Christof Stamm Anthroposophische Sozialtherapie im Spiegel ausgewählter Lebensgemeinschaften
VS RESEARCH
Christof S...
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Christof Stamm Anthroposophische Sozialtherapie im Spiegel ausgewählter Lebensgemeinschaften
VS RESEARCH
Christof Stamm
Anthroposophische Sozialtherapie im Spiegel ausgewählter Lebensgemeinschaften Eine qualitativ-empirische Studie
Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Norbert Schwarte
VS RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dissertation an der Universität Siegen, 2010 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Lauenstein.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch | Marianne Schultheis VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: STRAUSS GMBH, Mörlenbach Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-18244-5
Danksagung
Ich danke allen, die dazu beigetragen haben, dass diese Studie entstehen konnte. Insbesondere den Mitgliedern der beteiligten Lebensgemeinschaften und den von mir interviewten Personen gebührt mein Dank für ihre Bereitschaft, mir etwas von ihrer Zeit zu schenken und meinem Vorhaben so offen zu begegnen. Für Unterstützung, Rat und Tat danke ich darüber hinaus ganz besonders: Prof. Dr. Norbert Schwarte Prof. Dr. Maria Kron Dr. Dana Janas Gabriele Schneider Stephanie Schür Hanna Weinbach
Vorwort Vorwort Vorwort
Die Wertschätzung anthroposophisch orientierter Einrichtungen – seien es Schulen, Kindergärten, Banken, landwirtschaftliche Betriebe oder Dienste für Menschen mit Behinderungen – unterliegt deutlichen Konjunkturen. Auf Phasen notorischer Ignoranz und pauschaler Ablehnung folgten in den zurückliegenden etwa 100 Jahren seit ihrer Gründung solche der Faszination und pragmatischen Adaptionsbereitschaft, die sich um deren theoretische und weltanschaulichaxiomatische Implikationen nicht weiter kümmerte. Das gilt für die wissenschaftliche und fachpraktische Diskussion gleichermaßen, nicht jedoch für die Nachfrage nach derartigen Angeboten, die sich nach wie vor in Deutschland und vielen anderen Ländern als ungebrochen darstellt. Der erziehungswissenschaftliche Diskurs über die Waldorfpädagogik als weltweit bekanntester Frucht der von Rudolf Steiner (1861–1925) begründeten Anthroposophie belegt diesen Sachverhalt beispielhaft. Seine kritische Rekonstruktion könnte indes nicht nur über eine minoritäre pädagogische Bewegung, sondern gleichermaßen auch über die Schwierigkeiten wissenschaftlichen Umgangs mit Heteronomie informieren. Was bei alledem fehlt, sind nicht weitere exegetische Bemühungen um die zugegeben schwer zugänglichen Schriften Steiners, sondern methodisch gediegene phänomenologische Erkundungen einer Praxis, in denen deren Selbstauslegung nicht von vorneherein als apologetisch belanglos abgetan wird. Hier setzt die explorative Studie von Christof Stamm an. Sie gilt nicht einmal mehr der mehr oder weniger kenntnisreichen Beschäftigung mit den erkenntnistheoretischen und anthropologischen Grundlagen anthroposophischer Pädagogik und Sozialtherapie, sondern einer „dichten Beschreibung“ (Geertz) der sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaften, so wie sie sich in ausgewählten Alltagsbezügen und den daraus zu erschließenden konzeptionellen Extrakten darstellen und verstehen. Der Grund, sich diesem Thema zu widmen, das gegenwärtig so gar nicht im Mainstream der Heil- und Sonderpädagogik steht, ist zum einen die Erfahrung, dass das System der Hilfen für Menschen mit Behinderung konsequent in Richtung ambulanter Hilfen umgebaut wird und dabei Unterstützungsformen, die in sozialrechtlicher Terminologie als stationär gelten, generell unter einen Legitimationsdruck geraten, dem auch die „besseren“ Formen, die sich selbst weder als
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Vorwort
Heim verstehen noch in dieser Kategorie zutreffend zu beschreiben sind, nicht standhalten. Zu diesen hier pauschalierend „besser“ genannten Formen gehören neben den Häusern der von Jean Vanier begründeten Arche-Bewegung zweifellos auch die aus der anthroposophisch orientierten Heilpädagogik hervorgegangenen sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaften. Zum anderen ist die vorliegende ethnografische Studie auch den höchst unterschiedlichen Anmutungsqualitäten geschuldet, die der Autor – darin im Übrigen mit vielen Fachleuten übereinstimmend – zwischen anthroposophischen und nicht-anthroposophischen Einrichtungen für Menschen mit Behinderung konstatiert. Diesem Ausgangspunkt ist das kleine, essayistisch angelegte Eingangskapitel „Zwei Morgenszenen – eine Beschreibung“ gewidmet, dessen Unterabschnitte „Morgens im Weidehaus“ (anthroposophische Lebensgemeinschaft) und „Im Frauenhaus“ (anstaltsgeprägte Heimstruktur) lauten. Die hier zusammengetragenen, auf den Erfahrungen des Zivildienstes und einer längerfristigen studienbegleitenden Mitarbeit basierenden Eindrücke sind so gravierend verschieden, dass es dem Autor zu Recht höchst fragwürdig scheint, die in einem signifikanten Ausschnitt beschriebenen Institutionen in toto ein und demselben Typus zuzurechnen. Gleichwohl werden sie sozialrechtlich, aber auch in den fachlichen Diskursen über die Modernisierung der Hilfen für Menschen mit Behinderungen über einen Kamm geschoren. Zugleich bietet diese impressionistisch gehaltene Einstimmung einen Ausblick auf den gegenständlichen und methodischen Fokus der Studie: Es geht vor aller Analyse und Bewertung um die phänomenologische Beschreibung des Alltags und dessen kategoriale Erschließung durch Gespräche und Interviews mit den Mitgliedern der untersuchten Gemeinschaften. Damit betritt Stamm im Hinblick auf sozialtherapeutische Lebensgemeinschaften inhaltlich und methodisch Neuland. Vergleichbares ist bisher noch nicht versucht worden, obwohl die Lebensgemeinschaften doch als realisierter und nicht nur rhetorisch für die Zukunft reklamierter „dritter Sozialraum“ (Dörner) empirische Forschung auf breitem Fundament mobilisieren sollten, wie denn die Wiederentdeckung von „Gemeinschaften. Auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohlichen Welt“, so der Titel der jüngsten Publikation von Zygmunt Bauman (2009), insgesamt breitere Aufmerksamkeit für derartige „wahlverwandtschaftliche“ Sozialgebilde hervorrufen müsste. Auch wenn die Auseinandersetzung mit der theoretischen Begründung der anthroposophischen Heilpädagogik erklärtermaßen nicht das Ziel der Arbeit von Stamm ist, wird dem empirischen Extrakt der betriebenen Feldforschung doch ein gewichtiges Kapitel über die „Grundzüge der anthroposophischen Sozialtherapie“ vorangestellt, um so „eine theoretische Hintergrundfolie für die von prak-
Vorwort
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tischer Erfahrung genährten Feldergebnisse“ zu generieren. Dies geschieht in beeindruckender Kenntnis der Primär- (vor allem Steiner und König) und umfangreichen, auf Selbstexplikation (u.a. Grimm, Denger, Holtzapfel) oder kritische Wertung bedachten Sekundärliteratur (u. a. Zeller und Buchka). Wichtig für das Verständnis der Lebensgemeinschaften scheint mir in dieser stringenten Darstellung vor allem die Betonung der essentiellen Tatsache, dass die ersten sozialtherapeutischen Gemeinschaften zuvörderst nicht als Behinderteneinrichtungen, sondern als Vielfaltsgemeinschaften konzipiert waren, von denen erneuernde Impulse für die Gesellschaft insgesamt ausgehen sollten. Die daran anschließenden Kapitel dienen der methodischen Explikation und methodologischen Vergewisserung des Forschungsdesigns. Umfang und Gehalt verdeutlichen das Gewicht, das der Autor der methodologischen Reflexion beimisst. Er weiß, dass er sich zumindest aus der Perspektive der klassischen empirischen Forschung auf unsicherem Terrain bewegt und zudem insbesondere mit Roland Girtler auf einen soziologischen bzw. ethnologischen Gewährsmann verweist, der zu den Grenzgängern seiner Zunft gerechnet wird. Dass dies im Duktus sanfter Polemik versiert und unter Betonung der methodenkritischen Literatur (Feyerabend, Devereux) geschieht, ist in der Sache angemessen. Die Lektüre dieses für akademische Schriften unumgänglichen und oftmals bekanntermaßen spröden Kapitels wird auf diese Weise erleichtert, partiell sogar zu einem belehrenden Vergnügen. Vor allem aber verdienen die Sorgfalt der methodischen Selbstvergewisserung, die hier ausführlich begründete minutiöse Dokumentation des Feldforschungsprozesses und der höchst reflektierte Zugang zum Feld Beachtung. So offenbart etwa das „Forschungstagebuch“ jene Skrupel und Selbstzweifel, in die die Klassiker der Ethnologie – beispielhaft zu nennen wären hier vor allem Mead und Malinowski – die interessierte Nachwelt bekanntlich erst posthum haben Einblick nehmen lassen. Überzeugend ist auch der inhaltsanalytische Umgang mit dem in der ersten Feldphase gewonnenen Material. Hier orientiert sich Stamm an den Überlegungen von Strauss/Corbin und dem von Kuckartz entwickelten computergestützten Verfahren zur kategorialen Erfassung und Aufschlüsselung großer Textmengen, das inzwischen als „state of the art“ gilt. Mit diesem Verfahren können somit im vorliegenden Fall überzeugende Gesichtspunkte für die Generierung von Kategorien für die gezielte Beobachtung und die Strukturierung der „problemzentrierten Interviews“ (Witzel) in der zweiten Feldphase gewonnen werden. Ein Bild der vier untersuchten Lebensgemeinschaften wie der Menschen, die dort leben und von Stamm interviewt wurden, vermittelt das Kapitel „Vier Lebensgemeinschaften – 16 Personen“. Sie sind gewiss nicht repräsentativ für die Vielzahl der aus den jeweiligen örtlichen und regionalen Bedingungen her-
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Vorwort
vorgegangenen Einrichtungen, repräsentieren aber die Spannweite unterschiedlicher Ausprägungen und verdeutlichen dabei auch die übereinstimmend für essentiell gehaltenen Momente des Zusammenlebens. Sie sind zugleich ein überzeugender Beleg für den Unterschied zwischen Vielfalt und Beliebigkeit. Die „dichten Beschreibungen“ anhand der zuvor generierten Kategorien „Ritual und Rhythmus“, „Zusammenleben“, „Innen und Außen“ sowie „Individuum und Gemeinschaft“ bilden das Kernstück der ethnografischen Studie. Diese zentralen Kategorien sind mit großer Sorgfalt ausdifferenziert und untergliedert, sodass an keiner Stelle der Eindruck entsteht, die Vielfalt der beobachteten und erkundeten Phänomene würde gewaltsam in einen kategorialen Rahmen gepresst. In der Summe der dichten Beschreibungen, Kontextualisierungen und Kommentierungen entsteht so erstmals ein klar konturiertes Bild der Sozialgestalt anthroposophischer Lebensgemeinschaften. Im Hinblick auf den Ertrag der Arbeit ist festzuhalten, dass es Stamm mit einem differenzierten und reflektierten Ansatz ethnografischer Feldforschung überzeugend gelungen ist, einen Baustein im Gefüge der Einrichtungen und Dienste für Menschen mit Behinderung systematisch und in den für die weitere Entwicklung relevanten Ausschnitten zu erschließen, an dem sich die Geister scheiden. Hinter den damit erreichten Stand dichter Beschreibung wird in Zukunft niemand, der sich auf diesen Gegenstandsbereich wissenschaftlich einlässt, zurückfallen wollen. Eine vergleichbar anspruchsvolle und differenzierte ethnografische Untersuchung liegt bisher weder zu den anthroposophisch orientierten Lebensgemeinschaften noch zu anderen stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe – um an dieser Stelle noch einmal die schiefe, aber eingeführte sozialrechtliche Begrifflichkeit aufzunehmen – vor. Die Einsichten, die die vorliegende Studie inhaltlich und methodisch vermittelt, weisen weit über den Untersuchungsgegenstand hinaus. Sie werfen ein deutliches Licht auf Voraussetzungen und Bedingungen einer Umsteuerung des Hilfesystems für Menschen mit Behinderungen, für das konkrete Teilhabe in einem bedacht gestalteten Alltag konstitutiv ist und in dem alternative Lebensformen aufscheinen, die nicht nur für exkludierte Außenseiter attraktiv sind. Schwerin, im Frühjahr 2011
Prof. Dr. Norbert Schwarte
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis
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Prolog ......................................................................................................... 15
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Zwei Morgenszenen – eine Beschreibung ............................................... 21 2.1 Morgens im Weidehaus ...................................................................... 21 2.2 Morgens im ‚Frauenhaus ދ................................................................... 23
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Grundzüge anthroposophischer Sozialtherapie – Schlaglichter auf Entwicklung und Grundlagen .................................................................. 27 3.1 Ursprünge anthroposophischer Heilpädagogik und Sozialtherapie..... 28 3.2 Anthropologische Basis und Behinderungsverständnis ...................... 33 3.3 Sozialtherapie als Begleitung erwachsener Menschen mit Behinderungen .................................................................................... 41
4
Forschungsdesign und Verlauf der Studie .............................................. 47 4.1 Zur Ausgangslage der Studie .............................................................. 48 4.2 Zur ethnographischen Feldforschung .................................................. 51 4.3 Fragestellung ....................................................................................... 56 4.4 Persönliches Vorverständnis ............................................................... 57 4.5 Zugang zum Feld und Auswahl der Lebensgemeinschaften ............... 59 4.6 Feldforscherrolle ................................................................................. 61 4.7 Feldphase I .......................................................................................... 64 4.8 Feldphase II......................................................................................... 71 4.9 Auswertung der Feldarbeit und Darstellung der Ergebnisse ............... 80
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Im Feld – Reflexionen zur Forschungspraxis ......................................... 83
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Vier Lebensgemeinschaften – 16 Personen ............................................. 93 6.1 Lebensgemeinschaft Weitland ............................................................ 94 6.1.1 Gestalt und Struktur ................................................................. 94 6.1.2 Herr Wilkemeyer ...................................................................... 97 6.1.3 Frau Schneider ........................................................................ 99 6.1.4 Frau Thom ............................................................................. 100 6.1.5 Frau Feldmann und Frau Lübben ......................................... 101
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Inhaltsverzeichnis 6.2 Lebensgemeinschaft Grünburg ......................................................... 103 6.2.1 Gestalt und Struktur ............................................................... 103 6.2.2 Herr Teichmann ..................................................................... 106 6.2.3 Herr Campen ......................................................................... 108 6.2.4 Frau Janas ............................................................................. 109 6.2.5 Herr Winchenbach ................................................................. 110 6.3 Lebensgemeinschaft Angermark ....................................................... 112 6.3.1 Gestalt und Struktur ............................................................... 112 6.3.2 Frau Meyer ............................................................................ 115 6.3.3 Frau Becker ........................................................................... 117 6.3.4 Herr Haarmann ..................................................................... 118 6.4 Lebensgemeinschaft Ettensweiler ..................................................... 119 6.4.1 Gestalt und Struktur ............................................................... 119 6.4.2 Herr Domes ........................................................................... 122 6.4.3 Frau Jung .............................................................................. 123 6.4.4 Herr Sundermann .................................................................. 125 6.4.5 Frau Wicke ............................................................................ 126
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Ritual und Rhythmus ............................................................................. 129 7.1 Die Mahlzeiten .................................................................................. 130 7.1.1 Anfang und Ende.................................................................... 130 7.1.2 Zu Tisch ................................................................................. 136 7.2 Runden und Versammlungen ............................................................ 142 7.3 Die Jahresfeste .................................................................................. 145 7.4 Religiöse Zusammenkünfte............................................................... 145 7.5 Wirkweise ......................................................................................... 150 7.6 Persönliche Relevanz ........................................................................ 154 7.7 Lebensgemeinschaft ohne Rituale? ................................................... 155 7.8 Reflexion ........................................................................................... 156 7.8.1 Kommentierung...................................................................... 156 7.8.2 Kontextuelle Einordnung ....................................................... 158
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Zusammenleben ...................................................................................... 165 8.1 Leben in Gemeinschaft ..................................................................... 166 8.2 Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderungen ......... 168 8.2.1 Status Quo.............................................................................. 169 8.2.2 Exkurs: Benennungen ............................................................ 177 8.2.3 Bedingungen für ein gelingendes Zusammenleben ................ 178 8.2.4 Positive Erfahrungen des Zusammenlebens .......................... 180
Inhaltsverzeichnis
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8.2.5 Schwierigkeiten und Herausforderungen des Zusammenlebens .................................................................... 185 8.2.6 Zusammenleben und anthroposophische Sozialtherapie ....... 186 8.3 Reflexion ........................................................................................... 188 8.3.1 Kommentierung...................................................................... 188 8.3.2 Kontextuelle Einordnung ....................................................... 190 9
Innen und Außen .................................................................................... 197 9.1 Räumliche Einbettung ....................................................................... 197 9.2 Freizeitleben...................................................................................... 203 9.3 Vernetzung im Gemeinwesen ........................................................... 210 9.4 Reflexion ........................................................................................... 219 9.4.1 Kommentierung...................................................................... 219 9.4.2 Kontextuelle Einordnung ....................................................... 221
10 Individuum und Gemeinschaft .............................................................. 227 10.1 Privatheit ........................................................................................... 228 10.2 Gemeinschaftsregeln ......................................................................... 231 10.3 Arbeitszeit ......................................................................................... 243 10.3.1 Stichwort: Gestaltungsfreiheit ............................................... 244 10.3.2 Stichwort: Abgrenzung ........................................................... 246 10.4 Gehalt ................................................................................................ 250 10.5 Reflexion ........................................................................................... 254 10.5.1 Kommentierung ...................................................................... 254 10.5.2 Kontextuelle Einordnung ....................................................... 256 11 Epilog ....................................................................................................... 269 Literatur .......................................................................................................... 279
1 Prolog 1 Prolog
„Geschützt, aber ins Leben mit aufgenommen“ (B9M, Abs. 39).1 Die vorliegende Studie befasst sich mit einer besonderen Form von Gemeinschaft – sozialtherapeutischen Gemeinschaften, in denen erwachsene Menschen mit und ohne Behinderungen auf Grundlage der Anthroposophie zusammen leben und arbeiten. „Geschützt, aber ins Leben mit aufgenommen“ (B9M, Abs. 39) – dieses dem Interview mit einem Mitarbeiter sozialtherapeutischer Lebensgemeinschaften entnommene Zitat umreißt das von mir in Praxis und Fachliteratur wahrgenommene Selbstverständnis derartiger Organisationen insbesondere mit Blick auf Menschen mit Behinderungen in pointierter Weise. In dieser qualitativen Studie steht ein Gegenstand im Mittelpunkt, der bislang nur wenig erforscht ist. Die Untersuchung besitzt insofern explorativen Charakter. Nicht die Beschäftigung mit den erkenntnistheoretischen und anthropologischen Grundlagen anthroposophischer Sozialtherapie steht daher im Vordergrund. Mein Ziel war vielmehr, mich dem Gefüge ‚sozialtherapeutische Lebensgemeinschaft ދunmittelbar forschend zuzuwenden, wesentliche Komplexe des gemeinschaftlichen Lebens im Sinne einer „dichten Beschreibung“ (Geertz 1987) darzulegen und mich mit diesen in reflexiver Weise auseinanderzusetzen. Folglich sind für diese Studie nicht Analyse und Bewertung, sondern vor allem Beschreibung und Einordnung zentral. Als Forschungsgegenstand habe ich vier sozialtherapeutische Gemeinschaften ausgewählt, welche die Bandbreite der diesbezüglichen Organisationen in Deutschland im Großen und Ganzen widerspiegeln sollen. Es handelt sich dabei um Einrichtungen, die sich explizit dem Gedanken der Lebensgemeinschaft verpflichtet fühlen. Dabei habe ich nicht die Absicht verfolgt, einen systematischen Vergleich der Lebensgemeinschaften vorzunehmen. Vielmehr habe ich versucht, das Spektrum des sich mir darbietenden alltäglichen Geschehens respektive des Alltagshandelns herauszuarbeiten. Ein expliziter Vergleich mit nicht-anthroposophischen2 Einrichtungen der Behindertenhilfe findet somit nicht statt. 1 2
Zu Quelle und Zitierweise siehe Kapitel 4.9. Die Verwendung dieses sowie des Begriffs ‚anthroposophisch ދsoll keinesfalls suggerieren, alle jeweils damit bezeichneten Einrichtungen würden strukturell und konzeptionell einheitli-
C. Stamm, Anthroposophische Sozialtherapie im Spiegel ausgewählter Lebensgemeinschaften, DOI 10.1007/978-3-531-93294-1_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1 Prolog
Im Zuge der qualitativen Vorgehensweise dienten Methoden der ethnographischen Feldforschung als Bezugspunkt. Mit deren Hilfe habe ich mich dem Alltagsleben innerhalb vier sozialtherapeutischer Gemeinschaften zunächst sehr offen, dann unter spezielleren Gesichtspunkten, aber immer mit dem Anspruch des ‚fremden Blicks ދangenähert. Im Zentrum der während zwei mehrtägiger Feldphasen stattfindenden Erhebungen standen von mir im Rahmen teilnehmender Beobachtung wahrgenommene Phänomene sowie aus Gesprächen und Interviews generierte subjektive Darlegungen von Mitgliedern der Gemeinschaften. Eine Begutachtung sozialtherapeutischer Praxis auf Basis vorab entwickelter Hypothesen war also nicht Bestandteil der Vorgehensweise. In der Regel habe ich theoretische Aspekte zum Forschungsgegenstand somit erst auf Grundlage der Felderfahrungen hinzugezogen. Ausgangsbasis meiner Forschung stellen zum einen meine praktischen Erfahrungen mit der Arbeit in anthroposophisch orientierten und nicht-anthroposophischen Organisationen dar, in denen Menschen mit Behinderungen Unterstützung erfahren. Zum anderen habe ich mich durch meine mehrjährige Arbeit am Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste (ZPE) der Universität Siegen intensiv mit den Auswirkungen des sogenannten Paradigmenwechsels in der Behindertenhilfe auf das System der Hilfen für Menschen mit Behinderungen auseinandersetzen können. Im Rahmen dieses Paradigmenwechsels, der hinsichtlich der praktischen Konsequenzen mit einer zunehmenden Ausrichtung des Unterstützungssystems auf ambulante, offene Hilfen einhergeht, geraten auch die – zumindest bezüglich ihres Kernbereichs aus sozialrechtlicher Sicht als stationäre Einrichtungen, ergo als Heime geltenden – sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaften zunehmend unter Veränderungsdruck. Ein Spannungsfeld ergibt sich hier insofern, als dass sich diese Gemeinschaften nicht zuvörderst als stationäre Einrichtungen der Behindertenhilfe oder gar als Heimeinrichtungen, sondern eben als Lebensgemeinschaften begreifen. Die Kenntnis dieses Dilemmas sowie die von mir in praktischen Arbeitsfeldern erfahrene unterschiedliche Erlebnisqualität zwischen anthroposophischen und nicht-anthroposophischen Einrichtungen haben mir gezeigt, dass sozialtherapeutische Lebensgemeinschaften als ein zwischen ambulanter und stationärer Unterstützung angesiedelter „dritter Weg“ (Stamm 2008) der genaueren wissenschaftlichen Betrachtung bedürfen.
chen Zuschnitts sein. So kann jeweils von einer Vielfalt verschiedener Ansätze und Konzepte ausgegangen werden. Die Begriffe werden hier und anderer Stelle daher ausschließlich aus dem pragmatischen Grund verwendet, auf sprachlicher Ebene eine eindeutige Unterscheidung vornehmen zu können.
1 Prolog
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Auch aufgrund meiner eigenen Profession habe ich die Praxis der anthroposophischen Sozialtherapie allerdings – wie könnte es anders sein – vor allem anderen aus dem Blickwinkel der Behindertenhilfe betrachtet.3 Einige Hinweise zu verwendeten Begrifflichkeiten sind zum Verständnis dieser Arbeit erforderlich: In erster Linie leben in den beteiligten Gemeinschaften – neben Mitarbeitern – Menschen mit geistiger Behinderung. Mir ist bekannt, dass die Bezeichnung ‚geistige Behinderung ދangesichts damit verbundener stigmatisierender Wirkungen zunehmend auf Kritik stößt. In Ermangelung eines besser geeigneten, Konsensfähigkeit und allgemeine Verständlichkeit beinhaltenden Begriffs verwende ich diesen im Rahmen der vorliegenden Arbeit dennoch. In Anlehnung an Thimm (1994, 48f.), der konstatiert, dass alle in diesem Kontext vorgenommenen begrifflichen Zuschreibungen sich abnutzen und nicht erwünschte Assoziationen beim Leser hervorrufen können, variiere ich zudem sprachlich und schreibe somit gleichermaßen von ‚Menschen mit Behinderungen ދals auch von ‚behinderten Menschenދ. Ausgehend vom während der Feldphasen gewonnenen Material werden des Weiteren immer wieder auch die Begriffe ‚Betreute ދoder ‚betreute Menschenދ, manchmal auch ‚Bewohner ދgebraucht. Dies ist der Verwendung dieser Begrifflichkeiten innerhalb der beteiligten Lebensgemeinschaften geschuldet. Innerhalb der anthroposophischen Fachdisziplin ist eine Unterscheidung zwischen der ‚Heilpädagogik ދals Referenzrahmen für den Bereich der behinderten Kinder und Jugendlichen sowie ‚Sozialtherapie ދals Bezugspunkt für das Leben und Arbeiten erwachsener Menschen mit Behinderungen üblich. Benutze ich diese beiden Begriffe, so beziehe ich mich immer auf ihre Bedeutung im anthroposophischen Kontext. Auf weitere Begriffserklärungen möchte ich an dieser Stelle verzichten, da trotz des Versuchs, größtmögliche begriffliche Klarheit zu schaffen, eine vollkommene sprachliche Genauigkeit ohnehin nicht erreicht werden kann. Ich schließe mich in dieser Frage Speck an, der festhält: „Exaktheit und Gewißheit sind, wie Popper meinte, falsche Ideale; das Streben nach größerer Exaktheit habe gewöhnlich einen Verlust an Klarheit zur Folge. Menschliche Kommunikation ist prinzipiell mehrdeutig. Die Wörter haben in der Regel keine fixierten und isolierbaren Bedeutungen. Sie erschließen sich aus Zusammenhängen. Es wäre also eine Illusion, das Beschreiben letzter Feinheiten einzufordern. Die Differenz
3
Insofern habe ich immer wieder auf stationäre Einrichtungen der Behindertenhilfe als sozialrechtlich verankertes Referenzmodell zurückgegriffen. Mögliche Bezüge sozialtherapeutischer Lebensgemeinschaften zu anderen gemeinschaftlichen Lebensformen wie etwa speziellen Kommunen oder den Kibbuzim in Israel stehen daher in dieser Arbeit nicht im Zentrum der Betrachtung.
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1 Prolog
im Verstehen kann deshalb nur Aufforderung sein, ins Gespräch miteinander zu kommen“ (Speck 1998, 13). Schließlich sei gesagt, dass ich mich aus Gründen des besseren Leseflusses und der Vermeidung von umständlichen Satzkonstruktionen immer nur der männlichen Personenform bediene. Das gilt natürlich nicht, wenn aus sachlichen Gründen zwischen Männern und Frauen unterschieden werden muss oder ich mich – beispielsweise bei den von mir geführten Interviews – konkret auf eine männliche bzw. weibliche Person beziehe. Wie ist die vorliegende Studie nun aufgebaut? Nach diesen einführenden Zeilen beginne ich mit einer weitgehend unkommentierten und bewusst persönlich angelegten Beschreibung zweier Morgenszenen im Kontext stationärer Behindertenhilfe. Diese auf Basis eigener Erfahrungen erstellten Deskriptionen veranschaulichen jeweils eine sich deutlich voneinander unterscheidende Erlebnisqualität. Sie beziehen sich zum einen auf eine norddeutsche Komplexeinrichtung sowie zum anderen auf eine sozialtherapeutische Lebensgemeinschaft in Süddeutschland. Aufgrund ihres deutlich subjektiven Charakters haben diese Schilderungen vor allem eine illustrierende Funktion. Sie dienen dazu, dem Leser einen ersten Zugang zum Feld sozialtherapeutischer Gemeinschaften zu verschaffen. Gleichzeitig zeigen sie aber auch einen Teil meines persönlichen Hintergrundes dieser Arbeit auf und verdeutlichen somit ein wesentliches Motiv, das zur Erstellung dieser Studie führte. Im dritten Kapitel lege ich die Grundzüge anthroposophischer Sozialtherapie dar. Da in dieser Studie nicht die Auseinandersetzung mit den erkenntnistheoretischen und anthropologischen Grundlagen anthroposophisch orientierter Behindertenhilfe im Zentrum steht, handelt es sich hierbei um eine Art theoretische Hintergrundfolie, welche dazu dient, die Beschreibungen der sozialtherapeutischen Praxis besser einordnen zu können. Das vierte Kapitel erläutert Forschungsdesign und Ablauf der Studie. Durch Klarlegung von Motiv, Entstehungskontext und methodischem Vorgehen trägt dieser Abschnitt zur intersubjektiven Nachvollziehbarkeit der Untersuchung bei. Vor dem Hintergrund der großen Bedeutung reflexiver Prozesse im Rahmen ethnographischer Feldforschung, insbesondere auch mit Blick auf die eigene Forschungspraxis, veranschauliche ich meine diesbezüglichen Erfahrungen im darauf folgenden fünften Kapitel. In den Kapiteln sechs bis zehn werden sodann die Ergebnisse meiner Feldaufenthalte in Form einer ‚dichten Beschreibung ދabgebildet. Ausgehend von Portraits der beteiligten Lebensgemeinschaften und der von mir interviewten Personen (Kapitel 6) sind dabei die Kategorien ‚Ritual und Rhythmus( ދKapitel 7), ‚Zusammenleben( ދKapitel 8), ‚Innen und Außen( ދKapitel 9) sowie ‚Individuum und Gemeinschaft( ދKapitel 10) leitend. Im Rahmen einer Reflexion habe
1 Prolog
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ich jede Beschreibung einerseits persönlich kommentiert und andererseits in den fachlichen Kontext eingeordnet. Im Zusammenhang mit der Tatsache, dass sich das ‚pralle Leben ދeben nicht an akademische Kategorienbildungen hält, sind Redundanzen nicht immer vermeidbar. Das bedeutet aber auch, dass sich ein ungeteiltes Bild des Lebens in sozialtherapeutischen Gemeinschaften erst durch eine Gesamtschau aller dieser Kapitel ergibt. Abgesehen von den Portraits werden indes nicht die einzelnen Lebensgemeinschaften im Sinne eines Vergleichs nebeneinandergestellt. Vielmehr wird das Spektrum der in den Gemeinschaften wahrgenommenen Phänomene – ausgewählt entlang von Gesichtspunkten wie Gleichheit oder Verschiedenheit – verdeutlicht. Im letzten Kapitel (Kapitel 11) werden diejenigen Aspekte aus den Reflexionen, die aus meiner Sicht in besonderer Weise hervorgetreten sind, in einem Epilog zusammengeführt. Da die vorliegende Arbeit keine evaluative, sondern eine ethnographische Studie ist, gebe ich am Schluss keine spezifischen Hinweise zur Modifizierung der jeweiligen beteiligten Organisationen. Übergreifend betrachtet führe ich demgegenüber an, was mich inhaltlich besonders berührt hat, welche essentiellen (offenen) Fragen sich mir aufgetan, welche Spannungsfelder ich wahrgenommen habe und in welche Richtung sich sozialtherapeutische Gemeinschaften aus meiner Sicht insgesamt weiterentwickeln könnten.
2 Zwei Morgenszenen – eine Beschreibung4
2.1 Morgens im Weidehaus 2.1 Morgens im Weidehaus Morgens früh. Ich werde durch Flötenmusik aus dem Treppenhaus geweckt. Es ist halb sieben. Im Bett liegend höre ich, wie das Leben im Haus langsam erwacht. In den Bädern herrscht nun rege Betriebsamkeit. Ich warte, bis das Bad in meiner Etage frei ist und verschwinde darin für die Morgentoilette. Viel Zeit bleibt nicht, denn jedes Badezimmer teilen sich etwa drei Personen. Da ich aber, wie auch einige andere Hausbewohner, ein Waschbecken in meinem Zimmer habe, lässt sich die Zeit besser einteilen. Für zeitliche Entspannung sorgt, dass gewöhnlich nicht morgens geduscht oder gebadet wird. Als ich aus dem Bad komme, riecht es im Treppenhaus nach Kaffee. Frederik, derselbe Mitarbeiter, der den Weckruf gespielt hat, und Liselotte, eine behinderte Frau, sind bereits in der Küche mit der Vorbereitung des Frühstücks beschäftigt. Während ich noch schläfrig die Treppe heruntergehe – mein Zimmer liegt in der zweiten Etage –, begegne ich einigen Hausbewohnern, die bereits ihre Morgentoilette beendet haben, nun anderen Bewohnern sowie in der Küche helfen oder noch morgendlich verschlafen im Wohnzimmer ihren Gedanken nachhängen. Die Mitarbeiter sind damit beschäftigt, Menschen mit höherem Hilfebedarf beim Waschen und Ankleiden zu unterstützen. Um sieben Uhr läutet ein Gong, einige Minuten später noch einmal, um alle noch fehlenden Personen – Mitarbeiter und Menschen mit Behinderungen – aus ihren Räumen in das Wohn- und Esszimmer zu rufen. Dort versammelt sich die Hausgemeinschaft – etwas müde noch die einen, hellwach und unternehmungs4
Es handelt sich hierbei um keinen systematischen Vergleich, sondern um eine auf Basis persönlicher Erlebnisse angefertigte subjektive Beschreibung von zwei Morgenszenen in zwei stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe. Die Aufzeichnungen habe ich im Rückblick auf meine Zeit in beiden Organisationen erstellt. In der Hausgemeinschaft ‚Weidehausދ, die zu einer sozialtherapeutischen Dorfgemeinschaft gehört, habe ich bis Herbst 1996 meinen Zivildienst abgeleistet. Im sogenannten ‚Frauenhaus ދdes Margarethenheims, einem Bereich einer mittelgroßen Komplexeinrichtung, war ich bis 2002 neben meinem Studium tätig. Ich habe die genannten Einrichtungen ausgewählt, weil diese mich in jeweils sehr spezifischer Weise geprägt haben (siehe dazu auch Kapitel 4.4). Keinesfalls möchte ich damit aussagen, dass ich diese als Typen ihrer jeweiligen Spezies betrachte. Alle Orts- und Personennamen habe ich selbstredend anonymisiert.
C. Stamm, Anthroposophische Sozialtherapie im Spiegel ausgewählter Lebensgemeinschaften, DOI 10.1007/978-3-531-93294-1_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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2 Zwei Morgenszenen – eine Beschreibung
lustig dagegen die anderen. Mit einem gemeinsam gesungenen Lied, das von Frederik auf der Gitarre begleitet wird, beginnt nun der Morgenkreis. Die nach dem Aufstehen entstandene Hektik wird gebrochen. Nicht jedem fällt es allerdings leicht, den Tag mit einer Melodie auf den Lippen zu beginnen. Gedankenverloren und gegen die Müdigkeit kämpfend stehe ich mehr oder weniger stumm in der Runde. Gisela, eine andere Mitarbeiterin, trägt nun den Wochenspruch vor. Dieser erscheint mir auch nach mehrmaligem Hören immer noch fremd und kryptisch. Aus einem Kalender liest Gisela daran anschließend vor, welche bekannten Persönlichkeiten heute Geburts- oder Todestag haben. Die Anderen ergänzen dieses um Verwandte und Personen aus der Dorfgemeinschaft. Insbesondere Martina, eine behinderte Mitbewohnerin, versteht es als ihre Aufgabe, für sie besonders wichtige Geburtstage zu nennen – sie hat fast jeden Tag etwas beizutragen. Zum Abschluss des Morgenkreises sprechen alle – sich an den Händen fassend – gemeinsam den Morgenspruch. Alle gehen danach zu einem großen quadratischen Tisch. Das gemeinsame Frühstück beginnt. Eingeleitet wird dieses mit einem zusammen gesprochenen Tischspruch, einer Art kleinem Gebet. Während des Frühstücks herrscht große Aktivität. Speisen und Getränke werden herumgereicht, es wird geredet, gelacht, geschimpft und erzählt. Besonderheiten, die an diesem Tag anstehen, werden besprochen. So heute z. B., dass Elke in einem anderen Haus zu Mittag isst, Winfried aus dem Haus Tobias dagegen in das Weidehaus kommt. Mit großer Aufmerksamkeit wird verfolgt, ob alle Tischnachbarn gut versorgt sind. Häufig bekomme ich zu essen oder zu trinken ohne Aufforderung gereicht, da meine Tischnachbarn – teilweise zu Recht – annehmen, dass ich Weiteres wünsche. Jeder stellt sich die Speisen und Getränke nach seinen Wünschen zusammen. Menschen mit Behinderungen, die dabei Hilfe benötigen, werden unterstützt. Gegen Viertel vor acht wird das Frühstück beendet. Alle am Tisch Sitzenden fassen sich dabei an den Händen und sagen ‚Wir dankenދ. Der Tisch wird gemeinsam abgeräumt. Einige Hausbewohner gehen direkt auf ihre Zimmer, um – allein oder mit Unterstützung – letzte morgendliche Verrichtungen wie beispielsweise Zähneputzen oder Rasieren zu erledigen. Andere sind zunächst noch mit dem Abwasch beschäftigt – eine Spülmaschine gibt es nicht. Weitere rauchen draußen eine Zigarette oder halten noch ein Schwätzchen. Etwa um Viertel nach acht sind auch die letzten Bewohner fertig, so dass sie das Haus verlassen können. Begleitet, teilweise auch unterstützt von einem Mitarbeiter, gehen alle behinderten Mitbewohner zur Bushaltestelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Um zwanzig nach acht fährt ein Bus vor, welcher im privaten Liniendienst – das Netz öffentlicher Verkehrsmittel ist in der Gemeinde nur spärlich ausgebaut – die Arbeits- und Produktionsstätten mit den einzelnen Häusern bzw. dem Hauptstandort der Dorfgemeinschaft verbindet.
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Um halb neun beginnt die Arbeit in der Werkstatt für behinderte Menschen. Im Haus ist es ruhig.
2.2 Morgens im ‚Frauenhausދ 2.2 Morgens im ‚Frauenhausދ 6:30 Uhr – Schichtbeginn des Frühdienstes im Frauenhaus des Margarethenheims. Die Mitarbeiter treffen sich ‚auf Station ދim Dienstzimmer der Nachtwache zur Übergabe. Auch ich bin dabei. Man bespricht die aktuellen Geschehnisse der Nacht wie z. B. Auffälligkeiten bei einzelnen Bewohnerinnen, aber lockert das Gespräch auch durch weitere Geschichten zu aktuellen Ereignissen innerund außerhalb des Margarethenheims auf. Gegen Viertel vor sieben verlassen die ersten Mitarbeiter, auch ich, den Raum, um mit der morgendlichen Pflege zu beginnen. Die Nachtwache verlässt die Einrichtung. Auf Bänken im Flur der ‚Station ދsitzen schon einige Bewohnerinnen, die bereits von der Nachtwache zur Entlastung des Frühdienstes ‚fertig gemacht ދwurden. Zimmerweise wecke ich die Frauen aus der Gruppe, für die ich zuständig bin. In den Zimmern schlafen jeweils drei bis vier Personen – die Luft ist stickig und schwül. Manche Bewohnerinnen springen sofort aus ihren Betten, andere verkriechen sich darin. Hilde und Angelika etwa möchten heute noch nicht aufstehen und werden daher nachdrücklich aufgefordert, ihr Bett zu verlassen. Mit dem Wecken beginnt ein routinierter Handlungsablauf, in den sich die Bewohnerinnen einfügen. Ich geleite die behinderten Frauen zu den Wasch- und Duschräumen. Die Mehrzahl der Bewohnerinnen wird morgens geduscht oder gebadet. Es gibt auf jeder Station einen Wasch- und Dusch- bzw. Baderaum. Der Dusch- und Badebereich wird über einen Raum mit etwa zehn nebeneinander angebrachten Waschbecken erreicht. Von diesem führt links eine Tür zu einer Toilettenanlage. Rechter Hand öffnet sich ein Raum mit einer Pflegebadewanne sowie drei Duschen. Zwischen den Duschen sowie zwischen Dusche und Badewanne gibt es keinen Sichtschutz. Die Bewohnerinnen von einem Zimmer haben allerdings eine eigene Dusche und Toilette. Die Sanitäranlagen füllen sich zunehmend mit behinderten Frauen und Mitarbeitern. Die Duschen laufen ohne Unterlass, ich wasche eine Person nach der anderen, trockne sie ab, parfümiere sie, creme sie gegebenenfalls ein und verabreiche Salben. Meine Schuhe und meine Hose sind nass. Andere Mitarbeiter ziehen deswegen Gummistiefel und weiße Plastikschürzen an. Der Lärmpegel steigt in den eben noch schläfrig-ruhigen Zimmern und Fluren. In den Wohnbereichen des Frauenhauses leben vergleichsweise wenige Personen, die sich ohne Anleitung oder Unterstützung selbständig waschen und
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2 Zwei Morgenszenen – eine Beschreibung
anziehen können. Einige selbständigere Bewohnerinnen treten nun aber in das Geschehen ein und versuchen, einen freien Platz unter der Dusche zu ergattern. Es wimmelt von nackten Leibern. Es riecht nach Fäkalien, Salben, Shampoo und Nässe. Die Spiegel und Fenster sind beschlagen. Mir rinnt der Schweiß am Körper hinab. Auf dem Flur unzählige nasse Fußspuren. Nach dem Duschen geht es zurück ins Zimmer – hier werden die Bewohnerinnen angezogen oder sie ziehen sich selbst an und werden gegebenenfalls ‚gewindeltދ. Dann nehme ich mir das nächste Zimmer vor. Obwohl versucht wird, den Frauen zu zeigen, dass sie nur im Bademantel den Flur betreten und sich im Zimmer ankleiden sollen, sind diese Hinweise häufig nicht sehr wirksam. Immer wieder kommen Bewohnerinnen halbnackt aus ihren Zimmern, um sich Unterstützung bei den vor allem in den Waschräumen tätigen Mitarbeitern zu holen. Sind alle Bewohnerinnen fertig angezogen, gilt es, Betten zu machen und unter Umständen neu zu beziehen. Manch einem Mitarbeiter gelingt diese Tätigkeit aber auch zwischendurch – in einigen Fällen gelingt es mir endlich auch – ich bin ein wenig stolz auf meine effektive Arbeitsweise. Die Arbeit geht den meisten Mitarbeitern sicher und routiniert von der Hand. Es herrscht rege, nicht selten hektische Betriebsamkeit – das Frühstück wartet! Insbesondere Bewohnerinnen, die in einer externen Werkstatt für behinderte Menschen arbeiten, müssen pünktlich um zehn vor acht auf dem Parkplatz vor der Einrichtung stehen, um vom Fahrdienst mitgenommen zu werden. Als nur zeitweilig dort tätiger Mitarbeiter gerate ich unter Druck, trotz fehlender Routine, ebenso schnell wie die angestammten Mitarbeiter zu sein. Es ist ein allmorgendlicher Wettlauf gegen die Zeit. Die Bewohnerinnen werden – soweit es ihre Mobilität zulässt – zu den Gruppenräumen im Erdgeschoss geschickt, wo sie häufig vor verschlossener Tür warten, bis ein Mitarbeiter aufschließt. Die Zeit des Frühstücks nähert sich! Die Zutaten für das Frühstück werden zum größten Teil aus der Zentralküche geholt. Sobald die jeweilige Gruppe besetzt ist, das heißt jeweils mindestens ein Mitarbeiter von den ‚Stationen ދnach unten gekommen ist, wird das Frühstück vorbereitet. Je nach Selbständigkeit der behinderten Frauen werden die Nahrungsmittel entsprechend zubereitet. In den Gruppen, in welchen viele Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf bei der Nahrungsaufnahme wohnen, ist mit den Esssituationen großer Stress verbunden, da eine recht große Personenzahl in einer bestimmten Zeitspanne versorgt und unterstützt werden muss. Wird von bekannten Routinen oder Standards abgewichen, oder dauert ein Vorgang länger als allgemein üblich, breitet sich schnell Ungeduld unter den Bewohnerinnen aus und der Lärmpegel steigt an. Die Essenszeit ist geprägt von einer missgünstigen, neidge-
2.2 Morgens im ‚Frauenhausދ
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schwängerten Stimmung: Jede Bewohnerin versucht, einen ‚guten Schnitt ދzu machen und nicht zu kurz zu kommen. Neben der Rolle des Betreuers oder Unterstützers nehme ich – wie auch die anderen Mitarbeiter – häufig die Rolle einer Aufsichtsperson ein, deren Aufgabe es ist, die Situation unter Kontrolle zu halten, das heißt in diesem Fall, das Frühstück in ‚geordneten Bahnen ދablaufen zu lassen. Die Zeit drängt und es gibt viel zu tun! Ich selbst nehme nicht am Frühstück teil. Das wäre unüblich. Abgesehen davon, dass dies nur gegen ein Entgelt möglich ist, das viele Mitarbeiter nicht bereit sind zu zahlen, wäre in den meisten Fällen ein gemeinsames Frühstück aufgrund der zu erledigenden Betreuungsaufgaben gar nicht möglich. Die behinderten Frauen, die in der Werkstatt für behinderte Menschen arbeiten, verlassen den Tisch früher als die anderen, um den Bus zu erreichen. Danach wird der Tisch von Mitarbeitern und einigen Bewohnerinnen abgeräumt. Das Geschirr wird inzwischen in einer Gemeinschaftsküche – welche als ‚Therapieküche ދbezeichnet wird – gespült. Kleinere pflegerische und hygienische Verrichtungen wie beispielsweise Zähneputzen stehen dann auf dem Programm. Die Arbeit beginnt um 08:30 Uhr in der Werkstatt für behinderte Menschen. Um 09:00 starten tagesstrukturierende und therapeutische Maßnahmen im Margarethenheim. Einige Bewohnerinnen bleiben in den Gruppenräumen mit den Mitarbeitern zurück.
3 Grundzüge anthroposophischer Sozialtherapie – Schlaglichter auf Entwicklung und Grundlagen 3 Grundzüge anthroposophischer Sozialtherapie
„Die anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie erkennt den Menschen als dreigliedriges Wesen, bestehend aus Leib, Seele und Geist. In dieser dreigliedrigen Einheit ist jeder Mensch einzigartig und entwicklungsfähig, indem er sich mit seinen individuellen leiblichen und seelischen Lebensbedingungen aktiv gestaltend auseinandersetzt“ (Medizinische Sektion 2007, 3). In dieser Studie steht nicht eine Auseinandersetzung mit den erkenntnistheoretischen und anthropologischen Grundlagen anthroposophisch orientierter Behindertenhilfe im Mittelpunkt. Vielmehr bildet der vor allem in Gestalt von dichten Beschreibungen vorliegende empirische Extrakt der ethnographischen Feldforschung das Zentrum der Arbeit. Insofern soll – wenngleich im Rahmen der Reflexion jedes Auswertungskapitels immer wieder auch auf Literatur aus dem anthroposophischen Kontext zurückgegriffen wird – zuallererst die von mir innerhalb der an dieser Studie beteiligten Lebensgemeinschaften erfahrene sozialtherapeutische Praxis widergespiegelt werden. Dennoch werden im Folgenden einige Aspekte zur Entwicklung sowie wesentliche Grundannahmen anthroposophisch geprägter Arbeit mit behinderten Menschen – allerdings in komprimierter Form – dargelegt, um als eine Art theoretische Hintergrundfolie für die von praktischer Erfahrung genährten Feldergebnisse dienen zu können.5 Wie bereits angeführt, wird innerhalb der anthroposophischen Fachdisziplin eine Unterscheidung zwischen Heilpädagogik als Referenzrahmen für den Bereich ‚Kinder und Jugendliche ދsowie Sozialtherapie als Bezugspunkt für Leben und Arbeiten erwachsener Menschen mit Behinderungen vorgenommen. Im Hinblick auf die Tatsache, dass in dieser Studie die Auseinandersetzung mit Lebensgemeinschaften für erwachsene Menschen zentral ist, wende ich mich an einigen Stellen verstärkt der Sozialtherapie zu. 5
Für den Wunsch nach Dekomprimierung der skizzierten Themenstränge steht eine Fülle an spezifischer Literatur zur Verfügung, auf die in diesem Kapitel zum Teil verwiesen wird. Eine umfassende Bibliographie relevanter Fachtexte findet sich auf den Internetseiten der Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie, dem internationalen Vernetzungsorgan anthroposophischer Behindertenhilfe (www.khsdornach.org/literatur).
C. Stamm, Anthroposophische Sozialtherapie im Spiegel ausgewählter Lebensgemeinschaften, DOI 10.1007/978-3-531-93294-1_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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3 Grundzüge anthroposophischer Sozialtherapie
Um während der Feldphasen nicht einer zu starken, die notwendige Offenheit ethnographischer Forschung einschränkenden theoretischen Determination ausgesetzt zu sein, habe ich mich – obzwar nun dem empirischen Teil vorangestellt – mit den nachfolgenden Aspekten erst nach Abschluss der Feldphasen befasst.6 3.1 Ursprünge anthroposophischer Heilpädagogik und Sozialtherapie 3.1 Ursprünge anthroposophischer Heilpädagogik und Sozialtherapie Anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie fußen unmittelbar auf der anthroposophischen Weltsicht und sind somit ohne deren anthropologische Grundlagen nicht zu verstehen: „Da das anthroposophische Menschenbild somit sozusagen das Fundament der anthroposophisch orientierten Heilpädagogik bildet, wird seine Darlegung und Beschreibung zur unerlässlichen Voraussetzung für deren Verständnis“ (Zeller 1978, 17). Die von Rudolf Steiner (1861-1925) begründete Anthroposophie ist – nach lexikalischer Definition – eine Weltanschauungslehre, welche „die Welt in einer stufenweisen Entwicklung begriffen (sieht), die der Mensch einfühlend und erkennend nachzuvollziehen hat, um ‚höhere ދseelische Fähigkeiten zu entwickeln und mit ihrer Hilfe ‚übersinnl. ދErkenntnisse zu erlangen“ (Meyers Lexikonredaktion 1992, 27). Etymologisch betrachtet leitet sich der Begriff aus dem Altgriechischen ab und kann als ‚Weisheit vom Menschen‚( ދánthrǀpos– ދ ‚Mensch ދund ‚sophia‚ – ދWeisheit )ދübersetzt werden. Versehen mit theosophischen Wurzeln ist die Anthroposophie ein weltanschauliches System, „das so unterschiedliche Bereiche wie Religion, Kunst, Medizin, Architektur, Pädagogik oder Landwirtschaft zu durchdringen sucht“ (Biewer 2007, 27). Von Steiners Impulsen ausgehend, entstanden somit vielfältige Initiativen und Projekte, die auf anthroposophischer Grundlage arbeiten. Die bekannteste Frucht stellt hier sicherlich die Waldorfpädagogik dar (Carlgren 1996). Obwohl sich von zentralen Dogmen der traditionellen christlichen Konfessionen zum Teil unterscheidend, versteht sich die Anthroposophie als christlich verankerte Weltanschauung (Limbrunner 1995, 16). Die Ursprünge der anthroposophischen Heilpädagogik reichen bis in die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts zurück. Anthroposophische Heilpädagogik entstand dabei zunächst nicht als theoretische Disziplin, sondern durch praktisches Engagement innerhalb der anthroposophischen Bewegung, die im Kontext von nach dem Ersten Weltkrieg herrschenden gesellschaftlichen Umbruchsitua-
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Zu meinen dennoch vorhandenen spezifischen Vorerfahrungen siehe Kapitel 2 und 4.4.
3.1 Ursprünge anthroposophischer Heilpädagogik und Sozialtherapie
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tionen versuchte, Anthroposophie konkret wirksam werden zu lassen (Grimm 2009, 29f.). Nach Grimm lässt sich die Entstehungsgeschichte anthroposophischer Heilpädagogik in einen schulischen, klinischen und lebensgemeinschaftlichen Impuls differenzieren (Grimm 1995, 60). So wurde ab etwa 1922 an der einige Jahre zuvor in Stuttgart begründeten ersten Waldorfschule eine ‚Hilfsklasse ދeingerichtet, in der Kinder mit Behinderungen Förderung erfuhren (Drechsler 2001, 35). Etwa zur gleichen Zeit nahm die Ärztin Ita Wegmann einzelne „entwicklungsbehinderte“ (Pickert 1974, 13) Kinder in ihr kurz zuvor aufgebautes KlinischTherapeutisches Institut, einer Klinik für anthroposophisch erweiterte Medizin, im schweizerischen Arlesheim auf. Fortwährende Anfragen zur weiteren Aufnahme behinderter Kinder führten schließlich dazu, dass später ein gesondertes heilpädagogisches Kinderheim, der Sonnenhof, eingerichtet wurde (Grimm 2009, 30). Aus dem Engagement dreier Jenaer Studenten, Albrecht Strohschein, Franz Löffler und Siegfried Pickert, ging im Jahr 1924 schließlich die erste eigenständige heilpädagogische Einrichtung anthroposophischer Prägung, das ‚Heil- und Erziehungsinstitut Lauenstein ދhervor: „Mit der Begründung des Heilund Erziehungsinstitutes setzte dann die eigentliche Entwicklung der anthroposophischen Heilpädagogik ein“ (Grimm 2008a, 30). Wurde zunächst versucht, die von Johannes Trüper begründete reformpädagogische Einrichtung ‚Sophienhöhe ދnach anthroposophischen Gesichtspunkten umzugestalten, so stellte sich diese Idee jedoch bald als nicht umsetzbar heraus (Grimm 2008a, 30f.). Die Vorbehalte innerhalb der dortigen Ärzteschaft gegenüber einem weniger medizinisch geprägten Blick auf die behinderten Kinder waren zu groß: „Es regte sich aber der Widerstand bei den medizinischen Autoritäten. Die wollten verhindern, dass ausserhalb ihrer Einflusssphäre sich anderes entfaltete“ (Pickert 1991, 11). Somit war eine weitere anthroposophische Arbeit im vorhandenen Rahmen alsbald nicht mehr möglich: „In ganz kurzer Zeit kam es so heraus, dass man den neuen jungen Wein nicht in den alten Schläuchen bewahren konnte“ (ebd.). Nach Rücksprache mit Rudolf Steiner – der immer wieder für Gespräche zur Verfügung stand – wurde sodann mit dem Aufbau einer eigenen Einrichtung begonnen. Im Rahmen eines der Gespräche kündigte Steiner seinen Besuch in Jena an. Diese von den Gründern als „Geschenk eines ganzen Arbeitstages“ (Pickert 1991, 13) erlebte Visite gab Steiner im Juni 1924 die Gelegenheit, die dort lebenden Kinder kennenzulernen und konkrete Ratschläge für die heilpädagogische Arbeit zu erteilen (Strohschein 1967, 216). Während dieses Besuches kam es zur Prägung einer neuen Begrifflichkeit für die Arbeit mit behinderten Menschen. Zunächst von den drei Begründern unter dem Titel ‚Heim für pathologische und epileptische Kinder ދzu führen
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3 Grundzüge anthroposophischer Sozialtherapie
gedacht, hatte Steiner eine andere Benennung für die im Aufbau befindliche Organisation im Sinn. So erinnert sich Strohschein: „‚Neinދ, entgegnete Dr. Steiner, ‚es muss schon aus dem Titel ersichtlich sein, was dort geschieht. ދIch schaute ihn fragend an, worauf er sagte: ‚Heil- und Erziehungsinstitut für Seelenpflege-bedürftige Kinderދ. Noch immer schaute ich ihn fragend an, ich verstand die neuen Worte nicht recht, zückte aber mein Notizbuch und nun diktierte er mir Wort für Wort: ‚Seelenpflege groß geschrieben, bedürftige klein … ދUnd fügte hinzu: ‚Wir müssen schon einen Namen wählen, der die Kinder nicht gleich abstempelt( “ދStrohschein 1967, 216f.). Bis zum heutigen Tage besitzt – wenn auch nicht mehr durchgängig verwendet – der Terminus ‚Seelenpflegeދ große Relevanz innerhalb der anthroposophischen Behindertenhilfe (Grimm 2008a, 34). 7 Im März 1925 wurde die Einrichtung auch offiziell konzessioniert. Zusammen mit den Mitarbeitern war das Institut für 25 Personen ausgelegt: „Das war damals natürlich selbstverständlich so vorgesehen, dass die Heilpädagogen mitten dazwischen wohnen wollten“ (Pickert 1991, 13). War mit den bestehenden Formen heilpädagogischer Arbeit eine praktische Grundlage anthroposophisch basierter Behindertenhilfe vorhanden, so fehlte jedoch ein theoretisches Fundament. Dieses legte Steiner mit dem 1924 vor Ärzten und Heilpädagogen gehaltenen Vorträgen des ‚Heilpädagogischen Kursesދ (Steiner 1985) und gab somit in seinem letzten Lebensjahr entscheidende Impulse für deren weitere Entwicklung (Heinrich 1997, 50). Kontakte zu Menschen mit Behinderungen sowie Anknüpfungspunkte an heilpädagogisches Handeln hatte Steiner allerdings bereits vor dieser Zeit. Neben Begegnungen mit behinderten Menschen in seiner Kindheit und Jugend – so hatte er etwa einen gehörlosen Bruder – waren hier insbesondere Erfahrungen von Bedeutung, die er während seiner Studienzeit sammelte. So erteilte er einem Jungen mit Hydrozephalus als Hauslehrer mehrere Jahre Unterricht (Limbrunner 1993, 29f.; Grimm 1995, 59) und erlebte diese Zeit als prägend für seine Biographie: „Ich muss dem Schicksal dankbar sein, daß es mich in ein solches Lebensverhältnis gebracht hat. Denn ich erwarb mir dadurch auf lebendige Art eine Erkenntnis der Menschenwesenheit, von der ich glaube, daß sie so lebendig auf einem anderen Wege von mir nicht hätte erworben werden können“ (Steiner 1982, 106). Der Impuls der ersten Gründungen heilpädagogischer Einrichtungen wirkte nachhaltig, so dass in den folgenden Jahren eine Vielzahl weiterer Organisationen entstand. Zwar war ein gemeinsam geteilter Erfahrungs- und Wissensschatz 7
Die praktische Erfahrung aus den vier an dieser Studie beteiligten Lebensgemeinschaften zeigt allerdings, dass in der Kommunikation mit mir in erster Linie von ‚Bewohnern ދoder ‚Betreuten ދbzw. ‚betreuten – ދzum Teil auch ,behinderten – ދ,Menschen ދgesprochen wurde.
3.1 Ursprünge anthroposophischer Heilpädagogik und Sozialtherapie
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hinsichtlich heilpädagogischer Lebens- und Bildungsformen zunächst nur partiell vorhanden, „ein wichtiges Kennzeichen bestand jedoch von Anfang an im interdisziplinären Charakter der Arbeit, die gemeinsam von Pädagogen, Ärzten, Therapeuten und Künstlern getragen wurde und für die betreuten und begleiteten Menschen ein hohes Maß an Ganzheitlichkeit erbrachte“ (Grimm 2008a, 35). Der Phase des Aufbaus wurde durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten allerdings ein Ende bereitet. Die anthroposophischen Einrichtungen in Deutschland gerieten unter politischen Druck, fast alle Heime und Schulen mussten geschlossen werden.8 Die Entfaltung der anthroposophisch begründeten Arbeit mit behinderten Menschen wurde in anderen Ländern fortgesetzt (Limbrunner 1993, 31). Im Zuge dieser Entwicklung kamen wesentliche Impulse für die anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie insbesondere aus dem Kontext der zu dieser Zeit im angelsächsischen Raum entstehenden Camphill-Bewegung. Eng verknüpft ist diese mit dem österreichischem Arzt und Heilpädagogen Karl König (1902-1966). Zunächst in Wien als Arzt praktizierend, hatte König im Sonnenhof sowie im anthroposophischen Heil- und Erziehungsinstitut Pilgramshain in Schlesien gearbeitet. Wie weitere jüdische Weggefährten, flüchtete König vor dem nationalsozialistischen Regime und lebte seit 1938 in England (Bock 1991, 33ff.; Heinrich 1997, 50). Mit anderen Emigranten initiierte er 1940 in der Nähe von Aberdeen/Schottland eine Heimschulgemeinschaft, in der Mitarbeiter mit den geistig behinderten Schülern zusammen lebten (Buchka 2003a, 263)9. Weitere Gründungen heilpädagogischer Gemeinschaften schlossen sich an – bald auch über Schottland hinaus. Neben der Unterstützung behinderter Menschen verfolgte König das Ziel, auf Basis der Anthroposophie grundlegende gesellschaftliche Anstöße für neue Formen menschlichen Zusammenlebens zu geben: „Heilpädagogische Gemeinschaften waren für König nicht nur zur Betreuung und Förderung von Menschen mit Behinderungen da. Sie waren auch der Anlass zur Bildung von Gemeinschaften, in denen Menschen unterschiedlicher Möglichkeiten und Begrenzungen zusammen Gemeinwesen bildeten, in welchen die Kultur der europäischen Geistesgeschichte, ein spirituelles Christentum und ein auf Brüderlichkeit fundiertes Arbeitsleben durch Anthroposophie erneuert werden sollten“ (Grimm 2008a, 37). Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde in Deutschland die Arbeit zumindest in der neu gegründeten Bundesrepublik wieder aufgenommen. Wäh8 9
Zur anthroposophischen Heilpädagogik während der Zeit des Nationalsozialismus vgl. Edlund (2005) und van der Locht (2008; 2009). Den Namen ‚Camphill ދgab sich die Initiative aufgrund des Namens des Anwesens, in das diese im Jahre 1940 – nach Anfängen in einem ehemaligen Pfarrhaus – übersiedelte (Bock 1991, 33).
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3 Grundzüge anthroposophischer Sozialtherapie
rend hier eine Phase der Neugründungen und Expansion einsetzte, waren dementsprechende Entfaltungsmöglichkeiten in der sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR nicht gegeben. Wie in der Nazizeit galt die anthroposophische Bewegung auch hier als mit der herrschenden Ideologie unvereinbar (ebd.). Vor allem durch das Wirken Königs und der Camphill-Bewegung entstanden in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre erste Einrichtungen für erwachsene Menschen mit Behinderung. Die ‚Dorfgemeinschaft ދals Modell des gemeinsamen Lebens und Arbeitens von erwachsenen Menschen mit und ohne Behinderung war geboren (Bock 1991, 39; Buchka 2003a, 263). Dabei verstanden sich diese Lebensformen zum einen als Alternative zum damals üblichen Anstaltswesen, zum anderen zielten sie – in Abgrenzung zur Heilpädagogik – auf eine erwachsenengemäße Unterstützung behinderter Menschen: „Die ‚Dorfgemeinschaft – ދals Gegenmodell zur noch vorherrschenden Anstaltsunterbringung – wurde als kulturelle Lebensform entwickelt, vor allem aber das Paradigma, dass Erwachsene nicht mehr heilpädagogisch zu betreuen, sondern als Persönlichkeiten in ihrem So-Sein zu respektieren seien“ (Grimm 2008a, 38). Nach Buchka strebte König in diesem Sinne an, „eine dorfähnliche Gemeinschaft zu inszenieren, in der behinderte und nichtbehinderte Menschen gemeinsam einen Lebensstil entwickelten, der erwachsenengerecht und partnerschaftlich sein sollte. Für das Leben, in dem von behinderten und nichtbehinderten Menschen gebildeten Dorf, hatte er als Strukturprinzip die Gemeinschaft vorgesehen. Sie stellt sich als Bildungs- und Kulturgemeinschaft, Lebens- und Wohngemeinschaft sowie Arbeits- und Ökonomiegemeinschaft dar“ (Buchka 2003a, 263). Mitte der 1960er Jahre fand dieses Prinzip mit Gründung der Camphill-Dorfgemeinschaft Lehenhof auch in Deutschland eine erste Verortung (ebd.). Mit Gründung der Camphill-Gemeinschaften für erwachsene Menschen mit Behinderung setzte Karl König somit einen wesentlichen Grundpfeiler für die anthroposophische Sozialtherapie. Rückblickend konnte König – so Bock – „seine Vision einer Gemeinschaft zusammen mit behinderten Menschen als verwirklicht ansehen, als er im März 1966 starb. Er hatte die Ausbreitung der Bewegung von zentraler Stelle aus geleitet und sie in eine dezentralisierte Unabhängigkeit geführt, wo die gegenseitigen Beziehungen im Sinne der Brüderlichkeit gepflegt wurden“ (Bock 1991, 46ff.). Seit den bescheidenen Anfängen vor über 80 Jahren hat die anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie im Laufe der Jahre globale Verbreitung gefunden. Heute existieren weltweit mehr als 600 Einrichtungen und Dienste für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in 45 Ländern (Grimm/Kaschubowski 2008, 14). Im Bereich der Hilfen für erwachsene Menschen mit Behinderungen haben in letzten Jahren vielschichtige Differenzierungsprozesse dazu geführt, dass „Sozialtherapie ein Oberbegriff für eine Vielzahl an unterschiedlichen An-
3.2 Anthropologische Basis und Behinderungsverständnis
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geboten geworden ist“ (Grimm/Schmalenbach/Büchner 2004, 4). So sind neben Organisationen, die sich in der Tradition der ersten Einrichtungen als ‚Dorfgemeinschaften ދverstehen, zwischenzeitlich etwa auch Gemeinschaften in einem urbanen Umfeld (‚Stadtgemeinschaften)ދ, dezentral organisierte Hofgemeinschaften, Wohnheime, ambulant betreutes Wohnen, Arbeitsplätze innerhalb und außerhalb von Werkstätten sowie Angebote der Erwachsenenbildung entstanden. Dabei richten sich sozialtherapeutische Einrichtungen hinsichtlich Art und Quantität des Unterstützungsbedarfs an ganz unterschiedliche Menschen mit Behinderungen (Grimm/Schmalenbach/Büchner 2004, 5ff.). Neben den Einrichtungen, die sich explizit auf die Ideen Königs und seiner Mitstreiter berufen, haben sich inzwischen auch zahlreiche sozialtherapeutische Lebensgemeinschaften gebildet, die nicht Teil der Camphill-Bewegung sind. Nach Abschottungstendenzen in den ersten Jahrzehnten, die von einer gewissen „Burgenmentalität“ gekennzeichnet waren (Grimm 2009, 37) und zum Teil fehlende Verknüpfungen mit der Fachwelt außerhalb anthroposophischer Zusammenhänge zur Folge hatten, gibt es mittlerweile vielfältige Dialoge zwischen anthroposophischer und nicht-anthroposophischer Behindertenhilfe sowie eine zunehmend aktive Auseinandersetzung mit den Herausforderungen aktueller behindertenpolitischer Strömungen (vgl. dazu exemplarisch Grimm/Kaschubowski 1998; Lorenz 2002; Siegel-Holz 2009). Wenngleich in Deutschland über den Verband für anthroposophische Heilpädagogik, Sozialtherapie und soziale Arbeit e.V. verknüpft sowie über die Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie mit Sitz in Dornach/Schweiz international vernetzt, sind die einzelnen Organisationen unabhängig und selbstverwaltet. Die Ausbildung bzw. Fortbildung von Mitarbeitern wird in der Regel durch eigene – in vielen Fällen staatlich anerkannte – Fach- und Hochschulen vorgenommen. 3.2 Anthropologische Basis und Behinderungsverständnis 3.2 Anthropologische Basis und Behinderungsverständnis Wesentliche, für das spezifische Verständnis von Behinderung relevante Aspekte der anthroposophischen Anthropologie – bei Steiner als Menschenkunde bezeichnet – lege ich nachfolgend in pointierter Weise dar. Nach Limbrunner „(strebt) Anthroposophie auf der Basis christlich geprägter Geistigkeit eine ganzheitliche, die spirituelle Dimension bewusst einbeziehende, Wirklichkeitserkenntnis an“ (Limbrunner 1995, 15f.). Zentral ist dabei der Gedanke, dass über einen meditativen Schulungsweg Fähigkeiten ausgebildet werden, um in der ‚geistigen Welt ދzu Erkenntnissen zu gelangen. „Als ‚geistige Welt ދbezeichnet Steiner in umfassender Bedeutung den leiblichen Sinnen nicht
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3 Grundzüge anthroposophischer Sozialtherapie
zugängliche Bereiche der Wirklichkeit als einen jenseits der physischen Welt liegenden vielfach gestuften Kosmos (Schwarte 1998, 595). Insofern ist das menschliche Individuum ohne Einbeziehung des Kosmischen nicht zu begreifen; der Mensch wird als in „übermaterielle Zusammenhänge, in ein göttlichgeistiges Weltgefüge“ (Zeller 1978, 20) integriertes Wesen verstanden. Dabei geht Steiner von einer „Wechselwirkung zwischen Mensch und Kosmos“ aus: „So wie die kosmischen Gesetze ihre Wirksamkeit auf den Menschen entfalten, so wirken auch die menschlichen Taten, das heißt das Tun jedes Einzelnen, wiederum auf die Entwicklung des Kosmossystems zurück“ (Zeller 1978, 21). In der anthroposophischen Anthropologie wird in Anknüpfung an die griechische und christliche Antike von einem trichotomen Menschenverständnis und somit von einer Dreigliederung des Menschen in Leib, Seele und Geist ausgegangen (Schwarte 1998, 595). Nach Steiner ist „der Mensch Bürger dreier Welten. Durch seinen Leib gehört er der Welt an, die er auch mit seinem Leibe wahrnimmt; durch seine Seele baut er sich seine eigene Welt auf; durch seinen Geist offenbart sich ihm eine Welt, die über die beiden anderen erhaben ist“ (Steiner 1978, 23; Hervorhebung im Original). Innerhalb der Anthroposophie findet eine Auseinandersetzung mit diesen drei Organisationen des Menschen hinsichtlich ihrer jeweiligen Besonderheiten, ihrer Beziehungen untereinander, mit Blick auf Transzendenz und Reinkarnation sowie ihrer Historizität statt. Abhängig von der Differenziertheit der Betrachtung wird auch eine Viergliedrigkeit oder sogar eine Zwölfgliedrigkeit des Menschen angenommen (Buchka 2008, 306). Entsprechend der Intention dieses Kapitels genügt es, die Viergliedrigkeit zu thematisieren, um einen Eindruck von der anthroposophischen Sicht auf Behinderungen zu erhalten. In diesem Sinne kann zwischen physischem Leib, Lebens- oder Ätherleib, Empfindungs- bzw. Astralleib sowie dem Ich unterschieden werden. Steiner spricht hier von den ‚menschlichen Wesensgliedernދ. Die einzelnen Wesensglieder werden auch als ‚Hülle ދbezeichnet (Buchka 2008, 307). Der physische Leib des Menschen ist sein sichtbarer Körper. Er wird aus den mineralischen Stoffen der Welt gebildet. Somit ist er auch den Gesetzen der stofflichen Welt unterworfen und damit endlich – er löst sich nach dem Tod wieder auf. Von den Wesensgliedern ist nur der physische Leib für die unmittelbare Beobachtung zugänglich (Grimm 1995, 67). Drei Gliederungssysteme wirken in ihm: das Nerven-Sinnes-System als physische Grundlage des Denkens, das auch als rhythmisches System bezeichnete Herz-Kreislauf-Atmungssystem als organische Basis des Fühlens sowie das Stoffwechsel-Bewegungs-System (auch Stoffwechsel-Gliedmaßen-System genannt) als leibliches Fundament des Wollens (Buchka 2008, 308).
3.2 Anthropologische Basis und Behinderungsverständnis
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Erst durch den Äther- oder Lebensleib findet die „leblose Natur im Menschen“ (Grimm 1995, 67) allerdings zu ihrer lebendigen Form. Nach Steiner ist der Ätherleib „der Erbauer und Bildner des physischen Leibes, dessen Bewohner und Architekt“ (Steiner 1987a, 315). Der Ätherleib nimmt die Aufgabe der Gestaltbildung wahr und ermöglicht erst Leben, Wachstum und Fortpflanzung des menschlichen Wesens (Grimm 1995, 67). Daher wird in diesem Zusammenhang auch die Bezeichnung ‚Bildekräfte-Leib ދverwendet (Sturny-Bossart 1996, 25). In seiner Funktion als Hülle für die Lebensprozesse beinhaltet der Ätherleib die rhythmischen Kräfte des Menschen. Somit steht er in enger Beziehung zu den rhythmischen Körperprozessen. Rhythmen wirken insofern „stärkend auf den Ätherleib. Rhythmen und die Berücksichtigung von rhythmischen Gesetzmäßigkeiten in der Behandlung sind Kernpunkte der anthroposophischen Methode“ (Klimm 1980, 20). Der Astralleib bezieht sich auf die seelischen Aspekte des Menschen. Somit „(ist) er der Träger von Schmerz und Lust, von Trieb, Begierde und Leidenschaft usw. Alles dieses hat ein Wesen nicht, welches bloß aus physischem Leib und Ätherleib besteht. Man kann alles das Genannte zusammenfassen unter dem Ausdrucke: Empfindung.“ (Steiner 1987a, 315). Seelische Erfahrungen werden somit erst durch den Astralleib möglich. Aufgrund der beschriebenen Funktionen findet teilweise auch der Begriff ‚Seelenleib ދoder ‚Empfindungsleib ދVerwendung (Steiner 1987a, 315; Grimm 1995, 67). Über den Astralleib ist es dem Mensch möglich, sich als ein Innenwesen auszugestalten, „das auf die Erscheinungen der Welt einerseits und auf die Antriebe, die aus seinem physischätherischen Wesen stammen, mit Empfindungen, Trieben, Gefühlen und Gedanken antwortet“ (Grimm 1995, 67). Der Mensch wird dadurch ein aus innerseelischen Motiven heraus handelndes, die Welt formendes und veränderndes Wesen (ebd.). Als seelische Grundkräfte sind ‚Vorstellenދ, ‚Fühlen ދund ‚Wollen ދmit dem Astralleib verbunden. Die Vorstellungskraft stellt über das Gehirn eine Beziehung des Seelischen zur äußeren Welt her – durch Sinneseindrücke seiner Außenwelt wird der Mensch angeregt, Vorstellungen zu entwickeln. „So beruht die Gegenstandswahrnehmung des kleinen Kindes – in Gang gesetzt durch die Wahrnehmung von Gegenständen aus seiner Umgebung – auf der vorstellenden Seelentätigkeit“ (Sturny-Bossart 1996, 26). Die Gefühle speisen sich aus Wahrnehmungen, Vorstellungen und Gedanken. Der Wille als dritte Grundkraft entsteht immerfort aus sich selbst heraus aufs Neue (ebd.). Das Ich wird in der Anthroposophie als höchstes Wesenglied, als geistiger Wesenskern des Menschen angesehen: „Das Ich, als menschlicher Wesenskern, hat innerhalb dieses Organismus die Aufgabe, als der eigentliche Regent zu wirken“ (Grimm 1995, 67). Es wird verstanden als die geistige Individualität des Menschen. Die anderen Wesensglieder sind im bildlichen Sinne als Umhüllung
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dieses Wesenkerns zu sehen (Sturny-Bossart 1996, 27). Der Mensch fasst in seinem Ich all das zusammen, was er als leibliches und seelisches Wesen erfährt (Steiner 1978, 39). Die hohe Stellung des Ich innerhalb des menschlichen Gefüges wird insbesondere im Verhältnis zu den anderen Wesensgliedern deutlich: „Werden durch den Ätherleib die Lebensprozesse bewirkt, durch den Astralleib Bewußtseinskräfte gebildet, so kommt der Mensch in seiner Ich-Organisation zum Selbstbewusstsein, zur Fähigkeit also, sich selbst zu reflektieren, aber auch sich in der Dauer zu erleben und sein Handeln selbstbestimmt zu führen“ (Grimm 1995, 67). Sowohl das Ich als auch die anderen Wesensglieder befinden sich in stetiger Entwicklung. In diesem Zusammenhang wird von Prozessen der Selbsterziehung ausgegangen, bei dem das Ich auf die Wesensglieder verwandelnd und erweiternd einwirkt. Insbesondere mittels innerer Übung soll somit ein Ich-Prozess in Gang gesetzt werden, durch den dem „eigenen leiblich-seelischen Wesen Neues eingepflanzt“ (Grimm 1995, 68) wird. Ein von Steiner zu diesem Zwecke entwickelter meditativer Schulungsweg soll dazu befähigen, diesen als Individualisierungs- und Freiheitsprozess betrachteten Vorgang zu durchlaufen (ebd., vgl. auch Steiner 1963; 1978). Entsprechend der anthroposophischen Anthropologie gehört das Ich zudem einer „Welt der Dauer“ (Sturny-Bossart 1996, 27) an und besteht daher auch über den Tod hinaus. Daher ist es unmittelbar mit der innerhalb der anthroposophischen Anthropologie vertretenen Annahme der Reinkarnation verknüpft: „Innerhalb des anthroposophischen Menschenverständnisses wird der Mensch als eine über Vererbung und Umwelteinflüsse hinaus unabhängig bestehende Individualität aufgefasst. Vererbungskräfte und Umwelteinflüsse bilden vielmehr die bedingenden Momente, an denen er seine Individualität zum Ausdruck und zur Entwicklung bringen kann“ (Grimm 1995, 63). Vor dem Hintergrund, dass der Mensch als ein primäres Geistwesen betrachtet wird, „das sich leiblich mit seinem Vererbungsstrom, seelisch mit den Einflüssen seiner Umwelt auseinandersetzen muß, das aber nicht aus ihnen resultiert“ (Grimm 1995, 76), wird dem Ich – auch im Falle von Krankheiten oder Behinderungen – Unverletzlichkeit zugeschrieben: „Der Geist ist intakt, er hat lediglich in diesem Leben nicht den Leib zur Verfügung, sich in anderer Weise darzustellen“ (Kaschubowski 1998, 128). Somit kann nur die Leiborganisation geschädigt oder funktionsbehindert sein, was sich etwa durch eine Beeinträchtigung der Sprache, Bewegung, Wahrnehmung oder Kognition ausdrückt (Buchka 2008, 302f.). Ausgehend vom Idealfall fügen sich das Leibliche sowie das Geistig-Seelische des Individuums im Laufe der menschlichen Entwicklung zu einer Ganzheit zusammen: „Dieser Schritt, der die Verbindung eines geistig-seelischen Wesens
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mit einer leiblich-physischen und zugleich mitmenschlich-sozialen Wirklichkeit umfaßt, wird von Steiner als Inkarnation bezeichnet. Es ist dies kein einfaches, lineares Geschehen, sondern es handelt sich hierbei um einen Anpassungs- und Auseinandersetzungsprozeß für das jeweilige Menschenwesen, innerhalb welchem es sich in jahrelanger Umarbeitung den ihm zugekommenen Leib zu eigen machen muß, seinen vererbten Modelleib zu individualisieren hat“ (Grimm 1995, 64). Die dadurch bestehende Entwicklung des Menschen vollzieht sich nach Steiner in Schritten von jeweils sieben Jahren, den sogenannten Jahrsiebten. Anhand dieser zeitlichen Struktur werden Übergänge und graduelle Umgestaltungen dargestellt. Dabei vollziehen sich die Veränderungen nicht starr abgestuft, sondern metamorphosisch (ebd.). Eine Behinderung respektive Seelenpflegebedürftigkeit entsteht aus anthroposophischer Perspektive nun, wenn es – etwa bedingt durch eine beeinträchtigte Leiborganisation – zu einer gestörten Verbindung zwischen Leib sowie Seele und Geist und infolgedessen zu einem gestörten Inkarnationsvorgang kommt. Daher wird hier auch von einer „Inkarnationsstörung“ (Klimm 1980, 11) gesprochen. Eine geistige Behinderung – dieses wurde bereits sichtbar – kann es aus diesem Verständnis heraus nicht geben: „Der Geist kann nicht erkranken; er ist unversehrt, aber er vermag sich durch das gestörte Instrument des Leibes nur unvollkommen zu äußern“ (Holtzapfel 2003, 154). Seelenpflege als Begriff und Aktivität zielt nun in erster Linie darauf, die gegebenen Disharmonien harmonisierend zu beeinflussen: „Zwischen Leib und Geist vermittelt die Seele. Von hier aus kann das gestörte Verhältnis reguliert werden, eben durch die Pflege des Seelischen. Ein gepflegtes Seelenleben veredelt dann auch die Leiblichkeit und macht sie geneigter, sich für das Geistige aufzuschließen. Auf der anderen Seite wirkt die gepflegte Seele anziehend auf den Geist und ebnet ihm die Wege, auf denen er bis in den Leib hineingreifen kann“ (ebd.). Um ein harmonisches Ineinanderwirken zwischen geistig-seelischen und leiblich-physischen Teilen des Individuums zu ermöglichen, werden beispielsweise eine therapeutisch wirkende Um- und Mitwelt, künstlerische Anregungen, die einen therapeutischen Einfluss auf die seelische Organisation ausüben sowie leiborientierte Förderungen vor allem in den Bereichen Bewegung und Wahrnehmung, „die therapeutisch dazu dienen, den Leib zu einem etwas besseren Instrument der Seele-Geist-Organisation werden zu lassen“ (Buchka 2008, 304), als hilfreich angesehen. Angesichts der Annahme eines unverletzlichen geistigen Wesenskerns des Menschen setzen seelenpflegerische Maßnahmen dabei nicht bei den wahrnehmbaren Defiziten bzw. Beeinträchtigungen an: „Nicht die Behinderung und die damit verbundenen Einschränkungen und Unmöglichkeiten sind der Ausgangspunkt heilpädagogischer Wirksamkeit, sondern die Orientierung am individuellen Potenzial des Menschen, seiner Individualität“ (Fischer 2005, 17). Im Hinblick darauf,
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dass aus anthroposophischer Sicht jeder Mensch mit dem Inkarnationsprozess konfrontiert ist und sich folglich mit der Harmonisierung seiner leiblichen Konstitution mit dem Seelisch-Geistigen auseinandersetzen muss, ist Seelenpflege indes keine Einbahnstraße, die nur für sogenannte Seelenpflege-bedürftige Menschen vonnöten ist. Sie stellt sich vielmehr als individuelle Entwicklungsaufgabe eines jeden Individuums, die der Anregung durch andere Menschen bedarf. Auf dieser Ebene wird eine Begegnung zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen auf Augenhöhe möglich (Müller-Wiedemann 1981, 339f.; Buchka 2008, 304f.). Wie bereits deutlich wurde, ist der Gedanke der Wiedergeburt (Reinkarnation) innerhalb der anthroposophischen Menschenkunde essentiell. So ist der geistige Wesenskern – das Ich des Menschen – über verschiedene Verkörperungen hinweg unverletzlich vorhanden. Insofern wird von einer vorgeburtlichen geistigen Existenz sowie einer Weiterentwicklung der menschlichen Individualität nach dem Tode ausgegangen. Denn: „… man kann nimmermehr aus dem, was zwischen Geburt und Tod liegt, die menschliche Gestalt erklären.“ (Steiner 1978, 54; Hervorhebung im Original). In diesem Zusammenhang werden aufeinander folgende Inkarnationen, die von Phasen allein geistiger Existenz abgelöst werden, angenommen. Die Abschnitte geistiger Existenz dienen der Aufarbeitung des Erdenlebens (Zeller 1978, 30). Verschiedene Verkörperungen sind nach diesem Verständnis notwendig, um die Entwicklungsaufgabe des Ichs, die „ethische Vervollkommnung“ (Zeller 1978, 30), bewältigen zu können: „Die Entwicklungsaufgabe des Ichs kann nur in einer zeitlichen Aufeinanderfolge verschiedener Verkörperungen eingelöst werden“ (Sturny-Bossart 1996, 22). Durch immer neue Verkörperungen erfolgt somit eine „Höherentwicklung des Menschengeistes“ (Steiner 1987a, 106). Das schicksalhafte Moment jeder Inkarnation wird mit dem Begriff des Karmas umschrieben. Dabei kann eine innere und eine äußere Seite unterschieden werden. Die innere Seite bezieht sich darauf, dass gute und schlechte Taten vergangener Wiederverkörperungen bewahrt werden und in der gegenwärtigen Inkarnation als neues „Lebens- und Bewährungsthema“ (Buchka 2008, 316) offenbar werden. Der äußere Aspekt rekurriert auf die sozialen und umweltlichen Bedingungen, mit denen sich der Mensch konfrontiert sieht und „denen er sich schicksalsmäßig zu stellen hat, um mit Hilfe seiner Ich-Kräfte aus ihrer Bewältigung neues Karma zu schaffen“ (ebd.). Eine Behinderung kann in diesem Sinne als eine sich aus dem Karma ergebende Aufgabe betrachtet werden, die in das nächste Leben hineinreicht. Demgemäß berichtet Pickert von einem Gespräch mit Steiner, in dem dieser darlegte: „Wenn ich nach Stuttgart in die Hilfsklasse komme, da sag ދich mir: hier wird gearbeitet für ein nächstes Erdenleben, ganz unabhängig von dem, was jetzt erreicht werden kann – und das kann recht viel
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sein bei rechter Einsicht und Hingabe“ (Pickert 1991, 10). Der Reinkarnationsgedanke wird allerdings nicht als Vergeltungsideologie verstanden. Demzufolge werden in der aktuellen Verkörperung sich stellende Lebensinhalte nicht als Strafe für Vergangenes, sondern als Chance zur individuellen Entwicklung begriffen: „Vielmehr gibt er [der Wiederverkörperungsgedanke; C.S.10] einem die Möglichkeit, angesichts eigener Fehler und Irrtümer den Impuls zu fassen, diese zu korrigieren und so an der Weiterentwicklung seiner selbst und der Welt zu arbeiten. Nicht das Verhängnisvolle steht im Vordergrund, sondern der freie Wille, aus der gegebenen Situation das Bestmögliche zu machen, was auch für die Mitwelt Bedeutung hat“ (Glöckler 2005, 53). Vor dem Hintergrund, dass in jedem Leben Erfahrungen und Fähigkeiten für die nächste Verkörperung gesammelt werden und somit die Idee der Entwicklungsfähigkeit und Bedeutsamkeit eines jeden Menschen zentral ist, besitzt dieser Ansatz einen existentiellsinnstiftenden Charakter. In Anbetracht dieser Sichtweise kann Seelenpflege als reziproker Prozess gelten. Zum einen wird der behinderte Mensch bei seiner Lebens- und Schicksalsgestaltung unterstützt, damit er – mit Blick auf eine erneute Wiederverkörperung – neue Fähigkeiten ausbilden kann. In dieser Begegnung entwickelt zum anderen aber auch der (nichtbehinderte) Mitmensch die Voraussetzungen für Begabungen, die in weiteren Inkarnationen wirksam werden können (Buchka 2008, 316f.). In Verknüpfung mit der Idee der Dreigliederung des menschlichen Organismus legte Steiner (1976; 1988) im Jahr 1917 die Konzeption einer ‚Dreigliederung des sozialen Organismus ދvor. Diese verstand sich „gleichsam als mitteleuropäisches Programm und Antwort auf die Ideen Wilsons und Lenins“ (Schwarte 1998, 603) und gab Hinweise für eine alternative Konstitution von Staat und Gesellschaft. Die soziale Dreigliederung geht von einer Differenzierung dreier selbständiger Bereiche – dem Geistesleben, dem Rechtsleben und dem Wirtschaftsleben – aus: „Die Dreigliederung des sozialen Organismus verlangte eine Verselbständigung von Wirtschaft und Kultur als von staatlicher Reglementierung unabhängigen gesellschaftlichen Funktionsbereichen und deren Regulation nach Prinzipien, die den unterschiedlichen Leistungen entsprechen, die sie im sozialen Gesamtzusammenhang zu erfüllen haben“ (ebd.). Mit Rückgriff auf die Ideale der Französischen Revolution gelten Freiheit im Geistesleben, Gleichheit im Rechtsleben und Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben als Maximen dieses Ansatzes (Limbrunner 1993, 25). Vor dem Hintergrund einer Kritik am „Einheitsstaate“ – hier nicht verstanden im Sinne einer zentralistischen Staatsform, sondern bezogen auf „die von 10
Im Folgenden werde ich von mir in Zitaten vorgenommene Einfügungen in gleicher Weise kennzeichnen, aus Gründen des Textflusses jedoch ohne mein Namenskürzel.
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Politik und Verwaltung beherrschte Gemengelage wirtschaftlicher, kultureller und staatlicher Kräfte“ (Schwarte 1998, 604) – wollte Steiner den Staat auf die Gesetzgebung, die Sicherung des Rechtes und den Schutz seiner Bürger begrenzt wissen. Im Geistesleben ging Steiner davon aus, hoheitliche Regulation durch das Prinzip der korporativen Selbstverwaltung abzulösen (ebd.). Das Aufdrängen eines vorherrschenden, individuelle Leistungen missachtenden Willens sollte dadurch vermieden werden: „So muß auf geistigem Gebiete die auf den individuellen Fähigkeiten beruhende Einzelinitiative sich sozial auswirken können; sie darf nicht bestimmt werden durch den Inhalt eines Gesamtwillens. Dieser Gesamtwille muß unsozial wirken, denn er entzieht der Gemeinschaft die Früchte der individuellen menschlichen Fähigkeiten. Es gibt keinen anderen Weg, die Früchte dieser individuellen Fähigkeiten zur Entfaltung zu bringen als ihre Selbstverwaltung. Innerhalb dieser Selbstverwaltung kann allein der Zustand eintreten, durch den nicht ein die Fruchtbarkeit der Einzelmenschen für das soziale Leben unterdrückender Gesamtwille entsteht, sondern durch den in das Gesamtleben die menschlichen Einzelleistungen zu dessen Wohle aufgenommen werden“ (Steiner 1988, 282). Zur Gestaltung des Wirtschaftslebens wurde von Steiner eine assoziative Gestaltung vorgeschlagen, in welcher Produzenten und Konsumenten über alle Angelegenheiten der Produktion, Verteilung und Preisgestaltung von Waren und Dienstleistungen gemeinsam entscheiden. Fragen zu Bedingungen des Arbeitslebens wie zum Beispiel nach Einkommen und Arbeitszeit – diese werden nicht als Teil des eigentlichen Wirtschaftslebens betrachtet – sollten durch eine Verknüpfung mit der Rechtsorganisation des sozialen Organismus geregelt werden (Schwarte 1998, 603). Eigentum war nach Steiners Entwurf einer sozialen Dienstbarkeit unterworfen. Geld als auf Dauer angelegte, sich aus sich selbst heraus vermehrende Wertanlage wurde dementsprechend abgelehnt. Ebenso wie Wasser, Licht und Wärme betrachtete Steiner Grund und Boden als Produktionsmittel, die von der Natur geborgt sind. Darauf bezogene Verteilungsfragen sollten daher in einem demokratischen Prozess geregelt werden (Schwarte 1998, 604).11 Obgleich zur Entstehungszeit in Politik, Verwaltung und Kultur zur Kenntnis genommen, fand die Konzeption der Dreigliederung des sozialen Organismus im Großen keine praktische Umsetzung (ebd.). In verschiedenen anthroposo11
Vgl. in diesem Zusammenhang auch das ‚soziale Hauptgesetz ދSteiners, welches besagt: „Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist umso größer, je weniger der einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht, das heißt, je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt, und je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt werden“ (Steiner 1987a, 213).
3.3 Sozialtherapie als Begleitung erwachsener Menschen mit Behinderungen 41 phisch arbeitenden Einrichtungen, so insbesondere in den Waldorfschulen, wurden indes seit Begründung Anstrengungen unternommen, die skizzierten Ideen zumindest partiell zu realisieren. Im Mittelpunkt stand und steht dabei der Gedanke der Selbstverwaltung, in deren Sinne „Schule nicht als staatliche Veranstaltung von Eltern entgegengenommen, sondern als mit Lehrern und Schülen gemeinsam tätig verantwortete Aufgabe ergriffen wird“ (ebd.). In heilpädagogischen bzw. sozialtherapeutischen Einrichtungen wurden – nach den oft von einzelnen Gründungspersönlichkeiten dominierten Anfängen – in den vergangenen Jahrzehnten ebenso verstärkt kollegiale Formen der Zusammenarbeit, der Organisation und Leitung geschaffen: „So gibt es auch in der anthroposophischen Heilpädagogik und Sozialtherapie das Ziel, die pädagogische, kulturelle, therapeutische oder soziale Arbeit möglichst von den Durchführenden selbst zu verantworten, zu organisieren und weiterzuentwickeln“ (Trautwein 2008, 482). Dessen ungeachtet war es beispielsweise erklärte Absicht Karl Königs, in den Camphill-Gemeinschaften, auch über die Selbstverwaltung hinaus, Impulse der sozialen Dreigliederung aufzunehmen (Siegel-Holz 2008, 271). Aber auch in anthroposophischen Einrichtungen, die nicht in der Camphill-Bewegung verankert sind, wurde der Versuch unternommen, Prinzipien der sozialen Dreigliederung im gemeinschaftlichen Zusammenleben behinderter und nichtbehinderter Menschen zu verankern (vgl. z. B. Eisenmeier 1995, 27f.). 3.3 Sozialtherapie als Begleitung erwachsener Menschen mit Behinderungen 3.3 Sozialtherapie als Begleitung erwachsener Menschen mit Behinderungen Seit Anfang der siebziger Jahre findet der Terminus Sozialtherapie zunehmend Verbreitung in der anthroposophisch orientierten Literatur (Drechsler 2001, 37). Er wird dort in erster Linie als Bezeichnung für die Unterstützung erwachsener Menschen mit Behinderungen verwendet, wobei die Personengruppe der geistig und mehrfachbehinderten Menschen die primäre Zielgruppe sozialtherapeutischer Arbeit darstellt. Aber auch in anderen Handlungsfeldern, so etwa in den Bereichen der Sozialpsychiatrie, der Straffälligenhilfe oder Drogentherapie, wird im anthroposophischen Kontext von Sozialtherapie gesprochen (Limbrunner 1993). Die Bezeichnung ‚Sozialtherapie ދist jedoch nicht anthroposophischen Ursprungs. So ist diese vielmehr durch die Psychiatriereform Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt worden und hat seitdem in verschiedenen Zusammenhängen psychosozialer Arbeit – in wenig einheitlicher Verwendung – Gebrauch gefunden (Buchka 2003a, 243f.).
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3 Grundzüge anthroposophischer Sozialtherapie
Im Feld der anthroposophisch geprägten Sozialarbeit liegt keine ausdifferenzierte Begriffsklärung bzw. Theorie zur Soziatherapie vor. Buchka zufolge wird die anthroposophische Sozialtherapie daher vor allem „durch die Abgrenzungen von der Heilpädagogik sowie durch die Unterschiede von professionell Tätigen in der Heilpädagogik und Sozialtherapie bestimmt“ (Buchka 2003a, 253).12 Insofern – so Denger – „(suggeriert) der Sammelbegriff ‚Einrichtung für anthroposophische Sozialtherapie ދeine Einheitlichkeit, die bei genauerem Hinsehen vielfältig differenziert ist und nicht selten auch Formen hervorbringt, die sich zu widersprechen scheinen“ (Denger 1995, 9). Gleichwohl wird nachfolgend der Versuch unternommen, einige grundsätzliche, die verschiedenen Ausprägungsformen sozialtherapeutischer Arbeit mit behinderten Menschen verbindende, Aspekte aufzugreifen. Wie bereits angesprochen, war es Ziel der ersten sozialtherapeutischen Einrichtungen, Lebensgemeinschaften für Erwachsene ins Leben zu rufen, die sich zum einen von der Betreuung und Förderung von Kindern und zum anderen von den institutionalisierten Lebensformen behinderter Menschen in der Mitte des letzten Jahrhunderts unterscheiden sollten. Dabei wurde von einer zusammen von Menschen mit und ohne Behinderungen gestalteten Gemeinschaft ausgegangen (Grimm 2004, 7). Wenn auch nicht überall (mehr) in ursprünglicher Weise praktiziert, so stellt das Modell des gemeinsamen Lebens und Arbeitens behinderter und nichtbehinderter Menschen doch ein konstitutives Merkmal anthroposophischer Sozialtherapie dar. Auf Basis der anthroposophischen Menschenkunde soll das so gebildete soziale Gefüge – der Begriff Sozialtherapie zeigt dieses auf – therapeutisch wirken und zur Gesundung des menschlichen Organismus aller Beteiligten beitragen (Roth 1995, 13). Konkret, so legt Buchka mit Rückgriff auf Hasler und Vierl (1987) dar, bezieht sich dieses etwa auf die Schaffung von Anregungen zur Entwicklung der unverletzlichen geistigen Individualität des Menschen: „Während durch die Heilpädagogik aktiv in die Entwicklung des Kindes und Jugendlichen eingegriffen wird, werden durch Sozialtherapie im Erwachsenenalter nur Bedingungen hergestellt, in denen sich das weitere Lebensschicksal des erwachsenen Menschen entfalten kann und in denen die IchKräfte im sozialen Zusammenhang gestärkt werden können“ (Buchka 1998, 414). In diesem Kontext von gleicher Betroffenheit aller Gemeinschaftsmitglieder ausgehend, gilt – unabhängig von Behinderungen – der Anspruch einer Begegnung auf Augenhöhe aller Individuen als grundsätzliche Maxime sozialtherapeutischer Arbeit, wie dieses bereits Karl König als Prinzip der Camphill12
Diese begriffliche Unschärfe führt auch dazu, dass in der spezifischen Literatur – wie auch in den folgenden Ausführungen an einigen Stellen ersichtlich – zum Teil der Terminus ‚Heilpädagogik ދebenso dann verwendet wird, wenn (auch) auf den sozialtherapeutischen Kontext rekurriert wird.
3.3 Sozialtherapie als Begleitung erwachsener Menschen mit Behinderungen 43 Gemeinschaften formulierte: „Nur die Hilfe von Mensch zu Mensch – die Begegnung von Ich mit Ich – das Gewahrwerden der anderen Individualität, ohne des Nächsten Bekenntnis, Weltanschauung und politische Bindung zu erfragen – sondern einfach das Aug’ in Auge-Blicken zweier Persönlichkeiten, schafft jene Heilpädagogik, die der Bedrohung des innersten Menschseins heilend entgegentritt“ (König 1965 zitiert nach Siegel-Holz 2009, 28). In diesem Sinne verstanden, kann Sozialtherapie auch darauf hindeuten, „dass die Phänomene, die üblicherweise mit ‚Behinderung ދverbunden werden, im konkreten Miteinander eines gemeinsamen Alltags zum Verschwinden gebracht werden können“ (Grimm 2008b, 245). Während angesichts der beschriebenen Zielrichtung ursprünglich vor allem die Pflege des Sozialen im Vordergrund stand, sind mittlerweile auch die individuellen Bedürfnisse behinderter Menschen und eine dementsprechende Begleitung als wesentliche Aufgabe von Sozialtherapie anerkannt (Siegel-Holz 2008, 272f.). Essentiell für die Sozialtherapie ist weiterhin, dass die ersten sozialtherapeutischen Gemeinschaften nicht zuvörderst als Einrichtungen der Behindertenhilfe, sondern als Vielfaltsgemeinschaften konzipiert wurden, von denen Impulse für eine soziale Erneuerung der Gesellschaft ausstrahlen sollten. Wie bereits angedeutet, gehörte so etwa zum Selbstverständnis der Camphill-Gemeinschaften, „… daß diese Dörfer keine Behinderteneinrichtungen sind. Sie wollen auch keine sein. Karl König wurde nicht müde, dies seinen Mitarbeitern und allen, die es hören wollten, immer wieder und wieder unter neuen Gesichtspunkten zu beschreiben und zu erklären. Diese Dörfer sollen Wohnplätze werden für Angehörige einer ‚neuen menschlichen Gesellschaftދ, die seit der letzten Jahrhundertwende, insbesondere aber nach dem 2.Weltkrieg überall in der Welt im Entstehen begriffen ist“ (Barkhoff 1991, 7f.). Mit diesem Grundgedanken verband – und verbindet – sich aber auch der Anspruch, behinderten Menschen Schutz vor als inadäquat empfundenen gesellschaftlichen Lebensbedingungen zu bieten: „Der sozialtherapeutische Binnenraum ist insofern auch ein Gegenentwurf zu den Lebensbedingungen in einer Gesellschaft, in der ein sozialdarwinistisches Denken überhand zu nehmen droht, in dem der Stärkere rücksichtslos über den Schwächeren, der Clevere über den Bewusstseinsschwächeren, der Junge über den Alten dominiert“ (Grimm 2004, 15). Angeregt durch die Ideen der sozialen Dreigliederung Steiners wurde im Zuge der Verwirklichung neuer Formen des sozialen Miteinanders zudem der weit über die ersten Gemeinschaften hinausgehende Versuch unternommen, auf Grundlage einer dem Zeitgeist widersprechenden Definition von Arbeit zu leben: Die ersten Mitarbeiter der Camphill-Bewegung kamen so beispielsweise überein, „daß sie nicht für Bezahlung arbeiten wollen, um nicht der Eigendynamik materiellen Denkens zu verfallen. Sie empfinden einen Widerspruch zwischen dem
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Willen, Gutes zu tun, und einer Arbeit nach Bezahlung im üblichen Sinne. Geld soll Mittel bleiben, um die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, aber nicht Mittel sein, um die Arbeit zu honorieren“ (Siegel-Holz 1995, 21). Anpassungsprozesse insbesondere im Zusammenhang mit der Professionalisierung sozialer Arbeit und einer zunehmenden Verrechtlichung innerhalb des Systems der Behindertenhilfe sowie Entwicklungen der gesellschaftlichen Individualisierung haben in den letzten Jahrzehnten diesbezügliche Realisierungsformen indes deutlich eingeschränkt: „Eine der größten Veränderungen dieser Jahre bestand darin, dass die ursprünglich privat finanzierten Einrichtungen der anthroposophischen Heilpädagogik in einer Reihe von Ländern nun in das staatliche Sozialhilfewesen eingegliedert wurden, d. h. Zuschüsse und ‚Pflegesätze ދerhielten. Die Einrichtungen, die sich immer schon als öffentliche Angebote verstanden hatten, wurden damit für Menschen aus allen Schichten offen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die bis dahin ohne übliche Bezahlung gearbeitet hatten, wurden von Taschengeldempfängern nun zu tariflich eingestuften Gehaltsempfängern. Die größere Zahl an Einrichtungen und der damit verbundene höhere Bedarf an Mitarbeitenden bewirkten, dass anthroposophische Heilpädagogik nicht mehr nur aus Idealismus, sondern auch als Brotberuf ausgeübt wurde“ (Grimm 2008a, 39). ‚Lebenދ, ‚Arbeit ދund ‚Kultur – ދmit diesen Schlagworten können die drei grundlegenden Elemente sozialtherapeutischer Gemeinschaften gekennzeichnet werden. Dabei werden unter dem Oberbegriff ‚Leben ދArbeit und Kultur als zwei – miteinander verknüpfte – Aspekte des menschlichen Seins gefasst. Eine aktive Partizipation am Arbeits- und Kulturleben soll zum einen dazu beitragen, (seelische) Einseitigkeiten zu vermeiden oder zu überwinden. Zum anderen sollen durch das Erzeugen sinnvoller Produkte bzw. das Gestalten von Kultur Prozesse der Eigenwirksamkeit erlebbar gemacht und damit das Selbstwertgefühl gestärkt werden (Drechsler 2008, 404ff.). Hierbei besteht der Anspruch, dass alle Gemeinschaftsmitglieder – unabhängig von der Höhe möglicher Unterstützungsbedarfe – am kulturellen und arbeitsbezogenen Leben teilnehmen können: „Es ist weniger relevant, wie viel der Einzelne quantitativ zum Gemeinschaftsleben beiträgt; entscheidender ist sein Da-Sein als Person und Persönlichkeit. Jeder Mensch, auch der, der mit schwersten Behinderungen lebt, gibt der Gemeinschaft, in der er lebt, eine ganz besondere Ausprägung, die nur durch ihn und durch niemand anderes entstehen kann“ (Drechsler 2008, 404). Im Arbeitsleben sind sozialtherapeutische Einrichtungen üblicherweise stark von handwerklichen Werkstätten geprägt. Nicht zuletzt stellt auch die Landwirtschaft in vielen Fällen einen integrativen Bestandteil des Gemeinschaftslebens dar. In der Regel werden die hergestellten Güter auch außerhalb der Gemeinschaften verkauft, aber – beispielsweise in Bezug auf Lebensmittel – ebenso zur eigenen Versorgung genutzt.
3.3 Sozialtherapie als Begleitung erwachsener Menschen mit Behinderungen 45 Im Bereich der Kultur besitzen u. a. Theateraufführungen, Musik oder Vorträge große Relevanz. Kulturelle Angebote spielen sich dabei vielfach innerhalb der Einrichtungen ab und werden von den Gemeinschaftsmitgliedern nicht nur in der Rolle des Rezipienten, sondern als aktive Gestalter wahrgenommen. Zudem nimmt das religiöse Leben eine herausgehobene Rolle ein. Dabei „sind anthroposophisch orientierte Gemeinschaften keine kirchlichen Einrichtungen, haben aber eine explizit christliche Grundorientierung“ (Drechsler 2008, 411). Spezielle künstlerische Therapien sowie aus der anthroposophischen Medizin entwickelte Anwendungen runden das sozialtherapeutische Spektrum ab. Dabei wird angestrebt, „in salutogentischem Sinn zu wirken, d. h. die vorhandenen Ressourcen für die Entwicklung und das gesundheitliche Wohlergehen von Menschen mit Behinderungen zu aktivieren“ (Schädel 2008, 363).
4 Forschungsdesign und Verlauf der Studie 4 Forschungsdesign und Verlauf der Studie
„Drum frisch! Laß alles Sinnen sein, Und grad mit in die Welt hinein! Ich sagҲ es dir, ein Kerl, der spekuliert, Ist wie ein Tier auf dürrer Heide, Von einem bösen Geist herumgeführt. Und ringsherum liegt schöne grüne Weide“ (Goethe, Faust I, Studierzimmer).13 In dieser an qualitativen Verfahren orientierten Studie stehen sozialtherapeutische Lebensgemeinschaften und somit ein Gegenstand im Fokus, der bisher nur wenig erforscht ist. Insofern handelt es sich um eine Untersuchung mit explorativem Charakter. Ziel war es, sich dem Gefüge ‚sozialtherapeutische Lebensgemeinschaft ދforschend zuzuwenden, wesentliche Komplexe des gemeinschaftlichen Lebens im Sinne einer „dichten Beschreibung“ (Geertz 1987) darzulegen und diese reflexiv zu untermauern. Demzufolge bilden nicht Analyse und Bewertung, sondern vor allem Beschreibung und Einordnung den Mittelpunkt dieser Arbeit. Auch wurde nicht die Absicht verfolgt, einen systematischen Vergleich von verschiedenen Lebensgemeinschaften vorzunehmen. Vielmehr habe ich den Versuch unternommen, das Spektrum des sich mir darbietenden Geschehens herauszuarbeiten. Ein expliziter Vergleich mit nicht-anthroposophischen Einrichtungen der Behindertenhilfe findet ebenso nicht statt.14 Als Handlungsrahmen dieser Studie dienten Methoden der ethnographischen Feldforschung, mit deren Hilfe ich mich dem Alltagsleben innerhalb vier sozialtherapeutischer Gemeinschaften zunächst sehr offen, dann unter spezielleren Blickwinkeln, angenähert habe. Im Zentrum der während zweier mehrtägiger Feldphasen stattfindenden Erhebungen standen die von mir wahrgenommenen Phänomene sowie die aus Gesprächen und Interviews gewonnenen subjektiven 13 14
Zitiert nach Girtler 2003, 207. Ausgehend von seinen eigenen Erfahrungen kann der Leser den Bezug zu anderen Feldern der Behindertenhilfe jedoch selbst herstellen. Hinsichtlich dieser Vorgehensweise können etliche Studien der Feldforschung als Referenz genommen werden. So werden beispielsweise auch in der mittlerweile im Rang eines Klassikers stehenden Studie ‚Die Arbeitslosen von Marienthalދ (Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1975) keine soziographischen Vergleiche mit anderen Bevölkerungsgruppen vorgenommen. Und auch die ethnologischen Arbeiten von Malinowski – vgl. z. B. seine als Hauptwerk geltende Studie ‚Argonauten des westlichen Pazifik( ދ1979) – verzichten auf einen expliziten Vergleich mit anderen Kulturen.
C. Stamm, Anthroposophische Sozialtherapie im Spiegel ausgewählter Lebensgemeinschaften, DOI 10.1007/978-3-531-93294-1_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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4 Forschungsdesign und Verlauf der Studie
Darlegungen von Mitgliedern der Gemeinschaften. Eine Begutachtung sozialtherapeutischer Praxis auf Basis vorab entwickelter Hypothesen war folglich nicht Bestandteil der Vorgehensweise. In der Regel wurden theoretische Grundlagen zum Forschungsgegenstand somit systematisch erst auf Basis der Felderfahrungen berücksichtigt. Ein diesbezüglicher Zugang findet auch bei Goethe Anklang, der in einer schnellen Zuspitzung auf theoretische Implikationen lediglich den Versuch sieht, sich der tatsächlichen Phänomene zu entledigen: „Theorien sind gewöhnlich Übereilungen eines ungeduldigen Verstandes, der die Phänomene gerne los sein möchte und an ihrer Stelle deswegen Bilder, Begriffe, ja oft nur Worte einschiebt“ (Goethe, Maximen und Reflexionen, Nr. 548).15 Diesen Überblick als Basis nehmend, werden in den folgenden Ausführungen Ausgangslage, Forschungsdesign und Ablauf der Studie mit dem Ziel ausführlicher dargelegt, die gewählte Vorgehensweise plausibel und damit intersubjektiv nachvollziehbar zu machen.16 Schmitt weist darauf hin, dass die sorgfältige Dokumentation des Forschungsprozesses eines der wichtigsten Gütekriterien qualitativer Studien darstellt. Er stellt jedoch einschränkend fest, dass „die Möglichkeiten der Herstellung von Nachvollziehbarkeit auch bei noch so großer Sorgfalt ihre Grenzen (haben), insbesondere was den interpretativen Prozess angeht“ (Schmitt 2004, 85). 4.1 Zur Ausgangslage der Studie 4.1 Zur Ausgangslage der Studie Zu schön, um wahr zu sein? „Ein Dorf, in dem Menschen mit verschiedensten Fähigkeiten und Behinderungen zusammen leben und arbeiten. Im Mittelpunkt ein landwirtschaftlicher Hof. Eine sozialtherapeutische Gemeinschaft, die ohne Klassifizierungen auskommt, die nicht Behinderte und Betreuer unterscheidet und die Persönlichkeit des einzelnen würdigt, unabhängig seiner Nationalität, Weltanschauung, Religion. Zugleich Bürger-Gemeinde und Schicksals-Gemeinschaft. Hausgemeinschaften, in denen Menschen in einer Art Wahlfamilie auf natürliche Weise zusammenleben. Menschen mit und ohne Behinderungen, Alte und Kinder, Frauen und Männer. Werkstätten, in denen qualifiziert gearbeitet und brüderlich gewirtschaftet wird. Ein kulturelles Leben, das den einzelnen bereichert und fördert und die Gemeinschaft stärkt“ (Siegel-Holz 2000, 8). Wer würde bei einer solchen Schilderung zuerst an eine stationäre Einrichtung der Behindertenhilfe, ein Heim für Menschen mit Behinderung denken? Und doch wird damit ein Heim, allerdings in Gestalt einer sozialtherapeutischen 15 16
Zitiert nach Goethe (2008, 107). Zusammenfassend vgl. dazu Stamm (2008).
4.1 Zur Ausgangslage der Studie
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Lebensgemeinschaft, beschrieben. Diese Lebensgemeinschaften, deren idealtypische Grundidee hier zum Ausdruck kommt, besitzen in formaler, d. h. sozialrechtlicher Hinsicht – zumindest hinsichtlich ihres Kernbereiches – in der Regel den Status einer stationären Heimeinrichtung. Dieses hat u. a. Auswirkungen auf die Finanzierungsform, auf Vorgaben struktureller und baulicher Art und geht einher mit der Bereitstellung eines umfassenden ‚Leistungspaketsދ, in dessen Rahmen seitens der Einrichtung eine Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung des Hilfeempfängers übernommen wird. Allerdings: Obzwar aus sozialrechtlicher Perspektive im System der stationären Behindertenhilfe fest eingefügt, verstehen sich anthroposophische Gemeinschaften selbst in erster Linie eben nicht als stationäre Einrichtungen der Behindertenhilfe, sondern als integrative Formen des Zusammenlebens, denen eine über Fragen von Begleitung behinderter Menschen hinausgehende Bedeutung für Individuum und Gesellschaft zugemessen wird. So heißt es beispielsweise in einem Positionspapier des Verbandes für anthroposophische Heilpädagogik, Sozialtherapie und soziale Arbeit: „Unsere LebensOrte, Lebensgemeinschaften von Menschen mit und ohne Behinderungen, verstehen wir als unterschiedlich ausgeprägte Gemeinwesen, die eine umfassende gesellschaftliche Einbindung und vollständige Entfaltung der Persönlichkeiten aller ihrer Mitglieder in einem wechselseitigen Lernprozess ermöglichen“ (Verband für anthroposophische Heilpädagogik, Sozialtherapie und soziale Arbeit e.V. 2002, 2). Und: „Wir denken, dass die Menschen mit ‚geistiger ދund mehrfacher Behinderung eine besondere Bedeutung für die Entwicklung von sozialen Kompetenzen in unserer Gesellschaft haben und ihre gesellschaftliche Einbindung daher auch einen gesellschaftlichen Gewinn bedeutet: Wir sind gegenseitig aufeinander angewiesen“ (Verband 2002, 1). Durch den sich seit Mitte der 1990er Jahre in der deutschen Behindertenhilfe vollziehenden sogenannten Paradigmenwechsel, der durch eine Orientierung am Ziel der ‚Inklusion ދgekennzeichnet ist (Hohmeier 2004, 135), geraten indes vor allem stationäre Einrichtungen unter zunehmenden Veränderungsdruck. Im Zentrum der Fachdebatte steht dabei ein veränderter gesellschaftlicher Umgang mit dem Thema Behinderung. Nicht mehr bevormundende Fürsorge oder segregierende Förderung, sondern gleichberechtigte Teilhabe, Selbstbestimmung und Gleichstellung sind als behindertenpolitische Ziele mittlerweile auch gesetzlich verankerter Ausdruck der Maxime, dass Menschen mit Behinderungen über die gleichen Bürgerrechte verfügen wie nichtbehinderte Menschen. Basierend auf den Prinzipien der Menschenwürde, der unverletzlichen Freiheit der Person und der Persönlichkeitsentfaltung sowie dem Benachteiligungsverbot geht es darum, „behinderte Menschen weder zu dankbaren Hilfeobjekten wie im Fürsorgesystem [zu] machen, noch zu leistungsbereiten Anpassungskünstlern, sondern zu
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4 Forschungsdesign und Verlauf der Studie
würdigen, selbstbewussten und gleichberechtigten Bürgern einer Gesellschaft, die bereit ist, das Erforderliche für ihre Teilhabe zur Verfügung zu stellen“ (Frehe 2004, 53f.). Auf der Ebene der Dienste und Einrichtungen wird dieses neue Paradigma mit der Abkehr von einem vorrangig an stationären Angeboten ausgerichteten Hilfesystem verbunden, das in Bezug auf Planungs-, Gestaltungs- und Finanzierungsfragen die Rolle der Menschen, die auf der Grundlage individueller Rechtsansprüche Unterstützungsleistungen in Anspruch nehmen, vernachlässigt. Angestrebt wird, das Hilfesystem in Richtung passgenauer offener Angebote weiterzuentwickeln, die sich an der individuellen Lebenssituation, den Wünschen, Bedürfnissen und Zielen des Einzelnen orientieren und ihm ein selbstbestimmtes Leben „in individuell gewählten und verantworteten Lebensformen“ (Rohrmann u.a. 2001, 20) ermöglichen. Letztendlich geht es dabei auch um die Umsetzung des bereits seit 1984 im damaligen Bundessozialhilfegesetz festgeschriebenen Grundsatzes des Vorranges ambulanter Hilfen, in deren Sinne das Leben in der eigenen Häuslichkeit im Vordergrund steht (heute § 13 Zwölftes Sozialgesetzbuch (SGB XII)).17 Aufgrund ihres Status als stationäre Heimeinrichtungen stehen im Rahmen der geschilderten Zusammenhänge auch die sich im eigentlichen Sinne nicht als solche begreifenden sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaften unter wachsendem Legitimationsdruck. Vor dem Hintergrund der beschriebenen Entwicklungspfade wird sich in der anthroposophischen Fachdiskussion somit zunehmend mit der Frage „Sind unsere Lebensgemeinschaften Heime“ (Woitsch 2007, 27) bzw. den Auswirkungen des Paradigmenwechsels auf die heilpädagogische und sozialtherapeutische Arbeit auseinandergesetzt (vgl. z. B. Denger 2002; Lorenz 2002; Rudolph 2007; Siegel-Holz 2009). Allerdings werden generalisierende Urteile, die etwa heimbezogene Unterstützungssettings als „Massenhaltung von Menschen“ (Dörner 2002) bezeichnen, deutlich zurückgewiesen: „Wir wehren uns dagegen, wenn ein ideologisches Vorgehen (‚Abschaffung der Heime )ދbestehende Lebensangebote für die unterschiedlichen Anforderungen von Menschen mit Behinderungen nicht ausreichend differenziert“ (Verband 2002, 2). 17
Vgl. dazu auch Stamm/Weinbach (2007, 94f.). Zur Weiterentwicklung der Behindertenhilfe auch jenseits einer starren Dichotomie zwischen ‚ambulantem ދWohnen in der eigenen Häuslichkeit und der Inanspruchnahme ‚stationärer ދHilfen innerhalb einer Einrichtung vgl. z. B. die Empfehlungen des Deutschen Vereins (2007), den Beschluss der 86. Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK) (2009), die Forderungen der fünf Fachverbände für Menschen mit Behinderungen (Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V., Bundesverband für körperund mehrfachbehinderte Menschen e.V., Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V., Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e.V., Verband für anthroposophische Heilpädagogik, Sozialtherapie und soziale Arbeit e.V.) (Fachverbände 2009) sowie Schädler/Rohrmann/Schwarte (2006) und Schädler/Rohrmann (2009).
4.2 Zur ethnographischen Feldforschung
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Übergreifend betrachtet ist die Literaturlage im Feld indes als entwicklungsfähig zu bezeichnen: Einer nicht unerheblichen Anzahl an Literatur der Selbstwahrnehmung, d. h. von Fachtexten aus dem anthroposophischen Raum,18 steht eine nur wenig ausgeprägte Rezeption heilpädagogischer und sozialtherapeutischer Ansätze in der akademischen Fachdebatte gegenüber (vgl. z. B. Zeller 1978; Sturny-Bossart 1996; Buchka 2003a; 2008). Aktuelle sozialwissenschaftliche Forschung zur Sozialtherapie existiert nur bezogen auf spezielle Gesichtspunkte, etwa der Lebensqualität im Vergleich mit nicht-anthroposophischen Einrichtungen (Drechsler 2004), zum Thema Menschen mit komplexer Behinderung (Roil 2008) oder zu Burnout-Erscheinungen bei Mitarbeitern (Windisch 1997). Literatur der Fremdwahrnehmung ist zudem zum Teil geprägt durch einen vergleichsweise geringen Differenzierungsgrad und kommt somit etwa im Gewand einer persönlichen Abrechnung mit sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaften daher (Taube 1994) bzw. bescheinigt diesen pauschal, die dort lebenden behinderten Menschen um die Teilhabe an der Gesellschaft zu betrügen (Dörner 2007, 24f.). Es fehlt somit ein differenzierter Blick von außen, der sich im Kontext aktueller behindertenpolitischer Fachdebatten sowie dem von Vertretern anthroposophischer Organisationen proklamierten und in zahlreichen persönlichen Berichten von Besuchern dieser Einrichtungen dokumentierten19 besonderen Charakter sozialtherapeutischer Lebensgemeinschaften mit dieser Form der Unterstützung von Menschen mit Behinderungen auseinandersetzt. Daher kann in diesem Zusammenhang von einem Desiderat der Forschung gesprochen werden. Hier möchte die vorliegende explorative Studie Abhilfe schaffen. Fragen, wie ‚Ist es möglich, das behauptete und persönlich erlebte Spezifikum konkreter zu fassen?‚ ދKönnen sozialtherapeutische Gemeinschaften vor dem Hintergrund eines in einen ambulanten und stationären Sektor zergliederten Hilfesystems als ‚dritter Weg ދverstanden werden? ދstellten insofern Ausgangspunkte der vorliegenden Arbeit dar. 4.2 Zur ethnographischen Feldforschung 4.2 Zur ethnographischen Feldforschung Der explorative Charakter der Studie bedingt, dass der methodische Zugang von Offenheit, Flexibilität und Nähe zum Forschungsgegenstand gekennzeichnet sein muss. Eine dogmatische Einhaltung von im Wissenschaftsbetrieb tradierten 18 19
Siehe dazu etwa die Literaturangaben in Kapitel 3. Vgl. in diesem Zusammenhang beispielsweise die Schilderungen von Christie (1992). Auch ich habe diesen besonderen Charakter – etwa während meines Zivildienstes in einer sozialtherapeutischen Gemeinschaft – erlebt.
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4 Forschungsdesign und Verlauf der Studie
Konventionen, Regeln und Normen wäre hier insofern hinderlich, um Neues zu entdecken, d. h. das Themenfeld einem wissenschaftlichen Zugang zu erschließen. Feyerabend stellt dazu pointiert fest: „Die Wissenschaft ist wesentlich ein anarchistisches Unternehmen. Der theoretische Anarchismus ist menschenfreundlicher und eher geeignet, zum Fortschritt anzuregen, als ‚Gesetz- und Ordnungs-Konzeptionen( “ދFeyerabend 1976, 28).20 Die notwendige Offenheit, Flexibilität und Gegenstandsverankerung wurde durch die Orientierung an Verfahren der qualitativen Sozialforschung sichergestellt. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich eine qualitative Herangehensweise durch eine ausdrückliche Subjektbezogenheit der Forschung, eine genaue Deskription des Forschungsgegenstandes und die Bedeutung interpretativer Prozesse sowie eine Erforschung der Subjekte in ihrer alltäglichen Umgebung auszeichnet (Mayring 2002, 19ff.), erscheint dies plausibel. Nach Girtler entziehen sich menschliche Handlungen aufgrund ihrer Komplexität sogar grundsätzlich einem an quantitativen Gesetzmäßigkeiten orientierten Forschungszugang: „Menschliches Handeln ist zu komplex, als dass man es in ‚Gesetzmäßigkeiten ދeinzuordnen vermag. Hierin liegt der große Irrtum von Soziologen, die meinen, ‚Gesetzmäßigkeiten ދim Handeln feststellen zu müssen. Die Methoden, die dafür charakteristisch sind, sind die quantifizierenden Fragebogenerhebungen oder diejenigen, die menschliches Handeln nach Beobachtungseinheiten messen wollen. Erhobene statistische Regel- bzw. ‚Gesetzmäßigkeiten ދgeben vielleicht einen guten Aufschluss über Altersstrukturen einer
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Mit Schwierigkeiten im Forschungsprozess, die aus einer Überbetonung der Methodologie hervorgehen, setzt sich auch Devereux auseinander. In seinem Hauptwerk „Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften“ (1973) übt er aus psychoanalytischer Perspektive Kritik an strikt am Prinzip der Objektivierbarkeit ausgerichteter verhaltenswissenschaftlicher Methodologie. Anhand von Fallbeispielen stellt er dar, dass Wahrnehmung und Deutung verhaltenswissenschaftlicher Daten durch Angst vor dem Forschungsgegenstand und sich daraus ergebenden Gegenübertragungsreaktionen verzerrt werden können. Dabei fungiere die Methode als Mittel der Angstbewältigung: „Kurz, verhaltenswissenschaftliche Daten erregen Ängste, die durch eine von der Gegenübertragung inspirierte Pseudomethodologie abgewehrt werden. Dieses Manöver ist für nahezu alle Mängel der Verhaltenswissenschaften verantwortlich“ (Devereux 1973, 18). Im Gegensatz dazu sollte – so Devereux – das im Forschungsprozess nicht vermeidbare Moment der Subjektivität zur Analyse von Wahrnehmungsverzerrungen und zur Erkenntnisgewinnung nutzbar gemacht werden: „Da die Existenz des Beobachters, seine Beobachtungstätigkeit und seine Ängste (sogar im Fall der Selbstbeobachtung) Verzerrungen hervorbringen, die sich sowohl technisch als auch logisch unmöglich ausschließen lassen, muß jede taugliche verhaltenswissenschaftliche Methodologie diese Störungen als die signifikantesten und charakteristischsten Daten der Verhaltenswissenschaft behandeln und sich die aller Beobachtung inhärente Subjektivität als den Königsweg zu einer eher authentischen als fiktiven Objektivität dienstbar machen …“ (Devereux 1973, 17f.). Siehe in diesem Kontext auch meine ‚Reflexionen zur Forschungspraxis( ދKapitel 5).
4.2 Zur ethnographischen Feldforschung
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Gruppe, jedoch über die Handlungsstrategien der Individuen vermögen sie sehr wenig auszusagen (bzw. so gut wie nichts)“ (Girtler 2001, 44). Insofern hatte diese Studie in erster Linie das Ziel, das Spezifikum sozialtherapeutischer Lebensgemeinschaften orientiert am Konzept des Verstehens darzulegen, nicht aber angenommene Gesetzmäßigkeiten durch vorab festgelegte Hypothesen zu überprüfen. Der Forschungsgegenstand bildet somit – ganz im Sinne der Grounded Theory – den Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Praxis. „Am Anfang steht nicht eine Theorie, die anschließend bewiesen werden soll. Am Anfang steht vielmehr ein Untersuchungsbereich – was in diesem Bereich relevant ist, wird sich erst im Forschungsprozeß herausstellen“ (Strauss/Corbin 1996, 8). Vor allem um einer Gegenstandsangemessenheit Rechnung zu tragen, sprich durch eine besondere Nähe zum Gegenstand das Leben in anthroposophischen Gemeinschaften angemessen fassen zu können, habe ich mich innerhalb des Spektrums qualitativer Sozialforschung für eine Orientierung an Methoden der Feldforschung entschieden. Unter Feldforschung wird dabei ein Verfahren verstanden, „das verschiedene methodische Zugänge kombiniert einsetzt, um Einblicke in die sozialen Welten der Erforschten zu gewinnen und sich deren Weltsicht zu erschließen“ (Friebertshäuser 1997, 503). Durch den Methodenmix, eine Triangulation (Flick 2007), wird angestrebt, die Qualität der Forschung durch Verknüpfung unterschiedlicher Perspektiven zu vergrößern (Mayring 2002, 147f.). Dabei „(will) Feldforschung ihren Gegenstand in möglichst natürlichem Kontext untersuchen, um Verzerrungen durch Eingriff der Untersuchungsmethoden bzw. durch die wirklichkeitsferne Außenperspektive zu vermeiden“ (Mayring 2002, 55). Oder anders gesagt: „Die ‚freie Feldforschung ދist die klassische Methode der Kulturwissenschaften schlechthin. Bei ihr tritt der Forscher in einen direkten Kontakt zu den betreffenden Menschen. Er spricht mit ihnen, studiert direkt ihr Leben und zecht mit ihnen, wenn es sein muß“ (Girtler 2003, 213). Der Erforschung des Feldes erfolgte in dieser Studie aus einer ethnographischen (ethnos: Volk; graphein: (be)schreiben) Perspektive. Eine aus meiner Sicht praktikable Begriffsklärung bietet Reichertz, der unter dem Terminus Ethnographie sowohl die „teilnehmende Beobachtung als auch die Beschreibung der Kultur einer Ethnie“ (Reichertz 1992, 332; Hervorhebung im Original) versteht. Als eine Ethnie wiederum wird eine Anzahl von Personen aufgefasst, die sich auf Basis einer gemeinsamen Kultur als Gruppe ansehen. Bezüglich des Kulturbegriffs orientiert sich Reichertz an Soeffner, nach welchem Kultur der das „Wahrnehmen, Deuten und Handeln umgebende, gedeutete und ausgeleuchtete Sinnhorizont“ (Soeffner 1988, 12) ist. Vor dem Hintergrund der vorgenommenen Definition von Ethnographie können die Begriffe ‚Ethnologie ދund ‚Feldfor-
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4 Forschungsdesign und Verlauf der Studie
schung – ދso Reichertz – dazu synonyme Verwendung finden (Reichertz 1992, 332).21 Die klassische Feldforschung als Teil qualitativer Sozialforschung steht in der Tradition der deutschen Geisteswissenschaften sowie der Chicagoer Schule der Soziologie. Der theoretische Begründungsrahmen geht u. a. auf die Wissenschaftstheoretiker Wilhelm Dilthey, Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert zurück. Nach Wilhelm Dilthey grenzt sich die Geisteswissenschaft gegenüber der Naturwissenschaft durch das ‚Verstehen ދvon Sinn und Bedeutung menschlichen Handelns ab. Die Naturwissenschaft erkläre hingegen Gesetzmäßigkeiten, die durch Experimente überprüfbar und mathematisch darstellbar seien: „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir“ (Dilthey 1957 zitiert nach Gudjons 1997, 31). Im Bereich der Soziologie sind insbesondere Georg Simmel und Max Weber zu nennen, die den Sinn sozialen Handelns als Sujet ihrer Wissenschaft verstanden. In diesem Kontext „ist es Aufgabe des Sozialwissenschaftlers, zu fragen, welche Absichten und ‚Wahrheiten ދMenschen mit ihrem auf andere Menschen bezogenen Handeln verbinden.“ (Girtler 1996, unpag.). Diesen Traditionslinien fühlte sich die mit Namen wie Robert Ezra Park und William Isaac Thomas verbundene Chicagoer Schule der Soziologie verpflichtet. Dabei fußten die durchgeführten Feldforschungen auf der Überlegung, dass die Gesellschaft aus einer Vielzahl von Gruppen und Subkulturen gebildet wird, die alle ihre eigene, mit eigenen Werten, Normen und Symbolen versehene Kultur haben und daher „eine Gesellschaft nichts Einheitliches ist, sondern Nischen mit eigenen Kulturen besitzt“ (ebd.). Dementsprechend können Feldforschungen auch innerhalb der ‚eigenen ދGesellschaft einen ethnologischen respek21
Zu begrifflichen (Abgrenzungs-)Fragen im Zusammenhang mit ‚Ethnologieދ, ,Ethnographieދ oder ‚Ethnomethodologie ދvgl. z. B. Garfinkel (1984); Patzelt (1987); Koch-Straube (1997); Knoblauch (2001) und Kaschuba (2003). Zur Ethnographie im Kontext von Erziehungswissenschaft vgl. darüber hinaus Hünersdorf/Maeder/Müller (2008); zu ethnographischen Methoden in der Sonderpädagogik vgl. Biewer (2002). Spannend sind in diesem Kontext Aussagen Girtlers zur von ihm wahrgenommenen Tendenz einer wortreichen Verschleierung methodischer Konzepte in den Sozialwissenschaften: „… es wird viel Zeit und Papier verbraucht, um über wissenschaftstheoretische u. ä. Themen zu ‚reflektierenދ, wobei man sich gleichzeitig jedoch immer weiter von den handelnden Menschen entfernt, eben weil man alles mit dem Schleier des Schwerverständlichen umhüllt“ (Girtler 2001, 29). Ironisch überzeichnend zeigt Andreski dieses anhand des Begriffes ‚Ethnomethodologie ދauf: „Der Begriff wurde, glaube ich, von einem Amerikaner namens Harold Garfinkel erfunden. Nach der Definition von zweien seiner Gefolgsleute, Stanford M. Lyman und Marvin B. Scott … bezieht sich ‚der Begriff auf die Erforschung von Prozeduren (Methodologie), die von jedem Menschen (Ethnik) in seinem Bemühen, es sinnvoll mit seiner Welt aufzunehmen, angewendet werden. Anders gesagt, er versucht, eine organisierte Vorstellung von den Routinegründen täglicher Handlung zu geben( ދLyman/Scott 1970). In vorwissenschaftlicher Sprache nannte man das: beobachten, wie die Leute leben – eine Tätigkeit, die nicht gänzlich unbekannt war, ehe die oben erwähnten Pioniere in Aktion traten“ (Andreski 1977, 256; vgl. auch Girtler 2001, 30f.).
4.2 Zur ethnographischen Feldforschung
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tive ethnographischen Bezugsrahmen aufweisen. Koch-Straube verdeutlicht dieses anhand ihrer Auseinandersetzung mit einem Pflegeheim: „Nicht anders als eine afrikanische Kultur im Vergleich mit einer europäischen kann das Pflegeheim als ein fremdes Territorium gegenüber anderen sozialen Einheiten betrachtet werden, ausgestattet mit einer eigenen, sich von anderen unterscheidenden Kultur, einer eigenen Philosophie des Lebenssinns, eigenen Werten, Normen und Regeln zur Bewältigung des Alltags“ (Koch-Straube 1997, 25).22 Ergebnis einer so verstandenen Feldforschung kann keine bloße Darstellung des Faktischen sein, „sondern die Rekonstruktion des Alltags in einer ‚dichten Beschreibung ދder Bedeutungsstrukturen von Ereignissen und Handlungen“ (Koch-Straube 1997, 26). Insofern rekurriert die ‚dichte Beschreibung ދauf das Verstehen und die Interpretation des Gesehenen (Geertz 1987, 12). Für die vorliegende Studie war somit wesentlich zu verstehen, ‚wie ދund ‚warum ދdie in den Gemeinschaften lebenden Menschen das tun, was sie tun. Eine bewertende Haltung ist in diesem Zusammenhang daher nicht angezeigt. Um mir einen ‚fremden Blick ދzu bewahren und einen analysierenden Theorie-Praxis-Abgleich zu vermeiden, habe ich auf sozialtherapeutische Lebensgemeinschaften bezogene theoretische Implikationen daher erst nach Abschluss der Erhebungen hinzugezogen. Girtler benennt „Beweglichkeit“ und „gegenseitiges Lernen“ als die beiden Prinzipien seiner Feldforschung (Girtler 2001, 55). Insbesondere innerhalb der noch zu beschreibenden ersten Feldphase waren dies wichtige Grundsätze meines methodischen Zugangs. Der Aspekt der Beweglichkeit oder Offenheit wurde bereits als grundlegender Pfeiler der Methode benannt. Dieser fand seinen Ausdruck im Verzicht auf Vorabfestlegungen in Form von Hypothesen und das Einlassen des Forschers auf das Geschehen im Feld. ‚Gegenseitiges Lernen ދoder auch ‚Kommunikation ދals zweites Prinzip bezieht sich auf die Interaktion zwischen Forscher und Beforschtem. Im Idealfall bedeutet dies, dass kein asymmetrisches Verhältnis zwischen Wissenschaftler als Lernendem und Forschungssubjekt als Datenlieferant besteht, sondern sich auch der Forscher mit seiner Persönlichkeit in den Prozess einbringt. Ziel ist es, damit zu einem Forschungssetting beizutragen, welches eine künstliche Situation vermeidet, indem es das Individuum soweit wie möglich in seiner Alltagswelt (und damit seinem Alltagshandeln) belässt (Girtler 2001, 56f.). So verstanden, kann Feldforschung einen Beitrag dazu leisten, aufzeigen, „wie die Gesellschaftsmitglieder ihre Welt als real, als objektiv gegeben erleben“ (Girtler 2001, 56). Leitend sind also primär die Sichtweisen der Forschungssubjekte. Der Ethnograph strebt somit die Annäherung an einen „insider point of 22
Zur ‚Befremdung ދder eigenen Kultur vgl. auch Hirschauer/Amann (1997); zu Problemen des Verstehens fremder Lebenswelten Friebertshäuser (2003).
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4 Forschungsdesign und Verlauf der Studie
view“ an und hat folglich die Bedingungen des Feldes zu akzeptieren (Lüders 1995, 319). Die beschriebenen Merkmale und der sich daraus ergebende Prozesscharakter ethnographischer Feldforschung lassen erkennen, dass sich dementsprechende Verfahren im Voraus nur in begrenztem Maße planen lassen. In diesem Sinne kann Ethnographie als eine „flexible, kontextbezogene Strategie“ betrachtet werden, „in deren methodischem Mittelpunkt die Reflexion der methodologischen Voraussetzungen und jeweiligen Erfahrungen steht“ (Lüders 1995, 318). 4.3 Fragestellung 4.3 Fragestellung Ethnographische Forschung, verstanden als flexible, kontextbezogene Strategie, geht wie dargelegt davon aus, das zu bearbeitende thematische Spektrum anhand des tatsächlichen Feldgeschehens zu entwickeln und keine vorab definierten Fragen oder Hypothesen zu überprüfen: „Nimmt man gesellschaftliche Phänomene ernst, will sie in ihrer sozialen Dynamik verstehen und möchte für Neues empfänglich sein, so zeigt sich erst im Forschungsverlauf, welche Fragen überhaupt sinnvoll gestellt werden können und erst am Ende weiß man, auf welche Fragen eine Studie eine Antwort zu geben vermag“ (Lueger 2000, 51). Allerdings bedarf es dennoch einer gewissen inhaltlichen Richtschnur, an welcher sich die Erhebungen orientieren. Ohne eine dadurch vorgenommene Rahmensetzung besteht die Gefahr, dass sich Forschung in Beliebigkeit zerfranst und in der Fülle der Betrachtungen verliert. Zudem wird eine – aus zeitlichkapazitativen Gründen gebotene – pragmatische Haltung erschwert, wenn überhaupt keine Eingrenzung des Forschungsinteresses erfolgt. Die Fragestellung ‚Wie gestaltet sich das Alltagshandeln in sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaften für Menschen mit und ohne Behinderung und wie wird dieses Alltagshandeln von den Gemeinschaftsmitgliedern begründet? ދsowie drei darauf bezogene Forschungsdimensionen sollten in diesem Sinne helfen, das Erkenntnisinteresse ein Stück weit zu kanalisieren. Der Fragestellung habe ich mich daher vor allem zu Beginn der Erhebungen entlang einer dreidimensionalen Perspektive angenähert. So habe ich den Blickwinkel auf die Strukturen, d. h. den strukturellen Rahmen des gemeinschaftlichen Lebens, einzelne Gemeinschaftsmitglieder als Individuen sowie auf die sozialen Interaktionen zwischen den handelnden Akteuren gerichtet.
4.4 Persönliches Vorverständnis
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4.4 Persönliches Vorverständnis 4.4 Persönliches Vorverständnis Ich habe mich in dieser Studie darum bemüht, mich mit sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaften in verstehender und damit auch interpretativer Weise auseinanderzusetzen. Da dieser Vorgang niemals voraussetzungslos geschehen kann, so ist notwendigerweise eine Beschäftigung mit dem vorhandenen Vorverständnis angezeigt: „Menschen, die sich auf eine Expedition vorbereiten, auf die Entdeckung des (noch) Unbekannten, fahren nicht gänzlich ins Blaue. Sie sind ausgerichtet auf ein Ziel, von dessen Zustand sie eine von meist spärlichen Informationen und reichen Phantasien geprägte Ahnung besitzen“ (Koch-Straube 1997, 15). Ausgehend von dem Faktum, dass „ … auch ohne Explikation des Vorverständnisses der Standpunkt des Forschers den gesamten Forschungsprozess (prägt)“ (Mayring 2002, 30) und demnach Interpretationen immer vor dem Hintergrund bestehender Vorannahmen stattfinden, stellt es somit ein Gebot des qualitativen Forschers dar, seinen persönlichen Referenzrahmen offenzulegen. Nur so bleiben wissenschaftliche Standards im Sinne einer intersubjektiven Nachvollziehbarkeit der Forschung gewahrt. Demzufolge habe ich mich vor der ersten Feldphase mit meinem persönlichen und beruflichen Vorverständnis auseinandergesetzt, um klarer fassen zu können, auf welcher Basis ich meine Forschung betreibe. Niedergeschrieben dient das Ergebnis dieser Reflexion dazu, dem Leser eine größere Transparenz hinsichtlich der Beurteilung des Geschriebenen zu bieten. Die zentralen Gedankenstränge dieses Klärungsprozesses seien hier daher in den nachfolgenden Abschnitten dargestellt: Die grundlegende Erfahrung in beruflicher und persönlicher Hinsicht machte ich während meines Zivildienstes in den Jahren 1995/96 in einer sozialtherapeutischen Dorfgemeinschaft. Nähere Kenntnisse über andere Einrichtungen für Menschen mit Behinderung hatte ich keine. Ich bezog ein Zimmer in einem der etwa 20 Häuser und lebte über ein Jahr wie in einer großen Wohngemeinschaft in familienähnlicher Struktur. Abgeschieden, in dörflicher Umgebung und fern von Heimat und alten Freunden gelegen, hatte ich in diesem Haus zum ersten Mal in meinem Leben engen Kontakt zu Menschen mit Behinderungen. Sich dem dort in der Regel üblichen Arbeitsrhythmus anpassend, hatte ich nur einen Tag in der Woche zur eigenen Verfügung. Obwohl mit einem Waldorfschulhintergrund ausgestattet, erfuhr ich nun erstmals den mir oft fremden, von anthroposophischen Elementen geprägten Alltag. Durch den Besuch einiger Kurseinheiten des hauseigenen Ausbildungsseminars für Sozialtherapie bot sich mir die Chance, mich erstmals auch mit den theoretischen Hintergründen anthroposophisch basierten Handelns auseinanderzusetzen. Überfordert und skeptisch gab ich dieses Ansinnen jedoch nach einigen Wochen auf. Die häufige Anwesenheit
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4 Forschungsdesign und Verlauf der Studie
im Haus – meiner Arbeitsstelle – über Tag und Nacht und die intensiven Eindrücke von Neu- und Fremdheit erschöpften mich zunächst nachhaltig. Es verstrich eine gewisse Zeitspanne, bis ich mich in mein neues Leben aktiv einfinden konnte. Im weiteren Verlauf meiner Dienstzeit trat immer wieder ein Gefühl der Überforderung auf, das etwa dadurch entstand, dass ich mich aufgrund von personellen Engpässen regelmäßig mit der Verantwortung für das gesamte Haus – und somit auch für Menschen mit herausfordernden Verhaltensweisen – konfrontiert sah. Zudem konnte ich längere Rückzugsgelegenheiten aufgrund der beschriebenen Arbeitsstruktur eher selten in Anspruch nehmen. Das Erfahren von Gemeinschaft, die Entwicklung von – bis zum heutigen Tag – tragfähigen Freundschaften zu behinderten und nichtbehinderten Menschen und das intensive Zusammenleben sowie die Erkenntnis, dass in vielen Kontexten gezogene Grenzen zwischen Menschen mit und ohne Behinderung flexibel und auflösbar, ja häufig nicht erkennbar sind, haben mich indes in einer bisher nicht wiedergekehrten Weise beeindruckt. Im späteren Studium der außerschulischen Sonderpädagogik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg sowie auch während meiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Siegen nahm die Beschäftigung mit dem sogenannten Paradigmenwechsel vom „institutionsbezogenen Denken, Planen und Handeln … zum funktionsbezogenen, auf Integration ausgerichteten Planen, Denken und Handeln, das an den alltäglichen Lebensbedingungen der Betroffenen anknüpft …“ (Thimm 1994, 70), eine bedeutende Rolle ein. Von Ausnahmen abgesehen findet meinen Erfahrungen zufolge in diesen Kontexten – wenn überhaupt – nur eine marginale Auseinandersetzung mit anthroposophisch orientierten Angeboten statt. Nicht selten konnte ich auch eine beinahe reflexartige Ablehnung diesbezüglicher Lebens- und Arbeitsformen wahrnehmen.23 Dieses liegt zum Teil sicherlich an der Komplexität der häufig als fremd empfundenen anthroposophischen Anthropologie, manchmal aber gewiss auch an einer nicht immer durch Offenheit geprägten Haltung bestimmter Akteure und Organisationen aus dem anthroposophischen Raum. Durch verschiedene – kürzere und längere – Tätigkeiten wie Praktika oder studienbegleitende Jobs in diversen stationären (Komplex-)Einrichtungen der Alten- und Behindertenhilfe in unterschiedlichen Regionen Deutschlands lernte ich den Alltag in ‚klassischen ދInstitutionen kennen. Nicht immer und überall, aber für mich doch unerwartet häufig, konnte ich Bezüge herstellen zu dem, was Goffman in seiner Schrift ‚Asyle ދüber die Merkmale totaler Institutionen schreibt (Goffman 1973). Insbesondere meine neben meinem Studium absolvier23
Die Tatsache, dass diese Studie an der Universität Siegen als Dissertation vorgelegt werden konnte, zeigt, dass hier auch andere Wege beschritten werden können.
4.5 Zugang zum Feld und Auswahl der Lebensgemeinschaften
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te langjährige Arbeit als Aushilfskraft in einer am Anstaltsprinzip ausgerichteten Einrichtung der Behindertenhilfe prägte mich diesbezüglich tief. Den dort praktizierten Umgang mit behinderten Menschen und deren Unterbringung erschien mir häufig als Gegenentwurf zu der Gestaltung des Zusammenlebens von behinderten und nichtbehinderten Menschen, das ich während meines Zivildienstes erfahren hatte. Diese in beruflichen Zusammenhängen erlebten, mich darüber hinaus aber auch persönlich intensiv beschäftigenden Aspekte haben mir letztlich einen Zugang zum Thema verschafft. Die partiell erschreckenden Erfahrungen, die ich im Kontext bundesrepublikanischer Behinderten- und Altenhilfe zugegebenermaßen vor dem Hintergrund einer höchst begrenzten Auswahl von Einrichtungen gemacht habe, führten mich zu einer intensiveren Beschäftigung mit dem Konzept sozialtherapeutischer Lebensgemeinschaften. Diese fand jedoch zunächst außerhalb wissenschaftlicher Bezüge statt. Jedes Mal, wenn ich einen Besuch bei meiner ehemaligen Zivildienststelle machte, beschlich mich ein Gefühl ‚vertrauter Fremdheitދ. Vertraut waren mir die Personen, Häuser und Abläufe. Fremdartigkeit entstand dadurch, dass es mir auch mit dem zeitlichen Abstand von einigen Jahren nicht gelang, die Lebensgemeinschaft in für mich zufrieden stellender Weise einzuordnen. Sie bewegte sich immer zwischen Polen wie ‚Einrichtung für Menschen mit Behinderung‚ – ދalternatives Gemeinschafts-/Gesellschaftsmodell‚ ;ދfamiliäre Wohngemeinschaft‚ – ދWohnheim‚ ;ދIntegration‚ – ދSegregation ދsowie ‚Sozialraumbezogenheit‚ – ދautopoetisches Systemދ. Die daraus resultierende Unzufriedenheit stellte nun die Basis für eine Auseinandersetzung aus wissenschaftlicher Sicht dar. Diese Offenlegung des Vorverständnisses und seiner Entwicklungsgeschichte und damit der persönlichen Involviertheit trägt – so kann für diesen Abschnitt abschließend konstatiert werden – auch dem von Lueger vorgebrachten dargelegten Hinweis Rechnung, dass in der Planungsphase einer Feldforschung auch mögliche Abhängigkeitsstrukturen in den Blick zu nehmen sind: „Im Fall des Forschungsanlasses muß man sich Klarheit über potentielle Abhängigkeiten schaffen, welche den Erkenntnisraum eventuell begrenzen“ (Lueger 2000, 54). 4.5 Zugang zum Feld und Auswahl der Lebensgemeinschaften 4.5 Zugang zum Feld und Auswahl der Lebensgemeinschaften Der Zugang zum Forschungsfeld kann für den Ethnographen in vielfältiger Weise mit Schwierigkeiten verbunden sein. So besteht etwa die Gefahr, dass dieser als unerwünschter Eindringling oder gar als ‚Störenfried ދwahrgenommen und ihm daher mit Verschlossenheit, Rückzug oder angepasstem Verhalten begegnet
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4 Forschungsdesign und Verlauf der Studie
wird. Girtler legt dieses deutlich mit Bezug auf von ihm durchgeführte Studien im Bereich sozialer Randgruppen dar: „Um eine entsprechende teilnehmende Beobachtung in Gruppen oder Subkulturen durchzuführen, bedarf es eines entsprechenden Zuganges in die ‚angepeilte ދWelt. Und dieser ist nicht immer leicht, überhaupt in den sozialen Bereichen, in denen abweichendes Handeln die Regel ist. Auch wenn eine Gruppe keine im engen Sinn abweichende ist, so besitzt sie doch verborgene Strategien und Geheimnisse, über die man Außenstehenden, und schon gar nicht einem Soziologen gerne etwas erzählt. Der Forscher muß also damit rechnen, daß man ihm mit gehöriger Skepsis begegnen wird.“ (Girtler 1996, 5). Ein erfolgreicher Zugang zum sozialen Feld besitzt jedoch substantielle Bedeutung – gelingt es dem Forscher nicht, sich der Gruppe seines Interesses erfolgreich anzunähern, wird die Studie zu keinen relevanten Ergebnissen kommen oder kann erst gar nicht (vollständig) durchgeführt werden. Der teilweise auch als zweiter Sozialisationsprozess des Feldforschenden bezeichnete Eintritt in die zu untersuchende Welt sollte von „Offenheit, Einfühlungsvermögen und der Achtung vor dem zu Untersuchenden“ (Lamnek 2005, 601) geprägt sein, um aussichtsreich verlaufen zu können. Um – zumindest temporär – Aufnahme in die zu untersuchende Gruppe zu finden, ist es für den Forscher somit elementar, das Vertrauen dieser zu gewinnen. Ein bedeutsamer Faktor stellt dabei die Offenlegung der Forschungsabsicht sowie eine offene und auskunftsbereite Grundhaltung des Wissenschaftlers dar. Nur so kann dieser auch von den Beforschten erwarten, dass diese ihn mit relevanten Informationen ausstatten (Lamnek 2005, 601f.).24 Bezüglich vorliegender Studie gestaltete sich der forschungsbezogene Erstzugang zum Feld ‚sozialtherapeutische Lebensgemeinschaften ދweitgehend problemlos.25 Dieser wurde zunächst über bereits vorhandene Kontakte der Universität Siegen hergestellt. Im Rahmen von Gesprächen, an denen Vertreter von anthroposophischen Lebensgemeinschaften, des Verbandes für anthroposophische Heilpädagogik, Sozialtherapie und Soziale Arbeit e.V. sowie der Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie teilnahmen, wurde die Projektidee diskutiert und das Spektrum der sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaften in Deutschland erörtert. Im Nachgang zu diesen Sitzungen habe ich eine Auswahl von vier sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaften getroffen. Bei der Auswahl habe ich angestrebt, der Vielfalt sozialtherapeutischer Lebensgemeinschaften durch das Prinzip der maximalen Kontrastierung Rechnung zu tragen. Das bedeutet, dass ich Gemeinschaften ausgewählt habe, die hinsichtlich bestimmter Kriterien konträr zueinander stehen, beispielsweise mit Blick auf ihre Lage (Stadt – Land), 24 25
Zu Wegen ins Feld vgl. auch Wolff (2000). Der Zugang zu den einzelnen Lebensgemeinschaften im Rahmen der konkreten Forschungsarbeit wird in Kapitel 5 thematisiert.
4.6 Feldforscherrolle
61
ihre Größe (klein – groß), ihre strukturelle Gestalt (zentral – dezentral), ihr konzeptionelles Selbstverständnis (Hofgemeinschaft – Dorfgemeinschaft) oder auch ihre geographische Verortung. Allen Organisationen gemein ist, dass es sich um Lebensgemeinschaften für erwachsene Menschen mit Behinderungen ergo sozialtherapeutische Einrichtungen handelt und dort in der Mehrzahl geistig behinderte Menschen Unterstützung finden.26 Die Kontrastierung habe ich mit dem Ziel durchgeführt, mehr oder minder das Spektrum sozialtherapeutischer Lebensgemeinschaften in Deutschland abzubilden. Vor dem Hintergrund, dass die Erscheinungsformen in diesem Bereich mittlerweile sehr vielgestaltig sind (vgl. z. B. Siegel-Holz 2008, 272), sowie der forschungspragmatischen Eingrenzung auf vier Gemeinschaften war diese Absicht allerdings nicht in vollumfänglichem Maße realisierbar. Meiner Erfahrung nach werden allerdings tatsächlich die wesentlichen Typen sozialtherapeutischer Gemeinschaften repräsentiert. Die diesbezügliche Plausibilität der Auswahl wurde auch von den genannten Fachvertretern bestätigt, denen ich meine Auswahl zwecks Expertenvalidierung vorgelegt habe. Von Seiten des deutschen Fachverbandes wurden die entsprechenden Gemeinschaften schriftlich um Mitarbeit gebeten. Auf Grundlage eines großen Interesses für die inhaltliche und methodische Ausrichtung der Untersuchung kam in allen vier Fällen eine Zusammenarbeit zustande. 4.6 Feldforscherrolle 4.6 Feldforscherrolle Ein wissenschaftlicher Zugang, der – wie in dieser Studie erfolgt – mit mehrtägigen Aufenthalten im Forschungsfeld einhergeht, bedarf von Seiten des ethnographisch Tätigen vorab einer gründlichen Auseinandersetzung mit dem eigenen Rollenverständnis. Die Rollen, die ein Forscher in Bezug zum Feld einnehmen kann, können nach Lueger (1995, 62f.) als periphere, aktive oder vollständige Mitgliedschaft gekennzeichnet werden: Eine periphere Mitgliedschaft ist demnach gekennzeichnet durch eine eher randständige und passive Rolle des Forschers: Es werden keine zentralen Funktionen übernommen, neutrale Distanz wird gewahrt, an bestimmten Aktivitäten wird absichtlich nicht teilgenommen oder aufgrund bestimmter persönlicher Merkmale – etwa Geschlecht, Alter oder Religionszugehörigkeit – wird dem Wissenschaftler kein näherer Zugang gewährt. Dabei lasse sich der Forscher von
26
In Kapitel 6 wird der jeweilige Charakter der einzelnen Lebensgemeinschaften in Form von Portraits abgebildet.
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4 Forschungsdesign und Verlauf der Studie
der Dynamik treiben, „um aus dieser frei flottierenden Position möglichst vielfältige Aktivitäten zu beobachten“ (Lueger 2000, 63). Bei der aktiven Mitgliedschaft ist der Beobachter stärker in die Geschehnisse des Feldes involviert und nimmt somit z. B. an Schlüsselaktivitäten teil. Hier besteht die Chance, dass der Forscher größeres Vertrauen innerhalb des untersuchten Feldes erwerben kann, da er sich in stärkerem Maße einbringt. Eine vollständige Mitgliedschaft gibt die Distanz zum Geschehen im Feld auf. Im Sinne eines ‚going native ދwird die Sichtweise der Akteure im Feld zur handlungsleitenden Maxime erklärt. Damit einher geht eine intensive Teilnahme an den Aktivitäten der beobachteten Gruppe mit dem Ziel, sich der Lebenswelt der Menschen möglichst weitgehend anzunähern. Der beispielsweise mit Begriffen wie ‚over-identification ދoder ‚overrapport ދzum Ausdruck gebrachten Kritik an Objektivität und Genauigkeit dieses Zugangs, bei welcher der Forscher Urteilsmaßstäbe und Verhaltensweisen der zu erforschenden Gruppe übernimmt, hält Girtler entgegen, dass nur durch die Aufgabe von Distanz eine tiefe Erfassung der Alltagswelten der zu erforschenden Akteure und damit die Annäherung an eine ‚Objektivität ދüberhaupt erst möglich wäre (Girtler 2001, 81). Erving Goffman, Nestor der amerikanischen Soziologie, spricht sich ebenfalls für einen intensiven Zugang zum Feldgeschehen aus. In einem Vortrag über Feldforschung stellt er dar, dass der Forscher in das Leben der beforschten Gruppe eintauchen sollte: “When you do that, it seems to me, the standard technique is to try to subject yourself, hopefully, to their life circumstances, which means that although, in fact, you can leave at any time, you act as if you canދt and you try to accept all of the desirable and undesirable things that are a feature of their life” (Goffman 1989, 125). Und über das Verhalten des Wissenschaftlers zwischen Anpassung an und Distanz zur beforschten Gruppe legt er dar: “So you have to get a mix of changing costume, which the natives will accept as a reasonable thing, that isnދt complete mimicry on the one hand, and that isnދt completely retaining your own identity either” (Goffman 1989, 128). In den dieser Studie zugrunde liegenden Aufenthalten im Feld habe ich mich um eine Forschungshaltung bemüht, die sich zwischen aktiver und vollständiger Mitgliedschaft bewegte. So sollte zum einem angestrebt werden, möglichst weitgehend eine verstehende Innenperspektive einzunehmen. Zum anderen habe ich eine gewisse Distanz aufrechterhalten, um die wahrgenommenen Phänomene besser deuten und einordnen zu können. Damit sollte die Niederschrift eines rein subjektiven ‚Erlebnisberichtes ދvermieden werden. Auch in diesem Kontext besaß eine kontinuierliche reflexive Bearbeitung des wahrgenommenen Geschehens große Relevanz, die ich etwa durch das Führen eines Forschungstagebuches (s. u.), aber auch durch intensive Gespräche mit dem diese Untersuchung begleitenden Professor sichergestellt habe.
4.6 Feldforscherrolle
63
Als Klammer für die von mir angewendeten Rollen diente mir eine Orientierung an der von Koch-Straube beschriebenen Strategie der „zugewandten Distanz“ (Koch-Straube 1997, 25). Durch die Kombination des fremden, durch Gewohnheit noch nicht unaufmerksam gewordenen Blicks mit der intensiven Zuwendung zum Forschungsgegenstand, welche die Flüchtigkeit des externen Beobachters vermeidet, kann sich somit der „inneren Logik von Phänomenen, Arbeitsabläufen, Regelungen“ (Koch-Straube 1997, 25f.) angenähert werden. Der Außenstehende kann diese ob seiner externen Perspektive nicht wahrnehmen, den Akteuren im Feld bleiben sie aufgrund ihrer Selbstverständlichkeit verborgen – „Das Erstaunen über Unbekanntes öffnet den Blick für das Gewöhnliche“ (Koch-Straube 1997, 26). Als Grundsätze für das Verhalten des Ethnographen im Feld stellt Girtler (2004) „10 Gebote der Feldforschung“ auf. Da mich diese in meiner konkreten Forschungspraxis begleitet haben, seien sie hier nachfolgend aufgeführt:27 1.
2.
3. 4. 5.
27
„Du sollst einigermaßen nach jenen Sitten und Regeln leben, die für die Menschen, bei denen du forscht, wichtig sind. Dies bedeutet Achtung ihrer Rituale und heiligen Zeiten, sowohl in der Kleidung als auch beim Essen und Trinken. Si vivis Romae Romano vivito more! (Wenn Du in Rom lebst, lebe nach römischer Sitte.) Du sollst zur Großzügigkeit und Unvoreingenommenheit fähig sein, um Werte zu erkennen und nach Grundsätzen zu urteilen, die nicht die eigenen sind. Hinderlich ist es, wenn du überall böse und hinterlistige Menschen vermutest. Du sollst niemals abfällig über deine Gastgeber und jene Leute reden und berichten, mit denen du Bier, Wein, Tee oder sonst etwas getrunken hast. Du sollst dir ein solides Wissen über die Geschichte und die sozialen Verhältnisse der dich interessierenden Kultur aneignen. Suche daher zunächst deren Friedhöfe, Märkte, Wirtshäuser, Kirchen und ähnliche Orte auf. Du sollst dir ein Bild von der Geographie der Plätze und Häuser machen, auf und in denen sich das Leben abspielt, das du erforschen willst. Liebe die Natur und damit auch die menschliche Natur – beides kann ungemein reiz-
Dieser aus praktischen Hinweisen bestehende und auf Grundlage eigener Forschungserfahrungen erstellte Dekalog Girtlers besitzt – bezogen auf Form und Inhalt – im akademischen Kontext sicherlich atypischen Charakter. Dies erklärt sich aus Girtlers kritischer Haltung gegenüber einer theoriebetonten und somit von ihm als praxisfremd verstandenen „Verandasoziologie“ (Girtler 2004, 10; vgl. dazu auch Spetsmann-Kunkel 2005). Für sich allein genommen wäre die Aufnahme dieser Regeln in einer wissenschaftlichen Arbeit nicht angezeigt. Als (einfallsreiche) Ergänzung verstanden, haben die „10 Gebote“ jedoch hier durchaus ihren Platz.
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4 Forschungsdesign und Verlauf der Studie
voll sein. Gehe zu Fuß die betreffende Gegend ab und steige auf einen Kirchturm oder einen Hügel. 6. Du sollst, um dich von den üblichen Reisenden zu unterscheiden, das Erlebte mit dir forttragen und darüber möglichst ohne Vorurteile berichten. Daher ist es wichtig, ein Forschungstagebuch (neben anderen Aufzeichnungen) zu führen, in das du dir jeden Tag deine Gedanken, Probleme und Freuden der Forschung, aber auch den Ärger bei dieser einträgst. Dies regt zu ehrlichem Nachdenken über dich selbst und deine Forschung an, aber auch zur Selbstkritik. 7. Du sollst die Muße zum ‚ero-epischen( ދfreien) Gespräch aufbringen. Das heißt, die Menschen dürfen nicht als bloße Datenlieferanten gesehen werden. Mit ihnen ist so zu sprechen, dass sie sich geachtet fühlen. Man muss sich selbst als Mensch einbringen und darf sich nicht aufzwingen. Erst so lassen sich gute Gesprächs- und Beobachtungsprotokolle erstellen. 8. Du sollst dich bemühen, deine Gesprächspartner einigermaßen einzuschätzen. Sonst kann es sein, dass du hereingelegt oder bewusst belogen wirst. 9. Du sollst dich nicht als Missionar oder Sozialarbeiter aufspielen. Es steht dir nicht zu, ‚erzieherisch ދauf die vermeintlichen ‚Wilden ދeinzuwirken. Du bist kein Richter, sondern lediglich Zeuge! 10. Du musst eine gute Konstitution haben, um dich am Acker, in stickigen Kneipen, in der Kirche, in noblen Gasthäusern, im Wald, im Stall, auf staubigen Straßen und auch sonstwo wohl zu fühlen. Dazu gehört die Fähigkeit, jederzeit zu essen, zu trinken und zu schlafen“ (Girtler 2004, 3f.). 4.7 Feldphase I 4.7 Feldphase I Die erste im Jahr 2007 durchgeführte Feldphase diente der Generierung von Themenkomplexen, die das Alltagsleben innerhalb sozialtherapeutischer Lebensgemeinschaften bestimmen. Da direkt am Forschungsgegenstand angesetzt und daher die virulenten Inhalte dem Feldgeschehen sozusagen ‚abgelauschtދ werden sollten, habe ich als Kernmethode die teilnehmende Beobachtung als eine „Standardmethode der Feldforschung“ (Mayring 2002, 80) ausgewählt. Kennzeichnend für diese Methode ist, dass der Forschende in einer direkten Beziehung zu den Beobachtenden steht und an deren Lebenssituationen teilnimmt. Dadurch wird versucht, näher am Forschungsgegenstand zu sein und mehr über die Sichtweise der Beforschten zu erfahren. Teilnehmende Beobachtung als qualitative Methode impliziert, dass – im Gegensatz etwa zur standardi-
4.7 Feldphase I
65
sierten Beobachtung, die mit fest definierten Beobachtungseinheiten operiert28 – diese nur wenig standardisiert oder sogar unstrukturiert durchgeführt wird. Mit Rückgriff auf Girtler (2001, 62ff.) habe ich mich an der Methode der teilnehmenden unstrukturierten oder ‚freien ދBeobachtung orientiert. Diese Art der Beobachtung stellt – so Girtler – die klassische Praxis in der Ethnologie dar. Durchaus nicht unumstritten, ist grundlegendes Merkmal dieser Form, dass kein systematischer Erhebungsplan vorhanden ist. Somit ist nicht vorgegeben, was wie lange und auf welche Art und Weise beobachtet werden soll. Der Forscher besitzt daher einen recht weiten Handlungsraum: „Die ‚freie ދBeobachtung bietet also die Möglichkeit, komplexe Situationen und Handlungsprozesse beinahe unbeschränkt zu erfassen, während bei der ‚strukturierten ދBeobachtung die zu beobachtenden Verhaltensweisen eng begrenzt und umschrieben sind“ (Girtler 2001, 62). Im Gegensatz zu anderen Fachvertretern, die in einem strukturierten Vorgehen den Vorteil eines kontrollierbareren Erhebungs- und Auswertungsprozesses sehen, sieht Girtler den Mangel an Kontrolle im Zusammenhang mit einer unstrukturierten Feldforschung als geradezu bedeutsam an. So biete die freie Beobachtung dem Forscher aufgrund einer sich beständig erweiternden Sichtweise und einem sich sukzessive veränderndem Wissen die Möglichkeit, neue Aspekte hinzuzuziehen und zu interpretieren.29 In Abweichung von der Vorgehensweise Girtlers habe ich meine Beobachtungen allerdings – vor allem aus forschungspragmatischen Gründen – mit der bereits dargelegten Fragestellung sowie den Forschungsdimensionen flankiert, so dass eine – wenn auch sehr grobe – Eingrenzung des Beobachtungsrahmens stattfand. Der Vorschlag Mayrings, im Rahmen teilnehmender Beobachtung einen Leitfaden einzusetzen, „der genauer aufschlüsselt, was untersucht werden soll“ (Mayring 2002, 81), wurde jedoch nicht aufgegriffen, um den Blickwinkel nicht unnötig einzuengen. Meine Beobachtungen habe ich in sogenannten Feldprotokollen festgehalten. Hinsichtlich der Anfertigung von Protokollen kann grundlegend zwischen zwei Vorgehensweisen, der chronologischen und der systematischen, unterschieden werden. Während im ersten Fall die Gliederung des Beobachtungsmaterials primär nach zeitlichen Aspekten erfolgt, orientiert sich eine systematische Protokollierung im Wesentlichen an inhaltlichen Kriterien. Eine systematische Darstellung stellt somit bereits den Beginn einer Analyse dar. Insbesondere weil in das an inhaltlichen Merkmalen angelehnte Vorgehen schon Interpretationen einfließen, d. h. nicht mehr nur Beschreibungen des Beobachteten vorliegen, ist hier spezielles Augenmerk auf die Trennung von Deskription und Deutung zu legen (Lamnek 2005, 620 ff.). In dieser Studie habe ich chronologische Protokol28 29
Vgl. dazu beispielsweise Schnell/Hill/Esser (1999, 358ff.). Im Zusammenhang mit diesem prozesshaften Vorgehen lassen sich auch Verknüpfungen zur Idee des ‚hermeneutischen Zirkels( ދvgl. etwa Gudjons 1997, 59f.) herstellen.
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4 Forschungsdesign und Verlauf der Studie
le angefertigt und erst nach Ablauf der ersten Feldphase eine inhaltliche Strukturierung vorgenommen (s. u.). Die Feldprotokolle habe ich aufgrund des mit zunehmendem Abstand zum Beobachtungszeitpunkt immer schwächer werdenden Erinnerungsvermögens, der grundsätzlichen Begrenztheit desselben sowie der Tendenz des Menschen, sich selektiv zu erinnern, möglichst schnell nach Beendigung der Beobachtungsphase angefertigt. Von einer gleichzeitigen Beobachtung und schriftlichen Fixierung habe ich abgesehen. Ein diesbezügliches Vorgehen ist – falls überhaupt möglich – aufgrund dadurch bedingter Störeffekte auf die Handlungsabläufe im Feld auch nicht ratsam (Lamnek 2005, 614f.; Goffman 1989, 130). Als Gedächtnisstütze habe ich in einem ungestörten Moment während oder unmittelbar nach dem Beobachtungsprozess einige Schlagwörter aufgezeichnet. Aufgrund zunehmender Vertrautheit mit dem Forschungsgegenstand im Verlauf des Feldaufenthaltes war es wichtig, gerade zu Beginn der ersten Feldphase viele Aufzeichnungen zu machen: “There is a freshness cycle when moving into the field. The first day youދll see more than youދll ever see again. And youދll see things that you wonދt see again. So, the first day you should take notes all the time” (Goffman 1989, 130). Obzwar es aufgrund der Nähe zum Forschungsgegenstand und der sich dadurch ergebenden Situationsbezogenheit der nicht standardisierten teilnehmenden Beobachtung keine feststehenden Beobachtungsregeln geben kann (Girtler 2001, 134; Lamnek 2005, 620), gibt Girtler einige Hinweise zur Strukturierung der Protokolle. Vor dem Hintergrund, dass aus Kapazitätsgründen eben nicht ‚Alles ދbeobachtet werden kann, dienten mir die von ihm dargestellten Gesichtspunkte immer wieder auch als Strukturierungshilfe für die Beobachtungssituation. Insgesamt – so Girtler – fasse er die Protokolle so ab, „daß jeweils die gesamte soziale Situation, in der sich die wichtigen Prozesse abspielen, in ihren wesentlichen Inhalten festgehalten wird“ (Girtler 2001, 134). Im Einzelnen strebt Girtler (2001, 134ff.) an, folgende Aspekte in seine Protokolle aufzunehmen:
„Die Teilnehmer an den sozialen Situationen“: Hier geht es nicht nur um die aktiv am Geschehen beteiligten, sondern auch um diejenigen Personen, welche eine eher passive Rolle einnehmen, aber dennoch Einfluss auf die Situation ausüben. „Die Durchführung der sozialen Situation“: Bezüglich der Durchführung der sozialen Situation soll protokolliert werden, wie die Teilnehmer versuchen, ihre Absichten zu verfolgen respektive welche Strategien zur Erreichung ihrer Ziele zur Anwendung kommen. „Die Schaffung der sozialen Situation“: In diesem Bereich ist das Augenmerk auf den Rahmen, in dem die soziale Situation stattfindet, zu richten.
4.7 Feldphase I
67
So geht es beispielsweise darum, in welcher Weise bestimmte Maßnahmen und der Ort der Handlung die Interaktionen bestimmen. „Die die Teilnehmer an der Situation determinierenden Normen“: Hier stellt sich die Frage nach den Zwängen bzw. Normen, von denen die Handlungen der zu Beobachtenden bestimmt sind. Bedeutsam erscheint auch festzuhalten, wie möglicherweise versucht wird, sich diesen Zwängen entziehen. „Die Regelmäßigkeit der sozialen Situation“: Während des gesamten Forschungsprozesses ist wichtig zu hinterfragen, ob die protokollierten Situationen typisch oder einmalig sind. Es gilt, ein Gespür für das ‚Typische ދder beobachteten Lebenswelt zu erlangen. Dabei ist es nicht unbedingt immer notwendig, dass sich die Handlung regelmäßig wiederholt, um diese als ‚typisch ދeinschätzen zu können. „Die Reaktionen, wenn die Teilnehmer an der Situation den an sie gerichteten Erwartungen nicht entsprechen“: Befinden sich Menschen in Interaktionen, so richten sie Erwartungen aneinander. Werde diese nicht erfüllt, können Schwierigkeiten auftreten. Aufgabe des Forschers ist nun, die in sozialen Situationen vielfältigen, zwischen den Akteuren vorhandenen Erwartungen und Reaktionen sowie möglichen Sanktionen bei Nichterfüllung aufzunehmen. Durch bestimmte Reaktionen oder Sanktionen von Teilnehmern auf Handlungen innerhalb einer sozialen Situation werden bestehende Erwartungen bzw. die Regeln einer Gruppe deutlich. „Den Unterschied zwischen Behauptetem und Getanem“: Hier ist das Augenmerk darauf zu richten, ob es einen Widerspruch zwischen dem Erzählten und den tatsächlichen Handlungen gibt.
Wesentlich für das Abfassen der Protokolle ist, dass möglichst frei, offen und wenig verdichtet formuliert wird. Ansonsten besteht die Gefahr, dass scheinbar Unwichtiges weggelassen und nicht das gesamte Spektrum der Beobachtung erfasst wird (Lamnek 2005, 617). Goffman bringt dieses auf den Punkt, indem er ausführt: “Write [your fieldnotes] as lushly as you can, as loosely as you can …” (Goffman 1989, 131; Klammern im Original). Und weiter: “And as loose as that lush adverbialized prose is, itދs still a richer matrix to start from than stuff that gets reduced into a few words of ‘sensible sentences( ”ދebd.). Bedeutsam dabei ist, dass die Dokumente nur dem Forscher zugänglich sind und daher Hemmungen beim Schreiben vermieden werden (Lamnek 2005, 617). Auch Girtler geht davon aus – und auch ich habe es so gehalten –, dass die Protokolle in der Regel privater Natur sind und daher nur vom Ethnographen selber gelesen werden. Demzufolge sei es nicht erforderlich, besonderen Wert auf grammatikalische und stilistische Fragen zu legen. Man könne somit „ungehemmt über alles, was man erlebt hat, drauflosschreiben. Die Protokolle haben somit die Funktion, dem
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4 Forschungsdesign und Verlauf der Studie
Forscher die Forschungssituation in ihrer ganzen Dichte, in der auch die persönlichen Emotionen beinhaltet sind, wiederum vor Augen zu führen“ (Girtler 2001, 143). Beachtet werden muss, dass Feldforschung einen Prozess darstellt, in dem die Schritte der Datenerhebung, der Interpretation und Einordnung nicht immer trennscharf voneinander abzugrenzen sind. So wird sich der Forscher beispielsweise bereits während des Beobachtungsprozesses bzw. des Protokollierens mit möglichen Deutungen bzw. ersten theoretischen Implikationen auseinandersetzen. Derartige Anmerkungen und Hinweise zum protokollierten Material habe ich in Klammern in den Protokolltext eingearbeitet (Girtler 2001, 141ff.). Diese Vorgehensweise kann auch im Sinne des aus der Vorgehensweise der Grounded Theory bekannten Verfassens von Memos verstanden werden (Strauss/Corbin 1996, 169ff.). Neben den Feldprotokollen habe ich – während beider Forschungsphasen – ein Forschungstagebuch geführt, das ein wesentlicher Baustein für die reflexive Auseinandersetzung mit meiner Forschungspraxis wurde. Girtler zufolge sollen in solch einem Dokument der Fortgang der Forschung stichwortartig beschrieben sowie die wichtigsten Kontaktdaten festgehalten werden. Daneben gehören in dieses Tagebuch „Gedanken zum Vorgehen des Forschers, Hinweise auf eventuelle Forschungsergebnisse, die emotionale Betroffenheit, wie Ärger mit Personen u. a.“ (Girtler 2001, 133). Zum Ende der Forschung – so Girtler – könne das Tagebuch auch nützlich sein, um dem Forscher bestimmte, möglicherweise bereits in Vergessenheit geratene, Zusammenhänge wieder aufzuzeigen (ebd.; vgl. auch Lamnek 2005, 616). Zwar war die teilnehmende Beobachtung während der ersten Feldphase Methode der Wahl, ergänzend dazu habe ich aber immer wieder Gespräche mit Mitgliedern der Lebensgemeinschaften geführt. Zum einen habe ich derartige Konversationen gezielt in Angriff genommen, beispielsweise, wenn ich für bestimmte beobachtete Phänomene eine nähere Erklärung benötigte. Zum anderen ergaben sich – häufig ausgehend von Fragen zu meiner Arbeit – immer wieder Ad-hoc-Gespräche, die sich um das Leben in sozialtherapeutischen Gemeinschaften drehten. Den methodischen Rahmen dafür bildete das von Girtler entwickelte ‚ero-epische Gesprächދ. Das Adjektiv ‚ero-episch ދwird aus den altgriechischen Wörtern ‚Erotema( ދFrage) und ‚Epos( ދErzählung) abgeleitet (Girtler 2001, 147f.). Inspiriert durch die Odyssee von Homer steht hier im Zentrum, dass „Fragen und Erzählungen kunstvoll miteinander im Gespräch verwoben werden“ (Girtler 2001, 151). Dabei wird von einem symmetrischen Verhältnis zwischen den Gesprächspartnern ausgegangen: „Charakteristisch für das ‚eroepische Gesprächދ, wie ich es verstehe, ist, dass der Forscher sich selbst einbringt und nicht durch Fragen den Gesprächspartner in ‚Zugzwang ދbringt“
4.7 Feldphase I
69
(Girtler 2004, 68). Der Wissenschaftler tritt dabei als Lernender auf, der sich von seinem Gegenüber leiten lässt (Girtler 2004, 69). Die ero-epischen Gespräche habe ich ebenfalls in meinen Forschungsprotokollen aufgezeichnet. Nach Beendigung der ersten Feldphase habe ich die chronologisch vorliegenden Protokolle anonymisiert und im Rahmen einer Zwischenauswertung mittels eines mehrstufigen Verfahrens nach inhaltlichen Gesichtspunkten kategorisiert. Diese Kategorisierung wurde computerunterstützt mit dem Programm MAXQDA 2007 durchgeführt (vgl. dazu Kuckartz 2007). Dabei habe ich mich am ‚offenen Kodierenދ30 der Vorgehensweise der Grounded Theory orientiert: „Offenes Kodieren ist der Analyseteil, der sich besonders auf das Benennen und Kategorisieren der Phänomene mittels einer eingehenden Untersuchung der Daten bezieht“ (Strauss/Corbin 1996, 44). Grundlegend für den Prozess des Kodierens sind dabei das „Anstellen von Vergleichen“ sowie das „Stellen von Fragen“ (ebd.). Begonnen habe ich mit einer Konzeptualisierung der in Form von Feldprotokollen vorliegenden Daten. Sätze oder Abschnitte der Protokolle wurden in dem Sinne analysiert, dass für jede Begebenheit, jedes Ereignis, d. h. für jede Beschreibung, ein Begriff vergeben wurde. Dabei richtete ich an jede zu bearbeitende Einheit Fragen wie „Was ist das?“ oder „Was repräsentiert es?“ (Strauss/Corbin 1996, 45). Im weiteren Verlauf fand ein Abgleich der einzelnen Sätze oder Abschnitte statt – ähnliche Phänomene habe ich mit einer gleichen Benennung belegt. Während des Schrittes der Konzeptualisierung wurden also Konzepte sprich „Bezeichnungen oder Etiketten, die einzelnen Ereignissen, Vorkommnissen oder anderen Beispielen für Phänomene zugeordnet werden können“ (Strauss/Corbin 1996, 43), entwickelt. In einem nächsten Schritt erfolgte die Gruppierung oder Klassifikation der Konzepte zu Kategorien. Dieses wurde erreicht, indem die vorliegenden Konzepte verglichen und diejenigen, welche sich auf ein ähnliches Phänomen bezogen, zusammengefasst wurden. Kategorien können somit als Konzepte höherer Ordnung verstanden werden (Strauss/Corbin 1996, 43; 47). Wo dieses thematisch geboten erschien, wurden Unter- bzw. Subkategorien gebildet. Nach einer gewissen zeitlichen Distanz habe ich eine erneute Durchsicht des Materials und Prüfung auf Plausibilität der Kategorisierungen durchgeführt. Als Resultat dieses Checks wurden an einigen Stellen wiederum Veränderungen am Kategoriensystem bzw. den Zuordnungen vorgenommen.31 30
31
In dieser Arbeit wird nur von ‚Kodieren ދgesprochen, wenn Bezug auf das ‚offene Kodierenދ von Strauss/Corbin (1996) genommen wird. Ansonsten orientiere ich mich an der Schreibweise ‚Code ދbzw. ‚Codierenދ, die auch in MAXQDA Verwendung findet. Zur Unterscheidung zwischen ‚Kodieren ދund ‚Codieren ދvgl. Schmidt (2003, 555f.). Zu verschiedenen Kodierverfahren und deren Abgrenzung untereinander vgl. Kuckartz (2007, 57ff.).
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4 Forschungsdesign und Verlauf der Studie
Auch während des gesamten Kategorisierungsprozesses habe ich Anmerkungen, Notizen und Kommentare zum Feldmaterial in Form von Memos niedergeschrieben: „Das Memo-Schreiben zwingt die Forschenden dazu, die eigenen Ideen, Gedanken und Hypothesen festzuhalten und zu ordnen“ (Kuckartz 2007, 132). In diesem Zusammenhang konnten Zwischenergebnisse auf dem Weg zur dichten Beschreibung festgehalten und systematisiert werden. Das zur computergestützten Analyse verwendete Programm MAXQDA bot dabei eine gute Möglichkeit, Memos planvoll zu verwalten (Kuckartz 2007, 131ff.; vgl. auch Strauss/Corbin 1996, 169ff.). Als Ergebnis dieses Analyseprozesses lagen somit erste Kategorien respektive Themenkomplexe vor, durch welche sich das mir während meiner Feldaufenthalte zugängliche Alltagsleben innerhalb sozialtherapeutischer Lebensgemeinschaften widerspiegelte. Das entstandene – weitverzweigte – Kategoriensystem besaß dabei vorläufigen Charakter. Die Haupt- oder Kernkategorien stellten sich zu diesem Zeitpunkt folgendermaßen dar:
Biographie und Lebensgemeinschaft Gemeinschaftsrituale Gemeinschaftsleben – Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderungen Lebensgemeinschaft und Gesellschaft Individuum, Privatheit und Gemeinschaft
Die Einstufung als Hauptkategorie erfolgte hinsichtlich von Themenkomplexen, die sich mir mit Blick auf meine Fragestellung als besonders gewichtig dargestellt haben. Es sind dieses also Kategorien, durch welche sich aus meiner Sicht das Alltagshandeln in sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaften mit besonderer Relevanz ausdrückt, die Einfluss auf dieses nehmen bzw. in unmittelbarem Zusammenhang mit diesem stehen. Bei der Auswahl wurde darauf geachtet, ob die bisher herausgefilterten Regeln, Konzepte und Probleme der sozialen Gruppe typischen Charakter besitzen. Dabei habe ich mir jeweils die Frage gestellt, ob das entsprechende Phänomen einen Einzelfall darstellt oder regelmäßig auftritt. In diesem Zusammenhang konnte auch der Abgleich, ob aus Gesprächen vermittelte Informationen und eigene Beobachtungen übereinstimmen, wichtige Hinweise für die Bedeutsamkeit der Phänomene liefern (Girtler 2001, 144ff.). Da an dieser Studie vier unterschiedliche Lebensgemeinschaften beteiligt waren, ließ sich das ‚Typische ދinsbesondere auch dadurch erkennen, dass bestimmte Regeln oder Handlungsweisen in allen oder mehreren dieser Organisationen wahrnehmbar waren. Aber auch Themen, bei denen unterschiedliche Standpunkte, etwa zwischen Mitarbeitern, deutlich wurden, habe ich eine hervorgehobene Bedeu-
4.8 Feldphase II
71
tung zugesprochen. Dieses ist beispielsweise hinsichtlich des Zusammenlebens von Menschen mit und ohne Behinderung der Fall. Insgesamt betrachtet, habe ich mich bei der Auswahl nicht zuletzt auch immer wieder von meinen Vorerfahrungen auf dem Gebiet der sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaften sowie Aspekten der anthroposophischen Fachdiskussion zur aktuellen Perspektiven sozialtherapeutischer Gemeinschaften (Siegel-Holz 2000; Denger 2002; Buchka 2007) leiten lassen. 4.8 Feldphase II 4.8 Feldphase II Die zweite Feldphase, die im Jahr 2008 stattgefunden hat, wurde dazu genutzt, die Haupt- oder Kernkategorien, die während der ersten Phase generiert wurden, systematischer zu vertiefen sowie das Kategoriensystem zu überprüfen und weiter zu differenzieren. Im Vergleich zur offenen und weitgehend unstrukturierten ersten Feldphase habe ich daher insofern eine Einengung vorgenommen, als dass die erarbeiteten Themenkomplexe bzw. Kategorien im Sinne einer Strukturierung handlungsleitend wurden. Im Zentrum standen dabei Einzelinterviews mit acht behinderten Menschen32 und ebenso vielen Mitarbeitern. Die bereits benannten Hauptkategorien bildeten dabei die Fragekomplexe der Interviews, in deren Rahmen die Befragten jedoch eigene Schwerpunkte setzen konnten. Im Folgenden wird das thematische Spektrum der Fragekomplexe jeweils exemplarisch dargestellt: 1.
Biographie und Lebensgemeinschaft
Dieser Fragenkomplex bezieht sich auf die Lebensgeschichten der Interviewteilnehmer in Bezug auf ihren Weg zur jeweiligen sozialtherapeutischen Gemeinschaft. Angeregt wurde die (weitere) Beschäftigung mit diesbezüglichen Aspekten durch Gespräche innerhalb der ersten Feldphase, bei denen zum Teil unterschiedliche biographische Motive und Zugänge sichtbar wurden. Hinsichtlich von Menschen mit Behinderungen war in diesem Zusammenhang auch wesentlich, wer die Entscheidung, in einer derartigen Gemeinschaft zu leben, getroffen hat. Dieses ist insbesondere vor dem Hintergrund bedeutsam, dass innerhalb einer Lebensgemeinschaft Regeln bestehen, die außerhalb dieser Gemeinschaft nicht gelten müssen. 32
Vor dem Hintergrund, dass in den in die Studie einbezogenen Lebensgemeinschaften in der Regel Menschen mit geistiger Behinderung Unterstützung finden, richteten sich die Interviews primär an diese Zielgruppe.
72 2.
4 Forschungsdesign und Verlauf der Studie Gemeinschaftsrituale
Innerhalb dieses Fragekomplexes wurden Gesichtspunkte zum Thema gemacht, die der Konstitution, Inszenierung und Vergewisserung der Gemeinschaft dienen. Dazu zählen von der gesamten Gemeinschaft oder einem Teil regelmäßig vollzogene Handlungen, d. h. gemeinschaftlich durchgeführte Rituale. Diese stehen vielfach im Zusammenhang mit den Mahlzeiten bzw. dem Beginn oder Ende des Tages. Beispielhaft können hier Morgenkreis, ein gemeinsamer Spruch vor dem Essen oder die Situation des gemeinschaftlichen Essens insgesamt genannt werden. Dabei konnte im Interview z. B. auf Grundlage und Stellenwert sowie das subjektive Empfinden bezüglich dieser Gemeinschaftsrituale eingegangen werden. 3.
Gemeinschaftsleben – Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderungen
Dieser Fragekomplex setzte den Rahmen zur Thematisierung grundsätzlicher Aspekte des Zusammenlebens innerhalb einer Lebensgemeinschaft, insbesondere von Menschen mit und ohne Behinderung. Wesentlich erschien hier beispielsweise, inwiefern diese Art des Zusammenlebens ein konstituierendes Merkmal der ausgewählten Lebensgemeinschaften darstellt. In diesem Kontext als hinderlich oder förderlich wahrgenommene Effekte sowie die diesem Ansatz zugrunde liegende Ideen konnten angesprochen werden. Ebenso bestand Raum, Aspekte wie Arbeitszeit, Abgrenzungsprobleme sowie das im Verhältnis zur Arbeitszeit stehende Einkommen von Mitarbeitern zu thematisieren. In Bezug auf Menschen mit Behinderung konnte hier z. B. der Tagesablauf innerhalb der Lebensgemeinschaft fokussiert und über das Erleben der gemeinschaftsorientierten Strukturen gesprochen werden. 4.
Lebensgemeinschaft und Gesellschaft
Hier standen die Beziehungen zwischen der Lebensgemeinschaft und der ‚Gesellschaft ދim Vordergrund. Damit sind die Wechselbeziehungen zwischen Lebensgemeinschaft und Gemeinwesen, ist die Verwurzelung der Lebensgemeinschaft in das sie umgebende soziale, kulturelle, wirtschaftliche und geographische Umfeld gemeint. Dabei ging es zum einem um die individuelle Verknüpfung und zum anderen um die Vernetzung der Lebensgemeinschaft als Gesamtgebilde.
4.8 Feldphase II 5.
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Individuum, Privatheit und Gemeinschaft
Vor dem Hintergrund, dass dem Gemeinschaftsleben eine große Bedeutung innerhalb der von mir besuchten Organisationen zugeschrieben wird, wurde im Rahmen dieses Fragekomplexes das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft einer genaueren Betrachtung unterzogen. Auch Fragen nach sich aus dem Gemeinschaftsleben ergebenden Verpflichtungen sowie nach vorhandenem Raum für Rückzug und Privatheit gehörten in diesen Kontext. Zwar habe ich im Rahmen der zweiten Feldphase bestimmte Themenbereiche ins Zentrum der Forschung gerückt. Allerdings durften – ausgehend von dem Ziel dieser Arbeit, die Alltagswelt sozialtherapeutischer Gemeinschaften durch eine ethnographische Beschreibung widerzuspiegeln – die Interviews nicht durch starre Vorabfestlegungen in inhaltlicher und methodischer Sicht geprägt sein. Es war somit ein hohes Maß an Offenheit und Flexibilität zu erhalten, um den individuellen Lebensbezügen der Befragten gerecht zu werden. Nach einer Analyse der Hauptrichtungen qualitativer Interviews (vgl. Mayring 2002, 65ff.; Lamnek 2005, 356ff. und 382ff.) hat sich eine Orientierung am von Witzel (1982) entwickelten‚ ‚problemzentrierten Interview ދals der für die zweite Feldphase am besten geeignete methodische Weg erwiesen, da auf diese Weise sowohl eine thematische Zuspitzung als auch eine flexible Ausgestaltung möglich sind. Das problemzentrierte Interview stellt eine Form der offenen, halbstrukturierten Befragung dar: „Das Interview lässt den Befragten möglichst frei zu Wort kommen, um einem offenen Gespräch möglichst nahe zu kommen. Es ist aber zentriert auf eine bestimmte Problemstellung, die der Interviewer einführt, auf die er immer wieder zurückkommt. Die Problemstellung wurde vom Interviewer bereits vorher analysiert; er hat bestimmte Aspekte erarbeitet, die in einem Interviewleitfaden zusammengestellt sind und im Gesprächsverlauf von ihm angesprochen werden“ (Mayring 2002, 67). Im Gegensatz zum narrativen Interview, bei dem der Forscher im idealtypischen Fall keine wissenschaftliche Konzeption über die Gegenstände des Gesprächs besitzt bzw. dieses erst im Nachgang der Interviewphase auf Grundlage des Gesagten entwickelt, ist bei der Durchführung problemzentrierter Interviews somit bereits Vorwissen vorhanden, das gegebenenfalls eine Veränderung erfahren kann: „Methodologisch gesehen wird also die streng induktive Vorgehensweise ohne Prädetermination durch den Forscher im narrativen Interview beim problemzentrierten Interview mittels einer Kombination aus Induktion und Deduktion mit der Chance auf Modifikation der theoretischen Konzepte des Forschers abgelöst“ (Lamnek 2005, 364). Der Erkenntnisgewinn durch eine Orientierung an problemzentrierten Interviews ergibt sich auf Basis eines induktiv-deduktiven Wechselspiels: „Das unvermeidbare, und damit offenzulegende Vorwissen dient in der Erhebungsphase als heuristisch-analy-
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4 Forschungsdesign und Verlauf der Studie
tischer Rahmen für Frageideen im Dialog zwischen Interviewern und Befragten. Gleichzeitig wird das Offenheitsprinzip realisiert, indem die spezifischen Relevanzsetzungen der untersuchten Subjekte insbesondere durch Narrationen angeregt werden“ (Witzel 2000, Abs. 3). Insofern ist eine Orientierung am Erzählprinzip wesentlich: „Die Bedeutungsstrukturierung der sozialen Wirklichkeit bleibt dem Befragten allein überlassen“ (Lamnek 2005, 364). Die verwendeten Fragen dienen somit vor allem der Eingrenzung des Problembereichs sowie dazu, einen Stimulus zur Generierung von Erzählungen zu bieten (Lamnek 2005, 364f.). Das problemzentrierte Interview ist durch drei Grundpositionen, die Problemzentrierung sowie Gegenstands- und Prozessorientierung gekennzeichnet (Witzel 2000, Abs. 4-6; Mayring 2002, 68). Als Problemzentrierung wird die Ausrichtung an gesellschaftlich relevanten Problemstellungen verstanden, deren wesentliche objektive Rahmenbedingungen der Forschende im Vorfeld des Interviews erarbeitet hat. Dieses Vorwissen wird genutzt, um „die Explikationen des Interviewten verstehend nachzuvollziehen und am Problem orientierte Fragen bzw. Nachfragen zu stellen“ (Witzel 2000, Abs. 4). Dabei bedeutet Problemzentrierung in der vorliegenden Studie, dass die im Nachgang der ersten Feldphase generierten Hauptkategorien – wie bereits deutlich gemacht – die Fragekomplexe des Interviews darstellen. Gegenstandsorientierung besagt, dass sich die Ausgestaltung des angewendeten Verfahrens auf die spezifischen Anforderungen des Forschungsgegenstands beziehen muss und nicht auf fertige Instrumente zurückgegriffen werden kann. Zur Gegenstandsorientierung gehört aber auch der flexible Einsatz von Gesprächstechniken im Sinne einer „befragtenzentrierten Kommunikationssituation“ (Witzel 2000, Abs. 5). Abhängig von der unterschiedlich ausgeprägten Reflexivität und Redegewandtheit der befragten Personen kann somit das Erzählprinzip mittels eines durch Nachfragen geprägten Dialogs flankiert werden. Die Bezogenheit auf den Gegenstand wird in dieser Arbeit zum einen durch die inhaltliche Verknüpfung der ersten mit der zweiten Feldphase hergestellt. Aufgrund der trotz aller Vorstrukturierung vorhandenen Offenheit des problemzentrierten Interviews konnte ich zum anderen innerhalb der Befragungssituation individuell auf den jeweiligen Interviewpartner sowie die Spezifika der entsprechenden Lebensgemeinschaft eingehen. Das Prinzip der Prozessorientierung bezieht sich auf den gesamten Verlauf der Forschung. Dabei geht es „um die flexible Analyse des wissenschaftlichen Problemfeldes, eine schrittweise Gewinnung und Erhebung und Prüfung von Daten“ (Witzel 1982, 72). Erhebungs- und Auswertungsphase sollen dementsprechend einer fortwährenden Reflexion unterworfen werden, damit neu gewonnene Erkenntnisse in den weiteren Untersuchungsprozess integriert werden
4.8 Feldphase II
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können (Schmidt-Grunert 1999, 42). Hinsichtlich der zweiten Phase der hier vorliegenden Untersuchung fanden Reflexionsprozesse insbesondere in den Zeiträumen zwischen den Interviews statt, so dass mögliche neue Erkenntnisse in die weiteren Gespräche Eingang finden konnten. Aufgrund der Flexibilität, die ein problemzentriertes Interview bei der Anpassung auf die jeweilige Befragungssituation bietet, ist damit auch eine Befragung von Menschen mit geistiger Behinderung möglich (Hagen 2001).33 So können die Formulierungen der Fragen jeweils personenbezogen angepasst sowie gegebenenfalls weitere Erläuterungen hinzugefügt werden. Angesichts vorhandener kognitiver Beeinträchtigungen ist es jedoch sinnvoll, Fragen möglichst konkret zu formulieren, dezidiert mit Bezugnahme auf die Lebensrealität der Personen zu stellen (Gromann 1996, 218) und somit die Interviewsituation deutlicher zu strukturieren. Das problemzentrierte Interview wird mit Hilfen von vier Instrumenten durchgeführt. Dieses sind Kurzfragebogen, Leitfaden, Tonaufzeichnung des Gesprächs und das Postskriptum (Witzel 2000, Abs. 7-10). Der zu Beginn des Interviews verwendete Kurzfragebogen dient dazu, Sozialdaten zu erheben. Somit „(wird) das nachfolgende Interview, das eine Aushandlung der subjektiven Sichtweise der Interviewten zum Ziel hat, von denjenigen Fragen entlastet, die als Frage-Antwort-Schema aufgebaut sind“ (Witzel 2000, Abs. 7). In Verbindung mit einer ersten offenen Frage können die erhobenen Informationen auch genutzt werden, einen gelungenen Gesprächseinstieg zu befördern. In der vorliegenden Studie wurden somit z. B. Informationen über die berufliche Qualifikation sowie die konkrete Wohnsituation erhoben. Der Kurzfragebogen lieferte somit wichtige Angaben, auf die im weiteren Gespräch aufgebaut werden konnte. Das problemzentrierte Interview basiert auf einem vorab entworfenen Leitfaden. Dieser enthält die Forschungsthemen und stützt sich daher auf das vorhandene Vorwissen. In seiner Funktion als Gedächtnisstütze und Orientierungsrahmen für den Forscher sichert der Leitfaden zudem die Vergleichbarkeit der Interviews. Im Rahmen dieser Untersuchung habe ich für Mitarbeiter und Menschen mit Behinderung jeweils zielgruppenspezifische Leitfäden erstellt.34 Diese differieren indes nicht hinsichtlich der Fragenkomplexe, sondern lediglich in 33
34
Während vor allem in älterer Fachliteratur tendenziell davon ausgegangen wird, dass Menschen mit geistiger Behinderung überhaupt nicht als Interviewpartner in Frage kommen (vgl. z. B. Laga 1982), liegen mittlerweile zunehmend positive empirische Erfahrungen mit der Befragung geistig behinderter Menschen vor (vgl. dazu Hagen 2007). Zu methodischen Aspekten bei der direkten Befragung von Menschen mit geistiger Behinderung vgl. auch Schäfers (2009). Die Leitfäden befinden sich beim Autor.
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4 Forschungsdesign und Verlauf der Studie
Bezug auf die innerhalb dieser jeweils stärker fokussierten Aspekte. Wie bereits dargelegt, habe ich somit bei den Interviews mit den behinderten Gemeinschaftsmitgliedern etwa versucht, an deren konkreter Lebenswelt anzuknüpfen. Davon ausgehend, dass Menschen mit geistiger Behinderung ein „Mehr an sozialer Abhängigkeit“ (Hahn 1994, 87) beigemessen werden kann, habe ich zudem auch unter diesem Blickwinkel einige Zuspitzungen vorgenommen. In Unterscheidung zu Witzel, der vorschlägt, dass der Leitfaden lediglich „einige Frageideen zur Einleitung einzelner Themenbereiche und eine vorformulierte Frage zum Gesprächsbeginn“ (Witzel 2000, Abs. 9) enthalten soll, sind die von mir erstellten Leitfäden bezüglich jedes Themenkomplexes bereits mit Formulierungsvorschlägen für Fragen bestückt. Diese Vorgehensweise habe ich zum einen gewählt, um meine Sicherheit als Interviewer zu erhöhen: So stand auch dann, wenn der Erzählfluss stockte, ein ‚Werkzeugkoffer ދparat, auf den ich zurückgreifen konnte. Vor dem Hintergrund meiner insbesondere durch die erste Feldphase gewonnene Feldkenntnis war die vorab vorgenommene Ausformulierung von Fragen zum anderen behilflich, mein Vorwissen angemessener und transparenter zu organisieren und für mich während des Gesprächs abrufbar zu machen. Trotz der von mir durchgeführten Vorarbeiten hinsichtlich der Frageformulierung galt, dass diese im realen Interviewkontext keine Verwendung finden mussten, sondern die tatsächlich verwendeten Fragen an die jeweilige Lebensgemeinschaft, die Gesprächssituation und den Gesprächspartner angepasst wurden: „Das verwendete Vokabular muss von den Interviewpartnern alltagssprachlich benutzt werden. Im standardisierten Interview wird in der Regel die Frageformulierung kontrolliert – also konstant gehalten. Der qualitative Forscher will hingegen die Bedeutungsgleichheit der Fragen erreichen, indem er den jeweiligen Inhalt der Frage in das Vokabular des vom Befragten praktizierten Sprachcodes übersetzt und so dem Befragten präsentiert“ (Lamnek 2005, 352). Um einen Gesprächsfluss zu erzeugen, sind die Fragen im problemzentrierten Interview möglichst offen zu formulieren. Dieses ist vor allem zu Beginn des Interviews angezeigt. Daher sollte die Einstiegsfrage einen Erzählimpuls enthalten: „Die Frage ist folglich so offen zu formulieren, daß sie vorhandene Vorstellungen beim Befragten aktiviert und zugleich diesem die Entscheidung überläßt, wie und was er antworten möchte“ (Schmidt-Grunert 1999, 46). In dieser Studie wurde dem dadurch Rechnung getragen, indem als Gesprächseinstieg auf biographische Aspekte rekurriert und nach dem persönlichen Weg zur jeweiligen Lebensgemeinschaft gefragt wurde. Während des problemzentrierten Interviews können abhängig von der jeweiligen Situation erzählungsgenerierende und verständnisgenerierende Kommunikationsstrategien Anwendung finden (Witzel 2000, Abs. 14-18). Ist der Einstieg geglückt, so sollte darauf geachtet werden, dass der Interviewer den
4.8 Feldphase II
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Erzählfluss möglichst wenig unterbricht, um die subjektive Sicht des Befragten offenzulegen. Im Rahmen von ‚allgemeinen Sondierungen ދkann der Interviewer jedoch von den Gesprächspartnern dargelegte thematische Aspekte aufgreifen und durch Nachfragen den angebotenen Erzählstrang weiter verfolgen bzw. eine inhaltliche Vertiefung anregen. Ad-hoc-Fragen des Interviewers dienen des Weiteren dazu, auf Themenkomplexe aus dem Leitfaden einzugehen, die von den Befragten nicht von selbst angesprochen werden. Dazu können auch einzelne standardisierte Fragen am Ende des Gesprächs gehören. Zu einer möglicherweise notwendigen Aktivierung der Gesprächspartner bietet sich die Critical-IncidentMethode an: „Wenn der Redefluss zäh ist und man im Gespräch nach Ankern in der jeweiligen Erfahrungswelt sucht, ist die Critical Incident Methode ein gutes Werkzeug. Mit der Frage nach besonders guten oder schlechten Erfahrungen im relevanten Kontext gelingt es oft, wahrgenommene Probleme sichtbar zu machen.“ (Kurz u.a. 2007, 472). Die vorrangig induktiv vorgehende erzählgenerierende Kommunikationsstrategie wird ergänzt durch die eher deduktiv geprägte Strategie der Verständnisgenerierung, die ihren Ausdruck in spezifischen Sondierungen findet. Hier „(nutzt) der Interviewer das vorgängige oder im Interview selbst erworbene Wissen für Frageideen“ (Witzel 2000, Abs. 17). Dabei spielen Zurückspiegelungen von Aussagen des Befragten eine prominente Rolle, durch welche der Interviewer sein Verständnis der getätigten Äußerungen transparent macht und dadurch dem Gesprächspartner ermöglicht, seine Sichtweise zu reflektieren, zu bestätigen oder gegebenenfalls zu modifizieren. Zudem können klärende Verständnisfragen angewendet werden, um als bedeutungsvoll betrachtete Aussagen der Befragten zu präzisieren oder widersprüchliche Antworten aufzulösen. Am Schluss des Interviews sollte den Befragten die Möglichkeit gegeben werden, Aspekte zu ergänzen, die aus ihrer Sicht noch fehlen (SchmidtGrunert 1999, 45ff.; Witzel 2000, Abs. 14-18). Die dargestellten Kommunikationsstrategien wurden während der Interviews nicht aufeinander abfolgend, sondern situativ eingesetzt, so dass ein Wechselspiel von Erzählungs- und Verständnisgenerierung entstand. Vor dem Hintergrund des Anspruches, vorhandenes Vorwissen zu nutzen, ohne die Sichtweise der Interviewten in den Hintergrund zu drängen, ergab sich insgesamt betrachtet eine komplexe Gesprächsstrategie. Denn: „Keinesfalls darf das Vorwissen des/der Interviewleiters/-leiterin das Gespräch bestimmen, das Interview sollte sich weitgehend nach den Vorgaben des/der Interviewten entwickeln.“ (Kurz u.a. 2007, 470). Die Interviews wurden – jeweils nach Genehmigung durch die Interviewpartner – mit einem digitalen Aufnahmegerät vollständig aufgezeichnet. Unmittelbar nach dem Gespräch wurden Postskripte angefertigt. Diese stellen eine Ergänzung zur elektronischen Aufzeichnung dar und erhalten schriftlich fixierte
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4 Forschungsdesign und Verlauf der Studie
Eindrücke, die mit dieser nicht erfasst werden konnten. Dazu gehören beispielsweise Angaben zu Gesprächsatmosphäre und Interviewverlauf, zu Schwerpunktsetzungen und nonverbalen Äußerungen des Befragten sowie spontane Interpretationsideen. „Diese Notizen gehen in den Prozeß der Auswertung als ergänzende Informationen ein“ (Schmidt-Grunert 1999, 43). Die Auswahl der Interviewpartner erfolgte notwendigerweise in Abstimmung mit den entsprechenden Lebensgemeinschaften. „Bei der Auswahl von Befragten muss keine Zufallsstichprobe gezogen werden, da es im Ergebnis nicht um repräsentative Aussagen, sondern um die Erhebung typischer Strukturen und Gegebenheiten geht“ (Kurz u.a. 2007, 468). Zum einen wurde je ein Mitarbeiter sowie ein behinderter Mensch aus der Haus- oder Hofgemeinschaft35 befragt, in der ich während der ersten Phase untergebracht war. Zum anderen wurde je eine Person der beiden Gruppen aus einem anderen Haus bzw. Hofteil interviewt. So sollte eine zu starke Fixierung auf einen Bereich vermieden werden. Die Mitarbeiter gehörten der Gruppe der Hausverantwortlichen an, d. h. sie sind allein oder mit weiteren Personen zuständig für die Leitung einer Haus- oder Hofgemeinschaft. Damit wurde sichergestellt, dass ein unmittelbarer Bezug zur alltäglichen praktischen Arbeit vorhanden ist sowie – aufgrund der leitenden Funktion war dieses anzunehmen – die Ziele der Gemeinschaft bekannt sind. Eine paritätische Aufteilung bezüglich des Geschlechts wurde angestrebt. Zudem habe ich gebeten, bei der Auswahl nach Möglichkeit nach weiteren Kriterien zu kontrastieren, so z. B. bezüglich der Länge der Zugehörigkeit zur Lebensgemeinschaft, der Größe des Haushalts sowie der Zusammensetzung der Haus- oder Hofgemeinschaft hinsichtlich Hilfebedarf der dort lebenden Menschen mit Behinderungen. Insgesamt konnten für die Befragung nur diejenigen Menschen mit Behinderung ausgewählt werden, die über einen bestimmten Grad sprachlicher Kompetenz verfügen. Auch Menschen einzubeziehen, die sich sprachlich nicht oder in nur sehr eingeschränkter Weise äußern können, hätte die Entwicklung eines vollständig eigenständigen methodisch-didaktischen sowie inhaltlichen Zugangs erfordert. Im Rahmen dieser Arbeit war dieses jedoch aufgrund anderer Schwerpunktsetzungen nicht möglich. Unterstützt durch die Software f4 wurden die elektronisch aufgezeichneten Interviews vollständig transkribiert. Dabei habe ich – ergänzt um eigene Aspekte – Bezug auf die von Kuckartz u.a. (2008, 27f.) vorgelegten Transkriptionsregeln genommen: Ich habe wörtlich transkribiert, also nicht lautsprachlich oder zusammenfassend. Dialekte wurden nicht mit transkribiert. 35
Zur Struktur der einzelnen Lebensgemeinschaften siehe Kapitel 6. Dort finden sich auch genauere Angaben zu den befragten Personen.
4.8 Feldphase II
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Die Sprache und Interpunktion wurden leicht geglättet, d. h. an das Schriftdeutsch angenähert. Alle Angaben, die einen Rückschluss auf eine befragte oder andere Personen erlauben, wurden anonymisiert. Alle Personennamen wurden mit einem verfremdeten Buchstaben abgekürzt. Innerhalb eines Interviews wurden die gleichen Personen mit der gleichen Abkürzung versehen. Begriffe wie Ortsbezeichnungen oder Firmennamen wurden aus Anonymisierungsgründen in der Regel ganz weggelassen. Dieses habe ich mit (.) deutlich gemacht. Deutliche, längere Pausen wurden durch Auslassungspunkte (...) markiert. Besonders betonte Begriffe habe ich durch Unterstreichungen gekennzeichnet. Zustimmende bzw. bestätigende Lautäußerungen der Interviewer (Mhm, Aha etc.) wurden in der Regel nicht mit transkribiert. Einwürfe der jeweils anderen Person habe ich in Klammern gesetzt. Lautäußerungen der befragten Person, die die Aussage unterstützen oder verdeutlichen (etwa lachen oder seufzen), wurden ebenso wie Ereignisse während des Gesprächs (etwa Telefonklingeln) in Klammern notiert. Die interviewende Person wurde durch ein ‚Iދ, die befragte Person durch ein ‚Bދ, gefolgt von ihrer Kennnummer, gekennzeichnet (etwa ‚B4)ދ. Nicht vollendete Sätze oder Gedankensprünge wurden durch drei direkt an das letzte Wort angrenzende Punkte deutlich gemacht (etwa: ‚Dann wusste ich nicht weiter…)ދ.
Zur Sondierung der allgemeinen Lage der Lebensgemeinschaften, von wesentlichen strukturellen Änderungen zwischen der ersten und zweiten Feldphase, Klärung von offenen Fragen aus der ersten Phase und zum Austausch über den Fortgang meines Projektes habe ich während meines zweiten Aufenthalts jeweils kurze Gespräche mit der Leitung der Gemeinschaft geführt. Diese wurden im Anschluss auf Basis von im Verlauf des Gesprächs angefertigten Notizen zusammenfassend protokolliert. Weitere teilnehmende Beobachtungen wurden planmäßig nicht durchgeführt. Allerdings habe ich Aspekte, die von den Beobachtungen der ersten Feldphase in auffälliger Weise abwichen bzw. das vorhandene Wissen ergänzten, im Postskript der Interviews oder im Forschungstagebuch notiert.
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4 Forschungsdesign und Verlauf der Studie
4.9 Auswertung der Feldarbeit und Darstellung der Ergebnisse 4.9 Auswertung der Feldarbeit und Darstellung der Ergebnisse Die qualitative, am Gegenstand der Forschung ausgerichtete Vorgehensweise sowie der angewendete Methodenmix brachten es mit sich, dass eine die spezifischen Bedingungen der Studie berücksichtigende Auswertungsstrategie entwickelt und eine im Einklang damit stehende Darstellungsform gefunden werden musste. Hinsichtlich der konkreten Auswertungsarbeit sah ich mich mit einem quantitativ umfänglichen Konglomerat aus Protokollen, Forschungstagebüchern, Interviewtranskripten, Postskripten und Memos konfrontiert. Basierend auf der nach der ersten Feldphase angelegten Kategorienstruktur habe ich zunächst die Transkripte der Interviews mit Hilfe von MAXQDA einer ersten Einordnung unterzogen und diese nachfolgend mit den vorhandenen Texten verknüpft. Es folgte die wiederholte Lektüre des gesamten Materials, um die innewohnenden Inhalte präsent zu machen und gedanklich zu verankern. In weiteren Durchgängen der Texte habe ich sodann:
Anlage und Bezeichnungen der bereits erarbeiteten Haupt- und Subkategorien begutachtet, die vorgenommenen Zu- und Einordnungen auf Plausibilität überprüft und nach weiteren Subkategorien differenziert.
Im Ergebnis kam es zu Modifizierungen, Verschiebungen und folglich auch zu neuen Zuordnungen innerhalb des kategorialen Systems. Die Hauptkategorien haben sich allerdings als stabil erwiesen. Jedoch habe ich im Sinne einer besseren Griffigkeit der jeweiligen Kategorie an einigen Stellen Abwandlungen hinsichtlich der Bezeichnungen vorgenommen. Die endgültige Version des Systems der Haupt- und Subkategorien spiegelt sich in den Kapiteln des Auswertungsteils dieser Arbeit wider (siehe Kapitel 6ff.).36 Die in der zweiten Feldphase durchgeführten Gespräche mit den Leitungen der Lebensgemeinschaften wurden nicht systematisch kategorisiert, sondern dienten im Rahmen des Auswertung und Darstellung des Feldmaterials als Flankierung und Ergänzung. Die Notizen aus den Forschungstagebüchern sowie den Postskripten haben in erster Linie für die reflexive Auseinandersetzung mit der Forschungspraxis Verwendung gefunden.
36
Trotz Bemühens um größtmögliche Trennschärfe weisen die einzelnen Kategorien auch nach Abschluss des Auswertungsprozesses partielle Interdependenzen auf – ein Umstand, welcher der Tatsache geschuldet ist, dass sich das facettenreiche Alltagsgeschehen eben nur schwer in eindeutige Rubriken aufteilen lässt.
4.9 Auswertung der Feldarbeit und Darstellung der Ergebnisse
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Der Weg vom kategorisierten Textmaterial zur dichten Beschreibung umfasste mehrere Schritte: 1.
2.
3.
4. 5.
37
Die zu jeder Subkategorie gehörenden Einheiten wurden intensiv gelesen und mittels Paraphrasieren mit ersten Ideen für eine weitere Differenzierung versehen. Damit in Verbindung stehende Memos wurden systematisch hinzugezogen. Aus den Textsegmenten heraus wurde ein Zitat als Motto für den in Bearbeitung befindlichen Zusammenhang gesucht, das diesen in aussagekräftiger Weise repräsentiert und dadurch hilft, diesen besser ergreifen zu können (Jaeggi/Faas/Mruck 1998, 7). Unterstützt durch die Mind-Map-Methode (Buzan/Buzan 2002) und aufbauend auf den zu Beginn erarbeiteten Paraphrasen wurde die jeweilige Subkategorie noch einmal feingliedriger strukturiert und dadurch in bearbeitbare Abschnitte unterteilt. Entlang dieser Struktur fand eine Verdichtung des Materials zu einer Deskription statt. Um die Nähe zum Forschungsgegenstand aufrechtzuerhalten, erfolgte eine enge Orientierung am Material, was sich durch eine häufige Verwendung von exemplarischen Zitaten aus den vorliegenden Texten ausdrückt. Die Beschreibungen zu den einzelnen Einheiten wurden unter dem Dach der entsprechenden Hauptkategorie zusammengeführt und mit einem übergreifenden Motto versehen. Auf Grundlage einer von Fragen strukturierten Durchsicht der erzeugten dichten Beschreibung wurde jeweils pro Hauptkategorie eine aus zwei Teilen bestehende Reflexion ausgearbeitet.37 Zum einen habe ich mich gefragt: ‚Was ist mir aufgefallen, was hat mich berührt, welche Fragen stellen sich mir?ދ. Das Resultat dieses Prozesses habe ich in Form einer (persönlichen) ‚Kommentierung ދniedergeschrieben. Um den besonderen subjektiven Gehalt dieses Produktes klarzulegen, wird die Kommentierung jeweils visuell durch einen Kasten abgegrenzt. Zum anderen habe ich gefragt: ‚In welchen fachlichen Zusammenhang lässt sich das Beschriebene einordnen? ދDas Ergebnis dieser Auseinandersetzung drückt sich jeweils in einer ‚kontextuellen Einordnung ދaus. Dort werden somit die Beschreibungen im Rahmen relevanter Fachliteratur gespiegelt. Beide Arten der Reflexion zielen nicht auf eine Bewertung, sondern vielmehr auf eine persönliche bzw. fachbezogene Rahmung der beschriebenen Phänomene.
Eine Ausnahme bildet hier das Kapitel 6, in welchem die beteiligten Lebensgemeinschaften und Personen portraitiert werden. Dieses führt in den Kontext der beforschten Gemeinschaften ein und ist daher rein deskriptiv angelegt.
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4 Forschungsdesign und Verlauf der Studie
6.
Im Rahmen des Epilogs dieser Arbeit wurden wesentliche Themenstränge schließlich im Sinne einer Gesamtreflexion zusammengeführt.
Der aufgezeigte Arbeitsprozess wurde in regelmäßigen Abständen in einem Forschungskolloquium besprochen. Dort habe ich auch Zwischenergebnisse zur Diskussion gestellt. Abschließend sei eine Auflistung des Materials dargestellt, das die Basis der Auswertungen bildete. Angegeben wird jeweils auch, wie dieses in den folgenden Kapiteln der Arbeit zitiert wird:38 Abkürzung im Text FT 1, S. 6 FT 2, S. 8 FP 1, Abs. 2
B2, Abs. 4 B1M, Abs. 5 PS, S. 7 GL 1, S 3
38
Bezeichnung Forschungstagebuch, Phase 1, Seite 6 Forschungstagebuch, Phase 2, Seite 8 Feldprotokolle, Phase 1 (Beobachtungsprotokolle, inkl. eroepische Gespräche), Nr. 1, Absatz 2 Interview in Feldphase 2 mit Befragtem 2 (Mensch mit Behinderungen), Absatz 4 Interview in Feldphase 2 mit Befragtem 1 (Mitarbeiter), Absatz 5 Postskripte der Interviews, Seite 7 Gespräche mit Leitung der Lebensgemeinschaft in Feldphase 2, Nr. 1, Seite 3 des zusammenfassenden Protokolls
Die Transkripte der Interviews sowie die weiteren Materialien befinden sich beim Autor (siehe dazu auch Kapitel 4.7).
5 Im Feld – Reflexionen zur Forschungspraxis 5 Im Feld – Reflexionen zur Forschungspraxis 5 Im Feld – Reflexionen zur Forschungspraxis
„Die Wahrheit liegt im Feld“39 Das schriftliche Festhalten der emotionalen, sozialen und strukturellen Rahmenhandlung des sich im Feld abspielenden Forschungsprozesses – beispielsweise in Form von Tagebüchern – stellt einen notwendigen Akt ‚saubererދ, ergo glaubwürdiger Forschung dar. In erster Linie dienen die dadurch gewonnenen Aufzeichnungen dem Feldforscher während der Auswertungsphase als Stütze zur Rekonstruktion des Entstehungsprozesses der generierten Inhalte und somit zur Rückkopplung der fixierten Phänomene an den Entstehungskontext. Als prominentestes Beispiel kann in diesem Zusammenhang sicherlich das – posthum veröffentlichte – Tagebuch Bronislaw Malinowskis aus seiner Zeit in Neuguinea (1914-1918) gelten, das vor allem deutlich macht, welche Schwierigkeiten der Autor bei der Teilnahme am Leben in einer anderen Gesellschaft zu überwinden hatte (Malinowski 2003). Essentiell sind diesbezügliche Niederschriften darüber hinaus ebenso, um dem Leser ethnographischer Studien den Kontext, in dem die Forschung stattfand, klarzulegen und somit die Transparenz des Forschungsprozesses zu erhöhen. Einige reflexive Anmerkungen zur Forschungspraxis seien daher den Beschreibungen der inhaltlichen Dimension der Felderfahrungen vorangestellt.40 Die Grundlage der Reflexionen bilden meine Erfahrungen mit der Forschungspraxis, die ich während der Feldaufenthalte täglich in meinem Forschungstagbuch festhielt sowie hinsichtlich des Verlaufs der Interviews die jeweils im Anschluss an diese verfassten Postskripte.41 Wie bekannt, habe ich zwei Feldphasen durchgeführt, die jeweils mit mehrtägigen Aufenthalten über Tag und Nacht in allen vier ausgewählten Lebensgemeinschaften einhergingen. Jede Feldforschung ist – so sie die Maxime der Offenheit ernst nimmt und den Anspruch verfolgt, in eine für den Außenstehenden 39 40 41
Titel der Festschrift zum 65. Geburtstag von Roland Girtler (Ehalt/Hochgerner/Hopf 2006). Anregungen zur Struktur dieses Kapitels habe ich auch durch ein schriftlich fixiertes Reflexionsgespräch mehrerer ethnographisch tätiger Forscher zum Thema ‚Feldeintritte ދgewonnen (Schoneville u.a. 2006). Davon zu unterscheiden sind hinsichtlich dieser Arbeit – wie bereits erläutert – die Feldprotokolle, welche die Aufzeichnungen der während der ersten Feldphase gemachten Beobachtungen enthalten.
C. Stamm, Anthroposophische Sozialtherapie im Spiegel ausgewählter Lebensgemeinschaften, DOI 10.1007/978-3-531-93294-1_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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5 Im Feld – Reflexionen zur Forschungspraxis
fremde Welt einzutauchen – immer auch ein Wagnis mit unklarem Ausgang: „Als Fremde/r bewegt man sich auf unsicherem Terrain, weil die Feldregeln nicht vertraut sind, der Grad an Zugang nicht sichergestellt ist und kaum bekannt ist, was passieren wird“ (Schoneville u.a. 2006, 231). Insbesondere vor dem Hintergrund, dass ich jeweils Tag und Nacht am Ort der Geschehens verbracht habe, kann auch nach meinem Erleben zufolge durchaus vom „Abenteuer Feldforschung“ (Sutterlüty/Imbusch 2008) gesprochen werden. Was sind nun wesentliche Erfahrungen, die ich während der Feldphasen in Bezug auf meine Forschungsarbeit gemacht habe? Nachfolgend werden diese entlang der – zum Teil interdependenten – Kategorien ‚Aufnahme im Feldދ, ‚Beobachten und Protokollierenދ, Feldforscherrolle ދsowie ‚Interviews führenދ veranschaulicht. Aufnahme im Feld Der ethnographisch vorgehende Wissenschaftler begibt sich in den Alltag seiner Forschungssubjekte, um diesen möglichst unverfälscht wahrnehmen zu können (Cloos 2008, 208). Der Feldforscher muss somit – zumindest partiell – Teil des Alltags werden, um Zugang zu der ihn interessierenden Lebenswelt zu erhalten. Voraussetzung dafür ist eine geglückte Einsozialisation ins Feld, die mit dem Aufbau von Vertrauen und der „Erzeugung von Kreditwürdigkeit“ (Kalthoff 1997, 243) einhergeht. Vor Beginn der Feldaufenthalte – insbesondere vor den allerersten Feldkontakten in Phase 1– war ich nervös und zweifelte, ob mein Vorhaben gelingen kann. Wie werde ich aufgenommen? Kann ich mich einfügen und gleichzeitig das rechte Maß an Distanz wahren, um mit dem ‚fremden Blick ދbeobachten zu können? Die Sorgen überwogen: „Habe Angst – was kann alles passieren?“ (FT 1, S. 1). Im Feld angekommen, erwiesen sich meine Beklemmungen letztlich immer als unbegründet – mit zunehmender Felderfahrung verringerte sich somit die Anspannung. Nur wenige Hürden galt es zu überwinden, Kontakte entstanden schnell und mir wurde in allen vier Gemeinschaften mit großer Freundlichkeit begegnet:
„Werde herzlich empfangen, trinke und esse und werde direkt von einigen Bewohnern herumgeführt (FT 1, S. 1)“. „Die Atmosphäre ist freundlich, gelassen. Es wird mir angeboten, dass ich mich auch später noch in der Küche bedienen könne, falls ich Hunger bekäme. Welche Gastfreundschaft!“ (FT 2, S. 9).
5 Im Feld – Reflexionen zur Forschungspraxis
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Auch stieß ich in der Regel auf großes Interesse bezüglich meines Forschungsprojektes. Immer wieder erstaunt war ich zudem über die große Offenheit und Auskunftsbereitschaft, mit welcher die meisten Gemeinschaftsmitglieder mir – einem Fremden – gegenübertraten. So konnte ich an vielen gemeinschaftsbezogenen Aktivitäten teilnehmen und es ergaben sich immer wieder Ad-hocGespräche über das alltägliche Leben in gemeinschaftlichen Zusammenhängen. Man ließ mich gewähren. Ich hatte ‚freie Bahnދ, mich dort umzusehen, wo ich wollte bzw. an allen Geschehnissen des Alltags zu partizipieren:
„Spannend ist, wie offen ich auch hier aufgenommen und informiert werde. Man lässt mich walten, ich kann praktisch machen, was ich will, kriege nichts aufgenötigt und kann meinen Zeitplan weitgehend selbst bestimmen“ (FT 1, S. 5). „Vereinbare später in einem Gespräch mit Herrn F., dass er mich machen lässt, mir zum Teil etwas zeigt, aber ansonsten sein Ding macht und ich ihn anspreche, wenn ich etwas Bestimmtes wissen oder gezeigt bekommen will“ (FT 1, S. 1).
Angesichts der geschilderten Erfahrungen gehe ich von einer günstig verlaufenen Einsozialisation ins Feld aus. Dieses zeigen auch entsprechende Rückmeldungen von Gemeinschaftsmitgliedern:
„Er [Mitarbeiter] sagt, dass er es gut fand, wie ich mich diskret eingefügt habe“ (FT 1, S. 8). „Zum Abschied betont er [leitender Mitarbeiter], dass auch dieser Aufenthalt von mir angenehm gewesen sei und schenkt mir eine Tüte mit Erzeugnissen aus eigener Produktion“ (FT 2, S. 14).
Hin und wieder kamen mir allerdings Zweifel in Bezug auf die erlebte Zuvorkommenheit. Ich fragte mich bisweilen, ob ich mich in meiner Forscherrolle insofern tangieren ließ, als dass sich dadurch vielleicht Wahrnehmung und Forschungshaltung änderten: „Es sind also große Offenheit und Unterstützungsbereitschaft vorhanden – ich muss jedoch aufpassen, dass ich mich davon nicht beeinflussen lasse, was Erwartungen an mich, Ansprüche an meine Arbeit und natürlich auch ‚Korrumpierbarkeit ދangeht“ (FT 1, S 14). Eine Antwort darauf vermochte ich mir selbst jedoch nicht zu geben.
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5 Im Feld – Reflexionen zur Forschungspraxis
Beobachten und Protokollieren Während der ersten, hinsichtlich des Wahrnehmungsfokus nur wenig eingegrenzten Feldphase stellten Beobachten und Protokollieren einen essentiellen Bestandteil meiner Arbeit dar. Als handlungsleitende Maxime meiner Forschungspraxis diente für mich dabei eine im Zuge meiner Vorbereitungen auf das Abenteuer Feldforschung gefundene Sentenz des Schriftstellers Jean Paul aus dem Jahre 1799: „Schreib ދalles auf; gerade wenn etwas sich zuträgt, glaubt man es nie zu vergessen, weil die Gegenwart glänzt; aber die nächste thuts auch und dan vergisset man“ (Paul 1996, 27). Zu Beginn jedes Feldaufenthaltes habe ich versucht, das Spektrum der Beobachtungen – und somit auch der Niederschriften – möglichst weit zu fassen, um einen Überblick über das Geschehen in der jeweiligen Gemeinschaft zu erhalten. Mit Zunahme der Feldkenntnis hat sich der Blickwinkel dann sukzessive eingeengt und ich konnte bestimmte Phänomene – auch durch Ad-hoc-Gespräche – gezielt vertiefen. Notizen als Ankerpunkte für die zu erstellenden Protokolle habe ich, um eine Beeinflussung der Situation zu vermeiden, in der Regel nicht offen sichtbar angefertigt, sondern mich dafür kurz zurückgezogen. Die Toilette kann hier als ein dementsprechendes Refugium genannt werden, die auch anderen ethnographisch Tätigen bereits gute Dienste geleistet hat: „Die Toilette ist jedoch so ein Ort, an dem du ungestört ein paar Notizen machen kannst. Manchmal musst du sozusagen eine Legitimation haben, dich rauszuziehen und es muss relativ natürlich aussehen“ (Schoneville u.a. 2006, 234). Obwohl ich den konkreten Prozess des Notierens somit verdeckt durchgeführt habe, habe ich – z. B. bei der Vorstellung meines Vorhabens – immer erwähnt, dass ich später meine Wahrnehmungen vom gemeinschaftlichen Leben aufschreiben werde. Ergaben sich von mir oder von Mitgliedern der Gemeinschaft initiierte längere Gespräche, habe ich jedoch häufig meinen Schreibblock herausgeholt und darum gebeten, mir einige Notizen machen zu dürfen. In ereignisärmeren Zeiten, etwa während der Mittagszeit oder am späteren Abend, habe ich meine Aufzeichnungen dann in dem von mir bewohnten Zimmer dekomprimiert und zu Protokollen verarbeitet. Oftmals reichte die dafür vorhandene Zeit jedoch nicht aus, so dass einige Niederschriften auch erst nach Beendigung des jeweiligen Aufenthalts angefertigt werden konnten. Das Beobachten und Protokollieren habe ich als große Herausforderung erlebt. Während meiner Anwesenheit in den Lebensgemeinschaften verspürte ich daher immer eine recht hohe Anspannung – ich wechselte ständig zwischen einem Status des ‚permanenten Achtgebens ދund des ‚unentwegten Notierensދ hin und her. Eine trennscharfe Abgrenzung zwischen beiden Zuständen war dabei nicht möglich: „Es ist eben anstrengend: Ich beobachte nicht aus der Ent-
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fernung, stehe nicht mit dem Block abseits, sondern bin mitten drin im Geschehen. Ich muss innerlich notieren (d. h. mir wichtige Dinge merken) und agieren, reagieren, dabei sein. Dabei denke ich immer daran, was ich wohl gleich schnell auf dem Klo auf meinen Notizzettel schreiben werde!“ (FT 1, S. 13). Vor allem die Befürchtung, die Masse der – fortwährenden – Eindrücke nicht bewältigen d. h adäquat zu Papier bringen zu können, quälte mich manches Mal:42
„Würde am liebsten heute gar nicht mehr beobachten. Es ist schwierig, wenn man ständig Eindrücken ausgesetzt ist und diese auch noch niedergeschrieben werden wollen! Gehe dann mit dem Fotoapparat herum und mache einige Bilder, kaufe danach im Hofladen ein (Marmelade, Schinken, Brot) und unterhalte mich kurz mit F. R.“ (FT 1, S. 2). „Ziehe mich zwischendurch zurück, um zu schreiben, mir gelingt aber viel weniger als erhofft. Mir fällt ein, dass Girtler schreibt, dass viele seiner Studierenden Feldforschungen wegen der mühsamen Protokollierungsarbeit nicht zu Ende bringen“ (FT 1, S. 5). „Habe heute vier bis fünf Stunden nur Protokoll geschrieben und bin dennoch nicht ganz fertig geworden. Und morgen kommt schon wieder Neues dazu! Ich hoffe, dass ich das durchhalte!“ (FT 1, S. 5).
Indes: Hierbei scheint es sich um im Rahmen ethnographischer Forschungen eher übliche Erfahrungen zu handeln. Auch andere Feldforscher – so stelle ich im Nachhinein erleichtert fest – sehen sich mit derartigen Erlebnissen konfrontiert: „Du bist ständig mit dem Problem konfrontiert, wie du das, was du beobachtest, möglichst gut mit Hilfe deiner Notizen festhalten kannst. Dir qualmt ständig der Kopf und du hast das Gefühl, du müsstest möglichst oft und lang Notizen machen, sonst vergisst du alles wieder“ (Schoneville u.a. 2006, 235). Immer wieder stellte sich mir während des Protokollierens – bohrend – auch die Frage, ob ich überhaupt das Charakteristische, das Typische des gemeinschaftlichen Lebens festhalte:
„Nachmittags ziehe ich mich einige Stunden zurück, um meine Protokolle abzufassen. Bin danach ziemlich erledigt, zweifele am Sinn der Protokolle – habe ich überhaupt das Richtige und Wichtige aufgeschrieben?“ (FT 1, S. 2).
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Schon während der Feldaufenthalte merkte ich, dass ich zeitweilig viel selbstquälerisches Gedankengut in meinem Tagebuch festhielt. So notierte ich dort in ironischer Weise: „Werde dieses Tagebuch übrigens unter dem Titel: ‚Die quälenden Gedanken eines zweifelnden Feldforschers ދveröffentlichen“ (FT 1, S.7).
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5 Im Feld – Reflexionen zur Forschungspraxis „Und dabei eben ständig die Frage: Habe ich das Wichtige und Richtige aufgenommen, kann ich mir das Wesentliche behalten, was schreibe ich auf? Das zehrt!“ (FT 1, S. 5).
Zu diesen Überlegungen passt ein Aphorismus von Goethe, den Girtler (2004, o. S.) seinen ‚10 Geboten der Feldforschung ދals Motto voranstellt: „Was ist das Schwerste von allem? Was dir das Leichteste dünkt: Mit den Augen zu schauen, was vor den Augen liegt“. Aufgrund der naturgegebenen Selektivität der menschlichen Wahrnehmung ist die Frage nach der ‚richtigen ދBeobachtung allerdings für mich im Grunde nicht beantwortbar. Da letzten Endes jedoch zur Auswertung die Protokolle von Aufenthalten in vier Lebensgemeinschaften sowie die Transkripte der vertiefenden Interviews hinzugezogen wurden, kann davon ausgegangen werden, dass die schließlich beschriebenen Geschehnisse nicht allein subjektive Bedeutung besitzen. Feldforscherrolle Das Agieren als Feldforscher, d. h. als teilnehmender Beobachter, erfordert zunächst eine Klärung der eigenen Rolle, mit der man sich im Feld bewegt. Zugespitzt formuliert geht es dabei um die Frage, ob „Mitmachen“ angezeigt ist oder „Eckensteherethnographie“ betrieben werden soll (Cloos 2008, 218). Um Kreditwürdigkeit und Vertrautheit zu erlangen sowie nah an den relevanten Alltagsprozessen zu sein, bedarf es zum einen einer aktiven Partizipation an den alltäglichen Begebenheiten: „Erst durch die Teilnahme am Geschehen wird das Handeln der beruflichen Akteure und der Adressaten nachvollziehbar“ (Cloos 2008, 211). Zum anderen kann hingegen eine zu enge Einbindung in das Geschehen die für eine Außensicht notwendige Fremdheit verringern und somit zu einem dem ethnographischen Anspruch zuwiderlaufenden ‚distanzlosen Blick ދführen: „Sollte zusehen, dass ich eine professionelle Distanz beibehalte, um mich und mein Vorhaben zu schützen“ (FT 1, S. 6). Insofern galt es in der Forschungspraxis, zwischen beiden Positionen zu balancieren, mit anderen Worten zwischen beobachtender Teilnahme und distanzierteren Formen der Beobachtung hin- und herzupendeln. Der von KochStraube geprägte Begriff „zugewandte Distanz“ (1997, 25) bringt diese Haltung dabei sprachlich auf den Punkt: „Es ist wirklich nötig, eine Haltung der ‚zugewandten Distanz ދzu entwickeln. D. h sich für die Sache interessieren, aber mich nicht zu sehr emotional verwickeln zu lassen, sondern loslassen können“ (FT 1, S. 4).
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Praktisch betrachtet habe ich demzufolge abhängig vom Kontext der jeweiligen Situation entschieden, inwieweit ich aktiver Teilnehmender oder eher Zuschauer einer bestimmten Episode bin. Dass in einigen Fällen ein aktives Mitmachen nicht nur sinnvoll, sondern geboten ist, kann am Beispiel der Beschreibung einer Morgenrunde aufgeführt werden, die vor Beginn der Arbeit im Saal einer Gemeinschaft stattfand und an der Mitarbeiter und Menschen mit Behinderungen partizipierten. Hier hätte eine Nichtbeteiligung mit dem Zweck, unbefangener – und genauer – beobachten zu können, sicherlich meine Einsozialisation ins Feld erschwert: „Heute leitet eine Mitarbeiterin, die ich bereits kenne, die Runde. Als Einleitung erzählt sie, dass die letzte Morgenrunde ‚total ätzend ދgewesen sei und sie das nicht mehr erleben wolle. Man müsse sich entscheiden: Entweder man gehe hin und mache mit, oder man lasse es bleiben. Man solle das Gefühl, dass es peinlich sei, ablegen, die Übungen hätten eine Funktion, man werde wach, die Runde trage zur Gemeinschaftsbildung bei, wenn man mitmache, mache es auch Spaß etc. Habe den Eindruck, die Rede richtet sich vor allem an die anwesenden Mitarbeiter – auch die verwendete Sprache spricht dafür. Mir schwant Übles – aber was soll’s, ich werde mich jetzt im Sinne der Forschung nicht exkludieren, sondern einen guten Eindruck machen und Aktivität zeigen. Dann wird mit verschiedenen Lockerungsübungen begonnen – Strecken, Räkeln, Glieder schütteln, Kopfmassage etc. Danach werden drei Lieder geprobt, zum Teil sogar als Kanon. Diese sind wohl Teil des Weihnachtsspiels, das gerade geprobt wird. Alle machen mit und beteiligen sich fleißig. Der neben mir stehende behinderte Mensch lobt mich für meine Aktivität: ‚gut mit gemacht, sehr gut( “ދFT 1, S. 10). Wenn auch nicht oft, so kam es doch zuweilen vor, dass ich von Mitarbeiterseite mit meine Forscherrolle tangierenden Vereinnahmungsstrategien konfrontiert wurde. In erster Linie – so mein Eindruck – sollte damit der Versuch unternommen werden, mich für eine bestimmte Sicht der Dinge zu gewinnen und das eigene Handeln von externer Seite gutheißen zu lassen. Als Beispiel kann an dieser Stelle die Niederschrift eines Gespräches hinzugezogen werden, das sich nach einem am Esstisch ausgetragenen Konflikt zwischen einem Mitarbeiter und einer behinderten Frau ergab: „Beim späteren Abwaschen fragt mich Herr K. [Mitarbeiter], ob ich denn vergleichen könnte, in welcher der vier ausgewählten Lebensgemeinschaften denn am autoritärsten vorgegangen werde. Ich stutze und sage, dass ich ihm darauf keine Antwort geben könne. Das sei auch nicht mein Forschungsthema, zudem seien meine Aufenthalte in den Einrichtungen dazu zu kurz gewesen (de facto versuche ich mich herauszureden – ich kann und will ihm dazu keine Antwort geben). Herr K. ergänzt dann, dass ich ja gerade eine Situation mit L. [behinderte Frau] erlebt habe, in der er autoritär reagiert habe. Er denke von sich, dass er autoritär sei (Herr K., so wird mir klar, wollte
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nicht die Unterschiede hinsichtlich der Autorität zwischen den Einrichtungen, sondern sein Verhalten bewertet wissen. Ich sehe mich in einer unglücklichen Situation – habe das Gefühl, dass Herr K. sein eben gezeigtes Verhalten absichern will, von mir eine Einschätzung haben möchte. Ich weiche einer deutlichen Einschätzung und Bewertung aus)“ (FP 4, Abs. 170f.). Wie ersichtlich ist, sah ich es in diesem – sowie in anderen Fällen – als die sinnvollste Methode an, nicht konkret Stellung zu beziehen, da ich mich ansonsten einer Seite zugeschlagen und meine Forscherposition verlassen hätte: „Es geht darum, Vereinnahmungsstrategien abzuwehren oder zumindest geschickt zu lancieren“ (Cloos 2008, 215). Alles in allem bleibt der Ethnograph somit ein „besonderer Anderer“ (Kalthoff 1997, 241; Hervorhebung im Original). Dieses wurde mir während meiner Feldaufenthalte auch regelmäßig widergespiegelt, etwa, wenn ein neuer Gast direkt das ‚Du ދangeboten bekam und ich weiterhin gesiezt wurde: „Kurz vor dem Abendessen ist eine neue Person ins Haus gekommen … Mit dem neuen Gast wird sich direkt geduzt“ (FP 4, Abs. 215). Auch deutlich wurde dies, wenn Personen durch mein Auftreten ihr Verhalten änderten: „In der Küche treffe ich die beiden Herren P. und G. [Mitarbeiter]. Sie bereiten heute gemeinsam das Mittagessen zu. Als Herr G. mich sieht, sagt er etwas wie ‚Oh, jetzt wollte ich gerade lästern, aber wenn Sie jetzt da sind und das aufschreiben, muss ich mir das verkneifenދ. Meine – ironische – Ermunterung, er könne gerne lästern, denn gerade das sei für mich interessant, hat keinen Erfolg“ (FP 4, Abs. 153). Interviews führen Aufbauend auf den Beobachtungen und Gesprächen während der ersten Feldphase wurden im Verlauf der zweiten Feldphase insgesamt 16 Interviews mit Mitarbeitern sowie behinderten Menschen geführt. Abgesehen von einer Ausnahme – hier handelte es sich um ein Missverständnis – habe ich jeweils Einzelinterviews durchgeführt: „Ich weise darauf hin, dass ich eigentlich Einzelinterviews führen wollte, lasse mich dann aber auf eine Zweier-Konstellation ein“ (PS, S. 8). Ein Interview mit einer behinderten Frau konnte zudem – dieses wurde beim Abhören des elektronischen Mitschnitts deutlich – nicht verwendet werden, da sprachliche Barrieren zwischen Interviewer und Interviewter im Zeitrahmen des Gesprächs nicht überwunden werden konnten: „Mir fehlte das notwendige Kontextwissen, um besser auf die Interviewpartnerin einzugehen und die Äußerungen besser interpretieren zu können“ (PS, S. 7). Auch hinsichtlich der Interviews herrschte eine große Offenheit innerhalb der Lebensgemeinschaften: „Insgesamt bin ich immer wieder überrascht, über
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die Offenheit, die mir entgegengebracht wird. Keine Leitung hat genau wissen wollen, was ich fragen möchte, ich bekomme freie Hand“ (FT 2, S. 6). Die Gesprächspartner waren – trotz aller durchaus bestehenden Unterschiede, so dauerten die Interviews zwischen 30 und 90 Minuten – allesamt sehr auskunftsbereit und ließen sich uneingeschränkt auf das von mir gestaltete Interviewsetting ein. Ausnahmslos wurde einer elektronischen Aufzeichnung des Gesprächs zugestimmt. Einige Befragte boten mir vorab das ‚Du ދan, was ich immer angenommen habe. Die von mir mit Rückgriff auf die Methode des problemzentrierten Interviews angewendete Mixtur von offener und stärker strukturierter Gesprächsstrategie hat sich in der deutlich überwiegenden Mehrzahl der Interviews als gut durchführbar erwiesen. Insofern wurden von mir gesetzte Erzählimpulse angenommen, ebenso aber von meiner Seite vorgenommene thematische Erweiterungen und Begrenzungen zugelassen. Tendenziell musste bei den Mitarbeitern allerdings der Sprachfluss eher begrenzt und – wie erwartet – bei den geistig behinderten Gesprächsteilnehmern eher angeregt werden. Hier war in der Regel folglich auch eine stärkere Strukturierung des Interviews, beispielsweise durch intensiveres Nachfragen, notwendig. Zwei Beispiele hierfür:
„Die Idee mit dem Erzählimpuls hat sehr gut funktioniert, der Sprachfluss des Interviewten war durchgängig in hoher Intensität gegeben. Ich hatte zum Teil eher Mühe, das Gespräch auf weitere Themen und Aspekte zu fokussieren“ (PS, S. 1). „Obwohl P. sehr auskunftsbereit war, merkte ich, dass hier eine viel deutlichere Strukturierung vonnöten ist als beim Mitarbeitergespräch. Insgesamt dauerte das Gespräch auch nur 30 Minuten. Ich versuchte, einen Erzählfluss aufzubauen bzw. aufrechtzuerhalten, indem ich Aussagen öfters paraphrasierte und spiegelte. Dadurch überprüfte ich auch, ob ich richtig verstanden habe. Zudem erläuterte ich meine Fragen ausführlicher, um das Verständnis dieser zu fördern. Außerdem hakte ich mehr nach, da es nicht möglich war, einen sehr langen Erzählfluss zu erzeugen“ (PS, S. 2).
Insgesamt betrachtet, hat sich mit der Orientierung am problemzentrierten Interview somit die Möglichkeit ergeben, gezielt auf im Rahmen der ersten Feldphase generierte Themen zu fokussieren und gleichzeitig individuell auf die jeweilige Person, ihre Erzählbereitschaft, die für sie relevanten Themen sowie ihre persönliche Kommunikationsfähigkeit einzugehen. Wie vermutet, wurde in den Interviews mit den behinderten Menschen deutlich, dass Themen, die an ihre konkrete Lebenswelt anknüpfen, differenzierter
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beantwortet werden konnten. In Bezug auf weniger anschauliche Aspekte ergaben sich daher partiell Antworten, die ich zunächst als kontextuell weniger passend einschätzte und dieses mit meiner Interviewführung in Verbindung brachte. Im Zuge der Reflexion dementsprechender Interviews wurde mir indes bald klar, dass die entstandenen Irritationen vielmehr durch spezifische Erwartungen meinerseits verursacht wurden: Die Antworten lagen einfach nicht innerhalb des von mir – implizit – erwarteten Rahmens. Vor dem Hintergrund, dass eine derartige Haltung nicht mit dem Bestreben zusammenpasst, die individuelle Perspektive der befragten Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, konnte ich durch dementsprechende Erfahrungen lernen, mich für diesen ‚blinden Fleck ދzu sensibilisieren: „Ich merke, dass manche Fragen von mir – zumindest bezogen auf meine Erwartungen – ins Leere laufen (bzw. die Antworten ‚knapp daneben ދliegen). So wollte ich herausfinden, was schön am Zusammenleben mit anderen ist, es wurde mir darauf aber erzählt, dass es hier schön sei, da der Blick aus dem Fenster gut ist. Vielleicht stellte ich zu differenzierte, zu wenig verständliche Fragen? Andererseits: Ich betone ja immer, dass es mir um die subjektiven Sichtweisen geht. Somit sind diese ja wichtig und es ist nicht das Ziel, Antworten zu generieren, die in ‚mein ދSchema passen!“ (PS, S. 6). Sollen die Interviews einen Beitrag zum Feldverständnis leisten, so ist immer auch bedeutsam, ob die vom Interviewer eingebrachten Themen aus Sicht der Interviewten Relevanz besitzen. Vornehmlich schien das der Fall zu sein, da meine jeweils am Schluss gestellte Frage, ob weitere Themen als die von mir eingebrachten wesentlich seien, regelmäßig verneint wurde:
„Auf meine Frage, ob es Ergänzungen gebe sagt sie, dass mit meinen Fragen eigentlich das Wesentliche abgedeckt sei (eigentlich doch ein ‚Kompliment ދfür mich)“ (PS, S. 9f.). „Am Schluss sagt B., dass ich interessante Fragen gestellt habe und dass aus seiner Sicht die richtigen Aspekte angesprochen worden seien“ (PS, S. 1).
6 Vier Lebensgemeinschaften – 16 Personen 6 Vier Lebensgemeinschaften – 16 Personen
Wie stellen sich Gestalt und Struktur der vier in diese Studie einbezogenen Lebensgemeinschaften dar? Welche Personen habe ich in den Interviews befragt? Um eine erste Annäherung an mögliche Lebenskontexte in sozialtherapeutischen Gemeinschaften zu vermitteln, werden die vier Organisationen sowie die Interviewteilnehmer jeweils im Rahmen von Portraits skizziert. Die Portraits übernehmen dabei die Funktion, einen grundlegenden Eindruck zu geben. Speziellere Aspekte des Lebens in sozialtherapeutischen Gemeinschaften werden dann jeweils unter einem spezifischen Blickwinkel in den weiteren, die Felderfahrungen thematisierenden Kapiteln aufgefächert. Mit der Auswahl der vier Organisationen sollte der Versuch gemacht werden, das Spektrum sozialtherapeutischer Lebensgemeinschaften in Deutschland im Großen und Ganzen widerzuspiegeln. Vor dem Hintergrund, dass die Erscheinungsformen hier mittlerweile sehr vielgestaltig sind (vgl. auch Siegel-Holz 2008, 272), war diese Absicht selbstredend nicht in vollem Maße realisierbar. Allerdings: Meiner Erfahrung zufolge werden tatsächlich wesentliche Typen sozialtherapeutischer Gemeinschaften repräsentiert. Den skizzenhaften Beschreibungen der Lebensgemeinschaften folgen die entsprechenden Portraits der Interviewteilnehmer. Wie bereits bekannt, fanden in jeder Lebensgemeinschaft Interviews mit vier Personen – jeweils mit zwei Menschen mit Behinderungen sowie zwei Mitarbeitern – statt.43 Namen und Ortsbezeichnungen wurden selbstredend anonymisiert. Die Lebensgemeinschaften haben von mir in diesem Kontext Phantasienamen erhalten; den interviewten Personen habe ich neben einer geschlechtsbezogenen Bezeichnung (Frau bzw. Herr) mittels Zufallsauswahl einen Nachnamen aus meinem privaten Fundus gegeben. Diese Benennungen tauchen allerdings nur im Zusammenhang dieses Kapitels auf. Da im weiteren Verlauf der Arbeit das über43
Wie bereits an anderer Stelle dargelegt, konnte ein Interview mit einer behinderten Frau – dieses wurde beim Abhören der Aufnahme deutlich – nicht verwendet werden, da sprachliche Barrieren zwischen Interviewer und Interviewter im Zeitrahmen des Gesprächs nicht überwunden werden konnten. Somit gibt es hier bezüglich einer Lebensgemeinschaft nur drei Portraits. Jedoch wurde in einer anderen Lebensgemeinschaft ein Doppelinterview mit zwei Gesprächspartnerinnen angesetzt, so dass insgesamt dennoch die im Vorfeld von mir beabsichtigte Anzahl von 16 Interviewten zustande kam.
C. Stamm, Anthroposophische Sozialtherapie im Spiegel ausgewählter Lebensgemeinschaften, DOI 10.1007/978-3-531-93294-1_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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6 Vier Lebensgemeinschaften – 16 Personen
greifend wahrgenommene phänomenologische Spektrum in Beziehung zum Gegenstand des Kapitels im Zentrum der Betrachtung stehen wird, sind diese Unterscheidungen nicht mehr hilfreich. Falls notwendig, werden dann vielmehr auf das konkrete Thema bezogene begriffliche Differenzierungen vorgenommen bzw. im Falle von Personennamen – zufällig gewählte – Buchstaben als Bezeichnung gewählt. 6.1 Lebensgemeinschaft Weitland 6.1 Lebensgemeinschaft Weitland 6.1.1 Gestalt und Struktur44 Die Lebensgemeinschaft Weitland befindet sich im Norden Deutschlands in ländlich geprägtem Gebiet. Sie weist eine dezentrale Struktur auf und besteht aus einem Verbund von vier Arbeits- und Lebensorten – drei Höfen sowie einer Tischlerei. Aufgrund der dezidiert landwirtschaftlichen Ausrichtung von Weitland bilden die Höfe den Kern der Gemeinschaft. Die einzelnen Standorte sind jeweils einige Kilometer voneinander entfernt. Zum Teil liegen Ortschaften in direkter Nachbarschaft, zum Teil befinden sich andere Siedlungen jedoch auch in weiterer Entfernung. Die vier mit geographischen Bezeichnungen versehenen Subgemeinschaften sind jeweils unterschiedlicher Prägung. Zumindest den beiden größten, auch als gemeinschaftliche Zentren fungierenden Ansiedelungen ist aber gemein, dass dort neben Wohnhäusern für behinderte Menschen und Mitarbeiter sowie Wirtschaftsgebäuden für landwirtschaftliche und handwerkliche Zwecke Räume für gemeinschaftliche Aktivitäten, seien es Fernsehabende, kulturelle Veranstaltungen oder Fort- und Weiterbildungen, vorgehalten werden. Auf jedem dieser Höfe sind eine große Küche sowie ein Essraum vorhanden, in dem die Mahlzeiten gemeinsam eingenommen werden. Räumlichkeiten für die Verwaltung sind an einem der beiden Standorte zusammengefasst. Eine Untergliederung in einzelne Wohngruppen gibt es nicht – jeder Hof bildet als Ganzes eine kleine Gemeinschaft. Neben Landwirtschaft und Tischlerei bieten sich weitere Arbeitsmöglichkeiten wie etwa in einer eigenen Bäckerei, im Naturschutz, in Hauswirtschaft und Verwaltung, im Bauhandwerk sowie in den Bereichen Verpackung und Vermarktung. Innerhalb der Gemeinschaft gefertigte Produkte können auch direkt vor Ort erworben werden. 44
Die in den weiteren Kapiteln dieser Studie verarbeiteten Felderfahrungen beziehen sich bei allen vier Lebensgemeinschaften in erster Linie auf den Kernbereich der Organisation und somit vor allem auf Phänomene, welche sich jeweils im konzeptionellen und geographischen Zentrum abspielten.
6.1 Lebensgemeinschaft Weitland
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Knapp 70 Menschen mit Behinderungen leben und arbeiten insgesamt in Weitland. Inklusive Mitarbeitern stellt die Gemeinschaft somit einen Lebensund Arbeitsmittelpunkt für über 100 Menschen dar. Dabei werden an den verschiedenen Standorten zwischen fünf und 27 stationäre Plätze für behinderte Menschen bereitgehalten. Seitens des zuständigen Sozialleistungsträgers ist die Organisation als eigene Form, d. h. als Leistungstyp ‚Lebens- und Arbeitsgemeinschaft ދanerkannt. Somit besitzen beispielsweise die vorhandenen Arbeitsbereiche nicht den Status einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM). Als ambulante Unterstützungsform wird darüber hinaus das betreute Wohnen außerhalb von Weitland angeboten. Auch eine Begleitung von Menschen mit Behinderungen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ist möglich. Auf dem Gelände eines Standorts ist darüber hinaus vor kurzem eine Wohngemeinschaft eingerichtet worden, welche beides, die Möglichkeit eines selbständigeren Lebens und die Option, auf den gemeinschaftlichen Rahmen zurückgreifen zu können, bietet. Die Gemeinschaft bietet Ausbildungen in Handwerk, Landwirtschaft und Verwaltung an. Berufsbegleitend kann außerdem eine sozialtherapeutische Zusatzqualifikation erworben werden (FP 1, Abs. 16; 53; GL 1, S. 1f.). Über eine fachliche und sozialwirtschaftliche Kooperation sind weitere acht landwirtschaftlich arbeitende Höfe mit der Lebensgemeinschaft verbunden. Dort sind zusätzlich insgesamt etwa 50 Wohn- und Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen vorhanden, wobei auf den Höfen jeweils drei bis maximal elf betreute Menschen leben. Diese Höfegemeinschaft erstreckt sich über ein flächenmäßig großes Gebiet in Norddeutschland und unterstreicht dadurch den dezentralen Ansatz von Weitland. Die äußere Gestalt der Lebensgemeinschaft fügt sich in die norddeutsche Landschaft und Bauweise unauffällig ein. Insgesamt betrachtet sind rotes Mauerwerk sowie Holzelemente stilbildend. Dabei existiert eine Mischung aus älteren, bereits vor Gründung von Weitland bestehenden Gebäuden sowie Häusern, die extra für die Nutzung durch die Gemeinschaft errichtet wurden. Die folgenden Zitate geben skizzenhaft einige Impressionen zur äußeren Gestalt der beiden gemeinschaftlichen Zentren der Lebensgemeinschaft wieder:
„Die Wohnhäuser bestehen zum größten Teil aus roten Ziegeln, sind in den meisten Fällen im Obergeschoss mit Holz verkleidet und gruppieren sich umeinander, so dass sich ein Innenhof bildet“ (FP 1, Abs. 8). „Auch in den Häusern fällt ein holzbetonter Stil auf, der eine individuelle Note trägt“ (FP 1, Abs. 14). „Aus meinem Fenster schaue ich auf einen kleinen Holzpavillon und ein einzelnes Holzhaus. Dahinter ist weites Land mit einem Gewächshaus im vorderen Bereich und Wiesen und Äckern im hinteren“ (FP 1, Abs. 9).
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6 Vier Lebensgemeinschaften – 16 Personen „Der Hof (.) [Name des Hofes] ist umgeben von Wiesen und Wald, die Anfahrt nur über kleine Straßen möglich. Er besteht aus einigen alten Gutshäusern aus roten Backsteinen, einem großen sowie kleineren landwirtschaftlichen (Stall-) Gebäuden und einigen Neubauten mit großen Fensterfronten und viel Holz“ (FP 1, Abs. 35).
Begründet wurde Weitland mit dem Erwerb eines ersten Hofes in den 1970er Jahren. Seitdem wurde die bauliche Struktur sukzessive – zum großen Teil in Eigenregie – bis zur jetzigen Gestalt erweitert. Der Gründungsimpuls steht dabei in engem Zusammenhang mit der regionalen Entwicklung der biologischdynamischen Landwirtschaft. Diese auf der Anthroposophie fußende Wirtschaftsweise wurde in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in der Region erstmalig umgesetzt.45 Sozusagen durch ‚Zellteilung ދentwickelten sich danach Schritt für Schritt weitere Höfe, welche auf biologisch-dynamischer Grundlage arbeiteten. Angeregt durch sozialtherapeutische Strömungen innerhalb der Anthroposophie kam es später zur Gründung von bäuerlichen Gemeinschaften, welche die Landwirtschaft um eine soziale Komponente, das Zusammenleben und Arbeiten mit behinderten Menschen, erweiterten. Auch die Lebensgemeinschaft Weitland entstand in diesem Kontext. Dabei ist Grundgedanke des verfolgten Ansatzes, dass nicht das sozialarbeiterische, sondern das landwirtschaftliche Moment im Vordergrund stehen soll. Konkret zeigt sich dieses z. B. an der deutlichen Arbeitsorientierung der Gemeinschaft Weitland, die auch darin zum Ausdruck kommt, dass die Mitarbeiter in der Regel (auch) eine handwerkliche oder landwirtschaftliche Ausbildung absolviert haben (FP 1, Abs. 16; 59). Die Lebensgemeinschaft wird von einem Leitungskreis geführt, dem fünf Mitarbeiter angehören. Gemeinsam mit weiteren Personen sowie Organisationen sind zwei dieser Mitarbeiter auch Teilhaber der die Gemeinschaft tragenden gemeinnützigen Gesellschaft. Die Aufbau- und Ablauforganisation ist geprägt durch eine differenzierte Gremienstruktur. So werden beispielsweise sozialtherapeutische Fragen in einer eigenen Mitarbeiterkonferenz besprochen und arbeitsbezogene Aspekte in einer als Hofgespräch bezeichneten Vollversammlung von Mitarbeitern und Menschen mit Behinderungen thematisiert. Spezifische Belange der in Weitland lebenden Menschen mit Behinderungen werden im Hofbeirat, einem Organ, das sich aus behinderten Menschen zusammensetzt und die Funktion des gesetzlich geforderten Heimbeirates innehat, diskutiert (GL 1, S. 1).
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In der Regel wird in den sozialtherapeutischen Gemeinschaften, in denen eine Landwirtschaft besteht, nach den Richtlinien der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise gearbeitet. Nähere Erläuterungen zu dieser Form der Landwirtschaft finden sich z. B. auf den Internet-Seiten des zugehörigen Demeter-Verbandes (www.demeter.de).
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Nach ihrer Einschätzung befragt, wie sich die Lebensgemeinschaft innerhalb der nächsten zehn Jahre verändern wird, geben die an den Interviews beteiligten Mitarbeiter insbesondere an, dass sie mit einer weiteren Zunahme von Anfragen behinderter Menschen mit komplexen Unterstützungsbedarfen, vor allem im Bereich psychischer Erkrankungen, rechnen. In diesem Zusammenhang werden zum einen Fragen hinsichtlich einer angemessenen Qualifikation der Mitarbeiter gestellt: „Vielleicht muss man da auch eine andere Ausbildung haben oder vielleicht muss da auch wirklich sehr viel mehr so ärztliche Hilfe in Anspruch genommen werden“ (B13aM, Abs. 139). Zum anderen werden neue, sich heute schon teilweise abzeichnende Herausforderungen bezüglich des Zusammenlebens von Menschen mit Behinderungen und Mitarbeitern erwartet: „Und dann braucht man auch jemanden, der da fachlich gut bei ist, also jemanden für psychisch Kranke oder so, weil das ist schwer auszuhalten. Und das ist auch schwer zu vereinbaren, wenn man eine Familie hat mit kleinen Kindern, weil die brauchen einfach viel Aufmerksamkeit“ (B15M, Abs. 94). Aber auch eine weitere Öffnung der Lebensgemeinschaft durch mit dem Gemeinwesen verknüpfte Angebote sowie eine weitere Differenzierung der Wohnangebote – innerhalb und außerhalb von Weitland – wird als eine Zukunftsaufgabe angesehen (B13aM, Abs.136ff.). 6.1.2 Herr Wilkemeyer „Na ja, ich wohne hier schon über 20 Jahre und das ist schon das zweite Zuhause, eigentlich das erste“ (B14, Abs. 115). Herr Wilkemeyer ist zum Zeitpunkt des Interviews 60 Jahre alt und lebt seit über 20 Jahren innerhalb der Lebensgemeinschaft Weitland. Er hat dort bereits auf zwei verschiedenen Höfen gewohnt. Ursprünglich stammt Herr Wilkemeyer aus einer Gemeinde in der weiteren Umgebung seines jetzigen Lebensortes. Nach Abschluss der mittleren Reife hat Herr Wilkemeyer eine Lehre als Schlosser absolviert und ist dann eine Zeit lang zur Bundeswehr, genauer gesagt zur Bundesmarine gegangen: „Und mein Wunsch war immer, also, zur See zu fahren! Weil wir hatten in der Mittelschule einen Mathelehrer, der hat immer von der Seefahrt geschwärmt“ (B14, Abs. 9). Über die Marine kam Herr Wilkemeyer zur Funkerei, was dazu führte, dass er in einer Seefahrtsschule sein Funkpatent machte, um dann als Funker weltweit auf Frachtschiffen unterwegs zu sein: „Bis nach Australien runter, in China und, ach, Amerika ein paar Mal, ja, ja (lacht)“ (B14, Abs. 17). Während dieser Zeit wurde Herr Wilkemeyer suchtkrank, eine Alkoholabhängigkeit entstand: „Ja, und in der Seefahrerei fing das Saufen an, ich
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sage das mal so“ (B14, Abs. 9). Es folgte ein längerer Psychiatrieaufenthalt. Als die Frage der Entlassung anstand, wurde nach einer betreuten Wohnmöglichkeit gesucht. Dabei wurden von Seiten der Klinik verschiedene in Frage kommende Einrichtungen vorgeschlagen und diese dann gemeinsam angeschaut: „Und da haben wir uns dann auch verschiedene Stellen angeguckt und das gefiel mir ganz gut da in (.) [Name der Lebensgemeinschaft]“ (B14, Abs. 23). Die Wahl fiel somit auf die Lebensgemeinschaft Weitland. Heute wohnt Herr Wilkemeyer in einem Einzelzimmer innerhalb eines Hofes der Gemeinschaft, auf dem etwa 30 Personen leben und arbeiten. Es wird gemeinsam gearbeitet, gegessen und zu einem großen Teil auch die Freizeit zusammen verbracht. Die hauptsächliche Tätigkeit von Herrn Wilkemeyer ist die Arbeit in der Landwirtschaft: „Ja, also einmal müssen wir die Tiere versorgen, nicht, einmal hier im Stall und einmal im Laufstall drüben die Gänse und dann haben wir da noch ein paar Rinder laufen. Ja, und sonst ist natürlich, zur Erntezeit ist immer ein Haufen zu machen. Dann machen wir Lauchzwiebeln und dann Möhrenbunde und Pastinaken, Petersilienwurzeln und was wir alles haben“ (B14, Abs. 43). Dabei wird gewöhnlich um sieben Uhr morgens mit der Arbeit begonnen, die dann – unterbrochen durch Pausen – normalerweise bis zum Abendbrot um 18:00 Uhr geht. An den Wochenenden der Sommermonate wird zudem ein öffentliches Café betrieben. Dort arbeitet Herr Wilkemeyer ebenso mit und kümmert sich beispielsweise um den Abwasch: „Also, da hat man auch gesagt, also: „Ohne dich hätten wir es nicht geschafft!“ Ich finde immer, das ist wichtig, dass Lob verteilt wird“ (B14, Abs. 41). Zudem übt Herr Wilkemeyer das Wahlamt des Hofsprechers aus, d. h. er vertritt die Anliegen der auf den Höfen lebenden Menschen mit Behinderungen im hier als Hofbeirat bezeichneten Heimbeirat: „Wenn man so das Vertrauen auch der Mitbewohner hat, das ist schon viel wert. Das muss einfach da sein in solch einer Gemeinschaft, ohne das geht es nicht!“ (B14, Abs. 27). Befragt, ob er sich in der Lebensgemeinschaft Weitland zu Hause fühle, fällt die Antwort zwar zögerlich, aber dennoch zustimmend aus: „Och, eigentlich schon, muss ich sagen, doch“ (B14, Abs. 115). Dabei wird – wie im Eingangszitat ersichtlich – Weitland allerdings zunächst als zweites Zuhause tituliert, aber eine grundsätzliche Zufriedenheit mit der jetzigen Lebenssituation, insbesondere mit der landwirtschaftlichen Ausrichtung der Gemeinschaft, geäußert.
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6.1.3 Frau Schneider „Ja, und ich kann einfach meinen Tagesablauf mit den Kindern so gestalten, wie ich das brauche, und das andere findet dann auch seinen Platz, was ich noch so zu erledigen habe“ (B15M, Abs. 16). Frau Schneider ist zum Zeitpunkt des Interviews 27 Jahre alt und seit zweieinhalb Jahren Mitarbeiterin der Lebensgemeinschaft Weitland. Zusammen mit ihrem Mann und drei Kindern lebt sie auf einem der Höfe: „Ja, mein Mann arbeitet schon ein Jahr länger hier und dann bin ich auch hier angefangen und habe dann letztes Jahr meine Ausbildung abgeschlossen, weil wegen der Kinder, das war ja alles auf einmal nicht so einfach“ (B15M, Abs. 8). Frau Schneider ist gelernte Hauswirtschafterin und erwirbt derzeit berufsbegleitend die sozialtherapeutische Zusatzqualifikation, die von der Lebensgemeinschaft angeboten wird. Aufgewachsen ist sie auf einem anderen Hof der Gemeinschaft, hat diesen aber im Alter von zwölf Jahren mit ihrer Mutter verlassen. Fortan lebte sie auf einem anderen Bauernhof. Auch hier waren Menschen mit Behinderungen Teil der Gemeinschaft. Ihren Schulabschluss hat Frau Schneider an einer Waldorfschule erworben. Nach einigen Jahren des Lebens in einer Wohnung außerhalb von gemeinschaftlichen Zusammenhängen, die z. B. von Familiengründung und dem Beginn der Ausbildung geprägt waren, ist Frau Schneider dann auf den Hof der Gemeinschaft Weitland gezogen, wo sie heute noch lebt. Dort wohnt auch ihr Vater, der Mitbegründer der Gemeinschaft, welcher die Funktion der sogenannten Hausverantwortung46 für diesen Teil der Hofgemeinschaft ausübt und zudem Mitbegründer und Geschäftsführer der gesamten Organisation ist. Frau Schneider nimmt zurzeit die Aufgaben der stellvertretenden Hausverantwortung wahr. Geplant ist, dass sie – zusammen mit ihrem Mann – die Hausverantwortung in den nächsten Jahren vollständig übernimmt: „Ja, der [Vater] gibt das jetzt immer ein bisschen mehr ab“ (B15M, Abs. 12). Frau Schneider lebt mit ihrer Familie in einer Wohnung in einem der Häuser des Hofes. Das Appartement ist zwar abgetrennt, aber dennoch in das Gefüge des Gemeinschaftslebens integriert: „Ja gut, da kommt jeder hin, der was möchte (lacht)“ (B15M, Abs. 14). 46
In allen beteiligten Gemeinschaften wird (mittlerweile) die Bezeichnung ‚Hausverantwortlicheދ für die eine Haus- oder Hofgemeinschaft koordinierenden und leitenden Mitarbeiter verwendet. Die zu früheren Zeiten teilweise gebrauchten Termini ‚Hausmutter ދbzw. ‚Hausvater ދfinden somit keine Verwendung: „Ja, das nennt sich Hausverantwortlicher, hieß früher mal Hausvater, aber um sozusagen deutlich zu machen, dass es hier ja nicht um ein Eltern-Kind-Verhältnis geht, also auch explizit nicht um was Bevormundendes, wurde das so in Hausverantwortliche umgeändert“ (B1M, Abs. 8).
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Als persönliche Motivation, innerhalb einer Gemeinschaft zu leben und zu arbeiten, gibt Frau Schneider die Möglichkeit an, die persönlichen, familiären und beruflichen Erfordernisse gut miteinander kombinieren zu können – an dem diesen Abschnitt vorangestellten Zitat wurde das bereits ersichtlich. Wichtig ist ihr dabei vor allem die enge Verknüpfung mit der Familie: „Dass ich meine Kinder bei mir habe und dass ich, obwohl es sehr groß ist, trotzdem immer in meiner Familie bin“ (B15M, Abs. 16). 6.1.4 Frau Thom „Also, das kann man fast schon sagen, dass das hier so meine zweite Heimat ist. Meine zweite Heimat sage ich dazu und das heißt schon was!“ (B16, Abs. 101). Zum Zeitpunkt des Interviews wohnt Frau Thom seit über zwanzig Jahren innerhalb der Lebensgemeinschaft: „Das ist schon eine ganz schön lange Zeit! Ich hätte auch nie geglaubt, dass ich so lange hier bleiben, hier sein würde (lacht)“ (B16, Abs. 9). Sie ist 50 Jahre alt und ist in einer norddeutschen Großstadt aufgewachsen. Nach dem Volksschulabschluss und einem weiteren Schulbesuch zur Förderung der Berufsreife hat Frau Thom in einer sozialen Einrichtung eine Ausbildung zur Damenschneiderin absolviert: „Und dann habe ich ein halbes Jahr, so ungefähr, mal in so einer Behinderteneinrichtung gearbeitet, aber auch in meinem Beruf: Hosen gekürzt und all ދso ein Kram und genäht (B16, Abs. 21). Währenddessen wurde geheiratet und ihre heute 28-jährige Tochter kam zur Welt. Es folgten einige Jahre, in denen Frau Thom Hausfrau und Mutter war, bis eine Erkrankung sie zwang, sich in stationäre Behandlung zu geben: „Und dann bin ich bzw. bevor die Scheidung war, bin ich irgendwie zusammengebrochen und dann kam ich ins Krankenhaus“ (B16, Abs. 21). Die Ursache für diesen Zusammenbruch konnte – so die Erinnerung von Frau Thom – allerdings nicht gänzlich geklärt werden: „Die konnten aber auch nichts finden, die meinten, das war wohl Überanstrengung oder so was“ (B16, Abs. 21). Im Anschluss an den Krankenhausaufenthalt hat sich Frau Thom dann auf Vermittlung der Klinik in der Lebensgemeinschaft vorgestellt: „Ja, die [Mitarbeiter der Klinik] wussten auch, dass ich irgendwas suche, wo ich irgendwo sein kann, wo ich auch dann wohnen kann, weil ich mich ja von meinem damaligen Mann getrennt hatte“ (B16, Abs. 23). Nach einem kurzen sowie einem längeren Aufenthalt zum gegenseitigen Kennenlernen ist Frau Thom sodann auf einem der Höfe der Gemeinschaft eingezogen, wo sie heute noch lebt. Während der Probephase hat sie sich auch andere Standorte dieses Höfeverbundes angeschaut. Auch anderen Einrichtungen wurden Besuche abgestattet. Die Entscheidung fiel jedoch deut-
6.1 Lebensgemeinschaft Weitland
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lich zugunsten der Lebensgemeinschaft Weitland aus: „Also, ich sah das, als ich das damals hier von diesem Aufbau sah, da war ich echt begeistert von!“ (B16, Abs. 31). Für die Wahl war dabei vor allem die Überschaubarkeit des Hoflebens ausschlaggebend: „Es gibt ja Höfe oder Einrichtungen, na, wie sage ich, Betriebe, sagen wir mal Betriebe, die kommen nicht mit 35 oder 40 Leuten aus, sondern da geht es in die Hunderte … Dann ist auch das Arbeiten und Zusammenleben doch irgendwie anders. Wer sich da nicht durchbeißen kann, der ist gleich unter weg“ (B16, Abs. 33). Frau Thom wohnt in einem der Häuser des Hofes und hat dort ein Einzelzimmer: „Ja, ich habe ein eigenes Zimmer. Es gibt hier auch welche, die zu zweit in einem Zimmer wohnen, aber bei mir ist es nicht die Frage, ob Einzelzimmer oder mit jemandem zusammen. Das ist schon okay, dass ich ein Einzelzimmer habe“ (B16, Abs. 11). Nachdem sie sich mehrere Jahre verschiedenen Näharbeiten wie z. B. dem Kürzen von Hosen gewidmet hat und damit sozusagen in ihrem erlernten Beruf arbeitete, steht mittlerweile die Hauswirtschaft im Vordergrund. Hier geht es dann v. a. um Putzen, Essen vorbereiten, Tisch abräumen und Abwasch machen. „Und man hat gut zu tun, muss ich ganz ehrlich sagen!“ (B14, Abs. 39). Seit einiger Zeit hilft Frau Thom teilweise zusätzlich auch im Garten mit: „Und im Sommer hatte ich auch schon angefangen, dass ich da im Garten helfen wollte. Von mir aus kam das auch so. Und die meinten: ‚Ja, jede Hand kann gut gebraucht werden( “ދB16, Abs. 37). Wie eingangs deutlich wurde bezeichnet Frau Thom ihren jetzigen Lebensmittelpunkt als zweite Heimat. Sie betont, dass sie ein Leben an diesem Ort anderen Möglichkeiten, so beispielsweise dem Wohnen in der Stadt ihrer Jugend, vorziehe. Auch eine kürzlich durchgeführte Reise in ihre alte Heimatstadt hat sie darin bestärkt: „Und dann ist mir so bewusst geworden: ‚Nein, wo du jetzt wohnst, hier in (.), da bist du ein bisschen besser dranދ. Da ist mir das richtig bewusst geworden“ (B16, Abs. 103). 6.1.5 Frau Feldmann und Frau Lübben „Diese Trennung zwischen Arbeit und Leben, sage ich mal, man geht acht Stunden arbeiten, kommt nach Hause und fängt an zu leben, das war nicht so mein Ding“ (B13bM, Abs. 32). Die Mitarbeiterinnen Frau Feldmann und Frau Lübben leben beide auf demselben Hof der Lebensgemeinschaft Weitland. Sie sind zum Zeitpunkt des Interviews 51 bzw. 52 Jahre alt. Frau Feldmann lebt inmitten eines Wohnhauses des Hofes, in eigenen Räumlichkeiten, aber in unmittelbarer Nachbarschaft mit den
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6 Vier Lebensgemeinschaften – 16 Personen
dort lebenden behinderten Menschen. Frau Lübben hat ein Appartement auf dem Gelände des Hofes, wo sie mit ihren Kindern lebt: „Eine Wohnung, aber trotzdem hier im Zusammenhang“ (B13bM, Abs. 15). Der gesamte Hof wird aus etwa 30 Personen gebildet, wobei davon 22 einen behinderungsbedingten Unterstützungsbedarf haben. Frau Feldmann kommt aus dem Norden Deutschlands. Nach der Schule, im Alter von 17 Jahren, ist sie von zuhause ausgezogen und hat eine Ausbildung als Erzieherin absolviert: „Das war auch nicht-anthroposophisch, das war als Erzieherin eine normale Ausbildung“ (B13aM, Abs. 26). Während die erste Phase der Ausbildung ebenfalls im norddeutschen Raum stattfand, hat sie das darauf folgende Anerkennungsjahr in einem Kindergarten in Süddeutschland durchlaufen. Nach einigen Jahren im Praxisfeld kam der Wunsch auf, sich der Landwirtschaft zu widmen und somit die pädagogische Arbeit aufzugeben: „Ich komme auch eigentlich von einem Hof, und wollte eigentlich mit der Sozialarbeit nichts mehr zu tun haben (lacht), ich wollte Landwirt werden“ (ebd.). Mit dem Ziel, Landwirtschaft zu studieren, ging es dann zurück in den Norden. Allerdings waren für das Studium noch nicht alle Voraussetzungen erfüllt: „Dazu brauchte ich ein Jahr Praktikum und mir war eigentlich klar, dass ich nicht auf einem konventionellen Hof arbeiten wollte, sondern auf einem Bio-Hof“ (ebd.). Über eine Liste biologisch wirtschaftender Bauernhöfe wurde Frau Feldmann auf die Lebensgemeinschaft Weitland aufmerksam. Mittlereile lebt sie seit 24 Jahren dort. Geblieben ist Frau Feldmann vor allem, weil ihr die Verknüpfung von Landwirtschaft und Sozialarbeit zugesagt, ja sie fasziniert hat. Behinderungen und Sozialarbeit, so ihre Wahrnehmung, stünden nicht im Vordergrund. In erster Linie sei somit das gemeinsame Bewirtschaften eines landwirtschaftlichen Gehöftes prägend für das Zusammenleben: „Und da war es für mich dann auch keine Sozialarbeit. Also das, was ich ja eigentlich gar nicht mehr machen wollte, ist irgendwie verschwunden. Sondern es war wirklich die Zusammenarbeit oder eben auch Spaß an der Landwirtschaft, das war es einfach“ (B13aM, Abs. 28). Die Idee des Studiums wurde nicht weiter verfolgt, aber: „Ich habe dann noch eine Ausbildung gemacht, diese biologisch-dynamische Ausbildung zur Landwirtin“ (ebd.). Intensiveren Kontakt zu anthroposophischem Gedankengut hat sie erst im Zusammenhang mit ihrem Einstieg in die Gemeinschaft erhalten: „Also, ich kannte zwar Waldorf-Kindergärten und Waldorfschulen, aber sonst eigentlich nichts“ (ebd.). Frau Lübben lebt – abgesehen von einigen Jahren Unterbrechung – seit 26 Jahren innerhalb der Gemeinschaft. Zunächst war sie auf dem Hof tätig, auf dem sie zurzeit lebt. Im Zusammenhang mit dem Aufbau eines anderen Standorts der Lebensgemeinschaft hat sich ihr Wohnort für mehrere Jahre dorthin verschoben. Vor zweieinhalb Jahren ist sie aber wieder zurückgekehrt. Gebürtig kommt Frau
6.2 Lebensgemeinschaft Grünburg
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Lübben aus einem kleinen Dorf nicht allzu weit von Weitland entfernt. Nach ihrer Schulzeit hat sie eine Ausbildung zur Bankkauffrau abgeschlossen. Allerdings wurde ihr bald klar: „‚Das ist es nicht!( “ދB13bM, Abs. 32). Die Aufteilung des Tages in eine Arbeits- und eine Lebensphase, die Trennung zwischen Arbeit und Leben hat sie als unbefriedigend empfunden; die Suche nach einem anderen, ihre Person als Ganzes ansprechenden Wirkungsfeld, begann: „Ich habe was gesucht, wo man das eben verbinden kann und habe versucht, eine künstlerische Ausbildung zu machen, zur Kunsttherapeutin“ (ebd.). Voraussetzung für die Ausbildung war, dass parallel dazu in einem Praxisfeld gearbeitet werden musste: „Und so bin ich auf diesen Hof gekommen und habe das Malen mit den Menschen gemacht“ (ebd.). Zunehmend ist Frau Lübben dann in die Gemeinschaft hineingewachsen und hat – entsprechend den Notwendigkeiten – verschiedene Aufgaben innerhalb der Lebensgemeinschaft übernommen: „Die Aufgaben waren da, es fehlten Leute und dann, ja, bin ich dabei geblieben“ (ebd.). Zudem hat sie eine sozialtherapeutische Zusatzqualifikation und eine Ausbildung zum Natur- und Landschaftspfleger absolviert (B13bM, Abs. 8). Bereits vor ihrem Kontakt zur Gemeinschaft Weitland hatte sie Anknüpfungspunkte zu anthroposophischen Ideen: zum einen durch Freunde und Bekannte, zum anderen durch ihre kunsttherapeutische Ausbildung, die ebenfalls im anthroposophischen Kontext verortet war. Frau Feldmann und Frau Lübben sind – zusammen mit drei weiteren Kollegen – Mitglieder des Leitungskreises und tragen somit in leitender Funktion für die gesamte Organisation Verantwortung. Zudem sind sie Teilhaber der die Lebensgemeinschaft tragenden Gesellschaft. Daneben sind sie in diversen praktischen Feldern tätig, insbesondere auch im Bereich Garten und Landwirtschaft. Frau Feldmann nimmt zudem die Aufgaben der Hausverantwortung für den Hof wahr, auf dem sie lebt. 6.2 Lebensgemeinschaft Grünburg 6.2 Lebensgemeinschaft Grünburg 6.2.1 Gestalt und Struktur Die Lebensgemeinschaft Grünburg liegt in der westlichen Mitte Deutschlands innerhalb einer kleinen Ortschaft. Die Umgebung ist dörflich-ländlich geprägt. Zur Gemeinschaft gehören drei ehemalige Bauernhöfe. Mehrere Häuser bzw. Gebäudeteile bilden dabei jeweils ein Hofensemble. Diese sind in den letzten Jahren nach Maßgabe des Denkmalschutzes renoviert und teilweise erweitert worden. Es gibt drei Hausgemeinschaften, die sich aus Menschen mit Behinderungen und Mitarbeitern zusammensetzen. Werkstätten, deren Produkte auch vor
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6 Vier Lebensgemeinschaften – 16 Personen
Ort erworben werden können, bieten Arbeitsmöglichkeiten für die dort lebenden Menschen mit Behinderungen. Zudem befindet sich in den Gebäuden weitere Räumlichkeiten, etwa ein Saal, Büros für die Verwaltung, eine Bibliothek, ein Computerraum sowie Zimmer für Praktikanten und die kurzzeitige Unterbringung von Menschen mit Behinderungen. Die Gemeinschaft besteht insgesamt aus knapp über 50 Menschen, darunter zirka 30 Menschen mit Behinderungen. Fast alle betreuten Menschen wohnen im Kernbereich der Lebensgemeinschaft und erhalten Unterstützung im Rahmen eines stationären Settings. Einige stationäre Plätze werden für Menschen mit sehr hohem Unterstützungsbedarf, insbesondere im Bereich der Pflege, vorgehalten. Drei Personen leben nicht innerhalb einer Hausgemeinschaft, sondern bilden eine eigene Wohngemeinschaft ohne ständige Mitarbeiterpräsenz: „Es geht dabei um eine Wohnform, die weniger stark betreut ist und nur lose an die Hausgemeinschaften angeschlossen ist“ (FP 2, Abs. 22). Kürzlich wurde in Form des betreuten Wohnens mit dem Aufbau ambulanter Angebote in einem Nachbarort begonnen. Im Auftrag der Lebensgemeinschaft erhalten jedoch einige in der Region lebende Personen bereits seit einigen Jahren ambulante Hilfe von einem kooperierenden Trägerverein. Diese sind jedoch in der Regel nicht oder nur wenig mit der Gemeinschaft verknüpft. Etwa 40 Mitarbeiter mit Behinderungen und damit auch Personen, die nicht innerhalb der Gemeinschaft wohnen, sind in den als Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) anerkannten Betrieben von Grünburg tätig. Es gibt eine Schreinerei, eine Weberei, eine Kafferösterei sowie eine Gruppe zur Garten- und Landschaftspflege und den Bereich der Hauswirtschaft. In Zusammenarbeit mit einem anderen Leistungserbringer werden darüber hinaus mehrere behinderte Menschen in Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarktes unterstützt. Abgesehen von Ausnahmen wohnen diese allerdings nicht in Grünburg, sondern nutzen das ambulant betreute Wohnen anderer Träger oder leben noch bei ihren Eltern (FP 2, Abs. 6ff.; GL 2, S. 1). Ungefähr 90 Einwohner leben insgesamt in dem Dorf, in welchem sich die Lebensgemeinschaft Grünburg befindet. Neben Gebäuden neueren Ursprungs sind es vor allem Fachwerkbauten, welche das Ortsbild prägen. Auch eine kleine Kapelle gibt es: „Am frühen Morgen mache ich einen kleinen Dorfspaziergang, um den Ort in Gänze zu erfassen. Ich sehe einige renovierte Fachwerkhäuser, einige neuere Bauten sowie einige leer stehende Höfe, die langsam zu verfallen scheinen. Einige Resthöfe scheint es noch zu geben bzw. Höfe, die – in kleinerem Umfang wie mir scheint – noch Landwirtschaft betreiben … Vor den Toren des Ortes dreht ein Traktor seine Runden auf einem Feld“ (FP 2, Abs. 128). Die Häuser der Gemeinschaft sind allesamt in Fachwerkbauweise errichtet, die In-
6.2 Lebensgemeinschaft Grünburg
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nenräume dadurch zum Teil verwinkelt und vielgestaltig: „Es wirkt dadurch lebendig und nicht normiert“ (FP 2, Abs. 9). Die Gemeinschaft Grünburg wurde Mitte der 1990er Jahre mit dem Einzug der ersten Hausgemeinschaft begründet. Diese bestand aus Mitarbeitern und behinderten Menschen, die zuvor in einer anderen, in der Nähe gelegenen sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaft gewohnt und gearbeitet hatten. Sowohl fehlende Wachstumsmöglichkeiten als auch unterschiedliche Auffassungen über die weiteren konzeptionellen Entwicklungen waren für einige Mitarbeiter wesentliche Gründe, sich intensiv mit Alternativen zu befassen. Dem tatsächlichen Umzug war eine mehrjährige Phase des Suchens nach einem geeigneten Standort, der Renovierung des im Verfall befindlichen ersten Hofes sowie der Konzeptionsentwicklung und sozialrechtlichen Abklärung vorangegangen. Sukzessive wurde Grünburg seitdem bis zur jetzigen Größe erweitert – Stück für Stück wurden die weiteren Höfe restauriert und für den jetzigen Verwendungszweck umgestaltet. Somit wurde ein Beitrag zur baulichen Dorferneuerung geleistet. Aber auch der durch die Gemeinschaft bedingte Zuzug von neuen Bürgern trug zur Belebung der Ortschaft bei. Die landwirtschaftliche Produktion wurde indes nicht revitalisiert, da diese als wirtschaftlich nicht überlebensfähig eingeschätzt wurde. Jede der heute drei Hausgemeinschaften trägt den Namen des ursprünglichen Hofes, in dem sie sich befindet (FP 2, Abs. 25). Das mit der ersten Gruppe übergesiedelte und damit für die Gründung von Grünburg ausschlaggebende Mitarbeiterpaar lebt heute nach wie vor innerhalb der Gemeinschaft – nun allerdings nicht mehr in einer Hausgemeinschaft, sondern in einer eigenen Wohnung. Beide sind in leitender Position tätig. Nach einer basisdemokratischen Vorgehensweise bei der Entscheidungsfindung in der Gründungs- und Pionierphase der Gemeinschaft sind im Zuge des Ausbaus stärker hierarchisch geprägte Strukturen entwickelt worden. Trotz festgelegter Leitungsverantwortung nimmt die gremienbasierte Arbeit jedoch immer noch eine wichtige Rolle ein. So kommen z. B. in der sozialtherapeutischen Konferenz regelmäßig alle Mitarbeiter zusammen, um fachliche Fragen zu besprechen und in der Wohn- und Werkstattkonferenz werden Aspekte an der Schnittstelle zwischen Wohnen und Arbeit thematisiert. Mit der Dorfgemeinschaftsversammlung gibt es zwei Mal jährlich eine Zusammenkunft aller zu Grünburg gehörenden Personen. Als spezielle Interessenvertretung der in Grünburg lebenden Menschen mit Behinderungen fungiert der Dorfgemeinschaftsrat, der sich aus dem obligatorischen Heimbeirat und Werkstattrat zusammensetzt (FP 2, 108ff.). Es besteht eine Zusammenarbeit mit regionalen Fachschulen für Heilerziehungspflege, so dass der praktische Teil der Ausbildung in Grünburg absolviert werden kann.
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Die interviewten Mitarbeiter wurden gefragt, wie sich aus ihrer Sicht die Lebensgemeinschaft Grünburg im Verlauf der nächsten zehn Jahre verändern wird. Ein Mitarbeiter beschreibt in diesem Zusammenhang zunehmende Anforderungen von Seiten der Sozialverwaltung, beispielsweise hinsichtlich Dokumentationspflicht und neuer fachlicher Leit- und Richtlinien. Vor dem Hintergrund eines sich daraus ergebenden Anpassungsdrucks habe sich die anthroposophisch orientierte Arbeit in kreativer Weise weiterzuentwickeln (B1M, Abs. 76). Aus der Perspektive eines anderen Mitarbeiters bedürfe es insbesondere im Kontext des sogenannten Paradigmenwechsels vermehrter Anstrengungen, individuellere Zugänge in der Unterstützung behinderter Menschen zu finden: „Dass man eben noch viel spezieller und gezielter Menschen fördern muss“ (B3M, Abs. 62). Dazu gehöre, die Möglichkeit des ambulant betreuten Wohnens auch für Personen, die noch innerhalb einer Hausgemeinschaft leben, stärker in Betracht zu ziehen. Die eigene Rolle bei der zukünftigen Unterstützungsarbeit wird dabei folgendermaßen formuliert: „… ich hoffe, dass ich dazu beitragen kann, den Menschen hier einfach noch eine individuellere Hilfestellung geben zu können und Entwicklungsmöglichkeit bieten zu können, auch wenn das vielleicht auf Kosten von meiner Bequemlichkeit geht (lacht)“ (B3M, Abs. 62). 6.2.2 Herr Teichmann „Ich würde schon gerne woanders leben, aber ich weiß nicht, wo. Aber hier bin ich jetzt erst mal soweit gut aufgehoben“ (B2, Abs. 81). Herr Teichmann ist zum Zeitpunkt des Interviews 25 Jahre alt und lebt seit einigen wenigen Jahren in Grünburg: „So genau weiß ich es gerade gar nicht“ (B2, Abs. 25). Er ist in einer Großstadt aufgewachsen, die etwa eineinhalb Stunden entfernt liegt. Dort hat Herr Teichmann bei seinen Eltern gelebt und eine heilpädagogische Waldorfschule (Förderschule) besucht: „Ja, und dann bin ich natürlich auch von der Schule. Ich war ja bis zur zwölften Klasse auch in der Schule drin, das hat mir auch viel Spaß gemacht, war auch ziemlich, am Anfang war es schwer, da mit reinzukommen, aber dann habe ich auch gemerkt, so von Zeit zu Zeit ging es allmählich besser“ (B2, Abs. 5). Als die Entscheidung für einen nachschulischen Arbeits- und Lebensort anstand, hat ihn der Schulleiter auf die Lebensgemeinschaft Grünburg aufmerksam gemacht: „Der hat mich gleich hier hingeschickt, ich sollte mir das mal angucken hier in der Gemeinschaft“ (B2, Abs. 7). Zum gegenseitigen Kennenlernen hat Herr Teichmann zunächst einige mehrtägige Besuche in der Lebensgemeinschaft gemacht, bei denen auch Praktika in den Werkstätten auf der Agenda standen. Schließlich ist er in die Gemein-
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schaft gezogen. Letzten Endes – so Herr Teichmann – fußt diese Wahl auf der Initiative seiner Mutter: „Das hat meine Mama mir hier vorgeschlagen, dass ich hier in die Einrichtung reingehen sollte, weil in (.) [Wohnort der Eltern] habe ich keine Arbeitsstelle gekriegt, das war irgendwie schwierig. Und da hat sie gesagt, (.) [Name der Lebensgemeinschaft] ist gut für mich und da hat sie mich dann auch hier her gefahren oder gebracht“ (B2, Abs. 33). Andere Einrichtungen bzw. Wohnorte wurden in die Suche nicht einbezogen. Seit seinem Einzug lebt Herr Teichmann in einer familienähnlichen Wohngemeinschaft mit sechs weiteren behinderten Menschen sowie Mitarbeitern zusammen. Er hat ein Doppelzimmer: „Ne, ich habe noch einen Zimmernachbarn. Wir teilen uns das eine Zimmer zusammen“ (B2, Abs. 17). Nach einer Eingangsund Lernphase arbeitet Herr Teichmann heute in einer holzverarbeitenden Werkstatt innerhalb der Gemeinschaft. Nach seinem Einzug in die Lebensgemeinschaft benötigte Herr Teichmann eine gewisse Zeit, um sich zu akklimatisieren. Schrittweise hat er sich dann an die neue Umgebung gewöhnt: „Na ja, ich war am Anfang noch ziemlich zurückhaltend auch, weil ich habe die Leute hier noch nicht so gekannt, die hier alle schon früher eingezogen sind, das war für mich ein bisschen noch unheimlich, wieder was Neues kennenzulernen einfach. Und dann habe ich mir gedacht, ich versuche hier mich erst mal dran zu gewöhnen, an was Neues und dann habe ich mich so Schritt für Schritt erst mal in allen Bereichen umgeguckt, ob mir da was auch von gefällt“ (B2, Abs. 19). Mittlerweile hat sich Herr Teichmann eingelebt und äußert auf Nachfrage, dass er grundsätzlich zufrieden mit seiner Lebenssituation sei. Allerdings gibt er ebenso an – das Eingangszitat macht dieses sichtbar –, dass er auch gerne an einem anderen Ort leben würde. Bei der Frage, ob er sich in Grünburg zuhause fühle, wird die enge Bindung an seinen früheren Lebensort deutlich: „Ich wäre am liebsten immer noch bei meiner Mama“ (B2, Abs. 115). Insbesondere die von ihm als sehr weit wahrgenommene Entfernung zu seinem Elternhaus macht ihm hier offenkundig zu schaffen. Was ihn zudem hin und wieder stört, ist, dass aus seiner Sicht die Mitarbeiter zu viel über ihn bestimmen: „Die sagen: ‚Mach mal diesދ, oder: ‚Mach du mal das ދund dann sage ich: ‚Ich habe noch hier und da was zu tun, ich muss erst mal die Sachen fertig machenދ. Da bin ich dann so skeptisch, das ist nicht so mein Ding“ (B2, Abs. 67). Das ärgere ihn und veranlasse ihn dann bisweilen auch – ohne dass er dieses beabsichtige – andere Menschen zu verletzen: „Und wenn der [Mitarbeiter] dann wieder kommt und sagt: ‚Du genießt jetzt erst mal nicht deine Freizeit, du machst dies, was ich dir sage jetztދ, dann werde ich irgendwann auch ein bisschen böse oder aggressiv und das möchte ich auch nicht. Ich will den Leuten ja nicht wehtun“ (B2, Abs. 69).
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6.2.3 Herr Campen „Und dann war nach dieser Ferienbetreuung plötzlich ein Praktikumsplatz frei für längere Zeit, da bin ich halt so ein bisschen reingerutscht“ (B3M, Abs. 18). Herr Campen ist zum Zeitpunkt des Interviews 26 Jahre alt und gerade zwei Monate Mitarbeiter der Lebensgemeinschaft Grünburg. Zusammen mit Frau und Tochter lebt er in einer Wohnung, welche in eine Hausgemeinschaft integriert ist. Zur Hausgemeinschaft gehören 14 Personen, darunter zehn Menschen mit Behinderungen. Herr Campen und seine Frau nehmen gemeinsam die Aufgabe der Hausverantwortung wahr. Neben der direkten Unterstützungsarbeit gehören dazu insbesondere koordinierende und planende Tätigkeiten. Beide Hausverantwortlichen haben eine abgeschlossene Ausbildung als Heilerziehungspfleger. Herr Campen ist in Süddeutschland geboren, aber in einer Großstadt im nördlichen Teil Deutschlands aufgewachsen. Berührung mit anthroposophisch orientiertem Gedankengut erhielt er bereits durch seine Eltern: „Einstieg in die Anthroposophie habe ich durch meine Eltern gehabt, die sind Waldorflehrer an einer Schule für geistig behinderte Menschen gewesen und von daher hatte ich eigentlich sehr früh Kontakt damit“ (B3M, Abs. 18). Dabei blieb das Bild jedoch zunächst diffus: „Natürlich wusste ich nicht direkt, was Anthroposophie ist“ (ebd.). In einer bestimmten Phase der Jugendzeit schien es für Herrn Campen ausgeschlossen, sich beruflich in ein anthroposophisch geformtes Feld zu begeben: „In der Pubertät dachte ich mir: ‚Ne, mache ich niemalsދ, aber das hat sich dann irgendwie einfach entwickelt“ (ebd.). Später, aber noch während der Schulzeit, hat er dennoch zwei Praktika in Camphill-Lebensgemeinschaften im europäischen Ausland gemacht. In seiner Erinnerung war hier auch die Tatsache, dass er die Waldorfschule besucht hat, ein Impulsgeber. Die Zeiten in diesen Lebensgemeinschaften hatten dabei prägenden Charakter: „… da habe ich mich eigentlich sofort dann wohlgefühlt, habe eigentlich auch die schönste Zeit meines Lebens da in dem Camphill verbracht“ (ebd.). Als Herr Campen später das Abitur abbrach und sein weiterer Lebensweg unklar erschien („‚Was mache ich jetzt?( “ދebd.)), bot sich ihm die Möglichkeit der Mithilfe bei einer Ferienbetreuung in einer im süddeutschen Raum gelegenen sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaft. Eine Verbindung dorthin bestand bereits über seine in dieser Gemeinschaft arbeitende Schwester. Nach Beendigung der Ferienmaßnahme ergab sich für Herrn Campen die Gelegenheit, dort ein längeres Praktikum zu absolvieren: „…da bin ich halt so ein bisschen reingerutscht“ (ebd.). Nach einem weiteren Aufenthalt in einer Camphill-Gemeinschaft außerhalb Europas folgte eine „Leerlaufzeit“ (ebd.). Obwohl eigentlich nicht geplant, entschied sich Herr Campen nun, eine Ausbildungsstelle als Heilerziehungspfleger in der ihm bereits
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bekannten süddeutschen Lebensgemeinschaft anzunehmen: „Das war jetzt vielleicht nicht unbedingt eine bewusste Entscheidung: ‚Ich möchte unbedingt die anthroposophische Ausbildung, oder ich möchte sie nichtދ, sondern das waren einfach die kürzesten Wege, in (.) [Name der Lebensgemeinschaft] war man mir gegenüber auch sehr offenherzig“ (ebd.). Während der Zeit in der Gemeinschaft lernte Herr Campen seine jetzige Frau kennen, die sich ebenfalls in der Ausbildung befand. Nachdem beide erfolgreich abgeschlossen hatten, stellte sich die Frage nach dem weiteren Lebensgang – mittlerweile war auch ihr Kind geboren. Es fiel der Entschluss, zusammen in einer sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaft arbeiten und leben zu wollen: „Da wir Camphill-Erfahrung hatten, hatten wir da eben einen gewissen Einblick, wie das so ist, mit der Familie da in so einer Gemeinschaft zu leben“ (ebd.). Auch die Einschätzung, dass ihrer kleinen Tochter aufgrund der bisherigen Erfahrungen mit dem gemeinschaftlichen Leben ein „Kleinfamilienleben“ (ebd.) nicht guttun würde, trug zu dieser Entscheidung bei. Durch eine Zeitungsanzeige sind sie schließlich nach Grünburg gelangt – es wurde ein Paar für eine Hausverantwortung gesucht: „Das war jetzt für uns nicht wichtig, dass wir die Verantwortung haben, sondern, dass wir zusammen arbeiten“ (ebd.). 6.2.4 Frau Janas „Weggehen tue ich hier auf keinen Fall mehr. Ich bleibe hier, bis ich alt werde“ (B4, Abs. 49). Frau Janas ist zum Zeitpunkt des Interviews 39 Jahre alt und lebt seit etwa zwölf Jahren mit neun weiteren Menschen mit Behinderungen sowie Mitarbeitern innerhalb einer Hausgemeinschaft in Grünburg. Aufgewachsen ist sie in der nächst größeren Nachbarstadt, zunächst bei ihrer Großmutter, später in einem Heim: „Ja, ganz am Anfang war ich bei meiner Oma und dann mit fünf Jahren bin ich ins Kinderheim gekommen“ (B4, Abs. 19). Mit Erreichen der Volljährigkeit hat sie das Kinderheim verlassen und ist in eine anthroposophische Lebensgemeinschaft in derselben Region gezogen. Acht Jahre ihres Lebens hat sie dort verbracht. Mitte der 1990er Jahre ist ihre gesamte Gruppe mit zwei Mitarbeitern an ihren jetzigen Lebensort gezogen und hat damit die sozialtherapeutische Gemeinschaft Grünburg erst begründet: „Und dann hierher. Haben alles mal durchgecheckt, sozusagen“ (ebd.). Die Anfangszeit in der neuen Lebensgemeinschaft erinnert sie als ein wenig improvisiert: „Wir sind ganz am Anfang auf eine Baustelle gezogen, da war das hier noch gar nicht fertig“ (B4, Abs. 15). Die innere Ausgestaltung sei allerdings bereits abgeschlossen gewesen und habe ihren Ge-
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schmack getroffen: „Ist ja wichtig, dass es einem innen gefällt. Und so war das auch, haben sie alles ganz prima hingekriegt, wie man sieht“ (B4, Abs. 148). Wie die Entscheidung, in eine anthroposophische Lebensgemeinschaft zu ziehen, zustande gekommen ist bzw. von wem die diesbezügliche Idee stammte, ist Frau Janas nicht mehr gegenwärtig: „Ich weiß es nicht mehr, ist so lange her“ (B4, Abs. 27). Frau Janas teilt sich ein Zimmer mit einer Mitbewohnerin. Sie ist vormittags in der Hauswirtschaft einer anderen Hausgemeinschaft und nachmittags in einer zur Lebensgemeinschaft Grünburg gehörenden Lebensmittel verarbeitenden Werkstatt beschäftigt. Gefragt, wo ihr Zuhause sei, gibt Frau Janas eindeutig ihren jetzigen Wohnort, die Lebensgemeinschaft Grünburg an: „Hier!“ (B4, Abs. 102). Folglich äußert sie im Großen und Ganzen Zufriedenheit mit ihrer Lebenssituation sowie das Ziel, die Gemeinschaft nicht mehr verlassen zu wollen: „Ja, insgesamt bin ich zufrieden, ja! Manchmal gehört auch ein Ärger mal dazu. Aber sonst ist es eigentlich okay. Weggehen tue ich hier auf keinen Fall mehr. Ich bleibe hier, bis ich alt werde“ (B4, Abs. 49). 6.2.5 Herr Winchenbach „Da war im Team ein ziemlich großer Konsens: Arbeit ist eben nicht der Mensch, weil sonst ist das überhaupt nicht zu schaffen“ (B1M, Abs. 27). Herr Winchenbach lebt zum Zeitpunkt des Interviews seit fünf Jahren in der Lebensgemeinschaft. Er ist 53 Jahre alt und zusammen mit seiner Frau verantwortlich für eine Hausgemeinschaft, in welcher sieben behinderte Menschen gemeinsam mit Mitarbeitern wohnen. Herr und Frau Winchenbach haben ein eigenes Appartement innerhalb des Hauses: „Ja, also das ist ein getrennter Bereich, in dem ich wohne, und da wohne ich mit meiner Frau, wir machen das zusammen hier, also wir haben eine Familie hier“ (B1M, Abs. 9). Ihre beiden Kinder sind erwachsen und leben andernorts. Aufgewachsen ist Herr Winchenbach in Süddeutschland. Die Eltern besaßen eine eigene Bäckerei, die er als „Kronprinz“ (B1M, Abs. 21) im Zuge einer Nachfolgeregelung dereinst übernehmen sollte. Nach Abschluss der Schule durchlief Herr Winchenbach eine Bäckerlehre und wurde danach Bäckermeister. Die Auswirkungen der 68er Bewegung – so seine Erinnerung – führten jedoch dazu, dass er mit alternativen Lebensstilen und somit auch mit Vollkornbäckerei in Berührung kam. Ein eigener Weg, abseits des eigentlich geplanten, begann: „Und habe dann mit Vollkornbäckerei experimentiert, habe dann einen Stand
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gehabt und dann kam jemand und das war in der Zeit vor Gründung der Grünen, der da sehr engagiert war, mich angesprochen hat“ (ebd.). Er stieg bei der grünen Bewegung ein, war Delegierter auf die Gründung vorbereitenden Parteitagen und erlebte ein breites Spektrum alternativer Lebensentwürfe: „Was es so alles an Alternativen in Deutschland wirklich gab. Von so Ur-Biogewächsen (lacht) bis zu wilden Kommunisten …“ (ebd.). Von der Person, welche Herrn Winchenbach für eine Mitarbeit bei den Grünen geworben hatte, bekam er auch den Impuls, sich erstmals mit anthroposophischen Ideen auseinanderzusetzen. Zwar fiel ihm die erste Annäherung an Schriften von Rudolf Steiner zunächst ein wenig schwer. Gleichzeitig entnahm er diesen wesentliche Anregungen, die seinen weiteren Lebensgang prägen sollten: „Und dann habe ich was gelesen und habe gemerkt: ‚Mensch, das ist ja unheimlich schwere Kost und ganz schwer zu verstehenދ. Und trotzdem ist was dran, wo ich gemerkt habe, das ist was unglaublich Wichtiges für mein ganzes Leben irgendwie. Ich hatte den Eindruck, indem ich das gelesen habe, das hat mein ganzes Leben irgendwie verändert, wie eine gewisse neue Ausrichtung gegeben“ (ebd.). Eine Zeit danach realisierte sich Herr Winchenbach den Wunsch, einmal praktisch eine auf anthroposophischer Grundlage lebende Gemeinschaft kennenzulernen. Es zog ihn daher in eine sozialtherapeutische Lebensgemeinschaft in Süddeutschland, in welcher er in der hauseigenen Vollkornbäckerei als Werkstattleiter arbeitete. Die hier gemachten Erfahrungen waren jedoch zwiespältiger Natur. Zum einen war er beeindruckt von der Organisation des gemeinschaftlichen Lebens, gerade auch für die dort lebenden Menschen mit Behinderungen und „wie man wirklich in vielen Feldern versucht, das lebendig und gut zu gestalten“ (ebd.). Zum anderen erlebte er innerhalb der Mitarbeiterschaft Spannungen, die er in der Schwierigkeit verortet sah, eine Balance zwischen großen Ambitionen und eigenen Ressourcen herstellen zu können: „Und andererseits natürlich auch dadurch, dass dann so hohe Ansprüche da sind, dass man eben halt nicht so einfach lebt, wie, ich sage jetzt mal in Gänsefüßchen, ‚durchschnittliche Deutscheދ, sondern einen sehr hohen Anspruch hat, das gut machen zu wollen, dass man auch natürlich insgesamt in so einem Dorfleben dann so was findet, dass manche Leute dann hinterher von diesen Ansprüchen überfordert sind und dadurch Spannungen auftauchen“ (ebd.). Nach einigen Jahren verließ er diese Lebensgemeinschaft, nahm aber wichtige Erkenntnisse mit: „Dass es da ganz wichtig ist, sozusagen konfliktfähig zu werden, Sachen, die als Spannung auftauchen zu bewältigen, oder auch zu sagen: ‚Mensch, ich habe zwar einen hohen Anspruch an mich und andere, aber ich muss auch mal gucken, was ich wirklich schaffe …“ (ebd.). Eine im Anschluss daran begonnene sozialtherapeutische
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Ausbildung in einer anderen Lebensgemeinschaft musste Herr Winchenbach nach einiger Zeit aufgrund einer schweren Erkrankung abbrechen. Es folgten Jahre, in denen er sich vor allem um Haus und Kinder kümmerte und seine Frau einer außerhäuslichen Beschäftigung nachging. Nach dieser Phase absolvierte Herr Winchenbach eine Ausbildung zum Altenpfleger und arbeitete eineinhalb Jahre auf einer Demenzstation einer diakonischen Einrichtung. Das dortige Arbeitsklima, das Arbeitsethos sowie der Fokus der Arbeit bescherten ihm einschneidende Erlebnisse. In seiner Wahrnehmung standen hier nicht die Menschen, sondern abzuleistende pflegerische Verrichtungen im Vordergrund: „Da war im Team ein ziemlich großer Konsens: Arbeit ist eben nicht der Mensch, weil sonst ist das überhaupt nicht zu schaffen“ (B1M, Abs. 27). Dieses hatte er im anthroposophischen Kontext in fundamental anderer Weise erfahren: „Und da ist es im Anthroposophischen eben gerade umgekehrt, dass man sagt: Also, zuerst ist der Mensch, der ist der Maßstab und dem soll es gut gehen und so muss die Arbeit ausfallen, dass es denen gut geht“ (ebd.). Er entschied sich, die Einrichtung zu verlassen: „Und damit konnte ich nun nicht leben, weil ich gesehen habe, die Leute, die leiden, und zwar also… das war schlimm, das war richtig schlimm, was man da erlebt hat, in welcher Verzweiflung da manche Leute sind. Und die sitzen dann einfach da, sind alleine gelassen, weil die Arbeit ist was anderes: Essen austragen, Putzen und was alles“ (ebd.). Schließlich ist Herr Winchenbach zusammen mit seiner Frau in die sozialtherapeutische Gemeinschaft Grünburg gezogen: „Und hier war ich jetzt das erste Mal dann so richtig mittendrin. Und das war auch viel besser“ (B1M, Abs. 31). Seinen Schwerpunkt innerhalb der Hausverantwortung sieht er in der Organisation und der Gestaltung des Gruppenlebens sowie der individuellen Begleitung der behinderten Mitbewohner. Auch die spezielle Pflege und Unterstützung eines schwerstbehinderten Menschen stellt eine essentielle Aufgabe dar. 6.3 Lebensgemeinschaft Angermark 6.3 Lebensgemeinschaft Angermark 6.3.1 Gestalt und Struktur Die Lebensgemeinschaft Angermark liegt am Rande einer Großstadt im östlichen Teil Deutschlands in einer ruhigen Stichstraße eines Wohn- und Gewerbegebiets, wodurch auch eine gute Anbindung an die städtische Infrastruktur gegeben ist. Angermark ist ein Platz,47 der zur Camphill-Bewegung gehört. Anders 47
Der Begriff ‚Platz ދwird insbesondere innerhalb der Camphill-Bewegung als Bezeichnung für Lebensgemeinschaften verwendet.
6.3 Lebensgemeinschaft Angermark
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als im diesbezüglichen Ursprungsimpuls angedacht, versteht sie sich aber als Stadtgemeinschaft, in welcher nicht die Landwirtschaft, sondern die (städtische) Kultur eine wesentliche Grundlage bildet. Die Häuser der Lebensgemeinschaft bilden ein eigenständiges Ensemble. Während die Gemeinschaft zur einen Seite durch die Straße des Stadtquartiers begrenzt wird, zeigt sich auf der anderen Seite ein eher ländlich erscheinendes Gebiet. In fünf Häusern sind insgesamt sechs Wohngruppen untergebracht. In weiteren Gebäuden oder Gebäudeteilen befinden sich etwa Räume für tagesstrukturierende Angebote oder die Verwaltung. Zudem gibt es ein Gemeinschaftszentrum mit eigenem Saal. Mitarbeiter leben mittlerweile nur noch vereinzelt innerhalb der Gemeinschaft. Die Häuser, in denen sich die Wohngruppen befinden, sind nach – in ihrem jeweiligen zeitlichen und inhaltlichen Kontext – einflussreichen Persönlichkeiten insbesondere aus Kultur und Wissenschaft benannt. Zum größten Teil hatten diese auch eine mehr oder weniger ausgeprägte Verbindung zur Anthroposophie. Die Mehrzahl der heutigen Gebäude ist im Verlauf der letzten Jahre, zum Teil erst vor kurzer Zeit, eigens für den Zweck der Lebensgemeinschaft errichtet worden. Aufbauend auf einige bereits vorhandene und daher lediglich umgestaltete Bauwerke ist die Gemeinschaft Angermark seit ihrer Gründung somit sukzessive erweitert worden. Mittlerweile leben etwa 40 Menschen mit Behinderungen dort (FP 3, Abs. 6ff.; GL 3, S. 1). Im Kern gruppieren sich die Gebäude um eine Freifläche, eine Art Dorfplatz. Insbesondere die nach Vorgaben der Gemeinschaft errichteten Häuser zeichnen sich durch eine solide, farbenreiche und holzbetonte Note aus: „Die Häuser sind – so scheint es mir – sehr massiv gebaut, sind in gelben Pastelltönen gehalten, mit Holzfenstern und Türen ausgestattet sowie im oberen Bereich mit bläulichen Metallplatten verkleidet“ (FP 3, Abs. 8). Der Blick in eines der Wohnhäuser zeigt einen ausgesuchten Stil, der eine Verbundenheit zu natürlichen Materialien deutlich macht. Die Bauweise bewirkt zudem, dass eine Verknüpfung zwischen Innenraum und Umgebung erreicht wird: „Die gesamte Einrichtung ist holzdominiert, am Fußboden liegt Parkett … Wir sitzen im Esszimmer. Eine breite Fensterfront öffnet den Blick in den Garten und darüber hinaus auf eine Landschaft mit Wiesen und Bäumen … Vor dem Esszimmer liegt ein Wohnzimmer, das mit einer großen Couch und einigen Sesseln, Bücherregalen und einem großen Kachelofen ausgestattet ist … Vor dem Wohnzimmer befindet sich eine Terrasse mit hochwertigen Gartenmöbeln und einer Überdachung. Von der Terrasse kann – über Stufen – auch der Garten der Gemeinschaft erreicht werden“ (FP 3, Abs. 14). Die Gemeinschaft Angermark bietet im Rahmen einer internen Tagesstruktur vier sogenannte Werkbereiche, eine Weberei, eine Wäscherei, eine Gruppe
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zur Gartengestaltung und Grundstückspflege sowie eine spezielle Förder- und Entwicklungsgruppe, an. Zudem gibt es vereinzelte Arbeitsmöglichkeiten in der Hauswirtschaft. Die Tätigkeitsfelder besitzen nicht den Status einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) und sind daher im Großen und Ganzen etwas weniger produktionsorientiert, sondern verstärkt auf individuelle Begleitung und Förderung ausgerichtet. Dieses steht vor allem mit der Tatsache in Zusammenhang, dass nicht wenige in Angermark lebende behinderte Menschen einen hohen Unterstützungsbedarf aufweisen, der häufig auch mit herausfordernden Verhaltensweisen einhergeht. Menschen mit Behinderungen, die als werkstattfähig eingeschätzt werden, arbeiten somit außerhalb von Angermark in einer kooperierenden WfbM. Zudem werden in den Angermarker Werkbereichen einige Außenarbeitsplätze dieser Werkstatt vorgehalten (FP 3, Abs. 51ff.). Alle behinderten Bewohner werden im Rahmen eines stationären Settings innerhalb des Geländes der Lebensgemeinschaft unterstützt. Weitere wohnbezogene Angebote, etwa ambulante Betreuung oder dezentral liegende Wohngemeinschaften, gibt es bisher nicht. Im Gespräch mit dem Leiter der Gemeinschaft wird indes deutlich, dass die Entwicklung neuer bzw. die Ausdifferenzierung bestehender Wohnmöglichkeiten innerhalb und außerhalb des jetzigen Standorts der Gemeinschaft als Zukunftsaufgabe angesehen wird. Der heutige Platz wird in diesem Zusammenhang als kulturelles und soziales Zentrum betrachtet, um das sich weitere Angebote gruppieren (GL 3, S. 2). Begründet wurde Angermark Anfang der 1990er Jahre von Eltern, die einen anthroposophisch orientierten nachschulischen Lebensort für ihre behinderten Kinder suchten bzw. für ihre bisher in sozialtherapeutischen Gemeinschaften anderer Landesteile lebenden Töchter und Söhne eine von ihrem eigenen Domizil weniger weit entfernte Alternative wünschten. Etwa zehn Jahre wurde nach einem passenden Grundstück Ausschau gehalten. Der schließlich gefundene Platz – ein ehemaliges Fabrikgelände – musste jedoch zunächst komplett entrümpelt und gereinigt, die vorhandenen Gebäude vollständig saniert werden. Zum Aufbau konnten erfahrene Mitarbeiter aus anderen sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaften gewonnen werden. Viel Eigenarbeit war nötig, bis eine erste Wohngruppe aus Mitarbeitern und behinderten Menschen gebildet werden konnte. Einige Jahre nach der Gründung wurden die ersten Neubauten errichtet und somit Raum für die Erweiterung der Gemeinschaft geschaffen (FP 3, Abs. 44ff.). Im Zuge des Ausbaus von Angermark sind die zunächst eher konsensorientierten Entscheidungsstrukturen von einer stärker hierarchisch geprägten Aufbauund Ablauforganisation abgelöst worden. Das zuvor wesentliche Entscheidungsgremium, die Mitarbeiterkonferenz, wurde in diesem Zusammenhang abgeschafft. Vor dem Hintergrund klarer Leitungsverantwortung gibt es jedoch wei-
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terhin eine differenzierte Gremienstruktur, die der Beratung und Vorbereitung von Entscheidungen dient. So existiert beispielsweise ein Rat, dem gewählte Mitarbeiter angehören, oder die Bürgerversammlung, an der alle in Angermark lebenden und/oder arbeitenden Personen teilnehmen können. Zur Wahrung der Interessen der behinderten Menschen ist das Amt des Heimfürsprechers eingerichtet worden. Dieses Organ, das aus zwei externen, der Gemeinschaft verbundenen Personen besteht, soll solange Bestand haben, bis Menschen mit Behinderung dazu befähigt sind, diese Aufgabe im Rahmen eines Heimbeirates selbst ausführen zu können (GL 3, S. 1f.). Nach den Veränderungen der Lebensgemeinschaft im Verlauf der nächsten zehn Jahre befragt, stellt eine interviewte Mitarbeiterin die Absicht der Lebensgemeinschaft dar, sich in einem größeren Maße als bisher nach außen zu öffnen. So sollen z. B. die tagesstrukturierenden Werkbereiche auch für extern lebende Menschen mit Behinderungen nutzbar gemacht werden, weitere Personen auswärts arbeiten sowie ein breiteres Angebot an Kulturveranstaltungen mehr Besucher für Angermark interessieren: „Ich kann mir einfach vorstellen, dass das Ganze vielleicht noch beweglicher wird und durch die von außen dazukommenden Menschen, die nur tagsüber da sind und den doch immer mehr Menschen, die dann auch extern arbeiten, dass da doch mehr Bewegung reinkommt, mehr Austausch zwischen innen und außen passiert, vielleicht noch lebhafter. Ich kann mir auch vorstellen, dass durch unser Gemeinschaftshaus, wo geplant wird, auch mehr Kultur irgendwie anzubieten, ich kann mir vorstellen, dass es noch belebter werden kann“ (B11M, Abs. 61). Ein anderer Mitarbeiter sieht darüber hinaus vor allem die Notwendigkeit, sich aufgrund des fortschreitenden Alters der behinderten Bewohner zukünftig auf veränderte Bedarfslagen einzustellen: „Und da merke ich, dass wir Herausforderungen kriegen, dass unsere Menschen, die hier wohnen, älter werden und ganz andere Bedürfnisse haben werden als jetzt, auch andere Pflege brauchen und so“ (B9M, Abs. 71). 6.3.2 Frau Meyer „Mensch, guck dir doch mal an, was die Anthroposophen so machen, das könnte dir gefallen!“ (B11M, Abs. 19). Zum Zeitpunkt des Interviews ist Frau Meyer 37 Jahre alt und arbeitet seit zwei Jahren in Angermark. Sie ist hausverantwortliche Mitarbeiterin in einer Gruppe, in der sieben Menschen mit Behinderungen leben. Sie selbst wohnt nicht innerhalb der Hausgemeinschaft, sondern in einem Nachbarhaus, allerdings auf dem Geländes der Lebensgemeinschaft: „Also ursprünglich, wie in Camphill-
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Einrichtungen war es ja so, dass man sozusagen wirklich zusammen in einer Großfamilie gewohnt hat. Das ist bei uns hier nicht so ganz so, sondern da hat doch jeder Mitarbeiter seine abgetrennte Wohnung, wo er eben die Haustüre dann auch zumachen kann und sagen kann: ‚Ich bin jetzt privat( “ދB11M, Abs. 21). Frau Meyer ist in einem Nachbarland Deutschlands aufgewachsen. Dort hat sie nach der Schule zunächst Ausbildungen zur Frisörin, Friseurmeisterin und Maskenbildnerin absolviert und im Anschluss daran zusammen mit Kollegen ein eigenes Geschäft eröffnet. Damals begann sie, sich für Spiritualität und Grenzwissenschaften zu interessieren – anthroposophische Zusammenhänge waren ihr aber in diesem Kontext nicht geläufig: „Ich wusste zwar, dass es Waldorfschulen gibt, aber das war so alles, was ich da drüber wusste“ (B11M, Abs. 19). In dieser Zeit ergaben sich auch erste, positiv wahrgenommene Berührungspunkte mit behinderten Menschen. So kamen einige Kinder aus einer benachbarten Heimsonderschule immer zu ihr, um die Haare geschnitten zu bekommen: „Und ich war damals, wir waren so eine Gemeinschaft in unserem Laden, also mehrere selbständige Leute, die sich einen großen Laden geteilt habe, ich war die Einzige, die irgendwie klarkam mit den Kindern. Bei mir waren die recht ruhig und ich fand die immer interessant und ich mochte die auch“ (ebd.). Als Frau Meyer klar wurde, dass sie ihren erlernten Beruf aufgrund gesundheitlicher Schwierigkeiten bald nicht mehr werde ausüben können, begab sie sich auf die Suche nach einer Alternative. Dabei war ihr Wunsch, ihr Interesse für Pädagogik mit einem Ansatz verbinden zu können, dem ein ganzheitliches Menschenbild zugrunde liegt. Aus dem Bekanntenkreis kam daraufhin der Hinweis auf anthroposophisch orientierte soziale Arbeit: „Mensch, guck dir doch mal an, was die Anthroposophen so machen, das könnte dir gefallen!“ (ebd.). Nach einem Praktikum in der (nicht-anthroposophischen) Heimsonderschule vor Ort ging Frau Meyer zu einem weiteren Praktikum in eine kleine sozialtherapeutische Hofgemeinschaft: „Das war eine anthroposophische Hofgemeinschaft und die Leute, die da gearbeitet haben, kamen eben, also ein Großteil davon war aus der CamphillBewegung auch dahin gekommen. Und das hat mir da sehr gut gefallen, ich fand das wunderbar“ (ebd.). Es folgte der Entschluss, nun eine anthroposophisch geprägte Ausbildung im sozialen Sektor zu durchlaufen. Sie fand eine Stelle in einer Einrichtung, in welcher sie berufsbegleitend zur Sozialpädagogin mit dem Schwerpunkt Heilpädagogik qualifiziert wurde. Nach Abschluss der Ausbildung, einer Zeit des Reisens und Arbeit in einer katholischen Einrichtung der Behindertenhilfe („Also, die wollten mich auch unbedingt haben wegen meiner anthroposophischen Ausbildung“ (ebd.)) zog Frau Meyer aus privaten Gründen nach Deutschland um. Aufgrund von zum damaligen Zeitpunkt noch nicht bestehenden Abkommen zwischen ihrem Herkunftsland und Deutschland erhielt sie je-
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doch keine Arbeitsbewilligung. So unterstützte sie ihren Partner bei seiner selbständigen Tätigkeit und bildete sich in alternativen Heilmethoden fort. Nach einigen Jahren – die Möglichkeit, eine Arbeitserlaubnis zu erhalten war mittlerweile gegeben – bildete sich deutlich der Wunsch heraus, wieder im sozialtherapeutisch-anthroposophischen Rahmen tätig sein zu können: „Das war ganz klar: ‚Ich will das jetzt wieder!ދ. Und dann in dem Moment, wo das für mich klar war, habe ich dann auch diese Stellenausschreibung gefunden …“ (ebd.). Die Bewerbung war erfolgreich und führte zunächst zu einer Elternzeitvertretung, später zu einer festen Anstellung in Angermark. Neben der direkten Unterstützungsarbeit beschreibt Frau Meyer Teamleitung und Teamentwicklung als wesentliche Komponenten ihrer jetzigen Tätigkeit als Hausverantwortliche: „Der Bewohner ist natürlich schon im Mittelpunkt und die Hausgemeinschaft, aber eben genauso auch das Team. Das gehört eben beides zusammen“ (B11M, Abs. 65). 6.3.3 Frau Becker „Also, ich musste ständig umziehen“ (B10, Abs. 21). Frau Becker ist zum Zeitpunkt des Interviews 33 Jahre alt und lebt seit etwa einem Jahr innerhalb der Lebensgemeinschaft. Ihre Kindheit und Jugend hat sie zunächst im außereuropäischen, danach im europäischen Ausland verbracht. Dieses war der beruflichen Situation ihrer Eltern geschuldet: „Och, meine Eltern haben halt an verschiedenen Plätzen gearbeitet, so“ (B10, Abs. 25). Später ging es in die Großstadt, an deren Rande sich die Lebensgemeinschaft Angermark befindet. Allerdings besuchte sie damals noch die Schule und lebte im Elternhaus. Nach Beendigung der Schule zog Frau Becker in eine sozialtherapeutische Gemeinschaft im ländlichen Raum Süddeutschlands, um dort zu arbeiten und zu wohnen. Nach einiger Zeit siedelte sie jedoch wieder in die Stadt um, in der sie zuvor gelebt hatte. Nun allerdings war ihr Wohnort die Lebensgemeinschaft Angermark: „Also, ich musste ständig umziehen“ (B10, Abs. 21). Die Entscheidung, an den jetzigen Lebensort zu ziehen, so Frau Becker, sei von ihrer Mutter initiiert worden: „Das war der Wunsch meiner Mutter. Sie wollte nicht mehr so weite Autostrecken fahren und dann hat sie mich, dann hat sie sich halt entschlossen, mich mitzunehmen nach (.) und sie meinte, hier sei ich gut aufgehoben“ (B10, Abs. 27). Mit sieben weiteren Menschen mit Behinderungen lebt Frau Becker in einem Haus der Lebensgemeinschaft. Sie hat ein Einzelzimmer. Ist Frau Becker zu Beginn einer Beschäftigung innerhalb der Gemeinschaft nachgegangen, so arbei-
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tet sie mittlerweile in einer externen Werkstatt eines kooperierenden, ebenfalls anthroposophisch orientierten Trägers. Auch auf diesen Wechsel scheint ihre Mutter wesentlichen Einfluss gehabt zu haben: „… aber dann war das meiner Mutter zu eintönig und dann bin ich in die (.) [Name einer Werkstatt] gekommen“ (B10, Abs. 29). Insgesamt äußert sich Frau Becker zufrieden über ihre aktuelle Lebenssituation: „Also, man kann ganz gut hier leben“ (B10, Abs. 3). Indes fehlt ihr doch ihr an ihrem vorherigen Wohnort aufgebautes freundschaftliches Netzwerk: „… aber ich sehne mich halt doch nach meinen alten Freunden zurück!“ (B10, Abs. 67). Die Frage, ob sie sich in der Angermark zu Hause fühle, wird folglich zwar zustimmend, aber etwas zögerlich beantwortet: „Ja, schon. Ja, ich fühle mich hier zu Hause“ (B10, Abs. 135). 6.3.4 Herr Haarmann „Dort wurde es mir aber dann deutlich, dass ich in einer Gemeinschaft mit Seelenpflege-bedürftigen Menschen arbeiten wollte, in Deutschland“ (B9M, Abs. 19). Herr Haarmann ist zum Zeitpunkt des Interviews 51 Jahre alt und ist seit zwei Jahren Mitarbeiter der Lebensgemeinschaft Angermark. Er hat die Verantwortung für eine Hausgemeinschaft inne, in der insgesamt acht Menschen mit Behinderungen leben. Herr Haarmann selbst hat von Beginn seiner Tätigkeit an eine Wohnung außerhalb der Lebensgemeinschaft. Aufgewachsen ist Herr Haarmann in einem Nachbarland Deutschlands. Ab der sechsten Klasse hat er die Waldorfschule besucht und dadurch erste Berührungspunkte mit anthroposophisch orientierter Arbeit gehabt: „Bin also dann in der Waldorfschule, also in dem Bereich schon aufgewachsen“ (B9M, Abs. 19). Nach dem Ablegen des Fachabiturs zog es ihn ins europäische Ausland, um ein Jahr in einer Camphill-Gemeinschaft zu leben und zu arbeiten: „Da ist meine erste Begegnung mit so einer Gemeinschaft gewesen“ (ebd.). Den Kontakt zu dieser Organisation erhielt Herr Haarmann über seinen Bruder, der damals dort seinen Lebensmittelpunkt hatte. Sein Tätigkeitsschwerpunkt stelle hier jedoch nicht die direkte Unterstützungsarbeit dar. Vielmehr standen Hausmeister- und Tischlerarbeiten im Vordergrund. Das Studium der Eurythmie48 brachte Herrn 48
„Eurythmie (aus griech. eu = schön, gut und rhythmos = harmonisch geordnete Bewegung …) ist eine Bewegungskunst, die in professioneller Form von Eurythmistinnen und Eurythmisten ausgeübt wird. Nach ersten Ansätzen ab 1908 wurde sie zwischen 1912 und 1924 von Rudolf Steiner und Lory Maier-Smits entwickelt“ (AnthroWiki 2008a).
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Haarmann sodann nach Deutschland. Der Abschluss des Studiums erfolgte in der Stadt, in der er auch heute wohnt: „Bin dann hier hängen geblieben“ (ebd.). Mehrere Jahre unterrichtete Herr Haarmann hier an einer heilpädagogischen Waldorfschule (Förderschule), bis er nach Norddeutschland übersiedelte, um dort weitere Jahre als Eurythmielehrer zu wirken. Es folgte eine Neuorientierung in Form der Mitarbeit bei Gründung und Aufbau einer heilpädagogischen Waldorfschule – ebenfalls im norddeutschen Raum. Eine „biographische Krise“ (ebd.) veranlasste Herrn Haarmann jedoch nach einigen Jahren zum Abbruch dieser Arbeit; er ging zurück in sein Herkunftsland: „Ich habe dann alle Zelte abgebrochen und bin dann ein Jahr nach (.) [Herkunftsland] gegangen, um da zu merken, dass ich doch nicht mehr in (.) zu Hause bin, sondern in Deutschland“ (ebd.). Zugleich entstand der ausdrückliche Wunsch, im sozialtherapeutischen Sinne mit behinderten Menschen arbeiten zu wollen: „Dort wurde es mir aber dann deutlich, dass ich in einer Gemeinschaft mit Seelenpflege-bedürftigen Menschen arbeiten wollte, in Deutschland“ (B9M, Abs. 19). Realisieren ließ sich dieses Anliegen in der Gemeinschaft Angermark – in der Stadt, in welcher er bereits während und nach dem Studium einige Zeit verbracht hatte. Abgesehen von der unmittelbaren Begleitung von Menschen mit Behinderungen sieht Herr Haarmann den Schwerpunkt seiner Tätigkeit im Bereich der Teamleitung und Teamentwicklung: „Und meine Aufgabe sehe ich vor allem darin, ein gutes Team zu haben, herauszufinden, welche Fähigkeiten die Leute haben, mit denen man zusammenarbeitet, und die so gut wie möglich einzusetzen“ (ebd.). Insbesondere auch, weil Herr Haarmann für seinen jetzigen Beruf nicht explizit ausgebildet wurde, beschreibt er die von ihm gemachten Erfahrungen beim Aufbau einer Schule als wesentlich für sein Arbeitsfeld: „Aber durch die Aufgaben, die ich in den Jahren vorher auch in dieser Schule gelernt habe, einfach auch viel in der Selbstverwaltung und dieses Sehen, was eine Gemeinschaft braucht und auch dieses Führen dann in der Gemeinschaft, kann ich jetzt diese Fähigkeiten gut einbringen“ (ebd.). 6.4 Lebensgemeinschaft Ettensweiler 6.4 Lebensgemeinschaft Ettensweiler 6.4.1 Gestalt und Struktur Die Lebensgemeinschaft Ettensweiler liegt im Süden Deutschlands, in Alleinlage innerhalb eines dörflich-ländlichen Umfelds, aber dennoch nicht allzu weit entfernt von urban und industriell geprägten Räumen (FP 4, Abs. 6). Konzeptionell betrachtet handelt es sich um ein eigenes Dorf, eine Dorfgemeinschaft: „Ich schaue mir das Dorf etwas genauer an: Es ist ein richtig kleines Dorf, es gibt eine
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Dorfstraße, einen Glockenturm, verschiedene Wohnhäuser, verschiedene Betriebe, einen Dorfplatz, ein Gemeinschaftszentrum mit Saal, einen Dorfladen, in dem Besucher einkaufen, aber sich auch die Häuser mit Lebensmitteln versorgen … und es gibt ein Bistro“ (FP 4, Abs. 103). Mehr als 100 Menschen mit Behinderungen leben und arbeiten in der Gemeinschaft. Die Mehrzahl davon lebt zusammen mit Mitarbeitern und deren Familien in insgesamt zwölf Hausgemeinschaften, den sogenannten Großfamilien. Aber auch kleinere betreute Wohngemeinschaften gibt es sowie Arrangements, bei denen räumlich abgetrennt, aber mit Anbindung an eine der Großfamilien gelebt wird. Diese stationären Angebote werden seit einigen Jahren durch das ambulant betreute Wohnen ergänzt. Zu diesem Zweck wurde eigens ein Appartementhaus auf dem Campus der Lebensgemeinschaft errichtet. In unmittelbarer Nachbarschaft zu diesem Gebäude befindet sich ein weiteres Mehrfamilienhaus. Hier leben Mitarbeiter, die eine dichte Anbindung an die Gemeinschaft wünschen, aber nicht (mehr) innerhalb einer Wohn- oder Hausgemeinschaft verortet sein möchten (FP 4, Abs. 54). Ettensweiler bietet zahlreiche Arbeitsmöglichkeiten, die auch von Personen in Anspruch genommen werden, die nicht innerhalb der Dorfgemeinschaft leben. Dabei reicht die diesbezügliche Bandbreite von Tätigkeiten in der biologischdynamischen Landwirtschaft, der Gärtnerei, in Vermarktung und Vertrieb, in einer Einmachküche und in einer Bäckerei über die Mitarbeit in einer Schreinerei, einer Astholzwerkstatt und einer Metallwerkstatt bis hin zur Beschäftigung in Dorfladen und Bistro oder im Bereich Hauswirtschaft. Die überwiegende Mehrheit der Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen sind im sozialrechtlichen Sinne als Plätze einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) anerkannt. Eine bestimmte Anzahl an Wohn- und Arbeitsangeboten innerhalb von Ettensweiler wird für Menschen mit besonders hohen Unterstützungsbedarfen vorgehalten. Diese erhalten zum Teil auch hinsichtlich der Tagesstruktur spezielle Förderangebote außerhalb des Rahmens der WfbM (FP 4, Abs. 39f.; 255). In einer eigenen Fachschule können Mitarbeiter berufsbegleitend die Ausbildung zum Heilerziehungspfleger absolvieren (FP 4, Abs. 55). Die Werkstattgebäude und Wohnhäuser von Ettensweiler befinden sich zueinander in fußläufiger Entfernung, sind aber im Großen und Ganzen in unterschiedlichen räumlichen Arealen errichtet worden (FP 4, Abs. 6). Ettensweiler ist bunt, die Bauweise holzbetont, große Fensterflächen verleihen einigen Gebäuden einen Anschein von Leichtigkeit: „Die etwas älteren Häuser sind in blau gehalten – nur die Eingangsbereiche sind mit rot angestrichenem Holz verkleidet. Einige neuere Häuser sind insgesamt rot. Auf mich macht die äußere Gestaltung der Häuser einen ‚skandinavischen ދEindruck. Mir fällt zudem auf, dass viele Häuser – insbesondere beim Gemeinschaftszentrum ist dieses offenbar – so gebaut sind,
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dass durch große Fensterflächen … viel Licht hineinfallen kann. Viele Häuser wirken auf mich ‚luftig( “ދFP 4, Abs. 103). Die Wohnhäuser sind nach in ihrem jeweiligen Kontext einflussreichen Persönlichkeiten, beispielsweise aus Wissenschaft, Kunst und Religion, benannt, die zum Teil auch einen anthroposophischen Hintergrund aufweisen. Ein Blick in das Innere eines Wohnhauses zeigt auch hier viel Holz und eine Einrichtung, die ein Augenmerk für eine bewusste Ausgestaltung vermuten lässt: „Das Wohn- und Esszimmer ist mit Holzmöbeln bestückt. Neben einem großen, aus mehreren kleinen Tischen bestehenden Esstisch, auf dem sich blühende Zweige, eine Kerze und rote Tischläufer befinden, gibt es eine Sofaecke mit einem Couchtisch. Zwischen den beiden Bereichen befindet sich ein kleiner Holzofen aus schwarzem Eisen … Die Fensterbänke sind mit Pflanzen bestückt, an den Scheiben befindet sich an einigen Stellen selbst gebastelter Osterschmuck. Auch der Fußboden ist aus Holz“ (FP 4, Abs. 24). Die Entscheidungsstrukturen der Dorfgemeinschaft Ettensweiler sind durch ein ausgeprägtes Gremienwesen gekennzeichnet. Im Mittelpunkt steht dabei die Mitarbeiterkonferenz, in welcher die Gemeinschaft als Ganzes betreffende Fragen zusammengeführt und aus der heraus alle anstehenden Aufgaben – auch die leitungsbezogenen – delegiert werden. Somit sind auch die leitenden Mitarbeiter diesem Organ rechenschaftspflichtig. Nach außen wird die Gemeinschaft von einem Leitungsteam vertreten. Eine Monatskonferenz dient beispielsweise dem Austausch der gesamten Dorfgemeinschaft, ein auf Grundlage der – gesetzlich vorgeschriebenen – Gremien Heimbeirat und Werkstattrat gebildeter Dorfbeirat vertritt die Interessen der behinderten Gemeinschaftsmitglieder (FP 4, Abs. 69; 262). Gegründet wurde Ettensweiler Anfang der 1990er Jahre mit dem Einzug einer ersten Großfamilie auf zwei ehemaligen Aussiedlerhöfen. Hinsichtlich Gebäudebestand und Personen ist die Gemeinschaft seitdem kontinuierlich gewachsen. Fast alle der heute genutzten Gebäude sind somit eigens für den Zweck der Dorfgemeinschaft errichtet worden. Ettensweiler ist aus einer anderen, ebenfalls in Süddeutschland gelegenen sozialtherapeutischen Dorfgemeinschaft hervorgegangen. Eine starke Nachfrage nach dem Modell des Lebens in gemeinschaftlichen Zusammenhängen, insbesondere von Angehörigen behinderter Menschen, bei gleichzeitiger Begrenztheit des Wachstums am bestehenden Standort führte zur Idee, eine neue Dorfgemeinschaft zu bilden. In Absprache mit der Sozialverwaltung wurde eine Region ausgewählt, in welcher ein Bedarf an stationären Wohnplätzen gesehen wurde. Bereits zu diesem Zeitpunkt wurde der Ausbau auf die heutige Größe vereinbart. Nach langer Suche wurde das jetzige Domizil gefunden – einige Mitarbeiter und Menschen mit Behinderung aus der ‚altenދ Gemeinschaft siedelten in die neue über (FP 4, Abs. 54; 255).
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Danach gefragt, wie sich die Dorfgemeinschaft innerhalb der nächsten zehn Jahre verändern wird, äußern die interviewten Mitarbeiter Bedenken, ob die derzeit bestehende Form des Zusammenlebens und Arbeitens überhaupt Bestand haben könne. So werde z. B. von externer Seite, so etwa vom Sozialleistungsträger, ein großer Veränderungsdruck auf die Organisation ausgeübt: „Ich sehe die Tendenz, dass eben der Druck von außen auf die Lebensgemeinschaft in Richtung einer normalen Einrichtung sehr groß ist, und viel wird davon abhängen, dass wir die passenden Antworten darauf finden“ (B7M, Abs. 57). Auch mache sich eine Verknappung der finanziellen Mittel bemerkbar. Neue, junge Mitarbeiter würden zudem immer öfter die aus der besonderen Art des Zusammenlebens resultierenden, teilweise wenig umgrenzten Arbeitszeiten hinterfragen (B5M, Abs. 75). Bezüglich einer Weiterentwicklung der bisherigen Prägung wünscht sich ein Befragter, dass mehr nichtbehinderten Menschen – ohne Mitarbeiterstatus – ein Leben innerhalb der Gemeinschaft ermöglicht werde sowie die Idee des gemeinschaftlichen Lebens von Menschen mit und ohne Behinderungen auch verstärkt in nicht-anthroposophische Zusammenhänge getragen werden könne (B7M, Abs. 57). 6.4.2 Herr Domes „Also mich hat es sofort gepackt, ich bin hier angekommen, habe mit gelebt und dachte: Das ist ... das ist toll, das mache ich“ (B5M, Abs. 27). Zum Zeitpunkt des Interviews ist Herr Domes 31 Jahre alt und lebt seit fünf Jahren innerhalb der Lebensgemeinschaft Ettensweiler. Seit zwei Jahren ist er – zusammen mit zwei Kollegen – hausverantwortlich in einer Hausgemeinschaft, einer Großfamilie, in welcher neun Menschen mit Behinderungen gemeinsam mit Mitarbeitern wohnen. Herr Domes und seine Partnerin haben eine abgetrennte Wohnung, die jedoch in das Haus integriert ist. Zusätzlich zur Hausverantwortung übt Herr Domes eine leitende Tätigkeit in einer der Werkstätten der Gemeinschaft aus. Seine Partnerin allerdings geht einer externen Beschäftigung nach, d. h. sie arbeitet nicht innerhalb von Ettensweiler: „Also bisschen eine Ausnahme im Dorf, dass jemand hier mitwohnt, mit lebt, aber nicht mitarbeitet“ (B5M, Abs. 13). Aufgewachsen ist Herr Domes in der Nähe der Lebensgemeinschaft, etwa fünfzehn Minuten Autofahrt entfernt. Nach der Schule hat er eine Ausbildung zum Industrieelektroniker absolviert. Der Weg zu seinem Arbeitgeber führte ihn täglich unweit von Ettensweiler vorbei – jeden Tag sah er an einer Abzweigung den Wegweiser, der dort hinwies. Trotz Neugierde – es blieb bei dieser Kennt-
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nisnahme: „Das heißt, ich bin eigentlich drei Jahre hier vorbeigefahren, oben an der Straße, habe auch das Schild gesehen (.) [Name der Lebensgemeinschaft], habe mich immer gefragt, was steht dahinter, was ist hinter diesem Hügel? Ich habe nie geguckt, drei Jahre nicht“ (B5M, Abs. 27). Nach Ausbildung und Übernahme in eine feste Anstellung stand für Herrn Domes der Zivildienst an. In einem Kinderheim machte er sodann erste – prägende – Erfahrungen mit sozialer Arbeit. Ein Umdenken begann: „‚Aha, das macht für mich mehr Sinn als Anlagen programmieren und Autos bauen( “ދebd.). Dessen ungeachtet arbeitete Herr Domes zunächst weiter in seinem erlernten Beruf. Zunehmende Zweifel an seiner Tätigkeit bewogen ihn jedoch alsbald dazu, die Kündigung einzureichen: „‚Das geht so nicht weiter, ich muss hier weg, sonst bleibe ich da hängen“ދ (ebd.). Eine Weltreise schloss sich an. Zurück in Deutschland folgte eine Phase der Orientierung, des Suchens. Eine Bekannte machte ihn auf ein Mitarbeitergesuch der Lebensgemeinschaft Ettensweiler aufmerksam. Nach einer Schnupperwoche war Herrn Domes sofort klar, dass er sein neues Domizil gefunden hatte: „Das war dann 2003 im Sommer und ich bin dann gleich da geblieben. Also mich hat es sofort gepackt, ich bin hier angekommen, habe mit gelebt und dachte: Das ist ... das ist toll, das mache ich. Und habe dann noch kurz meine Sachen geholt in (.) und bin dann hiergeblieben“ (ebd.). Nach nur wenigen Tagen Übergang ist Herr Domes dann in den neuen Jahrgang der Ausbildung zum Heilerziehungspfleger der eigenen Fachschule der Lebensgemeinschaft eingestiegen. Nach erfolgreichem Abschluss wurde ihm bald die Aufgabe einer Hausverantwortung übertragen: „Ja, dann habe ich da halt die Ausbildung gemacht und bin auch direkt nach der Ausbildung sofort in die Hausverantwortung übergegangen. Das ist eigentlich auch nicht gewöhnlich“ (B5M, Abs. 29). 6.4.3 Frau Jung „Ich fühle mich hier in dieser Gemeinschaft wohl, ich arbeite sehr gern. Ich denke auch gerne für andere Menschen mit“ (B6, Abs. 39). Frau Jung ist zum Zeitpunkt des Interviews 52 Jahre alt. Sie wohnt seit fünf Jahren in der Lebensgemeinschaft Ettensweiler. Zusammen mit ihrem Partner hat sie dort ein eigenes Appartement, das an eine familienähnliche Hausgemeinschaft angeschlossen ist. Zwar liegt die Wohnung räumlich abgetrennt, „aber wir haben um uns herum Betreuung. Also, wir können bestimmte Dinge für uns selber, aber was Wäsche waschen angeht oder kochen, das wird alles für uns gemacht“ (B6, Abs. 27). Frau Jung arbeitet im Dorfladen der Lebensgemeinschaft.
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Aufgewachsen ist Frau Jung in einer Großstadt im östlichen Teil Deutschlands. Nach einer Zeit in einer allgemeinen Schule, auf der es ihr gut gefiel, musste sie diese verlassen („die konnten mir da nichts mehr beibringen“ (B6, Abs. 5)) und kam auf eine Sonderschule. Dort machte sie allerdings keine guten Erfahrungen: „Und da hat es mir überhaupt nicht gefallen, da war ich auch nur ein halbes Jahr, die Lehrer waren nicht geduldig oder ich habe da auch nichts gelernt, bin viel geschlagen und geboxt worden“ (ebd.). Frau Jung bat ihre Mutter, sie von der Schule zu nehmen. Auf der Suche nach einer Alternative stellten die Eltern ihre Tochter auf der Rückfahrt aus dem Urlaub in einer anthroposophischen Heimsonderschule in Süddeutschland vor: „Ich war draußen und habe mir das angeguckt und meine Eltern hatten dann ein Gespräch mit Heimleiterin, A.B.“ (ebd.). Es gab eine Zusage für einen freien Platz und Frau Jung verließ die ungeliebte Schule, um nach Süddeutschland zu gehen. Der Weggang fiel ihr dennoch schwer, sie war noch sehr jung, der Heimweg war weit und Besuche nur in den Ferien möglich: „Und der Abschied war, ich war zehn Jahre alt und es war für mich sehr schwer, von zu Hause wegzugehen, ohne Mutti und Vati, die ja heute nicht mehr leben und meine Schwester auch. Aber drei Mal im Jahr konnte ich dann nach Hause, Ostern, Pfingsten, Sommer- und Weihnachtsferien hatte ich da“ (B6, Abs. 9). Nach einiger Zeit des Einlebens nahm sie ihr neues Domizil allerdings als angenehm wahr. Sie traf auf nette Menschen und machte Fortschritte beim Lernen: „Und es hat sich für diesen Schritt sehr gelohnt, was ich da gelernt habe“ (ebd.). Nach Abschluss der Schule zog sie in eine ebenfalls im süddeutschen Raum liegende sozialtherapeutische Lebensgemeinschaft. Viele Jahre blieb sie dort, gewann Freunde, lernte und arbeitete. Aber: „Ja, und denn hat es für mich eine Zeit da gegeben, die mir nicht mehr so sehr gefallen hat“ (B6, Abs. 13). Es gab Unstimmigkeiten und Missverständnisse. Zudem fehlten ihr zwei ihrer Freunde, die einige Zeit zuvor in die Lebensgemeinschaft Ettensweiler, eine Ausgründung aus ihrer damaligen Gemeinschaft, übergesiedelt waren. Somit wagte sie ebenfalls den Schritt, umzuziehen und folgte ihren Freunden. Frau Jung erinnert sich an eine weitere sozialtherapeutische Gemeinschaft, die ihr als möglicher neuer Wohnort nahegelegt wurde. Eindeutig äußert Frau Jung, dass sie zufrieden mit ihrem jetzigen Lebensort ist: „Ja! Ich fühle mich hier in dieser Gemeinschaft wohl, ich arbeite sehr gern. Ich denke auch gerne für andere Menschen mit“ (B6, Abs. 39). Gefragt, wo sie sich zu Hause fühle, fällt die Antwort ebenso klar aus: „Hier! Hier in (.) fühle ich mich wohl, hier kriege ich Vieles. Viele Menschen sind sehr freundlich und sehr nett und liebe Freunde habe ich hier auch“ (B6, Abs. 89).
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6.4.4 Herr Sundermann „Also, Integration, so, wie wir es da gelehrt kriegen eigentlich, das kann so nicht funktionieren. Aber dann ziehe ich eben zu den betreuten Menschen mit ins Heim“ (B7M, Abs. 17). Herr Sundermann ist zum Zeitpunkt des Interviews 52 Jahre alt. Zusammen mit seiner Ehefrau lebt er seit zwölf Jahren innerhalb der Lebensgemeinschaft Ettensweiler. Herr und Frau Sundermann bewohnen ein Appartement im ersten Stock eines Hauses, in dem elf Menschen mit Behinderungen sowie weitere Mitarbeiter leben. Nach mehreren Jahren der Kombination von hausverantwortlicher Position und Tätigkeit in einer Werkstatt hat Herr Sundermann mittlerweile seinen Arbeitsschwerpunkt auf die Leitung einer Werkstatt gelegt: „Und seit dem Sommer 2008 wohne ich dort zwar noch, aber ich habe mich aus dem Familienleben weitestgehend zurückgezogen und bin jetzt nur noch für die Werkstatt da, weil ich hier jetzt die Werkstattleitung mache“ (B7M, Abs. 9). Ursprünglich stammt Herr Sundermann aus einem Nachbarland Deutschlands. Er wuchs in einem anthroposophisch geprägtem Kontext auf: „Meine Mutter ist schon immer Anthroposophin gewesen und hat also Wert darauf gelegt, dass ihre Kinder zur Waldorfschule gehen und das hat sie dann eben auch durchgesetzt“ (B7M, Abs. 17). Nach der Schule nahm Herr Sundermann an einem anthroposophischen Studienjahr teil. Das darauf folgende Studium der Landwirtschaft sowie die dazugehörigen Praktika waren jedoch nicht im anthroposophischen Raum verortet: „Ich wollte da einfach mal richtig weg von“ (ebd.). Nach Abschluss des Studiums als Agraringenieur ging es allerdings für einige Jahre in die biologischdynamische, sprich anthroposophisch orientierte Landwirtschaft. Der Wunsch nach einer Erweiterung des Tätigkeitsfeldes führte Herrn Sundermann schließlich in eine Einrichtung der Behindertenhilfe; ein Heim, das auf anthroposophischer Grundlage arbeitete. Hier konnte er soziale Arbeit mit der Landwirtschaft verbinden. Wenngleich zunächst nicht vermutet, fand er größeren Gefallen an der Zusammenarbeit mit behinderten Menschen: „Und der Eindruck durch dieses Heim war eben so, dass ich die behinderten Menschen sehr schätzen gelernt habe. Also, vorher hatte ich da eigentlich einen großen Bogen um alle Hilfeberufe und alle sozialen Berufe gemacht“ (ebd.). Deutlich wurde ihm während dieser Zeit nun, dass ihn die soziale Arbeit mehr als die Landwirtschaft fasziniert. Berufsbegleitend absolvierte er daher eine – nicht-anthroposophische – Ausbildung zum Heilerziehungspfleger. Zwiegespalten reagierte er auf die durch das Ausbildungsinstitut vermittelte Idee der gesellschaftlichen Integration von Menschen mit Behinderungen. Zum einen sah er diesbezügliche Realisierungschancen nur
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für eine bestimmte Gruppe behinderter Menschen: „So, wie ihr uns da die Integration lehrt, funktioniert das überhaupt nur mit einer ganz kleinen Klientel von unseren betreuten Menschen und alle anderen fallen die Bank hinten runter“ (ebd.). Zum anderen ließ Herrn Sundermann die Idee der Integration jedoch nicht mehr los, da er das ihm bekannte Modell der Heimunterbringung als einen von Menschen mit Behinderungen nicht gewünschten Lebenskontext wahrnahm: „Da muss es was anderes geben“ (ebd.). Über seine Frau, die in einer sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaft ein Praktikum machte, lernte er diese Form des Zusammenlebens behinderter und nichtbehinderter Menschen kennen. Auch vor dem Hintergrund von Zweifeln an der bisher kennengelernten Theorie und Praxis der Unterstützung von Menschen mit Behinderungen empfand Herr Sundermann diese Art gemeinschaftlichen Lebens als eine Weiterentwicklung: „Das wäre so der nächste Schritt“ (ebd.). Der Entschluss wurde gefasst, sich in Richtung einer sozialtherapeutischen Gemeinschaft zu orientieren. Über eine Anzeige nahmen sie Kontakt zur Dorfgemeinschaft Ettensweiler auf. Nach einem ersten Kennenlernen entschlossen sie, zu bleiben: „Ja, und ich bereue es auch wirklich nicht“ (ebd.). Für die Zukunft wünscht sich Herr Sundermann eine Form der Integration, die er als „Verdünnen“ (B7M, Abs. 19) bezeichnet. Er versteht darunter, dass die Lebensgemeinschaft in weitaus stärkerem Maße ein Wohnort auch für dort keiner Beschäftigung nachgehende nichtbehinderte Menschen sein kann. Ziel sei dabei, das quantitative Verhältnis zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen immer weiter anzugleichen: „Dass immer mehr Menschen, die eigentlich nicht direkt in der Dorfgemeinschaft arbeiten, aber doch hier wohnen wollen, dass man so was ermöglicht“ (ebd.). 6.4.5 Frau Wicke „Ich fühle mich irgendwie, ich fühle mich hier zu Hause, ich bin auch gerne hier, aber irgendwie, ja, ich möchte halt mehr können“ (B8, Abs. 94). Zum Zeitpunkt des Interviews ist Frau Wicke 53 Jahre alt. Sie lebt in einer Großfamilie mit zehn weiteren Menschen mit Behinderungen sowie Mitarbeitern zusammen. Sie teilt sich ein Zimmer mit einer Mitbewohnerin: „Ich schlafe jetzt mit einer zusammen, die hat einen Schlaganfall gehabt, mit der bin ich zusammen im Zimmer“ (B8, Abs. 57). Aufgewachsen ist Frau Wicke in einer kleinen Stadt in Süddeutschland. Nach der Geburt musste sie aufgrund gesundheitlicher Komplikationen eine längere Zeit im Krankenhaus bleiben. Erst nach Intervention ihres Vaters durfte
6.4 Lebensgemeinschaft Ettensweiler
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sie das Hospital verlassen: „Ich habe diese Behinderung von Geburt an. Ich war lange Zeit im Krankenhaus nach der Geburt, war gar nicht zu Hause, bis mein Vater in die Klinik gegangen ist und hat gesagt: ‚Das Kind gehört uns!… ދ ‚Wenn Sie mir das Kind jetzt nicht gutwillig geben, dann hole ich es mirދ. Und dann, aber, dann sind sie gesprungen und haben mich meinem Papa übergeben, der hat mich geholt“ (B8, Abs. 16). Den größeren Teil ihrer Kindheit und Jugend hat Frau Wicke allerdings nicht bei ihren Eltern, sondern bei ihrer Großmutter in einer süddeutschen Großstadt verbracht. Dort besuchte sie auch eine heilpädagogische Waldorfschule (Sonderschule): „Also, alles, was man so in der Schule lernt, haben wir auch gehabt, aber halt so, dass wir mitkamen“ (ebd.). Gerne erinnert sie sich an diesen Lebensabschnitt. Geprägt war ihre Jugendzeit jedoch auch durch viele Krankenhausaufenthalte und Operationen: „Bin sieben Mal am linken Bein operiert und am rechten ein Mal. War sieben Mal im Ganzen in Gips“ (ebd.). Ihre Großmutter stand ihr bei, pflegte und versorgte sie: „Und meine Oma hat das alles durchgemacht“ (ebd.). Nach Abschluss der Schule zog Frau Wicke in eine ebenfalls im Süden Deutschlands gelegene sozialtherapeutische Lebensgemeinschaft. Sie erinnert sich, dass ihre Oma sie dorthin vermittelt habe, da sie selber nicht mehr in der Lage gewesen sei, die tägliche anfallende Unterstützungsarbeit zu leisten: „Meine Oma wurde zu alt, sie konnte mich nicht mehr nehmen, nur noch im Urlaub eben“ (B8, Abs. 24). An ihrem neuen Lebensort durchlief Frau Wicke zunächst eine Einarbeitungsphase, in welcher sie verschiedene Werkstätten und Tätigkeitsfelder kennenlernte sowie an begleitenden Unterrichtseinheiten teilnahm: „Ja, da war, da habe ich drei Lehrjahre gemacht, das war so, da hatte ich morgens ab neun Unterricht und dann Werkstatt bis zwölf. Und dann war Mittagessen und nachmittags dann von zwei bis halb fünf Werkstatt“ (B8, Abs. 28). Letztendlich war es die Weberei, die Frau Wicke vertiefend erlernte und in diesem Bereich auch schwerpunktmäßig tätig war: „Ich bin Weberin von Beruf, eigentlich, ja“ (B8, Abs. 30). Etwa 25 Jahre blieb sie in der Lebensgemeinschaft. Dann siedelte sie in die damals noch im Aufbau befindliche Gemeinschaft Ettensweiler über – eine ihrer bisherigen Lebensgemeinschaft durch den von dieser ausgehenden Gründungsimpuls eng verbundene Organisation. Der Umzug – so erinnert sich Frau Wicke – sei durch Platzmangel notwendig geworden. So hätten einige Personen die Gemeinschaft verlassen müssen: „Ja, und dann wurde (.) zu eng. Es mussten ein paar Leute weg und da hat man gesagt: ‚Die Alten, die Eingesessenen, die müssen raus( “ދB8, Abs. 32). Diese Entscheidung sei auch von Verwaltungsseite getroffen worden: „Das Amt hat gesagt, also die Leute, die jetzt lange da waren, kommen jetzt hierher“ (B8, Abs. 34). Etwa sechzehn Jahre sind seit ihrer Über-
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siedelung mittlerweile vergangen. Frau Wicke hat auch an ihrem neuen Lebensort zunächst in verschiedenen Bereichen gearbeitet. Inzwischen ist ihre Hauptaufgabe das Bügeln und Mangeln beispielsweise von Handtüchern, Kitteln und Schürzen in einer Lebensmittel verarbeitenden Werkstatt der Gemeinschaft. Frau Wicke betrachtet ihr jetziges Domizil als ihr Zuhause: „Ja, ich fühle mich hier zu Hause, ja“ (B8, Abs. 92). Allerdings beschreibt sie Phasen, in denen es ihr nicht gut geht, sie unter ihren behinderungsbedingten Einschränkungen leidet: „Ja, ich bin halt durch meine Behinderung ein bisschen eingeschränkt. Ich denke immer, wenn ich die nicht hätte, dann könnte ich mehr noch. Ich fühle mich irgendwie, ich fühle mich hier zu Hause, ich bin auch gerne hier, aber irgendwie, ja, ich möchte halt mehr können“ (B8, Abs. 94). In diesen Stimmungslagen kommt es vor, dass sie sich aufgrund bestehender körperlicher Beeinträchtigungen im Vergleich zu anderen als weniger wertvoll wahrnimmt: „Als wäre ich schon verbraucht, als wollte mich niemand mehr haben … Und dann kriege ich das große Weinen, wenn ich mir so vorkomme. Dann kann ich nicht mehr“ (B8, Abs. 96). Frau Wicke betont indes, dass sie in derartigen Lebenssituationen Hilfe und Zuspruch von anderen Gemeinschaftsmitgliedern erhält und Sympathie signalisiert bekommt: „Ich habe auch alle gerne hier, und sie sind froh, dass ich hier bin, die Leute …“ (ebd.).
7 Ritual und Rhythmus 7 Ritual und Rhythmus
„Ja, das gibt unheimlich viel Halt“ (B15M, Abs. 53) Rituale begegnen dem Betrachter in sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaften an vielen Stellen des Alltags: Sie sind fester Bestandteil des Tages-, Wochenund Jahresverlaufes, wobei Phänomenologie sowie Intensität und Frequenz zwischen den einzelnen Lebensgemeinschaften sowie auch zwischen einzelnen Hausgemeinschaften zum Teil deutlich variieren können: „In jedem Haus wird das hier sehr unterschiedlich gehandhabt. Es gibt keine Verbindlichkeit, wie da was zu machen wäre“ (B1M, Abs. 53). Dem offenen Vorgehen gemäß habe ich vor den Feldphasen keine Definition des Terminus Ritual vorgenommen. Im Kontext der Kategorienbildung wurden – um einen ordnenden Rahmen zu erhalten, aber dennoch einer thematischen Einengung entgegenzuwirken – Rituale bzw. ritualisierte Prozesse vereinfachend als regelmäßige Begebenheiten gefasst, bei denen ein „Vorgehen nach festgelegter Ordnung“ (Duden 1990, 688) wahrgenommen werden konnte. Da – wie während der Aufenthalte im Feld deutlich wurde – in sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaften ritualisierte Elemente häufig im Zusammenhang mit einem rhythmisch gestalteten Tages- bzw. Jahresverlauf betrachtet werden, stellt die hier erfolgte Aufnahme des Begriffs Rhythmus eine notwendige Ergänzung dar. Dabei wird Rhythmus in diesem Kontext als konstantes, aber nicht starres Prinzip gefasst: „Rhythmus wiederholt ähnliche Vorgänge in vergleichbar ähnlichen Verhältnissen. Bestes Beispiel ist die Atmung: Kein Atemzug gleicht dem anderen mit Bezug auf Tiefe und Länge, wenn man ihn ganz genau misst. Dennoch ist jeder Atemzug dem vorausgegangenen ähnlich“ (Goebel/Glöckler 2008, 223). Im Sinne einer heuristischen Herangehensweise werden beide Begriffe – Ritual und Rhythmus – und deren jeweilige Varianten nachfolgend synonym verwendet. Wie stellen sich nun wichtige Rituale, wesentliche Rhythmen innerhalb der Lebensgemeinschaften dar?
C. Stamm, Anthroposophische Sozialtherapie im Spiegel ausgewählter Lebensgemeinschaften, DOI 10.1007/978-3-531-93294-1_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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7.1 Die Mahlzeiten 7.1 Die Mahlzeiten „… das Essen in dieser großen Gemeinschaft ist ein richtig gutes Erlebnis, muss ich einfach mal so sagen“ (B7M, Abs. 21). Als ein wesentlicher Ankerpunkt im täglichen Leben stellt sich das gemeinschaftliche Essen dar. In der Regel wird somit gemeinsam gegessen, entweder in der jeweiligen Hausgemeinschaft oder mit dem gesamten Hof in einem speziellen Essensraum. Dabei nehmen Menschen mit Behinderung und Mitarbeiter die Mahlzeiten gemeinsam ein. Dieses scheint grundsätzlich so zu sein, unabhängig davon, ob die Mitarbeiter innerhalb der Gemeinschaft leben. Wird innerhalb der Gemeinschaft gelebt, so wird in der freien Zeit allerdings tendenziell eher nicht am gemeinsamen Essen partizipiert. Allerdings gibt es von Mitarbeiterseite auch die Bewertung, das gemeinsame Essen nicht als Arbeitszeit anzusehen, da man ja selbst sowieso hätte essen müssen (z. B. FP 2, Abs. 57). Nicht in allen Lebensgemeinschaften haben zudem alle dort lebenden Mitarbeiter die Möglichkeit, sich in ihrer eigenen Wohnung vollständig selbst zu versorgen, so z. B. wenn dort keine Küche vorhanden ist (B13aM, Abs. 78). 7.1.1 Anfang und Ende „Also, das haben Sie ja mitgekriegt, wie so ein Tagesablauf ist. Also der Morgenspruch, der Abendspruch und immer ein Tischspruch, bevor man anfängt zu essen und wenn wir aufhören: ‚gesegnete Mahlzeitұ“ (B13aM, Abs. 84). Bei allen Unterschieden bei der Gestaltung der Essensituation zwischen und innerhalb der Gemeinschaften: Gemeinsam ist, dass das Essen durch ritualisierte Elemente zu Beginn und Ende gerahmt wird. Um einen intensiven Eindruck zu erhalten, habe ich analog zu den vier beteiligten Lebensgemeinschaften vier diesbezügliche Ritual-Konstellationen beschrieben: Konstellation 1 Es wird jeweils in den einzelnen Hausgemeinschaften zusammen gegessen. Ein gemeinsamer Beginn und ein gemeinsames Ende umrahmen auch hier die Mahlzeiten: „Vor dem Essen wird ein Spruch gesprochen. Dieses übernimmt nach Aufforderung eine Bewohnerin. Danach fassen sich alle an den Händen und sagen ‚Guten Appetit( “ދFP 2, Abs. 51). Das Sprechen des Spruchs wird im wö-
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chentlichen Wechsel jeweils von einem anderen behinderten Menschen übernommen: „Heute wird ein Vers von Angelus Silesius gesprochen: ‚Das Brot ernährt uns nicht! / Was uns im Brote speist / Ist Gottes ewiges Licht / ist Leben und ist Geistދ.49 Kurz bevor die Bewohnerin mit dem Vers ansetzt, falten alle die Hände und es wird plötzlich ganz ruhig. Nach dem Spruch gehen die Unterhaltungen weiter“ (FP 2, Abs. 70 f.). Der gemeinsame Abschluss wird mit der Formel ‚Gesegnete Mahlzeit ދbegangen: „Nach einiger Zeit drängen einige Bewohner, jetzt ‚Schluss zu machenދ. Es wird geguckt, ob alle fertig gegessen haben, dann wird sich an den Händen gefasst und alle sagen: ‚Gesegnete Mahlzeit( “ދFP 2, Abs. 73). Neben diesem bei jeder Essensituation ähnlichem Ablauf, gibt es vor dem werktäglichen Frühstück eine zusätzliche Komponente, den hausinternen Morgenkreis: „Der Tisch im Esszimmer ist bereits gedeckt, die Bewohner und Mitarbeiter sitzen jedoch in einem dahinter liegenden Gemeinschaftswohnzimmer. Entdecke dort ein gezeichnetes Portrait von Rudolf Steiner sowie einige Drucke von Steinerschen Zeichnungen“ (FP 2, Abs. 61). Alle Hausbewohner bilden eine Runde, der Morgenkreis beginnt. Zunächst wird – a cappella – ein Lied gesungen: „Da die Hausgemeinschaft auf der am folgenden Dienstag stattfindenden Karnevalsfeier das Lied ‚Wer hat die Kokosnuss geklaut ދvortragen wird, wir dieses Lied morgens eingeübt“ (FP 2, 61). Ich erlebe, wie dabei eine Bewohnerin, die ansonsten sehr unter Spannung zu stehen scheint, den Eindruck vermittelt, sich dabei ein wenig entspannen zu können. Nach dem Lied spricht ein Mitarbeiter den Wochenspruch für die zweite Februar-Woche aus dem anthroposophischen Seelenkalender (FP 2, Abs. 62): „Die Welt, sie drohet zu betäuben / Der Seele eingeborne Kraft; / Nun trete du, Erinnerung, / Aus Geistestiefen leuchtend auf / Und stärke mir das Schauen, / Das nur durch Willenskräfte / Sich selbst erhalten kann.“50 Die gesamte Runde spricht danach auswendig einen weiteren Vers. Dieser ist der ‚Morgenandacht ދvon Christian Knorr von Rosenroth aus dem Jahr 1648 entnommen (FP 2, Abs. 65): „Morgenglanz der Ewigkeit, / Licht vom unerschöpften Lichte, / Schick uns diese Morgenzeit / Deine Strahlen zu Gesichte / Und vertreib durch deine Macht / Unsre Nacht!“51 Danach reichen sich die Nachbarn die Hände und alle wünschen sich einen ‚Guten Morgenދ. Es wird dann ins Esszimmer gegangen, um zu frühstücken. Eine Arbeits- oder Tagesbesprechung findet nicht in den einzelnen Häusern, sondern an Werktagen im Rahmen eines Morgenkreises im Saal der Gemeinschaft statt. Nach dem Essen wird jeweils gemeinsam abgeräumt. Die Mehrzahl 49 50 51
Nachträglich verifiziert (Silesius 1952, 26). Nachträglich verifiziert (Steiner 2006a, Nr. 46). Nachträglich verifiziert (Ippen 2006, 49).
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der behinderten Menschen findet sich danach in der Küche ein. Dort wird zusammen der Abwasch gemacht (FP 2, Abs. 74). Die betreuten Menschen werden individuell geweckt oder stehen von alleine auf bzw. kommen selbständig zu den Mahlzeiten, es ertönt kein ‚Rufsignalދ: „Um kurz vor acht gehe ich in das Esszimmer – ich meine, dass es keinen Gong oder etwas Ähnliches gab, das zum Frühstück ‚gerufen ދhätte …. Denke an meinen Zivildienst: Dort im Haus wurde immer im Flur Flöte oder Akkordeon gespielt, um zu wecken. Zum Essen ertönte dann noch mal ein Gong“ (FP 2, Abs. 61). Wie in den anderen Lebensgemeinschaften finden die Mahlzeiten zumindest während der Woche auch hier zu bestimmten, in der Regel täglich gleichen Zeiten statt. Dieses wird von den Menschen mit Behinderungen teilweise auch eingefordert, Abweichungen davon werden somit nicht immer toleriert: „Um 18:30 Uhr gibt es wieder Abendessen … Da A. [Mitarbeiter] noch beschäftigt ist, beginnt es ein wenig später, was einige der im Wohnzimmer sitzenden Bewohner verärgert. Eine Bewohnerin sagt, dass ihr das auf die Nerven ginge und das nicht so weiter gehe. Sie werde sich in der nächsten Hauskonferenz beschweren. Von B., die auch dabei ist, erfahre ich, dass jeden Mittwoch beim Abendessen über Themen, die im Haus bzw. dem Zusammenleben anfallen, gesprochen werde“ (FP 2, Abs. 121). Konstellation 2 Die Mahlzeiten werden gemeinsam begonnen, dieses wird auch akustisch signalisiert: „Um 16:00 Uhr läutet eine Glocke aus Richtung des Hofes. Dieses Signal wird – wie ich zuvor von Herrn C. erläutert bekommen habe – zu allen Mahlzeiten gegeben. Ich gehe zum Kaffeetrinken in den Essraum. Dort werden alle Mahlzeiten gemeinsam eingenommen“ (FP 1, Abs. 11). Das Glockenläuten findet dabei vor jeder Mahlzeit statt: „Um sechs Uhr läutet auf dem Hof wiederum die Glocke und ruft zum Essen. Am Nachmittag hatte ich erfahren, dass das tägliche Läuten die Aufgabe eines Bewohners ist“ (FP 1, Abs. 16). Grundsätzlich beginnt das Essen mit einem Tischspruch, der gemeinsam gesprochen wird, wenn sich alle Personen gesetzt haben. Erst danach wird mit der Mahlzeit begonnen: „Ja, und das haben wir dann eben drei Mal am Tag, morgens, mittags und abends. Kaffee ist: Man setzt sich hin und es geht los. Wobei: Das Klingeln ist ja eigentlich auch schon ein gemeinsamer Beginn, da werden dann alle aufgerufen, sozusagen“ (B 15M, Abs. 48). Morgens und abends wird das Ende des Essens mit einer von Mitarbeitern moderierten Arbeitsbesprechung eingeläutet – je nach Tageszeit wird sich mit
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einer Vor- oder Rückschau bzw. einem Ausblick auf den Arbeitstag befasst: „Nach dem Essen gibt es eine kurze … Abfrage, welche Tätigkeiten am heutigen Tage durchgeführt wurden und was morgen zu tun ist“ (FP 1, Abs. 21). „Das Essen wird mit der knappen, sprachlich und inhaltlich aufs Notwendigste reduzierten Vorschau auf den Tag bzw. die Arbeitsverteilung beendet“ (FP 1, Abs. 11). Gibt es seitens der Anwesenden keine Nachfragen oder Anmerkungen mehr, wird – in der Regel mit dem Satz: „Dann können wir ja Schluss machen“ (FP 1, Abs. 31) – der gemeinsame Abschluss der Essensituation initiiert. In der Früh und abends vollzieht sich dieser jeweils durch einen von allen gesprochenen Spruch. So wird nach dem Frühstück beispielsweise der von Rudolf Steiner für die 5. –12. Klasse der Waldorfschulen vorgesehene Morgenspruch aufgesagt (FP 1, Abs. 78): „Ich schaue in die Welt, In der die Sonne leuchtet, / In der die Sterne funkeln, / In der die Steine lagern, / Die Pflanzen lebend wachsen, / Die Tiere fühlend leben, / In der der Mensch beseelt, / Dem Geiste Wohnung gibt. / Ich schaue in die Seele, die mir im Innern lebt. / Der Gottesgeist – er webt, / Im Sonn- und Seelenlichte, / Im Weltenraum da draußen, / In Seelentiefen drinnen, / Zu Dir, oh Gottesgeist, / Will ich bittend mich wenden, / Daß Kraft und Segen mir, / Zum Lernen und zur Arbeit, / In meinem Innern wachse“.52 Immer wieder entfachen sich an diesem Ritual zwischen Mitarbeitern Gespräche darüber, dass der Spruch so „geleiert“, sprich zu wenig betont gesprochen werde. Ganz am Schluss wünschen sich jeweils alle noch eine ‚gesegnete Mahlzeit( ދz. B. FP 1, Abs. 50; 78). Es gibt allerdings kein gemeinsames Abräumen. Dieses und auch den darauf folgenden Abwasch übernehmen die Mitglieder der Hauswirtschaftsgruppe. Diese agiert – zumindest bei dieser Tätigkeit – selbständig, d. h. ohne Mitarbeiter: „Nach dem Essen übernimmt wieder die Küchengruppe das Regiment“ (FP 1, Abs. 31). Ein Morgen- oder Abendkreis findet hier – im Gegensatz zu anderen Lebensgemeinschaften – nicht statt. Im Gespräch mit dem Geschäftsführer wird deutlich, dass ein solches Ritual als nicht geeignet für Erwachsene angesehen wird. Durch den gemeinsamen Spruch zu den Mahlzeiten sei ein Element davon beibehalten worden. Die täglich stattfindenden Planungsgespräche, bei denen es um die Arbeitsorganisation gehe, seien angemessener (FP 1, Abs. 70).
52
Nachträglich verifiziert (Steiner 1991, 245).
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7 Ritual und Rhythmus
Konstellation 3 Die Mahlzeiten werden auch hier innerhalb der einzelnen Hausgemeinschaften eingenommen. Die Grundform der Eingangs- und Beendigungsrituale stellt sich folgendermaßen dar, wobei die gesprochenen Sprüche zum Teil variieren: „Um kurz nach sechs versammeln sich die Betreuer D. und E. sowie sechs Betreute (darunter ein Gast aus einem anderen Haus) im Esszimmer … D. schaut aufmunternd in die Runde und fragt, ob jemand einen Vorschlag habe. Ein behinderter Mann schlägt sodann einen Spruch vor, der danach gemeinsam – mit gefalteten Händen – gesprochen wird: ‚Erde, die uns dies gebracht, Sonne, die es reif gemacht. Liebe Sonne, liebe Erde, euer nie vergessen werde! 53( “ދFP 3, Abs. 22). Danach wird gemeinsam ‚Gesegnete Mahlzeit ދgesagt und mit dem Essen begonnen. Die Essenssituation wird mit der zusammen gesprochenen Formel ‚Wir danken ދbeendet. Dabei werden die Hände gefaltet. Eine behinderte Frau – hier wird ebenfalls abgewechselt – löscht die während der Mahlzeit brennende Kerze mit einem Kerzenlöscher. Einige Betreute und Mitarbeiter gehen danach in die Küche, räumen die Spülmaschine ein und machen sauber (FP 3, Abs. 29; 38). Obzwar im Wohnzimmer ein Gong hängt, wird mit diesem nicht zum Essen gerufen – zumindest ist mir dieses nicht aufgefallen (FP 2, Abs. 118). Vor dem Frühstück findet regelmäßig ein Morgenkreis statt: „Um kurz nach halb acht versammeln sich alle im Wohnzimmer zum Morgenkreis. Während alle in einem Kreis um den Tisch stehen, spricht K. [Mitarbeiterin] den für diese Woche geltenden Spruch aus dem anthroposophischen Seelenkalender von Rudolf Steiner (FP 3, Abs. 36). Daran schließt sich das gemeinsame Singen eines Liedes an. Alle gehen danach ins Esszimmer. Das Frühstück kann beginnen. Allerdings findet diese Zusammenkunft nicht jeden Tag statt, wie ich erfahre. Zumindest am Wochenende gibt es Ausnahmen: „In Erwartung des Morgenkreises sitze ich auf der Couch, als alle von M. zum Frühstück gerufen werden … M. bemerkt, dass ich zögere, zum Tisch zu gehen. Daher erläutert sie mir, dass hier im Haus samstags manchmal kein Morgenkreis gemacht werde“ (FP 2, Abs. 118). Manchmal wird auch vor dem Mittagessen ein Lied gesungen (FP 3, 82). Einen Abendkreis gibt es auch. Dieser ist jedoch vom Essen entkoppelt: „Ich setze mich zunächst ins Wohnzimmer, da ich einen Abendkreis erwarte. M. macht mich darauf aufmerksam, dass der Abendkreis nach dem Essen stattfindet“ (FP 2, Abs. 109). 53
Der Spruch stammt von Christian Morgenstern. Nachträglich verifiziert (Morgenstern 1992, 430).
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Konstellation 4 Die einzelnen Mahlzeiten werden hier ebenso im Haus- oder Familienverbund eingenommen. Gemeinsam ist, dass das Essen durch einen Spruch am Anfang und einer Dankesformel am Schluss gerahmt wird: „Vor dem Essen wird mit gefalteten Händen gemeinsam der mir schon bekannte Spruch: ‚Das Brot ernährt uns nicht! Was uns im Brote speist, ist Gottes ewiges Licht, ist Leben und ist Geist ދgesprochen( “ދFP 4, Abs. 10). Alle reichen danach den Nachbarn die Hände und sagen ‚Gesegnete Mahlzeitދ. Das Essen wird beendet, indem ein Eimer für das benutzte Besteck herumgereicht wird und die Teller zusammengestellt werden. Alle für das Essen benötigten Dinge werden von einigen Personen – betreuten Menschen und Mitarbeitern – auf einen Servierwagen verladen und in die Küche gefahren: „Ohne Aufforderung setzen sich danach alle wieder hin, fassen sich an den Händen und sagen: ‚Wir dankenދ. Sodann wird sich in die Küche begeben und gemeinsam abgewaschen. Das Ganze findet als Gemeinschaftsaktion von Mitarbeitern und Betreuten statt“ (FP 4, 31). Eine Spülmaschine gibt es nicht. Auf das gemeinsame Abwaschen angesprochen sagt eine Mitarbeiterin: „Das gehört zum Leben hier“ (FP 4, Abs. 12). Das Eingangsritual des Frühstücks unterscheidet sich von dem Beschriebenen ein wenig; insbesondere dadurch, dass aus dem anthroposophischen Seelenkalender gelesen wird: „Als alle am Tisch sitzen, wird es still – ein Mitarbeiter liest den für diese Woche gültigen Spruch aus dem Seelenkalender von Rudolf Steiner – Frühling-Erwartung“ (FP 4, Abs. 28): „Ins Innere des Menschenwesens / Ergießt der Sinne Reichtum sich, / Es findet sich der Weltengeist / Im Spiegelbild des Menschenauges, / Das seine Kraft aus ihm / Sich neu erschaffen muss.“54 „Danach fassen sich alle an den Händen und sagen: „Wir wünschen uns alle einen schönen guten Morgen“ (FP 4, Abs. 30). Alle beginnen, sich mit Lebensmitteln einzudecken – manche holen sich Müsli von einem neben dem Tisch stehenden Servierwagen. Als alle wieder sitzen, wünscht man sich einen ‚Guten Appetit – ދdas Frühstück beginnt. (FP 4, Abs. 30). Einen gesonderten Morgenkreis gibt es nicht. Da im Verlauf einer Woche jeden Morgen der gleiche Spruch gesprochen wird, verliert sich die anfänglich empfundene Fremdheit allmählich: „Als der …Spruch des Seelenkalenders (‚Frühling-Erwartung )ދvorgelesen wird, klingt er schon ein wenig vertraut in meinen Ohren“ (FP 4, Abs. 238). Auch die mittags und abends gesprochenen Sprüche werden zum Teil variiert, teilweise zwischen den Mahlzeiten, teilweise werden aber auch seit langem 54
Nachträglich verifiziert (Steiner 2006a, Nr. 51).
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gesprochene Verse ersetzt, wie die Schilderung einer Bewohnerin zeigt: „Und ich habe auch jetzt für unser Mittagsessen einen Spruch ausgesucht. Wir haben jahrelang [Name des Gebets nicht verstehbar] gebetet. Und dann bin ich halt hergegangen und habe gesagt: ‚Ich finde es langweilig, immer das Gleicheދ. Und da sagte die Frau S.: ‚Ja, dann geh ދher und suche halt einen anderen Spruch raus. Dann lernen wir den und dann sagen wir den zusammenދ. Und jetzt haben wir einen schönen, den ich ausgesucht habe“ (B 8, Abs. 72). Wie gezeigt, ist es üblich, am Schluss für das Essen zu ‚dankenދ. Am Ende einer Mahlzeit werde ich dabei auf ein Detail hingewiesen, das mir bisher noch nicht aufgefallen war: „Nachdem wir uns am Schluss die Hände gereicht haben, um ‚Wir danken ދzu sagen, erzählt H. [Auszubildende], dass normalerweise eine Hand mit der Fläche nach oben und die andere nach unten gehalten werde, so dass man nie nur gebe (unten), oder nehme (oben)“ (FP 4, Abs. 119). Beim nächsten Essen achte ich darauf, wie sich die diesbezügliche Situation am Tisch darstellt. Soweit ich sehen kann, handeln tatsächlich die meisten Personen so (FP 4, Abs. 214). Samstags gibt es das sogenannte ‚Kaffeeabendbrotދ. Es wird früher als sonst üblich zu Abend gegessen, dieses aber mit dem Kaffeetrinken verbunden. Dadurch soll der abends stattfindende Bibelabend (s. u.) von der Essenssituation befreit werden und somit ruhiger verlaufen (FP 4, Abs. 211). Es gibt den sogenannten ‚Bibelabend-Teeދ, eine Art roter Punsch aus Früchtetee. Statt eines gemeinsam gesprochenen Spruches wird ein Lied zur Eröffnung gesungen (FP 4, Abs. 214). Ein Signal, mit dem zu den Mahlzeiten gerufen wird, nehme ich innerhalb der Hausgemeinschaft nicht wahr: „Gegen 18:30 Uhr gibt es Abendbrot. Nach meiner Wahrnehmung kommen alle Personen zur verabredeten Zeit größtenteils selbständig ins Esszimmer – es ertönt kein Gong o. ä.“ (FP 4, Abs. 117). Allerdings gibt es innerhalb der Lebensgemeinschaft einen Glockenturm, durch den die Arbeitspausen eingeläutet werden: „Um Viertel nach zwölf läutet ein Betreuter die Glocke – es ist nun Mittagspause“ (FP 4, 85). 7.1.2 Zu Tisch „Ich sitze am Tisch und frage mich, ob hier nur Betreute (wie es hier heißt) oder auch Mitarbeiter sitzen. Ich kann diese Frage bis zum Ende des Essens nicht wirklich klären“ (FP 1, Abs. 11). Wie verlaufen nun die Mahlzeiten in den besuchten Gemeinschaften? In der Regel speisen alle innerhalb der Hof- oder Hausgemeinschaft lebenden Personen
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– sowie gegebenenfalls weitere außerhalb lebende Mitarbeiter oder behinderte Menschen – zusammen in einem Raum. Je nach Konstellation – so innerhalb der Hofgemeinschaft – können dies bis weit über zwanzig Menschen sein. In den Hausgemeinschaften finden sich allerdings regelmäßig etwa zehn bis 15 Personen zum gemeinsamen Essen ein: „Neben R. P. [Mitarbeiter], dessen Ehefrau und ihrer Tochter sitzen etwa acht bis zehn Betreute, ein Schülerpraktikant, ein Ganzjahrspraktikant, eine etwa fünfzigjährige Seminaristin [Auszubildende] sowie W., ein weiterer Auszubildender zum Heilerziehungspfleger, zusammen am Tisch. W. betont, dass er ein externer Mitarbeiter sei. Die anderen Mitarbeiter am Tisch wohnen alle innerhalb der Lebensgemeinschaft“ (FP 4, Abs. 11). Zwar erhalten unterstützungsbedürftige Personen Hilfe von den Mitarbeitern sowie gegebenenfalls von neben ihnen sitzenden anderen behinderten Menschen, jedoch dienen die Mahlzeiten primär dem gemeinschaftlichen Essen. Sprich: Die Mitarbeiter befinden sich nicht nur in der Rolle der Helfer, welche die Nahrungsaufnahme der betreuten Menschen gestalten und diese unterstützen, selber aber nicht daran partizipieren, sondern sie sind ebenso selbst in der Rolle der Teilnehmenden, der Esser. Dabei kam es vor, dass mir Zuordnungen zu einer der beiden Gruppen zunächst schwer fielen, scheinbare Grenzen sich nicht wie erwartet darstellten (z. B. FP 1, Abs. 11). Während in den Hausgemeinschaften rundherum mit vielen Personen um einen großen Tisch gesessen wird, gibt es in der Hofgemeinschaft mehrere kleinere Tische. Hinsichtlich der Kommunikationskultur zu Tisch lässt sich folgendes Spektrum identifizieren: Zum einen gibt es seitens der Mitarbeiter den Versuch, ein gemeinsames Gespräch zu gestalten bzw. zu moderieren. Zum anderen findet ein Tischgespräch eher in kleinen Grüppchen bzw. paarweise und somit ohne oder wenig moderierende Elemente statt. Das Verhalten der Mitarbeiter bewegt sich tendenziell zwischen aktiver Gestaltung der gesamten Essenssituation sowie der Einflussnahme auf einzelne Personen und einem zurückhaltenden Agieren im Hintergrund. Die diesbezüglich beobachtete Bandbreite spiegelt sich in den folgenden Aufzeichnungen wider:
„Während des Essens treten die Mitarbeiter nicht in den Vordergrund. Sie treten nicht als Koordinator oder ‚Dirigent ދin Erscheinung. Das Essen insgesamt verläuft ruhig – kleine Gruppen oder einzelne Personen unterhalten sich im Großen und Ganzen in ruhiger Stimmungslage“ (FP 1, Abs. 20). „Herr J. [leitender Mitarbeiter] sitzt am Kopfende, mit dem Rücken zur restlichen Gemeinschaft, zum Teil mit gesenktem Kopf. Er scheint auf die Geräusche im Raum zu lauschen“ (FP 1, Abs. 48). „Die Mitarbeiter sind recht aktiv: Sie müssen sich um die Personen kümmern, die nicht oder nur teilweise selbständig essen können, sie versuchen
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7 Ritual und Rhythmus immer mal wieder, ein gemeinsames Gespräch in Gang zu bringen, ermahnen einige Bewohner, nicht dazwischenzureden oder mit dem Essen zu beginnen“ (FP 2, Abs. 72).
Selbständigkeit und der Grad des sozial angemessenen Verhaltens der behinderten Menschen stellen eine Einflussgröße auf die Aktivität der Mitarbeiter und damit auch auf deren Redeanteil während der Essenssituation dar. D. h. die Aktivität steigert sich je nach Umfang von Unterstützungsbedarf und herausfordernder Verhaltensweisen (FP 2, Abs. 53; FP 3, Abs. 124). Auch der Geräuschpegel steht zum Teil damit im Zusammenhang (FP 2, Abs. 141). Wird die Essenssituation aktiv gesteuert, kommt es – wie angedeutet – immer wieder auch zur Beeinflussung einzelner betreuter Menschen durch anwesende Mitarbeiter. Zwar geschieht dies nicht unbedingt regelhaft, ich konnte es jedoch wiederholt wahrnehmen. Zwei Beobachtungen, in denen es insbesondere um Menge und Art der zu verzehrenden Lebensmittel geht, verdeutlichen diese Vorgänge exemplarisch:
„F. [Mitarbeiterin] ermahnt einige Betreute, während des Essens die Hände auf den Tisch zu legen. Nachdem einige Betreute nach der Suppe noch ein normales Brot essen wollen, werden sie aufgefordert, lieber ein leichtes Knäckebrot zu essen, das wäre jetzt besser für ihren Bauch. Eine behinderte Frau merkt an: ‚Aber ich bin doch gar nicht zu dickދ. Dazu F.: ‚Eben, du sollst es ja auch nicht werdenދ. Schließlich einigt man sich auf ein halbes normales Brot“ (FP 3, Abs. 111). „Mein Tischnachbar hat sich eine Schale mit Müsli geholt. Es ist eine Mischung aus Cornflakes und Pops. Auf das Müsli macht er noch einen Löffel Marmelade. Frau P. [Mitarbeiterin] sagt zu ihm, dass die Pops und auch die Cornflakes doch schon gezuckert seien und er keine Marmelade mehr nehmen müsse … Ein anderer Betreuter isst mehrere Brote mit seinem vermutlich selbst gekauften Nutella. Dann sagt ihm Frau P., dass dieses aber jetzt das letzte Brot mit Nutella gewesen sei“ (FP 4, Abs. 240).
Zu den Aktivitäten der Mitarbeiter bei Tisch kann auch gehören, das Gespräch inhaltlich zu lenken, wenn eine bestimmte Thematik bzw. deren Vertiefung als nicht angemessen angesehen wird: „Nach einiger Zeit sagt ein Mitarbeiter: ‚Themaދ. L. erklärt mir, dass dieses das Codewort sei, mit dem seitens der Mitarbeiter darauf aufmerksam gemacht werde, dass ein Themenwechsel erfolgen solle“ (FP 3, Abs. 123). Dieses kommt nicht ständig vor, ist aber hin- und wieder zu beobachten.
7.1 Die Mahlzeiten
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Die Essenssituationen bieten die Gelegenheit, einen neuen Gast in die Gemeinschaft einzuführen. Zwar findet eine Begrüßung durch Mitglieder der Hausoder Hofgemeinschaft jeweils bei meiner Ankunft statt. Die gesamte Hausgemeinschaft lernt mich in der Regel allerdings erst bei der ersten gemeinsamen Mahlzeit kennen. Wie bei der Gestaltung der Tischkommunikation sind auch hier unterschiedliche Stile offensichtlich. Teilweise wird diesem Vorgang eher geringe Aufmerksamkeit geschenkt: „Herr J. [leitender Mitarbeiter] und ich kommen ein wenig zu spät zum Essen. Im Hereingehen ruft er den Leuten zu: ‚Guten Appetit, das ist Herr Stamm, zum Teil kennt ihr den ja schon.( “ދFP 1, Abs. 17). Auch wird in einigen Situationen eher auf Einzelgespräche gesetzt: „Auch bei diesem Essen muss ich mich nicht gesondert vorstellen und werde auch nicht vorgestellt. Nur durch Nachfragen von einigen Tischnachbarn erläutere ich, wo ich herkomme und was ich hier mache“ (FP 3, Abs. 27). In anderen Lebensgemeinschaften hingegen – vermutlich gehört dieses dort zum Prinzip – findet eine Einführung mit eher offiziellem Charakter statt: „Während des Essens wird eine Vorstellungsrunde gemacht. Alle am Tisch sitzenden Personen, die dieses möchten, können sich vorstellen. Ich stelle mich und mein Projekt vor“ (FP 4, Abs. 11). In diesem Zusammenhang ergibt sich dann jeweils auch die Möglichkeit, Fragen zu stellen und in einen Austausch zu kommen: „Während des Essens werde ich gebeten, mich vorzustellen und werde danach mit Fragen ‚gelöchertދ. Ich werde z. B. gefragt, was das Buch kosten wird, das ich schreibe“ (FP 2, Abs. 11). In den Gemeinschaften, in denen eine gesonderte Einführung während des Essens stattfand, wurde ich zusätzlich gebeten, mich in einem Morgenkreis einem über die Hausgemeinschaft hinausgehenden Personenkreis vorzustellen. Die erlebten Essenssituationen sind in meiner Wahrnehmung – mal stärker, mal weniger stark – von einer grundsätzlichen Fürsorglichkeit und Aufmerksamkeit zwischen den teilnehmenden Personen geprägt. Diese stellen sich in besonderem Maße gegenüber mir als Gast dar, wobei diesbezügliche Impulse vor allem von den behinderten Menschen ausgehen: „Als ich schon am Tisch sitze, kommt eine Betreute zu mir, legt mir ein Schokobonbon auf den Teller und murmelt etwas von ‚für den Gast( “ދFP 4, Abs. 10). Oder auch: „Mein Teller wird abgeräumt, mir wird ein Nachtisch aus der Küche gebracht und auch noch ein Löffel. Dass mir etwas fehlte, wurde wahrgenommen, obwohl ich etwas abseits saß“ (FP 1, Abs. 40). Dieses Phänomen einer ausgebildeten Wahrnehmung für andere, so auch, dass mir meine Tischnachbarin Lebensmittel zureicht, obwohl ich (noch) nicht danach gefragt habe, erlebe ich immer wieder, fast durchgängig, in jeder Lebensgemeinschaft, bei jeder Mahlzeit. Grundsätzlich gilt, dass das Essen in der Gemeinschaft Kommunikation schafft bzw. sogar erfordert und Rückzug erschwert. Zum einen ist dieses natür-
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lich in der Anwesenheit anderer Menschen überhaupt begründet. Zum anderen – zumindest trifft dieses auf die Hausgemeinschaften, in denen zusammen an einem großen Tisch gegessen wird zu – liegt dies an der Notwendigkeit, Speisen und Getränke, die nicht erreichbar sind, erbitten zu müssen: „Ich bemerke, wie notwendig es bei der Größe des Tisches ist, in Kommunikation mit anderen Personen zu treten: Anders ist es in vielen Fällen gar nicht möglich, an verschiedene Speisen und Getränke zu kommen“ (FP 2, Abs. 72). Dabei wird stellenweise auch deutlich, dass diese Wirkung nicht als Nebeneffekt einer großen Tischgemeinschaft betrachtet wird, sondern Größe und Anordnung der Tischgemeinschaft durchaus bewusst als Hintergrundfolie prinzipiellerer Überlegungen dienen: „D. M. sagt, dass ich aufgrund der Größe des Tisches die Dinge, die ich brauche, eben bestellen müsse. Als ich einmal einen langen Arm mache, um an eine Käseplatte zu kommen, sagt er, dass das Fragen nach den Dingen auf dem Tisch hier zur Sozialstruktur gehöre“ (FP 4, Abs. 10). Die Bestellungen, das Herumreichen, Weitergeben und Empfangen von Lebensmitteln, welches – so eine ungeschriebene Regel in manchen der Hausgemeinschaften – vorwiegend über den Weg der direkten Sitznachbarn, nicht aber über den Tisch hinweg abgewickelt werden, erzeugen ein aktives Gesamtgeschehen: „Ich erlebe, dass das Herumreichen am Tisch eine große Aktivität erzeugt – entweder man bittet gerade selbst um etwas, oder man wird gebeten“ (FP 4, Abs. 10). Insofern wird der größte Teil der am Tisch sitzenden Personen immer wieder in eine gemeinschaftsbezogene Aktivität eingeschlossen. In welcher Intensität diese Kultur in den einzelnen Hausgemeinschaften gelebt wird, stellt sich unterschiedlich dar. Wie dargelegt, erlebe ich zudem, dass nicht immer alle nicht erreichbaren Speisen und Getränke angefordert werden müssen, da diese von aufmerksamen Tischnachbarn ohne Aufforderung angereicht werden. Mittags allerdings werden die Bestellvorgänge auf ein Minimum reduziert, da hier das Essen überall – zumeist von einem Mitarbeiter – für alle ausgeteilt wird. Wünsche werden dabei in einem gewissen Rahmen berücksichtigt: „Das Essen wird für alle von S. [Mitarbeiterin] ausgeteilt. Sie fragt aber nach, wer welche Suppe haben möchte und in einigen Fällen, wie viel es sein soll“ (FP 3, Abs. 82). Allein Handlungen und Interaktionen der Teilnehmer der Tischgemeinschaft erzeugen einen gewissen Geräuschpegel und ein Stimmengewirr während der Mahlzeiten. Bei besonderen Vorkommnissen kann die Lautstärke jedoch zeitweise anschwellen: „Das Essen ist eher unruhig, da eine Bewohnerin laute Töne … von sich gibt, teilweise auf den Tisch schlägt und sich manchmal in die Hand beißt“ (FP 2, Abs. 53). Insgesamt betrachtet herrscht jedoch in der Regel eine eher getragene Stimmung. Immer wieder habe ich auch „liebevoll“ oder „ruhig“ notiert, um den Umgang von Mitarbeitern mit Bewohnern zu charakterisieren (z. B. FP 2, Abs. 54). In einigen Hausgemeinschaften wird vor dem Be-
7.1 Die Mahlzeiten
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ginn der Mahlzeit eine Kerze angezündet, die im Rahmen der gemeinsamen Beendigung der Essensituation wieder gelöscht wird. Üblicherweise ist dieses die Aufgabe eines betreuten Menschen: „Die Atmosphäre ist ruhig. In der Mitte des Tisches brennt eine Kerze“ (FP 3, Abs. 27). Auch im Umfeld des Frühstücks, ob des bald folgenden Arbeitsbeginnes prädestiniert für Hast und Hetze, bleibt es – trotz Betriebsamkeit – gewöhnlich eher ruhig: „Einige Betreute erledigen mit einigen Mitarbeitern die Küchenarbeit. Ich empfinde keine morgendliche Hektik“ (FP 3, Abs. 38). Dazu trägt sicherlich bei, dass die behinderten Menschen überwiegend innerhalb der Lebensgemeinschaft beschäftigt sind und somit keinen langen Weg zur Arbeitsstelle haben. Und: Falls eine Beschäftigung an einem anderen Ort stattfindet, wird in den meisten Fällen der Transport von der Lebensgemeinschaft durchgeführt, so dass die externen zeitlichen Abhängigkeiten begrenzt sind: „Ich stehe um sieben auf, da um acht Uhr gefrühstückt wird. Draußen geht die Sonne auf, es ist hell und klar. Im Haus ist es – soweit von mir aus hörbar – ruhig. Die behinderten Bewohner werden auch erst um halb acht geweckt“ (FP 2, Abs. 61). In der Regel gibt es morgens und abends eine Auswahl diverser Lebensmittel. Je nach Lebensgemeinschaft kommen, partiell sogar zu einem großen Teil, selbst hergestellte Produkte auf den Tisch. Diese sind gewöhnlich biologischdynamisch erzeugt oder erfüllen andere Bio-Richtlinien: „Ich bemerke nochmals, dass fast alle Produkte auf dem Tisch in Bio-Qualität, in vielen Fällen auch in Demeter-Qualität sind“ (FP 4, Abs. 130). Bei den zugekauften Produkten verhält es sich größtenteils ähnlich, auch wenn hier zwischen den einzelnen Gemeinschaften ein breites Spektrum zu beobachten ist: „Auf dem Tisch stehen viele selbst hergestellte Produkte wie z. B. Wurst. Gekaufte Produkte sind vielfach nicht in Bio-Qualität“ (FP 1, Abs. 19). In den Lebensgemeinschaften, in denen viel selbst produziert wird, ist dabei die Vielfalt am größten. Das gekochte Essen orientiert sich in der Mehrzahl der Lebensgemeinschaften an Vollwertkost: „Ich stelle fest, dass das Essen hier sehr vollwertig ist – es wird wohl hauptsächlich mit Gemüse und Getreide, aber mit wenig Fleisch gekocht“ (FP 4, Abs. 224). Allerdings gibt es auch hier eine große Bandbreite, da in den einzelnen Hausgemeinschaften in der Regel eigenständig gekocht wird und somit kein für alle vorgegebener Speisenplan existiert. In der Hofgemeinschaft verhält es sich jedoch etwas anders: „Sehe auf dem Wochenspeisenplan, dass es an vielen Tagen eher traditionelle Gerichte – in vielen Fällen auch mit Fleisch – gibt“ (FP 1, Abs. 41).
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7 Ritual und Rhythmus
7.2 Runden und Versammlungen 7.2 Runden und Versammlungen „Hier gibt es ja jeden Morgen vor der Werkstatt, vor dem Gemeinschaftshaus, einen Morgenkreis“ (B8, Abs. 76). Neben den Mahlzeiten als einem zentralen Punkt des Zusammenkommens gibt es darüber hinaus weitere Runden und Versammlungen, an denen sich die Hausbzw. Lebensgemeinschaft regelmäßig begegnet. Die Anzahl und Art derartiger Zusammenkünfte variiert zwischen den Lebensgemeinschaften, im Kern lassen sich hinsichtlich Gestalt und Funktion jedoch grundsätzlich drei Formen unterscheiden, wobei allerdings Überschneidungen eher die Regel als die Ausnahme sind: Die arbeitsbezogene Besprechung Eine werktägliche Versammlung, bei der – unabhängig von den einzelnen Hausgemeinschaften – übergreifend ein Austausch über laufende Arbeitsprozesse, erledigte und anstehende Aufgaben stattfindet, gibt es in drei von vier Lebensgemeinschaften. In der Hofgemeinschaft ist eine arbeitsbezogene Besprechung – wie beschrieben – Bestandteil von Frühstück und Abendbrot und wird dort jeweils am Ende dieser Mahlzeiten vorgenommen. In den beiden anderen Gemeinschaften wird eine Arbeitsbesprechung in eine – mit kulturellen Elementen gerahmte – Versammlung vor Werkstattbeginn integriert. Dort nehmen auch oder überwiegend Mitarbeiter der Werkstätten teil, die extern, also außerhalb, wohnen. Mit dieser Versammlung wird der Beginn der Arbeitsphase in den Werkstätten bzw. sonstigen Eigenbetrieben eingeläutet: „Alle begeben sich jetzt zum Platz vor dem Gemeinschaftshaus … Alle stehen in einem großen Kreis – es sind etwa 60-80 Personen, vielleicht auch mehr. Ein Betreuter eröffnet die Runde mit einem Spruch. Danach fragt er ab, was in den einzelnen Werkstätten heute gemacht wird. Aus allen Werkstätten berichten eine oder zwei Personen – Betreute und/oder Mitarbeiter. Danach gibt es verschiedene Wortmeldungen zu anstehenden Ereignissen (z. B. Termine der Sportgruppe oder Geburtstage). … Ich werde von Frau K. gebeten, mich kurz vorzustellen. Nach Abschluss des Morgenkreises gehen alle in ihre Werkstätten – es ist nun gegen 09:00 Uhr“ (FP 4, Abs. 33). Auch in den jeweiligen Arbeitsbereichen findet in der Regel eine Besprechung, dann verstärkt auf das konkrete Tun bezogen, statt. Zum Teil geschieht das zusätzlich zum Morgenkreis: „Dann gehe ich hier aus dem Haus raus. Dann bin ich drüben im Saal. Da machen wir die heutige Besprechung, was heute so dran ist, welche Arbeiten, welche Schritte, und dann gehe ich noch mal hier in
7.2 Runden und Versammlungen
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die (.) [Name der Werkstatt] zu der nächsten Besprechung. Weil dann der Chef, der teilt uns ein und wir müssen auch noch mal so einen Rückblick machen, was wir letzte Woche gemacht haben oder was wir die Tage so gemacht haben, dass wir das dem dann noch mal sagen“ (B2, Abs. 37). Die werktäglichen Arbeitsbesprechungen werden in einigen Gemeinschaften durch wöchentliche Zusammenkünfte ergänzt: „Dann gibt es montags ein Hofgespräch, nach dem Frühstück. Das ist eine Wochenrückschau und ein Wochenvorblick …“ (B13M, Abs. 84). Dabei handelt es sich um eine Versammlung, an der zumindest die an Werkstatt bzw. Produktion der Lebensgemeinschaft beteiligten – nichtbehinderten und behinderten – Personen teilnehmen. Diese, in erster Linie auf den Arbeitsprozess ausgerichteten Treffen korrespondieren somit mit den täglichen Besprechungen. Die Gemeinschaftsversammlung In den meisten Lebensgemeinschaften existieren regelmäßige Treffen, bei denen sich alle dort lebenden und arbeitenden Menschen begegnen. Diese in der Regel alle vier Wochen stattfindenden und als Monatskonferenz oder Bürgerversammlung bezeichneten Zusammenkünfte gehen thematisch über das Arbeitsleben hinaus und behandeln Themen, die übergreifende Relevanz besitzen und somit alle Personen betreffen, die in die Gemeinschaft eingebunden sind: „Da werden auch Themen, die platzübergreifend sind, besprochen. Dass wir uns z. B. ein neues Trampolin angeschafft haben oder das Weihnachtsspiel, wie wir das machen oder die Verabschiedung unseres früheren Heimleiters wird da besprochen und geplant und die Dinge zusammengetragen“ (B11M, Abs. 43). Die kulturbezogene Zusammenkunft Neben den genannten Runden gibt es weitere, die insbesondere durch ihre Kulturbezogenheit gekennzeichnet sind. Neben den mit dem Frühstück oder dem Arbeitsbeginn verknüpften Morgenkreisen gibt es innerhalb einiger Hausgemeinschaften somit auch einen Abendkreis. Dieser findet in der Regel losgelöst vom Essen statt. Hier haben auch religiöse Elemente ihren Platz: „Gegen Viertel vor acht versammeln sich alle im Wohnzimmer zum Abendkreis. … Eine Kerze wird von einem Betreuten angezündet und N. [Mitarbeiter] liest eine Stelle aus der Bibel … Danach wird die Kerze wieder von einer Betreuten gelöscht“ (FP 3, Abs. 29). Im Rahmen dieser Zusammenkunft bietet sich zudem die Gelegenheit zum Austausch zwischen den Personen der Hausgemeinschaft, zwischen Mitar-
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7 Ritual und Rhythmus
beitern und behinderten Menschen. Es werden Eindrücke und Erlebnisse des Tages gesammelt, zum Teil auch Streitigkeiten geklärt. In der Lebensgemeinschaft, in der keine übergreifende, gemeinsame Arbeitsbesprechung stattfindet, gibt es vor Beginn der Werkstätten einen Morgenkreis, in dem sich mit Inhalten kultureller Art auseinandergesetzt wird. Das kann z. B. die Probe für ein Theaterstück oder das Einstudieren von Liedern für das Weihnachtsfest sein. Üblicherweise nehmen hier nicht alle Mitarbeiter und auch nur diejenigen betreuten Menschen, die innerhalb der Lebensgemeinschaft arbeiten, teil: „Beim Frühstück habe ich erfahren, dass um 09:00 Uhr im Saale eine Probe zu einer Szene aus einem Märchen stattfinden soll, das zu Ostern aufgeführt werden soll. Ich gehe zum Saal … G. [Mitarbeiterin] leitet die Probe an … Für alle gibt es ‚Aufwärmübungen … ދDanach wird die Szene geprobt … Die Hauptrollen spielen Betreute, die von Mitarbeitern begleitet werden … Die Atmosphäre ist heiter“ (FP 3, Abs. 40f.). Einmal in der Woche, am Montag, findet ein hinsichtlich der Teilnehmerzahl erweiterter Morgenkreis statt, in dessen Rahmen die Aktivitäten der bevorstehenden Woche besprochen werden. Über die genannten Runden und Versammlungen hinaus gibt es weitere regelmäßige Treffen, bei denen Personen aus der Gemeinschaft zusammenkommen, so z. B. bei Freizeitaktivitäten – „Dann haben wir am Dienstag immer den Tanztee, das ist ein wiederkehrendes Ritual, was sehr wichtig ist für unsere Gemeinschaft“ (FP 3, Abs. 41) – und/oder kreativen Angeboten: „Also die Eurythmie wird hier einmal die Woche gemacht, die Sprachgestaltung55 wird gemacht, das Flöten wird gemacht oder es wird Musik gemacht, es flöten ja nicht alle“ (B13aM, Abs. 82). In einer Gemeinschaft gibt es zudem verschiedene Arbeits- und Lerngruppen, in denen sich einige Mitglieder in ihrer Freizeit der Beschäftigung mit verschiedenen – zum Teil auch anthroposophischen Fragen – widmen: „Das sind so kleinere Gruppen aber wir haben ja auch eine ganze Reihe behinderte Menschen, die eben dann Anthroposophie studieren. Die haben einen Geheimwissenschafts-Arbeitskreis und die haben auch mit ‚Philosophie der Freiheit ދgearbeitet“ (B7M, Abs. 41).56
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„Die Sprachgestaltung wurde von Rudolf und Marie Steiner gemeinsam entwickelt und gibt entscheidende Impulse für einen neuen künstlerischen und geistgemäßen Zugang zur Sprache“ (AnthroWiki 2008b). Die ‚Geheimwissenschaft im Umriss( ދSteiner 1987b) sowie die ‚Philosophie der Freiheitދ (Steiner 1992) stellen grundlegende anthroposophische Werke von Rudolf Steiner dar.
7.4 Religiöse Zusammenkünfte
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7.3 Die Jahresfeste 7.3 Die Jahresfete „Dann natürlich die Jahresfeste, die werden hier auf jeden Fall ganz ernst genommen“ (B13aM, Abs. 84). Jahreszeitliche Feste haben in allen Lebensgemeinschaften eine große Bedeutung. Zwar gibt es jeweils Schwerpunkte, welche Feste mit welcher Intensität begangen werden, aber einen wesentlichen Bestandteil nehmen diese überall ein. Dabei gibt es zum einen christlich motivierte Feste. Neben Weihnachten, Ostern und Pfingsten stellen dabei vielfach auch Johanni (24. Juni) und Michaeli (29. September) wichtige Termine im Jahresverlauf dar: „Wir haben hier in unserem Dorf eine interne Michaeli-Tagung, die sich zu einer riesen Veranstaltung ausgewachsen hat … Immer so, dass der Michaeli-Tag, der 29. September, der Abschluss und Höhepunkt ist“ (B7M, Abs. 41). Zum anderen sind die Anlässe einer festlichen Zusammenkunft weltlich motiviert und beziehen sich auf den Verlauf der Jahreszeiten: „Und diese Sommerfeste usw., das ist natürlich ein Höhepunkt für alle. Da kommen die anderen Höfe zusammen, das findet hier auf der Hauskoppel statt und dann sieht man mal alle, das hat man auch nicht häufig, dass wir mal alle zusammenkommen. Das sind ja dann fast 100 Leute, das passiert auch selten“ (B13M, Abs. 91). Die religiösen Feste nehmen im Jahresverlauf in der Regel allerdings einen größeren Anteil ein und werden, z. B. zu Weihnachten, gerahmt durch Aktivitäten wie gemeinsamem Singen und Erzählen: „Jetzt gerade das Adventscafé. Also das ist mit Geschichte-Vorlesen, Singen, sonntags eine Stunde“ (B13bM, Abs. 84). Beinahe in jeder Lebensgemeinschaft wird zudem ein Weihnachtsspiel von Mitarbeitern und Menschen mit Behinderung gemeinsam eingeübt und aufgeführt. 7.4 Religiöse Zusammenkünfte 7.4 Religiöse Zusammenkünfte „Dienstagabend z. B., das ist jeden Dienstag, gibt es einen religiösen Abend. Da geht man hin und da wird die Bibelstelle für Samstag vorbereitet, also da wird die immer gelesen und so darüber geredet, dass man am Samstag dann vorbereitet ist und mittun kann“ (B8, Abs. 104). Wie bei der Darstellung der Jahresfeste bereits anklang, ist das religiöse Leben ein fester Bestandteil im Alltag der sozialtherapeutischen Gemeinschaften. Deutlich wird dies darüber hinaus z. B. auch am Gottesbezug vieler Sprüche, welche im Zusammenhang mit den Essenssituationen stehen. Religiosität hat in den
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7 Ritual und Rhythmus
meisten Lebensgemeinschaften zudem aber auch einen Platz im Rahmen spezieller Veranstaltungen und in Form dafür geschaffener Feiern. Ob bzw. wie viele spezifische Räume für religiöse Zwecke vorhanden sind, ist unterschiedlich und unterscheidet sich manches Mal auch zwischen den einzelnen Hausgemeinschaften. Das Spektrum zwischen den Lebensgemeinschaften erstreckt sich dabei von der in lediglich einem Haushalt stattfindenden Bibelarbeit und dem Gottesdienstbesuch einzelner Personen in der nächsten Gemeinde bis zu samstäglichen Bibelabenden in allen Hausgemeinschaften, einem wöchentlichen religiösen Abend und der eigenen religiösen Feier am Sonntag. An einem Pol der Bandbreite steht somit die Lebensgemeinschaft mit einem umfassenden Angebot religiöser Versammlungen, die sich örtlich allesamt auf diese zentrieren, wie Aufzeichnungen aus einem Gespräch mit einer Mitarbeiterin zeigen: „Das Thema Religiosität stelle einen Grundpfeiler der Arbeit dar. Am Dienstag gebe es einen religiösen Abend, am Samstag den Bibelabend und am Sonntag die Morgenfeier. Einmal im Monat werde durch einen Priester der Christengemeinschaft57 eine sogenannte Menschenweihehandlung58 im Dorf [innerhalb der Lebensgemeinschaft] abgehalten“ (FP 4, Abs. 201). Demgegenüber und sozusagen am anderen Ende des Spektrums befindet sich die Lebensgemeinschaft, in der – abgesehen von individuellen Konstellationen – keine religiösen Feiern stattfinden. Je nach Wunsch und Möglichkeit werden allerdings Angebote aus der direkten Nachbarschaft bzw. den Nachbarorten genutzt. Dieses korrespondiert mit der physischen Einbettung der Lebensgemeinschaft – diese ist Bestandteil einer ‚normalen ދOrtschaft: „Wir sind fünf Familien innerhalb eines Dorfes, zu uns passt eher, dass wir wo hingehen“ (FP 2, Abs. 100). Auch die Zwischenform, keine eigenen religiösen Veranstaltungen, sondern eine gelegentlich stattfindende Feier, zu der ein Priester von außerhalb in die Gemeinschaft kommt, gibt es: „Dann haben wir vier Mal im Jahr eine Weihehandlung von der Christengemeinschaft, die wird hier in der Diele gemacht, also mit so einem Altar, den man aufbauen kann …“ (B13aM, Abs. 84). In den Lebensgemeinschaften, in denen einmal in der Woche – am Samstag – ein Bibelabend und eine sonntägliche religiöse Festlichkeit stattfindet, wird, teils nur in einigen Häusern, teilweise überall, während der Woche jeden Abend eine – vorab festgelegte – Textstelle aus der Bibel gelesen. Der im Verlauf der Woche gelesene Text korrespondiert mit der inhaltlichen Arbeit in den religiösen 57
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„Die Christengemeinschaft (kurz: CG) ist eine 1922 nach den Impulsen Rudolf Steiners gegründete, aber von der anthroposophischen Gesellschaft völlig unabhängige, selbständige christliche Glaubensgemeinschaft, in deren Mittelpunkt das gemeinsame Begehen kultischer Handlungen steht“ (AnthroWiki 2009a; vgl. auch Lenz 2006). „Die Menschenweihehandlung ist eine Eucharistiefeier, die den rituellen Mittelpunkt im sakramentalen Leben der Christengemeinschaft bildet“ (Anthrowiki 2009b).
7.4 Religiöse Zusammenkünfte
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Zusammenkünften am Wochenende: „Und dann lesen wir da einen Bibeltext, der dann während der Woche dann auch in den Häusern gelesen wird und der dann im Bibelabend gemeinsam auch mit den Bewohnern thematisiert wird“ (B9M, Abs. 22). Bei den religiösen Feiern kann zwischen eigenen, innerhalb der Gemeinschaften entwickelten Formen – dieses sind Laienhandlungen – und Handlungen der Christengemeinschaft unterschieden werden. Die erstgenannten Feiern werden in der Regel von Mitarbeitern gestaltet, die letztgenannten von einem Priester der Christengemeinschaft vorgenommen. Zum Teil werden die eigenen Formen mit denen der Christengemeinschaft ergänzt, zum Teil aber die Laienhandlungen auch abgelehnt, wie aus Notizen aus einem Gespräch mit einem leitenden Mitarbeiter deutlich wird: „Ich finde diese Laienhandlungen nicht gut, ich finde, so eine Feier muss von einer Person durchgeführt werden, die Priester ist, die geweiht wurde“ (FP 1, Abs. 49). Die Beschreibungen eines Bibelabends und einer sonntäglichen Morgenfeier, einer Laienhandlung, skizzieren exemplarisch den Verlauf derartiger Versammlungen: Bibelabend Samstagabend, 18:00 Uhr. Es gibt Abendbrot. Der Tisch ist reichlicher als sonst gedeckt: Neben den üblichen Lebensmitteln, die es auch an den anderen Abenden gab, stehen Honigbrot und Hefezopf auf dem Tisch. „Dazu gibt es den ‚Bibelabend-Teeދ, eine Art roten Punsch aus Früchtetee“ (FP 4, Abs. 214). Es wird kein Spruch zur Eröffnung gesprochen, stattdessen singt man gemeinsam ein Lied. Nach dem Essen wird die Küche aufgeräumt, einige Personen beginnen, den Esstisch zu schmücken. Die Aktivität im Haus nimmt mit der Zeit zunehmend ab: „Jetzt gebe es – so sagt man mir – eine stille Zeit. Einige der Betreuten und Mitarbeiter ziehen sich auf ihre Zimmer zurück. Ich gehe durch das Dorf [die Lebensgemeinschaft] spazieren. Es ist jetzt ruhig, ich begegne kaum jemand anderem. Ich nehme an, dass in vielen Häusern der Bibelabend schon begonnen hat bzw. die letzten Vorbereitungen laufen“ (FP 4, Abs. 219). Die Hausgemeinschaft versammelt sich sodann gegen acht Uhr abends im Wohn- und Esszimmer. Der Raum ist mit blühenden Zweigen geschmückt, auf dem Tisch steht eine große Bienenwachskerze. Alle setzen sich – für einige Minuten herrscht absolute Stille. „Mir fällt auf, dass sich einige Betreute und Frau C. [Mitarbeiterin] umgezogen haben und nun ‚festliche ދKleidung tragen. Ein Betreuter hat sich einen Anzug angezogen“ (FP 4, Abs. 221). Ich werde gebeten, die Kerze anzuzünden. Ich erfahre, dass diese Kerze nur für den Bibelabend
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7 Ritual und Rhythmus
verwendet wird. Ein Mitarbeiter liest den aktuellen Wochenspruch aus dem Seelenkalender von Steiner. Ein Rückblick auf die vergangene sowie eine Vorausschau auf die kommende Woche machen den ersten Teil des Bibelabends aus. Die Moderation wird von einem behinderten Menschen übernommen. Wer möchte, kann – nach Meldung – etwas beisteuern. Dabei wird jeder Tag einzeln betrachtet. Es wird jeweils auch überlegt, was es mittags zu essen gegeben hat. „Von einigen Betreuten, die nicht sprechen können, erzählen die Mitarbeiter etwas“ (FP 4, Abs. 224). Danach wird die nächste Woche angeschaut, anstehende Termine und Ereignisse besprochen: „Neben intensiven, zum Teil ganztägigen Proben für ein Theaterstück, wird man sich in der anstehenden Karwoche jeden Morgen und Abend im Saal versammeln, um aus der Bibel zu lesen. Ich kündige meine Abfahrt am morgigen Sonntag an“. (FP 4, Abs. 226). Nun, nach Abschluss des ersten Teils, liest ein Mitarbeiter die für diese Woche festgelegte Bibelstelle vor. „Einige betreute Menschen haben ihre eigene Bibel mitgebracht und lesen leise für sich mit“ (FP 4, 229). Es schließt sich ein gemeinsames Gespräch an, in dem für die Klärung schwieriger Begriffe, für Erläuterungen und Deutungen des Textes Raum ist. Mit Begleitung durch verschiedene Instrumente wie Klangbleche und Klangstäbe singen einige behinderte Menschen – angeleitet von einem Mitarbeiter – und unterstützt durch die anderen am Tisch sitzenden Personen, sodann ein Frühlingslied. Da dieses – wie ich erfahre – in der nächsten Woche anlässlich eines auswärtigen Besuches zur Aufführung kommen soll, wird es gleich zwei Mal gesungen. Nach einer kurzen Zeit der Stille liest ein Mitarbeiter den für die nächste Woche vorgesehenen Spruch aus dem Seelenkalender vor (FP 4, Abs. 232): „Wenn aus den Seelentiefen / Der Geist sich wendet zu dem Weltensein / Und Schönheit quillt aus Raumesweiten, / Dann zieht aus Himmelsfernen / Des Lebens Kraft in Menschenleiber / Und einet, machtvoll wirkend, / Des Geistes Wesen mit dem Menschensein.“59 Gemeinsam wird das ‚Vaterunser ދgesprochen. „Es herrscht eine ruhige, getragene Atmosphäre“ (FP 4, Abs. 234). Danach fassen sich alle an den Händen und sagen: ‚Wir wünschen uns alle eine gute Nachtދ. Der Bibelabend ist beendet, die Hausbewohner ziehen sich in ihre Räumlichkeiten zurück. „Auch ich gehe in mein Zimmer im (.) [Name eines Hauses] – ich befinde mich in einer ruhigen und ausgeglichenen Stimmung“ (FP 4, Abs. 235).
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Nachträglich verifiziert (Steiner 2006a, Nr. 52).
7.4 Religiöse Zusammenkünfte
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Morgenfeier Sonntagmorgen. Gegen Viertel nach neun geht die Hausgemeinschaft – soweit ich es übersehen kann geschlossen – in den Saal. Auch aus anderen Häusern strömen Betreute und Mitarbeiter zum Saal. „Eine Gruppe, die vor mir hergeht, läuft aber – so entnehme ich ihren Bemerkungen – zum evangelischen Gottesdienst nach (.) [Nachbarort]“ (FP 4, Abs, 242). Im Vorraum des Saales herrscht reger Betrieb, Jacken und Mäntel werden ausgezogen und aufgehängt. An der Tür zum Saal werden alle Personen von einem Mitarbeiter mit Handschlag begrüßt. „Der Saal ist bereits gut gefüllt. In mehreren Reihen stehen Stühle in einem Kreis um einen kleinen Tisch. Darauf stehen blühende Zweige und eine Kerze“ (FP 4, Abs. 243). Ich suche mir einen freien Platz, schaue mich um. Viele Personen – Mitarbeiter und Betreute – sind in feierlicher Kleidung erschienen. „Gegen halb zehn wird die Türe des Saals geschlossen – die Morgenfeier beginnt“ (ebd.). Nach einigen Minuten Stille – es ist fast kein Laut zu hören, obwohl der Saal voll mit Menschen ist – lässt die Klanggruppe, dieses sind einige behinderte Gemeinschaftsmitglieder unter Anleitung eines Mitarbeiters, mit verschiedenen Instrumenten, Klangblechen und Metallstäben, Töne erklingen. Dirigiert von einer Mitarbeiterin wird nun gemeinsam ein Lied zur anstehenden Karwoche gesungen. Die Leitung der Feier geht sodann auf einen Mitarbeiter über – es ist derjenige, welcher am Eingang die Ankommenden begrüßt hatte. Er liest den gültigen Wochenspruch aus dem Seelenkalender – „seit gestern habe ich diesen Spruch schon sehr oft gehört“ (Frühstück am Samstag, Bibelabend, Frühstück am Sonntag)“ (FP 4, Abs. 244). Ohne besondere Aufforderung wird jetzt von allen der Prolog des JohannesEvangeliums gesprochen: „Die überwiegende Mehrzahl – auch der Betreuten – spricht mit und beherrscht den Text“ (FP 4, Abs. 245). Die mir schon vom gestrigen Bibelabend bekannte Textstelle aus der Bibel wird verlesen und erläutert, eine Diskussion dazu angeregt: „Es gibt eine Menge an Wortmeldungen – allerdings nur von Betreuten“ (ebd.). Es wird über Begriffe aus dem Text gesprochen, Bezüge zum eigenen Leben werden hergestellt, Fragen geklärt. „Nach einem etwa zehnminütigen Gespräch liest der Mitarbeiter erneut die Bibelstelle vor (auch diese höre ich – wie die anderen – seit gestern Abend zum dritten Mal). Dann fragt er, ob jemand einen Spruch mitgebracht habe – wiederum melden sich einige Menschen mit Behinderungen. Diese tragen dann nach der Reihe kleine Verse, Gedichte oder Sprüche vor. Einige stehen dabei auf. Die Bandbreite reicht vom Frühlingsgedicht bis zu spirituellem Gedankengut“ (ebd.). Im Großen und Ganzen finden keine Seitengespräche statt – auch während der Diskussion über die Bibelstelle sprechen in der Regel nur diejenigen Personen, die sich zuvor gemeldet haben. Jetzt erklingt ein gemeinsames Lied. Alle, die dazu im-
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stande sind, stehen danach auf. Es wird gemeinsam das ‚Vaterunser ދgebetet. Nachdem alle wieder sitzen, ertönen wiederum Klänge von der Klanggruppe. Eine kurze Zeit der Stille folgt – die Morgenfeier ist beendet, die Teilnehmer verlassen den Saal: „Es ist nun 10:15 Uhr“ (FP 4, Abs. 247). 7.5 Wirkweise 7.5 Wirkweise „Also, diese Rituale, die auch einen Rhythmus haben, die wirken auf jeden Fall gesundend, behaupte ich jetzt so. Ich glaube, jeder Rhythmus ist gesund, wenn er nicht zum Takt wird …“ (B5M, Abs. 55). Welche Wirkungen werden den Ritualen, den rhythmischen Abläufen zugeschrieben? Warum werden die alltäglichen Rituale als wichtig erachtet? Dies waren Fragen, die insbesondere in den Interviews mit Mitarbeitern eine Rolle spielten. Hier zeigt sich ein großer Facettenreichtum an Begründungen, der natürlich auch der Unterschiedlichkeit der ritualisierten Abläufe und Handlungen geschuldet ist. Im Wesentlichen lässt sich aber zwischen zwei grundlegenden, in der Regel parallel auftretenden, Motivbereichen differenzieren, die ich als ‚Struktur- und Formgebung ދund ‚Gemeinschaftsbildung ދgekennzeichnet habe. Struktur- und Formgebung Rituale und Rhythmen werden in der Gestaltung des täglichen Lebens als ein essentielles Element angesehen, das Struktur schafft, Halt und somit Sicherheit gibt: „Ich denke, das ist ein Gerüst, an dem sich manche festhalten können“ (B13bM, Abs. 88). Darüber sollen sie, trotz wechselnder Anforderungen des Alltags, Beständigkeit vermitteln: „Wenn so was ganz gleich bleibt, das ist auch was, was sozusagen so eine Kontinuität gibt“ (B1M, Abs. 53). Dabei geht es auch um konkrete Alltagserleichterung durch Stetigkeit: „Rhythmus, ja, das ersetzt Kraft, dadurch, dass das jeden Tag so abläuft, braucht man sich nicht irgendwie groß aufraffen: ‚Oh, jetzt muss ich aber ދoder so. Es geht, es läuft“ (B13bM, Abs. 91). Beruhigung, so das gemeinsam Zur-Ruhe-Kommen und das Einlassen auf eine neue Situation, beispielsweise vor dem Essen – „… der Akt des KerzeAnzündens z. B., wenn man einen Akt daraus macht, hilft eigentlich allen, noch mal zur Besinnung zu kommen“ (B3M, Abs. 44) –, sowie Gesundung – „also, diese Rituale, die auch einen Rhythmus haben, die wirken auf jeden Fall gesun-
7.5 Wirkweise
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dend, behaupte ich jetzt so“ (B5M, Abs. 55) – sind weitere Wirkungen, die den ritualisierten Abläufen zugeschrieben werden. Das strukturierende und Sicherheit gebende Moment von Ritualen wird insbesondere als wichtig für die zu unterstützenden Menschen betrachtet: „Das ist ja auch was, was die Leute hält oder vor allem auch Kinder und behinderte Menschen ja auch, das gibt denen ja so einen Rahmen, immer wiederkehrende Rituale“ (B15M, Abs. 52). Somit werden Rituale auch als eine Hilfe bei der Gestaltung des Alltags aufgefasst – wahrgenommene Einschränkungen der behinderten Menschen bei der Alltagsbewältigung werden durch einen bestimmten Rhythmen folgenden Tagesverlauf aufgefangen: „Viele hätten keine Struktur, weil viele vielleicht auch nicht wissen, ist es jetzt eigentlich morgens oder ist es abends, das gibt es bei einigen schon und es ist einfach eine Sicherheit, die das bietet“ (B13aM, Abs. 87). Ritualen und rhythmischen Prozessen wird überdies – vereinzelt wird dieses sichtbar – auch eine gestalterische, die innere und äußere Form oder Haltung eines Menschen prägende Kraft zugesprochen. Dabei wird ebenfalls davon ausgegangen, dass diese vielen behinderten Menschen ohne ein derartiges Stützwerk fehle: „Wir hatten hier so zwei Brüder, die kamen hier wirklich in Schlodderklamotten an, das muss man einfach sagen, das hatte ich wirklich schon lange nicht mehr gesehen … Und man konnte eigentlich feststellen, so in einem halben bis einem Jahr wurden sie immer gerader, immer hübscher, immer besser angezogen. Also, die haben nicht nur die äußere Form gekriegt, sondern da ist auch innen, die haben auch eine innere Form gekriegt. Da war ganz deutlich. Und ich denke, das hat auch viel mit Rhythmus zu tun“ (B13bM, Abs. 89). Zwar werden die sich aus den Ritualen ergebenden strukturierenden Wirkungen in erster Linie auf die behinderten Mitglieder der Gemeinschaft bezogen. Allerdings bekunden Mitarbeiter in nicht wenigen Fällen, auch selbst davon Bereicherung zu erfahren: „Diese Regelmäßigkeit, das gibt Sicherheit für betreute Menschen und ich merke auch bei mir selber, das tut gut für den Körper und letztendlich auch für die Seele“ (B5M, Abs. 55). Gemeinschaftsbildung Es wird deutlich, dass den Ritualen und einer an Rhythmen orientierten Alltagsgestaltung – in verschiedenen Facetten – Wirkungen auf das Zusammenleben im Sinne einer gemeinschaftsbildenden Kraft zugeschrieben werden. Ein Gefühl von Zusammengehörigkeit, das Verständnis, als eine Lebensgemeinschaft zusammen zu gehören, werden dadurch gebildet. Dabei lassen sich diesbezügliche Bezeugungen weitgehend zwei verschiedenen Dimensionen zuordnen.
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7 Ritual und Rhythmus
Zum einen wird auf eher weltlich-profane Aspekte rekurriert. Sich, insbesondere durch regelmäßige Zusammenkünfte und ein bewusstes Wahrnehmen der Anderen, als eine Gemeinschaft zu erleben, steht im Vordergrund: „Also ich meine diese verbindende Wirkung zwischen den Menschen ist auf jeden Fall da … Ja, also in verschiedenen Gruppen bildet sich da einfach das Wir-Gefühl … Man sieht sich und nimmt sich wahr …“ (B7M, Abs. 41). Rituale, beispielsweise das gemeinsame Sprechen oder Singen, werden auch als ein Mittel gesehen, Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten in die jeweilige Gemeinschaft zu integrieren und damit den Zusammenhalt zu stärken. So könnten sich dadurch beispielsweise auch Personen, die in ihren verbalen Ausdrucksmöglichkeiten eingeschränkt sind, als Teil der Gemeinschaft erleben: „Also, die L., die auch sozusagen sehr viel Betreuung braucht hier bei uns, die lebt z. B. sehr im Singen. Die singt unheimlich gern. Die kann auch unheimlich viele Lieder, obwohl die manchmal gar nicht in der Lage, gerade als wir kamen, nicht in der Lage war, einen einzigen, ich sage mal, vernünftigen Satz zu formulieren, weil intellektuell ihre Leistung ganz, ganz schwach war … Die konnte aber trotzdem weit über hundert Lieder auswendig. Die hat die eben nicht verstanden, aber einfach gekonnt. Und die konnte sich dann ein bisschen ausleben im Mitsingen“ (B1M, Ab. 53). Folglich kommt in den gemeinsamen Ritualen neben dem gemeinschaftsbildenden auch ein individueller Aspekt zum Tragen, insofern die eigenen Fähigkeiten und somit das Selbstbewusstsein im Sinne eines ‚Ich bin auch aktiv mit dabei ދangesprochen bzw. angeregt werden: „Dieses Mitsprechen ist auch miteinander vertraut werden, sich besser verstehen, irgendwie so. Aber eben auch durchaus was selber sagen oder auch mal lernen, was zu singen, das gibt auch einfach ein Erleben von: ‚Ich mache auch was, ich kann da auch was( “ދB1M, Abs. 55). Der anregende Gehalt, der auch davon ausgehe, immer mal wieder Neues, neue Sprüche, neue Lieder zu erlernen, dürfe sich allerdings nicht zu „Stress“ entwickeln, sondern solle eine „vergnügliche Anforderung“ (B1M, Abs. 55) darstellen: „Und wenn man keine Lust hat, dann spricht man eben nicht mit, da ist ja kein Zwang dabei, oder so“ (B1M, Abs. 53). Vor allem im Ritual des gemeinsamen Begehens von Jahresfesten kann auch eine Stärkung des Familiengedankens eine Rolle spielen, da sich zu diesen Anlässen – so beispielsweise an Weihnachten – eine besondere Gelegenheit der Zusammenkunft bietet: „Es ist Urlaub, es ist keine Arbeit für die betreuten Menschen und das ist einfach die Möglichkeit, wo man sich als Großfamilie intensiv begegnen kann, wo man einfach auch zusammenwachsen kann, wo man ein richtiges Familienleben gestalten kann …“ (B3M, Abs. 44). In diesen Zusammenhang bedeutsam ist auch, dass in einer dieser Lebensgemeinschaften das Pfingstfest – es wird gewandert und gegrillt – explizit mit
7.5 Wirkweise
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dem Ziel der „Heilung der Gemeinschaft“ (FP 2, Abs. 97) gefeiert wird. Hier soll die Kluft zwischen den innerhalb und außerhalb der Lebensgemeinschaft wohnenden Personen überwunden und sich als eine Gemeinschaft begriffen werden können. Da Pfingsten somit eine große Bedeutung habe, werde – so ein leitender Mitarbeiter – Wert darauf gelegt, dass sich die Bewohner zu dieser Zeit in der Lebensgemeinschaft und nicht bei ihren Angehörigen aufhalten (ebd.). Zum anderen, und das ist die zweite Dimension, wird von einigen Mitarbeitern – und dieses geht über den profanen Gedanken der Gemeinschaftsbildung oder -stärkung hinaus – ein Bezug zu eher geistig-seelischen Sphären bis hin zu Bereichen, die transzendenten Charakter besitzen, hergestellt. „Also, wenn man hört, was für Sprüche es gibt und was da gemacht wird, geht es für mich eigentlich immer da drum, einen Anschluss zu finden an das, was mehr noch ist, als das, was man sieht …“ (B9M, Abs. 47). Derartige Bezüge werden dabei insbesondere – aber nicht nur – in den religiösen Versammlungen verortet. Dort werde von allen zusammen ein „Raum erschaff[en] für etwas höheres Geistiges“ (B11M, Abs. 44), das die Gemeinschaft verbinde. Die Rituale werden in diesem Kontext somit – mit Rückgriff auf die Anthroposophie – als eine Hilfe verstanden, um erfahren zu können, dass man als Einzelperson Teil eines größeren Zusammenhanges sei: „Also, sich im ganzen Geschehen zu sehen, also Punkt, Einzelpunkt bis in die Einsamkeit, die man erleben kann, aber dass man in dieser Einsamkeit eigentlich erleben kann, dass man in einem Ganzen steht“ (B9M, Abs. 45). Um an diese Verbindung anzuknüpfen, bedürfe es allerdings einer bewussten Auseinandersetzung mit den jeweiligen Ritualen, die Rituale müssten in der Gegenwart lebendig gehalten sowie hinterfragt werden, ob die intendierte Wirkung auch wirklich erfahren werde: „Also, dass man es als Erkenntnis nimmt und nicht einfach macht. Das ist das, glaube ich auch, was Rudolf Steiner gemeint hat oder was sein Impuls war“ (B9M, Abs. 47). Vor dem Hintergrund von gemeinschaftsstärkenden Effekten, die rhythmischen Abläufen zugesprochen werden, wird in einem Fall auch von dem verbindenden Element einer „gemeinsame[n] Seelenebene“ (B11M, Abs. 47) gesprochen, welche sich durch das gemeinschaftliche Tun entwickele. Der Gesamtzusammenhang der Gemeinschaft werde dadurch ‚fühlbar ދaktiviert und gestützt: „Also dieses Gemeinschaftswesen, Gemeinschaft ist ja auch eine Art Wesenheit, wird dadurch sehr genährt … Wir bekommen oft von Menschen, die von außen kommen, so die Rückmeldung, dass man bei uns so dieses Gefühl hat, dass man sich hier so wohlfühlt, dass da so ein Gemeinschaftswesen eben lebt auch“ (B11M, Abs. 47). Über die benannten Dimensionen führt eine Mitarbeiterin im Rahmen eines Gesprächs hinsichtlich der religiösen Zusammenkünfte eine Wirksamkeit in
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7 Ritual und Rhythmus
moralischen Fragen an. So werde durch das regelmäßige Besprechen von Bibeltexten eine christlich-ethische Grundhaltung entwickelt. Diese beziehe sich z. B. auf das angemessene Verhalten und den richtigen Umgang miteinander und erleichtere somit das Zusammenleben (FP 4, Abs. 201). Mancherorts treten allerdings auch Fragen nach Kulturangemessenheit und Wirksamkeit bestimmter Rituale auf. Daraus ergeben sich dann auch Überlegungen zu Veränderungsnotwendigkeiten: „Den kleinen Morgenkreis, den wir hier in der Hausgemeinschaft machen: Eigentlich eine sehr schöne Sache. Ich würde es bei mir zu Hause nicht machen, in meiner kleinen Familie, allerdings kann es eine Hilfe sein, das müssen wir einfach noch mal rauskriegen, ob das für die Bewohner hier tatsächlich eine notwendige Hilfestellung ist. Es gibt keine Familie, auch keine anthroposophische Familie, glaube ich, vielleicht gibt es welche, aber eher unwahrscheinlich, die sich morgens gemeinsam vor dem Frühstück hinstellt und ein Lied singt … Für mich fühlt es sich ein bisschen falsch an, weil es einfach nicht aus dem wirklichen Leben entspringt, finde ich“ (B3M, Abs. 44). 7.6 Persönliche Relevanz 7.6 Persönliche Relevanz „Also, ich finde bei diesen Sachen, finde ich immer noch diese Morgensprüche, die wir da machen, die sind ganz schön und die Lieder, die wir so singen, wir wechseln uns auch immer ab, dieses sind auch ganz schöne Lieder, die wir da immer singen“ (B2, Abs. 83). Wie schätzen Mitglieder der Lebensgemeinschaften für sich persönlich die Relevanz von Ritualen und rhythmischer Alltagsstruktur ein? Dieser Gesichtspunkt war Bestandteil der Interviews. Dabei wurde z. B. thematisiert, welche Rituale als besonders wichtig eingeschätzt, an welchen ein besonderer Gefallen gefunden wird oder welche Aspekte daran als weniger gut wahrgenommen werden. Insgesamt lassen sich in diesem Kontext zahlreiche Aussagen finden, die zeigen, dass die Rituale als positiv attribuiert erlebt bzw. als bedeutend angesehen werden: Bis auf wenige Ausnahmen wurden jeweils ein oder mehrere Rituale genannt, die als gut gefallend oder wichtig betrachtet werden. Das ist bei betreuten Menschen und Mitarbeitern in gleicher Weise der Fall, während sich die persönlichen Präferenzen unterschiedlich darstellen:
„Ich finde es schön, wenn morgens, mittags, abends vor dem Essen immer ein Spruch gesagt wird“ (B8, Abs. 72).
7.7 Lebensgemeinschaft ohne Rituale?
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„Ja, also, dieses gemeinschaftliche Essen finde ich unglaublich schön und bereichernd, vor allem, weil das in unserer Zeit gar nicht mehr gängig ist, man erlebt das gar nicht mehr so. Umso schöner wird es dann, das hier noch mal zu erleben“ (B5M, Abs. 53). „Also, ich will das jetzt nicht einzeln aufzählen, aber das sind jetzt echt mehrere Sachen, die ich wirklich auch höchstpersönlich gut finde!“ (B16, Abs. 61). „Also, jetzt hier im Haus ist für mich immer dieses abendliche Zusammenkommen und einfach noch mal das zu sammeln, was gewesen ist, bis hin auch zur Lösung von Konflikten, ist für mich eigentlich das Wichtigste“ (B9M, Abs. 45). „… die Religion ist mir ein essentielles Anliegen und auch, dass das in der Form wie bei uns so gepflegt wird oder in einer ähnlichen Form, also sehr intensiv“ (B7M, Abs. 39).
Werden – wie in einigen wenigen Fällen – von Seiten behinderter Menschen Aspekte benannt, die als nicht gut oder sogar schlecht beurteilt werden, gibt es keine Bezüge zu konkreten gemeinschaftlichen Ritualen, sondern es werden Schwierigkeiten angeführt, die sich eher auf allgemeine Fragen des Zusammenlebens mit anderen Menschen beziehen: „Also, das kann ich auf den Tod nicht ab, Streitereien. Aber leider geht das dann bei Streitereien nicht nur mit Worten ab, sondern eine Hand fliegt mal und das finde ich nicht so gut“ (B16, Abs. 63). In einem Fall wird auch deutlich, dass die gemeinsam vor den Mahlzeiten gesprochenen Sprüche von einer behinderten Frau als eine Möglichkeit, sich aktiv zu beteiligen, erlebt werden: „Es können ja nicht alle lesen, aber manche können auch lesen, so wie ich, ich darf auch manchmal. Ich darf auch manchmal einen Spruch sagen“ (B8, Abs. 72). 7.7 Lebensgemeinschaft ohne Rituale? 7.7 Lebensgemeinschaft ohne Rituale? „Nein, nein, das gehört dazu, doch, das ist eine enge Verbundenheit“ (B5M, Abs. 57) In einigen Interviews mit Mitarbeitern konnte auf die Frage nach der Bedeutung der Rituale für die sozialtherapeutische Lebensgemeinschaft eingegangen werden. Die Tendenz dabei ist eindeutig. In der Regel werden rhythmische und ritualisierte Strukturen als konstitutives Merkmal betrachtet: „Ich denke auch, das ist ja auch ein wesentlicher Bestandteil des Ansatzes. Also, dass man eben darum weiß, um die Wirkung und die Wichtigkeit von Ritualen, von Rhythmen.
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7 Ritual und Rhythmus
Und dass man das eben auch wirklich pflegt und zelebriert und lebt“ (B11M, Abs. 49). Dabei wird diese Verknüpfung auch direkt aus der Anthroposophie abgeleitet, wie eine Antwort auf die Frage, ob eine Lebensgemeinschaft ohne gemeinschaftliche Rituale denkbar sei, zeigt: „Na ja, dann wäre es wahrscheinlich nicht mehr Anthroposophie“ (B3M, Abs. 46). Auch wenn sozialtherapeutische Gemeinschaften ohne ritualisierte Tagesabläufe als grundsätzlich vorstellbar erlebt werden, so werden diese aber dennoch als ein wesentliches Element des Zusammenlebens angesehen: „… also das wäre unangenehm, wenn das fehlen sollte oder müsste“ (B1M, Abs. 58). Hinsichtlich der Verbindung zwischen sozialtherapeutischer Lebensgemeinschaft und Ritualen wird in einem Fall ein Beispiel aus einer anderen Gemeinschaft angeführt, in welcher der Mitarbeiter zuvor tätig war. Hier zeigen sich Auflösungs- und Umbruchtendenzen, welche die Frage stellen, inwiefern bzw. in welcher Weise Rituale und rhythmische Abläufe vor dem Hintergrund fehlenden Interesses der dort lebenden (behinderten) Menschen Bestand haben können: „In der Gruppe, wo ich da zuletzt war, gab es so einen gemeinsamen Morgenkreis nicht, was einfach mit den Menschen zu tun hatte, die da gelebt haben, die haben das für sich einfach nicht als stimmig empfunden und dann ist es eben abgeschafft worden. So ein allgemeiner Morgenkreis, ganze Einrichtung, vor Arbeitsbeginn, gibt es, wenn man dahin gehen will. Da gehen sehr wenige von den betreuten Menschen noch hin, weil sie das für sich, in der Form, wie das praktiziert wird, nicht haben möchten … Aber es kommt einfach den Bedürfnissen der Bewohner da, finde ich, sehr nahe bzw. vielleicht ist es einfach auch ein Fingerzeig dafür, dass es dort falsch gemacht wird, wie es gemacht wird, dass man so eine Morgenfeier so gestalten muss, dass es tatsächlich für die Bewohner ist und nicht, weil man Anthroposophie praktizieren will“ (B3M, Abs. 46). 7.8 Reflexion 7.8 Reflexion 7.8.1 Kommentierung Rituale und rhythmisch strukturierte Abläufe stellen in den besuchten Lebensgemeinschaften ein wesentliches Moment in der Gestaltung des Tages-, Wochen- und Jahresverlaufes dar. Ich erlebte verschieden ausgeprägte Formen und Intensitäten von Ritualen. Trotz aller Gemeinsamkeiten, die mir auffielen, wirkten die ritualisierten Elemente weitgehend nicht normiert und einem vorgegebenen Standard folgend, sondern mehr oder weniger individuell auf die jeweilige Lebens- oder Hausgemeinschaft angepasst. Dieses wird auch da-
7.8 Reflexion
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durch deutlich, dass nicht selten zwischen einzelnen Häusern einer Gemeinschaft Unterschiede in Art und Form ritualisierter Prozesse vorkommen. Während meiner Aufenthalte erfuhr ich die mir begegnenden Rituale als ambivalent. Zum einen erlebte ich diese als hilfreich bei der Gestaltung und Strukturierung des Tages. Sie boten Verlässlichkeit, gaben Halt und konnten eine ruhige Atmosphäre erzeugen, so dass ich damit erst einmal positive Aspekte verbinde. Auch die Aussagen der Befragten spiegeln dieses ja im Großen und Ganzen wider. Vor dem Hintergrund, dass es eine im beschriebenen Sinne ritualisierte Tages-, Wochen-, und Jahresstruktur außerhalb anthroposophischer Zusammenhänge an Lebensorten für erwachsene Menschen nicht oder nur selten gibt, sah ich mich allerdings an der ein oder anderen Stelle mit einer Fremdheit konfrontiert, die Fragen nach der Angemessenheit dieser Rituale nach sich zog. Insbesondere einige religiösen Zusammenkünfte strahlten – trotz meines Zivildienstes, den ich vor mehreren Jahren in einer sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaft gemacht habe – eine für mich befremdliche Atmosphäre aus, da diese nur zum Teil anschlussfähig an meinen diesbezüglichen Erfahrungsschatz waren. So fühlte ich mich zunächst ein wenig unsicher und an der Sinnhaftigkeit des Ganzen zweifelnd. Dennoch: Nach dem Besuch eines Bibelabends erlebte ich mich ruhiger und ausgeglichener als vorher. Die Konzentration aller Teilnehmenden, die friedliche Stimmung, der Rückblick auf die vergangene und die Vorausschau auf die kommende Woche sowie ein Erleben von Gemeinschaft unabhängig von vorhandenen Behinderungen hatten mir dieses Gefühl gegeben. Wesentlich erscheint mir in diesem Zusammenhang auch – dieses wurde vor allem in den Interviews mit den Mitarbeitern deutlich –, dass Ritualen eine gemeinschaftsstiftende Funktion zugewiesen wird. Somit wird beispielsweise das gemeinsame Essen nicht nur als reine Nahrungsaufnahme, sondern als Möglichkeit der intensiven Zusammenkunft der (Haus-) Gemeinschaft angesehen. Dieses schließt eben auch eine Begegnung zwischen nichtbehinderten und behinderten Menschen ein, was sich hier insbesondere daran zeigt, dass diese zusammen essen und die Mitarbeiter hier nicht nur die Rolle des Assistenten einnehmen, welche die Nahrungsaufnahme unterstützungsbedürftiger Personen gestalten. Die geschilderten Einflussnahmen von Mitarbeitern auf behinderte Menschen während des Essens sind in diesen Rahmen allerdings nur schwer einzuordnen. Zwar traten diese nur partiell auf und sind möglicherweise auch unter Einbezug des erweiterten Kontextes erklärbar. Allerdings wird für mich anhand solcher Situationen sichtbar, dass es sich eben nicht um eine vollständig gleichberechtigte Gemeinschaft handelt, sondern zwischen Mitarbeitern und Menschen mit Behinderung eine durchaus asymmetrische Beziehung besteht.
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7 Ritual und Rhythmus
Beeindruckt hat mich in einigen Gemeinschaften die ausgeprägte gegenseitige Wahrnehmung bei Tisch. Insbesondere mir als Gast wurde eine besondere Aufmerksamkeit zuteil, aber auch darüber hinaus wurde immer wieder darauf geachtet, ob jemandem eine bestimmte Speise oder ein Getränk fehlte. In manchen Gemeinschaften allerdings erlebte ich das durch die großen Tische notwendige ständige Bestellen und Herumreichen zu Tisch als drängende Kommunikationsaufforderung. Jede Person am Tisch ist somit angesprochen, sich unabhängig von ihrer Befindlichkeit in gewisser Weise in die Gemeinschaft einzubringen, was ich teilweise als eine Art Zwang wahrnahm. Eine Besinnung auf sich selbst ist den Beteiligten dadurch kaum möglich. Viele Sprüche, die gesprochen werden, so z. B. zur Rahmung des Essens, enthalten Elemente, die für mich einen mystischen Charakter haben: In gewisser Weise machen sie auf mich einen geheimnisvollen Eindruck. In vielen Fällen ist auch ein Bezug zu göttlichen Welten offensichtlich. Allerdings wirken die meisten der Sprüche auf mich – insbesondere die des Seelenkalenders – weitgehend unverständlich. Somit sind die Situationen, in denen sie gesprochen werden, für mich immer auch etwas befremdlich konnotiert und strahlen eine Rätselhaftigkeit aus. Wie wird es den Mitarbeitern und wie den Menschen mit Behinderung damit gehen? Erschließt sich der Sinn nach und nach über das kontinuierliche Zuhören und Sprechen? Oder geht es hier häufig eben um eine andere als die kognitive, eine übersinnliche Ebene, auf welcher diese Verse ihre Wirkung entfalten sollen? Dieses sind Fragen, die ich mir während meiner Aufenthalte im Feld regelmäßig stellte.
7.8.2 Kontextuelle Einordnung Die Auseinandersetzung mit Ritualen ist in den vergangenen Jahren – sei es in wissenschaftlicher oder in populärer Literatur – von zunehmender Präsenz geprägt (Friebertshäuser 2004, 30). Dabei findet eine Befassung mit Ritualtheorie und Ritualbegriff in diversen akademischen Disziplinen – und somit über die ursprüngliche Verankerung im eher ethnologischen und kulturanthropologischen Feld hinaus – statt (Jennessen 2007, 426). Auch in den übrigen Sozial- und Humanwissenschaften werden Rituale nun verstärkt thematisiert (Wulf 2001a, 7). Bezogen auf das Feld der Erziehungswissenschaft ist in der Allgemeinen Pädagogik und Schulpädagogik seit Ende der 1980er Jahre ein vielschichtiger Diskurs zu Ritualen wahrzunehmen. Obgleich in der konkreten sonderpädagogischen Arbeit Rituale durchaus Relevanz besitzen, fand in der Sonderpädagogik eine
7.8 Reflexion
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diesbezügliche Auseinandersetzung bis auf wenige Ausnahmen allerdings nicht statt (Jennessen 2007, 425).60 Die große Bandbreite von Erscheinungsformen und Funktionalität von Ritualen in menschlichen Gesellschaften bzw. die zunehmende Diversifizierung der Ritualforschung in verschiedene Fachrichtungen mit unterschiedlichen Erkenntnisinteressen bringen mit sich, dass divergente Begriffsbestimmungen vorliegen und der Ritualbegriff in verschiedenster Weise gebraucht wird: „Eine Unmenge unterschiedlicher Definitionen, Begriffverständnisse und Verwendungszwecke spiegeln die Vielzahl von teilweise divergierenden theoretischen Hintergründen und erkenntnisleitenden Vorstellungen eben jener Wissenschaftszweige wider“ (Jennessen 2007, 426). Eine grundlegende begriffliche Eingrenzung legt Wulf vor. Demnach „(sind) Rituale körperliche Bewegungen, die einen Anfang und ein Ende haben, die gerichtet sind und die den Beteiligten eine Position zuweisen. Rituale lassen sich als symbolische, kodierte Körperprozesse begreifen, die soziale Realitäten erzeugen und interpretieren, erhalten und verändern“ (Wulf 1997, 1029; Hervorh. im Original). Wesentlich ist, dass sie von Gruppen ausgeführt und normativ bestimmt sind. Sie bestehen aus standardisierten Elementen, wobei Abweichungen davon möglich sind (ebd.). Konstitutiv ist zudem der sich durch Ausführung von ritualisierten Handlungen realisierende Gehalt an Inszenierung: „Rituale lassen sich als symbolische Aufführungen begreifen, die sich von anderen Inszenierungen wie Theater, Oper oder Happening dadurch unterscheiden, daß sie in erster Linie von und für die am Ritual Beteiligten durchgeführt werden. Rituale sind selbstbezüglich. Wer sie inszeniert und aufführt, ist auch ihr Adressat“ (Wulf 1997, 1030; Hervorh. im Original). In differenzierten modernen Gesellschaften weisen Rituale jedoch auch insofern Bezüge zu anderen Gruppen, welche diese nicht ausrichten, auf, als dass hier die Aufgabe der Unterscheidung zum Tragen kommt: „Die Mehrheitskultur bildet das ‚Andere ދder Minderheitenkultur, von dem sich die Minderheit mit Hilfe ihrer Rituale abgrenzt“ (ebd.). Vor diesem Hintergrund haben Rituale zum einen – mit Rückgriff auf van Gennep (1999) – die Funktion, Phasen des Übergangs (‚Rites de passage )ދzu gestalten. Zum anderen dienen Rituale in Anlehnung an Victor Turner (1989) dazu, Kommunität,61 Gemeinschaft (‚Communitas )ދzu inszenieren. (Wulf 1997, 1031ff.).62 60 61
Zur Ritualforschung in der Erziehungswissenschaft vgl. Friebertshäuser (2004). Turner fokussiert dabei insbesondere die zwischen Übergängen liegenden liminalen Phasen, d. h. Schwellenzustände. Die sich in diesen Kontexten bildende Gruppe wird als ‚Communitasދ bezeichnet. In dieser Gemeinschaft begegnen sich gleichberechtigte Individuen, „fern jeglicher struktureller Positionsbestimmungen“ (Bräunlein 2006, 96). Allerdings: „Was unter ‚Kommunität ދzu verstehen ist, ist nicht leicht bestimmbar. Nach wie vor gilt, daß es außer der Vorstel-
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7 Ritual und Rhythmus
In der Regel vollziehen sich Rituale und ritualisierte Abläufe in einem von subjektiven Einschätzungen und Beurteilungen geprägten Feld: „Es ist davon auszugehen, dass Rituale auf einem Kontinuum möglicher Einschätzungen angesiedelt sind und ihre Bewertung von der Richtung und der subjektiven Verortung des Standpunktes des Betrachters abhängig ist“ (Jennessen 2007, 427). In diesem Zusammenhang stellt Jennessen wesentliche Antinomien von Ritualen im pädagogischen Kontext zusammen. Durch die Darstellung von Polen in Form von Argumenten und Gegenargumenten werden somit Spannungsfelder deutlich, vor deren Hintergrund die Realisierung von Ritualen in der Praxis stattfindet. In erster Linie für den Bereich Schule gedacht, lassen sich jedoch vielfältige Anknüpfungspunkte für eine universellere Auslegung finden und somit Verbindungen zu den beschriebenen ritualisierten Handlungen in den sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaften herstellen: Spannungsfelder in der Beurteilung von Ritualen im pädagogischen Kontext. (Entnahme aus: Jennessen 2006, 428) Nr. Pol 1 /Argumente Pol 2 / Gegenargumente 1 Rituale sind StrukturierungsRituale fixieren Lernende auf die und Orientierungshilfen. Lehrkräfte und sind ein PseudoOrdnungssystem. 2 Soziales Miteinander wird Rituale sind esoterisch abgehoben und geregelt. anti-aufklärerisch. 3 Rituale erleichtern den Ablauf Rituale vernebeln und können vom von Unterricht und Schulzeit Unterricht ablenken. durch eine dramaturgische Gliederung. 4 Rituale entsprechen den OrdRituale stereotypisieren. nungsbedürfnissen der Kinder. 5 Rituale fördern den Weg zur Rituale unterwerfen und manipulieren. Selbständigkeit.
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lung, daß Menschen in Gemeinschaft verbunden sind, keine Übereinstimmungen hinsichtlich des Wesens von Gemeinschaft bzw. Kommunität gibt“ (Wulf 1997, 1033). Turner greift in diesem Zusammenhang auf Martin Bubers Verständnis von Gemeinschaft zurück. Somit ist diese „das Nichtmehr-nebeneinander, sondern Beieinander einer Vielheit von Personen, die, ob sie auch mitsammen sich auf ein Ziel zu bewegen, überall ein Aufeinander zu, ein dynamisches Gegenüber, ein Fluten von Ich und Du erfährt. Gemeinschaft ist, wo Gemeinschaft geschieht“ (Buber 1984, 185; vgl. auch Bräunlein 2006, 97). Grundlegende Auseinandersetzungen mit Ritualforschung und -praxis insbesondere aus kulturund sozialwissenschaftlicher Perspektive finden sich in Bell (1992); Gebauer/Wulf (1998); Caduff/Pfaff-Czarnecka (2001); Wulf (2001b); Wulf/Zirfas (2004a); Wulf/Zirfas (2004b); Harth/Schenk (2004); Belliger/Krieger (2006) und Michaels (2007).
7.8 Reflexion 6 7 8 9 10 11 12 13 14
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Rituale bieten Verlässlichkeit. Rituale überwinden die heutige Zeithetze. Rituale befriedigen ästhetische Menschenwünsche. Rituale lassen Spielraum für eigenes Handeln (Offenheit). Rituale sind einsehbar und kritisierbar. Rituale sind verstehbar und haben vor der Vernunft Bestand. Rituale können den grauen Schulalltag aufhellen. Rituale können Konflikte regeln. Rituale gestatten das Mitmachen und reizen zum Nachmachen. Rituale werden von den Teilnehmenden mit Inhalten gefüllt.
161 Rituale erzeugen Fixierung und Starre. Rituale sind Zeitverschwendung. Ästhetik ist zu subjektiv, als dass Rituale diese befriedigen könnten. Rituale haben aufgrund festgelegter Handlungsabfolgen enge Grenzen (Geschlossenheit). Rituale verfügen über normative Kraft, die diese per se legitimieren. Rituale beziehen das Individuum und seine Ratio nicht ein. Rituale sind Äußerlichkeiten, die blind sind und blind machen. Rituale können in Schlag-, Gewaltund Bandenrituale ausarten. Rituale sind als Rückschritt zu einer konservativen Pädagogik zu verstehen, da sie in autoritärer Weise unkritische, passive Schülerhaltungen eintrainieren. Rituale sind inhaltsleere Hüllen.
Eine Verknüpfung zwischen der innerhalb der Lebensgemeinschaften gegenwärtigen Sichtweise sowie wissenschaftlicher Perspektive zur Funktion von Ritualen zeigt einige Übereinstimmungen. So spiegeln sich die von den Mitarbeitern in den Interviews dargelegten Hauptwirkungen ritualisierter Prozesse – diese wurden als ‚Gemeinschaftsbildung ދsowie ‚Struktur- und Formgebung ދbezeichnet – auch in der wissenschaftlichen Literatur wider. Wie bereits durch den Verweis zur Turner’schen ‚Communitas ދdeutlich wurde, wird Ritualen eine wesentliche Aufgabe im Rahmen sozialer Prozesse zugeschrieben. Somit nehmen Rituale eine konstitutive Rolle für Gemeinschaften ein, stellen sozusagen deren Nährboden und Kitt dar: „Soziale Gemeinschaften konstituieren sich durch verbale und nonverbale ritualisierte Formen der Interaktion. Diese werden ständig auf einer ‚Bühne ދaufgeführt; auf diesem performativen Weg werden Rollen, Zusammenhalt, Intimität, Solidarität und Integration der Gemeinschaft als Gemeinschaft erst möglich“ (Wulf 2001, 9). Insofern
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sich durch Vollziehen von Ritualen die Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder Gesellschaft realisiert, besitzen derartige Handlungen Identität stiftenden Charakter. Dieses Moment wird in aktuellen Ritualtheorien als ein grundlegendes angesehen (Krieger/Belliger 2003, 30). Damit nehmen Rituale – dieses wurde bereits angesprochen – allerdings auch eine Distinktionsfunktion gegenüber anderen Gruppen ein. Insgesamt betrachtet stellt Wulf somit fest: „Für die Entstehung, Aufrechterhaltung und Veränderung des Sozialen haben sie [die Rituale] eine weitaus größere Bedeutung als dies im allgemeinen angenommen wurde“ (Wulf 2001, 7). Die – auch von einigen Mitarbeitern wahrgenommene – Funktion von Ritualen, eine Verbindung zwischen menschlicher Gemeinschaft und geistiger Welt herzustellen, legt Friebertshäuser mit Bezugnahme auf Mircea Eliade (1988) dar. „Im Ritual erfährt für ihn [Mircea Eliade] der Mensch den Kreislauf des Lebens, Tod und Wiedergeburt, als zentrale Lebenselemente. Dem Menschen eröffnet das Ritual einen Zugang zu dieser Ebene menschlichen Daseins, er kann sich als Teil von etwas Größerem erleben …“ (Friebertshäuser 2004, 33). In diesem Sinne können ritualisierte Handlungen als Übergangsriten zu einer mit Sinnen nicht greifbaren Welt verstanden werden und einen Zugang zu einer transzendentalen Ebene verschaffen, so dass sich nach dem als symbolisch aufgefassten Sterben Neues entwickeln kann (ebd.). Im spezifisch sonderpädagogischen Kontext lassen sich – auch das wurde im Rahmen der Interviews geäußert – Rituale als Möglichkeit verstehen, Menschen mit Behinderung trotz möglicherweise vorhandener Beeinträchtigungen, beispielsweise in der Kommunikation, in die Gemeinschaft zu integrieren. Im Verständnis eines ganzheitlichen Ansatzes können Rituale somit aufgrund ihrer besonderen Ausdruckskraft die Beteiligten in ihrer Ganzheit von Seele, Geist und Körper einbeziehen sowie multidimensionale Ausdrucksmöglichkeiten und die Ansprache mehrerer Sinne bieten. Vor dem Hintergrund, dass Rituale durch Interaktion und Kommunikation gekennzeichnet sind, ergibt sich hier auch eine Basis für die Entwicklung partnerschaftlicher Beziehungen zwischen den beteiligten Akteuren und somit auch die Chance, Barrieren zwischen Mitarbeitern und Menschen mit Behinderung zu überwinden (Jennessen 2007, 431). Somit können beispielsweise „Rituale zu Codes gemeinsamer Erlebnisse zwischen Menschen mit und ohne schwere Behinderungen werden und somit als Grundlage dialogischer Auseinandersetzung fungieren“ (Jennessen 2007, 434). Aufgrund des ihnen immanenten Merkmals der Wiederholung können Rituale – auf der ganz individuellen Ebene – auch den Rahmen für Lernprozesse darstellen (ebd.). Dieser Aspekt wurde in den Interviews am Beispiel des gemeinsamen Einübens von Liedern als Wirkung beschrieben.
7.8 Reflexion
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Auch zur von Mitarbeitern zum Teil angesprochenen Funktion ritualisierter Prozesse, insbesondere Menschen mit Behinderungen als Strukturierungs- und Orientierungshilfe im alltäglichen Leben zu dienen, findet man – wenn auch in der Regel nicht im Kontext ritualspezifischer Überlegungen – Hinweise in der Literatur.63 So nennt hier etwa Jennessen Beispiele für verschiedene Felder der Arbeit mit Menschen mit Behinderung (Jennessen 430ff.). Aber auch außerhalb sonderpädagogischer Disziplinen wird auf die Halt gebende Komponente als einem wesentlichen Element von Ritualen hingewiesen: „Rituale sind wiederholbare Handlungsmuster. In diesem Sinne rekurrieren rituelle Interaktionen auf Tradiertes und erzeugen Sicherheit“ (Audehm/Wulf/Zirfas 2007, 426). Die in einem Fall von einem Mitarbeiter geäußerte Ritualkritik, die sich mit Fragen nach Stimmigkeit und Angemessenheit von ritualisierten Formen auseinandersetzt, korrespondiert insofern mit der Literaturlage, als dass ein reflektierter Umgang mit diesen als unbedingt notwendig erachtet wird (vgl. z. B. Friebertshäuser 2004; Jennessen 2007). So bedürften Rituale jeweils der kontinuierlichen Überprüfung, da sie an Bedeutsamkeit verlieren können (Jennessen 2007, 434). Nur so wird die Gefahr eingedämmt, dass sie sich zu inhaltsleeren Hüllen entwickeln. Wie erwähnt und in den Beschreibungen deutlich werdend, stellt in der anthroposophisch orientierten Arbeit mit Menschen mit Behinderung im Zusammenhang mit regelmäßig wiederkehrenden ritualisierten Handlungen der Begriff Rhythmus eine wesentliche Komponente dar. Vor allem im Bereich der Kinder und Jugendlichen – so zeigt ein Blick in die spezifische Literatur – ist dieses der Fall. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Mensch von biologischen Rhythmen geprägt ist und in äußere Rhythmen wie die Jahreszeiten eingebettet ist, wird eine rhythmische Lebensgestaltung als elementar angesehen (Fischer 1999; Gäch 1999).64 Als Verbindung zwischen Individuum und den rhythmischen Prozessen des Jahresverlaufs dienen u. a. die in einigen Lebensgemeinschaften gesprochenen Sprüche des Seelenkalenders von Rudolf Steiner, wie dieser im Vorwort dazu selbst darlegt. Dem Einzelnen soll dadurch die Möglichkeit gegeben werden, mittels einer ‚seelischen Einbettung ދin den Rhythmus der Natur und zu sich selber zu finden: „In diesem Kalender ist für jede Woche ein solcher Spruch verzeichnet, der die Seele miterleben läßt, was in dieser Woche als Teil des ge63 64
Natürlich kann die Einbettung in eine Gruppe oder Gemeinschaft als solche bereits ein strukturierendes und Halt gebendes Moment darstellen. Über die oben beschriebenen ritualisierten Aspekte, die den Tages-, Wochen- oder Jahresablauf in anthroposophischen Lebensgemeinschaften strukturieren, spielt das Thema Rhythmus auch in anderen Kontexten, so z. B. bei Arbeit (Dackweiler 1996) oder Kunst (BrzozowskaMajorek 2008), eine prominente Rolle.
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samten Jahreslebens sich vollzieht. Was dieses Leben in der Seele erklingen läßt, wenn diese sich mit ihm vereinigt, soll in dem Spruche ausgedrückt sein. An ein gesundes ‚Sich eins fühlen ދmit dem Gange der Natur und an ein daraus erstehendes kräftiges ‚Sich selbst finden ދist gedacht, indem geglaubt wird, ein Mitempfinden des Weltenlaufes im Sinne solcher Sprüche sei für die Seele etwas, wonach sie Verlangen trägt, wenn sie sich nur selbst recht versteht“ (Steiner 2006b, unpag.). Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass rhythmische Prozesse als Kraftquelle dienen können: „Leben ist Spannung. Spannung entsteht durch den Wechsel von Hoch und Tief. Gelingt es, sich in diesem Wechsel rhythmisch zu bewegen, entsteht durch diesen Rhythmus Kraft“ (Schmidt-Brabant 1993 zitiert nach Fischer 1999, 32). Im Spezielleren wird dabei einer rhythmischen Gestaltung des Lebens auch eine Halt- und Orientierungsfunktion zugeschrieben, die insbesondere behinderten Menschen Sicherheit gebe (Grimm 1995, 91). Rhythmische Abläufe werden somit als Hilfe zur Bewältigung des täglichen Lebens und in diesem Zusammenhang auch als ein Kräfte schonendes Element gesehen: „Rhythmus ersetzt Kraft. Alles, was regelmäßig geschieht, braucht einen geringeren Kraftaufwand, als wenn es sich außerhalb der gewohnten Zeit oder der gewohnten Umstände als einmalige Aktion ereignen würde“ (Goebel/Glöckler 2008, 224). Ein wesentlicher Einfluss wird rhythmischen Prozessen mit Blick auf Behinderungen bedingende Disharmonien im menschlichen Inkarnationsprozess zugesprochen. Hier wirke die – rhythmisch eingebettete – Seele als vermittelnde Instanz zwischen beeinträchtigter Leiborganisation und unversehrtem Geist: „Die Seele lebt im Rhythmus und durch den Rhythmus, wie alles Mittlere. Daher die umfassende Bedeutung des Rhythmischen in der heilpädagogischen Arbeit (Holtzapfel 2003, 154).65 Die rhythmische Gestaltung der Zeit wird als Baustein einer bewussten und sinnvoll strukturierten Umgebung angesehen, durch welche sich ein indirektes, Entwicklungsprozesse anstoßendes heilpädagogisches Wirken ergeben kann, das sich unabhängig von direkten therapeutischen Maßnahmen vollzieht (Grimm 1995, 94f.; Fischer 1999; 32).
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Siehe dazu auch Kapitel 3.2.
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„Es ist eigentlich relativ okay, mit anderen zusammen zu wohnen“ (B4, Abs. 43). Das Zusammenleben verschiedener Menschen stellt ein bedeutendes Element anthroposophischer Sozialtherapie dar. Der Gemeinschaftsgedanke ist somit – bei aller Unterschiedlichkeit in der praktischen Umsetzung – prägend für die Sozialtherapie: „Sie [die sozialtherapeutischen Gemeinschaften] standen und stehen für die Intention, in überschaubaren Lebensverhältnissen zusammenzuleben, in denen der einzelne Mensch den ihm möglichen Beitrag geben kann und zugleich durch die anderen getragen ist“ (Grimm 2004, 8). Ausgehend von der ursprünglichen Idee der insbesondere im Rahmen der Camphill-Bewegung entstandenen Sozialtherapie ist das Zusammenleben von behinderten und nichtbehinderten Erwachsenen in familienähnlichen Konstellationen konstitutiv. Zwar haben sich im Laufe der Zeit auch andere Ausprägungen sozialtherapeutischer Gemeinschaften entwickelt und das Spektrum der Wohnformen hat sich erweitert. Dennoch: Das „Wohnen in familienorientierten Hausgemeinschaften, oft damit verbunden, dass auch die Mitarbeiter und deren Familien dort leben“ (Grimm 2004, 10), stellt – insgesamt betrachtet – immer noch ein Kernprinzip sozialtherapeutischer Arbeit dar. Was gibt es nun in den vier besuchten Lebensgemeinschaften für wesentliche Gestaltungsmerkmale im Hinblick auf das Zusammenleben unterschiedlicher Menschen? Was für Fragen stellen sich hier? Dabei wird vor dem Hintergrund der Felderfahrungen insbesondere auf das gemeinschaftliche Leben von Menschen mit und ohne Behinderungen Bezug genommen. Aber auch generelle Aspekte des Zusammenlebens mit anderen Menschen spielen eine Rolle.66
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Im Rahmen der Darstellung der Ergebnisse der Feldphasen werden – der Konzeption der Forschungsobjekte als Lebensgemeinschaften geschuldet – immer wieder Fragen des gemeinschaftlichen Lebens thematisiert. In diesem Kapitel stehen allerdings grundsätzliche Fragen der Ausgestaltung des Zusammenlebens mit anderen Individuen, so z. B. von behinderten und nichtbehinderten Menschen, im Vordergrund.
C. Stamm, Anthroposophische Sozialtherapie im Spiegel ausgewählter Lebensgemeinschaften, DOI 10.1007/978-3-531-93294-1_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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8.1 Leben in Gemeinschaft 8.1 Leben in Gemeinschaft „Aber ich liebe meine Familie hier, ich bin gerne in der Familie, wo ich bin“ (B8, Abs. 55). Unabhängig vom Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung konnten insbesondere in den Interviews mit behinderten Menschen Fragen nach der grundsätzlichen Einstellung zum Leben in Gemeinschaft mit anderen Personen thematisiert werden. Dieses geschah vor dem Hintergrund, dass das gemeinschaftliche Leben in Gruppenzusammenhängen – alle beteiligten Personen leben in der ein oder anderen Art im Kontext einer Gruppe – im Kanon der vorhandenen betreuten Wohnmöglichkeiten lediglich eine von mehreren Formen darstellt. In der Regel wird das Leben in Gemeinschaft von zwei Seiten betrachtet. Somit ergibt sich ein differenziertes Bild, durch das sich sowohl gute als auch weniger gute Aspekte des Zusammenlebens widerspiegeln. Allerdings: Wenn auch als kritisch erlebte Punkte angesprochen wurden – grundsätzlich lassen sich bei allen Personen Aussagen finden, die zeigen, dass das gemeinschaftliche Leben in erster Linie als positiv konnotiert wahrgenommen wird. Das Spektrum bewegt sich dabei zwischen einer zur Begeisterung tendierenden Sichtweise und einer eher gedämpft-zustimmenden Haltung:
„Also, ich fühle mich wohl in der Gruppe, wir machen viele Scherze, wir lachen morgens und erzählen uns morgens immer was beim Frühstück. Also, eine lustige Gruppe, die ist schon total gut (lacht)“ (B2, Abs. 127). „Es ist eigentlich relativ okay, mit anderen zusammen zu wohnen“ (B4, Abs. 43).
Vor allem die folgenden Gesichtspunkte werden im Zusammenhang mit den positiven Aspekten gemeinschaftlichen Lebens genannt: Knüpfen von Freundschaften „Na ja, es bilden sich doch recht feste Freundschaften. Muss man schon sagen, dass man zusammen was unternimmt oder so“ (B14, Abs. 69).
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Erleben gemeinschaftlicher Aktivitäten „Ach ja, es gibt auch Schönes, ja, also auch schöne Abende und manchmal schauen wir uns Filme an oder wir singen oder wir tanzen auch mal nach Tanzmusik. … Oder wir schaffen, wir arbeiten zusammen“ (B8, Abs. 46). Teilen von Freude „Wir [er und sein Zimmernachbar] machen abends immer ein paar Späße, bevor wir ins Bett gehen, so Scherze, lachen darüber, das ist total witzig (lacht)“ (B2, Abs. 71). Bieten von Unterstützung „Und dass man, wenn man das kann, eben die Leute, die das nicht so draufhaben, dass man die so ein bisschen unterstützt, nicht, so gut es geht“ (B14, Abs. 121). Sich getragen fühlen „Das ist so, dass man … es ist gut, wenn man in einer Gemeinschaft lebt, denn man hat ja mal, wenn man mal wirklich krank ist, oder so“ (B16, Abs. 41). In einer Lebensgemeinschaft habe ich darüber hinaus eine Begegnung, die mich zum intensiven Nachdenken über gemeinschaftliches Leben anregt: „Zu uns gesellt sich auch der Bewohner, der im Aufzug eines Försters auftritt (weißer Bart, grüner Hut mit Tannengrün, grüner Wams, Stiefel) und mir erzählt, dass er hier ‚Privatförster ދsei und nebenher ganz viel studiere und pauke. Das habe er immer schon so gemacht. Sonst habe ihm sein Vater den Hintern versohlt“ (FP2, Abs. Abs. 126). Ich entwickelte den Gedanken, dass für diese Person die Lebensgemeinschaft auch ein Ort sein kann, wo sie einen Platz findet, ihrem Sosein Raum geben zu können. Werden Punkte angeführt, die hinsichtlich des Zusammenlebens als kritisch wahrgenommen werden, so beziehen sich diese in den meisten Fällen auf Ärger oder unliebsame Auseinandersetzungen mit anderen betreuten Personen. Hier wird vor allem auf andere Menschen als Quelle von Spannungen verwiesen. Die Aussagen „Ja, es gibt auch manche Streitereien. Es gibt halt Leute, die gerne einem eins auswischen, ja“ (B8, Abs. 50) oder „Na ja, es gibt nun mal Querulanten, nicht, wenn man das so sagen kann“ (B14, Abs. 71) zeigen dieses exemplarisch. Als Beispiele für Reibereien werden u.a. Diebstähle – „Und als ich wie-
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derkam, war mein Sparschwein weg“ (B10, Abs. 63) –, aber auch Neckereien genannt: „Und, wenn ich im Rollstuhl sitze, und ja, ein Rollstuhl, das ist halt was, das hat nicht jeder. Dann kommt einer mit seinem Fuß und schlägt dagegen. Ich sage dann: ‚Du, das ist kein Spielzeug! ދUnd wenn der nicht aufhört, dann gibt es halt manchmal Krieg“ (B8, Abs. 50). In einem Fall wird jedoch auch das Verhalten von Mitarbeitern – im Kontext von Fremd- und Selbstbestimmung – als ursächlich für Meinungsverschiedenheiten angeführt: „Also, ich mag das nicht, wenn die [die Mitarbeiter] so über einen so ein bisschen bestimmen“ (B2, Abs. 65). In der Regel wird allerdings darauf hingewiesen, dass zwischenmenschliche Differenzen nicht ständig, sondern nur hin und wieder vorkommen. Zudem findet sich an einigen Stellen auch das Muster, das nach einem Hinweis auf gelegentliche Auseinandersetzungen die grundsätzliche Zufriedenheit mit der gemeinschaftlichen Lebenssituation betont wird: „Aber ich liebe meine Familie hier, ich bin gerne in der Familie, wo ich bin“ (B8, Abs. 55). 8.2 Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderungen 8.2 Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderungen Von dem grundlegenden Gedanken anthroposophischer Sozialtherapie, dem Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderungen ausgehend, haben sich in den vier ausgewählten Gemeinschaften zum Teil unterschiedliche Formen dieses Modells gemeinsamen Lebens entwickelt. So sind verschiedene Ausprägungen zu beobachten, die von der Wertung des Zusammenlebens als einem elementaren Merkmal der Lebensgemeinschaft bis hin zur annähernden Aufgabe dieses Ansatzes reichen. Insgesamt kann jedoch für alle Lebensgemeinschaften gelten, was ich von einem Gespräch mit einem Geschäftsführer notierte: „Die Grundidee der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, das Zusammenleben von behinderten und nicht behinderten Menschen, habe noch nie vollständig umgesetzt werden können“ (FP 1, Abs. 55). Dieses bedeutet, dass überall auch oder überwiegend Mitarbeiter arbeiten, die nicht innerhalb der Gemeinschaft leben. Allerdings gibt es im wahrgenommenen Spektrum keine Lebensgemeinschaft, innerhalb welcher nicht auch Mitarbeiter wohnen. Vielfach wird in diesem Zusammenhang zwischen ‚internen ދund ‚externen ދMitarbeitern unterschieden. Die verschiedenen sich darstellenden Konstellationen werden im Folgenden aufgefächert.
8.2 Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderungen
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8.2.1 Status Quo „Also, ich würde nicht sagen: ‚Ich arbeite hierұ, sondern: ‚Ich lebe hierұ“ (B13aM, Abs. 55). Die sich in der diesem Abschnitt als Motto vorangestellten Aussage widerspiegelnde Haltung einer Mitarbeiterin zum Verhältnis von ‚Arbeit ދund ‚Lebenދ trifft man so oder in ähnlicher Form grundsätzlich in jeder der vier Lebensgemeinschaften. Allerdings hat diese, mit einem Zusammenleben jenseits der Kategorien ‚Dienstverpflichtung ދund ‚Schichtzeiten ދverknüpfte Einstellung einen unterschiedlichen Verbreitungsgrad und variiert somit teilweise zwischen den einzelnen Organisationen. Auch ist erkennbar, dass das Zusammenleben in unterschiedlich verdichteten Kontexten stattfindet. Insbesondere entlang dieser beiden Gesichtspunkte habe ich den jeweils wahrgenommenen Status Quo des Zusammenlebens von Menschen mit und ohne Behinderungen kategorisiert und mit den Bezeichnungen das ‚Familienprinzipދ, das ‚Hofprinzip ދund das ‚Prinzip Teilzeitgemeinschaft ދversehen. Zu beachten ist, dass es sich dabei lediglich um eine Beschreibung des jeweils grundlegenden Musters des Zusammenlebens handelt. Abgesehen von einer Ausnahme werden somit immer auch weitere, dieser Typisierung nicht ohne weiteres zuzuordnende Wohn- und Lebensformen – so z. B. begleitete Arrangements im Rahmen einer ambulant betreuten (Einzel-) Unterstützung – angeboten (siehe auch Kapitel 6). Das Familienprinzip Das sich hinsichtlich seiner grundsätzlichen Ausprägung in zwei der Gemeinschaften zeigende Familienprinzip geht von einem Zusammenleben behinderter und nichtbehinderter Menschen in einzelnen Hausgemeinschaften aus. Bezüglich des gemeinschaftlichen Lebens in Gruppen wird explizit auf den Familienbegriff Bezug genommen: „… ja Gruppe ist da zu neutral, das ist schon so was Ähnliches wie eine Familie, auch wenn alle erwachsen sind. Aber man lebt eben nicht in einer wahllos zusammengewürfelten Gruppe, sondern man lebt in einer festen sozialen Struktur, wo jeder jeden kennt und jeder jeden einschätzt und sich auch jeder auf jeden bezieht“ (B1M, Abs. 19). Insbesondere der Begriff ‚Großfamilieދ findet in diesem Kontext immer wieder Verwendung. In einem Fall gibt es drei, im anderen zwölf dieser familienorientierten Hausgemeinschaften. Dabei leben in der Regel etwa bis zu zehn zu betreuende Menschen in einem Haus. Hinzu kommen zumeist die hausverantwortlichen Mitarbeiter, möglicherweise mit Familie, sowie gegebenenfalls weitere mitarbeitende Personen, Auszubildende,
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Zivildienstleistende und Praktikanten, so dass eine Hausgemeinschaft im Durchschnitt aus ca. 15 Mitgliedern besteht. Zu den Essenszeiten, insbesondere mittags, kommen in vielen Fällen jedoch weitere Personen, beispielsweise außerhalb der Gemeinschaft wohnende (behinderte) Mitarbeiter aus den Werkstätten hinzu. Allerdings sind während der Mahlzeiten aufgrund arbeitsfreier Zeiten oder anderer Verpflichtungen auch nicht immer alle Mitarbeiter des Hauses anwesend. Die Situation, dass alle in einem Haus arbeitenden Mitarbeiter auch dort leben, kommt indes eher selten vor. So werden vielfach auch Arbeitskräfte hinzugezogen, die an anderen Orten innerhalb oder außerhalb der Lebensgemeinschaft wohnen. Je nach spezifischer Konstellation kann die Anzahl dieser Mitarbeiter die der mitlebenden sogar übersteigen: „… und dadurch, dass eben die Wohnungen begrenzt sind und sehr viel jetzt mit betreuten Menschen belegt ist, wohnen eben die meisten Helfer gar nicht mehr im Haus, sondern kommen immer von irgendwo her“ (B7M, Abs. 29). Aber: Von Ausnahmen abgesehen sind mindestens die verantwortlichen Mitarbeiter in der Hausgemeinschaft auch wohnlich verortet: „Alle Häuser bzw. Familien seien – abgesehen von den Haushalts- und Pflegehilfen – mit internen Mitarbeitern besetzt“ (FP 4, Abs. 180). Dabei gibt es hinsichtlich der Hausverantwortung verschiedene Konstellationen – aus dem Spektrum seien herausgegriffen
das innerhalb der Hausgemeinschaft lebende junge Paar mit ihrer kleinen Tochter, das sich die Hausverantwortung teilt (B3M); die Frau, deren pensionierter Mann zwar mit ihr in der Lebensgemeinschaft wohnt, die aber die Hausverantwortung mit einem anderen Mitarbeiter teilt (FP 1, Abs. 31); das in einer Hausgemeinschaft zusammenlebende Ehepaar, wobei sein Schwerpunkt die Leitung einer Werkstatt darstellt und sie – zusammen mit anderen Mitarbeitern – vor allem für die Hausverantwortung zuständig ist, aber auch eine tragende Rolle in der Koordination und Verwaltung der Lebensgemeinschaft spielt (FP 4, Abs. 59; B7M); die Ehepartner, die zusammen für eine Hausgemeinschaft verantwortlich sind, dort auch leben, und deren erwachsene Kinder außerhalb der Gemeinschaft leben (B1M); der Mitarbeiter, der sich mit zwei anderen Kollegen die Hausverantwortung teilt, während der Woche tagsüber in einer der Werkstätten arbeitet und dessen mit ihm zusammen in der Gemeinschaft lebende Freundin einer Beschäftigung im Nachbarort nachgeht (B5M).
Wie auch deutlich wird, ist das Ausfüllen einer Hausverantwortung nicht immer die einzige Aufgabe innerhalb der Lebensgemeinschaft. Hinzu können Ämter in
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Verwaltung bzw. Steuerung (Gremienarbeit, Leitungsteam etc.) und Werkstätten kommen. Dass eine gleichzeitige Beschäftigung in Haus und Werkstatt vorkommen kann, ist allerdings nur in einer der beiden in diesem Zusammenhang relevanten Gemeinschaften der Fall. Fast immer verfügen zumindest die dauerhaft beschäftigten Mitarbeiter über eine eigene Wohnung, die sich innerhalb des Hauses befindet: „Ja, also, das ist ein getrennter Bereich, in dem ich wohne, und da wohne ich mit meiner Frau, wir machen das zusammen hier, also wir haben eine Familie hier“ (B1M, Abs. 10). Allerdings sind diese privaten Wohnbereiche in der Regel in die Hausgemeinschaft eingebettet und somit zumindest akustisch für die Mitglieder der Großfamilie zu erreichen: „Und da müssen dann halt die Betreuer auch da sein. Und das sind meistens die Hauseltern,67 Herr und Frau D. Die kann man jederzeit holen“ (B8, Abs. 82). Die behinderten Bewohner der Hausgemeinschaft leben üblicherweise in Einzel- oder Doppelzimmern, in einigen wenigen Fällen jedoch auch in eigenen Appartements, die einer Familie zugeordnet sind: „Und mit dem einen Mann, der mein Freund ist, kann ich heute noch Freund sagen, auch Lebenspartner, lebe ich zusammen und wir sind einer Großfamilie angeschlossen“ (B6, Abs. 15). Eine zentrale Großküche gibt es nirgendwo. Dem Familiengedanken folgend wird separat in den einzelnen Hausgemeinschaften gekocht, wobei diese Tätigkeit üblicherweise unter Beteiligung von betreuten Menschen von einer Mitarbeiterin der Hauswirtschaft durchgeführt wird: „Und dann ist die A. hier, die ist so für die Küche verantwortlich, hat hier das Kochen mit einer separaten kleinen Kochgruppe und die kocht dann für uns zehn, elf, zwölf Leute …“ (B1M, Abs. 16). Am Wochenende wird, da die Hauswirtschaftskräfte dann in der Regel nicht anwesend sind, von anderen Mitarbeitern gekocht. „Zudem werden während des Essens verschiedene Bewohner gefragt, ob sie beim Kochen helfen können“ (FP 2, Abs. 133). Für die internen, also die innerhalb der Gemeinschaft lebenden Mitarbeiter existieren generell keine festgelegten Arbeitszeiten: „Wir wecken und wir bringen die Leute ins Bett und dazwischen ist eigentlich auch immer quasi Arbeitslebenszeit“ (B5M, Abs. 41). Eine gesonderte Nachtwache oder Nachtbereitschaft gibt es üblicherweise nicht. Dafür sind ebenfalls die im Haus lebenden Mitarbeiter zuständig. Allerdings: Freie Tage oder Abende sind gewöhnlich fest vereinbart. Zwar gibt es hier unterschiedliche Modelle, so fallen diese in der einen Lebensgemeinschaft eher auf das Wochenende, während in der anderen Organisation die Mitarbeiter vor allem unter der Woche frei haben, aber im Schnitt 67
Von einigen Menschen mit Behinderung wird statt ‚Hausverantwortliche ދpartiell noch der in einigen Lebensgemeinschaften früher verwendete Begriff ‚Hauseltern ދverwendet.
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kann von etwa eineinhalb arbeitsfreien Tagen pro Woche ausgegangen werden. Zusätzliche arbeitsfreie Zeiten bzw. Zeiten des Rückzugs werden üblicherweise gegenseitig abgesprochen, so dass nicht immer eine fortwährende Präsenz jedes einzelnen Mitarbeiters notwendig ist. Anders verhält es sich dagegen hinsichtlich der Personen, die nicht innerhalb der Gemeinschaft leben, wie aus Notizen zu einem Gespräch mit einer Mitarbeiterin deutlich wird: „Die sogenannten externen Mitarbeiter haben geregelte Arbeitszeiten. Neben den Hauswirtschaftskräften und Pflegehilfen fallen darunter auch einige Werkmeister.68 Für die Zivis gelten aufgrund von äußeren Vorgaben ebenso andere als die internen Regelungen“ (FP 4, Abs. 180). In einer der beiden Lebensgemeinschaften wurde vor einiger Zeit der Versuch gestartet, anstelle einer Großfamilie kleinere gemeinschaftsorientierte Wohneinheiten mit maximal sechs betreuten Menschen zu schaffen. Dieses System, so erfahre ich im Gespräch mit einer Mitarbeiterin, habe sich aber nicht bewährt, so dass wieder eine Großfamilie eingerichtet worden sei. Insbesondere die sozialtherapeutische Wirksamkeit sei in der großen Form mehr gegeben. In kleineren Familien stünden einzelne Personen mit auffälligen Verhaltensweisen eher im Vordergrund. Diese könnten in Großfamilien dagegen nicht so viel Raum einnehmen, da sich hier die betreuten Menschen gegenseitig eher Grenzen setzten (FP 4, Abs. 63). Die in leitender Funktion stehenden Gründerfiguren wohnen in beiden Lebensgemeinschaften nach einer langen Zeit des Zusammenlebens mittlerweile nicht mehr in einer Familie mit betreuten Menschen. Der Schritt, in eine eigene Wohnung innerhalb der Gemeinschaft zu ziehen, wird dabei jeweils mit der Fülle an Leitungsaufgaben begründet, die eine zusätzliche Hausverantwortung nicht mehr zuließen (FP 1, Abs. 32; FP 4, Abs. 54). Das Hofprinzip Die mit dem Begriff ‚Hofprinzip ދversehene Art des Zusammenlebens findet sich – dieses liegt nahe – in der als Höfeverbund gebildeten Lebensgemeinschaft. Im Kern sind hier mehrere landwirtschaftliche Gehöfte aus einer Region zu einer Gemeinschaft zusammengeschlossen. Das Hofprinzip zeichnet sich in Abgrenzung zum Familienprinzip insbesondere dadurch aus, dass hier das Zusammenleben nicht in einzelnen Hausgemeinschaften stattfindet: „Es gibt keine einzelnen Häuser, in denen nach familienähnlichen Strukturen zusammengelebt wird“ (FP 1, Abs. 39). Bezugspunkt ist somit jeweils der gesamte Hof, ohne dass eine 68
Als Werkmeister werden hier die Leiter eines Arbeitsbereiches der Werkstätten bezeichnet.
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Untergliederung in Subgemeinschaften erfolgt: „In den einzelnen Gebäuden gibt es keine Hausgemeinschaften, das Gemeinschaftsleben findet anscheinend im Gemeinschaftsraum bzw. dem Veranstaltungsraum und dem Essraum statt“ (FP 1, Abs. 14). Auf den Höfen gibt es jeweils mehrere Häuser, in denen betreute Menschen sowie Mitarbeiter leben. In der Regel wohnen die betreuten Menschen in Einzel-, zum Teil aber auch in Doppelzimmern. Mindestens für die längerfristig beschäftigten Mitarbeiter stehen üblicherweise eigene Wohnungen zur Verfügung. Teilweise sind Mitarbeiter und behinderte Menschen in den gleichen, teilweise in verschiedenen Gebäuden einquartiert. Auch wenn die Mitarbeiter eigene Appartements bzw. Wohnungen in separaten Bereichen haben, so sind diese im Allgemeinen für die betreuten Menschen gut zugänglich: „Ja gut, da kommt jeder hin, der was möchte (lacht)“ (B 15M, Abs. 14). Bis zu 30 Personen – die überwiegende Mehrzahl davon betreute Menschen – arbeiten und leben jeweils auf einem Hof. Zumindest werktags halten sich jedoch regelmäßig mehr Personen innerhalb der jeweiligen Gemeinschaft auf, da weitere, extern wohnende Mitarbeiter dort ihre Arbeitsstelle haben: „Wir haben mitlebende Mitarbeiter und welche, die halt nur von außerhalb kommen“ (B15M, Abs. 24). Fast alle Mitarbeiter, die – sei es übergreifend oder für einen bestimmten Arbeitsbereich – besondere Verantwortung tragen, leben allerdings innerhalb des Höfeverbundes. Dennoch: „Also von den Mitarbeitern lebt vielleicht ein Drittel mit und zwei Drittel kommen von außen“ (B13aM, Abs. 47). Abgesehen von freien Tagen sind feste Arbeitszeiten zumindest für die internen Mitarbeiter nicht vereinbart: „Ja, aber die von außerhalb, die kommen zu einer bestimmten Uhrzeit und die gehen auch zu einer bestimmten Uhrzeit, aber wir, die hier leben, wir müssen halt da sein“ (B15M, Abs. 22). Ein freies Wochenende, alle 14 Tage ausgenommen, richtet sich die Arbeitszeit somit nach dem auf den Höfen gepflegten Tagesablauf bzw. bestehenden Notwendigkeiten oder ist abhängig von individuellen Absprachen. Für die Nachtbereitschaft stehen keine gesonderten Mitarbeiterkapazitäten zur Verfügung. Diese ist integrale Aufgabe der auf den Höfen lebenden (hausverantwortlichen) Mitarbeiter: „Und das, was eben so abends läuft oder nachts läuft, das bezeichnen wir jetzt nicht als Nachtdienst oder -bereitschaft, sondern wir sind eben einfach da und wenn was los ist, dann ist man da“ (B13aM, Abs. 45). Dem Verzicht auf festgelegte Arbeitsstunden liegt eine Sichtweise zugrunde, die die Gemeinschaft in erster Linie als Lebensmittelpunkt und somit nicht allein als Arbeitsort betrachtet: „Ich lebe hier einfach mittendrin. Also, ich bin hier genauso zu Hause wie die zu Betreuenden hier zu Hause sind. Wir haben unsere Aufgaben. Im Grunde genommen bewirtschaften wir gemeinsam einen Hof mit sehr, sehr vielen Menschen“ (B13aM, Abs. 43). Somit wird eine Orientierung an Schichtmodellen als Exis-
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tenz bedrohend für die gesamte Konzeption der Gemeinschaft angesehen: „Wenn man diese Form, wie wir sie jetzt haben, nicht hätte, dann wäre man wieder beim Acht-Stunden-Tag mit Schichtdienst, Nachtschicht und allem drum und dran. Und das, das würde das alles kaputt machen“ (B13bM, Abs. 77). Hinsichtlich der internen Mitarbeiter gibt es diverse Wohn- und Arbeitskonstellationen wie z. B.
den Geschäftsführer und Mitbegründer der Hofgemeinschaft, welcher – in einem eigenen Appartement – in einem Haus lebt, in dem auch Menschen mit Behinderungen wohnen (FP 1, Abs. 9); die Auszubildende zur Hauswirtschafterin, die in einem kleinen Häuschen mit anderen Mitarbeitern in ähnlichem Alter und vergleichbarer Lebenssituation (Praktikanten, Mitarbeiterinnen im Freiwilligen Sozialen Jahr) zusammenlebt (FP 1, Abs. 38); die Landwirtin, die als leitende Mitarbeiterin – ausgestattet mit einem eigenen Bereich – in einem Haus mit betreuten Menschen wohnt (B13aM, Abs. 14); die leitende Mitarbeiterin und Mitbegründerin eines Hofes, die mit ihren Kindern in eigener Wohnung auf dem Gelände der Gemeinschaft lebt (B13bM, Abs. 15); die Familie mit drei kleinen Kindern. Sie, die Tochter eines Mitbegründers, wächst derzeit in Leitungsaufgaben hinein, ihr Ehemann kümmert sich vor allem um den Vertrieb der hofeigenen Produkte. Sie wohnen in einer Wohnung oberhalb des Essraumes der Gemeinschaft (FP 1, Abs. 46).
Dass die auf den Höfen lebenden Mitarbeiter ausschließlich direkte Unterstützungsleistungen für behinderte Menschen erbringen, ist eher nicht die Regel. So sind mit einer Arbeit auf dem Hof eigentlich immer auch weitere Aufgaben, sei es im Bereich Hauswirtschaft, der Verwaltung und insbesondere der Landwirtschaft verbunden. Auch vor dem Hintergrund, dass sich der Höfeverbund zuallererst als Arbeitsgemeinschaft betrachtet, haben die meisten Mitarbeiter neben der sozialtherapeutischen Qualifikation auch einen anderen, handwerklichen oder landwirtschaftlichen, Beruf erlernt (FP 1, Abs. 82). Dem Hofprinzip gemäß werden die Mahlzeiten von allen Mitgliedern der Hofgemeinschaft zusammen eingenommen. Dafür steht ein Essraum zur Verfügung. Die Zubereitung erfolgt gewöhnlicherweise durch eine von Hauswirtschaftskräften angeleitete Gruppe – betreute Menschen sind hier wesentlich beteiligt – jeweils für den gesamten Hof in einer großen, gastronomischen Standards entsprechenden Küche (FP 1, Abs. 39). Auch die mitlebenden Mitarbeiter haben in den meisten Fällen keine eigene Küche in ihren Wohnungen oder
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Wohnbereichen, so dass sich aufgrund dessen auch in arbeitsfreien Zeiten ein Bezug zur Gemeinschaft ergeben kann, wie ich nach einem Gespräch mit einer Mitarbeiterin notierte: „Die fünf Mitarbeiter leben in separaten Wohnungen auf dem Gelände, die aber in der Regel ohne Küche sind, so dass – zumindest zur Essenszubereitung – ein Anschluss an die Gemeinschaft in vielen Fällen auch an den freien Tagen erfolgt“ (FP 1, Abs. 39). Das Prinzip Teilzeitgemeinschaft Das Prinzip der Teilzeitgemeinschaft bezieht sich auf eine der vier Lebensgemeinschaften, die sich zwar als eine solche versteht, in welcher das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderungen allerdings keine zentrale Rolle mehr einnimmt. Dabei gibt es eine Abwendung vom Familienprinzip, das im Rahmen der Gründung angedacht und zum Teil auch realisiert wurde: „Also, es wurde hier früher mal anders gelebt, da war ich noch nicht da, das kenne ich natürlich auch nur aus dem Erzählen von Kollegen, dass hier eben ursprünglich mal auch dieses Hauselternprinzip war, was ja eher, so wie ich das verstehe, auch eher, ja, auf Kinder zugeschnitten ist. Weil erwachsene Menschen brauchen in dem Sinne nicht mehr so Hauseltern, die eben diese Elternfunktion übernehmen, sondern es geht ja dann eher um ein Begleiten“ (B11M, Abs. 23). Mittlerweile ist es in allen fünf Wohnhäusern – pro Haus leben etwa sechs bis acht betreute Menschen – über Tag und Nacht ein Schichtprinzip installiert: „Es fängt an zwischen sechs und halb sieben und geht dann bis neun oder zehn. Das ist die Frühschicht. Bei einzelnen Häusern gibt es auch eine Mittelschicht … Und ansonsten die Spätschicht, die fängt eben um halb vier an und geht dann so bis 21:30 Uhr. Und dann haben wir eine Nachtbereitschaft, das ist jemand, der hier auch schlafen kann und einfach im Haus ist, für den Fall, dass irgendetwas sein sollte“ (B11M, Abs. 29). Folglich sind feste Arbeitszeiten vereinbart: „Also, eine volle Stelle sind 40 Stunden und ich als Hausverantwortlicher habe dann zehn Stunden für die Aufgaben, die ich als Hausverantwortlicher habe und bin 30 Stunden in der Betreuung“ (B9M, Abs. 31). Nur noch in Einzelfällen haben Mitarbeiter ihren Lebensmittelpunkt innerhalb der Gemeinschaft: „Das sind mittlerweile relativ wenig Leute, die hier wohnen“ (B11M, Abs. 25). Allerdings ist es durchaus gängig, dass Zivildienstleistende und Praktikanten ein Zimmer innerhalb der Lebensgemeinschaft bewohnen (ebd.). Die geregelten Dienstzeiten gelten allerdings auch für die internen Mitarbeiter, so dass auch diese nur zu den vereinbarten Stunden anwesend sein müssen. Habe es zu früheren Zeiten teilweise eine Kluft zwischen innerhalb und außerhalb lebenden Kollegen gegeben, so sei diese – gemäß einer Protokoll-
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notiz von einem Gespräch mit einer Mitarbeiterin – mittlerweile überwunden: „Die internen und externen Mitarbeiter seien nun gleichgestellt“ (FP 3, Abs. 12). Wird innerhalb der Gemeinschaft gelebt, dann befindet sich der private Wohnbereich – von Ausnahmen abgesehen – nicht im selben Haus, in dem auch die Arbeitsstelle ist, sondern an einem separaten Ort: „Also ursprünglich, wie in Camphill-Einrichtungen, war es ja so, dass man sozusagen wirklich zusammen in einer Großfamilie gewohnt hat. Das ist bei uns hier nicht so ganz so, sondern da hat doch jeder Mitarbeiter seine abgetrennte Wohnung, wo er eben die Haustüre dann auch zumachen kann und sagen kann: ‚Ich bin jetzt privat( “ދB11M, Abs. 21). Den betreuten Menschen stehen in den meisten Fällen Einzelzimmer zur Verfügung. Aufgrund des Schichtprinzips, so fiel mir auf, „(ist) der Kontakt mit Mitarbeitern von vielen Wechseln geprägt“ (FP 3, Abs. 86). Insbesondere im Vergleich zu den anderen Lebensgemeinschaften wurde dieses deutlich. So wird zwar auch hier gemeinsam in den einzelnen Häusern gegessen. Je nach Tageszeit bzw. Schicht nehmen daran jedoch möglicherweise unterschiedliche Mitarbeiter teil. Die Lebensgemeinschaften, welche zumindest hinsichtlich der internen Mitarbeiter keine Stundenkontingente vereinbart haben, weisen hier naturgemäß eine größere personelle Konstanz auf. Mittags sind die vor allem für Betreuungsaufgaben innerhalb der Häuser zuständigen Mitarbeiter in der Regel nicht anwesend. Hier sind dann die Kollegen der internen Werkstätten präsent. Auch die betreuten Menschen, die innerhalb der Lebensgemeinschaft arbeiten, essen nicht unbedingt in ‚ihrem ދHaus, sondern sind zum Teil anderen Häusern zugeteilt, so dass der in anderen Gemeinschaften offensichtliche Bezug zu einer festen Gruppe zumindest partiell aufgebrochen wird.69 Die Zubereitung des Essens erfolgt jeweils pro Gruppe, für das Mittagessen steht dafür je eine Köchin zur Verfügung (FP 3, Abs. 20). Zwar sind die Bereiche Arbeit und Wohnen weitgehend getrennt, doch werden von Mitarbeitern in vielen Fällen über die direkten Unterstützungsaufgaben sowie eventuellen Leitungsfunktionen hinaus weitere Aufgaben, beispielsweise hinsichtlich der Gestaltung des kulturellen oder sozialen Lebens, wahrgenommen. Die Gründe, warum das Familienprinzip aufgegeben wurde, stellen sich vielschichtig dar. Im Wesentlichen wird diese Umorientierung allerdings mit dem intensiven, zum Teil auch mit herausfordernden Verhaltensweisen einhergehendem Hilfebedarf der in dieser Gemeinschaft lebenden Menschen mit Behinderung erklärt. Mitarbeiter kamen an ihre Grenzen, Erkrankungen waren die Folge: „Das wurde eben längere Zeit gelebt und man hat dann irgendwann 69
Daneben gibt es – mit zunehmender Tendenz – Personen, die außerhalb der Lebensgemeinschaft in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) arbeiten.
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eben auch festgestellt, es sind sehr viele Mitarbeiter auch krank geworden, es gab auch noch kein Schichtsystem, keine Dienstpläne, man war halt immer da und hat gemeinsam gelebt“ (B11M, Abs. 23). Die Idee des Zusammenlebens von Menschen mit und ohne Behinderungen in sozialtherapeutischen Kontexten sei ursprünglich von der Idee geprägt gewesen, dass sich gegenseitig ergänzt werden könne und es auch den behinderten Menschen möglich ist, einen großen Teil zur Gestaltung der Gemeinschaft beizutragen: „Und wir kriegen immer mehr Menschen, die das nicht schaffen, die da nicht die Möglichkeiten haben, was einzubringen und wirklich betreut werden müssen“ (B9M, Abs. 37). Somit passe dieses Modell dort nicht mehr (siehe dazu auch Kapitel 8.2.3). 8.2.2 Exkurs: Benennungen Vor dem Hintergrund des Selbstverständnisses als Lebensgemeinschaft und einem damit implizierten Anspruch einer gewissen Art von Kollektiv ist die Frage wesentlich, ob unterschiedliche Bezeichnungen für Menschen mit Behinderungen sowie Mitarbeiter Verwendung finden. Dieser Erkundung liegt insbesondere die Annahme zugrunde, dass bestimmte Benennungen Botschaften zu Status und Rolle transportieren und somit eine Gruppenzugehörigkeit definieren können und somit unterstreichen, dass Unterschiede zwischen Personen bestehen. Es zeigt sich, dass eine sprachliche Differenzierung zwischen ‚Mitarbeiternދ und ‚Betreuern ދsowie ‚Bewohnern ދoder ‚Betreuten ދbzw. ‚betreuten – zum Teil auch ‚behinderten – Menschen ދüblich ist. Je nach Lebensgemeinschaft werden bestimmte Termini bevorzugt verwendet. In einigen Fällen werden differenzierende Bezeichnungen jedoch auch vermieden – beispielsweise im Arbeitsbereich: „Der Schreiner spricht nicht von ‚betreuten Mitarbeiternދ, sondern von ‚Kollegen( “ދFP 3, Abs. 44). Von dem aus dem anthroposophischen Kontext stammenden Terminus ‚Seelenpflege-bedürftige Menschen ދwird – zumindest in Interaktionen mit mir bzw. innerhalb meines Wahrnehmungsradius – allerdings kaum Gebrauch gemacht.70 Die Tatsache, trotz der Idee von Gemeinschaft sprachliche Unterscheidungen zwischen verschiedenen Personengruppen vorzunehmen, wird von Mitarbeitern allerdings nicht selten als problematisch wahrgenommen, in Ermangelung einer angemessenen Alternative aber fortgeführt. In einer Lebensgemeinschaft wird somit beispielsweise auf langjährige Diskussionen zum Thema hingewie70
Hier ist nur der Fall gemeint, wenn über die jeweiligen Personengruppen gesprochen wird. In der direkten Kommunikation untereinander sprechen sich die Gemeinschaftsmitglieder innerhalb aller vier Organisationen mit dem Vornamen an.
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sen, wie ich aus einem Gespräch mit einer leitenden Mitarbeiterin erfahre: Menschen mit Behinderung als ‚Bewohner ދzu bezeichnen sei ein „Drahtseilakt“, da ja eigentlich alle dort lebenden Menschen – auch die Mitarbeiter – Bewohner seien und eine Gemeinschaft bildeten. Indes: Die behinderten Menschen selbst hätten sich in einer Befragung für diese Benennung entschieden. Dennoch handele es sich hierbei um ein „heißes Thema“ (FP 2, Abs. 28). 8.2.3 Bedingungen für ein gelingendes Zusammenleben „Also, der Hilfebedarf ist sehr unterschiedlich, aber regelt sich aber im Grunde genommen ein bisschen von alleine, weil hier etwas schwächere Menschen sind und etwas stärkere Menschen und das gleicht sich etwas aus“ (B13aM, Abs. 21). Die Bedingungen, welche ein gelingendes Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderungen in sozialtherapeutischen Gemeinschaften ermöglichen, sind sicherlich multifaktoriell. Während der Feldphasen gab es indes immer wieder Hinweise auf eine Einflussgröße, der in diesem Kontext eine essentielle Bedeutung zugesprochen wird: die Zusammensetzung der Hof- oder Hausgemeinschaften hinsichtlich Art und Intensität des Hilfebedarfs der behinderten Menschen. Soll ein gemeinschaftliches Leben Erfolg haben, d. h. für alle Beteiligten gut lebbar sein, ist dieses allem Anschein nach nur realisierbar, wenn eine Gemeinschaft behinderte Menschen in verschiedenen Lebenslagen und mit einer gewissen Bandbreite unterschiedlicher Hilfebedarfe umfasst: „Also: Jung bis alt und schwerer und weniger schwer behindert, nicht wahr. Also, wenn man dann eben aus Rationalisierungsgründen dann die eine oder andere Gruppe sehr stark zusammenfasst, dann werden diese Gruppen eben einseitig und auch anstrengend“ (B7M, Abs. 23). In allen Lebensgemeinschaften, in denen das Zusammenleben von Mitarbeitern und behinderten Menschen die Basis der Arbeit darstellt, ist die Relevanz gemischter Gruppen ein Thema. Dabei wird vor allem der ausgleichende und stützende Effekt betont, der sich durch das Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Bedarfen ergebe:
„Also, ich bin sehr überrascht, wie wenig Hilfe im Prinzip eigentlich letztendlich notwendig ist, wenn es hart auf hart kommt, weil sich die Gruppe einfach untereinander sehr stützen kann“ (B3M, Abs. 16). „Und das Grundlegende ist eben die Mischung: dadurch, dass sozusagen Verschiedenheiten da sind, diese sich gegenseitig ergänzen können. Und das ist im Alltag tatsächlich so, das lebt sich auch so. D. h.: Leute, die hier
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wirklich ganz viel Hilfebedarf haben, die fühlen sich trotzdem irgendwie aufgehoben in einer Gruppe“ (B1M, Abs. 19). Im Falle des Fehlens einer adäquat gemischten Gruppe sei, so eine weitere Aussage, die „Selbstkorrektur und Selbsthilfe“ (B7M, Abs. 23) der behinderten Mitglieder nicht mehr vorhanden, die sich ansonsten in diesem Zusammenhang ergebe. Als Beispiele für Konstellationen, in denen aufgrund einer mangelnden Balance im sozialen Gefüge Schwierigkeiten im Zusammenleben entstehen können, werden u. a. eine Konzentration von schwerstbehinderten Menschen („… dann artet das Gruppenleben eigentlich nur noch in Pflege aus“), von Personen mit auffälligen Verhaltensweisen („… dann muss man die nur noch bändigen“) oder auch von eher ruhigen Individuen („… dann bin ich ständig der Animateur“) genannt (B7M, Abs. 23). Vor dem Hintergrund von Erfahrungen aus einer Demenzabteilung eines Pflegeheims, in welcher die Gruppen bezüglich der Defizite der Bewohner zusammengesetzt seien, wird von einem Mitarbeiter die Wirkung dieser von ihm als einseitig wahrgenommenen Zusammensetzung betont. So hätte diese Lebenssituation eben keine ausgleichende, sondern – ganz im Gegenteil – eine Defizit verstärkende Komponente gehabt. Dieses sei auch nicht ohne Einfluss auf die dortige Definition von Arbeit geblieben: „Da ist Arbeit eben nicht, was abgeht mit dem Menschen, sondern Arbeit ist eben Betten überziehen, Leute anziehen, und zwar in soundsoviel Minuten oder Sekunden. Da ist nicht der Mensch, sondern die Tätigkeit ist die Arbeit“ (B1M, Abs. 19). Herausfordernd hinsichtlich der Vermeidung von als einseitig erlebten Zusammensetzungen von Gruppen und Gemeinschaften und somit als Gefahr für das Prinzip des Zusammenlebens wird teilweise der zunehmende Auszug von Menschen mit geringerem Unterstützungsbedarf in offenere Wohnformen angesehen: „Die ganz Selbständigen, die sind inzwischen zum größten Teil aus den Familien draußen, oder weitestgehend“ (B7M, Abs. 29).71 Zudem wird wahrgenommen, dass immer mehr behinderte Menschen mit intensivem Hilfebedarf, oft auch gepaart mit einer psychischen Krankheit, Aufnahme in eine der Lebensgemeinschaften ersuchen: „Und das ist eine Frage: ‚Wie geht das eigentlich weiter, wie kann man trotzdem noch zusammenleben, dadurch, dass sich die Behinderungen doch etwas verändert haben?( “ދB13aM, Abs. 66). Seien freie Plätze zu 71
Im Rahmen des sogenannten Paradigmenwechsels in der Behindertenhilfe, mit dem sich u .a. die Forderung nach einer Stärkung ambulanter, offener Wohnformen verbindet, werden – insbesondere auch forciert durch die jeweiligen Sozialleistungsträger – große Anstrengungen unternommen, mehr Menschen mit Behinderung die Möglichkeit zu eröffnen, Angebote wie beispielsweise das ambulant betreute Wohnen in Anspruch zu nehmen (vgl. z. B. Forschungsgruppe IH-NRW 2008).
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besetzen, stehe daher zum Teil ein intensiver Auswahlprozess an, bis in die Gemeinschaft passende Personen gefunden würden: „Ja, wir haben wirklich viele Leute zu Besuch gehabt und auch viele Neuaufnahmen und wo wir dann auch sagen mussten: ‚Das geht nicht, das geht mit diesen Menschen hier nichtދ. Das hätte den Rahmen gesprengt“ (B13bM, 69). Über die adäquate Komposition hinaus wird partiell auch die Größe der Gemeinschaft oder Gruppe als bedeutender Einflussfaktor für ein gelingendes Zusammenleben benannt: „Mit wie vielen kann man zusammenleben auf einem Platz, um sie noch alle so im Bewusstsein zu haben?“ (B13bM, Abs. 67). Wie bereits dargestellt, hat eine der beteiligten Lebensgemeinschaften – insbesondere begründet mit der dort vorhandenen Vielzahl an behinderten Menschen mit hohen Unterstützungsbedarfen – sich weitgehend vom Grundsatz des Zusammenlebens von Mitarbeitern und betreuten Menschen verabschiedet: „Okay, früher in Camphill, die zu betreuenden Menschen, die waren wesentlich fitter, konnten wirklich einen großen Teil auch beitragen und unsere Bewohner sind doch sehr auf Hilfe und Unterstützung eben angewiesen, so dass man als Mitarbeiter auch aufpassen muss, dass man nicht in zu große Einseitigkeit hineinkommt und zu viele Kräfte einfach immer nur ‚gibt, gibt, gibtދ, sondern, dass es eben auch Raum braucht, um für sich zu tanken und vielleicht eben auch mal für sich sein zu können“ (B11M, Abs. 23). 8.2.4 Positive Erfahrungen des Zusammenlebens „Das ist doch eine schöne Art und Weise zusammenzuleben“ (B13aM, Abs. 76) Welche positiven Erfahrungen verbinden innerhalb von Lebensgemeinschaften wohnende Personen mit dem Zusammenleben von Mitarbeitern und behinderten Menschen? Was bietet ihnen diese Form von Gemeinschaft? Derartige Fragen konnten in erster Linie in den Interviews expliziert werden. Dabei lassen sich im Wesentlichen drei thematische Einheiten unterscheiden, die ich – Interdependenzen eingeschlossen – als ‚familiäre Geborgenheitދ, ‚gegenseitige Impulse ދund ‚Begegnung auf Augenhöhe ދbezeichnet habe: Familiäre Geborgenheit In vielen Fällen wird das gemeinschaftliche Leben vor allem mit familiären Aspekten konnotiert. Insbesondere werden damit Gefühle von Aufgehobensein und Wertschätzung verbunden. Dieses zeigt sich auf Seiten der Mitarbeiter: „Was ich
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als sehr gut empfinde, ist die Sache des Familienlebens, dass man den Bewohnern eigentlich ein stärkeres Gefühl von Geborgenheit z. B. vermitteln kann“ (B3M, Abs. 30) und wird auch von Menschen mit Behinderung geäußert: „Ja, ich glaube hier im (.) gibt es Zuwendungen von Mitmenschen, die jeder eigentlich braucht, ja“ (B6, Abs. 43). Das familiäre Moment wird beispielsweise auch sichtbar, wenn ein betreuter Mensch davon erzählt, wie er sich auf Bitten einer Mitarbeiterin hin um deren Kinder kümmert: „‚Wir wollen noch mal weg heute Abendދ. ‚Ja, ich guck ދmal bei denenދ. Doch, doch, also Familienanschluss, es ist alles da, doch, doch, muss man sagen“ (B14, Abs. 79). Der sich weitgehend unabhängig von Arbeitszeiten vollziehende gemeinsame Lebenskontext von behinderten und nichtbehinderten Menschen und die dadurch entstehende Gemeinschaft wirke sich – so wird von einem Mitarbeiter vermutet – auch auf die Manifestation von Behinderungen im Sinne eines Behindert-Werdens aus: „Da würde ich sagen, ich finde es ideal, ich finde es für Menschen mit Behinderung, würde ich jetzt behaupten, ich weiß es aber nicht, einfacher und schöner in so einem Zusammenhang zu leben als in einem Heim, wo man eben diesen Schichtwechsel hat, verschiedene Menschen und trotzdem ist man immer so ein bisschen für sich, man hat da kein familiäres Gefühl oder kein Gemeinschaftsgefühl und ist vielleicht auch schneller behindert, wird behindert, als jetzt hier“ (B5M, Abs. 47). Aus der Perspektive der betreuten Menschen wird – das ist sehr sichtbar – die sich aus dem Zusammenleben ergebende Nähe und Präsenz von Mitarbeitern geschätzt. Die erlebte Sicherheit, im Bedarfsfall schnell Unterstützung zu erhalten, steht dabei im Vordergrund: 72
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„Wir leben in Geborgenheit und wenn wir Fragen haben oder was brauchen oder Hilfe brauchen, kriegen wir das“ (B6, Abs. 15). „Wenn Notsituationen sind, kann das eine sehr große Hilfe sein. Es gibt schon Notsituationen, was nicht jeder Hans und Franz machen kann, das muss ich ganz ehrlich sagen“ (B16, Abs. 67). „Ja, wenn man mal Probleme hat, kann man gleich zu denen rübergehen, klopfen und dann kommen die auch … Das ist so das Schöne hier dran“ (B2, Abs. 75).
Die wahrgenommene Sicherheit, benötigte Unterstützung auch zu bekommen, ist natürlich nicht abhängig davon, ob Mitarbeiter und Menschen mit Behinderung zusammenleben. Allerdings sind diese (und weitere vergleichbare) Äußerungen allesamt im Kontext von Fragen eines diesbezüglichen Zusammenlebens entstanden, so dass angenommen werden kann, dass zumindest für die in diese Studie einbezogenen betreuten Menschen hier eine enge Verbindung besteht.
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8 Zusammenleben „Das ist wichtig, wenn man mal nicht klarkommt, dann ist man froh jemanden zu haben, den man ansprechen kann, wo man Hilfe braucht“ (B4, Abs. 69).
Gegenseitige Impulse Die Bezeichnung ‚gegenseitige Impulse ދhabe ich gewählt, um im Rahmen des Zusammenlebens auftretende reziproke Einflüsse der Gemeinschaftsmitglieder untereinander einzufassen. Im Zusammenhang mit als positiv empfundenen Aspekten des gemeinschaftlichen Lebens wird von Mitarbeitern zum einen Bezug auf die Möglichkeit, in intensiver Weise füreinander da zu sein und sich Unterstützung bieten zu können, genommen. Größtenteils seien hier allerdings die Mitarbeiter als Berater und Ideengeber gefragt, „weil sie [die betreuten Menschen] da merken, da kriege ich jetzt entweder eine gute Idee geliefert oder einen Ratschlag oder der sagt mir, wie ich das richtig machen kann oder der hilft mir irgendwie jedenfalls“ (B1M, Abs. 39). Zum anderen wird auf ein facettenreicheres Erfahrungsfeld hingewiesen, das durch das gemeinschaftliche Leben – für behinderte als auch für nichtbehinderte Individuen – zur Verfügung stehe: „Der erste Bereich ist natürlich der, dass jeder Mensch, ob behindert oder nicht behindert, einfach einen größeren Erlebnishorizont hat, als wenn man nur mit Seinesgleichen zusammen ist“ (B7M, Abs. 21). In einem weitaus stärkeren Maße werden zudem Lerneffekte hervorgehoben, die sich insbesondere für nichtbehinderte Personen aus dem Zusammenleben mit behinderten Menschen ergeben könnten. Einerseits wird dabei eher grundsätzlich auf aus dem Kontakt mit behinderten Menschen beruhende Wirkungen rekurriert. So wird etwa unterstrichen, dass man als Mitarbeiter feine Antennen entwickeln müsse, um Bedürfnissen betreuter Menschen, die nicht in der Lage seien, sich verbal auszudrücken, besser nachspüren zu können. Auch über die Arbeit mit behinderten Menschen hinaus habe dies Bedeutung (FP 3, Abs. 74). Diesbezügliche Erfahrungen werden mehrfach geschildert: „Also ich bin einfach sehr viel aufmerksamer geworden für die Menschen überhaupt. Ich sehe da deutlich mehr, ich nehme mehr wahr und mehr auf. Ich habe einen anderen Blickwinkel bekommen auf unsere Gesellschaft. Einmal durch den Umgang mit den behinderten Menschen, weil sie eben behindert sind, und einmal dadurch, dass wir in dieser Großfamilie zusammenleben und essen“ (B7M, Abs. 21). Zusätzlich wird von einer Mitarbeiterin betont, dass durch die intensive Form des Zusammenseins vielgestaltigere Zugänge zu den betreuten Menschen ermöglicht würden (FP 4, Abs. 207). Andererseits werden Lernimpulse wahrgenommen, die sich aufgrund besonderer Fähigkeiten behinderter Menschen ergeben: „Da gibt es bei behinderten
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Menschen durchaus, sozusagen so Plus-Bereiche, wo man als Nichtbehinderter durchaus hinterherhinken kann“ (B1M, Abs. 40). Dabei werden – wie das Spektrum der von Mitarbeitern getätigten Aussagen zeigt – die Fähigkeiten auch als Anregung zur persönlichen Weiterentwicklung verstanden:
„Wir haben hier eine ganz offensichtlich behinderte Frau bei uns in der Gruppe, die aber manchmal auch so voller Freude ist, dass ich gedacht habe: ‚Mit Freude bin ich ein bisschen behindertދ. Wenn ich diese andere Frau angucke, dann merke ich, da habe ich noch Hinderungen, die mich daran hindern, eben so viel Freude auszuströmen“ (B1M, Abs. 40). „Und, dass man einfach sehr viel von den zu betreuenden Menschen auch lernen kann. Also, dass die einfach so eine Offenheit haben. Und, dass es eben auch nie langweilig ist, weil sie einfach immer so Überraschungen bereit haben“ (B13aM, Abs. 55). „Ich kriege unglaublich viel zurück von den Menschen durch dieses Zusammenleben. Und ich kriege immer wieder Impulse für meine Selbsterziehung. Also, meine Macken werden widergespiegelt, immer wieder, und dann kann ich so gut an mir arbeiten, was ich sonst glaube ich nicht könnte, wenn ich diesen Schichtdienst hätte …“ (B5M, Abs. 47). „Gerade auch dieses Zwischenmenschliche, was in der Welt immer mehr verloren geht, dass man das von unseren Menschen also unglaublich gut lernen kann. Also auch diese Authentizität, mit der die leben, das ist es, glaube ich, vor allem“ (B9M, Abs. 73). „Es gibt betreute Menschen, die sind, und wenn es nur um das Gedächtnis geht, sind die mir also weit überhand, haben ein fantastisches Gedächtnis, haben ein enormes Kulturbedürfnis und -empfinden (B7M, Abs. 21).
Begegnung auf Augenhöhe Die Möglichkeit der Begegnung auf Augenhöhe stellt aus Mitarbeitersicht einen weiteren positiv zu bewertenden Ertrag des Zusammenlebens von Menschen mit und ohne Behinderungen dar. Im Kern geht es dabei um den Versuch, ein gemeinschaftliches Leben unterschiedlicher Individuen unter möglichst normalen Bedingungen zu realisieren, wobei die jeweiligen Behinderungen in den Hintergrund treten:
„Also man lebt, man geht auf Augenhöhe auf die Leute zu. Also irgendwo verschwindet auch relativ schnell diese Behinderung, man nimmt die als Menschen wahr und sieht gar nicht mehr, dass die irgendwie eine Spastik
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8 Zusammenleben haben oder schräg laufen. Das verschwindet plötzlich nach einiger Zeit und man hat einfach nur noch den Menschen vor sich und da lebt es schon, dieses Miteinander als Lebensgemeinschaft“ (B5M, Abs. 33). „Und hier für den Wohnbereich würde ich sagen, das ist das, was Zusammenarbeit ist, eigentlich im Grunde, dass wir versuchen, ganz normal miteinander umzugehen. Da gibt es eigentlich nicht Nichtbehinderte und Behinderte, bis dahin, dass ich sagen würde: ‚Es gibt vielleicht überhaupt keine Nichtbehinderten( “ދB1M, Abs. 40).
Sich aus den vorhandenen Hilfebedarfen sowie unterschiedlichen Rollen möglicherweise ergebende Asymmetrien im Verhältnis zwischen Mitarbeitern und betreuten Menschen sind somit – so die Idee – zu vernachlässigen: „Man ist einfach so zusammen, man versucht sich, das ist vielleicht das Meiste vom Zusammenleben, man versucht sich zu nehmen, wie man ist. Man sagt auch nicht: ‚Du bist behindert und jetzt musst du das oder mach’ erstmal dasދ, sondern man versucht sich zu nehmen, wie man ist. Die nehmen uns ja auch, wie wir sind“ (B1M, Abs. 40). In diesem Zusammenhang ist auch vom „Nachbarschaftsprinzip“ oder einer Beziehung wie zwischen „Bruder und Schwester“ die Rede, „wo es eben nicht heißt: ‚Ich helfe dir jetzt, weil ich das Geld kriege usw. ދund: ‚Jetzt helfe ich dir nicht, weil ich jetzt gerade frei habe“ (B3M, Abs. 30). An einem Beispiel wird deutlich, was unter einem in diesem Sinne aufgefassten Zusammenleben – jenseits von Arbeitszeit und Abgrenzung – verstanden werden kann: „Und andererseits wir haben neben unserer Wohnung direkt einen Menschen mit Down-Syndrom, der lebt zum Teil eigentlich bei uns in der Wohnung mit. Der klopft dann an und fragt mal: ‚Wie gehtދs? ދUnd wenn wir am freien Tag in unserer Wohnung sind, dann kommt der rein und isst mit uns und hilft uns beim Abspülen, so ganz selbstverständlich und das sind eigentlich so die schönen Momente im Zusammenleben“ (B5M, Abs. 35). Trotz des formulierten Ideals von gleichberechtigter Gemeinschaft ist den Mitarbeitern allerdings vielfach klar – so zeigen zumindest einige diesbezügliche Äußerungen –, dass sie im Vergleich zu den betreuten Menschen dennoch eine andere Rolle einnehmen und daher die wechselseitigen Beziehungen auch von Ungleichheit geprägt sein können: „Aber trotzdem ist immer noch die Stellung, die ich habe, da. Mir ist bewusst, ich bin Sozialtherapeut, ich gucke auf diese Menschen und da passiert es vielleicht schon auch, dass man ein bisschen zu weit in die Privatsphäre eindringt, was man in einer Lebensgemeinschaft so, in einer WG oder so, nicht machen würde“ (B5M, Abs. 33).
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8.2.5 Schwierigkeiten und Herausforderungen des Zusammenlebens „Wenn unsere betreuten Menschen hier irgendeinen Bedarf tatsächlich haben, dann ist man da, ohne Wenn und Aber, dann ist man da. Und das bedeutet auch, dass man hier ganz, ganz viel Zeit verbringen muss, da gehört ja auch immer die ganze Abend- und Nachtzeit dazu, also wo eigentlich keine Betreuungszeit ist, aber man ist als Mensch da. Von daher kann man sich räumlich-zeitlich nicht so gut lösen“ (B1M, Abs. 43). Schwierigkeiten und Herausforderungen, die sich aus dem Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderungen ergeben, besaßen innerhalb der Interviews – unspezifisch gefragt – in der Regel lediglich bei Mitarbeitern eine Relevanz. Die an den Beginn dieses Abschnitts gestellte Äußerung eines Hausverantwortlichen zeigt dabei exemplarisch, in welchem Bereich die Themen in erster Linie verortet waren, auf die in diesem Kontext eingegangen wurde: das Spannungsfeld zwischen Präsenz und Abgrenzung. Da diesbezügliche Fragen von mir in den Interviews allerdings auch ausdrücklich unter dem Blickwinkel von ‚Individuum und Gemeinschaft ދangesprochen wurden, findet eine Explikation dieses Gegenstands in dem entsprechenden Kapitel statt (siehe Kapitel 10.3). Neben diesem Themenfeld sind im Verlauf der vorangegangenen Abschnitte weitere Aspekte des Zusammenlebens dargelegt worden, die mit Schwierigkeiten und Herausforderungen verbunden sein können. So sind dieses insbesondere Größe und Zusammensetzung einzelner Gruppen bzw. der Gemeinschaft insgesamt sowie die auch in diesem Zusammenhang relevante Entwicklung, dass zunehmend Menschen mit intensiven und komplexen Unterstützungsbedarfen Aufnahme ersuchen. Auf einen weiteren, bisher noch nicht angesprochenen Aspekt, der das Zusammenleben eher in konstitutiver Weise berührt, soll aber an dieser Stelle eingegangen werden. So wird seitens einer leitenden Mitarbeiterin auf eine zum Teil schwierige „Bewerberlage“ (FP 2, Abs. 31) hingewiesen, wenn es darum gehe, neue Kollegen für ein Wohnen innerhalb der Gemeinschaft zu gewinnen. Nicht immer könnten daher (geeignete) Mitarbeiter für dieses Wohn- und Arbeitsmodell gefunden werden. Von dieser Erfahrung wird – in mehr oder weniger deutlicher Ausprägung – auch in den anderen Gemeinschaften berichtet. Damit sich heutzutage Mitarbeiter entschließen, in einer Gemeinschaft zu leben, bedürfe es – so weitere Aussagen in diesem Zusammenhang – anderer Voraussetzungen als zu früheren Zeiten, da die Ansprüche an ein Leben innerhalb einer Gemeinschaft, z. B. hinsichtlich Komfort und Rückzugsmöglichkeiten, gestiegen seien. Die meisten jüngeren Kollegen seien demnach eben nicht
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mehr mit einer kleinen Wohnung oder einem Zimmer in einem Gemeinschaftshaus zufrieden: „Andere, denke ich, also es ist jetzt sehr viel, wenn junge Leute jetzt kommen, also das ist ja schon so: ‚Ich brauche eine Wohnung, abgeschlossen und ich brauche meine Küche usw. ދAlso, das haben... also ich habe es nicht, ich brauche das auch nicht, aber wenn jemand das braucht, dann ist das natürlich auch richtig. Wir können das ja nur für uns sagen“ (B13aM, Abs. 78). In einem Gespräch mit einer Mitarbeiterin wird deutlich, dass vor dem Hintergrund von Anspruch und Wirklichkeit gemeinschaftlichen Lebens Schwierigkeiten bei der Anwerbung von internen Mitarbeitern auch schon zu Verwerfungen mit Angehörigen geführt haben: „Die Tatsache, dass Mitarbeiter vielfach nicht mehr in der Gemeinschaft wohnen wollen, habe auch schon zu Irritationen mit einer Mutter geführt, welche die Frage stellte: ‚Wollt ihr nun ein Lebensort sein oder nicht?( ދFP 2, Abs. 31). 8.2.6 Zusammenleben und anthroposophische Sozialtherapie „Also, es gibt eigentlich so gut wie keinen Verantwortlichen, der da noch mit im Haus lebt. Funktioniert auch, funktioniert auch gut. Ist halt einfach eine andere Lebensqualität“ (B3M, Abs. 38). Inwiefern aus Sicht der Mitarbeiter anthroposophische Sozialtherapie und das Prinzip des Zusammenlebens von Menschen mit und ohne Behinderungen miteinander verknüpft sind bzw. hier ein Bedingungszusammenhang besteht, war vor allem in den Interviews ein Thema. Das diesem Abschnitt vorangestellte Zitat, in dem von Erfahrungen aus einem anderen sozialtherapeutischen Kontext berichtet wird, steht im Großen und Ganzen exemplarisch für die Einschätzung einer Mehrzahl der Mitarbeiter – zumindest aus den Lebensgemeinschaften, in denen ein gemeinschaftliches Leben von behinderten und nichtbehinderten Menschen grundlegend ist: Anthroposophische Sozialtherapie wäre zwar auch ohne ein Zusammenleben und ausschließlich mit externen Mitarbeitern sowie festgelegten Arbeitsstunden zu realisieren. Allerdings würden die Lebensgemeinschaften sodann einen Großteil ihres heutigen Charakters verlieren und sich dementsprechend deutlich – aus Sicht der Mitarbeiter in einem weniger guten Sinn – von der gegenwärtigen Gestalt unterscheiden. Verändern würden sich dabei – so zeigt ein Überblick über das Spektrum der Äußerungen – z. B. die folgenden Aspekte:
Die grundlegende Definition von Arbeit: „Bin ich bereit, den Menschen als durchgängig, d. h. nicht nur als Schichtmodell und acht Stunden als Ar-
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beitsmotiv zu sehen, oder nicht. Da geht man mit einer vollkommen anderen inneren Haltung dran“ (B1M, Abs. 59). Die finanzielle Situation und die Flexibilität in der Unterstützung: „Ich glaube, anderswo müsste man mit den Menschen, die hier im Haus leben, mehr Mitarbeiter einsetzen. Dadurch, dass wir hier eine, keine Ahnung, wenn man es konkret ausdrückt, 50-Stunden-Woche haben, kann man natürlich auch Stellen einsparen. Allerdings habe ich dann auch die Freiheit, flexibler zu arbeiten, konkret auf bestimmte Wünsche einzugehen, da heißt es eben nicht: ‚Mein Dienst geht bis acht, mein Dienst geht bis zehn und dann gehe ich( “… ދB3M, Abs. 38). Die Ebene informeller Interaktionen: „Weil es wird dann eben der Umgang der betreuten Menschen mit ‚normalen ދMenschen, der geschieht dann noch viel mehr auf rein professioneller Basis. Und wenn ich mir vorstelle, dass ich nur mit Menschen zu tun habe, die aus beruflichen Gründen mit mir umgehen, diese Vorstellung allein macht mich verrückt“ (B7M, Abs. 37). Das Sicherstellen der notwendigen Unterstützung: „Ich glaube, dass das hier elementar wichtig ist, dass dieses Modell tatsächlich gelebt wird, sonst könnte man die Gruppe hier tatsächlich nicht adäquat versorgen mit Betreuung“ (B3M, Abs. 38).
Allerdings: In einem Fall wird auf Basis eigener Einblicke auch angemerkt, dass gegebenenfalls eine größere Selbständigkeit von Menschen mit Behinderungen möglich sei, wenn die Unterstützung nicht innerhalb eines dicht betreuten Familiensettings erfolge: „Dadurch einfach, dass sie [die behinderten Menschen] noch mehr auf sich allein gestellt sind“ (B3M, Abs. 38). Einige Mitarbeiter sehen jedoch eine Verknüpfung zwischen anthroposophischer Sozialtherapie und dem Prinzip des Zusammenlebens insofern als elementar an, als dass sie weitgehend von der Notwendigkeit einer gegenseitigen Bedingung ausgehen (B13aM, Abs. 74; B13bM, Abs. 77; B15M, Abs. 42). Davon abweichend stellen sich die diesbezüglichen Einschätzungen in der sogenannten ‚Teilzeitgemeinschaft ދdar. Hier wird zwar auch davon ausgegangen, dass eine Verbindung zwischen Sozialtherapie und dem gemeinschaftlichen Leben von Menschen mit und ohne Behinderungen grundsätzlich wünschenswert sei, dieses sich aber im Rahmen der gegebenen Umstände nicht (mehr) realisieren lasse. Somit wurden Wege gesucht, wie anthroposophische Sozialtherapie dennoch möglich ist: „Ich habe dieses Ideal, dass es gut ist, wenn diese Menschen einfach nicht separat leben, also dass sie integriert sind. Geschützt, aber ins Leben mit aufgenommen. Und das ist hier ein Kompromiss, den man macht“ (B9M, Abs. 37). Hier findet sich dann auch eine Sichtweise, die Gemeinschaft vor allem als innere Haltung definiert, die sich – gerahmt durch intensives ge-
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meinschaftliches Engagement vor Ort – unabhängig vom Wohnort jedes Einzelnen verwirklichen könne: „Also, ich denke, was ganz wichtig ist, ist die Art und Weise, sich auch mit dem Leben mit einem Haus zu verbinden, auch in der Zeit, in der man da ist, selbst wenn man nicht am Platz wohnt. Aber wirklich sich dann als Teil einer Hausgemeinschaft zu erleben, selbst wenn man dann abends sonst wohin fährt, um bei sich zu Hause zu schlafen sozusagen. Also wirklich sich als Teil einer Hausgemeinschaft zu verstehen, in der Zeit, in der man eben da ist und das nicht so sehr nur als Arbeitsplatz/Job zu definieren, sondern wirklich auch mitzuleben. Ich denke, das ist so ganz wichtig und nährt eben auch diese Gemeinschaft“ (B11M, Abs. 35). 8.3 Reflexion 8.3 Reflexion 8.3.1 Kommentierung Das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung, von betreuten Menschen und Mitarbeitern, wie es in der Mehrzahl der besuchten Lebensgemeinschaften zumindest im Kern praktiziert wird, hat mich nach jedem meiner Aufenthalte im Feld zum intensiven Nachdenken angeregt. Beeindruckt hat mich etwa die Haltung von Mitarbeitern, die Gemeinschaft gleichermaßen als Arbeits- und Lebensort verstehen und sich umfassend, also nicht nur partiell, als Teil dieses sozialen Gebildes begreifen. Durch die infolgedessen möglichen dichten gemeinsamen Erfahrungen können – so meine Wahrnehmung – Distanzen zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen verringert werden. Daraus ergeben sich Blickwinkel auf die Arbeit mit behinderten Menschen, die sich – meinen Erfahrungshorizont zugrunde legend – deutlich vom fachlichen Mainstream der Behindertenhilfe unterscheiden. So sind etwa ‚familiäre Geborgenheit ދund ‚gegenseitige Impulse ދwichtige Aspekte, welche aus der Perspektive von Gemeinschaftsmitgliedern die positive Seite derartiger gemeinschaftlicher Modelle beleuchten. Insbesondere bezüglich der von Mitarbeitern dargelegten Erfahrungen, dass sich Menschen mit und ohne Behinderungen wechselseitig Anregungen zur persönlichen Weiterentwicklung geben, habe ich eine von hoher Wertschätzung und anti-defizitär geprägte Einstellung gegenüber Menschen mit Behinderungen feststellen können: Nicht nur die behinderten Menschen bekommen Hilfe oder Beratung, auch die Mitarbeiter erhalten Entwicklungsimpulse. Meines Erachtens wird an diesem Punkt besonders sichtbar, dass das Verhältnis zwischen Mitarbeitern und Menschen mit Behinderung eben nicht ausschließlich über die zu erbringende professionelle Unterstützungsleistung definiert wird. Auch vor dem Hintergrund, dass ein
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Mitarbeiter in diesem Kontext von größeren Erlebnishorizonten spricht, die behinderte und nichtbehinderte Menschen durch dieses gemeinsame Leben offen stehen, stellt sich mir hier gleichwohl die Frage, ob dafür ein besonderes soziales Gebilde wie eine Lebensgemeinschaft den Rahmen bilden muss. Wäre es nicht grundsätzlich wünschenswerter, wenn diesbezügliche Begegnungen gemeindeintegriert, d. h. in Nachbarschaften des ‚bürgerlichen ދGemeinwesen und damit ohne den Geschmack des (übermäßig) Besonderen stattfinden könnten? Wie angedeutet, erlebte ich in den von mir besuchten Organisationen, dass eine auf Gleichberechtigung aller Mitglieder basierende Gemeinschaft, in der Unterschiede zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen verwischen, angestrebt wird. Indes stehen einer vollends gleichberechtigten Beziehung – wie auch von einigen Mitarbeitern explizit ausgeführt – natürlich verschiedene Rollen und sich daraus ergebende unterschiedliche Aufgaben und Anforderungen von Mitarbeitern und betreuten Menschen entgegen. Unterstrichen wird dies auch dadurch, dass es in diesem Zusammenhang divergierende Bezeichnungen für die jeweiligen Mitglieder der einen oder anderen Gruppe gibt. Elementar deutlich wurde mir, dass ein Zusammenleben von Mitarbeitern und behinderten Menschen zumindest auf längere Sicht nur dann möglich ist, wenn eine Gruppe bzw. Gemeinschaft sich aus Personen mit hinsichtlich Art und Intensität unterschiedlichen Hilfebedarfen zusammensetzt, d. h. eine ‚Durchmischung ދvorhanden ist. Insbesondere, wenn zu viele Menschen mit intensiven und komplexen Unterstützungsbedarfen dabei sind, kann die Balance gestört und können Belastungen sowie Anstrengungen für die Gemeinschaftsmitglieder einen zu großen Anteil einnehmen. Auch wenn ich – vor allem auf Basis eigener Erfahrungen – diese Sichtweise in gewisser Weise nachvollziehen kann, fallen mir dazu ein paar Fragen ein: Besteht die Möglichkeit, dass behinderte Menschen innerhalb einer Gruppe oder Gemeinschaft aus Gründen der ‚guten Mischung ދverbleiben müssen, obwohl sie dieses nicht möchten und z. B. eine andere Wohnform bevorzugen würden? Könnte es möglicherweise sein, dass für bestimmte Personen aufgrund der vorhandenen Unterstützungsnotwendigkeiten das Modell des gemeinschaftlichen Lebens daher – obwohl gewünscht – nicht in Frage kommt? Wenn eine gute ‚Durchmischung ދvon Gruppen essentiell ist, inwiefern werden dann die Wünsche und Bedürfnisse der dort lebenden Menschen mit Behinderung bei der Zusammensetzung angemessen berücksichtigt?
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Freilich: Die von mir befragten Menschen mit Behinderung gaben an, im Großen und Ganzen das Zusammenleben mit anderen Menschen gut oder zumindest in Ordnung zu finden. Insbesondere wenn ich an die Lebensgemeinschaften denke, in denen das Familienprinzip praktiziert wird, d. h. das Leben üblicherweise in Großfamilien organisiert ist, kommen mir immer wieder Zweifel in den Sinn. Ohne einer wohnbezogenen Vereinzelung für alle das Wort reden zu wollen, frage ich mich, ob diese Art des Zusammenlebens in einer Familie alters- und kulturangemessen für erwachsene Menschen ist. Ist ein enger Familienverbund dann noch vonnöten oder kann dieser nicht eher einschränkend auf persönliche Freiheit und Entfaltungsmöglichkeiten wirken? Andererseits erlebe ich die Gemeinschaften als Lebensräume, in denen sich Menschen mit besonderen Fähigkeiten und Bedarfen aufgehoben und geborgen fühlen sowie einen Ort zur individuellen Entfaltung finden können. Mir fällt hier zuallererst die Begegnung mit dem ‚Privatförster ދein. Die weitgehende Abschaffung des Prinzips des gemeinschaftlichen Lebens in einer der beteiligten Organisationen und die Einführung von Schichtdienst sind im Zusammenhang mit den dargelegten Schwierigkeiten verständlich. Es mussten – so meine Einschätzung – neue Wege gegangen werden, um die Gemeinschaft zu retten bzw. die Fortführung einer adäquaten Arbeit sicherzustellen. Auch weil diese Abwendung – wie ich erfahren konnte – keinen Einzelfall im Spektrum sozialtherapeutischer Gemeinschaften darstellt, besteht aus meiner Sicht jedoch die Gefahr, damit ein Spezifikum sozialtherapeutischer Lebensgemeinschaften zu verwässern und – auch im Vergleich mit anderen Einrichtungen der Behindertenhilfe – ein Merkmal, das eng verbunden mit anthroposophischer Sozialtherapie ist, zu verlieren. 8.3.2 Kontextuelle Einordnung Der Idee, gemeinschaftliches Leben von erwachsenen Menschen mit und ohne Behinderungen auf institutioneller Grundlage zu realisieren, ist nicht allein im anthroposophischen Spektrum angesiedelt. Neben den anthroposophischen sind in diesem Zusammenhang – zumindest weltweit betrachtet – wohl die in den 1960er Jahren von Jean Vanier in Frankreich begründeten Lebensgemeinschaften der Arche-Bewegung am weitesteten verbreitet. Trotz bestehender Unterschiede zum anthroposophischen Impuls, so beispielsweise hinsichtlich Hintergrund und Konstitution des Zusammenlebens, stellt auch hier die Grundlage der Arbeit das Ziel dar, gemeinschaftliche Lebensformen von (geistig) behinderten und nicht-
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behinderten Menschen zu gestalten (Heinrichsmeier 2000).73 Zudem bestehen in Deutschland einige Dorfgemeinschaften der SOS-Vereinigung (SOS-Kinderdorf e.V. 2004), in denen ein derartiges gemeinschaftliches Leben gepflegt wird. Ferner gibt es einzelne Initiativen wie etwa die Diakonischen Hausgemeinschaften in Heidelberg, welche – wenn auch nicht innerhalb des Gefüges einer eigenständigen Lebensgemeinschaft – vielfältige Begegnungsräume zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen in den Bereichen Wohnen, Arbeit und Kultur schaffen (Albrecht-Bindseil 2006). Das Zusammenleben von erwachsenen Menschen mit und ohne Behinderungen in anthroposophischen Kontexten fußt auf der Idee der sozialtherapeutischen Dorfgemeinschaft, die in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre vor allem von Karl König und seinen Mitstreitern aus der Camphill-Bewegung in Großbritannien begründet wurde. Dabei war es ausdrückliches Ziel, Lebensformen zu verwirklichen, die zusammen von behinderten und nichtbehinderten Menschen gestaltet werden sollten (Grimm 2004, 7). Als ein wesentliches Merkmal galt dabei der Ansatz, behinderten Menschen auf Augenhöhe zu begegnen und diese folglich nicht unter dem Blickwinkel spezieller Behandlungsbedürftigkeit zu betrachten – eine weiten Teilen der fachlichen Theorie und Praxis jener Zeit widersprechende Sichtweise. So formulierte König Anfang der 1960er Jahre im Rahmen einer Vortrags- und Fortbildungsreihe für Mitarbeiter der jungen Camphill-Gemeinschaften: „Es steht uns nicht mehr zu, auf einen Erwachsenen, mit dem wir leben, mit dem wir arbeiten, mit dem wir unser Schicksal, unser Leben teilen, beobachtend und beurteilend hinzuschauen, wie ein Psychologe oder ein Arzt es tut. Es wäre verhängnisvoll, wenn wir in diese Falle moderner Existenz gingen. Wir würden dadurch zu Gefängniswärtern, und die Dörfler74 wären die Gefangenen. Wir würden sofort die unmittelbare menschliche Verbindung zu ihnen verlieren“ (König 1994, 20f.). Diesem Gedankengut folgend haben sich – auch außerhalb des CamphillRahmens – verschiedenste Realisationsformen anthroposophischer Prägung entwickelt. Wenngleich diese sich in Struktur und Art zum Teil deutlich unterscheiden – dies zeigt sich ja auch in vorliegender Studie –, stellt die bewusste Rekurrierung auf das Konzept der Gemeinschaft von behinderten und nichtbehinderten Menschen trotz vielgestaltiger Umsetzung in der Regel eine wesentliche Komponente dar. Dabei wird Gemeinschaft insofern als eine gewisse Art Schutzraum wahrgenommen, als dass sich durch diese die Möglichkeit für ein Zusammenleben in überschaubaren Lebensverhältnissen realisieren könne, in 73 74
Zu den Arche-Gemeinschaften vgl. insbesondere auch Vanier (1985; 2006). Mit dem Begriff ‚Dörfler ދwurden insbesondere innerhalb der Camphill-Bewegung die in sozialtherapeutischen Dorfgemeinschaften lebenden behinderten Menschen bezeichnet. Mittlerweile wird diese Bezeichnung allerdings nur noch selten verwendet.
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deren Rahmen „der einzelne Mensch den ihm möglichen Beitrag geben kann und zugleich durch die anderen getragen ist“ (Grimm 2004, 8). Essentiell ist jedoch vor allem, dass vor dem Hintergrund der anthroposophischen Menschenkunde dem Gemeinschaftsprinzip unter bestimmten Bedingungen eine heilsame Wirkung zugeschrieben wird. Das Soziale wird somit – wie im Begriff ‚Sozialtherapie ދbereits ausgedrückt – als therapeutisches Moment betrachtet. So sei es Grundidee Königs gewesen, dass „das soziale Umfeld auf natürliche Weise therapeutisch wirken (könne), wenn es grundlegenden Bedürfnissen entspricht: nach sozialer Einbindung, Wertschätzung, Selbstbestimmung, Herausforderung und Entwicklung“ (Siegel-Holz 2008, 269). Vor dem Hintergrund des Selbstverständnisses als Lebensgemeinschaft richtet sich der heilende Impetus jedoch nicht in erster Linie an behinderte Menschen, sondern an alle Mitglieder, wie Peter Roth, Mitbegründer der CamphillBewegung, darlegt: „Sozialtherapie ist kein bloßes Wort. Es meint Heilung, Therapie durch das den Kranken umgebende Sozialgefüge. Der Kranke aber ist nicht der behinderte Erwachsene. ‚Der Krankeދ, das sind wir alle. Die Intention der Sozialtherapie kann nur sein, ein soziales Gefüge zu bilden, das für dessen Mitglieder gesundend wirkt; sonst wäre es eine Art Lebensspital und nicht ein sozialer Organismus“ (Roth 1995, 13; Hervorhebung im Original). Die Pflege der Gemeinschaft, das Üben sozialen Miteinanders unabhängig von Behinderungen, politischen, wirtschaftlichen und nationalen Fragen bildet somit die Basis allen Handelns (Eisenmeier 1995, 25). Demzufolge besitzen zielgerichtete therapeutische oder soziale Interventionen bzw. individuelle Unterstützungsleistungen für Menschen mit Behinderungen eher nachrangigen Charakter: „Gemeinschaft also, weil wir uns mögen. Daß dann Pädagogik, Therapie, Betreuung, dort wo das Leben, die Situation es erfordern, geleistet wird, so gut es nur geht, ist eben selbstverständlich“ (Eisenmeier 1995, 26). Ausgehend von den ursprünglichen Motiven des gemeinschaftlichen Lebens steht hier also nicht die Idee der Gründung einer Einrichtung der Behindertenhilfe im Vordergrund, sondern die Intention, „einfach ein Dorf voller Menschen“ (Eisenmeier 1995, 57) sein zu wollen. Die Sichtweise, sich nicht zuvörderst innerhalb der Behindertenhilfe verorten zu wollen, wird weiterhin auch deutlich, wenn der innerhalb anthroposophischer Kontexte als wesentlich erachtete gesellschaftliche Impuls von Lebensgemeinschaften in den Blick genommen wird. In diesem Zusammenhang werden sozialtherapeutische Gemeinschaften sozusagen als Nährboden angesehen, auf dem Alternativen für – nicht nur in Bezug auf behinderte Menschen – als unangemessen wahrgenommene gesellschaftliche Entwicklungen wachsen können. So verstanden können derartige Lebensgemeinschaften daher gewissermaßen die Funktion eines Beispielgebers für die Weiterentwicklung der Gesellschaft in sozialer Hinsicht einnehmen: „Es wird für den Leser sicher eine Überraschung
8.3 Reflexion
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sein, daß wir keine Einrichtung zur Betreuung geistig behinderter Menschen sein wollen, sondern ein soziales Modell, ein Versuch, vieles, von dem wir meinten, es sei in der heutigen Welt krank oder ungut, anders zu probieren, winzige Keime zu setzen für zukunftsträchtige Möglichkeiten“ (Eisenmeier 1995, 24).75 Bei allem Streben nach einer auf Egalität beruhenden Gemeinschaft und gleichberechtigter Begegnung von Menschen mit und ohne Behinderungen: Die Tatsache, dass es zwischen Mitarbeitern und behinderten Menschen Unterschiede hinsichtlich Rolle und Status geben kann, betonte bereits Karl König in seinen Hinweisen für die Kollegen der ersten Camphill-Gemeinschaften: „Sie [die behinderten Menschen] sind in unsere Obhut gegeben, sie sind uns anvertraut. Und wir können uns nicht verhehlen, daß zwischen unseren Dörflern und uns in gewissen Lebensbereichen ein Unterschied besteht. In anderen Bereichen jedoch muß es keine Unterschiede geben“ (König 1994, 21). Auch an den je nach Gruppenzugehörigkeit – betreuter Mensch oder Mitarbeiter – sich unterscheidenden Bezeichnungen wird dies, wie auch an der Praxis in den vier an dieser Studie beteiligten Lebensgemeinschaften ersichtlich ist, deutlich.76 Bedingt durch eine fortschreitende Formalisierung und Verrechtlichung sozialer Arbeit und eine damit einhergehende stärkere Verankerung der Lebensgemeinschaften im Feld der Behindertenhilfe hat sich das Potenzial für Spannungen hinsichtlich der ‚Gemeinschaftsfrage ދim Vergleich zu den Anfängen der Sozialtherapie deutlich ausgeweitet. Anspruch und Wirklichkeit gemeinschaftlichen Lebens sind schwieriger in Einklang zu bringen: „Die sozialtherapeutische Gemeinschaft begann in einer Zeit, in der noch wenig vorgegeben war, Menschen mit Behinderungen noch nicht Sozialhilfeempfänger waren und Mitarbeiter kein Gehalt hatten … Je mehr die Ordnung und Reglementierung des sozialen Feldes voranschritt, umso mehr wurde der offene Charakter der Sozialtherapie formalisiert. Sie wurden ‚vollstationäre Einrichtungen ދmit allen Auflagen und Restriktionen, mit Pflegesatzempfängern und Gehaltsbeziehern. Sozialrecht für den einen und Arbeitsrecht für den anderen führen implizit zu Brüchen und Trennungen, die das Leben dieser Gemeinschaften mitprägen“ (Grimm 2004, 9). Die benannten Rollenunterschiede erfahren vor dem Hintergrund des Zieles, Lebensgemeinschaft sein zu wollen, auch in den Interviews dieser Arbeit von einigen Mitarbeitern kritische Reflexion. Allerdings wird das dichte Zusammenle75
76
Zu einer weiteren Auseinandersetzung mit den Grundlagen des Zusammenlebens in sozialtherapeutischen Gemeinschaften auch vor dem Hintergrund menschenkundlicher Fragen aus der Anthroposophie vgl. insbesondere König (1994), aber auch Müller-Wiedemann (1994; 1995). Siehe dazu auch Kapitel 3. Hierzu merkt Siegel-Holz an: „Von der Idee der Dorfgemeinschaft her ist jeder Begriff unglücklich gewählt, der auf irgendeine Weise unterscheidet zwischen Menschen mit und ohne Behinderung … In der Wirklichkeit der Dorfgemeinschaften sind bekanntlich die Übergänge fließend“ (Siegel-Holz 2000, 17).
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ben dennoch – so einige Äußerungen – als bedeutsame Rahmensetzung gesehen, innerhalb welcher eine Begegnung auf Augenhöhe verwirklicht werden kann. Ausgehend vom ursprünglichen Impuls hat es – wie auch aus dem beschreibenden Teil dieses Kapitels hervorgeht – mittlerweile Weiterentwicklungen innerhalb der sozialtherapeutischen Arbeit gegeben, beispielsweise was die Dichte des gemeinschaftlichen Lebens angeht: „Die ursprünglichen Formen der Lebensgemeinschaften haben sich verändert. Nicht überall leben auch Mitarbeiter und ihre Familien, sondern Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kommen zu festen Arbeitszeiten in die Einrichtungen, wobei es unterschiedliche Formen der Arbeitszeitregelungen gibt“ (Grimm 2004, 17). Zusätzlich zur Aufgabe der Gestaltung des sozialen Umfelds ist inzwischen auch die unmittelbare Unterstützung des hilfebedürftigen Menschen als wesentlicher Tätigkeitsschwerpunkt von Sozialtherapie anerkannt: „Neben der Pflege des Sozialen braucht es auch den Fokus auf den einzelnen unter dem Blickwinkel seiner besonderen Bedürftigkeit“ (Siegel-Holz 2008, 273). Auch ausgehend von paternalistischen Tendenzen, die sich zum Teil innerhalb des Zusammenlebens in Familienverbünden entwickeln konnten, werden darüber hinaus tradierte Beziehungsmuster hinterfragt und ein neues Verständnis der Berufsrolle gesucht. Somit steht innerhalb sozialtherapeutischen Handelns immer öfter das Konzept der ‚Begleitung ދim Zentrum, das in Abkehr von bevormundender Fürsorge der individuellen Seite der Lebensgestaltung größeren Raum gibt (Grimm 2004, 17; Siegel-Holz 2008, 273f.). Zunehmend ist ferner eine größere Offenheit gegenüber fachwissenschaftlichen Strömungen außerhalb der Anthroposophie feststellbar – auch in Lebensgemeinschaften, die bisher relativ selbstbezogene Züge aufwiesen. Neue, differenzierte Wohnformen entstehen und die Integration behinderter Menschen in die Gesellschaft wird als ein wichtiger Bestandteil des Wirkens angesehen (Siegel-Holz 2008, 274). 77 Trotz des Anspruchs, integrative Prozesse zu befördern, spielt innerhalb der Sozialtherapie die Fokussierung auf das Zusammenleben in einer speziellen Gemeinschaft indes weiterhin eine prominente Rolle: „Der Erwachsene muss sich als Bürger eines Gemeinwesens mit Stimme und mit allen Rechten und Pflichten erleben. Er braucht freilich auch einen ihm gemäßen Schutzraum, wenn er den Herausforderungen des modernen Kapitalismus und Intellektualismus 77
Zu aktuellen Herausforderungen und daraus resultierenden Entwicklungsbedarfen in der Sozialtherapie vgl. z. B. Buchka (2007) und Siegel-Holz (2000; 2008). Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Projektidee ‚Netzwerk Gemeinschaftsentwicklungދ. Angesiedelt an den Verband für anthroposophische Heilpädagogik, Sozialtherapie und Soziale Arbeit e.V. sollen dadurch Impulse zur Weiterentwicklung anthroposophischer Einrichtungen gegeben und Auseinandersetzungen mit Möglichkeiten einer zukünftigen Sozialgestaltung angeregt werden (Dahlhaus 2008, 47ff.).
8.3 Reflexion
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nicht gewachsen ist“ (Siegel-Holz 2008, 269). Vor dem Hintergrund, dass es Menschen gebe, die den komplexen Anforderungen moderner Gesellschaften nicht gewachsen seien, wird somit von der Notwendigkeit spezieller Orte ausgegangen, an denen durch eine langsamere und übersichtlichere Gestaltung des Lebens permanente Überforderungen vermieden werden können (Siegel-Holz 2008, 282). In diesem Sinne verstehen sich sozialtherapeutische Gemeinschaften auch als „LebensOrte“, die sich als „Gemeinschaft innerhalb der Gesellschaft“ begreifen und Menschen mit Behinderungen „die größtmögliche Selbständigkeit, Selbstbestimmung und Selbstlenkung und eine ständige Entwicklung sowie Teilhabe ohne Anpassungsdruck“ (Verband für anthroposophische Heilpädagogik, Sozialtherapie und soziale Arbeit e.V. 2002, 10) bieten möchten. Hier sind durchaus Bezüge zur Argumentationslinie des in den 1980er Jahren insbesondere als Reaktion auf Reformbemühungen im Kontext des Normalisierungsprinzips (Thimm 2005b) von Gaedt78 in die Diskussion eingebrachten Konzeptes der ‚Orte zum Leben ދsichtbar. Vor dem Hintergrund der These, dass aufgrund einer fehlenden Übereinstimmung zwischen gesellschaftlichem Anforderungsniveau und individuellen emotionalen und kognitiven Fähigkeiten zumindest für einen gewissen Kreis behinderter Menschen ein angemessenes Leben nur in einem besonders gestalteten Umfeld möglich sei und es somit für bestimmte Personengruppen spezielle Schutzräume geben müsse, sieht er die differenzierte Großeinrichtung als einen ‚Ort zum Leben ދan. Somit geht er davon aus, „dass die vorgegebene Gesellschaft nicht der einzige vorstellbare soziale Raum ist. Sie [die differenzierte Großeinrichtung] berücksichtigt die Notwendigkeit, die personale Betreuung durch eine strukturelle Betreuung zu ergänzen. Unter Einbeziehung der umliegenden gesellschaftlichen Räume werden von der Großeinrichtung vielfältige, miteinander verbundene gesellschaftliche Räume mit unterschiedlichen Anforderungsniveaus organisiert – Nischen, die nicht isolieren, sondern verbinden“ (Gaedt 1995, 27; vgl. dazu auch Rohrmann 2007, 104f.). Soll Gemeinschaft allerdings auch von einem Zusammenleben von Mitarbeitern und Menschen mit Behinderungen geprägt sein, so gelingt dies nur, wenn – wie die Erträge der Feldphasen zeigen – die Gruppen oder Gemeinschaften insbesondere nach Balance versprechenden Kriterien zusammengesetzt sind und auch die behinderten Menschen einen Beitrag zum Funktionieren des sozialen Gefüges leisten können: „Wer in die Dörfer kommt, kann erleben, wie Menschen mit sehr verschiedenen Formen und Graden der Behinderung sich gegenseitig helfen, achten und in oft kaum merkbarer Weise korrigieren“ (Müller-Wiedemann 1994, 89f.). Aufgrund von zunehmenden Aufnahmen von Menschen mit 78
Christian Gaedt war bis zum Jahr 2001 ärztlicher Direktor der Evangelischen Stiftung Neuerkerode, einer diakonischen Groß- und Komplexeinrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung.
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intensiven und komplexen Hilfebedarfen (Siegel-Holz 2008, 272) sowie Anstrengungen von fachlicher, sozialadministrativer und politischer Seite, vor allem Menschen mit geringeren Unterstützungsbedarfen offene Hilfen außerhalb stationärer Settings zukommen zu lassen, wird das Schaffen einer derartigen, auf Ausgleich abzielenden Zusammensetzung nicht nur in sozialtherapeutischen Zusammenhängen jedoch zunehmend schwieriger. Schwerbehindertenzentren können entstehen.79 Dörner spricht im geschilderten Kontext von der „guten Mischung“, mit der in Einrichtungen versucht werde, die Realität des Gemeinwesens nachzubilden: „Mit der ‚gesunden Mischung ދversuchten die guten Heim-Verantwortlichen bewusst die Unterschiedlichkeit der Menschen in der Nachbarschaft oder der Heimatgemeinde des Hilfsbedürftigen im Anstaltsareal wieder herzustellen, weil Unterschiedlichkeit der Menschen für Lebendigkeit ihrer Beziehungen steht; nur Homogenisierung ist beziehungstötend“ (Dörner 2007, 25). Sei die Zusammenstellung dieser Mischung – wie in den letzten Jahren in zunehmendem Maße beobachtbar – nicht mehr möglich, könne diese zu einer „Konzentration der Unerträglichkeit“ (Dörner 2007, 29) in den Einrichtungen führen. Als Lösung dieses Problems sieht Dörner jedoch nicht eine Reform des Heimbereichs. Diesen betrachtet er als Auslaufmodell. Vielmehr geht es ihm um eine konsequente Deinstitutionalisierung der Hilfen, die Verankerung der zu unterstützenden Menschen in der Gemeinde und somit um eine Wiederherstellung der „gesunden Mischung“ im dritten Sozialraum, der Nachbarschaft (Dörner 2007, 29ff.). Er plädiert insofern für eine Renaissance nachbarschaftlicher Gefüge als solidaritätsstabilisierende Institution: „Nachdem der 100-jährige Modernisierungsfortschritt uns vermuten ließ, Nachbarschaft sei als vormodern überholt, ist unsere Einsicht ein Geschenk der Zunahme der Alten und Chroniker, dass wir diese, das Gemeinwesen im Übrigen auch verlebendigende Kostbarkeit dringender brauchen als je zuvor“ (Dörner 2007, 93f.). Dabei wird bürgerschaftliches Engagement als wesentliche Komponente bei der Gestaltung des nachbarschaftlichen Zusammenlebens angesehen (Dörner 2007, 94f.).80 79 80
Vgl. dazu auch die Diskussion von Gaedt (1992a; 1992b) und Haack (1992). Hier kann natürlich die Frage gestellt werden, inwiefern derartige sozialraumorientierte Ansätze in Zeiten von zunehmend in Erosion befindlichen nachbarschaftlichen Netzwerken überhaupt realisierbar sind. Vor dem Hintergrund politischer Forderungen, durch Stärkung der Zivilgesellschaft und Unterstützung des bürgerschaftlichen Engagements ein Gemeinwesen zu schaffen, das bereit und fähig ist, alle Menschen aufzunehmen, merken Dahme und Wohlfahrt (2009, 169) insofern kritisch an: „Was aber passiert, wenn das Gemeinwesen nicht den Vorstellungen der Politik folgt und nicht bereit und fähig ist? Sind dann Sanktionen fällig oder werden die Leistungserbringer in Haftung genommen, deren Inklusionspolitik offenbar nicht zu den gewünschten Resultaten führt? Man kann mit den behinderten Menschen nur hoffen, dass die politisch verordnete Funktionsfähigkeit der Zivilgesellschaft auch empirisch Gestalt gewinnt und kein ‚Gemeinwesenversagen ދkonstatiert werden muss“ (siehe auch Kapitel 9.4.2).
9 Innen und Außen 9 Innen und Außen
„… ja, das Café wirkt natürlich sehr nach außen, da kommen ja ständig, wenn du auf die Straße guckst, parken ständig Außenleute da“ (B1M, Abs. 51). Nur durch eine gewisse Abgrenzung vom umgebenden ‚Außen ދwird eine Gemeinschaft geformt – mit Bezug auf das Außen wird sich somit der Identität des eigenen sozialen Gebildes versichert und das ‚Innen ދgestärkt: „Die Mitglieder einer sozialen Gruppe haben ein Wir-Gefühl, eine Gruppenidentität, die sie von Nichtmitgliedern unterscheidet und eine Grenze zwischen Gruppe und Außenwelt (in-group vs. out-group) zieht“ (Vester 2009, 81). Nun sind sozialtherapeutische Lebensgemeinschaften trotz ihres Selbstverständnisses als eigenständige Gemeinschaft und damit einhergehenden Abgrenzungstendenzen auch Teil der Gesellschaft sowie des umgebenden Gemeinwesens. Wenn auch in unterschiedlicher Form sind somit wechselseitige Beziehungen zwischen „Gemeinschaft und Gesellschaft“ (F. Tönnies 1887) selbstredend vorhanden. Wie stellen sich nun diese Bezüge von innen nach außen dar? Welche dementsprechenden Verbindungen gibt es? Es werden verschiedene diesbezügliche Facetten dargestellt, die in Interviews und Gesprächen thematisiert sowie in Beobachtungen wahrgenommen wurden. Dabei reicht das Spektrum von Merkmalen der räumlichen Verortung und Struktur der Lebensgemeinschaften über Freizeitaktivitäten einzelner Mitglieder bis hin zur Vernetzung im Gemeinwesen. 9.1 Räumliche Einbettung 9.1 Räumliche Einbettung „Es gibt ja nun nicht so furchtbar viel Umfeld, wir sind ja ziemlich weitab vom Schuss“ (B13bM, Abs. 100). Die räumliche Einbettung einer Lebensgemeinschaft stellt in Bezug auf Beziehungen nach außen eine wesentliche Einflussgröße dar. Zwar ist eine günstige Lage keineswegs hinreichend, um diesbezügliche Verbindungen entwickeln zu können. Diese bietet in der Regel jedoch eher die Chance, vergleichsweise einfach Kontakte ins umgebende Gemeinwesen zu knüpfen, als wenn die jeweilige Örtlichkeit durch Abgeschiedenheit charakterisiert ist. Das bedeutet aber denC. Stamm, Anthroposophische Sozialtherapie im Spiegel ausgewählter Lebensgemeinschaften, DOI 10.1007/978-3-531-93294-1_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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noch nicht, dass Lebensgemeinschaften, die räumlich weniger an andere Siedlungen angebunden sind, nicht doch auch vielgestaltige Außenbezüge haben können. Die an dieser Studie beteiligten sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaften unterscheiden sich hinsichtlich ihrer räumlichen Einbettung zum Teil deutlich. Allerdings: Drei von vier besuchten Gemeinschaften liegen in einem ländlich geprägten Umfeld. Somit spielt sich hier das Leben – mehr oder weniger – vor dem Hintergrund der Infrastruktur des ländlichen Raumes ab. Das bedeutet beispielsweise, dass die notwendige Mobilität nicht selten mit Kraftfahrzeugen der Lebensgemeinschaft und nicht oder nur in geringerem Maße durch Busse oder Bahnen sowie mit Fahrrad oder zu Fuß hergestellt wird.81 Im Zusammenhang mit den Bezügen zwischen Innen und Außen ist auch wesentlich, ob die Lebensgemeinschaften ihr Angebot an einem Ort zentriert haben oder ob sie auch dezentrale Strukturen aufweisen und dadurch eine breitere Oberfläche für Verknüpfungen in das umliegende Gemeinwesen bieten. Um die jeweilige Art der physischen Verortung veranschaulichen zu können, habe ich – auch in dem Bewusstsein, dass hier Überschneidungen nicht ausgeschlossen werden können – jede Gemeinschaft mit einem begrifflichen Konstrukt versehen. Mal zeigen sich größere, mal weniger große Unterschiede zwischen den einzelnen Organisationen. Um einen intensiven Eindruck der örtlichen Gegebenheiten zu bekommen, bin ich zumindest anlässlich meiner ersten Besuche in den Lebensgemeinschaften mit der Bahn angereist. „Leben mitten in der Landschaft“ Mit den Worten „Wir liegen mitten in der Landschaft“ (FP 1, Abs. 7) weist mich der Geschäftsführer bei meinem ersten Besuch auf dem Weg vom Bahnhof auf die räumliche Lage der Lebensgemeinschaft, einem Verbund mehrerer landwirtschaftlicher Höfe, hin. Etwa sechs bis sieben Minuten dauert die Autofahrt von dem kleinen Ort, in welchem der Bahnhof liegt, bis zu dem Hof, auf dem ich wohne. Die Lebensgemeinschaft besteht im Wesentlichen aus drei Höfen, die – an verschiedenen Orten gelegen – jeweils ein Gemeinschaftszentrum bilden. Hinsichtlich fachlicher und sozialwirtschaftlicher Zusammenarbeit sind weitere Höfe mit der Lebensgemeinschaft verbunden, so dass sich insgesamt eine dezentrale Grundstruktur ergibt. Die Kernhöfe liegen einige Kilometer voneinander 81
Hier ist anzumerken, dass die Mobilität bei manchen Menschen mit Behinderungen auch aufgrund verschiedener personenbezogener Faktoren eingeschränkt sein kann, so dass z. B. das Vorhandensein einer guten Anbindung an den öffentlichen Personennahverkehr natürlich nicht per se zu einer höheren Inanspruchnahme dieser Angebote führen muss.
9.1 Räumliche Einbettung
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entfernt, in deutlich ländlich geprägter Umgebung. Zwischen den Höfen findet ein reger Pendelverkehr statt, üblicherweise mit Autos bzw. Kleinbussen, da teilweise auf unterschiedlichen Höfen gelebt und gearbeitet wird: „Die Fahrt nach (.) [Hof der Lebensgemeinschaft] dauert eine gute Viertelstunde und verläuft über verschlungene Straßen und kleine Dörfer im Zick-Zack-Kurs. Ich denke, dass dieses ohne Auto nicht gut zu schaffen ist“ (FP 1, Abs. 33). Die Höfe befinden sich in unterschiedlicher Entfernung zu anderen Siedlungen. Während somit ein Hof am Ortsausgang eines kleinen Dorfes liegt und dort, wenn auch sehr sporadisch, öffentliche Busse verkehren, so besteht die Umgebung eines anderen Hofes hauptsächlich aus Feldern und Wiesen. Eine Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel ist somit nicht unmittelbar gegeben (B13M, Abs. 106ff.), eine Verbindung zum Gemeinwesen außerhalb der Lebensgemeinschaft erschwert: „Hier ist das ein bisschen, ein bisschen weitläufig der ganze Kram, nicht“ (B14, Abs. 93). Folglich können bestimmte Ziele in der Regel jeweils nur mit einem gewissen Aufwand erreicht werden: „Ja, alles, was Freizeitaktivität ist, bedeutet: Wir müssen fahren“ (B13aM, Abs. 105). Mit dem Auto sind jedoch kleinere Orte mit einer grundlegenden Infrastruktur bezüglich Handel und Dienstleistungen sowie auch größere Städte vergleichsweise schnell zu erreichen. Wer kein Fahrzeug hat bzw. nutzen kann, ist in manchen Fällen jedoch auf andere angewiesen: „Dienstag ist Kino-Tag und wenn es einen Fahrer gibt, dann findet das durchaus statt“ (B15M, Abs. 68). Auch wenn an einem Standort eine Busverbindung vorhanden ist, so spielt diese aufgrund unregelmäßiger Verkehrszeiten allerdings keine große Rolle: „Ein Bus fährt hier, außer diesem Schulbus, eigentlich nicht regelmäßig“ (B15M, Abs. 70). Abgesehen von Fahrdiensten der Lebensgemeinschaft stellt daher für einige betreute Menschen das Fahrrad ein wesentliches Mittel zur Mobilität dar: „Also, wenn man hier kein Fahrrad hat, das ist schon schlecht (lacht)“ (B14, Abs. 101). Diese Möglichkeit kann aber nicht von allen behinderten Menschen in Anspruch genommen werden: „Also, die, die das können, die fahren auch alleine mit dem Fahrrad“ (B13aM, Abs. 110). Nicht alle betreuten Personen leben indes auf einem der Höfe – auch offene, ambulante Hilfen in umliegenden Gemeinden werden angeboten. Ebenso ist eine Begleitung behinderter Menschen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt möglich. Mit Ausnahme des Verkaufs eigener Produkte der Lebensgemeinschaft in Hofläden sowie einem kleinen, an Sommerwochenenden geöffneten Café gibt es in direkter Nachbarschaft keine Einkaufsmöglichkeiten. Private Besorgungen müssen daher in mehrere Kilometer entfernten Nachbarorten getätigt werden. Hier wird dann auch auf Sammelbestellungen zurückgegriffen, so z. B. in der Form, dass eine betreute Frau mit ihrem Fahrrad in das nächst größere Dorf fährt und für mehrere andere Personen mit einkauft: „In (.) ist das, das ist eine halbe
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9 Innen und Außen
Stunde. Und fahren ist gut, ist Bewegung und vor allem machen mir diese Einkaufstouren sehr viel Spaß. Ich kaufe gerne ein für die Leute“ (B16, Abs. 77). Gemeinschaft im Dorf Ich komme im Bahnhof einer kleinen Gemeinde mit der Regionalbahn an. Dort werde ich von einer leitenden Mitarbeiterin abgeholt und zur Lebensgemeinschaft gebracht: „Wir fahren einige Kilometer über Land – es handelt sich um leicht ansteigende Hügel, weite Wiesen und landwirtschaftliche Flächen. Die Struktur ist dörflich“ (FP 2, Abs. 6). Die Gemeinschaft liegt somit im ländlichen Raum, stellt aber kein räumlich abgeschlossenes Gefüge dar, sondern befindet sich innerhalb eines kleinen Dorfes. Die Häuser der Lebensgemeinschaft sind Teil der Ortschaft und fügen sich, da es sich nicht um Neubauten, jedoch renovierte und vor dem endgültigen Verfall gerettete ehemalige Gehöfte handelt, in diese ein. Mit dem öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) ist der Ort allerdings kaum verknüpft, so dass auch hier Mobilitätsbedürfnisse vor allem durch Fahrdienste der Lebensgemeinschaft befriedigt werden: „Bei meinem Rundgang komme ich auch an einer Bushaltestelle vorbei und schaue auf den Plan: Außer zwei Bussen in den frühen Morgenstunden gibt es wohl keine ÖPNV-Anbindung dorfauswärts“ (FP 2, Abs. 48). Folglich besitzen diese eher keine Relevanz für die Gemeinschaftsmitglieder: „Aber wir sind nicht mit diesen Bussen in Verbindung, wir sind das nur mit denen von der Gemeinschaft hier“ (B2, Abs. 125). Fahrten zur Arbeit fallen für die hier lebenden betreuten Menschen gewöhnlich nicht an, da diese überwiegend innerhalb der Gemeinschaft beschäftigt sind. Allerdings werden in Zusammenarbeit mit einem anderen Trägerverein auch mehrere behinderte Menschen in Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarkts unterstützt. Diese Personen nutzen aber in der Regel Leistungen des ambulant betreuten Wohnens in einem eigenen Appartement außerhalb der Lebensgemeinschaft und werden von anderen Organisationen unterstützt oder wohnen noch bei ihren Eltern. Vor kurzer Zeit wurde jedoch mit dem Aufbau eigener ambulanter Unterstützungsmöglichkeiten zum Wohnen in einem Nachbarort begonnen.82 Eine Verknüpfung dieser und entstehender Angebote mit dem dortigen Gemeinwesen
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Über eine Kooperation mit einem anderen Dienst der Behindertenhilfe werden allerdings bereits seit einigen Jahren Leistungen des ambulant betreuten Wohnens in einer Nachbarstadt angeboten. Ausführende Organisation ist dabei aber nicht die Lebensgemeinschaft und auch die jeweiligen Nutzer sind – wenn überhaupt – nur sehr lose mit der Gemeinschaft verknüpft (FP 2, Abs. 22).
9.1 Räumliche Einbettung
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ist geplant, eine Anbindung an die Lebensgemeinschaft soll z. B. über Veranstaltungen und Feste realisiert werden (GL 2, S. 1). Dienstleistungen sowie Produkte des täglichen Bedarfs können innerhalb der kleinen Siedlung nicht erworben werden: „Außer einem Kaugummiautomaten gibt es – abgesehen von den Betrieben der Gemeinschaft – keine Möglichkeit, Waren einzukaufen“ (FP 2, Abs. 128). Die Gemeinschaft hält jedoch ein kleines Kaffeegeschäft vor, in das auch ein kleiner Cafébetrieb integriert ist. Mit dem Auto sind jedoch umliegende Orte in wenigen Minuten zu erreichen, welche eine diesbezügliche Infrastruktur aufweisen. Um in eine größere Stadt zu gelangen, wird mit dem Kraftfahrzeug etwa eine Viertelstunde benötigt (FP 2, Abs. 48). Leben am Stadtrand Nach einer Fahrt mit Bahn und Bus gelange ich an den Rand der großen Stadt, in der die Lebensgemeinschaft liegt. Nachdem ich aus dem Bus ausgestiegen bin, muss ich nur wenige Minuten gehen, um mein Ziel zu erreichen. Der Weg führt mich zunächst an einer von Gewerbebetrieben, Geschäften, einem Imbiss und Supermarkt gesäumten, viel befahrenen Straße entlang. In einer davon abzweigenden, wenig befahrenen Stichstraße befindet sich die Lebensgemeinschaft. „Es handelt sich um ein Gewerbemischgebiet, wobei das Gewerbe dominiert“ (FP 3, Abs. 20). Somit ist die Gemeinschaft räumlich in ein Stadtquartier platziert, eine physische Abgrenzung existiert aber dennoch: „Die Lebensgemeinschaft ist zur Straße hin mit einem Zaun und am Haupteingang mit einer Backsteinmauer, in der sich eine Durchfahrt sowie ein Durchgang mit Holztür befinden, versehen. Beide sind geschlossen, aber nicht abgeschlossen … Wir gehen durch die Holztür hinein und betreten damit etwas Neues“ (FP 3, Abs. 8). Die Häuser der Lebensgemeinschaft bilden ein eigenständiges Ensemble. Während vorne, am Eingang, die Straße verläuft, wird die Gemeinschaft auf der anderen Seite durch einen eher ländlich anmutenden Raum begrenzt. Hier endet die Stadt: „Wir sitzen im Esszimmer. Eine breite Fensterfront öffnet den Blick in den Garten und darüber hinaus auf eine Landschaft mit Wiesen und Bäumen“ (FP 3, Abs. 14). Aufgrund der örtlichen Lage und der dadurch gegebenen Möglichkeiten, am Kulturleben der Stadt zu partizipieren – so erfahre ich von einer Mitarbeiterin –, stehe dieses, und nicht wie bei vielen anderen sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaften die Landwirtschaft, im Vordergrund: „Ja, dass man in der Großstadt ist, doch auch seinen beschützten Raum hat, aber auch doch die Möglichkeit hat, ein bisschen da ranzukommen“ (B9M, Abs. 73). Allerdings gibt es auch Stimmen, welche das städtische Leben nicht für alle Personen als gleichermaßen
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9 Innen und Außen
geeignet ansehen und den großen Aufwand betonen, mit denen die Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen außerhalb der Gemeinschaft verbunden sei: „Manchmal wäre es auf dem Land einfacher“ (FP 3, Abs. 69). Wie bereits bei der Anreise deutlich wurde, ist die Anbindung an den öffentlichen Personenverkehr großstadtgemäß und daher vielgestaltiger Art: In unmittelbarer Nähe der Lebensgemeinschaft befindet sich eine Bushaltestelle, die stündlich bedient wird. Einige Minuten zu Fuß entfernt gibt es eine weitere Station, an der ein dichterer Taktverkehr herrscht. Diese Haltepunkte verknüpfen die Lebensgemeinschaft mit dem ausgedehnten Netz des öffentlichen Nahverkehrs der Metropole, an deren Rand sie liegt (FP 3, Abs. 20). Alle wohnbezogenen Angebote konzentrieren sich auf einen Standort. Die Möglichkeit, das Spektrum durch offene, ambulante Wohnformen außerhalb des jetzigen Standorts zu erweitern, wird zwar diskutiert, derartige Settings sind aber noch nicht vorhanden (FP 3, Abs. 72; GL 3, S. 2). Nicht alle Menschen mit Behinderungen arbeiten allerdings innerhalb der Lebensgemeinschaft. Aufgrund der örtlichen Lage kann jedoch zumindest ein Teil dieser Personen zu Fuß zu ihrer Arbeitsstelle gelangen (B10, Abs. 31). Ein Dorf für sich Etwa eine gute halbe Stunde geht es mit der S-Bahn aus einer Großstadt ins Umland. Der Bahnhof, an dem ich ankomme, liegt noch im sogenannten ‚Speckgürtel ދder Stadt. Zwar sind zum Teil bereits ländlich-dörfliche Strukturen sichtbar, jedoch ist auch ein urbaner Charakter der Ortschaften deutlich, der sich beispielsweise in Industrieansammlungen und ausgeprägter verkehrsbezogener Infrastruktur widerspiegelt. Vom S-Bahnhof fahre ich mit dem Bus weiter, um zu der hier in Form einer ‚Dorfgemeinschaft ދauftretenden sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaft zu gelangen: „Die Dorfgemeinschaft hat eine eigene Haltestelle, die man sogar in der Bahnauskunft findet“ (FP 4, Abs. 6). Die Fahrt dauert ungefähr zehn Minuten. Sehr schnell verflüchtigt sich das städtische Profil, kleinere Ortschaften und leicht hügelige Felder und Wiesen prägen nun das Bild. Als ich aus dem Bus steige, schaue ich mir den ausgehängten Fahrplan an: „Hier fährt der Bus maximal ein oder zwei Mal in der Stunde, teilweise auch weniger oder gar nicht. Insbesondere am Wochenende ist nur wenig Busverkehr“ (FP 4, Abs. 6). Von der Busstation sind noch zirka zehn bis fünfzehn Minuten Fußweg zurückzulegen, bevor die Gemeinschaft erreicht wird. „Nach einer Kuppe kann ich die Lebensgemeinschaft sehen – sie sieht wie ein richtiges kleines Dorf aus, ist so wie ein Dorf angeordnet, denke ich mir“ (FP 4, Abs. 6). Mir fällt auf, dass die Straße zur sowie die Wege innerhalb der Dorfgemeinschaft nach Gründungs-
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figuren anthroposophischer Heilpädagogik und Sozialtherapie benannt sind (ebd.). Es gibt einen eigenen Bio-Laden, in dem Erzeugnisse aus eigener Herstellung und ein breites Sortiment zugekaufter Produkte angeboten werden. Auch eine Auswahl an Büchern wird vorgehalten. Daneben wird ein täglich geöffnetes Bistro betrieben (FP 4, Abs. 113). Zudem ist eine eigene Arztpraxis vorhanden (FP 4, Abs. 32). Alle Einrichtungen, Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten sind auf dem Gelände der Lebensgemeinschaft angesiedelt. Somit findet die tägliche Arbeit der behinderten Menschen innerhalb der Gemeinschaft statt. Offene Hilfen in Form ambulanter Wohnformen werden mittlerweile auch angeboten. Um die Idee der Gemeinschaft weiter pflegen zu können, wurde ein eigenes Apartmenthaus am Rande des bestehenden Campus errichtet. Auch für (ehemalige) Mitarbeiter, die nicht (mehr) innerhalb eines familiären Settings von Menschen mit und ohne Behinderungen leben wollen, trotzdem aber eine enge Anbindung an die Lebensgemeinschaft wünschen, gibt es ein separates Haus mit einzelnen Wohnungen (FP 4, Abs. 54). Die Alleinlage der Lebensgemeinschaft in einer Senke sowie der Charakter eines eigenständigen Dorfes begründen das Gefühl der relativen Abgeschiedenheit. Allerdings – so erfahre ich in einem Gespräch mit einem Mitarbeiter – sei die Gegend auch aufgrund der Sogwirkung großer Industriebetriebe im weiteren Umfeld vergleichsweise dicht besiedelt: „Im ruhigen (.) [Name der Lebensgemeinschaft] merke man nicht, dass der nächste Autobahnzubringer und das nächste Gewerbegebiet nicht weit seien … Man könne hier den Eindruck bekommen, (.) sei abgeschieden, aber sobald man auf den nächsten Hügel steige, sehe man die ganzen Kirchtürme rings umher“ (FP 4, Abs. 135). Der nächste Ort mit weiter differenzierter Infrastruktur – zu diesem gehört die Dorfgemeinschaft in politischer Hinsicht – ist somit auch zu Fuß zu erreichen. Allerdings sind hier etwa 20 Minuten Wegstrecke zu veranschlagen. 9.2 Freizeitleben 9.2 Freizeitleben „Es sind ja auch hier im Dorf so ab und zu mal Veranstaltungen und dann guckt man da doch rüber. Und so, dass man ein bisschen draußen und wollen wir mal sagen, nicht nur hier auf diesem Hof ist“ (B16, Abs. 81). Bezogen auf die individuelle Ebene können die Aktivitäten in der Freizeit Hinweise darauf geben, inwiefern Außenbezüge eine Rolle spielen. Fragen nach dem Freizeitleben konnten vor allem in den Interviews mit Mitarbeitern und Menschen mit Behinderungen thematisiert werden. Vor dem Hintergrund, dass behinderte Menschen sich in der Regel in größeren sozialen und funktionalen Ab-
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hängigkeiten befinden, habe ich insbesondere diesen Raum für entsprechende Schilderungen gegeben. Dieses spiegelt sich dann auch in der nachfolgenden Darstellung wider. Insgesamt betrachtet können die freizeitbezogenen Tätigkeiten hinsichtlich ihrer Ausrichtung nach innen bzw. außen unterschieden werden. Zudem kann differenziert werden, ob diese im Kontext einer von der Gemeinschaft organisierten Gruppe oder als Aktivität einzelner Personen stattfinden. Die genannten Formen kommen in allen Lebensgemeinschaften vor. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass von jeder Lebensgemeinschaft kulturelle Veranstaltungen organisiert bzw. offeriert werden, stellen im Rahmen der Gemeinschaft stattfindende gruppenbezogene Aktivitäten jedoch einen wesentlichen Bestandteil des Freizeitlebens dar. Allerdings variiert die Breite des Angebots zwischen den einzelnen Gemeinschaften erheblich. Hier ist insbesondere die Größe der Lebensgemeinschaft als Einflussfaktor zu nennen. Je kleiner das eigene Angebotsspektrum – so lässt sich tendenziell sagen –, desto mehr findet zur Gestaltung der Freizeit eine Bewegung nach außen statt: „Ja, (.) [Name der Lebensgemeinschaft] hält sich selbst für sehr offen nach außen. Ist in einer gewissen Weise auch richtig, aber teilweise gegeben durch Sachzwänge, da es hier einfach nur eine 30-Betten-Einrichtung ist, kann man eben gewisse Angebote nicht einrichtungsintern machen, um eventuell Kosten zu sparen, sondern man muss nach außen gehen …“ (B3M, Abs. 56). Nachfolgend wird das Freizeitleben nun exemplarisch unter dem Blickwinkel des ‚Innen ދund ‚Außen ދbeleuchtet: Innen Bei Freizeitaktivitäten, die sich innerhalb der Lebensgemeinschaft vollziehen, handelt es sich zum einen um informelle Beschäftigungen, welche – allein oder mit anderen – innerhalb des Wohnumfeldes stattfinden. Den individuellen Vorlieben geschuldet, gibt es hier eine große Varianz. Beispielhaft habe ich die folgenden Aussagen herausgegriffen:
„Es gibt einen Fernseher oder man kann puzzeln oder rätseln oder man sitzt zusammen, schnackt oder hört Musik, doch, doch“ (B14, Abs. 57). „Da hätten wir z. B. Stricken, Lesen, Schreiben, aus dem Buch abschreiben, so, das mache ich so ein bisschen so als Hobby, Fotografieren, aber nicht jeden Abend!“ (B16, Abs. 73) „Ja, Leute besuchen, abends ein bisschen rumsitzen, schwätzen und so weiter, Cappuccino trinken, mache ich ab und zu mal abends“ (B4, Abs. 63).
9.2 Freizeitleben
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„Was ich gerade mache sind Weihnachtsgeschenke, ich zirkele“ (B6, Abs. 61). „Entweder Briefe schreiben oder Musik hören oder sich irgend so beschäftigen oder mit anderen sich zusammentun und Gesellschaftsspiele machen oder auch ‚Mensch-ärgere-Dich-nicht ދoder solche Sachen“ (B8, Abs. 102).
Zum anderen bietet – wie angesprochen – jede Lebensgemeinschaft auch organisierte Aktivitäten an. Dabei handelt es sich etwa um regelmäßige Treffen, Gruppen oder Kurse, zu denen sich einige Gemeinschaftsmitglieder zusammenfinden und die sich der Kultur, Kreativität und Unterhaltung widmen sowie punktuelle (kulturelle) Veranstaltungen, die in einem größeren Rahmen stattfinden. Zum Teil sind letztgenannte Ereignisse auch oder in besonderem Maße für Besucher geöffnet, die nicht Teil der Lebensgemeinschaft sind. Dabei kann es sich beispielsweise um ein selbst einstudiertes Theaterstück, den Vortrag eines externen Referenten, das Konzert eines professionellen Orchesters oder Musikers, aber auch ein Fest handeln. Alle vier beteiligten Gemeinschaften besitzen einen eigenen Saal, welcher – in mehr oder weniger großem Umfang – auch für derartige Zwecke genutzt wird. Das diesbezügliche Kulturleben bietet insofern einen Anknüpfungspunkt, um Verbindungen von innen nach außen herzustellen oder zu pflegen: „Wir haben jetzt den Saal neu und das sehe ich jetzt als Aufgabe, zu gucken dass man hier auch Sachen organisiert oder Sachen hier reinholt, dass man Leute von außen bekommt, dass man dann durch das gemeinschaftliche Angucken oder Erleben von Veranstaltungen, dass man da auch in Begegnung kommt“ (B9M, Abs. 53). Dargelegt wurde bereits, dass zwischen den Lebensgemeinschaften eine große Variationsspanne bezüglich gruppenbezogener Veranstaltungen existiert. Dieses ist vor allem mit Blick auf Ereignisse der Fall, die Publikum außerhalb der Gemeinschaften einbeziehen. Insgesamt bietet sich ein vielfältiges Angebotsspektrum, wobei die Musik ein wesentliches Element darstellt:
Musik:
„Dann ist alle zwei Wochen Chor. Dann kommt eine, da ist so eine ältere Dame mit 86 oder was und musiziert dienstags“ (B4, Abs. 79). „Ich trommele gerne, habe hier eine Trommelgruppe“ (B1M, Abs. 45). „Also, es gibt Konzerte von auch außerhalb bekannten Bands, die kommen dann nach (.) [Name der Lebensgemeinschaft], die kommen sehr gerne. Die spielen dann bei uns quasi, machen da ein Benefizkonzert oder so und einen Tag später dann in (.) und verlangen da eigentlich viel Eintritt und bei uns machen sie das gratis, also die machen das
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Film:
„Beim Frühstück hatte ich erfahren, dass um 09:00 Uhr im Saal eine Probe zu einer Szene aus einem Märchen stattfinden soll, das zu Ostern aufgeführt wird“ (FP 3, Abs. 40). „Ich erfahre, dass nächste Woche intensiv, d. h. ganztägig, für das neue Theaterstück (‚Der Glöckner von Notre Dame )ދgeprobt wird“ (FP 4, Abs. 26).
Literatur:
„Wir haben immer jeden Monat Filmabend am Wochenende, Filmabend, jeden Monat, z. B. dieses Wochenende jetzt, da ist Filmabend, für alle. … Da treffen wir uns im Saal und dann hängen wir uns an die Leinwand und gucken“ (B4, Abs. 65).
Schauspiel:
wirklich gerne und es kommen auch gerne Leute von außerhalb … um eben so was mit zu erleben“ (B5M, Abs. 59). „Jetzt gerade das Adventscafé. Also das ist mit Geschichten-Vorlesen, Singen, sonntags eine Stunde“ (B13bM, Abs. 85). „Heute Abend seien nicht sehr viele Aktivitäten in (.) [Name der Lebensgemeinschaft] – ich könne mich ja einfach ein wenig umschauen. In der Halle eines Hauses spiele eine Band von Betreuten jeden Donnerstagabend Irish Folk, da könne ich bestimmt einmal reinschauen“ (FP 4, Abs. 7).
„Zwischendurch kommt ein Betreuter herein, nimmt das Telefon und telefoniert aufgeregt. Es stellt sich heraus, dass er einer von drei Betreuten ist, die sich jeden Freitag mit einem Mitarbeiter zu einem anthroposophischen Leseabend treffen“ (FP 4, Abs. 124).
Sport:
„Zwei Betreute werden am Vormittag an der Special-Olympics-Gruppe teilnehmen“ (FP 4, Abs. 129).
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Außen Freizeitaktivitäten außerhalb der Lebensgemeinschaft können für Mitarbeiter, die innerhalb der Gemeinschaft leben – so zeigen diesbezügliche Äußerungen – einen wesentlichen Faktor für die eigene Erholung darstellen. Falls möglich, wird somit darauf geachtet, die vorhandene Freizeit eher ohne Bezug zur Gemeinschaft zu verbringen: „Also, ich selber gehe meistens irgendwo nach draußen, weil ich ja wirklich 24-Stunden am Tag und die Nacht noch in (.) bin. Und dann will man einfach raus und was anderes sehen“ (B7M, Abs. 45). Den Arbeits- bzw. Präsenzzeiten geschuldet, wird in der Regel allerdings der weitaus größte Teil der Zeit innerhalb der Gemeinschaft verlebt. Vor diesem Hintergrund treten Wunsch und Notwendigkeit, freie Zeiten außerhalb der Lebensgemeinschaft zu gestalten, somit deutlich hervor: „Na ja gut, zum größten Teil natürlich spielt es sich hier ab, bei einem freien Tag die Woche, aber man merkt schnell, man muss dann auch raus, also man hat den Drang und man merkt auch, man muss es wirklich mal: Jetzt hier raus, was anderes sehen, Abwechslung kriegen“ (B5M, Abs. 61). Im Gegensatz dazu bedauert eine Mitarbeiterin sogar, nicht mehr Freizeit innerhalb der Lebensgemeinschaft verbringen zu können, da selbige bereits zum großen Teil mit außerhalb zu erledigenden, familienbezogenen Verpflichtungen ausgefüllt sei: „Ich würde mich natürlich auch freuen, wenn ich hier meine Freizeit verbringen kann, aber das ist oft schwierig, weil auch einfach immer was anfällt. Ich muss auch manchmal einfach nur einen Einkauf machen, was wir hier so nicht haben oder wenn die Kinder was Spezielles zu essen haben wollen und das ist dann ja schon eigentlich meine Freizeit“ (B15M, Abs. 74). Das Spektrum freizeitbezogener Tätigkeiten von behinderten Menschen außerhalb der Lebensgemeinschaft ist immer im Zusammenhang damit zu sehen, dass hier die Handlungsmöglichkeiten aufgrund fehlender finanzieller Voraussetzungen häufig eingeschränkt sind. Dieses wurde z. B. deutlich, wenn die Sprache auf Kinobesuche kam. „Eher nicht so, weil das so teuer ist“ (B2, Abs. 63) – so oder in ähnlicher Weise äußerten sich folglich mehrere Personen auf die Frage, ob sie denn ab und zu ins Kino gehen. Auch von Mitarbeiterseite findet diese Einschätzung Bestätigung: „Das nächste Problem ist ja immer das Geld. So was wie Kino zahlen die dann selber, ja“ (B15M, Abs. 68). Auch bezogen auf das Freizeitleben, das sich außerhalb der Lebensgemeinschaft abspielt, kann zwischen Aktivitäten unterschieden werden, denen einzelne Personen nachgehen, sowie Betätigungen, die sich im Rahmen einer von der Gemeinschaft organisierten Gruppe ereignen. Die Bandbreite der Aktivitäten aus dem erstgenannten Bereich zeigt sich wie folgt:
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9 Innen und Außen „Na ja, es bilden sich doch recht feste Freundschaften. Muss man schon sagen, dass man zusammen was unternimmt oder so. Manche haben da natürlich ein bisschen Probleme, da so Kontakte zu finden, aber, doch, da geht man mal ins Kino oder wenn man will, spazieren, doch, doch“ (B14, Abs. 69). „Es sind ja auch hier im Dorf so ab und zu mal Veranstaltungen und dann guckt man da doch rüber“ (B16, Abs. 81). „In (.), [Teil der Lebensgemeinschaft] da nimmt man dann ja doch auch an der Treibjagd teil, Preisskat und, also im Dorf, nicht. Doch, doch, ja, ja das geht schon“ (B14, Abs. 93). „Wir haben einen, der geht auch immer zum Tischtennis, eine andere geht zum Tanzen, Volkstanz, glaube ich“ (B15M, Abs. 68). „Und ja, viel Fahrrad fahren, am Wochenende“ (B16, Abs. 73). „Während des Essens erzählt ein Bewohner, dass er einmal in der Woche einen Besuch bei bestimmten Familien im Dorf mache. Eine Familie, die weggezogen ist, wird von ihm immer noch, nun an ihrem neuen Wohnort, besucht“ (FP 2, Abs. 12). „Und am Freitag, wenn viel Zeit ist, habe ich einmal in der Woche Feuerwehr. Ich gehe auch in die Feuerwehr hier, gegenüber vom Nebendorf. Das ist (.). Da bin ich in der Freiwilligen Feuerwehr mit drin“ (B2, Abs. 59). „Besuchen tun wir uns auch gegenseitig und an Weihnachten kommt die auch wieder, wie jedes Jahr, die kommt jedes Jahr Weihnachten hierher, weil die alleine ist“ (B4, Abs. 51). „Dann geht unser C. z. B. nach (.) in einen Chor, die J. auch und auch noch eine Frau vom (.) [Name eines Hauses], also die sind zu dritt im ganz normalen Männer- und Frauengesangsverein, also ein ganz normaler Dorfgesangverein in (.) (B1M, Abs. 49). „Ah, da fällt mir noch was ein. Ich habe ja jeden Samstag (.) [Freizeitgruppe einer anderen Organisation in der nächsten Stadt] mit der M. zusammen“ (B4, Abs. 92). „Aber gehe auch sehr gerne einkaufen und wenn ich was brauche, dann hole ich mir das oder gehe mal mit meinen Freunden weg (lacht)“ (B6, Abs. 63). „Und Freundschaften nach außen werden auch gepflegt, bei einzelnen Bewohnern. Eine unserer Bewohnerinnen hat z. B. auf dem Lebenshilfe-Ball letztes Jahr einen jungen Mann kennengelernt und die treffen sich jetzt schon mal“ (B11M, Abs. 39).
Die Vielgestaltigkeit der im Gruppenverbund außerhalb der Lebensgemeinschaft durchgeführten Aktivitäten wird anhand der nachfolgenden Ausschnitte aus dem Erhebungsmaterial sichtbar:
9.2 Freizeitleben
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„Wir fahren zum Jahrmarkt, einmal im Jahr. Dann machen wir eine Fahrt zum Weihnachtsmarkt nach (.)“ (B14, Abs. 68). „Na ja, sonst fahren wir auch alle 14 Tage Schwimmen in (.). Also, wenn sich ein Fahrer findet, manchmal ist das nicht so ganz einfach, können nicht alle mit und ja...“ (B14, Abs. 61). „Ja, wir waren jetzt letztens in (.) zum Musical, das war natürlich toll“ (B14, Abs. 99). „Ja, also ich habe mich auch für viele Sachen schon gemeldet und ich gehe auch montags Tanzen, dienstags hatte ich eigentlich immer Malen, aber das ist jetzt nicht mehr. Mittwochs hatte ich heute Morgen Reiten in (.) … Ja, das ist ein Ort, wo ein Reiterhof ist und da gehe ich dann jeden Mittwochmorgen zum Reiten hin. Und donnerstagabends habe ich Schwimmen, in (.)“ (B2, Abs. 57). „Ausflüge machen wir auch, nur wenn Bedarf auch besteht oder wenn Angebote kommen, so wie Wanderungen oder mit der Gruppe mal Spazieren zu fahren, außerhalb von (.) [Name der Lebensgemeinschaft], nach (.), nach (.), so einen kleinen Stadtbummel“ (B2, Abs. 61). „Insofern, dass man immer mal, also am Wochenende oder so, Ausflüge macht wie kulturelle Unternehmungen oder Konzerte oder auch ins Kino geht oder solche Sachen macht. Aber man bleibt natürlich dann immer geschlossen zusammen“ (B9M, Abs. 53). „Und ansonsten sind wir gerade jetzt auch in unserem Haus sehr daran interessiert, immer mehr auch eben uns in die Gesellschaft zu begeben, da auch Fertigkeiten zu üben, zu entwickeln, Fähigkeiten, in dem wir eben auch mal Essen gehen gemeinsam oder zu einem Tanztee, zu einer Lebenshilfe-Disko, auch mal ins Kino gehen, in die Philharmonie gehen, also auch vielfältige kulturelle Veranstaltungen besuchen“ (B11M, Abs. 39). „Da fahren wir weg und tun dann ... manchmal fahren wir morgens weg, mit dem Bus, irgendwo hin und dann wird entweder spazieren gegangen oder was angeschaut, dann essen wir auch mal außerhalb Mittag und trinken Kaffeetrinken irgendwo in einer Gastwirtschaft. Doch, das gibt es auch. Wir machen auch mal, Freizeitgestaltung gibt es auch. Also, Familienfreizeit. Da geht die Familie, eine Familie geschlossen irgendwo anders hin und schläft dann in Hotels“ (B8, Abs. 118).
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9 Innen und Außen
9.3 Vernetzung im Gemeinwesen 9.3 Vernetzung im Gemeinwesen „Also, ich denke, dass es immer wichtig sein wird, wie man den Anschluss an die Gesellschaft und die ganze Entwicklung in der Weltengeschichte, wie man das mit einbezieht bis in diese Sachen, dass die Menschen mitkriegen, was da außen passiert …“ (B9M, Abs. 73). Wie gestaltet sich die Vernetzung der Lebensgemeinschaften im Gemeinwesen? Zwar sind durch die bereits dargestellten Freizeitaktivitäten diesbezügliche Verknüpfungen zum Teil gegeben. In diesem Kapitel soll der Fokus jedoch über die Ebene der persönlichen Freizeitbeschäftigung hinaus gerichtet und aufgezeigt werden, welche (weiteren) Bezüge in das unmittelbare oder weitere Umfeld vorhanden sind. Die Informationen darüber entstammen größtenteils aus den mit Mitarbeitern geführten Interviews. Dabei wurde das Themenfeld von meiner Seite ohne inhaltliche Einschränkung angesprochen. Die Felderfahrungen als Basis nehmend kann somit konstatiert werden, dass in allen vier besuchten Gemeinschaften vielgestaltige Gemeinwesenbezüge vorhanden sind – ein abgeschottetes, allein dem Selbstbezug verpflichtetes Gebilde findet sich an keinem Ort. Insofern findet sich auch nirgendwo die Sichtweise, dass anthroposophische Lebensgemeinschaften als Gegenentwurf zum gesellschaftlichen Mainstream verstanden werden: „Es hat was Altes, finde ich. Also für mich persönlich sehe ich da noch was, was vielleicht vor 50 Jahren noch gelebt hat in den Dörfern drumrum, eben dieses gemeinschaftliche, generationsübergreifende Wohnen, auch diese Rituale, was früher noch stärker gelebt hat, Glauben auch und so, wird hier noch gepflegt. Aber nein, es ist kein Gegenimpuls oder so“ (B5M, Abs. 63). Variationsbreite und Dichte der Verzahnung unterscheiden sich zwischen den Lebensgemeinschaften jedoch zum Teil deutlich. Dabei scheint das Vorhandensein vernetzter Strukturen in großen Maße jeweils abhängig vom individuellen Engagement der Gemeinschaftsmitglieder zu sein: „Also, zunächst mal habe ich den Eindruck, das wird immer sehr stark von einzelnen Menschen gepflegt“ (B7M, Abs. 43). Hinsichtlich der oben dargestellten Arten physischer Einbettung lassen sich somit nicht unbedingt Rückschlüsse auf die jeweilige ‚Vernetzungstiefe ދziehen. So gibt es beispielsweise gerade auch in der von mir als ‚Dorf für sich ދbezeichneten Lebensgemeinschaft vielfältige Außenbezüge. Dennoch: Die Fühler in die direkte Nachbarschaft auszustrecken fällt selbstredend leichter, wenn bereits räumlich eine Integration in ein normales Wohnumfeld besteht, wie dieses z. B. bei der ‚Gemeinschaft im Dorf ދder Fall ist.
9.3 Vernetzung im Gemeinwesen
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In diesem Zusammenhang zeigt ferner ein differenzierter Blick, dass insbesondere beim ‚Leben am Stadtrand – ދtrotz bzw. wegen der Lage in Stadtnähe – an einigen Stellen Tendenzen einer Binnenorientierung offensichtlich werden. Dieses wird u. a. deutlich durch Aussagen von Mitarbeitern, in denen betont wird, dass es in der Regel für die dort betreuten Menschen zu gefährlich sei, sich alleine außerhalb der Gemeinschaft zu bewegen (FP 3, Abs. 28), das Leben in Stadtnähe viel Verkehr bedeute und dadurch mit Stresserfahrungen verbunden sei sowie die Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen außerhalb jeweils mit einem großen Aufwand bezüglich An- und Abreise einhergehe (FP 3, Abs. 69). Hier würden sozialtherapeutische Dorfgemeinschaften aufgrund ihrer Größe und der differenzierteren internen Angebote mehr Erlebnis- und Kontaktpotenzial bieten sowie bedingt durch die häufig ländliche Struktur einen größeren Aktionsradius für die betreuten Menschen ermöglichen (FP 3, Abs. 28). In diesen Kontext fügt sich auch die Tatsache ein, dass im Gegensatz zu den anderen drei Lebensgemeinschaften hier keine Produkte hergestellt werden, welche – etwa in einem eigenen Geschäft – zum Verkauf stehen und daher die Möglichkeit, über diesen Weg eine Verzahnung mit dem Umfeld zu erreichen, nicht vorhanden ist (FP 3, Abs. 168). Hinzugefügt werden muss jedoch, dass auf Mitarbeiterseite auch nachhaltige Strömungen sichtbar werden, welche die Entwicklung einer stärkeren sozialen Vernetzung als eine wesentliche Entwicklungsperspektive ansehen. Neben der Aufgabe, behinderten Menschen Anschluss an die Gesellschaft zu verschaffen, wird hier desgleichen der Anspruch benannt, in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein dafür zu erzeugen, Menschen mit Behinderungen als Bereicherung wahrzunehmen: „… aber auch diese andere Aufgabe: zu merken, was für Qualitäten die Menschen, die hier leben haben und das irgendwie den Menschen in der Welt zukommen zu lassen. Weil ich denke, das ist eine Qualität, die der Menschheit viel geben könnte“ (B9M, Abs. 73). Der neu errichtete Saal, in dem auch öffentliche Veranstaltungen stattfinden sollen, wird dabei als ein Kristallisationspunkt der gesellschaftlichen Verknüpfung betrachtet: „Und, wie gesagt, durch so einen Saal ist das eine Möglichkeit, da die Leute heranzukriegen“ (B9M, Abs. 55). In Richtung Außenvernetzung geht auch, dass mittlerweile viele behinderte Menschen – anders als ursprünglich konzipiert – in Werkstätten eines anderen Trägers außerhalb der Lebensgemeinschaft arbeiten und somit die Konzentration von Wohnen und Arbeit auf einen Ort teilweise aufgehoben wurde: „Und wir hatten da erst ein bisschen Bedenken, ob das alles gut geht, gerade auch bei Menschen, die es nicht so leicht haben. Und wir haben die Erfahrung gemacht, wir haben uns teilweise auch geschämt: ‚Warum nicht schon früher?ދ, dass wir das falsch eingeschätzt haben und die eigentlich alle gut zurechtgekommen sind und ja, da ein Stückchen Außenwelt bekommen“ (B9M, Abs. 49). Hinsichtlich
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dieser Praxis nimmt die Lebensgemeinschaft eine Alleinstellung im Kanon der an dieser Studie beteiligten Organisationen ein. Obwohl der Blickwinkel in den vorangegangenen Abschnitten auf die spezifische Situation einer Lebensgemeinschaft gerichtet wurde, kann angenommen werden, dass Aufbau und Aufrechterhaltung von Verbindungen in das umgebende Gemeinwesen auch in den anderen Organisationen nicht selten mit Schwierigkeiten und Herausforderungen im Zusammenhang stehen. „Also, es sind Bezüge nach außen da, aber ich denke es würde besser gehen, es könnte besser gehen“ (B3M, Abs. 56) oder „Aber wir versuchen, uns an der Gemeinde zu beteiligen, aber umgekehrt ist es eben, falls es das irgendwo gibt, ist es hier nicht so der Fall“ (B15M, Abs. 64) sind exemplarische Aussagen, welche diese Einschätzung stützen. In diesen Themenkomplex reiht sich auch die einem Gespräch entnommene Aussage einer langjährigen Mitarbeiterin ein, aus der hervorgeht, dass sich Kontakte nach außen auch aufgrund von vorhandenen Vorurteilen in den Nachbarorten erst langsam haben entwickeln müssen: „Früher dachten die Menschen hier, eine Behinderung sei eine ansteckende Krankheit“ (FP 4, Abs. 190). In einigen Fällen wird daneben deutlich, dass sich private Kontakte von Menschen mit Behinderungen vor allem oder ausschließlich auf Personen aus dem Kontext der Lebensgemeinschaft, das professionelle und/oder verwandtschaftliche Netzwerk beziehen: „Und sonst besteht dann der Bezug zur Außenwelt für den Einzelnen über die Eltern oder den amtlichen Betreuer, dass die dann am Wochenende oder so nach Hause gehen und die dann nach außen den Kontakt halten“ (B9M, Abs. 53). Dieses zeigt sich auch, wenn eine behinderte Frau – befragt nach ihren Außenkontakten – lediglich auf externe Mitarbeiter der Werkstätten verweist: „Ich kenne da zwar welche, die hier in (.) in den Werkstätten arbeiten, die sind aber in den Werkstätten mit drin“ (B6, Abs. 69). Auch sichtbar wird es anhand der Antwort, die ein behinderter Mann auf die Frage gibt, ob er Verbindungen zu Leuten habe, die nicht Mitglied der Lebensgemeinschaft sind: „Wenig, sehr wenig, ja. Das sind eben unsere Eltern, also wer noch Eltern hat, die treffen uns dann ja auch, einmal im Monat oder vierteljährlich, ja, ja“ (B14, Abs. 67). Wie sehen nun konkrete Beispiele für die Verzahnung mit dem Gemeinwesen aus? Zur Strukturierung habe ich die Rubriken ‚Cafés und Läden‚ ‚ދÖffentliche Veranstaltungenދ, ‚Nachbarschaft ދund ‚Politische Gemeinde ދgebildet.
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Cafés und Läden Ein wichtiges Bindeglied zwischen ‚Innen ދund ‚Außen ދstellen von den Lebensgemeinschaften betriebene Läden und Cafés83 dar. Diese können als Begegnungspunkt von Mitgliedern der Gemeinschaften und Personen aus der näheren oder weiteren Umgebung dienen. In drei der vier beteiligten Organisationen befindet sich jeweils mindestens ein Geschäft und/oder ein Café, das sich auch an die Öffentlichkeit richtet und in dem in der Regel auch Menschen mit Behinderung arbeiten: „… ja, das Café wirkt natürlich sehr nach außen, da kommen ja ständig, wenn du auf die Straße guckst, parken ständig Außenleute da“ (B1M, Abs. 51). Wenn auch in unterschiedlichem Maße, so nehmen diese Angebote tatsächlich eine Vermittlungsfunktion zwischen Individuen innerhalb und außerhalb der Lebensgemeinschaft ein: „Frau P. erzählt, dass das Bistro auch von Personen außerhalb der Dorfgemeinschaft genutzt werde. Insbesondere bei schönem Wetter würden vorbeikommende Wanderer hier Rast machen“ (FP 4, Abs. 112). Zumindest in einer Lebensgemeinschaft waren indes durchaus etwas zwiespältige Gefühle bei der Einführung eines Cafébetriebs vorhanden, die sich aber durch die praktische Erfahrung mittlerweile aufgelöst zu haben scheinen: „Also, ich finde dadurch, dass wir jetzt das Café hier vor zwei Jahren eröffnet haben, kommen natürlich auch Menschen auf den Hof und gerade am Wochenende viele. Da hatten wir erst Bedenken, wird das vielleicht zuviel, wie viel verkraftet der Hof an Öffentlichkeit? Aber da haben wir festgestellt: Es geht gut, auch mit unseren Menschen geht es einfach gut. Es bringt so ein bisschen Leben rein, ohne dass das stört“ (B13bM, Abs. 97). Die Bandbreite der Cafés und Läden erstreckt sich von (werk-)täglich geöffneten bis hin zu sporadischen oder saisonalen Angeboten. Es werden vorrangig Produkte aus eigener Herstellung angeboten. Das Sortiment der Geschäfte spiegelt somit immer auch das jeweilige Spektrum der innerhalb der Gemeinschaft hergestellten Waren wider. Allerdings wird dieses immer auch durch zugekaufte Erzeugnisse ergänzt:84 „Am späteren Nachmittag gehe ich in den Hofladen, der mittwochs und freitags geöffnet hat. Ich bin der einzige Kunde … Ich schaue mich um: Es gibt ein kleines Sortiment an biologischen Produkten, davon sind einige Produkte in der Lebensgemeinschaft selbst hergestellt (z. B. Schin-
83 84
In einem Fall wird hier von einem Bistro gesprochen. Die entsprechenden Lebensgemeinschaften verkaufen ihre Produkte in der Regel – regional bzw. überregional – auch über weitere Vertriebswege, wie Teilnahme an Märkten, Belieferung von externen Geschäften oder dem (Internet-basierten) Versand. In diesem Zusammenhang können sich zum Teil auch weitere Verknüpfungsmöglichkeiten ergeben.
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ken und weitere Wurst- und Fleischwaren, Marmelade, Gemüse, Säfte, Backwaren)“ (FP 1, Abs. 46). Öffentliche Veranstaltungen Es klang bereits in den Abschnitten zum ‚Freizeitleben ދan: Veranstaltungen, die innerhalb der Lebensgemeinschaft stattfinden, die sich aber auch oder in erster Linie an die Öffentlichkeit richten, können ebenso eine Vermittlungsfunktion zwischen innen und außen wahrnehmen. Wie gezeigt gehören dazu beispielsweise Musikveranstaltungen externer Künstler oder aber Eigenproduktionen, wie gemeinsam einstudierte Schauspiele, die sich jeweils auch an ein öffentliches Publikum richten. Eine wichtige Komponente stellen in diesem Zusammenhang auch Jahresfeste oder Tage der offenen Tür dar: „Da ist eigentlich ein relativ großer Andrang durch solche Veranstaltungen, auch eben Tag der offenen Tür, Martinsmarkt, das sind ja eigentlich alles so Öffentlichkeitsgeschichten. Da passiert schon viel, es wird auch immer mehr, es kommen immer mehr Leute, die sich dafür begeistern lassen, einfach vom Ort, wie das hier wirkt, aber auch das Angebot von den Werkstätten, vom Garten, von der Landwirtschaft, die Produkte, die hergestellt werden, das hat eine starke Anziehungskraft auf die Menschen außerhalb“ (B5M, Abs. 59). Die Wahrnehmung von dementsprechenden Festlichkeiten als verbindendem Element wird auch anhand weiterer Äußerungen von Mitarbeitern bemerkbar:
„Und hier beim Tag der offenen Tür trommeln wir. Da kommen ja ganz, ganz viele Leute auch von außen. Das ist immer so, dass das so gestaltet wird, mit wirklich vielen Teilnahmemöglichkeiten, dass das wirklich auch attraktiv ist für Leute von außen“ (B1M, Abs. 51). „Und wenn wir eben Hoffest haben, dann laden wir die Firmen hier im Umkreis auch alle ein, die kommen auch. Und das ist eigentlich auch ganz schön so zu erleben“ (B11M, Abs. 39).
Neben der Tatsache, dass derartige Aktivitäten Menschen von außerhalb zu Besuchen innerhalb der Lebensgemeinschaft animieren, kommt es auch vor, dass bestimmte Gruppen bereits bei der Gestaltung der Festivitäten mitarbeiten: „Dann eben haben wir verschiedene Vereine, der (.), dann gibt es die (.) hier im Landkreis, die eben richtig viel hier mitmachen und helfen. Wo sie am auffälligsten in Erscheinung treten, ist eben immer am Tag der offenen Tür, wo sie dann für uns den Pommes-frites- und Würstchen-Stand betreuen. Da kommen sie mit ihren Vereins-T-Shirts und machen große Aktion“ (B7M, Abs. 43).
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Die Häufigkeit dargestellter bzw. ähnlicher Aktivitäten hängt insbesondere mit Kapazität und Ressourcen der jeweiligen Lebensgemeinschaft zusammen. In der ‚Gemeinschaft im Dorf ދwird indes von einem leitenden Mitarbeiter darauf hingewiesen, dass es zur dort vorhandenen Struktur – es handelt sich um einige Hausgemeinschaften innerhalb eines Dorfes – eher passe, sich selber auf den Weg zu machen, anstatt viele Veranstaltungen am eigenen Platz zu konzentrieren (FP 2, Abs. 100). Nachbarschaft Beziehungen in die nähere sowie weitere Nachbarschaft sind zum einen persönlicher und zum anderen eher institutioneller Art. Individuelle Verknüpfungen äußern sich etwa in Kontakten von Gemeinschaftsmitgliedern zu direkten oder – je nach räumlicher Lage – mittelbaren Nachbarn. „Dann ist das gerade hier im Haus, dass ein paar Bewohner viel Kontakt in der Ortschaft (.) haben zu anderen Menschen, zu Nachbarn eben, was aber auch daher rührt, dass diese Gruppe die erste war, die die Gemeinschaft (.) gebildet hat“ (B3M, Abs. 56). Dabei realisieren sich diese Verbindungen z. B. dadurch, dass Gemeinschaftsmitglieder Anwohner besuchen oder von diesen besucht werden: „Die gehören nicht zur Gemeinschaft, das sind Privatleute, Nachbarn. Und die sind beim ihm [behinderter Mensch] eingeladen oder trommeln hier ab und zu mit oder ich gehe mal rüber und spiele Karten mit denen … “ (B1M, Abs. 49). Immer wieder zeigt sich, dass es vor allem Menschen mit Behinderungen sind, die sich selbständig Kontakte suchen, während Mitarbeiter zum Teil zurückhaltender agieren: „Also wir sind schon ... es ist nicht so, dass wir jetzt, aber da sind wir vielleicht auch nicht so die Typen, die jetzt irgendwie mit den Nachbarn sehr viel zu tun haben, aber unsere Menschen sind auf jeden Fall hier eigentlich willkommen. O. ist da bei den Nachbarn. Also, die haben schon Kontakt zu den Nachbarn, das muss man sagen“ (B13aM, Abs. 98). Insgesamt betrachtet, habe ich bei der von mir als ‚Gemeinschaft im Dorfދ bezeichneten Organisation – die örtliche Lage legt dieses nahe – die größte Vielfalt persönlicher nachbarschaftlicher Kontakte wahrgenommen, wie die folgenden längeren Interviewausschnitte beispielhaft zeigen:
„Hier ist, würde ich sagen, viel Außeneinbindung. Auch wenn ich so gucke bis in die Dorfversammlungen, da gibt es so einen Holzbackofen, da wurde so ein Backofenfest gemacht. Da haben dann etliche Leute aus dem Dorf gesagt: ‚Wie gut, dass ihr jetzt alle mit dabei seidދ. Damit haben sie sozusagen unsere Gemeinschaft gemeint, weil sie gesagt haben: ‚Vorher war das
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9 Innen und Außen so krampfhaftދ. Es sind halt wenige Familien, wenn man sich dann nicht so gut versteht, dann wird das jetzt sehr abgepuffert und abgemildert dadurch, dass wir jetzt alle mit dabei sind (lacht)“ (B1M, Abs. 51). „Und das ist für den C. so wichtig, dass er dabei ist und sich da integriert fühlt, dass er die [seine Mitsänger aus dem Chor im Nachbarort] dann zu seinem Geburtstag eingeladen hat. Und dann habe ich noch mal bei der Chorleiterin nachgefragt und dann hat sie gesagt: ‚Oh, das geht eigentlich gar nicht, wir singen immer erst ab 65ދ. Dann sage ich: ‚Für den C. wäre das so ganz schön und so ganz wichtig. Könntet ihr das nicht so machen, dass nicht alle kommen müssen, sondern dass ihr einfach sagt, wer hier freiwillig und gerne kommen würde, kommt mal herދ. Und jetzt kommt bestimmt mehr als die Hälfte vom Gesangverein dann nächste Woche freiwillig“ (B1M, Abs. 49). „Auch da versuche ich, was so ein Zusammenleben angeht, da habe ich z. B. einen Lehrer aus (.) von der Abendschule angesprochen, der will nächste Woche mal reinschnuppern. Ich bin da im Tauschring, (.) Tauschring, und dann machen wir sozusagen Stundentauscher. Er hat gesagt: ‚Suche: Trommeln und Rhythmusދ, also er ist anscheinend rhythmisch nicht so ganz taktfest, wünscht sich da aber mehr zu kriegen. Da habe ich gesagt: ‚Hm, ich wünsche mir, dass fremde Leute hierherkommen, dann brauchst du keine Stunden aufschreiben, dann kommst du und kannst was lernenދ. Aber für mich ist das schön, weil es attraktiv für unsere Leute ist, wenn jemand mit dazukommt und dann erzählt man einfach mal, wo man herkommt, wer man ist. Das lockert so die Zeiten zwischen dem Trommeln dann gut auf“ (B1M, Abs 45).
Bezüglich eines weiteren Aufbaus von individuellen Beziehungen von Menschen mit und ohne Behinderungen unmittelbar innerhalb des Dorfes, in dem die Gemeinschaft liegt, herrscht jedoch eine eher zurückhaltende Einschätzung vor. So hätten sich bei der zuletzt eingerichteten Hausgemeinschaft bereits weniger nachbarschaftliche Kontakte ergeben, da die Integrationsfähigkeit der kleinen Ortschaft Grenzen habe: „Dann waren aber die Dorfleute hier schon ein bisschen abgesättigt mit betreuten Menschen, weil da schon so Einzelbeziehungen da waren, drum hat sich da bei uns nicht mehr viel, wir sind die letzte Gruppe, nicht mehr so viel ergeben“ (B1M, Abs. 47). Allerdings hat der gesamte Ort vor einigen Jahren von der Kreisverwaltung einen Kulturpreis für die vorbildliche Integration von Menschen mit Behinderung sowie die Zusammenarbeit bei der Belebung der dörflichen Lebens- und Arbeitskultur erhalten (FP 2, Abs. 29). Um das soziale Gefüge des Dorfes nicht zu gefährden, ist zudem vor Ort ein weiterer Ausbau von Wohnplätzen für Menschen mit Behinderungen ausgeschlossen:
9.3 Vernetzung im Gemeinwesen
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„Ach so, was hier in (.) gut ist. Die haben sich selbst auch ein Limit gesetzt mit Plätzen, die sie anbieten wollen, eben auch, um das Dorf an sich nicht zu überrennen, das (.) eben nur noch als Einrichtung verstanden wird“ (B3M, Abs. 56). Institutionelle nachbarschaftliche Verbindungen der Lebensgemeinschaften beziehen sich z. B. auf die Zusammenarbeit mit in der Nähe ansässigen Gewerbebetrieben oder Unternehmen. Dabei kann es sich etwa um eine punktuelle Spendenaktion handeln: „Also, wenn hier Tag der offenen Tür ist, bei diversen anderen Firmen z. B. bei der Werkstatt gegenüber, das war ganz nett im Sommer, der hatte einen Schuhputzer engagiert und diese ganzen Kunden, die dann da waren an diesem Fest, die haben dann da eben auch gespendet, haben sich hier die Schuhe putzen lassen und der hat dann dieses Geld vom Schuhputzen, das waren doch einige hundert Euro, er hat ein großes Plakat von uns hingestellt: ‚guckt mal, was die da machen gegenüberދ, also ganz liebevoll auch, und hat dann eben dieses Geld vom Schuhputzen uns auch gespendet“ (B11M, Abs. 39). Aber auch eine intensive Zusammenarbeit mit einem großen Konzern, der Auszubildende für einige Tage zum Mitleben und -arbeiten in die Lebensgemeinschaft entsendet, fällt darunter: „Dann zu (.), zu der Firma, da ist der Ausbildungsleiter, dem ist es sehr wichtig, dass die Lehrlinge eben hier ein Sozialpraktikum machen, schon seit einigen Jahren. Und der pflegt das“ (B7M, Abs. 43). Von Ausnahmen abgesehen sind Disharmonien im Verhältnis zur Nachbarschaft kein Thema. Hier werden eher gegenteilige Erfahrungen geschildert: „Wir haben ja einige Menschen hier am Platz, die doch recht auffällig sind, oftmals eben auch sehr laut, vielleicht manchmal auch schreiend das Haus verlassen und schreiend durch den Garten gehen, was gerade so an einem Sonntag Morgen oder so, natürlich auch als störend empfunden werden kann, und trotzdem erlebe ich eben die Nachbarn doch als da recht offen …“ (B11M, Abs. 39). An der einen oder anderen Stelle wird aber doch auch deutlich, dass dem Ansatz der Lebensgemeinschaft zum Teil auch mit Vorbehalten begegnet wird: „Na ja und ich meine, über unsere Lebensform, die ja eigentlich normal ist, aber ich denke schon, dass es welche gibt, die sich über das eine oder andere wundern. Man hört das jetzt nicht so, aber ich meine, man weiß es ja im Prinzip“ (B15M, Abs. 62). Politische Gemeinde Verbindungen, die sich auf die politische Gemeinde, auf Politik und Verwaltung im örtlichen Gemeinwesen beziehen, konnte ich in unterschiedlicher Gestalt und Ausprägung wahrnehmen. Wie anhand der folgenden Beispiele nachvollzogen werden kann, reicht dabei das Spektrum von Fördermaßnahmen seitens der Politik über verschiedene Arten der Zusammenarbeit, etwa im Bereich Dienstleis-
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9 Innen und Außen
tung, bis hin zu aus dem Raum der Lebensgemeinschaft entspringendem politischen Engagement:
„Dass wir hier in (.) ansässig geworden sind, das haben wir einfach dem Engagement des Bürgermeisters zu verdanken, der ja dann auch seinen Sohn zum Schluss hier in die Einrichtung gegeben hat. Und der hat sich von Anfang an bis jetzt unermüdlich für (.) eingesetzt. Ungeheuer auch, was er da bewirkt hat“ (B7M, Abs. 43). „Ich erfahre, dass die hiesige Glocke von der Gemeinde (.) gestiftet wurde. Vom Glockenturm kann man – so Frau S. – zum Glockenturm der Kirche in (.) hinüber sehen, so dass sich beide Türme sozusagen ‚anschauenދ. Zu den Werkstattpausen bzw. dem Werkstattende am Abend wird jeweils die Glocke geläutet“ (FP 4, Abs. 58). „Ansonsten: Die Gemeinde, die fragt auch an. Nächsten Montag oder Dienstag z. B. haben die hier Essen bestellt für das Gemeindehaus, da ist eine Sitzung … Und dann werden die von uns verköstigt, also wir verköstigen die nicht, indem wir da dann auch alles wie so ein Catering ausgeben und so, sondern wir machen das fertig, geben denen das, die sagen genau, wie sie es haben wollen“ (B15M, Abs. 60). „Für den morgigen Tag ist der erste Gang in das Naturschutzgebiet geplant, in dem im Auftrag des Landkreises Pflegearbeiten erledigt werden“ (FP 2, Abs. 42). Unter Dach und Marke der Region nehmen Mitarbeiter einer Gemeinschaft jährlich an einer überregionalen Landwirtschaftsmesse teil (FP 1, Abs 29). „Ansonsten werden wir auch, also wir haben zu der Bürgermeisterin, die ist jetzt erst neu, vorher hatten wir einen Bürgermeister, eigentlich einen guten Kontakt. Und wir werden dann auch eingeladen“ (B15M, Abs. 58). Eine Mitarbeiterin sowie die Mutter eines in der Lebensgemeinschaften unterstützten Menschen sind im Gemeinderat vertreten: „Die Frau B. ist z. B. in (.) im Gemeinderat und die ist aber auch immer da und die hilft immer wieder mit und legt dann eben auch in (.) ein gutes Wort für uns ein“ (B7M, Abs. 43).
9.4 Reflexion
219
9.4 Reflexion 9.4 Reflexion 9.4.1 Kommentierung Verbindungen zwischen innen und außen, zwischen Lebensgemeinschaft und dem näheren oder weiteren Umfeld, habe ich an jedem Ort wahrgenommen, den ich besuchte. Eine ‚weltabgewandteދ, vorrangig introvertierte Organisation habe ich somit nirgendwo angetroffen. Der immer wieder geäußerte Vorwurf – auch ich wurde im Vorfeld meiner Forschungsaufenthalte von kollegialer Seite damit gelegentlich konfrontiert –, anthroposophische Lebensgemeinschaften seien per se eher einsiedlerische Gebilde mit möglichst wenigen Außenbezügen, findet daher zumindest für das im Rahmen dieser Studie beobachtete Spektrum keine Bestätigung. Allerdings erlebte ich Unterschiede hinsichtlich Gestalt, Vielfalt und Tiefe der jeweiligen Verknüpfungen. In diesem Zusammenhang fiel mir insbesondere eine Lebensgemeinschaft als insgesamt weniger vernetzt auf. Jedoch war dort auch das Bewusstsein dafür zu spüren, dass (weitere) Anstrengungen vonnöten sind, um die Chancen eines verstärkten Austausches zwischen innen und außen besser nutzen zu können. Trotz aller bestehenden Bezüge: Die Gemeinschaften sind in drei von vier Fällen im ländlichen Milieu angesiedelt, so dass es – vor allem abends und am Wochenende, häufig aber auch darüber hinaus – schwierig ist, ohne Auto Orte mit einer größeren Bandbreite an Infrastruktur, etwa einem Bahnhof, zu erreichen. Möchten Menschen mit Behinderungen selbständig mobil sein, bleibt ihnen dann entweder der Gang zu Fuß oder die Fahrt mit dem Fahrrad. Abgesehen davon, dass hier dann in der Regel längere Wegstrecken zurückgelegt werden müssen, sind aufgrund von persönlichen Mobilitätseinschränkungen gar nicht alle behinderten Menschen in der Lage, diese Fortbewegungsarten zu nutzen. Somit werden diese Menschen in der Regel auf einen Mitarbeiter angewiesen sein, der sie fährt. Die Erfahrung lehrt, dass dabei – aus Gründen der Wirtschaftlichkeit und Praktikabilität – bevorzugt auf Gruppenzusammenhänge rekurriert wird und dadurch individuelle Bedürfnisse und Wünsche jeweils in Einklang mit denen weiterer Personen zu bringen sind. In diesem Zusammenhang stellt sich mir die Frage, ob hier nicht Abhängigkeiten geschaffen werden, die – trotz bestehendem Hilfebedarf – nicht vorhanden sein müssten. Auch die Tatsache, dass sicherlich eine bestimmte Anzahl behinderter Menschen aufgrund gegebener Unterstützungsnotwendigkeiten vermutlich gar nicht in der Lage wäre, die Lebensgemeinschaft ohne Begleitung zu verlassen, entkräftet diese Frage nicht. Denn abgesehen davon, dass dieses eben nicht alle behinderten Menschen betrifft bzw. sich hier auch Änderungen ergeben kön-
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nen, bietet eine gemeinwesenorientierte räumliche Einbettung höchstwahrscheinlich auch bei Erfordernis einer intensiven Begleitung mehr Möglichkeiten für individuelle Arrangements im Kontext zwischen innen und außen. Diese Gedanken bedeuten indes nicht, dass ich dem Leben in städtischer Umgebung das Wort reden möchte. Wie am Beispiel einer Lebensgemeinschaft gesehen, ist es nicht hinreichend, eine bessere Anbindung an urbane Infrastruktur zu haben, damit vielfältigere Verknüpfungen in das Gemeinwesen entwickelt werden. Zudem ist das Leben im ländlichen Sektor üblicherweise mit einem im Vergleich zur Stadt eingeschränkten strukturellen Unterbau verbunden. Möchte man also auf dem Land leben, so wird man dieses – in verschärfter Form, wenn Mobilitätseinschränkungen vorliegen – in Kauf nehmen müssen. Es ist also keine grundsätzliche Entscheidung zwischen ‚Stadt ދoder ‚Land ދzu treffen. Vielmehr ist der Lebensort – eben auch bei Menschen mit Behinderungen – in Abhängigkeit von den individuellen Möglichkeiten, Bedürfnissen und Wünschen auszuwählen. Somit ist immer zu hinterfragen, ob Dreh- und Angelpunkt der Entscheidung für die räumliche Verortung des wohnbezogenen Arrangements das Votum des behinderten Menschen ist bzw. ob das Nötige dafür getan wurde, um die Meinung des Betroffenen verfügbar zu machen. Unabhängig von infrastrukturellen Aspekten und ungeachtet aller durchaus vorhandenen Verknüpfungen mit dem Gemeinwesen: Alle Lebensgemeinschaften stellen eigenständige, sich von der Umgebung auch abgrenzende Gebilde, Organisationen mit eigener Form dar, bei denen ein ‚Innen ދund ‚Außenދ deutlich voneinander unterschieden werden kann. Hinsichtlich Struktur und äußerer Erscheinungsform ist mir dieses besonders bei der von mir als ‚Dorf für sich ދbenannten Lebensgemeinschaft aufgefallen. Die Bedeutung eines eigenständigen Kulturlebens innerhalb der Gemeinschaft, zum Teil auch mit dem Selbstverständnis gepflegt, eine ‚Kulturinsel ދsein zu wollen, zeigt diesen Anspruch beispielhaft. Immer wieder habe ich mich gefragt, ob diese ‚Sonderform ދbenötigt wird, damit ein gemeinschaftliches, sozialtherapeutisch geprägtes Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung gelingen kann? Könnte das gemeinschaftliche Leben, auch unter Berücksichtigung vorhandener Schutz- und Unterstützungsbedürfnisse, nicht auch als integraler Teil eines inklusiven Gemeinwesens realisiert werden? Wäre es nicht möglich, das in den Organisationen lebende Gemeinschaftsgefühl, die kulturellen Angebote, die Arbeits- und Wohnmöglichkeiten (noch mehr) in die Gemeinde zu tragen bzw. in das örtliche Gemeinwesen ‚einzustreuen ?ދDenn erfahren Menschen mit Behinderungen an speziellen Orten außerhalb des ‚bürgerlichen ދGemeinwesens Unterstützung, besitzt dieses tendenziell immer den Ruch der Exklusion und trägt
9.4 Reflexion
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insofern nicht dazu bei, dass diese Menschen als integraler Teil der Gesellschaft wahrgenommen werden und dementsprechend – konstant – ihren festen Platz in der Gemeinde einnehmen können. 9.4.2 Kontextuelle Einordnung Die Beschreibungen zeigen, dass in den besuchten Lebensgemeinschaften im Großen und Ganzen vielgestaltige Verbindungen zwischen innen und außen existieren.85 Offensichtlich ist aber auch, dass es sich jeweils um – etwa im physischen, sozialen und kulturellen Sinne – eigenständige Gebilde handelt, bei denen eben zwischen innen und außen unterschieden werden kann. Insofern kann hier von einem Flottieren zwischen zwei Polen ausgegangen werden, das sich auch in der entsprechenden sozialtherapeutischen Literatur widerspiegelt. So wird dort zum einen der Anspruch formuliert, Prozesse der gesellschaftlichen Integration gestalten zu wollen. Zum anderen wird aber ebenso deutlich, dass die Lebensgemeinschaft als ein besonderer Ort verstanden wird, welcher Menschen mit Behinderungen einen auch vor den Anforderungen der Gesellschaft schützenden Rahmen bieten soll: „Sozialtherapeutische Gemeinschaften bemühen sich darum, eine Lebenswelt zu schaffen, die den jeweils eigenen Bedürfnissen, Möglichkeiten, Fähigkeiten und Schwierigkeiten entspricht; einen Raum zwischen Unterforderung (z. B. durch Versorgungsroutinen) und Überforderung (z. B. durch gesellschaftliche Unübersichtlichkeit und Anonymität). Eine Gemeinschaft muss dabei in der Lage sein, Polaritäten in sich zu vereinigen: Sie ist vom Menschen mit Behinderung als ein Ort gefragt, der Integration in die Gesellschaft fördert und zugleich eine Art Schonraum innerhalb der Gesellschaft ist“ (SiegelHolz 2008, 274). Vor dem Hintergrund, dass bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse als defizitär wahrgenommen werden, erhalten Lebensgemeinschaften somit auch eine Funktion als Ort des Rückzugs und der Kompensation: „Es erhebt sich die heikle Frage, ob das, was wir ‚unsere normale Welt ދnennen, wirklich so ist, daß man einem Freund oder einem hilfebedürftigen Menschen, um den man sich besonders gerne bemühen möchte, wünschen würde, sich dort zu integrieren“ (Eisenmeier 1995, 55). Sozialtherapeutische Gemeinschaften von Menschen mit und ohne Behinderungen können in diesem Kontext als Versuch verstanden werden, 85
In ihrer Diplomarbeit, die sich mit anthroposophischen Einrichtungen als Lebensort für Menschen mit komplexer Behinderung auseinandersetzt, stellt Roil allerdings fest, dass in den von ihr untersuchten Lebensgemeinschaften „eine Integration in Gesellschaftszusammenhänge nur punktuell realisiert wird. Allein durch die räumliche Abgeschiedenheit der meisten Einrichtungen ist der Kontakt zur übrigen Gesellschaft erschwert“ (Roil 2008, 84).
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eine soziale Welt zu schaffen, in der Integration erst möglich wird (ebd.). Innerhalb dieser Sichtweise kann Integration dann zuallererst als Eingliederung in den geschützten Raum einer besonderen Lebenswelt verstanden werden. Die Komponente der gesellschaftlichen Teilhabe tritt in den Hintergrund: „Innerhalb der anthroposophischen Sozialtherapie wurde der Begriff der inversen Integration geprägt: Menschen mit Behinderungen sind nicht nur dann als integriert anzusehen, wenn sie mitten in der bürgerlichen Gemeinde wohnen und gegebenenfalls arbeiten, sondern ebenso auch dann, wenn sie Normalität und Gesellschaft in ihrer Gemeinschaft erleben“ (Siegel-Holz 2008, 282). Folglich verstehen sich sozialtherapeutische Gemeinschaften auch als „LebensOrte“, deren Selbstverständnis ist, „Gemeinschaft innerhalb der Gesellschaft“ sein zu wollen (Verband für anthroposophische Heilpädagogik, Sozialtherapie und soziale Arbeit e.V. 2002, 10).86 Mit Blick auf die dargestellte Funktion versteht Buchka sozialtherapeutische Organisationen als eine Form ‚inszenierter Gemeinschaften( ދ2003a, 258ff.).87 Im Zusammenhang mit sich aus diesbezüglichen Ausrichtungen möglicherweise ergebenden Tendenzen einer Binnenorientierung mahnt Dörner anlässlich einer Fachtagung des Verbands für anthroposophische Heilpädagogik, Sozialtherapie und soziale Arbeit einen stärkeren gesellschaftlichen Bezug anthroposophischer Lebensgemeinschaften an: „In Ihrem Verband bieten Sie nun mal das Beste, was es auf dem Markt gibt. Aber zukunftsfähig werden Sie, wenn es Ihnen gelingt, diese Kostbarkeiten nicht nur in Gemeinschafts-, sondern auch in Gesellschaftsfähigkeit für sich und die Behinderten zu denken und entsprechend zu handeln“ (Dörner 2002, 34). Deutlich scharfzüngiger formuliert er an anderer Stelle, indem er anthroposophischen Dorfgemeinschaften pauschal bescheinigt, die dort lebenden behinderten Menschen um die Teilhabe an der Gesellschaft zu betrügen (Dörner 2007, 25).88 Insbesondere im Kontext des Paradigmenwechsels in der Behindertenhilfe (vgl. z. B. Hohmeier 2004; Rohrmann 2007), dessen Implikationsgehalt innerhalb der anthroposophischen Sozialtherapie intensiv diskutiert und rezipiert wurde (vgl. z. B. Denger 2002; 2009; Lorenz 2002; Rudolph 2007; Siegel-Holz 2009), haben sich in den letzten Jahren viele sozialtherapeutische Lebensgemein86 87
88
Siehe auch Kapitel 8.3.2. Mit Blick auf Zukunftsperspektiven sozialtherapeutischer Lebensgemeinschaften merkt Grimm freilich an: „Ihren Wert und ihre Würde werden sozialtherapeutische Gemeinschaften allerdings nur dann bewahren, wenn sie nicht nur als Ausfallbürgen gesellschaftlicher Unzulänglichkeiten oder überkommene Modelle angesehen werden, sondern als innovative Lebensformen in einer pluralen Gesellschaft, die selbst entwicklungsbedürftig ist“ (Grimm 2004, 18f.). Dass eine solche pauschale Zuschreibung die differenzierte Realität in sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaften negiert, wird vor dem Hintergrund meiner Beschreibungen in diesem Kapitel deutlich.
9.4 Reflexion
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schaften in Richtung einer stärker gemeindebezogenen Vernetzung bzw. Diffundierung auf den Weg gemacht. Die Etablierung offener Wohnformen außerhalb angestammter Areale, die Entwicklung öffentlicher Angebote innerhalb der Gemeinde oder auch die Einbeziehung nachbarschaftlicher Hilfen können als Beispiele der Weiterentwicklung sozialtherapeutischer Lebensgemeinschaften genannt werden. Dabei gilt hier allerdings – die an dieser Studie beteiligten Gemeinschaften zeigen dieses –, dass keineswegs einheitliche, sondern von Pluralität geprägte Entwicklungen festgestellt werden können (Grimm 2009, 6). Ein mit Blick auf eine gemeindeorientierte Verflechtung konsequentes Beispiel existiert dabei in Schottland, wie folgende Beschreibung zeigt: „Ursprünglich waren sie einmal ‚klassische ދanthroposophische, familienähnliche Gemeinschaften von Menschen unterschiedlicher Begabungen und Behinderungen. Inzwischen haben sich die sozialtherapeutischen Einrichtungen in Edinburgh zu einem differenzierten und offenen System entwickelt. Zwar gibt es noch die ursprüngliche Gemeinschaft Garvald West Linton, aber in der Stadt findet man den gut frequentierten Engine Shed, ein integrativ geführtes Restaurant und Konferenzzentrum, die Garvald Factory und das Orwell Arts and Crafts Centre sowie Angebote wie die Gemeinschaft Tiphereth, die unter anderem für die Stadt die Grünabfälle einsammelt und zu Kompost verarbeitet. Die früheren Stadtgemeinschaftshäuser wurden durch selbständiges und betreutes Wohnen in den Stadtteilen ersetzt“ (Grimm 2009, 6). Die mit dem Paradigmenwechsel verbundenen Zielsetzungen beziehen sich in erster Linie auf eine veränderte Sichtweise auf Menschen mit Behinderungen: „Menschen mit Behinderung sind nicht länger Objekte wohlwollender Fürsorge, sondern Akteure im Kontext ihrer Lebensplanung und Alltagsgestaltung. Sie sind nicht mehr Empfänger von Hilfen, sondern Nutzer von Dienstleistungen mit Anspruch auf eine Qualität, die fachlichen Standards entspricht. Sie sind Bürgerinnen und Bürger unserer Gesellschaft – mit dem Recht auf Teilhabe“ (Seifert/Steffens 2009, 11). In diesem Kontext wird die Fachdiskussion zunehmend vom Gedanken der Inklusion, d. h. der vollständigen gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, geprägt. Auch als behindertenpolitische Zielperspektive und Ausweis zeitgemäßer Fachlichkeit gewinnt dieser Ansatz immer mehr an Bedeutung. So erhält die Teilhabeorientierung in kodifizierter Form beispielsweise Ausdruck im Rehabilitationsrecht (Neuntes Sozialgesetzbuch (SGB IX)) oder der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (United Nations 2006). Ein am Teilhabegedanken ausgerichtetes, inklusivem Gedankengut verpflichtetes Gemeinwesen fußt dabei auf der Idee von aktiver Dazugehörigkeit „The idea behind this is that all humans, with or without learning disabilities, have the right to be completely admitted to their various communities … Inclu-
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sion is based on the hope and expectation that people with learning disabilities are being admitted in society, and play a serious part in decision making, in the culture and social community” (van Loon/van Hove 2001, 239). Inklusion bedeutet somit, nicht nur in der Gemeinde zu leben, sondern Teil der Gemeinde sein. Dieses Verständnis als Grundlage nehmend, ergeben sich daraus auch neue Anforderungen an professionelle Akteure: „Teil der Gemeinde zu sein verändert nicht nur die Rolle des behinderten Menschen im Gemeinwesen, sondern auch der professionellen Begleitung. Während bislang die pädagogisch orientierte Begleitung und Unterstützung des Individuums zur Teilhabe am allgemeinen Leben im Vordergrund stand, ist der Radius der professionellen Arbeit unter der Zielperspektive Inklusion um die Aufgabe erweitert, Bedingungen in der Gemeinde zu schaffen, die Teilhabechancen stärken“ (Seifert/Steffens 2009, 12). Im Vergleich zum Begriff der Integration kann das Konzept der Inklusion als Referenz für eine erweiterte Betrachtungsweise dienen. Es geht insofern nicht um die sich vor dem Hintergrund eines vorhandenen Rahmens abspielende Eingliederung behinderter Menschen in einen bestimmten Lebenskontext, sondern um einen – von vorneherein gegebenen – universalen Anspruch auf Zugehörigkeit: „Steht also bei der Integration im Mittelpunkt, dass wir, die nicht behinderten Mitglieder der Gesellschaft, sie, die Menschen mit Behinderung hinzuholen, teilnehmen lassen, so ist im Inklusionsgedanke dieses wir und sie aufgehoben, es geht nicht mehr nur noch um Teilnahme, sondern um Teilhabe“ (Aselmeier 2008, 59f.; Hervorhebung im Original). Das Einbezogensein in die Gesellschaft als vollwertiges Mitglied unabhängig von Fähigkeiten und Beeinträchtigungen stellt also eine zentrale Orientierungsmarke inklusiver Prozesse dar. In einer erweiterten Perspektive wird mit der Konzeption von Inklusion jedoch nicht auf eine bestimmte Zielgruppe Bezug genommen. Vielmehr findet der Umgang mit Heterogenität und Vielfalt in einem umfassenden Sinne Berücksichtigung: „Es geht diesem Verständnis nach nicht um die Einbeziehung einer Gruppe von Menschen mit Schädigungen in eine Gruppe Nichtgeschädigter, vielmehr liegt die Zielsetzung in einem Miteinander unterschiedlichster Mehr- und Minderheiten – darunter auch die Minderheit der Menschen mit Behinderungen“ (Hinz 2002, 355).89 An der Teilhabe im Gemeinwesen orientierte Unterstützungsleistungen für Menschen mit Behinderungen werden mittlerweile hauptsächlich unter dem Blickwinkel des aus dem angloamerikanischen Raum stammenden ‚Community 89
Zur weiteren Auseinandersetzung mit Inklusion und Teilhabe – auch in Abgrenzung zur Integration – vgl. insbesondere Hinz (2002); Theunissen/Schirbort (2006); Wansing (2006); Boban/Hinz (2009), Lindmeier (2009); Schwalb/Theunissen (2009) und Stein/Krach/Niediek (2010). Ein Szenario zur Entwicklung eines inklusiven Gemeinwesens findet sich bei der Forschungsgruppe IH-NRW (2008; 345ff.).
9.4 Reflexion
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Careދ-Ansatzes oder dem aus der Jugendhilfe kommenden Begriff der ‚Sozialraumorientierung ދdiskutiert. Aber auch die in der Behindertenhilfe bereits seit längerem präsenten und vor allem von Thimm (z. B. 1994; 2001; 2005a) geprägten Begriffe der ‚Gemeindeorientierung ދbzw. ‚Gemeinwesenorientierung ދfinden in diesem Zusammenhang nach wie vor Verwendung. Wenn zum Teil auch aus unterschiedlichen fachlichen Zusammenhängen und Traditionen entstanden, so erscheint die Grundidee der genannten Termini doch ähnlich gelagert zu sein, so dass eine klare begriffliche Abgrenzung nicht möglich ist.90 Im Kern geht es allerdings jeweils – so lässt sich meines Erachtens feststellen – um eine mit der programmatischen (und prägnanten) Formel „Leben in Nachbarschaften“ (Thimm 1994) beschreibbare lebensweltliche Ausrichtung von Hilfen für Menschen mit Behinderungen. Insofern drückt sich hier ein Leitgedanke des seit etwa 1980 in Deutschland entfalteten, ursprünglich in Skandinavien entstandenen Reformkonzepts der Normalisierung aus (Thimm 2001, 359). Kursorisch gefasst kann unter Sozialraumorientierung verstanden werden, dass die individuenzentrierte Sichtweise – im Sinne des Inklusionsgedankens – um eine die soziale und institutionelle örtliche Struktur einbeziehende Perspektive erweitert wird: „Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung sollten sich nicht ausschließlich auf den betroffenen Menschen mit Behinderung fokussieren. Vielmehr sollte, neben dem unmittelbaren Sozialraum im persönlichen Netzwerk oder in einer Institution, vor allem der mittelbare oder weitere Sozialraum, die Nachbarschaft, das Quartier, der Stadtteil, die Gemeinde usw. einbezogen werden. Dabei geht es darum, vorhandene Ressourcen nutzbar zu machen oder durch entsprechende Gemeinwesenarbeit neue Ressourcen zu gewinnen“ (Bradl/ Niehoff 2007, 7). Bei der Bezugsgröße Sozialraum wird dabei in erster Linie von der konkreten Lebenspraxis der Menschen ausgegangen, die sich in den für die jeweiligen Personen bedeutsamen Lebensräumen vollzieht. Im planerischen Sinne wird der Sozialraum aber auch als Verwaltungseinheit oder Stadtteil definiert: „Sozialraum hat als Begriff also einerseits eine subjektive Bedeutung als räumliche Dimension sozialer Netzwerke bzw. als konkretes Wohnumfeld (sozialer Nahraum) und andererseits eine objektive Komponente als Stadtteil oder Quartier – und alle drei Bedeutungen sind nicht deckungsgleich“ (Franz/Beck 2007, 33).91 Im Gegensatz zum ursprünglich im Kontext der Jugendhilfe entstandenen Konzept der Sozialraumorientierung ist der in den letzten Jahren verstärkt in die bundesdeutsche Diskussion getragene Ansatz der Community Care originär in 90 91
Eine Betrachtung der beiden Konzeptionen ‚Community Care ދund ‚Sozialraumorientierungދ nehmen beispielsweise Franz und Beck (2007, 37ff.) vor. Zur differenzierten Auseinandersetzung mit Sozialraumorientierung vgl. insbesondere Hinte/Treeß (2007); Hinte (2009) und Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft (2008).
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der Behindertenhilfe verortet. Hier wird dieser zunehmend als Rahmen gemeinwesenorientierter Handlungskonzepte diskutiert. Eine grundsätzliche Definition dazu legt Walter Thimm, der Nestor des Normalisierungsprinzips in Deutschland, in einem Gespräch mit Kai-Uwe Schablon dar: „Ich verstehe unter Community Care, bezogen auf den Kreis der Adressaten mit Beeinträchtigungen und Familien mit behinderten Kindern, einen überschaubaren Lebensraum, in dem alle Unterstützungsmaßnahmen einer Gemeinde vorgehalten werden, um allen Menschen eine gleichberechtigte aktive Partizipation am Leben der Gemeinde zu gewährleisten“ (Schablon 2009b, 150). Aselmeier zeigt in einer Begriffsbestimmung von Community Care deutlich die Bezüge zu Grundprinzipien des Paradigmenwechsels auf und macht somit auf den Gehalt des Ansatzes als Klammer um aktuelle behindertenpolitische Leitbegriffe wie etwa Deinstitutionalisierung, Normalisierung, Regionalisierung, Gemeinwesenorientierung, Offene Hilfen sowie individuelle Hilfe- und örtliche Angebotsplanung aufmerksam:92 „Im Zentrum des Community Care Ansatzes steht die sinnvolle Verknüpfung einer an den Bedürfnissen und Wünschen der Betroffenen ausgerichteten individuellen Hilfeplanung mit dem Ausbau eines lokalen, ineinandergreifenden Systems ambulanter Hilfen. Dieses Hilfesystem wird durch eine auf sozialplanerischen Kriterien beruhende örtliche Angebotsplanung mit dem Ziel gesteuert und koordiniert, Menschen mit Unterstützungsbedarf ein möglichst selbstbestimmtes und eigenständiges Leben in ihrer eigenen Wohnung zu ermöglichen. Dabei soll auf Komplexeinrichtungen mit Anstaltscharakter verzichtet werden. Informeller Unterstützung wird im Community Care Ansatz eine wesentliche Rolle zugedacht, soll sie doch soweit wie möglich professionelle Hilfen überflüssig machen“ (Aselmeier 2008a, 67; vgl. auch Aselmeier 2008b, 388). Die erbrachten Unterstützungsleistungen treten dabei nicht in Form von standardisierten Komplexleistungen auf, sondern setzen sich als hilfreiche Arrangements aus verschiedenen, auf die individuelle Situation des einzelnen Menschen angepassten Bausteinen zusammen. Professionelle als auch informelle Hilfen sind miteinander verzahnt (Aselmeier 2008b, 374f.).93
92 93
Zum Ansatz der Community Care vgl. auch Maas (2006); Lindmeier (2008) und Schablon (2009a). Hier sind inhaltliche Verknüpfungen zum Konzept der ‚Netzwerke Offener Hilfen( ދNetOH) herstellbar (Rohrmann u.a. 2001).
10 Individuum und Gemeinschaft 10 Individuum und Gemeinschaft
„Also, dass wir bestrebt sind, unseren Bewohnern so viel Individualität wie möglich zu ermöglichen bei gleichzeitigem eben Bemühen darum, dass sich die Gemeinschaft nicht auflöst dadurch vor lauter Vereinzelung und: ‚Ich will das und ich will das und ich will aber das und das nichtұ, sondern dass wir eben auch noch schauen: Wie kommen wir denn aber auch zusammen?“ (B11M, Abs. 53). Die menschliche Existenz bewegt sich zwischen den Polen ‚Individualität ދund ‚Gemeinschaftދ: „Menschen sind Einzelwesen und soziale Wesen zugleich. Das heißt, als Individuen befinden sie sich immer auch in einem (potentiellen oder tatsächlichen) Bezug zu Gemeinschaft(en) und Gesellschaft(en)“ (Vester 2009, 24). Dies zeigt sich in ausgeprägter Weise, wenn Leben, Arbeit und Kultur in erster Linie im Kontext einer sozialtherapeutischen Gemeinschaft und somit innerhalb eines explizit dem gemeinschaftlichen Moment verpflichteten Settings stattfinden: „Jedes der drei Elemente Leben, Arbeit und Kultur steht in einem Spannungsfeld aus individueller und gemeinschaftsbezogener Ausprägung, aus Teilhabe und Mitgestaltung, aus Selbst-Sein und Miteinander-Sein“ (Drechsler 2008, 405). Dabei wird Gemeinschaft als eine die Individualität formende Kraft betrachtet. Sich aus einem gemeinschaftlichen Zusammenleben ergebende Anregungen werden somit als eine den Individualitätssinn stärkende Größe betrachtet (ebd.). Am Beispiel des Entwicklungsganges einer behinderten Frau stellt ein befragter Mitarbeiter diesbezüglich fest: „Und blüht auf auch darin, das Sprechen zu lernen, weil ihr plötzlich die Gemeinschaft was bedeutet. Die lernt das Reden dadurch. Und lernt dadurch auch selber zu merken: ‚Oh, was will ich denn selber, was brauche ich denn selber? ދGanz mühsam noch. Aber das sind ja auch unglaubliche Prozesse der Selbstreifung. Die entwickelt sich zu einer Individualität hin, indem sie Gemeinschaft erlebt. Also, das ist überhaupt nicht so, dass man sagen kann: ‚Gemeinschaft, da gibt man sich auf( “ދB1M, Abs. 61). Allerdings – in einem Gespräch mit einem anderen Mitarbeiter wird darauf hingewiesen – sei beim gemeinschaftlichen Leben immer die Frage zu stellen, wie stark das Ich des jeweiligen Menschen sei. So dürfe sich das Ich eines Menschen nicht der Gemeinschaft unterordnen, müsse aber in der Lage sein, sich dieser zuzuwenden (FP 4, Abs. 257). C. Stamm, Anthroposophische Sozialtherapie im Spiegel ausgewählter Lebensgemeinschaften, DOI 10.1007/978-3-531-93294-1_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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10 Individuum und Gemeinschaft
Vor diesem Hintergrund ist das Verhältnis zwischen Einzelwesen und Gemeinschaft, zwischen Individuum und seinem Eingebettetsein in gemeinschaftliche Bezüge Thema dieses Kapitels. Folglich steht hier der in sozialtherapeutischen Zusammenhängen lebende und arbeitende Mensch in seiner Beziehung zur Rahmen bildenden Lebensgemeinschaft im Zentrum. Wie stellen sich nun Beziehungen zwischen individuellem Gestalten und gemeinschaftlichem Gefüge dar? Das Gegenstandsfeld wird im Folgenden exemplarisch entlang der Kategorien ‚Privatheitދ, ‚Gemeinschaftsregelnދ, ‚Arbeitszeit ދund ‚Gehalt ދentfaltet. Abhängig vom jeweiligen Gegenstand werden dabei zum Teil unterschiedliche Schwerpunktsetzungen vorgenommen – einmal liegt das Augenmerk vor allem auf Menschen mit Behinderungen, einmal auf Mitarbeitern. 10.1 Privatheit 10.1 Privatheit „In so einem Zweier-Zimmer ist es halt schwierig, weil ich muss ja auch auf den anderen achten: Was kann ich jetzt machen, was nicht, ja. Also, im Einzelzimmer ist man halt nicht so eingespannt. Da kann man tun und lassen, was man will“ (B8, Abs. 62). Die Möglichkeit, trotz des Lebens innerhalb eines Zusammenhanges, der durch eine Vielzahl gemeinschaftlicher Aktivitäten in Arbeit, Leben und Kultur geprägt ist, Orte der Privatheit und des Rückzugs haben zu können, stellt eine wichtige Voraussetzung zur Grenzziehung zwischen Individuum und Gemeinschaft dar. Die eigene Räumlichkeit kann in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielen. Die innerhalb der Lebensgemeinschaften wohnenden Menschen mit Behinderungen haben einen privaten Rückzugsort vor allem in Form ihres Zimmers. Wohn- und Esszimmer sowie Küche werden – wie weitere Gemeinschaftsräume – zusammen mit den Mitbewohnern genutzt. Auch das Bad wird in der Regel mit anderen Menschen geteilt: „Auf dem oberen Flur gibt es etwa fünf Zimmer von betreuten Menschen, zwei Bäder, ein gesondertes WC sowie zwei Praktikantenzimmer, die aber derzeit nicht belegt sind“ (FP 3, Abs. 127). In allen beteiligten Lebensgemeinschaften gibt es Einzel- und Doppelzimmer, wenngleich die Anzahl der Einzelzimmer insgesamt deutlich überwiegt. Etwas mehr als die Hälfte der interviewten Menschen mit Behinderungen hat ein eigenes Zimmer bzw. in einem Fall – gemeinsam mit dem Partner – ein eigenes Appartement. Größtenteils werden die jeweiligen wohnbezogenen Arrangements von den betreuten Menschen als stimmig empfunden. So wird beispielsweise das
10.1 Privatheit
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Einzelzimmer stolz als „eigenes Reich“ (B10, Abs. 49) bezeichnet. Aber auch das Wohnen in einer Konstellation zu zweit stößt bei den befragten Bewohnern auf Zustimmung oder scheint zum Teil sogar ihrem ausdrücklichen Wunsch zu entsprechen. Die Aussagen „Ich schlafe nicht so gerne alleine, das habe ich nicht so gerne“ (B4, Abs. 98) oder „Das finde ich, das ist gut. Mit dem vertrage ich mich auch am allerbesten“ (B2, Abs. 71) sprechen für diese Einschätzung. Allerdings macht eine behinderte Frau – bei grundsätzlicher Übereinstimmung mit einer Zweibettzimmer-Lösung („Ich will auf keinen Fall alleine schlafen“ (B8, Abs. 57)) – auch auf aus ihrer Sicht kritische Aspekte des Zusammenlebens mit einer Zimmernachbarin aufmerksam. Wie am Eingangszitat dieses Abschnitts bereits deutlich wurde, wird dabei insbesondere auf Privatheit und Selbstbestimmung einschränkende Gesichtspunkte Bezug genommen: „Und wenn man noch eine hat, die eventuell schlafen muss, mittags oder so, da muss man halt gucken, dass… also, ich habe auch eine Anlage und wenn die nicht im Zimmer ist oder wenn sie mal frei hat oder so, dann bin ich in dem Zimmer alleine und dann höre ich auch gerne CD oder Radio oder so. Also, wenn die mal nicht da ist, dann kann ich tun und lassen, was ich will, kann auch mal später ins Bett gehen oder so“ (B8, Abs. 62). Leben Mitarbeiter innerhalb der Gemeinschaft, so haben diese – zumindest, wenn es sich nicht um lediglich temporär Beschäftigte wie z. B. Praktikanten handelt – in den meisten Fällen eine eigene Wohnung oder einen eigenen Wohnbereich. Allerdings sind diese fast immer in die Haus- oder Hofgemeinschaft integriert, in der auch gearbeitet wird: „Ja gut, da kommt jeder hin, der was möchte (lacht)“ (B15M, Abs. 14). In einer Lebensgemeinschaft verfügt die Mehrzahl der Mitarbeiterwohnungen allerdings über keine eigene Küche. Hier wird von den Mitarbeitern somit auch im privaten Rahmen, so an arbeitsfreien Tagen, das gemeinschaftliche Inventar benutzt (FP 1, Abs. 39). An einigen Stellen konnte ich Einblick in die Zimmer von innerhalb der Gemeinschaft lebenden Menschen mit Behinderungen nehmen: „P., eine behinderte Frau, sagt, dass sie mir jetzt ihr Zimmer zeigen wolle. Ich nehme den Vorschlag gerne an. Sie wohnt im Erdgeschoss. Von dem Lichthof, der das Treppenhaus beherbergt, aber auch als Mehrzweckraum dient, etwa zum Bügeln und als Aufenthaltsraum, zweigt ein kleiner Flur mit zwei oder drei Zimmern von behinderten Menschen ab. P. hat ein Einzelzimmer, das haben in diesem Haus aber nicht alle. Das Zimmer ist persönlich und mit privaten Gegenständen eingerichtet“ (FP 4, Abs. 114). Auch bei den anderen Zimmern, die ich sehe, bestätigt sich, dass diese am Maßstab des privaten Wohnens ausgerichtet und daher individuell gestaltetet sind. Dies belegt beispielsweise auch die folgende Aussage aus dem Feldprotokoll: „Eine behinderte Bewohnerin zeigt mir ihr Zimmer, das sie sich mit einer anderen Frau teilt. Es befinden sich darin viele Holzmöbel und
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viele private Gegenstände. Wie mir scheint, ist das Zimmer individuell eingerichtet. Meine Wahrnehmung dazu: ‚gemütlich( “ދFP 2, Abs. 124). Die besondere Güte von Privatheit wurde vor allem immer dann deutlich, wenn mir Menschen mit Behinderungen – für mich absolut nachvollziehbar – eben keinen Einblick in ihre Privatzimmer gewähren wollten: „Ich frage F., einen behinderten Bewohner, ob er auch im ersten Stock wohne und ob ich dort mal mit ihm zusammen gucken dürfe. Nein, oben sei alles nur privat, sagt er“ (FP 3, Abs. 116) Weitere Aspekte, die mir im Kontext des Themenfeldes ‚Privatheit ދauffielen, stellen sich wie folgt dar:
In drei der vier Lebensgemeinschaften sind die Wohnhäuser mit Namen versehen. In einer Gemeinschaft tragen jeweils nur die einzelnen Standorte eine Bezeichnung. Zwei Gemeinschaften haben dabei Personennamen, die anderen beiden verwenden bereits vor Gründung vorhandene traditionelle Hofnamen bzw. orientieren sich an Ortsnamen. Die Bezeichnungen finden innerhalb der Lebensgemeinschaften im allgemeinen Sprachgebrauch Verwendung. Zum Teil sind die Namen auch an den Häusern angebracht. Die Namen der Hausbewohner sind nirgendwo von außen sichtbar (FP 1, Abs. 7; FP 2, Abs. 26; FP 3, Abs. 33; FP 4, Abs. 24). In zwei Lebensgemeinschaften bemerke ich – dieses ist vermutlich dem heimrechtlichen Status der Organisationen geschuldet – an mehreren Stellen beleuchtete Hinweise auf Fluchtwege bzw. Notausgänge: „Ich bemerke an einigen Türen Pfeile, die zum Ausgang weisen (vermutlich vorgeschriebene Notausgangswegweiser)“ (FP 3, Abs. 131, vgl. auch FP 2, Abs. 9). Obzwar gestalterisch nicht im Vordergrund stehend, nehme ich diese – so mein erster Eindruck – als Merkmale öffentlicher Institutionen wahr. In allen besuchten Gemeinschaften erlebe ich fast durchgängig – zumindest tagsüber, zum Teil aber auch nachts – das Prinzip der ‚offenen Türދ. In der Regel sind somit die allermeisten Häuser nicht abgeschlossen. „Die Tür war wie gewohnt offen – nur nachts werden die Häuser wohl abgeschlossen“ (FP 4, Abs. 24). Auch die Tür meines jeweiligen Zimmers ließ sich in keinem Fall verschließen. „Ich stelle fest, dass in der Zimmertür kein Schlüssel steckt“ (FP 1, Abs. 9). Die Zimmer der behinderten Bewohner sind – soweit ich es erlebe – in der überwiegenden Mehrzahl ebenso nicht verschlossen. Für die Wohnungen der Mitarbeiter gilt dieses allerdings in gleicher Weise: „Ich gehe zu dem Hof, in dem sich die Wohnung befindet. Es gibt keine Klingel, die Tür ist offen“ (FP 2, Abs. 87). An einem Samstag, ich bin Gast einer Hausgemeinschaft, wird mir deutlich, dass sich die dortigen Bewohner – Mitarbeiter und Menschen mit Behinderungen – in ihrem privaten Lebensumfeld immer wieder auf fremde Men-
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schen und neue Beziehungen einstellen müssen: Ein Schülerpraktikant war am Vormittag ab-, eine potenzielle Mitarbeiterin für eine Schnupperwoche angereist. Zudem bin ich da. Nach meiner Wahrnehmung bin ich jedoch der Einzige, der ob dieser Situation ein wenig verwundert ist: „Die betreuten Menschen finden es – soweit ich das beurteilen kann – nicht überraschend, dass schon wieder ein neues Gesicht auftaucht“ (FP 4, Abs. 216). Es scheint mehr oder weniger üblich zu sein, dass die Hausgemeinschaft regelmäßig wechselnde Besucher empfängt. 10.2 Gemeinschaftsregeln 10.2 Gemeinschaftsregeln „Aber eigentlich ist das selbstverständlich, dass die Leute zum Essen kommen“ (B15M, Abs. 80). Vor dem Hintergrund, dass die Mitglieder einer sozialen Gruppe durch für sie bedeutsame Gemeinsamkeiten bezüglich Interessen, Werten oder Zielen verbunden sind und sich in diesem Zusammenhang auch gruppenspezifische Normen herausbilden, ja für ein funktionierendes Zusammenleben auch herausbilden müssen, stehen in den folgenden Abschnitten in den Lebensgemeinschaften geltende Regeln im Fokus. Die Ausführungen dieses Unterkapitels speisen sich vor allem aus den Interviews. Dort konnte gezielt nach in den Gemeinschaften verankerten Regeln des alltäglichen Zusammenlebens gefragt werden. Entscheidend war dabei jeweils die individuelle Sicht der Interviewpartner. Bei der Auseinandersetzung mit Gemeinschaftsregeln standen die Menschen mit Behinderung im Mittelpunkt des Interesses. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass sie sich aufgrund des vorhandenen Unterstützungbedarfs und den in diesem Kontext zur Verfügung stehenden spezifischen Rollen in größerer Abhängigkeit von festgelegten Regeln befinden als die Mitarbeiter. Auch wesentlich in diesem Zusammenhang war somit, in welchem Maße Gemeinschaftsregeln als verpflichtend erlebt werden. Insgesamt betrachtet nehmen Regeln einen wesentlichen Bestandteil im gemeinschaftlichen Leben ein. Sie strukturieren das Gemeinschaftsleben, setzen den Rahmen für Tagesablauf und gemeinschaftliche Aktivitäten sowie für soziale Interaktionen. Im Sinne von Gemeinschaftsbildung wirken diese daher konstitutiv und das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft prägend. Insofern ist für das Individuum das Beachten gewisser Regeln für ein Leben innerhalb gemeinschaftlicher Zusammenhänge elementar. Exemplarisch wird dieses an der Aussage einer behinderten Frau deutlich, die sich auf die Partizipation an gemeinschaftlichen Veranstaltungen bezieht: „Ich glaube, wenn man an nichts
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mehr teilnehmen möchte, an gar nichts mehr, dann hat man auch hier auf diesem Hof nichts zu suchen“ (B16, Abs. 93). Dargelegt werden nun Gemeinschaftsregeln, die in Beobachtungen und vor allem durch die Interviews in substanzieller Weise offensichtlich geworden sind. Dabei handelt es sich zum einen um formelle, so z. B. in einer Haus- oder Hofordnung festgelegte („Wie die zehn Gebote, nicht“ (B14, Abs. 91)), zum anderen aber auch um informelle Regeln. Insgesamt handelt es sich hier um einen Extrakt von Regeln aus allen Lebensgemeinschaften, die ich aufgrund ihrer häufigen Nennung als bedeutsam erachte. Eine Reinform von Gestalt und Ausprägung der hier genannten Regeln gibt es somit in keiner der beteiligten Gemeinschaften. Die Mahlzeiten werden gemeinsam eingenommen In allen besuchten Gemeinschaften besitzt das gemeinsame Essen der Haus- oder Hofgemeinschaft essentiellen Charakter. Dabei wird die Teilnahme zwar nicht dogmatisch im Sinne einer uneingeschränkten Auflage gehandhabt, aber insbesondere auf Seiten der Mitarbeiter zeigt sich doch, dass die gemeinsame Gestaltung der Mahlzeiten als ein wesentliches Moment des Zusammenlebens angesehen wird. Dieses bedeutet konkret etwa, dass – abgesehen von spezifischen Erfordernissen und gesonderten Vereinbarungen – im Normalfall grundsätzlich von einer gemeinsamen Essensituation ausgegangen wird.94 Die gängige Praxis ist somit eindeutig – im Allgemeinen wird zusammen gegessen: „Außer dem Essen, wir essen zusammen, ja. Das ist schon eine Regel. Also insoweit auch eine Vorgabe von Gemeinschaft. Die drei Esszeiten sind zusammen“ (B1M, Abs. 63). Dabei bezieht sich dieser Grundsatz insbesondere auf die Hauptmahlzeiten: „Aber grundsätzlich ist es schon so veranlagt, dass wir alle zusammen alle Mahlzeiten ... nein, Kaffeetrinken ist frei, also da kommen lange nicht alle, wer will, der kommt, wer nicht will, der bleibt weg“ (B13bM, Abs. 119). Vor dem Hintergrund einer besonderen Wertschätzung gegenüber dem Ritual des gemeinschaftlichen Essens wird zum Teil auch auf traditionelle familiäre Muster rekurriert: „Also es gibt Regeln in der Form, wie man das in jeder Familie auch hat … Und so was mit dem gemeinsamen Essen ist aus diesem Duktus, ja, dass man da eine Achtung auch für das Ritual des Essens behält“ (B9M, Abs. 69). Von einigen Mitarbeitern wird das Praktizieren gemeinsamer Mahlzeiten indes nicht als vorgegebene Regel, sondern vielmehr als eine Gewohnheit oder eine tradierte Handlungsweise angesehen. Die Aussagen „Ich bin hier natürlich reingekommen und es gibt dann so, man kann auch sagen Traditionen oder so, also Essen, das ist 94
Zum Ablauf der Mahlzeiten siehe Kapitel 7.1.
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eine ganz klare Sache, wird zusammen gemacht“ (B9M, Abs. 61) oder „Es ist keine Regel, aber eine sehr stark eingefahrene Gewohnheit“ (B7M, Abs. 49) machen dieses sichtbar. Ein Mitarbeiter, der erst seit kurzer Zeit in einer der Gemeinschaften lebt und arbeitet, stellt in diesem Kontext die Tatsache, dass es gemeinsame Mahlzeiten gebe, als eine Art Selbstläufer dar: „Da musste ich mir bisher noch gar keine Gedanken drüber machen, weil immer alle dran teilnehmen, von selbst. Das ist einfach eine Begebenheit oder dieser Rahmen existiert wahrscheinlich seit Gründung von (.) [Name der Lebensgemeinschaft], das ist immer so gewesen“ (B3M, Abs. 54). Wie angesprochen, wird gemäß individuellen Abmachungen oder Notwendigkeiten auch von der Regel des gemeinsamen Essen abgewichen. So wird in einer Lebensgemeinschaft beispielsweise während der Arbeitswoche nicht mehr mit allen Personen zusammen gefrühstückt, weil die behinderten Bewohner zu unterschiedlichen Zeiten das Haus verlassen müssen: „Und das war auch erst ein bisschen komisch, aber das ist dann morgens so. Das merkt man dann auch: Es hat keinen Sinn, da sich irgendwie daran festzuhalten“ (B9M, Abs. 61). Aber auch aufgrund des Wunsches von Menschen mit Behinderungen werden – so einige Mitarbeiter – zunehmend auch individuellere Lösungen verabredet: „Es ist durch ... es war mal eine verbindliche Regel, ich habe das eigentlich inzwischen aufgehoben und eine von unseren Betreuten nimmt das auch für sich in Anspruch, dass sie eben zwei Mal die Woche ihr eigenes Abendessen kriegt“ (B7M, Abs. 49). Ebenso werden in Einzelfällen, etwa bedingt durch die aktuelle Stimmungslage, individuelle Arrangements ermöglicht: „Und es ist auch nie ein Problem, wenn jemand sagt: ‚Heute nicht, mir steht gerade alles hier oben, ich halte das jetzt nicht ausދ. Dann ist das überhaupt kein Ding, dass mal jemand sein Essen mit hoch nimmt in sein Zimmer, also das ist nicht wirklich eine Regel, die man einhalten muss“ (B5M, Abs. 67). Es wird somit deutlich, dass es keine unbedingte Verpflichtung gibt, an den gemeinsamen Mahlzeiten teilzunehmen. Allerdings: Wird nicht am Gemeinschaftsessen partizipiert, kann dieses als Ausnahme von der Regel betrachtet werden: „Aber eigentlich ist das selbstverständlich, dass die Leute zum Essen kommen“ (B15M, Abs. 80). Daher wird – so zeigen einige Statements – dem Anliegen eines behinderten Menschen, nicht im Rahmen einer großen Tischrunde essen zu wollen, von Mitarbeitern zunächst auch prüfend begegnet: „Wenn jetzt von jemandem der Wunsch oder das Bedürfnis kommt, dass man eben vielleicht separat essen möchte, dann wäre das einfach noch gesondert zu betrachten, ob das eben für den Menschen vielleicht, für dessen Fortschritt, hilfreich ist und von daher auch forciert werden sollte“ (B3M, Abs. 54). Auch von Seiten der befragten behinderten Menschen wird das Essen außerhalb gemeinschaftlicher
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Zusammenhänge eher als eine Sondersituation betrachtet: „Ja, das kommt aber relativ selten vor, nicht. Wenn man mal krank ist oder so“ (B14, Abs. 111). In mehreren Interviews wird überdies deutlich, dass mit dem gemeinschaftlichen Essen zum größten Teil positive Erfahrungen verbunden werden. So berichten Mitarbeiter, dass sie diesbezüglich überwiegend zustimmende Reaktionen bei den behinderten Menschen wahrnehmen: „Ich hatte noch nie den Eindruck, dass jemand das nicht gerne macht oder sich dazu jetzt überwinden muss am großen Tisch zu sitzen“ (B5M, Abs. 67). Ganz im Gegenteil werden sogar Situationen geschildert, in denen behinderte Bewohner dezidiert auf die Einhaltung der geregelten Mahlzeiten bestehen: „Von daher ist die Frage, glaube ich, gar nicht so wichtig, ob das von den Bewohnern verbindlich einzuhalten ist, weil die eher darauf drängen, dass das eingehalten wird“ (B3M, Abs. 54). Auch Aussagen von Seiten der interviewten Menschen mit Behinderungen tendieren in diese Richtung: „Es ist doch schöner, wenn alle regelmäßig ihre Mahlzeit zu sich nehmen, wie es sich gehört. Dieses Regelmäßige ist gesünder für alle“ (B16, Abs. 95). Die Teilnahme an religiösen Veranstaltungen besitzt einen hohen Stellenwert Obzwar sich die Intensität des religiösen Lebens zumindest hinsichtlich der Existenz von spezifischen Veranstaltungen zwischen den beteiligten Gemeinschaften durchaus unterscheidet, so nimmt eine an Religiosität ausgerichtete Lebensführung überall eine bedeutende Rolle ein. In den durchgeführten Interviews und hier vor allem in den Gesprächen mit Mitarbeitern wird deutlich, dass religiöse Veranstaltungen als ein wesentliches Element des Gemeinschaftslebens angesehen werden. Dieses drückt sich insbesondere dadurch aus, dass in den meisten Fällen grundsätzlich davon ausgegangen wird, dass diesbezügliche Zusammenkünfte von allen gemeinsam besucht werden. Ähnlich wie bei den Essenssituationen ergibt sich hier für Menschen mit Behinderungen aus Sicht der Mitarbeiter zwar insgesamt keine unbedingte Verpflichtung oder gar ein Zwang zur Partizipation: „Also, jeder hat das Recht, etwas nicht zu wollen und abzulehnen. Das ist uns auch ganz wichtig. Wenn er etwas nicht will, wenn er nicht am Bibelabend teilnehmen will, dann muss er das auch nicht“ (B11M, Abs. 57). Nicht wenige in diesem Kontext erfolgten Äußerungen zeigen jedoch, dass bei einer Nichtteilnahme insgesamt betrachtet eher von einer Ausnahme ausgegangen wird: „Das ist so eine Sache bei der Menschenweihehandlung. Das gehört eigentlich schon dazu, aber wenn jemand jetzt sagt: ‚Ich will das gar nichtދ, dann muss er da auch nicht hin. Also, ich zwängel da keinen rein, das mache ich nicht“ (B13aM, Abs. 126). Auch durch Aussagen von Menschen mit Behinderungen wird ersichtlich,
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dass religiöse Feiern, sei es der Bibelabend („Und da nehmen alle, die ganze Familie nimmt da teil. Alle, die im Haus wohnen“ (B8, Abs. 110)) oder Jahresfeste („Und Weihnachten, wer da ist, dass wir denn da auch, das ist selbstverständlich, dass man dran teilnimmt“ (B16, Abs. 91)) als integraler Bestandteil des Gemeinschaftslebens angesehen werden. Dass christliche Jahresfeste als wesentliche Elemente des Zusammenlebens wahrgenommen werden, zeigt sich beispielhaft auch an der Begehung des Pfingstfestes in einer der beteiligten Lebensgemeinschaften. Da dort diesem Fest entsprechend neutestamentarischer Tradition in besonderem Maß eine gemeinschaftsstiftende Funktion zugeschrieben wird, sind die Gemeinschaftsmitglieder – und somit auch die behinderten Menschen – angehalten, die Pfingsttage innerhalb der Lebensgemeinschaft zu verbringen (FP 2, Abs. 97). Dass eine Nichtteilnahme – zumindest an bestimmen religiösen Veranstaltungen – den Charakter einer Regelabweichung besitzt, wird auch dadurch deutlich, dass diese zwar akzeptiert, aber üblicherweise eine Begründung erfordert bzw. von Mitarbeitern hinterfragt wird. Wie aus den folgenden, zum Teil längeren Interviewausschnitten hervorgeht, kommt es zudem vor, dass zwischen Mitarbeitern und Menschen mit Behinderungen dann Absprachen über alternative Tätigkeiten oder andere wahrzunehmende Angebote getroffen werden. In dem angeführten Statement des Mitarbeiters klingt überdies an, dass dem gemeinsamen Besuch religiöser Veranstaltungen auch im Sinne von Gemeinschaftsbildung große Bedeutung beigemessen wird:
„Man kann sich auch frei sprechen [vom Bibelabend], wenn man müde ist oder so, zu müde ist, kann man auch sagen: ‚Ich möchte lieber ins Bett gehenދ. Das darf man auch. Oder wenn man mal sich irgendwie nicht gut fühlt oder auch mal irgendwie nicht mehr kann, kann man sich auch zurückziehen“ (B8, Abs. 114). „Ja, aber da [Bibelabend] nehme ich nicht daran teil. Ich habe das abgesprochen, dass ich sonntags gehe, zur Feier“ (B10, Abs. 113). „Also, beim religiösen Abend, diesen Dienstagabend, gibt es Leute, die wirklich sagen, sie wollen das nicht, es ist zu spät, oder weil vielleicht auch weniger Betreuer da sind, ist das ein bisschen ungehalten, manchmal, die halten das dann nicht aus … Und dann wird das auch akzeptiert. Aber dann muss man auch wieder gucken: Macht der das, weil er keine Lust hat, weil er lieber daheim rumsitzt. Wenn das so ist, dann wird das auch akzeptiert, aber dann guckt man, dass er halt dann dafür irgendwas anderes macht, dass er dann bügelt oder was für jemanden anders tut. Aber dieser Bibelabend: Ich habe es da noch nie erlebt, dass jemand sagt: ‚Ich will das nichtދ. Aber ich glaube, da wäre dann schon, da würde man wahrscheinlich drum disku-
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10 Individuum und Gemeinschaft tieren und auch versuchen, die Leute, die betreuten Menschen, zu überreden. Das Gemeinschaftsbildende, das bildet noch mal mehr so diese Gruppe. Da wird Wert drauf gelegt“ (B5M, Abs. 71).
Am Beispiel der Praxis innerhalb einer Hausgemeinschaft wird – bezogen auf die Darstellung eines Mitarbeiters – deutlich, dass unabhängig davon, dass mittlerweile nicht mehr an religiösen Feiern teilgenommen werden muss, viele Mitarbeiter und behinderte Menschen auch ohne eine derartige Regel und somit aus eigenem Anliegen an diesbezüglichen Veranstaltungen partizipieren möchten: „Es war sehr lange die Regel, dass man eben zum religiösen Abend, zum Bibelabend und zur Morgenfeier am Sonntag geht. Inzwischen ist es auch keine Regel mehr, nicht wahr? Es ist aber sehr vielen, den meisten von uns, ein Bedürfnis, tatsächlich da hinzugehen und das regelmäßig wahrzunehmen“ (B7M, Abs. 51). Es wird auf einen achtsamen Umgang miteinander Wert gelegt Vor allem von Mitarbeiterseite wird betont – in vielen Fällen auch als erste spontane Antwort in den Interviews –, dass das Bemühen um einen achtsamen Umgang miteinander als eine bedeutende (ungeschriebene) Regel des Gemeinschaftslebens angesehen werden kann. Damit verbunden ist zunächst eine von wechselseitigem Wohlwollen geprägte Grundhaltung im täglichen Miteinander: „Ja, eigentlich versuchen wir natürlich alle gegenseitig darauf zu achten, dass wir uns freundlich und nett verhalten“ (B15M, Abs. 78). Darauf aufbauend wird die bewusste Wertschätzung des jeweiligen Gegenübers als fundamentale Voraussetzung verstanden, um dessen Bedürfnisse erkennen zu können: „Also, das ist, denke ich so, vielleicht ist das idealistisch, aber eine Hauptregel ist dieses einander Achten. Sowohl die Bewohner untereinander, aber auch Mitarbeiter zu Bewohnern und auch Mitarbeiter untereinander … Das ist eigentlich eine Grundregel, um überhaupt miteinander zusammenzuleben, um einander auch wahrzunehmen, was der andere braucht“ (B9M, Abs. 59). Auch die Betrachtungsweise, das soziale Geschehen innerhalb einer Hausgemeinschaft in dem Sinne steuern zu müssen, dass eine Balance zwischen verschiedenen Charakteren hergestellt wird und somit die Rechte aller Mitglieder gewahrt bleiben, passt in diesen Zusammenhang: „Man muss dann natürlich in der Familie auch wieder Regeln aufstellen oder achtsam sein da drauf, dass eben nicht der eine sich über den anderen überstülpt. Also, wir haben eine Gruppe, die einen sind sehr extrovertiert, sehr aktiv und die anderen, die weniger aktiv sind, oder weniger können, die kommen dann schnell unter die Räder oder nicht zu ihrem Recht. Und da
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muss man dann schon danach gucken, dass das ein bisschen ausgewogen bleibt“ (B7M, Abs. 47). Der angemessene Umgang mit Konflikten – so wird mehrfach deutlich – stellt ein weiteres wichtiges Merkmal eines von Respekt für andere getragenen gemeinschaftlichen Lebens dar: „Also, das Wesentliche ist einfach, wenn es Konflikte gibt, dass man schon einfach versucht, das in Ruhe zu regeln“ (B13aM, Abs. 114). Auch eine Rücksichtnahme hinsichtlich des produzierten Geräuschpegels wird als wichtiger Pfeiler gegenseitiger Achtsamkeit verstanden: „Es ist eine Regel, dass abends um zehn wirklich im Haus Ruhe ist. Das heißt nicht, dass man schlafen muss, aber dass man dann leiser ist und die Musik nicht mehr auf volle Power hat“ (B13aM, Abs. 114). Wie einige Aussagen aus den Mitarbeiterinterviews zeigen, stellt das Bemühen um ein verbal taktvolles Verhalten, das sich etwa durch das Vermeiden von Schimpfworten oder auch den Verzicht auf das Erzählen von als lasterhaft empfundenen Geschichten zumindest während der gemeinsamen Mahlzeiten ausdrückt, ebenfalls eine Regel dar: „Es bezieht sich dann wieder mehr auf die betreuten Menschen, dass man da vielleicht am Tisch jetzt nicht jedes Thema auftischt, sondern mal ein bisschen darauf achtet. Also, das ist auch so eine unausgesprochene Regel, dass man keine schrägen, was weiß ich, dummen Witze erzählt oder komische Frauengeschichten auftischt, oder so was. Ja, so als Schutz“ (B5M, Abs. 65). Eine wesentliche Regel bezieht sich schließlich auf die Achtung der Privatsphäre der anderen Haus- oder Hofbewohner. Dazu gehört beispielsweise, dass vor dem Eintreten in ein fremdes Zimmer oder eine fremde Wohnung angeklopft wird bzw. die privaten Bereiche anderer Personen nicht in Abwesenheit dieser betreten werden: „Also, wenn jemand ohne anzuklopfen ins Zimmer geht oder überhaupt während der Abwesenheit des Zimmerbewohners reingeht und solche Sachen, das sind schon eigentlich ungeschriebene Gesetze, die auch von den Leuten, die hier lange leben, wirklich mit durchgetragen werden“ (B13bM, Abs. 115). Abwesenheiten und der Empfang von Besuch werden angekündigt Möchten Menschen mit Behinderung die Lebensgemeinschaft für einen kurzen oder längeren Zeitraum verlassen oder Besuch empfangen, so wird dieses den Mitarbeitern angekündigt bzw. mit diesen vorab besprochen. Gleichermaßen von Mitarbeitern und behinderten Menschen angesprochen, wird dieses in einigen Interviews deutlich. Dabei reicht die Bandbreite von allgemeingültigen bis hin zu speziellen, individuell ausgebildeten Regeln, wie zwei Beispiele aus den Interviews sichtbar machen:
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10 Individuum und Gemeinschaft „Wenn jemand Besuch kriegt, dass man sich dann eben bei einem Mitarbeiter anmeldet. Das ist ja an und für sich auch normal. Und natürlich, wenn man länger, was weiß ich, 22:00 Uhr oder was, wegbleibt, dass man da Bescheid sagt oder überhaupt, wenn man den Hof verlässt, wo man hingeht oder was weiß ich, damit man eben im Falle hier Bescheid weiß“ (B14, Abs. 91). „So was macht er [ein behinderter Mensch] nicht so gerne, geht dann auch, ist viel unterwegs, besucht irgendwelche Leute und so weiter und so fort, vernachlässigt seine Aufgaben wie z. B. Spülmaschine ausräumen und Geschirr verräumen. Wo wir mit ihm konkret Regeln eben geschaffen haben, dass, wenn er z. B. eben zum Nachbar geht und das ist nicht abgesprochen, dann gilt das für ihn als ein Besuch und er hat halt so und so viele Besuchstage pro Woche, dann wird dafür ein anderer Besuch gestrichen, den er sich sonst vorgenommen hat“ (B3M, Abs. 52).
Fernsehkonsum findet – wenn überhaupt – meistens im gemeinschaftlichen Rahmen statt In allen an dieser Studie beteiligten Lebensgemeinschaften waren Fernseher bei der Gründung nicht zugelassen. Diese in der Regel auch schriftlich – etwa in Heimverträgen oder im Leitbild – fixierte Vorschrift hat mittlerweile überall eine Lockerung erfahren. Dabei haben sich unterschiedliche Modelle der Handhabung herausgebildet. Indes: Eine grundsätzliche Skepsis gegenüber einer Fernsehnutzung ist mir zumindest von Seiten der Mitarbeiter allerorts begegnet. So wird einer Nutzung in gemeinschaftlichen Kontexten prinzipiell Vorrang gegenüber individuellen Arrangements eingeräumt. Auflagen oder Einschränkungen beim Fernsehkonsum sind hinsichtlich der betreuten Menschen lediglich im (stationären) Kernbereich der Lebensgemeinschaften feststellbar, da nur dort die Möglichkeit besteht, dieses über Heimverträge in verbindlicher Weise zu regeln. In zwei der vier Organisationen gibt es nach wie vor keine Fernseher in den einzelnen Hausgemeinschaften. Abgesehen von einem wöchentlich stattfindenden Kinoabend im Saal existiert innerhalb dieser Gemeinschaften somit keine Gelegenheit, Fernsehen zu schauen: „Ja, also, was mir hier sehr fehlt, ist ein Fernseher. Weil zu Hause habe ich immer früher gerne Fernsehen geguckt. Nur hier dürfen wir das leider nicht … Ja, das ist, weil das hier nicht gestattet ist, in diesen Wohngruppen. Weil die sagen: ‚Ach, der sitzt jetzt schon seit zwei, drei Stunden vor dem Fernseher und geht noch nicht mal rausދ. Und das wollen die hier nicht“ (B2, Abs. 102f.). Zumindest in einer dieser beiden Gemeinschaften wird allerdings deutlich, dass diese Konstellation keine Gültigkeit für die intern
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lebenden Mitarbeiter besitzt. Diese, so erfahre ich in einem Gespräch mit einer Mitarbeiterin, seien vom Fernsehverbot ausgenommen: „Für die in der Gemeinschaft lebenden Mitarbeiter gelte das alles jedoch nicht. So habe z. B. ein polnisches Mitarbeiterpaar damit überrascht, einen Tag vor einem Fest eine große Satellitenschüssel für den Empfang von polnischem Fernsehen gut sichtbar an einem der Häuser zu befestigen. Dieses wurde dann aber hingenommen; die Schüssel stehe heute noch“ (FP 3, Abs. 154). In der gleichen Lebensgemeinschaft sind – nach einem kompletten Verbot zu Gründungszeiten – elektronische Radio- und Musikanlagen mittlerweile in privaten Zimmern zugelassen. In gemeinschaftlich genutzten Räumen, wie dem Wohnzimmer, sind diese hingegen mittlerweile zulässig. Allerdings bestehen – so eine Mitarbeiterin – auch heute noch partielle Einschränkungen für betreute Menschen, wenn dieses im Einzelfall geboten sei (FP 3, Abs. 154). In einem Interview mit einer dort lebenden behinderten Frau spiegelt sich diese Vorgehensweise wider: „Abends tue ich halt lesen, am Wochenende tue ich Musik hören, wenn ich mein Gerät habe. Ich kriege immer samstags mein Gerät, meine Stereoanlage, da kann ich Musik hören … Unter der Woche habe ich doch gar keine Zeit dazu, weil ich muss von montags bis freitags arbeiten, da schaffe ich das nicht, dann komme ich nicht aus dem Bett. Und da ist es für mich am Wochenende ganz günstig, dass ich dann Musik hören kann“ (B10, Abs. 43ff.). In einer der anderen Lebensgemeinschaften gibt es ebenfalls keine Fernseher in den Privaträumen. Nachdem, so erfahre ich von einer Hausverantwortlichen, das Gebot, generell keine Fernseher zu haben, immer wieder von Mitarbeitern umgangen wurde, wurde beschlossen, den einzelnen sogenannten Großfamilien freizustellen, ob sie für die gesamte Hauseinheit einen Fernseher anschaffen. Daher gebe es inzwischen in einigen der Wohnhäuser einen Fernseher. In einigen Großfamilien werde dieser allerdings nur für das Abspielen von DVDs genutzt. Auch vom ursprünglichen Dogma, keine Satellitenschüsseln auf den Dächern anzubringen, habe man sich im Laufe der Zeit verabschiedet. Im Kontext der Einführung der Fernsehgeräte seien verschiedene Fortbildungen zum Gebrauch von visuellen Medien durchgeführt worden (FP 4, Abs. 66). In Privaträumen, beispielsweise in den Zimmern der behinderten Menschen, so ein anderer Mitarbeiter, seien Fernseher aber nach wie vor nicht erlaubt: „Im Heimvertrag gebe es die klare Regelung, dass Fernseher in den Zimmern der Betreuten verboten sind“ (FP 4, Abs. 265). Der im Vergleich offenste Umgang mit dem Medium Fernsehen zeigt sich in der Hofgemeinschaft. Neben der Möglichkeit, in einem Gemeinschaftsraum Fernsehsendungen zu konsumieren, haben zumindest einige Menschen mit Behinderungen einen Fernsehapparat in ihren eigenen Räumlichkeiten. Allerdings – so ein leitender Mitarbeiter – müssten manche behinderte Menschen zunächst
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Lernprozesse hinsichtlich der diesbezüglichen Mediennutzung durchlaufen. Mit Personen, die nicht in angemessener Weise mit dem Fernsehkonsum umgehen könnten, werde dann beispielsweise besprochen, was angeschaut werde (GL 1, S. 2). Die Teilnahme an Freizeitveranstaltungen besitzt keinen verbindlichen Charakter Während das gemeinsame Essen und der Besuch religiöser Veranstaltungen als wichtige Zutaten des Gemeinschaftslebens gelten und daher eine Teilnahme eher als üblich anzusehen ist, stellt sich dieses hinsichtlich der innerhalb und außerhalb der Lebensgemeinschaften angebotenen Freizeitbeschäftigungen anders dar. Hier gibt es mehr oder minder keine Teilnahmeerwartungen für Menschen mit Behinderungen, wie diese selbst darlegen. Aussagen wie „Also, es ist ja, bei uns ist es so: Wer nicht möchte, braucht da ja nicht hingehen. Es ist ja keine Pflicht, da hinzugehen, wenn man nicht möchte, aber wer Lust hat, der kann zu so einer Veranstaltung gerne mit hingehen“ (B2, Abs. 99) oder „Wir werden gefragt, ob wir da hin möchten, wenn die Familie einen Ausflug macht. Wir können aber auch sagen: ‚Nein, nichtދ. Also wir werden gefragt: ‚Wollt ihr mit, oder wollt ihr lieber für euch sein? ދUnd man muss da nicht, man wird hier zu nichts gezwungen“ (B6, Abs. 91) spiegeln dieses exemplarisch wider. Auch die Mitarbeiter legen durchweg auf die Feststellung Wert, dass Freizeitangebote je nach individuellen Vorstellungen genutzt werden können: „Ja, ja eben diese Freizeitveranstaltungen in Hülle und Fülle, also so, dass jeder Tag, wenn man will, ein wenig verplant ist. Aber da ist ja niemand verplant, da hinzugehen, also verpflichtet, sondern das ist freiwillig. Dadurch, dass wir so viele verschiedene Veranstaltungen haben, kann sich ja jeder aussuchen, ob er überhaupt wo hingehen will, oder wenn, wohin“ (B1M, Abs. 67). Ausgehend von den persönlichen Wünschen der behinderten Menschen sehen sich hier einige Mitarbeiter auch nicht in erster Linie als Gestalter, sondern vielmehr als Assistent: „Also, da geht es wirklich darum, dass die [die behinderten Bewohner] sich selbst verwirklichen können. Also, wenn einer ins Kino will, in einen Film, den ich unmöglich finde, dann gehe ich einfach mit, wenn er das ohne mich nicht kann, und zwar ohne zu fragen“ (B7M, Abs. 47). An einigen Aussagen von Mitarbeitern zeigt sich allerdings, dass Menschen mit Behinderungen in einigen Fällen durchaus nahegelegt wird, an bestimmten Freizeitangeboten teilzunehmen – wenn die Erwartung besteht, dass dieses sich letztendlich als hilfreich für die betroffene Personen erweisen könnte: „Das ist bei C. schon ein bisschen so gewesen, dass ich am Anfang ein bisschen gedrän-
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gelt habe. Der hat sich selber super isoliert und hatte dann auch so fast ein bisschen Panikattacken … Und dann habe ich ihn am Anfang schon ein bisschen gedrängt und habe gesagt: ‚Mensch, du singst doch gerneދ, er hat immer Comedian Harmonists gesungen mit einem anderen vom (.) [Hausname], also durchaus eigenes Interesse. Und dann hat er das ziemlich schnell dann doch geschafft. Und dann ging das so weiter, dass er von sich aus außer dem Chor hier bei Frau G. und F., dass er dann noch zu dem anderen Chor auch dazu wollte“ (B1M, Abs. 69). Dabei wird jedoch jeweils die zu Grunde liegende Freiwilligkeit ausdrücklich betont: „Aber es wäre nie so gewesen, dass wir gesagt haben: ‚Da musst du jetzt hin, ob du willst oder nichtދ. Das kann ja nicht sein, weil dann würde ja jemand wo hingehen und hätte schlechte Laune und dann würde ja die ganze Veranstaltung drunter leiden. Also das bringt ja dann nichts“ (ebd.). Weitere Regeln Über die bisher dargestellten hinaus sind während der Feldphasen weitere, nicht nur innerhalb einer Gemeinschaft wahrnehmbare Regeln sichtbar geworden. Im Vergleich zu den bereits genannten scheinen diese jedoch – das legt die vergleichsweise geringe Häufigkeit der Angabe in den Interviews nahe – eine subjektiv weniger wesentliche empfundene Bedeutung zu haben. Einige Male angesprochen wurde beispielsweise, dass gemeinsam auf Hygiene und eine saubere Umgebung geachtet werde: „Ja und einfach, dass wir alle auf Sauberkeit achten, das ist ja auch manchmal schwierig. Sowohl körperlich als auch auf dem Hof. Und dass wir nicht einfach unser Kaugummipapier oder unsere Kippe ins Blumenbeet schmeißen“ (B15M, Abs. 78). Auch, dass Wert auf ein gepflegtes äußeres Erscheinungsbild gelegt wird, zeigt sich an mancher Stelle: „Oder auch, vor allem wenn man weggeht, sich auch gut zu kleiden. Also, schon auch auf das Äußere achten“ (B13aM, Abs. 116). Ebenso finden sich Aussagen zu Raucherregelungen: „Erstmal ist das bei uns mit dem Rauchen, das ist in den letzten Jahren, wo diese Rauchdiskussion noch stärker durchgekommen ist, wurde auch bei uns das Rauchen ziemlich radikal drinnen verboten, ziemlich, weil das nicht mehr ging“ (B16, Abs. 87). Im Kontext der Auseinandersetzung mit Regeln werden auch immer wieder sogenannte Ämter, d. h. von behinderten Menschen innerhalb der Gemeinschaft zu übernehmende Aufgaben angesprochen: „Es gibt für jeden ein Amt, jeder hat Ämter, die er machen muss. So wie ich z. B. jetzt: Frühstück machen, das Abendbrot machen usw.“ (B4, Abs. 73). Dabei liegt der Aufteilung der Dienste – so zeigt sich ferner – in vielen Fällen eine Besprechung innerhalb des Gruppenverbundes zugrunde: „Also, wir haben unsere Aufgaben dann. Wobei wir das
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dann immer in gewissen Zeitabständen miteinander besprechen und uns zusammensetzen und klären, was zu tun ist und dann gefragt wird: ‚Wer kann das übernehmen?( “ދB9M, Abs. 65). Weiter wird auch der Versuch, pünktlich zu sein, als eine Regel angeführt: „Erstmal versuchen wir natürlich alle, pünktlich zu sein …“ (B15M, Abs. 78). Abgesehen von Ausnahmen wird innerhalb der Lebensgemeinschaften ferner auf den Konsum alkoholischer Getränke verzichtet: „Alkohol ist auf dem Hof nicht erlaubt, das ist, finde ich, total in Ordnung“ (B14, Abs. 91). Vor dem Hintergrund des konzeptionellen Ansatzes, eine Gemeinschaft sein zu wollen, sieht eine interviewte Mitarbeiterin schließlich das Herstellen einer Gleichzeitigkeit von individuellen und gemeinschaftsbezogenen Ansprüchen als die grundlegendste Regel an: „Also die wichtigste Regel ist natürlich, dass die Gemeinschaft sozusagen einerseits ganz oben steht, aber auch das Wohl des einzelnen zu Betreuenden ganz oben steht“ (B11M, Abs 51). Dieses erfordere ein ständiges Austarieren, um einerseits individuelle Bedürfnis zu achten, andererseits aber das soziale Gebilde ‚Gemeinschaft ދnicht zu gefährden: „Also, dass wir bestrebt sind, unseren Bewohnern so viel Individualität wie möglich zu ermöglichen bei gleichzeitigem eben Bemühen darum, dass sich die Gemeinschaft nicht auflöst dadurch vor lauter Vereinzelung und: ‚Ich will das und ich will das und ich will aber das und das nichtދ, sondern dass wir eben auch noch schauen: Wie kommen wir denn aber auch zusammen?“ (B11M, Abs. 53). Um beide Seiten zu berücksichtigen und eine diesbezügliche Balance wahren, gelte es, mit den behinderten Menschen in einem kontinuierlichen Austausch darüber zu bleiben: „Also, in den Hausgemeinschaften wird das unter anderem dadurch umgesetzt, dass es z. B. auch so Gruppensitzungen gibt, wo man sich dann gemeinsam auch zusammensetzt und dann aber auch jeder mal erzählt, wie es ihm geht, was er sich wünscht, was er mal machen möchte, was er blöd findet, was er nicht möchte und warum nicht, wenn er das äußern kann. Also, dass man auch versucht, dann so gegenseitig ein Verständnis zu bekommen: ‚Ah, der mag jetzt z .B. nicht zur Sonntagsfeier gehen, weil der mag das einfach nichtދ. Und dann ist das auch okay. Dann ist der trotzdem angeschlossen, weil die anderen wissen, der ist eben nicht dabei, weil ... Aber kommt vielleicht nachher mit zum Spaziergang oder so, ja“ (B11M, Abs. 59). Einige der interviewten Menschen mit Behinderungen konnten dazu befragt werden, wie Mitarbeiter reagieren, wenn Regeln nicht eingehalten werden. Die diesbezüglichen Äußerungen weisen auf verschiedene, möglicherweise auch von der Art der Regelmissachtung abhängige, Handlungsweisen hin, die ein Spektrum von dialogisch orientierten Auseinandersetzungen bis hin zu weitergehenden Sanktionen bilden:
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„Ja, dann gehen wir hier runter ins Wohnzimmer, reden da drüber, warum ich eine Viertelstunde oder fast zu spät zum Abendbrot gekommen bin, weil ich irgendwie verschlafen habe beim Spazieren gehen oder ich habe nicht rechtzeitig auf die Uhr geguckt. So was halt“ (B2, Abs. 97). „Dann gibt es erstmal einen Tadel, natürlich. Und man kann auch mal eine Ausgangssperre kriegen, denke ich“ (B14, Abs. 93). „Wenn man die Sachen nicht einhält, dann kann das nämlich sein, dass man dann auch mal Ärger erwarten kann“ (B4, Abs. 75).
10.3 Arbeitszeit 10.3 Arbeitszeit „Das ist natürlich eine riesige Diskrepanz zum normalen Beruf, wo man arbeiten geht und dann aber heimgeht und da ist das sozusagen fein säuberlich getrennt“ (B1M, Abs. 43). In drei der vier beteiligten Lebensgemeinschaften ist – zumindest was die internen, d. h. die innerhalb der Gemeinschaft lebenden Mitarbeiter anbelangt – der Umfang der Arbeitsstunden nicht festgelegt. Einen Schichtdienst gibt es nicht. Arbeit und Privates sind nicht ohne weiteres trennbar: „Vor allem, es ergibt sich ja so was, dass man eigentlich keine Arbeitszeit mehr hat, sondern man wohnt und lebt eben hier und wenn man hier ist, dann hat man das zu machen, was gerade Bedarf ist“ (B1M, Abs. 43). Lediglich arbeitsfreie Tage sind fest vereinbart. Weitere freie Tage oder Zeiten des Rückzugs bedürfen jeweils der Absprache innerhalb des Teams.95 Dabei orientiert sich die Definition von Arbeitszeit auch nicht zuvörderst an der in weiten Teilen moderner Gesellschaften (immer noch) verbreiteten Dichotomie von Beruf und Freizeit. Was als Arbeitszeit gilt, ist somit nicht immer eindeutig fassbar: „Ja, man isst aber z. B. auch hier, manchmal will dann keiner was von einem, also da kann man jetzt gar nicht so sagen: was ist da privat und was ist da Arbeit“ (B1M, Abs. 43). Auch im Zusammenhang mit einer Orientierung am familiären Zusammenleben wird eine feste Umgrenzung von Arbeit und Freizeit – jedenfalls bei einer geradlinigen Realisierung – als dem zugrunde liegenden Gedanken widersprechend angesehen: „Also, wenn man dieses Modell konsequent zu Ende denkt, dann sind wir eine große Familie und gut klar, ich habe dann meine Zeiten, wo ich auch was mache, aber im Prinzip wäre es ja so, dass ich mich auch direkt in der Gruppe verwirklichen kann, können sollte und meine Hobbys und alles mit einbringe und die anderen daran teilhaben lasse bzw. den anderen dabei helfe, ihre Interes95
Siehe dazu Kapitel 8.2.1.
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sen zu verwirklichen, ja, wie es einfach in der Familie dann auch passiert“ (B3M, Abs. 34). In einer Lebensgemeinschaft wird zudem von vorneherein davon ausgegangen, dass sich die gemeinschaftsbezogenen Aktivitäten der Mitarbeiter aus dem Angestelltenstatus sowie aus ehrenamtlicher Tätigkeit zusammensetzen (FP 4, Abs, 139). Ein Mitarbeiter merkt dazu an: „Also meine Haltung ist so: Ich habe eine lockere 36-Stunden-Woche und der Rest ist eigentlich einfach Freizeitbeschäftigung (lacht)“ (B7M, Abs. 33). Wird ein derartiges Arbeits- und Lebensmodell praktiziert, so zeigte sich mir während der Feldphasen, entsteht nicht selten ein Spannungsfeld zwischen Präsenz und Abgrenzung, zwischen Ansprüchen der Gemeinschaft, gegebenen (Betreuungs-) Notwendigkeiten sowie dem Achten eigener Bedürfnisse.96 Unabhängig von der persönlichen Bewertung wird ein angemessener Umgang mit dieser spezifischen Arbeits- und Lebenskonstellation – dieses wurde in Gesprächen und den Interviews deutlich – von der Mehrzahl der Mitarbeiter daher (auch) als Herausforderung angesehen. Um diese zu meistern – so einige Aussagen –, seien zum Teil intensive Lernprozesse notwendig. Die Konstanz, mit der mir in diesem Kontext verortete Aspekte begegneten, lässt Rückschlüsse auf die große Bedeutung dieser Thematik für die innerhalb der Lebensgemeinschaften wohnenden Mitarbeiter zu. Wie wird vor diesem Hintergrund mit der Gestaltung der Arbeitszeit umgegangen? Wie erleben Mitarbeiter Chancen, aber auch Schwierigkeiten, die damit verbunden sind? Einige wesentliche Einschätzungen zu diesem ‚Arbeitslebenstypus ދwerden nachfolgend – gefasst in die Stichworte ‚Gestaltungsfreiheit ދund ‚Abgrenzung – ދaus Sicht der Mitarbeiter skizziert. 10.3.1 Stichwort: Gestaltungsfreiheit Nicht wenige Mitarbeiter heben die Gestaltungsfreiheit hervor, die sie mit dem Leben und Arbeiten an einem Ort sowie einer nur in geringem Maße von äußeren Faktoren begrenzten Arbeitszeit verbinden. So sei es möglich, in zeitlicher Hinsicht eigenverantwortlicher mit den zu erledigenden Aufgaben umzugehen
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Natürlich können auch bei festgelegten Arbeitszeiten sowie dem Wohnen außerhalb der Lebensgemeinschaft Fragen hinsichtlich einer angemessenen Dosierung der Arbeit aktuell sein. Dieses wird in der Organisation deutlich, welche sich generell an diesen Prinzipen orientiert: „Wir sind zurzeit bei einer Fortbildung für die Hausverantwortlichen und haben gerade eine Fortbildung für Zeitmanagement, weil das immer wieder ein Problem ist, was ich auch schon früher bei meiner Arbeit erlebt habe, sich abgrenzen zu können von Aufgaben, andererseits die Notwendigkeit zu sehen, welche Aufgaben da sind“ (B9M, Abs. 21).
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und eine flexible Einteilung der Arbeit vorzunehmen. So können auch freie Zeiten außerhalb der vorab festgelegten eingerichtet werden:
„Und wenn man eben hier lebt, richtet man sich sein Leben so ein, dass man schon auch ... es wird ja dann oft gesagt: ‚Mein Gott, hast du denn überhaupt mal frei?ދ, also das richtet man sich dann ein. Und man hat eigentlich eine größere Freiheit, weil man eben sagen kann: ‚So, heute weiß ich, hier sind genug Leute, die sind heute da, es kann eigentlich nicht so viel passieren, ich fahre jetzt weg( “ދB13aM, Abs. 43). „Wir haben allerdings die Freiheit zu sagen, wenn die Gruppe versorgt ist, wenn genug Leute da sind, dass wir eben sagen: ‚Okay, wir nehmen jetzt nicht am Mittagessen teilދ. Oder so ein Vormittag, wo wir prinzipiell Dienst eingetragen haben und wenn einfach nichts ansteht, können wir sagen: ‚Okay, dann ziehen wir uns jetzt zurückދ. Wir können auch sagen, nachmittags haben wir auch eher frei, also zwischen zwei und vier, zwei und fünf, wir können auch unsere Arbeit von vormittags, also was eben verwaltungstechnisch ansteht, auf nachmittags rumschieben uns so weiter und so fort, weil wir einfach dann nicht gebunden sind an die Zeiten“ (B3M, Abs. 40).
Erkennbar ist, dass die beschriebenen Spielräume im Kontext von Arbeit und Freizeit nicht ohne Weiteres nutzbar sind, sondern nur dann in Betracht gezogen werden können, wenn es die jeweilige Gruppensituation zulässt. In diesem Zusammenhang wird auch von der Herausforderung gesprochen, die erforderlichen Abläufe auch im Falle der Abwesenheit in – auch mit dem eigenen Gewissen vereinbarer – adäquater Weise sicherzustellen: „Man muss einfach das Gefühl haben: ‚Die Sache läuft, auch wenn ich nicht da bin, es ist alles soweit abgesichert, da kann in dem Moment, wo man nicht da ist, eigentlich nichts daneben gehen. ދUnd wenn man diese Sicherheit in sich hat, denn kann man losgehen. Aber das so hinzukriegen, dass überall alles abgedeckt ist, das, glaube ich, ist die Schwierigkeit. Das hat natürlich dann mit seinem Gewissen zu tun“ (B13bM, Abs. 62). Einige Aussagen von Mitarbeitern zeigen auch, dass ein selbstbestimmter Umgang mit diesbezüglichen Gestaltungsmöglichkeiten zunächst einmal gelernt werden musste: „Und dann auch diese Freiheit zu haben, mittlerweile. Das muss man sich ja auch erst ein bisschen erüben“ (B13aM, Abs. 55). Als Gewinn der vorhandenen Gestaltungsfreiheit wird von Mitarbeitern zudem formuliert, Privates und Berufliches miteinander verknüpfen zu können. Dieses vollziehe sich vor dem Hintergrund, dass das eigene Zuhause zugleich auch die Arbeitsstelle sei: „Also, das Besondere finde ich, einmal, dass man eben wirklich auch zu Hause ist, da wo man arbeitet, weil Arbeit macht ja ... oder dass ich das eigentlich gar nicht mehr so trennen kann“ (B13aM, Abs. 55). Arbeit und
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Privates werden somit gewissermaßen als Einheit angesehen, wobei je nach Situation entweder der berufliche oder der persönliche Blickwinkel im Vordergrund steht: „Ja, und ich kann einfach meinen Tagesablauf mit den Kindern so gestalten, wie ich das brauche und das andere findet dann auch seinen Platz, was ich noch so zu erledigen habe“ (B15M, Abs. 16). Auf der Basis einer vor seinem Einzug in die Lebensgemeinschaft ausgeübten Beschäftigung in einem Altenpflegeheim schildert ein interviewter Mitarbeiter die aus seiner Sicht gegebenen Vorteile der Arbeit ohne ein als einzwängend wahrgenommenes Schichtprinzip. Während im Pflegeheim eine Verdichtung der zu erledigenden Aufgaben auf die Stunden der Anwesenheit erfolge, erlebe er heute eine Entzerrung der Arbeit und – trotz größerer zeitlicher Beanspruchung – weniger Stress: „Mit dem Nachteil, woanders, also in der Demenzabteilung, da war dann auch so ein Stress und auch eine wahnsinnige Arbeitsbelastung, also das musste unglaublich schnell und effektiv und gezielt gehen. Da kam das dann so, dass ich zwar oft nur einen Sieben-Stunden-Tag hatte, aber dafür so erledigt war, dass ich mich bis zum nächsten Tag regenerieren musste … Da ist das dann hier so, dass ich zwar zeitlich viel, viel länger da bin, aber eben überhaupt nicht mehr diese Eile habe. Ja, da kann natürlich auch schon so ein Stress mit Folge auftauchen oder kann natürlich bei anderen Personen, anderen Fragen graduell auch Stress auftauchen. Aber trotzdem, dieses Leben hat was, ich würde mal sagen, das wuppt nicht so wie in der Altenpflege, da muss ich innerhalb von Minuten nicht nur auf hundert, sondern ich würde sagen auf hundertzwanzig Prozent hochfahren“ (B1M, Abs. 43). 10.3.2 Stichwort: Abgrenzung Habe ich im Gespräch mit Mitarbeitern gebeten, mir von Erfahrungen mit dem gemeinschaftlichen Leben zu erzählen, so gelangten – vielfach auch ohne Nachfrage – recht schnell Fragen aus dem Themenkomplex ‚Arbeitszeit und Abgrenzung ދin die Konversation. In allererster Linie ging es dabei um die Balance zwischen dem Engagement für gemeinschaftsbezogene Aufgaben und der Sorge für persönliche Angelegenheiten. Bereits in der ersten Feldphase war dieses Thema stark vertreten. In den Interviews der zweiten Feldphase habe ich die Mitarbeiter sodann vertiefend danach gefragt. Obwohl eine übergreifende Sichtung zeigt, dass die interviewten Mitarbeiter überwiegend einschätzen, in der Regel ein angemessenes Gleichgewicht zwischen individuellen und gemeinschaftlichen Belangen herstellen zu können, wird jedoch auch in fast allen Fällen von in diesem Kontext bestehenden Schwierigkeiten berichtet. Folglich wird diese Materie mehrheitlich differenziert
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betrachtet und in den diesbezüglichen Aussagen zwischen positiven sowie negativen Erfahrungen changiert. Exemplarisch lässt sich dieses anhand der Antwort eines Mitarbeiters auf die Frage, ob das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderungen innerhalb einer Hausgemeinschaft aus seiner Sicht auch mit Schwierigkeiten verbunden sei, verdeutlichen: „Je nachdem, das kommt darauf an, wie es einem selber gerade geht. Wenn man sich öffnen kann, wenn es einem gut geht, dann ist es für mich immer schön, eigentlich. Ich kann mich dann abgrenzen, ich kann auch klar sagen: ‚He, ich habe Urlaub, jetzt nicht, lass ދmich malދ. Und dann gibt es Tage, wo man das vielleicht nicht so gut kann, wo man auch den Ton nicht trifft und da kann es schon sein, man fühlt sich mal überfordert, weil es denen nicht klar ist, dass ich jetzt frei habe, dass ich einen freien Tag habe, was die Leute ja hier nicht haben, die Betreuten. Dann klopfen die trotzdem an die Wohnungstür und kommen rein und das kann ein Moment sein, wo man denkt: ‚Doch kein Privatleben hier!( “ދB5M, Abs. 37). Essenzielle Aspekte, die von Mitarbeitern im Zusammenhang mit Abgrenzungsfragen genannt wurden, werden im Folgenden entlang verschiedener Schlagwörter aufgefächert: Ständige Bereitschaft Einige Mitarbeiter geben an, dass sich arbeitsbezogene Abgrenzungsprozesse schwierig gestalten, da sie wahrnehmen, sich überwiegend in einen Zustand der ständigen Bereitschaft zu befinden: „… ja, wir müssen eigentlich immer rufbereit sein, über das Handy dann halt. Aber doch, wir versuchen das schon, ein Wochenende frei zu haben alle 14 Tage, aber es ist schwierig“ (B15M, Abs. 18). Die Praxis, keine fest umgrenzten Arbeitsstunden zu haben, geht, wie schon dargelegt, damit einher, dass eben nicht vertraglich vereinbarte Stundenkontingente den äußeren Rahmen der Arbeit vorgeben, sondern sich der Arbeitseinsatz an den jeweils auftretenden Anforderungen orientiert: „Und man muss da sein, wenn Bedarf wäre, ja“ (B1M, Abs. 45). Da in den meisten Fällen in unmittelbarer Nähe zu den betreuten Menschen gelebt wird, ist somit zumindest bei Anwesenheit der Mitarbeiter in Haus oder Hof eine Erreichbarkeit auch an eigentlich arbeitsfreien Zeiten gegeben: „Wenn allerdings in der [arbeitsfreien] Zeit was ist, wo ich gebraucht werde und ich bin hier, dann würde ich mich nicht so sehr davor verschließen, wenn einfach Not am Mann ist. Der Nachteil bei diesem Ding ist, dass man eben tatsächlich sehr stark darauf gucken muss, dass man selbst und die Familie nicht zu kurz kommen. Und da muss man auch irgendwie dann einen Riegel setzen können“ (B3M, Abs. 32).
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Präsenz oder Rückzug? Immer wieder wird ersichtlich, dass Mitarbeiter vor dem Hintergrund bestehender Gestaltungsoptionen hinsichtlich der Arbeitszeit es als Herausforderung erleben, Zeiten von Präsenz und Abwesenheit oft selbst einteilen zu müssen. Hier wird insbesondere die Schwierigkeit gesehen, das rechte Maß zwischen der Verantwortung für die Belange der Gemeinschaft und der zu unterstützenden Menschen mit Behinderungen auf der einen sowie den eigenen Bedürfnissen und Notwendigkeiten auf der anderen Seite zu finden: „Also, wenn ich jetzt von morgens bis abends durchgehend… und dann denke ich, ich brauche mal irgendwie Pause, das muss ich mir selber ausgucken, wann es passt für den Hof und natürlich auch für mich und dann muss ich einfach selbstbestimmt sein und sagen: ‚So, jetzt bin ich einen Nachmittag nicht daދ. Und da hat auch keiner die Möglichkeit, mich irgendwie zu kontaktieren, also ich habe natürlich mein Handy immer dabei, auch wegen der Kinder, aber ich meine, wenn ich sehe, das Büro ruft an, entweder entscheide ich dann, ich gehe da ran, oder ich gehe da nicht ran ... das ist nicht so einfach, selbst zu beurteilen, wie lange und wann es passt“ (B15M, Abs. 32). Auch am Beispiel des Pendelns zwischen eigener Familie und der Hausgemeinschaft als sogenannter Großfamilie wird diese Schwierigkeit sichtbar: „… also manchmal frage ich mich: ‚Bin ich präsent genug in der großen Familie, bin ich präsent genug in der kleinen Familie? ދDadurch, dass ich eigentlich verantwortlich bin, habe ich jetzt eben keinen mehr, der mir das sagt, wie zu der Zeit, als ich Auszubildender war, da ist mir gesagt worden: ‚Jetzt musst du vielleicht da sein ދoder: ‚Jetzt brauchst du nicht da sein( “ދB3M, Abs. 36). In diesem Zusammenhang bemerkt eine Mitarbeiterin in einem Seitengespräch, dass sie sich manches Mal einen Schichtbetrieb wünsche, denn es wäre für sie entlastend zu wissen, wann man jeweils mit der Arbeit fertig sei (FP 4, 156). Belastungsfaktor Einbezogenheit Aus der intensiven Einbezogenheit in gemeinschaftliche respektive arbeitsbezogene Kontexte, die – wie gesehen – im Zusammenhang mit einem hohen Präsenzgrad zumindest der internen Mitarbeiter steht, können sich im Rahmen von Abgrenzungsschwierigkeiten zum Teil ausgeprägte Belastungen ergeben: „Eine Mitarbeiterin teilt mir mit: ‚Es saugt auf, hier zu lebenދ. Es sei häufig schwierig, sich in seiner Freizeit abzugrenzen“ (FP 1, Abs. 39).
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Auf der Basis einer Vielzahl von Aufgaben, deren Aktualität durch den gemeinsamen Wohn- und Arbeitsort konstant vor Augen geführt wird, sowie eines hohen Anspruchs an sich selbst berichtet ein Mitarbeiter von Überforderungsund Burn-Out-Tendenzen, wie das folgende längere Zitat anschaulich belegt: „Also, meine Situation ganz speziell ist jetzt so, dass ich den Eindruck hatte, ich war und bin auch noch teilweise überfordert und habe so gewisse AusbrennSymptome. Ich hatte vorher eben das Haus, ich war hier in der Werkstatt und ich war auch noch Seminar-Lehrer. Und dann ist man ja auch immer auch noch in der (.) [Gremium innerhalb der Lebensgemeinschaft] mit drin und ich hatte den Eindruck, dass ich gar nichts von diesen Dingen ordentlich mache. Und dieses Bewusstsein eben, das ist unangenehm … Wenn so viele, wo man zwar immer nur Teilbereiche zu machen hat, aber man sieht eigentlich überall, es ist noch mehr zu tun, dann ist dann schon schwierig zu sagen: ‚So, und jetzt bin ich einfach für michދ. Das kommt übrigens auch jetzt wieder. Am Samstag ist mein freier Tag, da haben wir aber diese (.) [Tagung] und dann muss ich Samstag Nachmittag, halt für den Sonntag, da ist in der Waldorfschule Basar und da gehe ich hin, vorbereiten. Da ist mein freier Tag einfach futsch. Und das war letzte Woche schon so“ (B7M, Abs. 25). Erkennbar ist, dass insbesondere in diffizilen Situationen des Zusammenlebens, in denen sich die Mitarbeiter etwa mit herausfordernden Verhaltensweisen betreuter Menschen auseinandersetzen müssen, besondere Belastungsspitzen auftreten können. Ein Mitarbeiter legt dieses am Beispiel des Einzugs eines behinderten Bewohners dar, der zuvor bei seinen Eltern gelebt hat: „Und wie der hierher kam, da waren meine Frau und ich doch für sieben Leute verantwortlich und das hat er überhaupt nicht akzeptieren können und dann hat er auch gezielt eingekotet, drei Jahre ohne Ende. Also auch sehr mutwillig und mit katastrophalen Effekten so, also Hose runter und dann pinkelnd hier durch drei Zimmer, damit zehn Meter Spur da war … Das war natürlich eine ganz schwierige Situation. Und da muss man dann auch wirklich gucken: Kann man genügend Abstand behalten, dass man sich sozusagen woanders wieder regeneriert und so weiter und so fort ... Also, da muss man dann erfinderisch sein, wie man diesen Belastungen, die da auch auftreten können, wie man denen gewachsen bleibt“ (B1M, Abs 41). Ein anderer Mitarbeiter beschreibt in diesem Kontext die Herausforderungen, mit denen sich seine Familie zu manchen Mahlzeiten innerhalb der Hausgemeinschaft konfrontiert sieht: „Gerade mit der Tochter ist es auch teilweise sehr anstrengend, wenn man zu zweit, F. [seine Frau] und ich, im Dienst ist und dann so ein Abendbrot zu gestalten ist und G. [seine Tochter] ist dabei und dann der K. als Autist, der einfach sehr stark auf kleine Kinder reagiert, auf Genörgel und Gemecker, dann kann das manchmal schon den Rahmen
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sprengen. So eine Situation sollte nicht unbedingt vorkommen, aber manchmal ist es nicht zu ändern“ (B3M, Abs. 36). Rückzugsorte Zur Abgrenzung von Arbeit und Gemeinschaft – so betonen einige Mitarbeiter ausdrücklich – sei es wichtig, über eine abgetrennte Wohnung zu verfügen. Aufgrund der Lage dieser Appartements – wie bereits erläutert sind diese in den meisten Fällen in die Wohnhäuser, in denen auch die behinderten Menschen leben, integriert – ist allerdings ein vollständiger Rückzug, so lassen jedenfalls einige Äußerungen von Mitarbeitern schließen, nicht immer möglich: „Ja, ja, aber mein Privatbereich ist schon so, dass wir da sozusagen eingeführt haben: Außer bei Besonderheiten oder bei Notfällen geht da niemand rein. Weil sonst verliert man auch diesen Rückzugspunkt, das war uns wichtig“ (B1M, Abs. 41). In einer Lebensgemeinschaft ist sogar ein Notrufsystem direkt mit der Wohnung der hausverantwortlichen Mitarbeiter verbunden, wie ich aus einem Gespräch erfahre: „Es sei gut, dass es extra abgetrennte Wohnungen für Mitarbeiter gebe, so könne man sich an seinem freien Tag besser abgrenzen, obwohl man Geräusche aus dem Haus höre. Allerdings, so Frau G. weiter, gebe es ein Alarmsystem, mit dem die betreuten Menschen sich aus jedem Zimmer im Notfall melden könnten“ (FP 4, Abs. 14). 10.4 Gehalt 10.4 Gehalt „Wenn ich mit dem Geld auskomme, dann muss ich dem anderen ja nicht neidisch sein und dann sage ich mir: ‚Ich arbeite zurzeit in einem super mickrigen Stundenlohn, aber wenn ich mit dem Geld auskomme, dann ist es ja trotzdem irgendwie okayұ“ (B1M, Abs. 74). Was erhalten die Mitarbeiter als finanzielle Gegenleistung, wenn sie ihre individuelle Arbeits- und Gestaltungskraft der Gemeinschaft zur Verfügung stellen? Diesem Aspekt wird in den folgenden Ausführungen nachgegangen. In allen besuchten Lebensgemeinschaften existiert für die Mitarbeiter97 ein Haustarif oder ein an branchenüblichen Tarifverträgen orientiertes Gehaltssys-
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Ein Entgelt von Menschen mit Behinderungen setzt sich – zumindest, wenn im Rahmen einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) gearbeitet wird – nach den Richtlinien des Schwerbehindertenrechts zusammen (§ 138 SGB IX). Ein Mitarbeiter dazu: „Das ist ja schon
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tem. Hier wird in der Regel von einem abgestuften Grundgehalt ausgegangen, das durch verschiedene Zulagen ergänzt werden kann. Dabei werden Kriterien wie etwa eine erfolgreich absolvierte Ausbildung, Anzahl von Kindern und Aufgabenbereich berücksichtigt: „Es gibt eine Struktur, da ist man eingestuft nach einem Grundgehalt und dann je nachdem, ob man in einer leitenden Position ist, ob man eine abgeschlossene Berufsausbildung hat natürlich an erster Stelle, ob man mitlebt und ja und wenn man dann einen Bereich leitet, wie die Landwirtschaft oder die Vermarktung oder die Hauswirtschaft, das spielt auch noch eine Rolle“ (B5M, Abs. 34). Zuschläge für Arbeit am Wochenende, an Feiertagen oder für Nachtbereitschaften werden üblicherweise nicht gezahlt. Grundsätzlich wird innerhalb der Gehaltsordnungen nicht nach Hochschuloder Fachschulabschluss unterschieden. Bezugsgröße für die fachbezogen ausgebildeten Mitarbeiter ist im Großen und Ganzen eine Vergütung, die sich an der eines Heilerziehungspflegers orientiert. Mitarbeiter, die eine übergeordnete Leitungsfunktion innehaben, erhalten üblicherweise jedoch ein darüber hinausgehendes Einkommen. Allerdings – so merkte ein leitender Mitarbeiter einer Gemeinschaft an – seien die oberen Vergütungsgruppen des dort als Orientierungsgröße dienenden Bundesangestelltentarifs (BAT) gekappt, so dass der Unterschied hinsichtlich des Gehaltes vergleichsweise gering sei (FP 4, Abs. 260). Ironisch fasst ein Mitarbeiter die in seiner Lebensgemeinschaft geltenden Gehaltsunterschiede zusammen: „Ansonsten gilt hier auch, wie sonst anderswo, dass die wichtigsten Berufe am schlechtesten bezahlt werden. Und die unwichtigsten werden am besten bezahlt (lacht)“ (B7M, Abs. 33). Die innerhalb der Lebensgemeinschaften wohnenden Mitarbeiter müssen jeweils einen Beitrag für Kost und Logis zahlen. Während in einer Gemeinschaft die internen Mitarbeiter einen finanziellen Zuschlag erhalten (FP 1, Abs. 39), bekommen in einer anderen Organisation die außerhalb lebenden Mitarbeiter einen Aufschlag für die aufzubringende Miete. Insofern wird hier davon ausgegangen, dass das Wohnen innerhalb der Lebensgemeinschaft kostengünstiger sei (FP 2, Abs. 104). Reminiszenzen an alternative Gehaltsmodelle gibt es in einer der untersuchten Gemeinschaften: Einige leitende Mitarbeiter arbeiten dort nicht als Angestellte, sondern als Freiberufler. Der erzielte Erlös fließt auf ein gemeinsam genutztes Konto, die Verteilung wird untereinander geregelt: „A.B., I.K. und ich wir haben ein gemeinsames Konto und wir kriegen ein Honorar und das geht auf ein gemeinsames Konto und jeder nimmt sich, was er braucht… Also, wir sind da die Einzigen“ (B13aM, Abs. 80). In einer anderen Lebensgemeinschaft waren natürlich auch eine Frage, dass man sagen könnte: ‚Mensch, das ist ja wirklich mickrig“ދ (B1M, Abs. 71).
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in den Gründungsjahren zudem Ansätze finanzieller Ausgleichsmechanismen innerhalb der Mitarbeiterschaft vorhanden: „Zusätzlich gab es einen gemeinsamen Topf, in den die Mitarbeiter jeweils einen bestimmten Betrag einzahlten. Dieser war gedacht für besondere Ausgaben der Einzahler, so z. B. eine Zahnbehandlung. Auch wurde sich ein Auto geteilt“ (FP 3, Abs. 137). Der heute geltende Haustarif wurde daneben im Rahmen eines gemeinsamen Prozesses aller Mitarbeiter ausgehandelt. „‚Wir konnten das Geld selber verteilen( “ދebd.), erläutert mir eine Mitarbeiterin in diesem Zusammenhang. Mit einigen innerhalb der Gemeinschaft lebenden Mitarbeitern konnte ich darüber sprechen, wie sie die Höhe ihres Gehaltes beurteilen. Die befragten Mitarbeiter schätzen ihre Einkommenssituation mehrheitlich als zufriedenstellend ein: „Es ist absolut okay“ (B3M, Abs. 42). Vor allem im Kontext der allgemeinen Vergütungslage im sozialen Sektor offenbart sich eine gewisse Zufriedenheit: „Ich schwanke manchmal ein bisschen so hin und her, aber im Prinzip im Vergleich zu anderen Einrichtungen, glaube ich, ich verdiene ordentlich, also das ist völlig okay …“ (B5M, Abs. 51). Vor dem Hintergrund ausgedehnter Arbeits- und Präsenzzeiten werden allerdings nicht selten auch Fragen sichtbar, die sich auf das Verhältnis zwischen Arbeitszeit und Höhe des Einkommens beziehen: „In Anbetracht der Stunden, die man arbeitet und der Präsenz, die man haben muss, kann man vielleicht sagen, dass das nicht zu den höchsten Gehältern gehört“ (B3M, Abs. 42). Insbesondere im Zusammenhang mit – auch zeitlich – fordernden Situationen im gemeinschaftlichen Leben treten Zweifel an der Angemessenheit der Vergütungshöhe auf: „Da hatte ich manchmal wirklich Siebzig-Stunden-Wochen plus Bereitschaft! Also eine schier nicht endende Arbeitszeit. Da war das dann schon so, dass ich gedacht habe: ‚Mensch, für diese viele Arbeit bin ich ja kläglich bezahlt!( “ދB1M, Abs. 74). Dessen ungeachtet ist jedoch augenfällig, dass sich eine grundsätzliche Zufriedenheit auch bei einem als eher gering wahrgenommenen Gehalt zeigt. In diesem Zusammenhang spielen u. a. die folgenden Aspekte eine Rolle: Ein mit dem Lebensstandard korrespondierendes Auskommen „Also, da ergeben sich schon auch Fragen, aber dann gibt es ja die andere Frage: Wenn ich mit dem Geld auskomme, dann muss ich dem anderen ja nicht neidisch sein und dann sage ich mir: ‚Ich arbeite zurzeit in einem super mickrigen Stundenlohn, aber wenn ich mit dem Geld auskomme, dann ist es ja trotzdem irgendwie okayދ. Da gibt es auch ganz verschiedene Blickwinkel, die man da drauf werfen kann“ (B1M, Abs. 74).
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Ein sozialer Gewinn „Wenn ich es an meiner Arbeitszeit festmache, könnte ich auch sagen: ‚Ich müsste ja viel mehr verdienen! ދAber so will ich es nicht sehen. Das kommt anderweitig zurück, nicht als Geld. Also von dem her, ich bin zufrieden, ich kann da sehr gut mit umgehen“ (B5M, Abs. 51). Eine finanzielle Verbesserung im Vergleich zu vorher „Ich bin im Prinzip mit dem, was ich verdiene, sehr zufrieden. Das liegt aber da dran, weil ich früher noch viel weniger verdient habe. Andere Leute, die hergekommen sind, haben ja auch auf viel verzichtet“ (B7M, Abs. 33). Ein als passend erlebter Arbeitskontext „Ich könnte sagen, dass man wahrscheinlich in (.) ähnlich viel verdient und weniger Stunden arbeitet. Aber, dann haben dann so Sachen mit reingespielt, dass dann nur ich da eine Stelle bekommen hätte und die F. nicht und wir aber beide arbeiten wollten, dass wir eben in einer Hausgemeinschaft gerne zusammengearbeitet hätten, und das hat man uns hier geboten. In dem Zusammenhang ist das Gehalt vielleicht eher nebensächlich“ (B3M, Abs. 42). Auch die Tatsache, dass innerhalb der Gemeinschaft zu vergleichsweise günstigen Konditionen gewohnt und gegessen werden könne, wird von einigen Mitarbeitern sozusagen als ein geringes Einkommen aufwertender Vorteil gesehen. Ferner wird die Möglichkeit, das vorhandene Inventar mitnutzen zu können, als Pluspunkt bewertet: „Aber, wie gesagt, ich habe keinen besonders guten Einblick, wie es in anderen Einrichtungen aussieht. Dürfte mehr sein, aber man kann auch gut damit leben, also jetzt gerade dadurch, dass man mit in der Familie lebt und zu einfach einem geringen Satz Essen bekommt und die Miete gering ist, da hat man eigentlich wieder einen Mehrwert. Man kann alle Gerätschaften hier aus der Gruppe benutzen, theoretisch müssten wir uns keinen Staubsauger beschaffen und so weiter und so fort (B3M, Abs. 42).
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10 Individuum und Gemeinschaft
10.5 Reflexion 10.5 Reflexion 10.5.1 Kommentierung Mit den im Themenkomplex ‚Individuum und Gemeinschaft ދbeschriebenen Phänomenen verbinden sich für mich Gedankenanstöße und offene Fragen. Zunächst erscheint mir die sich zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen in der Regel unterscheidende Möglichkeit, über private Räume des Rückzugs zu verfügen, als hinterfragenswerte Angelegenheit: Während innerhalb der Gemeinschaften lebende Mitarbeiter in den meisten Fällen ein Appartement in Anspruch nehmen können, haben die dort wohnenden Menschen mit Behinderungen im Großen und Ganzen lediglich ein eigenes oder ein mit einer anderen Person geteiltes Zimmer. Somit sind Menschen mit Behinderungen viel mehr als Mitarbeiter auf die Nutzung der gemeinschaftlichen Ressourcen und Räumlichkeiten angewiesen. Dort sind einer privaten Atmosphäre allerdings allein schon wegen der (möglichen) Anwesenheit weiterer, unter Umständen nicht vertrauter Personen aber vielfach Grenzen gesetzt. Hinzu kommt, dass Mitarbeiter durch geregelte freie Tage und aufgrund einer größeren sozialen Unabhängigkeit regelmäßige gemeinschaftsfreie Zeiten gestalten können und betreute Menschen hier insbesondere aufgrund vorhandener Unterstützungsbedarfe und einer sich daraus ergebenden größeren sozialen Abhängigkeit eher auf die gemeinschaftlichen Strukturen zurückgreifen müssen. Wie in anderen Zusammenhängen manifestieren sich auch hier auf Status und Rolle bezogene Ungleichheiten zwischen Mitarbeitern und behinderten Menschen. Klar ist, dass unterschiedliche Lebens- und Bedarfslagen hier als Begründung taugen können. Und natürlich stellen in angesprochenem Kontext sozial- und heimbaurechtliche Regelungen wesentliche Einflussfaktoren dar. Allerdings: Der Anspruch, eine Lebensgemeinschaft von Menschen mit und ohne Behinderungen auf gemeinsamer Basis bilden zu wollen, kann vor diesem Hintergrund nur als schwer realisierbar angesehen werden. Im Zusammenhang mit dem Thema Privatheit beschäftigt mich weiterhin die Tatsache, dass in keiner Lebensgemeinschaft die Namen der dort lebenden Personen – ob Mitarbeiter oder behinderte Menschen – außen an den Gemeinschaftshäusern, etwa an einem Briefkasten oder der Tür, aufgeführt sind. Gewöhnlich besitzen die Häuser oder Höfe jedoch Namen, welche in den meisten Fällen auch als interne Wohnortbezeichnung verwendet werden. Drückt sich dadurch aus – diese Frage stellt sich mir trotz Zweifeln –, dass das gemeinschaftsbezogene Gefüge über die Wahrnehmung der Bewohner als einzelne Person gestellt wird? Oder handelt es sich dabei lediglich um Äußerlichkeiten, die solche Schlussfolgerungen nicht zulassen?
10.5 Reflexion
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Deutlich wurde mir während meiner Aufenthalte im Feld weiterhin, dass sich in den Lebensgemeinschaften der einzelne Mensch mit mehr oder weniger verbindlichen gemeinschaftlichen Regeln auseinanderzusetzen hat. Partiell stellen sich die Lebensgemeinschaften mir diesbezüglich als soziale Gebilde dar, in denen Regeln gelten, die außerhalb vergleichbarer Gefüge keine Anwendung finden. Ersichtlich ist, dass gewisse Regeln notwendig sind, um das Zusammenleben größerer Gruppen verträglich zu gestalten. Aber – so zeigt sich mir – auch im Sinne der Bildung bzw. des Zusammenhalts einer Gemeinschaft besitzen Regeln, aus denen sich etwa die Teilnahme an gemeinsamen Aktivitäten ergibt, hohe Relevanz. Als wichtig erachte ich, dass dem Bemühen um einen achtsamen Umgang miteinander vielfach grundlegende Bedeutung zugeschrieben wird. Hier wird aus meiner Sicht ein hohes, auch gesellschaftlich relevantes Gut gepflegt. Hinsichtlich einiger Regeln habe ich jedoch auch zwiespältige Empfindungen, da diese mir – zumindest vor dem Hintergrund meiner sicherlich nicht gänzlich umfassenden Einblicke – als der persönlichen Freiheit und dem Selbstbestimmungsrecht der betroffenen behinderten Menschen entgegenstehend erscheinen. Dieses ist z. B. bezüglich der Partizipation an religiösen Veranstaltungen sowie der zum Teil stark reglementierten oder nicht erlaubten Fernsehnutzung der Fall. Ich frage mich, ob hier von Mitarbeiterseite nicht sehr stark auf Basis eines asymmetrischen Beziehungsverständnisses gehandelt wird und somit ein Verständnis im Umgang mit behinderten Menschen zutage tritt, das prinzipiell davon ausgeht, der ‚Fachmann ދwisse, was für die von ihm betreuten Menschen gut sei. Dazu ergänzend möchte ich einige Aspekte hinzufügen: Mir ist durchaus bewusst, dass bestimmte Lebenssituationen und vorhandene Unterstützungsbedarfe manches Mal sicherlich Einschränkungen in der Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechts erfordern. Meines Erachtens sollte sich dieses jedoch nur innerhalb eines eng begrenzten Handlungsspielraums abspielen, beispielsweise, wenn eine Eigenoder Fremdgefährdung verhindert werden muss. Wie auf Basis von Äußerungen der Befragten in der Beschreibung ersichtlich wurde, ist die Mehrzahl der genannten Regeln allerdings nicht mit Zwang verbunden. D. h. es besteht keine unbedingte Pflicht, diese immer einhalten zu müssen bzw. es kann von diesen auch abgewichen werden. Insofern bleibt das Selbstbestimmungsrecht der behinderten Menschen erst einmal grundsätzlich gewahrt. Wenn jedoch – wie z. B. im Falle des gemeinsamen Essens oder religiöser Veranstaltungen – eine Nichtteilnahme zwar möglich, diese aber eher als Ausnahme verstanden wird, dann wird eine Hürde aufgebaut, welche die freie Entfaltung der Selbstbestimmungskräfte behindern kann. Dessen ungeachtet darf natürlich nicht vergessen werden, dass die Gemeinschaftsregeln von den davon tangierten Personen nicht generell als Einengung empfunden werden müssen. Das zeigt sich
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10 Individuum und Gemeinschaft
beispielsweise an positiven Äußerungen von Mitarbeitern und behinderten Menschen zum gemeinsamen Essen. Insgesamt ist daher – dieses wurde ja auch schon mit Bezug zu anderen innerhalb der Lebensgemeinschaften wahrgenommenen Phänomenen ersichtlich – auch hier die Frage entscheidend, ob sich insbesondere die behinderten Menschen bewusst für diese Lebensform entschieden haben und diese Entscheidung auch als hinterfragbar und revidierbar angesehen werden darf.98 Können sich Menschen mit Behinderungen zu dieser Angelegenheit nicht (unmittelbar) äußern, so sollte durch individuell passende Maßnahmen deren Wille dennoch erkundet werden. Beeindruckt hat mich schließlich die Entscheidung von Mitarbeitern, sich trotz nur wenig geregelter Arbeitszeiten und dem oftmaligen Fehlen klarer Festlegungen, was in den Bereich ‚Arbeit ދfällt und was dem Freizeitleben zuzurechnen ist, für ein Leben innerhalb einer Gemeinschaft zu entscheiden. So machen diese Mitarbeiter – im eher geschützten Rahmen einer speziellen Gemeinschaft – ernst mit einem nachbarschaftlichen Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderungen. Vor Augen geführt bekommen habe ich aber auch sich daraus ergebende Herausforderungen, die sich innerhalb eines Spannungsfelds zwischen erlebter Gestaltungsfreiheit und Abgrenzungsschwierigkeiten abspielen können. Hier sind gewiss besondere Kompetenzen der Selbststeuerung hilfreich bzw. sogar vonnöten, um ein als angemessen empfundenes Maß von Engagement und Rückzug erreichen zu können. 10.5.2 Kontextuelle Einordnung Das Zusammenleben innerhalb einer (sozialtherapeutischen) Gemeinschaft ist – wie die dargelegten Beschreibungen hinsichtlich unterschiedlicher Bereiche exemplarisch zeigen – in besonderer Weise von einem dynamischen Verhältnis zwischen individuellen Bedürfnissen, Wünschen und Zielen sowie Gemeinschaftsinteressen geprägt. Insofern vollzieht sich das eigene Leben auf einem Kontinuum zwischen den beiden Polaritäten ‚Individualität ދund ‚Gemeinschaftދ. Hier – auch das wurde deutlich – können sich Spannungen ergeben, die immer wieder erfordern, das rechte Maß zwischen individuumsbezogenen und gemeinschaftsbezogenen Angelegenheiten auszutarieren bzw. ein als adäquat empfundenes Gleichgewicht zwischen diesen beiden Polen herzustellen. Eine bedeutende Einflussgröße stellen in diesem Feld innerhalb der Gemeinschaft geltende Regeln dar. Auf Grundlage langjähriger Erfahrungen mit dem Leben in einer 98
Siehe dazu etwa Hinweise der befragten Menschen mit Behinderungen in Kapitel 6.
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sozialtherapeutischen Gemeinschaft schreibt Eisenmeier dem Vorhandensein und der Einhaltung von Regeln eine existenzielle Funktion zu: „Voraussetzung, daß eine Gemeinschaft über eine angemessene Zeit hin bestehen bleibt, ist, daß Regeln des Gemeinschaftslebens erkannt, anerkannt und befolgt werden. Wenigstens von denen, die mitverantworten und mitgestalten wollen. Geschieht das nicht, ist die Folge Leid, Schmerz, Streit und am Ende Zerfall. Mit diesen Regeln haben wir uns eingehend befaßt, es als Daueraufgabe angesehen, daran zu arbeiten. So etwas ist im Sozialen, im Gemeinschaftsleben notwendig wie die Tätigkeit des Blutkreislaufes“ (Eisenmeier 1995, 26). Regeln können in diesem Sinne somit als Kitt gemeinschaftlichen Lebens betrachtet werden. Vor dem Hintergrund der Existenz von – auch individuelle Handlungsräume beeinflussenden – Regeln besteht allerdings die Gefahr, dass die Freiheit des Einzelnen zugunsten gemeinschaftsrelevanter Belange deutliche Einschränkungen erfährt. In seiner Schrift mit dem Titel „Gemeinschaften“ formuliert Zygmunt Bauman diesen Sachverhalt in zugespitzter Weise – nicht vergessend, dass mit einem Leben in Gemeinschaften auch ein Zugewinn an Sicherheit verbunden ist: „Das Privileg, ‚in einer Gemeinschaft zu lebenދ, hat seinen Preis – und dieser ist nur solange unerheblich, wie die Gemeinschaft ein Traum bleibt. Die Währung, in der dieser Preis zu entrichten ist, heißt Freiheit; man könnte sie ebenso gut ‚Autonomieދ, ‚Recht auf Selbstbehauptung ދoder ‚Recht auf Individualitätދ nennen. Wie auch immer: man verliert etwas, gewinnt aber auch etwas hinzu. Auf Gemeinschaft verzichten heißt auf Sicherheit verzichten; der Anschluß an eine Gemeinschaft bedeutet allerdings sehr bald den Verzicht auf Freiheit“ (Bauman 2009, 11). Dabei – so Bauman – sei es in der Regel nicht möglich, das Bedürfnis nach Sicherheit und das Streben nach Freiheit konfliktfrei miteinander zu vereinbaren: „Sicherheit und Freiheit sind gleich kostbare und gesuchte Werte, die man besser oder schlechter ausbalancieren, doch kaum je störungsfrei in Einklang bringen kann“ (Bauman 2009, 11). Fragen im Kontext von Freiheit und Autonomie werden in Wissenschaft und Praxis vor allem unter dem Begriff der Selbstbestimmung diskutiert. ‚Selbstbestimmung ދhat sich im Verlauf der letzten zwei Jahrhunderte zu einem vertrauten Terminus innerhalb des westlich geprägten Denkens entwickelt. Dieses findet beispielsweise in der selbstverständlichen Verwendung des Begriffes in Alltagssprache, Recht, Politik oder Geisteswissenschaft seinen Ausdruck (Krähnke 2007, 9). Eine zunehmende Popularität des Selbstbestimmungsgedankens ist dabei insbesondere gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts wahrnehmbar: „Vor allem in den 1990er Jahren ist eine Konjunktur der normativen Leitidee ‚Selbstbestimmung ދzu beobachten. Die Prominenz dieser Idee lässt sich daran ersehen, dass in öffentlichen, politischen, juristischen und wissenschaftlichen Diskursen nicht nur verstärkt von Selbstbestimmung die Rede ist,
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sondern darüber hinaus Selbstbestimmungsrechte propagiert, eingeklagt, diskutiert werden“ (Krähnke 2007, 68). Dabei ist ein breites Spektrum an Themenfeldern feststellbar, auf welche sich diesbezügliche Diskurse beziehen (ebd.). Im sonderpädagogischen Fachdiskurs wird der Begriff der Selbstbestimmung seit Mitte der 1990er Jahre verstärkt aufgegriffen (vgl. z. B. Hahn 1994; Bradl/Steinhart 1996; Thimm 1997; Baudisch 2000; Färber/Lipps/Seyfahrt 2000)99 und stellt seither eine programmatische Leitformel im Kontext der Behindertenhilfe dar. Auch in der Behindertenpolitik besitzt ‚Selbstbestimmungދ mittlerweile den Status einer wesentlichen Leitlinie und bildet somit eine Orientierungsmarke diesbezüglichen Handelns. So ist etwa im Rehabilitationsrecht grundlegend verankert, dass behinderte Menschen die ihnen zustehenden Leistungen zur Förderung ihrer Selbstbestimmung erhalten (§ 1 Neuntes Sozialgesetzbuch (SGB IX)). Eine dementsprechende Bekräftigung findet sich in § 9, Abs. 3. Dort heißt es: „Leistungen, Dienste und Einrichtungen lassen den Leistungsberechtigten möglichst viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung ihrer Lebensumstände und fördern ihre Selbstbestimmung“. Die seit Anfang 2009 bestehende verbindliche Verankerung des Persönlichen Budgets im bundesdeutschen Sozialrecht kann ebenso in diesem Zusammenhang gesehen werden.100 In der im Jahre 2009 in Deutschland in Kraft getretenen ‚UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen( ދUnited Nations 2006) stellt ‚Selbstbestimmung ދdesgleichen einen zentralen Bezugspunkt dar. Bereits in den allgemeinen Grundsätzen wird folglich auf die Bedeutung der Achtung von Autonomie und die damit verbundene Freiheit, eigene Entscheidungen treffen zu dürfen, rekurriert: “Respect for inherent dignity, individual autonomy including the freedom to make oneދs own choices, and independence of persons” (Artikel 3a). Die Implementierung des Selbstbestimmungsgedankens als essentielles Element von Behindertenpolitik steht in unmittelbarer Verbindung mit der Behindertenbewegung. Durch die amerikanische Behindertenbewegung und der dort propagierten Idee des ‚Independent-Living ދbeeinflusst, begannen Anfang der 1980er Jahre auch in Deutschland Menschen mit Behinderungen Bürgerrechte einzufordern und gegen institutionelle Unterbringung und für selbst organisierte persönliche Assistenz zu kämpfen (Waldschmidt 2003, 14; vgl. auch Miles-Paul 1992). Vor dem Hintergrund, dass sich die daraus entstandene ‚Selbstbestimmt-Lebenދ-Bewegung in erster Linie aus Aktivisten mit Körper- und Sinnesbehinderungen zusammensetzte, waren die Belange von Menschen mit geis99
Innerhalb der sonderpädagogischen Literatur – aber auch darüber hinaus – werden Begriffe wie ‚Selbstbestimmungދ, ‚Autonomie ދund ‚Unabhängigkeit ދin der Regel weitgehend synonym verwendet (Hahn 1994, 81). 100 Zum Persönlichen Budget vgl. z. B. Weinbach (2008); Wacker/Wansing/Schäfers (2009).
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tiger Behinderung zunächst nur wenig präsent. Erst durch den im Jahr 1994 von der Bundesvereinigung Lebenshilfe unter dem Titel ‚Ich weiß doch selbst, was ich will! – Menschen mit geistiger Behinderung auf dem Weg zu mehr Selbstbestimmung ދveranstalteten Kongress gab es eine verstärkte Aufmerksamkeit auch für diese Personengruppe (Waldschmidt 2003, 14; Bundesvereinigung Lebenshilfe 1997). Mit den ‚People First/Mensch zuerstދ-Gruppen existieren inzwischen auch hier entsprechende Organisationen von Betroffenen (Kniel/Windisch 2005). Grundlegend gilt ein Mensch als autonom, wenn er die Möglichkeit hat, in Angelegenheiten, die ihn selbst betreffen, auch selbst bestimmen zu können (Wagner 2007, 25). Dabei geht es sowohl um Entscheidungen der alltäglichen Lebensführung als auch der Lebensplanung (Aselmeier 2008a, 57).101 Auf Basis empirischer Erkenntnisse legt Waldschmidt Alltagstheorien behinderter Frauen und Männer zu Autonomie und Selbstbestimmung dar. Aufgrund von im Zusammenhang mit dem Behindertenstatus erfahrenen Beschränkungen wird mit Selbstbestimmung dabei zunächst ein befreiendes Moment verbunden. Als wesentlich für ein selbstbestimmtes Leben wurden zudem günstige infrastrukturelle und soziale Modalitäten angesehen: „Sehr deutlich wurde auf der empirischen Ebene, dass Selbstbestimmung für behinderte Menschen vor allem einen Befreiungsprozess beinhaltet. Insbesondere äußere Unabhängigkeit, beispielsweise von Heimstrukturen oder paternalistischen Fürsorgebestrebungen, thematisierten die Interviewpersonen, wenn sie nach den Gründen ihrer Autonomiewünsche befragt wurden. Auffällig war des Weiteren, dass die Gesprächspartner und partnerinnen den äußeren Rahmenbedingungen einen hohen Stellenwert zuschrieben. Die behindertengerechte Wohnung, ein ausreichendes Angebot an persönlicher Assistenz, technische Hilfen und der behindertengerechte Personennahverkehr galten als wichtige Voraussetzungen für die individuelle Autonomie. Außerdem wurde den finanziellen Ressourcen und einer eigenen Erwerbstätigkeit große Bedeutung eingeräumt. Den sozialen Netzwerken wurde ebenfalls ein großes Gewicht zuerkannt. Auch die Kommunikations- und Dialogbereitschaft Nichtbehinderter und die allgemeine soziale Akzeptanz von behinderten Menschen wurden in diesem Zusammenhang erwähnt“ (Waldschmidt 2003, 19). Bezüglich der Grenzen von Selbstbestimmung wurde zum einen auf das soziale Eingebettetsein des Individuums verwiesen. Darüber hinaus wurden von den an der Studie beteiligten Personen jedoch auch Beschränkungen thematisiert, die sich auf gesellschaftliche Einstellungen, rechtliche und fiskalische Gesichtspunkte sowie auf die eigene Beeinträchtigung beziehen: „Mehrfach fand sich der 101 Als institutionalisierte Bausteine im Rahmen von Selbstbestimmungsprozessen besitzen Formen der Mitbestimmung (vgl. z. B. Schlummer/Schütte 2006) sowie die Interessenvertretung behinderter Menschen im politischen Raum (vgl. z. B. Stamm/Weinbach 2007) eine große Relevanz.
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Hinweis auf die Bedürfnisse anderer Menschen, die als notwendige Einschränkung der persönlichen Autonomie von allen Interviewpersonen bereitwillig akzeptiert wurden. Als begrenzend im negativen Sinne wurden traditionelle soziale Rollen und Normen sowie finanzielle Restriktionen und sozialrechtliche Bestimmungen erwähnt. Unzureichende Assistenzstrukturen waren ebenfalls ein Bereich, der in diesem Zusammenhang thematisiert wurde. Außerdem wurden sozialisatorische Einflüsse genannt sowie die eigene körperliche Beeinträchtigung, die das selbstbestimmte Leben manches Mal erschwert“ (Waldschmidt 2003, 19; vgl. dazu auch Waldschmidt 1999). Davon ausgehend, dass Selbstbestimmung wesenhaft zum Menschsein gehört und sich menschliches Wohlbefinden auf Selbstbestimmung gründet, veranschaulicht Hahn (1994), dass insbesondere für Menschen mit geistiger Behinderung ein selbstbestimmtes Leben erschwert ist. So wird diesen – im Unterschied zu nichtbehinderten Menschen – ein „Mehr an sozialer Abhängigkeit“ (Hahn 1994, 87)102 beigemessen, wodurch Selbstbestimmungsprozesse gehemmt werden können: „Das Mehr an sozialer Abhängigkeit bedeutet ein Weniger an selbständig realisierbarer Unabhängigkeit. Der Freiheitsraum verringert sich in dem Maße, wie die behinderungsverursachende Abhängigkeit zunimmt“ (Hahn 1994, 88). Als Aufgabe professioneller Unterstützung wird die Hilfe bei der Überwindung bestehender Abhängigkeiten und somit die Verwirklichung des Rechtes auf Selbstbestimmung angesehen. Vorhandene Freiheitsräume für Selbstbestimmung müssen erfasst, ausgefüllt und erhalten sowie zu einem verantwortungsvollen Umgang mit Freiheit befähigt werden. Handlungsleitend ist hier das Assistenzmodell, bei dem sich der Helfer – im Sinne eines subsidiär geprägten Unterstützungsverständnisses – selbst zurücknimmt: „Wir assistieren demjenigen, der unsere Hilfe benötigt, bei der Verwirklichung seiner (!) Ziele. Beachten wir dies nicht, führt unsere vielleicht durchaus gutgemeinte Hilfe zu Überbefürsorgung, die real als Fremdbestimmung erlebt wird“ (Hahn 1994, 91; Hervorhebung im Original). Allerdings sei – um eine dauernde Über- oder Unterforderung zu vermeiden – grundsätzlich immer darauf zu achten, dass die jeweiligen Freiheitsräume für Selbstbestimmung mit der individuell zur Verfügung stehenden Verantwortlichkeit im Einklang stehen (Hahn 1994, 84).103 Eng verknüpft mit dem Leitgedanken der Selbstbestimmung ist der Begriff des Empowerment. Der ursprünglich aus der amerikanischen Gemeindepsychiatrie stammende Ansatz hebt darauf ab, Menschen in einer abhängigen Situation zu befähigen, (wieder) eine stärkere Kontrolle über ihr Leben zu erlangen. Dabei 102 Vgl. dazu auch Hahn (1981). 103 Anzumerken ist hier, dass einem selbstbestimmten Leben innerhalb eines gruppenbezogenen Kontextes wie etwa in einem Wohnheim strukturell bedingt zwangsläufig Grenzen gesetzt sind. Dieses legt Bradl (1997) in differenzierter Weise dar.
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spielt das Erleben eigener Stärke im Austausch mit anderen, in ähnlichen Lebenslagen befindlichen Menschen sowie die gegenseitige Ermutigung eine prominente Rolle (Theunissen/Plaute 2002). Pointiert gefasst zielt Empowerment also „auf die (Wieder-) Herstellung von Selbstbestimmung über die Umstände des eigenen Alltags“ (Herriger 2002, 18). Auf Basis der Anerkennung von Selbstbestimmung als wesentlichen Leitgedanken zeitgemäßer Unterstützung geistig behinderter Menschen setzt sich Schwarte (2008) kritisch mit diesem Ansatz verpflichteten Konzeptionen auseinander. Unter dem Titel „Selbstbestimmung allein genügt nicht“ weist er auf die Gefahren eines einseitig ausgerichteten Verständnisses von Selbstbestimmung hin. Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Tendenzen, Selbstbestimmung im Kontext von Prozessen ‚reflexiver Modernisierungދ104 in erster Linie als Teil eines neoliberalistischen Programms zu betrachten, das vor allem auf Durchsetzungsvermögen, Eigenverantwortlichkeit und Souveränität setzt sowie Entwicklungen, den Selbstbestimmungsgedanken zur Kaschierung unzureichender Unterstützungsleistungen zu missbrauchen, wird deutlich, dass sich die Umsetzung eines konsequent an den Bedürfnissen von Menschen mit geistiger Behinderung orientierten Selbstbestimmungsparadigmas als äußerst voraussetzungsvoll und folgenreich darstellt. Mit Bezug auf Paul Moor (1965) und dessen mit Rückgriff auf Aristoteles ދNikomachische Ethik entwickelten Wertequadrats zeigt Schwarte ferner auf, dass Selbstbestimmung komplementärer Wertsetzungen bedarf, um konstruktiv wirken zu können: „Ausgangspunkt ist die aus alltäglichen Erfahrungen abzuleitende Überlegung, dass Werte nicht isoliert durch einseitige Steigerung, sondern nur in der Spannung zu einem positiven Gegenwert konstruktiv wirksam werden. Ohne diese Balance stellt sich die einseitige Steigerung als entwertende Übertreibung dar: So wie Sparsamkeit zu Geiz verkommt, wenn sie nicht zu dem positiven Gegenwert Großzügigkeit in eine dynamische Balance gebracht wird, und Großzügigkeit ohne Sparsamkeit zur Verschwendung, kann die einseitige Ausrichtung der Hilfen für Menschen mit Behinderung auf Selbstbestimmung zur Isolation, zur Vernachlässigung und aktiven Verwahrlosung führen, wenn der nur (scheinbar) überholte Gegenwert ‚Fürsorge ދnicht zur Selbstbestimmung in eine produktive Spannung gebracht wird, während die Fürsorge in einseitiger Betonung und Übertreibung Bevormundung und Fremdbestimmung hervorbringt. Die allzu selbstgewiss daherkommende Parole ‚Selbstbestimmung statt Fürsorge ދist auf dem Erfahrungshintergrund des herkömmlichen Hilfesystems für Menschen mit Behinderung verständlich, zielführend ist sie nicht. Eher leistet sie im Sinne einer Überkompensation dem
104 Vgl. dazu z. B. Beck/Giddens/Lash (1996).
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Wechsel von der Entwertungsvariante ‚Bevormundung ދzur Entwertungsvariante ‚Vernachlässigung ދVorschub“ (Schwarte 2008, 69). Im Zusammenhang mit den Chancen, die eine zunehmende gesellschaftliche Individualisierung für eine verstärkte Realisierung von Selbstbestimmung auch für Menschen mit Behinderungen mit sich bringt, verweist Waldschmidt (2003, 19) ebenso auf die negativen Folgen einer einseitigen Propagierung von mehr Freiheit und Eigenverantwortung: „Die unkritische Propagierung des Autonomiekonzepts kann in der aktuellen Situation leicht dazu führen, sich in den Fallstricken des Neoliberalismus zu verheddern. Ganz allein für sich verantwortlich zu sein, ohne Anspruch auf Hilfe und Unterstützung – das ist sicherlich nicht die Freiheit, welche die Behindertenbewegung ursprünglich im Sinn hatte, als sie sich die Autonomieforderung auf die Fahnen schrieb (Waldschmidt 2003, 19).105 In einer kritischen Auseinandersetzung mit der Selbstbestimmungsdiskussion innerhalb der Behindertenpädagogik bezieht sich auch Thimm (1997; ebenso 2005a) auf gesellschaftliche Entwicklungen der Individualisierung, die etwa durch das Fehlen von kollektiven Sinngebungssystemen und festverfügten Rollenmustern sowie der sich daraus ergebenden Anforderung, Lebensprojekte äußerst individuell zu verwirklichen, ihren Ausdruck finden. Mit Verweis auf das Konzept der Lebenschancen von Dahrendorf (1979) stellt er in diesem Zusammenhang dar, dass eine einseitige Fokussierung auf individuelle Ansprüche im Sinne einer „‚Ich-habe-ein-Recht-aufދ-Mentalität“ (Thimm 2005a, 221) zur Zerstörung sozialer Strukturen führen, eine zu starke Verankerung innerhalb sozialer Bezüge demgegenüber jedoch mit Beeinträchtigungen individueller Entscheidungsspielräume verbunden sein könne. Um eine Realisierung von Lebenschancen zu erreichen, so Thimm, bedürfe es folglich immer eines ausbalancierten Verhältnisses zwischen Wahlmöglichkeiten (Optionen) und der Einbettung in sinnstiftende Sozialbeziehungen (Ligaturen): „Wenn Modernisierung in unserer Gesellschaft, gesellschaftlicher Fortschritt vor allem mit einer Zunahme von Optionen gleichgesetzt wird, können die eröffneten Wahlentscheidungsmöglichkeiten ihren Sinn verlieren, wenn sie sich nicht auf Ligaturen, auf soziale Einbindungen beziehen lassen. Auf der anderen Seite kann ein Übermaß an sozialen Bindungen zu Einschränkungen für individuelle Wahlmöglichkeiten des Handelns führen, ja, im Extrem zur Unterdrückung“ (Thimm 1997, 227). Auch innerhalb der anthroposophischen Sozialtherapie ist in den letzten Jahren eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Selbstbestimmung wahrnehmbar (vgl. z. B. Lorenz 2002; Grimm 2005; Lossen 2005; Kalwitz
105 Eine Auseinandersetzung mit Selbstbestimmung im Kontext von Prozessen der Individualisierung findet sich auch bei Rohrmann (2007, 96ff.).
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2006).106 Das Recht auf Selbstbestimmung wird dabei als ein wesentlicher, aber diskussionswürdiger Grundpfeiler der Arbeit anerkannt. So wird auch hier eine eindimensionale Auslegung des Selbstbestimmungskonzeptes abgelehnt und für eine differenzierte Sichtweise plädiert. Den Ausführungen Schwartes (2008) ähnlich, steht im Zentrum des Diskurses die Kritik an einer Dichotomie von Fürsorge und Selbstbestimmung, wie diese im Rahmen des sogenannten Paradigmenwechsels innerhalb der Behindertenhilfe mit der Leitformel ‚Selbstbestimmung statt Fürsorge ދvertreten wird und welche Fürsorge in erster Linie mit ‚Abhängigkeit ދund ‚Überbehütung ދkonnotiert: „Selbstbestimmung und Fürsorge sind keine Entweder-Oder-Probleme – also krasse Gegensätze – sondern Verhältnisfragen“ (Grimm 2005, 4). Ausgehend davon, dass jeder Mensch – in verschiedenen Lebensphasen unterschiedlich stark – von anderen Individuen abhängig ist, wird die Sorge für andere als existentiell für das menschliche Dasein angesehen: „Doch auch in den Zeiten, wo wir uns stark, kräftig, vital und selbstbewusst fühlen und unser Leben als gelingend empfinden, sind wir immer von anderen Menschen und der menschlichen Sozialität insgesamt existentiell abhängig, d. h. auf Fürsorglichkeit angewiesen“ (Grimm 2005, 5). Selbstbestimmung und Sorge werden somit als untrennbare Bestandteile eines jeden Lebens betrachtet. Das sorgfältige Austarieren der Relation zwischen der notwendigen Sorge – in manchen Situationen und für manche Menschen damit verbundenen advokatorischen Handlungen – sowie Selbstbestimmungsprozessen, stellen folglich eine Kernaufgabe sozialtherapeutischer Arbeit dar: „Wer sein eigenes Leben beobachtet, erlebt, dass dazu immer auch die Unterstützung anderer notwendig war. Insofern schließen sich die Sorge für den anderen und Selbstbestimmung ineinander. Ihr Verhältnis zueinander gehört zu unserer Existenz – zur conditio humana. Das macht natürlich nicht überflüssig, vieles an diesem Zusammenhang neu und immer wieder zu überdenken“ (Grimm 2005, 15). Ein wesentlicher Aspekt im Gefüge ‚Individuum und Gemeinschaft ދstellt des Weiteren die Möglichkeit dar, eine den eigenen Ansprüchen und Bedürfnissen gemäße Privatheit realisieren zu können. Im Zuge der Individualisierung von Lebensstilen hat auch das Spektrum der möglichen Wohnformen eine immer größere Differenzierung erfahren. Auch das Bedürfnis, über private Räumlichkeiten zu verfügen, die vor dem Zugriff anderer Personen geschützt sind, die 106 Der Begründer der Camphill-Bewegung, Karl König, formulierte im Zusammenhang mit dem Aufbau der ersten sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaften allerdings bereits eine Vision eines selbstbestimmtes Lebens von Menschen mit Behinderungen: „Wir müssen die Bedingungen schaffen, dass der behinderte Mensch seine ihm eigene angemessene Arbeits- und Lebenswelt schaffen kann und nicht fortgesetzt davon ausgehen, daß wir besser wissen, was er braucht“ (König 1962 zitiert nach Müller-Wiedemann 1992, 300).
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einen ungestörten Rückzug ermöglichen sowie individuell gestaltbar sind, hat sich verstärkt: „Heute haben Privatheit und Individualisierung für jeden Menschen in unserer Gesellschaft eine hohe Bedeutung“ (Schwarte/Oberste-Ufer 2001, 281). Privatheit stellt dabei – unabhängig von eventuell vorliegenden Beeinträchtigungen – ein konstitutives Element des Wohnens dar, wie eine von Thesing (1998, 35ff.) vorgelegte Nennung von Hauptfunktionen der Wohnung zeigt:
„Die Wohnung als Raum für Geborgenheit, Schutz und Sicherheit Die Wohnung als Raum für Beständigkeit und Vertrautheit Die Wohnung als Raum für Selbstverwirklichung und Selbstverfügung Die Wohnung als Raum für Kommunikation und Zusammenleben Die Wohnung als Raum für Selbstdarstellung und Demonstration von sozialem Status“ (Thesing 1998, 35ff.).
Da mit den genannten Funktionen gleichfalls existentielle Grundbedürfnisse des Menschen angesprochen werden, kann die Möglichkeit, auf private Rückzugsorte zurückgreifen zu können, somit als Schlüssel zur Verwirklichung dieser angesehen werden: „Nur dann, wenn die Privatheit der Wohnung oder des eigenen Zimmers gesichert und der Wohnbereich individuell gestaltbar ist, können die mit dem Wohnen verbundenen Bedürfnisse (Alleinsein und Ungestörtsein, Sicherheit und Schutz; Vertrautheit und Kontinuität; Kontakt und Kommunikation) im begleiteten Wohnen erfüllt werden“ (Schwarte/Oberste-Ufer 2001, 280). Dass Privatheit ein zentrales Merkmal des Wohnens ist, wird auch durch einen Blick in das Grundgesetz deutlich. Um eine freie Entfaltung des Privatlebens zu garantieren, stellt die Wohnung nach Artikel 13 einen besonders schutzwürdigen, „unverletzlichen“ Ort dar. Allerdings: Da ein Heimplatz nicht als Wohnung gilt, können dieses Schutzrecht Menschen, die in einer stationären Wohneinrichtung leben – wie bekannt zählen die anthroposophischen Lebensgemeinschaften jedenfalls in ihrem Kernbereich zu diesem Organisationstypus – rein rechtlich betrachtet nicht in Anspruch nehmen: „Die so wichtige Selbstbestimmung über die grundrechtlich geschützte Privatsphäre ist dadurch zumindest stark eingeschränkt“ (Schwarte/Oberste-Ufer 2001, 280; vgl. auch Schwarte 1994). Neben baulichen Gesichtspunkten wie etwa das Bereitstellen eines Einzelzimmers oder einem eigenen Wohnbereich geht es bei der Realisierung von Privatheit immer auch um konzeptionelle Aspekte und vorhandene Denkstrukturen: „Ausreichender Privatraum allein kann jedoch Privatheit und Individualisierung nicht sicherstellen, er ist lediglich eine Voraussetzung dafür. Entscheidend ist, dass auch eine Atmosphäre besteht, in der die Nutzer ihre Privatheit ganz selbstverständlich leben können“ (Schwarte/Oberste-Ufer 2001, 282). Wesent-
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lich ist jedoch, dass die Wohnbedürfnisse von Menschen mit Behinderungen ebenso individuell sind, wie dieses bei nichtbehinderten Personen der Fall ist: „Manche möchten allein (in einer Wohnung oder in einem Einzelzimmer) leben, andere wiederum wollen ganz bewusst nicht allein wohnen“ (Schwarte/ObersteUfer 2001, 281). Dieses wurde auch – wie dargelegt – innerhalb der Interviews mit behinderten Gemeinschaftsmitgliedern im Zusammenhang mit der Frage nach der Zufriedenheit mit ihrer Zimmersituation (Einzel- oder Doppelzimmer) ersichtlich. Insbesondere in aktuellen Fachdiskursen spielt Privatheit im Verhältnis zu wohnbezogenen Hilfen für Menschen mit Behinderungen eine prominente Rolle, da hier Konzeptionen im Zentrum stehen, die sich am Modell des mit bedarfsgerechter, flexibler und verlässlicher Unterstützung flankierten privaten Wohnens in der eigenen Häuslichkeit orientieren (Schädler/Rohrmann 2009, 72). Die in drei der vier an dieser Studie beteiligten Gemeinschaften zumindest hinsichtlich der internen Mitarbeiter bestehende Entgrenzung der Arbeit ist im Zusammenhang mit der zugrunde liegenden konzeptionellen Idee der sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaft zu sehen. Vor dem Hintergrund des Anspruches, ein sozialer Organismus sein zu wollen, in dem nicht trennscharf zwischen Mitarbeitern auf der einen und hilfebedürftigen Menschen auf der anderen Seite unterschieden wird, nicht in erster Linie das Bereitstellen und das Empfangen von Unterstützungsleistungen im Vordergrund steht, sondern vor allem anderen zusammen gelebt wird, werden gesellschaftlich gebräuchliche Definitionen und Einordnungen, etwa hinsichtlich Arbeit und Freizeit, in Frage gestellt. Nach Siegel-Holz (2008) sah der Begründer der Camphill-Bewegung, Karl König, folgende Anforderungen als wesentlich für innerhalb sozialtherapeutischer Lebensgemeinschaften lebende Mitarbeiter an: „Vom Mitarbeiter in einer solchen Gemeinschaft erwartete König eine grundsätzliche Bereitschaft zur Schicksalsbeziehung mit den Menschen, mit denen er zusammenlebt; eine Bereitschaft zur permanenten Selbstschulung; eine Bereitschaft, sich auf Gemeinschaftsprozesse ohne jegliche Überheblichkeit den Schwächeren gegenüber einzulassen; eine Bereitschaft, dem anderen neben sich Raum zu geben; eine Bereitschaft schließlich, die Kategorien Arbeitszeit, Bezahlung, Freizeit, Privat- bzw. Familienleben und öffentliches Leben grundlegend neu zu überdenken“ (Siegel-Holz 2008, 271). Die hier implizierte Sichtweise, das Leben in einer sozialtherapeutischen Gemeinschaft eben nicht (primär) als Erwerbsarbeit zu betrachten, hatte zur Folge, dass bei der Gründung anthroposophischer Lebensgemeinschaften – neben dem Verzicht auf festgelegte Arbeitsstunden – eine Entkoppelung von Arbeit und Einkommen einen wesentlichen konzeptionellen Baustein darstellte. Einem diesbezüglichen Verständnis zufolge wird Arbeit als ein Akt der Mit-
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menschlichkeit angesehen, der nicht finanziell entlohnt werden kann: „So lange immer wieder und wieder üben, bis die Arbeit nur noch vollzogen wird für den Mitmenschen – aus Liebe zu ihm! Arbeit und Liebe sind nicht voneinander zu trennen, ohne sozialen Schmerz, Unheil, Unfrieden zu erzeugen. Beide können nicht bezahlt werden. Tut man es dennoch, löst man ihr eigentliches Wesen auf. Was dann bleibt, ist unbefriedigend, ernüchternd, öde, unmoralisch“ (Eisenmeier 1995, 48). Insofern wurden anfänglich in vielen sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaften auch alternative Entgeltmodelle beispielsweise in Form gemeinschaftlich verwalteter Fonds eingeführt (Eisenmeier 1995, 51f.).107 Im Zuge zunehmender Professionalisierung sozialer Arbeit sowie wachsender Bedürfnisse von Mitarbeitern nach größeren individuellen Entscheidungsspielräumen sind derartige Vereinbarungen – oft nach intensiven Diskussionen – („Darf man als Mitarbeiter ein Gehalt beziehen oder bedeutet das Gemeinschaft gegen Bezahlung?“ (Siegel-Holz 2008, 272)) in vielen Fällen aufgelöst worden. Wie beschrieben, sind auch in den dieser Arbeit zugrunde liegenden Lebensgemeinschaften – von Ausnahmen abgesehen – keine dementsprechenden Ansätze (mehr) vorhanden.108 Auch darüber hinaus hat – dieses wird auch an dem mittlerweile implementierten Schichtdienst in einer der beteiligten Lebensgemeinschaften deutlich – eine fortschreitende Verankerung sozialtherapeutischer Gemeinschaften im organisationalen Feld der Behindertenhilfe dazu geführt, dass zunächst bestehende Ansprüche aufgegeben bzw. weiterentwickelt werden mussten: „Die sozialtherapeutische Gemeinschaft begann in einer Zeit, in der noch wenig vorgegeben war, Menschen mit Behinderungen noch nicht Sozialhilfeempfänger waren und Mitarbeiter kein Gehalt hatten. Als Vision der Inklusion und Teilhabe des Einzelnen konnte sie sich nur zum Teil verwirklichen. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Sie hängen mit dem Spannungsfeld zusammen, 107 Die Grundlagen dieser Denkweise stehen im Kontext der von Rudolf Steiner konzipierten ‚sozialen Dreigliederung( ދSteiner 1976; 1988). bzw. des ‚sozialen Hauptgesetzes( ދSteiner 1987a, 213ff.). 108 Eisenmeier führt die Schwierigkeiten aus, die mit einer Abkehr vom im gesellschaftlichen Mainstream verankerten Modell ‚Arbeitsleitung gegen Bezahlung ދverbunden sind und die letztlich in den meisten anthroposophischen Lebensgemeinschaften auch zu einer Aufgabe dementsprechender Ansätze geführt haben: „Es gibt eben Dinge in der Welt, die unbezahlbar sind. Arbeit ist so eines. Nun versuche man das einmal praktisch durchzuführen in einer Welt, die nicht nur einen solchen Gedanken absurd findet, sondern in der man eingezwängt ist in historisch gewachsene Meinungen und in die festzementierten Folgen im Gesetzeswesen, im Tarifwesen, im Entgeltsystem, das nach Arbeitsleistung und Arbeitszeit ausgerichtet ist, wo das Entgelt Bemessungsgrundlage ist von Steuern, Abgaben, Sozial- und Krankenversicherungsbeiträgen, in der Personalschlüssel nach den Finanzen gemessen werden. Hinzu kommt, daß in einer Mitarbeiterschaft sich Menschen zusammenfinden, die solche Gedanken nicht denken können oder wollen, und solche, die mit ihren tiefsten Überzeugungen daran hängen“ (Eisenmeier 1995, 48f.).
10.5 Reflexion
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dass sozialtherapeutische Einrichtungen von Anfang an nicht nur offene Gemeinschaften, sondern immer auch Organisationen waren. Je mehr die Ordnung und Reglementierung des sozialen Feldes voranschritt, umso mehr wurde der offene Charakter der Sozialtherapie formalisiert. Sie wurden ‚vollstationäre Einrichtungen ދmit allen Auflagen und Restriktionen, mit Pflegesatzempfängern und Gehaltsbeziehern. Sozialrecht für den einen und Arbeitsrecht für den anderen führen implizit zu Brüchen und Trennungen, die das Leben dieser Gemeinschaften mitprägen“ (Grimm 2004, 9).109
109 Siehe auch Kapitel 3.3.
11 Epilog 11 Epilog 11 Epilog
„Am Anfang des Abenteuers steht jedoch die Neugier. Ich meine überhaupt, daß der echte Sozialforscher etwas von einem neugierigen Menschen an sich haben muß, denn es ist die Neugier, die ihn treibt. Es ist seine Lust, hinter die Schleier der Wirklichkeit zu schauen und darüber zu berichten“ (Girtler 2001, 16). Neugier hat auch mich dazu bewogen, sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaften mit dem ‚fremden Blick ދdes Feldforschers zu begegnen. Auf Grundlage von praktischen und in der wissenschaftlichen Fachdisziplin verorteten Erfahrungen habe ich mich auf den Weg gemacht, um mehr über diese Gemeinschaften zu erfahren und das Spezifische dieser Gebilde besser fassen zu können. Insbesondere eine Betrachtung des Alltagshandelns, des alltäglichen Geschehens hat mich diesem Ziel näher gebracht. Meine Reise führte mich dabei während zwei Feldphasen durch vier Lebensgemeinschaften. Das vor Ort in erster Linie im Rahmen teilnehmender Beobachtung sowie durch Interviews gesammelte Material habe ich aufbereitet, kategorisiert und entlang wesentlicher Themenkomplexe zu Beschreibungen verdichtet. Neben Portraits der einbezogenen Lebensgemeinschaften sowie ausgewählter Gemeinschaftsmitglieder erwiesen sich hier die Gegenstandsbereiche ‚Ritual und Rhythmusދ, ‚Zusammenlebenދ, ‚Innen und Außen ދsowie ‚Individuum und Gemeinschaft ދals zentral. Mittels einer Reflexion habe ich das Beschriebene jeweils aus persönlicher und fachlicher Sicht gespiegelt. Trotz aller Anstrengung wird mir das Abenteuer Feldforschung in guter Erinnerung bleiben – so hatte ich eindrückliche Begegnungen, erlebte Gastfreundschaft und erfuhr als Fremder große Offenheit, so dass ich zumindest ein Stück weit in das sich mir darbietende Leben eintauchen konnte. Da bei der Auswahl der beteiligten Lebensgemeinschaften darauf geachtet wurde, dass das Spektrum sozialtherapeutischer Arbeit in Deutschland im Großen und Ganzen Abbildung findet sowie die einzelne Organisation zugunsten der Darstellung der Bandbreite wahrgenommener Phänomene in den Hintergrund gerückt wurde, kann den Beschreibungen – wie ich meine – auch über ihren konkreten Kontext hinaus Relevanz zugemessen werden. Insofern können die Deskriptionen ebenso auf typische Aspekte sozialtherapeutischer Lebensgemeinschaften im Allgemeinen ver-
C. Stamm, Anthroposophische Sozialtherapie im Spiegel ausgewählter Lebensgemeinschaften, DOI 10.1007/978-3-531-93294-1_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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weisen. Dass die generierten Themen Gültigkeit respektive Gewicht besitzen, zeigten mir auch diesbezügliche Bestätigungen von meinen Interviewpartnern. Diese Studie wurde nicht geschrieben, um sozialtherapeutische Gemeinschaften im Sinne einer Evaluation zu überprüfen oder zu bewerten. Auch verfolgte ich nicht die Absicht, eine abschließende Einschätzung der Situation sozialtherapeutischer Organisationen im Kontext aktueller Entwicklungen im Bereich der Behindertenhilfe vorzulegen. Am Ende des Weges durch vier Lebensgemeinschaften gilt es jedoch nun dennoch, eine Reisebilanz zu ziehen: Was ist mir in besonderer Weise aufgefallen, was hat mich berührt, welche essentiellen Fragen haben sich mir aufgetan, welche Spannungsfelder habe ich wahrgenommen? Und schließlich: Was ist offen geblieben? Die Basis dieser Überlegungen bilden in erster Linie die mit den beschreibenden Kapiteln verknüpften Reflexionen. Einige mir persönlich wichtige Aspekte der dort aufgeworfenen Themenstränge sollen hier in komprimierter Form zusammengeführt werden. Einerseits knüpfe ich somit an die konkrete Praxis der von mir besuchten Lebensgemeinschaften an. Allen meinen Erfahrungen im Kontext von Sozialtherapie zufolge kann jedoch andererseits davon ausgegangen werden, dass den aufgezeigten Aussagen auch ein gewisser Generalisierungsgehalt immanent ist. Während meiner Feldaufenthalte lernte ich interessante Persönlichkeiten und spannende Lebenswege kennen. Mir fiel dabei auf, dass Mitarbeiter vor allem über das praktische Erleben anthroposophisch orientierter Arbeit – oft verbunden mit der Suche nach alternativen Daseinsformen – ihren Weg in eine der Gemeinschaften gefunden haben. Bei Menschen mit Behinderungen war der Umzug in ein gemeinschaftliches Gefüge insbesondere mit Veränderungen im Lebenslauf verbunden, welche eine (zunehmende) Inanspruchnahme von Unterstützung notwendig machten. Ich erlebte vielfältige Rituale sowie rhythmisch geprägte Tagesabläufe und erfuhr Näheres über deren Bedeutung. Bei allen Gemeinsamkeiten oder ähnlichen Strukturen innerhalb und zwischen den einzelnen Organisationen nahm ich diese jedoch nicht als normiert und einem übergreifenden Plan folgend, sondern als auf die jeweilige Lebens- oder sogar Hausgemeinschaft angepasst wahr. Für mich als temporären Teilnehmer besaßen die mir begegnenden ritualisierten Abläufe und Aktivitäten indes zwiespältigen Charakter. Einerseits erfuhr ich diese als stützendes, Halt gebendes und Gemeinschaft stiftendes Moment. Durch Rituale, wie etwa das gemeinsame Essen und eine Abend- oder Morgenrunde, wird daneben Raum für dialogische Begegnungen zwischen behinderten und nichtbehinderten Gemeinschaftsmitgliedern geschaffen. Zudem kann in diesem Zusammenhang auch ein Rahmen für eine Beteiligung von und einen Austausch mit schwerer behinderten Menschen geschaffen werden, die nicht oder nur bedingt selbständig sprachlich kommunizieren können. Andererseits machte ich die
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Erfahrung, dass Rituale fremd und beinahe exotisch wirken können, da sie – wie beispielsweise einige gemeinsam gesprochene Sprüche oder auch religiöse Elemente – nicht an meinen Kenntnis- oder Erfahrungsschatz anknüpften. Diesen haftete daher häufig etwas Mystisches und Rätselhaftes sowie der Verweis auf eine mit Sinnen nicht begreifbare Welt an. Somit besitzen ritualisierte Abläufe und Handlungen auch exkludierenden Charakter, markieren sie doch deutlich eine Grenze zwischen eingeweihtem Insider und außenstehendem Fremden – und tragen somit freilich dazu bei, unter den ,Eingeweihten‘ ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu schaffen. Oft fragte ich mich, ob eine kontinuierliche Beschäftigung mit diesen Ritualen – wie sie ja für die Gemeinschaftsmitglieder durch die tägliche Praxis üblich ist – mir hier tiefere Erkenntnis bringen würde? Ist ein bestimmtes (anthroposophisches) Vorwissen vonnöten, um besser verstehen zu können? Und: Besitzen alle Mitglieder der Gemeinschaft dieses Wissen – auch die behinderten Menschen? Oder ist der (geistige) Nachvollzug bestimmter Inhalte nur einigen Wenigen möglich? Eine andere Art von Ambivalenz erlebte ich während der Essenssituationen. Ich war beeindruckt von der großen Aufmerksamkeit für den anderen – es wird füreinander gesorgt und geschaut, ob alle genug zu essen und zu trinken haben. Bewusst wird darauf geachtet – diese Erfahrung machte ich des Öfteren –, dass möglichst alle am Tisch sitzenden Personen in einen Prozess des Geben und Nehmens einbezogen wurden. Daraus ergibt sich allerdings auch – so nahm ich es zumindest wahr – eine ständige Aufforderung, zumindest nonverbal mit der Gemeinschaft zu kommunizieren. Auf der einen Seite ist dieses sicherlich förderlich im Hinblick auf eine aktive Teilnahme aller Personen am sozialen Geschehen anzusehen. Zum anderen strahlt diese Konstitution allerdings – gerade vor dem Hintergrund, dass dem gemeinsamen Essen in der Regel eine elementarer Bedeutung für das Gemeinschaftsleben beigemessen wird – eine bevormundende Note aus: Von Ausnahmen abgesehen wird hier erwartet, dass eine Partizipation an gemeinschaftlichen Zusammenhängen stattfindet. Eine wesentliche Aufgabe im Bereich von Ritualen und Rhythmen, so denke ich, ist, diese immer wieder hinsichtlich Stimmigkeit und Funktion zu hinterfragen und diese somit lebendig und akzeptiert zu halten (bzw. werden zu lassen). Würden Rituale reinem Selbstzweck verpflichtend durchgeführt, dann würden sie zu inhaltsleeren und hohlen Stereotypien abgewertet und könnten sich im Extremfall sogar zu einem Macht ausübenden Faktor entwickeln. Das in drei von vier beteiligten Lebensgemeinschaften zumindest im Kern praktizierte Modell des Zusammenlebens von Menschen mit und ohne Behinderungen faszinierte mich in seinem Facettenreichtum, regte mich aber auch zu intensivem Nachdenken an. Deutlichen Eindruck hat auf mich die Bereitschaft einiger Mitarbeiter hinterlassen, die Gemeinschaft gleichermaßen als Lebens-
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und Arbeitsort zu verstehen und sich somit umfassend als Teil des sozialen Gebildes zu begreifen. Diese gemeinschaftliche Form kann mithin dazu beitragen, dass sich Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen verringern und eine Begegnung auf Augenhöhe möglich wird. Zudem nahm ich die vier Gemeinschaften als Entfaltungsräume für Menschen mit besonderen Fähigkeiten und Bedarfen wahr. Für innerhalb der Gemeinschaften lebende Mitarbeiter ergeben sich hier jedoch in den meisten Konstellationen nur wenig geregelte Arbeitszeiten und oftmals sind klare Festlegungen, was in den Bereich Arbeit fällt und was dem Freizeitleben zuzurechnen ist, nicht vorhanden. Vor Augen geführt bekommen habe ich somit auch sich daraus ergebende Herausforderungen, die sich innerhalb eines Spannungsfelds zwischen Gestaltungsfreiheit und Abgrenzungsschwierigkeiten sowie zwischen Engagement und Rückzug abspielen. In einer der vier besuchten Gemeinschaften wurde das Prinzip des Zusammenlebens im Zusammenhang mit daraus resultierenden Schwierigkeiten mittlerweile ja sogar weitgehend aufgegeben. Eine wesentliche Rolle spielte hier auch die Tatsache, dass – wie ich in allen vier Lebensgemeinschaften erfahren konnte – ein Zusammenleben von Mitarbeitern und behinderten Menschen zumindest auf längere Sicht nur dann möglich ist, wenn eine Gruppe bzw. Gemeinschaft sich aus Personen mit hinsichtlich Art und Intensität unterschiedlichen Hilfebedarfen zusammensetzt, d. h. eine sogenannte ‚gute Mischung ދexistiert. Insbesondere, wenn der Anteil von Menschen mit intensiven und komplexen Unterstützungsbedarfen überwiegt, können Belastungen und Anstrengungen für die Gemeinschaftsmitglieder einen zu großen Raum einnehmen. Aus subjektiver Perspektive durchaus verständlich, stellte ich mir allerdings die Frage, ob es vorkommen kann, dass behinderte Menschen innerhalb einer Gruppe oder Gemeinschaft aus Gründen der ‚guten Mischung ދverbleiben müssen, obwohl sie dieses nicht möchten und etwa eine andere Wohnform bevorzugen würden. Und könnte es möglicherweise sein, dass für bestimmte Personen aufgrund der vorhandenen Unterstützungsnotwendigkeiten das Modell des gemeinschaftlichen Lebens daher – obwohl gewünscht – nicht in Frage kommt? Und weiter: Wenn eine gute ‚Durchmischung ދvon Gruppen essentiell ist, inwiefern werden dann die Wünsche und Bedürfnisse der dort lebenden Menschen mit Behinderung bei der Zusammensetzung berücksichtigt? Wichtig in diesem Zusammenhang ist natürlich zu erwähnen, dass die von mir befragten Menschen mit Behinderung angaben, das von ihnen erfahrene Zusammenleben mit anderen Menschen gut oder zumindest in Ordnung zu finden. Im Zusammenhang mit Prozessen im Wechselspiel zwischen Individuum und Gemeinschaft wurde mir auch deutlich, dass sich die mit dem Leben im Rahmen einer Gemeinschaft vergrößernde Sicherheit eng mit einer verringerten Freiheit des Einzelnen verknüpft sein kann. Am offensichtlichsten zeigte sich
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dieses mir angesichts von – mehr oder weniger verbindlichen – Regeln, mit denen sich die Gemeinschaftsmitglieder auseinanderzusetzen haben. In diesem Kontext stellen sich mir die Lebensgemeinschaften auch als soziale Gebilde dar, in denen Regeln gelten, die außerhalb vergleichbarer Gefüge nicht oder nur bedingt Anwendung finden. Nachvollziehbar für mich war, dass gewisse Regeln notwendig sind, um das Zusammenleben größerer Gruppen verträglich zu gestalten. Im Sinne der Bildung bzw. des Zusammenhalts einer Gemeinschaft besitzen Regeln, aus denen sich etwa die Teilnahme an gemeinsamen Aktivitäten ergibt, ebenso hohe Relevanz. Als wichtig erachte ich, dass das Bemühen um einen achtsamen Umgang miteinander vielfach als eine grundlegende Regel angesehen wird. Hier wird aus meiner Sicht ein hohes, auch gesellschaftlich relevantes Gut gepflegt. Positiv konnotiert können Lebensgemeinschaften insofern als ‚WerteGemeinschaftenދ, sprich als Gemeinschaften verstanden werden, in denen besondere Inhalte und Ideale gepflegt werden, die für die dort lebenden Menschen Gültigkeit besitzen, welche aber auch über den Kontext ‚Lebensgemeinschaftދ hinaus Anregungspotential bieten können. Hinsichtlich einiger Regeln ereilten mich jedoch auch zwiespältige Empfindungen, da diese mir – zumindest auf Basis meiner Einblicke – als der persönlichen Freiheit und dem Selbstbestimmungsrecht der betroffenen behinderten Menschen entgegenstehend erschienen. Dieses ist meines Erachtens beispielsweise bezüglich der Partizipation an religiösen Veranstaltungen, der zum Teil stark reglementierten oder nicht gestatteten Fernsehnutzung, aber auch hinsichtlich der Tatsache der Fall, dass vielfach vom Ideal des Zusammenlebens in (familienorientierten) Gruppenverbünden ausgegangen wird. Dabei ist mir durchaus bewusst, dass bestimmte Lebenssituationen und vorhandene Unterstützungsbedarfe manches Mal sicherlich Einschränkungen in der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts erfordern. Meines Erachtens sollte sich dieses jedoch nur innerhalb einer eng begrenzten Handlungsspanne abspielen, etwa, wenn eine Eigen- oder Fremdgefährdung verhindert werden muss. Ohne einem einseitigen, eindimensional auf Autonomie ausgerichteten und dadurch die soziale Verfasstheit des menschlichen Wesens negierenden Selbstbestimmungsbegriff das Wort reden zu wollen, ist – so meine Überzeugung – diesem Themenkomplex vor allem vor dem Hintergrund, dass bei Menschen mit (geistiger) Behinderung von einem Mehr an sozialer Abhängigkeit ausgegangen werden kann, mit großer Sorgfalt zu begegnen. Insgesamt ist daher immer die Frage entscheidend, ob sich die behinderten Menschen jeweils bewusst für diese spezielle Form des gemeinschaftlichen Lebens entschieden und daher mit ihrer ‚Mitgliedschaft ދauch die grundlegenden Regeln anerkannt haben. Nicht zuletzt ist in diesem Zusammenhang auch wesentlich, ob die einmal getroffene Entscheidung hinterfragbar und letztlich auch revidierbar ist. Können sich Menschen mit Behinderungen zu die-
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ser Angelegenheit nicht (unmittelbar) äußern, so ist mittels geeigneter Maßnahmen deren Wille dennoch zu erkunden. Wie ich auf Grundlage von Äußerungen der von mir Befragten erfahren konnte, ist die Mehrzahl der von diesen genannten Regeln indes nicht mit Zwang verbunden. D. h. es besteht keine unbedingte Pflicht, diese immer einhalten zu müssen bzw. es kann von diesen auch abgewichen werden. Insofern bleibt das Selbstbestimmungsrecht der behinderten Menschen erst einmal grundsätzlich gewahrt. Wenn jedoch – wie z. B. im Falle des gemeinsamen Essens oder religiöser Veranstaltungen – eine Nichtteilnahme zwar möglich, diese aber eher als Ausnahme verstanden wird, dann wird eine Hürde aufgebaut, welche die freie Entfaltung der Selbstbestimmungskräfte behindern kann. Dessen ungeachtet darf natürlich nicht vergessen werden, dass die Gemeinschaftsregeln von den davon tangierten Personen nicht generell als Einengung empfunden werden müssen. Das zeigt sich beispielsweise an positiven Äußerungen in Bezug auf das gemeinsame Essen. Zwar erlebte ich während meiner Feldphasen, dass der Anspruch einer auf Gleichberechtigung aller Mitglieder basierenden Gemeinschaft, in der Unterschiede zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen verwischen, in der Luft liegt. Auch das aus der anthroposophischen Anthropologie abgeleitete Verständnis von Behinderung weist auf Basis der Annahme eines unverletzlichen geistigen Wesenskerns jedes Menschen in diese Richtung. Dennoch stehen – so war offensichtlich – einer vollends symmetrischen Beziehung natürlich verschiedene Rollen und sich daraus ergebende unterschiedliche Aufgaben und Anforderungen von Mitarbeitern und behinderten Menschen entgegen. Dieses konnte ich während meiner Beobachtungen – etwa durch (möglicherweise unabdingbare) Einflussnahmen von Mitarbeitern auf behinderte Menschen – teilweise sehr deutlich wahrnehmen. Seitens einiger von mir befragter Mitarbeiter wurde dieser Umstand auch kritisch reflektiert. Ebenso finden sich hierzu Hinweise in der anthroposophischen Fachliteratur. Allein durch den Status der Lebensgemeinschaften als Einrichtung der Behindertenhilfe, der damit einhergeht, dass Mitarbeiter im Rahmen von individuellen Rechtsansprüchen (mittlerweile) Geld für die Unterstützung von Personen mit sozialstaatlich festgestellten Hilfebedarfen bekommen, wird das hier zugrunde liegende Dilemma offenbar. Auch, dass es unterschiedliche Bezeichnungen für die jeweiligen Mitglieder der einen oder anderen Gruppe gibt, unterstreicht die bestehenden Unterschiede – wie auch immer sich diese in der alltäglichen Lebenspraxis im Einzelnen darstellen mögen. Eine diesbezügliche Konstellation spiegelt sich etwa ebenso in Bezug auf die unterschiedliche Realisierungsmöglichkeiten von Privatheit – einer wesentlichen Kategorie im Bereich des Wohnens – wider. Das dichte Zusammenleben in Gemeinschaft schafft umgekehrt aber womöglich in vielen Fällen – darauf sei
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noch einmal hingewiesen – eine soziale Plattform, um die Vielfalt menschlichen Daseins wahrzunehmen, zu erleben und wertzuschätzen. Im Zuge meiner Forschungsreisen nahm ich immer wieder jenseits des fachlichen Mainstreams in der Behindertenhilfe verortete Sichtweisen wahr, die etwa auf familiäre Geborgenheit oder vor dem Hintergrund der Annahme einer therapeutischen Wirksamkeit des Sozialen auf im gemeinschaftlichen Kontext erlebbare wechselseitige Impulse abzielen. Dabei soll sich der sozialtherapeutische Impetus jedoch – unabhängig von Behinderungen – an alle Mitglieder richten. Insofern geht die zugrundeliegende Konzeption weit über den Anspruch hinaus, eine Einrichtung professioneller Unterstützungsleistungen für Menschen mit Behinderung sein zu wollen. Dieses wurde mir auch im Zusammenhang mit der Entstehungsgeschichte sozialtherapeutischer Lebensgemeinschaften und hier insbesondere mit Blick auf die Camphill-Bewegung deutlich: Ein wesentliches Motiv zur Gründung diesbezüglicher Organisationen stellte das Ziel dar, einen Beitrag zur gesellschaftlichen Erneuerung insgesamt zu leisten. Auch der mir in Praxis und Fachliteratur immer wieder begegnende Grundgedanke, die Lebensgemeinschaft als Schutzraum, als speziellen Lebensort für Menschen anzusehen, die den komplexen Anforderungen moderner Gesellschaften nicht gewachsen seien, ist – obzwar in der Behindertenhilfe nicht unbekannt – zumindest hinsichtlich aktueller behindertenpolitischer Zielvorstellungen nur bedingt anschlussfähig. Hier wird mittlerweile die Einbettung des Unterstützungssystems für Menschen mit Behinderungen in ein inklusives Gemeinwesen in vielschichtiger Weise diskutiert. Allerdings: Eine weltabgewandte, in erster Linie introvertierte Einrichtung habe ich – entgegen mancher mir gegenüber vorab geäußerter Vermutungen aus kollegialen Kreisen – während meiner Feldphasen nirgendwo angetroffen. Jedoch erlebte ich Unterschiede hinsichtlich Gestalt, Vielfalt und Tiefe der jeweiligen Verknüpfungen zwischen Lebensgemeinschaft und dem näheren oder weiteren Umfeld. Dessen ungeachtet: Alle Lebensgemeinschaften stellen eigenständige, sich von der Umgebung auch abgrenzende Gebilde, Organisationen mit eigener Form dar, bei denen ein ‚Innen ދund ‚Außen ދdeutlich voneinander unterschieden werden kann. Dazu passt auch, dass in der sozialtherapeutisch orientierten Fachliteratur zwar die Förderung integrativer Prozesse als Ziel sozialtherapeutischer Arbeit angegeben wird und dieses auch in den von mir besuchten Organisationen – mal mehr, mal weniger deutlich – erkennbar war, jedoch grundsätzlich von der Notwendigkeit einer ‚Gemeinschaft innerhalb der Gesellschaft ދausgegangen und mit dem Begriff der inversen Integration operiert wird. In diesem Sinne sind Menschen mit Behinderungen nicht nur dann als integriert anzusehen, wenn sie inmitten der bürgerlichen Gemeinde wohnen, sondern auch
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dann, wenn sie Normalität in einer speziellen – inszenierten – Gemeinschaft erfahren. Immer wieder habe ich mich gefragt, ob – auch vor dem Hintergrund der fachlichen Weiterentwicklung im Bereich der Behindertenhilfe – eine derartige Sonderform benötigt wird, um ein gemeinschaftliches, sozialtherapeutisch geprägtes Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung zu erreichen. Könnte ein sozialtherapeutisch orientiertes gemeinschaftliches Leben – auch vor dem Hintergrund vorhandener Schutz- und Unterstützungsbedürfnisse – nicht als integrales Element eines inklusiven Gemeinwesens realisiert werden? Wäre es nicht möglich, das in den von mir besuchten Organisationen lebende Gemeinschaftsgefühl, die kulturellen Angebote, die Arbeits- und Wohnmöglichkeiten (noch mehr) in die örtliche Nachbarschaft zu tragen und somit in das örtliche Gemeinwesen einzubetten? Denn Sonderformen, wie spezielle Orte, an denen Menschen mit Behinderungen Unterstützung erfahren, besitzen tendenziell immer exkludierenden Charakter und tragen somit nicht eben dazu bei, dass diese als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft wahrgenommen werden. Um gesellschaftliche Tendenzen der Individualisierung im positiven Sinne aufzugreifen sowie Anschluss an die Fachdebatte um Inklusion und gesellschaftliche Teilhabe zu halten, könnte vielmehr die Herausforderung angenommen werden, das spezifische sozialtherapeutische Moment, die Pflege des Sozialen innerhalb eines inklusiven Gemeinwesens und somit außerhalb besonderer (und möglicherweise besondernder) Gemeinschaften weiterzuentwickeln. Natürlich begibt man sich damit in Gefahr, den spezifisch sozialtherapeutischen Impetus zu verwässern oder gar aufzulösen. Einige Ansätze, in den besuchten Gemeinschaften aber vor allem darüber hinaus, zeigen jedoch, dass ein dementsprechender Weg auch ohne Aufgabe des sozialtherapeutischen Selbstverständnisses gegangen werden kann. Als Einrichtungen der Behindertenhilfe, die sozialtherapeutische Gemeinschaften ja trotz aller weiteren Zielsetzungen – nicht zuletzt auch bezüglich ihrer finanziellen Basis – dem Grunde nach sind, ist es meines Erachtens auch eine Frage des langfristigen Überlebens, sich nicht nur an den fachlichen Diskurs anzudocken, sondern diesen vielmehr in verstärkter Weise progressiv mitzugestalten. Nur so, denke ich, kann das eigene Profil weiterentwickelt und dadurch sogar gestärkt werden. Möglicherweise können sozialtherapeutische Gemeinschaften dann in Zeiten der „Kultur des neuen Kapitalismus“ (Sennett 2005) neben ihrer Aufgabe als Unterstützungsgeber für Menschen mit Behinderungen – durchaus entsprechend ihrer ursprünglichen Intention – auch eine bedeutsame Funktion für eine Erneuerung des gesellschaftlichen Zusammenhaltes einnehmen. Nun jedoch – inklusive – aus der Mitte der Gesellschaft heraus, in neuen Formen: „Möglicherweise gibt es dann nicht mehr dasjenige, was wir als klassische Formen von Einrichtungen und Angeboten kennen, aber
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noch immer Anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie“ (Grimm 2009, 8). Ganz am Schluss dieser Arbeit bleibt nun zu wünschen, dass das angestrebte Ziel, wesentliche Themenkomplexe des Alltagslebens in sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaften mittels einer dichten Beschreibung nachvollziehbar zu machen, auch aus Sicht der Leser dieser Studie erreicht werden konnte. Natürlich war es mir – trotz des von Offenheit und Flexibilität geprägten methodischen Zugangs – nur möglich, einen Ausschnitt der vielschichtigen Wirklichkeit gemeinschaftlichen Lebens darzulegen. Insofern konnten viele Aspekte nur berührt, aber nicht vertiefend erörtert werden. Dieses betrifft etwa die Arbeitsmöglichkeiten in den Betrieben oder Werkstätten, aber auch Formen der künstlerischen Betätigung sowie die in den Organisationen übliche Praxis der Selbstverwaltung. Dennoch hoffe ich, den zumindest aus Perspektive der Fachwissenschaft häufig noch vorhandenen Schleier über sozialtherapeutischen Gemeinschaften ein wenig gelüftet und somit den Boden für eine verstärkte wissenschaftliche Auseinandersetzung bereitet zu haben. Die Studie ist explorativ. Es wurde demnach keine in Hypothesen ausdifferenzierte Fragestellung überprüft. Im Ergebnis liegt daher erstmals ein grundlegender thematischer Aufriss zum Gegenstand ‚sozialtherapeutische Gemeinschaften ދvor. In weiteren Untersuchungen können (und sollten) darauf aufbauend nun auch speziellere Aspekte einer wissenschaftlichen Betrachtung unterzogen werden. Hier bieten sich etwa die in dieser Studie aufgeworfenen Fragen und Spannungsfelder zur weiteren Bearbeitung an. Alles in allem wäre es schön, wenn die vorliegende Arbeit einem differenzierten Blick auf sozialtherapeutische Lebensgemeinschaften Vorschub sowie einen Beitrag für Diskussionen leisten könnte, die sich auch außerhalb anthroposophischer Kreise in fruchtbarer Weise niederschlagen. Viel gewonnen wäre, wenn der Leser nun, am Schluss der Lektüre, Goethe nicht zustimmen könnte, welcher einst Folgendes formulierte: „Gewisse Bücher scheinen geschrieben zu sein, nicht damit man daraus lerne, sondern damit man wisse, daß der Verfasser etwas gewußt hat“ (Goethe; Maximen und Reflexionen, Nr. 460110). In diesem Sinne: Möge die Arbeit ein Baustein für eine weitere konstruktive (wissenschaftliche) Auseinandersetzung mit anthroposophischen Ansätzen der Unterstützung behinderter Menschen darstellen!
110 Zitiert nach Goethe (2008, 93).
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