KLEINE JUGENDREIHE
Günter Rumposch
Die Jungen drehen den Wind
Zweiter Teil
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 196...
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KLEINE JUGENDREIHE
Günter Rumposch
Die Jungen drehen den Wind
Zweiter Teil
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1962
13. Jahrgang, 2. Aprilheft Umschlag und Illustrationen: Karl Fischer Der Nachdruck dieser leicht gekürzten Fassung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des VEB Hinstorff Verlag Rostock Veröffentlicht 1962 im Verlag Kultur und Fortschritt Berlin W 8, Taubenstraße 10 Lizenz-Nr. 3 – 285/62 62 Satz und Druck: VEB Landesdruckerei Sachsen, Dresden JII-9-5
Inhalt des ersten Teils unserer Erzählung Fietje Berger, Sohn eines Saßnitzer Fischers, hat Sorgen. Sein Vater, der sich keinesfalls der FischereiProduktionsgenossenschaft anschließen will, hat ihm eröffnet, daß er die Republikflucht vorbereitet; er hat bereits Verbindung nach Cuxhaven aufgenommen. Da im Westen die Lehrstellen knapp sind, soll Fietje erst seine Lehre im Fischerei-Kombinat beenden und dann seinen Eltern nachreisen. Der Junge ist zunächst einverstanden, die vermeintliche „weite Welt“ lockt ihn. Bald aber gerät er in Gewissenskonflikte. Die verständnisvolle Art seiner Lehrer, die Kameradschaft im Lehrlingsheim lassen ihn über manche Probleme des Lebens in unserer Republik nachdenken. Schon kommen ihm Zweifel, ob der Vater sich richtig verhält. In Fietjes Leben tritt nun auch die junge Funkerin Hella. Ihm gefällt das frische Mädchen, doch es behagt ihm wenig, daß Hella anscheinend mit Horst Wagner, ebenfalls Lehrling im Kombinat, sehr befreundet ist. Die Eifersucht plagt Fietje, und es kommt zu heftigen Reibereien zwischen beiden Jungen. Fietje verleitet schließlich, um Horst zu beweisen, daß er keine Furcht kennt, einige Kameraden zu einer Fahrt im Segelkutter. Das Wetter wird für die kleine Crew, die nicht mal einen Kompaß mitgenommen hat, sehr gefährlich. Doch sie erreichen den Hafen. Den Jungen wird das Verantwortungslose ihres Tuns klargemacht, sie müssen sich vor ihrer FDJ-Gruppe verantworten. Fietje nimmt die Hauptschuld auf sich. Er ist friedlich gestimmt, denn gerade erfuhr er von Hella, daß Horst ihr Bruder ist. Die beiden Rivalen reichen sich auf ihren Wunsch die Hände. Doch die junge Freundschaft ist bereits gefährdet, denn Fietje fühlt sich vom netten Freund verraten, weil der gerecht empfin-
dende Horst eine Strafe für die an der Segelfahrt Beteiligten vorschlug.
„Wie denkst du darüber, Fietje?“ fragte Horst. Gestern die Hand geben – und heule querschießen! dachte Fietje. Knapp kam seine Antwort: „Für die Kameraden eine Verwarnung… für mich eine Rüge.“ Bei der Abstimmung gab es keine Gegenstimme. Beim Hinausgehen legte Horst die Hand auf Fietjes Schulter: „Bist ein feiner Kerl.“ Abweisend streifte Fietje die Hand von seiner Schulter und blickte an Horst vorbei. Die Jungen waren vor dem Heim angetreten. Heimleiter Hartmann gab Ratschläge für die erste Bordzeit. Die meisten Jungen hörten jedoch nur halb hin; sie waren viel zu aufgeregt. Hartmann rief Fietje und Horst heran. „Ihr freut euch wohl nicht?“ „Doch, doch!“ beeilten sich beide zu versichern. „Wir haben Freundschaft geschlossen“, erklärte Horst. „Hm. – Also Freundschaft? Kann man über diese Brücke gehen?“ Horst nickte zustimmend. Fietje zog einen schiefen Mund. Der Heimleiter drückte, beiden die Hand und sagte ernst: „Zimmert weiter an eurer Brücke, bis sie auch schwerste Lasten trägt. Wenn ihr Sorgen habt, geht zum Kapitän – oder kommt zu mir.“ Fietje führte die Jungen zum Hafen. Er schritt stumm neben Horst.
„Was ist mit dir?“ brach dieser endlich das Schweigen. „Prima hast du alles eingefädelt. Mir brennt jetzt noch die Hand, wenn ich an den Händedruck denke. Das hast du gestern fein gemacht. Schlägst eine sogenannte Erziehungsmaßnahme vor und nennst das noch Freundschaft. Zum Kotzen!“ „Ich habe geglaubt, du hättest es ehrlich eingesehen…“ „Wenn du nicht Hellas Bruder wärst…“ Fietje verstummte. „Du verdienst die Freundschaft meiner Schwester nicht.“ „Da frag ich dich nicht erst!“ Als sie zum Hafen kamen, hatte der Arbeitstag längst begonnen. Kutter auf Kutter legte von den Brücken ab. Über den grünen Schiffsleibern züngelten graublaue Rauchfahnen. Fischer in Gummistiefeln trugen proviantgefüllte Flechtkörbe zu ihren Kuttern. Dazwischen zogen Besatzungen die Kurrleinen kreuz und quer über die Brücken und den Kai. Voll beladene Handwagen mit neuen oder ausgebesserten Zeesen bahnten sich einen Weg durch dieses Gewirr. „Toller Betrieb hier!“ rief Kalle übermütig und legte sein Bündel ab. „Vergaff dich nicht in Fietjes Freundin“, neckte Jochen. Jetzt erblickte auch Kalle das Mädchen. Hella winkte vom Verwaltungsgebäude zu den Jungen herab. Doch Fietje und Horst sahen sich nicht nach ihr um. Ihre Schritte hallten auf der Brücke. Der „Seenachrichtendienst“ lag im dritten Stock des Gebäudes. Von hier aus hatte Hella einen Überblick über den ganzen Hafen. Sie nahm die Meldungen der Kapitäne entgegen, die Angaben, wieviel Tonnen sie gefangen hatten und wann sie mit ihrem Kutter einliefen. Später, so hatte sie immer geträumt, würde sie am Fenster stehen und nach dem einen Kutter Ausschau halten.
Hella war glücklich in ihrem Beruf. Während der letzten Ferien hatte sie einen Lehrgang auf der Seefahrtsschule in Wustrow besucht und das Sprechfunkzeugnis für einen stationären Sender erhalten. Als darauf die Eltern endlich ja sagten, stimmte auch der Bruder zu, mit dem sie nach Saßnitz fuhr. Und die erste Bekanntschaft, die Hella auf dem Wege zum Kombinat machte, war Fietje. Er war ihr sofort sympathisch gewesen. Jetzt hatte sie sich die ganze Nacht auf den Moment gefreut, da Fietje und Horst versöhnt einen gemeinsamen Gruß zu ihr hinaufschickten. Und als sie am Morgen Kapitän Brinkmann begegnet war, hatte der geulkt: „Du machst ein Gesicht, min Deern, als käme nicht der Herbst zu uns, sondern der Frühling. Ob Fietje das macht?“ Feuchte Kälte stieg vom Hafen herauf. Hella schloß den Rollkragen ihres Pullovers. Die Jungen hatten sich inzwischen auf die Kutter verteilt. Doch Hella guckte noch immer zur Brücke hinunter, auf der die Fischer geschäftig hin und her eilten. „Machen Sie doch endlich das Fenster zu!“ rief der Funkingenieur. „Man kriegt ja Eisbeine. Und bringen Sie den Widerstand in die Werkstatt. Sie sollen da zehn Zentimeter Draht anlöten.“ Ganz langsam drückte Hella das Fenster zu. Als sie den Schrank öffnete, Lötkolben, Salzsäure und Lötfett auf den Arbeitstisch legte, fragte der Ingenieur verwundert: „Wollen Sie das selbst machen?“ „Einem Mädchen trauen Sie das wohl nicht zu?“ Kurze Zeit später betrachtete er fachmännisch die Lötstelle. „Sehr gut. Sicher werden Sie einmal eine glückliche Ehe führen“, scherzte er. „Sie schweißen sofort jeden Riß…“ Hella mußte an Fietje und Horst denken. Ihr schien, daß sie
bei den beiden Dickköpfen nicht viel erreicht hatte. „Sie irren sich, Herr Ingenieur…“ Der schüttelte verwundert den Kopf. Das Mädchen war sonst recht selbstbewußt, jetzt schien sie ihm ratlos. Hella trat wieder ans Fenster. Am äußersten Ende der Brücke I lag „SAS 204 Thüringen“. Kapitän Brinkmann erwartete die fünf Jungen, die seinem Kutter zugeteilt waren. Er stand barhäuptig auf der Fischraumluke. Sein aschgraues Haar war gelichtet. Der dunkelblaue Sweater spannte sich über seinen „Tönnchen“. Danach zu urteilen, mußte der Kapitän die Weltmeere auf einem Whisky-Tanker durchfurcht haben. „Alles da?“ fragte er. „Wir sind vollzählig“, antwortete Fietje. Jochen stubste ihn. „Kalle fehlt“, raunte er. „Ich sehe nur vier, Fietje.“ Die buschigen Brauen des Kapitäns schoben sich auf der Nasenwurzel zusammen. Doch seine gütigen Augen straften die vorgetäuschte Strenge Lügen. „Kalle Bumke fehlt“, sagte Fietje, „aber der ist sonst in Ordnung.“ „Sonst? Jetzt an Bord muß er in Ordnung sein. – Was ich noch sagen wollte: Wagner macht den Logis-Ältesten, klar?“ „Klar!“ wiederholten Jochen und Hein. Fietje blieb die Antwort im Halse stecken. Das ist abgekartete Sache, dachte er. Fietje huckte schweigend sein Bündel auf und kletterte mit den anderen an Bord. Der Niedergang war schmal und steil. Er mündete in einen winzigen Vorraum. Von dort ging es in die Kombüse. Hier stand ein kleiner Kohlenherd. Im Wandschapp blinkten Teller und Tassen. Über dem Herd hingen Töpfe, Bratpfannen
und Schüsseln. Von der Kombüse führte eine Tür ins Logis, das ebenfalls zweckmäßig und raumsparend eingerichtet war. In der Mitte stand die Back. Sie war schmal und ausklappbar. Um die Back liefen Leisten, damit Schüsseln und Teller bei Seegang nicht hinabglitten. Auf der Steuer- und Backbordseite und mittschiffs waren je zwei Kojen übereinander eingebaut, davor die Backskisten. In diese wurden Stiefel und Schuhe verstaut, gleichzeitig dienten sie zum Sitzen. Im Logis wurden die Lehrlinge vom Bestmann John Claasen erwartet. In der rechten Hand hielt er eine Liste, mit der linken kraulte er seinen rotblonden Kinnbart. Er rief die Namen der Jungen auf. Durchdringend musterte er jeden einzelnen. „Kalle Bumke fehlt? Himmelundklabautermann!“ Durch das geöffnete Skylight hörte Kalle die grollende Stimme. Bestimmt der Kapitän! dachte er. Nun aber schnell, sonst teilt er mich gleich als Backschafter ein. Sein Bündel vor dem Bauch, stieg er eilig den Niedergang hinab. Entweder war Kalle zu aufgeregt, oder er ging zu schnell, jedenfalls fiel er die letzten Stufen hinunter und landete mitten in der Kombüse. „Ick wer’ verrückt! Das ist doch keine Treppe, das ist eine Knochenrutsche!“ „Treppe? Knochenrutsche? Du bist mir ein Seemann! Das ist der Niedergang, Blitzunddonnerschlag!“ Kalle stand wieder. Er blickte schräg nach oben in ein bär- . tiges Gesicht, in dem listige Augen saßen. Zwei Köpfe größer als Kalle war der Hagere, dem der Kulani am Körper schlotterte. So also sieht unser Käppn aus, dachte Kalle. Und was für eine große Mütze er trägt, und die Zähne zitronengelb.
„Ich… ich habe mir so beeilt, Herr Kapitän.“ „Hahaha!“ quetschte es sich durch die Zitronenzähne. „Ich bin der Bestmann, du Klabautermann.“ Kalle blickte wie hypnotisiert auf die Habichtsnase und den roten Bart. „Wer übernimmt freiwillig die Backschaft für heute und morgen?“ Claasen versenkte seine Hand bis zum Ellenbogen in die Kulihose. Als er sie wieder hervorzog, hatte er eine Priemdose in der Hand. Genußvoll biß er ein fingerdickes Stück ab. „Also, du meldest dich, Horst. Und du, Stiegensegler?“ wandte er sich an Kalle. Unter diesen bohrenden Blicken schrumpfte Kalle zusammen.
„Bei dir ist heute wohl Flaute? Also du machst Backschaft. Wir sind ein Kutter und kein Morsschlidden. Pünktlichkeit bitte ich mir aus, beim Dreizack, sonst wirst du nie ein Seemann…“
Er machte kehrt und schlurfte an Deck. Von dort rief er durchs Skylight: „In einer Stunde ist das Logis klar!“ Kalles Lebensgeister erwachten wieder. „Warum bist du zu spät gekommen?“ Jochen stand breitbeinig vor Kalle. Die Mütze hatte er angriffslustig im Genick sitzen. „Lustige Sache! Der FDJ-Organisator wird dienstlich. Wenn du noch lange fragst, erhältst du von mir nur Knochen zu Mittag, Ypsilonmoses!“ Die Jungen umringten Kalle. Er lächelte frech. „Deine Fresse müßte man haben“, stöhnte Jochen. „Ich habe Hella zugewinkt“, berichtete Kalle. „Ihr seid stur vorbeigelatscht. Einer mußte ja schließlich Kavalier sein.“ „Hast du mit Hella gesprochen?“ fragte Fietje versöhnt. Kalle schüttelte den Kopf. „Machen wir weiter“, mahnte Horst. „Wenn der Kapitän kommt, muß alles in Ordnung sein. Also Kalle und Hein schlafen auf der Backbordseite, Jochen und ich nehmen die Steuerbordkojen, und Fietje schläft mittschiffs über dem Bestmann.“ Kalle drängte sich an Fietje. „Warum mußt du über dem Bärtigen pennen?“ „Du siehst ja…. er kommandiert.“ „Backsehafter!“ rief eine helle Stimme an Deck. Kalle verstaute seine Schuhe in die Backskisten. Die Jungen kümmerten sich nicht um ihn. Sie überzogen die Decken mit blütenweißer Wäsche. Als es an Deck ein zweites Mal nach dem Backschafter rief, wurde Horst böse: „Kalle! Willst du, daß wir heute noch einmal auffallen?“ Kalle brummte: „Geh ja schon…“ John Claasen klapperte mit seinen Schlappen den Niedergang herab. „Allens kloar?“
„Bei uns blitzt es!“ Horst machte eine einladende Geste. Und in der Tat, die weißen Bezüge in den Kojen leuchteten wie unberührter Schnee. Der Fußboden glänzte nußbraun. Alles atmete Frische. Nun kam auch der Kapitän. „In Ordnung!“ sagte er anerkennend. „Wenn ihr so bleibt, werden wir uns gut verstehen. – Um siebzehn Uhr laufen wir aus.“ Genau über dem Kapitän befand sich das Skylight. Es wurde plötzlich aufgerissen. Kalle brüllte herunter: „Hee – Fietje! Komm schnell ruff, ick hab deine Kleene mitgebracht…“ Fietje stand wie angeschraubt. Seine Augen eilten ruhelos vom Kapitän zur Tür, von dort zum rotbärtigen Bestmann und dann zu Horst, der hielt dem Blick ruhig stand. Er glaubte seine Schwester zu kennen, die käme nie hierher. Und wenn Fietje noch eine zweite Freundin hätte? Schuftig wäre das. „Seid ihr alle ersoffen?“ Da Kalle keine Antwort erhielt, krachte das Skylight zu. Der Kapitän schmunzelte. „Gehn Sie man runter“, hörten sie Kalle sagen, „die stehen im Wettbewerb, wer am längsten ohne Quasseln auskommt.“ Leichte Schritte tapsten zögernd den Niedergang herab. Der Kapitän rief: „Immer hereinspaziert, min Deern, nicht schüchtern sein.“ Horst traute seinen Augen nicht. Hella stand lächelnd im Logis. „Ich bringe die Gleichrichterröhre.“ Hella sah Fietje an – und dann Horst. „Fietje macht ein Gesicht, als kaue er rohen Hering“, sagte der Steuermann Egon Falke. Er stand neben Kalle, der sich vergnügt die Hände rieb. Bei Claasen sah alles nach Sturm aus. Das spitzbübische Jungengesicht des Steuermanns brachte ihn erst recht auf.
Besonders ärgerten ihn die messerscharfen Bügelfalten in dessen Kulihosen. Landratte, dachte er, gibt sich für so was her… „Fietje ist eben ein Fischer! Er weiß, was sich gehört! – Neptun wird uns in die Zeese spucken, Himmelundklabautermann!“ fluchte er. „Neptun?“ fragte Horst ungläubig. „Neptun gibt es nicht!“ „Schietbüdel“, brummte Claasen. „Wir sind FDJler“, sagte Jochen. „Wir glauben nicht an Spuk.“ In die Kinnbacken des Seebären kam Leben. „Deerns haben vorm Auslaufen an Bord nichts zu suchen.“ Er drehte sich um und stapfte hinaus. Noch auf Deck hörten sie ihn blubbern. „Was habe ich da nur angerichtet, Herr Brinkmann?“ Hella war ganz aufgeregt. „Ich hätte nicht herunterkommen sollen…“ Brinkmann beruhigte sie. „Der meint es nicht so.“ „Fietje hätte aber auch einen Ton sagen können. Er weiß doch am besten, daß das alles Quatsch ist!“ sagte Horst verstimmt. Jochen stemmte die Fäuste in die Hüften. Die verblaßten Sommersprossen drängten sich wieder hervor. Er atmete heftig. „Du sollst Fietje in Ruhe lassen!“ ereiferte er sich. „Hast du etwas gegen ihn, bringe es in der Gruppe vor. Du sprichst nur immer als neidischer Bruder.“ Der Kapitän klopfte Jochen auf die Schulter. „Nicht so aufgeregt, junger Freund.“ „Ich bin nicht aufgeregt“, brauste Jochen auf, „ich bin die Ruhe selbst!“ „Det is nich schlimm, Herr Kapitän“, lenkte Kalle ein, „typischer Familienkrach, schon chronisch. In zehn Minuten is
alles wieder dicke Tinte…“ Der Kapitän strich sich durch das schüttere Haar. „Fünf Lehrlinge – fünf Kreuzworträtsel. Verstehst du dat, min Deern?“ Hella druckste. Mit der Fußspitze malte sie Kreise auf den Boden. „Horst ist mein Bruder!“ „Dann haltet Familienrat, aber nicht hier an Bord und nicht mit den Fäusten!“ Der Kapitän nickte Fietje zu. „Ich denke, das war der letzte Streit“, sagte Jochen. „Benehmen sich wie Schieters, hew ick schon immer seggt. Unser ganzes Kollektiv bringen sie durcheinander!“ wetterte Hein. „Wasch ihnen endlich die Köpfe“, sagte er zu Hella, „sonst mach ich das!“ Er griff mit beiden Fäusten in die Luft und stieß sie zusammen. „So geht das, ihr Queesköppe!“ Zu dritt saßen sie im Speisesaal des Kombinats. Keiner von ihnen erwähnte den Streit. Hinter den verschlossenen Gesichtern der Jungen gewahrte Hella den Kampf, den beide mit sich selbst ausfochten. Fietje hätte sich ohrfeigen können. Das schweigende Löffeln tat ihm weh. Er war nahe daran, Horst die Hand über den Tisch entgegenzustrecken. Doch kaum, daß er den Gedanken erwog, schob er ihn von sich. Nachgeben kam nach seiner Auflassung Horst zu. Horst traf der stille Vorwurf der Schwester schwer. Er berührte leicht ihre Hand. Hella nickte. Sie nahmen sie in die Mitte und schlenderten den Kai entlang. Am Leuchtturm vorbei rauschte die Fähre „Saßnitz“. Hella zerbröckelte ein Brötchen. Sie warf die Stücke den Möwen entgegen, die im eleganten Flug heransegelten und sich gegenseitig die Beute wegschnappten. An der Eisfabrik verabschiedete sich Horst. Hella fühlte noch den Händedruck, da war er schon hinter einem Stapel
neuer Fischkisten verschwunden. An der Wache zeigten Fietje und Hella den Betriebsausweis vor. Der Posten flachste: „Jung gefreit hat keinen gereut.“ Fietjc tat, als höre er nichts. Hella errötete. Sie gingen auf die schmale Brücke zu, die halbkreisförmig in das kleine Hafenbecken hineinragte. Der Platz, wo sonst Vaters Kutter lag, war leer. Fietje atmete auf. Er wußte, der Vater würde verstimmt sein. Er hatte ihm ans Herz gelegt, vor dem ersten Auslaufen unbedingt nach Hause zu kommen. Doch dazu war Fietje gestern nicht aufgelegt gewesen. Zwei Kutter lagen an der Brücke. Hella setzte sich auf einen Poller. Der Wind zauste ihr Haar. „Das sind noch alte Kutter von der Genossenschaft“, sagte sie und blies sich fürwitzige Haarsträhnen aus der Stirn. „Ich traute mich nicht, in diesem Spielzeug bis nach Bornholm zu schippern!“ Genossenschaft! Überall Genossenschaft! dachte Fietje. Gibt es denn kein anderes Gesprächsthema? Er schwieg verstimmt. „Sprichst du nicht mehr mit mir, Fietje?“ Die Wärme der Stimme zwang ihn, Hella anzusehen. Ihre Augen schienen ihm so herbstbraun wie das Kastanienblatt, mit dem der Wind vor seinen Füßen spielte. „Das verstehst du nicht. Jeder Fischer liebt sein Boot, mehr vielleicht als seine Frau.“ Das konnte Fietje behaupten. Oft genug hatte er von der Mutter gehört, der Vater kenne nur den Kutter und die See. War der Kutter einmal in der Werft, lief er gereizt im Haus herum. Fietjes Worte hatten die Grübchen von Hellas Wangen ver-
trieben. „Du sagst – alle Fischer sind so? – Mein Mann muß mich einmal richtig liebhaben… Wenn er nur immer an Kutter und Dorsche denkt… puh! Muß das langweilig sein.“ Und sie versuchte sich vorzustellen, Fietje küsse sie, und plötzlich sage er: „Mein Kutter braucht einen neuen Motor.“ Die Grübchen verrieten Fietje, was Hella dachte. „Ich muß schnell noch einmal nach Hause“, beeilte er sich zu sagen. „Mutter wird mich schon vermissen…“ „So plötzlich? Ich werde hier auf dich warten.“ „Gut, warte auf mich.“ Er eilte fort, als fliehe er vor dem eigenen Schatten. Der Wind trieb ein herbstbuntes Ahornblatt auf Hella zu. Als Fietje außer Sichtweite war, machte er wilde Sprünge, trabte wie in Schuljahren pfeifend um die Kastanienbäume der Promenade und ließ einen verdorrten Ast am Drahtzaun rasseln. Als er die Wohnungstür öffnete, war seine fröhliche Ausgelassenheit verloren. Durch die Vorhänge drang nur schwer der Tag. Die Mutter saß am Radio und hörte einen Westsender. „Pst!“ zischte sie ihn an. „Saßnitz ist an der Reihe…“ Fietje ließ sich in den Sessel fallen. Er saß der Mutter gegenüber und stemmte die Ellbogen auf die Knie. Die Mutter stellte das Radio ab. Die elterliche Wohnung schien Fietje fremd und kalt. „Na, was sagst du dazu, mein Junge?“ „Die sind besoffen!“ platzte Fietje heraus. „Wird Vater mit der Knute in die Genossenschaft getrieben?“ Die Mutter beugte sich vor. „Das ist doch sinnbildlich gemeint… Hast du Hunger?“ Fietje wäre am liebsten aufgestanden und hinausgerannt. Er
strich mit den Handflächen über die Sessellehnen. „Nein. – Wir laufen heute noch aus. Ich habe wenig Zeit.“ Er dachte an Hella, die auf ihn wartete, und wie recht sie hatte mit dem Kutter, der einer Seifenschale glich… „Vadding hat dich gestern erwartet.“ „Ich bin ja sein Kuli…“ „Fietje!“ sagte die Mutter streng. „Es war nur sinnbildlich gemeint.“ Die Mutter überhörte die Ironie. „Vadding hat einen wichtigen Brief an den Onkel geschrieben…“ Cuxhaven! Cuxhaven! Cuxhaven! rauschte es in Fietjes Ohr. Aus allen Zimmerecken schrie es ihn an: Cuxhaven! Es gab hier im Zimmer nur eine Welt – Cuxhaven! Und ich kann ihr nicht entfliehn, dachte er. Und die verzweifelte Erkenntnis, dieser Entwicklung hilflos gegenüberzustehen, machte ihn trotzig. „Ich will den Brief nicht lesen. Immer das gleiche…“ Die Mutter streckte die Arme nach Fietje aus. Er beugte sich zurück. Die Mutter schlug die Hände vors Gesicht. „Mein Gott, womit habe ich das verdient! Junge, hast du kein Herz für mich und Vadding? Sei nicht undankbar, Kind…“ Das Flehen der Mutter machte Fietje unsicher. Cuxhaven! Dort war die „Schwarze Lola“ und der „Kakadu“. Cuxhaven! Das war Weltstadt mit allem Trubel und das große Abenteuer! Er stand auf und durchquerte mit großen Schritten, die Stube. Die Mutter folgte ihm angstvoll mit den Augen. Er blickte auf die Straße, auf der Sonnenkringel tanzten. Cuxhaven! dachte er weiter. Aber dort gab es keine Hella,
keine Lehrlingsflotte, keinen Heimleiter Hartmann, der Verständnis für ihn hatte. Und die Kameraden Jochen und Kalle. Er versuchte sich ihre empörten Gesichter vorzustellen, und er glaubte die Verachtung zu spüren, mit der sie von ihm sprachen. Aber dort gab es auch keinen Horst, der ihn bevormundete. „Junge, sprich doch endlich…“, flehte die Mutter. Fietje wollte nicht, daß sie litt. Er strich über ihre Wangen. Er erschrak vor dem Schmerz, den er in ihren Augen sah. „Wie gut du sein kannst…“ Sie tastete ihm mit zittrigen Händen über das Haar. „Ich bin so stolz auf dich, mein Junge.“ Fietje brachte keinen Laut hervor. Bleiern lag die Zunge im Mund. Er küßte die Mutter auf Stirn und Wangen, als wolle er gutmachen, was er in all den Jahren versäumt hatte. Zweimal gongte die Uhr. Fietje erwachte. „Ich muß fort!“ Die Mutter eilte in die Küche und kam mit dem Brief zurück. „Hier, nimm. Versteck ihn gut!“ Sie hielt ihm das Kuvert entgegen und zehn dänische Kronen. Fietje stand mit hängenden Armen. Dann sagte er unwillig: „Was soll ich damit?“ Die Mutter trat dicht an ihn heran. „Ihr fischt vor Bornholm. – Vadding weiß es durch Brinkmann. Der Brief soll von Nexö abgeschickt werden, der Sicherheit wegen.“ „Und wie komme ich nach Nexö hinein?“ „Vadding sagt, ihr trefft oft dänische Kutter. Vielleicht kommt Sturm auf. Ihr lauft dann in Nexö ein…“ Fietjes Gesicht brannte. Die Mutter öffnete die Vorhänge. Sie wollte Fietje bei hellem Licht sehen. Als sie sich ihm wieder zuwandte, erschrak sie vor seiner eisernen Verschlossenheit. „Eins will ich von dir noch wissen, Mutter“, forderte er.
„Glaubst du daran, daß wir in Cuxhaven besser leben? Glaubst du selbst daran?“ beharrte er. „Vater sagt es. Und du darfst uns nicht enttäuschen…“, bettelte sie. „Ich kann das nicht mehr hören!“ schrie Fietje unbeherrscht. „Dies verfluchte: nicht enttäuschen!“ Die Mutter war zurückgewichen. Ihre Angst ernüchterte Fietje. Er steckte den Brief ein. Jede Widerrede ist sinnlos, dachte er, ich hätte bei Hella bleiben sollen. Der Gedanke an sie ließ ihn froh lächeln. Die Mutter atmete auf. II Schneller, als Fietje nach Hause geeilt war, strebte er zum Hafen zurück. Hella kam ihm leichtfüßig entgegen, die Hände jungenhaft in den Hosentaschen. An der Barriere trafen sie sich. Fietje schnaufte vom schnellen Laufen. Strähnen struppigen Haares klebten auf der Stirn. Hella verbiß sich ein Lachen. Doch dann prustete sie los. „Wie du um den Kopf aussiehst, wie ein verregneter Igel!“ Fietje fuhr sich mit der Hand über die Haare. Er lachte gezwungen. Mit allem mußte er allein fertig werden. Hella gab ihm ihren Kamm. Da lachte auch Fietje. „Und deine Haare sind struppig wie am Besen die Borsten.“ Fischer, die vorbeigingen, stießen sich an und lachten. Hella stand auf Zehenspitzen und kämmte Fietje. Stundenlang hätte er so stehen mögen. Plötzlich entwand er sich ihr. Sein Lachen verstummte. Es war Hella, als hätte er sich augenblicklich in einen fremden Menschen verwandelt. „Komm“, zischte er und versuchte sie mit sich fortzuziehen.
Er sah ihr verständnisloses Gesicht. Doch jetzt war nicht die Zeit zu langen Erörterungen. Die vor Minuten vergessene Gegenwart schritt auf ihn zu, fraß sich Meter auf Meter an ihn heran. Hella suchte seinen Blick, er schien es nicht zu merken. Er starrte an ihr vorbei zur Brücke. Sie folgte seinem Blick. Da kam ein Fischer auf sie zu, breitschultrig, untersetzt, wiegenden Schrittes. Die Schäfte der Gummistiefel, die sonst bis zum Gesäß reichen, hatte er unter die Knie geschlagen und das Mützenschild zurückgebogen. Das faltige Gesicht war von mausgrauen Bartstoppeln übersät. Er sah verwegen aus, wie er so daherkam. Fietjes Griff wurde fester, als suche er Hellas Beistand. In der Tasche brannte der Brief. Er hatte dem Vater ausweichen wollen, nun lief der ihm direkt in die Arme. In Hellas Gesicht las er Frage und Erstaunen. Doch die Wärme, die zu ihm herübersprang, beruhigte ihn, tat ihm wohl und gab ihm Kraft. Gefaßt sah er dem Vater entgegen. Der tippte mit zwei Fingern an die Mütze, als träfe er einen Fahrensmann. „Du kommst wie gerufen. Der Fang war miserabel, Potzdüwel! Nur drei Kisten Dorsch. Du kannst sie wegbringen. Ich muß noch Öl bunkern.“ „Wir laufen nachher aus, Vater. Ich muß gleich an Bord.“ Klanglos sprach Fietje, als stehe vor ihm ein wildfremder Mensch und nicht der Vater, zu dem er aufblicken und der ihm Freund und Kamerad sein sollte. Fietjes Verhalten wurde Hella immer rätselhafter. Das war sein Vater, und er versagte ihm die Hilfe. Das hätte sie nicht von Fietje gedacht. Und drei Kisten – das war eine Arbeit von zehn Minuten. „Ich helfe dir, Fietje. Da tun wir gleich ein gutes Werk für
die Genossenschaft…“, sagte sie arglos. Der Vater duckte sich, als schlage ihm jemand den Bootshaken über den Nacken. Doch sofort hatte er sich wieder in der Gewalt. Diese dumme Gans sollte ihn nicht herausfordern. Er hatte seine Gründe, weshalb er die Dorsche nicht allein fortbrachte. Ihn ärgerte es maßlos, daß er als Privatfischer seinen Fang bei der Produktionsgenossenschaft abliefern mußte. Die FPG hatte sich mit der Fischverwertungsgenossenschaft zu einer Groß-FPG zusammengeschlossen und deren Kühl- und Lagerräume übernommen. Immer, wenn der Vater dort aufkreuzte, begann der Wiegemeister ein Gespräch mit ihm. Gestern waren sie sich im „Seestern“ begegnet. Der Wiegemeister hatte gleich zwei doppelte Richtenberger bestellt. Berger hatte sich schon eine Ablehnung zurechtgelegt, aber spendierter Schnaps schmeckt schließlich am billigsten. „Noch twee Tanker – büschen dalli!“ rief der Wiegemeister. „Hast du Geburtstag?“ „Den hew ick, wenn du Mitglied der Genossenschaft wirst…“ „Dabei wirst du grau. Mit Schnaps kaufst du keinen Berger. Du hast auf dem verkehrten Dampfer angeheuert, mein ich…“ „Der Kurs stimmt, Offiziere sind in Ordnung, die Heuer ausgezeichnet, bloß die Besatzung ist noch nicht vollzählig. Na, Prösterchen, Berger, auf gute Zusammenarbeit.“ „Es ist nicht unmöglich, daß die Ostsee austrocknet – aber ein Berger gibt seine Freiheit nicht auf. Prösterchen!“ Der Wiegemeister setzte das Gläschen auf den Tisch. „Und du kommst doch… Deine gepriesene Freiheit ist ein tonnenschwerer Anker, der dich am flotten Fang hindert.“
Nachdenklich war der Vater nach Hause gegangen. In der Stube hatte er gewettert: „Da denkt man, es wird ein gemütlicher Abend… Schiet verdammter, wieder ein Agitationsüberfall!“ „Was regst du dich auf. Du vergißt, daß sie schon mehrmals hier in der Wohnung waren. Es war doch immer eine interessante Unterhaltung“, beschwichtigte die Mutter. „Weibergebrabbel! Fort müssen wir, und das jetzt ganz schnell.“ So war Fietje dem Vater im rechten Moment über den Weg gelaufen. Der Vater nahm ihn zur Seite. Er wird ihm den Kopf waschen, dachte Hella, und sie fand es anständig, daß er es nicht in ihrer Gegenwart tat. „Was hast du dir da für eine geangelt?“ „Das ist meine Freundin!“ „Ach! Die Freundin meines Sohnes quasselt für die Hungerleider. Schleicht hier den ganzen Tag rum und lebt von der Luft, wie?“ „Sie arbeitet im Kombinat. Und sie ist in Ordnung. Ich laß nicht auf sie schimpfen“, erwiderte Fietje fest. „Ich will dir glauben… Hast du den Brief?“ Fietje nickte nur. „Weihnachten sind Mutter und ich beim Onkel…“ „Und ich? Erst hieß es Frühjahr, und jetzt plötzlich Weihnachten…“, erbitterte sich Fietje. „Dann habe ich überhaupt kein Zuhause mehr.“ „Das Jahr geht vorbei. Und nun bring die Kisten weg!“ „Und der Brief?“ Der Vater beugte sich zu Fietje herab. „Es muß klappen, so oder so. Nimm dich vor dem Zoll in acht, diese Burschen haben Spürnasen. Im Brief steht alles. Tag und Zeit unserer Abreise und sonst noch Wichtiges. Und kurz bevor du ihn
aufgibst, Adresse draufschreiben…“ „Und warum ist der Brief so dick?“ Nicht Neugierde, Abneigung war es, die Fietje zu dieser Frage bewog. „Willst du drüben von der Luft leben?“ Berger wurde noch leiser. „Da sind die Grundbuchauszüge drin, der von unserem Haus in Ostpreußen – und der von hier… Drüben gibt es den Lastenausgleich. Da haben wir gleich Betriebskapital, können vielleicht einen neuen Kutter kaufen. Mit dem alten Pott können wir da keinen Blumentopf gewinnen. – Und nun mach kein so dämliches Gesicht! Freu dich lieber, Fietje Berger!“ Er lachte dem Jungen ermunternd zu und ging. Kaum war Fietje allein, kam Trotz über ihn. Er rang mit sich. Hella trat zu ihm. „War es schlimm? – Es geht vorbei…“ „Das verstehst du nicht…“ „Meinst du, ich fürchte mich, eine Kiste anzupacken?“ „Daran denke ich jetzt nicht…“ Lieblos wuchtete er die Fischkisten auf den Karren und treckte ihn zur Genossenschaft. Kaum hatte er die Fische abgeliefert, ging er langsam. Er sah sich alle Gebäude sehr genau an, als wolle er Abschied nehmen von alldem, was er seit seiner Kindheit kannte. In der Tischlerei kreischten Sägen. Aus der Werkstatt drang Hämmern. In der riesigen Eisfabrik knackten Brecher Eisblöcke zu eigroßen Stückchen, die in die Laderäume der Kutter rutschten. Vor der langen Fischanlandehalle standen Kühlwaggons. Und überall Möwen, die sich frech ihre Beute wegstahlen. „Du bist plötzlich so… komisch“, brachte sich Hella in Erinnerung. Fietje schreckte aus seinen Gedanken auf. „Bevor du zu deiner Mutter gingst, warst du anders; da ge-
fielst du mir.“ „Du redest dir was ein…“ „Fietje, ich merke doch, daß da etwas nicht stimmt. Hängt es mit deinem Vater zusammen? Du warst so schroff zu ihm…“ „Noch was? Sag doch gleich, du magst mich nicht mehr leiden…“ „Wie ungerecht du sein kannst“, sagte Hella traurig. Sie standen am Kai und blickten die Brücke entlang. Nur noch wenige Kutter lagen hier vertäut, und auch die machten sich für eine neue Reise seeklar. Fietje sog dieses Bild in sich auf. Wenn er die Augen schloß, erblickte er einen riesigen Hafen, in dem es von Ozeanfrachtern wimmelte. Und weit hinten am Horizont wiegten sich Palmen im Frühschatten der Nacht. Da sprang Kalle in Fietjes Weltreise. „Mensch, Fietje, beeil dich, sonst macht dir der Bärtige Beine!“ „Was – was ist?“ fragte Fietje verwirft. „Ick hab keene Zeit. Der Bärtige will unbedingt Harzer Roller zum Abendbrot. Der macht aus unserm Kutter ‘ne Käsefabrik!“ Er zwinkerte Hella zu und sauste weiter. „Ich wünsche dir für die erste Reise ein Toi, toi, toi!“ Hella lächelte wehmütig, weil sie sich mit Fietje nicht mehr auskannte. „Bist du mir böse. Hella?“ „Warum sollte ich?“ „Ich wollte dich etwas fragen.“ Ganz überraschend war in Fietje ein Gedanke aufgetaucht. Aufgeregt sah er nach Kai und Brücke hin, er hatte keine Zuhörer. „Hast du schon einmal an eine lange Reise gedacht? Irgendwohin, weit fort.“ „O ja. Nach Moskau und auf die Krim möchte ich einmal
fahren, oder nach Prag. Überall soll es schön sein.“ Fietje schüttelte den Kopf. „Ich dachte an eine Seereise.“ „Eine Seereise? Das wäre fein…“ Über ihr Gesicht zog ein Leuchten. „Wir beide…“ Weiter kam Fietje nicht. Kalle kehrte vom Einkauf zurück und entrüstete sich: „Ei, ei, Fietje! Ick sehe schwarz. Bestimmt kriegst du Backschaft, und Sie sind schuld, Hella!“ Er schüttelte mißbilligend den Kopf, Nun hatte es auch Fietje eilig. „Tschüß, Hella! Und drücke die Daumen für die Reise.“ „Ja – aber…“ Fietje hatte nur noch das „Ja“ vernommen. Auf der Brücke drehte er sich noch einmal um und winkte Hella zu. Er griff in die Tasche. Der Brief steckte noch darin. „Hast du Fietje gesehen, Stiegensegler?“ Kalle schöpfte erst einmal tief Luft, klemmte das Käsepäckchen zwischen die Knie und schneuzte sich umständlich. Der Bestmann zupfte sich den Bart. „Der Kerl prustet wie ein Blauwal. Ick hew di wat fragt, Potzdüwel!“ Kalle schielte die Brücke entlang. Fietje ließ sich noch immer nicht sehen. Kalle hustete plötzlich so natürlich, daß sogar ein paar Tränen kullerten. Fietje kam noch immer nicht. Kalle antwortete: „Vielleicht pennt er im Logis?“ Claasen vergaß vor soviel Keckheit, den Priem zu suppen. Diese Burschen hingen zusammen wie eine verknäulte Zeese. Dann brabbelte er: „Schieß in den Wind, Stiegensegler… Potzdüwel!“ Kalle ließ sich das nicht zweimal sagen. Er sprang den Niedergang hinab. Claasen trat ans Skylight. Im Logis hörte er Hein schimp-
fen. „Ich schmiet em rut mit sin Stinkadorius, glöw mi dat…“ Kalle legte das Käsepäckchen trotzig auf die Back. Hein empörte sich: „Kiek di dat an!“ Er langte nach dem Harzer Roller und pfefferte ihn zielgerecht in die Kombüse. „Det hätte der Bärtige sehen müssen…“, verteidigte Kalle seinen Roller. Doch schnell schwieg er vor Heins grimmigem Gesicht. Jetzt wieder erinnerte sich Hein daran, daß Fietje noch immer fehlte. Er stand auf und reckte sich, als wolle er zeigen, wie kampfeslustig er war. Er boxte gegen einen unsichtbaren Gegner. Kalle sprang hinzu, fächelte Hein mit dem Scheuerlappen Kühle zu und verkündete laut: „Der Boxkampf Thesenvitz gegen Berger auf hundert Meter Distanz endete mit dem Sieg des Meisters von morgen…“ „Wenn der Pennbruder kommt, knalle ick ihm eine vor den Latz, segg ick, ick. Hein Thesenvitz!“ verkündete Hein. „Red keinen Unsinn“, mischte sich Horst ein, „möglicherweise ist da etwas dazwischengekommen…“ „Bestimmt! Das zwitschern sich schon die Möwen zu, was er sich geangelt hat…“ „Hein?“ Horst stand auf. „Was willst du damit sagen?“ Hein drückte ihn gelassen auf die Backskiste zurück. „Bleib artig, min Jung!“ Jochen schlug energisch auf die Back. „Die verfluchte Streiterei kotzt mich langsam an. Und alle redet ihr von Einigkeit und Kollektiv, und so…“ „Stimmt, Jochen, aber Hella ist nicht so eine!“ „Nicht? Dann soll sie dem Schieter in den Achtersteven treten und ihn zum Kutter ,SAS 204’ auf die Reise schicken“, sagte Hein schon versöhnlicher. So ist das, dachte Claasen, sie warten schon auf den kleinen
Gernegroß. Er hörte nur noch, wie sich die Jungen schnaufend die Gummistiefel anzogen. Nach einer Weile sagte Jochen: „Alles, was recht ist, so lange hätte Fietje nicht ausbleiben dürfen.“ „Hm, soso.“ Claasen lächelte und ging zum Ruderhaus. Fietje näherte sich vorsichtig der „SAS 204“. Mit dem Bärtigen wollte er jetzt keineswegs zusammenprallen. Bei jedem Schritt spürte er den Brief, der eine Entscheidung verlangte. Und diese Entscheidung schien ihm gar nicht mehr so schwer zu sein, weil er glaubte, in Hella einen Bundesgenossen gefunden zu haben. Immer näher kam Fietje dem Kutter, der knarrend an den Fendern schrammte. – An Deck gewahrte er keine Seele. Aus dem Heckrohr pufften Rauchgase. Ein leises Zittern lief durch das Schiff. Der Maschinist ließ die Maschine warmlaufen. Vorsichtig sprang Fietje an Deck. Er schlich sich zum Niedergang. Vier Stufen war er schon hinabgestiegen, da hörte er vom Ruderhaus her seinen Namen rufen. Er preßte die Lippen aufeinander und stieg wieder an Deck, dem Bestmann entgegen. Der stand vor dem Ruderhaus wie ein Mast. Er schürzte die Lippen und schickte eine Ladung Priemsuppe auf die große Reise. Er war wütend wegen Fietjes Verspätung. „Ich hab mich etwas verspätet“, leierte Fietje seine Entschuldigung herunter. Er betrachtete intensiv die gemaserten Decksplanken. Die rechte Hand hatte er in der Tasche stekken. „Du darfst dich auch anständig vor mich hinstellen, Blitzunddonnerschlag.“ Fietjes Finger schienen an dem Brief zu kleben. Die Angst machte ihm den Mund trocken. Dieser verfluchte Brief!
Plötzlich stand wie herbeigezaubert Jochen neben ihm. „Wir warten schon auf dich, du Rumtreiber.“ „Heute und morgen Backschaft!“ entschied Claasen. „Und gewöhne dir eine anständige Haltung an!“ „Bist ein feiner Kerl, Jochen.“ „Ist schon gut. Aber der Bärtige hat recht. Du hättest dich einmal selbst sehen müssen…“ Als Fietje ins Logis trat, schnellte Hein von der Koje hoch. Doch Jochen kam ihm zuvor. „Er hat seine Strafe schon weg.“ „Also Backschaft!“ rief Kalle. „Typisch für den Bärtigen.“ „Mach dich fertig. Fietje, in zehn Minuten fassen wir Eis“, sagte Horst. Fietje fand keine Antwort. Er hatte auf kühle Abwehr gehofft – nun schlug ihm Wärme entgegen. Kalle und Fietje standen im Laderaum und verteilten das Eis, welches über eine Rutsche in den Kutter kullerte. Kalle setzte die Trennbretter ein. und, Fietje schaufelte die Eisstückchen dahinter. Trotz der Kälte war ihm heiß. Am liebsten hätte er Kalle an Deck geschickt. Der Brief mußte verschwinden, er wollte ihn in eine leere Flasche stecken, die hier unten lag. „Ich löse dich ab! Komm rauf, Fietje!“ rief Horst in den Laderaum hinab. Fietje lehnte ab. Er sei gleich fertig. „Mir reicht’s aber!“ stöhnte Kalle und blies sich auf die klammen Finger. – Kaum war Kalle an Deck geentert, angelte Fietje nach der Flasche. Doch der Brief ließ sich nicht durch den engen Flaschenhals zwängen. Fluchend schob er ihn in die Gesäßtasche zurück. Als die Genossen vom Zoll an Bord stiegen, antwortete Fietje, wie alle Jungen und Lehrausbilder, er habe nichts zu
verzollen. Einer der Genossen verplombte die akzisefreie Ware, ein anderer kletterte in den Laderaum hinab. Fietje lehnte mit weichen Knien am Mast. Hoffentlich kam keiner der Zöllner auf den Gedanken, den Lehrlingen die Taschen zu kontrollieren. Wie Stunden kamen ihm die Minuten vor, die er an Deck fieberte. Und er schwor sich: Bei der erstbesten Gelegenheit fliegt der Brief über Bord! Fietje saß auf der Fischraumluke. Mit scharfen Augen suchte er die Mole ab. Er hoffte, unter den dort Herumspazierenden Hella entdecken zu können. Für ihn war es selbstverständlich, daß sie ihm einen Abschiedsgruß zuwinkte. In den Händen hielt er eine Leine. Um das Ende, Tampen genannt, schlug er Rundtörn an Rundtörn; seemännisch heißt das: einen Takeling aufsetzen, um ein Aufdrehen der Kardeele zu verhindern. Wieder glitt sein Blick die Mole entlang… Der Kutter tuckerte sich mit kleiner Fahrt an die Hafenausfahrt heran. Egon Falke stand am Ruder. Er pfiff leise vor sich hin. Claasen überwachte die Arbeit der Jungen. Kalle und Jochen überprüften noch einmal die Fischkisten, die achtern um das Ruderhaus gestapelt waren. Horst und Hein verstauten Leinen und Fender. Jetzt trat der Kapitän an Fietje heran, der unverwandt nach dem Land schaute. Er bewunderte den Jungen, wie er, ohne hinzusehen, nach einer neuen Leine langte und das Bändselgut aufsetzte. Und folgte dem Blick des Jungen. Hinter der Mole schaukelte der Kutter des Vaters auf den Wellen. Fietje zieht Vergleiche, dachte der Kapitän und sagte: „In einer halben Stunde kann dein Vater unser Heck bewundern.“ Er soll mich in Ruhe lassen, dachte Fietje. Jetzt erst erkann-
te er den Kutter. Der war auch nicht zu verwechseln mit seinem grauen Anstrich und dem platten Ruderhaus. Claasen schlurfte heran. „Du fummelst und fummelst, und die Bratkartoffeln braten Heinzelmännchen.“ Er bückte sich und begutachtete die Takelings. Da erhellte sich sein brummiges Seefahrergesicht. „Der alte Berger hat uns da doch kein Kuckucksei gelegt.“ Er ließ den Tampen fallen und verschwand im Ruderhaus. „Sprichst du immer so viel, Fietje?“ erkundigte sich gelassen der Kapitän. Er setzte sich zu ihm und stopfte seine Piepe. „Sie haben ja schon alles gesagt. Unsere Bugwellen werden Vaddings Kutter schlingern lassen . ,“ „Das braucht nicht zu sein“, warf der Kapitän vorsichtig ein. „Vielleicht sollte er doch…“ Die weiteren Worte gingen unter in Kalles Schrei: „Fietje! – Fietje! Da – kiek mal…“ „SAS 204 Thüringen“ fuhr gerade in Höhe des Leuchtturms. Fünf Meter waren es bis zu dem Kutter, der in der Brandung zu tänzeln begann. – Fietje sah Hella, der Kalle und Horst mit ihren Taschentüchern zuwinkten. Hella trug eine weiße Pelzjacke mit einer Kapuze, unter die jetzt der Wind blies. Ihr heller Ruf übertönte das Stampfen der Schiffsmaschine: „Gute Fahrt! – Und kommt bald wieder…“ „In drei Tagen sind wir wieder zurück!“ gab Horst Antwort. „Ahoi, Fietje!“ rief Hella. „Ahoi! Auf eine lange Reise!“ rief Fietje strahlend. Steuermann Falke drehte das Ruder hart backbord. Der Kutter stemmte den Bug in die offene See. Leuchtturm, Mole und Menschen wuchsen ineinander und schienen ins Meer
zu tauchen. Über den Kreidefelsen prangte purpurn der Himmel. Die Jungen standen an der Reling und konnten sich von dem Bild nicht losreißen; es war ihre erste Ausfahrt. Jochen gesellte sich zu Fietje, der, die Hände tief in den Taschen, am Niedergang lehnte. Fietje deutete mit dem Kopf in Fahrtrichtung. „Den holen wir bald ein!“ Jochen lachte. Fietje spuckte in die fliehenden Bugwellen. Er dachte an die Worte des Kapitäns. Verdammt, warum ging der Vater eigentlich nicht in die Produktionsgenossenschaft? Der Bug bohrte sich tiefer in das rollende Meer. Kalt sprühte es über das Deck. Jochen knöpfte die Öljacke zu. Aber Fietje rührte sich nicht; starr blickte er auf den schlingernden Kutter voraus, am Mast sah er die Positionslichter. „Das ist ja dein Vater!“ rief Jochen überrascht. „Jetzt sieht man erst, wie klein der ist.“ „Wäre er aus Kaugummi, hätte ihn mein Oller schon in die Länge gezogen.“ Die Kutter lagen auf gleicher Höhe. Kapitän Brinkmann setzte das Megaphon an die Lippen. „He! Gode Fohrt! – Solln wir dich in Schlepp nehm?“ Berger gab „volle Fahrt“. Es knatterte förmlich aus dem Auspuff. Der Kutter holte etwas auf. Sie fuhren wieder nebeneinander. Berger öffnete die Tür des Ruderhauses und brüllte: „Is Fietje da? Hei sall nix vergeten! Segg em dat.“ „Hast du gehört, Fietje?“ „Wir sollten endlich den Anker hieven“, antwortete Fietje. Der Kapitän verstand und lächelte. Er gab dem Steuermann ein Zeichen. „SAS 204“ durchschnitt schneller die Wellen… Im Logis roch es nach Speck und Bratkartoffeln. In der
Kombüse klapperte Fietje mit dem Geschirr. Die anderen Jungen lagen in den Kojen. Kalle entlockte der Mundharmonika Seemannsweisen. Horst summte leise mit. Jochen träumte. Und Hein schlachtete in Gedanken Dorsche. Plötzlich schnupperte er… Claasen saß an der Back und wickelte seinen Harzer Roller aus. Er aß immer ein Stück Käse und dann ein Stück Brot. Hein knurrte etwas von faulen Eiern. Kalle kicherte. „Was hast du, Stiegensegler?“ „Ich kriege keine Luft mehr, Bestmann!“ „Mach’s Skylight auf!“ rief Hein. Fietje steckte den Kopf ins Logis. „Das Skylight bleibt zu. Wozu heizen wir.“ „Man erstickt hier ja“, brummte Hein. Claasen hielt Hein den Käse unter die Nase. „Stinkt hei?“ Hein kniff sich die Nase zu. „Wie vergammelte Dorschköpfe!“ Claasen ging zu Fietje. „Stinkt hei?“ Er hätte sich nicht an Fietje wenden sollen, er hatte ihm schließlich die Backschaft aufgebrummt. „Hei stinkt!“ sagte Fietje. Und Claasen stieg fluchend an Deck. Die Jungen schliefen schon, nur Fietje starrte zur nachtschwarzen Decke. Durchs Skylight geisterten Strahlen silbernen Mondlichts, hüpften von Koje zu Koje. Der Kutter stampfte schwer. Die Jungen rollten im Schlaf hin und her. Fietje preßte Ungewißheit die Brust. Ihm bangte vor dem Morgen… Im Osten lichtete sich die Nacht. Wenn der Tag begann, sollte die Zeese schon über Bord sein und das Silber des Meeres aufnehmen.
Der Kapitän stand am Ruder. Er stoppte die Maschine. Auf diesen Augenblick hatte Claasen gewartet. Er hob die Hand: „Los!“ rief er. „Laßt fallen den Schietkram…“ Trotz der morgendlichen Kühle perlte den Jungen Schweiß auf der Stirn. Die zwei Scherbretter, Steert, Ketten und Glaskugeln gingen außenbords. Fietje legte die Achterleine fest. Claasen hob wieder die Hand. Claasen rief: „Achterleine los! Scherbretter wegfieren! Bug – achtern – Kurrleine wegfieren…“ Jetzt hob der Steuermann die Hand. Langsam ging „SAS 204“ auf Fahrt. Die Scherbretter scherten aus. 50 Meter breit war jetzt das Riesenmaul der Zeese. „Friß nur feste!“ rief Kalle in den brodelnden Hecksog. „Erzürn mir Neptun nicht“, nuschelte Claasen. Kallc schüttelte den Kopf und schlenderte zum Bug. Hein, Horst und Jochen hatten sich wieder in die Koje gehauen. Mindestens drei Stunden hatten sie jetzt Zeit bis zum Hieven. Die Nacht war kurz. Ein arbeitsreicher Tag stand ihnen bevor. Fietje dachte nicht an Schlafen. Ihn ließ der Brief nicht zur Ruhe kommen. Er setzte sich in die Kombüse auf die Kohlenkistc und schälte Kartoffeln. Lustig plätscherte das Wasser in der Pütz, wenn er eine Kartoffel hineinwarf. Es ging schnell bei ihm, das Schälen. Als er fertig war, begann er die Zwiebeln abzupellen. Es biß ihm in die Augen. Kalle kam rückwärts den Niedergang herab. Er schürzte die Lippen und pfiff: „Eine Seefahrt, die ist lustig…“, nicht schön, aber laut, so laut, daß es den Bestmann heranlockte. Es wurde im Niedergang dunkel, als er seinen Oberkörper hinabbeugte.
„Ruhe! Ruhe – hew ick seggt! An Bord pfeift der Bestmann – oder der Wind, sonst niemand. Verstanden?“ Fietje ging an Deck. Kalle folgte ihm mit der Abfallschüssel. Schön war es hier oben. Der Motor tuckerte lustig. Weit achtern grüßte ein schmaler Streifen Land: Bornholm! Und steuerbords, etwa zwei Seemeilen entfernt, fischte der Schwesternkutter „SAS 202“. Kalle war so vertieft, daß er gegen die Ankerwinsch stieß und die Kartoffelschalen auf’s Deck kippte. Er blickte sich um. Der Decksmann war nicht zu sehen. Nur aus dem Ruderhaus winkte ihm Steuermann Falke zu, Kalle winkte zurück. Er flitzte in die Kombüse und holte Besen und Schaufel. Als er wieder auftauchte, schlenderte Claasen breitbeinig heran. Dieser Gang imponierte Kalle. So müßte man durch die Friedrichsstraße spazieren! „Dat will ick di seggen, Stiegensegler…“ Aus seinem Plattdeutsch hörte Kalle etwa folgendes heraus: Es werde Unglück bringen, und sie sollten sich mehr mit den Gesetzen der christlichen Seefahrt vertraut machen. Und daß de Schiet unbedingt bis nach dem ersten Hol liegenbleiben müsse. „Det vasteh ick nich“, sagte Kalle, nachdem sich Claasen entfernt hatte, „vastehst du det, Fietje?“ Der blickte weit über das Meer. In dieser Unendlichkeit regierte kein Geist, kein übernatürliches Wesen. Er glaubte fest daran, daß er noch die Zeit erleben werde, wo der Mensch sogar den Regen und die Wärme bestimmen kann. Wie oft hatte er am Ufer gesessen, wenn die Sonne hinter den grünenden Buchenwäldern versank und den Himmel glühen ließ, wenn das Weiß der Kreidefelsen matter wurde und der Leuchtturm dem Schiffer den Weg in den sicheren Hafen wies, und hatte davon geträumt, einmal ein Beherr-
scher des Meeres zu werden: er wollte das Schiff sicher durch die Meere steuern, wollte seinen Mut und seine Kraft erproben. Da stand ihm nur die Mannschaft bei – kein Geist, kein Gott Neptun, an den auch der Vater glaubte. „Du pennst wohl?“ erinnerte ihn Kalle. „Soll ick det Schietzeug nu wirklich liegenlassen?“ „Es ist wohl besser, Kalle.“ „Ach nee! Denn gloobst du ooch noch an diesen Dreizackfritzen? Der soll in der Elpegeh damit Mist laden…“ Fietje lachte lauthals. „Ich glaube daran, daß Gottfried Galle den Planeten Neptun achtzehnhundertsechsundvierzig entdeckt hat. Die alten Römer nannten ihren Meeresgott so…“ Kalle beförderte den Besen samt Schaufel in die Kombüse. Er sollte schuld sein, wenn die Zeese leer blieb? Ein komischer Pott, auf dem sie fuhren. Wie konnte ein erwachsener Mensch so dämlich sein? Da waren die Berliner doch hellere Jungs. Egon Falke hatte die Szene zwischen Fietje, Kalle und dem. Bestmann vom Ruderhaus aus mit angesehen. In ihm reifte der Plan, mit Hilfe der Jungen Claasen den Aberglauben zu vergällen. Er rief den Kapitän. Brinkmann lag in der Koje, er hatte die halbe Nacht am Ruder gestanden. Er rieb sich die Augen, griff in die Westentasche und ließ den Sprungdeckel der Taschenuhr klappen. „Ist doch noch Zeit!“ antwortete er verwundert, da er annahm, die Zeese sollte schon gehievt werden. „Es handelt sich um Fietje und Kalle…“, flüsterte Falke, da Claasen eben ums Ruderhaus ging. Um die Jungen? Brinkmann war sofort hellwach. „Was ist los?“ Eifrig redete Falke auf den Kapitän ein. Der begann zu
schmunzeln. „Wenn das man gut geht… Doch du hast recht. Sprich mit den Burschen. Einmal muß es ja sein.“ Er dachte die Jahre zurück. Es war noch gar nicht so lange her, daß es auch ihm nicht recht paßte, freitags auszulaufen. Als Falke ins Logis trat, sah er sich Claasen gegenüber. Der Alte saß an der Back und hatte kleine zusammengekniffene Augen. Er schob das Fachbuch über neue Fangmethoden zur Seite. Falke blieb unschlüssig neben der Tür stehen. Unter den Schlafdecken lugten die Jungengesichter hervor. Er gewahrte das leise Zittern der Decken, das vom unterdrückten Lachen herrührte. Nur zu, amüsiert euch! dachte er. Lustige Stimmung ist gerade das, was ich jetzt brauche. „Du möchtest zum Kapitän kommen“, wandte er sich an Claasen. Der schien zufrieden darüber. Als sein Kopf aus dem Niedergang tauchte, leuchtete ihm aus dem Ruderhaus das Etikett einer Richtenberger Getreidekorn-Buddel entgegen. Schnell stakste er darauf zu. Steuermann Falke beriet sich kurz mit Jochen, der plötzlich aus der Koje hopste. Er raffte allen die Decken vom Oberkörper. „Aufstehn! FDJ-Beratung!“ Kalle gähnte. „Wat – vor dem Wecken?“ Horst schloß schon den Gürtel seiner Hose. Auch Fietje rutschte eilig von der Koje; in Gegenwart des Steuermanns wollte er keinesfalls unangenehm auffallen. Nun bequemten sich auch Kalle und Hein. Fünf Minuten später saßen alle erwartungsvoll um die Back. „Die Beratung ist eröffnet“, erklärte Jochen feierlich. Dann streckte er den Kopf vor und flüsterte geheimnisvoll. „Hört
mal her! Wir wollen den Bärtigen vom Aberglauben heilen…“ Er legte einen Finger auf den Mund: „Leise! – Hein, schließe das Skylight!“ Steuermann Falke legte eine Zeitung auf den Tisch: „Sollte er wider Erwarten zurückkommen – wir machen Zeitungsschau. So, und nun paßt auf: Der Bestmann stößt bei jeder Reise vor dem ersten Hol mit Neptun an, indem er drei Schwupp Getreidekorn über Bord schüttet. Er behauptet, daß nur so der Fang erfolgreich wird. Wir sollten das ändern…“ „Und der Kapitän?“ fragte Horst. „Der ist einverstanden“, antwortete Falke. Horst gab sich nicht zufrieden. „Wir sollten es doch noch einmal versuchen.“ Kalle beugte sich vor. „Wie wollen wir det Ding nu schaukeln? Wenn der Bärtige uns erwischt, wird der Himmel duster…“ Über das „Wie“ konnte der Steuermann auch noch nichts sagen. Aber sie mußten sich beeilen, denn es waren nur noch dreißig Minuten bis zum Hieven der Zeese. „Soll doch unser Casanova seine Denkmaschine auf Touren bringen“, schlug Hein vor. „Hei kann dat, glöwt mi dat!“ „Werde jetzt nicht persönlich!“ ermahnte ihn Jochen. Hein beharrte auf seinem Vorschlag; Fietje sei schließlich ein Hiesiger. Er kenne die Mucken der Fischer am besten. Damit jeder sehen sollte, wie ernst er es meinte, legte er Fietje seine Pranke auf die Schulter und drehte ihn zu sich herum. „Schmeißen wir die Enterbeile über Bord?“ Sich zu wundern, hatte Fietje seit gestern verlernt. Er schlug in die dargebotene Hand ein. Er war mit seinen Gedanken schon im Fischraum. Hein hatte ihn auf eine verlokkende Idee gebracht. Er preßte die Handfläche gegen die
Schläfen und grübelte angestrengt. „Hei denkt sick wat“, sagte Hein. „Hei sitt auf dem Ei des Kolumbus!“ ahmte Kalle ihn nach. Fietje hob den Kopf. „Ich habe einen Vorschlag. Im Fischraum hab ich eine leere Buddel gesehn – da machen wir Wasser rein, schmuggeln sie ihm ins Ruderhaus, an Stelle der echten.“ „Pst! Pst!“ dämpften Jochen und Egon Falke das Jagdfieber der Jungen, die am liebsten aufgejubelt hätten. Falke ging auf „Erkundung“ an Deck. Claasen stand neben Brinkmann im Ruderhaus. Unter seinen Augen die Fischraumluke öffnen, war unmöglich. Er durfte auch die leere Buddel nicht zu Gesicht bekommen. „Noch zwanzig Minuten bis zum Hol!“ sagte Jochen aufgeregt. „Aber was willst du tun?“ fragte Horst. „Wir können den Bärtigen doch nicht aufs Klo schicken…“ „Hätten wir ihm man Rizinus ins Essen gekippt.“ „Sei doch mal ernst, Kalle!“ sagte Horst. Etwas wie Triumph leuchtete in Fietjes Augen. „Horst, du wolltest doch den Bärtigen überzeugen? Bitte! Jetzt hast du Gelegenheit. Du lockst ihn ins Kapitänslogis und erzählst, ihm was. Wir holen inzwischen die Buddel.“ Die Jungen waren begeistert, und schweren Herzens stieg Horst an Deck. Etwas später stand Brinkmann allein am Ruder. Während Kalle neben der Tür des Ruderhauses Posten bezog und die „Lage peilte“, hoben Hein und Falke den Lukendeckel zum Fischraum ab und ließen Fietje hinabsteigen. Eisluft schlug ihm entgegen. Die Buddel in der klammen Faust, kam er wieder herauf. „Na endlich“, empfing ihn Falke. Er betrachtete die Buddel und nickte befriedigt. Sie stimmte mit dem Original überein.
Wie ein Küstenschlepper zog Fietje alle hinter sich her ins Logis. Nur Kalle blieb am vorderen Mast stehen und behielt das Ruderhaus im Auge. Jetzt kam Horst dort aufgeregt herausgefegt und lief stracks zum Niedergang. Alle sahen ihn erwartungsvoll an. Er aber sagte nur: „Kann ich dir mit der Flasche helfen. Fietje?“ Da wußten sie, wie der Aufklärungsfeldzug verlaufen war. „Nee!“ antwortete Fietje. „Aber gut zuschauen kannst du. Es gibt sicher noch mehr abergläubische Seeleute…“ Er hatte die Buddel zwischen die Knie geklemmt und legte gerade auf den Plastik Verschluß eine Scheibe Pergamentpapier. Darauf drückte er Klebol-Klebmasse und verteilte sie gleichmäßig auf den Flaschenkopf und den oberen Teil des Flaschenhalses. Nach fünf Minuten wurde der Klebol-Film weiß und so fest, daß er von einem Originalverschluß kaum zu unterscheiden war. Fietje stellte die Buddel vor Jochen hin. „Jetzt muß sie ausgetauscht werden.“ „Das übernehme ich“, entschied Falke. Er griff nach der Flasche… Die Hand zuckte zurück… Es klopfte dreimal kurz ans Skylight: Gefahr! hieß das. Fietje schob die Buddel unter das Kopfkissen des Bestmannes. Den Niedergang trapste er herab… Aller Blicke klebten an der Kombüsentür… Hereinspaziert kam Kalle. „Gleich Zeit zum Hieven!“ sagte er ernst, doch jeder merkte ihm an, wie er sich innerlich amüsierte. „Was macht der Bärtige?“ fragte Fielje. „Der Bärtige schnauft gerade hinter der Herztür…“ „Schnell die Buddel!“ rief Falke. Er war kaum zurückgekehrt, da rief Claasen alle Mann an Deck.
* Egon Falke übernahm die Ruderwache. Neben dem Ruder stand die Buddel, die er dem Kapitän hinschob. Der Bestmann stand mittschiffs und die Jungen im Halbkreis um ihn herum. Er blickte mit eherner Miene zum Ruderhaus. Aus diesem trat unschlüssig der Kapitän. Er hatte eigentlich Falke schikken wollen, weil er sich selbst schauspielerisch für untalentiert hielt. Kalle unterdrückte mühsam ein Kichern. Der Kapitän schaute nach achtern, wo die Kurrleinen ins Meer tauchten. Es war ein vertrautes Bild. Der Bestmann tat ihm leid. Er hob die Buddel wägend auf und ab… und gab sie dann doch Claasen in die Hand. So war es immer gewesen. Claasen hatte mit der Linken den Flaschenhals ergriffen, in der Rechten hielt er das Schlachtmesser, damit säbelte er den Verschluß ab. Die Jungen sahen zu. Nun kam es. Der Bestmann atmete tief ein, klemmte die Mütze unter den linken Arm und forderte von den Jungen mit stummer gebieterischer Geste, gleichfalls die Mützen oder Pudel abzusetzen. Dann sprach er mit Pathos: „Prost Neptun – Gott des Meeres! Beschere uns einen reichen Fang.“ Dreimal gluckste die Buddel, dreimal plätscherte ein Schwapper ins Meer, Neptun ins große Maul. Das Meer antwortete nicht. Neptun merkte nicht, daß er verulkt wurde. Ein Drittel der Buddel war für den Gott mit dem Dreizack bestimmt, dann bekam der Kapitän als Rangältester die Buddel. Der trank drei kräftige Schlucke, wischte sich genießerisch mit dem Handrücken über die Lippen und gab die Flasche Falke, der das Ruder festgelegt hatte.
Falke bog den Kopf weit nach hinten, fast stand die Buddel senkrecht über ihm. Er trank schmatzend. „Hei het ‘n bannigen Brand“, flüsterte Hein. Claasen reagierte sofort: „Nu is gaut, Stüermann…“ Nach dem alten Ritus kamen nun die Lehrlinge an die Reihe. Der Grund war nicht schwer zu erkennen: Zum Schluß blieben für Claasen mehr als nur drei Schluck in der Buddel. Der Kapitän sagte zu den Jungen: „Drei kräftige Schluck für jeden, zeigt euch als Männer. Besauft euch nicht!“ Hein griff nach der Buddel. Die Hand zitterte ihm. Er nahm drei Schlückchen und behielt sie im Munde; sie schmeckten ölig. Er stierte den Bestmann an, der schon Luft holte, um eine gepfefferte Rede vom Stapel zu lassen. Da besann sich Hein, bog den Kopf in den Nacken und schluckte… „Dat will ich meinen“, sagte Claasen ernst. Dann rief er Kalle heran: „Nu, Stiegensegler, zeig es dem langmastigen Baby…“ Kalle trank mit Wonne. Als er absetzte, lachte er. „Spotte nicht!“ wies ihn Claasen zurecht. Fietje stemmte die linke Hand in die Hüfte, die rechte hob die Buddel an die Lippen. Er trank, als hätte er zeitlebens nur aus dem Flaschenhals getrunken. Das rief die Bewunderung des Bestmannes hervor. „Hei kann supen…“ Fietje sackte die Hand herab. Knallrot überzog sich sein Gesicht. Nun hievte Claasen die Buddel zum Mund. Weit öffneten sich die Lippen, die zitronengelben Zähne blitzten in der Morgensonne. In der Buddel gluckerte es, doch der Adamsapfel des Trinkenden verharrte reglos… Die Jungen stießen einander an. Es fiel ihnen schwer, das Lachen hinunterzuschlucken. Der Kapitän wandte sich ab. Falke stand wie eine Bildsäule hinter dem Ruder.
Langsam senkte sich die Buddel. Claasen verdrehte die Augen, stierte auf das Etikett und spie über Bord. „Der schöne Schnaps!“ jammerte Kalle. Der Seemann hob die Schultern und warf die Buddel weitausholend ins schäumende Wasser. Fietje sah dorthin, wo die Buddel auf den Wellen tanzte. Ihm tat der Bestmann leid, dem man ansah, wie schwer ihm ums Herz war, und der jetzt brummte: „Neptun wird uns strafen…“ Keiner der Jungen lachte. „Den Richtenberger Brennereifritzen soll er mang die Köppe blasen“, sagte Kalle. „Laß das, Kalle“, wies ihn Fietje zurecht. „Zu dem, was wir getan haben, bekennen wir uns auch.“ Claasen legte Fietje einen Arm um die Schultern. „Bliew so, min Jung!“ Er richtete sich kerzengerade auf und rief dem Kapitän zu, als wäre nichts geschehen: „Fang wi an?“ „Tscha, Alter, wolln mal sehen, wer recht hat, Neptun – oder die Wasserbuddel…“ Er ging ins Ruderhaus, änderte den Kurs um 180 Grad und stoppte die Maschine. Die Winsch surrte. Kurrleinen und Scherbrett wurden an Deck gehievt. Claasen gab dem Kapitän das Zeichen zum Aufdampfen: Die Schraube drehte sich rückwärts. Die Zeese drängte an die Oberfläche. Gleich darauf kam das Kommando zum Vorausdampfen. Die Zeese wurde mit der Hand eingeholt. Den Jungen brach der Schweiß aus. Geduldig gaben Bestmann und Steuermann Ratschläge, zeigten die richtigen Handgriffe. Immer schwerer wurde die Zeese. Immer näher kam der prallgefüllte Steert, der mit der Talje an Bord gehievt wurde. Claasen ließ den Priem aus dem Mund fallen. Hastig öffne-
te er den Steert. Der zappelnde Segen glitschte an Deck. Inmitten der Jungen stand der Bestmann. Um sie herum zappelten Dorsche, auch zwei rotbraune Seehasen waren darunter. Das ganze Deck glich einem bewegten Silbermeer. Und die Zeese war schon wieder ausgesetzt, schwamm achtern über dem Meeresgrund. Das Schlachten hatten die Jungen schnell begriffen: Kehlschnitt, Bauch aufschlitzen, Leber in die eine und Innereien in die andere Kiste. Die Leber ist ein wichtiger Rohstoff. Sie wird mit Seewasser gewaschen und danach vereist. Die Innereien und Dorschköpfe werden in der Fischmehlfabrik zu wertvollem Eiweißfutter verarbeitet. Fietje schlug den ausgenommenen Dorschen den Kopf ab. Danach wurden sie abgespritzt und der Größe nach sortiert. Die Kisten wurden in den Fischraum gefiert. Sie mußten sich beeilen, damit der neue Hol Platz fand, über 800 Kilo hatten sie mit dem ersten Hol an Bord gehievt; wenn auch der zweite so ausfiel… Dieser Gedanke beherrschte auch Claasen. Er fand sich selbst wieder, und er konnte sich nur schwer ein Auflachen verbeißen, als er Kalle sagen hörte: „Mensch, Fietje, so ‘ne Ladung deinem Ollen auf Deck gespuckt, und er geht unter wie Blei!“ Fietje umschloß den Beilholm fester und hieb kräftiger ein. Er stellte sich taub. Nur ab und zu blickte er rundum. Kein Dänenkutter, kein Schwede, nichts. – Der Schweiß tröpfelte ihm auf die schmierigen Hände. Doch weit durften seine Gedanken nicht schweifen, er mußte sich auf die Arbeit konzentrieren. Das Deck war glitschig, und alles war sehr eng. Gegen Mittag quoll ein neuer Fischstrom an Deck und flutschte in alle Winkel. Wenn es so weitergehe, rief Brink-
mann den Jungen zu, erfüllten sie in vier Tagen das Monatssoll. Dann rief er Jochen zu sich, um zu erfahren, wie die FDJler dazu stünden, wenn sie zwei Tage länger am Fisch blieben. Jochen war dafür, doch entscheiden konnte nur das Kollektiv. Es war von der Schul- und Lehrflottenleitung festgelegt worden, daß die erste Reise nur drei Tage dauern sollte. Die Jungen sollten sich allmählich an die seemännische Arbeit gewöhnen. Doch dieser Fischreichtum erforderte einen neuen Entschluß. Und die Jungen waren dafür, wenn auch Rükken und Arme verdammt schmerzten. Während die Hände sicher hantierten, flogen Worte hin und her. Es war eine ungewöhnliche FDJ-Beratung. Claasen stand staunend. Wenn er da an seine Zeit als Moses dachte… Da hätte einer nur versuchen sollen, mitzureden: Unweigerlich hätte er sich die fünf Finger des Bootsmannes vom Gesicht kratzen können. „Abstimmen!“ rief Jochen. Was die Jungen gerade in der rechten Hand hielten, streckten sie hoch in die sonnige Mittagsluft. Da triefte eine Leber, dort blinkte ein Messer, und hier zappelte ein Dorsch. „Einstimmig!“ stellte Jochen fest. „Bravo, Freunde!“ rief Egon Falke und klatschte in die Hände. Und da schlug auch der Bestmann seine schwieligen Pranken aneinander. Aber als die Jungen ihn froh ansahen, hielt er ihrem Blick nicht stand. Zu stark bewegte ihn das alles. Er zupfte sich am Bart und stapfte zum Ruderhaus. „Er hat eine schwere Jugend gehabt“, sagte Falke. „Er soll uns was aus seinem Leben erzählen“, schlug Jochen vor. „Fietje kann mit ihm sprechen, den hat er doch schon ins Herz geschlossen“, riet Horst.
„Funk dat Kombinat an“, forderte Claasen Brinkmann auf. „Zwanzig Kutter könn wi bruken, Potzdüwel…“ Beide lachten wie die Jungen draußen, so frisch und lebendig. „Wi bliewen jung. Käppn. – So, und nun giw mi de Buddel!“ Er griff in die Ruderspeichen, während Brinkmann eine Flasche Korn holte. Nachdem beide einen kräftigen Schluck genommen hatten, rief Brinkmann Fietje herein. Als der ins Ruderhaus trat, hörte er Hellas Stimme. Sie klang fremd durch den Äther. Brinkmann gab die genaue Position des Kutters an und forderte das Kombinat auf, auch die Genossenschaftsfischer zu verständigen. „Das FDJBordkollekliv hat einen Beschluß gefaßt, den wollen sie dem Kombinat selbst mitteilen“, sagte er und winkte Fietje, dem das Herz wild schlug. „Einen Moment bitte“, antwortete Hella, „ich verbinde.“ Alle leitenden Stellen des Kombinats waren durch eine direkte Leitung mit der Funkzentrale verbunden. Hella drückte auf die Knöpfe der Partei-, FDJ- und Lehrlingseinsatzleitung. Dort summte es jetzt auf den Schreibtischen, und rote Lämpchen blinkten auf: Funkgespräch! „Ein Funkgespräch von ,SAS 204’. Ich verbinde…“ „… und da haben wir beschlossen, erst zwei Tage später einzulaufen. Wir wollen unser Monatssoll in fünf Tagen fischen. Das FDJ-Kollektiv – also wir erwarten, daß alle Lehrlingskutter sich verpflichten, das Monatssoll mit fünfzig Prozent überzuerfüllen. Und wir möchten gern eine Bestätigung!“ Mit einem Griff trennte Hella die drei Teilnehmer und rief in das Mikrophon: „Prima, Fietje! Prima habt ihr das gemacht! Warte, jetzt kommen die Antworten…“ Sie hat mich erkannt, sie hat mich erkannt! jubelte es in Fietje.
Hätte Brinkmann nicht neben ihm gestanden, er hätte von all den Antworten nichts aufgenommen. Da hörte er wieder Hellas Stimme. „Ich warte… zwei Tage gehn schnell vorbei… Grüß Horst… Ende.“ Brinkmann wollte das Funksprechgerät ausschalten, da meldete sich „SAS 202“. Sie nahmen den Aufruf an. Dann folgten fünf weitere Kutter. Und alle gaben Mitteilung ans Kombinat: Neuer Kurs – Fangplatz „SAS 204“. „Einer wird nicht kommen, Fietje“, sagte der Kapitän und legte ihm beide Hände auf die Schultern. Und als es um die Lippen des Jungen zu zucken begann, da fügte er mildernd hinzu: „Er hat ja kein Funkgerät…“ „Haben Sie mich gerufen, um mir das zu sagen?“ „Ich halte dich für einen Kerl, der denken kann, min Jung. – Und gerufen habe ich dich wegen der Lütten…“ Diese Worte fanden zu Fietjes Herzen. Seine Hand zuckte in die Tasche und knüllte den Brief… IV Berger stand neben dem Ruderhaus und blickte über die Mole hinweg in die offene See. Er wartete auf Fietje. Die drei Tage, die die Jungen auf See bleiben wollten, waren um, doch der Sohn war noch immer nicht zurück. Er hätte zur Einsatzleitung gehen und sich erkundigen können, doch sein Eigensinn ließ das nicht zu. Auf der Brücke stand der Karren mit den Heringskisten. Berger spannte sich davor. Doch kaum hatte er ein paar Schritte getan, da kam ihm der Karren so leicht vor. Als er sich umblickte, sah er in Hellas lachendes Gesicht. Er hatte einen Fluch auf den Lippen, besann sich aber. Wo das Mädel war, da war sicher auch sein Sohn nicht weit.
Als der Wiegemeister aber auf die Schwiegertochter anspielte, knurrte er: „Mir hat Fietje die Lütte noch nicht vorgestellt!“ Er wuchtete eine Kiste auf die Waage. „Ich kenne diesen Vogel noch gar nicht…“. Hella wäre am liebsten fortgelaufen. Doch Fietje zuliebe nahm sie all ihren Mut zusammen. „Sie urteilen sehr voreilig, Herr Berger. Und auf Ihren Sohn können Sie stolz sein. ,SAS 204’ hat in der Erfüllung des Monatssolls die Spitze erreicht…“ „Was habe ich davon, he? Ick mak min Schiet allein! – Ick bruk niemand! – Niemand!“ Jetzt wollte ihm schon eine hergelaufene Deern Vorschriften machen; denn daß es darauf hinauslief, stand für ihn fest. Er winkte ab. Es war besser, er inspizierte die neuen Maschinen in der Fischhalle der Genossenschaft. Die Neugier
zwickte ihn. Er tat ein paar Schritte in die Halle und strich mit den arbeitsrauhen Fingern über die Rollen, die sich leicht zu drehen begannen. Doch als er einen verstohlenen Blick des Wiegemeisters auffing, lachte er gezwungen, als habe sein Tun nicht die geringste Bedeutung, obwohl ihm Fragen auf der Zunge zuckten. Da kam ihm Hella zu Hilfe. Ob die Genossenschaft eine maschinelle Entladestraße einrichten wolle, fragte sie den Wiegemeister. Und ob, erwiderte der, alles sei rechtzeitig geliefert worden. „Und wenn morgen die Kutter von Bornholm kommen, fährt die Ladestraße bis an die Boote heran. Alles geht dann automatisch…“ „Und wie willst du so schnell wiegen? Da gleichst du in vier Wochen einem Hering“, höhnte Berger. „Aber du hast es ja nicht anders gewollt. Nun hast du dein Himmelreich auf Erden…“ Er gab den Rollen einen Stoß und kehrte zur Waage zurück. Der Wiegemeister klopfte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. „Köpfchen, mein lieber Privatfischer. Automatisch wird jede Kiste gewogen, wenn sie dort“, er zeigte mit der Hand, „über die Rollen läuft, und gleichzeitig wird das Gesamtgewicht addiert. Ich werde dabeistehen und darauf achten, daß möglichst viel angelandet wird…“ Er betrachtete die paar Kisten, die Berger herangekarrt hatte, und hielt ihm die Wiegequittung hin. „Dein Freund Brinkmann hat mit zwei Hol am ersten Tag eintausendachthundert Kilo gefischt. Bei dem wird dein Lütter was lernen…“ „Was du alles weißt…“ „Das steht heut in der Zeitung, Herr Berger“, schaltete sich Hella ein. „Die Lehrlinge wollen ab November für das neue
Jahr des Siebenjahrplanes fischen. Prima, nicht?“ Berger warf grob die leeren Kisten auf den Karren. Der Wiegemeister bemerkte Hellas Kummer; der hartgesottene Alte brachte auch ihn langsam in Rage. Er erinnerte Berger daran, daß die Kisten Eigentum der Genossenschaft seien und daß schonend damit umgegangen werden müsse. „Und wer geht mit mir schonend um? Kein Mensch hält es für nötig, den Eltern mitzuteilen, was überhaupt los ist.“ „Alle Familien wurden verständigt“, verteidigte Hella das Kombinat. „Ich habe die Briefe selbst zur Poststelle gebracht.“ Berger spuckte in die Hände und zog seinen Karren fort. Hella blickte ihm nach, bis er im Kutter verschwand, Sie hatte sich alles ganz anders vorgestellt. Und Fietje tat ihr jetzt leid. * Frau Berger trug das Abendessen in die Stube. Im Radio kreischte Jazzmusik, die bei ihr das Gefühl ängstlicher Verzagtheit hervorrief. Sie versuchte den Sender scharf einzustellen. Die Mutter konnte einem leid tun in ihrer Angst, etwas zu verpassen. Sie lauschte dem Hamburger Nachrichtensprecher und konnte ihn nicht verstehen, und sie horchte auf den Flur, ob der Vater nicht bald komme. Sie setzte sich und entfaltete wieder die Zeitung. Auf der vierten Seite stand fett gedruckt: KAPITÄN BRINKMANN UND SEINE JUNGEN Und eins von den Jungengesichtern auf dem Bild gehörte ihrem Fietje. Ihr Mutterherz erwärmte sich an dem Bild und den Worten, die lobend von den Leistungen der Jungen sprachen. Die Nachbarn hatten sie auf den Bericht hingewiesen.
Sonst las sie nie die Zeitung; Politik sei Männersache, hatte ihr der Mann eingeredet. Und was der Mann sagte, war Gesetz. Doch heute begann sie, daran zu zweifeln. Und nun einmal ins Lesen gekommen, blätterte sie auch die anderen Seiten durch. Sie las: SCHWERE KRISE ERSCHÜTTERT DIE WESTDEUTSCHE FISCHEREI „Fischkutter am Pfahl… Ganze Fänge wandern in die Fischmehlfabriken… Einfuhrware überschwemmt den westdeutschen Fischmarkt. , . Marktpreise sinken unter die Gestehungskosten…“ „Mein Gott, Onkel“, flüsterte die Mutter, „was soll nun werden?“ Die Haustür knarrte. Der Vater trat in die Stube. „Was Neues aus Hamburg?“ Schon am Ton hörte sie, daß eine steife Brise aufkam. Sie gestand, daß sie von den Nachrichten kein Wort verstanden hatte, und zog sich in die Küche zurück. Der Vater, seines Angriffszieles beraubt, setzte sich an den Tisch, griff nach der Zeitung. „Also doch!“ entfuhr es ihm. Er las, und was da stand, packte ihn, zog ihn in seinen Bann. Aber er wollte sich nicht packen lassen. Er lachte ein ungutes, überhebliches Lachen. „Jetzt ködert das Kombinat die Fischer schon mit Meldungen über den Stand der Fischschwärme! Billige Masche!“ Er wandte sich zu seiner Frau, die wieder in die Stube gekommen war. „Na, Schiet, lot em. Die paar Wochen halten wir noch aus, was Mudding?“ Die Mutter war stille Abwehr. Dem Vater fiel das nicht auf, er war schon wieder bei der Zeitung. Was er dort las, ließ ihn die Stirn runzeln. Nun waren sie nur noch drei werktätige Einzelfischer, die anderen waren alle in der Genossenschaft.
Er wußte sofort, wer die Abtrünnigen waren. Er rieb die rechte Hand am Hosenbein, als könne er so den Händedruck abwischen, mit dem sie einander das Versprechen gegeben halten, niemals in die Genossenschaft zu gehen. Aber er, Berger, er hatte sein Wort gehalten. Seine Faust krachte auf die Zeitung. Berger blieb hart. Die Mutter goß Rum in die Gläser und füllte Tee nach. Der Faustschlag machte sie noch nicht zittern. Anders war es, wenn der Vater einen Schuldigen für seine üble Laune suchte. „Warum sagst du nichts? – Bin ich allein für die Zukunft zuständig? Ach, schenk Rum ein, und ohne Verdünnung!“ „Da ist noch ein Brief vom Kombinat…“ „Was schreiben die Tintenheinis?“ Als er die wenigen Zeilen las, die Fietjes längeres Ausbleiben begründeten, stand Hellas lachendes Gesicht vor seinen Augen. „Drüben soll eine Krise sein“, bemerkte die Mutter schüchtern. „Krise? So! – Alles Propaganda!“ „Aber warum schreibt der Onkel nicht?“ „Lebst du auf dem Mond?“ Er zerknüllte die Zeitung. „Das hängt doch von Fietje ab. Der Onkel wartet eben auf unsere Nachricht.“ Und wieder knallte die Faust auf den Tisch. „Aber jetzt ist Schluß! Jetzt wird gefahren, basta! – Auf den Jungen kann ich mich verlassen, der ist ein Berger!“ Gegen drei Uhr morgens war Berger mit mürrischem Gesicht aus dem Haus gegangen. Zur Frau hatte er gesagt, daß er gegen neun Uhr zurück sei, sie solle am Hafen auf ihn warten. Noch gestern spät hatte er einen der beiden anderen Privatfischer aufgesucht. Dessen Frau hatte ihn zurückhaltend an
der Tür abgefertigt. Der Mann sei nicht da. Aber Berger roch den scharfen Tabaksqualm aus der Stube. Die Frau fragte: „Wie soll das überhaupt weitergehen, Berger?“ „Wie? – Wer nachgibt, geht unter. Aber mich kriegt niemand klein, niemand!“ „Aber ich kriege die Schinderei langsam satt“, sagte die Frau. „Und wir wollen nicht die letzten sein!“ Er hatte die Nacht noch lange wach gelegen. Die Mutter hatte sich schlafend gestellt. Sie dachte an die Jugendzeit. Sie war noch sehr jung gewesen, als der forsche Fischerssohn um sie warb. Nur zu gern verließ sie die Tagelöhnerkate. Dann kam der Krieg und dann Fietje… Wenn sie daran dachte, daß sie nun die zweite Heimat aufgeben sollte, bekam sie Angst. Sie hatte, als der Mann in dem dunstigen Frühmorgen verschwand, gehofft, daß sich alles zum Guten wenden möge. Berger ließ den Motor warmlaufen. Die Zeit tickte dahin, doch der Decksmann kam nicht. Erst gegen vier Uhr kreuzte er auf. Das unbekümmerte Auftreten seines Gehilfen, der sonst die Pünktlichkeit in Person war, machte ihn stutzig. „Dein Chronometer steht wohl, he?“ fuhr er ihn barsch an. „Wie man’s nimmt, Herr Berger. Abgelaufen ist er, abgelaufen. Hin ist die Zeit! Ich will auch mal in die Nordsee schippern. Hier kenne ich jedes Loch…“ Berger glaubte zu verstehen und konnte es doch nicht glauben. „Willst du mich verlassen?“ Ihm zitterte die Stimme. „Es muß sein“, sagte der Decksmann. Berger tat ihm leid. „Einmal mußte es ja sein… Ich geh zum Kombinat.“ „Warte doch noch drei, vier Monate, Junge, warte, tu mir den Gefallen, hörst du?“ „Kann nicht. Ich mustere auf einem SechsundzwanzigMeter-Kutter an.“
„Hast du Ersatz für mich?“ „Wer von den Jungen heuert noch auf so ‘nem lütten Kahn an? Nee, Herr Berger, die Schinderei macht keiner mehr mit.“ Wortlos stieg Berger ins Ruderhaus. Über der Mole lichtete sich der Nebel. Positionslichter ausfahrender Kombinatskutter tanzten über dem Wasser. Finster blickte ihnen Berger nach. Als die Mutter zum Hafen kam, standen dort schon andere Fischerfrauen und warteten auf ihre Männer. Sie diskutierten eifrig. Als Frau Berger sich näherte, verstummten sie, „Na, was macht das Geschäft?“ fragte die eine. „Es geht“, sagte sie. „Seit meiner in der Genossenschaft ist, geht’s besser“, sagte eine andere. „Reden Sie Ihrem Mann einmal ins Gewissen. Stehen hier rum und klauben die Fische aus dem Netz und rackern sich ab.“ Eine dritte trumpfte auf: „Gestern war Ihr Mann bei uns, dem habe ich gesagt, mein Alter sei nicht zu Hause. Und meinem Mann habe ich gesagt: Läßt dich vom alten Berger belatschern! Freundschaft nennst du das? Geh in die Genossenschaft, habe ich gesagt…“ „Vielleicht haben Sie recht“, sagte Frau Berger und ging zur Brücke; da legte gerade der Kutter ihres Mannes an. „Lassen Sie sich nicht klein kriegen!“ rief ihr eine der Frauen nach. Der fünfte Tag brach trübe an. Ein kühler Wind trieb schäumende Wellen vor sich her. Doch das war kein Hindernis für die Besatzung von „SAS 204 Thüringen“. Der Morgen verbarg sich noch hinter einem dünnen Nebelschleier, da versank die Zeese in den Fluten. Der letzte Tag der Reise hatte seinen Anfang genommen. Den Jungen war
es, als befänden sie sich schon eine Ewigkeit auf See. Unaufhörlich spuckte der pralle Steert Dorsche und Heringe an Deck. Wie Maschinen arbeiteten die Hände: Kehlschnitt, Bauch auf, Leber raus, Kopf ab. Eintönig war das, wie das Tuckern des Dieselmotors. Wohl wechselten sich die Jungen bei der jeweiligen Arbeit ab, doch dann half auch das nicht mehr. Er zwickte und biß sich in den Muskeln fest, dieser Schmerz, der die Zähne klappern ließ, weil er morgens und abends den frostklammen Wind als Bundesgenossen anheuerte. Kalles schnoddriges Mundwerk kam nur noch selten in Gang. Doch auch die anderen sahen bitter drein. Fietje allein schien Humor und Dreistigkeit behalten zu haben, er war wie gewandelt. Wo es im Arbeitsablauf stockte, griff er zu und gab Ratschläge. Wenn die Arbeit zu eintönig wurde, stimmte er ein Lied an. Und die Jungen sangen sich alle Müdigkeit und Ungeduld vom Herzen. Abends, wenn das Meer zu schlafen schien, wenn die Positionslichter der Kutter wie glühende Kobolde über die Wasserebene tanzten, standen Kapitän und Bestmann am Vormast und sangen uralte Shantys. Darin rauschten afrikanische Palmen, tobte der Hurrikan, fluchten Offiziere und zischten Peitschen der Bootsmänner. Wie bitter schmeckte den Jungen doch die vielgepriesene Seemannsromantik. Und manchmal glaubte Fietje, sie sängen nur für ihn. Bei diesen Liedern verloren seine Träume den Glanz. Seit er der Kindheit entwachsen war, hatte er sich noch nie so frei und glücklich gefühlt. Er wäre gern noch länger auf dem Fangplatz herumgeschippert. doch die Entscheidung des Kapitäns war unwiderruflich. Und Fietje mußte ihm recht geben. Sie waren kaum zur Ruhe gekommen. Kein Hol hatte weniger als 500 Kilo erbracht.
Egon Falke stand am Niedergang. In der Hand hielt er einen Kochtopfdeckel, gegen den er mit dem Schlachtmesser schlug. „Platz nehmen zum letzten Gedeck auf See!“ Ein verführerischer Duft wraste aus dem Niedergang, Claasen schnupperte und zupfte genüßlich am Bart. „Bratheringe“, schätzte Horst, „vielleicht auch Dorschfilet.“ „Oder beides. Falke bringt alles fertig“, sagte Jochen. „Det duftet so nach Leber…“ Kalle sog den Duft tief ein. Egon Falke verkündete feierlich: „Erster Gang: Knochenbrühe mit Ei. Zweiter Gang: Dorschleber auf Toast. Dritter Gang: Kotelett mit Erbsengemüse. Vierter Gang: Pudding mit Preiselbeeren…“ Kalle staunte: „Wir werden wohl gemästet?“ „Fünfter Gang: Mokka mit Sahne“, verkündete der Steuermann, verbeugte sich und ließ seine Gäste eintreten. Sie bewunderten seine Kochkunst und sein Talent. Als sie wieder an Deck kamen, leuchtete der Himmel hellblau. Ringsum fischten Kutter. Auch Dänen und Schweden waren darunter. Doch keiner war bisher längsseits gegangen. Fietje war plötzlich wortkarg. Kurz vor dem Mittagessen hatte er in den Taschen ein Bändsel gesucht. Dabei war ihm der Brief in die Finger geraten. Alle Freude war ihm verdorben, alter Zwiespalt flackerte wieder auf. Horst fragte, was ihn quäle, um was er sich sorge und ob er ihm helfen könne. Fietje schüttelte nur den Kopf. Er blieb stumm und verrichtete ohne Schwung seine Arbeit. Die Sonne sank. Und immer näher kam ein Kutter, den der Kapitän aufmerksam durchs Fernglas beobachtete. Dann rief er Falke zu: „Er ist es!“ Kurze Zeit später ging die „Christiane“ aus Nexö längsseits.
„He, Ohlsen!“ rief Brinkmann. „He, altes Hus!“ rief Ohlsen zurück, dann kletterte er mit zwei jungen Fischern an Bord. Schon seit Jahren tauschten Ohlsen und Brinkmann ihre Erfahrungen aus. Zwischen ihnen bestand eine herzliche Freundschaft. Während die Kapitäne im Ruderhaus über die wirtschaftliche Lage sprachen und dabei einen Richtenberger tranken, fieberte Fietje neben einem jungen Dänen, der zwei Jahre älter sein mochte und jeden seiner Handgriffe kritisch beobachtete. Dann nahm er Fietje das Schlachtmesser aus der Hand und zeigte ihm zwei Kniffe, die selbst der Bestmann noch nicht kannte. Nun traten auch die anderen Jungen heran, und im Nu bestand ein herzlicher Kontakt. Fietje trat unauffällig aus dem Kreis und verschwand im Logis. Durchs Skylight drangen Stimmfetzen, die ihn zur Eile mahnten. Die Dänen konnten sich jeden Moment verabschieden. Er stand stocksteif und war nicht fähig, sich zu rühren. Aus dem Dunkel hörte er die Stimme des Vaters: „Im Westen ist die Freiheit, ist die Welt…“ Doch eine andere Stimme mischte sich unter, stärker, klarer: „Und nun ans Werk – enttäuscht uns nicht!“ Es knisterte, als die Flammen aufloderten. Kapitän Ohlsen lobte die Jungen und den Kutter. „Zeitlebens habe ich von so einem Schiff geträumt, aber dabei blieb es, und dabei wird es auch bleiben…“ „Ihr müßt bei euch auch die Haie ausrotten“, sagte Brinkmann ernst. „Nichts kommt von allein…“ Ohlsen nickte stumm. Sie standen vor Fietje, der Brinkmann fest anblickte. „Und das ist Fietje, der Sohn meines Freundes“, hörte er Brinkmanns Stimme. „In ein paar Jahren wird er selbst als
Kapitän unseres Kombinats in die Nordsee fahren, was, Fietje?“ Diese Worte fegten Fietjes letzte Zweifel hinweg. „Ja, Kapitän, das werde ich“, brach es aus ihm heraus, und fest fügte er hinzu: „Ich werde Sie nicht enttäuschen!“ Fietje fühlte seine Rechte zusammengepreßt, und dann sprangen die dänischen Freunde an Bord der „Christiane“.
Aus tiefhängenden Wolken peitschten fadendünne Regenstriche. Ein böiger Wind fauchte über die schäumende See, drang in alle Ritzen des Kutters. Der Ofen wummerte, rotgelber Flammenschein huschte vom spiegelnden Fußboden zum Skylight hinauf, sprang von Backbord nach Steuerbord und wanderte über die Gesichter der schlafenden Jungen. Nur Fietje lag wach. Er sah den wütenden Vater vor sich, und vor diesem Zusammentreffen
hatte er Angst. Unruhig wälzte er sich von einer Seite auf die andere, lauschte in die flammendurchzuckte Dämmerung. Horst rief ihn leise an. „Bist du schon wach, Fietje?“ „Ich kann nicht mehr schlafen…“ „Mir tun alle Knochen weh.“ „Die nächste Nacht liegst du schon im Bett…“ „Du nicht?“ „Ob Hella uns erwartet?“ wich Fietje aus. „Bestimmt, Fietje, bestimmt!“ antwortete Horst und dachte: Er verschweigt mir immer was. In der Kombüse pfiff der Flötenkessel. Claasen polterte den Niedergang herab und rief: „Reise, Reise! Stubbenkammer voraus…“ Jetzt wird’s ernst, dachte Fietje. Er schwor sich: Ich gehe nicht nach Hause, nein! Ich gehe mit Hella ins Kino, vielleicht auch am Nachmittag ins Stubnitz-Cafe. Abends bummeln wir durch die Straßen und spinnen vor Schaufenstern von der Zukunft… Wenn es dann immer noch regnet, gehen wir ins Seemannsheim, spielen eine Partie Schach oder setzen uns vor den Fernsehapparat. Saßnitz tauchte aus dem dunstigen Grau auf. Fietje stand im Ölzeug am Vordermast und ließ sich den Regen ins Gesicht peitschen. Aus der diesigen Luft wuchs der Leuchtturm hervor, dick und wuchtig. Backbord heulte Tonne I, ihr dumpfer Ruf wies den Weg in den Hafen. Sie näherten sich der Zollbrücke. Die Jungen standen auf Deck und kamen sich wie alte Seefahrer vor. Auf der Zollbrücke entwirrte sich ein Menschenknäuel, der dort trotz des Regens ausgeharrt hatte. Wie aus den Planken gewachsen stand Claasen plötzlich zwischen den Jungen und gab seine Kommandos. Sie spritzten auseinander, die einen zum Bug, die andern zum Heck. Die Schraube wirbelte rückwärts, der Kutter verlor Fahrt.
Schnell und sicher arbeiteten die Jungen. Auf der Zollbrücke griffen helfende Hände nach den Leinen. Nun stiegen die Genossen vom Zoll an Bord. Hartmann, der Heimleiter, der aufgeregt auf der Brücke hin und her lief, rief ihnen zu: „Beeilt euch, Genossen, die Jungen haben Landfieber!“ Hella drängte sich nach vorn. Fietje und Horst standen nebeneinander an der Reling und drückten Hella abwechselnd die Hände. „Fall nicht ins Wasser“, mahnte Horst. „Fietje hält mich fest“, lachte sie zurück. Die beiden Jungen stießen sich an, und ihnen war, als wären sie schon lange gute Freunde. Noch nie hatten die Jungen den Bestmann so aufgelebt gesehen. Er saß mitten unter ihnen im Logis. Zuerst beglückwünschte sie Willi Kramer zu ihrem Erfolg. „Ich mache nicht viel Worte“, sagte er… „Eure Tat sagt genug. Hier habe ich euch ein Buch mitgebracht.“ „Bord-Tagebuch SAS 204 Thüringen“ lasen die Jungen. Auf den ersten Seiten waren die Köpfe der Ausbilder und der Jungen skizziert. „Dafür müßt ihr Hella danken“, sagte er. „Da tragt ihr jetzt alles ein, was ihr an Bord erlebt habt. Später lest ihr das gern wieder…“ Er übergab Jochen das Tagebuch. Hartmann konnte es kaum erwarten, daß er den Jungen die Hand schütteln durfte. Bei Fietje und Horst tat er es länger, als es nötig gewesen wäre. Doch die beiden verstanden ihn und gaben den Händedruck kräftig zurück. Gegen Mittag, als der Kutter entladen war und die Jungen sich landfertig gemacht hatten, trafen sich Fietje und Hella. „Gehn wir ins Kino?“ Wie gern hätte sie ja gesagt. „Deine Eltern warten auf dich.
Sie freuen sich, wenn du kommst.“ Fietje blickte vor sich hin. „Ich möchte den heutigen Tag mit dir verbringen“, beharrte er. „Du freust dich gar nicht, daß ich wieder da bin.“ „Du mußt an deinen Vater denken, der braucht dich…“ Er dachte an den Brief und an das. was nun kommen mußte. Die Kehle wurde ihm eng. „Horst versteht mich. Du bist lieblos…“ Was er von Horst sagte, freute sie, doch das andere tat weh. Doch dann dachte sie an den alten Berger. „Wir treffen uns morgen, Fietje, mein letztes Wort.“ „Und ich geh nicht nach Hause. Mein letztes Wort…“ VI Der Kapitän war lustig gewesen wie immer. Sie hatten ausgiebig geklönt und dabei eine lütte Buddel gelöscht. Am meisten hatten der Kapitän und die Mutter, die besonders froh über diesen Besuch war, über die Wasserbuddel gelacht. Der Vater hatte nur sein Gesicht verzogen; für solche Scherze war er nicht zu haben. „Mit diesen Dingen soll man nicht scherzen, Käppn“, sagte er wenig freundlich. „Steckt Fietje am Ende auch dahinter?“ „Auf den kannst du stolz sein“, beantwortete Brinkmann die Frage. „Ja, aber ihr überfüttert ihn mit eurem neumodschen Kram und setzt ihm Rosinen in den Kopf!“ „Tscha!“ sagte der Kapitän und steckte seine Pfeife an. „Tscha, so ist dat man. – Die heutige Jugend greift nach den Sternen, sie will ein leichteres Leben. Und wir sollten ihnen .dabei helfen, mein ich. Noch?“ Der Vater brummte enttäuscht. Was war aus seinem Freund geworden – das Kombinat hatte ihn ganz umgekrempelt.
„Und wie ist das nun bei dir mit der Genossenschaft?“ „Ich – und diesen Firlefanz mitmachen? Nee, mein Lieber, privat bleibt privat, basta!“ Dabei dachte er an seinen Decksmann, den er sich noch durch eine Heuerzulage ködern wollte. Der Kapitän paffte bedächtig Zug um Zug. Er konnte Berger ja nicht zwingen, aber Fietje tat ihm leid. Der Vater stand mit seiner Auffassung dem Jungen im Wege. Und die Mutter, warum schwieg sie? „Na, Mudding, was hast du zu sagen, zu der Genossenschaft?“ Die Mutter kratzte sich mit der Stricknadel im Haar. Sie hatte Angst vor ihrem Mann. „Ich weiß nicht, Käppn. Die Guten und die Faulen zusammen? Kann das was werden?“ „Aber Mudding! Und was ist in Glowe? Da geht doch alles prima. Und zuerst dachten sie auch so wie du. Na, und hier in Saßnitz ist die Sache doch auch gut angelaufen!“ „Nee, Käppn, was bist du doch anders geworden. Wie haben sie dich umgekrempelt… Heute hast du gut reden, du brauchst nicht einzutreten, du hast keinen Pott mehr…“ „Pöttchen!“ berichtigte der Kapitän. „Na gut, Pöttchen. Also das hast du verkauft und bist als Käppn ins Kombinat gegangen. Du hattest eben den richtigen Riecher…“ „Und heute? Gebe ich dir heute keinen guten Rat? Und sei ehrlich, Alter, müssen wir uns nicht manchmal wegen unserer veralteten Anschauungen schämen? Dein Fietje ist eben einer von den Neuen, die, wie sagt man doch heute, so schnell vorwärtsstürmen wie die Luniks im Weltall!“ „Dann muß sich das Alter eben von der Jugend bevormunden lassen, meinst du? Nee, nicht der alte Berger!“ „Warum bist du so hart, Vater? Bist du mit Fietje nicht zu-
frieden?“ Berger warf der Mutter einen mürrischen Blick zu. „Kommt er nicht neuerdings mit Ideen an, die nicht in sein Vaterhaus gehören? Aber…“, sagte er wegwerfend, „man braucht ja nur den Kapitän zu hören, dann weiß man, wie die heutige Jugend erzogen wird…“ „Tscha, dann muß ich wohl den Anker hieven, Berger. Klönen können wir zusammen, aber zanken mag ich nicht.“ „Nichts da, du bleibst. Vadding ist ein alter Brummbär. Ansichten hat er manchmal…“, lenkte die Mutter ein. „Das habe ich gemerkt. Er kurbelt zuviel einen falschen Kurs am Radio…“ Der Vater öffnete den Mund, schien etwas sagen zu wollen, entschloß sich dann doch anders. Er ergriff mit Daumen und Zeigefinger das Gläschen, nickte dem Kapitän zu und ließ den „Spezial“ in sich hineinlaufen. Er setzte das Gläschen hart auf den Tisch. „Also Kurswechsel? Da kannst du recht haben“, sagte Berger hintergründig. „Wenn du Fietje triffst, sag ihm, ich muß ihn heute noch sprechen.“ „Das ist gut. Und sei nicht mehr so dickköpfig!“ Der Kapitän glaubte, der Alte wolle sich endlich besinnen. „Er braucht noch eine freundliche Hand. Vergiß das nicht. Tschüß.“ Fietje stand am Fenster, die Hände auf dem Rücken. Es hatte wieder zu nieseln begonnen. Am liebsten hätte er den Südwester auf den Kopf gestülpt und wäre in den regnerischen Herbsttag hinausgelaufen, in die Stubnitz, wo er mit seinen Gedanken allein war, wo ihn Stille umgab und ihn keiner quälen konnte. Als er in die Stube getreten war, hatte er sich vorgenommen, dem Vater die Wahrheit zu sagen.
„Was ist mit dem Brief?“ hatte der Vater gleich gefragt. „Nichts ist mit dem Brief“, antwortete er betont gelassen. „So, was soll das heißen?“ Die Mutter ließ den Strickstrumpf sinken. Es zog ein Gewitter herauf. Sie mußte eingreifen, mildern. „Bist du krank, Fietje?“ „Der Herr Sohn hat plötzlich eigene Gedanken. Das Kombinat ist ihm zu Kopf gestiegen. Ist wohl ein Feigling geworden, der volkseigene Fischerlehrling?“ Der Regen trommelte gegen die Scheiben. Die drei Menschen in der Stube atmeten schwer. Fietje brach die Stille. „Feigling? Du sagst zu mir Feigling?“ „Deutlich genug habe ich es gesagt.“ Der Vater stand auf und lief gereizt hin und her. Die Mutter bangte um die sonnabendliche Ruhe. „Ihr solltet euch vertragen…“ „Fragt sich nur, wer von uns ein Feigling ist!“ sprach Fietje zum Fenster hin. Der Vater unterbrach seinen unruhigen Lauf und stellte sich hinter Fietje. Man merkte ihm an, daß er mit Gewalt versuchte, seinen Jähzorn zu beherrschen. Er packte Fietjes Schulter. „Wie hast du das gemeint? Sag das noch mal!“ „Es gibt ein Sprichwort: Wie man in den Wald…“ „Schweig! Ich habe dich nicht nach Sprichwörtern gefragt!“ In Berger brodelte es. Fietjes Art brachte ihn maßlos auf. Und er mußte endlich wissen, was mit dem Brief war. „Hast du den Brief besorgt – ja oder nein?“ Noch immer lag die Hand des Vaters hart auf Fietjes Schulter. „Warum quälst du mich, Vater? Laß mich doch in Frieden!
Immer hast du nur Forderungen an mich. – Wenn ich nach Hause komme, muß ich schuften. Habe ich keine Freizeit verdient? Und warum muß ich schuften? Weil du nicht den Mut hast, in die Produktionsgenossenschaft einzutreten, etwas Neues anzufangen, weil du einfach Angst hast. Du willst nach dem Westen ausreißen – das ist Feigheit. Und den Brief habe ich in den Ofen gesteckt!“ Fietje fühlte, wie sich der Griff auf seiner Schulter lockerte, dann brannte seine Wange heiß, und ihm wurde rot und schwarz vor Augen. Scham und Zorn übergossen sein Gesicht mit glühender Röte. Der Vater brüllte: „Ich werde dich lehren, den Auftrag deiner Eltern zu mißachten!“ Jetzt erst kam Fietje zum Bewußtsein, was geschehen war: Der Vater hatte ihn geschlagen! – Er sah die schreckgeweiteten Augen der Mutter und rannte wie gehetzt zur Tür. „Fietje, Junge“, rief sie jetzt. Aber es war schon zu spät. Die Tür schlug hinter Fietje zu. Berger warf sich in den Sessel. Was hatte er getan! Ihm brannte die rechte Hand. Er sprang auf, riß das Fenster auf und blickte die Promenade hinab. Fietje verschwand hinter der Ecke. Der Vater war fahl im Gesicht. „Warum hast du das getan?“ fragte die Mutter. „Vater, Fietje ist kein Kind mehr!“ Mutter hat recht, dachte der alte Fischer. Und ich hätte ihn nicht dieser kommunistischen Erziehung anvertrauen dürfen. Sein Gesicht verschloß sich. Nein! Diesen Ton hätte sich der Junge nicht erlauben dürfen – nicht seinem Vater gegenüber. „Ach Gott!“ schluchzte die Mutter. „Ich wollte, wir hätten nie nach Cuxhaven geschrieben…“
Berger stand am Fenster und schaute hinaus. Hier und dort flammte Licht auf. Der feine Sprühregen glitzerte auf dem Pflaster. Fietje brauchte eine freundliche Hand, hatte der Käppn gesagt. Und er, der Vater, hatte ihm ins Gesicht geschlagen. Die Mutter saß still im Sessel. „Ich glaube, Fietje verzeiht es uns nie, wenn wir nach dem Westen gehen.“ „Ich gehe raus“, sagte der Vater und stampfte zur Tür. Es war schnell dunkel geworden. Die Erde dampfte. Die Pfade in der Stubnitz waren aufgeweicht. Fietje empfand das kalte Klatschen des Regens in seinem glühenden Gesicht als eine wohltuende Erfrischung. Aber wenn er an die Erniedrigung dachte, ballte er die Fäuste. Sein Herz pochte vom Laufen. Er war am Hochufer entlang gelaufen. Ermattet lehnte er sich an den Stamm einer uralten Buche. Vom Meer, das tief unter ihm rauschte, drang Kühle herauf. Zuerst hatte er zurück zum Hafen laufen wollen, dann war er in die Stubnitz eingebogen. Was hätte er jetzt auf dem Kutter tun sollen? Ihm konnte keiner helfen. Tränen der Erbitterung standen in seinen Augen. Nein, der Vater sollte ihn nicht klein bekommen. Und Hella? Warum hatte sie ihn weggeschickt! Die Wolkendecke riß auf. Ab und zu stahl sich die Mondsichel hervor. Langsam ging Fietje zurück: Aus dem „Wiener Cafe“ drang das Winseln einer Jazzband. Er ging vorbei. Als er in Höhe der Fischergasse dicht am Wasser entlangschritt, erblickte er seinen Vater. Wie gehetzt rannte Fietje davon. Auf der Brücke I stand er plötzlich dem Kapitän gegenüber. Er versuchte, an ihm vorbeizuschlüpfen – und blieb doch stehen. Er meinte, der Kapitän müsse sehen, wie seine Wan-
ge glühte. Er wünschte sich auf den Kutter oder weit fort von hier. Der Kapitän hatte die ganze Zeit an die Unterhaltung mit Berger denken müssen. Es hatte etwas Unausgesprochenes, Drohendes in der Luft gelegen. – Und nun stand da plötzlich Bergers Sohn und schien von der Begegnung nicht sehr erbaut zu sein. Brinkmann sah, wie verstört Fietje war. Das grelle Licht der Bogenlampe überflutete beide, den jungen und den alten Fischer. Und der alte Kapitän, dessen Gesicht die See schon ledern gegerbt hatte, trat dicht an den Lehrling, der erst an der Pforte des Lebens stand, heran und sah ihn forschend aus gütigen Augen an. Nein, getrunken hatte der Junge nicht, und er wich seinem Blick auch nicht mehr aus. Ja, Fietje wurde ruhig. Nun wünschte er sogar, der Kapitän solle ihn ansprechen, ihn einladen oder sonst etwas, nur sollte er jetzt bei ihm bleiben. Er mußte jetzt alles sagen. Der Alte ahnte, was Fietje wollte. Er legte seinen Arm um. die schmalen Schultern des Jungen und zog ihn mit sich fort. Wie ein Vater und ein Sohn schritten sie die Brücke entlang, an deren Poller die Kutter knarrten und unter der das Wasser leise gluckste. Im Logis setzten sie sich an die Back. Der Kapitän hatte zwei Flaschen Bier daraufgestellt. Nun stopfte er seine Pfeife und blies blaue Ringe in die Luft. „Prost, Fietje!“ „Prost, Kapitän!“ Langsam und bedächtig drückte Fietje den Flaschen Verschluß zu. Er wußte, daß er jetzt sprechen mußte. Aber Brinkmann kam ihm zuvor. „Es gefällt dir bei uns im Kombinat?“ „Mir? Prima gefällt es mir!“
„Und warum? Du mußt mich verstehen, wenn ich so frage; ihr habt doch einen eigenen Kutter zu Hause…“ „Ach, der ist doch mit unseren hier gar nicht zu vergleichen. Wenn es nach mir ginge…“ Fietje öffnete die Flasche und trank. Er begann mit den Fingern auf die Back zu trommeln. Der Kapitän wurde aufmerksam. „Hast du Ärger gehabt?“ „Hm!“ „Ich habe auch Ärger gehabt, mit deinem Vater…“ „Wann?“ „Heute mittag!“ „Ach so, ich verstehe…“ „Was verstehst du? Rede, min Jung!“ „Wegen der Produktionsgenossenschaft, nicht wahr?“ Fietje starrte auf seine schmutzige Stiefelspitze. Der Kapitän klopfte ihm auf die Schulter. „Kopf hoch, Junge! So schlimm wird’s schon nicht gewesen sein…“ Fietje vergrub den Kopf zwischen den Handflächen. „Viel schlimmer war’s… Geohrfeigt hat er mich!“ Und nun erleichterte Fietje sein Herz. Zuerst sprach er noch zusammenhanglos und aufgeregt, doch je länger er sprach, desto ruhiger wurde er, und der Druck, der wie ein Alp auf ihm lastete, wich, und die Worte reihten sich zu klaren Sätzen. Der Kapitän unterbrach ihn nicht. Als Fietje zu reden aufhörte, schwieg er lange. Dem Kapitän hing die kalte Piep im Mundwinkel. „Tscha, Fietje. Und was soll nun werden? Geschehen muß doch was, noch?“ Fietje wischte sich mit der Hand über die Augen. Ein Lächeln huschte über sein blasses Gesicht, doch schnell verschwand es wieder und machte einem trotzigen Zug Platz.
„Ich gehe nicht mehr nach Hause!“ „Tscha, min Jung. Aber er ist immer noch dein Vater…“ „Ich weiß – ein Kind muß nachgeben…“ „Ja, ja, Fietje, so soll dat woll sin…“ „Aber ich tu’s nicht.“ „So geht’s aber nicht, Fietje.“ „Es gibt da noch was…“ Erschrocken hielt Fietje inne. Auch als der Kapitän in ihn drang, schwieg er beharrlich. „Das ist ein Geheimnis und geht nur uns Bergers an.“ Der Kapitän mußte insgeheim lächeln. Das war ganz der Vater. Kein Wunder, wenn die zwei sich in die Haare gerieten. Er war Menschenkenner genug, um einzusehen, daß es heute zwecklos war, Fietje noch länger auszufragen. „Ich spreche morgen mit deinem Vater. Du bist doch einverstanden?“ „Ich werd’s wohl müssen…“ Dieser Trotzkopf, dachte der Kapitän, hat sich in einen Gedanken verrannt und will nicht nachgeben. „Du mußt auch an deine Mutter denken, Junge. Bestimmt bangt sie um dich.“ „Grüßen Sie sie. Ich bleibe heute nacht auf dem Kutter.“ „Na, denn gute Nacht, Fietje, und Kopf hoch!“ VII Erst gegen Mitternacht war der Vater zu Bett gegangen. Neben ihm hatte die Mutter still vor sich hin geweint. Er hätte schwören können, daß es sein Sohn gewesen war, der da auf der Promenade an ihm vorbeigelaufen war. Er hatte noch hinterhergerufen, aber Fietje hatte es wohl nicht hören wollen. Am Sonntag war der Himmel trüb. Schon im Morgengrauen stand der Vater auf und lief zum Hafen. Als er den
Schlüssel in die Tür zum Ruderhaus steckte, stutzte er. An die Tür war ein Zettel geheftet: Kann heute nicht auslaufen. Möchte einmal Sonntag haben. Decksmann. Noch auf dem Wege zum Hafen hatte er sich eingeredet, wenigstens Fietje käme zum Boot, vielleicht war er schon dort und wartete. Berger verspürte ein unruhiges Kribbeln in den Fingerspitzen. Der Junge muß her, egal wie, dachte er. Er ging zur Kombinatswache. Doch zu so früher Stunde durfte kein Betriebsfremder ins Kombinat. Als Berger wieder ins Schlafzimmer trat, schlief die Mutter noch. Er schloß leise die Tür und setzte sich in den Sessel. Er grübelte, was er tun sollte. Er wollte noch warten und dann noch einmal zum Kombinat gehen. Aber auch beim zweitenmal halte er kein Glück. Der Posten, der jetzt Dienst hatte, behauptete, daß am Wochenende alle Lehrlinge im Heim schliefen. „Und es gibt keine Ausnahmen?“ „Keine.“ Unschlüssig stand er an der Hafentreppe. Doch seine Unentschlossenheit hielt nicht lange an. So schnell er konnte, eilte er die Treppe hinauf. Er wollte zum Heim, dort mußte Fietje sein. Und wenn er das ganze Heim durchsuchen sollte, er wollte ihn schon finden. Und er würde ihn nicht eher verlassen, als bis sie sich ausgesöhnt hatten. Der Lehrling, der Heimwache hatte, empfing ihn. Aber auch hier erhielt er eine verneinende Antwort. Der Vater begriff nicht, sein Sohn mußte hier sein, und er verlangte ihn zu sprechen. Der Posten rief Jochen herbei. Auch der bestätigte, daß Fietje nicht im Heim geschlafen habe. Vor den Augen des Vaters begann es zu tanzen. Erregt wandte er sich an Jochen.
„Sagst du mir auch die Wahrheit? Ist Fietje wirklich nicht hier?“ Kalle, der draußen umherschlendcrte, wurde von Jochen zur Verstärkung herbeigerufen. „Sehen wir uns das Zimmer an, wenn es Herr Berger nicht glaubt.“ Er folgte den Jungen durch den langen Flur. Alles blitzte vor Sauberkeit. In den Fensternischen standen Blumen. Auch Bilder von Segelschiffen und Dampfern hingen dort. Fietjes Zimmer war mit hellgelben Möbeln eingerichtet. „Hier schläft Fietje“, sagte Jochen. „Dort ist sein Schapp. Überzeugen Sie sich, Regenmantel und Mütze sind fort.“ Der Vater stand vor dem Schrank. Geordnet lag die Wäsche im Fach. „Bei uns herrscht Ordnung, nicht wahr?“ sagte Jochen stolz. Berger schwieg. „Ist unser Heim nicht prima, Herr Berger? Wenn Sie noch mal jung wären, lernten Sie bestimmt auch im Kombinat, nicht wahr?“ „Ich weiß nicht, ich bin nicht für Drill“, wehrte Berger ab, „Drill? Is’n das?“ Berger hatte es plötzlich sehr eilig. „Sie hatten wohl Krach mit ihm?“ fragte Kalle. „Hm.“ Nachdenklich ging Berger nach Hause. Wieder daheim, irrte er ruhelos durch Haus und Garten. Erfand nicht den Mut, seiner Frau unter die Augen zu treten. Er mußte Fietje finden. Das war alles, was er noch denken konnte. Er stapfte zur Laube und setzte sich ächzend auf die Bank. Sein Blick fiel durch die Fensterscheiben auf die weißen Winterastern am Haus. Blumen! dachte er. Ich würde sie alle absäbeln, ratzekahl,
und dem Jungen in die Arme drücken, wenn er nur jetzt käme… Plötzlich war es ihm, als höre er Stimmen. War es nicht die Frau, die nach ihm rief? Wie ein Junger schnellte er hoch. Als er hastig aus der Laube in den Garten trat, sah er seine Frau bei den Blumen stehen. Sie hielt ein paar langstielige Astern in den Händen. „Wo – wo – ist Fietje?“ rief er. „Fietje? Der ist noch nicht da“, antwortete sie. „Aber die Blumen?“ Sie schüttelte traurig den Kopf. „Für den Kapitän…“ Nun erst sah er Brinkmann, der zwischen den Asternbüscheln kniete, Stengel abschnitt und sie der Mutter zureichte. Der Vater schnaubte durch die Nase. Umsonst gefreut… Der Kapitän strich das Taschenmesser an der Hose ab und sah Berger prüfend an. „Was machst du für ein Gesicht? Sei zufrieden, daß du am Sonntag mal ausspannen kannst.“ Sie gingen in die Stube. Aber der Platz, wo der Vater sonst die Buddel hinstellte, blieb leer. Er selbst saß nervös auf dem Stuhl, schaute zum Leuchter hinauf oder auf den gemusterten Teppich. Die Mutter bereitete in der Küche das Mittagessen zu. Der Kapitän schnupperte genießerisch. „Es gibt wohl gebackenen Schinken?“ „Sag mal, Alter, sprichst du nicht mehr mit mir?“ Lächelnd schaute er Berger an, der sich bemühte, ein freundliches Gesicht zu zeigen. Doch Antwort gab er nicht. „Ich würde mich ja gern zum Essen einladen, aber heute wird ja wohl Fietje kommen. Der Sonntag gehört der Familie, noch?“ bohrte der Kapitän weiter. Berger erwachte aus seinem Dämmerzustand. Seine erste Reaktion war, daß er die Faust auf den Tisch schmetterte, dann kam ein tiefer Seufzer: „Ich bin ein Idiot!“
„Stimmt!“ sagte die Mutter durch den Türspalt, zog sich aber sofort wieder in die Küche zurück. „Manchmal sagt einer ungewollt die Wahrheit, das ist gut“, fuhr Brinkmann fort. Berger runzelte die Stirn. „Meinst du mich – oder meine Frau?“ „Beide! Euch beide meine ich.“ Ihm entging nicht, wie Berger blaß wurde und sich krampfhaft bemühte, Ruhe zu bewahren. Der Fischer kratzte mit seinen rissigen Fingern über die weiße Damastdecke… Kein Wort der Klage oder des Zorns kam über seine zusammengepreßten Lippen. Brinkmann blieb zum Essen. Berger paßte das nicht. Er knurrte über den Blumenstrauß, den die Mutter auf den Tisch stellte. „Ich habe Blumen gern“, sagte der Kapitän. „Wenn man eine ganze Woche nur Wasser und zappelnde Fische gesehen hat, freut man sich über Blumen. Was knurrst du nur…“ „Das ist wegen Fietje“, sagte die Mutter und heftete die Augen auf ihren Teller. „Ach!“ Brinkmann tat erstaunt. „Das fällt mir jetzt erst auf, wo steckt der Bursche denn?“ Er legte sich noch eine Schinkenscheibe auf den Teller. „Sonntags sollte die Familie zumindest am Mittagstisch beisammen sein, noch, Alter?“ Jetzt ging die Fragerei los, vor der sich Berger gefürchtet hatte. „Du bist jetzt nicht an Bord deines Kutters“, wies er Brinkmann ab. „Man muß das Dienstliche vom Privaten trennen!“ Er teilte seinen Bratschinken in zwei gleichgroße Stücke. „Das dort ist das Kombinat, und dies hier ist die Familie, kapiert?“
Der Kapitän schmunzelte. „Tscha, aber du ißt doch beide Teile – oder läßt du die eine Schinkenhälfte liegen, weil heute Sonntag ist?“ „Die werde ich schön essen…“ „Und ich werde mich auch sonntags um die Jungen kümmern. Deshalb hätte ich gern gewußt, wo Fietje ist, tscha, nur darum…“ „Es hat gestern…“ Die Mutter schwieg und verzog schmerzhaft den Mund. Doch dann blickte sie ihren Mann trotzig an. Und wenn er ihr noch und noch auf den Fuß trat. „Es hat Krach gegeben zwischen Vadding und dem Jungen.“ „Erzähle, wie war das?“ fragte Brinkmann. Der Vater hörte stumm zu. Es stimmte alles, was die Mutter jetzt erzählte, er fühlte sich wie in grelles Scheinwerferlicht getaucht. Da gab es kein Entrinnen. Er hörte, wie Brinkmann vorwurfsvoll sagte: „Tscha! Was so alles passiert, wenn man vergißt, daß man einen Menschen vor sich hat, tscha…“ „Du regst mich auf mit deinem Tscha – Tscha!“ „Tscha! Ich mein, du solltest doch in die Efpege eintreten, Alter, noch? Das Alleinherumwurschteln frißt dich auf. Und die lockere Hand, noch, die bringt nichts Gutes. Eines Tages geht es dir wie der Eintagsfliege, du summst dich heiser und…“ „Und bleibst am Fänger kleben?“ schrie Berger. „Das wolltest du doch sagen, du Hellseher, du…“ „Und damit wir dich da nicht eines Tages abkratzen müssen, bemühen wir uns alle um dich, vor allem dein Fietje. Aber du riechst nur den süßen Honig, den man dir vom Westen verspricht.“ Berger hielt im Kauen inne und warf Messer und Gabel auf den Tisch. Der Zorn sprühte ihm aus den Augen.
Mit diesem Ausbruch hatte der Kapitän gerechnet. Und er dachte nicht im entferntesten an Nachgeben, im Gegenteil, ein harter Stein muß hart bearbeitet werden, „Willst du jetzt schon in die Genossenschaft? Sonntag mittag ist da geschlossen.“ Berger wollte heftig antworten, aber er hatte noch den Haps Schinken im Mund. Am liebsten hätte er die Tür geöffnet und „hinaus“ geschrien. Aber schließlich waren sie alte Freunde „Vielleicht hat der Kapitän recht…“, sagte die Mutter. „Fietje könntest du keine größere Freude machen“, drang Brinkmann weiter vor. „Laß den Jungen aus dem Spiel!“ „Aber das da, gestern, ich meine, das mit Fietje – war doch kein Spiel mehr – oder doch?“ Berger erschrak. Verdammt, steure ich einen falschen Kurs? Vom Kopf bis zu den Füßen kroch ihm ein ekliges Gefühl über die Haut, als klebten ihm die Sachen am Körper. Er sah den Garten, die Laube, das Häuschen, und Fietje war weg. „Man muß darüber nachdenken“, sagte er. Kaum daß er die Worte gesprochen, reuten sie ihn schon wieder, weil er „man muß“ gesagt hatte; deshalb sagte er noch einmal: „Ich meine, man könnte sich das eventuell mal überlegen.“ „Überlegen! Aber vergiß den Jungen nicht!“ mahnte der Kapitän. „Nur seinetwegen will ich über die Genossenschaft nachdenken.“ „Tscha, wenn dat so ist, kann ick den Anker wohl hieven. Tschüß denn.“ „Und wenn du Fietje triffst – ich, wir warten auf ihn.“
Brinkmann stand schon an der Tür, da rief die Mutter: „Die Blumen, Käppn, die Blumen!“ Zuerst wollte er abwinken, dann hatte er einen besseren Gedanken. Er nahm die weißen Astern in die linke Hand, mit der anderen fuhr er sich mit gespreizten Fingern durch das schüttere Haar. Der Mutter flüsterte er zu: „Fietje läßt dich grüßen, pst!“ „Danke, Käppn, danke…“, antwortete sie und lief in die Küche. Brinkmann hatte die Klinke schon in der Hand, zögerte aber noch. Berger glaubte, das auf seine Art deuten zu können. Er ging zum Büfett und kam mit einer Flasche und zwei Gläsern zurück, die er bis zum Rand füllte. Er hielt dem Freund ein Gläschen entgegen. „Trinken wir auf die Zukunft, Käppn…“ „Und auf die Jugend im allgemeinen und auf Fietje und seine Lütte im besonderen, Alter…“ Er zwinkerte und kippte das Gläschen hinunter. Er schien Bergers Verblüffung zu übersehen. „Auf einem Bein ist schlecht laufen…“, sagte er. Jetzt trank auch Berger. Doch kaum hatte er hinuntergeschluckt, war es mit seiner Geduld zu Ende. „Wen meinst du, was für eine Lütte?“ Er schob Brinkmann einen Stuhl zu. „Setz dich. Sprechen wir von Mann zu Mann!“ „Du warst auch mal jung, hast eine Freundin gehabt…“ Berger schlug sich an die Brust. „Ich war ein toller Hecht…“ „Fietje hat auch eine Freundin…“ Berger stellte sich unwissend. „Kennst du sie?“ „Sie hat dir unlängst den Karren schieben helfen.“ „Den Karren? Ach so, ja, die ist das, so, so…“
Er füllte die Gläser, um nur etwas zu tun. Doch er hörte dem Kapitän aufmerksam zu. „Zwischen den beiden ist Freundschaft, da sollten wir Verständnis haben. Sie werden es uns danken…“ Brinkmann stand auf und klopfte Berger freundschaftlich auf die Schulter: „Hella und Fietje sind zwei von der Sorte, die ihren Weg finden, wenn es sein muß auch ohne Elternhaus.“ „Das ist zuviel auf einmal“, stöhnte Berger. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll…“ Noch bevor Brinkmann Einwände erheben konnte, rief er: „Mutting! Komm! Der Käppn hat eine Schwiegertochter für dich.“ Mit dem Handtuch, an dem sie sich die feuchten Hände abtrocknete, kam sie in die Stube. Sie lachte. So hatte Berger seine Frau lange nicht gesehen. Da soll sich einer zurechtfinden, dachte er. „Wo ist sie, Käppn? Bring sie nur her. Wo das Mädel ist, da ist dann wohl auch der Junge…“ „Aber Frau! Meinst du das im Ernst?“ „Er wird sie bei uns abholen kommen…“ „Und dann wird Versöhnung gefeiert, noch“, sagte Brinkmann, froh, daß alles so gut auszugehen schien. „Der scheint gern zu feiern“, brummte Berger. „Natürlich! Und du gehst als ewig unbelehrbar in unser Bordtagebuch ein, Alter.“ „Gib nach!“ Die Mutter stieß ihn an. Berger entnahm dem Büfett ein drittes Gläschen und kehrte zum Tisch zurück. Er füllte die drei Gläser. Bedachtsam stellte er die Flasche auf den Tisch, als wolle er Zeit gewinnen. Nun hob er sein Gläschen behutsam in Brusthöhe und sagte fast tonlos: „…. auf die Kinder!“ -
Er drehte das leere Gläschen in der Hand, dann setzte er es auf den Tisch und ging in den Garten hinaus. Hella lag auf der Couch und blätterte in einer Illustrierten. Oft ertappte sie sich dabei, daß sie wohl ein Bild betrachtete, aber mit ihren Gedanken weit fort war. Sie legte die Zeitung auf das Bücherregal, verschränkte die Arme unter dem Kopf und dachte an den vergangenen Tag. Der Sonnabendnachmittag war ihr öde und trist vorgekommen. Und erst der Abend. Sie wollte gar nicht mehr daran denken. Wenn der heutige Tag auch so verlaufen sollte… Wo nur Fietje blieb! Ob er ihr böse war? Immer wenn sie Schritte im Flur hörte, hoffte sie, er werde es sein. Sie stand auf und trat ans Fenster. Die regengraue Wolkendecke war aufgerissen. Durch die Lücken blinzelte die Sonne. Da! Es hatte geklopft. Schnell bürstete sich Hella übers Haar, drehte sich vor dem Spiegel und eilte zur Tür. „Du bist es…“, sagte sie enttäuscht. „Komm herein…“ „Und du bist allein?“ „Was glaubst du wohl, wer hier wäre? Setz dich.“ „Danke, Schwesterchen, aber ich hab’s eilig. Wir suchen nämlich – Fietje. Er war heute nacht nicht im Heim.“ „Er wird zu Hause sein“, sagte sie. „Da ist er nicht. Auch sein Vater sucht ihn. Zwischen den beiden muß es Krach gegeben haben. Der Alte war so komisch.“ Mit wachsender Erregung war Hella den Worten des Bruders gefolgt, sie atmete hastig. „Darum wollte Fietje nicht nach Hause gehen, jetzt versteh ich ihn.“ „Wir werden ihn schon finden“, versuchte Horst sie zu trösten.
„Vielleicht ist er auf eurem Kutter.“ Und während Hella das sagte, zog sie sich schon den Mantel an. „Ich bin nicht allein“, sagte Horst, als er hinter ihr die Treppe hinablief. „Die ganze Mannschaft wartet auf der Promenade.“ * Fietje saß in der Kombüse und schälte Kartoffeln. Auf dem Herd brutzelte Speck. Nun schnitt er Zwiebeln in die Pfanne, ließ die Stückchen auf den Speck purzeln. Den Zwiebeln folgten die Kartoffeln. So, nun noch Salz und Pfeffer, und wenn die Kartoffeln braun sind, noch zwei Eier obendrauf. Er holte eine Pütz mit Wasser und begann Logis und Kombüse aufzuwischen. Es verging keine Minute, die er untätig verbrachte. Solange er etwas tat, hatte er keine Zeit zum Nachdenken. Als er mit dem Aufwischen fertig war, waren auch die Kartoffeln gar. Aber so recht wollte ihm das Mittagessen nicht schmecken. Er empfand, wie drückend das Alleinsein war. Als er zur Kombüsentür blickte, war es ihm, als sähe er Hella. Eine Woche war es her, daß sie dort gestanden hatte. Er wischte sich über die Augen. In der Tür stand Horst. „Guten Appetit“, sagte er. Fietje stand auf und setzte sich wieder. Plötzlich vernahm er Kalles freches Lachen über sich. „Du bist nicht allein?“ „Die ganze Segelmannsehaft ist da. Wir wollen dich zu einem Bummel abholen. Hella ist auch hier.“ „Warum kommt sie nicht runter?“ „Bin schon da, Smutje. Ich habe Hunger mitgebracht.“ Das war nicht einmal geflunkert. „Setz dich!“ sagte Fietje. „Du wirst sofort bedient.“ Gleich darauf stellte er einen Teller voll Bratkartoffeln vor
sie hin und lachte sie an. „Wenn ich gewußt hätte, wie gut du mich versorgst, wäre ich schon eher bei dir eingetrudelt.“ „Seit gestern ist mir die Zeit endlos vorgekommen, Hella.“ „Mir auch, Fietje.“ Horst, der auf der Koje saß, hüstelte verlegen. Er kam sich überzählig vor. „Lohnt es sich, auf euch zu warten?“ „Nein, Brüderchen“, sagte Hella entschlossen. „Ich habe mit Fietje noch etwas zu besprechen.“ „Verstehe!“ Horst sah den lachenden Fietje an und ging. „Wie du über mich verfügst“, sagte Fietje. „Ist dir das unangenehm?“ „Den Grund hätte ich gern gewußt, Hella?“ „Wir wollen zusammen zu deinen Eltern gehen…“ Fietje schnellte hoch, als hätte er sich in eine Distel gesetzt. „Zu meinen Eltern? Nein! Niemals!“ „Fietje…“ Sie trug die Teller in die Kombüse und wusch sie ab. Durch die offene Tür sah sie Fietje hin und her gehen. Er hatte den Kopf gesenkt. Er bewegte lautlos die Lippen und stieß ab und zu mit der Fußspitze gegen eine Backskiste. „Wie kommst du auf diese blöde Idee?“ fragte er barsch. „Weil dein Vater dich sucht. Er war sogar im Heim.“ „Das sagt gar nichts!“ schrie er. Hella kam mit einem Lappen herein und säuberte die Back. Fietje hielt sie am Arm fest. „Es war jetzt alles so schön zwischen uns, Hella. Ich dachte, es bleibt so.“ „Mach’s uns nicht so schwer, Fietje. Das mit deinem Vater muß in Ordnung gehen. Sonst fühlen wir uns nicht frei.“ „Was weißt du von meinem Vater. Wärst du gestern mit mir ausgegangen, wäre alles gut!“ „Früher oder später wäre der Krach doch gekommen.“
Er ließ Hellas Arm fahren und wandte sich ab. Sie hatte recht. Der Krach mußte kommen, es sei denn, er beugte sich dem Vater. Und das konnte er nicht. Er gehörte zum Kombinat. „Wir müssen deinem Vater helfen“, hörte er Hella sagen. „Und wenn wir im hohen Bogen hinausfliegen?“ „Das werdet ihr nicht!“ Im Logis stand der Kapitän. Er drückte Hella den Asternstrauß in die Hände und sagte zu Fietje: „Die Mutter läßt dich grüßen, min Jung, sie erwartet euch. Aber nicht vergessen, morgen früh, sieben Uhr dreißig, laufen wir aus…“ * Der Vater stand am Fenster. Seine Lippen zuckten, nervös öffnete und schloß er die Fäuste. Er hatte eben den alten Labahn getroffen. Sie beide waren nun die einzigen, die nicht in der Genossenschaft waren. Und Labahn hatte bei Berger den Eindruck hinterlassen, als bliebe er nicht mehr lange Einzelfischer. „Die Frauen der Genossenschaftsfischer haben es jetzt viel leichter“, sagte die Mutter. „Und Fietje stimmst du nicht um. Und die Lütte hält auch zu ihm.“ „Der Decksmann hat gekündigt. Er geht ins Kombinat.“ Verbittert sprach Berger die Worte. Doch die Frau hörte die Unentschlossenheit. „Bei deinem Dickkopf mußte ja alles so kommen… Und überlege nicht zu lange.“ „Du sprichst, als gehörtest du schon dazu.“ „Manchmal glaubte ich es selbst. Und wenn Fietje hier bleibt, bleibe ich auch in Saßnitz.“ „Du hast dich schnell geändert“, sagte Berger tonlos. Noch nie in seinem Leben war ihm ein Entschluß so schwergefal-
len. „Was willst du denn ohne Decksmann? Und die Frau vom alten Labahn macht das auch nicht mehr lange mit. Die Leute zeigen ja schon mit dem Finger auf uns.“ „Sei endlich still“, knurrte Berger. Die Mutter hob erstaunt den Kopf, ging schnell zu ihm, stellte sich neben ihn. „Alle Fischer werden sich freuen, Vadding.“ „Werde nicht noch sentimental, Alte. Mach die Haustür auf, die Kinder kommen.“