KLEINE JUGENDREIHE
Günter Rumposch
Die Jungen drehen den Wind
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1962
13. Jahrga...
22 downloads
507 Views
283KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
KLEINE JUGENDREIHE
Günter Rumposch
Die Jungen drehen den Wind
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1962
13. Jahrgang; 1. Aprilheft Umschlag und Illustrationen: Karl Fischer Der Nachdruck dieser leicht gekürzten Fassung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des VEB Hinstorff Verlag Rostock Veröffentlicht 1962 im Verlag Kultur und Fortschritt Berlin W 8, Taubenstraße 10 Lizenz-Nr. 3 – 235/61/62 Satz und Druck: VEB Landesdruckerei Sachsen, Dresden HI-9-5
Die Mutter stand am Herd. Da stürmte Fietje in die Küche, Er warf die Aktentasche auf den Küchenschrank. „Gott sei Dank! Zehn Jahre – das war eine verdammt lange Zeit!“ Die Mutter schüttelte den Kopf „Du wirst dich später noch gern an die Schulzeit erinnern.“ Sie tat Paprika an den Gulasch. „Du bist immer so hitzig, genau wie Vadding. Du solltest das Leben ernst nehmen, mein Junge. Der Fischerberuf ist hart.“ Das weiß ich selbst, dachte Fietje. Er liebte keine Belehrungen; und jetzt schon gar nicht, wo er bald ein Mann war. Die Mutter machte so ein ernstes Gesicht. Er lehnte sich an den Schrank. Ob er sie gekränkt hatte? „Kann sein, Mutter“, lenkte er ein, „aber die letzten Jahre – das war Freiheitsberaubung, Zwangsjacke…“ „Zwangsjacke? – Wie kannst du so was sagen, Junge!“ „Egal, wie man’s nennt. Immer Schule – Kutter, Schularbeiten – Schlafen. Aufsatzthema: Das Leben eines Fischerjungen!“ „Vadding kann sich keinen zweiten Decksmann leisten, das weißt du. Da mußt du eben in deiner Freizeit einspringen.“ Fietje setzte sich resigniert. Die Mutter hatte recht. Er durfte den Vater nicht mit der Arbeit im Stich lassen. Der polytechnische Unterricht hatte ihm Freude gemacht. Selbst der Vater war dafür gewesen, nur hätte er es recht gern gesehen, wenn auch die Privatfischer einige Jungen zum Unterricht zugeteilt bekämen oder auch Mädchen, die die Heringe und Dorsche aus dem Stellnetz klauben könnten. Dann könnte er, wenn der Fisch dicht unter Land stand, noch ein zweites Mal hinausfahren. Doch die Schulleitung ließ sich darauf nicht ein. Fietje war selbst dabeigewesen, als der Schuldirektor sagte: „Herr Berger, Sie verkennen den polytechnischen Unterricht.
Die Kinder sollen nicht Arbeitskräfte ersetzen, sondern die Arbeit im sozialistischen Kollektiv achten- und liebenlernen.“ Fietje hatte aber gehofft, er werde sagen: „Du gehst morgen nicht mit deiner Gruppe ins Kombinat, Fietje, du hilfst deinem Vater!“ „So’n sturer Schietbüdel“, hatte der Vater auf dem Nachhauseweg gewettert. „Die wollen uns Einzelfischern den Hahn abdrehn. Aber die sollen den alten Berger kennenlernen – verdammt, wenn’s nicht so ist. Und du wirst Einzelfischer, Fietje, und nichts anderes, und wirst das Erbe deines Vaters ehren. Willst du das?“ Fietje wollte. Er wollte ein freier Mensch sein und sich nicht irgendwelchen Anordnungen fügen. Er wollte auslaufen, wann es ihm paßte. Aber der Vater hatte noch einen Plan. Als Fietje zum erstenmal davon hörte, schwindelte es ihm. Doch nach und nach fand er Gefallen daran. Die Sache begann ihn zu reizen. An all das dachte Fietje jetzt. – Die Mutter rief ihn in die Gegenwart zurück. „Sich mal nach, wo Vadding bleibt.“ Er stellte sich vor sie hin. „Ich will anders leben – ich will in die Welt hinaus, Mutter, in die Welt, verstehst du?“ „Recht so, mein Junge“, sagte der Vater, der eben in die Küche trat. Er fuhr mit seiner rauhen Rechten durch Fietjes blonde Borsten. „Der Mensch muß ein Ziel haben. Bist schon ein echter Berger. Und wir gehören auch in die Welt.“ Als der Vater damals das erste Mal von der Welt sprach, verstand Fietje Schippern von einem Hafen zum andern, ferne Länder und blaue Nächte, Märchen und Abenteuer. „Die Welt“, sagte der Vater damals, „das ist die Freiheit, die – Freiheit, verstehst du? Und hier zwingt man uns in die Genossenschaft – kapiert?“
Fietje wußte, wenn er den Vater nicht erzürnen wollte, mußte er ihm zustimmen. Aber er erlaubte sich eine Bemerkung. „Unsere Lehrerin sagt, der Eintritt in die Genossenschaft ist freiwillig! Und ich meine, Rügen ist doch schon ein sozialistischer Kreis. Alle Bauern sind in die Genossenschaft gegangen.“ Der Vater lächelte bekümmert. „Die Bauern sind eben dumm, kriechen denen auf den Leim…. aber die Bergers nicht, hörst du? – Lies mal diesen Brief!“ Der Vater zog die Brieftasche und gab Fietje ein Schreiben. Der Onkel aus Cuxhaven schrieb, sie sollten rüberkommen… Fietje pfiff durch die Zähne. Daher wehte der Wind! Aber warum nicht? Der Onkel versprach ihnen den Himmel auf Erden. „Man muß da natürlich sehr vorsichtig zu Werke gehen, mein Junge. Wenn die Polizei dahinterkommt…“ „Und unser Haus, Vater, was wird damit?“ Der Vater legte ihm die Hände auf die Schultern. „Dafür tauschen wir die Freiheit ein.“ Fietje las weiter. Aber was er da las, stimmte ihn nachdenklich. Er, Fietje, solle zunächst noch dableiben, schrieb der Onkel, und erst den Fischerberuf erlernen. Im Westen gäbe es nur wenig Lehrstellen. – Faule Ausreden, dachte Fietje, alles Schwindel! Der Vater las Fietje die Gedanken vom Gesicht ab. „Sieh mal, Fietje, du bist jung, verstehst die Zusammenhänge noch nicht. Dir ist noch vieles fremd, unverständlich…“ „Warum soll ich hierbleiben, das verstehe ich auch nicht. Die Sache hat einen Haken, bestimmt.“ Der Vater verzog unwillig die Lippen. Er suchte nach einer Antwort. Das kommt alles von dieser kommunistischen Er-
ziehung in der Schule, dachte er. Als ob die Kinder schon denken und eine Meinung haben dürfen. Wenn er damals nicht getrabt wäre, wie es sein Vater wollte, wäre ein Donnerwetter über ihn hereingebrochen. Und die heutige Jugend will schon mitreden, in Männersachen… „Darüber reden wir später. Wegen der Lehre habe ich schon mit dem Kombinatsleiter gesprochen. Am ersten September fängst du an.“ Dagegen hätte Fietje sonst ja nichts einzuwenden gehabt, ohne Wasser und Kutter konnte er sich kein Leben vorstellen. Aber unter diesen Umständen… Heute fragte der Vater: „Na, und wie hat der letzte Schultag geschmeckt? Was macht das Zeugnis?“ „Das kriegen wir erst bei der Schulabschlußfeier vom Schuldirektor persönlich. Eine Zwei wird’s wohl werden.“ „Schietbüdel, dein Direktor“, knurrte der Vater. Fietje aß schweigend. Seine Gedanken kreisten ums Lehrlingsheim. Zu Hause durfte er nicht wohnen, und das war ihm recht, dann hörte endlich das dauernde Rufen auf: „Fietje, beeil dich, auf dem Kutter gibt es Arbeit! – Fietje, wo steckst du immer so lange!“ – Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. Der Vater erhob sich. Fietje folgte ihm in die Stube. Der Vater goß sich einen Whisky ein. Er stellte ein zweites Glas für Fietje auf den Tisch. Doch der Junge lehnte ab. Er wolle sich das Trinken gar nicht erst angewöhnen, sagte er. „Na, einen zur Feier des Tages“, riet der Vater, „jetzt, wo du ein Mann wirst, kann einer nicht schaden.“ „Aber ich mag dieses Gesöff nicht, auch nicht einen.“ „Gut! Trinke ich eben allein, auf den zukünftigen Fischerlehrling der kommunistischen Flotte, auf den Fall Cuxhaven…“
Das wird eine tolle Sache, dachte Fietje. Aber es war ihm nicht wohl dabei. Der Vater ahnte Fietjes Gedanken. „Du hast jetzt eben zwei Herzen…“. sagte er… „Vor allem mußt du jetzt erst einmal lernen, sehr viel lernen…“ „Das hat Lenin auch schon gesagt“, antwortete Fietje altklug. „So…!“ Es klang wie Gewittergrollen. „Mich interessiert dein Lenin nicht – mich interessiert nur unser Plan. Du hast darin die Hauptrolle. Ein falscher Ruderschlag, und wir sehen den Himmel durch das Gitter. Verdammt ernste Sache, Junge…“ Gefängnis? Fietje wurde nachdenklich. Aber er antwortete: „Auf mich kannst du dich verlassen, Vadding!“ Berger war zufrieden, diese Antwort hatte er erwartet. Doch er forschte weiter: „Und wie stellst du dir dein volkseigenes Lehrlingsleben vor?“ „Ich werde das machen, was alle machen.“ „Das habe ich mir gedacht!“ rief der Vater enttäuscht. „Mit der Masse trotten, was ist das schon… Wenn Mutter und ich im Frühjahr rübergehen, dann darf kein Schatten auf dich fallen – kein Verdacht, du könntest Mitwisser sein. Du mußt deshalb der beste Lehrling werden und mußt das Vertrauen aller haben.“ „Und was sagt die Mutter zu allem?“ fragte Fietje. Der Vater steckte sich eine Zigarre an. Stirnrunzelnd blickte er den Rauchschwaden nach. Würziger Duft erfüllte die Stube. In der Küche klapperte die Mutter mit dem Geschirr. „Die Mutter? Sie sagt nichts – aber sie will ihren Lebensabend genausowenig wie du und ich in der Kolchose verbringen.“ Fietje gab sich zufrieden. Wenn die Mutter mit von der Par-
tie war, gab es keine Bedenken. Doch da war noch etwas. „Wie wird es mit meiner Arbeit auf unserem Kutter, wenn ich im Heim bin?“ Der Vater paffte eine Weile, bevor er durch die Tabakwolken zu Fietje hinübersah. „Das wird nicht oft sein. Hauptsache ist, du zeigst denen da im Kombinat, daß du ein Kerl bist. Versprich mir das!“ Fietje reckte sich. „Ich werde dich nicht enttäuschen, Vater.“ * Im Stubnitz-Kino fand die Entlassungsfeier der polytechnischen Oberschule II statt. Fietje saß in der ersten Reihe. Die Feier, die ernste Musik ergriffen ihn. Aber er spürte im Nakken die Blicke des Vaters, der vier Reihen hinter ihm saß. Dann sprach der Direktor. Vom nützlichen Wissen sprach er und daß sie nun in das Leben hinausziehen, um dieses Wissen zum Wohle der sozialistischen Gemeinschaft anzuwenden. Hilfe und Erfahrung der Arbeiterklasse werden ihre Begleiter sein, und sie werden nun aufgenommen in das schöpferische Kollektiv der Werktätigen, als deren junge Kameraden, als deren spätere Erben und Vollender. Schöne Erben, dachte Berger. Neben ihm saß still die Mutter und unterdrückte ein Schluchzen. Schon einmal hatte sie hier gesessen, aber da hatte sie vor Glück geweint, vor zwei Jahren, als Fietje die Jugendweihe erhielt. Der Vater war damals nicht mitgekommen. Er war zum Fang ausgelaufen. „Macht, was ihr wollt“, hatte er gegrollt, „aber verlangt nicht, daß ich mir diesen Zirkus ansehe.“ Der Vater sah unwillig die zuckenden Lippen der Mutter. Er beugte sich zu ihrem Ohr. „Nimm dir das doch nicht zu Herzen, Mutter“, flüsterte er. „Alles nur Mache, Propaganda,
wollen uns einseifen…“ Der Mutter taten diese Worte weh. Der Vater ist ungerecht, dachte sie, er kennt nur sich und seinen Kutter. „Ihr müßt unerbittlich sein gegen alles Alte, Überlebte. Ihr müßt den Krieg hassen und für den Frieden, für den Sozialismus alle eure Kraft einsetzen“, hörte der Vater den Direktor sagen. Was weiß der mit seinen 25 Jahren schon vom Krieg, dachte er. Hat nicht im Schützengraben gelegen. Was will er – keiner will heute mehr Krieg. Er schneuzte sich vernehmlich, wollte nichts mehr hören. Warum spricht man immer wieder davon? – Mein Fietje wird nie Soldat – und ich auch nicht Mitglied der Genossenschaft. Verdammt will ich sein, wenn’s nicht stimmt, schwor er bei sich. Die Schüler gingen einzeln nach vorn und erhielten die Abschlußzeugnisse. Als Fietje auf seinen Platz zurückging, sah er die geröteten Augen der Mutter und das starre Gesicht des Vaters. In seinen Ohren klangen die Worte des Direktors nach: „Und nun ans Werk. Enttäuscht uns nicht!“ Unter dem Kinosaal war das „Stubnitz-Cafe“. Fietje hatte es noch nie betreten. Nur manchmal hatte er einen sehnsüchtigen Blick durch die hohen Fenstertüren geworfen. Heute ging sein Wunsch in Erfüllung. Der Vater lud Mutter und Sohn zu einer Flasche Wein ein. „Es ist so schön hier – und alles so sauber“, staunte Fietje und drehte das Weinglas auf der Damastdecke. Die Stühle hatten blaue Lederpolster, und die Kellner eilten lautlos von Tisch zu Tisch. „In Cuxhaven gibt es noch exklusivere Cafes“, antwortete der Vater.
„Was kostet denn da eine Flasche Wein, Vadding?“ – „Na, das ist man so, da geht ja nicht jeder hin…“ „Warum nicht?“ Fietje bekam große Augen. „Das ist nur für Geldschieter“, warf die Mutter ein, „nicht für unsereins, stimmt’s, Vadding?“ Der Vater druckste eine Weile, bevor er sagte: „Ja, Mutter hat schon recht.“ „Aber wo geht denn da unsereins hin?“ bohrte Fietje weiter. „In den ,Kakadu’ oder zur ,Schwarzen Lola’, da gehn die Fischer hin – aber allein, nicht wahr. Vadding? Da ist es billig und teuer zugleich. Und Ehefrauen sind da nicht gefragt.“ Berger blickte seine Frau vorwurfsvoll an. Der Ober kam und schenkte ihnen goldgelben Wein ein. Fietje dachte: Der hätte ruhig ein paar Minuten später kommen können. Er hätte so gern mehr über die exklusiven Lokale gewußt, wo die Männer ohne ihre Frauen hingehen. Der Vater hob das Glas. „Grüble nicht, Fietje. Prost – auf ein gutes Gelingen!“ Der Wein schmeckte süß. Nach dem ersten Glas fühlte Fietje sich schon mächtig stark. „Gehn wir später auch zur ,Schwarzen Lola’?“ Der Vater machte ein unwirsches Gesicht. „Das erlaubt Mutter nicht!“ „Du kommst mit, nicht wahr, Mutter?“ „Nicht dahin. Wenn schon, dann in ein anständiges Lokal.“ „Aber wenn es dort so teuer ist?“ „Bis dahin haben wir genug Geld. Und nun Schluß damit! Werde erst einmal ein richtiger Mann.“ Der Vater unterstrich seine Worte mit einer heftigen Handbewegung. Fietje machte einstweilen ein gehorsames Gesicht. War er erst in Cuxhaven, wollte er das Geheimnis um die „Schwarze Lola“
schon lüften. II Der letzte Augusttag war heiß und windstill. Alle zehn Meter setzte Fietje den schweren ledernen Koffer ab. Er schleppte seinen Koffer durch die Karl-Marx-Straße. Danach kam die Stralsunder Straße, dann Dwasieden und dahinter das Lehrlingsheim. Bis dahin waren es noch gut zwei Kilometer. Fietje stöhnte. Fietje liebte die kleine schmale Fischergasse, in der das Häuschen der Eltern stand, wo er von der Haustür ins gegenüberliegende Fenster hätte spucken können. Durch die Gasse wehte immer kühle, nach Tang riechende Meeresluft. Auch jetzt war es dort kühl. Ich hätte doch den Omnibus nehmen sollen, dachte Fietje und rieb sich den Schweiß von Stirn und Nacken. Er brauchte eine Abkühlung. In der Milchbar „Schwedenfahne“ in der Stralsunder Straße erspähte er in der Ecke am Fenster einen Tisch mit einem freien Stuhl. Nur ein Mädchen saß dort. Sie war fremd hier. Das stellte er sofort fest. Er klemmte die Mütze unter den Arm, prüfte mit der freien Hand den Sitz des Schlipses und steuerte auf den Tisch der Fremden zu. Dort stellte er den Koffer ab, räusperte sich, und als das Mädchen aufblickte, nickte er leicht mit dem Kopf zum leeren Stuhl hin. „Ist der noch frei?“ „Bitte!“ Das Mädchen hatte eine angenehme tiefe Stimme und schwarze kurzgeschnittene Haare. „Danke schön“, sagte Fietje und setzte sich umständlich, um seine Unsicherheit zu verbergen. „Nichts zu danken.“ Sie lächelte. Zwei Grübchen traten auf die Wangen. Sie
zwangen Fietje hinzusehen. „Sie hätten auf jemand warten können. Es ist doch möglich.“ Er kam sich ungeheuer erwachsen und diplomatisch vor bei diesen Worten. „Aber nicht heute.“ Sie trank ihren Eiskaffee durch den Strohhalm. Die Grübchen verschwanden. Als sie aufblickte, waren sie wieder da. Fietje hätte sich gern unterhalten, aber worüber sollte er mit dem Mädchen sprechen, dessen Namen er nicht einmal wußte.
Die „Schwarze Lola“ fiel ihm ein. Ob sie Lola hieß? Fietje klopfte seine Gedanken mit dem Mittelfinger auf den Tisch: „Schwarze Lola – schwarze Lola…“ Das Mädchen amüsierte sich. Sie hatte große braune Augen. Fietje bestellte ein Glas kalte Erdbeermilch. „Eine Hitze heute!“ Er schaute zum Fenster hinaus und wartete nun, daß die kleine Schwarze antwortete.
„Schwarze Lola – schwarze Lola“, klopfte er wieder. Er blinzelte das Mädchen verstohlen an. Ein netter Junge, dachte sie. Ob er von hier ist? Sie musterte ihn unauffällig. Fietje war ein Junge, der einem Mädchen schon gefallen konnte. Er war für sein Alter nicht sehr groß, aber seine Haltung verriet doch kraftvolle Körperbeherrschung. Das auffallendste an ihm waren seine Augen in dem schmalen Gesicht mit den dunklen Augenbrauen. Sie waren von einem klaren Blau, und meistens blickten sie herausfordernd in die Welt. Diese Augen gefielen dem Mädchen. Dabei entging ihr der eigenwillige Zug, der Fietjes Mundwinkel umspielte. Warum sieht sie mich nur so an? dachte er und strich sich über die Igelfrisur, lockerte den Schlipsknoten und öffnete den oberen Hemdknopf. Den Mut, das Madchen in ein Gespräch zu ziehen, fand er nicht. Warum sagt das Mädchen nichts? „Schwarze Lola – schwarze Lola“, pochte er wieder. Das Mädchen spielte mit dem Teelöffel. Jetzt klickte sie damit rhythmisch gegen die Untertasse… Ganz deutlich hörte Fietje die feinen Intervalle heraus. Gespannt lauschte er. „Wer ist Lola?“ morste das Mädchen. „Die Hölle!“ klopfte Fietje und wurde rot dabei „Waren Sie schon einmal dort?“ „Nein! Aber ich weiß es, daß es sie gibt.“ „Ich könnte mir Schöneres denken. Sind…“ Nur nicht aus der Schule plaudern, dachte Fietje, „Wie heißen Sie?“ unterbrach er den hellen Klang des Löffels. Er wunderte sich selbst über seinen Wagemut. Doch das Mädchen schien an dem Morsespiel Spaß zu haben. „Zuerst stellt sich immer der Herr vor“, sagte sie und ver-
rührte mit dem Strohhalm Sahne und Kaffee. Fietje beeilte sich mit einer Antwort. Er erhob sich leicht und machte eine Verbeugung, wie er es oft im Kino gesehen hatte. „Fietje heiße ich. Ganz einfach Fietje.“ Sie nickte ihm zu. „Und ich heiße Hella. Ganz einfach Hella.“ „Und Sie können morsen?“ platzte er heraus. „Das habe ich in Cottbus gelernt.“ „Bei der GST?“ „Ja… Nun muß ich aber gehn.“ „Ich habe auch wenig Zeit“, antwortete Fietje. „Sie wollen wohl verreisen?“ „Nö! Ich muß heute zur Lehre antanzen. Und Sie?“ „Ich auch.“ „Dann bleiben Sie jetzt in Saßnitz? Saßnitz ist schön.“ Nur schwer konnte Fietje seine Freude verbergen. Sie könnte sich ja sonst was drauf einbilden. Sie standen vor der Milchbar. Fietje hätte am liebsten seinen Koffer bei der Kellnerin abgegeben und Hella begleitet. Doch das ging nicht. Dann käme er selbst zu spät. „Auf Wiedersehen!“ Hella reichte ihm ihre Hand. „Und wohin gehen Sie? Vielleicht kann ich Ihnen den Weg zeigen?“ „Ich habe mich schon erkundigt. Ich will ins Kombinat.“ „Ach, wohl ein neues Schreibfräulein?“ „Hätte ich da Morsen gelernt?“ Nun erhellte sich Fietjes Gesicht. „Sie gehen als Funkerin ins Kombinat?“ „Vielleicht…“ „Tschüß!“ rief ihr Fietje nach. Der Koffer schien ihm jetzt leichter. Ab und zu pfiff er eine
Melodie nach eigener Komposition. Die Leute blickten dem Burschen nach, der so vergnügt durch die Straßen marschierte. Das Lehrlingsheim war ein zweistöckiger Bau mit einer Grünanlage davor. Fietje stand auf der untersten Treppenstufe. Seine Augen wanderten die Fenster entlang. An einigen zeigten sich neugierige Jungengesichter. Einer rief: „Mensch, Kleena, nich gezöjert – imma rin in die jute Stube. Vata Antonius wartet schon uff dir…“ „Äscha! Des is scho ä richtiger Kapitään…“, kam das Echo aus einem anderen Fenster. Ein Berliner und ein Sachse, dachte Fietje wütend, die haben mir gerade noch gefehlt. Er packte den Koffergriff. Da knarrte die große Flügeltür. Der Heimleiter, mittelgroß und korpulent, stand auf dem verandaartigen Vorbau. Er lachte Fietje freundlich an. „Na, dann komm mal rein.“ Er ließ Fietje vorangehen. „Links, das erste Zimmer.“ Anton Hartmann, leitender Heimerzieher, las Fietje auf einem weißen Kärtchen an der Tür. Fietje kannte Herrn Hartmann von der Schule her. Er hatte in der Jugendstunde über seine Erlebnisse während des antifaschistischen Widerstandskampfes gesprochen. Die Nazis hatten ihn ins Zuchthaus gesperrt und später ins berüchtigte Strafregiment 999 gesteckt. Die breite dunkelrote Narbe am Kinn rührte vom Stiefelabsatz eines SS-Banditen her. Fietje stellte den Koffer ab. Obendrauf legte er die Mütze. Erst jetzt sah er den FDJler und den GST-Kameraden, die am Fenster gesessen hatten und nun auf ihn zukamen. „Willi Kramer“, stellte sich der FDJler vor, „FDJ-Sekretär. Freundschaft, Jugendfreund!“ Er schüttelte Fietje die Hand. „Fietje Berger.“
„Und ich bin der GST-Instrukteur für Seesport. Manni Lerche ist mein Name. Wir werden hier eine erstklassige Kuttermannschaft auf die Beine stellen. Du bist doch dabei?“ Er hatte einen kräftigen Händedruck. Fietje mußte zu ihm aufsehen. Er war um zwei Köpfe größer. Fietje zögerte mit einer Antwort. „Nur nicht so hastig. Fietje muß doch erst warm werden bei uns“, schaltete sich der Heimleiter ein. Vor ihm auf dem Schreibtisch lag Fietjes Fragebogen. Gleich wird er fragen, warum Vater nicht in die Genossenschaft geht, dachte Fietje. „Du kannst funken?“ fragte der Heimleiter. „Tempo achtzig“, antwortete Fietje stolz. „Das ist gut. Die Genossenschaft braucht fähige Kapitäne. Oder möchtest du im Kombinat bleiben?“ Jetzt geht’s los, dachte Fietje. Er nahm die Mütze vom Koffer und knautschte sie zwischen den Fingern. „Ich weiß das noch nicht so genau“, antwortete er ausweichend. Der hat noch kein festes Ziel, vermerkte der Heimleiter bei sich, während er weitersprach. „Du hast zwei Jahre Zeit zum Überlegen, Fietje. Wichtig ist, daß du bei uns genauso fleißig lernst wie in der Schule.“ Fietje dachte an das kommende Frühjahr, an Cuxhaven. Zwei Jahre waren entschieden zu lange. Über ein Jahr ohne die Eltern… „Kann man die Prüfung nicht schon nach einem Jahr ablegen, Herr Hartmann?“ Willi Kramer, der FDJ-Sekretär, schüttelte den Kopf. „Wie kommst du darauf?“ „Ach, nur so…“ Manni Lerche sah die Frage vom fachlichen Standpunkt. „Was du in der GST in Seemannschaft und Navigation
lernst, kannst du im Beruf anwenden. In den Schoß fällt dir nichts. Und wenn du Ausdauer hast, wird sich nachher schon ein Weg finden. Entscheiden wird das Kollektiv.“ Der kann gut singen, mokierte sich Fietje. Er hat den richtigen Namen. Propaganda! würde der Vater das nennen. „Erst wird gesät – dann geerntet. Das hast du doch in Biologie gelernt?“ fragte ihn der FDJ-Sekretär. „Das weiß jedes Kind!“ antwortete Fietje unwillig. „Und ich habe ja auch nur gefragt.“ „Du bist sehr hitzig in der Diskussion, du mußt ruhiger werden.“ „Na klar!“ sagte Fietje beleidigt. „Also, dann lerne erst! Danach sollt ihr das Wissen haben, das man vor Jahren von einem Meister verlangte.“ Der Heimleiter kam hinter dem Schreibtisch hervor und trat zu Fietje. Freundlich sagte er: „Du selbst entscheidest über den Verlauf deiner Lehrzeit. Die Heimerzieher, die FDJ und die GST, die Lehrer und Ausbilder werden dir dabei helfen.“ Fietje stand auf. Er war fast so groß wie Hartmann, dessen Augen Ruhe ausstrahlten, Hartmann legte eine Hand auf Fietjes Schulter. Und seine eindringliche Stimme, die Art, wie er sprach, zwangen Fietje, jedes Wort in sich aufzunehmen. „Du gehörst nun zu den Schülern, die nach zehnjährigem Schulbesuch im Kombinat den schönen Beruf des Fischers erlernen. Von euch erwarten wir eine besondere Einsatzbereitschaft. Für euch wurde die Lehrzeit von drei auf zwei Jahre herabgesetzt. Ich verstehe deine Ungeduld, aber zügelloses Jagen führt eben nicht zum Ziel. Und wer nur Auswendiggelerntes daherplappert, wird eines Tages an der Wirklichkeit scheitern.“ Fietje konnte Hartmann nicht länger in die Augen sehen. Er
blickte auf die Narbe, die tiefrot das Kinn furchte. Und als der Heimleiter den Raum verließ, atmete er auf. Willi Kramer schob Fietje einen Sessel zurecht. Doch der mochte sich nicht setzen. Er wollte jetzt allein sein. Kaum zehn Minuten war er im Heim, und schon fühlte er Unbehagen. „Nicht schüchtern sein“, ermunterte ihn Willi. „Immer hingepflanzt! Mußt denken, du bist bei Muttern.“ Fietje zwang sich zu einem Lächeln und setzte sich. Plötzlich verspürte er die ganze Schwere seiner Lage. „Nimm das nicht so tragisch“, sagte Willi Kramer kameradschaftlich, „Hartmann meint es gut. Er ist wie ein Vater zu den Lehrlingen. In jedem von euch sieht er einen seiner zwei Brüder. Du mußt wissen, daß der eine im KZ ermordet wurde. Der andere wurde hingerichtet. Er hatte Flugblätter verteilt, die zum Widerstand gegen den faschistischen Krieg aufriefen. Ich erzähle dir das, damit du Hartmann verstehst. – Doch nun zu dir. Willst du in die GST-Seesportgruppe eintreten?“ Da Fietje noch mit einer Antwort zögerte, sagte Manni Lerche: „Ich gehe bald zu einem Lehrgang und kann mich dann nicht um euch kümmern. Willi wird euch unterstützen.“ Fietje bewegte die Fingerspitzen, als trommle er. Seesport Er hatte an die Funkgruppe gedacht. Dort würde er Hella wiedertreffen. Er war unschlüssig, er sagte: „Ich dachte an die Funkgruppe.“ Manni schüttelte den Kopf über soviel Unverständnis. „Funken willst du? Ich denke, du willst Fischer werden?“ „Sprechfunk gehört doch dazu; und Morsen und Winken“, verteidigte sich Fietje. „Navigation und Seemannschaft und die praktische Erfahrung machen das Wissen eines Fischers aus. Funken kommt
später.“ „Das müßte Fietje wissen“, meinte Kramer. „Sein Vater hat doch selbst einen Kutter.“ „Ach, kleiner Trödelbetrieb! Wenn Fietje das erste Mal auf einem Sechsundzwanzig-Meter-Kutter anheuert, pfeift er was auf die Nußschale von Vadding, was Fietje?“ Fietje hatte sich einige scharfe Worte zurechtgelegt; er ließ sie unausgesprochen. Eines Tages werde ich noch einen viel größeren Pott haben, drüben! dachte er. „Übrigens“, fuhr Manni fort, da Fietje stumm blieb, „das Morsen mit der Klappbuchse steht auch bei der Seesportausbildung auf dem Plan.“ Er erhob sich. Er erwartete keine Zustimmung. Für ihn stand fest, daß Fietje mitmaehte. Es war doch klar: Ein Fischerlehrling gehört zum Seesport! * Fietjes Zimmer lag im ersten Stockwerk. Von der Eingangshalle führte eine bequeme Treppe nach oben. Der Flur war breit und mit einem dicken Gummiteppich belegt. Links und rechts waren Türen. Die auf der linken Seite führten in die Waschräume und zu den Toiletten, die rechts in die Zimmer der Lehrlinge. Kramer öffnete eine Tür. „Hier wohnst du.“ Es war ein Zweibettzimmer mit hellen Möbeln. Die Betten hatten weiße Bezüge. Auf einem der Betten hatte Jochen Weyer gelegen, der nun eilig aufstand und Fietje seine Hand entgegenstreckte. „Ich bin Jochen Weyer. Weyer mit Ypsilon.“ Diese sächsisch singende Stimme kam Fietje bekannt vor. Ausgerechnet zu dem Sachsen, dachte er ärgerlich. Willi Kramer bemerkte Fietjes brummige Miene und mußte Hartmann recht geben, der darauf bestanden hatte, daß die Rügener Jungen mit denen aus Mitteldeutschland zusam-
menwohnen sollten. „Ich kenne diese Burschen“, hatte er gesagt. „Die sehen immer so überheblich auf die Sachsenjungen herab, als wäre auf Rügen die Welt erschaffen worden. Sie sollen sich vertragen, zum Kuckuck!“ Fietje drückte Jochens Hand, daß der die Augen verkniff. „Fietje Berger aus Saßnitz“, sagte er. „Aus Saßnitz?“ Kramer ließ die beiden allein. „Nimm die Tasche von der Back“, forderte Fietje. Als Jochen nicht gleich verstand, schob er die Aktentasche zur Seite. „Back, das ist ein Tisch, damit du es weißt. Und nun zeige mir mein Schapp, du Ypsilonweyer.“ „Ä Schapp?“ „Ä Schapp?“ äffte Fietje. „Klar, ä Schapp. Wo soll ich sonst meine Klamotten verstaun.“ Ob Fietje einen Schrank meine, fragte Jochen. „Bahnhof bestimmt nicht! Sprich endlich so, daß man dich versteht.“ Jochen zögerte, dann dachte er, Fietje meine es sicher nicht so. Er öffnete dessen Schrank. „Sind Kleiderbügel dort? Bring sie her!“ befahl Fietje und warf eine neue Kulihose über die Stuhllehne. „Leg sie schön über den Bügel!“ Jochen sah zu Fietje auf wie der Lehrling zum Gesellen. Die Kulihose und der Kulani, der Überzieher mit den goldgelben Knöpfen, imponierten ihm. „Ist dein Vater ein Kapitän?“ fragte er interessiert. „Und was für einer. Wir haben einen eigenen Kutter. Stell die Schuh’ unter die Koje. Was ist dein Alter?“ Jochen schien Fietjes Kommandieren nicht zu merken. Wil-
lig führte er jeden seiner Wünsche aus. Doch nun fiel ihm die Antwort schwer. Leise sagte er, dabei sah er an Fietje vorbei: „Mein Vater war nur Landarbeiter.“ „Dann ist er wohl heute Funktionär in einer LPG?“ Ein leiser Spott klang in Fietjes Frage mit. „Sicher wirst du einmal Kombinatsleiter.“ „Ich habe meinen Vater nicht gekannt“, sagte Jochen traurig. Fietje klappte erstaunt den Koffer zu. Auf seinen fragenden Blick hin sprach Jochen weiter: „Neunzehnhundertfünfundvierzig ist er gefallen. Ich war erst ein paar Tage alt. Meine Mutter lebt auch nicht mehr.“ „Dann bist du ganz allein?“ Alles Schnoddrige und Großtuerische war aus Fietjes Stimme gewichen. Jochen, der die Anteilnahme empfand, sah ihn dankbar an. „Ja, bis auf meine Großmutter…“ „Großmütter sind schrullig“, winkte Fietje ab. „Die wollen alles besser wissen.“ Dann ging er zu Jochen und schlug ihm mit der flachen Hand auf den Oberarm. „Nimm’s nicht so tragisch, Jochen, wir werden die zwei Jahre schon rumkriegen!“ III Es war still in der Klasse. Die Jungen waren sich noch fremd, und keiner wollte gleich am ersten Tag auffallen. Hinzu kam, daß alles, was der Lehrer über den organisatorischen Ablauf der zwei Lehrjahre sagte, besonderes Interesse erweckte. So hingen zwanzig Augenpaare an seinen Lippen. Einige Jungen sahen sich insgeheim schon als Kapitän auf einem Fischkutter, von Wellen umtost und mit reichem Fang den Heimathafen anlaufen. Die Phantasie war an Raum und Zeit nicht gebunden. Und so wurde aus dem Fischkutter bald
ein leuchtend weißer Ozeanriese auf fernen Weltenmeeren. In der zweiten Stunde mußte jeder seinen Lebenslauf erzählen. Fietje fand das langweilig. Wozu? Man sah es doch den meisten an. daß sie vom Binnenland kamen. Für ihn waren, soweit er denken konnte. Wasser und Sturm ein Begriff. Schon als Kind hatte er Flundern sortiert und Salzwasser geleckt. Gelangweilt blickte er zu den Fenstern und wartete auf das Klingelzeichen. Doch nun unterbrach er seinen Gedankengang und blickte nach vorn zur zweiten Bank. Eben hatte der Lehrer Horst Wagner aufgerufen. Horsts Worte ließen Fietje gespannt lauschen. So, was der nicht sagte, das Seesportleistungsabzeichen „B“ der GST hatte er? Fietjes Blick wanderte über die Gesichter der Jungen. Warum sie nur alle so gebannt zuhörten? Als ob etwas Besonderes dabei war, mit einem Segelkutter auf der Spree herumzuschaukeln. Staunen sollten sie, wenn er ihnen erst seinen Lebenslauf auftischte; schließlich war er schon ein halber Seemann. Horsts Augen glänzten, wenn er von der Seesportausbildung der GST sprach. Der Drang zum Segeln, zum Fischerberuf, war nicht von allein gekommen. An der Oberschule in Cottbus gab es Lehrer, die nach Beendigung des Unterrichts die Jungen zu tüchtigen und disziplinierten Seesportlern ausbildeten. Der Anfang war nicht leicht. Die Gruppe hatte keinen Bootsschuppen; sie bauten ihn selbst. Als die Gruppe den ersten Kutter erhielt, kannte der Jubel keine Grenzen. In der Woche wurde kräftig gepullt, bis Arme und Rücken schmerzten. Und wenn alles klappte, durften sie sonntags segeln. Dann legte Horst die A-Prüfung ab. Der Ausbilder schlug ihn für die Seesportschule vor. Horst fuhr während
der Ferien dorthin. Als er zurückkam, hatte er die B-Prüfung bestanden und durfte nun einen Segelkutter steuern. Aber die Spree wurde ihm zu klein. Kein richtiger Wind und keine Wellen. Horsts Vater war Maurer. Die kräftige, untersetzte Statur hatte er seinem Sohn vererbt. In seinen Zukunftsträumen hatte er seinen Jungen schon als Ingenieur oder Architekt gesehen; doch dann überraschte der ihn mit der Nachricht, er wolle Fischer werden. „Wasser hat keine Balken“, hatte der Vater gesagt. „Wenn du auf dem Bau ausgelernt hast, kannst du die Fachschule besuchen; wirst vielleicht einmal Bauführer. Laß die Fische fangen, wer will, wir bauen Wohnungen und neue Betriebe.“ „So! Und die Fische kaufst du dir wohl im Baubüro? Mutter schimpft doch noch immer, daß es zuwenig Fische gibt… Vater, ich werde Fischer. Ich will hören, wie der Wind in den Wanten pfeift.“ Der Vater hatte lange auf Horst geschaut. Er hätte seinen Sohn gern bei sich behalten, doch wenn Horst bei seinem Entschluß blieb, wollte er ihm nichts in den Weg legen. „So bin ich nach Saßnitz gekommen“, beendete er seinen Bericht. „Schön. Wagner. Bei Ihnen spürt man die Liebe zur See. Sicher wird es Ihnen hier gefallen. Setzen Sie sich.“ Der Lehrer blickte auf die Uhr. Zehn Minuten noch bis zur Pause. „Fietje Berger!“ Fietje erschrak. Daß er schon jetzt an die Reihe kam, damit hatte er nicht gerechnet. Lässig erhob er sich. Mit beiden Händen strich er sich über das borstige Haar. Er blickte die Reihen der Jungen entlang und vergewisserte sich, daß alle Augen auf ihn gerichtet waren.
Stolz und überlegen erzählte Fietje von seinen Fahrten auf See, vom Zeeseneinholen, vom Dorsch schlachten und von einer Havarie. Die meisten Jungen sagten „oh“ und „ah“ und lauschten gespannt. Das war Klasse, was Fietje erzählte. Für sie war er schon ein richtiger Seemann. Da kam Wagners Spreepaddelei nicht mit. Aber als Fietje seinen Blick in die Runde schickte, stellte er betrübt fest, daß Hein Thesenvitz und Hannes Karsten gleichgültig dreinschauten. Sie waren beide groß und kräftig. Hein war ein Mecklenburger Junge aus der Schweriner Gegend. Hannes war wie Fietje ein Rügener Fischerjunge. Seine Wiege stand in Seedorf auf Mönchgut. Der Vater war in der Produktionsgenossenschaft. Hein Thesenvitz war nicht so leicht zu begeistern. Er dachte: Ein Aufschneider, dieser Berger! Will sich vordrängen. Auch Hannes Karsten durchschaute Fietjes Seemannsgarn. Was Horst Wagner gesagt hatte, imponierte ihm schon eher. Und wenn eine Kuttermannschaft aufgestellt werden sollte, wollte er der erste sein, der sich meldete. Auf dem Flur schrillte die Klingel. Die Jungen wurden unruhig. Fietje beendete seine Erzählung: „Ich habe in der GST-Funkgruppe der Schule mitgemacht, jetzt möchte ich mich am Seesport beteiligen.“ Der Lehrer hob die Hand. Die Unruhe versickerte. „Überlegen Sie alle bis zur nächsten Woche, wer Klassenkapitän werden soll. Pause!“ Auf dem Sportplatz neben dem Heim bildeten sich Gruppen diskutierender Jungen. Der Klassenkapitän sollte gewählt werden. Fietje beteiligte sich nicht am Gespräch. Er stieß einen Stein, der im Weg lag, mit dem Fuß vor sich her. Jochen Weyer kam über den Schulhof auf ihn zu. „Sie wol-
len dich oder Wagner wählen“, berichtete er. Fietje blinzelte unter halbgeschlossenen Lidern Jochen an. Der kleine Sachse schien ein brauchbarer Bursche zu sein. „Wagner? Der Pinnenschieter!“ knurrte er. „Aber die meisten Jungen sind für dich!“ Fietje gab dem Stein einen letzten kräftigen Stoß, dann drehte er sich fragend Jochen zu, als erwarte er noch nähere Erklärungen. Jochen deutete Fietjes Blick falsch. Er streckte ihm seine Hand entgegen. „Ehrenwort, Fietje, das haben sie gesagt!“ Fietje zögerte, dann umschloß er Jochens Hand. „Auf Freundschaft!“ „Auf Freundschaft!“ wiederholte Jochen ernst. Die Klingel schrillte in die hitzigen Gespräche. Die Jungen stürmten in die Klasse. Der Lehrer wies darauf hin, daß der Klassenkapitän auch der beste Lehrling sein müsse. Er müsse das Vertrauen der ganzen Klasse haben. Sechs Tage seien eine kurze Zeit zum Kennenlernen, doch er nehme an, daß sie trotzdem richtig entschieden hätten. Kaum hatte der Lehrer das letzte Wort gesprochen, da schnellte Jochen hoch. „Ich meine, wir sollten Fietje Berger wählen!“ Fietje saß mit gesenktem Kopf. Von unten herauf schielte er zu Wagner hinüber. In Horst hatte er einen nicht zu unterschätzenden Konkurrenten. Ein Raunen ging durch die Klasse. Hände flogen nach oben und zuckten wieder zurück. Nur eine Hand ragte auch weiterhin mit spitzem Zeigefinger steil in die Luft. Noch ehe der Lehrer das bemerkte, erhob sich eine zweite Hand. Der Lehrer drehte sich zur Wandtafel und schrieb: 1. Fietje Berger. „Von wem vorgeschlagen?“ „Von mir!“
„Also ein Namenloser?“ „Jochen Weyer. Weyer mit Ypsilon!“ Die Jungen lachten. Jochen wurde krebsrot. Hein Thesenvitz, der noch immer mit der Hand die Luft bohrte, sagte sehr langsam: „Wat hew ick seggt? ‘n Moses!“ Der Taufakt war vollzogen. Der erste Spitzname hatte seinen Herrn gefunden. Der Lehrer schmunzelte. So ging es Jahr für Jahr. Er wandte sich an Hannes und Hein, die sich noch immer meldeten. Beide schlugen Horst Wagner vor. Fietje Berger senkte den Kopf noch tiefer. Von Hannes und Hein hatte er Unterstützung erwartet. Sie waren doch Mecklenburger. „Noch weitere Vorschläge?“ fragte der Lehrer. Die Jungen schüttelten die Köpfe. „Gut. Dann sollen uns Berger und Wagner sagen, ob sie mit den Vorschlägen einverstanden sind.“ Fietje stand auf. „Vielleicht macht Wagner den Klassenkapitän. Sicher kann er das besser…“ „Aber du bist schon ein Seemann!“ trumpfte Jochen auf. Der Lehrer schmunzelte über Jochens Eifer. „Richtig!“ tönte es von einigen Plätzen. „Aussprechen lassen“, mahnte der Lehrer. Doch Fietje hatte sich schon gesetzt. Horst Wagner sprach nicht gern. Er fühlte sich sicherer, wenn er vor der Mannschaft stand und ein Kommando geben konnte. „Ich möchte lieber eine Kuttermannschaft der GST aufstellen.“ Horst stand noch einen Moment unschlüssig und ließ sich dann auf den Stuhl fallen. Jetzt war Ruhe in der Klasse. Fietje Berger sah Horst Wag-
ner an, doch der kritzelte Seezeichen auf Papier. Hein Thesenvitz flüsterte Hannes Karsten zu: „Schiet – was?“ „Nö!“ sagte Hannes. „Für die GST brauchen wir einen Fachmann. Fietje kann wohl tuckern, aber nicht segeln. Soll er Klassenkapitän sein, meinetwegen…“ Die Lehrlinge waren einverstanden. Ein Siegerlächeln erhellte Fietjes Gesicht; doch bald wurde es wieder ernst. Es war ja nur ein halber Erfolg gewesen. Fietje und Jochen gingen die Treppe, die zum Hafen führte, hinab. Nun standen sie auf dem letzten Podest. Vor ihnen lag das Meer. Soweit sie blickten – Wasser, Wolken und Himmel. Die See war bewegt. Woge auf Woge stürmte mit weißen Gischtkämmen gegen die Mole, zerschellte an den großen Steinquadern und riß Steingeröll in die Tiefe. Aber schon die nächste Welle warf wieder Steine ans Ufer, gegen die Mole, ein Anblick, der Jochen gefangennahm und ihn schweigend verharren ließ. Für Fietje war schäumende See ein gewohntes Bild. Heute wanderten seine Blicke zum Kombinatseingang. Er hoffte auf den glücklichen Zufall, Hella hier zu treffen. Während des Mittagessens hatte der Heimleiter alle Lehrlinge, die an der Seesportausbildung teilnehmen wollten, zu einer Aussprache eingeladen. Dann war es so gekommen, wie es sich Hannes Karsten gewünscht hatte: Horst Wagner wurde von Manni Lerche als Bootssteurer eingesetzt. Fietje paßte es gar nicht, von einer Landratte kommandiert zu werden. Aber Horst hatte die B-Prüfung, er allein war berechtigt, einen Segelkutter zu steuern. Er hatte noch gefragt, wer von den Kameraden mit zum Hafen ginge, um den Kutter „SAS Vorwärts“ zu inspizieren. Es meldeten sich nur
Hannes Karsten und Hein Thesenvitz. Jochen hatte auch schon die Hand erhoben, doch Fietje hatte sie ihm energisch herabgedrückt. „Wir gehn allein! Ich hab meine Gründe!“ Jochen hatte sich gefügt. Sie hatten als erste das Heim verlassen. Fietje blickte noch immer zum Kombinatseingang hinüber. Fischer und Angestellte kamen heraus – nur Hella nicht. Ob sie nur eine Urlauberin war? dachte Fietje. Doch schnell schob er den Gedanken von sich. Er glaubte nicht, daß sie gelogen haben könnte. Er war so versunken, daß er die Schritte, die die Treppe herabkamen, überhörte. Jochen stieß ihn an. „Sie kommen!“ „Jetzt sind wir fünf“, sagte Horst erfreut, „vielleicht kommen die anderen auch noch.“ „Möglich!“ brummte Fietje, dann schloß er sich mit Jochen den dreien an. Am Molensteg schlingerte der GST-Kuttcr „SAS Vorwärts“. Horst stieg in den Kutter. Ein kritischer Blick genügte, um festzustellen, daß das Boot von den Vorgängern nicht gepflegt worden war. Vor der Ausbildung mußte „Rein Schiff“ gemacht werden. Während Horst die Schot untersuchte, sprang Jochen achtern auf die Plicht. „Schaukelt ganz schön, der Kahn!“ rief er. Jochens unseemännisches Verhalten konnte Horst nicht übersehen. „Erstens ist das ein Kutter und zweitens keine Sprunggrube“, belehrte er ihn. Der gibt ganz schön an, dachte Fietje. Mal sehen, ob er auch das Wissen hat. „Erkläre uns doch mal den Kutter!“ rief er vom Molensteg aus. Ohne zu überlegen begann Horst: „Vorn ist der Großmast, achtern der Besanmast. Und hier in der Mitte seht ihr den
Schwertkasten…“ „Ist wohl ein Kriegsschiff, dein Kutter? So ‘ne mittelalterliche Störtebeker-Kogge?“ „Du bist ein Quatschkopf, Fietje! Das Schwert wird beim Segeln ausgefahren, damit der Kutter nicht kentert und besser Kurs hält. Das solltest du wissen! Und hier“, erklärte Horst weiter, „am Ruderblatt steckt die Pinne, sie dient zum Steuern. Rund um den Kutter laufen innenbords die Längsduchten, dort sitzt die Besatzung beim Segeln; wird gepullt, sitzt die Mannschaft hier auf den Querduchten.“ Donnerwetter, dachte Jochen, Horst weiß bald soviel wie Fietje. Wenn er das alles .behalten sollte… Eine Frage lag ihm besonders am Herzen: „Was macht die Mannschaft, wenn der Kutter absäuft?“ „Aber Jochen! Auf der Backbord- und der Steuerbordseite sind Lufttanks eingebaut. Wenn der Kutter voll Wasser läuft, so schwimmt er trotzdem. Die Mannschaft muß auch für jeden Kameraden eine Schwimmweste mitführen, außerdem einen Rettungsring und Seezeichen, Kompaß und…“ „Aber was ist nun richtig, ist dies hier auch ein Kutter, oder heißen nur die Fischerboote so?“ fragte Fietje. Horst dachte: Weiß er das wirklich nicht, oder tut er nur so. Und wenn er nur so tut, was bezweckt er damit? Fietje bemerkte, wie Horst überlegte, ob er auf die Frage eingehen oder sie überhören sollte. Und Fietje hoffte, daß Horst keine präzise Antwort geben könne. „Unter den Fischereifahrzeugen gibt es Klassifizierungen: Logger, Trawler und Kutter. Bei der GST heißen die Zehnriemenboote auch Kutter.“ Jochen rieb sich das Ohr. „Das werde ich nie kapieren!“ „Moses bleibt Moses!“ stichelte Hein. Er lehnte am Poller und lachte über Jochens verdutztes Gesicht.
Nun begann auch Jochen Horsts Aufforderung von der spaßigen Seite her zu sehen. Er enterte hinauf. „War’s richtig, Kapitän?“ „Bootssteurer!“ verbesserte Horst. Jochen wollte noch einmal in den Kutter steigen. Fietje hielt ihn unmerklich zurück und nickte in Richtung der Privatkutter, die an der Brücke, die parallel zur Mole verlief, vertäut lagen. Hier lagen auch die Kutter der Produktionsgenossenschaft. Um dorthin zu gelangen, mußte man dicht am Kombinatseingang vorbeigehen. Ein weißroter Schlagbaum versperrte den Eingang. Jetzt herrschte dort Ruhe. Die Arbeiter hatten Feierabend. Fietje und Jochen standen am Schlagbaum. Sie konnten bis zur Fischhalle blicken, über der die Möwen krächzend kreisten. Hella kam noch immer nicht. Dafür hörte Fietje hinter sich seinen Namen rufen. Es war der Vater. Er kam die Promenade entlang und wollte zum Kutter. Er schob eine Karre mit Netzen vor sich her. „Du kannst mir helfen, Fietje. Ich habe fünf Kisten Flundern.“ „Kann ich mitkommen, Herr Berger?“ fragte Jochen. „Nur immer zu. Kräftige Arme sind mir immer willkommen.“ Der Vater war stolz auf Fietje. der ihm so unerwartet Hilfe brachte. Er buchte es als Erfolg seiner eindringlichen Ratschläge. Er kam nicht auf den Gedanken, daß Fietje ganz andere Absichten zum Hafen geführt haben könnten und daß ein Mädchen dahintersteckte. Sie sortierten die Flundern in drei Güteklassen. Als Jochen die erste glitschige Flunder ergriff, flutschte sie ihm wieder aus der Hand.
„Die zappeln ja noch.“ „Mußt sie mit beiden Händen anfassen!“, erklärte der Vater, „oder sie mit einer Hand fest am Kopf anpacken. Wenn du öfter helfen kommst, kannst du viel lernen. Nachher zeige ich dir das Ruderhaus. Später kannst du mal die Maschine anwerfen.“ „Das ist prima! Da komme ich gerne.“ Jochen strahlte. Die Sonne versank hinter den weißgrauen Kreidebergen. Der Wind strich sacht über die See, die nur noch träge rollte. Während der Vater Jochen den Fluidkompaß und dessen kardanische Aufhängung erklärte, lehnte Fietje am Mast und beobachtete, wie Hella das Kombinat verließ. Glücklich, daß sein Warten endlich belohnt wurde, sprang er auf den Steg zurück und hob winkend die Hand. Hella schien es nicht zu sehen. Sie eilte zielstrebig auf die Mole zu, wo Horst mit seinen Kameraden stand. Fietjes Hand fiel herab. Er mußte mit ansehen, wie Horst Hella begrüßte und ihr den Arm um die Taille legte. Ihr frisches Lachen wehte zu ihm herüber. Fietje preßte die Lippen aufeinander. Jochen rief übermütig aus dem Ruderhaus: „He, Bootsmann! Alles klar an Bord?“ Dabei kurbelte er am Ruder. Er war so froh wie seit langem nicht. Fietje hatte es plötzlich sehr eilig. Wie aus der Ferne hörte er die Worte des Vaters… „Der Junge scheint brauchbar zu sein – sehr willig und anhänglich.“ Fietje dachte nur an Hella. Am liebsten wäre er zu ihr gelaufen. Doch den Gedanken verwarf er schnell. Es kam nicht in Frage, daß er einem Mädchen nachlief. Und was er da zwischen ihr und Horst gesehen hatte, stachelte nur seinen Unwillen gegen ihn. Er neigte dazu, Hellas Verhalten zu entschuldigen. Mädchen waren oft sehr komisch.
Hella saß auf der Molenmauer. Horst, Hannes und Hein scherzten mit ihr. Doch sie hatte kein Ohr für die Späße der Jungen. Sie beobachtete, wie Fietje die Hafentreppe hinaufging. „Du hörst ja gar nicht zu, Hella!“, sagte Horst verwundert.
„Wieso? Ach ja, natürlich höre ich zu.“ Horst blickte sich um, aber er entdeckte Fietje und Jochen nicht mehr. Sie waren schon hinter den Sträuchern, die die Treppe einsäumten, verschwunden. Hella fröstelte. Abends war es am Wasser schon kühl. „Soll ich dir meine Jacke geben?“ fragte Horst. „Nicht nötig. Ich gehe jetzt. Es wird Zeit zum Abendessen.“ „Wann sehen wir uns wieder?“ „Ich weiß nicht. – Überlassen wir es dem Zufall.“ „Ich bin nicht für Zufälle, Hella, das weißt du.“ Hella sprang von der Molenmauer. „Dann kann ich dir nicht helfen.“ Sie gab Horst die Hand, winkte Hannes und
Hein zu, die abseits standen. „Kratzbürste – eigensinnige!“ rief ihr Horst nach. Die Eingangshalle des Lehrlingsheimes war vom Fußboden bis zur Decke verglast. An der linken Seite, dicht neben der Tür, standen ein Tisch und ein Stuhl. Hier saß Kalle Bumke und kontrollierte den Ein- und Ausgang der Lehrlinge. Im Heim war es still. Die Jungen waren auf dem Sportplatz. Kalle griff nur dann zum Bleistift, wenn sich ein Junge mit einer Ausgangskarte in die Stadt abmeldete. Es war Freitag. Ausgangstage, waren Mittwoch, Sonnabend und Sonntag. Die Heimwache sorgte außerdem für Ruhe und Ordnung im Heim und führte Besucher zur Heim- und Schulleitung oder in den Klubraum. Kalle spähte den Weg entlang, der in die Stadt führte. Gleich mußte der Gong zum Abendessen ertönen. Und noch immer fehlten die fünf Jungen der Kuttermannschaft. Jetzt wummerte der Gong durch die Flure. „Na endlich!“ seufzte Kalle. Fietje und Jochen tauchten auf dem Weg, der zum Heim führte, auf. Vom Sportplatz lärmten die Jungen heran; ausgelassen ergoß sich der Strom in das Heim. „Ruhe! Ick bitte mir Ruhe aus! Hier is keen Jahrmarkt! Wat soll Papa Antonius denken, wenn ihr so krakeelt. – Nach dem Abendessen alles zur FDJ-Versammlung!“ „Wer hat das angeordnet?“ fragte Ulrich Büttner, ein dunkelblonder, unauffälliger Junge, der ebenfalls zur neugebildeten Kuttermannschaft gehörte. „Unser Berliner Willi, unser FDJ-Sekretär. – Angeordnet? Eingeladen hat er. Und nun geh futtern! Siehst schon so verhungert aus. Hältst den ganzen Verkehr uff…“ Ulrich zuckte mit den Schultern. Bei Kalle Bumke war jede Erwiderung vergeblich.
Kalle wandte sich wieder der Tür zu. Fietje und Jochen kamen gemütlich angeschlendert. „Ah, der Herr Klassenkapitän geruhen zu erscheinen? Und wo sind der Kommandant, Hannes und Hein?“ Fietje überhörte den Spott. Was ihn ärgerte, war das dauernde Unter-Kontrolle-Stehen. Er konnte nicht tun und lassen, was er wollte, und hatte das Gefühl, ständig beobachtet zu werden. Doch er schluckte seinen Ärger hinunter. „Die? Wissen wir nicht.“ Und Jochen plapperte: „Wir haben bei Fietjes Vater auf dem Kutter Flundern sortiert, und nachher hat er mir den Kompaß erklärt. – Und steuern durfte ich auch!“ „Auf ‘nem richtigen Kutter?“ - zweifelte Kalle. „Na, denkste, mein Alter fischt mit ‘nem Paddelboot?“ „Mensch, det is knorke. Kann ick da nich mal mitkomm’?“ „Ich weiß nicht…“, wich Fietje aus. „Du kannst doch mal ein Wort für mich einlegen, Fietje?“ Horst kam mit Hannes und Hein die Treppe herauf. „Wo wart ihr so lange? Es hat schon gegongt!“ Kalle kniff ein Auge zu. „Oder steckt ein Mädchen dahinter?“ „Vielleicht?“ sagte Horst und lachte. Warum sagt er vielleicht? rumorte es in Fietje. Hella braucht er doch nicht zu verleugnen. Ich versalze ihm das. „Ich werde dich mitnehmen, Kalle, aber – bist du dann mein Mann?“ „Na klar!“ beeilte sich Kalle zu versichern. „Und vergeßt die Versammlung nicht!“ * Der Klubraum war bis auf den letzten Platz gefüllt. Fietje, Jochen und Kalle hatten sich nach hinten gesetzt. Willi Kramer machte nicht große Worte. Er sagte sofort; worum es ging. Arbeitseinsatz! Am Sonntag vormittag in der
Paten-LPG des Kombinats. Willi rechnete damit, daß der Klassenkapitän zustimmte. Der Erfolg wäre dann vielleicht schon gesichert. Fietje dachte aber nicht daran. Er fand, er hätte schon in der Schule genug Arbeitseinsätze abgeleistet. Und wenn er es seinem Vater erzählte, schimpfte der bestimmt: „LPG? Bist du von Sinnen? Verdammt – mir hilft auch niemand! Solln allein sehn, wie sie klarkommen – die Kollektivschieter…“ Aber auch die anderen Jungen meldeten sich nicht. Einer wartete auf den anderen. Sie flüsterten sich mit gesenkten Köpfen ihre Meinungen zu. Ein leises Summen schwebte im Raum. Einer hüstelte… „Ob wir nicht doch…“, fragte Jochen zögernd Fietje. „Wat denn? – Wir gehn Sonntag zu Fietjes Ollen, Mensch, det is doch klar!“ zischte Kalle. „Der Kälberstall wird auch ohne uns fertig!“ Horst meldete sich: „Ist doch klar, wir gehn alle!“ Auch Hannes Karsten meldete sich und Hein Thesenvitz. Vielleicht hätte sich auch noch Fietje gemeldet, wenn Horst nicht gesagt hätte: „Wir gehn alle!“ Fietje erhob sich gelassen. „Ich habe Sonntag keine Zeit!“ sagte er laut. „Mußt wieder Flundern sortieren, wie?“ empörte sich Hannes. „Fängt das Kombinat etwa keine Flundern?“ erregte sich Jochen. „Ich habe auch keine Zeit!“ sagte Kalle und zwinkerte Hannes herausfordernd an. „Muß Fietje Gesellschaft leisten.“ „Und Jochen? Der fehlt euch wohl noch zum Skatkloppen, ihr…“ Hannes schlug mit der Faust auf den Tisch. „Und so was ist nun Klassenkapitän!“
Jochen dachte an Fietjes Vater, der so freundlich zu ihm war und der Sonntag auf ihn warten würde. Und jetzt wurde Fietje dafür kritisiert. Jochen fand das ungerecht. Für ihn war Fietje der erste richtige Freund, und er wollte ihn nicht alleinlassen. Und er stand auf und erzählte, was sie sich für den Sonntag vorgenommen hatten. „Alles schön und gut“, sagte Kramer, „was du uns da erzählst, Jochen, doch das kannst du im Kombinat auch haben.“ „Wenn der erst einmal durch einen SechsundzwanzigMeter-Kutter gelatscht ist“, sagte Hannes abfällig, „spuckt er auf die vergammelte Sprottenkiste vom alten Berger!“ „Du solltest dich schämen, Hannes“, unterbrach Horst dessen Redestrom, „so werden wir gar nichts erreichen.“ „Was verstehst du von der Fischerei?“ verteidigte sich Hannes. „Nichts verstehst du. Redest daher, als wolltest du diese Drückeberger reinwaschen. Verdammt, dreinschlagen sollte man.“ „Deine Muskeln kannst du morgen zeigen, hier sind sie nicht nötig, Hannes“, sagte Willi Kramer. „Horst hat recht.“ Kalle sprang auf: „Wenn der lange Lulatsch so ‘ne Kraft hat, soll er sich morgen für uns mit austoben!“ „Überlegen wir in Ruhe“, schlug Horst vor, „vielleicht finden wir einen Weg.“ „Ein Grund ist das nicht, dem Einsatz fernzubleiben“, sagte Kramer, „in drei Wochen kommt ihr sowieso an Bord, alles lernt ihr da kennen.“ Die anderen Jungen nickten Kramer erfreut zu. Es gab keinen unter ihnen, der diesen Tag nicht herbeisehnte. Doch Jochen konnte nicht an sich halten: „Und wie soll Fietjes Vater die Arbeit allein schaffen? Das müßt ihr auch bedenken.“
„Soll er in die Genossenschaft eintreten!“ forderte Hannes. „Mein Vater wollte zuerst auch nicht, und jetzt ärgert er sich, daß er so lange gewartet hat. Dein Alter ist stur, Fietje…“ „Dafür kann Fietje nichts!“ korrigierte Willi. „In der sozialistischen Gesellschaft gibt es keine Sippenhaftung wie bei den Faschisten. Wir müssen Geduld haben…“ „Schöne Zustände!“ entgegnete Hein. „Klassenkapitän – und der Vater tuckert mit ‘ner Nußschale, rum!“ Fietje war weiß im Gesicht. Die Nasenflügel bebten. Wenn so die Leute von der Genossenschaft über seinen Vater sprachen, dann würde auch er, Fietje, nie Mitglied werden. „Wir sollten ihnen Zeit geben. Sollen sie es sich bis Sonntag überlegen“, schlug Willi vor. „Richtig!“ - riefen einige Jungen. Sie waren mit der harten Diskussion nicht einverstanden. „Wir sollten Fietje deswegen nicht gleich als Klassenkapitän ablösen. Das wäre ganz falsch!“ sagte Horst Wagner. „Das wollen wir auch gar nicht“, bestätigte Willi, „Fietje bleibt Klassenkapitän!“ In Fietje wallte es warm auf. Dieser Horst! dachte er. Doch als er ihm ins Gesicht sah, dachte er wieder an Hella. Und schon gefror in ihm alle Freude und die keimende Sympathie. Wochenende. Um 14.00 Uhr hallte der blecherne Ruf: „Achtung – Achtung! Kuttermannschaft Wagner zur praktischen Ausbildung vor dem Heim antreten!“ aus dem Lautsprecher. „Hachje! Das sind ja wir. Nun wird’s ernst!“ stellte Jochen fest. „Beeil dich, Fietje!“ Fietje hatte Zeit. Das Getrappel auf dem Flur störte ihn nicht.
„Nun mach schon!“ drängte Jochen. „Wenn du es noch nicht wissen solltest, der Moses muß an Bord der Schnellste sein.“ Jochen zuckte mit den Schultern und lief hinaus. Die Kameraden standen zu zwei Gliedern vor dem Heim angetreten. Am rechten Flügel stand Horst. Jochen wollte auf ihn zugehen und sich entschuldigen. Horst schnitt ihm das Wort ab: „Tritt ein! Das nächste Mal kommst du pünktlich.“ Endlich erschien auch Fietje auf der Treppe. „Stell dich hinter Jochen“, sagte Horst Wagner betont ruhig. Fietje wäre es lieber gewesen, wenn Horst sich erregt hätte. Er hatte sich schon auf einen Wortwechsel vorbereitet. Horst gab das Kommando zum Abmarsch. „Der Kindergarten macht einen Ausflug!“ ulkte einer der Lehrlinge vom Fenster. „Döskopp!“ stellte Hein Thesenvitz sachlich fest…. „Singen wir ein Lied, dann hören wir das Gequassel nicht!“ schlug Horst vor. Zuerst noch leise, zögernd, dann immer kräftiger schmetterten junge Kehlen das Lied von der Thälmann-Kolonne in den sonnigen Herbsttag. Der Gesang schallte hinauf zu den Fenstern des Heimes, wurde vom Wind erfaßt und verlor sich zwischen den sonnendurchfluteten Buchen. IV Der Morgen war diesig. Von den Buchen tröpfelte Tau. Die Jungen, die vor dem Heim antraten, mieden das feuchte Gras. Einige fluchten auf das miese Wetter. Hannes beruhigte sie: „Alles halb so schlimm, wie es aussieht, in ein oder zwei
Stunden bricht die Sonne durch. Schlimmer ist, daß die drei Tampenkacker uns an der Nase herumführen!“ Willi Kramer ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken. Er meldete das Fehlen der drei Jungen dem Heimleiter Hartmann. Fred Helge, der Erzieher vom Dienst, ging noch einmal durch die Zimmer im ersten Stock. Sie waren leer. In seiner einjährigen Tätigkeit als Erzieher war es ihm noch nicht vorgekommen, daß sich drei Lehrlinge so disziplinlos verhielten. Als Hartmann Helges ratloses Gesicht sah, wußte er genug. Er ging zu dem LKW-Fahrer und hieß ihn dreimal hupen. Hartmann versprach sich nicht viel davon; und doch glaubte er an die Möglichkeit, daß die drei Übeltäter eventuell im Park herumstrichen und nur auf das Abfahrtssignal warteten, um sich dann mit schuldloser Miene zurückzumelden. Das laute Hupen schreckte eine Schar Nebelkrähen auf, die krächzend davonflatterten. „Abfahren!“ rief Hannes. „Sie kommen doch nicht mehr.“ „Na na“, beschwichtigte der Heimleiter, „man darf nicht immer das Schlimmste annehmen.“ Doch seiner Stimme merkte man an, daß er seinen eigenen Worten nicht traute. Hannes konnte sich nicht mehr bezähmen: „Ihr seid selbst schuld daran… Immer nur Geduld haben… Jetzt haben wir den Salat… Und die Brüder lachen sich eins ins Fäustchen…“ Er knurrte in sich hinein. Auch andere begannen zu murren, daß eben nur sie .so dämlich seien und zum Einsatz führen, Fietje sei da schlauer… Horst hörte sich das Gerede einen Augenblick mit an, dann widersprach er, doch die Jungen wollten nichts hören, von wegen Erziehen und so. Für sie war allein die Tatsache aus-
schlaggebend, daß die Übeltäter fehlten. . Der Heimleiter sagte: „Streitet euch nicht! Wir werden das morgen klären.“‘ Er wandte sich an Willi Kramer. „Eine Aufgabe für die FDJ. Aller Anfang ist eben schwer.“ Er ging zum Fahrer. „Brummen wir ab.“ Von diesen Vorgängen hatten Fietje, Jochen und Kalle nichts gemerkt. Sie hatten gleich nach dem Frühstück durch den rückwärtigen Ausgang einzeln das Heim verlassen. Den Nebel begrüßten sie wie einen Verbündeten. Sie rieben sich zufrieden die Hände, stießen sich vor Freude gegenseitig die Fäuste auf die Brust und jagten ausgelassen der Stadt und dem Hafen zu. Der Hafen war wie eine riesige Waschküche, es dampfte und brodelte. Dumpf und monoton heulte das Nebelhorn. Jochen bekam Gewissensbisse. Dann standen sie vor dem Kutter, und alle Bedenken waren hinweggeschwemmt. Kalles sorglose Ausgelassenheit ergriff auch Jochen, wie einen guten Freund begrüßte er Herrn Berger. Und nun gab es nichts mehr, was Jochen an das Heim erinnerte. Berger verbarg seine freudige Verwunderung über das frühe Erscheinen der Jungen nicht. Es war erst acht Uhr. Doch als sie sich gegenseitig im Erzählen ergänzten, wie sie der Heimleitung ein Schnippchen geschlagen hatten, kühlte der Vater merklich ab. Jochen und Kalle verschwanden im Ruderhaus. Borger zog Fietje ein paar Meter vom Kutter fort. „Was hat das alles zu bedeuten?“ - fragte er scharf. „Hast du dir überlegt, was daraus werden kann? Alle unsere Pläne können durch dein Verhalten zunichte gemacht werden! Wenn die Schnüffler dahinterkommen – was dann?“ Der Vater setzte die Mütze ab und fuhr sich mit der Hand durch das Haar.
„Hast du nicht selbst gesagt, daß du Hilfe brauchst?“ Fietje war dem Vater ernstlich böse. Anstatt sich zu freuen, machte er ihm Vorwürfe. „Heute hältst du zwei Lehrlinge vom sogenannten Arbeitseinsatz ab… Man wird sagen, du sabotierst den Aufbau.“ Der Vater trat dicht an den Jungen heran. Sein Atem roch nach Tabak. „Bist du der beiden sicher? Werden sie nicht sagen, du hättest sie überredet?“ Zum erstenmal verspürte Fietje Unwillen gegen dieses Cuxhaven, gegen den Onkel. Aber der Vater ließ ihm keine Zeit. „Antworte! – Sage mir. wie du dich bei den Jungen durchzusetzen gedenkst!“ Fietje wich des Vaters starren Augen aus… Er kam sich allein und verlassen vor. „Mit Jochen und Kalle geht alles klar, auch mit einigen anderen – nur mit Horst Wagner nicht, dem Bootssteurer…“ „Und warum nicht?“ „Der beherrscht den technischen Kram genausogut wie ich. Und politisch steht er ganz vorne. Den solltest du mal reden hören. Du darfst mich nicht so drängeln, Vadding…“ „Du bist doch Klassenkapitän – du hast doch die Kommandogewalt!“ „In der Klasse! – Im Kutter ist Wagner Kapitän…“ „Komische Einteilung! – Echt russische Manieren!“ brabbelte Berger. Langsam gingen sie zurück. Fietje wollte allein sein. Ein leichter Wind kam auf: Der graue Schleier zerriß. Die Sicht wurde klar. Fietje knöpfte sich den Kulani auf und setzte sich auf die Barriere, die den Hafen von der Straße trennte. Er ließ die Beine baumeln, hob den Kopf – und
schaute in zwei braune Augen, die ihn glücklich anstrahlten. „Hella – Sie?!“ stammelte er. Hella hielt eine Weidengerte in der Hand und klopfte damit auf die Holzverstrebung der Barriere. Fietje strengte sich vergeblich an, aus den Klopfintervallen einen Sinn herauszuhören. Hella morste nicht. Doch sie freute sich aufrichtig, daß sie den Jungen getroffen hatte, der sie noch immer überrascht und fragend anstarrte. „Schöner Herbsttag“, sagte Fietje endlich, und sprang auf das Pflaster. „Viel Arbeit heute.“ „Hm, da komme ich Ihnen wohl ungelegen?“ „Natürlich! Ich kann kleine Mädchen nicht leiden . ,“ „Und ich Jungen schon gar nicht, die nur immer von einer schwarzen Lola träumen und an die komische Hölle denken.“ Aus halbgeschlossenen Lidern musterte Fietje Hella. Sie sah mit ihrer kecken Stupsnase und den zwei Grübchen, dem weißen Wollsweater und der langen dunklen Hose recht unternehmungslustig aus. Doch dann fiel ihm ein, daß sie auf Horst warten könnte. „Ihr Freund hat Sie wohl versetzt, wie?“ „Das bin ich von ihm gewöhnt“, sagte Hella gelassen und lächelte schalkhaft. Fietje war verstimmt. Überall kreuzte der Bursche auf. Ihm kam es nicht in den Sinn, daß Horst in der LPG war. „Vielleicht ist Horst zum Arbeitseinsatz“, sagte sie langsam und bog die Gerte halbkreisförmig. „Hat er Ihnen davon erzählt?“ „Und wenn…?“ entgegnete Hella gespannt. „Dann kennen Sie ihn wohl schon lange?“ „Sehr lange. Und wir verstehen uns prima…“ „Das habe ich gesehen…“
„Und warum sind Sie nicht zur Mole gekommen?“ „Ach, ich dachte, Horst genüge Ihnen…“ Da wußte Hella, was Fietje bewegte: Er war eifersüchtig! Und sie mußte sich beherrschen, um nicht lauthals zu lachen. Aber ein vergnügtes Zucken der Lippen konnte sie nicht verbergen. Fietje sah das – und wie hatte er sich auf das Wiedersehen gefreut. Er hatte sich immer wieder dabei ertappt, wie er alle Schuld nur Horst zugestand; jetzt machte sie sich über ihn, Fietje, lustig. Auch Hella hatte all die Zeit an Fietje gedacht. Wenn sie vor dem Mikrophon saß und die Wettermeldungen an die Kutter der Kombinatsflotte durchgab, wünschte sie sich, Fietje könnte ihre Stimme hören. „Warum sagen Sie nichts mehr, Fietje? Sie…“ „Ich hätte die Kameraden nicht im Stich lassen sollen, wollten Sie doch sagen…“ „Es wäre nützlicher, als untätig im Hafen zu sitzen!“ „Untätig? – Ich helfe meinem Vater, falls es Sie interessieren sollte…“ Er dachte wütend: Jetzt’ kommen schon die kleinen Mädchen und kritisieren mich. „He – Fietje!“ rief Kalle. „Schlag keine Wurzeln…“ Hella bog die Gerte. „Ich muß gehn, tschüß denn.“ „Auf Wiedersehn“, sagte Fietje. „Wer war’n das?“ fragte Kalle interessiert. „Die?“ wich Fietje aus. „Die kenne ich schon lange.“ Er ärgerte sich, daß er sich nicht mit Hella verabredet hatte. Dumm hatte er sich benommen. Hella bewohnte im „Haus am Meer“ ein kleines gemütliches Zimmer. Das Hotel stand dicht an der Promenade. Bei klarer Sicht konnte sie die Greifswalder Oie erkennen, nachts blinkten die Lichter des Leuchtturms herüber. Vor
dem Hotel rauschte Tag und Nacht die See. Am liebsten saß Hella an der Promenade auf einem der großen Findlinge und beobachtete, wie die Wellen gegen die Steine anstürmten. Stundenlang konnte sie so hocken und den Gedanken freien Lauf lassen. Auch jetzt saß sie hier und dachte an Fietje. Sie hatte sich fest vorgenommen, mit Horst über ihn zu sprechen. Etwas bange war ihr dabei. Sie wußte nicht, wie sie beginnen sollte und wie Horst das auffaßte. Horst kam erst spät am Abend. Die ersten Lichter flammten auf. Am Horizont stieg der Mond empor. Hella hatte sich bei Horst eingehängt. Sie schritten die Promenade entlang und bogen in den schmalen Pfad ein, der hinauf in die Stubnitz führt. Sie hielten sich dicht am Hochufer. Oft blieb Hella stehen und blickte hinaus auf’s Meer, das silbern im Mondlicht schimmerte. In solchen Augenblicken konnte sie froh sein wie ein Kind. Doch Horst schien heute etwas zu bedrücken. Hella wartete auf ein Wort von ihm, das ihr eine Brücke bauen sollte zu dem, was sie ihm anvertrauen wollte, doch schließlich machte sie den Anfang. „Wie war euer Arbeitseinsatz heute?“ Horsts letzter Pfeifton verlor sich zwischen den Erlensträuchern. „Gut.“ „Und was bedrückt dich?“ „Weißt du, was ein Schietbüdel ist?“ „Noch nie gehört.“ „Dann sieh mich nur gut an…“ „Dich? – Und was soll das?“ „Daß ich ein Scheißkerl bin – ein Schietbüdel, so sagen sie hier auf Plattdeutsch.“ „Du spinnst ja. Niemand kann das sagen, Horst! Ist das
wahr? Wer sagt es – und warum?“ „Laß das man, sprechen wir von dir. Ich merke es doch, du hast etwas auf dem Herzen. Runter damit!“ So war er. Von sich und seinen Sorgen sprach er nicht gern, er wollte Hellas Unbeschwertheit nicht trüben. Doch Hella bestand darauf, Horst sollte ihr alles sagen. „Ich habe mich für einen Jungen eingesetzt, weil ich an ihn geglaubt habe – nun hat er mich bitter enttäuscht… Nicht nur das, er hat es fertiggebracht, zwei andere Jungen mit vom Arbeitseinsatz abzuhalten…“ Nur gut, daß es dunkel war. So konnte Horst ihr glühendes Gesicht nicht sehen. Plötzlich stieß sie hervor: „Aber Fietje ist doch nicht schlecht?!“ Sie hielt Horst am Arm fest. Sie merkte gar nicht, daß sie Fietje zu verteidigen begann. „Du kennst ihn?“ „Natürlich!“ antwortete Hella, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. „Dann weißt du auch, wie schwierig er ist.“ „So genau kenne ich ihn nun wieder nicht…“ Sie stockte, sprach dann ruhig weiter: „Ich kann aber nicht glauben, daß er euch absichtlich im Stich gelassen hat… Warum sollte er es getan haben, Horst, warum?“ Fast flüsterte sie, um Horst nicht wehzutun: „Du bist manchmal so stur… Nicht alle Jungen verstehn dich…“ „Und nicht alle Mädchen sind hoffnungslos verliebt…“ „Horst!“ rief Hella empört. Sie drehte sich kurz um und ging langsam zurück. Horst schalt sich einen Esel. Mit ein paar schnellen Schritten hatte er sie eingeholt. „Verzeih mir, bitte!“ „Schon gut… Du solltest helfen.“
Helfen? Das war das richtige Wort. Es brachte ihn auf eine Idee. „Wir werden uns gemeinsam um Fietje kümmern, Hella, willst du?“ V Sie saßen auf dem Molensteg und spannen Seemannsgarn. Da fuhr wie aus dem Nichts eine Faust herab und griff Jochens Genick. „Du Faulpelz!“ donnerte ein hohler Baß, der aus den Wolken zu kommen schien. „Schämst du dich nicht?“ Jochen wollte aufbrüllen vor Schmerz, doch seine Lippen waren wie zugenäht; die Faust drehte ihn wie einen Kreissel… Dann starrte Jochen entsetzt in ein zorniges Gesicht mit einer feuerroten Narbe… „Fietje! – Kalle!“ wollte Jochen rufen. „Helft mir doch!“ Aber die rannten, so schnell sie konnten. „Du bist immer verlassen, wenn du dich vom Kollektiv absonderst . ,“, hörte Jochen wieder die Stimme. Er hatte das Gefühl, als schwebe er im luftleeren Raum… Plötzlich öffnete sich die Faust; er stürzte in die brausende Tiefe… „Nein!“ schrie er. Auf dem Flur schrillte die Klingel. „Mensch, Moses, mach nicht so’n Geschrei gleich am frühen Morgen“, sagte Fietje. Er stand nur mit einer Badehose bekleidet vor Jochens Bett. Jochen war blaß. Seine Augen waren starr auf Fietje gerichtet. „Der Heimleiter…“ „Was ist mit ihm? Flatterst wie ein Zitteraal…“ „Der macht uns fertig!“ sagte Jochen noch immer bebend. „Da kommt was nach… Ich tu das nie wieder! Nie!“ Fietje lachte verächtlich, nahm Handtuch und Seife und
ging hinaus. Im Waschraum traf er Hannes und Kalle. „Alle Dorschköppe sortiert?“ stichelte Hannes. „Nee!“ antwortete Kalle schlagfertig. „Wir haben Fliegendreck in die Klüttfabrik gekarrt!“ „Halt dein Koddermaul…“ „Dann frag doch nicht so dußlig…“, schimpfte Fietje. „Daß ihr euch immer streiten müßt!“ versuchte Horst, der eben in den Waschraum gekommen war, zu vermitteln. „Wir sollten uns lieber aussprechen und allen Kram vergessen…“ „Vergessen?“ Fietje rieb sich die Ohren. „Ich habe mich wohl verhört, he?“ „Erst große Fresse und jetzt Versöhnung. Das könnte euch so passen!“ höhnte Kalle und folgte schnell Fietje, der schon hinausgegangen war. Das Stück Seife, welches Hannes ihm nachwarf, knallte gegen die Tür. Der Vormittag verging Fietje unendlich langsam. Immer, wenn es Pause bimmelte, rechnete er damit, daß der Lehrer sagen würde: „Fietje Berger! Sie und Ihre zwei Freunde bitte zum Heimleiter!“ Von Stunde zu Stunde steigerte sich die Spannung. Nach der dritten Stunde lief er Herrn Hartmann direkt in die Arme. Fietje war verwirrt, er konnte gerade noch „Guten Morgen“ stammeln. Hartmann erwiderte wie immer freundlich den Gruß und rief dann Horst Wagner zu sich. „Jetzt stehen wir zur Diskussion!“ Kalle deutete auf Hartmann und Horst. Fietje steckte die Hände in die Taschen. „Abwarten!“ Es fiel ihm schwer, seine Erregung zu verbergen. Dieses Warten zermürbte ihn. Jochen, der von einem Bein aufs andere trat, steigerte Fietjes Nervosität. „Steh endlich still. Hopst wie ein Hampelmann…“ Um das Maß seiner Erregung vollzumachen, kam Willi
Kramer jetzt quer über den Platz genau auf sie zu. Er gab den dreien die Hand und erkundigte sich, ob der gestrige Tag ganz nach ihren Wünschen verlaufen sei. „Und ob!“ erwiderte Fietje. „Bei uns hat die Arbeit von drei Freunden gefehlt, sonst wären wir mit dem Stall fertig geworden. Doch deswegen komme ich nicht… Ich wollte dich fragen, Fietje, ob du bereit bist, eine Gruppe im Knoten und Spleißen zu übernehmen?“ Fietje nahm die Hände aus den Taschen. Wieder eine neue Situation. Wann endlich kam das Gewitter? Er wurde mißtrauisch. Warum ging Kramer nicht zu Horst? „Wagner bringt das bestimmt besser.“ „Du willst nicht?“ „Was habt ihr über uns drei beschlossen?“ „Hältst du das im Moment für wichtiger als die Weiterbildung der Jugendfreunde?“ „Es ist wegen der Ruhe!“ warf Kalle ein. „Es schläft sich besser“, fügte Jochen hinzu. „Das ist Sache der Heimleitung!“ antwortete Willi. „Und die FDJ? Sind wir keine FDJler?“ fragte Fietje, dem die Sache immer verworrener wurde. „Es hat geklingelt! – Also, was ist?“ „Na gut, wenn kein anderer da ist!“ sagte Fietje und lief schnell hinter Jochen und Kalle her. Die haben etwas Besonderes vor, grübelte Fietje, etwas ganz Besonderes! * Es sollte über das Verhalten von Fietje, Jochen und Kalle entschieden werden. Am Klubtisch saß der junge FDJSekretär neben dem ergrauten Parteisekretär, dem Hausmeister; der einundzwangzigjährige Heimerzieher Helge neben
dem berufserfahrenen Klassenlehrer. Sie alle hörten aufmerksam zu, als Hartmann ein Bild von Fietjes Elternhaus entwarf. Er hatte noch am gleichen Tage mit dem Kapitän Krischan Brinkmann gesprochen, der Fietjes Vater seit Jahren sehr gut kannte. „Wir schicken Fietje während der Bordzeit zum Genossen Brinkmann“, schlug Hartmann vor. „Der ist energisch und umsichtig. Von den ehemaligen Lehrlingen, die er ausgebildet hat, sind viele selbst schon Kapitäne und Steuerleute und mehrfache Aktivisten.“ „Tscha“, sagte der Parteisekretär, „beim Krischan ist er in den richtigen Händen. Und die beiden anderen gleich dazu.“ „Und um den Arbeitseinsatz kommen sie so einfach herum? Da werden sie sich noch freuen…“, warf Fred Helge mißmutig ein; er konnte es nicht verwinden, daß gerade bei ihm die Jungen heimlich das Heim verlassen hatten. „Man sollte ihnen einen Denkzettel geben.“ Hartmann widersprach. „Keinen Denkzettel. Warum immer gleich eine Strafe? Er war freiwillig, der Arbeitseinsatz.“ Der Klassenlehrer meinte: „Nicht beachten, darüber hinweggehen, das trifft sie schwerer. Fietje ist ein schwieriger Charakter, eigensinnig und unüberlegt…“ „Was ist mit Jochen und Kalle?“ fiel Helge ihm ins Wort. „Sind die auch eigensinnig und unüberlegt?“ „Ich habe einen Brief vom FDJ-Sekretär der Oberschule erhalten“‘, antwortete Kramer. „Er schreibt, daß Jochen freundschaftliche Hilfe braucht, da er sehr feinfühlend und empfindlich ist. An der Oberschule hatte er keinen Freund. – Hier hat er sich nun Fietje angeschlossen. Nur aus Freundschaft hat er für Fietje Partei ergriffen. Sicher war auch der
alte Berger besonders freundlich zu ihm. So etwas hat Jochen all die Jahre vermißt. Aber wir sollten ihm diese Wärme geben. Und Kalle, na ja, der ist nur abenteuerlustig…“ „Vergessen wir nicht“, fügte Hartmann hinzu, „wir sind alle keine Engel…“ „Ja“, sagte der Parteisekretär, und seine Augen funkelten lustig, als er zu Fred Helge sagte: „Wir wollen doch die Lehrlinge nicht zu eingeschüchterten Opas ausbilden, oder? Nicht immer gleich mit dem Finger drohen, das macht dickköpfig.“ „Ich denke, wir machen das so“, sagte Kramer. „Ich spreche noch mit dem FDJ-Organisator Falke. Er fährt als Steuermann beim Kapitän Brinkmann. Der macht alles mit Humor. Das solltest du auch tun!“ Er wandte sich an Fred Helge. „Übrigens hat sich Fietje bereit erklärt, den schwachen Lehrlingen zu helfen. Aber – zwischen Wagner und Fietje scheint etwas nicht zu stimmen…“, fuhr Kramer fort. „Steckt ihn doch zu den dreien!“ „Wer sich nicht vertragen will, muß es eben lernen!“ stimmte der Parteisekretär zu. „Der Kutter ist eng, da kann einer dem anderen nicht weglaufen.“ „Also – abgemacht“, sagte Hartmann. Fietje stand in der Klause hinter dem Lehrertisch. Vor ihm saßen die Kameraden der Mannschaft und die Jungen, die am Zirkel teilnahmen. Jeder hatte zwei kurze Tampen vor sich liegen. Fietje nahm den Zeigestock und deutete auf zwei Jungen. „Herkommen! Aber ‘n bißchen fix… Ihr seid doch keine Schildkröten! – Du hältst den Stock, und du bringst einen Slippstek an… Ruckzuck muß das gehen!“ War ihm die „Lehrtätigkeit“ anfänglich ungewohnt, so fand
er sich nach und nach immer besser hinein. Er sprach mit einer Sicherheit, als stünde er schon seit Jahren vor einer Klasse. Alles, was ihn bedrückte, hatte er vergessen. Er war Kramer dankbar, daß er ihn mit dieser Aufgabe betraut hatte. Horst saß zwischen den Kameraden und wartete darauf, daß Fietje ihm einmal eine Aufgabe übertrug. Zweimal hatte er sich schon gemeldet, doch Fietje hatte ihn übersehen. Melde dich nur, dachte Fietje, ich laß dich zappeln. Doch Horst meldete sich nicht mehr. Am Schluß der Stunde sagte er: „Wir wollen Sonnabend, wenn schönes Wetter ist, nach Binz segeln. Die letzte Fahrt in diesem Jahr…“ „Nach Binz?“ schallte es Horst im Chor entgegen. Ein freudiges Durcheinander herrschte. Allmählich unterschieden sich die Stimmen; zweifelnde mischten sich ein. „Vielleicht ist Sonnabend Arbeitseinsatz?“ Die Kameraden hatten Fietje vergessen. Jetzt stand Horst im Mittelpunkt. Er versuchte die Zweifel zu zerstreuen: „Uns kann nur das Wetter die Fahrt vermasseln, sonst niemand. Sonnabend ist kein Einsatz.“ „Was verstehst du unter Wetter?“ fragte Fietje, der eine Chance witterte. „Nebel, Wind, was weiß ich; vielleicht gibt es auch Regen – oder Flaute. Man kann das vorher nicht wissen.“‘ „Nebel? Lächerlich! Wozu haben wir einen Kompaß?“ Fietje hatte bewußt ruhig die Frage gestellt, doch im Ton lag etwas Herausforderndes, das Horst absichtlich überhörte. „Warten wir ab“‘, sagte er. „Ich bin kein Wetterprophet.“ „Aber wir fahren, wirst ja sehen!“ behauptete Kalle. „Egal, was Petrus fabriziert. Erst machst du uns den Mund wäßrig und jetzt kneifen! Denkste.“ „Wer will kneifen?“ „Du!“ sagte Fietje. „Du hast Angst vor ‘ner lütten Sup-
pe…“ „Kneifen gibt’s nicht!“ riefen die Kameraden und umringten Horst. Die Pausenglocke bimmelte. Abendessen! Die Jungen liefen hinaus. Horst blieb mit Fietje allein zurück. Er ging langsam auf ihn zu. Fietjes Haltung drückte kampfbereite Abwehr aus. Horst stand, die Arme auf dem Rücken verschränkt, vor Fietje. Der hatte Falten auf der Stirn und schmale zusammengekniffene Augen. Ein falsches Wort, dachte Horst, und es gibt eine Keilerei. Wenn der mich reizt, dachte Fietje, kriegt er eins in die Fresse. Horst trat einen Schritt zurück. „Ich möchte mit dir sprechen, Fietje.“ „Was willst du?“ „Statt uns in den Haaren zu liegen, sollten wir Freunde werden. Ich bitte dich darum.“ Das verblüffte Fietje. Er hörte auf zu wippen. „Freunde? – Wir? – Mit dir werde ich mich nie vertragen!“ „Wir sollten es versuchen…“ „Verlorene Müh. Da wird nichts draus…“ „Vielleicht sagst du mir den Grund, Fietje.“ Der wippte wieder. Er fühlte sich überlegen. „Wozu noch Worte? – Es ist alles zwecklos…“ „Das bildest du dir nur ein. Sag mir, was du gegen mich hast.“ Ach so ist das, dachte Fietje. Und schon sprudelte es aus ihm heraus, als habe er nur auf diesen Moment gewartet. „Du spinnst mir zuviel politisch. Bei uns ist alles Gold – drüben in Cuxhaven alles Mist! Und jedes zweite Wort: Disziplin! Kameraden… Das möchtest du wohl gern, daß ich
vor dir Schietbüdel die Mütze lüfte…“ Fietje suchte nach Worten. Horst fragte: „Kann ich antworten?“ „Ich bin längst noch nicht fertig. – Dann die Genossenschaft! Fischt mein Alter nicht auch für… für…“ „Für das Volk…“, half Horst aus. „Und was tust du? Im Unterricht, bei der Ausbildung palaverst du für die Genossenschaft. Kann ich was dafür, daß mein Alter stur ist?“ „Du könntest mit ihm sprechen!“ „Und du kennst meinen Alten nicht.“ „Und ich habe zu dir und den anderen noch nie gesagt, daß in Cuxhaven alles Mist ist…“ Cuxhaven? Wie kam der auf Cuxhaven? rätselte Fietje. Er sprühte Horst an. „Wer hat das behauptet?“ Horst verstand nicht, warum Fietje sich so aufregte. Bisher hatte er sich alles geduldig mit angehört. Einiges stimmte. Doch zum Lügner ließ er sich nicht stempeln. „Du hast es vorhin behauptet!“ entgegnete er scharf. Doch gleich hatte er sich wieder gefangen. Ruhig sprach er weiter: „Du solltest mir glauben…“ „Dein Gefasel stinkt mir“, unterbrach ihn Fietje grob. Er schob Horst entschlossen zur Seite. „Wenn ich draußen bin, quassele weiter, Schietbüdel…“ Als er an der Tür stand, rief er zurück: „Und die Hella, die schlag dir aus dem Kopf!“ Horst war Fietje gefolgt. Der knallte ihm die Tür vor der Nase zu. „Fietje! – So hör doch! Hella ist…“, schrie er. Fietje rannte den langen Flur der Berufsschule entlang und hörte nicht. Horst stand noch immer in der offenen Klassentür, als das große Eingangstor hinter Fietje zuschlug. Mit hängende! Schultern ging er den Flur entlang. Er öffnete ein Fenster.
Lange stand er so und blickte in die heraufziehende Dämmerung. Der kühle Abendwind blies ihm über das erregte Gesicht. Er wußte keinen Rat mehr. Ist Hella wirklich der einzige Grund, daß Fietje sich so sperrt? grübelte er. Die letzte Staatsbürgerkundestunde stand wieder vor seinen Augen. Da hatte er zum Lehrer gesagt: „Soll uns Fietje doch erklären, warum sein Vater nicht Mitglied der Genossenschaft ist.“ Dem Lehrer schien die Frage nicht recht. Doch Fietje hatte sofort losgesprudelt: „Soll ich meinen Vater in die Genossenschaft stoßen? Ihn zwingen? Das kann der Wagner tun! Ich achte meine Eltern. Was Vadding tut – dafür bin ich nicht verantwortlich!“ Seine Augen hatten Horst böse angefunkelt. Jetzt versuchte Horst zu ergründen, ob er sich falsch verhalten hatte. Der Wind riß Blätter von der Weißdornhecke und trieb sie bis zu Horst hinauf. Im Speisesaal schimpften indes die Küchenfrauen über die Unpünktlichkeit einiger Lehrlinge, zu denen heute auch Horst gehörte. Er hatte sich eben an den Tisch gesetzt, da kam auch schon Fred Helge auf ihn zu. „Von Ihnen hätte ich das nicht erwartet. Sie sprechen sehr viel von bewußter Disziplin, und selbst?“ „Es wird nicht wieder vorkommen“, entschuldigte sich Horst. „Sie sollten Vorbild sein, Wagner. Das nächste Mal gibt es Heimwache außer der Reihe!“ Horst goß Tee in die Tasse. Er hatte keinen Hunger mehr. Im Zimmer wurde er von Hannes ungeduldig erwartet. „Wo hast du gesteckt? Im ganzen Heim habe ich dich gesucht!“ Horst breitete die Decke aus und warf sich aufs Bett.
„Dich interessiert wohl gar nicht, was los ist, he?“ „Sprich schon“, sagte Horst gleichgültig. „Heute meckert aber auch jeder mit mir.“ „Meckern? Ist das Meckern, wenn ich dir sage, daß Fietje hinter Hella her ist? Sie hat auf dich gewartet. Er ist einfach mit ihr in den Park!“ Horst richtete sich auf. „Soll ich Hella anbinden? Sie weiß selbst, was sie darf und was nicht.“ Hannes staunte mit offenem Mund. „Pottdüwel und Klabautermann, hat der Fietje einen Dusel!“ Er konnte sich nicht erklären, warum Horst plötzlich lächelte. VI „Seit wann sind Sie so stürmisch, Fietje?“ fragte Hella. „Seit zehn Minuten!“ „Können Sie mir den Grund sagen, oder ist es ein Geheimnis?“ „Mädchen verstehen nichts von Männersachen.“ „Sie hatten Streit mit Horst?“ fragte sie unbeirrt weiter. „Man kann es Ihnen von der Stirn ablesen.“ Fietje war, als er von Horst weglief, sofort in den Speisesaal gerannt. Hastig hatte er das Abendbrot hinuntergewürgt. Er wollte in den Park, wollte allein sein. Auf der Außentreppe begegnete er dem Mädchen. „Oh!“ sagte er erfreut. Aber sie kommt ja gar nicht zu mir, dachte er. „Ein Gesicht machen Sie – erst Sonne und dann Regen.“ „Soll ich Horst holen?“ entgegnete Fietje herausfordernd. „Schließlich sind Sie ja nicht gekommen, um sich mit mir zu unterhalten.“ „Vielleicht doch?“ Hella ließ die Zähne blitzen.
„Guten Abend, Hella“, sagte Hannes, der eben auf der Treppe erschien. „Ich werde Horst gleich Bescheid sagen, daß Sie hier sind.“ Der schmeckt mir mit seiner dämlichen Quasselei, dachte Fietje. „Lassen Sie nur. Fietje wird mich schon unterhalten. – nicht wahr, Fietje?“ „Natürlich.“ Fietje wurde mulmig. Er nahm Hellas Arm Und sagte: „Gehn wir in den Park!“ Es klang wie ein Befehl. „Warum hatten Sie mit Horst Streit?“ „Er will immer alles besser wissen. Und, na ja…“ Sie standen am Hünengrab. Ein riesiger Stein schützte den Eingang zur Gruft. Hinter dem Stein war es windstill. Hella schüttelte sich. „Fürchten Sie sich? Sie brauchen keine Angst zu haben.“ „Finden Sie nicht auch, daß es hier unheimlich ist?“ „Wenn Sie öfter hier sind, bangen Sie sich nicht mehr.“ „Allein bestimmt.“ „Ich würde Ihnen… Aber nein, dafür ist ja Horst ausersehen.“ Hella wollte ihm ihre Hand entziehen, aber Fietje hielt sie fest umklammert. Hella wurde energisch. „Sie sollen endlich Horst aus dem Spiel lassen. Besser wär’s, Sie vertrügen sich mit ihm. Sie sind noch sturer als Horst – und obendrein ein Grobian.“ „Horst! Horst! Immer dieselbe Platte!“ „Sie sind ein schrecklicher Mensch. Fietje.“ Sie schlenderten aus dem Park hinaus. Hella hängte sich bei dem Jungen ein. Er freute sich über die Vertraulichkeit. Wenn ich ihm jetzt sage, daß ich Horsts Schwester bin, dachte Hella, wirbelt er mich im Kreis herum. Doch dann
schob sie den Gedanken von sich. So leicht wollte sie ihm die Versöhnung mit Horst nun wieder nicht machen. Nicht ihr zuliebe sollten die beiden sich vertragen. Sie wünschte sich eine ehrliche, aufrichtige Freundschaft zwischen den beiden. Daß bei ihrem Entschluß auch ein klein wenig Egoismus im Spiel war, wollte sie nicht wahrhaben. Fietjes Eifersucht schmeichelte ihrer kleinen weiblichen Eitelkeit. Sie gingen am Parksaum entlang bis zur „Hölle“, einem vom Sturm zerklüfteten, von tosenden Wellen unterspülten Hochuferabschnitt. Hier standen geduckt Eichen, Buchen und Schlehenbüsche. Der Wind war verstummt. Die See lag blank und glatt vor ihnen. In ihr spiegelte sich der sternenübersäte Himmel. Der Leuchtturm blitzte seinen gleißenden Strahl über die glitzernde Fläche. „Wunderschön!“ sagte Hella, Fietje nahm sie an der Hand und führte sie einen Pfad entlang. Sie gelangten auf einen baumfreien Hügel. Von hier hatten sie freien Blick über die Prorer Wiek bis nach Göhren. Sie saßen auf einem Stein, der breit und platt die Spitze des Hügels krönte. Ihre Nähe verwirrte ihn jetzt. Er mußte an den Vater denken, der vergeblich auf ihn wartete. „Es wird kühl. Wollen wir gehen?“ fragte Hella. Er wollte jetzt nicht nach Hause, noch nicht. Wenn er kurz nach neun Uhr bei den Eltern vorsprach, konnte der Vater nicht sehr lange mit ihm schimpfen, da Fietje ja um zehn Uhr abends wieder im Heim sein mußte. Er wollte bei dem Mädchen bleiben. Doch dann fiel ihm plötzlich ein, daß in einem Jahr alles vorbei sein würde. Horst konnte triumphieren, Hella blieb bestimmt bei ihm.
Fietje biß die Zähne zusammen. In Cuxhaven war die Welt! Sicher hatte der Vater recht. Er konnte doch nicht wollen, daß sie alle drei ins Unglück rannten. Und der Onkel hatte doch erst in der vergangenen Woche geschrieben, daß für das Frühjahr alles aufs beste vorbereitet sei. Fietje fühlte, daß es kein Zurück mehr gab. Der Vater hatte sich in dieses Cuxhaven vernarrt… Im hellen Licht der sternklaren Nacht konnte Hella deutlich Fietjes sorgenvolles Gesicht sehen. Zuerst wollte sie ihn nach den Gründen fragen, unterließ es aber. Er würde nicht antworten. Und wenn, sprach er doch nur wieder von Horst. Hella blickte zur Hafeneinfahrt. Die roten und grünen Positionslichter dreier Kutter leuchteten dort. Tuckern klang über das Wasser. Fietje zog mit dem Absatz Furchen in den kreidigen Sandboden. Er hatte keinen Blick mehr für die See. Nächste Woche fuhr er selbst auf einem Kutter. Und dann kam das Ungewisse… Fietje hielt den Fuß still. Er hörte etwas klopfen… Zaghaft nur, wie unbewußt gegebene Signale… Schwarze Lola! funkte Hella. „Ich kenne keine Lola!“ sagte er unwirsch. „Habe ich von einer Lola gesprochen?“ „Nein, gemorst! Wollen Sie mich damit ärgern?“ „Aber nein!“ entgegnete Hella. Während sie die Kutter in den Hafen einfahren sahen, hatte sie an das erste Zusammentreffen mit Fietje gedacht und wie er „Schwarze Lola“ auf den Tisch getrommelt hatte. Gedankenlos hatte sie das gleiche getan. Hella weiß mit der „Schwarzen Lola“ nichts anzufangen, dachte Fietje. Ich müßte sie mitnehmen nach Cuxhaven. „Sie sind mir böse?“ Sie legte ihre Hand auf die seine. „Bit-
te nicht.“ „Ich bin nicht böse, bestimmt nicht.“ Fietje begleitete sie in die Stadt. Allein die Möglichkeit, das Mädchen mitzunehmen, hatte ihn fröhlich gestimmt. Doch jetzt schon mit ihr darüber zu sprechen, traute er sich nicht. Erst müßten Vater und Mutter in Cuxhaven sein… „Darf ich Sie am Sonnabend wiedersehen, Hella?“ „Sonnabend? Da segelt doch die Mannschaft nach Binz?“ „Das wissen Sie?“ Hella hörte den tiefen Groll in der Frage. Sie versuchte zu mildern. „Horst hat um den Wetterbericht gebeten.“ „Hm. Und wie wird es sein?“ „Voraussichtlich Nebel.“ „Da fährt der Feigling sowieso nicht!“ behauptete Fietje verächtlich. „Er hat es uns schon gesagt.“ „Sie sind ungerecht, Fietje, es geht schließlich um die Sicherheit der Mannschaft!“ „Um die machen Sie sich man keine Sorgen. Ich kenne die See und den Kompaß!“ „Wollen wir uns zum Schluß streiten?“ „Wegen so eines Schietbüdels schon gar nicht!“ brummte er. Hella war bei dem Wort „Schietbüdel“ zusammengezuckt. Doch dann mußte sie lachen. Was war das nur für ein großes Kind! Und obwohl sie kein bißchen älter war als er, fühlte sie in diesem Augenblick etwas wie Mütterlichkeit für ihn. Sie standen an der Promenade, die hell erleuchtet war. Aus der Fischergasse kamen schlurfende Schritte. Fietje wollte Hella in den Schatten ziehen. Doch es war schon zu spät. Kapitän Krischan Brinkmann stand vor ihnen. „Schau her, der Fietje!“ Und als er Hella ins Gesicht gesehen hatte, fügte er hinzu. „Und unser Äthergeist! Na, min
Jung, nächste Woche sehen wir uns wieder!“ „Komme ich zu Ihnen an Bord?“ „Tscha, dat wird woll so sein…“ „Und wer noch?“ „Tscha, wenn ich die alle behalten soll… Da ist der Bumke, der Weyer, der Wagner…“ „Wagner?“ fragte Fietje gespannt. „Dat is Schiet!“ „Dat is gaut! Genauso wie die Deern deine Freundin ist, min Jung! Doch nu geh nach Haus, Vadding wartet auf dich.“ Fietje hielt den Kapitän am Arm fest. „Kann man das mit Wagner nicht noch ändern?“ „Kann man. Aber ich will nicht!“ „Das ist gut, Herr Brinkmann“, rief Hella dem Kapitän hinterher. „Die beiden sind wie Hund und Katz…“ Sie versteht das nicht. Fietje war beleidigt. Plötzlich begriff er, daß dies ein Werk des Heimleiters war. Und Wagner hatte ein Wort mitgeredet, davon war Fietje überzeugt. Er soll mich politisch beackern, dachte er, und der Kapitän soll mit mir über die Genossenschaft sprechen, mich überzeugen, wie notwendig es ist, daß der Vater endlich eintritt. Um Fietjes Freude war es geschehen. Sein Gesicht wurde starr und blaß. Er war ganz eisige Abwehr. „Nun sind Sie mir schon wieder böse, Fietje. Ich habe es doch nur gut gemeint.“ „Mich versteht niemand! Alle hacken auf mir herum! Laufen Sie doch zu diesem Wagner… Tschüß denn.“ Fietje gab Hella nicht die Hand. Er drehte sich um und tauchte in der nächtlichen Fischergasse unter. Hella wollte ihn zurückrufen – und brachte doch kein Wort über die Lippen.
* Die Mutter saß im Sessel neben dem Radio. Sie hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt und schnarchte. An der anderen Seite des Radios saß der Vater und besserte eine Zeese aus. Den Zigarrenstummel schob er nervös von einem Mundwinkel zum andern. Immer wieder glitt sein Blick zur Büfettuhr. Unerbittlich rückten die Zeiger vorwärts. Es war halb zehn. Nun wird er nicht mehr kommen, dachte der Vater. Er ließ die schweren, vom Seewasser zerfressenen und ausgelaugten Hände auf die Knie sinken. Der Junge entgleitet mir, dachte er. Er fragte sich, ob es richtig sei, daß Fietje zu Krischan Brinkmann an Bord kam. Sie waren alte Freunde gewesen, doch die verschiedenen Auffassungen von der sozialistischen Entwicklung hatten dieser Freundschaft Grenzen gesetzt. Ich muß ihn härter anpacken, sinnierte er. Monoton tickte die Uhr. Es war fünf Minuten nach halb zehn. Der Vater zerdrückte den Stummel im Ascher. Er hörte Schritte im Flur. Er richtete sich auf, wurde ganz Autorität. „Du kommst schon?“‘ fragte er den eintretenden Fietje. Fietje hatte vor dem Haus gestanden und mit sich gerungen, ob er zu den Eltern hineingehen sollte. Von der Veranda aus hatte er den breiten Rücken des Vaters erspäht und gesehen, wie dessen Blicke immer wieder zur Uhr wanderten. „Ich hatte heute etwas anderes vor“, antwortete er. „Und deine Freunde? Um die kümmerst du dich wohl nicht mehr?“ Fietje gab der Mutter die Hand. Sie war aufgewacht und blinzelte Fietje verschlafen an. „Möchtest du was essen?“ „Nein! Ich hab keinen Appetit.“ „Der ist dir wohl bei unserem Anblick vergangen?“ fragte der Vater ironisch. „Du scheinst mir eigene Wege zu gehen.
Das schlage dir aus dem Kopf.“ „Sprich nicht so laut“, mahnte die Mutter. „Meine Freunde kommen nicht mehr“, sagte Fietje. „Das Kombinat hat größere Kutter!“ Das hatten Kalle und Jochen zwar nicht gesagt, aber Fietje hielt diese Verteidigung für angebracht. Er dachte an Jochen. Der Freund hatte jetzt seine eigene Meinung. Glattweg hatte er ihm vorgestern geantwortet: „Fietje, warum versuchst du nicht, Horst zu verstehen? Eingebildet bist du aber ganz schön…“ „Geh doch hin zu ihm!“ hatte Fietje aufgebracht erwidert. Er lief mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. Jochen stand am Fenster und bügelte seine Hosen. Es zischte, wenn er das Bügeleisen auf das feuchte Handtuch drückte. „Alle erzählen, daß du nur auf Horst eifersüchtig bist“, sagte Jochen. „Und sie haben auch recht. Soll doch die Kleine selbst entscheiden. Vielleicht mag sie dich gar nicht.“ Fietje stellte sich breitbeinig vor den Freund. „Sag das noch einmal, du…“ Er ging zum Kleiderschrank, raffte seine Sonntagshose vom Kleiderbügel, warf sie Jochen über die Schulter und verließ das Zimmer. Dieser plötzliche Aufbruch verwirrte Jochen, es schien, als dränge sich wieder die alte Ergebenheit hervor. Er preßte das Bügeleisen fest auf das Handtuch. Bist du stur – bin ich auch stur! dachte er ärgerlich, stellte das Eisen auf den Untersatz und zog den Stecker heraus. Fietjes Hose legte er ungebügelt auf dessen Bett. Jetzt hatte er nicht mehr das bange Gefühl, falsch gehandelt zu haben. Pfeifend ging er zum Abendbrot. Erst im Bett knurrte Fietje: „Wechselst wohl ins andere Lager über… Na ja, der große Sturm kommt noch.“ Kalle dagegen war noch immer der alte, aber wie lange
noch? dachte Fietje. Das alles verstand der Vater nicht. Es empörte Fietje, daß der Vater über jeden Schritt Rechenschaft forderte. Der Vater stellte sich vor den Sohn hin; er wollte ihm in die Augen sehen, wollte aufbrausen. Doch er besann sich rechtzeitig. Mit Gewalt erreichte er bei Fietje nichts. „Schau mal, Fietje“, begann er, „ich will doch nur unser aller Bestes. Wenn deine Freunde und du, wenn ihr mir helft, spare ich doch Geld und Zeit. Wir brauchen doch das Geld für Cuxhaven. Und da mußt du schon entschuldigen, wenn ich mal nervös werde.“ „Und ich? An mich denkst du wohl nicht? Schließlich kann ich nicht im Heim herumkommandieren. Wenn du in der Genossenschaft wärst, wäre alles leichter…“ „Du bist ja schon angesteckt!“ schnaufte der Vater. „Davon will ich nichts hören…!“ Er lachte hämisch. „Wie du nur so sprechen kannst. Fietje.“ Die Mutter schüttelte den Kopf. „Gut. Ich tue was ihr verlangt“, sagte er kurz. „Jetzt muß ich fort!“ * Nach der letzten Stunde kam der Heimleiter Hartmann in die Klasse. Er verlas die Namen der Jungen und die Kutter, auf denen sie von Montag an für sechs Wochen wohnen, lernen und arbeiten sollten. „Auf ,SAS 204 Thüringen’ fahren Wagner, Bumke, Weyer. Thesenvitz…“ Hartmann legte eine Pause ein. Er blickte in Fietjes gespanntes Gesicht. Fietje wurde unruhig. Warum er mich so anstarrt, dachte er. Insgeheim hoffte er, daß sein Name gar nicht genannt würde. „Und Fietje Berger!“ sagte der Heimleiter. „Freust du dich, Fietje?“
Fietje stand auf. „Und wie ich mich freue!“ „Ich wußte es“, sagte Hartmann. „Montag morgen geht’s ab.“ Als Hartmann die Klasse verlassen hatte, brach tosender Jubel los. „Mönsch“, sagte Jochen. „Endlich ein richtiger Kutter.“ Er knuffte Fietje in die Seite. „Nach sechs Wochen werde ich deinem Vater mal zeigen, was ich gelernt habe. Und das auf ‘nem richtigen Kutter…“ „Laß meinen Alten aus dem Spiel“, knurrte Fietje. Er war auf Jochen nicht mehr gut zu sprechen. Jochen hatte sich geweigert, mit ihm an einer Segelfahrt teilzunehmen. Fietje hatte herumgehorcht, wer mit ihm segeln wollte, falls Horst die Fahrt ablehnt. „Und wenn was passiert?“ hatte Jochen gefragt. „Da passiert nichts!“ „Wenn doch? Nachher müssen wir alles bezahlen.“ „Du spinnst. Der Kutter ist schließlich Volkseigentum, alles bezahlt der Staat. Überleg es dir schnell, Moses. Am Nachmittag geht die Reise los, mit meiner Mannschaft.“ Jochen versuchte Zeit zu gewinnen. Das Abenteuer so einer Reise reizte auch ihn. Zudem fiel es ihm immer noch schwer, sich Fietjes Einfluß zu entziehen. Doch jetzt hatte er sich entschlossen. „Ich mache nicht mit“, sagte er fest. „Feigling! – Dann halt wenigstens den Mund!“ „Na gut, ich weiß von nichts.“ Kalle Bumke war Feuer und Flamme. „Det is dufte, Mensch, da werden wir die olle ,Vorwärts’ mal richtig durchschaukeln…“ „Nicht so laut“, mahnte Fietje. „Wen könnten wir noch mitnehmen?“ „Vielleicht den Ulrich Büttner? Wart, ich hol ihn gleich.“
Ulrich war nicht abgeneigt. Aber zuvor hatte er wissen wollen, wer noch mitmacht. Großspurig hatte Fietje erklärt: „Alle, außer Hein. Hannes und Horst!“ „Dann bin ich auch dabei, wenn die Mehrheit dafür ist.“ Im Laufe des Vormittags hatte Fietje mit allen Kameraden gesprochen, nur nicht mit Hannes und Hein. Das Lärmen ließ nach. Horst stand vor der Klasse. „Ich wollte nur sagen“, begann er, „daß wir heute nicht segeln können. Für Nachmittag sind Regen und Nebel angesagt.“ „Und von wem hast du diese Weisheit?“ fragte Fietje anzüglich, dabei blickte er reihum die Kameraden seiner illegalen Mannschaft an. Er hatte es ihnen ja schon vorher gesagt, wie alles kommen würde. Jetzt hörten sie es selbst. „Ich bin kein Wettermacher“, wies Horst Fietje ab. „Kiek raus!“ rief Kalle. „Draußen glänzt der Himmel. Klärchen lacht, und du sprichst von Nebel.“ „Segeln! – Segeln! – Segeln!“ riefen die Kameraden im Chor. Ein Heidenspektakel brach los. Horst blieb ruhig. Es kam ihm der Gedanke, nur eine kurze Strecke zu segeln, so daß man rechtzeitig zurück war. Dann blieb er doch bei seinem Entschluß. Dadurch aber geriet er in arge Bedrängnis. Fietje hätte den Funken noch bis zur Flamme geschürt, wenn nicht plötzlich Willi Kramer in der Klasse gestanden hätte. Er hatte Autorität bei den Jungen. Seine Ruhe und Besonnenheit gefiel ihnen. Er hob die Hand, lachte und sagte: „Nn, na, die Berufsschule stürzt ein, wenn ihr so weiterbrüllt.“ „Horst versaut uns den ganzen Sonnabend“, maulte Kalle. Nachdem Willi den Sachverhalt erfahren hatte, entschied er. „Die GST ist eine eigene Organisation. Da kann ich
Horst keine Vorschriften machen. Vielleicht sollte Fietje nochmals beim Seenachrichtendienst nachfragen?“ Als Hella Fietjes Stimme erkannte, glaubte sie, er wolle sich entschuldigen, weil er sie ohne Abschied an der Fischergasse hatte stehen lassen. Doch in diesem Moment dachte er nur an die Segelfahrt. Hella gab Auskunft. „Und die Wetterfrösche irren sich nicht? Verdammter Schiet!“ fluchte Fietje. Aber innerlich frohlockte er. „Heute spielt ein lustiger Film.“ Hella preßte den Hörer ans Ohr. „Hm…“, sagte Fietje endlich. „Ich muß Ihnen etwas Wichtiges sagen, Fietje…“ „Wann?“ „Ich bin um sieben am Heim. Werden Sie dort sein?“ Wie nett sie fragen kann, dachte Fietje. „Ich bin da.“ Als er den Hörer auf die Gabel legte, murmelte er: „Abgeblitzt, mein lieber Horst!“ Er ging schnell m die Klasse zurück. Inzwischen hatten die einzelnen Lehrkutterbesatzungen ihre FDJ-Organisatoren gewählt. Kalle hatte für „SAS 204 Thüringen“ Jochen vorgeschlagen. Damit war auch Fietje einverstanden; er wollte sich Jochen schon so hinbiegen, wie er ihn brauchte, und der war auch nicht so politisch wie Horst oder Hein Thesenvitz. „Was sagen die Wetterpropheten?“ fragte Willi. „Regen und Waschküche in den späten Nachmittagsstunden.“ Fietje blinzelte den Kameraden unmerklich zu. „Wenn es so ist, handelt Horst richtig“, entschied Willi. VII Das Blau des Himmels war vereinzelt mit weißen Wölkchen betupft. Ein leichter Nordwind blies. Fietje stand am
Fenster und hielt die Nase in den Septembertag. Wie schnell heute das Essen verschlungen wurde! Den Jungen fehlte sogar die Zeit für den Nachschlag. Wohl wunderte der Heimerzieher Helge sich, daß es heute beim Essen so diszipliniert zuging. Doch er schrieb es einfach dem schönen Wetter zu. Da wollte keiner auf seinen Ausgang verzichten. Einzeln schlichen sich die Jungen davon. Niemand im Heim schöpfte Verdacht. Jubelnd ergriffen sie vom Kutter „SAS Vorwärts“ Besitz. Fietje besetzte die Pinne. Er war ganz Kapitän. Sofort gab er seine Kommandos. „Kalle, du übernimmst die Großschot! Ulrich die Besanschot!“ Dann zeigte er der Reihe nach auf die vier anderen Kameraden: „Du bedienst das Focksegel und ihr drei Geitau, Piek – und Klaufall. Kapiert?“ „Kapiert!“ „Bugleine los…“ „Bugleine ist los…“ „Absetzen!“ Der Kamerad, der das Focksegel bediente, stieß den Bootshaken gegen den Molensteg. „Achterleine los…“ „Achterleine ist los…“, kam das Echo. Fietje stand aufrecht und stolz. Sein Gesicht strahlte wie die Sonne. „Du kannst das Kommandieren besser als Horst“, begeisterte sich Ulrich Büttner. „Focksegel setzen!“ rief Fietje. Der Kutter erhielt Fahrt. Achtern kräuselte sich das Wasser. Bug- und Heckwellen verloren sich an der Mole und klatschten gegen die Brückenpoller. Noch nie war Fietje so feierlich zumute wie heute, da er
zum erstenmal einen Segelkutter steuerte. Andächtig blickte er auf die geblähten Segel. Die Augen der Kameraden leuchteten. Wie ruhig sie dahinglitten. Träumen konnte man… Kalle zog seine Mundharmonika hervor. Über die Wellenberge, die höher und höher heranrollten, trug der Wind das Lied der Saßnitzer Fischer: „Grüne Wälder – weiße Felsen, hell der Himmel – blau die See…“ Den Refrain: „Fern da
träume ich von dir, Marita…“, sangen die Jungen kräftig mit, daß es weithin hallte. Vor Fietjes Augen stand Marita. Sie hatte schwarze Haare und zwei Grübchen, wenn sie lachte. Und in Fietje sang es: „Fern, da träume ich von dir, Hella…“ Es wurde empfindlich kühl. Der Himmel hatte sich grauschwarz bezogen. Die Sonne verbarg sich hinter den Wolken. Aber noch immer spielte Kalle, noch sangen oder pfif-
fen die Jungen. Das bißchen Kühle konnte sie nicht verdrießen. Zwei Stunden segelten sie schon. Das war die Hälfte der Fahrzeit. Es war 17 Uhr. Aber jetzt fauchte der Ostwind heran. Er trieb den Kutter nach Prora zu ab. Fietje, der bis jetzt in der Spiegelecke, auf dem Sitzbrett des Steuermanns, gesessen hatte, stand auf und betrachtete den Himmel und die See, auf der sich schon Gischtkämme zeigten. Er befahl: „Schwert ausfahren!“ Die Fahrt wurde ruhiger, die Abdrift ließ nach. Kalle steckte die Mundharmonika ein. Da hörten die Jungen, wie der Wind in der Takelage pfiff und sahen, wie die heranrollenden Wellen nach dem Kutter griffen. Im Nordosten stand eine weißgraue Wand. Der Himmel verdunkelte sich. Wand und Himmel wuchsen ineinander und schoben sich zum Kutter heran. „Wir wollen umkehren“, sagte einer mehr zu sich selbst, als zu den anderen. Kalle hörte es, er tippte sich an die Stirn. „Wohl nicht ganz klar? Jetzt geht es erst los!“ Er zog die Großschot an, der Kutter nahm Fahrt auf. „Ich bin auch dafür, wir wollen umkehren…“, sagte Ulrich. Umkehren! Fietje umkrampfte die Pinne. „Wenn es regnet, sind wir geliefert“, sagte einer. Kalle holte die Mundharmonika hervor und spielte Schlager. Die Jungen lachten und scherzten wieder. Sie übersahen die Spritzer, die von Bug bis achtern die Duchten näßten. Der Binzer Strand verschmolz mit dem Weiß der Häuser und dem sich immer dunkler färbenden Himmel. Wir müssen doch zurück, dachte Fietje. Wir schaffen es sonst nicht mehr. Und Hella wartet. „Klar zur Wende!“ kommandierte er. „Wir kehren um!“ Der Himmel senkte sich schwarz über Kutter und See. Aber
Angst zeigte keiner von den Jungen. Sie konnten ihre Lage nicht richtig einschätzen, und sie wollten sich auch nicht die gute Laune verderben lassen. Kalle blies bald wieder Mundharmonika. Vom Saßnitzer Leuchtturm blinkte es durch den nebligen Abend. Die Jungen wurden ruhig. Ulrich schloß die Augen. Fietje stand noch immer aufrecht an der Pinne. Noch sah er den Strahl des Saßnitzer Leuchtturms, der die Dunkelheit zerschnitt und ihm den Weg in den Hafen wies. Aber das Surren in den Wanten und das Knattern der Segel schienen ein heraufziehendes Wetter anzukündigen, und die Wogen rollten schwarz heran. Unsinn! sagte sich Fietje, alles Einbildung! Der Nebel verhüllte den Leuchtturm, das Licht, das ihnen gewinkt hatte, schien zu verlöschen. Kalle hatte die Schotleine vom Großsegel um die Klampe gelegt und hielt das Ende zwischen den Fäusten. Er hatte mit dem Nebenmann noch ein paar Worte gewechselt. Jetzt nickte auch er ein, es träumt sich so gut, wenn die Wellen das Boot wiegen. , Der Kutter hatte fast achterlichen Wind. Da gab es keine Wendekommandos. Wenn was los war, würde Fietje es schon sagen. Ja, die Kameraden waren mit Fietje sehr zufrieden. Die straffe Disziplin halten sie in Saßnitz gelassen und, wie sie glaubten, nur Freude und Frohsinn mit an Bord genommen. Eine Bö fegte heran. Niemand hatte die kommen sehen. Da sprang sie in die Segel. Kalle spürte ein Brennen in den Handflächen und dann einen Ruck am Kutter und wieder einen, und jetzt, erwacht aus seinem Dahindämmern, sah er das Großsegel hin- und herschlagen. Der Schreck lähmte ihn, und keiner sagte ihm, was
er tun sollte. Es war stockdunkel geworden. Der Wind heulte und riß Fietje das Wort von den Lippen. „Die Schotleine!“ brüllte er. Aber wer sollte sie finden, die Schotleine, jetzt ohne Licht. „Taschenlampe, Fietje…“, rief Kalle. „Brenn doch die Bootslampen an“, meinte Ulrich. „Die hätten schon längst brennen müssen“, schimpfte Kalle. „Verdammt noch mal! Wo bleiben die Lampen?“ Aber weder am Bug noch achtern, noch sonst wo im Kutter war eine Lampe. Da mußte es auch ohne Licht gehen. Ein Kamerad holte das Großsegel ein. Nun lag es neben dem Schwertkasten. Kalle fingerte schimpfend die Leine durch den Block und zog es wieder am Mast empor. Die Fahrt nahm wieder zu, aber auch die Unruhe der Kameraden. Einer entdeckte, daß sie mitten in einer Nebelwüste segelten. Wo war der Saßnitzer Leuchtturm mit den Lichtfingern? Wo war das Licht von Binz? Nichts! Überall nur schwappendes Grau. Wohin segelten sie? Wer sagte ihnen, daß sie nicht aufs offene Meer hinausfuhren? Die Bö hatte nachgelassen, aber das Meer gebärdete sich noch immer zornig. Die Jungen schwiegen beklommen. Fietjes Stolz war dahin. Wohl zeigte er nach außen Haltung, aber er war sich der Gefahr bewußt und hatte Angst. Er fürchtete aber auch die Kritik der Kameraden – und den Vater. Ach, wenn sie doch sängen oder wenn einer Witze erzählte! Und Kalle? Der hatte sich immer ein zünftiges Abenteuer gewünscht. Und nun segelte er mitten hinein und hatte es sich doch ganz anders vorgestellt. Und Horst hatte schon den richtigen Riecher gehabt. Kalle stierte auf die Uhr. Er hielt sie ans Ohr. Sie tickte. Fünf Stunden sollten sie erst auf See
sein? Er hätte schwören können, daß es bald tagen müßte. Und dann dieser feuchte Nebel, der kroch durch alle Ritzen. Überhaupt, sie mußten doch bald in Saßnitz sein. „He, Fietje, steuerst du den richtigen Kurs?“ „Klar Kalle, ich peile über Daumen und Zeigefinger.“ „Dann nimm den rechten Zeh auch noch zu! Ick will endlich in ‘n Hafen.“ „Soll der mal ohne Kompaß steuern, ohne Licht, ohne Hoffnung… was, Fietje?“ „Was sagt Ulrich da? Kompaß haben wir auch keinen an Bord?“ Nun kamen die Fragen, die Fietje fürchtete, die den Kameraden die Möglichkeit gaben, zwischen ihm und Horst zu vergleichen. „Was brauchen wir einen Kompaß, wenn wir gesund sind?“ Aber mit dieser Antwort erreichte Fietje nur das Gegenteil. Schon legte Kalle los: „Det wär’ Horst nicht passiert! Der ist immer uff Draht, Mensch, is det ‘n Ding, ohne Lampe, ohne Seenotzeichen und ohne Kompaß! Fietje, is ja noch ‘n Wunda, det dein Kopp nich in Saßnitz jeblieben is…“ „Richtig, Kalle!“ riefen die anderen. „Blödsinn war die ganze Fahrt!“ „Quasselt nicht soviel, hört lieber auf das Nebelhorn von Tonne eins. Meiner Berechnung nach müssen wir ganz in der , Nähe sein.“ „Trotzdem, Horst wäre das nie passiert“, behauptete Kalle, „der hat auch Überlegung.“ „Jetzt bist du wieder dran“, sagte Fietje ironisch, „aber vergiß nicht, die Ohren steifzuhalten, sonst hören wir das Nebelhorn nicht.“ „Nebelhorn? Es kommt mir vor, als säßen wir im tiefsten Keller.“
„Verdammt, macht endlich eure Luke dicht! Wer soll dabei die Pinne ruhig halten? Ich…“ „Da! Das Nebelhorn!“ überschrie einer Fietje. Plötzlich war es still. Alle hörten es, das langgezogene Tut – Tut – Tut – . Aber sie hörten es achtern, backbords und steuerbords, es tönte auch vom Bug her. Es hörte sich an, als segelten sie in einem Wald von Nebelhörnern. Und wieder legte eine Bö heran, und die Segel flappten. Plötzlich riß die graue Wand auf. Sie sahen das Licht des Leuchtturms wieder. Längsseits lag der Hafen. Die Jungen lachten und schrien. Da kam eine neue Bö heran und trieb den Kutter auf das steinige Ufer zu. Sie befanden sich auf der Höhe der Tonne zwei, und immer näher rückte das Ufer und immer schneller. Und Fietje gab kein Kommando… Auch die Jungen waren keiner Worte fähig; erst die Freude, und nun der Schreck. Endlich hatte sich Fietje gefangen. „Wende!“ brülle er. Er drückte die Pinne nach Steuerbord, um backbords in einem Halbkreis den Hafen zu erreichen. Doch dieses Kommando kam ohne Ankündigung, und Fietje drückte die Pinne nach Steuerbord, noch bevor die Kameraden ihre Bereitschaft gemeldet hatten. Es kam, was kommen mußte. „SAS Vorwärts“ krängte hart steuerbords und wäre umgesegelt, hätte Fietje nicht in letzter Sekunde die Pinne zurückgerissen. Das Ufer rückte in greifbare Nähe. Und dabei war alles so einfach. Segel ein! hätte Fietje befehlen müssen, und Schwert ein! Doch er tat es nicht. „Det Schwert!“ schrie Kalle. „Los, einfahren!“ befahlt Fietje heiser. Ulrich und Kalle sprangen zu. Doch da gab es schon den ersten kräftigen Stoß – ein hartes Knirschen folgte… Alles purzelte durcheinander. Fietje stolperte über die Besanschot.
Noch im Fallen rief er: „Segel ein!“ Es war leicht gesagt. Der Kutter ritt auf dem Schwert. Jede Brandungswelle trug ihn näher ans Ufer. Und wenn die Welle vorbeigerauscht war, stand der Kutter für Zehntelsekunden als hinge er zwischen Himmel und Erde und kippte dann steuerbords ab, um von der nächsten Brandungswelle emporgehoben und näher ans Ufer geschleudert zu werden. Endlich gelang es Kalle und Ulrich, das Schwert einzufahren. Jetzt war auch Fietje wieder Herr der Situation. „Focksegel auf!“ überschrie er den brausenden Wind. Sekunden später stemmte sich der Wind gegen das Focksegel. Fietje drückte im gleichen Augenblick die Pinne nach Steuerbord, und der Kutter nahm Kurs auf den Hafen. Als sie den Kutter am Molensteg festmachten, begann es zu nieseln. Da stand Fietjes Vater auf dem Steg unter der Bogenlampe. „Wo kommt ihr her? Seid ihr des Teufels?“‘ rief er. „Ach, wo denken Sie hin, Herr Berger! Det war ‘ne Partie für Männer“, erklärte Kalle gewichtig. „War halb so schlimm“, fügte Ulrich hinzu. „Ein Junge und ein Mädchen haben die ganze Zeit hier auf euch gewartet“, sagte. Berger. „Bestimmt Horst und Hella“, platzte Fietje heraus. „Dann gibt es noch was.“ „Ach…“, winkte Kalle ab. „Is doch nichts passiert…“ Einer sagte: „Den Horst überstimmen wir! Wir sind die Mehrheit!“ Der Vater klopfte Fietje auf die Schulter. „Gut so, mein Junge“, flüsterte er. „Das war der erste Schritt, um den Sandlatscher an die Wand zu drücken. Jetzt mußt du Stange halten…“
„Wenn es nur von mir abhinge…“, antwortete Fietje. „Wenn wir uns im Heim verantworten müssen, entscheidet sich, wer hinter mir steht.“ Berger wandte sich an alle: „Man wird euch im Heim zur Rechenschaft ziehen…“ „Da reden wir auch noch ein Wort mit!“ Kalle klopfte sich auf die Brust. * Die Jungen schlichen sich durch den hinteren Eingang ins Heim. Es ging alles gut. Doch als Fietje die Tür seines Zimmers öffnete, stand er Horst gegenüber. Eine Weile verharrte er in der offenen Tür, dann zog er sie entschlossen ins Schloß. „Ich habe auf dich gewartet.“ „Ich nicht auf dich“, entgegnete Fietje. Jochen ereiferte sich: ,,Etwas freundlicher könntest du schon sein. Du hast allen Grund dazu.“ „Ihr spioniert mir nach? Schöne Freundschaft, so was!“ Er blickte Horst geringschätzig an. „Fietje, wir wollten dir doch helfen. Und der Kutter ist Volkseigentum…“ „Bleibe mir mit deiner Politökonomie vom Leibe, du…“ „Sag endlich, was mit dem Kutter ist“, forderte Jochen, „es interessiert uns doch.“ Fietje zwang sich zur Ruhe. Er begriff, daß Dickköpfigkeit in seiner Lage unangebracht war. Horst sah, wie sich auf Fietjes Gesicht die Spannung verlor. „Wir wollen nicht über die Schuldfrage sprechen, Fietje.“ „Schuldfrage? – Ich trage die Schuld!“ „Unsinn, Fietje. Du machst dich schlechter, als du bist.“ Die Freundlichkeit der Kameraden machte Fietje wild. „Ich habe die anderen überredet, ich stehe für alles ein, ver-
dammt! Und ich brauche keine Verteidiger. Bestraft mich doch…“ Er lehnte sich mit dem Rücken gegen den Schrank. „Aber eine böse Sache hätte es werden können, Fietje“, sagte Jochen. „Hätte!“ Fietje funkelte Jochen böse an. „Ist aber nicht! Oder hattet ihr es lieber anders gesehen? Der Herr Bootssteurer hätte dann ja auch keinen mehr, der ihm im Wege steht.“ Horsts Stimme wurde scharf: „Wir wollen dir helfen, und du spielst den Beleidigten… Und das alles wegen eines Mädchens…“ Da wurde Fietje blaß. Er riß den Schrank auf, streifte sich den Regenmantel über, zog die Gummistiefel an und ging aus der Tür. Auf dem Flur rannte er, als säße ihm etwas im Genick. „Er lauft in den Park“, sagte Jochen, der ans Fenster getreten war. Horst ging zu Hella, die im Kulturraum wartete. VIII Der Wind heulte ums Heim. Im Park knackten armstarke Äste. Dicke Tropfen platschten aus dem Blattwerk auf den Waldboden. Fietje irrte ziellos die matschigen Waldpfade entlang. Eine Weile hatte er am Steilufer gestanden und auf das tobende Meer gesehen Er fand keine Ruhe. Immer neue Regenschauer pladderten auf die übersättigte Erde. Schmutzige Bäche umspülten seine Stiefel. Je länger er lief, desto mehr entwirrten sich seine Gedanken. Jetzt wußte er auch, wohin er sich wenden mußte, um Ruhe zu finden. Zum Hünengrab mit den mannshohen Steinquadern. Und dicht daneben stand die wuchtige Buche, deren Stamm fünf Männer nicht umspannten. Da war er mit Hella
gewesen. Hella überlegte unterdessen nicht lange. Sie zog die Überschuhe an. Horst hall ihr in den Wettermantel. Dankbar setzte sie seinen Südwester auf. Der Regen, der ihr ins Gesicht prasselte, war kalt. Der böige Wind stemmte sich ihr in den Weg. Im Park wurde es ruhiger. Der Wind stürmte nur noch in den Baumkronen. An der Wegspinne zögerte Hella. Sie eilte weiter. Das Herz schlug ihr im Halse. Bald war sie am Hünengrab. Um Bäume und Sträucher schwammen Nebelwogen und brachten die Nacht mit. Da war der gespaltene Eichenstamm… Fietje hörte Schritte. Schneit und kurz. Da stand Hella vor ihm, mit erhitzten Wangen, über die Regentropfen rannen. Sie sahen einander an. Er zog sie zu sich heran. „Du warst an der Mole?“ fragte er. „War Horst bei dir? Warum gehst du immer mit ihm? Immer will er mich belehren…“ Hellas Augen waren groß und ernst. „Weil – weil Horst mein Bruder ist. Der Schietbüdel ist mein Bruder… Ihr müßt euch vertragen…“ Erst kurz vor dem Heim konnte Fietje antworten: „Ich – ich will es versuchen.“ Fietje lag ganz still auf dem Rücken. Es begann schon zu tagen. Nun mußte bald der Heimerzieher kommen und wekken. Diesen Augenblick fürchtete Fietje. Gestern hatte er noch lange wachgelegen und dem Regen gelauscht, der ihn immer wieder an Hella und Horst erinnerte – und an die Fahrt. So war das gewesen: Als er mit Hella in den Kulturraum trat, hatte Horst dagestanden. „Zieh gleich den nassen Mantel aus, Hella“, sagte Horst
und wollte seiner Schwester helfen. Doch da trat Fietje dazwischen. „Laß man, das mache ich schon.“ Er rückte Hella einen Sessel zurecht und setzte sich neben sie, ihnen gegenüber Horst. „Nun kannst du anfangen mit dem Verhör, Staatsanwalt“, witzelte Fietje. „Angeklagter und Verteidiger sind da. Stimmt doch, Hella?“ „Hm!“ nickte sie. „Soweit es die Verteidigung betrifft – ja. Den Angeklagten lassen wir weg. Überhaupt, warum große Worte? Ihr sollt euch vertragen.“ „Es liegt an Fietje!“ sagte Horst. „Da hörst du es, Hella, immer ich…“ „Ihr sagt du?“ wunderte sich Horst. „Gestern hörte ich noch Sie.“ Fietje und Hella lächelten verlegen. Horst wunderte sich über die Schwester. Ich tue ihr unrecht, dachte er. Sie ist die beste Kameradin, die sich einer wünschen kann. Aber war Fietje der richtige Freund für sie? „Gebt ihr euch nun die Hand?“ fragte Hella. In ihren Worten lag eine Bitte, die die Jungen nicht überhören konnten. „Von mir aus – ja“, antwortete Horst. „Doch wir müssen uns erst über die Fahrt klarwerden. Ich habe die Sache schon Manni Lerche gemeldet. Er ist vom Lehrgang zurück. Morgen um zehn will er mit der ganzen Mannschaft sprechen.“ Hella empörte sich: „Immer nur Mannschaft und Dienst! Kannst du das nicht einmal vergessen?“ Sie senkte die Stimme. „Mir zuliebe…“ Horst stand auf und streckte Fietje die Hand hin. „Also – auf eine ehrliche Freundschaft.“ Fietje schlug wortlos ein. Innerlich schämte er sich. Später hatte er Hella nach Hause begleitet. Er hatte ihr angemerkt, daß sie doch nicht recht froh war. Sie ahnte, daß es
mit dem Händedruck noch nicht getan war. Fietje stand auf und öffnete das Fenster. Naßkalte Luft drang ins Zimmer. Er legte sich wieder ins Bett, aber die bevorstehende Aussprache ließ ihm keine Ruhe. Dann war sicher alles aus. – Er hörte schon die rauhe Stimme seines Vaters: Du willst ein Berger sein? Fietje preßte das heiße Gesicht ins Kissen. Aber ich will gar kein Berger sein! „Was hast du, Fietje? Wir lassen dich doch nicht im Stich!“ tröstete Jochen. „Kümmer dich nicht um mich, Moses!“ „Red nicht so dämlich, Fietje – wir sind doch Kameraden!“ „Du hast dich sehr geändert, Moses…“ „Du wirst dich auch noch ändern, Fietje…“ „Wieso?“ Fietje lauschte gespannt in die Dunkelheit. Nach einer Weile knurrte Jochen: „Ach – nur so…“ Fietje atmete tief; zum erstenmal fühlte er sich im Heim geborgen. Ihm war, als höre er wieder die Stimme des Schuldirektors: Und nun ans Werk. Enttäuscht uns nicht! Neben Manni Lerche saß Willi Kramer. Sie wandten sich Fietje und Jochen zu, als diese den Kulturraum betraten, und grüßten freundlich. Der Sturm scheint sich gelegt zu haben, dachte Fietje. Horst winkte ihm zu. Er hatte noch zwei freie Stühle neben sich. Sie gaben sich die Hand und lächelten sich verlegen an. Hannes flüsterte leise Hein zu: „Da stimmt was nicht!“ „Schiet, lot em“, antwortete Hein. Am meisten freute sich Kalle. Wenn der Bootssteuerer auf ihrer Seite war, konnte nichts mehr schiefgehen. Er schrieb die Verständigung Fietjes Taktik und Intelligenz zu. Manni Lerche schoß gleich auf das Ziel los: „Was habt ihr euch eigentlich dabei gedacht!“
Fietje stand auf und sagte: „Nichts!“ Und im gleichen Augenblick wurde ihm bewußt, daß er log. Er setzte sich zögernd. „Es ist doch nichts passiert. Ich würde da nich so ville Geschrei machen…“, maulte Kalle. „Eine Leistung war es trotzdem von uns und Fietje.“ „Du fühlst dich wohl als Held? Klabautermann…“, sagte Hannes ärgerlich. Es wurde unruhig. Die Jungen rutschten auf den Stühlen hin und her. Allen war längst klargeworden, daß die Fahrt unsinnig gewesen war; und doch fiel es ihnen schwer, die Kritik ohne Widerspruch hinzunehmen. Horst wies Hannes zurecht: „Wir sollten das alles in Ruhe klären.“ Dann sprach Willi Kramer: von Ernst Thälmann und Katja Niederkirchner, von Raimonde Dien und den Helden des Komsomol, von Adolf Hennecke und vielen anderen, die wirkliche Heldentaten vollbracht haben. „Ein Held lebt und kämpft für die Gesellschaft. Aber wer sein Leben und das der Kameraden leichtsinnig aufs Spiel setzt, ist kein Held. Er handelt verbrecherisch.“ Die Jungen wurden blaß und zogen den Kopf ein. Kalles Schnoddrigkeit war wie weggeblasen. Und Fietje dachte: Wenn die mich rausschmeißen, weiß ich nicht, was ich tue… „Das ist ein hartes Wort“, fuhr Kramer fort, „aber es muß einmal gesagt werden. Das solltet ihr einsehen. Und denkt an eure Eltern und Geschwister…“ „Es sind harte Worte“, bestätigte Lerche, „doch sie werden helfen. Ich denke, daß Fietje und alle Kameraden sich in Zukunft der bewußten, der aus dem Herzen und der Überzeugung kommenden Disziplin fügen und das nicht nur zum Schein tun.“ Die Übeltäter nickten eifrig mit den Köpfen. Sie freuten
sich schon, so glimpflich davongekommen zu sein. Aber sie freuten sich zu früh. Horst schlug für alle eine Strafe vor. Hannes und Hein und auch Manni Lerche und Willi Kramer waren damit einverstanden. „Wie denkst du darüber, Fietje?“ fragte Horst. Gestern die Hand geben – und heute querschießen! dachte Fietje, der Horsts Auftreten nicht verstand. Bist eben doch ein Schietbüdel… Knapp kam seine Antwort: „Für die Kameraden eine Verwarnung… und – und für mich eine Rüge.“ FDJ-Sekretär und GST-Instrukteur sahen sich erstaunt an. In ihren Blicken war Anerkennung und Zustimmung. „Stimmen wir ab“, sagte Manni. Es gab keine Gegenstimme. Beim Hinausgehen legte Horst eine Hand auf Fietjes Schulter. „Bist ein feiner Kerl.“ Abweisend streifte Fietje die Hand von seiner Schulter und blickte stumm an Horst vorbei.
Fortsetzung im nächsten Heft