Dragon – Söhne von Atlantis Nr. 12
Giganten der Unterwelt von Hans Kneifel
Die Hauptpersonen des Romans: Dragon – Der...
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Dragon – Söhne von Atlantis Nr. 12
Giganten der Unterwelt von Hans Kneifel
Die Hauptpersonen des Romans: Dragon – Der Atlanter zieht gen Myra. Partho – Dragons treuer Weggefährte und Kampfgenosse. Cnossos – Der Balamiter läßt eine blutige Spur legen. Urak – Ein Diener wird geopfert. Agrion – Anführerin des Heeres der Amazonen. Sardak – Ein Hirte kämpft um sein Leben. Seit dem großen Inferno, in dem die kontinentgroße Insel Atlantis in den Fluten des Meeres versank, sind rund zwei Jahrtausende verstrichen. Obwohl dies für die größtenteils primitiven und barbarischen Völker auf den übrigen Kontinenten der Erde eine lange Zeitspanne ist, lebt unter den Menschen die Erinnerung an Atlantis noch fort. Legenden und Mythen gehen durch die Lande, in denen vom »Goldenen Zeitalter« berichtet wird. Selbst ein echter Atlanter existiert noch auf der Erde – Dragon, genannt der »Schlafende Gott«. Ihn erweckte Amee, Prinzessin von Urgor, zu neuem Leben. Dragon, der aufgrund seiner langen Hibernation noch nicht im Vollbesitz seiner Erinnerungen ist, nimmt dennoch sofort den Kampf gegen Cnossos, den Balamiter, auf, der als Hauptverantwortlicher für den Untergang von Atlantis anzusehen ist. Und obwohl der Balamiter während seines 2000jährigen Exils Zeit genug hatte, sich an vielen Orten der Erde als mächtiger Herrscher zu etablieren, bringt Dragon seinem Gegenspieler eine Schlappe nach der anderen bei. So auch jetzt – durch die Ausschaltung der großen Armee des Königs von Myra! Dragon, der Atlanter, läßt nach seinem Sieg keine lange Zeit verstreichen. Er sammelt sein Heer und zieht sofort nach Westen, weil er Cnossos keine Chance zum Gegenschlag lassen will. Dragons Krieger und Kriegerinnen folgen einer blutigen Spur – und stoßen auf die GIGANTEN DER UNTERWELT.
1.
Gnadenlos brannte die Sonne auf den Zug der Elftausend herunter. Heute, im Mond des Vampirs, bewegte sich die gewaltige Schlange der Reiter und des Fußvolks, des Trosses und der Patrouillen, die an beiden Seiten den Kriegszug sicherten, durch die Täler, über die Furten, durch die menschenleere Wildnis des Landes. Nicht eine Wolke stand am Himmel; nirgends gab es Schatten. Es war Mittag. Die Tiere und Menschen schwitzten. Unter den Rüstungen sickerte der Schweiß ebenso hindurch wie unter den Sätteln. Die Gesichter der Reiter waren von Staub bedeckt, in das die Schweißbäche breite schwarze Streifen gruben. Die Tiere wurden störrisch, die Menschen wurden gereizt. Zwei Drittel eines Mondes etwa waren vergangen, seitdem König Zogor, der Tyrann, gestorben war. Das Heer der Elftausend war in Marsch gesetzt worden, um den Gegenschlag einzuleiten und vielleicht auch zu Ende zu bringen. Das Land hungerte nach Frieden und Ruhe. In beträchtlichem Marschtempo bewegte sich der Heerwurm auf Myra zu. Dragon, der Sieger, bot keineswegs den Anblick des strahlenden Helden, der an der Spitze seines erfolgreichen Heeres neuen Siegen und Abenteuern und dem Thron von Myra entgegenritt. Auch Dragon war staubüberkrustet und schweißüberströmt – er hing, nach vorn gekrümmt, im Sattel und spürte die stechende Hitze des Vorsommermonats auf den Schultern und im Nacken.
Er sah die feurige Kugel der Sonne und längs des vielfach gekrümmten Heereszuges hoch in der Luft die Geier, die seit Tagen den Zug begleiteten. Immer wieder brach eines der Tiere zusammen und mußte getötet werden. Immer wieder blieben Fleisch und Knochen liegen, um die sich die Geier stritten. Ihre sichelförmigen Silhouetten mahnten alle Lebenden daran, daß zwischen Leben und Tod, zwischen Sterben und Vergessen nur eine schmale Schranke war, so breit, wie die Schneide eines Schwertes. Die Hitze flirrte über den rauhen, karstigen Berghängen und dem niedrigen Gestrüpp, das auf ihnen wucherte. Sie bildete Türme aus bewegter Luft über den kleinen Wäldern, die sich um die Quellen oder Tümpel scharten und einen schroffen Gegensatz zu den braunen Felsen boten, und zu der aschebedeckten Landschaft derjenigen Teile, die durch Funkenflug oder das Feuer eines leichtsinnigen Hirten zu brennen begonnen hatten. Die Vorhut des Heeres bestand nur aus einer kleinen Gruppe, an der Dragon ritt, tief in Gedanken versunken. Was erwartete ihn in Myra? Welchen Zug in einem bösen, blutrünstigen Spiel plante Cnossos, der alte Gegner und Erzfeind? Was brachten die nächsten Tage? »Ich weiß es nicht!« murmelte Dragon mit ausgedörrter Kehle. Seine Armee war aus vier Hauptteilen zusammengestellt. Zunächst aus rund dreitausend Kriegern aus Urgor, die der beste Mann Dragons, der junge Partho, ausgebildet hatte und befehligte. Dann aus etwa eintausend Kriegern aus Zimt. Viertausend Katmahzari-Amazonen ritten in langen Linien neben den Männern: Es waren die kriegserfahrenen und schnellen Mädchen und Frauen, die unter der Leitung Agrions standen. Sie waren schnell und gnadenlos und sie schienen das Kriegshandwerk mit der Muttermilch eingesogen zu haben.
Auch ehemalige Gegner, mindestens drei Tausendschaften, waren in Oragons gewaltigem Heer. Sie alle hatten ausnahmslos der Königin von Urgor den Treueid geschworen, nachdem ihre geheimsten Gedanken und Vorstellungen von der unbekannten Kraft der jungen Freunde Dragons überprüft worden waren. Dragon schreckte aus seinen Überlegungen auf, als jemand neben ihm scharf ein Pferd zügelte. Dragon drehte den Kopf und richtete seine Augen auf Partho. Der Hauptmann hob grüßend die Hand, dann sagte er hart: »Du merkst es auch, Dragon, nicht wahr?« Dragons Stirn zog sich in Falten. Er hatte viel gemerkt, aber er wußte nicht, worauf der Freund hinaus wollte. »Was sollte ich merken, Freund Partho?« fragte er mit rauher Kehle. Partho spuckte aus und wischte sich Schweiß und Staub aus den Augen. »Das Heer wird unruhig!« sagte er leise und drängte sein Pferd, das alle Zeichen der Anstrengung trug, dicht an Dragon heran. Sein Gesicht war fast unkenntlich, aber seine blitzenden Augen waren unverwechselbar. Dragon hob die Schultern. »Warum? Wegen jener sagenhaften Stadt?« fragte er zurück. Er dachte an die Mumie des toten Königs, die sie mit sich schleppten wie ein unheimliches Siegeszeichen oder ein abschreckendes Banner. »Ja. Wegen der Ruinenstadt. Wegen der Stadt der Verlorenen Seelen. Niemand kennt sie genau, aber jeder weiß ein Dutzend verschiedener schauerlicher Dinge über sie. Wir reiten in den nächsten Tagen daran vorbei. So wie ich deinen Weg kenne – wir reiten zu nahe an ihr
vorbei! Es hebt ein gewaltiges Getuschel unter den Kriegern an. Sie sind abergläubisch wie alte Weiber.« Dragon und Partho grinsten sich an. Von sich wußten sie genau, daß sie sich gegenseitig vertrauen konnten. Jeder war des anderen Freund, auf seine Weise. Das galt auch für die anderen Freunde, die entweder in der ersten Gruppe der Krieger ritten oder irgendwo hinten im Zug. Aber wenn es um Dinge des Kampfes und des Krieges ging, hörte Dragon auf jedes Wort und achtete auf jede Geste des jungen Hauptmanns. »Du magst recht haben«, sagte er. »Diese Ruinenstadt, Bo-gah, sie kann ein Versteck unserer Feinde sein.« Partho deutete mit dem Daumen über die Schulter und versicherte verächtlich, aber mit einem warnenden Unterton: »Das ist es, was die Krieger wägen und flüstern. Was sie denken, ist vermutlich noch viel schlimmer, mein Wort.« Dreißig oder mehr Amazonen sprengten an ihnen vorbei und in einen Hohlweg hinein, der fast unsichtbar hinter Felsen und Büschen begann. Ein Trupp von Berittenen aus Parthos Abteilung folgte ihnen dichtauf in gestrecktem Galopp. Die Pferde schnaubten, und die Waffen rasselten, als sich die Tiere nacheinander einen Weg durch die Wildnis und über kies – und geröllbedeckte Pfade bahnten. Partho machte eine beschwichtigende Geste und murmelte grimmig: »Sie haben uns schon drei Stunden lang verfolgt. Eine kleine Gruppe, vermutlich Myraner. Sie werden entweder in die Flucht geschlagen, und wenn sie sehr verzweifelt sind, schließen sie sich uns an.« Wie die Garnison von Siev, dachte Dragon und sah den Reitern nach, die an ihm vorbei hangaufwärts sto
ben. Schreie ertönten. Waffen schlugen gegen Schilde, und die Pferde wieherten grell. Es würde, an einem anderen Tag und zu einer anderen Stunde, Dragon gereizt haben, in den Kampf einzugreifen – aber nicht jetzt. Ob Cnossos uns beobachtet? fragte sich Dragon voll brennender Sorge. Vermutlich war es so, denn dieser unheimliche Gegner würde niemals aufhören, ihn zu bekämpfen. Bo-gah, die Stadt der Ruinen, würde Cnossos einen willkommenen Schlupfwinkel bieten, wie auch jene mächtige, düstere Felsenburg es gewesen war. »Was werden wir also tun?« fragte Partho drängend. Dragon straffte sich im Sattel und sah die grüne Mauer des Waldes näher kommen. »Wir werden auf dem Weg weiterziehen, den wir festgelegt haben. Wir kommen in der Nähe von Bo-gah vorbei. Vielleicht werden wir in einen Kampf verwickelt, vielleicht nicht. Wir sollten bereit sein. Wie steht es mit der Verpflegung des Heeres?« Partho deutete mit dem Arm nach vorn. Der Waldrand kam näher und versprach Schatten und Feuchtigkeit. »Dort gibt es Wasser. Ich habe einigen Amazonen gesagt, sie sollen versuchen, Wild zu schießen. Außerdem sind unsere Vorräte groß genug, wenn wir uns etwas einschränken.« Dragon nickte. »Wir sind auf der Straße des Sieges, Partho!« sagte er leise. »Aber auch diese Straße wird bucklig und voller Kämpfe und Abenteuer sein!« Partho senkte seinen Kopf und lachte sarkastisch auf. »Das sagst du ausgerechnet mir, Dragon!« knurrte er. »Wir werden diese Straße bis zu ihrem Ende gehen. Oder reiten – das ist besser.«
Der Lärm des unbedeutenden Kampfes nahm ab, als die Spitze des Heerwurms den Wald erreichte. Es war plötzlich, als ob die Menschen und Tiere von einer neuen Kraft beseelt wären. Kühle Luft strich zwischen den Stämmen hervor. Die jagenden Amazonen bewegten sich weit rechts; bald verschwanden sie hinter den Buschen und dem Unterholz. Das Getrappel unendlich vieler Hufe nahm ab, als die Tiere auf den weichen Waldboden kamen. Dragon löste die Schnalle des Helmbandes und hängte den Helm auf das Sattelhorn. Sein Pferd riß den Kopf hoch und biß auf die Trense. »Rasten wir hier?« erkundigte sich Partho. Seine Augen durchforschten die Umgebung nach verräterischen Spuren. Weit hinten im Zug begannen einige Männer ein uraltes Kriegslied anzustimmen. Wellenförmig pflanzte sich der Gesang fort. Die Stimmung griff auch auf die Männer an der Spitze des Zuges über. Man rief sich derbe Scherzworte zu. »Nur kurz!« bestimmte Dragon. »Jeder von uns hat frisches Wasser nötig. Nicht nur die Krieger.« Das Tal zwischen den langgestreckten, mit schroffen Felstrümmern und in der Sonne glühenden Felsnadeln bedeckten Hügeln nahm den Heerzug auf. Er spaltete sich innerhalb der nächsten Stunde in viele kleine Gruppen auf, die sich um winzige Quellen oder schmale Bäche versammelten. Die Tiere tranken sich satt, die Menschen wuschen sich den Staub von den Gliedern und füllten die Lederschläuche und die hölzernen Wasserbehälter. Schließlich gab es nur noch eine dünne Staubfahne, die im trägen Wind langsam davontrieb. Und die Geier und Krähen, die hoch in der heißen Luft standen und ihre Kreise drehten. Als der letzte Reiter das dämmerige Grün des langgestreckten Waldes erreicht hatte, faltete der erste Geier,
ein riesiges Männchen, seine Schwingen halb zusammen. Er stürzte sich wie ein Stein aus der Luft und schoß schräg auf das verendete Zugpferd zu, das im Staub neben der breiten Spur aus Tausenden Pferdehufen lag. Kurz vor dem Aufprall entfalteten sich die schwarzen Schwingen. Ungelenk hüpfte der Geier auf den Kadaver zu, stieß einen krächzenden Schrei aus und hackte mit dem gekrümmten Reißschnabel in das glasige Auge des Kadavers. Die anderen Totenvögel folgten in Scharen und versammelten sich um die fette Beute dieses Tages. Der mächtige Schimmel, den Agrion ritt, schüttelte seinen Kopf. Aus der Mähne flogen die Tropfen. Lachend hob Agrion die Hand und schützte ihr Gesicht mit dem Unterarm. Dragon, der die Wandlung von der Palastsklavin zur Thronfolgerin der Katmahzari-Kriegerinnen mit erlebt hatte, lachte zurück und sagte: »Noch ein paar Stunden bis zum Lager. Wie geht es deinen Mädchen?« Agrion deutete nach links. Dragon und Partho sahen eine Amazone, die hinter ihrem Sattel einen geschossenen Rehbock hängen hatte. Der Pfeil steckte noch im Blatt des Tieres. »Sie jagen, damit heute unsere Lagerfeuer nicht umsonst brennen!« sagte sie. Sie standen neben ihren Pferden am Ufer eines kleinen Sees. Überall sah man die kleinen Gruppen der Krieger. Holpernd rollten die Wagen mit dem Kriegsgerät und den Vorräten über die Baumwurzeln und Steine. »Recht so«, meinte Partho. »Wir haben in den letzten Tagen ziemlich viel Ruhe gehabt. Ich traue der Ruhe grundsätzlich nicht ... nicht in diesen Tagen.«
Sie würden nicht einmal Ruhe haben, wenn sie Myra erreicht hatten und Dragon auf dem Thron des mumifizierten Königs saß. Die Tiere fraßen. Sie waren erfrischt und abgekühlt; Dragon und Partho waren durch den kleinen Weiher geritten und hatten dabei die Wildenten aus dem Schilf getrieben. Jetzt befestigten die Reiter die Sättel wieder und machten sich für den weiteren Marsch bereit. Bis Myra war der Weg mit Sicherheit voller Gefahren. Ein Schrei durchschnitt die Ruhe des Waldes. »Was war das?« fragte sich Dragon. Er zerrte an der Schnalle des Zügels und sah sich um. »Ein Mädchen hat geschrien!« sagte Agrion und wandte sich in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. »Eine meiner Kriegerinnen ist in Not. Wir müssen ihr helfen!« Dragon und Partho sprangen in die Sättel. Agrion grub dem Schimmel die Sporen in die Weichen und sprengte davon. Partho, mit einem Fuß im Sattel-Steigbügel, trieb sein Tier an und schwang sich auf den Rücken des Pferdes, das zwischen den Stämmen im Zickzack galoppierte. Dragon folgte augenblicklich und zog, während er sich im Sattel vorbeugte, das Schwert. Der Helm flog vom Sattelhorn und kollerte über den Waldboden davon. Die drei Reiter ritten im schärfsten Galopp quer duch den Wald, vorbei an den lärmenden Gruppen. Krieger warfen sich zur Seite, einige Tiere rissen sich los und gingen durch. Die drei Pferde sprangen über Wurzeln und Sträucher, wurden schneller und rasten keuchend über eine Lichtung. Partho und Dragon beugten sich vor, ihre Augen durchforschten das Gelände, aber sie sahen nichts. Der Ritt ging schräg einen bewachsenen kleinen Hang hoch, folgte für dreißig Galoppsprünge einem kaum erkennbaren Pfad, dann kamen sie an 10
einen winzigen, halb morastigen Bach. Vor ihnen bewegten sich Schilfstengel. Ein Pferdekopf tauchte für einen Augenblick auf, dann schwirrte eine Bogensehne. »Dort sind sie! Auseinander!« Parthos Stimme war scharf und knapp. Er übersah mit einem Blick den kleinen Kampfschauplatz. »Dorthin, Dragon!« sagte er. Dragon setzte über den Bach Partho preschte rechts, Agrion links von Dragon durch das Unterholz. Eine Amazone, deren Pferd scheute, schoß gerade. Einer der Angreifer, seiner Ausrüstung nach ein Mann von Myra, schrie aut. als der Pfeil durch seine Schulter fuhr. Drei Amazonen, die in diesem stillen Teil des Waldes gejagt hatten, waren von sieben Myranern überfallen worden. Sie verteidigten sich mit dem Mut von Löwinnen und der Schnelligkeit von schwarzen Panthern. Aber eines der Mädchen wurde gerade aus dem Sattel gerissen Ein Myraner schlug mit einer Streitaxt zu; der Hieb wurde von dem kleinen Schild der Amazone abgefangen und ging in den Boden. Partho ritt hart an dem Myraner vorbei, hob die Lanze und rammte sie dem Krieger zwischen die Schulterblätter. Er ließ den Schaft los, drehte sich im Sattel herum und fing mit derselben Bewegung den Schlag ab, den ein anderer Myraner gegen ihn führte. Der Schildrand Parthos fuhr dem Krieger ins Gesicht, dann holte der Hauptmann aus und schmetterte den Schild gegen die Schulter des Soldaten. Der schrie auf und kippte rückwärts aus dem Sattel. Parthos Pferd drehte sich zwischen dem nächsten Angreifer und der Amazone. Er riß einen zweiten kurzen Speer aus der Halterung, bog sich weit zurück und schleuderte das Geschoß auf den dritten Angreifer. Das eiserne Blatt der Waffe zischte durch die Luft und nagelte den Schenkel des Reiters an den Sattel. Das Pferd bäumte sich hoch auf, wieherte dunkel und überschlug sich fast. 11
Partho senkte den Schild, riß die Streitaxt aus dem Gürtel und sah sich um. Agrion ritt rücksichtslos geradeaus. Nach drei Metern prallte ihr Pferd gegen das Tier des Myraners, der eben sein Schwert hob, um dem zweiten Partner beizustehen. Die beiden Männer schlugen auf Dragon ein. Der eine Mann verlor das Gleichgewicht, als sein Tier strauchelte und sich halb zusammenkrümmte. »Achtung, Dragon!« Eine der Amazonen schoß einen Pfeil ab. Die Jagdspitze traf einen Krieger in den Hals. Ein Blutstrom schoß hervor, als der Mann beide Arme nach hinten warf und halb aus dem Sattel des durchgehenden Pferdes flog. »Danke!« Dragons Schwert zischte nach rechts und links. Die beiden Myraner griffen mit der Wut von Verlorenen an. Die Schneide schlug Kerben in die Schilde, prellte die Klingen der Schwerter, fuhr seitlich heraus und verwundete Arme und Brustkörbe der Soldaten. Ein unbeschreibliches Getümmel herrschte, nachdem sich das gerammte Tier überschlug und den Reiter unter sich begrub. Eine Amazone zog ihren Bogen bis hinter das Ohr aus und schoß. Sirrend schwirrte der Pfeil durch die Luft und traf den rechts von Dragon kämpfenden Myraner in die Brust. Gurgelnd sackte der Soldat zusammen. »Hierher, Mädchen!« Die Stimme der Amazonenführerin war klar und hell. Sie übertönte mühelos den Lärm des Kampfes. Sie sah sich wachsam um. In ihrer rechten Hand, die in gleicher Höhe mit ihrer Schulter war, lag ein kurzer Wurfspeer. »Vier sind ausgeschaltet!« dröhnte Partho. »Dir fehlt nichts, Dragon?« »Nein!« schrie Dragon. 12
Zwei Reiter aus Myra flohen in panischer Hast den Bachlauf entlang Sie trieben ihre Tiere an und sprengten durch die Büsche. Der letzte Mann schien unschlüssig, aber noch als er weiter ritt, um einem Pfeilschuß zu entgehen, schleuderte Agrion ihren Speer und durchbohrte sein Herz. »Der Kampf ist aus!« bemerkte Dragon mit dunkler, rauher Stimme. »Eine versprengte Gruppe, die leichte Beute auf schnelle Art machen wollte!« rief Partho und wischte die Schneide seiner Waffe an dem Mantel eines Toten ab. Was tun wir mit ihnen?« Dragon sah sich um. Die Verwundungen der Männer waren nicht tödlich. »Sie werden sich selbst helfen können« sagte er. »Zurück zu unserem Haufen.« Die Amazonen, stellte sich heraus, waren mit Beute beladen, auf dem Weg zurück gewesen. Sie hielten kurz an, um ihre durstigen Pferde saufen zu lassen, als die Soldaten ohne Warnung auf sie losritten und sie umzingelten. Es war ihnen nicht klar, ob sie als Gegner oder als Beute angesehen wurden. Die Verwundeten wälzten sich wimmernd am Boden. »Zurück zu den anderen!« sagte Dragon, nachdem er die beiden Männer angesehen hatte. »Wir schicken jemanden aus dem Troß; wir können sie mitnehmen.« Partho knurrte etwas Unverständliches und ritt langsam auf Agrion zu. »Holt eure Beute, Mädchen«, sagte er. »Wir reiten weiter, und erst heute abend gibt es Braten.« »Wir kommen.« Sie nahmen die besten Waffen der Gegner und führten die Pferde mit sich. Mit den Tieren war nicht viel Staat zu machen; sie waren halb verhungert und zu alt, 13
um einem guten Krieger als Reittiere dienen zu können. Vielleicht konnte man sie vor einen Karren spannen. Langsam ritten sie zurück. Die Gruppen der Krieger hatten sich inzwischen erholt und formierten sich langsam wieder. Die Spitze des Heerzuges wartete auf Dragon und Partho. »Wir reiten weiter, bis zur Dämmerung!« schrie Dragon. Partho winkte, und die Boten ritten nach allen Richtungen davon, um den Befehl weiterzugeben. Dragon nickte Agrion zu und sagte einigen Männern aus dem Troß, sie sollten sich um die Verletzten kümmern. Dann ritt er schnell an der Gruppe seiner Leute vorbei und deutete nach vorn. »Richtung Myra!« sagte er hart und entschlossen. »Wir werden an Bo-gah vorbeikommen und auch mit Geistern und Gespenstern kämpfen. Und wir werden siegen!« Die Männer schlugen an ihre Schilde, setzten sich in den Satteln zurecht und folgten ihm. Je weiter sie in den Wald zwischen den Hügeln vorstießen, desto mehr Reiter waren es. Schließlich bewegte sich ein Keil aus Berittenen durch die Bäume und weiter auf das ferne Myra zu. Ich ahne es, dachte Dragon. Diese unheimliche Stadt wird uns noch zu schaffen machen! Er fürchtete sich nicht, aber ihn beschlich ein banges Gefühl.
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2.
Der Aussätzige hob seinen Kopf und starrte mit leeren, schwarzen Augenhöhlen in den Himmel. Dann stieß der Mann, der über und über zerfressen war, und dessen Haut einen silberfarbenen Schimmer zeigte, einen krächzenden Laut aus. Neben ihm stand der Hinkende auf. Sein Holzbein machte auf dem Stein klappernde Geräusche. Der Hinkende packte den Arm des Aussätzigen und führte ihn aus dem zerfallenden Torbogen hinaus in die Sonne. Hier gab es eine Säule, die geborsten war. Schlingpflanzen mit übelriechenden Blüten, auf denen schwarze Käfer krabbelten, rankten sich um den Säulenstumpf. Er sah aus wie der verdorrte Arm einer Mumie. Der Aussätzige hockte sich auf einen Brocken Stein, den heruntergefallenen, zersplitterten und altersschwarzen Teil der Säule. Er lehnte sich an die Ranken. Die Käfer liefen über seine aufblätternde Haut, ohne daß er es merkte. Wieder röchelte er heiser. »Schon gut, Bruder!« murmelte der Hinkende und machte sich fort. Der Aussätzige horchte auf das Klack, Klack des Holzbeins, das immer leiser wurde und fast nicht mehr zu hören war, als sich der Hinkende über die verwilderte Rasenfläche davonschlich. Nichts war ihm geblieben, dem Aussätzigen, außer seinem Gehör. Je mehr der Körper zerfiel, desto schärfer wurden die Ohren. Er konnte fast jeden der Bewohner dieser Stadt am Schritt, an einigen charakteristischen Lauten oder am Klang der Waffen erkennen. Er brauchte sie nicht einmal sprechen zu hören. Der Aussätzige starrte mit blinden Augenhöhlen, deren Fleisch sich 15
schwarz verfärbt hatte, vor sich hin und freute sich über die stechenden Sonnenstrahlen des Mondes Vampir. Der Aussätzige und der Hinkende waren zwei der Leute, die hier in der Nähe des »Dunklen Heiligtums« wohnten. Bo-gah, die »Stadt der Verlorenen Seelen«, war das Versteck jener, die nicht unter anderen Menschen leben konnten oder durften. Über der Ruinenstadt lag der stechende Geruch der Verkommenheit, der Hoffnungslosigkeit und des Siechtums. Die Trümmer großer steinerner Gebäude waren bewachsen und verkamen in der Feuchtigkeit und der Hitze. In den Höhlen, die aus den Felsen herausgemeißelt worden waren – vor unbekannten Zeiten –, hausten die Ausgestoßenen und Verworfenen inmitten ihres Unrats. Zwischen den wuchernden Bäumen, deren Stämme die Häßlichkeit der Umgebung angenommen hatten und immer mehr den steinernen Fratzen glichen, die aus Mauervorsprüngen hervorgrinsten, gab es Gänge, die auf ehemaligen Plattenwegen entlangführten. Tunnel und Kuppeln, gemischt aus Stein und Geröll, Pflanzen und vermodernden Balken, führten durch den inneren Kreis der Felsenstadt. Sie waren alle voll giftigen Unrats und stanken, aber das konnte der Aussätzige nicht riechen. Er saß in der Sonne und versuchte zu erspüren, was um ihn herum geschah. Ein Halbrund zernagter Säulen, wie die einzelnen Zähne im Mund eines Kranken, bildete hier eine Art Platz. Zwischen den gesprungenen Steinen und dem unkenntlichen Mosaik wucherten Gras und fahl leuchtendes Moos. Es geht etwas Geheimnisvolles vor in Bo-gah dachte der Aussätzige und bewegte sich unruhig. Schon seit dem frühen Morgen hatte er viele Schritte gehört, und viele Steine waren knirschend und ächzend 16
bewegt worden. Es schienen nur Urak und sein schweigsamer Herr zu wissen, wieviel Verstecke und Fallen, leere Räume und dunkle Geheimnisse es hier gab. Der Aussätzige hörte wieder Schritte. Diesmal waren es mindestens dreißig oder mehr Männer, die sich bewegten. Sie gingen von dort drüben, wo die schräge Steinplatte lag, in die Richtung des Dunklen Heiligtums. Als sie die Hälfte des Weges hinter sich hatten, ertönte wieder, wie schon vor kurzer Zeit, der heisere Schrei tief aus dem Innern des Berges. Unruhig atmete der Aussätzige und rutschte auf dem Säulenrest hin und her. Er versuchte zu hören, was die Männer untereinander sprachen. Er erkannte ihre harten Stimmen, aber was sie sagten, konnte er nicht wahrnehmen. »Zamoc!« sagte Urak, als sie an der Spitze der wild aussehenden Truppe auf das Heiligtum zugingen. »Wir haben nicht genug Männer und Waffen, um diesen verdammten Dragon besiegen zu können!« Cnossos warf einen gelangweilten Blick auf die schräge Steinplatte. Ziemlich gut hatte das Relief die Zeiten, den Regen, die sengende Sonne und die unermüdliche Arbeit von Pflanzen und Insekten überstanden. »Niemand will ihn besiegen!« sagte er. Aus seiner Stimme sprach der Haß auf diesen Mann, der aus dem Nebel der Vergangenheit aufgetaucht war und ununterbrochen seinen Weg kreuzte. Aber er würde andere Kräfte aufbieten, um seine eigenen Pläne ausführen zu können. »Aber?« Aus dem verschlagenen Gesicht Uraks sprachen Verständnislosigkeit und Unglaube. Sein Auge zuckte hin und wieder, als wenn er eine Mücke wegblinzeln wollte. 17
»Aufhalten will ich Dragon! Lange aufhalten, und einige Teile seines Heeres vernichten! Umkommen sollen sie in unseren tausend Fallen!« »Jetzt verstehe ich dich, Herr!« murmelte Urak. Das Gesicht des schlangenarmigen Dämons auf der Steinplatte grinste ihn an. Die Platte hatte vor langer Zeit das Portal einer prächtigen Halle geschmückt und war in den Boden gefallen, als sich die Säulen senkten. Wilde Bösartigkeit strahlte aus den verwitterten Zügen. Im linken Auge des Dämons hockte eine handgroße, blutrote Spinne mit einem weißen Muster auf dem Rücken, das einem höhnisch lachenden Totenschädel ähnelte. Urak spie aus und sagte: »Wann wird Dragon hiersein?« Cnossos deutet auf die beiden halb verfallenen Tore, die ausgebessert und mit eisernen Klammern zusammengehalten waren. Die Männer mit den seelenlosen Gesichtern und der fahlen, lederartigen Haut gingen auf die Tore zu. »In zwei Tagen, wenn mein Plan aufgeht!« Er versetzte einem struppigen Hund, der vorbeirannte, einen Tritt und sagte entschlossen und grimmig: »In zwei Tagen. Er wird hierherkommen. So gut kenne ich diesen jungen Herrn! Er wird der Spur des Todes folgen. Er kann nicht anders.« »Ja, Herr!« winselte Urak. Ihn fror unter dem stechenden Blick Cnossos. Die Uh-toth, die Untoten aus der schwarzen Leibgarde des Cnossos, wuchteten die Tore auf und verschwanden dahinter. Sie schleppten in brüchigen Körben die langen Stacheln und die neu geschmiedeten Sensen mit. Urak kannte die grauen Kolosse mit den riesigen Zähnen, die dort im Höhlenbezirk warteten, ausgesperrt vom Sonnenlicht und vor einigen Tagen zum Leben erweckt wie 18
auch viele der Männer hier in Bo-gah. Ihm grauste vor diesen Tieren. Er fürchtete sich vor ihnen ebenso wie vor den steinernen Labyrinthen, die den Weg zum Heiligtum versperrten und voller tödlicher Fallen für jeden Lebenden waren. Nur Zamoc – Cnossos konnte hindurchfinden und jemand, der in seiner Begleitung war. »Sind die Leute schon eingefangen?« fragte Cnossos. »Noch nicht, Herr«, erwiderte Urak. Sie standen jenseits des Platzes unter einem bewachsenen dunklen Torbogen. Von oben rieselte Schutt herunter. Spinnen woben ihre riesigen Netze hier, in denen sich sogar kleine Vögel verfingen und ausgesaugt wurden. Der Dämon schien mit den Schlangenarmen zu winken, als ein Schatten vorbeistrich. Es war die Silhouette eines Geiers. »Warum nicht?« Urak wand sich unter dem Tonfall der Frage. »Ich habe die ohne Willen erst heute ausgeschickt. Sie haben nicht verstanden, wie das Gift anzuwenden ist. Aber morgen abend werden wir ein halbes Tausend Leute haben. Es sind alles kräftige, starke Frauen und Männer. Sie werden uns helfen, Dragon eine Niederlage zu bereiten, mein Wort!« Cnossos nickte. Sein Plan sah ganz anders aus, als dieser arme Narr hier neben ihm glaubte. Er wollte Dragon aufhalten und das Heer entscheidend schwächen. Er rechnete damit, daß Dragon unweigerlich so handeln würde, wie er es plante. Das Heer samt Dragon mußte so lange aufgehalten und dezimiert werden, bis er, Cnossos, Zeit gefunden hatte, eine seiner vielen dunklen Truppen einzusetzen. Das konnte nicht von heute auf morgen geschehen, sondern brauchte eine Menge Vorbereitungszeit. Außerdem mußten die pelzigen Bestien eine ungeheure Entfernung überwinden. Die Horden der Nacht! Sie würden Dragon vernichten, 19
so daß er selbst in der Gestalt des ermordeten Königs die Herrschaft über das Reich Myra übernehmen konnte. Deswegen trieb er seinen Vasallen, die Untoten und die anderen Ausgestoßenen dieser alten Ruinenstadt seit Tagen immer wieder an und erteilte ihnen Befehl auf Befehl. Zweihundert Untote beseitigten den angehäuften Schmutz, den Abfall und den angeschwemmten Sand aus den alten Fallen der Stadt. Sie ersetzten Balken und Hebel, schärften die eisernen Spitzen der Speere und reinigten die Rinnen, in denen das unlöschbare Feuer brannte. Zweihundert Untote ... etwa fünf Dutzend der langhaarigen Giganten, die auf ihre Stunde warteten und sich losgerissen haben würden, wenn nicht auch sie unter dem Einfluß des Giftes stehen würden ... und ein halbes Tausend unfreiwillige Kämpfer, die man aus der näheren Umgebung Bo-gahs zusammenfangen würde. Jetzt hüteten sie noch ihre Herden, mahlten ihr Korn, fällten die Bäume – bald würden sie willenlose Sklaven sein. »In zwei Tagen ist Bo-gah bereit, Herr!« sagte Urak. »Gut. Gehen wir zurück ins Heiligtum!« murmelte Cnossos. Cnossos bewegte sich hier und jetzt in der Gestalt des Magiers Zamoc, den er umgebracht hatte. Er legte keine sichtbaren Spuren; er verzichtete gern darauf, seinen Werkzeugen und Knechten sein wirkliches Aussehen zu präsentieren. Mit schnellen Schritten gingen die beiden Männer zurück. Sie durchquerten die dunklen Gänge mit den schweren Steinplatten, die unter den Tritten der angreifenden Krieger Dragons nachgeben, sich drehen und den Daraufstehenden in eine Grube schleudern würden. Dort warteten spitz zugeschlagene Steine und 20
lange Holzpfähle, deren Spitzen vergiftet waren. Man hatte mit Feuer die Schlangen aus ihren Verstecken gescheucht und in die vielen Gruben geworfen. Leicht durchquerten sie die Labyrinthe, in denen sich jeder Sterbliche verirrt hätte, mit allen ihren Fallen und tödlichen Einbauten. Cnossos lief schnell hindurch, Urak keuchte hinter ihm her. Schließlich kamen sie an das Heiligtum. »Die Fallen draußen vor der Stadt. Herr? Wer soll sie kontrollieren?« Cnossos blieb stehen. Er betrachtete nachdenklich den schwarzen, würfelförmigen Bau mit seinen dünnen, geborstenen Säulen, die von giftgrünen Ranken umzingelt und umklammert waren. »Wir werden jemanden finden!« erklärte er. »Es gibt genug kräftige Hirten.« »Ja, Herr!« Das Dunkle Heiligtum war das Zentrum der Ruinenstadt. Jenseits einer einst wuchtigen, jetzt zerbröckelnden und überwucherten Mauer aus schwarzen Riesenquadern lag ein kleiner Platz. Neben den Platten des Bodens wuchsen Bäume. Zwischen den Baumkronen erhoben sich Säulenreste. Einmal hatten die Säulen Querverstrebungen getragen; die steinernen Balken waren herabgefallen und zerbrochen. Sie umgaben in einem kleinen Wall ein gemauertes Bauwerk, das sich in den gewachsenen hellen Felsen hinein fortsetzte. Hohe, schmale Fensteröffnungen waren hinter dem Dachvorsprung zu erkennen, die Brüstungen von weißem, ätzend riechenden Vogelkot gestreift. Einige ausgetretene Wege führten durch Gras, Büsche und Unkraut auf den Eingang des Heiligtums zu. Hier wohnten Cnossos und Urak, der sich in der Vorstellung sonnte, die rechte Hand dieses furchtbaren Herren zu sein, und der seine Furcht 21
vor den geisterhaften Stimmen der Nacht inzwischen zu unterdrücken gelernt hatte. »Dieses Gift, das sie zu Willenlosen macht, taugt nicht viel«, stellte Cnossos fest, als er auf einem der Pfade auf die schwarzen Stufen zuschritt, auf denen die Trümmer heruntergefallener Verzierungen lagen. »Aber es wirkt einen Tag lang. Wenn sie einmal willenlos sind, kann man ihnen befehlen, sie sollen das Pulver jeden Tag zu sich nehmen!« beharrte Urak. »Ich kenne die Wirkung, Herr!« Cnossos winkte ab und drehte sich auf der obersten Stufe um. »Schon gut!« sagte er. Obwohl die Nachmittagssonne herabbrannte, war dieser Ort noch düsterer und unheimlicher als die übrigen Teile der versteckten Stadt, deren Namen selbst in den Erzählungen und Sagen bei den Zuhörern Schauer und eiskalten Schrecken hervorrief. Jedermann wußte, daß hier entflohene Verbrecher und Schatzsucher wohnten, die von der Stadt der Verlorenen Seelen wie magisch angezogen wurden. Man ahnte, daß es hier unheilbar Kranke ebenso gab wie seltsame Gespenster, die in den Nachten umgingen. Hier lebten der Abschaum und der Bodensatz von vier Städten und dem umgebenden Land. Frauen und Männer, die an keiner anderen Stelle des Landes mehr Platz fanden. Der Platz vor dem Heiligtum, das massive Bauwerk mit den Sälen, den schwarzen Korridoren und den verschlossenen Kammern wirkte wie ein Bild aus dem schlimmsten Alptraum, den jeder mit sich schleppte. »Hilf mir!« sagte Cnossos. »Wir müssen das Gift vorbereiten und den Saal leeren, wenn die Gefangenen kommen.‘ »Ich werde alles tun, Herr!« stammelte Urak und folgte der Gestalt in dem langen schwarzen Mantel 22
über die Stufen hinauf, vorbei an den der Länge nach gespaltenen Säulen, in deren Rissen kleine, dunkelgrüne Vipern lebten, durch eine hohe Tür ins dämmerige Innere des ersten Saales. Die Schritte der Männer wirbelten Staubmassen auf, die in den schrägen Sonnenstrahlen tanzten und seltsame Muster ergaben. Cnossos und Urak gingen geradeaus, auf eine weitere Steintreppe zu, die nach rechts führte. Nischen in den Wänden verbargen Bildwerke und Statuen, die darauf zu lauern schienen, den Vorübergehenden anzuspringen.Urak, seiner Natur nach ein Feigling, fühlte sich hinter dem Rücken seines Herrn sicher, aber er hatte es bisher fast immer vermeiden können, diesen Saal in der Nacht zu durchqueren, wenn die Untoten mit blakenden Fackeln dastanden und wachten. Die Schritte knirschten auf dem Sand und Staub der Treppe. Eine Tür schwang knarrend auf. Hier oben war es ein wenig heller. »Hole das Gift, ich werde ein wenig ausruhen und nachdenken!« sagte Zamoc und zog aus einer Tasche einen Schlüssel. Er warf ihn Urak zu, dessen Finger zitterten. Hell klirrend fiel der Schlüssel auf den steinernen Boden. Urak bückte sich und wartete auf einen Fluch oder einen Tritt. Aber er hörte nur eine Tür knirschen, die schleifenden Ringe eines Vorhangs und dann das dumpfe Krachen, mit dem sich die Tür schloß. Er atmete tief ein und aus und mußte niesen und husten, da ihm der Staub in die Nase und den Rachen drang. Er stand auf dem mäßig sauberen Boden einer größeren Kammer, von der einige Türen und Türbögen abzweigten. Zamoc war hinter einer Tür verschwunden. Dort bewohnte er einige Räume, die hell und sonnig waren und gut eingerichtet; Urak hatte mehrmals einen kurzen Blick hineinwerfen dürfen. Eines Tages würde 23
er dort drinnen sitzen und mit dem Herrn Wein aus den großen Pokalen trinken, die über dem Kamin standen und funkelten. Er drehte sich um und ließ die Schultern hängen. Vorbei an den heruntergebrannten Fackeln, an den steinernen Tischen, auf denen die Öllampen standen, bis zu einer Tür, die mit breiten, rostigen Eisenbändern beschlagen war. Der Schlüssel rasselte ins Schloß, quietschend drehten sich die Eisenstäbe. Urak lehnte sich mit der Schulter gegen die Tür. Sie schwang langsam und kreischend auf. Staub und ein stechender, aber nicht unangenehmer Geruch schlugen Urak entgegen. Er schlurfte quer durch den Raum und stieß mit dem Schienbein gegen eine der vielen Kisten. Er schob fluchend den Vorhang zur Seite, klappte den Deckel der obersten Kiste auf und sah die Säcke mit dem Staub, der nach seltenen Blüten roch. »Zwei Kisten werden reichen ... für die nächsten Stunden und Tage«, flüsterte er und schleppte sie hinaus auf den Gang. Langsam schloß er die Tür ab, dann schleppte er die Kisten hinunter in den Saal. Nachdem er von den meisten Fenstern die Gewächse abgerissen und die Reste von Läden und Vorhängen, schwarz verkrusteten Spinnweben und Vogelnestern entfernt hatte, konnte man in diesem Saal etwas sehen. Urak schleppte einige Bretter herbei und baute einen provisorischen Tisch auf. Er holte Schüsseln und stellte die Kisten auf den Tisch. »Sie können kommen!« flüsterte er. »Und ein paar werde ich selbst holen!« Er warf einen letzten Blick zurück und unterdrückte einen Schauer. Dann ging er schnell hinaus und über den Platz bis zum Ausgang des Labyrinths. Er tastete sich langsam an den Fallen vorbei und erreichte den inneren Kreis der Stadt. Dort stieß er auf eine Gruppe 24
Untoter, die eben von den langhaarigen Bestien mit den geschwungenen Zähnen zurückkamen. »Habt ihr getan, was euch befohlen wurde?« fragte Urak scharf. »Herr, es ist alles geschehen. Die Tiere werden rasen, wenn wir sie ins Licht bringen. Sie haben die Sicheln an den Füßen, die Lanzen an den Stirnen. Sie sind gefesselt und sind hungrig.« »Gut.« Urak rieb sich die Hände und wandte sich wieder an die Männer. »Ich nehme zwanzig, oder besser, dreißig von euch. Sattelt die Pferde. Wir werden hinausreiten und ein paar Leute zusammentreiben! Schnell. Erwartet mich am Eingang der Stadt!« Der Mann sah ihn mit ausdruckslosen Augen an und bewegte sich schnell, aber hölzern. Die Gruppe ging davon. Die Männer verloren sich zwischen den Mauerresten, den geborstenen Säulen und den Schuttflächen, die sich dort ausbreiteten, wo ganze Mauern oder halbe Gebäude eingestürzt Und umgefallen waren. Etwas langsamer folgte ihnen Urak. Er nickte, als er den gelben Fleck auf dem Boden sah. Hier hatte bis vor kurzem der Schwefel gelagert, den sie für die Vernichtung des Dragon-Heeres brauchten. Die Bewohner der Stadt hatten ihn in Körben und Kisten davongeschleppt. Urak ging in das zerfallene Gebäude, in dem er mit einigen anderen Männern lebte. Er schnallte sich seine Waffen um, setzte den Helm auf und ging hinüber zu seinem Pferd. Er sattelte und zäumte das Tier, schwang sich hinauf und ritt davon. Er fand die Gruppe von dreißig Untoten, sagte ihnen, was sie vorhatten, und ritt an ihrer Spitze nach Osten. Die langen Bänder an den Hörnern seines Helmes flatterten wie aufgeregte Schlangen, als er die Richtung 25
einschlug, in der er die weidenden Herden und ihre Hüter wußte, deren Frauen, die Kinder und das fette Vieh. Der Aussätzige begann zu frösteln. Er spürte, daß sich die Sonne hinter die Barrieren aus Steinen und verfilzten Pflanzen senkte. Er hatte die wilden Schreie der hungrigen Bestien in den Felshöhlen gehört. Er wußte auch, daß die Männer wieder zurück waren. Dann hatte er diesen Urak dahinschleichen gehört und wußte, daß er davongeritten war. Sicher plante er, neue Bewohner dieser Stadt einzufangen. Der Aussätzige formte einen krächzenden Laut. Er wartete, bis er das Klack, Klack des Hinkenden hörte, der ihn zurückbringen würde. Die Abende waren noch immer kühl.
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3.
Zuckend und flackernd erhoben sich die Flammen. Das rötliche Licht fiel geheimnisvoll auf die harten Gesichter der Frauen und Männer, die um das Feuer saßen. Die Nächte waren kalt; ein Feuer tat gut in dieser Zeit, und auch ein Schluck des dunklen, träge fließenden Weines. Ringsherum standen die Bäume wie schweigende Wächter. Ein paar Wolken trieben über den sternklaren Himmel. Der Mond hing wie eine Sichel zwischen den unbekannten Feuern der Götter dort oben in der Schwärze der Nacht. Unruhig bewegten sich die Hirten. Die Stimme des alten Märchenerzählers war kaum lauter als das Prasseln der Flammen und das Zischen verbrennenden Fettes, das von dem Lammbraten ins Feuer tropfte. Sardak, der Helfer der Hirten, starrte am Feuer vorbei in das zerknitterte Gesicht des alten Mannes. Der Märchenerzähler war unvorstellbar arm und ebenso unfaßbar reich. Er war in gewisser Weise eine Gefahr, denn von den Ungeheuern und Helden seiner Fabeln und Sagen träumte jung und alt. Und gerade jetzt, da er versprochen hatte, die Sage von den Horden der Nacht zu erzählen, verspürte Sardak eine mühsam unterdrückte Wut. So konnte man Menschen unruhig machen, unsicher und geistergläubig. Der Märchenerzähler war alt. Er selbst wußte nicht, wieviel Sommer er zählte. Er befand sich im Winter seines Lebens, und er sprach immer davon, daß er sich einen schnellen, schmerzlosen Tod wünschte. Adrar, so hieß der wandernde Erzähler, schielte hungrig auf den Lammbraten, der sich langsam auf einem geschälten, jetzt angesengten und schwarzen Ast 27
zwischen den in den Boden gerammten Gabeln drehte. Der Geruch von schmorendem Fleisch, dem darüber gegossenen Wein, der Butter und den Kräutern, ließ jedermann das Wasser im Mund zusammenlaufen. »Es dauert noch eine halbe Stunde, Adrar!« sagte Sardak halblaut. Adrar nickte ihm zu. Der Märchenerzähler war unbeschreiblich dürr und arm. Er trug Sandalen und einen groben, wollenen Rock. Darüber hinaus besaß er nur ein kupfernes Armband, einen schartigen Dolch und einen löcherigen Mantel. Unendlich reich war er, weil er eintausend Erzählungen wußte und kannte. Und wenn er sie nicht kannte, dann erfand er sie im Augenblick des Erzählens. »Wir haben nicht weniger Hunger als der Dürre dort!« sagte einer der Hirten. Es war jetzt die Zeit, in der die Herden besondere Aufmerksamkeit brauchten. Die Tiere warfen, und Sardak war ständig unterwegs, um den Hirten zu helfen. Es war ihr Stolz, im Winter gut genährte Tiere heimtreiben zu können und ihre Herden vergrößert zu haben. Heute befand sich Sardak hier, morgen würde er weiter oben im Bergland sein, auf Myra zu. Sardak zählte fünfzig Sommer. Auf den ersten Blick wirkte er wie ein Herdenpatriarch; groß und breitschultrig, schwarzhaarig, mit einem gewaltigen Bart über den Lippen, an dem er immer drehte und riß, wenn er aufgeregt oder unsicher war. Sein Schädel glich einem verwitterten Felsen; an den Schläfen war das dichte, gekräuselte Haar bereits weiß geworden. Unterarme und Handrücken waren von schwarzem Haar bedeckt. Die Finger der riesigen Hände aber waren überraschend lang und schlank, obwohl Sardak mit einer Hand ei28
nen fetten Hammel umwerfen konnte, indem er ihn am Horn packte. Sardak drehte den Kopf und spie das Mark des Ziegenbusches aus. Er kaute es seit geraumer Zeit, denn er fühlte sich merkwürdigerweise erfrischt, wenn er den aromatischen Saft des Marks auf den Lippen und zwischen den Zähnen spürte. Er hatte beobachtet, daß seine Ziegen diese Pflanze bevorzugten – sie fraßen die Blätter und wurden daraufhin munter und gediehen prächtig. Daheim besaß Sardak eine mittelgroße Ziegenherde. Er hatte sie verlassen, um seine Wanderung von Herde zu Herde anzutreten. »Was ist los, Adrar? Warum erzählst du nicht weiter?« Adrar lächelte mit seinem fast zahnlosen Mund und deutete auf das Feuer. »Ein hungriger Erzähler stottert häufig, Freunde!« erklärte er. Ein knappes Dutzend Menschen saß hier im Kreis herum. Ihre Herden waren versorgt, und sie hatten Zeit für ein langes Essen und eine gute Geschichte. Das Feuer beleuchtete die Gesichter und – hinter den Hirtinnen und Hirten – die Sättel und die Pferde, die man in der Nähe angebunden hatte. Gerade verhüllte eine langgestreckte Wolke den Mond. »Ja«, murmelte der Erzähler und hob seine faltige Hand. »Sie werden kommen, die Horden der Nacht. Sie werden dahinrasen so wie diese Nachtwolke dort. Aber zuerst brauche ich etwas zu essen.« Einige lachten, einige zuckten zusammen. Sardak griff hinter sich, holte das Fladenbrot heraus, schnitt von der Butter ein Stück ab und vom Käse und stand auf. Als er hinter den Rücken der anderen um das Feuer ging, sahen sie, daß er nicht nur breitschultrig war, 29
sondern auch groß und mit kräftigen Beinen. Er kauerte sich neben den Märchenerzähler nieder, hielt ihm das Brot entgegen und sagte: »Übertreibe es nicht, Adrar! Wir wollen nicht die nächsten dreizehn Nächte von den Horden der Nacht träumen!« Adrar lachte kichernd und griff gierig nach den Speisen. »Sie werden kommen, weil der Fürst der Finsternis sie ruft. Und sie sind nur mit silbernen Waffen zu töten. Danke für das Brot. Wann ist denn endlich dieser Braten fertig?« Mazega wischte sich den Schweiß von der Stirn und sagte: »Gleich nehme ich ihn vom Feuer, den Braten. Noch etwas Wein darüber ... so ... noch etwas mehr Kruste.« Er schüttete aus dem Holzbecher Wein über die knusprige Außenseite des Bratens und drehte langsam weiter. Sardak blieb stehen, ging dann einige Schritte zurück in die Dunkelheit jenseits des Feuers und betrachtete die Gruppe. Etwas gefiel ihm nicht. Sein Instinkt, der ihn jeden Pfad hier in der weiten Umgebung kennen ließ, warnte ihn. Die Frauen und Männer waren verkrampft, trotz ihrer Heiterkeit und Zufriedenheit. Es war ihm, als ob etwas in der Dunkelheit lauerte, das sie überfallen würde. Eine dunkle, unheimliche Gefahr. Nicht die Horden der Nacht, die Adrar meinte, sondern eine andere Art. Bo-gah, die Stadt der Verlorenen Seelen, war nicht sehr fern; sie stellte plötzlich eine Bedrohung für Sardak dar. Er kehrte an seinen Platz zurück, setzte sich und sah zu, wie Mazega den Spieß vom Feuer hob.
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»Endlich! Einen mageren Schenkel für mich. Ich möchte nicht dick werden!« sagte der Erzähler laut und lachte. Sardak griff in die Tasche, holte einen Stengel des Ziegenbusches hervor und schälte mit seinem Messer die Fasern der Rinde ab. Er schob ein fingerlanges Stück des gelblichen Marks in den Mund und begann langsam zu kauen. Schweigend beobachtete er, wie der Braten ausgeteilt wurde und wie das Säckchen mit dem kostbaren Salz reihum ging. Kurze Zeit später hörte man nur noch Schmatzen und die Ausrufe, mit denen die Arbeit des Mazega gelobt wurde. Sardak nahm sich ein Stück mit viel Kruste, streute Salz darüber und wechselte das heiße Fleisch von einer Hand zur anderen. Sie aßen, unterhielten sich leise, warfen die Knochenstücke ins Feuer oder den Hunden zu, die hin und wieder herbeiliefen. Schließlich, als sie sich die Hände gewaschen und am Feuer getrocknet hatten, als jeder ein zugespitztes Stück Holz zwischen den Zähnen hatte, rührte sich Adrar und begann: »Hoch im Norden wohnen sie, die Horden der Nacht. Ich will euch berichten, wie sie aussehen, und wie sie leben. Mein Vater weiß es von seinem Vater, und der wiederum weiß es von seinem Großvater. Die Frau, die dieser mein Ahne nahm, stammt aus dem kalten Land. Sie hat sie selbst gesehen. Es sind krumme und böse Bestien. Sie leben vom Blut ...« Ein Hund begann aufzuheulen. Es klang schauerlich. Ein zweiter heulte, dann, unsichtbar in der Dunkelheit gen Süden, wechselte der Ton. Aus dem langgezogenen, fast ängstlichen Heulen wurde ein zorniges Bellen. Ein 31
scharfer Schrei ertönte, das Bellen verwandelte sich in das Jaulen des Schmerzes und riß ab. Sardak sprang auf die Beine. »Was ist das? Los, weg vom Feuer!« »Sie haben einen Bären gesehen. Oder einen Wolf!« beruhigte ihn Adrar und hob die knochige Hand. Er wurde etwas lauter und fuhr fort: »Sie leben vom Blut und überfallen die Menschen. Überhaupt sind die Menschen ihre liebste Beute. Wenn der Mond in einer bestimmten Stellung steht, wenn die Wandelsterne so und so stehen, kommt es wie ein Rausch über sie. Sie beginnen ... Ein Pferd! Ein Reiter – dort drüben!« Adrar sprang auf und deutete mit einer zitternden Hand auf die Lücke zwischen den schemenhaft aufragenden Bäumen. »Viele Reiter!« schrie er. Aus allen Richtungen heulten jetzt die Hirtenhunde. Ihr Geheul war qualvoll und wütend zugleich. Zwischen den Bäumen stoben Reiter hervor. Sie trugen lange Fackeln in den Händen und Waffen. Das Licht glänzte auf den Rüstungen und den Schilden. »Umzingelt sie! Dort hinüber! Zwei Mann zu mir!« schrie eine helle, schnarrende Stimme. Sardak bückte sich und hob einen schweren Knüppel auf. Mit dem Feuerholz in den Händen stürmte er vom Feuer weg. Ringsum hörte er die Pferdehufe auf dem weichen Boden. Zwei der eigenen Tiere stoben wiehernd und voller panischem Schrecken davon. »Hilf mir, Sardak!« schrie mit dünner Stimme der Märchenerzähler. Sardak warf sich herum. Die kleinen, blakenden Lichter der Fackeln waren jetzt überall. Die fremden Reiter kamen schweigend und schnell zwischen den Büschen 32
hervor, zügelten ihre Pferde und ritten auf das Feuer zu. Einer von ihnen speerte einen zottigen Hirtenhund, ein anderer schlug eine laufende Fr.au mit dem Schaft des Speeres in den Nacken. Ohne einen Laut stürzte die Frau nieder. Sardak hob das Holzscheit, schwang es im Kreis und schmetterte es gegen den Arm eines Angreifers. Seine bärenhaften Kräfte richteten nichts aus; nicht einmal das Schwert fiel aus der Hand des Reiters. Sardak schüttelte den Kopf, schwang den Prügel nach oben und schmetterte den Arm mit dem Schwert zur Seite. Er führte einen zweiten Schlag und traf die Seite des Schädels. Der Helm dröhnte wie ein hohler Baumstamm auf. »Ich werde wahnsinnig!« keuchte Sardak. Das ging nicht mit rechten Dingen zu. Zwei Reiter sahen ihn und galoppierten in kurzen Sprüngen auf ihn zu. »Fesselt sie!« schrie die grelle Stimme wieder. Sardak dachte einen ganz kurzen Augenblick darüber nach. Sie gehörte einem Feigling, der sich selbst und seinen Männern Mut gemacht hatte. Dann sprang er am Kopf des scheuenden Pferdes, dessen Maul von gelbem Schaum bedeckt war, zur Seite und wollte in der Dunkelheit und zwischen den Büschen verschwinden. Ein dritter Reiter sah ihn und kam auf ihn zu. Die Spitze einer Lanze zielte nach seinem Kopf. Hinter sich hörte er das Keuchen der Pferde. Als er den Kopf wandte, um einen anderen Ausweg zu suchen, sah er, wie die Reiter rund um das Feuer die Hirten niederschlugen und schnell zu fesseln begannen. Einer der Männer, dessen Gesicht ausdruckslos war und seltsam fahl leuchtete, sprengte an dem Märchenerzähler vorbei. Der Arm des Angreifers bewegte sich, und die breite Seite des Schwertes traf Adrar am Hinterkopf. Der alte Mann brach auf der Stelle zusammen. In dem gleichen 33
Moment fühlte Sardak einen schmerzenden, scharfen Stich zwischen den Schulterblättern. »Bleib stehen – oder du stirbst!« sagte die Stimme. Er drehte sich langsam um. Er sah einen mittelgroßen Mann mit dem Gesicht eines Wiesels vor sich. Der Mann hing im Sattel und richtete die Lanze auf ihn. Die Reiter rechts und links neben ihm sprangen auf den Boden und kamen, Lederriemen und Schwerter in den Händen, auf ihn zu. »Wer bist du? Was willst du?« fragte Sardak. »Ich bin Urak. Wir brauchen Knechte fürs Dunkle Heiligtum!« Sardak schüttelte die beiden Männer ab, die nach seinen Armen griffen. Drüben am Feuer war es ruhig geworden. Die Frauen und Männer waren entweder bewußtlos oder gefangen. »Schlagt ihn nieder. Nachher wird er gehorchen!« sagte Urak. Ein furchtbarer Schlag traf Sardak im Genick. Er taumelte und stürzte zu Boden. Er war bewußtlos, als sein Gesicht ins Gras fiel. Die Männer bewegten sich schnell und sicher und fesselten ihm die Hände an den Handgelenken auf den Rücken. Sie zogen mit den Lederriemen eine Schlaufe und legten sie um seinen Hals. Wenn er versuchte, sich zu befreien, würde er sich selbst erwürgen. »Wir haben sie alle. Drei Frauen, sieben Männer, ein schlafendes Kind!« sagte eine laute Stimme aus der Dunkelheit. Die Reiter rissen die Gefangenen hoch und banden sie mit langen Riemen an den Sätteln fest. »Schüttet den Bewußtlosen Wasser über die Köpfe. Und dann zurück nach Bo-gah!« schrie Urak. Sie würden in dieser Nacht noch zweimal zuschlagen. Er kannte die Plätze, an denen sich nachts die Hir34
ten und ihre Familien trafen, um zu essen und Neuigkeiten auszutauschen. Die einunddreißig Männer aus Bo-gah waren schnell gewesen. Sie hatten ein paar Hunde getötet, nachdem sie von fern das Lagerfeuer der Hirten gesehen hatten. Dann waren sie schnell und geräuschlos weitergeritten und hatten den Kreis geschlossen. Die Hirten und ihre Weiber waren zu verwirrt, um an ernsthafte Gegenwehr zu denken. Sie waren alle gefangen worden. Man fesselte sie und band sie an die Sättel. Diejenigen, die sich gewehrt hatten und niedergeschlagen worden waren, brachte man zu sich, indem man ihnen den Inhalt ihrer eigenen Wasserschläuche über die Köpfe schüttete. Es wurden nicht viele Worte verloren. Urak gab seine Befehle, und die Reiter galoppierten an, fielen dann in Trab. Sie ritten auf demselben Weg zurück, auf dem sie hergekommen waren – Bo-gah lag nicht sehr fern. Drei oder vier Stunden später würden sie die Eingefangenen ins Dunkle Heiligtum gebracht haben. Dann war alles vorbei, denn die erste Gabe des Giftes, das ihnen den Willen raubte, würde aus den störrischen Hirten fügsame Sklaven machen, die jeden Befehl Uraks oder Zamocs befolgten. Der Mond tauchte aus den treibenden Wolken auf. Sein bleiches Licht beleuchtete den Zug der eingefangenen Hirten. 35
Am letzten Pferd, in dessen Sattel Urak saß und grinste, war Sardak angebunden. Er stolperte dahin, halb bei Bewußtsein, halb schlafend, mit einem Schädel, in dem es dröhnte. In seinem Mund schmeckte er das Mark des Ziegenstrauches. Er kaute, ohne zu denken. Er stolperte keuchend und würgend neben Uraks Sattel daher, während das Pferd in einen leichten, schnellen Trab fiel. Sardak ahnte, welches Schicksal ihm drohte. Verglichen mit den Hirten, den Bauern und Handwerkern, die in diesem Gebiet in verstreuten Häusern und Gehöften wohnten oder mit den Herden wanderten, war der Helfer der Hirten, der riesige Sardak, ein Mann aus einer anderen Zeit. Er konnte lesen und schreiben. Er kannte die Geheimnisse; für ihn waren sie keine mehr, nämlich die Geheimnisse von Leben und Tod, von Gesundheit und Krankheit. Er war fast völlig frei von Aberglauben und blindem Gehorsam unbekannten Götzen gegenüber. Er, dessen Aufgabe es war, den werfenden Kühen zu helfen, die zitternden Kälber zu versorgen, allerlei Krankheiten zu kurieren und den Menschen zu sagen, was sie zu tun hatten, befand sich in einer wenig beneidenswerten Lage. Er rannte neben einem trabenden Pferd her, und die scharfen Rucke an den Handgelenken und am Hals bewiesen, daß dies alles bitterer Ernst war. Urak? Er hatte den Namen einmal gehört, erinnerte er sich. Ein Flüchtiger, der sich von Mord und Raub ernährte. Vermutlich ein gefährlicher Mann, denn seine Stimme war die eines Feiglings, der gegen seine Feigheit kämpfte und sich dadurch Mut machte. »Bo-gah ...«, murmelte Sardak leise. Sie brachten ihn und die anderen in die Ruinenstadt. 36
Er kannte sie mit ihrem Dreck, ihren zerbröckelnden Mauern und einigen ihrer ausgestoßenen Bewohnern von fern, aber er hatte in seinem fünfzigjährigen Leben viele Gerüchte und Meinungen, Geschichten und Übertreibungen hören müssen. Was war die Wahrheit? Was wußte er? Bo-gah war eine uralte Stadt. Sie stammte aus einer Vergangenheit, die niemand mehr kannte. Einstmals mußte diese Stadt der Mittelpunkt eines blühenden Landes gewesen sein. Die Herrscher waren Despoten, die in äußerstem Prunk lebten. Ihre Phantasie und ihre Sitten waren gleichermaßen verdorben, denn man berichtete, daß auf den – jetzt bis zur Unkenntlichkeit zerfallenen – Häusern und Bauwerken die Dinge zwischen Menschen und Tieren in perfekter, schonungsloser Eindringlichkeit dargestellt waren. Reichtum hatte dort geherrscht, und Verschwendungssucht. Und jetzt überwucherte der Wald die Stadt. Ihre Bewohner waren Tiere: Schlangen, Skorpione und Hunde, verwilderte Vögel und Menschen. Der Abschaum des Landes. Und einige sehr merkwürdige Bewohner ... jene Männer, die wie Tote aussahen und sich wie Lebende verhielten. Sardak rannte weiter. Mitten in der Nacht kamen sie in Bo-gah an. Rußende Fackeln beleuchteten ihren Weg, als man sie durch die Reste der Stadt schleifte und vor einem dunklen, in der Nacht geheimnisvoll aufragenden Gebäude von den Sätteln losschnallte. Tritte und Hiebe mit Peitschen und Lanzenschäften trieben sie vorwärts. »Hier hinein!« brüllte die Stimme Uraks. Man führte sie in einer langen Reihe trummerübersäter Stufen hinauf. Sie wurden in eine Halle gebracht, die nur aus Boden und Decke und Dunkelheit zu bestehen schien. Sardak ließ seine Augen umhergehen, und als sie sich an die plötzliche Dunkelheit des Gebäudein37
nern gewöhnt hatten, sah er erstaunliche Dinge. Unter anderem einen Tisch aus rohen Brettern, auf dem einige flackernde, zuckende Öllampen standen, deren rußende Dochte kleine Lichtkreise verbreiteten. Dort standen Schüsseln mit einem Pulver, das wie Mehl aussah aber von fahlgelber Farbe war. Die Hirten wurden an den Tisch gebracht. Man hielt ihnen die Nasen zu und verrührte das Pulver mit Wasser. Jeder von ihnen mußte einen Becher der Flüssigkeit schlucken. Dann, und das überraschte Sardak, band man sie los. Auch er würgte einen Becher hinunter. Die Mischung schmeckte wie verdorbener süßer Wein, der voller Würzkräuter war. Die Zunge brannte, als der Saft des Ziegenbusches mit dem Wein stritt. Sardak fühlte nichts. Was immer seinen armen Freunden hier eingegeben worden war, er merkte nichts. Er merkte nur, wie seine Fesseln gelöst wurden. Urak war plötzlich still. An seiner Stelle ertönte von der Treppe her eine schneidende, halblaute Stimme. Sie sagte langsam und voller Verachtung: »Ihr seid meine Sklaven, mein Eigentum. Ich bin Zamoc. Ihr werdet alle Befehle aufs Wort befolgen, die ich, Urak oder einer meiner Freunde euch geben. Der erste Befehl ist: Ihr kommt jeden Tag hierher und trinkt einen Becher des göttlichen Trankes!« Die Hirten warfen sich zu Boden und murmelten: »Ja, Herr!« Sardak wäre beinahe in die Falle gestolpert. Er besann sich rechtzeitig, sank in die Knie und wiederholte dumpf: »Ja. Herr.« Bevor die Stimme, die einem Schatten auf mittlerer Höhe der Treppe gehörte, sie aus dem Saal und an 38
die Arbeit trieb, sah Sardak kurz das Gesicht des Unbekannten. Es war hager, mit brennenden Augen und einem schmalen, bösen Mund. Sardak wußte jetzt, daß sie sich alle im Bann einer unbekannten Macht befanden, die über ihr Leben und ihren Tod bestimmen würde. Nur einer von ihnen brauchte den Befehlen nicht zu gehorchen, weil er nicht versklavt war. Er, Sardak, der Helfer der Hirten. Ihm begann vor den nächsten Tagen zu grausen ...
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4.
Zwanzig Stunden später war aus Sardaks Ahnungen furchtbare Gewißheit geworden. Er befand sich in der Gewalt von wahnsinnigen Verbrechern und lebenden Toten. So wie er waren auch etwa fünfmal hundert Menschen aus der näheren Umgebung dieser Stadt versklavt. Sie gehorchten willenlos jedem Befehl, den dieser Urak gab – Zamoc trat nur selten auf und schien das Tageslicht zu scheuen. »Aber ich habe meinen Willen nicht verloren!« flüsterte er. Zusammen mit einigen Willenlosen mischte er kleine Häufen von ungelöschtem Kalk, Salz und Schwefel mit dem Stoff, den er als Naf‘tha kannte. Sie standen unter einem Gewölbe im tiefen Schatten und schwitzten, denn der Stoff durfte der Sonne nicht ausgesetzt werden. Auch Wasser durfte nicht mit ihm in Berührung kommen, ebenso mußten die Bewegungen der Versklavten langsam erfolgen. Sardak hatte sich seit dem Moment, da die anderen das aufgelöste Pulver zu sich genommen hatten, verstellen müssen, denn er besaß seinen eigenen Willen noch. Er sann auf Flucht, aber das war nicht möglich, denn überall standen und gingen die Untoten und paßten auf. Sie waren schwer bewaffnet, und auf geheimnisvolle Weise waren sie nicht zu besiegen. Sardak sah sich um und versuchte, möglichst viel von dem, was hier vorging, zu sehen und sich zu merken. Eine kleine Menge des vielfarbig schillernden Stoffes wurde vorsichtig in einen Korb gefüllt, der aus Weidenruten geflochten und mit Lehm ausgestrichen war. Der Deckel kam darauf, und Urak, der zwischen den Grup40
pen umherging und sie kontrollierte, schnarrte einen Befehl. »Bringt das Zeug in die Felskammern. He, du – führ sie dorthin!« Es gab etwa zweihundert solcher Untoten, sagte sich Sardak und kaute langsam seinen neuen Markstengel. Er hatte ihn in einem unbeobachteten Augenblick zwischen die Zähne geschoben. Der Schmerz in seinem Kopf war weniger geworden, aber der Hunger und der Durst plagten ihn jetzt. So wenig wie die anderen Sklaven hatte er etwas bekommen. Er bückte sich und maß vier Holzschaufeln von dem Haufen körnigen Salzes ab und schüttete sie in den Steintrog, in dem bereits die abgemessene Menge Naf‘tha lag. Vor wenigen Stunden waren zwei Hirten verbrannt. Sie waren mit ihrem verdunkelten Korbinhalt gestolpert. Der harte Aufprall hatte die Masse augenblicklich entzündet, und die Männer waren als brennende Fackeln gestorben. Die anderen Willenlosen hatten es gesehen, aber sie kümmerten sich nicht darum. Es war eine abenteuerliche Schar, die hier die Ruinenstadt in eine Festung voller Fallen verwandelte. Neben Sardak arbeitete stumm und keuchend der alte Märchenerzähler. Er zitterte am ganzen Körper, aber willenlos und nur dem Befehl Sardaks gehorchend, schaufelte er den Schwefel um. Seine Augen tränten, und jedesmal, wenn er sich wieder aufrichtete, stöhnte er. Die Arbeit würde ihn in kurzer Zeit umgebracht haben. »He, du klapperiger Greis! Schneller!« Urak war herangekommen und holte aus. Sein Stiefel traf Adrar am Schenkel. Der alte Mann, dessen Lebenstrieb völlig unterdrückt war, fiel mit einem lauten 41
Aufschrei in den Haufen beißenden Schwefels. Als er langsam wieder aufstand, schüttelte er sich und machte sich sofort wieder an die Arbeit. Er hustete lange und mit würgenden Geräuschen. Der Atem pfiff durch seine Kehle, seine Lungen rasselten. Sardak richtete sich auf. Ein schneller Schlag, ein Stich mit dem Messer, das er im Stiefel verborgen hatte? Es war sinnlos – überall waren die Untoten, die ihn nach wenigen Sätzen fassen würden. Urak ging weiter. Sardak bückte sich wieder und arbeitete langsam weiter. Es gab nur einen Ausweg aus der Stadt und aus der Lage, in der sich die vielen Menschen befanden. Er mußte Dragon um Hilfe bitten, dessen Heer gen Myra zog und hier in der Nähe vorbeikommen würde. Das Gift hielt die Willenlosen einen Tag lang in seinem Griff. Am Abend würden sie den Befehl bekommen, eine neue Menge dieser furchtbaren Mischung zu trinken. Jeder, aber auch jeder Befehl, der von Urak oder Zamok kam, würde befolgt werden müssen. Es gab kein Mittel dagegen, keine Hilfe, keine Hoffnung. Nur er, der gegen das Gift unempfindlich war, konnte etwas unternehmen. »Was kann ich tun?« flüsterte er und arbeitete weiter an dem Mischen der furchtbaren Waffe, mit deren Hilfe die Stadt zu einer tödlichen Falle für einen Angreifer wurde. Für einen Angreifer? Für welchen? In diesem Augenblick merkte Sardak, daß er sehr wichtig war. Er hatte an Dragon und das Heer gedacht, die hier vorbei marschieren wurden. Und Urak dachte sicherlich an nichts anderes. Also wurde die Totenstadt Bo-gah zu einer Falle für Dragon gemacht, den Schlafenden Gott. Ich muß Dragon warnen! sagte er sich. 42
»Ich bin der einzige Mann in dieser Stadt, der seinen Willen behalten hat!« flüsterte er und versuchte, sich die Folgen dieser Erkenntnis vor Augen zu halten. Von ihm hing alles ab. Alles. Er mußte etwas tun! Zunächst arbeitete er weiter. Er überlegte fieberhaft und ununterbrochen. Er schleppte mit den anderen zusammen die Mischung in die Steinkammern, die sich in einem Dreiviertelkreis rund um das Dunkle Heiligtum erstreckten und mehrmals verzweigten. Wenn diese angerührte Paste brannte, dann wurde sie einen breiten Streifen mitten in der zerfallenden Stadt in eine Flammenhölle verwandeln. Sardak merkte sich die Lage der einzelnen Fallen und Vertiefungen und auch die beiden Stellen, von denen aus die Flammen entfacht werden konnten. Dann war es Abend, und sie wurden wieder ins Dunkle Heiligtum getrieben, um das Gift zu trinken. Es war die Grenze zwischen Tag und Nacht. In Bo-gah entfalteten die Schrecken ihre düsteren Schwingen. An hundert verschiedenen Punkten hatte man Feuer entfacht und brennende Fackeln in die rostigen Wandhalterungen gesteckt. Überall arbeiteten die Willenlosen unter der Aufsicht der Untoten. Sie verwandelten die Ruinen in Fallen für Dragons Heer. »Hierher. Sklave!« Die Stimme Uraks und der Knall der Peitsche fielen zusammen. Eine Gruppe Hirten wankte aus dem Heiligtum hervor, unter ihnen der Märchenerzähler und Sardak. Sardak ging, wie die anderen, langsam und mit gesenktem Kopf. In seinen Eingeweiden tobte der Hunger. Urak blieb stehen. Er richtete seine mißtrauischen Augen auf einen jungen Hirten, dessen Muskeln den 43
Umhangaus Ziegenfell fast sprengten. Urak stemmte die Arme in die Seiten und rief: »Du hast den kostbaren Trank zu dir genommen. Sklave?« Der Hirte hob den Kopf und nickte. »Ja. Herr!« sagte er gleichmütig. Während ein furchtbarer Verdacht in Sardak keimte, prallte der Märchenerzähler gegen den Rücken seines Vordermanns und blieb stehen, zitternd und mit verfallenem Gesicht. »Das werde ich prüfen. Du gehorchst meinem Befehl?« Der Mann mit dem spitznasigen Gesicht und den stechenden Augen benahm sich wie ein Feldherr oder ein Sklavenaufseher. Das nächste Ziel für mein Messer, dachte Sardak in ohnmächtigem Grimm. »Ja. Herr!« versicherte der Hirte mit gebrochener Stimme. Sie alle besaßen keinen Lebenswillen mehr, aber sie arbeiteten wie die Rasenden. Würde man sie für den Kampf einsetzen, würden sie ebenso gehorchen. »Nimm dein Messer. Schneide dein Ohr ab! Das rechte.« Sardak hielt den Kopf gesenkt und sah unter den buschigen Brauen hervor. Er verkrampfte sich, als er sah, wie der Hirte sein Messer aus dem Gürtel zog. Er faßte sein Ohr mit der linken Hand an, hob das Messer und mit einem schnellen Schnitt zog er die Klinge durch das Ohrläppchen Er hielt das blutende Stück Fleisch in den Fingern, schluckte und bewegte die trockenen Lippen, dann fragte er: »Was soll ich jetzt tun. Herr?« Die rasenden Schmerzen schienen ihn nicht zu stören. Spürte er sie überhaupt? Das Blut lief aus der breiten Schnittwunde über den Hals und versickerte unter der Jacke auf der Schulter. 44
»Steck das Messer zurück und wirf das Ohr ins Feuer!« befahl Urak. Niemand kümmerte sich um die kleine Gruppe zwischen dem Heiligtum und der Mauer, die man vom Unkraut befreit hatte. Es sah so aus, als wolle man einer kleinen Armee, die aus den Felsen dort hinten kam, den Weg freihalten. Das Ohr flog in die Flammen. Von der Spitze des Messers löste sich ein Blutstropfen. »Und du – komm her!« schrie Urak, der dem jungen Hirten einen Wink gab und auf einen anderen Haufen stumpfsinnig wartender Sklaven deutete. Sie alle boten einen verwilderten, abenteuerlichen Anblick. Er würde sich noch steigern, wenn Urak du Frauen und Männer bewaffnete. Sardak fiel auf, daß einige der jüngeren Mädchen und die Kinder nicht mehr zu sehen waren. »Ich, Herr?« murmelte Sardak und dachte an sein verstecktes Messer im Stiefel. »Ja, du! Du Klotz von einem Kerl!« Sardak setzte sich in Marsch und ging gehorsam auf Urak zu. Mit der Zunge schob er den zerkauten Stengel des Ziegenstrauches hinter die Zähne. Dieses ausgekaute Mark war der Grund, weswegen er seinen Willen noch nicht verloren hatte. Vielleicht hob er die Wirkung des lähmenden Giftes der Willenlosigkeit auf? »Herr?« Sardak blieb vor Urak stehen. »Dieser Greis ist zu schwach zum Arbeiten und zu langsam für den Kampf. Nimm dein Messer und töte ihn.« Sardak bemühte sich, seinen Schrecken nicht zu zeigen. Der alte, unschuldige Märchenerzähler! Er breitete seine Arme aus und zeigte Urak die leeren Handflächen. »Ich habe kein Messer, Herr!« murmelte er. Selbst wenn er jetzt zu fliehen versuchte, würde es den alten 45
Mann nicht retten. Sein Gaumen wurde trocken, sein Herz begann hämmernd zu schlagen. Kalter Schweiß trat auf seine Stirn und tränkte das grobe Hemd zwischen den Schulterblättern. »Hier. Nimm meinen Dolch! Schnell, sonst stirbst du selbst!« Die Augen des anderen Mannes ließen Sardak nicht los. Urak zog einen langen, nadelscharf geschliffenen Dolch aus der Gürtelscheide, drehte ihn um und warf ihn in die Richtung Sardaks. Sardak fing ihn mühelos auf und drehte sich herum. Entweder er oder der Märchenerzähler! Er hatte sich einen schnellen Tod gewünscht, so sagte Adrar immer. Jetzt würde er ihn haben. Es würde nicht der einzige Tote bleiben, denn ab jetzt kannte Sardak nur ein Doppelziel: Dragon zu rufen, damit er diesem Schrecken ein Ende bereitete, und Urak zu töten. Er ging auf Adrar zu, der regungslos dastand und in die Flammen starrte. Es ist besser, dachte Sardak entschuldigend und wurde von seinen eigenen Gedanken hin und her gerissen, daß ein einziger Mann schnell stirbt, als daß Hunderte der Krieger Dragons, alle Hirten hier und andere Menschen sterben. Er holte aus, indem er den Arm nach hinten schwang. Adrar rührte sich noch immer nicht. Er ahnte nichts von seinem Ende. Dann fuhr der Dolch wie ein Blitz durch die Dunkelheit, die Klinge funkelte einen Augenblick lang auf, ehe sie durch den Rücken genau ins Herz des alten Mannes drang. Adrar zuckte zusammen und starb auf der Stelle. Als der Körper nach vorn fiel, zog Sardak den Dolch heraus und drehte sich langsam um. Er war zum Mörder geworden. Er war bereit, mit der nächsten Bewegung den Dolch in das Herz Uraks zu treiben, aber hinter dem Fuchsge46
sichtigen standen jetzt zwei Untote, die ihre Augen auf ihn richteten. »Also kannst du auch gehorchen!« sagte Urak. »Das war schnelle Arbeit!« Es wird bei dir ebenso schnelle Arbeit sein, dachte Sardak voller mühsam unterdrücktem Haß. Aber du wirst deinen Tod kommen sehen ... »Behalte den Dolch. Du wirst mein persönlicher Sklave!« sagte Urak. Er sah verächtlich auf den zusammengekrümmten, stillen Körper herab und nickte. »Danke, Herr!« brachte Sardak mühsam heraus. Er hatte einen Nachteil in einen Vorteil umgemünzt, aber um welchen Preis! Er war der Leibdiener dessen, der alle Pläne Zamocs kannte. Alle Pläne und Fallen würde auch Sardak kennen. Kannte er sie, würde er sie an Dragon verraten, wenn es nicht zu spät war. Noch besaß er seinen freien Willen, und sein Vorrat an Ziegenstrauch-Mark reichte noch für einige Tage. Er würde Dragon berichten können, daß alle die eingefangenen Hirtenfamilien befreit werden konnten, denn er kannte die Möglichkeiten dazu. »Du wirst morgen früh, wenn wir Dragon heranlocken, die Fallen vor der Stadt untersuchen. Wehe den Sklaven, wenn sie keine gute Arbeit geleistet haben!« sagte Urak schnell. »Und jetzt komm mit mir!« Sardak senkte wieder den Kopf und schob den Dolch in seinen Gürtel. »Ich gehorche, Herr!« sagte er. Er kannte jetzt den Plan der Stadt der Verlorenen Seelen einigermaßen gut. Die Ruinen und Erdwälle, das undurchdringliche Gestrüpp und die wuchtigen Mauern, die an ihren Kronen morsch waren wie ein alter Baum, bildeten drei unregelmäßige Kreise. Die Zwischenräume waren mit allerlei Fallen und mit Labyrinthen ge47
spickt. Sardak kannte mindestens fünf Wege durch diese Fallenanlagen und konnte ein kleines Heer hindurchführen. Er folgte Urak, der einen bekannten Weg einschlug. Hinter Sardak gingen die beiden Untoten, bis an die Zähne bewaffnet. Sie kamen an den vielen schuftenden Menschen vorbei, an den lodernden Feuern und den Fackeln, in deren Licht hastig gearbeitet wurde. Immer wieder zischten die Peitschen und hörte Sadak die dumpfen Geräusche der Knüppel oder Speerschäfte. »Hier entlang! Wir ...« Urak sah Sardak voll ins Gesicht und entdeckte, daß er etwas aß oder kaute. Sofort blitzten die Augen wieder voller Mißtrauen auf. »Was ißt du, Sklave?« Sardak öffnete den Mund und sagte: »Nichts, Herr. Ich kaue eine alte Wurzel!« »Spucke sie aus! Du frißt nur, wenn ich es dir erlaube!« schrie Urak wütend. Sardak gehorchte; er hatte vor Stunden das Willensgift getrunken und würde es vielleicht noch ein wenig aushallen. Aber Morgen würde er ebenso seinen Willen verlieren wie die anderen. Eine eiskalte Hand berührte ihn. Er spuckte die zerkauten Fasern in die Dunkelheit und fühlte, wie seine Finger zitterten. Urak wandte sich unwillig um, riß einem Untoten die Fackel aus der Hand und stieg eine zertretene Treppe hinauf, deren Stufen ausgebrochen waren. Auf einer kleinen Plattform machte er halt und hielt die Fackel vorsichtig von einer dünnen Steinplatte weg. »Heb die Platte auf!« sagte er scharf. Sardak stemmte den Stein mit seinen bärenhaften Kräften leicht in die Höhe. Dahinter sah er die Rinnen, in denen die Masse aufgehäuft und die Haufen miteinander verbunden waren, eine kleine Reihe flacher, steinerner Kammern, in die Sonnenlicht fallen konnte. 48
»Das Götterfeuer! Wir werden ihnen einen höllischen Braten liefern ... ihr eigenes Fleisch!« keuchte Urak auf. »Herunter mit dem Deckel!« Feuer oder Wasser, Sonnenstrahlen oder ein mit Wucht geschleuderter Stein entzündeten das Götterfeuer, dachte Sardak. Er kannte die Seile, die eine Reihe von eisernen Zapfen verbanden. Zog man an den Seilen, so glitten die Zapfen aus den Löchern. Die abdeckenden Steinplatten verloren das Gleichgewicht und kippten um. Sie setzten eine lange Reihe der Steinkammern dem Sonnenlicht aus. Außerdem verlief neben den vielen Kammern eine gemauerte und mit trockenem Lehm ausgebesserte Rinne entlang. Eine hochgelegene Zisterne speiste die Rinne. Zerschlug man einen Verschluß, strömte Wasser in die Rinne und also in die einzelnen Kammern hinein. Das Wasser konnte hier, von diesem alten Turm aus, losgelassen werden – an zwei anderen Stellen gab es Gelegenheiten, Seile zu ziehen oder Feuer an die dunkle Substanz zu legen. Es war der innerste Wall, der dicht vor dem Dunklen Heiligtum mit seinen unbekannten Geheimnissen lag. »Ein Befehl für dich, Knecht!« sagte Urak, als sie die Treppe wieder hinunterstiegen. »Ich werde ihn befolgen, Herr!« sagte Sardak demütig. »Wenn dieser Dragon bis hierher kommen sollte, was ich bezweifle, dann ist es deine Aufgabe, das Götterfeuer anzubrennen. Du wirst sie mit deinem Leben wahrnehmen!« Unverhüllte Drohung und die Freude an der Macht klangen aus Uraks Stimme. »Mit meinem Leben, Herr!« versicherte Sardak. Hoffentlich kann ich dich vorher in eine der Kammern wer49
fen, dachte er wütend und von einem kalten, verzehrenden Haß erfüllt. »Heute nacht wirst du nicht mehr arbeiten. Morgen, wenn es hell wird, ist es deine Aufgabe, alle Fallen zu überprüfen. Besonders die vor dem dritten Mauerring!« sagte Urak und deutete in die Richtung der Stadtgrenze. »Ja, Herr!« »Du kannst jetzt etwas essen. Beim dritten Feuer, wo die Aussätzigen und die Krüppel sitzen, wird man dir etwas geben. Dieser Mann paßt auf dich auf!« Er gab dem rechts neben ihm stehenden Untoten die Fackel und nickte. »Herr, ich kenne nur wenige Fallen!« sagte Sardak einschränkend. »Dein Bewacher kennt sie alle. Er lebt schon länger hier!« sagte Urak. »Geh jetzt!« »Ich gehorche!« murmelte Sardak und entfernte sich. Hinter ihm, mit erhobener Fackel und der Peitsche in der Hand, folgte der lebende Leichnam mit den wachsamen Augen. Sardak lag auf einem Haufen trockenen Laubes und hatte die Arme hinter dem Nacken verschränkt. Er hatte ein Stück hartes Brot, einen Fetzen sehniges Fleisch und einen Becher Wein, der zu zwei Dritteln aus sumpfig riechendem Wasser bestand, bekommen und widerwillig hinuntergewürgt. Jetzt überlegte er, was er tun konnte. Er mußte fliehen – spätestens morgen mittag mußte er Bo-gah verlassen haben. Solange es hier von bewaffneten Leichen, die lebten, von willenlosen Hirten, die wie besessen arbeiteten und auch den widersinnigsten Befehlen gehorchten, solange Urak und Zamoc überall und unerwartet auftauchten und die Sklaven kontrol50
lierten, konnte er es nicht wagen. Nachdenklich kaute er das Ziegenbusch-Mark und tastete nach dem Dolch. Die Waffe steckte noch im Gürtel. »Wie wollen sie Dragon hierherlocken?« fragte Sardak sich. Er sehnte sich nach seinen Herden zurück. Aber er ahnte, daß für lange Zeit diese Art Leben vorbei war. Die Dämonen hatten ihn ergriffen und wirbelten ihn umher. Und ausgerechnet er hatte niemals an Gespenster, Vampire oder derlei geglaubt! »Und wo sind die Frauen und die Kinder geblieben?« Er hatte sie nirgendwo gesehen, den ganzen Tag nicht. Und man hatte ihn schließlich fast durch die gesamte Stadt der Verlorenen geführt. Aber jetzt wußte er, daß in den Höhlen der Felsenriffe hinter dem »Heiligtum« irgendwelche Bestien lauerten, die hungrig schrien, mit schweren Ketten rasselten und einen strengen Geruch ausströmten, wie Felle, die man niemals gereinigt hatte. Er schlief mitten in seinen gequälten Gedanken ein und erwachte erst, als ihn ein schwerer Stiefel in die Rippen traf. Er taumelte hoch und sah neben sich einen der Untoten stehen. »An die Arbeit!« sagte der lebende Leichnam mit dunkler, rauher Stimme. »Ja, Herr!« sagte Sardak und verschluckte einen Teil seines leergekauten Marks. »Die Fallen durchsehen.« Jetzt, im weißen Licht des Morgens, als an allen Pflanzen die Tautropfen zitterten, bot die Ruinenstadt einen ruhigen Anblick. Überall wuchsen die schwarzen Mauern aus dem Gestrüpp hervor. Feuerkreise dampften leicht. Und überall standen die Sklaven auf und wurden an die Arbeit getrieben. Etwa hundert von ihnen verließen in einem langen Zug die halb zusammengebrochenen Quartiere. Ein Aussätziger humpelte in die Sonne. Man hörte das Wiehern von Pferden, die angeschirrt 51
wurden. Sardak wußte, daß etwas Entscheidendes bevorstand. Er begann sich vor diesem Tag zu fürchten.
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5.
Partho sah den Kundschafter als erster. Er deutete nach vorn, über die Mähne des Pferdes hinweg und sagte knapp: »Etwas ist geschehen. Einer aus der Vorhut kommt zurück.« Sie ritten dem Reiter entgegen. Die etwa vierhundert Männer, die besten Krieger aus Parthos Truppe, führten an diesem Tag den Zug der Elftausend an. Sie alle waren vom Troß fast unabhängig und führten ihre eigenen Lasttiere mit sich. Eine sehr schnelle, leicht bewegliche Truppe. Dragon und Partho standen in den Steigbügeln auf und galoppierten den schmalen, gewundenen Weg entlang, bis sie in Rufweite des Kuriers waren. Der Mann wirkte aufgeregt. Er hetzte sein Pferd und hob, als er Dragon und Partho sah, die Hand und streckte den Arm senkrecht in die Luft. »Gefahr, Herr! Eine Falle!« schrie er von weitem. Dragon und Partho warfen sich einen kurzen Blick zu, der ihre Unruhe ausdrückte. Sie hielten die Pferde an und warteten. Kurze Zeit später zügelte der Kundschafter sein schweißüberströmtes, schäumendes Pferd zwischen ihnen. Atemlos und mit Pausen stieß er hervor: »Herr! Hauptmann! Wir sind bis an die Wegkreuzung gekommen, die nach Bo-gah führt.« Er wischte den Schweiß von der Stirn. Partho schnallte den Wassersack los, zog den Korken heraus und reichte den Sack dem Mann. Mit zitternden Fingern griff der Kundschafter danach und trank ein paar Schlucke, dann atmete er tief ein und aus und fuhr fort: 53
»Wir fanden eine Menge Spuren. Pferde, beschlagen und unbeschlagen, mit abgetretenen Eisen. Und viele Fellschuhe, wie sie Hirten tragen, und Sandalen. Neben dem Wegekreuz lag ein totes Mädchen, nicht älter als zehn Sommer.« Dragon murmelte verblüfft: »Ein totes Mädchen? Wie sah es aus? Schildere uns alles – wo sind die anderen?« »Sie kommen langsam zurück und suchen nach anderen Spuren. Ja, ein Mädchen. Es war höchstens ein paar Stunden tot. Man hat dem Kind den Hals durchgeschnitten.« Partho sagte grimmig: »Cnossos! Er will uns nach Bo-gah locken. Es fragt sich nur, ob wir diesen Köder annehmen. Dieser Abschaum der Tiefe mordet Kinder, um uns zu verführen.« »Wir sollten dafür sorgen, daß es nicht mehr Morde gibt. Du sagtest, Bo-gah habe nur wenige Einwohner?« fragte Dragon. »Ja. Es wäre ein Wunder, wenn es mehr als fünfhundert wären. Ausgestoßene, Verbrecher, Blinde und Lahme und solche mit ansteckenden Krankheiten. Ich habe dir erzählt, was die Hirten sagten, an deren Herden wir vorbeikamen. Reiten wir weiter, vergessen wir Cnossos.« Der Kundschafter sagte: »Es sah wie eine Falle aus. Blutspuren führten auf dem Pfad in die Richtung der Stadt. Und die Spuren der Pferde und der vielen Füße führten aus der Stadt und wieder zurück.« Dragon nickte kurz. »Wir werden beides tun, Freunde!« sagte er. »Wir werden bis zum Wegekreuz reiten. Das Heer wartet 54
dort. Tausend ausgesuchte Krieger reiten mit uns nach Bo-gah, Partho. Dieser Vorschlag schmeckt dir nicht?« »Diese verfluchte Stadt ist voller giftiger Schlangen. Und giftiger Menschen. Überlassen wir sie ihrer Ruhe.« Dragon biß auf seine Unterlippe und überlegte. Sie waren, wenn sie den Kreuzweg erreicht hatten, einen knappen Tagesritt von der Stadt entlernt. Eintausend Krieger, das konnte kein Risiko sein. Ritten sie schnell, waren sie in sechs oder sieben Stunden an den Felsen und Ruinen der Stadt der Verlorenen Seelen. Sicher, das tote Mädchen war eine unübersehbare Herausforderung. Aber Cnossos mußte damit rechnen, daß beides geschah – das Heer konnte in die Falle gehen oder auch nicht Dragon legte die Hand auf den Schwertgriff und ahnte, daß Cnossos ihn nur aufhalten wollte. »Partho! Ich habe es!« sagte Dragon und lachte kurz und schneidend. »Ich höre!« »Cnossos will Zeit gewinnen. Er will uns zwingen, die Stadt zu belagern und dort zu kämpfen. Dabei soll ein Teil unserer Männer sterben. In dieser Zeit sichert er sich einen weiteren Vorsprung. Wir werden seinen Plan unterlaufen.« »Das höre ich schon lieber!« sagte Partho und fuhr fort: »Reitet weiter. Ich hole die Männer zusammen. Und dann ... rasende Eile!« Er riß sein Pferd herum und galoppierte den nachrückenden Kriegern seiner Truppe entgegen. Der Kundschafter drehte sein Tier ebenfalls, und Dragon folgte ihm. Der Ritt wurde, je länger er dauerte, immer schneller. Teile des Heeres verschoben sich. Agrion und eine Gruppe ausgesuchter Amazonen holten auf und umgaben Dragon. Sie brachten Yina mit sich, die »Maus«, die 55
auf einem kleineren, aber ausgeruhten und ausdauernden Pferd ritt. »Wie weit ist der Kreuzweg noch entfernt?« schrie Dragon dem erschöpften Kundschafter zu. Hinter dem Schlafenden Gott sammelten sich die Krieger. Es wurden, wenn sie dem anderen Pfad folgten nicht viel weniger als tausend sein. Ein Elftel des großen Heerzuges. »Eine halbe Stunde, bei diesem Ritt!« keuchte der Kundschafter zurück. Es war früher Vormittag. Noch waren die Felsen feucht und das Gras kalt. Erst in einer oder zwei Stunden würde die Hitze stechen. Wie ein Gewitter am frühen Morgen war das Donnern der viermal tausend Hufe. Noch ritten sie, ohne eine verräterische Staubschleppe hinter sich herzu ziehen. Noch begleiteten die schwarzen Totenvögel ihren Zug nicht. Sie ritten durch ein Land, das aus Büschen und Felsen bestand, aus vereinzelten, krummen Bäumen und aus abgeweideten Flächen. Dort standen die Rinder und brüllten, als sie die Menschen sahen. Die Kühe und Geißen, die nicht gemolken wurden, litten Qualen. Die Reiter stoben vorbei und hinterließen einen zertrampelten Pfad. Die Pferde dampften und keuchten. An der Spitze ritten Dragon und Partho, Agrion und der Hauptmann der Schleuderer. Sie kamen jetzt an eine Stelle, an der sich das Tal weitete und in eine dreieckige, fast ebene Fläche überging. Sie bestand aus Weiden und kleinen Baumgruppen. Ziegen und Schafe jagten nach allen Seiten auseinander, als die Reiterei heransprengte. Einige Reiter mit den charakteristischen Schilden und Mänteln der Truppe Dragons kamen in gestrecktem Galopp auf die Spitze zu. Die Bäuche der Pferde berührten beinahe den Boden, so schnell ritten die Männer. 56
Dragon riß das Schwert aus der Scheide und reckte den Arm hoch, »Haaalt!« schrie er. Der Befehl setzte sich wellenförmig nach hinten fort. Als die anderen Kundschafter und die Spitze zusammentrafen, war es nicht mehr schwer den rasenden Ritt aufzuhalten. »Dort ist der Kreuzweg. Wir haben nichts angerührt!« sagten die Kundschafter. Partho sprengte als erster auf die bezeichnete Stelle los. Agrion, den Bogen in der rechten Hand, folgte ihm auf ihrem riesigen Schimmel. Sie kamen an die schwarze, von roten Adern durchzogene Felsnadel, die neben der Wegegabelung stand. Auf einer ebenen Fläche konnte man eine Pfeilspitze erkennen, die nach Bo-gah wies und einige vollkommen abgesplitterte Schriftzeichen einer unbekannten Schrift. Langsam ritt Dragon neben Partho und Agrion auf das bewegungslose Bündel zu, das unter dem Felsen lag. »Dieser Schakal!« knurrte er. Einen Augenblick lang verwandelte sich sein Gesicht in eine Maske kalten Hasses. Er senkte das Schwert und blickte schweigend das tote Kind an. Einige Männer ritten näher und bildeten hinter den drei Freunden einen Halbkreis. Die Pferde bissen schnaubend in die Stangen ihrer Zügel. Ein Mädchen, neun oder zehn Sommer alt. Sie lag halb zusammengekrümmt und halb auf der rechten Seite. Ein Arm und eine Hand waren ausgestreckt. Die Hand krallte sich in ein blutiges Grasbüschel. Jetzt war alles Blut getrocknet und hatte sich in ein gebrochenes Braun verwandelt. Das Gesicht des Mädchens war weiß, die Augen standen weit offen. Von einem Ohr zum anderen zog sich ein blutiger, klaffender Schnitt. Der Kopf lag in einer Lache rostigen Blutes, das auch das dunkle, 57
lange Haar getränkt hatte. Dragon fühlte, wie ein Eisstrom durch seine Adern lief. Bis jetzt war der Kampf zwischen Cnossos und ihm eine Auseinandersetzung zwischen zwei annähernd gleichen Gegnern gewesen. Jetzt hatte Cnossos unschuldige Menschen mit hineingezogen und war nicht einmal davor zurückgeschreckt, Kinder zu ermorden, um eine blutige Fährte zu legen. Dragon atmete langsam ein und aus, um sich zur Ruhe zu zwingen. Das runde Amulett auf seiner Brust blieb ruhig und pulsierte nicht. »Partho?« sagte er mit einer Stimme, die Unheil und Rachsucht verkündete. »Mein Freund?« fragte Partho zurück und erschrak, als er Dragons weißes Gesicht sah. Die Züge wirkten wie versteinert. »Wir reiten so schnell wir können nach Bo-gah. Wir werden sehr vorsichtig, wenn die Stadt näher kommt. Cnossos, dieser Bodensatz der Welt, will einen Teil von uns vernichten. Vielleicht können wir noch einige der Unglücklichen retten.« »Ich habe verstanden!« sagte Partho leise und nickte. Dann sagte er, wesentlich lauter und viel schärfer: »Männer! Uns nach! Wir reiten zur Stadt der Verlorenen Seelen. Wer die Geschwindigkeit nicht mehr halten kann, reitet langsam zurück zum Heer. Das Heer soll hier rasten. Kundschafter sollen den weiteren Weg nach Ulgra erkunden, drei oder vier Tage weit. Los!« Er setzte sich im Sattel zurück, befestigte das Helmband und zog seine Handschuhe straff. Dann nickte er abermals Dragon zu. »Weiter! Nach Bo-gah!« Tausend Männer – zwei Dutzend Amazonen unter ihnen – schrien laut und zogen ihre Waffen. Dann galoppierten sie an. Sie bildeten kleine Gruppen zu zehn 58
Reitern oder jeweils einem Dutzend. Mit Dragon, Partho. Agrion an der Spitze, ritten sie im rechten Winkel weiter und folgten der blutigen Spur des Cnossos. Schon nach ganz kurzer Zeit fanden sie das nächste Opfer. Diesmal war eine junge Frau ein Teil der Spur, die nach Bo-gah deutete. Die Reiter verlangsamten ihre Geschwindigkeit nur unwesentlich. Das Mädchen lag ausgestreckt am Boden. Man hatte ihr mit großer Wucht den Kopf zerschmettert. Fast eintausend Männer sahen dieses zweite, schreckliche Bild. Hier hatte kein Krieg stattgefunden, hier war keine Schlacht geschlagen worden, aber die Untoten und die Kreaturen des Cnossos töteten und mordeten trotzdem. Weiter. Geradeaus und über die krummen Pfade. Vorbei an Bäumen mit traurig hängenden Asten. Über sumpfige Bachläufe und über Weiden, die erst kürzlich von Menschen mit ihren Herden betreten worden waren. Hinter dem niedrigen Gestrüpp erhoben sich die ersten Felsen. Hänge begannen, die man nur traversieren konnte. Das kleine Heer blieb dicht zusammen und folgte dem Weg und den vielen Spuren. Sie kamen an einem dritten und vierten Opfer vorbei. Es sah aus, als sei hier ein Zug von Hirten mit ihren Familien entlanggetrieben worden. Kurz nach dem höchsten Stand der Sonne hatten sie knapp die Hälfte des Weges zurückgelegt. Plötzlich sahen die ersten des Heeres weit vor sich Bewegungen und dann einige Menschen, die vor ihnen flohen. Einige Reiter waren dort, vorn ... noch zu weit entfernt. Welche Teufelei plante Cnossos? Sie würden es bald wissen. 59
Die rund hundert Willenlosen hatten die Kinder und Mädchen und Frauen mit sich gezerrt. Diese waren ebenso willenlos wie die Männer, die eigenen Männer oder die Geliebten, die Väter oder die jungen Burschen. Die Befehle der Untoten und Uraks waren widerstandslos befolgt worden. Die Willenlosen gaben nichts mehr für ihr Leben. Es war ihnen gleichgültig, was sie taten. Nur eines war wichtig: Sie hatten zu gehorchen. So töteten die alten Hirten ihre eigenen Söhne und warfen sie neben dem Pfad in das Unkraut. So erschlugen die Liebhaber die Mädchen, mit denen sie noch vor weniger als drei Tagen in enger Umarmung in den Zelten gelegen hatten. So ermordeten junge Hirten die Töchter ihrer besten Freunde. Alle Ermordeten säumten den Weg nach Bo-gah. Die kleine Armee Dragons näherte sich unaufhaltsam der Ruinenstadt. Bei jedem Opfer vergrößerten sich die Wut und die Entschlossenheit der Männer und der wenigen Amazonen, die Stadt zu überrennen und den Schuldigen zu finden. Aber Dragon ahnte, daß Cnossos noch weitere Listen vorbereitet hatte. Je tiefer die Sonne sank, desto näher rückte das Heer an die Ruinenstadt heran. Und an die vielen Fallen, die Cnossos ausgelegt hatte. Jetzt befand sich Sardak außerhalb des letzten Mauerkreises. Sein schweigsamer Begleiter und Aufpasser stand neben ihm, als er sich aus dem schmalen Gang hervorzwängte. Er hatte die Fallen nachgesehen, die Hunderte von Reitern oder die doppelte Menge von ab60
gesessenen oder zu Fuß angreifenden Kriegern töten konnten. »Ich bin fertig!« sagte Sardak laut. Der lebende Leichnam neben ihm sah ihn mit großen Augen an und sagte dann: »Du hast recht. Das war die letzte Falle. Gehen wir zurück.« Sardak wußte, daß diese eigentümlichen Krieger, die im hellen Sonnenlicht noch mehr wie Leichen wirkten, schwer zu besiegen waren. Er hatte es in der Nacht seiner Gefangennahme versucht, und es war ihm nicht geglückt. Fünfhundert Schritte vor ihnen erhoben sich die Reste eines ehemaligen Stadttors mit den schwarzen Doppeltürmen, an den Fels geschmiegt, aus der grünen Wildnis. Sardak dachte an den Dolch des Urak. »Du mußt mich führen, denn ich kenne den Weg nicht mehr. Herr!« sagte Sardak und wußte, daß er es nicht mehr oft versuchen konnte. Urak war mit annähernd hundert Hirten aus der Stadt hinausgeritten. Das heißt, er selbst war geritten; die Hirten und ihre Frauen und Kinder waren zu Fuß hinter ihm hergerannt. In der Stadt war dieser unheimliche Zamoc ... nur die gespenstischen Männer wie sein Führer waren noch deutlich als Gefahren einzustufen. Seine Finger erreichten die eiserne Gürtelschnalle und krampften sich um das Leder und das Metall. »Hinter mir her! Es eilt!« sagte der Untote. Sie gingen geradeaus. Sie alle warteten auf weitere Befehle. Vermutlich wurde Dragon mit seinem gewaltigen Heer auf Bo-gah losreiten, und dann verwandelte sich die Ruinenstadt in eine Hölle aus Fallen, Feuer und geheimnisvollen Verteidigern mit ihren noch rätselhafteren Waffen. Sardaks Finger erreichten jetzt den 61
Griff des kostbaren Dolches und legten sich fest um den Handgriff. »Ja. Herr!« sagte Sardak. Er hatte, von allen unbemerkt, wieder sein Ziegenbuschmark kauen können. Die Lähmung, die sich gegen Mittag um seinen Verstand gelegt hatte, war gewichen. Er zog den Dolch und ging dicht hinter dem Begleiter einher. Wie sollte er es anstellen? Als der Untote strauchelte, sprang Sardak nach vorn. Er hielt den Dolch, als sei er eine Verlängerung seines Zeigefingers. Das Eisen fuhr zweimal in den Rücken des lebenden Leichnams. Der Untote bückte sich, stöhnte kurz auf und federte dann herum. In seiner Hand funkelte das Schwert. Obwohl mindestens ein Stich das Herz getroffen hatte ... lebte diese Kreatur noch. Sardak duckte sich blitzschnell. Das Schwert pfiff dicht über seinen Kopf dahin. Als der Untote, vom Schwung des Schlages mitgerissen, sich drehte, schlitzte ihm der Dolch den Schädel seitlich auf. Sardak sprang zurück, den Dolch in den Fingern. Er wich zurück, als der Untote einen Ausfall machte. Die Schwertspitze schoß zwischen Arm und Rippen in die Luft und zerschnitt das Fell der Jacke. »Du bist ohne Willen. Wirf den Dolch weg! Ich werde dich töten!« knurrte der Untote. »Wenn jemand stirbt, dann bist du es!« schrie Sardak. Er tänzelte um den Mann herum und wartete auf seine Gelegenheit. Er führte zwei Stiche und schnitt tief in die Haut des anderen. Nichts geschah: nicht einmal eine auffällige Bewegung des Erschreckens waren zu sehen. Der Untote griff an. Sardak wich aus und stach in den Körper vor ihm, wann immer er konnte. Jeder lebende Mensch wäre inzwischen längst verblutet, aber sein unheimlicher Gegner nicht. Je länger der Kampf dauerte, je 62
mehr das Schwert durch die Luft pfiff, je häufiger Sardak ausweichen mußte, desto verzweifelter wurde er. Schließlich stellte er dem Untoten, als dieser bei einem Ausfall an ihm vorbeirannte, ein Bein. Er sprang in die Luft und landete mit beiden Knien auf dem Rücken des Strauchelnden. Dann warf sich Sardak nach vorn. Er faßte den Kamm des Helmes und riß den Kopf in den Nacken. Seine Hand mit dem Dolch fuhr nach unten und bewegte sich von links nach rechts. Das Eisen zerfetzte die Kehle des Untoten. Jetzt bäumte sich der Krieger auf und warf Sardak beinahe ab. Ein zweiter Schnitt, mit mehr Kraft geführt. Eine farblose Flüssigkeit rieselte über die Finger des Hirten. Dann riß die letzte Sehne, dann flog der Kopf des Mannes im hohen Bogen ins Gebüsch. Der Körper rührte sich nicht mehr. Langsam stand Sardak auf. Er zitterte an allen Gliedern. Er blickte seine Hände an, dann die Waffe, schließlich den regungslosen Torso zu seinen Fußen, dann stöhnte er auf. Er hatte mit einem Geist gekämpft und – gewonnen! In einem nahen Tümpel wusch er sich die Hände, dann schob er den Dolch in den Gürtel und begann zu rennen. Er lief Dragons Heer entgegen.
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6. Er war frei. Er hatte die schreckliche Stadt mit ihren noch schrecklicheren Bewohnern hinter sich gelassen Der Schatten über seinem Gemüt hob sich, je länger er rannte. Hinter sich ließ er den kopflosen Leichnam, den er unter ein Gebüsch gezerrt hatte. Er hatte einen Toten getötet – jetzt wußte er, daß diese Männer nur dann zu töten waren, wenn man ihnen den Kopf abtrennte. Keine andere Verletzung konnte sie aufhalten. Sardak, der Hirte und der Helfer der anderen Hirten, rannte den Pfad von Bo-gah entlang, der bis zur Kreuzung mit der häufiger benutzten Straße in Richtung Myra durch Gelände führte, das er kannte: er war hier seit Jahren immer wieder durchgezogen. Noch lief er schnell und mit kraftvollen Sätzen, aber der Mangel an Schlaf und an guter Nahrung würde ihn bald müde werden lassen. Sardak wurde von zwei Stimmungen beherrscht – von der Hoffnung und von dem Haß und der Wut auf Urak und dessen Herrscher. Die Hoffnung: Er dachte voller Inbrunst daran, daß Dragons Heer vielleicht inzwischen das Wegekreuz erreicht haben mochte, von dem der Weg nach Bo-gah abzweigte. Vielleicht hatten Urak und die willenlosen Hirten dort einen Hinterhalt vorbereitet. Die Willenlosen würden wie rasend kämpfen, da sie der Blutrausch überkommen hatte; das Gift in ihren Adern sorgte dafür, daß sie sich alle wie die Rasenden verhielten. Die Wut und der Haß waren deutlicher und gegenwärtiger. Sardak, der schwitzend den Pfad verließ und eine Abkürzung über schwieriges Gelände wählte, rücksichtslos zwischen Büschen und Ranken hindurchrannte und merkte, wie die Dornen das Leder der Stiefel aufrissen und seine Haut schrammten, haßte Urak, 64
weil dieser feige Mann sich zum Werkzeug des Zamoc gemacht hatte. Zamoc, das stand für ihn fest, war der Inbegriff des Bösen, seit er mehrmals das Gesicht gesehen und die Stimme gehört hatte. »Ich muß Dragon erreichen. Oder seinen Hauptmann Partho!« keuchte Sardak stoßweise hervor. Er lief mit angewinkelten Armen. Die Sonne, die höher und höher kletterte und als ein mächtiges Feuer den Himmel erfüllte, strahlte gnadenlos auf ihn herunter. Er lief in einen kurzen, kühlenden Schatten hinein, tauchte wieder auf und stob in den Spuren der Willenlosen weiter. Der Weg hob sich jetzt und kletterte in einigen Windungen auf einen langgestreckten Hügel hinauf. Sardak war schweißübergossen, als er den einsamen Felsblock erreichte, der auf der Spitze thronte. Zwei Elstern flogen laut schimpfend davon, als er stehenblieb und sich im Schatten an den Stein lehnte. Er zog ein Stück Ziegenbuschmark heraus, schälte es, indem er die Rindenstreifen mit den Zähnen abriß und schob das Mark in den Mund. Er konnte von hier aus eine gewaltige Strecke überblicken. Sein Herz hämmerte schnell und laut. Nur langsam beruhigte er sich. In seinem Magen schien ein Wolf zu knurren. Der Weg führte in zwei Windungen den Hügel abwärts. Die Spuren der Willenlosen ließen sich gut verfolgen. Dort, wo der Weg in die schmale Schlucht hineinführte, sahen Sardaks scharfe Augen einen Körper liegen oder ein Bündel Kleider. Weit am Horizont, in dem leichten Dunst, der von den kleinen Wäldern und den Sumpfen aufstieg, glaubte Sardak eine Staubwolke zu erkennen. War das Dragons Heer? War es wirklich eine Staubwolke? 65
»Ich weiß es nicht. Ich muß weiter«, sagte er sich und holte tief Luft. Dann warf er sich vorwärts und begann zu rennen. Er sprang den Hang hinunter und wählte den kürzesten Weg. Als er den Eingang zur Schlucht erreichte, verlangsamte er seinen Lauf und blieb stehen, als er genau erkannte, daß die Gestalt keineswegs ein Bündel Kleider war. »Ein toter Hirte!« murmelte er, ging näher heran und beugte sich über den Körper. Der Mann war seit dem frühen Morgen tot. Die Käfer und Insekten krabbelten über sein Gesicht, das Sardak mit erloschenen Augen anstarrte. Der Schädel des Hirten, der mit Sardak zusammen am Lagerfeuer gesessen hatte, war – mit einem einzigen. Schwerthieb gespalten. Langsam stand Sardak auf. »Erschlagen ... ermordet ... vielleicht noch von einem anderen Hirten, der einmal sein Freund war!« flüsterte er. Plötzlich zitterte er vor Kälte, trotz der sengenden Sonne. »Was hat das zu bedeuten? Eine neue Teufelei dieses Urak ...« Er konnte nicht helfen, konnte nichts mehr ändern. Er lief weiter. Zuerst langsam, um seine Kräfte bis zum Abend zu schonen, dann immer schneller. Er rannte in den Hohlweg hinein und folgte den Spuren rechts und links des ausgetretenen Weges. Tiere flohen vor ihm. Insekten tanzten im Schatten. Vögel flatterten umher. Sardak rannte weiter. Er dachte nur noch an Rache. Früher oder später würde er wohl auf die hundert Willenlosen stoßen, die mit Urak hierher gegangen waren. Eine Stunde später, als er sich eben von einem kleinen Bachlauf aufrichtete, in dem er getrunken und sein Gesicht gekühlt hatte, hörte er den Hufschlag mehrerer Pferde. 66
Er erschrak und blieb stehen. Urak ... oder Dragon?
Sie waren eben an der elften Leiche vorbeigeritten, als Dragon vor sich deutlich eine Gruppe flüchtender Menschen sah. Sie hoben sich scharf als Silhouetten auf der Spitze eines kleinen Hügels ab und standen gegen das Sonnenlicht. »Dort vorn sind die Flüchtenden!« rief Dragon und ritt weiter. Partho hob zum Zeichen, daß er verstanden hatte, den Arm. Die Gruppe aus einem Dutzend Reiter hatte sich von den nachfolgenden Kriegern abgesondert, weil sie erstens weitaus entschlossener waren und zweitens wohl die besseren Tiere besaßen. »Das sind die Mörder! Ihre Opfer haben wir gesehen! Lauter junge Leute!« rief Agrion mit ihrer dunklen Stimme. »Wir werden sie einfangen!« schrie Dragon. Sie schwitzten ebenso wie ihre Tiere. Sie waren vom Schmutz, von Staub und von dem klebrigen Schweiß bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet worden. Die Waffen 67
hatten ihren Glanz verloren. Schaum flockte von den Gebissen der Pferde. Mühelos hatte Yina den scharfen Ritt mitgehalten: sie saß im Sattel wie eine von Agrions Kriegerinnen. »Nicht nur einfangen!« versprach Partho grimmig. Weit hinter sich hörten sie das Trappeln der Pferde. Dragon sagte sich, daß sie ein wenig zu schnell geritten waren. Die Gruppe dort vorn entkam ihnen nicht, aber es war möglich, daß ein Hinterhalt auf das Dutzend Reiter lauerte. Er teilte seine Befürchtungen Partho mit, der nickte und dann sein Pferd zügelte. Der Ritt wurde langsamer. Jetzt wußte Dragon mit Sicherheit, daß eine Gruppe Menschen aus Bo-gah gekommen war und elf oder mehr andere Menschen getötet und als Spur ausgelegt hatte. Eine Spur des Todes, die nach Bo-gah deutete. Dort hatte Cnossos eine großangelegte Falle aufgestellt, in der sich Dragon und sein Heer aufreiben sollten. So oder ähnlich sah Cnossos‘ Plan aus. Der Kampf in der Ruinenstadt und um die Stadt selbst würde das Heer lange aufhalten – und schon hier würde der Plan des Gegners nicht aufgehen. »Sie sind herangekommen!« sagte Partho knapp. Zwischen Felsen und Bäumen tauchte gerade die Vorhut des größeren Heerhaufens auf. Jetzt konnten sie beruhigt weiterreiten, denn wie immer der Hinterhalt aussehen wurde; tausend Reitern hielt er auf keinen Fall stand. Die Reiter waren voller Entsetzen, denn ein Feind, der wehrlose Hirten niedermachte, nur um die Richtung eines Heeres zu ändern, war ihnen gespenstisch. »Gut. Weiter! Bo-gah ist nicht mehr fern!« Dragon gab die Zügel frei. Wieder setzten sie sich an die Spitze und galoppierten in die Richtung der Dämonenstadt. Jetzt brannte ihnen die Sonne direkt in die Au68
gen. Es war ein Gewaltritt für alle, aber er würde sich lohnen, wenn das Heer die sinnlose Opferung weiterer Hirten verhindern konnte. Und dazu war Dragon unter allen Umständen entschlossen. Sie sahen und erkannten einander in dem Augenblick, als das schweißbedeckte Pferd aus dem Schatten des Felsblocks herausstürmte und auf Sardak zugaloppierte. Im Sattel saß Urak, eine langstielige Streitaxt in der Hand. Er zügelte das Pferd dicht vor Sardak, der langsam den Kopf senkte, als ob er Urak nicht in die Augen sehen konnte. Er schätzte den Abstand ein, versuchte, seine Möglichkeiten festzustellen, den Reiter aus dem Sattel zu zerren und ihn zu erstechen. Aber da waren schon die beiden Untoten heran und blieben auf beiden Seiten Uraks stehen. »Was tust du hier, Sklave?« schrie Urak und hob die Waffe. Sardak hatte sich dieses Zusammentreffen mehrmals vorgestellt. Er log kaltblütig: »Unser Herr Zamoc hat mich geschickt!« Schweigend und mit ausdruckslosen Gesichtern starrten die zwei Untoten auf Sardak herunter. Ihre Hände lagen auf den Griffen der Waffen. Sie waren bereit, auf den kleinsten Wink Uraks hin zu handeln und Sardak erbarmungslos zu töten. »Zamoc? Was hat er dir aufgetragen?« Sardak hatte keine Gelegenheit mehr gehabt, den ausgekauten Stengel auszuspucken. Er sagte, indem er beteuernd nickte und langsam den Dolch aus dem Gürtel zog: »Ich soll den Mann an der Spitze des Heeres überfallen und töten!« 69
Urak grinste kalt, riß am Zügel und ließ sein Pferd hochsteigen. Sardak bemühte sich, keine Furcht vor den wirbelnden Hufen zu zeigen. »Das ist gut. Töte ihn, aber sieh zu, daß du den Richtigen erwischt!« sagte Urak. »Uns erwartet man in der Stadt!« Er riß das Pferd herum, winkte mit dem Arm und ritt weiter. Nach wenigen Galoppsprüngen waren die drei Reiter Sardaks Blicken entzogen Er steckte den Dolch wieder zurück und rannte los. Zuerst rannte er durch eine Zone dichten Gestrüpps, das ihm die Kleidung zerfetzte. Dann kam er durch ein Stück Morast, in dem seine zerschnittenen und klaffenden Stiefel tiefe Eindrücke hinterließen, die sich mit fauligem Wasser schnell wieder füllten. Dann rannte er abermals, um den Weg abzukürzen, über einen Hügel. Er kam gerade rechtzeitig, um miterleben zu können, wie die Spitze der Verfolger auf die Nachhut der Willenlosen traf. Die beiden Gruppen berührten einander mitten in einem schluchtartigen Hohlweg, in den Sardak von hier oben einen sehr guten Einblick hatte. Mehrere Untote galoppierten den Zug der Willenlosen entlang und brachten sich in Sicherheit. Sie schrien Befehle, worauf sich vom hinteren Ende des Zuges einige Hirten lösten. Sie waren schlecht bewaffnet, aber sie stürzten sich mit dem Mut von wütenden Stieren auf die Verfolger. Die anderen rannten weiter. »Es ist zu spät! Sie wissen nicht, daß sie alle willenlos sind!« keuchte Sardak und rannte schräg den Hügel hinunter. Er versuchte, eine Stelle zwischen Dragons Kriegern und den Flüchtenden zu erreichen. Nur er konnte erklären, was wirklich geschah, wie sich die Dinge tatsächlich verhielten. Er zitterte am ganzen Körper, weil 70
er zu weit entfernt war, um eingreifen zu können. Einmal fiel er hin und war, als er sich wieder hochstemmte, am ganzen Leib zerschnitten und aufgeschlagen. Er mißachtete die Schmerzen und taumelte weiter. Seine Lungen rasselten. Seine Kehle schien bis weit hinunter gänzlich trocken zu sein und fühlte sich wie Sand an. »Halt!« schrie er, aber aus seiner Kehle kam nur ein Krächzen. Er rannte weiter. Er sah, wie die Hirten niedergeritten wurden. Die Amazonen und die Männer Parthos schlugen sie mit leicht wirkenden Bewegungen aus den Sätteln nieder. Die Pferde setzten über die Zusammenbrechenden und Bewußtlosen hinweg. Immer mehr Krieger erreichten jetzt das jenseitige Ende des Hohlweges und bildeten Zweierreihen, mehr Reiter nebeneinander hatten keinen Platz auf dem engen Pfad. »Hört auf! Haltet ein! Sie sind unschuldig!« schrie Sardak. Die Adern an seinen Schlafen schwollen an. Er war der Erschöpfung noch nie so nahe gewesen. Wieder stellten sich drei Hirten mit Lanzen und Knüppeln und einem Schwert, das ihnen ein Untoter zuwarf, den Verfolgern. Die andere Gruppe, der Rest der rund einhundert Hirten und Arbeiter, hastete weiter. Sie liefen in rasender Eile, obwohl sie restlos erschöpft waren. Sie würden, wußte Sardak, weiterlaufen und kämpfen, bis sie tot umfielen. Eine Amazone schoß einen Pfeil in die Schulter eines stämmigen Hirten im Schafspelz. Der Mann schien weder das Geschoß noch den Schmerz zu spüren. Ein Mann, der aussah, wie sich Sardak nach allen Erzählungen den jungen Hauptmann Partho vorstellte, ritt scharf an den anderen vorbei und kam ungefähr in die Richtung, aus der Sardak herantorkelte, sich wieder hochriß, weiterrannte ... jetzt sah er ihn, als er 71
das trichterartig sich erweiternde Ende des Hohlweges erreichte. Die Untoten flohen. Die Willenlosen hasteten ihnen nach. Und die Gruppe um Dragon, wenn es dort der Schlafende Gott war, geriet ins Stocken. »Halt! Dragon! Partho! Haltet ein!Erschlagt sie nicht!« schrie Sardak auf. Er sah, wie Partho auf ihn zuritt, schräg aus der Schlucht heraus. Er blieb stehen und schwenkte die Arme wild. Plötzlich spürte er, wie sich seine Gedanken verdunkelten. Ein eiserner Ring schien sich um seinen Kopf zu legen. Er fühlte, wie eine fremde Kraft in seinen Gedanken herumwühlte. Er blieb auf der Stelle stehen, unfähig, zu denken oder sich zu bewegen. Er starrte auf das Bild, das sich unter ihm verschob. Er sah die Einzelheiten, verstand sie aber nicht ... Jetzt war auch er willenlos! Partho erfaßte die Szenerie mit einem langen Blick. Als Mann der Kämpfe und des Krieges besaß er die Fähigkeit, sich schnell und gründlich zu orientieren. Er sah die wenigen flüchtenden Reiter, die sich in wildem Galopp auf scheuenden Pferden in Sicherheit brachten. Er sah auch den Zug der rennenden Hirten, die eine wild aussehende Schar boten; ungenügend bewaffnet, mit letzter Kraft sich voranbewegend, stolpernd und immer wieder strauchelnd und fallend. Dämonen schienen ihnen im Nacken zu sitzen. Dann sah er den einzelnen Mann, der vom Hügel herunter rannte und direkt auf ihn. Partho, zukam. Er schwenkte die Arme und schrie etwas, das Partho nicht verstand. Wahrscheinlich wollte er die Flüchtenden aufhalten und zum Kampf gegen die Reiter antreiben. 72
»Das wird er bereuen!« knurrte Partho und ritt wieder an. Er zog das Schwert, schob den Schild auf den Unterarm und biß die Zähne aufeinander. Sein Pferd bahnte sich einen Weg, als er an den anderen Reitern vorbei und aus dem Ende des Hohlwegs hinausgaloppierte. Lange, dornige Ranken rissen mit häßlichen Geräuschen. Die Phalanx der Reiter, zu denen auch Agrion und Dragon gehörten, brach auseinander, als der Mann dort vorn plötzlich stehenblieb, als sei er gegen eine unsichtbare Mauer gerannt. Mit vier Galoppsprüngen war Partho dicht neben ihm und ritt ihn schräg an. Er hob, von der rechten Seite kommend, das Schwert und wechselte die Zügel in die Schildhand. Plötzlich schrie jemand in seinen Gedanken: »Halt: Töte ihn nicht!« Partho konnte den Schlag nicht mehr aufhalten. Aber er drängte, der inneren Stimme gehorchend, sein Pferd mit einem Schenkeldruck seitwärts. Das Schwert beschrieb mit der Spitze einen langen Halbkreis und pfiffdurch die Luft, eine Handbreit an der Schulter des Fremden vorbei, der Partho mit einem stumpfsinnigen Blick anstarrte. Partho galoppierte an ihm vorbei, ließ das Schwert an seinem Oberschenkel herunterhängen und brachte dann das Pferd in einer engen Kurve wieder zurück. Dann erst sah er, daß Yina dicht an Dragon herangeritten war und auf ihn einredete. Dragon hob in einer zögernden Bewegung den Arm, dann nickte er. Seine Augen richteten sich auf Partho. Während der Fremde sich mit einigen Sätzen in Sicherheit brachte, rief Dragon: »Hör auf! Er ist unser Freund! Er kam, um uns zu warnen!« Partho brüllte zurück: »Ich verstehe.« 73
Er trieb, während er das Pferd langsam auf den Fremden zugehen ließ, das Schwert in die Scheide zurück. Dann begegnete er dem Blick des Fremden, der mit hocherhobener rechter Hand, deren Handflache auf Partho zeigte, die Geste vollzog, die jeder verstand. Partho fragte knurrend: »Wer bist du?« »Ich bin Sardak. Ich ...« Er krächzte und schnappte nach Luft. Er war völlig erschöpft. »Ich komme aus Bogah. Die Hirten, die ihr verfolgt, sind alle willenlos gemacht. Wir wurden überfallen ... das ist eine lange Geschichte.« Partho nickte und ließ zu, daß sich der Fremde auf seinen Steigbügel stützte. Sie ritten und gingen langsam auf die Gruppe um Dragon zu. Die Reiterei bildete langsam, schiebend und drängend und stoßend, einen dichten Kreis um die Personen der Spitze. Partho verschaffte sich und dem Fremden durch einige scharfe Kommandos Platz und hielt vor Agrion und Dragon an. Yina, die Maus, erklärte soeben mit heller Kinderstimme: »Ich habe die Gedanken dieses Fremden namens Sardak erforschen können. Er meint es ehrlich. Er ist ein erfahrener Hirte und ist aus der schrecklichen Stadt geflohen.« Sardak nickte und fragte erschrocken: »Hast du ... in meinen Gedanken ... warst du das, Kleine?« »Ja. Ich habe gesehen, daß du ehrlich bist. Wie kommt es, daß du deinen Willen noch hast?« Agrion und Partho blickten einander fragend an. Sardak, der die Augen Dragons auf sich ruhen sah, erwiderte stockend: »Die anderen haben ein Gift trinken müssen. Ich auch, aber ich kaue Mark vom Ziegenbusch.« 74
Ein Mann aus Parthos Begleitung knurrte verächtlich: »Er redet irre. Ein Kranker aus Bo-gah!« Sardak hatte Mut geschöpft. Noch immer hoben und senkten sich seine Schultern. Er klammerte sich an Parthos Steigbügel fest und schwankte. »Sie haben uns überfallen, die Untoten und Urak. Sie trieben uns in die Ruinenstadt. Dort mußten wir alle Gift trinken, jeden Tag einmal. Das Gift machte sie willenlos. Sie töteten sich untereinander, wenn Urak oder Zamoc es befahlen. Nur ich habe meinen Willen, weil ich immer Mark vom Ziegenbusch kaue. Hier ist es!« Er griff in eine Tasche und brachte seinen letzten, kümmerlichen Stengel zum Vorschein. »Er sagt die Wahrheit. Alles, was er sagt, ist ehrlich!« bestätigte die Maus. Partho deutete in die Richtung des Hohlweges und fragte scharf: »Wer hat die jungen Mädchen und die Hirten umgebracht?« »Wahrscheinlich sind sie von ihren Freunden oder Verwandten getötet worden. Den Willenlosen bedeutet das Leben nichts mehr. Weder ihr eigenes noch das der anderen. Sie gehorchen blind. Immer gehorchen sie.« Dragon beugte sich aus dem Sattel und fragte eindringlich: »Du willst sagen, daß eine große Schar willenloser Hirten und Hirtinnen mit Urak und einigen Untoten aus Bo-gah bis an den Kreuzweg gerannt und geritten ist. Und unterwegs haben sie mehr als elf ihrer eigenen Leute grausam umgebracht und für uns als blutige Spur bis nach Bo-gah gelegt. Und die Selbstmörder, die sich uns entgegengestellt haben – es waren auch Willenlose unter dem Befehl der Untoten und Uraks?« 75
Sardak sah Dragon an und bekannte: »So ist es, Herr. Sie alle haben die Stadt in eine Festung verwandelt. Es gibt tausend Fallen, die auf euch warten.« Dragon überlegte eine Weile, dann hob er sich im Sattel und sagte laut: »Wir rasten hier oder an einer besseren Stelle. Dieser Mann hier ist mehr wert als Gold. Er kennt die Fallen von Bo-gah. Er wird uns alles sagen, was er weiß. Willst du das tun, Sardak?« »Deswegen bin ich hier, Dragon!« sagte Sardak. »Reitet noch eine halbe Stunde diesen Pfad entlang. Dort, wo die Leiche mit dem zerschmetterten Genick liegt, gibt es Bäume und Quellwasser. Wieviel Leute habt ihr?« »Tausend!« sagte Partho. »Es wird eng werden, aber morgen ist es dann nicht mehr so weit nach Bo-gah. Ich führe euch!« Partho ließ ihn zu sich in den Sattel steigen. Eine Stunde später waren sie an dem Ort, den er bezeichnet hatte. Bei schnellem Ritt konnten die tausend Männer in drei, höchstens vier Stunden an der Grenze zwischen der Wildnis und Bo-gah sein.
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7.
Die dröhnenden Hufschläge der sechs Amazonen, die sich, brennende Fackeln in den Händen, in die Richtung des lagernden Hauptheeres am Kreuzweg entfernten, waren schon lange verhallt. Etwa ein Viertelhundert kleine Feuer loderten hier in einem lockeren Kreis. Die Gruppen der Krieger waren pausenlos beschäftigt. Sie versorgten die ermatteten Pferde und wuschen ihnen den Staub aus dem Fell. Sie schleppten die Sättel und die Decken und die Proviantballen von den Saumtieren in die Nähe der Feuer. In großen Kesseln brodelten Tee und starke, würzige Suppen. Ein ausgedehnter Ring von Wachen umgab das provisorische, schnell aufgeschlagene Lager. Ein paar Pferde weideten bereits mit zusammengekoppelten Vorderbeinen auf den kleinen Grasflächen. Waffen wurden gereinigt, Männer wuschen sich. An einem Feuer in der Mitte, das fast rauchlos brannte, saßen Dragon und Partho, Agrion und Sardak, einige Amazonen, Yina und die wichtigsten Männer aus Parthos Truppe. Sie tranken dünnen Wein, aßen Brot und einen Braten, der zum zweitenmal aufgewärmt worden war. Sardak schilderte, was er und seine Freunde in den letzten Tagen erlebt hatten. Die anderen hörten aufmerksam zu und unterbrachen Sardak hin und wieder mit einer Frage. Was seinen körperlichen Zustand betraf, fühlte sich Sardak recht wohl. Er hatte sich den Schmutz vom Körper gewaschen, besaß einen Teil neue Kleidung und war mit einigen Waffen aus den Vorräten ausgerüstet worden. Und was wichtiger schien: man hatte ihm ein 77
Pferd versprochen. Aber ihn beschäftigte noch immer vordringlich das Schicksal seiner Hirtenfreunde – und der Tod Uraks. »Wieviel dieser Untoten sind in der Ruinenstadt?« Erst jetzt, beim Schein des Feuers, sah Sardak, wie jung Dragon war. Trotzdem ging von diesem Mann eine ungeheure, überzeugende Kraft aus. Er wirkte wie ein Riese, der sich seiner eigenen Kräfte noch nicht ganz bewußt war. »Ich habe zweimal hundert gezahlt!« sagte Sardak. »Aber sie sehen, trotz der unterschiedlichen Ausrüstung, alle gleich aus. Ich kann mich auch verzählt haben.« Dragon sagte leise: »Es sind Uhtoth, lebende Tote, die nur durch die Kraft eines Mannes namens Cnossos in Bewegung gehalten werden. Wenn er nicht in ihrer Nähe ist, sterben sie, kehren wieder zurück in das dunkle Reich, aus dem sie kommen.« »Man muß ihnen die Köpfe abschlagen!« flüsterte Sardak und dachte schaudernd an seinen Kampf mit der lebenden Leiche. »Das wissen wir« versicherte Partho mit grimmig entschlossener Stimme. »Und nun zu deinen bedauernswerten Freunden. Wieviele gibt es dort?« Er deutete in die Richtung der Stadt. »Es mögen weniger als ein halbes Tausend sein!« schränkte Sardak ein. »Ich hörte diese Zahl. Aber einige wurden in der Stadt selbst umgebracht ...«, er zögerte, dachte voller Haß an Urak und fuhr fort: »... und die anderen, nun, ihr habt sie gesehen. Weniger als ein halbes Tausend, sage ich.« Agrion, die von Sardak immer wieder verstohlen gemustert wurde, strich ihr langes Haar aus der Stirn. Sie war sehr schön. 78
»Du sagtest etwas von Fallen?« fragte sie. Ihre Stimme war ruhig und beruhigend. Wenn er sie hörte, dann vermochte er sich nicht vorzustellen, daß diese junge Frau Tausende von Katmahzari befehligte, die den Kriegern Parthos ebenbürtig waren. »Es gibt unzählige Fallen!« sagte Sardak und nickte. »Ich kenne die allermeisten von ihnen.« Partho hob die Hand und sagte: »Dann zähle sie bitte auf, angefangen bei den Fallen vor der Stadt und aufgehört bei diesem »Dunklen Heiligtum«. Jede Falle, die du vergißt, kann Männern oder Frauen das Leben kosten.« Sardak dachte an seinen Ziegenbusch. Hartnackig kam immer wieder ein Gedanke, der sich nicht fassen ließ. »Also«, begann er. »Dicht vor der Stadt ist ein Gürtel von Sumpf und Morast. Dort herrschen die Mücken, die das tödliche Fieber bringen. Zwischen den Tümpeln und den Moorfeldern gibt es nur wenige Durchgänge. Ich kenne vier von ihnen, dann folgt ...« Er zählte sie auf. Einige Fallen erklärte er, indem er mit einem Stäbchen in den Sand und die Asche ritzte und primitive Zeichnungen anfertigte. Schließlich sagte er: »Die letzte Falle ist das Götterfeuer.« »Wie?« fragte Partho verblufft. »Urak hat es so genannt. Es ist ein Stoff, den sie Naf‘tha nennen. Er besteht aus dem schwarzen Zeug, das an gewissen Stellen aus der Erde kommt, aus Salz und Schwefel und Kalk, den man nicht mit Wasser gelöscht hat. Er beginnt zu brennen, wenn das Sonnenlicht darauf fällt. Auch wenn man Wasser darüber gießt, brennt das Feuer. Es ist sehr heiß, ich sah zwei Menschen verbrennen. Auch darf man keine Steine hineinschleudern oder die79
se Mischung werfen. Wasser kann es nicht löschen, nur Sand.« Partho, der Kriegsmann, witterte ein Problem, das sich mit Hilfe einiger besonders mutiger Stoßtrupps lösen ließ. Er erkundigte sich: »Wie soll dieses Feuer der Götter angeblich angezündet werden?« Sardak erklärte es ihm. Dabei fertigte er wieder einen kleinen Lageplan an. Partho und seine Männer begannen sich jetzt noch auffälliger für seinen Bericht zu interessieren. Sie knieten auf dem Boden und ließen sich jeden Meter des Geländes genauestens schildern. Schließlich hatten sie erfahren, was sie wissen mußten. »Das wird ein hartes Stück Arbeit. Wenn nur diese vielen Willenlosen nicht wären ...!« sagte Dragon. Er war entschlossen, in rasender Eile die Stadt zu nehmen und einzuebnen. Von diesem Hauptquartier des Cnossos – oder einem seiner vielen kleinen Ausweichplätze voller merkwürdiger und gespenstischer Helfer – sollte kein Stein mehr auf dem anderen bleiben. Dabei sollten aber die eigenen Leute geschont werden, und man mußte versuchen, die unschuldigen und versklavten Hirten und ihre Familien, so weit sie noch lebten, schnellstens zu befreien. »Du sagst, das Mark der Pflanze hat dir geholfen, deinen Willen zu behalten?« fragte Dragon. Langsam kam eine gewisse Ruhe ins Lager. Die Tiere waren alle versorgt und weideten ruhig. Die Posten lösten einander ab. Die Männer aßen und saßen in bester Eintracht neben den Amazonen um die Lagerfeuer. Es waren nur noch wenige Mädchen da – die anderen hatte Agrion zurückgeschickt, um eine wichtige Botschaft auszurichten. 80
»So ist es. Es gibt keine andere Erklärung!« sagte Sardak. Wie schafften sie es, den anderen Willenlosen ihren Willen zurückzugeben und sie von den Befehlen Uraks unabhängig zu machen? Schließlich konnten sie nicht jedem der kämpfenden Einwohner dieser Stadt den Mund aufreißen und ihn zwingen, getrocknetes Mark zu kauen. »Woher kennst du dieses Heilmittel?« fragte Dragon halblaut. »Meine Ziegen fressen von dem Busch und werden lebhaft davon.« »Vom Mark oder auch von den Blättern?« fragte Dragon unbeirrbar weiter. Jetzt nahm der flüchtige Gedanke Gestalt an. Aufgeregt sprudelte Sardak hervor: »Auch die Blätter. Natürlich! Sie müssen ebenso wirken. Wenn wir die Blätter sammeln und zusammenpressen, dann um brennende Pfeile binden, müßte der Rauch eine ähnliche Wirkung haben.« Dragon lachte kurz; er schien nicht ganz an dieses Wundermittel zu glauben. »Jedenfalls werden wir es versuchen!« versicherte Agrion. »Gibt es noch andere Gefahren in Bo-gah, von denen du uns nichts erzählt hast, Sardak?« Sardak zog die Schultern hoch und dachte nach. Er murmelte: »Hinter dem Dunklen Heiligtum sind Felsenhöhlen. Sie sind mit alten Toren versperrt. Untote bewachen die Tore. Hin und wieder habe ich Geräusche gehört, aber ich weiß nicht, was es ist.« Dragon winkte ab. Ihn interessierten die Fallen viel mehr. 81
»Wir werden bei Sonnenaufgang losreiten«, sagte er und blickte auf die Gestirne des Himmels. Die Mondsichel war ein wenig voller geworden »Wenn deine Amazonen wieder da sind, Agrion.« Agrion erwiderte hart: »Morgen abend ist von Bo-gah nichts mehr übrig. Nur noch Trümmer und Flammen.« »So sei es!« bestätigte Partho. Langsam brannten die Feuer nieder und bildeten bald nur noch dunkle Gluthaufen in der Finsternis. Die Geräusche, die von den weidenden Tieren verursacht wurden, mischten sich in die ruhigen Schritte der Wachposten. Die meisten Männer wickelten sich in Decken und Felle und blieben neben den Feuern auf dem weichen Waldboden liegen. Auch Sardak schlief ein. Seine letzten Gedanken waren bei dem Märchenerzähler und bei seiner Rache für diese Tat. Ein winziges Geräusch, das nicht zu den Lauten dieser Nacht gehörte, weckte ihn in der frühesten Morgendämmerung. Er hob den Kopf, rieb den Schlaf aus den Augen und drehte sich langsam herum. Zwischen den Bäumen, drüben bei der Quelle, sah er die schwarzen Umrisse zweier Menschen. Er blickte genauer hin. Wachen? Posten? Die ersten Krieger, die ihre Pferde sattelten? Nein. Das Lager war noch in tiefem Frieden. Er blinzelte und erkannte jetzt Agrion und Partho. Sie sprachen leise miteinander und hielten sich umschlungen. Sardak lächelte ein wenig, legte sich zurück und schloß die Augen. Eine halbe Stunde später, als eine Gruppe Amazonen ins Lager preschte und mit den Waffen gegen die Schilde schlug, erwachten sie alle. 82
Als die Sonne aufging, bewegten sich lange Züge von Reitern durch die kühle Morgenluft. Es waren eintausend Männer. Von ihnen hatten sich ein paar Gruppen abgesondert. Es waren die kräftigsten und besten Krieger, die dem direkten Befehl ihrer Hauptleute unterstanden, die wiederum nur Partho und Dragon gehorchten Sie hatten die besonderen Aufgaben erhalten und würden tätig werden, sobald man die Stadt mit ihren Fallen erreichte. Und rund eintausend Amazonen. Sie ritten neben den Männern her und waren voll bewaffnet und zum Kampf entschlossen. Sie gehorchten ihrer Königin, die mit leuchtenden Augen an der Spitze des Doppelzuges ritt, neben Partho, Dragon, Sardak. »In wenigen Stunden sind wir dort!« sagte Partho. »Es hat wenig Sinn, wenn wir schneller reiten. Wir müssen frisch bleiben.« »Ich werde euch um die Fallen herum und zwischen ihnen hindurch führen!« sagte Sardak laut und dachte daran, wie er Urak den Dolch in den Körper stoßen würde. »Hoffentlich glückt es uns, Cnossos oder Zamoc zu erwischen – was auf das gleiche hinauskommt!« überlegte Dragon laut. Die Sonne beleuchtete gerade die obere Hälfte des Felsens hinter dem Dunklen Heiligtum, als das riesige Heer vor der Stadt erschien. Aus den Moortümpeln stieg schwefelfarbiger Nebel hoch. Das Zwielicht machte aus dem kostbar eingerichteten Raum ein Gemach voller Geheimnisse. Das Tablett, auf dem ein Weinkrug aus Gold und zwei Pokale standen, war mit kostbaren Steinen übersät. Sessel aus dunklem Holz standen auf den kostbaren Teppichen, von denen 83
die kleineren die Wände bedeckten und jedes Geräusch und jedes Wort weich werden ließen. Der Wein duftete angenehm. Vor dem kleinen Götzenbild, das ein krötengesichtiges Ungeheuer zeigte, stiegen zwei dunkelblaue Rauchfahnen von dem brennenden Harz auf. »Es ist das ein entscheidender Tag«, sagte Cnossos, der Urak in der Gestalt Zamocs gegenübersaß. »Laßt uns auf den Sieg trinken.« Er hob den Pokal. Urak beugte sich nach vorn und legte seine Hand um den Schaft des schweren Gefäßes. »Auf den Sieg, Herr! Alle Fallen sind bereit. Überall stehen die Untoten und die Willenlosen. Sie werden Dragon eine vernichtende Niederlage bereiten!« Zamoc heftete seine dunklen Augen auf ihn und hob eine magere Hand. »Ich habe mich überzeugt. Alles ist bereit. Ich bin sehr zufrieden mit dem, was du geleistet hast.« »Ehre für mich!« murmelte Urak und wagte es, die Beine auszustrecken. Seine Sporen zogen tiefe Rillen in einen der schweren Teppiche. Er sah die wertvollen Mosaiken an den Wänden, sah das Licht des Morgens hinter der Fensteröffnung heller werden, sah, wie der schwere Vorhang, der auf einer silbernen Stange mit Ringen aus Bernstein befestigt war, sich leise aufbauschte und wieder zurückschwang. »Ehre für dich. Du bist hier im schönsten Zimmer, trinkst Wein mit mir, du bist mein Lieblingsdiener. Große Ehren warten auf dich, wenn Dragon besiegt ist. Hier, noch ein Schluck!« Urak kannte den Wein nicht. Er schmeckte ganz anders als die Weine, die er bisher getrunken hatte. Aber ebenso, wie dies eine wichtige Stunde war, bedeutete auch dieser ausgesuchte Wein viel für ihn. Er saß endlich hier, vor seinem Meister und Herrn. Er nahm einen 84
tiefen Schluck, stellte den Pokal ab und fragte sich, welche Ehren ihm erst dann zuteil werden würden, wenn sich Dragons Truppen an den Fallen der Stadt die Zähne ausgebissen haben würden. »Danke, Herr!« sagte er. »Was diesen Hirten angeht ...« Er meinte Sardak, der ihm eben erst einfiel. Merkwürdig, daß er plötzlich wieder müde wurde, obwohl er schon vor kurzer Zeit hellwach gewesen war. Alle seine Gedanken schienen plötzlich in einen tiefen Schacht zu fallen. »Trinke, Urak! Es ist guter Wein. Der beste Wein für dich ...« Zamoc goß wieder einen mächtigen Schluck in den Pokal und lächelte Urak an. Es war kein freundschaftliches Lächeln, aber Urak freute sich, daß er etwas getan hatte, was den Meister freute. Er würde weiterhin nur ihm gehorchen ... er trank den Pokal leer. Gerade, als er seinen eigenen Willen völlig verlor, dachte er sich, daß der Wein so schmeckte wie dieses Pulver für die Willenlosen. In seinen Ohren hallte die Stimme seines Herrn wider wie in einer riesigen Halle. Sie war eindringlicher als alles andere, was er in seinem Leben bisher erfahren hatte. Was sie sagte, brannte sich wie mit unlöschbaren Lettern in sein Bewußtsein ein. Er verstand und gehorchte. Er würde mit Freuden von einer Mauer gesprungen sein, wenn die Stimme es ihm befohlen hätte. »Ja, Herr, ich gehorche!« sagte er. »Du wirst, wenn das Heer genug herangekommen ist, sechzig Untote mit dir nehmen und zu den grauen Bestien gehen.« »Ja, Herr!« Schneidend fuhr die Stimme fort: 85
»Steh auf, wenn ich mit dir spreche. Du wirst die Tiere von den Ketten befreien. Du sitzt zwischen Kopf und Schultern und läßt sie auf die Angreifer losstürmen, wenn das Feuer ihre erste Welle verbrannt haben wird. Du wirst keinen von ihnen am Leben lassen. Du wirst versuchen, Dragon zu töten. Spieße ihn auf! Erschlage ihn mit der zahnbewehrten Keule! Ramme ihm die Dorne an den Knien in den Leib! Zerfetze ihn! Trampelt ihn und seine Freunde nieder. Bei deinem Leben, Sklave!« »Ja, Herr!« Sein Herr kicherte leise und fuhr dann mit einem hämischen Grinsen fort: »Ich werde gehen und die Horden der Nacht holen. Was du nicht schaffst, wird diese Geißel der Erde schaffen. Hier – das halte bei dir. Verliere es niemals. Eher stirb!« Er griff hinter sich und holte ein schwarzes Kastchen hervor, das aussah wie aus Eisen. Aber als Urak es aus den Händen Zamocs entgegennahm, merkte er, daß es aus schwerem, altem Holz war. Metallene Schließen hielten Deckel und Unterteil zusammen. Das Kästchen war ziemlich schwer, aber diesem Umstand schenkte Urak keine Aufmerksamkeit. »Was soll ich damit tun, Herr?« fragte er leise. »Nimm es an dich. Hüte es mit deinem Leben. Verliere es nicht – es bedeutet den Tod für dich, meinen wertvollsten Freund und Diener.« Ein Gefühl unsinnigen Stolzes wallte in Urak auf. Er war dazu ausersehen, die Armee und Dragon zu vernichten. Und er bewahrte das Geheimnis seines Herrn auf. Er stand langsam auf und blieb vor der Tür stehen. »Es wird hell. Geh jetzt – Dragon wird mit den ersten Sonnenstrahlen die Stadt erreicht haben!« sagte Zamoc. »Ja. Herr. Ich gehorche.« 86
Urak schob das Kästchen, das knapp so groß war wie seine Hand und drei Finger dick, in seinen Gürtel und schlang den Riemen der Dolchscheide darum. Dann ging er aus dem Zimmer, über den kleinen Vorraum und hinunter in die dämmerige Halle des Dunklen Heiligtums, in dem die Willenlosen gestern nacht ihre letzte Dosis Gift erhalten hatten. Jetzt waren sie an ihren Plätzen, mit den alten Waffen der Stadt ausgerüstet, und warteten auf den Angriff Dragons. Die Stadt war still und ruhig. Nur ab und zu huschte ein Schatten zwischen den Bäumen und Mauern, zwischen den hoch aufgetürmten Quadern vorbei. Hin und wieder krächzte ein Rabe. Der Aussätzige, der von dem ersten Brüllen der verborgenen Ungeheuer aus dem Schlaf gerissen wurde, hörte auf die Geräusche der erwachenden Stadt. Waffenklirren und hastige Schritte. Geflüsterte Kommandos. Eine Peitsche knallte. Ein Mann stöhnte auf. Dann: Tritte. Hoch über ihm. Er wußte nicht, was er davon zu halten hatte. Er konnte nicht sehen, wie Cnossos langsam die zerbröckelnde Wendeltreppe in dem morschen Turm hinaufschritt, der sich zwischen dem Dunklen Heiligtum und dem aufragenden Felsen erhob. Auf der Plattform blieb er stehen. Die Tritte hörten auf. Cnossos stand hoch aufgereckt da. Er schien dorthin zu blicken, wo das Heer Dragons sich befand und unaufhaltsam auf die Ruinenstadt zukam. Er hatte einen nützlichen Diener geopfert, um Zeit zu gewinnen. Zeit, die er brauchte, um die Horden der Nacht zu besuchen und ihnen die Aufregung, die Sucht nach Blut und Fleisch, in die stumpfen Gedanken zu impfen. Langsam schrumpfte der Körper. Er verwandel87
te sich in ein Tier. Die Haut und die Kleidung wurden zu schwarzen Federn. Die Arme waren weit ausgestreckt und verwandelten sich langsam und lautlos in lange, mächtige Geierschwingen. Schwarz, mit strahlend weißen Schwungfedern. Der Kopf wurde kleiner, die stechenden Augen blieben, und aus Kiefer und Nase wurde der weiße Geierschnabel mit den blutroten Malen. Dann sprang der Riesengeier mit gelenkigen Sprüngen bis auf den ausgebrochenen Rand der Turmplattform, breitete die Schwingen aus und stürzte sich in die Luft. »Flügelschläge. Es muß ein großer Vogel sein, ein Adler, ein Geier ...«, lispelte der Aussätzige. Der Geier strich ab. Mit schweren Flügelschlägen schraubte er sich langsam in die Höhe und kreiste zweimal um die Stadt, in großer Höhe, so daß er durch einen Pfeilschuß nicht zu treffen war. Dann schlug er nordwestliche Richtung ein und flog schneller, glitt höher in die klare Luft des Morgens. Weit unter ihm erreichten jetzt die Truppen den Streifen der Moore und Fiebersumpfe, die um die Ruinenstadt Bo-gah lagen. Cnossos sah es deutlich, aber sein Plan war bis jetzt aufgegangen. Dragon wurde aufgehalten. Die Untoten würden kämpfen wie die Ameisen, wie wilde Tiere, solange sich das Kästchen mit seiner eigenen Körpersubstanz in den Händen des Urak befand. Diese Menge Körperzellen genügte, um die aufgeweckten Toten zu steuern, sie zu dirigieren wie die Marionetten eines Puppenspielers. Der Geier verschwand als schwarzes Pünktchen in der Ferne..
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8.
Die Spitze der zweitausend Kriegerinnen und Krieger erreichte den Rand des Morastes. Sardak, ausgeschlafen, satt und ausgeruht und voller Eifer, beugte sich aus dem Sattel und fragte Partho: »Es gibt mehrere Durchgänge. Aber ich bin allein – einen davon findet ihr selbst; er ist schmal, aber ihr braucht nur den Spuren der Willenlosen und der Pferde zu folgen. Vorsicht! Hinter dem Sumpf, wenn ihr wieder auf festen Grund kommt, gibt es viele abgedeckte Gruben. Sie tragen ein Pferd und einen Reiter, aber nicht mehr.« Partho biß sich auf die Unterlippe, dann erwiderte er: »Nimm jeweils zehn Mann mit und zeige ihnen den Weg. Sie sollen dann als Wegezeichen stehen bleiben!« »In Ordnung! Folgt mir, Freunde!« Eine Gruppe setzte sich in Bewegung. Sie bog scharf ab, jagte auf den Sumpf zu und wurde langsamer, als die Tümpel und die charakteristischen Gewächse auftauchten. Sardak ritt voran und suchte den Weg. Er hatte sich die wichtigsten Merkmale ins Gedächtnis zurückgerufen und postierte jeweils einen Mann an der betreffenden Stelle. Die Furt war immerhin so breit, daß drei Reiter nebeneinander passieren konnten. Als er wieder festes Land erreicht hatte, was nach tausend Ellen der Fall war, wendete er sein Pferd und jagte wieder zurück. Sofort setzte sich ein Zug, der aus Kriegern und Amazonen bestand, in Marsch und ritt schnell durch diese Passage. Eine zweite Säule drang bereits durch die breite, ungefährliche Lücke vor. Noch zweimal zeigte Sardak 89
den Männern den Weg, dann galoppierte er mit äußerster Schnelligkeit wieder zurück und kam zu Dragon und der Spitzengruppe. »Dort vorn ist die erste Grube.« Sie ritten daran vorbei. Es waren viereckige Gruben, mit Holz abgedeckt und mit Erdreich, Rasen und Büschen wieder unkenntlich gemacht. Wenn die Reiter mit gewisser Schnelligkeit geradeaus vorgestoßen wären, hätten die dünnen Abdeckungen schon bei den ersten Tieren nachgegeben. Die Reiter wären in die senkrecht angebrachten Holzpfähle, die mit Leichengift bestrichen waren, gestürzt, und die Nachfolgenden wären in das allgemeine Durcheinander hineingeprescht. Man steckte die Grenzen der Gruben mit Stöcken und abgebrochenen Speeren ab, und das Heer rückte ungehindert weiter vor. Jetzt schoben sich aus der grünen Wildnis bereits die ersten Mauerreste hervor. »Wir sind halb hindurch!« sagte Dragon, nachdem er wieder fest im Sattel saß. Er hatte sich umgewendet und die Menge der Reiter betrachtet, die sich in vier Säulen durch den Sumpf schoben und wieder zu einer Schlange vereinigten, die im Zickzack entlang der Markierungsstangen vordrang. »Jetzt kommt der Mahlsand. Eine unbedeutende Falle. Aber das Gewölbe ist tödlich!« versicherte Sardak. Sie umgingen die kreisrunden Sandflächen, in denen ein einzelner Reiter verloren war, weil er mit seinem Pferd tiefer und tiefer sank und erstickte, falls er sich in der Panik bewegte. Sie kamen auf die Reste einer Straße, die auf einen Viadukt zu führte. »Einstmals muß dieser Weg der normale Weg nach Bo-gah gewesen sein!« sagte Sardak laut. »Aber Urak hat eine Menge Quadern lockern lassen. Das Gewölbe wäre 90
zusammengebrochen, wenn es voller Truppen gewesen wäre.« Ein massives Bauwerk, halb aus den gewachsenen Felsen herausgeschlagen, halb aus wuchtigen schwarzen Blöcken gemauert und zusammengesetzt. Eine breite Bahn riesiger Platten auf Pfeilern, die mindestens fünf Mannslängen weit in den kleinen Taleinschnitt hinunterreichten. Das Gewölbe war über und über bewachsen. Die Spuren, die den Weg in die Stadt und aus der Stadt markierten, führten genau darauf zu. Erst im letzten Augenblick sahen sie, daß sich die Spuren gabelten und rechts und links von der breiten Straße abzweigten. Sie wanden sich in fast unsichtbaren Windungen durch das Tal. »Dort hinunter. Der Pfad ist gut. Beide Pfade sind gut!« sagte Sardak laut. Die Pferde rutschten und stolperten hinunter, fingen sich wieder und stoben den jenseitigen Hang hinauf. Binnen einer knappen halben Stunde war das gesamte Heer, also zweitausend Reiter, auf der anderen Seite. Dragon hielt an und sah zu, wie sich hinter ihm etwa hundert Gruppen zu jeweils zwanzig Reitern zusammenfanden. Sie alle warteten. »Bis jetzt noch keine Gegenwehr! Kein Angriff. Wir haben auch noch keinen Verteidiger gesehen!« sagte er grimmig. »Es gibt keine Verteidigungslinie, sondern viele kleine Punkte, an denen die Untoten und die Willenlosen stehen. Am dichtesten sind sie vor oder hinter dem letzten Stück Mauer, also von hier aus gesehen vor dem Feuer und dem Dunklen Heiligtum. Wir müssen in Gruppen vordringen. Dort drüben, beispielsweise, sind die Quadern im Pflaster der Stadt.« 91
Partho schnallte den Helm fester und suchte einen Weg, um durchzubrechen. Er und seine Krieger fieberten vor Ungeduld. Die Amazonen legten ihre Pfeile mit den umwickelten Köpfen auf die Sehnen. »Seht ihr den Punkt dort, neben dem Baum, das Geröll? Bis dorthin kommen wir in einem Anlauf. Wir müssen uns nur an meinen Weg halten!« sagte Sardak und hob den Schild. »Einverstanden. Los!« Etwa zweihundert Reiter spornten die Pferde. Aus der Gruppe löste sich ein einzelner. Sardak, Grimm und Haß auf Urak im Herzen, führte Dragons Reiterei an. Er galoppierte los und schlug Haken um die gefährdeten Zonen. Nicht einer der großen Steinquadern kippte unter dem Gewicht des Reiters und schleuderte ihn in die Grube voller Stacheln und giftiger Schlangen. Mit gellendem Geschrei griffen die Reiter an. Niemand tauchte auf, niemand bot den Pfeilen ein Ziel. Zweihundert Reiter sammelten sich kurze Zeit später in der Nähe des Baumes. Sardak sagte: »Wartet hier. Sichert nach allen Seiten. Ich zeige den anderen, wo die Fallen sind. Wir können in einem Kreis, der zu drei Vierteln besteht, auf das Heiligtum losreiten.« Er winkte, und eine Gruppe von zweihundert Amazonen folgte ihm. Er führte sie unter Umgehung der Quaderfallen bis zum anderen Ende. Dorthin, wo ehemals die innere Stadtmauer mit dem begrenzenden Felsmassiv zusammengestoßen war. Er zeigte, so gut er es konnte, die nächsten Fallen und warnte besonders vor den Fallenden Türmen, deren Bruchsteinhagel ganze Gruppen töten konnte. Dann preschte er die zweitausend Ellen zurück und führte eine zweite, größere Gruppe an 92
die andere Seite, ans andere Ende der Mauer. Schließlich befand er sich wieder beim Hauptteil der Truppe. »Mir nach!« schrie er. Er ritt schnell, aber wachsam, geradeaus. Nur einmal stolperte ein Pferd und trat auf einen Quader. Der Stein kippte sofort in verborgenen Lagern, aber der Reiter schnellte sich aus dem Sattel und klammerte sich an der Schulter seines Nebenmannes fest. Das Tier verblutete, weil sich ihm vierzig unterarmlange Stacheln in den Körper bohrten. Die gellenden Schreie des Tieres waren wie ein Signal. Plötzlich tauchte vor ihnen eine Gruppe bewaffneter Willenloser auf. Sardak drehte sich im Sattel und schrie aus Leibeskräften: »Die Brandpfeile!« Zehn Amazonen bildeten einen Ring. Sie entzündeten die Pfeile mit den dicken Köpfen an einer Fackel und feuerten sie ab. Die Geschosse beschrieben flache Bahnen und zogen lange Rauchstreifen hinter sich her. Die trockenen und gepreßten Blätter des Ziegenbusches – einer Pflanze, die häufig genug wuchs – verbreiteten einen dichten Rauch. Die Rauchschwaden hüllten die dreißig Willenlosen ein und ließen sie blind und hustend zurück, während die Reiterei vorüberdonnerte, auf die alten Säulen der Ruinenstadt zu. »Kommen Sie zu sich?« schrie Partho. »Ich will es hoffen. Man sieht nichts!« Mindestens dreißig Pfeile hatten sich auf die Gruppe der halb wahnsinnigen Angreifer konzentriert. Eine dicke Rauchwolke trieb langsam auf die schwarze Säule zu. Sardak schätzte die Entfernung ab, sah nach dem Schatten und schrie: »Halt! Keiner darf über diese Stelle!« Er deutete nach links. 93
Dort zogen und zerrten drei Untote an einem wuchtigen Balken. Der Balken wippte hin und her. Sein kurzes Ende bohrte sich in einen Spalt der Säule. Sahen sie genau hin, so konnten sie die Bewegungen der Säule bereits erkennen. Pfeile und Speere pfiffen heulend durch die Luft und prallten klirrend und klappernd von dem ächzenden Stein ab. Schließlich neigte sich die Säule unendlich langsam, zerbrach noch im Fallen in hundert Teile und löste sich auf. Die Säulenreste fielen mit dröhnendem Krachen auf den Boden, rollten fächerförmig auseinander. Ein Kapitell raste wie ein holperndes Rad durch kleines Gestein, Pflanzen und Sand. Sardak riß sein Pferd in einer steilen Parade in die Höhe. Der Steinbrocken schleuderte, nach allen Seiten Trümmer werfend direkt vor dem Tier entlang und krachte gegen einen Mauerrest. »Eine höllische Stadt. Voller Fallen, die uns schon dreimal umgebracht hätten.« Partho nickte Sardak anerkennend zu. Langsam drehte der Hauptmann sein Pferd. Er sah sich um. Von vier verschiedenen Durchgängen kamen die Reiter. Eine Gruppe Amazonen umzingelte die Willenlosen, die aus der Rauchwolke hervortorkelten und nicht wußten, was geschehen war und warum sie hier standen, mit schartigen Waffen und rostigen Helmen. Sardak holte Luft und schrie hinüber: »Tut ihnen nichts! Sie sind unschuldig!« »Wir haben verstanden!« war die Antwort. »Das gefällt mir nicht!« knurrte Partho. Er musterte nacheinander die vielen Verstecke und Möglichkeiten für die Verteidiger. Es war ruhig, viel zu ruhig. Niemand griff an, niemand ließ sich sehen, außer den Untoten dort drüben und dem wild aussehenden Haufen der Willenlosen. 94
Dragon schätzte die Zahl der Reiter ab, die in die Stadt eingedrungen waren und sagte scharf: »Wir sind genug Leute. Los, weiter. Zum Dunklen Heiligtum!« Partho stieß sein Schwert in die Luft und hämmerte mit dem Knauf gegen den Schild. Es gab ein hartes, weithin hörbares Geräusch, das die Köpfe der Reiter herumfahren ließ. »Die Gruppen, die Sardak führen soll, hierher!« schrie Partho. Dann, etwas leiser: »Führe sie gut. Das Feuer darf nicht entzündet werden!« »So sei es!« stimmte Sardak zu. Sie hatten den Sumpf durchquert und waren ohne Verluste an den Feldern des Treibsandes vorbeigekommen. Das Gewölbe des Viaduktes war nicht unter ihnen eingestürzt, und die vielen Quaderfallen hatten ihnen nichts anhaben können. Hunderte von Männern wären jetzt tot oder lägen stöhnend und wimmernd unter den Trümmern oder lägen aufgespießt in den Stachelgruben, wenn er die Truppe nicht hierher geführt hätte. Selbst die erste der stürzenden Säulen hatte keine Opfer gefunden. Eine Gruppe von etwa dreißig Willenlosen verließ zum Teil die Stadt oder schloß sich ihnen an. Auch diese Menschen waren für die Eroberung der Stadt wertvoll, weil sie die Reiter um die Fallen herum führen konnten. Jetzt hielt der Hauptteil des Heeres vor dem zweiten Verteidigungsgürtel, der durch Säulen und Mauerreste gekennzeichnet war. Niemand wehrte sich; die Untoten waren verschwunden. Eine dämonische Stille lag über der Stadt. Obszöne und furchterregende Gestalten starrten die Reiter an. Sardak begann sich unbehaglich zu fühlen ... sehr unbehaglich. Er merkte, daß sich etwa hundert Männer mit harten, entschlossenen Gesichtern und schwerer Bewaffnung um ihn drängten. Dragon gab seine Befehle: 95
»Sardak! Du und deine Männer – ihr kümmert euch um das Götterfeuer. Nichts anderes sonst. Postiere zusätzliche Männer in der Anlage, in dem Labyrinth ... du hast davon berichtet. Amazonen werden von dort«, er deutete zuerst nach links, dann in die entgegengesetzte Richtung, »und von dort zu euch stoßen?« »Ja, Dragon!« sagte Sardak. »Das werden wir tun!« Dragons Gesicht sah abgespannt und konzentriert aus. In seinen Augen stand ein dunkles Feuer. Das Tier unter ihm war unruhig und tänzelte, durch Zügel und Schenkeldruck gehalten, auf der Stelle. »Partho! Du rückst hinter Sardak ein. Versuche, in einem Keil zum Dunklen Heiligtum vorzustoßen. Achtet auf Fallen und auf die Untoten. Habt ihr genügend Bogenschützen mit Rauchpfeilen?« Partho deutete auf die Bogenschützen der Amazonen und nickte. »Agrion, deine Mädchen sollen unseren Männern überall helfen. Kümmert euch vorzugsweise um die Willenlosen und bringt sie, wenn es Frauen und Kinder sind, in Sicherheit. Die Männer sollen uns helfen!« »Ich weiß, was wir tun werden« gab Agrion zur Antwort und wandte sich an ihre Unterführerinnen. Dann sagte Dragon: »Los! Vorwärts! Wir erobern die Stadt der Verlorenen Seelen!« Sardak setzte die Sporen ein. Mehr als hundert Männer folgten ihm. Nach einigen Sprüngen bildete sich ein Keil, der Sardak und einen riesigen, schweigsamen Mann an der Spitze hatte. Die beiden Reiter setzten sich ein wenig von dem Feld ab und ritten schnell, aber vorsichtig um die einzelnen Fallen herum. Sie preschten unter brüchigen Torbögen hindurch, tief auf die Hälse der Pferde gebeugt, die Schilde über den Köpfen. Sie hielten 96
an, als Sardak einen gellenden Schrei ausstieß und auf eine Mauer deutete, die bereits nach hinten schwankte, als wolle sie vor ihrem Sturz noch ausholen. Zehn oder fünfzehn Reiter rasten im Winkel zwischen Boden und Mauer vorbei, das Gros hielt an und wartete, die Zügel fest angezogen. Einige Reiter schwärmten nach links aus und umrundeten die Säule, die am Anfang der bewachsenen Mauer stand. Jetzt bewegte sich die riesige schwarze Fläche, deren Auflage weggezogen worden war, in die andere Richtung. Dreihundert gewaltige Quader fielen langsam, dann immer schneller und begruben den Durchgang unter sich. Ein Reiter sprang über einen schwarzen Steinwürfel, das lange Schwert in der Hand. Der Untote, der sich eben von den Stangen des Fallenmechanismus aufrichtete, starb, als das Schwert in einem einzigen wilden Schlag ihm den Kopf vom Rumpf trennte. Die Reiter galoppierten weiter, einige hinter der Mauer, die anderen suchten sich einen Weg zwischen den Quadern, aus deren Zwischenräumen Staubfahnen aufstiegen. Weiter. Schneller. Augen funkelten unter den Helmrändern. Waffen wurden geschwungen. Pferde wieherten. Das Angriffsgeschrei einer Rotte Untoter, die in rostgefleckten Rüstungen auf die Spitze zukamen, hielt die Männer auf. »Hierher!« schrie Sardak. Die Reiter griffen an. Neben Sardak schwang jener schweigsame Mann sein riesiges Schwert. Er hing aus dem Sattel und schien keine Furcht zu kennen. Speere zischten über ihn hinweg, prallten von Sardaks Schild ab und fuhren mit dumpfem Krachen in den Boden. Ihre Spitzen verbogen sich und rissen lange Funken, als sie die Steine trafen. 97
Das Schwert beschrieb gleißende Halbkreise. Der Riese ritt gerade auf einen der Untoten zu, riß sein Pferd im letzten Augenblick zur Seite und schlug zu. Das Schwert trennte mit einem einzigen Schlag den Schädel von den Schultern des Untoten. Sardak rammte seine Lanze in den Schild eines zweiten Leichnams und hielt ihn fest, bis das Schwert wieder zurückschwang und zum zweitenmal zuschlug. Eine Menge rauchender Pfeile heulte schräg über den Kampfplatz und schlug hinter einer mannshohen Mauer ein, vor ihr, auf ihrer Oberkante und in Bäumen dahinter. Sechzig Reiter kämpften hier gegen zwanzig Untote, die sich mit rasender Geschwindigkeit bewegten. Sie waren schlecht zu fassen, Wunden hielten sie nicht auf. Einige kämpften, obwohl ihnen Speere aus den Flanken oder den Rücken ragten. Pferde schrien und wieherten. Waffen klirrten auf Panzer und Schilde. Ein einzelner Helm beschrieb, sich drehend und im Flug torkelnd, eine Bahn, hoch über dem Kampfgetümmel. Schreie und Wunden, aus denen Blut floß, die trommelnden Geräusche der Pferdehufe. Das Ächzen der Untoten und immer wieder das fahle Sausen des riesigen Schwertes. Dann, von links, ein Schrei in höchster Not. Eine Amazone gellte: »Der Turm! Sie stürzen den Turm auf uns ...!« Sardaks Kopf fuhr herum. Neben ihm brach, von einem Schwertstreich tödlich getroffen, ein Untoter zusammen. Die Pferdehufe gingen über ihn hinweg, als die Gruppe weiterritt, um aus der Fallbahn des Turmes zu kommen. Der viereckige Turm, über und über bewachsen, neigte sich laut knirschend. Aus den Fugen rieselte in langen weißen Bahnen Gesteinsschutt. Die Reiter, von den Schreien alarmiert, sprengten nach allen Richtun98
gen auseinander. Sie hinterließen eine Menge Untoter mit abgeschlagenen Köpfen, aber die anderen lebenden Leichen, die mit furchtbaren Wunden weiterkämpften, rannten hinter ihnen her. Auch eine Gruppe Willenloser brachte sich in Sicherheit. Der Turm ächzte, die Quadern knarrten und splitterten, dann bog sich das altersschwache Bauwerk und fiel genau in die Lücke zwischen den Mauern, hinter denen sich die Untoten verbargen. Die Erde dröhnte. Gesteinsbrocken wurden nach allen Seiten geschleudert. Sie trafen auf die Rüstungen, zerschmetterten den Pferden die Läufe, schlugen große Öffnungen in das Dickicht. Eine gewaltige Staubwolke erhob sich und verdunkelte die Sonne. Zehn Untote waren unter den Trümmern begraben worden. Der Schrecken saß ihnen noch in den Gliedern, als sie das Labyrinth erreichten. Die etwa doppelt mannshohen Mauern, die sich endlos verzweigten und eine Masse toter Enden bildeten, waren voller Fallen, die sich auf engem Raum aneinander anschlossen. Als sich die auseinandergesprengten Reste von Sardaks Männern wieder sammelten, als zwei große Gruppen Amazonen von rechts und links kamen, als Sardak überlegte, wo erden ersten Mann postieren sollte, brach aus der Lücke zwischen den beiden ersten Mauern ein Trupp Reiter hervor. Es waren mindestens fünfzig ... alles Untote! »Auf sie!« brüllte Sardak. Weit hinter ihnen, parallel zu den Mauern reitend, säuberten Partho und Dragon mit ihren Leuten die Stadt. Sie räucherten die einzelnen Verstecke aus und legten Feuer. In den Staub mischte sich der Geruch brennenden, alten Holzes, und der dicke Rauch, der von den grünen Pflanzen kam. Schlangen flüchteten raschelnd nach allen Seiten. Insekten stürzten mit schwelenden 99
Flügeln in die meterhohen Flammen. Das knisternde, brausende Geräusch kam näher, schwoll an und nahm wieder ab. Die Stadt summte wie ein Bienenstock voller rasender Bienen. Die Untoten griffen mit dem Mut von Selbstmördern und mit der Wut verletzter Raubtiere an. »Zurück!« schrie jemand. Die beiden Angriffsreihen prallten zusammen. Die Krieger aus Dragons Heer waren unerschrocken, denn sie hatten gemerkt, daß diese gespenstischen Gegner zu töten waren. Speere und Lanzen senkten sich. Blitzend wurden Kampfbeile geschwungen. Die Schneiden fuhren in die Hälse und die Kehlen der Angreifer. Pferde bäumten sich auf und warfen ihre nichtlebenden Reiter ab. Die Krieger beugten sich aus den Sätteln und ließen ihre Schwerter kreisen. Sardak löste sich aus einer ineinander verfilzten Gruppe von Kämpfenden und suchte mit brennenden Augen seinen Todfeind Urak. Er fand ihn nirgends – nur die Untoten kämpften vor der Mauer des Labyrinths. Einer von ihnen krallte seine Hand in die Mähne eines Pferdes, obwohl sein Kopf abgeschlagen war. Das Tier rannte, auskeilend und wiehernd, quer durch die Reihen der Krieger und genau in das Feld aus Blöcken und Steinen zu, das der niedergebrochene Turm hinterlassen hatte. Das Tier brach sich die Vorderbeine und überschlug sich. Wie eine kopflose Puppe wirbelte der Körper durch die Luft und prallte mit einem krachenden Geräusch gegen die Felsen. Zwei Untote galoppierten auf Sardak zu – hatten sie ihn wiedererkannt? Er hatte keine Zeit, etwas zu überlegen. Die Lanze des ersten rutschte am Schild ab und fuhr dicht neben Sardaks Ohr in die Luft. Sein Schwert schwang sich von unten nach oben und trennte den Arm, der die Lanze hielt, fast ab. Sardak duckte sich und 100
wirbelte die Waffe über seinem Kopf. Sie zischte waagerecht durch die Luft und traf den ungeschützten Hals des Gegners. Gleichzeitig mit der Bewegung, mit der er seine Waffe aus dem aufgeschlitzten Hals zerrte, riß er sein Pferd herum und ließ es hochsteigen. Mit furchtbarer Wucht prallte der andere Reiter gegen ihn. Beide Pferde taumelten, tanzten rückwärts, und Sardak zog einen Fuß aus dem Steigbügel. Als das Pferd nach links fiel, sprang er rechts aus dem Sattel und stand mit beiden Beinen auf dem Boden, als der Untote mit einem Kampfbeil einen fürchterlichen Hieb nach ihm führte. Sardak warf sich zur Seite, ließ seinen Schild fallen und riß den Untoten am Fuß aus dem Sattel. Er sprang ihn an, beide Beine angewinkelt. Sie trafen den Untoten an der Brust und schleuderten ihn nach hinten. Sardak machte einen Satz nach vorn, kam neben dem Oberkörper des Untoten wieder auf den Boden und hob sein Schwert. »Das ist für den Märchenerzähler und für die Peitschenhiebe!« keuchte er auf, als das Schwert mit dem Vorderteil in den Boden fuhr und mit der Schneide in der Mitte seiner Länge den Kopf des Untoten abschlug. Sardak zog das Schwert aus dem Boden, hob den Kopf und sah sich um. Sein schweigsamer Mitkämpfer ritt auf ihn zu und schwang seine mörderische Waffe. »Ich ... nichts ist geschehen!« rief Sardak, als der Mann ihm den Zügel seines Pferdes zuwarf. Hinter ihnen kämpften sie gegen die letzten Untoten. Aber noch waren genug von ihnen übrig. Das Labyrinth ...
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9.
Der innerste Verteidigungskreis der Stadt schien angelegt worden zu sein, um den jeweiligen Herrscher dieser Siedlung zu schützen, vielleicht vor seinen eigenen Untertanen. Schroffe, kaum zu bezwingende Felsen bildeten einen Kreis, der zu zwei Dritteln geschlossen war und am Hauptfelsen hinter dem Heiligtum anstieß. Zwischen den zahnartigen Steinen gab es kurze Stücke einer ziemlich gut erhaltenen Mauer. Von dort oben schossen die Untoten Speere ab und schleuderten Steine, die ein Lebender niemals hätte werfen können. Die Amazonen feuerten jetzt ununterbrochen Brandpfeile ab, die in den Schilden und dem Fleisch der Untoten steckenblieben ... die Geister auf den Wällen kämpften weiter. Es gab etwa ein Dutzend Durchbrüche zwischen den Mauern und den uralten, dicken Bäumen. Einer der breitesten, der vom Gestrüpp befreit worden war, öffnete sich direkt vor Sardak und den rund vierhundert Reitern, die von allen Richtungen herbeigekommen waren. Hinter ihnen war die Stadt frei von Verteidigern. Die Fallen waren gekennzeichnet, und das Gros des Heeres ergoß sich nach Bo-gah. Sardak winkte nach hinten, lenkte mit dem Schild einen Speer ab und schrie: »Hinter mir her! Durch das Labyrinth!« Er ritt langsam an. Die anderen folgten ihm. Es ging geradeaus, bis sich die Mauern trichterförmig verengten und einen scharfen Knick nach links machten. Hier hatten die fünfzig Untoten gelauert. Zwanzig Schritte weiter ... Sardak schwang sich aus dem Sattel und ging vorsichtig weiter. Als er die feine Rille zwischen den 103
Steinen erreicht hatte, blieb er stehen und bedeutete den Männern, zurückzubleiben. Er streckte den Fuß aus und trat heftig auf die Steinplatte. Dann warf er sich mit einem mächtigen Satz zurück. Ein Schwirren ertönte, noch in dieses Geräusch mischte sich das harte Knacken eines versteckten Mechanismus. Aus dreißig Löchern auf jeder Seite der Mauern fuhren kurze Speere mit Spitzen, die wie Gabeln oder Dreizacke wirkten. Die Speere krachten gegen die gegenüberliegende Wand und schlugen tiefe Löcher in den Stein, dann rasselten ihre Schäfte übereinander. Sardak lief nach vorn und schob die Wallen mit den Fußen zur Seite. »Das ist eine teuflische Falle. Wir wären gestorben, wenigstens wir Männer an der Spitze!« Es war das erstemal, daß Sardak den riesigen Mann sprechen hörte. Er nickte und zog sein Pferd hinter sich her. Diese Falle war entschärft; niemand würde mehr die federnden Balken neu spannen und Speere gegen die Sperren drücken. Das Labyrinth bildete nun eine Verzweigung, deren Wege nach sechs verschiedenen Richtungen führten. Sardak schlug ohne Zögern die richtige Abzweigung ein und achtete wieder auf den Raum vor seinen Füßen. »Vorsicht! Zwischen den Platten gibt es solche, die nachgeben! Niemand kann sie von den anderen unterscheiden.« Er suchte nach den Zeichen, die er kannte: gesäuberte Fugen, die Spuren von eisenbeschlagenen Hebewerkzeugen, etwas Sand, abgesplitterte Kanten ... er trat jeweils auf die Platte und brachte sie dazu, sich um ihre Längsachse zu drehen. Während sie so Schritt um 104
Schritt vorrückten, machte er eine Falle nach der anderen unschädlich. Es ging sehr langsam, hinter ihnen füllte sich der Durchgang mit Reitern und Männern, die abgesessen waren oder ihre Pferde verloren hatten. Zwei Gruppen wichen nach links und rechts aus. Von einem Hagel kurzer Wurfspeere und einem noch dichteren Geschoßhagel aus brennenden Pfeilen und solchen mit furchtbaren Jagdspitzen gedeckt, die von den Amazonen abgeschossen wurden, stürmten die Männer die engen Treppen und griffen die Untoten auf der Mauerkrone an. Die Gefahr von beiden Seiten war in kurzer Zeit nicht mehr vorhanden. Es war für Gruppen von drei oder vier Kriegern keine Ruhmestat, einen Untoten anzugreifen und ihn zu zwingen, seinen Kopf aus der Deckung zu nehmen. Dann beendete ein Schlag mit einem Schwert sein rätselhaftes Leben. Sardak fand auch den Mechanismus, der mitten im Labyrinth zwei breite Gräben mit Götterfeuer-Substanz auslöste. Die Gräben hätten zunächst die Männer zwischen ihnen eingeschlossen. Dann würden die Flammen hölzerne Trennwände niedergebrannt haben, so daß die unlöschbaren Flammen auch von der Mitte aus in breiter Front aufgelodert hätten. Schließlich, als die Sonne fast schattenlos herunterstrahlte, kamen die ersten Krieger aus dem Labyrinth. Ihnen warfen sich dreihundert Willenlose entgegen. Zunächst wichen die Krieger zurück; sie wollten sich nicht an den Hirten vergreifen. Aber zwischen ihren Reihen galoppierten die Amazonen nach vorn und hoben die Brandpfeile an die Bogengriffe. Lange Rauchfäden ringelten sich von den dicken Köpfen, die aus gepreßten Blättern des Ziegenbusches bestanden, mit pflanzlichen Fasern fest umwickelt. Die Pfeile schossen davon. Wo sie 105
einschlugen, platzten die kugelförmigen Köpfe, und der Schwelbrand griff über. Undurchdringliche Rauchwolken erhoben sich von hundert Stellen zugleich. Während die Gruppen, die Sardak sorgfältig ausgesucht hatte, nach drei Seiten davonstoben, ritten die Amazonen auf die Willenlosen zu und warteten, bis der Einfluß des Giftes abgeklungen war. Vor ihnen erhob sich, schwarz und drohend, das Dunkle Heiligtum. Knapp einen Pfeilschuß davon entfernt endete das Labyrinth und die anderen Mauerreste, die Säulen und die Bäume. Ein Unkrauthaufen links, morsche Balken rechts, eine zertrampelte Fläche vor ihnen bis an die Stufen des Heiligtums. Sardak stand im Sattel auf und schrie gellend: »Versteckt euch! Wo ich stehe, verläuft der Gürtel des Feuers!« Er wendete sein Pferd, als er sah, daß er verstanden worden war. Die kleinen Gruppen rasten rücksichtslos auf die Stellen zu, an denen das Götterfeuer entzündet werden konnte. Sardak selbst würde den kleinen Turm mit den ausgetretenen Stufen übernehmen. Er winkte seinen Leuten und ritt zwischen dem sich träge dahinwälzenden Wall aus Rauch und kleinen Flammen und den im Unkraut und Gras verborgenen Platten entlang. Sie warfen einem Mann die Zügel der Pferde zu und rannten nacheinander die Treppe hinauf. Sardak prallte gegen einen Untoten und war augenblicklich in einen Kampf verwickelt. Die Treppe war durch die Kämpfenden versperrt, aber sie behinderten sich gegenseitig. Hinter Sardak erscholl eine laute Baßstimme. Es war sein schweigsamer Freund. »Lenke ihn ab, lasse dich fallen!« 106
Sardaks Schild wurde ihm beinahe aus dem Armschutz geprellt, als er einen grimmigen Schlag des ersten Untoten abwehrte. Als dessen Waffe klirrend auf den Stein schlug, ließ sich Sardak fallen. Eine Handbreit über seinem eigenen Schädel heulte das lange Schwert waagrecht durch die Luft und schlug dem Untoten mit einem einzigen Hieb den Kopf ab. Der andere wurde von zwei Männern an die Brüstung gedrängt; während einer ihn ablenkte, erledigte der andere mit seiner Streitaxt den gespenstischen Gegner. Sie kippten die Leichen über die Brüstung und verschanzten sich. »Hier!« sagte Sardak. »Dieser Balken muß nach unten gedrückt werden. Dann kippen dort unten mindestens hundert Steinplatten zur Seite.« Der Mann neben ihm, der sich jetzt den Helm abnahm, während er würgend hustete – der Wind trieb den Rauch der Pfeile direkt hier herauf –, fragte leise und keuchend: »Und wo ist das Wasser?« Sardak deutete auf die massive Mauer im Hintergrund der Plattform. »Hier. Das ist der Verschluß aus Ton. Wenn du darauf trittst oder die Platte mit dem Schwert zerschlägst, läuft das Wasser nach unten und fast gleichzeitig in alle Kammern.« Der andere nickte und stützte sich schwer auf die Brüstung. »Und warum haben diese beiden Verdammten das Feuer nicht entzündet?« fragte er mißtrauisch. Sardak erinnerte sich abermals an Urak und sagte laut: »Weil Urak mir selbst den Befehl gegeben hat. Ich soll, bei meinem Leben, das Feuer der Götter entzünden.« 107
»Ich verstehe.« Während man versuchte, die hilflosen Hirten wegzubringen, die nur einen Teil dessen begriffen, was um sie herum vorging, füllte sich die Zone zwischen Mauer und den versteckten Platten mit den Reitern. Der Rauch verzog sich langsam, aber die brennenden Reste der Stadt hinter ihnen schickten noch immer eine mächtige Wolke in den Mittagshimmel. Durch das Knistern der Brände und das Brausen der Flammen hörte man jetzt ein Röhren, einen tiefen Schrei, der wie von einem Echo zurückgeworfen und wiederholt wurde. Weit hinten kämpften Amazonen gegen Untote. Jede Gegenwehr schien sonst erstorben zu sein. Vielleicht wartete Urak jetzt in dem Heiligtum darauf, daß der dichte Ring der Reiter von dem Feuer verzehrt werden würde. Eine kleine Gruppe von Männern mit Fackeln löste sich aus dem Haufen. Sardak und seine zwölf Krieger hier oben erkannten Partho, der eine mächtige Fackel im Kreise schwang, um die Flammen zu entfachen. Parthos großer Hengst sprang die Stufen hinauf und rutschte bis an die Toröffnung. Partho schleuderte seine Fackel in das Innere. Seine Männer taten es ihm nach, aber die Flammen würden nur wenig Nahrung finden in dem großen, staubigen Saal aus Stein. Der unbekannte Schrei wurde lauter. Es war wie ein Trompeten, wie ein Brüllen großer Tiere. Dann entstand eine Stille. Sie war so tief und groß, daß selbst die härtesten Krieger schauderten. Partho zügelte sein Pferd unterhalb der Stufen zum Heiligtum. Er blickte verblüfft umher. Seine Männer versammelten sich um ihn, als würden sie ihn schützen müssen. »Was ist das?« murmelte Sardak. 108
Wieder ein Schrei. Diesmal war es ein heller, trompetender Laut, aus dem Wut und Schmerz klangen. Mit einem einzigen schmetternden Krachen fielen die riesigen Portale der Felsenhöhlen nach vorn, als wären es kleine Bretter. Dahinter sah man lange, weiße Waffen, die gebogen waren wie Sensen. Mit hochgeschwungenen Rüsseln, in denen schwere eiserne Keulen festgehalten wurden, rannte ein riesiges Tier aus der Höhle hervor. Dreimal so groß wie ein Mann, mit mächtigen Schultern. Die Waffen waren lange Stoßzähne, die bis fast an die hitzigen, bösen Augen des Tieres hinaufreichten. Hinter dem hammerartigen Schädel, der von grauem und schwarzem Haar bedeckt war, saß ... Urak! Auf dem Platz vor dem Heiligtum erscholl ein Schreckensschrei. Sämtliche Pferde scheuten. »Urak! Dieser Schakal! Ich werde ...«, keuchte Sardak auf. Hinter dem ersten Koloß schoben sich andere hervor. Sardak hörte auf zu zählen, als er bei vierzig war. Sie liefen heran, schlugen mit den Rüsseln wie mit kurzen Peitschen und trampelten auf die versammelten Reiter zu. Sie wurden immer schneller. Der Leitbulle war fürchterlich anzusehen; die mehr als fünfzig Tiere hinter ihm nicht weniger. Auf ihren Rücken, zwischen Kopf und den massigen Schultern, saßen Untote in schweren Rüstungen. Unter dem dicken Fell bewegten sich die ungeheuren Muskeln der Tiere. Der Bulle trompetete, schwang seinen Rüssel mit der daran befestigten Eisenkeule und pendelte mit dem Kopf hin und her. Die gelblichen Stoßzähne fuhren über den Boden und rissen kleine Büsche aus. Die Tiere waren halb wahnsinnig vor Wut und Angriffslust. »Du wirst nichts dergleichen tun! Löse das Feuer aus!« sagte der Riese neben Sardak. 109
Mit dem von Urak gelenkten Riesentier an der Spitze bildeten die Tiere einen stumpfen Angriffskeil. Uraks Tier, ein Riese aus einer unbekannten Vergangenheit, vielleicht ebenso aus der Totenstarre erweckt wie jene Untoten, war von Dragon und von den verborgenen Kammern voller Naf‘tha-Feuer noch hundert Mannslängen entfernt. »Du hast recht. Nicht zu früh ... und nicht zu spät!« sagte Sardak und nahm einem Mann die Streitaxt aus der Hand. Er stellte sich neben die Sperre des Wassers, aber er konnte seinen Blick nicht von dem Geschehen unten auf dem halbmondförmigen Platz losreißen. »Ich nehme den Balken!« schrie der andere. »Ist gut!« Es mußten etwa sechzig Tiere sein. Sie waren groß und schnell. Ihre vier stämmigen Beine zertrampelten das Unkraut und traten die Steinbrocken ebenso tief in die Erde wie die verlorenen Waffen und den Harnisch eines Untoten. Sie walzten alles nieder. Die Untoten hinter ihren auf und ab nickenden Köpfen stachen sie mit kurzen Speeren, um ihre Wut noch anzufachen. Breite Streifen Blut rannen über die verklebten Felle. Das Haar hing von den Schultern und von den trommelförmigen Bäuchen bis auf den Boden herab. Sie kamen näher wie eine Brandungswelle oder wie die tiefhängenden Wolken eines Gewittersturms. »Der Balken! Schnell, aber nicht reißen!« schrie Sardak. Der Riese stemmte sich gegen das schwarze Holz und zog es aus der senkrechten Lage. Unter dem ledernen Hemd spannten sich die Muskeln. Der Balken beschrieb einen Viertelkreis und lag dann flach am Boden auf. Durch das Trampeln der schweren Füße, durch das erschreckte Wiehern der Pferde und die zahllosen Geräu110
sche unten auf dem Platz hörten sie, wie schwere Steinplatten kippten und wiederum auf Stein schlugen. Wie durch Zauberei erschienen in dem zertrampelten Halbrund mehr als hundert viereckige Löcher, die schwarz gähnten. »Das Wasser!« schrie der Riese. Sardak brüllte zurück: »Noch nicht ... überraschen!« Ohne Zweifel mußte Urak bemerkt haben, daß das Götterfeuer nicht brannte. Sein Tier verließ die Spitze und polterte auf den Turm zu. Die anderen Tiere rasten weiter und näherten sich den Öffnungen. Dragons Reiterei wich in den Ausgang des Labyrinths zurück. Es herrschte eine unbeschreibliche Panik – nicht so sehr die Krieger, mehr die Tiere vergrößerten das Durcheinander. Sardak schätzte die Geschwindigkeit der Kolosse ab, die Geschwindigkeit des aus großer Höhe strömenden Wassers und hob die Axt. Er schwang sie und zertrümmerte die Platte. Sofort schoß ein mehr als schenkelstarker Wasserstrahl aus der Öffnung, beschrieb einen Bogen und verschwand in der Röhre. Das Wasser rannte unterirdisch weiter, erreichte die erste Kammer und überflutete die geheimnisvolle Substanz. Eine zungenförmige, grellweiße Flamme schoß augenblicklich in die Höhe. Sie erwischte eines der Tiere zwischen Kopf und Hals. Sofort brannte das lange, fettige Haar. Die Flammen verschmolzen – das Tier schrie auf. Eine zweite Flamme tauchte senkrecht auf, schob sich wie ein Speerblatt zwischen Dragon und die angreifenden Mastodonten. Mehrere Urwelttiere schrien, vom Schmerz gepeinigt, auf. 111
Ein ungeheuerlich lauter Schrei in verschiedenen Tonhöhen. Er ließ das Blut in den Adern gefrieren. Die schweren Keulen wirbelten durch die Luft. Rüssel und Kopf standen in Flammen, ziellos rannten die Tiere durcheinander. Zwei rasten aufeinander zu, stolperten, und die Untoten wurden halb von ihren Rücken geschleudert. Sie gerieten zwischen die knochengepanzerten Stirnen der Bestien und wurden zermalmt. Ein anderes Tier drehte sich wie besessen im Kreis, wobei Büschel brennender Haare nach allen Seiten flogen. Ein viertes schlug mit der Keule immer wieder gegen den eigenen Kopf und zermalmte den Untoten. Jetzt zuckte auch aus der letzten Öffnung, am anderen Ende des Platzes vor dem Heiligtum, die Flamme hoch. Die Glut ließ eine wabernde Wand von Hitze entstehen. Niemand verstand mehr sein eigenes Wort. Dragons Pferd riß sich los, biß auf die Kandare und sprengte zwischen zwei Feuern hindurch. Es galoppierte auf das Heiligtum zu. Dragon kämpfte mit dem Tier, aber es galoppierte in hölzernen Sprüngen auf die Gruppe um Partho zu, die entsetzt auseinanderstob, als Dragon mitten auf sie zugaloppierte. Die Kolosse waren geradeaus weitergerannt. Sie konnten nicht auf der Stelle anhalten. Fast alle waren in die Flammen geraten, die augenblicklich auf die zottige Behaarung der Tiere übergriffen. Jetzt verwandelte sich der Platz in einen Kessel des Wahnsinns. Ein Koloß raste, von Schmerzen gepeinigt und von den Flammen geblendet, auf die Mauer des Labyrinths zu. Mit voller Wucht krachte er gegen die Quadern und wurde zurückgeworfen. Die Lanze auf seiner Stirn splitterte, aber als das Tier zurückstolperte, um ein zweites Mal drohend gegen die Mauer zu rennen, schleuderte es den Untoten aus seinem natürlichen Sattel. Als der 112
Koloß ein zweites, ein drittes und ein viertes Mal gegen die Mauer krachte, rammte es den abgesplitterten Schaft der Waffe durch das Auge des Untoten. Mit dem schaukelnden Körper auf der Stirn rannte es weiter, brach eine zweite Mauer nieder und stürzte mit dem Vorderkörper in eine Grube voller spitzer Eisenstäbe und giftiger Schlangen. Das Fell und das Haar brannten noch immer. Ein Tier, das eine ölige Flammen – und Rauchspur hinter sich herzog wie einen Mantel, raste in einem halsbrecherischen Galopp – den Untoten hatte es mit dem Rüssel vierzig Meter weit durch die Luft geschleudert – genau auf das Dunkle Heiligtum zu. Parthos Gruppe brachte sich schreiend in Sicherheit. Der Koloß trampelte die Treppen hoch und blieb zwischen zwei Säulen stecken, die er vorher aus der Verankerung gerissen hatte. Das Dach des Tempels begann sich waagrecht zu bewegen wie bei einem Erdbeben. Zwei Kolosse bekämpften sich gegenseitig. Sie waren wahnsinnig geworden. Von den mehr als hundert lodernden Flammenzungen strömte eine gewaltige Hitze aus, die das Laub an den Bäumen welken ließ, rot färbte und schließlich in Brand setzte. Die riesigen Stoßzähne der Kolosse bohrten sich in die Haut, rissen furchtbare Wunden. Uraks Bulle raste im Zickzack zwischen den Tieren hindurch. Der Bulle trug auf der Seite eine riesige Brandwunde. Die Flammen waren ausgegangen, aber das Fell und die Haut darunter schmorten noch. Schritt um Schritt bahnte sich Uraks Tier einen Weg, indem er mit den Stoßzähnen, mit der wuchtigen Keule und mit den Schultern die anderen Tiere rammte und zur Seite stieß. Dann ballte Urak die Faust und schrie etwas zu Sardak hinauf. 113
Sardak schmetterte seinen Schild zu Boden, ergriff die Axt und riß einem Mann einen langen Dolch aus dem Gürtel. Dann blieb er hinter der Brüstung stehen und erwartete den Angriff. Urak schwang ein langes, schmales Schwert, dessen Spitze blutig war, denn er hatte mit der Waffe das Tier in blinde Raserei versetzt. »Du gehörst mir! Ich werde den Märchenerzähler rächen ...«, keuchte Sardak und entblößte die Zähne wie ein wütender Wolf. Der Koloß war herangekommen, senkte den Kopf und rammte den Turm. Die Plattform schwankte wie ein Schiff im Seegang. Die Keule am Rüsselende hieb eine riesige Bresche in das Gemäuer. Sardaks schweigsamer Freund sah sich um, holte mit seinem Schwert aus und legte alle seine Kraft in den Schlag. Wieder beschrieb das Schwert einen mehr als halben Kreis und trennte den Rüssel des Tieres ab. Die Keule flog wie ein Geschoß hinüber ins Labyrinth und zerschmetterte einem herrenlosen Pferd das Rückgrat. Urak schrie etwas und schwang sein Schwert gegen Sardak. Sardak breitete die Arme aus und sprang. Seine Beine trafen Urak an der Brust. Der Dolch fuhr durch den Oberarm des Mannes, der unerschrocken blieb. Plötzlich schien er kein Feigling mehr zu sein, dachte Sardak, als er seine Axt in den Schädel des Tieres schlug und dann zu tun hatte, um sich auf dem wie irrsinnig sich drehenden und losrennenden Koloß festzuhalten. Eine Hand griff in schmieriges Fell, die andere hielt Uraks Schwertarm am Handgelenk. Der Leitbulle mit der rauchenden Wunde preschte genau auf Dragon zu, dessen Pferd abermals scheute. Die 114
Lanze, die ein Mann neben Partho warf, bohrte sich in den Hals des Mastodons. Urak war kein Feigling mehr. Er mußte das Gift genommen haben, fuhr es Sardak durch den Sinn, und jetzt war er mutiger als drei Untote zusammen. Auf dem Rücken des rasenden Bullen begann ein lautloser Kampf zu toben.
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Urak und Sardak schwankten bei jedem Schritt des Bullen, der einmal in diese Richtung rannte, dann wieder in die andere. Vor ihm, im Bereich des abgeschlagenen Rüssels, floh Dragons Pferd. Dragon selbst konnte weder aus dem Sattel springen, noch konnte er mit dem Tier, das mehr als nur panische Angst hatte, eine Richtung einschlagen, in der er sicher war. Inzwischen war die Haut des Bullen mit Speeren und Pfeilen gespickt. Gebannt sahen die Krieger, die in geschützten Winkeln standen, auf das Schauspiel des Kampfes auf dem Rücken des Bullen. Während überall die brennenden Tiere verendeten, schlossen sich die Hände Sardaks um den Hals Uraks. Mindestens zehn der Kolosse waren genau über den Feueröffnungen zusammengebrochen. Die Untoten, die sie im Sterben aus ihrem Fell geschleudert hatten, kämpften mit den Kriegern und wurden einer nach dem anderen niedergemacht. Der Gestank des brennenden Fleisches erfüllte den Platz. Einige besonders beherzte Männer waren unter die Kolosse gesprungen, hatten ihnen die Sehnen der Füße durchgeschnitten oder die Bäuche aufgeschlitzt. Die Tiere starben langsam und qualvoll. »Du Hund. Ich habe meinen Willen nie verloren!« keuchte Sardak. Uraks Schwert zuckte herunter und traf ihn schwer am Hinterkopf und am Rücken. Sardak umklammerte das Handgelenk und lockerte seinen Griff um die Kehle. Dann verstärkte er den Hebel, und die Finger des Man116
nes vor ihm, dessen Augen ihn wütend anstarrten, verloren den Halt. Das Schwert fiel zu Boden. »Ich töte dich!« flüsterte Sardak und rammte sein Knie in Uraks Magen. Der andere schien nichts zu fühlen. Sie schaukelten hin und her. Wenn sie herunterfielen, wurde das Mastodon sie zertrampeln. Sardak steckte einen Faustschlag ein. Dann schnellte sein Ellbogen vor und traf in die Zähne, die krachend splitterten. Urak gelang es, seinen Dolch zu ziehen, aber Sardak hielt den Arm mit beiden Händen fest. »Denke an den alten Märchenerzähler. Ich habe ihn getötet!« stieß Sardak hervor. Sein Atem ging schwer. Er ließ sich zurücksinken, schlug den Arm schwer auf seine Schulter und brach Urak das linke Handgelenk. Schweigend kämpften die beiden Männer. Sardak wollte Urak töten, und Urak war voller Wahnsinn, den er mit dem Gift des Cnossos getrunken hatte. Das Tier unter ihnen rannte mehrmals gegen den Turm und erschütterte ihn so stark, daß die Männer auf ihm sich vorsichtig zurückzogen. Dragon war endlich von seinem Pferd gesprungen, das in den hintersten Winkel des Hofes lief. Mit geschwungenem Schwert rannte Dragon auf den Bullen zu. Partho hatte sein Pferd besser in der Gewalt. Als er Dragon sah, warf er sich herum und sprengte heran. »Zurück! Der Koloß zermalmt dich!« schrie er. Sardak riß seinen zweiten Dolch heraus. Immer wieder rammte er seine Faust in das Gesicht des Mannes, schlug gegen den Hals und gegen jede andere Stelle, die nicht durch einen Panzer geschützt war. Dann sackte Urak zusammen. Sardak warf einen Arm nach vorn und riß Uraks Kopf an sich heran. Dann zuckte die Hand mit dem Dolch aufwärts. Das Eisen bohrte sich in den Hals und 117
den Kopf Uraks. Der Knecht des Cnossos bäumte sich auf, warf die Arme nach hinten und befreite sich mit einer übermenschlichen Anstrengung. Aus seinem Gürtel fiel ein schwarzes Kästchen, prallte vom zersplitterten Stoßzahn des Mastodonbullen ab und fiel vor die Füße Dragons. »Hör auf! Vorsicht, du wirst herunterfallen!« schrie Dragon. Partho fällte die Lanze, die er einem der Männer aus der Hand gerissen hatte und zielte auf den Kopf des Bullen. Er rammte sie mit aller Kraft in das rote Auge des Kolosses. Das Tier bäumte sich auf und schleuderte die beiden Männer aus ihrem Sitz. Sie flogen in die Luft, prallten wieder auf den Rücken und rutschten an der Flanke herunter. Dragon bückte sich und hob das Kästchen auf. Sardak sprang auf die Beine, näherte sich Urak und packte ihn seitlich am Band des Helmes. Dann schnitt er Urak die Kehle durch. Partho riß im Weiterreiten den Speer aus dem Auge, als der Koloß zu schwanken begann. »Weg! Schnell her zu mir!« schrie Dragon und sprang auf Sardak zu. Sardak begriff und rannte los. Das Tier drehte sich halb im Kreis, dann fiel es an allen Gliedern zitternd um und begrub Urak unter sich. Das letzte der brennenden Tiere rannte durch die Stadt, nachdem es einige Mauern umgelegt hatte. Es gelangte auf das Gewölbe, das unter seinem Gewicht zusammenbrach und das Tier mit den Trümmern erschlug. Noch immer brannten und loderten die Flammen des Götterfeuers. 118
Dragon hob das Kästchen hoch, starrte es an und sah zu, wie Partho aus dem Sattel sprang und sich um Sardak kümmerte. »Was ist darin?« fragte er. Sardak sagte: »Es muß aus dem Gürtel Uraks gefallen sein. Ich habe es vorher niemals gesehen. Ich weiß es nicht.« Dragon zog seinen Dolch, schob die Schneide zwischen die beiden Teile und sprengte die Kassette auf. Er sah augenblicklich, was der Inhalt war. »Körpersubstanz von Cnossos!« sagte er und rannte auf die nächste Flamme zu. Ringsherum kamen die Reiter zwischen den Flammen hervor und versammelten sich. Irgendwo rechts schienen sie noch zu kämpfen. Mit Sicherheit gab es dort noch Untote, die hemmungslos und ohne Angst gegen die Übermacht kämpften. »Ins Feuer damit!« sagte Dragon laut und warf das Kästchen mitsamt dem Inhalt mitten in eine der größten Flammen. Dort verbrannte der Rest der Substanz, und in dem Augenblick, als die Flammen ihn verzehrten, fielen die letzten Untoten zu Boden und rührten sich nicht mehr. Kurze Zeit später wimmelte es von Kriegern. Ein paar Feuer waren erloschen, die anderen Kammern brannten noch aus. »Sardak, wir danken dir!« sagte Dragon. »Du hast uns sehr geholfen. Durch deine unerschrockene Hilfe haben wir die Stadt ohne eigene Verluste eingenommen.« Sardak deutete auf den tempelartigen Bau und stieß hervor: »Zerstört dieses Heiligtum. Niemand weiß, welche Geheimnisse noch dort lauern. Werft alle Steine um! Kehrt das Unterste zuoberst!« 119
Partho lachte und sagte kurz: »Keine Sorge. Es wird uns nicht lange aufhalten. Los, Freunde ... nehmt Fackeln und findet jeden verborgenen Raum. Cnossos werdet ihr nicht finden.« Sardak zwinkerte überrascht. »Wen?« »Derjenige, der Uraks Herr war, ist Cnossos. Cnossos und ich sind Feinde. Er ist der große Zerstörer, der Feind aller jener, die Ruhe und Frieden wollen. Er ist böse!« sagte Dragon. »Und er wird uns noch viele Hindernisse in den Weg legen.« »Wenn wir jedes so überwinden wie diese Stadt Bogah, dann haben wir einen leichten Weg vor uns, Freund Dragon!« Partho schob sein Schwert zurück und schloß sich den Männern an, die aus allen Richtungen auf das Dunkle Heiligtum zugingen. Sardak erinnerte sich daran, daß es noch Substanzen gab, die man miteinander mischen konnte. Das Götterfeuer würde auch dieses Gebäude zerstören können. Agrion kam heran. Ihr Gesicht war geschwärzt. Auf der Stirn hatte sie eine kleine Wunde. Ihr Pferd war blutbespritzt. »Freundin!« sagte Dragon. »Es wird das beste sein, wenn du deine tapferen Amazonen sammelst und langsam zum Heer zurückreitest. Wir haben hier nicht mehr viel zu tun.« Voller Abscheu starrte Agrion auf den Fries, der sich über den Säulen spannte. Einige Männer begannen bereits, in die Mauerfugen dicke Holzkeile zu treiben und Wasser zu holen. Mit goldenen Kelchen und Teppichen kamen die Männer aus dem Gebäude zurück und stapelten ihre Beute vor Dragon. Sie brachten auch die Ki120
sten, in denen sich noch Reste des Giftes befanden, das den Menschen ihren Willen nahm. »Sardak«, Agrion wandte sich an den Hirten. »Deine Freunde warten vor der Stadt. Du kennst sie alle. Reite hinaus zu ihnen und sage ihnen, was sie tun können. Sie sollen zu ihren Herden zurückkehren. Bo-gah ist nicht mehr länger Sitz und Heimat des Schreckens.« Sardak nickte. Plötzlich fühlte er sich müde und erschöpft. Und er dachte wieder an den sterbenden alten Märchenerzähler. Er sah Dragon an. Dragon nickte. Sie alle waren mitgenommen und standen noch unter dem Eindruck des Schreckens. Sie waren von den Ereignissen zuletzt überrascht worden – mit diesen Urwelttieren hatte niemand rechnen können. Aber sie stammten wohl auch aus dem Arsenal, über das Cnossos oder Zamoc verfügte. »Es wird das beste sein!« murmelte Sardak. »Ich warte auf euch, draußen am Weg aus der Stadt.« Er hob die Hand und ritt rieben Agrion durch das Labyrinth. Drei Schritte hinter ihm rittder riesige Mann, der ihm mehrmals das Leben gerettet hatte. Schließlich trennte sich die zukünftige Königin der Amazonen von ihm, und Sardak erblickte die vertrauten Gesichter seiner Freunde. Er ging in ihre Mitte und berichtete genau, was geschehen war. Er schloß: »Vergeßt die Toten nicht, aber geht zurück zu euren Herden. Die Tiere müssen versorgt werden! Bo-gah ist eine Stadt, die vergessen werden kann. Dort leben nur noch Schlangen und Schakale, keine Gespenster mehr.« Er setzte sich, während sich die Hirten zögernd zerstreuten, auf ein Säulentrümmerstück, schlug die Hände vor sein Gesicht und dachte nach. Er war mitten in 121
diese Auseinandersetzung hineingerissen worden. Wie lange würde es dauern, bis er wieder seine Herden sah und die bescheidene Behausung, in der es Ruhe gab und Beschaulichkeit? Er zuckte die Schultern. Sardak wußte nicht, was weiterhin geschehen würde. Aber er ahnte, daß er mit dem Heer Dragons reiten würde. Aber ein Mann des Krieges würde deshalb aus ihm kaum werden. Er war Hirt und Herdenbesitzer, und er würde es bleiben. Am frühen Abend, als nur noch die Flammen am Horizont von Bo-gah übrig waren, ritten sie zurück zum Kreuzweg. Dragon schwieg. Er war in Gedanken versunken. Cnossos hatte mehr als einen Tag gewonnen. Was immer er plante Bo-gah und der Kampf hatten ihm einen Vorsprung geschaffen. Das Heer der Elftausend würde sich in einem halben Tag wieder auf dem Marsch gen Myra befinden, um Erfahrungen, Wunden und Selbstvertrauen reicher. Und trotzdem war keine wirkliche Entscheidung gefallen. Nur Menschen waren gestorben, waren von Cnossos geopfert worden. Was trieb jenen dunklen Fürsten dazu, immer nur haßerfüllt zu handeln? Eines Tages würde er es wissen. Hoffentlich lag der Tag nicht allzu fern. Partho ritt an der Seite Agrions. Auch sie schwiegen und hingen ihren Gedanken nach. Sie waren vom Schicksal zusammengebracht, wieder getrennt und zu Gefährten Dragons gemacht worden. Sie ritten mit ihm auf der Straße des Sieges. Aber was bedeuteten die Horden der Nacht, von denen Sardak, ihr neuer Freund, berichtet hatte? Was hatte der 122
unglückliche Märchenerzähler wirklich gewußt? Wo lag die Wahrheit, wo war die Sage? Partho drehte sich um. Neben Yina ritt Sardak. Ein erstaunlicher Mann, dachte Partho. Fünfzig Sommer alt, offensichtlich nicht dumm und unwissend, aber auch der Macht des Dunkels erlegen – er hatte sich jedoch aus eigener Kraft daraus befreit. Vielleicht war er ein wertvoller Freund im Kampf gegen Cnossos. Der Abend kam. Vor ihnen lagen dunkle Wälder, aus denen keilförmig die weißen Felsen hervorstechen. Die ersten Sterne tauchten auf. Der Mond zog hoch wie ein silbernes Boot; die Sichel wurde dicker und begann zu strahlen, nachdem sie die gelbe Farbe der Nähe des Horizontes verloren hatte. Als sich Partho abermals umdrehte, sah er weit hinter sich einen halbmondförmigen Lichtschein, immer wieder von Wolken und schwarzen Streifen durchzogen. Bo-gah, die Stadt der Verlorenen Seelen, brannte. Dort lebte niemand mehr. Nicht einmal der Aussätzige, den sie neben dem Labyrinth gefunden hatten. Eine grüne Viper hatte ihn in den Hals gebissen und sich dann auf seiner schorfigen Brust zusammengeringelt ... ENDE Nach dem Kampf in Bo-gah, der Stadt der verlorenen Seelen, zieht Dragon weiter – auf Myra zu. Der Atlanter erwartet, kampflos in den Besitz der Residenzstadt des toten Königs Zogor zu gelangen. Doch bevor Dragon sein Ziel erreichen kann, hat Cnossos neue Helfer um sich gesammelt. Es sind DIE HORDEN DER NACHT ... DIE HORDEN DER NACHT so heißt auch der Titel des nächsten Dragon-Bandes. Verfasser des Romans ist Ernst Vlcek.
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