KLEINE JUGENDREIHE
Die Jagd nach dem Gespenst 1. Teil
von Nikolai Toman
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1956
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KLEINE JUGENDREIHE
Die Jagd nach dem Gespenst 1. Teil
von Nikolai Toman
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1956
7. Jahrgang, 2. Novemberheft Originaltitel: В ПОГОНЕ ЗА ПРИЗРАКОМ Deutsch von Gottfried Schiller Leicht gekürzte Fassung
Verlag Kultur und Fortschritt. Berlin W 8, Taubenstraße 10 Lizenz-Nr. 3 – 285/36/56 Alle Rechte vorbehalten Umschlag und Illustrationen: Bernhard Nast Satz und Druck: (III/9/1) Sächsische Zeitung, Dresden N 23 12599
Geheimnisvolle Verse Es war bereits nach Mitternacht. Sämtliche Mitarbeiter des Generals Sablin hatten sich längst nach Hause begeben. Nur Oberst Ossipow befand sich noch in seinem Arbeitszimmer und wartete auf eine wichtige Meldung. Auf seinem Schreibtisch brannte eine Tischlampe. Das Licht, das unter dem tiefhängenden Lampenschirm auf den Tisch fiel, schien von dem grünen Tuch aufgesogen zu werden, nur ein weißes Blatt Papier warf die Helligkeit zurück. Ossipows Augen hatten sich an das Halbdunkel gewöhnt. Lautlos ging er auf dem weichen Teppich hin und her und dachte über die zahlreichen Möglichkeiten der Taktik des Gegners nach. Das unbeschriebene Blatt Papier, das auf dem dunkelgrünen Tuch des Schreibtisches die eigentliche Lichtquelle zu sein schien, wirkte wie hypnotisierend auf Ossipow. Von Zeit zu Zeit trat er heran, bereit, seine Gedanken zu dem Fall niederzuschreiben, aber jedesmal, wenn er zur Feder griff, ließ ihn eine innere Stimme daran zweifeln, daß seine Ansicht genügend ausgereift und das Rätsel gelöst sei. Er wollte keine übereilten Schlußfolgerungen ziehen. Und wieder begann Oberst Ossipow – ein grauhaariger Mann, schon etwas gebeugt und mit müden Augen – im Zimmer auf und ab zu gehen. Eine Weile blieb er am Fenster stehen, hinter dem der große, von Straßenlärm erfüllte Platz noch immer nicht zur Ruhe kommen wollte. Wenn doch nur dieser Muchtarow das Bewußtsein wiedererlangte! Diesen Satz wiederholte Ossipow immer wieder in Gedanken, während seine Augen den grellen Scheinwerfern der Autos folgten. Alles könnte sich dann aufklären. Er wollte das Krankenhaus anrufen, aber wenn etwas Neues eingetreten wäre, hätte man ihn ohnehin benachrichtigt. Weshalb
phantasiert dieser Muchtarow nur immer in Versen? Und was sind das für Verse? „Seltsame, phantastische, wilde, unerklärliche Gebilde…“ Und dann weiter: „Schwarz und dicht gleich undurchsicht’gen, nächtig dunklen Nebelschwaden…“ Wie soll man aus diesen Zeilen erraten, was Muchtarow durch den Sinn geht? Und warum spricht er nur in Versen? Nichts als Verse? Und das Bändchen ausländischer Dichter, das man bei ihm fand? Zweifellos besteht irgendein Zusammenhang zwischen diesem Buch und den im Fieber gesprochenen Versen. Aber welcher? Oberst Ossipow hatte bereits einige Male dieses Gedichtbändchen durchgeblättert, ohne jedoch feststellen zu können, in welcher Beziehung es zu den Fieberphantasien Muchtarows stand. Auch die gestrige Untersuchung im chemischen Labor war ergebnislos geblieben. Schließlich hatte der Chiffrespezialist, Oberstleutnant Filin, die Vermutung geäußert, eines der Gedichte könne der Schlüssel zu einem geheimen Briefwechsel sein. Er hielt es sogar für möglich, daß mit Hilfe dieses Codes der Funkspruch chiffriert war, der vor einigen Tagen im mutmaßlichen Aufenthaltsgebiet des berüchtigten internationalen Spions aufgefangen wurde, der unter dem Decknamen „Das Gespenst“ bekannt war. Filins Vermutung lag nahe, auch Ossipow nahm an, daß der Spion Muchtarow zum Gehilfen des Gespenstes bestimmt war. Fuhr er doch nach Aksakalsk, also in das Gebiet, in dem sich augenblicklich das Gespenst aufhalten sollte. Manche Frage hätte gelöst sein können, wäre nicht Muchtarow, im Gefühl, beobachtet zu werden, aus dem fahrenden Zuge gesprungen. Jetzt lag er bewußtlos im Krankenhaus, und die Ärzte garantierten nicht für sein Leben. In den Taschen des Spions waren ein auf den Namen Muchtarow lautender Paß, ein Ausweis und eine Fahrkarte
nach Aksakalsk gefunden worden, im Koffer ein Funkgerät und ein Bändchen ausländischer Gedichte. Und nun saß Oberstleutnant Filin bereits einige Stunden über diesen Gedichten und suchte nach den Zeilen, die Muchtarow im Fieber hersagte. Es war zwei Uhr nachts, als in Ossipows Arbeitszimmer das Telefon läutete. Der Oberst griff rasch nach dem Hörer. Vielleicht rief das Krankenhaus wegen Muchtarow an. „Afanassi Maximowitsch“, hörte er die Stimme Filins, „gestatten Sie zu m-melden…“ Der Oberstleutnant war an der Front verschüttet gewesen und stotterte ein wenig, wenn er aufgeregt war. „Haben Sie etwas gefunden?“ fragte Ossipow ungeduldig. „Jawohl. Muchtarow hat im Fieber einige Zeilen aus Edgar Allan Poes Gedicht ,Der Rabe’ hergesagt…“ „Und ist das tatsächlich ein Code?“ unterbrach ihn Ossipow. „Haben Sie den chiffrierten Funkspruch entziffert?“ „Nein. Allem Anschein nach steht das Gedicht von Edgar Allan Poe in keinem Zusammenhang mit diesem Funkspruch.“ „So, so“, bemerkte der Oberst enttäuscht. „Das ist nicht erfreulich!“ Ossipow hatte kaum den Hörer aufgelegt, als das Telefon aufs neue klingelte. Der Oberst war überzeugt, daß der Anruf diesmal vom Krankenhaus kam. „Hier ist Kruglowa“, meldete sich überstürzt eine der Nachtschwestern. An ihrer Stimme erriet Ossipow, daß im Krankenhaus etwas Besonderes vorgefallen war. „Wissen Sie, was geschehen ist? Muchtarow ist soeben gestorben.“ „Gestorben?…“ Die Hoffnung, mit Hilfe Muchtarows den Fall zu klären,
war zunichte geworden. „Hatte er nicht mehr das Bewußtsein erlangt?“ fragte Ossipow. „Nein“, erwiderte die Schwester hastig. „Aber er phantasierte nach wie vor in Versen. Vielleicht war der Mann ein Dichter?“ „Menschen, die sich so einer Tätigkeit widmen, sind keine Dichter“, äußerte Ossipow voller Überzeugung. „Was für Gedichte hat denn Muchtarow gesprochen? Immer dieselben?“ fragte er, bereits ohne jede Hoffnung, etwas Neues zu erfahren. „Ich habe sie aufgeschrieben. Einen Augenblick bitte. Manchmal sind es nur einzelne Zeilen: ,Schwarz und dicht gleich undurchsicht’gen, nächtig dunklen Nebelschwaden, huschten aus den Zimmerecken, füllten mich mit tausend Schrecken.’ Es hat den Anschein, Afanassi Maximowitsch, als hätte er all das selbst verfaßt“, schloß die Krankenschwester. „Ist das alles, was er gesagt hat?“ „Nein, noch etwas. Anscheinend aus einem anderen Gedicht: ,Nun hebt sich der Schenkel, nun wackelt das Bein, Gebärden da gibt es vertrackte, dann klippert’s und klappert’s mitunter hinein, als schlug’ man die Hölzlein zum Takte.“ „Lesen Sie bitte noch einmal vor, etwas langsamer!“ bat Ossipow und begann eifrig zu schreiben. Es sind wahrhaftig Grabeslaute, die Muchtarow vor dem Tod in den Sinn kamen, dachte der Oberst. Nachdem er der Schwester gedankt hatte, wählte er Filins Nummer.
Dieser meldete sich sogleich. Der Oberst teilte ihm Muchtarows Tod mit und las ihm die Zeilen vor, die er aufgeschrieben hatte. „Die erste Zeile oder vielmehr die beiden ersten Zeilen stammen aus ,Der Rabe’ von Edgar Allan Poe“, entgegnete Film, nachdem er Ossipow angehört hatte. „Aber das zweite ist vermutlich ein anderes Gedicht. Das Versmaß ist anders. Nun muß ich bis zum Morgen aufbleiben, um die nach Edgar Allan Poe geborenen Dichter nachzulesen. Alle seine Vorgänger habe ich, wie man so sagt, bereits durchgearbeitet.“ Ossipow ging zu Fuß nach Hause. Sein Kopf war voll unklarer Gedanken und dunkler Vermutungen. Er dachte an Edgar Allan Poes Gedicht, an die „wilden, unerklärlichen Gebilde“ und die „undurchsicht’gen, nächtig dunklen Nebelschwaden“… Was bedeutete das alles? Welcher Sinn verbarg sich hinter diesen geheimnisvollen Worten? Von ihrer Enträtselung hing vielleicht das Schicksal vieler Menschen, die Sicherheit irgendeines Gebietes oder die Aufdekkung eines Staats- oder Militärgeheimnisses ab. Der Schlüssel der Geheimschrift Obwohl Ossipow in der Nacht wenig geschlafen hatte, erschien er wie gewöhnlich neun Uhr morgens zum Dienst. Er hatte kaum sein Arbeitszimmer betreten, als es nicht laut, aber energisch an die Tür klopfte und Oberstleutnant Filin eintrat. An seinem raschen Gang und dem frohen Gesichtsausdruck war zu sehen, daß Filin nicht umsonst die Nacht durchgearbeitet hatte. „Entziffert?“ fragte Ossipow schnell. „Jawohl, Afanassi Maximowitsch!“ entgegnete Filin erfreut und legte einen Band von Goethes Werken auf den Tisch.
Ossipow betrachtete das Buch und blickte verwundert auf. Er hatte angenommen, daß die Geheimschrift mit Hilfe des bei Muchtarow gefundenen Gedichtbandes zu entschlüsseln sei. Der Oberstleutnant zögerte eine Weile, als ergötze er sich an Ossipows Erstaunen, schlug dann, geheimnisvoll lächelnd, Seite 72 auf und zeigte mit dem Finger auf das dort abgedruckte Gedicht. „Hier, aus dem ,Totentanz’ hat Muchtarow phantasiert, Genosse Oberst! Ich habe mir bei einem Freund Rat geholt, der in der Literatur sehr bewandert ist. Und dieses Gedicht Goethes ist der Schlüssel zur Geheimschrift! Haben Sie bemerkt, daß die Zahlen der Geheimschrift in Gruppen gegliedert und nach Zeilen geordnet sind? Jede Zeile beginnt mit zwei einstelligen Zahlen. Das schien mir kein Zufall zu sein und brachte mich auf den Gedanken, daß für die Zusammenstellung des Codes Verse benutzt sein könnten, Und ich habe mich nicht geirrt. Die erste Zahl in der chiffrierten Zeile bedeutet die laufende Nummer der Strophe, die zweite die Zeile in der Strophe, und alle folgenden Zahlen sind die Nummern der Buchstaben in der Zeile.“ Man sah, daß der Oberstleutnant auf seine Findigkeit stolz war und ein Lob erwartete. Ossipow war jedoch nicht freigebig damit. Erst als er den chiffrierten Funkspruch selbst entziffert hatte, drückte er Filin voller Wärme die Hand. „Aber welche Bewandtnis hat es dann mit den ausländischen Gedichten, die Muchtarow bei sich hatte?“ fragte er gleich darauf. „Das ist mir zunächst auch noch unklar“, entgegnete Filin und zuckte die Achseln. „Sie spielen aber bestimmt irgendeine Rolle!“ sagte der Oberst überzeugt und entließ Filin.
General Sablin, der Vorgesetzte Ossipows, war den ganzen Morgen nicht im Hause, und noch nie hatte der Oberst mit solcher Ungeduld wie heute darauf gewartet, ihm die Ergebnisse der geleisteten Arbeit zu melden. Die Spione haben sich das recht geschickt ausgeklügelt, überlegte er. Für eine solche Geheimschrift sind weder Codetabellen noch Bücher, Zeitschriften oder Zeitungen erforderlich wie so oft. Man braucht sich nur irgendein Gedicht gut einzuprägen und die Anwendung mit dem Partner zu vereinbaren. Und kein Uneingeweihter wird jemals auch nur eine einzige chiffrierte Zeile lesen können… Und der Gedichtband? Vielleicht bestand die Absicht, sich seiner später einmal oder für irgendwelche besonderen Mitteilungen zu bedienen. Der Oberst nahm das Blatt zur Hand, auf dem der Text des entzifferten Funkspruchs geschrieben stand, und las ihn nochmals durch: „Senden Ihnen als Gehilfen den Radiofachmann Tair Alexandrowitsch Muchtarow mit einem neuen Funkgerät. Im August gehen Sie auf ein neues System über.“ Was war das für ein neues System? Eine andere Geheimschrift? Vielleicht irgendein neues Gedicht? Durchaus möglich, daß Muchtarow dem Gespenst den Gedichtband überbringen sollte, damit dieses bis August ein bestimmtes Gedicht erlerne. Wahrscheinlich sollte das neue Gedicht „Der Rabe“ von Edgar Allan Poe sein, und Muchtarow hatte im Fieber die auswendig gelernten Zeilen wiederholt.“ Der Oberst rieb sich die Hände und begann rasch im Zimmer hin und her zu gehen. Wieder läutete das Telefon. Filin war am Apparat. „Sagen Sie, Afanassi Maximowitsch, ist Muchtarows Funkgerät noch bei Ihnen?“ erkundigte er sich. „Ja. Und was wollen Sie damit?“ „Auf der Innenseite des Kastens stehen einige Zahlenrei-
hen, mit Bleistift geschrieben. Schauen Sie bitte nach, ob die Anfangszahlen der ersten und zweiten Zeile Achten sind.“ „Warten Sie einen Augenblick. Ich sehe gleich nach.“ Der Oberst öffnete schnell den Deckel des Funkgeräts, das in einer Ecke stand, und las auf der mattierten Innenfläche: 3 1 4 18 19 20 e 9 6 17 2 21 3 3 53 8 7 22 7 2 1 2 3 42 8 7 12 13 8 26 Dort standen außerdem noch andere Zahlenreihen. Der Oberst richtete jedoch seine Aufmerksamkeit allein auf diese zwei. Die ersten Zahlen sahen tatsächlich erst wie Achten aus, als er aber genauer hingesehen hatte, überzeugte er sich, daß es Dreien waren. „Sie haben sich geirrt, Boris Iwanowitsch“, sprach er in die Telefonmuschel, „es sind nicht Achten, sondern Dreien.“ „Dreien?“ fragte Filin. „Nun, dann sieht die Sache anders aus! Gestatten Sie mir, in fünfzehn Minuten zu Ihnen zu kommen?“ „Ich bitte!“ Pünktlich nach Ablauf einer Viertelstunde erschien Oberstleutnant Filin. Er hielt das Gedichtbändchen in der Hand. „Schauen Sie, bitte!“ sagte er aufgeregt, indem er die Seite aufschlug, wo „Der Rabe“ stand. „Lesen Sie die dritte Strophe: Seltsame, phantastisch wilde, unerklärliche Gebilde, Schwarz und dicht gleich undurchsicht’gen, nächtig dunklen Nebelschwaden, huschten aus den Zimmerecken, füllten mich mit tausend Schrecken, So daß ich nun bleich und schlotternd, immer wieder angstvoll stotternd,
Murmelte, mich zu beschwicht’gen: ,Einer von den Kameraden’, ,Einer von den Kameraden.“ Oberstleutnant Filin, ein ausgezeichneter Mathematiker und vernarrt in Logarithmen und Integrale, liebte auch die Poesie und versicherte, sie habe vieles mit der Mathematik gemein. Er las die Verse Edgar Allan Poes mit Ausdruck. „Klingt es nicht wundervoll? Aber achten Sie auf die erste Zeile dieser Strophe.“ Filin legte ein Blatt Papier vor Ossipow, schrieb darauf die ersten drei Wörter der Anfangszeile und numerierte alle Buchstaben wie folgt: Seltsame 12345678 phantastisch 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 w i l d e 21 22 23 24 25 „Jetzt ist ohne weiteres ersichtlich“, fügte er hinzu, „daß die Zahlen der Geheimschrift 4 18 19 20 6 9 6 17 2 21 die Buchstaben .Tschapaiew’ ergeben. Nehmen wir für das i ein j – dieser Buchstabe ist in der Zeile nicht vorhanden –, so erhalten wir ,Tschapajew’.“ Filin wandte das Blatt Papier um. „Und jetzt wiederholen wir die gleiche Prozedur mit der vierten Zeile derselben Strophe: So dass ich nun 12 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 b 1 e i c h und 1 1 1 1 1 1 19 20 3 4 5 6 7 8 21 n d s c h 1 o t ter 2 2 2 2 2 2 28 29 3 3 2 3 4 5 6 7 30 1 2
i m m e r w ied e r 3 3 3 3 3 3 39 40 4 4 2 3 3 4 5 6 7 8 41 a n g s t V o11 4 4 4 4 4 4 50 51 4 5 6 ? 8 9 52 s t 0 t t e rnd 5 5 5 5 5 5 59 60 3 4 5 6 7 8 61 Auf diese Zeilen beziehen sich die Zahlen 49 7 15 30 11 12 3 3 30 15 16 5 6 7 46. Entschlüsselt erhalten wir das Wort ,vierunddreißig’. Es ist anzunehmen, daß es sich hier um die Adresse Tschapajewstraße Nummer vierunddreißig handelt. Und in den folgenden Zeilen wird der Name des unter dieser Adresse wohnhaften Shanbajew Kanysch Nurtassowitsch mitgeteilt. Damit ist das Geheimnis des Gedichtbändchens gelöst. Es enthält offenbar den Schlüssel zu einem neuen Geheimschriftsystem der Spione.“ Ein Doppelgänger wird gesucht General Sablin betrat Ossipows Arbeitszimmer. Er war ein großer, hagerer Mann. Seine sonst schwarzen Haare waren an den Schläfen stark ergraut, doch sah er jünger aus als Ossipow, obwohl beide im gleichen Alter standen. Er durchmaß mit leichten Schritten das Zimmer und setzte sich, nachdem er O3sipow begrüßt hatte, rittlings auf einen Stuhl. Die dünnen, noch schwarzen Brauen des Generals hatten sich leicht gehoben. „Anscheinend ist es dir gelungen, irgend etwas herauszubekommen, Afanassi Maximowitsch?“ fragte er ruhig, obgleich Ossipow genau wußte, wie sehr dem General daran
gelegen war, eine Spur des berühmten und gefährlichen Gespenstes zu finden. „Ja, Ilja Iljitsch!“ „Hm!“ Sablin lächelte und sah Ossipow erwartungsvoll an. Er wußte, der Oberst pflegte keine leichtfertigen Äußerungen zu machen. Vor langer Zeit, es mochten bereits dreißig Jahre her sein, hatte Sablin Ossipow auf einem Lehrgang der Tscheka kennengelernt. Seitdem arbeiteten sie zusammen und waren eng miteinander befreundet. Der Unterschied im Dienstgrad tat auch jetzt der Freundschaft keinen Abbruch, jeder schätzte die Fähigkeiten des anderen. Bin neugierig, was er entdeckt hat! dachte Sablin, während er sich bequemer hinsetzte. „Es ist nahezu sicher, daß Muchtarow zum Gespenst gesandt wurde – als sein Gehilfe“, erklärte Ossipow. Doch gleich darauf stellten sich bei ihm selbst wieder Zweifel ein, und die geäußerte Vermutung schien ihm auf einmal gar nicht mehr so gewiß. Unwillkürlich senkte er die Stimme und fügte hinzu: „Der legale Name des Gespenstes ist wahrscheinlich Shanbajew, er wohnt in der Tschapajewstraße vierunddreißig. Eine solche Straße gibt es in Aksakalsk, das heißt dort, wo wir das Gespenst vermuten.“ „So, so!“ Der General nickte beifällig. „Laß uns einiges über das Gespenst ins Gedächtnis zurückrufen. Es hatte sich doch anscheinend auf den Osten spezialisiert?“ „Ja“, erwiderte Ossipow. „Mittelasien, den Nahen und Mittleren Osten scheint es gut zu kennen.“ „Es könnte sich durchaus, sagen wir einmal, als Kenner dex orientalischen Geschichte ausgeben?“ fragte Sablin rasch, einen plötzlich auftauchenden Gedanken präzisierend. „Ich nehme es an“, bestätigte Ossipow, der den Sinn der Frage sogleich begriff. „Das Gespenst hat seinerzeit im Intelligence Service gearbeitet und an verschiedenen Expeditionen
im Iran und in Afghanistan teilgenommen. Natürlich hat es sich dabei nicht so sehr mit der Ausgrabung von Altertümern als mit den militärischen Befestigungen an unserer Grenze beschäftigt. Es spricht viele orientalische Sprachen, auch die iranische. Russisch beherrscht es vollkommen.“ „Anscheinend lassen es die Lorbeeren des Obersten Lawrence nicht zur Ruhe kommen“, sagte Sablin lächelnd. „Ja. Als das Gespenst für die Engländer arbeitete, hatten sie es sogar den zweiten Lawrence genannt. Und es hat zu gleicher Zeit sowohl für sie als für die deutschen Faschisten und noch für jemand anders gearbeitet.“ „Es ist leichter zu sagen, für wen es nicht gearbeitet hat“, erklärte Sablin. „Ist seine Nationalität bekannt?“ Oberst Ossipow zuckte die Achseln. „Der Name Christoph, unter dem es eine Zeitlang bekannt war, läßt auf eine englische oder amerikanische Abstammung schließen. Doch hat es nachher seine deutschen, französischen und italienischen Namen so oft gewechselt, daß es sie wahrscheinlich selbst nicht mehr alle kennt. Nur sein Spitzname ,Das Gespenst’ hat sich bis auf den heutigen Tag erhalten.“ „Bei uns war es, soweit ich mich erinnere, im Jahre 1943?“ fragte Sablin. Dabei ging er in Gedanken alle seine Mitarbeiter durch, denen ein Zweikampf mit einem so gefährlichen Gegner zugemutet werden konnte. „Ja, während des Krieges“, bestätigte Ossipow. Wie viele schlaflose Nächte hatte ihm die Jagd nach dem Gespenst damals gekostet. „Es arbeitete für die faschistische Militärspionage. Leider gelang es ihm, ungestraft zu entkommen, obwohl wir ihm bereits auf der Spur waren. Seine Tätigkeit erstreckte sich damals fast auf dieselben Orte, in denen es sich jetzt aufhält. Vielleicht hat es zu jener Zeit auch schon irgendwelche Bekanntschaften angeknüpft.“
„Das ist durchaus möglich“, bemerkte Sablin. „Nun, und Muchtarow sollte also dem Gespenst ein neues Funkgerät überbringen und sich ihm zur Verfügung stellen?“ „Ja, sofern das Gespenst und Shanbajew ein und dieselbe Person sind“, antwortete Ossipow ausweichend. „Nun, und was konnte man noch erfahren?“ „Es ist gelungen, die Geheimschrift zu enträtseln, die alte, deren sich Shanbajew anscheinend jetzt noch bedient, und die neue, die Muchtarow ihm übergeben sollte. Gestatten Sie, daß ich Ihnen darüber nachher berichte. Ich vermute auch, daß das Gespenst einen erfahrenen Funktechniker brauchte. Offenbar sollte sich Muchtarow auf Grund der Papiere, die wir bei seiner Durchsuchung fanden, bei dem Gespenst einführen. Hier sind sie.“ Ossipow übergab Sablin einen Paß, der auf den Namen Tair Alexandrowitsch Muchtarow lautete, geboren in Alma-Ata im Jahre 1920, und einen Personalausweis, nach dem dieser ein Mitarbeiter des Alma-Ataer historischen Museums war. Der General sah alles aufmerksam durch, erhob sich dann und ging langsam im Zimmer auf und ab. „Immerhin sind wir nicht ganz sicher, daß wir es tatsächlich mit dem Gespenst zu tun haben“, bemerkte er nach einer Weile. „Völlig sicher sind wir natürlich nicht, doch liegt diese Vermutung nahe“, entgegnete Ossipow. „Urteilen Sie selbst: Nach den Aussagen des internationalen Agenten, den wir unlängst überführten, ist das Gespenst nach Mittelasien, ungefähr in das Gebiet von Aksakalsk, entsandt worden. In diesem Gebiet haben wir einen Sender angepeilt und einen Funkspruch entschlüsselt, nach dem irgendeinem Agenten ein Helfer gesandt wird. Diesem Mann, der im Zuge Moskau – Aksakalsk fuhr, sind wir auf die Spur gekommen. Er sollte
seinem Chef ein Funkgerät und ein neues Geheimschriftsystem übermitteln, also gerade das, wovon in dem aufgefangenen Funkspruch die Rede war. Wir erfuhren ferner, daß er zur Tschapajewstraße wollte. Eine Straße, die es in Aksakalsk wirklich gibt.“ „Entschuldige“, Sablin unterbrach Ossipow mit einer ungeduldigen Handbewegung, „gibt es denn eine Tschapajewstraße nur in Aksakalsk?“ „Ich habe mich genau darüber informiert“, erwiderte Ossipow ruhig. „Im gesamten Aksakalsker Gebiet gibt es nur eine Tschapajewstraße, und zwar in Aksakalsk selbst. Aber das ist noch nicht alles. In der Umgebung von Aksakalsk arbeitet eine archäologische Expedition der Kasachischen Akademie der Wissenschaften. Es ist leicht möglich, daß das Gespenst unter dem legalen Namen eines gewissen Orientologen Shanbajew an dieser Expedition teilnimmt. Deiner Meinung nach kann sich das Gespenst durchaus für einen Kenner der orientalischen Geschichte ausgeben. Denke auch an Muchtarows Personalausweis, der von seiner Zugehörigkeit zum Alma-Ataer historischen Museum spricht! Dazu kommt noch ein Umstand, den ich übrigens schon erwähnt habe: Das Gespenst hat sich während des Krieges in denselben Gegenden aufgehalten. Ich vermute, daß Shanbajew und das Gespenst ein und dieselbe Person sind. Es ist einfach unwahrscheinlich, daß in einem Gebiet zur gleichen Zeit zwei überragende Spione arbeiten.“ Ossipows Darlegungen schienen den General zu überzeugen, doch beeilte er sich nicht, dies auszusprechen. Erst nach Ablauf einiger Minuten bemerkte er: „Angenommen, es wäre wirklich so. Wen würdest du vorschlagen, sich in Muchtarow zu verwandeln, um an das Gespenst selbst heranzukommen?“
„Das ist keine leichte Frage“, entgegnete Ossipow überlegend. „Ob Shanbajew irgendwelche Angaben über Muchtarow gemacht worden sind, über sein Äußeres zum Beispiel?“ „Was kann er schon über sein Äußeres wissen?“ fragte Sablin, während er Muchtarows Personalausweis vom Schreibtisch nahm. „Ich halte es für ausgeschlossen, daß das Gespenst ein Foto von Muchtarow gesehen hat. Man wird ihm höchstens eine kurze Charakteristik über den Funk gegeben haben. Hat er irgendwelche besonderen Kennzeichen?“ „Du weißt doch sehr gut, daß Geheimagenten keine haben dürfen“, antwortete der Oberst und besah das Foto auf Muchtarows Personalausweis. „Dem Gespenst könnte nur Muchtarows Größe sowie die Farbe seiner Augen und Haare mitgeteilt worden sein.“ „Nun, und wen würdest du als seinen Doppelgänger ins Auge fassen?“ wiederholte Sablin seine Frage. „Alimow käme in Frage oder Kapitän Gunibekow“, erwiderte Ossipow, indem er sich die äußere Erscheinung der genannten beiden Mitarbeiter vorstellte. „Du gehst nur vom Äußeren aus.“ Der General verzog unwillig das Gesicht. „Ich kenne sowohl den einen wie den anderen. Sie werden diesem Gegner nicht gewachsen sein. Hier ist eine wesentlich größere Erfahrung notwendig. Wie denkst du über Major Jerschow?“ „Über Jerschow?“ „Nun ja, ja, über Jerschow!“ wiederholte der General mit leicht erhobener Stimme. „Ich weiß, daß du mit ihm nicht eben gut auskommst, ich bin jedoch anderer Meinung über ihn. Jerschow besitzt große Erfahrung, noch vom Krieg her. Oberst Astachow hatte sich immer günstig über ihn geäußert. Bei dir ist er allerdings etwas eingerostet das ist jedoch deine Schuld. Du hast ihn nicht richtig eingesetzt.“ „Gut“, lenkte der Oberst nach einigem Schweigen ein,
„nehmen wir an, Major Jerschow besitze tatsächlich alle Eigenschaften, die für diese schwierige Aufgabe erforderlich sind. Aber das Äußere? Eine Ähnlichkeit muß doch wenigstens annähernd vorhanden sein.“ „Die ist meiner Ansicht nach auch da.“ Sablin beharrte auf seinem Standpunkt. „Der Wuchs ist ungefähr der gleiche, die Gesichtsfarbe ebenfalls, und die Augen sind schwarz.“ „Und das Gesicht?“ unterbrach Ossipow den General. „Er sieht doch aus wie ein Heldendarsteller… oder wie das bei den Theaterleuten sonst heißen mag! Ilja Iljitsch, wo denkst du hin! Jerschow fällt jedermann auf. Und außerdem trägt er noch einen Schnurrbart.“ „Nun, den kann man wegrasieren“, entgegnete Sablin ruhig. „Aber was den ,Schauspieler’ angeht, so trifft das den Nagel auf den Kopf. Ein guter Mitarbeiter der Spionageabwehr muss Schauspieler sein und sich verwandeln können. Und ich halte Jerschow für einen fähigen Mitarbeiter. Er wird sich in Muchtarows Rolle einleben. Wir müssen uns aber über noch etwas schlüssig werden…“ Sablin nahm wieder Platz. „Wie hat sich Jerschow dem Gespenst gegenüber zu verhalten? Ich denke, er soll es nicht sofort verhaften, damit wir auch seine Mitarbeiter fassen können.“ Major Jerschow hat schlechte Laune Es war Sonntag. Trotzdem hatte Major Jerschow, wie übrigens die ganzen letzten Tage, schlechte Laune. Schon seit zwei Stunden lag er auf der Couch, ohne zu schlafen oder zu lesen. Selbst das Denken fiel ihm schwer. Seine Gedanken wanderten hin und her, hüpften wie die Spatzen am Fenster, die des Majors Liebling, der Kater Dimka, aufmerksam und mit steifen Ohren beobachtete. Sogar das Telefon ärgerte Jerschow heute, und er stellte es
ab. Die Arbeit in der Abteilung des Obersten Ossipow machte dem Major keine Freude. Es war langweilig, fremde Berichte zu studieren, Korrespondenzen zu erledigen, Anweisungen zu erteilen und dabei nahezu jedes Wort mit dem nörglerischen und pedantischen Oberst abzustimmen. Wie anders war es unter General Pogodin gewesen. Dort hatte es wirkliche Arbeit gegeben, voller Gefahren und unter Anspannung aller geistigen und körperlichen Kräfte! Jerschow seufzte und drehte sich mit einem so heftigen Ruck auf die Seite, daß die Federn der Couch quietschten. Der Kater Dimka riß sich für einen Augenblick vom Anblick der Spatzen los und schaute seinen Herrn verwundert an. Es war ein großer schwarzer Kater mit heller Brust und weißen Pfoten. Jetzt sprang er vom Fensterbrett, schritt, sich leise wiegend, zur Couch, schaute seinem Herrn in die betrübten Augen und legte sich an seiner Seite nieder. Jerschow freute sich über Dimkas Gesellschaft. „Nun, Dimka, was haben Sie auf dem Herzen?“ fragte er. Wenn Jerschow mißmutig war, pflegte er den Kater mit „Sie“ anzureden. Dimka verstand zwar nicht die menschliche Sprache, kannte sich aber vorzüglich im Tonfall der Stimme aus. Das betrübte Schnurren, mit dem er auf die Frage seines Herrn antwortete, schien anzudeuten, daß er dessen düstere Gedanken durchaus teile. „Und was meinen Sie dazu, mein Lieber, wenn wir einen Antrag auf Versetzung in eine andere Abteilung stellten oder, noch besser, in eine andere Stadt?“ Anscheinend hatte Dimka nichts dagegen einzuwenden. „Was, zum Teufel, sollen wir hier noch länger verschimmeln? Was halten Sie da-
von?“ Die Meinung Dimkas blieb ungeklärt, denn sein Herr setzte ihn plötzlich auf den Fußboden, warf seinen Rock über die Schulter und ging zur Wohnungstür – jemand hatte recht kräftig auf die Klingel gedrückt. Als er die Tür öffnete, stand Sablin vor ihm. „Genosse General?“ rief Jerschow verwundert aus und zog sich hastig den Rock hoch, der ihm von der einen Schulter gerutscht war. „Wie Sie sehen! Aber warum gehen Sie nicht ans Telefon, mein Lieber? Ich habe Sie angerufen. Ist Ihr Apparat nicht in Ordnung?“ „Er scheint nicht recht zu funktionieren“, erwiderte Jerschow mit schlechtem Gewissen, während er Sablin vorangehen ließ. Der General wohnte im selben Hause wie der Major – einige Stockwerke tiefer. Mitunter lud er Jerschow zu sich ein oder kam zu ihm, entweder um dienstliche Angelegenheiten zu besprechen oder eine Partie Schach mit ihm zu spielen. „Sind Sie denn mit Dimka allein zu Hause?“ erkundigte er sich, als er ins Zimmer trat und sich neben dem Kater, der eben einen Buckel machte, auf der Couch niederließ. „Ist Anna Petrowna nicht da?“ „Sie ist zu ihrer Schwester gefahren,“ „Nun, dann wird uns niemand stören, eine sehr wichtige Angelegenheit zu besprechen. Setzen Sie sich, Andrej Nikolajewitsch, und hören Sie gut zu.“ Eine gefährliche Reise steht bevor Drei Tage brauchte Jerschow, um sich für die von General Sablin gestellte Aufgabe vorzubereiten. Er studierte die Geheimcodes Muchtarows und Shanbajews und übte sich in deren schnellem Gebrauch. Er machte einige praktische ra-
diotechnische Übungen mit Ingenieuren und Funkmeistern, Fachleuten der Montage und Reparatur von Funkgeräten, und studierte eingehend Muchtarows Apparat. Am vierten Tage erschien Jerschow bei General Sablin und meldete ihm, daß er für die Aufgabe genügend vorbereitet sei. „Ich werde Sie nicht examinieren, Andrej Nikolajewitsch“, bemerkte der General und betrachtete den Major freundlich, „Sie sind kein Anfänger. Doch muß ich Sie noch einmal darauf aufmerksam machen, daß Sie es mit einem Gegner zu tun haben, der mit allen Wassern gewaschen ist. Ihm geht der Ruf voraus, daß er nicht zu fassen sei. Deshalb hat er auch den Namen ,Gespenst’ erhalten. Wir haben bereits Erkundigungen in Aksakalsk eingezogen. Unter der Adresse ist wirklich ein Kandidat der Geschichtswissenschaften, Kanysch Shanbajew, gemeldet, den jedoch bis jetzt kein Mitarbeiter vom Ministerium des Innern zu Gesicht bekommen hat. Um das Gespenst nicht zu verscheuchen, habe ich Anweisung erteilt, vorläufig nichts gegen Shanbajow zu unternehmen und sich nicht übermäßig für ihn zu interessieren. Die Verbindung mit uns werden Sie über Leutnant Malinowkin aufrechterhalten, den wir Ihnen beigeben. Alles klar?“ „Jawohl, Genosse General!“ Als Sablin Jerschow nochmals von allen Seiten angeschaut hatte, blieb sein Blick auf dem Schnurrbart des Majors haften, und er fragte lächelnd: „Wird es Ihnen nicht leid tun, sich von Ihrem Schnurrbart zu trennen?“ „Vielleicht brauche ich es gar nicht?“ warf Jerschow ein. „Ich werde ihn nur auf orientalische Art stutzen.“ Sablin dachte nach. „Das wäre gar nicht so übel“, sagte er dann, wobei er sich vorstellte, wie Jerschow in einem Seidenhemd und mit bun-
tem Käppchen aussehen würde, und fügte heiter hinzu: „Beraten Sie sich darüber mit Alimow. Ein Käppchen können Sie tragen, aber sonst nichts Orientalisches, es sähe zu sehr nach Maskerade aus. Sie fahren morgen früh. Gewöhnen Sie sich an Ihren neuen Namen. Von morgen an sind Sie bereits Muchtarow.“ Zu Hause sah sich Jerschow nochmals die Sachen an, die man in den Taschen und im Koffer Muchtarows gefunden hatte. Er mußte sich in diesen Menschen hineinversetzen: Wie würde er sich im Zug verhalten, wie würde er mit Shanbajew zusammentreffen? Es galt, sich rechtzeitig mit Muchtarows Rolle vertraut zu machen, um bei der Begegnung mit dem Feind keine Fehler zu begehen. Jerschow dachte an Leutnant Malinowkin. Es war ihm gar nicht recht, daß man ihm diesen Jungen beigegeben hatte. Er kannte Malinowkin wenig. Er wußte über ihn nur, daß er ein ausgezeichneter Funker und Radiotechniker war. Jerschow wollte sich aber noch vor der Fahrt mit ihm bekannt machen. Malinowkin kam vor dem Mittagessen. Er trug einen Koffer in der rechten Hand; über den anderen Arm hatte er ein leichtes graues Jackett geworfen. Der Kragen des hellen Hemdes war aufgeknöpft und ließ den von der Sonne gebräunten Hals frei. Das Gesicht des Leutnants sah sehr jung aus, sein Lächeln wirkte ein wenig schüchtern. Jerschow schätzte ihn gleich nach dem ersten Blick als einen guten Kerl ein. „Machen wir uns bekannt, Genosse Malinowkin! Wie ist Ihr Vorname?“ „Dmitri… Dmitri, Genosse Major“, entgegnete Malinowkin verlegen. Er wußte nicht, wo er den Koffer hinstellen sollte. „Und ich bin Andrej Nikolajewitsch. Das behalten Sie, und den Major bitte ich zu vergessen. Dieser Name gilt übrigens
nur für den heutigen Tag. Von morgen an heiße ich Muchtarow. Den Koffer stellen Sie da hin; wenn meine Mutter zurückkommt, wird sie ihn irgendwo unterbringen. Sie haben die Absicht, mit allem Komfort zu reisen?“ Jerschow deutete lächelnd auf den Koffer. „Sie haben mehr Sachen mitgenommen, als erlaubt ist.“ „Ich habe doch nur…“, begann Malinowkin. Jerschow unterbrach ihn jedoch: „Macht nichts, macht nichts, ich werde Sie, falls nötig, erleichtern. Kommen Sie, wir wollen unsere Angelegenheit besprechen.“ Im Zimmer des Majors betrachtete Malinowkin vor allem den Bücherschrank, und als Jerschow ihm einen Stuhl anbot, setzte er sich so, daß er die Buchrücken hinter der Glastür sehen konnte. Während der Major mit ihm sprach, überflog er mit den Augen die Titel der Bücher. In der Hauptsache entdeckte Malinowkin Werke militärischer Art, was ihn nicht weiter wundernahm. Dagegen sah er in einem Regal daneben Werke, die er in der Bibliothek eines Mitarbeiters der Spionageabwehr keinesfalls vermutet hatte. Diese Entdeckung hob seine Achtung dem Major gegenüber, obwohl er auch ohnedies viel Gutes über ihn gehört hatte. „Ich hoffe, Sie sind mit der Aufgabe bereits vertraut gemacht worden, Dmitri…“ Jerschow stockte, er kannte Malinowkins Vatersnamen noch nicht. „Nennen Sie mich einfach Mitja*“, bat dieser, wiederum verlegen lächelnd. „Gut“, sagte Jerschow und lächelte ebenfalls. Er betrachtete den athletischen Körper Malinowkins; der junge Mann mußte ein ausgezeichneter Sportler sein. „Nun also, Mitja, wissen Sie, was wir zu tun haben?“ „Ja, in großen Zügen, Genosse Major… entschuldigen Sie Andrej Nikolajewitsch.“
„Also gut. Morgen früh fahren wir – ich mit der Taxe, Sie im Autobus. Wir treffen uns im Zuge, im Abteil. Dort werden wir ,zufällig’ Nachbarn sein und uns miteinander ,bekannt machen’. Ich werde mich als Tair Alexandrowitsch Muchtarow ,vorstellen’, Mitarbeiter des Alma-Ataer Museums, der in wissenschaftlichem Auftrage nach Aksakalsk fährt. Sie werden sich mir gegenüber als junger, zum Eisenbahnbau abkommandierter Eisenbahner ausgeben. Vor- und Zunamen zu ändern liegt für Sie kein Grund vor. Es bleibt uns nur noch übrig, ein passendes Fachgebiet für Sie zu finden.“ „Vielleicht Streckentelegraphist oder sogar Funker“, schlug Malinowkin vor. „Darauf verstehe ich mich.“ „Ausgezeichnet“, erklärte Jerschow. „Ich werde gleich anrufen, und Sie erhalten eine entsprechende Bescheinigung. Nun, und jetzt gehen wir essen.“ Fast die ganze Strecke von Moskau bis Kuibyschew spielten Jerschow und Malinowkin Schach. Sie unterschieden sich in keiner Weise von den übrigen Reisenden – Menschen verschiedenster Berufe und mehrerer Nationalitäten. Der Major trug ein langes Seidenhemd mit einem dünnen kaukasischen Riemen, auf dem eine Unmenge Silberplättchen glänzten; den Kopf bedeckte ein buntes Käppchen. Der Leutnant steckte in derselben Kleidung, in der er gestern zu Jerschow gekommen war. Mit ihnen im Abteil saßen zwei bejahrte Rentnerinnen. Diese harmlosen Frauen waren für Jerschow und Malinowkin recht gefährliche Reisegefährtinnen. Beide waren sehr neugierig und stellten Fragen ohne Ende. Um sie abzulenken, führte ihnen Malinowkin, der sich als Telegraphist vorgestellt hatte, durch unwahrscheinlich schnelles Klopfen erdachter Texte seinen Beruf vor. Dabei machte er einen
solchen Lärm, daß die beiden alten Frauen sich erst die Ohren zuhielten und nachher auf dem Gang nach anderen Gesprächspartnern suchten. Bald danach war Kuibyschew erreicht, und die beiden Frauen stiegen aus. Sie verabschiedeten sich herzlich von ihren Reisegefährten, dankten ihnen für die Gesellschaft und baten Jerschow-Muchtarow um seine Alma-Ataer Adresse, da sie ihn gelegentlich aufsuchen wollten, um Obst von ihm zu holen, das er während der ganzen Fahrt so angelegentlich gelobt hatte. Die frei gewordenen Plätze wurden sogleich von zwei jungen Männern in Eisenbahneruniform eingenommen. An den Schulterstücken des einen erkannte man, daß er Leutnant, und zwar Techniker war. „Wie weit geht die Reise, junge Leute?“ fragte sie Jerschow. „Weit, bis Perewalsk“, antwortete der junge Mann ohne Rangabzeichen. „Und was wollt ihr dort machen – falls es kein Geheimnis ist?“ fragte Jerschow wiederum. „Wir fahren auf Arbeit. Dort kann man gut verdienen, beim Eisenbahnbau“, antwortete lächelnd derselbe junge Bursche. Der andere mit den Schulterstücken warf ihm einen bösen Blick zu. „Nun aber Schluß. Hör auf, den Raffer zu spielen! Ich bin Lokführer“, erklärte er, „und das ist mein Gehilfe. Wir waren früher an der Zweigbahn Kuibyschew – Gidrostroi beschäftigt, und jetzt arbeiten wir bereits das zweite Jahr beim Bau der neuen Strecke. Wir waren im Urlaub.“ „Wir sind überhaupt immer dort, wo es am schwierigsten ist“, sagte der Lokführergehilfe im gleichen spöttischen Ton wie vorher. „Das ist nicht von mir, ich wiederhole nur seine Worte“, er deutete dabei auf den Lokführer. „Mich reizt vor allem der Verdienst.“
Malinowkin ärgerte sich über den Burschen, das sah man seinem Gesicht an. Der Lokführer lächelte. „Lassen Sie ihn. Er macht nur Spaß. Glauben Sie vielleicht, ich hätte ihn sonst mit nach Mittelasien genommen? Er wollte sich nicht von mir trennen. Und was den Lohn anbetrifft, so haben wir am Gidrostroi sogar mehr verdient.“ Jerschow war ein guter Menschenkenner. Der Lokführer und sein Kamerad, der Witzbold, hatten ihm vom ersten Augenblick an gefallen. „Nun, wollen wir uns bekannt machen“, sagte Jerschow heiter und reichte dem Lokführer die Hand: „Tair Alexandrowitsch Muchtarow, Wissenschaftler aus Alma-Ata.“ „Konstantin Schatrow“, stellte sich der Lokführer vor und wies auf seinen Gehilfen: „Und das ist Fjodor Rjabow.“ Einige Stunden später, als der Zug sich Ischimbajewo näherte, aßen die Reisegefährten zu Abend und leerten die von Rjabow mitgebrachte Halbliterflasche Wodka. Die Unterhaltung wurde lebhafter. Die Eisenbahner erzählten so viel über ihre Arbeit und ihre Pläne, daß sie sich nicht ein einziges Mal nach den Absichten ihrer Reisegefährten erkundigten, worüber diese außerordentlich erfreut waren. Schließlich rückte Rjabow auch mit der eigentlichen Ursache heraus, weshalb sie sich nach Mittelasien gemeldet hatten. Schatrow versuchte einige Male, den Kameraden zurückzuhalten, doch der gab folgendes zum besten: „Natürlich fahren wir nach Mittelasien“, so philosophierte er, „weil wir dabeisein müssen, wenn eine neue große Strekke gebaut wird. Da steckt aber noch etwas anderes dahinter: die Liebe. Ja, ja! Lachen Sie nicht! Und du brauchst mich gar nicht anzustoßen, lieber Kostja. Wir sind doch hier unter uns und brauchen uns nicht zu genieren. Und schließlich -
was ist das schon für ein Geheimnis, wenn beinahe die gesamte Kuibyschewer Eisenbahn davon weiß! An der neuen Dienststelle ist es anscheinend auch kein Geheimnis mehr.“ Rjabow sagte das alles in ernstem Ton, doch war es Jerschow klar, daß er seinen Freund neckte. „Also“, fuhr Rjabow fort, „bei uns befindet sich ein Mädchen, Olga Wassiljewna Belowa. Eisenbahningenieurin ist sie – und bildhübsch! Sie können sich auf meinen Geschmack verlassen. Erst arbeitete sie mit uns im Abschnitt Kuibyschew-Gidrostroi; dann wurde sie an die neue Baustelle in Mittelasien versetzt. Verstehen Sie jetzt, weshalb es uns auch dahin zog?“ Lächelnd fügte er hinzu: „ Uns sage ich nur der Form halber. Gezogen hat es vor allem Kostja.“ „Unsinn!“ Schatrow schien ernstlich böse zu sein. „Es gibt bei uns eine Ingenieurin Belowa – das stimmt. Daß sie mir gefällt, will ich auch nicht abstreiten. Alles übrige ist Blödsinn.“ Shanbajew ändert seine Adresse In Aksakalsk mußten Schatrow und Rjabow umsteigen und nach Perewalsk weiterfahren. Jerschow gab seinen Koffer in der Gepäckaufbewahrung ab und ging dann auf den Bahnhofsvorplatz hinaus. Malinowkin blieb im Wartesaal zurück. Die Sonne stand schon recht hoch und brannte unbarmherzig. Die niedrigen Gebäude gaben fast keinen Schatten, die hie und da wachsenden Bäume waren noch kümmerlich, und das Käppchen auf Jerschows Kopf bildete nur einen dürftigen Schutz gegen die Sonnenglut. Endlich hatte er die Tschapajewstraße erreicht, Die Häuser waren hier noch niedriger und unscheinbarer und hatten kleine Höfe, in denen einige spärliche Pflanzen wuchsen.
Das Haus Nummer vierunddreißig unterschied sich in keiner Weise von den übrigen, nur die Tür war von innen mit einem Haken oder Riegel abgesperrt. Jerschow rüttelte mehrmals an der Klinke. Nichts rührte sich. Schließlich entdeckte er an der Seite einen Eisenring und zog daran. Ein heiseres Knarren und das Bellen eines Hundes erklangen. Eine Stimme schrie den Hund an. Der Major hörte schwere Schritte und dann das Zurückschieben des Riegels. Die Tür wurde nur so weit geöffnet, daß ein Mann seinen Kopf durch den Spalt stecken konnte. Er war alt, sein Gesicht hatte viele Falten. Die Lider ließen nur schmale Schlitze der weit auseinanderstehenden Augen sehen. „Zu wem wollen Sie?“ fragte er, wobei er Jerschow argwöhnisch musterte. „Zu Kanysch Shanbajew“, antwortete Jerschow und verneigte sich lächelnd vor dem Alten. „Ich komme zu ihm aus Alma-Ata, aus dem historischen Museum… Muchtarow.“ „Muchtarow?“ Der Greis zog verwundert seine dünnen grauen Brauen hoch und schnitt ein Gesicht, als sei ihm etwas Saures in den Mund gekommen. „Nun ja, Muchtarow!“ wiederholte Jerschow hastig. Er war beunruhigt. Sollte er doch an eine falsche Adresse geraten sein? „Tair Alexandrowitsch Muchtarow.“ „Ach, Tair Alexandrowitsch!“ rief plötzlich der Alte mit freudigem Lächeln und machte die Tür weit auf. „Komm bitte herein! Entschuldige, daß ich dich warten ließ. Diesen Gang, bitte, damit dir der Hund nicht die Hosen zerreißt… Kusch dich, Verdammter!“ Er hob die Hand zum Schlage gegen den Hund, der an der Kette riß. „Ein böses Vieh! Hierher, lieber Tair Alexandrowitsch. Bück dich bitte, damit du dich nicht stößt.“
Der Alte führte Jerschow in ein geräumiges, gut möbliertes Zimmer. Das wunderte den Major, denn der Alte selbst war recht ärmlich gekleidet. „Nimm bitte Platz!“ Er schob Jerschow einen Stuhl hin und reichte ihm seine faltige gelbe Hand. „Ich bin der Wohnungsinhaber – Abdullah Dshanderbekow.“ „Wo ist denn Kanysch?“ fragte Jerschow vorsichtig. Er hielt den Alten für falsch. Sein Gefühl sagte ihm, daß dieser ihm nicht traue. Oder täuschte er sich? „Entschuldige, bitte, Kanysch ist nicht da.“ Abdullah breitete die Hände auseinander. Seine Augen wurden groß, und sein Mund verzog sich zu einem heuchlerischen Lächeln. „Er ist fortgefahren, aber er bat, dir einen Brief zu übergeben. Kanysch arbeitet wissenschaftlich, sammelt Material. Muß viel umherfahren.“ Nach diesen Worten begann der Alte in der oberen Schublade einer Kommode zu wühlen, ohne dabei den Major aus den Augen zu lassen. Nachdem er schließlich einen versiegelten Umschlag hervorgeholt hatte, reichte er ihn Jerschow mit dem gleichen falschen Lächeln. Jerschow öffnete den Umschlag und las das an Muchtarow gerichtete Schreiben: „Lieber Tair Alexandrowitsch! Verzeihen Sie, daß ich nicht auf Sie gewartet habe. Ich mußte dringend zu den Ausgrabungsstätten reisen. Es sind neue aufschlußreiche Feststellungen über die Geschichte dieser alten Orte gemacht worden. Es ist Ihnen doch sicher bekannt, daß Aksakalsk an der ehemaligen Karawanenstraße Mittelasien-Westsibirien liegt. Die archäologischen Ausgrabungen bieten uns Historikern doch viel Interessantes! Falls Sie mich sehen wollen, ehe ich nach Aksakalsk zurückkehre, was nicht vor dem 26. bis 28. der Fall sein wird, so kommen Sie an den Weißen See. Es ist
nicht weit, etwa dreißig bis fünfunddreißig Kilometer von Aksakalsk. Suchen Sie dort das Lager der Archäologen auf und fragen Sie nach mir. Auf baldiges Wiedersehen, lieber Tair Alexandrowitsch! Ihr Kanysch Shanbajew.“ Jerschow las den Brief durch und sah, daß er auf einem Blatt geschrieben stand, das offenbar aus einem ArithmetikLehrbuch herausgerissen worden war. Die eine Seite war leer gewesen, während auf der anderen einige Spalten mit Rechenbeispielen standen. Jerschow kam der Gedanke, daß das kein Zufall sei, und er schaute sich die Zahlen aufmerksam an. Bald entdeckte er, daß über einigen Zahlen das Papier mit einer Federspitze kaum merklich eingeritzt war. Gegen das Licht waren diese Stellen gut sichtbar. Um jedoch die Geheimschrift lesen zu können, mußte Jerschow den „Totentanz“ vor Augen haben, und der stand in seinem Notizbuch. So steckte er den Brief erst einmal in die Tasche. „Wahrscheinlich werde ich das tun“, wandte sich Jerschow höflich an den Alten und erklärte: „Shanbajew schlägt mir vor, ihn am Weißen See aufzusuchen.“ Mit diesen Worten verabschiedete er sich von Abdullah und ging zur Tür. Dieser begleitete ihn bis zur Pforte und bat ihn, Shanbajew zu grüßen. Als Jerschow das Haus verlassen hatte, ging er eine Weile in Richtung Bahnhof. Nachdem er sich jedoch überzeugt hatte, daß ihm niemand gefolgt war, wandte er sich dem Stadtzentrum zu. Er suchte die Dienststelle des Ministeriums des Innern auf und begab sich zu Oberstleutnant Ibrahimow, der bereits von Moskau über Jerschows Mission unterrichtet worden war. „Womit kann ich Ihnen helfen, Genosse Major?“ fragte er, Jerschow kräftig die Hand schüttelnd.
„Was wissen Sie über Shanbajew, der sich bei Dshanderbekow einquartiert hat?“ fragte Jerschow, während er die massige Gestalt und das gutmütige Gesicht Ibrahimows betrachtete, die in keiner Weise der über ihn verbreiteten Meinung als eines recht energischen und zielbewußten Vorgesetzten entsprachen. „Uns ist bisher nur bekannt, daß Shanbajew hier als vorübergehend gemeldet wohnt und zu den Mitgliedern der archäologischen Expedition der Kasachischen Akademie der Wissenschaften zählt, die seit reichlich einem Monat hier arbeitet. Wir haben uns Einblick in das Teilnehmerverzeichnis verschafft. Darin kommt auch der Name Shanbajew vor. Wir wollten uns eingehender über ihn erkundigen, wurden aber von Moskau angewiesen, ihn vorläufig in Ruhe zu lassen.“ „Geben Sie mir bitte Papier und gestatten Sie mir, hier bei Ihnen einen Brief zu entschlüsseln“, bat Jerschow, indem er Shanbajews Schreiben hervorholte. Er setzte sich an Ibrahimows Schreibtisch und entzifferte ziemlich rasch das chiffrierte Schreiben, wobei sich folgender Text ergab: „Der Treffpunkt ändert sich. Die neue Adresse ist: Perewalsk, Oktjabrskaja dreiundfünfzig. Fragen Sie nach Askar Dshanderbekow, er ist der Sohn Abdullahs.“ Jerschow gab Ibrahimow den entschlüsselten Text zu lesen und erkundigte sich, wie weit es von Perewalsk bis zum Weißen See ist. „Die Entfernung ist fast die gleiche wie von Aksakalsk. Dort befindet sich irgendeine Station der Expedition.“ „Ich werde hinfahren müssen“, entschied Jerschow. „Und Sie lassen das Haus Dshanderbekows beobachten. Der Feind ist äußerst vorsichtig – scheuchen Sie ihn nicht auf.“ Jerschow verabschiedete sich von Ibrahimow und eilte zum
Bahnhof. Malinowkin wartete voller Ungeduld auf ihn. Er saß auf seinem Koffer und tat, als sei er eifrig in seine Zeitung vertieft, während er aufmerksam jeden beobachtete, der den Raum betrat. Als er Major Jerschow bemerkte, gähnte er und begann ohne Hast die Zeitung zusammenzulegen. Dann stand er auf und ging mit gleichgültiger Miene dem Ausgang zu. Major Jerschow war nahe der Tür stehengeblieben, und als Malinowkin vorüberging, flüsterte er ihm kaum hörbar zu: „Lösen Sie eine Fahrkarte nach Perewalsk für den Abendzug. Erwarte Sie im Bahnhofsrestaurant.“ Das Gespenst erteilt einen Auftrag Jerschow und Malinowkin kamen am frühen Morgen in Perewalsk an. Der Bahnhof machte einen staubigen und unansehnlichen Eindruck. Von Grünanlagen war hier nichts zu sehen. „Alles andere als Sotschi“, äußerte Malinowkin mit einem Seufzer, während er sich nach allen Seiten umschaute. „Soll ich hier auf Sie warten?“ „Nein“, erwiderte Jerschow, während seine Augen das Schild mit der Aufschrift „Gepäckaufbewahrung“ suchten. „Der Bahnhof ist klein, wenig Menschen – man fällt auf. Gehen Sie in die Bauverwaltung, fragen Sie an, ob Sie hier in Perewalsk als Telegraphist arbeiten können. Und dann kommen Sie zum Bahnhof zurück. Ich nehme an, daß wir uns in anderthalb bis zwei Stunden am Gepäckschalter treffen können.“ Da Perewalsk nicht groß war, beschloß Jerschow, niemand zu fragen und die gewünschte Adresse selbst ausfindig zu machen. Dazu mußte er die ganze Stadt durchqueren und längere Zeit umherstreifen. Doch endlich entdeckte er die
Oktjabrskaja Straße. Hier hatte man Pappeln angepflanzt und auch einige Birken. Hinter den Höfen der kleinen Häuschen sah man Gemüsegärten und Sträucher mit rauhen, spitz zulaufenden Blättern. Das Haus Nummer dreiundfünfzig war beinahe das letzte in der Straße. Es erinnerte Jerschow irgendwie an Abdullahs Häuschen in Aksakalsk. Nur war die Pforte nicht abgesperrt, und auf dem Hof bellte kein Hund. Auch die Haustür stand offen. Jerschow hatte bereits ie Schwelle überschritten, als ihm ein Mann in mittleren Jahren mit mongolischem Gesichtsschnitt entgegenkam. Jerschow stellte eine gewisse Ähnlichkeit mit Abdullah an ihm fest. „Sie sind Genosse Askar Dshanderbekow?“ fragte er ihn. „Ja.“ Der Mann betrachtete Jerschow scharf aus den halb geöffneten Augen. „Kommen Sie zu mir persönlich?“ „Ich will zum Genossen Shanbajew“, entgegnete der Major und überlegte angestrengt, in welcher Beziehung dieser Mensch zu dem Gespenst stehen könne. „Ich komme aus Alma-Ata. Mein Name ist Muchtarow.“ „Ah, Genosse Muchtarow!“ Askar Dshanderbekow war sogleich wie umgewandelt und streckte Jerschow freundlich die Hand entgegen. „Sie werden bereits erwartet. Treten Sie bitte näher. Genosse Shanbajew ist zwar im Augenblick nicht im Hause, hat mich aber gebeten, Sie freundschaftlich zu begrüßen.“ Jerschow trat in ein geräumiges Zimmer, dessen Wände mit Seiten einer Eisenbahnzeitschrift beklebt waren. Daraus und weil außerdem der Hausherr einen Eisenbahnerrock trug, schloß Jerschow, daß Askar bei der Eisenbahn arbeite. „Ich habe mir vorgenommen, das Zimmer zu tapezieren“, Askar deutete verlegen auf die Wände, „aber die Zeit reicht nicht. Der Anfang ist bereits gemacht, doch komme ich nicht dazu, die Tapeten anzukleben. Im Augenblick habe ich sehr viel zu
tun. Ich leite bei der Eisenbahn die Reserveabteilung für Schaffner.“ Askar sprach ein ziemlich reines Russisch mit kaum merklichem Akzent. Die Vorsicht, die aus seiner ersten Frage herauszuhören war, hatte sich in Herzlichkeit verwandelt. Dem Gast den Vortritt lassend, bat er ihn in ein zweites Zimmer, das ebenfalls mit Zeitungen ausgeklebt war. An einer Wand stand ein Sofa und am Fenster ein kleiner Schreibtisch mit darauf ausgebreiteten Büchern über Geschichte und Archäologie. „Hier können Sie sich niederlassen“, sagte Askar freundlich und stellte Jerschow einen Stuhl hin. „Das ist das Zimmer des Genossen Shanbajew. Er hat gebeten, Sie mit ihm zusammen unterzubringen. Ich werde Ihnen ein zweites Sofa hereinstellen. Ach ja!“ Plötzlich fiel ihm etwas ein, und er fuhr sich mit der Hand an die Stirn. „Genosse Shanbajew hat gebeten, ihn zu entschuldigen, er werde zwei, drei Tage abwesend sein. Es sind neue Funde gemacht worden.“ Askar schien jetzt erst aufzufallen, daß Jerschow nichts in Händen hatte. Er fragte: „Ihre Sachen haben Sie wahrscheinlich auf dem Bahnhof gelassen?“ „Ja, wissen Sie, ich wollte mich in einer fremden Stadt nicht damit herumschleppen“, erwiderte Jerschow, während er die Bücher auf Shanbajews Tisch betrachtete. „Außerdem war ich nicht sicher, ob ich hier jemand antreffen würde.“ „Nun, jetzt kennen Sie den Weg. Richten Sie sich hier ein, als seien Sie zu Hause. Ich gebe Ihnen den Schlüssel, denn ich muß zur Arbeit.“ „Wollen Sie denn nicht wenigstens meine Papiere sehen?“ fragte Jerschow mit einem verlegenen Lächeln. „Sie können doch nicht wissen, wen Sie ins Haus gelassen haben. Am Ende irgendeinen Gauner.“
„Ach, lassen Sie es gut sein!“ Askar wehrte ab. „Ich kann wohl einen anständigen Menschen von einem Gauner unterscheiden. Und außerdem gibt’s bei mir nichts zu stehlen.“ Jerschow wollte sich Askar auf dem Weg zum Bahnhof anschließen, doch dieser widersprach rasch: „Wozu die Eile? Sie haben doch Zeit. Ruhen Sie sich aus, waschen Sie sich, im Hof ist ein Brunnen. Der Schlüssel liegt hier auf dem Tisch. Wenn Sie sich stärken wollen, so werden Sie in der Küche auch etwas finden.“ Askar verließ Shanbajews Zimmer und schloß hinter sich die Tür, die in ein halbdunkles Vorzimmer führte. Fünf Minuten später, er hatte sich anscheinend inzwischen zum Ausgehen fertiggemacht, klopfte er bei Jerschow an, öffnete ein wenig die Tür und steckte den Kopf herein: „Ich hätte beinahe vergessen, Sie noch auf etwas aufmerksam zu machen: Bei mir wohnt hier noch ein Verwandter mütterlicherseits. Temirbek heißt er. Er ist ebenfalls an der Eisenbahn beschäftigt, mir unterstellt. Er ist ein stiller Mensch, wird Sie nicht stören. Auch ist er wenig zu Hause – immer unterwegs. Und wenn er zu Hause ist, dann schläft er sich nach den Fahrten aus. Sein Zimmer liegt neben Ihrem, hat aber separaten Eingang. Seit heute früh ist er auf Fahrt und kehrt erst morgen zurück. Jetzt gehe ich aber. Alles Gute.“ Dieser Verwandte hat mir gerade noch gefehlt, dachte Jerschow. Merkwürdig, daß Shanbajew sich entschlossen hat, in eine solche Wohnung zu ziehen. Es ist allerdings möglich, daß alle diese Leute für ihn arbeiten. Ich werde sie mir genau ansehen müssen. Als Jerschow allein war, schaute er sich gründlich in Shanbajews Zimmer um. Dabei wurde er unwillkürlich auf eine mit Bleistift durchgestrichene Tabelle aufmerksam, die an der Wand hing. Es war irgendeine graphische Darstellung
des Zugverkehrs, an der nichts weiter auffiel, wenn nicht einige Zahlen darin unterstrichen gewesen wären. Jerschow wurde sofort klar, daß es sich um eine geheime Mitteilung handelte. Er schloß die Tür ab, holte sein Notizbuch aus der Tasche und begann die Geheimschrift zu entschlüsseln. Es ergab sich folgendes: „Ich werde zwei, drei Tage abwesend sein. Bleiben Sie hier. Der Hauswirt ist ein zuverlässiger Mensch. Sein Vetter Temirbek wird uns auch von Nutzen sein. Vertrauen Sie ihnen jedoch keinerlei Geheimnisse an. Ihre Aufgabe ist folgende: Im Schuppen steht ein Motorrad – darin ist mein Funkgerät einzubauen. Es befindet sich im Keller. Holen Sie es, sobald Askar zur Arbeit geht. Tasten Sie im Keller die Wand ab. Das Funkgerät ist über dem Fußboden hinter einem Brett!“ Jerschow steckte das Notizbuch in die Tasche und begab sich in den Schuppen. Dort stand tatsächlich, mit einem Stück Sackleinen zugedeckt, ein Motorrad mit Beiwagen. Der Major sah es sich eingehend an. Es unterschied sich durch nichts von Motorrädern gleicher Bauart, der Beiwagen wai allerdings geräumiger als üblich. Platz für eine Montage gab es auch noch an anderen Stellen des Motorrades, dennoch konnte er sich nicht denken, wo er das Funkgerät unauffällig einbauen sollte. Bevor der Major in den Keller hinunterstieg, riegelte er die Pforte sorgfältig ab. Dann holte er die Schlüssel aus der Küche und öffnete die Kellertür. Es ging sehr tief hinunter. Im Keller war es kühl, und es roch scharf nach Schafkäse und Gemüse. Durch die Türöffnung drang nur wenig Licht herein. Jerschow mußte etwas warten, bis sich die Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Die Kellerwände waren mit Holz verkleidet und die Bretter ziemlich dicht aneinandergefügt. Jerschow tastete mit der
Hand die linke Wand über dem Fußboden ab, konnte jedoch nicht sogleich das richtige Brett finden. Schließlich verfiel er darauf, mit dem Taschenmesser die kaum sichtbare Ritze der Verkleidung entlangzufahren. Dabei löste sich eins der Bretter von der Wand, und eine tiefe Öffnung wurde freigelegt. Der Major steckte die Hand hinein und fühlte einen Metallkasten. Als er ihn herausnahm, sah er, daß es ein Funkgerät der Marke „NB“ war. Es schien keine leichte Aufgabe zu sein, das Funkgerät so im Beiwagen des Motorrades unterzubringen, daß es bei flüchtiger Betrachtung nicht ins Auge fiel. Hierbei brauchte er die Unterstützung oder wenigstens den Rat Malinowkins. Er traf ihn an der Gepäckaufbewahrung. Niemand war sonst in der Nähe. Jerschow ging in den Aufbewahrungsraum, um seinen Koffer abzuholen, und der Leutnant folgte ihm kurz darauf. Am Ausgabeschalter tauschten sie einige rasche Blicke, und als der Angestellte nach Jerschows Gepäck ging, übergab der Major Malinowkin einen Zettel, worin er die Sachlage kurz schilderte und ihn um Hilfe bat. Die genauen Maße des Funkgerätes und des Beiwagens hatte er aufgeschrieben. Gleichzeitig beauftragte er den Leutnant, sich ein Quartier in der Nähe der Oktjabrskaja-Straße zu suchen und sich für den Schaffner Temirbek zu interessieren. Die nächste Zusammenkunft sollte morgen mittag im „Zentral-Restaurant“ stattfinden.
Ein unerwarteter Fund Am nächsten Tag begab sich Jerschow wie vereinbart in das „Zentral-Restaurant“, das er noch am Tage vorher ausfindig gemacht hatte. Als er eintrat, bemerkte er sogleich Malinowkin, der sich an einem Ecktisch niedergelassen hatte. Dieser Platz war sehr günstig. Er gestattete, das ganze Restaurant zu beobachten. Der Raum war voller Menschen, und nahezu alle Tische waren besetzt. Jerschow ging zweimal im Saal hin und her, als halte er Ausschau nach einem günstigen Platz. Ein Kellner kam ihm dabei ungewollt zu Hilfe. „Da ist ein freier Platz, Bürger“, er deutete in die Richtung Malinowkins, „es ist mein Revier, ich werde Sie schnell bedienen.“ „Besten Dank!“ Jerschow ging auf den Platz zu. „Frei?“ fragte er den Leutnant und wies auf einen Stuhl. „Ja, bitte sehr“, erwiderte Malinowkin freundlich. „Zu zweit schmeckt es besser. Hier ist die Speisekarte, bitte. Die Auswahl ist nicht groß, so daß man nicht lange zu überlegen braucht. Aber alles schmeckt. Ich habe gestern hier zu Mittag und zu Abend gegessen.“ So über Nichtigkeiten plaudernd, gingen sie allmählich zur Hauptsache über. „Sind Sie untergekommen?“ fragte Jerschow. „Jawohl“, erwiderte Malinowkin, „doch nicht in einer benachbarten Straße, sondern in der Ihrigen, und noch mehr als das, buchstäblich gegenüber Ihrem Hause.“ Als der Leutnant im Gesicht des Majors einen leichten Unwillen bemerkte, sagte er beruhigend: „Schimpfen Sie nicht! Alles geht in Ordnung. Meine Zimmerwirtin ist eine alleinstehende ruhige Frau und schwerhörig. Sie kümmert sich nicht um mich. Aus dem Zimmer, in dem sie mich untergebracht hat, habe ich Sie gestern abend vom Fenster aus gesehen. Das ist meiner Ansicht nach gün-
stig. Wir können einander durch Zeichen verständigen. In meinem Hause führt nur dieses eine Fenster auf die Straße. Und daß ich mich hier einquartiert habe, wird keinerlei Verdacht erregen. Durch den Bau der Eisenbahn und verschiedener Hilfsbetriebe sind so viel Menschen nach Perewalsk gekommen, daß es kein Haus ohne Untermieter gibt.“ Jerschow überlegte ein wenig, erwog das vom Leutnant Vorgebrachte und kam zu dem Schluß: Vielleicht ist es gar nicht so übel, daß Malinowkin gleich gegenüber eingezogen ist. „Nun, und wie steht es mit Temirbek?“ fragte er den Leutnant, während er einen Burschen im Auge behielt, der bereits zweimal an ihrem Tisch vorübergegangen war. „Ich habe mich vorsichtig über ihn erkundigt“, antwortete Malinowkin, ohne den Major anzuschauen und indem er tat, als betrachte er das Bild an der Wand. „Er soll schon fast drei Monate hier sein. Anscheinend hat er irgendwo auf der Bahnstation gearbeitet, und jetzt fährt er als Schaffner. Augenblicklich ist er auf Fahrt… Und jetzt wegen des Funkgeräts. Das wird schon klappen. Das System kenne ich: ,NB’ bedeutet ,Night Bird’, also Nachtvogel. Es ist nicht in zwei, sondern in vier Teile zerlegbar. Ich gebe Ihnen gleich das Schema. Danach können Sie alles tadellos im Motorrad unterbringen. Den Apparat wird man nicht einmal beim Funken herauszunehmen brauchen. Ich lege das Schema in die Speisekarte. Nehmen Sie sie zur Hand und studieren Sie nochmals die Preise darin.“ Malinowkin ist ein prima Kerl, dachte Jerschow voller Wärme. „Und wie sieht es mit Ihrem Funkgerät aus, Mitja?“ fragte er den Leutnant und steckte dabei das Schema, das ihm Malinowkin übergeben hatte, in die Tasche. „Alles in Ordnung, Andrej Nikolajewitsch.“
„Und wird man Sie nicht beobachten?“ „Keine Sorge! Ich hab schon daran gedacht.“ Jerschow vertraute Malinowkin und stellte keine weiteren Fragen. „Nun, dann nehmen Sie Verbindung mit unseren Leuten auf“, befahl er, wobei er sich vergegenwärtigte, mit welcher Ungeduld General Sablin auf eine Meldung wartete. „Berichten Sie kurz, wie die Dinge liegen, und teilen Sie noch folgendes mit: Ich habe heute im Keller noch einen Fund gemacht - hinter der Bretterwand fand ich einen Seismographen.“ „Wozu braucht er das?“ fragte Malinowkin erstaunt. In diesem Augenblick erschien der Kellner mit der appetitlich duftenden Suppe. Das Gesprächsthema mußte gewechselt werden. Als sich jedoch der Kellner wieder entfernt hatte, sagte Jerschow nachdenklich: „Mit dem Seismographen können auch Explosionen registriert werden.“ An Jerschows Ton war zu merken, daß ihn der Fund sehr beunruhigte. „Explosionen?“ Malinowkin fuhr unwillkürlich zusammen. „Was für Explosionen?“ Jerschow zuckte mit den Schultern. „Der Explosionsort kann leicht festgestellt werden, wenn nicht ein, sondern einige an verschiedenen Stellen aufgestellte Seismographen vorhanden sind.“ Malinowkin schüttelte den Kopf. „Das ist mir nicht klar. Wozu braucht er den Seismographen? Wenn er irgend etwas sprengen will – das wäre eine andere Sache. Aber wozu den Ort einer Sprengung feststellen?“ „Wir werden sehen.“ Der Major schob den leeren Suppenteller zur Seite. „Berichten Sie immerhin Sablin über diesen Fund.“
Als das Mittagessen beendet war, hielt Jerschow dem Leutnant nochmals vor Augen: „Unser Gegner ist verteufelt vorsichtig. Es ist nicht ausgeschlossen, daß er uns oder zum mindesten mich allein beobachtet, so daß wir dauernd auf der Hut sein müssen. Nun, und jetzt wünsche ich Ihnen eine gute Funkverständigung. Vergessen Sie nicht, auch über unsere persönliche Verständigung nachzudenken. Da die Fenster unserer Quartiere so günstig liegen, muß diese Gelegenheit ausgenutzt werden. Gehen Sie jetzt gleich. Ich bleibe noch eine Weile hier sitzen.“ Major Jerschow trat eine Viertelstunde nach Malinowkin auf die Straße. Er schlenderte einige Zeit durch die Stadt, ging in die städtische Bibliothek und dann auf die Post. Es war bereits Abend, als er in die Wohnung zurückkehrte. Askar öffnete ihm die Tür. „Der Tee ist gleich fertig“, sagte er freundlich. „Treten Sie ein, wir wollen zu Abend essen.“ Jerschow dankte und ging in Shanbajews Zimmer. Er setzte sich an den Tisch und überlegte, ob er zu Askar gehen solle oder nicht. Bald darauf hörte er, wie jemand den Hauswirt begrüßte. „As-salam alaikum!“ „Alaikum as-salam!“ Und nachher, als Jerschow dennoch zum Tee zu Askar ging, vernahm er aus Temirbeks Zimmer eine eintönige Stimme: „A’usu billahi min asch-schaitan ar-radschim…“ („Ich suche meine Zuflucht bei Gott vor dem gesteinigten Teufel.“) „Der Vetter betet“, sagte Askar lächelnd, als er Jerschow zu sich ins Zimmer geleitete. „Ich wollte Sie miteinander bekannt machen und lud ihn zu mir ein. Er hat es jedoch sehr entschieden abgelehnt zu kommen. Heute ist irgend so ein
Abend, wo es einem religiösen Menschen verboten ist, etwas zu essen. Und am Tisch zu sitzen und andere essen zu sehen bedeutet eine große Versuchung.“ Der geheimnisvolle Seismograph Jerschows letzter Bericht ließ Sablin den ganzen Tag über keine Ruhe finden. Wozu brauchte Shanbajew einen Seismographen? Was wollte er mit dessen Hilfe auskundschaften? Je mehr Sablin über diesen Seismographen nachdachte, um so mehr wurde ihm klar, daß es sich hier nicht um eine nebensächliche Entdeckung handelte. Und wie, wenn Shanbajew sich für unsere Versuche auf dem Gebiet der Atomenergie interessierte? Unwillkürlich kam ihm dieser alarmierende Gedanke. Sowohl im Vorjahr als auch im Frühjahr dieses Jahres waren einige Spione festgenommen worden, die zugaben, sich dafür interessiert zu haben. Weshalb konnte das nicht auch bei Shanbajew der Fall sein? Seine Tätigkeit bei der Expedition erlaubte ihm, ungestört im gesamten Aksakalsker Gebiet umherzureisen und seine Seismographen an beliebigen Orten aufzustellen. Selbst Versuche mit kleinen Atombomben sind unweigerlich mit einer gewaltigen Explosion, ähnlich einem kleinen Erdbeben, verbunden. Empfindliche Seismographen registrieren nicht nur ein solches Erdbeben, sondern sie können auch den Herd auf bedeutende Entfernung hin bestimmen. Vielleicht hat Shanbajew auch die Gebiete unserer Atombombenabwürfe ausgekundschaftet? Aber welche Gebiete? Shanbajew hat sich bei Perewalsk niedergelassen, wo, wie Sablin bekannt ist, keinerlei Atombombenversuche unternommen wurden. Warum hat dann dieser Spion gerade Perewalsk gewählt?
Sablin wußte genau, welch großes Interesse die internationale Spionage den Produktionsgeheimnissen von Atombomben entgegenbrachte. Offiziell verlautete, daß nur die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten diese Produktionsgeheimnisse besäßen, doch waren Atomreaktoren schon lange Zeit in England und Frankreich in Tätigkeit. Selbst so kleine Staaten wie Schweden und Norwegen befaßten sich mit Atomforschung. Die Geheimdienste einiger ausländischer Staaten befaßten sich mit „Atomspionage“. Sie interessierten sich dabei nicht so sehr für die Art und Weise der Herstellung als für die Bereitschaft der Gegner zur Kriegführung mit Atomwaffen. Oder interessierte Shanbajew die Anwendung der Atomenergie für friedliche Zwecke? Die UdSSR hätte daraus niemals ein Geheimnis gemacht. Sablin erinnerte sich an die Erklärung Wyschinskis auf einer Tagung der Generalversammlung der UNO: „… Wir haben die Atomenergie für die großen Aufgaben des friedlichen Aufbaus vorgesehen, wir wollen sie dazu verwenden, Berge zu sprengen, den Lauf der Flüsse zu ändern und Wüsten zu bewässern…“ Wollte Shanbajew vielleicht Informationen über diese Arbeiten sammeln, um eine Atomhysterie zu entfachen? Der General entsann sich gut des Alarms um die „fliegenden Untertassen“, der seinerzeit In der ausländischen Presse wegen der sowjetischen Düsenflugzeuge entfesselt worden war. Angeblich hatten sowjetische Flieger Amerika in scheibenförmigen Maschinen zur Erkundung aus der Luft überflogen. Sablin ging nachdenklich in seinem Arbeitszimmer hin und her. Er öffnete den Kragen seiner Uniformjacke – in jenen Tagen herrschte in Moskau eine unerträgliche Hitze. Und wie mag es jetzt dort in Mittelasien unserem Jerschow erge-
hen, dachte Sablin unwillkürlich, als er am offenen Fenster stehenblieb, durch das die Glut des von der Sonne erhitzten Asphalts hereindrang. Der General stand eine Weile und betrachtete den Strom der Autos, die auf dem breiten Platz vorüberfuhren. Für einen Augenblick wünschte er von Herzen, sich in ein Auto zu setzen und irgendwo hinzufahren, sich an einem Fluß ins Gras zu legen oder im Walde umherzuschweifen… Doch dann kehrten die Gedanken wieder zu Jerschows Bericht zurück. Der General ging noch einige Male im Zimmer auf und ab und setzte sich dann an den Schreibtisch. Auf dem Tisch lagen in einem grünen Aktendeckel Berichte ausländischer Zeitungen, die Oberst Ossipow für ihn gesammelt hatte. Der General hatte sich diese Ausschnitte bereits flüchtig angesehen und ging jetzt daran, sie nochmals durchzulesen. Fast sämtliche der ausländischen Artikelschreiber warnten vor übermäßigen Hoffnungen auf den schnellen Anbruch eines goldenen Atomzeitalters. Die Atomenergie sei dem Willen der Menschen vorläufig noch nicht genügend unterworfen. Nach den Versicherungen dieser Propheten gab es vorerst nur ein – wenn auch barbarisches, so doch zuverlässiges – Verfahren der Anwendung, und zwar als Füllung für Atombomben. Alles übrige, zum Beispiel die Herstellung von Elektrizität, wurde einfach abgelehnt und entweder als nicht ungefährlich oder als wirtschaftlich wenig lohnend bezeichnet. General Sablin bat Ossipow zu sich. Der Oberst erschien sogleich. „Welcher Zusammenhang“, fragte ihn Sablin, auf die grüne Mappe mit den Zeitungsausschnitten deutend, „besteht zwischen all dem und Jerschows Bericht? Du hast mir doch
wohl nicht empfohlen, mich zur Erweiterung meines ,Horizonts’ mit all diesem Material bekannt zu machen?“ „Vielleicht besteht auch ein Zusammenhang“, antwortete Ossipow. Der General zuckte verwundert die Achseln und lachte kurz auf: „Kann sein, kann aber auch nicht sein. Das ist keine Antwort.“ „Ist dir aufgefallen, daß nicht alle Autoren dieser Aufsätze pessimistisch zur friedlichen Anwendung der Atomenergie eingestellt sind?“ Ossipow entnahm der Mappe einige Zeitungsausschnitte und reichte sie Sablin. „Hier zum Beispiel spricht sich sogar ein Vertreter der sogenannten Geschäftswelt aus. Seiner Meinung nach sind die Sowjets, wie er uns nennt, auf diesem Gebiet offenbar weit vorangeschritten. Nach Informationen, über die er angeblich verfügt, hätten wir mit Hilfe der Atomenergie in Sibirien oder Mittelasien ein ganzes künstliches Meer geschaffen. Hier haben ihn anscheinend die Projekte unseres Ingenieurs Dawydow von der Umleitung sibirischer Flüsse oder auch die wissenschaftlichphantastischen Romane unserer Schriftsteller irregemacht“, fügte er lächelnd hinzu. „Nun, und was folgt daraus?“ fragte General Sablin mit leicht gerunzelter Stirn, da ihm die vorgebrachten Argumente nicht recht einleuchteten. „Daraus folgt, Ilja Iljitsch“, entgegnete Ossipow, „daß die Anwendung der Atomenergie für friedliche Zwecke geeignet ist, die bürgerlichen Geschäftskreise in Aufregung zu versetzen. Sie befürchten offenbar, daß wir sie auf diesem Gebiet überholen könnten. Das kann ihnen natürlich nicht gleichgültig sein. Vielleicht findet sich auf diese Weise eine Erklärung für die geheimnisvolle Mission des Gespenstes bei uns in Mittelasien.“
General Sablin überlegte. Vielleicht war es wirklich so. Er überflog rasch noch einige von Ossipow angestrichene Stellen und äußerte laut, indem er sich vom Schreibtisch erhob: „Gut, nehmen wir an, du hättest recht. Nehmen wir sogar an, sie stellten sich das alles außergewöhnlich leicht vor. Dann ist mir immer noch nicht klar, warum dieses Gespenst sich in einer Gegend herumtreibt, wo, soweit mir bekannt, nicht nur keine Atombombe erprobt, sondern auch keine Atomenergie für friedliche Zwecke angewendet wird?“ Nach einigem Schweigen fügte er hinzu: „Wir müssen uns jedoch eingehend informieren. Wer ist jetzt im Gebiet von Aksakalsk der größte Bauherr?“ „Das Verkehrsministerium.“ „An dieses Ministerium werden wir uns also wenden.“ Nachforschungen Gestern hatte Jerschow beim Essen mit Malinowkin verabredet, daß sie in nicht eiligen Fällen durch postlagernde Briefe miteinander verkehren werden. Deshalb ging der Leutnant heute morgen zur Post und empfing einen Briefumschlag mit der ihm bekannten Handschrift. Jerschow hatte den Brief noch gestern abend nach Malinowkins Weggehen geschrieben. Ihm war plötzlich der Gedanke gekommen, in der archäologischen Station nach Shanbajew zu fragen. Und darum bat er den Leutnant jetzt in seinem Brief. Die Station befand sich am Stadtrand in einem kleinen, von einem hohen Zaun umgebenen Häuschen. Außer diesem Häuschen gab es hinter dem Zaun zwei große Schuppen, in denen, wie Malinowkin später erfuhr, Werkzeug und das Eigentum der Archäologen aufbewahrt wurde. Die Bezeichnung „Station“ traf hier nicht recht zu, in Wirklichkeit war
es eine Art Lager. Der Verwalter, ein hagerer alter Mann mit einem Klemmer auf der Nase, erklärte Malinowkin folgendes: „Hier bei uns, junger Mann, erhalten die Archäologen in der Hauptsache Werkzeuge zum Graben. Sie wühlen doch wie die Maulwürfe in der Erde. Mitunter werden uns allerdings auch Lebensmittel für sie angeliefert. Für diesen Shanbajew, nach dem Sie sich erkundigen, liegt übrigens eine Sonderanweisung vor, wonach ihm Kaltverpflegung zu verabreichen ist. Er wühlt irgendwo allein für sich, sozusagen ein Einzelmaulwurf.“ „Und haben Sie ihn einmal gesehen, Großväterchen?“ „Nein, ich habe ihn nicht gesehen“, antwortete der Alte gleichgültig und rückte seinen an einem schwarzen Seidenband befestigten Klemmer zurecht. „Und ich bin darüber nicht gerade untröstlich. Ich habe, junger Mann, in meinem Leben nicht wenig berühmte Leute gesehen und bin sogar persönlich mit zwei Mitgliedern der Akademie bekannt gewesen, mit Alexander Eugenjewitsch Fersman und Wladimir Afanasjewitsch Obrutschew. Ich bin wählerisch in bezug auf Bekanntschaften, wissen Sie. Dieser Ihr Shanbajew ist einmal während meiner Abwesenheit hier gewesen, hat seine Lebensmittel empfangen und sein Motorrad getankt. Und wer sind Sie eigentlich? Vielleicht auch irgendein GeologeArchäologe? Oder Historiker?“ „Ich, Großväterchen, bin ein einfacher Erdarbeiter“, erwiderte Malinowkin bescheiden. „Ich wollte bei einem der Archäologen um Arbeit nachsuchen. Mir wurde empfohlen, mich an Shanbajew zu wenden.“ „Ach so“, äußerte der Alte enttäuscht und ging sogleich auf „du“ über. „Ich kann dir dabei nicht behilflich sein, lieber Freund. Eins kann ich dir nur sagen: Es ist beschämend, jun-
ger Mann, in deinem Alter keinen rechten Beruf erlernt zu haben.“ Der Alte richtete wieder seinen Klemmer, schaute Malinowkin aufmerksam an, schüttelte mißbilligend den Kopf und kehrte ihm den Rücken zu. „Ich hab nur Zeit mit dir vertrödelt…“, brummte er, indem er sich dem Häuschen zuwandte, wo er eine Art Kontor hatte. Am gleichen Tage traf sich Malinowkin mit Jerschow in der städtischen Lesehalle und steckte ihm unbemerkt einen Zettel zu mit dem Bericht über seinen Besuch auf der archäologischen Station. Der folgende Tag verging für den Leutnant, ohne daß er sich mit Jerschow getroffen oder einen Brief von ihm erhalten hätte. Aus Langeweile schlenderte er ziellos in der Stadt umher und ging zweimal zum Bahnhof. Das erste Mal nur so, um die Zeit totzuschlagen, und das zweite Mal, um von sich aus Askars Vetter Temirbek zu beobachten. Er kam auf den Bahnhof, kurz bevor ein Güterzug nach dem Bauabschnitt abfuhr. „Hören Sie mal“, wandte sich Malinowkin an einen Eisenbahner, „haben Sie nicht den Schaffner Temirbek gesehen?“ „Dort ist er,“ Der Eisenbahner wies auf einen Mann, dem Signalflaggen am Gürtel hingen. Während Malinowkin überlegte, ob er zu Temirbek gehen solle, hatte dieser bereits das Bremserhäuschen am letzten Waggon bestiegen und begann die Signallaterne festzumachen. Fünf Minuten später setzte sich der Zug in Bewegung. Obwohl Malinowkin Temirbek nur von weitem gesehen hatte, gefiel er ihm nicht. In seiner Haltung lag etwas Mürrisches und Abweisendes. Er sieht nach einem orientalischen Fanatiker aus, dachte er unwillkürlich.
Ein gefährlicher Ausflug Noch ein weiterer Tag verging ohne Nachricht von Jerschow, und Malinowkin begann sich ernstlich zu beunruhigen. Er beschloß, den ganzen Abend zu Hause zu bleiben und das Zimmerfenster des Majors zu beobachten. Vielleicht würde Jerschow irgendein Zeichen geben. Gestern hatte ihm Malinowkin postlagernd geschrieben und vorgeschlagen, nachts einen Zettel in sein Fenster zu werfen, falls Jerschow etwas mitzuteilen habe. Bevor er aus dem Haus gehe, sollte er noch in seinem Zimmer – dreimal die Arme nach oben strecken, als ob er sich recke. Es war schon lange dunkel geworden, doch der Leutnant saß geduldig am Tisch und schaute, ohne Licht anzuzünden, aufmerksam durchs Fenster. Auf der Straße war es etwas heller als im Zimmer, und die Fensteröffnung erschien als ein graues Rechteck auf der nahezu schwarzen Zimmerwand. Von Zeit zu Zeit tauchten in diesem Rechteck die dunklen Gestalten der Passanten auf. Malinowkin beachtete sie jedoch nicht, seine Augen waren unablässig auf das gegenüberliegende Haus gerichtet. Besser gesagt, nicht auf das Haus, sondern einzig und allein auf eins seiner Fenster, das hell in der
Dunkelheit leuchtete. Der Leutnant konnte einen Teil des mit Zeitungen ausgeklebten Zimmers sehen, den nahe am Fenster stehenden Tisch und den über ein Buch gebeugten Major Jerschow. Er schien aufmerksam zu lesen, denn er hob die Augen kaum vom Buch und blätterte die Seiten erst nach geraumer Weile um. Schließlich schlug der Major das Buch zu, stand auf, reckte
sich dreimal, ging im Zimmer umher und löschte das Licht. Malinowkin hatte aufmerksam verfolgt, wievielmal Jerschow die Arme ausbreitete. Er erhob sich ebenfalls, als das Licht drüben ausging, und öffnete leise das Fenster. Der Major hatte anscheinend sein Schreiben erhalten und wollte ihm etwas mitteilen. Malinowkin setzte sich wieder hin und beobachtete aufs neue das gegenüberliegende Haus, wobei er seine Aufmerksamkeit jetzt nicht mehr auf das Fenster, sondern auf die Pforte richtete. Bald öffnete sie sich knarrend, und heraus trat ein Mann mit einem Käppchen auf dem Kopf, der Major. Er blieb eine Weile an der Pforte stehen und ging dann gemächlich vor dem Hause hin und her, zuerst auf der einen, dann auf der anderen Straßenseite. Als er zum zweitenmal am offenen Fenster Malinowkins vorüberging, hörte dieser, wie ein sehr leichter Gegenstand fast neben seinen Füßen auf den Fußboden fiel. Er bückte sich rasch, tastete mit den Händen den Fußboden ab und fand ein mehrmals zusammengefaltetes Stück Papier. Er steckte es in die Tasche, ging ins andere Zimmer, dessen Fenster auf den Hof hinaus führte, und machte Licht. Die alte Zimmerwirtin schlief bereits, man hörte sie im Nebenzimmer gleichmäßig schnarchen. Malinowkin zog die Gardine am Fenster zu, holte den Zettel aus der Tasche und las: „Askar gab mir heute ein Schreiben Shanbajews. Den Text habe ich entschlüsselt. Ich soll heute nacht zwölf Uhr mit dem Motorrad auf der Straße nach Adyry bis zum Schwarzen Fluß fahren und unterwegs auf das Licht einer roten Laterne achten, die zweimal kurz und einmal lang aufleuchtet. Meine Antwort mit dem Scheinwerfer in umgekehrter Reihenfolge: zweimal lang und einmal kurz. Darauf soll ich in
ein nahes Gebüsch fahren und das Motorrad mit dem eingebauten Funkgerät und dem neuen Code dort lassen. Anscheinend traut mir Shanbajew nicht ganz und kann sich nicht entschließen, mit mir zusammenzutreffen. Ich fahre Punkt zwölf Uhr los. Bleiben Sie in Ihrer Wohnung und geben Sie gut acht auf Askars Haus. Unternehmen Sie nichts, bevor ich nicht zurückgekehrt bin, schalten Sie aber auf alle Fälle nach Mitternacht das Funkgerät ein – vielleicht werde ich mich durch Radio auf einer der bekannten drei Wellenlängen mit Ihnen verständigen müssen.“ Malinowkin las den Zettel durch und überlegte. Warum führt sich Shanbajew so geheimnisvoll auf? Warum zeigt er sich Jerschow nicht? Sollte er ihm wirklich nicht trauen? Eins stand fest: Shanbajew war verteufelt vorsichtig. Nicht umsonst hatte man ihm den Spitznamen „Das Gespenst“ beigelegt. Der Major sollte besser nicht allein fahren, sondern ihn, Malinowkin, mitnehmen oder mit dem Fahrrad folgen lassen. Im Hausflur stand ein Fahrrad – er könnte darauf hinter Jerschow herfahren. Aber Befehl war Befehl. Malinowkin vernichtete den Zettel, löschte das Licht und kehrte in sein Zimmer zurück. Auf der Straße war Jerschow nicht mehr zu sehen. Gewiß war er wieder ins Haus zurückgegangen. Nach einem Blick auf die Uhr nahm Malinowkin aufs neue am Fenster Platz. Es war halb zwölf. In einer halben Stunde sollte Jerschow auf dem Motorrad wegfahren. Malinowkin arbeitete erst sehr kurze Zeit in der Spionageabwehr. Als er den Auftrag erhielt, Major Jerschow bei einem gefährlichen Unternehmen zur Seite zu stehen, war er außer sich vor Freude gewesen. Und jetzt endlich stand eine Begegnung mit dem Feinde bevor – und er wurde davon ferngehalten!
Malinowkin seufzte tief auf, schloß das Fenster und lehnte den Kopf gegen das Fensterkreuz. Für Jerschow war es Zeit, auf die Straße zu kommen. Der Minutenzeiger stand bereits nach zwölf. Es wurde fünf… sieben… zehn Minuten nach Mitternacht. Warum kam Andrej Nikolajewitsch nicht? Sollte er gar eingeschlafen sein? Malinowkin begann nervös zu werden. Am liebsten hätte er an Jerschows Fenster geklopft oder eine Handvoll Sand hineingeworfen. Doch nein, Major Jerschow, der durch die Schule des berühmten Astachow gegangen war, konnte in so einem Augenblick nicht eingeschlafen sein! Ein neuer Gedanke stellte sich ein: Und wie, wenn jemand Jerschow daran gehindert hatte, rechtzeitig wegzufahren? Aber vielleicht hatte Jerschow das Haus durch den Gemüsegarten verlassen, damit es keinem auffiel? Die Uhr zeigte bereits ein Viertel eins. Malinowkin holte das Funkgerät aus dem Koffer, schaltete auf Empfang ein, setzte den Kopfhörer auf und begann vorsichtig, erst auf die eine, dann auf die andere Wellenlänge einzustellen. Abwechselnd waren im Kopfhörer das dünne Piepen der Morsezeichen, Bruchstücke von Musik, das schallende Lachen eines Mannes, eine bittende Frauenstimme und das trockene Knattern eines Gewitters zu hören. Malinowkin gefiel diese „Äthermischung“, wie er sie nannte. Er liebte es, aus aufgefangenen Brocken sich etwas zusammenzureimen. Vieles konnte in den langen Stunden des Wachdienstes am Funkgerät belauscht werden. Auch das mückenhafte Piepsen der Morsezeichen war aufschlußreich: Es berichtete von Katastrophen auf See, meldete die Ausführung von Aufträgen und gab Wettervorhersagen bekannt. Malinowkin war längst an diesen „Ätherwirrwarr“ gewöhnt und fand sich ziemlich leicht darin zurecht. Doch heute in-
teressierten ihn nur die Morsezeichen auf einer bestimmten Wellenlänge, und er horchte gespannt auf jeden Laut, auf das geringste Geräusch im Äther. Es ging bereits auf zwei Uhr nachts, als Malinowkin zu der Ansicht kam, daß Jerschow anscheinend keine Möglichkeit zu einer Funkverbindung mit ihm habe oder daß sie nicht notwendig sei. Auf alle Fälle entschloß er sich, noch eine Weile zu wachen, wobei er immer wieder durchs Fenster einen Blick auf Askars Haus warf. Ein Auto sauste vorüber. Für einige Augenblicke waren die Zimmerwände hell, dann versank wieder alles in Dunkelheit. Selbst das gegenüberliegende Haus verlor sich für einige Zeit darin. Jerschow hätte bereits zurück sein müssen. Aber vielleicht hatte ihm Shanbajew eine neue Aufgabe gestellt und ihn irgendwo hingeschickt. Und wenn ihm etwas zugestoßen sein sollte?
Malinowkin konnte nicht mehr ruhig am Funkgerät sitzen. Er schob es näher ans Fenster heran und legte sich fast auf
das Fensterbrett. Dann, als seine Unruhe und Ungeduld den höchsten Grad erreicht hatten, schaltete er das Funkgerät aus und trat auf die Straße hinaus. Nachdem er eine Weile vor dem Hause gestanden hatte, ging er bis ans Ende des Häuserblocks und blieb dort wieder unschlüssig stehen. Was konnte er tun? Sollte er etwas unternehmen? Eine Entscheidung mußte rasch getroffen werden, doch der Leutnant befand sich zum ersten Male in einer solchen Lage und wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Am liebsten hätte er das Fahrrad genommen und wäre Jerschow nachgefahren. Aber war das richtig? Wie, wenn seine Anwesenheit gerade hier am nötigsten wäre? Nein, er mußte dem Befehl des Majors unbedingt folgen und hierbleiben. Mit einem trübseligen Seufzer kehrte Malinowkin in sein Zimmer zurück und setzte sich wieder ans Fenster. Die Straße erschien ihm heller als vorher. Er schaute auf die Uhr – es war drei Uhr morgens, die Morgendämmerung begann. Eine Falle? Nachdem Jerschow den Zettel in Malinowkins Fenster geworfen hatte, war er wieder in sein Zimmer gegangen. Askar war im Dienst – er hatte zuweilen auch Nachtdienst – und Temirbek von der Fahrt noch nicht zurück. Es schien so, als könnte der Major ungehindert schalten und walten, doch wußte er aus Erfahrung, daß Vorsicht immer geboten war. Das Funkgerät befand sich jetzt im Motorrad. Mit Malinowkins Hilfe war es Jerschow gelungen, das Gerät so geschickt im Beiwagen einzubauen, daß er sich seiner bedienen konnte, ohne es aus dem Versteck hervorzuholen. Wie sollte er das Motorrad jetzt am besten vom Hofe fahren? Auf die Straße rollen oder durch den Gemüsegarten schieben? Besser wohl durch den Gemüsegarten. Jerschow schob das Mo-
torrad auf den Hof, was keiner großen Anstrengung bedurfte, denn es war leicht und beweglich. Nur im Gemüsegarten kostete es ihm einige Mühe, wollte er nicht über die Beete fahren. Endlich hatte er das Feld erreicht. Er schaltete den Scheinwerfer ein und brachte den Motor in Gang. Der Weg war ziemlich schlecht, ein Feldweg, und es war gefährlich, ohne Licht zu fahren. Jerschow schaltete den ersten Gang ein und fuhr an. Der Schalldämpfer war gut, der Motor knatterte nicht allzu laut. Der gelbliche Lichtkegel warf einen matten Schein auf den Sandweg. Jerschow steigerte die Geschwindigkeit. Er hielt nach allen Seiten scharf Umschau, doch war nichts Außergewöhnliches zu sehen. Wo wird Shanbajew das vereinbarte Signal geben? Erst am Schwarzen Fluß oder vorher? Da flammten im Lichtkegel Sträucher auf. Die Blätter schimmerten silbergrau. Und plötzlich sah der Major, ein wenig links von den Büschen, ein rotes Licht aufblinken, zweimal kurz und einmal lang. Jerschow hielt das Motorrad an und signalisierte ebenfalls mit seinem Scheinwerfer. Sogleich antwortete ihm die rote »Laterne nach dem Morsealphabet: „Löschen Sie das Licht. Rollen Sie das Motorrad in die Sträucher und kehren Sie auf den Weg zurück. Warten Sie auf weitere Befehle.“ Auf diesen Text folgte die Zahl 33. Das war die Agentennummer des Gespenstes, die Jerschow aus den von Oberst Ossipow erhaltenen Informationen bereits kannte. Sie waren also dem Gespenst tatsächlich auf der Spur, früher oder später würden sie es endlich fassen. Als Shanbajew aufgehört hatte zu signalisieren, meldete ihm Jerschow durch den Scheinwerfer, daß er ihn verstanden habe. Er schaltete das Licht aus, nahm das Gedichtbändchen aus der Tasche und schlug es da auf, wo der „Rabe“ von
Edgar Allan Poe stand. Dann legte er das Buch auf den Sitz des Beiwagens, schob das Motorrad in die Sträucher und trat wieder auf den Weg hinaus. Schade, daß der Mond nicht zu sehen war. Die goldenen Körnchen der Milchstraße hatten nicht Kraft genug, die Erde zu erhellen. Das Gestrüpp, in dem sich das Gespenst verbarg, war in dichtes Dunkel gehüllt. Der Major ging schon einige Minuten auf dem Weg langsam auf und ab, aber aus den Sträuchern war kein Laut zu hören. Da endlich wurde im Gesträuch ein Lichtschimmer sichtbar. Wahrscheinlich besichtigte das Gespenst jetzt das im Beiwagen eingebaute Funkgerät, übrigens konnte das der Major auch nur vermuten, er wollte nicht den geringsten Versuch unternehmen, den Feind zu belauern, um sich nicht zu verraten. Jerschow kam die Zeit unendlich lang vor, bis er aus den Sträuchern die Stimme Shanbajews vernahm: „Wir werden also den ,Raben’ als Schlüssel benutzen? Habe ich das richtig verstanden?“ Das Gespenst hatte eine hohe, klangvolle Stimme ohne den geringsten Akzent. „Jawohl“, antwortete Jerschow rasch. „Sie haben das Funkgerät tadellos eingebaut. Ich bin zufrieden damit“, fuhr Shanbajew fort. Seine Stimme klang jetzt deutlicher. Jerschow vermutete, daß er aus dem Dikkicht herausgetreten war. „Daß ich mich Ihnen nicht zeige, soll Sie nicht weiter beunruhigen – ich arbeite immer so. Nun, jetzt gehen Sie zu Fuß zurück, werter Kollege Tair Alexandrowitsch“, fügte Shanbajew mit einem kurzen, unangenehmen Lachen hinzu. „So heißen Sie doch wohl?“ „Ja.“ „Kehren Sie zu Askar Dshanderbekow zurück. Die Verbindung mit mir halten Sie mit Ihrem Funkgerät aufrecht. Die Gespräche werden wir um zwölf Uhr nachts führen. Viel-
leicht kann ich manchmal nicht senden, Sie schalten sich jedoch täglich ein und bleiben mindestens eine halbe Stunde empfangsbereit. Ist Ihnen alles klar?“ „Jawohl, alles.“ „Wir werden uns nach dem neuen Schlüssel verständigen. Mein Rufzeichen ist ,friend’, das Ihrige ,comrade’. Die Wellenlänge zehn und dreizehn Hundertstel. Ihre Aufgabe ist folgende: Erkunden Sie möglichst ausführlich, welche Güter von der Station Perewalsk nach dem neuen Bauabschnitt verladen werden. Versuchen Sie aber nicht, Askar und seinen Vetter Temirbek zu bestechen. Das ist gefährlich – Sie könnten die ganze Sache zu Fall bringen. Haben Sie verstanden, Muchtarow?“ „Ja.“ „Nun, dann auf Wiedersehen!“ Ein Rascheln der Zweige war zu hören. Anscheinend schob Shanbajew sein Motorrad aus den Sträuchern. Dann ließ sich das Knattern des Motors vernehmen. Das Motorrad arbeitete eine Weile im Leerlauf, dann schaltete Shanbajew den Gang ein und fuhr über ein Feld, ohne das Licht einzuschalten der Weg mußte ihm auch im Dunkeln vertraut sein. Jerschow blieb noch kurze Zeit stehen. Er erwog alles Erlebte und dachte verärgert: Und ich weiß von ihm ebensowenig wie zuvor. Nicht einmal sein Gesicht habe ich gesehen… Doch sogleich tröstete er sich: Wahrscheinlich hat mich das Gespenst all diese Tage geprüft, mich beobachtet und es jetzt für möglich gehalten, mir etwas anzuvertrauen. Es ist zu hoffen, daß es mit der Zeit offenherziger sein wird. Unterwegs, auf dem staubigen Wege nach Perewalsk, legte sich Jerschow zum soundsovielten Male die gleiche Frage vor: Was hält Shanbajew am Bau der neuen Strecke? Doch wußte er vorläufig nicht einmal annähernd eine Antwort dar-
auf. Erst vor Morgengrauen erreichte Jerschow die Stadt und ging, ebenso wie des Nachts, durch den Gemüsegarten zum Hause Askars. Im Osten dämmerte es bereits. Er trat ans Fenster, schlug die Gardine zurück und betrachtete das Haus gegenüber. Sogleich öffnete sich darin das Fenster, und Malinowkin steckte den Kopf heraus. Er tat, als schütte er ein Glas Wasser auf den Gehsteig. Jerschow entzündete ein Streichholz und begann zu rauchen – das war das verabredete Zeichen dafür, daß bei ihm alles in Ordnung ist. Das Fenster gegenüber wurde wieder geschlossen. Dmitri hat sich anscheinend Sorgen um mich gemacht. Jerschows Gedanken gingen voller Wärme zu Malinowkin, während er sich erleichtert auf dem Diwan niederließ und die staubigen Schuhe auszog. Aus Temirbeks Zimmer war ein pfeifendes Schnarchen zu hören. Er wird von der Fahrt zurückgekehrt sein, sagte sich Jerschow. Dabei fiel ihm ein, daß er sich an einem eisenbeschlagenen Koffer gestoßen hatte, als er vorhin durch die Küche kam. Diesen Koffer pflegte Temirbek immer mitzunehmen, wenn er aus dem Hause ging.
Fortsetzung im nächsten Heft!