DIETER NOLL Die Abenteuer des Werner Holt 2
Pflichtliteratur für alle Gymnasien (Erweiterte Oberschulen) in der DDR
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DIETER NOLL Die Abenteuer des Werner Holt 2
Pflichtliteratur für alle Gymnasien (Erweiterte Oberschulen) in der DDR
Noll, der zunächst Reportagen und Erzählungen schrieb, gelang mit dem zweibändigen Entwicklungsroman Die Abenteuer des Werner Holt ein bedeutendes Werk der „Ankunftsliteratur“. Er durchbrach damit das bis dahin gültige literarische Muster, den Übergang vom Nationalsozialismus zum Aufbau der DDR in der Figur eines antifaschistischen Widerstandskämpfers zu idealisieren, der sich bruchlos zum sozialistischen Vorbild weiterentwickelt. Mit der Figur des Werner Holt versucht Noll, den widersprüchlichen Erfahrungs- und Erkenntnisprozeß einzufangen, die Um- und Irrwege, die ein Parteigänger des Nationalsozialismus geht, ehe er im Sozialismus eine neue Perspektive für sich findet.
DIETER NOLL
Die Abenteuer des Werner Holt Roman einer Heimkehr
Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1966
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Copyright 1964 by Aufbau-Verlag Berlin und Wimar 9. Auflage Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany – Lizenz Nr. 301. 120/190/66 Einband: Marianne Gossow-Rodrian – Schutzumschlag: Erich Rohde Satz: Karl-Marx-Werk, Pößneck, V 15/30 Druck: VEB Druckhaus „Maxim Gorki“, Altenburg
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ERSTES BUCH 1
Werner
Holt ging die Treppe hinab, eine Betontreppe zwischen getünchten Wänden, ging unsicher, beinahe schwankend, in der zerschlissenen feldgrauen Montur. Er dachte: Wer ist Schneidereit? Der Gedanke hatte ihn aus dem Bett getrieben: Wer ist Schneidereit? In seinem Kopf mengte sich vieles durcheinander: Gestern, Heute, Gestalten, Ereignisse, Schauplätze, und da begreif doch einer, wo er ist, auch wenn er's weiß: Spremberg AG, Chemische Fabrik, ehemals Sprengstoffe, Schwefelsäure, Medikamente, schwer zerstört; ja, jetzt in Trümmern Vater unterstellt und irgendeinem Manne namens Müller. Das wußte Holt von Gundel, und Gundel hatte noch vieles erzählt, vom Werk, von den Leuten hier, von Müller, Hagen, Schneidereit und Bernhard. Hatte erzählt, wie Doktor Gomulka nach Nürnberg gegangen, sie aber über die Zonengrenze hierhergekommen war, wie sie auf Holt gewartet hatte und unterdessen und seither regelmäßig, und zwar des Mittwochs, des Sonnabends, irgendwo in irgendeiner Organisation mit diesem Schneidereit zusammen gewesen war. Das hatte Gundel selber erzählt. Wer ist Schneidereit? Holt blieb auf dem Treppenabsatz stehen, ruhte sich aus, an den Fenstersims gelehnt. Er nahm die Mütze ab, eine tarnfarbige Segeltuchmütze, und wischte sich den Schweiß von der Stirn: schwüler Septembertag, und immer noch Erschöpfung und Schwäche! Vor Wochen schon heimgekehrt, krank, todkrank, schwere Lungenentzündung, und sterbensmüde, und Gundel saß am Bett und erzählte, und ein Name tauchte auf und kehrte immer wieder: Schneidereit. Da 4
war noch der Alptraum über Holts Leben, da spukten die Bilder des Krieges, des Zusammenbruchs noch in den Gedanken, da fühlte er in den Nächten noch immer die Angst, auch wenn er am Ziel war, auch wenn er bei Gundel war; denn war sie nicht fremd geworden, wer hatte sie ihm entfremdet, wer war da an ihre Seite getreten, während er auf den Äckern von Kreuznach im Schlamm verkam? Weiter die Treppe hinab, zwischen getünchten Wänden. Erster Stock: Korridor, Handwerker, Rohrleger, Fliesenleger. Weiter treppab, Erdgeschoß: Türen, Türschilder, Büro der Werkleitung, ein paar Stufen hinunter zum Torweg, dort geht's zur Straße und auf den Werkhof, doch halt!, hier sind Stimmen, hier im Büro. Verschwimmendes Bild, nun wieder klar: ein geräumiges Zimmer, ein Schreibtisch, ein Tisch voller Pläne und Tabellen, ein zweiter Schreibtisch abseits vor dem Fenster. Menschen in diesem Raum. Hinter dem Schreibtisch ein ältliches Fräulein, reichlich Puder und Schminke, Haarknoten, da hing der Zipfel des Zopfes wie ein Rattenschwanz heraus: Fräulein Gerlach, die Direktionssekretärin, schwache Erinnerung. Drei Männer vor dem Schreibtisch, ein vierter zurückgesunken in bequemem Sessel; wer war das? Der eine war Vater, der hielt die Hände in den Taschen des Kittels vergraben, schaute nachdenklich, vielleicht ungeduldig... Holt durchquerte das Büro, blieb unbeachtet, setzte sich nebenan auf einen der vielen Stühle, die den ovalen Konferenztisch umstanden. Die Tür blieb geöffnet. Drüben, bei den Männern, war da eigentlich dieser Schneidereit dabei? Fremde Stimmen, laute Stimmen, streiten sie gar miteinander? Vater geht ärgerlich aus dem Zimmer, sagt über die Schulter: „Der Kollege Bernhard hat heut wieder einen ganz üblen Tag!“ Bernhard, Doktor Bernhard, Moment mal, das konnte nur der in der Lodenjacke sein, der Hagere mit dem kahlen Schädel; der meckerte an allem herum, auch das hatte Gundel erzählt, und tatsächlich, er meckert ja schon: „Sie muten mir zu, ich soll dieses zusammengeschusterte Leitungssystem zwischen hier und dem Kesselhaus herrichten, aber ich habe es satt, ich bin chemischer Technologe und nicht Ihr Kuli, Herr Müller!“ Der 5
Mann im Sessel, den kalten Zigarrenstummel zwischen den Lippen, das ist also Müller, und Bernhard beugt sich zu ihm herab und bleckt die Zähne. „Ich bin auf dieses heruntergewirtschaftete Werk durchaus nicht angewiesen, daheim wartet mein Kaninchenstall!“ Wer ist der Kleinere neben ihm, der Dunkelhaarige?, richtig Doktor Hagen, der Chemiker, man erkennt ihn am Rechenschieber, der aus der Brusttasche des Laborkittels hervorsieht. Doktor Hagen ruft: „Machen Sie doch kein Theater wegen dem bißchen Leitungskram, Sie sind doch darin Experte!“ Da wendet sich Bernhard zur Tür, Doktor Hagen läuft ihm nach. Bernhard sagt ohne Zusammenhang: „Lesen Sie mal das Abkommen, meine Herren, das die Sieger da in Potsdam unterzeichnet haben, lesen Sie mal! Jetzt werden wir fertiggemacht, jetzt werden wir als Kulturvolk liquidiert und bis aufs Hemd ausgeplündert!“ Bums!, Tür zu. Fertiggemacht, dachte Holt, liquidiert... Nebenan war nur Müller zurückgeblieben; Holt sah das kantige, gelbe Gesicht schräg von hinten. Müller arbeitete. Das Land ist zertrümmert, die Menschen sind fertig, aber hier arbeitet einer, diktiert Briefe, erteilt Anweisungen, hat gar nach irgendwem inseriert, und draußen warten drei Herren... Der erste Bewerber trat ein, groß, aufrecht, etwa fünfzigjährig, den hellen Überzieher über dem Arm, den Hut in der Hand. „Doktor Ritter.“ Schon saß er auf einem Stuhl, schon nahm Fräulein Gerlach die Anschrift auf. Holt beugte sich etwas vor, um besser zu sehen. Doktor Ritter, dachte er, sitzt steif und aufrecht, gepflegtes Äußeres, tadellose Manieren. War Müller nicht früher Schlosser oder Dreher gewesen? „Umsiedler, jawohl“, antwortete Doktor Ritter. „Hochbauingenieur...“ Nur Satzfetzen wehten durch die Tür. „... bisher selbständig... Betrieb selbst geleitet... auch schon technische Anlagen für Chemiebetriebe gebaut... Wie groß mein Betrieb war? Mittel. Eher klein, sechzig bis siebzig Arbeiter und Angestellte. Wenn wir auswärts bauten, natürlich zusätzliche Saisonarbeiter.“ „Natürlich zusätzliche Saisonarbeiter“, wiederholte Müller, „...heute vor dem Nichts“, das war wieder Doktor Ritter. „...alles verloren, Betrieb, zwei Grundstücke, alles!“ Müller fragte: 6
„Waren Sie Nazi?“ Paß auf, jetzt hat er ihn! dachte Holt. Aber: „... niemals in der NSDAP gewesen... immer liberal... auch niemanden in die Partei genötigt aus meiner Gefolgschaft...“ „Danke“, sagte Müller. „Sie erhalten mit der Post Bescheid.“ Glück gehabt, dachte Holt, und dachte: Niemand war Nazi... Gundel sagt, keiner will es gewesen sein... Chaos, Millionen Tote, Millionen Heimatlose, doch der Doktor Ritter ist es nicht gewesen... „üblicher Text“, hörte er Müller sagen. „Schreiben Sie: Wir können Sie jedoch als Bauhilfsarbeiter beschäftigen.“ Holt richtete sich auf; es ging ihm durch und durch, er erinnerte sich: Müller war Kommunist, und jetzt hatte der Kommunist den Doktor Ritter fertiggemacht... Der nächste, bitte! Das war ein kleiner, vielleicht sechzigjähriger Mann. Nickelbrille, etwas hervorquellende Augen. „Blohm. Danke vielmals.“ Blohm setzte sich, graues Haar und grau gekleidet, überhaupt ganz grau und unscheinbar in allem. Trübsinnige Stimme: „Sie suchen einen Leiter für Ihre Bauabteilung, Umsiedler bevorzugt.“ Er belebte sich ein wenig. „Ich darf mich Ihnen nachdrücklich für diese Stelle empfehlen.“ Jetzt Müller, beiläufig: „Und sicherlich waren Sie nicht in der Nazipartei.“ Erledigt, dachte Holt. Blohm war zusammengesunken. „Doch, ich war.“ Natürlich, dachte Holt, ein paar muß es ja gegeben haben, ein paar müssen es gewesen sein. Und jetzt machte Müller den nächsten fertig. Müller strich sich übers Kinn. „Aber... Sie waren nicht aktiv?“ Spielt er mit ihm Katz und Maus? „Doch, ich war aktiv, als Luftschutzwart, und ich habe auch immer mit der Büchse gesammelt.“ - „Man hat Sie gezwungen, wie das so üblich war? Sie sind nicht freiwillig zu den Nazis gegangen!“ Er quält ihn, dachte Holt, und ihm fiel ein, was Gundel erzählt hatte: Müller war viele Jahre in einem Konzentrationslager gewesen... Blohm, noch tiefer in sich zusammengesunken: „Ich trat freiwillig in die Partei ein, schon 1935; ich... habe alles geglaubt.“ - „Was?“ fragte Müller. „Was haben Sie geglaubt?“ „Vor allem hatte es mir diese... Brechung der Zinsknechtschaft angetan. Ich dachte, durch diesen... Dingsda, diesen Hitler, wird manches anders und besser... Die Welt ist doch übel und mißgestaltet und uns kleinen Leuten nicht wohlgesinnt!“ Jetzt 7
kam Bewegung in Blohm. „Woran wohl, glauben Sie, ist nach zwölfsemestrigem Mathematikstudium bei Lehrern wie Dedekind und Cantor meine Dozentur für Zahlentheorie gescheitert? An diesem Prinzip der Welt, den Begüterten höher zu schätzen als den Berufenen. Und... ich habe mich zur Mathematik berufen gefühlt. Ich bin ein reiner Zahlenmensch.“ Da knöpfte sich Müller die Jacke auf, streckte bequem die Beine von sich, ließ Blohm erzählen. Von der Inflation, von dahingerafften Ersparnissen, und wie die letzte Hoffnung auf eine Privatdozentur geschwunden war, wie er von vorn angefangen und Hoch- und Brückenbau studiert und völlig mittellos dagestanden und sich das Geld als Maurer verdient und es so nebenbei bis zum Baumeister gebracht und sich dann noch das Diplom als Architekt geholt hatte... „Architekt?“ fragte Müller. „Ich denke, Hochbauingenieur sind Sie, oder Mathematiker, wie ist das?“ Blohm holte Papiere hervor, tatsächlich, er war Hoch- und Brückenbauingenieur mit Erfahrungen in Erd- und Tiefbauarbeiten und war Architekt so nebenbei, und Mathematiker war er. - „Darf ich sagen: von Berufung? Wenn Sie Referenzen über mich als Mathematiker benötigen, so gibt es hierorts einen Doktor Ebersbach...“ „Ebersbach? Den kennen Sie?“ - „Nicht persönlich.“ Aber was war da, was geschah nun mit Blohm? Der kleine, unscheinbare Mann regte, bewegte sich, blühte auf, hatte was wie Stolz und Leidenschaft im Gesicht. „Ich habe 1916 mit Ebersbach in den Annalen der Mathematik polemisiert, es ging damals um den Mißbrauch der Theorie der rekursiven Funktionen für diese deprimierende intuitionistische Kritik an der klassischen Analysis. Wenn Ebersbach bald darauf über diesen Standpunkt hinausgewachsen ist...“ - „Genug! Wir haben hier einen Kilometer Dampf- und Heißwasserleitungen, vom Kesselhaus zum Verwaltungsgebäude, wo wir die Sulfonamide produzieren. Die Leitungen sind alle zerbombt. Könnten Sie so was bauen?“ - „Zweifellos“, antwortete Blohm. Müller sagte: „Aber wir haben keine Druckrohre.“ - „Man muß sich eben anders helfen“, sagte Blohm. „Das nenne ich gut geantwortet“, sagte Müller, und tatsächlich: der Nazi, der auf alles reingefallen war, der Luftschutzwart, der Mann mit der Sammelbüchse, dieser Blohm 8
hatte gewonnen. Müller hatte gar nicht mit ihm Katz und Maus gespielt. Der wollte ihn gar nicht quälen, wollte sich nicht rächen, machte Blohm nicht fertig, nein: der Müller gibt Blohm eine Chance! Eine Chance, dachte Holt in einem Anflug von Hoffnung. Aber er war nicht Ingenieur, nicht Architekt, nicht Mathematiker. Konnte nur schießen, stechen, bißchen morsen. War Strandgut. Erster Gang durchs Werkgelände. Hinter dem Verwaltungsgebäude zogen sich Trümmer bis zu dem kleinen Fluß hin. Stahlgerippe krümmten sich rostrot über Bergen von Schutt, aus denen die Rieseltürme der vernichteten Schwefelsäurefabrik ragten. Holt sah Menschen zwischen den Trümmern, Frauen mit Kopftüchern bargen Ziegelsteine. Über einen frei geräumten Platz liefen Eisenbahngleise, an zwei, drei Stellen durch Bombentreffer zerrissen. Männer, nackt bis zum Gürtel, warfen Erde in die Trichter. Jenseits der Gleise, wo sich das Stahlskelett einer ausgebrannten Werkhalle vom Septemberhimmel abhob, wurde gebaut. Mit zusammengekniffenen Augen schaute Holt hinüber: dort zogen Maurer Wände hoch. Schneidereit war Maurer. Holt setzte sich auf einen Eisenträger, die Ellenbogen auf die Knie gestützt. Ein Mann näherte sich ihm. Holt erkannte Müller, erhob sich und stand ihm zum erstenmal Auge in Auge gegenüber. Müller war schätzungsweise sechzig Jahre alt, hager von Statur, groß, nicht kleiner als Professor Holt, aber erschreckend mager. Gürtelhose, abgewetzte Jacke, spitze Schultern, die Arme mit ihren starken Sehnen an den Handgelenken waren wie entblößt von Fleisch und Muskeln... Müller sah krank aus, er hatte eine ungesunde Hautfarbe, das Haar war grau und schütter, aus dem eingefallenen Gesicht stach die Nase hervor. Sekundenlang vermochte Holt seinen Blick nicht zu lösen von diesem Gesicht, das fahl war trotz der Sonnenbräune. Die hellen Augen, der lebendige Blick verrieten, daß Müller um viele Jahre jünger sein mußte, als seine Züge glauben machten. Holt wußte, daß Müller unheilbar krank war, und er fühlte sich beim Anblick des ausgemergelten Mannes an irgendwen, an irgendwas erinnert... Müller trug am 9
Jackenaufschlag ein Abzeichen: ein rotes, auf die Spitze gestelltes Dreieck... Wann hatte Holt dieses Zeichen schon einmal gesehen, wann und wo? Müller gab Holt die Hand. „Wie geht's uns, Werner Holt?“ fragte er. „Schön, daß wir wieder auf den Beinen sind!“ Er sprach leise, freundlich, ja freundschaftlich, aber stockend. „Schon Pläne für die nächste Zeit?“ „Pläne...“, entgegnete Holt. „Kommen Sie erst mal wieder zu Kräften“, meinte Müller und nickte Holt aufmunternd zu. Dann wandte er sich ab. Aber Holt sagte: „Einfach... umschalten, das ist nicht jedermanns Sache.“ Müller kam wieder zurück. „Sie waren wochenlang krank. Es ist allerhand passiert: Atombombe, Berliner Konferenz, und dann der Prozeß gegen Göring und seine Komplicen... Lesen Sie Zeitungen. Informieren Sie sich. Setzen Sie sich mit der Welt auseinander. Sie müssen jetzt umlernen.“ Atombombe, Berliner Konferenz, Prozeß gegen Göring... Holt war lange Zeit aus der Welt gewesen. Aber die Erde hatte sich weitergedreht. Das Leben hielt ihn fest, es gab ihn nicht frei, und warf es nicht schon wieder Fallstricke nach ihm aus: informieren, auseinandersetzen, umlernen? Diesmal war Holt schlauer als das Leben. Diesmal flog er nicht wieder herein, auf nichts, auf niemanden! Er verzog den Mund wie in Trotz. „Abwarten“, sagte er. „Erst mal sehen.“ Er fühlte Müllers prüfenden Blick auf sich und wurde unsicher. „Gehn Sie mal mit zur Antifa-Jugend“, sagte Müller, freundlich wie vordem. „Schauen Sie sich das mal an. Gundel kann Sie mitnehmen, oder ich sag's dem Genossen Schneidereit.“ Am frühen Abend dieses Tages wartete Holt auf Gundel. Kinder spielten im Sandkasten. Auf der Straße klirrten überfüllte Straßenbahnen vorbei. Holt blickte mit gesenkten Lidern in die Sonne, die als gelbrote Scheibe in die Dunstbänke jenseits der Stadt tauchte. Jemand setzte sich neben ihn auf die Bank. Seine Augen waren von der Sonne geblendet, aber sie nahmen Gundel wahr. Sie saß bei ihm, in dem bunten, verschossenen Sommerkleid, in dem er sie das erstemal gesehen hatte. Ihr Haar war braun, ihre Augen waren braun. Vielleicht war sie noch ein bißchen gewachsen, vielleicht waren 10
ihre Arme weniger mager und ihre Schultern weniger eckig als damals, doch es war noch ihr Lächeln, ihr Mienenspiel. Aber glich die wiedergefundene Gundel, hier auf der Bank neben ihm, wirklich jener anderen, die in seiner Erinnerung gelebt hatte? Er forschte in Gundels Gesicht. Dieses Gesicht hatte während seiner Krankheit Abend für Abend vor seinem Blick gestanden, bis er es auswendig kannte, bis er auch mit geschlossenen Augen jede Einzelheit vor sich sah: ein paar winzige Sommersprossen an der Nasenwurzel, die Grübchen, wenn sie lächelte, rechts ein großes, links ein kleineres, oder das lockige Haar an den Schläfen... Jetzt, trotz aller Nähe, schien ihm dieses Gesicht verändert, beinahe fremd. Gundel kam aus der Fabrik, in der sie arbeitete, einer Spinnerei, die im Auftrag der Besatzungsmacht Baumwollgarne herstellte. Sie wohnte hier, in dem Industrievorort Mönkeberg, in einer elenden Mansarde. „Was schaust du mich denn so an?“ fragte sie. Mit den Zähnen hielt sie das schwarze Samtband, während sie mit beiden Händen das Haar, von den Schläfen her, zurückstrich und im Nacken zusammenraffte, dann wand sie das Band um den Kopf und ließ das Haar wieder fallen. Sie sagte, mit einem Seitenblick auf Holt: „Bis zum Dreißigsten müssen alle Uniformen umgefärbt werden, das hat in der Zeitung gestanden.“ „Die haben Sorgen!“ erwiderte Holt, und als sie ihn ansah, sagte er schnell: „Ist ja gut, ich komm ja mit zu deiner AntifaJugend. Bist du zufrieden?“ „Doch nicht mir zuliebe!“ sagte sie. „Doch. Nur dir zuliebe. Ich hab noch genug von der HJ.“ „So darfst du nicht reden!“ rief Gundel. „Du weißt genau, daß wir ganz anders sind!“ „Mag sein“, erwiderte er. „Erst rechts um, dann links um, aber so schnell klappt bei mir die Wendung nicht.“ Er stand auf. „Gehn wir noch ein Stück? Der Herr Professor hat mir Bewegung im Freien verordnet.“ Sie folgte ihm die Chaussee entlang. Sie bogen in einen Weg ein, der zwischen Gärten dahinführte und langsam anstieg. Die Sicht ins Tal wurde frei, auf die Stadt, die von Dunst verschleiert war, ein Meer von Häusern, ein Trümmermeer. Holt blieb 11
stehen. So hatte Gelsenkirchen vor seinem Blick gelegen, Essen, Wattenscheid; es war das gleiche Bild, nur die Fördertürme fehlten. Gundel brach endlich das Schweigen. „Du bist so anders als damals“, sagte sie. Er ging weiter. „Nicht daß ich wüßte.“ Der Weg durchquerte ein Gehölz von Buschwerk und Kiefern. Holt suchte am Waldrand eine trockene Stelle. Sie setzten sich. „Irrtum“, sagte Holt. Er deutete ringsum. „Die Welt ist anders geworden.“ Er streckte die Beine aus und legte sich rücklings ins Gras. „Ich war mitten im Strom“, sagte er, und sein Blick folgte einem Schwarm Zugvögel. „Jetzt bin ich wie an Land gespült, in einer wildfremden Gegend.“ „Aber selbst wenn es eine ganz fremde Gegend ist“, sagte Gundel, „man steht doch auf und sieht sich um!“ Er richtete sich auf und wendete den Kopf. Er sah zwischen den Büschen rostrote Bleche, die Reste ausgebrannter Lastwagen, und am Waldrand ein paar Holzkreuze mit darübergestülpten Stahlhelmen... „Was ich für die Welt gehalten habe“, sagte er, „das war Spuk und Illusion und liegt in Trümmern. Und was mich jetzt als Welt umgibt, das geht mich überhaupt nichts an.“ Gundel zupfte nachdenklich die Kronblätter aus einer Blüte, die sie gedankenlos abgepflückt hatte. „Wenn alle so denken würden wie du, dann hätten wir noch kein Wasser in der Stadt, kein Gas, kein Licht, die Straßenbahn würde nicht fahren, und Brot würde auch keins gebacken.“ „Stimmt“, sagte er. „Ich könnte das ja auch gar nicht, eine Wasserleitung reparieren, ich versteh nichts von Straßenbahnen, und Brot backen kann ich auch nicht.“ Er stand auf, er riß ein paar Kletten aus dem Stoff der Hose. „Du siehst, ich bin ganz überflüssig und unnütz, ich kann nichts als schießen und morsen, für was anderes bin ich mein Lebtag nicht ausgebildet worden.“ Er schob die Hände in die Hosentaschen. Er schaute wieder in die flammende Sonnenscheibe, die den Hügelkamm jenseits der Stadt berührte und die Augen blendete. „Im Camp“, sagte er, „da hatten wir Angst, daß wir an die Franzosen ausgeliefert werden, 12
es hieß, die pressen alles in die Fremdenlegion.“ Als Gundel aufstand, hielt er ihr die Hand hin und half ihr. „Schuster, bleib bei deinem Leisten“, sagte er. „Die Fremdenlegion war eigentlich nur die Konsequenz gewesen.“ Er hielt Gundel noch immer an der Hand. Und als sie den Kopf hob und ihn ernst und hilflos ansah, da glaubte er endlich die Gundel vom Vorjahr wiederzuerkennen, sie trug auch dasselbe Kleid... „Ich dachte, du hast mich vergessen“, sagte er. „Ich dich vergessen!“ rief sie. Er faßte mit beiden Händen in ihr Haar und bog ihr den Kopf in den Nacken. „Ich dachte, du bist es nicht mehr“, sagte er. Sie schloß die Augen. Seine Lippen streiften über ihren Mund. „Aber du bist es wirklich!“ sagte er. „Du darfst so etwas nicht wieder sagen“, bat sie, „von der Fremdenlegion...“ „Ich habe niemanden“, sagte er. „Ich habe nur dich.“ Da schlang sie die Arme um seinen Hals. „Du mußt dir Mühe geben“, sagte sie. „Mir ist bang um dich!“ Er erkannte ihren Mund wieder, als er ihn küßte. Sie gingen den Weg hinab. Die Dämmerung zog sich wie ein Vorhang vor die Stadt im Tal; den Weg hier oben aber erhellte noch das orangefarbene Licht des Himmels. Gundel hielt noch immer die zerrupfte Blüte in der Hand. „Merkwürdig, wie so eine Blume gewachsen ist!“ sagte sie, als sie endlich den Stengel fortwarf. Holt antwortete nicht. Er nahm Gundels Arm. Er war wie betäubt von ihrer wiedergefundenen Nähe. „Komm“, sagte er, „wir gehn irgendwohin, in ein Cafe!“ „Nicht doch!“ erwiderte sie. „Ich kann nicht einfach fortbleiben! Horst Schneidereit wartet!“ Und sie ging rascher. Er folgte ihr ernüchtert. Die Dämmerung vertiefte sich. Es war kalt. Ihn fror. Zwischen verkohlten Bauholzstapeln und Bergen von Brandschutt stand die Baracke, die Fenster mit Pappe vernagelt. Im Inneren, bei Kerzenschein, saßen auf Gartenstühlen und rohen Holzbänken zwei Dutzend junge
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Leute. Es gab niemanden, der Gundel nicht kannte, der ihr nicht die Hand reichte. Holt setzte sich abseits auf einen Stuhl. Ein dürrer Mensch, das rechte Bein amputiert, bewegte sich auf großen Holzkrücken durch den Raum, zu Holt hin. Er mochte ein paar Jahre älter als zwanzig sein, das ungeschnittene semmelblonde Haar hing ihm in die Stirn. Er hatte ein schiefes Gesicht, kleine, helle und tiefliegende Augen über der Nase, und das linke Ohr stand vom Kopf ab. Er trug eine zerschlissene umgefärbte Wehrmachtsuniform. „Hoffmann!“ sagte er. Als Holt befangen und ratlos sitzen blieb, fuhr er mit grober Stimme fort: „Ich war zwar bloß Oberschnäpser, aber deswegen kannst du mir ruhig deinen Namen sagen!“ Gundel kam eilig zu den beiden hin, andere folgten ihr, Jungen und Mädchen; Holt sah sich von fremden Gesichtern umringt. Hoffmann stützte die rechte Krücke fester in die Achsel, mit der linken wies er auf Holt. „Wenn wir dir nicht fein genug sind“, sagte er, in immer dem gleichen groben Tonfall, „dann kannste dir ja bessere Gesellschaft suchen!“ Holt erhob sich. Aber da wurde die Tür aufgestoßen. Alle wendeten die Köpfe. Ein Mann betrat die Baracke, ein junger Mensch, groß und breitschultrig, blieb am Eingang stehen und sah sich prüfend in dem Raum um, den das Kerzenlicht nur matt erhellte. Dann warf er, ohne sich umzuwenden, mit einem Fußtritt die Tür hinter sich zu. Wie er nun mit tiefer Stimme fragte: „Was ist los?“, wie er sich vor Holt und Gundel hinstellte, an Körpergröße alle anderen überragend, ging von ihm etwas Entschlossenes, Unwiderstehliches aus, das auf Holt bedrohlich und gewalttätig wirkte. Und ohne daß es einer Vorstellung bedurfte, wußte Holt, daß ihm Horst Schneidereit gegenüberstand, der Maurer Schneidereit. Er hörte, wie er zu Gundel sagte, mit einer Stimme, deren plötzliche Sanftheit überraschte: „Schön, daß du da bist, hab vor dem Werk auf dich gewartet und dachte schon, du kommst nicht.“ Hoffmann wies wieder mit der Krücke auf Holt. „Ein Neuer. Ein vornehmer Herr, der sagt uns nicht seinen Namen!“ Und zu den anderen: „Dem sind wir alle nicht fein genug!“ 14
Aber Schneidereit herrschte ihn an: „Hör auf, ja?“ Dann wandte er sich Holt zu. Sie sahen einander sekundenlang an. Schneidereit war einundzwanzig Jahre alt. Sein Haar war schwarz. In dem schmalen, scharfgezeichneten Gesicht, das bläuliche Bartschatten verdunkelten, waren die Brauen über der Nasenwurzel ineinandergewachsen. Auf der Stirn standen ein paar senkrechte Falten. Er hatte eine kühne und herausfordernde Art, den Kopf zu heben. Sie empfanden beide das gleiche: sie „hatten nichts miteinander zu schaffen. Schneidereit hatte die letzten vier Lebensjahre hinter Zuchthausmauern verbracht. Sein Vater, ein Metallarbeiter, war im Spätsommer 1941 zum Tode verurteilt und hingerichtet worden; Vater und Sohn hatten nach dem 22. Juni 1941 gemeinsam in einem Rüstungsbetrieb Sabotage organisiert. Jetzt wohnte Schneidereit bei seiner Mutter, die gleichfalls erst durch die sowjetischen Truppen aus dem Zuchthaus befreit worden war. „Das ist Werner Holt“, sagte Gundel. Schneidereit gab ihm stumm und flüchtig die Hand. Der Kreis löste sich auf. Holt setzte sich wieder. Stimmenlärm umgab ihn. Er sah, daß auch Schneidereit an der Jacke dieses Abzeichen trug, das rote Dreieck, sah, wie er Gundel mit sich fortzog, wie er sie am Arm nahm und auf sie einredete. Dann bewegte Gundel bejahend den Kopf und lächelte... Da brach mit Gewalt die Enttäuschung über Holt herein. Es war still geworden. Man saß im Halbkreis um Schneidereit, der ein paar beschriebene Blätter hervorholte und zu sprechen begann. Holt erreichten nur Worte, deren Sinn er nicht begriff: Aufgaben der Jugendausschüsse, keiner abseits stehen, Jugend aufklären über den Raubkrieg des Nazismus, Geldgeber, verderbliche Folgen des Rassenhasses - und Demokratie, immer wieder Demokratie. Und: „Das wichtigste ist jetzt die Arbeitereinheit!“ Holt schaute in die Flamme einer Kerze, benommen von Enttäuschung, von Fremdheit. Endlich gewann er soviel Antrieb wieder, aufzustehen und die Baracke zu verlassen. 15
Der Arbeitstag im Werk dauerte oftmals zehn, auch vierzehn Stunden. Dann gab es für Professor Holt und seine Mitarbeiter ein gemeinsames Essen, an dem auch Holt teilnahm, ebenso Gundel, wenn sie den Abend im Werk verbrachte. Frau Thomas, eine ehemalige Reinemachefrau aus dem Werk, führte dem Professor die Wirtschaft und richtete das Essen im Konferenzzimmer an. Sie weigerte sich auch heute, in der Runde Platz zu nehmen. „Was sich nicht schickt, das schickt sich nicht!“ Aber sie erzählte gern Geschichten von Einbrüchen, Raubmorden, oder wenigstens von Schiebern und Schwarzhändlern. „Der Stefan aus dem Kesselhaus - Sie kennen den doch?“ fragte sie, während sie eine Schüssel Bratkartoffeln auftrug. „Bis ins Anhaltische ist er hamstern gefahren, und hier am Bahnhof haben sie ihm alles abgenommen!“ „Das ist bitter!“ sagte Doktor Hagen, den Frau Thomas als dankbarsten Zuhörer schätzte. Müller erboste sich: „Und die Kulaken werden bald nicht mehr wissen, was sie mit Bettwäsche und Radios oder Nähmaschinen anfangen sollen!“ Holt schlang sein Essen hinab, heißhungrig, dann schaute er teilnahmslos von einem zum andern. Gundel fehlte. Sie saß mit ihrer Gruppe in der Baracke. Alle anderen waren ihm fremd: Vater, Müller, Doktor Hagen, der Chemiker, und Doktor Bernhard, der Technologe mit seinem kahlen Schädel und dem langen Gesicht - am wenigsten vielleicht Blohm, der Neue. Und Doktor Bernhard meckerte schon wieder. „Sagten Sie Rohstoffe?“ fragte er irgendwen in lautem Ton. „Ich für meine Person weiß nur von Rohstoffmangel.“ Und das Essen ging nicht zu Ende, ohne daß er noch mehrmals laut und meckernd das Wort ergriffen hätte. „Meine Herren, ich prophezeie Ihnen einen unaufhaltsamen Verfall! Wir haben ja von niemandem etwas zu erwarten, am wenigsten von den Russen. Ein Bettelmann kann dem anderen bekanntlich nichts geben.“ Holt rauchte. Was für große graue Augen Doktor Bernhard hatte! Wie er die starken gelben Zähne gegen Müller fletschte! Doch Müller hörte gar nicht zu. Müller, behaglich im Sessel, den 16
kalten Zigarrenstummel zwischen den Lippen, unterhielt sich mit Doktor Hagen. „Mir machen Sie nichts vor“, sagte er, „die Äsche gibt's hier in den Bergen schon dreißig Jahre nicht mehr, und im Weißen Grund hat's niemals welche gegeben. Der Weiße Grund ist Forellenregion, ich hab dort mit der Flugangel manche gute Forelle gefischt!“ Den Chemiker, einen Mann von dunklem, südländischem Typ, schien das zu interessieren, aber Müller sah nach der Uhr, dann verließ er den Raum. Eins der Fenster war geöffnet, Abendluft wehte herein. Professor Holt stopfte die Pfeife. Man wollte wohl noch irgendwas besprechen. Holt begriff nicht, worum es sich handelte. Müller kehrte zurück, einen Stapel Akten unter dem Arm, und er schob ein junges Mädchen durch die Tür. Da begann Doktor Bernhard zu schelten: „Warum telefonierst du nicht vorher? Jetzt kannst du warten!“ Das Mädchen begrüßte Professor Holt, begrüßte die anderen, trat dann zögernd zu Holt. Sie bot ihm die Hand, sie war Bernhards Tochter und hieß Karola. Holt empfand ein Schwindelgefühl, das war diese starke russische Zigarette mit dem Goldmundstück, die Vater ihm angeboten hatte. Karola Bernhard betrachtete ihn, mit hellgrauen Augen, die den Augen ihres Vaters glichen. Sie mochte so alt wie Holt sein, war kaum kleiner als er und trug ein enganliegendes grünes Kleid. Ihr Haar war dunkelblond. „Warum ist Vater so böse?“ fragte sie mit einer Stimme von fast kindlichem Klang. Aber das war wohl nur so hingeredet, denn sie wartete keine Antwort ab. „Ich habe von Ihrer Heimkehr gehört“, sagte sie. „Sie waren sehr krank. Ich habe immer gehofft, daß Sie wieder gesund werden. Sie müssen viel Schweres erlebt haben.“ Sie plauderte das so hin, flinkes, ausdrucksvolles Geplauder: „Ich empfinde Mitleid mit all den jungen Soldaten, die jetzt heimkehren.“ Holt schwieg und rauchte. „Ich kann Sie so gut verstehen“, hörte er, „ich habe eben erst Remarques ,Weg zurück' gelesen.“ Holt schaute aufmerksamer in Karolas Augen, sog an der Zigarette, hörte ihr zu. Nichts, dachte er. Nur Worte, sonst nichts... 17
Im Hintergrund erhob sich wieder Doktor Bernhards Stimme, meckrig, gekränkt: „Mir reicht es für heute. Empfehle mich. Karola, wir fahren!“ Holt begleitete Karola hinab zur Straße, wo Doktor Bernhards knatternder DKW hielt. Er verabschiedete sich. Er fürchtete sich vor dem Alleinsein in seinem unwirtlichen Zimmer. Er sah dem Wagen nach; das rote Schlußlicht verglomm in der Dunkelheit. 2
Holt traf seinen Vater regelmäßig beim Frühstück in einer der Mansarden unter dem Dach des Verwaltungsgebäudes, wo auch ein Privatlabor für Professor Holt ausgebaut worden war. Dort pflegte der Professor noch vor dem Frühstück ein paar Stunden zu arbeiten. Er war dreiundsechzig Jahre alt, ein breitschultriger Mann, einem Bauern ähnlicher als einem Gelehrten. Das Haar über der hohen und eckigen Stirn war schlohweiß, und stärker noch als vor einem Jahr prägten die beiden Falten, die von den Nasenflügeln abwärts über die Mundwinkel liefen, den Ausdruck seines Gesichts. Eines Morgens legte er die Zeitung weg, die er während des Frühstücks gelesen hatte, und wandte sich seinem Sohn zu. Holt löffelte wortlos die mit Sacharin gesüßte Schrotsuppe und aß dazu trocken Brot; dann schob er den Teller von sich. Professor Holt schenkte ihm ein kakaoähnliches Getränk ein. „Was ist das eigentlich: Kola?“ fragte Holt. „Ein Produkt aus dem Samen einer Sterculiacee der Gattung Kola“, antwortete der Professor. „Kommt im südlichen Westafrika vor. Die Kerne enthalten etwa anderthalb Prozent Alkaloide, vor allem Koffein in Form des Glykosids Colanin. Als Getränk wirkt es anregend wie Kaffee, allerdings schmeckt es weniger gut.“ Die pedantische Ausführlichkeit dieser Antwort ärgerte Holt. Das Zeug schmeckte ihm gar nicht, aber er hatte sich daran gewöhnt. „Gib mir bitte was zu rauchen“, sagte er. „übrigens hab ich keinen Pfennig Geld.“ 18
Professor Holt wandte sich zum Schreibtisch. Dann schob er ein paar Geldscheine, auch zwei Schachteln Zigaretten vor Holt hin. „Rauche nicht zuviel!“ sagte er. Holt entzündete eine Zigarette. Vater behandelte ihn wie einen unmündigen Knaben! Er dachte: Ich wäre besser nicht hierhergekommen. Aber ich bin ja zu Gundel gekommen, nicht zu Vater: das muß ich ihm bei Gelegenheit sagen! Professor Holt zog einen Notizzettel aus der Tasche und reichte ihn seinem Sohn. Holt las: „Oberschule am Grünplatz, Oberstudiendirektor Dr. Ebersbach.“ „Du kannst dich auf Müller berufen“, sagte Professor Holt, „Am 1. Oktober beginnt der Unterricht.“ Holt drehte den Zettel in den Händen. „Du weißt ja gar nicht, ob ich wieder zur Schule gehen will“, sagte er. Professor Holt schwieg. Dann sagte er: „Deine Mutter schrieb mir, daß sie das Kriegsende in Hamburg abwarten wollte. Wann hast du das letztemal von ihr gehört?“ „Wenn ich zu Mutter gewollt hätte, dann hätte ich von Kreuznach einen kürzeren Weg gehabt.“ „Ich weiß“, sagte Professor Holt. „Ich freue mich, daß du zu mir gekommen bist.“ „Ich bin nicht zu dir gekommen“, erwiderte Holt sogleich. „Ich wollte hier Gundel finden, sonst nichts.“ Die Falten in Professor Holts Gesicht vertieften sich; er rieb sich, als sei er müde, die Augen. In Holt aber erwachte plötzlich wieder der Groll, der Wunsch zu verletzen: den alten Mann, den Sonderling, den Menschenfeind. „Was Gundel angeht“, sagte er, „da kannst du mir ja wieder einen ,Hang zum Niederen' vorwerfen!“ Das Wort war vor Jahren in seinem Elternhaus gefallen. Holt gab es heute mit Genugtuung zurück. Professor Holt erinnerte sich nicht daran. Aber es war möglich, daß er ein solches Schlagwort gebraucht oder unwidersprochen hingenommen hatte. Er stopfte seine Pfeife. Dann sagte er ruhig: „Ich hatte während der letzten Jahre ausreichend Zeit, falsche Ansichten zu revidieren.“ „Während du deine falschen Ansichten revidiert hast“, sagte Holt, und er stand auf, „mußte ich für eben diese Ansichten
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meine Knochen hinhalten!“ Und ohne ein weiteres Wort ging er hinaus. Holt verbrachte die Tage mit ziellosen Spaziergängen. Manchmal stand er stundenlang auf der Brücke und sah in den kleinen Fluß, in das verschmutzte, ölfleckige Wasser. Nach dem Streit mit seinem Vater waren nur wenige Tage verstrichen, als er ins Büro gerufen wurde. Dort fand er seinen Vater und Fräulein Gerlach. An der Tür nahm er die Mütze ab. Professor Holt saß hinter seinem Schreibtisch am Fenster. „Seit neuestem frühstückst du allein“, begann er ohne Umschweife. „Ich bekomme dich tagelang nicht zu Gesicht. Wann willst du dich endlich in der Schule anmelden? Der Unterricht hat schon begonnen!“ Holt war nicht gesonnen, sich irgend etwas vorschreiben zu lassen. „Woher weißt du denn“, sagte er, „daß ich die Absicht habe, noch mal zur Schule zu gehn?“ Professor Holt wurde im Werk verlangt, in einer Stunde mußte er mit Müller zu einer Besprechung in die Kommandantur, er hatte noch eilige Post zu diktieren und wartete auf ein Ferngespräch. Er sagte: „Das Abitur ist die beste Lösung. Wir vermeiden damit auch die schwierige Frage einer augenblicklichen Berufswahl.“ Holts Gesicht spiegelte stumme Widerspenstigkeit. Professor Holt fuhr fort, nun in unverkennbarer Ungeduld: „Außerdem bist du wieder bei Kräften und brauchst für die nächste Lebensmittelkarte eine Arbeitsbescheinigung.“ „Fräulein Gerlach unterschreibt jeden Monat so viele Arbeitsbescheinigungen“, sagte Holt, „da kann sie doch auch mal für mich eine unterschreiben.“ Professor Holt erhob sich. Er sagte: „Nein!“ Und „Nein!“ sagte er nochmals, da Holt zu einer Erwiderung ansetzte, und er schlug mit der flachen Hand auf die Schreibtischplatte. „Ich dulde keine Scheinarbeitsverhältnisse! Und jetzt geh und melde dich zum Unterricht an!“ Holt wandte sich zur Tür, er faßte schon die Klinke. Aber plötzlich drehte er sich um und trat vor den Schreibtisch seines Vaters. Er war blaß, die Erregung hinderte ihn sekundenlang 20
am Sprechen. Er sagte leise, aber deutlich: „Ich melde mich nicht an! Versuche nicht, mich zu kommandieren, das ist zwecklos! Wirf mich lieber gleich auf die Straße, rauswerfen kannst du mich, aber...“ Auf einmal zitterte er vor Erregung, und über den Schreibtisch gebeugt, schrie er: „... kommandieren kannst du mich nicht!... das kann niemand mehr... niemals!“ Wieder lief er ziellos durch die Stadt. Die sinnlose Aufregung legte sich, er versuchte nachzudenken. Was sollte er mit seinem Leben anfangen? Sollte er sich tatsächlich neben Sechzehnjährige auf die Schulbank setzen? Aber hatte er in der Zeitung nicht von Sonderklassen für Kriegsteilnehmer gelesen? Er ging nach Mönkeberg zum Grünplatz, wo er manchmal auf Gundel zu warten pflegte. Hinter Kastanien, deren buntes Laub Rasenflächen und Wege bedeckte, stand unbeschädigt das Schulgebäude, dreigeschossig, mit breitem Portal, zu dem eine Freitreppe emporführte. Holt besann sich. Dann betrat er zögernd die Schule. Jemand hielt ihn am Ärmel fest, „... also bitte: wohin?“ Der Hausmeister, ein kleiner, kahlköpfiger Mann mit verbissenem Gesicht, in blauem Schlosseranzug. „Eine Auskunft? Worum handelt sich das? Ich werde... Halt!“ rief er. Aber hinter Holt schlug schon die schwere Flügeltür. Stimmengewirr füllte das Erdgeschoß. Holt, zwischen Kindern und Jugendlichen, die während der Pause in Scharen die Korridore entlangpromenierten, hörte hinter sich noch einmal das „Halt!“ des Hausmeisters, und erst eine Treppe höher fühlte er sich sicher. Hier war es still. Vom unteren wie vom oberen Stockwerk her war der Pausenlärm nur gedämpft zu vernehmen. Ein paar Mädchen spazierten den Flur entlang, sonst war kein Mensch zu sehen. Holt las die Schilder an den Türen: „Sekretariat des Oberstudiendirektors“ und „Lehrerzimmer“. Ein Wegweiser: „Zur Aula“... Vom blankgebohnerten Fußbodenbelag bis zu den genormten Türschildern atmete alles Ordnung und Disziplin. Holt sank der Mut. Er trat an ein offenes Fenster und blickte in die Kronen der Kastanien, in das braunrote Laub. Er kramte eine Zigarette aus der Tasche, entzündete sie und zerknickte das erloschene Streichholz. Er hatte sich ganz umsonst zu 21
einem Entschluß aufgerafft. Wer aus dem Chaos kam wie er, der taugte nicht mehr für die Ordnung einer Schule. Es flüsterte und lachte hinter ihm. „Rauchen ist hier verboten!“ sagte eine helle Stimme. Holt wandte sich um. Da standen, untergehakt und mit roten Köpfen, die Mädchen im Halbkreis um das Fenster, sechs oder sieben junge Dinger, nicht älter als fünfzehn Jahre, mit kurzen, langen, hellen und dunklen Haaren, in Röcken, Pullovern, Kleidern oder Skihosen, und sie steckten die Köpfe zusammen und flüsterten und sahen auf Holt und stießen einander kichernd mit den Ellenbogen an... Holt sog verblüfft an der Zigarette, und als er sich erröten fühlte, hielt er sich mit dem Blick an einem der Mädchen fest, an einem schmalen Kind mit langen Beinen und dunkelblondem Haar, das den Blick aus blauen Augen erschrocken und viel zu lange zurückgab und dann, erwachend, mit gespieltem Stolz, den Kopf in den Nacken warf... „Wie er dich anguckt, Angelika!“ sagte jemand, und das Gekicher begann von neuem. Aber von der Treppe her, um die Ecke, schoß der Hausmeister. „Eine schulfremde Person! Was wollen Sie hier?“ Holt warf den Zigarettenrest aus dem Fenster, überquerte den Korridor und öffnete die Tür zum Sekretariat. Eine Frau saß an der klappernden Schreibmaschine, zusammengekrümmt, in schwarzem Bürokittel. Ein Glockenzeichen verkündete das Ende der Pause. Die Sekretärin tippte und sagte gequält und ohne aufzusehen: „Keine Zeit!“ Dann ließ sie Holt warten, ließ ihn lange warten. „Der Herr Oberstudiendirektor ist mit Arbeit überhäuft“, sagte sie zwischendurch. Schließlich ging sie ins Nebenzimmer. Sie kam zurück und sagte: „Bitte!“ Ein geräumiges Zimmer. Ein Schreibtisch. Auf dem Schreibtisch saß ein Mann mit gebeugtem Rücken, umweht von den Qualmwolken einer krummen Pfeife, ein alter Mann von mindestens sechzig Jahren, mit spiegelnder Glatze und abstehenden weißen Haarbüscheln an den Schläfen. Er las Zeitung. Er trug einen kakaobraunen Anzug mit ausgebeulten Knien und herzförmigen Lederflicken an den Ellenbogen, an den Füßen gelbe Filzschuhe. Das lange Gesicht war gefurcht, gefaltet, zerknittert, sah aber außerordentlich vergnügt drein, 22
und vergnügt schauten auch die braunen Augen unter wimpernlosen Lidern hervor. Aus dem breiten Mund hing die Pfeife bis auf die Brust. Holt, an der Tür, nannte verblüfft seinen Namen. Der Alte nahm die Pfeife aus dem Mund, legte die Zeitung weg und sagte mit breiter Stimme und in unverfälschtem sächsischem Dialekt: „Ebersbach.“ Es klang: Äwerschbach. Dann betrachtete er Holt, und es mochte sein, daß er sich über den Besucher amüsierte, denn er sagte feixend: „Sie sind mir ja 'n komischer Vogel!“ „Herr Oberstudiendirektor“, begann Holt, aber Ebersbach unterbrach ihn, tippte sich mit dem Mundstück der Pfeife an die Stirn und meinte: „Zieht bei mir nicht. Titel ziehn bei mir überhaupt nicht, mein Gutester. Ich kannte mal die hinterbliebene Frau eines Straßenkehrers bei der Stadtdirektion. Die nannte sich Hilfsämterdirektionsadjunktswitwe.“ Holt wußte nicht, ob er lachen oder sich ärgern sollte. „Ich war im Krieg und möchte mich wieder zum Schulunterricht anmelden.“ Ebersbach hängte sich die Pfeife in den Mund, rutschte vom Schreibtisch herab und schlurfte dann auf seinen gelben Filzschuhen zu einem Thermometer, las die Temperatur ab und sagte: „Fünfzehn Grad. Celsius. Frieren Sie auch immer so entsetzlich?“ „Ich möchte mich zum Unterricht anmelden“, beharrte Holt. Ebersbach musterte ihn von Kopf bis Fuß und sagte: „Da könnte ja jeder kommen.“ „Herr Müller schickt mich“, sagte Holt. „Müller?“ fragte Ebersbach interessiert. „Der rote Müller?“ Dann schüttelte er den Kopf und erklärte: „Schwindel. Da hätte der viel zu tun.“ „Rufen Sie doch an!“ sagte Holt. Aber der Alte stieß eine Qualmwolke aus und nahm die Pfeife aus dem Mund. „Wie komm ich 'n dazu!“ sagte er. „Ich treff ihn schon mal. Wehe, Sie haben geschwindelt!“ Er rief: „Frau Linke!“ Und zur Sekretärin, die in die Tür trat: „S-Klasse, probeweise!“ Dann setzte er sich
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wieder auf seinen Schreibtisch, langte nach der Zeitung und sagte: „Hau jetzt ab, ich hab zu tun!“ Holt stand eine Weile bewegungslos auf dem stillen Korridor, bis in seinem Rücken eine Tür geöffnet wurde. Er wandte sich um. Ein mittelgroßer, stämmiger Mann von vierzig Jahren verließ das Lehrerzimmer, gekleidet in eine umgefärbte, sorgfältig zum Zivilanzug hergerichtete Wehrmachtsuniform, deren Hose tadellos gebügelt war. Als er Holt sah, blieb er ungläubig, ja erschrocken Stehen. Sein dunkelblondes Haar war von den Schläfen her ergraut, und viele Falten und Fältchen durchzogen das sorgenvolle Gesicht. Jetzt kam er mit zwei ungestümen Schritten durch den Korridor. „Holt!“ sagte er. „Werner, Junge! Sie leben! Wie mich das freut!“ Holt überkam das Wiedererkennen mit Macht: Gottesknecht! „Herr Wachtmeister...“ Gottesknecht hielt ihn mit beiden Händen an den Schultern. „Damit ist es zum Glück vorbei. Ich bin Gottesknecht, schlicht und einfach Riemens Gottesknecht.“ Er ließ Holt los und schob die rechte Hand zwischen zwei Knöpfe seiner Jacke. „Wo sind die anderen, Holt? Wo sind Gomulka, Wolzow, Vetter? Aber das werden Sie mir alles ausführlich erzählen.“ Er fragte besorgt: „Gesundheitlich geht's Ihnen doch gut?“ Er strahlte. „Das ist immer noch die Hauptsache!“ 3
Es waren sonderbare Schüler, die sich in einem Zimmer im Erdgeschoß als Klasse zusammenfanden: zwölf ehemalige Kriegsteilnehmer, erwachsene Männer, alle älter als Holt. Einen unter ihnen sah er mit gemischten Gefühlen wieder: Hoffmann, den Beinamputierten mit den Holzkrücken. Das ungeschnittene Haar hing ihm ins Gesicht; er rauchte eine dünne, übelriechende Zigarre. „Ich war zwar bloß Oberschnäpser“, erklärte er laut, „aber wie ich meine Knochen in diese Kinderbänke einsortieren soll, das bleibt mir schleierhaft.“ Man hielt sich zurück. „Du“ und „Sie“ gingen als Anrede durcheinander. Hoffmann duzte jedermann. „Du feiner Pinkel“, 24
rief er, mit einer Krücke auf einen Mitschüler weisend, „wie heißt du?“ Der Angeredete war bei weitem am besten gekleidet, trug einen Sakkoanzug, trug Hemd mit Krawatte. Er hatte einen schönen, gepflegten Kopf und gepflegte Hände, sein scharf ausrasiertes Gesicht war gepudert. Bei Hoffmanns Worten verzog er leicht den Mund, verbeugte sich aber andeutungsweise gegen die anderen Mitschüler und nannte seinen Namen: „Arens, Egon Arens.“ „Dieser feine Herr“, rief Hoffmann, „dieser schöne Egon dort, der ist sich wahrscheinlich zu fein, mit mir nach richtigen Tischen zu sehn!“ „Aber ich bitte Sie!“ sagte Arens verbindlich. „Das ist doch auch mein Interesse!“ Und er zog mit Hoffmann los. Holts Nachbar in der viel zu kleinen Bank hielt ein Auge unter einer schwarzen Binde verborgen; sein Gesicht war voller Narben. Er stellte sich Holt vor: „Buck. Auge raus, auch hirnverletzt, aber harmlos, bloß manchmal kann ich mich nicht beherrschen.“ Hoffmann kam schon zurück. Er hatte irgendwo im Keller Tische und Stühle entdeckt. Man schob entschlossen die Bänke auf den Korridor, trug Tische und Stühle aus dem Keller hoch. Draußen sammelten sich immer mehr Zuschauer, Schüler aller Klassen, bis der Hausmeister im blauen Schlosseranzug alles auseinanderscheuchte. „Halt! Das ist nicht erlaubt!“ Hoffmann konnte schaurig mit seinen Krücken rasseln und redete den Hausmeister mit „Büttel“ an: „Halt 's Maul, Büttel! Die Tische sind genau richtig für uns!“ Ebersbach schlurfte auf seinen Filzschuhen daher, die krumme Pfeife im Mund, und er entschied den Streit. „Du bist 'n komischer Vogel, Mensch!“ sagte er zum Hausmeister. „Sei doch froh, wenn sie dir die Arbeit abnehmen!“ Er sog prüfend die Luft durch die Nase, nahm die Pfeife aus dem Mund und drehte den Kopf zu Hoffmann herum. Hoffmann, die dünne, schwarze Zigarre im Mund, hing zwischen seinen Krücken. „Sie rauchen aber 'n mieses Kraut!“ sagte Ebersbach.
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Hoffmann erwiderte: „Wenn dir meine Zigarre nicht fein genug ist, dann mußte eben woandershin gehen.“ Ebersbach wiegte den Kopf hin und her und nickte, nicht ohne Anerkennung. „Aber laß dich nicht von Gottesknecht erwischen“, sagte er. „Der sieht das nicht gerne, dem sind wir alle nicht preußisch genug!“ Holt setzte sich wieder neben den einäugigen Buck. Hinter ihm saß Arens, der schon seinen Spitznamen weghatte: der „schöne Egon“. Er zog Holt ins Gespräch; seine Augen blickten stets kühl und ironisch; was er sagte, kam glatt und leise über die Lippen. Er war der Sohn eines Möbelfabrikanten und gedachte Medizin zu studieren. Den Betrieb sollte einmal sein älterer Bruder übernehmen. „Das heißt, wenn nicht alle Betriebe enteignet werden“, sagte Arens. „Mein Alter Herr hat ganz hübsche Sorgen!“ übrigens kannte er den Namen Professor Holts, für dessen Privatlabor die Arenssche Fabrik Labortische und Regale geliefert hatte. „Sie sind also der Sohn Professor Holts!“ meinte er deutlich achtungsvoll. Beim Sprechen stützte er den Kopf in die linke Hand. „Wir sollten ein bißchen zusammenhalten. Besuchen Sie mich doch mal, das wäre hübsch!“ Die Gespräche verstummten. „Von wegen Junglehrer und so“, hatte jemand laut gesagt. Nun stieg einer aufs Podium, ein rothaariger Bursche von vierundzwanzig Jahren, suchte Kreide und schrieb an die Tafel: „Neulehrer raus!“ In die Klasse kam Bewegung. Ein athletischer, wenn auch körperlich kleiner Mann, er hieß Kienast und war mit fünfundzwanzig Jahren schon kahlköpfig, verbesserte: „Unfähige Neulehrer raus!“ Der andere wollte das nicht akzeptieren, aber Kienast fauchte ihn an: „Mein Bruder wird selber Neulehrer, Rindvieh!“ Die Spannung wuchs. Ein dritter wischte den Satz weg, schrieb statt dessen an: „Alte Paukermasche unerwünscht!“ Buck, der Einäugige, der still und unbeteiligt neben Holt gesessen hatte, wurde auf einmal lebendig. Er wies mit dem Finger auf sich, fragte: „Soll ich? Soll ich dazu reden? Ich kann reden! Ich kann Volksreden halten, Bußpredigten, Massenansprachen, ich habe ein großes Redetalent, ich wiegle alles auf, soll ich in drei Minuten die ganze Penne aufwiegeln? 26
Ich versteh was von Massenhysterie! Also gut! Eine Volksrede gegen die alten Arschpauker!“ Und schon stieg er auf den Tisch, riß, ruckhaft wie eine Marionette, beide Arme nach oben, mit geballten Fäusten; sein narbiges Gesicht verzerrte sich, er schrie, überschnappend: „Schüler! Schülerinnen! Befreite Klassenmassen!“ „Halt doch das Maul, Mensch!“ fuhr Hoffmann ihn an und stieß ihm die Krücke ins Kreuz. Dann klapperte er aufs Podium und wischte die Tafel ab. Die Tür flog auf, die Schüler erhoben sich. Ein Mann stieg aufs Podium: Gottesknecht. „Guten Morgen“, sagte er. „Bitte nehmen Sie wieder Platz.“ Sein Blick streifte über die Schüler hin und blieb auf Holt haften; unmerklich nickte er ihm zu. Und als er nun sagte: „Ich bin Gottesknecht, Germanist und Klassenleiter...“, als er weitersprach: „Die mich kennen, die sagen, ich sei wirklich Gottes Knecht, aber wer hier den Unterricht stört, der wird meinen, ich sei des Teufels“, da entsann Holt sich deutlich einer ähnlichen und doch so grundverschiedenen Szene, daß er sekundenlang die Augen schloß. Und wie damals, vor langer Zeit, fuhr Gottesknecht fort: „Ich brülle nie, aber ich verteile pausenlos Zensuren, von eins bis fünf, und Sie sind auf diese Zensuren angewiesen, denn Sie wollen in anderthalb Jahren das Abitur bestehen.“ Er ging nun, die Hände auf dem Rücken, zwischen den Tischen auf und ab. „Ich rechne damit, daß ich an dieser Schule bleiben werde. Ich werde Sie zum Abitur führen, obwohl Sie eine mathematischnaturwissenschaftlidie Klasse sind. Aber Ihr Mathematiklehrer, Doktor Ebersbach, kann als Rektor die Geschäfte des Klassenlehrers nicht übernehmen. Es war mein Wunsch, eine Sonderklasse, wie die Ihre, zu leiten. Ich verspreche mir viel davon.“ Er blieb stehen, den Schülern zugewandt, und faßte nacheinander jeden einzelnen ins Auge. „Wir saßen alle im gleichen Boot“, sagte er. „Wir waren alle im gleichen Irrtum befangen. Wir tragen alle die gleiche Schuld. Lassen Sie uns die kommenden anderthalb Jahre versuchen, gemeinsam aus dem Irrtum herauszufinden.“
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Diese Worte beeindruckten nicht nur Holt. Aber ein Räuspern fiel in die Stille; das war Geißler, der Rothaarige, der vorhin „Neulehrer raus“ an die Tafel geschrieben hatte. Gottesknecht musterte ihn, dann fuhr er fort: „Ich habe nicht die Absicht, Sie im Deutschunterricht während dieser anderthalb Jahre mit trockenen Fakten vollzustopfen. Geistige Auseinandersetzung mit überliefertem Gedankengut soll im Vordergrund unseres Unterrichts stehen. Dazu brauche ich Ihre Mitarbeit. Wir Deutschen haben immer zuviel geglaubt und zuwenig gewußt. Ich werde Sie nicht nach Ihrem Gedächtnis beurteilen, sondern nach Ihren Gedanken.“ „Die Gedanken sind frei“, sagte jemand in die Stille. Das war wieder Geißler. Gottesknecht richtete seinen Blick auf die letzte Bank. „Wovon?“ fragte er. „Sind Ihre Gedanken von Vorurteilen frei? Ich muß das bezweifeln!“ „Was ich denke“, erklärte Geißler, „geht keinen was an!“ „Wie geht es Ihnen gesundheitlich?“ fragte Gottesknecht in freundlichem Ton, und Geißler antwortete überrascht: „Danke... gut.“ „Dann erheben Sie sich gefälligst, wenn Sie mit Ihrem Klassenlehrer sprechen“, sagte Gottesknecht ruhig, wenn auch mit Schärfe. Geißler schob sich aus der Bank und schaute zur Decke. „Wir werden noch über Gedankenfreiheit zu reden haben“, sagte Gottesknecht. „Ich werde nicht vergessen, Sie zu gegebener Zeit darüber referieren zu lassen.“ Nach Unterrichtsschluß blieb man noch beisammen, um einen Vertrauensmann zu wählen, der zugleich die Klasse im Schülerrat vertreten sollte. Dabei entbrannte ein uferloser Streit. Hoffmann steckte sich eine seiner übelriechenden Zigarren an. „Los, Vorschläge!“ Arens, das wunderte Holt, schlug Geißler vor. Geißler lächelte und schlug Arens vor. Da warf Hoffmann, der die Vorschläge notierte, den Bleistift hin und langte sich eine Krücke heran. „Dieses Friseurmodell dort“, sagte er, auf Arens weisend, „dieser bildschöne Affe kommt als Klassenvertreter überhaupt
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nicht in Frage! Von so einem laß ich mich nicht vertreten!“ Und er schlug sich selber vor. Da man auf einer geheimen Wahl beharrte, mußten erst Zettel geschrieben und eine Urne besorgt werden. Holt war der Szene überdrüssig. Er ging auf den Korridor hinaus. Er machte sich nichts vor: er war hier in der Schule fehl am Platz. Er dachte an den Stundenplan. Physik, Chemie, Mathematik, Fremdsprachen, das war ihm doch völlig gleichgültig. Und die Vorstellung, Tag für Tag, winters wie sommers, in diesem öden Klassenzimmer zu sitzen, deprimierte ihn. Geistige Auseinandersetzung, dachte er. Ob Gottesknecht sich darunter wirklich etwas vorstellen konnte? Arens gesellte sich zu ihm. „Hoffmann ist ganz hübsch ordinär“, sagte er, „finden Sie nicht auch? übrigens ist er Sozialdemokrat.“ Ein Mädchen kam die Treppe herab, blickte im Vorbeigehen zu den beiden hin und nickte Arens grüßend zu. Holt erkannte sie wieder, er sah ihr nach und sah, wie im Luftzug der schweren Flügeltür ihr Haar wehte. „Wer ist das?“ „Baumert heißt sie, Angelika“, antwortete Arens. „Sie wohnt bei uns, mit ihrer Großmutter. So brauchen wir keine Umsiedler ins Haus zu nehmen. Hübsch, die Kleine, nicht? Aber sie wird erst noch richtig!“ Holt schwieg. Er dachte an Gundel. Er konnte ihr, wie auch seinem Vater, jetzt Befehl ausgeführt melden: Ich geh wieder zur Schule, keine Ahnung wozu, aber ich geh. „Da gehn wir wieder zur Schule“, sagte er zu Arens, „und dabei weiß doch keiner, was aus uns wird. Ist das nicht absurd?“ „Es kommt gar nicht drauf an, ob wir was wissen oder ob wir nichts wissen“, erwiderte Arens. „Wir sind zum Untergang bestimmt, da kann Stalin zwanzigmal sagen, der deutsche Staat bleibt.“ Man rief nach ihnen. Endlich konnte gewählt werden. Jeder erhielt einen Zettel, auf dem vier Namen standen. Holt nahm einen Bleistift, durchkreuzte seinen Zettel mit dicken Strichen und steckte ihn durch den Schlitz des Pappkartons. Ich mach das Theater nicht mit, dachte er dabei. 29
Hoffmann wurde zum Klassenvertreter gewählt. Holt traf sich mit Gundel an einem nassen und kalten Oktoberabend. „Wie geht's in der Schule?“ fragte sie. Die Schule wurde ihm Tag für Tag mehr zur Last; er lernte nichts, er stellte nur immer hoffnungslosere Wissenslücken fest. Aber nun hatte er wenigstens Ruhe vor Vater. Gundel ging neben ihm her. Ihr brauner Mantel aus Zellwolle paßte ihr nicht mehr recht. Sie erzählte dies und das; gestern habe sie bis acht nach Kartoffeln angestanden, heute habe sie eigentlich überhaupt keine Zeit. „Aber komm doch mit“, sagte sie. „Du kannst uns helfen!“ Sie bereiteten in ihrer Gruppe einen Werbeabend vor, davon erzählte sie eifrig. „Als du neulich fortgelaufen bist“, sagte sie, „da hat Horst endlich eingesehen, daß man nicht bloß Referate halten kann.“ Und bittend: „Heut sind wir nur ganz wenige; komm doch mit!“ Es war ihm gleichgültig, wo er den Abend verbrachte; er suchte Gundels Nähe, sonst nichts, mochte sie ihn führen, wohin sie wollte, sei es in die zugige Baracke. Dort flackerten die Flammen der Paraffinlichter. Fremde Gesichter umgaben Holt. Neben ihm saß Gundel, zu ihrer Rechten ein vielleicht zwanzigjähriges Mädchen mit Hornbrille. Holt gegenüber saß Schneidereit neben einem munteren Fünfzehnjährigen mit strohblondem Haar und frechen Augen und einer Schirmmütze, die ihm reichlich zu groß war. Holt blieb unbeteiligt, ruhig, er war beinah versöhnlich gestimmt; ein schneidendes Hungergefühl machte ihn gefügig. Gundel schien nicht gesonnen, von diesem Kreis zu lassen. Nun gut. Nur eins brachte Unruhe in Holts Versöhnlichkeit: die Gegenwart Schneidereits. Horst Schneidereit hielt das Gesicht mit den ineinandergewachsenen Brauen über einen Notizblock gebeugt. Die Stirn, in die das schwarze Haar fiel, war gefurcht. Er mußte abgehärtet sein, denn trotz des kalten Oktoberabends und des scharfen Windes, der durch die Ritzen der Baracke pfiff, hatte er das Jackett über einen Stuhl geworfen und trug nur ein dünnes, kurzärmliges Jersey. Die Arme lagen nackt und sehnig auf dem Tisch. Auch die Muskeln der Unterarme waren 30
stark entwickelt, bis zu den auffallend schmalen Handgelenken hin. Der Anblick der Hände Schneidereits, die von der Kerze beleuchtet wurden, fesselte Holt wider Willen, großer und schmaler Hände mit schlanken Fingern. Die Innenflächen waren rissig und schwielig. Aber auf den Handrücken zeigte sich ein Geflecht blauer, hervortretender Venen, das die Hände nervig, feinfühlig machte. Die Rechte führte einen Bleistift über das Papier, hielt ihn aber so krampfhaft gefaßt, daß alles Rot unter den Nägeln verschwand und Daumen und Zeigefinger bis in die Knöchel weiß wurden. Holt folgte den unbeholfenen Schreibbewegungen. Jetzt legte Schneidereit den Bleistift hin und streckte die verkrampften Finger. „Werbeabend. Erster Teil also politisch“, sagte er mit seiner tiefen Stimme. „Die Arbeitereinheit ist jetzt das wichtigste. Referenten brauchen wir nicht, machen wir alles selber.“ Gundel sagte: „Aber du kannst doch an dem Abend kein Referat halten, da laufen uns die Leute davon, und es soll doch ein Werbeabend sein.“ Sie wandte sich an Holt: „Hab ich recht?“ Es behagte ihm nicht, ins Gespräch gezogen zu werden; so bewegte er nur ungewiß den Kopf. „Wer läuft weg?“ fragte Schneidereit. „Was heißt ‚Leute'? Vielleicht laufen ein paar rammdösige Spießer weg! Sag bloß“, rief er, „die revolutionäre Arbeiterschaft will mein Referat nicht hören!“ „Es ist ein Werbeabend, und da gibt es kein Referat!“ sagte Gundel so halsstarrig, daß Holt sie verwundert anblickte. Schneidereit beendete den Streit, indem er sagte: „Dann besprechen wir erst mal den zweiten Teil.“ „Was Lustiges!“ verlangte der Kleine mit der Schirmmütze. „Wart ab“, sagte Schneidereit. „Wie sieht's denn nun aus?“ Gundel sagte: „Es wird immer weniger statt mehr.“ Schneidereit warf den Bleistift hin. „Wenn wir so weitermachen, haben wir in fünf Jahren noch kein Programm!“ „Wenn es aber doch nichts wird, weil nichts da ist“, sagte das Mädchen mit der Brille. „Nichts da ist“, sagte Schneidereit. „Aber wenn alles da ist...“ Jetzt rief er mit Heftigkeit: „... dann ist es doch kein Kunststück!“ 31
Gundel sagte: „Reg dich doch nicht so auf.“ „Da muß man sich ja aufregen!“ sagte Schneidereit. Er schob den Stuhl zurück und ging mit großen Schritten in der Baracke auf und ab. „Überall diese Mutlosigkeit! Das macht mich krank! Mein Vater hätte dir vielleicht Geschichten erzählt; die waren aus anderem Holz, wie sie auf die Hinterhöfe gezogen sind, um die Massen aufzuklären, arbeitslos, und mehr zu fressen als wir hatten die auch nicht, und Geld hatten sie erst recht keins, und nicht einmal die Hände hatten sie frei, weil sie unter der Jacke den Knüppel festhalten mußten, denn draußen wartete schon die SA...“ „Niemand ist mutlos“, sagte Gundel. „Komm, setz dich wieder her!“ Schneidereit setzte sich gehorsam an den Tisch. Holt war wieder, als gehe von Schneidereit etwas Bedrohliches, Gewalttätiges aus, und er spürte nichts als Fremdheit. Was wollte er hier? Was hatte er in diesem Kreis zu suchen? Gundel stieß ihn mit dem Ellenbogen an. „Hast du nicht hingehört? Du warst doch auf der Oberschule. Weißt du nicht noch ein Gedicht von Heine, außer den ,Webern'?“ „Von Heine?“ sagte er und schüttelte den Kopf. „Heine war ja verboten.“ Schneidereit blickte auf, sah Holt an, schrieb dann weiter. „Ja, richtig“, sagte er. „Heine war ja verboten!“ Holt lehnte sich wortlos in seinen Stuhl zurück. Er fühlte, daß ihm das Blut ins Gesicht stieg. „Was Lustiges!“ beharrte unterdessen der Kleine mit der Mütze, und er hatte einen Sack voller Vorschläge, von denen Holt nur einige verstand, während Schneidereit unzufrieden mit dem Bleistift aufs Papier klopfte. „,Chikagoer Gesangsverein' oder ,Die letzte Frist'... Oder ,Großmutters verrostete Zahnbürste', das geht nämlich folgendermaßen...“ Holt verzog den Mund. Er kannte das, es war der uralte Ulk, der auf den Kameradschaftsabenden in den Kasernen hatte herhalten müssen. Aber Schneidereit lachte darüber, er schien doch nicht gar Gefallen daran zu finden? „Laß das sein!“ sagte Holt impulsiv, gerade, als Schneidereit notieren wollte. „Das 32
kennt jeder, der beim Barras war.“ Er war befangen, und die Befangenheit gab seinen Worten einen zurechtweisenden Klang. Schneidereit strich zwar sofort durch, was er notiert hatte, schaute dann aber Holt ins Gesicht und sagte: „Du mußt schon entschuldigen, aber ich kenn das nicht. Denn während du bei deinem Barras warst, da war ich nämlich im Zuchthaus.“ Holt spürte, wie Gundel besänftigend die Hand auf seinen Unterarm legte. Er zog mit einer Schulterbewegung den Arm fort... Und als er den anderen wenig später ins Freie folgte, hatte er nichts als ein kurzes „Guten Abend“ für sie. Eine Patrouille marschierte den Gehweg entlang, zwei Rotarmisten mit Armbinden, die Maschinenpistolen umgehängt. Holt fröstelte. Er fühlte seinen Herzschlag, hart und schnell. Aber sie beachteten ihn nicht, sie taten ihm nichts, der Krieg war zu Ende... Holt stand unbeweglich und ließ die beiden Soldaten hinter seinem Rücken vorbei. Dann bog er um die nächste Ecke. Zwischen Ruinen sah er ein hell erleuchtetes Portal, ein paar herumlungernde Leute. Neumanns Ballhaus. Jenseits des trümmerübersäten Hofes fiel Licht aus den Fenstern. Neumanns Ballhaus, Henry Kosinky und seine Rhythmiker. Jeden Montag Witwenball... „Zigaretten?“ Ein Halbwüchsiger trat an Holt heran. Um die Füße schlenkerten die viel zu weiten Beine einer Marinehose. „Sondermischung, zwofuffzig!“ Holt ging über den Hof. Er warf einen Blick auf die Uhr im Vorraum. Zweiundzwanzig Uhr. Er hatte bis zur Sperrstunde noch eine Stunde Zeit. Man nahm ihm fünf Mark Eintrittsgeld ab. In dem niedrigen Saal, durch stickige, rauchgeschwängerte Luft schlugen ihm die Schreie der Trompeten, das Gewimmer der Saxophone ins Gesicht. Eine vielköpfige Menge schob sich auf dem Parkett hin und her, unter schwankenden Lampions und bunten Papiergirlanden. Holt fand einen freien Stuhl. An dem Tisch saßen drei Mädchen. Eins der Mädchen sang die Tanzmusik mit: „... 33
schwarze Panther kommt... Hölle los...“ Die Maske eines Lächelns wandte sich ihm zu. „Sie tanzen nicht?“ Er saß in unnatürlich starrer Haltung, den Kopf leicht zurückgelehnt, die Lippen zusammengepreßt, und schaute durch den Tabaksdunst auf einen der Lampions. Jeden Montag Witwenball. Holt stand auf. Neben dem Podium, auf dem die Kapelle spielte, führte eine Tür in ein Gelaß. „Bar zum Ewigen Frieden“. Holt drängte sich zur Theke. Ein kleines Gläschen eines grünfarbigen Getränks kostete mehrere Mark. Holt trank. Er kaufte ein paar Zigaretten. Er rauchte und trank. Der Lärm ringsum rückte weit von ihm ab, die Luft wurde durchsichtig, die Lichter brannten heller. Holt starrte in eine Glühbirne, bis sich bunte Kreise vor seinen Augen drehten. Verschwende die Zeit nicht mit Sorgen und Grübeln, lebst ja, könntest längst unter Trümmern verfault sein! Er drängte sich durch die Menschen, zurück in den Saal. Er sah auf die Mädchen. Hast viel versäumt, hast ja noch gar nicht richtig gelebt! Hast das Leben nur immer gesucht, in Abenteuern, im Krieg, im Tod, hast es noch gar nicht gefunden! Holt vertrank all das Geld, das ihm sein Vater gegeben hatte. Er betrank sich gründlich. Der letzte Tanz endete; alles brach hastig auf, gleich war Sperrstunde. Ein Menschenstrom spülte Holt aus dem Saal. Dann saß er in seiner Mansarde, wußte nicht, wie er ins Werk gelangt war, saß auf dem hölzernen Schemel, rücklings gegen die Wand gelehnt, die Jacke geöffnet. Er hörte nicht, daß es klopfte. Er hatte die Hände in den Taschen vergraben und die Beine von sich gestreckt. Und er schaute Gundel mit glanzlosen Augen an. Dann versuchte er aufzustehen, gab den Versuch wieder auf. Die Betrunkenheit hob ihn hoch und setzte ihn wieder auf den Schemel. „Wo kommst du denn her?“ fragte er und erklärte mit schwerer Zunge: „Bar zum Ewigen Frieden...“ Er hob die Hand, wies schwerfällig ringsum. „Genauso öde wie hier...“ Lind mit einem verunglückten Grinsen: „Ort der Zuflucht...“ „Geh ins Bett!“ sagte Gundel. Auf einmal rief sie: „Schämst du dich denn nicht!“ Holt sah sie verständnislos an. „Der Gottesknecht“, sagte er mit schwerer Zunge, „... ich weiß nichts, ich kann Ihnen nicht 34
helfen... Aber geistige Auseinandersetzung predigen kann er! Wir sind alle mit Blindheit geschlagen... Und ihr“, sagte er und wies unsicher mit dem Finger auf Gundel, „ihr in eurer Baracke, ihr steckt alle unter einer Decke...“ „Du bist jetzt still!“ sagte sie. „Du gehst schlafen, sofort!“ Er erhob sich, er konnte noch die Jacke ausziehen, dann fiel er aufs Bett. Die Woge hob ihn hoch und warf ihn in den Abgrund. Er schlief sofort ein. 4
Immer dieses gemeinsame Abendessen im Konferenzzimmer, diese ewigen Besprechungen beim Abendbrot! Das geht einen doch gar nichts an, damit hat man doch gar nichts zu tun, das hängt einem ja schon zum Halse heraus! Und heute ist auch noch Schneidereit dabei, und Doktor Hagen hat sich mit Gundel ganz schön vertraulich, und Gundel sucht ein Gefäß, in das sie eine Pflanze stellen kann, ein Kraut mit gefiederten Blättern und gelben Beeren, wer weiß, wo sie das aufgelesen hat! Nun sitzt sie zur Linken Vaters, und da läßt sich doch tatsächlich Schneidereit neben ihr nieder und zieht dabei ein Gesicht, als wäre das selbstverständlich. Natürlich reden sie wieder über ihren Werbeabend, worüber denn sonst, und Frau Thomas weiß eine ihrer üblichen Neuigkeiten, nein, diesmal eine Sensation: „Der Zahnarzt Bohrmann aus der Badstraße, kennen Sie den?, was, den kennen Sie nicht?“ - „Daß der Mann als Zahnarzt aber auch ausgerechnet Bohrmann heißen muß!“ meint Doktor Hagen kopfschüttelnd, hahaha, na eben, nomen est omen, also wie war das mit dem? Der war abgemurkst worden, umgebracht, ermordet, gräßlich, wie?, und die Täter sollten in seiner Wohnung säckeweis Barrengold mit dem Stempel der Reichsbank erbeutet haben! So ein Blödsinn, Barrengold, das hat doch alles der Russe geschnappt, wo gibt's denn hier noch Barrengold. Der Bernhard hat recht, hier gibt's bestimmt kein Barrengold mehr. Kriegsbeute, Reparation, Schneidereits Baß: „...ungeheuren Kriegsschäden in der Sowjetunion nicht annähernd bezahlt...“ Frau Thomas, tief 35
gekränkt: Es soll aber doch Barrengold gewesen sein, meine Schwester hat's von dem alten Thiele, der wohnt gleich neben dem Bruder von dem Zahnarzt! Also schön, dann war's eben Barrengold, aber nun allerseits guten Appetit! Dörrgemüse, Drahtverhau, Kohldampf, Eintopf mit geriebenen rohen Kartoffeln gedickt, da schüttelt sich Doktor Bernhard. „Fraß, ekelhafter!“ Der scheint keinen Hunger zu haben, der soll ja dreißig Karnickel... „... in Kreuznach froh gewesen, wenn's diesen ekelhaften Fraß gegeben hätte!“ Nickt Schneidereit beifällig, leg ich gar keinen Wert darauf, daß der mir zustimmt! „Meinen Sie, bei den Russen gab's mehr zu fressen, wie?“ Aber darüber freut sich wieder der Bernhard, was man auch sagt, einer freut sich hier immer, am besten, man hält den Mund. Schneidereit läßt seinen Baß dröhnen, hält ein Referat, der ist hier doch nicht in seiner Baracke: „... Faschisten alle Felder verwüstet...“, als wenn das nicht jeder wüßte. Zwei Löffel Bratkartoffeln, der Baß verstummt, und sieh doch mal, wie der ißt! Teller in der Linken, Messer in der Rechten und dann das Messer in den Mund! Teetasse, Brombeerblätter, jedermann holt Zigaretten und Tabakpfeifen hervor. Müller hat noch kein Wort gesprochen, klemmt seinen kalten Zigarrenstummel in den Mund, winkt Fräulein Gerlach: Stenogrammblock raus! Und ihre Bleistifte werden jeden Tag kürzer. Jetzt sollte man schnell noch verschwinden. „... vielleicht freundlichst verschwinden?“ Wie? Was sagt der Bernhard? „Junger Mensch“, sagt der Bernhard zu Schneidereit, „wollen Sie vielleicht freundlichst verschwinden? Wir besprechen Interna, die Sie nichts angehen!“ Also, das ist... Jetzt muß man mal aufpassen! Müller sieht schon zu Bernhard hin, sieht wieder weg, sagt ganz ruhig: „Der Genosse Schneidereit ist Vorsitzender des Betriebsrates und nimmt als Vertreter der Arbeiterschaft in Zukunft an allen Besprechungen teil.“ Das ist eine ausreichende Erklärung. „Wie meinen?“ Der Bernhard legt es doch nicht gar mit Müller an! „Sie haben wohl Verstärkung nötig? Und von wegen Betriebsrat, ich für meine Person brauche keinen Betriebsrat, ich benötige überhaupt keinen Rat, ich berate mich ganz allein, ich überlasse es gewissen anderen Leuten, sich von Moskau beraten zu lassen...“ - „Hören Sie doch mit diesen Albernheiten 36
auf!“ Vater ist ärgerlich. „Albernheiten? Meine Herren, nächstens drängelt sich hier noch der Heizer, der Pförtner und schließlich jede beliebige Abortfrau herein!“ Ein starkes Stück, jetzt ist er zu weit gegangen, allerdings könnte dem Schneidereit eine Abfuhr gar nicht schaden; wie er sich da neben die Gundel gesetzt hat, das ist ganz schön aufdringlich! „Meine Herren! Bis hierher und nicht weiter!“ Eindeutige Geste mit dem Daumen über die Schulter zur Tür. „Junger Mensch, was wir hier besprechen und beschließen, das geht Sie einen Schmarren an, entweder Sie verschwinden jetzt schleunigst, oder...“ - „Oder?“ Schneidereit ist entschlossen zu bleiben, man sieht es an seinem Gesicht. „Oder ich verschwinde.“ Verflucht, dem Bernhard ist das ernst, er steht auf, knöpft seine Lodenjacke zu. „Entscheiden Sie sich, meine Herren, aber bedenken Sie, wen Sie brauchen: mich oder diesen Genossen dort.“ Stille. Alle sind gegen Bernhard, aber der darf jetzt nicht nachgeben, man muß doch mal sehen, wer da stärker ist. Und die Gundel faßt den Schneidereit am Arm, als wolle sie ihn schützen. Das muß doch möglich sein, daß der Stuhl neben Gundel frei wird! Bernhard muß man den Rücken stärken, muß ihm zunicken, aufmunternd, zustimmend, ja, er hat es gesehen. Aber da mischt sich Müller ein, winkt Schneidereit mit den Augen, streicht sich nachdenklich mit der Hand übers Kinn. Ganz ruhige Worte. „Wir werden es schwer haben ohne Sie, Herr Doktor Bernhard, aber wenn das Ihr Ernst ist, was Sie da eben sagten, dann bedauern wir Ihr Ausscheiden aus unserem Betrieb.“ Erledigt. Bernhard ist erledigt. Steht starr. Ächzt beinahe: „Soll das heißen, daß ich entlassen bin?“ Der Mann ist ja naiv. „Schluß!“ Jetzt hat Vater die Geduld verloren, schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. „Schluß mit den Albernheiten! Niemand will Sie entlassen. Sie haben uns gedroht zu gehen, wenn der Vertreter des Betriebsrats nicht das Zimmer verläßt, und er wird es nicht verlassen, verstehen Sie? Kein Mensch schließt sich Ihrer kindischen Alternative an, und es steht auch gar nicht in unserer Macht, dem Betriebsrat irgendeinen Befehl zu erteilen, haben Sie das nun endlich kapiert?“ - „Warum schreien Sie denn so?“ Das ist schon der Rückzug. „Ich höre viel zu gut, als daß Sie so zu schreien 37
brauchten!“ Da sitzt er wieder auf seinem Stuhl, der Bernhard, peinlich, wirklich peinlich für den Mann, wie er jetzt so tut, als wäre gar nichts gewesen, wie er sein Notizbuch aufschlägt und meckert: „Aber vielleicht fangen wir nun endlich mit der Arbeit an!“ Und Blohm kennt den Bernhard noch nicht und beginnt zu lachen, mit offenem Mund. Giftiger Blick Bernhards. Blohm, erschrocken, sitzt wieder stumm am Tisch. Und Schneidereit sitzt neben Gundel, ein bißchen blaß, aber selbstbewußter denn je. Geht nicht besiegt aus dem Zimmer, nein, niemand hat die Macht, ihn rauszuwerfen, und man sieht ihm das jetzt deutlich an. Zum Glück aber interessierte Holt das alles gar nicht, ging ihn überhaupt nichts an. Er hatte mit Schneidereit nichts zu schaffen. Er war hier vom Zufall hineingeworfen worden und saß ganz unbeteiligt dabei und ließ Müller beginnen: daß weder die Reichsbahn noch irgendeine andere Stelle in der Lage sei, vor Einbruch des Winters das Werkanschlußgleis wiederherzustellen, daß es unmöglich sei, die Kohlen für den Winter mit dem klapprigen Lastwagen heranzuschaffen, daß die Vorräte noch bis Weihnachten reichten, dann sei Schluß, und so fort. Nein, das interessierte Holt wirklich nicht, mochten sie reden, mochte Hagen mit seinem Rechenschieber den Kohlebedarf nachrechnen und Schneidereit mit dem Bleistift gedankenvoll auf den Notizblock klopfen. „Wie ist das, können wir den Gleisanschluß nicht selber herrichten?“ - „Und die beschädigte Brücke über den Fluß?“ fragte Vater, und dieser Blohm, wie er sich jetzt regte und sich bewegte, er war wirklich ein sonderbarer Mensch! „Gestatten Sie, an und für sich bietet der Bau einer solchen Brücke keinerlei Schwierigkeiten!“ Jetzt Müller zu Blohm: „Klipp und klar, können wir die Strecke samt Brücke allein aufbauen?“ Blohm, das sah man, war ganz kalt und war doch wie in Brand gesetzt. „Wenn Sie die Materialfrage lösen, die notwendigen Arbeitskräfte bei einer Baufirma engagieren...“ - “Baufirma?“ Schneidereits Baß: „Wozu Baufirma? Das machen wir alles selber!“ Klingt großspurig, aber Blohm nickt, Müller nickt, Vater sagt: „Am besten besprechen wir gleich noch die Details, wir werden eine Menge zu tun haben in den nächsten Wochen...“ Man selber aber spürt seine 38
Ausgeschlossenheit, man treibt durch die Tage, geht in die Schule, nur um Ruhe zu haben, weiß nicht, was werden wird, sieht keinen Weg, fühlt immer, fühlt überall Fremdheit. Holt stahl sich hinaus. Neumanns Ballhaus lag gleich um die Ecke. Holt besaß noch die bunten Geldscheine, die er bei der Entlassung im Camp erhalten hatte. Im Torweg sah er eine Gestalt in hellem Staubmantel: Karola Bernhard. Sie wartete auf ihren Vater, erzählte von einem Dolmetscherkursus. Ihr Heimweg war weit, so versuchte sie stets, von ihrem Vater mitgenommen zu werden. Sie sagte zu Holt: „Ich freue mich, Sie so bald wiederzusehen.“ Der Abend war kalt. Karola fror in ihrem dünnen Sommermantel. „Wir können im Haus warten, oben, bei mir.“ Er hinterließ beim Pförtner, wo Bernhard seine Tochter finden konnte. Karola trat in die kahle und kalte Mansarde und rief: „So kann man doch nicht wohnen!“ Sie ging zum Fenster; auf dem Werkhof brannten ein paar Bogenlampen. „Die Fabrik... Und Trümmer...“ Er schob ihr den hölzernen Schemel hin. Sie setzte sich, schlug die Beine übereinander und legte die gefalteten Hände ums Knie. Er blieb stehen, an die Wand gelehnt. „Wir wohnen draußen in Hohenhorst“, erzählte sie. Er hörte ihr zu, hörte auf den Klang ihrer gefühlvollen Stimme. „Hohenhorst liegt ganz am Ende der Westvorstadt, zwischen den Hügeln.“ Ihre Worte spannen ihn ein. Ihr Haar hatte einen seidigen Schimmer, Karola war schlank und gerade gewachsen, sie gefiel ihm. „Dort draußen ist nichts zerstört“, erzählte sie, „es gibt keine Ruinen, nur Villen und Gärten.“ Villen und Gärten. „So hab ich in Bamberg gewohnt, bei meiner Mutter“, sagte er. Und er entsann sich des hellen, efeubewachsenen Hauses, die Südfront ganz aus Glas; entsann sich der Jahre der Kindheit, der frühen Jugend: Bilder, für die in seiner Vorstellung lange Zeit kein Raum gewesen war. Karola sagte: „Wenn Sie es so schön haben könnten, warum sind Sie dann hierhergekommen?“ Holt lehnte den Kopf gegen die Wand. „Vielleicht bin ich einer Illusion nachgejagt, einem Traumbild. Aber lassen wir das!“ Er 39
holte eine Zigarette aus der Tasche und rauchte. „Erzählen Sie doch weiter!“ Sie fuhr ohne Besinnen zu sprechen fort. „Ich kann stundenlang an unserem Gartentor stehen und Hohenhorst betrachten, das in jedem Monat einen anderen Reiz besitzt. Auch jetzt im Oktober. Nichts liebe ich so wie den Herbst“, sagte sie und schlug ihre großen Augen zu Holt auf. „Warum ausgerechnet den Herbst?“ fragte er. „Vielleicht“, sagte sie, „weil im Herbst die Sehnsucht nach der Ferne so unermeßlich groß wird, wenn man über Felder, Wälder und Hügel schaut... Ich möchte in die Welt hinaus, möchte Fremdes und Seltsames erleben, ich möchte all das Schöne, das die Welt hat, in mir aufspeichern... Aber eine Sehnsucht hätte ich dann wohl immer noch: ich könnte unseren Garten nicht vergessen. Er ist in jeder Jahreszeit schön, er hat so viele Gesichter.“ Holt hielt die Zigarette zwischen den Lippen, und der Rauch brannte in seinen Augen. Seine Hände zerknickten das abgebrannte Streichholz. All das Schöne, das die Welt hat, dachte er. Nun sah er wieder die Bamberger Villa, seit Ewigkeiten zum erstenmal die besonnten Regnitzhänge und das freundliche Maintal, und das alles lag vor ihm wie ein Weg, der abseits führte, in die Welt eines zeitlosen Frühlings, in die er sich in der Vergangenheit oftmals hineingeträumt hatte. „Wollen Sie mich nicht in Hohenhorst besuchen?“ fragte Karola, als sie sich verabschiedete. „Vielleicht“, antwortete Holt. „Kann sein. Weiß nicht.“ Im Büro blieben Professor Holt, Müller, Schneidereit und Gundel zurück. „Der Kollege Bernhard“, sagte Müller, den kalten Zigarrenstummel zwischen den Lippen, „der war heute ja wieder ganz ungenießbar!“ Schneidereit half ihm in die wattierte graue Joppe und sagte dabei: „Bernhard mag ja was leisten, aber dieser Typ macht mich krank! Wer weiß, ob das nicht ein Erzfaschist war oder ein Mitläufer, und die hab ich am meisten gefressen. Da ist Blohm aus anderem Holz. Blohm war bestimmt ein Antifaschist.“
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„Blohm war bestimmt ein Antifaschist“, wiederholte Müller. „Was ich sagen wollte, spielst du eigentlich Schach?“ „Schach?“ Schneidereit war verblüfft. „Und ob ich Schach spiele! Hab ich im Zuchthaus gelernt.“ Müller nickte. „Wir müssen mal Schach spielen. Aber daß Bernhard ein Faschist war, das kann man eigentlich nicht behaupten. Den haben die Nazis sogar ein Jahr eingesperrt, der konnte nämlich schon damals das Meckern nicht lassen, ich glaube, der kann das Meckern überhaupt nicht lassen. So ein richtiger kleiner Nazi, mit Sammelbüchse und Luftschutzhelm, weißt du, das war der Blohm, nicht der Bernhard.“ „Was willst du damit sagen?“ rief Schneidereit. „Nichts“, entgegnete Müller. „Bloß, das ist alles nicht so einfach!“ Er fügte hinzu, ernst, doch nicht unfreundlich: „Aber du lernst es schon noch, Genösse Schneidereit. Du lernst es bestimmt noch!“ Und er wandte sich Gundel zu. Gundel zeigte Professor Holt das Kraut mit den gelben Beeren. „Wo hast du das her?“ fragte er und nahm ihr den Sproß aus der Hand. „Aus den Trümmern.“ „Solanum“, sagte der Professor, „und zwar Solanum luteum, Gelber Nachtschatten, das ist ein Verwandter unserer Kartoffel.“ „Woher wissen Sie das?“ fragte Gundel. „Ich kenne alle hiesigen Nachtschattengewächse“, erwiderte Professor Holt. „Wer sie nicht kennt, muß sie bestimmen.“ „Bestimmen? Kann man das lernen?“ fragte Gundel. Professor Holt nickte. „Ich werde dir aus meinen Kisten ein paar Bücher heraussuchen.“ Müller legte den Arm um Gundels Schultern. „Wir haben uns was einfallen lassen!“ Professor Holt sagte: „Richtig! Wir haben oben noch eine Mansarde frei. Willst du nicht zu uns ziehen?“ „Da hast du's schön warm“, sagte Müller, „und brauchst nicht mehr vor den Läden anstehn.“ „Du ißt dann auch mit uns“, fuhr Professor Holt fort. „Du kannst kommen, sobald du willst.“
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Gundel wohnte in einer unheizbaren Dachkammer, wo der Wind durch die Sparren pfiff, und die Frostnächte des Winters standen bevor. Noch ehe sie etwas entgegnen konnte, nahm Schneidereit die Sache in die Hand. „Du ziehst gleich morgen um. Morgen ist Sonnabend, ich helf dir.“ „Es gibt wohl noch einiges für die Handwerker zu tun“, meinte Müller. „Handwerker?“ sagte Schneidereit. „Unsinn! Machen wir alles selber!“ Er brachte Gundel nach Hause. Müller, als er mit Professor Holt allein war, setzte sich in seinen Sessel vor dem Schreibtisch, er sank zusammen, sein Gesicht war grau und erloschen, kalter Schweiß trat auf die Stirn. „Ich glaube“, sagte er kurzatmig, „es geht mit mir zu Ende.“ Professor Holt sagte leichthin: „Sie sind unausgeschlafen, Müller! Sie glauben gar nicht, wie das die allgemeine Stimmungslage verändert, wenn man nicht richtig ausgeschlafen ist!“ Müller straffte sich ein wenig. „Ich bin unausgeschlafen...“, wiederholte er. Dann erhob er sich, setzte sich hinter den Schreibtisch, schlug die Unterschriftenmappe auf. „Trotzdem, ich brauchte mal einen richtigen Arzt! Sie werden sehn, Professor, die wirklichen Schwierigkeiten stehn uns erst noch ins Haus, lassen Sie's bloß erst Winter werden! Da wäre ich ganz gern noch bis zum Frühjahr dabei...“ Er unterschrieb Briefe. Dabei erboste er sich: „Aber die Ärzte sind alle Pfuscher, die sagen, ich soll mich hinlegen, und im Liegen bekomm ich ja erst recht keine Luft. Stationäre Behandlung... Das lassen Sie den Hagen abzeichnen“, unterbrach er sich, „der kennt diesen Retortenfritzen, vielleicht bekommen wir da eher was!... Dabei bin ich heilfroh“, fuhr er fort, „daß ich lebend dem Krankenhaus entkommen bin!“ Er strich sich sinnend übers Kinn. „Wie war's, Professor?“ Er war befangen. „Sie wissen schon!“ Nun stand er auf und trat vor den Professor hin. „Behandeln Sie mich!“ sagte er. „Wie Sie gestern die schweren Medikamentkisten abgeladen haben, da hab ich mir wieder gesagt: Das ist doch wenigstens ein richtiger Arzt!, der brächte mich noch über den Winter!“ Professor Holt lächelte. „Ich bin kein Praktiker“, sagte er. 42
„Die Praktiker haben mich lange genug mit ihrem Digitalis fertiggemacht“, erwiderte Müller. „Sie wissen, wie's um Sie steht“, sagte Professor Holt. „Ich kann Sie nicht heilen. Niemand kann das. Aber...“ Er dachte lange nach. „Wenn Sie eben nur zu mir Vertrauen haben, dann wollen wir sehen, ob Ihnen Ihr Vertrauen über den Winter hilft.“ Müller war wie umgewandelt. „Das ist ein Wort!“ sagte er. „Und können wir nicht gleich heute noch was unternehmen?“ Wieder lächelte Professor Holt, als er sagte: „Ein ordentlicher Vitaminstoß kann Ihnen jedenfalls nichts schaden!“ Aus den unteren Stockwerken tönte das Summen der Elektromotore herauf, die Sulfonamidfabrik arbeitete auch samstags bis zum Abend. Gundels Zimmer lag am Ende des Korridors im Dachgeschoß des Verwaltungsgebäudes. Schneidereit sägte für die beiden Fenster Gardinenstangen zurecht. Oben, auf der Stehleiter, schlug er auf den Steinbohrer los und fragte: „Gehn wir heut ins Kino?“ Er fragte es nicht zum erstenmal. Gundel hielt die wacklige Leiter. Sekunden verstrichen, ehe sie den Kopf schüttelte. Aber heute nahm Schneidereit ihr Nein nicht ohne weiteres hin. Er kletterte die Leiter herab. „Jetzt sag mir ehrlich, warum du nicht mitkommst.“ Gundel hatte die Frage lange erwartet und war doch hilflos. Sie dachte an Holt. Sie spürte den Widerspruch und fand nicht heraus. „Ich hätte nicht fragen dürfen“, sagte Schneidereit. Am Abend war das Zimmer wohnlich eingerichtet. Gundel und Schneidereit aßen mit Professor Holt. Frau Thomas brachte eine Terrine mit Kartoffelsuppe. Gundel zählte die Gedecke, es waren fünf. Ob Holt heute wieder dem Essen fernblieb? Frau Thomas weigerte sich, mit am Tisch zu essen. „Was sich nicht schickt, das schickt sich nicht.“ Professor Holt bat, noch auf Müller zu warten. Aber als dann die Tür ging, war es Holt, der ins Zimmer trat. Er blieb wie ein Fremder nahe der Tür stehen. Er sah ungepflegt aus. Er sagte: „Guten Abend!“ Er verzog den Mund. Da sitzen sie, dachte er. Tatsächlich ist wieder dieser 43
Schneidereit im Haus! Holt nahm endlich die Mütze ab und gab allen die Hand. Hat sich der Maurer wieder neben Gundel gesetzt, auf meinen Stuhl, dachte er. Professor Holt fragte: „Du warst an der Luft?“ Dann wandte er sich an Frau Thomas: „überlegen Sie doch mal, wo wir für Werner einen Wintermantel auftreiben.“ „Werner könnte sich einen Schnupfen holen“, meinte Holt. Und zu Gundel: „Ich konnte nicht wissen, daß du mich heute besuchst, sonst wär ich natürlich nicht an der Luft gewesen.“ „Besuchst?“ sagte Schneidereit. „Wissen Sie denn nichts von Gundels Umzug?“ Holt schwieg sekundenlang; er hatte dabei deutlich das Empfinden, zu treiben, in diese Antwort hinein: „Nein... weiß nichts davon...“ Und nun sagte er Schneidereit ins Gesicht: „Aber das macht nichts. Sie wissen von Gundel ja auch nicht alles.“ In diesem Augenblick trat Müller ins Zimmer. „Nanu!“ sagte er. Die gesteppte Joppe über dem Arm und mit der Rechten den grauen Schal vom Hals lösend, so musterte er verwundert die Gesichter. „Was ich noch sagen wollte...“ begann er rasch. „Sie haben doch nicht etwa mit dem Essen auf mich gewartet?“ Kein Tischgespräch kam zustande, nur Müller erzählte von Blohms Eisenbahnbau. Holt hob den Löffel mechanisch zum Mund. Später saß er stumm und mit krummem Rücken. Er hatte Gundel weit mehr als Schneidereit gekränkt. Er hatte das nicht gewollt. Er ging bald hinüber in seine Mansarde und warf sich auf sein Bett. Laboratorien, Werkstätten, Buchhaltung und Blohms Bauabteilung waren provisorisch in Baracken untergebracht. Hier, im Herzen des Werkes, in einem kleinen Zimmer mit mehreren Telefonen auf dem Schreibtisch und einem Lageplan des Werkes an der Wand, wo Müller den größten Teil seiner Arbeitszeit verbrachte, saßen Müller und Schneidereit einander am Schachbrett gegenüber. Schneidereit hatte Weiß gezogen. Sie stellten die Figuren auf. „Hat es vorhin was gegeben, mit dir und Werner Holt?“ fragte Müller unvermittelt.
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Schneidereit schüttelte den Kopf, aber dann sagte er: „Der Holt war unverschämt zu Gundel. Ohne allen Grund.“ „Ohne allen Grund!“ wiederholte Müller. Er rückte seine Steine auf den Feldern mit pedantischer Sorgfalt zurecht. „Sag mir deine Meinung zu Werner Holt.“ Schneidereit blieb lange unbeweglich, das Kinn in die Fäuste gestützt. Holt hatte Gundel gekränkt, und wer Gundel kränkte, der bekam es mit Schneidereit zu tun! Gundel brauchte jemanden, der ihr beistand und einem Bürschlein wie Holt notfalls auf die Pfoten schlug! Schneidereit kniff die Augen zusammen. Was sollte diese alberne Anspielung überhaupt bedeuten? Holt mochte sich vorsehen. „Ich will nichts mit ihm zu schaffen haben“, sagte Schneidereit. Müller nickte. „Wir wollen erst mal eine Partie riskieren“, sagte er. „Weiß zieht und gewinnt.“ Schneidereit begann mit dem Doppelschritt des Königsbauern. Müller tat desgleichen. Schneidereit hatte weitreichende Offensivpläne: der Damenspringer, irgendwohin, also aufs Randfeld entwickelt, sollte den Angriff vortragen; sollte, sobald die schwarze Königin ihren Platz verlassen hatte, in den gegnerischen Damenflügel einbrechen, dort unter gleichzeitigem Schachgebot den Turm angreifen und nehmen und damit Furcht und Entsetzen in den feindlichen Reihen verbreiten. Müller war auf einen so ungestümen Angriff nicht gefaßt, denn er beachtete seinen gefährdeten Damenflügel ja gar nicht und zog den Königsspringer. Schneidereit rückte näher an den Schreibtisch heran. Ungeduldig überschaute er das Mosaik der Felder. Daß sein Bauer in der Brettmitte nun ungedeckt im Angriff des schwarzen Königsspringers stand, das paßte ihm gar nicht. Er gönnte Müller so billigen Bauerngewinn nicht, nur deshalb, und ohne weitere Überlegung, ließ er den Bauern, der vor dem Königsläufer stand, zur Deckung einen Schritt nach vorn marschieren; damit hatte er gleichzeitig etwas für den bekannten Grundsatz getan, daß man über dem Angriff nicht die Sicherheit der eigenen Stellung vernachlässigen soll. Müller quittierte diesen Zug mit einem Kopfschütteln und schlug mit seinem Springer den gedeckten weißen 45
Königsbauern. Schneidereit revanchierte sich und heimste ein Rössel für einen Bauern ein. Dann gab er Müller das Kopfschütteln zurück. Müller kam Schneidereits Offensivplan buchstäblich entgegen, er leistete dem Damenspringer Schützenhilfe: er zog seine Königin. Nun stand sie am rechten Brettrand, groß und einsam. Schlagen! war Schneidereits einziger Gedanke. Aber da sah er Müllers Dame auf der offenen Diagonale des weißen Königs! Müller fand es offenbar unter seiner Würde, „Schach“ zu sagen. Und auf einmal sah Schneidereit alles, sah die ganze Teufelei. Und sah die Katastrophe auf sich zukommen. Vier Züge waren gespielt, und schon nahte das Ende. „Gib auf“, sagte Müller. „Aufgeben?“ rief Schneidereit und beugte sich nur verbissener übers Brett. Er konnte sich mit diesem Ende nicht abfinden; im Schach verlief ja doch immer alles anders als vorhergesehen. Vielleicht kam er doch noch mit seinem Damenspringer zum Angriff! Jetzt war ihm allerdings nur ein einziger Zug geblieben, der aus dem Schach herausführte, ein Bauernzug. Aber da fiel schon sein Zentrumsbauer mit neuerlichem Schach. Schneidereit versuchte das Blatt zu wenden und beging nun einen Fehler nach dem anderen, während die schwarze Dame in seiner Stellung ein Gemetzel anrichtete, für dessen Komik er freilich kein Empfinden hatte. Zur Dame gesellte sich noch ein Läufer. „Matt“, sagte Müller. „Revanche!“ stieß Schneidereit hervor. Diesmal führte Müller die weißen Steine, und er brauchte acht Züge bis zum neuerlichen Matt, aber verloren war die Partie für den Schwarzen schon nach vier Zügen. Schneidereit meinte: „Kunststück, du spielst viel, viel besser als ich.“ „Ich habe auch schon andere Gegner als dich geschlagen“, entgegnete Müller und legte die Figuren in den Kasten zurück. Schneidereit verlangte ungeduldig: „Wir stellen die Figuren erst noch mal auf, und du erklärst mir, was ich falsch gemacht habe!“ „Alles!“ antwortete Müller und klappte den Kasten zu. „Verträgst du die Wahrheit? Gut.“
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Schneidereit hörte wortlos zu. Dann erhob er sich und schritt in dem kleinen Zimmer auf und ab. „Du fühlst dich als großer und gefährlicher Spieler und hast dabei überhaupt keine Ahnung vom Schach“, sagte Müller, in den Stuhl zurückgelehnt und den kalten Zigarrenstummel zwischen den Lippen. „Du ziehst die Steine wie ein Kind, das ,Mensch, ärger dich nicht' spielt. Du bist nicht verpflichtet, ein wirklicher Schachspieler zu sein, aber du setzt dich ans Brett wie ein Großmeister, schiebst die Steine bedenkenlos über die Felder und bildest dir dabei noch ein, klug und originell zu kombinieren. Und wenn du dann durch deine Unfähigkeit in die Katastrophe hineingerannt bist, dann versuchst du's mit Gewalt und gehst dabei nur um so sicherer unter.“ Schneidereit beendete seine Wanderung durch das Zimmer. „Das ist eine vernichtende Kritik“, sagte er. „Was soll ich tun?“ „Aufhören, Schach zu spielen“, entgegnete Müller. „Spiel meinetwegen Domino, wenn du Langeweile hast, aber nicht Schach. Schach ist ein Modell der Welt und zugleich die Hohe Schule der Dialektik.“ „Und wenn ich nicht aufhören will?“ fragte Schneidereit. „Dann lerne!“ antwortete Müller. Er verstaute bedächtig Brett und Figuren in seiner Aktentasche. „Es gibt Bücher, ich werde dir eins besorgen. Aber lerne nicht auswendig, sondern versuche zu begreifen. Warum gründest du nicht einen Schachzirkel in eurer Jugendgruppe?“ Er band bedächtig den grauen Schal um. Schneidereit nahm die Joppe vom Haken, um Müller behilflich zu sein. „Wer heute nicht nur pfuschen will“, sagte Müller, „der muß nämlich ein Mindestmaß an Theorie beherrschen.“ Schneidereit stand unbeweglich, Müllers Joppe in den Händen. „Das kenn ich doch“, sagte er nachdenklich. „Das hab ich doch von meinem Vater gehört! ,Ohne revolutionäre Theorie keine revolutionäre Praxis'...“ „Jetzt“, sagte Müller, und er hatte viele kleine Fältchen in den Augenwinkeln, „ist der Blitz des Gedankens gründlich bei dir eingeschlagen.“
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Schneidereit ging wieder im Zimmer auf und ab, und Müllers Joppe nahm er auf diese Wanderung mit. „Sag mir mal ehrlich: warum wolltest du mit mir Schach spielen?“ „Ich wußte nicht viel von dir“, sagte Müller. „Jetzt weiß ich schon einiges mehr.“ „Von mir als Schachspieler?“ fragte Schneidereit. „Oder von mir als Genosse?“ „Was ist das für eine Frage!“ sagte Müller. Er setzte sich wieder. „Du bist doch immer derselbe! Meinst du, im Leben, in der Politik bist du anders als im Schach? Du bist ohne Kenntnisse, ohne echte Überlegenheit, dafür unbesonnen und draufgängerisch.“ Schneidereits Gesicht verfinsterte sich. Müller fragte: „Und wie war das neulich, in der Versammlung bei den Sozialdemokraten?“ „Hör mal zu!“ sagte Schneidereit. „Das wichtigste ist jetzt die Frage der Arbeitereinheit! Und da steht so ein Sozi auf, so ein Kompromißler, der die ganze Hitlerzeit hinterm Ofen gesessen hat, und der fängt an: nicht von links überfahren lassen...“ Schneidereit sagte heftig: „Da muß man doch mal mit der Faust...“ „Nein!“ sagte Müller. „Da muß man nicht mit der Faust.“ Müller sah angestrengt aus. Er hatte mit Atemnot zu kämpfen, öffnete das Jackett und den Hemdkragen, saß zusammengesunken, sprach aber weiter, stockend: „Ein Faustschlag ist immer nur das letzte und niemals das beste Argument. Heute und hier, unter Klassengenossen, sind Faustschläge das Eingeständnis von Schwäche und Unklarheit. Das wirst du gefälligst einsehen, Genosse Schneidereit!“ Auf Müllers Stirn stand kalter Schweiß. „Und diesen Schwätzer, damals“, fuhr er fort, „den hätten die Sozialdemokraten ganz allein abgefertigt, und das wäre besser gewesen als dein Geschrei.“ Er schwieg. Die Atembeschwerden ließen nach. Er holte das Taschentuch hervor und trocknete sich umständlich Kinn und Nacken ab. „Und von wegen Sozi! Gewöhn dir rasch eine andere Haltung an! Hast du keinen von denen bei dir in der Zelle gehabt? Also!“ 48
„Unter Klassengenossen stimmt es, was du sagst“, erwiderte Schneidereit. „Aber du bist auch unzufrieden mit mir, weil ich den Bernhard nicht riechen kann! Dieser Bernhard, oder nimm den Holt, das sind Bourgeois. Sag bloß, ich soll mit meinen Feinden friedlich diskutieren.“ Er blieb vor dem Schreibtisch stehen. „Hast du vergessen, was sie der Welt angetan haben? Figuren wie dieser Holt, die haben es geduldet und gutgeheißen, daß die Massen mit Terror niedergehalten wurden! Die revolutionären Massen hätten den Hitlerspuk weggefegt und uns aus dem Zuchthaus und aus den Lagern herausgeholt, wenn Gestalten wie dieser Holt nicht gewesen wären!“ Müller schloß die Augen. Ein Schwächeanfall trieb ihm von neuem den Schweiß auf die Stirn. „Den Traum hab ich auch geträumt“, sagte er leise, „... den Traum vom Volkszorn, der die Kerkermauern sprengt.“ Er schwieg, er richtete sich auf. „Nicht nur geträumt“, sagte er. „Ich habe gekämpft, das Feuer anzufachen, und ich habe den Kampf nie aufgegeben.“ Wieder schwieg er. Gedankenvoll sah er auf Schneidereit. „Du sprichst vom Feind“, fuhr er fort. „Du meinst den Faschismus, die Bourgeoisie. Aber wir haben viele Feinde, auch in uns selbst. Merke dir: Wir wollen die gewohnte Welt umgestalten. Aber zur gewohnten Welt gehört auch die Welt der Gewohnheiten in der eigenen Brust.“ Und noch langsamer als sonst sprach er weiter: „Wir Kommunisten kennen das Gesetz der Geschichte. Wir dürfen nie blind werden für die Einsicht, daß der Weg des Gesetzes durch die Geschichte Widerspruch heißt. Solche Blindheit ist der Todfeind in der eigenen Brust.“ Er sah Schneidereit sekundenlang in die Augen. Dann fuhr er ruhig, in üblichem Ton fort: „Die uns aus dem Kerker hätten herausholen wollen, die waren selber drin, und die nicht drin waren, die dachten nicht daran, uns herauszuholen, die waren fast alle betäubt vom Gift und besoffen von Lüge und Angst. Die Massen waren blutig unterdrückt, wie du sagst, aber viele Menschen wußten es nicht! Denn die Menschen haben nicht nur im Faschismus gelebt, sondern der Faschismus lebte auch in den Menschen. Wir müssen jetzt die Freiheit und uns selbst 49
den Menschen verständlich machen. Und unser Feind“, sagte er und klopfte mit den Knöcheln der Faust auf den Schreibtisch, „nicht der ist unser Feind, der uns und die Freiheit heute noch nicht versteht, sondern derjenige, der uns daran hindern will, daß wir uns und die Freiheit verständlich machen, oder der uns dabei gar entgegenarbeitet.“ „Und Bernhard?“ fragte Schneidereit. „Und Holt?“ Müller zog sich endlich die Joppe über. „Schwer zu sagen“, antwortete er. „Bernhard arbeitet, für einen wirklichen Feind ist mir sein Gemecker zu offen, doch ob er durchhält... Ich weiß nicht. Und Werner Holt, der ist verdreht und läßt sich gehen. Er ist überhaupt ganz nach dem nationalen Standard. Du mußt dich um ihn bemühen. Menschen wie Holt gibt es in Hülle und Fülle, wir müssen sie gewinnen, und dazu ist eure Jugendgruppe da.“ Vor der Baracke sagte Schneidereit: „Ich bring dich noch ein Stück.“ Es war kalt und naß. Der Herbstwind fegte die Straße entlang. Schneidereit fragte: „Wie weit seid ihr mit dem Automaten?“ „Die Schlosser haben noch eine Weile zu basteln“, antwortete Müller. „Eine komplizierte Maschine liegt nicht ungestraft ein halbes Jahr unterm Schutt.“ „So eine Maschine ist schon was Großartiges!“ sagte Schneidereit. „In meinem Beruf gibt's viel zuwenig Maschinen!“ An der Ecke blieben sie stehen. Müller fragte unvermittelt: „Sag mal, fällt dir nichts auf an mir?“ Schneidereit überlegte: Müller war heute wie immer gewesen, kurzatmig und verfallen. „Siehst du!“ rief Müller zufrieden. „Du hast es also auch gemerkt, daß ich viel gesünder aussehe! Das kommt daher, daß mich jetzt der Professor behandelt.“ Den Zigarrenstummel im Mund, den Kopf in den Nacken gelegt, so sah er sekundenlang in den nächtlichen Himmel. „Du mußt das im Zusammenhang sehen! Die anderen Ärzte, diese Pfuscher, haben mich mit Digitalis geplagt oder ins Bett stecken wollen! Der Professor weiß viel besser, was für mich richtig ist. Er behandelt mich jetzt mit Vitaminspritzen, die bekommen mir großartig!“ Er gab Schneidereit die Hand. „Du wirst es sehen: Der Professor bringt den Müller über den Winter!“ 50
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Als
Holt sich wegen der grundlosen Kränkung bei Gundel entschuldigen wollte, machte sie es ihm leicht und ging gar nicht darauf ein. Sie erzählte von ihrem Werbeabend. „Wir haben jetzt ein Programm, aber wir finden keinen passenden Saal!“ Hier sah Holt eine Möglichkeit, Gundel gefällig zu sein. In der Schule hatte der Städtische Jugendausschuß Schülergruppen ins Leben gerufen, und Gottesknecht war eine Art Verbindungsmann. „Wenn sie die Aula haben wollen, müssen wir Ebersbach fragen“, sagte Gottesknecht. Er hielt Holt am Ärmel fest. „Warum besuchen Sie mich nicht? Sie gehn mir doch aus dem Weg! Was ist mit Ihnen los?“ „Nichts“, sagte Holt. „Höchstens, daß ich beim besten Willen nicht mit dem Unterricht fertig werde. Ich hab ja keine Ahnung mehr!“ „Sie sind ein ganz wankelmütiger Mensch!“ sagte Gottesknecht. „Meinen Sie, Ihren Mitschülern geht es anders? Na also! Und jetzt ziehn Sie ein anderes Gesicht, und schicken Sie mir die jungen Leute mal her!“ So wurde Gottesknecht mit Gundel und Schneidereit bekannt. Nachdem er mit Ebersbach gesprochen hatte, sagte er zu ihnen: „Also probieren Sie in der Aula, und kommen Sie ruhig wieder zu mir, vielleicht kann ich Ihnen ein bißchen helfen.“ Am nächsten Sonntag, schon im November, traf man sich dann zur ersten Probe vor der Baracke, die Schneidereit hartnäckig Jugendheim nannte. Er hielt nach Gundel Ausschau; dabei stolperte er über Hoffmanns Krücken. Hoffmann saß auf dem verkohlten Bauholzstapel mitten im Schmutz. „Nimm doch die Krücken weg!“ sagte Schneidereit. „Und mußt du dich ausgerechnet in den nassen Brandschutt setzen?“ „Wenn dir das bißchen Dreck an meinem Hintern nicht paßt“, erhielt er zur Antwort, „da mußte eben zu feinern Leuten gehn.“ Diese Antwort ärgerte Schneidereit. Aber da er nun Gundel entdeckte und feststellte, daß sie allein war, schluckte er den 51
Ärger hinunter. „Wir probieren auf einer Bühne, in der Schule am Grünplatz.“ „Ach, du ahnst es nicht!“ sagte Hoffmann und raffte seine Krücken auf. „Das ist ja meine Penne!“ Und er brannte sich eine seiner dünnen, selbstgefertigten Zigarren an. Gundel trug heute, weil Sonntag war, statt des schwarzen ein rotes Band im Haar. „Hast du dich eingelebt im neuen Zimmer?“ fragte Schneidereit. Sie fragte zurück: „Was man die erste Nacht unterm neuen Dach träumt, geht das wirklich in Erfüllung?“ „Wie kannst du so etwas sagen!“ rief Schneidereit. „Das ist Aberglaube! Marxisten sind doch nicht abergläubisch!“ „Schade“, sagte Gundel. „Wieso? Was hast du denn geträumt?“ forschte Schneidereit. „Ach, nichts“, antwortete sie. „Wenn es Aberglaube ist und sowieso nicht in Erfüllung geht...“ „Sag's doch!“ verlangte Schneidereit. „Sieh mal, vielleicht... kann man's wissen, ob es nicht doch...“ Aber Gundel schüttelte nur den Kopf. In der Schule wartete der Hausmeister vor der Tür, verbittert, so viele schulfremde Personen einlassen zu müssen. „In vollster Ordnung!“ befahl er. „Zu zweien an den Händen fassen! In Reih und Glied antreten!“ Hoffmann schob sich durch den Windfang, dann hängte er sich vor dem Hausmeister zwischen seine Krücken. „Seh ich nach Reih und Glied aus, seh ich so aus?“ Und er stelzte durch die Flügeltür, gefolgt von den anderen. Die Aula war dunkel getäfelt, feierlich, zwei Stockwerke hoch. An der Rückwand zog sich ein Balkon entlang und lief an der linken Seite als Galerie weiter. Auf der Bühne sollte sich nun zeigen, was das Programm in Wahrheit taugte. Schneidereit setzte sich mit Gundel im Zuschauerraum in die erste Stuhlreihe und holte seine Papiere hervor. Jemand zog den Vorhang auf: dahinter gab es einen silbergrauen, durchsichtigen Zwischenvorhang, durch den man die Bühne wie im Nebel sah. „Wir fangen an!“ sagte Schneidereit.
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Aber er wurde unterbrochen. Eine der Saaltüren öffnete sich. Holt trat ein, sah sich suchend um, ging dann geradewegs zu Gundel und Schneidereit hin. Er hatte in seiner Mansarde gesessen, hatte sich wieder nicht aufraffen können, seine Schularbeiten vorzunehmen, und ein Gedanke hatte ihm keine Ruhe gelassen, daß Gundel zur selben Stunde wieder mit Schneidereit beisammen war. So war er schließlich zum Schulhaus gegangen, bedrückt durch die Aussicht, dort mit Schneidereit zusammenzutreffen. Immer und überall dieser Schneidereit! Vor Schneidereit wich er nicht zurück, überließ ihm Gundel nie und nimmer! Als er merkte, daß Gundel sich über sein Kommen freute, gab er sich unbefangen und reichte auch Schneidereit die Hand. Dann setzte er sich in die zweite Stuhlreihe, hinter Gundel und Schneidereit, ohne die Mütze abzunehmen. Schneidereit hatte die Beine übereinandergeschlagen und hielt seine Aufzeichnungen auf den Knien. Er sah mißmutig aus. „Teil zwei!“ sagte er. „Los, der Chor!“ Gundel ging mit auf die Bühne. Holt ließ kein Auge von ihr. Er fand, die Bezeichnung Chor war Hochstapelei. Auf der viel zu großen Bühne standen zehn, zwölf junge Leute, es klang falsch und dünn. Lächerlich! dachte Holt. Merkt das denn dieser Schneidereit nicht? Schneidereit hatte eine tiefe Sorgenfalte auf der Stirn. Er winkte Gundel von der Bühne. „Hör dir's mal von hier aus an! Noch mal!“ Gundel und Schneidereit wechselten einen Blick. Hoffmann hatte sich in die hinterste Ecke verkrochen, nun humpelte er mit seinen Krücken den Mittelgang entlang. „Ich war zwar bloß Oberschnäpser“, sagte er, „aber das klingt ganz schauderhaft!“ Nun standen alle im Halbkreis vor Schneidereit. Gundel wendete den Kopf zu Holt. „Werner, sag mal, wie du das findest.“ „Völlig unmöglich!“ sagte Holt. Schneidereit fuhr herum. „Unmöglich... Wenn ich das schon höre, das macht mich krank!“ „Entschuldigen Sie“, sagte Holt. „Ich dachte, man kann hier offen seine Meinung äußern!“ Er lehnte sich zurück, er fügte
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hinzu, mit Ironie: „Weil Sie damals abends so fleißig von Demokratie geredet haben!“ „Herr Müller besorgt uns ein Schifferklavier“, sagte Gunde! schnell. „Dann hört es sich bestimmt besser an.“ Schneidereit winkte ab. Er machte sich nichts vor, er spürte Holts Blick in seinem Nacken. „Weiter!“ Wie nun auf der Bühne Heines Weber-Gedicht dahergestammelt wurde, das war zum Davonlaufen. „Weiter!“ Schneidereit hakte die nächste Nummer ab: Jemand sang Spanienlieder, natürlich imitierte er Busch und kippte dabei mit der Stimme um. „Weiter! Jetzt der Volkstanz.“ Die Jungen pfiffen einstweilen die Melodie, die das Schifferklavier übernehmen sollte. Vier Paare drehten sich auf der Bühne. Lächerlich! dachte Holt wieder. Und die Sorgenfalte auf Schneidereits Stirn vertiefte sich. Das war kein Programm, das konnte niemanden überzeugen. Gundel war in Nachdenken versunken, ihre Schneidezähne bissen auf die Unterlippe. Schneidereit drehte sich zu Holt herum; es kostete ihn Überwindung, aber er fragte freundlich: „Und was sagst... sagen Sie dazu?“ „Hübsch, ganz wunderhübsch!“ sagte Holt. „Das wollen Sie doch hören, nicht wahr?“ Schneidereit sprang auf, daß sein Stuhl umstürzte. Auch Holt sprang auf. Schneidereit, nach einer Sekunde, bückte sich nach seinem Stuhl, knallte ihn aufs Parkett und setzte sich wieder. Gundel faßte besänftigend seinen Arm und richtete ihren Blick auf Holt. Holt hob den Arm, als wolle er sich über die Stirn wischen, aber er zog den Mützenschirm tiefer ins Gesicht, und der Anblick dieses Bildes grub sich in ihn ein: wie Gundel neben Schneidereit saß, die Hand auf seinem Arm, und wie sie zu ihm gehörte, ja, zu Schneidereit. Er schob die Stühle beiseite und verließ die Aula. Er überquerte den Grünplatz. Die Wege waren von buntem Laub bedeckt. Die Hände in den Hosentaschen, das Kinn auf der Brust, so ging er langsam, immer langsamer, bis er stehenblieb. Er scharrte mit dem Fuß im raschelnden Laub. Welk, alles welk und verwelkt. Was ihm jemals lieb und wert gewesen war, er hatte es verloren, hatte es verlieren müssen. Nun sah er 54
Gundels Gesicht, ihr Lächeln, ihren Blick. Das einzige, was ihm geblieben und teuer war: er war im Begriff, auch dies noch zu verlieren. Im Weitergehen überdachte er die Menschen, die ihn umgaben, überdachte sein derzeitiges Leben, das er nicht begriff. „Mit Blindheit geschlagen“, sagte er laut. Dann stand er an der Haltestelle der Straßenbahn. Als ein Wagen vor ihm hielt, zwängte er sich auf die überfüllte Plattform und fuhr zu Gottesknecht. Schneidereit entspannte sich erst, als hinter Holt die Tür ins Schloß gefallen war. „Machen wir also weiter“, sagte er. „Teil eins.“ Er merkte, wie betroffen Gundel war. „Paß jetzt auf!“ sagte er bittend, „über den Holt reden wir später!“ Thema Arbeitereinheit. Schneidereit hatte ein zündendes Referat vorgeschwebt, aber Gundel hatte sich dagegen gesträubt. „Werbeabend und Referat, das verträgt sich nicht.“ Man hatte schließlich abgestimmt, und zur Freude Hoffmanns war es geschehen, daß man Schneidereit niedergestimmt hatte. Er hatte verblüfft gesagt: „Also gut, dann eben anders. Aber wie? Was sagt ihr zu einem Laienspiel?“ Einverstanden. Doch wo sollte man das hernehmen? „Hernehmen?“ hatte Schneidereit gefragt. „Das machen wir alles selber!“ Dann hatte er nächtelang mit verkrampften Fingern aufgeschrieben, was nun auf der Bühne probeweise in Szene ging. Arbeitspause. Es sollten Maurer sein, die sich unterhielten. „Diese Zerstörungen...“, sagte der eine. „Nun, Kollegen“, fragte der andere, „wie konnte das passieren?“ - „Steht doch nicht so krampfig herum, verdammt!“ rief Schneidereit. Es nützte nichts, man wußte auf der Bühne mit den Händen nichts anzufangen. „Seht ihr, Kollegen“, so ging es weiter, „wenn wir damals einig gewesen wären...“ - und nun wurde doch das Referat gehalten. „Schluß!“ rief Schneidereit. „Schluß! Aufhören!“ In diesem Augenblick schlurfte auf gelben Filzschuhen jemand zu ihnen her, der schon geraume Zeit unbemerkt an der Tür gewartet hatte, umweht von den Qualmwolken einer krummen Pfeife: der alte Ebersbach. Gundel erhob sich. Ebersbach nahm die Pfeife aus dem Mund, nannte seinen Namen, er klang wie 55
„Äwerschbach“. „Ihr seid mir ja komische Vögel!“ Er tippte mit dem Pfeifenmundstück Schneidereit an die Brust. „Von der äußersten Linken, was? Ich denke, die Kommune ist für die Arbeitereinheit?“ Er wies mit dem Pfeifenrohr nach der Bühne und sagte feixend: „Das war das Stärkste, was ihr gegen die Vereinigung unternehmen könnt!“ Gundel erwiderte: „Sie dürfen sich nicht über uns lustig machen!“ Ebersbach beugte sich zu ihr herab und sagte: „Ei gucke da!“ Dann hob er ihr mit der Linken das Kinn und erklärte: „Du bist aber niedlich! Komm, sei still, du bist wirklich niedlich! Geh du doch auf die Bühne und sag das den Leuten, dir glauben die doch alles, was du sagst.“ Schneidereit wandte sich ab, einen belustigten Zug um den Mund. Er packte seine Papiere ein. „Sonnabend wie üblich zum Schippen... Und Mittwoch abend probieren wir wieder im Jugendheim!“ „Du bist wohl eingeschnappt?“ fragte Ebersbach. „Komm, sei still! Hier im Saal macht's euch doch viel mehr Freude.“ Er schlurfte neben ihnen zur Tür und brummelte: „Ich hab ganz gerne mal solche komischen Vögel im Haus!“ Dann rief er ihnen nach: „Die Schulgruppe hier, die würde das vielleicht besser hinkriegen, aber die sind ja dämlich, die kommen gar nicht auf solche Ideen!“ Schneidereit führte Gundel in ein Cafe, in ein notdürftig ausgebautes Lokal im Erdgeschoß einer Brandruine. Hier saßen sie an einem der runden Marmortische, im Licht der Petroleumlampe, die über der Theke hing. Sie waren die einzigen Gäste. „Jedenfalls wissen wir jetzt, daß es so nicht geht“, sagte Schneidereit. „Aber der Abend findet statt, daran gibt's gar keinen Zweifel.“ Er sagte das etwas zerstreut. Die Serviererin stellte eine brennende Kerze auf den Tisch. Schneidereit be stellte ein Bier und ein Heißgetränk. Dann fragte er: „Wie findest du den Ebersbach?“ Und fragte ohne Übergang: „Was hat der Holt eigentlich damals gemeint, von wegen ich wüßte nicht alles von dir?“
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Die Serviererin wischte den Tisch ab und trug dann umständlich die Getränke auf. Als sie endlich verschwunden war, sah Schneidereit prüfend auf Gundel, nahm einen Schluck Bier und sagte: „Also gut. Bleiben wir bei dem Werbeabend. Was überlegst du eigentlich die ganze Zeit?“ Gundel antwortete nicht. Sie löste das rote Band und hielt es mit den Zähnen, und ehe sie es wieder um den Kopf wand, strich sie von den Schläfen her das Haar in den Nacken. „Ich überlege, woran es liegt“, sagte sie, „ich glaube, weil das Programm nicht wahr ist, deswegen überzeugt es nicht.“ Und lebhafter: „Ich weiß schon, was ich sagen will, ich kann es bloß nicht richtig ausdrücken. Wir wollen junge Leute werben, mit allerhand Sachen, die wir ohne sie gar nicht zustande bringen.“ „Sollen wir erklären, wir können leider nichts zeigen, weil die Leute im Saal nicht mitmachen?“ „Nicht bloß so erklären“, entgegnete Gundel. „Stell dir vor, wir spielen auf der Bühne einen Heimabend. Da hat jemand Lust zum Volkstanz, aber weil wir zu wenige sind, wird's nichts.“ „Oder einer will Schach spielen“, sagte Schneidereit, und er hatte begriffen, „aber er findet keinen Gegner...“ „Dabei sitzen sicherlich genug Schachspieler im Saal“, sagte Gundel. „Verstehst du mich jetzt? Wir singen ein bißchen, und laß es ruhig scheußlich klingen, sollen sie im Saal doch lachen! Dann spricht einer zu den Leuten: Es ist nicht recht, daß Sie lachen, merken Sie denn nicht, daß wir zu wenige sind und niemanden haben, der ein Lied einstudieren kann? Und wer den Text kennt, der muß gleich hochkommen und mitsingen... Vielleicht kommen ein paar hoch, dann klingt es bestimmt schon besser, und so verstehen die Leute am ehesten, daß wir sie brauchen!“ Schneidereit dachte lange nach. „Und wenn keiner hochkommt?“ Gundel schlug vor: „Wir können ein paar von uns unter die Zuschauer setzen, mit denen wir das verabreden. Die machen den Anfang.“ „Wir sind zu wenige“, entgegnete Schneidereit.
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Gundel sagte: „Dieser Herr Ebersbach, du, das ist ein ulkiger Mensch. Wenn seine Schulgruppe das wirklich besser kann, dann sollen die doch mitmachen!“ Schneidereit sagte nichts mehr. Er sah in die Kerzenflamme, sah den vollen Saal, und Gundel trat an die Rampe, und am Ende spielte der ganze Saal mit. Schneidereit lehnte Sich zurück, er vertiefte sich in Gundels Anblick, langsam schwand alle Härte aus seinem Gesicht. „Vor ein paar Tagen“, sagte er versonnen, „als ich die ,Schlesischen Weber' herausgesucht hab aus einem Buch von Heine, da hab ich noch manches andere gelesen. Ich wußte gar nicht, daß es so was Schönes gibt. Eins hab ich immer wieder lesen müssen und hab dabei an dich gedacht: ,Du bist wie eine Blume, so hold und schön und rein...'“ Sie neigte den Kopf zu ihm hin: „Und wie geht's weiter?“ „,Ich schau dich an'...“, sagte er, kaum hörbar, „... ,und Wehmut schleicht mir ins Herz hinein'...“ Sie bewegte die Lippen, sie wiederholte für sich die Verse. Dann versuchte sie zu lächeln, aber das Lächeln erlosch unter seinem Blick. Ihre Stimme war brüchig. „Was Werner neulich gemeint hat“, sagte sie, „vielleicht, daß du nicht weißt, ich kenne ihn von früher her, als ich noch im Pflichtjahr war, und ich bin nur wegen Werner zum Professor gekommen... weil ich ihm damals versprochen hab, ich warte auf ihn, bis er zurückkommt aus dem Krieg.“ Schneidereit wischte sich mit beiden Händen übers Gesicht. „Also gut. Wir lassen uns das Programm durch den Kopf gehn. Wir haben bis Mittwoch Zeit. Und was wird aus meinem Laienspiel?“ Sie sagte bittend: „Horst, ich wollte dir nicht weh tun!“ „Weh tun...“, stieß er hervor, verächtlich, und beugte sich zu Gundel hin. „Du tust mir nicht weh, nein...“ Er lachte. „Ich bin aus anderem Holz als dein Werner!“ Und nur noch mühsam beherrscht: „Da kann ich bloß sagen, da hast du was Feines fertiggebracht, hast einem Faschisten versprochen, auf ihn zu warten, aber an deine Eltern hast du nicht gedacht!“
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Sie stand auf. Sie war blaß. Ein paar Sekunden stand sie unbeweglich, dann setzte sie sich wieder. Mit einer Kopfbewegung warf sie das Haar zurück. „Ich hab das nicht gehört“, sagte sie, „sonst müßte ich gehen, aber ich hab's nicht gehört, weil ich dich kenne und weil ich dich verstehe.“ Ihr Stolz brach zusammen. Sie kämpfte mit den Tränen. „Du hast mir bitter unrecht getan!“ rief sie. „Sieh das ein, Horst! Denk drüber nach, denn du mußt es einsehen!“ Er setzte zum Sprechen an, er fand nicht die Worte, die er suchte, und dann faßte er ihre Hände. „Ich weiß“, sagte er. „Aber es ist so schwer, es ist so verdammt schwer! Ich bin vor Haß fast erstickt in der Zelle, bin fast gestorben vor Sehnsucht nach Freiheit... Ich war siebzehn, achtzehn Jahre alt... Und ich will und ich kann nicht begreifen, daß draußen unterdessen gelebt worden ist, vielleicht sogar gelacht... und daß junge Leute, so alt wie ich, daß sie unterdessen spazierengegangen sind und sich versprochen haben, aufeinander zu warten... Ich begreif's nicht!“ rief er. „Und wir? Hat denn keiner an uns gedacht?“ Gundel befreite ihre Hände, strich über seine Fäuste, daß sie sich entspannten, und gab ihre Hände wieder in die seinen; so saßen sie lange ohne ein Wort. Gottesknecht war ausgebombt; er bewohnte nun mit seiner Frau anderthalb Zimmer unter dem Dach eines Reihenhäuschens in der Südvorstadt, nahe dem Wald. Holt blickte über die Hänge, die dichter bewaldet allmählich zum Gebirge hin anstiegen. Dort drüben lag Hohenhorst. Er dachte flüchtig an Karola Bernhard. Gottesknecht empfing ihn freudig, in einer Hausjacke, die aus einer Schlafdecke geschneidert und überall mit grüner Kordel besetzt war. „Daß Sie mich besuchen“, sagte er, „dafür gibt's Sehr gut, da haben Sie mir eine Riesenfreude gemacht!“ Sein Arbeitsraum war winzig und dürftig möbliert: ein paar Regale voller Bücher, ein uraltes Sofa, ein Klubtisch, ein hölzerner Hocker. Gottesknecht räumte den Klubtisch ab und verstaute einen Stapel Hefte, ein Faß roter Tinte, in einem freien Fach zwischen den Büchern. Frau Gottesknecht brachte 59
Tee, eine Frau Anfang der Vierzig, etwas größer und vielleicht auch älter als ihr Mann; sie war Fürsorgerin bei der Stadtverwaltung. Gottesknecht schenkte Holt Tee ein, „echte chinesische Brombeerblätter“, wie er sagte. Holt rauchte eine Zigarette. „Ich bin ja nun Psychologe genug“, sagte Gottesknecht, „um zu sehen, daß Sie was auf dem Herzen haben.“ „Was denn, was hab ich auf dem Herzen?“ fragte Holt. Er sog an der Zigarette. „Nicht daß ich wüßte!“ „Schade“, sagte Gottesknecht. „Jammerschade. Aber Ihr Besuch freut mich natürlich auch, wenn Sie nichts auf dem Herzen haben.“ Er langte sich seine Pfeife und den Tabaksbeutel aus dem Regal. „Mit Ihnen stimmt etwas nicht, und ich frage mich, wozu Sie eigentlich in die Schule gehen, Sie sitzen ja bloß herum. Sie sollten sich aussprechen, Holt, das haben wir alle nötig! Aber erzählen Sie erst mal, wie es Ihnen seit den Zeiten der gottseligen Hundertsieben ergangen ist.“ Holt erzählte, zerstreut, unlustig, nur bei Gomulkas Schicksal verweilte er länger. Gottesknecht fragte: „Und jetzt, und hier?“ Holt hob die Schultern. Gottesknecht rauchte schweigend. „Ich seh schon“, sagte er dann. „Die übliche Krankheit! Man findet sich nicht zurecht. Das Leben geht weiter, auf den Straßen spazieren die Russen, und merkwürdigerweise fährt kein Blitzstrahl hernieder, und alles ist überhaupt ganz anders. Wir sind ein bißchen enttäuscht, Holt, daß die Erde nicht bebt und sich auftut...“, er nahm die Pfeife aus dem Mund, „... sondern daß wir weiterleben“, sagte er. Aber Holt hob nur wieder stumm die Schultern. „Ich weiß“, fuhr Gottesknecht fort. „Es gibt auch noch eine andere Enttäuschung: daß alles umsonst und Lüge war, daß die Feinde alle gute Kerle und die Helden von gestern Verbrecher sind. Damit werden Sie nicht fertig, ich hab doch recht, nicht wahr?“ Holt lehnte sich in das knarrende Sofa zurück. „Damit findet man sich ab“, sagte er. „Das will ich lieber nicht gehört haben!“ erwiderte Gottesknecht. „Nicht abfinden, sondern einsehen!“ Er leerte die 60
Tasse, legte die Pfeife weg und erhob sich. „Keiner weiß besser als ich, wie schwer diese Einsicht fällt, und noch schwerer ist es, danach zu handeln. Denn zwischen uns und unseren Einsichten steht so vieles: die Vergangenheit, die uns geprägt hat, die ganze menschliche Trägheit, der Egoismus und auch die Angst. Aber nach besserer Einsicht zu handeln ist heute wie gestern unser Problem.“ „Und wann haben Sie nach besserer Einsicht gehandelt?“ fragte Holt, und es klang ein wenig spöttisch. „Viel zu spät“, entgegnete Gottesknecht. „Ganz zum Schluß war ich Batteriechef, ich hatte fünfzehnjährige Jungen, Holt, nicht mehr Siebzehnjährige wie euch! Die Batterie wurde nach Osten verlegt und sollte in den Endkampf, bei den Seelower Höhen, mit den klapprigen Kanonen, ohne Richtoptik! Der Kommandeur hat mir am Telefon gesagt: ,Man kann auch übers Rohr visieren!'„ Gottesknecht rief: „übers Rohr visieren... gegen anrollende Panzer! Das war ein Todesurteil. Das konnte ich nicht vollstrecken, ich habe den Befehl verweigert. Die Feldgendarmerie war schon auf dem Weg. Da hat uns in letzter Stunde der Russe überrannt und kampflos gefangengenommen. Und in einem Lager, in der Küstriner Gegend, da hatte ich Zeit, endlich nachzudenken, was ich hatte sein wollen und was ich in Wirklichkeit gewesen war.“ „Sie waren anständig“, sagte Holt. „Sie waren uns wie ein Vater!“ Gottesknecht lächelte bitter. „Anständig...“, wiederholte er. „Gibt es denn unter einem unmenschlichen System eine andere ,menschliche Anständigkeit' als allein den Kampf gegen dieses System?“ Holt sah auf einmal müde und verfallen aus. Er dachte an Müller, an Schneidereit. „Ich bin immer nur im Strom getrieben“, sagte er. „Ich bin in das alles hineingestoßen worden, ins Leben, in den Krieg, in die Schuld. Ich versteh nicht, wie das möglich war!“ „Wir Deutschen“, sagte Gottesknecht, „wir haben immer zuviel geglaubt und zuwenig gewußt.“ „Das ist doch keine Antwort“, entgegnete Holt. „Da komm ich doch wieder mit der Frage: Warum?“ 61
Es war dunkel geworden. Gottesknecht entzündete eine Kerze, dann lehnte er nachdenklich am Regal. „Jetzt steht die alte Frage wieder auf“, sagte er wie zu sich selbst. „Die Büchner-Frage nach den Umständen, die außer uns liegen...“ „Sie wissen auch nichts!“ sagte Holt, und er spürte auf einmal etwas wie Wut im Herzen. „Sie sind zwanzig Jahre älter als ich. Aber Sie wissen nichts! Sie reden von geistiger Auseinandersetzung und gebrauchen im Unterricht andauernd das Wort Humanität. Aber wenn ich Sie frage, warum es mit mir bergab geht... Jawohl“, rief er. „Seit meinen Kindertagen unaufhaltsam bergab - dann wissen Sie nichts!“ „Wenn ein falsches Weltbild zusammenbricht“, erwiderte Gottesknecht sachlich, „dann ist das doch kein Niedergang!“ Auf einmal war Holt so ziemlich alles klar. Er war dreiunddreißig ein Kind gewesen, er mußte es auslöffeln, aber die Alten hatten es eingebrockt, und darum redeten sie tönend oder konfus um die Frage herum... „Herr Gottesknecht“, sagte er, und er stand auf, stand breitbeinig vor dem Sofa, und da er nicht wußte, wo er die Mütze lassen sollte, setzte er sie auf und schob die Hände in die Taschen. Er ließ kein Auge von Gottesknecht. Er fragte: „Haben Sie Hitler gewählt?“ „Ich...“, sagte Gottesknecht und verstummte. Schließlich beugte er sich über den Tisch und hielt den Pfeifenkopf gegen die Kerzenflamme, und sein Gesicht wurde alt und müde. „Ja“, sagte er. „Erst habe ich deutschnational gewählt, und dann seit zweiunddreißig den Hitler.“ Holt starrte Gottesknecht an, er hatte kein Ohr für die Aufrichtigkeit dieser Worte. „Hören Sie zu!“ sagte Gottesknecht. „Daß ich Hitler gewählt habe, das ist unwesentlich. Er wäre auch ohne meine Stimme Diktator geworden. Und wenn es Sie wirklich so sehr nach der Antwort auf das Warum verlangt, dann interessieren Sie sich gefälligst für die Ursachen! Ich werde Ihnen sagen, wie weit ich mit meinen Gedanken gekommen bin: das Verhängnis war, daß ich in dieser Weimarer Demokratie die Freiheit hatte, Hitler zu wählen.“ Aber Holt hörte gar nicht mehr hin. Ja, er war ein Kind gewesen, als Hitler zur Macht kam, sechs Jahre alt, mit 62
Zuckertüte und Fibel und nichts als Dornröschen im Herzen. Er hatte das Elend nicht eingerührt. Die Verantwortung war bei den Alten gewesen. Die Alten hatten Schindluder getrieben mit der Verantwortung, hatten unser Leben ihrem Größenwahn geopfert und das arme Deutschland auf den Hund gebracht! Hatten schandbar und schmählich versagt und sehenden Auges Krieg und Verbrechen gewählt. Holt steigerte sich immer tiefer in diesen erregenden Gedanken hinein: Sollte ihm keiner damit kommen, er habe das nicht gewußt und gewollt, denn das war ja alles schon vorher gedruckt zu lesen gewesen, und auch, daß man sich neuen Boden im Osten mit dem Schwert erobern müsse... Und wem die Verantwortung anvertraut ist fürs Leben der Kinder, fürs Wohl des Landes, der soll sich gefälligst umtun und seinen Verstand gebrauchen und ein bißchen hinter die Kulissen schauen und nicht phrasentrunken und verblendet zur Wahlurne taumeln! Das war die Wahrheit, und niemand wischte sie weg. Da saß er, Gottesknecht, der Vater der Batterie. Ein Narr war, wer dieser Generation noch einmal vertraute, und zehnfach ein Narr, wer sie noch einmal über sein Schicksal entscheiden ließ! „Danke“, sagte Holt. „Ich geh jetzt tatsächlich ein bißchen klüger von hier fort, als ich gekommen bin!“ Und er rückte seine Mütze zurecht und sagte höflich: „Auf Wiedersehen!“ 6
In
der Schule begegneten sich Gottesknecht und Holt weiterhin unbefangen. Aber mehrmals, während der November verstrich, nahm Gottesknecht Holt beiseite und fragte bekümmert oder ermahnend: „Holt, warum arbeiten Sie nicht mit? Sie schaffen den Anschluß nicht!“ Holt gab ausweichende Antworten. Er verschwieg, daß er den Schulbesuch als unsinnig empfand, daß ihm Unterricht und häusliche Aufgaben von Tag zu Tag fragwürdiger wurden, so fragwürdig wie sein ganzes Leben. Nur vor Arens sprach er gelegentlich aus, was er dachte. „Daß ich wieder zur Schule geh, das ist der abstruse Versuch, dort 63
anzuknüpfen, wo man vor Jahren aufgehört hat, und so zu tun, als sei dazwischen gar nichts geschehen.“ Arens hielt sich von allen Mitschülern fern, versuchte aber, sich um so enger an Holt anzuschließen. Er entgegnete: „Machen Sie es sich nicht ein bißchen zu schwer? Wir haben abzuwarten, die Zeit irgendwie hinzubringen, wir können nichts anderes tun, als uns zu beschäftigen, irgendwie.“ Und er setzte hinzu: „Der Deutsche denkt, und Stalin lenkt.“ Es war in der großen Pause. Sie schlenderten zusammen den Korridor entlang. „Ich weiß nicht, was Sie erlebt haben“, sagte Holt. „Aber sind Sie mit der Vergangenheit wirklich schon fertig?“ „Sie nicht?“ fragte Arens. „Nein“, sagte Holt. „Es gibt Dinge, an die ich gar nicht zurückdenken darf. Aber lassen wir das.“ Es klingelte, sie kehrten ins Klassenzimmer zurück. „Presseschau“, sagte Arens. „Herr Hoffmann ist dran.“ Und als er wieder auf seinem Platz hinter Holt saß, meinte er: „Diese Presseschau könnten wir uns sparen, finden Sie nicht auch? Die hohe Politik ist ein hübsches Spiel, aber es wird fortan ohne Deutschland gespielt werden.“ Gottesknecht setzte sich in eine freie Bank. Hoffmann schwang sich mit seinen Krücken aufs Podium. Er brachte Zeitungsnachrichten in buntem Durcheinander: Umsiedlungsplan des Kontrollrates. Bildung eines Frauenausschusses hier in der Stadt. Enteignung aller Betriebe des Flick-Konzerns durch Beschluß der Landesverwaltung. Schillers „Räuber“ im hiesigen Städtischen Schauspielhaus. Ausgabe der neuen Kleiderkarte. Molotow-Rede: über siebenhundert Milliarden Rubel Kriegsschäden in der Sowjetunion. Wieder Massengräber aufgefunden... Holt horchte auf. „In Bautzen wurden mehrere Massengräber entdeckt“, hörte er, während sich ein Gefühl schwerer Beklemmung in ihm ausbreitete. „... von der SS durch Pistolenschüsse ermordet... vermutlich KZ-Häftlinge, die vor den Truppen der Roten Armee evakuiert... auf ihrem Marsch durch Bautzen und weiter nach Westen getrieben wurden...“ 64
Als Hoffmann das Katheder verließ und Gottesknecht mit dem Unterricht begann, saß Holt immer noch unbeweglich. Und weiter nach Westen getrieben wurden, und auf dem Weg durch eine geöffnete Panzersperre! Die Erinnerung ließ ihn nicht mehr los, auch auf dem Heimweg nicht, den er in die Länge zog. Von allen Bildern der Vergangenheit war dieses am tiefsten ins Vergessen gestoßen worden und nun am schärfsten in seiner Erinnerung: Ein nebliger Morgen. An der Panzersperre wurde abgelöst, unter den neuen Posten war Peter Wiese. Von ferne wehten Schüsse her, wie Peitschengeknall, dann bog die Kolonne durch die Sperre, ein Spuk und doch Wirklichkeit, Gestalten, lebende Skelette, vom gestreiften Drillich umschlottert, und auf dem Rücken das rote Dreieck... Im Werk fand er seinen Vater beim Essen. Als sie noch eine Weile zusammensaßen, fragte Holt: „Was für eine Krankheit hat Herr Müller?“ „Chronische Endocarditis lenta“, antwortete der Professor. Holt ließ sich das erläutern. „Eine unheilbare Herzkrankheit. Im Lager ist ihm überdies eine Niere zerschlagen worden, und in der anderen, noch funktionstüchtigen, sitzt ihm eine Herdnephritis.“ „Und weiß er über sich Bescheid?“ „Er hat nach der Befreiung im Sommer einige Zeit im Krankenhaus gelegen“, sagte Professor Holt, „er wollte ja gesund werden. Aber als er die Wahrheit über seinen Zustand erfuhr, hat er seine Entlassung ertrotzt.“ „Warum?“ fragte Holt. Professor Holt erhob sich, trat ans Fenster und schaute in den trüben Nachmittag hinaus. „Warum?“ wiederholte er, mit dem Rücken zum Zimmer. „Müller ist nicht gewillt, im Bett einem Tod entgegenzusiechen, der vielleicht noch einige Zeit auf sich warten läßt. Der Tod soll ihn mitten im Leben erreichen. Du kennst ihn ja: noch sind seine Gedanken klar, noch spürt er ein wenig Kraft. Er will leben, und er lebt seinem Ende entgegen, mitten im Anfang, ohne viel Worte.“
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Holt traf Gundel im Torweg. Da er sich nur selten an die gemeinsamen Mahlzeiten hielt, sah er sie nicht öfter als früher, obwohl sie nun unter einem Dach wohnten. Sie war mit ihrem Werbeabend beschäftigt, sie erzählte von den häufigen Proben. Aber Holt hörte kaum hin. Er hatte an jenem Tag an der Panzersperre, am offenen Grab der Gestreiften, diesen Gedanken gedacht: Wie soll ich vor Gundel hintreten? Und auf einmal erkannte er den Abgrund zwischen sich und ihr. Sie sagte: „Was ist mit dir los?“ Alle sagten: Was ist mit dir los? Gundel hatte es eilig; wahrscheinlich ging sie zu Schneidereit, von dem sie kein Abgrund trennte. „Nichts ist mit mir los“, sagte er. Schneidereit, dachte Holt, der ist ja nicht anders ins Leben geworfen worden als ich, wer hat da die Rollen verteilt, wer hat den Abgrund aufgetan? „Hast ja recht“, sagte er, „du paßt nicht zu einem wie mir, ich hab zuviel Dreck am Stecken.“ - „Was soll das?“ fragte sie verständnislos. Aber er nickte ihr nur zu. Im Haus lief er Müller in die Arme. „Wie geht's uns, Werner Holt?“ fragte Müller. Müller war immer freundlich, er trug ein rotes Dreieck am Rockaufschlag, das hatte er einmal auf dem Rücken getragen, er wußte nicht viel von Holt, aber die Müller hatten scharfe Augen... Müller nahm Holt mit ins Konferenzzimmer. Sträub dich nicht, es will heraus! Frau Thomas hatte für drei Personen gedeckt und trug die Terrine auf. Natürlich wußte sie eine Neuigkeit, aber keiner hörte ihr zu, und sie ließ die beiden allein. Müller setzte sich, ohne die Joppe zu öffnen. „Wie geht's in der Schule?“ fragte er. „Und wie gefällt es Ihnen bei der Mönkeberger Antifa-Jugend?“ „Mir gefällt es; ehrlich gesagt, gar nicht“, sagte Holt, „ich bin dort nur geduldet, ich paß nicht zu denen.“ Müller schaute Holt verwundert an. „Soll ich Sie anlügen?“ rief Holt. „Ich kann Ihnen doch nichts heucheln! Ich sag es ganz offen: ich geh nicht wieder hin!“ „Was ist denn mit Ihnen los?“ fragte Müller. „Ich ertrag Ihre Freundlichkeit nicht mehr, Herr Müller, die kommt mir nicht zu, Sie dächten nicht dran, freundlich zu sein, wenn Sie nur wüßten!“ „Wenn ich was wüßte?“ fragte Müller. 66
Und es wollte aus Holt heraus: „Es steht in der Zeitung, neue Massengräber entdeckt, in Bautzen, und ich weiß auch eins, ich finde die Stelle wieder, da liegen sieben oder acht unter der Erde, solche wie Sie, gestreiftes Drillich, rotes Dreieck, dort liegt auch der Wiese-Peter, die SS hat sie abgeknallt...“ „Und Sie, Holt?“ rief Müller. „Und Sie? Heraus mit der Sprache!“ „Ich hab dabeigestanden“, sagte Holt, und die Stimme setzte ihm aus. „Dabeigestanden und zugesehn. Gewehr bei Fuß, und hab keinen Finger gerührt.“ „Das hat Ihnen keine Ruh gelassen, was?“ sagte Müller nach einer Weile. Und er wiederholte: „Dabeigestanden und zugesehn...“, blickte über Holt hinweg. „Ein ganzes Volk hat zugesehn.“ Er knöpfte seine Joppe auf, löste den Schal und sagte: „Morgen früh warten Sie am Werktor auf mich. Sie kommen mit mir und geben zu Protokoll, wo das Grab zu finden ist.“ Die Schule wurde Holt nun rasch ganz und gar gleichgültig; er unternahm keinen Versuch mehr, den Anschluß an den Lehrstoff zu finden. Er saß im Unterricht und grübelte über seine Vergangenheit nach. Er dachte immer häufiger an Sepp Gomulka. Der Rechtsanwalt hatte an Gundel geschrieben, daß er von Nürnberg nach Dresden zu reisen gedenke in irgendwelchen dringenden Angelegenheiten. Er mußte dieser Tage in Dresden sein. Seinerzeit war der Anwalt der einzige gewesen, der etwas wie einen Weg gewußt und ihn seinem Sohn gewiesen hatte... Holt fuhr nach Dresden. Er sagte niemandem etwas davon. Er hinterlegte im Werk einen Zettel für Gundel und bat sie, auch seinem Vater Bescheid zu sagen. Es war eine strapaziöse Reise. Holt fuhr auf dem Trittbrett, schließlich stand er eingepfercht in einem überfüllten Abteil, und jetzt erst überlegte er, was er eigentlich bei Sepps Vater wollte. Aber er traf den Anwalt nicht mehr an; Doktor Gomulka war schon nach Berlin weitergereist. Draußen in Radebeul, von der Frau des Zahnarztes Gomulka, hörte Holt, daß er zu spät
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gekommen war, und brach wieder auf. Er war kaum enttäuscht, eher erleichtert. Er lief in Richtung Dresden. An der Elbe ging er die Uferböschung hinab und weit hinaus auf eine Buhne. Das Wasser gurgelte grau und glanzlos um die Steine und drehte sich im Strudel, und eine leere Flasche fuhr unermüdlich im Kreise herum. Es war gut, daß er den Anwalt nicht angetroffen hatte. Mehr als lateinische Floskeln hätte Holt wohl doch nicht zu hören bekommen. Aber was fing er nun an? Treibenlassen, wie das Wasser dahintrieb, und irgendwo mündet jeder Fluß. Es begann zu regnen, die Wolken senkten sich tief herab, es dunkelte. Holt hängte sich die Zeltbahn um und lief stadtwärts. Dann stand er vor dem erleuchteten Portal eines Lokals, zahlte Eintritt und saß schweigend neben dem Gewühl der Tanzenden. An seinem Tisch nahmen drei Mädchen Platz, sie waren jung, sie trugen zurechtgeflickte Festkleider. Es gab mehr Mädchen als Männer hier, die geschminkten Gesichter richteten sich bei jedem neuen Tanz erwartungsvoll, ja fordernd auf Holt. Er achtete nicht darauf. Er rauchte seine letzten Zigaretten, er fühlte nach den letzten Geldscheinen. Endlich brachte der Kellner ein Getränk, Alkolat genannt, sündhaft teuer. Holt trank und bestellte neu. Der Saal war überfüllt, stickig von Tabaksrauch und den Ausdünstungen der Tanzenden. Zerfledderte Girlanden unter der Decke, kreidige, mit Schminke bemalte Gesichter, die wogende Menge auf dem Parkett: wenn dies das Leben war, dann wußte er nichts davon, dann hatte er überhaupt noch nicht richtig gelebt. Er entschloß sich, wie die anderen in das Gedränge der Tanzenden zu tauchen, vielleicht spürte er dann das Leben. Aber er blieb sitzen, starrte in die Lampen, rauchte. Die Mädchen am Tisch beachteten ihn bald nicht mehr. Stunden vergingen. Eine wilde, trunkene Ausgelassenheit breitete sich aus; dann und wann leerte sich das Parkett, schwieg der Lärm der Kapelle. Dann blieb nur dumpfes Stimmengemurmel übrig, das von Frauenlachen zerrissen wurde.
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In solch einer Tanzpause faßte Holts Blick einen Menschen, der quer über das freie Parkett durch den Saal stiefelte, beinahe auf Holts Platz zu. Dieser Mensch war groß und kräftig, trug einen dunklen Anzug mit hellen Nadelstreifen, um die Schuhe wehten die weiten Hosenbeine, und über dem Hemdkragen, der knallfarbigen Krawatte erhob sich ein flachsblonder Kopf. Das rosige Kindergesicht mit den kleinen Schweinsäuglein richtete sich nun auf Holt, und nach einer Sekunde der Erstarrung war der Mensch am Tisch und brüllte los. „So was!“ brüllte er. „Ja ist denn so was möglich? Alter Krieger! Mensch, Werner, du hast doch hier gar nichts zu suchen, du bist doch tot! Ich hab doch selber gesehen, wie sie dich abgemurkst haben!“ Er schrie noch lauter: „Ja, da sag doch mal was, du Knalltüte, wo kommst du denn her?“ Vetter war wieder da, Christian Vetter lebte, haute Holt auf die Schulter, strahlte und geriet ganz außer sich. Holt brauchte Zeit, sich damit abzufinden: Vetter war wieder da, Vetter war nicht im Ruinenkeller verfault, Vetter war ungeheuer lebendig. Vetter schleppte Holt durch den Saal an seinen Tisch und stellte ihn dort einem Mädchen vor. Das Mädchen, das er Karlinchen nannte, war vielleicht zwanzig Jahre alt, hatte schwarze, krause Haare und ein Gesicht, das rund und gelb wie ein Kürbis war. An ihrer kleinen Patschhand leuchtete roter Lack von den Nägeln, funkelten die Steine zweier Ringe. Vetter flüsterte lange mit dem Kellner und langte dabei wiederholt in die Jackettasche, in der er die Geldscheine lose herumtrug. Der Kellner brachte eine Flasche Kirschlikör und erklärte dem Nebentisch: „Mitgebracht, meine Herrschaften, der Herr zahlt Stöpselgeld.“ Unterdessen schenkte Vetter ein, in große Schalen, und sagte: „Also los, auf unser Wiedersehen! Ex!“ Der Likör ätzte Holts Kehle. Holt schaute sich Vetter an. Christian Vetter war ein harmloser Mensch, Zivilist bis ins letzte, vergnügt, redselig, wirklich glücklich, daß er Holt wiedergefunden hatte. Holt hatte jetzt sekundenlang mit dem Bild eines anderen Vetter zu tun; der stand mit der Wäscheleine im Keller und rief: Nichts wie aufhängen! Bloß schnell aufhängen, draußen am Birnbaum! 69
Aber schließlich war niemand aufgehängt worden, und Vetter war nur der Schäferhund gewesen, der den Worten seines Herrn folgte. Der Herr aber war der andere gewesen: Wolzow. Und Wolzow war tot. Holt hatte Vetter nichts vorzuwerfen, was er sich nicht auch selbst vorwerfen mußte. Die Vergangenheit mochte endlich ruhen. Holt mußte ein zweites Mal trinken, mehrere Schlucke, und langsam löste sich die Verkrampfung. Das Dasein war vielleicht gar nicht so trostlos, wenn man es so zu nehmen verstand, wie Vetter es nahm: als wilden Rummelplatz, der alles bot, was das Herz begehrte. Wenn man Vetter glauben durfte, war eine Zeit unbegrenzter Möglichkeiten angebrochen, und eine Knalltüte war, wer die Möglichkeiten nicht nutzte, sondern Trümmer schippen ging! Vetter jedenfalls war bereits ganz groß im Geschäft: Strümpfe gegen Zigaretten, mit interzonalen Märkten und Profiten, von denen sich's leben ließ. „Mitnehmen, was sich bietet!“ rief Vetter. „Komm, alter Krieger, sauf noch eins, es gibt sowieso bald wieder Krieg, zwischen den Amis und den Russen!“ Er erzählte auch von zu Hause: sein Vater war noch beim Volkssturm umgekommen, und seine Mutter lebte hier in Dresden bei Verwandten und hatte den Mund zu halten. „Und du hältst jetzt auch den Mund, Karlinchen, sonst kracht's, wir gehn nachher schon wieder tanzen!“ Nun war Holt mit Reden an der Reihe, aber Vetter war kein guter Zuhörer. Er redete ununterbrochen dazwischen. Noch mal auf die Schule gehen?, da mußte Holt doch verrückt sein! Und überhaupt war jeder selber dran schuld, der auf die Alten hörte! „Eine Fabrik hat dein Alter jetzt, eine Arzneimittelfabrik? Das ist aber interessant, da gibt's doch sicher prima Ware!“ Vetter wußte genau Bescheid. „Solche Trippertabletten oder so was, da zahl ich dir fünfzig Mark auf den Tisch für ein Röhrchen!“ Vetter tat entrüstet: „Was soll das heißen, geht nicht? Wenn du so denkst, bringst du's nie zu was! Prost, alter Krieger!“ Er fragte nach alten Bekannten. „Da gibt es jetzt überall Suchlisten mit geänderten Adressen!“ Und er zog ein paar Blätter mit hektographierter Schrift aus der Tasche und warf sie auf den Tisch. Dann stand er auf, winkte mit dem Finger, und das Karlinchen folgte ihm gehorsam auf die Tanzfläche. 70
Holt nahm die Liste zur Hand. Er überflog die Namen. „Barnim, Uta“, las er. „Jetzt Waldhütte am See, bei Oberkrammen über St. Blasius, Schwarzwald, französische Zone.“ Er ließ die Blätter sinken. Er schaute, zurückgelehnt, nachdenklich in den Saal. 7
Gottesknecht drückte noch einmal beide Augen zu, und Holt ging nach den versäumten Unterrichtstagen wieder zur Schule. Vetter hatte angekündigt, ihn bald zu besuchen, hatte von großen Plänen gesprochen. Holt knüpfte eine Ungewisse Hoffnung an diesen Besuch. Vielleicht wurde das Wiedersehen mit Vetter zur Wende seines ziellosen Lebens. Und weitete sich nicht schon der Horizont, reichten die Gedanken nicht endlich wieder über Schule und Werk, über Gundel und Schneidereit hinaus? Uta Barnim lebte! Es dauerte Tage, bis dieser Gedanke Holt wirklich zu eigen wurde: Uta war am Leben, und vielleicht, nein: bestimmt erinnerte sie sich an ihn. Er nahm nur noch am Unterricht teil, weil er für die Lebensmittelkarte die Bescheinigung der Schule brauchte. Und wie hätte er sonst die Tage hinbringen sollen? Er saß Tag für Tag stumm und unaufmerksam im Klassenraum, und die Lehrer schrieben ihn ab. „Wer bei mir nicht mitkommt, der läßt's eben bleiben“, sagte Ebersbach. Gottesknecht redete Holt immer wieder ins Gewissen. „So geht das mit Ihnen nicht weiter! Sie dürfen sich nicht so treiben lassen!“ Holt verteidigte sich nicht. Gottesknecht sah ihn prüfend an. „Es wird Zeit, daß Sie aufwachen, Holt! Es könnte eines Tages zu spät sein.“ Aber Holt verschloß sich vor ihm wie vor jedem anderen. Der dringenden Aufforderung Arens', ihn zu besuchen, leistete er jedoch eines Tages Folge. Mit den ersten Dezembertagen war unvermittelt unter Schneefällen und scharfem Frost der gefürchtete Winter hereingebrochen. Holt besaß keinen Mantel, er trug den dicken Wehrmachtpullover unter der Uniformjacke und einen warmen 71
Schal. Familie Arens wohnte in Mönkeberg in einem Haus, das ihrer Möbelfabrik angebaut war. In Egon Arens' Zimmer betrachtete Holt Photographien, auf denen das Arenssche Wochenendhaus am nahen Stausee im Gebirge zu sehen war. „Gefällt Ihnen die Landschaft?“ fragte Arens. „Ich würde mich freuen, Sie im Sommer mit hinauszunehmen.“ Er bemühte sich auffallend um Holt. „Passen Sie auf: wir erleben dort draußen zusammen manches hübsche Wochenende.“ Beim Tee, in einem mit altmodischen Stilmöbeln eingerichteten Wohnzimmer, lernte Holt Egons Eltern kennen; nur der ältere Bruder fehlte, er war in Geschäften unterwegs. Frau Arens war eine unglaublich dicke Frau. Egon hatte Holt unlängst erklärt, seine Mutter sei schwer leidend, es handle sich um eine Fettsucht, und zwar um eine thyreogene Adipositas, wobei er die medizinischen Fachwörter wie alltägliche Begriffe handhabte. Holt sah die Frau nun am Teetisch sitzen, fast bewegungsunfähig vor Leibesfülle, dazu beängstigend kurzatmig: schon nach wenigen Worten pflegte ihr der Atem wegzubleiben, dann preßte sie die Hände auf die ungeheure Brust und keuchte: „O Gott... Luft!“, und jedesmal sprang Egon eilends vom Stuhl hoch und riß für eine Weile das Fenster auf. Herr Arens, der Möbelfabrikant, war ein graumelierter, gepflegter Endfünfziger; von ihm hatte Egon den schönen Kopf und die langbewimperten Augen mitbekommen. Er war umgänglich, lebhaft und ungezwungen und neigte dazu, sich bei jeder Gelegenheit auffallend zu freuen; dann brach er in lautes Gelächter aus. Er trank Tee und kaute ein Haferflockenplätzchen und versuchte, Holt über die Lage des Werkes auszuforschen. Holt bedauerte höflich, keinerlei Einblick zu haben. „Jedenfalls geht es der Spremberg AG definitiv an den Kragen!“ sagte Herr Arens, während er sich sorgfältig die Fingerspitzen an der Serviette abwischte. „Und nicht nur den Großbetrieben! Warten Sie ab, fast die ganze Industrie wird enteignet.“ Er rief: „Nur ich nicht!“, und dann freute er sich wie ein Schneekönig. „Ich war zwar Kriegsgewinnler, ich habe Wehrmachtspinde gebaut, aber ich bin von der Enteignungsliste definitiv abgesetzt, das ist der Lohn der guten Tat!“ 72
Egon erklärte: „Wir hatten Ostarbeiter und Russen. Vater hat wirklich ganz hübsch für sie gesorgt, obwohl das strafbar war. Er hat ihnen zusätzlich Essen gegeben, auch Decken und Medikamente. Die Leute haben das nach dem Zusammenbruch auf der Kommandantur zu Protokoll gegeben.“ „Mein Mann“, sagte Frau Arens, „war immer gut zu seinen Leuten... O Gott - Luft!“ Egon sprang zum Fenster. Herr Arens fragte: „Sie haben Ihre Mutter in der Westzone?“ „Und da leben Sie hier?“ rief Egon. „Das finde ich erstaunlich.“ Holt entgegnete: „Würden Sie denn lieber in der Westzone leben?“ Der Fabrikant rief: „Aber nein, aber nicht doch! Wenn hier erst richtig enteignet wird, bin ich doch mit einem Schlage die Konkurrenz los!“ Bei diesen Worten packte ihn unbändige Heiterkeit. Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, fuhr er fort: „Und ehe die verstaatlichten Betriebe rein qualitätsmäßig mit mir konkurrieren können, du lieber Himmel, da bin ich doch längst unter der Erde.“ Holt verabschiedete sich. Egon Arens brachte ihn zur Haustür. Dann stand Holt im Schneetreiben und fror und klappte den Kragen der Jacke hoch. Und da leben Sie hier? hörte er Egon Arens sagen. Und da leben Sie hier? Ein Mädchen ging an Holt vorbei und wollte ins Haus. Holt hielt sie am Arm fest. „Das ist doch Angelika“, sagte er. Sie trat näher zu ihm hin. Sie legte den Kopf zur Seite und sah Holt zutraulich an. Er sagte: „Komm mit ins Kino!“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich kenn Sie doch fast gar nicht!“ Er sagte: „Komm mit, da lernst du mich kennen!“ Sie überlegte. Er fühlte durch den Stoff des Mantels ihren Arm. „Geht nicht“, sagte sie. „Ich muß um sechs oben sein, Großmutter paßt auf mich auf.“ „Laß dir was einfallen“, sagte er. „Bist du nicht im Schulchor? Sag, du hast noch Chorprobe!“ Sie überlegte wieder. „Gut“, sagte sie. „Hoffentlich glaubt sie's!“ Sie wollte ins Haus, aber er hielt sie zurück. „Sag mal... wie alt bist du?“ „Sechzehn“, antwortete sie. Er sagte: „Du schwindelst!“ 73
„Aber ich bin schon fünfzehn“, sagte sie. Er war auf einmal nachdenklich. Und da leben Sie hier? Wenn Sie es so schön haben könnten, warum sind Sie dann hierher gekommen? Wollen Sie mich nicht in Hohenhorst besuchen? Er sagte zu Angelika: „Weißt du was? Bleib zu Hause. Ins Kino gehen wir übers Jahr. Das heißt, wenn ich dann noch hier bin.“ Er nickte ihr zu und ging zur Straßenbahn. Hohenhorst lag weit außerhalb der Stadt nach den Bergen hin. Hier bedeckte schon fußhoher Schnee den Boden. Holt suchte zwischen Villen und Siedlungen das Haus Doktor Bernhards, das er schließlich als letztes einer Zeile von Reihenhäusern fand. Die Klingel schlug nicht an; nur blasses Licht schimmerte durch die Ritzen der Fensterläden. Stromsperre. Was wollte er überhaupt bei Karola? Er war nahe daran umzukehren. Aber dann öffnete er die Gartenpforte und ging um das Haus herum. Er hörte Klavierspiel. Am Ende des Gartens schwankte eine Stallaterne, bei einem Schuppen; vielleicht war das Doktor Bernhards legendärer Kaninchenstall. Holt trat durch die Verandatür ins Haus. Er folgte dem Klavierspiel. In der Diele stand ein geöffneter Stutzflügel; beiderseits der Noten, in messingnen Leuchtern, brannten Kerzen. Karola, die Hände auf den Tasten, trug wieder das eng anliegende Kleid, das ihre Gestalt noch zarter, ihr Gesicht noch ätherischer erscheinen ließ. Als sie Holt sah, hielt sie erschrocken im Spielen inne und errötete, faßte sich aber rasch. „Warum spielen Sie nicht weiter?“ fragte Holt. „Was ist das?“ „Die ,Pathetique'„, sagte sie. „Sie haben mich erschreckt, ich glaube, es wird jetzt nichts mehr.“ Sie nahm die beiden Kerzen aus dem Flügel und schritt vor ihm her, in jeder Hand eine Kerze. Wie ein Leuchterengel, dachte er halb belustigt. Sie führte ihn in ihr Zimmer. Er blickte sich um. Hier draußen weckte alles Erinnerung. „Wie bei Peter Wiese!“ sagte er. Und Peter Wiese erinnerte ihn an Uta: Waldhütte im Schwarzwald, das war weit entfernt, aber kein Ziel war unerreichbar. Karola sah Holt fragend an. „Peter Wiese wollte nämlich Pianist werden“, erklärte er. „Er hat mir oft vorgespielt, am liebsten Schumann.“ 74
Sie fragte: „Wo ist er jetzt?“ „Jetzt ist er tot“, sagte Holt. Karola stand lange an der Tür, stumm und bewegungslos, dann ergriff sie eine der Kerzen und ließ ihn minutenlang allein. Er merkte es nicht. Er war in Nachdenken versunken. Ja, der Peter Wiese war tot. Und so sinnlos alles gewesen war: eigentlich war es ein guter Tod gewesen. Karola brachte eine Schale mit Äpfeln, dazu einen Teller und ein Gestell mit Obstmessern. Sie setzte sich auf ihr Bett, über das eine bunte Decke gebreitet war. Sie sagte: „Mir ist bisher alles Schwere im Leben erspart geblieben. Aber was der Verlust eines lieben Freundes bedeutet, das habe ich auch schon erfahren müssen.“ Er fand nichts auszusetzen an diesen Worten und wunderte sich, daß sie in ihm doch ein Gefühl der Auflehnung weckten. Karola fragte: „Wollen Sie mir von Ihrem Freund erzählen?“ Er schüttelte den Kopf. Sie fragte: „Müssen Sie noch oft an die Vergangenheit denken?“ „Ich habe mir Mühe gegeben, vieles zu vergessen. Aber es läuft einem nach. Und durch Sie wurde ich wieder an die Jahre in Bamberg erinnert, an meine Kindheit.“ „Die Erinnerung an die Kindheit ist das Beste, was wir besitzen“, sagte sie und schlug die Beine übereinander und legte die gefalteten Hände um die Knie. „Mag sein“, sagte er. „Ich müßte da aber lügen. Ich bin fortgelaufen, einmal bis nach Hamburg und dann in den Krieg. Ich habe es zu Hause nicht ausgehalten. Heute frag ich mich: Warum eigentlich nicht? Aber lassen wir das.“ Er hatte seit Mittag nichts gegessen, er nahm heißhungrig einen Apfel, rieb ihn am Jackenärmel blank und biß hinein. Er ließ nur den Stiel übrig. Das Hungergefühl war vertrieben. Und da Karola nur schweigend bei Holt saß, überkam ihn eine versöhnliche, vertrauensselige Stimmung. „Vielleicht erscheint mir mein Leben nicht mehr gar so ausweglos, seit ich Sie das letztemal gesehen habe“, sagte er. „Ich finde mich nicht zurecht, und alle Menschen sind mir fremd geblieben.“ „Bin ich Ihnen auch fremd geblieben?“ fragte sie fast flüsternd.
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„Ja“, sagte er, beinahe grob. „Wenn ich Sie reden höre, vom Herbst und vom Garten und von der Sehnsucht nach der Ferne, dann möchte ich meinen, Sie haben die letzten Jahre geschlafen. Aber vielleicht war ich auch mal so wie Sie, und vielleicht ist das alles nur verschüttet. Sie haben mich auf den Gedanken gebracht, daß es vielleicht noch einen anderen Weg für mich gibt.“ „Ich verstehe Sie so gut!“ erwiderte Karola. „Ich weiß nicht, warum Sie damals von zu Hause fortgewollt haben, aber ich weiß, wie das ist, wenn einem die Heimat zu eng ist und die Lockung nach der Ferne übermächtig wird. Aber Sie sind nun lange genug heimatlos gewesen, und wenn Sie in die Welt Ihrer Kindheit zurückkehren, dann werden Sie vielleicht alles das als ein großes Glück empfinden, was Sie früher bedrängte.“ Sie sagte genau das, was er hören wollte, um vom Gedanken zum Entschluß zu gelangen. Aber der Wunsch, ihr zu widersprechen, war jetzt so stark, daß er sich erhob. Er sah Karola abschätzend an; sie gefiel ihm. Mochten ihre Worte versponnen sein, sie selbst war wohlgestaltet und lebendig, und Holt hatte noch gar nicht richtig gelebt. Er schob die Hände in die Hosentaschen, ohne den Blick von ihr zu lassen, und sagte ihr ins Gesicht: „Es ist Ihnen ja gar nicht gleichgültig, ob ich hierbleibe oder für immer fortgeh! Warum tun Sie dann so?“ Sie schlug die Augen nieder. Dann stand sie auf, verwirrt, und langte sich eine Kerze, um ihm zu leuchten. Aber er nahm ihr das Licht aus der Hand und stellte es auf den Tisch. Nicht umschmeicheln und viel bitten, dachte er. Dann zog er Karola zu sich heran, zwang ihr beide Arme auf den Rücken, bog ihr den Kopf in den Nacken und küßte sie. „Antworte!“ befahl er. „Ist es dir egal, wenn ich geh?“ „Ich werde sehr traurig sein, wenn ich dich nicht mehr sehen kann“, sagte sie. „Aber ein Gedanke wird mich trösten: ich habe ein wenig dazu beitragen dürfen, daß eine Mutter den Sohn zurückgewinnt und ganz glücklich ist...“ Endlich kam Vetter. Er kam Samstag nachmittag, er kam mit Getöse. Holt hörte die unbekümmerte Stimme bis in den ersten Stock. Zum Glück war Müller am Morgen mit dem Lastwagen 76
weggefahren; Professor Holt arbeitete oben in seinem Labor, und Gundel war wie üblich bei ihrer Gruppe. Vetter stand im Torweg zwischen zwei großen Koffern und wies mit ausgestrecktem Arm auf den Pförtner. „Der will mich nicht reinlassen, so was!“ Er trug einen karierten Ulster und auf dem Kopf einen halbsteifen schwarzen Hut. Mit seinen Koffern stapfte er hinter Holt die Treppe hoch. Vetter war gekommen: damit war alles entschieden. Holt überdachte die nächste Zeit. „Hör zu!“ sagte er. „Wann fährst du rüber? Morgen? Gut. Du nimmst einen Brief an Uta Barnim mit.“ „Das hat Zeit.“ Vetter sah in alle Ecken und warf einen Blick durchs Fenster auf den Werkhof. Dann saß er auf dem Bett. „Daß du's in so einem Stall aushältst!“ sagte er. „Wenn wir beide ein Kompaniegeschäft aufmachen, das war doch was!“ Er hatte den Kopf voller Pläne und sprach von Geschäften fast ohne Risiko, durch die man allmählich reich wurde; es gab aber auch riskantere Sachen, die wesentlich schneller zum Erfolg führten; dazu brauchte er einen Kerl wie Holt. „Wart ab!“ sagte Holt. „Wenn du keine Antwort auf meinen Brief mitbringst, dann werden wir sehen.“ Er dachte: Dann verschreib ich dem Teufel meine Seele. Sie beschlossen, ein Lokal aufzusuchen, wo Holt in Ruhe seinen Brief schreiben konnte. Holt entschied sich, das Gesicht zu wahren und Vetter seinem Vater vorzustellen. Vetter dienerte beflissen, sein Kindergesicht strahlte, er redete unaufhörlich. Er hatte immer für den Film „Robert Koch“ geschwärmt, er hatte früher auch mal Naturforscher werden wollen, und zu Hause in der Küche hatte er solche Experimente gemacht, mit Säure und so, und sein Vater hatte ihm dafür den Arsch ausgehauen, so was! Jedenfalls interessierte ihn hier alles riesig; ob er sich ein bißchen umsehen dürfe? „Fassen Sie nichts an“, sagte Professor Holt. Vetter strich sogleich um den Arbeitstisch herum, steckte den Kopf in das ehemalige Bad, wo die Kaninchen in ihren Drahtkäfigen mummelten, betrachtete dann die Geräte, Apparate, Kühlschrank und Brutkammer, schließlich schaute er lange in den angrenzenden Raum, wo Professor Holt seine Chemikalien und Medikamente aufbewahrte. Dann sah er dem Professor zehn Sekunden bei 77
der Arbeit zu und erklärte laut: „Wie Sie da so rumfummeln, also da kann ich bloß sagen: mühsam nährt sich das Eichhörnchen!“ Und im Hinausgehen mokierte er sich noch über den Äthergeruch oder was hier so stank. Holt schob ihn verärgert auf den Korridor. Im Bahnhof deponierten sie Vetters Koffer in der Gepäckaufbewahrung. Dann bummelten sie durch die Straßen. Der Schnee war wieder weggeschmolzen, aber die Stadt roch nach Winter, und dieser erste Nachkriegswinter stand wie ein Schreckgespenst vor den Menschen, die sich grau und gesichtslos vor den Läden drängten. Vetter kramte ein Zigarettenpäckchen aus der Manteltasche. „Prima Ware, Pall Mall, extralanges Format...“, sagte er mit einem Blick aus den Augenwinkeln. „Könntest du auch alles haben, wenn du nicht so eine Knalltüte wärst! Dein Alter hat da drei Flaschen stehn, jede mindestens zehn Liter, reiner Sprit, da leg ich dir für den Liter vierhundert Mark glatt auf den Tisch!“ „Hör auf“, sagte Holt. Vetter faßte ihn am Arm. „Und ganze Pakete solcher Trippertabletten, die sind gefragter als Strümpfe und Chesterfield!“ „Hör auf!“ sagte Holt wieder. Sie kehrten in einer Kneipe nahe dem Bahnhof ein. „Mein hiesiger Stützpunkt“, erklärte Vetter, der den Wirt kannte. Gegen sieben wechselten sie in Naumanns Ballhaus über. Vetter bestellte Alkohol und stürzte sich ins Tanzgewühl. Holt ließ ihn tanzen. Er trank und bestellte neu und trank wieder. Er vertrug nicht viel. Die Umgebung rückte bald weit von ihm ab. Er hatte Schreibpapier mitgenommen, er holte den Füllhalter hervor. Dann trank er wieder und schrieb seinen Brief. Ganz schlichte Anrede: Liebe Uta! Aber dann das heulende Elend ausgespuckt: Ich finde mich nicht zurecht, das Leben ist fremd und feindlich, ich bin einsam, ich bin verlassen, ich sehne mich nach dir... Unsinn. Das war Lüge. Er zerknüllte das Blatt. Überdies kannte er ihren Spott. Er trank, und die Lampen ringsum brannten heller. Es war falsch, viele Worte zu verlieren oder lange zu fragen. Das beste war, unangemeldet hinzufahren. Aber das wagte er 78
nicht. Denn reichlich zwei Jahre waren vergangen. Viel war geschehen. Nun saß Uta im Schwarzwald, und wer weiß, ob es noch die Uta von damals war. Und war er denn selbst noch der gleiche? Über jene ferne, nur halb bewußt erlebte Zeit hatte das Leben seinen Schatten geworfen, und nur ein Licht war in der Dunkelheit, Gundel. Holt begann hastig zu schreiben. „Liebe Uta“, schrieb er, „ich würde Dich gern besuchen. Bitte gib mir postlagernd Lübeck Nachricht, ob es Dir recht ist.“ Er klebte den Umschlag zu. Und wenn sie nicht antwortet? Dann bleibt mir nur Mutter. Oder ich verschreibe meine Seele dem Vetter. Holt trank, und Vetter füllte wieder die Gläser; dann verstaute er den Umschlag in der Brieftasche, zwischen dicken Bündeln von Fünfzigmarkscheinen. „Laß mir Geld da“, sagte Holt, und ungeduldig: „Los, rück schon was raus, du schwimmst ja im Geld!“ Vetter tippte sich an die Stirn, aber dann überlegte er plötzlich. Er überlegte lange und zog die Brieftasche wieder hervor. „Ich will mal nicht so sein“, sagte er. „Ich bin knapp, ich habe alles in Strümpfen angelegt, aber einen Tausender sollst du haben. Natürlich gegen Quittung!“ Holt unterschrieb und barg die Scheine in seiner Tasche. Eine lange, leere Zeit des Wartens stand ihm nun bevor, wenn Vetter auch versprach, vor Weihnachten zurückzukehren. Das Geld schenkte Unabhängigkeit, es konnte, ein paar Abende wenigstens, die Lampen hell und heller brennen lassen und dem Augenblick Gewalt verleihen über Trübsinn und Ausweglosigkeit. 8
Reichlich
zwei Wochen waren seit Vetters Besuch vergangen. Wenn nichts dazwischenkam, war Vetter in Kürze wieder hier. Holt begann aufzuatmen. Er blieb seit ein paar Tagen ohne Begründung und Entschuldigung dem Unterricht fern; mochten sie ihn aus der Klassenliste streichen. Es war nicht leicht gewesen, jeden 79
Menschen im Hause zu meiden. Ein Wunder, daß Vater nicht merkte, wie er die Schule schwänzte und ziellos durch die Straßen streifte, und doch wieder kein Wunder, denn Vater hatte anderes zu tun, er hatte schon immer anderes zu tun gehabt. Mit den Gedanken an seinen Vater war Holt mühelos fertig geworden; mit den Gedanken an Gundel war es weitaus schwieriger gewesen. Aber auch das war geglückt; denn Gundel hielt nicht zu ihm, sie hielt zu diesem Schneidereit, und Holt erkannte nun endlich die Welt, wie sie war: dissonant, mitten durchgerissen, ohne Harmonie. Die Welt in ihrer Vielfalt lockend wie einen Zauberwald und sich selbst in ihrem Mittelpunkt zu sehen - das war das Lebensgefühl seiner Kindheit, seiner Jugend gewesen, das er heute naiv fand; erhaben und lächerlich zugleich. Es gab zwei Welten, und ein Abgrund trennte sie. Er stand am Rande der Schlucht und blickte hinüber in eine Welt, in der man anders dachte, sprach und handelte. Und der Nachkrieg hatte ihn hineingeworfen in diese fremde, unverständliche Welt Müllers oder Schneidereits oder Gundels. Hier hatte er nichts zu suchen. Hier war er ein Außenseiter. Und seit dem Besuch bei Karola wußte er, daß er sich trennen mußte von dem heimlichen Verlangen, anders zu sein, als er war, und ein anderes als sein eigenes Leben zu leben. Es galt, zurückzukehren in den Kreis, dem er entstammte und aus dem ihn der Krieg herausgerissen hatte, in den Kreis seiner Mutter, seiner Verwandten oder Utas. Dorthin gehörte er, und vielleicht fand er dort, was er suchte: sein eigenes, das wirkliche Leben. Holt wußte: er war gescheitert. Nun galt es einen neuen Versuch, denn das Leben dauerte noch lange Zeit, die sich nicht wie diese Wartezeit hinbringen ließ. Er mußte irgend etwas anfangen mit seinem Dasein, er wußte nur nicht was. Vielleicht wußte es Uta oder Mutter. Und wenn nicht: Vetter wußte es bestimmt. Und wenn nirgendwo anders, so mußte an Vetters Seite alles zur Ruhe kommen: auch das Letzte. Denn noch war ein Rest in Holt; er wußte nicht, was es war, das sich quälend in ihm regte, selten, immer seltener. Irgendein Anblick löste die Regung aus, vielleicht der Anblick des Werkgeländes,
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eines weißen Laborkittels, oder des rumpelnden Lastwagens in der Tordurchfahrt... Dann half nur die Flucht, Flucht in die Stadt, wo ihn der Menschenstrom ins Anonyme zog, Flucht ins Alleinsein, wo alles verstummte, Flucht in den Trubel des Nachkriegs. Dana lief er durch die Straßen, in denen das Leben zeitig zur Ruhe ging. Er setzte sich in eins der vielen Lokale, die überall aus dem Boden schossen. Er hatte sich Zwang antun müssen, die von Vetter geliehenen Scheine über die Wartezeit zu verteilen. Er hatte manchen Abend verzichten müssen. Er blieb meist für sich, auch wenn er mit anderen am Tisch saß, er tanzte kaum. Er sah ins Lampenlicht und ließ den Uhrzeiger rücken. Auch heute. Bei Gläsergeklirr und Tanzmusik nahte die Mitternacht. Da verstummte der Lärm. Alle Lampen flammten auf. Die Kellner begannen in fliegender Eile zu kassieren. An den Türen die blauen Uniformen der Polizei. „Halt, mein Lieber, hiergeblieben!“ Auf der Straße, im Nebel, den Scheinwerferlicht durchstach, eine Kolonne von Lastwagen. Geschrei, auch Gelächter. Razzia! Die Wagen jagten zum Polizeipräsidium. Aber auch diese Episode war kaum etwas anderes als eine neue Attraktion auf dem wilden Rummelplatz, der sich Leben nannte, Leben von A bis Z, von Alkolat bis „Zier dich doch nicht, Mensch, die wolln dir 'n Abstrich machen, deswegen bist du doch hier!“. Stundenlanges Warten, in einem öden Raum, wo hölzerne Bänke an den Wänden standen. Auf den Bänken eine Galerie von Männern, alten und jungen, Männern in Zellwollanzügen, Marinehosen, zerknitterten Hemden. Mittendrin Holt. Anfangs gab es noch Witze, Gelächter, dann gab es nur mehr Warten. Müdigkeit senkte sich herab. Erst gegen Morgen brachten die Befunde wieder Bewegung in den Raum. Namen; die einen nach links, die ändern nach rechts. Holt, Werner, negativ, bitte hier lang, nach rechts. „Da hast du aber Schwein gehabt, die andern gehn ab, die gehn in die Seuchenbaracke!“ - „Warten Sie, jetzt dorthinein!“
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Ein Schreibtisch, zwei Männer in Zivil, am Rockaufschlag das rote Dreieck... „Sieh nach, was er bei sich hat.“ - „Knapp dreihundert Mark?“ - „Kann er behalten. Acht Zigaretten? Die haben Sie schwarz gekauft, reden Sie keinen Unsinn, die Sorte gibt es nicht auf Karten!“ „Laß ihn laufen, das lohnt nicht! Der nächste!“ Draußen war schon heller Tag. In der Trümmerwüste des Zentrums schlug ein Bagger den Greifer ins Geröll. Hier stand Holt, an eine ausgebrannte Fassade gelehnt, und das Dröhnen des Motors schmerzte in seinen Ohren. Die Erniedrigung der vergangenen Nacht hatte ihn kaum berührt. Auf das alles kam es jetzt gar nicht mehr an. Er sah die Lastwagen mit ihrer Trümmerlast davonschwanken, regelmäßig brüllte der Baggermotor auf. Nun ruckten die breiten Ketten an, und tiefer fraß sich der Greifer in die Trümmer hinein, bis der Schuttberg ins Rutschen geriet und eine Dreckwolke hochstiebte. Der Motor verstummte. Der Baggerführer kletterte aus seinem Stand. Vom Nachbargrundstück liefen ein paar Frauen mit bunten Kopftüchern herbei. Die Staubwolke lichtete sich. Wie einen hungrigen Schlund hatte der verschüttete Keller seinen Eingang aufgetan. Eine der Frauen ließ sich nicht halten und stieg in das Loch. Sekunden verstrichen, dann war sie wieder im Licht und schrie. Der Baggerführer gestikulierte. Die Frauen folgten ihm zur Straße. Holt kletterte unbeachtet über das Geröll und stieg ins Dunkel hinunter, Stufe um Stufe. Am Fuß der Treppe stieß er auf die ersten Toten. Er drang tiefer in den Keller ein und riß ein Streichholz ein. In dem schwachen Licht nahm er das Bild in sich auf. Ein Prozeß des Zerfalls war über die unverwesten Toten hingegangen. Eingestürzte Gesichter bleckten die Zähne. Von Schädeln, mit lederner Haut überzogen, fiel strähnig das Haar in beinerne Stirnen. Aus den Augenhöhlen traf ihn kein Blick. Wie Drahtseile spannten sich die Sehnen an den vertrockneten Hälsen. Es waren Menschen, Männer, Frauen und Kinder, über 82
den Boden verstreut, zusammengekrampft, verkrümmt auf Holzbänken hatten sie ihren Todeskampf aufbewahrt. Zwei, mit Knochenarmen, hielten einander umschlungen. Mumifizierte Hände, wie in Entsetzen vor ein Gesicht geschlagen, schauten aus verschimmelten Ärmeln hervor, und blutrot, an einem der Ärmel, leuchtete die Binde mit dem Hakenkreuz. Das Streichholz erlosch. Die Menschen, eines Schattens Traum... das war ein Relikt in Holts Denken, ein Vers aus einer Hymne des Pindaros, die er irgendwann gelesen hatte. Er ging durchs Dunkel zu dem Lichtschein hin, der durch den Eingang fiel, er stieß gegen etwas, das nachgab, und hörte, in die Finsternis geneigt, wie der Tote zu Staub und Knochen zerfiel: ein Mensch, eines Schattens Traum. Er kümmerte sich nicht um die gaffende Menge. Er ging davon. Er wußte, daß in ihm nun auch der letzte Rest zur Ruhe gebracht war, diese dunkle Regung: die Furcht, er könnte sein Leben sinnlos am Rande vertun. Keiner konnte sein Leben sinnlos vertun. Das Leben war sinnlos. Die Toten lehrten es. Sie hatten Sorgen gekannt, Freude, Ärger, Leidenschaft, sie hatten gelebt, nichts war davon geblieben, nur Moder und Knochen. Sie hatten sich ganz sinnlos gesorgt, sinnlos gefreut, sinnlos geärgert, sinnlos hatte die Leidenschaft ihr Blut erhitzt. Die Toten dort könnten nicht anders im Dunkel ruhen, wenn alles gar nicht gewesen wäre: Sorge, Leidenschaft, Leben. Das galt es zu wissen, vorher, dann war das Dasein leicht. Geh durch dein Leben, was du beginnst, es ist sinnlos. Geh und atme: die klare Luft weht dir schon den Moder deines eigenen Zerfalls ins Gesicht. Geh hin und liebe: keine Spur all des hohen Gefühls, der Scham oder der Wollust haftet dereinst am Skelett. Alles ist sinnlos. Die blutfrischen Toten, draußen, damals, die haben es verschwiegen, die Zerfallenen, hier im Keller, schreien es in die Welt. Gundel und Schneidereit probten nun fast täglich in der Aula, und die Schulgruppe spielte mit. Das Programm gewann Gestalt. Trotz aller Schwierigkeiten hatte Schneidereit seine 83
Absicht nicht aufgegeben, am Werbeabend die Vereinigung der Arbeiterparteien zu propagieren. Sein Referat hatte als Laienspiel ein Dutzend Stadien durchlaufen, und am Ende kam etwas ganz anderes heraus. „Eine merkwürdige Lösung“, sagte Gottesknecht, der öfter an den Proben teilnahm, „eine eigenwillige Sache, Gundel, dafür gibt's Sehr gut! Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?“ „Ich war im Kino“, antwortete Gundel, „es gab ,Panzerkreuzer Potemkin', und da hab ich gedacht, man braucht vielleicht gar keine Worte, um das zu sagen, was man sagen will.“ Sie fuhr fort: „Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg, aber so ganz stimmt es immer noch nicht.“ „Es liegt vielleicht nur an der Technik, an der Beleuchtung“, sagte Schneidereit, „das Licht ist viel zu kalt und zu nüchtern.“ Gottesknecht dachte nach. „Ich rede mal mit Lorentz, das ist ein junger Kollege, der gibt Mathematik und Physik.“ Lorentz war Anfang der Zwanzig, kaum älter als Schneidereit; er hatte ein pausbäckiges Jungengesicht und rote, kurzgeschnittene Haare, die wie Borsten vom Kopf abstanden. Er stellte sich vor: „Lorentz, mit tz wie der große Physiker, aber noch nicht so berühmt!“ Dann stand er, die Hände auf dem Rücken, den Kopf zur Seite gelegt, im Mittelgang und sah sich an, was auf der Bühne in Szene ging, ließ sich von Gundel aufs genaueste Schneidereits Absicht erklären und sagte: „Klarer Fall! Das Bühnenlicht muß weg, Scheinwerfer gehören ran, Widerstände dazwischen, farbige Gläser, dann noch eine raffinierte Geräuschkulisse - schon klappt der Laden!“ „Wo sollen wir das hernehmen?“ fragte Gundel. „Hernehmen?“ sagte Schneidereit. „Unsinn! Wenn ich einen hab, der was von Elektrotechnik versteht, dann machen wir alles selber!“ Zur nächsten Probe sah es oben auf dem Balkon wie in einem mittelalterlichen Alchimistenlabor aus. Lorentz hatte das halbe Inventar der physikalischen Lehrsammlung herangeschleppt und mit Schneidereit nächtelang gebastelt; nun saß er zwischen seinen Scheinwerfern in einem Chaos von elektrischen Leitungen. „Was sind denn das für Töpfe?“ fragte Gundel verblüfft. „Tauchwiderstände“, sagte Lorentz, 84
„Zinkplatten in verdünnter Schwefelsäure, klarer Fall! Aber nun mal los!“ Er zauberte in dem stockdunklen Saal eine Andeutung von Licht auf die Bühnenlampen, legte den blaugrünen Glanz eines Scheinwerfers auf den durchsichtigen Zwischenvorhang aus Gaze, und der Bühnenraum schien nun unwirklich, wie in tiefen Nebel gehüllt... „Großartig!“ sagte Gottesknecht nach der Probe. „Sie kriegen es genau hin, Gundel, es wird eine großartige Sache! Wie steht es mit dem zweiten Teil?“ „Wir setzen fünfzig Leute von Ihrer Schulgruppe in den Saal“, erklärte Gundel, „die müssen dann beim Mitspielen den Anfang machen.“ Hoffmann zeigte sich ohne Krücken; er besaß, wie sich erst jetzt herausstellte, eine tadellose Prothese, die er für seine Rolle auf der Bühne angelegt hatte. Er sagte, wie nach jeder Probe: „Da habt ihr mir aber eine Mistrolle zugedacht!“ Vor dem Schulgebäude nahm Gottesknecht Gundel beiseite. „Sie und Schneidereit, Sie müssen mich nun endlich mal besuchen, ja? Und was ich Sie seit langem fragen wollte: Werner Holt, der Sie an mich empfohlen hat, kennen Sie den eigentlich näher?“ Gundel blieb stehen. „Ich wohne bei seinem Vater im Werk“, sagte sie. „Ich seh ihn kaum noch, manchmal denke ich, er geht mir absichtlich aus dem Weg. Aber er hat mir erklärt, vormittags muß er zur Schule, und dann arbeitet er bis spätnachts bei einem Schulfreund, er heißt wohl Arens.“ „Was Sie nicht sagen!“ rief Gottesknecht. „Holt fehlt seit Tagen unentschuldigt, da stimmt was nicht, und ich hätte schon längst seinen Vater anläuten müssen.“ „Was wollte denn Gottesknecht von dir?“ fragte Schneidereit auf dem Heimweg. „Es ist wegen Werner“, antwortete Gundel, „er schwänzt die Schule und lügt.“ Schneidereit stapfte durch den Schnee, er schaute mißmutig drein. Er nahm Gundel am Arm, neigte den Kopf zu ihr hinab und redete auf sie ein. „Der endgültige Termin muß festgelegt werden“, sagte er. „Plakate müssen gemalt werden, Müller läßt mich an den Vervielfältigungsapparat, du mußt die 85
Druckgenehmigung holen. Und dann gehn wir die letzten Abende vor der Aufführung durch die Lokale, mit Flugzetteln, wir müssen die lugend aus den Schieberlokalen und Tanzsälen heraus zu uns holen!“ „Und Werner müssen wir nicht zu uns holen?“ sagte Gundel. „Wir haben keine Zeit, hinter jedem einzelnen herzulaufen“, sagte Schneidereit. Holt traf im Torweg auf Müller. Müller kam aus der Sulfonamidfabrik und wollte über den Hof. Aber im Erdgeschoß wurde eine Tür aufgerissen, und Fräulein Gerlach rief: „Herr Müller, Dessau ist am Apparat!“ Müller faßte Holt am Arm. „Laufen Sie doch mal bitte zu Blohm, das Telefon ist kaputt. Und sagen Sie ihm, drei Uhr ist Abnahme der Brücke.“ Holt sah auf dem Hof das fertige Gleis. Er ging den schmalen Fußweg durch die Trümmer zu den Baracken. Blohms Arbeitsraum war klein; er enthielt einen Schreibtisch, vor dem ein freier Stuhl stand, und ein mit Büchern und Akten vollgestopftes Regal. Durch eine Tür schaute Holt in den angrenzenden Raum, wo ein paar Mädchen an Reißbrettern arbeiteten. Blohm saß hinter dem Schreibtisch, grau und unscheinbar wie immer. Als Holt eintrat belebte er sich. Er erhob sich, schloß die Verbindungstür, gab Holt die Hand und nötigte ihn auf den Stuhl. Er ließ Holt nicht zu Wort kommen. „Ich freue mich, daß Sie mich einmal besuchen“, sagte er. „Sicherlich interessieren Sie sich für den Bau der Gleisanlage.“ Und er begann sogleich zu erzählen, von den Problemen des Untergrunds und dem erheblichen Aufwand an Rechnerei, den sie mit sich gebracht hatten, von Sickerschlitzen im Planum und einer Preußischen Norm für Nebengeleise... Dabei nahm er die Brille ab und blinzelte Holt an. Holt wußte, daß Blohm rasch zu einer unersetzlichen Arbeitskraft geworden war, aber er sah in ihm einen wunderlichen Kauz, den wohl niemand ganz ernst nahm. Und wie der Ingenieur nun über seinen Papieren und Tabellen hockte, erschien er Holt wie ein seltsamer Gnom in einer weltfernen Grotte voller Zahlentafeln, Fundamentberechnungen 86
und Baupläne... Holt richtete endlich aus, was Müller ihm aufgetragen hatte. Dann wollte er aufstehen, aber er blieb sitzen, als hielte ihn hier irgend etwas wider Willen fest. Blohm nahm die Nachricht zerstreut, beinah interesselos zur Kenntnis. „Sie hätten längst einmal kommen dürfen“, sagte er. „Ich halte es für ein echtes Bedürfnis, wenn Ihre Generation allen Spuren in die Vergangenheit nachgeht. Gilt es doch, die Fehler und Irrungen der Alten in Zukunft zu vermeiden!“ Das stimmt, dachte Holt. Die Alten haben die Suppe eingebrockt, und ich darf sie auslöffeln. „Ich bin“, sagte Blohm, „ein reiner Zahlenmensch, wenngleich nicht ohne Lebenserfahrung. Das Leben, lieber Herr Holt, ist uns einfachen Menschen nicht freundlich gesinnt...“ Holt erhob sich, es war an der Zeit, zu verschwinden. Aber mit einer beschwörenden Geste hielt Blohm ihn auf dem Stuhl fest. „Sie stören durchaus nicht, nein!“ Er setzte umständlich seine Nickelbrille wieder auf. „Zu ernsthafter Arbeit ist es überdies zu früh. Ich arbeite nachts.“ Er lächelte. „Erst muß diese verführerische Welt draußen in Dunkelheit versinken, verstehen Sie, und wenn dann in unserer engen Zelle die Lampe wieder freundlich brennt...“ Er lächelte entschuldigend. „Ich bin ein reiner Zahlenmensch, und Poesie ist mir fremd, aber diese Anspielung auf das größte deutsche Gedicht - nicht Drama! müssen Sie mir gestatten:... dann wird es auch in meinem... hm... Dingsda, jawohl, wird es hell.“ Und mit einer Handbewegung, die jugendlich anmutete, fuhr er sich durchs Haar. Seine Worte zogen Holt tiefer in ihren Bann. Und mit einemmal überließ er sich willig dem Bild, das Blohm in seiner Vorstellung wachgerufen hatte, dem Bild eines Mannes, der aus der Sinnlosigkeit der Welt in die Wissenschaft flüchtet, wo der Verstand sich mit sich selbst begnügt. Und das Bild faszinierte Holt und war mit allem vereinbar, mit den Toten, die zu Staub zerfallen, mit dem Leben, das sinnlos vorüberweht. „Verführerische Welt, so haben Sie doch gesagt“, meinte Holt, die Ellenbogen auf die Schreibtischplatte gestützt. „Sehen Sie einen Sinn im Leben?“ Er wußte, daß Blohm an die zwanzig Jahre auf Technischen Hochschulen, Universitäten und 87
Bauakademien studiert hatte und darüber grau und schütter geworden war. Wozu diese unglaubliche Ausdauer? Holt fragte: „Wozu leben Sie, Herr Blohm?“ „So ist es recht!“ rief Blohm. „Diese bedeutsame Frage muß radikal gestellt werden, das ist Ihr Vorrecht, denn Sie sind jung.“ Bedeutsam? Holt, kaum daß ihm die Frage herausgerutscht war, fand sie eher albern. Sie hatte ihn als Vierzehnjährigen beschäftigt, und damals war sie lautstark beantwortet worden: Du lebst für Großdeutschland, fürs Vaterland und so weiter, pro patria mori. Das hatte gut geklungen, erhebend, hatte das Herz weit gemacht und hatte sich als eine so üble Phrase entpuppt, daß Holt für alle Zeiten die Lust verloren hatte zu fragen: Wozu lebe ich? Aber heute hatte er doch gefragt; mal sehen, was ein anderer darauf zu entgegnen wußte. Aber wenn jetzt die adäquate Phrase kam, ich lebe für ein friedliches demokratisches Deutschland oder so, wie man es heute allenthalben auf den Spruchbändern las, dann stand er auf und schmiß die Tür hinter sich zu. „Ich lebe erstens“, sagte Blohm, „um schlicht und einfach zu bauen, eine Halle, eine kleine Eisenbahnbrücke und um daran ein bißchen Freude zu haben. Außerdem muß ich etwas Nützliches für meine Mitmenschen tun, ohne die ich nun einmal nicht existieren kann, obwohl ich mich der Menschheit andererseits nicht allzusehr verpflichtet fühle, denn was meinen Sie: Woran ist meine Dozentur für Zahlentheorie gescheitert? „An diesem Prinzip der lieben Mitmenschen, den Begüterten höher zu schätzen als den Berufenen!“ Holt wartete, was nun unter Zweitens folgte. „Berufung!“ sagte Blohm. „Das ist zweitens. Das Bauen schlägt die Brücke vom Broterwerb zur Berufung. Lieber Herr Holt, der Mensch ist berufen zu erkennen! Der Mensch lebt“, rief Blohm, sich ereifernd, „um zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Erkenntnis, kein anderer Lebensinhalt lohnt! Und die höchste Form der Erkenntnis ist die Verwandlung der bunten, verführerischen Qualität der Welt in die strenge, unbestechliche Quantität. Was nicht mathematisch formuliert werden kann, das ist noch nicht richtig erkannt. Die Welt aber ist erkennbar, und glauben Sie denen nicht, die es leugnen! 88
Natur läßt sich des Schleiers nicht berauben... Sehen Sie, gestatten Sie: hier hat der große Goethe geirrt! Was uns die Natur nicht offenbaren will, das zwingt man ihr zwar tatsächlich nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben, aber man ertrotzt es mit Hilfe der Mathematik! Und wie alles Materielle mathematisch formulierbar ist oder einmal sein wird, so läßt sich Mathematik zurückverwandeln in Materie, in Dachkonstruktionen oder Brücken oder...“ Die Tür flog auf. Ein Arbeiter steckte den Kopf ins Zimmer. An der Brücke wartete die Abnahmekommission, wartete das halbe Werk, seit zwanzig Minuten! Und Blohm war wieder ein unscheinbarer Mann, der vor sich hin murmelte: „Herrgott, wo hab ich sie denn bloß?“ und dabei seine Nickelbrille suchte. Er fand sie, raffte eine Mappe mit Papieren auf, und schon fiel die Tür hinter ihm ins Schloß. Er ließ Holt in seltsamer Ratlosigkeit zurück. Weihnachten war nicht mehr fern, als Vetter wiederkam. Er saß mit frostroten Ohren auf dem eisernen Bett, vor sich die beiden Koffer, und schwatzte munter drauflos. „Ich komm direkt von drüben, über Lübeck-Schwerin, bißchen umständlich, aber dafür idiotensicher.“ Er sprach wieder von seinen Geschäften, und er hatte über Erwarten gute Geschäfte gemacht. „Wieso Antwortbrief?“ fragte er. „Ach so! Nein, Fehlmeldung, gestern hab ich noch in Lübeck nachgefragt. Mensch, zieh doch nicht so 'n Gesicht“, rief er. „Heute gehn wir beide nämlich mal ganz groß aus, ich hab da ein prima Lokal entdeckt, und du bist natürlich mein Gast!“ In den letzten Tagen war viel Schnee gefallen. Holt trottete stumm an Vetters Seite durch die Straßen. Er war noch immer ohne Mantel, er fror. Hatte er wirklich an eine Antwort Utas geglaubt? Uta hatte nicht geschrieben; er mußte fort und wußte nun nicht, wohin. Er war ratlos. Vetter zog Holt in ein erleuchtetes Portal. Das Lokal hieß „Tanzbar Schmetterling“ und war erst unlängst eröffnet worden. Kreisförmige Tanzfläche, von unten her erleuchtet, schummriges rotes Licht aus Wandlampen, und die Kellner trugen Frack und schmale Bärtchen. 89
Holt und Vetter saßen an einem Tisch dicht bei der Tanzfläche. Eine Flasche Alkolat war nur als Auftakt gedacht. Vetter legte großmütig das Zigarettenpäckchen auf den Tisch. Es war noch kein Jahr her, daß er beim Anblick eines Mädchens einen roten Kopf bekommen hatte, heute aber sah er sich ungeniert um. „Also, ich organisier jetzt erst mal für jeden ein nettes Karlinchen.“ Holt antwortete nicht. Er leerte hastig sein Glas, schenkte sich ein und trank wieder. Er wartete auf die Wirkung des Alkohols, aber er spürte nur noch deutlicher, daß er allein war. Als er im Sommer heimgekehrt war, hatte er noch den Traum von Gundel geträumt. Und heute? Vetter schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Pennst du?“ Er goß den Rest der Flasche in Holts Glas. „Siehst du die beiden Karlinchen dort? Die Blonde ist prima! Die Dunkle ist mir zu mager, aber vielleicht ist das was für dich! Ich hol die jetzt zu uns ran!“ Er stolzierte davon, den Hintern herausgestreckt und die Brust vorgeschoben, wie ein Gockel. Holt leerte das Glas. Der Uhrzeiger rückte. Tatsächlich, Vetter brachte die beiden Mädchen! Doch das Bartrio mit seinen rhythmischen Geräuschen, die Paare auf der Tanzfläche, die gedämpfte Trompete - das alles war weit von Holt entfernt. Nun blieb ihm nichts anderes übrig, als zu Mutter nach Hamburg zu gehen. „Er hat schon immer 'n bißchen gesponnen“, sagte Vetter entschuldigend, als er von der Tanzfläche zurückkehrte. Er sagte es zu dem dunkelhaarigen Mädchen, das gelangweilt neben Holt saß. „Jetzt hole ich schärfere Sachen ran, da sollste mal sehn, wie der munter wird!“ Schon verhandelte er mit dem Kellner, schon zog er eine Handvoll zerknüllter Scheine aus der Jackentasche, schon stand eine buntbeklebte Flasche auf dem Tisch, und Holt trank. Der Kognak brannte in der Kehle. Vetter schleppte sein Karlinchen zur Tanzfläche. Das Mädchen neben Holt rauchte und schwieg. Seit der Reise nach Dresden war der Gedanke an Uta die einzige Hilfe gegen die beklemmende Gegenwart Gundels gewesen. Holt hatte alles von sich abgeschüttelt; nur eins ließ 90
ihn nicht los: Gundel. Sie war gegenwärtig, ihr Blick, ihr Lächeln, unauslöschlich. Was war stärker als sie, was brach ihre Macht? „Der Augenblick“, schrie Vetter, den Arm um sein Karlinchen gelegt, „der kommt nie wieder, also genießt den Augenblick! Prost!“ Und Holt trank. Er drehte sich zur Seite. „Komm tanzen!“ Vetter hatte recht: Nichts war mächtiger als der Augenblick, wenn man sich ihm mit Haut und Haar verschrieb. Er fühlte die Hand des Mädchens in seinem Nacken. Eine Stimme fragte: „Hast du Kummer?“ „Kummer“, antwortete er, „nicht daß ich wüßte! Wie heißt du?“ „Mechthild.“ Die Deckenbeleuchtung erlosch und flammte dann langsam wieder auf. Er führte Mechthild zum Tisch. Erst jetzt sah er sie sich an. Sie war älter als er, ihr Gesicht mochte hübsch sein, soweit es erkennbar war unter der Schminke. Er sagte: „Die deutsche Frau schminkt sich nicht.“ Sie schürzte verächtlich die Lippen. Er fragte: „Wer bist du, wovon lebst du?“ „Ich war beim Ballett“, antwortete sie. Ballett konnte stimmen. „Warum treibst du dich hier herum?“ fragte er. Sie stützte das Kinn auf die gefalteten Hände, gelangweilt verzog sie den Mund. „Hast recht“, sagte er. „Lassen wir das!“ Reden wir nicht davon, was die Menschen hierher treibt, der eine ist auf der Flucht vor dem Leben, der andere auf der Suche nach dem Leben, reden wir überhaupt nicht so viel. „Komm tanzen, Mechthild!“ Er hielt sie an den Armen fest. „Aber tu mir einen Gefallen: Geh und wisch dir die Schminke ab.“ Sie schüttelte den Kopf, aber sie ging. Als sie wiederkam, war sie kaum noch älter als er. Sie tanzten. Der Uhrzeiger rückte. „Weißt du was, wir trinken noch einen Kognak?“ Vetter legte den Arm um sein Mädchen und sang: „Komm, Karlinchen, küß mich...“ Holt drehte sich zu Mechthild herum, faßte sie ums Handgelenk und zog sie zu sich heran. Er fragte, den Mund nahe an ihrem Gesicht: „Wohnst du allein oder lebst...“ Er verstummte. Er sah über ihren Kopf hinweg zum Eingang. Gundel stand im Vorraum, bei der Garderobe, und es war kein Spuk und kein Alptraum, es war Gundel, in ihrem braunen 91
Mantel, ein weißes Tuch um den Kopf gebunden. Sie war nicht allein. Schneidereit war bei ihr, noch ein anderer aus der Baracke. Sie verhandelten mit einem Kellner, der Geschäftsführer trat hinzu und gab ihnen den Eingang frei. Gundel und Schneidereit, von einem untersetzten, muskulösen Burschen gefolgt, gingen von Tisch zu Tisch. Sie verteilten Flugzettel. Dort hörte man sie an, hier wies man sie brüsk ab. Aber sie kamen näher und näher. Holt erwachte. Er wollte Mechthild von sich wegschieben, aber sie lehnte das Haar gegen sein Gesicht, und da er den Kopf wegdrehte, sank sie ihm mit Arm und Schulter gegen die Brust. Er langte nach dem Glas, Vetter schenkte ein, und wieder stürzte Holt den Kognak hinunter. Sekundenlang zog die Trunkenheit einen undurchsichtigen Schleier vor Holts Augen zusammen. Aber der Nebel zerriß, und zwei Tische weiter, auf einmal unbeweglich, stand Gundel und sah auf Holt, und Holt sah auf Gundel, und Blick traf auf Blick. Mechthild, noch immer gegen Holt gelehnt, hob den Arm und strich ihm übers Haar und ließ ihre Hand in seinem Nacken liegen. Holt schüttelte sie ab. Schneidereit, eine steile Falte über der Nasenwurzel, aber nichtsahnend, trat an den Tisch. „Was will denn der?“ rief Vetters Karlinchen. Schneidereit sagte: „Wir möchten Sie zu unserem Werbeabend einladen.“ Er drückte Vetter ein Flugblatt in die Hand. „Wo gibt's denn so was!“ krähte Vetter. Schneidereit gab auch den Mädchen einen Zettel, und nun endlich erkannte er Holt. Schreck und Scham schlugen in Schneidereits Gegenwart in Wut um. Schneidereit, überall Schneidereit, wurde er diesen Menschen denn niemals los! Mechthild versuchte Holt festzuhalten, hastig flüsternd: „Das sind Rote, laß dich mit denen nicht ein!“ Aber eine Woge der Trunkenheit hob Holt von seinem Stuhl hoch, und Gundels große Augen brachten ihn um die letzte Besinnung. „Läufst du mir nach?“ sagte er. „Scher dich in deine Baracke!“
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Schneidereit wollte sich abwenden, aber er blieb stehen. „Bourgeoissöhnchen“, sagte er, „Scheißkerl, besoffner!“ „Zuchthäusler!“ stieß Holt hervor. Schneidereit schlug zu. Holt taumelte gegen den Tisch, dann schlug er zurück. Gläser stürzten. Eins der Mädchen kreischte. Der stämmige Bursche warf sich dazwischen. Auch Gundel war bei Schneidereit. Jemand zog Holt nach hinten, daß er auf seinen Stuhl fiel. Mechthild hielt ihn mit beiden Armen fest, und so traf ihn noch einmal Gundels Blick... An vielen Tischen machte man drohend Front gegen Schneidereit, der den Arm um Gundel legte und sie hinausführte. Erschöpft und halb ernüchtert saß Holt auf seinem Stuhl. Mechthild tupfte ihm mit dem Taschentuch das Blut von der aufgeschlagenen Lippe. Vetter drückte dem Kellner, der die Scherben auflas, ein paar Scheine in die Hand und füllte wieder die Gläser. Holt trank und trank, und endlich, endlich kamen die Gedanken, die aufgepeitschten Gefühle zur Ruhe. Die Lampen brannten heller. Betäubung setzte ein, der Augenblick gewann Macht über Scham und Verzweiflung. Mechthild zog Holt zur Tanzfläche. Er sagte nach wenigen Takten: „Wir gehen.“ Sie folgte ihm. Draußen schlug ihnen der Schneesturm ins Gesicht. Der Weg war weit. Der Wind heulte in den ausgebrannten Fassaden. Mechthild wohnte in einem Mietshaus, das wie ausgestorben in einer langen Ruinenfront stand. Sie schloß die Haustür auf. Holt schob sie in den Torweg. Ihre Küsse waren gierig, vielleicht auch nur routiniert. Und gierig oder routiniert, oben, in dem grauen und kalten Zimmer, war auch ihre Umarmung. Gegen drei Uhr morgens, ungeachtet der Sperrstunde, ging Holt durch das Labyrinth der zerbombten Straßenzüge nach Mönkeberg hinaus. Vetter wartete frierend im Torweg des Verwaltungsgebäudes, aber er war zu betrunken, um ärgerlich zu sein. Die Bürofenster im Erdgeschoß waren erleuchtet; sicherlich war dort Müller an der Arbeit. Holt schellte. Der Pförtner ließ sie ein. Holt faßte Vetter am Arm, sie mußten jetzt ungehört nach oben kommen. Aber Vetter stampfte die Treppen hoch und begann laut zu singen: „... es braust unser 93
Paaanzer...“ Holt stieß ihn wütend in den Rücken. Im Zimmer schimpfte Vetter, von Schluckauf geplagt: „Eine miese Bu... hoppla!... Bude hier, wo man nicht mal singen darf!“ Schon wurde er wieder gemütlich. „Wie war's? Mein Karlinchen hat nicht gewollt.“ Holt fiel ihm ins Wort. „Wenn du nicht endlich den Mund hältst...“ - „Na, hör mal!“ sagte Vetter, und er streckte sich ächzend auf dem Bett aus. Bald war er eingeschlafen. Holt blieb wach. Er saß auf dem Hocker, sein Gesicht war blaß. Er wußte in diesem Augenblick ziemlich genau über sich selbst Bescheid. Er trieb wieder mitten im Strom. Dann stand er am Fenster und sah, gegen sechs Uhr, Müller über den Werkhof gehen. Da rüttelte er Vetter wach. Vetter beharrte darauf, seine Koffer noch bis zum anderen Morgen hierzulassen. Holt willigte ein; auf den einen Tag kam es nun auch nicht mehr an. Er brachte Vetter unbemerkt aus dem Haus. Dann lief er aus Mönkeberg hinaus, durch fußtiefen Neuschnee. Es stürmte nicht mehr, aber Nebel füllte weiß und milchig die Straßen. Die Chaussee stieg an, der Dunst zerteilte sich, und draußen auf der Anhöhe blendete Sonnenlicht die Augen. Holt schaute sich um. Graue Wolkengebilde mit zerfetzten Rändern drohten vom Himmel. Das Tal glich einem riesigen See, bis hinüber zum fernen Gebirge mit Nebel gefüllt, und die Stadt, mit ihren Ruinen, Kaminen und Trümmerflächen, war unsichtbar darin versunken, wie von der Erde getilgt. Die Äcker ringsum lagen verschneit. In die Pappeln, die tot und kahl am Chausseerand standen, fiel schreiend ein Krähenschwarm ein. Sonst war nichts Lebendes weit und breit. Holt lehnte sich an den Stamm einer Pappel. Wie hatte er je auf den Gedanken kommen können, hierher, in die Russenzone zu gehen? Er war dem Traum von Gundel nachgejagt. Der Traum von Gundel war ausgeträumt, der alte Kindertraum von Liebe. Holt legte den Kopf gegen die Rinde des Baumes. Wolken schwammen vom Gebirge her, bald gab es neuen Schnee. Er sah Schneidereit, sah mit geschlossenen Augen, wie dieser Mensch seines Weges kam, groß, gewalttätig, wie er sich überall ins Leben hineindrängte und immer voran sein mußte und alles haben wollte, was ihm gefiel,
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auch Gundel. Er schüttelte das Bild von sich ab. Er wandte sich stadtwärts zum Werk. Er legte sich schlafen. 9
Frau Thomas weckte Holt am späten Nachmittag und richtete aus, daß Professor Holt seinen Sohn zu sprechen wünsche. Vor ein paar Tagen hätte diese Botschaft Holt noch erschreckt. Jetzt blieb er ungerührt. Der Professor hatte keine Macht mehr über ihn. Holt ging, und kein Mensch konnte ihn halten. Er überquerte den Korridor und klopfte bei seinem Vater. Der Professor, in seinem Labor, sah Holt durch die Tür treten, und er erkannte: bei dem Jungen galt keine Autorität. Er bot ihm einen Stuhl an. Der Junge hatte sich verrannt, er sah ratlos aus, ungepflegt, unrasiert, hatte Schatten unter den Augen, den Kragen der Uniformjacke unordentlich geöffnet. Professor Holt war beunruhigt. Er nahm sich eine Beschäftigung vor, bei der er ungestört nachdenken konnte, er reinigte Objektträger. Holt setzte sich und wartete. Er hatte nicht um dieses Gespräch nachgesucht, er hatte keine Veranlassung, etwas zu sagen. Professor Holt begann: „Ich habe nur wenig Zeit, ich muß nachher mit Müller wegfahren und bin erst morgen mittag zurück. Vorher wollte ich Wichtiges mit dir besprechen. Wie mir leider erst heute mitgeteilt wurde, bleibst du schon einige Zeit der Schule fern. Was hast du hierzu zu sagen?“ „Ich habe hierzu zu sagen“, erwiderte Holt, „daß du mir zwar befohlen hast, zur Schule zu gehen, daß ich aber gar nicht gefragt worden bin, ob ich überhaupt will. Wie du siehst, will ich nicht. Befehl ist nicht mehr Befehl.“ Professor Holt las die Herausforderung in Holts Blick, und er gestand sich ein, daß er, von Arbeit und viel zuviel Pflichten überhäuft, seinen Sohn zu lange sich selbst überlassen hatte. Er sagte ruhig: „Gut. Dann wirst du dir sogleich im neuen Jahr eine Arbeit suchen. Und bis dahin wirst du das Bummelleben aufgeben und dich hier im Haus nützlich machen.“ Da Holt nur stumm und aufsässig zu ihm hinschaute, fuhr Professor Holt 95
fort: „Im Frühjahr eröffnet die hiesige Universität. Eine Berufung als Ordinarius habe ich ablehnen müssen, wegen der Arbeit im Werk, aber ich werde zweimal zwei Wochenstunden Allgemeine Hygiene lesen und die Direktion des Serologischen Instituts übernehmen. Ich brauche also zukünftig wieder meine Bücher, die in Kisten auf dem Boden stehen, es sind auch Klassiker und Philosophen dabei: die Bücher müssen geordnet und wieder zugänglich gemacht werden. Ich denke, das ist bis zum neuen Jahr eine Aufgabe für dich. Gundel hat sich bereit erklärt, dir während ihrer Freizeit zur Hand zu gehen.“ Der Name Gundels traf Holt an der empfindlichsten Stelle... hat sich bereit erklärt, wiederholte er in Gedanken. Sie war also wenigstens gefragt worden. Vater befahl, der Sohn hatte zu parieren, ein Irrtum, in dem er Vater keine Minute belassen durfte! „Ich werde mir das überlegen“, sagte er. Der Professor hörte die Kampfansage heraus. Er erwiderte: „Bitte berücksichtige, daß ich wenig Zeit habe und daß Gundel allein mit den Büchern kaum zurechtkommen kann.“ Gundel, schon wieder Gundel! dachte Holt. Vater soll endlich Gundel aus dem Spiel lassen! Gundel geht Vater überhaupt nichts an! Ich habe Gundel gefunden, als sie im Elend war, nicht Vater, der hat derzeit gerade in seiner Bruchbude gesessen und seine Gesinnung revidiert! Holt sagte schroff: „Ich versteh nicht, was du auf einmal von mir willst! Bisher hast du dich ja auch einen Dreck um mich gekümmert!“ Professor Holt legte das Lederläppchen, die Gläser aus der Hand. Der Vorwurf traf ihn zu Recht. Darum sagte er aufrichtig, nicht ohne Wärme: „Lassen wir das Vergangene, reden wir...“ Er wurde schon unterbrochen. Ein einziges Wort hatte alle Hemmungen gelöst. „Das möchtest du“, rief Holt. „Die Vergangenheit ruhen lassen, das möchtet ihr alle!“ Aber Holt ließ die Vergangenheit nicht ruhen, nein, halblaut, schnell und heiser redete er dem Professor ins Gesicht. Von nichts anderem war zu reden als nur von dieser verfluchten Vergangenheit, in die Holt hineingestoßen worden war, ohne Zutun, ohne Schuld. „Wer von uns beiden hier in diesem Labor hat denn Hitler gewählt, oder wenigstens 96
zugeschaut, wie er an die Macht kam? Doch nicht ich! Ich bin zu dieser Zeit kaum zur Schule gegangen! Ich hab zwar schon damals einen ,Hang zum Niederen' gehabt, aber an Faschismus und Krieg habe ich keine Schuld! Ich bin in den Dreck hineingezerrt worden, ich hab von klein an - bitte dich zu erinnern! - das Soldatentum, das Deutschland-Deutschlandüber-alles-Geplärr in den Radien gelöffelt bekommen! Und wer - bitte nachzudenken! - hat mich denn dringelassen in all dem Dreck und keinen Finger gerührt, mir rechtzeitig die Augen zu öffnen? Du! Ich bin eines Tages zu dir gekommen, hilfesuchend, und ich bin nur noch verzweifelter wieder abgereist...“ Hier unterbrach Professor Holt seinen Sohn. „Ich habe dir damals die Wahrheit gesagt!“ „Gesagt!“ wiederholte Holt. „Hingeschmissen, wie man seinem Hund einen Knochen hinschmeißt! Aber ich laß mir keine Wahrheit hinschmeißen, ich laß mir auch keine tausend Bücher hinschmeißen, den Zeitpunkt, mich zu einem gehorsamen Hündchen zu machen, den hast du lange verpaßt; nicht wahr, da hätten Herr Professor seine Ehe nicht ruinieren dürfen, da hätten Herr Professor nicht nur immer an seine eigene ehrenwerte Person denken müssen, sondern auch mal an mich, und da hättest du mir gefälligst das Elternhaus erhalten müssen...“ Aus. Der Faden riß ab. Holt tastete in allen Taschen nach einer Zigarette. Der Professor merkte es und schob stillschweigend seine Schachtel hin. Holt rauchte. Professor Holt schwieg lange, den Kopf in die Hände gestützt. Dann sagte er: „Du hast in manchem recht, über alles werden wir in ruhigeren Stunden miteinander sprechen. Aber ich meinte diese fernere Vergangenheit gar nicht.“ „Welche meinst du dann?“ fragte Holt. „Wir wollen jetzt lieber von Zukünftigem sprechen.“ Aber Holt wollte vermeiden, seinem Vater noch ins Gesicht zu lügen, ehe er seiner Wege ging. Darum beharrte er: „Welche Vergangenheit meinst du? Aha, die jüngste Vergangenheit! Was ist denn geschehen?“ „Du hast dich zu sehr gehenlassen.“ 97
„Gehenlassen, wieso?“ „Junge“, sagte der Professor, „wir wollen doch...“ „Wieso gehenlassen?“ fragte Holt. Er lächelte. „Warum redest du nicht offen mit mir?“ Jetzt furchte Professor Holt die Stirn. „Du bist immerhin häufig betrunken gewesen in den letzten Wochen. Du bist zweimal die Nacht über fortgeblieben...“ Holt lächelte nun in offenem Hohn. „Wie denn, Vater, bist du mit neunzehn Jahren niemals besoffen nach Hause gekommen?“ Es verschlug Professor Holt die Sprache. Aber noch behielt der Gerechtigkeitssinn in ihm die Oberhand: hatte er nicht als Student mit neunzehn Jahren so manches Mal schwer gekneipt? „... und was die beiden Nächte anbetrifft“, sagte Holt, „was meinst du wohl, in den letzten Jahren, während du fleißig revidiert hast, wieviel Nächte ich da nicht nach Hause gekommen bin? Was meinst du wohl, wieviel gefehlt hat, und ich wäre überhaupt nicht mehr nach Hause gekommen?“ Professor Holt hob die Hand. „Du hast... sagen wir: achtundvierzig Stunden Zeit, meinen Vorschlägen zuzustimmen. Erstens nimmst du eine Arbeit an, die ich für dich suche. Zweitens fügst du dich einer häuslichen Disziplin. Drittens löst du jede Verbindung zu diesem Vetter.“ „Und wenn ich nein sage?“ „Dann geh deiner Wege“, sagte Professor Holt. Holt stand auf. Auch Professor Holt erhob sich, er hatte dieses „Dann geh deiner Wege“ ruhig und bestimmt hervorgebracht; nun legte er seinem Sohn die Hand auf die Schulter und sagte: „Werner, ich möchte, daß du hierbleibst. Ich will das Beste für dich, versuche doch, das zu erkennen.“ Ja, richtig, erkennen... Holt zog mit einer eckigen Bewegung die Schulter zurück. Wie war das? Der Mensch lebt, um zu erkennen; das hatte Blohm gesagt, dieser seltsame Blohm, der jetzt schon außerhalb der Welt war... Auch Holt, als halbes Kind noch, hatte einmal vieles zu erkennen versucht, zum Beispiel warum es in der Welt Arme und Reiche gibt, oder warum die Liebe im Märchen schöner ist 98
als in Wirklichkeit, oder warum es kein Maß gibt für Gut und Böse, für Recht und Unrecht... Das war lange her. Damals war eine schlechte Zeit gewesen für Suchende, die Augen waren verbunden, das Zimmer in Dunkelheit gehüllt. Betrug war gewesen, Lüge ringsum. Und alles war falsch, bis heute, bis zu diesem Augenblick. Er setzte seine Mütze auf und zog den Schirm in die Stirn. Dann verließ er das Labor. Im Torweg stand ein Tafelwagen, beladen mit einer großen Korbflasche. Irgendwer hatte den Wagen nach Feierabend hier abgestellt, so daß er die Einfahrt versperrte. Die Korbflasche, gefüllt mit fünfundsiebzig Kilogramm Essigsäure, konnte nicht einfach sich selbst überlassen werden. Müller schaute über die wenigen Treppen ins Erdgeschoß. Überall war das Licht gelöscht. Hinter dem Glasfenster saß der verkrüppelte Pförtner, der schläfrig auf die Ablösung wartete. Müller hatte im Leben schon Zweieinhalbzentnersäcke schleppen und als Häftling im Steinbruch arbeiten müssen: die Korbflasche warf ihn nicht um. Er rückte sie zurecht und sah sich noch einmal den Mauervorsprung neben der Treppe an, wo er die Last absetzen wollte. Dann lehnte er sich mit dem Rücken gegen den Wagen, faßte einen Henkel, bückte sich, und die Flasche kippte gegen seinen Rücken. Eine Wolke von Säuredampf mußte erstickend über ihm zusammenschlagen, wenn der Ballon auf dem Boden zerklirrte... Ruhig Blut! Schon kam die Flasche ins Gleiten und sank auf Müller, während die Wagentafel hochschnellte. Müller wankte. Dann stand er. Er hielt den Ballon mit einer Hand und langte mit der anderen vorsichtig über die Schulter, aber die suchende Linke fand nicht den Henkel. Die Last zwang Müller in die Knie. Die Hand verdrehte sich im Gelenk. Der Ballon rutschte ab. In diesem Augenblick sprang Holt von der Treppe zu Müller hin und umschlang die Flasche mit beiden Armen. „Loslassen!“ Müller ließ los. Holt fühlte die Last wie einen Riß durch seinen Körper gehen. Aber im letzten Augenblick fand er mit dem Flaschenboden den Mauerabsatz.
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Sie keuchten beide. Sie sahen einander an. „Fehlt nicht viel zu zwei Zentnern“, sagte Müller. „Es wollte mich hinschmeißen“, erwiderte Holt. „Wasserfreie Essigsäure“, sagte Müller, „das hätte ein Unglück gegeben.“ „Sie hätten sie schon heil auf den Boden bekommen“, entgegnete Holt. Nun lachten sie beide. „Danke!“ sagte Müller. Holt sah zur Seite; in der abgetretenen Steintreppe warf ein Glimmerkristall funkelnd das Licht der Glühbirne zurück. Sein Gesicht verschloß sich. „Das hätten Sie dem Bourgeoissöhnchen gar nicht zugetraut, was?“ „Hat Sie mal einer so genannt?“ In Müllers Gesicht war der Anflug eines Lächelns. „Mensch“, sagte er, „Werner Holt! Wenn Sie sich bloß ein bißchen zusammennehmen wollten! Wir warten doch nur auf Sie!“ Wir, sagte er. Das Wörtchen wir meinte nicht Holt, es meinte die anderen. Gundel, Schneidereit, Müller schloß es zusammen, ihn aber schloß es aus. Holt sagte, abweisend vor Resignation: „Sie und ich, wir sprechen zwei Sprachen!“ „Ihre Sprache läßt sich ganz gut verstehen“, entgegnete Müller. „,Es braust unser Panzer', da müßte einer schon taub sein.“ „Das... das...“, sagte Holt, „das war ich nicht! Das war mein Freund!“ Müller trat auf den Werkhof hinaus. „Sie und Ihr Freund“, sagte er über die Schulter, „einer so deklassiert wie der andere!“ Holt fühlte in der Tasche nach den restlichen Geldscheinen. Was wollte der Pförtner? Gundel war hiergewesen, sie konnte jeden Augenblick... Holt hatte keine Zeit. Und das hätte gerade noch gefehlt, daß er jetzt Gundel über den Weg lief. Er beeilte sich. Er bog in eine Seitenstraße ein. Die durchwachte Nacht mußte es sein: Er war mit den Nerven herunter und bildete sich ein, jemand gehe ihm nach. Naumanns Ballhaus, Bar zum Ewigen Frieden, Ort der Zuflucht. Hinein in den wilden, verzweifelten Rummel des Lebens! Lärm, Tanzgewühl. Er fand einen Tisch gleich am 100
Eingang, schon saß jemand neben ihm, blond, aufdringlich. Eine Flasche mit gepantschtem Fusel kostete die letzten Scheine. „Ja, trink mit!“ Er trank. Was fragte sie da: warum er traurig sei? Reden wir nicht davon! Er war nicht traurig. Die Trauer kam später. Er trank, viel und schnell. Die Lampen mußten heute heller brennen. Schon hob sich der Tabakqualm, schon rückte der Lärm von ihm ab. Er sah sich an, was da neben ihm saß; es konnte die zweite Mechthild werden. Er war süchtig nach allem, was die Gedanken umnebelte. Gundel stand bei ihm am Tisch. Sie war blaß. Auf ihrem braunen Mantel zerschmolzen die Schneeflocken zu funkelnden Wassertropfen. Er erhob sich taumelnd. „Komm“, sagte sie, „bitte... komm!“ Er folgte ihr augenblicklich. Er gab sich Mühe, nicht zu schwanken. Draußen in der Kälte wurde es besser. Sie schritten durch menschenleere Straßen. Sie wußte von der achtundvierzigstündigen Frist. Sie sagte: „Werner... ich bitte dich: Tu, was dein Vater verlangt!“ Er antwortete nicht. Er kämpfte gegen die Trunkenheit. Er hatte den Fusel viel zu schnell hinuntergestürzt, erst jetzt begann der Alkohol voll zu wirken. Sie waren am Ziel. Vor ihrem Zimmer, am Ende des Korridors, hob ihn die Woge hoch und stellte ihn noch einmal auf die Füße. Gundel sagte: „Geh jetzt gleich schlafen!“ Wieder hob ihn die Woge hoch. Er faßte Gundel an den Schultern, er stand wieder fest auf dem Boden, Bewußtsein und Wille waren halb betäubt. Er umschlang Gundel mit beiden Armen. Sie wehrte sich. „Wenn du mich mit zu dir nimmst... dann füg ich mich Vater... Aber du nimmst mich jetzt mit!“ Ihr Widerstand wurde stärker. „Hab dich nicht so!“ Sie stieß ihn von sich, daß er taumelte. Ein Sirenenschrei riß Holt aus bleischwerem Schlaf. Er stand auf. Er trat ans Fenster. Die Uhr zeigte die vierte Morgenstunde. Auf dem Fabrikhof brannten die Bogenlampen, über das neugelegte Gleis rollte der erste Güterzug ins Werk. Die Lokomotive schrie noch einmal, durchdringend, der Schrei verwehte in einer Dampfwolke. Ein paar Männer standen bei der Maschine, Blohm reichte dem Lokführer einen Blumentopf 101
hoch. Dann verlor sich die Kette der kohlebeladenen Wagen im Dunkel. Holt fiel wieder auf sein Bett. Er fand keinen Schlaf mehr. Das Bewußtsein hatte durchgehalten, die Erinnerung war lückenlos, er wußte alles. Nun gab es kein Zurück. Er hatte sich selbst aus Gundels Weg geräumt. Am Vormittag begehrte Christian Vetter Einlaß. Holt, einen dumpfen Schmerz im Kopf, führte ihn die Treppe hoch. Vetter schimpfte, über die miese Bude, dann über das Röstbrot. „Soll das dein Frühstück sein? Ich hab solche Büchsen im Koffer, Cornedbeef, auch Nescafe, du brauchst bloß heißes Wasser zu holen.“ Der starke Kaffee, eine Tasse und noch eine zweite, hob endlich die Fuselwirkung auf. Vetter redete wieder von seinen Geschäften. Die Konjunktur zog weiter an, die Märkte waren aufnahmefähig, die Firma konnte erweitert werden. Vetter schwätzte laut und vergnügt, er kaute dabei die Rindfleischkonserve. „Du wirst mein Teilhaber“, sagte er, „zu Vorzugsbedingungen, da werden wir uns bestimmt einig! Sag ja, und in ein paar Jahren sind wir beide reich.“ Holt saß auf seinem Bett, den Kopf in die Hände gestützt. Er ging also zu seiner Mutter. Aber wenn er fort wollte, brauchte er Geld. Vetter fragte: „Also? Schmeißt du den Kram hier hin?“ „Schlag dir das aus dem Sinn, Christian“, sagte Holt. „Schieber... das ist nichts für mich.“ „Na schön.“ Vetter zeigte sich gar nicht so sehr enttäuscht. Er holte aus seinem Koffer eine bunte Flasche Jamaika-Rum und goß einen kräftigen Schluck in Holts halbgeleerte Kaffeetasse. Dann öffnete er die Tür, schaute auf den Korridor und setzte sich wieder. Er sprach jetzt leiser. „Das Zivilleben“, sagte er, „kotzt mich genauso an wie dich. Viel zu ruhig, viel zuwenig aufregend für so alte Krieger! Außerdem dauert das viel zu lange, bis ich die hunderttausend Mark zusammen hab.“ „Wozu brauchst du hunderttausend Mark?“ fragte Holt.
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„Na, ich will hier Ruinen kaufen!“ erklärte Vetter. „Die Amis führen nämlich bald Krieg gegen diese Bolschewiken, mit Atombomben, und wenn hier erst alles amerikanisch ist, dann komm ich mit Ruinen ganz groß ins Geschäft! Ich hab in dem Buch ,Wie sie groß und reich wurden' von den Millionären gelesen, wie die mit Grundstücken unmenschlich reich geworden sind!“ Machte Vetter Witze? Nein, Vetter meinte das ernst. Vetter kannte die Nachfrage auf allen Märkten. „Nun paß mal auf! Was man mit Riesengewinn absetzen kann, das ist Fleisch. Und wie eine Sau aus dem Stall geholt wird, also, Werner, das haben wir doch schon mal probiert.“ Holt starrte Vetter wortlos an. „Ich brauch bloß nach Düsseldorf zu fahren“, redete Vetter weiter, „dort kann ich ein paar gute Pistolen haben, und hier ziehn wir uns russische Uniformen an! Dann gehn wir auf die Dörfer! Pistole vor den Bauch und solche rauhe Kehllaute, und an Ort und Stelle eine Sau abgeschlachtet, da gibt es gar kein Risiko, die Polizei hat nur Holzknüppel, und die Leute haben doch alle noch Schiß vor den Iwans!“ Vetter sah Holt erwartungsvoll an und schenkte noch einmal Rum in die Kaffeetassen. Holt hatte Vetter vielleicht niemals richtig ernst genommen, das dicke Kerlchen nicht, das sich ewig zurückgesetzt fühlte, und auch nicht Wolzows Schäferhund, der mit der Wäscheleine im Keller stand. Dieses Bild war jetzt gegenwärtig. Vetter hätte damals nicht nur den Wehnert am Birnbaum hochgezogen, er hätte, auf Wolzows Wink, auch Holt gehenkt! Und wie er jetzt hier im Zimmer saß, Kaffee mit Rum trank und sich auf die Schenkel patschte: „Paß auf, wir werden Millionär!“, so war er auch heute noch bereit, ohne weiteres einen Menschen aufzuhängen, wenn es ihm nur in den Kram paßte. Dieser ewige Kindskopf mit dem rosigen Gesicht, dieser Vetter kannte keine Skrupel! Holt sah sich mit Vetter den Weg weitergehen, den sie so lange gemeinsam gegangen waren. Er schloß die Augen. Er sah sich eines Nachts auf einem Gehöft, vor dem Lauf der Pistole einen Mann, er erlebte den Augenblick, da er wieder auf 103
Menschen schoß, vielleicht auf einen zuspringenden Polizisten, der an der Bluse das rote Dreieck trug... Nein! Holt war gescheitert, er hatte sich wie ein Schwein benommen. Nur nicht an Gundel denken! Es konnte sein, daß er bald in der Gosse endete. Aber eins geschah nicht: daß er noch einmal auf der falschen Seite stand! Er stürzte den Rumkaffee hinunter. „Das ist Wahnsinn. Schlag dir das aus dem Sinn, Christian!“ Und diesmal wurde Vetter böse. „Wenn du nicht mitmachen willst, dann will ich erst mal meine tausend Mark zurück!“ Er warf den Schuldschein auf den Koffer. „Du hältst den Mund!“ sagte Holt. „Die tausend Mark haben Zeit! Vorerst rückst du mehr heraus, und nicht zu knapp, wenn ich bitten darf, ich brauch mindestens noch mal tausend Mark.“ Vetter lachte, tippte sich, ausholend, mit dem Finger an die Stirn. „Mensch, wo gibt's denn so was! In Geldsachen hört die Freundschaft auf! Noch mehr Geld? Im Gegenteil, wenn du nicht zahlst, dann wird der Schuldschein deinem Alten präsentiert, und was der für Augen macht, da lach ich mich jetzt schon halbtot!“ Die Drohung kam derb heraus, Holt beugte sich vor. „Ich hab dich zu jeder Stunde beliebig in die Fresse hauen können, ich kann es auch heute noch!“ Vetter schloß seine Koffer und zog seinen Ulster an. „Hab ich das vielleicht nötig?“ Schon an der Tür sagte er: „Ich bin immer ein friedlicher Mensch gewesen, doch was zuviel ist, das ist zuviel! Jetzt bist du erst mal mit Gefälligkeiten dran!“ „Was soll das heißen?“ „Nichts. Gar nichts. Höchstens, daß meine Geschäfte wirklich sehr gut gegangen sind. Mir kommt es nämlich auf einen Tausender nicht an. Aber zum Verschenken hat schließlich keiner was. Ich würde den Schuldschein zerreißen und dir noch mehr geben, aber dann holst du erst mal solchen Sprit von nebenan!“ Holt ging auf Vetter los. Vetter faßte vorsichtshalber die Türklinke und verschanzte sich hinter seinen Koffern. „Ich hab ja bloß gedacht, du brauchst Geld.“
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Holt brauchte wirklich Geld, wenn er fort wollte. Ein Schwächegefühl war alles, was von seiner Wut übrigblieb. Er hatte gar keine andere Wahl. Es kam wohl auch auf einen Diebstahl nicht mehr an. Aber es war doch erstaunlich, daß es immer noch eine Stufe tiefer hinabging! „Du wartest hier!“ sagte er und trat auf den Korridor hinaus. Er horchte. Nur das Summen der Elektromotoren in der Sulfonamidfabrik war zu hören, sonst nichts. Er ging durchs Labor in die Materialkammer. Vetter, wieder vergnügt, schaute nach dem Flaschenboden. „Vier Liter? Bißchen wenig!“ Er schnupperte. „Hoffentlich ist das Zeug nicht verdünnt!“ Er trieb den Korken mit der Faust in den Flaschenhals, gab den Schuldschein heraus und erklärte: „Jetzt sind wir erst mal quitt.“ Holt war nun alles gleich. Eine zweite, größere Flasche mußte her. „Jetzt noch solche Tabletten!“ Vetter studierte die Packungen. „Albucid, das ist prima Ware!“ Dann zählte er zwanzig Geldscheine ab, purpurfarben auf violettem Grund, Hundertmarkscheine der Alliierten Militärbehörde. Holt brachte Vetter aus dem Haus. Dann packte er oben sein bißchen Eigentum in die Zeltbahn. Am Mittag fuhr er mit einem überfüllten Personenzug nach Norden. Er stand am Fenster und sah hinaus. Gewaltsam stieß er den heutigen Tag samt Vetter, Erpressung und Diebstahl ins Vergessen hinab. Er wartete, während der Zug durch den Abend rollte, daß die Zeit bei seinem Vater, die nun unwiederbringlich vergangen war, von ihm abfalle wie eine Last. Er hoffte auf ein Gefühl der Erleichterung, der Befreiung, aber vergeblich; er empfand nur Traurigkeit; Ja, Trauer um alles, was er hier verspielt und verloren hatte. Aber Trauer und Reue kamen stets zu spät. 10
In der Aula erlosch das Licht. In dem dunklen Saal, und dicht gedrängt auf der Galerie, saßen tausend Menschen jedes Alters und Berufs, 105
Eisenbahner, Trümmerfrauen, Chemiearbeiter, Mädchen aus Spinnereien und Tuchfabriken. Unter ihnen Müller mit rotem Schlips, Professor Holt, der alte Ebersbach, dessen Pfeife langsam erkaltete, oder auch Blohm. Die Tausend im Saal wußten nichts voneinander, lebten im Gedränge der Mitmenschen, in einem Land, das sie sich nicht ausgesucht hatten. Jeder trug sein eigenes Gesicht. Aber allen war eins gemeinsam: der kalte Ofen daheim, das leere Brotfach, die Vergangenheit. Mancher wußte Bescheid über die Kräfte hinter den Kulissen, die Not und Elend verschuldet hatten; andere dachten sachlich oder verworren darüber nach, wieder andere haderten mit dem Schicksal. Zunächst, als es gar nicht wieder hell werden wollte, regte sich Unruhe im Saal, legte sich aber rasch. Es war warm, die Dunkelheit, nach hartem Arbeitstag, versetzte die Tausend in eine Art Halbschlaf, und als nun unmerklich ein blasses Licht aufleuchtete, war es wie der Beginn eines Traums, den die Tausend in ihrem Halbschlaf träumten. Eines Angsttraums. Wer kannte nicht diese Träume, aus denen der Schläfer schweißgebadet erwacht? Träume, wie ein Zentnergewicht auf der Brust. Man schaute in graue, von Nebel unheimlich erfüllte Räume. Der Nebel leuchtete phosphoreszierend und ließ die Menschen nur in Umrissen erkennen, verschwommen wie eine Erinnerung. Sie standen herum. Die Erinnerung suchte: vielleicht standen sie vor dem Arbeitsamt, vor einer Stempelstelle, nein, sie standen beisammen, wie Menschen im Traum manchmal sinnlos beisammenstehn, sie mußten im Gedränge der Mitmenschen leben, in einem Land, das sie sich nicht ausgesucht hatten. Sie waren in keiner idealen Lage. Der Nebel war ungesund, der Raum, darin sie lebten, beengt von einer wackligen Kulisse, die ihren Schatten über die Menge warf. Wer verdammte die Menschen zum Schattendasein, wer ließ sie nicht zur Sonne? Man erkannte die Menschen jetzt besser. Jeder trug sein eigenes Gesicht. Der eine war untersetzt, muskulös, man sah ihm ungewöhnliche Körperkraft an. Ein anderer war groß, schiefgesichtig, er wirkte fahrig. Es waren viele, aber allen war eins gemeinsam: über ihnen schwebte eine furchtbare Gefahr, 106
sie war zu fühlen, auch zu sehen, ein Zucken von Licht wie Wetterleuchten, und sie brach nun auch hörbar in den Traum, als Rhythmus, noch fern, aber drohend, und brach in die Erinnerung... Die Menschen im Nebel wußten um die Gefahr, die hinter der Kulisse zusammengebraut wurde, sie waren nicht ahnungslos, nein: keiner im Saal war ahnungslos gewesen. Aber nichts geschah. Die Menschen verhielten sich unterschiedlich. Der eine war sehr gelehrt, besaß die Gabe des Geistes, verachtete diese banausische Gefahr; was ging ihn der nahende Marschtritt an? Andere, aus Dummheit, Bosheit, lachten sich ins Fäustchen, als erwarteten sie von der Katastrophe etwas Gutes. Wieder andere sammelten Briefmarken, benahmen sich harmlos, rechneten damit, daß keinem was geschah, wenn er nur immer harmlos gewesen war. Auf all diese kam es letztlich nicht an. Entscheidend waren die vielen. Und die vielen verachteten die Drohung nicht, lachten sich nicht ins Fäustchen, verschanzten sich nicht hinter Harmlosigkeit. Sie waren fähig, mit jeder Gefahr fertig zu werden, sie hatten diese bedrückende Kulisse schon ins Wackeln gebracht. Aber sie waren uneins. Die einen, unter ihnen der Untersetzte, Muskulöse, sahen die Dinge einigermaßen klar und wünschten unverzüglich zu handeln, sie verschmähten es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen, sie hatten nichts zu verlieren als ihre Ketten, sie wußten genau, es rettete sie kein höheres Wesen, sie mußten das schon selber tun. Die Erinnerung war nun ganz deutlich. Die anderen, der Große, Fahrige war dabei, wünschten im Prinzip ja auch, sich aus dem Elend zu erlösen, aber sie waren übel beraten, wußten gar nicht, was sie wollten, man hatte sie konfus gemacht. Sie wollten sich einerseits wehren, aber andererseits niemandem weh tun. Und so konnten die vielen sich nicht einig werden. Näher dröhnten die Stiefel übers Pflaster, heller zuckte am Himmel das Wetterleuchten, die Zeichen häuften sich. Gleich mußte die Katastrophe wie ein Unwetter losbrechen... Wenn es so nahe über den Großstadtdächern wetterleuchtete, liefen die Frauen, die hier im Saal saßen, auf den Hof und holten die spielenden Kinder hoch, und die Männer trugen ihr Fahrrad in den Keller, aber 107
dort, im Nebel der Erinnerung, holte niemand die Kinder hoch, brachte keiner das Fahrrad weg, und niemand fegte den Spuk beiseite, obwohl es in der Menge glühte wie Glut im Kraterherde. Sie waren immer noch uneins! Der Untersetzte warnte, drängte, beschwor, der Erinnerung war es unfaßbar, damals nicht auf ihn gehört zu haben. Der Schiefgesichtige hatte immer neue Vorbehalte, saß in der Zwickmühle zwischen Einerseits und Andrerseits. Er war wirklich schlecht beraten, unter seinen Leuten ließen sich welche hinter den Kulissen was einflüstern. Außerdem - große, wegwerfende Geste, deren sich der Saal mit beklemmender Deutlichkeit erinnerte -, so schlimm wird es schon nicht werden! Abwarten, abwirtschaften lassen! Schon brach das Unwetter los. Der Fackelzug dröhnte durchs Brandenburger Tor. Noch gab es eine Chance. Der Untersetzte rief Stadt und Land die Arbeitsleute zum letzten Gefecht. Dem Großen wurde nun einerseits klar, daß es doch ziemlich schlimm zu kommen drohte, aber andrerseits... Da schlug ungeheuer gewalttätig der Blitzstrahl nieder... Dann war Nacht, Bartholomäusnacht. Der Marschtritt ging über alle hinweg, über Gelehrte, Dumme und Harmlose, ging unterschiedslos über die vielen hinweg. Eine lange Nacht voll Gewalt und Widerstand und Mord. Schon stand die ganze Welt in Flammen. Und nun wurde marschiert, im blutroten Feuer wurde weitermarschiert, bis alles in Scherben fiel. Von Osten her wich die Nacht, aber erst, als alles in Scherben gefallen war, wurde es Morgen. Der Morgen kam fahl und kalt, noch erfüllt von Brandgeruch. Aber der Nebel war verweht, die spukhafte Kulisse weggefegt, der Raum war frei bis zum Horizont. Nur Ruinen waren zu sehen, es war sehr viel schlimmer gekommen. Viel Blut war vergossen worden, hier und anderswo. Nichts war übriggeblieben als ein neuer Anfang, aber aller Anfang war noch nie so schwer gewesen. Der Ofen war kalt. Das Brotfach war leer. Es regte sich im Morgengrauen, der Untersetzte, mit ein paar seiner Leute, hatte es überlebt. Nun stand er, noch grau und gestreift und übel zugerichtet, inmitten der Zerstörung. Er schaute sich um und ging an die Arbeit. Da klapperte es hohl und hölzern heran, der Große, einbeinig, auf Krücken, stelzte ins Dämmerlicht. Auch ein paar seiner Leute waren 108
übriggeblieben. Da standen sie alle wieder beisammen, vor den Trümmern, und mußten nun wieder zusammen leben, in diesem Land, das sie sich nicht ausgesucht hatten. Aber wenn sie jetzt von neuem zu streiten anfingen... Jeder im Saal fühlte noch einmal den Alpdruck auf der Brust, denn jenseits des Horizonts war noch immer die gleiche Welt, und vielleicht begann es eines Tages von neuem zu wetterleuchten... Wenn es jetzt weiterging mit Einerseits und Andrerseits... Ein Gedanke, der den Tausend im Saal den Atem stocken ließ... Wenn sie sich jetzt nicht endlich eins werden konnten... Aber im aufbrechenden Morgenlicht fanden sich schon ihre Hände, ein Aufatmen ging durch den Saal, und den alten Ebersbach, Müller, die Tausend riß es von den Stühlen hoch. Der Applaus ging unter in dem leidenschaftlichen, gar nicht vorgesehenen „Brüder, in eins nun die Hände!“ Und oben, auf dem Balkon, löste sich die Spannung in Schneidereit, und er erkannte, daß er verstanden worden war. Im Musikzimmer, neben der Bühne, zog sich Gundel den Mantel über. Auch der zweite Teil des Abends war ein Erfolg geworden. Sie wartete ungeduldig auf Schneidereit. Sie war erschöpft, und da nun die Anspannung wich, regte sich in ihr das düstere Erlebnis dieser letzten Tage, das sie noch gar nicht richtig überwunden hatte. Schneidereit war noch draußen beschäftigt, im Saal, der sich langsam leerte. Gundel wünschte ihn zu sich her. In seiner Nähe wurde das Schwere leicht, und ihre Gedanken waren schwer von Traurigkeit. Denn wenn von dem heutigen Abend vielleicht auch viele Menschen überzeugt worden waren, so hatte doch einer gefehlt im Saal, den sie so gern überzeugt hätte. Am Morgen hatte sie erfahren, daß Holt seit gestern verschwunden war, und mit ihm all sein bißchen Habe; das hieß, er kam nicht wieder, er war für immer fortgegangen. Doch dann, an Schneidereits Seite in der Winternacht, fiel alle Traurigkeit von ihr ab. Schneegestöber hüllte sie ein. Bei Schneidereit war sie geborgen und sicher, und endlich überkam sie ein starkes, frohes Gefühl der Befreiung. Schneidereit schmiedete Pläne fürs neue Jahr, aber auch für die 109
bevorstehenden Feiertage. Gundel sagte zu allem ja. „Wir waren bisher immer nur in der Gruppe zusammen“, sagte er. „Ich will ja auch mal ein privates Wort mit dir reden.“ „Was für ein privates Wort willst du denn mit mir reden?“ fragte Gundel ernst und sanft und mit einem so verschmitzten Unterton, daß Schneidereit kein Wort entgegnete und sie nur fester am Arm nahm. Er kümmerte sich nicht um die brennende Glühbirne im Torweg des Werkes. Er sah in dem trüben Licht nichts anderes mehr als Gundels Augen. Mühelos hob er sie zu sich auf, und mit einem erlösten Atemzug faßte sie seinen Kopf und küßte ihn auf den Mund, während er einen Augenblick zärtlich und schützend die Arme um sie schloß.
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ZWEITES BUCH 1
Holt saß in der leeren Gaststube eines Dorfkrugs, erschöpft und von einem Gefühl der Ausweglosigkeit erfüllt. An der Decke hing ein Adventskranz; hinter der Theke stand der Wirt, die Rechte am Bierhahn, ein dicker Mann, im roten Gesicht einen Seehundsbart, eine lederne Latzschürze vor dem Bauch. Er schob das gefüllte Glas übers Blech, warf einen mißmutigen Blick auf Holt und verschwand durch eine Tür. Die Wirtin brachte das Bier und setzte sich. Sie schaute Holt besorgt, fast mitleidig an. Holt fragte: „Wie weit ist es bis zur Grenze?“ Sie sagte: „Gehn Sie hier um Gottes willen nicht rüber, im Wald ist ein Truppenlager von den Russen, da ist alles bewacht!“ Holt fragte weiter: „Kann ich was zu essen haben?“ Die Wirtin drängte: „Sie müssen rasch fort, hier ist jeden Abend Kontrolle!“ Holt bezahlte das Bier. Sie steckte das Geld ein. „Zu essen gibt es nichts, wir haben selbst nichts.“ Dann verschwand auch sie in der Tür hinter der Theke. Holt schob die Gardine zur Seite. Die verschneite Dorfstraße war menschenleer. Er trat durch den Hinterausgang auf den Hof. Die Mauer zwischen Schuppen und Stall war nicht hoch. Er sah hinüber, sah freies Feld, und der Wald war nahe. Befriedigt kehrte er ins Haus zurück. Die Gaststube hatte sich unterdessen gefüllt. An mehreren Tischen saßen Bauern. Sie beachteten Holt nicht. Er hängte sich die zusammengerollte Zeltbahn über die Schulter, brannte sich eine Zigarette an, trank das Bier. Er fror. Er war übernächtig, von Schlaflosigkeit überreizt. Er hatte den ganzen Tag nichts gegessen und fühlte sich schwach vor Hunger. Er hätte sich doch an Vetters Weg halten sollen, dachte er. Es war 111
ein Fehler gewesen, daß er den Zug früher verlassen hatte. Er entschloß sich, zur Bahnstation zurückzulaufen; ihm graute bei dem Gedanken an die sieben Kilometer Weges. Da sah einer der Bauern am Nebentisch durchs Fenster, richtete seinen Blick auf Holt und bewegte warnend den Kopf. Holt trat durch den Hinterausgang. Im Korridor hörte er, wie vorn die Tür geöffnet wurde, hörte benagelte Stiefel auf den Dielen... Er kletterte über die Mauer und rannte querfeldein. Am Waldrand blieb er stehen und spähte zurück. Dann lief er auf gut Glück ins Gehölz. Auf einer Schonung orientierte er sich nach den Sternen; die Nacht war eisig, der Himmel klar. Holt wandte sich nach Westen; dort war der Horizont hinter dem Wald einen Schein heller gefärbt, obwohl die Sonne schon vor Stunden untergegangen war. Er marschierte unverzagt. Er überquerte eine Chaussee und achtete nicht auf die Spuren vieler Lastwagen im Schnee; er hielt sich weiterhin westlich, in Richtung des so seltsam hell leuchtenden Horizonts. Die Kiefern standen dichter, er drang durch Gestrüpp, durch ein Verhau von Büschen und fand sich unvermittelt auf freiem Gelände im Licht vieler Bogenlampen vor einem hohen Stacheldrahtzaun. Der Schreck ging ihm durch und durch: das letzte Licht des Westhimmels war nichts anderes gewesen als die Beleuchtung jenes Trappenlagers, vor dem er gewarnt worden war. Er war wie gelähmt, und von einem hölzernen Wachturm rief ihn eine unverständliche Stimme an. Mit einem Satz sprang er in die Büsche. Hinter ihm zerriß ein kurzer Feuerstoß aus einer Maschinenpistole die Stille. Holt lief. Kiefernäste peitschten sein Gesicht, er stolperte über eine Wurzel, stürzte, raffte sich auf und hetzte weiter. Als er wieder die Chaussee überquerte, faßten ihn die Scheinwerfer eines Autos. Rufe, ein Schuß, Holt floh weiter durch den Wald, Panik ergriff ihn, er rannte gegen einen Baum, daß ihm fast die Sinne schwanden, aber er erreichte die Schonung und wandte sich nach links, nach Norden. Der Wald ringsum war lebendig geworden. Holt floh mit keuchendem Atem, dann und wann 112
tönten Rufe, einmal nahe, dann wieder fern. Holt bog nach links, wieder nach Westen, er hörte Stimmen nahe vor sich und warf sich zwischen ein paar dicht stehende Kiefern. Die Stimmen kamen ganz nahe, Holt preßte das Gesicht in den Schnee. Wenn sie ihn hier faßten, dann hielten sie ihn für einen Spion. Die Stimmen entfernten sich. Holt sprang auf, er war am Ende seiner Kraft, das Gelände fiel ab, der Wald endete, und wieder Rufe, kein Zweifel, er war entdeckt, er taumelte einen Abhang hinab, er sah vor sich eine Mauer von Röhricht und hetzte am Ufer entlang; ein Bootssteg führte ins Rohr, die Planken dröhnten, Holt sah den See. Der See war schmal, war zugefroren und beschneit. Holt stieg aufs Eis, die Eisdecke ächzte, bog sich unter seinen Füßen, singend liefen ihm Sprünge voraus. Hinter ihm war Geschrei, er sah im Laufen zurück und sah vor dem weißen Abhang des Ufers Gestalten auf dem Bootssteg, und jemand sprang aufs Eis, und das Eis zerkrachte. Holt floh. Wieder knallte es hinter ihm, er warf sich hin und kroch auf dem Bauch weiter. Nun war Stille, die Verfolger waren mit sich selbst beschäftigt, und schon erkannte Holt vor sich den Rohrsaum des westlichen Ufers. Das Eis war nicht mehr beschneit, war naß und mürbe. Holt kroch auf allen vieren, brach mit beiden Händen zugleich durch die dünne Decke, brach mit Brust und Gesicht und dann mit dem ganzen Körper ein. Todesangst packte ihn. Das Wasser drang unter die Kleider, aber eisiger war die Angst, die ihn lähmte. Er kämpfte sich mit verzweifelten Schwimmbewegungen voran, zerschlug sich die Hände am splitternden Eis, umsonst, er versank, schluckte Wasser, verschluckte sich, die Beine fuhren in grundlosen Modder, die Sinne schwanden, die Hände öffneten und schlossen sich krampfhaft und faßten das Röhricht, und mit erlöschender Kraft zog er sich ins Flache und kroch ans Ufer. Dort sank er zusammen. Er lag lange bewegungslos. Er spürte die Erschöpfung nur noch als erlösende Müdigkeit. Schlaf lockte, Vergessen. Kälteschauer rüttelten ihn wach und wurden zu wohliger Wärme, die ihn wie Betäubung umhüllte. Er wußte nicht, daß er 113
sich aufraffte und wankend weiterlief, immer weiter, das Übermaß der Angst, der Erschöpfung hatte ihn verwirrt, und sein Bewußtsein war wie betäubt. Die Kleidung gefror und knisterte bei jeder Bewegung. Ein Waldstreifen. Parkanlage, Lichter, Villen, Gärten, stieß an einen Zaun, wollte hinüber, fiel auf der anderen Se schwer in den Schnee. Dort blieb er liegen. Später riß ihn ein wilder Kälteschauer noch einmal aus der Betäubung; er schleppte sich zum Haus und schlug beide Fäuste gegen die Tür. Unfaßbares Bild: eine Krankenschwester, in Licht gehüllt, in heller Tracht, das Häubchen auf dem blonden Haar... Ein Traumbild, das aus der Erinnerung stieg, unwirklich, ganz traumhaft und unirdisch, sie lachte, lachte, paßt es Ihnen nicht, wenn ich den Holt ein bißchen vorzieh, ich zieh immer einen vor, was sagen Sie da, Sie müssen schlafen, versuchen Sie doch zu beten: Schwester Regine! Kälte schüttelte Holt und ließ seine Zähne aufeinanderschlagen. Erschrak sie bei seinem Anblick? Erkannte sie ihn wieder? „Helfen Sie mir“, sagte Holt. Das Traumbild atmete, trat zur Seite, verschwamm im Licht. Die Treppe war steil, immer höher hinauf, unters Dach. Ein Flüstern: „Leise!“ Ja, leise, der See ist nahe, leise der Schlüssel, leise das Schloß, eine Kammer, und Licht. „Schwester Regine“, sagte Holt. „Ich heiße Schwester Maria“, sagte sie. „In zehn Minuten kommt die Nachtschwester, dann bin ich frei.“ Sie schloß ihn ein. Er horchte den Schritten nach. Mit mechanischen Bewegungen zog er sich aus, nahm ein Handtuch vom Waschständer, frottierte sich, ermattete, saß auf einem Stuhl, nickte ein, doch die Kälte riß ihn aus dem Halbschlaf. Vor dem eisernen Ofen lagen Kohlen, auch Holz, er kniete nieder und heizte ein, wrang über der Waschschüssel die Sachen aus; das alles geschah unbewußt. Dann kroch er ins Bett, zitternd vor Kälte, der Körper war abgestorben, die Gedanken starben ab, er brach im Schlaf ein wie im dünnen Eis und schreckte in Todesangst auf.
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Schwester Maria stand im Zimmer, hängte die nassen Sachen auf und trat dann auf Zehenspitzen ans Bett. Sie merkte, daß Holt nicht schlief, und schaute stumm und befangen auf ihn herab. „Schwester Regine“, sagte er. Sie schüttelte den Kopf. „Ich heiße Maria.“ Er nickte. „Gut. Maria. Erkennen Sie mich nicht?“ Sie setzte den Teekessel auf den Ofen. Er sagte: „Sie haben mich doch gepflegt, in der Slowakei!“ Sie sagte befremdet: „Sie verwechseln mich, das bin ich nicht gewesen.“ „Sie sind es nicht gewesen“, sagte er, sie unverwandt ansehend, „nein, nein, wir sind es alle nicht gewesen, wir sind nicht mehr die, die wir waren, wir waren überhaupt noch nicht wir, das ist es ja...“ Die Augen fielen ihm zu. „... wir müssen endlich wir selbst werden.“ Sie fühlte ihm den Puls. „Sie haben Fieber!“ „Nicht doch Fieber!“ sagte er. „Ich träume, aber ich bin wach, und ich weiß nicht, wo ich bin!“ „In Ratzeburg“, antwortete sie. Auf dem Ofen zischte der Teekessel. Schwester Maria brühte eine Tasse Pfefferminztee und brachte sie Holt. Er richtete sich auf. Er trank in kleinen Schlucken, ihm wurde heiß. „Und Sie?“ fragte er. „Wie kommen Sie hierher? Sie wollten sich doch daheim in Schwerin was suchen!“ „Ich bin nicht aus Schwerin“, erklärte sie geduldig. Sie nahm ihm die leere Tasse aus der Hand. „Ich bin in Hamburg ausgebombt. Meine Eltern sind bei den Angriffen umgekommen.“ Er fror wieder, zog sich das Deckbett bis zum Kinn, fragte weiter: „Und jetzt sind Sie ganz allein?“ Es dauerte lange, ehe sie antwortete. „Ich bin verlobt. Ich warte noch. Er war zuletzt in Rußland.“ Sie richtete sich auf dem Sofa beim Fenster mit ein paar Decken ein Lager her. Sie schaltete das Licht aus und entkleidete sich im Dunkel, vorn beim Ofen. Er fragte: „Schwester Regine, warum wollen Sie mich nicht erkennen?“ Sie antwortete nicht. „Sie haben mich gleich 115
erkannt“, fuhr er fort, „sonst wären Sie nicht so erschrocken!“ Sie antwortete nicht. „Sie sind erschrocken!“ beharrte er. „Ich dachte...“, rief sie und verstummte. Dann sagte sie: „Morgen müssen Sie fort. Wenn man Sie hier findet, bekomme ich Unannehmlichkeiten.“ Auf dem Weg zum Sofa ging sie bei ihm vorüber, er hielt sie an der Hand fest, dann lag sie an seiner Brust und weinte, weinte... „Hör auf zu weinen!“ sagte er. „Du könntest auch unterm Bombenschutt liegen, und es könnte sein, daß sie mich im Frühjahr aus dem See fischen.“ Er strich ihr übers Haar. „Weine nicht. Freu dich, daß wir leben.“ „Warum mußtest du kommen?“ sagte sie unter Tränen. „Ich hatte mich schon abgefunden, ich hatte meinen Frieden!“ Er legte den Arm um sie und zog sie enger an sich heran; ihre Wärme flutete über ihn hin und weckte ihn. Er sagte: „Es hat uns zusammengeweht, damals und heute. Freu dich, daß wir leben!“ Das Fieber packte ihn, noch ehe der Morgen kam, und stieß ihn aus flachem Schlaf zurück in das eisige Grab des Sees. Die Schollen zerkrachten, er versank, er schlug verzweifelt um sich und schrie. Erschöpfung folgte, kurzes Vergessen, und in Fieberschauern neuer Absturz in die Tiefe der Vergangenheit. Mansarde, Labor, Trichter, Flasche, auf einen Diebstahl kommt es nun auch nicht mehr an... Korridor, Woge der Trunkenheit, hab dich nicht so, dann füg ich mich Vater, aber du nimmst mich jetzt mit!... Faustschlag, Zuchthäusler, Scheißkerl, besoffner, Tanzbar, schummriges Licht, und Gundels Augen, Gundels Blick... Geh zu Schneidereit, geh, ich hab zuviel Dreck am Stecken, geh... Sorgenfalten, gütige Augen, Sie wissen gar nichts, Sie reden von Humanität und haben Hitler gewählt... Herbstlicher Waldrand, Birkenholzkreuze, du bist es, ich dachte, du hast mich vergessen, ich dich vergessen!, und Gundels Blick und Gundels Lächeln... Chaos, Camp, Hunger, Feuer, Panzerspitze, Kellerloch, Leutnantsmütze, aufhängen, nichts wie aufhängen, draußen am Birnbaum... Eis und Schnee und Oderbrücke... 116
Karpatenwald, Sägemühle, entstellte Stimme, des Name war Tod, und die Hölle folgte ihm nach... Dann stand das Kind am Wege, über ihr lastete der Himmel mit seinem Regengewölk, warum sieht sie so traurig aus?... Glühender Lichtschein, Kellergang, laß doch das Kind, mich mußt du retten, und Feuersturm, brennender Asphalt, schwarze Strünke mitten im Feuer... Trichterfeld, umgestürzte Kanone, ganze Bedienung in Stücke gerissen... Drehender Strudel von Bildern, Angst und Ermattung... Und zwischendurch immer wieder das weiße Häubchen auf blondem Haar, wer bist du, ich kenn dich nicht, und ein fremdes Gesicht, Hornbrille, Arztkittel, das Fieber noch nicht runter?, versuchen wir Eleudron intravenös, und Luminal, wenn er wieder unruhig wird... Schwester Maria wickelte Holt nasse Tücher um die Brust. Er schlug die Augen auf. Siehst du mich, erkennst du mich? Ich seh dich... aber hör doch, was ist das? „Das sind die Weihnachtsglocken vom Dom“, sagte sie „heute ist Heiliger Abend! Ich bete zu Gott für dich, aber schlaf, du mußt schlafen!“ Das Fieber erlosch, die Bilder verblaßten. Holt schlief, und er schlief sich gesund. Holt fand sich in einem Krankenhaus wieder. An der gegenüberliegenden Wand stand ein zweites, leeres Bett. Durch das weit geöffnete Fenster drang kalte Winterluft in den Raum. Schwester Maria saß bei ihm. Sie nannte ihn Werner, sie sagte du. Aber er hatte sie noch nie gesehen. Sie hatte ein rundes, junges Gesicht und gutmütige graue Augen unter Brauen, die so hell waren wie das Haar, das sie in blonden Flechten um den Kopf gelegt trug. Er sah sie an und grübelte. Bis zur Flucht über den zugefrorenen See entsann er sich jeder Einzelheit. Wie ging es dann weiter? Er quälte sich vergebens damit ab, die Lücke in seiner Erinnerung zu schließen. „Ich bin im Eis eingebrochen“, begann er unvermittelt. „Dann hab ich geträumt.“ Sie sah zur Seite. „Im Krieg hab ich eine 117
Schwester gekannt“, fuhr er fort, „sie hieß Regine, und ich hab seither nie wieder an sie gedacht... Ich hab geträumt, daß ich ertrunken war, ich bin gestorben, und es war finster und eisig kalt. Plötzlich wurde es hell, und Schwester Regine war da, ganz in Licht gehüllt. Dann wurde es auch warm, und es war Nacht, und sie hat bei mir gelegen... Und jetzt bin ich hier aufgewacht.“ Schwester Maria schaute standhaft an ihm vorbei. Er sagte: „Ich glaube, es war gar kein Traum.“ Sie ging wortlos aus dem Zimmer. Am Nachmittag, begleitet von Schwester Maria, kam der Arzt, ein Mann mit Hornbrille, dreißigjährig, voller Wohlwollen und augenzwinkernder Geschwätzigkeit. „Schwerenöter“, sagte er, „wie geht's uns beiden, na, na?“ „Was war mit mir los?“ fragte Holt. „Bißchen Fieber“, sagte der Arzt, während er Holt untersuchte, „wir haben tüchtig phantasiert, kleine Infektion, vielleicht die Lunge, erst sah's nach Meningitis aus, aber solche Dummheiten machen unsere Hirnhäute zum Glück nicht, wir riskieren höchstens so 'n kleines amentielles Syndrom, wie der Mediziner sagen würde, wir haben ja wohl auch mächtige Strapazen hinter uns, was? Aber nun rappeln wir uns geschwind wieder auf.“ Und zu Schwester Maria sagte er: „Morgen für alle Fälle Thorax röntgen, ob vielleicht doch was an der Lunge war...“ Er legte den Arm um ihre Schultern. „Na, na?“ sagte er aufmunternd, und Schwester Maria errötete. „Da ist er heimgekehrt, der Schwerenöter, der totgeglaubte Bräutigam zur Mitternacht wie weiland Lenorens Wilhelm aus der Prager Schlacht, und dann will er uns abkratzen, aber solche Dummheiten machen wir nicht mit, was, Schwester?“ Er lachte jovial und ging hinaus, und Schwester Maria folgte ihm, ohne Holt noch einmal anzusehen. Holt lehnte in Schwester Marias Zimmer am Türpfosten, die Hände in den Hosentaschen. Auf dem Tisch stand ein Weihnachtsbäumchen. Der Abreißkalender zeigte den 3. Januar 1946. Holt dachte nach. Wie nun weiter? dachte er. Hinter der unüberbrückbaren Gedächtnislücke dieser Krankheitstage lag alle Vergangenheit weit zurück; die Monate 118
bei seinem Vater waren verblaßt, als habe er sie nur geträumt. Er ging zum Fenster und sah hinaus. Hinter ihm öffnete sich die Tür. Schwester Maria nickte ihm zu. Ihr Dienst war beendet. Sie brühte Tee, stellte ein paar Pfefferkuchen auf den Tisch und steckte die Kerzen auf dem Weihnachtsbaum an. Dann saß sie auf dem Sofa und nähte, zum Kerzenlicht geneigt, an einer ihrer weißen Schürzen. Holt hatte nichts zu rauchen und hielt ein Streichholz zwischen den Zähnen. Er betrachtete Schwester Marias rundes und gutmütiges Gesicht, das immer ein wenig gerötet war. Wie nun weiter? dachte er wieder. „Röntgenaufnahme ohne Befund“, sagte er. „Ich bin gesund. Und was nun?“ Sie ließ die Hände mit der Näharbeit in den Schoß sinken. „Es ist eine schlimme Zeit“, sagte sie langsam; sie war vor ihm stets befangen, sie sprach immer etwas unbeholfen, es bereitete ihr Mühe, Worte für ihre Gedanken zu finden, manchmal schaute sie dabei sekundenlang auf ihre Hände. „Viele Menschen haben keine Bleibe“, sagte sie mit ihrer etwas heiseren Stimme. „Ich habe mit dem Chef gesprochen. Du brauchst nicht wieder fort. Wenn du dich erholt hast, wirst du für die Heizung sorgen, im Frühjahr für den Garten. Du hast zunächst freie Wohnung und Kost. Später wirst du vielleicht als Pfleger angelernt.“ Holt antwortete nicht. Was will ich auf der Welt? fragte er sich. Warum soll ich nicht hierbleiben und für die Heizung sorgen und später Krankenpflege lernen? Schwester Maria legte ihre Handarbeit beiseite. Sie war auf einmal gar nicht mehr befangen. „Ich glaube, unser Herrgott wollte dich warnen, als er dich beinah im See ertrinken ließ“, sagte sie. „Du hast viel gefehlt in deinem Leben.“ Er nahm das Streichholz aus dem Mund und zerknickte es zwischen den Fingern. „Woher weißt du das?“ fragte er. „Du hast im Fieber alles erzählt“, sagte sie. „Es ist ein Fingerzeig, daß du hierhergeführt wurdest.“ Sie sagte es überzeugt, und Holt merkte: sie glaubte, was sie sagte. Fingerzeig, Herrgott... Das waren Worte, die auf einmal trostreich klangen, verlockend, und sie lockten ihn, es nach all den chaotischen, ruhlosen Jahren ohne Gott nun endlich mit 119
einem Leben der Demut und des Glaubens zu versuchen, damit alle Sorge ein Ende finde und jede heimliche, quälende Frage verstumme. Er setzte sich zu Schwester Maria aufs Sofa. Sie war ein schlichtes und einfaches Mädchen, ihre Einfalt hatte etwas Unbeirrbares, das zugleich überzeugend wirkte. Er nahm sie ernst, er nahm auch ihre Worte ernst. „Ich hab viel gefehlt in meinem Leben...“, wiederholte er nachdenklich. „Aber ich war nicht von Anfang an so heruntergekommen! Ich hatte doch einmal Ideale, ich bin ins Elend hineingestoßen worden wie wir alle.“ „Weil wir vom Weg des Glaubens abgewichen sind“, sagte sie mit einem Eifer, der nicht recht zu ihr paßte. „Darum hat Gott uns alle gestraft.“ Holt spürte mit einem Gefühl der Enttäuschung, daß dies nicht ihre eigenen Worte waren, sie brauchte sie nicht, wie vorhin ihre Rede, erst mühsam zusammenzusuchen, und sie hatte das alles sicherlich schon oft gehört und gesagt: „Der Krieg und all die Heimsuchungen und die vielen Toten lehren uns, daß wir zu Gott zurückkehren müssen.“ „Na schön“, sagte er, immer tiefer enttäuscht, und er erhob sich und stand wieder mitten im Zimmer. „Und wie fang ich das an, die Rückkehr zu Gott?“ „Wann hast du das letztemal gebetet?“ fragte sie. Er schob die Hände in die Hosentaschen und blickte auf ihr Gesicht herab, das der Eifer rötete. Und nun erinnerte er sich an Schwester Regine; auch Schwester Regine hatte gesagt: Versuchen Sie doch zu beten!, und wie damals regte sich Auflehnung in Holt, wuchs und schlug in Erregung um: Ich will keinen Gott! dachte er. Die Menschen müssen dran schuld sein, an Not und Elend und den vielen Toten, vielleicht weil sie unvollkommen sind, oder wer weiß, warum. Gott soll nicht schuld sein, sonst wär's zum Verzweifeln! Auf einmal überschaute Holt, aus großer Distanz, sein bisheriges Leben: er hatte sich verirrt, er war den Irrweg nicht als einzelner gegangen, und er wußte: kein Gott trug daran Schuld. Denn eine, diese eine Wahrheit hatte sich für immer in ihn eingebrannt: nicht Vorsehung, Schicksal, Gottes Wille lenkte 120
die Schritte des Menschen, nein, der Mensch war des Menschen Schicksal, und die Macht der Vorsehung war die Macht des Menschen über den Menschen. Warum aber der eine mächtig und der andere machtlos, warum der Mächtige zur Gewalt über den Machtlosen erhoben war, wer die Rollen verteilte und die Maßstäbe setzte von Gut und Böse, von Recht und Unrecht und warum die Menschen einander feind waren und durch Abgründe voneinander getrennt - Holt wußte es nicht. Aber eins wußte er jetzt wieder: nach dem Warum unaufhörlich zu forschen, endlich ganz von vorn anzufangen und zu suchen, zu fragen, wie es ihm einmal vage als Hoffnung und Möglichkeit des Überlebens und Weiterlebens vorgeschwebt war - das allein konnte seinem Leben in Zukunft Sinn und Richtung geben. Er schaute in die brennenden Lichter des Baums. Er dachte an Gundel. Er fragte laut und doch nur sich selbst: „Konnte mir das nicht eher einfallen? Mußte ich erst das Letzte, was mir geblieben war, verspielen und verlieren?“ Jetzt erst fiel ihm Schwester Maria wieder ein. Sie saß auf dem Sofa, sie war weit von ihm entfernt. „Ich weiß, daß ich ohne dich vielleicht nicht mehr am Leben wäre“, sagte er, und er hatte Mitleid mit ihr, als er weitersprach. „Ich hab dir zu danken. Aber kein Mensch kann mich halten. Vielleicht kann es dich trösten, daß ich klüger fortgehe, als ich gekommen bin.“ Er setzte sich neben sie, ließ sie den Kopf an seine Schulter legen, ließ sie weinen. „Es hat uns zusammengeweht“, sagte er. „Es weht uns wieder auseinander.“ 2
Holt
langte gegen Mittag in Hamburg an. Er ließ sich beim Bahnhofsfriseur die Haare schneiden, ließ sich auch rasieren und schlug dann in einer Telefonzelle im Teilnehmerverzeichnis nach. Rennbach, Franziskus, Kommerzienrat, Langenhorn, Ochsenzollweg 3. Die Nummer stimmte nicht mehr, er mußte erst bei der Bahnpost nachfragen. Das Besetztzeichen sperrte 121
schon nach den ersten Ziffern die Leitung. Endlich ging der Ruf hinaus. Der Kommerzienrat war zu dieser Stunde in seinem Büro am Holstenwall. Das Geduldspiel mit dem Automaten wiederholte sich; ein gereiztes Hin und Her folgte, ehe die Sekretärin bereit war zu verbinden. Dann meldete sich die energische Stimme des Onkels: „Wer spricht dort?“ In der Leitung zischte und knarrte ein Störgeräusch. Holt glaubte die Verbindung abgerissen, aber da war die Stimme wieder: „Sind Sie wirklich Werner Holt? Junge, wir forschen nach dir über alle Suchdienste! Dorothea hoffte, du seist bei deinem Vater.“ „Ich möchte wissen, wo Mutter wohnt“, rief Holt ungeduldig. „Bei Marianne, draußen in Wiedenthal, Neugrabener Straße 11.“ Er brauchte lange, bis er nach Wiedenthal hinausfand. Der Vorortzug fuhr alle Stunden und war so überfüllt, daß Holt auf dem Bahnsteig zurückblieb und nun eine Stunde warten mußte. Von Harburg ging er zu Fuß, erst durch lange Straßenzüge, dann durch die bewaldeten Hügel der Schwarzen Berge und schließlich entlang der Bahnlinie, an der Kolonnen von Gleislegern arbeiteten. Hier, war nur wenig Schnee gefallen. Holt überquerte die Bahn, ging durch Villenstraßen, fragte wieder nach dem Weg. Er stand vor einem Einfamilienhaus. Das Sockelgeschoß war aus dunklen Klinkern gemauert, über das verputzte Obergeschoß zog sich ein Weinspalier. Im Vorgarten ragte eine Blautanne hoch über das Dach. Er rüttelte vergeblich an der Gartenpforte; er war nun doch aufgeregt. Dann klingelte er. Ein Mädchen von vielleicht achtzehn Jahren öffnete die Haustür, ein Mädchen mit dunklem, fast schwarzem Haar, über dem Kattunkleid eine weiße Servierschürze. Ja, richtig, dachte Holt, Mutter hat immer auf saubere Schürzen geachtet! Zwei braune Kleinpudel fuhren mit Gekläff aus dem Haus, und endlich brummte der Summer. Holt drückte die Gartentür auf und scheuchte die Hunde mit dem Fuß von sich. „Mokka!“ rief es vom Haus her. „Mokka! Coca-Cola!“ Sogleich verstummte das Gekläff. Die Hunde sprangen schweifwedelnd
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zur Tür. Dort, auf dem Treppenabsatz, stand nun eine große dunkelhaarige Frau, aufrecht, ein Lächeln im Gesicht. Das war Mutter. Sie legte den Arm um seine Schulter. „Wir sind glücklich“, sagte sie. „Leg ab. Vor zwei Stunden hat Franz angerufen und die freudige Nachricht durchgegeben. Willkommen! Alles ist vorbereitet. Du kannst sofort baden. Willst du erst essen?“ In der Diele musterte er seine Mutter mit gesenkten Lidern. Wie lange hatte er sie nicht mehr gesehen? Zweieinhalb Jahre. Er fand nicht die geringste Veränderung in ihrem Äußeren. Die Zeit war spurlos an ihr vorbeigegangen. Noch immer war Frau Holt schlank, groß und stattlich, noch immer aufs peinlichste gepflegt, und ihrem Lächeln fehlte noch immer jede Wärme. Ja, diese Frau, diese auffallend schöne Frau war seine Mutter: Dorothea Holt geborene Rennbach. Vierzig Jahre war sie heute alt... Die Pudel sind neu, dachte Holt, als die Hunde neugierig seine Beine beschnüffelten, die Pudel hat sie früher noch nicht gehabt... „Also wirst du erst essen“, sagte Frau Holt. „Brigitte, sind Sie mit dem Imbiß fertig?“ Das Mädchen wartete in der Diele, abseits beim Kücheneingang. Holt drehte sich zu ihr um. „Brigitte?“ fragte er. „Sie heißen nicht Lieschen?“ Sie schüttelte den Kopf. Er fuhr fort: „Mutters Mädchen hießen früher alle Lieschen, eins wie das andere. Es war unbequem, sich immer wieder an neue Namen zu gewöhnen, nicht wahr, Mama?“ Frau Holt lächelte freundlich, eine Spur zu freundlich. Sie führte ihren Sohn durch eine verglaste Flügeltür in den Wohnraum. Holt streifte Orientteppiche und Mahagonimöbel mit einem flüchtigen Blick. Alles wie einst und im alten Stil, dachte er. In einem Sessel, seiner Mutter gegenüber, streckte er die Beine aus. Er war froh, der Straße, den überfüllten Zügen entronnen zu sein. Er sah seiner Mutter ähnlich. Aber es war nur eine äußere Ähnlichkeit. Sonst unterschied er sich in allem von ihr, im Mienenspiel, in seinen Gesten, im Temperament und in der Schnelligkeit des Denkens. Frau Holt war langsam in Wort und Gebärde. Sie bewegte beim Sprechen keinen Muskel ihres 123
Gesichts, und ob sie lächelte oder die Brauen hob, immer geschah es bewußt und willentlich, und jede Miene war beherrscht. Sie legte im Sitzen die Ellenbogen an den Körper und die Hände ineinander, wie eine Sängerin, die am Flügel steht. Alle ihre Bewegungen waren berechnet und genau auf den Zweck abgestimmt. Ihre Stimme klang dunkel, ihre Rede war ausgewogen und jedes Wort klar artikuliert. Sie trug ein hellgraues Wollkleid von strengem Schnitt, hoch geschlossen, mit weiten Ärmeln, und als einzigen Schmuck einen breiten, glatten Goldreifen am rechten Handgelenk. „Bitte erzähle mir, wo du herkommst“, sagte sie. „Ich habe Ende des Jahres an deinen Vater geschrieben, ohne bisher Antwort zu erhalten.“ „Wo ich herkomme“, wiederholte Holt. „Wie man's nimmt. Aus dem Gefangenenlager, auf allerhand Umwegen. Aber lassen wir das.“ Bei dem Wort „Gefangenenlager“ wendete Frau Holt ihm das Gesicht zu und musterte die umgefärbte Montur. „Wir werden die Sachen am besten verbrennen. Franz hat einstweilen Hose und Jumper hergeschickt, auch Wäsche.“ Sie hob die dunklen Brauen. „Hast du Ungeziefer?“ Er lächelte. Seit mindestens einem Jahr weiß sie nicht, ob ich lebe... Hast du Ungeziefer? „Kann man's wissen?“ entgegnete er. Sie überhörte die Ironie. „Ich vermute, daß du dich einige Zeit bei deinem...“ Sie verstummte mitten im Satz. Brigitte brachte den Imbiß, und sie setzte das Tablett auf der Anrichte ab. Dann deckte sie den runden Klubtisch, stellte einen Teller vor Holt hin und legte Besteck und Serviette dazu. Es gab Eierkuchen, mit Marmelade bestochen. Der Aufwand an Porzellan und Silber erschütterte Holt. Brigitte legte vor, von silberner Platte, mit silbernem Besteck, rückte dann die Platte zurecht und flüsterte: „... wohl zu speisen...“ Tatsächlich: zu speisen!, dann entfernte sie sich. „... Vater aufgehalten hast“, vollendete Frau Holt den vorhin begonnenen Satz, kaum daß sich die Tür hinter dem Mädchen geschlossen hatte. „Hat er dich zu mir geschickt?“ Ehe Holt antworten konnte, betrat seine Tante das Zimmer, die fünfzehn Jahre ältere Schwester seiner Mutter, eine große, knochige Frau mit eisgrauen Haaren und harten, wie aus Holz 124
geschnitzten Zügen. Das Lächeln, das die Schneidezahnreihen eines makellosen, offensichtlich künstlichen Gebisses freilegte, paßte schlecht in das maskenhaft starre Gesicht. Während sie lächelte, blickten die braunen Augen kalt, beinahe feindlich auf Holt. Er hatte sich erhoben. „Bitte behalte Platz“, sagte Tante Marianne mit tiefer, männlicher Stimme. „Ich wünsche dir guten Appetit.“ Er setzte sich und aß weiter, er fühlte die Blicke der beiden Frauen auf sich gerichtet. „Sieh nur, Thea!“ hörte er Tante Marianne sagen. „Werner ist voll und ganz dein Ebenbild!“ Frau Holt antwortete nicht. Ihre Schwester schaute prüfend auf das Geschirr und sagte dann leise und schnell: „Diese Brigitte wird nie begreifen, daß man nicht mit zwei Gabeln vorlegen kann. Le style c'est l'homme!“ Holt schob den Teller von sich. Er lehnte sich in den Sessel zurück. „Es wird das beste sein, du badest jetzt“, sagte Frau Holt. In der Diele tollten die beiden Pudel umher. Am Fuß der Treppe lag zusammengerollt ein roter Kokosläufer. Oben, im Bad, sah Holt zu, wie seine Mutter den vernickelten Hahn aufdrehte und wie das Wasser in die Wanne floß. „Marianne hatte eine Zeitlang englische Offiziere einquartiert“, erzählte sie. „Zum Glück sind die Häuser hier nicht beschlagnahmt worden. Franz hat bis jetzt verhindern können, daß wir Ausgebombte aufnehmen müssen.“ Sie verließ das Bad. „Die Engländer haben Kohle hiergelassen“, sagte sie im Hinausgehen, „sonst müßten wir gar noch frieren.“ Holt verriegelte die Tür. Er streckte sich in dem heißen Wasser aus. Ein wohliges Wärmegefühl überflutete ihn. Hier war alles beim alten geblieben, an diesem Haus waren Krieg und Zusammenbruch so gut wie spurlos vorübergegangen. Hier öffnete wie einst ein Mädchen in weißer Schürze, hier wurde wie einst von silbernen Platten gegessen, und wie einst verstummte Mutter mitten im Wort, wenn das Mädchen ins Zimmer trat. Zwei Pudel sprangen in der Diele umher, Mokka und Coca-Cola, und Tante Marianne nahm Anstoß daran, daß
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ein Omelett mit zwei Gabeln vorgelegt wurde: wie der Stil, so der Mensch. Es war unglaublich! Holt begann endlich, sich abzuseifen, mit einer schweren, duftenden Seife. Er beschloß, sich zurückzuhalten, er durfte keinesfalls impulsiv, voreilig handeln. Es galt abzuwarten, dabei höflich, notfalls ein bißchen ironisch zu sein. Gefallen ließ er sich nichts, aber er durfte auch keinen Streit anfangen. Er stieg aus der Wanne und frottierte sich. Er dachte viele Jahre zurück: Mutter hat's bei mir schon immer mit Bestechung machen wollen, bestimmt versucht sie's wieder damit. Weiße Unterwäsche aus Baumwolle lag für ihn bereit, eine flauschige, leichte Flanellhose, dazu ein Pullover mit tief angesetzten weiten Ärmeln. Er betrachtete sich im Spiegel. Nun begann also der zweite Versuch, ins Zivilleben zurückzukehren. Vielleicht hatte er diesmal mehr Glück; er durfte kein zweites Mal scheitern. Es war gut, daß er nicht deprimiert und verzweifelt, wie er Vater verlassen hatte, hier bei Mutter angelangt war; es war gut, daß er sich in Ratzeburg auf sich selbst hatte besinnen können. Er suchte aus der alten Hose das Geld hervor, das im Wasser des Sees wider Erwarten nicht allzuviel gelitten hatte, nahm auch den Zettel mit der Adresse der Klinik an sich. In der Flanellhose fand er zu seiner Überraschung ein Päckchen Zigaretten, Reemtsma R 6, Friedensware... Er verließ das Bad. An der Treppe blieb er überrascht stehen. In der Diele kniete Brigitte, in einem grauen Kittel. Sie rieb das Parkett mit Bohnerwachs ein. Während sie so kniete und arbeitete, wurde in Holt ein ähnliches Bild lebendig:... es war dunkel, die Luft roch muffig, hinter dem ersten Treppenabsatz kniete ein Mädchen, barfuß, in grauer Schürze, und scheuerte die hölzernen Stiegen... Das war Gundel. Damals. Holt lehnte sich nachdenklich ans Geländer, holte eine Zigarette hervor und rauchte. Brigitte hatte ihn noch nicht bemerkt. Das Bild jenes düsteren Treppenhauses war deutlich in seiner Erinnerung, aber dann wechselte die Szene, und er sah Gundel zwischen seinem Vater und Doktor Hagen beim
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Essen sitzen... Er konnte wieder unbefangen an Gundel denken; die Zeit bei Vater lag weit zurück. Langsam stieg er zur Diele hinunter. Brigitte richtete sich auf, um ihn vorbeizulassen. Er nickte ihr zu. Er wußte nichts von ihr, er kannte von früher her Tante Mariannes Art, mit Hausangestellten umzugehen. Vielleicht sah er Brigitte zu lange an, denn sie schaute zu Boden und nahm wieder den Lappen zur Hand. Sie hatte ein zartes schmales Gesicht, und zart waren auch ihre Hände; die Augen waren dunkel wie das Haar, das sie kurz geschnitten und straff nach hinten gekämmt trug. Er fragte: „Sind Sie schon lange hier?“ „Seit August“, antwortete sie. Ihre Sprache gefiel ihm, der Anklang an eine Mundart, die dem hiesigen Platt ähnelte. „Und vorher?“ fragte er. „Während des Krieges war ich im Pflichtjahr“, antwortete sie nun unbefangen und sah kniend zu ihm auf. „Ich bin aus Pommern... die Flucht und die Lager und das alles... Und jetzt bin ich eben hier.“ Er nickte zerstreut. Pflichtjahr, dachte er, alles genau wie bei Gundel... Und in Gedanken sah er Brigitte neben Doktor Hagen beim gemeinsamen Abendessen sitzen; warum auch nicht? Sie hatte kluge Augen. Er nickte ihr noch einmal zu, etwas unkonzentriert, denn er dachte über den Zufall nach, der mit den Menschen sein Spiel trieb, mit Gundel, mit Brigitte, und vielleicht auch mit ihm selbst. Im Wohnzimmer saß Frau Holt auf dem Diwan. Die beiden Pudel lagen zu ihren Füßen. „Hat dir das Bad gutgetan?“ fragte sie freundlich. „Franz wird heut abend vorbeikommen. Dann halten wir Familienrat.“ Familienrat? Bißchen antiquiert, dachte er. Frau Holt schloß die Flügeltür, die in die Diele führte. Steif und aufrecht saß sie dann zwischen ihren Hunden, die auf den Diwan gesprungen waren. „Du wirst mir ein offenes Wort nicht verübeln?“ Sogleich fiel ihm ein, daß sie durch die offene Tür seinem Gespräch mit Brigitte zugehört haben mußte. Er war gespannt, was nun kam. Er lächelte. „Bitte.“
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„Du weißt, daß ich dir immer deinen Willen gelassen habe“, sagte Frau Holt und kraulte dabei einen der Pudel am Halse. „Du bist neunzehn Jahre alt, überdies warst du in Kriegsgefangenschaft. Ich habe wirklich nichts dagegen, daß du deinen Spaß mit Brigitte hast. Ich bitte dich lediglich um Dezenz. Marianne ist in ihren Auffassungen sehr eigen.“ Es fehlte nicht viel, und Holt hätte laut herausgelacht. Aber dann erfaßte er den Sinn ihrer Worte. Er erhob sich und trat zum Fenster. Dort stand er mit dem Rücken zum Zimmer. Mutter hat also nichts dagegen, dachte er, ich darf mit Brigitte schlafen, aber ich soll es dezent tun, damit Tante Mariannes Moral nicht leidet! Er hörte seine Mutter sagen: „Ich hoffe, du verübelst mir diesen Hinweis nicht.“ „Ganz und gar nicht“, entgegnete er und drehte sich zu ihr herum. Er reagierte, allen guten Vorsätzen zum Trotz, impulsiv und sagte, mit so viel Ironie, daß sie Frau Holt nicht entgehen konnte: „Ich danke dir für deine Vorurteilslosigkeit. Ich hatte nämlich schon gefürchtet, du könntest mir wegen der Unterhaltung mit Brigitte mal wieder meinen alten ,Hang zum Niederen' vorwerfen.“ Frau Holt zog die Hand, die den Pudel gestreichelt hatte, zu sich heran und saß kerzengerade auf dem Diwan, die Arme angewinkelt und die Hände ineinandergelegt. „Ich weiß, daß die Niederlage viele gesellschaftliche Schranken beseitigt hat“, sagte sie ruhig. „Deine Generation, nach allem, was sie erlebt hat, wird zunächst einmal die überkommenen Lebensformen in Frage stellen, das war nach dem ersten Weltkrieg genauso. Deshalb finde ich nichts dabei, wenn du mit einem Mädchen liebelst, das sozial weit unter dir steht, aber man macht so etwas in der Stille ab, jedenfalls ohne Eklat, nichts anderes wollte ich vorhin sagen. Deine Ironie ist überflüssig.“ Sie hob die Linke zu einer genau bemessenen Bewegung. „Erledigt. Passen dir Franzens Sachen? Er bringt heut abend zwei seiner Anzüge und einen Ulster mit. Für morgen hat Marianne den Schneider bestellt. Mokka, laß das!“ rief sie einem der Pudel zu, der ungestüm mit den Vorderpfoten nach ihr tappte. „Sei so gut, Werner, laß die Hunde in den Garten.“
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Holt ging durch die Diele in den kleinen Vorraum, der als Garderobe diente, und öffnete die Haustür. Die Hunde sprangen hinaus, zwischen die Rosenstöcke, die mit Stroh und Sackleinen umwickelt waren. Er war einen Augenblick unschlüssig und blickte in die Dämmerung. Dann verließ er das Haus. Er ging die menschenleere Straße entlang. Die Hunde liefen ihm nach. Er scheuchte sie zurück. Er wandte sich zwischen den Villen nach Norden, hinab zur Niederung. Alte Fachwerkhäuser lagen am Wege, ein großes niedersächsisches Bauernhaus. Dann stand er am Rande des Ellerholzer Moores, das sich, von kahlem Erlengebüsch bewachsen, weit nach Norden dehnte, bis zur Süderelbe. Es dunkelte rasch. Holt blickte in den Nebel, der langsam herankroch, aus dem Moor in die Gärten der Häuser stieg und die Lichter verschluckte. Er fror. War er heute wirklich heimgekehrt? Vor der Villa, im Nebel, parkte ein schwarzer Opel-Super. Brigitte öffnete und sagte mit leisem Vorwurf: „Man wartet auf Sie.“ Onkel Franz, Franziskus Rennbach, ein zweiundfünfzigjähriger kinderloser Witwer, mit äußerster Sorgfalt gekleidet, kam Holt im Wohnzimmer mit ausgestreckten Armen entgegen und schüttelte ihm beide Hände. „Willkommen...“, sagte er immer wieder, „herzlich willkommen!“ Holt setzte sich. Er betrachtete interessiert diesen grauhaarigen, vitalen Mann, seinen Onkel, der sich Kommerzienrat nannte und vor Energie und Tatkraft zu bersten schien. Der Kommerzienrat fragte Holt nach hundert Dingen, gab sich mit kurzen Antworten zufrieden und nickte, wenn ihm eine Antwort besonders gefiel, lebhaft mit dem Kopf, auf dem sich das graue, noch dichte Haar ein wenig sträubte. Die Tür zum angrenzenden Speisezimmer wurde aufgeschoben. Das Abendbrot war angerichtet. Man ging zu Tische. Das Speisezimmer, in seinen dunklen Tapeten und den schweren Eichenmöbeln, war bestürzend düster. Auf einem der 129
hochlehnigen Stühle saß Holt zwischen seinen Verwandten. Brigitte servierte. Wieder wurde die einfache Mahlzeit, Kartoffelsalat und dunkles Brot, mit dem hier üblichen Aufwand eingenommen. Auf silbernen Platten reichte man Kristallschüsseln herum, die nichts enthielten als ein paar Scheiben roter Rüben oder eine Handvoll sauer eingelegter Zwiebeln. Der Kartoffelsalat war auf schwerer Silberplatte kunstvoll aufgehäuft und mit Mohrrübenscheibchen garniert, und was an Gedecken, Bestecken und Tafelgerät auf dem Tisch lag, das hätte für ein mehrgängiges Festessen ausgereicht. Da zwei Getränke angeboten wurden, Bier und Mineralwasser, standen bei jedem Gedeck zwei prachtvolle, geschliffene Gläser. Holt blickte von einem zum anderen und sah alle mit tiefem Ernst bei der Sache. Tante Marianne präsidierte der Tafel, sie thronte hölzern an einer Längsseite des Tisches und gab dann und wann, mit kaum sichtbaren Handbewegungen, dem Mädchen Winke. Dann goß Brigitte dem Kommerzienrat Bier nach, reichte jemandem auf einem Porzellanteller ein kleines Salzfaß oder legte, auf dem rechten Arm die schwere Platte, mit der Linken Kartoffelsalat vor. Frau Holt hielt sich nicht weniger aufrecht als ihre Schwester, und nur der Kommerzienrat bewegte sich einigermaßen ungezwungen. Er erzählte von Onkel Carl, seinem Stiefbruder, dem Bremer Reeder, Schiffsbauer und Bankier, dem ältesten Sohn und Haupterben des alten, schon lange verstorbenen Reeders Rennbach, dessen zweiter Ehe Marianne, Franziskus und Dorothea Rennbach entstammten. Holt stellte eine Reihe Fragen und erfuhr, daß sein Onkel Carl, von dem man hier mit höchster Ehrerbietung sprach, die drei Stiefgeschwister seit langem ausgezahlt hatte. Der Kommerzienrat war mit seinem und Mariannes Anteil in die Hamburger Zigarettenindustrie eingestiegen, wohingegen Holts Mutter ihr Vermögen günstig in der Schwerindustrie hatte anlegen können, in Unternehmen, in denen übrigens auch der Bremer Onkel, Generaldirektor und Hauptaktionär einer großen Schiffahrtsgesellschaft und der längst zur Aktiengesellschaft umgewandelten väterlichen Werft, erheblich engagiert war. „Tja“, sagte Franziskus Rennbach, 130
„Entkartellierung, wie das den Alliierten so vorschwebt, alles schön und gut, aber wenn man Schiffe bauen will, braucht man Stahl, und wenn man nicht abhängig sein will, produziert man den Stahl natürlich am besten selbst, und da muß man sich wieder mit der Kohle verständigen.“ „Interessant“, sagte Holt höflich. Der Kommerzienrat, die Stirn kummervoll gefurcht, erwähnte nun auch, daß der Kontrollrat das Vermögen des IG-FarbenKonzerns beschlagnahmt habe. „Das ist alles ganz undurchsichtig“, sagte er, „man wird erst abwarten müssen, worauf das hinauswill.“ Er sprach von einem Lichtblick: Offenbar häufe sich im Lager der Westmächte der Widerstand gegen eine primitive Revanche- und Entmachtungspolitik, darauf deute jedenfalls der kürzlich bekannt gewordene Rücktritt eines prominenten amerikanischen Offiziers bei der Militärregierung hin, des bis dato Vorsitzenden der Entkartellisierungskommission. „Doch lassen wir bei Tisch die Politik“, schloß der Kommerzienrat dieses Thema. „Wir wollen ja nichts anderes, als friedlichen Geschäften nachgehen.“ Und er erzählte nun, in leichtem Plauderton, anschaulich und detailliert, wie man am Vormittag unter der Anteilnahme einer großen Zuschauermenge ein gesunkenes U-Boot aus dem Köhlfleet gehoben habe. „Dein Onkel Carl“, sagte Tante Marianne zu Holt, indem sie ihm eckig zunickte, „hat in Bremen auch U-Boote gebaut.“ „Gewiß. U-Boot-Rümpfe und Schnellboote“, ergänzte Frau Holt, und sie sah ihren Sohn aufmunternd an, als wünsche sie, sein Interesse an der Werft des Bremer Onkels zu wecken. Aber Holt schwieg. Er täuschte sich nicht über ein Gefühl der Fremdheit hinweg, das ihn von den Menschen hier trennte, auch von seiner leiblichen Mutter. Die beiden Frauen erschienen ihm wie Gespenster, Taute Marianne mit der langen, dreifach um den Hals geschlungenen Silberkette und dem hölzernen, unbewegten Gesicht, Mutter in ihrer einwandfreien Schönheit, der Eiseskälte ihrer ausgeklügelten Gesten. Und Onkel Franz saß viel zu elegant in englische Stoffe gekleidet zwischen den beiden Frauen, plaudernd, freundlich, heiter, als gäbe es draußen im Land keine Ruinen, 131
keine Menschenschlangen vor den Brotläden und keine geöffneten Keller, in denen Menschenreste zu Staub zerfielen... Holt konnte nicht um eine Scheibe trockenen Brotes bitten, ohne daß Tante Marianne und Brigitte samt Tabletts und Schüsseln und Bestecks in Bewegung gerieten. Er konnte sich nicht räuspern, ohne daß sich maskenhaft starre Gesichter ihm zuwendeten. „O bitte, Werner... Was sagtest du?“ Und ihm graute bei dem Gedanken, nun dreimal täglich so zu Tische sitzen zu müssen, stumm und frierend. Er fragte unvermittelt: „Hab ich ein eigenes Zimmer?“ „Ich hätte es dir längst zeigen müssen“, sagte Frau Holt. „Selbstverständlich hast du ein eigenes Zimmer. Ich hoffe, du fühlst dich wohl in der neuen Heimat.“ „Kann ich auf meinem Zimmer frühstücken?“ „Gewiß, wenn du es wünschest“, antwortete Tante Marianne, mit entblößten Schneidezähnen. Holt atmete auf; er brauchte den Zauber also nur zweimal täglich mitzumachen, und vielleicht konnte er sich mit der Zeit auch noch vor dem Abendessen drücken. Endlich erhob sich Tante Marianne, die Mahlzeit war beendet. Brigitte wurde in den Keller geschickt und servierte dann im Wohnzimmer eine Flasche hellen Rheinweins, einen Rauenthaler, den der Kommerzienrat mit Nachdruck für diesen Abend empfohlen hatte. Er rauchte eine Zigarre und schob Holt ein Päckchen Zigaretten über den Tisch, die gleiche Sorte, Reemtsma R 6. Holt rauchte zerstreut. Was nun folgte, war der angekündigte Familienrat. Franziskus Rennbach wurde von den beiden Frauen als Familienoberhaupt respektiert. „Wie steht es mit deiner Schulbildung?“ fragte er und nickte, als Holt Auskunft gab, lebhaft mit dem Kopf. „Ich schlage vor, daß du... sagen wir: zu Ostern... daß du also in eine Schule eintrittst und das Abitur ablegst.“ Holt antwortete mit einer vieldeutigen Handbewegung. „Erst wirst du dich eingewöhnen“, sagte der Kommerzienrat, „ins friedliche Leben zurückfinden, alles Weitere werden wir in Ruhe klären.“ Er habe sich über Werners Zukunft ernsthafte Gedanken gemacht, fuhr er fort, und zweifellos sei es das vernünftigste, wenn Holt Jura studiere. 132
Jura? Dann schon lieber Mathematik! Holt dachte an Blohm, Aber hier war er nicht bei Blohm oder sonstwem; hier war er bei Mutter, und Mutter war sein gesetzlicher Vormund und konnte ihn sogar zwingen. Zwingen? Er zog die Mundwinkel herab. Er ließ sich nicht zwingen, von niemandem! Er ließ den Kommerzienrat reden, ließ ihn erklären, warum er an Jura dachte, ließ ihn weit ausholen: „Wir müssen die Situation Deutschlands im Auge haben...“ Holt reagierte, wenn der Kommerzienrat eine Frage an ihn richtete, mit großzügigen Handbewegungen, die er schon in den ersten Stunden seiner Mutter abgesehen hatte. „Deutschlands Zukunft“, sagte der Kommerzienrat, und er blies gedankenvoll den Rauch seiner Zigarre von sich, „hängt allein von dem Interesse ab, das die Alliierten an der deutschen Wirtschaft nehmen. Man hofft ja, daß die Amerikaner aus den Fehlern ihrer Wirtschaftspolitik nach dem ersten Weltkrieg einiges gelernt haben.“ Er sprach von der wirtschaftlichen Entwicklung, vieles sei wirklich noch undurchschaubar, eine Prognose sei äußerst schwierig. „Tja“, sagte er, „es hängt alles davon ab, in welchem Umfang man den Schlüsselindustrien gestattet, Kapital zu importieren; das Interesse an deutschen Effekten ist rege genug. Man muß auch abwarten, ob sich die Amerikaner zu Staatskrediten entschließen, die Dinge sind alle noch undurchschaubar.“ Der Kommerzienrat wiegte den Kopf hin und her. Er fuhr sich mit der Rechten durch das borstige graue Haar und sagte zu Holt: „Für den günstigsten Fall hast du als Jurist vorzügliche Möglichkeiten in der Industrie. Andernfalls bleibt dir immer die Staatsbeamtenlaufbahn.“ Holt nickte höflich. Er war müde. Am liebsten wäre er aufgestanden und zu Bett gegangen. Er saß im Sessel, die Beine von sich gestreckt. Mögen sie reden, dachte er, mögen sie meine Zukunft austüfteln, Hauptsache, sie lassen mich mit ihren irrsinnigen Mahlzeiten zufrieden! Frau Holt nahm das Wort. „Du mußt vor allem unter Menschen“, sagte sie, „du mußt nach dieser Isolierung im Krieg geeigneten Umgang finden.“ „Beim Militär ist man ja mit Krethi und Plethi zusammen!“ warf Tante Marianne ein. 133
Frau Holt nickte. „Werner braucht Umgang mit jungen Leuten seinesgleichen, ich halte das für wichtig; die gesellschaftliche Position eines Menschen bedeutet viel. Vielleicht“, so wandte sie sich an ihren Bruder, „kannst du Werner einigen Bekannten vorstellen. Ich denke zum Beispiel an Hennings, sie haben einen Sohn, nicht viel älter als Werner.“ „Tredeborns“, sagte Tante Marianne, und keine Miene bewegte sich in ihrem hölzernen Gesicht, „Tredeborns haben ganz reizende Töchter. Besonders die jüngere ist wirklich sonnig!“ Der Kommerzienrat versprach, diese Frage zu regeln und Holt so bald wie möglich abzuholen. „Ich bin sicher“, sagte er, „daß Werner Einladungen erhalten wird, die jungen Leute sind schon wieder recht gesellig.“ Er sah auf die Uhr, er wollte sich verabschieden. „Moment“, sagte Holt und kramte den Zettel mit der Adresse der Ratzeburger Klinik hervor. „Ich werde eine Rechnung anfordern und die Sache erledigen“, sagte der Kommerzienrat. „Du warst krank?“ fragte Frau Holt. „Ja, ich war krank“, sagte Holt einsilbig. Der Kommerzienrat brach auf. Holt blieb mit den beiden Frauen zurück. Seine Mutter führte ihn in sein Zimmer im Obergeschoß. Er legte sich sofort hin und schlief tief und erschöpft. 3
Ein
zaghaftes Klopfen weckte Holt; draußen sagte Brigitte: „Ich bringe das Frühstück.“ Er sprang aus dem Bett, peinlich berührt, daß er sich von einem jungen Mädchen das Frühstück ans Bett bringen lassen sollte. Außerdem hatte sie Arbeit genug. Er fand einen Bademantel, öffnete und nahm Brigitte das Tablett aus den Händen. „Kommt überhaupt nicht in Frage, daß ich mich von Ihnen bedienen lasse“, sagte er. „In Zukunft hol ich mir das Frühstück selber hoch.“ Sie schaute ihn an, leicht verwundert, und sagte: „Wie Sie wünschen.“ 134
Er hörte unten seine Mutter nach ihm rufen. Richtig, der Schneider! Ein kleiner, dicker Mann mit einem Schnurrbärtchen wartete in der Diele, das Bandmaß über dem Arm. Wortlos ließ Holt die Prozedur des Maßnehmens über sich ergehen. Frühstück ans Bett, Schneider ins Haus, er war bei Mutter, er war heimgekehrt. In Gedanken sah er seinen Vater, morgens schon vor sechs, im weißen Kittel ins Privatlabor gehen... Er sah auch Müller, tief nachts bei der Arbeit, sah Blohm, grau und unscheinbar in seinem engen Zimmer; er sah überhaupt alles, was dort zurückgeblieben war. Er sah Gundel, ihre Augen, ihr Lächeln. Er folgte seiner Mutter ins Wohnzimmer. Dort saß Tante Marianne mit verkniffenem Gesicht am Tisch und legte, vormittags um elf, Patiencen. Frau Holt blätterte mit dem Schneider in einer englischen Modezeitschrift, „Fashion Paper, Spring and Summer 46, Gentleman's suits.“ Sie debattierten des langen und breiten über Taille, fallende Schultern; Frau Holt war mit echter Anteilnahme bei der Sache. Tante Marianne sagte: „Papa trug den Ulster immer sportlich kurz!“ Ihre Patience ging nicht auf, ihr Gesicht wurde immer verkniffener. Holt fand in dem breiten Mahagonischrank Bücher. Die Frauen gestatteten ihm bereitwillig, die Fächer durchzusehen. Die Bände standen in doppelten Reihen. Zunächst und vornan die obligaten Klassiker, Gesamtausgaben der Werke Goethes, Schillers, Shakespeares und anderer, prachtvoll in Leder gebunden, wie er es von klein auf kannte. Die hinteren Reihen interessierten ihn mehr. Dort standen Bücher, denen man ansah, daß sie wirklich gelesen wurden: Herzog, Stratz, Otto Ernst, John Knittel. Schon wollte er den Schrank schließen, als er zwischen Frenssen und Ompteda den Namen Remarque entdeckte. Er erinnerte sich sofort. Ich verstehe Sie gut, hatte Karola gesagt, ich habe eben erst Remarques „Weg zurück“ gelesen... Er zog das Buch aus dem Fach, dazu noch „Im Westen nichts Neues“. „Es ist eine erschütternde Dichtung!“ sagte Tante Marianne und legte wieder ihre Patience-Karten aus. 135
Holt las drei Tage, beide Bände nacheinander und gleich noch ein zweites Mal. Während dieser drei Tage ließ er sich nur zum Mittagessen unten sehen und holte sich Frühstück und Abendbrot aufs Zimmer. Er las bis tief in die Nacht. „Im Westen nichts Neues“ wurde zum Erlebnis. Zahllose Kriegsbücher waren Holt bekannt, aber hier fand er das erstemal den Krieg nicht als Probe männlicher Tugend verherrlicht, hier wurde ungeschminkt Grauen und Sinnlosigkeit wiedergegeben. Jünger, Ettighofer, Beumelburg, wie sie alle hießen, mit denen hatte Remarque nichts gemein. Dennoch blieb Holt unzufrieden. Er grübelte. Die Tatsache, daß der erste Weltkrieg unmenschlich gewesen war, hatte den zweiten nicht verhindern können und war also gar nicht wesentlich. Wesentlich war doch allein die Frage, wer Schuld daran trug! Remarque aber beschwor das Grauen, nicht um die Schuldigen anzuprangern, nach denen es doch wenigstens zu suchen galt! Remarque verdammte den Krieg und ließ in der Nacht des sinnlosen Sterbens das Lämpchen Kameradschaft glühen. Und mit der berühmten Lesebuchkameradschaft hatte der Krieg also doch etwas wie eine Tugend hervorgebracht. Holt ging im Zimmer auf und ab, er rauchte viele Zigaretten. Er überdachte, was er erlebt hatte, beschwor die Wirklichkeit des Krieges. Es gab ein geflügeltes Wort, das freilich in keinem Lesebuch aufbewahrt worden war: Kameraden sind Lumpen. Kunststück, wo doch der ganze Krieg eine Lumperei gewesen war. Holt erinnerte sich an Sepp Gomulka; zwischen ihnen hatte es vielleicht eine Spur Freundschaft gegeben. Hingegen: Wolzow, Vetter und er, das war eine Kumpanei gewesen; sie waren eine Bande, erst in den Bergen, dann auch im Krieg. Der Kampf, den Holt gekämpft hatte, war kriminell gewesen; deshalb hatte es keine Kameraden, sondern nur Komplicen gegeben. Und wenn das im ersten Weltkrieg vielleicht nicht ganz so klar wie im zweiten gewesen sein sollte, dann blieb dieses Ideal der Frontkameradschaft immer noch Nebel, Phrase, die Binde vor den Augen der Feldgrauen, ein Irrlicht in der Dunkelheit, und für ein Ideal, das einer dumpfen
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Menschenherde den Weg zur Schlachtbank verzuckerte, dafür bedankte sich Holt. Er grübelte. Er dachte an die Kreaturen mit den Runen am Kragen; er kannte die blutigen Marionetten. Er suchte die Drahtzieher. Er las noch einmal die Zeilen, die „Im Westen nichts Neues“ vorangestellt waren. Das Buch wollte also gar nicht als Anklage verstanden sein! Wen sollte es auch anklagen, außer ein paar biertrinkende Stammtischstrategen oder den wild gewordenen Himmelstoß? Remarque wollte berichten über eine Generation, die „vom Kriege zerstört wurde, auch wenn sie seinen Granaten entkam.“ Auch ich bin den Granaten entkommen, dachte Holt, den Granaten eines größeren, furchtbareren Krieges, den Bomben, Bordwaffen, Panzern und Häuserkämpfen. Auch ich bin dennoch zerstört worden. Aber... das ist doch, um alles in der Welt, keine Haltung, daß ich mich mit neunzehn Jahren hier auf den bunten Teppich stelle und sage: Ich bin zerstört worden! Das ist keine Haltung, und es ist niemals eine gewesen, auch damals nicht! Ich hab mich gegen Vater aufgelehnt, ohne zu wissen, warum, ich hab mich treiben lassen und statt eines Weges Vergessen gesucht. Und als die Leere kam, der Katzenjammer, da hab ich gedacht: Ich bin gescheitert, ja, den Granaten entkommen und dennoch zerstört. Ich mach mir nämlich was vor! sagte er sich. Er brannte sich wieder eine Zigarette an und zerknickte das Streichholz zwischen den Fingern. Er wußte jetzt, was ihn an den Büchern unbefriedigt ließ: Remarque machte sich selbst und den anderen nämlich auch etwas vor, weil das tragische Getue, übriggeblieben und dennoch zerstört, das Bild des vom Schicksal betrogenen Opfers draußen vor der Tür des Lebens, weil das gewissen Leuten angenehmer ins Ohr klang als die eiskalte Frage: Wie konnte es geschehen, und: Wer ist schuld? Jünger, Beumelburg - das war Lüge. Remarque war nicht die Wahrheit. Alles hing in der Luft, keiner wußte etwas, und noch schlimmer: keiner wollte etwas wissen. Und was sich draußen aufgestaut hatte an gerechtem Zorn, das tobte sich dann auf dem Weg zurück am Ersatzobjekt aus, und man rebellierte mit Phrasen im Herzen gegen die Phrasen im Herzen der anderen. 137
Dabei gab man sorgfältig acht, daß die alte probate Welt keinen Schaden nahm, die gleiche, die den ganzen Irrsinn angerichtet hatte. Das Warum, das Cui bono, das fiel endgültig unter den Tisch, Schwamm drüber. Und die Kameraden, die da rebelliert hatten, die gingen im dritten Band, der leider nicht geschrieben worden war, im Geiste der Frontkameradschaft zur Urne und wählten erst Herrn Hindenburg und dann Herrn Hitler. Holt warf das Buch auf den Tisch. Eine erschütternde Dichtung. Zweifellos! Die zertrümmerte Seele des Frontkameraden hatte was Attraktives! Holt dachte ingrimmig: Ich sollte mir den Witz erlauben und hier mal bißchen in zerstörter Generation machen, da finde ich sicherlich liebevolles Verständnis, und vielleicht springen noch mal zwei Anzüge dabei heraus. Die Narrenfreiheit gegenüber Brigitte haben sie mir ja schon zugebilligt. Aber er dachte nicht daran, die Narrenrolle zu spielen in dieser Komödie, in der die Szenerie hübsch die alte blieb. In einer grauen, kalten Winternacht, der letzten Nacht im Leben Peter Wieses, hatte er davon geträumt, den Krieg zu überstehen, von vorn zu beginnen, zu lernen, zu suchen. Ja unbestechlich zu forschen, zu fragen: Warum?, genauer: Wer ist schuld daran?, noch präziser: Wie macht man so einen Weltkrieg? Er hatte die Frage vergessen, er hatte viel Boden verloren. Aber es war noch nicht zu spät, wenn er sich endlich besann. Zu Holts Geburtstag am 11. Januar erschien Onkel Franz mit einem Koffer voller Wäsche, Hemden, Krawatten, Schuhe. Frau Holt schenkte ihrem Sohn ein Paar goldene Manschettenknöpfe. Der Schneider brachte einen bequemen grauen Sakkoanzug von sportlichem Schnitt, ein strenggeschnittenes schwarzes Jackett mit einer schwarzen und einer zweiten, gestreiften Hose und einen dicken dunkelgrauen Ulster. Die Anzüge waren gewendet worden. „Das fällt in dieser Zeit bestimmt niemandem unangenehm auf“, sagte Frau Holt. Sie war zufrieden. „Jetzt kannst du dich überall sehen lassen!“ Für den kommenden Sonntag hatte sich Kommerzienrat Rennbach zum Frühstück angesagt. Holt fand sich mittlerweile 138
mit dem umständlichen Stil der Mahlzeiten ab. Aber das Tischgespräch am Sonntagmorgen war sterbenslangweilig. Holt fragte unvermittelt: „Sag mal, Onkel, was meinst du, wie entstehen eigentlich Kriege?“ Frau Holt drehte den Kopf mit der sorgfältig hergerichteten Frisur zur Seite und schaute einen Augenblick unbeweglich auf ihren Sohn. Der Kommerzienrat kaute mit mahlenden Kiefern ein Röstbrot. „Tja“, meinte er, „das ist eine sehr aktuelle Frage...“ Er kaute knirschend sein Brot zu Ende. „Es gibt da allerhand Ansichten, zum Teil extremster Natur...“, fuhr er fort. „Vermutlich läuft alles auf die materialistische These hinaus, daß der Krieg die spezifisch menschliche Form des Kampfes ums Dasein ist. Darwin und so, du verstehst? Der expansive Drang nach Lebensraum, wie ihn die Volk-ohne-Raum-Theorie annimmt, wäre dann schlechterdings nicht kompensierbar...“ Holt musterte ein wenig spöttisch seinen Onkel. Gewiß, das ist ein gewandter und energischer Mann, dachte er, aber wenn ich ihn mit Vater vergleiche... Und was heißt „Volk ohne Raum“? Damit lockt er doch keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor! „In den Zeitungen“, sagte er, „drüben bei Vater in der Russenzone, haben sie einen Mangel an Lebensraum energisch bestritten. Die Bodenreform, heißt es, schafft Land genug.“ Er sah verwundert, wie nervös der Kommerzienrat auf diese Worte reagierte. „Diese Landaufteilung“, hörte er ihn sagen, „ganz abgesehen von der moralischen Frage, denn es ist immerhin eine krasse Verletzung alles gültigen Besitzrechtes!, diese Bodenreform erscheint mir reichlich überhastet und fragwürdig! Wenn wirklich eintritt, was sich jetzt abzuzeichnen beginnt, daß nämlich keine deutsche Zentralverwaltung zustande kommt, dann ist die Ostzone von den übrigen Zonen wirtschaftlich abgeschnitten, und dann wird es dort drüben, nicht zuletzt durch die Bodenreform, einen totalen Zusammenbruch geben, beziehungsweise sie werden beim Aufbau der Wirtschaft vor unüberwindlichen Schwierigkeiten stehen, an denen sie scheitern müssen.“ Er sprach jetzt von britisch-französischen Verhandlungen über eine Internationalisierung des Rhein-Ruhr-Gebietes. „Die 139
Verhandlungen sind ergebnislos geblieben, zu unserem Glück, aber auch wieder zu unserem Unglück, denn dadurch kommt man mit der Zentralverwaltung nicht voran. Die Franzosen widersetzen sich mit einem verblüffenden Starrsinn jedem Versuch, einen zentralen Verwaltungsapparat zu schaffen. Sie wollen erst die Rhein-Ruhr-Frage in ihrem Sinne geregelt wissen. Und um noch einmal auf die Ostzone zurückzukommen: die Bolschewisierung der Wirtschaft, wie sie sich in der bevorstehenden Enteignungswelle ausdrückt, ist ja nichts anderes als die blanke Hilflosigkeit angesichts all dieser Schwierigkeiten.“ Holt hörte zu, den Oberkörper zurückgelehnt, die Lippen fest aufeinandergepreßt, die Mundwinkel ein wenig nach unten gezogen, was seinem Gesicht etwas Nachdenkliches, aber auch einen Zug von Verachtung gab. „Bruder Carls Beurteilung der Ostzonensituation“, redete der Kommerzienrat weiter, „ist noch viel pessimistischer. Carl schreibt die Ostzone vollständig ab.“ „Gestatte mal eine Frage“, sagte Holt. „Onkel Carl, ich meine seine Werft, wo er Generaldirektor ist, er hat doch U-Boote gebaut, nicht?“ „Schon neunzehnhundertdreizehn“, erklärte Tante Marianne mit strenger Würde, und sie drehte die Maske mit den blendenden Schneidezahnreihen zu Holt herum, „am 21. Februar, einem Freitag, hat Kaiser Wilhelm unserem Papa ein Dankschreiben für seine Verdienste um den deutschen Unterseebootbau überreicht.“ „Interessant!“ sagte Holt. Und zu seinem Onkel: „Ich möchte doch mal wissen, wer die Boote eigentlich bezahlt hat.“ „Eine komplizierte Frage, ein Kapitel Finanzwissenschaft“, antwortete der Kommerzienrat, indem er sich ein neues Röstbrot strich. „Prinzipiell gesehen der Staat.“ Aha, der Staat, der Hitlerstaat, die Nazis! Holt rührte gedankenvoll in seiner Teetasse. Woher die das Geld genommen hatten, blieb unklar. Wer weiß. Womöglich aus Steuereinnahmen, also von den gleichen Leuten, die nachher mit den Booten ausgefahren waren. Ausgefahren? Untergegangen waren sie! 140
Er hörte auf, in der Tasse zu rühren. Er betrachtete seinen Onkel. Wußte der nicht, daß die deutschen U-Boote vernichtet worden waren, kaum daß sie die Häfen verlassen hatten? Wußte Onkel Franz nichts davon, daß mit jedem U-Boot zwei oder drei Dutzend Menschen hatten ertrinken müssen, ersaufen, wie die Ratten? Er sagte nichts, er zwang erst die Erregung hinab. Ihm war plötzlich so vieles verständlich, was er drüben, bei Vater, gehört und in der Zeitung gelesen und in den Zusammenhängen gar nicht begriffen hatte. Er fragte höflich, aber mit einem Unterton von Ironie: „Verzeihung. Wieviel mag Onkel Carl wohl an jedem ertrunkenen U-Boot-Fahrer verdient haben?“ Klirrend fiel Tante Marianne das Messer auf den Teller. Dann war es still. Frau Holt schaute unbeweglich auf ihren Sohn. Tante Marianne thronte jetzt starr und hölzern auf ihrem Stuhl und wies mit einer eckigen Kopfbewegung Brigitte aus dem Zimmer. Der Kommerzienrat aber blickte auf, verblüfft, eher belustigt als erstaunt. „Du sattelst das Pferd ein bißchen von hinten“, sagte er, durchaus wohlwollend. „Es sollte besser heißen: Wie willst du ein U-Boot ohne Geldmittel bauen?“ „Ich will überhaupt kein U-Boot bauen“, erwiderte Holt. „Aber lassen wir das, reden wir von was anderem.“ Er verwahrte den Wortwechsel sorgfältig im Gedächtnis. Der Kommerzienrat sah das Gespräch allerdings noch nicht als beendet an. „Zweifellos ist die Kriegsfinanzierung eine interessante Frage“, sagte er. „Zu einem hohen Prozentsatz wurde der Krieg wohl durch die Aufnahme kurzfristiger Schulden bezahlt, was natürlich starke inflationäre Effekte mit sich brachte. Die kurzfristige Verschuldung des Reichs betrug 1943/44 mehr als hundertfünfzig Milliarden Mark, damit Hand in Hand erfolgte eine Steigerung des Notenumlaufs um fast zehn Milliarden. Das heißt...“ Aber hier griff Tante Marianne ein. Sie hüstelte. Sie hob die linke Hand. Liebenswürdig, aber autoritativ, und bei Tische wurde sie als Dame des Hauses noch vor dem Kommerzienrat respektiert, sagte sie: „Du weißt, Franz, daß ich Politik während der Mahlzeiten nicht liebe.“
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„Recht hast du“, erwiderte der Kommerzienrat, „dreimal recht!“ Er wechselte das Thema. Er fragte Holt: „Wie geht es eigentlich deinem Vater?“ Holt gab widerstrebend Auskunft. Das ebenmäßige Gesicht seiner Mutter versteinerte. „Ich verstehe nur eins nicht“, meinte der Kommerzienrat. „Dein Vater ist doch ein kolossal fähiger Kopf! Was will er bei den Russen? Er soll sich doch hier umsehen. Die Chemieindustrie hat vielleicht die größten Chancen, wieder auf die Beine zu kommen, wenn auch mit ausländischem Kapital, aber was tut das? Diese Chance muß ein Mann wie dein Vater doch erkennen.“ Holt schwieg. Voller Auflehnung dachte er: Sie sollen Vater aus dem Spiel lassen! Frau Holt sagte: „Er hat niemals Ehrgeiz besessen. Er war immer weltfremd und ist nur seinen Plänen nachgejagt, seinen utopischen Ideen. Sein Verständnis für die Chancen, die ihm das Leben bot, war minimal.“ „Dafür war dein Verständnis für ihn um so größer“, sagte Holt trocken und mit so viel Hohn, daß Tante Mariannes Gesicht langsam gefror. Aber Frau Holt hatte nur eine wegwerfende Handbewegung. Der Kommerzienrat lachte, herzhaft, jovial. „Da hast du's, Thea... Die jungen Leute sind heute sehr gradheraus, daran müssen wir uns gewöhnen. Komm, Werner, machen wir uns fertig!“ Es waren drei alteingesessene Hamburger Familien, in die der Kommerzienrat seinen Neffen einzuführen hoffte: Tredeborn, Henning und Wulf. Der Opel-Super rollte stadtwärts. „Tredeborn ist Kaffeegroßhändler“, erklärte der Kommerzienrat, „alte, gut renommierte Firma, außerdem ist er Gesellschafter einer großen Lebensmittelfabrik in Altona. Er ist ein bißchen eigen, damit du Bescheid weißt: er hält viel auf häusliche Purität, er hat seine Töchter sehr sittenstreng erzogen.“ Er steuerte den Opel vorsichtig durch die Straßen Harburgs, durchs Gedränge der Fahrzeuge, ohne seine Rede dabei zu unterbrechen. „Die Tredeborn-Mädchen sind sehr beliebt“, fuhr er fort, „besonders die Jüngere! Die Ältere ist etwa
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einundzwanzig, die Jüngere achtzehn. Die Alten leben sehr zurückgezogen. Hauptsache, daß du den Töchtern gefällst!“ „Hauptsache, daß sie mir gefallen“, widersprach Holt. Der Kommerzienrat lachte, aber zugleich zeigte sein Gesicht eine unverkennbare Nervosität. Tredeborns wohnten in Georgswerder. Der alte Tredeborn ließ sich während des kurzen Besuchs nicht blicken. Holt und sein Onkel wurden von Frau Tredeborn empfangen. Sie setzte ihnen ein halbes Glas Wermut vor und wechselte mit dem Kommerzienrat ein paar Redensarten. Sie war eine hagere und farblose Frau von vielleicht fünfundvierzig Jahren. Der Mittelscheitel gab ihrem Gesicht etwas Altjüngferliches. Um den Hals trug sie, wie eine Ordensschwester, ein silbernes Kreuz an schwerer Kette. Sie sagte: „Unser Herrgott wird die schwere Zeit zum Guten wenden“, und hatte dabei einen frömmelnden Augenaufschlag. Ansonsten war ein Zug versteckter Gehässigkeit in ihr Gesicht geprägt. Holt beantwortete zurückhaltend ein paar Fragen, aber als die beiden Töchter ins Zimmer traten, erwachte er aus seiner Lethargie. Sie interessierten ihn sofort. Die beiden Mädchen waren gleich groß und sahen einander ähnlich. Ingrid, die Jüngere, hatte reiches kastanienbraunes Haar, das fast rötlich leuchtete und zu einer kunstvollen Hochfrisur aufgesteckt war. Sie nahm auf einem niedrigen Polsterhocker Platz, dicht neben ihrer Mutter, die mit schaustellerischer Zärtlichkeit den Arm um sie legte. Gitta, die Ältere, war dunkelblond. Beide hatten große graue Augen, deren Lider schwarz bewimpert waren, und die gleichen zarten Hände, durch deren Haut das Geäst der blauen Venen hindurchschimmerte. Ingrid war schlank, aber alles an ihr war üppig, das Haar, der Mund, die Brüste. Gitta gab sich blasiert, zog Holt sogleich ins Gespräch, tat ein bißchen gelangweilt, ein bißchen abgeklärt. Sie erweckte den Eindruck, eigentlich an nichts interessiert zu sein, behauptete, keine Illusionen mehr zu haben. Sie war redegewandt. Das Irdische ist eitel; gehe an der Welt vorüber, es ist nichts. Dabei ahmte sie dann und wann die frömmelnde Art ihrer Mutter nach, auch trug sie schon deren gehässigen, boshaften Zug um die Mundwinkel. 143
Ingrid hingegen war noch sehr kindlich, bald reizend naiv, bald gewollt altklug. „Unser Sonnenschein“, sagte Frau Tredeborn und tätschelte die runde Schulter ihrer Jüngsten, wobei Gitta den Mund verzog. Holt begriff rasch, daß die Schwestern den Besuchern, vielleicht auch sich selbst, etwas vorspielten... Ingrid gefiel ihm. Er wurde den Verdacht nicht los, daß ihre Naivität unecht war. Sie erzählte von einer Tanzstunde, die sie mit ein paar Bekannten besuchte. Der Kommerzienrat griff dieses Stichwort auf: „Werner, ob das nicht etwas für dich wäre?“ Holt lachte nur. Ingrid fragte: „Können Sie denn tanzen?“ „Ein bißchen“, antwortete er. „Im Kriege hat man ja nebenbei so manches gelernt.“ Dabei sah er ihr in die Augen, und die ganz unkindliche Art, wie sie die Vieldeutigkeit seiner Bemerkung begriff und sofort die Lider niederschlug, bestärkte ihn in seinem Verdacht. Sein Interesse wuchs. Der Kommerzienrat brach auf. Im Wagen fragte er: „Na?“ Er drückte auf den Anlasser. Holt entgegnete in bester Laune: „Ingrid finde ich nett. Aber die Mutter hat was Heimtückisches, beinahe Ordinäres.“ Der Kommerzienrat war von dieser Bemerkung so konsterniert, daß er den Motor abwürgte. Später sagte er: „Ich bin gespannt, wie dir Hennings gefallen.“ Henning war Inhaber einer Hafenspedition und eines Hochseeschlepper-Dienstes. „Sein Sohn“, erklärte Kommerzienrat Rennbach, „ist eminent tüchtig, ein paar Jahre älter als du. Der Alte leidet an Gallensteinen. Praktisch hat der Junge den Betrieb in den Händen. Sie haben Verträge mit den Briten und sind wieder schön im Geschäft.“ „War der Sohn nicht im Krieg?“ fragte Holt. „Bei der Marine. Ich glaube, er war Leutnant.“ Sie fuhren durch das zerstörte Zentrum nach Nienstedt an der Norderelbe. Dort, in der ersten Etage eines großen Mietshauses, saßen sie Frau Henning und ihrem Sohn gegenüber. Für fünf Minuten erschien auch der alte Henning, ein kranker, galliger Mann, im Schlafrock, und er knurrte eine Weile herum und verschwand wieder. Seine Frau war grauhaarig, zierlich und beweglich. Sie blickte schwärmerisch 144
zu ihrem Sohn auf, zu Roland Henning, einem großen, schlanken Mann mit kühnem, sommersprossigem Gesicht, der überaus sicher und selbstbewußt auftrat. Ungezwungen rückte er seinen Stuhl zu Holt heran und unterhielt sich freundschaftlich mit ihm. Sie sprachen über Autos und Schiffe, über Hamburg und das Nachtleben in Sankt Pauli. „Wir haben hier quasi Friedensbetrieb“, sagte Henning, und augenzwinkernd: „Wissen Sie was, Herr Holt? Wir beide gehn bald mal zusammen bummeln! Einverstanden?“ „Einverstanden!“ sagte Holt. Als der Kommerzienrat sich verabschiedete, sagte Henning zu Holt: „Ich rufe Sie gelegentlich an.“ Der Kommerzienrat zeigte sich über das gute Einvernehmen Holts mit Henning derart befriedigt, daß es Holt übertrieben anmutete. Wulfs wohnten nördlich, in Osdorf. Der Wagen hielt vor einem Einfamilienhaus, das einsam und idyllisch am Rande der Bruchwiesen lag. Wulf war Besitzer eines großen Lebensmittelimport- und -Versandhauses, das vor dem Kriege außerordentlich floriert haben sollte, zur Zeit aber noch schwer darniederlag. Sie trafen die Familie vollzählig versammelt, den Kaufmann, seine Frau und die beiden Kinder, einen achtzehnjährigen, blassen und schwächlichen Jungen und ein sechzehnjähriges Mädchen. Die alten Wulfs, mit leidgeprüften Gesichtern, konnten nichts als jammern: über das Unglück, über die Zeiten, über das Elend, über die Not. Holt besah sich unterdessen die Tochter, ein mageres, häßliches Mädchen mit hervorquellenden Augen, strumös verdicktem Hals und lutschoffenem Gebiß; die obere Schneidezahnreihe ruhte auf der Unterlippe. Durch krauses aschblondes Haar lugten abstehende Ohren. Sie hieß Annerose. Ihr Bruder Gisbert erinnerte Holt in seiner leisen, nachdenklichen Redeweise flüchtig an Peter Wiese. Er war einen Kopf kleiner als Holt. Aknepusteln übersäten das spitze Gesicht, und die großen Ohren standen vom Kopf ab. Holt geriet mit ihm ins Gespräch. Gisbert Wulf mochte belesen sein, denn er benutzte eine Menge Namen wie Baudelaire, Karl Jaspers, Gottfried Benn oder Heidegger, durchweg Namen, die 145
Holt noch nie gehört hatte, sprach vom Geworfensein des Menschen, von einem zutiefst pessimistischen Jahrhundert, vom Sein zum Tode hin. Holt studierte ihn aufmerksam, ohne sich durch die fremden Namen einschüchtern zu lassen; er rauchte eine Zigarette. Wulf sagte: „Wenn Sie sich für Literatur und Philosophie interessieren... Wir veranstalten hier manchmal im kleinen Kreise Dichterlesungen. Ich würde Sie anrufen.“ Holt bedankte sich. „Ich bin selbst Dichter“, gestand Gisbert Wulf halblaut. Das interessierte Holt. Er wendete Wulf das Gesicht zu, sah dessen Ohren sich langsam röten und hörte ihn sagen: „Ich beantworte aus dem Geist unserer Zeit heraus die tausend Fragen, die Rilke uns hinterlassen hat.“ Rilke? Holt sog nachdenklich an seiner Zigarette. „Ich würde gern etwas von Rilke lesen“, sagte er. „Der Name ist mir früher einmal begegnet, ich weiß nichts von ihm.“ Gisbert Wulf stand sogleich auf und holte einen stark benutzten Inselband. „Hier, eine Auswahl, ich leihe sie Ihnen gern!“ Er blätterte in den Seiten. „Der Engel...“, sagte er. „Wer, wenn ich schriee... Verstehen Sie?, wer würde uns denn hören in der Engel Ordnungen? Das ist es, genau das: die Einsamkeit des europäischen Menschen!“ Den Finger im Buch, mit roten Ohren, so redete er auf Holt ein. „Hier knüpft meine Dichtung an. ,Und gesetzt selbst, es nähme mich einer ans Herz...', ein Engel, verstehen Sie?, diese Worte stehen als Motto über meiner vierten Blankeneser Elegie. Sie beginnt: ,Nimm mich ans Herz, o Engel!, nimm mich hin!', sie geht über Rilke hinaus, verstehen Sie?, denn Rilke floh in die Einsamkeit, ich aber...“ Holt erhob sich. Er fing den Blick der kleinen Annerose auf, der in hemmungsloser Bewunderung an ihm gehangen hatte. Sie tat ihm leid. Er nahm sich vor, nett zu ihr zu sein, wenn er ihr wieder begegnen sollte. Bei der Verabschiedung, nicht anders als bei der Begrüßung, jammerten die alten Wulfs über die Zeit, über das Unglück, alles war furchtbar schwer... „Geht's den Leuten wirklich so schlecht?“ fragte Holt auf der Rückfahrt. „Keine Spur“, antwortete der Kommerzienrat. „Die 146
Geschäftsfreunde in Übersee lassen Wulf nicht im Stich, Er bezieht riesige Lebensmittelpakete. Aber bei manchen Leuten gehört es ja schon zum guten Ton, über die Zeiten zu klagen.“ Er hielt vor Tante Mariannes Haus in Wiedenthal. „Nun liegt es an dir, ob du Fuß fassen wirst“, sagte er. „Bist du mit Geld versehen?“ Er zog die Brieftasche und gab erst drei, dann nochmals zwei Fünfzigmarkscheine in Holts Hände. „Das Geld hat ja kaum noch Wert“, sagte er seufzend. „Wenn mit der Währung nicht bald etwas geschieht, steuern wir einer bildschönen Inflation entgegen! Und kaufe dir keine Zigaretten, schade ums Geld, du kannst sie von mir bekommen.“ Die beiden Frauen waren noch nicht vom Kirchgang zurückgekehrt. Holt setzte sich in die Küche und bat Brigitte um etwas zu essen. Sie nahm ein Tablett zur Hand. „Was soll das?“ sagte Holt. „Ich eß gleich hier.“ Sie zögerte. Er fragte: „Was ist denn los?“ Die Antwort kostete sie Überwindung. „Ihre Frau Tante sieht es nicht gern, wenn Sie sich in die Küche setzen.“ „Meine Frau Tante“, sagte er, „ist mir völlig gleichgültig.“ „Ja, Ihnen“, meinte Brigitte. „Meinen Sie, daß Sie meinetwegen gescholten werden?“ fragte er betroffen. Sie richtete schweigend das Tablett her. Dann schaute sie ihn an. „Eine Stunde, ehe Sie kamen, hab ich mir sagen lassen müssen, daß ich bei jedem... Annäherungsversuch an den jungen Herrn sofort entlassen werde. Es ist schwer, heut eine Stelle im Haushalt zu finden.“ Er sagte: „Meine Tante ist ein widerwärtiges Ekel! Sie ist schon immer ein altes Ekel gewesen!“ „Bitte, gehen Sie ins Wohnzimmer“, sagte Brigitte. Er erhob sich. Er wußte: Worte waren zwecklos; zwischen ihr und ihm lag ein Abgrund, und keine Sympathiekundgebung des jungen Herrn schüttete ihn zu. Er ging ins Wohnzimmer. Wäre Brigitte Hennings oder Tredeborns Tochter, dann würde Tante Marianne sagen: Ein ganz reizendes Mädchen! Er aß lustlos von dem Krauteintopf. Dann warf er den Löffel hin. So viel Dünkel, den schmier ich ihnen aufs Brot! 147
Aber es war sinnlos, gegen Tante Mariannes Holzgesicht und gegen ihre Ansichten zu rebellieren, und gegen Mutter erst recht. 4
Tante Marianne empfing Montagnachmittag ein paar Damen zum Romme, und Holt mußte zehn Minuten in Erscheinung treten, mußte sorgfältig angezogen und rasiert zwischen den Damen sitzen und Fragen beantworten. Das Spiel wiederholte sich am Mittwoch; da gab Frau Holt ihren Bridge-Abend. Sonst ließ man Holt in Ruhe, sah ihm alles nach, servierte ihm das Essen, wenn er nicht bei Tisch erschien, auf dem Zimmer. Er lag den ganzen Tag auf dem Bett und las. Er las auch in Wulfs Rilke-Auswahl. Die Verse aus der Frühzeit gefielen ihm, Gedichte in volksliedhaftem Ton, schlicht wie die Lieder Storms, die ihn schon in der Kindheit bezaubert hatten. Aber dann setzte sein Verständnis aus. Klingt herrlich, sagte er sich, aber ich versteh kein Wort! Ob ich zu blöd dazu bin? Das „Liebeslied“ war schön, aber bald fragte sich Holt voller Mißtrauen: Welcher Spieler hat uns in der Hand, wer ist denn damit nun wirklich gemeint? Er hatte sich lange genug in des Schicksals oder der Vorsehung Händen gefühlt. Er las die Orpheus-Ballade, verblüfft durch den absonderlichen Tiefsinn. Aber was dann folgte, war offenbar in einer Geheimsprache abgefaßt. „Ein vielleicht Seiender spricht“, jetzt wußte er wenigstens, wo der junge Wulf seine Terminologie hernahm. Oder: „Wenn die Menge einst der Aufersteher uns entschwistert...“ Er las noch einmal, tatsächlich: „... entschwistert und wir, irgend zwei, bei der jäh enttöteten Fanfare taumeln aus dem aufgestürzten Stein...“ Er war hilflos. Er beschloß, Gisbert Wulf gelegentlich auf den Zahn zu fühlen, ob der dieses Wortgeläute verstand. Er fühlte sich um eine wichtige Erfahrung reicher: er durfte sich hier von keinem ins Bockshorn jagen lassen! Hatte nicht sogar Onkel Franz einer klaren Frage nur leeres Gerede entgegengesetzt? Holt hatte seit Wehnerts WF-Unterricht ein feines Gehör. Nicht bluffen 148
lassen! dachte er. Eine kalte, gezielte Frage - und dann aufgepaßt und genau hingehört! Er holte sich aus Tante Mariannes Bücherschrank ein paar Klassiker. Er las seit langem wieder in Goethes „Faust“, und er dachte dabei mehrmals an Blohm. Brigitte rief Holt ans Telefon; der Apparat stand in der Diele. Am anderen Ende der Leitung meldete sich Roland Henning. „Wie ist das, Herr Holt, ich habe morgen in Lübeck zu tun, anschließend bin ich frei, und wir könnten den Samstagabend hier verbummeln. Wie wär’s denn?“ Holt sagte erfreut zu. „Wenn Sie mögen“, fuhr Henning fort, „können Sie mich nach Lübeck begleiten. Ich hole Sie vormittags gegen zehn ab!“ Frau Holt hatte das Gespräch durch die Flügeltür voller Genugtuung verfolgt und zeigte einen Eifer, der ihrer sonstigen Gelassenheit widersprach. „Brigitte, das cremefarbene Hemd bügeln, den grauen Anzug ausbürsten! Marianne, würdest du die Güte haben und gleich einmal Franz anrufen? Er wollte Werner einen Hut schicken, zum Ulster gehört eine Kopfbedeckung!“ Am anderen Morgen, als Tante Marianne noch schlief, musterte Frau Holt zufrieden ihren Sohn. Sie gab ihm Zigaretten und drängte ihm Geld auf; er schob es in die Brusttasche zu Vetters Scheinen und dem Geld von Onkel Franz. Dann stand schon Roland Henning in der Diele, groß, gelassen, den Kamelhaarmantel geöffnet, den weichen Hut in der Hand. „Gnädige Frau...“, sagte er. „Danke, wir können nicht klagen. Nur mit Vaters Galle steht's mal wieder nicht zum besten. Danke... Und empfehlen Sie mich bitte Ihrer Frau Schwester und Kommerzienrat Rennbach!“ Frau Holt begleitete sie bis an die Gartentür und sah ihnen nach. Henning fuhr einen Mercedes, er fuhr trotz der Schneeglätte schnell und sicher. „Na, und Sie?“ fragte er. „Noch 'n büschen fremd hier, was?“ Er hielt beide Unterarme auf dem Lenkrad, dann und wann langte die Rechte zum Schaltknüppel hinab oder betätigte den Winker. Seine unbefangene Sicherheit beeindruckte Holt, der herzliche und freundschaftliche Ton nahm ihn mehr und mehr für Henning ein. Sie fuhren in die Innenstadt, durch zertrümmerte Straßenzüge. „Wie stellen Sie 149
sich den heutigen Abend vor?“ fragte Henning. „Ist's recht, wenn ich die Führung übernehme? Gut. Dann wolln wir für heute abend erst mal jedem 'ne lüttje Deern warmstellen. Kommen Sie nicht quasi aus dem Lager? Da müssen Sie sich doch erst mal richtig ausschlämmen!“ Holt schaute auf Henning. Der Motor brummte; Henning sprach nur leise, Holt hatte vielleicht nicht richtig verstanden. Henning hielt vor einem großen Friseurgeschäft und ging in den Laden. Holt konnte durch die gläserne Tür sehen. Henning wartete, dann trat ein Mädchen in weißem Kittel zu ihm und folgte ihm auf die Straße. Sie war blond, groß und stattlich. Henning redete auf sie ein, sie nickte, blickte neugierig zum Wagen, zu Holt hin, sprach dann wieder mit Henning. Und Henning knöpfte den Mantel auf, langte in die Jackentasche und drückte der Blonden etwas in die Hand, schnell und unauffällig. Aber Holt erkannte doch, daß es Geldscheine waren, was sie in der Tasche des Kittels verschwinden ließ. Henning stieg wieder in den Wagen und fuhr an. Die Blonde winkte. „Das war Anita“, sagte Henning. „Ein Bekannter hat sie mir empfohlen. Wir treffen sie um sieben. Sie bringt ihre Kollegin Sigrid mit, und mit der dürfen Sie sich heut abend näher befassen. Aber vergessen Sie nicht, ihr 'n bißchen Geld zuzustecken, einen Hunderter vielleicht, je nachdem, wie sie sich anstellt.“ Holt wendete unwillkürlich den Kopf, aber Henning lächelte und sagte: „Keine Bange, Friseusen werden zweimal die Woche untersucht, da kann Ihnen gar nichts passieren.“ Holt lehnte sich in die Polster zurück. Abwarten, dachte er, nicht bluffen lassen! „Also schön“, sagte er, „ich laß mich überraschen.“ In Lübeck besuchte Henning einflußreiche Bekannte. Es ging, wie er sagte, um die Gründung einer hiesigen Filiale. Er verabredete sich mit Holt für fünfzehn Uhr in einem Lokal in der Altstadt. Holt bummelte durch die Straßen. Er vermied es, an den Abend zu denken. Er fühlte sich unsicher; sein Leben, wie es sich hier anließ, erschien ihm fragwürdig, aber das mochten die 150
üblichen Eingewöhnungsschwierigkeiten sein. Keinesfalls durfte er wieder in Depression und Mutlosigkeit verfallen. Lieber überließ er sich auch hier mit Haut und Haar dem Augenblick. Er schlenderte am Postamt vorbei und blieb plötzlich stehen. Lübeck, postlagernd... Er trat schon in die Halle und fragte am Schalter. Der Beamte blätterte einen Stapel Briefe durch und schob einen weißen Umschlag zu Holt hin. Holt stellte sich in eine Ecke. Er riß ungeduldig den Umschlag auf, er erkannte die Schrift wieder und las: „Wenn Du nichts Besseres vorhast, so komm her, jetzt oder später, für kürzere oder längere Zeit, wie Du willst. Arbeit gibt es genug. Ich bin allein und entschlossen, ohne die Menschen zu leben. Uta Barnim.“ Holt stand bewegungslos in der zugigen Schalterhalle. Nicht, daß er hinfahren wollte, nein. Aber ihm war, als habe sich eine Tür aufgetan, ein Notausgang, ein Fluchtweg... Er verließ das Postamt, schlenderte kreuz und quer durch die Altstadt, an der schwer beschädigten Marienkirche vorbei, durch schmale, mittelalterliche Straßen, in die der Luftkrieg seine Lücken geschlagen hatte. Holt fühlte sich frei, der Brief knisterte in seiner Brusttasche... Und dem ferneren Leben in Hamburg sah er gelassen, mit Neugier entgegen. Neugier erfüllte ihn auch, wenn er an den heutigen Abend dachte. In bester Stimmung traf er sich mit Henning. Das Lokal, in niedrigen, gotisch gewölbten Räumen, war alt und gediegen. Zwischen dunkel getäfelten Wänden standen die Tische, mit weißem Damast, Weingläsern und Silber gedeckt. An vielen Tischen englische Offiziere; nur wenige Zivilisten. Der Geschäftsführer vertrat Holt den Weg. „Herr Holt aus Hamburg? Sie werden erwartet!“ Er führte ihn zu Henning an einen Tisch, der hinter einem Gewölbepfeiler versteckt war. Der Ober reichte auch Holt eine Speisekarte; sie war mehrere Seiten lang, verzeichnete aber seltsamerweise keine Preise. „Märchenhaft, nicht?“ sagte Henning. „Aber fragen Sie nicht, was das kostet! Können Sie sich's leisten, für ein Essen mehrere hundert Mark auszugeben?“ „Ich kann“, sagte Holt. Er hatte den Ehrgeiz, mit Henning mitzuhalten. Sie bestellten gemeinsam: Weinbergschnecken auf Toast, Brühe mit Rindermark, Kalbssteak mit Champignons, 151
Halbgefrorenes, später Mokka. Auch Henning hatte prachtvolle Laune. „Ein richtiges üppiges Essen“, meinte er, „das ist schon mal ein nachhaltiger Genuß.“ Beim Kalbssteak sprach er von seinen Geschäften. „Überall Pessimismus, Depression“, sagte er, „keiner glaubt, daß wir wieder auf die Beine kommen, und das ist genau der richtige Zeitpunkt, sich umzutun, sich unterderhand stark zu machen.“ „Ich versteh nichts davon“, sagte Holt. „Nein? Aber Ihr Onkel doch... er ist der vorausschauendste Kopf, den ich kenne“, fuhr Henning fort. „Ihr Onkel hat mir die Augen geöffnet für die Chance, die in unserem Zusammenbrach liegt, so paradox das anmutet.“ „Chance? Wie meinen Sie das?“ fragte Holt. Henning rührte in seinem Mokka. „Sehen Sie, in Deutschland war ja alles erstarrt“, sagte er, „Sie kamen an kein einziges gutes Papierchen ran, jeder wirkliche Wert war in festen Händen. In den nächsten Jahren wird alles in Bewegung geraten, mancher Große wird klein werden, und mancher Kleine, der jetzt aufpaßt, kann eines Tages ganz groß sein. Wir haben quasi neue Gründerjahre vor uns.“ Er winkte dem Ober. Gegen fünf fuhren sie nach Hamburg zurück. Sie stellten den Wagen am Hauptbahnhof ab. Es war halb sieben. „Ich weiß hier um die Ecke ’ne lüttje Köm-Insel“, sagte Henning. „Da trinken wir zwei uns 'n büschen Mut an!“ An einem hohen Holztisch tranken sie jeder zwei doppelte Kognaks. Henning zahlte. „Denn man tau!“ sagte er. Auf der Straße, trotz der Kälte, wurde Holt von innen her angenehm warm. Die Lichter der Stadt brannten ein wenig heller, er fühlte sich unternehmungslustig und aufgelockert und so unbeschwert, wie seit Ewigkeiten nicht mehr. Sie fanden die beiden Mädchen bei der Normaluhr am Bahnhof. Henning zog den Hut, verbeugte sich übertrieben tief und küßte der Blonden die Hand, was sie mit Gekicher quittierte. „Aber gnädiges Fräulein!“ sagte Henning. Neben der üppigen Blonden, einen halben Kopf kleiner, wartete die Freundin. Holt drehte sie wortlos zum Licht hin. Sie war klein und zierlich von Statur; unter dem Kopftuch quoll 152
dunkles Haar hervor. Sie hatte ein junges Gesicht mit graugrünen Augen und einer Stupsnase, und als er sie so ungeniert musterte, verzog sie den schmallippigen Mund zu einem Lächeln, das für Augenblicke den Ausdruck der Verderbtheit aus ihrem Gesicht fortwischte. „Das ist also Sigrid“, meinte er. „Wie ist das eigentlich, sagen wir du oder Sie?“ Sie schlenderten zum Wagen. Henning drehte sich zu Holt herum und sagte: „Aber, aber! Das Du braucht man doch irgendwann als Anlaß...“ „Wieso irgendwann?“ unterbrach Holt. Vielleicht wollte er Henning imponieren, vielleicht war es auch nur der Kognak, der ihm. Mut gab. Er faßte Sigrid an den Oberarmen, sie spielte mit, sie ließ den Kopf in den Nacken fallen; er küßte sie. „Donnerwetter!“ rief Henning. „Ehrenwort, gnädiges Fräulein, das brächte ich nie fertig!“ Holt hielt Sigrid noch immer fest; ihre Willfährigkeit erregte ihn; endlich ließ er sie los. „Also sagen wir du“, entschied er. Sie legte den Kopf auf die Seite, knickste, sagte: „Wie du befiehlst“, und dabei kniff sie ein Auge zu. „Ich glaube“, sagte Holt, „es wird heute noch spannend!“ Im Wagen fragte Henning: „Was fangen wir mit dem Abend an?“ „Reeperbahn!“ sagte die Blonde. „Aber gnädiges Fräulein!“ rief Henning und stieß sie grob mit dem Ellenbogen in die Rippen. „Wir sind doch keine Provinzonkels!“ Holt lachte unterdrückt. Er fühlte etwas wie Schadenfreude. Hat sich Henning aber bekauft mit der Blonden, dachte er. Henning fuhr los, nach Altona hinaus. Dort gingen sie in ein Speiselokal. Auch hier saßen Soldaten der Besatzungsarmee, aber keine Offiziere. Die Blonde, da sie nun den Mantel auszog, zeigte sich in einem bis tief zwischen die üppigen Brüste ausgeschnittenen Taftkleid. Henning sah ihr in den Ausschnitt und sagte: „Interessant!“ Dann winkte er dem Kellner. Der Kellner sagte dienernd: „Schön, daß Sie mal wieder hergefunden haben, mein Herr!“ „Gibt's noch den Schottischen?“ fragte Henning. „Also bitte. Und viermal Hamburger Rauchfleisch.“ 153
Der Ober brachte eine Flasche und öffnete sie erst am Tisch. Es war eine Originalflasche Scotch Whisky. Henning goß sich und der Blonden sogleich ein und schob die Flasche zu Holt. Sigrid legte Holt einen Arm um den Nacken und flüsterte ihm ins Ohr: „Mich brauchst du aber nicht erst besoffen zu machen.“ Henning hatte sich einen kräftigen Schluck, der Blonden aber die große Schwenkschale randvoll eingeschenkt, drückte ihr das Glas in die Hand und sagte: „Denn man tau!“ Die Blonde trank, aber Henning packte ihr Handgelenk und zwang ihr den Rest hinunter. Sie verschluckte sich, hustete, dann kicherte sie. Ihr Gesicht war rot und erhitzt. Henning goß ihr das Glas wieder voll. Auch Holt und Sigrid tranken. Als der Ober die dampfenden Fleischstücke brachte, war die Flasche leer. Henning zahlte die Zeche. Gleich nach dem Essen brachen sie auf. Henning fuhr lange durch nächtliche Straßen, ihm merkte man keine Alkoholwirkung an. Holt aber war schon völlig enthemmt und vertrieb sich die Fahrtzeit mit der willfährigen Sigrid, bis Henning endlich hielt und wortlos ausstieg. Die anderen folgten ihm. In der Gaststube war es so düster und rauchig, daß man kaum die Pärchen in den Nischen erkennen konnte. Henning schritt quer durch den Raum, an der Theke vorbei, wechselte dort mit dem Büfettier ein paar Worte und nickte zufrieden. Dann winkte er den anderen, ihm zu folgen. Sie verließen die Gaststube und stiegen eine Treppe hoch. Die Blonde schwankte. Holt zog Sigrid an der Hand hinter sich her. Oben ging es einen Korridor entlang und dann durch eine Doppeltür in ein Zimmer. Das Zimmer war groß und überheizt. Auf dem Boden lag ein zerlöcherter Teppich. Das Mobiliar bestand aus einem altmodischen Bett, einer Couch, einem Klubtisch und zwei Sesseln. Beim Bett brannte eine Nachttischlampe. Sigrid hockte sich mit untergeschlagenen Beinen auf die Couch. Die Blonde fiel in einen Sessel; sie war betrunken. Es klopfte. Ein Kellner in zerschlissenem Frack stellte ein paar Flaschen auf den Tisch, dazu Kognakgläser, auch Sektgläser. Henning drückte ihm eine Handvoll Scheine in die Hand und verschloß hinter ihm die Tür. Die Blonde kicherte. Holt setzte 154
sich zu Sigrid, die sich auf der Couch ausstreckte. Henning aber blieb breitbeinig vor dem Tisch stehen. Er war doch stark angetrunken, die dunklen Haare hingen ihm in die Stirn, die Krawatte saß schief, aber er schwankte nicht. Er entkorkte eine Kognakflasche, schenkte allen ein, goß die Sektgläser mit Kognak randvoll und stürzte sein Glas in einem Zuge hinunter. Er füllte es wieder, wies mit dem Finger auf die Blonde und sagte entschuldigend zu Holt: „Ich muß mir das gnädige Fräulein nämlich erst noch schönsaufen!“ Dann leerte er wieder das Glas. „So!“ sagte er. „Denn man tau!“ Er musterte die Blonde. „Warum trinkst du nicht?“ Er riß sie zu sich hoch, packte sie um die Hüfte und zwang ihr den Kognak hinunter. Dann ließ er sie wieder in den Sessel fallen. Hennings Anblick wirkte auf Holt plötzlich so beängstigend, daß auch er nun hastig den Kognak austrank, und endlich legte sich die Trunkenheit wie ein Schleier vor seine Augen; er sah durch den Schleier Sigrid, lang ausgestreckt auf der Couch, sah undeutlich, wie Henning die Jacke, die Weste auszog, den Schlips löste, den Kragen öffnete. Und Henning langte sich wieder die willenlose Blonde aus dem Sessel, und über sie gebeugt, sagte er, schon schwerfällig und mit unbeschreiblichem Zynismus: „Gnädiges Fräulein waren so liebenswürdig, mich geschlechtlich zu erregen... vielleicht haben gnädiges Fräulein nun auch die Güte, mich geschlechtlich zu befriedigen!“ Bei diesen Worten stieß er sie aufs Bett. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. „Dreck...“, sagte er. „Du Stückchen Dreck...“ Sigrid, halb aufgerichtet, schlang von unten die Arme um Holt, aber er löste sich noch einmal von ihr, und während die Trunkenheit über ihm zusammenschlug, nahm er die leere Kognakflasche und schleuderte sie nach der Nachttischlampe; es klirrte, polterte, und das Zimmer versank in Dunkelheit. Zwei Tage lang wurde Holt in Kopf und Magen ein wüstes Gefühl nicht los. Er versuchte zu lesen, aber er geriet immer wieder ins Grübeln. Er verließ sein Zimmer, wanderte in der kalten Winterluft durch die Harburger Berge, am Nachmittag 155
weit durch die Maschener Heide mit ihren Hünengräbern, und endlich wurde ihm besser. Hoher Schnee bedeckte die Hügel. Die Erinnerung an die Szene im Absteigequartier war nicht allzu deutlich, denn Holt hatte sich im Lauf der Nacht noch sinnlos betrunken. Jetzt, so peinlich ihm das alles war, quälte er sich nicht mit Selbstvorwürfen; er brachte es fertig, nüchtern und ohne Beschönigung über sich nachzudenken. Auch überließ er sich nicht dem Gefühl des Grolls gegen Henning, denn war es nicht ungerecht, kurzerhand einem anderen die Schuld in die Schuhe zu schieben? Er hatte Henning nichts vorzuwerfen, was er sich nicht selbst vorwerfen mußte. Und hatte er nicht willentlich mit Henning mitgehalten? Das Deprimierende war nicht der Suff, die Hurerei; das ging ihm gar nicht unter die Haut. Deprimierend war allein die Erkenntnis, noch immer im Strom dahinzutreiben. Ob Mechthild oder Sigrid, ob Naumanns Ballhaus oder die Hamburger Kneipen: es war alles dasselbe. Mach dir nichts vor, sagte sich Holt, der Weg führt weiter bergab. Und wo sind all die guten Vorsätze geblieben? Er achtete, auf dem Wege zurück nach Wiedenthal, nicht auf den farbenprächtigen Sonnenuntergang, auf den eigenartigen Reiz der Bruchlandschaft. Er hielt die Hände in den Manteltaschen, den Kopf gesenkt, und der Schnee knirschte unter seinen Füßen. Immer deutlicher, aus der Entfernung, übersah er den Weg, auf dem er bei seinem Vater aus unerfindlichen Gründen gescheitert war. Und er versuchte auch den anderen Weg zu überschauen, den er sich hier zu gehen anschickte und an den er eigentlich niemals richtig geglaubt hatte. Gescheitert dort, und dahintreibend hier. War es gar wieder ein Irrweg, auf den es ihn verschlagen hatte? Dann galt es, den Irrtum zu erkennen, und er war entschlossen: diesmal sah er es zeitig ein, rechtzeitig; diesmal überließ er sich nicht Verzweiflung und Resignation. Trug er nicht Utas Brief in der Tasche? Komm her, jetzt oder später, für kürzere oder längere Zeit, wie Du willst... Jetzt oder später, dachte Holt, keinesfalls aber zu spät, dann schon lieber gleich! Ich bin allein und entschlossen, ohne die Menschen zu leben... Holt dachte an 156
Blohm. Ohne die Menschen zu leben, dachte er wieder, und weit mehr als ein Dasein in Demut und Gottesfurcht, wie es ihn Schwester Maria hatte lehren wollen, lockte der Gedanke: fern von den Menschen und nur sich selbst zu leben und alle Geltungssucht und allen Ehrgeiz zu begraben. War er nicht immer nur an den Mitmenschen gescheitert?, an Schneidereit, an Gundel, an der Fremdheit, der Feindseligkeit der anderen? Und entfloh er nicht jeglichem Schicksal, wenn er den Menschen entfloh? Ein Leben fern den Menschen mußte harmonisch und allen Wünschen gefügig sein. Er ging schneller, schon halb entschlossen. Waldhütte am See, das mochte ganz einsam liegen, in den Bergen, abseits der Städte. Holt malte sich ein idyllisches Bild. Erst als er im Vorgarten den Schnee von den Schuhen klopfte, kehrte er mit seinen Gedanken in die Wirklichkeit zurück. In der Diele nahm ihm Brigitte den Mantel ab. Holt warf einen Blick durch die Küchentür; dort hantierte eine ältere Frau. „Ihre Frau Tante“, so erklärte Brigitte, „hat für die nächsten Tage die Köchin vom Herrn Kommerzienrat im Haus.“ „Ja ist denn das die Möglichkeit!“ sagte Holt. „Kann meine Frau Tante die Pellkartoffeln nicht allein kochen?“ „Kommerzienrat Rennbach“, erklärte Brigitte weiter, „hat Lebensmittel mitgebracht, auch Geflügel und viel amerikanische Konserven.“ „Ich glaube, der schiebt!“ meinte Holt. „Und warum das?“ Brigitte sagte laut: „Ihre Frau Mutter wünscht Sie dringend zu sprechen!“ Frau Holt saß zwischen ihren Pudeln auf dem Diwan. Vor ihr, auf dem Couchtisch, lagen geöffnete Postsachen. „Setze dich bitte zu mir“, sagte sie. „Ich habe mit dir zu reden. Möchtest du rauchen? Bitte.“ Die kalte Förmlichkeit seiner Mutter reizte Holt immer von neuem; er nahm eine Zigarette und zwang sich zur Ruhe. Frau Holt hielt einen Brief in der Hand. „Dein Vater hat geschrieben. Er ist in Sorge über deinen Verbleib. Hast du ihm nicht gesagt, daß du zu mir fährst?“ „Kann ich den Brief lesen?“ fragte Holt und brannte sich die Zigarette an.
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Frau Holt schob das Blatt schon in den Umschlag zurück. „Was dein Vater schreibt, ist für dich nicht von Interesse“, sagte sie, und sie langte nach einem anderen Brief. Holt lehnte sich in den Sessel zurück. „In den nächsten Tagen werden wir Gäste haben“, fuhr Frau Holt fort. „Carl Rennbach aus Bremen hat sich angesagt. Er reist mit dem Wagen einige Tage geschäftlich ins Ruhrgebiet und weiter nach Ludwigshafen und Mannheim. Er wird bei uns Station machen, um sich hier mit Justizrat Doktor Doerr zu treffen.“ Holt war nachdenklich geworden. Er blinzelte; er hielt die Zigarette zwischen den Lippen, und der Rauch stieg ihm beißend in die Augen. Er versuchte, sich auf der Landkarte Ludwigshafen vorzustellen. Ob es von dort noch weit bis zum Schwarzwald war? „Ich hoffe, du begreifst“, sagte Frau Holt, „was dieser Besuch für dich bedeutet.“ „Was denn?“ fragte Holt. „Was bedeutet er denn?“ „Mokka, laß das!“ rief Frau Holt und verscheuchte einen der Pudel, der ihr mit hocherhobener Schnauze ins Gesicht schnupperte. „Wenn Carl einen günstigen Eindruck von dir empfinge“, erklärte sie, „so könnte es sein, daß er sich in der Perspektive deiner annähme.“ „Aha!“ sagte Holt. Er erhob sich, aber seine Mutter forderte ihn mit einer Handbewegung wieder zum Sitzen auf. „Ein Wort über Doktor Doerr“, sagte sie, noch eine Nuance leidenschaftsloser, als sie sonst zu sprechen pflegte, und Holt witterte hinter ihren ruhigen Worten, hinter der üblichen Beherrschtheit auf einmal eine ungewohnte Erregung. „Ich kenne Justizrat Doerr länger als zwanzig Jahre. Er war in der Systemzeit Landgerichtspräsident. 1933 mußte er wegen seiner Zugehörigkeit zur Zentrumspartei aus dem Gerichtsdienst ausscheiden und ging in die Industrie. Bei den großen Luftangriffen hat er seine Frau und seine beiden Töchter verloren. Heute ist er ein Mann von hervorragendem Einfluß, er genießt das Vertrauen der Militärregierung wie der deutschen Verwaltung, und er gehört dem Zonenbeirat an, der dieser Tage hier gegründet worden ist und der die britische Militärregierung in Zukunft beraten wird. Aus diesem Grunde wünscht ihn wohl 158
auch Carl zu konsultieren.“ Sie legte eine bedeutungsvolle Pause ein. „Du weißt“, sagte sie nun betont, und sie erheischte mit der erhobenen rechten Hand für ihre Worte besondere Aufmerksamkeit, „daß ich deinem Temperament, deiner oftmals verblüffend selbstbewußten Art und auch deiner modernen Formlosigkeit vollstes Verständnis entgegenbringe. Aber ich wünsche, daß du Justizrat Doerr und auch Onkel Carl mit ausgesuchter Höflichkeit, mit Ehrerbietung und bescheidener Zurückhaltung begegnest, und du wirst diesen Wunsch deiner Mutter respektieren.“ Sie senkte die Rechte und vergrub sie im braunen Fell des Pudels, der neben ihr lag. „Erledigt.“ Sie sagte freundlich: „Und nun erzähle mir von deinem Bummel mit Henning.“ „Doch lieber nicht!“ sagte Holt. Er lächelte. „Unsere moderne Formlosigkeit ging etwas weit. Außerdem waren es Mädchen, die sozial weit unter uns stehen, und du weißt ja, Mama; man macht so etwas in der Stille ab!“ Frau Holt verzog keine Miene, sie nickte vielmehr zustimmend mit dem Kopf. Holt erhob sich. „Was aber Onkel Carl und Herrn Landgerichtspräsidenten Justizrat Doktor Doerr angeht“, sagte er, und er ahmte bewußt die Sprechweise seiner Mutter nach, „so verlasse dich voll und ganz darauf, daß ich meine hervorragende Kinderstube keinen Augenblick verleugnen werde.“ Und wieder lächelte er, in Hohn oder Wut, er wußte selbst nicht, was in ihm rumorte. Festlich, mit doppeltem Aufwand an Silber und Porzellan, war in dem düsteren Speisezimmer die Tafel gedeckt. Carl Rennbach und Doktor Doerr hatten im Beisein mehrerer anderer Herren stundenlang hinter verschlossenen Türen verhandelt. Jetzt hatte sich die Reihe der parkenden Wagen vor der Villa gelichtet. Man saß, gegen siebzehn Uhr, im Familienkreise bei Tische. Am Kopfende der Tafel thronte Tante Marianne im Schmuck der dreifach um den Hals geschlungenen Silberkette; zu ihrer Rechten hatte Doktor Doerr neben Frau Holt Platz genommen. Holt saß seiner Mutter gegenüber, links neben dem Kommerzienrat, und die andere Schmalseite des Tisches hatte Carl Rennbach inne. Auf der 159
Tafel brannte ein siebenarmiger Leuchter. Die Herren trugen schwarze Anzüge. Tante Marianne war in dunkelgrauen Samt gekleidet, und nur Frau Holt zeigte helle Farben; sie trug ein schlichtes, dabei festliches Kleid aus beigefarbener, im Kerzenlicht fast weißer Honanseide mit groben Noppen, ärmellos und hoch geschlossen. Carl Rennbach, der sagenhafte Onkel aus Bremen, Holt seit den Kindertagen vom Hörensagen bekannt, aber heute das erstemal leibhaftig zugegen, war ein Mann von fünfundsechzig Jahren. Zwischen ihm und seinen drei Halbgeschwistern bestand keinerlei Ähnlichkeit. Er war klein und krumm, der Rücken krümmte sich fast verwachsen von Schulter zu Schulter, die Brust war eingesunken und hohl, und zwischen den Schultern, auf einem zu kurzen Hals, erhob sich ein schmaler, mächtiger Schädel mit strähnigem schlohweißem Haar, das, lang nach hinten gekämmt, bis an den Kragen reichte. Die Stirn wölbte sich hoch und stark nach vorn, darunter lagen die kleinen Augen tief in den Höhlen. Carl Rennbach schielte. Sein Gesicht mit dem kräftig entwickelten Kinn war von tausend Fältchen durchsetzt. Er aß wortlos, mit sichtbarem Appetit, aß gefüllte Entenbrust, wobei ihm das Fett von den Lippen übers Kinn lief. Er stach das Birnenkompott mit der Gabel an und nahm mit dem Kompottlöffel große Mengen Soße und Bayrisch Kraut zu sich. Dann und wann legte er das Besteck aus der Hand, griff zur Serviette und wischte sich ausgiebig das Gesicht, das Kinn, auch Stirn und Nacken. Dann aß er weiter. Er winkte mit gekrümmtem Zeigefinger Brigitte zu sich heran und häufte sich immer neue Fleischstücke auf den Teller, um sich dann wieder ins Essen zu vertiefen. Während der Mahlzeit sprach er kein einziges Wort. Holt hütete sich, ihn anzusprechen; er saß über Eck mit ihm, er legte es darauf an, sich das Wohlwollen dieses mächtigen Mannes zu sichern. Ein allgemeines Tischgespräch kam nicht in Gang. Der Kommerzienrat redete munter auf Tante Marianne ein. Der andere Gast, Doktor Doerr, der Justizrat und ehemalige Landgerichtspräsident, saß groß und stattlich neben Frau Holt, ein fünfzigjähriger Mann von repräsentativem Äußeren: sein volles dunkles Haar war über den Schläfen ergraut. Er trug eine 160
Hornbrille. Das Gesicht war ebenmäßig, nur die Nase war ein Wenig zu groß und zu breit; über die linke Wange zog sich eine Mensurnarbe hin. Um seinen geschwungenen Mund spielte ein ständiges Lächeln; seine Stimme war, auch wenn er nur leise sprach, von tiefem, vollem Ton. Er widmete sich ausschließlich Frau Holt. „Liebe gnädige Frau“, sagte er häufig, „wer wird denn in dieser schweren Zeit... Nein, meine liebe gnädige Frau, wir hoffen doch alle auf eine glückliche Wendung...“ Frau Holt saß an seiner Seite, gepflegt, den makellos schönen Kopf leicht zur Seite, zu ihm hingeneigt. Eine zarte Röte stand in ihrem Gesicht, ein gut beherrschter Ausdruck jugendlicher Befangenheit, und häufiger als sonst brachte sie ein Lächeln zum Einsatz, lachte auch einmal halblaut und perlend, wobei sie den Kopf „übermütig zurückwarf. „Liebe, verehrte gnädige Frau“, sagte Doktor Doerr, das Weinglas in der Hand, und er drehte den Oberkörper zu Frau Holt herum, „wir wollen doch alle endlich in Frieden leben und schaffen, so lassen Sie uns also anstoßen, auf noch viele glückliche Jahre!“ Die Gläser klirrten aneinander, Frau Holt senkte langsam die Lider über die Augen und trank. Doktor Doerr, das Weinglas vor dem Kinn, beschrieb mit dem Oberkörper einen Halbkreis, sah allen in die Augen und neigte dann lächelnd den Kopf gegen Holt. „Mein lieber junger Freund“, sagte er, „so lassen Sie uns auf das Wohl Ihrer Jugend trinken, und wir alle huldigen in Ihnen der Zukunft unseres Landes!“ Holt nahm sein Glas, erhob sich, ging um die Tafel herum, verbeugte sich vor Doktor Doerr, stieß mit ihm an. Alle tranken ihm zu, nur Carl Rennbach achtete gar nicht darauf und aß weiter. Man nahm den Mokka im Wohnzimmer ein; Tante Marianne hob die Tafel auf. Die Damen saßen auf dem Diwan, die Herren in den Sesseln um den Klubtisch. Holt setzte sich auf einen Hocker zwischen die beiden Onkel, er hielt sich bescheiden ein wenig außerhalb des Kreises. Aber Carl Rennbach streckte die Beine von sich und sank mit dem kurzen Oberkörper rücklings in den Sessel. „Verdammtes Reißen!“ ächzte er dabei. Dann winkte er Holt mit dem gekrümmten Zeigefinger näher zu sich 161
heran. Holt rückte gehorsam an seine Seite. Carl Rennbach zog ein ledernes Etui, entnahm ihm eine Zigarre, drehte den schmalen Schädel zu Holt herum, sagte: „Na?“ und hielt ihm das Etui hin. „Danke, nein!“ sagte Holt. „Ich danke sehr herzlich, aber ich rauche doch lieber eine Zigarette.“ „Verstehe!“ sagte Carl Rennbach. Er sprach das „st“ niederdeutsch, außerdem hart getrennt, er sagte: „Vers-tehe!“ Seine Stimme klang heiser, fast krächzend. Er biß der Zigarre die Spitze ab und spuckte sie auf den Teppich. Holt beeilte sich, ihm Feuer zu geben. Brigitte reichte ein Tablett mit gefüllten Kognakgläsern herum. Carl Rennbach lehnte mit einer Kopfbewegung ab. Er lag im Sessel, die Zigarre zwischen den Lippen, und hielt die Mokkatasse vor der eingefallenen Brust. Nun warf er einen schielenden Blick auf Holt; er redete ihn mit „Neffe“ an. „Sag mal, Neffe, wie sieht's denn nun drüben wirklich aus?“ Holt rückte noch näher an seinen Onkel heran. Er sprach nur leise; der Raum war erfüllt von den lebhaften Worten des Kommerzienrats, von der klangvollen Stimme Doktor Doerrs. „Wie's drüben aussieht?“ sagte Holt. „Auf den ersten Blick vielleicht nicht anders als hier. Aber wenn man die Perspektiven einschätzt, dann muß man sagen: es sieht trostlos aus. Eine Enteignungswelle bahnt sich an, mit dem Flick-Konzern hat man den Anfang gemacht. Sehn wir mal von der moralischen Seite ab, von dieser brutalen Verletzung jeglichen Besitzrechtes, so bleibt es wirtschaftlich gesehen immer noch die blanke Verzweiflung, und wenn tatsächlich keine Zentralverwaltung zustande kommen sollte, dann werden sie beim Wiederaufbau der Wirtschaft vor unüberwindlichen Schwierigkeiten stehen. Auch die Bodenreform erscheint mir sehr überhastet und fragwürdig.“ Carl Rennbach nickte. „Vers-tehe!“ sagte er. „Und ist diese Politik drüben populär?“ „Die Bodenreform bestimmt“, sagte Holt. „Der Landhunger war ja groß. Ich kannte im Krieg einen Feldwebel, der hat tatsächlich für einen eigenen Hof gekämpft, und er kam sich am Ende ganz schön betrogen vor. Solche Leute gibt es viele. Ob 162
die Enteignungen ansonsten populär sind, wird man abwarten müssen, ich halte es durchaus für möglich, und es soll ja eine Volksabstimmung geben. Ich kenne übrigens einen Möbelfabrikanten, der wird seinen Betrieb vermutlich behalten, und nun freut er sich wie ein Schneekönig, daß er durch die Enteignung die Konkurrenz los wird.“ Carl Rennbach lachte; es war ein heiseres, grollendes Lachen, das wie ein lang anhaltendes Räuspern klang. „Nun stelle dir bitte vor“, fuhr Holt fort, „wie betroffen ich war, als ich hier als erstes hören mußte, daß die Alliierten das Vermögen der IG-Farben beschlagnahmt haben. Soll denn das russische Beispiel Schule machen? Ich versteh das nicht.“ Wieder lachte Carl Rennbach und schielte mit einem amüsierten Blick zu Holt hinüber. „Du vers-tehst das nicht“, sagte er, „das vers-tehen die Alliierten selbst nicht. Aber sie haben nun mal in Potsdam etwas beschlossen, was sie die Demokratisierung der deutschen Wirtschaft nennen. Und wer uns in Nürnberg den Bruch internationaler Abkommen als Verschwörung ankreiden will, der kann so schnell nicht von seiner Unterschrift herunter, auch wenn er sie vielleicht schon bereut.“ Er trank nun endlich seinen Mokka, stellte die Tasse weg und legte sich wieder in den Sessel. „Und jetzt, Neffe?“ fragte er. „Wie gefällt es dir hier?“ „Danke, sehr gut“, sagte Holt. „Ich bin endlich wieder richtig zu Hause, und beim Militär war man ja mit Krethi und Plethi beisammen. Es lebt sich gut hier, es stimmt mich optimistisch, wenn ich daran denke, welche ungeheure Chance doch in unserem Zusammenbruch liegt, so paradox das klingt.“ „Chance?“ fragte Carl Rennbach. „Wie soll ich das wohl verstehen?“ „In Deutschland war doch alles erstarrt“, sagte Holt. „Jeder wirkliche Wert war in festen Händen. Ich bin überzeugt, in den nächsten Jahren wird alles in Bewegung geraten, wir haben quasi neue Gründerjahre vor uns, und wer jetzt nicht schläft, wer jetzt den Glauben behält, daß wir wieder auf die Beine kommen, der kann vielleicht eines Tages ganz groß sein!“ Carl Rennbach antwortete nicht. Einen Augenblick lag er unbeweglich im Sessel. Dann erhob er sich, nahm zwei gefüllte 163
Kognakgläser vom Tisch, setzte sich wieder und reichte eins der Gläser Holt. Dann lachte er wieder sein geräuspertes Lachen, und das Gespräch ringsum verstummte. „Thea“, sagte Carl Rennbach, mit heiserer Stimme, und richtete sich im Sessel auf und verneigte sich im Sitzen leicht gegen seine schöne Halbschwester, wobei sein gewölbter Rücken noch krummer wurde, „dein Werner... dat ist bes-timmt ene fixe Jung!“ Er prostete Holt zu, wobei er ihn mit einem Auge ansah, während das andere, schielende verquer stand, und Holt tat ihm lächelnd Bescheid. Carl Rennbach aber, wieder in den Sessel zurückgesunken, neigte den Kopf vertraulich zu Holt hin, wobei ihm das weiße Haar in Strähnen seitlich hinter die Ohren rutschte. „Was deine Gründerjahre betrifft“, sagte er, „so hat das noch eine Weile Zeit, und vorerst ist es schwierig genug, das bißchen, was noch übriggeblieben ist, beisammenzuhalten. Aber dein Optimismus hat mir gut getan, Neffe, darum sag mir, ob du einen Wunsch hast.“ Holt wiegte den Kopf hin und her, und er verbarg sein Triumphgefühl hinter der Maske der Wohlerzogenheit. Die anderen warteten auf seine Antwort. „Ich wünschte mir“, sagte er, „du würdest mich morgen auf deine Reise nach Ludwigshafen mitnehmen, das wäre für mich ein großer Gewinn.“ „Natürlich kommst du mit, vers-teht sich“, sagte Carl Rennbach. Und Holt bedankte sich höflich. Er sah, wie seine Mutter ihm huldvoll zunickte; sein Gesicht war beherrscht, sein Lächeln fehlerfrei. Aber in seinem Herzen war nichts als Hohn. 5 Ludwigshafen war schwer zerstört. In einem der wenigen unbeschädigten Hotels mußten Carl Rennbach und Holt ein gemeinsames Zimmer beziehen. Pedersen, der Chauffeur, schleppte ihnen die Koffer hoch. Carl Rennbach saß ächzend auf seinem Bett, in langen Barchentunterhosen, eine Weste aus Katzenfell über dem Trikothemd, und badete seine Füße in einer Schüssel mit 164
heißem Wasser. Holt suchte ihm Socken, ein frisches Hemd aus dem Koffer, dann zog auch er sich um. Sie aßen im Speisesaal. Nachher lud Carl Rennbach seinen Neffen zu einem Glas Grog in die Hotelbar ein. Holt war müde. Sie hatten zweitägige Aufenthalte in Dortmund und Düsseldorf und heute eine vielstündige Autofahrt hinter sich. Es war nun nicht mehr allzu weit bis zum Schwarzwald, und komme, was wolle: morgen brach er auf! Ja, er ging, wenngleich ihm die Aussicht auf neue Wanderschaft gar nicht behagte. An den Wagenfenstern waren trostlose Bilder vorbeigeflogen: Heimkehrer und Umsiedler auf allen Straßen, zertrümmerte Städte und Dörfer, Chaos des ersten Nachkriegswinters... Holt graute es, in den Strom zurückzukehren, ihm graute vor kalten Zügen, Wartesälen, schneeverwehten Landstraßen. Der heiße Grog pulverte ihn auf. Er wandte sich an seinen Onkel. „Wie lange hast du hier zu tun?“ Carl Rennbach lag schlaff in seinem Sessel, der schmale Kopf stak zwischen den Schultern, das Kinn versank in der hohlen Brust. „Acht Tage doch bes-timmt“, antwortete er. Nur ungern hätte Holt den Onkel durch einen heimlichen Aufbruch brüskiert. So erzählte er von Bekannten in Karlsruhe, er könnte sie bei dieser Gelegenheit besuchen. „Aber gewiß doch“, sagte Carl Rennbach. „Pedersen fährt dich hin.“ Er holte eine Zigarre hervor, biß ihr die Spitze ab und spuckte die Tabakkrümel unter den Tisch. Er rauchte und schaute sich in der Bar um. Die meisten Hotelgäste waren Ausländer, fast alle in Zivil, aber man sah auch Offiziersuniformen der Besatzungsmacht. Carl Rennbach, beim zweiten Grog, richtete sich auf, daß sich sein Rücken krumm aus dem Sessel hervorwölbte; die langen weißen Haare rutschten ihm in Strähnen seitlich hinter die Ohren. Er zeigte sich umgänglich, wie immer des Abends. „Es sitzt sich bestimmt gut hier“, sagte er, „nicht wahr, Neffe?“ Die Helligkeit der Speisesäle, die anheimelnde Wärme der Bar trog Holt nicht über die Elendsbilder hinweg, die er auf der Reise geschaut hatte, und die Erinnerung war noch frisch. Er leerte das zweite Glas Grog. Er nickte höflich. „O ja, es sitzt 165
sich hier wirklich angenehm.“ Er wollte den Onkel nicht brüskieren. Warum eigentlich nicht? Seit Tagen trug er eine Maske; Wohlerzogenheit und Heuchelei hingen ihm zum Halse heraus. Der Onkel hatte recht, es saß sich bes-timmt gut hier, zweifellos, und Holt sagte: „Mir tun die armen Schweine auf der Landstraße leid!“ Der Onkel sog an der Zigarre, der Onkel war ein Fuchs, man sah dem Onkel nie an, was er dachte. Holt stänkerte: „Der kleine Mann muß wieder mal die Zeche bezahlen!“ Der Onkel sollte sich über den Neffen wundern, sollte sich ärgern! Aber der Onkel warf nur einen amüsierten, schielenden Blick auf Holt und sagte: „Du bekommst keinen Grog mehr, Neffe, du wirst ja schon melancholisch!“ Holt schwieg und ärgerte sich. Carl Rennbach zahlte. Er ließ sich eine Karaffe Kognak aufs Zimmer bringen, stellte sie auf das Nachtschränkchen und rauchte seine Zigarre im Bett weiter. Er trug einen giftgrünen Pyjama, der sein Gesicht grau und elend machte, lag auf dem Rücken, die Steppdecke bis unters Kinn gezogen, und las. Er las „Das Geschichtswerk des Herodot von Halikarnassos“. Holt hatte es im Speisesaal viel zu plump angefangen; so einfach lockte er den Fuchs nicht aus dem Bau. „Da fährst du also nach Dortmund, nach Düsseldorf, nach Ludwigshafen“, sagte er beiläufig. „Was verhandelst du da eigentlich überall?“ Der Onkel antwortete nicht und las. Dann richtete er sich auf, kippte einen Kognak und las weiter. Holt legte sich ins Bett, die Hände unter dem Kopf, und fragte in besonders höflichem Ton: „Haben es dir die Alliierten nicht übelgenommen, daß du für die Nazis U-Boote gebaut hast?“ Carl Rennbach hielt die Hand mit der Zigarre aus dem Bett, warf die Asche auf den Teppich und sagte: „Es gibt bei den Alliierten natürlich Leute, die sehr ideal denken.“ „Du denkst nicht ideal?“ fragte Holt. Carl Rennbach vertiefte sich wieder in seinen Herodot, blätterte eine Seite um, wobei er den Finger an der Unterlippe anfeuchtete, und sagte: „Ich denke eigentlich mehr praktisch.“ Holt setzte sich, brannte sich eine Zigarette an und fragte: „Was wird sich durchsetzen, das Ideale oder das Praktische?“
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„Ich weiß nicht“, sagte Carl Rennbach. Er klappte endlich das Buch zu, hielt aber einen Finger zwischen den Seiten. „Rauch nicht im Bett, Neffe!“ sagte er. „Es ist eine Unsitte, im Bett zu rauchen!“ Holt drückte die Zigarette aus. Carl Rennbach sog kräftig an seiner Zigarre, und befriedigt durch den Gehorsam seines Neffen sagte er: „Ich hoffe, daß sich bei den Westmächten ein realistisches Denken durchsetzen wird.“ „Du meinst“, sagte Holt, „daß sie ihre primitive Revanche- und Entmachtungspolitik aufgeben? Nun ja... Der Chef dieser... amerikanischen Entkartellisierungsabteilung soll ja schon zurückgetreten sein.“ Carl Rennbach sah mit einem schielenden Blick auf Holt; dann schlug er wieder seinen Herodot auf. „Ich weiß nicht, Neffe“, sagte er. „Ich bin kein Politiker.“ „Sondern?“ fragte Holt. „Sondern Unternehmer“, sagte Carl Rennbach. Holt verschränkte die Hände unter dem Kopf und blickte zur Decke, um die sich eine barocke Stuckverzierung herumzog. „Ich will mein Lebtag nichts mehr von Politik wissen“, sagte er. „Aber manchmal wird einem die Politik buchstäblich aufgezwungen!“ Carl Rennbach schüttelte den Kopf, daß ihm die weißen Haarsträhnen hinter die Ohren rutschten. Er sah in sein Buch und sagte: „Ein Land, wo am Fuß hoher Berge Menschen wohnen, die alle, Männer und Weiber, als Glatzköpfe zur Welt kommen... Sag mal, Neffe, was für ein Volk kann da gemeint sein?“ „Glatzköpfe...“, wiederholte Holt verständnislos. „Steht das im Herodot?“ Carl Rennbach feuchtete sich den Finger an der Unterlippe an, und während er umblätterte, fragte er: „Wer zwingt dir Politik auf?“ „Das Leben“, antwortete Holt. „Man sieht so viel. Man stellt unwillkürlich Fragen. Du hast mich vorhin sentimental genannt, weil ich an die Menschen dachte, die draußen über die Landstraßen ziehn. Das ist keine Sentimentalität. Aber ich bin schließlich selbst einmal auf der Straße gelegen, ohne recht zu
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wissen, wohin. Und vorhin, in der Bar, da bin ich über den Kontrast gestolpert.“ Carl Rennbach legte sein Buch auf den Nachttisch und wälzte sich auf die Seite. „Verdammtes Reißen!“ ächzte er. Dann richtete er seinen schielenden Blick auf Holt. „Da bist du also ges-tolpert“, sagte er, „über welchen Kontrast?“ „Bei Tante Marianne in der Villa“, sagte Holt, „oder unten in der feudalen Hotelbar, das ist die eine Welt. Aber es gibt noch eine andere.“ Er schwieg, das Gespräch erschien ihm sinnlos; er sollte mit Uta darüber reden, aber nicht mit dem Onkel, diesem Fuchs. „Also es gibt noch eine andere Welt“, konstatierte der Onkel, sichtlich amüsiert. „Du bist naiv, Neffe! In dieser einen unseren Welt sind die Reichtümer unterschiedlich verteilt, das ist es, was du meinst. So lebt eben der eine in der Villa, der andere im Kellerloch, und du sollst nicht philosophieren, sondern froh sein, daß du nicht im Kellerloch zu wohnen brauchst.“ „Ich soll also vergessen, daß in der Welt keine Gerechtigkeit herrscht?“ fragte Holt herausfordernd. Aber Carl Rennbach achtete nicht auf den streitsüchtigen Ton; er richtete sich ächzend im Bett auf, beugte sich zu seinem Nachtschränkchen hin, kippte einen Kognak und langte nach einer neuen Zigarre. Dann saß er in seinem giftgrünen Pyjama im Bett, krumm, mit herabhängenden Haarsträhnen, hielt die angerauchte Zigarre zwischen den Lippen und redete, als habe der Kognak seine sonstige Zurückhaltung beseitigt, auf Holt ein. „Gerechtigkeit, Neffe! Das ist eine Illusion. Sieh mich an: bin ich ein Gerechtigkeitsapostel? Ich bin Reeder und Bankier, ich bin Kapitalist, ich baue Schiffe und kein Reich der Gerechtigkeit auf Erden.“ Er lachte sein räusperndes Lachen, als er Holts verblüfftes Gesicht sah. „Was denn, Neffe... soll ich die Welt wie eine Betschwester sehn? Ich sehe sie real: wir leben im kapitalistischen Zeitalter, und wir heißen dieses Zeitalter gut, weil wir beide einen ganz leidlichen Platz erwischt haben.“ „Und... wenn du nun nur ein Kellerloch erwischt hättest?“ fragte Holt. „Dann“, sagte Carl Rennbach, „wäre ich wahrscheinlich beizeiten Kommunist geworden. Aber da es der Zufall wollte, 168
daß ich ums Kellerloch herumkam, und weil ich vom gesellschaftlichen Reichtum ein leidliches Eckchen abgekriegt habe, deshalb bin ich ein Gegner des Kommunismus, und deshalb will ich von einer gleichmäßigen Verteilung des Eigentums nichts wissen. Gerechtigkeit - das ist ganz einfach, Neffe! Die Gerechtigkeit der Kommunisten ist der Kampf gegen unser Eigentum, und unsere Gerechtigkeit ist der Kampf gegen die Kommunisten.“ „Dann war es also gerecht, wenn Hitler die Kommunisten umgebracht hat?“ fragte Holt. „Lassen wir die Gerechtigkeit aus dem Spiel“, erwiderte Carl Rennbach. „Wie sich gezeigt hat, war es falsch. Ich jedenfalls würde es in Zukunft nicht wieder mit Gewalt versuchen.“ „Sondern?“ fragte Holt. „Wie würdest du es versuchen?“ „Ich würde ihnen so viel zu fressen geben, daß sie aufhören, revolutionär zu sein“, sagte Carl Rennbach. „Ernst Abbe war ein großer Mann, Neffe! Ein Arbeiter mit Eigenheim hat kaum noch die Revolution im Sinn, vers-tehst du?“ Er legte die Zigarre weg und langte nach der Nachttischlampe. Der Raum lag in Dunkelheit. Holt grübelte. Bald wurde er müde. Er wischte die Gedanken vorerst beiseite. Morgen ging er auf die Wanderschaft, ins Ungewisse. Morgen stand er am Fuß hoher Berge, am Fuß hoher Berge... Es war jetzt so still im Zimmer, daß Holt die Uhr seines Onkels auf dem Nachttisch ticken hörte. Er sagte: „Der ist bestimmt einem Witzbold aufgesessen!“ „Wer?“ fragte der Onkel, aus dem Schlaf geschreckt. „Der Herodot“, sagte Holt. „Die Kinder werden ja überall ohne Haare geboren! Oder...? Na, siehst du!“ Der Chauffeur Pedersen brachte Holt wegen einer Reifenpanne mit erheblicher Verspätung nach Karlsruhe und fuhr unverzüglich nach Ludwigshafen zurück. Es war bitter kalt. Holt trug eine leichte Reisetasche, die ihm sein Onkel geliehen hatte. Auf dem Bahnhof stand eine Menschenschlange vor dem Schalter; Holt konnte die Fahrkarte später lösen, der Zug nach Freiburg ging erst gegen Mitternacht. Der Wartesaal war unbeheizt und mit Reisenden überfüllt, mit Heimkehrern, 169
Umsiedlern, heimatlosem Volk, das seine Habe in Koffern und Bündeln mit sich schleppte. Schließlich fand er einen freien Stuhl. Er bestellte ein Heißgetränk und irgendwas zu essen. Der Kellner schüttelte nur den Kopf. Es gab hier nichts zu essen, auch kein Stammgericht, nichts. „Es kann teuer sein!“ beharrte Holt; wer weiß, wo er wieder Gelegenheit zum Essen fand. Aber der Kellner lief schon weiter. Holt brannte sich eine Zigarette an. „Nischt zu machen, Herr Chef!“ rief eine freche Stimme vom Nebentisch. Dort, bei einer Umsiedlerfamilie mit vielen übermüdeten Kindern, saßen zwei Männer in zerschlissenen Soldatenmänteln, ein großer, starker mit gedunsenem Gesicht und ausdruckslosen Augen, und ein kleinerer, schmaler, der Holt vertraulich angrinste, dabei aufstand und dem Großen mit den Augen winkte. Sie traten beide zu Holt hin, sie mochten Mitte der Zwanzig sein, sie sahen verkommen aus. Der Große trug eine Pelzmütze mit heruntergezogenen Ohrenklappen, sein Gesicht war unbewegt, sein Blick stumpf. Der Kleine hatte einen Schal um den Kopf gewickelt, darüber hatte er eine Schiebermütze gestülpt; sein schmales Gesicht war bartstoppelig, die Augen gingen unruhig hin und her, das Mundwerk stand keinen Augenblick still: ein Gaunergesicht. Augenzwinkernd, plump vertraulich, so redete er auf Holt ein. „Nichts zu machen, Herr Chef“ - er sagte: „Herr Cheeef“ -, „da müssen Sie die Kneipe wechseln, da haben Sie's falsche Lokal erwischt, da müssen wir in was Feineres gehn, wenn Sie speisen wolln, Herr Chef, da bringen wir Sie hin, wir sind hier bekannt, wir kennen hier jedes Lokal, wir führen Sie, Herr Chef, Ehrensache!“ „Wie komm ich dazu?“ fragte Holt abweisend. „Die Kippe, Herr Chef!“ rief der Kleine. „Für die Kippe tun wir alles, und da fällt doch eine Aktive für uns ab, wo Sie doch die ganze Schachtel voll haben...“ Nach der Sprache zu urteilen waren die beiden hier fremd wie Holt, aber wer weiß, wie lange sie sich hier schon herumtrieben. „Also gehen wir! Ober!“ rief der Kleine. „Zahlen! Und unsere zwei Bierchen, die zahlt der Herr, nicht wahr, Herr Chef?, wo wir Sie doch führen, danke bestens, Herr Chef...“ 170
Holt mußte einen Fünfzigmarkschein wechseln, den er aus der Brusttasche zog, dann knöpfte er den Mantel zu. Er war viel zu gut gekleidet für diese Zeit, für diese Reise, für dieses Heerlager des Elends. Der Große trottete hinter Holt her, der Kleine lief eilfertig voraus, in menschenleere, von Ruinen gesäumte Straßen, und er redete und redete: „Ganz vornehmes Lokal, Herr Chef, dort gibt's alles, wie im Frieden, dort gibt's die besten Sachen, Schweinebraten, Klöße, was Sie wolln, aber teuer, sündhaft teuer, bitte, hier lang, nicht mehr weit, keine fünf Minuten, jawohl, und nun rechts, jawohl, hier geht's um die Ecke...“ Holt bog von der Straße in eine unbeleuchtete Gasse ein. Es war keine Gasse, es war eine Toreinfahrt, sie führte in ein Trümmergrundstück. Holt blieb stehen, mitten im Schritt, so unvermittelt, daß der von hinten geführte Schlag des Großen fehlging und statt des Steinbrockens der Unterarm Holts Kopf traf. Holt fuhr herum, aber da riß ihm der Kleine schon die Füße weg, und Holt fiel vornüber auf den beschneiten Schutt. Der Große kniete auf Holts Nacken und preßte ihm das Gesicht in den Schnee. Sie drehten ihm die Arme auf den Rücken, zogen ihm den Mantel aus, nahmen ihm das Geld aus der Brusttasche, nahmen ihm die Zigaretten, die Reisetasche. Holt bäumte sich mit aller Kraft auf, er kam frei, der Große hackte mit dem Fuß nach Holts Kopf, dann liefen die beiden über die Trümmer davon. Holt blieb halb betäubt liegen. Der Fußtritt hatte ihn an der Stirn getroffen. Aber bald raffte er sich auf, und erfüllt von ohnmächtiger Wut, mit schmerzendem, benommenem Kopf, stolperte er zur Straße zurück. Dort faßten ihn die Scheinwerfer eines Autos; er wischte sich über die Stirn, sie war naß von Blut. Ein Lastwagen holperte heran und hielt. Der Fahrer war mit einer Ladung Schmieröl in Fässern unterwegs nach Offenburg; das war bis Freiburg der halbe Weg. Er nahm Holt mit, ein älterer Mann, er sagte: „Polizei? Hat überhaupt kein' Zweck.“ In Freiburg war der Wartesaal des Bahnhofs geheizt und wie überall mit Menschen vollgepfercht. Holt saß auf dem 171
Fußboden, den Rücken gegen einen Heizkörper gelehnt. Und wieder dachte er verzweifelt und mutlos: Was fang ich an, ohne Mantel in der Kälte, ohne einen Pfennig Geld? Er war schwach vor Hunger, alles lief verquer, alles schlug ihm zum Bösen aus. Am Schalter hatte man ihm erklärt: „Die Bahn nach Neustadt fährt nicht, die Hausach-Freudenstadtsche fährt nicht, die Höllentalbahn fährt nicht, Sie könnten es höchstens über Stuttgart-Tuttlingen-Donaueschingen versuchen.“ Das war ein endloser Umweg, das schaffte er nie! Kein Wagen fuhr über die schneeverwehten, vereisten Straßen ins Gebirge. Holt geriet wieder in Panik: Wie konnte er aus dem warmen Hotel auf die Straße gehen, in dieser Zeit, in diesem Land? Er erwog jetzt, umzukehren. In Ludwigshafen wartete Onkel Carl, in Hamburg war Ruhe, Bequemlichkeit und Tante Mariannes Holzgesicht. Holts Starrsinn war noch größer als die Angst. Er mußte zu Uta! Er erhob sich. Er wußte nicht, was er bei Uta wollte. Egal: er mußte zu Uta! Ihm fiel ein, daß Doktor Gomulka in Nürnberg lebte. Aber Nürnberg war wohl noch unerreichbarer als das nahe Gebirge. Er bekam etwas zu essen. Frauen eines christlichen Hilfswerks gaben einen warmen Eintopf aus. Als Holt sich gesättigt fühlte, konnte er wieder nachdenken. Er mußte sich in seiner Lage zurechtfinden, es blieb ihm nichts anderes übrig als der Umweg über Stuttgart. Aber die Zeit, da der Entlassungsschein aus dem Camp als Fahrtausweis genügte, war vorbei: wo nahm er Geld her? Sollte er betteln? Nein. Er mußte Arbeit finden! Wenn er im Wartesaal nächtigte, wenn es ihm gelang, sich von der Karitas durchfüttern zu lassen, dann genügten ein, zwei Wochen Arbeit, Trümmerschippen vielleicht, und er hatte das Reisegeld beisammen. Er sprach auf gut Glück ein paar Menschen an, die er für Einheimische hielt. „Arbeit?“ Schulterzucken. Endlich einer, der hinhörte, ein Mann im Ledermantel. Holt folgte ihm mißtrauisch; er rannte kein zweites Mal in eine Falle. Der Fremde sprach einen harten Dialekt und führte Holt kreuz und quer durch die Straßen Freiburgs, hieß ihn schließlich allein weitergehen, immer die Straße entlang, aus 172
der Stadt hinaus, zu einem Gasthof, Zum Waldsee, dort sollte er beim Wirt vorsprechen, sollte sagen, der Mann im Ledermantel schicke ihn. Das alles mutete seltsam an, aber Holt hatte keine Wahl, er mußte Arbeit finden, und er war auf der Hut. Er marschierte die Straße hinauf, aufs Gebirge zu, das sich jenseits der Stadt wie eine Mauer erhob, finster, ungangbar, von schwarzen Wäldern bedeckt, Schwarzwald, tief verschneit. Ein scharfer Wind fegte die Straße entlang, wirbelte den Schnee auf, der fußhoch den Boden bedeckte, wurde am Rande der Stadt zum Schneesturm, der Holt alle Kraft abverlangte. Holt trug Zeitungspapier in dicken Lagen um den Körper, aber der Sturm ließ ihn erstarren und verzehrte seine Kraft. Er erreichte das Gasthaus. Dicht dahinter begann der Wald, und die Landstraße stieg steil zum Gebirge an. Die Gaststube war leer. Holt setzte sich an den großen Kachelofen. Der Wirt, als er von dem Mann im Ledermantel hörte, nickte, musterte Holt freundlich, aufmerksam, sagte ihm dann, er müsse warten, eine Stunde vielleicht, brachte ihm ein Glas Grog. „Ich kann das nicht zahlen“, sagte Holt. Der Wirt winkte ab. Holt mußte sich aufwärmen, und er trank. Draußen, immer wilder, pfiff der Schneesturm ums Haus. Der Wirt brachte Holt einen zweiten Grog. „Aber ich kann das nicht bezahlen“, sagte Holt wieder, und der Wirt winkte ab. Das Getränk war stärker gemischt als das erste, die Wogen in Holt glätteten sich, das trübe Licht in der Gaststube brannte einen Schein heller. Noch alles hatte sich bisher zum Guten gewendet. Er hatte viel erlebt. Nun ein, zwei Wochen Arbeit, dann war er bei Uta, dort fand er Ruhe. Wie lange saß er so, ein wenig schläfrig, angenehm durchwärmt, und hatte der Wirt ihm gar noch ein drittes Glas gebracht? Da fuhr draußen ein Wagen vor, drei Männer traten ein, legten die Mäntel ab, sprachen mit dem Wirt, drehten sich nach Holt um. Dann setzte sich einer von ihnen wortlos zu Holt an den Tisch, ein vielleicht dreißigjähriger Mann. Fleischloses Gesicht, auffallend breite Backenknochen, prüfender Blick aus dunklen Augen unter dünnen Brauen, dünnes schwarzes Haar, brauner Zivilanzug, dicker Sportpullover. Er musterte Holt, 173
wohlwollend, aufmunternd. „Sie suchen also Arbeit!“ Er fragte Holt aus. Der Wirt brachte für beide Grog, der Alkohol lockerte Holts Zunge; nur seine Hamburger Verwandtschaft verschwieg er. Der Fremde verlangte Holts Ausweis, ließ die Kennkarte bei sich auf dem Tisch liegen, winkte nach neuem Grog. „Ich kann Ihnen Arbeit vermitteln, sehr gut bezahlte Arbeit bei der Militärregierung...“ Holt horchte auf. Bei der Militärregierung? Aber sehr gut bezahlte Arbeit. Die Freude, die Erleichterung ließ Holt schwindeln, oder war es der Grog, der seinen Kopf drehen machte? Schon wieder stand ein Glas vor ihm, irgendwas warnte ihn, aber es war zu spät: er war betrunken. Wennschon! Holt schaffte es, verdiente sich das Reisegeld, sehr gut bezahlte Arbeit! Was denn, verpflichten mußte er sich? „Hören Sie mal!“ sagte Holt, und seine Zunge war ein wenig unsicher. „Die Leute reißen sich doch um die Arbeit bei den Amis, bei den Besatzungsmächten mein ich, da hat es doch sicher einen Haken mit der Arbeit!“ Der Fremde lächelte, langte in die Brusttasche, holte Geldscheine hervor, die schmalen, bunten Scheine der Alliierten, zählte ein paar ab, hielt sie in der Hand. „Ich sag's Ihnen ehrlich: es ist unbeliebte Arbeit. Munition verladen, scharfe Munition.“ Wegwerfende Geste Holts. „Halb so wild, was meinen Sie, wieviel scharfe Munition ich schon geschleppt habe!“ Der Fremde sagte: „Wir nehmen Sie dann gleich im Wagen mit zur Stadt“, und warf den anderen einen Blick zu. Er brachte ein gedrucktes Formular hervor, reichte Holt einen Kopierstift. Das Formular war in französischer Sprache abgefaßt, aber es ging um sehr gut bezahlte Arbeit, und in zwei Wochen war der Weg frei zu Uta. Vielleicht fuhr bis dahin wieder die Höllentalbahn. Holt war betrunken, ein wenig unsicher begann er die Unterschrift, da faßte sein Blick den französischen Text, er verstand kein Französisch, aber diese zwei Worte verstand er: Legion etrangere... Mit einem Schlage war er nüchtern. Er blickte auf. Der Fremde, lauernd, hing mit seinen Augen an Holts Gesicht. Holt riß die Kennkarte an sich, sprang auf, wild vor Angst und Wut, stieß den Fremden rücklings über die 174
Theke, fiel verzweifelt über den anderen her, der ihm den Weg zur Tür verstellen wollte, und dann war er im Freien und rannte, als gelte es sein Leben. Holt floh dem Gebirge zu, niemand folgte ihm, aber er floh, noch nachträglich von panischer Furcht erfaßt. Er lief gebückt gegen den Schneesturm, den Berg hoch, wo ihn der Wind mit unwiderstehlicher Gewalt vor sich her trieb. Er sah für Augenblicke, fern jenseits des Tales am Berghang, die Lichter eines Dorfes, er kämpfte sich zu diesen Lichtern hin. Mondlicht geisterte durch ein Wolkenloch und erlosch wieder, und für Sekunden sah Holt die Straße, die Berge, sah nichts als Schnee, eine endlose Wüste von Schnee. Der Weg war weit, der Sturm eisig. Es war kein Dorf, es war ein einsamer Schwarzwaldhof, und erst Stunden später, vor Kälte erstarrt, schlug Holt ans Tor und wurde aufgenommen. Das Gehöft schneite über Nacht ein. Holt, mit benommenem Kopf, schaufelte am anderen Morgen Schnee, schaufelte Wege über den Hof. Er machte sich nützlich, half, wo es etwas zu helfen gab, erhielt Essen, schlief auf dem Heuboden über dem Stall, schlief sich frei von Schrecken und Erschöpfung. Zwei Tage später brachte ihn der Bauer zum nächsten Dorf. Dort blieb Holt drei Tage, bei einem Schmied, einem wortkargen Mann, der unermüdlich am Amboß stand. Das Gebirge war durch den Winter von aller Welt abgeschnitten; kaum einer der Heimkehrer, der Umsiedler, die im flachen Land die Dörfer überschwemmten, gelangte hierher. So interessierte man sich für Holt, wollte ihm helfen, horchte im Dorf umher, hörte von einem Bauern, der mit dem Pferdeschlitten nach St. Blasien fuhr. St. Blasien war schon so gut wie das Ziel. Der Bauer lud Holt zum Mitfahren ein. Nach tagelangem Schneetreiben wölbte sich ein tiefblauer Winterhimmel über den Bergen, und die Sonne überstrahlte die verschneiten Wälder. Holt saß in Decken gewickelt im Schlitten. Er war guter Dinge, er schaffte es, er kam ans Ziel. Von Bergdorf zu Bergdorf ging die Fahrt, tief ins Gebirge hinein, auf verschneiten Waldwegen, durch Schluchten, über Berge, durch die wilde Herrlichkeit der Schwarzwaldlandschaft. 175
Es dämmerte schon, als Holt durch eine Kulisse hundertjähriger Tannen die Türme und Dächer von St. Blasien erblickte. Er mietete für wenige Mark ein Gasthofzimmer, es gab warmes Essen. Anderen Tages richtete er sich her, den arg strapazierten grauen Anzug, die Schuhe, ließ sich rasieren. Als er sich nach dem Weg erkundigte, fand sich ein Schlitten, der ihn mitnahm. Gegen Mittag gelangte er ans Ziel, an den See. Die Sonne schien auf die Ufer. Waldhütte, das war drüben am Nordrand, eine Frau wies Holt den Weg. Er wanderte quer übers Eis, durch knietiefen Schnee. Dann entdeckte er das Haus: hinter Tannen, ein Holzhaus, groß, auf festem Sockel von Granit, still, wie ausgestorben, mit grünen Fensterläden unter dem mächtigen überhängenden Walmdach, auf dem der Schnee lastete. 6
Holt ging durch den Vorgarten. Die Tür war verschlossen. Er stapfte durch tiefen Schnee ums Haus herum und spähte durch ein Fenster. „Also hat er doch hergefunden, in die Einöde, über die sieben Berge!“ sagte es hinter ihm. Das war Uta. Sie lag in einem Liegestuhl zwischen kahlen Büschen, mitten im Schnee, mit einem Lammpelz zugedeckt. Holt erkannte sie sofort. „Bist du nur über die Berge gekommen, um mich anzustarren?“ fragte sie. „Hol dir im Haus Decken und einen Liegestuhl.“ Er gehorchte. Er trat durch die Hoftür in einen Korridor, wo es vom Stall her nach Dung roch, und weiter in einen Raum, der die Breite des Hauses einnahm. Trotz des überhängenden Daches fiel Licht in jeden Winkel des Zimmers. Schwere Balken trugen die Decke. In einer Ecke stand ein Kachelofen. In der Mitte der Außenwand nach Westen war aus grob behauenen Blöcken von rotem Gneis ein offener Kamin gemauert. Das Zimmer war sparsam eingerichtet: eine Polsterbank, die als Schlaf statt diente, um den Tisch ein paar Hocker ohne Lehne, 176
und der weißgescheuerte Fußboden sah unter verwelkten Matten aus Binsengeflecht hervor. Beim Kamin stand ein altertümliches Spinnrad. Die östliche Wand beiderseits der Tür aber bedeckten Regale, die mit Büchern vollgestopft waren. Und vor den Fenstern, auf Fensterbrettern und Blumentreppen, grünten und rankten, jetzt, mitten im Winter, eine Fülle von Zimmerpflanzen. Holt nahm sich Decken von der Polsterbank. Uta schlief, oder sie tat, als ob sie schlafe. Holt wickelte sich in die Decken. Dann lag er erschlaffend in der eisigen Luft; die Wintersonne brannte seltsam heiß auf sein Gesicht. Er grübelte. Einst war Uta der Stern einer Kleinstadtgesellschaft von Offizieren, Assessoren und dienernden Kaufleuten gewesen. Sie hatte als klug und belesen gegolten; ihr Abitur war noch nach einem Jahr an den Schulen Gesprächsstoff gewesen. Doch das alles hatte in jener Zeit wenig gegolten. Daß sie ritt und Florett focht und im Tennis Pokale gewann, das war es, was sie populär gemacht und ihren Nimbus unter den Leutnants und Schülern begründet hatte. Verklärt von diesem Nimbus hatte Holt sie gesehen, und daß sie zu ihm herabgestiegen war, damals, das hatte er eigentlich bis heute nicht begriffen. Er lag unbeweglich. Die langen Schatten der westlichen Berge fielen über den Hang, über Haus und Garten, während die Kuppen im Osten noch im Sonnenlicht glühten. Es wurde fühlbar kalt. Uta kletterte aus dem Liegestuhl. Nun gab sie ihm endlich die Hand. Ihre Hand war nicht mehr zart und gepflegt, war hart und rissig. Sie trug ein sonderbares sackartiges Kleid aus grobem, knotigem Gewebe, das sie mit einer roh zusammengedrehten Kordel gürtete. Das blonde Haar, es war länger als damals, fiel ihr offen auf den Rücken. Unter dem Kleid schauten handgestrickte Strümpfe hervor, und die Füße staken in flachen Schuhen, deren Oberleder aus dünnen Riemen geflochten war. Holt folgte ihr ins Haus, die steile Holztreppe nach oben. Dort öffnete sie eine Mansarde, einen kahlen Raum, in dem nichts als ein eisernes Bett stand. „Du ziehst dich um!“ befahl sie. In die Bretterwand waren Nägel geschlagen, daran hingen eine alte Hose, ein abgetragener Pullover. „Es gibt Arbeit“, fuhr sie 177
fort, in einem kalten, fremden Ton. Und schon auf der Treppe sagte sie: „... auch für dich!“ Er zog sich die alten Sachen an. Er vermißte Utas Spott. Ihre unwirschen, widerwillig gesprochenen Worte konnten ihn nicht beirren, aber er war ernüchtert durch den frostigen Empfang. Insgeheim hatte er gehofft, ihr vertraulich wie damals begegnen zu können. Jetzt erkannte er: sie war noch immer hoch über ihm. Uta wartete in Männerkleidern und zeigte Holt das Haus, das große Zimmer, die Küche, den Abstellraum, die Falltür zum Keller mit dem Tiefbrunnen, und zeigte ihm den Stall. Auch jetzt sprach sie nur das Notwendigste. Sie züchtete Schafe, ostfriesische Milchschafe und Merinos, ferner hielt sie ein Angoraziegenpaar; das waren seltene Tiere, die aus der Zucht eines französischen Gutsbesitzers stammten. „Merinos“, sagte sie und wies auf ein paar langschwänzige, fast schwarze Schafe. „Nicht die in Deutschland zusammengepanschten Merino-Landschafe, sondern spanische Merinos, Eskorialschafe.“ In einer Ecke waren Preßstrohquader bis unter die Decke geschichtet und zwei Buchten vom übrigen Stall abgeteilt. Holt zwängte sich durch die Strohmauer. Hier stand das Angoraziegenpaar. Der Bock war ein großes, fremdartiges Tier mit furchterweckenden, schräg nach außen gerichteten Hörnern, die schraubenförmig gewunden waren. Die Ziege ging trächtig; ihre Hörner waren kleiner als die des Bockes. In langen, seidigen Strähnen hing das Haarkleid an den Tieren herab. Uta kraulte der Ziege das Fell. „Ich weiß nicht, ob mir die Zucht gelingt“, sagte sie sachlich. „Hier oben ist das Klima rauh, tausendzwanzig Meter über Normalnull. Die Ziegen sind gegen Kälte empfindlich, sie sorgen auch kaum für ihren Nachwuchs. Sie sind überzüchtet, ihr Pflegeinstinkt ist verkümmert. Sie leben ausschließlich für sich selbst...“ Nun sah sie Holt an. „Wie die Menschen!“ setzte sie hinzu. Dann zwängte sie sich wieder durch die Strohballen. Sie entzündete die Stallaterne und band sich das Haar mit einem Tuch straff an den Kopf. Auf einmal fuhr sie Holt an: „Steh nicht rum! Räum den Dung weg!“ Holt ging an die Arbeit. 178
Uta sah ihm einen Augenblick zu und nahm ihm schon die Forke aus der Hand. „Doch nicht die gute Streu! Nur der Dung gehört auf die Karre!“ Er arbeitete stillschweigend weiter. Auf dem dunklen Hof geriet er in lockeren Schnee und kippte die Karre um. Er las fluchend die Klumpen zusammen. Als er endlich in den Stall zurückkehrte und einstreute, war Uta längst mit dem Füttern fertig und molk. Dann kämmte sie die Angoraziegen. Holt mußte mit einer rußenden Petroleumlampe in den Keller steigen. Uta reichte ihm Eimer nach und zog sie gefüllt mit einem Strick nach oben. Sie sagte nicht danke, sie sagte nicht bitte, sie kommandierte ihn, und er gehorchte schweigend. Dann wuschen sie sich gemeinsam, auf dem Hof, und es war so kalt, daß während des Waschens das Wasser im Zuber gefror. Im Kamin krachten die brennenden Scheite. Vom Sims des Kachelofens leuchtete die Petroleumlampe. Uta trug wieder das sackförmige Kleid. Das Haar hing ihr in zwei Zöpfen über die Schultern. Das Abendbrot bestand nur aus Schafmilch, Äpfeln und Brot. Uta sprach kein Wort; so schwieg auch Holt. Nach dem Essen holte sie einen Tonkrug mit einem roten, sauren Wein, stellte eine Büchse mit Tabak vor Holt und gab ihm ein Bündel eingerauchter Pfeifen zur Auswahl. Er rauchte und kostete den Rotwein, der mit Wasser verdünnt war. Uta hockte sich mit untergeschlagenen Beinen auf die Polsterbank, dabei knarrte die Lehne, und ein starker, wildfarbener Kater strich durch die angelehnte Tür, erstarrte mitten in der Bewegung und äugte mit zuckender Schwanzspitze ins Kaminfeuer. Dann sprang er zu Uta auf die Polsterbank, begann laut zu schnurren und rollte sich auf ihrem Schoß zusammen. Utas Schweigen bedrückte Holt; er hätte gern nach ihrem Vater gefragt, aber er war befangen, und so begann er aufs Geratewohl: „Draußen sieht's trostlos aus. Nichts als Elend und Not.“ „Das interessiert mich nicht, das ist mir egal!“ unterbrach sie ihn schroff. 179
Er schwieg betroffen und rauchte. Dann sagte er: „Du hast dich sehr verändert!“ „Ich habe mich gar nicht verändert!“ erwiderte sie. „Erinnere dich gefälligst, ob mir nicht schon immer alles gleichgültig gewesen ist, meine Verlobung ebenso wie alle Konventionen.“ „Ich war damals sechzehn“, sagte Holt. „Aber lassen wir das!“ Er stand auf. Er konnte ein Gefühl tiefer Enttäuschung nicht länger beherrschen. „Ich geh auf mein Zimmer, ich bin hundemüde.“ An der Tür wartete er. „Da bin ich quer durch Deutschland zu dir gekommen, nur um zu sehen, daß wir beide uns gar nicht kennen.“ Uta hatte den Arm über die Lehne der Polsterbank gelegt; der Kopf war ihr zur Seite, auf den ausgestreckten Arm gesunken. „Daß wir uns gar nicht kennen“, wiederholte sie, ohne aufzublicken, und sie zitierte langsam, als suche sie die Worte erst im Gedächtnis zusammen: „Einander kennen? Wir müßten uns die Schädeldecken aufbrechen... und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren...“ Das klang trostlos. Holt wollte sich ins Zimmer zurückwenden, aber Uta sagte schon: „Gute Nacht.“ Holt fand Uta am anderen Morgen zeitig in der Küche bei der Arbeit. Sie begann ihren Tag auch im Winter nicht später als morgens vier Uhr. Holt wusch sich draußen am Zuber. Aus dem Backofen, der an den Schuppen angebaut war, schlug rotes Feuer. Uta buk Brot. Sie stand in der Küche am Teigschaff, nickte Holt einen Morgengruß zu und befahl: „Sorge für das Feuer. Holz ist im Schuppen!“ Wortkarg und in sich gekehrt, verrichtete sie ihre schwere Arbeit, knetete Mehl, mehr Kleie als Mehl, unter die Einteigmasse, und der Schweiß lief ihr über die Stirn. An den Oberarmen traten die Muskeln unter der Haut hervor. Holt wollte ihr helfen. Sie wies ihn mit einer Kopfbewegung ab. „Sieh nach dem Ofen!“ Er warf draußen wieder Holz in das krachende Feuer. Dann hatte der Teig eine Stunde zu gären. Unterdessen gab es Frühstück, die reichhaltigste Mahlzeit des Tages; heute gebratenes Pökelfleisch, Rührei, Schafbutter, Äpfel. Uta saß 180
schweigend am Tisch, und auch, als sie beide gemeinsam weiterarbeiteten, sprach sie kaum ein Wort. Holt half ihr, aus dem Teig runde, flache Brote zu formen, die glühende Holzkohle aus dem Ofen zu reißen und die Brote einzubringen. Dann richtete er mit Uta Zimmer und Mansarde her, half ihr beim Aufwasch und trug die fertigen Brote in die Abstellkammer. Uta arbeitete zielstrebig und stumm. Sorgfältig pflegte sie ihre Zimmerpflanzen, die sie mit abgestandenem Wasser goß und absprühte. Zum Mittagessen buk sie in der Röhre des Küchenherdes rohe Kartoffeln gar und übergoß sie mit saurer Schafsahne. Dann folgte die Ruhestunde im Freien. Schon war es wieder Zeit zur Arbeit im Stall, und der Himmel über den Bergen erlosch. Aber zwei-, dreimal des Tages, heute wie in der folgenden Zeit, hielt Uta mitten in der Arbeit inne, ließ alles liegen oder stehen und ging ums Haus zur Gartenpforte. Dort lehnte sie unbeweglich, schaute lange den Weg hoch, der am See entlang und hinauf in die Wälder führte, stand stumm, verschlossen, als erwarte sie jemanden. Dann kehrte sie ins Haus zurück und arbeitete weiter. Nach dem Abendessen, das wieder nur aus Brot, Äpfeln und Milch bestand, saßen Holt und Uta noch eine Stunde beisammen. Im Kamin krachten die Scheite. Uta spann auf ihrem altertümlichen Spinnrad einen dicken, noppigen Faden. Dann, noch zeitig am Abend, stieg Holt zu seiner Mansarde hoch. Und so, im Gleichmaß von Arbeit und Ruhe, verstrichen die Wintertage. Harte Arbeit und reichlich Ruhe, ein streng geregelter Tag; Holt fühlte sich genesen, und das Chaos seiner Gedanken und Gefühle, das seit Kriegsende nur immer tiefer geworden war, ordnete sich. Aber Utas Schweigsamkeit demoralisierte ihn. Um an den Abenden nach getaner Arbeit das Schweigen zu brechen, berichtete er von seiner Kindheit in Leverkusen und Bamberg, von seiner Mutter und den Verwandten in Hamburg, von Onkel Franz und Onkel Carl. So erzählte er Uta schließlich
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sein ganzes Leben, erzählte auch von seinem Vater, daß er vom Lande stamme und der Sohn eines Oberförsters sei. „Wie hat er deine Mutter kennengelernt?“ fragte Uta. Ihr Interesse wunderte Holt nicht. Sie hatte sich schon während des Krieges für seinen Vater interessiert. „Er ist ein paar Jahre als Schiffsarzt zur See gefahren“, erzählte Holt, „auf einem Dampfer der Rennbachschen Reederei. Als er dann in Hamburg am Institut für Tropenkrankheiten arbeitete, hat er wohl auch die Hamburger Rennbachs kennengelernt. Jetzt leitet er eine Fabrik in der russischen Zone, zusammen mit Müller, das ist ein Kommunist, der im KZ war.“ Uta ließ ihr Spinnrad stehen, setzte sich auf die Polsterbank, daß die Lehne knarrte. „Warum bist du nicht bei deinem Vater geblieben?“ fragte sie. Durch die angelehnte Tür schlich der Kater, äugte ins Feuer, sprang dann zu Uta hoch und legte sich schnurrend in ihren Schoß. „Ich bin dort gescheitert“, sagte Holt. Er hielt einen Holzspan ins Kaminfeuer und entzündete seine Pfeife. „Ich glaube, ich bin überhaupt im Leben gescheitert.“ Er saß nach vorn gebeugt, die Ellenbogen auf die Knie gestützt. „Da darf ich gar nicht dran denken, wie ich heruntergekommen bin, in so kurzer Zeit! Ich kehrte aus dem Krieg zurück, war lange krank, und dann brach es über mich herein.“ Er warf endlich den brennenden Span ins Feuer und richtete sich auf. „Es hat mich hineingeworfen ins Leben, und da trieb ich wieder, wie ich immer getrieben bin.“ Er versuchte nicht, sich vor Uta in ein günstiges Licht zu rücken. Er erzählte sachlich, was er sonst allen verbarg: von Frau Ziesche, von Peter Wieses Tod, von Gundel, Müller und Schneidereit. Uta hörte ihm zu, hörte von den Toten im Keller, von der Frage nach dem Sinn des Lebens, die nicht mehr verstummen wollte. Sie schwieg. Aber nach Tagen fragte sie unvermittelt: „Denkst du oft an Gundel?“ Holt sah ins Feuer. Er sah die Kloben verglühen und antwortete nicht. Dann war es dunkel, doch unter der Asche glomm das Feuer fort. „Ja“, sagte er. „Oft. Sehr oft. Aber mir ist, als hätte ich das alles nur geträumt.“ 182
Auch wenn es noch so kalt war, trugen Uta und Holt zur Mittagsruhe die Liegestühle hinter das Haus und legten sich in die Sonne, die kalt und brennend auf die Haut schien. Uta hielt stets das Gesicht von Holt abgewendet; vielleicht schlief sie. Aber eines Tages fuhr sie hoch und horchte, horchte... Nun hörte auch Holt das ferne Gebimmel. Uta sprang aus dem Liegestuhl. Holt stand auf und folgte ihr. Er sah sie an der Gartenpforte stehen. Das helle Geläut kam näher. Uta riß die Pforte auf und rannte den Seeweg entlang. Holt ging durch den Vorgarten, bis er den Weg überblicken konnte. Vom Walde her näherte sich ein pferdebespannter Schlitten. Uta lief ihm entgegen, aber der Mann auf dem Schlitten bewegte verneinend den Kopf, und Uta stand mit hängenden Armen vor der Weite des zugefrorenen Sees. Dann kam sie zurück, stumm, und trat an Holt vorbei ins Haus. Die Pferde trugen Glöckchen am Geschirr. Der Schlitten war hoch mit Heu bepackt und fuhr hinter das Haus zum Schuppen. Der Mann stieg ab, ein Greis, verwittert, mit Frosttränen in den Augen. Holt schleppte einen Sack und ein kleines Faß ins Haus. Dann half er, die Heubündel abzuladen. Worauf wartete Uta? Holt fragte den Alten: „Sonst haben Sie nichts mitgebracht?“ Der Bauer, statt zu antworten, legte eine Hand hinters Ohr. „Sonst nichts?“ schrie Holt. „Noin, nix!“ sagte der Alte. Holt wies mit einer Kopfbewegung nach dem Haus. „Da wird Fräulein Barnim enttäuscht sein!“ Der Bauer hob wieder die Hand zum Ohr. Holt schrie: „Enttäuscht wird sie sein, was?“ „Noin, nix!“ sagte der Alte. Holt gab es auf. Er fand Uta im Stall, fand sie blaß, niedergedrückt vor Enttäuschung. Die Stallaterne spendete nur trübes Licht, aber Holt irrte sich nicht: Uta hatte geweint! Er arbeitete schweigend. Uta hatte immer versucht, sich vor ihm zu verbergen, damals und auch hier, das wurde ihm nun mit Ernüchterung klar. Sie kniete im Stroh, und als sie aufstand, 183
das Kopftuch löste und den Kopf schüttelte, daß ihr das Haar schwer auf den Rücken fiel, da spürte er wieder, ein letztes Mal, die Faszination, die von ihr ausgegangen war, von den klaren Linien ihres Gesichts, den blauen Augen unter dunklen Brauen. Er entsann sich, wie er als Sechzehnjähriger Novalis gelesen hatte, das Märchen vom Sänger, vom Paar in der Felsenhöhle, das der erste Kuß bei Donner und Blitz auf ewig zusammenschmelzte. Damals hatte der Traum von Liebe begonnen. Doch die Märchen und die Träume logen. Das Leben war ganz anders. Die Liebe war ganz anders. Er hatte die Liebe dissonant wie das Leben gefunden: nüchtern, widersprüchlich, enttäuschend und betäubend zugleich. Und das Leben wollte gelebt sein, wie es war. Er saß mit Uta beim Abendbrot. Sie aß nur wenig. Dann stellte sie wie üblich den Weinkrug auf den Tisch und setzte sich an ihr Spinnrad, aber dort blieb sie stumm und unbeweglich. Holt fragte: „Was läufst du tagtäglich vors Haus? Worauf wartest du eigentlich?“ Sie schaute an ihm vorbei. „Das geht dich nichts an.“ „Also schön, geht's mich halt nichts an“, sagte Holt. Er dehnte sich, reckte die Arme. „Ich hab mich prächtig erholt, ich will mich nun bald wieder auf den Weg machen, noch diese Woche!“ Sie sah ihn erschrocken und ungläubig an. Er nickte. „Ich soll also noch bleiben“, konstatierte er. „Dann hör aber auf, mir Theater vorzuspielen.“ „Laß mich allein!“ sagte sie schroff, aber ihre Stimme hatte nicht den gewohnten festen Klang. Holt schob das altertümliche Spinnrad zur Seite. Er stellte sich vor sie hin, die Hände in den Taschen. „Ich bin bei Vater allein gewesen, ich bin in Hamburg allein gewesen, ich bin nicht hergekommen, um hier noch einsamer zu werden.“ Jetzt stand sie auf; sie wollte zurückweichen, aber er hielt sie an den Schultern fest. Mit einer heftigen Bewegung versuchte sie sich ihm zu entziehen. „Wehr dich nicht“, sagte er. Sie sträubte sich nicht mehr. „Ich weiß“, sagte er, den Mund in ihrem Haar, „du hast dich immer gegen mich gewehrt. Aber es soll so sein. Wir wissen nicht, was kommt.“ 184
Nacht. Ermattung, Sehnsucht nach Schlaf. Aber kein Schlaf, nur Gedanken, ruhlose Flucht der Gedanken. Hülle dich in die Wärme ihres Körpers, horche auf ihren erlösten Atem, sei glücklich, fühl dich geborgen! Bist du nicht aus der Tiefe, in die dich die Zeit hinabstieß, endlich emporgehoben zum Leben, das du suchst, zum wirklichen, wahren Leben, zur Liebe? Kein Abgrund trennt dich von ihr, nein, nichts trennt euch, keine Fremdheit, auch nicht die Vergangenheit. Die Vergangenheit? Sollte Ihnen die Barnim irgendwelche Nachricht geben, haben Sie sofort der Geheimen Staatspolizei Mitteilung zu machen, der Oberst Barnim ist erschossen worden, erschossen worden, und jetzt raus, Sie, aber schnell! Holt richtete sich auf. Das Feuer im Kamin war erloschen, kein Funke glomm in der Asche, der Blick durchdrang nicht die Dunkelheit, die Hände suchten, tasteten nach Uta, tasteten kühles Haar, warme Haut. Uta war nahe, ganz nahe. Es war lange her, daß er sie so gefühlt hatte, war fast vergessen, und was zwischen dem fernen Gestern und dem Jetzt geschehen war, das war ein Traum gewesen. Holt sank zurück. Er lag wieder mit geschlossenen Augen. Alles ist nur ein Traum. Hab nur Vertrauen: wenn der Traum auch drückend ist, einmal fällt ins Dunkel zurück, was dich bedrängte, und du lachst darüber und schüttelst es ab. Schüttelst die Bilder ab, die dich ängstigen, Bilder vom Krieg, vom Chaos, Bilder der Toten im Keller. Siehst dann nicht mehr beklommen dein Leben vorüberwehn, sinnlos, unerfüllt, am Rande vertan. Siehst dich dann nicht mehr, wie du einmal selber erlöschen wirst, zu Staub zerfallen, zerbröckeln, vermodern. Siehst es nicht, schüttelst es ab, bist mit Blindheit geschlagen. Keine Spur bleibt dereinst von dir zurück, kein Irrtum, keine Wahrheit, nichts. Aber vergiß es, schlafe.
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Die Gesellschaft hat mich ausgestoßen“, sagte Uta. „Seit dem Zusammenbruch bin ich nicht mehr geächtet, aber ich geh nicht wieder unter die Menschen. So war ich allein auf der Welt, bis du kamst.“ Sie sprach eintönig. „Meine Mutter ist im Zuchthaus gestorben. Irene hat sich von einem Besatzungsoffizier heiraten lassen, lebt in den Staaten als Hausmütterchen, und bigott war sie ja immer.“ Der Wind heulte im Kamin, Schneesturm pfiff um das einsame Haus. Der Winter in den Bergen dauerte fort, mit Frost und eisigen Stürmen und immer mehr Schnee. Holt und Uta lagen so nahe am Feuer, daß Uta mit dem herabhängenden Arm die Scheite in den Kamin werfen konnte. „Ausgestoßen“, sagte sie. „Ich verkroch mich im Elsaß, wo mein Vater 1940 im Quartier gelegen hatte, bei einem Franzosen, einem Gutsbesitzer. Der verbarg mich. Er verachtete Kultur und Zivilisation, er war ein bißchen hinter der Zeit und gab mir Tolstoi zu lesen.“ Sie drehte den Kopf zu Holt hin. „Ich las Tolstois Bekenntnisse; da tat sich ein Tor auf. Ich sah, wie es weitergeht. Und wir müssen ja weiterleben.“ „Weiterleben...“, sagte Holt. „Du verstehst mich“, sagte Uta. „Du denkst und empfindest wie ich: du hast dich nirgendwo wirklich zu Hause gefühlt, dein Herkommen war dir immer zuwider. Darum bist du schon frühzeitig davongelaufen.“ „Das war kindisch“, sagte Holt. „Du hast es selbst Romantik genannt, versetzte Romantik...“ „Es war nicht kindisch!“ sagte Uta bestimmt. „Du hast gespürt, wie hohl und verkommen die Menschen sind, denen wir entstammen. Deshalb bist du fortgelaufen. Wir müssen alle davonlaufen, oder wir geraten selbst in Verwesung. Der Krieg hat uns entwurzelt, und nun sind wir... Wie sagte doch dieser Müller, von dem du erzählt hast? Wir sind deklassiert. Haben wir jemals etwas anderes als Angst gefühlt? Angst vor der Zukunft, Angst vor der Heirat, Angst vor dem Kriegsende, Angst vor dem Verstand. Ich habe mich verloren gefühlt, vereinzelt, ins Dasein geworfen, fremden Mächten ausgeliefert, und hilflos 186
sah ich alles Gewohnte zerbrechen, sah die Ideale stürzen, und kein einziger Traum hat sich erfüllt.“ Holt schaute forschend in Utas Gesicht. „Du sagst: weiterleben. Wie sollen wir weiterleben?“ „In guter Haltung“, sagte Uta. „Mein Vater hat mich gelehrt, mit zwei Gesichtern einherzugehen: nach außen beherrscht, aber im Herzen der Lust des Untergangs ganz hingegeben. Er selber hat eine Maske getragen und hat versucht, in guter Haltung zu leben, aber er durfte nur in guter Haltung sterben.“ „Das ist Wahnsinn!“ rief Holt, und er brach aus dem Bannkreis ihrer Worte aus. „Das war denen doch nur recht! Beherrschung, Haltung, und in Wirklichkeit waren wir blindes Werkzeug!“ „Amboß oder Hammer sein“, sagte Uta. „Amboß, auf dem die Zeit eine neue Epoche schmiedet.“ Sie redete mit geschlossenen Augen. „Wer Hammer sein will, der wird es schwer haben, wird sein Leben ändern und hassen lernen müssen, was er heut liebt, und lieben, was er heut haßt. Oder er muß sich sein Leben ganz aus dem Sinn schlagen und von den Menschen fortgehn.“ Sie drehte den Kopf zur Seite, streckte den Arm aus und warf einen Kloben ins Feuer. „Überlaufen oder verzichten“, sagte sie dann. „Marx oder Schweitzer.“ „Was soll mir das...“, sagte Holt. „Damit kann ich nichts anfangen.“ „Du weißt nichts von Albert Schweitzer? Er hat das Beispiel gegeben. Er lebt im Busch und heilt kranke Eingeborene.“ Und mit Emphase: „Ein tätiger Humanist.“ Aber Holt blieb ungerührt. „Mag sein. Aber stell dir vor, wenn alle Ärzte in den Busch abwandern...“ „Versteh doch!“ rief sie unwillig. „Es geht um die Entscheidung. Wer sich nicht zu entscheiden vermag, muß zugrunde gehn, wie mein Vater daran zugrunde gegangen ist. Die Tragödie der Unentschiedenen. Nein: es war eine Tragikomödie...“ Sie schwieg lange. „Eine Farce!“ begann sie wieder. Uta erzählte nüchtern, ja kalt von ihrem Vater, dem Obersten Barnim, einem Vertreter konservativsten preußischen 187
Offizierstums, schilderte ihn als einen großen, knochigen Mann, sechzigjährig, schon greisenhaft, verkrümmt, von starrem, verknöchertem Wesen, voller Konventionen und Vorurteile, borniert und reaktionär. Sie sah ihren Vater aus großer Distanz, sah in ihm, äußerlich wie in seinem Wesen, die perfekte Parodie seines Standes: es fehlte nicht das Monokel und nicht der Jargon der Kasinowitze. Im Grande aber war er zwiespältig, zerrissen, doppelgesichtig gewesen, und er hatte sein wahres Gesicht sorgfältig vor den Menschen verborgen. Ein Jahrzehnt lang hatte er historische Studien betrieben und dabei erschüttert den Gang der modernen Geschichte begriffen. Tiefer Pessimismus hatte ihn erfüllt, Verachtung seiner selbst und vor allem seines Standes, den er als historisch überlebt betrachtet hatte, allgemeine Menschenverachtung, jedoch gemildert durch ein Wort Hölderlins, das er oft zitiert hatte: „Ich liebe das Geschlecht der kommenden Jahrhunderte.“ Das alles hatte er vor den Menschen verborgen, hatte nur der heranwachsenden Tochter, die er liebte, sein wahres Wesen offenbart: diese tiefe lächerliche Zerrissenheit, diese Unfähigkeit, nach besserer Einsicht zu handeln, diese komödiantische Sucht, sein eigenes Gegenteil zu leben. Als Reichswehroffizier hatte er Hitler verachtet, um ihm dann doch freudig den Treueid zu schwören, Hand am Helm, Oberkörper leicht gekrümmt. Schließlich betrieb er den Krieg routiniert als Handwerk. Doch als es gegen den Osten ging, vertiefte sich der Zwiespalt in seiner Brust immer mehr; der passionierte Historiker sah den verbrecherischen Charakter dieses Feldzuges von Anfang an ein, doch der preußische Offizier nahm treulich am Verbrechen teil. Drei Jahre lang gehorchte er und klagte sich vor seiner Tochter dieses Gehorsams an. Erst der 20. Juli 1944 befreite ihn aus seiner Erstarrung und brachte zugleich seine ganze gespaltene Persönlichkeit zum Einsturz. Er selbst hatte mit der Verschwörung nichts zu tun. Aber das Attentat, dieser Bruch überkommener Normen, die er für unverletzlich gehalten hatte, bedeutete für ihn eine derartige Erschütterung, daß auch seine eigenen überkommenen Begriffe von Ehre und Eidespflicht in
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Bewegung gerieten. Wenige Tage nach dem 20. Juli forderte er Parlamentäre an und übergab sein Regiment. Uta erzählte nun mit einer Erregung, die sie vergebens hinter Kälte und Ironie zu verbergen suchte. Holt durchschaute sie, sah, wie sehr sie an ihrem Vater gehangen, wie wenig sie das alles bis heute verwunden hatte. Der Kampfauftrag des Barnimschen Regiments verlangte, die Stellung unter allen Umständen und bis zur Selbstaufopferung zu halten, eine günstige, stark befestigte Pfeilerstellung entlang eines Hügelrückens, hinter einer für Panzer unzugänglichen Sumpfniederung. Die Truppe des Obersten hätte dem Gegner noch blutige Verluste zufügen können. Das mochte der Grund gewesen sein, warum die Parlamentäre der Roten Armee die Komödie mitgespielt hatten. Der Oberst hatte nicht bedingungslos kapituliert, er legte den größten Wert auf die Feststellung, daß er nicht bedingungslos kapitulierte. Die „ehrenvolle Kapitulationsbedingung“, die er in umständlichen Verhandlungen erwirkte, bestand darin, daß er sich selbst von der Übergabe ausschloß. Er forderte und erhielt freies Geleit zu den deutschen Linien. Die Durchtrennung der Fernsprechkabel, die Vernichtung aller Akten und Unterlagen, ganz unwichtiger Verpflegungslisten und Inventarbücher, die Bekanntgabe eines letzten Regimentsbefehls, dies alles war mit theatralischer Korrektheit vollzogen worden. Und als Höhepunkt der Komödie hatte sich der Oberst von seiner Truppe verabschiedet, mit einer reichlich verworrenen Rede, während deren die demoralisierte und ausgeblutete Truppe noch ein paar wild gewordene Offiziere hatte entwaffnen müssen, die sich der Kapitulation widersetzten und Miene machten, ihren Kommandeur vor dem offenen Karree der Bataillone niederzuschießen. Dann, unbeweglich, die Hand am Helm, den Oberkörper leicht gekrümmt, so hatte der Oberst die Truppe an sich vorüber in die Gefangenschaft wanken lassen, war dann in seinen Wagen gestiegen und losgefahren. Die Feldgendarmerie erwartete ihn schon. In vierzig Minuten wurde das Kriegsgerichtsverfahren durchgepeitscht, ohne Zeugen, ohne Verteidiger. Todesurteil und sofortige Vollstreckung. Es war Mord! Uta verbarg nicht 189
länger ihre Erregung. Der Kriegsgerichtsrat lebte nicht mehr. Aber er war nur ein Werkzeug gewesen, der Mörder war der Ic beim Armeekorps, ein Oberst, Uta hatte ihn selber gekannt. Sie wußte genug von ihm! Sie kannte seine Befehle an die Erschießungskommandos, die das Korps schon einundvierzig in der Ukraine während eines Judenmassakers gestellt hatte! Sie kannte den Herrn, der mit wütender Initiative, mit erpresserischem Druck auf das Kriegsgericht ihren Vater ermordet hatte. Sie war jetzt außer sich vor Haß und faßte sich in eigenartiger Geste mit der Linken an den Hals. Er hieß von Groth, und Gnade ihm Gott, wenn er noch lebte! Es gab das Wort Churchills, in Jalta gesprochen: wer sich schuldig gemacht, wer verbrecherisch Blut vergossen hatte, der mochte sich verkriechen, wo immer er wollte, an jeder Stelle und im letzten Winkel des Erdballs sollte ihn der rächende Arm der Alliierten erreichen! Holt stand an der Gartenpforte. Uta lief den Weg am See entlang, dem Schlitten entgegen. Der Bauer hielt die Pferde an und reichte Uta einen Brief. Holt sorgte für die Pferde. Uta ging blaß vor Erregung ins Haus. Dort fand Holt den Bauern am Ofen, während Uta am Tisch saß und schrieb. Holt sah ihr über die Schulter. Sie schrieb ein Telegramm in französischer Sprache: „Monsieur de Jacquard, Dieuze, Departement Moselle, Alsace-Lorraine...“ Dicht an den Bauern herantretend, sprach sie ihm ins Ohr: „Zwei Antworttelegramme abwarten! Dann herkommen, am Abend, hier übernachten, mich morgens frühzeitig nach Freiburg bringen. Gibt es noch etwas zu fragen?“ „Noin, nix“, sagte der Alte. Er brach auf. Was war das für ein Brief, auf den Uta so gespannt gewartet hatte? Was wollte sie in Freiburg? Holt wußte jetzt, daß es mit ihrem Vater zusammenhängen mußte. Er stöberte am Abend in Utas Büchern. Er beschloß abzuwarten. Irgendwann zog Uta ihn bestimmt ins Vertrauen. In den Regalen standen nur wenig Romane, meist Franzosen, und die Russen waren vollzählig beisammen, von Puschkin bis Gorki, mittendrin eine große Gesamtausgabe der Werke Leo Tolstois. Ansonsten 190
Lehrbücher, Kompendien, Hochschullehrbücher, aller Wissensgebiete. Ob Uta sich damit beschäftigte? „Der Brief liegt auf dem Tisch“, sagte Uta. Es war ein gedruckter Bogen: „Dr. Heinz Heinrichs, Dr. Hans Gomulka, Notare, Verteidiger in Strafsachen, Anwaltskanzlei Fürth.“ Holt fragte erstaunt: „Du stehst mit Doktor Gomulka in Verbindung?“ Er las: „Sehr geehrtes Fräulein Barnim! Wir können Ihnen mitteilen, daß wir endlich den Aufenthaltsort des gesuchten Herrn G. ermittelt haben. Da sich der G. jedoch außerhalb deutscher Rechtshoheit befindet und Gefahr besteht, daß er sich der Verantwortung für immer entzieht, erscheint es uns unumgänglich, in einer persönlichen Beratung mit Ihnen energischere Maßnahmen festzulegen, und wir möchten nicht verschweigen, daß wir wenig Hoffnung haben, ohne Hilfe der französischen Militärregierung weitere Fortschritte zu erzielen. Ein Schreiben des Monsieur de Jacquard, Dieuze, welches Sie und Ihre Angelegenheit an Monsieur Abert in Freiburg empfiehlt, würde nicht unwesentlich dazu beitragen, die Militärregierung an Ihrer Angelegenheit zu interessieren. Bitte veranlassen Sie telegrafisch, daß Monsieur de Jacquard ein solches Schreiben direkt an unsere Kanzlei sendet; nach dessen Eingang, von dem wir Sie per Draht verständigen werden, erwarten wir Sie zu einer dringenden Unterredung in Freiburg. Hochachtungsvoll Heinrichs u. Gomulka, Rechtsanwälte.“ Holt sagte: „Nimm mich mit nach Freiburg!“ Uta antwortete nicht, blickte nicht einmal von ihrem Spinnrad auf. Holt trat zum Fenster, sah in die Nacht, sah sein Spiegelbild in der schwarzen Scheibe, ein fremdes, unverständliches Gesicht. Er ging zu den Regalen und überschaute, zerstreut, die Hände in den Hosentaschen, die Buchrücken. Richard Holt. Es war kein Irrtum: der Name seines Vaters. Holt zog ein Buch aus dem Fach, ein zweites, er räumte einen ganzen Stoß Bücher und Druckschriften hinüber auf den Tisch, und dann begann er beklommen den Stapel zu sichten. Ein paar lose zusammengeheftete Seiten: „,Sonderdruck der Zeitschrift für Immunbiologie, Jahrgang 1929'... ,Über spontane 191
Schwankungen des opsonischen Index bei lokalen Staphylokokkeninfektionen am Meerschweinchen'... von Dr. med. et. phil. Richard Holt, o. Prof. für Bakteriologie an der Universität Hamburg...“ Holt wußte, daß sein Vater irgendwelche Bücher veröffentlicht hatte, er war als Kind sogar stolz darauf gewesen, aber er hatte sich nie dafür interessiert, hatte es buchstäblich vergessen. Die Druckbuchstaben verschwammen vor seinem Blick, die so unvermittelte Begegnung mit seinem Vater brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Uta kam zum Tisch, einen spöttischen Zug um den Mund. Sie suchte aus dem Bücherstapel einen starken Band hervor. „Probleme der Abstammungslehre. 24 Vorlesungen zur Verteidigung der Evolutionstheorie gegen Metaphysik und Vitalismus. Hamburg 1933.“ „Ich kenne einen, der hat so viele Fragen“, sagte sie. „Sinn des Lebens und dergleichen. Sucht er wirklich Antwort? Er hätte sie bei seinem Vater finden können. Aber er wollte wohl nur seine innere Leere mit dekorativen Fragen ausstaffieren.“ Holt blätterte betroffen in den Broschüren und Abhandlungen, „über pathologische Degenerationserscheinungen beim Höhlenbären... 1911.“ Holt entsann sich, daß sein Vater anfangs als vergleichender Anatom gearbeitet und dann mit einer Expedition in Südafrika nach fossilen Riesenechsen gegraben hatte und dort während des ersten Weltkrieges interniert worden war. In Eingeborenenspitälern war er mit wenig erforschten Tropenkrankheiten in Berührung gekommen und auf diese Weise allmählich in die Mikrobiologie hinübergewechselt... Unzufriedenheit mit sich selbst erfüllte Holt, Zorn auf seine Mutter, die ihn mit verlogenen Redensarten gefüttert und seinem Vater entfremdet hatte. Uta hielt noch immer den Vorlesungsband in den Händen, legte ihn vor Holt hin. „Sinn des Lebens“, sagte sie. „Du kannst die Antwort bei deinem Vater suchen oder in der Bibel.“ „Hör auf!“ sagte er. „Nimm mich mit nach Freiburg.“ Holt spürte, wie in ihm irgend etwas in Bewegung geriet, er wußte nicht, was.
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War es noch Januar? War es schon Februar? Der Winter in den Bergen dauerte fort. Holt versuchte mit der Unruhe fertig zu werden, die ihn nun durch die Tage trieb. Er nahm sich harte Arbeit vor, sägte Holz, nahm Uta im Haus, im Stall immer mehr Pflichten ab. Aber die Unruhe blieb. Uta sprach nicht mehr von Professor Holts Büchern, nicht mehr von dem Brief, kein Wort von Doktor Gomulka. Aber sie sprach jetzt oft vom Frühjahr. „Wenn der Boden getaut ist, werden wir hinter dem Garten die Stöcke roden.“ Sie sprach vom Sommer. „Im Sommer bauen wir vorn eine Terrasse. Der Pächter bringt uns ein paar Fuhren Steine.“ Der Pächter, das war der Sohn des Alten, auf dessen neuerliches Erscheinen sie wartete. Das Gut der Barnims, das nun Uta und ihrer Schwester gehörte, eigentlich nur ein größerer Bauernhof, lag am Fuß des Gebirges und war verpachtet, desgleichen ein zweiter, wenig größerer Hof im Fränkischen. „Wenn der Sommer kommt“, sagte Uta, „dann werden wir...“ Sie sagte immer wir. Frühling, dachte Holt. Sommer, Herbst, dann wieder Winter, jahraus, jahrein, Jahr um Jahr. In der Einöde. Jahr um Jahr. Und die Tage reihten sich aneinander, bis der Bauer wiederkam. Er kam am Abend, als es schon dunkelte, und saß dann stumm am warmen Kachelofen, während Uta mit dem Schlittengespann über den zugefrorenen See fuhr, zu einem einsamen Hof am Waldrand. Der Nachbar sollte während der nächsten Tage ihr Vieh versorgen. Zurückgekehrt, traf sie Reisevorbereitungen. Sie brachen in der vierten Morgenstunde auf. Uta gab auch Holt einen schweren, unförmigen Lammpelz. Sie stieg in den Schlitten, und Holt wickelte sie in Decken ein. Dann nahm er neben ihr Platz. Unter dem klaren Sternenhimmel war es grimmig kalt. Auf Utas Geheiß entfernte der Bauer die Glöckchen vom Geschirr. Dann zogen die Pferde an, der Schlitten glitt lautlos durch die Nacht, in die Bergwälder hinein, und nur das Schnauben der Pferde störte dann und wann die Stille.
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Uta schlief. Ihr Kopf sank gegen Holts Schulter. Holt aber blieb wach und erlebte inmitten der Berge den Beginn des Tages. Er sah die Sterne verblassen, sah das kalte, blauweiße Licht des neuen Tages hinter den Bergen, bis die Sonnenscheibe emporstieg und der Schnee ihr Licht blendend zurückwarf. Auf verschneiten Wanderwegen tauchte der Schlitten ins Dunkel des Hochwaldes, in das die Strahlenbündel der Sonne flach hineinbrachen, glitt zurück ins Sonnenlicht und gewann über Serpentinen und steil aufsteigende Wege den Kamm. Von hier ging der Blick ungehindert über den südlichen Schwarzwald. Im Westen stiegen die Berge sanft gewellt zu einem massigen Höhenzug an; fern, ganz fern im Süden verschmolz in der durchsichtigen Morgenluft das zerklüftete, eisige Massiv der Schweizer Alpen mit dem Blau des Himmels. Uta war aufgewacht. Sie blieb stumm. Auch Holt nahm schweigend die wilde Schönheit der Landschaft in sich auf. In den Schluchten stürzten Wasserfälle dampfend in die Tiefe, und das Wasser, das übers Gestein herabtroff, war zu langen Eiszapfen gefroren. Aus schattengefüllten Felsklüften hoben Krüppeltannen ihre bizarren Silhouetten ins Licht. Die Kristalle des Rauhreifs, des Schnees an Ästen und Zweigen ringsum, zerlegten das Sonnenlicht in die Farben des Spektrums und warfen wie Brillanten ihr buntes Feuer in den Schatten des Waldes. „Ich glaube, es ist nirgendwo schöner als hier“, sagte Holt. „Und nirgendwo einsamer“, sagte Uta. „Willst du dein ganzes Leben in der Einöde verbringen?“ fragte er. „Ja!“ sagte sie trotzig. Der Schlitten glitt talwärts. Der strahlende Himmel überzog sich mit weißen Wolkenschleiern. „Das Leben geht rasch vorbei“, sagte sie. „Was soll ich Besseres damit anfangen?“ „Du könntest auch in der Stadt leben“, erwiderte Holt. „Du könntest zum Beispiel studieren.“ Uta entgegnete: „Ich habe Arbeit, ich habe Brot und Milch und Schafwolle. Und wenn mir die Einöde zwischen den Bergen zu eng wird, dann habe ich Bücher.“ „Und deine Mitmenschen?“ fragte Holt. 194
„Wen meinst du?“ fragte sie. „Meinst du das, was uns beiden bisher Mitmensch war? Was brauchst du nach zwei Weltkriegen noch, um zu sehen, wie verrottet und verkommen das Nest ist, aus dem wir stammen?“ „Also schön“, sagte Holt. „Aber es gibt auch noch andere.“ „Wer ist denn bei den anderen so gründlich gescheitert?“ fragte sie. „Hast ja recht“, entgegnete Holt. „Lassen wir das.“ Aber sie gab keine Ruhe. „Von den Menschen fortgehn“, sagte sie eindringlich, den Mund dicht an seinem Ohr. „Niemand kann dem Menschen das Recht streitig machen, sich nicht um seinen Nächsten zu kümmern! Lies Tolstoi! Du wirst mich ganz verstehen, wenn du Tolstois Bekenntnisse gelesen hast. Er hat als berühmter Mann mitten im Klüngel gelebt, aber dann ist er ein schlichter Bauer geworden. Er hat seine Stiefel selbst besohlt, hat seinen Sohn als Knecht verdingt.“ „Und warum das alles?“ fragte Holt. „Um ein anderer Mensch zu werden“, antwortete Uta. „Darum habe auch ich mich für immer losgesagt von den Menschen, die der Besitz verunstaltet hat.“ „Und von allen anderen auch!“ sagte Holt. „Die anderen hat die Besitzlosigkeit auch nicht gerade veredelt“, entgegnete sie. „Wer ohne Stil und Form nicht leben kann, wem es ein Greuel ist, jemanden mit dem Messer essen zu sehen, der geht ihnen besser aus dem Weg.“ Der Himmel hatte sich eingetrübt. Unversehens begann es zu schneien. Die Luft wurde grau und undurchsichtig vor Schnee. „Ein anderer Mensch werden, das klingt gut“, sagte Holt. „Aber wie meinst du das? Wie willst du werden?“ „Bedürfnislos will ich werden“, sagte sie und legte den Kopf wieder an seine Schulter, „wunschlos, hilfsbereit, frei von Dünkel und Hochmut, achtungslos vor Kultur und Zivilisation. Ich will allen Besitz verachten. Ich will arbeiten, und was ich brauche, das will ich mir mit meiner Hände Arbeit selber schaffen. Ich will warten, ruhig und gelassen warten.“ „Warten, worauf?“ fragte Holt. Sie schloß die Augen, ihre Worte kamen monoton: „Das Leben geht rasch vorbei. Die Bilder ziehn unaufhaltsam 195
vorüber. Auf die Jahreszeiten mit langen Nächten und kurzen Tagen folgen die Zeiten des Jahrs mit den langen Tagen, den flüchtigen Nächten, dann wechseln die Jahre, einmal, zehnmal, immer wieder. Wolken wehen über die Berge, wehen Schnee her, Föhn und Grummetduft. Das Alpenglöckchen sprießt aus der Erde, blüht und verwelkt, und die Menschen, wie heißt es gleich?, die leidenden Menschen schwinden und fallen, wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen. Der Auerhahn balzt Jahr um Jahr, er weiß nichts von der Zeit, von der wir auch nichts wissen. Und alles Leben währt nur Augenblicke: ein Menschenalter mißt zweihundert Generationen der Feldmaus. Zweihundert Generationen des Menschen sehen die Sterne keine Bogenminute über die Sphäre ziehn. Unser Blick tut sich auf, streift die Welt, schon schließen sich die Augen für immer, das Ende ist da.“ Nach einer Weile sagte sie: „Darauf will ich warten, in der Einöde, hinter den sieben Bergen.“ 8
Als der Schlitten in die Ebene hinabglitt, versank das Gebirge in Dunkelheit, Dunst und Schneegestöber. Holt sah die Lichter von Freiburg. Ihm war, als erwache er aus langem Schlaf. Die Schwarzwaldberge, der winterliche Märchenwald mit seinen verschneiten Tannen und den Eiskaskaden der Wasserfälle und dem glitzernden Rauhreif, das einsame Haus, die Tage, Wochen in der Einöde am See: das war ein Traum, aus dem er nun erwachte. Freiburg war die Wirklichkeit. Die Stadt lebte. In den Straßen lag Neuschnee. Fußgänger bevölkerten die Gehwege. Holt sah wieder den Widerspruch, der ihn ehemals erschreckt und deprimiert hatte: hier die eilends hergerichteten Hotels mit den luxuriösen Lokalen, das Chrom der parkenden Besatzerwagen, und dort die zertrümmerte Altstadt, aus deren Straßen sich nur das Münster unversehrt erhob. Die Kopftücher, die wattierten Jacken der Umsiedler waren nur die Kulisse für die Uniformen der französischen Offiziere und die Pelze ihrer Damen. 196
Holt nahm die Bilder in sich auf. Er war lange Zeit aus der Welt gewesen, aber die Erde hatte sich weitergedreht. Noch in der Nacht, als Schneesturm vom Gebirge her die Stadt überfiel, stand er in dem kalten, kahlen Zimmer eines christlichen Hospizes am Fenster und sah durchs Schneetreiben auf die erleuchtete Fassade eines Hotels. Der Bauer fuhr am anderen Morgen ins Gebirge zurück. Holt und Uta suchten am Vormittag die Kanzlei eines Freiburger Anwalts auf, den verabredeten Treffpunkt. In den öden Büroräumen war es bitter kalt. Die Öfen standen ungeheizt, die Sekretärin saß in Decken gewickelt und tippte mit frostklammen Fingern auf ihrer Maschine. Uta und Holt warteten in einem kleinen Zimmer. Uta redete halblaut, aufgeregt, redete von Doktor Gomulka, von ihrem Vater; ihr Gesicht sah blaß und übernächtig aus dem hochgeschlagenen Kragen ihres Pelzes hervor. Dann trat Doktor Gomulka ein. Er hatte sich kaum verändert. Das graue Haar war schütter geworden, sein Gesicht ein wenig älter, aber sonst ähnelte er seinem Sohn noch immer, und noch immer redete er sein überkorrektes Deutsch und betonte einzelne Worte über Gebühr. „Ich freue mich wirklich sehr, Fräulein Barnim“, sagte er, als er Uta begrüßte. Dann hielt er Holts Rechte mit beiden Händen fest und kämpfte sichtbar mit Freude und Rührung. „Mein lieber Werner Holt“, sagte er, ohne Holts Hand loszulassen, „Sie können sich nicht denken, wie freudig überrascht ich war, als ich erfuhr, daß ich Ihnen hier wieder begegnen sollte. Zwar wußte ich, daß Sie unvermittelt von Ihrem Vater... Nun, abiit, excessit, evasit, erupit, wie Cicero sagt...“ „Woher wissen Sie, daß ich von meinem Vater fortgegangen bin?“ fragte Holt betroffen. „Von Gundel“, sagte Doktor Gomulka. Der Name Gundels traf Holt unvermittelt, er sah an dem Anwalt vorbei, wich auch Utas Blick aus und schaute gegen die Wand, wo ein großer Abreißkalender hing. „Gundel schrieb uns kürzlich“, fuhr Doktor Gomulka fort. „Sie hatte uns ja seinerzeit nur verlassen, um bei Ihrem Vater auf Sie zu warten. Nun hofft sie noch immer auf Ihre Rückkehr. 197
Aber davon später. Zunächst nur dies: Ich bin glücklich, Sie wohlbehalten wiederzufinden! Meine Frau und ich, wir sehen in Ihnen einen sehr guten Freund. Was Sie für Sepp und uns vollbrachten, das vollbrachten Sie immerhin in unsicherer Lage, und... Amicus certus in re incerta cernitur, sagt Ennius.“ Nun wandte er sich wieder Uta zu. Er lehnte sich rücklings gegen den Schreibtisch, zog ein paar Papiere aus der Brusttasche, entfaltete einen Briefbogen. „Unverzüglich in medias res! Wir haben die entsprechenden Stellen der französischen Militärregierung von Ihrem bevorstehenden Besuch verständigt.“ Holts Blick hing noch immer an dem Abreißkalender. Heute war der 18. Februar. Doktor Gomulka faltete unterdessen den Brief zusammen. „Sie sehen, die Angelegenheit entwickelt sich einigermaßen günstig.“ „Abwarten“, sagte es von der Tür her. Dort stand der andere Anwalt, Doktor Heinrichs, ein großer, magerer Mann in einem zerknitterten Zellwollanzug. Sein schlaffes, gelbes Gesicht war wie zerfressen von Skepsis. Unter den kalten Augen hingen faltige Lidsäcke herab, auch die Wangen hingen faltig herab, alles in seinem Gesicht hing schlaff und trostlos herab, die Mundwinkel oder die Unterlippe. Dieses Gesicht war die leibhaftige Skepsis. Er blieb an der Tür stehen, lehnte sich an den Pfosten und sprach, mit hängenden Schultern, die Unterarme bis zu den Ellenbogen in den Hosentaschen. „Wir haben leider keinen Fortschritt erzielt. Von Fortschritt kann nicht die Rede sein. Die Staatsanwaltschaft weist auf den Präzedenzcharakter unseres Falles hin. Sie fürchtet, von den Strafrechtlern mit Hilfe der Paragraphen 52 und 54 StGB ein für allemal matt gesetzt zu werden... Sie können mir folgen?“ Er sah mit kalten, dabei trostlosen Augen auf die Besucher. „... matt gesetzt zu werden also“, fuhr Doktor Gomulka erläuternd fort, „das heißt mit dem Hinweis auf tatsachliche Umstände, die zwar die Tat nicht billigenswert machen, aber ein rechtmäßiges Handeln unzumutbar erscheinen lassen.“ Holt hörte den gleichmäßigen Wortfluß des Anwalts wie aus der Ferne. Er schaute unverwandt auf den Kalender: es war 198
nicht zu fassen, er hatte Wochen in der Einöde verbracht, und es waren sinnlose Wochen gewesen, denn er war nur immer konfuser und verwirrter geworden... Und wie war das: hoffte nicht jemand auf seine Rückkehr? „Die Staatsanwaltschaft“, so nahm nun wieder Doktor Heinrichs das Wort, „will wohl erst abwarten, wie das Alliierte Gericht in Nürnberg hinsichtlich erwähnter, jetzt immer häufiger zitierter Not- und Nötigungsstands-Paragraphen entscheidet. Von Fortschritt kann also gar keine Rede sein.“ „Es handelt sich um Bedenken formalrechtlicher Art“, ergänzte Doktor Gomulka. „Es handelt sich um Mord“, sagte Uta. „Um Mord, ja“, bestätigte Doktor Heinrichs mit einem sarkastischen Zucken seines breiten Mundes. „Der Groth sitzt in einem Offizierslager in den Vereinigten Staaten. Wir kommen an den Herrn nicht heran. Und selbst wenn wir ihn unter deutscher Rechtshoheit hätten: von einem Prozeß kann im Augenblick gar keine Rede sein.“ „Mögen Sie den Fall nicht weiter verfolgen?“ fragte Uta erregt. „Wollen Sie den Fall abgeben?“ „Aber mein liebes Fräulein Barnim!“ sagte Doktor Gomulka. „Was wir wollen, ist klar: wir wollen den Groth ins Zuchthaus bringen, und“ - er warf einen mißbilligenden Blick auf seinen Kollegen - „so wahr es Gerechtigkeit gibt: das wird uns gelingen!“ Er zog wieder Papiere hervor, und während er sprach, hob er immer wieder den Blick und sah durch die Brillengläser auf die Besucher. „Die Division, zu der das Regiment Ihres Vaters gehörte, lag 1940 in Frankreich.“ „Groth, damals Oberstleutnant, war Ic im Divisionsstab“, erläuterte Doktor Heinrichs von der Tür her. Doktor Gomulka fuhr fort: „Am 16. Oktober 1940 schrieb Groth seinem Bruder handschriftlich, daß er die Renitenz der französischen Zivilbevölkerung in seinem Bereich unter allen Umständen zu brechen gewillt sei. Am 2. November teilte er seinem Bruder handschriftlich mit, daß er einundzwanzig Zivilisten, darunter den Ortspfarrer, habe erschießen lassen, und zwar als Vergeltung für einen Anschlag unbekannter Täter auf ein Wehrmachtsdepot.“ 199
„Wenn Sie diese Briefe der französischen Militärregierung bringen“, sagte Doktor Heinrichs mit schwerer Betonung, und seine Stimme klang auf einmal fest und entschlossen, „dann lassen die Franzosen sich den Groth von den Amerikanern ausliefern, und dann sperren Sie ihn ein. Und wenn wir ihn so auf Nummer Sicher gebracht haben, dann holen wir ihn auch eines Tages unter deutsche Rechtshoheit, und dann...“ Jetzt schlug er seinen Blick zu Uta auf, einen gar nicht mehr pessimistischen, nur noch kalten, mitleidlosen Blick, „... und dann wird abgerechnet. Ohne Gnade!“ Uta stand auf. Auch Holt erhob sich. Erst jetzt bemerkte er, daß Doktor Heinrichs am Rockaufschlag ein Abzeichen trug: das rote Dreieck! Uta fragte: „Wo sind die Briefe?“ „Wenn es Ihnen recht ist, fahre ich Sie am Nachmittag hin“, sagte Doktor Heinrichs. „Ich fürchte“, bemerkte Doktor Gomulka bekümmert, „das wird Sie einen Haufen Geld kosten!“ Holt hielt sich mit Doktor Gomulka in einem Cafe in der Freiburger Altstadt auf. Das Lokal, inmitten der Trümmer, war kaum geheizt und nur spärlich erleuchtet. Holt erzählte, wohl eine Stunde lang. Frierend schlug Doktor Gomulka seinen Mantel enger um den Körper. „Seien Sie versichert“, sagte er, „daß ich Ihnen aufmerksam gefolgt bin. Ich verstehe Sie. Aber wenn Sie sich grollend den Worten Ihrer Lehrer und sogar Ihres Vaters verschlossen, wie könnte ich, ausgerechnet ich, Ihnen dann raten? Was Sie erbittert und verbittert hat, daß wir, die ältere Generation, es nämlich damals hätten besser wissen müssen und daß wir nun ungebührlich schnell unsere frühere Gesinnung verleugnen, trifft dies nicht auf mich in allererster Linie zu?“ „Sie haben Sepp einen Weg gewiesen“, meinte Holt. Er saß in dem Lammpelz zurückgelehnt auf dem Stuhl, die Arme auf der Brust verschränkt. „Sie haben Ihre Gesinnung noch während des Krieges revidiert und Sepp nicht allein gelassen.“
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„Gewiß“, sagte der Anwalt. „Ich habe die letzten Jahre gegen das Regime gearbeitet, mit List und Geschick und verbarrikadiert hinter meiner Parteizugehörigkeit und dem Dickicht der Paragraphen. Es gelang mir, manchen politischen Prozeß ins uferlose zu verschleppen, ich schreckte auch nicht davor zurück, Akten verschwinden zu lassen, Kassiber zu schmuggeln, und wie Sie von Gundel wissen werden, fand mancher Bedrängte und Verfolgte bei mir Trost und Hilfe. Heute bin ich entnazifiziert, ich stehe wieder im öffentlichen Leben, aber im Grunde kann und will ich mich nicht freisprechen von dem Vorwurf, den Sie pauschal gegen meine Generation erheben: von dem Vorwurf, versagt zu haben, das heißt, in den entscheidenden Jahren vor 1933 einem verhängnisvollen Irrtum erlegen zu sein.“ Holt bewegte sich nicht. Der Name Gundels klang noch in ihm nach. „Ein Wort noch!“ fuhr der Anwalt beschwörend fort. „Sie müssen wissen, daß ich Ihre Entschlüsse respektiere, selbst wenn Ihre Handlungsweise nach dem Krieg nicht unbedingt respektabel... Doch sprechen wir nicht von Recht und Unrecht. Ein Recht, ein Grundrecht gestehe ich Ihnen zu: sich nach alldem, was Sie in jungen Jahren erleben mußten, in der Welt umzutun, sich neu zu orientieren und von Grund auf zu besinnen, selbst wenn eine ungewohnte und gefährliche Freiheit sie von neuem in Irrtum und Schuld...“ Der Anwalt verstummte seufzend und hatte nur noch eine resignierende Gebärde. Dann besann er sich und redete mit Nachdruck weiter: „Eins aber... Das wollen Sie bitte sorgsam überdenken! Eins sollten wir nicht tun, es ist flüchtig, es ist oberflächlich, und es verwirrt: wir sollten die deutsche, die nationale Schuld nicht generationsweise aufteilen! Sonst fälschen wir eine aktuelle Aufgabe in eine historische Kausalkette um, die wie ein Fatum auf uns lastet. Bedenken Sie immer: Menschen Ihrer wie meiner Generation waren tief im Irrtum verstrickt, und unter den anderen, in den Zuchthäusern und Lagern und in der Illegalität, gab es gleichfalls Junge und Alte.“ Holt sah bei diesen Worten deutlich Gesichter vor sich, das alte, kranke Gesicht Müllers, das junge, entschlossene Gesicht 201
Schneidereits. „Der Abgrund, von dem Sie sprechen“, sagte der Anwalt, „trennt nicht die Generationen. Nein, es war nicht meine Generation, die versagt hat. Es war schon eher unser Stand, unsere Kaste mit ihrem Anspruch, die geistige Elite der Nation zu sein. Und das hieße dann wohl, daß wir diesen Anspruch für immer verspielt haben.“ Holt fröstelte. Verspielt. Ja, verspielt und vertan! Also doch: von den Menschen fortgehn, in die Einöde. „Lassen wir das“, sagte er. Und ohne es zu wissen, schüttelte er den Kopf, als sei er mit seinen Gedanken unzufrieden. Utas Gesicht war von der scharfen Frostluft gerötet, als sie mit Doktor Heinrichs in das Cafe trat. Sie schälte sich aus dem Lammpelz und warf ihn achtlos über die Stuhllehne. Doktor Gomulka winkte dem Kellner und bestellte irgendein heißes Getränk. Doktor Heinrichs hatte einen Zug von Verachtung und Zorn um den Mund. „Ein Gauner“, sagte er, „ein Halsabschneider, ehemaliger Stabsfeldwebel, der witterte das Geschäft seines Lebens, und da hätten Sie sehen sollen, wie er die Chance wahrzunehmen verstand: zwanzigtausend Mark!“ „Zwanzigtausend!“ rief Doktor Gomulka entsetzt. „Beileibe nicht in dem heutigen Papiergeld“, fuhr Doktor Heinrichs fort, während er sich eine Zigarette ansteckte und auch Holt die Schachtel hinhielt. „Nein, wertbeständig.“ Er langte in die Brusttasche, zog einen Umschlag hervor, entnahm ihm Papiere. „Die Briefe. Wir haben diesem Gauner ein Darlehen von zwanzigtausend Mark quittiert, auf den fränkischen Hof, rückzahlbar erst nach einer Stabilisierung der Währung.“ „Aber wie konnten Sie!“ sagte Doktor Gomulka erschüttert und mit deutlichem Vorwurf zu Uta. „Sie haben einer erpresserischen Forderung genügt...“ „Es ist mein Vermögen“, sagte Uta. „Es handelt sich um meinen Besitz, und ich bin nur meiner Schwester Rechenschaft schuldig!“ Holt hielt die Zigarette zwischen den Lippen, und der Rauch stieg ihm in die Augen. Zwanzigtausend, dachte er, ihr 202
Vermögen, ihr Besitz... Und hörte sie sagen:... allen Besitz will ich verachten... Kunststück! Der Besitz verachtet sich leicht, wenn man nur genug davon hat! Auf einmal erkannte er: Utas Askese war nur eine originelle Spielart des Besitzes. Ein anderer Mensch werden? Auf ihren Höfen blieb sie der alte in neuem Stil. Welche Illusion! dachte Holt. Das Bild der Einöde, aus der Entfernung schon verschwommen, es verblaßte, ein Weg wurde zum Irrweg, und der Widerspruch des Lebens stand wieder schroff und ausweglos vor ihm... „Aus, der Traum!“ murmelte er kraftlos. „Was sagst du?“ fragte Uta. „Nichts“, antwortete Holt. „Der Nimbus ist hin.“ „Was soll das heißen?“ fragte sie. „Du verstehst mich schon“, entgegnete er. Sie sah ihn sekundenlang an, erst fragend, dann wurde ihr Blick starr, und angstvoll und hastig wandte sie sich an Doktor Heinrichs. „Fahren Sie uns übermorgen in die Berge zurück?“ Holt dachte: Was soll ich dort, ich habe dort nichts mehr zu suchen... „Hauptsache, wir bleiben nicht im Schnee stecken“, sagte Doktor Heinrichs. Und mit hängenden Mundwinkeln: „In diesem gottverfluchten Schnee...“ Das Haus am See war eingeschneit, verweht bis unters Dach. Holt wußte sofort: hier hatte sich all die Tage keine Menschenseele blicken lassen. Uta kämpfte sich durch brusthohe Schneewehen zum Schuppen hin. Holt folgte ihr. Sie schaufelten vom Hof her die Stalltür frei. Sie hörten die Schafe blöken. Endlich ließ sich die Tür öffnen. Die Schafe rissen an den Ketten. Hinter den Preßstrohquadern lagen die beiden Angoraziegen, steif und kalt. Uta stand bewegungslos. Sie war ganz blaß. Holt schaute ihr mit kühlem Interesse ins Gesicht. War sie böse, daß der Nachbar bei dem Schneesturm nicht über den See gekommen war? „Niemand kann dem Menschen das Recht streitig machen, sich nicht um seinen Nächsten zu kümmern“, sagte er. Sie fuhr herum... Aber dann ließ sie Holt stehen. 203
Schweigend verrichteten sie die Arbeit im Stall. Dann heizte Holt im Zimmer den Ofen; er sah, daß alle Zierpflanzen an den Fenstern erfroren waren. Doktor Heinrichs lehnte am Ofen, mit hängenden Schultern, die Arme bis zu den Ellenbogen in den Hosentaschen. „Wie ich hörte, haben Sie erst in der russischen Zone gelebt?“ fragte er. „Warum sind Sie nicht dort geblieben?“ „Das hat private Gründe“, sagte Holt, „übrigens ist es in Deutschland heute überall gleich, dort wie hier.“ „Nicht ganz“, sagte Doktor Heinrichs. „Man versucht dort entschiedener als hier, Licht in gewisse Hintergründe zu bringen.“ Holt entsann sich eines Abends in einer zugigen Baracke. „Sie mögen recht haben“, sagte er, „man will drüben die Leute aufklären, zum Beispiel auch in dieser Antifa-Jugend, über die Geldgeber der Nazis und so weiter.“ „Um dieses Undsoweiter, wissen Sie, genau darum geht es!“ erklärte der Anwalt mit einem dünnen Lächeln. Holt fragte: „Denken Sie an dieses Abkommen, das die Alliierten in Potsdam geschlossen haben?“ „Ich denke“, sagte Doktor Heinrichs mit einem harten und kalten Blick auf Holt, „daß dieses Abkommen nicht auf dem Papier bleiben darf.“ In Holts Kopf gingen widersprechende Begriffe durcheinander: primitive Entmachtungsund Revanchepolitik, Demokratisierung, Entnazifizierung... Er fand kein Gefallen an dem Gespräch. „Sie sind Rechtsanwalt“, sagte er abschließend, „aber Sie sind mir zu politisch.“ „Ich bin“, sagte der Anwalt, „Sozialdemokrat. Linker Sozialdemokrat, wie man so sagt. Ich habe vor dreiunddreißig Kommunisten verteidigt. Nach dem Reichstagsbrand bin ich demzufolge eingesperrt und später nach Bergen-Belsen gebracht worden. Ich habe das Lager nur mit Mühe überlebt. Sie finden mich zu politisch? So lassen Sie sich sagen, daß ich allerdings für die Ausrottung des Faschismus samt seiner Wurzeln plädiere.“ „Was meinen Sie mit den Wurzeln?“ fragte Holt. „Das deutsche Großkapital“, antwortete Doktor Heinrichs. 204
Holt stand betroffen. „Dann meinen Sie zum Beispiel meinen Onkel Carl Rennbach“, sagte er. „Der ist Generaldirektor einer Bremer Werft, außerdem Bankier, und er ist auch bei Eisen und Kohle engagiert.“ „O Verzeihung!“ sagte der Anwalt mit höhnischem Bedauern. Und mit einer Verbeugung gegen Holt fügte er hinzu: „Werte Anverwandte ausgenommen!“ Holt kauerte sich vor den Kamin und schürte das Feuer. „Werte Anverwandte ausgenommen“, wiederholte er. „Damit bin ich für Sie erledigt, ich weiß. Sie machen sich's leicht. Wer Politik im Kopf hat, der geht über die Probleme der Menschen hinweg wie über Dreck, da sind Sie nicht der erste.“ „Sie suchen doch nicht gar Verständnis bei mir!“ erwiderte der Anwalt. „Ich weiß nicht, was ich suche“, sagte Holt. „Ich war im Krieg und finde keine Heimat mehr. Ich habe es bei meinem Vater in der Russenzone probiert und bin dort gescheitert. Ich hab es bei meiner Mutter in Hamburg versucht, und in der Angst, auch dort zu scheitern, bin ich in den Schwarzwald geflüchtet, hierher, in die Einöde.“ „In die Einöde“, wiederholte der Anwalt träumerisch. Dann sagte er, den Blick fest auf Holt gerichtet: „In der Einöde kann man doch herrlich nachdenken! Da kann man doch wundervoll zu gewissen Einsichten kommen!“ Nun schaute er zur Decke und sagte mit undurchsichtigem Lächeln: „Hier kann man natürlich auch in der Idylle versauern oder sich in Illusionen einwiegen, wie man will.“ „Ich habe keine Illusionen“, sagte Holt ruhig. „Und für die Idylle eigne ich mich schon gar nicht. Aber lassen wir das. Reden wir von was anderem. Sie fahren doch morgen wieder nach Fürth, Sie haben doch Platz im Wagen?“ Doktor Heinrichs war überrascht. „Ja, nach Fürth...“ Uta stand in der Tür. Hatte sie das Gespräch mit angehört? Sie lächelte. Sie trug das Abendbrot auf. Nach dem Essen wünschte Doktor Heinrichs sich sogleich schlafen zu legen. Holt brachte ihn unters Dach in die freie Mansarde und ging dann in sein Zimmer. 205
Er riß das festgefrorene Fenster auf. Als die eisige Schneeluft über ihn hinflutete, unter seine Kleidung drang und ihn frösteln und bald vor Kälte erschauern ließ, sagte er laut vor sich hin: „Der Traum ist ausgeträumt.“ Und dachte: Dir kannst du nicht entfliehen. Er schloß das Fenster und lehnte die Stirn gegen das Holz des Rahmens. Die Flucht war wieder nicht geglückt. Er wußte nun: sie konnte nicht glücken, niemals, denn es gab keinen Fluchtweg aus diesem Dasein. Es gab das Leben oder es gab Illusionen, und die Einöde war nicht das Leben, die Einöde war Illusion. Mit geschlossenen Augen überschaute er wieder die Jahre, die hinter ihm lagen. Seit seinen Kindertagen suchte er nach dem Leben, dem wirklichen, unverlogenen Leben, und er hatte in Märchenbüchern gesucht, in sinnlosen Abenteuern, er hatte sich immer wieder verirrt und war nur falschen Fährten gefolgt, bis ins hellere Licht der Lampen, bis tief in den Dreck des allmächtigen Augenblicks. Er hatte auch den Weg in die Einöde nicht gescheut, über die sieben Berge. Nun galt es weiterzusuchen. Und es wurde Zeit, den Weg zu finden, den richtigen Weg. Er dachte an neue Wanderschaft. Er dachte an Uta. Das Herz wurde ihm schwer. Trug nicht ein jeder die bunten Tagträume aus der Knabenzeit mit ins Leben? Aber ein Narr war, wer sich selbst betrog und die Bilder der Phantasie mit dem Leben verwechselte! Holt stieg die Treppe hinab. Unten hielt er sekundenlang die Klinke in der Hand und kämpfte um einen Entschluß: Ich geh, und niemand kann mich halten! Uta stand am Fenster, bei ihren erfrorenen Blumen. Sie wendete den Kopf und sagte, ruhig und freundlich: „Es ist schon das beste, du fährst gleich morgen mit Heinrichs.“ „Ich denke auch“; sagte Holt. Dann rückten sie, wie allabendlich, die Polsterbank vor den Kamin. Das Feuer im Kamin war heruntergebrannt. Nur ein paar Holzkohlen glommen noch in der Asche. „Wohin gehst du?“ fragte Uta. „Nach Hamburg“, sagte Holt. 206
„Was willst du dort?“ fragte sie wieder. „Ich weiß nicht“, antwortete er. „Weiterleben.“ Nach einer Weile fügte er hinzu: „Weitersuchen.“ „Was suchst du?“ fragte Uta. „Ich weiß nicht“, sagte Holt wieder. Er sprach kaum hörbar, eigentlich nur zu sich selbst. „Ich weiß gar nichts. Ich weiß nicht einmal, ob ich wirklich lebe, manchmal denke ich, alles ist nur ein Traum, und wenn ich aufwache, dann beginnt erst das wirkliche Leben. Ich treibe hierhin, dorthin, umhergespült, mitten im Strom. Ich suche das Leben, mein Leben. Alles jagt an mir vorbei, nichts hat Bestand, ich suche etwas Bleibendes, vielleicht Liebe, vielleicht Wahrheit, ich weiß nicht, ich suche etwas wie den archimedischen Punkt.“ „Du suchst dich selbst“, sagte Uta. „Geh zu deinem Vater. Er gibt das Beispiel, das für dich gilt. Eifere ihm nach. Dann wirst du, genau wie er, einen Platz im Leben finden, bei den anderen, die du heute noch nicht verstehst.“ „Ich glaube, das ist wieder so eine Illusion“, sagte Holt. „Es ist eine Chance“, sagte Uta unbeirrt. „Das Leben meint es gut mit dir, es hat dir die Chance in Fleisch und Blut geboten: geh zu Gundel. Wenn du eines Tages zu ihr hinfindest, dann hast du zu dir selbst und zu allen Menschen hingefunden.“ Sie erhob sich. Mit dem Schürhaken riß sie im Kamin die Asche auseinander und legte neues Holz auf. Flackernd schlug die gelbe Flamme hoch und erhellte das Zimmer. Uta kauerte vor dem Feuer, und es war das gleiche zuckende Licht, das ein Streichholz durch den geöffneten Keller geworfen hatte. Vor der hochschlagenden Flamme hob sich der Umriß des lebendigen, atmenden Körpers vom Feuerschein ab. Aber Holt sah das blanke Skelett unter der sanften Wölbung des Fleisches, und er hörte, in die Finsternis geneigt, wie der Tote zu Staub und Knochen zerfiel: ein Mensch, eines Schattens Traum... „Und du?“ fragte er. „Was wird aus dir?“ „Was aus mir wird, das soll dich nicht kümmern“, sagte Uta und legte sich wieder neben Holt nieder. „Ich bin anders als du. Ich habe keine Lust, meinem Leben einen anderen Sinn zu geben als eben diesen: hier in der Einöde das obligatorische
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Dasein abzusitzen. Einem Menschen wie mir hätte der Sinn des Lebens fertig in die Wiege gelegt werden müssen.“ Holt horchte auf. Zum Bild der Toten im Keller kam wieder die Frage, die alte, lächerliche, erhabene, ewig junge Frage nach dem Sinn des Lebens. „Du redest das so hin“, sagte er. „Ich versteh dich nicht. Das Leben darf nicht sinnlos sein. Ein sinnloses Leben wäre zum Verzweifeln!“ Sie antwortete nicht. Sie erhob sich. Es war Zeit zur Arbeit im Stall. Auch Holt kleidete sich an. Uta warf wieder Holz ins Feuer. Dann stand sie am Kamin, in dem grauen Kleid, und sie flocht sich das Haar zu zwei Zöpfen, in Nachdenken versunken. „Die Bücher deines Vaters können es dich lehren“, sagte sie. „Wir sind ganz sinnlos auf der Welt. Nur der Unwissende sieht in uns Menschen den Zweck der Natur. Wir sind nur eine der vielen Möglichkeiten des sich ewig wandelnden Seins, eine Episode in der Entwicklung des Lebendigen, das sich in uns seines Daseins bewußt wird, sind ohne Sinn zwischen Zufall und irdischem Zwang zum Menschen geworden. Und schau doch über die Erde hinaus: da ist alles irdische Wachsen und Werden nur wieder eine Episode im All. Denn von der Erde zur Sonne, von den Sonnen zur Milchstraße und weiter zu unbekannten höheren Ordnungen, wie es sich von System zu System immer unfaßbarer aufbläht und wächst und schrumpft und pulsiert, wie es von diesem Zustand in andere Zustände fällt, so bewegt es sich ewig, ohne Anfang und Ende, und entsteht und vergeht und genügt sich selbst. Wo soll da ein Sinn sein nach unseren menschlichen Maßstäben? Wen es nach einem Sinn des Lebens verlangt, der muß seinem Dasein schon selbst einen Sinn geben. Und es kann nur ein Sinn nach menschlichem Maßstab, eine menschliche Zielsetzung sein.“ Sie nickte Holt zu. Dann nahm sie die Stallaterne, entzündete sie und ging zur Tür. Dort blieb sie stehen. Sie sah Holt an. „Jetzt sag noch einmal, das Leben dürfe nicht sinnlos sein. Jetzt ist es die Forderung, daß du deinem Leben bewußt einen Sinn, ein Ziel geben mögest. Such dir ein Ziel, lebe diesem Ziel, und versuche ein Mensch zu werden.“ „Was ist das, ein Mensch?“ fragte er.
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„Ein Mensch ist“, sagte sie nachdenklich, „wer bewußt einer Zielsetzung lebt und so der Sinnlosigkeit des Lebens einen Sinn nach menschlichem Maß abtrotzt, und nicht nur für sich selbst, nein, sondern mit einem Seitenblick, ein wenig Vorfreude auf das schönere, wahrhaftige Geschlecht der kommenden Jahrhunderte.“ 9
In
Hamburg war der Schnee abgetaut, aber draußen, in Wiedenthal, lag die Niederung noch weiß unterm Nebel. Holt stand lange an der Gartenpforte und sah in die Ebene hinaus. Der Tag verdämmerte. Endlich raffte er sich auf und klingelte. Brigitte öffnete. Sie erkannte ihn nicht in dem unförmigen Lammpelz, den Uta ihm mitgegeben hatte. Aber dann trat sie, wie erschreckt, rückwärts ins Haus, und er ging an ihr vorbei. Im Vorraum nahm sie ihm den Pelz ab. Sie sagte: „Die Damen sind schon beim Abendessen, soll ich...“ „Danke“, sagte er, „nein, Sie sollen nichts. Ich will baden, bitte bringen Sie mir was zu essen hoch, ich bin seit einer Woche unterwegs. Ist das Zimmer noch für mich reserviert?“ „Ja, natürlich“, sagte sie, und zaghaft: „Aber ich muß den Damen melden, daß Sie wieder da sind.“ Er stieg die Treppe hinauf. In seinem Zimmer fand er alles so wieder, wie er es vor Wochen verlassen hatte: das Bett war aufgeschlagen, der tadellos zusammengefaltete Schlafanzug lag schräg über der Steppdecke, der Bademantel hing griffbereit über der Lehne eines Stuhls, und in dem Rilke-Band, auf dem Nachttisch, wies das Buchzeichen noch auf die Verse, die Holt zuletzt gelesen hatte: „Wie hab ich das gefühlt, was Abschied heißt...“ Er hielt das Buch sekundenlang in der Hand, ehe er es wieder auf den Nachttisch legte. Wie hab ich das gefühlt... Ja, gefühlt! Schluß mit gefühlt, endgültig Schluß! Er trat zum Fenster. Wir haben immer zuviel geglaubt und zuwenig gewußt... Gottesknecht hatte recht. Zuviel geglaubt und zuwenig gewußt, zuviel gefühlt und zuwenig gedacht, 209
zuviel Rührseligkeit statt Erkenntnis, zuviel Mythos statt Wissenschaft. Aber das wurde jetzt anders! Holt strich sich mit der Linken durch das widerborstige Haar. Jetzt war Schluß mit Gefühl, und er sah kalt und besonnen hinter die Kulissen der Welt. Jetzt setzte er das Seziermesser ans Leben, und das Dasein sollte ihm Farbe bekennen! Er ging ins Bad, zog sich aus, lag dann in der Badewanne. Wie vor Wochen, als er hier angekommen war, versuchte er ruhig nachzudenken. Aber er gelangte nicht über die eine Frage hinaus: Wie nun weiter? Noch als er wieder in seinem Zimmer am Fenster stand und in die dunklen Scheiben starrte, wo sein ratloses Spiegelbild ihm entgegenschaute, fragte er sich: Wie nun weiter? Er wußte keine Antwort. Es klopfte. Brigitte deckte den Tisch, sie sagte: „Die Damen erwarten den jungen Herrn in einer halben Stunde im Salon.“ Holt drehte sich mit einer impulsiven Bewegung ins Zimmer herum, er wiederholte: „... erwarten den jungen Herrn im Salon...“ Auf einmal brach Wut aus ihm hervor: „Die sollen mich in Ruh lassen!“ Er rief erbittert: „Die Damen sollen sich zur Hölle scheren mit ihrem Salon und ihrem ‚jungen Herrn'!“ Brigitte sah ihn erschrocken an. Holts Wut erlosch so plötzlich, wie sie aufgeflammt war. „Entschuldigen Sie“, sagte er, „das gilt ja nicht Ihnen.“ Und aufs neue erregt: „Da bin ich noch keine Stunde hier, und schon kotzt mich alles an!“ „Wünsche wohl zu speisen“, sagte Brigitte. Dann schloß sich hinter ihr die Tür. Holt setzte sich zum Essen. Er schlang die zwei Spiegeleier hinab, den mit Käse, mit amerikanischem Büchsenkäse, überbackenen Toast, trank eine Tasse Tee. Er war wieder bei Mutter, da herrschte ein anderer Ton, er mußte sich umstellen. Er sah seine Mutter vor sich, Tante Marianne, dann Henning, Wulf mit den abstehenden Ohren, auch den beflissenen Schneider. Na schön, dachte er seufzend. Er hatte nun keine Wahl mehr, er mußte hier Fuß fassen. Die Hintertür war zugeschlagen, es gab keinen Fluchtweg mehr. Die eine Welt war ihm verschlossen geblieben, die andere hier widerte ihn an, aber der Fluchtweg durch die Hintertür hatte in die Sackgasse der Illusion geführt. 210
Holt stand auf, räumte das Geschirr aufs Tablett, trug es hinunter, stellte es in der Küche auf den Tisch. Brigitte spülte Geschirr. Er setzte sich auf einen Küchenstuhl. „Hat es viel Aufregung gegeben, weil ich nicht wiederkam?“ fragte er. Brigitte, über das Spülbecken gebeugt, sagte: „Bitte... Die Damen warten auf Sie!“ Eine Tür klappte. Jemand ging durch die Diele. Holt erkannte seine Mutter am Schritt. Dann surrte die Wählerscheibe des Telefons. Die Küchentür war halb offen, Holt hörte jedes Wort. „Dorothea Holt. Herrn Kommerzienrat, aber schnell!“ Lange Pause. „Franz? Werner ist zurückgekommen. Nein. Ich habe ihn noch gar nicht gesprochen, er badet. Ja. Nein. Wir werden ja sehen. Wie bitte? Gut. Und ruf doch heute noch Hennings an, ja? Natürlich bin ich erleichtert, das kannst du dir doch denken!“ Holt verzog den Mund. Das Gespräch war beendet. Auf einmal stand Frau Holt in der Küchentür. Sie sah, mit völlig beherrschtem Gesicht, nur flüchtig auf Holt, dann sekundenlang auf Brigitte, die sich tiefer über das Spülbecken beugte, sah endlich wieder auf Holt, und nun breitete sie in ihrem Gesicht die Mimik der Freude aus, ließ die geschwungenen Lippen lächeln, ließ die Augen strahlen, hob die Hände in freudiger Geste vor die Brust: „Werner...“ Er erhob sich. Sie faßte seine Hände, dann legte sie einen Arm um seinen Nacken und küßte ihn auf die Stirn. „Wie gut, daß du wiedergekommen bist!“ Er merkte, daß sie auch schmollen konnte: „Wie kannst du mir solchen Kummer machen!“ Die Worte wollten ihn anrühren, aber er stemmte sich gegen diese Regung. „Unkraut vergeht nicht“, sagte er mit erzwungener Heiterkeit, und er folgte ihr durch die Diele ins Wohnzimmer. Der Hamburger Alltag nahm Holt wieder gefangen: Morgenbad, Frühstück, Nichtstun, Spazierengehen. Nach dem Mittagessen verließ er täglich das Haus, lief stundenlang durch die verharschte Schneewüste des Ellerholzer Moors, lief sich müde, lief grübelnd und ziellos durch die Tage. Er gab sich Mühe, sich mit seinem Leben abzufinden, wie es nun vor ihm 211
lag: nach Ostern sollte er wieder die Schule besuchen, nach dem Abitur Jura studieren, und im übrigen stand zu erwarten, so berichtete der Kommerzienrat, daß sich der Bremer Onkel für die Zukunft Holts verbürgte. Man hatte Holt wegen seines wochenlangen Verschwindens keinerlei Vorwürfe gemacht, hatte ihn weder ausgefragt, wo er gewesen sei, noch zurechtgewiesen. Der Kommerzienrat hatte ihn gleich am ersten Abend jovial und schulterklopfend begrüßt: „Na, du Ausreißer, du Globetrotter, erzähl mir nichts, wir waren ja alle mal im Sturm-und-Drang-Alter...“ Im übrigen hatte er Holt erneut großzügig mit Geld und Zigaretten versorgt. Frau Holt hatte sogleich wieder den Schneider bestellt und programmatisch erklärt: „Du verkennst mich, wenn du glaubst, du als mein einziger Sohn könntest irgend etwas beginnen, wofür ich nicht das weitherzigste Verständnis aufbrächte!“ Und bei so viel Verständnis hatte auch Tante Marianne nicht zurückstehen wollen und hatte mit einem eckigen Kopfnicken gesagt: „Dein Onkel Carl aus Bremen meint, auch ein flügger Vogel kehrt noch lange ins Nest zurück.“ Carl Rennbach hatte sich für den kommenden Sonntag zum Abendessen angesagt, was wieder den ganzen Haushalt durcheinanderbrachte. Irgendeine Besprechung rief ihn nach Hamburg, wo er wie üblich bei seinen Halbgeschwistern Quartier zu nehmen gedachte. Am Freitag läutete Roland Henning an und wünschte Holt zu sprechen. „Hallo, Herr Holt, hab gehört, Sie sind von der Reise zurück, das paßt ausgezeichnet. Haben Sie Sonnabend was vor, nein? Also hören Sie zu! Mein Freund Rolf in Lübeck hat Hochzeit, und ich soll ein paar junge Leute mitbringen, sozusagen als Gegengewicht gegen die ollen Koofmichs. Wie ist das, sind Sie mit von der Partie? Ein Bekannter holt Sie ab, der Stöffenhaus, der wohnt draußen in Neugraben. Sonnabend halb zwei, Sie nehmen dann, wenn's recht ist, die beiden Tredeborn-Mädchen mit. Sie sind Ihnen doch vorgestellt? Gut. Ich fahre schon morgens nach Lübeck, ich bin Trauzeuge. Stöffenhaus wird Sie in Lübeck bei Bergmanns einführen. Ihr Onkel, der Kommerzienrat, ist dort übrigens gut bekannt.“
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Holt legte den Hörer auf und stand sinnend in der Diele. Ja richtig, dachte er: die Tredeborn-Mädchen! Er sah sie vor sich, Gitta und Ingrid, und die Aussicht, einen langen Abend mit ihnen, nein, mit Ingrid Tredeborn beisammen zu sein, empfand er als verlockend und überaus angenehm. Hennings Anruf hatte wieder etwas wie ein Ziel und eine Richtung in sein Leben gebracht. Frau Holt, als sie von der Einladung erfuhr, legte einen ungewohnten Eifer an den Tag. „Es ist dein Debüt in der Gesellschaft“, sagte sie, und ihr beherrschtes Gesicht belebte sich. „Selbstverständlich schwarzer Anzug“, sagte sie. „Aber Marianne, doch keinen Querbinder, ich bitte dich, das ist antiquiert, das ist unmöglich! Warte, ich rufe Franz an. Du brauchst eine silbergraue Krawatte.“ Am Sonnabend mittag musterte Frau Holt zufrieden, ja mit unverkennbarem Stolz, ihren Sohn. „Du wirst bestimmt Erfolg haben!“ sagte sie. Stöffenhaus, von Firma Stöffenhaus junior, Marinaden- und Fischkonservenfabrik, war ein weißblonder, rotgesichtiger Jüngling, der feixend die beiden Frauen begrüßte: „Gnädige Frau! Da sind wir mal wieder. Lange nicht mehr hier gewesen, ha? Danke. Man schlägt sich halt so durch.“ Holt sah Tante Marianne in ihrem hölzernen Gesicht wieder das Lächeln aufbauen, das maskenhaft starre Lächeln, das die blendenden Schneidezahnreihen des künstlichen Gebisses freilegte. Stöffenhaus war vierundzwanzig Jahre alt. „Haben Sie ein Hochzeitsgeschenk?“ fragte er. „Das überreichen wir gemeinsam und machen dann Halbe-Halbe, ist's recht?“ Die Tatsache, daß man nicht an ein Hochzeitsgeschenk gedacht hatte, brachte in Tante Mariannes Gesicht das Lächeln zum Einstürzen. Aber Frau Holt verlor nicht die Geistesgegenwart. Sie hörte auf, ihren Pudeln das Fell zu kraulen, saß unbeweglich und überlegte. Fred Stöffenhaus, der nicht älter als zwanzig anmutete, hatte eine helle, gequetschte Knabenstimme. „Na, irgendwas!“ Frau Holt raffte sich auf. „Marianne! Wir schauen uns dein Porzellan an.“
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Stöffenhaus flegelte sich in einen Sessel. Holt betrachtete ihn etwas argwöhnisch. Stöffenhaus trug einen dunklen Anzug, aus dem er reichlich herausgewachsen war, ein gestärktes Frackhemd mit Eckenkragen und schwarzem Querbinder. Er sah lächerlich aus, wie eine Mischung aus Konfirmand und Oberkellner. Aber das genierte ihn nicht im mindesten. „Wissen Sie was“, sagte er, „wir sollten mal anrufen, was Tredeborns schenken, damit wir nicht dasselbe erwischen.“ Holt ging in die Diele ans Telefon. „Was ist denn los?“ rief es temperamentvoll im Hörer. „Ach Sie sind es, Herr Holt? Sind Sie schon von Ihrer Reise zurück? Wir warten hier schon auf Sie!“ Am Lachen, einem üppigen Lachen, glaubte er Ingrid zu erkennen. Tredeborns schenkten eine Kiste Weißwein, zwanzig Flaschen. Stöffenhaus nannte das ein verdammt nobles Geschenk. Tante Marianne schleppte einen roten, mit Seide überzogenen Kasten herbei und entnahm ihm eine Vase in japanischer Lackschnitzerei. „Donnerwetter!“ sagte Stöffenhaus. „Was kostet so 'n Topf?“ Tante Marianne zuckte bei dem Wort Topf zusammen. „Nehmen Sie's erst mal mit“, meinte Frau Holt. „Sie regeln das gelegentlich mit meinem Bruder.“ Draußen wartete ein hellgrauer, geräumiger Wagen. Stöffenhaus fuhr in einem Höllentempo los. „Das ist der gute alte Wanderer W 24“, sagte er. „Kennen Sie sich nicht in Automarken aus?“ Er redete unaufhörlich. „Ich war bei der Luftwaffe“, erzählte er. „Jagdflieger. Elf Abschüsse. EK I.“ Er fuhr schnell und rücksichtslos, auch im dichtesten Verkehr. „Wenn man sich bei den Engländern durchsetzen will, muß man brutal fahren“, sagte er. „Die Amerikaner fahren noch wilder.“ In Georgswerder, in der Halle des Tredebornschen Hauses, wurden Holt und Stöffenhaus Zeuge, wie Frau Tredeborn ihre Töchter verabschiedete. Holt stand betroffen. Die Mädchen trugen Ballkleider, lange, bis auf den Boden fallende Abendkleider aus dunkelbrauner Seide, Kleider von strengem Schnitt, die Hals und Arme freiließen. Ja, mein Gott, gab's denn das noch? Holt verneigte sich, er beantwortete irgendwelche Floskeln mit irgendwelchen Phrasen, während in seinen Gedanken wie ein 214
Film die Bilder vorbeizogen, die sich ihm auf der Irrfahrt durch Deutschland eingeprägt hatten... Gitta sah ziemlich verbiestert aus. Ingrid strahlte in jugendlicher Anmut und Frische. Frau Tredeborn trug wieder ein großes, diesmal ein von böhmischem Granat besetztes Kreuz um den Hals. Sie ermahnte Gitta, der Worte eingedenk zu sein, die Papa für den heutigen Tag gefunden hatte: daß eine Eheschließung etwas ganz Heiliges sei, also eher Anlaß zu innerer Einkehr und stiller Besinnung auf das sich ewig erneuernde Wunder des Lebens, dem allein die Ehe zu dienen habe, als etwa Anlaß zu Ausgelassenheit und Übermut! Bei diesen Worten faßte sie das Kreuz auf ihrer Brust und hob es gegen Gitta, die ernst und zustimmend den Kopf neigte. Frau Tredeborn sagte: „Nimm den kleinen Wildfang in deine Obhut!“ Der kleine Wildfang, damit war Ingrid gemeint, lachte Holt bei diesen Worten unbekümmert an. „Unser Sonnenschein!“ sagte Frau Tredeborn. Holt schaute prüfend auf Ingrid; ihre Augen gefielen ihm, und vor allem das starke und üppige Haar in der kastanienbraunen, fast rötlichen Farbe. Stöffenhaus, als er gemeinsam mit Holt die Weinkiste im Kofferraum des Wagens verstaute, sagte: „Tredeborns führen ein wunderbares Familienleben!“ Während der Fahrt saß Holt auf dem Rücksitz neben Ingrid. Die Nähe des Mädchens wirkte anregend auf ihn. Endlich fiel die Depression der letzten Tage von ihm ab. Aber er hielt sich vorerst zurück und beschränkte seine Rede auf die notwendigen Antworten. Der Wagen stoppte hart an einer Kreuzung und raste dann zur Autobahn hinaus. Die kleine Tredeborn zeigte sich ausgelassen und übermütig. „Was ist denn mit Ihnen los?“ sagte sie zu Holt. „Sie fahren doch zu keinem Begräbnis! Oder haben Sie Kummer?“ Dabei blickte sie ihm unschuldsvoll in die Augen. Ihre Schwester Gitta wendete sich um und legte den Arm über die Lehne des Sessels. „Dein Getue ist Herrn Holt sicherlich zuwider“, sagte sie sanft, aber mit einem bösen Unterton. „Sie waren doch im Krieg, Sie müssen sich erst an Friedenszeiten gewöhnen, nicht wahr? Sie brauchen Abwechslung!“ „Dafür kann gesorgt werden!“ rief Ingrid. 215
Holt lehnte sich abwartend, beobachtend in die Polster zurück und half sich mit einer der großzügigen Handbewegungen, die er den beiden Frauen daheim abgesehen hatte. Stöffenhaus gab nun eine lange, unglaubliche Geschichte aus seiner Fliegerlaufbahn zum besten. Seine helle Knabenstimme übertönte das Summen des Motors. Der Luftkrieg, diesen Eindruck erweckte die Erzählung in Holt, war für Stöffenhaus eine sportliche, unterhaltsame Angelegenheit gewesen. „Am schönsten“, sagte Stöffenhaus, „war's die letzten Monate. Der Sprit war alle. Da haben wir die Bomber einfach fliegen lassen und haben Tag und Nacht Skat gespielt.“ Fliegen lassen und Skat gespielt. Holt hörte das mit Verwunderung. Er wunderte sich überhaupt, wie lebendig die Kriegszeit in Stöffenhaus war, wie unbefangen der blonde Bursche von seinen Kriegserlebnissen erzählte. Für Holt war das Kriegserlebnis ein Tabu, daran er am liebsten nicht rührte, ein entsetzlicher Alptraum, der ihm bis heute Schauer der Angst über den Rücken jagte. Jetzt, bei Stöffenhaus' fröhlichen Worten, erinnerte er sich, welches Gemetzel die Viermotorigen in den Ruhrstädten angerichtet hatten. Er mußte sich diesen Stöffenhaus noch einmal genauer ansehen! Sie fuhren durch die Straßen Lübecks und dann nördlich die Trave entlang. Stöffenhaus stellte den Wanderer vor einem großen freistehenden Haus in der Reihe der parkenden Wagen ab. Es war eine festliche Gesellschaft von vielleicht dreißig Personen, in die Holt nun hineingeriet. Er wurde sogleich von den Schwestern Tredeborn getrennt. Erst schob ihn Stöffenhaus vor sich her, dann unternahm es ein wildfremder Mensch, ihn vorzustellen. Holt konnte sich keinen der vielen Namen merken. Er wurde als Neffe des Kommerzienrates eingeführt, und der Name Rennbach war hier allen bekannt und genoß ein hohes Ansehen, das auch Holt einschloß. Schließlich wurde er vor die Neuvermählten geführt. Der Bräutigam war ein fünfunddreißigjähriger, blonder und ziemlich fetter Herr im Frack, der stark schwitzte. An seiner Seite hielt sich, groß und schlank, Roland Henning, gleichfalls 216
im Frack, in dem er eine vorzügliche Figur abgab. Er flüsterte dem Bräutigam ein paar Worte zu, und der Bräutigam hieß Holt daraufhin mit ausgesuchter Höflichkeit willkommen, hielt ihn wohl fünf Minuten lang im Gespräch fest und erkundigte sich eingehend nach dem Kommerzienrat und, fast ehrfurchtsvoll, nach dem Bremer Onkel. Henning zwinkerte Holt vertraulich zu. „Wir sprechen uns nachher.“ Die Braut war umringt von älteren Frauen und jungen Mädchen, hinter deren Stühlen die Herren standen; sie ertrank fast in weißer Seide, in Spitzen, Schleppen und Schleiern und reichte Holt ein feuchtes, ringgeschmücktes Händchen. Sie mochte Mitte der Zwanzig sein. Holt besah sie sich ungeniert und fand sie unter dem Myrtenkranz blond und farblos, weder schön noch unschön. Vor allem aber dünkten ihn ihr Lachen, ihr Blick und ihre Sprache auffallend dumm. Der Eindruck von Dummheit bestätigte sich, als sie auf seine Glückwünsche, in einer bis zur Verkrampfung gezierten Sprechweise, nichts anderes zu entgegnen wußte als ein auswendig gelerntes „Ach, ich danke Ihnen... auch für das liebenswürdige Geschenk.“ Eine ältere beleibte Frau zu ihrer Rechten, das mußte die Brautmutter sein, fügte hinzu: „Hoffentlich gefällt es Ihnen bei uns“, und die Braut, mit einem ausdruckslosen Lächeln, wiederholte wie ein Papagei: „Hoffentlich gefällt es Ihnen bei uns!“ Holt zog sich mit einer Verbeugung zurück. Er blieb abseits stehen und dachte: Dumm wie eine Gans! Nun beobachtete er aufmerksam den Kreis der Herren und Damen, dessen Mittelpunkt sie war. Es ging in diesem Kreis feierlich und gefühlvoll zu. Ein Geistlicher war dabei, er wurde „Herr Kirchenrat“ oder auch „Herr Doktor“ genannt. Die Augen der Brautmutter waren vom Weinen gerötet. Holt wandte sich ab und sah sich um. An die Diele schlossen sich sternförmig mehrere große Räume an, Speisezimmer, Herrenzimmer, Salon und Musikzimmer, untereinander durch breite, geöffnete Flügeltüren verbunden. Der Salon, wo Holt ein paar erlesene Orientteppiche bewundern konnte, grenzte an einen Wintergarten. Das Musikzimmer war bis auf den Flügel und ein paar Sitzmöbel ausgeräumt, und auch im 217
Speisezimmer war Platz zum Tanzen geschaffen worden. Alle Räume waren festlich geschmückt, und über dem Bild der dunklen Anzüge und der vielfarbigen Kleider lag strahlendes, verschwenderisches Licht, das mancher Brillant als Feuer zurückwarf. Die Sektkelche funkelten. Glanz und Licht und Gläserklirren verfehlten auf Holt nicht ihre Wirkung und versetzten ihn in eine gehobene und gelöste Stimmung. Nach der Trauung am Vormittag hatte das Essen im kleinsten Kreis stattgefunden. Nun wurde getanzt. Ein Bartrio, das sich im Musikzimmer am Flügel niederließ, füllte die Räume mit gedämpfter Musik. Holt wartete unschlüssig in der Diele. Die Schwestern Tredeborn blieben verschwunden. Er sah Stöffenhaus unter den vielen Gästen, die im Speisezimmer das Brautpaar umringten und wiederholt mit den Sektkelchen anstießen. Zwischendurch wurden Trinksprüche ausgebracht, auch kurze Reden gehalten. Holt konnte nur Bruchstücke vernehmen. „Mann und Frau sind eins“, vernahm er. Das war der Kirchenrat. „... verlassen und an seinem Weibe hangen, und sie werden sein, wie die Schrift sagt, Ein Fleisch.“ Anschließend zitierte ein würdiger Herr mit weißem Haar Nietzsche: „Ehe: so heiße ich den Willen zu zweien, das Eine zu schaffen...“ Der Rest ging in einem starken Schneuzer der Brautmutter unter. Holt ließ sich in der Diele auf einem Hocker nieder. Da kam Roland Henning auf ihn zu, mit seinem liebenswürdigen Lächeln. „Na, und Sie? Noch 'n büschen fremd hier, wie?“ Er bewegte sich in seinem Frack ganz ungezwungen, eine Hand in der Hosentasche. Die Rechte hob sich dann und wann zu einer flüchtigen Geste. „Wissen Sie was? Jetzt gehn wir zwei erst mal einen trinken!“ Im Herrenzimmer diente der große Schreibtisch als Büfett. Ein Lohndiener und mehrere Mädchen in Servierkleidern und Tändelschürzen versorgten die Gäste mit Getränken. Im Speisezimmer tanzte die Braut mit Stöffenhaus einen Walzer. Henning zog Holt zu einem Tisch und reichte ihm eine Kognakschale. „Denn man tau!“ Er stieß mit ihm an. „Prösterchen, Holt!“ Nun setzte er sich auf die Lehne eines Klubsessels. „Ganz schöner Aufwand, was?“ 218
Holt gab keine Antwort. Er hatte vor kurzem noch im Bunker in Hannover genächtigt. Nun überblickte er Glanz und Pracht und funkelnden Schmuck. „Wenn man's recht besieht, ist das alles Nepp“, erklärte Henning, als habe er Holts Gedanken erraten. „Wahre den Anschein, heißt die Parole. Keiner will den Anschluß verpassen. Tüchtiger Krampf, nicht?“ Er ließ sich offenbar durch nichts beeindrucken. Das gefiel Holt. „Bißchen anachronistisch“, fuhr Henning fort und deutete mit einer Handbewegung ringsum. „Wenn wir Konjunktur hätten, wenn wir wenigstens etwas mehr obenan wären, da ließe ich mir's ja gefallen. Aber so riecht diese Hochzeit eben zu sehr nach einem Solidaritätsbeweis: seht her, Bergmann & Co. haben den Krieg überlebt und empfehlen sich bestens für kommende Geschäfte. Und ihre Tochter bekommt eine Viertelmillion in Liegenschaften mit.“ Er setzte sein Glas ab, kramte ein Etui hervor und bot Holt eine Zigarette an. „Ich hatte Rolf geraten, jetzt erst mal 'n bißchen kurzzutreten, mit so viel Pomp noch zu warten“, sagte er, während er Feuer gab. Holt meinte: „Offen gestanden, Ihre Einstellung überrascht mich!“ „Ich hab doch keine Illusionen“, sagte Henning. „Ich bin doch quasi Realpolitiker und weiß, was los ist!“ Man rief nach ihm. Er schlug Holt freundschaftlich auf die Schulter. „Amüsieren Sie sich gut!“ Holt rollte gedankenvoll die Zigarette zwischen den Fingern. Aus Henning wurde er nicht schlau. Er erinnerte sich an ein muffiges Zimmer, in dem Henning den Schlips herunterriß. Dreck... Du Stückchen Dreck... Er wehrte sich gegen das Bild, schüttelte es ab, trank seinen Kognak aus. Er schlenderte durch die Räume und sah sich nach der kleinen Tredeborn um, aber sie blieb verschwunden. Im Wintergarten flammte Blitzlicht auf; dort, zwischen den Palmenkübeln, wurde das Brautpaar photographiert. In der Diele traf Holt Annerose Wulf, die bei seinem Anblick sogleich unaufhaltsam errötete. Er begrüßte sie. Man hatte das knochige, flachbrüstige Mädchen in ein himmelblaues Ballkleid mit engem Mieder gesteckt, das überall, an den Schultern, an 219
den Hüften, mit Schleifchen, Rüschen und Volants dekoriert war. Sie sah lächerlich aus und tat ihm leid. Er zwang sich, nett zu sein. Doch während er sie zu einem Sessel führte, dachte er ungeduldig an Ingrid Tredeborn. „Es ist anstrengend unter so vielen Menschen, nicht wahr?“ fragte er. „Doch nicht für Sie!“ erwiderte sie. „Sie finden sich bestimmt überall zurecht.“ Er lachte verblüfft. Im rechten Augenblick nahte Gisbert Wulf, in einem dunkelblauen Konfirmandenanzug, dessen Ärmel etwas zu kurz waren. Seine abstehenden Ohren leuchteten rot. Er gab Holt die Hand und fragte: „Nun, haben Sie die Gedichte gelesen?“ „Jaaa“, machte Holt unlustig. Er schaute durch die Türen in alle Zimmer, aber da die Schwestern noch immer nicht zu sehen waren, ließ er sich doch in ein Gespräch mit Wulf ein. „Gehen wir ins Herrenzimmer“, schlug er vor. Er geleitete Annerose zu einem Tisch, schob ihr den Sessel zurecht und setzte sich. Er entsann sich, daß er Wulf hatte auf den Zahn fühlen wollen: nun hatte er dazu Gelegenheit. Ein Mädchen stellte Weingläser und eine Schale mit Gebäck vor sie hin. „Ich hab Ihren Rilke leider nicht hundertprozentig kapiert“, begann Holt ohne viel Umschweife. „Die Jugendgedichte sind schön, sehr schön. Auch manches aus der späteren Zeit gefällt mir, der Panther, Alkestis, die Orpheus-Ballade, obwohl ich dabei ein Unbehagen nicht loswerde, aber das mag Voreingenommenheit sein. Doch dann setzt es bei mir aus. Die Duineser Elegien, Gesang der Frauen an den Dichter und so weiter, da versteh ich kein Wort, tut mir leid.“ Wulfs Gesicht begann sich von den Ohren her zu röten. „Mit dem Verstand... Verstehen Sie?... können Sie diesem behutsamsten aller Dichter nicht gerecht werden“, erklärte er. „Sie müssen es fühlen.“ „Was?“ fragte Holt. „Was muß ich fühlen, bitte?“ Wulf rang um Worte. „Wenn... Also... wenn Sie die Verse laut vor sich hin sagen, dann fühlen Sie's“, behauptete er.
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„Ich weiß jetzt, was Sie meinen“, sagte Holt. „Dann klingeln die Verse. Sie klingeln wunderbar, wie das Glöckchen beim Hochamt.“ „,Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen'„, zitierte Wulf gekränkt, und sein Gesicht wurde immer röter. Holt neigte sich in seinem Sessel zu Wulf hin. „Gefühl, gut und schön! Aber ich hab da ein Mißtrauen.“ Er riß ein Streichholz an und entzündete eine Zigarette. „Mißtrauen, jawohl. Ich erinnere mich nämlich noch genau, zum Beispiel an die heldische Idee. Die konnte man auch bloß fühlen. Aber was den Menschen auszeichnet, das ist doch der Verstand, die Fähigkeit zu begreifen! Von dieser Fähigkeit will ich zukünftig Gebrauch machen, wenn Sie gestatten. Ich habe durchaus nicht die Absicht, mich noch einmal auf dieses schwummrige Etwas zu verlassen, das irgendwo hier drinsitzen soll...“ - er klopfte bei diesen Worten an seine Brust - „... und das einen zwar bei jedem Weihnachtslied zum Heulen bringen will, sonst aber zu nichts taugt.“ „Dann werden Sie niemals Kunst begreifen!“ ereiferte sich Wulf. „Kunst kann nur mit dem Gefühl erfaßt werden und... und wird deshalb nur für eine Elite geschaffen... für einen Kreis von Eingeweihten!“ Holt kam sich vor dem aufgebrachten Wulf wie ein Tempelschänder vor. Er sagte: „Für welchen Kreis meinen Sie?“ „Für Gebildete“, antwortete Wulf mit einer Handbewegung, die auf unklare Weise die Anwesenden ein- oder ausschloß. „Was verstehen Sie unter Gebildeten?“ fragte Holt weiter. „Nun, wir hier“, sagte Wulf und bewegte wieder rätselhaft die Hand. „Ach“, sagte Holt ärgerlich, „doch nicht etwa auch die Braut, wie? Die ist doch strohdumm, haben Sie das nicht gemerkt? Die wollen Sie zu den Gebildeten rechnen?“ Wulf erschrak und sah sich angstvoll um, ob das auch niemand gehört habe. Seine Schwester hingegen, die bislang stumm dabeigesessen hatte, freute sich so sehr, daß ihr häßliches Gesicht geradezu aufblühte.
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„Lassen wir das“, sagte Holt beschwichtigend. „Jedenfalls hat mich Ihr Rilke nicht befriedigt. Bei Storni, bei Goethe, da weiß ich, was ich fühle. Bei Rilke weiß ich das eben nicht. Da klingelt es und riecht nach Weihrauch. Ich mag Gefühl als Gehirnersatz nicht.“ „Meine Dichtungen werde ich Ihnen jedenfalls nicht zeigen“, sagte Wulf halb erbittert, halb überheblich. „Die können Sie dann erst recht nicht verstehen.“ Holt versuchte noch immer, Wulf zu besänftigen. „Es kommt auf einen Versuch an“, sagte er, so freundlich es ging. „Ich kann verstehen, daß einer Gedichte schreibt, wenn ihm das Herz voll ist.“ Er lächelte. „Wenn ich verliebt bin, möchte ich manchmal auch dichten.“ Daraufhin war Wulf doppelt gekränkt. „Gefühle wie Liebe“, sagte er fast verächtlich, „die kenne ich nicht.“ „Ich kann es mir denken“, sagte Holt. Aber Wulf hatte kein Ohr für Ironie. „Was sind solche subjektiven Emotionen“, fuhr er fort, „für mich als Gedankenlyriker, wo es doch um das Gefühl der Geworfenheit... der Verlorenheit... welches man in der Besinnung auf die Zeit... nicht wahr?, es ist der vollkommene Überdruß, die große Hoffnungslosigkeit des Lebens... die ich empfinde.“ „Überdruß...“, wiederholte Holt. „Mann“, rief er plötzlich, „Sie sind ja völlig unfähig, das Leben und die Zeit zu begreifen! Sehen Sie sich doch mal draußen um! Das Leben ist problematisch, zugegeben, aber Sie übersehen ja vor lauter Engeln. Sein zum Tode, Überdruß und dergleichen Unfug die brennendsten Fragen!“ Wulf verschanzte sich hinter einem hochmütigen Gesicht. „Brennende Fragen“, sagte er, „was kann das schon sein!“ Holt wurde böse. „Zwei Weltkriege, fünfzig Millionen Tote, und da fragen Sie sich nicht, was los ist mit der Welt, in der so etwas möglich ist?“ Wulf antwortete mit einer wegwerfenden Geste: „Es gibt Menschen ohne allen Sinn fürs Unsägliche, die lediglich der Erscheinung verhaftet sind... Ich bemühe mich immer um eine
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Wesensschau... ich versuche, das Wesen der Welt zu erfassen.“ „Gut, sehr gut“, rief Holt, und er wurde immer wütender. „Wesensschau... Fangen wir doch gleich beim Wesen der Welt hier im Haus an!“ Er wies in die Räume hinein und hackte auf den erschreckten Wulf los: „Sehn Sie sich doch nicht immer so ängstlich um! Das kann jeder hören, was ich Ihnen jetzt sage! Die Braut, Sie wissen das so gut wie ich, ist derart dumm, daß mich der Mann jammert, der mit ihr leben muß. Warum heiratet er eine so dumme Frau? Aus Liebe?“ Holt lachte. „Nein, mein Lieber, bei den beiden, da werden Sie schwerlich etwas finden, was die zusammennimmt wie ein Bogenstrich! Was ist denn das Wesen dieser Ehe? Die Mitgift! Und sehen Sie nicht, wie dreißig erwachsene Menschen so tun, als glaubten sie das Gewäsch von: Ein Fleisch, und: Mann und Frau sind eins, und: zu zweien das Eine zu schaffen... und dabei weiß jeder... ja, auch Sie!, daß sich hier ein schlaurechnender Fuchs eine saudumme Gans geschnappt hat!“ Holt höhnte: „Da haben Sie Ihre Wesensschau, da haben Sie ein feines Beispiel für das Wesen der Welt!“ Wulf saß erstarrt. Er war blaß, seine Ohren waren weiß. Und endlich war die Stunde gekommen, da aus Holt hervorbrach, ungewollt, was sich zusammengebraut und aufgestaut hatte. „Weiter geht's mit der Wesensschau!“ sagte er. „Jetzt zeigen Sie mal, daß Sie Sinn fürs Unsägliche haben! Meine Mutter hat mir erlaubt, mit unserem Dienstmädchen zu schlafen, wie finden Sie das? Ich soll bloß aufpassen, daß es keinen Eklat gibt. Nun stellen Sie sich mal vor, und Sie werden ja wohl ein bißchen Phantasie aufbringen können, obwohl Sie Gedankenlyriker sind, stellen Sie sich vor, ich bring das Mädchen mit hierher und sage: ,Gnädige Frau, darf ich Ihnen Brigitte vorstellen, unser Dienstmädchen...' Also das möchte ich erleben! Dabei ist diese Brigitte zehnmal klüger als die Braut, fleißig, tüchtig, hübsch. Ihr Vater hat eben bloß keine Fabrik und keine Firma, und sie hat auch keine reputierlichen Onkels wie ich. Nun frage ich Sie: Was ist das Wesen einer Gesellschaft wert, in der jeder Idiot, wenn er nur Liegenschaften mitkriegt, jeder Heuchler, wenn nur das Wort ,Firma' vor seinem 223
Namen steht, jeder Schönschwätzer, wenn sein Vater nur Inhaber des Versandhauses Wulf ist, mehr gilt als ein anständiger Mensch, der von seiner Hände Arbeit lebt? Eine solche Gesellschaft, da können Sie noch so sehr mit dem Gesicht zucken, ist den Knüppel nicht wert, mit dem man sie in Stücke schlagen sollte!“ Wulf war aus seiner Erstarrung erwacht; er streckte abwehrend die Arme gegen Holt aus und erhob sich, aber Holt sprang auf. „Hiergeblieben!“ befahl er und drückte Wulf wieder auf den Sitz. „Aus Bosheit...“, stammelte Wulf sinnlos. In Holt flammte es auf. Aus der Tiefe des Vergessens stieg es hoch: „Was halten Sie davon, daß Krupp während der zwanziger Jahre Kanonen an die Russen verkauft hat, an die Bolschewiken, die doch angeblich immer schon eine tödliche Gefahr für uns waren?“ Er beugte sich zu Wulf herab. „Was halten Sie von meinem Onkel Carl in Bremen? Der hat an jedem ersoffenen U-Boot-Fahrer schönes blankes Geld verdient!“ Wulf raffte sich endlich auf. „Aus Bosheit...“, krächzte er, „aus purer Bosheit rütteln Sie an der Struktur der Welt!“ „Struktur der Welt?“ wiederholte Holt. „Eine Scheißstruktur, mein Lieber...“ Er schwieg. Er hatte schon viel zu viele Worte verpulvert. Er hatte sich provozieren lassen. Wulf war doch kein Gegner für ihn! „Los, verschwinde jetzt!“ sagte er, wütend über sich selbst. „Ich kann dein Gesicht nicht mehr sehen!“ Dann sank er zurück in den Sessel. Wulf verließ tödlich beleidigt das Herrenzimmer. Holt bemerkte Wulfs Schwester neben sich am Tisch. Sie saß klein und wie zerbröckelt in ihrem himmelblauen Kleid auf der Sesselkante und zwinkerte. Dann sagte sie, und sie sah ihn dabei an wie ein Hündchen, das um Zucker bettelt: „Sind Sie... mir denn auch böse?“ „Es tut mir leid“, sagte Holt. „Ich habe nichts gegen Sie. Ich habe auch nichts gegen Ihren Bruder. Er war gar nicht gemeint.“ Er schwieg. Er sann über die Worte nach, die er eben gesprochen hatte. „Im Grunde muß ich Wulf dankbar sein“, 224
sagte er. „Ja, wirklich. Ihr Bruder hat mich geweckt. Er hat mich an etwas erinnert, was ich in all dem Durcheinander der letzten Tage fast vergessen hätte.“ „Ich rede mit Gisbert! Ich bringe das bestimmt wieder in Ordnung!“ sagte Annerose. Holt hörte gar nicht hin. Eine menschliche Zielsetzung, dachte er. Ja, beinahe hätte er die Aufgabe vergessen, sich niemals abzufinden mit der Welt und unermüdlich weiterzusuchen. Denn Tante Mariannes Haus, die Villa hier und die parkenden Autos vor der Tür, Schleppe und Schleier und Myrtenkranz, befrackte Herren, Fabrikbesitzer und Kirchenrat, das alles war nicht das Leben, das er suchte. Wieder folgte er einer falschen Fährte. Und auf einmal wußte er, was er zu tun hatte: er hatte Wulf vor den Kopf gestoßen, und es kam ihm nicht darauf an, alle Leute, wenn's sein mußte auch Henning und Stöffenhaus und Onkel Franz und Tante Marianne und Onkel Carl und Mutter, vor den Kopf zu stoßen. Er pfiff auf das ganze Volk hier und ging wieder auf die Wanderschaft. Wohin? Er wußte es nicht. Aber er ging! Holt erhob sich. Er nickte Annerose Wulf zu, freundlich, aber zerstreut. Er sah alles in einem anderen Licht. Ein Gefühl der Befreiung überkam ihn. Er fühlte sich den Menschen ringsum turmhoch überlegen, das machte die Gleichgültigkeit; er war der einzige hier, der keinerlei Rücksicht zu nehmen brauchte. Und er nahm nun auch keine Rücksicht mehr. Und jetzt suchte er sich die kleine Tredeborn, und sie sollte ihm Farbe bekennen! In der Diele fand Holt Stöffenhaus und Henning. Sie hielten Likörschalen in den Händen. „Noch 'n Kognak!“ schrie Stöffenhaus einem der Mädchen nach. Dann lästerte er weiter. „Sehn Sie mal, Holt!“ raunte er. „Dort... eine Tante von Bergmanns, väterlicherseits, die hat ohnehin schon einen Hintern wie ein Pferd... und nun noch der enge Rock, ha?“ „Die hat immerhin mal dreihunderttausend Goldmark mitbekommen, das wiegt sogar den Arsch auf“, meinte Henning. „Und die Braut?“ fragte Holt und nippte an seinem Kognak. „Wie finden Sie die Braut?“ 225
Henning kniff ein Auge zu. „Üben Sie Barmherzigkeit und schweigen Sie! Ich kenn doch den Kuhhandel, den man mit ihr getrieben hat... Na, der Rolf war zwei Jahre Batteriechef in Paris, der hat sich dort für den Rest seines Lebens ausgeschlämmt.“ „Sehn Sie mal, links!“ flüsterte Stöffenhaus an Holts Ohr. „Eine Kusine von Krögers. Die lebt im Abendkleid richtig auf, weil sie Beine hat, krumm wie Korkenzieher...“ „Ihr Mann ist eine Persönlichkeit“, sagte Henning, „der hat 1934 die Paulsensche Jachtwerft in Cuxhaven aufgekauft!“ „Aber das Kleid ist unmöglich, nicht?“ flüsterte Stöffenhaus wieder. „Man riecht quasi die Mottenkiste, aus der sie's ausgebuddelt hat“, meinte Henning. „Ich finde, hier riecht alles ein bißchen nach Mottenkiste“, sagte Holt. „Sie gehn aber ran!“ rief Stöffenhaus. „Sie durchleben wohl grad eine revolutionäre Phase?“ Holt trank seinen Kognak aus. „Wo sind eigentlich die Schwestern Tredeborn?“ „Erst wurden sie im Wintergarten mit der Braut photographiert“, erklärte Henning, „und jetzt sind sie oben, Hochzeitsgeschenke ansehen.“ „Die beiden sind hier mit Abstand die hübschesten Mädchen“, sagte Holt. „Besonders Ingrid!“ setzte Stöffenhaus hinzu. Henning fragte: „Interessieren Sie sich für die kleine Tredeborn, Holt?“ Er faßte Holt freundschaftlich am Arm. „Sehn Sie sich vor. Sie kennen die Klatschlust der Leute nicht. Ein bißchen tanzen, ein bißchen flirten, da kommen die tollsten Gerüchte heraus, und der alte Tredeborn ist mit seinen Töchtern sehr eigen.“ Holt sagte: „Sie ist jung und hübsch, man wird ihr doch wohl den Hof machen dürfen.“ „Wozu?“ fragte Henning. „Ein Mädel wie die Ingrid ist doch tabu, solange man nicht ans Heiraten denkt! Wenn Ihnen mal wieder so ist, da rufen Sie mich an, da gehn wir mal wieder zusammen aus... War doch nett damals, nicht? Aber hier 226
können Sie nichts anfangen, das sind doch alles Mädchen aus gutem Hause, die müssen geheiratet werden, ehe sie sich hinlegen!“ Stöffenhaus sagte: „Bei der kleinen Tredeborn war's Heiraten nicht mal das übelste.“ Er dämpfte die Stimme. „Aber die ist ein bißchen wilder, als sie zu Hause zeigt, da wette ich! Wer die mal heiratet, der wird ein Stück Arbeit haben, sie an die Kette zu legen.“ „Da sind sie ja“, sagte Henning. Die Schwestern stiegen Arm in Arm die Treppe hinab in die geräumige Diele und traten vor die drei hin. Gitta sagte: „Die Herrn ziehn ja so gelangweilte Gesichter!“ „Gelangweilt? Nicht doch!“ erwiderte Holt. „Wir haben grad ein bißchen über Sie geschwätzt. Stöffenhaus meint, wer Fräulein Ingrid heiratet, der wird es schwer haben, sie an die Kette zu legen.“ „Das ist aber doch stark!“ rief Stöffenhaus. Henning schmunzelte schadenfroh. Gitta Tredeborn sah Holt an, den Kopf zur Seite gelegt, und in ihr hübsches Gesicht trat ein Zug geheimer Gehässigkeit. Ingrid aber lachte und lachte und sagte dann zu Stöffenhaus: „Puh! Was Sie sich einbilden! Sie wären ja nun der letzte, der in die Verlegenheit kam.“ Nebenan setzte mit einem klirrenden Beckenschlag die Musik ein. Gitta Tredeborn streifte mit ihrem Blick über Henning, Stöffenhaus und Holt hin und meinte: „Sie könnten ruhig ein bißchen fleißiger tanzen.“ „Richtig!“ sagte Holt, und er verneigte sich vor Ingrid. Es war ein Tango. Ingrid Tredeborn sagte: „Au! Eigentlich hätten Sie ja mit Gitta tanzen müssen!“ Holt schüttelte den Kopf. „Mit Ihnen oder gar nicht.“ „Glaub ich nicht“, erwiderte sie. „Vor der Anstandstour mit der Braut können Sie sich nicht drücken.“ „Doch“, sagte Holt. „Wie Sie sehen werden, kann ich.“ „Dann schockieren Sie Bergmanns“, sagte sie. Er sagte leichthin: „Na und?“ Sie sah ihn verwundert an. „Ich glaube, Sie sind dazu imstande. Aber warum?“ 227
„Weil Sie mir gefallen... Ingrid!“ sagte er und zog sie im Tanz fester an sich. Dabei beobachtete er sie genau. Sie senkte den Blick, und im Schwung des Tanzes ließ sie mit geschlossenen Augen den Kopf in den Nacken sinken. Er führte sie ins Herrenzimmer. Dort nötigte er sie in einen Sessel und nahm an ihrer Seite Platz. „Hören Sie mich an!“ befahl er. „Ich bin neu hier, Henning meint, hier herrschten sehr strenge Bräuche. Mir ist das egal. Sie gefallen mir. Warum soll ich mir von irgendwem Vorschriften machen lassen? Hab ich recht?“ Sie antwortete nicht. Aber er merkte, daß sie aufmerksam zuhörte. „Sie werden mir also rundheraus sagen, ob Sie mich mögen“, fuhr er fort. „Wenn ja, dann werden wir weitersehen. Wenn nein, dann trink ich noch ein paar Kognaks und fahr nach Hause. Langweilen kann ich mich auch bei meiner Mutter. Also?“ Nun stieg eine leichte Röte in ihr Gesicht. Sie überlegte angestrengt, und er drängte sie nicht zu einer Antwort. Sie gefiel ihm immer besser, je länger er sie betrachtete. Das reiche kastanienbraune Haar fiel ihr heute offen über die Schultern. Und da sie nun nachdenklich an der Unterlippe nagte, sah er ihre ebenmäßigen Zähne feucht und bläulich schimmern. „Sie bringen mich in Verlegenheit“, entgegnete sie endlich. „Ich... möchte nicht, daß Sie heimfahren.“ „Danke, das genügt“, sagte er. „Und macht es Ihnen was aus, wenn man ein bißchen über uns klatschen sollte?“ „Wennschon. So schlimm ist das außerdem gar nicht“, sagte sie. „Der Henning ist ein Stockfisch!“ „Und Ihr Papa?“ fragte Holt. „Ach, der!“ sagte sie gedehnt. „Den wickel ich um den kleinen Finger.“ „Um so besser. Aber nun Schluß mit der Vorrede.“ Er führte sie wieder ins Musikzimmer zum Tanz. Er tanzte die ganze Nacht mit ihr. Es fiel allen auf. Bald, und später noch mehrmals, nahm Gitta Tredeborn ihre Schwester beiseite und redete auf sie ein. Ingrid lachte nur. Es entging Holt nicht, wie gespannt das Verhältnis zwischen den Schwestern war. Er versorgte Ingrid mit Wein, mit 228
einem Imbiß. Wenn sie nicht tanzten, saßen sie in einer Ecke und unterhielten sich. Stöffenhaus witzelte Holt in einem unbewachten Augenblick zu: „Mein Lieber, Sie haben wohl angebissen?“ Dann sagte er seufzend: „Sie sind ein Gemütsmensch! Um Ihre Unbekümmertheit könnte ich Sie beneiden!“ Der Bräutigam saß unterdessen schwer bezecht im Salon, mit zerknitterter Hemdbrust. Noch vor Mitternacht fuhr Henning das Brautpaar nach Hamburg. Er kehrte gegen zwei Uhr zurück. Zu dieser Zeit waren viele der älteren Gäste schon aufgebrochen. Nur ein Dutzend junger Leute tobte noch, nun recht ausgelassen, durch die Räume. Alle waren mehr oder weniger angetrunken. Holt aber war nüchtern. Er hatte Ingrid Wein trinken lassen, bis sie aufs äußerste angeregt war, ein wenig erhitzt und sehr übermütig; dann achtete er unauffällig darauf, daß ihr Glas nicht wieder gefüllt wurde. Gegen morgen ließ die Tanzlust nach. Henning setzte sich einen Augenblick zu Holt und Ingrid. Seine Sympathie für Holt war auch jetzt unverkennbar. Er sagte: „Hier ist bald Feierabend, überlegen Sie mal, was wir mit dem angebrochenen Abend anfangen... Sie hätten Hamburg in Friedenszeiten erleben müssen, da hätten wir einen Katerbummel hingelegt, gleich wieder bis Mitternacht.“ „Ich will nicht nach Hause!“ sagte Ingrid eigensinnig wie ein Kind. „Wir können doch alle bei Ihnen frühstücken.“ Henning stimmte zu. „Das läßt sich organisieren. Ich rede mal mit Fred.“ Er erhob sich. Das Bartrio intonierte einen letzten langsamen Walzer. Holt und Ingrid Tredeborn waren das einzige Paar, das der Aufforderung folgte. Während sich Ingrid in einer Mischung von Weinseligkeit, Übermüdung und Verliebtheit dem Tanz hingab, überschaute Holt rasch die Situation. Das Speisezimmer war menschenleer, und auch in dem angrenzenden Salon war niemand zu sehen. Der Wintergarten lag dunkel und verlassen. In der Diele stand Stöffenhaus, von den letzten Gästen umringt, und erzählte wieder Anekdoten, die lautes Gelächter hervorriefen.
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Holt wartete nicht das Ende des Tanzes ab. Er zog Ingrid Tredeborn in den Salon und weiter in den dunklen Wintergarten, er stolperte über einen Palmenkübel. Dann drückte er sie mit beiden Schultern gegen die gekachelte Wand und küßte sie. Sie sträubte sich nicht und küßte ihn wieder. Er schob die Rechte hinter ihren Rücken und faßte sie mit der Linken unterm Haar im Nacken. Sie schlang beide Arme um seinen Hals. „Geh voran, ich komme nach“, sagte er. Er sah im Dunkel, wie sie ihr Haar ordnete, er hörte sie atmen, dann blieb er allein. Er brannte sich eine Zigarette an und wartete ein paar Minuten. Das gab es nicht! Das mußte sie gelernt haben! Er dachte an Henning, an Stöffenhaus, an all die anderen. Nein. Die hätten bestimmt irgendwas angedeutet! Wer weiß. Holt schlenderte durch den Salon. Im Musikzimmer packten die drei Musikanten ihre Instrumente ein. Durch die offene Tür sah er Ingrid in der Diele unter den Zuschauern, die auf Stöffenhaus' unerschöpflichen Anekdotenvorrat lauschten. Doch im Herrenzimmer, ganz allein, saß Gitta Tredeborn, in der Sesselecke, rauchte und schaute zu ihm hin. Er konnte sie nicht ignorieren, ohne sie grundlos zu kränken. Er ging hinüber und fragte unbefangen: „Wann werden wir aufbrechen?“ „Wenn Fred mit seinen Witzen fertig ist“, antwortete sie. „Warum nehmen Sie nicht Platz? Fred findet immer ein paar Dumme, die seine Geschichten noch nicht gehört haben. Dabei hat er sie alle gestohlen, aus einem Buch ,Landserhumor', Feldpostausgabe 1942, ich kenn das. Mit Humor hat das doch nichts zu tun.“ Sie sagte das alles in einem müden und gleichgültigen Ton, ohne das Gesicht zu verziehen, aber ihr Blick war dabei herausfordernd auf Holt gerichtet. „Mit Humor hat das doch nichts zu tun“, wiederholte sie. „Humor muß explosiv sein, muß einen Menschen umwerfen.“ Und da Holt nur höflich lächelte, fuhr sie fort: „Hören Sie zu! Was ich Ihnen erzähle, das ist aus keinem Buch gestohlen.“ Er wartete. Vorsicht! sagte er sich. Die wollte doch was von ihm! 230
„Ich trete neulich auf die Straße“, erzählte sie in immer demselben gelangweilten Tonfall, „da steht ein Herr, erstklassig gekleidet, hochelegant, und er hat einen großen Airedaleterrier an der Leine. Der Hund, stellen Sie sich das vor, kauert mitten auf dem Gehsteig und verrichtet dort seine Notdurft, direkt vor unserem Haus. Was mach ich? Ich geh zu dem Herrn hin. Was sag ich? Ich sage: ,Verzeihen Sie. Dürfte ich vielleicht eine Frage an Sie richten?' - ,Aber bitte, mein gnädiges Fräulein', ruft der Herr. Ich sage, so vornehm ich kann: ,Warum, mein Herr, wenn Sie mir diese Frage zu stellen gütigst gestatten wollen, lassen Sie Ihren herrlichen Airedaleterrier statt in den Rinnstein auf den Gehsteig scheißen?'“ Holt lachte schallend. Gitta Tredeborn beobachtete ihn mit unbewegtem Gesicht. „Es hat dem Herrn einen Schlag gegeben, daß es ihn beinahe umwarf. Das nenn ich Humor. Nicht wahr, da lachen Sie! Oder wie finden Sie das, wenn ich Sie einfach fragen würde: War's schön mit Ingrid im Wintergarten?“ Er hatte so etwas erwartet. Nun war der Ausdruck von Gehässigkeit in ihrem Gesicht so stark, daß er den Kopf schüttelte. „Bedaure“, sagte er. „Aber da werden Sie vergeblich darauf warten, daß es mich umwirft. Und mit einer Antwort rechnen Sie ja nicht im Ernst.“ „Nein“, sagte sie freundlich. „Aber ich weiß noch einen viel feineren Witz! Den werde ich Ihnen aber erst später erzählen. Einstweilen nur so viel: irren ist menschlich, nicht wahr, Herr Holt?“ Sie war weniger betrunken, als er erst annehmen wollte. Aber hinter der Maske der Blasiertheit war sie außer sich vor Bosheit und Kränkung. Er ahnte, wohin ihre Worte zielten. Er stand brüsk auf. „Ich hoffe, Sie werden Gelegenheit finden, Ihren feinen Witz an den Mann zu bringen“, sagte er. „Ich fürchte nur, er wird nicht sehr neu sein.“ Er ging. Er hörte sie hinter sich her lachen. In der Diele rüsteten die letzten Gäste zum Aufbruch. Holt hätte gern mit Ingrid gesprochen, fand aber keine Gelegenheit. Stöffenhaus und Henning nahmen Holt beiseite. Stöffenhaus 231
war arg betrunken und schwankte. Henning sagte: „Wir frühstücken also bei mir daheim, mit den Tredeborn-Mädels und der kleinen Wulf; ihr Bruder hat sie hier sitzenlassen und ist mit irgendwem verblüht.“ Holt sagte zu Stöffenhaus: „Mann Gottes, Sie wollen Auto fahren? Das gibt ja eine Katastrophe!“ „Haben Sie eine Ahnung!“ sagte Stöffenhaus. „Wenn ich einen getütert hatte, dann bin ich rein in die Messerschmitt und los wie ein junger Gott.“ Henning spottete: „Ohne Schnaps haben sich die Herren nämlich gar nicht mehr in die Luft getraut.“ „Das ist eine gottverdammte Lüge!“ schrie Stöffenhaus plötzlich zornrot. „Das nimmst du zurück, Roland!“ „Fangen Sie bloß keinen Streit an!“ sagte Holt, und er wunderte sich, wie ernst Stöffenhaus Hennings Scherz nahm. „Auto fahren ist übrigens noch was anderes, weil Sie da nicht in die dritte Dimension ausweichen können.“ „Ach Quatsch“, sagte Stöffenhaus. „Ich fahre Sie schon richtig, warten Sie nur ab.“ Ingrid Tredeborn nahm die kleine Wulf am Arm und winkte Holt mit den Augen. Sie folgten dem schwankenden Stöffenhaus zum Wagen. Henning fuhr mit Gitta. Ingrid war offensichtlich froh, ihre Schwester los zu sein, verfrachtete die kleine Wulf zu Stöffenhaus auf den Vordersitz und sagte leise zu Holt: „Ich friere schrecklich. Gibst du mir deinen Pelz?“ Er wickelte sie in den Lammpelz und nahm dann neben ihr Platz. Sie schmiegte sich an ihn und flüsterte: „Was wollte Gitta von dir?“ Er antwortete: „Ich bin nicht draus klug geworden.“ Stöffenhaus fiel taumelnd auf seinen Sitz, schaltete die Scheinwerfer ein und fuhr los wie ein Wahnsinniger. Holt setzte sich bequem zurecht. Ingrid drängte sich gegen ihn. Durch das Rückfenster fiel das Scheinwerferlicht des Mercedes, in dem Henning folgte. Unbeschadet gelangten sie nach Hamburg; der Wagen stoppte in Nienstedt vor Hennings Haus. Sie warteten eine Weile in der Diele, nun übermüdet und erschöpft, während Henning seinen Eltern Bescheid sagte. Die beiden Schwestern standen abseits, aufgeregt miteinander 232
flüsternd. Sie zankten sich wieder. Gitta blieb ruhig, höhnisch und überlegen. Ingrid war wütend, und ihre Augen funkelten. Henning sagte: „Herrschaften, jetzt gibt's ein zünftiges Katerfrühstück! Saurer Hering ist im Hause, und mein alter Herr hat auch Kaffee rausgerückt. Das richten wir natürlich alles allein her, wie sich's gehört. Verfügen wir uns also erst mal in die Küche.“ Dort richtete Stöffenhaus in wenigen Minuten eine chaotische Unordnung an, bis Henning ihn anfuhr: „Scher dich erst mal ins Bad und halte den Kopf unter die Dusche.“ Holt schaute zu, wie Gitta Tredeborn und Annerose Wulf das Frühstück zubereiteten. Ingrid rührte keinen Finger. Stöffenhaus kehrte mit triefendem Haar aus dem Bad zurück, sah die Blechbüchse mit dem amerikanischen Bohnenkaffee und rief: „Mensch, die Hennings schieben was weg!“ „Ihr vielleicht nicht?“ entgegnete Henning gelassen. Gitta Tredeborn hielt ihrer Schwester das volle Tablett hin und herrschte sie an: „Trag's hinein, los, sei nicht so faul!“ Ingrid zögerte. Dann gehorchte sie, nahm das Tablett und sagte zu Holt: „Bitte, würden Sie mir die Türen aufmachen?“ Holt ging voran. Sie kannte sich in der Wohnung aus und dirigierte ihn: „Zweite Tür links!“ Das Speisezimmer war dunkel. Er tastete nach einem Lichtschalter. Aber Ingrid setzte irgendwo das Tablett ab, warf die Tür ins Schloß und fiel ihm um den Hals. Als er in der Diele Schritte zu hören glaubte, schob er sie von sich und schaltete Licht ein. Die Tür wurde geöffnet. Es war Gitta. Sie sah auf ihre Schwester, sie sah auf Holt. Sie stellte wortlos die heiße Kaffeekanne auf den Tisch. Ingrid zwinkerte Holt übermütig zu. Durch die Diele nahten, laut miteinander streitend, Stöffenhaus und Henning. Stöffenhaus gab auch beim Frühstück keine Ruhe. „Wer hat denn auf den Kanalinseln gesessen und den ganzen Krieg gepennt, was?“ fragte er. „Du und deine Marineartillerie! Und wer ist unterdessen oben gegen die Viermotorigen losgegangen? Wir!“ „Ja, denkst du!“ sagte Henning. „Veralbert haben sie euch! Ihr seid über Frankfurt herumgekurvt, und in Kiel haben sie Bomben geschmissen!“ 233
Stöffenhaus regte sich immer mehr auf. „Weil du keine Ahnung hast, wie schwer es ist, die Jäger an den Feind zu bringen!“ schrie er, schon wieder zornrot. „Und wie war es bei Schweinfurt? Oder bei Bremen? Da haben wir jedesmal an die hundert heruntergeholt!“ „Wie viele von euch abgetrudelt sind; das hat der Wehrmachtsbericht schamvoll verschwiegen“, spottete Henning. Und da Stöffenhaus nach Luft schnappte, sagte er im Befehlston: „Jetzt geben Sie Ruhe, Oberfähnrich!“ Holt hörte diesen Streit und dachte verwundert: Die haben Sorgen. Stöffenhaus verschlang einen sauren Hering nach dem anderen, wobei ihm der Saft über das Kinn lief und aufs Hemd tropfte. Neben ihm saß Ingrid Tredeborn. Sie stocherte mit der Gabel an ihrem Fisch herum und behauptete: „Ich graul mich vor dem Hering! Er hat mit dem Schwanz gezuckt.“ Alle lachten. Stöffenhaus sagte hingerissen: „Sie sind... Also, Sie sind ja goldig, wirklich!“ Gitta Tredeborn verzog den Mund. Holt aß kaum einen Bissen. Er trank aber schon die zweite Tasse Kaffee. Seine Müdigkeit verwandelte sich mehr und mehr in einen eigenartigen Zustand wacher, ja erregter Apathie. Neben ihm saß Annerose Wulf. Obwohl es ihm gleichgültig war, wie ihr Bruder nun über ihn dachte, sagte er: „Gisbert scheint mir gewaltig zu grollen, wie?“ Sie sagte errötend: „Ich bringe das bestimmt in Ordnung!“ Stöffenhaus langte nach der Kanne, aber sie war leer. „Kein Kaffee mehr?“ „Geh und brüh dir welchen“, entgegnete Henning. Stöffenhaus tippte sich an die Stirn. Da erhob sich Gitta. Sie sagte gelassen: „Ich werde mich opfern.“ Und schon in der Tür, über die Schulter: „Aber einer der Herren muß mir Gesellschaft leisten.“ Stöffenhaus würgte seinen Hering hinab und rief: „Ich!“ Gitta sagte spöttisch: „Nein, Fred, Sie sind nicht gemeint. Ihre Anekdoten hängen mir schon zum Halse heraus. Herr Holt, wie wär's mit Ihnen?“ Er hatte es so und nicht anders erwartet und folgte ihr in die Küche. Dort setzte sie Wasser auf. Dann zog sie sich einen Küchenstuhl zum Herd. Holt brannte sich eine Zigarette an. 234
Gitta sollte ihn nicht aus der Ruhe bringen. Aber da sie stumm beim Gasherd saß und ihn gar nicht beachtete, spürte er doch eine leise Unruhe. Erst als das Wasser kochte, schreckte sie aus ihren Gedanken auf. „Ja, richtig, ich wollte Ihnen ja noch den Witz erzählen.“ Sie spülte die Kanne mit siedendem Wasser und brühte den Kaffee. Holt sagte: „Bitte.“ Sie stand auf und schloß die Küchentür. „Es ist wirklich ein guter Witz“, sagte sie und blickte ihm in die Augen. „Also. Der Sonnenschein, nicht wahr, der erwärmt Ihnen doch auch die Seele?“ „Bis jetzt ist es noch kein Witz“, sagte Holt. „Aber jetzt wird es einer“, sagte sie, „wenn ich Ihnen verrate, daß der liebe Sonnenschein, das goldige Kind, schon mit fünfzehn Jahren als Führerin im KLV-Lager wie eine Verrückte herumgehurt hat.“ Er sog an seiner Zigarette. Er hatte sich so was gedacht. Übrigens war ihm das gleichgültig. Er schaute durch das Küchenfenster in den grauen Morgen. Beinahe hätte er vergessen, daß er wieder auf die Wanderschaft ging. Er hörte sie sagen: „Nun, ist das nicht ein guter Witz?“ Er stand vor ihr und sah auf sie hinab. Er sah sie lange an, und sie wurde bald unsicher unter seinem Blick. Er schüttelte den Kopf. Dann ging er zurück ins Speisezimmer. Im Speisezimmer sah Holt die anderen beim Frühstück um den Tisch sitzen, und er dachte, daß sie alle ihn überhaupt nichts angingen. Nur beim Anblick Ingrids empfand er etwas wie Vertrautheit, und daran konnte auch Gittas Mitteilung nichts ändern. Er blieb an der Tür stehen und rauchte, verwundert, wie fremd ihm das alles auf einmal war: das Speisezimmer und die Menschen am Tisch und ihr Denken und ihre Worte. Merkwürdig. Vor einer halben Stunde hatte er sich doch noch ganz wohl gefühlt in diesem Kreis. Er hörte auf das Gespräch zwischen Henning und Stöffenhaus. Er hörte Worte: „Abwarten... Europa...“ Und: „... Opfer für das Abendland gebracht...“ Er dachte nicht mehr: Die 235
haben Sorgen!, er war auf einmal sehr hellhörig. Den Ton Hennings, den kannte er doch, den hatte er doch noch genau im Ohr! Er fragte: „Sie waren Offizier?“ „Oberleutnant“, erwiderte Henning. Holt nickte. Nun ja, warum auch nicht. Henning war von Anfang an nett und freundlich zu ihm gewesen. Doch was redeten sie da? Daß Deutschland nicht untergehen könne, weil allein schon das Heldentum... das Heldentum des deutschen Soldaten... die deutsche Wiedergeburt... Wiedergeburt? Heldentum? Ja, aber das kannte Holt doch! Alles war wieder da: die Ausbildung, der Unterricht über die heldische Idee... Dann der Augenblick, da Wehnert ins Auto steigen und fliehen wollte und Wolzow ihn im Keller zusammenschlug... Das ganze furchtbare Ende war wieder gegenwärtig. Noch einmal standen die SS-Leute scharf konturiert auf dem Visier, und Holt sah, wie Wehnert am Brunnenrand hinstürzte und Wolzows Leichnam sich über ihm am Strick drehte... „Was ist denn mit dem Holt los? Was ziehn Sie denn für ein Gesicht“, fragte Stöffenhaus, „ist Ihnen nicht gut?“ „Ich... ich hab den letzten Satz nicht ganz verstanden“, entgegnete Holt. „Was sagten Sie, Herr Henning?“ „Ich sagte“, wiederholte Henning bereitwillig mit seiner männlichen, festen Stimme, „daß es schlimm genug ist, wenn die Alliierten unsereins mit wenig Fairneß behandeln. Leider gibt es darüber hinaus genug Deutsche, die in der dunkelsten Zeit des Vaterlandes nichts als eine Gelegenheit sehen, uns mit Dreck zu bewerfen. Ich kann es heute leider nur im internen Kreis sagen: eines Tages wird man die deutsche Soldatenehre nicht mehr ungestraft antasten dürfen. Wer es versucht, gehört an den Galgen.“ „Eigentlich neige ich gar nicht zu so radikalen Ansichten“, sagte Holt langsam. Und er fuhr fort, leise, doch sehr deutlich: „Aber da Sie davon angefangen haben, möchte ich zu bedenken geben, ob nicht besser Sie an den Galgen gehören, Herr Henning.“
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Es wurde still. Die Stille breitete sich wie Eiseskälte im Zimmer aus. Gitta Tredeborn trat durch die Tür, stellte die Kaffeekanne auf den Tisch und setzte sich. Dann sagte sie verwundert: „Was ist denn los?“ Denn Henning und Stöffenhaus starrten Holt an wie einen Geisteskranken. Holt bemerkte das alles nicht. Hennings Worte hatten die Erinnerung an die Bücher, an die Sprüche geweckt, die ihn zwischen Kindheit und Jugend in den Krieg geleitet hatten: wie Ekke den Tod grüßte und mit einem Jauchzen die Handgranate in das Maschinengewehrnest schleuderte... Wie aus der flammenden Empörung des Hehrsten im nordischen Blute der Große Krieg erwuchs... Wie das runengemarkte Schwert an den Schild dröhnte und zum heiligen Thing dieses unseligen Jahrtausends rief... Er richtete den Blick auf Hennings Gesicht, das schmal und bleich in dem gelben Licht schwamm, und noch einmal stand das Schicksal leibhaftig und fleischgeworden vor ihm, groß, mit kühnem Profil, ein Menschenwesen, sehr sterblich. Wenn sie wiederkommen, dachte er, mit ihrer verlogenen Poesie, ihren blumigen Sprüchen, mit ihrem nationalistischen Kitsch und den vergifteten Phrasen, wie immer sie lauten mögen, ob Preußens Gloria oder Heiliges Deutschland, ob Abendland oder Europa, wenn sie wiederkommen: schlagt sie tot! Und ich, dachte er, ich werde alle Grausamkeit, deren ich im Kriege fähig war, und alle Brutalität bewahren, heimlich, werde sie aufheben für den Tag, an dem sie wiederkommen, die eiskalten Schachspieler, die fähnchensteckenden Mörder wie Wolzow, die Unbelehrbaren wie Henning, die heulenden Derwische wie Wehnert, und dann her mit dem Mordinstinkt, den sie mir beigebracht haben, und in die Hände gespuckt, und: An die Laterne! Er drehte sich um und zog sich in der Diele den Pelz über. Dann verließ er die Wohnung. Auf der Straße, in der kalten Morgenluft, atmete er auf. Er sagte laut: „Daß ich so schnell wieder auf Wanderschaft gehe - das hätte ich nicht gedacht!“ In Altona nahm er den Vorortzug. Von Harburg lief er, an den Bruchwiesen entlang, nach Wiedenthal.
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Es
war Sonntag, sechs Uhr. Die beiden Frauen schliefen noch. Aber Brigitte war schon wach. Holt setzte sich zu ihr in die Küche. Er bat um ein Stück Brot, trank eiskaltes Leitungswasser dazu. Zerstreut verfolgte er, wie Brigitte sich mit dem Riesenaufwasch vom letzten Abendessen plagte. Die Knöchel ihrer Finger waren wund vom Wäschewaschen. „Ist meine alte Uniform noch da?“ fragte er. „Legen Sie mir den Kram doch bitte auf mein Zimmer.“ Sie sah ihn verwundert an. Er fuhr sich durch das widerborstige Haar. Er sagte: „Ich geh. Und diesmal komme ich nicht wieder.“ Dann schloß er die Augen. Er wußte nicht, wo er hingehen sollte. Da stand Frau Holt in der Küchentür, in einem Morgenrock von weißem Atlaskrepp, und trotz der frühen Stunde war sie sorgsam frisiert. Ein Hauch von Lavendel umgab sie. „Guten Morgen, Werner“, sagte sie freundlich. „Nun, wie war's? Erzähle! Aber komm doch ins Wohnzimmer.“ „Ich sitze hier sehr gut!“ sagte Holt. Aber als nun auch noch Tante Marianne den Kopf durch die Tür steckte, erhob er sich und folgte den beiden Frauen ins Wohnzimmer. „Erzähle bitte ausführlich“, sagte Frau Holt. „Hast du dich gut amüsiert?“ Holt verzog den Mund. Seine Mutter wurde nervös. „Was ist los?“ „Nichts. Was soll los sein?“ „Waren sie etwa nicht nett zu dir?“ Er lachte. „Gib dir keine Mühe, Mama. Du verstehst das ja doch nicht.“ Das Mumiengesicht seiner Tante versetzte ihn in Wut. „Ich war nicht nett zu ihnen!“ sagte er. „Daß ihr's wißt!“ Und da er in Tante Mariannes vertrockneten Zügen bei diesen Worten zum erstenmal etwas wie eine Regung sah, sagte er mit grimmiger Freude: „Erst hab ich's dem Wulf gesteckt, daß er ein Schwätzer ist und das ganze Volk dort Gesindel. Und dann hab ich dem Henning gesagt, daß er an den Galgen gehört!“ Mit Genugtuung, doch dann beklommen und unsicher, sah er, daß nun auch das beherrschte Gesicht seiner Mutter die Farbe verlor. 238
„Pfui dem Vogel, der sein eignes Nest beschmutzt“, sagte Tante Marianne spitz und nicht ganz passend, doch Frau Holt hatte eine jähe, ablehnende Handbewegung. „Werner!“ sagte sie. Nur mühsam verbarg sie ihre Schwäche hinter der unbewegten Miene. Holt spürte etwas wie Mitleid. Aber Tante Marianne ging durch die Diele, steif, mit kurzen Schritten, den Kopf hoch erhoben, und er hörte sie telefonieren. „Franz? Verzeih den frühen Anruf“, hörte er. „Bitte, würdest du herkommen! Nein, jetzt gleich. Ich weiß nicht. Ich fürchte, es hat einen Eklat gegeben... mit Werner...“ Holt schüttelte den Kopf. Tante Marianne trat wieder ins Wohnzimmer. „Franz muß das ausbügeln!“ Das Telefon schrillte. Frau Holt lief in die Diele. Sie kam zurück, wie erlöst: „Ingrid Tredeborn! Werner, für dich!“ Und zu ihrer Schwester: „Dann kann es nur halb so schlimm gewesen sein.“ Holt ging ans Telefon. „Werner?“ hörte er. „Was willst du“, fragte er, „warum rufst du an?“ „Also, du machst vielleicht Sachen!“ rief sie übermütig. „Henning und Fred sind ja reinweg verrückt geworden! Gitta hat sich ungeheuer amüsiert. Sie sagt, du bist unbezahlbar!“ Er ließ den Hörer sinken. Das war ja nun das letzte, daß er für Gitta das Enfant terrible spielte. Er hob den Hörer doch wieder ans Ohr. Sie sagte leiser: „Ich muß dich sprechen! Ja, heute noch!“ „Wegen Henning?“ „Nein, nicht doch! Was... wollte Gitta in der Küche von dir? Sag mir's nachher.“ Sie schlug ein Lokal in Wilhelmsburg vor, siebzehn Uhr. „Siebzehn Uhr...“, wiederholte er. „Gut. Ich komme.“ Er brauchte unbedingt noch ein paar Stunden Schlaf, ehe er aufbrach. Seine Mutter stand in der Tür zwischen Diele und Wohnzimmer. Natürlich hatte sie das Telefongespräch mit angehört. Verwundert fragte sie: „Ihr sagt du zueinander?“ Aber Holt ging an ihr vorbei und stieg die Treppe hoch. Brigitte hatte schon die alte Montur zurechtgelegt. Er verbarg sie im Schrank. Dann duschte er sich. Er stellte den Wecker auf fünfzehn Uhr und legte sich hin. Er war müde. Wiederholtes Klopfen weckte ihn, kaum daß er eingeschlafen war. 239
Kommerzienrat Rennbach war untadelig gekleidet, zog einen Stuhl ans Bett, setzte sich und sagte: „Guten Morgen, Werner! Was hat es denn nun eigentlich gegeben? Sprich unter Männern mal ein offenes Wort!“ Holt seufzte. „Ich habe Wulf und Henning ein bißchen die Wahrheit gesagt“, meinte er. Er stellte sich verschlafener, als er in Wirklichkeit war. „Das ist alles. Möchtest du mich nun bitte in Ruhe lassen?“ Der Kommerzienrat schaute bekümmert auf Holt. „Einen Moment. Wie kam es dazu? Ich meine, was ging voraus?“ „Der zweite Weltkrieg ging voraus“, sagte Holt lakonisch. Aber er merkte, daß der Kommerzienrat diese Antwort überhaupt nicht verstand. Franz Rennbach überlegte, er überlegte lange. Dann sagte er: „Wie Thea andeutete, bist du mit Ingrid Tredeborn per du?“ Holt lächelte: „Ja, allerdings. Wenn du Einzelheiten wissen willst, so frag sie! Oder noch besser: frag ihre Schwester!“ Der Kommerzienrat dachte abermals nach, diesmal noch länger als vorher. Dann sagte er: „Bitte erkläre mir, warum du derart aufgebracht bist?“ Holt sprang aus dem Bett und fuhr in den Bademantel. „Wie soll ich dir was erklären, was du nicht verstehen kannst!“ sagte er. „Es paßt nicht in dein Weltbild, daß es wie ein Riß, ein Abgrund durch die Menschheit geht. Der Nachkrieg hat mich in eine andere, fremde Welt hineingeworfen, in der ich mich nicht zurechtfand, aber reden wir nicht davon. Ich bin zu euch gekommen, weil ich glaubte, ich gehöre zu euch, doch dann mußte ich sehen: ich bin euch so sehr entfremdet, daß ich das Kotzen bekomme, wenn ich euch nur reden höre, dich, Henning oder Tante Marianne. Da hab ich mich heimlich ins Gebirge durchgeschlagen, ich hoffte, es gibt eine Möglichkeit, allein und ohne die Menschen zu leben, aber es war ein Irrtum, da müßte ich mein Leben in einer Illusion vertun. Jetzt frag ich mich: Was soll aus mir werden? Und ich weiß es seit heute nacht. Ich kann nicht für meine Herkunft. Aber ich kann mit ihr brechen! Ich bin so fremd zwischen euch, daß ich nichts mehr für euch
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empfinde. So bleibt mir nur ein Weg: Vaters Weg. Die Menschen dort sind mir nicht weniger fremd, aber...“ Er schwieg unvermittelt und ging zum Fenster. Er legte die Stirn gegen die Scheiben, an denen sich sein Atem niederschlug. „Fehler über Fehler hab ich begangen, das ist mir nun klar“, sagte er leise. „Ich habe geglaubt, weil ich einsam war und heimatlos in einer fremden Welt, ich könnte hier bei euch wieder heimisch werden, statt den Weg zu suchen und keine Mühe zu scheuen, zu den anderen hinzufinden und ihre Sprache zu lernen, damit ich vielleicht eine neue Heimat bei ihnen finde und aufhöre, ein zerrissenes Etwas zu sein, einsam und deklassiert. So bin ich den Irrweg meines Lebens gegangen bis hierher.“ Er zog frierend die Schultern zusammen. Dann riß er sich vom Fenster los, vom Anblick des trüben Himmels. „Hier hab ich erkannt“, fuhr er fort, „daß es einen ,Weg zurück' a la Remarque für mich nicht gibt, nicht geben kann. Da müßte ich noch mit Blindheit geschlagen sein und auf eurem Boden stehn, aber ihr selbst habt ihn mir unter den Füßen fortgezogen, als ihr mir den Vater und das Zuhause genommen und mich als halbes Kind in den Krieg gestoßen habt. Jawohl, ihr, denn daß ich mich hinauswünschte, das war eure Schuld! Ich kenne Menschen, die sind zum Kampf gegen Hitlers Krieg erzogen worden! Aber euch war auch der Faschismus recht, und von eurem Dünkel, von dem sozialen Hoch und Niedrig bis zu Herrenrasse und Untermensch ist es nur ein halber Schritt! Ich habe nichts zu schaffen mit euch, ich gehöre nicht zu dieser weitversippten Familie Rennbach. Ich heiße Holt. Mein Vater ist weder Kaufmann noch Fabrikant. Mein Vater ist Arzt und Hochschullehrer. Ich geh zu ihm zurück, für immer. Ich geh zu den anderen. Dort gibt es Menschen, um die es lohnt. Ich habe sie nicht verstanden, aber ich hab nicht versucht, sie zu verstehn. Diesmal gebe ich mir Mühe.“ Der Kommerzienrat sagte ernst, aber nicht unfreundlich: „Ich muß dich vor einem so folgenschweren Schritt, wie du ihn vorhast, nachdrücklich warnen. Und ich bestreite aufs entschiedenste, daß dir die kurze Zeit hier in Hamburg die Grundlage gibt, ein so vernichtendes und endgültiges Urteil zu
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fällen, über deine Herkunft, dein eigen Fleisch und Blut und worüber du immer wollest.“ „Mag sein“, entgegnete Holt, „daß ich bei den anderen nicht heimischer werde, als ich’s hier bei euch geworden bin. Vielleicht bleibt einer wie ich für immer heimatlos. Aber wenn ich in Zukunft schon heimatlos sein muß, dann will ich's nicht bei euch im Salon sein, sondern bei Brigitte in der Küche.“ Der Kommerzienrat blickte auf. „Hat dich... Und bitte: äußere dich freimütig! Hat dich dieses Mädchen so stark beeindruckt? Wir dachten eher, daß Ingrid Tredeborn...“ Da begann Holt zu lachen. Er nickte dem Kommerzienrat lachend zu. „Siehst du, wir reden aneinander vorbei! Ich wollte dir sagen, daß der Riß auch durch dieses Haus geht, wollte dir andeuten, auf welche Seite, zu welchen Menschen ich mich schlagen werde. Du verstehst nicht einmal das.“ „Doch, ich verstehe dich jetzt genau“, sagte der Kommerzienrat. „Du findest bei mir überhaupt weit mehr Verständnis, als du glaubst. Möchtest du rauchen? Bitte.“ Er gab Holt Feuer und sog dann selbst das Flämmchen des Feuerzeuges in die Zigarette hinein. „Du kommst aus dem Krieg“, fuhr er fort, „in dir, nach allem, was du erlebtest, ist Auflehnung, Rebellion. Diese Rebellion ehrt dich. Sie weist dich aus als einen Menschen von Charakter, weit über deine Jahre hinaus. Werner, ich bin stolz, einen solchen Neffen zu haben! Immer sind es Charaktere wie du gewesen, Feuerköpfe, wache Geister, die in den Konservatismus der älteren Generation jene Bresche schlugen, durch die der Fortschritt seinen Einzug hielt. Deine Rebellion gilt ja nichts anderem als diesem Konservatismus. Aber...“ Er erhob sich. Er sprach langsam und eindringlich. „... die Schwierigkeit des Lebens, zugleich die Lebenskunst und Reife eines Menschen, besteht darin, das rechte Maß zu finden. Du wirst lernen müssen zu erkennen, wo der Fortschritt aufhört und die Unterminierung der Gesellschaft beginnt, in der wir leben.“ „Deine Komplimente sind mir gleichgültig“, sagte Holt. „Du hast Pech: ich habe hier ausgerechnet Remarque gelesen und viel daraus gelernt. Dort ist deine Rebellion wunschgemäß und innerhalb der von dir gestatteten Grenzen vollzogen. Ich lehne 242
es jedoch ab, dich um die Grenzen meiner Rebellion zu befragen! Ich denke nicht daran, hier den interessanten jungen Mann zu markieren, der dem, was du Fortschritt nennst, eine gesellschaftlich genehmigte Bresche schlägt. Es gibt keinen Weg mehr von mir zu dir!“ Er sah dem Kommerzienrat in die Augen. „Ich geh. Kein Mensch kann mich halten.“ Der Kommerzienrat wandte sich zur Tür. Er hatte ein paar tiefe Falten auf der Stirn. „Schlaf dich aus“, sagte er, ein wenig kurzatmig, als bedeuteten Ruhe und Freundlichkeit für ihn eine körperliche Anstrengung. „Ich werde alles, was du gesagt hast, in Ruhe und unvoreingenommen durchdenken. Ich will nichts unversucht lassen, einen Weg zu finden, der für dich akzeptabel ist. Wir werden noch miteinander reden.“ Dann schloß sich die Tür hinter ihm. Holt stand unbeweglich im Zimmer. Ja, er ging zu Vater, mochte es ein Gang nach Canossa sein! Und er dachte an Gundel, kühl, besonnen, ohne Illusionen. Er legte sich zu Bett. Das Gefühl der Befreiung, der Zuversicht war so stark in ihm, daß er bald einschlief, wie erlöst. Der Wecker schreckte Holt aus tiefem, erholsamem Schlaf. Während er sich zur Reise rüstete, während er alle Sinne nach vorn, ins Ungewisse richtete, drängte sich der Gedanke an seine Mutter in alle Überlegungen. Warum war er seiner Mutter denn niemals in kindlicher Liebe verbunden gewesen? Trug er vielleicht selber Schuld daran? Was er von Kommerzienrat Rennbach erhalten hatte, Schuhe, Hemden, Wäsche, das ließ er zurück, hängte die Anzüge in den Schrank, zog wieder den alten Pullover an, die benagelten Schnürstiefel, die umgefärbte Montur. Dann rollte er die Zeltbahn zusammen und fuhr in den Lammpelz. Er traf Brigitte in der Küche. Die beiden Frauen waren am Vormittag mit dem Kommerzienrat weggefahren, aber als sich Holt von Brigitte verabschieden wollte, wurde die Haustür geöffnet, und sie traten in den Vorraum. Tante Marianne war unfähig, in Brigittes Gegenwart auch nur ein Wort zu sprechen; sie zeigte mit einem sinnlosen Lächeln die Zähne und stieg dann steif und eckig die Stufen zum Obergeschoß hinauf. In der 243
Diele aber stand Holt seiner Mutter gegenüber. Und in dieser Stunde, da er sich anschickte, für immer von ihr zu gehen, fühlte er, trotz jahrelanger Entfremdung, mit einem Male das ganze Gewicht dieses Wortes, das er ungewollt aussprach: „Mutter.“ Frau Holt, in einem Mantel von silbergrauem Breitschwanz, blickte ihn bei diesem Wort groß und ernsthaft an; dann wendete sie sich unvermittelt ab und bückte sich, um die beiden Pudel zu begrüßen, die ihr durch die Diele entgegensprangen. Beklommen schaute Holt zu, wie sie vor den Spiegel trat, den Hut abnahm und ihr Haar ordnete. „Ich möchte mit dir reden“, sagte sie und ging schon ins Wohnzimmer. Dort schaltete sie die Stehlampe ein, klingelte dem Mädchen und ließ sich den Mantel abnehmen. „Den Tee!“ befahl sie. Dann nickte sie ihrem Sohn freundlich zu. „Bitte, lege ab, nimm Platz.“ Er zog gehorsam den Lammpelz aus und warf ihn über einen Sessel. Dann stand er stumm im Halbschatten der Stehlampe. Er kam sich schwach und wehrlos vor. Vergebens stemmte er sich gegen das verachtete Gefühl. Brigitte deckte den Tisch und schob den Teewagen ins Zimmer. Frau Holt, auf dem Diwan, entließ sie mit der üblichen Kopfbewegung und bereitete erst ihrem Sohn, dann sich selbst, ein heißes, mit Rum gemischtes Getränk. Holt blieb trotz einer neuerlichen Aufforderung stehen. „Du kannst beruhigt sein“, begann Frau Holt in unbeschwertem, sorgfältig abgewogenem Plauderton, während die Pudel zu ihr auf den Diwan sprangen. „Franz' gesellschaftliche Position ist stark genug, irgendwelche Mißstimmigkeiten ohne weiteres aus der Welt zu bringen. Auch hast du allenthalben hier so viel Erfolg gehabt, daß man dir goldene Brücken bauen wird. Wir werden also aufhören“, fuhr sie fort, indem sie leicht die linke Hand hob, „den kleinen Zwischenfall zu dramatisieren und aufzubauschen. Die Angelegenheit gilt dank Franz' Bemühungen bereits als...“ - nun vollführte der angewinkelte Unterarm eine genau abgemessene Geste, die über einem der Pudel endete, wo sich die Hand in das Fell vergrub - „... erledigt.“ Wieder nickte sie Holt zu. „Was uns beide betrifft“, fuhr sie fort, „so hast du es nicht nötig, mit 244
der Drohung deiner Abreise eine individuelle Lebensführung zu ertrotzen. Meinst du, ich werde meinem einzigen Kinde verwehren, sich das Leben nach Wunsch einzurichten? Im Gegenteil. Du darfst meine Großherzigkeit nicht unterschätzen. Höre meine Vorschläge an. Aber setze dich endlich und nimm deinen Tee, ehe er kalt geworden ist.“ Holt gehorchte. Er setzte sich. Er war verwirrt. Begriff sie denn überhaupt nicht, worum es ging? Aber wie sie das sagte: „... meinem einzigen Kinde...“, da weckte es in Holt wieder längst vergessene Wünsche, und hatte er Liebe nicht stets entbehrt? Während in ihm die Gefühle stritten, sah er doch scharf und unverfälscht das Bild der Frau Dorothea Holt, wie sie in ihrer perfekten Schönheit zwischen ihren Pudeln auf dem Diwan saß, kerzengerade aufgerichtet und millimetergenau eingepaßt ins Ebenmaß des Gesichtes ein Lächeln, das fast fehlerfrei, nur eben eine Spur zu freundlich war. Doch vielleicht trug sie eine Maske vor ihrem unverstandenen Wesen, vielleicht war sie einsam und hatte ihr Lebtag vor einer feindlichen Umwelt jede Regung hinter Haltung und Kälte verbergen müssen. Vielleicht erhoffte sie von ihrem einzigen Kind einen Schritt des Entgegenkommens, eine ausgestreckte Hand, und schon erfüllte sich ein Traum, ein Ideal: Geborgenheit, Heimat, Harmonie zwischen Mutter und Sohn. Holt trank in kleinen Schlucken den heißen Tee. Ein Riß ging durch die Welt. Durfte er zwei Menschen trennen, die einmal inniger als irgend zwei andere eins gewesen waren: Mutter und Sohn? Er entsann sich all der Worte über das Mütterliche, die er gelesen hatte, bei Wiechert vielleicht: daß keine Ewigkeit ohne die Mutter sei, aber das erinnerte fatal an ein gewisses „Evangelium der Frauen“, und überhaupt an diesen ganzen ergreifenden, unbegreifbaren faulen Zauber. Er setzte die Tasse ab. Er schob endlich die Gedanken beiseite. Er saß seiner Mutter gegenüber, er hatte ihr die Hand zu reichen, und so sagte er mit einer Wärme, die nicht erkünstelt war: „Glaub mir doch: es richtet sich nicht gegen dich, wenn ich fort will. Bestimmt nicht! Du bist doch meine Mutter.“
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„Siehst du!“ sagte Frau Holt zufrieden und überaus liebenswürdig. „Ich wußte, daß wir beide nur eine ruhige Stunde brauchen.“ Sie kraulte noch immer den Pudel am Halse. „Franz hat mir nach seinem Gespräch mit dir einige Hinweise gegeben. Im Grunde interessiere ich mich nicht dafür, was du mit Franz besprochen hast. Weltanschauliche Probleme sind Männersache. Ich habe praktische Fragen zu lösen. Franz hat mir jegliche Unterstützung zugesagt. Der Übergang von dem rohen und formlosen Soldatenleben in geordnete Verhältnisse fällt dir schwer; also werde ich ihn dir erleichtern. Es ist Unsinn, dich gleich auf die Schulbank zu zwingen. Ein ungebundenes Jahr wird dir guttun. Du fühlst dich der Gesellschaft entfremdet? Also magst du sie vorerst meiden. Marianne liegt dir offenbar nicht, also werden wir dir dieses Zusammenleben nicht länger zumuten. Du brauchst vor allem Bewegungsfreiheit. Franz wird Carl um einen Satz Reifen bitten, dann steht dir der kleine FordEifel zur Verfügung, denn die Abhängigkeit von den Wagen unserer Bekannten mußte dich mit Recht erbittern.“ Er verstand nicht, wovon sie sprach, er mußte ihre Worte wie eine Fremdsprache in seine Gedanken übersetzen, und er war fassungslos. Frau Holt aber beobachtete unverwandt ihren Sohn. „Damit du also mit uns zusammenleben oder auch uns meiden kannst“, fuhr sie fort, „ganz nach deinen Wünschen, stellt Franz dir sein Weekendhäuschen am Dorster Dieksand zur Verfügung. Du kannst es sofort beziehen, für dauernd oder gelegentlich, wie du magst. Franz läßt dir Feuerung hinausbringen.“ Frau Holts Ton veränderte sich unmerklich, ihre Worte waren genau gezielt: „Alle unsere Bekannten verleben am Dieksand ihr Wochenende. Da der Krieg vorbei ist, wird dort wieder Leben und Abwechslung sein. Viele ziehen schon zur Vorsaison hinaus und bleiben den ganzen Sommer bis zu den Herbststürmen draußen, so auch Frau Tredeborn mit ihren Töchtern.“ Holt lächelte. „Andererseits“, meinte Frau Holt sogleich, „wenn du die Gesellschaft zu meiden wünschest, so kannst du dort besser als anderswo zurückgezogen leben, denn das Häuschen liegt 246
weitab. Du kannst schon im Frühjahr fischen und segeln. Und da Mariannes Konservatismus unseren moderneren Anschauungen nicht gewachsen ist, würden wir uns auch für längere Zeit mit Franzens Haushälterin behelfen, so daß Brigitte dir auf dem Dieksand die Wirtschaft führen kann.“ Holt lächelte nicht mehr. Sein Blick brachte Frau Holt zum Verstummen. Er stand auf, zog den Pelz an, hängte die Zeltbahn über die Schulter. Auch dieser Traum war ausgeträumt. Ein Riß ging durch die Welt, und keine Mutterbindung kleisterte ihn zu. Wer sich vor dieser Mutter neigte, verbeugte sich auch vor ihrer Gesinnung. Achtung, Ehrfurcht, Kindesliebe: Holt dachte an seinen Vater. Er sah jetzt, was in dieser Zeit allein der Achtung wert war: der Wille zur Veränderung, das Streben, mit der Vergangenheit sich selbst und alle Irrtümer und Vorurteile zu überwinden. Wenn geschrieben stand, du sollst Vater und Mutter ehren, so erhob sich darüber ungeschrieben die Forderung an die Väter und Mütter, sich die Ehrfurcht der Kinder durch ein Achtung gebietendes Leben zu verdienen. Endlich begann Frau Holt zu verstehen. Für Augenblicke verlor ihr Gesicht alle Beherrschtheit und wurde welk und alt und müde. Sie redete, tonlos, halblaut, ein paar Worte vor sich hin: „Er ist... wie sein Vater...“ Aber dann war die Schwäche überwunden. Schmerzliche Ergriffenheit mischte sich in ihr Lächeln. „Muß ich dich an deine Gehorsamspflicht erinnern, wenn du schon nicht weißt, was Sohnesliebe ist?“ Er schwieg. Sie sollte besser nicht von Sohnesliebe sprechen, es könnte ihn auf den Gedanken bringen, nach ihrer Mutterliebe zu fragen. „Das also ist deine Dankbarkeit“, fuhr sie fort, noch schmerzlicher lächelnd, „für alle Weitherzigkeit und Mutterliebe...“ Er schwieg. „Kummer...“, sagte Frau Holt, „Sorge... ist das alles vergessen?“ Er schwieg. Er durchschaute sie. Er hatte dieser Frau nur einen Kummer bereitet, und den, noch ehe er geboren war: die Sorge um ihre Figur. Sie wußte nichts von Mutterliebe. Sie 247
wußte nichts von Liebe. Sie hatte Vater nur geheiratet, weil sie sich von einem Universitätsprofessor mehr Effekt in der Gesellschaft versprach als von einem Fabrikanten. Sie wünschte auch den Sohn nur zu halten, weil ihr gesellschaftlicher Ehrgeiz ein neues Werkzeug suchte. Er sagte: „Laß dir's gut gehn.“ Dann verließ er das Zimmer. In der Diele warteten Franz und Carl Rennbach. Der Kommerzienrat, leise und lebhaft redend, gestikulierend, stand neben dem Reeder, der in einem Sessel lag, die Beine von sich gestreckt, den kurzen Pelz mit dem Otternkragen geöffnet. Sie mochten auf den Ausgang des Gesprächs zwischen Mutter und Sohn gewartet haben, denn als Holt in die Diele trat, nickte ihm der Kommerzienrat freundlich zu und verschwand sogleich im Zimmer. Carl Rennbach stemmte sich mühsam im Sessel hoch, wobei er ächzte: „Verdammtes Reißen!“, erhob sich und gab Holt die Hand. „Machst uns Scherereien, Neffe“, sagte er, sichtlich unzufrieden. „Was ist los, was soll das schon wieder bedeuten?“ Der Onkel war ein Fuchs und war zugleich ein alter, weißhaariger Mann. „Zu dir kann ich ja offen reden“, sagte Holt. „Die andern hier, die machen sich was vor. Aber erst muß ich mich noch entschuldigen, daß ich damals einfach in den Schwarzwald weitergereist bin.“ Carl Rennbach knurrte etwas Unverständliches. Holt fuhr fort: „Von Scherereien solltest du aber nicht sprechen. Ich will zurück zu meinem Vater, das ist alles.“ „Und warum, Neffe?“ fragte Carl Rennbach. „Erinnerst du dich noch an unser Gespräch in Ludwigshafen?“ fragte Holt. Der Reeder nickte. „Du meintest damals, der Zufall habe es gewollt, daß wir ums Kellerloch herumgekommen sind... war das dein Ernst?“ „Aber bes-timmt doch!“ bestätigte Carl Rennbach. „Ich will den Zufall korrigieren“, sagte Holt. „Und warum, Neffe?“ fragte Carl Rennbach.
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„Es ist mir peinlich, daß ich das gar nicht so klipp und klar sagen kann“, entgegnete Holt. „Ich gehe, ganz einfach, weil ihr mir alle entsetzlich zuwider seid.“ „Nur weiter, Neffe“, sagte Carl Rennbach. „Nichts weiter“, sagte Holt, und er gab den schielenden Blick seines Onkels kalt und feindlich zurück. „Vers-tehe!“ sagte Carl Rennbach langsam. Dann hob er mit bedauernder Gebärde beide Hände, ließ sie wieder fallen und meinte: „Wenn es so ist, dann mußt du selbstverständlich gehen, das leuchtet mir ein... bes-timmt!“ Und er nickte, daß ihm das Haar hinter die Ohren rutschte, und wandte sich ab und ging langsam durch die Diele ins Zimmer. Holt sah ihm eine Sekunde lang nach. Carl Rennbach hatte ihn verstanden, Carl Rennbach kannte die Sprache, die Holt gesprochen hatte: die Sprache des Hasses. Ja, des Hasses, und Holt war froh, sie gefunden zu haben. Er schwur sich tief atmend, den Haß in sich aufzubewahren, denn solange sich tote Matrosen in Geld ummünzten, solange war die Ära der allgemeinen Menschenliebe noch fern. Er hatte sich entschieden, und seine Entscheidung, das war ihm klar, war endgültig. Oftmals in der Vergangenheit hatte er sagen müssen: Alles war falsch. Jetzt wußte er, daß es keine Umkehr für ihn gab, daß er auf den Kehricht gehörte, wenn er seine Entscheidung jemals widerrief. Er fuhr mit der Stadtbahn nach Wilhelmsburg und suchte dort das Lokal, das Ingrid Tredeborn genannt hatte. Es war ein Cafe, um diese Zeit stark besetzt. An der Drehtür schaute er die Reihen der kleinen Marmortische auf und ab. Er wußte nicht, ob er diese Verabredung nur aus Höflichkeit einhielt oder ob er sich auf Ingrid freute. Als er sie dann aber sitzen sah, nahm er ihren Anblick mit Behagen in sich auf. Sie trug einen weißen Pullover, und das kupferbraune Haar fiel ihr wie in der vergangenen Nacht offen auf die Schultern. Immer wieder wendete sie den Kopf und reckte suchend den langen Hals. Sie wartete auf Holt. Eigentlich war auch sie ein Außenseiter in dieser Welt.
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Endlich hatte sie ihn entdeckt. Sie war aufgeregt. Als sie unter dem Pelz den schäbigen Waffenrock erkannte, wich langsam das Blut aus ihrem Gesicht. Sie hielt seine Hand fest. „Du willst wirklich fort?“ „Es gibt Grog. Magst du?“ Sie nickte. Er sprach mit der Serviererin. „Ja“, sagte er dann. „Ich will fort. Aber woher weißt du das?“ Sie erzählte. Während Holt schlief, hatte der Kommerzienrat mit den beiden Frauen wie zufällig die Familie Tredeborn aufgesucht. Die beiden Mädchen hatten natürlich sofort begriffen. Bei solchen Gelegenheiten hielten sie wie die Kletten zusammen. Der kleine Streit mit oll Henning, dem Stockfisch, worauf bald die Rede gekommen war, hatte wirklich nichts zu bedeuten; das hatten die beiden Mädchen dem Kommerzienrat nachdrücklich versichert. Ingrid hatte es ihm leicht gemacht, sie unauffällig beiseite zu nehmen. Er hatte taktvoll sein Wissen um das intime Du durchblicken lassen und das gnädige Fräulein ganz im Vertrauen gebeten, allen Einfluß geltend zu machen, daß Holt, ein Feuerkopf im Sturm-und-Drang-Alter, sich gewisse Pläne von Abreise und dergleichen aus dem Kopf schlug. Mit naiver Offenheit gab Ingrid Tredeborn zum besten, was eigentlich nicht für Holts Ohren bestimmt war. Diese Naivität überzeugte Holt: im Grunde war Ingrid ein netter Kerl! Sie sagte: „Du willst in die Russenzone, dein Onkel meint, das wäre dein Untergang.“ Der Serviererin brachte den Grog. Holt schob gedankenlos einen Schein über den Tisch. „Und was wolltest du von mir?“ fragte er. „Oooch...“, machte sie, „bloß mal so mit dir reden...“ Sie hatte die Hände um das heiße Grogglas gelegt. Sie errötete, und auch das nahm ihn für sie ein. „Weißt du“, begann sie, „ich wollte bloß mal hören: was wollte denn Gitta von dir?“ Da er schwieg, fuhr sie fort, ohne aufzusehen: „Sie war wieder mal so böse. Aber die ist bloß neidisch, weil mich alle Leute vorziehen. Ich dachte... Ich weiß ja nicht, was sie zu dir gesagt hat... Falls sie mal mit Anspielungen kommt oder so... daß du nicht
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denkst... Ich meine, wenn sie so dumme Bemerkungen macht...“ Sie blickte verstohlen auf und verstummte. Denn Holt lächelte. „Neidisch...“, wiederholte er, „ja, das stimmt...“ Er lachte. Aber als er Ingrids Gesicht sah, wurde er wieder ernst. „Da paß nur auf, daß Gitta die Geschichte nicht überall herumerzählt! Für manchen wäre das ein gefundenes Fressen. Bei mir ist sie allerdings an die falsche Adresse geraten. Ich mach mir nichts draus. Ich weiß doch, wie das damals in den KLV-Lagern und bei den Arbeitsmaiden zugegangen ist.“ Ungläubig, ja fassungslos sah sie ihn an. „Wie... meinst du das?“ „Schwamm drüber“, sagte er. „Es war eben eine wahnsinnige Zeit. Wir waren ja alle unzurechnungsfähig. Ich kann mir schon vorstellen, wie die Lumpen dir eingeredet haben, die Neger werden dich fressen oder die Mongolen, nicht wahr? Also Schwamm drüber, endgültig.“ Sie wurde nur schwer ihrer Verwirrung Herr. „Und nun sollst du mich festhalten?“ fragte er. „Ja“, antwortete sie, und endlich fiel die Befangenheit von ihr ab. „Und ich kann auch gar nicht glauben, daß du fort willst!“ „Doch, glaub's nur!“ entgegnete er. Aber er sagte es ohne viel Nachdruck. Ingrid Tredeborn gefiel ihm. Sie hing an ihm, sie hatte ängstliche Augen: vielleicht liebte sie ihn. „Es hat mit dir nichts zu tun, Ingrid. Ich geh, ich hab keine andere Wahl.“ „Aber du darfst nicht fort!“ rief sie. „Sonst denkt doch Gitta, du bist gegangen, weil sie dir das erzählt hat!“ Es verstrich eine Sekunde, ehe er zu lachen begann. Es war ein befreiendes Lachen. „Da kann ich dir nicht helfen, wenn Gitta das denkt“, sagte er und zog sich den Pelz über. „Also, laß dir's gutgehn.“ Das Gelächter bebte in ihm fort. Und er fand, als er zur Bahn ging, daß es gut war, lachend Abschied zu nehmen.
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DRITTES BUCH 1
Holt saß in der überfüllten Bahnhofswirtschaft bei einem Glas Heißgetränk. Es war Mittag. Er hatte Zeit. Eine Stunde zu Fuß oder zehn Minuten mit der Straßenbahn, dann war er in Mönkeberg, im Werk, bei Vater, bei Gundel. Die Rückkehr war reiflich durchdacht. Und kehrte er nicht als ein anderer wieder, als der er hier bei Nacht und Nebel geflüchtet war? Er dachte gefaßt und ruhig an seinen Vater. Doch wenn er an Gundel dachte... Er zahlte und ging dann durchs Zentrum der Stadt. Wenn er an Gundel dachte, dann verließ ihn alle Ruhe, alle Besonnenheit. Denn ihm war, als stehe die Vergangenheit nach dem Zwischenspiel in Hamburg, in der Einöde, erst recht unübersteigbar zwischen Gundel und ihm. In den ersten Märztagen war auch hier neuer Schnee gefallen. Eisige Luft wehte durch die Straßen. Wie sollte Holt vor Gundel hintreten? Er las zerstreut ein Plakat, das an einem Portal hing: „Ausstellung. Malerei und Plastik von 1900 bis 1933...“ Er stieg ein paar Stufen hoch; er wollte die Heimkehr wohl doch noch eine Stunde hinauszögern, denn in plötzlichem Entschluß löste er eine Karte und folgte dem Wegweiser in die Ausstellungsräume. Dort stand er unvermittelt vor der lebensgroßen Bronzestatue eines knienden Mädchens, die vor hellgetünchtem Hintergrund frei in den Raum gestellt war. Der Eindruck war stark und unmittelbar. Holt schaute gedankenverloren, und wie er schaute, drang eine Stimme an sein Ohr, eine ausdrucksvolle, beruhigende Stimme. Ein Herr mittleren Alters, mit gewelltem Haar und auffallend blassem Gesicht, begann eine Führung, von Besuchern umringt. „Die Kniende hier, meine Damen und Herren“, so hörte Holt, „stößt Sie mitten hinein in den Grundkonflikt, der das Schaffen fast aller hier ausgestellten Meister determiniert. Man 252
vergegenwärtige sich die Kunstentwicklung bis hierher, vergegenwärtige sich also sensualistischen, Stimmungs- und sentimentalen Naturalismus, Neo-Renaissance, Impressionismus, Pleinairismus und Neo-Impressionismus: diffizilste Wege, Um- und Irrwege zur neuen Sachlichkeit...“ Holt war bestürzt. Er begriff kein Wort! Aber er hörte doch zu, bedrückt von seiner Unwissenheit und besänftigt durch die wohltönende Stimme. Und als der blasse Herr nun mit verhaltenem Enthusiasmus ausrief: „Kolbe und Maillol!“, da erstarrten die Besucher ringsum, und auch Holt regte sich nicht; und aller Augen hingen an den Lippen des blassen Herrn. „Wer überschaut nicht die lange Ahnenreihe, gipfelnd in der michelangelesk aufragenden Gestalt Rodins? Wer gedenkt nicht des ewigen Urstreits ausbrechender Kräfte physischer Leiblichkeit mit der Aufgabe, Kunst zu sein? Nun wohl!“ rief der blasse Herr, indem er beide Hände hob. „Alles dies, die Entdeckung des Plastischen um des Plastischen willen, der Verrat des Humanitären an die reine Form, welche Verkeilung, Inein- und Durcheinanderwuchern, zugleich Umriß-, Gestaltenund Bewegungsspiel ist, Bewegung begriffen freilich als urtümliches Prinzip formgestaltender Spannung... und dies nun gebettet in Sanftheit, zarteste Kontur, in Hingabe und Demut, gebettet also in Seele: das ist Kolbe!“ Ein erlöstes Aufatmen ging durch die Besucher, und alle Blicke folgten dem ausgestreckten Arm des blassen Herrn, der mit großer Geste auf die Kniende wies. Holt öffnete den Pelz. Er sah ernüchtert auf die bronzene Mädchengestalt. Doch die Worte des blassen Herrn berieselten ihn und spannen ihn schon von neuem ein. „Lassen Sie uns nicht den schmerzhaften Vergleich mit Lehmbruck scheuen, mit jenem Künstler, der, Maillols Einfluß entgleitend, fortschreitend und reifend seine Figuren nicht ohne unsägliche Qual vor die große Zumutung gestellt und so geheimnisvoll überhöht und über alles Selbstische hinaus ins Absolute gesteigert hat...“ Holt schaute sich um, unsicher und zugleich rebellisch: Männer, Frauen, Mädchen blickten hingerissen und verständnislos, alle aber wie hypnotisiert in das nun leidenschaftlich erregte Gesicht des Redners. Doch dann sah Holt, abseits in einer Ecke, einen 253
etwa dreißigjährigen Mann, der beide Hände in die Hüften gestützt hielt, dem Wortschwall des Führenden zuhörte und sich dabei mühsam das Lachen verbiß. Holt atmete auf. Er sonderte sich ab und näherte sich dem einsamen Besucher, indem er ihn prüfend und interessiert betrachtete. Der Fremde, einen schwarzen Mantel unter dem Arm, war so groß wie Holt und trug ein flauschiges Tweedjackett von grauer Farbe, zerbeulte Hosen aus braunem Manchester und um den Hals einen gelben Wollschal. Er hatte ein rundes, gerötetes Gesicht mit nur spärlichem Bartwuchs; über der auffallend hohen Stirn stand das kurzgeschnittene blonde Haar borstig vom Kopf ab, und auf der Nase, die mit Sommersprossen übersät war, saß eine helle Hornbrille mit starken eingeschliffenen Gläsern. Auf den ersten Blick war sein Gesicht fad und unscheinbar, aber bei näherem Zusehen faszinierte es Holt durch einen merkwürdigen Ausdruck von Respektlosigkeit und Vergeistigung. Die Mimik dieses Gesichtes wechselte rasch: mal spielte ein Lächeln um den dünnlippigen Mund, mal ein Zug von Skepsis, von Härte, von Humor. War das Gesicht ernst und unbewegt, dann erschien es aus der Nähe trüb und undurchsichtig; das machten die überstarken Brillengläser, durch die man die wasserblauen Augen wie durch eine Lupe vergrößert sah. Holt sprach den Fremden kurzerhand an, und dessen Mund zog sich zu einem vergnügten Grinsen in die Breite. Holt flüsterte, während er mit einer Kopfbewegung auf den blassen Herrn deutete: „Tut mir leid. Versteh ich nicht.“ „Macht nichts. Versteh ich kaum“, flüsterte der Fremde zurück. Die Gruppe der Besucher zog nebst Führer in den angrenzenden Saal ab. „Bedingte Reflexe, sozusagen“, meinte der Fremde. „Wenn der Herr eine Plastik sieht, dann läuft der ganze Wortschatz automatisch ab.“ „Ich war beeindruckt“, gestand Holt, „hielt mich für dumm.“ „Der Jargon will ja auch gekonnt sein“, erwiderte der Fremde. Es zuckte belustigt um seinen Mund. Holt schaute ihn sekundenlang mißtrauisch an. Hatte ihn nicht schon manch einer durch sicheres Auftreten geblufft? Aber der Fremde stieß 254
ihn übermütig mit dem Ellenbogen in die Seite und sagte: „Sie glauben mir nicht? Los, kommen Sie, ich mach Ihnen das mal vor!“ Sie gingen durch eine Flucht von Sälen in einen entlegenen, menschenleeren Raum. An den Wänden hingen Bilder, undefinierbare Gemälde von chaotischer Farbenpracht, und aus dem Bunt hoben sich hier und da andeutungsweise geometrische Figuren hervor. „Na bitte!“ sagte der Fremde. „Feininger, Molzahn, Kandinsky, da sind sie ja alle beisammen!“ Er rückte seine Brille zurecht und begann ernsthaft: „Wenn wir es nebenan, bei den Übergangsmeistern, noch mit Realismus zu tun hatten, so ist dies hier, meine Damen und Herren, jenseits des großen Vollzugs, jenseits der großen Überwindung, und überwunden ist nun die Fraglosigkeit der Welt. Elementare Nahrhaftigkeit wie auch der Mensch wurde fragwürdig; nur eins will Kunst noch sein, das ist Farbe, Linie, im Künstler inseitig also Aufund Verlodern und -ludern, das Verzagte in seiner dennochigen Kraft. Hinweg die Ordnung, heißt es. Nicht Kalk-ül, sondern Gef-ühl. Es aufregt nun allein noch das tiefgründig Erregende der Deformation. Aber selbst in futuristischer Zerpulverung des Förmlichen lebt doch wieder die Koordinierung der Farbpunkte des Neo-Impressionismus auf. Die Skulptur unterdessen schreit sich vom Kunstwerk ins Kunstprodukt zurück, etwa bei Belling der Mensch in die Schraube verdeutlicht, bei Arp oder Lipschitz das Gewirr im täglichen Erleben der Klosett- und anderer Mechanismen räumlich gleichsam erhellt...“ „Ausgezeichnet!“ sagte Holt. „Ist es tatsächlich nur Geschwätz?“ Das Gesicht des Fremden wurde ernst und trüb. Er sah bekümmert drein. „Leider nein. Sonst wäre die Sache ganz einfach. Es ist das Dilemma einer bürgerlichen Wissenschaft.“ Er knotete fröstelnd den Schal fester und zog seinen Mantel über. „Bürgerliche Wissenschaft“, wiederholte Holt betroffen. „Damit kann ich nichts anfangen.“ Der Fremde sah ihn aufmerksam durch seine starken Brillengläser an. „Kunst ist nun mal Ideologie“, sagte er 255
vorsichtig. „So wird zuzeiten auch Kunstwissenschaft ein Politikum.“ „Lassen Sie mich mit Politik in Ruhe!“ erwiderte Holt, und er war entschlossen, sich jeder Wissenschaft fernzuhalten, die sich derart politisch interpretieren ließ. „Gehn wir doch ein Stündchen zu mir“, schlug der Fremde ohne weiteres vor. „Ich wohne in der Nähe und braue uns einen Kaffee!“ Er ging schon voran durch die Säle, blieb plötzlich stehen und sagte, mit erhobenem Zeigefinger: „Bohnenkaffee! Sie werden es nicht für möglich halten!“ Der Fremde bewohnte in einer bröckligen, von Bombeneinschlägen durchgeschüttelten Mietskaserne inmitten des zerstörten Zentrums ein Zimmer, in dem eine bemerkenswerte Unordnung herrschte. Auf dem winzigen Tisch unter der Leselampe, auf zwei zerschlissenen Sesseln und auf dem Bett waren Papiere ausgebreitet, Manuskripte, Hefte, Notizzettel, Zeitschriften. Das Zimmer war mit Büchern buchstäblich angefüllt. Bücher lagen in Haufen auf dem Teppich, Bücher stapelten sich brusthoch in den Ecken, und Bücher füllten die Wandregale, die aus rohen Brettern und dazwischengelegten Ziegelsteinen improvisiert und reichlich wacklig anzusehen waren. Die beiden Fenster, hinter Plüschgardinen und vergilbten Stores bis aufs Oberlicht mit Pappe vernagelt, ließen nur wenig Tageslicht in den Raum. Der Fremde tappte durch die Düsternis zur Stehlampe, wobei er über das Telefon stolperte, das irgendwo auf dem Fußboden stand, schaltete Licht ein und räumte hastig die Papiere von den Sesseln. „Behalten Sie lieber Ihren Paletot an“, sagte er, „ich muß erst heizen, und mehr als zwölf Grad schaffe ich sowieso nicht.“ Holt setzte sich. Er war dem Fremden bedenkenlos gefolgt. Noch trieb er durch die Zeit, noch kam es auf eine Stunde nicht an. Und hier, im anheimelnden Licht der Stehlampe, beim Krachen der Scheite im Kachelofen und zwischen den vielen Büchern, fühlte er sich geborgen und heimisch wie lange nicht mehr.
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„Ich heiße Werner Holt“, sagte er, und mit einem Anflug von Galgenhumor: „Sie sehen mich gewissermaßen auf dem Weg nach Canossa.“ „Canossa? Wieso?“ fragte der Fremde. Er hatte auf dem Bodenblech vor dem Ofen auf einer Kochplatte einen Topf mit Wasser aufgesetzt. Nun stieg er über die Bücherstapel zu dem anderen Sessel hin. Er stellte sich gleichfalls vor: „Zernick. Hierorts kommissarischer Kulturbundsekretär, bis man einen besseren findet.“ Er setzte sich. „Werner Holt... Holt?“ fragte er dann. „Verwandt mit dem Darwinisten Holt, der hier an der Uni Hygiene liest?“ „Mein Vater“, sagte Holt. Zernick nickte, hochbefriedigt. „Ob er nicht ein bißchen im Kulturbund mitarbeiten kann?“ fragte er. „Ich will da Vortragsreihen organisieren. Legen Sie mal ein gutes Wort für mich ein.“ „Er hat sehr wenig Zeit“, entgegnete Holt abweisend. „Auch glaube ich kaum, daß er sich irgendwie politisch betätigen wird.“ Zernick hantierte lange und umständlich am Ofen und stellte schließlich zwei Tassen mit pechschwarzem, stark duftendem Kaffee auf das Tischchen der Leselampe. Holt kostete. Das heiße Getränk war so stark, daß es gallebitter schmeckte. „Wo haben Sie den Kaffee her?“ fragte er. Zernick hielt die Tasse an den Lippen und erzählte zwischen den Schlucken von einer alten Tante in der Schweiz, die ihn großzügig mit Kaffee und Büchern beliefert habe, vor einem Vierteljahr aber leider gestorben sei, so daß er nun gar nicht wußte, wie das in Zukunft mit dem Kaffee werden sollte. Er sagte trübselig: „Ich weiß wirklich nicht, was ich ohne Kaffee anfangen soll!“ Die erstarrten Hände um die heiße Tasse geschlossen, fragte er übergangslos: „Was heißt übrigens Canossa?“ „Das ist eine lange Geschichte“, antwortete Holt ausweichend. „Quatschen Sie sich ruhig aus!“ sagte Zernick. Der Kaffee hatte ihn sichtlich belebt. Holt saß unschlüssig in seinem Sessel. „Ich weiß nichts von Ihnen“, sagte er schließlich. „Ich kenne Sie ja gar nicht.“ 257
„Dann werde ich Ihnen meinen Kaderbogen aufsagen“, erwiderte Zernick, und sein Mund zog sich vergnüglich in die Breite. Er war 1934 emigriert und im vergangenen Oktober nach Deutschland zurückgekehrt. Sein Vater, ein Bergarbeiter, war vor dreißig Jahren im Ruhrgebiet bei einer Grubenkatastrophe ums Leben gekommen, seine Mutter bald nach dem ersten Weltkrieg an der Schwindsucht gestorben. Zernick war damals sieben Jahre alt. Ein Lehrer, ein Sozialdemokrat, nahm ihn als Pflegekind zu sich und ließ ihn das Gymnasium besuchen. Kurz vor dem Abitur wurde er wegen seiner Zugehörigkeit zum Kommunistischen Jugendverband relegiert. Nach der Machtergreifung des Faschismus verbrachte er ein Jahr in einem Lager, wurde schwer krank entlassen und emigrierte nach der Schweiz, wo ihn besagte Tante, eine Schwester seines Pflegevaters, aufnahm. Er studierte in Lausanne Geschichte, deutsche Sprachwissenschaft und Philosophie, wanderte kurz vor Kriegsausbruch nach Bordeaux und gelangte von dort mit einem Frachtschiff in die Sowjetunion, wo er in Moskau mathematische und naturwissenschaftliche Vorlesungen hörte. Während der letzten beiden Kriegsjahre leitete er in verschiedenen Lagern Lehrgänge für deutsche Kriegsgefangene und kehrte schließlich nach Deutschland zurück. „Mein Ziel“, erklärte er abschließend, „ist eine Hochschullaufbahn, deshalb werde ich hier an der Uni noch promovieren. Und nun wissen Sie, was Sie von mir zu halten haben.“ „Danke“, sagte Holt. „Meine Geschichte spielt dagegen mehr auf der Innenseite. Wer weiß, ob Sie das Hin und Her, das ich mir geleistet habe, überhaupt interessiert.“ „Wenn Sie mich nicht interessierten, hätte ich Ihnen keinen Kaffee vorgesetzt“, entgegnete Zernick. Holt erzählte, anfangs gehemmt, dann immer offener. Erzählte, wie er heimgekehrt und bei seinem Vater gescheitert und auf und davon gegangen war, wie es ihn von Hamburg in die Einöde und wieder zurück nach Hamburg getrieben hatte und wie es dort zum Bruch mit seiner Verwandtschaft 258
gekommen war. Sagte, daß er nirgendwo Ruhe finde und bis heute ein Ausgestoßener sei, deklassiert, zwischen zwei Mühlsteine geworfen. Doch glaube er, nun einen Weg gefunden zu haben. Er wolle sich mit Vernunft und kaltem Verstand und ohne den trügerischen Glauben an irgendein Ideal aus eigener Kraft einen Platz im Leben erobern. Er erzählte auch von der Zeit in der Einöde. Nun verspüre er eine wachsende Lust zu lernen, Wissen zu erwerben, um der Welt in die Eingeweide zu sehen, um Antwort auf viele Fragen, um endlich den archimedischen Punkt zu finden, von dem aus sich die Welt aus den Angeln heben lasse. Er endete nun doch etwas bedrückt: „Vorausgesetzt, daß Vater mich wieder aufnimmt und daß man mir die Chance gibt, wieder zur Schule zu gehn.“ Zernick hörte zu, wohl eine Stunde lang, ohne Holt ein einziges Mal zu unterbrechen. „Wegen der Schule rede ich mit Ebersbach“, sagte er dann. „Ich kenne Ebersbach ganz gut. Versuchen Sie, mit Ihrem Vater ins reine zu kommen. Ansonsten muß ich Ihre Geschichte erst verdauen. Ich kenne Ihren Typ aus den Gefangenenlagern, und ich hätte Lust, Sie ein bißchen unter meine ideologischen Fittiche zu nehmen, wenn Sie nichts dagegen haben.“ „Nur mit Politik lassen Sie mich in Ruhe“, sagte Holt. „Aber natürlich!“ meinte Zernick, und er griente Holt ins Gesicht. „Wir werden wie wahre Schöngeister miteinander reden!“ Holt sah ihn wieder mit einem Anfing von Mißtrauen an. „Für heute scheren Sie sich zu Ihrem Vater“, fuhr Zernick fort. „Wenn irgendwas schiefgeht, rufen Sie mich an. Ansonsten melde ich mich gelegentlich bei Ihnen.“ 2
Im
Büro des Werkes, vor dem Radioapparat, warteten Professor Holt, Müller, Schneidereit und Doktor Bernhard auf den Wetterbericht. Müller saß im Sessel; neben ihm stand seine neue Mitarbeiterin, Judith Arnold, eine junge Frau, die seit 259
Wochen an seiner Seite war; er führte sie in alle Bereiche seiner Arbeit, in Produktion, Verwaltung und Forschung des Werkes ein. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt, mittelgroß, trug stets eine blaue Kombination und darüber eine schwere, pelzgefütterte Lederjacke, die für einen Mann weit größerer Statur gedacht war und die schmale Gestalt der jungen Frau fast erdrückte. Ihr Haar blieb unsichtbar unter dem bunten Kopftuch. Die blauen Augen sahen müde und abgespannt und doch aufmerksam zum Radio hin. Die Stimme des Sprechers erläuterte die Wetterlage und verkündete neues Unheil. Müller saß zurückgelehnt und hörte mit geschlossenen Augen zu. Temperaturen absinkend auf minus achtzehn bis zwanzig Grad. Er öffnete die Augen. Das Ende der Frostperiode war also vorerst nicht abzusehen. „Das kann ja heiter werden!“ sagte Doktor Bernhard. Er trug eine zottelige Pelzmütze und schwarze Ohrenklappen. Er legte die Hand auf den Türgriff. „Die Niederlage“, fing er an, indem er die Zähne gegen Müller fletschte, „die Hungersnot, der Russe im Land, diese sibirische Kälte: so kommt eines zum andern! Es fehlen nicht mal grassierende Seuchen! Und da frage ich mich, warum lassen wir denn dem Typhus nicht freien Lauf, wozu produzieren wir eigentlich wie die Verrückten Medikamente? Meine Herren, wir verlängern doch bloß unseren deutschen Todeskampf!“ Er ging aus dem Zimmer. Schneidereit sagte, als Müller sich erhob und seine Jacke zuknöpfte: „Ich bin die nächsten Tage nicht da. Ich fahre morgen zur Gründungskonferenz!“ Müller, während Schneidereit das Zimmer verließ, nickte zerstreut. Professor Holt sah bedrückt aus, und die Sorge vertiefte die Falten in seinem Gesicht. Müller sagte: „Lassen Sie mich nur machen. Zu guter Letzt hab ich noch immer Kohle ranbekommen. Schlimmstenfalls muß ich mal wieder der Kommandantur auf die Nerven fallen.“ Professor Holt hob ein wenig kraftlos die Hände und ließ sie wieder fallen. „Wir werden doch stillegen müssen“, sagte er, „alles bis auf die Sulfonamide und die Typhus-Vaccine.“ „Stillegen?“ sagte Müller. „Aber Professor, was ist denn mit Ihnen los?“ 260
„Es hat keinen Zweck mehr“, sagte Professor Holt. „Der Winter dauert ganz einfach zu lange.“ Müller klappte den Kragen seiner Joppe hoch. Er stand an der Tür. Er sagte: „Sie sind unausgeschlafen, Professor, das ist es!“ Nun hatte er viele kleine Fältchen in den Augenwinkeln. „Da hat mir mal ein Professor gesagt: ,Sie wissen gar nicht, wie das die Stimmungslage verändert, wenn man nicht richtig ausgeschlafen ist.'“ Professor Holt wendete den Kopf, und langsam entspannte sich sein Gesicht. Plötzlich lachte er. „Ja, so habe ich einmal zu Ihnen gesagt, und da mag es auch für mich gelten. Gut, wursteln wir eben weiter! Aber holen Sie Kohle heran, sonst nützt auch das Ausschlafen nichts mehr.“ Schneidereit war die Treppen des Verwaltungsgebäudes hochgestiegen; er suchte Gundel. Ihr Zimmer war leer. Wahrscheinlich war sie wieder bei Blohm und ließ sich diesen Rechenstab erklären, den ihr Doktor Hagen zum Geburtstag geschenkt hatte. Schneidereit lief durch das verschneite Werkgelände zu den Baracken. Als er bei Blohm eintrat, zückte der Ingenieur gerade den Bleistift gegen Gundel und rief: „Warum wohl, so frage ich Sie, vermochte sich die griechische Mathematik nicht aus der eleatischen Fessel zu befreien? Weil sie sich über jegliche Praxis erhaben dünkte und...“ Jetzt bemerkte er Schneidereit. Schneidereit wandte sich an Gundel. „Hast du vergessen, daß wir heut abend Bücher umtauschen wollten?“ Sie zog sich den Mantel an. Schneidereit nahm unterdessen eines der Papiere zur Hand, die auf Blohms Schreibtisch lagen, und vertiefte sich in Zahlen und Zeichen. Er fragte: „Was ist das?“ „Die Torsion eines zylindrischen Stabes“, antwortete Blohm bereitwillig. „Eine Epsteinsche Zetafunktion als Lösung einer partiellen Differentialgleichung. Ich habe sie, mit erheblichem Aufwand, numerisch berechnet!“ Schneidereit schaute gedankenvoll. „Wie lange muß einer lernen, um so eine Aufgabe lösen zu können?“
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„Welche Frage!“ rief Blohm. „Selbst ein großes Talent würde viele Jahre, bei genügender Vorbildung und ausschließlicher Beschäftigung...“ Gundel sah verwundert auf Schneidereit. Schneidereit legte das Blatt wieder hin und sagte: „Ich fragte nur so... interessehalber.“ Dann reichte er Blohm die Hand. Aber der Ingenieur saß bewegungslos hinter dem Schreibtisch. „Bitte... Nehmen Sie's leicht“, sagte er und nickte Schneidereit zu. „Wir müssen uns ohne Verbitterung abfinden, verstehen Sie? Wir alle, Sie so gut wie ich.“ „Abfinden?“ fragte Schneidereit hellhörig. „Womit?“ „Mit der Welt“, erwiderte Blohm, „mit dieser unfreundlichen Ordnung, die den einfachen Leuten nicht wohlgesinnt ist. Denn eher geht ein... Dingsda, ein Trampeltier durchs Nadelöhr als ein Armer durch die Universitätstür! Wir haben uns damit abzufinden, daß der Begüterte mehr gilt als der Berufene und daß diese Menschenwelt höchst unvollkommen, beinahe mißraten ist!“ „Sie wird nicht immer so bleiben!“ erwiderte Schneidereit herausfordernd und zugleich aufmunternd. Blohm lächelte. „Sie sind jung“, sagte er. „Auch ich habe die Welt einstmals optimistisch interpretiert!“ Schneidereit nahm das Stichwort ohne Zögern auf. „Es kommt aber darauf an, sie zu verändern!“ Blohm drückte ihm nur resignierend die Hand. Draußen stapften Gundel und Schneidereit durch den Schnee. „Möchtest du so einen Beruf haben wie Herr Blohm?“ „Ich?“ rief Schneidereit. „Wie kommst du darauf?“ Ein paar Schritte weiter sagte er: „Es ist nur schade, daß es in meinem Beruf keine Maschinen gibt. Den Betonmischer, das ist alles.“ Holt ging den Korridor zwischen den Mansarden entlang. Er war sich bewußt, daß jetzt alles von seinem Auftreten abhing. Das Wohnzimmer war dunkel und leer. Holt horchte beklommen zu Gundels Zimmer hin. Dann klopfte er am Privatlabor, wartete auf das „Bitte!“ und trat entschlossen ein. Professor Holt saß am Mikroskop, wendete sich zur Tür herum, rieb sich die Augen und erkannte seinen Sohn. 262
Holt sagte: „Guten Abend!“ und schwieg. Professor Holt stand auf. Dann schob er seinem Sohn einen Stuhl hin. Holt setzte sich und schlug den Pelz auseinander. Er sah, wie erschüttert sein Vater war; das gab ihm seine Sicherheit wieder. Er begann: „Ich war in Hamburg bei Mutter, zwischendurch im Schwarzwald bei einer Bekannten. Ich habe nirgendwo Fuß fassen können. Es war mir nicht möglich, bei Mutter zu bleiben. Ich habe mit den Rennbachs nichts mehr zu tun. Die letzten Wochen haben mich zur Besinnung gebracht. Bitte glaube mir, daß ich heute ein anderer bin als im Vorjahr.“ Professor Holt bewegte den Kopf. „Ich bitte dich um Verzeihung“, sagte Holt. „Nimm mich wieder bei dir auf! Ich möchte wieder zur Schule gehn. Ich füge mich allen deinen Anordnungen, wenn du mich nur arbeiten und lernen läßt.“ Er setzte hinzu: „Gib mir eine Chance, Vater!“ Professor Holt sah lange auf seinen Sohn. Dann reichte er ihm die Hand. Holt ging über den dunklen Werkhof. In Müllers Zimmer saß Frau Arnold hinter dem Schreibtisch. Holt kannte sie nicht und beachtete sie kaum. „Ich suche Herrn Müller.“ Sie sagte, ohne von ihren Papieren aufzusehen: „Gegenüber!“ Müller telefonierte. Seinem Gesicht war keine Überraschung anzumerken. Er rief in den Apparat: „Ich hab vor einer Stunde Borna verlangt... Wo bleibt das Gespräch?“ Dann horchte er angestrengt, den Blick auf Holt gerichtet. „Gut, dann eben dringend!“ Er legte auf, hielt aber die Hand auf dem Hörer. „Bitte?“ Unter Müllers Blick fühlte Holt alle Selbstsicherheit schwinden. Er sagte: „Ich bin zurückgekommen...“ und verstummte. „Das seh ich“, sagte Müller. „Und was wollen Sie von mir?“ Holt nahm sich zusammen. „Ich wollte Ihnen sagen, daß ich eingesehen habe...“ Aber er schwieg wieder. Die Worte waren schal und abgestanden und klangen gar zu dürftig. „Sie haben eingesehen?“ sagte Müller. „Das ist gut, wenn einer einsichtig ist! Aber auf Worte kommt's bei Ihnen jetzt nicht mehr an.“ Er hob wieder den Hörer ans Ohr und wählte eine
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Nummer. „Wir werden sehen, Werner Holt, was Sie in Zukunft außer Worten noch zu bieten haben!“ Und er nickte flüchtig. Holt war unmißverständlich entlassen. Draußen stand er einen Augenblick unbeweglich und schaute über das Gerippe der Halle hinweg in den Himmel. Die Sterne, in der reinen Frostluft, funkelten kalt herab. Holt hatte nicht damit gerechnet, einen Mann wie Müller durch Worte zu gewinnen. Müller wollte überzeugt sein. Holt war entschlossen, ihn zu überzeugen. Worte zählten nicht, nur die Tat galt. Holt vertraute zum erstenmal im Leben der Kraft seines Willens. Holt stieg langsam die Treppe hinauf. Er sah nun in wenigen Augenblicken Gundel wieder. Er war entschlossen, reinen Tisch zu machen, das hieß, er mußte sich auch bei Schneidereit entschuldigen. Dieser Schritt fiel ihm schwer. Er stand sekundenlang vor Gundels Tür. Schneidereits Baßstimme war zu hören, halblaut, monoton, es schien, als lese er etwas vor. Daß Holt Gundel in Gegenwart Schneidereits wiederbegegnen sollte, das rief den alten Groll in ihm wach. Aber er überließ sich diesem Groll nicht. Er entschuldigte sich jetzt bei Schneidereit. Es war eine Erniedrigung, aber er hatte sie sich schließlich selbst zuzuschreiben. Nur, daß Gundel Zeuge werden sollte... Nun gut. Holt war noch nicht am Ende, im Gegenteil: er war ganz am Anfang. Mochte Schneidereit in dieser ersten Runde Sieger bleiben. Das Leben ging weiter, und Holt hatte noch gar nicht richtig aufgetrumpft. Er klopfte und trat ein. „Nein...“, sagte Gundel fassungslos. Sie saß am Tisch. Sie wurde ganz blaß. „Nein!“ rief sie, und sie preßte die Hände auf die Brust und schaute Holt mit ungläubigen Augen an. „Guten Abend“, sagte Holt. Schneidereit hatte ein Buch vor sich, er hatte Gundel vorgelesen. Nun schob er den Band mit einer jähen Bewegung von sich und stand auf, stand groß, stark, breitschultrig vor Holt. Holt ging gelassen an ihm vorbei, zog den Pelz aus und warf ihn auf das Bett. Dann gab er Gundel die Hand.
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Sie nahm seine Hand, aber sie rührte sich nicht, sie war noch immer wie gelähmt vor Überraschung. „Ich bin zu dir zurückgekommen“, sagte Holt. „Ich habe dir vieles zu sagen. Aber ich werde ein andermal sprechen, wenn wir allein sind. Vielleicht morgen.“ Nun wandte er sich Schneidereit zu. „Es gibt eine Stunde, an die ich nicht gern zurückdenke“, sagte er. „Sie erinnern sich? Es war in diesem Schieberlokal.“ Schneidereit schwieg und stützte die Fäuste in die Hüften. „Ich habe Sie beleidigt“, fuhr Holt fort. „Ich will Ihnen nichts vormachen: es ist da was übles in mir hochgekommen.“ Er sah Gundel nachdenklich an. „Weißt du noch, Gundel? Du hast mir einmal gesagt: ,Etwas davon ist auch in dir.'“ Sie nickte. Holt redete wieder zu Schneidereit: „Gemeint war: etwas vom Faschismus. Wie recht Gundel hatte, das begann ich damals bald einzusehen, und es wird mir in Zukunft erst vollends klarwerden.“ Schneidereit blieb unbewegt und schwieg. „Ich habe Sie ,Zuchthäusler' geschimpft“, sagte Holt. „Ich bedaure das aufrichtig. Ich beleidigte Sie übrigens wider besseres Wissen. Denn es war mir damals längst klar, daß Menschen wie Sie auf der richtigen Seite gekämpft haben, ich aber auf der falschen. Ich habe Sie insgeheim immer um die Ehre beneidet, als Hitlergegner im Zuchthaus gewesen zu sein.“ Er nickte Schneidereit zu. „Was ich sage, ist meine ehrliche Überzeugung.“ Er nahm seinen Pelz. „Wir werden uns in Zukunft öfter sehen. Wir sollten versuchen, miteinander auszukommen.“ An der Tür schaute er zurück und fing Gundels Blick auf, einen gelösten Blick. Schneidereit stand unbeweglich, bis sich die Tür hinter Holt geschlossen hatte. Dann begann er mit großen Schritten im Zimmer auf und ab zu gehen. „Hat sich mächtig verändert, der Holt! Ist selbstbewußt geworden... Oder gar hochmütig, überheblich?“ Gundel schaute besorgt drein. „Aber er war ehrlich, Horst!“
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Schneidereits Stirn war gefurcht. Er fuhr sich mit dem Zeigefinger zwischen Hals und Kragen entlang, als sei ihm das Hemd zu eng. „Also gut!“ Er setzte sich, zog das aufgeschlagene Buch zu sich heran und stützte den Kopf in die Fäuste. „Kommen wir zur Lohnarbeit. Der Durchschnittspreis der Lohnarbeit ist das Minimum des Arbeitslohnes, das heißt, die Summe der Lebensmittel, die notwendig sind...“ Er sah auf Gundel, las weiter, las minutenlang, dann blickte er auf. „Du hörst ja gar nicht zu! Wenn du nicht aufpaßt, verstehst du das nicht!“ Er schob das Buch von sich und beugte sich nach vorn, die schwieligen, feinnervigen Hände auf dem Tisch. „Du freust dich, daß er wieder da ist“, sagte er. „Gib es zu! Du bist ja ganz durcheinander vor Freude!“ Gundels Gesicht wurde ernst. Sie strich sich mit beiden Händen das Haar zurück. „Ja, ich freu mich!“ sagte sie. Schneidereit stand auf. Gundel sagte: „Morgen fährst du zur Funktionärskonferenz, dort wirst du dafür sprechen, daß die Jugendausschüsse vereinigt werden müssen, damit die Jugend noch besser helfen kann, die Nachkriegsnot zu überwinden. Nicht wahr?“ „Sag bloß, du willst den Holt für den Aufbau gewinnen!“ rief Schneidereit. Er stützte beide Hände auf den Tisch. „Wie stehst du zu dem Holt? Warum freust du dich so, daß er wiedergekommen ist?“ „Ich freu mich ja auch seinetwegen“, sagte sie. „Ich will nicht, daß er untergeht, und ich will es auch meinetwegen nicht. Soll ich mich denn später schämen müssen, wenn ich zurückdenke an einen, von dem ich einmal geträumt habe bei Tag und bei Nacht?“ Schneidereit richtete sich auf. „Ja, geträumt!“ wiederholte Gundel. Ihre Stimme war dunkel und brüchig. „Denk doch daran: ich war damals fünfzehn. Ich hatte Angst, immer nur Angst. Nachts hab ich geweint, daß ich lebe. Und in mir ist alles gefroren vor Haß auf die Menschen, die mich wie Dreck behandelt haben. Da ist Werner gekommen. Durch ihn hab ich bei Gomulkas eine Zuflucht gefunden. Er hat mich fühlen lassen, daß ich ein Mensch bin. Ich hab ihm alles von mir erzählt: da hab ich zum erstenmal seit Mutters Tod 266
erlebt, daß einer um mich bangte. Ich hör's noch: ,Daß nur dir nichts geschieht'... Ich hab nur noch für ihn leben wollen, und ich hatte gar keinen Willen mehr, als er mir ins Ohr sagte: ,Du gefällst mir, du bist wie eine Elfe', aber er selbst hat mich vor sich behütet.“ Schneidereit nickte wie geistesabwesend mit dem Kopf. „Es war ein Traum“, fuhr Gundel fort. „Aber heut ist es nicht mehr wie damals. Ich bin siebzehn geworden, ich fange an, richtig zu leben. Immerfort seh und hör ich Neues, und es verwirrt mich. Doktor Hagen hält mir Vorträge, und Blohm schweift andauernd ab, weil er so viel weiß. Der Professor weiß überhaupt alles, außer Politökonomie, und du hast auch schon mehr gelesen als ich, und jetzt liest du den ,Deutschen Bauernkrieg', und ich bin immer noch beim ‚jungen Marxisten'. Ich muß mich im Leben erst einmal zurechtfinden.“ Sie trat ein paar Schritte zu Schneidereit hin. Die Unterarme gegen seine Brust gelegt, den Kopf im Nacken, sagte sie: „Bitte, hab doch Geduld mit mir!“ Schneidereit hielt sie mit beiden Armen fest. „Hast ja recht!“ sagte er. „Und ich seh's ein, wir werden uns auch um den Holt kümmern!“ „Sei ehrlich!“ sagte Gundel mit einem Lächeln. „Du willst nämlich gar nicht wissen, wie ich zu Werner stehe. Du meinst es ganz anders! In Wirklichkeit möchtest du wissen, wie ich zu dir steh!“ Sie lächelte nicht mehr. „Du willst meine Gefühle wissen. Aber ich kann sie dir nicht sagen. Ich weiß zuwenig von mir, ich muß mich selber erst kennenlernen.“ Schneidereit strich ihr wortlos übers Haar. „Du mußt Geduld mit den Menschen haben“, sagte Gundel. „Nicht nur mit mir. Mit allen!“ Holt frühstückte anderen Tages zeitig. Frau Thomas stand bei ihm im Wohnzimmer. Sie erzählte Schiebergeschichten und Untaten, die sich während Holts Abwesenheit zugetragen hatten. Holt aß mit Sacharin gesüßte Schrotsuppe, dazu ein Stück Brot. Er hatte am vergangenen Abend noch mit Zernick telefoniert, und Zernick hatte telefonisch mit Ebersbach gesprochen. 267
„Der Direktor vom Variete“, sagte Frau Thomas, „kennen Sie den? Was, den kennen Sie nicht? Den kennt doch jeder! Der hat sich als richtiger Hochstapler entpuppt, und die kleine Frau mit dem Pelz, die immer den Pudelhund bei sich hatte, die war gar nicht seine Frau! Seine richtige Frau, das soll so eine ganz alte, mickrige sein, und plötzlich war sie hier und hat die andere auf der Straße geohrfeigt, und der Pudelhund hat sie ins Bein gebissen!“ Holt hoffte fest auf Blohms Hilfe, sonst holte er die Versäumnisse in Mathematik niemals nach. „So ist alles ans Licht gekommen“, sagte Frau Thomas. In Chemie mußte Holt sich notfalls an Doktor Hagen wenden. Das schwierigste blieben die Fremdsprachen. „Und der Drogist Pulver“, sagte Frau Thomas, „kennen Sie den? Also mit dem ist auch so ein Skandal passiert.“ Holt ging in die Schule. Im Vorzimmer Ebersbachs tippte die Sekretärin emsig auf ihrer Maschine. „Der Herr Oberstudiendirektor ist mit Arbeit überlastet“, sagte sie gequält. Aber dann ließ sie Holt doch hinein. Der alte Ebersbach, die krumme Pfeife im Mund, saß frierend auf dem Heizkörper am Fenster. Er musterte Holt, nickte anerkennend und meinte: „So 'n Pelz muß ja herrlich warm sein!“ Dann sagte er interessiert: „Wie kommen Sie zu dem Zernick? Bei dem haben Sie nichts zu lachen, der ist furchtbar prinzipienfest! Ich will mich mit dem vereinigen. Aber vorher muß ich noch meinen Schrebergarten abstoßen, sonst hab ich gleich Ärger mit ihm.“ „Nehmen Sie mich wieder auf?“ fragte Holt. Ebersbach erhob sich von der Heizung und schimpfte: „Das ist auch nichts. Unten wird's ganz heiß, und am Kreuz zieht's wie verrückt! So 'n Pelz wie Sie müßte man haben, das ist eher was!“ „Kann ich bitte wieder in meine alte Klasse zurück?“ fragte Holt. „Das ist mir doch egal!“ antwortete Ebersbach. Er nahm die Pfeife aus dem Mund. „In welcher Klasse Sie nachher durchs Abitur fallen, das ist mir doch völlig egal!“ Dann griff er zur Zeitung. „Jetzt hau ab! Ich hab zu tun!“ 268
Holt wartete vor dem Lehrerzimmer auf Gottesknecht. Er ging den Korridor auf und ab, sah die Schüler aller Klassen die Treppe hochkommen, sah unter ihnen ein Mädchen. Sie trug die Schulmappe unter dem Arm, einen blauen Mantel, eine gestrickte rote Pudelmütze und rote Fäustlinge. Das dunkelblonde Haar war von Schneekristallen durchsetzt. Holt erkannte sie sofort wieder: Angelika. Ihre blauen Augen wurden ganz groß vor Erstaunen. Als er ihr zunickte, errötete sie, und befangen erwiderte sie seinen Gruß. Dann lief sie davon, den Flur entlang, und Holt stand versonnen und sah, wie sie sich nach ihm umwandte, ehe sie in ihrem Klassenzimmer verschwand. Es klingelte. Endlich verließ Gottesknecht das Lehrerzimmer. Holt vertrat ihm den Weg. Gottesknecht war überrascht, aber wohl gar nicht so recht erfreut. Er zeigte sich sehr zurückhaltend. Holt hatte das nicht erwartet und war enttäuscht. „Ich hoffe, Sie sind zur Vernunft gekommen“, sagte Gottesknecht. „Ich weiß nicht, ob es richtig ist, daß Sie einfach wieder zur Schule gehn dürfen.“ Sein Gesicht war streng und verschlossen. „Diesmal werden Sie's schwer haben, wenn Sie mich überzeugen wollen. Lassen Sie sehen, ob Sie bis zum Sommer den Anschluß schaffen. Zeigen Sie, ob Sie übers Jahr das Abitur bestehen.“ „Ich werde es jedenfalls versuchen“, sagte Holt. In der Klasse erregte Holts Wiederkehr die Gemüter. „Der feine Herr geruhen, uns mal wieder zu beehren“, rief Hoffmann. „Erst hast du aufs Kollektiv geschissen, paß auf, daß wir jetzt nicht auf dich scheißen!“ „Zum Glück entscheiden das nicht so ordinäre Leute wie Hoffmann“, sagte Arens. Holt hatte sich wieder hinter Arens neben den einäugigen Buck gesetzt. Und in der großen Pause, auf dem Korridor, gesellte sich Arens sogleich zu ihm und nahm ihn vertraulich am Arm. „Ich freue mich!“ sagte er. „Wirklich! Hübsch, daß Sie wiedergekommen sind! Andererseits, ich muß sagen, es ist mir ganz unverständlich, daß Sie nicht bei Ihrer Hamburger Familie geblieben sind! Sagten Sie nicht, es sind vermögende Leute?“ 269
„Wie ist das“, sagte Holt, „legen Sie eigentlich noch Wert darauf, mit mir auf freundschaftlichem Fuß zu stehn?“ „Durchaus!“ versicherte Arens. „Dann reden Sie nicht mehr von meiner Hamburger Verwandtschaft“, sagte Holt. „Aber ich bitte Sie!“ rief Arens. „Wenn Sie es wünschen... Keinesfalls wollte ich...“ „Erledigt!“ sagte Holt mit einer Handbewegung. Sie bummelten den Korridor entlang. „Sagen Sie mal“, fragte Holt, „wohnt eigentlich Angelika noch bei Ihnen im Haus?“ „Ja, bei ihrer Großmutter“, sagte Arens. „Aber die Alte paßt höllisch auf die Kleine auf!“ Holt saß in Gundels Zimmer am Tisch. Er war aufgeregt und verbarg sich hinter unverfänglichen Worten. „Im April oder im Mai ziehen wir in die Westvorstadt“, erzählte er. „Dort ist Vaters Hochschulinstitut aufgebaut worden, eine Villa mit einem großen Garten. Vater beabsichtigt ja, wieder ganz zu Forschung und Lehre zurückzukehren. Er meint, für dich ist auch wieder ein Zimmer dabei.“ Er sah erleichtert, daß Gundel sich freute. Die Westvorstadt war eine gute Stunde von Mönkeberg entfernt. Gundel konnte in Zukunft schwerlich noch jeden Abend mit Schneidereit zusammen sein. Entspannter, weniger verkrampft erzählte Holt nun von der Schule, von seinem Vorhaben, bis zum Abitur alle Versäumnisse nachzuholen. „Ich werde Tag und Nacht arbeiten“, sagte er. „Blohm hat mir versprochen, daß er mir in Mathematik hilft.“ Auf Gundels Tisch lagen Bücher. Holt, während er sprach, nahm eins zur Hand, Schmeil-Fitchens „Flora von Deutschland“, ein Pflanzenbestimmungsbuch. „Das hat mir dein Vater zum Geburtstag geschenkt“, sagte Gundel. Holt nickte mechanisch. Er mußte sich jetzt von neuem demütigen. Warum fiel es ihm vor Gundel so schwer? Er sah sie vor sich, in einem grauen Wollkleid, und sie trug vom gleichen Stoff ein Band im Haar, in diesem braunen Haar, das ihr reich und wellig in den Nacken fiel. Sie war jung und dunkelhäutig und schlank; ihre Hände, kleine Hände mit 270
schmalen, zerbrechlichen Handgelenken, legte sie auf den Tisch und richtete den Blick ihrer braunen Augen ernst und erwartungsvoll auf Holt. Aber Holt schwieg. Er überließ sich sekundenlang einem starken Gefühl der Zuneigung, der Zärtlichkeit, und als er endlich zu sprechen begann, fand er nur schwer die richtigen Worte. „Ich muß dir was sagen“, begann er. „Ich habe, nachdem ich hier weggegangen bin, vieles gesehen und erlebt. Dann hab ich mich tief im Dreck wiedergefunden...“ Er schwieg. Die Bilder standen wieder vor seinen Augen: Henning und die Blonde, und das muffige Zimmer... „Ich will aus dem Dreck heraus. Wenn ich dran denke, was ich dir angetan habe...“ Sie schüttelte heftig den Kopf. „Das warst du nicht“, sagte sie. „Das war ein anderer, und den gibt es jetzt nicht mehr, nicht wahr, so ist es?“ Er besann sich endlich. Er durfte sich vor Gundel nicht gehenlassen. „Du hast recht“, sagte er. „Damals bin ich getrieben. Heute weiß ich, was ich will. Ich habe ein Ziel.“ Er setzte hinzu: „Eine menschliche Zielsetzung.“ Und nun sah er zum erstenmal sein Leben vor sich, überschaubar und klar geordnet, ein achtbares Leben: lernen, immer mehr lernen, die Welt und ihre Hintergründe erkennen, und endlich erfahren, warum die Liebe im Märchen schöner ist als in der Wirklichkeit, warum es Arme und Reiche gibt, Kellerloch und Luxusvilla, so ungleich verteilten Besitz. Studieren, ein geachteter Mann werden, ein Gelehrter von Vaters Rang und Namen, ein Mann der Wissenschaft, erhaben über Parteigezänk und die vergänglichen Widersprüche des Alltags. So ließ sich das Leben verbringen, mitten unter den Menschen und doch von ihnen fern. Ja, er sah jetzt seinen Weg, und er atmete auf. Gundel trug ihm nichts nach. Er brauchte diesen Weg nicht allein zu gehen. Er hielt Gundel an seiner Seite, bis einst das Ziel erreicht war. Dann kehrte er wieder, das verwunschene Kind zu erlösen, und hob es zu sich empor. Er faßte impulsiv ihre Hände. „Wenn ich gewußt hätte, daß du mir verzeihst, daß ich zu dir zurückkommen darf...“ 271
Aber sie entzog ihm ihre Hände, nicht unsanft, doch bestimmt. „Du bist zurückgekommen, weil du weißt, hier bist du besser aufgehoben als woanders“, sagte sie. Er verstand nur, daß sie sich nicht zu ihm bekennen wollte. Er sagte: „Wir haben doch aufeinander gewartet... War es nicht so?“ „Ja, damals“, sagte sie und schaute vor sich hin. „Und heute?“ fragte er. „Wie ist es heute?“ „Heute ist alles anders“, sagte sie. „Damals, im Krieg, als wir uns kennengelernt haben, das war wie ein Traum. Heute fangen wir richtig an zu leben. Es gibt so viel Neues, Interessantes, und man muß doch erst über sein Leben Bescheid wissen.“ Und da Holt sie nur stumm ansah, sagte sie hilflos: „Versteh mich doch!“ Er nickte. Er verstand sie jetzt genau: sie wollte die Vergangenheit widerrufen. Sie suchte noch immer nach einer Erklärung. „Eine neue Zeit ist angebrochen, sagt Horst. Viele wissen es nur noch nicht.“ Sagt Horst. Sagt Schneidereit. Auf einmal wußte Holt alles. Und in ihm regte sich was, ein fremdes Gefühl; nein, es war nicht fremd, war bisher nur selten empfunden worden, ein bedrohliches Gefühl... und erlosch wieder. Holt dachte den Namen fühllos und kalt: Schneidereit. Gundel und Schneidereit. Nun gut. Gundel war noch jung. Mochte sie ihr Herz vorerst an diesen Schneidereit hängen. Mochte Schneidereit heute der lachende Dritte sein. Wir werden ja sehen, wer zuletzt lacht! Holt hatte noch gar nicht gezeigt, was in ihm steckte, hatte sich bisher nur treiben lassen, von Gefühlen, von lächerlichen Gefühlchen, auch jetzt eben, bei Gundels Anblick. Schluß damit, Schluß mit Gefühl! Jetzt wurde aufgetrumpft! In einem Jahr Abitur, dann Studium, Promotion. Schon war es soweit, schon kam er wieder, ein geachteter Mann, vielleicht schon Dozent, kein hergelaufener Heimkehrer mehr, den jeder Maurergeselle ausstach. Schon trat Holt vor Gundel hin: Nun wähle zwischen mir und ihm, wäge mich ab gegen den Maurer! Bist doch ein
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kluges Mädchen, und die richtige Wahl fällt dir dereinst gar nicht schwer! Holt lächelte. „Entschuldige“, sagte er. „Du kannst sicher sein: ich verstehe dich genau.“ Er hatte eine gut bemessene Handbewegung, als wollte er sagen: Erledigt. „Wir wollen also gute Freunde sein.“ Er bot ihr die Hand. Sie sah ihn an, noch unsicher, aber erleichtert. Und sie nahm seine Hand. Ein paar Tage später, des Abends, arbeitete Holt in seiner Mansarde. Es klopfte. Schneidereit trat ein. Er sagte mit seinem Baß: „Entschuldigen Sie. Ich wollte gern noch mal mit Ihnen reden. Wegen neulich.“ Holt bot Schneidereit seinen Stuhl an und setzte sich aufs Bett. Schneidereit stützte im Sitzen die Hände auf die Knie. „Wie war das“, sagte er, „das war doch so: Sie kamen plötzlich zur Tür herein, und da war ich natürlich mächtig überrascht. So konnte vielleicht der Eindruck entstehen, ich freu mich nicht über Ihre Rückkehr.“ Holt lächelte. „Nicht doch! Ich hatte im Gegenteil den Eindruck, daß Sie vor Freude ziemlich außer sich waren.“ Schneidereit furchte die Stirn. Aber dann lachte er. „Zugegeben! Aber da kann ich bloß sagen: Kein Wunder, denn... Doch das ist ja vorbei! Ich habe also eingesehen, daß Sie an dem Abend sehr aufrichtig waren. Das hätte ich Ihnen nie zugetraut. Wir sollten also das Vergangene begraben.“ „Einverstanden!“ sagte Holt. Schneidereit nickte zufrieden. „Wie ist das nun?“ fuhr er fort. „Wir sind jetzt eine einheitliche Organisation, Freie Deutsche Jugend, und wir haben viel vor. Wollen Sie nicht mal wieder zu uns kommen? Wir haben einen Schachzirkel gegründet. Wir bauen uns eine zerstörte Turnhalle auf, ohne Hilfe, machen wir alles selber. Und manchmal ist bei uns auch Tanz.“ Holt hob bedauernd die Hände. „Ich will in einem Jahr das Abitur bestehen. Ich habe viel nachzuholen. Tut mir leid. Ich brauche jede freie Minute zum Lernen.“ Schneidereit nickte abermals. „Das leuchtet mir ein. Aber vielleicht haben Sie später mehr Zeit.“ 273
„Kaum“, sagte Holt. Er hatte das Versteckspiel jetzt satt. Er wollte mit diesem Schneidereit nichts zu schaffen haben, und er war nicht feige und sagte es ihm ins Gesicht. Er stand auf. „Wir sollten das Vergangene begraben, so sagten Sie doch, nicht wahr?“ Er sprach kalt und höflich. „Dabei wollen wir's belassen. Ich bin an Ihrer Organisation nicht interessiert. Ich bin auch an Ihrer Person nicht interessiert. Nein, überhaupt nicht.“ Schneidereit stand gleichfalls auf. Sein Gesicht war finster. „Wie Sie wünschen.“ Dann ging er hinaus, ohne Gruß. Das Schloß schnappte, die Klinke hob sich. „Erledigt“, sagte Holt, und er wischte mit einer Handbewegung alles fort: Schneidereit samt seiner Organisation und auch Gundel, die vorerst dazugehörte. Holt setzte sich wieder an den Tisch. Die Lampe brannte traulich, und unverkennbar hatte die enge Zelle Blohms bei der Einrichtung der Mansarde Pate gestanden. Holt schlug die lateinische Grammatik auf. Es war still im Haus, nur unten, im Erdgeschoß, summten die Elektromotoren. 3
Ein
Frühlingsabend. Der Wind strich lau wie der Föhn von den Bergen her über die Stadt und wehte durchs geöffnete Fenster in Blohms Zimmer hinein. Holt sah in den Abendhimmel, den die untergehende Sonne vergoldete. Dem langen Winter, der noch bis Ende März Frosteinbrüche gebracht hatte, war ein freundlicher und milder April gefolgt. Draußen, vor der Stadt, blühten Krokus und Märzenbecher, und die Wälder grünten. Holt wußte nichts davon. Nur selten spürte er, wie zu dieser Stunde bei Blohm, daß es Frühling wurde. Tagaus, tagein saß er bis tief in die Nacht in der Mansarde über den Büchern. Lerneifer hatte ihn wie Fieber gepackt. Des Morgens trottete er schlaftrunken zur Schule, wurde erst auf dem Weg richtig munter, und wenn er die Grünanlagen vor dem Schulhaus durchquerte, dann sah er nicht, wie an den Kastanienbäumen 274
die Knospen aufsprangen und die Büsche sich neu begrünten. Dann wiederholte er in Gedanken Formeln, Geschichtszahlen oder Vokabeln. Ehrgeiz trieb ihn. Er wollte nicht nur schlecht und recht das Versäumte nachholen. Er wollte so bald wie möglich zu den Besten der Klasse zählen. Er arbeitete wie besessen. Doch manchmal ging er suchend durchs Haus, durchs Werkgelände bis hinter zum Fluß, voll Unruhe, voll zielloser Sehnsucht. Dann atmete er auf, wenn es Abend wurde, und im Lampenlicht fand er zu den Büchern zurück. Ruhe kehrte wieder, Zufriedenheit. Mehrmals wöchentlich arbeitete er mit Blohm. Bei Blohm fühlte er sich heimisch. Blohm hatte ihm nicht nur die Angst vor dem Mathematikunterricht genommen, Blohm lehrte ihn mathematisch zu denken. Mit seiner Hilfe holte Holt jahrelange Versäumnisse nach, hatte die Klasse schon eingeholt, überholte sie. Und Blohm war es, der ihm die mathematische Wissenschaft als ein Idealreich erschloß, als höhere, widerspruchsfreie Welt des Erkennens, erhaben über die gewöhnliche Welt der Widersprüche. Holt entschloß sich, Mathematik zu studieren. Blohm war geduldig und einfühlsam. Er neigte dazu, ins uferlose abzuschweifen. Doch dieser Neigung überließ er sich erst nach erledigtem Pensum. Wenn die Arbeit getan war, kam er ins Philosophieren, durchstreifte die Geschichte der Mathematik, der Naturwissenschaften, und trieb, sich ereifernd, Problemgeschichte. Diese Stunden des Gesprächs nahmen Holt am stärksten gefangen. Heute war Sonnabend, und am Wochenende hatte Blohm Zeit. „Begreifen Sie das Differential!“ beschwor er Holt. „Wenn Sie den tiefen Widerspruch begriffen haben, der im Wesen des Differentialquotienten liegt, dann beginnen Sie auch das Wesen der Natur zu begreifen! Gedenken Sie der Tragik des griechischen Kampfes mit den inkommensurablen Größen! Dokumentiert dann der Differentialquotient nicht, wie wir's zuletzt so herrlich weit gebracht? Mit Leibniz und Newton ging die Sonne des Unendlichen über uns auf! Sie werden immer wieder erleben, wie alle entscheidenden Gesetze der Natur nur in Differentialgleichungen zu erfassen sind. Von den 275
Maxwellschen bis zu den Friedmannschen Gleichungen, ob Korpuskel, Welle oder Struktur des Alls: jeder wesentliche Zusammenhang ist als Differentialgleichung formuliert.“ Das Telefon unterbrach seine Rede. Er nahm den Hörer auf. „Nein, Herr Müller ist nicht da. Nein, ist überhaupt nicht hier! Er ist zum... zum Dingsda in Berlin, da ist doch ein Parteitag, ja, sehr richtig, jawohl, Vereinigungsparteitag heißt das! Frau Arnold vertritt ihn, aber sie ist auch erst wieder am Montag im Werk... Dann werde ich mich drum kümmern...“ Er legte auf, seufzte, sagte bedauernd: „Ich bitt Euch, Freund, wir müssen's diesmal unterbrechen... Das heißt aber nicht, daß ich Sie etwa für einen Wagner hielte!“ In Holts Zimmer, am Arbeitstisch vor dem Fenster saß Zernick, in seinem dicken Tweedjackett, den gelben Schal um den Hals, die Brille mit den starken, eingeschliffenen Gläsern auf der Nasenspitze. Wenn er Holt besuchte, pflegte er als erstes die Bücher durchzusehen, die griffbereit auf Holts Tisch lagen, und je nach dem, was er dort vorfand, gab er sich friedlich oder streitsüchtig. Zernick hatte mit Professor Holt, mit Gundel, Schneidereit und Doktor Hagen Bekanntschaft geschlossen. Müller hatte er schon gekannt. „Wer kennt den Müller nicht?“ hatte er gesagt. Und Müller, beim Abendessen zu Holt: „Von Zernick können Sie eine Menge lernen! Und ob ich ihn kenne! Wer kennt denn den Zernick nicht?“ Zernick drehte sich auf dem Stuhl herum und sagte: „Na, Sie?“ Dabei verzog er den dünnlippigen Mund zu einem freundlichen, stets aber auch etwas ironischen Lächeln. „Was lesen Sie da bloß für einen fürchterlichen Kohl! Hier, Plato! Was soll das?“ Er rückte seine Brille zurecht und sagte mit erhobenem Zeigefinger: „Plato ist mir lieb, aber die Wahrheit ist mir noch lieber! Das einzige, was ich von Plato fürs Leben gelernt habe, ist, wie man erfolgreich den Schluckauf bekämpft!“ Holt lachte. „Was gibt's da zu lachen?“ sagte Zernick. Er nahm wieder ein Buch zur Hand. „Formale Logik, akzeptiere ich, obwohl Ihnen das Ihr Herr Blohm empfohlen hat, wie? Es mag angehn. Aber 276
Lautrichs wahnsinnige ‚Weltanschauungslehre', merken Sie nicht, wie antiquiert das ist? Und was heißt da interessant, Mann? Der Lautrich ist ein bedeutender Mathematiker gewesen, aber er wurde ein miserabler Philosoph! Lesen Sie gefälligst nicht solchen Quatsch!“ „So einfach ist es ja nun auch nicht!“ protestierte Holt, aber damit war sein Widerspruch erschöpft. Zwischen Holt und Zernick herrschte ein freundschaftliches, dabei immer etwas gespanntes und dennoch sehr herzliches Verhältnis. Holt wurde von Zernicks kritischer Überlegenheit immer stärker angezogen; richtete Zernick aber sein respektloses Urteil, seine geistige Intoleranz gegen Holt, was häufig geschah, dann lehnte Holt sich auf, um ihm doch bald darauf stillschweigend recht zu geben. Sie kamen ein-, auch zweimal die Woche zusammen, bei Zernick oder im Werk. In Zernicks düsterem Zimmer tranken sie unsinnig starken schwarzen Kaffee und diskutierten, erst ruhig, im Gesprächston, aber nach dem Kaffeetrinken laut und leidenschaftlich, und Zernick schrie mitunter wie ein Versammlungsredner vor einem vollen Saal. Sie diskutierten über jedes Thema, auch über den Kaffee, ob er schädlich sei oder harmlos. Sie diskutierten Holts deutschen Aufsatz oder die Reden des St. Just vor dem Nationalkonvent, die Holt im Geschichtsunterricht kennengelernt hatte. Sie stritten sich über Blohms Methode, Problemgeschichte zu treiben, die Zernick „alten Windelbandschen Käse“ nannte, über Wert und Unwert des Lateinunterrichts und über Existentialismus, wovon allenthalben die Rede war. Holt fand Zernicks Diskutierwut ebenso erstaunlich und nacheifernswert wie seine Bildung und Belesenheit und seine Fähigkeit, beliebige Mengen jenes pechschwarzen Kaffees zu vertragen. Auch mit Professor Holt, gleich während des ersten Besuchs im Werk, war Zernick in eine lange Debatte über Genetik, Darwinismus und biologisches Dunkelmännertum geraten und hatte sich nach drei Stunden hochbefriedigt verabschiedet. Aufgekratzt, in rechter Arbeitsstimmung, wie er meinte, sagte er
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draußen zu Holt: „Ein klarer Kopf, Ihr Vater! So hab ich ihn mir nach seinen Hamburger Vorlesungen vorgestellt!“ Eines Abends, es war ein Samstag, erwischte er Holt bei der Lektüre Kants und regte sich mächtig auf. „Nichts gegen Kant, mein Lieber, aber wie wäre es denn endlich einmal mit Marx, wenn Ihnen die Schule so viel Zeit läßt! Sie fressen jeden Quark in sich hinein...“ Holt widersprach. „Aha! Sie widersprechen!“ sagte Zernick. „Das heißt, Sie kommen von diesem Ingenieur Blohm! Es wird Zeit, daß ich mit dem Herrn mal ein paar Grundsatzfragen diskutiere.“ „Das könnte interessant werden!“ erwiderte Holt, „übrigens habe ich mich entschieden, Mathematik zu studieren.“ Zernicks Augen, hinter den starken Brillengläsern, wurden trüb. „Soll ich den Phrasenbrei der Geisteswissenschaften fressen?“ fragte Holt. „Den haben Sie mir in der ersten Stunde unserer Bekanntschaft, in dieser Kunstausstellung, für immer vergällt.“ „Ach Quatsch!“ sagte Zernick. „Sie sind durchschaut, mein Lieber! Sie gehen ins geistige Exil!“ „Sie haben ja selber Mathematik studiert!“ protestierte Holt. „Ich will Ihnen mal was sagen“, meinte Zernick, und er hielt mit beiden Händen seine Brille fest. „Für Sie ist Mathematik gar keine Wissenschaft! Sie spinnen sich was von einem abstrakten Reich der reinen Quantität zusammen, oder wie Ihr sehr geschätzter Herr Blohm das nennt! Ihr Beruf soll eine Alternative zur gesellschaftlichen Wirklichkeit sein!“ Er ordnete seinen gelben Schal. „Aber Sie sind durchschaut“, sagte er, „endgültig durchschaut ! Und jetzt geh ich zu Ihrem Vater! Mal wieder mit einem Holt reden, der keinen Nebel im Gehirn hat! Mahlzeit.“ „Aber so laufen Sie doch nicht gleich davon!“ rief Holt, und er lief Zernick nach ins Labor. Zernick blieb an der Labortür stehen, mit einem Lächeln, das verbindlich sein sollte, aber verlegen aussah. „Bitte um
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Entschuldigung!“ sagte er. „Guten Abend, Herr Professor! Guten Abend, Gundel!“ Professor Holt saß mit Gundel am Arbeitstisch und sagte, ohne aufzublicken: „Bitte ziehen Sie einen Kittel über, das ist Vorschrift.“ Holt und Zernick gehorchten und traten näher. Professor Holt entblutete ein Kaninchen. Gundel reichte ihm Instrumente zu. Das Tier, mit gespreizten Pfoten auf dem Spannbrett festgeschnallt, lag in tiefer Narkose. Professor Holt präparierte die Halsschlagader frei. „Arterienklemme... danke!“ sagte der Professor. Er klemmte die Ader herzwärts ab, unterband sie in Kopfnähe doppelt und durchschnitt sie zwischen den Unterbindungen. „Hakenpinzette... danke!“ Er führte die freipräparierte Ader, nachdem er sie angeschnitten hatte, in ein Glaskölbchen und löste die Klemme über dem Herzen. In schnellem Rhythmus spritzte das Blut aus der Arterie ins Kölbchen, und stumm, atemlos sahen sie alle zu, wie das Leben des Tieres erlosch. Gundel verschloß das Glaskölbchen mit einem Wattebausch und trug es in den Kühlschrank. Zernick richtete sich auf, rückte die Brille zurecht, die ihm bis auf die Nasenspitze gerutscht war, und fragte Gundel: „Was geschieht mit dem Blut? Kannst du mir das sagen?“ Holt, stumm und unbeteiligt, setzte sich abseits auf einen Stuhl. Gundel wurde ihm fremder von Tag zu Tag. Er sah, wie sie bei Zernicks Frage vor Eifer errötete, sah den Ernst, mit dem sie Antwort gab. Er dachte an ihre Worte: Es gibt so viel Neues, Interessantes... Er verstand Gundel jetzt genau, aber sie rückte dadurch nur noch weiter von ihm ab. Gundel antwortete auf Zernicks Frage, mit einem Blick aus den Augenwinkeln: „Das Karnickel, ein sogenanntes Versuchskarnickel, befand sich in einem Zustand, den man Anaphylaxie nennt. Es hatte fremdes Eiweiß, Blutserum einer Ratte, eingespritzt bekommen, und da hat es zur Abwehr in seinem Blut Stoffe gebildet, die man Antikörper nennt, auch Agglitu...“ Nun verhaspelte sie sich doch. „Das kann ich noch nicht richtig aussprechen“, sagte sie und wiederholte: „Ag-glu-ti-
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ni-ne. Diese Ag... Antikörper müssen genau geprüft werden, in Gerinnungsversuchen. Dazu braucht man das Blut.“ War das Gundel, die da sprach? Zernick zeigte sich hoch befriedigt. Holt senkte den Kopf. Wer weiß, wie rasch sie ihm ganz entglitt! Doch was konnte er tun? Arens' Einladung fiel ihm ein: „Bei dem Frühlingswetter können wir sonntags schon mal in die Berge fahren, es könnte hübsch werden. Wenn Sie noch jemanden mitbringen wollen... Sie sind ja sicherlich nicht solo.“ Holt sah gedankenverloren zu, wie Gundel den Tisch abräumte, wie sie Wasser aufsetzte und Kola kochte. Ja, er rief Arens an, noch heute abend. Aber vorher mußte er mit Gundel reden. Zernick saß bei Professor Holt, erhielt eine Tasse Kola und rührte mißtrauisch in dem fremden Getränk. Dann kostete er, verzog den Mund, schüttelte sich, bekam ganz trübsinnige Augen. „Schmeckt ja scheußlich! Entschuldigen Sie, Herr Professor, aber wie kriegen Sie das Zeug runter?“ Er kostete wieder, mit Überwindung. „Wie nennt sich das? Kola? Na ja. Und es enthält wirklich Koffein?“ Er sah erstaunt drein. „Ich dachte immer, Koffein schmeckt nach Kaffee!“ Er trank abermals und leerte mit Todesverachtung die Tasse. Das Getränk belebte ihn sichtlich. „Eigentlich gar nicht so übel! Vielleicht gewöhnt man sich daran! Gundel, kann ich noch was bekommen?“ Gundel schenkte ihm ein. Zernick trank jetzt mit Behagen. „Ich hätte ein paar Fragen, Herr Professor“, begann er angeregt. „Ich sagte Ihnen schon, daß ich über die Herren Vulgärmaterialisten promoviere, Firma Vogt und Konsorten, Materialismusstreit, Köhlerglaube und Wissenschaft... Und dieses Kola, sagen Sie mal, wenn mein Kaffee verbraucht ist, ob ich mir damit helfen kann?... Jedenfalls habe ich in Ihren früheren Arbeiten gewisse vulgärmaterialistische Züge zu bemängeln. In mancher Fragestellung gehen Sie nicht über Haeckel hinaus. Wie kamen Sie übrigens von der vergleichenden Anatomie und der Paläontologie zur Mikrobiologie? Das ist interessant!“ Er zog sein Notizbuch aus dem Tweedjackett. Gundel hatte das Labor verlassen. Holt hängte den Kittel an den Haken und folgte ihr in ihr Zimmer. 280
„Hättest du nicht Lust, morgen mit mir und Arens ins Grüne zu fahren, in die Berge, an den Stausee? Wir sind beide herzlich eingeladen.“ „Und ob ich Lust hätte!“ rief sie. „Aber?“ fragte Holt. „Da kommt doch ein Aber!“ „Du weißt doch, wir sind bei den Maivorbereitungen“, sagte sie. „Wir haben nur noch den Sonntag, sonst bleibt uns kaum noch Zeit. Geht es nicht ein andermal?“ „Ja, richtig, die Maivorbereitungen!“ sagte Holt. „Das ist freilich wichtiger!“ Er zog sich enttäuscht auf sein Zimmer zurück. Dort stand er am Fenster, stopfte sich eine Pfeife, setzte sie in Brand, zerknickte das Streichholz. Dann straffte er sich, kehrte zur Arbeit zurück. Auch am Sonntag blieb er über den Büchern. Bald erreichten Holts Leistungen in der Schule den Durchschnitt der Klasse, überragten ihn in Mathematik. Er verhielt sich reserviert und versuchte sich bei Streitigkeiten und allen politischen Diskussionen in einer neutralen oder vermittelnden Haltung. Sein Ansehen bei Lehrern und Mitschülern stieg rasch. Nur Gottesknecht blieb vorerst verschlossen. Doch dann gab er an einem der letzten Apriltage den deutschen Klassenaufsatz zurück, den ersten, den Holt mitgeschrieben hatte. Auf dem Podium, die Hefte unter dem Arm, sagte er: „Der Aufsatz ist einigermaßen ordentlich ausgefallen. Das Thema wurde ausnahmslos richtig verstanden, das heißt, der Schicksalsbegriff, wie wir ihn in literarischen Denkmälern vorgefunden haben, wurde durchweg aus aktueller Sicht und - mit einer Ausnahme - kritisch behandelt.“ Er setzte sich hinter das Katheder. „Hoffmann! So geht's ja nun auch nicht. Sie haben sich's ein bißchen zu leicht gemacht.“ Er schlug ein Heft auf. „,Was lernen wir aus Fatalismus und Schicksalsglaube? Wir lernen daraus, daß sich die beiden großen Arbeiterparteien schleunigst vereinigen müssen.'“ Man lachte. 281
„Ist das vielleicht falsch?“ fragte Hoffmann. „Wer hat hier was gegen diese Schlußfolgerung?“ „Wir wollen Zusammenhänge durchschauen, geistige Beziehungen aufspüren“, sagte Gottesknecht, „nicht aber Behauptungen aufstellen, mögen sie falsch oder richtig sein. Rasseln Sie nicht mit Ihren Krücken, Hoffmann! Mangelhaft!“ Wieder schlug er ein Heft auf. „Geißler! Auf die Unverschämtheit, die Sie sich geleistet haben, war Nicht genügend die einzig mögliche Antwort.“ Geißler erhob sich träge. „Was ich geschrieben habe“, sagte er, den Blick zur Decke gerichtet, „entspricht nicht den hier erwünschten Auffassungen.“ „Was Sie geschrieben haben“, erwiderte Gottesknecht mit Schärfe, „entspricht jenen zerstörerischen Auffassungen, von denen wir uns zu reinigen haben! Die Opposition, in der Sie sich gefallen, gewinnt mehr und mehr den Charakter des Widerstands gegen unser Programm der humanistischen Umerziehung unserer Nation!“ Er blätterte in Geißlers Heft. „Behauptungen der Art, daß heute Stalin unser Schicksal sei wie gestern Hitler, entsprechen nicht der geschichtlichen Wahrheit.“ Gottesknecht war böse. „Ihre Gedanken sind dummdreist und destruktiv!“ Geißler setzte sich schulterzuckend. Gottesknecht sagte: „Jetzt ist mir der Spaß an den Aufsätzen vergangen. Holt, teilen Sie die Hefte aus!“ In der Pause winkte er Holt zu sich. Sie gingen auf dem Korridor auf und ab. „Ich habe mich über Ihren Aufsatz gefreut“, sagte Gottesknecht. „Es ist mir eine Genugtuung, daß Sie über diesen Standpunkt, den Sie einmal vertreten haben, hinausgewachsen sind. Ich denke an unser Gespräch über die nationale Schuld, die Sie einmal meiner Generation in die Schuhe schieben wollten.“ „Ich unterhielt mich in Freiburg mit Doktor Gomulka über dieses Thema“, sagte Holt. Gottesknecht war überrascht. Holt erzählte, wie er dem Anwalt begegnet war. „Bald nach dem Gespräch in Freiburg wurde mir manches klar“, sagte er. „Sie wissen ja, wie das so ist: man erlebt und erfährt so vieles, und es ist, als ginge es spurlos über den Menschen hinweg. Aber eines Tages genügt ein Wort als Anstoß, ein Gedanke als 282
Anregung, und plötzlich erschließen sich neue Zusammenhänge... Es kann auch ein Buch sein, was den Stein ins Rollen bringt. So geht mir’s zur Zeit mit dem Roman ,Abschied' von Becher. Zernick hat mir das Buch gegeben, ich lese es schon zum zweitenmal, und es beschäftigt mich sehr. Abschied vom... Wie soll ich sagen?... vom heimischen Milieu, von der gewohnten Welt und zugleich von einer ganzen Epoche. Es geht mich unmittelbar an, auch Sie, uns alle; es ist das Thema unseres Lebens.“ „Wollen Sie nicht vor der Klasse darüber sprechen?“ fragte Gottesknecht. Es klingelte. Er blieb stehen. „Arbeiten Sie weiter wie bisher, Holt!“ sagte er. „Sie sind auf dem Weg, ein Beispiel zu geben, das mich tief optimistisch stimmt!“ Und nun war er wieder ganz der alte Gottesknecht. „Gesundheitlich geht's Ihnen doch gut?“ Er strahlte. „Na, bitte! Besuchen Sie mich doch wieder mal! Und richten Sie einen schönen Gruß aus an Gundel und Schneidereit, die beiden sollen sich auch mal wieder bei mir sehen lassen. Und was ich Sie noch fragen wollte: Wer ist eigentlich dieser Zernick? Mir scheint, Sie verdanken ihm allerhand Anregungen.“ Nach Unterrichtsschluß stelzte Hoffmann aufs Katheder. „Also, Kumpels, wir bleiben jetzt hier und basteln ein Transparent für den 1. Mai! Auf einstimmigen Beschluß des Klassenvertreters nimmt die Klasse geschlossen an der Demonstration teil!“ „Soll das etwa ein Befehl sein?“ fragte Geißler. „Die Maidemonstration geht uns überhaupt nichts an.“ Hoffmann wies mit der Krücke auf Geißler. „Seht ihn euch an, den fiesen Reaktionär!“ Man mischte sich jetzt von allen Seiten ein. „Sie haben uns gar nichts zu befehlen!“ sagte Arens, indem er gelangweilt seine Fingernägel am Revers seines Sakkos polierte. „Sie können uns lediglich bitten, an der Demonstration teilzunehmen.“ „Und Ihr Transparent“, ergänzte Geißler, „das können Sie allein basteln!“ Er verließ das Klassenzimmer.
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Arens und Holt folgten ihm. Sie hatten einen gemeinsamen Schulweg. Arens lud Holt immer dringlicher zu einer Wochenendfahrt an die Talsperre ein. „Wie wäre es am 1. Mai? Das Wetter ist günstig.“ Der Gedanke an die Berge, die Wälder, den See, an die Landschaft des Frühlings hatte sich in Holt fest mit dem Bild Gundels verbunden. Aber am 1. Mai war Gundel mit Schneidereit, mit dieser Gruppe unterwegs. „Es ist besser, wir nehmen an der Demonstration teil“, sagte Holt. „Sie haben recht“, erwiderte Arens. „Womöglich bekommen wir sonst Unannehmlichkeiten. Manchmal fürchte ich, daß einem dieser Hoffmann ganz hübsch schaden kann. Er ist übrigens mit dem Oberstudiendirektor in einer Partei.“ Holt blieb mit seinen Gedanken bei Gundel. Er sah sie jeden Tag, war ihr räumlich nahe und lebte doch unbeteiligt neben ihr her. Und er schaute zu, wie sie sich immer weiter von ihm entfernte. Es war nicht gut, sie gar zu viel mit Schneidereit allein zu lassen! Holt mußte sich nachdrücklich in Erinnerung bringen. Vielleicht gelang es ihm, Gundel am 1. Mai dem Schneidereit samt seiner Gruppe abspenstig zu machen. Vielleicht besann sie sich endlich und verbrachte den Tag mit Holt. Schneidereit lief in Hochstimmung herum, organisierte im Werk eine Betriebsversammlung, die am Vorabend des 1. Mai stattfand, in dem großen, aber wackligen Lagerschuppen hinter den Baracken. An diesem Abend sollte auch getanzt werden. Professor Holt hatte ziemlich ratlos nach einer Kapelle gesucht. „Kapelle? Nicht doch!“ hatte Schneidereit gesagt. „Machen wir alles selber!“ Er holte aus der Mönkeberger Jugendgruppe Schifferklavier- und Gitarrespieler heran, auch einen kleinen Rothaarigen, der ein riesiges Saxophon spielte und mitunter jämmerlich danebenblies. „Macht nichts“, sagte Schneidereit, „beim Tanzen kommt es vor allem auf den Rhythmus an, die Töne brauchen nicht unbedingt zu stimmen.“ Holt hatte verständnislos all diese Vorbereitungen verfolgt. Dann, am Abend, am Fenster seiner Mansarde, sah er hinten
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bei den Baracken Lichter und Lampions, hörte den fernen Trubel. Er wußte Bescheid: daß sich Kommunisten und Sozialdemokraten vereinigten, das war ein Ereignis von Bedeutung, von geschichtlicher Tragweite. Er konnte die Notwendigkeit dieses Ereignisses erklären und begründen, es stand alles in Zeitungen, Broschüren, Büchern und leuchtete ihm ein. Aber er begriff dennoch Schneidereits, Hoffmanns, Ebersbachs, Gundels Hochstimmung nicht. Ein politisches Ereignis mochte wichtig, vielleicht interessant, sogar fesselnd sein. Daß es aber jemanden glücklich machen konnte und daß man es feierte wie eine Hochzeit, das leuchtete ihm nicht ein. Er hatte noch nicht versucht, sich mit Gundel zu verabreden, er fürchtete sich vor ihrer Absage. Erst am Morgen des 1. Mai bat er sie, den Tag mit ihm zu verbringen. Da schickte sie sich schon an, zu ihrem Stellplatz zu gehen, sie wollte mit der Jugendgruppe demonstrieren, und es gelang Holt nicht, sie davon abzuhalten. Sie forderte ihn auf mitzukommen. Ihre feiertägliche Stimmung hatte etwas Mitreißendes, und er war nahe daran, ihr zu folgen. Aber er hatte Schneidereit viel zu hochmütig abgewiesen, als daß er jetzt klein beigeben und ohne weiteres bei der Gruppe erscheinen konnte. Und eine neuerliche Entschuldigung bei Schneidereit kam überhaupt nicht in Frage. Er ging in die Stadt, unglücklich, daß er wiederum ins Hintertreffen geraten war. Er lief ein Stück in einem Demonstrationszug mit, und obwohl der zusammengewürfelte Haufen nicht Schritt hielt und ein jeder dahintrottete, wie's ihm beliebte, erfüllte es Holt doch mit wachsender Abneigung, in Reih und Glied zu marschieren; er blieb an einer Straßenecke stehen. Dort sah er den Demonstrationszug eine Stunde lang an sich vorüberziehen, sah rote Fahnen, Porträts ihm völlig unbekannter Arbeiterführer, sah Spruchbänder mit Losungen, von denen er sich nicht angesprochen fühlte, und die Menschen waren ihm fremd und fern. Er sah hochgestimmte, festlich frohe, feiertägliche Gesichter neben gleichgültigen, verschlossenen, uninteressierten. Und dann sah er nur noch Begeisterung, denn nun zogen die Jugendgruppen vorbei. Er 285
sah auch Schneidereit und Gundel. Da wandte er sich ab. Er ließ sich im Menschenstrom treiben und gelangte so auf einen großen, von Trümmern geräumten Platz vor eine Tribüne, hörte die Rednerstimmen in den Lautsprechern dröhnen, hörte den fremden, ungewohnten Klang der Schalmeienkapellen, hörte Hochrufe, in die er gedankenlos einstimmte, ohne zu wissen, wen man hochleben ließ. Er fühlte sich ausgeschlossen und einsam. Er wünschte sich zu Gundel hin, aber Gundel war unauffindbar unter den Zehntausenden. Und wenn ihn der Zufall in ihre Nähe geführt hätte: Schneidereit war ja bei ihr. Holt verließ den Platz. Er suchte stillere Gegenden der Stadt, ging in der Maisonne durch fahnengeschmückte Straßen nach Mönkeberg hinaus, und der Zufall ließ ihn Egon Arens in die Arme laufen. Arens, in einem hellgrauen Zweireiher, mit Staubmantel, Glacehandschuhen und Hut, sah etwas zerdrückt aus. Er war irgendwo ins Gewühl geraten. „Ein ganz hübscher Zirkus, finden Sie nicht?“ sagte er. „Hinter mir stand Hoffmann, ein unmöglicher Mensch, er hat mir immerfort wie ein Irrer auf die Schulter geschlagen und geschrien: ,Freu dich doch, Kumpel, aber Kumpel, warum freust du dich nicht?' Ganz hübsch unverschämt“, sagte Arens empört, „als wenn ich irgendeinen Grund zur Freude hätte!“ Ein paar Ecken weiter wies er auf die umstehenden Häuser. „Sehen Sie sich mal die Fahnen an, die da aus den Fenstern hängen, überall sind helle Flecken drin! So macht man aus einer Hitlerfahne eine Kommunistenfahne, und genauso macht man jetzt auf Befehl der Besatzungsmacht aus Deutschen treuergebene Rotfrontier; das geht eins, zwei, drei, als wenn man sich umzieht. Meinen Sie nicht auch, daß wir ganz hübsch auf den Hund gekommen sind?“ „Unter Hitler, das meinen Sie doch, nicht wahr?“ sagte Holt. „Unter Hitler sind wir auf den Hund gekommen!“ „Aber selbstredend!“ rief Arens. „Das setze ich natürlich voraus, aber gewiß! Wir sind schließlich alle gegen Hitler.“ Arens' Gesellschaft war Holt plötzlich zuwider. So war er froh, als Arens sich vor der Möbelfabrik verabschiedete. 286
Holt gelangte zum Grünplatz, wanderte durch die Anlagen, suchte eine Bank. Es gab keine Bänke mehr, nur noch die steinernen Sockel; die Sitzbretter waren während des Winters gestohlen und verheizt worden. So aß er im Stehen die Brote, die Frau Thomas ihm mitgegeben hatte. Er war so hungrig, daß ihm heute sogar der ewig gleiche Brotaufstrich schmeckte, den Frau Thomas aus wenig Öl und viel Mehl und Majoran zusammenbraute. Es blieb ihm nun nichts anderes übrig, als daheim am Schreibtisch zu sitzen und zu arbeiten. Aber als er am Kinderspielplatz vorbeikam, sah er auf der niedrigen Mauerbrüstung, die den Sandkasten einfaßte, ein Mädchen sitzen, gekleidet in einen Faltenrock und eine helle Strickjacke, ein Mädchen mit langem dunkelblondem Haar, und er erkannte Angelika. Er setzte sich neben sie auf die Brüstung. „Wie war das“, sagte er. „Wollten wir nicht mal ins Kino gehen?“ Sie errötete. Dann schaute sie ihn mit blauen, freundlichen Augen an. „Ja, aber Sie sind doch fortgegangen.“ „Das war falsch, daß ich fortgegangen bin“, sagte er. „Wenn ich dich anschau, dann seh ich erst, wie falsch es war.“ Sie sagte zutraulich: „Aber jetzt sind Sie Gott sei Dank wieder da!“ „Warum Gott sei Dank?“ fragte er. „Vielleicht wird's nun mal was mit dem Kino“, sagte sie. „Denn immer nur die Schule und sonnabends Trümmer schippen und sonst andauernd allein sein... Das ist doch nichts!“ „Du bist auch ein bißchen verlassen, nicht wahr?“ fragte er. „Ziemlich sehr“, antwortete sie. „Großmutter muß ja immerfort arbeiten, und wenn sie nicht arbeitet, dann paßt sie auf mich auf.“ Holt erhob sich. Er faßte Angelika an der Hand. „Weißt du was? Wir gehen ein bißchen ins Grüne!“ Er hielt ihre Hand fest. „Ich hatte heute den Eindruck, daß es Frühling geworden ist. Wir wollen mal sehen, ob das stimmt.“ Sie folgte ihm, durch Mönkeberg, durch die Häuserviertel und Fabriken des Industrievororts, dann zwischen Gärten entlang 287
und weiter hinaus, bis auf den Höhenrücken am Rande der Stadt. Dann begann der dürre, verkrüppelte Wald. Dort setzten sie sich zwischen den Hecken und Sträuchern auf den Boden, den die Maisonne ausgetrocknet hatte. Das Häusermeer war auch heute von Dunst verschleiert. Hier hatte Holt schon einmal gesessen, mit Gundel, damals. Seither war eine Ewigkeit vergangen. Gundel und er, sie beide hatten nicht allzuviel miteinander erlebt, aber die Erinnerung reichte fürs Leben. „Woran denken Sie denn jetzt?“ Das war die Stimme Angelikas. „Frag nicht!“ sagte Holt. „Hör endlich auf, Sie zu sagen. Sag du!“ Sie hatte wieder große, erschrockene Augen und schüttelte den Kopf. Er nahm sie in die Arme. „Ach, bitte nicht, nein, nicht doch!“ sagte sie ganz verwirrt. Er küßte sie, und sie schmiegte sich schon glücklich an seine Brust und überließ ihm ihren unbeholfenen, gelehrigen Mund. Später sagte er: „Wir werden uns öfter sehen. Wir werden uns wieder und immer wieder küssen. Das ist ein verflucht gefährliches Spiel, denn dann will ich bald mehr und immer mehr von dir haben.“ „Ja? Was denn?“ fragte sie. „Doch sicher nichts Böses.“ „Nein, nichts Böses“, sagte er. „Aber würdest du mir denn mehr geben als nur den Mund?“ „Was willst du denn noch mehr haben?“ fragte sie. „Dich!“ sagte er ihr ins Ohr. „Dich will ich haben, mit Haut und Haar!“ „Ist es schlimm, wenn man neugierig ist?“ fragte sie. „Ist es schlimm, wenn man wissen will, wie das ist: die Liebe?“ Holt strich ihr übers Haar. „Die Liebe“, sagte er. „Rühr nicht dran. Die Erwartung ist das schönste. Bleib bei der Erwartung. Die Liebe ist nicht anders als das Leben, widerspruchsvoll, zugleich ernüchternd und betäubend, und wer viel davon geträumt hat, der ist nachher enttäuscht. Du wirst noch früh genug enttäuscht. Und jetzt komm, ich bring dich nach Haus.“
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Erst als es dunkelte, kehrte Holt ins Werk zurück. Wie immer, wenn er nachdenklich war, stand er lange am Fenster seiner Mansarde. Er dachte an Angelika, an Gundel und wieder an Angelika, und er beschloß, Angelika aus dem Weg zu gehen. Gleich am nächsten Morgen setzte er den Entschluß in die Tat um. Immer, während der nächsten Tage, wenn er Angelika in der Schule oder auf dem Schulweg begegnete, nickte er ihr nur flüchtig zu. Er sah, daß sie wartete, auf ein Zeichen, auf ein Wort. Aber er sprach das Wort nicht und gab nicht das Zeichen. Er vergrub sich in Arbeit. Er hatte das Gefühl, grausam zu sein; aber war er nicht besser heute grausam als morgen, wenn es zu spät war? Seit kurzem nahm er zweimal wöchentlich des Nachmittags an einer Arbeitsgemeinschaft teil; er lernte, als sei ihm das Pflichtpensum der Fremdsprachen nicht schon übergenug, Französisch. An einem dieser Nachmittage probte in der Aula der Schulchor, und als Holt eines Abends bei sinkender Dämmerung das Schulgebäude verließ, wartete in der Grünanlage Angelika auf ihn. Sie hielt seine Hand fest und zog ihn wortlos mit sich fort, bis sie wieder bei dem versteckten Kinderspielplatz anlangten; dort saß sie dann neben ihm auf der Mauerbrüstung. „Warum gehst du mir aus dem Weg?“ fragte sie. „Magst du mich nicht mehr?“ „Ich mag dich eher zu sehr“, antwortete Holt. „Siehst du, das verstehst du nicht! Es wird ein böses Ende nehmen, und ich will nicht, daß es ein böses Ende mit dir nimmt!“ „Wenn wir uns lieben, wird es ein gutes Ende nehmen!“ sagte sie überzeugt. „Aber du lügst! Alle Männer lügen. Eine andere gefällt dir besser als ich!“ Sollte er ihr von Gundel erzählen? Die beiden Mädchen kannten einander; die Mönkeberger Jugendgruppe arbeitete mit der Schulgruppe zusammen. Ja, Gundel, sie hielt zu Schneidereit, und wer wollte es Holt eigentlich verübeln, wenn er sich Angelika zuwandte? Gundel war dazu am wenigsten berechtigt. „Siehst du!“ rief Angelika. „Also doch eine andere!“
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Als Antwort küßte er sie wieder, ließ sich treiben, vergaß den Vorsatz, ihr aus dem Weg zu gehen. Aber dann versuchte er doch, sich loszureißen. „Du gehörst jetzt nach Hause!“ sagte er. „Ich muß auf dich aufpassen!“ „Meine Großmutter paßt genug auf mich auf“, sagte sie und schloß nur fester die Hände in seinem Nacken. „Sei vernünftig!“ bat er. „Du bist viel zu jung! Wenn deine Großmutter was merkt, dann können wir uns womöglich überhaupt nicht mehr treffen.“ „Werden wir uns auch bestimmt wiedersehen?“ fragte sie. „Ja“, sagte er entschlossen. „Wirklich ganz bestimmt?“ „Jede Woche einen Nachmittag“, versprach er. „Das ist schon zuviel, um ganz vernünftig zu sein, und zuwenig, um richtig unvernünftig zu werden.“ Und er traf sich nun regelmäßig mit ihr. Das eine Mal ging er mit ihr ins Kino, das andere Mal ein Stück hinaus aus der Stadt. Da er schweigsam war, drang sie mit Fragen in ihn. „Sag mir, ob ich dir gefalle! Sag mir, warum du so lieb zu mir bist!“ „Frag nicht soviel!“ sagte er. „Sag mir, warum du so stumm und verschlossen bist!“ „Stumm und verschlossen? Nicht, daß ich wüßte!“ Und oftmals vertiefte er sich in ihren Anblick. Wenn er seine Zuneigung spürte, meinte er bedrückt: „Es nimmt kein gutes Ende mit uns!“ Aber wenn es dunkelte, wenn der warme, sommerliche Abend hereinbrach, dann endete jedes Beisammensein in Zärtlichkeiten und Küssen. Es wurde Sommer, in den Trümmern blühte das bunte Unkraut. Durch Ruinen, Parkbäume oder die Kiefern der nahen Wälder schien der Mond. Wo der Fluß ausgangs der Stadt durch die Wiesen floß, schlug des Abends in den Trauerweiden der Sprosser; sie hörten ihm stundenlang zu. Und Holt riß sich jedesmal schwerer von Angelika los. Dann nahm Gottesknecht Holt beiseite, in der großen Pause auf dem Korridor. „Was ich noch sagen wollte, Holt, Sie machen mir doch keinen Kummer? Ich habe neulich gesehen, daß die
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kleine Baumert nach der Chorprobe auf Sie wartete. Das gefällt mir nicht. Das Mädchen ist zu jung für Sie.“ „Das Mädchen“, sagte Holt in einer jähen Regung von Trotz, „ist Ihnen nur in der Schule unterstellt. Das Privatleben geht keinen was an, die Zeiten sind zum Glück vorbei! Aber lassen wir das, es ist besser, wir reden von was anderem.“ 4
Müller und Frau Arnold saßen nach Feierabend im Büro des Werkes. Müller lehnte im Sessel. Er sah elend aus, erschöpft und zugleich fiebrig, seine Augen waren gerötet, seine Brust hob sich in kurzen Atemzügen. Frau Arnold trug ihre blaue Kombination und trotz der Wärme des Juniabends das übliche Kopftuch, unter dem das schwarze Haar hervorquoll. Sie hatte Augen von dunklem, leuchtendem Blau; sie hätte von auffallender Schönheit sein können, wenn sie sich nicht in dieser unscheinbaren Kleidung versteckt hätte. Sie hielt den Kopf in die linke Hand gestützt. Die Rechte führte den Stift über den Notizblock. „Und vergiß nie, daß wir eigentlich eine Schwefelsäurefabrik sind“, sagte Müller. „Der Kleinkram frißt uns auf, du wirst es merken, bald, wenn du hier allein weiterarbeiten mußt.“ „So sollst du nicht reden!“ sagte Frau Arnold. „Es gibt Schwierigkeiten über Schwierigkeiten“, fuhr Müller fort. „Verlier darüber nie den Blick für die großen Zusammenhänge. Die deutsche Zentralverwaltung wird kaum noch zustande kommen; das hängt mit der Rhein-Ruhr-Frage zusammen, im Grunde geht es um die alte Konkurrenz zwischen den deutschen und den französischen Monopolen. Ohne Zentralverwaltung sind wir aber von allen Rohstoffen abgeschnitten.“ Müller trocknete sich noch häufiger als sonst mit dem Taschentuch den Schweiß auf der Stirn. Er hielt seinen kalten Zigarrenstummel zwischen den Lippen, als er weitersprach. „Ich sagte, wir sind eigentlich eine Schwefelsäurefabrik. Bleikammerverfahren. Was von den Anlagen übrig ist, hab ich dir ja gezeigt. Doktor Bernhard hat 291
mal gewitzelt: ,Wenn's im alten Ägypten schon Schwefelsäure gegeben hätte, wäre sie auch schon nach diesem Bleikammerverfahren hergestellt worden.' Und der Bernhard versteht sein Fach. Er faselt immer von einem ganz neuen Verfahren, von dem er angeblich was läuten gehört hat. Nichts Genaues weiß man nicht. Aber wenn es nun kein Gerede ist? Wenn man Schwefelsäure wirklich aus... warte! Das heißt...“ Er langte sich eine Mappe vom Schreibtisch. „Kieserit und Anhydrit heißt es. Davon gibt es hier genug. Ich hab schon überall herumgehorcht, ob man wirklich daraus Schwefelsäure herstellen kann.“ Er blätterte wieder in dem schmalen Ordner. „Hier ist der Vorgang, du mußt meine Korrespondenz genau studieren, behalte die Sache im Auge, sie ist in der Perspektive das wichtigste überhaupt. Wenn wir erst den Volksentscheid hinter uns haben, werden wir endlich nach Plänen arbeiten. Laß dir vom Professor Bücher geben, damit du siehst, wie wichtig Schwefelsäure für die Wirtschaft ist.“ Nun saß er wohl eine Minute stumm im Sessel, von Atemnot befallen, dann sagte er: „Ich werde mich bald nicht mehr um das alles kümmern können.“ Frau Arnold legte den Bleistift hin. „Du mußt ausspannen!“ „Ich muß ausspannen“, wiederholte Müller. „Im Weißen Grund noch einmal Forellen angeln...“ Er lächelte. „Das war was! Aber sie haben die Gewässer dort oben alle leergeräubert, die Umsiedler in den Dörfern, weißt du, weil die Kulaken sie hungern lassen!“ Er erboste sich: „Sechsmal Bettwäsche für einen Rucksack Körner, oder eine Nähmaschine für 'n Pfund Speck, wenn du da nicht mithältst, rücken die nicht eine einzige Kartoffel raus!“ „Ruh dich aus! Fahr in die Berge angeln!“ beharrte Frau Arnold. „Schön wär's ja“, sagte Müller. Dann meinte er versonnen: „Du kennst's ja, wie das ist, so ganz in der Frühe, wenn die Wildbäche dampfen. Du müßtest das mal erleben, wenn dann eine Forelle nach der Fliege springt!“ Tatsächlich, er belebte sich ein wenig. „Im Weißen Grund hab ich meine größte Forelle gefischt, fast zwei Pfund, das war im Sommer zweiunddreißig, und am Abend hatten wir eine Versammlung, aber ich bin 292
trotzdem angeln gefahren, und dafür hab ich einen Rüffel bekommen. Jedenfalls hätte ich sonst meine größte Forelle nicht gefangen, und fast zwei Pfund, das ist ein ganz schönes Biest. So groß war sie.“ Er maß sie mit den Händen in der Luft. „Pack dein Angelzeug zusammen!“ sagte Frau Arnold. „Verlaß dich auf mich, hier hat alles seine Ordnung. Ich weiß doch von mir, wie gut das tut, wenn man nur mal einen Sonntag am Wasser verbringt!“ „Ich hab keine Zeit mehr!“ sagte Müller. „Glaubst du, daß der Müller vor der Zeit resigniert?“ Er warf einen beinah spöttischen Blick auf Frau Arnold. „Nein, mit mir geht's zu Ende.“ „Du siehst in der letzten Zeit sogar besser aus“, sagte Frau Arnold. „Mach mir nichts vor!“ sagte Müller, und jetzt sah er sie wirklich spöttisch an. „Da kann ich schon nicht mehr liegen vor Atemnot und komm kaum noch die Treppe hoch, da findest du ausgerechnet, daß ich besser ausseh. Was willst du eigentlich? Wenn's nach den Ärzten gegangen wäre, hätte ich schließlich schon vor einem Jahr abkratzen müssen! ,Hüten Sie sich vor den Ärzten und vor allem vor den Genossen Ärzten'... Weißt du, wer das schreibt?“ Frau Arnold schüttelte den Kopf. „Das schreibt...“, sagte Müller, und er freute sich so sehr über seine Pointe, daß er wieder in Atemnot geriet. „Das schreibt Lenin! Also merk dir's!“ „Jedenfalls sollst du nicht so pessimistisch sein!“ sagte Frau Arnold. „Das hat doch mit Pessimismus nichts zu tun! Man muß sich mit den Gegebenheiten abfinden! Jeder muß mal sterben. Auch der Müller.“ Er schloß die Augen. „Als ich noch kämpfen konnte, da kannte ich solche Gedanken nicht. Aber zuletzt hab ich nachgedacht über Leben und Tod, weil ich bald sterben werde, ich weiß es. Ich freu mich aufs Ende. Ich hab am Leben gehangen wie kein anderer, ich hab mich auf alles gefreut, was zum Leben gehört, und darum freu ich mich auch auf den Tod.“ Lind leise und sachlich, wie vorhin von Schwefelsäure und Produktionsverfahren, sprach er weiter: „Denn auch der Tod 293
gehört zum Leben. Ich hab darüber mit dem Professor gesprochen, und er hat recht, obwohl er kein Marxist ist, und die Lehre vom Klassenkampf, die kapiert er nie, schade. Aber wenn's um die Natur geht, da ist er ein Materialist und manchmal sogar Dialektiker; er kann es übrigens noch weit bringen, Zernick setzt ihm nämlich ganz schön zu! Die Natur ist Entwicklung, ist Entstehen und Vergehen, und ohne Entwicklung gäbe es keine Menschen. Der Tod, das Vergehen, ist Bedingung des Werdens, und so sind wir auch durch den Tod zum Menschen geworden. Nur der tausendfache Wechsel der Generationen konnte Entwicklung werden vom Tier zum Menschen. Du mußt das richtig verstehen: ein einzelner, Unsterblicher, wäre immer Tier geblieben. Was uns am Menschsein freut, daß wir schaffen und denken, fühlen und handeln können, das wäre niemals Wirklichkeit geworden ohne den Wechsel von Leben und Tod. Wenn man das weiß...“ Er schlug die Augen auf, und in seinem hellen, durchdringenden Blick war noch immer keine Spur Müdigkeit. „Wenn man das weiß, dann versteht man die Welt und auch sein eigenes Leben besser.“ Es war ein paar Tage später, als Schneidereit in Müllers Zimmer trat. „Hör mal zu!“ sagte Schneidereit. „Erstens: der Kohletransport ist abgesagt. Zweitens: der Professor zieht aus, die Mansarden werden frei, und Blohm will das Dach abreißen und das ganze Gebäude aufstocken. Und drittens hat Blohm die Bauzeichnungen fix und fertig in der Schublade. Da kann ich nur sagen: wieso weiß die Gewerkschaftsleitung nichts davon?“ „Erstens hab ich die Pleite mit den Kohlen schon gehört“, erwiderte Müller. „Zweitens fahr ich morgen mit Judith in die Grube, damit sie die Genossen kennenlernt, und so, wie die Judith aussieht, gibt's dann überhaupt keine Kohlensorgen mehr, denn eine schöne Frau kommt immer zuerst dran.“ „Hör mit dem Unsinn auf!“ sagte Frau Arnold. „Sie glaubt es nicht!“ sagte Müller zu Schneidereit. „Sie hat die linke Kinderkrankheit und hält es für unmoralisch, hübsch zu sein! Sie weiß nicht, daß eine Genossin, die schön ist, das 294
Schönste für einen Genossen ist, aber sie lernt es noch, sie lernt es bestimmt noch!“ Er wandte sich wieder an Schneidereit. „Drittens, du kommst mit in die Grube, wir holen dann noch Ampullen, und unterwegs haben wir Zeit, und ich kann noch mal in Ruhe mit dir sprechen.“ Schneidereit sagte hocherfreut: „Aber zwei, drei Stunden läßt du mir dort Zeit? Der Ingenieur will mir mal den Bagger zeigen!“ „Viertens: Blohms Bauvorhaben“, fuhr Müller fort, „davon weiß ich auch nichts. Was Blohm betrifft, da mußt du immer dran denken, daß du nicht der einzige bist, der's nicht erwarten kann. Aber ein neues Stockwerk im Verwaltungsgebäude war eher was als die riesige Halle, die wir sowieso nicht heizen können. Leider gibt's nirgendwo freie Baukapazität.“ „Was brauchen wir Baukapazität!“ sagte Schneidereit. „Das machen wir alles selber!“ Die Tür wurde aufgerissen. Doktor Bernhard trug im Sommer nicht Loden, sondern Lüster, und auf dem Kopf statt der zotteligen Pelzmütze eine karierte Schirmmütze. „Von wegen Kohletransport“, fing er an. „Sie wissen doch, heut war ein Kohletransport angesagt, sogar schon gestern, aber eben höre ich, es ist gestern, heut und immerdar gar keine Rede von einem Kohletransport.“ Müller seufzte. „Wissen Sie, wo unsere Briketts sind?“ fragte Bernhard. „In Moskau! In Moskau ist jetzt Brikettschwemme! Unsere Kohlen hat sich der Russe geschnappt! Der Russe demontiert das ganze Land, nur Beile und Faustkeile werden zurückgelassen!“ Doktor Bernhard war groß von Statur, aber Schneidereit war noch größer, und er schaute von oben auf den räsonierenden Mann herab. „Jetzt mal ganz sachte“, sagte er. „über die Demontagen hab ich schon zehnmal mit Ihnen geredet, aber es hat keinen Zweck, das Gequatsche hat überhaupt keinen Zweck mehr! Fahren Sie mal lieber in die Graben! Die Maschinen waren zerschossen, die Gruben abgesoffen, und der Krieg hat die Fachleute gefressen!“ „Reden Sie nicht, junger Mensch“, sagte Doktor Bernhard. „Eine Kulturnation, wie die unsere, hat in alle fünf Erdteile 295
Maschinen geliefert, und deutsche Fachleute waren in aller Welt begehrt, aber seit Sie und Ihre Genossen das Land herunterwirtschaften...“ „Wer hat heruntergewirtschaftet? Wer hat den Dreck hinterlassen, die Ruinen?“ Schneidereit sprach einen Ton lauter. „Wer hat das Land ruiniert, während meine Genossen und ich im Zuchthaus waren?“ Doktor Bernhard knurrte etwas Unverständliches. An der Tür fing er wieder an, zusammenhanglos: „Reden Sie nicht, machen Sie keine Ausflüchte! Sie wollen das Eigentum abschaffen, ich weiß Bescheid!“ „Was wir abschaffen wollen“, erwiderte Müller geduldig, „ist nicht das Eigentum schlechthin, sondern das bürgerliche Eigentum!“ „Um so schlimmer!“ sagte Bernhard. „Das heißt ja, meins wollen Sie abschaffen, aber Ihrs wollen Sie behalten!“ Und er verließ, mit einer Grimasse, das Büro. „Der Mann macht mich krank!“ rief Schneidereit. Müller sagte: „Also morgen früh um zwei fahren wir los.“ Und zu Schneidereit: „Denk bloß nicht, der Bernhard geht dir allein auf die Nerven! Der geht allen auf die Nerven. Ich glaube, der geht sich sogar selbst auf die Nerven!“ Der Lastwagen hielt, Schneidereit sprang ab und lief nach vorn zum Fahrerhaus. „Gegen zehn in der Brikettfabrik, abgemacht!“ Der Wagen fuhr an und ratterte davon. Schneidereit marschierte noch ein Stück die Chaussee entlang, dann bog er in einen Feldweg ein. Die Sonne ging auf, hinter einem flachen, kahlen Höhenrücken. Schneidereit schaute, die Lider zu einem Spalt verengt, über das Land. Dunst verschleierte die Sicht. Fern erhob sich die Silhouette der Brikettfabrik mit ihren Schloten, und die Schornsteine spien Qualm aus, schwarzen, undurchdringlichen Rauch, der sich wie ein Vorhang vor den Horizont legte. In dieser Wand aus Wolken und Qualm und Morgendunst stand blutrot die Sonnenscheibe. Nach Westen hin sah Schneidereit die Senke des Tagebaus mit dichterem Nebel gefüllt, und nun erhob sich ein scharfer Morgenwind und wehte den Nebel auseinander, daß der Blick 296
frei wurde auf Gleise und Oberleitungen, Waggons und dampfende Lokomotiven, auf den gewaltigen Bagger und die fernen Abraumhalden. Im Dunst, der wieder dichter wurde, standen nun Baracken, und immer mehr Menschen liefen Schneidereit über den Weg. Er hielt jemanden an. „Wo ist der Ingenieur? Danke.“ Schneidereit marschierte zwischen Gleisen entlang, sah lange Ketten von leeren Waggons, eine Lok, die Dampf abblies. Hier waren viele Menschen bei einem Eisenbahnwagen versammelt, der aus den Schienen gesprungen war. Mitten unter ihnen ein Mann in Lederjacke, Gamaschen, mit struppigem Haar: der Ingenieur, den Schneidereit suchte, und er wuchtete mit seinen Leuten an einer meterlangen, armdicken Eisenstange, die man unter die Achse des entgleisten Waggons geschoben hatte. Schneidereit packte wortlos mit an. Sie hebelten den Wagen hoch, die Lok zog an, vergebens. Und immer wieder: „Ho-ruck!“ Erst nach einer Stunde rollte der Wagen wieder, und die lange Kette der wartenden Waggons geriet in Bewegung. „Elend, verdammtes!“ sagte der Ingenieur, ein kleiner, sehniger Mann von fünfzig Jahren. Schneidereit besah seine Handflächen, die von Rost gerötet waren. Sie gingen zu den Baracken, der Ingenieur voran. Schneidereit fragte: „Was ist bei euch los?“ Der Ingenieur antwortete nicht. Sie traten in eine Baracke. Durch die verdreckten Scheiben schien die Morgensonne. „Setz dich“, sagte der Ingenieur. „Frühstück. Hast du was mit?“ „Was ist los?“ fragte Schneidereit. „Warum läßt uns die Brikettfabrik aufsitzen?“ „Denkst du, wir schlafen?“ entgegnete der Ingenieur. „Wir haben angefangen zu fördern, obwohl wir mit den Entwässerungsarbeiten in der Aufschlußfigur noch gar nicht so weit waren. Und warum haben wir das riskiert? Damit ihr eure Kohle bekommt. Wenn aber der Entwässerungsbetrieb nicht genügend Vorlauf hat, dann ist das Risiko untragbar groß. Bloß, das wußte ich vorher nicht, wie groß das Risiko ist.“ „Und?“ fragte Schneidereit.
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„Die Abraumbaggerstrosse ist abgerutscht“, sagte der Ingenieur lakonisch. „Da war's passiert. Elend verdammtes! Fünf Tage Förderverlust. Drei Tage hat die Brikettfabrik noch von den Bunkern leben können, dann war Feierabend.“ Schneidereit ging in dem kleinen Zimmer auf und ab. „Wer ist schuld an so was?“ fragte er. „Wer trägt die Verantwortung?“ „Die Verantwortung“, sagte der Ingenieur bedächtig, „die trage ich. Und schuld bin auch ich. Ich habe das Risiko falsch eingeschätzt.“ Schneidereit blieb stehen. „Wie kann dir das passieren?“ Der Ingenieur bückte sich nach seiner Aktentasche. Er stellte eine Thermosflasche auf den Tisch. „Ich habe keine Erfahrung im Tagebau“, antwortete er. „Ich bin Spezialist für Tiefbau, ich hab mein Lebtag in Steinkohlenschächten gearbeitet, und zwar unter den besonderen Bedingungen besonders tiefer Schächte. Aber die Partei hat mich hierher geschickt.“ „Willst dich rein waschen, was?“ fragte Schneidereit. „Die Partei soll schuld sein.“ „Quatsch doch nicht!“ sagte der Ingenieur. „Die Partei hat mich gefragt: Wir müssen fördern, können wir fördern? Ich hab sorgfältig überlegt und habe ja gesagt.“ Er sah Schneidereit an und sagte laut und hart: „Ich habe einen Fehler gemacht, aber ich konnte ihn nicht vermeiden! Ich habe nach bestem Wissen, aber ohne Erfahrung entschieden, entscheiden müssen, und ich konnte einfach nicht wissen, wie schnell der Dreck hier ins Rutschen kommt, und schon geht die Strosse ab. Im ganzen Betrieb ist nicht ein Mann, der die Verhältnisse hier besser kennt und der sie hätte richtiger einschätzen können.“ Er füllte Malzkaffee in zwei Blechtassen. Schneidereit setzte sich. „Wolltest nicht übervorsichtig sein, was?“ sagte er. „Zugegeben, so was würde mir auch passieren. Ich bewundere Müller, der hat den Betrieb durchgeschaukelt, ohne daß was Nennenswertes passiert ist. Allerdings hat er den Professor zur Seite, das ist ein Unterschied, obwohl der Professor in der Produktion auch keine Erfahrungen hat.“ Der Ingenieur holte endlich sein Frühstück hervor. Auch Schneidereit packte seine Brote aus, Röstbrotscheiben, und er biß hinein, daß es krachte. 298
„Kohldampf, was?“ sagte der Ingenieur. „Den ganzen Tag knurrt der Magen. Und dann Melasse auf den Stullen! Melasse soll giftig sein!“ „Aber nicht für mich“, sagte Schneidereit. „Mich kannst du mit Fliegenpilzen füttern. Stell dir vor: Als wir losgefahren sind, kurz nach zwei, da standen schon die ersten Leute vor den Fleischerläden nach Wurstbrühe an.“ „Wurstbrühe ist auch nicht viel giftiger als Fliegenpilze“, meinte der Ingenieur, und Schneidereit lachte. „Bis zur Ernte wird es nicht besser“, fuhr der Ingenieur sachlich fort, während er seinen Kaffee trank. „Die Leute arbeiten nicht gern. Gebt uns erst was zu fressen, sagen sie.“ „Überall dasselbe“, sagte Schneidereit und fragte: „Du zeigst mir jetzt den Bagger? Erklärst ihn mir? Ich bastle zu gern an Maschinen herum. Wir Maurer arbeiten ja noch wie im Mittelalter. Wer so einen Bagger führt, der ist wirklich mit den fortschrittlichsten Produktionsmitteln verbunden.“ Der Ingenieur sah auf die Uhr. Er packte seine Thermosflasche weg. „Unser Bagger ist überaltert und hat zuviel Schäden.“ „Ob man eines Tages mit Maschinen mauern kann?“ fragte Schneidereit. „Da wird man wohl eher die Häuser in Fabriken herstellen“, entgegnete der Ingenieur. Draußen war aller Dunst und Nebel verflogen. Der Tagebau lag im Sonnenlicht. Nur von der fernen Brikettfabrik wehte schwarzer Qualm her und verhüllte den Horizont. „Seit heute nacht fördern wir wieder“, sagte der Ingenieur. „Die letzten Tage ist hier verflucht geschuftet worden, aber ihr bekommt eure Kohle.“ Als Müller und Schneidereit nachts zur Stadt zurückfuhren, war der Lastwagen mit Kisten beladen. Frau Arnold nahm im Kohlenrevier an einer Versammlung teil, sie wollte am anderen Morgen mit der Bahn nachkommen. Es war eine helle und warme Nacht. Müller hatte sich mit ein paar Decken zwischen den Kisten einen einigermaßen bequemen Platz hergerichtet. Schneidereit saß neben ihm und 299
erzählte unermüdlich. „Vierhundert Kubikmeter Förderleistung. Hoch wie ein dreistöckiges Haus. Stromverbrauch wie ein ganzer Landkreis. Dabei ist das noch ein veralteter Typ, sagt der Ingenieur.“ „Warum bist du nicht gleich dortgeblieben?“ fragte Müller. „Der Ingenieur meint auch, wer in den Bergbau hineingesehen hat, der kommt nie wieder davon los. Du weißt ja, ich hab's mit Maschinen. Erinnerst du dich an den kleinen Automaten, den du im Werk aus den Trümmern gebuddelt hast? Der hat mir bisher am meisten imponiert. Aber so ein Bagger ist natürlich was ganz anderes. In meinem Beruf ist nichts los mit Maschinen. Aber der Ingenieur...“ „... ist dein zweites Wort“, sagte Müller. „Der ist auch aus anderem Holz als beispielsweise der Bernhard“, erwiderte Schneidereit. „Mit so einem Menschen kann man den Sozialismus aufbauen.“ Müller richtete sich auf, indem er sich mühsam zwischen zwei Kisten von seinem Lager hochstemmte. „Es ist ein Widerspruch“, sagte er, „und du mußt damit fertig werden: je besser du mit Leuten wie Bernhard auskommst, um so eher kannst du den Sozialismus aufbauen.“ „Solche Typen bremsen doch bloß“, entgegnete Schneidereit. „Nimm einen wie den Holt, der sagt mir ins Gesicht, er macht nicht mit, er ist nicht interessiert.“ Müller erwiderte bedächtig: „Aber ich hab den alten Ebersbach getroffen und hab ihn mal so nach dem Holt gefragt. Der Junge hat sich gefangen. Er ist nach ganz kurzer Zeit der Beste in Mathematik, und da kann man dem Ebersbach nichts vormachen. An dem Holt ist was dran, aber er braucht eben seine Zeit, und er darf nicht wieder unter schlechten Einfluß geraten.“ „Alles gut und schön“, sagte Schneidereit. „Politisch ist er ein Reaktionär.“ „Und warum ist er dann nicht bei seinen Bourgeois in Hamburg geblieben?“ fragte Müller. „Der Krieg hat viele Menschen aus ihrem vorgezeichneten Weg geworfen. Die sind jetzt auf der Suche. Früher war ihnen die Gesellschaft nur Kulisse fürs Ich. Heute suchen sie einen Platz unter den 300
Menschen. Wir sind die führende Kraft der Gesellschaft und müssen dafür sorgen, daß sie ihren Weg und ihren Platz finden.“ Er setzte hinzu: „Der Holt sollte im geeigneten Moment das Manifest lesen. Ich könnte mir denken, nach der Wahrheit, die darin steht, greift er wie ein Ertrinkender nach dem Rettungsseil.“ Schneidereit sagte nach einer Weile: „Wieso redest du mit Ebersbach über den Holt? Das versteh ich nicht. Du hast doch genug zu tun.“ „Du verstehst es nicht“, wiederholte Müller. „Aber du lernst es noch, du lernst es bestimmt noch! Es ist leicht, vom Sozialismus zu reden, aber verwirklichen läßt er sich schwer. Dazu brauchst du Leute wie unseren Professor, seinen Sohn, Blohm oder Hagen. Hab ich dir nicht immer wieder gesagt: Du mußt ihnen vorangehen, und damit sie dir folgen, mußt du dich ihnen verständlich machen, und das kannst du nur, wenn du sie verstehst, hab ich dir's nicht oft gesagt?“ Ein Anfall von Atemnot unterbrach Müllers Rede, ein beängstigend schwerer Anfall. Schneidereit stützte Müller, der umzusinken drohte. „Sprich nicht weiter! Mach keine Geschichten, du hast dich übernommen...“ Aber der Anfall war schon vorbei, und nur Schwäche blieb zurück. „Hör zu!“ sagte Müller langsam, mühevoll. „Ich hab dir noch was zu sagen. Der Sozialismus steht gar nicht auf der Tagesordnung. Wenn es soweit ist, bin ich nicht mehr da. Deshalb ein paar Worte vor der Zeit.“ Die Worte kamen stockend. „Hör auf mich, hör auf die alten Genossen! Du hast Mut, Klassenbewußtsein, Kraft, aber du hast noch keine Erfahrung, keine Geduld, kein Verständnis für die Kompliziertheit des Menschen. Du wirst eines Tages hier den Sozialismus verwirklichen. Das bedeutet: Du wirst vielen Menschen die gewohnte Welt wegnehmen. Der Sozialismus ist etwas anderes als nur die gewohnte Ordnung ohne ihre Mängel. Und viele Menschen hängen mit allen Fasern am Hergebrachten und können sich nur schwer vom Gewohnten trennen. Aber du baust den Sozialismus nicht, damit sich die Theorie erfüllt, und nicht nur für klassenbewußte Genossen. Außer für Junker und 301
Großbourgeoisie und ihr bezahltes Gefolge baust du den Sozialismus fürs ganze Volk, also auch für diejenigen, die da glauben, sie brauchten ihn nicht, oder für die vielen, die ihn noch nicht verstehen. Und ohne sie alle kannst du ihn gar nicht bauen. Darum mußt du lernen, um der Menschen willen zu den Menschen hart zu sein, und mußt bei dir selber damit anfangen, und zugleich mußt du lernen, die Menschen zu verstehen und dich ihnen verständlich zu machen. Horche genau hin, ob du verstanden wirst, und wo man dich nicht versteht, dort suche die Schuld auch bei dir selbst. Bequemlichkeit, Trägheit, Gewohnheit, das sind die ärgsten Feinde in dir selbst.“ Schneidereit horchte den Worten nach. Müller war jetzt so erschöpft, daß seine Stimme kaum noch zu vernehmen war. „... Gleichnis vom Heros Antäus, wie es bei Stalin steht...“, hörte Schneidereit noch, und dann hörte er nur mehr die kurzen, mühsamen Atemzüge an seiner Seite, hörte das Dröhnen des Motors und das Brausen des Fahrtwindes, der durchs Verdeck drang und über ihn und Müller hinwegwehte. Die Pfingstfeiertage waren in diesem Jahr sommerlich heiß und trocken gewesen, und Holt war mit Familie Arens in die Berge gefahren. Aber er war der Einladung doch nur widerstrebend und unlustig, schließlich gekränkt und voll Trotz gefolgt, denn er hatte lange davon geträumt, die Feiertage mit Gundel zu verleben. Schneidereit reiste über Pfingsten zu irgendeinem Jugendparlament nach Brandenburg; so hatte Holt fest auf Gundel und zwei gemeinsame Tage gerechnet. Er hatte nichts unversucht gelassen, und doch war Gundel auch diesmal verhindert gewesen. Gundel war immer verhindert, immer, wenn Holt sich um sie bemühte. Das konnte doch kein Zufall sein, so viel Zufall gab es gar nicht! Es war Absicht. Gundel wollte nichts von ihm wissen, es zog sie zu Schneidereit. Pfingsten mußte sie Schneidereit vertreten, und für Schneidereit hatte sie immer Zeit. Für Schneidereit leitete sie eine Wochenendfahrt und lud Holt erst freundlich, dann vorwurfsvoll ein, er möge doch mitkommen, es liege doch nur an ihm! Aber Holt ging nicht als Ersatzmann Schneidereits mit Gundel und zwanzig wildfremden Menschen 302
auf Fahrt, so weit war er noch nicht, sein Stolz war ungebrochen. Er wollte Gundel für sich allein oder gar nicht. Nach der Absage Gundels hatte er an Angelika gedacht, aber er hatte ihr schon eine komplizierte Geschichte aufgetischt, warum er zu Pfingsten verhindert sei... Nun begleitete er also Familie Arens an den Stausee. Er wohnte im Gasthof Zur Waldesruh. Fremdenzimmer, Bauernstube nach Tiroler Art, gepflegte Getränke, an den Wänden Geweihe, ein Wildschweinkopf, dazwischen eingerahmte Skatkarten: „Grand ouvert, Willi Seifert, 18.3.1924...“, eine ausgestopfte Wildkatze unter Glas. Der Wirt behandelte Holt als Gast der Arens mit ausgesuchter Freundlichkeit und sprach des Abends, zur Nacht, des Morgens über das schwere Leben eines Gastwirts in dieser Zeit. Aber das Zimmer oben war idyllisch. Blautannen reckten ihre Äste bis an die Fensterscheiben. Durch die Tannen ging der Blick auf den See hinab. Und nachts schlug ganz nahe der Sprosser. Oder war es die Nachtigall? Man hörte zu, lang ausgestreckt. War es ein Sprosser oder eine Nachtigall? Man müßte einen Experten fragen. Die Nachtigall kam auf der westlichen, der Sprosser auf der östlichen Hemisphäre vor, oder umgekehrt? Egal. Ob Sprosser, ob Nachtigall, einer sang wie die andere. Es war erstaunlich, wie der Vogel sang, man wurde froh dabei, traurig, einsam, glücklich. Kein Wunder, daß ihn die Dichter gepriesen hatten; das macht, es hat die Nachtigall die ganze Nacht gesungen. War das nicht Storm? Bei Storm dachte man immer an Gundel. An Gundel, die jetzt auf Fahrt war. Man schluckte die Bitterkeit hinunter, die Gedanken gingen woanders hin, zu Angelika; das macht, es hat der Sprosser damals am Rande der Stadt geschlagen. Angelika. Wenn Gundel nicht wäre, man könnte mit ihr glücklich sein. Angelika, ein liebes Mädchen, ein Kind, in dessen Nähe man froh sein könnte, wenn Gundel nicht wäre. Ja, Gundel. Warum konnte man nicht mit Gundel den Sprosser hören, in einer solchen Nacht am See? Anderen Tages gingen die Arens Holt auf die Nerven. Es gab eine Bootsfahrt auf dem Stausee und einen Fünfuhrtee auf der Terrasse des Arensschen Hauses. Es gab ferner, als Gast der 303
Familie, einen Herrn Otto Grosch mit seinen Damen, einen enteigneten Bankier, einen unglaublichen Schwätzer, wie sich zeigte, net wahr, und er flocht in seine schwäbelnde Rede ein ständiges „Net wahr“ ein. „Diese Leute sind ja gar nicht fähig, net wahr, ohne uns Wirtschaftsführer das Land aufzubauen, net wahr...“ Zwischendurch schnappte Frau Arens mit ihrer thyreogenen Adipositas verzweifelt nach Luft, aber was sie alles in sich hineinfutterte, das war unvorstellbar! Und am Abend, als man der Familie Arens dann endlich entronnen war, gab es Tanz im Gasthaus Zur Waldesruh, und es gab Obstwein und Mädchen, Mädchen aus den Dörfern ringsum, Mädchen aus der Stadt. Da wurde getanzt und geflirtet, und unten am See wurde in den Mond geschaut und obstweintrunken geküßt. Noch vor Mitternacht ging Holt auf sein Zimmer, stand am Fenster, sagte laut: „Krampf. Alles Krampf.“ Und hörte wieder dem Lied des Sprossers zu. Am folgenden Morgen, am Pfingstmontag, fuhr er in die Stadt zurück. Er arbeitete wieder, aber er war unkonzentriert, dachte an Gundel, die am Abend zurückkommen wollte, und die Arbeit dieses Feiertages blieb unergiebig. Er war eben doch sehr erschöpft, es wurde Zeit, daß es Ferien gab. Aber am Abend, als Gundel von ihrer Fahrt zurückkehrte, braungebrannt und guter Dinge, hatte Holt sein Gleichgewicht wiedergefunden. Er saß noch ein Stündchen in Gundels Zimmer, ließ sie erzählen und hörte in gelöster Stimmung zu. Dann war es schon Dienstag. An diesem Dienstag nach Pfingsten, am späten Nachmittag, kam Holt ins Büro des Werkes, um mit seinem Vater und mit Gundel über den Umzug zu sprechen, der noch in dieser Woche stattfinden sollte. Da klingelte das Telefon, Fräulein Gerlach ließ den Hörer auf den Schreibtisch fallen. „Jesus!“ Professor Holt nahm ihn auf, horchte, legte ihn auf die Gabel. „Mit Müller ist was passiert!“ Sie liefen schon alle über den Werkhof.
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In der Baracke, in dem kleinen Zimmer mit den drei Telefonen, kniete Frau Arnold hilflos neben Müller. Sie war totenblaß und bat immerfort: „Helfen Sie doch... So helfen Sie ihm doch!“ Holt und sein Vater drehten Müller auf den Rücken. Professor Holt richtete sich sogleich wieder auf. Er telefonierte, rief einen Krankenwagen, telefonierte dann mit den Universitätskliniken. Holt stand dabei, starrte in Müllers Gesicht, das vor seinem Blick verschwamm, sah das Gesicht eines Sterbenden. Das Kinn war heruntergeklappt, aus der Kehle kam ein Röcheln. Irgendwo im Zimmer war eine Stimme: „Den Chefarzt persönlich... Es eilt! Es ist dringend! Hallo, hier ist Holt... Herr Kollege, gut, daß ich Sie erreiche, es handelt sich um meinen engsten Mitarbeiter, ich lasse ihn direkt zu Ihnen bringen...“ Vaters Stimme war laut und doch ganz fern, nur Müllers Gesicht war nahe, ein vertrautes Gesicht, fahl, zerstört, vom Tod gezeichnet. Ja, es ging zu Ende mit Müller. Hast ihm was beweisen und seine Achtung erringen wollen, dereinst Anerkennung, vielleicht schon bald ein freundliches Kopfnicken, das alte, wunderbare „Wie geht's uns, Werner Holt?“. Zu spät. Jetzt gesteh dir's ein: hast nach Müllers Anerkennung gehungert, hast ihn um jeden Preis überzeugen wollen, daß es dies gibt, dieses Anderswerden, wie es in Bechers Roman heißt, hast dich abgerackert und bist dabei vielleicht schon ein bißchen anders geworden, auch Müllers wegen, bloß längst nicht genug, und das Ziel ist noch weit. Kannst ihm nicht mehr beweisen, daß du es schaffst. Nein. Der Tod kommt dazwischen und macht durch alles einen dicken Strich. Der Tod ist nahebei, drum gesteh dir's nur ein: hättest alles dafür hingegeben, dieses Mannes Freund und so wie er zu sein... Chronische Endocarditis lenta, Vaters ferne Stimme hat einen Namen für diesen Tod: metastatische Hirnembolie... Und jemand in einer blauen Montur kniet neben Müller und weint und hält beide Hände vors Gesicht und weint... Und ein Wagen fährt vor, da sind schon die Träger, und nun siehst du die Trage mit Müller im Auto verschwinden und siehst in die Abendsonne, die das Werk überflammt. Holt stand vor der Baracke neben Gundel. Sie hatten einander an der Hand gefaßt, sie wußten es nicht, sie hielten sich einer 305
am anderen fest. Ein Gefühl der Leere blieb zurück, ein Schauer ging über sie hin. Wo eben noch der Wagen gehalten hatte, hing in der Luft eine Staubwolke, die sich langsam legte. Am Abend versuchte Holt zu arbeiten, es gelang ihm nicht, er war aufgewühlt, wie verstört, er zergrübelte sich, warum ihm der Tod dieses Mannes so nahegehe. War er denn nicht mit Müller nur flüchtig bekannt gewesen? Hatte er nicht wie jeder im Werk gewußt, daß Müller unheilbar krank war und daß es eines Tages mit ihm ein Ende nehmen mußte? Aber da er nun wirklich im Sterben lag, fand Holt keine Ruhe. Er sah immer wieder Müllers Gesicht, sah es freundlich: Wie geht's uns, Werner Holt? Sah es hart, verschlossen: Sie und Ihr Freund, einer so deklassiert wie der andere. Sah es wie vorhin fahl, schon erloschen. Und Erinnerungen kamen: Peter Wieses Tod und die Gestalten im Drillich... Böses Gewissen, Wille zum Anderswerden, und Trauer, ehrliche Trauer. Am anderen Morgen rief er Gottesknecht an und entschuldigte sich. Dann fuhr er in die Universitätskliniken, die im Westen der Stadt in einem weiten Kastanienwald lagen. Dort fragte er nach Müller. Er fand die Station, aber er wurde nicht vorgelassen. Müller lebte noch und war gegen Morgen noch einmal zu Bewußtsein gelangt. Das war alles, was Holt erfuhr. Er fragte sich zum Chefarzt durch, stellte sich vor und durfte doch zu Müller ins Zimmer. Müller lag im Sterben, bewußtlos, unbeweglich. Kaum erkennbar hob sich die Brust in kurzen Atemzügen. Das wächserne Gesicht verriet kein Leben mehr, war schon eingefallen, denn mit dem Bewußtsein war der Wille erloschen, und nun hemmte nichts mehr den physischen Verfall. Aber die verhärteten Züge dieses Gesichts waren weich geworden, waren entspannt, gelöst. Holt prägte sich den Anblick des sterbenden Mannes ein, und er wußte, es war der Anblick des leidenden, kämpfenden, unbesiegbaren Menschen. Dieses Gesicht hatte ihn unaufhörlich daran erinnert, daß es eine Zeit gegeben hatte, in der das Antlitz des Menschen bespien, zertreten, vernichtet worden und in der auch Holt den Peinigern hörig und dienstbar 306
gewesen war. Es war Mahnung und endlich ein stetiger Ansporn gewesen, das Gesicht dieses Mannes. Vergiß Müller nicht. Am Fenster, auf einem Stuhl, lagen Müllers Sachen, das Jackett hing über der Lehne, Holt nahm das Abzeichen vom Aufschlag, das rote Dreieck. Dann verließ er das Zimmer. Holt kehrte zu seiner Arbeit zurück. Am Nachmittag wurde er gestört. Es war Schneidereit. Er sah etwas zerfahren aus, auch übernächtig, und als sie sich zufällig in die Augen schauten, war eine unsichtbare Brücke zwischen ihnen, etwas Gemeinsames, das sie verband: die Trauer um Müller. Ehe ihm Holt einen Platz anbieten konnte, hockte Schneidereit schon auf dem Bettrand, die Ellenbogen auf die gespreizten Knie gestützt, ein schmales Buch in den Händen. „Entschuldigen Sie, ich will Sie nicht von der Arbeit abhalten“, sagte er, mit einer Kopfbewegung zum Schreibtisch hin. Seine tiefe Stimme reihte die Worte ungewohnt eintönig aneinander. „Ich will Ihnen nur rasch was erzählen, was ausrichten. Vor den Feiertagen war ich mit Müller in der Kohle. Auf der Rückfahrt hat Müller lange zu mir geredet. Er war schon ziemlich fertig, Sie kennen ja diese Zustände, Atemnot, Schwäche, daß ihm der kalte Schweiß ausbrach.“ „Weniger Schwäche als Schmerzen“, sagte Holt. „Ich habe heut erst erfahren, daß er das letzte Jahr furchtbare Schmerzen auszustehen hatte, Embolien in Leber, Niere, Milz... Der kalte Schweiß kam ihm wohl immer nach den Schmerzanfällen.“ „Und er hat sich nie was anmerken lassen!“ sagte Schneidereit. „O verflucht, was war er für ein tapferer Genosse.“ „Ein Riese“, sagte Holt. „Wenn ich bedenke, daß dieser Riese ein Mensch war, daß sein Leben ein Maßstab ist...“ Schneidereit hatte ein kurzes Lachen, mit geschlossenem Mund. „Da meinen Sie, wir zwei, jeder auf seine Weise, wir kommen schlecht dabei weg?“ „So ähnlich“, sagte Holt. „Wobei Sie natürlich von vornherein besser abschneiden, das ist mir klar.“
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Sie sahen einander wieder an, und Holt spürte beim Anblick Schneidereits einen kurzen Augenblick, wie in ihm ein Rest der alten Sehnsucht lebendig geblieben war, jener Sehnsucht nach dem Freunde, die ihn als Knabe getrieben hatte... Schade, daß Gundel zwischen Ihnen stand. Schade, daß sie beide den gleichen Anspruch erhoben. Holt schaute jetzt beinah betrübt auf den starken, kühnen Menschen, dem er zu spät begegnet war. Damals, als es vielleicht noch Zeit gewesen wäre, als man die Ruth Wagner rächen und wie Karl Moor um Gerechtigkeit kämpfen wollte, damals war Schneidereit im Zuchthaus gewesen, und ein anderer war gekommen, und so war es geschehen, daß man sich immer tiefer in den tödlichen Irrtum verstrickt hatte. Schneidereit mochte spüren, daß Holt ihm für diesen Augenblick zugetan war, denn er sagte lebhaft: „Wenn Müller Ihnen was geraten, was vorgeschlagen hätte, sagen Sie mal ehrlich: hätten Sie's getan?“ „Zweifellos“, sagte Holt. „Das ist gut!“ Schneidereit nickte befriedigt. „Wir haben nämlich auf dieser letzten Fahrt auch von Ihnen gesprochen. Müller hat Sie bis zu seinem Tod nicht aus den Augen gelassen. Als er kürzlich den Genossen Ebersbach traf, hat er nach Ihnen gefragt. Er wußte, daß Sie schon der Beste in Mathematik sind. Er hat Ihnen vertraut, er hat gesagt: An dem Holt ist was dran. Sie können mir das glauben.“ „Sie werden mir schon nichts vorlügen“, murmelte Holt; er brauchte in diesem Augenblick alle Energie, um sich vor Schneidereit nicht anmerken zu lassen, wie ihn die Botschaft erschütterte. „Ich gebe zu“, fuhr Schneidereit fort, „daß es mir rätselhaft war, wie Müller für so was Zeit hatte, ich meine, daß er auch Sie im Kopf behielt, und Müller hat Sie so genau verstanden, wie Sie sich vielleicht selbst nicht verstehen. Ich habe da übrigens auch mein Teil gelernt.“ „Sie sind ehrlich“, sagte Holt. „Es freut mich, daß Sie mir glauben. Denn nun habe ich noch etwas auszurichten. Müller sagte: ,Der Holt sollte das Manifest lesen, ich glaube, er greift nach der Wahrheit, die darin steht, 308
wie ein Ertrinkender nach dem Rettungsseil' Ja, so hat er gesagt. Und ich hab mir gedacht, nimmst dem Holt das Buch gleich mit.“ Er erhob sich, legte den schmalen Band auf den Schreibtisch und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen. Holt blieb regungslos sitzen. Schneidereit sagte, den Blick auf Holt gerichtet: „Wie war das, vor dreiunddreißig und in der Hitlerzeit, das war doch so: sie haben viele von uns erschlagen, und immer sind die anderen fester zusammengerückt, um die Lücke zu schließen. Jetzt, wo unser Müller nicht mehr da ist, sollten wir da nicht auch enger zusammenrücken? Kommen Sie doch mal wieder zu uns, Holt! Wir haben Ihnen nun wirklich schon einiges zu bieten.“ Es dauerte ein paar Sekunden, bis Holt die Worte richtig verstand, und es dauerte abermals Sekunden, bis die Nachdenklichkeit fortgewischt war, die Erschütterung, die Müllers Botschaft in ihm ausgelöst hatte. Dann erst reagierte er auf Schneidereits Rede, und er reagierte darauf mit einem Gefühl der Abneigung und Enttäuschung, das er nicht zu beherrschen vermochte. „Ich danke Ihnen für Ihren Besuch und Ihren Bericht“, sagte er. „Das Buch werde ich selbstverständlich sofort lesen.“ Schneidereit hatte ihm die Hand geboten; Holt wußte nicht, warum er diese Hand wiederum ausschlug, aber er mußte es begründen und suchte sich die Argumente wider besseres Wissen zusammen. „Sie sollten mich heute nicht agitieren“, sagte er, „nein, das sollten Sie wirklich nicht, und Sie sollten heute auch nicht versuchen, Mitglieder für Ihre Organisation zu werben, ich finde das einfach taktlos.“ Er drehte sich mit dem Stuhl zu seinem Arbeitstisch herum und blätterte in seinen Papieren, bis er hinter sich die Tür ins Schloß fallen hörte. Holt hielt den schmalen Pappband in den Händen. Karl Marx und Friedrich Engels: „Manifest der Kommunistischen Partei“. Marx, Engels, das waren nun schon seit einem Jahr vielgenannte Namen, dennoch ungewohnt und ungewöhnlich 309
für Holt, und er hatte das Bedürfnis, nicht hier, in der gewohnten Umgebung, zu lesen, sondern mit sich und diesem Buch und einer immer stärkeren Erwartung allein zu sein. Er telefonierte mit dem Gasthof in den Bergen, fragte nach einem Zimmer, ja, für heute. Der Wirt versicherte mehrmals, daß für Holt jederzeit Unterkunft zur Verfügung stehe, obwohl das Leben eines Gastwirts in dieser Zeit nicht einfach sei. Als Holt schon seine Tasche gepackt hatte, kam Zernick, stöberte wie üblich in den Büchern auf Holts Arbeitstisch, und sein Gesicht wurde immer unzufriedener. Es wäre für Holt ein leichtes gewesen, ihn umzustimmen, er hätte nur Schneidereits Buch auszupacken brauchen, aber er wollte nicht seinen Zug versäumen und nahm lieber Zernicks Zorn in Kauf. „So ist es richtig!“ sagte Zernick. „Sie sind unmöglich, Mann! Was wollen Sie mit Spengler? Und lernen Sie etwa nur Französisch, um Cocteau und Giraudoux zu lesen?“ „Lassen Sie mich in Ruhe“, sagte Holt. „Ich komme morgen bei Ihnen vorbei.“ „Wie sehen Sie denn aus? Sind Sie müde?“ fragte Zernick. „Müdigkeit ist nichts als akuter Koffeinmangel!“ „Ich muß zur Bahn“, erwiderte Holt, „und Sie wollen ja sowieso zu Vater. Er ist in seinem Labor.“ Er fuhr mit dem Vorortzug, und am Abend stand er dann unten am See auf dem Bootssteg und schaute über das spiegelglatte Wasser, das die grünen Berge, den gelbleuchtenden Abendhimmel spiegelte. Es war, jetzt in der Woche, still ringsum; es wurde dunkel, der Sprosser sang nicht mehr, er sang wohl nur bis in den Juni hinein und blieb dann lange stumm. Holt ging auf sein Zimmer. Wie üblich war der Strom abgeschaltet. Der Wirt hatte ein tropfendes Licht hingestellt. Holt setzte sich an den Tisch, schlug das Buch auf, und den Kopf in die Fäuste gestützt, so begann er beim flackernden Schein der Kerze zu lesen. „Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst des Kommunismus“, las er. „Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet...“ Die kalte, zornige Leidenschaft dieses Stils packte 310
Holt und ließ ihn nicht wieder los. Die Gedanken des Buches stürzten ihn in eine Erregung, deren er in dieser Nacht nicht mehr Herr wurde. Jeder Satz traf ihn mit der Wucht der Wahrheit, der man nach langer Suche unversehens begegnet. „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft, das heißt, genau gesprochen, die schriftlich überlieferte Geschichte, ist die Geschichte von Klassenkämpfen...“ Das Licht brannte herunter, Holt ließ sich neue Kerzen geben und las und las. Er überflog den Text bis zum Ende, begann von vorn und las ein zweites Mal, nun langsam, sorgfältig prüfend, nachdenklich und grübelnd. Immer wieder gab es Passagen, die ihn in Aufregung, Leidenschaft, Begeisterung stürzten. Epoche der Bourgeoisie, zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen, nichts mehr zwischen Mensch und Mensch als die gefühllose bare Zahlung, alle Tätigkeiten ihres Heiligenscheines beraubt, Auflösungsprozeß der herrschenden Klasse... Hier verweilte er lange. Er las und las, bis er wieder am Ende war. „Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern“, las er, „die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.“ Als er den Kerzenstummel löschte, begann draußen schon der Tag. Holt schlief erschöpft. Nach wenigen Stunden wurde er wach und ging hinunter zum Ufer. Er sprang vom Bootssteg in den See, schwamm hinaus, schwamm, bis er in dem klaren und kalten Wasser erstarrte. Zwischen den Hirschgeweihen und Skatkarten, nahe dem ausgestopften Kuder, aß er das Frühstück, das der Wirt ihm markenfrei, für ein sündhaftes Geld, verkaufte, trank dazu Malzkaffee. Seine Gedanken lösten sich nicht von dem Buch, seine Erregung war unverbraucht. Er lief zurück zur Bahnstation. Er ließ sich Zeit, wanderte einen weiten Umweg durch die Wälder. Im Tal sah er an den Berghängen empor, gedankenvoll, von der Bergkuppe schaute er dann über das Land, zur fernen Ebene hin. Erinnerungen und Gedanken stellten sich ein, und die Gedanken ließen sich ordnen, die Erinnerungen fügten sich mit den Gedanken wie Mosaiksteine zusammen, und Erfahrung, Erlebnis, alle bitter errungene Erkenntnis und die Fülle der unbeantworteten 311
Fragen gingen in eins mit der Wahrheit und mit der lebendigen Welt, wie sie im Glanz des jungen Tages vor ihm lag. Holt besuchte in der Stadt sogleich Zernick. Wie er gestern das Bedürfnis gehabt hatte, mit sich allein zu sein, so verlangte ihn nun nach Gedankenaustausch. Draußen brannte die Sonne aufs Straßenpflaster, aber Zernicks Zimmer war kalt und düster und von eindrucksvoller Unordnung. Zernick benutzte das winzige Tischchen der Leselampe als Schreibtisch und hatte ringsum auf dem Fußboden beschriebene Blätter, aufgeschlagene Bücher, Zettelkästen und ganze Stöße von naturwissenschaftlichen Fachzeitschriften ausgebreitet. „Na, Sie?“ fragte er und blinzelte müde. „Wenn Sie mir meine Zeit stehlen wollen mit Spengler oder mit diesem philosophasternden Mathematiker Lautrich, dann gibt es keinen Kaffee, dann trinke ich die letzten Tassen allein!“ Dabei setzte er schon Wasser auf und kratzte mit dem Löffel in seiner Kaffeebüchse. „Sie haben mir doch Bechers ,Abschied' gegeben“, sagte Holt. „Ich konnte bisher nicht erklären, warum dieses Buch ein so großer Eindruck war. Es ist nicht allzu schwer, bedeutsame Ereignisse als Ausdruck geschichtlicher Bewegungen zu verstehen, Kriege, Revolutionen, obwohl mir das auch nicht ohne weiteres gelungen ist. Weit schwerer ist es, auch sein eigenes, privates, ganz persönliches Schicksal als... wenn ich so sagen darf: als Ausdruck der Epoche zu deuten. Was man so sein ‚Schicksal' nennt, das versuche ich heute in der Bindung an die großen geschichtlichen Prozesse zu begreifen, und dazu hat mich der Becher-Roman bewogen. Geblieben war aber die alte Frage, die Frage meines bisherigen Lebens, die Frage nach dem Gesetz dieser und aller geschichtlichen Bewegung.“ „Ich mußte ja das Maul halten“, sagte Zernick, während er Kaffee brühte. „Wenn ich den Namen Marx auch nur erwähnt habe, wer hat denn da immer gleich losgeschrien: ,Hören Sie von Politik auf!'?“ „Ich hatte ja keine Ahnung“, sagte Holt. „Ich habe mir Marx so vorgestellt wie die Leitartikel in den Zeitungen, und da hatte ich 312
natürlich wenig Lust, ganze Bücher davon zu genießen. Aber heute nacht habe ich das Manifest gelesen.“ Zernick ließ sich nicht anmerken, ob Holts Mitteilung ihn überraschte. Er hielt die Tasse an den Lippen, er belebte sich spürbar. Er sagte: „Ich möchte wirklich mal wissen, wer der Idiot war, der das Gerücht aufgebracht hat, Koffein sei giftig!“ „Sie hören mir ja gar nicht zu!“ sagte Holt ärgerlich. „Und warum benutzen Sie seit neuestem so viele Kraftworte: Maul, Idiot?“ „Da müssen Sie mal die Streitschriften der Vulgärmaterialisten lesen“, erwiderte Zernick. „Die haben noch ganz andere Ausdrücke!“ Er leerte seine Tasse, er war jetzt munter und aufgekratzt, während Holt nach dem überstarken Kaffee seinen Herzschlag bis in den Hals spürte. „Sie haben also das Manifest gelesen“, sagte Zernick. „Und was wollen Sie nun bei mir?“ „Nichts“, sagte Holt. Auf einmal rief er: „Ihnen muß ich's sagen: es hat mich umgeworfen! Zernick, Sie verstehen nicht, was das für ein Erlebnis war! Wir sind im Dunkel umhergeirrt, mit verbundenen Augen, und wenn ich bedenke, daß dieses Buch längst geschrieben und gelesen war, als wir an den ganzen Rassen-, Blut- und Nordmenschzauber glauben mußten und man uns mit Mythen verdummt hat, dann begreife ich gar nichts mehr! Wie war das möglich?“ „Da kommen Sie auch noch dahinter“, sagte Zernick. „Die Wahrheit setzt sich mitunter schwer durch, das sehen Sie an sich selbst. Eine bequeme und schmeichelhafte Lüge geht dem Menschen ganz glatt runter, bei einer unbequemen und harten Wahrheit aber, da bleiben Kämpfe und Krämpfe nicht aus.“ „Unbequem, hart“, sagte Holt, „ich verstehe Sie: jetzt denken Sie an die Konsequenzen. Das persönliche Leben, nicht wahr, als Konsequenz der Wahrheit, die man erkannt hat...“ Holt fuhr sich durchs Haar. „Es gab heut nacht einen Augenblick, wo mir die Konsequenz ahnungsweise vorschwebte und das Manifest mich tief deprimiert hat: ich sah mich zum Untergang verurteilt wie diese Welt, der ich mit allen meinen Anschauungen und Vorstellungen entstamme. Aber dann fand ich den einen Satz, wo von dem kleinen Teil der herrschenden Klasse die Rede ist, 313
der sich lossagt und sich der revolutionären Klasse anschließt... Und damit sind wir wieder bei Bechers ,Abschied', bei dem Wort vom Anderswerden, und dieses Wort meint ja wohl die Konsequenz.“ Er erhob sich. „Lassen wir das. Geben Sie mir neue Bücher mit: Marx, Engels. Ich hab viel zu lange sinnlos gesucht. Jetzt will ich auf der Spur bleiben.“ Zernick suchte in seinen wackligen Regalen, er mußte behutsam zu Werke gehen, sonst fiel ihm der Bretterstapel auf den Kopf. Er drückte Holt Bücher in die Arme. „Da haben Sie! Wenn Sie das alles gelesen haben, dann kann man sagen, Sie sind auf dem Wege, sich zum theoretischen Verständnis der ganzen Bewegung emporzuarbeiten.“ Daheim, in der Mansarde, blieb die Arbeit für die Schule diesmal liegen. Holt las Marx. Am anderen Tag stand er in der öden, mit Fliesen ausgelegten Halle des Krematoriums, abseits in einer Ecke. Trauerfeier für Müller. Die offiziellen Reden drangen nicht in Holts Bewußtsein. Erst als zum Schluß Frau Arnold ein paar ganz persönliche Worte sprach, horchte er auf, und dann vernahm er in der überwölbten Halle mit ihrer hohlen Akustik die Internationale. Er hatte sie noch nie bewußt gehört: Völker, hört die Signale... Er lauschte unbeweglich. Das war das Wecksignal, auf das er so lange gewartet hatte. Holt war aus dem Traum von der Wahrheit erwacht, und der Kampf um die Wahrheit begann. 5
Holt saß im Liegestuhl, ließ sich von der Sonne bescheinen und las, als Zernick durch die Büsche trat. Zernick besuchte ihn nun häufiger, denn der Weg in die Südvorstadt war weniger weit als bis hinaus nach Mönkeberg. „Sie wissen gar nicht, wie schön Sie's hier haben!“ sagte er jedesmal. Holt stellte einen Liegestuhl für ihn auf. Zernick setzte sich, holte eine Brille mit überdimensionalen Sonnenschutzgläsern hervor und vertauschte sie gegen die übliche Brille. Dann schaute er lange und sinnend in die 314
Büsche. Plötzlich richtete er sich auf. „Da stimmt doch was nicht!“ murmelte er. „Warten Sie mal, da ist doch die NahUmbral! Die ist falsch! Sehen Sie, hier ist die Fern-Umbral.“ Er wechselte nochmals die Brille und sagte zufrieden: „Ja, jetzt sieht die Welt gleich viel konkreter aus.“ Er schaute sich um. „Sie wissen wirklich nicht, wie schön Sie's hier haben!“ sagte er wieder und seufzte. Das Institut Professor Holts, das Universitätsinstitut für Bakteriologie und Serologie, war durch Luftangriffe zerstört worden und hatte nun in der beschlagnahmten Luxusvilla eines in die Westzonen geflüchteten Großindustriellen eine neue Heimat gefunden. Das Haus mit seinen Nebengebäuden lag inmitten eines mehrere Hektar großen Parks, mit Stallungen und Garagen, ferner einem geräumigen Gartenhaus, einem eingeschossigen Steinbau, der an die Zentralheizung des Instituts angeschlossen und Professor Holt als Wohnung zur Verfügung gestellt worden war. Hier hatte er sich Labor, Arbeitsraum und Bibliothek eingerichtet. Unter dem Dach gab es ein Bad, eine winzige Küche und ein paar Kammern mit schrägen Wänden, die von Professor Holt, seinem Sohn und Gundel bewohnt wurden. Holt hatte sich rasch eingewöhnt. Das Zimmer unterschied sich von der Mansarde im Werk nur durch die Aussicht. Der Blick ging nicht mehr über das Werkgelände und die Schlote von Mönkeberg, sondern durch die Wipfel der Bäume bis zu den Hügeln und den fernen Bergen. Morgens hörte Holt vor seinem Fenster die Amseln flöten, und an den Abenden, die hier ländlich still waren, drang von den Nebengebäuden des Instituts her ein leises, scharfes Pfeifen durch den Park. „Was ist denn das? Was fiept denn so komisch?“ fragte Zernick, der das Pfeifen zum erstenmal hörte. Holt amüsierte sich. „Ich mußte mich auch erst dran gewöhnen. Das sind Ratten, weiße Ratten, die werden im Institut als Versuchstiere gehalten.“ „So!“ sagte Zernick interessiert. „Ratten! Da könnte man Dressurexperimente...“ Er drehte sich im Liegestuhl zu Holt herum. „Ratten sind äußerst intelligente Tiere. Sie müssen über eine Methode zum kollektiven Erfahrungsaustausch verfügen, 315
hier ist alles noch Neuland. Wenn ich Pawlow gewesen wäre, ich hätte auch mal mit Ratten experimentiert. Aber jetzt könnten Sie eigentlich erst mal einen Topf Kola kochen.“ Er rief hinter Holt her: „Einen möglichst großen Topf, und möglichst stark, ich will heute noch arbeiten!“ In der Küche traf Holt auf Gundel. Sie hatte, als sie von der Arbeit kam, Zernick im Garten sitzen sehen und längst das Wasser aufgestellt. „Kann ich mich ein bißchen zu euch setzen?“ fragte sie. „Wenn's nach mir ginge“, erwiderte Holt, „müßtest du den ganzen Tag bei mir sitzen!“ Sie wendete den Kopf nach ihm, sie sagte über die Schulter: „Ja, wenn's nach dir ginge!“, und sie hatte dabei ihre Grübchen im Gesicht. Draußen zog Zernick mit großer Geste zwei Eintrittskarten aus der Tasche. „Das letzte Sinfoniekonzert der Saison mit Bruckners Fünfter in der Urfassung. Hier haben Sie zwei Freikarten. Ich kenne nämlich den Dirigenten.“ Holt dachte sogleich an Gundel. Schneidereit hatte sich hier draußen in der Südvorstadt bisher nur selten blicken lassen. Er war vor dem Umzug hier gewesen, hatte die Räume im Erdgeschoß, die Mansarden inspiziert und gesagt: „Vorrichten lassen? Unsinn! Machen wir alles selber!“ Er hatte die Wohnung pünktlich in Ordnung gebracht, hatte beim Umzug geholfen, und seither war er nur noch selten auf der Bildfläche erschienen. Gundel ging oft aus dem Haus, zu ihrer Jugendgruppe, auch trieb sie seit einiger Zeit regelmäßig Sport. Aber sie verbrachte nun doch so manchen Abend mit Holt. Wenn es das Wetter erlaubte, saßen sie im Garten. Sie lasen, sie zogen Kerzen aus Paraffin, sie unterhielten sich und erzählten einander. Erst hier draußen hatte Holt erstaunt und befremdet wahrgenommen, womit Gundel sich in ihrer Freizeit beschäftigte. Sie las viel, sie war eine Leseratte geworden, und sie las nicht nur die Romane der Weltliteratur von Balzac bis Tolstoi, sondern auch Fachbücher, die allerdings nichts mit ihrer Arbeit in der Spinnerei, sondern mit Tieren und Pflanzen zu tun hatten. Sie brachte das ganze Jahr über Blumen und blühende Kräuter ins Haus, preßte sie zwischen Löschblättern im Großen Brockhaus, der in Professor Holts Bibliothek stand, bestimmte 316
mit dem Tabellenbuch Gattung und Art und legte sich ein Herbarium an. „Wie kommst du darauf?“ hatte er gefragt. „Ich interessiere mich für die Natur.“ „Und Schneidereit? Interessiert sich Schneidereit auch für die Natur?“ „Mehr für Maschinen“, hatte Gundel geantwortet. „Horst hat einen Narren an Maschinen gefressen. Je größer sie sind, desto besser gefallen sie ihm.“ An dieses Gespräch dachte Holt zurück, als er Zernicks Freikarten in der Hand hielt. Er sagte sich, daß er längst einmal mit Gundel hätte ins Konzert gehen müssen, und er nahm sich dieses Versäumnis übel. Gundel brachte den Krug mit Kola, dazu Gläser, feuerfeste Bechergläser aus Professor Holts Labor. Zernick, ehe er Gundel begrüßte, vertauschte seine Fern-Umbral gegen seine Nah-Umbral und erklärte: „Gundel, du siehst ja heute wieder zauberhaft aus.“ Holt ärgerte das. Die Bemerkung war albern und überflüssig, denn wie Gundel aussah, ging außer Holt keinen was an! Freilich hatte Zernick recht. Gundel trug ein Kleid aus weißem Leinen, das Frau Thomas aus einem Bettlaken geschneidert hatte. Gundel war schon auffallend von der Sonne gebräunt, und wie sie Zernick nun unbefangen und anmutig mit einem Kopfnicken für das Kompliment zu danken wußte und sich geschmeidig im Liegestuhl niederließ, gefiel sie Holt so gut, daß er beinahe schmerzhaft seinen Herzschlag spürte. Er hielt die Augen halb geschlossen. Gundel durfte nicht merken, daß er sie betrachtete; Gundel durfte überhaupt manches nicht merken. Holt verbarg sich vor ihr, spielte den guten Kameraden, gestand niemandem, kaum sich selber ein, wie sehr er um sie litt, wann immer sie das Haus verließ, und er atmete erst wieder auf, wenn er ihren vertrauten Schritt auf der Treppe hörte. Seit der Rückkehr aus Hamburg war er in seinem Inneren ruhelos geblieben. Und kein Zweifel: Gundel nahm ihm die Ruhe. Zernick trank das vierte Glas Kola, wurde von Glas zu Glas munterer und referierte aus seinem unerschöpflichen Bildungsschatz die Naturgeschichte der weißen Ratte, Rattus 317
norvegicus, ein Thema nach Gundels Geschmack. Sie hörte gespannt zu. „Ein erstaunliches Tier!“ sagte sie. Holt sah Zernick sonst gern, aber heute fühlte er sich durch seine Gegenwart gestört. Zernick brauchte sich nicht um Gundel zu kümmern, sie hatte hier im Hause Anregung und Unterhaltung genug. Das Motorengeräusch eines Autos wurde laut, Professor Holt kam aus dem Werk. Er hatte einen gut erhaltenen Gebrauchtwagen gekauft, denn der Weg von hier nach Mönkeberg und von dort zur Universität war weit. Holt atmete auf, als Zernick sich erhob. Zernick trank im Stehen rasch noch den Kolakrug leer, schüttelte sich, sagte: „Schmeckt scheußlich! Aber es regt unerhört an!“ Er wollte jetzt noch ein Stündchen mit Holts Vater diskutieren, dem er zusetzte, die Hamburger Vorlesungen neu zu bearbeiten und sie dann bald hier an der Universität anzusetzen. Zernick kannte die Geschichte dieser Vorlesungen, er schwor: „Diesmal schicken Ihnen die Jesuiten keine Rollkommandos ins Kolleg!“ Endlich blieb Holt mit Gundel allein. Er war befangen, so erging es ihm oft: er wartete auf Gundel, und wenn er dann mit ihr zusammen war, wußte er nicht, was er sagen sollte. Er raffte sich auf, fragte nach ihrem Betrieb, ob man nun endlich einen ordentlichen Lehrvertrag mit ihr abgeschlossen habe. „Vielleicht im Herbst“, sagte Gundel. Müller war im Begriff gewesen, es durchzuboxen; wer weiß, ob es nun etwas wurde. Holt nickte zerstreut. Es war Sommer. Die großen Ferien standen vor der Tür. „Wann nimmst du Urlaub?“ fragte er. „Ende Juli bis in den August“, antwortete Gundel. „Wir haben Plätze in einem Zeltlager an der Ostsee.“ Was sie sagte, gab ihm einen Stich, das „Wir“ nicht weniger als das Zeltlager an der See. Gundel ging unbeirrt ihrer Wege, sammelte Pflanzen, interessierte sich für die Natur, ging winters mit Schneidereit turnen und sommers schwimmen, und sommers wie winters Handball spielen, und nun verschwand sie kurzerhand zwei Wochen lang aus Holts Gesichtskreis. Gundel verreiste mit Schneidereit, sie fuhr mit ihm an die See: diesem Gedanken war Holt nicht gewachsen. Er sträubte sich, zu Ende zu denken, was diese Reise bedeuten könnte. Er lag 318
apathisch im Liegestuhl, die Abendsonne schien in sein Gesicht. Er mußte jetzt alle Bitterkeit, allen gekränkten Stolz herunterschlucken und mußte sich abfinden und obendrein zu Gundel freundlich und höflich sein, etwas anderes blieb ihm gar nicht übrig. Also schlug er die Augen auf und sagte: „Würdest du mir die Freude machen und mit mir in ein Sinfoniekonzert gehn?“ „In ein Konzert? Ich war noch nie im Konzert!“ rief sie. Niemand konnte sich so freuen wie Gundel. Ihre Dankbarkeit söhnte ihn aus. „Am Sonnabend“, sagte er. Aber da schwand die Freude aus ihrem Gesicht, und sie sah betrübt und zugleich nachdenklich auf Holt. „Am Sonnabend bin ich aber schon verabredet“, sagte sie. „Ich will mit Horst ins Theater.“ Mit Horst. Er konnte das nicht mehr hören! Sie schlug seine Einladung aus, doch Schneidereits nahm sie an. Kam ihm der Mensch denn überall in die Quere? Und ins Theater? Gundel ging ins Theater? Kam er denn überall zu spät? Diese Absage traf Holt tiefer als jede andere zuvor. Schneidereit sollte sich gefälligst um seine Jugendorganisation und seine Politisiererei und meinetwegen um irgendwelche Maschinen kümmern! Es genügte, weiß Gott, wenn Schneidereit mit Gundel beim Heimabend, beim Trümmerschippen, beim Sport zusammen war. „Der Schneidereit...“, sagte Holt. Dann kam eine lange Pause. „... könnte ja auch mal zurückstehen“, vollendete Holt. Und er bat: „Sag ihm diesmal ab! Komm mit mir ins Konzert!“ „Die Karten hat uns Herr Gottesknecht geschenkt“, entgegnete Gundel. „Es wäre eine Mißachtung.“ Sie rief: „Ich freu mich darauf, ich war doch noch nie im Theater!“ Was hat sich denn Gottesknecht einzumischen! dachte Holt, hat sich denn alles gegen mich verschworen? Er wußte, daß Gundel und Schneidereit Gottesknecht seit jenem Werbeabend kannten und ihn gelegentlich besuchten. Wozu gab Gottesknecht den beiden Theaterkarten? „Na schön“, sagte Holt. „Hab ich halt wieder mal Pech. Ich hab immer Pech bei dir, Gundel.“ Er sagte es salopp, etwas 319
leichthin, und verbarg so seine Enttäuschung. Gundel wollte etwas entgegnen, sie wollte ihn wohl vertrösten, aber er hörte sie nicht an, er hatte noch eine Mathematikaufgabe zu lösen und zog sich auf sein Zimmer zurück. Die Aufgabe, die Ebersbach mit einem hinterhältigen Feixen, gleichsam im Vorbeigehen, gestellt hatte, erwies sich bei näherem Zusehen als ausgemachte Teufelei: ein Dreieck war aus den drei Höhen zu konstruieren. Holt versank in ein langes Nachdenken. Er vergaß alle Enttäuschung. Er war glücklich, als ihm die Lösung schließlich gelang. Der alte Ebersbach hielt sich an keinen Lehrplan. Er behauptete, so schlau wie diese Lehrplanbastler sei er schon lange. Er unterrichtete, wie es ihm gerade einfiel. Wenn er Lust hatte, war er ein ausgezeichneter Lehrer, der in seiner schrullenhaften Art aus den Schülern Erkenntnisse hervorholte, die sie sich selbst nicht träumen ließen. Wenn er keine Lust hatte, was öfters vorkam, redete er eine Stunde lang in seinem behaglichen Dialekt auf die Schüler ein, wobei er vom Hundertsten ins Tausendste geriet. Er trug auch jetzt im Sommer seinen braunen Anzug mit den herzförmigen Lederflicken an den Ellenbogen, aber an den Füßen statt der gelben Filzschuhe ein Paar ausgetretene Pantoffeln. So saß er hinter dem Katheder, den Kopf in die Rechte gestützt, die krumme Pfeife im Mund, und in der Linken hielt er einen Brief, mit dem er sich Kühlung zufächelte. „Sauhitze!“ murmelte er vor sich hin. „Arens, an die Tafel, Hoffmann, mach 's Buch zu... Ich hab da 'n Brief bekommen. Buck, quatsch nicht, oder von mir aus kannste quatschen, ich fall ja nachher nicht durchs Abitur... Arens, schreib an, warte mal, wozu soll ich mich anstrengen, hier hast du's Buch, schreib die Aufgabe an die Tafel. Was wolln Sie denn eigentlich mal für eine Wissenschaft studieren?“ „Medizin“, antwortete Arens mit einer leichten Verbeugung gegen Ebersbach. „Medizin ist doch keine Wissenschaft“, sagte Ebersbach, „das ist doch Totemismus! Los, hau ran, Arens, für negatives X springt Y nach unendlich. Du kommst mal wieder mit dem 320
Unendlichen nicht zurecht, mein Guter, das seh ich dir doch an!“ Er kratzte sich die Glatze; das hieß, es folgte nun eine jener Kathederblüten, die Holt begeistert mitzustenographieren und dann Blohm vorzulesen pflegte. Und Blohm geriet darüber stets ganz aus dem Häuschen, einmal vor Vergnügen und ein andermal vor Ärger. „Auch mir wurde die Freude am Unendlichen schon in frühester Jugend vergällt“, sagte Ebersbach. „Seit Cantor herrscht im Unendlichen eine preußische Ordnung. Aber so richtig unordentlich war mir's eigentlich lieber.“ Man lachte und applaudierte. Ebersbach kratzte sich abermals den Kopf. „Überhaupt Cantor!“ sagte er. „Wissen Sie, wie der sich eine Menge vorgestellt hat? Wie 'n Abgrund. Ich kapier das bis heute nicht. Für mich ist eine Menge was ganz Volles, etwas, das richtig überläuft.“ „Sie sind ja heute ganz groß in Form“, sagte Holt. „Halt 's Maul“, sagte Ebersbach. „Arens, setz dich, du bist zu blöd für die Mathematik, studier lieber Schwarze Magie und werde Arzt. Ich bin“, sagte er nun und flegelte sich noch bequemer in seinen Stuhl, „ich bin übrigens ab sofort mit Professor anzureden.“ Er zog den Brief aus dem Umschlag und tippte mit dem Mundstück seiner Pfeife darauf. „Ein hochwohllöblicher Senat hat mich zum ordentlichen Professor für Zahlentheorie berufen. Nein, Hoffmann, doch nicht die Fakultät hier am Ort, bei den intuitionistischen Heinis hab ich noch nie was gegolten. An der See ist das, ganz weit weg.“ Er gähnte. „Ich und Professor. Die werden sich noch wundern. Die wissen ja nicht, wie unmenschlich faul ich bin.“ Er steckte den Brief weg, kletterte vom Katheder und stellte sich zwischen die Bänke. „Wollen wir nicht schnell noch bißchen was lernen, wie? Nach den Ferien wird der Lorentz mit euch im Stoff weiterwursteln. Wir fangen was Neues an, das ist wichtig, deshalb steht's nicht im Lehrplan. Theorie der Beobachtungsfehler. Wahrscheinlichkeitsrechnung. Holt, an die Tafel!“ Holt ging nach vorn. Es war jetzt still in der Klasse. „Laß uns bißchen philosophieren“, sagte Ebersbach. „Wir haben mit dem 321
Zufall zu tun und wollen ihm mathematisch zu Leibe.“ Er sprach jetzt anders als vorhin, konzentriert und langsam. Schade, daß wir Ebersbach verlieren, dachte Holt. In der Pause schwang sich Hoffmann aufs Katheder. „Ebersbach bekommt ein Abschiedsgeschenk. Morgen bringt jeder Geld mit!“ „Es ist die reine Diktatur!“ rief Geißler. Hoffmann wurde grob. „Für so eine Vogelscheuche wie dich ist Diktatur das einzig Richtige. Paar in die Fresse!“ „Aber meine Herren!“ sagte Arens. „Wir sollten doch endlich zusammenhalten!“ „Zusammenhalten?“ fragte Buck, und es litt ihn nicht länger in seiner Bank. „Ich werde dazu reden! Soll ich? Eine bürgerlichdemokratische Revolutionsrede gegen Willkür und Diktatur der Lehrer und für die unverbrüchliche Einheit der Schülerschaft!“ Er stieg auf die Bank, schrie mit erhobenen Fäusten: „Schüler! Discipuli! Scolaren! Der Gegner unserer Freiheit hat die Verschwörung der Pauker angezettelt, um die junge Selbstbestimmung der Schülerschaft in Strömen von Schweiß zu ertränken! Wir müssen die Kanone der Vernunft und des Fleißes auf die Lehrer abfeuern und sie unter dem Kalk ihrer eigenen Hirne begraben! Wir müssen...“ Die Tür flog auf, Gottesknecht trat ein, sicherlich hatte er draußen gelauscht. „Ich werde Ihnen was!“ sagte er. „Von wegen Kalk, mein Lieber, wir werden ja sehen, wer hier verkalkt ist! Los, kommen Sie vor! Sie werden geprüft, das Programm der Girondisten, wenn ich bitten darf, und das geht noch auf Ihr Zeugnis!“ Buck kletterte kleinlaut vom Tisch, er war unvorbereitet und plagte sich sehr. Aber Gottesknecht schien gar nicht zuzuhören. Er wanderte durch die Bankreihen und blieb endlich bei Holt stehen. „Ich möchte mit Ihnen reden“, raunte er Holt zu. „Warten Sie nach dem Unterricht auf mich.“ Seit Holt in der Südvorstadt wohnte, gingen sie oft nach Schulschluß zusammen nach Hause. Meist ließ Gottesknecht sich erzählen, von Müllers Tod, von Holts erster Begegnung mit Marx und Engels, von seinen Hamburger Erlebnissen, von Uta 322
oder Doktor Gomulka. Heute aber, auf dem Weg durch die Anlagen, blieb Gottesknecht plötzlich stehen. „Ich verdanke Ihnen manche Anregung“, sagte er, und er sah bedrückt aus. „Der Becher-Roman, die Exilreden Thomas Manns, das ,Venetianische Credo', alles Hinweise, die eigentlich der Lehrer dem Schüler hätte geben müssen.“ „Darauf kommt's wohl nicht an“, sagte Holt. Gottesknecht nickte. „Ich bin Ihrer Anregung auch im Hinblick auf Marx gefolgt“, fuhr er fort. „Und ich beneide Sie um die Rücksichtslosigkeit und Unbekümmertheit... kurz: um den Elan, mit dem Sie an Marx und Engels herangehen. Ich habe es auch versucht. Ich wollte mir Zugang verschaffen und habe mir schon vor Monaten den Mehring vorgenommen, den mir Schneidereit zu Weihnachten geschenkt hat. Aber ich bin sofort der Länge lang hingefallen. Ich vertrage viel, Holt. Aber daß mir Mehring den Schiller verunglimpft, das vertrage ich nicht! Ja, er verunglimpft ihn, er gibt ganz unqualifizierte Urteile! Wo bleibt die schuldige Ehrfurcht vor geistiger Größe?, das frage ich Sie, und Sie können sagen, was Sie wollen: ich komme auch bei Marx und Engels nicht darüber hinweg, daß sie alles niederreißen und in den Staub werfen, was mir lieb und wert ist. Ich bin nun mal ein Bürger und hänge an dem ganzen Kram.“ Holt schaute Gottesknecht zunächst nur verwundert an. „Verstehen Sie mich recht“, fuhr Gottesknecht fort, und er nahm Holt am Arm. „Ich will ihn, diesen humanistischen Traum von der Freiheit des Menschen, und war er in Ketten geboren. Ich hänge nun mal an Kants Sittengesetz, und ich ertrage es nicht, wenn man das alles verneint.“ Er rief: „Denken Sie nur, Marx nennt den kategorischen Imperativ ,alten kantianischen Plunder'!“ „Aber es ist doch Plunder!“ sagte Holt. „Machen wir uns doch nichts vor.“ Gottesknecht ging eine Weile stumm neben Holt her. Dann sagte er: „Aber es ist groß gedacht!“ „Na und?“ fragte Holt. „Dann ist es eben groß gedachter Plunder.“ Gottesknechts Gesicht verschloß sich.
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Holt sagte sanfter: „Ich verstehe Sie, Herr Gottesknecht. Sie hängen an alledem.“ Es erschütterte ihn zu sehen, daß sein Lehrer sich nicht weniger als er selbst abmühte und quälte, dem Denken eine andere als die herkömmliche Richtung zu geben. „Sie hängen also am Humanitätsideal der Klassik“, fuhr er fort, „wie Sie's uns in der Schule nahebringen. Ich hänge nicht daran. Aber ich muß auch mein Teil Hergebrachtes loswerden. Ich bin in der Verachtung aller Humanität erzogen worden. Ist es denn nicht unsere furchtbarste Erfahrung, daß jede überkommene Humanität erledigt war, sobald ein Sturm SA mit Schlagringen und Revolvern aufmarschierte? Ich habe Ihnen von Peter Wiese erzählt, wie er umgekommen ist. Peter Wiese, so sehe ich das heute, war damals eine humanistische Alternative zu... Wolzow, und war doch eben nie eine echte Alternative, obwohl in ihm Ihr klassisches Humanitätsideal lebendig war. Wie sie ihn einfach abgeschossen haben, da ist auch seine Humanität bankrott gewesen. Groß gedacht, aber bankrott. Edel sei der Mensch, hilfreich und gut... Es war an einer Panzersperre im Osten, da erwies sich Peter Wiese wirklich als edel, hilfreich, gut, es fehlte ihm nur eins: er hätte Konjews Panzerarmeen hinter sich haben müssen! Der Humanismus muß militant sein, streitbar, bis an die Zähne bewaffnet. Glauben Sie mir bitte, Herr Gottesknecht, ich habe für ewig genug vom Krieg. Nie wieder Krieg! Wer mich kennt, der weiß, daß ich's ehrlich meine. Nie wieder Krieg! Aber wenn ich an Peter Wiese denke, wenn ich dran denke, was da bei meinen Verwandten in Hamburg für Typen frei herumlaufen, dann wünsche ich mir ein Gewehr, dann möchte ich mich heute schon umsehen nach den richtigen Waffengefährten, und Sepp Gomulka wär auch dabei und natürlich der...“ Holt schwieg. Und natürlich der Schneidereit. „Ich hoffe, Sie verstehen mich“, fuhr Holt fort, und er war ein paar Augenblicke tief verwirrt. „Kein einziges Wort gegen die klassische Humanität als Idee. Der ,Nathan' ist herrlich, die ,Iphigenie', wenn der Tyrann von edler Menschlichkeit bezwungen wird. Das ist so schön wie das Märchen vom Sänger im ,Heinrich von Ofterdingen', wo der König sogar einen hergelaufenen Jüngling zum Schwiegersohn nimmt, bloß weil 324
der so ergreifend dichten kann. In Wirklichkeit hätte der den vielleicht achtkantig rausgefeuert, und bei Bergmanns in Lübeck würde ich mich schon mit Gundel unmöglich machen. Aber nun langer Rede kurzer Sinn: in Wirklichkeit ist jeder Humanismus nur zum Schlachtopfer des Tyrannen gut, wenn er nicht über die stärkeren Panzerarmeen verfügt. Das haben wir schließlich erlebt.“ „Und was wird aus den großen Denkmälern der klassischen Humanitätsidee?“ fragte Gottesknecht. „Sie werden weiterleben“, sagte Holt, „als Denkmäler der Kunst, des guten Willens. Aber heut als Weltanschauung aufgetischt, da bleibt's dabei: Plunder, Herr Gottesknecht, Geschwätz. Oft genug Lüge. Gehen Sie mir weg mit einer Weltanschauung aus frommen Sprüchen von Kant bis Albert Schweitzer! Bestenfalls Illusion. Und an Marx ist ja gerade diese kalte, kritische Revision des geistigen Inventars so bestechend! Marx macht mir und sich selber nichts vor. Lesen Sie die Frühschriften, da kommen Sie nebenbei auch als Stilist auf Ihre Kosten, das ist ein herrliches Deutsch, und die Zeitungsleute sollten davon lernen. Daß er alles niederreißt, das stimmt übrigens gar nicht. Die Abrechnung mit dem bürgerlichen Denken, die Sie Niederreißen nennen, ist im Grunde eine einzige große Bejahung des Menschen, ein großer Traum von der Zukunft. Marx wirft durchaus nicht alles in den Staub, er hat auch seine Tradition. Sie kommen von Kant her, da verstehe ich, wie Ihnen zumute ist. Aber man kann auch andere geistige Ahnenreihen aufstellen: Heraklit, Giordano Bruno, Hegel, Feuerbach; ich hab mich da in der letzten Zeit hineingelesen. Eins muß man allerdings wissen...“ Sie waren am Institut angelangt. Gottesknecht sagte: „Bitte, reden Sie weiter!“ „Über eins müssen wir uns klar sein“, fuhr Holt fort, „daß wir uns lossagen müssen, und nicht nur von der Naziideologie, nein, auch von Herkömmlichem, das uns einmal gemäß zu sein schien und das uns ausgefüllt, vielleicht überfüllt hat, wie es bei Rilke heißt: ,Uns überfüllt's. Wir ordnen's. Es zerfällt. Wir ordnen's wieder und zerfallen selbst.' Ich will nicht selbst zerfallen, Herr Gottesknecht. Darum versuche ich's nicht mehr 325
auf alte und übliche Weise zu ordnen, das Herkömmliche, Gewohnte, die überkommenen Ideen. Nein, ich reiße es aus.“ Gottesknecht gab Holt die Hand. „Da haben Sie mir eine ganze Rede halten müssen... Jedenfalls war mir Ihre Meinung interessant. Grüßen Sie Gundel und Schneidereit.“ „Eine Frage“, sagte Holt. „Nicht wahr, Sie haben den beiden mit einer bestimmten Absicht Theaterkarten geschenkt?“ „Sie finden das sicherlich albern“, sagte Gottesknecht. „Aber das Schicksal der großen Denkmäler liegt mir eben doch am Herzen! Literatur will in den Menschen leben, nicht in Museen.“ „Und dann ausgerechnet Schiller!“ sagte Holt vorwurfsvoll. „Sie sind leichtsinnig, Herr Gottesknecht! Das kann nämlich ins Auge gehen.“ Das Schauspielhaus war nur noch ein hohles Mauergeviert, mit Brandschutt und verrosteten Stahlträgern gefüllt. Das Ensemble spielte in einem ehemaligen Vorstadtvariete. Der öde Saal war heute wie allabendlich bis auf den letzten Platz gefüllt, mit Frauen und Mädchen in notdürftig zurechtgeflickten Kleidern, Männern in zerknitterten Zellwollanzügen oder umgefärbten Monturen und mit Soldaten und Offizieren der Besatzungsarmee in ihren erdbraunen Uniformen. Mittendrin saßen Gundel und Schneidereit. Gundel fand alles neu und interessant und gab sich der Erwartung hin. Schneidereit aber war mit dem festen Vorsatz hergekommen, sich nichts vormachen zu lassen. Konnte nicht auch das Stück eines großen Dichters etwas wie Opium fürs Volk sein? Schneidereit studierte das Personenverzeichnis auf dem Programmzettel. Ein Spiel von Grafen und Grafensöhnen stand bevor, von Bastarden eines Edelmannes und Libertinern, und Libertiner waren laut Fußnote „ausschweifende Menschen“. „Daniel, ein alter Diener im Moorischen Hause“, las Schneidereit. Nach dem Klassenbewußtsein des alten Dieners fragte man besser nicht. Schon verlöschte das Licht. Der Vorhang hob sich. Ein kühler, fremder Geruch wehte von der Bühne her. Schneidereit neigte sich leicht nach vorn. Ein Schaukelstuhl. Ein alter Mann. Aha, das war er: Maximilian, regierender Graf 326
von Moor. Eigentlich sah er gar nicht wie ein Bauernschinder aus mit seinem weißen Haar und dem zerfurchten Gesicht. Aber auf eine fromme Maske fiel Schneidereit nicht herein. Der Graf war alt, schwach, krank, er sprach mit hoher, zittriger Greisenstimme. Wollte man hier das feudale Pack zu Märtyrern machen, denen mit der Bodenreform unrecht geschehen war? Der Alte hatte Sorgen um seinen Sohn Karl, von dem in diesem Moment Nachricht anlangte. Franz von Moor brachte den Brief herein, er trug einen bunten Schlafrock und ging erst mal zur Seite, um eine Träne des Mitleids mit seinem verlorenen Bruder zu vergießen. Franz war Schneidereit vom ersten Augenblick an zuwider. Glorifizieren wollte das Stück die Junker jedenfalls nicht. Laut Brief hatte Bruder Karl in Leipzig das Maß seiner Schande gefüllt. Schneidereit schüttelte den Kopf. Vierzigtausend Dukaten Schulden! Paß auf, die preßte der Alte trotz seines würdigen Bartes aus seinen Bauern heraus! Die Tochter eines Bankiers allhier entjungfert und deren Galan im Duell getötet und dann mit sieben anderen dem Arm der Justiz entlaufen... Zum Glück war diesem Gelichter hierzulande das Handwerk gelegt worden. Aber jetzt stolperte Schneidereit über einen Widerspruch: Daß Karl schon immer den Anblick der Kirche wie ein Missetäter das Gefängnis geflohen war, daß er sein Geld dem ersten Bettler in den Hut geworfen hatte, während Franz und der Alte sich daheim mit frommen Gebeten und heiligen Predigtbüchern erbauten, das paßte doch gar nicht zu Schulden und Mord! Es sei denn, es wäre ein pfäffisches Stück, das vor den üblen Folgen der Gottlosigkeit warnen sollte. Aber eher war Franz eine Warnung vor den üblen Folgen der frommen Erbauung! Schneidereits Mißtrauen legte sich. Was Franz seinem Bruder als Makel nachsagte: feurigen Geist, Offenheit, Weichheit des Gefühls und männlichen Mut, das machte ihm Karl nur sympathisch! Die Leipziger Untaten paßten viel eher zu Franz, dem Heuchler, der sich jetzt beschwerte, ihn habe man immer nur einen trocknen Alltagsmenschen geschimpft, den kalten, hölzernen Franz... Schneidereit dachte: Wer weiß, ob der Lump den Brief nicht erfunden hat! Denn worum es ihm in Wahrheit zu tun war, das kam jetzt ans Licht: 327
„Nun also, wenn Ihr dieses Sohnes Euch entäußertet?“ Der Lump wollte die Grafschaft, sonst nichts! Merkte der Alte denn nicht, was hier gespielt wurde? Jetzt beauftragte er den Lumpen auch noch, den Antwortbrief an Karl zu schreiben! War denn der Alte nicht bei Verstand? Außer ihm zweifelte doch weit und breit kein Mensch mehr daran, daß nun eine ungeheure Gemeinheit zusammengebraut wurde. Sie wurde zusammengebraut. Kaum war der Alte aus dem Zimmer, heuchelte der Lump nicht länger, saß, umhüllt von seinem bunten Schlafrock, im Lehnstuhl, schaukelte sich, tippte die Spitzen der gespreizten Finger aneinander, lächelnd, eiskalt. Er bekannte die Fälschung des Briefes, bekannte auch, über die Natur ungehalten zu sein. Warum war er nicht der einzige, warum nicht als erster aus dem Mutterleib gekrochen? Der Kerl hatte eine infame Art, sich auszudrücken. Hatte Erfindungsgeist, ein Gewissen nach neuester Facon, legte die Karten auf den Tisch: „Ich will alles um mich her ausrotten, was mich einschränkt, daß ich nicht Herr bin. Herr muß ich sein!“ Franz zeigte sein wahres Gesicht, und der Vorhang fiel. „Aber er kann doch den Brief nicht von Franz schreiben lassen!“ sagte Schneidereit. „Der Mann ist ja naiv!“ „Ob Karl drauf reinfällt?“ fragte Gundel besorgt. „Karl wird doch nicht etwa drauf reinfallen!“ „Er wird schon wissen, was er von dem Lumpen zu halten hat!“ sagte Schneidereit. Da hob sich schon wieder der Vorhang. Einsame Schenke, nahe der Grenze. Schneidereit atmete auf: Karl war von anderem Holz als sein Bruder, war stark, groß, sympathisch. Wartend saß er über einem Buch, im Schein der Ölfunzel, die auf dem Holztisch blakte, wartete auf Post, auf Vergebung eingestandener Schelmenstreiche. Die Streiche konnten nicht so schlimm gewesen sein. Einer wirklichen Lumperei war dieser Karl nicht fähig. Der andere allerdings, den er da bei sich hatte, war wenig sympathisch; Spiegelberg hieß er und hatte was von einer Ratte, was Schiefes, Tückisches, und dazu ein Gesichtszucken, das Schneidereit anwiderte. Mit dem Spiegelberg sollte der Moor sich besser nicht einlassen, wenn sie auch beide einer Meinung waren: sie lehnten sich auf 328
gegen den Zeitgeist, das schlappe Kastratenjahrhundert, in dem sie lebten, gegen die Zeitgenossen, die in Ohnmacht fielen, wenn sie nur eine Gans bluten sahen, aber in die Hände klatschten, wenn der Nebenbuhler bankrott von der Börse ging... Das war großartig! Leider erkannten sie nicht die feudalen Besitzverhältnisse als Wurzel des Übels und verwechselten die Wirkung mit der Ursache. Dennoch war Moors feuriger Geist unwiderstehlich. Wie er aufstand und den Degen auf den Tisch warf, das riß mit, und sein Wort zündete: „Stelle mich vor ein Heer Kerls wie ich, und aus Deutschland soll eine Republik werden...“ Schneidereit applaudierte, er blieb eine Sekunde der Verblüffung allein, dann stimmte der ganze Saal ein. Karls Worte hatten in Spiegelberg was aufgerührt, große Gedanken dämmerten auf in seiner Seele, Riesenpläne goren in seinem Schädel... Das mochte was Rechtes sein! Moor wollte zum Glück nichts davon wissen, nein, er wartete auf Post, durchwanderte in Gedanken die väterlichen Haine und träumte von Amalia. Das war die Nichte Edelreich aus dem Personenverzeichnis. Karl liebte sie also. Ob sie diese Liebe erwiderte? Moor wartete auf die Vergebung seines Vaters und wußte nicht, was ihm statt dessen ins Haus stand. Schneidereit wußte es. In die Schenke polterte eine Rotte Kerls, sympathische Burschen darunter, Schweizer, Roller, aber auch ein Galgengesicht, Schufterle geheißen, das zu Spiegelberg paßte. Moor aber erhielt seinen Brief, hielt ihn in der Hand, und war der Glücklichste unter der Sonne; Kunststück, er hatte ihn ja noch nicht gelesen! Jetzt las er. Das Gehabe Spiegelbergs erreichte ihn nicht und nicht die Stimmen der anderen. Mutterseelenallein stand er im Raum, schon jetzt ein toter Mann. Der Brief entfiel ihm. Ein starker, kühner Mensch, man sah ihm an, daß er mit der ganzen Rotte fertig werden könnte, aber der läppischen Intrige erlag er auf den ersten Streich. Hatte nur noch eine verwirrte, hilflose Geste und wankte hinaus. Roller hob den Brief auf, schnob durch die Nase, Schweizer blickte ihm über die Schulter. Dann schauten sich die beiden an; der Lump mochte sich hüten!
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Jetzt freilich hatte erst einmal Spiegelberg seinen großen Augenblick: sein kreißender Witz kam in die Wochen, spie die großen Gedanken aus, die Riesenpläne: Pläne von den böhmischen Wäldern und einer Räuberbande... Schneidereit schüttelte den Kopf. Ein übles Vorhaben! Aber Spiegelberg diskutierte verdammt demagogisch, und wie alle Demagogen hatte er großen Zulauf. Das Galgengesicht Schufterle schlug als erster ein, dann Razmann, Grimm, schließlich Roller, Schweizer, die anderen. Daß auch die Freiheit ihren Herrn haben müsse, das war ein gutes Wort. Nur leider glich Spiegelbergs Freiheit der Anarchie, und natürlich wollte er der Herr sein, ein bißchen Bakunin spielen, das sah ihm ähnlich. Aber die anderen dachten gar nicht daran, die Ratte in den Vorstand zu wählen, sie dachten an Moor, und der treue Schweizer sprach's aus. Moor hatte sich gefangen und war, von allen unbemerkt, wieder in die Schankstube getreten. Noch immer totenbleich, doch aufrecht stand er, im Halbdunkel, unbeweglich. Die anderen starrten ihn an: Roller, Schweizer erschüttert, Razmann, Grimm erwartungsvoll; das Galgengesicht glotzte stumm, und die Ratte bekam wieder das Zucken ins Gesicht. Alle hielten sie den Atem an. Schneidereit hielt den Atem an. Moor stand wie aus Stein. Glimmte der Lichtfunke Prometheus' hinter seiner Stirn? Reiften die Taten der Vorzeit in seiner Brust? Flackerte der Geist Hermanns aus der Asche seiner enttäuschten Hoffnungen? Jetzt trat er entschlossen aus dem Halbdunkel. Er raffte seinen Degen vom Tisch und sprach, anfangs leise, dann brach es aus ihm hervor, nun schrie er's heraus, schrie der entstellten Welt seinen Haß ins Gesicht: Menschen... Menschen? Nein, keine Menschen, nur falsche, heuchlerische Krokodilsbrut, ein mörderisches Geschlecht, Hyänengezücht, Otternbrut... Er raste. Rachedurst trieb ihn, den Ozean zu vergiften, damit diese entmenschte Menschheit den Tod aus allen Quellen saufe, trieb ihn, das Hörn des Aufruhrs durch die Natur zu blasen und Luft und Erde wider das Hyänengezücht ins Treffen zu führen, und Zermalmen, Vernichten war sein Wille... und war das Stichwort. „Komm mit uns“, lärmte es ringsum, „komm mit uns in die böhmischen 330
Wälder!“ Und: „...eine Räuberbande sammeln!“ schrie es. „Und du sollst...“ Schon jauchzte der Chor, und wortlos stimmte Schneidereit ein: „Es lebe der Hauptmann!“ Siehe, da fiel’s wie der Star von Moors Augen: Tor, der er in den Käfig zurückwollte, ins Zuchthaus seiner hochadligen Kreise! Sein Geist dürstete nach Taten, sein Atem nach Freiheit, schon war das Gesetz unter seine Füße gerollt. „Kommt, ich bin euer Hauptmann!“ Sie schwuren ihm Treue und Gehorsam bis in den Tod, er erwiderte den Treueschwur, der Vorhang fiel, und Schneidereit erwachte. Die Pause war bald vorbei. An den Saaltüren, beim Klingelzeichen, drängten sich schon wieder die Zuschauer, und als das Licht erlosch, faßte Gundel Schneidereits Hand. Sie wartete ungeduldig, Amalia in das Geschehen eingreifen zu sehen. Nun löste sich die Spannung. Das Moorische Schloß. Gundel erkannte auf den ersten Blick: Amalia hatte nichts mit Franz zu scharfen. Also erwiderte sie Karls Liebe, und sicherlich zerriß sie das Gespinst des Betruges und wendete alles zum Guten. Schon durch ihre Kleidung grenzte sie sich von allen bösen Machenschaften ab. Franz trug nämlich den Erfolg seiner gemeinen Lügen, die gehobenere Stellung, die er sich im Hause erschlichen hatte, in Gestalt eines neuen Schlafrocks zur Schau, der Schlafrock war von silberner Seide, weit prächtiger als der erste, und sollte man Franz jemals in einem goldenen sehen, so war das Schlimmste zu fürchten. Amalia hingegen trug ein dunkles, düsteres Gewand, eine Perlenkette um den Hals, und den Kopf hielt sie stolz erhoben, ihr goldenes Haar überstrahlte den bleichen Silberglanz, der Franz umhüllte... Sie war vertrauenswürdig, schön und stark. Vielleicht fehlte ihrem Wesen etwas Wärme, ein bißchen verborgene Hilflosigkeit. Bestimmt hatte die stolze Adelstochter vor niemandem Angst, und die furchtbare Einsamkeit, die sie wie ein Frosthauch umgab, konnte ihrer Sicherheit nichts anhaben. Er sollte sich vor ihr in acht nehmen, der gleisnerische Franz, der sich auf so scheinheilige Weise gekränkt zeigte, daß er Amalia weniger Freundlichkeit wert sei als der Bruder, den der Vater verflucht habe... Aber Amalia 331
haute ihm ihre Entgegnung um die Ohren, daß es eine Freude war. Denn sie verachtete die Menschen, unter denen sie lebte, und nannte Franz beim rechten Namen: Ungeheuer. Trotzig bekannte sie ihre Liebe zu Karl, bekannte sie vielleicht ein bißchen laut, aber das war so ihre Art, sie war ein redseliges Mädchen. Die Schuld, daß ihren großen, herrlichen Karl der väterliche Fluch getroffen, gab sie allerdings einzig ihrem Onkel, dem alten Grafen... Gundel fühlte eine leise Unruhe: durchschaute auch Amalia nicht, welche Rolle Franz spielte? Hatte sie denn nicht mit dem alten Moor über Karl gesprochen? Warum setzte sie nicht alle Hebel in Bewegung, für Karl Verzeihung zu erwirken? Glaubte etwa auch sie die Lügen, die Franz verbreitet hatte? Warum hörte sie sich sonst jetzt an, wie Franz seinen Bruder auf haarsträubende Weise verleumdete? Daß er Karl nur herabsetzen wollte, das erkannte Amalia reichlich spät. Als der Bösewicht sich durchschaut sah, verhüllte er kurzerhand sein Antlitz und... Was denn, was sollte das: er weinte? Er verwünschte plötzlich den tyrannischen Vater, der den besten der Söhne dem Elend hingab? Ja, aber... Gundel, nicht anders als Amalia, schaute Franz verwundert an... Er hatte mit seinen Verleumdungen nur Amalias Liebe erproben wollen? Und Karl selbst hatte beim Abschied die Geliebte der Obhut Franzens empfohlen? Das war der Gipfel der Frechheit! Aber als List nichts fruchtete, zeigte das Ungeheuer die Zähne: Amalia sollte vor Franz zittern! Aber sie zitterte nicht. Sie war Drohungen weit eher gewachsen als List und Tücke. Sie riß sich die Perlenkette vom Hals und warf sie Franz vor die Füße. Aber Gundel blieb unbefriedigt und unzufrieden, denn zu Karls Rettung war nichts, aber auch gar nichts geschehen. Dunkelheit hüllte das Schloß ein, die Zeit verstrich, kostbare Zeit, Wochen, Monate. Gundel atmete auf: Franz trug noch immer den silbernen Schlafrock. Karl war verschollen. Nur ein ärgerlicher, zäher Klumpen Fleisch - das war der alte Graf stand Franzens Herrschaft noch im Wege. Und der Greis, schlummernd in seinem Lehnstuhl, war wirklich sehr hinfällig und gebrechlich; Amalia wachte an seinem Lager, von dem Wunsch erfüllt, ihm alle Aufregung fernzuhalten und ohne seine Mitwirkung zu leiden. Gundel war von Amalia 332
enttäuscht. Wenn Amalia den Verleumdungen nicht glaubte: warum bewog sie den Grafen nicht, Karl zurückzurufen? Sie war von Karls Anständigkeit überzeugt, sie schwärmte, spielte Klavier, sang Lieder voller Fremdwörter, aber sie unternahm nichts! Es war allerhöchste Zeit, denn schon führte Franz einen Boten herein, den verkappten Bastard, Hermann hieß er und tischte dementsprechende Lügen auf, eine lange Rede über den Krieg zwischen Preußen und Österreich, deren kurzer Sinn die Nachricht von Karls Tod war. Da hub ein Gezeter an im Moorischen Hause, wüst war das Durcheinander, Füßegestampf, Ohnmachten, Hin- und Hergerenne, zum Schein beschimpfte Franz den Boten, alles aber überschrie der Alte: „Mein Fluch ihn gejagt in den Tod, gefallen in Verzweiflung!“ Nur Amalia - Gundel wollte schon aufatmen -, nur Amalia fuhr auf den verkleideten Hermann los: „Feiler bestochner Betrüger!“ Aber der feile bestochne Betrüger behauptete: „Sein letzter Seufzer war Amalia!“, und sogleich Gundel faßte sich an den Kopf -, sogleich fiel Amalia auf den Betrug herein. „Karl ist tot!“ Die stolze Amalia, es war unglaublich, glaubte auch das Unglaubhafteste. „Wehe, wehe!“ schrie der Alte und raufte sich den Bart. Franz verlas die letzte, mit Blut aufs Schwert geschriebene Botschaft Karls, welche erwartungsgemäß lautete: „Franz, verlaß meine Amalia nicht!“, natürlich, wie denn sonst, und „Amalia, deinen Eid zerbrach der allgewaltige Tod!“, ein plumper Schwindel, den jedes Kind durchschaute, nur Amalia nicht, nein, Amalia zweifelte überraschend an Karls Liebe! Der alte Moor lallte: „Franz, Franz, gib mir meinen Sohn wieder!“, und dann zeigte er sich derartigen Aufregungen gesundheitlich nicht länger gewachsen, rief nach dem Pastor und verstummte. Oder gab er gar seinen Geist auf? Jedenfalls, da alles schreiend davonlief und das Durcheinander sich endlich lichtete, blieb er allein und für tot im Lehnstuhl zurück. Franz hüpfte frohlockend herein, Franz war am Ziel seiner Wünsche. Das Ungeheuer war Herr im Moorischen Hause. Er ließ die lästige Larve von Sanftmut und Tugend endgültig fallen, und Gundel glaubte ihm aufs Wort, daß er fortan seinen Bauern die Sporen ins Fleisch zu hauen gedachte und im Land die 333
Kartoffel zum Sonntagsessen werden sollte wie die Blässe der Armut zur Leibfarbe. „Nun sollt ihr den nackten Franz sehen und euch entsetzen!“ schrie das Ungeheuer und, dessen war Gundel sicher, ging hin und besorgte sich einen goldenen Schlafrock. Die Tragödie vollendete sich. Die böhmischen Wälder, der große Auftritt Kosinskys, Moors Wiedersehen mit Amalia, die Befreiung des alten Grafen, Franz von Moors Ende, und Karl erkennt seinen furchtbaren Irrtum... Schneidereit lehnte sich nicht länger dagegen auf, daß gerechte Erbitterung hier in individuellem Terror verpuffte. Eine wirklich revolutionäre Praxis war eben ohne revolutionäre Theorie nicht möglich. Revolutionärer Geist sprach ja aus jedem Wort: als die Bande in den böhmischen Wäldern von Militär umzingelt war und der Pfaffe den Generalpardon für die Auslieferung des Hauptmanns bot, da wuchs Räuber Moor weit über Anarchie und Irrtum hinaus, und wie er sich stolz zu seinen Taten bekannte, wie er sich rühmte, mit eigner Hand erschlagen zu haben erstens einen Minister, der sich aus dem Pöbelstand über die Leiche des Vorgängers hinweg zum Günstling des Fürsten emporgeschmeichelt hatte, zweitens einen Finanzrat, der Ämter und Ehrenstellen an die Meistbietenden verkaufte und den trauernden Patrioten von seiner Tür stieß, drittens einen Pfaffen, der auf offener Kanzel geweint hatte, daß die Inquisition so in Zerfall käme, das war groß, begeisternd und mitreißend, und es riß Schneidereit mit. Auch Gundel schickte sich drein, daß Amalia weiterhin tatenlos blieb und im Garten Lieder zur Laute sang. Als aber Franz mit Lockungen und Drohungen seine Wünsche zu befriedigen suchte, als Amalia weit über ihre Dulderrolle hinauswuchs und sich Franzens Gewalttätigkeit schließlich mit dem blanken Degen widersetzte, das war groß, begeisternd, und es riß auch Gundel mit. Dann war das Ende da. Treue um Treue, lärmte die Bande. Amalia durfte von Moors Hand sterben. Die Schuld war mit Wucher bezahlt. Ein Tor, wer die Welt durch Greuel zu verschönern und Gesetzen durch Gesetzlosigkeit Geltung zu verschaffen hoffte und Gerechtigkeit und Freiheit mit Anarchie 334
verwechselte! Und der Tor, der von dem gleichen Unrecht gelebt hatte, das er zerstören wollte, ging hin, aufrecht, ungebrochen, ja heiter... Wußte er, so fragte sich Schneidereit, wußte dieser unglückliche Moor, daß dermaleinst die Vollstrecker auch seines rebellischen Willens aufstehen mußten mit Notwendigkeit, um alles Unrecht von der Erde zu tilgen, irgendeines fernen Oktobertages vielleicht, morgen, schon bald? Ahnte er, in der Nacht seines Irrtums, eine kommende Morgenröte der Menschheit? Gleichviel: Moor ging hin und überlieferte sich selbst in die Hände der Justiz. Gundel und Schneidereit standen stumm an der Straßenbahnhaltestelle. In der Bahn, im Gedränge der Menschen, sprachen sie über anderes. Ehe Holt an diesem Abend das Sinfoniekonzert besuchte und der Platz neben ihm frei blieb, hatte er lange überlegt, ob er Angelika mitnehmen sollte. Am Freitag traf er sich mit ihr und war noch unschlüssig. Aber an diesem Abend kam er sich neben ihr mehr denn je wie ein Betrüger vor: hatte er nicht mit dem ersten Gedanken die Karte Gundel zugedacht? Er sollte Angelika solchen Betrug ersparen; sie war zu schade, um nur am Rande seiner Gefühle zu stehen. Ja, wäre nicht Gundel gewesen, so hätte Angelikas unverhohlene Zuneigung ihn ganz ausfüllen können. Und wieder wünschte er insgeheim, ein anderer zu sein, als er war. Er mußte dem Betrug ein Ende machen. „Was wird aus uns beiden?“ fragte er, am Waldrand, einsam in der Dämmerung. „Ich weiß es nicht“, sagte sie nur. „Aber ich weiß es“, erwiderte Holt, „übers Jahr geh ich zum Studium; wer weiß, ob ich hierbleibe, vielleicht geh ich zu Ebersbach. Du mußt dich an den Gedanken gewöhnen: Wenn ich zum Studium gehe, dann ist es mit uns beiden vorbei.“ „Ein Jahr ist aber eine lange Zeit!“ sagte sie, und er spürte, daß sie ihm nicht glaubte. Nun saß er allein im Konzert, in einem Saal, weit draußen am Rande der Stadt. Von hier war es nur ein kurzes Stück Weges bis zu dem ehemaligen Vorstadtvariete, in dem das Ensemble 335
des Schauspielhauses spielte. Und dort saß in dieser Stunde Gundel mit Schneidereit. Er wurde das Bild nicht los, wie Gundel neben Schneidereit saß, aufgeregt vor Erwartung. Es wurde dunkel im Saal. Das Programm begann, aber die Musik flog ungehört über Holt hinweg. Er dachte an Gundel, die Gedanken quälten ihn. Er ging in der Pause im Wandelgang auf und ab und war nahe daran, nach Hause zu fahren. Aber da traf er Zernick und atmete auf. Was ihn gequält hatte, war wohl nur der Widerspruch gewesen, unter so vielen Menschen allein und einsam zu sein. Als dritter fand sich Gottesknecht ein und lernte nun endlich Zernick kennen. Holt hatte nicht übel Lust, sie beide aufeinanderzuhetzen, und dazu genügte das Stichwort des klassischen Humanitätsideals. Aber damit war Holt wieder bei Schiller, beim Theater, bei Gundel angelangt. Und als sich nun noch der alte Ebersbach hinzugesellte, stand Holt nur stumm dabei. Ebersbach, tatsächlich einmal ohne Pfeife und mit richtigen Schuhen, fing wieder von seiner Professur an und daß dort unten sein alter Feind Lautrich das philosophische Seminar beherrsche. „Wenn die denken, ich ärger mich groß mit dem rum... hier!“ Er tippte sich an die Stirn. Zernick erboste sich über soviel Trägheit. „Du wirst ihm gefälligst in die elektrische Bettelsuppe spucken, die er dort in den Hörsälen zusammenbraut!“ Holt war das Gespräch zuwider. Er schickte sich an, seine Wanderung durch das Foyer wieder aufzunehmen. „Warten Sie doch mal!“ rief Zernick ihm nach. „Wollen wir uns nicht alle nachher irgendwo zusammensetzen?“ Sie verabredeten sich an der Straßenbahnhaltestelle. Holt ging zerstreut und unlustig an den Garderoben entlang und wieder zurück zur Eingangshalle. Da sah er Karola Bernhard. Sie lehnte an einem Pfeiler, in einem blaßgelben Kleid, ätherisch, zerbrechlich und unauffällig, aber sie fiel sehr auf, und man schaute sich nach ihr um. Sie war allein, sie war lebendig, und das Leben war immer stärker als Kummer und Bedrückung. Als er vor ihr stand, erschrak sie und wurde blaß.
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„Aber Karola“, sagte er, „warum erschrickst du denn vor mir?“ Die Frage brachte sie vollends durcheinander, und sie brauchte Sekunden, ehe sie ihre Fassung wiedergewann. Er hatte sie aus dem Gleichgewicht bringen können, daraus folgte mit einiger Wahrscheinlichkeit, daß er ihr unterdessen nicht gleichgültig geworden war. „Du bist seit März zurück,“ sagte sie endlich, und ihre Stimme klang etwas weniger hell als früher. „Warum hast du nie bei mir angerufen?“ „Ich hatte keine Zeit“, log er. „Ich sitze Tag und Nacht über den Büchern. Und es sollte auch erst Sommer werden. Der Sommer ist eine gute Jahreszeit für uns zwei, da könnte man spazierengehn und übers Wochenende in die Berge fahren... Nur der Sprosser singt nicht mehr, den Sprosser haben wir verpaßt.“ Es klingelte schon zum drittenmal, schon wurden die Saaltüren geschlossen. „Komm, setz dich zu mir“, sagte Holt. „Neben mir ist ein Platz frei.“ Er führte sie in den Saal. Holt verspürte nach dem Konzert wenig Lust, sich noch mit Zernick und den anderen in irgendein Lokal zu setzen, er wäre lieber mit Karola zwei Stunden weit nach Hohenhorst hinausgelaufen. Aber an der Straßenbahn winkte Zernick ihn heran, und er mußte Karola vorstellen, wobei Zernick sie anstarrte wie eine Erscheinung. Die Bahn war dann so sehr überfüllt, daß nur Ebersbach und Zernick Platz auf der Plattform fanden, und in der nachfolgenden trafen Gottesknecht, Holt und Karola mit Gundel und Schneidereit zusammen. Natürlich forderte Gottesknecht sie auf, sich anzuschließen. Jetzt dachte Holt nicht mehr daran, sich mit Karola abzusondern. Zernick und Ebersbach warteten schon an der Haltestelle. Zernick führte sie in ein Kellerlokal. Dort bestellte er sich ein Kännchen Bohnenkaffee. Der Kaffee war sündhaft teuer. „Du schiebst wohl?“ fragte der alte Ebersbach, der plötzlich seine Pfeife rauchte, und tatsächlich, Zernick errötete, ehe er erwiderte: „Bloß du schiebst nicht, wie? Du hast dir noch nie deinen Tabak schwarz gekauft, was?“ Ebersbach nahm die 337
Pfeife aus dem Mund. „Für dich bin ich immer noch ,Herr Professor', mein Guter!“ Dann bestellte er sich ebenfalls Bohnenkaffee. Holt saß neben Karola. Aber ihm gegenüber saß Gundel, so daß er sie ansehen mußte, ob er wollte oder nicht. Sie sprach zu Schneidereit, eindringlich, mit ungewöhnlichem Eifer, und ungewöhnlich war ihre Erregung, ihr Mienenspiel; da wirkte wohl noch der Theaterabend in ihr fort. Zum Glück war Holt heute nicht allein. Er hatte es gar nicht nötig, immer allein zu sein, es ließen sich Menschen genug finden, denen seine Gegenwart angenehm war, Karola zum Beispiel. Sie redete. Sie redete eigens für ihn, plauderte was hin von Musik, Plauderei von Bruckner, von Bruckners Fünfter, von der Urfassung der Fünften, klangvolles, poetisches Geplauder, nur leider interessierte es Holt überhaupt nicht, aber für Karola genügte ein erheucheltes Interesse, und seine Aufmerksamkeit galt Gundel, galt Schneidereit, galt dem Gespräch, das auf der anderen Seite des Tisches in Gang kam. Schneidereit scherzte, natürlich scherzte er nur: „Karl Moor sollte mal Lenins ,Staat und Revolution' lesen.“ Aber wenn Gottesknecht schlau war, nahm er den Scherz für Ernst und nagelte Schneidereit darauf fest. Leider ließ er sich das entgehen und lachte, er lachte ein bißchen gequält, und sagte: „Mal Scherz beiseite: wie war es?“ Holt spitzte die Ohren. „Und läßt sich nicht überall etwas Freude und Helligkeit finden?“ Wie? Was soll das?, ach so: das war Karola, sie redete rechts von ihm, redete von Freude und Helligkeit. Schneidereits Stimme war links zu hören, und jetzt brummelte Ebersbach noch dazwischen, er hatte einen Narren an Gundel gefressen: „Ich spendier dir 'n Kaffee, komm, sei still, dein Kavalier hat doch selbst nichts, der soll auch einen Kaffee haben, ich krieg doch jetzt so 'n enormes Gehalt!“ Verdammtes Gequatsche, kaum konnte man verstehen, was der Baß auf Gottesknechts Frage antwortete: „Da könnte man stundenlang reden.“ - „Also, lassen Sie hören!“ Und Zernick? Saß völlig apathisch am Tisch und brauchte erst seine Dosis Koffein, vorher war mit ihm gar nichts anzufangen. Jetzt war der Baß in der Stille zu hören, Schneidereits Baß, und in dem wohlbekannten kühnen Gesicht 338
war Konzentration, war gar ein Funke Begeisterung. „Es ist eine Anklage gegen das Unrecht in der Klassengesellschaft und auch ein Aufruf, das Unrecht abzuschaffen, zugleich eine Warnung, Unrecht nicht einfach durch Anarchie zu ersetzen...“ Anklage, Aufruf, Warnung, das war gar nicht so übel, Holt hätte es wohl nicht viel anders gesagt. „Nichts geht mir über Brahms“, sie soll doch endlich mal still sein, was hat da der Baß noch gesagt? Er habe das Gefühl gehabt, als... Stille, na, was denn? Der Baß sprach nicht gern über seine Gefühle. „Bitte, was hatten Sie für ein Gefühl?“ Gottesknecht ließ nicht locker. „Ich habe mich klüger gefühlt als die auf der Bühne.“ Das Gesicht mit dem schwarzen Haar und den hellen Augen war bei diesen Worten ganz nahe, wie eine Großaufnahme im Kino; woher nahm dieses Gesicht soviel Selbstvertrauen, soviel Vertrauen ins Ich? „... habe gedacht, die wollten schon damals etwas Richtiges, aber sie wußten nichts und kannten keine Zusammenhänge und brachten nichts fertig...“ Mit verbundenen Augen im dunklen Zimmer, sinnlos gesucht und umhergeirrt, ja, so war es gewesen, ehe das Wecksignal ertönt war, und... „Da mußten erst wir kommen, damit das Unrecht aus der Welt verschwindet.“ Holt wußte nicht, daß er zustimmend nickte, er sah, daß Gottesknecht aufblickte: „Wer ist wir?“ Dumme Frage, wer ist wir, es war doch klar, Schneidereit meinte... „Das klassenbewußte Proletariat.“ Was schüttelte Gottesknecht da verwundert den Kopf? „Das klassenbewußte Proletariat als Testamentsvollstrecker der deutschen Klassik, das ist neu, ganz verblüffend neu.“ Es klang beinahe ironisch! Und wie er sich jetzt seine Pfeife stopfte, gelassen, fast lässig, und sie entzündete, und dicke Rauchwolken blies, das war verdammt überheblich. „Du rauchst aber 'n mieses Kraut!“ - „Verzeihung, Herr Professor!“ Jetzt feixte alles über den Professor, nur Zernick putzte sorgfältig seine Brille, setzte sie auf, schaute trübe auf Gottesknecht. „Moment mal!“ Rechts hielt noch immer das flinke Geplauder an, Geplauder vom Garten. „Rosen sind mir zu streng... Rose, o reiner Widerspruch...“ Scheiß auf Rilke. „Nichts liebe ich so wie die zarten, langstieligen Margeriten.“ Nichts hängt mir so sehr zum Halse heraus wie das Geplauder von rechts, jetzt, da ein Duell zwischen Zernick und 339
Gottesknecht in der Luft liegt... „Moment mal. Was verstehen Sie unter dem Testament der deutschen Klassik? Fausts letzte Worte oder die Freiheit im Reich des ästhetischen Scheins?“ – „Vernunft, Billigkeit und Liebe.“ Das war Gottesknecht, das war Nathan. Schade, daß Zernick schon wieder erlosch, da fehlte das Koffein, der Kaffee könnte jetzt aber kommen, dann sollt ihr mal sehen, wie Zernick den Gottesknecht samt seinem Klassikerfimmel zerrupft! Denn Nathan, der weise, herrliche Nathan, er gehört ja auch ins Reich des ätherischen Scheins mit seinem Verlangen nach Billigkeit, Liebe, Vernunft... „Genau das wollen wir!“ sagte der Baß von links, da wendeten alle die Köpfe, doch schade, jetzt, wo Schneidereit mit dem nichtutopischen, zweifellos streitbaren, künftigen Humanismus in die Vorderhand kommen wollte, gerade jetzt wurde der Kaffee serviert. „Karola, bitte sehr, einmal Schlagkrem!“ Da wird sie wohl endlich aufhören, Schaum zu schlagen. Ebersbach war herrlich taktlos, rührte in seinem Kaffee, quatschte Karola an: „Wenn du wüßtest, was da alles reinkommt, na, ich würde das Dreckzeug lieber nicht essen!“ Da grinste Zernick begeistert, er hatte auf andere Art einen Narren an Karola gefressen, und wie er den kochend heißen Kaffee in winzigen Schlucken trank, ohne die Tasse abzusetzen, da wachte er auf, belebte sich, faßte Gottesknecht fester ins Auge, und so trüb sein Blick hinter den Lupengläsern auch war, die hohe Stirn legte sich aggressiv in Falten. Gottesknecht aber wendete sich jetzt Schneidereit zu. „Ich glaube Ihnen aufs Wort, daß Sie das ernst meinen. Nehmen wir an, daß Ihre Partei tatsächlich ein so ideales Ziel verfolgt. Auf den Spruchbändern steht zwar bis heute nichts davon...“ Das war gut! Gottesknecht fand diese Spruchbänder auch albern, die fand wohl jeder albern. „... und vor dreiunddreißig habe ich erst recht nichts Ähnliches gehört. Aber nehmen wir trotzdem an.“ Generalpause. Retardierendes Moment, das die Spannung erhöht: Gottesknecht trank jetzt von seinem Kaffee, dann nahm er wieder die Pfeife zur Hand, man mußte schon sagen: er verkaufte die Nummer nicht schlecht, er holte aus seinem intellektuellen Parterreakt allerhand Sensation heraus. „Freiheit, Menschenwürde, großer Gedanke: Humanität. Es ist ein Traum, Schneidereit. Ich meine es gut mit 340
Ihnen. Ich habe in Ihrem Alter, und vielleicht bis vor wenigen Tagen, den gleichen Traum geträumt.“ Holt blieb die Luft weg. Da hatte der Gottesknecht aber haarscharf die Kurve gekriegt! Er verteidigte die Utopie nicht, die er vertrat, er unterschob sie kurzerhand Schneidereit und konnte nun kritisch, väterlich, abgeklärt, weise den Finger des deutschen Oberlehrers heben. Ein toller Dreh! Na warte! Wenn du demagogisch wirst, dann packe ich aus, ich weiß allerhand von deinen Gedanken. „Ich möchte“, sprach Gottesknecht weiter, „daß Ihnen ein Erwachen erspart bleibt, wie ich es erleben mußte. Der quartäre Mensch, so habe ich irgendwo gelesen, ist nicht fähig, zu tun, was ihm frommt. Denn das Unrecht, wie Sie es nennen, schwebt ja nicht wie der böse Geist Gottes über den Wassern. Deshalb kann man das Unrecht durch kein humanistisches Ideal ersetzen. Das Unrecht ist tief in den Menschen verwurzelt. Es gehört zum Wesen des Menschen und stirbt erst mit den Menschen aus.“ „Dieser Pessimismus macht mich krank!“ dröhnte der Baß. Zernicks Koffeinpegel hatte die Normalgrenze erreicht, jetzt ging es los, Ring frei zur ersten Runde, und gleich ein linker Gerader, den Gottesknecht einstecken mußte: „Sie haben wohl bei den Jesuiten diskutieren gelernt?“ Ebersbach freute das sehr. Zernick sagte: „Erst spielen Sie sich als Sachwalter des klassischen Humanitätsideals auf, und dann leugnen Sie's im gleichen Atemzug als Illusion hinweg.“ Erledigt. Gottesknecht war knockout in der ersten Runde. Mach dir nichts draus. Holt kannte das zur Genüge. Zernick legte ihn wöchentlich zweimal aufs Kreuz. Und jetzt noch dem Unfug vom Unrecht als Wesen des Menschen zu widersprechen, das war unter Zernicks Niveau, das konnte ein anderer ebensogut. Und sichtlich befangen, mit Überwindung, tauchte nun Gundels Gesicht aus Schneidereits Schatten, Gundel wollte was sagen, entschuldigte sich bei Gottesknecht, wußte genau, was sie meinte, konnte es nur noch nicht richtig ausdrücken: jedenfalls interessierte sie sich für Tiere und Pflanzen und unterhielt sich oftmals mit dem Professor, sie meinte Professor Holt, über die Natur... Eigentlich war es naiv, wie sie sprach, aber alle hörten ihr zu, hörten, wie sie vor kurzem noch dachte, es sei ein großes Unrecht in der Natur, zum Beispiel: wenn eine Katze 341
eine Maus fängt und grausam mit ihr spielt, das ist doch ein Unrecht!, so habe sie noch vor kurzem gedacht. Aber heute wußte sie, daß es in der Natur überhaupt nichts von Recht oder Unrecht oder dergleichen gebe, und folglich war sie über Herrn Gottesknechts Worte zu der Auffassung gekommen, daß es von Natur aus auch im Menschen kein Unrecht geben kann. Nur, weil die Menschen eben nicht wie die Tiere lebten, sondern....... als Gesellschaft!“ Der Baß fuhr dazwischen, alle waren Schneidereit böse, alle hätten lieber Gundel weitersprechen gehört, nur Holt war froh, daß sie schwieg, er sah sie grübelnd an: fremd war sie, fern, nicht mehr das liebe, schutzlose Kind, nicht mehr Gefährtin der Träume vom künftigen zeitlosen Frühling, von endlich geglückter Flucht aus der Wirklichkeit, nicht mehr Lösung des Widerspruchs in seiner Brust, den auch die Nächte über den Büchern, hektisches Lernen, Karola, Angelika nur betäuben und vertiefen konnten... Schneidereits Baß, für eine Stunde fast die eigene Stimme, kam schon wieder aus einer anderen Welt, unduldsam, rigoros: „Traum und Ideal und was Sie da sagen, alles gut und schön! Recht und Unrecht sind gesellschaftliche Normen, und in Wirklichkeit geht es um die Überwindung der Klassengesellschaft. Wir Kommunisten haben kein ,ideales' Ziel, wie Sie da vorhin sagten. Wir haben die Aufgabe, das Privateigentum an Produktionsmitteln abzuschaffen. Und da werden Sie mal sehen, wie das gesellschaftliche Unrecht gegenstandslos wird.“ Holt erhob sich. Gottesknechts Rückzugsgeplänkel, Rede und Gegenrede und These und Antithese, das alles ging Holt nun gar nichts mehr an. Was ihn anging, war Gundel, und Gundel sah Gottesknecht, Schneidereit, Zernick, Ebersbach, sah Karola und sah ihn, Holt, den einen nicht anders als die anderen an... „Karola, wir gehen!“ Wiedersehn. Ich will Ihnen mal was sagen, Herr Gottesknecht! Gut nach Hause. Wiedersehn. An der Tür blickte Holt sich um: Gundel hatte ihm flüchtig die Hand gegeben. Gundel hatte wahrscheinlich gar nicht bemerkt, daß er gegangen war. Draußen nahm Holt Karola am Arm.
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„Du warst den ganzen Abend so stumm und abwesend!“ sagte sie. „Wo warst du mit deinen Gedanken?“ „Bei dir“, sagte er. „Ich hab es ganz deutlich gespürt“, sagte sie. „Ach... du hast es gespürt!“ sagte er. „Dann war es vielleicht doch kein ganz verlorener Abend.“ Die Blätter kommentierten den Volksentscheid. Die Enteignungsverordnungen der Landesverwaltungen wurden im Wortlaut gebracht. Holt überflog die Seiten, las dann auf der Rückseite die Titel, las ein lakonisches „Mord“. In wachsender Erregung nahm er den Text in sich auf: „Eine Bande von Einbrechern, deren Mitglieder, als Angehörige der Roten Armee verkleidet, seit einiger Zeit die Dörfer in der Gegend von Magdeburg und Dessau unsicher machen und es besonders auf Jungvieh abgesehen haben, wurde in der Nacht von Sonnabend zu Sonntag von einer Polizeistreife in dem Dorf Braunsheim auf frischer Tat ertappt. Der mutmaßliche Anführer der Bande ermöglichte jedoch die Flucht seiner Komplicen, indem er aus einer Armeepistole das Feuer eröffnete. Dabei wurden der einunddreißigjährige Wachtmeister Heinz P. getötet und der achtundzwanzigjährige Hilfspolizist Wolfgang K. schwer verletzt. Der Mörder ist flüchtig.“ Nun folgte die Personenbeschreibung: „Achtzehn bis einundzwanzig Jahre alt, etwa einen Meter und achtzig groß, blond, rundes Gesicht... sachdienliche Hinweise...“ Eine dürftige Personenbeschreibung, aber überdeutlich für Holt, der die Zeitung sinken ließ. Er sah Vetter vor sich, blond, mit rosigem Kindergesicht. Er las noch einmal. Kein Zweifel, Christian Vetter, weinendes, dickes Kerlchen, das sich ewig zurückgesetzt fühlte, Küchenchef in den Bergen, und am Feuer ließ er Schweinespeck aus, dann unterm Dröhnen der Bombermotoren an der Kanone und im Feuer der Mustangs, schon hager, verwildert, Landsknecht, Kreatur Wolzows, und zu guter Letzt entwurzelt, mit halbsteifem Hut, Schieber, und nun für immer gescheitert. Erschütternder Lebensweg eines Neunzehnjährigen. Einmal waren sie beide jung und schuldlos gewesen, hatten am Rabenfelsen einander 343
Freundestreue gelobt, Treue bis ins Grab, wer so einen Eid bricht, ist ein Lump, sagte Vetter. Holt lief aus dem Haus, durch die Villenstraßen der Südvorstadt, ruhelos, aufgewühlt. Treueschwur am Rabenfelsen, dann der Krieg, das große, ersehnte Abenteuer, und nun endet es, endet unterm Galgen. Holt spürte wieder dieses Gefühl einer geheimen Bedrohung. Er mußte jetzt Vetter ans Messer liefern, niemand nahm ihm das ab. Er fuhr in die Stadt, zum Polizeipräsidium. Hier hatte er einmal eine Nacht in Gewahrsam verbracht, damals war er fast so weit wie Vetter, und Vetter war nur wenig weiter als Holt gewesen. Und war da nicht irgendeine Rechnung offengeblieben? Denk nicht dran, willst wohl unnütze Scherereien! Die Kleinigkeit hat der Vetter längst vergessen. Vor einem Polizisten der Kriminalabteilung legte er die Zeitung auf den Schreibtisch, sagte ohne Umschweife: „Er heißt Christian Vetter. Seine Mutter wohnt in Dresden. Die Anschrift weiß ich nicht. Früher kam er manchmal hierher, als er noch Schieber war, da hat er hier Strümpfe eingekauft. Dann konnte man ihn in der Kneipe am Bahnhof treffen, rechts, hinter dem Ostausgang.“ Der Polizist nahm das Zeitungsblatt, warf einen Blick darauf und schaute Holt plötzlich sehr interessiert an. „Irren Sie sich nicht?“ „Ich glaube kaum. Im Dezember wollte er mich überreden, die Sache mitzumachen. Ich habe das nicht ernst genommen. Vetter war immer ein Kindskopf. Und wenn ich damals zu Ihnen gekommen wäre: die Absicht bot ja keine Handhabe.“ „Nein, die Absicht nicht“, sagte der Polizist, „erst der Versuch. Aber zum Versuch kam es wohl damals noch nicht?“ „Jedenfalls weiß ich nichts davon.“ Holt legte seine Kennkarte auf den Tisch. „Mein Vater ist Werkleiter und Professor an der Universität, falls Sie sich nach mir erkundigen wollen.“ Der Polizist schob die Kennkarte wieder zu Holt hin, ohne sie anzusehen. „Sie haben doch noch was auf dem Herzen“, sagte er.
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„Nicht daß ich wüßte“, sagte Holt. Er wandte sich zur Tür. „Vetter ist auch nicht als Mörder geboren worden, verstehen Sie? Er war mal mein Mitschüler. Ich wünschte, ich hätte nicht zu Ihnen kommen müssen.“ 6
Endlich
Ferien! Holt blieb vorerst in der Stadt. Der heiße Sommer war unter den Bäumen des Parks nicht so schwer zu ertragen wie in der staubigen, flimmernden Luft von Mönkeberg. Holt nahm sich ein umfangreiches Programm vor; zwar war sein Zeugnis für die Kürze der Zeit, die er seit März zum Arbeiten zur Verfügung gehabt hatte, erstaunlich gut ausgefallen, aber er hatte noch große Lücken in den Sprachen, er gedachte, noch mehr zu leisten. Er arbeitete weiter. Aber Zernick betrachtete Holt bei jedem seiner Besuche länger und skeptischer durch seine starken Brillengläser. „Sie büffeln, als hätten Sie was zu vergessen!“ sagte er eines Tages. „Unsinn!“ entgegnete Holt. „Ich bin geistig ein bißchen ausgehungert, das ist alles.“ „Sie sind bienenfleißig“, meinte Zernick, „das muß man anerkennen. Geistig ausgehungert, sagen Sie. Daß Sie sich nur ja nicht unversehens geistig überfressen! Verhungerte schlingen alles in sich hinein, und nachher gehen sie an der Kolik zugrunde.“ „Mein Magen ist ausgezeichnet“, sagte Holt. „Ich bin eine Art geistiger Allesfresser.“ „Das höre ich ungern!“ sagte Zernick. Er kontrollierte wie üblich die Bücher, die Holt auf dem Tisch liegen hatte. „Ja... ist denn das möglich! Wilhelm Wundt, Freud, Weininger!“ Er war jetzt wirklich böse. „Halten Sie den Mund, jetzt rede ich! Sie schlingen den antiquierten Unrat dieses geisteskranken Selbstmörders hinunter und lesen dazu Marx. Schämen Sie sich!“ „Ich begreife nicht ganz, warum Sie sich so aufregen“, sagte Holt. „Ich lasse mich nicht einseitig festlegen!“ 345
„Sie wissen genau, daß Ihnen Klarheit not tut und nicht die Hirngespinste von Freud und Weininger!“ Holt hob die Schultern. „Mag sein. Aber ich halte es mit dem Wort von Hölderlin: Prüfe alles und wähle das Beste.“ Über dieses Wort geriet Zernick außer sich. „Jetzt will ich Ihnen mal was sagen!“ rief er, aber dann rückte er seine Brille zurecht und sagte ruhig: „Sie können ja gar nicht alles, sondern nur eine Auswahl prüfen! Und wie ist das: was Sie so alles prüfen, überlassen Sie da die Auswahl dem Zufall, oder...“ jetzt schaute er Holt mit seinen wasserblauen Augen böse an -, „... oder gar Ihren Vorurteilen, wie? Diversen Anregungen aus Ihrer Bürger- und Nazizeit, was?“ Dann ließ er Holt stehen und langte nach dem Türgriff. „Aber so laufen Sie doch nicht davon!“ sagte Holt. „Ich laufe nicht davon“, sagte Zernick, „und vor Ihnen schon gar nicht. Ich gehe nach unten, zu Ihrem Vater. Hier ist es mir entschieden zu muffig.“ Er war schon auf dem Korridor, als er Holt mit einem seltsamen Blick streifte. „Sie gefallen mir nicht. Bei Ihnen kriselt's! Was ist mit Ihnen los?“ „Nichts. Was soll mit mir los sein?“ sagte Holt. „Denken Sie nach. Rennen Sie nicht wieder in eine Sackgasse! Sprechen Sie sich aus, ich will Ihnen helfen.“ „Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen“, sagte Holt. Aber als er allein war mit den Büchern, die Zernick durcheinandergeworfen hatte, merkte er, daß Zernick recht hatte: irgendwas stimmte nicht mit ihm, er spürte es selber. Er hatte es bisher auf Überarbeitung geschoben. Jetzt, in den Ferien, schlief und ruhte er genug, aber er wurde seines Lebens nicht froh. Er war im Begriff, seinen Platz in der Welt zu finden, schuf sich Zutritt zum Reich des Geistes, wie er es lockend hoch über dem Alltag, hoch über den Widersprüchen der Wirklichkeit, hoch über dem Streit der Parteien sah. Und wer sich von jenen losgesagt hatte und diesen hier fremd blieb, zwischen die Klassen geworfen, heimatlos, wie sollte der anders als einsam leben? Er konnte sich nicht mit Zernick aussprechen. Mit keinem. Wer nicht selber entwurzelt war, bindungslos, der verstand ihn nicht.
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Einen gab es, der auch einsam war: Blohm. Er durchstreifte mit Holt an den schwülen, feuchtheißen Juliabenden die Geschichte der Mathematik und schaute ermüdet durchs Fenster, ob sich nicht ein erlösendes Gewitter zusammenziehe. „Es wird Zeit, daß es Nacht wird. Nach solchem Tag ist die Dunkelheit doppelt willkommen. Sie kennen es ja auch, dieses Zerfallensein.“ Ja, das Zerfallensein mit der Welt, mit sich selbst. Da Holt schwieg, sagte Blohm: „Lesen Sie oft in Goethes großem Gedicht! Es tröstet uns. Es söhnt uns aus mit der Pein des engen Erdenlebens. Wir alle sind zu jung, um ohne Wunsch zu sein. Und auch Sie, lieber Werner, sind wohl schon zu alt, um nur zu spielen.“ Einmal in der Woche traf Holt sich mit Angelika. Meist ging er mit ihr in den nahen Wäldern spazieren, nur selten in eins der engen Vorstadtkinos. Sonst zeigte er sich nirgendwo mit ihr. Ihr war es recht. Sie war am liebsten mit ihm allein. Sie trieb durch die Ferientage. Sie wartete auf ihn, wartete tagelang immer nur auf den einen Tag. Holt war ihrem Leben wesentlich geworden, und das bedrückte ihn. Sie wurde im September erst sechzehn. Ihre Eltern lebten nicht mehr. Die Großmutter sollte streng sein. Der Vormund, noch aus der Hitlerzeit, irgendein Postangestellter, kümmerte sich nicht um sein Mündel. Holt war Angelikas ganzer Halt. Als ihm das klar wurde und als er sie besser kennenlernte, setzte er sich immer häufiger mit Selbstvorwürfen zu. Er hätte nicht in ihr Leben eindringen, hätte sie nicht vor der Zeit in seine Ruhelosigkeit hineinziehen dürfen. Nun hatte er in ihr eine Welt von Gefühlen in Bewegung gesetzt, und alle ihre Gedanken und Träume kreisten um ihn. Noch war es Zeit, sich von ihr loszureißen. Aber es gelang ihm nicht. Er ging stets mit dem Vorsatz zu ihr, dem Spiel auf der Stelle ein Ende zu machen, und er erlag immer wieder ihrer Nähe und der Kraft ihres Gefühls. Er konnte sie nur immer wieder daran erinnern: „Wenn ich zum Studium gehe, ist es mit uns vorbei.“ Endlich nahm die Hitzewelle des Juli ein Ende, in schweren Gewittern, die sich über der Stadt im Tal entluden. Dann kehrte heiteres Sommerwetter wieder, doch tagsüber strich ein frischer 347
Wind von den Bergen herab und milderte die Sonnenglut. Die Abende aber, wenn der Wind sich gelegt hatte, waren warm und klar, und die Dunstschicht über der Industriestadt sorgte für Sonnenuntergänge von eindrucksvoller Farbenpracht. An einem solchen Abend, da die Sonne in die blaugrauen, violett geränderten Staubbänke tauchte, als gelbe Scheibe zum Horizont herabsank und der Himmel sich gelbrot und schließlich purpurn färbte, ging Holt mit Angelika durch die Gärten am Rande Mönkebergs, über den Höhenrücken, und dann zum Wald. Sie sahen zu, wie die Sonne den westlichen Himmel bis nach Norden und Süden in ihr Farbenspiel hineinriß, sahen die glühende Scheibe allmählich hinter den Bergen versinken, während in ihrem Rücken über den Wäldern schon blaßleuchtend der rote Mond stand. „Ein Jahr ist eine lange Zeit“, sagte Angelika. „Nicht wahr, uns bleiben noch viele Tage!“ Er nahm die Gelegenheit wahr, den Anfang des unvermeidlichen Endes anzukündigen. „Vom Herbst bis zum Abitur werde ich kaum noch Freizeit haben. Du mußt dich damit abfinden, daß wir uns nach den Ferien nur noch selten treffen.“ „Aber dann sehe ich dich ja wieder jeden Tag in der Schule“, sagte sie. „Vielleicht kannst du in der Pause immer mal zu mir hinschauen, damit ich weiß, du denkst noch an mich.“ Jedes Wort, das sie sprach, nahm ihn gefangen, bezauberte und beschämte ihn zugleich. Er lief mit gesenktem Kopf neben ihr her. Zu beiden Seiten des Weges wucherte der Adlerfarn. Es war Zeit, zur Stadt zurückzukehren. Aber nun stand am Waldrand, unter den Bäumen, eine Steinbank, moosbewachsen, verwittert. Angelika zog Holt mit sich fort. Sie setzte sich neben ihn. Hier war noch nicht Dämmerung wie im Wald; der westliche Himmel schüttete noch sein farbiges Licht über die Gärten und Wiesen. Angelika lehnte den Rücken gegen Holt und wendete das Gesicht dem Abendhimmel zu. Holt legte den Arm um sie, er fühlte mit der Hand ihre Schulter, und wenn er den Kopf neigte, tauchte sein Gesicht in ihr Haar. „Wenn du früh in die Schule kommst, schon so nachdenklich, wie du immer bist“, sagte sie, und sie holte das lange Haar 348
nach vorn und spielte damit, „oder wenn du mit Gottesknecht auf dem Schulhof hin und her gehst und bist richtig vertieft ins Gespräch, oder auch, wenn du bei mir bist und mich ganz finster anschaust...“ Sie sprach nicht weiter, und er fragte: „Was ist dann?“ „Nichts“, sagte sie. „Bloß, daß du mir dann so gut gefällst.“ Und nach einer Weile: „Nein, nicht nur dann, sondern eigentlich überhaupt immer.“ Er fühlte, daß er wieder ihrem Zauber erlag, und er lehnte sich dagegen auf. „Du weißt doch, daß es übers Jahr mit uns vorbei ist“, sagte er. „So mach dir's doch nicht selbst immer schwerer!“ „Versteh ich nicht!“ Mehr sagte sie vorerst nicht. Sie nahm seine Hand von ihrer Schulter, zog sie auf ihre Brust und wickelte um jeden Finger eine dicke Strähne ihres Haars, das jetzt heller war als im Winter; die Sonne hatte es ausgebleicht. „Gefangen, gefesselt!“ sagte sie. „Mein Haar ist verhext, du kommst nie mehr los!“ Dann legte sie den Kopf an seine Schulter. „Wenn du auf der Universität bist“, fragte sie, „warum ist dann alles aus?“ Das hatte sie noch nie gefragt, hatte es immer hingenommen, manchmal mit einem erschreckten oder auch ungläubigen Blick, immer aber wortlos und ohne Widerstand. „Ich weiß schon“, sprach sie weiter. „Weil du mich gar nicht liebst, nicht wahr! Ich bin nur ein dummes kleines Ding.“ „Das bist du nicht!“ sagte er. „Es ist alles ganz anders.“ „Wie ist's denn?“ fragte sie. „Wenn ich kein dummes Ding bin, kannst du mir doch die Wahrheit sagen!“ Er war ins Grübeln geraten und ließ sie lange auf Antwort warten. Dann begann er zu reden. „Vor kurzem habe ich mir im Antiquariat ein Buch gekauft, den Roman von Tristan und Isot, der Blonden. Kennst du ihn?“ Sie bewegte verneinend den Kopf. „Tristan, der König Marke dient“, erzählte Holt, „fährt übers Meer, um für seinen Herrn die schöne Isot zu freien. Sie nimmt Abschied und folgt ihm aufs Schiff. Ihre alte Dienerin führt einen Trank mit, den Isot ihrem künftigen Gemahl zur Hochzeit kredenzen soll. Der Trank ist verzaubert: wenn ihn zwei Menschen miteinander trinken, so fallen sie unheilbar in Liebe; 349
die Liebe ist stärker als alles auf der Welt, unaustilgbar, ewig. Nun will es auf der überfahrt der Zufall, daß Isot den Becher mit Tristan leert, und unendliche Liebe ergreift sie, und sie müssen einander angehören. Isot wird Markes Frau, aber sie und Tristan können nicht voneinander lassen, und so geschieht ihnen viel Leid. Alles, was ihnen auferlegt wird, Elend und Glück und Schande, ertragen sie standhaft, weil ihre Liebe stärker ist als Verfolgung und Tod.“ Angelika fragte: „Warum erzählst du mir das?“ „Ich wünschte, es gäbe diesen Trank“, sagte er. „Ich würde ihn trinken, und wenn ich daran zugrunde gehen müßte.“ „Und mit wem würdest du ihn trinken?“ fragte sie zaghaft. „Vielleicht sogar mit mir?“ „Ja, mit dir“, sagte er, „denn ich möchte dich gern so sehr lieben, wie Tristan Isot, die Blonde: ehrlich und beständig, bis in den Tod.“ Sie richtete sich auf und drehte sich zu ihm herum. „Ja, wirklich?“ fragte sie. „Aber so tu's doch!“ Und sie schlang die Arme um seinen Hals und sagte: „Tu's doch, ich liebe dich ja auch! Ich brauche dazu keinen verzauberten Trank, aber ich wünschte, ich könnte dir davon zu trinken geben!“ Er lächelte, und nun ging ein Gedanke durch seinen Sinn und verflog: Ihm war, als ob er den Trank schon getrunken habe, freilich nicht mit Angelika, einen Trank, der Zuneigung ohne Erwiderung weckt. „Du bist noch nicht sechzehn“, sagte er. „Du meinst, du liebst mich, aber es ist wohl nur Schwärmerei.“ „Nein“, sagte sie, „geschwärmt habe ich voriges Jahr, erst für Lorentz und dann ein bißchen für Gottesknecht, weil er silbergraue Haare an den Schläfen hat.“ Sie lachte. „So dumm war ich mal! Aber heute ist es keine Schwärmerei. Ich liebe dich, ich weiß es genau. Seit ich dich kenne, habe ich richtig lieben gelernt.“ „Ich wollte es auch einmal lernen“, sagte er. „Aber es war eine schlechte Zeit für die Liebe, und was sich auch in mir regte, man schlug es tot. Ich denke manchmal, nun kann ich überhaupt nicht mehr lieben.“
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„Du denkst überhaupt zuviel nach!“ sagte sie. „Du darfst nicht über die Liebe nachdenken, sonst bleibt gar nichts davon übrig. Du mußt einfach lieben, richtig lieben wie ich!“ Und sie bot ihm den Mund, daß er alles vergaß, was er eben gesprochen und gedacht hatte, und auch, daß sie kaum sechzehn war und wohl noch gar nicht wußte, was sie mit Liebe meinte. Oder wußte sie es doch? Er versuchte herauszufinden, ob diese Liebe, von der sie so ernsthaft zu reden wußte, auch die Verlockung kannte und ob Angelika der Lockung erlag oder widerstand, und er küßte sie fordernd und zielstrebig. Sie überließ sich ihm willig, voll Neugier und Vertrauen, aber dann kam der Augenblick, da sie bittend und ängstlich nein sagte, und immer angstvoller nein, und er ließ von ihr ab. Er träumte in dieser Nacht von Angelika, träumte Erfüllung. Am Morgen kam die Ernüchterung, Gedanken von Recht und Unrecht stellten sich ein, und Gundel kehrte in sein Bewußtsein zurück und füllte ihn aus. Wie er an Gundel dachte, wie er in seinen Gedanken auch sie lebendig und atmend und leibhaftig vor sich sah und doch ganz andere Wünsche in sich fühlte, so war es der stärkste Beweis des Unrechts, das er an Angelika beging. Was war es, was er sich von Gundel erhoffte? Vielleicht, daß sie eines Tages so zu ihm aufblicken, auf ihn warten, nach ihm verlangen möge wie Angelika? Er wußte es nicht, er dachte auch nicht darüber nach. Er spürte nur, daß er in diesem Sommer immer mehr mit sich uneins wurde. Und je näher Gundels Urlaub, ihre Abreise in das Zeltlager heranrückte, um so ruheloser wurde er. Die Gedanken an Gundel tilgten Angelikas Bild aus seinen Träumen, ließen ihn völlig vergessen, daß er Karola nach dem Konzertabend ein baldiges Wiedersehen versprochen hatte, und rissen ihn aus der Arbeit. Er lernte, was warten heißt: er wartete Tag für Tag auf nichts als die Stunde, in der Gundels vertrauter Schritt auf der Treppe hörbar wurde. Und als der Juli zu Ende ging, wenige Tage vor Gundels Urlaub, raffte er sich zu dem Versuch auf, sie im letzten Augenblick von der Fahrt an die Ostsee abzubringen.
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Ein schweres Gewitter ging über der Stadt nieder. Regen schlug gegen die Fensterscheiben und trommelte aufs Dach, als Holt an Gundels Tür klopfte. Sie stand vor dem Spiegel und kämmte sich. Er blieb an der offenen Tür stehen und schaute ihr zu, wie sie mit dem Kamm durch das wellige, braune Haar fuhr. Sie wollte fort, sie war schon umgekleidet, zweifellos ging sie zu Schneidereit. Sie hatte sich schöngemacht für Schneidereit, trug ein buntbedrucktes Sommerkleid mit engem Mieder und weitem Rock, sie war, wie alle Mädchen, ein bißchen eitel und drehte sich vor dem Spiegel und wand sich ein weißes Band durchs Haar. Holt hatte schon keinen Mut mehr, sie um den Verzicht auf die Reise zu bitten. Er schloß die Tür, gab sich freundschaftlich, unbefangen, schaute sich die Bogen aus ihrem Herbarium an, die auf dem Tisch lagen, auch das botanische Präparierbesteck, das Vater ihr geschenkt hatte. Gundel war gelöst, mit sich eins und ausgeglichen, harmonisch bis in jede Bewegung. Und auf einmal sagte Holt: „Was ich dich fragen wollte... Bist du glücklich?“ Sie war sich noch einmal mit dem Kamm durchs Haar gefahren und hielt mitten in der Bewegung inne. „Wie du fragst...“, sagte sie verwundert. „Ja, freilich bin ich glücklich...“ „Aber? Da kommt doch ein Aber?“ „Kein Aber.“ Sie kam zu ihm hin. „Wie schaust du mich denn an?“ Sie lehnte sich nahe bei ihm an den Tisch. „Ich wäre schon glücklich“, sagte sie. „Nur du, du machst mir manchmal das Herz schwer.“ „Nicht daß ich wüßte“, sagte er und verbarg hinter dem schroffen Ton seine Betroffenheit. Sie schaute immer nachdenklicher drein. „Ich weiß nicht, was es ist, warum du dich verkriechst und dich absonderst.“ „Warum ich mich verkrieche und absondere“, sagte er, „und warum ich mich vor dir verberge und dich belüge und dir vieles verheimliche und... Lassen wir das.“ Er kramte eine zerdrückte Zigarette hervor, rauchte nervös. „Hast du dich nicht auch mal abgesondert? Na also.“
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„Das war damals!“ sagte sie. „Damals war ich zum Alleinsein gezwungen.“ „Und wenn mir's heute ähnlich ginge?“ „Wie kannst du so etwas sagen!“ rief sie beinahe ärgerlich. „Dir will doch keiner was Böses tun! Heut könnte dir jeder freund sein. Gib nicht den anderen die Schuld, wenn du immer allein bist.“ „Zwischen Böses tun und freund sein gibt es noch eine Menge Möglichkeiten“, sagte er. „Aber da muß man ein Gefühl für Nuancen haben.“ Er ging zum Fenster und warf den Zigarettenrest hinaus. Draußen regnete es nicht mehr. „Zernick weiß wenigstens, daß mein Typ ihm fremd ist, obwohl ich vor gar nicht allzu langer Zeit noch der deutsche Normalverbraucher war. Er hat meinen Typ in den Gefangenenlagern in vitro studiert, wie Vater sagen würde, und nun schlägt er sich in vivo mit mir herum. Der Zernick, der hat nämlich das Gefühl für Nuancen, der sieht nicht nur das Schema Böses tun oder freund sein, Feind oder Genosse, das in der großen Politik objektiver Maßstab sein muß; er sieht auch, daß zwischen diesen Polen viel Spielraum für die menschliche Individualität und ihre unerhörte, ich möchte fast sagen: historische Problematik ist, Spielraum für Entwicklung! Aber ich bin hier nicht in Gottesknechts Unterricht, ich will dir keinen Vortrag halten. Ich rede mich auch gar nicht heraus, Gundel, ich habe damals auf der Seite deiner Feinde gestanden. Schneidereit nicht. Der Schneidereit war immer auf deiner Seite.“ Holt stand am Fenster, er schob die Hände in die Hosentaschen. „Ihr seid seltsam, du und dein Schneidereit. Mal wollt ihr mir einreden, daß ich eigentlich unterdrückt und von Hitler versklavt war, wie ihr, und daß ich in Wirklichkeit gar kein strammer Pimpf und erprobter Flakhelfer gewesen bin, und das andere Mal laßt ihr mich ganz brutal fühlen, daß ich eigentlich ein richtiger Faschist und euer Feind war und nun fürs Leben vom Irrtum gezeichnet bin. Ihr dreht's immer so, wie's euch am besten ins Konzept paßt.“ „Ich gebe mir Mühe“, sagte Gundel, „aber ich kann das alles nicht verstehen.“
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„Du verstehst mich nicht... Das heißt, jetzt fangen wir an, einander zu verstehen, jetzt sind wir nämlich beim Thema. Schneidereit kann mich auch nicht verstehen, er versteht seine Jugendorganisation und das Wesen der antifaschistischdemokratischen Ordnung und den Sozialismus. Ein bißchen verstehe ich den Sozialismus unterdessen auch. Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln, hier und heute Enteignung der Kriegsverbrecher, der Schlüsselindustrie: einverstanden! Wenn ich beim Volksentscheid hätte abstimmen dürfen, ich hätte ehrlich mit Ja gestimmt. Ich bin auch für die Bodenreform, und worauf ich mir was einbilde, das ist: ich weiß sehr genau, warum ich für Enteignung und Bodenreform bin. Ich bin überhaupt für genau das gleiche wie du und Schneidereit. Aber es gibt nicht nur Fabriken und Rittergüter auf der Welt. Es gibt auch ein geistiges Privateigentum, Überbau, Ideologie: Gedanken, Gefühle, Träume. Jeder Mensch hat seine persönliche Tradition des Erlebens und Erkennens und der Bildung, und diese Tradition kann man nicht einfach durch Enteignung verändern. Das Problem meines Lebens läßt sich durch den Volksentscheid nur im allgemeinen lösen; im besonderen meines Denkens und Fühlens bin ich durch den Volksentscheid aber keinen Deut anders geworden. Eher schon durch einen Roman von Becher oder durch Müllers Art, mit Menschen umzugehen, oder durch Zernicks Verständnis. Ich lese Marx und begreife ihn immer besser, ich lerne, lerne, lerne, wie's Lenin verlangt, und so allmählich, so ganz sachte und unmerklich denke ich heute ein bißchen anders als gestern und morgen wieder ein bißchen anders als heute. Ja, Gundel: Anderswerden... Aber nicht durch Mehrheitsbeschluß! Anderswerden, das ist doch ein langfristiges Programm!“ Er hatte halblaut gesprochen, aber leidenschaftlich. Jetzt war etwas wie Müdigkeit in seiner Stimme. „Was ich gesagt habe, ich hab das vorher nie bewußt durchdacht. Aber es ist gut, daß ich's mal ausspucken konnte. Sei großzügig, nimm mir's nicht krumm, wenn ich was Falsches mit ausgespuckt habe. Ich weiß, daß noch vieles falsch ist, was ich denke. Eigentlich hab ich auch gar keinen Grund, mich über euch zu beklagen. Ich müßte glücklich sein, glücklich wie du.“ Und nun sprach er leise, 354
sprach eigentlich nur noch zu sich selbst. „Meine Wünsche werden sich erfüllen. Abitur, Studium, später Promotion und womöglich, wie Vater, eine Professur, ich weiß es. Ich spüre viel Kraft in mir und träume nicht haltlos vom Ziel, sondern ich arbeite mit aller Energie. Aber ein Wunsch, ich weiß nicht, ob er sich jemals erfüllt.“ Gundel schaute ihn nur fragend an. Er sagte: „Daß du zu mir stehst wie zu Schneidereit. Und zu mir, statt zu ihm.“ „Werner...“, sagte sie. „Was willst du von mir?“ Er sah durchs Fenster. Die Gewitterfront war abgezogen. Im Westen standen zerrissene Wolken, und wieder färbte die Abendsonne den Himmel blutrot. „Es ist was in mir“, sagte Holt, „ich kann es nicht nennen, es treibt mich durchs Leben, treibt mich in Irrtum, Lüge und Schuld. Es ist nichts übles, es hätte das Menschliche werden können. Jetzt ist es entstellt und verdreht und wie eingefroren, wie verschüttet. Aber es will erlöst sein, dann wird's ein Gefühl, das regt sich schon manchmal schüchtern und will leben, und es schreit nach Erwiderung.“ „Ich versteht nicht“, sagte sie. Und nun rief sie ehrlich verzweifelt: „Ich kann's nicht verstehen, und ich geb mir doch alle Mühe!“ „Entschuldige“, sagte Holt. „Ich wollte das nicht: mich gehenlassen. Man macht so was mit sich allein ab.“ Sie schüttelte den Kopf, sie beschwor ihn: „Versuch doch, froh zu sein, daß Frieden ist und daß wir hier zusammen wohnen und daß wir alle gut Freund miteinander sind...“ Und schon wieder verzweifelt: „... und nach der Ernte sollen die Rationen erhöht werden...“ Er sagte nichts mehr. Er dachte: Ein Jahr noch bis zum Abitur, bis zum Studium, dann bin ich ihr aus den Augen, dann bin ich ihr aus dem Sinn. Später, als Gundel das Haus verlassen hatte, aß Holt mit seinem Vater zu Abend. Dann rauchten sie; der Professor blätterte in seinen Zeitschriften. Holt sagte: „Entschuldige, laß mich was fragen. Bist du in deiner Arbeit glücklich? Nicht wahr, du bist glücklich, wenn du was schaffen kannst?“ 355
Professor Holt ließ seine Zeitschrift sinken. Er nickte bedächtig und zustimmend. Holt fragte weiter, sachlich, ganz unsentimental: „Denkst du manchmal an meine Mutter?“ Wieder nickte Professor Holt. Er war ernst, und die Falten in seinem Gesicht vertieften sich. „Wie hast du dich losgerissen?“ fragte Holt. „Bitte sag mir: Wie hast du das Glück in der Arbeit gefunden?“ „Ich hatte keine Wahl,“ sagte Professor Holt. „Aber ich kann darüber nicht sprechen. Nur eins vergiß nicht: in der Arbeit ist immer Glück. Doch wenn es dem Menschen genügen soll, so muß er einmal sterbensunglücklich gewesen sein.“ „Wie das ist: unglücklich sein, das weiß wohl jeder“, sagte Holt. „Aber sterbensunglücklich...“ Er sann, den Kopf in die Hände gestützt. „Sterbensunglücklich... Kann man das mit zwanzig überhaupt schon gewesen sein?“ „Nein“, sagte Professor Holt. „Und bedenke: mit zwanzig kann man auch noch nicht wissen, was wirkliches Glück ist.“ Holt blickte auf. „Du hast mir was Gutes gesagt, Vater. Es ist ein Trost: daß man beides noch vor sich hat.“ Holt lag im Garten und las. Er las, auf Blohms Anraten, Humes „Untersuchung über den menschlichen Verstand“, als jemand an seinen Liegestuhl trat. Es war Schneidereit. „Guten Abend“, sagte er. Holt ließ das Buch sinken. Er war gar nicht überrascht; vielleicht hatte er Schneidereit sogar erwartet. Trotzdem sagte er erst einmal: „Gundel ist nicht zu Hause. Und Sie wollen doch sicher zu Gundel.“ „Nein, ich will zu Ihnen“, entgegnete Schneidereit. Holt stand auf, holte einen Liegestuhl, sagte: „Moment. Ich koche uns eine Tasse Kola.“ Er ging ins Haus. Er hatte nun, bis das Wasser kochte, Zeit genug, sich zu besinnen. Er hatte sich vorgestern vor Gundel aufgeschlossen, sie hatte ihn nicht verstehen können, aber sie hatte Schneidereit davon erzählt. Und selbst wenn Holt damit gerechnet hatte, es war doch ein Vertrauensbruch.
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„Sie wollen also zu mir!“ konstatierte er, nachdem er Tassen und Krug auf dem Gartentisch abgestellt hatte. „Ja, zu Ihnen“, sagte Schneidereit. Dann rührte er wie Holt in der Tasse, trank, legte sich in den Lehnstuhl zurück und begann: „Gundel war vorgestern ganz durcheinander. Sie hat mir erzählt, was Sie ihr alles gesagt haben, und ich denke, ich begreife sehr gut, wie Sie es meinen. Ich habe Ihre Meinung leider nicht selbst gehört, deswegen ist es nicht einfach, darauf zu antworten.“ „Darf ich ehrlich sein?“ unterbrach Holt. „Ich entsinne mich nicht, Sie um eine Antwort gebeten zu haben.“ „Stimmt“, sagte Schneidereit. „Ist aber auch gar nicht nötig. Denn wie war das von Anfang an mit uns? Das war doch so, daß wir uns um Sie bemüht haben, und Sie haben uns immer wieder abgewiesen.“ „So kann man es tatsächlich auch sehen“, sagte Holt. „Lassen Sie mich erst ausreden. Sie haben uns immer wieder abgewiesen, mitunter ganz schön überheblich. Jetzt darf ich auch ehrlich sein wie Sie, ja? Sie sind ein kleinbürgerlicher Individualist, und Sie schlagen sich mit allen möglichen Problemen herum, bloß nicht mit den echten Problemen unserer Zeit, daran nehmen Sie gar keinen Anteil. Gundel hat mir mal erzählt, was Sie alles lesen; aber lesen Sie mal ,Wie der Stahl gehärtet wurde', daraus können Sie lernen, wie ein Mensch mit sich selber fertig wird. Gundel sagt, daß Sie mit uns in den politischen und ökonomischen Grundfragen ziemlich übereinstimmen. Das freut mich. Aber Sie müssen mit Ihrem kleinbürgerlichen Individualismus fertig werden.“ „Sie hatten schon entschieden bessere Augenblicke“, sagte Holt. „Als Sie mir das Manifest brachten, da redeten Sie weit besser, um nicht zu sagen: menschlicher. Man fragt sich: Liegt das nur an der Tagesform, oder liegt das an der Sache? Wenn Sie einen kleinbürgerlichen Individualisten überzeugen wollen, dann dürfen Sie kein leeres Stroh dreschen. Aber das sage ich Ihnen nur nebenbei. Reichen Sie mir bitte mal Ihre Tasse?“ „Wenn es mir nicht gelungen ist, mich verständlich zu machen“, sagte Schneidereit, „dann...“ Er schwieg mitten im
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Satz, er schien über seine eigenen Worte betroffen, und er schaute nachdenklich, ja grübelnd in den Himmel. „Als Sie im Ratskeller mit Gottesknecht diskutierten“, sagte Holt, „da stand ich hinter jedem Ihrer Worte, und meinerseits führe ich oft mit Gottesknecht Gespräche, in denen Sie ebenso hinter meinen Worten stünden. Wir stimmen also nicht nur in Grundsatzfragen überein, und zu überzeugen, durch Worte und von Ihren Ansichten, brauchen Sie ihn nämlich gar nicht, den kleinbürgerlichen Individualisten.“ „Das muß Sie doch mächtig geärgert haben!“ sagte Schneidereit. „Dabei wollte ich Sie durchaus nicht kränken. Aber Ihr gesellschaftlicher Typ bildet sich ja auf den Individualismus noch was ein, und daß Sie da anders denken, konnte ich nicht ahnen.“ „Sie sind, was menschliche Individualitäten angeht, überhaupt ziemlich ahnungslos“, entgegnete Holt. „Deshalb teilen Sie die Gesellschaft in ein paar Grundtypen ein, und dann verfahren Sie mit den Menschen wie mit einem Sack Erbsen: die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen. Das habe ich Gundel mit anderen Worten gleichfalls sagen müssen.“ „Sie haben es der Gundel nicht gerade leicht gemacht, eine Kritik, die man ernst nehmen kann, aus Ihrer Konfusion herauszuhören“, sagte Schneidereit, den Holts Worte nicht gekränkt, sondern eher aufgemuntert hatten. „Aber das liegt wohl daran, daß Sie selbst nicht wissen, was Sie wollen.“ „Mir scheint, Sie haben Ihre Formkrise überwunden“, sagte Holt. „Wenn Sie so weiterreden, höre ich mit Interesse zu, auch wenn Sie mich konfus und wer weiß was noch alles nennen.“ „Der Sack Erbsen war auch nicht schlecht!“ erwiderte Schneidereit. „Und das muß ich erst mal überschlafen, ob vielleicht was Wahres dran ist. Zum Glück sind wir ja beide nicht so empfindlich. Jedenfalls werde ich mir Mühe geben, Ihnen das Einfache immer recht kompliziert zu sagen, da verstehen Sie's besser.“ „Und ich will mir Mühe geben“, sagte Holt, nun gleichfalls spottend, „Ihren Vorstellungen von meinem gesellschaftlichen Typ möglichst nahezukommen, denn ich will Ihnen doch das Leben nicht unnütz schwer machen!“ 358
Jetzt lachten sie beide, und Holt fand Schneidereit auf einmal gar nicht so übel. Nur schade, daß er einem fortwährend im Wege war, man hätte sich sonst gut mit ihm vertragen können. Holt wurde unvermittelt ernst. „Zurück zum Thema!“ sagte er. Schneidereit nahm seine Rede wieder auf. „Gundel hat aus Ihren Worten vorgestern so viel herausgehört: Sie sind zu sehr allein. Es ist nicht gut, wenn einer so ganz isoliert und für sich lebt...“ Jetzt folgte sicherlich wieder die übliche Werbung für die Jugendorganisation, und da konnte man nur lächeln. Sie machten sich die Sache gar zu einfach! Holt lächelte überlegen und ein bißchen ironisch. Schneidereit sah dieses Lächeln und verstummte. Und nun reagierte er anders als vorhin; er schaute Holt mit einem langen Blick ins Gesicht und fragte, so leise es sein Baß zuließ: „Was haben Sie eigentlich gegen mich?“ Holt nickte, als habe er diese und keine andere Frage erwartet. Dann stopfte er seine Pfeife und ließ Schneidereit warten, stopfte die Pfeife bedächtig, entzündete sie umständlich, rauchte sie an. „Was ich gegen Sie habe? Nichts“, sagte er. „Lassen Sie mich ausreden! Sie waren während des Faschismus im Zuchthaus, ich hingegen war bis zuletzt Handlanger des Faschismus. Sie haben die Götzenbilder, die vorgeblichen Ideale der Vergangenheit von Kindheit an bekämpft, ich hingegen trug sie im Herzen und mußte mich unter Krämpfen davon losreißen. Ihr Leben begann, wie es ist, und wird enden, wie es begann, meins hingegen ist mitten durchgebrochen, es begann mit einem furchtbaren Ende, und selbst wenn ich es weit bringe, wird es doch nur ein Anfang sein, womit es endet. Uns beide hat eine grundverschiedene Vergangenheit zu unterschiedlichen Menschen geprägt, und während Sie sich an Ihrer Vergangenheit festhalten, muß ich die meine überwinden. Wenn mich der Krieg zu der Einsicht gebracht hat, daß meine gewohnte Welt zerstört werden muß und auf den Kehricht der Geschichte gehört, so bedeutet das nicht, daß ich über Nacht in Ihrer Welt heimisch werde. Ich bemühe mich, Ihnen nicht in die Quere zu kommen, und meine Perspektive sieht vor, mich hier und für die Mitmenschen nützlich zu machen. Mehr können Sie nicht von mir verlangen.“ 359
Schneidereit nickte, als sei er mit Holts Worten durchaus zufrieden. „Es gäbe einiges dazu zu sagen“, meinte er. „Aber ich bezweifle, daß Ihre Probleme in abstrakten Diskussionen gelöst werden können. Ich bin hergekommen, um Ihnen einen Vorschlag zu machen: Sie fahren mit uns ins Zeltlager an die See! Wir beide sollten nicht so sehr diskutieren, was an uns anders und verschieden ist und was uns vielleicht noch trennt; Sie und ich, wir sollten einfach mal ein bißchen zusammen leben.“ Holt war überzeugt, daß Schneidereit keinen Hintergedanken hatte, daß er es so meinte, wie er es sagte: Schluß mit dieser verworrenen Diskussion, fahren wir lieber an die See, gehn wir zusammen Pferde stehlen! Für einen flüchtigen Augenblick entspannte sich Holts Gesicht, sein Herz schlug Schneidereit entgegen, und er sah die Zelte nahe dem Strand, hörte die Brandung und sah das Meer und die blendende Sonne. Und er sah Gundel, sah sie an Schneidereits Seite. Er dachte nicht daran, in Gundels und Schneidereits Spiel als Statist auf der Bühne zu stehen, wo er sich gut für die Hauptrolle fühlte. Und er spielte lieber den Helden im abgedroschensten Stück, mochte es gar Karola heißen, als daß er zum Kleindarsteller herabsank unter Schneidereits Regie. „Bedaure“, sagte Holt, und es interessierte ihn nicht, wie Schneidereit diese unerwartete Wendung deuten mochte. „Ich habe meine Zeit bis ins letzte disponiert. Schade. Aber Sie haben sich den Weg umsonst gemacht!“ Abend an der Ostsee. Der erste Abend. Für Gundel und Schneidereit der erste überwältigende Anblick eines Sonnenuntergangs am Meer. Sie schlenderten durch die Dünen. Vom Strand her wehte ein scharfer Wind, und weit draußen mochte es stürmen, denn eine grobe See brandete gegen die Küste und brach sich über den Sandbänken. Bei der Ankunft hatte es Ärger gegeben, so ziemlich alles war falsch organisiert und das Zeltlager überfüllt gewesen, aber Schneidereit hatte nicht lockergelassen und seine Leute in Privatquartieren untergebracht, die Jungen in einer Scheune,
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die Mädchen bei den Fischern in den schilfgedeckten Katen. Verpflegt wurden sie im Lager. Der Ärger war vergessen. „Hat es irgendwas gegeben, zwischen Werner und dir?“ fragte Gundel unvermittelt. „Werner war so seltsam.“ „Ich bin hingegangen“, sagte Schneidereit. „Erst haben wir Spitzen geschmissen und drüber gelacht, da hat er mir richtig gefallen, aber als ich ihn dann einladen wollte, da hat er ganz plötzlich wieder verrückt gespielt. Bedaure, meine Zeit ist genau disponiert... So ähnlich.“ Schneidereit blieb stehen, er sah auf die See hinaus, die Sonnenscheibe sank unter die Kimm, der Wind flaute spürbar ab. „Ich weiß nicht, was dahintersteckt“, fuhr er fort. „Irgendwas steckt dahinter.“ Gundel nahm ihn am Arm. „Wir wollen später darüber sprechen, nicht heute.“ Ein mächtiges Holzfeuer schlug zwischen den Zelten zum Nachthimmel hoch. Gundel und Schneidereit hielten sich abseits und schauten von den Dünen her über das Lager, das von den gelben Flammen beleuchtet wurde. Sie saßen im Sand, stundenlang, und hörten auf die verwehten Gitarrenklänge, die Lieder, die von der Brandung und vom Krachen des Feuers übertönt wurden. Und sie sprachen kein Wort mehr, bis Schneidereit eine Stunde vor Mitternacht Gundel ins Dorf brachte. Ihr Quartier war eine winzige Kammer, über dem Schafstall einer Kate. Eine steile Holztreppe, fast eine Leiter, führte nach oben. Am Fuß der Treppe zögerte Schneidereit eine Sekunde; dann stieg er ins Dunkel hinauf, brannte oben eine Kerze an und leuchtete Gundel. Sie standen beide atemlos und horchten. Im Stall unter ihnen klirrte eine Kette. Schneidereit zog Gundel zum offenen Fenster. Sie sahen über Dächer hinweg auf die See, und auch hier deckte das Rauschen der Brandung jedes Geräusch zu. „Ich hab mir immer gewünscht, einmal mit dir so allein zu sein wie hier“, sagte Schneidereit. Gundel antwortete nicht. Er umfaßte sie mit beiden Armen. Sie faltete die Hände in seinem Nacken; sie küßten einander, und einer entflammte am anderen. Er trug sie zu dem nahen Bett. Sie löste den Mund nur von seinen Lippen, um Atem zu schöpfen. Doch dabei schlug 361
sie die Augen auf. Er wollte etwas sagen, vielleicht nur ihren Namen, aber sie legte die Fingerspitzen auf seinen Mund. „Ich weiß schon, was du willst. Und wenn wir uns küssen, dann will ich auch, daß du bleibst. Schließ die Tür ab.“ Aber sie hielt ihn fest. „Nein, warte, bitte... Ich muß dir was sagen!“ Schneidereit kniete vor dem Bett auf dem Boden, und er war ungeduldig. Aber er sah im flackernden Licht der Kerze ihr Gesicht und erkannte den Zweifel in ihren Augen. Da senkte er den Kopf und legte die Stirn an ihre Schulter. Seine Folgsamkeit verwirrte und rührte sie, und sie strich ihm zärtlich übers Haar. Sie sagte: „Als du mich eben hochgehoben und zum Bett getragen hast, du mußt das verstehen, da fiel mir meine Mutter ein, weil sie mich als Kind genauso in die Arme genommen hat. Du weißt ja, daß sie manchmal abends bei mir gesessen hat, dann haben wir uns dies und das erzählt. Ich konnte sie alles fragen, und einmal habe ich sie nach der Liebe gefragt, denn auf der Straße hatte ich wer weiß was gehört. Die Liebe, hab ich gefragt, ist das was Gutes oder was Schlechtes? Sie hat geantwortet, es gehört zum Besten, was es im Leben gibt, und darum sollte man sich's eigentlich aufheben, bis man ein fertiger Mensch ist, ja, so sollte es eigentlich sein. Es hat bitter geklungen, richtig traurig, daß ich gefragt habe: Ist es denn nicht so? Sie hat den Kopf geschüttelt und nachgedacht, und dann hat sie lange zu mir gesprochen. Ich weiß noch jedes Wort, obwohl ich sie damals kaum verstanden habe und manches vielleicht auch heute noch nicht richtig verstehe. Ja, so sollte es sein, hat Mutter gesagt. Aber es ist nicht so. Die Welt ist bei uns überhaupt nicht so, wie sie sein sollte. Wir müssen schwer arbeiten und müssen uns unser Lebtag quälen und mühen, weil wir nichts besitzen, auch nicht uns selbst, und auch in der Arbeit gehören wir uns nicht. Und weil das Dasein freudlos ist und nur Elend und Sorge kennt, darum sind wir süchtig nach Freude und nehmen das bißchen Glück vorweg, die Liebe, weil sie das einzige ist, darin wir uns selbst gehören dürfen. Es hat ja gar keinen Sinn zu warten, bis wir fertige Menschen sind. Denn was der Mensch sein könnte, das werden wir niemals: wir dürfen unseren Geist nicht ausbilden, wie es sich für den Menschen gehört, und die Arbeit saugt uns als 362
Kinder schon aus und zerrüttet uns früh und verkrüppelt den Geist, und weil uns alle Freude des Lebens vorenthalten wird, so bleibt uns eben nur das übrig, was man Liebe nennt... Hörst du mir auch zu?“ Schneidereit nickte unmerklich. „Aber einmal, so hat Mutter gesagt, einmal wird die Welt anders sein, und alles wird uns gehören, und wir werden uns selbst gehören. Dann wachsen Generationen zu fertigen Menschen heran, die haben kluge Gedanken im Kopf und Kraft in den Armen und große Gefühle in der Brust, und was wir Liebe nennen, ist dann nicht mehr wie der Trunk, der uns das Elend vergessen machen und ein elendes Bewußtsein betäuben soll. Nein, dann werden zwei freie, vollendete Menschen einander als liebende Menschen begegnen, und sie werden sich küssen und sich alles gewähren, damit ihnen nichts, aber auch gar nichts an einem vollkommenen Menschenleben fehlt.“ Schneidereit richtete sich auf und schaute über Gundel hinweg gegen die Wand. „So hat Mutter zu mir gesprochen“, sagte Gundel. „Und als mir das eingefallen ist, waren auch gleich so viele Fragen da, die kann ich nicht einfach beiseite schieben. Gehören wir noch zu denen, für die es keinen Sinn hat zu warten, weil wir doch niemals fertige Menschen werden? Ich bin nämlich noch kein fertiger Mensch.“ Schneidereit erhob sich und ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. „Aber sagst du nicht immer“, fuhr Gundel fort, „daß eine neue Zeit angebrochen ist und daß es nur viele nicht sehen, weil wir erst diese furchtbare Nachkriegsnot überwinden müssen? Dann könnte es doch sein, daß wir schon zu denen gehören, die richtige fertige Menschen werden, vielleicht noch nicht ganz fertig, aber doch schon ein bißchen.“ Gundel schwieg und richtete sich auf. Schneidereit blieb stehen. Er spürte nicht zum erstenmal, daß Gundel mehr Macht über ihn besaß als irgendein anderer Mensch. Er hatte ihr zugehört, wie unter einem Zwang, widerwillig erstaunt und aufmerksam. Seine Ungeduld wollte ihn am Verstehen hindern, 363
aber er hatte hinter ihren Worten die Umrisse jener Idee erkannt, die er selbst verfocht. Dennoch brannte das Verlangen in ihm und war ungestillt, und jetzt schlug es um in Enttäuschung. Die Stunde war vertan, das nahe Glück gründlich zerredet! Was immer selbstverständlich gewesen war, das sollte auf einmal fragwürdig, das Übliche unüblich, das Gewohnte ungewöhnlich sein? Wenn zwei einander gut sind, was braucht es dann großer Worte? Man liebt sich und bleibt beieinander, das ist doch gut und gerecht! So war es immer, und warum soll es denn nicht so bleiben? „Du liebst mich eben nicht!“ sagte er. Und er wollte den Beweis fordern, den üblichen Beweis der Liebe. Aber seltsam: er schwieg. „Ich mußte dir doch sagen, was ich denke“, sagte Gundel. „Ich weiß nicht, ob es falsch oder richtig ist. Das sollst du entscheiden. Wie du es willst, so soll es sein.“ Aber Schneidereit war schon ins Grübeln geraten. Wenn sich ein Gedanke erst einmal eingenistet hatte, dann mußte er zu Ende gedacht werden, auch wenn es ihm nicht behagte. Jetzt standen auch vor ihm Fragen über Fragen auf. Er ging zum Fenster, sah aufs Meer, ging wieder zum Bett, wo Gundel saß, kniete wie vorhin nieder und legte den Kopf in ihren Schoß. Hatte nicht eine Gewißheit das trockene Brot seiner Kindheit versüßt, die Tränen um seinen ermordeten Vater getrocknet und ihm die Jahre in der Zuchthauszelle ertragen helfen: die Gewißheit des kommenden Umsturzes aller bisherigen Ordnung? Die Junker waren verjagt, die Konzerne enteignet, die bisherige Ordnung gestürzt. Endete damit auch die herkömmliche Ordnung in der eigenen Brust? Die Fragen überstürzten sich und nahmen ihm den Atem. Er hatte bisher die Welt im Wandel gesehen, doch sich selbst als Gegebenheit. Galt es nun, nicht nur die gewohnte Wirklichkeit umzugestalten, sondern auch die Gewohnheiten ihres Gestalters, das Gewohnte in sich selbst? Schneidereit hatte jetzt Müllers Bild vor Augen; Müller war nächst dem Vater sein Vorbild gewesen und hatte gesagt: „Zur gewohnten Welt gehört auch die Welt der Gewohnheiten in der eigenen Brust.“ Man hatte das 364
vielleicht nicht begriffen, man mochte manches noch nicht begriffen haben... Und betroffen von der Lawine der Gedanken, die Gundel in ihm ausgelöst hatte, riß er sich endgültig von ihr und seinen Wünschen los und stand auf und sah zu, wie Gundel ihr Haar ordnete, und er hörte sie zaghaft fragen: „Bist du jetzt traurig?“ „Ich bin nicht traurig“, sagte er. „Vielleicht, ich sag's ehrlich, komm ich mir ein bißchen lächerlich vor... Ich denke, ich hätte dich nehmen sollen, ohne lange zu fackeln, so machen's doch alle.“ „So denkst du ja gar nicht wirklich!“ sagte sie. „Wie kannst du sagen: lächerlich? Du weißt es doch besser. Und daß wir's wie alle machen, das steht uns doch jede Stunde frei.“ Auf einmal faßte er sie an den Handgelenken. Er zog sie dicht zu sich heran. „Du fängst erst an zu leben“, sagte er, „bist noch kein fertiger Mensch, so hast du gesagt. Wenn du anders über dich denkst, dann mußt du mir's sagen, das bist du mir schuldig.“ Sie nickte. „Und bis dahin rührt dich kein anderer an“, sagte er. „Das schwörst du mir.“ „Ja“, sagte sie, „ich schwör dir's, aber du tust mir weh, Horst!“ Er ließ ihre Handgelenke los. Sie begleitete ihn zur Straße. Gundel war abgereist, ins Zeltlager, mit Schneidereit. Die Pärchenwirtschaft in solchen Lagern war ja bekannt. Holt fühlte sich vor vollendete Tatsachen gestellt. Nun gut, jetzt riß er den Traum von Gundel aus seinem Herzen, jetzt wendete er sich endlich der Wirklichkeit zu: Angelika. Er traf sich mit ihr. Diesmal gab es kein großes Gespräch. Er verkroch sich mit ihr im Wald, überfiel sie mit Liebkosungen, bis ihm wieder ihr Nein Einhalt gebot. Daheim lag er enttäuscht, ernüchtert im Bett. Er sah zur Decke, und er hatte keine Illusionen über sich selbst. Er brachte gerade noch so viel Anständigkeit auf, daß er sich auch Angelika aus dem Sinn schlug. Ja, wenn Gundel ihn nicht mit Enttäuschung und Bitterkeit vollgefüllt hätte bis zum Rand, so hätte Angelika ihn ausfüllen können. Aber sie war zu schade für ihn. Denn er 365
suchte nichts als Bestätigung, suchte Raum, Echo und Halt fürs Ich, das zwischen zwei Mühlsteinen langsam zermahlen wurde. Er suchte Betäubung so trüber Gedanken. Und er dachte nicht daran, hier als verschmähter Liebhaber um Gundel zu trauern! Er fuhr nach Hohenhorst. Dort wartete er unschlüssig vor dem Siedlungshaus und wäre am liebsten wieder umgekehrt. Das letztemal hatte er in der Nacht nach dem Konzert hier gestanden, hatte Karola ein baldiges Wiedersehen versprochen und sich dann frostig von ihr verabschiedet. Heute war Gundel aus ihm ausgetilgt. Das Stück konnte beginnen! Er klingelte. Vorhang auf. Auftritt Karola. Karola kam aus dem Garten ums Haus und, wie vor kurzem im Konzert, wurde sie blaß, als sie ihn sah. Sie gingen zusammen aus Hohenhorst hinaus, zum Wald hin. Erste Dialoge. „Ich bin überarbeitet, abgespannt“, behauptete Holt. „Zuviel gelernt, zuviel gelesen, zuwenig geschlafen. Und obendrein Tag und Nacht an dich gedacht.“ Sieh doch mal, wie sie da rot wird! Trag ruhig noch dicker auf, sie schluckt es hinunter! „Mit dir durch den Wald zu gehen, ach, Karola, das ist ein Wunschtraum, der mich seit Wochen meine Ruhe gekostet hat.“ „Ich kenne diese Unrast“, sagte Karola. „Ich glaube, es ist ein Rest der alten Sehnsucht des Menschen nach der Urmutter Natur.“ Seit der ersten Stunde seiner Bekanntschaft mit Karola hatte Holt den Zwang verspürt, ihr zu widersprechen. Heute trieb es ihn, sie zu verspotten. „Alte Sehnsucht nach der Urmutter... Na schön, so kann man's auch nennen. Ich würde es anders erklären: ,Erhöhung der Reizspannung des Es', sogenannte Unlust. Und natürlich bedingt durch den Eros.“ Sie schritt stumm neben ihm her, sie kannte hier jeden Weg. Dann und wann blieb sie stehen und wies mit erhobenem Arm auf die Landschaft hin, auf den Ausblick zu den Bergen, auf das hügelige Gebirgsvorland, wo auf den Getreidefeldern die Ernte eingebracht wurde. Ein Feldweg führte an einem Bach entlang.
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Dann war der Bach durch einen Erddamm aufgestaut und bildete einen Teich, den Weiden und Erlen umgaben. Holt und Karola setzten sich ins Gras. Ohne Umstände und ohne ein Wort zog er sie zu sich heran, bog ihr den Kopf in den Nacken und küßte sie. In alldem war eine Andeutung von Gewalt, und sie unterwarf sich ihm so vollständig, daß sie ihm beinahe leid tat. Dann lag sie im Gras, schaute in die Wolken und sprach zu ihm, ließ ihrer Redelust freien Lauf. Großer Monolog der Karola, stummes Spiel von Holt. „Du hast mich lange warten lassen“, sagte sie. „Ich habe verzweifelt gewartet“, sagte sie. „Die Stunden am Flügel gaben mir Kraft“, sagte sie und sagte noch vieles und sagte schließlich: „Nach dem Konzert schienst du mir so abwesend und fremd wie nie zuvor...“ Alles klangvolle, tönende Worte! Auftritt des Gegenspielers in Holt: Widerspruch, Spottlust, Zynismen. Holt hörte Karola überrieselt zu; der Gegenspieler aber blieb völlig ungerührt. „Es ist ganz still hier“, sagte Karola, „nichts liebe ich so wie Stille. Mir tun die Menschen leid, die immer auf der Flucht vor sich selbst sind, die immer mitten im Lärm sein müssen. Ich bin sehr gern mit mir allein und dabei doch den Menschen verbunden...“ Wie angenehm ging Holt das ins Ohr! Doch wie höhnte der Gegenspieler: Phrase, Geschwätz, von wegen „den Menschen verbunden“, sie ist überhaupt keinem Menschen verbunden, sie lebt umnebelt von blauem Dunst, vielleicht ist sie nicht dumm, aber ihr Denken hat keinen Gegenstand. „Wie lange dauert eigentlich dieser Dolmetscherlehrgang noch?“ fragte Holt. „Welche Sprache studierst du?“ „Englisch“, sagte sie. „Nächste Woche ist der Lehrgang zu Ende. Ich will dann Lehrerin werden. Das ist ein schöner, verpflichtender Beruf. Ich will mein Leben den Kindern weihen, unseren armen, betrogenen Kindern! Es soll meine Aufgabe sein, ihnen die Augen zu öffnen für alles Schöne in der Welt. Unsere Kinder sollen wieder wissen, was das Glück ist.“ Frag sie, was sie unter Glück versteht! befahl der Gegenspieler. „Sag mir doch mal, was das ist: Glück!“ 367
Karola, gut präpariert: „Glück ist die Fähigkeit, sich über alles Schöne und Gute zu freuen, und sei es nur eine Blume auf der Wiese oder ein Grashalm im Wind...“ „Oder ein kaltes Bad in dieser Affenhitze!“ sagte Holt. Er zog sich aus. „Du hast natürlich keine Badesachen mit“, sagte er. „Schade! Ich hätte dich gern mal im Badeanzug gesehn und mich über alles Schöne und Gute gefreut.“ Wenigstens wurde sie rot, wenn man ihr zusetzte. Er sprang in den Teich. Das Wasser war klar und erfrischend kalt. Er tauchte, planschte herum, fühlte sich wohl. Er winkte Karola. Sie hatte sich ans Ufer gesetzt und den hellen, weiten Rock um sich ausgebreitet. Er warf sich naß neben sie ins Gras. „Wenn dein Lehrgang zu Ende ist“, fragte er, „fährst du dann mit mir in die Berge? Ich weiß einen Gasthof, da reichen die Tannen ihre Äste durch die Fenster ins Zimmer hinein, das ist doch was für dich.“ Sie schwieg. „Kommst du mit?“ fragte er. „Ja“, sagte sie kaum hörbar und ohne ihn anzusehen. Sie sollte sich nicht so haben! Er richtete sich auf. Er fragte sie direkt und ohne alle Rücksicht: „Bist du noch unschuldig?“ Da schaute sie zur Seite und wurde blaß, und wenn sie jetzt sagen würde: Weh mir, ich Unselige! oder dergleichen, es paßte großartig in dieses Stück. Aber sie sagte: „Es war im Krieg, und ich hatte einen Freund, der die Offiziersschule besuchte und als Oberfähnrich ins Feld ging... Ehe er an die Front abreiste, habe ich ihm angehört.“ Das hatte sie ja noch ganz sachlich hingekriegt, aber jetzt kam das dicke Ende: „Er war ganz licht und blond und rein wie ein Frühlingsgott...“ Kurzschluß. Holt fiel aus der Rolle, er höhnte: „Ganz licht und blond... und arisch, wie? Da möcht ich wissen, wieso ich dir gefallen kann! Ich habe nichts Blondes und Lichtes, ich habe nichts von einem Frühlingsgott, ich bin auch nicht rein, nein... Ich bin dreckig! Jawohl, dreckig!“ sagte er ihr ins Gesicht. „Mich hat schon mit sechzehn eine Frau in ihr Bett geholt und hat mich verdorben fürs ganze Leben.“ 368
„Du bist faustisch“, sagte Karola. Es war schon ein tolles Stück! Und diese Pointe war große Klasse! Du bist faustisch. Das schluckte er ganz glatt hinunter! Aber dann sah er sie verblüfft an. Tatsächlich, sie meinte es ernst! Er sprang auf, zog sich an. Hätte er vielleicht doch besser eine kleine Rolle unter Schneidereits Regie übernehmen sollen? Holt bestellte zwei Zimmer im Gasthof Zur Waldesruh. Egon Arens war in der Stadt nicht zu erreichen. Holt schrieb eine Karte in die Berge und kündigte seinen Besuch an. Er arbeitete vormittags konzentriert, nachmittags lag er im Garten und las. Er dachte in diesen Tagen viel nach. Was er beabsichtigte, dieses bevorstehende Wochenende mit Karola, es sollte die Probe aufs Exempel seiner Absage an alle Ideale, an alles Gefühl werden. Das Leben wollte illusionslos betrachtet sein. Kälte war besser als Leidenschaft, Zynismus beständiger als Gefühl. Es gab keine Liebe, es gab nur einen Lustgewinnungstrieb. Wer so dachte, der fühlte sich nicht länger entwurzelt, heimatlos, zwischen zwei Mühlsteine geworfen. Die Vereinzelung war nur so lange unerträglich, wie man sich nicht zu ihr bekannte. Aber Holt täuschte sich nicht über die Unsicherheit hinweg, auf der er das schwankende Gebäude dieser Gedanken errichtete. Berührte Karolas Rede nicht immer wieder heimlich sein Innerstes? Und wenn er sich kalt über sie hinwegsetzte, setzte er sich nicht zugleich über die letzten gültigen Werte seines bisherigen Lebens hinweg? Sollte er nicht vielleicht eine höhere, geistige Partnerschaft mit Karola suchen und kurzerhand die Zimmer am See wieder abbestellen? Er führte mit ihr lange Gespräche, Plato wurde viel zitiert, Rilkes Briefwechsel mußte herhalten, und Karola kam ja fast täglich, auf dem Heimweg von ihrem Lehrgang, bei Holt vorbei und saß eine Stunde mit ihm im Garten. Im Grunde aber war Holt ratlos; er dachte oft an Schneidereits Worte: „Sie schlagen sich mit allen möglichen Problemen herum, bloß nicht mit den echten Problemen unserer Zeit...''
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Es ließ sich nicht vermeiden, daß Karola bei Holt wieder mit Zernick zusammentraf. Zernicks Kaffee war bis auf die letzte Bohne verbraucht, und so erschien er häufig, um sich vor anstrengender Nachtarbeit mit Kola aufzupulvern. Er pflegte sich in Karolas Anwesenheit hinter seiner FernUmbral zu verschanzen, in großen Mengen Kola zu trinken und wortlos dem Gespräch zuzuhören. Er beteiligte sich nicht an der Unterhaltung. Aber wenn in Karolas Redestrom eine besonders klangvolle Blüte dahertrieb, richtete er sich auf, vertauschte seine Fern-Umbral gegen seine Nah-Umbral und starrte Karola mit offenem Munde ins Gesicht. Zernick kam auch am Sonntag, wenn Karola ausblieb. „Na, Sie?“ fragte er. „Wo haben Sie denn heute Ihren Rückfall gelassen?“ Holt ärgerte sich und war zugleich betroffen. Er ging ins Haus und kochte Kola. Er beeilte sich nicht dabei, aber schließlich saß er doch wieder draußen im Liegestuhl. Zernick führte die heiße Tasse zum Munde und flötete: „Nichts liebe ich so wie Kola!“ Holt konnte nicht anders, er lachte schallend. Zernick hatte den Tonfall haargenau getroffen! „Na also!“ sagte Zernick. „Ich warte schon lange darauf, daß Sie bei Karola mal das Lachen kriegen. Ich mußte ja reinweg an Ihnen verzweifeln.“ „Machen Sie sich's nicht ein bißchen zu leicht?“ fragte Holt. „Karola schwebt doch was Bestimmtes vor, ich weiß es: eine Art Bettina-Ideal, verstehen Sie? Sie meint den geistvollbesinnlichen Ton der Dichterfreundschaften aus dem neunzehnten Jahrhundert.“ Zernick sah Holt nur spöttisch an. „Sie brauchen mir die Dame gar nicht zu interpretieren. Sie ist der Komödiant einer Weltordnung, deren wirkliche Helden gestorben sind. Die letzte Phase einer welthistorischen Gestalt ist ja bekanntlich die einer Komödie. Aber daß Sie die Komödie mitspielen, Holt...“ Er schüttelte den Kopf, dann goß er sich wieder Kola ein und trank. „Schmeckt scheußlich“, sagte er. „Aber es regt wirklich kolossal an!“ Holt hatte das peinliche Gefühl, daß Zernick Gedanken lesen könne. „Ich sehe genau, wie versponnen und weltfremd Karola 370
ist“, sagte er. „Manchmal denke ich, irgendwo in mir selbst, in Bezirken, die sich schwer ausmessen lassen, entspricht ihre Art meiner eigenen.“ „Da haben Sie aber eine dicke Wahrheit ausgesprochen!“ rief Zernick. „Wer hätte Ihnen so viel Selbsterkenntnis zugetraut! Aber diese Ihre eigene Art in diesen ominösen, nicht ausmeßbaren Bezirken, mein Lieber, die sollten Sie sich schleunigst abgewöhnen, aber ein bißchen dalli, wenn ich bitten darf! Und was tun Sie? Sie gesellen sich noch einen Partner bei, der Ihnen das Bewußtsein vernebelt und Ihnen alles Unechte, Falsche, Verlogene, das Sie mit sich herumschleppen, als Wahrheit abkauft! Was ist denn mit Ihnen los, Mann? Sie haben doch sonst einen kritischen Blick!“ „Sie sollten es nicht falsch und verlogen nennen“, erwiderte Holt, „wenn ich mir krampfhaft Mühe gebe, in Karola einmal etwas anderes als nur das andere Geschlecht zu sehen!“ „Mahlzeit!“ sagte Zernick und erhob sich. „Ich gehe. Wenn Sie so einen entsetzlichen Unsinn daherreden, Holt...“ „Aber so bleiben Sie doch!“ sagte Holt. „Ich soll bleiben?“ rief Zernick. „Also gut, mein Lieber, aber jetzt werde ich Ihnen mal was sagen! Sie haben mir imponiert, wie Sie sich von Ihrer Hamburger Sippschaft losgesagt haben, es war beeindruckend, wie Sie mit dem Intellekt an die Arbeit gegangen sind, aber ansonsten sind Sie tief in der Verwesung des Bürgertums verhaftet! Halten Sie gefälligst den Mund, jetzt rede ich!“ Zernick äffte Holts Worte nach „... etwas anderes zu sehen als nur das andere Geschlecht... Das nenne ich wahrlich geredet wie ein Bourgeois, dessen ausschließlich auf Ware und Profit gerichtetes Denken menschliche Beziehungen in ihrer Einheitlichkeit überhaupt nicht erfassen kann. Und so kennt der Bourgeois, ganz wie Sie, Frauen für den Geist und Frauen für die Sinne, Frauen für den Salon und Frauen fürs Bett, Frauen für ein bigottes Familienleben und Frauen für pervertierte Lüste. Verfall und Verfaulung! Und Ihnen sitzt das tief in den Knochen, und Sie halten sich dabei noch für einen tollen Kerl!“ Die Einsicht, daß Zernick recht habe, kam wie eine plötzliche Lähmung über Holt. Er hatte keine andere Entgegnung als eine schwache Handbewegung des Protestes, während Zernick 371
schon von neuem auf ihn losfuhr: „Machen Sie sich doch nichts vor!“ Zernick hatte die Drähte entdeckt, an denen sich Holt als Marionette tanzen fühlte. Zernick wies ihm eine Spur in sein Inneres, wo noch das Chaos herrschte, und wenn Holt der Spur nachging, konnte es sein, daß sein äußerlich festgefügtes Leben wie ein Kartenhaus zusammenfiel. „Machen Sie sich doch nichts vor!“ rief Zernick. „Was wollen Sie eigentlich von dieser Karola? Seien Sie doch mal ehrlich!“ Holt erkannte: Zernick versuchte, ihn vom Podest seines Ichs zu stoßen. Wenn er dem Stoß jetzt nachgab, das hieß: wenn er sich wieder zur bewährten Einsicht zwang, dann fiel er ins Bodenlose. Er mußte dem Stoß widerstehen! „Ich will mit Karola schlafen“, sagte Holt Zernick ins Gesicht. „Ich will sehen, ob ihr wenigstens im Bett das infantile Gerede vergeht.“ Zernick, der seine beiden Umbral-Brillen putzte, saß starr. Sein Mund verzerrte sich zu einer Grimasse, schließlich wurde ein hilfloses Lächeln daraus. Aber seine Augen schauten durch die eingeschliffenen Gläser trüb und böse auf Holt. Dann sagte er leise: „Ich sehe, Sie bilden sich auf solche Art Ehrlichkeit auch noch was ein! Pfui Teufel, Holt! Ihre zynische Menschenverachtung ist tief unmoralisch!“ Das war ein neuer Stoß. Aber Holt stand jetzt fest und geriet nicht wieder ins Wanken. Er legte sich in den Liegestuhl, einen Zug von Hochmut um den Mund, und er lächelte, als er sagte: „Aber Herr Zernick, was ist denn mit Ihnen los? Ein leerer Begriff wie Moral ist doch wirklich unter Ihrem Niveau! Ich halte es mit Bernard Shaw: ,Moral ist die Summe unserer Gewohnheiten.'“ Zernick wechselte wortlos die Brille, erhob sich und ging ohne Gruß. Holt nahm auch diesen letzten und heftigsten Stoß, ohne zu wanken. Er sah Zernick nach. Geh nur! dachte er, geh! Ich will dich nicht, ich brauch dich nicht, dich, deine Moral, dein besseres Wissen, deine ewige Kritik! Holt war mit Karola am Sonnabendnachmittag bei Arens zu Gast, in dem Wochenendhaus am Steilufer des Stausees. Man saß unter bunten Sonnenschirmen auf der Terrasse und trank 372
Tee. Karola war ein großer Erfolg. Egon faßte Holt am Arm, nahm ihn beiseite: „Ein wunderbares Mädchen, die junge Dame! Wie war der Familienname? Bernhard? Offenbar vermögende Leute, wie? Oder haben sie alles verloren? Sie müssen Fräulein Karola bald wieder mitbringen, wirklich, das wäre hübsch!“ Holt sprach den Nachmittag kaum ein Wort. Herr Grosch, Otto Grosch war wieder zugegen, mit seinen beiden Damen, Frau und Tochter, der ehemalige Filialdirektor der Deutschen Bank, ein kleiner eisgrauer Herr, der schwäbischen Dialekt sprach und beim Reden mit der Uhrkette an seiner Weste spielte. Seine Rede war mit „net wahr“ gespickt, und er redete viel, er entwickelte atemberaubende ökonomische Theorien. Nach seiner Theorie mußte die Rekonstruktion der zerstörten deutschen Wirtschaft mit dem Wohnungsbau beginnen, wobei aus vier bis fünf zerstörten Häusern ein neues ohne zusätzlichen Materialverbrauch erbaut werden konnte, net wahr. Da niemand ihm zuhören wollte, zwang er Holt und Karola, die aus Höflichkeit nicht davonlaufen konnten, seinem Vortrag bis zum Ende zu folgen. „Der nächste Schritt, net wahr, sind staatliche Zwangshypotheken auf diese neuen Wohnhäuser, net wahr, wobei die großen Banken maßgeblich eingeschaltet werden müssen. Als nächstes ist dann, mit Hilfe der Banken, die Geldmenge vorsichtig zu expandieren, net wahr, gegen Hingabe von illiquiden Regierungsanleihen...“ „Wir gehen“, sagte Holt zu Karola. Egon Arens begleitete sie zum Gartentor, verabschiedete Karola mit einem formvollendeten Handkuß und forderte Holt auf, anderen Tages mit Karola wiederzukommen, zu einer Motorbootrundfahrt auf dem See. „Mein alter Herr hat bißchen Benzin gespart, kommen Sie bestimmt, ja?“ Als Holt endlich mit Karola allein war, sagte er: „Wie bei Mutter in Hamburg. Nur, daß sie drüben die Fäden in den Händen halten, während sie hier ganz ohnmächtig sind. Lächerlich vor Ohnmacht.“ Karola nahm schweigend seinen Arm. Sie sprach heute wenig. Manchmal sah sie ihn im Gehen lange von der Seite an. 373
Er tat, als bemerke er es nicht. Es dunkelte endlich. Sie suchten den Gasthof auf. Der Wirt verkaufte ihnen ein Abendessen. Nachher stand Holt eine Weile in seinem Zimmer am Fenster. Er wußte, daß Karola wartete. Er trat auf den Korridor; vor ihrer Tür stand er sekundenlang unbeweglich, die Klinke in der Hand, schwankend in seinem Entschluß. Aber er hatte es so gewollt. Er kam ohne Erwartung, ohne Verliebtheit, aber mit Trotz und geheimer, uneingestandener Wut. Und er fand bei Karola nichts anderes als Willenlosigkeit und Unterwerfung. Sie blieb so ungerührt, daß in ihm das Verlangen erwachte, sie endlich vergehen, erlöschen zu sehen, und er beobachtete sie und wartete auf eine Regung in ihrem Gesicht. Aber dann war er es, der das Spiel nicht durchhielt und sich verlor. Bis er sich im Dunkel neben ihr wiederfand. Und nichts, nichts war übriggeblieben, kein Trotz, keine Wut, nur Karolas Stimme: „Wenn du wüßtest, wie nahe ich dir damals bei Bruckners Fünfter gewesen bin...“ Sie hatte es unbeschadet überstanden. „Irgendeine schicksalhafte Stimmung entzieht mir die Menschen immer dann, wenn in mir leise die Leidenschaft erwacht. Heimlich, wie sie gekommen ist, erstirbt sie wieder. So bin ich dazu verdammt, mit einer Kinderliebe durch die Welt zu gehen...“ Er saß jetzt aufrecht neben ihr. Er hörte sie reden, Kinderliebe, eines Tages ist unser Leben verronnen, irgendwo, ob wir es dann genutzt haben? Ich liebe an allen Menschen die Feiertagsseite, sie redete und redete, und der Sturm von Liebkosung und Lust, der über sie hinweggegangen war, hatte sie überhaupt nicht berührt. Ich bin ein Narr! dachte Holt. Er fühlte sich hohl, ausgehöhlt, betrogen. Er hatte sich selbst betrogen. Er betrog sich immerfort selbst, um das Beste, das es im Leben gab. Er gab sich sinnlos in kleiner Münze aus. Er jagte einem Schatten nach. Er war ein Narr. Was redete sie da? Sie redete von Abschied. „Ich werde noch in diesem Monat weggehen von hier und allem Vertrauten, um in München zu leben. Du verstehst am besten, daß man das
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Leben kennen muß, um später sagen zu können: Ich habe mein Dasein nicht am Rande vertan.“ Holt begriff. „Du aber sollst mir bleiben in allen Tagen“, redete es neben ihm weiter, „in den dunklen und den hellen... Ich will meinem Glück und dem Leben ganz vertrauen...“ Er ließ sie reden und ging auf sein Zimmer. Er stand dort wieder am Fenster, wie eine Stunde zuvor und wie er oft am Fenster stand: ein Gefangener, der in die Freiheit schaut, Gefangener des Irrtums, der nicht enden will. Verzweiflung stieg in ihm hoch, er bezwang sie, zwang sich zu einem Entschluß. Am anderen Morgen setzte er ihn in die Tat um. „Es hat keinen Zweck, noch länger zu bleiben. Bitte gestatte mir, daß ich dich nach Hause bringe. Wir müssen uns beeilen, in einer Stunde fährt der Zug.“ Ihr fassungsloses Gesicht berührte ihn nicht. Daheim stürzte er sich in die Arbeit. Am Abend, als er abgespannt und müde im Bett lag, die Hände unter dem Kopf, stieg aus dem Dunkel der Nacht, des Irrtums und der Scham wieder Gundels unauslöschliches Bild. Eine Woche später war Holt so weit, daß er Zernick anrufen konnte. „Ich war ein Narr“, sagte er, „ich sehe es heute ein. Ich habe mich gegen Sie aufgelehnt, weil Sie unbequem sind. Sie sind so unbequem wie Ihre Wahrheit. Bitte, tragen Sie mir's nicht nach! Kommen Sie wieder zu mir, Sie fehlen mir. Ihre Kritik fehlt mir. Ich brauche Sie!“ Und Zernick kam, legte sich in den Liegestuhl, trank große Krüge Kola und schaute trüb und schadenfroh auf Holt. Er hörte sich an, was Holt zu sagen hatte, schaute noch trüber, skeptischer und meinte: „Übern Berg sind Sie? Sie sind noch lange nicht übern Berg! Bei Ihnen kriselt's nicht mehr, Ihr Dasein kracht schon in allen Fugen. Quatschen Sie sich aus, ehe es zu spät ist!“ Und Zernick diskutierte wieder mit Holt, gab ihm Ratschläge, Hinweise, lieh ihm Bücher. Und doch: es war nicht mehr ganz die alte Vertraulichkeit zwischen ihnen. Zernick blieb eine Spur
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distanzierter, höflicher, konventioneller als früher. Vielleicht bildete Holt sich das auch nur ein. Wenig später brachte Professor Holt aus dem Werk die Nachricht mit, daß Doktor Bernhard in aller Stille nebst Frau und Tochter über die Zonengrenze gegangen und in München ansässig geworden sei. 7
Dem
heißen, gewitterreichen August folgte ein milder Nachsommer mit warmen Tagen und kühlen Nächten. Oftmals drang das Tagesgeschehen in Holts Alltag, der im alten Rhythmus von Unterricht, Arbeit und kurzer Nachtruhe seinen Fortgang nahm. Aber die Gemeindewahlen interessierten ihn kaum, denn er war noch nicht wahlberechtigt, und Schneidereits Einheitspartei ging sowieso als Favorit ins Rennen. Nach der Ernte waren tatsächlich die Lebensmittelrationen erhöht worden, und drüben hatte man einen bizonalen Wirtschaftsrat gegründet. Im Nürnberger Prozeß stand die Urteilsverkündung bevor. Egon Arens sprach öfter, kummervoll und zugleich mit demonstrativer Nervenstärke von einem drohenden Krieg zwischen den beiden Großmächten, aber Stalin, nach einem weitverbreiteten Interview, glaubte nicht an die Gefahr eines neuen Krieges. „Lassen Sie sich doch nicht von diesem albernen Grosch beschwätzen!“ sagte Holt zu Arens. „Der Mann ist ja blöd! Merken Sie denn nicht, daß ihm die Liquidierung der Banken geistig den Rest gegeben hat?“ Im übrigen interessierte das politische Geschehen Holt nur, wenn es sich auf hoher Abstraktionsstufe mit Zernick diskutieren ließ. Holt träumte schon von der Universität. Einmal besuchte er heimlich ein Kolleg seines Vaters. Professor Holt las in diesem Wintersemester „Allgemeine Hygiene II“ und „Einführung in die Mikrobiologie“. Holt hatte sich im vollbesetzten Saal unter die Hörer gemischt. Er schaute in die Gesichter der Studenten, von denen viele nicht älter waren als er, sah dann voller Stolz auf seinen Vater, der groß und 376
weißhaarig hinter dem Katheder stand und seine wohlabgewogenen Sätze in den Hörsaal sprach. Noch ein halbes Jahr, dann begann das schriftliche Abitur. Kein Jahr mehr, und es war soweit: er hielt seinen Einzug in die Universität, in diese Festung des Geistes, die der unruhigen Zeit trotzte. Er lernte mit unverbrauchtem Eifer. Den Mathematikunterricht erteilte nun an Ebersbachs Stelle Lorentz. Als er das erstemal pausbäckig und rothaarig vor die Klasse getreten war, hatte er geschrien: Lorentz! Mit ,tz' wie der große Physiker, bloß noch nicht ganz so berühmt!“ - „Hör mal, Kumpel“, hatte Hoffmann wohlwollend gesagt, „hier sind die meisten älter als du, also überleg dir's, und wehe, du blamierst die Lehrerinnung!“ Lorentz hatte nur gelächelt... Forsch, immer gut gelaunt, stürmte er seither mit dem Ruf: „Ypsilon ist gleich...“ in die Klasse, erweckte Eifer und Arbeitslust, und sosehr er sich von Ebersbach unterschied, an den Lehrplan hielt auch er sich nicht. Eines Nachmittags im September traf Holt im Torweg des Werkes Doktor Hagen, den er lange nicht mehr gesehen hatte. Der Chemiker war nicht allein. Er unterhielt sich mit einer Frau in blauer Kombination. Holt erkannte sie wieder: es war Müllers Nachfolgerin, Frau Arnold. Hagen, in seiner lebhaften Art, wandte sich Holt zu und überschüttete ihn mit Fragen. Er fragte nach Gundel, nach der Schule, nach dem Chemieunterricht, nach dem voraussichtlichen Prüfungsthema und referierte angeregt über Makromolekulare und Hochpolymere. Frau Arnold sah auf die Uhr und ging über den Werkhof davon. Als Holt sich von dem Chemiker verabschiedet hatte und sich anschickte, das Werk zu verlassen, trat Frau Arnold wieder in den Torweg und gab beim Pförtner ein Bund Schlüssel ab. Holt schaute verblüfft. Er war ihr früher oft begegnet, hatte sie nie beachtet. Warum hätte er sie beachten sollen? Sie war seit Müllers Tod Vorsitzende der Parteigruppe im Werk oder wie sich das nannte. Ein unscheinbares Wesen, in der Kombination und unterm Kopftuch. Holt hatte immer über sie hinweggesehen. 377
Jetzt stand sie schmal und zartgliedrig im Torweg, im weichen Abendlicht, das alle Konturen auflöste und lange Schatten warf. Statt der groben Montur trug sie ein leichtes, freundliches Sommerkleid, weiß, mit blauen Streifen, und statt des Kopftuchs umrahmte schweres tiefschwarzes Haar ihr Gesicht, im Nacken zusammengesteckt, aber zu reich für diese Frisur, denn der Knoten löste sich schon und drohte auseinanderzufallen. Sie hatte sich so von Grund auf verwandelt, daß Holt sie sekundenlang ungläubig anstarrte. Er schaute ihr ins Gesicht, in ein schmales, jugendliches Gesicht, in das ein Zug von Bitterkeit und Sorge eingegraben war, und dieser ernste, beinahe gequälte Ausdruck nistete in ein paar feinen Fältchen an ihren Mundwinkeln. Jetzt sah sie ihn an, sah ihm mit leicht zur Seite geneigtem Kopf voll in die Augen. Ihr Blick verwirrte Holt. Ihre Augen waren blau und hell wie Müllers oder Schneidereits Augen. Er trat mit ihr zugleich aus dem Torweg auf die Straße. Sie gingen zur Haltestelle der Straßenbahn. „Sie haben Müllers Arbeit übernommen, nicht wahr?“ sagte er; und weil er nicht stumm und befangen neben ihr stehen wollte, fragte er sinnlos: „Macht Ihnen die Arbeit Spaß?“ „Spaß...“, wiederholte sie gedehnt und schaute ihn wieder mit leicht geneigtem Kopf an. Der Haarknoten hatte sich bei dieser Kopfbewegung weiter gelockert; Holt wollte sie darauf aufmerksam machen, aber heimlich wünschte er dieses blauschwarze Haar auseinanderfallen zu sehen, und er schwieg. „Spaß ja nun nicht gerade“, sagte Frau Arnold mit einem Lächeln, das die Fältchen um ihre Mundwinkel auslöschte und den Ausdruck von Sorge aus ihrem Gesicht tilgte. „Wir haben noch keinen Ersatz für Doktor Bernhard, und der Winter steht vor der Tür...“ Er sah jetzt den Ehering an ihrer rechten Hand... Eine Straßenbahn rollte heran, mit quietschenden Bremsen. Frau Arnold nickte Holt zu und stieg ein. Er lief zu Fuß in die Südvorstadt hinaus. Sie hieß Judith, das wußte er: Judith Arnold. Sie war verheiratet. Sie war noch sehr jung. Müller hatte sie ins Werk gebracht.
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Holt versuchte am Abend, seinen Vater über sie auszuhorchen. Professor Holt nannte Frau Arnold überaus tüchtig, sie habe ihm allen Kleinkram abgenommen, sie sei ein ausgesprochenes Organisationstalent. Aber sie sei doch wohl noch sehr jung, wenn man bedenke, daß sie dem leitenden Gremium eines so großen Betriebes angehöre, nicht wahr? Zwei- oder dreiundzwanzig Jahre, Professor Holt wußte es nicht genau. Aber er wußte, daß sie bis zur Befreiung in Ravensbrück gewesen war. Holt fragte nicht wieder nach Frau Arnold. Wenn jedoch zufällig einmal ihr Name fiel, horchte er gespannt auf jedes Wort. Als er wieder bei Blohm war, brach er zeitiger als üblich auf. Er wartete auf gut Glück an der Straßenbahnhaltestelle und fürchtete nur, sie könnte vielleicht nicht allein sein. Aber sie kam allein aus dem Torweg, in dem hellen Sommerkleid mit den blauen Streifen, trat zu ihm an die Haltestelle und sah ihn, als sie ihn erkannte, mit geneigtem Kopf an. Er sagte: „Guten Abend.“ Sie gaben einander die Hand. „Ich war bei Blohm“, sagte Holt. „Blohm hilft mir in Mathematik. Ich dachte, vielleicht kann ich Sie wieder an der Haltestelle treffen.“ „Haben Sie ein Anliegen?“ fragte sie. „Anliegen? Nein“, entgegnete Holt. „Ich wollte nur eben auf Sie warten.“ Er schaute auf die Uhr. „Es ist noch nicht acht. Bitte lassen Sie doch die Bahn fahren, gehn Sie zu Fuß nach Haus, und ich darf Sie begleiten, ja?“ Sie sah ihn verwundert an, sah ihm nach ihrer Gewohnheit voll in die Augen und verwirrte ihn dadurch noch mehr. Er sagte: „Es ist nur deshalb, weil ich seit neulich, als ich Sie das erstemal in diesem Kleid sah, es steht Ihnen so gut, weil die Streifen die gleiche blaue Farbe wie Ihre Augen haben... Weil ich seither soviel an Sie denken mußte“, sagte er, trotzig vor Unsicherheit. „Jetzt fangen Sie aber an, mir Spaß zu machen!“ erwiderte sie, aber es klang gar nicht spaßhaft, sondern befremdet und
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ungehalten. Die Fältchen an ihren Mundwinkeln verstärkten sich, ihr Gesicht war ganz Abwehr. Holt merkte, daß er alles falsch gemacht hatte. Er bat: „Bitte schicken Sie mich nicht fort, ich will Sie ja nur näher kennenlernen, und fragen Sie nicht, warum, womöglich rutscht mir dann was heraus, was Sie...“ „Sie können mir doch nicht vorschreiben, was ich Sie fragen oder nicht fragen soll!“ unterbrach sie ihn, schon ärgerlich. „Natürlich frage ich Sie: Warum? Was soll das? Wozu wollen Sie mich näher kennenlernen?“ Und mit einer Schärfe, die er ihr nie zugetraut hätte: „Was stehlen Sie mir die Zeit, was wollen Sie von mir?“ „Ich weiß nicht“, sagte er mutlos. Dann überkam ihn wieder der Trotz und verflog, als sie ihn anblickte. „Dumm“, sagte er, „albern benehme ich mich, da stehe ich wie ein Schuljunge vor Ihnen. Ich habe mir gar nicht überlegt, warum ich auf Sie warte, wirklich nicht! Ich habe Sie bisher überhaupt nicht gesehen, daran ist wahrscheinlich diese blaue Montur schuld, Sie sollten so was nicht tragen! Und Sie dürfen Ihr Haar nicht verstecken! Wenn man so herrliches Haar hat wie Sie, dann bindet man doch nicht jahraus, jahrein ein Kopftuch um! Aber das Haar ist es nicht allein, bestimmt nicht. Sie interessieren mich, und daß Sie offenbar gar nicht wissen, wie schön Sie sind, das wirft mich um.“ Sie war bei seinen Worten errötet und sagte leise, aber mit gesteigerter Schärfe: „Behalten Sie das für sich! Und in Zukunft lassen Sie mich gefälligst in Ruhe!“ Sie ließ ihn stehen. Sie trat auf den Fahrdamm, denn ihre Straßenbahn fuhr fort. Sie sind noch lange nicht übern Berg, hatte Zernick nach der Affäre Karola gesagt. Holt hatte im stillen widersprochen. Denn er hatte ja seine Konsequenzen gezogen, hatte durchaus sein Teil aus der peinlichen Geschichte gelernt. Er war nicht mehr auf Erlebnisse dieser Art begierig, nein, darüber war er hinweg. Und wenn er Judith Arnolds Nähe suchte, so geschah es ohne Hintergedanken. Eine Wartezeit war ihm auferlegt. Er hatte zu lernen, einen Beruf zu ergreifen und sein Leben hinzubringen, bis seine 380
Stunde gekommen und Schneidereit in Gundels Ansehen entthront war. Zwischen Holt und ihr herrschte äußerlich ein gutes Einvernehmen: sie besuchten hin und wieder Konzerte und Theateraufführungen. Er ließ sich nicht anmerken, was er bei ihrem Anblick wirklich empfand. Mochte im Ferienlager zwischen ihr und Schneidereit gewesen sein, was auch immer wollte - Holt gab sie nicht verloren. Er hatte zu warten. Aber sollte er in dieser Zeit jedem weiblichen Wesen aus dem Wege gehen? Einwände hätte es gegen das Spiel mit Angelika geben können. Aber er war ja schon dabei, dem Unrecht ein Ende zu machen: er traf sich nicht mehr mit ihr, denn das bevorstehende Abitur, wie er ihr angekündigt hatte, beanspruchte seine Zeit bis auf die letzte Minute. Das Abitur beanspruchte ihn nicht bis auf die letzte Minute. Er hatte nur noch in den Fremdsprachen Schwierigkeiten. In seinem Hauptfach Mathematik war er dem Schulstoff voraus, trieb mit Blohm Vektoralgebra, Differentialgeometrie und sphärische Trigonometrie. Auch in Physik, Chemie und Biologie rechnete er mit guten Noten, desgleichen in Deutsch und Geschichte. Holt arbeitete noch immer angestrengt, ja verbissen, aber er konnte doch nebenbei viele Bücher lesen, das Theater besuchen und sich ausgiebig mit Judith Arnold beschäftigen. Und Judith Arnold ging ihm nicht aus dem Sinn. Wozu wollen Sie mich näher kennenlernen, was wollen Sie von mir? Er suchte eine Antwort. Er spürte dabei wieder jene innere Unsicherheit, der er letztlich die peinliche Geschichte mit Karola zu verdanken hatte. Er entsann sich auch der bösen, der niederschmetternden Wahrheiten Zernicks. Er war ratlos. Daß Frau Arnold ihn neulich hatte stehenlassen, das nahm er nicht allzu tragisch. Er hatte sich falsch benommen. Sie war verheiratet; und als verheiratete Frau war sie wohl nicht gewohnt, daß ein Fremder auf sie wartete. Sie war der Situation noch weniger Herr gewesen als er. In Zukunft mußte er klüger, besonnener handeln. In Zukunft? Blieb es denn nicht bei diesem ersten, mißglückten Versuch? Er fühlte sich unversehens in ein Erlebnis verstrickt, das kaum begonnen hatte, das aber fortdauern mußte. Er hatte es nicht gesucht, es war auf ihn zugekommen, und deshalb wich er ihm nicht aus. 381
Seine Stimmungen wechselten rasch in diesen Tagen. Er sah Frau Arnold hoch über seinem Leben, ein Traumbild, unerreichbar. Dann wieder verlangte ihn nach ihrer Nähe, und er mußte mit der Versuchung kämpfen, sogleich zu ihr ins Werk zu laufen. Als er wieder bei Blohm in der Baracke saß, war er zerstreut. Schließlich ging Frau Arnold draußen vor dem Fenster vorüber, und Holt brach hastig auf, aber da fuhr schon die Straßenbahn davon, und er war tief enttäuscht. Ihm war, als sei er lange mit ihr bekannt und vertraut. Er sah ihr übersichtliches, klares Gesicht, schmal, blaß, ein wenig abgespannt von der Hetzjagd im Werk. Sah das blauschwarze Haar und die Augen und den jungen Mund... Er ging nicht mehr zu Blohm. Wenn er arbeitete, drängte sie sich störend in seine Gedanken. Hatte jemals ein Mensch so deutlich in seiner Phantasie gelebt? Uta, die kleine Tredeborn, Karola? Blasse, unscharfe Bilder, von der Zeit verwischt, niemals wirklich lebendig gewesen. Gundels Bild war in ihm verwahrt; mochte es heut überstrahlt sein, es grub sich nur immer tiefer in ihn ein. An Angelika dachte er mit Zärtlichkeit, Zuneigung, schlechtem Gewissen; er hielt sie schon für Erinnerung. Judith Arnold aber füllte sein Denken und Fühlen bis in den letzten Winkel, je mehr er sich dagegen sträubte. Was wollte er von ihr? Denk nicht darüber nach. Denk dir irgendwas aus, falls sie dich wieder fragt. Aber du selbst brauchst keine Antwort. Kommst womöglich auf dumme Gedanken: daß man die Pleite mit Karola vor sich selber ausbügeln will, daß jede verheiratete Frau zu haben ist... Siehst du, denk lieber nicht drüber nach, von wegen nur fühlen lassen, daß Widerstand sinnlos ist. Nein, frag nicht. Merkst sonst am Ende, daß man sein Leben bei allem Fleiß auf lockerem Sand errichtet hat. Also frag nicht, man fällt sonst gar vom Podest, vom Sockel des Egoismus, auf den man sich mühsam erhoben hat, und wie will man denn ohne Glorienschein vor sich selber bestehen? Als Zernick sich wieder sehen ließ, sprach Holt von der Unersetzlichkeit hervorragender Persönlichkeiten. Zernick sprach von der Rolle der Volksmassen in der Geschichte. Holt 382
sprach von der Unersetzlichkeit beispielsweise Müllers. Zernick sprach über die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Holt sprach von beispielsweise, hm, nehmen wir... Schneidereit. Mit so jungen Jahren die Verantwortung im Werk... Zernick, siehst du wohl!, sprach daraufhin endlich von Judith Arnold. Was er zu sagen wußte, war Holt größtenteils bekannt. Aber dann kam es: „Ihr Mann“, sagte Zernick, „ist unerträglich. Ein Sparkassenangestellter. Es ist eine Tragödie, daß diese Frau an einen so entsetzlichen Spießer geraten ist.“ Holt ließ sich nichts anmerken von der Sensation, die diese Worte ihm bedeuteten. Er bemühte sich, ein gleichgültiges, uninteressiertes Gesicht zu zeigen. „Was ziehen Sie denn für ein dämliches Gesicht?“ fragte Zernick. „Sie sind ja auf einmal wie nasses Stroh! Sie haben wieder mal zuviel Plato gelesen.“ Er besuchte noch Professor Holt. Man hörte sie unten stundenlang reden; sie stritten sich um Lyssenko. Holt lag lange wach. Sie war verheiratet. Sie war mit einem unerträglichen Spießer verheiratet. Es war eine Tragödie. Sie war nicht glücklich. Er hatte es gewußt. Am nächsten Tag ging er zu Blohm. Diesmal brach er rechtzeitig auf und wartete an der Haltestelle. Aber heut war Frau Arnold nicht allein. Schneidereit war bei ihr, ausgerechnet Schneidereit. Sie verließ das Werk auf die Minute genau zur Abfahrtszeit ihrer Straßenbahn. Holt grüßte sie, schaute dann enttäuscht der Straßenbahn nach. Anderen Tages wiederholte sich das gleiche, und am dritten Tag war sie abermals in Begleitung. Holt grüßte, sie erwiderte seinen Gruß, erstaunt, wie es schien, ihn schon wieder hier vorzufinden. Ihre Straßenbahn bremste an der Haltestelle, sie wollte einsteigen, besann sich aber und kehrte ins Werk zurück, als habe sie etwas vergessen. Als sie wiederkam, war sie allein. Sie trat vor ihn hin, sah ihm mit leicht zur Seite geneigtem Kopf in die Augen und fragte: „Warum warten Sie auf mich? Was wollen Sie von mir?“ Da er nun seinen Spruch aufsagte, hörte er bestürzt, wie hohl und albern die Worte waren: in Hamburg sei ihm damals
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eingefallen, daß er von Müller eigentlich viel hätte lernen können, und sie, gewissermaßen als Müllers Nachfolgerin... Dementsprechend fiel ihre Antwort aus: „Wenn Sie politische Schulung brauchen, warum gehn Sie dann nicht in Horst Schneidereits Jugendgruppe?“ Auf einmal hielt er ihren Blick aus. „Recht geschieht mir“, sagte er. „Ich habe kein Talent für faule Ausreden. Sie machen mir's schwer. Denn wie es sich in Wirklichkeit verhält, das wollen Sie ja genausowenig hören.“ „Bitte, wie verhält es sich in Wirklichkeit?“ „In Wirklichkeit“, sagte er, und er fühlte sich freier und freier, obwohl ihr Blick noch immer streng und prüfend auf ihm ruhte, „verhält es sich etwa so: Sie gehn mir nicht aus dem Sinn, ich weiß nicht, warum. Ich frag mich auch nicht danach.“ „Und was wollen Sie von mir?“ fragte sie. „Ich möchte mit Ihnen dann und wann eine Stunde zusammen sein. Ab und zu ein Stück durch die Straßen gehen und irgendwas reden.“ Sie schüttelte verwundert den Kopf. Dann sagte sie, wie zu sich selbst: „Daß es das gibt!“ Und nun lachte sie und meinte belustigt: „Dann muß es eben sein. Ich geh Ihnen nicht aus dem Sinn, und wenn Sie im Abitur durchfallen, dann heißt es, ich bin daran schuld. Dann und wann durch die Straßen gehen, gut, gehen wir! Irgendwas reden: also bitte, reden Sie irgendwas.“ Und sie lachte wieder und ging neben ihm her und sah ihn amüsiert von der Seite an. „Aber ein andermal lügen Sie nicht erst, ich kann es nicht leiden, wenn man um die Wahrheit herumredet.“ „Neulich haben Sie mir die Wahrheit übelgenommen.“ „Nein, nicht übelgenommen.“ Sie sagte freimütig: „Es war nur so neu für mich, es kam so überraschend.“ „,Ich war bestürzt'„, zitierte er, „,mir war das nie geschehn... Ach, dacht ich, hat er in meinem Betragen was Freches, Unanständiges gesehn?'„ „Was ist das?“ fragte sie. „Gretchen“, sagte er. „Faust hat sie auf der Straße angesprochen, und später erklärt sie ihm, was sie dabei
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empfunden hat. Man sagt, in jeder deutschen Frau sei ein bißchen was von Gretchen, vom deutschen Gretchen.“ „Das ,deutsche Gretchen', das klingt abwertend“, entgegnete sie. „Ist es so?“ Sie waren vor ihrem Haus angelangt, vor einer der düsteren Mönkeberger Mietskasernen. „Übermorgen ist Sonntag“, sagte Holt. „Was haben Sie Sonntag vor?“ „Wenn das Wetter warm bleibt, fahre ich zeitig in die Berge. Ich habe dort ein Kanu liegen.“ „Nehmen Sie mich mit!“ bat er. „Das schlagen Sie sich ein für allemal aus dem Sinn“, sagte sie. „Ich fahre immer allein.“ „Auch Ihr Mann darf nicht mit?“ fragte er. Aber die Frage war ein Fehler, er merkte es sofort: ihr Gesicht verschloß sich. „Ich sage es immer so, wie ich es meine“, erwiderte sie ruhig, doch zurechtweisend. „An meinen Worten gibt es nichts zu deuteln, merken Sie sich das!“ „Entschuldigen Sie. Aber ich darf Sie anrufen und recht bald wiedersehen?“ „Recht bald?“ wiederholte sie, und ihr Lächeln tilgte alle Strenge aus ihrem Gesicht. „Vorhin war noch von ,dann und wann' die Rede oder von ,ab und zu'...“ Aus dem Lächeln wurde wieder ihr belustigtes Lachen. „Ich habe Ihnen den kleinen Finger gegeben“, sagte sie, „glauben Sie bloß nicht, Sie bekommen die ganze Hand!“ Und sie schloß eine Sekunde lang die Augen, schüttelte den Kopf, wandte sich ab und sah noch einmal über die Schulter auf ihn zurück. Zernick kam nur noch selten. Er war von Holt und seinem Kola-Topf unabhängig geworden, seit er entdeckt hatte, daß er Koffein auch in Tablettenform zu sich nehmen konnte. Zur Zeit schrieb er an seiner Dissertation. Holt vermißte ihn nicht. Zweimal die Woche traf er Frau Arnold, die anderen Tage lebte er von Vorfreude und Erwartung. Anfangs durfte er sie nur zu ihrer Wohnung in Mönkeberg begleiten. Bald gingen sie zusammen noch ein Karree um den Häuserblock. Er ließ sich ihre Arbeit im Werk erläutern, vor allem, was sie unter politischer Arbeit verstand, und sie fragte viel nach der Schule. 385
Sie sagte eines Abends: „Ich beneide Sie, daß Sie lernen können, soviel Sie wollen.“ Ihr fehlten für die Arbeit im Werk bestimmte Kenntnisse auf dem Gebiet der Chemie. Sie müsse sich mit der Volkshochschule begnügen, sagte sie, trotz der neugeschaffenen Möglichkeit eines Universitätsstudiums für Arbeiter, aber ihre Funktion im Werk sei wichtig, und so müsse diese Vorstudienanstalt ein Wunschtraum bleiben. Sie standen vor ihrem Haus. Es war nun schon November. Der Wind trieb einen feinen Sprühregen durch die Straßen. Nach kurzem Zögern forderte Frau Arnold Holt auf, noch eine halbe Stunde mit zu ihr nach oben zu kommen. Er folgte ihr über den Hof in den Seitenflügel und dann drei Treppen hoch. Sie traten vom Treppenhaus in eine Wohnküche. Gegenüber dem Eingang gab es zwei Türen. Links stand der Herd, rechts ein hochlehniges Sofa. Auf dem Sofa saß ein Mann. Randlose Brille im runden, geröteten Gesicht, hemdsärmlig, ohne Kragen, mit breiten Hosenträgern, und schwarze Ärmelschoner bis über die Ellenbogen... Die Füße, in Socken, ohne Schuhe, lagen auf einem Küchenstuhl. Der Mann las die Tauschanzeigen im Inseratenteil der Lokalzeitung. „Nanu!“ rief er. „Das ist ja ganz was Neues, das war ja noch nie da, das sind ja ganz neue Moden: Judith hat Herrenbesuch!“ Als Holt sich vorstellte, sprang der Mann vom Sofa, fuhr in die Schuhe und rief unter vielen kleinen Verbeugungen: „Was denn... Der Sohn vom Herrn Professor! Welche Ehre! Judith, warum sagst du nicht, daß es der Sohn vom Herrn Professor ist? Ja, das weiß man doch nicht, das kann man doch nicht riechen, aber bitte, hier ist ein Stuhl, aber setzen Sie sich doch... Wo ist denn bloß mein Jackett...“ „Bemühe dich nicht“, sagte Frau Arnold. Sie öffnete wortlos die rechte der beiden Türen, ließ Holt in das angrenzende Zimmer ein und schloß die Tür hinter sich. Holt blickte sich in dem kleinen Raum um. Eisernes Bett, Schrank, Waschständer, Tisch mit Schreibunterlage, kleines Regal mit Büchern. Holt sah auch den Schlüssel, der innen im Schloß steckte. Hier also wohnte sie, für sich allein, und dieser Mensch in der Küche... Holt deutete auf die Tür und fragte: „Ihr Mann?“ 386
Sie neigte den Kopf, sie sagte: „Ja. Mein Mann.“ Dann trat sie dicht vor Holt hin, ließ ihn nicht aus den Augen und sagte langsam, betont: „Ich will nicht darüber reden! Ich will nie und niemals über meine Ehe reden, und wenn Sie je davon anfangen, haben Sie meine Freundschaft augenblicklich und für immer verscherzt. Verstehen Sie?“ „Ich verstehe“, sagte er. „Bitte... entschuldigen Sie.“ An den naßkalten Novemberabenden saß Holt nun öfters bei Frau Arnold. Ihr Mann ließ kaum noch die Zeitung sinken, nickte, zwinkerte vertraulich, weckte in Holt immer mehr Abneigung, schließlich Wut. In dieser Wut vergaß er einmal Frau Arnolds Verbot und sagte: „Warum ziehen Sie nicht aus?“ Er dachte dabei an eine Trennung von diesem Menschen in der Küche. Dann erkannte er seinen Fehler und verbesserte sich rasch: „Ich meine, Sie sollten sich eine bessere Wohnung suchen.“ Er spürte, daß er ihr nichts vormachen konnte. Aber dann nahm sie das Stichwort auf. „Die Wohnung ist nicht übel“, meinte sie. „Nicht übel?“ rief Holt. „Ich bitte Sie! Aus dem Treppenhaus gleich in die Küche, kein Bad, und die Toilette eine halbe Treppe tiefer...“ „Die Wohnung ist wirklich nicht übel“, beharrte sie. „Wir reden gelegentlich noch einmal darüber.“ Er vergaß diesen Wortwechsel bald. Aber als er sie einige Zeit später, an einem Sonnabend, des Mittags in Mönkeberg abholte, sagte sie: „Ich habe ein paar Gutscheine von der Volkssolidarität wegzubringen. Wollen Sie mitkommen?“ Er folgte ihr. Straßen, Mietskasernen, ähnlich jener, in der sie wohnte, doch älter, düsterer, ganz bröcklig. Wohin führte sie ihn? Torweg. Hof. Wieder ein Torweg. Wieder ein Hof. Ein dritter Eingang, steile, ausgetretene Treppe, schmal, lichtlos. Fauliger Geruch. Treppenabsatz mit einem Ausguß und fünf Türen, Wohnungstüren. Angeklopft, Tür auf, dahinter ein Raum von zwölf Quadratmetern mit Herd und Bett, nur dieser Raum. Im Bett ein alter, gelähmter Mann. Daneben ein zweites Lager aus Matratze und Decken. Eine alte Frau, im trüben Licht, in der 387
muffigen Luft. Vor dem Fenster eine Ziegelmauer, kein Streifen des Himmels, niemals ein Strahl der Sonne, kein Windhauch im Schacht des Hinterhofs. Und Menschen, lebendig begraben. Bilder standen in Holts Erinnerung auf: Villen und Gärten, jüngst die Villa in Hamburg, das helle Haus seiner Kindheit in Bamberg... Und hier die alte Frau freute sich über den Gutschein, klagte nicht. Es ging treppab. Holt wollte aufatmen, Judith Arnold ließ ihn nicht aufatmen. Mietskaserne, Hof, bewohntes Kellerloch, und weiter, treppauf, treppab. Bilder gruben sich in Holt ein: feuchte, modrige Löcher, Dachwohnungen, Wohnküchen mit dem Schwamm in den Dielen, vier Menschen auf sechzehn Quadratmetern, das Klosett im Treppenhaus hinter einem Lattenverschlag, und überall Menschen, Greise, Männer und Frauen mit skrofulösen Kindern... Endlich war es genug. Holt sprach lange kein Wort. Erst vor Frau Arnolds Haustür sagte er: „Sie haben mir eine Lektion erteilt. Ich werde das mein Lebtag nicht vergessen.“ „Lektion“, sagte sie, „darum ging es nicht. Ich wollte auch gar nichts beweisen. Aber wie finden Sie meine Wohnung?“ „Ich muß sagen“, erwiderte Holt, „Ihre Wohnung ist wirklich nicht übel!“ Holt lud Frau Arnold ins Theater ein. Sie lehnte ab. Er wiederholte seine Einladung mit Nachdruck. Auf dem Spielplan stand Büchners „Woyzeck“. Sie schüttelte wieder den Kopf, aber jetzt fand er sich nicht damit ab, redete auf sie ein, sprach von der ersten proletarischen Tragödie der deutschen Literatur. Sie blieb lange unschlüssig, das wunderte ihn, denn sie war sonst schnell von Entschluß. Als er eindringlich bat, sagte sie schließlich zu. Erst im Theater erkannte er, warum sie sich gesträubt hatte: sie besaß, da es nun Winter war, nichts als einen Rock und einen Pullover. Sie ging aufrecht und selbstbewußt neben ihm, aber er verstand, wie ihr zumute sein mochte unter den Menschen, die sich festlich gekleidet hatten, und wenn es auch nur vielfach geänderte und zurechtgestückelte Festkleider waren. Er sprach sie in der Pause darauf an; solange er 388
aufrichtig war, das wußte er, durfte er vor ihr alles aussprechen. „Es wäre ein Jammer, wenn wir wegen der leidigen Kleidersorgen aufs Theater verzichten wollten! Heute haben viele Leute nichts anzuziehen, und meinen Anzug hier, den hat mein Vater aus dem Lumpensack geholt; da sehen Sie neben mir königlich aus! Wollen wir uns in Zukunft auf die Galerie setzen? Dann könnten Sie sogar Ihre Montur anziehen und fallen immer noch nicht auf.“ Sie lachte und drückte ihm dankbar die Hand. Sie gingen nun öfters ins Theater, auf die Galerie, wo sie sich wohl fühlten unter den Studenten und Schülern. Aber mit dem Winter begann im Werk wieder der Kampf gegen Kälte, Kohlenknappheit und Rohstoffmangel, und Frau Arnold hatte kaum noch Zeit für Holt. Einmal in der Woche traf sie sich aber doch mit ihm. Er täuschte sich nicht: sie ließ sich gar nicht herab, wie er einmal geglaubt hatte, nein: ihr war an den gemeinsamen Stunden ebenso gelegen wie ihm. Diese Erkenntnis gab ihm viel von seiner alten Sicherheit wieder. Er vergaß das Wort vom kleinen Finger und der ganzen Hand, das sie am Anfang gesprochen hatte. Ein Abend in der Woche war ihm zuwenig; eines Sonntags besuchte er sie, ohne sich angemeldet zu haben, und siehe: sie freute sich! Ihr Mann war nicht zu Hause, war übrigens meist abwesend, spielte Skat in einem Lokal um die Ecke. Frau Arnold kochte Tee von Brombeerblättern. Er schaute ihr dabei gern zu, sie hatte ein umständliches Zeremoniell, den Tee zu bereiten, den sie stets in zwei Sammeltassen auftrug. Er las ihr an diesem Sonntag Gedichte vor, Lyrik von Gryphius bis Hofmannsthal, und er mußte erleben, daß sie sich anfangs heftig gegen den Eindruck der Verse sträubte. „Die Gefühlswelt der Besitzenden“, sagte sie, „was nützt uns das?“ Er lehnte sich gegen einen solchen Nützlichkeitsstandpunkt auf, sie stritten lange miteinander. „Da müssen Sie vier Fünftel der deutschen Kultur wegwerfen“, sagte er. „Reden Sie mal mit Zernick, wie der über solche Bilderstürmerei denkt!“
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Zernicks Autorität erkannte sie widerwillig an, aber im gleichen Atemzug kritisierte sie Goethes „Willkommen und Abschied“. Es gab für sie nur einen akzeptablen Begriff des Glücks. Holt forderte sie auf, diesen Begriff zu definieren. Sie meinte das Glück, für die Emanzipation des Proletariats, für den Sozialismus zu kämpfen. Als sie das sagte, suchte sie die Worte widerstrebend zusammen. „Wenn mir das ein anderer Mensch sagen würde“, meinte Holt, „und ausgerechnet im Zusammenhang mit Goethes Gedichten, ich fände das einfach lächerlich, und ich würde es obendrein Ihrer Partei übelnehmen.“ Aber sie beharrte auf ihrem Standpunkt. „Ich halte nichts von einem privaten, egoistischen Glück.“ „Weil Sie es nicht kennen“, sagte Holt. Ihr Gesicht verschloß sich. Holt legte das Buch aus der Hand. „Sie haben mir verboten, davon zu sprechen. Es sollte kein solches Tabu mehr zwischen uns geben. Ich habe meine Gedanken, und die Gedanken können Sie mir nicht verbieten. Zernick hat mir mal vorgeworfen, ich kompensierte eine gestörte Beziehung zur Umwelt durch die Vertiefung ins eigene Ich. Aber wie Sie mit dreiundzwanzig Jahren Ihr Lebensglück einzig in Ihrer Arbeit, im Kampf um die Emanzipation des Proletariats suchen...“ „Kein Wort mehr!“ rief sie. „... das dreht mir das Herz um“, fuhr er fort. „Ich darf nicht daran denken, wie Sie Ihr Leben mit diesem Mann...“ Jetzt unterbrach sie ihn rigoros. „Noch ein einziges Wort, und Sie müssen gehen!“ Da hob er resignierend die Hände. „Der Umgang mit Zernick ist nicht ohne Gefahr für Sie“, meinte sie nun wieder ganz unbefangen. „Er ist ausschließlich Theoretiker. Er kann sich das leisten, weil er die revolutionäre Praxis genau kennt. Aber Sie...“ „Ja? Bitte, was ist mit mir?“ fragte er. „Sie sind im Grunde weltfremd, auch wenn Sie das Leben in mancher Hinsicht recht genau kennen.“
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An diese Worte dachte er zwei Wochen später zurück. In den Straßen lag schon Schnee. Frau Arnold trug nun wieder ihre schwere Lederjacke, Holt den Lammpelz aus der Einöde. Sie führte ihn in eine Ausstellung: „Heinrich Zille zum Gedenken.“ Holt überlegte: Zille kannte er als eine Art Witzblattzeichner; was wollte Frau Arnold hier? Sie war nicht das erstemal in der Ausstellung; sie führte Holt vor dieses und jenes Bild. Es war ungewöhnlich, aber sie faßte ihn an der Hand, trat dicht an ihn heran und redete auf ihn ein, leise, wegen der anderen Besucher. „Ich verstehe nichts von Kunst“, sagte sie. „Aber Heinrich Zille und Käthe Kollwitz habe ich immer verehrt. Die Besitzenden haben Zille als einen Witzblattzeichner abgetan; sie haben die Bitterkeit seiner Kunst nicht wahrhaben wollen. Ich mußte immer schon nachdenken über diesen Humor, der den Menschen erstarren macht. Ich denke, er ist nur ein Mittel, das Furchtbarste auszusagen: den Pesthauch der Zivilisation, das Totenhaus, den Schmutz, die Versumpfung und die Verfaulung des Menschen... Sehen Sie hier, ein Wort Kaiser Wilhelms, das aufs Flottenbauprogramm gemünzt war: Unsere Zukunft liegt im Wasser... Eine Frau läuft durch die Nacht, sie läuft zum Kanal, sie zerrt ein Kind hinter sich her und preßt ein zweites Kind verzweifelt an die Brust. Es ist eine wilde, verzweifelte Nacht. Die Frau wird sich und die Kinder ertränken. Oder sehen Sie dies: ein düsteres Zimmer, im Bett eine Arbeiterin, sie ist krank, wer weiß, was es für eine Krankheit ist, und der Arzt steht bei ihr und verbietet ihr, Brot zu essen; aber das Verbot ist überflüssig, sie hat sowieso kein Geld, welches zu kaufen.“ Die Zeichnungen, Frau Arnolds hastige, erregte Worte, da spürte Holt wieder den Schauder, der ihm auf dem Gang durch die Mönkeberger Mietskasernen den Atem genommen und die Sprache verschlagen hatte. „Berlin Ackerstraße. Man kann mit einer Wohnung einen Menschen genausogut töten wie mit einer Axt. Der Mensch ist in die Höhlenwohnung zurückgekehrt... Der kleine Bucklige hier, der hat mich als Kind zum Weinen gebracht, wie er uns ins Gesicht sagt: ,Wenn ich gewußt hätte, wie ich ausseh, denn 391
hätt ich mir nicht lassen auf die Welt kommen...' überhaupt die Kinder! Er muß sie sehr geliebt haben. Die beiden hier sitzen vor einer Schnapsbrennerei, und eins sagt zum anderen: ,Vater sitzt in der Destille, und Mutter liegt im Landwehrkanal, heute gibt's keinen Kaffee...“ Es ist ein Humor, der das Blut gefrieren läßt und das Lachen zum Schluchzen macht.“ So sprach sie weiter auf Holt ein, ging mit ihm von Bild zu Bild, führte ihn durch eine fremde, nun schon vertraute Welt, die Welt der Hinterhöfe, wo eine Blume zwischen den Müllkästen zum Garten wurde und ein Schmutzhaufen Spielplatz der Kinder war. Drei Männer auf einer Bank, zwei sind Kriegskrüppel, ein jüngerer mit Beinstumpf, der ältere einäugig. Sie sind alle drei verkommen, sie haben keine Arbeit, es ist das Jahr 1922, und sie sind, einer wie der andere, zerstört, sind Wrack, herabgewürdigt zum Zerrbild des Menschen. „Weeste“, sagt einer von ihnen, „man darf jarnich drüber nachdenken...“ „Aber Sie, Werner Holt, Sie müssen darüber nachdenken!“ beschwor ihn Frau Arnold. „Denken Sie darüber nach!“ Erst auf der Straße ließ sie seine Hand wieder los. Vor ihrer Haustür schlug er fröstelnd den Pelz enger um den Körper. „Ich verdanke Ihnen viel“, sagte er. „Wir wollen es nicht aufrechnen“, sagte sie. „Lernen wir einer am anderen Gegenseitigkeit.“ „Gegenseitigkeit, ein großes Wort“, erwiderte er. „Es ist neu in meinem Sprachschatz. Aber wie ich's auch wende: ich bleibe immer in Ihrer Schuld!“ Dann war Weihnachten. Holt saß am frühen Weihnachtsabend mit seinem Vater und Gundel beisammen. Gundel hatte eine kleine Topftanne mit roten Lichtern geschmückt. Professor Holt war aus seinem Labor hochgekommen und hatte vergessen, den weißen Kittel auszuziehen. „Behalte ihn gleich an“, sagte Holt. „Du ziehst dich ja doch wieder in dein Labor zurück. Ich kenn dich doch, zu einer richtigen deutschen Weihnacht hast du noch nie Talent gehabt.“ Er wandte sich an Gundel. „Und du? Brauchst du noch
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Schneidereit? Na bitte, da kann ich ja beruhigt ins BachKonzert gehen.“ Gundel stellte eine Schale mit Gebäck auf den Tisch. Professor Holt kostete. „Eigenartig!“ „Merkwürdig“, sagte Holt, nachdem auch er gekostet hatte. „Wo hast du das her?“ „Ich habe gebacken!“ sagte Gundel. „Aber leider ist der Kuchen noch nicht restlos gelungen. Doktor Hagen hat mir Backpulver gemischt, aber aus Versehen hab ich's nicht in den Teig gegeben. Deshalb ist der Kuchen so flach geblieben. Ich bin gleich damit zu Doktor Hagen gefahren, ob er ihn noch retten kann...“ Jetzt hatte sie wieder die Grübchen im Gesicht. „... weil er immer sagt, der Chemie ist nichts unmöglich. Aber hier war er machtlos. Dafür hat er mir einen Vortrag gehalten, warum die Backprozesse irreversibel sind. Und den Kuchen soll ich in Stücke schneiden und wie Zwieback rösten, hat er gesagt.“ „Schmeckt immerhin ganz ordentlich“, sagte Professor Holt. „Bißchen extravagant“, meinte Holt. „Fehlt Kümmel dran, und dann mit heißer Heringslake servieren!“ Gundel brach als erste auf. Holt saß noch eine Stunde bei seinem Vater im Labor. Gundels Mißgeschick hatte ihn belustigt, dann aber unvermittelt an die dunkelste Zeit seines Lebens erinnert: Weihnachten 1944 in der Panzerkaserne. Er entsann sich der völligen Ausweglosigkeit, die ihn damals gelähmt hatte. Heute war Frieden. Man sollte sich das merken: auch wenn kein Weg und kein Ausweg sichtbar war, auch dann ging das Leben weiter. Draußen, vor den Laborfenstern, klopfte sich jemand den Schnee von den Schuhen. Es war Zernick. Er hatte in seiner Wohngegend eine Weihnachtsfeier der Volkssolidarität für alte Leute besucht, jetzt war er durchgefroren, seine Ohren waren rot, Frosttränen kullerten aus seinen Augen, und er brachte vorerst nichts hervor als das Wort: „Kola!“ Seine Brille beschlug, er putzte sie umständlich und schaute dabei mit seinen kurzsichtigen Augen im Labor umher. Holt kochte Kola, Professor Holt braute seinen Grog. Zernick taute von innen her
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auf, seine Diskutierwut taute ebenfalls auf, und der Streit um Lyssenko entbrannte von neuem. Holt stahl sich hinaus. „Ich will Ihnen jetzt mal was sagen!“ hörte er Zernicks Stimme, als er die Treppe hochstieg. In seinem Zimmer begann er in den Büchern zu suchen, die sich schon reichlich angesammelt hatten. Er brauchte für Judith Arnold ein Geschenk, er wählte ein Buch für sie aus. Was er nun in den Händen hatte, war ein guterhaltener Inselband, der Roman von Tristan und Isot aus dem Französischen. Angelika fiel ihm ein. War sie wirklich schon Erinnerung, sonst nichts? Er beachtete sie kaum noch, nickte ihr in der Schule gelegentlich zu. Er wußte, daß sie litt. Er mußte fest bleiben, oder er trieb in etwas hinein, was er nicht verantworten konnte. Aber warum hielt er mit ihr nicht in Freundschaft zusammen wie mit Gundel, mit Judith? Oder andersherum: warum kam er nicht auch mit Gundel, mit Judith ins Treiben? Mach dir nichts vor. Wünschst ja in Gedanken nichts sehnlicher, als mit Gundel, mit Judith ziellos zu treiben, ins große Glück erst, dann in den schalen Nachgeschmack. Bloß, bei Gundel steht's gar nicht in deinem Ermessen, und obendrein ist dir einer im Wege, der seine Hände über sie hält. Und bei Judith traust du dich nicht, traust dich noch nicht, lauerst noch auf Signale, hat sie nicht schon deine Hand gefaßt? Möchtest ganz sichergehn, ehe du wieder Frau Ziesches erprobten Maximen folgst. Lind wie heißt es doch gleich?, schlag's nach, oberstes Fach ganz links: „Und wie artig weiß die Hündin Sinnlichkeit um ein Stück Geist zu betteln, wenn ihr ein Stück Fleisch versagt wird...“ Da wirfst du das Buch auf den Tisch, das paßt dir nicht, daß der barbarische Philosoph haargenau jenem Teil deines Wesens entspricht, den die Vergangenheit am tiefsten in Barbarei zurückstieß. Mach dir nur ruhig weiter was vor. Der Krug geht nicht mehr allzulange zum Brunnen. Schon fühlst du den Boden unter den Füßen schwanken, und wenn du nur ehrlich nachzudenken beginnst, da kriselt's wieder und kracht in allen Fugen. Holt nahm mit einer hastigen Bewegung den Pelz vom Haken, zog ihn über, stand wieder unbeweglich. Endlich packte er für 394
Judith Arnold zwei Bände ein, Goethes Sämtliche Gedichte, dann auch den Roman von Tristan und Isot. Er fuhr nach Mönkeberg hinaus. „Baumert“, stand an der Tür. Er warf den schmalen Inselband durch den Briefschlitz. Dann ging er langsam durch die winterlichen Straßen. Von irgendwoher klang Glockengeläut. Er ging dem Schall entgegen. Hinter den Fenstern schimmerte Kerzenlicht, aber heute bedeutete es keine Stromsperre, heute brannte kaum jemand elektrisches Licht. Heute war Weihnachten. Wer entsann sich da nicht der Kindheit? Mochte die Welt auch verlogen gewesen sein; die frühe Kindheit, lange vor Irrtum und Schuld, hatte nichts von ihrem Glanz verloren. Adventszeit, Weihnachtszeit, Vorfreude und Erwartung, der brennende Weihnachtsbaum, Märchenwelt und Kinderträume. Ja, die Kindheit war das Leben gewesen, und das Leben war nichts als ein Erwachen aus dem Traum von der Welt. Glück kannte vielleicht nur der Ahnungslose, der nichts von den Widersprüchen des Lebens wußte. Im kalten Treppenhaus der Mietskaserne hörte Holt durch eine Tür Weihnachtslieder, von einem Kinderchor im Rundfunk gesungen. Er stieg die drei Treppen hoch, klopfte, trat ein. Herr Arnold lag auf seinem Sofa; es war ein gutes Fest für ihn, denn die Zeitung brachte fast zwei Seiten Tauschannoncen, Küchenwunder gegen Bettbezug, Mantelstoff gegen Autoreifen, Igelitschuhe gegen Rohtabak. Frau Arnold saß in ihrem Zimmer am Tisch. Auf der Kochplatte summte der Teekessel. Auch hier, in ihrem kleinen Radio, klangen die Weihnachtslieder. Sie sah auf, als die Tür ging, sie strich sich mit dem Handrücken eine schwarze Haarlocke aus der Stirn. „Werner!“ rief sie, und in ihrem Gesicht war nichts als Freude. „Wie schön, daß Sie kommen.“ Er stand noch an der Tür. Sie waren nicht verabredet, aber sie freute sich, und sie hatte ihn mit dem Vornamen angeredet... Jetzt wurde es Holt bewußt: dies war seit der Kindheit das erste Weihnachtsfest, an dem er nicht einsam war. Sie nahm ihm den Pelz ab. „Können Sie denn Ihren Vater allein lassen?“
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„Zernick ist bei ihm“, sagte Holt. „Sie diskutieren wieder Genetik, daß die Fetzen fliegen.“ Er schaute ihr bei dem Zeremoniell der Teebereitung zu. Sie spülte das Teekännchen mit kochendem Wasser aus, warf Brombeerblätter hinein, brühte sie auf, holte die beiden Sammeltassen und schenkte den Tee ein. Er gab ihr die beiden Goethe-Bände. Sie blätterte darin, dann hatte sie ein Lächeln, das beinahe schüchtern war und um Entschuldigung bat, und sie bekannte in ihrer freimütigen Art: „Sie erinnern sich, wie ich mich gegen die Gedichte gesträubt habe... Ich mußte viel darüber nachdenken. Ich wollte nicht, daß mich etwas anderes anrührt und begeistert als das große Ziel, für das ich kämpfe... Ich glaubte, ich würde mir untreu werden. Aber jetzt weiß ich, daß ich noch viel lernen muß.“ Holt sah ihr zu, wie sie die Seiten des Dünndruckpapiers umwendete, und ihre Finger faßten ganz zart zu. Auf einmal verwünschte er den Mann, der draußen in der Küche auf dem Sofa lag. Sie legte die Bücher weg und wollte sich bedanken, aber er sagte: „Wer sich in Ravensbrück treu geblieben ist, der sollte nicht so viel Angst haben, daß er sich bei Goethe oder sonstwo die Treue bricht. Sie können sich auch bei mir nicht untreu werden, das wissen Sie, sonst hätten Sie mich vorhin nicht mit Vornamen angeredet, und, nicht wahr?, es bedeutet, daß Sie Vertrauen zu mir haben.“ Sie nickte unmerklich mit dem Kopf. „Wenn Sie mir vertrauen“, sprach er weiter, „dann sollten Sie mir helfen, etwas zu verstehen, was ich ohne Ihre Erklärung nie und nimmer werde begreifen können: Warum bleiben Sie bei diesem Mann, warum gehen Sie nicht endlich von ihm fort?“ Sie wendete heftig den Kopf gegen Holt. Dann schaute sie wieder vor sich hin. „Ich will es Ihnen erklären“, sagte sie, und sie begann zu reden, stockend, als falle ihr jedes Wort schwer. „Ich kannte Arnold, schon, als ich ein Kind war“, sagte sie. „Er ist achtzehn Jahre älter als ich. Er lebte in dieser Wohnung mit seiner Mutter. Er war Sozialdemokrat. Mein Vater hat vor dreiunddreißig viel mit ihm diskutiert, konnte ihn aber nie überzeugen. Wir wohnten ein paar Häuser weiter. Nach Hitlers 396
Machtergreifung mußte ich verschwinden, ich verlor Arnold aus den Augen. Dann folgte die unruhige Zeit der Illegalität, ich kam nach Ravensbrück, und eines Tages wurde ich plötzlich entlassen. Das war im Winter 1943. Ich war zwanzig Jahre alt, ich wußte nicht, wohin. Niemand öffnete mir die Tür. Ich war krank und sehr schwach. Es war ein kalter Winter. Ich suchte alle Bekannten auf, niemand half mir. Ich war geächtet. Auch die wenigen Genossen, die noch in Freiheit waren und noch kämpften, wiesen mich ab. Es dauerte Monate, ehe sie mir wieder vertrauten, und sie durften mir ja nach dieser plötzlichen Entlassung nicht vertrauen... Damals war ich elend und wußte nicht, wie ich weiterleben sollte. Da traf ich Arnold, er las mich buchstäblich auf der Straße auf und nahm mich mit und behielt mich bei sich. Seine Mutter lebte nicht mehr. Er war Soldat und hatte Urlaub. Ehe er wieder hinausging, ließ er sich mit mir trauen. Es war ein Unrecht, daß ich ihn heiratete, denn ich habe ihn nie gemocht. Aber ich brachte es nicht fertig, nein zu sagen, es wäre undankbar gewesen, und... ich hatte auch nicht die Kraft, nein zu sagen, denn ich hatte Angst, wieder obdachlos auf der Straße zu stehen. Arnold hatte gleich dreiunddreißig seinen Frieden mit den Nazis gemacht. Er war selber kein Nazi geworden, aber er wollte von Politik nichts mehr wissen, und so ist es bis heute. Aber mir gegenüber hat er sich damals doch menschlich gezeigt...“ Holt bewegte ungestüm den Kopf. „Nein, sagen Sie nichts!“ bat Frau Arnold. „Nun war ich seine Frau, und... ich war schwanger von ihm und teilte es ihm mit. Dann bekam ich ganz plötzlich wieder Kontakt, und ich konnte nicht anders, ich übernahm wieder die illegale Arbeit. Es ging nur ein paar Monate gut, dann wurde ich wieder verhaftet. In der Haft hatte ich eine Frühgeburt. Das Kind blieb keine Stunde am Leben... Ich war dann eher wieder hier als Arnold, im Mai. Er kam im August und fragte nach dem Kind. Er sagt, ich habe es umgebracht, weil mir die Politik höher steht als sein Kind... Er kann es wohl nicht anders sehen. Er kann so vieles überhaupt nicht begreifen, sonst wüßte er doch, was ich in der Zelle habe durchstehen müssen, auch im Herzen, um das Kind... Und nun fragen Sie, warum ich nicht von ihm fortgeh? 397
Ich bin nur noch auf dem Papier seine Frau. Ich halte ihm die Sachen in Ordnung, daß er nicht ganz verkommt, ich wasche für ihn und koche ihm was zu essen und räume ihm die Küche und sein Zimmer auf, und ich steh auch für ihn an den Läden an. Er will, daß es so bleibt, und da wird es eben so bleiben. Denn ich kann mich nicht scheiden lassen, weil ich's ihm einfach schuldig bin, nach alledem wenigstens für ihn zu sorgen.“ Holt sah stumm auf Frau Arnold. Sie war blaß; die Bitterkeit war eingegraben in ihre Mundwinkel. Im Werk stand sie tapfer ihren Mann, und was hatte sie nicht alles ausgehalten in der Vergangenheit! Hier aber unterwarf sie sich diesem Menschen und büßte eine Schuld, die man ihr nur eingeredet hatte. Sie sagte: „Niemand weiß, was ich Ihnen erzählt habe. Ihnen mußte ich endlich sagen, wie es ist. Aber niemals mehr ein Wort darüber, kein einziges Wort!“ Holt spürte, daß dieser Widerspruch gar nicht zu Frau Arnold paßte und daß sie eines Tages darüber hinauswachsen mußte, vielleicht schon bald, und vielleicht konnte er ihr dabei helfen... Er sagte: „Ich habe Karten für ein Orgelkonzert in der Südkirche. Aber nein, nicht doch!, was denken Sie denn von mir! Kein Gottesdienst, sondern ein richtiges Konzert mit Orgelwerken von Bach. Kommen Sie, überlegen Sie nicht lange.“ Auf der Straße nahm sie seinen Arm. Auch das war neu, aber es wunderte ihn nun schon nicht mehr. Er versuchte ihr zu erklären, was Polyphonie sei, strenge Imitation, Fuge, Kontrapunkt. Schneetreiben setzte ein. Fern läuteten wieder die Glocken, und der Klang wehte durch die menschenleeren Straßen. Nach den Feiertagen, bis ins neue Jahr hinein, traf Holt nicht wieder mit Frau Arnold zusammen. Der Winter brachte Schnee und schwere Fröste. Das Werk geriet in eine kritische Lage. Frau Arnold war mit Arbeit überlastet. Sie kam nicht mehr aus den Kleidern, schlief kaum eine Nacht und war viel unterwegs; sie fuhr bei der eisigen Kälte in die Gruben und holte Kohle heran wie einst Müller, holte Rohstoffe, Ampullen, 398
Verpackungsmaterial. Auch Professor Holt war Tag und Nacht im Werk. Selbst Holts Leben wurde vom Winter durcheinandergebracht, denn in der Schule waren nur noch wenige Räume geheizt, in denen die Abiturklassen umschichtig unterrichtet wurden. Der Unterricht aller anderen Klassen fiel aus. Aber je länger Holt Frau Arnold nicht zu sehen bekam, um so mehr beschäftigte sie ihn. Bisher hatte er an ihr vor allem die Einheitlichkeit ihres Wesens bewundert, dieses „wie ich's sage, so meine ich's auch“, die Übereinstimmung ihres Denkens und Fühlens und Handelns. Jetzt erkannte er den bestürzenden Widerspruch: so stark sie in ihrer Überzeugung, in ihrer Arbeit war, so entschluß- und willenlos und schwach war sie in ihrem privaten Leben. Schwach wie alle Frauen. Nur Schwäche ließ sie sich in der Schuld dieses Menschen fühlen, weibliche Schwäche. Kein Zweifel, auch sie wollte unterworfen sein, und dieser Mensch hatte sie geschickt zu unterwerfen verstanden, daß sie sich in seiner Schuld fühlte und ihm Frondienste leistete. Hatte ihre Schwäche ausgenutzt, und immer nutzte ein Mann die weibliche Schwäche aus. Holt hätte eine Kraftprobe nicht scheuen dürfen. Ihretwegen. Ja, auch ihretwegen! Er hatte wohl schon viel zu lange gezögert. Kam sie ihm nicht deutlich entgegen? Nannte sie ihn nicht Werner, und hatte sie nicht schon oft im Gespräch vertraulich die Hand auf seinen Arm gelegt? Er war vor ihr ein dummes Gefühl der Unterlegenheit lange nicht losgeworden; so hatte er alle Zeichen übersehen. Nun schüttelte er über sich selbst den Kopf. Er hatte Frau Arnold lange warten lassen! Der 11. Januar rückte heran. An seinem Geburtstag mußte Frau Arnold Zeit für ihn haben! Aber da stand am Vorabend, als er die Schule verließ, Angelika in der Anlage. Wer weiß, wie lange sie schon in der grimmigen Kälte wartete; Schneekristalle hingen in ihrem Haar, und der Mantel war von Schnee überstiebt. „Ich hatte mir ganz fest versprochen, dich in Ruhe zu lassen“, sagte sie und schaute aus ängstlichen Augen, „aber da hättest du mir das Buch nicht bringen dürfen, den Roman von Tristan und Isot, der hat alles noch viel schlimmer 399
gemacht.“ Als sie das sagte, das sonst so lebendige Gesicht ganz unbewegt und blaß, die Stimme tonlos und der Blick eine einzige lautlose Bitte, da spürte er wieder den Wunsch, ein anderer zu sein, als er war, und diesem Mädchen dankbar zu sein für ihr Gefühl. Er faßte sie am Arm. „Der Winter ist eine dumme Zeit! Sollen wir bei der Kälte womöglich auf einer Bank sitzen?“ Sie sagte, ohne ihn anzusehen: „So komm doch mit zu mir! Großmutter ist heute waschen und kommt nicht vor zehn.“ „Du bist ja wohl nicht gescheit!“ sagte er. Daheim versuchte er, nüchtern zu überdenken, was eigentlich mit seinem Leben vor sich gehe. Er hatte sich von Zernick ins Bockshorn jagen, was einreden lassen, von wegen: Bei Ihnen kriselt's oder kracht's in allen Fugen. Es gab keinen Grund, über sich und das Leben in Sorge zu sein. Er konnte einiges tun, um fest auf den Füßen zu stehen. Er durfte vor allem Angelika nicht in seine Widersprüche hineinzerren, dazu war sie zu schade, und sie durfte nicht auf der Strecke bleiben. Und zweitens mußte er die unerträgliche Spannung lösen, die unbemerkt unter der Oberfläche seiner Beziehung zu Judith Arnold entstanden war. Anderen Tages rief er Frau Arnold im Werk an. Er hörte an ihrer Stimme, daß sie sich über den Anruf freute, daß es sie bedrückte, ihm wieder absagen zu müssen. Aber heute ließ er ihre Absage nicht gelten. „Nein, Judith, heut müssen Sie Zeit für mich haben... Nein, keine Theaterkarten, nichts dergleichen. Ich habe Geburtstag.“ Stille. Störgeräusche in der Leitung. Jetzt wieder ihre Stimme: „Gut. Es ist schwer, aber es muß eben gehen. Wollen Sie zu mir kommen? Schön. Bitte nicht vor neun.“ Am Nachmittag trank Holt mit Gundel eine Tasse Kola. Er war zerstreut, abwesend, und es brannte in ihm und brannte selbst Gundels Anblick hinweg. Dann erschien Zernick und trank sich mit Kola seine übliche Diskutierwut an. Als am Abend gegen acht der Professor aus dem Werk kam, war es mit Holts Ruhe endgültig vorbei. Er verabschiedete sich.
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Gundel war erstaunt. „Wo willst du denn hin, heute, an deinem Geburtstag?“ „Sieh mal, Gundel“, sagte Holt, während er sich in seinen Pelz verkroch, „ob das Geburtstag ist oder Weihnachten oder 1. Mai oder sonstwann in der Woche, wir haben eben alle unsere Verabredungen.“ Kurz nach neun stand er vor der Mietskaserne. Er mußte bei Frau Arnold mehrfach klopfen, ehe er die Tür gehen hörte, ehe sie öffnete. Dieser Mensch, der sonst auf dem Sofa lag, war zum Skat. Holt folgte Judith Arnold ins Zimmer, zog den Lammpelz aus, hängte ihn an den Haken. Frau Arnold deckte die beiden Sammeltassen auf, Zigaretten, ein Körbchen mit Pfefferkuchen. Der Teekessel summte auf dem Kocher. Sie stand am Tisch. Das schwarze Haar fiel ihr heute offen auf die Schultern, er hatte es noch nie so gesehen. Sie lächelte, und er nahm alles als Zeichen, ihr Haar und ihr Lächeln. „Du hast Geburtstag“, sagte sie. „Ich hab nichts, was ich dir schenken könnte, aber wir wollen in Zukunft du zueinander sagen. Ist dir's recht?“ Er nahm ihre Hand. Sie schaute ihn an. Er gab sich gar keine Mühe, erst lange den Ausdruck ihres Gesichts zu deuten, mochte es Überraschung sein oder auch Angst oder wer weiß was. Egal. Er faßte sie an den Schultern. Sie erstarrte. Er zog sie an sich und war schon trunken von ihrer Nähe und dem Duft ihres Haares und spürte nicht ihren Widerstand, bis sie ihn von sich stieß, mit solcher Kraft, daß er gegen die Wand fiel. Die Scham schlug wie eine Welle in ihm hoch. Sie stützte sich mit der Linken auf den Tisch, während sie langsam den rechten Arm hob und zur Tür wies. Sie sagte nur ein einziges Wort: „Hinaus!“ Er wollte eine Entschuldigung stammeln, eine Rechtfertigung, etwas von einem Mißverständnis. Aber aus ihren Augen traf ihn ein Blick so abgrundtiefer Enttäuschung, daß er den Pelz nahm und wortlos die Wohnung verließ. Er ging die Straße entlang. Er lehnte sich wütend auf: Sie soll sich nicht so haben! Was hab ich denn groß von ihr gewollt! Aber da wuchs das Schamgefühl ins Unerträgliche. Holt fror, er trug den Mantel noch immer über dem Arm. Eine Straßenbahn, 401
Autos, Menschen... Aber das alles drang gar nicht in sein Bewußtsein. Er stand wie geistesabwesend an der nächsten Straßenkreuzung. Er versuchte nun nicht mehr, dieses erstickende Gefühl der Scham loszuwerden. Er dachte: Jetzt hab ich einen Menschen verloren, einen ehrlichen Freund, sinnlos verspielt und vertan... Er resignierte: Es hat keinen Zweck. Ich komm nicht aus dem Dreck heraus. Da ist was in mir, das ist wie ein Dämon, ein Ungeist, der alles zerstört... Und er grübelte: Was ist das, das in uns lügt, stiehlt, mordet, hurt? Die alte Frage, die Büchner-Frage. Er zog den Pelz über. Dann ging er weiter, tief in Gedanken. Er sah Judith Arnolds Gesicht. Es hatte ihm zugelächelt, klar, sauber, schön, ein Menschengesicht: das Gesicht des Menschen. In Judith Arnolds Gestalt war der Mensch viel zu lange und heute wieder beleidigt und entwürdigt worden, und auch durch ihn, schon damals, bis heute: durch ihn. 8
Es
war Februar geworden, als Gottesknecht Holt in der Pause beiseite nahm. „Was ist mit Ihnen los? Sie gefallen mir nicht! Es gibt keinen Grund, über Sie zu klagen, aber ich bin ja nun Psychologe genug, um zu sehen: mit Ihnen stimmt was nicht!“ Holt hob stumm die Schultern. „Junge!“ sagte Gottesknecht. „Sie haben doch Kummer! Erleichtern Sie sich!“ Und da Holt noch immer nichts entgegnete, sagte er eindringlich: „Ich bin Ihr Lehrer, aber habe ich mich gescheut, Ihnen meine Sorgen anzuvertrauen?“ „Da ging's um Ideologie“, sagte Holt, „über so was spricht sich's leichter.“ „Ich wette, bei Ihnen geht's im Grunde auch um Ideologie“, meinte Gottesknecht. Holt schüttelte den Kopf. Gottesknecht runzelte die Stirn. „Weibergeschichten?“ 402
„Hören Sie auf!“ sagte Holt. Aber auf einmal rief er: „Eben nicht! Nein, keine Weibergeschichten! Ich habe eine Frau kennengelernt, ich habe nicht sehen wollen, daß sie nicht in meine Erfahrung paßt und wie klein ich neben ihr bin und daß sie ganz anders ist, als ich's jemals für möglich gehalten habe...“ „Und da haben Sie sich einen Korb geholt? Das schadet Ihnen gar nichts, Holt! Da habe ich sogar eine irrsinnige Freude dran.“ „Ich habe sie beleidigt“, sagte Holt. „Seit Tagen denke ich nach, und so viel weiß ich jetzt: Daß ich mich so gehenließ, daß ich den Mut hatte, mich so gehenzulassen, daß ich sie nach alledem, was sie mir gegeben hat, so falsch verstanden und so üblich eingeschätzt habe, das ist ein Symptom für eine Krankheit, die an mir zehrt und die ich doch nicht kenne, und ich weiß nicht, was ich tun soll, denn diese Frau allein hätte mir heraushelfen können...“ Er verstummte. „Wenn Sie sich mit ihr aussprechen?“ fragte Gottesknecht. „Versuchen Sie ehrlich zu sein! Holt, es gibt keinen Fehler und keinen Irrtum im Leben, den man mit Ehrlichkeit nicht wiedergutmachen könnte.“ „Ich habe sie angerufen. Sie hat gesagt, unterlassen Sie die Anrufe, es hat keinen Zweck. Ich kenne sie. Wenn sie sagt, es hat keinen Zweck, dann ist es wirklich zwecklos.“ Sie gingen den Korridor auf und ab. Gottesknecht sah alt aus vor Sorge. „Dann lassen Sie's vorerst. Warten Sie ab.“ Er faßte Holt am Arm. „Was Sie da angerichtet haben, das kann für Ihr ganzes Leben heilsam werden, wenn Sie's ernst nehmen, wenn Sie herausfinden, wie es möglich war. Suchen Sie die Ursachen in sich selbst, Holt! Geben Sie niemandem als sich selbst die Schuld: das nenne ich Ehrlichkeit! Wenige Menschen können so ehrlich sein. Sie können es! Sehen Sie ein, daß Sie der Krieg zerrüttet hat, noch ehe Sie überhaupt moralische Normen entwickeln konnten.“ „Moral“, erwiderte Holt. „Wie soll ich moralische Normen entwickeln? Moral ist doch eine Übereinkunft, und wem sie nicht beigebracht wurde, dem bleibt sie bloßer Begriff! Mit dem Moralbegriff schlage ich mich theoretisch herum, ohne dadurch moralischer zu werden. Und gestatten Sie schon, Herr 403
Gottesknecht, so einfach wie Sie will ich mir's nicht machen. Ich habe kein Verlangen nach dem kantianischen Plunder. Ich bin froh, daß ich die Illusionen los bin. Kants gestirnter Himmel über mir, Sittengesetz in mir, Verzeihung, das kotzt mich an, ich heiß doch nicht Karola Bernhard! Nennen Sie das ehrlich, wenn die Hündin Sinnlichkeit nun wieder um ein Stück Geist bettelt, weil ihr ein Stück Fleisch versagt blieb? Ich nenne das Heuchelei.“ „Sie sind maßlos überheblich, Holt!“ sagte Gottesknecht. Aber da begehrte Holt auf. „Nein! Das ist nicht wahr! Kennen Sie mich so wenig? Ich hab nur endlich gelernt, mir nichts vorzumachen. Ich beschönige mich nicht. Moralische Zerrüttung, wie Sie sagen, die läßt sich leicht mit einem leeren Moralbegriff, mit irgendeiner Phrase kaschieren, aber das ist doch Selbstbetrug!“ Er ging ein paar Schritte schweigend und sagte dann leise: „Es ist ein Dämon in mir, der ist stärker als alle Worte von Moral. Soll nun auch noch die Lüge anfangen, die Heuchelei und Doppelzüngelei? Vielleicht habe ich bisher nicht viel aus meinen Fehlern gelernt, aber an einem halte ich fest: Man darf sich nichts vormachen, sich nicht beschönigen, sich nicht mit schönen Redensarten zufriedengeben.“ „Einverstanden“, sagte Gottesknecht. „Aber dann bitte ich mir Konsequenz aus. Der ,Dämon', den Sie da strapazieren, der ist nämlich auch nur eine Phrase, ein leerer Begriff.“ „Ich meine es bildhaft“, entgegnete Holt. „Ich meine eine ganz reale Kraft, die in mir wirkt und die ich noch nicht definieren kann. Ich könnte mir's leicht machen und sagen: das ist der Destruktionstrieb, und schon ist eine gängige Weltanschauung fertig, und ich könnte mich sogar auf einen großen Namen berufen. Aber das kommt nicht in Frage. Wer hat uns denn im Unterricht Büchners Frage gestellt: Was ist das, das in uns lügt, stiehlt, mordet, hurt? Und jetzt kommen Sie wie der Doktor mit der Phrase: Woyzeck, Er hat keine Moral! Aber das, was ich meine, hat überhaupt nichts mit Moral zu tun. Es sieht nur so aus. Unmoral ist Symptom. Dahinter verbirgt sich was ganz anderes, und wer weiß, was sich da in mir austobt!“ Langsam, nachdenklich, sagte er noch: „Der Vetter hat sich's weiter mit der Pistole ausgetobt... Der Mensch ist Dreck... Du Stückchen Dreck... Ob man ihn abknallt oder zwecks Lustgewinn 404
unterwirft, es ist alles dasselbe! Wenn Sie nur wüßten, Herr Gottesknecht, wie schwer mir manchmal das Leben fällt!“ „Ich weiß!“ sagte Gottesknecht leise. „Sie suchen, Holt. Ich nenne mich Ihren Lehrer, aber ich kann Ihnen nicht helfen, ich kenne den Weg nicht, den Sie gehen, er führt in Neuland, ich kann nur fest an Sie glauben und um Sie bangen, wie ich ums Vaterland bange, um unser elendes, zerrissenes Deutschland. Holt, wir sind bettelarm nach den Demontagen, wir haben nichts mehr als uns selbst, und auch Schneidereits Elan und Kraft reißt uns nicht heraus, wenn Menschen wie Sie diese furchtbare Zeit nicht bewältigen! Holt, Sie müssen es durchstehen! Sie dürfen sich nicht aufgeben, Sie dürfen nicht resignieren oder einfach zu Ihrer Hamburger Sippschaft davonlaufen!“ Er legte die Hände auf Holts Schultern. „Sie haben mir den Becher-Roman gegeben; halten Sie sich an einem fest: an diesem Wort vom Anderswerden!“ Die Klingel schrillte durch den Korridor. Gottesknecht sagte: „Eines Tages werden Sie auch dieser Frau erklären können, warum Sie geirrt haben, und sie wird es sich anhören und wird es verstehen. Aber... bis dahin ziehn Sie ein anderes Gesicht, das bitte ich mir aus! Sie sind überhaupt ein ganz wankelmütiger Mensch!“ Holt blieb allein. Ja, eines Tages... Er sah sich für Augenblicke in ferner Zukunft, sah sich gereift, frei und vom Widerspruch befreit. Aber die Freiheit kam nicht von allein. Er mußte sie wie sich selbst verwirklichen. Am Nachmittag schrieb er Frau Arnold ein paar impulsive Zeilen: „Ich weiß, daß ich Sie sehr gekränkt habe. Aber bitte glauben Sie mir, ich habe Sie zugleich immer ehrlich geachtet und verehrt. Das ist ein Widerspruch, und ich kann ihn heute nicht lösen. Ich werde versuchen, über mich selbst Klarheit zu gewinnen, und ich weiß, daß es mir gelingen wird.“ Er schrieb den Umschlag mit der Maschine und schickte den Brief an Frau Arnolds Adresse ins Werk. Ein sonniger Nachmittag Ende März. Nach dem langen und strengen Winter war nun wieder Frühling geworden, Vorfrühling mit blühenden Märzenbechern und mildem Wind. Holt saß in seinem Zimmer bei der Arbeit. Er hörte die Treppe knarren und 405
sah nach der Uhr. Gundel konnte es noch nicht sein, und Vater war im Werk; Holt mußte sich getäuscht haben. Aber nebenan probierte jemand an Gundels verschlossener Tür, und als Holt sich umwandte, trat einer zu ihm ins Zimmer und schloß hastig die Tür hinter sich. Es war Christian Vetter. Holt starrte ihn an wie ein Gespenst. Vetter sah abgehetzt aus, abgerissen in seinem Ulster und den weiten Hosen. Er trug den Hut tief in der Stirn. Sein Kindergesicht hatte nichts Rosiges mehr, war scheu, von Angst entstellt. Und jetzt legte er einen Finger an die Lippen und flüsterte: „Es hat keiner gesehen, daß ich ins Haus bin! Mensch, zieh doch nicht so 'n Gesicht, schau mich doch nicht so an, es hat mich wirklich keiner gesehen!“ Holt, in maßloser Überraschung, brauchte Zeit, bis ihm allmählich die Zusammenhänge aufgingen: Vetter wurde gesucht, man suchte ihn wegen Mordes... Vetter, noch immer die Türklinke in der Hand, flüsterte: „Ich war untergetaucht, im Westen, aber dort fahnden sie jetzt wie verrückt nach mir, ich hab doch in Köln das Ding mit dem Juwelier gedreht, und ich dachte, daß hier inzwischen Gras über die Sache gewachsen ist, weil es doch nichts Politisches war. Aber...“ - jetzt wurde das Flüstern kratzig, und in Vetters Gesicht trat ein Ausdruck der Verzweiflung -, „... aber hier fahnden sie auch, und ich glaube, es hat mich einer erkannt am Bahnhof, ich muß verschwinden, verstehst du, Werner, verschwinden muß ich, so sag doch mal was!“ Holt sah Vetter nur stumm an. Vetter, in seiner Verzweiflung, hörte auf zu flüstern und redete laut: „Versteck mich doch, Werner... bitte!“ Und lauter: „Nur ein paar Tage! Nicht wahr, du versteckst mich!“ Und jetzt rief er, außer sich vor Angst: „Mensch, Werner, so wie wir immer zueinander gestanden haben... Du schickst mich doch nicht etwa fort! Du kannst doch 'n alten Freund nicht im Stich lassen! Hilf mir doch, alter Krieger, wir waren doch immer Freunde!“ Holt stand auf. Vetter war die Vergangenheit, und die Vergangenheit lief ihm nach und ließ ihn nicht los und hatte ihn immer wieder irren lassen, aber diesmal ging er nicht in die Irre! 406
Es war gut, die Vergangenheit in Menschengestalt und greifbar vor sich zu sehen, es war gut, daß sich dieser Mensch dort auf die einstige Freundschaft, auf den tiefsten, tödlichen Irrtum berief. „Du stellst dich der Polizei“, sagte Holt ruhig. „Vielleicht rechnen sie dir's an, wenn du dich freiwillig stellst, und du bekommst mildernde Umstände.“ Vetter schaute sich um, nach dem Fluchtweg, nach der Tür. „Du bist verrückt! Die liefern mich womöglich den Iwans aus, weil ich doch hier in Russenuniform...“ Holt hatte auf einmal Wut im Herzen. Aber zugleich spürte er, wie ihn das Mitleid mit Vetter ergriff, das Erbarmen mit dem dicken Vetter, dem ewigen Kindskopf, mit Christian. „Versteck mich doch!“ flehte Vetter. „Nur ein paar Tage, dann geh ich wieder über die Grenze, bestimmt! Dann bist du mich los, ich geh in die Fremdenlegion!“ Die Wut gewann in Holt die Oberhand. Und Vetter begriff endlich, daß er hier nichts zu hoffen hatte, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich so sichtbar, daß sich Angst in Holts Wut mischte, Angst vor Vetter, und ein verzweifelter, in die Enge getriebener Vetter war furchterweckend. Holt stürzte sich auf ihn, schlug auf ihn los, und Vetter deckte sich nur mit dem linken Arm und nahm die Schläge entgegen, und seine Rechte fuhr in die Manteltasche, er taumelte gegen die Tür... Aber dann hatte er die Pistole in der Hand. Holt packte diese Hand am Gelenk und hackte mit dem Fuß Vetter die Beine weg. Sie fielen hin, und Holt ließ nicht los und schlug weiter in Vetters Gesicht. Die Tür wurde aufgerissen. Gundel, mein Gott, Gundel, hol doch die Polizei, so lauf doch schon! Gundel war gelähmt vor Schreck, aber dann tat sie genau das Richtige: Sie trat erbittert auf Vetters Hand, bis die Hand die Pistole losließ, und Holt erwischte die Waffe und schlug sie in Vetters Gesicht, und Vetter krümmte sich und erschlaffte. Gundel lief davon. Holt sprang auf, entsicherte die Pistole und schrie: „Los, steh auf!“ Vetter stand auf, mit blutverschmiertem Gesicht, lehnte keuchend in der Ecke neben der Tür und wollte etwas sagen, aber Holt, überwältigt von Haß und Erbarmen, herrschte ihn an: „Du Bandit... du Verbrecher... sei froh, daß ich dich nicht 407
einfach niederschieße, das wäre Notwehr, kein Hahn kräht nach dir...“, und sagte: „Mensch, Vetter, warum mußte denn das so kommen, mein Gott, was machst du für Sachen...“ Da klang schon nahe das Martinshorn, und Holt lehnte am Tisch, der Arm mit der Pistole sank ihm herab, die Kehle war ihm wie zugeschnürt. „So endet's nun mit uns... Christian, was hast du bloß angerichtet...“ Dann war die Polizei da und fesselte Vetter und verschwand mit ihm. Holt fiel auf sein Bett, vergrub das Gesicht in der Decke und spürte nicht, wie Gundel ihm übers Haar strich. Am frühen Abend fand sich ein junger, freundlicher Mann von der Kriminalpolizei bei Holt ein und nahm ein kurzes Protokoll auf. Wenige Tage später erhielt Holt ein Dankschreiben des Polizeipräsidenten. Er las es, ohne Freude, ohne Genugtuung. Wenn er nun an Vetter dachte, empfand er keinen Haß mehr, kein Mitleid, aber fern, näher kommend, das Gefühl der Angst. Er ahnte, daß der anerkennende Brief noch nicht das letzte Wort gewesen war. Warum ging er nicht hin und diktierte ein neues Protokoll, in Sachen Vetter, nein: in seiner eigenen Sache? Erst Tage später gab er sich auf diese Frage Antwort. Als er nachmittags zur Arbeitsgemeinschaft Französisch die Schule aufsuchte, hielt ihn Gottesknecht an. „Holt“, sagte er, „es könnte sein, daß Sie heute oder morgen Entschlüsse zu fassen haben. Ich bitte Sie, tun Sie nichts, ohne mich vorher gesprochen zu haben.“ „Wie meinen Sie das?“ fragte Holt. Gottesknecht hob die Schultern. „Wenn man sich die Mühe macht, über jemandes Leistungen in der Schule zu recherchieren, so ist das ein Zeichen, daß man differenziert an die Dinge herangeht. Bedenken Sie das. Mehr darf ich Ihnen nicht sagen.“ „Dunkel ist der Rede Sinn“, sagte Holt. Er dachte an Vetter. Seit er Vetter der Polizei übergeben hatte, lebte er in einer nicht nachlassenden Spannung, die sich nun zur Erwartung verdichtete. Als er nach Hause kam, wartete Gundel auf ihn. 408
Daß sie auf der Straße vor dem Institut stand und ihm von weitem entgegensah, das war nicht üblich. Sie war blaß. Sie nahm ihn am Arm. Sie folgte ihm auf sein Zimmer. „Eigentlich wollte dein Vater selbst mit dir sprechen“, sagte sie. „Aber das Werk hat angerufen, da ist irgendwas Dringendes, und er mußte leider gleich hinfahren.“ „Was will Vater von mir?“ fragte Holt. Sie ließ ihn nicht aus den Augen. „Die Kriminalpolizei war wieder hier.“ „Wegen Vetter?“ „Deinetwegen“, sagte sie. „Du mußt zur Staatsanwaltschaft.“ Nun wurde ihm doch schwindlig. „Du sollst gestohlen haben“, sagte Gundel. Sie flüsterte nur noch. „Ich kann es nicht glauben.“ „Doch“, sagte Holt. „Glaub's nur.“ „Dann muß es gewesen sein, noch ehe du nach Hamburg gegangen bist.“ „Ja, damals“, sagte Holt. Sie atmete auf, aber das merkte er nicht. Er hörte nur, daß sie fragte: „Warum hast du es nicht offen eingestanden?“ „Ja, warum? Das frage ich mich jetzt auch“, sagte Holt. „Du selbst hast doch den Vetter angezeigt, so sagt die Polizei... Das ist doch ein Widerspruch!“ „Es sind viele Widersprüche in mir“, sagte er. „Vielleicht wollte ich mich rausschwindeln. Ich hatte Angst, daß sie mich von der Schule werfen. Es wäre ja möglich gewesen, daß Vetter diese Kleinigkeit längst vergessen hat. Da wäre ich fein dran gewesen.“ „Es sind viele Widersprüche in dir...“, wiederholte sie seine Worte und sah ihn noch immer an, nachdenklich, um Verständnis bemüht. „Ja, Widersprüche“, bestätigte er. „Ich stolpere dauernd darüber.“ Sie setzte sich. Er empfand sie auf einmal ganz nahe, er fühlte sich seltsam geborgen und faßte sie mit einem dankbaren Blick. „Die Gundel ist auch so ein Widerspruch in meinem Leben“, sagte er. „Der größte.“
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„Ich bin doch kein Widerspruch“, sagte sie, „aber nein, das versteh ich nicht.“ „Ich versteh es wohl selbst nicht. Noch nicht. Aber manchmal“, sagte er leise, „manchmal habe ich Angst... so sehr Angst: wenn ich es eines Tages verstehe, dann könnte es längst zu spät sein.“ Sie sagte nichts. Auf einmal stützte er den Kopf in die Hand. „Gundel“, sagte er, „mein Gott, wir gehören doch zusammen! Warum kommst du nicht zu mir?“ „Ich weiß nicht“, erwiderte sie. „Du mußt wohl zu mir kommen! Wie soll ich sonst wissen, ob du wirklich mich meinst?“ „Ob ich dich meine...“, sagte er. „Ich meine Gemeinsamkeit, Geborgenheit, Liebe. Ich bin immer umhergeirrt, und ich irre noch heute umher... Warum kann es nicht wie damals sein?“ Er hob den Kopf. „Weißt du noch? Kennst du's noch? ,Er wäre fast verirret und wußte nicht hinaus... da stand das Kind am Wege und winkte ihm nach Haus'...“ Sie neigte den Kopf zu ihm hin, er sah, daß sich ihre Lippen bewegten; sie wiederholte für sich die Verse. Da nahm er ihre Hand und legte die Stirn darauf. „Wer steht denn heut an meinem Weg?“ fragte er. „Niemand, ich bin allein. Ich hab eine Ahnung vom Ziel, das ich erreichen muß. Aber diese Zeit ist ein verfluchtes Dickicht mit tausend Irrwegen.“ Sie überließ ihm ihre Hand, sie strich ihm mit der freien Rechten übers Haar. „Als ich ins Zimmer kam“, sagte sie, „und der Vetter hatte die Pistole, da hatte ich gar keine Angst um dich. Ich wußte ganz sicher, daß du stärker bist, und darum konnte ich dir gleich helfen!“ Sie entzog ihm ihre Hand und strich sich von den Schläfen her das Haar zurück. „Ich weiß schon, was ich sagen will, ich kann es nur noch nicht richtig ausdrücken: Du mußt nicht nur stärker als der Vetter sein. Du mußt auch stärker als du selbst werden.“ Er saß lange, den Kopf in die Hände gestützt. Schließlich richtete er sich auf. „Es ist gut. Lassen wir das jetzt. Wie geht es nun weiter? Ich werde relegiert, und alles war umsonst.“ „Was wirst du dann tun?“ fragte sie beklommen. „Dann fang ich halt wieder von vorn an“, sagte er. „Irgendwie geht das Leben ja immer weiter. Aber es ist bitter, so kurz vor 410
dem Abitur. Ich hätte ein gutes Abitur gebaut, und ich war stolz darauf.“ Er stand auf. „Vielleicht ein bißchen zu stolz“, sagte er noch. „Geh zur Staatsanwaltschaft, Zimmer 183. Sie sind bis abends dort.“ Jetzt schlug sie die Augen zu ihm auf und fragte: „Soll ich mitkommen?“ „Gundel“, sagte er erschüttert, „würdest du denn mitkommen?“ Sie nickte. „Ich will für dich sprechen. Bestimmt glauben sie mir, daß du heut ein anderer bist.“ „Bin ich ein anderer?“ fragte er. „Ja, Werner, du bist schon viel anders als damals!“ „Aber?“ fragte er. „Da kommt doch ein Aber!“ Er wandte sich zur Tür. „Laß es gut sein. Schenken wir uns das Aber. Ich weiß schon. Ich danke dir, daß du mitkommen willst. Aber es gehört sich, daß ich allein geh. Ich habe es eingerührt, ich muß es auch ganz ausessen.“ Ein graues Gebäude. Beim Durchwandern der langen Korridore wurde der Herzschlag spürbar, der schnelle, erregte Schlag der Adern im Hals, Rhythmus der Angst. Zimmer 183... Anklopfen, reiß dich zusammen, du bist schon viel anders geworden, und daran hältst du dich fest! Holt trat ein. Er nannte der Sekretärin seinen Namen und wurde sogleich vorgelassen. Der Staatsanwalt war ein Mann von vielleicht fünfzig Jahren. Er saß hinter dem Schreibtisch und forderte Holt mit einer stummen Handbewegung zum Niedersitzen auf. Holt forschte aufmerksam in den Zügen des derben, beinah vierschrötigen Mannes, forschte nach einer Regung, die ihm verraten könnte, wie es um seine Sache stehe. Aber das Gesicht war völlig unbewegt, undurchsichtig und unzugänglich. Es war ein verwittertes Gesicht, in dem nur die Augen lebten, zupackende Augen. „Sie sind Werner Holt?“ Griff nach einer Akte. Es war die falsche Akte. Griff nach dem Telefon. „Die Akte Vetter, bitte.“ Wie denn, hatte Holt noch keine eigene Akte? Die Sekretärin brachte eine graue Mappe, der Staatsanwalt blätterte, überflog, las sich fest. Er las lange. Dann atmete er auf, so tief, daß es wie ein Seufzer war, blickte Holt ins Gesicht und sagte: „Sie 411
haben also im Dezember 1945 dem Vetter fünf Liter Alkohol, sogenannten Spiritus absolutus, und an die tausend Tabletten eines Medikaments namens Albucid verkauft. Ist es so?“ „Ja“, sagte Holt. „Alkohol und Tabletten“, fuhr der Staatsanwalt fort, „hatten Sie am gleichen Tage in der Materialkammer neben dem Laboratorium Ihres Vaters gestohlen. Ist es so?“ „Ja“, sagte Holt. „Diebstahl, Schwarzhandel“, sagte der Staatsanwalt ganz sachlich und immer leiser. „Bekennen Sie sich schuldig?“ Er langte sich die Jacke von der Stuhllehne und fuhr hinein. Holt sah am Rockaufschlag das rote Dreieck. Er blickte zu Boden. Er hatte Müller beweisen wollen, daß es ihm ernst mit dem neuen Anfang war, statt dessen saß er vor ihm und mußte sich schuldig bekennen, schon wieder schuldig vor Müller, Diebstahl, Schwarzhandel; und daß ihm unterdessen manche Einsicht gekommen war, das zählte nicht; denn ein Mann wie Müller urteilte nicht nach Worten, sondern nach Taten. Ich fragte, ob Sie sich schuldig bekennen.“ „Ja“, sagte Holt. „Was haben Sie zu Ihrer Entlastung zu sagen?“ „Nichts“, sagte Holt. Das Gesicht des Staatsanwalts blieb unbewegt, aber seine Augen blickten mißbilligend. „Es gibt immer entlastende Momente“, sagte er ruhig. „Es ist eine falsche Haltung, wenn Sie darauf verzichten, sich zu verteidigen.“ Holt schwieg. Der Staatsanwalt atmete, daß es wieder wie ein Seufzer klang. „Wie denken Sie heute über die Angelegenheit?“ Holt sagte: „Der Sachverhalt ist doch klar: Diebstahl, Schwarzhandel. Entschuldigen Sie: interessiert es Sie wirklich, wie ich heute darüber denke?“ Jetzt kam doch Bewegung in das steinerne Gesicht. Der Staatsanwalt schaute verblüfft. Dann stützte er die Ellenbogen auf die Schreibtischplatte und sah Holt abschätzend, abwägend an. Er sagte: „Ja, es interessiert mich wirklich, wie Sie heute darüber denken.“ Und plötzlich fuhr er auf Holt los: „Was glauben Sie denn, was mich interessiert? Meinen Sie, mich 412
interessieren Paragraphen, Verordnungen, Artikel?“ Er verschränkte die Arme auf der Brust. „Also?“ Du bist schon anders geworden, daran halte dich fest! „Es liegt weit zurück“, sagte Holt, „so weit, daß ich manchmal denke, ich bin es eigentlich gar nicht gewesen. Der Holt, der hier vor Ihnen sitzt, ich weiß nicht, was er wert ist. Deklassiert, moralisch zerrüttet, kleinbürgerlicher Individualist, aber immerhin, wie er jetzt hier sitzt, da begeht er weiß Gott keinen Diebstahl und hat ganz andere Sorgen. Aber lassen wir das. Denn der Holt von damals hat tatsächlich gestohlen. Rechtlich macht es nichts aus, daß er sich heute als ein anderer fühlt. Das wäscht die Schuld nicht ab. Darum will ich mich nicht herausreden!“ „Sie sind mir verdammt selbstbewußt“, sagte der Staatsanwalt. Er lehnte sich in den Stuhl zurück. Dabei entspannte sich sein Gesicht; es war gar nicht wie aus Stein, es war nur vollkommen beherrscht gewesen. Er war ein verwitterter, vor der Zeit gealterter Mann, wie Holt ihm überall begegnen konnte, auf dem Schulweg, auf den Baustellen, samstags beim Trümmerschippen oder im Kesselhaus des Werkes unter den Heizern... „Erzählen Sie mir, wie das war, von Anfang an.“ Holt erzählte. Der Staatsanwalt hörte ihm zu, die Arme auf der Brust verschränkt. Als Holt schwieg, langte der Staatsanwalt wieder nach der Akte Vetter, und wieder las er sich darin fest. Dann, ohne mit einem Wort auf Holts Bericht einzugehen, begann er sachlich: „Die entscheidende Frage, ob es sich bei der gestohlenen Ware um Eigentum des Werkes oder privates Eigentum Ihres Vaters gehandelt hat, wird dahingehend geklärt werden, daß es Privateigentum gewesen ist. Der Diebstahl wird damit Antragsdelikt. Für diesen günstigen Fall, daß es sich um Privateigentum gehandelt hat, wurde von Ihrem Vater bereits erklärt, daß er im Hinblick auf Ihre jüngste Entwicklung von einem Antrag auf Strafverfolgung absieht. Bleibt die Erzielung eines Überpreises. Der Schwarzhandelserlös wird eingezogen; Ihr Vater hat für die Summe gutgesagt. Soweit die rechtliche Seite der Angelegenheit.“ Er legte den Aktendeckel weg. „Bleibt 413
die moralische Seite der Angelegenheit. Die Staatsanwaltschaft hat Ihre Schule, Ihren Vater konsultiert, Sie selbst vorgeladen und vernommen und ist zu dem Ergebnis gelangt, daß Sie seit einem Jahr die notwendigen Konsequenzen aus Ihrer damaligen Haltung gezogen haben. Damit ist die Angelegenheit für die Staatsanwaltschaft erledigt.“ Holt erhob sich. Er trat hinter seinen Stuhl, legte beide Hände auf die Lehne, schaute, den Kopf schräg gelegt und die Lippen fest zusammengepreßt, auf den Mann hinter dem Schreibtisch, auf das abgetragene Zellwolljackett, auf das rote Dreieck. „Sie waren im Konzentrationslager oder im Zuchthaus?“ fragte er. „Ich war zwölf Jahre in Buchenwald“, antwortete der Staatsanwalt, ein wenig verwundert. „Ich möchte Sie was fragen“, sagte Holt. „Vielleicht kannten Sie Müller, unseren Müller aus dem Werk. Ich bin nie dazugekommen, ihm diese Frage zu stellen. Man weiß, wie es in Buchenwald und anderswo zugegangen ist, und ein Mensch wie ich hat bestenfalls Gewehr bei Fuß dabeigestanden. Fühlen Sie sich nicht versucht, Rache zu nehmen? Sie hätten mich doch eben fertigmachen können! Warum sind Sie so großzügig?“ Das Gesicht des Staatsanwalts war wieder wie aus Stein. „Wir sind nicht großzügig“, sagte er. „Bringen Sie mir einen entkommenen Wachmann aus Buchenwald, und Sie sollen sehen, wie kleinlich wir sein können...“ Er schaute über Holt hinweg, er holte wieder tief und seufzend Atem. „Wir ertrinken in Schwarzhandelsdelikten. Ein paar Liter Primasprit sind heutzutage eine Lappalie. Aber darum geht es nicht. Sie sind schuldig geworden, Sie haben diese Schuld durch Ihre Entwicklung zu tilgen begonnen. Das gleiche hat unser Volk im großen zu tun: durch die künftige Entwicklung die deutsche Schuld zu tilgen. Und daß dies geschieht, im kleinen wie im großen, darüber zu wachen ist Sinn der Justiz.“ Der Staatsanwalt nickte. „Hals- und Beinbruch fürs Abitur“, sagte er noch. Holt war entlassen.
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Als die uneingestandene Angst, als das Gefühl der Bedrohung nun von Holt abfiel, begriff er erst, wie bedrückt er gewesen war. Und hatte es etwa deshalb in ihm gekriselt und in den Fugen gekracht? Gundel hatte noch Sorge im Blick, als sie ihm entgegenkam, Sorge und Zuversicht, und sie hängte sich bei ihm ein. So nahe wie heute war Gundel ihm seit dem ersten Sommer nicht mehr gewesen. „Nicht wahr? Nun ist alles gut!“ „Und wenn vielleicht noch nicht alles“, entgegnete er, „so wird's schon noch werden. Wir zwei sind doch Optimisten!“ In Gundels Zimmer lagen Bücher auf dem Tisch, die Pflanzenpresse, die sie letztes Weihnachten geschenkt bekommen hatte. Jetzt brach die Zeit der Frühjahrsblumen an, jetzt ging Gundel bald wieder botanisieren. Er sah sie noch in einem muffigen Treppenhaus knien und scheuern, ganz verschüchtert und umwölkt von Angst. Sie hatte sich in den zwei Jahren gemausert, sie wurde noch in diesem Monat siebzehn, sie war doch schon sehr erwachsen. Freilich: Nicht wahr? Nun ist alles gut!, das hatte sie wie ein Kind gefragt. Nun ist alles gut... Optimist hin, Optimist her, man mußte das Leben illusionslos betrachten. Gar nichts war gut, alles lag noch im argen. Das Gefühl der Bedrohung war nur ein Teil der Bedrückung gewesen, und längst nicht das größte! Er sagte: „Mein Leben könnte jetzt so klar und übersichtlich sein, wie es noch nie war.“ „Könnte?“ fragte Gundel. „Und warum ist es nicht so?“ Sie stand vor dem Spiegel, der Märzwind hatte ihr Haar durcheinandergebracht. „Da müßte auch zwischen uns beiden alles klar sein“, sagte Holt. Sie setzte sich zu ihm an den Tisch. „Eins will mir nicht in den Kopf“, sagte sie. „Wie du vorhin Storms Verse gesprochen hast, da klang es traurig. Und mir fiel ein anderes Gedicht ein, aus einem Buch von Heinrich Heine: ,Ich schau dich an, und Wehmut zieht mir ins Herz hinein...' Ich kann nicht verstehen, warum durch mich Traurigkeit und Wehmut in die Welt kommt.“ „Du bist kein Kind mehr“, sagte Holt, „das genügt schon. Nur Kinder sind schuldlos. Im übrigen tröste dich: ich versteh auch 415
manches nicht. Vetter ist auf der Strecke geblieben. Ich hab ihn ans Messer geliefert. Viel hat nicht gefehlt, und ich wäre auch zu Fall gekommen. Wenn ich darüber nachdenke, gerät alles in mir in Gärung. Ich wünschte, ich hätte nichts Schlimmeres als Traurigkeit und Wehmut in die Welt gebracht.“ Er trat ans Fenster und sah in den Abend. „Heute bei der Staatsanwaltschaft ist mir klargeworden, welche Verpflichtung Vertrauen bedeutet. Das habe ich nämlich nicht gewußt.“ Er dachte dabei an Frau Arnold, aber auf einmal dachte er viel weiter zurück. „Vierundvierzig im Herbst, wir kannten uns schon, da war ich in der Slowakei. Der Hausmeister hatte eine Tochter, Milena hieß sie. Die hat auch Vertrauen zu mir gehabt, obwohl ich ihr Feind gewesen bin. Ich habe Vertrauen immer mit Schwäche und Unterwerfung verwechselt. Ich habe Vertrauen in meinem Leben immer nur mißbraucht.“ Gundel schüttelte den Kopf. „Das stimmt nicht. Damals, als wir uns kennenlernten, da habe ich dir vertraut, und du hast mich nicht enttäuscht.“ Sie hatte noch nie die Rede auf das Damals gebracht, sie hatte noch nie von diesem untilgbaren Sommerabend gesprochen. „Ja, damals!“ sagte Holt. Damals war Gundel in ihm lebendig und wirksam gewesen, das Gewissen, das ihm schlug. Und was war sie heute? „Du sprichst zwar nicht davon, wie sehr ich dich nach dem Krieg enttäuscht habe“, sagte er. „Nein, du redest nicht davon, aber du läßt es mich spüren.“ „Das ist ein harter Vorwurf“, sagte sie. „Er wird noch härter“, erwiderte Holt. „Ich habe nicht nur dein Vertrauen für immer verspielt, nein: ich bin dir im Herzen unbequem, weil ich dich brauche und dir doch nichts geben kann. Schneidereit ist viel bequemer: er ist stark, nichts wirft ihn um, er braucht dich nicht und ist dir schon für dein bloßes Dasein dankbar, ohne daß du was anderes tun mußt, als eben bloß Gundel und lieb und nett zu sein. Er gibt dir die Geborgenheit, die ich dir nicht geben kann, weil ich sie selber suche. Er kann immer und überall die Gundel in dir suchen und finden. Ich bin noch auf der Suche nach mir selbst. Und in dir, das erste und einzige Mal im Leben, habe ich mich gefunden und bin wirklich ich selbst gewesen: damals, als ich dich sah 416
und zu dir hielt und um dich bangte. Ich wünschte, ich könnte mich wieder in dir finden, und immer wieder, bis ich mich nicht mehr verlieren kann.“ Sie dachte lange über seine Worte nach, die Hände im Schoß. Dann sagte sie: „Ich kann nicht alles verstehen, sosehr ich mir Mühe gebe. Aber du bist ja auch meistens vor mir verschlossen, trotzig und dumm wie ein kleiner Junge.“ Wieder dachte sie nach. „Wir reden viel miteinander. Aber ich glaube, wir kennen uns viel zuwenig.“ Da hatte er nur eine resignierende Handbewegung, und auf einmal spürte er, wie müde er nach der Anspannung dieses Tages war. „Einander kennen?“ sagte er. „Wir müßten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.“ Sie sah ihn bekümmert, fast mitleidig an. „Ich müßte nur mehr Zeit für dich haben“, sagte sie. „Ich wußte ja nicht, daß du mich brauchst, ich weiß ja auch gar nicht, wie ich dir helfen soll. Ich habe meine festen Tage für die Gruppe und fürs Training und das Wochenende für Horst, nur für dich nicht, darum fühlst du dich verlassen, das verstehe ich jetzt gut. Wir wollen auch einen gemeinsamen Tag haben, wo uns nichts dazwischenkommen darf, und ich würde mich die ganze Woche darauf freuen.“ Das Wochenende für Horst. Holt war es nun schon gewohnt, fünftes Rad am Wagen und nur geduldet zu sein. Doch wenn er Gundel nicht ganz verlieren wollte, durfte er nicht mucken, mußte es hinunterschlucken und vorerst zufrieden sein mit dem einen Abend, den das Wochenende mit Horst für ihn übrigließ, mit dem Knochen, den man ihm hinwarf. Er hörte, daß sein Vater aus dem Werk zurückgekehrt war, und ging hinunter ins Labor. Er dachte ein Jahr zurück. War er damals nicht mit einer ausgetüftelten Ehrlichkeit und mit allerhand kluger Berechnung aus Hamburg zurückgekehrt? Heute suchte er seinen Vater wie einer, der eine Botschaft überbringen soll und sie unterwegs vergessen hat, kam ein bißchen fahrig, ein bißchen kleinlaut und sehr anlehnungsbedürftig.
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Professor Holt saß an seinem Mikroskop, es war dunkel im Raum, nur die Mikroskopierlampe warf einen scharf gebündelten Lichtstrahl auf sein Gesicht. „Wir wollen nicht mehr von der Sache sprechen“, sagte er. Sein Kopf verdeckte die Lampe; das weiße Haar, vom Licht durchschienen, leuchtete silbern auf. Das Bild spann Holt unversehens in Erinnerung ein, und eine weit zurückliegende Zeit wurde lebendig: die früheste Kindheit. Damals, ehe die Entfremdung begann, ehe die aushöhlenden Redensarten der Mutter einsetzten, war der Vater Inbegriff aller Tugend gewesen, allmächtig, allwissend, gütig und weise, Freund und Lehrer. Damals hatte Holt nichts von den Widersprüchen gewußt, die in den Menschen sind, heute wußte er davon. Vater war kein Idol mehr für ihn, der Nimbus war unwiederbringlich dahin. Vater hatte seine schwachen Seiten, seine Präparate waren ihm immer ein bißchen näher als sein Sohn, aber seine Gerechtigkeit machte alles wett. Vater war ein Mensch, vielleicht sogar ein großer Mensch, bestimmt ein Vorbild. Holt wünschte sich von Herzen die Freundschaft dieses Mannes. „Erlaubst du, daß ich mich noch eine halbe Stunde zu dir setze?“ fragte er. Professor Holt rückte zur Seite; es war wie eine Geste. Vater und Sohn saßen dicht beisammen, im Licht der Lampe. Und so saßen sie von nun an öfters im Labor, in ein Gespräch vertieft. Manchmal ging Holt seinem Vater auch nur schweigend zur Hand. Als es Mai geworden war, erhielt Holt einen Brief von Doktor Gomulka. Holt hatte während der Monate März und April noch einmal alle Kraft zusammengenommen, um die restlichen Wissenslücken in den Fremdsprachen und in Geographie zu schließen. Jetzt, kurz vor Beginn des schriftlichen Abiturs, hörte er auf zu arbeiten: was ihm noch fehlte, das holte er in den letzten Tagen auch nicht mehr auf. Er folgte lieber dem Rat seines Vaters und ruhte sich die Woche vor Prüfungsbeginn noch gründlich aus. Er beschloß, wegzufahren; wenn er hierblieb, kam er doch nicht von den Büchern los. 418
Er sprach mit Gottesknecht. „Sie wollen schwänzen!“ empörte sich Gottesknecht. „Dem leiste ich keinen Vorschub!“ „Dann werde ich eben sehr schwer erkranken müssen“, sagte Holt. „Genügt das Attest eines Hochschulprofessors?“ „Wenn Sie erkranken, dann wäre es etwas anderes“, sagte Gottesknecht. Aber wohin sollte Holt fahren? Arens bot ihm das Wochenendhaus seiner Eltern an. Noch immer gab er sich viel Mühe um Holt. Seit neuestem aber schien ihn etwas zu bedrücken. „Wir müssen unsere Immatrikulationsunterlagen einreichen“, sagte er. „Die Direktion gibt uns eine provisorische Bescheinigung, daß wir das Abitur bestehen werden, und das Zeugnis reichen wir später nach. Haben Sie sich schon beworben? Nein? Es wird Zeit! Sie werden doch sicherlich am Ort studieren!“ „Ich weiß nicht“, sagte Holt. „Es zieht mich zu Ebersbach. Aber ich möchte doch nicht gern von hier fort.“ „Nein? Aber ich gehe auf jeden Fall an eine auswärtige Universität“, sagte Arens. Er nahm Holt vertraulich am Arm. „Man muß da mit den Unterlagen einen Aufsatz einreichen, es soll viel davon abhängen! Das Thema soll mit der Berufswahl im Zusammenhang stehen... Also ich weiß wirklich nicht, was ich da schreiben soll!“ „Arzt und Humanismus, das ist doch ein großes Thema!“ sagte Holt. „Und Sie würden mir das wirklich schreiben?“ rief Arens. „Also das finde ich, nein...“ Er verbeugte sich mehrmals vor Holt. „Ich muß schon sagen, das ist von Ihnen wirklich... hübsch!“ Holt schrieb den Aufsatz in ein paar Stunden herunter, und Arens brachte ihm zum Dank eine Kilodose amerikanischen Bohnenkaffee. „Brauchen Sie noch mehr Aufsätze?“ fragte Holt. Er nahm den Kaffee und dachte an Zernick. Während er noch überlegte, ob das Angebot von Egon Arens überhaupt akzeptabel sei, traf überraschend Doktor Gomulkas Brief ein. Holt hatte dem Anwalt bald nach seiner Rückkehr aus Hamburg mitgeteilt, daß er wieder bei seinem Vater lebe und hier das Abitur abzulegen gedenke, und der Anwalt hatte mit 419
herzlichen Worten der Zustimmung darauf geantwortet. Bei diesem einmaligen Briefwechsel war es geblieben. Nun schrieb Doktor Gomulka, daß Sepp aus der Gefangenschaft heimgekehrt sei und sich zwei Wochen bei ihm in Nürnberg aufgehalten habe, daß es aber Sepps Wunsch sei, vorerst in der sowjetisch besetzten Zone wieder zur Schule zu gehen, und daß man sich folglich entschlossen habe, Sepp bei seinem Onkel, dem Zahnarzt Gomulka, in Dresden unterzubringen. Sepp sei in Nürnberg bereits aufgebrochen. Holt sah nach dem Datum des Briefes und rechnete. Dann meldete er ein Ferngespräch in Dresden an. Sepp war also heimgekehrt! Endlich kam das Gespräch; die Verständigung war miserabel, und Sepp war gestern in die Sächsische Schweiz gereist, um sich dort, in einer Jagdhütte, erst einmal zu erholen. Ein Brief an Holt war unterwegs, und der Brief lud ihn ein, Sepp in der Jagdhütte zu besuchen. Der Zahnarzt in Dresden war schwer zu verstehen, obwohl er wie sein eigner Patient in die Leitung schrie. Er gab Holt noch die genaue Lage der Jagdhütte an, den Namen des nächsten Dorfes, den Namen der Bahnstation. Schon am nächsten Tag fuhr Holt los, voll von Erwartung. Er freute sich auf Sepp. Nach langer Bahnfahrt und einstündigem Fußmarsch fand er in den Bergen, einsam im Wald, das Blockhaus, am Rande einer Klamm, auf deren Grund ein Wildbach schäumend entlangfloß. Kiefern umstanden das Haus, ein paar Blautannen, und nackter Fels sah ringsum aus dem Boden. Das Haus war aus dunkel gebeizten Stämmen gebaut. Neben dem Eingang stand eine Bank; vor dem Haus war ein freier Platz. Dort brannte ein offenes Feuer. Ober dem Feuer dampfte ein Kessel. Und ein schmaler, drahtiger junger Mann mit sehr kurz geschnittenem Haar saß am Feuer, rührte im Kessel und sah endlich Holt und lief ihm entgegen: Sepp Gomulka, der alte, endlich wiedergefundene Freund. Keine Sekunde Verlegenheit, nein, Händedruck, sie schlugen sich auf die Schultern, lachten, stießen sich in die Rippen, laß dich mal anschaun, Sepp, ja, du bist es noch, na, und du, beinah erwachsen siehst du aus, und du hast ein Gesicht bekommen wie der Weise von Olim, richtig durchgeistigt, aber 420
nun komm erst mal, und wie geht dir's denn, und was kochste denn, Roggennudeln, heute gibt's Roggennudeln. „Wolzow ist tot“, sagte Holt. Es war Nacht, sie lagen am Feuer. Holt redete halblaut. „Er ist Amok gelaufen und mußte so enden, sinnlos, selbstzerstörerisch, alles mit sich reißend in den Tod, und so war ja sein ganzes Leben: zerstörerisch und selbstzerstörerisch... Und Christian, ich darf nicht daran denken, ich hab ihn vor kurzem an die Polizei ausliefern müssen. Mord!, Sepp, es kam ihm zum Schluß auf ein Menschenleben nicht mehr an. Es ist furchtbar, Sepp, der Vetter war doch auch nicht zum Mörder geboren!“ Sie erzählten die ganze Nacht. Im Morgengrauen legten sie sich in der Hütte schlafen, schliefen bis zum Mittag, badeten in dem eisigen Wasser des Baches, legten sich in die Sonne und erzählten weiter. Es war ein wolkenloser, warmer Maitag. Sie kochten am Feuer. Was gibt's denn heute Sepp?, heute gibt's was ganz Neues, Roggennudeln, kennst du Roggennudeln? „Bißchen Räuberromantik steckt eben doch noch in mir drin“, sagte Gomulka. „Mal so richtig Indianer spielen, das ist die beste Erholung!“ erwiderte Holt. „Und morgen“, rief Gomulka, „morgen gibt's was ganz Besonderes zu essen, Mensch, Werner, morgen gibt's Roggennudeln!“ Sie hatten sich viel zu sagen, sie erzählten tagelang. Gomulka brachte auch Nachricht von Uta mit. Die beiden Anwälte hatten die Auslieferung des Groth an die Franzosen erreicht, aber wie sich unterdessen gezeigt hatte, war damit nicht allzuviel gewonnen. Groth saß nun in französischer Haft, seine Verurteilung durch die Franzosen war sicher, aber die Anwälte kämpften ja um Groths Übergabe an deutsche Gerichte. Uta Barnim lebte einsam im Schwarzwald, verschleuderte ihr Vermögen für Zeugenaussagen und weigerte sich, das Leben in der Einöde aufzugeben. In diesem Winter waren ihr sämtliche Schafe krepiert, und sie war krank gewesen, sterbenskrank, hatte mit einer Lungenentzündung allein, ohne Arzt, ohne Pflege gelegen und sich nur dank ihrer robusten und gesunden 421
Natur erholt. „Es wird kein gutes Ende mit ihr nehmen“, sagte Gomulka. „So meint mein Vater. Aber sie will lieber in ihrer Einöde sterben als wieder unter die Menschen gehn.“ „Sie übertreibt“, sagte Holt. „Es ist doch im Grunde egal, ob man in der Einöde oder unter den Menschen lebt. Einsamkeit kann man doch nicht als Milieu auffassen. Einsamkeit ist eine Haltung. Ich bin hier schon einsamer gewesen als bei Uta in der Einöde.“ „Warum bist du dann nicht dortgeblieben?“ „Wegen Gundel.“ Holt beobachtete Sepp. Der Name Gundels war noch nicht gefallen. Sepp blinzelte in die Sonne, die über den Sandsteinfelsen am Rande der Klamm stand. Sepp sagte nichts, nahm Gundels Namen hin, meinte dann fast ungeduldig: „Sprich doch weiter!“ „Gundel hat, was mir fehlt“, sagte Holt. „Sie hat Selbstverständlichkeit. Sie lebt mit Selbstverständlichkeit ein selbstverständliches Leben.“ „Bißchen konfus, was du sagst.“ „Ich lebe auch. Ich habe alles aus mir herausgeholt und gehöre zu den besten Abiturienten. Aber das ist nicht selbstverständlich, nein, es ist eine vorsätzliche Leistung, die mir schwerfällt und zu der ich mich willentlich aufraffen muß, und sie ist mir nur möglich, weil ich mir bewußt und gar nicht mit Selbstverständlichkeit vorgenommen habe, etwas Bestimmtes zu erreichen.“ „Und was willst du erreichen?“ fragte Gomulka. Holt antwortete nicht. Gomulka warf ein paar Äste ins Feuer, wartete geduldig und meinet schließlich: „Weißt du es etwa gar nicht?“ „Doch. Ich will Gundel zurückgewinnen“, sagte Holt. Gomulka seufzte laut. „Gut. Aber weiter, was kommt dann, wenn du das erreicht hast?“ „Ich weiß nicht...“, entgegnete Holt. „Vielleicht kommt dann ein großes, echtes Glück, wie ich's schon als Junge erträumt und bei Novalis gelesen habe... Ich weiß nicht. Vielleicht ist es auch wieder nur die Erwartung, von der man lebt. Vielleicht kommt nachher eine leere, tote Zeit, die man dann irgendwie hinbringen muß.“
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„Niederschmetternd!“ sagte Gomulka. „Deprimierend, was du da redest! Ich hab ja im Lager auch über solche Fragen nachgedacht, weil wir doch außer der faschistischen Tünche kein Tüftelchen Gesinnung mitbekommen haben, von der Schule nicht, von niemandem. Aber ich hab mir eine einfache Faustregel gesucht: das Leben ist eine Aufgabe, die man lösen muß.“ „Ich weiß. Weiß ich alles, Sepp. Eine menschliche Zielsetzung. Ich weiß genau Bescheid: mit dem Verstand. Aber man lebt eben leider nicht nur mit dem Verstand.“ „Nein, da hast du recht, man lebt auch ein bißchen mit dem Gefühl, dem Gemüt.“ „Im Grunde sind das alles ganz unwissenschaftliche Begriffe“, sagte Holt. „Vater würde sagen: Das Zentralnervensystem ist unerhört komplex... Jedenfalls ist im Gefühl, im Gemüt das Falsche sehr schwer vom Echten zu trennen. Ich hab mir eigens daraufhin mal die Geschichte angesehen: in Zeiten, wo der Mensch mehr auf den Verstand baut, da ist er viel schwerer zu mißbrauchen.“ „Das dürfte auch nur eine halbe Wahrheit sein“, sagte Gomulka. „Komm schlafen. Morgen ist auch noch ein Tag.“ Und in der Hütte, als er sich zum Schlafen ausstreckte, setzte er hinzu: „Jedenfalls versteh ich jetzt, wie du das meinst: die Gundel lebt selbstverständlich...“ Sonst sagte er in dieser Nacht nichts mehr. Am anderen Abend, es war schon der letzte Abend, briet Gomulka Kartoffeln in der Glut des Feuers und erzählte aus der Zeit der Gefangenschaft. „Sie haben ein Ziel“, sagte er, „das ist dort drüben das Imposante: daß die ganze Gesellschaft ein Ziel hat und gemeinsam für dieses Ziel arbeitet, Opfer bringt und auf manches verzichtet. Erinnerst du dich an unsere Gespräche im Krieg? Wir haben gespürt, daß die Welt nicht in Ordnung ist, wir haben uns eine Philosophie vom Tod auf verlorenem Posten zurechtgezimmert, und der Bolschewismus war der Schwarze Mann unseres Lebens. Wir wußten eben nicht, daß gerade der
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Bolschewismus begonnen hat, diese Welt umzugestalten, sinnvoll, überlegt, nach einem Plan.“ „Wir waren mit Blindheit geschlagen“, sagte Holt. „Wir mußten erst durch die sieben Höllen.“ „Mußten wir wirklich?“ fragte Gomulka zweifelnd. Er fischte sich eine Kartoffel aus der Asche, spießte sie auf einen Zweig und löste die verkohlte Schale ab, ehe er vorsichtig hineinbiß. „Es mußte nicht der Krieg sein“, fuhr Holt fort. „Aber durch irgendwas muß der Mensch hindurch, daß er die Illusionen über sich selbst und über die Welt verliert. Denn das Ich ist nun mal anders als das kindliche Ich, und auch die Welt ist anders, als man sie mit Kinderaugen gesehen hat.“ „Schmeckt aber wirklich hervorragend!“ sagte Gomulka. „Gib mal das Salz her! Und da meinst du nun, man muß durch eine Art Ernüchterung hindurch?“ „Ja, das meine ich“, sagte Holt. „Aber wie machst du das? Ich verbrenne mir dauernd den Mund an den Kartoffeln! Als Kind hat man sich einen Mythos von der Welt und von sich selbst geschaffen, und wenn die Erkenntnis wächst, zerfallen die Mythen, und alles, was fest und gültig war, gerät in Bewegung und verliert seine Gültigkeit. So kommt man eines Tages ins Schwimmen, Sepp, und nirgendwo ist mehr Halt, und man beginnt zu suchen: nach dem Leben, wie es wirklich ist, nach der Liebe, wie sie wirklich ist, nach den Kräften, die in Wirklichkeit die Welt im Innersten zusammenhalten. Dies nun in einer verlogenen Zeit, die statt der Wahrheit nur neue Mythen zu sagen wußte: da hast du das ganze Debakel unserer Jugend.“ „Und heute, Werner? Suchst du noch immer?“ „Ja, Sepp“, sagte Holt. „Ich suche noch immer. Aber es ist schon ein Unterschied. Damals standen wir hilflos vor jeder Frage, weil uns ein Maßstab fehlte, der feste Punkt, von dem aus man die Welt aus den Angeln heben kann, der archimedische Punkt. Heute kennt man den archimedischen Punkt.“ Gomulka neigte sich nach vorn, fragend, gespannt, und sah auf Holt, voll Erwartung.
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„Man kennt Marx“, sagte Holt. „Man kennt das Gesetz der Geschichte.“ Gomulka richtete sich auf. „Ich habe gewußt, daß du hinfinden wirst. Als ich die ersten Sätze von Marx hörte, da hab ich an dich gedacht und gehofft, daß du hinfinden wirst.“ „Seit ich Marx gelesen habe“, fuhr Holt fort, „habe ich Grund unter den Füßen und lerne die Welt begreifen.“ „Und was ist es, was du noch immer suchst?“ „Das Thema heißt doch: die Welt und ich. Die Welt ist erkennbar und veränderbar, sie wird aufhören, Pesthöhle der Zivilisation zu sein, und wird werden, was sie sein kann, die Heimat eines befriedeten, einigen Menschengeschlechts. So weit die Welt. Und das Ich, was wird aus dem Ich? Ist auch das Ich erkennbar? Wird auch das Ich, dieses Ich hier, zu seinen Lebzeiten aufhören, ein triebhaftes, getriebenes Etwas zu sein, zerrissen von Widersprüchen, heimatlos zwischen den Klassen, nur denkendes, arbeitendes, sprechendes Tier, und wird es werden, was es sein könnte: ein wahrhaft menschliches Ich?“ „Du machst dir's schwer“, sagte Gomulka nach einer langen Pause des Nachdenkens. „Suche nach Erkenntnis, Klarheit, ja, das kenne ich. Aber diese verzweifelte Suche nach dem Ich, nach dem Leben, nach der Liebe... Laß doch dein Ich in dir ausreifen, laß die Liebe auf dich zukommen, und lebe das Leben, wie's dich überall umgibt! Man muß auch abwarten können. Aber das soll keine Antwort auf deine Frage sein.“ Das Feuer beleuchtete sein Gesicht, er lächelte, und die Narbe auf seiner Wange machte das Lächeln traurig. „Vielleicht mußt du dir's so schwer machen. Was die Menschen gemeinhin erleben, das muß mancher erleiden, das gibt es, ich weiß, daß es das gibt, seit ich im Lager Gedichte von Becher gelesen habe. Was die anderen erlebt haben, Deutschlands Absturz in die Barbarei und das Exil und die Sehnsucht nach der Heimat mit ihrer Sprache, das mußte der Dichter erleiden, und man spürt, wie tief und ehrlich er gelitten hat.“ „Ich bin kein Dichter“, sagte Holt nur. „Aber lassen wir das, reden wir nicht mehr davon.“
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Er sah in die Nacht, sah die Silhouetten der Blautannen vor dem leuchtenden Himmel. Ein Nachtvogel strich durch das Gehölz. „Das Haus, die Landschaft“, sagte Holt, „ich wünschte, ich hätte auch so einen Zufluchtsort.“ „Du bekommst einen Schlüssel!“ sagte Gomulka. „Fahr her, wenn du Lust hast, und manchmal treffen wir uns hier.“ „Morgen geht's nun wieder nach Hause“, sagte Holt, „und übermorgen ist es soweit: Abitur. Erstens: deutscher Aufsatz. Da werde ich einen Haufen sogenannter kluger Gedanken hineinschreiben, und es wird mir ernst sein mit Humanität und historischem Fortschritt und all dem Kram. Aber daß sich das Leben lohnt, weil es solche Nächte gibt wie diese Nacht und die Berge und die Mondsichel hinter Tannen und einen Freund an der Seite und den Traum von künftigem Glück... Siehst du, Sepp, das werde ich leider nicht in meinen Aufsatz hineinschreiben.“ 9
Fünf Klausuren in zwei Wochen. „Jetzt bin ich sauer!“ sagte Holt, als es vorbei war. Die große Mathematikarbeit war ein Vergnügen, der deutsche Aufsatz war ein Vergnügen, die beiden Übersetzungen aus dem Lateinischen und aus dem Englischen bereiteten ihm erwartungsgemäß Kopfschmerzen und ließen ihn ein bißchen stolpern, und dann, in Chemie, ganz überraschend, schlug er der Länge nach hin. Er stand dem einzigen Thema völlig hilflos gegenüber: „Chemie und Technik der Gebrauchssilikate“. Das war anorganische Chemie und längst vergessen. Minutenlang saß er in seiner Bank und dachte stumpfsinnig: Sand und Soda, Sand und Soda, mehr fiel ihm nicht ein. Aber es nützte nichts, er mußte ein leeres Blatt abgeben oder irgendwas schreiben. Also schrieb er irgendwas. Gebrauchssilikate, schrieb er, wer denkt dabei nicht an Glas, und wer, wenn er an Glas denkt, denkt da nicht an lichtdurchflutete Räume mit verglasten Fenstern, zugleich aber an die verheerenden Folgen des Bombenkrieges? Geschafft! Er 426
konnte jetzt die Ursachen des zweiten Weltkrieges darlegen. Aber nein, er schrieb lieber vom findigen Menschengeist, der Pappe und vor allem Igelit in die Fenster eingezogen hatte. Durch das Igelit, schrieb er, und damit war er glücklich in der organischen Chemie gelandet, fällt zwar weniger Licht als durch das Gebrauchssilikat Glas, doch wenn die bösen Buben mit dem Fußball in die Fenster schießen, dann erweist sich dieser Kunststoff dem Fensterglas turmhoch überlegen, erweist seine Perspektiven. Und er schrieb nun über Hochpolymere und Makromolekulare, darauf war er vorbereitet, und dann gab er die Arbeit ab und harrte der kommenden Dinge. Zwei Tage später wurde er von Gottesknecht angehalten. „Holt!“ sagte Gottesknecht außer sich. „Ich kenne Sie, und ich bin Psychologe genug, um zu wissen, daß Sie keine Ahnung hatten und daß es eine ungeheure Frechheit ist, eine Verhöhnung der Prüfungskommission! Aber Petersen behauptet, das Thema wäre so tief unter Ihrem Niveau gewesen, daß Sie aus eigener Initiative ein weit schwierigeres Gebiet aus der organischen Chemie gewählt hätten. Und nun sollen Sie für Ihre unverschämte Frechheit eine Eins bekommen! Aber ich habe gedroht, bis zur Landesregierung zu gehen, wenn die Arbeit nicht als unzensierbar bezeichnet wird!“ „Na bitte!“ sagte Holt. „Unzensierbar ist besser als eine Fünf!“ Nach dem schriftlichen Abitur lief der Schulunterricht weiter. Niemand nahm ihn mehr ernst. Man kam, wenn man Lust hatte. Die Lehrer standen mehr als einmal vor leeren Bänken, und es hagelte Eintragungen ins Klassenbuch. Holt ging nur noch zur Mathematikstunde in die Schule, und Gottesknecht zuliebe blieb er auch gelegentlich zum Deutschoder Geschichtsunterricht. Im übrigen lag er faul im Garten im Liegestuhl. So fand ihn der erzürnte Gottesknecht, der auf dem Heimweg in den Garten eindrang und Holt zur Rede stellte. „Kräftesammeln fürs Mündliche“, sagte Holt, „oder die Ruhe vor dem Sturm, aber nun seien Sie doch friedlich, Herr Gottesknecht!“ Im Herzen war Holt die Schule schon gleichgültig. Als das Abitur noch in der Ferne gelegen hatte, ein schwer erreichbares 427
Ziel, hatte es ihm als großes, tief ins Leben einschneidendes Ereignis vorgeschwebt. Nun war die Erwartung wieder einmal größer als das Ereignis gewesen. Arens freilich schleppte sich völlig zerrüttet durch die Prüfungstage. „Sagen Sie mal, Holt, wie haben Sie das in Chemie mit der aktuellen Beziehung gemacht, sagen Sie doch mal, bitte!“ Holt grinste. „Ich habe vor allem über rotes Glas geschrieben!“ „Also, daß Sie noch scherzen können, ich muß sagen...“ Arens verbeugte sich leicht gegen Holt. „Alle Achtung! Ich jedenfalls bin ganz hübsch mit den Nerven runter!“ Das mündliche Abitur: Gottesknecht prüfte Holt in Deutsch und Geschichte, Lorentz brillierte mit ihm in Mathematik. Biologie, Physik, und auf einmal war Holt durch die Prüfung hindurch und erhielt die Gesamtnote „gut“. Gottesknecht ging mit ihm durchs Schulhaus. „Sie dürfen stolz sein, und auch ich bin stolz, daß Sie mein Schüler waren, denn Sie haben in dem Jahr mehr als das Abitur geschafft; Sie haben ernsthaft zu leben begonnen.“ Er nahm Holt am Arm. „Trotzdem, irgendwas stimmt nicht mit Ihnen. Ehrlich: Macht Ihnen immer noch die Geschichte mit dieser Frau zu schaffen?“ „Ich bin ein bißchen überarbeitet“, sagte Holt. „Sonst weiß ich nicht, was Sie meinen.“ „Ich meine zum Beispiel diesen eigenartigen Unterton Ihres Aufsatzes“, fuhr Gottesknecht fort. „Der Aufsatz war eine glatte Eins, und wer Sie nicht kennt, der merkt nicht, wie hinter all Ihrer richtigen, klaren und scharfen Einsicht und Erkenntnis etwas wie Resignation zu spüren ist... Ihr Intellekt hat sich erstaunlich entwickelt; was ist es, das da in Ihnen resigniert?“ Holt hob die Schultern. „Nicht daß ich wüßte.“ „Ich wünschte, ich könnte Sie weiterhin im Auge behalten. Sie werden ja sicherlich zum Studium zugelassen, und ich verliere Sie ungern.“ Vor dem Lehrerzimmer blieben sie stehen. „Sie haben bald die langen wohlverdienten Ferien, ehe Ihr erstes Studiensemester beginnt. Besuchen Sie mich!“ Holt verspürte den Wunsch, Gottesknecht zu danken. Aber Gottesknecht fuhr fort: „Und wissen Sie was? Wenn Sie mich besuchen, bringen Sie mal wieder Gundel und Schneidereit mit.“ 428
Holt neigte höflich den Kopf. Er empfand Gottesknechts Aufforderung, Schneidereit mitzubringen, heute, am Tage seines bestandenen Abiturs, ganz einfach als Taktlosigkeit. In der Klasse hatten sich die Schüler noch einmal versammelt. Die Wogen des Übermuts schlugen hoch. Hoffmann holte eine Schnapsflasche hervor und ließ jeden trinken, nur Geißler nicht. „Ich war zwar bloß Klassenvertreter“, sagte er, „aber als bewußter Vertreter meiner Klasse sauf ich nicht mit meinem Klassenfeind, und wenn er dreimal mein Klassenkamerad ist!“ Buck, der Einäugige, nahm einen großen Schluck und war nicht länger zu halten. „Soll ich ein letztes Mal die Stimme erheben und reden?“ fragte er. „Soll ich? Eine anarchistische Hetz- und Drohrede gegen das gesamte Schulwesen, gegen jegliche Bildung überhaupt und für die Einführung eines organisierten Analphabetentums in Stadt und Land!“ Er stieg schon auf den Tisch. „Abiturienten!“ schrie er. „Maturanten! Absolventen! Kandidaten! Der Tag ist gekommen: eure Knechtschaft hat ein Ende! Aber noch stöhnen Millionen Schüler in aller Welt unter dem Joch einer Minderheit von Lehrern...“ Die Tür flog auf, Gottesknecht trat ein. „Ich werde Ihnen was!“ sagte er. „Ohne die Minderheit der Lehrer könnten Sie nicht mal Ihren Namen schreiben! Sie unterstehen immer noch der Schulordnung! Und wer sich nicht anständig benimmt, bekommt kein Abiturzeugnis ausgehändigt!“ Buck kletterte verlegen von seiner Bank. Gottesknecht stand vor der Klasse. „Die Ferien beginnen erst in einer Woche. So lange nehmen Sie noch am Unterricht teil. Da gibt es gar nichts zu lachen! Nach wie vor gilt nur Krankheit als Entschuldigungsgrund. Aber ob Sie nun alle erkranken oder nicht: zur Zeugnisverteilung, in einer Woche, sehen wir uns wieder.“ Holt beeilte sich, nach Hause zu gelangen. Sein Vater wartete auf ihn, und vielleicht wartete sogar Gundel. Dieser Tag war nun doch sein großer Tag, den er länger als ein Jahr herbeigewünscht hatte. „Eine Zwei, mehr war beim besten Willen nicht zu machen“, sagte er zu seinem Vater. 429
„Du siehst angestrengt aus“, sagte Professor Holt, nachdem er gratuliert hatte. „Monatelang zuwenig Schlaf, das macht sich nun bemerkbar, und du wirst dich vor dem Studium ordentlich erholen müssen.“ Sie saßen im Gartenhaus, in Professor Holts Arbeitsraum. Holt dachte immer wieder: Geschafft! Ja, er hatte das Abitur in der Tasche, das hieß, er war einen großen Schritt vorangekommen auf seinem Weg zu Gundel. Gundel war noch nicht zu Hause. Ja, Gundel. Sie hatte ihn stärker als das bevorstehende mündliche Abitur beschäftigt. Als er nun bei seinem Vater saß und sich langsam entspannte, dachte er daran, mit Gundel wegzufahren, und er trug den Schlüssel des Blockhauses in der Tasche. Ehe er zum Studium ging, ehe er sie so lange allein ließ, mußte eine Entscheidung fallen. Er mußte sie an sich fesseln; kein anderer durfte mehr in ihren Gedanken, in ihrem Leben Platz haben. Er hatte die Freundschaft Judiths verspielt, Gundel gab er nicht auch noch her. Er hatte die Fragen, die Probleme nur aufgeschoben für die Zeit nach dem Abitur. Gundel wollte ihren Urlaub wieder mit Schneidereit verbringen, im Zeltlager an der See. Mit Schneidereit ins Zeltlager oder mit Holt ins Blockhaus in den Bergen, es war eine klare Alternative. Er oder Schneidereit. Ehe diese Frage nicht eindeutig geklärt war, fand er ja doch keine Ruhe. Was wollte er von Gundel? Träumte er, sie zu besitzen? Man konnte Gundel nicht einfach besitzen, man war von ihr besessen, war nicht nur von ihrer Körperlichkeit und der Anmut ihrer Jugend fasziniert, nein, man hungerte nach ihrer Nähe, nach ihrer Anerkennung, nach Gemeinsamkeit, war dankbar für jedes Almosen ihrer Gegenwart, und so erschöpft, wie man hier saß, klammerte man sich in Gedanken an Gundel fest und fühlte beklommen, wie nur eins dem Leben Antrieb, Sinn und Richtung gab: das Bild einer Zukunft, die in Gundels Zeichen stand. Und nun trat sie durch die Tür, Gundel, gefolgt von Schneidereit, und das gehört sich wohl auch, daß man gratulieren kommt an diesem großen Tag!
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Schneidereit sagte: „Meinen Glückwunsch zur bestandenen Prüfung. Das ist ja ein wichtiges Ereignis, sozusagen. Wir haben Ihnen etwas mitgebracht, Gundel wird es Ihnen geben.“ Holt stand nicht auf, er gab Schneidereit im Sitzen die Hand. Schneidereit war ganz freundlich, er war entweder falsch und tückisch, oder er konnte enorm was schlucken, Holt war ihm doch oft genug blöd gekommen, der Schneidereit aber ließ nicht locker, der hatte sich in der letzten Zeit ganz schön gemausert, bloß an der Gundel hielt er fest, aber damit war's ja nun auch bald vorbei... Holt stand auf. Gundel trat vor ihn hin, in ihrem weißen Leinenkleid, ja, Gundel, ihr Anblick, heute, an seinem großen Tag, ihr Lächeln, ihre Schlichtheit: „Das hast du gut gemacht!“, ihr Geschenk, Werke Ludwig Feuerbachs. Holt zog einen Stuhl heran, Gundel mußte heute neben ihm sitzen, und da sie nun an seiner Seite war, sah Holt friedlich auf Schneidereit, die Ordnung war wiederhergestellt, heute an Holts großem Tag. Er empfand die Anwesenheit Schneidereits jetzt mit Genugtuung; es belustigte ihn beinahe, daß Schneidereit ihm gratulierte, zu einem Ereignis, das der erste Schritt zu seiner Entthronung war. Holt war viel schlauer, als Schneidereit dachte. Holt disponierte jetzt seine Pläne um: nichts da von Entscheidung, nein, Holt mußte nur klug und geduldig sein, überlegen, höflich. Denn er hatte schon allen verlorenen Boden gutgemacht, Schneidereit wußte es nur noch nicht. Wo Holt heute schon stand, dort würde Schneidereit niemals stehen. Und wo Holt morgen schon stehen würde, dort wehte kein Gedanke an Schneidereit mehr hin, und der Maurer ging in Gundels Lebensgeschichte als namenloser Irrtum ein, begangen in unreifen Jahren, und verziehen von Holt, an seinem großen Tag. Professor Holt hatte ein Getränk zusammengebraut, das er Kalte Ente nannte, scherzhaft auch Mixtum alkoholicum dilutissimum... „Verzeihung, was heißt das?“ Der Baß verstand kein Latein. Da sind wir freundlich, bereitwillig: „Auf deutsch etwa ein extrem verdünntes alkoholisches Gemisch, man kann es also beruhigt literweise trinken.“ Literweise besser nicht, wir spüren es schon ein bißchen, Vaters Kalte Ente hat's faustdick 431
hinter den Ohren, Enten haben doch gar keine Ohren!, natürlich haben Enten Ohren, ich denke, du interessierst dich für die Natur, und da denkst du, daß - Vater, die Gundel glaubt nicht, daß Enten Ohren haben, natürlich haben Enten Ohren, sie haben nur keine Außenohren, aber Innenohren haben Enten!, und nun der Baß: Aha, Enten haben keine Ohrmuscheln! Bravo! Hoch die Gläser, Prost, aufs Abitur!, ja, auf den großen Tag! Hab mal eine Frage, Herr Holt! Meint der mich? Erhebt sich Gundel, erhebt sich folgendes Problem: Haben die Enten die Außenohren auf dem Wege ihrer Entwicklung verloren oder sind sie gleich ohne Ohren geboren? Die Gundel ist großartig, Gundel, du bist ja süß bist du!, du bist umwerfend, ich glaube, du hast einen Schwips! Laß mich doch, es ist doch ein Schwips dir zu Ehren! Das hast du fein gesagt, ja, Schwips zu Ehren meines großen Tags. Gestatten Sie mal eine Frage! Der Baß soll still sein, heute haben alle das Maul zu halten! Der Hoffmann soll 's Maul halten, aber das ist er ja gar nicht, das ist ja Schneidereit, kann er prima, klingt wirklich wie Hoffmann. Aber was sagt er da? „Der Holt ist jetzt ein feiner Herr, der redet gar nicht mehr mit mir!“ Gundel lachte. Holt, vollkommen nüchtern, lächelte nur. „Nicht doch! Ich eifere meinem Vater nach, und spricht denn Vater nicht mit Ihnen, als hätten Sie ein ähnliches Format wie er?“ „Ihr Vater ist aus anderem Holz“, versetzte Schneidereit schlagfertig. „Bestes Stammholz. Da ist der Ableger dagegen noch richtig krautig!“ „Wir Holts müssen uns alle erst mausern“, sagte Holt. „Fragen Sie Vater, wie er mit zwanzig für die ,Teutonia' in so manche Visage Mensurnarben schlug. Damals wären Sie gar nicht satisfaktionsfähig gewesen!“ „Da haben Sie's vergleichsweise ja schon mächtig weit gebracht!“ erwiderte Schneidereit mit spöttischer Anerkennung. Aus dem Wortgeplänkel war unversehens Ernst geworden. „Ihr Vater hat mir manches erzählt, ich weiß Bescheid. Wenn heute einer mit zwanzig nicht mehr wie ein Teutone auf dem Paukboden rumspringt, sondern sich gewaltig
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zusammennehmen muß, so verdankt er das der Macht der Satisfaktionsunfähigen.“ Da wurde Holts Lächeln kalt und böse. Ein scharfer, ätzender Gedanke stieg in ihm hoch.. Es klopfte. Sie wendeten alle die Köpfe. Zernick, sieh mal einer an: der Zernick ist wieder da! Ja, ganz der Alte, wie er sich linkisch verbeugt. „Störe ich? Ich störe doch nicht, wie?“ Und nun geht sie los, die Brillenwechselei; Fern-Umbral, Nah-Umbral auf die Nase, sicherlich kommt er mir gratulieren, zu meinem großen Tag. Ich ärgere mich doch nicht über Schneidereit, Mensch, heut ärger ich mich doch nicht über Schneidereit! Aber der Zernick, der gratuliert mir ja gar nicht, der weiß ja gar nicht, daß dieser Tag mein Tag ist, der hat irgendwas ganz anderes auf dem Herzen... Was schaut er die Gundel so an? „Sie haben sich aber eine Ewigkeit nicht bei uns sehen lassen, Herr Zernick!“ Und Kalte Ente für Zernick, da nimmt er das Glas und grinst übers ganze Gesicht und räuspert sich, und endlich kommt's: „Wenn ich bitten darf: Doktor Zernick.“ Aaah! Aha! Gratulation, Glückwunsch, natürlich summa cum laude, da haben Sie, Herr Doktor, heute ja auch Ihren großen Tag, wieso „auch“? Ach so! Na, Sie? Schwein gehabt, also gratuliere! Na schön. Dann ist es eben unser großer Tag, meiner und Zernicks, und ich bin doch nicht albern, mit Zernick kann man ja teilen, und das schenkt schon eine Vorahnung, wie es erst sein wird, wenn man selber den Doktor feiert... Aber was schaut denn Zernick unverwandt auf Gundel, was will er denn bloß von Schneidereit, und immer schaut er von einem zum andern, was kommt denn jetzt, was ist denn los? Der Zernick will doch was von den beiden! Der ist ja gar nicht hergekommen, um sich als frisch gebackener Doktor feiern zu lassen, der holt jetzt einen Brief hervor, natürlich Überraschung, hab's doch gewußt: jetzt läßt er einen Knallfrosch los, jetzt kommt doch eine von Zernicks gepfefferten Pointen... „Da schreibt mir der alte Ebersbach...“ Aha! Was schaut er schon wieder zu Gundel und Schneidereit, und mich übersieht er ja völlig! Bloß gut, daß man allen Eventualitäten gewachsen ist, in hoher und für Schneidereit unerreichbarer 433
Position. Bitte, mach weiter, her mit der Pointe, mich wirfst du nicht um!, nein, nichts wirft mich um! „Ebersbach schreibt“, sagte Zernick und las: „... die Sache ist perfekt. Du wirst in den nächsten Tagen offiziell die Berufung zum Direktor der hiesigen Vorstudienanstalt erhalten...“ Vorstudienanstalt? Was denn... Da hab ich doch mal davon gehört, da hat doch Frau Arnold mal drüber gesprochen, da war doch was, wie war das denn gleich, das ist doch so, da gibt es eine Bewegung... „Und euch beide“, sagte Zernick und sah auf Gundel, auf Schneidereit, „euch beide nehme ich mit, da gibt es keine Widerrede, ihr seid meine ersten Studenten. In zwei Jahren macht ihr bei mir Abitur.“ Der Absturz erfolgte aus großer Höhe. Holt stürzte aus sicherer, für Schneidereit unerreichbarer Position ins Bodenlose. Aber noch im Fallen, mühsam, zog er ein freudig überraschtes Gesicht... Nichts anmerken lassen! Irgendwas schob ihn vom Stuhl und vor Gundel hin, irgendwas hob ihm den Arm, daß er Gundel gratulierend die Hand schütteln konnte, schob ihn weiter zu Schneidereit, Glückwunsch, na so was, wer hätte das gedacht, und die Stunde hatte ihren wahren Mittelpunkt gefunden, und dies war Gundels und Schneidereits großer Tag! Holt sah das Zimmer, sah die Menschen, Vater, Zernick, verschwommen, sah Gundel, wie sie noch gar nicht richtig verstand und sich doch schon nicht mehr fassen konnte: „Und ich könnte... könnte ich tatsächlich vielleicht sogar Tierärztin werden?“, sah Gundel weit, weit entrückt, sah sie von ihrer Freude überstrahlt, sah sie in Regenbogenfarben, wie wenn man durch Tränen blickt... Und die Ordnung war wieder zerstört, Gundel wieder an Schneidereits Seite. Schneidereit aber war nahe, ganz nahe und scharf und groß und unwiderstehlich mitten in Holts Blick gestellt, und Holt hatte dazu die Empfindung eigenartiger Leere in seiner Brust, plötzlicher Stille nach Zernicks Paukenschlag, und in die Stille, in die Leere hinein sagte es in seinem Innern: Der Schneidereit wird studieren... immer schneller: Der Schneidereit wird studieren! Immer lauter:... Schneidereit... studieren... Und in Holt erhob sich's übermächtig, nichts Neues, nein, was Altes, 434
Wohlbekanntes, er kannte es schon, aber jetzt hatte sich's aufgestaut, jetzt war er voll davon bis in den letzten Winkel... Da verflog es wieder, sank noch einmal in sich zusammen, ehe Holt es beim Namen nennen konnte. Und die Stille war wieder da, die Leere. Holt lief durch den Park, er wußte: das kam wieder, dann mußte er sich's eingestehen, dann mußte er's beim Namen nennen, und er fürchtete sich davor. Da war etwas übermächtig in ihm herangewachsen und war schon stärker als Vernunft und Einsicht und war nichts Fremdes und gehörte zu ihm und war ein Teil seines Wesens. Gundel war Halt und Hilfe, er mußte sie nur vor vollendete Tatsachen stellen. Er mußte also mit Schneidereit sprechen. Schneidereit mußte aus dem Weg! Wie sie gestern geplänkelt hatten, da hatte Holt gesehen, wie trügerisch der Frieden zwischen ihnen beiden war. Holt intrigierte nicht gegen Schneidereit, das wäre das letzte. Er fühlte sich Manns genug, zu ihm hinzugehen und ihm notfalls zu sagen: Scher dich zum Teufel. Es war ein Freitagabend. Holt fand Schneidereit in einer der Baracken, auf der Tür stand: „Betriebsgewerkschaftsleitung. Vorsitzender.“ Dort saß er hinter einem Schreibtisch, trug noch seine Arbeitskluft; er hatte am Nachmittag eine komplizierte Feuerung um eine Retorte gemauert. Holt stellte sich vor dem Schreibtisch hin. „Kann ich Sie sprechen?“ „Was ist los?“ fragte Schneidereit. „Wo brennt's denn?“ Und er deutete auf einen Stuhl. Aber Holt blieb stehen. Er schob die Hände in die Hosentaschen und sah sekundenlang auf den Widersacher herab; er konnte ihn jetzt tatsächlich vorurteilslos, distanziert betrachten und fand, daß Schneidereit sympathisch aussah, kühn, stark. Eigentlich war es schade, daß man einander feind war. Früher, als Knabe, hatte man einen Freund gesucht, einen Kerl wie Hagen von Tronje, Winnetou oder Roller. Damals hätte man sich diesen unwiderstehlichen Schneidereit zum Leitbild gewählt und zum Freund gewünscht. Aber damals war Wolzow gekommen, und darum war heute alles ganz anders. 435
Schneidereit schien die Sympathie zu spüren, die Holt einen Augenblick lang für ihn empfand, denn er sagte: „Na, so setzen Sie sich doch! Schön, daß wir zwei mal wieder miteinander reden!“ „Bedauerlich, daß es kein erfreuliches Gespräch werden wird“, sagte Holt. „Wirklich, es tut mir leid. Aber soll ich Ihnen was heucheln? Na also. Sie sind, wie ich, lieber für ein offenes Wort. Wir sind überhaupt in vieler Hinsicht für die gleichen Prinzipien, auch politisch, obwohl Sie das nicht einsehen wollen, weil Sie nämlich glauben, wenn einer in einem Bürgerhaus geboren ist, dann ist er bis ans Ende seiner Tage ein geborener Reaktionär. Kennen Sie den Dichter Becher? Der ist auch in einem Bürgerhaus geboren.“ „Das ist mir bekannt“, sagte Schneidereit. „Nun mal weiter!“ „Sie unterschätzen die Überzeugungskraft Ihrer Weltanschauung“, fuhr Holt fort. „Sie unterschätzen die Faszination des Fortschritts, weil Sie nie etwas anderes als den Fortschritt gekannt haben; das kann den Menschen manchmal auch engstirnig machen.“ Schneidereit, das Kinn auf die Fäuste gestützt, sah aufmerksam auf Holt. „Da könnte sogar was Wahres dran sein“, sagte er. „Müller hat mir mal was Ähnliches gesagt.“ „Ja, Müller!“ sagte Holt. „Der war aus anderem Holz. Da ist sein Schüler dagegen noch richtig krautig!“ Jetzt lächelte er. „Aber für Ihre dreiundzwanzig Jahre haben Sie's schon mächtig weit gebracht!“ Schneidereit schaute verdutzt; dann lachte er los, laut, amüsiert, lachte tief aus seiner breiten Brust. „Eins zu null für Sie, Holt!“ rief er. „Da haben Sie mir den Ball aber bildschön zurückgeworfen!“ „Sagen wir eins zu eins“, meinte Holt. „Früher haben Sie mir's ja schon mal ganz ordentlich gegeben!“ Wieder lachte Schneidereit. „Sie gefallen mir immer besser! Wirklich, ich meine das ehrlich!“ „Nicht wahr?“ sagte Holt. „Das Bourgeoissöhnchen ist gar nicht so übel! Sie gefallen mir übrigens auch. Und ich sagte ja: wir sind beide für die gleichen Prinzipien. Nur leider“, und Holts
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Stimme kam jetzt leise, „leider sind wir auch für dasselbe Mädchen!“ Schneidereit wurde augenblicklich ernst. „Ach...“, sagte er, „es geht um Gundel, wenn ich Sie recht verstehe?“ „Ja, Sie verstehen mich recht, es geht um Gundel“, sagte Holt. Er verschränkte die Arme auf der Brust. „Jetzt hören Sie mal genau zu.“ Und was nun an Worten aus ihm herauskam, halblaut, schnell, heiser, das ging nicht durch die Kontrolle seines Verstandes, das kam ihm aus gekränktem, verzweifeltem Herzen. „Ich habe Gundel gefunden, als es ihr elend ging. Ich habe damals, so verblendet ich war, zu ihr gehalten und für sie bei Gomulkas eine Zuflucht geschaffen. Gundel hat mir versprochen, auf mich zu warten, bis ich wiederkomme. Sie ist über die Zonengrenze gegangen, um bei meinem Vater auf mich zu warten... Verstehen Sie?“ rief Holt leidenschaftlich. „Gundel gehört in mein Leben, nicht in Ihres! Ich habe mich noch halbtot zu ihr hingeschleppt, ich hab nirgendwo Ruhe gefunden und alles fahrenlassen, was mir lieb und wert war, weil ich kein Ziel und keinen Sinn und keinen Halt im Leben habe als nur Gundel, sonst nichts, nur Gundel...“ Er brach ab. Er sah nicht, daß sein Ausbruch Schneidereit erschütterte. Er sah nur den Widersacher, der groß und stark hinter dem Schreibtisch saß, stumm, mit einem Gesicht, das ihm düster und verschlossen schien. Er fuhr fort, zitternd vor Erregung: „Und Sie? Da lag ich noch in Kreuznach im Schlamm, da haben Sie sich in Gundels Leben hineingeschlichen, haben sie von mir fortgelockt, konfus gemacht, ihre Gefühle verwirrt...“ „Aber so war das ja gar nicht!“ unterbrach Schneidereit. „Wie können Sie so etwas sagen! Wie war denn das in Wirklichkeit? Das war doch so: Gundel lebte hier...“ „Moment!“ sagte Holt. „Ich bin noch nicht fertig!“ Er stützte sich mit den Händen auf die Schreibtischplatte, und über Schneidereits Gesicht gebeugt, sagte er: „Sie werden aus Gundels Leben wieder verschwinden! Schluß mit dem Theater, von wegen wieder an die See fahren! Gehen Sie Ihrer Wege! Lassen Sie endlich Gundel und mich in Ruhe!“
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„Sagen Sie bloß, das ist Ihr Ernst!“ sagte Schneidereit mit erstaunlicher Ruhe. „Sie können doch nicht über Gundels Leben verfügen wie über irgendeinen Gegenstand! Gundel ist doch ein Mensch! Zerren Sie das Mädel bloß nicht in Ihre Konfusion hinein, Sie machen Gundel fertig, sie weiß ja noch gar nicht, was sie will, sie ist ja noch viel zu jung, sie kann sich...“ „Hören Sie auf!“ rief Holt. Und er höhnte: „Gundel weiß nicht, Gundel ist nicht, Gundel kann nicht... Verstecken Sie sich doch nicht hinter Altruismus! Sie sind ja gar kein Altruist! Sie sind ja der größte Egoist, der sich denken läßt, ein Wolf, der überall eindringt und fremde Gehege ausraubt!... Still!“ rief er außer sich. „Frau Arnold... Oder ist sie Ihnen auch verdächtig, wie? Frau Arnold hat mir genau erklärt, daß es in Ihrer Klasse sehr wohl einen Ehrenkodex gibt, Begriffe von Anständigkeit und Lumperei... Und wer einem anderen hintertückisch und gemein unter der altruistischen Maske das Mädchen abspenstig macht, der gilt sogar unter Ihresgleichen als ein Lump, ein elender Lump...“ Schneidereit sprang auf. Er dröhnte: „Machen Sie, daß Sie rauskommen!“ Und leise, drohend: „Wenn du so mit mir reden willst, Freundchen...“ „Was ist dann?“ schrie Holt. Und er wollte sich mit den Fäusten auf Schneidereit stürzen, aber da sah er in Schneidereits Augen, und bezwungen von Müllers oder Judiths oder Schneidereits Blick - gleichviel: ein heller, entschlossener Blick bezwang ihn. „Wenn Sie wieder normal sind“, sagte Schneidereit, „dann können wir weiterreden.“ Gundel, ja, Gundel war Halt und Hilfe, in diesem Dickicht des Lebens, in dieser verfluchten Zeit. Am Sonnabend, zeitig am Mittag, als sie von der Frühschicht gekommen war, klopfte Holt an ihre Tür. Sie fragte besorgt: „Du siehst elend aus, bist du krank?“ „Krank? Ich bin nicht krank...“, sagte er. Krank nach Gundel, krank vor Heimweh. Er setzte sich. Er hatte die letzte Nacht kaum geschlafen, hatte in seinen Gedanken mit Gundel 438
gesprochen, sinnlose Dialoge. Er hatte die Niederlage von gestern nicht verwinden können. Eine Hoffnung war ihm geblieben, eine einzige Hoffnung. Aber wenn Gundel zu Schneidereit hielt, war Holt am Ende, war nach dem Abitur ganz am Anfang und war doch erledigt. „Ich habe nachgedacht...“, begann er und schwieg. „Worüber hast du nachgedacht?“ fragte sie. „War es Metternich?“ sagte er. „Nein, nicht Metternich... Von Talleyrand stammt der Ausspruch, die menschliche Sprache sei dazu da, die wahren Gedanken zu verbergen. Das fällt mir jetzt ein, weil ich's in der Vergangenheit auch so gehalten habe, nicht immer, aber manchmal: ich habe vor dir hinter meinen Worten die wahren Gedanken versteckt.“ Sie kam zum Tisch, setzte sich Holt gegenüber, stumm, fragend, wartend. „Ich kann und ich will mich nicht mehr vor dir verbergen“, sagte Holt. „Gestern bin ich mit Schneidereit aneinandergeraten. Er weiß jetzt, wie ich denke. Da mußt du es auch wissen.“ „Du bist...“, sagte sie erschrocken. „Du bist mit Horst... Was heißt das? Ich verstehe das nicht!“ „Es muß sich etwas ändern zwischen uns“, sagte Holt. „Ich habe es hinausgeschoben, bis ich das Abitur in der Tasche hatte. Du mußt mir sagen, zu wem du gehörst: zu mir oder Schneidereit.“ Es brach schon wieder aus ihm hervor: „Ich schau nicht länger zu, ich laß mir nicht länger einen freien Abend hinschmeißen, wie man seinem Hund einen Knochen hinwirft... Ich muß wissen, woran ich bin.“ In Gundels Blick war seit Zernicks Besuch nur noch Freude, Erwartung, Befreiung, Selbstbewußtsein, aber das erlosch jetzt alles, sie saß bei Holt, bedrückt, niedergedrückt, hilflos. Er sah das. Er wußte: er quälte sie. Wenn dieser Schneidereit nicht gewesen wäre, hätte er sie nicht zu quälen brauchen. Er war nicht schuld. Schneidereit war schuld. „Ich will nicht, daß du mit Schneidereit an die See fährst“, sagte er, und seine Stimme war eher traurig als fordernd. „Du kannst mit mir in den Urlaub fahren. Ich will nicht, daß du dauernd mit Schneidereit zusammen bist, du kannst mit mir 439
zusammen sein. Du wirst Schneidereit sagen, daß es aus ist zwischen dir und ihm, daß es ein Irrtum war, daß er dich in Ruhe zu lassen hat.“ „Aber... das kannst du doch nicht von mir verlangen!“ rief sie, und nun war nur noch Unglauben in ihrem Gesicht. „Ich oder Schneidereit“, sagte Holt. „Das ist doch ganz einfach.“ Sie war so sehr durcheinander, daß sie anfing, sich sinnlos mit dem Kamm durch die Haare zu fahren. „Werner, versteh doch, wie soll ich denn wissen... und jetzt, wo ich noch viele Jahre studieren werde, da kann ich doch erst recht nicht wissen...“ Sie schwieg, blickte Holt traurig an, bat: „Laß uns doch Freunde bleiben, laß uns immer bessere Freunde werden, und warum darf ich nicht mit Horst gut Freund sein, ich versteh das alles nicht!“ „Aber ich versteh das alles um so besser“, sagte Holt. „Und nun überleg dir deine Antwort gut: mit wem fährst du in den Urlaub? Fährst du mit mir ins Gebirge oder mit Schneidereit an die See?“ „Ich will mit der Gruppe ins Zeltlager!“ sagte sie mit unverkennbarem Trotz. „Ich seh nicht ein, warum ich nicht mit ins Zeltlager soll!“ Nun fand sie doch einen Ausweg. „Und du kommst mit! Horst verschafft dir bestimmt einen Platz, und wir verbringen den Urlaub zusammen!“ Holt stand auf. Er sagte leise, bitter und mit Hohn: „Wollt ihr mich wieder mit einem Knochen abspeisen, du und dein Schneidereit?“ Die Niederlage war vollkommen. Er hätte es wissen müssen, daß sie nicht loskam von diesem Menschen! Wer bin ich denn? fragte sich Holt mit wachsender Erbitterung. Hatte er nicht etwas geleistet, worauf andere Menschen mit Hochachtung sahen? Nein, er hatte es nicht verdient, daß man ihn so zurückstieß ! Er hatte es nicht nötig, jemandem nachzulaufen. Er hatte ein Jahr lang um Gundel geworben, er lief ihr nun keine Stunde länger nach. Es gab Menschen, die waren glücklich, wenn er kam. Angelika.
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Holt wandte sich an der Tür noch einmal um. „Wenigstens weiß ich nun, woran ich bin.“ Er sah Gundel, ihr Haar war braun, ihre Augen waren braun, sie sah traurig aus. Er grüßte höflich, das kostete ihn die letzte Kraft. Draußen verlor er alle Haltung, er schlug die Hände vors Gesicht. Gundel, mein Gott, Gundel. Er riß sich zusammen. Keiner durfte merken, wie ihm ums Herz war. Holt ging zu Angelika. Im Haus traf er Egon Arens. „Hübsch, daß Sie mich besuchen!“ sagte Arens. „Wirklich, ein reizender Einfall! Bitte, treten Sie näher, ich hole nur meinen alten Herrn hoch, dann nehmen wir zusammen den Tee!“ „Bedaure“, sagte Holt. „Ich will zu Angelika.“ „Was Sie nicht sagen!“ rief Arens. Dann wiegte er den Kopf hin und her, zwinkerte vertraulich: „Warum auch nicht? Sie ist ganz hübsch... hübsch!“ Holt stieg die Treppe hinauf. Daß er gesehen worden war, darauf kam es nun gar nicht mehr an. Es war aus mit Gundel, auf wen sollte er noch Rücksicht nehmen, etwa auf Angelikas Großmutter? Mochte sie ihm doch öffnen! Er klingelte. Aber es war Angelika. Sie schaute Holt ungläubig, fassungslos an, dann leuchtete ihr Gesicht auf. Er konnte in diesem Gesicht lesen wie in einem Buch: daß sie überwältigt war, daß sie es immer gewußt hatte, einmal stand er vor der Tür... Endlich trat sie zur Seite, er folgte ihr in die Wohnung. Sie hatte noch kein Wort gesprochen, sie sprach auch jetzt noch nicht, sie sah ihn nur immer an. Er sagte: „Ich will morgen ein paar Tage wegfahren, ins Elbsandsteingebirge, in ein Blockhaus, mitten im Wald.“ Er dachte nicht daran, daß sie noch eine Woche in die Schule gehen mußte. „Ich möchte dich mitnehmen“, sagte er. „Kannst du hier fort?“ Ihm war, als sei jetzt ein Schatten von Angst in ihrem Gesicht. Er log: „Mein Freund Sepp wird auch dort sein. Wir sind nicht allein.“ Jetzt fand sie die Sprache wieder. „Wieso kommst du auf einmal zu mir? Du hast wochenlang nicht an mich gedacht!“
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„Ich hab dir doch gesagt: das Abitur frißt mich auf!“ erwiderte er. „Du hast mir nicht geglaubt. Jetzt hab ich's geschafft, eine glatte Zwei! Jetzt hab ich viel Zeit für dich!“ „Ja, aber da hast du ja Wort gehalten!“ rief sie. „Kommst du mit?“ „Wie kannst du fragen!“ „Sei morgen früh vier Uhr am Bahnhof.“ Holt geriet noch einmal ins Wanken, der Strom der Gedanken an Gundel wollte ihn mit sich fortreißen, aber er erlag dieser Schwäche nicht, hielt sich mit dem Blick an Angelika fest. Sie war jung, wie alt war sie eigentlich? Siebzehn, oder auch erst sechzehn, egal! Sie war weniger kindhaft als vor zwei Jahren, war gereift und wie geschaffen zu seinem Trost. Sie trug das lange dunkelblonde Haar an den Seiten mit Kämmchen nach hinten gesteckt, und wieder las er alle ihre Gefühle in ihrem Gesicht: sie war selig. Er war gekommen, und wenn sie sich nur genug an ihn verschwendete, dann ging er bestimmt nie mehr von ihr fort! Sie rührte Holt. Er faßte ihre Hand. „Angelika... ist es nicht besser, du bleibst hier?“ Wie sie da erschrak, wie sie voll Bestürzung sagte: „Magst du mich nicht? Gefall ich dir nicht mehr?“, da strich er ihr wortlos übers Haar, sagte: „Also morgen früh, vier Uhr am Bahnhof. Freust du dich? Ich freu mich auch!“ Angelika schenkte Vergessen, spann ihn in ihren Zauber ein. Sie fuhren nach Dresden, stiegen in den Bummelzug, wanderten aus der Bahnstation, unter der brennenden Junisonne zum Wald, wanderten durch die Wälder und den schmalen Weg am Bach entlang. Holt schloß das Blockhaus auf. „Und dein Freund?“ fragte Angelika. „Kommt später“, sagte Holt. Das Vergessen war nur flach wie ein Schlaf am Tage gewesen. Schon kamen die Gedanken wieder. Warte, die Nacht löscht sie aus. Sie aßen im Freien. Holt hatte noch spätabends die Arenssche Kilodose Kaffee, die eigentlich Zernick zugedacht war, am Bahnhof auf dem Schwarzen Markt losgeschlagen und für die volle Summe einen Rucksack voll Lebensmittel 442
eingekauft: Brot, Butter, Wurst, Eier, Kartoffeln. Angelika machte sich nützlich, briet Jagdwurstscheiben auf dem Herd, wusch nach dem Essen die Teller ab. Holt saß grübelnd vor der Hütte. Angelika setzte sich neben ihn auf die Bank. „Warum bist du so still?“ fragte sie. „Du hast mich noch kein einziges Mal geküßt, was hat das zu bedeuten? Wenn dein Freund erst kommt, dann ist es zu spät.“ „Warte nur“, sagte er. „Laß es Nacht werden!“ Er hörte in Gedanken wieder ihr Nein, aber wenn es Nacht war, hörte es keiner mehr, und es verstummte. Vielleicht verstummte dann alles. Auch die Stimme in der eigenen Brust, wie sie unaufhörlich Verständliches und Unverständliches raunt, Ungehörtes und Unerwünschtes... Angelika stand auf, lief aus dem Schatten der Hütte in die Sonne, bewegte sich mit schlanker, etwas eckiger Anmut. Sie legte sich auf die Wiese. Holt schloß die Augen. Er ertrug ihren Anblick nicht. Schon stand die Sonne wieder über den Felsen am Rande der Klamm. Daß sie doch untergehe, daß es Nacht werde! Dann kam das Vergessen, dann fiel alles ab, was ihn bedrückte, was ihn plagte. Angelikas Anblick rief nur eins in ihm wach: die Gedanken an Gundel. Was wollte Gundel in seiner Erinnerung, was hatte sie in seinen Gedanken zu suchen? Warum ging sie nicht ihres Weges, wie im Leben, ohne Rücksicht auf ihn?, und sie ging wie ein roter Strich quer durch sein Dasein, durchkreuzte alles Vergangene, Heutige, Zukünftige. Was wollte sie in dieser Stunde bei ihm, warum ging sie nicht zu dem anderen? Schneidereit. Der Name schlug mitten in Holts Bewußtsein. Ringsum war Dämmerung, Stille, nur der Bach toste. Der Tag endete, ein ganzer Lebensabschnitt endete, die Dunkelheit kam und fiel wie der Vorhang über einem Akt des Lebens. Holt überschaute sein Dasein, überschaute sich selbst, durchschaute sich: und er fand in sich jenes wohlbekannte, übermächtige Gefühl wieder, das bisher in ihm vergraben gewesen war, diese Regung, dies Teil seines Wesens, das ihn ganz beherrschen wollte. Jetzt war das Gefühl nicht mehr anonym, jetzt hatte es einen Namen, ein Ziel.
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Holt stand auf, lehnte sich an den Türpfosten der Hütte. Er hatte sich lange über die Wahrheit hinweggetäuscht, aber jetzt war Schluß mit dem Selbstbetrug! Jetzt holte er das Gefühl aus der Tiefe hoch, nahm sich’s vor, pflückte es auseinander, drehte und wendete es, setzte es wieder zusammen. Und siehe, sein Name war Haß. Endlich war es eingestanden: er haßte Schneidereit! Wie er hier in der Hüttentür stand, wie er sich selber sah und durchschaute: Widerspruch, nichts als Widerspruch, unbewältigtes Gestern und goldner Traum vom Morgen, Hamburger Dreck und Streben nach dem Ideal, Temperament, Leidenschaft, Trägheit, überkommene Kleinlichkeit und Größe des Willens zum Anderswerden - das braute sich alles zu dem einen Haßgefühl zusammen, einem unverfälschten Haß, für den ihm Schneidereit, der unwiderstehliche Schneidereit, der rechte Gegenstand war. Schneidereit hatte ihm nicht nur das Mädchen gestohlen, Gundel, Ziel des Daseins, Sinn des Lebens. Schneidereit hatte ihm auch noch das einzige, Letzte genommen, das Holt verblieben war: die Chance, im Reich des Geistes zu herrschen und Macht zu haben über die Welt, über diese vom Geist, vom Gedanken, von Wissenschaft, Technik, Kultur regierte Welt, in der er nun zum Außenseiter verurteilt war. Schneidereit sollte ja haben, was er wollte: Schneidereit sollte seine antifaschistischdemokratische Ordnung aufbauen, und wenn ihn danach verlangte, auch seinen Sozialismus; Holt war es recht. Schneidereit sollte eines Tages nichts als Gänsebraten essen und englische Stoffe tragen und sich einen Palast bauen; Holt war es recht, er gönnte es ihm. Schneidereit sollte regieren, hier und in ganz Deutschland, und Holt war es recht, wenn er dem Klüngel in Hamburg und Bremen die Fabriken und Werften und Banken nähme, und er war bereit, ihm Steuern zu zahlen und Schneidereits Obrigkeit ein treuer Bürger zu sein. Alles sollte Schneidereit haben; Holt gönnte ihm ehrlich und von Herzen die ganze materielle Welt. Aber Schneidereit sollte seine Hände, diese schwieligen, feinnervigen Maurerhände von der Universität lassen, von der Welt des Geistes, wie sie Holt erträumte, von Wissenschaft und Kunst. Wenn ihm danach der 444
Sinn stand, sollte er gefälligst zu Holt kommen und sollte „Bitte“ sagen, so wie Holt bereit war, zu ihm zu gehen und „Bitte“ zu sagen um einen Bürgerbrief und ein auskömmliches Gehalt. Wenn Schneidereit Kunst und Wissenschaft begehrte, so sollte er sich gefälligst bei Holt melden. Holt war nicht geizig, er überließ Schneidereit aus dem Überfluß gern drei Akte Friedrich Wolf, einen Band Heine und fünfhundert Seiten Populärwissenschaft. Aber Schneidereit, in seiner Anmaßung, hatte nicht genug an den Großbetrieben und am Großgrundbesitz, an der Verwaltung des Landes und an der Macht. Nein, er mußte auch noch die Hände ausstrecken nach dem, was Holt gehörte, nach Kunst und Wissenschaft, Theater und Musik, nach den Gemälden und dem Glanz der Bücherweisheit. Schneidereit ging hin und setzte sich ins Theater und ging hin in die Bibliotheken und ging nun zukünftig auch hin in die Hörsäle und Institute, und ging hin und nahm sich alles, alles, nahm sich auch Gundel. Dafür haßte ihn Holt. Er schloß die Augen. Warte nur! dachte er. Schneidereit sollte sich nicht zu sicher fühlen! Die Stunde kam, und Holt trumpfte auf, und Schneidereit fiel in das Dunkel zurück, aus dem er gekommen war. Holt schlug die Augen auf. Nun, da der Haß eingestanden war, spürte er, daß er leer war, ausgeleert. Abitur und gesichertes Studium - nichts, gar nichts war erreicht. Die Suche ging weiter. Warum war er mit Angelika hierher gefahren? Vielleicht, um die Leere auszufüllen, um Liebe zu suchen und Liebe zu finden, um in der Gemeinsamkeit, die sie ihm bieten konnte, eine Spur von dem warmen, echten Leben zu finden, das er suchte, seit eh und je vergebens gesucht hatte, überall und immer, im Krieg und danach im helleren Licht der Lampen, in Hamburg und in der Einöde und vergebens auch ein Jahr lang in der engen Zelle über den Büchern, vergebens im Traum von Gundel. Angelika wollte ins Haus, sie fröstelte, der Abend war kühl. Sie wollte an ihm vorbei, er hielt sie am Handgelenk fest. „Ich hab dich belogen“, sagte er, „mein Freund Sepp kommt nicht.“ 445
Sie erschrak nicht. Sie hatte sich's wohl gedacht. Und er merkte, daß sie sich angefreundet hatte mit dem, was nun kam. Er legte den Arm um sie, er spürte, als er sie küßte, wie sie weich und willenlos wurde, und er trug sie ins Haus. Diese Nacht kroch er nicht wie sonst, noch von ihren Küssen durchglüht und enttäuscht, in ein leeres und kaltes Bett. Diese Nacht mußte das Feuer zu Ende brennen. Der Abendwind, der durch das geöffnete Fenster strich, warf die Tür ins Schloß. Angelika stammelte unter Tränen ein sinnloses „Ja, ja, ja,...“, als wollte sie jedes frühere Nein dreimal widerrufen. 10
Erst
am Mittwoch, am späten Nachmittag, kehrte Holt mit Angelika in die Stadt zurück. Auf einmal ertrug er ihren Blick nicht mehr, ihren Anblick. Er hörte wieder ihre Stimme, wie sie gefragt hatte, zuversichtlich in der ersten Nacht, angstvoll in der zweiten, trostlos in der dritten: „Ist wirklich alles vorbei, wenn du gehst?“ Er hatte nicht ja und nicht nein gesagt. Er hatte geschwiegen. „Sehn wir uns denn noch einmal wieder?“ fragte sie. „Sonnabend. Am Grünplatz, um zwei.“ „Nicht eher?“ „Nein, nicht eher“, sagte er. Dann irrte er durch die Straßen. Die Flucht war nicht geglückt, und er wußte seit langem, daß sie nicht glücken konnte. Hinter ihm lagen die Tage mit Angelika, die unwirklichen Nächte, ein Traum, den sie dreimal mit ihrer Frage zerrissen hatte und aus dem er nun wieder erwacht war. Vor ihm lag das Leben mit seinen Möglichkeiten. Aber er spürte nicht Freude, nicht Erwartung, mit zwanzig Jahren kaum noch Lust am Dasein. Er stand lange an einer Straßenkreuzung und sah den Vorübergehenden in die Gesichter. Das Antlitz der Menschen spiegelte die kaum zu ertragende Hungerzeit, Zeit des wertlosen Geldes, Zeit des schweren Anfangs. Wovon lebten 446
die Menschen? Sie lebten von Erwartung, von Hoffnung. Nur Holt war ohne Hoffnung, ohne Erwartung. Warum durfte der Traum nicht fortdauern, der tröstende Traum von Angelika? Die Zeit, in die Holt hineingeworfen war ohne sein Zutun, diese verfluchte Zeit, sie hatte ihn verbraucht, hatte ihn ausgehöhlt, ausgezehrt. Den Rest, den er aus dem Kriege wiedergebracht hatte, den hatte er unbemerkt in kleiner Münze ausgegeben. Jetzt war er bankrott. Er hatte überhaupt nur in der Erwartung auf Gundel richtig gelebt. Und Angelika? War sie vielleicht nichts als ein letzter, verzweifelter Versuch gewesen, die Leere auszufüllen, die Stille zu übertönen? Dann hatte er noch einen Menschen mit hineingezerrt in seinen Ruin, Angelika. Sie hätte die Richtige sein können, die er suchte, so wie sie war: opferwillig, zum Sterben verliebt. In ihrer Hingabe war eine Größe gewesen, vor der er erschrocken war, er hatte das nicht geahnt, er hatte sich klein gefühlt. Jetzt war er schuldig. Es war ein Traum, ein wunderbarer Traum, ihr Gefährte, ihr Freund zu sein, Beschützer ihrer Unfertigkeit. Aber um den Traum von Angelika weiterzuträumen, hätte er niemals den Traum von Gundel träumen dürfen. Er konnte nur noch eins für Angelika tun: die Wahrheit sagen, ihr den Betrug offenbaren, den er an ihr verübt hatte. Als er das dachte, spürte er, wie schwer es ihm fiel, ihr diesen bitteren Abschied zu geben, spürte auch, daß ihre Liebe ihm nicht Betäubung gewesen war, sondern Hilfe und Halt. Wie gut, daß er zu ihr geflohen war! Und doch: er wünschte, es wäre alles anders gekommen. Er bereute, daß er sie mit hineingezerrt hatte in seine Widersprüche; aber die Reue kam stets zu spät. Als er im Gartenhaus die Treppe zu seinem Zimmer hochstieg, stand Gundel oben, unbeweglich. Holt blieb auf den Stufen stehen und grüßte. Sie erwiderte seinen Gruß nicht. Sie sagte halblaut: „Am Montag hat Arens mehrmals angerufen, um dir zu sagen, daß Angelika von ihrer Großmutter überall gesucht wird. Angelika ist seit Sonntag nicht nach Hause
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gekommen. Es ist Lüge, daß sie mit dem Schulchor weggefahren ist.“ Der Schwindel war also geplatzt. Aber vor Gundel hätte Holt die Wahrheit sowieso nicht verborgen. „Angelika war bei mir“, sagte er. „Wir waren im Blockhaus in den Bergen.“ Sie schaute ihn an, blaß, mit brennenden Augen. Sie fragte leise: „Du wirst nun immer fest zu ihr halten?“ Holt schwieg. Er wagte nicht, Gundel anzusehen. Er sagte: „Das hat keinen Zweck.“ „Du bist ein Schuft!“ sagte Gundel. „Hoffentlich weißt du, daß du ein Schuft bist!“ Er blickte auf. So kannte er Gundel nicht, so hatte er sie noch nie gesehen: überflammt von Empörung. Er faßte nach dem Geländer. Gundel, dachte er, Gundel war eine Chance gewesen, aus dem Dreck herauszufinden, er hatte die Chance nicht genutzt. Die Zeit des Wartens in Freundschaft war eine Probe gewesen, er hatte sie nicht bestanden. Nun hatte er auch noch Gundels Achtung eingebüßt. Gewogen und zu leicht befunden, viel zu leicht, und an Angelika schuldig. Der Weg zu Gundel war zu weit gewesen. Es war immer zuviel im Weg gewesen. Er selber war sich im Weg gewesen. Und dieser Schneidereit. Er raffte sich auf, stieg die letzten Stufen hoch. Er sagte: „Geh nicht mit mir ins Gericht. Es hätte anders kommen können, wenn du nur gewollt hättest.“ „Schiebst du mir die Schuld zu?“ fragte sie. Dann schüttelte sie langsam den Kopf, und Holt blieb allein. Später hörte er, wie sie das Haus verließ. Er war ganz ruhig, er mußte jetzt einen Weg finden, denn das Leben ging weiter. Wenigstens dieses hatte er gelernt: daß das Leben immer weiterging, gleichgültig, ob einer froh oder verzweifelt, anständig oder ein Schuft war. Er war ein Schuft, nun auch nach Gundels Maß, und er sah es ein. Denn er wollte ein Mädchen verlassen und so eines Menschen Glück zerstören, ein Glück, dessen Fortbestand doch niemand anders als nur Gundel im Weg gewesen war. Aber Gundel stand nun niemandes Glück mehr im Weg. Gundel
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war verspielt und verloren. Ob er nicht wenigstens ihre Achtung wiedergewinnen konnte? Zwei Tage, durchgrübelt, abgetrotzt der Verzweiflung, zwei Tage des Widerstands gegen Gleichgültigkeit und Resignation, zwei ratlose Tage des Suchens. Kämpf dich durch! Und was ist denn schon groß geschehen? Hast dich verrannt. Nimm es ernst, gib dich nicht auf, hast es eingebrockt, mußt es ganz ausessen. Zwei zergrübelte Tage. Dann in der Schule die Verabschiedungsfeier der Abiturienten, Zeugnisverteilung. Jetzt reiß dich zusammen! Was dich bewegt, das geht keinen was an. Holt sah sich nach Angelika um, fand sie nicht in der überfüllten Aula, suchte und suchte und hätte so gern ihren Blick erhascht. Er hatte sich vorgenommen, ihr zuzunicken, so tröstend und zuversichtlich, wie ihm keiner jemals zugenickt hatte. Da nahm ihn Arens beiseite. „Damit Sie Bescheid wissen: Mit Angelika hat es einen ganz hübschen Stunk gegeben. Die Alte ist ja wie der Teufel! Erst hat sie es geglaubt, daß Angelika mit dem Schulchor wegfährt, aber dann ist ihr alles klargeworden, und zufällig kam der Vormund dazu, und ich glaube, nun hat sich auch die Schule eingemischt.“ „Sie können mir die Angelegenheit getrost überlassen“, sagte Holt, ganz überlegen, Herr der Situation. Arens verneigte sich andeutungsweise. „Meine Diskretion brauche ich nicht besonders zu betonen! übrigens habe ich Post von meinem alten Bekannten Heckel, Mediziner im sechsten Semester, Studentenrat, sehr einflußreich. Wissen Sie, er könnte so eine Art Leibbursch werden! Jedenfalls wird er sich unserer annehmen, wenn wir erst dort unten sind, und das finde ich hübsch, wie?“ Holt hielt sein Zeugnis in den Händen, überflog zerstreut die Zensuren. Aber mit seinen Gedanken war er bei Angelika. Es hatte Stunk gegeben? Das nahm er nicht ernst. Man sollte sich nicht so haben! Im September wurde Angelika siebzehn, da hatte in diesen wilden Jahren manches Mädchen viel früher Unschuld und Illusionen verloren. Mochte es also Stunk geben, 449
das war Holt vielleicht sogar recht. Alles war ja noch ungeklärt. Unrecht und Schuld, die Trauer um Gundel und der tröstende Traum von Haß und Zärtlichkeit, alles, alles ging ja noch durcheinander. Wer konnte nach diesen Tagen das Leben noch übersehen, wer fand sich denn noch zurecht in der eigenen Brust? Da kam doch ein bißchen Stunk wie gerufen, ein Machtwort von außen, Schicksalersatz, delphischer Spruch: du hast es eingebrockt, du mußt es auch ganz ausessen! Und vielleicht, vielleicht schlug dem Mädchen noch alles zum Guten aus. Angelika, dachte er. Sie war durch ihn in Bedrängnis geraten. Ein bißchen Stunk, ein kleiner Skandal, er wußte: das wurde in ihrer Seele zur echten, ehrlichen Not. Und er wußte, was ein Gefährte in Zeiten der Not, der Bedrängnis galt. Er verabschiedete sich von den Lehrern, die, von Abiturienten umlagert, auf dem Korridor standen. Er wartete lange, bis Gottesknecht frei war. Aber Gottesknecht übersah ihn. Gottesknecht schickte sich an, ins Lehrerzimmer zu gehen. Holt vertrat ihm den Weg. Gottesknecht blickte ihn gleichgültig an. „Was wollen Sie?“ „Bin ich Ihnen kein offenes Wort mehr wert?“ fragte Holt. „Es ist noch nicht lange her, da gaben Sie vor, auf mich stolz zu sein.“ Gottesknecht trat dicht an Holt heran. „Sehen Sie nicht, was Sie angerichtet haben? Ich wußte, daß Sie moralisch angekränkelt sind. Hätte ich gewußt, wie moralisch verkommen Sie sind, ich hätte Sie beizeiten fortgejagt!“ Der Schlag ging ins Leere. Das beste war, Gottesknecht einfach stehenzulassen. Aber nein. Gottesknecht spielte sich auf, er wollte Theater, er sollte es haben, Holt hatte ein schönes Stück Wahrheit für ihn bereit. Er entgegnete: „Ich will nichts bagatellisieren. Ich verteidige mich auch nicht. Aber für einen Lehrer, der noch dazu mit einer Fürsorgerin verheiratet ist, sind Sie reichlich weltfremd. Sie haben ja keine Ahnung, wieviel Schüler dieser Anstalt miteinander schlafen! Oder tun Sie nur so, als hätten Sie keine Ahnung? Wissen Sie nicht, wie viele Schülerinnen aus den elften, zehnten, ja sogar neunten Klassen Liebesverhältnisse unterhalten, sogar mit verheirateten 450
Männern?, und wenn sie nur ab und zu ein Pfund Speck mit nach Hause bringen, dann drückt manche Mutter heute die Augen zu!“ „Ihr Zynismus rundet das Bild!“ sagte Gottesknecht. „Rundet das Bild“, sagte Holt. „Was wollen Sie eigentlich? Was ist denn passiert?“ „Die Schülerin Baumert aus der 10 a hat drei Tage unentschuldigt gefehlt. Das Kollegium hat in Erfahrung gebracht, daß sie sich herumgetrieben hat.“ Holt lachte, ein bitteres Lachen. „Herumgetrieben“, sagte er kopfschüttelnd. „Und wenn wir die Schülerin Baumert von der Schule verweisen sollten“, fuhr Gottesknecht fort, „dann tragen Sie die Schuld daran!“ „Von der Schule verweisen?“ fragte Holt, als habe er sich verhört. „Und Sie würden Ihre Zustimmung geben?“ Nun höhnte er Gottesknecht ins Gesicht: „Bin ich denn hier unter Katholiken geraten? Ich habe Sie für einen großen Menschen gehalten. Wie verständnisinnig haben Sie doch beide Augen zugedrückt, als ich's damals mit Frau Ziesche trieb, wie haben Sie da jovial gezwinkert, wo war denn da Ihre Moral? Damals fing doch meine Verkommenheit an! Und was haben Sie herzergreifend das Gretchen interpretieren können, daß sie unschuldig und rein bleibe, selbst in der Blutschuld einer Kindsmörderin, oder die Agnes Bernauer oder die Angelika in ,Frühlingserwachen', und sogar die Bovary haben Sie tapfer verteidigt, und welch zornflammende Worte fanden Sie für Meister Anton oder für die Enge der Kleinstadt, in der ein Valentin als Soldat und brav seine Schwester verflucht... Worte, leere Worte! Literatenphrasen über Literatur! Denn wenn sich ein Kind wie Angelika in meine Widersprüche hineinzerren läßt, Verzeihung, in meine moralische Verkommenheit, und wenn so ein blutjunges Ding dann die Welt und Herrn Gottesknecht und die Schule vergißt, wo bleibt denn dann Ihre Menschlichkeit? Ihr Verständnis endet dort, wo es anfangen müßte!“ Gottesknecht setzte zur Gegenrede an. „Moment!“ sagte Holt. „Oder bluffen Sie nur? Tagt das Kollegium gar nicht und bricht nicht den Stab, wirft man Angelika gar nicht hinaus? Egal. So oder so! Gestern 451
habe ich nicht aus noch ein gewußt. Da dachte ich noch an Sie. Der Zufall hat mich davor bewahrt, mich Ihrer Art Humanismus anzuvertrauen.“ Wieder wollte Gottesknecht antworten, aber Holt sprach weiter. „Schade“, sagte er. „Es ist schade. Manchmal war mir, als könnten wir zwei ein Beispiel geben, nicht jeder für sich, nein, wir beide: Lehrer und Schüler. Sie haben mir so gescheite Worte gesagt: daß es keinen Irrtum gibt, den man nicht durch Ehrlichkeit wiedergutmachen kann, noch anderes. Es war verheißungsvoll. Schade. Wie man sich doch täuschen kann!“ Er sagte: „Auf Wiedersehen.“ „Holt!“ rief es hinter ihm. „Jetzt hören Sie sich gefälligst auch an, was ich zu sagen habe!“ Aber Holt beschleunigte nur seinen Schritt. Holt sah jetzt, daß er es weit gebracht hatte, wenn man ihm dies ins Gesicht sagen konnte, und sei es zu Unrecht: Du bist ein Schuft, und moralisch verkommen... Nicht irgendwer dachte so, nein, Gundel und Gottesknecht! Der Ausbruch vor Gottesknecht hatte ihm gutgetan. Ja, es tat gut, sich zur Wehr zu setzen! Vielleicht war er Gottesknecht nicht gerecht geworden. Aber wer wurde denn ihm gerecht? Doch sie sollten sich alle in ihm getäuscht haben! Er hatte es schon einmal geschafft; er blieb auch jetzt nicht im Dreck. Er dachte nicht daran, seinem eigenen Pessimismus recht zu geben, und dem Pessimismus der anderen schon lange nicht! Er durfte jetzt vor allem keine früheren Fehler wiederholen. Das Leben ging weiter, auch wenn es der einzelne zeitweilig nicht überschaute: das war die erste Erfahrung, und er hatte sie schon einkalkuliert. Zweitens mußte er sich diesmal rechtzeitig darauf besinnen, daß er in Wahrheit gar nicht allein war; er hatte sich einsam, verlassen gefühlt, aber er hatte zumindest Vater als Freund, und Vater war nicht der Mensch, der mit Moralphrasen kam, wo es um Tatkraft und guten Willen ging. Holt wußte nun, als er beim Werk anlangte, daß ihm einiges zu tun übriggeblieben war, um aus der Sackgasse herauszufinden. Er fragte den Pförtner nach seinem Vater. Aber Professor Holt war weggefahren und wurde erst in einer Stunde 452
zurückerwartet. Holt stand im Torweg; er war wochenlang nicht hiergewesen. Er schaute über das Werkgelände; bei der großen Halle, die nun ihrer Vollendung entgegensah, standen Menschen, und jemand, in blauer Montur, mit Kopftuch, ging nun am Gleis entlang zu den Baracken: Judith Arnold. Holt hatte sich ihr nicht unter die Augen getraut. Warum nicht? Er stand sinnend. Er hatte erst vom Podest herunter gemußt, vom Sockel des Egoismus. Aber nun spürte er den Mut, mit leeren Händen vor sie hinzutreten. Er ging ins Werk. Er klopfte. Es war Müllers Zimmer, aber heute hatte er außer Worten das Dokument seines Abiturs zu bieten, und wer noch mehr von ihm wollte, der mußte ihm wenigstens auf den Weg helfen. Eine Stimme sagte: „Bitte!“, Judiths Stimme. Frau Arnold saß hinter dem Schreibtisch, sie schaute ihn an, überrascht, dann hatte sie ein zaghaftes Lächeln um den Mund. Das Lächeln war verlegen, freundlich und gar nicht abweisend. „Eigentlich wollte ich erst später wieder zu Ihnen kommen“, sagte er. „Wahrscheinlich wollte ich nach dem Bruch damals erst meine Fassade neu verputzen. Aber bitte, sagen Sie selbst: wie soll ich zu Ihnen mit einer Klarheit kommen, die ich ohne Sie gar nicht finden kann?“ Sie sah ihm, den Kopf zur Seite geneigt, in die Augen. Sie nickte. „Seit wir uns nicht mehr gesprochen haben“, fuhr Holt fort, „ist mein Leben nur unklarer, verworrener geworden. Niemand hat mir mehr gegeben als Sie. Helfen Sie mir!“ Sie hob jetzt mit einer eigenwilligen Bewegung den Arm und nahm das Kopftuch ab, und das Haar fiel ihr auf die Schultern. Sie sah wieder jung und mädchenhaft aus. „Ich hätte Ihnen bald geschrieben“, sagte sie. „Ich denke heute anders über... das alles. Doch wir wollen darüber in Ruhe reden. Es sind bald sechs Monate, die wir uns nicht gesprochen haben.“ Sie blätterte in ihrem Terminkalender. „Wollen Sie mich anrufen? Wir vereinbaren dann, wann wir uns treffen können.“ Sie schaute auf die Uhr. „Ich muß jetzt weg. Und Sie rufen mich an.“ Sie gab ihm die Hand.
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Er blickte im Hinausgehen noch einmal zurück; sie band schon wieder das Kopftuch um. Vor dem Werk parkte Professor Holts Wagen. Holt fuhr mit seinem Vater nach Hause. Sie aßen zusammen Mittag. „Du bist schon seit Mittwoch zurück?“ sagte Professor Holt. „Ich habe heut nachmittag Doktorandenbesprechung, aber ich könnte sie absagen.“ „Dann würde ich gern mit dir reden“, sagte Holt. Sie gingen in die Bibliothek. Professor Holt bot seinem Sohn eine Zigarette an, telefonierte mit der Universität, setzte sich an den Klubtisch. „Doktor Zernick ist ein Menschenkenner“, sagte Holt. „Er hat schon vor einem Jahr zu mir gesagt: Bei Ihnen kriselt's... Aber ich hab es nicht sehen wollen. Jetzt muß ich weit ausholen, damit du verstehst, wie ich mich verrannt habe.“ Und Holt erzählte. Er begann bei Karola Bernhard, sprach von dem Streit mit Zernick, von der Freundschaft zu Frau Arnold und vom Ende dieser Freundschaft, und er schonte sich nicht. Er berichtete vom Streit mit Schneidereit, vom Zerwürfnis mit Gundel. Professor Holt hörte zu, verständnisvoll, auch verwundert. Doch als Holt die Wahrheit über sich und Angelika sagte, schlug der Professor mit der Hand auf den Tisch und sagte: „Das ist stark! Du solltest dich schämen!“ Holt hatte nur eine ratlose Handbewegung, er saß sehr kleinlaut vor seinem Vater. Professor Holt ging zum Wandschrank, brachte eine Flasche und zwei Gläser. Holt trank und sah dann auf seinen Vater, der sich mit seiner Pfeife beschäftigte und erst, als sie brannte, zu reden begann. „Ich glaube nicht an diesen Bruch zwischen Gundel und dir. Sie ist uns allen viel zu eng verbunden. Aber sie nimmt das Leben ernst. Sie ist einer von den besonnenen Menschen, die in Ruhe reifen wollen, und sie weiß, daß ihre Möglichkeiten nicht annähernd erschöpft sind. Und mit Schneidereit solltest du dich aussprechen. Aber nun zu dem Mädchen. Angelika heißt sie?“ „Du müßtest sie sehen“, sagte Holt. „Ihre Art kann man nicht beschreiben.“ Er versuchte, sachlich zu sein. Aber als er von ihr erzählte, sah er sie vor sich, rührend jung, und die freundlichen Augen ganz ungetrübt. Er beschrieb ihr Äußeres, sagte: „Sie 454
war vielleicht bisher ohne rechten Halt, und nun hält sie sich mit aller Kraft an mir fest. Man muß bedenken, daß sie keine Eltern hat. Ihre Großmutter muß schwer arbeiten, als Reinemachfrau, hier und dort. Und der Vormund kümmert sich kaum um sie.“ Professor Holt sagte: „Wie du von ihr sprichst, das veranlaßt mich zu der Frage: Was willst du eigentlich von mir? Willst du mich lediglich informieren, oder suchst du einen bestimmten Rat?“ Holt dachte lange nach. „Sieh mal, es gibt Begriffe von Recht und Unrecht“, sagte er dann. „Ich meine nicht die ausgelatschten Moralbegriffe. Ich meine eine bestimmte menschliche Qualifikation, nach der es zu streben gilt.“ „Ich verstehe dich genau“, sagte der Professor. „Aber wenn du nicht weißt, daß du Verantwortung für das, Mädchen trägst, dann müßte man mit Recht an deiner menschlichen Qualifikation zweifeln.“ „Das ist genau das, was ich hören wollte“, sagte Holt. „Ich weiß jetzt: ich habe den Begriff Verantwortung händeringend gesucht. In diesem Zusammenhang hat noch niemals jemand zu mir von Verantwortung gesprochen. Wenn es ums Geschlechtliche ging, war bisher von Witzen die Rede, von Anekdötchen, von einer Art Sport, auch von Schicksal, von einem angeblichen Wunder oder von Lustgewinn, aber nie von Verantwortung.“ Holt versank wieder in Nachdenken. Dann fragte er: „Was man Liebe nennt, Vater... Wenn man es ernst meint, ob man es lernen kann?“ „Mit dieser Frage bin ich überfordert“, antwortete Professor Holt. „Zweifellos vermag ein Mensch am anderen jene Stetigkeit der Gefühle zu lernen, die er braucht, wenn er im Leben eine ernsthafte produktive Leistung vollbringen will.“ Holt schaute dankbar auf seinen Vater. „Ich würde dir Angelika gerne zeigen“, sagte er, und er stand auf. Professor Holt nickte. „Im Herbst geht ihr alle von mir fort“, sagte er. „Du, Gundel, auch Doktor Zernick... Da wird es recht still um mich werden.“ Holt verlangte es, Angelika zu sehen, zu sprechen, obwohl er erst für den nächsten Tag mit ihr verabredet war. Er ging immer 455
langsamer, je näher er dem Haus kam, denn er prüfte sich immer wieder, fragte sich, ob er bereit sei, künftig das Glück in den Hörsälen zu suchen, im Reich des Geistes, dessen Tor geöffnet vor ihm lag, in der Arbeit. Vater hatte das Glück in der Arbeit gefunden, Judith im Kampf um die Emanzipation ihrer Klasse. Holt überprüfte sich, und er war bereit, es ihnen gleichzutun. Eins hatte ihm bisher gefehlt: einmal sterbensunglücklich gewesen zu sein. Er hatte es unterdessen erfahren: im Schmerz um Gundels Verlust. An die Stelle der Träume kam nun Verantwortung. Diesmal begegnete er niemandem im Haus. Er klopfte. Eine alte, knorrige Frau öffnete ihm, Angelikas Großmutter. Sie war klein, hager und eckig von Statur, hatte dünnes weißes Haar und trug eine graue Kittelschürze. Mit der Linken stützte sie sich auf einen Besen, dessen Stiel ihren Kopf wie eine Lanze überragte. Wie sie in der Tür stand, auf den Besen gestützt, wie sie mit kräftiger, tiefer Stimme fragte: „Was wollen Sie?“, ging etwas Wehrhaftes und Kriegerisches von ihr aus. Holt sagte höflich: „Ich hätte gern Angelika gesprochen.“ „Angelika?“ sagte die Großmutter einen Ton lauter, langte mit der Rechten in die Schürzentasche und hieb sich einen Kneifer auf die Nase. Dann musterte sie Holt und machte: „Aaaaa-ha! Das ist er! Dunkle Augen, dunkles Haar, freches Gesicht, hemdsärmelig, zwanzig Jahre... Er ist es!“ rief sie, mit einer Stimme, die je lauter, desto tiefer wurde. „Er traut sich unter meine Augen, der Lumpenkerl, der mir das Kind verführt hat!“ „Bitte... schreien Sie doch nicht so!“ sagte Holt. „Wer schreit denn?“ rief die alte Frau noch lauter. „Sie haben mich noch nicht schreien gehört!“ Aber nun trat sie zur Seite und wies mit dem Daumen in die Wohnung. „Treten Sie ein! Jetzt rede ich deutsch mit Ihnen!“ Sie warf die Tür hinter ihm zu, führte ihn durch die Wohnküche in die angrenzende Kammer, schloß auch diese Tür und fuhr auf Holt los: „Was wollen Sie hier? Sind Sie noch nicht über alle Berge? Hab ich das Kind auf die teure Schule geschickt, damit sie so ein Lumpenkerl verführt? Schlag ich mich mit dem Vormund herum, er soll sie nicht von der Schule nehmen, damit sie womöglich Ihretwegen rausgeschmissen wird? Aaaaa-ha!“ machte sie wieder und hob 456
drohend den Besen gegen Holt. „Das Kind weint sich die Augen aus nach dem Kerl! Der Vormund, dieser Affe, setzt ihr mit ,Schande' und ,entehrt' zu... Und der Lumpenkerl wagt sich einfach herzukommen und schämt sich nicht!“ Sie ging wieder auf Holt los, daß er zurückwich. „Was haben Sie aus dem armen Kind gemacht! Was haben Sie ihr vorgeschwindelt, daß sie wie Wachs geworden ist, und wie haben Sie das gemacht, daß sie drei Tage mit Ihnen auf und davon geht? Nicht einmal ein Nachthemd hat sie mitgenommen! Sehen Sie mich an! Einundvierzig Jahre war ich verheiratet, und mein Mann hat mich nicht ein einziges Mal ohne Nachthemd zu sehen bekommen! Und wie können Sie ihr so ein trauriges Buch schenken, sie hat es mir vorgelesen, was soll das, warum geben Sie ihr keine Bücher, wo sie lachen kann? Ist das Ihre Methode, das Kind gefügig zu machen? Verschwinden Sie!, das Kind ist zu schade für Sie!“ Aber nun war ihre Wut erschöpft, sie redete nicht mehr gar so laut. „Was wollen Sie von Angelika?“ Holt war ratlos; er fürchtete einen neuen Ausbruch. Er sagte vorsichtig: „Wenn Sie erlauben, wollte ich sie meinem Vater zeigen.“ „Seit wann fragen Sie mich um Erlaubnis?“ rief die alte Frau. „Wer ist überhaupt Ihr Vater?“ „Er ist Professor, hier an der Universität.“ „Auch so ein Hungerleider!“ sagte die Großmutter. „Hat nichts, und kann nicht mal ein Paar Schuhe besohlen, aber bildet sich ein, er wäre was Besseres als der Prolet, wie? Reden Sie nicht! Ich habe sechzehn Jahre lang bei einem Professor saubergemacht, ich weiß Bescheid!“ Doch nun schaute sie besänftigt auf Holt. „Wenigstens scheinen Sie nicht so ein Fatzke wie der Egon zu sein! Der kriegt noch mal den Scheuereimer über den Kopf!“ Die alte Frau lachte tief und grollend. „Und warum wollen Sie das Kind Ihrem Vater zeigen?“ fragte sie dann. „Er will sie halt auch mal sehen“, antwortete Holt. „Ich hab ihm von ihr erzählt.“ „Aa-ha! Da wollen Sie wohl der feste Freund von Angelika sein?“ Plötzlich schrie sie Holt wieder an, nahe an ihn 457
herantretend, und sie roch nach Kernseife und Bohnerwachs: „Aber das sage ich Ihnen, glauben Sie ja nicht, weil Sie mal ein Studierter sein werden, Sie haben hier schon gewonnenes Spiel! Studieren kann das Kind ganz allein, Mensch, die ist heut eher mit Studieren dran als Sie! Und wenn Sie mir imponieren wollen, dann müssen Sie erst mal was Ordentliches lernen!“ Draußen klopfte es. Das Gesicht der alten Frau war auf einmal ganz sanft. „Das ist Angelika!“ flüsterte sie. „Also meinetwegen, zeigen Sie das Kind Ihrem Vater, daß sie endlich aufhört zu weinen! Ich lasse Sie erst mal allein.“ Sie nahm ihren Besen und verschwand aus dem Zimmer. Holt hörte draußen Angelikas Stimme, dazu die freundlichen Worte: „Geh in die Kammer, hast Besuch.“ Angelika stand in der Tür, müde, blaß und ganz ernst. Es fiel ihr sichtlich schwer, zu begreifen, wer da auf sie wartete. Aber jetzt wurden ihre Augen groß und hell, sie flog zu Holt hin und warf sich an seine Brust. „Daß du da bist!“ sagte sie atmend, aber ihre Stimme war ohne Klang. Dann schaute sie ihn an, Angst im Blick, nichts als Angst. „Warum kommst du schon heute? Was bedeutet das?“ Er legte die Arme um sie. „Hab keine Angst. Du sollst überhaupt keine Angst mehr haben. Aber erzähl mir erst, was eigentlich in der Schule vorgeht.“ Sie lehnte die Stirn an seine Brust. „Heute war Konferenz, und ich war hinbestellt, ich komm eben von dort. Sie waren böse, aber dann haben sie alle für mich gesprochen, Lorentz und Petersen und vor allem Herr Gottesknecht. Sie haben gesagt, es darf nicht noch einmal vorkommen, daß ich die Schule schwänze.“ „Und dein Vormund?“ fragte Holt. „Der...“, sagte sie gedehnt, „der liegt mir in den Ohren, ich bin entehrt, und es ist eine Schande.“ Sie warf den Kopf zurück und sagte trotzig: „Der spinnt ja!, so altmodisch, wie der ist!“ Holt sagte: „Aber du mußt mir treu sein! Käme bald ein zweiter, dritter und so fort, mit siebzehn Jahren, dann wäre es wirklich eine Schande!“
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Sie sah ihn fassungslos und ohne jedes Verstehen an. „Was sagst du da... Ich soll dir treu sein...“ „Du verstehst schon, wie ich's meine!“ Sie kämpfte mit einer tiefen Verwirrung; dann fragte sie: „Ja... ist es denn wahr, ach du lieber Gott, ist es denn nicht vorbei mit uns, wenn du studieren gehst?“ Da schloß er sie fest in die Arme, erschüttert, voll Scham. „Wie könnte es denn vorbei sein!“ sagte er. „Verzeih mir, ich hab dich so sehr gequält!“ Und dann sagte er ihr ins Ohr: „Nichts ist vorbei, alles beginnt erst, und ich freu mich wieder aufs Leben, weil ich dich habe, einen Menschen, der mich liebt, der mich braucht und für den ich mir Mühe geben und mich bewähren muß... Hör auf zu weinen“, sagte er, „sei doch glücklich, sei endlich wieder froh! Ich schwör dir: ich hab ja nichts anderes gewollt und gesucht als Liebe, und ich will dir dafür dankbar sein.“ Sie weinte nicht mehr, ihr Kopf lag an seiner Brust. Da überließ sich Holt noch einmal dem alten Kindertraum von Liebe, jener Liebe der Märchen und Sagen, die zwei Menschen für ewig zusammenschmilzt und von der er als Knabe gelesen und seither immer geträumt hatte. Und als ihn Angelika ansah, vermischten sich ihre Züge mit Gundels unauslöschlichem Bild. Der Sommer war heiß, und die brennenden Tage erloschen. Altweibersommer flog übers Land, und schon vergilbte das Laub an den Bäumen. Mit dem September kam der Abschied und mit dem Abschied die Freude aufs Wiedersehen. Holt rüstete zum Aufbruch. Gundel und Schneidereit waren schon Ende August abgereist. Der letzte Abend gehörte Angelika. Am anderen Morgen, ehe er zum Bahnhof fuhr, traf Holt sich noch einmal mit Judith Arnold und ging mit ihr ein Stück aus Mönkeberg hinaus. Herbstnebel füllte die Straßen. Die Chaussee stieg an, der Dunst zerteilte sich, und draußen auf der Anhöhe blendete Sonnenlicht die Augen. Holt sah sich um. Wolken zogen über den Himmel. Das Tal glich einem schimmernden See, bis zum fernen Gebirge mit Nebel gefüllt, und die Stadt mit ihren Schloten und Türmen und Häuserblocks und dem Rhythmus ihres Lebens lag 459
geheimnisvoll unter dem Nebel verborgen. Die Äcker ringsum waren frisch umbrochen, und über den Pappeln kreiste ein Schwarm Zugvögel. „Ich freue mich!“ sagte Holt. „Aber schwer wird mir der Abschied doch! Vergiß nicht, du hast mir versprochen, ein bißchen auf Angelika aufzupassen!“ „Und wer paßt auf dich auf?“ fragte sie. „Du hast es nötiger! Mir wird schwindlig, wenn ich dran denke, was du noch alles anstellen wirst!“ „Es gibt Menschen“, entgegnete Holt, „denen fällt im Leben alles zu, kampflos, mit Selbstverständlichkeit. Und es gibt andere, denen alles schwer wird, und sie müssen das Dasein minutenweise und sozusagen von innen her durchleben und sich alle Wahrheit mühsam zusammensuchen. Aber sie können nicht ohne Wahrheit leben und gingen im Irrtum zugrunde. Ich komme aus einer Welt, die mich in einen einzigen Irrtum geführt hat, und ich will aus dem Irrtum heraus in die Freiheit. Ich weiß jetzt, daß der Weg viel weiter ist, als ich mir träumen ließ. Ich habe erfahren, wie es ist, wenn alle Menschen sich abwenden, denn es gibt Irrtümer, die ins Verächtliche führen. Ich fürchte mich nur noch vor einem in der Welt; jemals wieder einsam zu sein. Ich will es durchkämpfen, das Leben und die Zeit, ich fühle mich unverbraucht. Wirst du zu mir halten, wirst du mir helfen?“ „Solange du kämpfst, solange du dich nicht fallenläßt“, erwiderte sie und sah ihm in die Augen und nickte ihm zu, „solange du guten Willens bist.“
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