy zu. »Es war dazu gedacht, uns abzulenken, und das tat es auch. Wenn es nicht um den Umhang des Prinzen gegangen wäre, dann wären wir nie darauf gekommen, nach einem verborgenen Raum in der Pyramide zu suchen. Und dabei wird von mir erwartet, daß ich an so etwas denke.« »Dieser Mörder scheint ja ein brillanter und gefährlicher Gegner zu sein«, meinte der Herzog, »wenn seine Überlegungen tatsächlich so waren, wie Ihr vermutet. Eine Absicht hinter jeder Bewegung!« 210
»Sicher«, stimmte Lord Darcy zu. »Und was das Rätsel noch rätselhafter macht: Warum wurde den beiden jungen Männern das Herz aus der Brust gerissen?« »Um uns noch weiter zu verwirren?« überlegte Herzog Charles. »Bei Gott, wir sind schon verwirrt!« »Es können keine Azteken gewesen sein, die diesen geheimen Raum benutzt haben«, sagte Lord John. »Denn sie nehmen ihre Religion und ihren Glauben sehr ernst. Einen Raum aus einem früheren Zyklus wieder zu benutzen, wäre ein Sakrileg. Außerdem gab es hier zu dieser Zeit, abgesehen von der Reisegruppe des Prinzen, keine Azteken. Nur ein paar Abtrünnige. Als guter Christ und Sohn eines guten Christen nehme ich mich selbst natürlich von jeder Kategorie aus, Ihr versteht?« »Gewiß, Lord John«, versicherte der Herzog. »Azteken würden weder ihre Zeremonie abändern noch auf die genannte Weise Aufmerksamkeit erregen«, sagte Lord Darcy. »Nein, es gab einen Grund, warum diese Herzen herausgerissen wurden. Dessen bin ich mir so sicher, wie ich sicher bin, daß der Papst Engländer ist.« »Kein Zweifel, das hat bestimmt etwas mit der Wahrung des Geheimnisses dieses Steinzimmers zu tun«, sagte Seine Gnaden. »Wir rennen wohl offene Türen ein, wenn wir sagen, daß das Ganze für uns nach einem polnischen Komplott aussieht.« Lord Darcy erhob sich. »Daran habe ich auch schon gedacht, Euer Gnaden. Es sind die kleinen Dinge, an denen Ihr sie erkennen sollt, und die kleinen Dinge weisen stark auf einen Plan der Serka hin.« Lord John Quetzal sah von einem zum anderen. »Ich dachte, wir hätten die Serka in der Alten Welt zurückgelassen«, sagte er. »Ich gebe ja zu, daß die Welt rund ist, wie die Philosophen sagen; aber wir sind über 211
sechstausend Meilen vom polnischen Territorium entfernt, und zwar in jeder Richtung.« »Der Arm der Serka ist lang«, sagte Herzog Charles, »und ihrer Fähigkeit, einem Schwierigkeiten zu bereiten, sind durch Ozeane oder physische Distanz keine Grenzen gesetzt. König Kasimir ist nicht sehr erfreut darüber, daß wir so unbekümmert in den Nördlichen und Südlichen Kontinent der Neuen Welt gezogen sind und den einen ›Neuengland‹, den anderen ›Neufrankreich‹ getauft haben. Warum, muß er sich gefragt haben, nicht ›Neusmolensk‹ oder ›Neulitauen‹? Nun, er kann nicht darauf hoffen, daß er es schon morgen soweit bringt …« »Das kann er wohl wirklich nicht!« unterbrach Master Sean ungehalten. »… aber irgendwo in seinen weitreichenden Plänen – da sind wir uns sicher – gibt es einen Terminkalender für die, äh, Befreiung der Neuen Kontinente«, fuhr Seine Gnaden fort. »Und wenn, dann könnte er uns in der Zwischenzeit Hindernisse oder Schwierigkeiten bereiten wollen; und wir sind sicher, daß er das auch wirklich tut. Die Serka ist sein rechter Arm.« »Aber wenn er die Eingeborenen mit Waffen versorgen sollte, um uns zu vertreiben«, sagte Lord John, »so wird er doch seinerseits bewaffneten Eingeborenen gegenüberstehen, wenn er kommt.« Herzog Charles fuhr hoch. ›»Wenn er kommt‹, Lord John?« »Ich spreche nur seine Überlegungen aus, Euer Gnaden«, antwortete Lord John. »Meiner Vorstellung nach ist es kaum möglich, daß er mit einem solchen Wagnis Erfolg haben könnte. Außerdem scheint es Wahnsinn zu sein, so etwas auch nur zu versuchen.« »Jawohl, so ist es, aber Wahnsinn kann 212
nichtsdestoweniger viel Ärger verursachen.« Der Herzog seufzte und erhob sich. »Findet es für uns heraus, Lord Darcy, Master Sean, Lord John. Findet heraus, was vorgeht, und warum. Zwei Männer mit herausgerissenen Herzen sind ein Mysterium. Aber ein Zusammenschluß bewaffneter Eingeborenenstämme – in vollem Aufruhr gegen das Reich und darüber hinaus mit Feuerwaffen ausgerüstet – wäre eine Tragödie für beide Seiten.« »Wir werden unser Bestes tun, Euer Gnaden«, sagte Lord Darcy und verbeugte sich leicht, als Herzog Charles den Raum verließ. An der Tür drehte sich der Herzog noch einmal um. »Wenn es Eure Zeit heute abend erlaubt, meine Lords, Master Sean, würden wir Euch gern zu einem Büfett in der Residenz mit anschließendem Ball einladen. Heute ist Gründungstag, der 106. Geburtstag der Gründung von Nova Eboracum. Es wird auch ein Feuerwerk geben.« »Danke, My Lord«, sagte Lord Darcy. »Wir werden kommen.« »Lord John, dessen sind wir sicher, hat bereits eine Einladung erhalten«, sagte der Herzog. »Aber uns fiel gerade ein, daß Ihr beide, Lord Darcy und Master Sean, wahrscheinlich auf keiner der Einladungslisten steht, da Ihr ohnehin in den Räumen der Residenz wohnt. Haben wir recht?« »Ich erinnere mich tatsächlich nicht, eine Einladung erhalten zu haben«, sagte Lord Darcy. »Soweit mir bewußt ist, habe ich hier überhaupt keine Post erhalten, außer einer Nachricht von meiner, äh, Cousine, die ein gemeinsames Dinner vorschlug. Sie bekannte sich außerdem noch zu der Absicht, einige junge Damen, ihre Freundinnen, beeindrucken zu wollen.« »Ihr wärt sicher ein guter Fang für sie, My Lord«, 213
schmunzelte der Herzog. »Nur für das Dinner, meinen wir natürlich.« Lord Darcy lächelte. »Eigentlich ist es Master Sean, von dem sie wirklich fasziniert sind«, sagte er. »Ihn umgibt ein gewisser Hauch von – Magie –, den diese jungen Mädchen nach Aussage meiner Cousine unwiderstehlich finden. Ihre Nachricht betonte ganz besonders, daß ich Master Sean mitbringen solle.« »Ich habe aufgehört zu essen«, äußerte der Hexenmeister entschieden, »um mich auf die Fastenzeit vorzubereiten.«
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12 Die Residenz in Nova Eboracum war kaum mehr als zwanzig Jahre alt und einige Teile davon waren sogar noch weit jünger. Gleichwohl strahlte sie eine gewisse Würde aus, die gewöhnlich erst durch die Patina des hohen Alters erworben wird. So wie manche Frauen schon mit vierzig den ehrenhaften Witwenstand erreichen, ob sie nun Ehre besitzen oder nicht, so sind einige Gebäude schon von Geburt an gestandene Bauwerke. Im Entwurf hatte der Architekt alle Merkmale moderner Stilrichtungen gescheut und sich für die schwere Förmlichkeit der Königin-Stephanie-Epoche entschieden. Zuhause mochte ein Hauch des Neuen, ein Hinweis, daß König John IV. auf dem Thron saß – und dies seit siebenundzwanzig Jahren –, und die Erinnerung daran, daß sich die Welt seit Großvaters Tagen eben doch verändert hatte, einem öffentlichen Gebäude nicht schaden. Aber hier an der Grenze, wo das AngloFranzösische Reich nur einen dürftigen Einfluß auf den Kontinent aufrechthielt, mußte eine herzogliche Residenz etwas Dauerhaftes und Beruhigendes an sich haben und zumindest äußerlich den Eindruck erwecken, als stünde sie schon die letzten dreihundert Jahre und nicht erst seit zwei Jahrzehnten. Der Bau hatte die Form eines großgeschriebenen E, wobei die drei Querbalken ins Innere der Insel wiesen, während der flache Rücken parallel zu dem breiten Rasenstück verlief, das zum Flußufer des Arthur hinunterführte. Der mittlere Querbalken beherbergte die Verwaltungsbüros, auch wenn sie dazu neigten, sich in beide Richtungen auszubreiten. Die beiden äußeren 215
Balken enthielten die herrschaftlichen Gemächer für den königlichen Gouverneur, der immer ein Herzog war (gegenwärtig Charles d’ Are), für einige wichtige Seneschalle, Provinzbeamte und Gäste. Das vielgepriesene Festmahl, ein kaltes Büfett, sollte im Langen Ballsaal stattfinden, der durch das Rückgrat des Gebäudes verlief. Entlang der Außenwand waren in gleichmäßigen Abständen riesige Fenstergemälde angeordnet. Durch diese wurde die Wand zu dem großen Rasen hin durchbrochen, der sich hinunter bis zum Arthur erstreckte. Der Lange Ballsaal setzte sich aus dem Nördlichen Ballsaal und dem Südlichen Ballsaal zusammen, von denen jeder drei- oder vierhundert Gäste eines Staatsbanketts fassen konnte. Normalerweise war er durch eine Verlängerung des mittleren Flurs geteilt, die zu einem Paar großer Türen führte, dem eigentlich offiziellen Ausgang auf die Rasenfläche. Um den Langen Ballsaal zu schaffen, hatte man verschiedene Wände entfernt und einen Teil der Ballsaal-Dielung anstelle der Fliesen in den mittleren Flur eingelegt. Man brauchte eineinhalb Tage, um den Saal gebrauchsfertig herzurichten, und weitere eineinhalb Tage, um ihn wieder umzubauen. Aber solch ein großer Saal wurde auch nie mehr als zwei- oder dreimal im Jahr genutzt: am Gründungstag, am Geburtstag des Königs und manchmal für eine wirklich bedeutende Hochzeit oder ein Staatsbegräbnis. Lord Darcy knotete das Halstuch über seinem Rüschenhemd mit der leichthändigen Eleganz jahrelanger Praxis und schlüpfte in seine graue Gala-Uniform mit den roten Paspeln, das förmlichste Kleidungsstück, das er mitgebracht hatte. Sie war für die meisten formellen Anlässe ausreichend, aber nicht gerade bei Hofe, wo ein Stil üblich war, der vor ungefähr dreihundert Jahren getragen wurde, denn bei Hofe wechselten Sitten und 216
Trachten allenfalls mit dem rasanten Tempo eines eiszeitlichen Gletschers. Glücklicherweise hatte ihm der Herzog versichert, daß zum Festmahl eine große Vielfalt unterschiedlichster Kleidung getragen werden würde. »Es gibt nicht genug Hofkleider in dieser Stadt, um einen Garderobenraum zu füllen, geschweige denn den Langen Ballsaal«, hatte er gesagt. »Wir sind hier draußen in dieser Wildnis eher unkonventionell.« Lord Darcy begutachtete seine gesamte Erscheinung kritisch in dem großen Spiegel, der an der Innenseite seiner Schranktür angebracht war. Wohl zum tausendsten Mal stellte er fest, daß er mit diesen Ohren, die ein wenig zu groß geraten waren, und dieser einfach viel zu langen Nase keiner gesellschaftlichen Norm eines aristokratisch guten Aussehens gerecht werden konnte. Dennoch mußte er wieder einmal wohlwollend zugeben, hatte er ein markantes Gesicht, und das war wohl das Beste, was man von einem eher äußerlich uninteressanten Mann sagen konnte. Die reich verzierte Horry-Uhr in seinem Büro schlug Sieben, wobei die hohen, glockengleichen Schläge durch seine Gemächer widerhallten. Lord Darcy war in der Auswahl seiner Kleidung äußerst anspruchsvoll, kümmerte sich jedoch nicht übermäßig um jenen Teil seiner äußeren Erscheinung, mit dem er zur Welt gekommen war. Das würde er zur gegebenen Zeit allein mit seinem Schöpfer ausmachen. Abgesehen davon, schien dies die Frauen nicht sonderlich abzuschrecken. Was sollte ein Mann sich mehr wünschen? Aber dann und wann ertappte er sich doch dabei, daß er, wenn er sich in einem Spiegel betrachtete, sein Gegenüber sehr kritisch taxierte. Es war nicht gerade eine Form von Eitelkeit, sondern eher die unvermeidliche Reaktion eines Mannes, der es sich zur Angewohnheit gemacht hatte, 217
alles, was ihm unter die Augen kam, zu analysieren und zu studieren. »Nun, Mullion«, sagte er, als sein vom Hof ernannter Kammerdiener in den Raum trat, »was meint Ihr dazu?« »Wozu, My Lord?« fragte Mullion, während er das Kaffeetablett absetzte, das Lord Darcy zuvor geordert hatte. »Ihr Kaffee, My Lord.« »Na, zu meinem Aussehen«, sagte Lord Darcy, nahm eine Tasse vom Tablett und stürzte das wohlschmeckende Getränk in einem großen Schluck hinunter. »Bin ich schicklich genug gekleidet, um heute nacht in der Gesellschaft von New Borkum auftreten zu können?« fragte er, während er die Lippen mit der bereitgelegten Serviette abtupfte. »Ja, Euer Lordschaft«, sagte Mullion. »Glaubt Ihr, ein Galaschwert entspricht diesem formellen Anlaß?« fragte Lord Darcy. »Oder sollte ich dieses eiserne Schmiedewerk lieber im Schrank zurücklassen?« »Das würde ich nicht sagen, Euer Lordschaft«, erwiderte Mullion. »Kommt Ihr auch zu den Festlichkeiten?« fragte Lord Darcy, wohlwissend, daß alle Bewohner der Residenz, vom höchsten Würdenträger bis zum niedersten Gesinde, eingeladen worden waren. »Ich denke nicht, Euer Lordschaft«, sagte Mullion. »Ihr werdet den ganzen Spaß versäumen«, sagte Lord Darcy und versuchte ihn zu einer Erwiderung zu provozieren. »Spaß, Euer Lordschaft?« Mullion gelang es sogar in diese wenigen Silben eine Betonung zu legen, als hätte ihn jemand darum gebeten, Würmer zu verspeisen. Lord Darcy seufzte. Er hatte wieder einmal versucht, Konversation zu betreiben, um eine einfache, klare Aussage aus Mullion hervorzulocken – und wieder einmal war er gescheitert, an einer sehr interessanten Absage 218
allerdings: Welcher Mensch reagiert schon allein bei dem Gedanken an ›Spaß‹ mit derartigem Unbehagen? Ein religiöser Fanatiker vielleicht? Nun, sagte sich Lord Darcy, Ihr solltet es besser nicht auf eine Herausforderung ankommen lassen. Wenn der Mann nicht reden wollte, wenn er seine Arbeit auf dem niedrigst möglichen Niveau gegenseitiger Verständigung zu verrichten wünschte – uneingedenk dessen, daß er eindeutig intelligent genug war, mehr als das zu leisten –, so war das eben seine Sache. Aber sonderbar war es schon. Wenn es einen tieferliegenden Grund für Mullions Verhalten gab, würde Lord Darcy ihn herausfinden. Er hatte den Namen des wortkargen Kammerdieners auf die Liste mit jenen Personen gesetzt, die überprüft werden sollten; nicht unbedingt, weil ein konkreter Verdacht bestand, sondern allein der ungelösten Frage wegen – die auf fadenscheinigem, weißem Durchschlagpapier mit einer roten Linie entlang des linken Rands beantwortet werden würde. »Ich danke Euch, Mullion«, sagte Lord Darcy. Er entschied sich für das Schwert und schnallte es um. Ein Gentleman ohne Schwert war einfach nicht vollständig angezogen. Indem er die Ecken seines Halstuches noch einmal abschließend zurechtzupfte, verließ er seine Gemächer in Richtung Langer Ballsaal. Es war immer noch früh, aber der Ballsaal schien bereits ungefähr zu einem Viertel gefüllt zu sein. Das bedeutete, so schätzte Lord Darcy, daß sich etwas über dreihundert Menschen in dem Saal befanden. Die Garderobe war zwanglos, wie es der Herzog vorausgesehen hatte. Nur vereinzelt konnte er echte Hofgarderobe um sich herum entdecken: Der Herzog selbst, einige niedere Lords und Ladies, die zum Hof gehörten, verschiedene Seneschalle sowie alle arbeitenden Bediensteten waren in die Tracht 219
des vierten Richards gekleidet. Lord Darcy ging langsam im Saal umher und beobachtete die anderen Gäste, die in buntester Vielfalt kostümiert waren, wie man es in London nur selten zu sehen bekam. Man sah Stadtväter, in New Borkumer Putz gewandet: weiten Hosen, hohen Stiefeln, Hemden mit Spitzenpassen und bestickten Jacken, die um die Taille geschlossen wurden. Man sah Pioniere in ihren mit Fransen besetzten Ledergewändern. Es gab Eingeborene von ansässigen Stämmen in perlenbestickten Lederjacken, Leggings und weichen Mokkasins, die sehr bequem wirkten. Einige von ihnen trugen gefiederte Kopfbedeckungen von unterschiedlichstem Design. Lord Darcy hielt dies für eine Art Abzeichen, die sie als Häuptlinge oder Unterhäuptlinge ihrer verschiedenen Stämme auszeichneten. Die Federn stammten entweder von Falken und Adlern oder von einem großen einheimischen Vogel, den sie Truthahn nannten. Man sagte, daß der Truthahn geschmacklich dem Huhn sehr nahe käme, aber Lord Darcy hatte die Erfahrung gemacht, daß man dies von beinahe jeder weitgehend unbekannten Nahrung behauptete. Uniformen des Militärs und der Marine waren genauso zu sehen wie die Gala-Anzüge der Handelsmarine von mindestens einem Dutzend seefahrender Königreiche aus der ganzen Welt. Die Kleider der Damen unterschieden sich weniger im Stil, als in der jeweiligen individuellen Ausgestaltung dieses einen Stils. Die anwesenden anglo-französischen Damen trugen alle verschiedene Versionen eines hochtaillierten, mit kurzgeschnittenem Oberteil versehenen und in tiefe Falten gelegten langen Kleides – desselben, das im vergangenen Jahr von Prinzessin Ginjer du Lac, der jüngeren Tochter des Schottenkönigs, populär gemacht worden war, als sie dem Kaiserhof vorgestellt wurde. Selbst die ärmste 220
Hausfrau oder Demoiselle von New Borkum hatte es fertiggebracht, sich in einer für den jeweiligen Geldbeutel erschwinglichen Ausgabe dieses Prinzessinnen-Gewandes zu kleiden. Die wenigen anwesenden Eingeborenenfrauen waren allesamt gesetzte Damen im Matronenalter. (»Wir werden nicht eine einzige unschuldige Jungfrau aus diesem Stamm zum Anglo-Franzosen-Ball gehen lassen. Nur allein Der Große Geist kennt die ausländischen Torheiten, die dort begangen werden!«) Sie trugen leuchtende, verschiedenfarbige Blusen und schwere perlenbesetzte Röcke. Ein Arm schmeichelte sich um Lord Darcys Arm. »Guten Abend, Cousin«, trillerte eine honigsüße Stimme, »ich habe Euch überall gesucht. Schaut nur, wie aufmerksam eine weit entfernte Verwandte sein kann: Ich habe Euch einen Drink mitgebracht.« Lady Irene Eagleson stand neben ihm, ihr blondes Haar aufgetürmt zu einem phantasievollen Haargespinst aus Kringeln, serpentinenartigen Windungen und wallenden Formen, das seltsamerweise gut die Schlichtheit ihres roten Kleides ergänzte. Vorsichtig balancierte sie zwei Gläser auf der freien Hand. »Ich hoffe, Robertia-Ouiskie und prickelndes Belenzon sind zu Eurer Zufriedenheit, My Lord«, sagte sie und bot ihm eines der beiden Gläser an. »Gut, dann soll es eben sein«, sagte er, während er ein Glas nahm und ins Licht hielt. »Ein heimisches Gebräu, nicht wahr? Mir persönlich sind die Ingredienzien nicht bekannt, aber da Ihr sie ausgesucht habt, liebste Cousine, bin ich sicher, daß es köstlich munden wird.« Er hob das Getränk an die Nase und prüfte, ob er irgendwelche Hinweise auf sein Aroma erhalten würde. Es roch nach Ouiskie. Lady Irene, bemerkte Lord Darcy, hatte dagegen einen Duft an sich, der ihre Schönheit und Weiblichkeit 221
noch unterstrich. Ohne Zweifel war er aus seltenen Blütenessenzen komponiert und mit unsagbar zarten Anteilen des Moschus-Hirschen versehen. Seine Sinne gerieten durch den Duft in einen leichten Taumel und ließen ganz uncousinartige Gedanken gegenüber der liebreizenden jungen Dame in ihm aufkommen. Nein, lassen wir uns ehrlich sein, es war nicht nur der Duft. In der Flasche selbst oder auf einem anderen Handgelenk, einer anderen Halsbeuge oder anderen Busen, hätte er diese Reaktion nicht hervorrufen können. Es war Lady Irene selbst, ein Mädchen, das er erst zum zweiten Mal traf, von ihrem gemeinsamen Stammbaum einmal abgesehen. Ich frage mich, dachte Lord Darcy, ob ich wohl plötzlich in die Jahre gekommen bin, in denen, wie man so hört, gestandene Männer auf einmal junge Mädchen begehren. Oder fühle ich mich vielleicht wirklich zu ihr hingezogen? Falls letzteres zutrifft, schön. Im ersten Fall sollte ich besser eine kalte Dusche nehmen und heute Nacht mit einem kleinen Almanach zu Bett gehen. Aber woher soll ich es wissen? Vielleicht wurde er auch gerade verhext. Möglicherweise war dies das Ergebnis eines ausgeklügelten Liebeszaubers. Nein, beschloß Lord Darcy. Das war ihm schon einmal während seiner Laufbahn passiert und es hatte sich anders angefühlt: ein blindes, zwingendes, unvernünftiges Verlangen, das einen Teil des Gehirns ins Abseits stellte, wo dieser, auf Beachtung pochend, sich wunderte, was eigentlich mit ihm passierte und warum. Dies hier war dagegen ein sehr viel entspannteres, wesentlich angenehmeres und mit Sicherheit auch sehr viel ehrlicheres Gefühl als der Zwang eines solchen Liebeszaubers. Ich werde mir darüber keine Gedanken mehr machen, 222
dachte Lord Darcy. Die Ereignisse sollen unbeeinflußt ihren Gang nehmen. »Der Ouiskie«, sagte Lady Irene gerade, während ihre großen blauen Augen unter den langen Wimpern zu ihm emporblickten, »ist ein einheimisches Produkt des Herzogtums Robertia, im Süden des Landes. Er wird von Kennern besonders empfohlen.« »Genau wie mein Pfeifentabak«, bemerkte Lord Darcy. »Der ist auch aus Robertia.« »Das Wasser ist ein natürliches Sprudelwasser aus der Belenzon Quelle, nördlich von hier«, erklärte ihm Lady Irene. »Beides zusammen gilt als eine gefällige Kombination. Ich mag dieses Wasser besonders gern mit Weißwein gemischt, denn ich gestehe, daß Ouiskie für meinen Gaumen etwas zu stark ist.« Er nippte an seinem Drink und fand ihn überraschenderweise gut. »Sehr angenehm, My Lady«, stimmte er ihr zu. »Sehr sanft und sehr mild. Ich bin überrascht, wie …«, er suchte nach einer Umschreibung. Lady Irene lachte. »Überrascht, hier draußen etwas derartig Zivilisiertes zu finden?« sagte sie. »Habt Ihr vielleicht ein simples Rohprodukt direkt aus der Brennerei erwartet, und das an Eure verwöhnten Lippen?« Lord Darcy lächelte und nickte. »Irgend etwas in dieser Richtung«, gab er zu. »Nun, wir können sicher auch damit dienen«, meinte sie. »Aber dieses spezielle Beispiel höchster Destillierkunst ist zwölf Jahre lang in verkohlten Eichenfässern gereift.« Sie lächelte. »Ungefähr so lange, wie wir voneinander getrennt waren, Cousin.« »Es war unaufmerksam von mir«, sagte Lord Darcy mit einem entsprechenden Lächeln, »schrecklich nachlässig. All diese Zeit ohne eine Nachricht. Was habe ich mir nur 223
dabei gedacht?« »Nun«, sagte Lady Irene mit einem charmanten Schmollen, »an mich habt Ihr jedenfalls nicht gedacht.« »Andererseits«, sagte Lord Darcy, als käme es ihm gerade in den Sinn – »habt Ihr mir auch nicht einmal geschrieben!« »Oh, doch, das habe ich, das habe ich«, versicherte ihm Lady Irene, »ich war nur zu schüchtern, um die Briefe auch abzuschicken. Ihr hättet sicher über meine Schulmädchenschwärmerei gelacht.« »Ah«, sagte Lord Darcy. »Hätte ich das?« »Selbstverständlich«, antwortete sie. »Aber nun bin ich sechsundzwanzig und kaum mehr als Schulmädchen zu bezeichnen.« Lord Darcy sah auf sie hinunter, aber sie hatte ihren Kopf abgewandt. »My Lord«, sagte sie, »laßt uns über alte Zeiten sprechen und über Familienangelegenheiten plaudern: Wie ist es Tante Bertha all die Jahre ergangen? Gefällt es Cousin Edgar wirklich, auf allen vieren herumzulaufen und den Mond anzubellen? All die wichtigen Dinge in dieser Richtung. Würdet Ihr mit mir ein wenig nach draußen auf den Rasen gehen? Ich glaube, es ist jetzt noch nicht zu kalt.« »Es ist mir ein Vergnügen«, erwiderte Lord Darcy. Sie schlenderten zusammen durch eines der großen Fenster. Ihre Hand lag leicht auf seinem Arm. Als sie ungefähr zehn Meter vom Haus entfernt waren und Lord Darcy darüber nachdachte, was er zu diesem seltsamen und sonderbar anziehenden Mädchen sagen könnte, drehte sie sich zu ihm herum. »Wir scheinen allein zu sein«, meinte sie. »Ich habe Euch einige persönliche Dinge zu berichten, und dies scheint mir ein geeigneter Zeitpunkt zu sein. Ich glaube nicht, daß irgend etwas davon für Eure 224
Ermittlungen von Bedeutung ist, aber das müßt Ihr selbst entscheiden.« »Mir etwas zu berichten?« fragte Lord Darcy. Die Wahl ihrer Worte schien ihm doch etwas seltsam. »Meine Freunde nennen mich ›Muffin‹. Wußtet Ihr das?« sagte sie heiter und zog ihn auf mädchenhafte Weise in ihr Vertrauen. »Das Wort stammt aus irgendeiner Opera oder so, glaube ich.« Lord Darcy hielt mitten im Schritt abrupt inne. Er ließ sich nur äußerst selten verunsichern, aber diese junge Dame hatte es fertiggebracht, einen Schritt zu weit zu gehen. »Muffin?« »Da, jetzt habe ich es getan«, sagte Lady Irene. »Ich habe Euch aus der Fassung gebracht.« »Vielleicht überrascht«, gestand Lord Darcy ein und sah sich beiläufig um, um sicherzugehen, daß ihn niemand hörte. »Ich würde nicht sagen, ›aus der Fassung gebracht‹. Also Ihr seid der hiesige Agent des Innersten Geheimdienstes?« »Einer von ihnen«, sagte sie. »Ich hoffe, Ihr gehört nicht zu der Sorte Männer, die denken, daß ich zu klein, zu jung oder zu – ähem – weiblich bin, um einen solchen Beruf auszuüben.« »Weder zu jung noch zu klein«, versicherte ihr Lord Darcy. »Ich hätte selbst nie im Traum an einen solchen Dienst gedacht. Wie kamt Ihr …« Sie lachte leise in sich hinein. ›»Wie kommt ein reizendes, junges Mädchen wie ich …‹ – wollt Ihr das sagen? Ich glaube, ich eigne mich nicht so recht für irgend etwas anderes.« »My Lady«, Lord Darcy blickte sie prüfend an, »eignen sich nicht?« 225
»Als ich fünfzehn Jahre alt war, reiste ich mit meiner Mutter nach Alexandria«, sagte sie weich und blickte gedankenverloren in die Dunkelheit, die sich über den Fluß senkte. »Mein Vater war dort im diplomatischen Dienst. Unser Schiff kam nie an. Wir wurden von barbarischen Piraten gefangengenommen. Ich verbrachte über sechs Monate in Mahdia, wo ich … ausgebildet … wurde – und zwar durch einen Mann, der sich Effez nannte –, bevor er mich an den Sultan von Hafsid verkaufte. Von ihm wurde ich dem Osmanischen Sultan als Geschenk weitergereicht, der mich wiederum seinem ältesten Sohn Mustafa zum Geburtstag schenkte. Dort lernte ich übrigens singen.« Lord Darcy hob erstaunt die eine Augenbraue, sagte aber nichts. Lady Irene fuhr fort: »Über vier Jahre lang war ich die Lieblingsfrau von Mustafa, bis er meiner überdrüssig wurde. Diesem Umstand verdanke ich wahrscheinlich mein Leben. Seine Mutter hatte beschlossen, daß ich gefährlich wäre, und traf gerade Vorbereitungen, mich töten zu lassen. Ich schaffte es, mich an Bord eines Schiffes zu schmuggeln, das nach Venedig fahren sollte, indem ich mich einem Seemann anbot. Dieser setzte, als wir in Venedig angekommen waren, alles daran, mich an Bord zu behalten, aber ich kroch durch eine Luke und schwamm an Land. Zwei Jahre blieb ich in Venedig, während meine Familie darüber debattierte, was mit mir zu tun sei. Schließlich schickten sie nach mir, und ich kehrte nach London zurück. Nachdem alles reichlich erwogen worden war, hatten sie beschlossen, daß mich bei Hofe einzuführen wirklich unmöglich wäre – und so sandten sie mich sechs Monate später hierher. In der Zwischenzeit hatte ich den Chef des Innersten Geheimdienstes kennengelernt – 226
natürlich ohne zu ahnen, wer er eigentlich war –, und er fragte mich über die Verhältnisse im Osmanischen Reich aus. Danach bot er mir einen Posten an.« An dieser Stelle hörte sie auf zu sprechen, wandte sich Lord Darcy zu und wartete darauf, daß er etwas dazu sagen würde. Längere Zeit über schwieg er. »Ich wußte nicht, daß Ihr singt«, sagte er schließlich. »Sopran«, sagte sie. »Ihr werdet in Kürze Gelegenheit haben, mich zu hören. Man hat mich gebeten, als späteren Beitrag zur Unterhaltung zwei Lieder vorzutragen.« Dann zuckte sie mit den Schultern, eine komische kleine Geste, und legte die Hände leicht auf seine Brust. »Ist das alles?« fragte sie. »Nach allem, was ich Euch gerade erzählt habe, ist dies Eure einzige Frage?« Er lächelte und legte den Arm und ihre Schultern. »Ihr seid gut, Lady Irene, wirklich sehr gut«, sagte er gönnerhaft. »Ich glaube, der Teil mit dem Singen ist an dieser Geschichte möglicherweise sogar wahr. Aber wie steht es mit dem Rest?« Sie sah ihn an und ließ den Mund vor Erstaunen eine Weile geöffnet. Dann zuckte sie wieder mit den Schultern und lächelte ein verschmitztes kleines Lächeln. »Ein klein wenig davon ist wahr«, sagte sie, »aber sehr wenig.« »Das war eine hochinteressante Geschichte«, sagte Lord Darcy. »Ich frage mich, ob mir die Auswahl der Einzelheiten wohl mehr über Euch oder mehr über die Personen verrät, denen Ihr sie gewöhnlicherweise erzählen müßt.« Lady Irene zog die Hände ruckartig von Lord Darcy fort, als hätte er sie gerade gebissen. »Ich habe nicht …«, sagte sie wütend und unterbrach sich selbst, ohne den Gedanken zu Ende gebracht zu haben. Dann schüttelte sie leicht den 227
Kopf und schlang ihren Arm wieder durch Lord Darcys. »Ich alberner Dummkopf«, sagte sie, »warum sollte ich auf jemanden, den ich sehr mag, böse sein, nur weil er mich bei einer Lüge ertappt hat. Eure Frage ist äußerst interessant, MyLord.« »Und die Antwort?« fragte Lord Darcy mild. Sie zögerte. »Ich glaube, es hält sich ungefähr die Waage«, sagte sie. »Die Männer, denen ich gewöhnlich diese Geschichte erzählen muß, erwarten immer irgend etwas in dieser Art, und ich muß gestehen, daß es mir einige Befriedigung bereitet, gerade diese Geschichte zu erzählen. Sie würden sonst denken, daß ein verhätscheltes junges Mädchen, das ein untadeliges Leben in und um einer Reihe Anglo-Französischer Höfe geführt hat, nicht, wie soll ich sagen, die nötige geistige Widerstandskraft besitzt, um das zu tun, was sie von ihm verlangen. Und wenn sie erst beginnen, an meinen Fähigkeiten zu zweifeln, so schadet dies der gesamten Mission. Wie die Damen einer anderen, durchaus ähnlichen Profession vielleicht sagen würden: Die Geschichte ist gut fürs Geschäft. Ich hoffe, nachdem ihr mich jetzt überführt habt, denkt Ihr nicht, ich wäre hoffnungslos unfähig. Ich versichere Euch, daß es nicht so ist und daß die meisten Männer dieses Märchen wirklich gerne hören. Sagt, wie seid Ihr eigentlich darauf gekommen, daß es nicht stimmt?« Lord Darcy lächelte. »Ich habe nicht gesagt, daß es mir nicht gefallen hätte«, sagte er. »Wir machen einen Handel: Wenn Ihr mir die wahre Geschichte erzählt – denn nun bin ich wirklich neugierig –, dann erzähle ich Euch, woran ich’s erkannte.« »Ihr verlangt viel«, sagte sie, »aber gut. Ihr fangt an.« »Ich wußte, daß Eure Geschichte falsch sein mußte«, 228
erklärte Lord Darcy, »weil winzige Teile der beweisführenden Details nicht zusammenpaßten. Diese Art von Geschichten sind entweder vollkommen wahr oder vollständig erfunden.« »Ihr wollt damit sagen, daß ich nicht einmal ein ganz klein wenig Eindruck hinterlassen konnte?« fragte sie. »Nun gut. Aber welcher Teil meiner Beschreibungen hat Euer Mißtrauen geweckt?« »Nun, zum einen die Tatsache, daß der letzte Vorfall, bei dem barbarische Piraten ein Schiff geentert haben, etwa 1957 dokumentarisch festgehalten wurde, also einige Jahre bevor ihr überhaupt zur Welt kamt.« »Ich dachte …«, begann sie. »Ja«, unterbrach sie Lord Darcy, »viele Menschen glauben das. Romantik stirbt eben nicht aus. Also, falls Ihr wirklich von Piraten gefangengenommen worden wäret, hätten sie Lösegeld für Euch gefordert, wie es schon zu Julius Cäsars Zeiten die Regel war. Und zwar aufgrund der Annahme, daß Eure Angehörigen wesentlich mehr für Euch bezahlen würden, als – ähem – irgend jemand, der sie nur aus niedrigen Beweggründen haben will. Die haben selbst viele wunderschöne Frauen in Nordafrika, auch wenn nur wenige davon blond sein mögen.« »Das ist alles?« fragte sie. »Wie ich schon sagte, ein einziger Schwachpunkt zerstört so eine Geschichte sofort«, erklärte ihr Lord Darcy. »Aber es gibt noch einen zusätzlichen Faktor, nämlich die Tatsache, daß Abdul Hamids ältester Sohn, dessen Name zufälligerweise Hasid lautet, mit mir zusammen in Oxford war.« »Verdammt«, fluchte Irene mit Nachdruck. »Ihr seid dran«, sagte Lord Darcy. Sie hatten ihren Spaziergang während ihres Gesprächs fortgesetzt und standen nun auf 229
dem Steilufer, von dem aus man den gesamten Fluß überblicken konnte. Unter ihnen war der kleine Pier, an dem Lord Darcy an Land gegangen war. Auf der anderen Seite erhoben sich die schroffen Klippen der gegenüberliegenden Küste, die jetzt von tiefen Schatten überzogen wurden, wie eine Reihe brütender Riesen. Lady Irene zuckte mit den Schultern. »Die Wahrheit, Fremder, ist weniger romantisch«, dozierte sie nüchtern. »Ich könnte mir auch etwas anderes ausdenken, aber es gibt einen Grund, warum ich möchte, daß Ihr die Wahrheit erfahrt, und deshalb möchte ich sie Euch gerne mitteilen. Ich bin ein Teil der polnischen Verschwörung, die sich langsam in Neuengland ausbreitet.« Lord Darcy wandte sich um, so daß er diese bezaubernde junge Dame direkt ansehen konnte, und forschte in ihren Augen, als könne er darin die Wahrheit lesen. »Seltsam, in der Tat«, sagte er. »Wenn das so wäre, warum wollt Ihr es gerade mir erzählen?« »Weil ich tatsächlich immer noch ein loyaler Untertan des Königreichs bin und eine treue Agentin des Innersten Geheimdienstes Ihrer Majestät. Es sind die Polen, denen ich die Lügen erzähle. Natürlich müßt Ihr meinen Worten vertrauen, aber Ihr werdet sehen, daß die Last der Beweise für mich sprechen wird. Glücklicherweise können die Polen diese Last, die ich mit mir herumtrage, nicht sehen.« »Erzählt«, forderte Lord Darcy sie auf. »Wo soll ich anfangen?« fragte sie. »Erzählt es mir von Anfang an.« »Vor fünf Jahren habe ich mich verliebt«, sagte sie. »Er hieß Guiliam und war ein Zweifler. Ich geriet in den Kreis der Zweifler und wurde mehr oder weniger eine von ihnen, zumindest in spiritueller, wenn auch nicht in philosophischer Hinsicht. Es schien so aufregend zu sein, 230
eine gemeinsame Sache zu verfolgen, die so richtig und so bedeutend war. Wenn mir meine Eltern oder andere Erwachsene, die mich kannten, erzählen wollten, welch einen Narren ich aus mir machte, so betrachtete ich dies nur als eine Art Prüfung für den Panzer meiner Rechtschaffenheit. Was sollte denn schon irgend jemand über vierzig von Wahrheit oder Gerechtigkeit verstehen?« »Ich erinnere mich an die Zweifler«, sagte Lord Darcy. »Eine Gruppe Raufbolde, die herumzogen und alles zerstörten, was sie nicht verstehen konnten. Ist das erst fünf Jahre her? Es scheint mir schon ein ganzes Menschenalter zurückzuliegen. Aber danach wechselte die Mode sehr schnell unter den Jugendlichen, sogar beim Zweifeln.« »Wir zweifelten an allem«, sagte sie, »an der Berechtigung des Imperialismus, an der Gliederung der Gesellschaft, an den gesellschaftlichen Normen und den sexuellen Tabus … ganz besonders, glaube ich, an den sexuellen Tabus. Und Ihr habt recht, wir griffen alles an, was wir bezweifelten. Gewöhnlich mit körperlicher Gewalt, Guiliam war einer der Führer der Bewegung. Er war sehr überzeugend. Er führte Anschläge gegen die Gesellschaft aus, und ich half ihm dabei. Wir brachen in irgendwelche Regierungsbüros ein, um Papiere zu verbrennen und Sachen zu zerstören. Das Gefühl, Dinge für eine gute Sache zu zerstören, war sehr befriedigend. Dann bemerkte ich, daß Guiliam einige dieser Papiere beiseite schaffte, von denen ich dachte, daß er sie verbrennen würde. Er versicherte mir, daß er sie den Zeitungen geben wollte. Aber er log. Es stellte sich heraus, daß er ein polnischer Agent war.« »Ähem«, räusperte sich Lord Darcy. »Das wußte ich zu dieser Zeit natürlich nicht. Als ich es schließlich herausfand, erklärte er mir, ich wäre schon viel zu tief 231
darin verstrickt, um noch auszusteigen. Er sagte, er wäre zwar ein Spion, ich aber eine Verräterin. Ich hätte ihm geholfen, geheime Dokumente zu stehlen.« »Schon viele, sogar ältere und erfahrenere Leute als Ihr sind in eine solche Falle getappt«, sagte Lord Darcy verständnisvoll. »Was habt Ihr dann getan?« »Ich heulte drei Tage lang. Anschließend ging ich zu Sir Kevin DeWitt und gestand alles. Ich mag wohl eine Närrin gewesen sein, aber ich war keine Verräterin.« »Zum Marschall von England?« »Ja, vielleicht scheint das eine seltsame Wahl gewesen zu sein. Ich weiß, daß er mit den Höfen und diesen Dingen zu tun hat, aber auch, daß er keine Untersuchungen führt und niemanden verhaftet. Er war der einzige an höchster Stelle rangierende Beamte, den ich persönlich kannte. Und er war ein alter Freund meines Vaters.« »Und?« fragte Lord Darcy. »Er hörte mir geduldig zu und schlug dann vor, daß ich Lord Peter Whiss aufsuchen sollte. Was ich auch tat.« »Was sagte Lord Peter?« »Nun, immerhin hat er mich nicht verhaftet. Er sagte, es gäbe kein Gesetz, eine geprellte Närrin wie mich ins Gefängnis zu bringen und, daß es sehr mutig von mir gewesen sei, überhaupt zu ihm zu kommen.« »Das stimmt«, gab Lord Darcy zu. Sie nickte. »Ich glaube, es war die einzige wirklich couragierte Tat, die ich in meinem Leben vollbracht habe. Ich habe seither schon Dinge gemacht, die mehr Mut erforderten, aber in diesen Fällen war ich besser ausgebildet und wußte, was mich erwarten würde. Als ich jedoch Lord Peter aufsuchte, fürchtete ich mich zu Tode. Ich dachte, sie würden mich sofort in den Tower werfen 232
und mir den Kopf abschlagen.« »Und was passierte statt dessen?« »Lord Peter bat mich, weiterhin so zu tun, als wäre zwischen Guiliam und mir alles beim alten und mich so zu benehmen, als hätte ich zu große Angst, um etwas zu unternehmen. Ich sollte herausfinden, mit wem Guiliam zusammenarbeitete und an welchen Informationen er interessiert war. Mir wurde von ihm versichert, daß ich das nicht tun müßte und auch dann nicht bestraft werden würde, wenn ich mich weigerte. Ich hatte Angst, war aber zugleich sicher, daß ich es tun wollte. Versteht Ihr das?« »Ich verstehe es«, versicherte ihr Lord Darcy. »Und so begann es«, erzählte sie ihm. »Ich stellte fest, daß mir diese Arbeit liegt. Ich habe ein hervorragendes Erinnerungsvermögen und ich denke sehr schnell. Und ich finde das, was ich jetzt mache, interessanter und wichtiger als alles, was ich sonst tun könnte. Warum sollte ich also aufhören?« »Ja, warum eigentlich?« sagte Lord Darcy. Ihm war die Versuchung, die in dieser Arbeit steckte, vertraut, da er sie selbst ständig spürte. Die Herausforderung, die eigenen Kräfte zu erproben, den Intellekt gegen einen Spieler der Gegenseite einzusetzen, die Freude über den Erfolg, aber auch die Gefahr zu versagen. Das alles konnte wie eine Droge wirken. »Glaubt Ihr mir diese Geschichte?« fragte sie. »Sie ist mit einem Hauch von Wahrscheinlichkeit umgeben«, sagte Lord Darcy. »Und das sollte, denke ich, eigentlich meinen Argwohn wecken. Aber irgendwie vermute ich, ist sie letztlich im Kern wahr.« Sie nickte. »Es ist die Wahrheit. Inzwischen, nachdem ich mich durch die Hierarchie emporgearbeitet habe, bin ich auf Geheiß der Serka hier, um dem königlichen 233
Gouverneur anglo-französische Geheimnisse zu entlocken. Sie zahlen mir ungeheure Geldsummen, damit ich das für sie tue, denn sie gehen davon aus, daß ich inzwischen käuflich geworden bin. Ich helfe ihnen sogar, Gewehre zu den einheimischen Eingeborenenstämmen zu schmuggeln. In der Zwischenzeit mache ich kleine Botengänge für den Inneren Geheimdienst.« In gespielter Erschöpfung legte sie die Hand an die Stirn. »Oh! Dieser ganze gesellschaftliche Trubel! Ich habe nicht einmal Zeit, meinen Schneider aufzusuchen.« Lord Darcy entschied, daß er dieses Mädchen wirklich mochte. »Wie viele von ihnen sind es?« fragte er. »Haben die Serka-Agenten irgend etwas mit dem Mord an Prinz Ixequatle zu tun?« »Ich kann keine dieser Fragen beantworten«, sagte sie. »Ich kenne nur meine direkte Kontaktperson und einige wenige untergeordnete Agenten. Ich glaube nicht, daß es mehr als zwei Dutzend sind, höchstwahrscheinlich sogar noch ein paar weniger. Einige Leute arbeiten allein wegen des Geldes für sie: Kriminelle, die nicht wirklich wissen, mit wem sie es zu tun haben. Deshalb weiß ich auch nicht sicher, ob die Serka an der Ermordung des Prinzen beteiligt war, aber gerade letzte Nacht entdeckte ich, daß sie bis zur Mordnacht Gewehre in der Pyramide gelagert hatten.« »Wie habt Ihr das herausgefunden?« fragte Lord Darcy. »Man trug mir auf, an den Kapitän der Sibylle, die gerade in den Hafen eingelaufen ist, die Nachricht zu überbringen, seine geschmuggelten Waffen nicht in der Pyramide abzuladen, sondern auf weitere Instruktionen zu warten.« »Wer ist hier der Chef der Serka-Agenten?« fragte Lord Darcy. 234
»Das versuche ich gerade herauszufinden«, erklärte sie ihm. »Es ist ein Mann, das ist alles, was ich sicher weiß. Ich habe ihn bei den Zusammenkünften immer nur sorgfältig verkleidet und maskiert gesehen.« Sie machte eine Pause und sagte dann: »Wenn ich raten müßte, ob die Serka an der Ermordung des Prinzen beteiligt gewesen ist oder nicht, würde ich sagen nein.« »Warum das?« »Weil mein Vorgesetzter, wer es auch immer sein mag, mir nicht befohlen hat, freundlich zu Euch zu sein oder herauszufinden, was Ihr gerade tut … wie Ihr vorankommt … und so weiter. Er hätte das mit Sicherheit getan, wenn die Serka irgend etwas mit dem Tod des Prinzen zu tun gehabt hätte.« »Man sollte beinahe annehmen, sie hätten es auch so getan«, sagte Lord Darcy. »Ich bin froh, daß sie es nicht von mir verlangten«, sagte sie, »denn so hatten wir die Möglichkeit, uns gegenseitig kennenzulernen, ohne daß irgend etwas den ganzen Vorgang komplizierte.« Lord Darcy nickte. »Das ist richtig«, stimmte er ihr zu. »Was wolltet Ihr mir eigentlich erzählen?« »Eure Anfrage über Mullion wurde an mich weitergereicht«, sagte sie, »für den Fall, daß ich ihn als Serka-Agenten identifizieren könnte.« »Nun?« fragte Lord Darcy. »Er ist keiner, soweit ich weiß«, sagte sie. »Aber zufällig erfuhr ich, was er ist. Euer Diener ist ein sogenannter Paradoxer Materialist.« »Was ist das?« fragte Lord Darcy. »Das ist eine Sekte, die mehr und mehr an Popularität gewinnt und aus irgendeinem Grund besonders hier in den 235
Kolonien. Sie glauben, daß es keine Mysterien gibt, nur Paradoxe, und daß Ihr, wenn Ihr keine Antwort auf eine Frage findet, einfach nur die falsche Frage gestellt habt. Sie sind der Meinung, daß man nichts allein auf dem Glauben aufbauen sollte, sondern daß alles untersucht, geprüft, auseinandergenommen und genauestens beschrieben werden muß und man auf diese Weise Wissen über den Aufbau des Universums erlangen kann.« »Oh, ja«, sagt Lord Darcy, »eine dieser Sekten der Materiellen Wissenschaften. Nichts, was man nicht anfassen kann, existiert. Jede Antwort, die sich nicht wiederholen läßt, ist eine falsche Antwort. Sie glauben, Magie sei nur eine Manifestation einer gewissen geistigen Kraft, die wir nicht verstehen.« »Das ist eine genaue Beschreibung dieser Gruppe«, pflichtete Lady Irene bei. »Ich frage mich nur, was an diesem Glauben sie so sehr von dieser Welt entfremdet, daß sie so wortkarg und so mürrisch werden«, sagte Lord Darcy. Langsam schlenderten sie Arm in Arm zum großen Ballsaal zurück. Das kalte Büfett war gerade aufgetischt worden, und sie füllten ihre Teller. Lord Darcy probierte das erstemal Truthahn, und es schmeckte tatsächlich nach Hühnchen. »Nun, My Lord, ich hoffe, es ist alles zu Ihrer Zufriedenheit«, sagte Graf de Maisvin, der plötzlich seitlich aus dem dichten Gedränge hervorgetreten war. Er war wie immer ganz in Schwarz gekleidet. Das silberbesetzte Gala-Jackett, das durch eine doppelte Knopfreihe geschlossen wurde, umgab ihn jedoch mit dem umwerfenden Flair ausländischer Eleganz. Falls irgend jemand Schwarz erneut in Mode bringen könnte, dachte Lord Darcy, so der Graf. De Maisvin verbeugte sich vor 236
Lady Irene. »My Lady, Ihr seid so charmant und so schön. Ich hoffe, Ihr werdet heute nacht wieder für uns singen.« »Man hat mich schon dazu aufgefordert«, erwiderte sie, »und es ist mir ein Vergnügen.« »Was werdet Ihr singen?« fragte er. »Zweifelsfrei etwas Patriotisches, dem Anlaß gemäß?« »Ich werde den ›George‹ singen«, erklärte sie ihm. »Es gibt kaum etwas Patriotischeres.« Damit spielte sie auf die Hymne an, die auf dem alten Schlachtruf der Plantagenets beruhte: »Gott für Harry, England und St. Georg«, der zu allen patriotischen Anlässen in den letzten fünfhundert Jahren angestimmt wurde, wobei man jeweils den Namen des herrschenden Königs einsetzte. »Mein Gesicht wird vor unschuldiger, ernsthafter Tapferkeit erglühen, und meine patriotische Inbrunst wird durch Eure liebliche Stimme zu neuem Leben erweckt werden«, sagte de Maisvin salbungsvoll. Dann verbeugte er sich noch einmal und verschwand wieder in der Menge. Sie schüttelte den Kopf und sagte zu Lord Darcy gewandt: »Er spricht häufig in dieser seltsamen Weise.« Ein gutaussehender junger Bursche, ungefähr sechzehn oder siebzehn Jahre alt, in vollendeter, reich verzierter Hoftracht aus schwerem Grün und Gold, ging mit einem verärgerten Gesichtsausdruck an ihnen vorbei. »Julian!« rief Lady Irene. Er drehte sich um. »My Lord, laßt mich Euch Sir Julian Despaige vorstellen, ein Schützling des Herzog Charles«, machte Lady Irene beide miteinander bekannt. »Julian, das ist Lord Darcy.« Julians Augen leuchteten auf, als er Lord Darcy die Hand schüttelte. »My Lord«, sagte er. »Es ist mir wirklich eine Ehre. Ich hoffte schon auf eine Gelegenheit, Euch kennenzulernen, seit Ihr hier angekommen seid.« 237
»Ich könnte schwören, daß wir uns schon einmal getroffen haben«, sagte Lord Darcy und durchsuchte sein Gedächtnis, wo er diesen schmalgesichtigen Jungen mit dem hellbraunen Haar einordnen sollte. Er schnippte mit den Fingern. »Winchester Palace!« rief er aus. »Vor einigen Wochen!« »Nein, das kann nicht sein, denn ich bin schon seit über zwei Jahren hier, My Lord«, erwiderte Sir Julian. »Mmh«, murmelte Lord Darcy. Sir Julian lächelte – ein breites, entwaffnendes Lächeln. »Das war mein Zwillingsbruder James«, sagte er. »Niemand kann uns auseinanderhalten.« »Ihr seid hier und Euer Zwillingsbruder in London?« fragte Lord Darcy. »Nun, gepriesen sei die kleine Gunst, die Ihr mir erwiesen habt. Ich verabscheue die Ungewißheit, daß mein Erinnerungsvermögen mich im Stich gelassen haben könnte. Es ist mir ein Vergnügen, Euch kennenzulernen, Sir Julian.« »Warum habt Ihr vorhin so besorgt ausgesehen, als ich Euch rief?« fragte Lady Irene den jungen Mann. »Nichts Wichtiges«, sagte er und sah verlegen aus. »Herzog Charles hat mich dazu verführt, als Teil der Festlichkeiten ein Gedicht vorzutragen.« »Ihr habt doch einen sehr schönen Vortragsstil«, sagte Lady Irene. »Also gibt es gar keinen Grund nervös zu sein.« »Es ist schon etwas anderes, ob man ein paar Strophen in der Anwesenheit verständnisvoller Freunde deklamiert«, erwiderte Julian, »oder ob man auf einer Bühne steht und Lord Dif der halben Bevölkerung von Nova Eboracum vorträgt, von denen die meisten sowieso kein Interesse daran haben.« 238
»Aber die Leute lieben schöne, mitreißende Verse«, sagte Lord Darcy. Ein kleines Orchester marschierte auf die Empore am anderen Ende des Ballsaals, und die Musiker fingen an, ihre Instrumente zu stimmen. »Ihr müßt mich für einige Minuten entschuldigen«, sagte Lady Irene. »Ich fürchte, daß ich die Abendunterhaltung einleiten soll.« Sie küßte Lord Darcy leicht auf die Wange und suchte sich einen Weg zur Bühne. Sir Julian seufzte. »Nun, ich schätze, wenn sie das kann, dann werde ich nicht zurückstehen. Es dürfte ratsam sein, daß ich einmal nachsehe, für welchen Programmpunkt ich eigentlich vorgesehen bin. Ich hoffe, daß ich später noch Gelegenheit haben werde, mit Euch zu sprechen, My Lord.« »Gut, abgemacht«, sagte Lord Darcy und sah dem jungen Mann nach, der nun ebenfalls zur Bühne eilte. Lord Darcy ging hinüber zum Büfett-Tisch und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. Während das Orchester seine Vorbereitungen beendete, überdachte er verschiedene Spekulationen. Er nippte noch an seinem Kaffee, als er eine vertraute, füllige Gestalt im Blau der Hexenmeister auf sich zueilen sah. »My Lord, ich habe Euch überall gesucht«, sagte Master Sean ernsthaft, nachdem er nahe genug herangekommen war, um nicht laut rufen zu müssen. »Habt Ihr die Neuigkeit schon gehört?« »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon Ihr redet, Master Sean«, erwiderte Lord Darcy. »Die Gruppe der aztekischen Unterhändler ist angekommen«, verkündete ihm Master Sean. »Sie lagern auf der anderen Seite des Flusses, da sie sich weigern, nach Einbruch der Dunkelheit fließendes Wasser zu 239
überqueren. Das bedeutet, daß sie morgen früh mit der ersten Fähre in New Borkum eintreffen werden.« »Wie aufregend«, sagte Lord Darcy ruhig. »Ich könnte wetten, Seine Gnaden denkt anders darüber«, sagte Master Sean. »Er hatte den Wunsch geäußert, den Mord noch vor der Ankunft der Azteken aufzuklären. Jetzt wird er sehr ungehalten darüber sein.« »Ich verabscheue es, Seiner Gnaden zu mißfallen«, sagte Lord Darcy, »aber ich nehme an, daß ich noch ein paar Tage zur vollständigen Aufklärung des Falles benötigen werde. Ich bin sicher, daß man die aztekische Gesandtschaft für diese Zeit noch beschwichtigen kann. Gott sei Dank ist das nicht meine Aufgabe.« »Nur noch wenige Tage?« fragte Master Sean. »Heißt das, daß Ihr wißt, wer es war?« »Ich habe eine leise Ahnung«, erklärte ihm Lord Darcy. »Bis jetzt ist es nur ein Schimmer, aber mit ein wenig Mühe wird er bald in gleißendem Licht erstrahlen.« »Das hoffe ich sehr, My Lord«, sagte Master Sean. Von der Bühne erklangen die ersten einleitenden Takte der Hymne der Plantagenets, und alle Augen im Saal richteten sich auf das schlanke Mädchen, das nun vor ihnen stand. Lady Irenes Stimme erhob sich zu dem jahrhundertealten musikalischen Gruß: »Gott für Joh-on …«
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13 Am nächsten Morgen, kurz nach sechs Uhr, als Lord Darcy gerade aus seinem Bad gestiegen war, klopfte es vorsichtig an der Badezimmertür. »My Lord«, erklang Mullions matte Stimme durch die Türfüllung, »da sind einige Herren, die Euch sehen möchten, My Lord.« »Um diese Uhrzeit möchte ich niemanden empfangen«, rief Lord Darcy durch die Tür. »Bittet sie, nach dem Frühstück wiederzukommen.« »Sie sagen, es sei wichtig, My Lord«, beharrte Mullion und hörte sich noch trübsinniger an. »Ich habe sie in das Arbeitszimmer geführt.« »Verratet mir nicht, wer es ist«, rief Lord Darcy mit ärgerlicher Stimme, während er verschiedene Teile seiner Anatomie mit dem Handtuch bearbeitete, »laßt mich raten.« »Ja, My Lord«, antwortete Mullion. Lord Darcy seufzte, wickelte das Handtuch um seine Lenden und öffnete die Badezimmertür. »Wer ist es, Mullion«, fragte er, »und was wollen sie?« »Es ist Major DePemmery, My Lord«, antwortete Mullion, ohne Neugierde zu zeigen, was seinen Herrn dazu bewogen haben könnte, doch nicht zu raten, »und mit ihm ein Eingeborener.« »Ein Eingeborener?« »Ja, My Lord.« Lord Darcy beschloß im stillen, seinem Mann, Ciardi, – eine beachtliche Gehaltserhöhung zu gewähren, sobald er nach London zurückgekehrt wäre. »Sagt ihnen, daß ich in fünfzehn Minuten da bin«, wies er Mullion an, »und frage 241
sie, ob sie mir beim Frühstück Gesellschaft leisten wollen. Wenn dem so ist, richtet das Frühstück für drei Personen an und serviert es im Eßzimmer. Ruft mich, wenn alles bereit ist.« »Ja, My Lord«, erwiderte Mullion, verbeugte sich und zog sich zurück. Lord Darcy rasierte und kleidete sich eilig an und machte sich auf den Weg, um seine Gäste zu begrüßen. Major Sir John DePemmery war ein großer, schlanker, glattrasierter Mann, bekleidet mit der fransenbesetzten Wildlederhose des Grenzlands. Sein Gesicht wirkte ernst, sein Blick scharf und intelligent, und sein Händedruck war fest und hart, als er Lord Darcys Hand schüttelte. »Es ist mir ein Vergnügen«, sagte er. »Ich hatte schon immer gehofft, Euch eines Tages kennenzulernen. Entschuldigt bitte die frühe Stunde. Ich bin erst letzte Nacht zurückgekehrt. Als ich erfuhr, was geschehen war, und als ich hörte, daß Ihr hier seid, bin ich gleich gekommen. Dies hier ist Häuptling Chisolnadak von den Mulgawa. Er reiste mit mir.« Der Häuptling, ein kräftiger Mann mittleren Alters, bekleidet mit dem bemalten und perlenbesetzten Wintergewand der Nördlichen Stämme, hatte eine Streitaxt an seinem breiten, mit Perlen bestückten Gürtel hängen. Außerdem trug er einen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen auf dem Rücken. Sein Gesicht war mit einem einfachen Muster aus roter und brauner Farbe bemalt. »Sehr erfreut, My Lord«, sagte er. »Wenn es wahr ist, was Major DePemmery sagt, so glaube ich, daß Ihr mir und meinen Leuten helfen könnt.« »Häuptling«, sagte Lord Darcy und schüttelte die große, klobige Hand. Der Akzent kam ihm bekannt vor. »Brestlemere?« fragte er. 242
»Stimmt genau«, antwortete ihm Häuptling Chisolnadak. »Sieben lange Jahre in einem College für englische Jungen und dann vier an der Universität von Paris, um mich für die Rückkehr in die Wälder vorzubereiten, die Ihr Neuengland nennt. Das Leben macht viele merkwürdige Windungen und Schleifen, bevor es zu einem Ende kommt.« »Frühstück, My Lord – Gentlemen«, verkündete Mullion von der Tür des Studierzimmers aus. »Kommt, meine Herren«, forderte Lord Darcy sie auf. »Wir werden unsere Angelegenheit am Frühstückstisch besprechen.« Bei Tisch widmeten sich Lord Darcys Gäste mit redlichem Eifer ganz dem Frühstück. Sie füllten ihre Teller mit geräuchertem Fisch, Speck und Eiern und riesigen Stücken neuenglischen Maisbrots und waren vollauf damit beschäftigt, sich von einer Seite des Tellers zur anderen durchzuessen. In weniger als drei Wochen hätten sie dreihundert Meilen Waldgebiet durchquert, erzählte Major DePemmery Lord Darcy zwischen zwei Bissen, und was das Essen betraf, hätten sie einiges nachzuholen. »Kommen wir zum Grund meines Hierseins«, sagte DePemmery, nachdem er seinen Teller beiseite geschoben und seine Kaffeetasse erneut gefüllt hatte. »Ich habe von dem Fall gehört, an dem Ihr arbeitet – der Mord in der Pyramide und so weiter. Als ich ankam, habe ich mich natürlich gleich auf den Weg gemacht, um den Herzog aufzusuchen. Habe Seine Lordschaft aus dem Bett geholt. Dauerauftrag. Ich erzählte ihm von meiner Reise, und er berichtete mir alles über Prinz Ixequatle.« »Ich hoffe, Ihr glaubt nicht, daß ich Euren Fall an mich gerissen hätte«, sagte Lord Darcy und musterte neugierig 243
den dürren Ermittler, der offensichtlich die ganze Nacht nicht zum Schlafen gekommen war. »Unsinn!« erwiderte DePemmery. »Der Herzog setzt ein, wen er will. Das ist seine Sache. Ich bin froh, daß Ihr hier seid. Bei der Untersuchung verzwickter Mordfälle bin ich sowieso kein großes Licht. Habe keine Übung, versteht Ihr. In dieser Gegend ist ein Mord für gewöhnlich die Folge eines Streits. Jemand erschießt jemand anderen oder zerstückelt ihn und flieht anschließend in die Wälder. Ich verfolge ihn dann und bringe ihn zurück. Dafür bin ich gut genug.« »Sogar verdammt gut für einen Anglo-Franzosen«, stimmte Häuptling Chisolnadak zu. »Worüber ich mit Euch sprechen wollte, ist«, fuhr DePemmery fort, lehnte sich im Stuhl zurück und fixierte Lord Darcy mit seinem Adlerblick, »Waffenschmuggel.« »Ja?« fragte Lord Darcy. »Jemand schmuggelt Gewehre zu den westlichen Stämmen«, antwortete DePemmery. »Das wissen wir jedoch schon seit Monaten. Was es in Erfahrung zu bringen galt, war das Wie und Warum. So wie ich es verstehe, habt Ihr das Wie fast aufgedeckt.« »Nur in den Grundzügen«, erwiderte Lord Darcy. »Die Waffen wurden per Schiff hergebracht und in einem geheimen Raum in der Pyramide gelagert. Sie war ideal für diesen Zweck geeignet, da ein Zauber auf ihr lag, der jedermann fernhielt. Das Raffinierteste daran war, daß man annahm, ein Rückweisungszauber läge auf der Pyramide, und so schöpfte keiner Verdacht. Wie dem auch sei, es ist offensichtlich, daß sich daraus einige interessante Fragen ergeben.« »Zum Beispiel, wie lange die Serka schon in 244
Neuengland operiert und wer vom Hofe des Herzogs daran beteiligt ist«, fügte Major DePemmery hinzu. »Es muß jemand aus der Administration sein, der in den Dokumenten herumpfuschen und dafür sorgen konnte, daß der Bannfluch verändert wurde«, bestätigte Lord Darcy. »Was das Warum betrifft«, sagte Major DePemmery, »so war es der Zweck meiner Reise, Fakten zu sammeln. Die Gaunerei hat sich stark in Richtung Westen ausgebreitet, während wir hier gesessen haben, unser Getreide anbauten und mit den hiesigen Stämmen Pelzhandel und derlei Dinge betrieben.« »Was waren das für, äh, Gaunereien?« fragte Lord Darcy. Major DePemmery drehte sich in seinem Stuhl herum, um Häuptling Chisolnadak anzusehen, der sich räusperte. »Erzählt Seiner Lordschaft die Geschichte, Häuptling«, förderte DePemmery ihn auf. Häuptling Chisolnadak runzelte die Stirn. »Da gibt es Männer«, sagte er, »die durch das Land der Seneca, das Land der Irokesen und das Land der Mulgawas reisen; Männer voller Arglist, die Haß und Neid verbreiten. Sie sehen aus wie andere anglo-französische Trapper, Jäger und dergleichen. Aber sie sind keine. Untereinander nennen sie sich Brüder der Feder. Sie sagen, daß sie gekommen wären, um ihre rothäutigen Brüder von der anglo-französischen Knechtschaft zu befreien. Unseren Kriegern war überhaupt nicht bewußt, daß sie unter dieser Knechtschaft litten, bis diese ›Brüder‹ kamen. Aber nun glauben sie es zu wissen. Diese Männer hetzen Stamm gegen Stamm und alle gegen das Anglo-Französische Reich auf. Seit vielen Jahren, vielleicht seit einem Jahrzehnt, haben sie diese schlangenzüngigen Worte verbreitet; jetzt bringen sie Gewehre. Nicht viele bisher, 245
doch sie versprechen eine große Zahl weiterer – und das schon bald.« »Ha!« entfuhr es Lord Darcy. »Während der letzten vier oder fünf Monate versuchten diese Brüder, unsere jungen Krieger zu einem Feldzug gegen die Azteken aufzuwiegeln. Sie sagen, daß eine Abordnung von Azteken nach Norden kommt, um einen Pakt mit den Anglo-Franzosen zu schließen. Sie behaupten auch, daß die Azteken und die Anglo-Franzosen vorhaben, das Land unter sich aufzuteilen und die Seneca, die Irokesen und die Mulgawa zu ermorden.« »Wie ist diese Nachricht von Euren Kriegern aufgenommen worden?« fragte Lord Darcy. Häuptling Chisolnadak zuckte mit den Schultern. »Ihr wißt ja, wie junge Leute sind«, sagte er. »Sie denken nicht mit ihrem Gehirn, sie denken mit ihrem Bauch. Sie sind aufgestachelt. Sie wollen gegen jedermann Krieg führen. Und einige aus dem Ältestenrat sind ähnlich gesinnt. Sie sagen, die Azteken seien uralte Feinde. Ich entgegnete, daß keiner von ihnen derart alt ist, obwohl sich einige von ihnen so aufführen. Jetzt weigern sie sich, mit mir zu sprechen.« Während er seine Probleme mit dem Stamm darlegte, hatte sich der Tonfall von Häuptling Chisolnadaks Stimme verändert; die Sprache war zwar immer noch anglisch, aber die Person, die redete, hatte ihre anglo-französische Ausbildung vergessen und sprach in einer Weise, die tiefer verwurzelt war. »Sie wollen gegen uns Krieg führen?« fragte Lord Darcy. »Nein«, erwiderte der Häuptling, »jetzt noch nicht. Sie wollen die Azteken vernichten. Sie wollen die Verhandlungsdelegation auslöschen. Und dafür wurden 246
ihnen die Gewehre versprochen.« »Sie haben also die Gewehre noch gar nicht?« »Nur einige wenige Repetiergewehre«, sagte der Häuptling. »Musterexemplare. Nicht genug, um damit einen Krieg zu führen. Vielleicht sechs oder sieben, mit wenig Munition. Aber ihnen wurden noch wesentlich mehr versprochen, vielleicht zwei- oder dreihundert, mit entsprechend viel Munition.« »Ich verstehe«, sagte Lord Darcy. Er beugte sich über seine Tasse Kaffee. »Was kann ich tun?« »Findet die Gewehre, Lord«, antwortete Häuptling Chisolnadak. »Sorgt dafür, daß sie meinen Kriegern nicht in die Hände fallen.« »Sie wurden in der Pyramide gelagert«, sagte Lord Darcy. »Jetzt befinden sie sich nicht mehr dort.« »Herauszufinden, was mit ihnen geschah«, betonte Häuptling Chisolnadak langsam und nachdrücklich, »ist wichtiger, als den Mörder des Aztekenprinzen zu stellen.« »Wenn die Krieger der Stämme im Landesinneren diese Gewehre bekommen, solange sich die Azteken hier aufhalten«, führte Major DePemmery aus, »haben wir einen umfassenden Krieg am Hals. Das macht zwar keinen Sinn, ist aber so.« »Ihr solltet verstehen, daß diese Gewehre ein Symbol sind«, fuhr Häuptling Chisolnadak fort. »Meine Krieger würden, ohne zu zögern, mit den Muskeln und mit den Bögen, die wir seit Jahrhunderten benutzen, in den Krieg ziehen, wenn es erforderlich sein sollte. Aber diese Brüder der Feder haben ihre Versprechungen mit einer Warnung verknüpft. Sie haben Gewehre versprochen. Wenn die Gewehre eintreffen, wird auch die Warnung ernster genommen, und unsere tapferen Krieger werden sich auf den Kriegspfad gegen die Azteken und die Anglo247
Franzosen begeben. Das macht zwar, wie der Major schon sagte, keinen Sinn, ist aber so.« »Ich glaube, daß es sich bei der Suche nach den Gewehren oder zumindest ihren Besitzern und beim Mordfall des Prinzen Ixequatle um die gleiche Sache handelt«, sagte Lord Darcy. »In diesem Moment bereiten wir uns darauf vor, die Serka-Agenten in Nova Eboracum auszuheben. Wir halten mehrere verdächtige Schiffe fest und sind dabei, sie zu durchsuchen. Aber die Gewehre sind wahrscheinlich längst beiseite geschafft worden. Die Agenten draußen – Eure Brüder der Feder – werden uns nicht so leicht ins Netz gehen. Ihr könnt uns helfen, Häuptling, indem Ihr diejenigen verhaftet, die sich in Eurem Gebiet sehen lassen, und sie hierher zurückschickt, damit wir ihnen den Prozeß machen können.« »Wenn Ihr die Lieferung der Gewehre aufhaltet, werde ich das tun«, antwortete der Häuptling. »Wenn Ihr die Lieferung nicht aufhalten könnt, wird es mir nicht möglich sein, dann nicht. Denn wenn Ihr sie nicht stoppen könnt, bin ich wahrscheinlich nicht mehr länger Häuptling.« »Dann sollte ich die Gewehrlieferung wohl besser aufhalten«, erwiderte Lord Darcy. Er stieß sich vom Tisch ab und stand auf. »Die Abordnung der Azteken kommt heute an, wahrscheinlich gerade in diesem Moment. Ich möchte einen Blick auf sie werfen. Vielleicht solltet Ihr, meine Herren, jetzt eine Mütze voll Schlaf nehmen. Wir können unser Gespräch heute abend fortsetzen.« »Gute Idee«, erwiderte Major DePemmery. »Man kann sich mit drei Stunden Schlaf pro Nacht zwar noch auf den Beinen halten, aber nachzudenken ist eine andere Sache, und ich glaube, da ist noch manch harte Nuß zu knacken. Wir werden uns jetzt zurückziehen. Wir sprechen uns später wieder, My Lord.« 248
Lord Darcy begleitete seine beiden Gäste zur Tür. Dann griff er nach seinem Umhang und folgte ihnen. Der Hauptmann der Garde hielt ein gesatteltes Pferd für ihn bereit. Lord Darcy schwang sich in den Sattel und wandte sich auf dem Great Way nach Süden. Es war ein feuchter, nebliger Morgen, und man merkte es dem Pferd an, daß es noch steif und kalt von der Nacht war. So ließ Lord Darcy es zunächst traben und dann leicht galoppieren, bis Pferd und Reiter in der frühen Morgenluft nicht mehr fröstelten. Als sie in Sichtweite der Langert-Street-Fähre kamen, zügelte er sein Pferd und beobachtete interessiert die Aktivitäten auf der Fähre, während er sich im Trott näherte. Eine Kompanie Infanterie der Herzoglichen Leibgarde mit glänzenden Metallbeschlägen an den makellosen Uniformen war an beiden Seiten der zur Fähre führenden Straße in Zweierreihen angetreten. Zwischen ihnen standen bewegungslos in Viererreihen einige Züge (oder wie immer man sie korrekt bezeichnen mochte) aztekischer Krieger, die bereits mit der Fähre übergesetzt worden waren. Eine große, verzierte hölzerne Plattform stand jetzt auf der Fähre, die gerade an den Anleger gezogen wurde. Im Zentrum der Plattform befand sich ein viereckiger Aufbau, der wie ein Miniaturtempel aussah. Lord Darcy folgerte, daß dies wohl die Transportsänfte der Ewigen Flamme war. Es nahm einige Minuten in Anspruch, die Fähre sicher an ihrem Liegeplatz zu vertäuen. Dann hoben zwölf Männer, sechs an jeder Seite, die Plattform auf ihre Schultern und trugen sie von Bord. Während der nächsten Stunden saß Lord Darcy dort und beobachtete, wie die Fähre drei weitere Male den Arthur überquerte und sich das Gefolge der aztekischen Gesandtschaft auf der Saytchem-Insel sammelte. Auch 249
mehrere Offiziere der Legion machten die Überfahrt mit; wahrscheinlich gehörten sie zu der Kompanie, welche die Azteken den ganzen Weg von Mechicoe hierher eskortiert hatte. Als die Azteken alle beisammen waren, formierten sie sich zu einer sechs Mann breiten Marschreihe und begannen zum Schlag einer einzigen unheimlich und dumpf klingenden Trommel in die Stadt einzumarschieren. Bei ihrem Aufbruch wendete Lord Darcy sein Pferd und ritt zurück zur Residenz. »Ah, My Lord«, sagte Master Scan und holte ihn ein, während er die weite Eingangshalle durchquerte. »Ich habe hier auf Euch gewartet.« »Was gibt’s?« fragte Lord Darcy und hielt mitten im Schritt inne. »Ist irgend etwas passiert?« »Das nicht gerade, My Lord. Das heißt, bis jetzt noch nicht. Seine Gnaden, der Herzog, wünscht uns sofort zu sprechen.« »Ah!« bemerkte Lord Darcy. »Ihr wolltet ihm – das heißt Seiner Gnaden – wohl nicht allein unter die Augen treten. Habe ich recht?« »Meiner Meinung nach fühlt sich Seine Gnaden zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich stark unter Druck gesetzt und Ihre Gnaden wird diesen Druck an uns, seine getreuen Diener, weitergeben«, erklärte Master Sean. »Sie wollte den Mord an Prinz Ixequatle unbedingt aufgeklärt haben, bevor die aztekische Verhandlungsdelegation ankäme.« »Hm«, sagte Lord Darcy. »Wir gehen am besten und sprechen mit Seiner Gnaden.« Mit dem rundlichen irischen Zauberer an seiner Seite schritt Lord Darcy durch die Korridore zu den Privatgemächern des Herzogs. »Wäret Ihr so freundlich, Seiner Gnaden zu melden, daß Lord Darcy und Master Sean hier sind«, forderte er den Sekretär des Herzogs auf, 250
der im Empfangsraum wachte. Herzog Charles wirkte nicht gerade erfreut, sie zu sehen. Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen würde es sehr mühsam werden, ihn in diesem Moment aufzuheitern. Graf de Maisvin stand an seiner Seite und sah ausgesprochen unglücklich aus. »Kommt herein, My Lord und Master Sean«, sagte der Herzog und winkte sie in sein privates Arbeitszimmer, einen großen Raum mit handgemalter Tapete, auf der Jagdszenen dargestellt waren. »Nun gut, das Rad hat sich weitergedreht, die Zeit ist verstrichen, und die aztekische Gesandtschaft ist eingetroffen. In kaum mehr als drei Stunden werden wir ein offizielles Treffen mit einem Burschen haben, der sich Lord Chiklquetl nennt. Er ist ihr Minister mit uneingeschränkter Vollmacht und gleichzeitig ihr Hohepriester. Wir glauben, daß wir bereits wissen, wie seine erste Frage lauten wird.« »Ich bin sicher, Euer Gnaden …«, begann de Maisvin. »Er wird uns fragen, wie es geschehen konnte, daß der königliche Prinz der Azteken hier ermordet wurde«, fuhr Seine Gnaden unbeirrt fort, »hier in Nova Eboracum, dem Regierungssitz von Neuengland, und warum noch keine Maßnahmen ergriffen wurden.« »Wir können einen Mörder eben nicht auf Befehl stellen, Euer Gnaden«, erwiderte Lord Darcy nüchtern, »so gern wir es auch täten. Wir benutzen Logik, Deduktion, sorgfältige Detektivarbeit und die beste Gerichtsmagie überhaupt; aber wir können keine Wunder vollbringen. Das muß selbst Lord, hm, Chiklquetl akzeptieren.« »Leider ist das genau das, was er nicht akzeptieren wird, My Lord«, widersprach der Herzog. »Und vor allem ist es genau das, was wir ihm nicht so deutlich machen wollen. Schon schlimm genug, daß der Prinz auf unserem 251
Territorium ermordet wurde. Nun, das zu akzeptieren, dazu könnten wir Lord Chiklquetl vielleicht noch bringen. Schließlich kann man niemanden beschützen, der die Wächter zurückweist und sich dann in dunklen Ecken herumtreibt. Aber die Azteken glauben nun einmal, daß wir, die Anglo-Franzosen, Wunder vollbringen können. Es ist gerade dieser Glaube, der uns, die wir weniger als zehntausend Menschen auf diesem ganzen Kontinent zählen, davor bewahrt, ins Meer zurückgedrängt zu werden. Wenn die rund eine Million Azteken im Süden uns nicht für wundertätig hielten, wären wir in ernsten Schwierigkeiten. Und vor allem, Gott ist unser Zeuge, würden sie niemals diesen Vertrag unterschreiben, wenn sie nicht davon ausgingen, daß sie es müßten.« »Ich verstehe«, sagte Lord Darcy. »Wenn Euer Gnaden mich lieber von dem Fall entbinden möchten …« »Um Gottes willen, Darcy, das haben wir nicht gesagt! Wer sollte Euch ersetzen? So einfach entkommt Ihr uns nicht!« »So war das nicht gemeint, Euer Gnaden«, beteuerte Lord Darcy. »Nein, nein, natürlich nicht.« Seine Lordschaft ließ sich in einen Sessel fallen. »Setzt Euch, setzt Euch alle«, sagte er und machte eine auffordernde Handbewegung. »Wir sind schon genug herumgelaufen, ohne daß es uns weitergebracht hätte. Laßt uns nun einige vernünftige Worte über das wechseln, was wir bisher getan haben, und darüber, was wir in dieser Angelegenheit noch zu tun gedenken.« Lord Darcy saß in einem der brokatbezogenen Sessel, die um einen Tisch in der Mitte herum angeordnet waren. »In der Tat haben wir doch eine Menge nützlicher 252
Fortschritte erzielt, Euer Gnaden«, sagte er. »Ich könnte zwar nicht beschwören, daß es uns dem Mörder nähergebracht hat, aber ich glaube es zumindest. Wir besitzen eine Fülle neuer Informationen, haben offenbar ganz nebenbei eine Schmuggeloperation aufgedeckt und sind gerade dabei, hier ein Nest von Serka-Agenten auszuheben.« »Hier?« fragte Seine Gnaden erstaunt. »In Nova Eboracum? Oder in der Residenz selbst?« »Auf jeden Fall irgendwo innerhalb der Administration von Neuengland«, sagte Lord Darcy. »Wir sollten einigen der Berichte, die wir unterschreiben, mehr Aufmerksamkeit schenken«, überlegte der Herzog. »Graf de Maisvin, was wißt Ihr darüber? Und warum habt Ihr es nicht schon vor Monaten gewußt?« »Es gab Anzeichen dafür, daß etwas vor sich ging«, antwortete de Maisvin, »aber bis zum Zeitpunkt des Mordes – bis wir entdeckten, daß die Pyramide als Waffenlager benutzt wurde –, hatten wir keinerlei sichere Anhaltspunkte. Nur Gerüchte von der Sorte, die Major DePemmery schließlich dazu veranlaßten, eine Reise ins Landesinnere zu unternehmen. Es bedurfte Lord Darcys brillanter Entdeckung des geheimen Raums in der Pyramide, um eine Vorstellung von den vorangegangenen Ereignissen zu bekommen.« »Master Seans Entdeckung, nicht meine«, berichtigte Lord Darcy. Herzog Charles blickte erstaunt von einem zum anderen. »Der Bericht über diese Vorgänge, den wir für Seine Majestät werden schreiben müssen, wird Seine Majestät die Wahl seiner Statthalter noch einmal bedenken lassen: Wie etwas Derartiges direkt vor unserer Nase passieren 253
konnte, ohne daß wir etwas davon gemerkt haben; Gerüchte von Unruhen im Landesinneren; Gerüchte von modernen Waffen in der Hand von Eingeborenen. Und wir behandeln sie wie – Gerüchte. Ein Prinz der Azteken kommt hierher, und wir gestatten ihm, sich ermorden zu lassen.« »Nun übertreibt Ihr aber, Euer Gnaden; es gibt Wege, die Situation schlecht aussehen zu lassen, und Wege, sie gut darzustellen«, griff de Maisvin ein. »Ihr beleuchtet ausschließlich das Negative. Von der anderen Seite her betrachtet: Es hat in den zwölf Jahren, in denen Ihr hier seid, keinen Aufstand der Eingeborenen mehr gegeben. Wir stehen mit den meisten Stämmen sogar auf gutem Fuß. Der Handel hat sich ausgedehnt. Die Bauern sind gesund, glücklich und einigermaßen sicher.« »Da ist noch ein Punkt«, sagte Lord Darcy. »Aus irgendeinem Grunde haben die Eingeborenen die Waffen bis jetzt noch nicht erhalten.« »Wahrscheinlich sind sie irgendwo hier in New Borkum versteckt«, sagte Graf de Maisvin. »Wir werden doppelte Patrouillen einsetzen müssen und alle Planwagen, die die Stadt verlassen, scharf im Auge behalten.« »Können wir Magie anwenden?« fragte der Herzog und wandte sich an Master Sean. »So eine Art Wahrsagung, um zu sehen, wo die Gewehre verborgen sind?« »Das ist nicht wahrscheinlich, Euer Gnaden«, antwortete Master Sean. »Die meisten Hauseigentümer haben einen Zauber zur Sicherung ihrer, ah, Privatsphäre auf ihre Häuser legen lassen, wenn Ihr versteht, was ich meine. Natürlich werden die meisten davon einfache, billige Zaubersprüche sein, die irgendein Zaubergeselle verhängt haben mag. Ich oder ein anderer Meister könnten so einen Spruch mit Leichtigkeit außer Kraft setzen. Aber das wäre 254
unethisch, solange wir keinen triftigen Grund dafür haben, einen bestimmten Haushalt zu verdächtigen. Ich müßte eine Erlaubnis vom Bischof einholen, um tätig zu werden. Und in jedem Fall würde es bedeuten, jedes Haus einzeln zu untersuchen.« »Das würde viel zu lange dauern«, sagte Seine Gnaden, »selbst wenn der Bischof einwilligen würde.« Er seufzte. »Stellt einen Plan auf, de Maisvin. Postiert Wachen an der Fähre, die die übersetzenden Wagen kontrollieren, und an der Great-Way-Brücke nach Norden. Setzt die Küstenwache davon in Kenntnis, daß sie die SaytchemInsel rund um die Uhr beobachten soll. Unter Umständen müssen für die Durchführung Reservisten einberufen werden. Bevollmächtigt die Legion, jede verdächtige Ladung auf den Ausfallstraßen anzuhalten und zu durchsuchen. Setzt dafür nicht die B-Kompanie ein. Sie haben etwas Erholung verdient.« »Sehr wohl, Euer Gnaden«, sagte de Maisvin. Er holte ein schmales Buch hervor und machte sich einige Notizen. »Lord Darcy, auf der Pyramideninsel gibt es doch einen Trupp Männer, die Eurem direkten Kommando unterstehen. Werden sie dort noch gebraucht? Sie könnten an anderer Stelle nützlich sein.« »Nur noch wenige Tage«, sagte Lord Darcy, »dann entlasse ich sie. Ich möchte vor der Weihezeremonie der Azteken noch einmal auf die Insel zurückkehren. Die wird doch frühestens in einigen Wochen stattfinden, oder nicht, Euer Gnaden?« »Unter Umständen findet sie überhaupt nicht statt, wenn wir nicht mit dem Mörder des jungen Prinzen aufwarten können«, sagte Seine Gnaden. »Ich werde mein Bestes tun, Euer Gnaden«, beteuerte Lord Darcy. 255
»Das war bisher immer gut genug«, erwiderte Herzog Charles. »Wollen wir hoffen, daß es so bleibt.« »Ja, Euer Gnaden«, sagte Lord Darcy.
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14 An diesem Nachmittag holten sich Lord Darcy und Master Sean zwei Pferde aus den Ställen der Wachhäuser, mit denen sie hinunter zur Fähre bei der Langert Street ritten. »Laßt uns noch einen letzten Blick in den Tempel werfen«, schlug Lord Darcy Master Sean vor, während sie am Tor auf das Anlegen der Fährte warteten. »Ich habe so das Gefühl, daß wir etwas übersehen haben – und ich habe gelernt, ein solches Gefühl niemals zu ignorieren.« »Wie Ihr meint, My Lord«, stimmte Master Sean zu. »Wir sollten alle lernen, solchen Gefühlen stets besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Es gibt viele Leute, die mit einem Anflug von außergewöhnlichen Begabungen wie Hellsehen, Hellhören oder irgendwelchen Vorahnungen ausgestattet sind. Und es kommt oft genug vor, daß diese Leute kleine Hinweise über das erhalten, was geschehen wird oder schon geschehen ist, vor allem dann, wenn sie nervlich sehr angespannt sind. Zumindest scheint es so.« »Ihr meint also, Master Sean, wenn einem eine innere Stimme sagt, ›duck dich‹, dann soll man sich zuerst ducken und sich besser erst hinterher darüber wundern, woher die Stimme gekommen ist?« wollte Lord Darcy wissen. »Gewiß, My Lord«, stimmte ihm Master Sean zu. Die Antriebskraft für die Trosse, mit der die Fähre gezogen und gelenkt wurde, erzeugten vier geduldige Ochsen, gewaltige Tiere, die ihre Tage damit verbrachten, ein massives Drehkreuz im Fährgebäude in Gang zu halten. Lord Darcy beobachtete die Tiere, wie sie wieder und wieder um das Drehkreuz herumgingen, während die Fähre an ihren Halteplatz glitt. Sie schienen gesund, 257
wohlgenährt und zufrieden mit ihrem Leben zu sein. Vielleicht war es für einen Ochsen gar nicht so langweilig, tagaus und tagein in einem großem Kreis zu laufen, um eine hölzerne Deichsel zu bewegen. Lord Darcy fragte den Ochsenführer danach. »Sie arbeiten nur den halben Tag, wißt Ihr«, erklärte ihm der Ochsenführer, ein alter, knorriger, vollkommen kahlköpfiger Mann. »Dann werden sie hinaus auf die Weide geführt, und die nächsten vier Tiere kommen an die Reihe. Selbst für vier Ochsen ist es eine harte Arbeit, diese riesige Maschine zu bewegen. Deshalb können wir sie nicht länger als einen halben Tag arbeiten lassen.« Der Mann spuckte in das Stroh, das unter den Hufen der Tiere ausgebreitet lag. »Ich dagegen schufte mich den ganzen verfluchten Tag über kaputt, mit nur zweimal einer halben Stunde Pause dazwischen, vorausgesetzt, der Junge springt für mich ein.« »Ich verstehe«, meinte Lord Darcy. »Man kann einem Ochsen nicht zuviel zumuten«, erklärte der Mann, »es macht sich nicht bezahlt. Manche von ihnen bleiben einfach stehen, wenn sie genug haben, dann kann man sie weder durch gutes Zureden noch durch Schläge dazu bewegen weiterzugehen. Einige von ihnen bleiben plötzlich in ihrer Spur stehen, und wenn man versucht, sie anzutreiben, lassen sie sich einfach langsam fallen. Dann sind sie gestorben, wissen Sie, ganz ohne Vorwarnung gestorben. Sie haben sich einfach dafür entschieden, daß sie genug von dieser Welt haben, und nun wollen sie sehen, ob die nächste wohl besser ist.« Der Mann spuckte wieder aus. »Man kann aber nicht von einem Ochsen auf den anderen schließen«, meinte er dann, »und eigentlich ist das alles auch gar nicht wichtig. Auf jeden Fall wäre es unklug, einen Ochsen über Gebühr anzutreiben. Deshalb arbeiten sie nur einen halben Tag.« 258
»Faszinierend«, bemerkte Lord Darcy. »Aber ein Mensch«, sprach er weiter, »ein Mensch ist weder klug genug, einfach stehenzubleiben, noch stur genug, um zu sterben, wenn er die Nase voll hat. Also muß ich einen ganzen Tag lang arbeiten, von sechs Uhr morgens bis acht Uhr abends, und manchmal sogar bis zehn.« »Ich danke Euch, guter Mann«, antwortete Lord Darcy. »Ich denke, sie bekommen auch besseres Essen als ich«, fügte der Mann zum Schluß noch hinzu und wandte sich dann wieder seinen Tieren zu. Lord Darcy blickte hinüber zu Master Sean und sah, daß der dickbäuchige Zauberer sich an seinem Sattelknauf festhielt und sehr bemüht war, ein Lachen zu unterdrücken. »Wenn ich denken würde, daß mein Leben nicht besser wäre als das des Ochsen, den ich führe«, bemerkte Master Sean, »dann würde ich wahrscheinlich aufhören, den Ochsen zu führen.« »Schlagt das bloß nicht dem Ochsenführer vor«, meinte Lord Darcy lächelnd. »Jedenfalls nicht, bevor wir heute abend zurückgekehrt sind. Die Ochsen werden ausgewechselt, aber er wird immer noch hier sein.« »Gewiß, My Lord«, pflichtete Master Sean bei. Das Tor ging auf, und die Passagiere verließen die Fähre, die sie herübergebracht hatte. »Ihr müßt absitzen, meine Herren, und Eure Tiere an Bord führen«, erklärte ihnen der Fährmann, während er flink hinter ein kleines Pult trat, um von dort aus das Fahrgeld zu kassieren. »Das macht einen viertel Schilling für jeden von Euch – einen sechstel Schilling für Euch selbst und einen zwölftel Schilling für jedes Reittier.« Lord Darcy nahm einen halben Silbertaler aus seinem 259
Geldbeutel und warf ihn dem Mann zu. Dann schwang er sich von seinem Zelter herunter und führte ihn an Bord. Die Dreiviertel-Meilen-Überfahrt über den Arthur dauerte nur wenig länger als eine Viertelstunde. Auf der anderen Seite saßen sie wieder auf und ritten auf einer Fuhrstraße, die parallel zum Fluß verlief, nach Süden. Zehn Minuten später bog die Straße landeinwärts ab, wodurch sie gezwungen waren, einem Weg zu folgen, der sich als ausgetretener Pfad durch das sumpfige Land neben der Uferböschung zog. Zwanzig Minuten waren vergangen, als sie die Lichtung erreichten, die direkt gegenüber der Pyramideninsel lag. Auf der Lichtung waren im Kreis ein paar Zelte aufgebaut und man hatte an der Seite, die landeinwärts lag, einen Feuerplatz aus Steinen errichtet. Einige Büschel jungen Grases wuchsen vereinzelt auf der Lichtung, aber die Mitte, die ein wenig anstieg, war kahl und leer. Ein Kreis von kleinen, neugewachsenen Bäumen faßte das Gebiet ein. Alles wies darauf hin, daß an dieser Stelle vor nicht allzu langer Zeit ein heftiger Brand gewütet haben mußte. Ein Corporal der Wache und drei seiner Gefolgsleute hielten sich in dem Lager auf, als Lord Darcy und Master Sean eintrafen. Sie erledigten verschiedene alltägliche Arbeiten, während sie auf die Ankunft des Kutters warteten, der ihre Abendmahlzeit bringen würde. Durch den Klang der herannahenden Hufschläge alarmiert, empfingen sie die Reiter mit schußbereiten Gewehren. Aber sobald sie den Untersuchungsbeamten und seinen dickbäuchigen Assistenten erkannten, ließen sie die Waffen sinken. »My Lord, Master«, stieß der Corporal hervor, stellte sein Gewehr ab und salutierte. »Verzeiht diese Begrüßung, aber wir haben Euch nicht erwartet.« 260
»Wir sind nur unterwegs, um ein paar Erkundigungen über die Pyramide einzuziehen, Corporal«, erklärte Lord Darcy, »und ich dachte, wir nehmen diesmal den Weg durch die Hintertür. Wir hatten nicht vor, Euch zu überraschen. Ist irgend etwas geschehen, das Euch so, ahm, vorsichtig sein läßt?« »Nichts, was man genau bestimmen könnte, My Lord«, entgegnete der Corporal. »Einige meiner Männer meinten, in der Nacht Stimmen gehört zu haben – aber es könnten auch Bären, Waschbären oder vielleicht auch nur übersteigerte Phantasien gewesen sein. Hauptmann Karlus meinte jedoch, man sollte dem, was immer es auch sei, keine Chance geben, und deshalb hat er uns diese Gewehre mit jeweils zwanzig Schuß Munition für den Rest unseres Aufenthalts dagelassen.« »Recht so, Corporal«, pflichtete Lord Darcy ihm bei. »Würdet Ihr uns einen Eurer Männer überlassen, damit er uns zur Insel hinüberrudert? Master Sean und ich möchten gern noch einmal zur Pyramide hinaufsteigen.« »Sehr wohl, My Lord«, entgegnete der Corporal. Als sie hinübersetzten, fiel Lord Darcy auf, daß die Rückseite der Pyramide auf ihn noch unheilvoller wirkte als die Vorderseite. Aus diesem Blickwinkel schien das Bauwerk nicht von Menschenhand errichtet worden zu sein. Die Tempel an der Spitze waren fremdartige Kästen. Da die Treppen sich auf der anderen Seite befanden und die Stufen der Pyramide über drei Fuß hoch und einen halben Fuß tief waren, schienen sie nicht dafür geschaffen zu sein, daß irgendeine irdische Kreatur sie bestieg. Nachdem sie an der notdürftig zusammengezimmerten Anlegestelle angekommen waren, gingen Lord Darcy und Master Sean um die gewaltige Pyramide herum, um zu deren Vorderseite zu gelangen. Sie begannen langsam, die 261
steinerne Treppe hinaufzusteigen, wobei Lord Darcy alle paar Fuß stehenblieb, um sich umzusehen und prüfend gegen die stummen Steine zu klopfen. Gelegentlich beugte er sich vor und nahm ein Stück Felsen gründlicher in Augenschein oder hielt sein Ohr gegen einen Stein, um einige Sekunden zu lauschen. »Meint Ihr, daß er Euch etwas sagen wird, My Lord?« fragte Master Sean, während er Lord Darcys merkwürdiges Gebaren musterte. »Ganz und gar nicht, Master Sean«, gab Lord Darcy zurück. »Ich denke, diese Pyramide hat uns bereits alles gesagt, was sie mitzuteilen hat. Eure genialen magischen Techniken haben weit mehr aus ihr herausgeholt, als sie eigentlich zulassen wollte. Um es einmal metaphorisch auszudrücken, ich achte auf Geräusche, die ich zufällig hören könnte.« »Und habt Ihr irgend etwas gehört?« fragte Master Sean. »In einer Welt, in der Magie wirkt, werden Metaphern ziemlich ernst genommen. Denn manchmal stellen die Analogien das Objekt auf eine sehr körperliche Weise dar.« »Nicht das geringste Geräusch«, gestand Lord Darcy. Sie setzten ihren Weg zur Spitze der Pyramide fort. Lord Darcy stand vor dem Eingang des Tempels von Huitzlipochtli und blickte auf die große Bucht hinaus, die vor ihm lag. »Seht einmal dort«, sagte er und deutete auf einen Zweimaster, der in der Mitte der Bucht vor Anker lag. »Das ist die Sybille. Sie wartet nur auf den Befehl, ihre verbotene Fracht zu löschen.« Master Sean starrte zu dem Schiff hinüber. »Hat man sie noch nicht entladen?« »Ich glaube nein«, erwiderte Lord Darcy. »Kurz nachdem Lady Irene dem Kapitän die Botschaft gebracht 262
hatte, entfernte er das Schiff vom Pier und ankert seitdem an der Stelle, wo Ihr es jetzt sehen könnt. Der Kapitän muß die Instruktionen zum Entladen abwarten, hat sie aber offensichtlich noch nicht erhalten.« »Warum nehmt Ihr ihn nicht fest?« wollte Master Scan wissen. »Wir halten ihn lieber ständig unter Beobachtung«, erklärte Lord Darcy. »Er wird die ganze Zeit mit starken Fernrohren observiert. So wollen wir erfahren, wer an Bord geht. Wenn bis morgen nacht niemand Kontakt zu dem Schiff aufgenommen hat, wird die Küstenwache es abschleppen.« Lord Darcy wandte sich von dem Ausblick ab und richtete seine volle Aufmerksamkeit auf die jetzt anstehende Untersuchung. Statt in einen der Tempel zu gehen, arbeitete er sich, manchmal auf Händen und Knien, manchmal sogar flach auf dem Bauch liegend, langsam um die Außenseite der beiden Tempel und deren nähere Umgebung herum, wobei er jeden Zoll der Steinoberfläche genau untersuchte. Master Sean stand mit verschränkten Armen daneben und sah zu, wie Lord Darcy überall herumkroch. Er fand diesen Anblick befriedigend, denn er gab ihm das gute Gefühl, daß Lord Darcy zielstrebig eine Spur verfolgte. Offensichtlich war er im Begriff, etwas zu finden. Und wenn Lord Darcy etwas fand, wie dürftig es auch immer sein mochte, schaffte er es gewöhnlich auch, die verborgene Wahrheit herauszupressen. »Kommt her, Master Sean«, rief Lord Darcy nach ungefähr zwanzig Minuten. Er befand sich nun auf der Rückseite der Pyramide, etwa drei Quader unterhalb der Spitze. »Ja, My Lord?« fragte Master Sean und blickte ihn über 263
die Kante hinweg an. »Hier, an der Ecke des Steins, ist ein kleiner Flecken«, sagte Lord Darcy. »Wäre es möglich, daß Ihr ihn einem Übereinstimmungstest unterzieht?« »Sicherlich, My Lord«, erwiderte Master Sean und öffnete dabei seinen mit Symbolen reich verzierten Reisesack. »Worauf soll ich ihn untersuchen, My Lord – auf Blut?« »Möglicherweise«, meinte Lord Darcy, »aber es ist eher wahrscheinlich, daß es sich um dasselbe Öl handelt, das wir in dem verborgenen Raum gefunden haben – das Öl, mit dem die Waffen eingelagert waren.« »Ja, My Lord«, sagte Master Sean, »ich habe eine kleine Probe davon für solche Tests zurückbehalten. Es wird kaum länger als eine Minute dauern.« Master Sean bereitete sich auf den Test vor. Als er am Rand der Plattform stand, streckte er sich aus und neigte sich dabei langsam vor. Sein Körper beschrieb einen Bogen von hundertunddreißig Grad, bevor er mit dem Kopf nach unten in seiner Bewegung innehielt, wobei er den verdächtigen Flecken betrachtete. Dann fuhr er mit seiner Arbeit fort. »Es handelt sich um dieselbe Sorte Öl, My Lord«, sagte er und schwang sich in eine aufrechte Haltung zurück. »Gut«, sagte Lord Darcy. »Ich habe es schon vermutet, aber man kann eine logische Kette nicht allein auf Annahmen aufbauen. Nun ist sie aber vollständig.« »Ihr wißt, wer der Mörder ist?« fragte Master Sean. »Ich wußte schon seit einiger Zeit, wer der Mörder ist«, erwiderte Lord Darcy. »Die Schwierigkeit bestand nur darin, es zu beweisen. Ich glaube, daß ich es jetzt kann.« »Durch diesen Ölfleck?« 264
»Nein. Das war bloß eine Bestätigung. Kommt, wir kehren zur Residenz zurück. Ich vermute, daß wir morgen einen arbeitsreichen Tag haben werden.«
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15 »Ihr könnt gehen, Mullion«, sagte Lord Darcy, der nach dem Abendessen jetzt in seiner Bibliothek hinter dem Schreibtisch saß, »den Rest des Abends über sorge ich schon für mich selbst.« »Sehr wohl, Euer Lordschaft«, erwiderte Mullion gleichmütig. Zehn Minuten später tauchte Mullion wieder an der Tür der Bibliothek auf. »Gute Nacht, Euer Lordschaft. Ich habe nur noch das Geschirr zusammengestellt.« »Gute Nacht, Mullion. Natürlich.« Lord Darcy hörte, wie die Haustür geöffnet wurde und wieder zufiel. Er erhob sich, um sicherzugehen, daß sein Diener auch wirklich die Richtung einschlug, die er dem Anschein nach genommen hatte. Nicht, daß er Mullion verdächtigte, aber eine ausgeschlossene Möglichkeit war ein Risiko weniger. Nachdem er sichergestellt hatte, daß er sich tatsächlich allein in seinen Räumen aufhielt, kehrte Lord Darcy an seinen Schreibtisch und zu den Unterlagen zurück, die er gerade bearbeitete. Drei Stunden später klingelte es an der Haustür. Lord Darcy blickte flüchtig auf die Uhr und sah, daß es schon beinahe elf war. Eigentlich noch zu früh für seine Verabredung. Er erhob sich und ging zur Tür. Lady Irene schob sich an ihm vorbei in den Flur. »Ich hoffe, daß ich Euch nicht lästig bin, My Lord. Ich muß mich dafür entschuldigen, Euch so spät noch zu überfallen«, sagte sie. »Ihr braucht Euch nicht zu entschuldigen«, erwiderte 266
Lord Darcy, während er die Tür hinter sich schloß und Lady Irene in die Bibliothek führte. »Ich beschäftige mich gerade mit ein paar Details, die ich mir bereits ein dutzendmal vorgenommen habe, genau wie ein Tischler, der wieder und wieder ein und dasselbe Holzstück abmißt. Kommt, Cousine Irene, und zerstreut mich ein wenig. Erzählt mir ein paar lustige Geschichten von unserer Tante Bertha.« Er nahm ihre Hand. »Darf ich Euch ein Gläschen Wein anbieten?« »Nein, vielen Dank, ich möchte nichts.« Sie schloß die Tür der Bibliothek hinter sich. »Ich muß mit Euch sprechen«, flüsterte sie. »Sind wir hier ungestört?« »Ungestört?« »Könnten wir abgehört werden?« »Das ist unwahrscheinlich«, entgegnete Lord Darcy und stellte fest, daß das Mädchen ein wenig zitterte. »Dieser Raum wurde von Master Sean überprüft und abgesichert. Das sind Routinemaßnahmen von uns, wenn wir, äh, von Zuhause fort sind. Und seltsamerweise hat er ihn heute noch einmal überprüft. Aber nur, um sicherzugehen …« Lord Darcy ging zum Schreibtisch und hob den Deckel eines kleinen, eiförmigen Kastens an, der auf einer goldenen Konsole stand. In dem Kristallei glimmte ein grünes Licht, ohne gebrochen zu werden. »Wir sind allein«, sagte er, »und unbeobachtet.« »Gut«, entgegnete sie, sprach aber noch immer sehr leise. »Kommt, setzt Euch mit mir auf das Sofa. Und laßt bitte meine Hand nicht los.« Lord Darcy gestattete es sich, von ihr auf das Sofa gezogen zu werden. »Was ist geschehen?« fragte er. »Was kann ich für Euch tun?« »Ich soll heute nacht mit Euch ins Bett gehen«, sagte 267
Lady Irene sanft zu ihm und sah ihm dabei tief in die Augen. »Ich fühle mich geehrt«, erwiderte Lord Darcy vorsichtig. »Ich sage sogar, ich bin entzückt. Aber das ist eine seltsame Art, es zu formulieren.« »Ja«, sagte sie. »Ich bin instruiert worden, mit Euch zu schlafen.« »Instruiert?« »Und Euch dann zu töten«, fuhr sie fort. Lord Darcy nickte, ohne dabei seinen Gesichtsausdruck zu verändern. »Ich verstehe«, meinte er. »Irgendwie klingt der Vorschlag jetzt ein bißchen weniger attraktiv, als er sich noch vor einem Augenblick angehört hat. Die Serka?« »Ich habe den Auftrag vor einigen Stunden erhalten«, erläuterte sie. »Ich weiß nicht, was ich tun soll!« »Auf welchem Wege hat Euch der Auftrag erreicht?« fragte Lord Darcy. »Und wie sollt Ihr ihn durchführen?« »In einem Briefumschlag unter meiner Tür«, antwortete sie. »Auf einem Bogen Spezialpapier, der sich auflöste, nachdem ich zu Ende gelesen hatte. Und dann war da noch … dies hier.« Sie nahm ein kleines Papiertütchen aus ihrem Portemonnaie, das gerade groß genug war, um eine Kaffeebohne aufzunehmen. »Ich sollte das Pulver, das sich hier drin befindet, in Euer Getränk schütten, bevor wir uns ins Schlafzimmer zurückziehen. Ihr würdet dann an Überanstrengung sterben, zumindest sollte der Verlauf unserer, ähem, Bemühungen diesen Anschein erwecken.« »Großer Gott!« entfuhr es Lord Darcy. »Wie furchtbar für Euch. Hat man Euch jemals zuvor darum gebeten, einen solchen Auftrag auszuführen?« »Ich stelle mir vor, daß es für das Opfer noch viel 268
furchtbarer sein muß«, entgegnete Lady Irene. »Nein, nein … ich bin bisher noch nie in eine solche Sache verwickelt gewesen, obwohl mir klar ist, daß es sich hierbei um eine ganz gewöhnliche Mordmethode innerhalb der Serka handelt, wenn sich ihnen eine solche Gelegenheit bietet.« »Ich kann mir den Grund schon vorstellen«, meinte Lord Darcy. »Auf ihre Weise ist die Sache fast perfekt. Das wäre einer von jener Art von Vorfällen, die so gut wie immer vertuscht werden. Obwohl einem dazu schon die Gerüchte über das Ableben verschiedener bekannter Männer einfallen. Ich denke, ein paar sorgfältige Untersuchungen über einige vorgeblich natürliche Todesfälle wäre sicherlich sehr aufschlußreich.« »Mein Problem ist«, murmelte Lady Irene mit ernster Stimme, »wenn es mir nicht gelingt, Euch zu töten, dann wird die Serka mit größter Wahrscheinlichkeit mich töten. Ihr seid ein weiser und kluger Mann. Helft mir, einen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden!« »Ich verstehe, was Ihr meint«, antwortete Lord Darcy. »Die wichtigste Frage wäre im Augenblick: Warum könnte die Serka sich so plötzlich entschließen, mich zu töten?« »Das stand nicht in der Nachricht«, sagte Lady Irene. »Ich glaube, ich habe für dieses Spiel nichts mehr übrig.« »Und warum denken die Drahtzieher der Serka, daß wir uns so sehr zueinander hingezogen fühlen, daß es mir nicht ziemlich merkwürdig vorkommt, wenn Ihr plötzlich in meinem Schlafzimmer auftaucht?« »Jemand muß uns auf der Geburtstagsfeier überwacht haben Es scheint, als hätte er eine ziemlich naheliegende Schlußfolgerung aus der Art gezogen, wie wir uns angesehen haben.« »Ziemlich naheliegend, wie?« sagte Lord Darcy mit 269
einem Lächeln. »Sehr naheliegend«, versicherte ihm Lady Irene. »Das freut mich. Nun laßt uns einen Ausweg aus dieser prekären Situation finden. Wie könnt Ihr mich töten, ohne daß ich bei der Tat irgendwelchen Schaden nehme?« »Oder wie könnte ich Euch nicht töten, ohne daß ich irgendwelchen Schaden nehme?« schlug Lady Irene vor. »Nein«, überlegte Lord Darcy. »Wenn man beides gegeneinander abwägt, komme ich doch zu dem Schluß, daß es besser wäre, wenn Ihr mich töten würdet.« »My Lord?« »Es gibt einen Grund, warum die Notwendigkeit, mich aus dem Weg zu schaffen, sich gesteigert hat. Wenn das so ist, dann wäre es das Beste für mich, wenn ich mir die Freiheit nehme, getötet zu werden.« Lady Irene legte ihre Hand leicht auf seine Schulter. »Aber mein lieber Lord Darcy …« Lord Darcy nahm ihre Hand in die seine. »Oh, ich versichere Euch, ich beabsichtige nur dem Anschein nach zu sterben«, erläuterte er. »Kommt, das dürfte sehr interessant werden. Laßt mich mal sehen …« Es klingelte noch einmal an der Tür, und Lord Darcy entschuldigte sich, um zu öffnen. Als er in die Bibliothek zurückkam, wurde er von einem stattlichen, verwegen aussehenden Offizier der kaiserlichen Legion begleitet. »Lady Irene Eagleson«, sagte Lord Darcy, »erlaubt mir, Euch Colonel Ivor Hesparsyn, Beauftragter des Herzogs, vorzustellen. Er ist gerade zurückgekehrt von seinem Auftrag, die Delegation der Azteken aus Mechicoe zu eskortieren.« Die beiden begrüßten sich höflich, aber jeder von ihnen warf Lord Darcy einen befremdeten Blick zu. Seine 270
Lordschaft lachte. »Ihr haltet mich beide für verrückt«, meinte er. »Jeder von Euch hat mich in einer streng geheimen Angelegenheit aufgesucht und fragt sich nun, warum ich den anderen zu einem solchen Zeitpunkt empfange. Nun, meine Freunde, wir werden uns gegenseitig helfen.« »Wie immer Ihr wünscht, My Lord«, erwiderte Colonel Hesparsyn, aber es war klar, daß das nur eine Höflichkeitsfloskel war. Lord Darcy nahm mit Lady Irene wieder auf dem Sofa Platz, und der Colonel ließ sich ihnen gegenüber auf einem Stuhl nieder. »Colonel, ich bitte Euch bei den kommenden Ereignissen um Eure Hilfe. Da Ihr und Eure Männer in den letzten drei Monaten abwesend wart, ist es kaum möglich, daß Ihr mit den Ereignissen etwas zu tun habt, die seit Eurer Abreise vorgefallen sind«, sagte Lord Darcy. »Und wenn ich mir Eure Akte durchlese, dann sehe ich, daß Ihr vertrauenswürdig, intelligent und loyal seid und durchaus in der Lage, jeden Auftrag durchzuführen, der an Euch herangetragen wird. Nun, ich gebe Euch mein Wort, für Lady Irene gilt dasselbe. Und sie hat bereits das letzte Bindeglied in der Kette der Beweise geliefert.« »Habe ich das?« fragte Lady Irene. »In der Tat«, entgegnete Lord Darcy. »Erzählt Colonel Hesparsyn, warum Ihr heute nacht in meine Gemächer gekommen seid.« Lady Irene errötete, eine Tatsache, die sie genauso überraschte wie Lord Darcy. Dann faßte sie sich und berichtete knapp und präzise, wer sie war und wozu man sie beauftragt hatte. »Donnerwetter!« staunte der Colonel, als sie ihren Bericht schloß. »Entschuldigt meine Ausdrucksweise, My Lady.« 271
»Die Menschen schlagen ihre Schlachten eben auf unterschiedliche Weise«, bemerkte Lord Darcy. »Das ist eine Tatsache«, stimmte Colonel Hesparsyn zu. »Ich finde, Ihr seid eine sehr mutige junge Lady. Aber was werdet Ihr jetzt tun? Wir könnten Lady Irene an einen anderen Ort bringen, wo sie in Sicherheit wäre. Wenn ich meine Männer zu ihrem Schutz einsetze, dann bin ich sicher, daß ihr nichts geschehen wird, egal, wer dieser Schurke ist.« »Ich denke, das wird nicht nötig sein, Colonel«, meinte Lord Darcy. »Trotzdem danke ich Euch sehr für das Angebot«, wandte sich Lady Irene an den Colonel. »Vielleicht werde ich einmal darauf zurückkommen. Aber es ist nun einmal so, daß Lord Darcy sich entschlossen hat, daß es am besten wäre, er würde sterben.« »Er … Ihr … My Lord?« Colonel Hesparsyn rang nach Worten. »Ich versichere Euch, daß ich beabsichtige, meinen Tod zu überleben«, beruhigte ihn Lord Darcy. »Aber der Führer der hiesigen Serka hat einen triftigen Grund, meinen Tod zu wollen. Ich denke, ich kenne diesen Grund, und es wäre am besten, die Sache würde ihren Lauf nehmen.« »Ich lasse mich durchaus überzeugen«, sagte der Colonel. »Übrigens, wie schon Lord Guiliam Rottsler, der Philosoph des neunzehnten Jahrhunderts, schrieb: ›Ist nicht der Tod eines jeden Mannes ganz und gar seine eigene Angelegenheit?‹« »Schrieb er das?« wollte Lord Darcy wissen. »Auf jeden Fall ist es eine Angelegenheit, die eigentlich niemand gern schnell zum Abschluß bringen will. Aber in diesem Fall tue ich’s gern. Lady Irene, würdet Ihr bitte durch die 272
Korridore schleichen und Master Sean zurückholen? Sagt ihm, er solle den Tarnhelmeffekt benutzen und unsichtbar in diese Räume kommen. In der Zwischenzeit werden Colonel Hesparsyn und ich ein paar Strategien durchsprechen.« »Sehr wohl, My Lord«, sagte Lady Irene. »Aber ich hoffe, Ihr wißt, was Ihr tut.« »Das weiß ich«, erwiderte Lord Darcy. Master Sean O Lochlainn blickte auf den leblosen Körper seines Freundes und Vorgesetzten Lord Darcy und seufzte. »Ein schwieriger Fall«, sagte er. »Aber das hier sollte genügen.« Er verschränkte ihm die Arme vor der Brust. Lord Darcy lag auf seinem Bett, bekleidet mit einem Bademantel und ein Paar Hausschuhen, die Augen geschlossen, Atmung und Herz standen still. Der einzige Unterschied zwischen dem magisch herbeigeführten kataleptischen Zustand, in dem er sich befand, und dem wirklichen Tod war, daß Master Sean ihn innerhalb der nächsten zwölf Stunden wieder zum Leben erwecken konnte. Würde es jemand anders als Master Sean versuchen, oder würde Master Sean länger als zwölf Stunden damit warten, dann wären Lord Darcys Chancen, wiederbelebt zu werden, verschwindend gering. »Ich denke, ich gehe jetzt besser«, schlug Colonel Hesparsyn vor. »Es gibt keinen Grund, der meine Anwesenheit hier rechtfertigen würde.« Er reichte Master Sean die Hand. »Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte … ach, ich werd’s erst glauben, wenn ich Lord Darcy wieder wohlauf sehe.« Master Sean blickte auf die Leiche hinunter. »Ehrlich gesagt«, murmelte er, »ich auch. Das wird für mich ein sehr langer Tag.« Er wandte sich zu Lady Irene um. »Ich 273
gehe jetzt auch, My Lady. Wartet ungefähr eine halbe Stunde und kommt dann zu mir, um mir zu erzählen, Ihr hättet gerade Eure Lordschaft tot aufgefunden. Zu mir, versteht Ihr. Zu niemand anderem. Wenn Euch jemand aufhält, dann sorgt dafür, daß Ihr mich erreicht, bevor ein anderer die Möglichkeit hat, sich an der Leiche zu schaffen zu machen. Das ist von größter Wichtigkeit.« »Selbstverständlich, Master Sean«, erwiderte Lady Irene. »Seid Ihr ganz sicher, daß Ihr das tun könnt? Hier für eine halbe Stunde auszuharren, meine ich.« »Ich werde es wohl müssen«, entgegnete sie. »Es wird kein Vergnügen sein.« Sie reichte Master Sean ebenfalls die Hand. »Paßt auf Euch auf«, sagte sie, »damit Euch heute nichts zustößt.« Vater Adamsus sah ein wenig beunruhigt aus, als er mit langsamen Schritten Lord Darcys Schlafzimmer verließ. Er küßte das goldene Kreuz, das er in der Hand trug, und legte es in seine Schatulle aus schwarzem Leder zurück. Als würde er die Antwort auf eine schwierige Frage suchen, ging er die Halle hinunter und gelangte ins Empfangszimmer, in dem Lord Darcys Freunde aus Neuengland versammelt waren, seit sich die Kunde von dessen frühzeitigem Tod verbreitet hatte. »Können wir jetzt hineingehen, Vater?« fragte Herzog Charles und erhob sich von einem dunklen Holzstuhl mit roten Samtpolstern, auf dem er gesessen und gewartet hatte. Der ganze Raum war mit dunklem Holz und rotem Samt ausgeschlagen, was auch der Grund dafür war, daß Lord Darcy ihn nie benutzt hatte, denn er fand diese Kombination deprimierend. »Wie bitte?« fragte Vater Adamsus, der durch die Frage aus seiner Versunkenheit gerissen worden war. 274
»Ich wollte wissen, ob wir jetzt hineingehen können«, wiederholte der Herzog geduldig. »Ja, sicherlich«, Vater Adamsus nickte. »Ich habe alles für ihn getan, was ich konnte.« Als Herzog Charles und Graf de Maisvin sich zum Schlafgemach begaben, um dem Toten ihren Respekt zu erweisen, entdeckte Vater Adamsus Master Sean, der still in einem Winkel saß. »Habt Ihr es auch gespürt, Master Sean?« sagte er mit gedämpfter Stimme. »So ein merkwürdiges … Gefühl … das man in diesem Raum bekommt, bei dieser Leiche. Es fühlt sich an, als würde irgend etwas nicht stimmen.« »Ach ja, Vater Adamsus«, meinte Master Sean nachdenklich. »Ihr als empfindsame Natur bemerkt solche Dinge. Sicher, Vater, ich habe es auch gespürt. Tatsächlich ist es das Ergebnis eines der Zaubersprüche, die ich für den Toten getätigt habe. Ich werde Euch das alles schon sehr bald erklären können, wenn Ihr wollt.« »Nun«, sagte der gutherzige Vater, »Ihr erleichtert mein Gemüt. Wenn es etwas ist, das Ihr getan habt, dann ist es etwas Gutes. Trotzdem ist dies alles ein großer Schock. Ich denke, ich sollte jetzt besser zu Lady Irene gehen und sehen, ob ich sie nicht beruhigen kann. Der seelische Schock muß für sie gewaltig gewesen sein, wenn Lord Darcy auf die Weise gestorben ist, von der mir berichtet wurde.« »Ich denke, sie könnte tatsächlich ein wenig Zuwendung gebrauchen, Vater«, stimmte Master Sean zu.
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16 In der kalten schwarzen Nacht trug die schmale Sichel des Mondes kaum dazu bei, das düstere Land unter sich zu erhellen. Das gedrungene Fischerboot, das seine Positionslichter verdunkelt hielt, umsegelte die Spitze der Pyramideninsel und näherte sich lautlos dem Strand des im Süden liegenden Festlandes. Es ankerte nahe der Küste, wo das Wasser kaum mehr als ein paar Fuß tief war. Ein Dutzend barfüßiger Männer, mit Spaten und Hacken bewehrt, sprangen an einer Seite von Bord und wateten schweigend an Land. Vor ihnen befand sich die Lichtung, auf der Hauptmann Karlus und seine Männer gelagert hatten, bis sie an diesem Nachmittag abberufen worden waren. Die Männer erreichten den Rand der Lichtung und warteten; sie spürten deutlich, daß es besser für sie war, nicht weiterzugehen. Da sie sowieso den Befehl hatten, an diesem Platz zu verweilen, brauchten sie sich keine Sorgen zu machen, daß sie ihrem Gefühl zuwiderhandeln müßten. Einen Augenblick später betrat ein ganz in Schwarz gehüllter Mann, der sogar in dieser Dunkelheit noch sein Gesicht hinter einer schwarzen Maske verbarg, die Lichtung. Er legte ein kleines Bündel nieder, das er bei sich getragen hatte. Ein trüb flimmerndes Licht flackerte vor ihm, als er eine Zauberformel über dem nackten Boden sprach. Eine leichte Brise trug sein Gemurmel bis hin zu den wartenden Männern, als plötzlich das warnende Gefühl, die Lichtung nicht zu betreten, verschwand. Der Mann in Schwarz winkte sie heran. Sie folgten den Aufforderungen seiner Handzeichen, an dieser und jener Stelle zu graben, und machten sich ans Werk, indem sie 276
schnell und schweigsam in der Erde hackten und gruben. Als sie einen Fuß tief in die steinharte Erde vorgedrungen waren, stießen die Männer auf mehrere hölzerne Luken. Nachdem sie die Luken geöffnet hatten, entdeckten sie zwei riesige unterirdische Räume, die mit Körben voller Dumberly-FitzHugh-Repetiergewehre und Munitionskisten gefüllt waren. Sie ließen ihre Spaten und Hacken fallen, um die schweren Körbe an die Oberfläche zu wuchten. Plötzlich wurden sie von gleißendem Licht geblendet. In Sekundenbruchteilen zerstob die Nacht, und die schützende Dunkelheit war verschwunden. Statt dessen erleuchtete das flutende Licht einer magischen Sonne die Lichtung mit den heimlich Grabenden. »Bleibt, wo ihr seid!« kommandierte eine machtvolle Stimme aus dem Unterholz heraus. »Ihr seid umstellt. Jeder, der Widerstand leistet, wird an Ort und Stelle erschossen.« Die Männer starrten erschrocken um sich. Aus dem umliegenden Wald erschienen in einer geschlossenen Linie Legionäre des Reichs, von denen jeder ein mehrschüssiges O’Sullivan-Schrotgewehr schußbereit hielt, das die Legion für den Nahkampf verwendete. Einige der Männer blickten gehetzt zur Bucht zurück, mußten jedoch erkennen, daß ein Kutter der Königlichen Küstenwache längsseits ihres Fischerboots festgemacht hatte. Ihre Kumpane, die an Bord zurückgeblieben waren, standen mit hoch erhobenen Händen auf dem Vorderdeck. Die Männer auf der Lichtung richteten sich langsam auf und hoben ebenfalls die Hände. Es blieb ihnen nichts anderes übrig. Der Kampf schien bereits verloren zu sein, noch ehe er begonnen hatte. »Vorsicht – dort läuft er! Laßt ihn nicht entwischen!« 277
Master Sean O Lochlainn trat aus der Reihe der Legionäre heraus, kampfbereit den Zauberstab mit dem Stern an seiner Spitze erhoben, und wies damit zum Strand. »Er trägt einen Mantel, der ihn unsichtbar macht!« schrie er gellend. »Es ist ihr Master – der Mann in Schwarz! Ein Trupp läuft zum Strand, während ich den Unsichtbarkeitszauber neutralisiere!« Master Seans Zauberstab zeichnete ein verschlungenes Muster in die Luft, wobei seine Stimme – unerwartet tief und volltönend – über die Lichtung dröhnte. Plötzlich wurde ein schwarzgekleideter Mann, der zur Bucht eilte, sichtbar. Der Mann wandte sich um, machte ein Zeichen und wurde wieder unsichtbar. Ein Blitzschlag markierte den Zusammenprall der beiden mächtigen Zauber Sprüche. Lord John Quetzal betrat am weit entfernten Ende des Strandes die Szenerie. Mit erhobenen Armen schwang er in seiner linken Hand einen schlangenköpfigen Zauberstab und ein dünnes Schwert mit silberner Klinge in seiner Rechten. Scharf stieß er zwei Wörter aus, worauf sich der Strand augenblicklich verdunkelte, als ob das magische Licht gerade hier und nirgendwo sonst ausgelöscht worden wäre. In eben dieser Dunkelheit wurde der unsichtbare Mann plötzlich wieder sichtbar; er leuchtete in einem unheimlichen Licht, als er zum Wasser jagte. Der Mann in Schwarz unterbrach seine Flucht, drehte sich um und zog aus seinem Umhang einen kleinen Zauberstab, der an der Spitze mit einem doppelköpfigen Falken besetzt war. Er hob ihn und richtete ihn auf Lord John. Eine große Stille senkte sich auf das Land. Für die anwesenden Männer schienen die beiden Gegner sehr viel größer zu sein, als sie es tatsächlich waren, denn sie 278
bedeckten die Hälfte des nächtlichen Himmels, und ihre Schatten verdunkelten die Welt. Der Mann in Schwarz verwandelte sich in einen riesigen Falken, der hoch in den Himmel aufstieg, um schreiend zu der übergroßen Gestalt zurückzukehren, die Master Lord John Quetzal angenommen hatte. Lord John erhob sein silbernes Schwert und hielt es bereit, als der Falke niederstieß. Auf diese Weise glaubten die Männer, die auf der Lichtung und am Strand erstarrt stehengeblieben waren, den Ablauf des Kampfes sehen zu können. Sie ahnten nicht, daß das, was sie sahen, in Wirklichkeit nur die Sinnbilder der magischen Realität des Kampfes waren: ein gigantischer Falke, der in unnatürlichem Licht glühte, und ein gigantischer Mann, der wie sein Schwert silbern schimmerte. Für Master Sean, der den Kampf vom Waldrand aus beobachtete, sah es ganz anders aus. Leider konnte er nicht eingreifen, denn jeder Zauber, den er jetzt ausspräche, würde Lord John genauso gefährden wie den Mann in Schwarz. Während er weiter beobachtete, wob er jedoch vorbereitend einen sorgfältigen Zauber, um zu gewährleisten, daß er jederzeit einspringen und den mächtigen Gegner vernichten konnte, falls Lord John straucheln sollte. Er wußte, im Falle einer Schwäche von Lord John würden seine Zaubersprüche für seinen mutigen Schüler nichts Gutes bedeuten. Schon beim ersten Anschein von Versagen würde er auf der Stelle tot umfallen. Master Sean könnte den jungen mechicainischen Zauberer wohl rächen, aber nicht retten. Der Falke erreichte Lord John. Mensch und Vogel prallten mit einem gewaltigen Stoß aufeinander, der einem mächtigen Donnerschlag glich und die umgebende Erde erschütterte. Vier Meilen entfernt in Nova Eboracum erwachten die Menschen, lugten aus ihren Fenstern und 279
wunderten sich über den Lärm. Die beiden Gestalten trennten sich wieder voneinander, und der Vogel flatterte in einiger Entfernung von Lord John auf den Boden. Jetzt konnte man sehen, daß das Silberschwert in Lord Johns rechter Hand zerbrochen war. Er warf es fort. Master Sean konnte aus dem Gewebe der Kraft erkennen, daß Lord John den schlangenförmigen Zauberstab nicht in die andere Hand wechseln konnte, wodurch er gezwungen war, ihn mit der linken Hand zu schwingen, als der gigantische Falke die kurze Distanz übersprang, um erneut anzugreifen. Der schlangenförmige Zauberstab wuchs und verwandelte sich in eine riesige Schlange, die sich erhob, um dem Angriff zu begegnen und sich in mächtigen Schlingen um den Vogel zu winden. Mit Schnabel und Klauen riß der Vogel an der ihn umschlingenden Schlange, wurde jedoch langsam niedergerungen, gewürgt, stranguliert und in den immer enger werdenden Windungen der Schlange erstickt, bis er schließlich zu Boden fiel. Da erinnerte sich Master Sean daran, daß Lord Quetzal Linkshänder war! Das Bild wechselte: Die Schlange und der Vogel entschwanden in den Tiefen eben jener Dimension, aus der sie zum Vorschein gekommen waren. Die Vision glich der von zwei Männern, die einander im Abstand von ungefähr zehn Metern am Strand gegenübersaßen, schwer atmeten und sich gegenseitig anstarrten. Jeder der beiden Kämpfer war ein mächtiger Magier und dem anderen ebenbürtig. Der gewaltige magische Kampf, der gerade ausgetragen worden war, ließ sie beide erschöpft zurück, ohne einen Sieger. Aber Master Sean sprang schnell in die Bresche und murmelte Worte der Macht, die seinen eigenen 280
vorbereiteten Zauberspruch zur Entfaltung bringen würden. Master Seans Zauber übte eine lähmende Wirkung auf den Mann in Schwarz aus, der daraufhin rasch einen hastigen Bannspruch ausstieß, der Master Seans Zauber aber nicht länger als ein paar Sekunden entgegenwirken konnte. Diese wenigen Augenblicke nutzte der Mann in Schwarz jedoch. Er zog einen MacGregor Revolver Kaliber.40 aus seinem Umhang und schoß sich damit in den Kopf. »Da soll doch …«, sagte Master Sean. Lord Darcy schritt auf ihn zu. »Ihr habt getan, was Ihr konntet, Master Sean«, sagte er. »Niemand hätte das verhindern können. Und wahrscheinlich ist es auch besser so. Geht jetzt zu Lord John … der Junge könnte Eure Hilfe gebrauchen.« »Durchaus nicht, er ist wohlauf«, entgegnete Master Sean. »Und er hat gerade hervorragende Arbeit geleistet.« Trotzdem eilte er den Strand hinunter, während die Legionäre damit begannen, die überlebenden Gefolgsleute des Mannes in Schwarz zu umstellen.
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17 »Wir haben schon manch schwere Stunde in unserem Leben durchstehen müssen«, sagte Herzog Charles. »Aber im Vergleich zu den letzten Tagen waren diese wie eine leichte Brise an einem Sommerabend. Erst stirbt Lord Darcy, dann kehrt er wieder ins Leben zurück, und nun dies!« Er wandte sich an den Ermittlungsrichter. »Das werdet Ihr uns erklären müssen, Lord Darcy. Es gilt, einen Bericht an Seine Majestät zu verfassen, in dem wir nicht einfach schreiben können: ›… und als Lord Darcy mit der Hand winkte, wurde alles um ihn hell.‹ Wir brauchen eine Erklärung dafür, woher das Licht kam.« Es war am Abend des nächsten Tages. Herzog Charles hatte den ganzen Tag über geduldig gewartet, während die Hauptbeteiligten der nächtlichen Aktion aufgrund seines Drängens ein paar Stunden geschlafen hatten, bevor sie zur Berichterstattung vor ihm erschienen waren. Länger zu warten, war der Herzog nicht gewillt gewesen. Jetzt saßen sie alle um den großen Tisch in des Herzogs privatem Speisezimmer versammelt; alle, die persönlich in die Affäre verwickelt waren: Lord Darcy, Master Scan, Lord John, Vater Adamsus, Lady Irene und der Herzog selber. »Die Macht der Serka in Neuengland ist zerschlagen, zumindest für den Augenblick«, sagte der Herzog. »Und wir versichern Euch, dafür Sorge zu tragen, daß die Serka keine Chance mehr haben wird, sich neu aufzubauen. Aufgrund des Beweismaterials, das Ihr zusammengetragen habt, und mit Hilfe der Informationen von Lady Irene konnten alle maßgeblichen Personen ermittelt werden. Diejenigen, die wir nicht beim Waffenversteck 282
festnahmen, wurden unauffällig in ihren Wohnungen verhaftet. Wir haben angeordnet, sie noch einige Zeit unter Gebrauch etwelcher geheimnisvoller Zauberformeln, die unsere Verhörspezialisten benutzen, eingehend zu befragen. Sobald die Verhöre abgeschlossen sind, werden wir genausoviel über die Operationen der Serka in Neuengland wissen wie die Gefangenen selber. Wir gestehen, zu vertrauensselig gewesen zu sein. Aber das wird uns in Zukunft nicht mehr passieren.« »Grämt Euch nicht«, bemerkte Lord Darcy. »Die Organisation ist in jahrelanger Arbeit auf sehr raffinierte Weise aufgebaut worden.« »Aber warum wurden denn nun diese beiden bedauernswerten Jungen im Tempel ermordet?« fragte Vater Adamsus. »Und warum hat man ihre Herzen herausgerissen?« »Ich glaube, daß wir annehmen können«, sagte Lord Darcy, »daß das zweite Opfer, das in dem Versteck gefunden wurde, ein aztekischer Agent war. Er hatte wohl etwas über die versteckten Gewehre erfahren und den Prinzen dorthin gebracht, damit er diese mit eigenen Augen sehen konnte. Das ist der einzige Grund, den ich mir vorstellen kann, warum ein Prinz der Azteken sich mit einem offensichtlichen Mohawk, auch wenn dieser für die Azteken spionierte, in ein derartiges Versteck begeben würde. Das kann uns Lord Lloriquhali bestätigen, der den Mohawk wiedererkennen müßte. In jedem Fall haben die beiden das Versteck irgendwie entdeckt und wurden deshalb ermordet.« »Aber warum wurde die Leiche des Prinzen nach oben in den Tempel gebracht, wenn er doch unten ermordet wurde?« fragte Vater Adamsus. »Nun, Vater«, sagte Lord Darcy, »das hatte den Zweck, 283
genau das zu erreichen, was damit tatsächlich erreicht wurde: daß das Versteck unentdeckt blieb. Der Mörder konnte nicht wissen, daß der Prinz niemandem von seinem bevorstehenden Besuch der Pyramide erzählt hatte. Wäre er verschwunden, während man ihn bei der Pyramide vermutete, hätte man eine Suchaktion nach ihm durchgeführt, die auch eine magische Untersuchung der Pyramide bedeutet hätte. Das hätte wahrscheinlich zur Entdeckung des geheimen Raumes geführt, bevor die Schmuggler eine Chance gehabt hätten, das Versteck zu räumen. Aus diesem Grund konnten sie die Leiche des Prinzen nicht in dem Versteck lassen. Aber sie konnten sie auch nicht einfach verschwinden lassen, denn die Suche nach dem Prinzen hätte zur Entdeckung des Verstecks geführt, wenn man den Prinzen nicht nach oben gebracht hätte. Aber indem sie ihn auf dem Altar zurückließen, wurde die allgemeine Aufmerksamkeit von einem möglichen Versteck innerhalb der Pyramide abgelenkt.« »So ist es«, bestätigte der Herzog. »Und sobald jemand das zweite Opfer vermissen würde, wäre das nur um so besser: Denn das würde den eindeutigen Hinweis darauf liefern, daß dieser den Prinzen ermordet hätte und dann vom Ort des Verbrechens geflohen wäre.« »Also wurde dem anderen Opfer das Herz nur herausgerissen, um einen Zusammenhang zur Leiche des Prinzen auf dem Altar herzustellen?« fragte der Herzog. »Im Gegenteil, Euer Gnaden«, erwiderte Lord Darcy. »Die Beseitigung der Herzen war wahrhaftig die einzige wesentliche Tat neben dem eigentlichen Mord. Hätte ich diesen Zusammenhang gleich verstanden, wäre der Fall viel eher gelöst gewesen.« »Das war wesentlich?« fragte Lord John verblüfft. »Der 284
Mörder mußte es tun?« »So ist es«, sagte Lord Darcy. »Um das Verbrechen nachvollziehen zu können, müssen Sie diesen Zusammenhang verstehen.« »Wenn Ihr wollt, daß wir das verstehen, My Lord«, erwiderte der Herzog schroff, »dann müßt Ihr es uns schon näher erläutern.« »Nichts lieber als das, Euer Gnaden«, antwortete Lord Darcy. »Malt Euch das doch einmal aus. Der Mörder ist in dem Versteck. Er wird vom Geräusch näherkommender Schritte auf der Treppe überrascht. Prinz Ixequatles Begleiter muß das Öffnen der versiegelten Tür beobachtet und herausgefunden haben, wie sie funktioniert. Vielleicht hatte er sich dazu versteckt. Vielleicht war er als einer der ihren getarnt gewesen. Mit völliger Sicherheit werden wir das nie erfahren.« »Die fehlenden Herzen, My Lord«, erinnerte ihn der Herzog. »Natürlich. Der Mörder ist mit dem Aztekenprinzen, der ihn erkennt, konfrontiert. Mit einem Mal sind seine Identität und sein Geheimnis gefährdet. Obwohl er sogar – wie die Ereignisse zeigten – ein Master der Magie ist, hat er keine Zauberformeln, um sich zu schützen, zur Hand. Außerdem würde die Anwendung von Magie Spuren hinterlassen, die ein anderer Master entdecken könnte. So zieht er seine Waffe und jagt dem Prinzen und dessen Begleiter eine Kugel in die Brust. Er ist ein exzellenter Schütze, und die beiden sind auf der Stelle tot.« »Und dann?« wollte Lady Irene wissen. »Und dann nimmt er ein Messer mit einer Klinge aus Obsidian – wahrscheinlich vom Gürtel des Prinzen – und schneidet seinen Opfern die Herzen heraus. Er muß es tun. Er hat keine andere Wahl, da die Leiche des Prinzen 285
gefunden werden soll.« »Ja, My Lord, natürlich!« rief Master Sean und schlug mit seiner rechten Fauste auf die linke Handfläche. »Die Mac-Gregor!« »Genau das meine ich, Master Sean«, stimmte Lord Darcy zu. »Unser Mörder, das geheime Oberhaupt der Serka in Neuengland, der heimliche Master in Zauberdingen, der brillante Graf Maximilian de Maisvin, Vertrauter des Herzogs, ist der Besitzer des vom König verliehenen MacGregor-Revolvers. Er konnte nicht zulassen, daß diese Kugeln gefunden werden. Er besaß höchstwahrscheinlich die einzige Handfeuerwaffe mit dem Kaliber.40 in Neuengland, die des Königs persönliche Präsentationswaffe war. Sobald der Chirurgus die Kugeln entfernt hätte, wäre er sofort entlarvt worden.« »Nicht zu fassen«, sagte der Herzog. »Er mußte die Herzen herausschneiden. In der Tat, er mußte es! Nun ist es uns verständlich, nachdem Ihr es so detailliert erklärt habt.« »Er muß ein Doppelagent gewesen sein, der vor vielen Jahren eingeschleust wurde«, erwiderte Lord Darcy. »Seine magische Ausbildung und sein Agententraining hat er ganz eindeutig in Polen erhalten, bevor er hierher kam. Wir werden herausfinden müssen, woher der Titel ›Graf de Maisvin‹ stammt. Allerdings ist mit größter Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß dies nicht sein richtiger Name gewesen sein dürfte.« »Er leistete den Treueeid«, bemerkte der Herzog. »Er muß einen seiner magischen Tricks angewendet haben, um ihn zu umgehen.« »Das glaube ich nicht, Euer Gnaden«, sagte Lord Darcy. »Er verwendet seine magischen Fähigkeiten, um die Zaubersprüche abzuwandeln, die die Pyramide schützen 286
sollten. Aber ich glaube nicht, daß er den Treueeid beeinflussen konnte.« »Das konnte er wirklich nicht, My Lord«, bestätigte Master Scan. »Dann …« »Es war der Wortlaut des Eides, der ihn schützte«, vermutete Lord Darcy. »Bedenkt, de Maisvin war ein Spion, kein Verräter. Wenn er seinem Herrscher Treue schwor, dann meinte er das auch so, denn sein Herrscher war Kasimir der Neunte. An Eurer Stelle würde ich den Eid noch einmal abnehmen, und zwar ein wenig gezielter.« »Wir verstehen«, sagte Seine Gnaden nachdenklich. »Seit wann hattet Ihr ihn verdächtigt?« fragte Lady Irene. »Meine Aufmerksamkeit wurde schon früh auf ihn gelenkt. Er schien mir etwas zu sehr in die Ermittlungen involviert zu sein für jemanden, der doch gar kein Ermittlungsbeamter war.« »Er sagte, er wolle helfen …«, meinte Seine Gnaden. »Ich bin sicher, daß er es tat, Euer Gnaden«, stimmte Lord Darcy zu. »Aber er war doch bei uns, als wir die Leiche entdeckten«, fuhr Vater Adamsus fort. »Wie konnte er …?« »Der Mord geschah an jenem Morgen«, erläuterte Lord Darcy, »mehrere Stunden vor Eurer Ankunft. De Maisvin sorgte wahrscheinlich gerade für den Abtransport der restlichen Waffen. Der Prinz und sein Begleiter erschienen und wurden umgebracht. De Maisvin schnitt ihre Herzen heraus, legte den Prinzen auf den Altar und ruderte dann zusammen mit seinen Verbündeten und dem Rest der 287
geschmuggelten Waffen zurück zum Festland. Während seine Helfershelfer die Waffen in der Lichtung verbargen, ritt de Maisvin zur Fähre der Langert Street. Es war gerade früh genug, um Euch am Kutter treffen zu können und um zurück zur Insel zu eilen, auf der Ihr die Exorzismuszeremonie abhalten wolltet.« Vater Adamsus schüttelte den Kopf. »Es war sicherlich Zufall, daß Ihr gerade jetzt nach Neuengland gekommen seid«, sagte er. »Die Wege des Herrn sind unergründlich.« »Ja, das stimmt«, sagte Lord Darcy. »Übrigens gab mir Lady Irene die beiden Hinweise, die mich in der Idee bestärkten, daß de Maisvin der Mörder war.« »Ich?« fragte Lady Irene. »Genau«, erwiderte Lord Darcy. »Der erste Hinweis fiel, als Ihr mir erzähltet, daß das Oberhaupt der Serka Euch nicht nach dem Stand der Untersuchungen gefragt hatte, trotz der Tatsache, daß Euer, äh, Cousin die Untersuchung leitete. Das konnte nur daran liegen, daß die Serka eine sehr gute Informationsquelle besaß; und dafür kamen nur sehr wenige Menschen in Frage. Der zweite Hinweis bestand darin, daß Euch befohlen wurde, mich zu töten.« »Habt Ihr daraus den Schluß gezogen«, fragte der Herzog, »daß Ihr schon sehr dicht an ihm dran wart?« »Nein«, sagte Lord Darcy. »De Maisvin konnte zu dem Zeitpunkt noch nicht wissen, daß ich ihm überhaupt auf der Spur war. Sein Befehl, mich zu töten, lag darin begründet, daß ich die Wachen nicht vom Tempel abziehen wollte. Zufälligerweise lagerten sie auf der Lichtung genau über den vierzig Kisten mit geschmuggelten Schnellfeuergewehren. De Maisvin hatte mich schon vorher dazu aufgefordert, die Wachen abzuziehen, wie er es in eigener Verantwortung – nach meinem Tode – hätte 288
tun können. Ich wurde darauf aufmerksam, als ich den Ort besuchte und feststellte, daß die Wachen ihre Zelte im ganzen Umkreis der Lichtung aufgestellt, aber das Zentrum freigelassen hatten. Ein schwacher Vermeidungszauber lag über der Mitte der Lichtung, unter der die Gewehre versteckt waren. De Maisvin mußte diese Gewehre noch herausholen und zu seinen nervös werdenden einheimischen Kumpanen zurückkehren, bevor das aztekische Gefolge die Rückreise antrat.« Lady Irene stand auf. »Das alles war sehr interessant, tödlich interessant«, sagte sie. »Ich glaube, es gibt einen alten chinesischen Fluch, der dazu paßt: ›Mögest du in interessanten Zeiten leben!‹« Sie wandte sich an Lord Darcy. »Ich bin erfreut, My Lord, daß Ihr noch am Leben seid«, sagte sie. »Hocherfreut – Cousin. Es würde mich sehr freuen, wenn wir darüber nachher noch einmal sprechen könnten.« »Ich sehe dem mit Freuden entgegen, My Lady«, versicherte ihr Lord Darcy. »Nun, Lord Darcy. Wir für unseren Teil sind jedenfalls froh, daß Ihr und Master Sean zufällig zu Besuch gekommen seid«, sagte Herzog Charles. »Wenn Ihr nicht gewesen wäret, wäre das Territorium Seiner Majestät in Neuengland in Gefahr gewesen. Der König wird von unserer hohen Meinung über Euch in unserem Bericht lesen.« »Vielen Dank, Euer Gnaden«, sagte Lord Darcy. »Wir haben doch nur unsere Pflicht getan, Euer Gnaden«, entgegnete Master Sean verlegen.
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18 »Wir sind froh, daß Ihr wieder bei uns seid, My Lord«, sagte König John in der kleinen, behaglichen Kammer im fünften Stock der königlichen Gemächer im Winchester Palace. »Es verursacht immer Unruhe in den kriminellen Kreisen Englands und Frankreichs, wenn Eure Abwesenheit sich herumspricht. Um zu beweisen, daß Verbrechen trotz Eurer Abwesenheit immer noch aufgedeckt und gelöst werden können, müssen unsere Polizeibeamten Überstunden leisten.« Lord Darcy lachte in sich hinein. »Vielen Dank, Euer Majestät«, antwortete er. »Ich war ein bißchen langsam bei der Aufklärung dieses Falles, denn de Maisvin hatte mich für eine Weile zum Narren gehalten. Ein sehr beachtlicher Mann.« »Er hat uns alle zum Narren gehalten«, sagte der König. »Bedenkt, daß er einer der vierundsechzig Männer war, die die königliche Sonderanfertigung von MacGregor besaßen. Wir überreichten sie ihm damals für seine außerordentlichen Verdienste in den deutschen Territorien. Wir werden eine Überprüfung dieser Berichte veranlassen, um festzustellen, wie er dort seinen Dienst versehen hat und vor allem, wie erfolgreich er wirklich dabei war.« »Zufällig, Euer Majestät, hat das Gemini-Geheim …« »Ja?« sagte der König. »Euer Majestät sollte Lord Peter nahelegen, etwas vorsichtiger vorzugehen. Wenn ich einem Jungen in der Residenz von Nova Eboracum begegne, der einen Zwillingsbruder hier im Palast hat, und wenn ich mir die natürliche telepathische Affinität von eineiigen Zwillingen 290
vergegenwärtige; also wirklich, Euer Majestät … Gemini?« »Wir verstehen Eure Ansicht«, sagte der König. »Laßt uns hoffen, My Lord, daß nur wenige diese Fähigkeit besitzen. Also, können wir irgend etwas für Euch tun, My Lord, als Ausgleich für die Unannehmlichkeiten und die Aufregungen, die Ihr in dieser Sache auf Euch genommen habt? Und als Auszeichnung für Eure Verdienste um das Reich?« Lord Darcy dachte einen Moment nach. »Für mich nicht, Euer Majestät«, sagte er schließlich. »Aber ich wüßte da etwas …« »Ja? Überlaßt es nicht uns, es herauszufinden, My Lord. Was ist es? Solange es kein zu tiefes Loch in unsere Privatschatulle gräbt, gehört es Euch.« »Es geht nicht um mich, Euer Majestät«, erwiderte Lord Darcy. »Ich dachte gerade daran, ob es nicht an der Zeit wäre, daß Master Sean eine angemessene Anerkennung für seine Dienste im Namen der Krone erhalten sollte?« »Das sollte er allerdings, My Lord«, stimmte der König zu. »An was habt Ihr gedacht: Eine Börse aus Gold? Eine kleine Hütte? Was könnte ein Magier gebrauchen?« »Ich habe an die Ritterwürde gedacht, Euer Majestät.« »Gut!« meinte der König. »Eine hervorragende Idee, My Lord. Er wird auf der nächsten Ehrenliste erscheinen. Wir werden ihn zum Ritter – nein, zum Befehlshaber der Ritter des Goldenen Leoparden machen. Master Sir Sean O Lochlainn, B.R.G.L. Das perlt doch förmlich von der Zunge, nicht wahr? Das gefällt uns, My Lord. Das gefällt uns!« »Mir auch, Euer Majestät«, sagte Lord Darcy. »Mir auch.« 291
ENDE
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