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Vergewaltigung ist eines der Ver brechen, die in der Öffentlichkeit Rachegefühle bloßlegen. Wenn der Angeklagte obendrein Polizeibeam ter ist, werden die Rufe nach Ver geltung vollends unüberhörbar. Helen West sieht die Tatbestände mit dem professionellen Blick der Staatsanwältin, die mit ihren Emo tionen nicht hinterm Berg hält, aber in erster Linie den Anforde rungen des Gesetzes genügen muß. In diesem Fall kann sie den Ange klagten ohnehin nicht leiden, ob wohl der unzuverlässige und zwanghaft untreue Sergeant Ryan mit ihrem Liebhaber, Superinten dent Bailey, befreundet ist. Auch auf der Anklagebank schweigt Ryan hartnäckig zu den Vorwür fen, die gegen ihn erhoben werden. Er gibt lediglich zu Protokoll, daß er einem geheimnisvollen Täter auf der Spur sei, der auf der makabe ren Suche nach Macht und Liebe Frauen gegen ihren Willen gefügig mache. Trotzdem bleiben Helen West und Bailey von seiner Schuld überzeugt, bis sie auf Indizien stoßen, die nahelegen, daß Ryan tatsächlich kein Phantom gejagt hat, sondern einen Täter, dessen Profil zunehmend deutlich wird: Ein offenbar einflußreicher Mann, der das Gesetz ebenso präzise kennt wie die Gesetzeslücken, der meint, von Vergewaltigung könne keine Rede sein, wenn er Blumen und Pralinen mitbringt; der seine Opfer mit ihrer eigenen Scham zum Schweigen bringt, der mordet, ohne Spuren zu hinterlassen.
Frances Fyfield
Gegen ihren Willen
Roman
Aus dem Englischen von Pociao und Roberto de Hollanda
Hoffmann und Campe
Die Originalausgabe erschien 1996 unter dem Titel »Without Consent« bei Bantam Press, London
Die Übersetzer bedanken sich bei Dr. Dietrich Welp für seine fachliche Beratung
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Fyfield, Frances: Gegen ihren Willen : Roman / Frances Fyfield.
Aus dem Engl. von Pociao und Roberto de Hollanda.
– 2. Aufl. – Hamburg: Hoffmann und Campe, 1997 ISBN 3-455-02230-8 Copyright © 1996 by Frances Fyfield Deutsche Ausgabe Copyright © 1997 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg Schutzumschlag: Büro Hamburg unter Verwendung eines Fotos von Comstock Satz: Utesch GmbH, Hamburg Druck und Bindung: Ebner Ulm Printed in Germany
Meinen Brüdern Ian und Simon Hegarty in Liebe
Für ihre Hilfe (und Inspiration) bin ich Detective Sergeant Julie Proctor vom Psychologischen Betreuungsdienst der Polizeiwache von Islington sowie Dr. Dene Robertson und Dr. Vesna Djurovic zu großem Dank verpflichtet.
»Die Vergewaltigung einer Frau durch einen Mann ist eine Straftat. Ein Mann begeht eine Vergewaltigung, wenn er (a) unrechtmäßigen Beischlaf mit einer Frau voll zieht, die ihm zum Zeitpunkt des Beischlafs ihre Einwilligung verweigert; und (b) ihm dabei be wußt ist, daß sie die Einwilligung zum Beischlaf verweigert oder hinsichtlich ihrer Einwilligung bewußt fahrlässig handelt.«
Prolog
E
s geht doch nichts über ein gemütliches Zu hause. Sie stank. Ein beißendes Gemisch aus Parfum, Gras und Schweiß, Stadtgerüchen und denen der reifen den Felder. Ihre Fingernägel waren schwarz von Erde. Sie fröstelte in der Hitze der Nacht, obwohl sie das Jackett über den Schultern trug. Am liebsten hätte sie es abgeschüttelt, aber sie brauchte es. Das Revers war klebrig, und sie hatte wirklich Tränen in den Augen, während sie nach Hause stolperte. Sieh mal, wir müssen es nicht so machen, hatte sie gesagt. Wir können es schön langsam im Wagen tun, bitte, bring mich weg von hier, und ich mache alles, was du willst. Er hatte gelacht. Es war ein warmes Lachen, leise und sexy und voller Versprechen. Mein Gott, sie brauchte doch keine Angst zu haben. Aber sie hatte sich so gefürchtet, genau wie jetzt; sie hatte das Gefühl gehabt, er quetsche ihr die Luft aus den Lun gen. Sie dachte an die Abdrücke seiner Hände auf ihren Rippen. Das macht nichts, hatte er gesagt, ein paar blaue Flecken bringen dich nicht um. Und die Quetschungen am Brustbein? Die Flecken sind schnell wieder weg, hatte er gemeint. Ich mach sie so, daß sie wie eine Blume aussehen. Sie hörte Schritte die Treppe runterkommen und sah im Geiste einen jungen Mann in Filzpantoffeln, der den Müll wegbringt und leise die Tür schließt, im 15
Bewußtsein einer bedeutenden Aufgabe. Dann fing sie an zu weinen. Stille. Wenn auch keine völlige Stille im Zimmer die ses Mannes, hoch über der Stadt. Nur die leisen Er schütterungen, die der heftige Verkehr verursachte, aber keine Stimmen. Es genügte ihm nicht, es wie alle anderen zu machen, jedenfalls redete er sich das ein. Vielleicht fühlte er sich aber auch erniedrigt, weil es beschämend und entwürdigend war, derart besessen zu sein. Sex ist nicht das ganze Leben, nur ein Teil davon. Möglich, daß Sex für andere ein Bedürfnis ist, ein Mittel, um Spannungen abzubauen, im Unterschied zu seiner ei genen eher trägen Neugier. Zumindest hätte er nicht zugeben können, daß Triebhaftigkeit eine Rolle bei ihm spielte. Da er aber wußte, was Frauen ohnehin auszuhalten bereit waren, konnte er kein Unrecht in seinem Verhalten sehen. Frauen. Ihre Figuren und Maße erfüllten ihn mit Staunen. Jeder Körper war so einzigartig wie ein Fin gerabdruck, jedes Verhaltensmuster anders, Sehn süchte und Reizschwellen trotz aller äußeren Ähn lichkeiten unvergleichlich. Der Gedanke, daß so viele von ihnen durchs Leben gingen, ohne jemals Befrie digung zu finden, erweckte sein Mitleid. Er sah sich als Mann, der die Frauen liebte; er wünschte sich, daß sie ihren eigenen Wert erkannten und sich obendrein etwas weniger ernst nahmen, vielleicht so gar Gefallen fanden an einem kleinen Scherz. Mein Gott, ihm hatte man ein Leben lang übel mitgespielt, und er lächelte trotzdem. Feministisch zu denken bedeutete in seinen Augen, daß man es moralisch 16
unverzeihlich fand, einer Frau Schmerz zuzufügen. Ihm ging es einzig und allein darum, den Frauen Lust zu verschaffen, alles andere machte keinen Sinn. Wenn aber das Leben sowieso beschränkt war und ohne jede Aussicht auf Lust, war es dann nicht bes ser, den Leidensweg zu verkürzen? Doch um Gott zu spielen, hatte er noch nicht genügend Erfahrung ge sammelt. Vielleicht gelang es ihm eines Tages, die poetischste Art des Todes zu perfektionieren. Ein köstlicher Unfall. Du bist dazu bestimmt, die Frauen glücklich zu ma chen, hatte seine Mutter immer gesagt. Dasselbe gilt für Ärzte. Du bist also doppelt berufen, mein Sohn. Das Eis klirrte in seinem Glas. Auf dem Tisch stand eine Blumenvase mit verschiedenfarbigen Nelken, so vollkommen, daß sie schon fast steril wirkten, dane ben lag eine Schachtel Pralinen. Nachdenklich nippte er an seinem Drink. Leider können Eis und Laven delöl nicht alle Wunden heilen. Nicht mal Alkohol, Lust und die Ausübung von Macht sind unfehlbare Gegenmittel für die grausamen Rückschläge des Le bens. Viele ältere Frauen aus seiner Bekanntschaft hätten ihm das bestätigen können. Über dieses und anderes dachte er vor seinem Com puter nach. Der flimmernde Bildschirm machte ihn nicht nervös; es war anders, als vor einem weißen Blatt Papier zu hocken, ohne etwas Besseres zu tun zu haben. Er hätte die leere Fläche mit beunruhigen den medizinischen Berichten oder Gesetzestexten füllen können; allerdings veranlaßten letztere trotz all ihrer barbarischen Schnörkel ihn immer, seine Be rufswahl zu bereuen. Die Medizin war alles andere als erhebend. Seiner Meinung nach waren Ärzte noch 17
schlimmere Schwindler und Heuchler als die Kolle gen von der Jurisprudenz, die im großen und ganzen etwas zurückhaltender mit ihren Versprechungen waren. Arzt, heile dich selbst. Die Blumenvase hatte die Form eines weiblichen Ge schlechts. Das Fundament stellte die Gebärmutter dar, der sich verjüngende Körper, an dem er sie gele gentlich aufhob, den Gebärmutterhals, der sich zu einer blütenartigen Form der inneren und äußeren Schamlippen öffnete. Die phantasievolle Vorstellung eines Künstlers von einer Vulva. Ein frivoles Kunst werk aus Holz, das seine Putzfrau hartnäckig und charakteristischerweise nicht als das erkannte, was es war. Er fand es häufig sinnvoll, die anatomischen De tails zu erklären, indem man von außen begann. Im wirklichen Leben liegen die Schamlippen, eng ver schlossen wie eine Knospe, unter einem praktischen Hügel verborgen und werden von Frauen, die kaum wissen, wie die Geschlechtsorgane funktionieren, für selbstverständlich gehalten. Auch für interessierte Männer war diese polierte Holzskulptur kein sehr geeignetes Anschauungsmittel, aber sie fühlte sich warm an und sah ohne Blumen wie ein dekorativer Kerzenhalter aus. Er konnte nicht erklären, warum er so war, wie er war, oder warum er sich so verhielt. Die willkürliche Entwicklung seines Geschmacks erstaunte ihn eben so wie sein beruflicher Werdegang, trotzdem fühlte er sich um einiges menschlicher als viele seiner un verantwortlichen, zeugungsfähigen Geschlechtsge nossen mit einem Hang zum brutalen Macho. Er würde niemals ein ungewolltes, schreiendes Kind in 18
die Welt setzen. Das war eine an Abartigkeit wirklich kaum zu überbietende Sünde. Er nickte dem Bild schirm zu; und der pflichtete ihm bei. Mit dem Mittelfinger der rechten Hand fuhr er sich sanft über den glatten Schädel. Er hatte seine eigene Logik, das war alles, und die konventionellen Zwi schentöne zeigten, daß er nicht wirklich wahnsinnig war mit seiner völlig berechtigten Angst vor Strafe. Es war die Angst eines Unschuldigen, den man nie völlig verstehen würde. Was hatte er schließlich schon verbrochen? Nichts! Und wer könnte ihn beschuldigen? Keine. Nichts, meine Lieben, war je ohne eure Einwilligung gesche hen. Er sah auf die Uhr. Sie war nichts Besonderes, ganz gewöhnliche Fließbandware. Draußen war es dunkel, aber immer noch warm. Seine hübsche Kleine würde mittlerweile zu Hause sein. Sie hatte keine Angst vor Dunkelheit. Fühlte sich sicher in der Hand eines Mannes, der sie niemals erwecken würde. Beinahe seelenverwandt. Keine Freundin. Fast eine Geliebte.
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1
H
ör zu, sagte Bailey. Es war einmal ein Mädchen, das ausgehen woll te. Als sie sich für die Party feinmachte, hatte sie das Gefühl, eine Million Dollar wert zu sein. Irgendwie hörte sich das besser an als die gleiche Summe in Pfund zum aktuellen Tageskurs, und möglicherweise war sie sogar noch mehr wert. Sie dachte kurz an die Auseinandersetzung mit ihrer Mutter – die dritte in dieser Woche – und streifte eine Jacke über das knappe Oberteil und das »Winzröckchen«, wie ihr Vater es nannte. Sie trug ihre Klamotten, als könnte sie sich nie von ihnen trennen, dabei würde sie sie fallen lassen, sobald man es ihr sagte. Plötzlich spürte sie eine trotzige Liebe für ihre stren gen Eltern. Eigentlich waren sie gar nicht so übel. Einen kurzen Augenblick lang fühlte sie sich gebor gen. Sie hatte dieses Zimmer, ihren sicheren Hafen, und die Telefonnummer, die sie wählen konnte; daß sie sich eine Million Dollar wert vorkam, lag einzig und allein daran, daß ihre Taille nach der dreiwöchi gen Fastenkur genauso schmal war, wie sie gehofft hatte, und man jede Rippe zählen konnte. Nicht ein Milligramm überflüssiges Fett, obwohl ihr Bauch sich wie ein Ballon aufblähte, sobald sie auch nur ein Brötchen zu sich nahm. Also aß sie gar nichts. »Bye, Mum, bye Dad.« »Laß dich mal ansehen«, rief ihr Vater. Sie trat ins 20
Wohnzimmer und tat, als hätte sie es furchtbar eilig, obwohl sie viel zu früh dran war. Die Jacke hatte sie zugeknöpft. Um den Hals trug sie ein züchtiges klei nes Tuch, das in der Handtasche verschwinden wür de, sobald sie um die nächste Ecke war. Das Make up konnte warten, bis sie im Bus saß. »Sehr schön«, sagte er beruhigend, obwohl er es gar nicht meinte. Warum mußte dieses Kind bloß immer so grimmig aussehen, und was um alles in der Welt hatte diese Vorliebe für Schwarz zu bedeuten? War um ging sie mit diesem Mädchen aus, das so viel älter und hübscher war als sie? Schnell ein Küßchen auf die Wange, bei der eine Wolke von mehreren Schich ten Parfum auf ihn niederging, und weg war sie, be vor die Mutter aus der Küche kam. Die ließ sich nämlich nicht so leicht täuschen. Später, als die Polizei anrief und sie ihre Tochter ab holten, stank sie nach Alkohol. Das Röckchen war zerrissen und schmutzig. Sie wimmerte, schreckte aber vor jeder Berührung zurück und ließ sich auch nicht umarmen. Ihre Schenkel waren zerkratzt; unter den Fingernägeln hatte sie Dreck. Sie war nur spär lich bekleidet; offensichtlich hatte ihr jemand die Kleider vom Leib gerissen, ehe sie sich wie ein Fötus in der Gosse zusammenrollte, wo man sie später auch fand. Ein paar blaue Flecken. Kein Höschen, keine Jacke. In Gegenwart ihrer El tern sagte sie, sie habe sie verloren. Das war alles, was sie rausbrachte, abgesehen von ihrem unablässigen Schluchzen, selbst nach mehreren Stunden mit einer freundlichen Frau in einem netten kleinen Haus, in einem Zimmer mit Bildern an der Wand. »Und?« 21
Die Kronanwältin Helen West saß auf Baileys Sofa und hörte immer noch zu. Manchmal machten sie das, es war eine Art Kostümprobe vor den Heraus forderungen des nächsten Tages. Dabei beklagten beide gelegentlich das Zusammentreffen ihrer Beru fe. Ein leitender Polizeibeamter und eine erfahrene Kronanwältin. Es war keine Beziehung, die Helen weiterempfohlen hätte, aber sie war darin gefangen wie die Fliege, die in ihren Drink gefallen war. Bailey hatte ein von vielen Fältchen durchzogenes Gesicht und eine wunderbare Art, Geschichten zu erzählen. Er schmückte seinen Bericht mit Imitatio nen verschiedener Stimmen und allerlei Gesten aus, doch immer, wenn er sagte »Es war einmal«, wußte Helen, daß er den Fall von seiner Warte aus und in einer Sprache erzählen würde, die er niemals vor dem Richter benutzte. »Drogen?« fragte sie knapp. »Ihr Verhalten läßt nicht darauf schließen. Ich glau be nicht.« »Alkohol?« »Jede Menge.« »Sperma?« »Speichel. Hier und da, aber nicht da. Sperma, nein. Mehrere weggeworfene Kondome, aber der Ort ist als Treffpunkt für Liebespaare bekannt. Körperflüs sigkeiten auch in der Gosse. Außerdem war sie keine Jungfrau mehr, jedenfalls nicht ganz.« »Das reicht nicht«, entgegnete Helen. Bailey beobachtete die schmale Gestalt seiner Ver lobten quer über das riesige Wohnzimmer hinweg und dachte an seine frühere Frau. Sie hatte wenig für seine Gruselgeschichten aus den Polizeiakten übrig 22
gehabt, wichtiger war ihr, wie sie für ihr Baby das Badezimmer umgestalten sollten. Genug, dachte er, bloß keine Klischees. Sie hatte ihre Bedürfnisse, und du hattest deine. Damals stimmten sie überein, mög lich, daß es bis heute so geblieben wäre, wenn das Kind nicht gestorben wäre. Es wäre jetzt ungefähr so alt wie das junge Mädchen, plus minus ein, zwei Jah re. Er ertappte sich dabei, daß er »Was für eine Schande« vor sich hin murmelte, eine abgedroschene Phrase, hinter der sich eine Unmenge an Sünden verbarg. Sein Magen knurrte. Ungefähr seit einem Jahr plagte ihn ein Magengeschwür. »So, wie du das Ganze darstellst«, sagte Helen und kuschelte sich in den großen, gemütlichen Sessel, den er sich als Ehemann niemals angeschafft hätte, »steht das Urteil praktisch schon fest. Eine dumme sieb zehnjährige Göre geht zu einer Party, zumindest er zählt sie das ihren Eltern, die sie gewohnheitsmäßig über ihre Kleidung und alles mögliche andere belügt. Aufgedonnert und halbnackt macht sie sich auf den Weg.« Bailey schwieg. »Der Kerl, für den sie sich so hübsch gemacht hat, beißt nicht an. Ihre Enttäuschung ertränkt sie im Suff und landet prompt bei einem Fremden. Sie hat nicht die leiseste Ahnung, in welche Gefahr sich ein halb nacktes, zum Flirten aufgelegtes junges Mädchen be geben kann.« »Sie suchte nach Liebe.« »Liebe hatte sie, das dumme Ding. Sie wollte Auf merksamkeit.« Helen nippte an ihrer Kaffeetasse. Eine Flasche Wein pro Abend war genug. Bailey konnte weitertrinken, wenn er wollte, da es ihm so 23
wieso nichts auszumachen schien; bei ihr war das anders. Er bewunderte und bedauerte zugleich ihre Beherrschung. Sie war eine wunderbare, selbstbe wußte Frau. Die beste, die er je getroffen hatte, sicher die phantasievollste, geheimnisvollste und ausgegli chenste. Er fragte sich, ob sie aus denselben hormo nalen Gründen wie damals seine Frau zugestimmt hatte, ihn zu heiraten. Helen war Ende Dreißig, zehn Jahre jünger als er. »Ihre Eltern wollen Blut sehen. Sie sind überzeugt, daß sie vergewaltigt wurde«, erklärte Bailey. »Jemand muß dafür büßen, sagen sie, und zwar der Junge, mit dem sie wegging. Ein sommersprossiges Kerlchen, das behauptet, er habe versucht, sie zu küssen, sie aber hätte ihn beiseite geschoben und sei weggelau fen. Er sagt, sie hätte was anderes vorgehabt. Hätte auf jemanden gewartet, einen älteren Typen.« »Reicht nicht«, entgegnete Helen. »Nicht mal, wenn die Kleine schwört, daß er es war. Möglich, daß sie ein Opfer ist, es könnte aber auch sein, daß sie schau spielert. Es sei denn, die Kratzer stammten von ihm. Aber ich wette, die hat sie sich selbst beigebracht.« »Stimmt. Es war ihre Haut unter den Fingernägeln.« »Und wieso mußt ausgerechnet du Mum und Dad erklären, daß die Beweislage für eine Anklage nicht ausreicht?« »Muß ich nicht. Das macht Ryan. Er hat mich ge fragt, wie er es ihnen schonend beibringen soll.« Sie führte spöttisch zwei Finger zum Kopf wie den Lauf einer Pistole und verzog mitfühlend das Ge sicht. Der reizende Ryan war ihr nicht gerade ans Herz gewachsen. Als sie ihn kennenlernte, war er noch Baileys Laufbursche, doch er hatte sich beruf 24
lich wie menschlich gemausert. Er konnte sich aller hand leisten und wurde von Bailey wie der Sohn be handelt, den er nie gehabt hatte. Ihr blieb nichts an deres übrig, als die Nähe, die zwischen den beiden war, zu akzeptieren. Sie persönlich meinte, daß Ryan es nicht verdiente, aber so war es nun einmal: eine gegenseitige Hingabe ohne Sinn und Verstand, wie jede Art von Liebe. »Na schön«, sagte sie. »Dann ge hen wir lieber früh ins Bett.« Bailey setzte sich neben sie, legte einen Arm um sie und spürte, wie sie sich vertrauensvoll an ihn lehnte. Seit sie beschlossen hatten zu heiraten, gingen sie entspannter miteinander um. Sie neckte ihn und sag te, daß sein Magengeschwür wahrscheinlich daher rührte, aber etwas hatte sich verändert, er wußte nur nicht, was. Gleich würde er die Gläser und Papiere vom Tisch räumen. In Helens Wohnung blieb alles liegen, zumindest bis zum nächsten Tag, wenn nicht bis zur nächsten Woche. Eines hatten sie jedenfalls bewiesen: Kompatibilität hieß nicht, die gleichen Putzgewohnheiten zu haben. »Hör mal, Liebling, siehst du diese Fälle immer so kühl und unbeteiligt?« »Du meinst Sexdelikte? Vergewaltigungen? Sozusa gen das einzige, mit dem ich im Moment zu tun habe? Ja. Betrunkene Teenager lassen mein Herz nicht un bedingt schneller schlagen. Klar tut mir so ein Mäd chen leid; immerhin hat sie was durchgemacht, aber aus dem Ausnützen von Naivität kann man noch kei nen Fall machen.« Würden sie sich heute nacht lieben? Der Gedanke an Sex war niemals unangenehm, es sei denn, sie war hundemüde. Und selbst dann sagte sie manchmal ja. 25
Manchmal aber auch nicht. Wenn nicht, wäre es dann Vergewaltigung? Die Vorstellung war absurd. Vergewaltigung beinhaltete die Anwendung von Ge walt. Bailey hatte schon genug Macht über sie, ob wohl sie sich alle Mühe gab, es ihm nicht zu zeigen. Als Helen ins Bett kam, war er bereits eingeschlafen. Durch die Fenster drang das bleiche Licht der Nacht. Bailey wohnte so weit oben, daß er auf Gar dinen, die ihm sowieso ein Greuel waren, verzichten konnte. Aus ihrer Souterrainwohnung konnte sie die Füße der Leute beobachten, die auf der Straße vor beigingen und manchmal zu ihr hinunterspähten; nach hinten raus gab es nur den Garten. Sie vermißte ihr Haus, vor allem die Einsamkeit des Gartens; aber wenn sie zu Hause war, vermißte sie das Licht in Bai leys weiträumiger Dachgeschoßwohnung. Nach der Hochzeit würde alles beim alten bleiben, sie würden genauso weiterleben wie bisher. Sein Schlaf machte sie auf perverse Weise unruhig. Wenn sie ihn berührte, würde er aufwachen. Es war der selige Schlaf des Gerechten, vielleicht das Ergeb nis eines Pragmatismus, den sie nicht teilen konnte. Er glaubte an das Schicksal und redete sich ein, daß man nichts anderes tun konnte als mit dem, was ei nem gegeben war, sein Bestes zu geben. Für Bailey gab es kein Wenn und Aber. Man stand zu dem, was man tat, entschuldigte sich, wenn nötig, und schlief dann ein. Tief und fest. Wollte er diese Ehe wirklich, oder war er nur auf seine Art höflich? Für Bailey mußte eine Beziehung, die so lange dauerte wie die ihre, auf irgendeine Art gewürdigt werden. Bailey zu lieben war eines der besten Dinge, die ihr im Leben 26
widerfahren waren, aber sie hatte tödliche Angst da vor, in Besitz genommen zu werden, und wußte, daß sie noch immer imstande war, alles aufzugeben. Aus Angst. Die Schlaflosigkeit öffnete die Schleusen für all die Dinge, die noch nicht oder nicht gut genug erledigt worden waren. Einzelne Fälle, die sie bearbeitete, tanzten vor ihren Augen, Visionen aus ihrer ersten Ehe und all die seltsamen und brutalen Verbindun gen, über die sie in ihren Akten las und tagsüber lan ge grübelte, wobei sie sich vorkam wie ein Voyeur. Sie hätten vor dem Schlafen nicht von Vergewalti gung sprechen sollen. Irgendwas war der Kleinen passiert. Sie fragte sich, was es gewesen sein konnte. »Na gut«, sagte Aemon Connor in einem Ton, der aggressiv und resignierend zugleich war. »Schon gut. Schon gut. Wenn du nicht willst, bitte schön. Frigide Kuh. Es gab mal eine Zeit, da konntest du gar nicht genug davon kriegen. Aber mir soll’s egal sein. Ich krieg jederzeit eine andere, bloß keine Bange.« Brigid wimmerte im Dunkeln. Er wollte davon nichts mehr hören; er hatte die Nase voll, genau wie von den vielen Gesprächen, die nichts brachten. Sie be schwerte sich, daß es weh tat. Und wenn es weh tat, warum nahm sie dann nicht ihre Phantasie zu Hilfe? Er konnte ihr sagen, was weh tat – mit einer Riesen erektion dazuliegen und nicht zum Zug zu kommen. Sie war seine Frau, seine Ehefrau. Sie konnte sich nicht verweigern; das war einfach lächerlich. Er lag wütend auf seiner Seite und konnte nicht auf hören zu sprechen. 27
Sie schluchzte. »Und was ist, wenn ich mir morgen eine andere zule ge? Was machst du dann?« Es folgte eine lange Stille, dann spürte er, wie sie zaghaft seinen Hinterkopf berührte. »Hast es dir an ders überlegt, was?« murmelte er. »Hab ich mir ge dacht.« In sie einzudringen war schwierig genug, selbst wenn er die Geräusche, die sie machte, ignorierte oder den passiven Widerstand, der ihre zweite Natur zu sein schien. Die Prozedur war kurz und laut. Er preßte ihre Schultern auf die Matratze, schlief nach dem Höhepunkt ein und blieb schwer auf ihr liegen. Nachdem sie sich von der Masse seines riesigen, schläfrigen Körpers befreit hatte, tastete sie nach den Malen auf der Haut, die seine Finger hinterlassen hatten, und wünschte, sie wäre tot. Auf Zehenspitzen schlüpfte sie in ihr wunderbares Bad. Es hatte einen besonders starken Duschkopf, schwarze Marmorka cheln und ein Bidet mit goldenen Armaturen, das sie mit religiöser Inbrunst benutzte, vor allem nach sol chen Gelegenheiten, um alle Spuren von Aemon ab zuwaschen. Sie wußte nicht, wie sie allein zurechtkommen würde. Dies war ihr Zuhause und ihr Gefängnis. Hier zu le ben bedeutete, irgendeinen Gipfel erreicht zu haben. Das Badezimmer mochte sie am liebsten; sie hatte es selbst eingerichtet, um sich dorthin zurückzuziehen, nachdem sie als gute katholische Ehefrau ihre Pflicht getan hatte. Sie konnte ewig hier sitzen oder in der Wanne liegen und darüber nachdenken, wie sie dem Ganzen entkommen konnte. Das Bidet zu benutzen und gleichzeitig zu Gott zu beten, kam ihr zwar 28
leicht obszön vor, doch Brigid war sicher, daß Gott ihr zumindest das verzeihen würde. Da er so viel von ihr verlangte, mußte er sich auch großzügiger erwei sen als ihr Mann. Den Gläubigen den Geschlechtsakt als Strafe aufzubürden war nicht gerade anständig, aber vielleicht war einem Gottes Segen gewiß. Mög lich, daß Aemon recht hatte und sie Nonne hätte werden sollen. Früher warst du ganz wild drauf, hatte er gesagt. Er sagte es jedesmal, als wollte er sie aufziehen. Ein gedämpfter Schrei kam aus dem Schlafzimmer: »Brigid, Brigid … wo steckst du?« Es klang verloren. Lieber Himmel, er war wieder aufgewacht. Der Al kohol hatte nicht gereicht, ihn zu betäuben. Sie be rührte ihre Schamlippen und hätte vor Schmerz bei nahe geschrien. Sie waren geschwollen wie Cock tailwürstchen. Hastig griff sie nach der Vaseline im Regal und antwortete. »Bin gleich da. Es dauert bloß eine Sekunde.« Er haßte es, allein aufzuwachen. Es war ein Angriff auf seine Männlichkeit, und er bekam Alpträume. Aemon und Brigid – glücklich verheiratet. In dem hübschen kleinen Reihenhaus waren alle Fenster hell erleuchtet, als hielte der Besitzer Anteile am Londoner Elektrizitätswerk oder habe panische Angst vor der Dunkelheit. Um drei Uhr früh erkann te man am Fenster links von der Eingangstür die Umrisse einer Frau, die auf der Leiter stand und die Decke des Wohnzimmers strich. Anna war schweißgebadet. Das Radio lief leise, aber nur, weil sie eine rücksichtsvolle Nachbarin war. Ihr wäre es lieber gewesen, wenn ein leerer, dumpfer 29
Beat durchs Haus gedröhnt und sich in ihrem Kopf ausgebreitet hätte. Alles, was sie vom Denken abhielt und der hektischen Betriebsamkeit zugute kam, die sie seit dem frühen Nachmittag an den Tag legte, war willkommen. Die Decke, zwei Schichten, das ging schnell. Es war wie in einem Puppenhaus. Die Wände würde sie in einer Stunde schaffen, wahrscheinlich morgen. In der Küche brummte die Waschmaschine, die dritte La dung heute. Sie hatte die Gardinen feucht aufge hängt, streichen konnte sie drum herum. Der Tep pichboden war eingeschäumt. Sie ging völlig planlos vor, aber auf Perfektion oder Logik kam es ihr nicht an. Sie wollte bloß von oben bis unten alles sauber haben. Die Leiter wackelte. Anna konnte sich gerade noch festhalten und fluchend mit ansehen, wie der Farb eimer kopfüber auf dem Fußboden landete. Als sie die zähe weiße Masse widerwillig von dem ruinierten Teppichboden abkratzte, merkte sie, daß ihr schwin delig wurde und sie nicht mehr richtig sehen konnte, wenn sie sich bückte. Das Weiß schimmerte im unre gelmäßigen Licht der nackten Birne, die von der Decke hing. Sie sollte den Teppich einfach mitstrei chen, warum nicht? Bei dem Gedanken mußte sie lächeln. Wenigstens wäre dann die ganze Arbeit nicht umsonst gewesen. Jetzt war sie so müde, daß sie keinen Fuß mehr vor den anderen setzen konnte, und zudem roch es im ganzen Haus nach frischer Farbe. Anna hielt eine Hand vor das Gesicht, beobachtete, wie sie zitterte, und wiederholte das ihr mittlerweile vertraute Ritual. Du schaffst es schon, du schaffst es; 30
es sind die anderen, die es nicht schaffen. Laut mit sich selbst zu reden war eine Sache, die sie sich ab gewöhnen mußte. Aber nicht jetzt. Die Hand zitterte, die Verbrennungsmale an ihren Armen verschwan den allmählich, und ihre Beine fühlten sich an wie Wackelpudding. Jetzt konnte sie einschlafen. Während Anna noch versuchte, die Sternchen vor den Augen zu ignorieren und die Rolle in einem Ei mer mit Wasser zu säubern, das plötzlich rot zu sein schien statt weiß, schrillte neben Superintendent Bai leys Bett unbarmherzig das Telefon. Er brauchte nicht auf die Uhr zu sehen, um zu wissen, daß es kurz nach drei war. Er wußte immer, wie spät es war. »Bailey. Was ist los?« Unter seinen früheren Kollegen kursierte das Ge rücht, daß Bailey stets so klang, als hätte er eine Frau bei sich. Was blieb dem Mann denn auch anderes übrig, wenn er schon so lange Single war? Daß er mit einer Kronanwältin liiert war, galt als eine seiner Ex zentrizitäten, ebenso die teuren Anzüge. Eins wie das andere grenzte an unausgesprochenen Verrat. Die Männer, die ihn angeblich am längsten kannten, schlossen Wetten ab, ob er heiraten würde oder nicht. Zehn zu eins, daß er im letzten Moment knei fen, fünf zu drei, daß die Ehe kein Jahr dauern wür de. Sie setzten unterschiedliches Vertrauen in Bailey. Helen Wests Existenz tat ihm nicht unbedingt gut, meinten sie. Die Stimme am anderen Ende der Leitung schien eine klammheimliche Belustigung kaschieren zu wollen. Manchmal vergaß Bailey bei der Eintönigkeit seiner neuen Aufgabe in der Abteilung für Dienstaufsichts 31
beschwerden, daß er eigentlich rund um die Uhr Dienst hatte. »Islington. Entschuldigen Sie die Störung, Sir, aber wir haben ein Problem. Ein Beamter wird beschul digt, eine Frau vergewaltigt zu haben.« »Wer?« Die Stimme des Beamten klang, als würde er aus dem Lesebuch eines Sechsjährigen buchstabieren. »Detec tive Sergeant Ryan, Sir.« Schockiert schwieg Bailey einen Augenblick. »Ich kann nicht gegen Ryan ermitteln«, entgegnete er dann. »Ich kenne ihn.« Die Stimme hustete. »Das ist das Problem, Sir. Wir haben schon sämtliche anderen Beamten der Dienst aufsicht gefragt, aber jeder kennt ihn.« Er machte eine wirkungsvolle Pause. »Jeder.« Bailey wußte, was zu tun war, wenn er sich strikt an die Regeln hielt. Er würde alle verfügbaren Num mern anrufen müssen und diesen Sergeant, der noch keinen Namen hatte, anweisen, in der Liste weiterzu suchen, weil, ja, weil er Ryan nun mal kannte. Und zwar viel zu gut, als einen Mann von beschränkter Intelligenz, der blind in sein Unglück rannte, sexuell unberechenbar und obendrein höchst indiskret war. Ein Mann ohne Phantasie, von verbissener Loyalität, der sich in den letzten zwei Jahren von einer Raupe in einen Schmetterling verwandelt hatte, ein Mann, der seine frustrierte Jugendlichkeit gegen einen ge wissen Grad an Reife getauscht hatte. Bailey hatte ihn gefördert, ihm immer wieder verziehen und sogar den Kopf für ihn hingehalten. Er hatte an Ryan ge glaubt, bis dieser Glaube gerechtfertigt wurde und Ryan endlich gelernt hatte, eigenständig zu denken, 32
Dinge zu hinterfragen und Verantwortung zu über nehmen. Er war gewachsen, er hatte seine jugendli chen Vorurteile abgestreift wie eine ungeliebte Haut, und er hatte gelernt, geduldig zu sein, so, wie Bailey es sich immer von ihm erhofft hatte. Wenn er Ryan jetzt ansah, erkannte Bailey in ihm den Mann, der er selbst einmal gewesen war. Was war das also für ein vermaledeiter Rückfall? Idiot! Die lange Pause veranlaßte den Sergeant, erneut zu husten. »Sir?« »Ich bin schon unterwegs.« Bailey war ein präziser Mann. So wie er stets wußte, wie spät es war, so wußte er jetzt auch, wo er seine Kleider hingelegt hatte. Helen hatte sich umgedreht und lauschte. Bailey wuß te, daß sie seine absurde Loyalität Ryan gegenüber genausowenig verstand wie er selbst, und ärgerte sich, daß der Anruf ihn auf eine seltsam peinliche Art in die Defensive gedrängt hatte. Als wüßte sie, daß es um mehr ging als bloßen Dienst nach Vorschrift. Er strich ihr über die Schulter und verließ den Raum ohne Abschied. Auf dem Weg zum Wagen dachte er immer wieder: Nicht Ryan, bloß nicht Ryan, bitte. Nicht jetzt, wo es gerade bergauf geht mit ihm. Nicht Ryan und Vergewaltigung. Das hatte der doch gar nicht nötig bei seinem Aus sehen. Bailey zwang sich, langsam zu fahren, obwohl sein Instinkt ihm genau das Gegenteil sagte und die voll kommen leeren Straßen geradezu dazu einluden, aufs Gaspedal zu treten. Leere war ein relatives Konzept 33
in London. Es gab immer irgendwo Menschen; zu dieser gottverlassenen Stunde waren es aber nur we nige, die ihrem nächtlichen Gewerbe nachgingen, manche unschuldig, andere nicht. Da war die Fabrik, die Kleider für den morgigen Markt herstellte, Wa ren mußten ausgeladen werden, die letzten Nacht schwärmer waren auf dem Weg nach Hause, es gab Partys, die nie endeten, und eine wachsende Zahl von Obdachlosen. Bailey bedauerte, daß ihn seine Pflich ten nicht mehr in die zwielichtige Zone dieser Ab gründe brachten: Verschwörung, Gefahr, ein Plausch, Straßenlichter. Die Nacht machte die Menschen ein samer, und sie wurden ehrlicher. Du armer alter Mann, dachte er reumütig, eines Tages machen sie dich noch zum Gärtner. Dann kannst du vor irgend welchen abgelegenen Polizeirevieren Rosen pflegen oder deinem Boß die Schuhe putzen. Aber immer noch besser als dieser widerliche Job, bei dem er die unterschiedlichsten Beschwerden gegen Beamte sei nes eigenen Schlages zu untersuchen hatte. Ach, das Ganze war bestimmt nur ein Sturm im Cocktailglas irgendeines Nachtclubs. Doch im Inner sten wußte er, daß es mehr war. Ryan, du Idiot. Was nun? Du hattest schon immer eine Schwäche für Frauen und sie für dich. Bailey ertappte sich dabei, wie er mit leichter Abneigung an das Mädchen dachte und ihre Aussage bereits im voraus für unglaubwür dig hielt. Er schüttelte den Kopf. So ging es nicht. Der Parkplatz hinter dem Polizeirevier leuchtete in einem orangefarbenen Licht, das den strahlend wei ßen Lack der Streifenwagen zu einem kränklichen Gelb reduzierte. Bailey nahm den Hintereingang. Besser als vorne rein und im Spießrutenlauf eine 34
Horde von wartenden Verwandten passieren zu müs sen, falls welche da waren. Die Flure im Inneren des Gebäudes waren ähnlich warm und erstickend gelb. Man empfing ihn mit der distanzierten Höflichkeit, die seine Stellung gebot. Jedermann kannte Ryan, weil er gesellig und beliebt war, aber an Bailey, von dem man beides schlecht behaupten konnte, kam keiner vorbei. Anscheinend gab es keine Hoffnung, einen derartigen Vorfall der allgemeinen Öffentlich keit vorzuenthalten. Der diensthabende Inspector war peinlich berührt, ein Symptom, das normalerweise seinem ohnehin ro ten Gesicht nicht abzulesen gewesen wäre. Verlegen heit behielt er sich für die Gelegenheiten vor, an de nen er mit überheblichem, nervösen Stolz über die Leistungen seiner Töchter schwadronierte. Die Exi stenz einer Familie macht wilde Männer zahm und schenkt ihnen neue Perspektiven. Auch Ryan war es so ergangen, obwohl er seine Zeit gebraucht und das Mädchen es ihm alles andere als leicht gemacht hatte. Es hatte Jahre gedauert, bis er sich ernsthaft in seine spätere Frau verliebte, doch schließlich hatte er es geschafft, wenn auch nur mit Ach und Krach. Jungs bleiben nun mal Jungs, und Mädchen rächen sich. Die Vergewaltigungsgeschichte wurde leidenschafts los erzählt, die Stimme vermied jeden Hauch einer Wertung. »Anständiges Mädchen. Keine Vorstrafen, arbeitet in einem Laden. Kennt Ryan, weil er sie als Zeugin bei einer seiner Ermittlungen befragte. Of fensichtlich war sie in der Disco gewesen, zusammen mit einer Freundin, die auf dem Heimweg belästigt wurde. Sie mußte aussagen, wann sie dort angekom men waren, um wieviel Uhr das andere Mädchen 35
wegging und so weiter. Ryan nimmt also ihre Aussage entgegen, und sie kommen gut miteinander aus, dann wiederholt er, was sie gesagt hat, und sie kommen immer noch gut miteinander aus. Schließlich trifft er sich ein drittes Mal mit ihr, diesmal rein privat, wie sie behauptet. Er fängt an, sie zu belästigen. Sie wohnt mit einem Kerl zusammen. Ryan und sie – Shelley Pelmore heißt die Kleine, Sir – gehen zusam men was trinken. Auf dem Heimweg schlägt Ryan einen Spaziergang durch den Park vor und vergewal tigt sie. Oder versucht es zumindest. Es kam zur Pe netration, aber ohne Samenerguß.« Der Inspector hustete entschuldigend. Wie peinlich für Ryan. Der arme Idiot hatte es nicht mal geschafft, seinen Stän der zu behalten. »Es gibt deutliche Anzeichen dafür, daß sie Wider stand geleistet hat, Sir.« Der Polizeidienst glich einer Armee mit einer selbst ernannten Offiziersklasse, das war Bailey bewußt. Respekt mußte man sich verdienen, und in den Au gen dieses Mannes war Ryan noch nicht soweit. »Wieso in Gottes Namen sollte er so was tun?« frag te Bailey laut, in dem verzweifelten Versuch, die Sa che zu überspielen. Der Inspector verstand seinen Gedankengang und lachte kurz. »Ich verstehe, was Sie meinen, Sir. Sonst braucht er nur freundlich zu fragen, auch wenn in letzter Zeit jeder meint, er sei viel ruhiger geworden. Aber das will nichts heißen. Politiker treiben sich auch mit Huren rum, obwohl sie genug Groupies oder ihre hübschen Frauen hätten, die zu Hause auf sie warten. Manchen macht es eben Spaß, das Schicksal herauszufordern.« 36
»Glauben Sie ihr?« fragte Bailey und versuchte un voreingenommen zu klingen. Wieder hustete sein Gegenüber. »Kann ich schlecht beurteilen, Sir. Ich habe sie nicht gesehen, ich weiß nicht, wem ich glauben würde. Man hat sie zusam men im Pub gesehen. Er sagt, sie hätten sich zufällig getroffen, ein wenig geplaudert, und dann hätte er sie ein Stück mitgenommen, ehe jeder seines Weges ging.« »Wer hat Anzeige erstattet?« »Ihr Freund. Er fand sie auf der Treppe und brachte sie her. Im Moment ist sie in der Rape Suite in Hollo way. Wir konnten sie unmöglich hier befragen. Ryan sitzt in der Untersuchungszelle.« »Würden Sie mich bitte begleiten? Ich will ihn nicht allein sehen.« Wieder folgte eine lange Pause. »Oh, Sir, da wäre noch etwas. Als sie herkam, trug sie Ryans Jackett …« Bailey brauchte einen Zeugen, um eine faire Untersu chung zu garantieren – keine versteckten Intimitäten zwischen zwei alten Kumpels –, und auch, weil je mand ihm den Rücken stärken mußte, wenn er Ryan gegenüberstand. Genausogut hätte er einem Ver kehrsopfer gegenübertreten können, dem er nicht nur beibringen mußte, daß es für den Rest seines Le bens blind war, sondern auch noch beide Beine ver lieren würde. Ryans attraktives Gesicht war aufgedunsen. Er hatte sich die Blöße gegeben loszuheulen, seine Augen wa ren gerötet und seine Haut fleckig. Er stank nach Al kohol, nicht übermäßig, doch merklich, aber auch 37
nach Seife und nervösem Schweiß. Er saß in Hemds ärmeln und einer zerknitterten Baumwollhose auf der Sitzbank. Als sie die Zelle betraten, legte er schuld bewußt die Hände auf den Rücken. Bailey hatte das seltsame Gefühl, daß Ryan an den Fingernägeln gekaut hatte. Er drehte sich so hastig zu dem anderen Beamten um, daß er ihn beinahe an rempelte. »Hat er geduscht?« »Ja, Sir. Zu Hause, ehe wir ihn abgeholt haben.« Ryans Gesicht hatte sich zu einem Lächeln verzogen, ehe Bailey anfing zu sprechen. Dann verschloß er sich mürrisch und widmete sich einer ausgiebigen Betrachtung seiner Hände. Angeknabberte Fingernägel, Bailey hatte recht ge habt. Solange er ihn kannte, hatte Ryan nie an den Fingernägeln gekaut. Nicht mal in den unzähligen langen Nächten, wenn die Nerven nicht mitspielten und aus erwachsenen Männern ängstliche Jungen wurden. »Ist er untersucht worden?« »Noch nicht, Sir …« »Um Gottes willen, das hätte man als erstes machen sollen.« Bailey wandte sich Ryan zu, mit der geballten Wut eines Vaters, der versucht, sein Kind nicht aus schie rer Frustration zu schlagen. »Was hast du dazu zu sagen?« herrschte er ihn an. Ryan rutschte ein wenig hin und her. Seine Stimme klang überraschend fest. »Nichts, Sir. Gar nichts.« Damit drehte er den Kopf zur Wand.
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»… wenn die Geschworenen in einem Verfahren we gen Vergewaltigung zu entscheiden haben, ob ein Mann im Glauben handelte, die Frau habe in den Bei schlaf eingewilligt, müssen sie bei der Entscheidung neben den übrigen einschlägigen Fakten beachten, ob für eine solche Annahme nachvollziehbare, vernünftige Gründe vorliegen oder nicht …«
R
ose Darvey nahm Maß, lief los und kickte den leeren Karton in die Luft. Er traf voll gegen die Verschalung der Neonröhre, prallte an der Wand ab und fiel wieder zu Boden. Von der Länge des Ganges und seinem dumpfen grauen Farbanstrich inspiriert wiederholte sie die Prozedur von der anderen Seite aus und beobachtete, wie der Karton ein zweites Mal gegen die Neonröhre prallte. Das dürfte reichen. »Yeah!« rief Rose und ballte die Faust. Wer sagt, daß Fußball nichts für Mädchen ist? »Ich dreh ihnen das Licht aus«, murmelte sie. Sie dribbelte den Karton bis zur Schwingtür. Irgendwas mußte sie tun – ir gendwas rein Körperliches –, bevor sie wieder den ganzen Tag im Gericht hockte. Der Preis für die Hingabe an einen Beruf, der einen derart zur Unbe weglichkeit verurteilte, war Frustration. Vielleicht hätte sie lieber in die Politik gehen sollen. Da zumin dest durfte man schreien, so viel man wollte. Aber im Leben von Rose Darvey hatte Helen West einige ent scheidende Weichen gestellt. 39
In diesem Augenblick stürzte Redwood, der aufge blasene, im Grunde aber schüchterne Oberstaatsan walt und Leiter dieses Flaggschiffs wie ein aufge scheuchtes Huhn aus seinem Büro. Rose strahlte ihn in ihrer gewohnt frechen Art an. Rose Darvey und Helen West sind wie zwei Klone, dachte er furcht sam, nur fünfzehn Jahre trennen sie voneinander, in denen Helen alternative Methoden der Gehorsams verweigerung entwickelt hat. Helen konnte genauso honigsüß grinsen wie Rose, aber sie war heimtük kisch, hinterhältig und unverschämt, während Rose, die ihre Tochter hätte sein können, kein Hehl aus ih ren Spielchen machte. Sie strotzte vor Energie wie ein Boxer im Ring, der auf die Verwarnung des Ring richters pfeift und nur auf die nächste Möglichkeit lauert, seinem Gegner den entscheidenden Schlag in die Niere zu verpassen. »Was für ein herrlicher Tag«, grüßte Rose. »Nicht wahr«, antwortete er schwach und bemerkte den Riß in der Neonröhre, die alle hier haßten. Er wollte etwas sagen, doch dann traute er sich nicht. »Sie sind aber früh dran, Sir«, zwitscherte sie furcht erregend höflich. Ihr Lächeln erinnerte ihn an ein kleines Tier, das die Zähne bleckt. Ihr »Sir« konnte wie eine erlesene Beleidigung klingen, vollkommen unbeabsichtigt natürlich. »Ja.« Er strahlte richtig auf, der alte Bock. Redwood war immer ein wenig linkisch. Wenn er einmal ein Gespräch begonnen hatte, wußte er nie so recht, wie er es wieder beenden sollte, und trat unschlüssig von einem Fuß auf den anderen. Rose wußte genau, wie sie ihn in die Flucht schlagen konnte: Sie brauchte nur in der Nase zu bohren. Bei dieser Geste suchte er 40
begreiflicherweise das Weite. Doch im Augenblick hatte sie anderes im Sinn. »Wie kommt es eigentlich, daß wir so viele Vergewaltigungsfälle abschmettern, Sir?« Er wiegte sich unsicher auf den Absätzen und tastete nach der Wand, um sich abzustützen. Die Frage kam so unerwartet, daß er ganz gegen seine sonstige Art ehrlich antwortete. »Weil sie nichts bringen.« »Wie bitte? Nichts bringen? Der Ausdruck ist aber neu in der Rechtssprache.« »Sie zahlen sich nicht aus«, wiederholte er. »Zahlen sich nicht aus? Für wen? Das verdammte Finanzamt etwa?« Redwood flüchtete. Stille breitete sich im Gang aus. Am anderen Ende tauchte plötzlich Helen West auf und näherte sich den Neonröhren, von denen Rose bereits drei außer Gefecht gesetzt hatte. Sie sieht heute gut aus, dachte Rose bei sich. Ein loses Jackett, das traumhaft zu der hübschen Bluse paßt. Tadellose Beine. Kein Wunder, daß der mürrische Bailey auf sie steht. Für eine ältere Dame hält sie sich nicht schlecht. Der Karton landete vor Helens Füßen. Da sie aber fußballerisch völlig unbedarft war, hob sie ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, auf und stülpte ihn sich über den Kopf. Rose pfiff durch die Zähne und bete te, daß Redwood aus seinem Büro kam. Zwei durch gedrehte Frauen würden ihn für den Rest der Woche demoralisieren. Die Klimaanlage war falsch eingestellt; es war kühl in dem Gebäude. Helen marschierte den Korridor ent lang wie eine blinde Kuh und betrat ihr Büro, ohne aus dem Tritt zu kommen. 41
Eines Tages, dachte Rose ohne jeden Anflug von Wehmut, wird all das hinter mir liegen. Sie hatte ihre juristische Ausbildung zu einem Drittel hinter sich und bislang alle Examina mit links bestanden. Oben drein konnte sie auf eine ganze Reihe von Verdien sten zurückblicken; als da wären der Beginn einer vielversprechenden Karriere, eine Ersatzfamilie und ein Mann, den sie in wenigen Wochen heiraten wür de. Die Karriere brachte eine Menge Fragen und noch mehr Zweifel mit sich. Die Hochzeit nicht. Rose schlenderte den Gang entlang und suchte nach den Spuren ihres vandalistischen Anfalls. Jetzt würde ihnen gar nichts anderes übrigbleiben, als die ver dammten Neonröhren zu ersetzen, die allen hier ein Dorn im Auge waren. Solange sich das Amt intelli genten Forderungen verweigerte, mußte man es zu seinem Glück zwingen. Das Gebäude der Kronanwaltschaft North Central lag am Schnittpunkt mehrerer unbedeutender Ne benstraßen und war alles andere als ein Blickfang. Gegenüber von Helen Wests kleinem Büro hoch über der schmalen Straße gab es andere Büros mit einer wesentlich besseren Ausstattung und viel zu vielen unterbeschäftigten Angestellten. Helen hatte vorgeschlagen, eine Art Flaschenzug zwischen den beiden Gebäuden zu errichten und in wiederver wertbaren Plastiktüten, die mit Wäscheklammern verschlossen wurden, Fotokopien und Faxe hin- und herzuschicken. In den Büros auf der anderen Stra ßenseite war die Verwaltung einer Farbenfabrik un tergebracht. Die Räume waren groß, luftig und wur den wenigstens einmal im Jahr frisch gestrichen. Bei 42
ihnen dagegen trug alles Zeichen von Abnutzung. Die düstere Atmosphäre, das ganze Drum und Dran diente allein der Erhaltung der hierarchischen Grundstruktur. Die Rechtsprechung selbst war höch stens eine unprofitable Nebenbeschäftigung. Von allen Mitarbeitern wurde verlangt, daß sie sich an die Politik des »sauberen Schreibtischs« hielten, was Rose folgendermaßen übersetzte: Stopf deine Siebensachen in die Schubladen und mach dicht. Derartige Anweisungen von oben landeten Woche für Woche in der Hauspost, meistens dreiseitige Es says (Computerausdruck, einzeilig) darüber, wie man die neuen Formulare für die Spesenabrechnung aus füllte, die Eingangstür betätigte, Büromaterial und Fotokopien bestellte oder Vorgänge aus der weit ent fernten Rumpelkammer, genannt Archiv, anforderte, die im übrigen nur dann dem endgültigen Vergessen übergeben werden konnten, wenn sie in Bündel, nicht dicker als zehn Zentimeter, aufgeteilt waren. Helen hatte gefragt, wie man es schaffen sollte, bei einer derartigen Flut von bürokratischen Formula ren, Erlassen und Vorschriften, die nichts mit Recht sprechung zu tun hatten, seinen Schreibtisch sauber zuhalten. Worauf Redwood gekontert hatte, Anwei sungen seien nun mal Anweisungen. Helen hielt sich an die Politik des sauberen Schreib tisches, indem sie alle Akten, die nicht in irgendwel chen Schubladen verschwanden, auf dem Boden sta pelte. Dort lagerten nun viele weiße, mit Tesafilm verschlossene und aus allen Nähten platzende Map pen unterschiedlichster Dicke und Ordnung, an de nen unzählige gelbe Zettel klebten und sie daran er innerten, was als nächstes erledigt werden mußte. 43
Jeden Morgen schritt sie an den langen Reihen vor bei, las die Notizen und sortierte jene Akten aus, die keinen Aufschub mehr duldeten. Ein unfehlbares Sy stem, fand Helen. Die Mappen sahen aus wie Tritt steine auf dem grauen, mit Kaffeeflecken verzierten Teppichboden. Rose stellte zwei Stapel übereinander und setzte sich rittlings darauf. Helen hatte den Karton, der Schreib papier enthalten hatte und jetzt zu nichts mehr zu gebrauchen war, vom Kopf genommen und damit ihre äußere Erscheinung erheblich verbessert. Ihr Haar war kein bißchen zersaust, sondern glatt nach hinten gekämmt und zu einem schwarzen Knoten ge schlungen. Sehr anwaltsmäßig, dachte Rose, man könnte sie fast für echt halten. Rose betete Helen an, nahm jedoch deswegen kein Blatt vor den Mund. »Gehen wir auch wirklich heute zum Crown Court, Aunty? Versprichst du’s?« fragte sie in dem quen gelnden Ton von Redwood, den sie ganz passabel nachahmen konnte. »Nur wenn du brav bist.« »Was soll das heißen?« »Das müßtest du doch mittlerweile wissen. Du darfst Redwood nicht so früh am Morgen piesacken. Das bekommt seiner Verdauung nicht.« »Ist es nachmittags besser?« »Nachmittags ist es genau richtig, vor allem während der Arbeitsbesprechungen.« Helen ging an den ersten Aktenstapeln vorbei und schob sie mit den Füßen in Reih und Glied, bevor sie sich bückte und eine dicke Akte herauszerrte, die sie zu ihrem einigermaßen ordentlichen Schreibtisch schleppte. Während sie mit dem Tesafilm kämpfte, 44
der sie verschloß, fragte Rose: »Wird dieser Fall was bringen? Ich meine, wird er sich auszahlen, um eine juristische Floskel zu gebrauchen, die es bis heute nicht gab?« »Das bezweifle ich.« »Wieso? Das war doch eine Vergewaltigung, wie sie im Buche steht.« »Na, so eindeutig ist es nicht. Sie hatten sich verab redet. Er sagt, sie hätte eingewilligt, sie sagt, sie hätte nicht. Es hängt davon ab, wer von beiden den besse ren Eindruck bei den Geschworenen macht. Gestern bei der Probe hat sie keine allzugute Figur gemacht, oder?« Rose zuckte die Achseln. »Ich hab ihr geglaubt. Aber ich bin ja auch in ihrem Alter. In der Jury sitzen mehrere junge Frauen, die sehr genau hinhören, aber auch ein paar Mütter, die wahrscheinlich Söhne in seinem Alter haben. Kleine Sexprotze.« Rose faltete die Hände zwischen den Knien. Es war eine automa tische Bewegung, die nichts mit dem Thema ihres Falls zu tun haue. Die Luft, die sie täglich einatme ten, war geschwängert von der Saat der Gewalt. »Was ich nicht verstehen kann«, fuhr sie fort, »ist, daß Mädchen anderen Mädchen nicht glauben. Nicht daß jede Frau über sechzehn automatisch viel von Sex wüßte. Ich meine, möglich, daß sie es schon ge trieben hat, aber das heißt noch lange nicht, daß sie was von Männern versteht. Man will, daß sie einen mögen. Man kann sich nicht einmal vorstellen, daß sie einem weh tun könnten. Man glaubt, daß sie Si gnale verstehen und sich beherrschen können. Mäd chen sind romantisch. Deshalb ist es ja so schreck lich. Eine Vergewaltigung kann nicht halb so schlimm 45
sein, wenn man älter ist. Da hat man einfach nicht mehr so viele Träume, die zu Bruch gehen.« »Oh, das würde ich nicht sagen«, antwortete Helen trocken, während sie in den Akten blätterte und auf ihre Uhr sah. Es war klar, daß sie gar nicht mehr zu gehört hatte. Rose ärgerte sich. »Weißt du was, Aunty, dein Pro blem ist, daß du dich zu sehr an die Buchstaben des Gesetzes hältst. Wahrscheinlich hast du es aus ir gendwelchen Gründen auf die Jugend abgesehen. Die vielen Vergewaltigungsfälle, die du in den letzten drei Monaten persönlich abgelehnt hast … nun ja, sie sprechen für sich. Du ermunterst die Burschen ja ge radezu. Wieso hast du dann den Fall überhaupt ver folgt?« »Wegen der Prellungen.« »Und was war mit dem Fall des Ehepaars neulich? Den hast du auch abgelehnt. Dabei war der Typ doch eindeutig ein Schwein.« »Ich hatte keine andere Wahl. Vergewaltigungsfälle in der Ehe sind praktisch unmöglich zu beweisen, es sei denn, das Paar hat sich getrennt. Da steht Aussa ge gegen Aussage.« »Und wie war das mit dem Mann im Keller?« gab Rose hitzig zurück. »Nun mach aber mal halblang, Rose. Du weißt ge nau, daß ich deswegen schlaflose Nächte hatte. Sie hat ihn bei einer Gegenüberstellung identifiziert, aber er entsprach nicht der Beschreibung, die sie zu vor abgegeben hatte. Außerdem gab es keinerlei ge richtsmedizinische Beweise, und er hatte so was wie ein Alibi …« »Er hat’s wieder getan, und er wird es wieder tun …« 46
»Wahrscheinlich. Mach nicht auf, wenn Mike nicht zu Hause ist, okay?« Bei der Besorgnis in Helens Stimme verflog Roses Streitlust. Sie grinste. Ihre Augen leuchteten, auf ih ren Wangen erschienen kleine Grübchen, und selbst das stachelige Haar wirkte plötzlich weicher. »Ach Quatsch«, entgegnete sie. »Wenn bei mir jemand einbricht, dann will er nicht mich, sondern ist hinter den Hochzeitsgeschenken her. Höchste Zeit, wie? Wir müssen los.« »Ja.« Rose stand vor dem kleinen Spiegel links von Helens Schreibtisch. Eine Verhaltensmaßregel für die richti ge Kleidung vor Gericht wurde täglich erwartet. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Mike will, daß ich die Punkfrisur gegen Locken eintausche. Nur für die Hochzeit. Was meinst du, Aunty?« Gemeinsam grübelten sie über das wichtigste Pro blem des Tages nach. »Nein. Es sei denn, du legst dir eine Perücke zu.« »Eine blonde? Damit sie zu den Blumen paßt, meinst du?« »Genau.« Roses Zorn über die Willkür der Rechtsprechung war ein Thema, das unablässig an ihr nagte. Obwohl sie ihn auswendig runterrasseln konnte, verstand sie den Berufskodex der Kronanwälte nicht. Er unter strich die Trennung zwischen Wahrheit und Pragma tismus. In diesen Regeln stand, daß Kronanwälte nur Fälle verfolgen sollten, bei denen eine einigermaßen realistische Aussicht auf eine Verurteilung bestand. Für Rose hieß das, daß der wahrscheinliche Ausgang stärker berücksichtigt werden sollte als die Fakten. In 47
ihren Augen war es ein Skandal, daß diese spießigen Wichser ihre Entscheidung davon abhängig machten, wie die Jury oder die Verteidigung sich am ehesten verhalten würde. Das hieß, Vorurteile, Sachkenntnis und Unglaubwürdigkeit einzukalkulieren, noch ehe sie überhaupt zum Ausdruck gekommen waren. Rose stand auf und fing an, systematisch Papier aus dem Fenster flattern zu lassen, eine hausinterne An weisung nach der anderen, und das mit dem Vergnü gen einer alten Dame, die Vögel füttert. Für die Taxi fahrt zum Gericht würden sie ein Formular in drei facher Ausfertigung brauchen, falls sie das Fahrgeld überhaupt zurückforderten. Helen würde sich nicht darum kümmern; sie war froh, die vorlaute Rose den ganzen Tag um sich zu haben. Als sie das düstere Gerichtsgebäude betraten und ihre Sachen zur üblichen Kontrolle auf den Tisch legten, zupfte Rose an Helens Ärmel. »Ich wollte dich schon vorhin um einen großen Gefallen bitten …« »Was? Soll ich dir etwa die Perücke für die Hochzeit kaufen?« »Unsinn. Ich möchte, daß du dich mit jemandem un terhältst.« »Worüber?« »Über Vergewaltigung.« Zu dieser Jahreszeit waren die Felder im Norden vol ler Raps. Leuchtend gelbe Flächen, so lebendig, daß sie gar nicht recht in eine englische Landschaft pas sen wollten. Bei Nacht glänzten sie heller als Goldlack, verbreite ten jedoch einen schweren, fast fauligen Geruch. Als Sohn eines Farmers war Detective Sergeant Todd stolz 48
auf die Gegend, aus der er stammte, und auf den Rapsanbau. Rapsöl war für tausend Dinge gut, be hauptete sein Vater. Todd sehnte sich nach dem An blick der häßlichen flachen Felder mit dem wertvol len Produkt. Es wäre schön, in diesem außergewöhn lich heißen und trockenen August etwas ernten zu können als Lohn für seine Mühen. »Was macht er bloß?« fragte Todd zu Bailey ge wandt. »Er bringt sich um«, grunzte dieser. »Gar nicht so dumm auf den ersten Blick. Aber wenn man richtig drüber nachdenkt, vielleicht doch nicht so clever. Nicht wenn man Bulle ist. Direkt nach Hau se zu gehen, zu duschen und die Unterwäsche in die Waschmaschine zu stecken – jede Wette, daß Ryan das immer tut, wenn er spät nach Hause kommt.« »Kann auch sein, daß es Ryans Frau war, die das Zeug in die Waschmaschine gesteckt hat. Sie würde es glatt beschwören. Genauso wie sie ausgesagt hat, er sei den ganzen Abend zu Hause gewesen, als ihr ihn dort abgeholt habt. Arme Frau.« DS Todd unterdrückte seine ohnehin beschränkte Sympathie. »Na ja, einen Lügentest würde sie jeden falls nicht bestehen, soviel steht fest. Es war klar, daß sie gesagt hat, was ihr als erstes in den Sinn kam. Womit sie ihn natürlich noch mehr reingeritten hat. Als würde sie selbst davon ausgehen, daß er schuldig ist.« »Ziehen Sie bloß keine voreiligen Schlüsse«, ermahn te Bailey ihn milde. »Das ist leicht gesagt. Bei diesem Stand der Ermitt lungen sehe ich nicht, welche Möglichkeit die Anwäl te der Krone hätten, die Klage abzuweisen. Selbst 49
ohne gerichtsmedizinische Beweise. Und wenn man ihm Vergewaltigung nicht nachweisen kann, dann wenigstens versuchte Vergewaltigung oder Nötigung. Die Kleine hat überall Prellungen, trägt seine Jacke, und alles, was er dazu sagt, ist: Kein Kommentar.« Todd hatte anscheinend Blut geleckt. Er war von ei nem anderen Polizeirevier angefordert worden und einer der wenigen, die Ryan nicht kannten, nicht mal vom Hörensagen. Mit Klatsch und Tratsch hat er nichts am Hut, schloß Bailey; er ist einer von denen, die sich Woche für Woche abrackern, wenn sie nicht gerade auf einem der üblichen Fortbildungskurse sind. Bailey lächelte, um seine Abneigung zu verber gen. Er wußte nur allzu gut, wie wichtig es war, in diesem Schlamassel einen unbeirrbaren Nasenbohrer an seiner Seite zu haben, der Ryan nicht kannte. »Ob er betrunken war?« fragte Bailey. »Mein Gott. Nicht so betrunken, daß er vergessen hätte, Brieftasche und Dienstausweis aus der Hemd tasche zu nehmen, bevor er es in die Waschmaschine steckte.« »Das reicht als Beweis nicht aus.« Nichts konnte lähmender sein als Baileys merkwür diges Gefühl von Trauer. Todd und er saßen in der Kantine, erleichtert, daß sie relativ leer war. Vom Tresen hinter den Resopaltischen und Plastikpflan zen flog das heisere Lachen zweier Jamaikanerinnen herüber, die eine dickflüssige Suppe in einen wärme speichernden Container füllten. Bis zum Mittagessen würde sie ungenießbar sein. Eine Suppe stand immer auf der Speisekarte, selbst im August. Ein paar Kaf feetrinker hockten zusammen, so weit wie möglich von Todd und Bailey entfernt, als könnten sie sich 50
über den Essensgestank hinweg mit irgend etwas an stecken. »Gehen wir«, sagte Bailey zögernd und streckte seine langen Beine aus, »ich muß mir noch das Mädchen vorknöpfen.« Als er den Stuhl zurückschob, klang es wie ein lauter Furz. Im Raum war es auf einmal so still wie in einer Kirche. Tagsüber sah das Polizeirevier völlig anders aus als bei Nacht. Diesmal kamen sie durch den Vorderein gang, statt um das Gebäude herumzugehen. Vor dem Schalter wartete eine lange Schlange von Männern, die von einem Bein aufs andere traten, sich kratzten und ihren Antrag auf Kaution unterschrieben, Wagenhal tern, die Papiere vorzeigten, und alten Damen, die über gestohlene Handtaschen klagten. Die Luft war schwer von gedämpfter Nervosität. Als Todd sich entschuldigte, um zur Toilette zu gehen, nutzte Bai ley die Gelegenheit und nickte dem wachhabenden Beamten zu, der ihm die elektronisch verschlossene Tür zu den Zellen öffnete und wortlos zusah, wie Bai ley eilig zu Ryans Zelle ging und die Klappe öffnete. »Alles in Ordnung?« Viel mehr gab es nicht zu sagen. Ryan saß ganz still da und starrte vor sich hin. Er sah Bailey ausdrucks los an und wandte dann den Blick ab. Was er sagte, war kaum zu verstehen. »Wie bitte?« Ryan verzog das Gesicht zu einem kaum merklichen Lächeln, doch seine Stimme war nicht lauter als vor her. »Ich sagte, daß ich dieses Jackett sowieso nicht mochte, Sir.« 51
Es gab nicht viel, was Bailey für Ryan tun konnte. Zum einen mußte er dafür sorgen, daß er sauber und ordentlich aussah, zum anderen ihn so schnell wie möglich hier rausholen und versuchen, ihn mit ir gendeiner Art von Telepathie vom Heulen abzuhal ten. Seine Wärter, diese anständigen, uniformierten Männer, konnten sonst darin so etwas wie ein Ge ständnis sehen. Es ist schrecklich, wenn ein Mann weint. Mrs. Mary Ryan hatte viele Zeitschriftenartikel gelesen über die Tugenden des modernen Mannes, der beim gering sten Anlaß losflennte und auch sonst immer ganz unmittelbar mit seinen Gefühlen umging. Aber das war nichts, das ihr vertraut gewesen wäre oder das sie von einem Mann erwartet hätte. Sicher, sie hätte sich mehr Ehrlichkeit von Ryan gewünscht oder zumin dest die Fähigkeit, zu sagen, was ihm auf dem Her zen lag, statt sich schmollend zurückzuziehen und zu warten, bis sie es erriet. Aber Heulen war was ande res. Tränen waren ihr Privileg, und selbst sie ging nicht gerade verschwenderisch damit um. Als Toch ter eines Polizisten, die mit einem Polizisten verheira tet war und Mutter eines Sohnes, dessen sehnlichster Wunsch es war, ebenfalls Polizist zu werden, beob achtete sie nun, wie sich möglicherweise sämtliche Werte, die ihre Familie zusammenhielten, in Luft auflösten. Da saß ihr Mann, ihr strahlender Held, mit einem tränenfeuchten, geschwollenen Gesicht. Mrs. Ryan schlang die Arme um Mr. Ryan, und ir gendwie kam die Umarmung von Herzen. Sie war keine hartherzige Frau, nur praktisch, und sie kann ten sich schon eine Ewigkeit. Kein Wunder, daß ihre 52
Ehe mehr als einmal fast gescheitert wäre. Als sie au tomatisch vorsichtig wie immer zum Polizeirevier ge fahren war, hatte sie sich alle möglichen Versionen ausgedacht, die sie den Kindern erzählen konnte, und sie hatte darüber nachgedacht, was sie an Ryan respektierte. Er war mehr als großzügig, er war ko misch, er verurteilte andere Leute nicht, er war gren zenlos verläßlich, und ja, sie fand, daß er umwerfend gut aussah, immer noch. Sie spottete über die An sicht, sensible Frauen legten keinen Wert auf das Äußere eines Mannes. In Wirklichkeit kamen attrak tive Männer, jedenfalls wenn sie so gut aussahen wie Ryan an einem schlechten Tag, jederzeit mit einem Mord durch. Ein derart umwerfender Kerl hat die Geschworenen im Nu eingewickelt, dachte sie und schüttelte den Kopf bei diesem Gedanken. So weit würde es nicht kommen. Heute war es aber mit seiner äußeren Erscheinung nicht weit her. Ihr fiel nur das Wort schäbig ein. »Am Nachmittag bist du draußen«, sagte sie munter. »Wer sagt das?« »Der wachhabende Sergeant. Dein unersetzlicher Bai ley hat ihn beauftragt, es mir mitzuteilen.« Mrs. Ryan, die insgeheim Bailey für die Wandlung ihres Mannes von einem dummen Jungen zu einem erwachsenen Mann verantwortlich machte, sprach jetzt in einem haßerfüllten Ton von ihm. Im Augenblick hatte Bai ley einfach zu viel Macht über ihrer beider Leben. »Gegen Bürgschaft bis auf weiteres auf freien Fuß gesetzt. Oder so ähnlich. Was hast du ihnen gesagt?« »Nichts.« Sie nickte zustimmend, wollte aber mehr wissen. »Wie ist dein Anwalt?« 53
»Okay. Ich hab nur das gemacht, was er gesagt hat.« »Ausnahmsweise.« Mrs. Ryan nahm die Thermosfla sche mit Kaffee und den Marsriegel, die der Sergeant ihr zugestanden hatte, aus der Tasche. In diesem Au genblick kam ihr beides derart erbärmlich vor, daß sie die Sachen schon wieder wegstecken wollte, aber die Schokolade schien Farbe in sein Gesicht zu bringen. »Mars macht mobil bei Arbeit, Sport und Spiel«, sag te er mit etwas gefestigterer Stimme. »Hast du gefrühstückt?« fragte sie wie eine pflicht bewußte Ehefrau. Schrecklich. Dabei war ihr völlig klar, auf welche Stufe weiblicher Fürsorge sie sich begab und in welcher Umgebung sie sich befanden. Hallende Schritte, ein dumpfes Klopfen von irgendwo, ein durchdringender Gestank nach Desinfekti onsmitteln und Urin. »Ich hatte keinen Bock auf Frühstück.« Das konnte sie verstehen. »Ach ja, ich habe dir eine Zeitung mitgebracht.« »Danke.« Unzusammenhängendes Gestammel. Sie hatte das Gefühl, als würden ihre Worte mitgehört und sie dürfte ihre Stimme nicht über ein leises Flüstern er heben. Es war dasselbe Gefühl wie bei Kranken hausbesuchen: Man hatte Angst, etwas zu sagen, das nicht banal war, und gleichzeitig das schuldbewußte Verlangen, die Flucht zu ergreifen. Bloß weg hier. Er schien es zu spüren, und deshalb empfand sie plötz lich Liebe für ihn. »Besser, wenn du jetzt gehst, Schatz. Es bringt nichts, wenn wir alle beide hier rumhocken, wie?« Er ver suchte zu lachen. Obwohl sie gehen wollte, kam ihr die Aufforderung 54
fast ein wenig wie eine Zurückweisung vor. Aber viel leicht wollte er bloß wieder allein sein, um sich in Ruhe ausheulen zu können. »Hast recht.« Sie stand dankbar auf, drückte auf die Klingel und setzte sich dann wieder hin. Sie konnte es kaum erwarten, die Schritte des Wärters im Korri dor zu hören. Dabei war ihr bewußt, daß Ryan sie beobachtete. »Woran denkst du?« fragte sie. Ein letzter Versuch, die Begegnung zu retten. Ryan streckte die Beine aus, bis sie die gegenüberlie gende Wand berührten. Einzelzellen waren nicht für große Sprünge gedacht. »Ich glaube, daß ich es mir in Zukunft dreimal überlegen werde, bevor ich ir gendwen einsperren lasse.« Vielleicht hast du dazu gar keine Gelegenheit mehr, dachte sie. Vielleicht geben sie dir keine zweite Chance. Heute nachmittag wirst du vom Dienst sus pendiert, soviel steht fest, und damit ist unser Leben erst mal am Ende. Wie konntest du mir das antun? »Jedesmal wenn ich das Old Bailey sehe, muß ich an deinen Kerl denken«, sagte Rose, als sie die Akten berge auf den Rücksitz des Taxis stapelten, diesmal ohne den Versuch, sie in der richtigen Ordnung zu behalten. »Beide machen den gleichen abweisenden Eindruck.« Die Nachmittagssonne blendete sie. Als sie die küh len Gänge des Gerichtsgebäudes verlassen konnten, hatten sie sich wie Maulwürfe gefühlt, die ans Tages licht kommen. Roses Gesicht leuchtete. Sie plapperte nur, um irgendein Geräusch zu machen und von der Tatsache abzulenken, daß sie verärgert und ent täuscht war. »Das ging ja schnell, was?« 55
»Stimmt. Wahrscheinlich liegt’s am Wetter.« An einem Tag wie diesem war selbst der gewissenhaf teste Geschworene lieber woanders. Zu Hause in sei ner Wohnung, im Bus, jedenfalls weit weg von diesen gräßlichen Geschichten über Körperflüssigkeiten, dem düsteren Gebäude und den Sicherheitschecks, draußen in der warmen Sonne. »Eine knappe halbe Stunde.« Rose zupfte an ihren Haarspitzen, fand eine längere Strähne und steckte sie in den Mund. »Eine halbe Stunde, um das Mäd chen als miese kleine Lügnerin abzustempeln.« Helen protestierte ein wenig. »Nein. Er mußte nur behaupten, daß er zu dem Zeitpunkt tatsächlich glaubte, sie hätte eingewilligt, auch wenn er im nach hinein zugeben mußte, sich geirrt zu haben. Jeden falls war er schlau genug, sie nicht als Lügnerin hin zustellen.« »Als ob das was an ihrem Zustand ändern würde.« »Sie wird’s überleben«, antwortete Helen. Trotz der Hitze wirkte sie kühl. Ihr rechter Fuß ruhte auf ei nem Aktenstapel, um ihn am Verrutschen zu hindern. »Du bist ein eiskaltes Biest, Aunty, wirklich.« Helen antwortete nicht. Es würde sich eine bessere Gelegenheit finden, Rose klarzumachen, daß große und schreckliche Erniedrigungen, darunter auch Vergewaltigung, nicht zwangsweise in einer unauf haltsamen Spirale nach unten führten. Rose selbst war das beste Gegenbeispiel. Sie war noch so jung, obwohl man ihr schon als Kind alle Unschuld ge raubt hatte. Ihr Vater war eine Bestie gewesen. Ihr Leben war gezeichnet von Männern, die sie miß braucht hatten. Trotzdem hatte sie sich wie ein Phö nix aus der Asche erhoben, und heute fürchtete sie 56
sich vor niemandem mehr. Helen war stolz auf Rose und beneidete sie um die Energie und Willenskraft, die diesen Wandel ermöglicht hatten. Sie versuchte, Roses Bemerkung über den Tiefkühlzustand ihrer Seele zu ignorieren, fragte sich aber doch, ob sie recht hatte und es eigentlich nur ein Mittel war, um sich vor Dingen zu schützen, die man nicht ändern konnte. »Vorhin hast du irgendwas von einem Gefallen ge sagt«, wechselte sie das Thema. Das Taxi fuhr Rich tung Ludgate Hill. Vor ihnen erhob sich majestätisch St. Paul’s Cathedral, deren Treppen von bunt geklei deten Menschen wimmelten. Sie sahen ganz normal aus; sie führten ein anständiges Leben, trugen ihre besten und aufdringlichsten Kleider, und jeder hatte seine eigene Geschichte. Helen hatte Lust, hineinzu gehen und die angenehme Kühle auf der Haut zu spüren, sich unter die gaffenden Besucher zu mi schen und ihre Überlegenheit auszuspielen. Rose zwirbelte ihr Haar zu schärferen Stacheln, ein unmißverständliches Zeichen für ihre entschiedene Ablehnung. Sie hatte jede Form von Religion aus ih rem Leben verbannt. Ihr Vater hatte immer eine Bi bel in der Tasche gehabt, selbst wenn er kleine Mäd chen mißbrauchte. Rose glaubte mittlerweile an an dere Götter. »Ja, ich möchte, daß du mal mit einer Freundin von mir redest. Na ja, ich weiß nicht. Du könntest ihr den Kopf zurechtrücken oder so was.« »Mein Gott, hör endlich auf, in Rätseln zu sprechen. Was soll ich machen?« Rose holte verzweifelt Luft und wählte ihre Worte mit derselben Sorgfalt wie eine richtige Anwältin vor Gericht. »Michaels Cousine. Sie sorgt für meine 57
Blumen. Ich mag sie sehr. Sie ist acht Jahre jünger als du und neun Jahre älter als ich. Das nur zu deiner In formation. Jedenfalls ist sie von einem Mann überfal len worden. Sie hat’s Mikes Mom erzählt, aber an sonsten sagt sie nicht viel, und Mikes Mom sagt, es ist so, als könnte man zusehen, wie sich jemand abkap selt, aber sie selbst kann nichts dagegen tun. Du hast sie auf meiner Verlobungsparty kennengelernt, weißt du noch? Ihr habt euch auf Anhieb verstanden.« »Und jetzt soll ich mit ihr reden? Vergiß es. Schick sie zu einer Beratungsstelle …« »Das bringt alles nichts, glaub mir. Du bist die Rich tige, du weißt, wie es ist, wenn man überfallen wird, und du kannst Menschen zum Reden bringen. Wür dest du es tun?« »Nein. Dazu fehlen mir alle Voraussetzungen.« Und die Zeit und vor allem die Lust. Sie versuchte, sich an die Frau zu erinnern, die sie bei Rose getrof fen hatte. Sie war groß gewesen und Hebamme von Beruf. Das Taxi bog scharf in eine enge Straße ein, und sie fielen gegeneinander. Helen spürte, wie erhitzt Roses Haut war. Die Akten flogen über den Boden, doch das ignorierten sie. Das viele Papier hatte allen Betei ligten nur Verdruß eingebracht. »Typisch«, schimpfte Rose und richtete sich kerzen gerade auf. »Verdammt typisch. Ich kann mir den ken, was in dir vor sich geht. Ich? Niemals! Ich bin nur Kronanwältin, weiter nichts. Und verstehen will ich erst recht nichts. Ich will nicht wissen, wie es ist, und ich habe auch keine Zeit, mich um irgendwen zu kümmern, weil ich vollauf mit meiner Arbeit zu tun habe. Wie diese Ärzte, die einem nur eine Spritze 58
geben oder schnell was verschreiben, statt sich um den Gesamtzustand zu kümmern. Sieh mal, sie hat einfach kein Vertrauen zu den aufgeblasenen Exper ten in den Beratungsstellen. Sie will nicht vollgelabert werden. Sie möchte eine nette, schlichte Anwältin, die mein persönliches Vertrauen genießt. Und wenn du nicht aufpaßt, bist du es bald los.« »Warum redet sie nicht mit dir?« Rose wandte den Kopf ab. »Machst du Witze? Ich bin doch viel zu jung.« Rose, du bist nie wirklich jung gewesen. Voller ju gendlicher Energie, das ja, aber nie jung, dachte He len leicht belustigt und durchaus verwirrt. Komisch, den Einschüchterungsversuchen Redwoods oder ei nes Richters, der Abneigung eines Angeklagten konnte sie die Stirn bieten, doch wenn es darum ging, Rose eine dumme kleine Bitte abzuschlagen, war sie machtlos. Einen kurzen Augenblick ahnte sie, wie Bailey sich fühlen mußte – gefangen in seiner Freundschaft zu Ryan, wie Wachs in dessen Hand. »Wann?« Sie meinte, wann die Frau überfallen worden war. Doch Rose verstand dieses eine Wort als Zusage. Darin war sie geübt. Ihr eckiges Gesicht mit dem breiten Mund war wie geschaffen zum Lächeln. Redwood hatte recht mit seiner Feststellung, daß He len eine ältere und ruhigere Version von Rose war. Sie selbst war sich gar nicht bewußt, wie stark ihr Einfluß auf das Mädchen war. Wenn sie sich die Haare wachsen läßt, dachte Helen stolz, wird diese kleine Hexe die Leute wahrscheinlich noch mehr um den Finger wickeln können als jetzt. »Klasse! Ich geb dir ihre Adresse. Ich hab ihr gesagt, 59
daß du sie heute abend anrufst, aber das ließe sich
sicher ändern.«
So etwas wie freien Willen gibt es nicht, folgerte He
len. Und so was wie Wahrscheinlichkeit auch nicht,
wenn der Wille derart schwach ist.
Meistens wollte sie keine Verantwortung, vor allem
nicht für Menschen. Möglich, daß Rose recht hatte.
Es war gefährlich, nur noch auf dem Papier mit Men
schen zu tun haben zu wollen.
60
3 »Das House of Lords billigt die Entscheidung des Court of Appeal, derzufolge bei einem Beischlaf innerhalb der Ehe nicht von einer automatischen Einwilligung ausgegangen werden kann, so daß ein Mann auch der Vergewaltigung seiner Ehefrau strafbar sein kann. Das Argument, mit ›unrechtmäßig‹ sei ›außerehelich‹ gemeint, war überflüssig … es war eindeutig unrecht mäßig, Beischlaf mit einer Frau zu haben, ohne sich deren Einwilligung zu vergewissern, und der Gebrauch des Wortes im fraglichen Absatz fügte dem nichts Neues hinzu.«
B
rigid Connor trank mit Mitgliedern ihrer Kir chengemeinde Tee und bereitete den Besuch des Bischofs vor. Dieser sollte mehrere noch nicht ganz gefestigte Jugendliche in ihrem Glauben stärken und anschließend – mit Blick auf eine mögliche Finanz spritze für die Renovierung – die Kirche inspizieren. Ein umfassender Frühjahrsputz schien unumgäng lich, obwohl Brigid persönlich der Meinung war, daß es besser wäre, alles beim alten zu lassen. Sie sah kei nen Sinn darin, die Risse, die sie dem Bischof zeigen wollten, mit Farbe zu überstreichen. Doch der hohe Besuch lag noch in weiter Ferne, daher hatten im Augenblick andere Themen Vorrang, zu denen Bri gid jedoch wenig beisteuern konnte. Sie verabscheute Gemeindearbeit und hatte wenig übrig für diese Damen, die eine Begeisterung an den Tag legten, die sie selbst zwar vortäuschen, aber nicht empfinden 61
konnte. Zudem war ihr der Gedanke, daß sie alle im selben Boot saßen, zuwider. Für sie war das ein scheinheiliger Haufen von hoch näsigen Matronen, die es entweder nicht nötig hatten zu arbeiten, oder einfach nichts gelernt hatten. Eine glanzlose Imitation jener Damen aus der gehobenen Gesellschaft, die sich zum Lunch treffen. Sie hielten es für geschmacklos, mit ihrem Reichtum, ihren Klei dern oder körperlichen Vorzügen zu protzen, und ga ben sich den anderen Frauen gegenüber stets ärmer und beschäftigter, als sie tatsächlich waren. Nicht ihre Kleider verrieten sie, sondern die Wagen. Jedesmal, wenn Brigid sich mit der einen oder ande ren traf, hoffte sie, daß eine Freundschaft daraus ent stand, zumindest aber, daß sie ein paar Tips erhalten würde, damit sie ihr Leben genauso in den Griff be kam wie die anderen. Was mußte sie tun, damit sie auch so lachen konnte wie sie? Aber sie blieb nur ein lästiger Zaungast, der die anderen neugierig und auf merksam beobachtete. Gleichzeitig befürchtete sie ständig, sie könnten merken, wie sehr sie die Frauen um ihre Selbstbeherrschung beneidete. Lebten sie im Zustand der Erbsünde? Fürchteten sie sich genauso vor der Hölle und einer erneuten Schwangerschaft wie Brigid selbst? Sie machten nur einen kleinen Teil dieser Gemeinde aus, winzig im Vergleich zu denen, die die Kehrseite der Medaille darstellten. Ihr erlesener Kreis war da, um zu spen den, und die anderen hielten die Hand auf. Sie erin nerten Brigid an ein großes Nest voller Jungvögel mit weit geöffneten Schnäbeln. Aber sie verurteilte die Armen nicht. Wie oft hatte sie sich gewünscht, selbst zu den Bedürftigen zu gehören, dann hätte sie ein 62
größeres Recht gehabt, den Geistlichen um Rat zu fragen. Eine der Frauen, die nur ein paar Jahre älter war als Brigid und sich mit vierzig darauf freute, Großmutter zu werden, zeigte den anderen die Hochzeitsfotos ih rer Tochter. Brigid hatte an der Messe teilgenommen, war aber nicht zum anschließenden Empfang einge laden gewesen. Auf einem der Fotos vor der Kirche sah man sie, ganz hinten mit ihrem verrutschten Hut, in einer Ecke versteckt. Brigid schämte sich für den erbärmlichen Anblick, den sie auf dem Foto abgab. »Sieht sie nicht traumhaft aus? All die Spitze … und dieser Schleier!« »Ein Erbstück von ihrer Großmutter, wissen Sie. Muß hundert Jahre alt sein. Wunderschön, nicht wahr?« Es gab Aufnahmen von vor der Zeremonie und nach her, und immer hatte der Fotograf darauf geachtet, die teuren Schlitten und prächtigen Kleider festzuhal ten, so zumindest kam es Brigid vor. Am meisten be eindruckte sie ein Foto der Braut, die mit verschleier tem Gesicht in gespenstischer Anonymität auf den Altar zuschwebte, obwohl jeder wußte, wer sie war. Der Schleier sagt alles, dachte Brigid. Man wird in völliger Unkenntnis zum Traualtar geführt und glaubt, alles über das Leben und das Universum zu wissen, obwohl man keine Ahnung hat. Und man ist so ver liebt, daß man nicht mal merkt, wie man zum Opfer lamm wird. Zumindest war es bei ihr so gewesen. Möglich, daß heutzutage alles ganz anders ist, aber die Kleine ist erst achtzehn, mein Gott. Was weiß ein Mädchen in dem Alter schon von Männern? Die Fotos lösten eine Flut von Erinnerungen aus. Ei 63
nige Frauen erzählten für ihre Verhältnisse erstaun lich freimütig. »Ich kann mich noch genau an meine Hochzeitsnacht erinnern«, erklärte die eine. »Mein Gott, was für ein Reinfall! Ich hätte nicht geglaubt, daß ich mich je davon erholen würde.« »War er so groß, daß du drüber gestolpert bist, Ma ry?« zog eine andere sie auf. Die ganze Runde prustete vor Lachen. »Klar, heute ist alles anders«, fuhr Mary fort. »Ob wohl, ich weiß nicht, so anders nun auch wieder nicht. Ich jedenfalls war Jungfrau, Gott steh mir bei, aber meine Schwestern … Nicht, daß irgendwer mit der Flinte nachhelfen mußte, aber zugetraut hätte ich’s meinem Daddy schon.« »So war’s bei mir«, murmelte Brigid plötzlich unge wohnt kühn. Sie brauchte nur ungefähr rauszukrie gen, wie alt die Kinder dieser Frauen waren, um zu wissen, daß sie nicht die einzige war, die wegen einer Schwangerschaft hatte heiraten müssen. Niemand war schockiert. »Bei mir auch«, erklärte eine andere Frau nach einer Pause. Auch sie war pummelig und konnte nicht aufhören, beim Stricken immer wieder vom Kuchen zu naschen, dabei war das nun wirklich das letzte, was sie gebrauchen konnte. »Nicht, daß ich es bereu en würde, anders hätte ich ihn wohl nie rumge kriegt«, sagte sie mit vollen Mund und alle lachten. Die Dicke fuhr fort: »Außerdem ist Sex nur ein paar Jährchen wichtig. Gott sei Dank denkt mein Mann schon längst nicht mehr an so was.« »Das wär schön«, sagte Brigid, weiter ermutigt durch das Gelächter. Doch ihre Stimme war viel zu heftig und zu laut. Plötzlich starrten sie alle an in Erwar 64
tung einer Erklärung. Sie kicherte und spürte, wie sie rot wurde. »Ich meine, ich wär froh … wenn meiner nicht mehr dran denken würde. Leider ist genau das Gegenteil der Fall.« Ein peinliches Schweigen folgte. Die Gastgeberin stand auf, um frischen Tee zu holen. »Na, da haben Sie ja das große Los gezogen«, sagte sie nicht un freundlich. Jeder wußte, daß Brigid trotz der Reife ihrer fast vierzig Jahre nicht alle Tassen im Schrank hatte. »Nach all der Zeit muß es doch wunderschön sein, einen Mann zu haben, der einen noch begehrt.« Plötzlich ging Brigid auf, wie sie sich angehört haben mußte: stolz statt verletzt. Außerdem war ihr Aemon ein gutaussehender Mann, mit einem rotbackigen Gesicht, das auf robuste Ehrbarkeit schließen ließ. Ein großer Mann mit lebhaften blauen Augen und feinem blonden Haar, genau wie seine Brüder. Und seine Töchter, die den Sommer bei ihren Cousinen verbrachten. Sie hatte sie alle enttäuscht. Auf dem Weg nach Hause machte sie noch einen Abstecher zur Kirche. Die vorbeirasenden Autos wirbelten Reste von Konfetti über die Eingangsstu fen. Liebe Güte; so groß war ihre Bürde doch nun auch wieder nicht, oder? Sex, ihre Ehe, das ganze Dasein. An der Ecke zu der Nebenstraße, die zu ihrem Haus führte, machte sie unter dem Vorwand, noch etwas einkaufen zu müssen, plötzlich kehrt. Ein Umweg und weitere zwanzig vertrödelte Minuten. Die Ein gangstür ihres Apartmenthauses war aus Glas. Sie warf ihr Bild zurück wie einer der dummen Zerrspie gel auf einer Kirmes ihrer Kindheit. Der Körper war in der Mitte abgeknickt, die Stirn riesig, die Einkaufs 65
tasche überproportional groß und die Kette um ihren Hals viel zu grell. Als sie näher kam und die Treppe hinaufstieg, verwandelte sie sich in eine kleine, zierli che Frau mit üppigem Busen und viel zu stark getön tem rotblonden Haar, ein billiger Abklatsch dessen, was es einmal gewesen war. Sie sah nicht schlecht aus, aber ihre Schultern waren viel zu schmal, um ei nes anderen Last zu tragen, und ihr Kleid hatte ein unruhiges Muster, wie das Konfetti, das sie eben auf den Eingangsstufen der Kirche gesehen hatte. Aus den Fenstern der Wohnung, die Aemon gebaut hatte, konnte sie über einen Teil von London hin wegsehen. In nächster Nähe erhoben sich die Gaso meter von St. Pancras, sie blickte auf vereinzelte Flecken von Grün zwischen den Häusern und auf die Zuggleise, die sich aus dem riesigen überdachten Bahnhof schlängelten und ihr immer ein Gefühl von Freiheit gaben. Sie brauchte nur loszufahren. Aber die Morgenluft war kühl gewesen, ein erstes Zeichen, daß der Sommer zur Neige ging. Brigid wollte weder hier oben sein noch unten auf der Straße. Nicht mal an einem dieser schattigen grünen Flecken, die auf einen Platz oder Park hindeuteten. Noch zu früh für einen Drink, oder? Ein Drink, ein Bad, Wärme von innen und außen. Waschungen und Alkohol, um sich von der schrecklichen Schuld zu reinigen, daß sie die Pille nahm und zum Arzt ging. Ihm Dinge anvertraute, die sie nur einem Priester hätte beichten dürfen, ohne jede Hoffnung auf Ver gebung. Nein, kein Drink, noch nicht. Brigid brachte gelegentlich Willensstärke auf; es mangelte ihr nur am Willen selbst. 66
Helen West ärgerte sich über Roses unglaubliche Willensstärke, doch Anna Stirland übertraf sie darin noch. Rose hatte ein natürliches Talent zur Umstürz lerin, das von ihrer ständigen Konfliktbereitschaft noch verstärkt wurde. Anna sah voraus, daß irgendwer den Tag verfluchen würde, an dem man die Kleine überredet hatte, Juristin zu werden, auch wenn es bis zu ihrer Qualifizierung noch ein langer Weg war. Sie konnte sich vorstellen, daß Rose allein mit ihrem empörten Keuchen einen ganzen Gerichts saal auf ihre Seite brachte. Die Wirkung auf die Fa milie ihres Verlobten sprach für sich: Sie lag ihr zu Füßen. Nur ihretwegen hatte Anna sich bereit erklärt, mit Helen zu sprechen. Okay, sie hatte Helen ganz nett gefunden, als sie sich zum ersten Mal trafen, aber sie hätte es vorgezogen, sie unter anderen Vorzeichen wiederzusehen. Alles bloß, um sich Rose und deren zukünftige Schwiegermutter vom Hals zu halten. Sie hätte wirklich den Mund halten sollen. Anna über legte, was sie sagen sollte, um eine peinliche Situation zu vermeiden. Tut mir leid, war alles ein Mißver ständnis, und jetzt raus mit Ihnen. Ihre Phantasielo sigkeit angesichts ihrer zornigen Nervosität brachte sie noch mehr auf die Palme, trotzdem putzte sie das ganze Puppenhaus in Erwartung eines Gastes, der es bemerken würde. Sie wischte Staub auf den flecken losen Möbeln und sah sich kritisch um, als wollte sie gleich alles verkaufen. Wenn sie die Gelegenheit be kam, würde sie es auf der Stelle tun. Als es klingelte, hoffte Anna, daß es jemand wäre, der wegen der Anzeige kam. Wahrscheinlich dachten die Nachbarn, daß ihre überstürzte Entscheidung zu 67
verkaufen der Grund war, daß sie noch lange nach Mitternacht die Wände gestrichen hatte. So geht’s, sang sie im gleichen einförmigen Tonfall vor sich hin, den sie dem Makler gegenüber gebraucht hatte. Wenn man es sich erst richtig gemütlich gemacht hat, will man gar nicht mehr weg, was? Wenn die Frau an der Tür hallo gesagt, ihr eine warme Hand entgegengestreckt und sich mit irgend einer Platitüde vorgestellt hätte wie ein Immobilien makler, hätte Anna vielleicht Zuflucht zu ihrem ein studierten Spruch genommen. Doch die Besucherin stand seitlich neben der Tür, blickte auf die Straße und streckte Anna mit einer Hand eine Flasche Wein entgegen. Und als sie die erst mal angenommen hatte, blieb ihr nichts anderes übrig, als Helen reinzubitten. Ganz schön gerissen, dachte sie später, sie hatten sich nicht mal in die Augen sehen können, da waren sie bereits alle beide in die Falle getappt. Sie bemerkte erneut Helens Narbe auf der Stirn. Sie zog sich von den Augenbrauen bis zum Haaransatz und hätte sich durch eine entsprechende Frisur leicht kaschieren lassen, aber Helen schien sie nicht zu stö ren. Anna erinnerte sich daran, was Rose ihr über Helen gesagt hatte. Sie konnte die dozierende Stim me förmlich hören: Sie wirkt vielleicht ein bißchen verschlossen, Anna, und redet manchmal grob daher, verstehst du, aber es gibt nichts, was diese Frau nicht durchgemacht hätte. Die Narbe an der Stirn hat sie nicht von einem Autounfall, und es heißt, daß sie kräftig zubeißen kann. »Schöne Küche«, sagte Helen aufrichtig begeistert und nahm dadurch dem Kompliment die Banalität einer simplen Höflichkeit. 68
Anna sah sich um. Die Küche war wirklich schön – voller alter Kiefernholzmöbel, sorgfältig ausgesuchter Bilder und getrockneter Kräuter und Blumen, die ei nen leicht moschusartigen Geruch verströmten. Die offene Tür führte in einen kleinen Garten mit schma len Beeten voller blühender Blumen. In Kübeln wuchsen rosafarbene und weiße Geranien, an den Wänden Kletterrosen. Die Glasscheiben der Tür wa ren blitzblank. »Ich weiß genau, wie ich mir meine Küche vorstelle«, fuhr Helen fort, »so wie ich mir manchmal einbilde, ich wüßte, was ich in meinem Leben will, aber ir gendwie kriege ich es einfach nicht hin. Irgendwo zwischen Konzept und Realisierung klafft eine Lük ke. Wahrscheinlich wird es immer so sein. Ich habe auch schon mal daran gedacht, dort getrocknete Kräuter aufzuhängen.« Sie zeigte auf die Holzstange über der Spüle, an der Töpfe und Blumen hingen. »Und dann habe ich immer weiter drüber nachge dacht, ohne es je in die Tat umzusetzen.« Anna entkorkte nervös und unbeholfen die Flasche und schenkte ihnen mit zittriger Hand ein. Das Geräusch war beruhigend. Das Glas, das sie He len reichte, war ungewöhnlich, schwer und alt; der Wein kühl und bleich. Nichts in der Küche war neu; alles zeugte von einer Besitzerin, die sich auf Second handsachen verstand und einen ausgezeichneten Ge schmack hatte. Anna wählte ihre Worte vorsichtig. »Ich gebe mir Mühe mit dem Haus, und ich liebe Pflanzen, weil ich mit mir selbst nicht viel anfangen kann. Ich glaube, es ist so was wie eine Kompensation für die Welt. Oder für mich. Ich bin mir nicht sicher.« 69
»Ich glaube, daß ich Sie nicht recht verstehe.« »Das könnten Sie aber«, erklärte Anna leicht unge duldig. »Wahrscheinlich, weil Sie in einer anderen Welt leben. Das ist nun mal so bei schönen Men schen. Ich bin eher häßlich, falls es Ihnen entgangen sein sollte. Ich sehe mich daher genötigt, wenigstens in meiner Umgebung so was wie Schönheit zu schaf fen, um meine eigene Existenz zu rechtfertigen.« Sie war unscheinbar. Aber nicht so unscheinbar, daß man sie hätte häßlich nennen können, höchstens un ansehnlich, abgesehen von ihren Augen. Die Art von Frau, die nie wie ein junges Mädchen ausgesehen hatte und schon mit elf viel zu dick gewesen war. Ein Mauerblümchen, das Kindermädchen spielte für die hübscheren und lebhafteren Geschwister oder Cou sinen. Ein Gesicht, das die Verantwortung über nahm, wenn die anderen Kinder sie ablehnten, aber keinesfalls leer oder häßlich, dachte Helen. Anna sprach ironisch von sich selbst, als hätte sie einen Makel oder sei derart entstellt, daß sie eine Beleidi gung für das menschliche Auge darstellte, statt ein fach zu akzeptieren, daß sie anders als die anderen war. »Ich glaube, Sie sollten sich einen neuen Spiegel zu legen«, erklärte Helen aufrichtig. Anna stand auf und stellte den Wein in den Kühl schrank. Sie hatte den leichtfüßigen Schritt einer dik ken Frau, die irgendwo tanzen gelernt hatte. Ihre anmutigen und sparsamen Bewegungen straften ihre bittere Selbstdarstellung Lügen. Sie machte nicht ge rade den Eindruck, als gäbe sie sich leicht geschlagen oder verstünde die Welt nicht als Herausforderung. Wahrscheinlich gehört sie zu denen, die mit aller 70
Macht das Beste aus dem machen wollen, was sie ha ben, dachte Helen, heute vielleicht nicht, aber an an deren Tagen. Sie fühlte sich wie ein Eindringling. Alle Alarmglocken läuteten. Sie sollte lieber gehen, denn es war Annas gutes Recht, die Gegenwart eines Men schen, der ihr zerstörtes Selbstwertgefühl nicht kitten konnte, es nicht mal versuchen wollte, als lästig zu empfinden. Komme ich besser mit Männern oder mit Frauen zurecht? fragte sie sich und dachte an ihre Teenagerjahre, als sie beide Geschlechter mied, vor allem aber das weibliche, aus dem einfachen, unaus gesprochenen Grund, daß Mädchen viel schneller ihre Schwächen aufspürten. Sie war ein hübsches, zu rückgezogen lebendes Kind gewesen, dessen äußere Erscheinung es derart isoliert hatte, daß es die dik ken, furchtlosen und streitbaren Mädchen beneidete, die in der Klasse den Ton angaben. Anna hätte eine davon sein können. Sie machten aus ihrer Masse und ihren Grübchen eine Tugend und waren überall be liebt. Halbe Jungs. Helen war das nie gelungen. »Zu Ihnen würden Spitzen passen«, sagte Anna plötzlich mit einem Grinsen, das ihr tatsächlich Grübchen in die Wangen zauberte und ihr Gesicht zum Inbegriff der Gutmütigkeit machte. »Spitzen und Schleifen würden Ihnen stehen. Rose hat mir erzählt, daß Sie heiraten.« Sie konnte mit verdächti ger Leichtigkeit das Gespräch von sich ablenken, wie Helen auffiel. Mit geradezu angeborener Unge zwungenheit. Genausogut hätten sie sich verabredet haben können, um sich über Hochzeitskleider zu un terhalten. »Ich hasse Spitzen, Schleifen, Schnallen und all das Zeug«, erwiderte Helen. »Und mir hat Rose erzählt, 71
daß Sie überfallen worden sind und nicht darüber sprechen können. Rose redet zu viel, vor allem über andere Leute.« »Genau wie meine Tante, Roses zukünftige Schwie germutter. Ich habe ihr natürlich nicht das Verspre chen abgenommen zu schweigen«, sagte Anna hastig, um Rose in Schutz zu nehmen. »Ich habe sie nur mit meinen Problemen belästigt, das ist alles. Es war ein Fehler. Rose ist viel zu jung und fröhlich, es war nicht fair.« Sie lehnte sich im Stuhl zurück, der unter ih rem beträchtlichen, aber nicht übermäßigen Gewicht knackte. Sie war durchaus wohlgeformt, es schien nur, als seien alle Proportionen ihres Körpers ein wenig übertrieben. Nicht dick, einfach nur zu füllig. Sie sollte keine engen Sachen tragen, das war alles. Helen mochte sie. Sie hatte sie vom ersten Augen blick an gemocht. Trotz ihrer zurückhaltenden Natur konnte sie jemanden plötzlich und unverrückbar ins Herz schließen, und dann war es keine Frage, daß sie helfen würde. Sie schob die Gedanken an Baileys knappen Anruf beiseite, mit dem er ihr die Neuigkei ten über Ryan mitgeteilt hatte; das war ein Fall wie die unzähligen anderen Vergewaltigungsdelikte, die die Vermutung nahelegten, daß es sich um eine Epi demie handelte. Sexuelle Gewalt war ein alltägliches Phänomen, über das sie mit Hilfe eines Katalogs von bewährten, aber schrecklich objektiven Kriterien ur teilte. Hier schien es um andere Fragen zu gehen. Anna Stirland zuckte die Achseln und seufzte. »Ich bin Krankenschwester«, erklärte sie. »Hebam me. Eine kompetente, fürsorgliche Person mit einer Menge Sachkenntnis. Schon als Kind habe ich ande ren den Po abgewischt.« Sie zögerte. »Ich will damit 72
sagen, daß ich ein von Natur aus vernünftiger Mensch bin und mich dafür schäme, wie ich bislang mit dem Vorfall umgegangen bin. Ja, ich kann mit Ihnen dar über reden. Ich muß. Vermutlich sehen Sie es wie ei nen Ihrer Fälle. Betrachten Sie die Sache als Anwäl tin. Vielleicht ergibt sie dann einen Sinn.« »Ich werde bestimmt nicht gerade in Ohnmacht fal len«, antwortete Helen. »Weil Sie alles schon tausendmal gehört haben?« fragte Anna leise. »So etwas noch nicht, jede Wette.« Um halb sieben Uhr abends wurde Detective Ser geant Ryan formell vom Dienst suspendiert und an gewiesen, nach Hause zu gehen und den weiteren Verlauf der Ermittlungen abzuwarten, nachdem man ihm zuvor den Zugang zu seinem Dienstzimmer ver weigert hatte. Sein unmittelbarer Vorgesetzter, dem Todd als Zeuge beistand, brachte es ihm schonend bei, während Bailey sich im Hintergrund hielt. Ryan sieht aus, als würde man ihn splitterfasernackt aus dem Paradies jagen, dachte Todd mit innerer Genugtuung. Der Detective Chief Inspector dachte dasselbe, obwohl bei ihm das Mitleid überwog. Ryan war ungeheuer beliebt gewesen, ein echter Kumpel mit einer Schwäche für Frauen; genau die Sorte Mann, die sie alle bewunderten. Bailey sorgte dafür, daß Ryan im Wagen nach Hause gebracht wurde. Niemand außer ihm war auf die Idee gekommen, daß er sich auf dem kürzesten Weg in die nächste Kneipe begeben könnte, wenn man ihn sich selbst überließ. Ryan warf Bailey beim Einsteigen einen schiefen Blick zu; beide schienen die Gedanken des anderen zu lesen. 73
Bailey beobachtete, wie der von einem weiblichen Constable gesteuerte Wagen davonfuhr. Er fragte sich, worüber die zwei sich wohl unterhalten wür den, und nahm sich vor, leicht beschämt über seine Neugier, die Beamtin später danach zu fragen. Es ging doch um die Wahrheitsfindung, oder? Da waren alle legalen Mittel erlaubt. Vielleicht ging es aber auch um die Verfolgung eines pedantischen Ehrgei zes, den Ryan der Fahrerin unter vier Augen beichten könnte, irgendeinen deutlichen Hinweis auf seine Unschuld. Vergewaltigung ist ein Verbrechen, das nach Rache schreit, hatte Todd unheilvoll getönt und sich damit als potentieller Kirchgänger zu erkennen gegeben. Hinter Bailey auf dem Parkplatz wartete eine junge blonde Frau, die Hände in die Hüften gestützt, und musterte ihn angriffslustig. Es war Detective Smythe vom Sittendezernat, dem auch Ryan angehörte. Mit einem Schlag ging ihm die Ironie des Ganzen auf: Ausgerechnet ein Beamter der Sitte wurde der Ver gewaltigung beschuldigt. Noch gestern hatte Bailey Ryan gute Ratschläge erteilt, wie man mit aufge brachten Eltern von Vergewaltigungsopfern umging. Und jetzt stand er selbst vor der Aufgabe, sich mit den Eltern von Ryans Opfer auseinanderzusetzen. Die Katze biß sich in den Schwanz. »Sally Smythe, Sir. Was sollen wir mit den Fällen machen, die Ryan bearbeitet?« Es klang wie ein kaum verhohlener Vorwurf. »Keine Ahnung. Übernehmen Sie die Fälle. Er wird eine Zeitlang weg sein.« Die Blondine warf ihm einen bösen Blick zu, als sei nur er für den Zusammenbruch ihres Lebens, die 74
Verdoppelung ihrer Arbeit und die ersten grauen Haare verantwortlich. Bailey löste sich von Todd und ging auf seinen Wa gen zu; sie betrachtete dies als Aufforderung, ihn zu begleiten. »Welche Fälle sind denn am wichtigsten?« »Alle sind wichtig. Nötigung, Unzucht, alles, was Sie wollen. Außerdem hatte er noch was am Laufen … verdammte Scheiße.« Sie stotterte und kämpfte mit den Tränen. »Wie konnte er einem das antun, Sir? Wie konnte er nur?« »Mir, Ihnen oder dem Opfer?« fragte Bailey sanft und berührte ihren Arm ganz leicht, gerade so, daß man auf Mitgefühl, nicht aber Kameradschaft schlie ßen konnte. »Er war gut«, sagte sie überzeugt. »Echt gut. Er wurde immer besser. Ich weiß, daß zuerst niemand von uns diesen Fall anfassen wollte, aber dann hat er ihn übernommen. Das ist jetzt achtzehn Monate her. Er hat ihm das Herz gebrochen. Danach schien er, na ja, er schien imstande zu sein, sich mit den Opfern zu identifizieren. Wenn wir es nicht können, wer dann, hat er immer gesagt.« »Morgen um zehn«, erklärte Bailey, als er sah, wie Todd zu ihnen aufrückte, »will ich mir seine Fälle mal ansehen. Vielleicht ergibt sich irgendein Hin weis, der sein mutmaßliches Verhalten erklärt. Noch ist nichts bewiesen, das wissen Sie.« Sie nickte stumm und ging schleppend weiter, wäh rend er ihr bedauernd hinterhersah. Wenn Ryans Karriere zerstört war, dann auch ihre. So war es, wenn man sich infizierte. 75
Die Abendsonne ging in einem rosafarbenen Dunst unter, als sie losfuhren. Bailey saß am Steuer, er brauchte nicht auf den Stadtplan zu schauen. Er wußte, in welche Richtung er ungefähr fahren muß te, und die Straßen hier kannte er seit seiner Jugend. Sie befanden sich im Niemandsland zwischen Isling ton und King’s Cross, einer Gegend voller trister Durchgangsstraßen, Ampeln und Gebrauchtwagen händler, hinter denen sich die freundlicheren und baumbestandenen Straßen des verzweigten Hinter landes versteckten. Sie fuhren hinter einem Linien bus her, der Wolken von Abgasen in die Hitze des Tages entließ. Bailey wünschte sich, in einem Strei fenwagen zu sitzen und mit Blaulicht alle Hindernis se aus dem Weg räumen zu können. Der Verkehr schrie nach Rache, genauso wie Vergewaltigung. Er überholte den Bus, bog in eine der Nebenstraßen ein und trat auf das Gaspedal. Mit quietschenden Reifen raste er hinter einem Industriegelände durch eine schmale Straße mit Kopfsteinpflaster, an einem Parkplatz vorbei und kehrte auf die Hauptstraße zu rück. Als sie am Roman Court Nummer 14 anka men, war Todd totenbleich. Bailey dagegen fühlte sich etwas beruhigt und schämte sich nicht im ge ringsten, seinen Beifahrer in Angst und Schrecken versetzt zu haben. Sie würden nicht mit dem Opfer sprechen. Die Klei ne war zu Hause, um sich zu erholen, hatte ihre Mut ter gesagt, und außerdem war das nicht der Zweck des Besuchs. Bailey hatte sich ihre Aussage bereits angesehen; was er brauchte, waren Hintergrundin formationen. Etwas, das aus dem Mädchen mehr als nur eine Silhouette und einen Namen auf dem Papier 76
machte. Etwas, das ihm die Vorurteile nehmen könn te, die er gegen sie hatte. Die Eltern gehörten nicht zu den Leuten, die viel Re spekt vor der Polizei haben. Sie waren um die fünf zig, alt genug also, um »Dixon of Dock Green« im Fernsehen gesehen und dann dreißig Jahre in der Zeitung über die Zerstörung dieses onkelhaften Images gelesen zu haben. Mr. Pelmore war zweimal wegen Geschwindigkeitsübertretung festgenommen worden und Mrs. Pelmore einmal in die Fänge eines übereifrigen Kaufhausdetektivs geraten – beide also Experten, was das Gesetz anging. Sie verstanden sich als ehrbare und hart arbeitende Bürger, die nun zur Zielscheibe unnötiger Schikane wurden. Ihre Tochter Shelley war eines von drei Kindern. Bailey sah sich um und konnte verstehen, warum das Mädchen die elterliche Wohnung verlassen hatte, wenn auch nur, um weniger als zwei Meilen entfernt zu ihrem Freund zu ziehen. »Sie ist ein braves Kind«, erklärte die Mutter, als hät te jemand das Gegenteil behauptet. »Sehr lieb. Und ausgeglichen.« Väter und Mütter sprachen immer nur gut über ihre Kinder. In all seinen Dienstjahren war Bailey niemals Eltern begegnet, die damit geprahlt hätten, daß ihre Kinder mißraten waren. Der Vater schwieg. Beide hatten trotzig ihre abgewohnten haferschleimgelb bezogenen Sessel im Wohnzimmer mit den ungemüt lichen Armlehnen aus Holz okkupiert; die Beamten wurden auf zwei Stühle verwiesen, die ihnen gegen über standen, vielleicht um deutlich zu machen, daß das Gespräch nur mit stillschweigender Duldung stattfand. Tee wurde ihnen nicht angeboten. Der 77
Raum war der Gipfel zeitgenössischen Trübsinns: dunkelblauer Teppich, blaue, gemusterte Vorhänge, hellblaue Tapete mit breiten Rändern unter der Dek ke, dazu orangegelbe Holzmöbel. In den Regalen standen keine Bücher, sondern Porzellanfiguren von Damen in Reifröcken, Schäfern und Schäferinnen, Hunden, Katzen und Pferden, die angesichts einer großen, lauten Uhr an der gegenüberliegenden Wand in stille Kontemplation versunken waren. Alles war deprimierend ordentlich. Bailey erinnerte sich, daß Helen vor einiger Zeit seine Wohnung mit ähnlichen Worten beschrieben hatte, aber das war etwas anderes. Bei ihm vereinigten sich die unterschiedlichsten Elemente zu einem Ganzen. Und noch ein Gedanke flog ihm durch den Kopf, während die Worte an ihm abglitten und er einen Ausdruck von Verzückung und stiller Konzentration auf sein Gesicht zauberte. Würden Helen und er ei nes Tages auch in solchen Sesseln sitzen? Der Ge danke ließ ihn erschauern. Er wollte nie zuviel erwar ten. Weder im Hinblick auf Gefühle noch überhaupt. »Ja«, mischte sich schließlich der Vater ein. »Ein sehr gutes Mädchen. Hat immer gearbeitet, Shell. Ist uns nie zur Last gefallen.« Bailey konnte nicht anders. Er beugte sich vor und stützte die Arme auf die Knie. Seine Beine waren zu lang für das kleine Zimmer. Todd warf ihm einen Blick zu und fand, daß sein Gesicht aussah wie ein Beil. »Was genau meinen Sie mit gut? Meinen Sie gut in der Schule, oder gut, weil sie Blinden über die Straße hilft, gut zu Tieren, oder weil sie sich nicht mit Jungs rumtreibt?« Er sprach versonnen, mit der Liebens 78
würdigkeit einer Kobra, und kratzte sich am Kopf, wie um zu zeigen, daß er ernsthaft verwirrt war. Vater wie Mutter rümpften die Nase, die Mutter sprach als erste. »Ich meine ein gutes Mädchen, nicht mehr und nicht weniger. Nicht eine von diesen ar beitslosen Schlampen! Und sie lebt bei einem an ständigen Kerl. Sie sind zusammen, seit sie sechzehn ist. Sie arbeitet hart, und er auch. Elektriker, macht Schichtdienst. Sie haben eine Hypothek auf die Woh nung genommen, wollen heiraten.« Letzteres spuckte sie mit einem triumphierenden Unterton aus. »Sie hatte was für Tiere übrig«, fügte der Vater hin zu, als sei ihm das gerade erst eingefallen. »Zumin dest als Kind.« Plötzlich sprang die Mutter auf und kam mit einem Fotoalbum wieder. Sie warf es Bailey auf den Schoß und zog sich, die Arme vor der Brust verschränkt, wieder in ihren Sessel zurück. Todd witterte seine Chance und musterte das träge Gesicht des Vaters. »Was für Tiere?« »Wie bitte?« »Sie mochte Tiere nicht wirklich«, fuhr die Mutter rasch dazwischen, emsig darauf bedacht, alles zu vermeiden, was einen unhygienischen Eindruck er wecken konnte. »Nur kleine Mäuse und so.« Bailey hatte Mühe, nicht laut loszulachen. Am lieb sten hätte er geschrien. Er blätterte in dem Album und sah sich Shelley als herausstaffiertes Baby an, das von seiner Mutter wie eine Trophäe hochgehalten wurde; Shelley, ernst und mit Söckchen in der Schu le; Shelley mit ihren Freunden und Cousinen an ih rem dreizehnten Geburtstag, ein hübsches Kind, das sich weigerte, in die Kamera zu lächeln. Zum Glück 79
war das Zeitalter der Videokamera noch nicht ange brochen gewesen, dachte er erleichtert, mit der diese Eltern, seiner voreingenommenen Meinung nach, den durchtriebenen Ausdruck ihres Kindes in bewegten Bildern hätten einfangen können. »Mochte keine Tiere!« Als er ans Ende des Albums kam, wo Shelley etwa fünfzehn war und die zeitlichen Abstände zwi schen den Aufnahmen größer wurden, klappte Bailey es zu und legte es zurück auf Mrs. P.’s Schoß. Sie hatte den Eindruck, als käme ein riesiges bleiches Gespenst auf sie zu und zöge sich dann wieder zu rück. Sie zuckte leicht zusammen und blinzelte. Als sie die Augen wieder öffnete, saß er genauso da wie vorher, diesmal mit übereinandergeschlagenen Beinen. »Wann wollte sie noch heiraten?« fragte Todd wie ein seriöser Bankkaufmann. Es fehlte nicht viel, und er hätte die Hand hinters Ohr gelegt. »Was heißt hier wollte? Sie wird es immer noch tun. Irgendwann nächsten Monat. Sie ist doch nicht tot, oder?« Ah, sie log, sie log. Alle Mütter wissen, wann ihre Töchter heiraten werden. Oder etwa nicht? Bailey wollte selbst heiraten, irgendwann nächsten Monat. Wenn das Wetter es zuließ, wann auch immer. Der Monat stand fest, das genaue Datum noch nicht; das Standesamt würde reichen. Alles war bewußt so vage wie möglich gehalten; Gott stehe ihnen bei. Im Som mer, hatte Helen gesagt, über alles Weitere sprechen wir zwei Wochen vor der Hochzeit. In der unterkühl ten Atmosphäre des Raumes wurde ihm plötzlich be wußt, warum sie sich beide so schwer taten. Für diese Mutter schien die Hochzeit ihrer Tochter so was wie der erste Preis in einem Wettbewerb zu sein. 80
»Er ist ein netter Kerl, ihr Verlobter«, erklärte Mrs. Pelmore stolz. »Wirklich nett. Er hat Anzeige erstattet. Und als die Polizei weg war, hat er mich angerufen. Er ist gut zu ihr. Zuverlässig.« »Wußten Sie, daß sie schon mal mit der Polizei zu tun hatte?« fragte Todd. »Sie hatte noch nie Ärger mit der Polizei«, schnitt ihm der Vater das Wort ab. »Ja, ich weiß«, entgegnete Todd gelassen. »Aber vor kurzem ging sie einmal mit einer Freundin aus, die später auf dem Heimweg einen Unfall hatte. Shelley hat als Zeugin ausgesagt. Wir glauben, daß sie bei der Gelegenheit Mr. Ryan kennengelernt hat.« Mrs. Pelmore wirkte verdutzt. »Wie oft sehen Sie Shelley?« fragte Bailey. Nervöses Schweigen breitete sich aus. Die Mutter öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch dann schwieg sie. Der Vater richtete sich auf, die Ellbo genknochen knirschten auf den unbequemen Arm lehnen. Die Mutter hob warnend die Hand, doch er übersah die Geste. »Sie läßt sich so gut wie nie bei uns blicken«, sagte er ausdruckslos. »Jedenfalls nicht, wenn sie es vermei den kann. Aber ihr Verlobter kommt. Er kommt her, um uns zu besuchen. So wissen wir, wie es ihr geht.« »Ich weiß, was Vergewaltigung heißt«, erklärte Anna Stirland. »Ich meine nicht im rechtlichen Sinn, ich meine Vergewaltigung als solche. Ich arbeite mit Frauen, verstehen Sie? Es ist auch Vergewaltigung, wenn man ein Kind bekommen soll, das man nie ge wollt hat, von einem Mann, den man nicht liebt. Ich kenne nicht viele Männer, obwohl es in meiner Um 81
gebung viele gibt. Die Männer scheinen mich zu mö gen, aber ich falle ihnen nicht auf. Ich bin für sie so was wie ein guter Kumpel; eines Tages werden sie mir das noch auf den Grabstein meißeln. Und um ehrlich zu sein, ich suche auch nicht großartig, was soll eine Tonne wie ich schon groß rumflirten? Aber wenn ich mir die kleinen Dinger ansehe, weiß ich, wie ich mir mein Leben vorstellen könnte: Ich hätte gerne einen Haushalt mit einem netten Mann und ein paar Kindern. Vor allem Kinder. Aber mittlerweile bin ich über dreißig, und die Chancen werden immer kleiner. Außerdem mag ich Männer nicht so sehr, daß ich es um jeden Preis probieren würde. Dann traf ich John. Das ist nicht sein richtiger Name. Den werde ich Ihnen nicht verraten.« »Warum nicht?« »Sie werden es verstehen. Außerdem sollten Sie mich nicht unterbrechen, solange ich Ihnen alles erzähle.« »Tut mir leid.« »Er arbeitete im selben Krankenhaus wie ich. Wir verstanden uns gut. Ich sah mir seine Hände an und dachte, mein Gott, du bist der schönste Mann, den die Natur je geschaffen hat. Er war so menschlich und auch verletzlich, das gefällt mir an Männern. Nicht gerade das, was man sonst in einer Aussage von sich gibt, was? Immer wenn ich in seine Nähe kam, drehte ich durch und wunderte mich, daß die anderen nichts bemerkten. Also sagte ich mir, daß auch er nichts merkte. Wir Kumpel können uns be herrschen, wissen Sie? Ja, wahrscheinlich wissen Sie das. Trotzdem hätte jedem auffallen müssen, daß ich geradezu strahlte, wenn er da war, ich wurde zu einer richtigen Partylöwin, witzig und ansteckend. Wahr 82
scheinlich ist es so, wenn man sich verliebt. Diesen Ausdruck habe ich übrigens schon immer gehaßt. Ich fand, es wäre viel besser, wenn man sich zuerst be freundet, und die Liebe, oder wie man es nennen will, ganz langsam wachsen kann, wie eine Pflanze. Aber das Verlangen hält sich nicht daran, nicht wahr? Es ist ein verdammter Schmerz. Es hat nichts mit Zustimmung, gegenseitigem Gefühl und Wert schätzung zu tun, gar nichts. Es ist ein gräßlicher Vi rus, gegen den kein Kraut gewachsen ist.« Sie trank ihren Wein in einem Zug aus. Helen saß mit dem Notizblock in der Hand da und versuchte, so anonym wie ein Stenograf bei einer Aufsichtsrats sitzung zu sein. »Und ich habe geglaubt, daß wir Freunde wären. Er hat eine ganz bestimmte Art zu lächeln, die er nur mir vorbehielt. Er schien nur mich zu sehen, auch wenn alle Frauen im Raum ihm schöne Augen machten und sich liebend gern auf ihn gestürzt hätten. Also ließ ich die Hoffnung in mir keimen. Vielleicht wür de er mich eines Tages zu einem Drink einladen? Oder zum Abendessen? Bloß eins stand fest, ich würde nicht den ersten Schritt tun. Ich hatte viel zu viel Schiß, einen Korb zu kriegen. Ich habe fast dar um gebetet, daß er mich ansprach. Es ist immer bes ser, eine Hoffnung zu nähren, als alles aufs Spiel zu setzen und eine Abfuhr zu riskieren, finden Sie nicht? Jedenfalls, wenn man so aussieht wie ich, dann ist es so. Soweit kann ich mich beherrschen.« Helen bemerkte, daß Anna tadellos gepflegte Fin gernägel hatte. Auf beiden Handgelenken jedoch wa ren Farbflecken zu sehen. Anna zog die langen Ärmel des Kaftans, den sie trug, 83
über die Hände, als wollte sie die Flecken verbergen. »Aber es kam nicht so, wie ich es mir erhofft hatte, nicht mal nach Monaten, und dann wurde er ver setzt. Er war ein Karrieretyp, verstehen Sie? Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, ihn nie mehr wiederzusehen. Und so sagte ich eines Tages, völlig gegen meine Art, warum kommst du nicht mal zum Abendessen, bevor du gehst? Er sagte, er hätte nicht soviel Zeit, aber er würde auf einen Drink vorbei kommen. Damit mußte ich mich begnügen. Mußte? Ich war überglücklich. Alles war mir recht, denn ich himmelte ihn an.« Helen stieg eine Wolke Blumenduft aus dem Garten in die Nase. Es mußte schön sein, hier an diesem Tisch zu essen, wenn die Türen geöffnet waren wie jetzt, und auf das Meer von Blumen draußen zu sehen. »Also hab ich auf ihn gewartet. Natürlich wartet man immer irgendwie, wenn auch nicht die ganze Zeit. Schließlich tauchte er eines Abends auf, wie üblich in einem Moment, als ich am wenigsten damit rechnete. Es war während der Hitzewelle vor ein paar Wochen. Die Nacht war unglaublich schwül. Mitternacht, ei gentlich zu spät für einen beiläufigen Besuch. Ich sah furchtbar aus, was mich noch konfuser machte. Ich war gerade im Wohnzimmer« – sie nickte mit dem Kopf in Richtung des anderen Zimmers, in das Helen zuvor nur einen flüchtigen Blick geworfen hatte – »beim Bügeln und versuchte auf die Schnelle, es et was gemütlicher zu machen. Ich wollte uns einen Drink holen, aber es ist nicht leicht, ungezwungen und gleichzeitig attraktiv zu sein, wenn man in einem langen T-Shirt dasteht. Ich war so nervös, daß ich das Eis vergessen habe. Er hat’s dann geholt.« Sie trank. 84
»Ich hab also die Drinks auf den Tisch gestellt: Gin und Tonic – das Wichtigste zuerst. Dann hab ich ir gendwas gesagt, um die Stimmung zu lockern, und mich umgedreht. Ich stand mit dem Rücken zu ihm und wollte gerade das Bügeleisen aus dem Stecker ziehen und das Brett zusammenklappen. Sie sollten aus dem Blickfeld verschwinden. Ich wollte … ich wollte ihm zeigen, wie schön das Zimmer ist. Er soll te mich dafür bewundern. Schrecklich, nicht?« »Nein«, antwortete Helen. »Finde ich nicht.« »Und dann hat er sich auf mich gestürzt. Ohne Vor warnung, einfach so. Zuerst habe ich geglaubt, daß er bloß Spaß macht, daß er mich von hinten umarmt, und ich wollte das nicht. Ich wollte keine bloße Fummelei, bei Gott nicht. Die kann sogar eine wie ich kriegen, wenn es nicht mehr ist. Ich wollte zärtli che Worte, Bewunderung, Unsicherheit, wenigstens am Anfang. Ich wollte, daß er sich für mich interes sierte … was weiß ich. Jedenfalls wollte ich nicht, daß er meine nackten Knie sah.« Ihre Stimme erstarb. Helen fragte sich, ob es wohl erlaubt war, sich eine Zi garette anzuzünden, und entschied sich dann dagegen. »Oh, Sie können ruhig rauchen, wenn Sie wollen. Ich glaube, ich werde mir auch eine genehmigen. Wenn Sie wüßten, wie viele Krankenschwestern rauchen! Ärzte übrigens auch.« »War er Arzt?« »Hab ich das gesagt?« entgegnete Anna scharf. »Nein, hab ich nicht … Natürlich war er kein Arzt, wie könnte er? Eine Art Techniker.« Mit zittriger Hand nahm sie eine Zigarette. »Ich fiel auf das Bügeleisen. Das heißt, er schubste mich dagegen, und dann fiel es runter. Ich weiß nicht, 85
ob er das absichtlich getan hat, aber er muß gewußt haben, daß es weh tat, weil ich geschrien habe. Ich hatte mir den Arm verbrannt.« Sie zog ihren Ärmel hoch. Man sah den dreieckigen, noch frischen Brandabdruck eines Bügeleisens. »Das Bügelbrett fiel zu Boden. Ich auch, glaube ich; auf den Bauch, gegen das heiße Eisen. Ich lag darauf und habe geschrien, anscheinend drückte er mich dagegen. Ich glaube, da erst ist mir klar geworden, daß er mir was antun wollte. Ich versuchte dagegen anzukämpfen, aber ich war auch irgendwie gelähmt. Ich konnte mich nur darauf konzentrieren, wie stark der Schmerz war. Und ehe ich mich versah, hat er mir das T-Shirt über das Gesicht gezogen und mich umgedreht. Ich lag auf dem Rücken und konnte nichts sehen. Ich fing an zu weinen, glaube ich. Ich dachte, er wollte mich vergewaltigen, mich töten, was weiß ich. Ich war völlig paralysiert. Er hielt mich an den Armen fest, aber das war gar nicht nötig. Selbst als er sich dann bewegte und ich so was wie das Ra scheln von Papier hörte, habe ich mich nicht gerührt. Dann habe ich dieses Ding zwischen den Beinen ge spürt. Ich glaube, ich hatte unbewußt bereits die Entscheidung getroffen, mich nicht zu wehren. Er rammte mir irgend etwas rein. Ich wäre beinahe ohnmächtig geworden.« Die Asche ihrer Zigarette fiel auf den sauberen Tisch. Helen wischte sie weg. Sie brannte leicht auf der Handfläche. »Ich weiß auch nicht, warum, aber ich mußte an eine sechziger Spritze denken.« Annas Stimme war nur noch ein Murmeln, als redete sie mit sich selbst. »Man benutzt sie für Blasenspülungen … oder andere 86
Klempnerarbeiten. Sie sehen aus wie ein Phallus und sind kalt …« Ihre Stimme verhärtete sich. »Ich hatte das Gefühl, gevögelt zu werden. Mir war kalt, eiskalt. Mein ganzer Unterleib verkrampfte sich, ich kämpfte mit dem T-Shirt und versuchte, das Gesicht freizu kriegen. Das Vögeln hörte auf. Ich kann es nicht an ders nennen als Vögeln. Jedenfalls war es keine Lie be. Ich habe mich irgendwie aufgerichtet und das TShirt abgestreift, und da war er. Er saß im Sessel und hat gelacht. Ich war splitternackt, während er wie immer tadellos angezogen und mit über einandergeschlagenen Beinen dasaß. Er hatte was üb rig für lässige Eleganz. Ein helles Baumwolljackett, elegante Hose im Leinenlook, ein hübscher Gürtel.« »Angezogen?« murmelte Helen ungläubig. Anna streckte beide Arme aus dem Kaftan. Die Farbe stand ihr. Die Brandwunden waren fast symmetrisch. »So wie ich, könnte man sagen. Ich trug drei große Brandwunden. Mir war eiskalt. Und er? Er trank sei nen Gin Tonic aus, küßte mich auf die Stirn und sag te, so, mein Schatz, das war es doch, was du wolltest, oder? Und dann ist er gegangen. Er war … mit sich selbst zufrieden. Als ob er mir einen Gefallen getan hätte. Im Kühlschrank ist noch Wein«, sagte sie. »Könnten Sie ihn holen?« Der Kühlschrank war leer, abgesehen von der Fla sche. Er sah ganz neu aus und roch nach Putzmittel. »Ist es nicht komisch, daß ich Wein darin aufbewah ren kann, aber nichts zu essen?« sagte Anna im Plau derton. »Es ist seine Schuld.« Helen behielt ihre Gedanken für sich. Offensichtlich hatte die Frau einen Knacks abbekommen. Das machte alles keinen Sinn. 87
»Noch ehe ich mich aufrappeln konnte, hatte er die Tür hinter sich zugeknallt«, fuhr Anna fort. »Ich blieb wie angewurzelt stehen und hörte nur noch sei ne Schritte auf der Straße. Dann habe ich auf meine Beine gesehen und hatte das Gefühl, daß ich blutete. Irgendwas Rotes tropfte aus mir heraus und auf den Teppich. Ich stand auf, und es tropfte stärker. Ich dachte an eine Verletzung. Was hatte er getan? Hatte er ein Messer benutzt? Hatte ich keine Schmerzen gespürt, nur Kälte, weil der Schmerz von den Brandwunden viel stärker war? Hoffentlich verblute ich jetzt, sagte ich mir, aber ich wußte schon, daß es kein Blut war.« Anna fing an zu lachen. »Es war ein Eis am Stil. Eins von den billigen Dingern, die die Kids so gern mögen. Sie sehen aus wie Eiszapfen. Schreckliches Zeug, aber ich habe immer welche im Kühlschrank für die Nach barkinder. Sehr komisch, was? Zumindest für ihn. Zuerst macht er mich heiß, und dann kühlt er mich auf diese Art ab … das ist schon komisch, oder?« »Nein, ist es nicht.« »Versprechen Sie mir, daß es nicht komisch ist … Als ich mich auf die Bettkante setzte, sickerte ge schmolzenes Himbeereis aus mir heraus. Sagen Sie mir, Sie als Anwältin, war das bloß ein Scherz oder war das eine Vergewaltigung?« Helen räusperte sich und griff gleichzeitig nach dem Wein und der Zigarettenschachtel. »Nein. Laut Ge setz war das keine Vergewaltigung.« Anna fing leise zu lachen an. Es war ein bitteres und trostloses Lachen. »Nein«, sagte sie. »Wahrscheinlich nicht. Nicht mal dazu bin ich gut genug.« 88
4 »Wenn es bei einem Verfahren wegen Vergewaltigung um den Beweis des Beischlafs geht (sei er natürlicher oder unnatürlicher Art), so ist es nicht notwendig, den Vollzug desselben anhand eines Samenergusses zu be weisen; er gilt bereits als vollzogen, wenn das Eindrin gen des männlichen Gliedes in das weibliche Ge schlechtsorgan bewiesen werden kann. Aufgrund alter Präzedenzfälle ist die kleinste Penetration ausrei chend … Diese Auslegung ist auch für die bestehende gesetzliche Regelung verbindlich.«
S
helley konnte sich noch daran erinnern, wie sie gestunken hatte, als sie in jener heißen Nacht nach der verhängnisvollen Begegnung mit Ryan nach Hause kam. Es war der Schweiß von Wut und Angst, vermischt mit dem Duft eines schweren Parfums. Am Jackett klebten Speichelspuren, die Tränen lösten die Wimperntusche auf und liefen ihr in kleinen braunen Rinnsalen über das Gesicht. Ihre Kleider waren zer rissen und schmutzig. Als Derek sie fand, hatte er sie nicht angerührt. Spä ter erklärte er, daß er im Fernsehen gesehen habe, wie wichtig es war, als verantwortungsvoller Zeuge keine Spuren zu verwischen. Zuerst hatte er die Müll tüte, die er bei sich hatte, abgestellt und war dann zum Telefon gelaufen. Sehr vernünftig, hatte ein Po lizeibeamter gesagt, doch Shelley würde ihm niemals verzeihen, daß er sie nicht in die Arme genommen hatte. 89
Ihr Leben bestand aus vorgestanzten Mustern und Plänen. Derek war wie ihre Mutter oder ihr Vater ständig auf der Hut vor irgendeiner unvorsehbaren, schrecklichen Gefahr, die jeden Moment über ihn hereinbrechen konnte. Derek Harrison beobachtete, wie Shelley Pelmore aufstand und die Vorhänge, die er soeben zugezogen hatte, wieder aufmachte, nicht ganz, weil sie ihm nicht widersprechen wollte, aber doch so weit, daß sie von ihrem haferschleimgelb bezogenen Ikeasessel aus die gegenüberliegende Straßenseite und den sich verdunkelnden Himmel beobachten konnte. Es war genau der gleiche Sessel wie die, die ihre Mutter be saß, erstklassige Qualität. Sie hatten zwei davon, statt Sitzkissen wie früher. Derek hatte sie mit dem Argu ment gekauft, daß es ziemlich unbequem war, sich auf den Kissen niederzulassen oder wieder aufzuste hen. Ihr machte das nicht die geringste Mühe, weil sie so gelenkig war; ihm schon. Mit demselben Ar gument hatte er auch ihre Doppelmatratze gegen ein richtiges Bett eingetauscht. Derek war ein geschickter Heimwerker, aber er hatte Shelley gern in der Nähe, wenn er arbeitete; er brauchte einen Helfer und je manden, der ihn bewunderte. Im übrigen war es sein Geld, das für die Neuanschaffungen draufging. Es macht mir wirklich nichts aus, Shelley, warum denn auch? beschwichtigte er sie jedesmal, wenn sie protestierte, weil schon wieder ein neues Stück Holz aufgetaucht war. Ich baue uns eine Zukunft. Eine aus Ziegeln und Mörtel gemauerte Zukunft, eine Zukunft voller Holzregale und Dreizimmerwohnun 90
gen, sauber vor ihr aufgereiht. Passendes Geschirr und eine Waschmaschine, damit sie ihre animalische Herkunft vergaßen. Fertig gekaufte, waschmaschi nenfeste Gardinen in Pastellfarben, um sich von den wilden Tieren im Dschungel zu unterscheiden. Shelley war zweiundzwanzig und arbeitete in einer Boutique im West End. Dort bekam sie ihre Kleider mit Rabatt, was Derek sehr entgegenkam. Er mochte es nicht, daß sie sich woanders teure Klamotten kauf te. Wenn sie es trotzdem tat, mußte sie die Sachen zusammenrollen und irgendwo in der Wohnung ver stecken. Ziegel um Ziegel baute Derek ihre gemeinsame Zu kunft auf. Sie merkte, wie die Mauern um sie wuch sen. Manchmal war das Gefängnis so tröstlich wie eine Gummizelle; manchmal wollte sie es dem Erd boden gleichmachen. Derek war so nett. Jeder moch te ihn. Sie hatte alles, was sie wollte. »Ich glaube, ich gehe morgen wieder arbeiten«, er klärte sie. Er kniete auf dem Boden und sah überrascht zu ihr auf. Vor ihm, auf einer doppelten Schicht Zeitungs papier, um den Teppich zu schonen, lagen fein säu berlich ausgebreitet die Einzelteile des Staubsaugers, den Derek gerade reparierte. »Nein, das würde ich nicht tun. Es ist noch viel zu früh, Schatz, nach allem, was du durchgemacht hast. Es sind nur ein paar Tage vergangen seit … Du mußt dich erholen.« »Zwei Tage. Ich habe mich genug erholt. Ich muß was tun. Dann wird’s mir viel besser gehen, bestimmt. Und wenn ich nicht zur Arbeit erscheine, wird die alte Hexe sich nach einer anderen umsehen …« Shel 91
ley hörte einen sich steigernden Unterton von Panik in ihrer Stimme, der schrill im Hintergrund erklang. »Sie können dich nicht ohne Grund entlassen, das wäre gegen das Gesetz«, sagte er wie ein Oberlehrer. »Ich kenne die Gesetze, aber die nützen nichts, wenn man erst einmal auf der Straße steht. Man kann viel leicht dagegen vorgehen, aber das dauert, oder man findet sich damit ab. Das wissen sie. Zwei, drei Tage kann ich mich höchstens krank schreiben lassen, ohne daß sie große Fragen stellt. Und diese Woche ist auch noch Ausverkauf.« Shelley machte die Arbeit gewöhnlich Spaß, sie war kaum anstrengend. Wenn sie nicht arbeiten ging, mußte sie wohl oder übel zu Hause bleiben und die Wohnung saubermachen oder den Teig für einen Apfelkuchen rühren. Derek machte sich am Staubsauger zu schaffen. Bei de schwiegen, man hörte nur, wie er mit dem Schraubenzieher gegen den Filter klopfte, um ihn vom Staub zu befreien. »Ich will bei der Arbeit nicht erzählen müssen, was … Ich will es einfach nicht, Derek.« »Natürlich nicht. Warum auch?« Er wischte seine Hände ab, ging auf sie zu und fuhr ihr nachsichtig über das Haar. Danach setzte er sich wieder hin und werkelte weiter an dem Filter herum. Das leise Klopfen regte sie auf. Sie wußte, daß er ihr mit seiner emsigen Betriebsamkeit keine Vorwürfe machte, daß sie das Gerät kaputt gemacht hatte, aber genauso fühlte es sich an. Aus dem flackernden Fern seher zwischen ihnen drang leises Stimmengemur mel. Dann erschien ein Polizist auf dem Bildschirm, und Shelley zuckte bei seinem Anblick zusammen. 92
Plötzlich zitterte sie am ganzen Leib. Sie zog die Beine auf den Sessel und umklammerte mit beiden Händen die Waden. »Was geht da vor, Derek? Was werden sie mit ihm machen?« Verwirrt sah er auf den Bildschirm. »Entschuldige, Liebes, ich habe nicht hingeschaut.« Sie hätte am liebsten losgeschrien. »Ich meine nicht den Typ im Kasten, ich meine diesen Bullen. Ryan.« Derek hielt in der Bewegung inne und schenkte ihr seine volle Aufmerksamkeit. Achtundvierzig Stunden hatte er sich rund um die Uhr um sie gekümmert. Er war ein Engel, ihr Derek, er tat alles für sie. »Sie werden ihn anklagen, verurteilen, einsperren und den Schlüssel wegwerfen, hoffe ich, nach allem, was er dir angetan hat. Aber sicher können wir nicht sein, Liebes. Wahrscheinlich werden sie alles vertu schen, weil er ein Bulle ist. Die halten zusammen, verstehst du?« »Ich will nicht aussagen«, erklärte sie mit zittriger Stimme. »Weißt du, wo er arbeitet? Er ist bei der Sit te. Deshalb mußte ich den weiten Weg zu einem an deren Polizeirevier gehen. Ich konnte nicht dahin, wo sie ihn alle kennen. Warum haben sie nicht ihn woanders hingebracht? Sie wollten mich nicht auf seinem Territorium haben. Ich will nicht aussagen. Es bringt sowieso nichts.« »Du darfst nicht zulassen, daß er damit durchkommt, Shell. Mach dir keine Sorgen. Ich werde bei dir sein. Jetzt und für immer.« Er war so ein guter Kerl, einen besseren würde sie nicht finden. Ihre Kolleginnen sagten das auch und warnten sie, ihn nicht aufs Spiel zu setzen. Sie konnte 93
ihn gelegentlich ein wenig abschütteln, aber sie durf te nicht das Risiko eingehen, ihn zu verlieren. Män ner wie Derek, die selbst schwer schufteten und nichts dagegen hatten, wenn sie allein ausging und spät nach Hause kam, waren rar gesät. Ein Mann, der sie genügend liebte, um ihr ihre Freiheit zu lassen. Sieh mal, Shell, sagte er, ich mag keine Clubs oder Discos, und außerdem habe ich immer Nachtschicht, also geh du ruhig und amüsiere dich. Ich will, daß du Spaß hast, solange du noch kannst. Wahrscheinlich verschwieg er ihr, daß er vorhatte, in ein paar Jahren mit ihr und einer Horde von Kindern aufs Land zu ziehen, weit weg von den Vergnügungen der Stadt. Aber vielleicht irrte sie sich auch. Er wollte, daß sie sich austobte, damit er ernten konnte, was andere ge sät hatten. So lange würde er auf einem Auge blind sein und sie mit dem anderen bewundern. Hauptsa che, sie blieb bei ihm. Sie sah auf die Welt draußen, lauschte dem Verkehr und fühlte, wie sich ihr Herz vor Angst verkrampfte. »Am besten bügele ich ein Kleid für morgen«, sagte sie und streckte die Beine aus. »Laß, ich mach das«, erklärte er. »Bleib nur sitzen. Willst du ein Glas heiße Milch, Schatz?« »Noch mal«, bat Helen, »nur damit ich alles richtig verstehe.« Bailey und sie hatten gerade ihr Abendessen zu bei derseitiger Zufriedenheit beendet. Er hatte Steak be stellt, sie Fisch, weil Fisch etwas war, das sie sich für die Gelegenheiten aufhob, an denen sie nicht selbst zu kochen brauchte. Was Fisch anging, war sie aber gläubisch. Sie hatte immer Angst, daß er ihr aus der 94
Einkaufstasche springen konnte, um in irgendeinem Gully zu verschwinden und zum Meer zurückzu schwimmen. Von den Ästen an der Decke hier im Casale hingen Lampen und verbreiteten eine Atmo sphäre, die an eine weihnachtlich geschmückte Scheune erinnerte. Der Fußboden war schief, die Stühle wackelten, und der Besitzer war alles andere als höflich. Aber das alles nahm man in Kauf, denn das Essen war unschlagbar. »Da gibt es nicht viel mehr zu erzählen. Mir wurde gesagt, Shelley Pelmore sei nervös gewesen, aber sie schien aufrichtig. Und sie soll sehr hübsch sein. Ich bin nie sicher, ob es für ein Verfahren von Vorteil ist, wenn das Opfer hübsch ist oder nicht. Kommt auf die Anklage an. Wenn es um Einwilligung geht, dann ist es besser, wenn das Opfer gut aussieht, weil die Geschworenen dann eher der Meinung sind, daß sie jedes Recht hatte, sich zu verweigern …« »So, so … gehe ich recht in der Annahme, daß du damit sagen willst, eine stinknormale Frau hat dieses Recht nicht?« »Helen … Ich sage nur, daß die Geschworenen da von ausgehen, daß ein hübsches Mädchen sich seine Partner leichter aussuchen kann. Sie wird mehr Män ner haben, zwischen denen sie wählen kann. Also wird sie auch selbstbewußter sein und Dinge, die sie nicht will, von vornherein ablehnen. Außerdem ist sie wahrscheinlich anspruchsvoller als andere. Ein hüb sches Mädchen hat mehr Macht, das ist alles. Letzt endlich muß sie schon sehr sexy sein, wenn sie nicht so besonders aussieht, damit man ihr glaubt.« Das war eine Folgerung, der Helen keineswegs fol gen wollte, aber sie schwieg. 95
»Wie auch immer, diese attraktive Frau, dieses Mäd chen, besser gesagt, befindet sich in einem Pub im West End, wo sie sich für gewöhnlich nach der Arbeit mit ihren Kolleginnen trifft. Sie kennt Ryan, das habe ich dir erzählt. Er weiß, wo sie wohnt, weil er schon mal bei ihr war, um ihre Aussage aufzunehmen …« »Wegen dieser anderen Vergewaltigung? Diesem Fall, der zu den Akten gelegt werden sollte, weil das Mädchen, von dem er dir erzählt hat, keine Angaben machen wollte …?« »Ja. Zufällig befindet sich Ryan im West End und läuft ihr über den Weg. Sie unterhalten sich im Pub. Sie hat ausgesagt, daß er ihr anfangs gefiel, weil er sie zum Lachen brachte. Er bietet ihr an, sie nach Hause zu fahren, aber sie gehen in einen anderen Pub in der Nähe ihrer Wohnung, angeblich, um sich über ihre Freundin zu unterhalten. Ryan, der anson sten schweigt wie ein Grab, sagt, sie wollte nicht nach Hause, sondern in diesem Pub um die Ecke von St. Pancras auf eine Freundin warten, also hat er sie da abgesetzt. Das war’s. Das ist alles, was wir über die Begegnung mit Miss Pelmore wissen: Er hat sie hingefahren, zwei Bier mit ihr getrunken und ist dann gegangen, weil sie mit jemand anderem verab redet war. Shelley dagegen sagt, sie wären wieder in den Wagen gestiegen; er wollte sie nach Hause brin gen. Doch auf halbem Weg hält Ryan in der Nähe des Parks an und macht … Annäherungsversuche. Sie lacht ihn aus; er verliert die Beherrschung, geht um den Wagen herum, macht die Tür auf und sagt, daß sie zu Fuß nach Hause gehen kann. Sie steigt aus, nicht besonders besorgt, aber doch schockiert, da sie das von einem Polizisten nicht erwartet hätte. 96
Dann schleift er sie ins Gebüsch und sagt, sie hätte es so gewollt. Sie wehrt sich anfangs, doch dann tut es weh, und das war’s. Er fummelt an ihr rum, reißt ihr das Höschen runter, zieht ein Kondom über und dringt in sie ein, kann aber nicht kommen. Schließ lich ohrfeigt er sie und geht zum Wagen. Er fährt da von, und sie stolpert nach Hause.« »Wo ihr Musterfreund sie auf der Treppe findet. Mit Ryans verschmiertem Jackett an. Wie erklärt er die Sache mit dem Jackett?« »Gar nicht. Er sagt nichts. Nicht mal, wie das andere Kondom in seine Jackentasche kam. Ein Mann mit Verantwortungsgefühl.« »Hat man ihre Spuren im Wagen gefunden?« »Ein bißchen Stroh von einer Strohtasche, die sie auf den Rücksitz gelegt hatte. Man kann daraus nichts folgern, da sie ohnehin im Wagen gewesen war. Klei ne Stoffreste unter den Fingernägeln, die von seiner Jacke stammen. Und Erde. Außerdem hatte sie Krat zer … und Prellungen.« »Ihre Freundin hatte auch Kratzer. Die andere, von der du mir erzählt hast.« »Ja, aber die einzigen Hautspuren, die wir unter den Fingernägeln ihrer Freundin fanden, stammten von ihr selbst. Shelley hatte Erde vom Park unter den Fingernägeln. Möglich, daß auch unter Ryans Fin gernägeln Hautfetzen gewesen waren, aber wir haben keine gefunden, ganz einfach, weil er sie kurz zuvor abgekaut hatte. Was meinst du? So einen Fall kann man doch nicht abschmettern.« »Nein. Aber ich bin heilfroh, daß er nicht auf meinen Schreibtisch landen wird.« »Was für eine himmelschreiende Schande. Gottver 97
dammich, ich kann es immer noch nicht fassen.« Es sah aus, als wollte Bailey mit der Faust auf den Tisch schlagen, doch wurde dieser Impuls von der Ankunft des Kaffees verhindert. Gedankenverloren knabber ten sie ihre Kekse. »Sollen wir nicht über etwas anderes reden? Über Heiraten zum Beispiel? Geburten, Ehen oder Tod?« schlug Helen vor. Früher hatte sie immer geglaubt, es sei eine Art Flucht, wenn er plötzlich das Thema wechselte. Jetzt wußte sie, daß es nur eine Angewohn heit war, das Symptom eines reizüberfluteten Bewußt seins mit vielen, leicht zugänglichen Schubladen. »Zuerst übers Heiraten. Ich dachte an Ende dieses Monats. Morgen in zwei Wochen. Wir haben immer gesagt, wir nehmen uns frei dafür, irgendwann in der Wochenmitte. Dann bleibt nicht viel Zeit zum Nach denken. Also schreib es dir in deinen Terminkalen der. Feiern können wir später. Um alle nachträglichen Grübeleien zu zerstreuen.« »Das wäre ein paar Tage vor Rose. Na gut. Aber ich traue mich nicht, es ihr zu sagen.« Sie zögerte. »Ich glaubte, du würdest es lieber verschieben, bis die Sa che mit Ryan geklärt ist.« »Nein. Wenn das Leben schon negativ ist, will ich wenigstens was Positives tun.« Helen nickte. So war es also beschlossene Sache. Ihre Hochzeit würde spontan, exzentrisch und unter Aus schluß der Öffentlichkeit stattfinden. Plötzlich grinste er, beugte sich über den Tisch und küßte sie. »Ihr entschlossener Ehemann steht vor Ih nen, Miss West. Und laß dir ja nicht einfallen, doch noch den Namen ändern zu wollen. Ich mag ihn so, wie er ist. Wir könnten wie zwei Charaktere von Jane 98
Austen sein. Die Eheleute, die sich mit Mrs. Smith und Mr. Smith ansprechen. Niemals Helen und Geoffrey, das wäre zu vertraut. Du wirst Miss West sein, sogar am frühen Morgen, und ich Mr. Bailey.« »Erwarte bloß nicht, daß ich dich Sir nenne.« Helen lachte, um von dem unguten Gefühl abzulenken, das sie überkam, sobald sie an das bevorstehende Ereig nis dachte. Es war ein Gedanke, der jeden Tag ir gendwann auftauchte, den sie aber schnell wieder in einer der vielen geheimen Schubladen ihres Bewußt seins verschwinden ließ. »Gib dir einen Ruck. Ich kümmere mich um alles andere. Sieh es wie einen Termin beim Arzt. Dann wirst du keine Zeit haben, deine Flucht zu planen.« Er grinste erneut. Das Lächeln hatte sich ihr einge prägt. Es ließ sein zerfurchtes Gesicht aufleuchten und verlieh ihm das Aussehen einer Landkarte. Das Alter war ihm nicht immer wohlgesinnt: Manchmal sah er aus wie eine Leiche; aber seine Augen strahl ten fast immer. Er wußte um ihre Unentschlossen heit, was ihre Hochzeit anging, und akzeptierte sie. Er drängte sie nicht, sondern folgte lediglich ihrer gemeinsamen Auffassung, daß Heiraten das Beste war, was sie tun konnten. Weiß Gott, was aus uns wird, wenn wir es nicht tun. Eines Tages wirst du ein vornehmer alter Herr sein, dachte Helen. Wie gut, wie verdammt gut du mich doch kennst. Ich glaube wirklich nicht, daß ich dich verdient habe. Ryan liebte die City leidenschaftlich. Er wäre lieber Constable in der City of London geworden als Detec tive bei der Metropolitan, hätte es nicht die Familien 99
tradition gegeben und, was ausschlaggebender war, die Sache mit seiner Größe. Um in der City einge setzt zu werden, mußte man mindestens eins fünf undachtzig groß sein. Manche Beamte wirkten wie Riesen mit ihren Helmen. Er kam höchstens auf eins fünfundsechzig in Socken. Als Junge hatte er ver sucht, sich zu strecken; er hängte sich mit den Armen an die Schranktür, die Füße unter dem Bett verhakt, und harrte so lange aus, bis es weh tat. Im nachhinein vermutete er, daß diese Übung seinem Wachstum eher geschadet als gutgetan hatte. Man hätte mich daran hindern sollen, sagte er sich; man hätte mich an vielem hindern sollen. Dutzende von Angeklagten hatten ihm dasselbe erzählt. Es war kurz vor Anbruch der Dämmerung, sechs Uhr morgens. Ein malvenfarbener Himmel wölbte sich über der Stille. Die City hauchte die Nacht aus und atmete den Beginn eines neuen Tages ein. Noch war es zu früh für die hektischen Ameisenscharen. Von der Underground-Station St. Paul’s strömten Putzkolon nen und Händler in große und noch größere Gebäu de aus. Die Treppenstufen der Kathedrale waren menschenleer; Touristen schliefen um diese Zeit noch. Ryan fühlte sich frei, er hatte den Wagen unter Kon trolle, es gab keinen behindernden Verkehr, er war Herr seines Schicksals. Das Leben wäre vermutlich anders verlaufen, wenn er im Herzen des Finanzzen trums Dienst gehabt hätte, wo es um Wirtschaftskri minalität ging und die Verbrechen auf Papier began gen wurden, die Pubs schon um sieben Uhr schlossen und die Gegend sich in ein vornehmes Niemandsland verwandelte, das nur von Sicherheitsbeamten bewohnt wurde. Die Verlockungen waren einfach geringer. 100
Er fuhr am Central Criminal Court vorbei, über die Kreuzung und bog bei St. Bartholomew in den Square ein. Der Kontrast ließ sein Herz schneller schlagen; herrliche Gebäude, die Kirche, das alte Krankenhaus und das Gedränge auf dem Fleisch markt, wo es schon seit einer Stunde proppenvoll war. Wenn alles schiefging, würde er vielleicht als Träger arbeiten und Rinder- oder Schweinehälften schleppen können, aber Marktträger gehörten der Gewerkschaft an, auch wenn hier die Körpergröße keine Rolle spielte. Schade, er arbeitete gern in der Frühschicht. Ryan hielt an, um sich einen Kaffee zu holen. Er schlürfte den Schaum ab, setzte den Deckel wieder auf den Pappbecher und stellte ihn vorsichtig auf den Beifahrersitz. Der malvenfarbene Himmel verblaßte allmählich. Er fuhr in östlicher Richtung. »Was hast du mit deinem Jackett gemacht?« hatte seine Frau hartnäckig gefragt. »Wie hast du es verlo ren?« Dann hatte sie versucht, einen Witz zu machen. »Ich weiß nicht, du läßt zu, daß eins deiner besten Jacketts einfach beschlagnahmt wird? Es wäre besser gewesen, du hättest es in einen Secondhandshop ge bracht. Ich verstehe dich nicht, wirklich nicht.« Ryan spürte, daß sie versuchte, tapfer zu sein, und auch, daß er mit seiner Geschichte, er habe das Jak kett liegenlassen, alles nur noch schlimmer gemacht hatte. Er war immer ziemlich penibel mit seinen Klamotten gewesen, wenn auch freigebig. Hätte er behauptet, es verschenkt zu haben, wären die Chan cen größer gewesen, daß sie es ihm abgenommen hät te. Und sollte sie seine Geschichte anzweifeln, so strengte sie sich offensichtlich trotzdem an, es nicht 101
zu zeigen, obwohl das Mißtrauen ihre Maske durch drang wie Honig eine Wabe. An diesem schönen Morgen brauchte er kein Jackett. Jeans, Turnschuhe, ein Sweatshirt und ein zwei Tage alter Stoppelbart. Wie in den alten Tagen mit Bailey, als sie frühmorgens ausschwärmten, ausstaffiert wie der kleine Gauner, den sie gerade suchten, und hoff ten, den Kerl noch im Bett zu erwischen. Ryan ver suchte sich daran zu erinnern, wie oft er sich bei einer Razzia im Haus geirrt hatte, weil er, viel zu aufgeregt und voller Tatendrang, den richterlichen Hausdurch suchungsbefehl nicht richtig gelesen hatte. Als er daran dachte, wie Bailey immer wieder aufgebrachte Bürger mit seinem Charme hatte beschwichtigen müssen, um seinen Kopf zu retten, lief es ihm kalt über den Rücken. Wurde das frühere Verhalten des Angeklagten als Beweis zugelassen? fragte sich Ryan. Würden ihm all die Flirts aus der Vergangenheit zur Last gelegt werden? Die sexuelle Vergangenheit der weiblichen Beteiligten galt nicht als Beweismittel, aber würde man ihm diese Daumenschrauben anle gen können? Im Moment beschränkte sich Baileys Hilfe auf sein intensives Training in Selbstdisziplin, von dem er das meiste ignoriert hatte. Ich habe dich geliebt, du Idiot. Ryan kam zu dem Pub, wo er in der fraglichen Nacht Shelley Pelmore wiedergetroffen hatte. Die Tür war mit Eisengittern verschlossen, davor lag ein Haufen Müllsäcke. Nur die Pubs in Smithfield hatten um diese Zeit auf. Ein weiterer Grund für die Anzie hungskraft der City. Er blieb mit laufendem Motor stehen. Es war ein Kleinstwagen in seinen Augen, 102
aber gut genug für seine Frau, die nur kurze Strecken damit fuhr. Sein eigener Wagen befand sich genau wie das Jackett noch in Polizeigewahrsam. Ryan un terdrückte ein Seufzen, als er daran dachte, wie stolz er auf den neuen Schlitten gewesen war. Hätte er ihr angeboten, sie nach Hause zu fahren, wenn er noch die alte Schrottkiste gehabt hätte? Wahrscheinlich nicht. Er wollte, daß sie ihn bewunderte und respek tierte. Er war und blieb ein Angeber, und eine Karre wie diese hätte sie keines Blickes gewürdigt. Er fuhr weiter, dieselbe Strecke, die er in jener Nacht zu dem anderen Pub gefahren war. Dabei fiel ihm etwas ein. Sein Wagen war so neu gewesen, daß die Fußabtreter vorn noch mit einem Papier bedeckt wa ren. Das Mädchen hatte eine Bemerkung darüber gemacht und das Papier mit den Absätzen zerrissen, als sie eingestiegen war. Aus irgendeinem Grund hat te ihn das geärgert. Und da der Ärger eine Pedanterie zum Vorschein brachte, für die er sich schämte (ein Auto war schließlich nur ein Auto, verdammt noch mal), hatte er das Papier zusammengeknüllt und aus dem Fenster geworfen. Das war auf dem Weg nach Hause gewesen, nachdem er ihre Albernheiten satt hatte. Typisch, daß sie sich an das Papier erinnern mußte. Dumme Fotze. Die Nebenstraßen schützten ihn vor der morgendli chen Sonne, die auf die Fensterscheiben des Wheat sheaf knallte. Ein unpassender Name für einen Pub in unmittelbarer Nähe eines Bahnhofs und in einer Gegend, die man bestenfalls als undurchsichtigen Straßendschungel bezeichnen konnte, aber trotzdem gab es keinen besseren weit und breit. Mittlerweile 103
war er schon wieder halbwegs zu Hause. Der Gegen verkehr verdichtete sich zusehends. Noch waren nur wenige Fußgänger auf den Straßen. Er stieg aus und ging quer über die Straße. Er war unsicher. Wie wa ren sie noch gegangen, das Mädchen und er? Während des Verhörs hatte er so getan, als hätte er die Frage nicht gehört. Seine ganze Energie konzen trierte sich darauf, nichts zu sagen und Baileys Blick und seiner allzu vertrauten Stimme auszuweichen. Statt dessen hörte er zu, wie sein Anwalt dieses und jenes erklärt haben wollte, um sicherzugehen, daß sich beide über das Ausmaß der strittigen Anklage punkte und deren Geographie bewußt waren. Ein Verhör mit Rechtsmittelbelehrung muß sämtliche An klagepunkte beinhalten, auch wenn der Beschuldigte hartnäckig schweigt. Bailey wußte das. Auch Ryan wußte das, selbst als er sich an die vage Hoffnung klammerte, daß Baileys umfassende Fragen, die alle Details der Anklage ansprachen, darauf abzielten, ihm beim Aufbau seiner Verteidigung zu helfen. In Wirklichkeit wußte er es besser: Bailey war einfach bloß so gründlich und über jeden Vorwurf erhaben wie immer. Die Atmosphäre in dem Raum, in dem das Verhör stattgefunden hatte, war eiskalt gewesen. Über dem Park lag ein leichter morgendlicher Dunst. Hier hatte er dem Verhör zufolge angehalten, sie aus dem Wagen gezerrt, das Kondom übergestreift und sie unter Androhung von Schlägen vergewaltigt. An schließend hatte er sie liegen lassen und war davon gefahren. Nur ein Arsch würde so was tun. Immerhin mußte er zugeben, daß er ziemlich wütend gewesen war. Was sollte er noch mit dem Kondom getan ha ben? Ryan verscheuchte eine Fliege, die um seinen 104
Kopf summte. Das Geräusch erschien ihm fast freundlich. Ein vorsichtiger Arsch, vorsichtiger zu mindest als der durchschnittliche Frauenschänder, der gar nicht weiß, was ein Kondom ist, hätte es mit genommen und irgendwo versteckt. Zum Beispiel auf dem Boden seines Autos, um es anschließend ver schwinden zu lassen. Er hätte es auf das Papier vor dem Beifahrersitz gelegt, da, wo sie es zuvor mit dem Absatz zerrissen hatte. Vielleicht hatten sie ihn des halb nach dem Papier gefragt und sich laut gewun dert, warum er es gerade an dem Abend aus dem Fenster geworfen hatte. Weil es zerrissen war. Hätte er beschlossen, sein Schweigen zu brechen und er klärt, wie gerissen es von dem kleinen Biest war, sich überhaupt an das Papier zu erinnern, hätte er ein Ei gentor geschossen. Es kam immer nur auf die Details an. Haare, Fasern und Papier. Die kleinste Penetration ist ausreichend. Über den Bäumen des Parks kreiste ein Schwarm von aufgeregten Staren. Er kannte diesen hübschen, schäbigen Park seit Ewigkeiten. Er hatte sich recht gut gehalten, während die Häuser drum herum in ih rer verfallenden Pracht von besseren Zeiten zeugten. Die blühenden Bäume schützten einen kleinen gras bewachsenen Platz und spendeten angenehme Kühle. Beete mit rosa und blauen Blumen, Hecken und Sträucher dazwischen. Ryan liebte Gartenarbeit, eine ungewöhnliche, aber gar nicht seltene Leidenschaft für einen Polizisten, und obendrein eine, die ihn dar über hinwegtröstete, in einem Randbezirk von Lon don zu wohnen. Gartenarbeit und seine Kinder. Auf einer Bank saß ein alter Penner. Tagsüber wim melte es hier nur so von Obdachlosen. Ryan fragte 105
sich, wie viele von diesen gleichgültigen Typen, ob alt oder jung, von der Leichenhalle mit ihrem separaten Eingang für Kutschen gleich neben dem Coroner’s Court wußten. In der Nähe konnte man sogar das Brummen der Kühlanlage hören. Ryan nahm die Zigaretten aus der Tasche, hielt dem Penner zwei hin und sah, wie eine schmutzige Hand danach griff und sie in einer von unzähligen Taschen verschwinden ließ. »Sie können mir alles mögliche anhängen«, erklärte er dem Alten ernsthaft. »Alles mögliche. Aber zu behaupten, ich hätte mich in den Blumenbeeten gewälzt … Was für ein Gedanke! Sehe ich etwa so aus?« Der Mann nickte. Der Tag war angebrochen. Ryan hörte das Quietschen eines Kinderwagens und sah eine Frau, die auf ihn zukam und sich dabei in Baby sprache mit dem Kind im Wagen unterhielt. Er fragte sich, ob es ihr Kind war oder sie nur darauf aufpaßte und ob er je ein Kind gern haben könnte, das nicht sein eigenes war. Die Sonne brach durch die Bäume und streifte über das zerzauste braune Haar der jun gen Frau. Sie hatte ein hübsches, sehr konzentriertes Gesicht. Ich werde nie wieder eine fremde Frau an sehen, dachte Ryan, höchstens in einer Illustrierten. Er fühlte die Zeit verstreichen, ohne auf die Uhr zu sehen. Die Parkuhr lief noch eine halbe Stunde. Shel ley Pelmore wohnte drei Häuserblocks weiter östlich. Ryan versuchte sich den kürzesten Weg zwischen ih rer Wohnung und seinem Standort vorzustellen, und dann den Weg, den eine junge Frau spätnachts neh men würde. Einmal, wenn sie ungesehen bleiben wollte, und einmal, wenn sie so schnell wie möglich nach Hause wollte. Dann lief er beide Strecken ab. 106
Für die eine brauchte er zehn Minuten, für die ande re acht bis zurück zum Wagen. Das reichte für heute. In einer halben Stunde würde seine Frau aufwachen, ihre gelassene, alles verzei hende Fassade von gestern wieder aufnehmen und höchstens noch einmal fragen, was er mit dem Jak kett gemacht hatte. Sie würde sich niemals trauen zu fragen, fandest du die Kleine anziehend? Sie hatte Angst, daß er die Wahrheit zugeben könnte. Oh, ja, das fand ich, sehr sogar. Ich begehrte sie. Helen West hatte Rose die Bedeutung des geschrie benen Wortes beigebracht. Rose war sich nicht ganz bewußt, wie begabt sie war. Sie konnte schreiben und reden, wie ihr der Schnabel gewachsen war, es war immer unmißverständlich. Sie brauchte auch nie lange zu überlegen, als wüßte sie einfach, daß je mand, der nicht zuhörte, auch nicht lesen würde. Daher war es zwecklos, nach einem Kompromiß zu suchen oder irgendwas aufzupolieren. Rose hatte die Grundregeln des Ausdrucks der eigenen Persönlich keit gründlich gelernt, und zwar bei Granny von ne benan. Die war inzwischen tot, genau wie ihre Mut ter. Roses Familiengeschichte war eigentlich mehr dazu angetan, ihre Liebesfähigkeit zu hemmen als zu fördern. Also hör zu, Mike, du dummer Kerl. Es tut mir leid wegen des Krachs gestern, aber in Wirklich keit tut es mir nicht leid. Ich sag’s nur, weil ich dieses Schmollen hasse. Ich kann diese Pflanzen nicht ausstehen, hab’s nie gekonnt; sie sehen so erbärmlich aus, und außerdem ist mir scheißegal, 107
wer sie gepflanzt hat. Von uns hat keiner Zeit, sie zu wässern, also werden sie krepieren. Okay? Du hast gesagt, daß wir nicht zusammenpassen, weil wir nicht dieselben Ansichten über die Natur hät ten. Du redest eine Menge Mist. Geh also, hau ab, wenn du willst, ehe es zu spät ist. Vor der Hoch zeit auszusteigen ist viel leichter als sich später scheiden zu lassen. Du brauchst dieses Spiel nicht mitzumachen, auch wenn es deine Idee war. Man soll nichts tun, was man nicht will, stimmt’s? Eins will ich aber noch klarstellen. Du hast so viel für mich getan, wie ich mir nie hätte vorstellen können, und dafür will ich dir danken, und wenn jemals einer wagen sollte, in meiner Gegenwart schlecht über dich zu sprechen, werde ich ihm die Fresse einschlagen … Das schrieb sie in fünf Minuten runter. Die übliche Sülze, wie sehr sie ihn liebte und daß sie ohne ihn sterben würde, sparte sie sich. Wenn er es nicht mitt lerweile von allein wußte, konnte sie ihm auch nicht helfen. Den Zettel ließ sie auf dem Küchentisch lie gen und dachte kurz daran, Wasser darüber laufen zu lassen, damit es wie Tränen aussah. Nein, das war schäbig, und außerdem wußte sie ja, was ihn so auf die Palme brachte. Das ganze Gequatsche um Fami lienplanung und Pille; sie waren nie einer Meinung. Und dann die Nervosität vor der Hochzeit, weil jeder was von ihm wollte. Mike haßte es, im Mittelpunkt zu stehen, es sei denn bei einer sportlichen Veranstal tung, und seine Hochzeit konnte er nicht als solche betrachten, dazu nahm er sie viel zu ernst. Er wäre für Rose gestorben, und sie für ihn, aber in seinen 108
Augen war die Hochzeit ein feierliches Sakrament,
und für sie mehr so was wie die tollste Party des Le
bens.
In der überfüllten U-Bahn kam ihr ein Mann zu nah,
näher als notwendig. Rose fuhr so heftig herum, daß
sie ihm die übergroße Schnalle der Handtasche in die
Weichteile rammte und er zusammenzuckte. Sie blick
te lächelnd auf den Ring an ihrem Finger, dann strahl
te sie ihn an und bleckte dabei die weißen Zähne.
Eine Frau, die geliebt wurde.
Sie dachte an den Mann in der Klinik, dem sie fast
alles erzählt hatte.
Und sie dachte an noch etwas, das Mike nicht immer
an ihr gefiel: Sie redete zuviel.
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»Es muß der Nachweis erbracht werden, daß der An geklagte den Beischlaf mit der Klägerin vollzogen hat. Die Anklage muß entweder beweisen, daß die Frau körperlichen Widerstand leistete oder, falls sie es nicht tat, nach Verstand und Wissen nicht in der Lage war, über die Frage von Widerstand oder Einwilligung zu entscheiden. Gibt die Frau aus Todesangst oder auf grund einer Nötigung nach, so ist der Tatbestand der Vergewaltigung stets gegeben.«
E
r bevorzugte den Gesetzestext. Keine hat jemals Angst vor mir gehabt, erklärte er dem Bildschirm. Es gab auch keinen Grund dazu. Ich würde niemals eine Frau schwängern, und davor haben sie oft am meisten Angst. Außerdem lassen sie mich machen. Sie brauchen alle Liebe. Und von mir ist es anständig, ihnen Liebe zu schen ken. Natürlich gab es einen Unterschied zwischen Frauen und Mädchen, nicht aber in der absonderlichen Art, mit der sie alles mögliche über sich ergehen ließen. Krankhafte Gleichgültigkeit. Wußten sie nicht, wie man verhütet? Wie man sich der Leidenschaft hingibt, ohne eine Schwangerschaft oder Krankheit zu riskie ren? Und spielte die Einwilligung als Thema über haupt noch eine Rolle, wenn moderne Frauen sich da nach richteten? »Bei der Anwendung von Blutegeln zur Behandlung 110
einer Entzündung im Gebärmutterhals«, las er, »soll die Patientin dieselbe Stellung einnehmen wie wäh rend der Wehen. Darauf führe man ein konisches Glas in die Gebärmutter ein und achte darauf, daß die Va gina völlig davon bedeckt ist … die Bisse der Blutegel sind nicht schmerzhaft, wenn nur die Gebärmutter ver letzt ist. Bei Verletzungen der Vagina jedoch kommt es zu starken Schmerzen … Zumeist genügen acht bis zehn Egel; sie werden durch das Spekulum vorsichtig eingeführt und in der Gebärmutter belassen, bis sie sich vollgesogen haben … normalerweise zwanzig Mi nuten.« Er hatte noch nie einen Blutegel gesehen, außer als Abbildung. In dieser unaufgeklärten Zeit assoziierte man diese Spezies eher mit dem Dschungel als mit Me dizin, doch wenn man es recht bedachte, hatten beide viel gemein, und in Wirklichkeit war ein Arzt auch nichts anderes als ein Blutegel. »Gelegentlich muß ein Blutegel entfernt werden … indem man einen Kamelhaarpinsel in eine Kochsalzlö sung taucht und an den Kopf des Tieres hält … Das Spekulum sollte so angebracht werden, daß die Mün dung den Gebärmutterhals umschließt, da Komplika tionen entstehen können, wenn ein Blutegel in den Gebärmutterhals kriecht und sich dort festsetzt …« Er gab ein kurzes, unterdrücktes Lachen von sich, das durch die leere Bibliothek hallte. Selbst der pedantisch ste Text hatte etwas Komisches. Das Lachen ging in einen Hustenanfall über, und er rieb sich den Kopf, als sei ihm das peinlich. Dann sah er auf seine gepflegten Fingernägel und wischte sich die Hände an der synthe tischen Hose ab. Alles war still. Spät nachmittags wur de es sogar hier drin drückend heiß. Er dachte an die 111
hungrigen kleinen Blutegel, und er dachte an Eis in einem länglichen Glas, ein leichtes Betäubungsmittel für die Haut, von dem man sich jedoch kaum Linde rung von der Hitze erhoffen konnte. Eis und Blutegel; für ihn waren sie genauso gut wie alles andere. Man sollte die primitiven Heilmethoden angesichts einer angeblich fortschrittlicheren Medizin nicht voreilig ab lehnen. Ein Blutegel kann sehr nützlich sein. Vorausgesetzt, er behält die nötige Distanz seiner Aufgabe gegenüber. Mit Kochsalz entfernte man Blutegel. Mit Luft ent fernte oder beseitigte man Frauen oder Mädchen. Ich will geliebt werden, gestand er sich. Aber noch mehr will ich die Leidenschaft kontrollie ren. Sie nannten es das Rape House. Es lag nur zwei Stra ßen vom Polizeirevier entfernt, strategisch günstig zwischen Sainsbury’s und dem Markt. Das Gebäude fügte sich in eine Häuserreihe im spätviktorianischen Stil, hatte fünf Zimmer und war in etwa mit dem we niger als eine Meile entfernten Puppenhaus von Anna Stirland vergleichbar. Die Gegend war mehr oder weniger begrenzt und ging auf einer Seite in den komplizierten Dschungel von King’s Cross über. Es gab vornehme Straßen und andere, die sich hartnäk kig jedem Kultivierungsversuch verweigerten. Die Fassade des Rape House, das lediglich zur ersten Un terbringung von Vergewaltigungsopfern diente, war nicht so gepflegt wie die der Nachbarhäuser, und der Schlüssel klemmte im Schloß, was DS Ryan des öfte ren zu einem seiner geliebten vulgären Sprüche pro voziert hatte. »Ich krieg ihn nicht rein«, murmelte er 112
dann. »Die Geschichte meines Lebens.« Ryans Kommentare bewegten sich manchmal hart an der Grenze zur Geschmacklosigkeit. Sally Smythe fand das nicht weiter tragisch, solange er nicht respektlos wurde und sich vor allem in Ge genwart der Opfer zurückhielt. Sex ist und bleibt nun mal das Thema blöder Witze, egal, womit man seine Brötchen verdient, dachte sie. Polizeibeamte dürfen genauso geschmacklos sein wie Ärzte. Die Stadtverwaltung hatte ihnen das Haus auf unbe stimmte Zeit überlassen, als Alternative zur Rape Suite im Polizeirevier. Diese war zwar sehr komfortabel gewesen, aber nur über den Pförtner und einen lan gen Gang zu erreichen, der so einladend war, daß die nervösen Opfer meistens sofort kehrtmachten. Im Rape House gab es weder bürokratische Aktenstapel noch Computerterminals. Die Inneneinrichtung erin nerte Bailey an den Warteraum einer Zahnarztpraxis. Drei Landschaftsdrucke an der Wand, gleich hoch und gleich weit voneinander entfernt; ein billiges So fa; ein Couchtisch aus Glas, Jalousien, um den Raum zu verdunkeln. Aus der unbenutzten Küche drang ein leichter Muff bis ins Untersuchungszimmer und einen weiteren Raum, der als Kinderzimmer gedacht war. Er zeugte davon, daß niemand wirklich hier wohnte. Möglich, daß die sauberen Wände von Alp träumen durchdrungen waren, aber zum Schlafen kam keiner her. Bailey fühlte sich fehl am Platz und schämte sich deswegen. Er und Ryans Kollegin schlichen umein ander herum wie Katzen um den heißen Brei. Sie bot ihm herablassend einen Tee an, um ihm zu zeigen, daß er sich auf ihrem Territorium befand. Ein Hauch 113
von Sarkasmus schwang in allem mit, was sie sagte. Liebe Güte, der Mann konnte lesen; er hatte die Ak ten studiert, was wollte er jetzt noch groß reden und warum ausgerechnet hier? Er hatte Glück, daß sie im Moment keinen laufenden Fall, keine nächtliche Aussage oder einen aktuellen Überfall betreuen muß te. Dann hätte sie mit dem Opfer ein, zwei Tage hier verbringen müssen, oder so lange, bis sie Mosaik steinchen für Mosaiksteinchen eine stichhaltige Aus sage zusammengeschustert hatten, die später kaum noch korrigiert werden mußte. Für ein paar Stunden war das Rape House mehr als ausreichend und selbst in dieser Hitze immer kühl. »Was wollten Sie wissen, Sir?« »Wie viele von diesen Fällen schaffen es bis zum Staatsanwalt?« fragte er milde. Die leichten Fragen kamen zuerst. »Etwa die Hälfte. Es würde nichts bringen, die völlig aussichtslosen Fälle hinzuschicken, oder? Trotzdem muß jeder Fall von einem DCI abgesegnet werden. Es hätte ja auch keinen Sinn, wenn wir die Fälle wei terleiten, bei denen die Beschuldigungen erwiesener maßen falsch sind.« »Gibt es viele davon?« Sie spielte mit den Händen in ihrem Schoß und kam sich ein bißchen vor wie eine Verräterin. »Ja.« »Sehen Sie einen besonderen Grund dafür?« Sally Smythe erwärmte sich allmählich für das The ma. Vielleicht wollte dieser spröde Mann, von dem Ryan so oft gesprochen hatte, es tatsächlich wissen. »Fälle, bei denen sich herausstellt, daß die Beschul digungen falsch sind, hat es schon immer gegeben, 114
aber es wäre wohl alles andere als political correctness, das zuzugeben. Sexuelle Übergriffe und Frauenrechte stoßen auf breites Interesse in der Öffentlichkeit. Vielleicht gibt es jetzt mehr Anzeigen, weil es sich rumgesprochen hat, daß wir sie ernst nehmen, das heißt aber, daß auch die Fälle mit falschen Behaup tungen proportional zunehmen. Viele Frauen wissen, daß sie nichts riskieren, wenn sie zu uns kommen. Wir fassen sie mit Samthandschuhen an, niemand macht ihnen Vorhaltungen oder erteilt ihnen Lektio nen. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin nicht übertrieben zynisch, genausowenig wie Ryan, aber die meiste Zeit verbringen wir damit, Kindermäd chen zu spielen. Sie sind alle Opfer, aber nicht unbe dingt Opfer einer Vergewaltigung.« Bailey runzelte die Stirn. Sally spürte keinen Wider spruch; sie spürte nichts. Das Ausbleiben einer Reak tion brachte sie durcheinander. »Hatte Ryan dafür Verständnis?« »Sehr viel. Obwohl er mit den Frauen viel weniger zu tun hatte als wir. Aus gutem Grund wollen viele nicht in Gegenwart eines Mannes reden. Wir arbei ten ausschließlich zu zweit. Wenn er eine Frau be fragte, dann war immer auch eine Beamtin dabei.« Er rührte in seinem Tee und lächelte ihr zu. Die Wirkung auf seinem hageren Gesicht war erstaunlich und entlockte ihr ein Grinsen, ehe sie sich versah. »Geben Sie mir ein typisches Beispiel für eine falsche Anschuldigung. Wenn es so etwas wie typisch gibt.« Sie dachte einen Augenblick nach und zuckte die Achseln. »Eine Frau oder ein Mädchen kommt zu uns und behauptet, sie sei vor drei Tagen überfallen worden. Sie hat hin und her überlegt und sich ent 115
schieden, Anzeige zu erstatten, erzählt uns aber drei verschiedene Versionen davon, wie es passiert ist. Auch die Beschreibung des Täters variiert. Seinen Namen weiß sie nicht, auch wenn sie sagt, sie hätte ihn ein paarmal vorher gesehen. Wir versuchen nicht, sie aufs Glatteis zu führen; sie entlarvt sich selbst, in dem sie uns Dinge erzählt, die wir nicht überprüfen können, und dabei Fehler macht. Manchmal ist es reine Einbildung, manchmal eine wahre Begebenheit, die lange zurückliegt oder tatsächlich passiert ist, aber völlig verzerrt wiedergegeben wird. Manchmal haben sie es direkt aus dem Fernsehen. Das sind Frauen mit seelischen Problemen. Dann gibt es die Fälle mit Halbwahrheiten. Ich weiß nicht … eine Frau, die sich mit einem Hausfreund oder einem Verwandten einläßt und sich später einreden will, sie sei vergewaltigt worden, wenn ihr klar wird, daß sie zugestimmt hat oder ausgetrickst worden ist. Es gibt Fälle, wo die Frau ihrem Freund eins auswischen will. Oder etwas vertuschen.« »Erkennen Sie immer, wenn jemand lügt?« Sie zögerte. Lüge war ein viel zu harter Ausdruck für Menschen, die einfach verzweifelt waren. »Ich glaube ja. Nach einer Weile jedenfalls. Nicht am Anfang, Ryan übrigens auch nicht. Man lernt es von den an deren, die die Wahrheit sagen. Es gibt einen Unter schied, man spürt ihn.« Sie wurde leicht nervös und mißtrauisch, als könnte er das, was sie sagte, gegen sie benutzen. Sie mochte den Klang ihrer Stimme nicht. Bailey hatte seine lan gen Beine ausgestreckt, war aufgestanden und lief jetzt im Zimmer auf und ab. Sie wären für meinen Job völlig ungeeignet, Sir, hätte sie ihm am liebsten 116
ins Gesicht geschrien. Derjenige, der die Fragen stellt, soll das so tun, daß der andere entspannt ant worten kann. So steht es in den Anweisungen. Sie dachte an andere Dinge, um die Stille zu über brücken. Pathos und Kitsch. Wie sollte sie die Steppdecke zurückkriegen, auf der eine mutige und ehrliche Frau von zwei Einbrechern vergewaltigt worden war und die sie aus den abgelegten Kleidern ihrer Kinder zusammengestoppelt hatte? Im Labor hatte man die Steppdecke teilweise zerreißen müssen, um ein paar Flecken zu untersuchen, aber die Frau wollte sie trotzdem wiederhaben, und sei es nur, um zu beweisen, daß die damit verbundenen Erinnerun gen wichtiger waren als die anderen. Damit habe ich es auch zu tun, wollte sie Bailey er klären. Mut. Und Ryan war unschlagbar, wenn es um die Wahrheitsfindung ging. »Was ich wissen will«, sagte Bailey gleichgültig, als sei ihr Gespräch von eben völlig belanglos gewesen, »ist, warum Ryan diese Unterlagen behalten hat.« Er fächelte sich mit einer dünnen Mappe Luft zu und gab sie ihr dann. »Welche Unterlagen?« fragte sie benommen und er rötete, als hätte Bailey etwas Belastendes vorge bracht. So was wie eine völlig weiße Weste gab es einfach nicht. Wenn jemand in ihrem Leben rum schnüffeln wollte – selbst wenn es nur halb so gut dokumentiert war wie das anderer Polizeibeamten, er würde immer irgendwas finden, das faul war. Sogar süße, weiche Kaninchen hinterlassen Kötel. Das mußte von Ryan sein. Bailey nahm wieder Platz, und der Raum wurde so fort kleiner. Eine Brille auf der Nase machte ihn 117
keineswegs menschlicher. Er stand wieder auf, zog die Jalousien hoch und ließ das Licht durch die klei nen Fenster ein. Die Jalousien hatten immer ge klemmt – Ryan hatte auch hierzu seine flotten Sprü che gemacht –, aber die schmalen, langen Finger seines älteren Mentors forderten Gehorsam von un belebten Dingen, und plötzlich wurde es Licht. Sally fürchtete sich vor Bailey, so wie sie sich als kleines Kind vor der alten Frau im Märchen gefürchtet hatte, die in einem Lebkuchenhaus im finsteren Wald lebte. Der Computerausdruck flimmerte vor ihren Augen. Sie setzte sich auf, versuchte gereizt, die blasse Schrift zu entziffern, und suchte nach einer Antwort. Diese Computerausdrucke waren nur für Tageslicht be stimmt. Sally war sich halb bewußt, daß Bailey den Raum verlassen hatte; sie hörte schwach die Toilet tenspülung und das Pfeifen des Wasserkessels. Dann kam er wieder. In einem leeren Haus hört man alles. Mit frischem Tee, als wollte er beweisen, daß er ihn besser zubereitete. Sie haßte Tee, dieses Allheilmittel für die Psyche, nach dem man alle fünf Minuten aufs Klo mußte. Die Fenster müssen geputzt werden, bemerkte sie; seine Gegenwart machte sie auf derartige Details aufmerksam. Sie waren nur ein wenig verstaubt, nicht wirklich schmutzig, aber man mußte sich drum kümmern. »Ich weiß, wie das wirkt«, sagte sie. »Er hat Namen, Anschriften und Beschreibungen mehrerer hoffnungs loser Fälle zusammengestellt; alles Frauen, die hier waren. Aussichtslose Fälle. Einschließlich Zeugen, soweit vorhanden. Er hat zum Beispiel das Disco 118
mädchen und Shelley Pelmore festgehalten, die er angeblich vergewaltigt haben soll. Und Sie denken jetzt, das könnte seine Version einer schwarzen Liste sein, wie?« »Alle Fälle oder Namen haben eines gemeinsam«, setzte Bailey das Gespräch gleichmütig fort. »All die se Mädchen, ich meine jungen Frauen, sind unver heiratet. Das fällt auf. Vielleicht würde die eine oder andere sich freuen, hin und wieder Besuch von einem gutaussehenden, mitfühlenden Polizeibeamten zu bekommen? Ob sie gelogen haben oder wirklich Op fer wurden, spielt keine Rolle: Keine von ihnen war in der Lage, ganz auszusagen, und brauchte mögli cherweise eine extrabreite Schulter, an der sie sich ausweinen konnte.« Am liebsten wäre sie wie eine Rakete auf ihn losge gangen; sie wußte genau, worauf er hinauswollte. Für einen Außenstehenden mußte diese Liste mit Namen und Anschriften erschreckend sein. Wir können nicht mit Fotomaterial arbeiten, wollte sie ihn aufklä ren. Egal wie sehr er hinterm Mond war, auch er mußte wissen, wie schrecklich es für die Opfer wäre, fotografiert zu werden. Wir schreiben ihre Lebensge schichten auf und machen uns Notizen, als gäbe es keine Computer. Und das ist Ryans Liste von Fällen, die nie über den Schreibtisch des DCI hinausge kommen waren. Nicht alle; nur einige. Fünf, oder waren es sechs? Bailey wirkte berauscht vom Tee. Es erschien ihr fast als zusätzliche Beleidigung, daß er niemals auf Sacharin zurückgreifen mußte, um so schmal und schlaksig zu bleiben, wie er war. Ein Ge rippe auf Beinen, dachte Miss Smythe und verachtete ihn mit einer Nüchternheit, die die Akte einschloß. 119
Ihr Gesicht war rot und pausbäckig. Jetzt war sie die jenige, die aufstand und im Raum auf und ab ging. »Die Akte war nicht für Ryans persönlichen Ge brauch bestimmt. Wir waren beide daran beteiligt. Es war unser gemeinsames Projekt. Und wenn Sie weitergelesen hätten, wäre es Ihnen aufgefallen.« »Was wäre mir aufgefallen?« fragte er sanft. Sie setzte sich, stand aber sofort wieder auf. »Oh, ich kann nicht erwarten, daß sie seinen Code verstehen. Oder warum es durchaus Sinn machte, eine solche Liste anzulegen. Festzuhalten, wo die Frauen wohn ten oder arbeiteten. Sogar Shelley Pelmores Freund; und alle hatten einen Job, sehen Sie.« »Einen Job, den sie nicht verlieren wollten, nehme ich an, indem sie zum zweiten Mal Vergewaltigung schrien, zum Beispiel. Wer würde schon einen netten Polizeibeamten anzeigen, der eines Abends mit einer Flasche Wein vor der Haustür steht?« Sally mußte sich zwingen, Ruhe zu bewahren. »Hö ren Sie mal, Sie sind derjenige, der anderen niedere Beweggründe unterstellt, nicht Ryan oder ich. Fällt Ihnen denn nichts Besseres ein? Passen Sie auf, Sir. Die Liste wurde erstellt, um einem sexuellen Serien täter auf die Spur zu kommen. Einem Perversen. Er treibt schon seit einer geraumen Zeit sein Unwesen. Er hat kein System, aber er vergewaltigt, ohne Spu ren zu hinterlassen, und vielleicht mordet er auch ohne Spuren. Die Frauen in dieser Akte konnten oder wollten keine genauen Angaben machen, egal, wieviel Zeit wir ihnen ließen. Sie konnten oder woll ten den Täter nicht benennen. Ihre Aussagen waren ambivalent, manchmal phantastisch … Und es gab keinerlei gerichtsmedizinische Beweise …« 120
»Sie passen also genau in das Schema der falschen Anschuldigungen, das Sie eben erwähnten. Keine Namen. Nichts Genaues. Widersprüchliche Aussa gen. Unglückliche Frauen, die Probleme haben und sich Sachen einbilden. Ideal für einen Mann, der an jeder Ampel seinen Schwanz raushängen läßt.« An diesem Punkt verhedderte sich ihre linke Hand in der Kordel der unpraktischen Jalousie, und sie vergaß sämtliche Anstandsregeln. Wenn man Ryan aufgrund dieser Beweise zum Tode verurteilen woll te, blieb ihr nichts anderes übrig, als ein paar Dinge klarzustellen. »Jetzt hören Sie mal zu, Sie scheinhei liger Idiot mit der schmutzigen Phantasie. Es waren nicht mal die hübschesten, oder können Sie nicht lesen?« »Manchmal«, antwortete Bailey bescheiden. Sie fuhr im selben Tonfall fort, ohne auf ihn zu ach ten, und ihre Stimme wurde lauter und lauter. »Ryan hatte diese Liste aufgestellt. Sie hat ein System, ver stehen Sie. Sie ist ganz klein, wohl kaum geeignet für die Zwecke, die Sie ihm unterstellen. Ein paar Zeu gen, die uns möglicherweise helfen können, indem sie uns über die Gewohnheiten der Opfer Auskunft geben oder irgendeinen Hinweis. Wir gehen davon aus, daß all diese Frauen von ein und demselben Tä ter mißhandelt wurden, vor dem sie sich schämen. Irgendein namenloses Arschgesicht. Ryan hat sogar die Gerichtsmedizinerin, mit der er sich unterhalten hat, auf die Liste gesetzt. Kein Mensch würde es wa gen, sie zu vergewaltigen.« »Ich kenne die Gerichtsmedizinerin«, unterbrach Bailey. »Sie ist verdammt attraktiv. Aber ich verstehe es nicht«, fügte er hinzu, begriffsstutzig wie jemand, 121
dem weniger Mumm als Hinterlist ins Gesicht ge schrieben steht. »Ich verstehe es einfach nicht.« Sie holte tief Luft und sagte vorsichtig: »Die Fälle auf der Liste sind echte Nieten; keine Chance, keine Namen, keine gerichtsmedizinischen Beweise, nichts, womit man irgendwas anfangen könnte.« Sie kam ihm so nah, daß sie ihm ins Auge hätte spucken kön nen, und genau das hätte sie auch am liebsten getan. »Aber es waren die, denen wir geglaubt haben. Wir haben ihnen geglaubt. Verstehen Sie? Sie waren aus sichtslos, aber wir haben ihnen geglaubt.« Plötzlich riß die Kordel der Jalousie, und sie setzte sich abrupt hin. »Das Problem ist, daß uns keiner glaubt, Sir.« »Vielleicht sollte ich die Frauen aufsuchen. Die Theorie der schwarzen Liste überprüfen.« Sie lachte. »Tun Sie das, Sir. So lang ist sie ja nicht, wie? Vor allem, wenn man bedenkt, daß zwei davon schon tot sind.« Später, als er im Pub vor einem Bier saß und darüber nachdachte, was Sally Smythe ihm erzählt hatte, ver mißte Bailey Ryan plötzlich so heftig, daß es weh tat. Ganz schön dämlich, dachte er bei sich, wenn man nicht mal mehr sein Bier genießen kann, ohne daß der Trottel dabei ist. Ryan war immer besonders er finderisch gewesen, wenn es darum ging, einen Vor wand für einen Pub-Besuch zu finden. Mal mußte er einen V-Mann treffen, mal war von Freibier die Rede, doch Bailey hätte nie angenommen, daß diese kleinen Schwindeleien ihn zum Lügner machten. Allerdings neigte Ryan zu abstrusen Verschwörungstheorien und war durchaus in der Lage, irgendeine Tragödie 122
zu erfinden, um sich das Leben vergnüglicher zu ge stalten, wenn es zu langweilig wurde. Er würde auch keine Mühe gehabt haben, Sally Smythe von einer seiner phantastischen Spinnereien zu überzeugen, so lange er selbst daran glaubte, auch wenn er dabei ganz andere Hintergedanken verfolgte. Was für eine Spinnerei und wie phantastisch? Bailey wiederholte im Geist, was Miss Smythe, die natürlich von Ryan beeinflußt war, ihm erzählt hatte. Wie schön wäre es, sich den Luxus leisten zu können, je mandem zuzuhören und einfach zu glauben, was er sagt. Ohne immer alles in Frage stellen zu müssen. Ryans Theorie ging davon aus, daß irgendwo da draußen ein neuer Typ von Täter rumlief. Völlig an ders als der wilde Kerl, der aus einem Gebüsch springt, um einen plötzlichen Anfall von Geilheit mit der erstbesten Frau zu befriedigen, die ihm über den Weg läuft. Anders auch als der verlassene Liebhaber, der sich aus Rache vergißt, oder ein hinterhältiger Nachbar oder flüchtiger Bekannter, der Vergewalti gung mit Verführung verwechselt. Solche Männer hatten nur wenig gemein mit Ryans Täter. Eines woll ten sie alle: Sex. Dieser aber suchte Befriedigung ei ner besonderen Art. Bailey sah sich in der Bar um. Hier gab es keine Kandidaten. Nur ganz gewöhnliche Männer mit ganz gewöhnlichen Bedürfnissen in Hemdsärmeln. Bestenfalls, in seinem normalsten Zustand, war dieses Phantom ein Schwindler, ein intelligenter Manipula tor, der unablässig dazulernte. Ein Mann, der quälen und beherrschen wollte und die Regeln en route ent warf, manchmal unbeholfen, denn das Vergnügen war natürlich etwas primitiv. Es ging darum, die Opfer 123
dermaßen zu erniedrigen, daß diese es nicht fertig bringen würden, einen Prozeß durchzustehen, selbst wenn sie den ersten Schritt dazu taten. Das Bier in diesem Pub für Arbeitslose, das gleich neben einer katholischen Kirche lag, schmeckte wi derlich. Am Fuß des Hügels lag der Kopfbahnhof. Die Sicht auf London wurde vom Hitzedunst ver schleiert. Eine Art fauler Zauberer also, dieser geheimnisvolle Vergewaltiger, dem der naive, sachliche Ryan auf der Spur war. Ein Täter, der wahrscheinlich Helfer hatte. Oder doch nur ein Produkt von Ryans übersteigerter Einbildungskraft, um der zuweilen prosaischen und stets schäbigen Welt des Rape House so was wie ei nen Sinn zu verleihen? Irgendeine Geschichte, die ihm erlaubte, Namen zu sammeln, ein Dossier von gefährdeten Frauen zu führen. Und eventuell hatten sie Interesse an einer heimlichen Affäre mit einem verheirateten Mann, die zu nichts verpflichtete. Plötzlich ging laut krachend die Tür des Pubs auf. Eine junge Frau mit einem Hund bedauerte anschei nend den Lärm, den sie veranstaltet hatte, und ging wieder hinaus, um leiser hereinzukommen, als würde sie dadurch unsichtbar. Vielleicht wollte sie etwas kaufen oder verkaufen; jedenfalls sah sie nicht so aus, als hätte sie was zu feiern. In Baileys Augen paßten schlaue Intrigen nicht zu Ryans Vorgehensweise, jedenfalls nicht, wenn es nur um Sex ging, es sei denn, der Bursche sah sich als eine Art Ratgeber in Sachen Romantik, der sich ver letzlicher Seelen annahm. Das könnte schon eher hinhauen, denn er war einer von diesen idealistischen Spinnern, die davon überzeugt sind, daß man anderen 124
auch gegen deren Willen zu ihrem Glück verhelfen
muß. Er konnte lügen, wenn es sein mußte, aber er
war ein ehrlicher Lügner. Wie wäre es mit dieser Cha
rakterbeschreibung? – Als könnte eine Charakterbe
schreibung einen der Vergewaltigung beschuldigten
Polizeibeamten retten oder ihm die besondere Bruta
lität ersparen, die seinesgleichen im Knast erwartete.
Bei der Vorstellung wurde Bailey übel. Sein Magen
brannte. Allerdings, würde man Ryan auf Beschluß
einiger gesichtsloser Anwälte, deren Entscheidung
Bailey einigermaßen sicher voraussehen konnte, vor
Gericht stellen, würde er unweigerlich freigespro
chen. Einfacher konnte man es Geschworenen nicht
machen. Wie sollte man einen so gut aussehenden
Mann, der so viel zu verlieren hatte, einer derartigen
Tat bezichtigen? Die Geschworenen hatten immer
was übrig für Polizeibeamte. Ryan würde den Ge
richtssaal als Held der Boulevardpresse verlassen,
aber Bailey verachtete halbe Sachen. Ryan war ent
weder schuldig oder unschuldig, aber nichts dazwi
schen – wie sollte er damit weiterleben?
Dann geh die schwarze Liste durch und finde eine
andere Erklärung.
Hauptsache, der Bursche kam frei.
»Und? Was hat sie gesagt?«
»Wer?«
»Na, Anna, wer denn sonst?«
»Meinst du, das würde ich dir ausgerechnet hier er
klären?«
»Ach so, verstehe.«
Die Central Line der Underground war ausnahms
weise erträglich, aber völlig ungeeignet, persönliche
125
Dinge zu besprechen, selbst für jemanden, der so un bekümmert war wie Rose. Sie saßen nebeneinander. Rose kramte in ihrer Tasche nach einer Liste. »Alles, was wir kaufen müssen, um mich für weniger als hundert Pfund in eine andere Person zu verwandeln. Inklusive Schuhe, Bikini und Gehirnwäsche. Ich gehe bei Dickens & Jones rein und komme als niet- und nagelfeste Ehefrau wieder raus. Alles klar, Aunty?« »Ich dachte, du wolltest bloß ein Kleid kaufen.« »O ja, das auch. Ich glaube, mein letztes Kleid hatte ich mit zwölf.« Roses Hochzeitskleid mußte erst erfunden werden. Sie hatte sich gegen das jungfräuliche Weiß entschie den, nicht etwa, weil es ihre gesamte Vergangenheit geleugnet hätte, sondern weil sie Weiß viel zu zahm fand. Das Höchste der Gefühle war ein elfenbeinfar benes hemdartiges Etwas gewesen, das sie vor eini gen Tagen unter Helens kritischem Blick in einer Umkleidekabine anprobiert hatte, worauf beide in unterdrücktes Gelächter ausbrachen. Rose hatte aus gesehen wie ein verwahrlostes Kind in einem seide nen Geschirrtuch, das ihm nicht gehörte. Das glän zende Material machte ihre Haut noch heller, sie wirkte wie ein kränkliches Flittchen ohne Stil. Anzü ge standen ihr, Kleider dagegen nicht. Trotzdem wünschte sie sich ein Kleid. Sie wollte in einer ra schelnden Wolke aus weicher Seide ihren eigenen Empfang verlassen. »Hoffentlich ist Mike da, wenn ich heute abend nach Hause komme«, verkündete Rose jetzt fröhlich. »Ge stern wollte er noch nach Timbuktu.« Trotz aller Niedertracht, mit der Helen Tag für Tag zu tun hatte, hätte sie jeden Glauben an die Mensch 126
heit verloren, wenn der nette, stets freundliche und liebenswürdige Mike sich aus dem Staub gemacht und Rose im Stich gelassen hätte. Dieser Glaube hat te bereits Risse, aber noch hielt er. »Alles halb so wild! Er ist nur nervös, das ist alles. Schließlich hat er den ganzen Trouble mit der Fami lie, nicht ich. Er muß sich mit seiner Tante Mary, Onkel Stephen und diesem schrecklichen kleinen Cousin Jim rumschlagen. Ganz zu schweigen von seinen Kollegen bei der Arbeit, die ihn aufziehen und warnen, daß mit der Ehe das gute Leben zu Ende ist. Sie wollen nicht, daß er eine wie mich heiratet. Und manchmal läßt er sich von ihnen tatsächlich den Kopf verdrehen. Ich sehe, wie er unter dem Druck leidet. Gott sei Dank gibt es noch seine Mutter. Sind eigentlich alle Männer so kindisch, Aunty?« Sie wirkte ganz locker, sehr zu Helens Erleichterung. Der Mann, der ihnen gegenüber saß, senkte die Zei tung und sah sie beide an. Seine Augen wanderten zu der Anzeige über ihnen, dann zur Decke. Schließlich warf er Helen einen kurzen Blick zu und starrte Rose neugierig an. Rose bemerkte es. »Hallo«, sagte sie geradeheraus. »Schöner Tag, wie?« Er lächelte und nickte, dann vergrub er sich wieder hinter seiner Zeitung. Helen studierte ihn, er trug ta dellose Schuhe, eine Freizeithose aus irgendeinem Synthetikzeug und hatte braungebrannte Hände. Dann fuhr der Zug ratternd in die Station von Ox ford Circus ein. Auf dem Weg zur Tür fiel ihr sein kahler Schädel auf, der wie braunes, poliertes Holz glänzte. Im künstlichen Licht des Bahnhofs traten die Dellen in der Schädeldecke noch stärker hervor, so 127
daß sie seltsam einladend wirkte. Helen verspürte eine plötzliche Lust, sie zu berühren, so wie den Auf satz eines Treppenpfostens. Sie sah in Roses freches Gesicht und grinste, selbst überrascht, daß sie sich von einem wildfremden Mann angezogen fühlte, der obendrein völlig haarlos war. »Quatschst du immer Männer in der U-Bahn an?« fragte Helen, als sie dichtgedrängt auf einer Roll treppe standen, auf die sich anscheinend halb Lon don quetschte, um der drückenden Atmosphäre der Underground so schnell wie möglich zu entkommen. Helen wartete nur darauf, daß irgendwer eines Tages einen Wutanfall bekommen und losschreien würde, weil die Rolltreppe so unglaublich langsam war und die Leute dermaßen drängelten; im allgemeinen machte man seinem Ärger auf konservativere Art Luft. Eine Einkaufstasche, von einer kampfentschlos senen Frau wie eine Waffe getragen, streifte ihr Bein. Sie drehte sich um in der Hoffnung, den kahlköpfi gen Mann einige Stufen unter sich stehen zu sehen. Was für eine blöde Erwartung, selbst an einem für Halluzinationen so gut geeigneten Ort wie diesem. Sie steckten ihre Fahrkarten in den Ausgangsautoma ten und umgingen den unvermeidlichen Tolpatsch, der mit dem Automaten nicht zurecht kam und die Schlange aufhielt. Rose marschierte vor ihr die Treppe hinauf und rief über die Schulter: »Ich kenne ihn!« »Wer ist es?« »Er ist Arzt. War gestern bei ihm. Er hat mir in die Möse gestarrt. Wahrscheinlich hat er meine Stimme wiedererkannt. Ich rede einfach zu viel.« Weiter ging sie nicht darauf ein, und Helen hakte auch nicht nach. Das Einkaufsfieber hatte Rose ge 128
packt, ihr Gesicht war konzentriert und angespannt. Der übertriebene Glanz der Oxford Street versetzte jeden in einen eigenartigen milden Zustand des Wahnsinns; es war der einzige Ort, an dem Helen Menschenmassen egal waren. Der Wahnsinn hatte sogar Methode. Anders als Bai ley, der wie ein scheues Fohlen vor teuren Geschäf ten zurückschreckte und sich rein- und rausschlich, als sei er auf einer geheimen Mission, blieben Helen und Rose auf der Türschwelle stehen, atmeten die Düfte der Parfumabteilung ein und wußten, hier wa ren sie zu Hause. Die Methode war keine Methode; natürlich bedurfte es eines Vorwandes, um die Ex pedition zu rechtfertigen, aber von diesem konnte man sich jederzeit verabschieden. Rose brauchte eine halbe Stunde, um sich von der Idee eines Kleides zu trennen (sieh dir das an, Aunty, damit würde ich ja nicht mal ins Bett gehen …) und sich endgültig einen Hosenanzug in den Kopf zu set zen (perfekt geschnitten, falsche Farbe), den sie ir gendwo anders gesehen hatte. Sie gingen von Geschäft zu Geschäft und suchten halbherzig nach etwas Ähnlichem, vielleicht mit den selben Knöpfen, aber weniger protzig und vor allem nicht in diesem geschmackvollen und überzüchteten Schneematschgrau. Unterwegs erstand Helen drei Paar Strümpfe und eine Haarspange und Rose eine Pfanne. Wenn das alles war, was sie fanden, sahen sie alt aus. Da Helen, wie Rose sagte, an erhöhtem Blutzucker litt, mußten sie mehrere Pausen einschieben und ihre Koffeindosis erneuern. Nach anfänglichem Streit ei nigten sie sich darauf, daß Helen diese reichlich 129
überteuerten Getränke und den dazugehörigen Ku chen bezahlte – ein Zugeständnis an ihre mütterliche Rolle und ihren finanziellen Status. »Die wissen, wie man shoppen geht«, sagte Rose, als sie im Café bei Liberty’s saßen, und zählte neidisch die vielen Einkaufstaschen zweier zierlicher, teetrin kender Japanerinnen. »Fünfzehn pro Nase.« Sie nippte an ihrem Kaffee und stellte die Tasse mit lau tem Klirren auf den Tisch. »Und jetzt, Aunty, erzähl mir, was Anna gesagt hat.« Typisch Rose, die immer auf den richtigen Zucker gehalt im Blut wartete und nichts je vergaß. Auch der Ort war gekonnt gewählt. Sämtliche anwesenden Damen, aber auch die paar Männer, die an ihren Gläsern nippten und einander aufmerksam zuhörten, sprachen ausschließlich im Flüsterton, so leise wie Verschwörer. Hier konnte man ganze Revolutionen planen. Die Cafés in den Vorzimmern der Konsum paläste waren genau das richtige, um Geheimnisse auszutauschen oder sich jemandem anzuvertrauen. Dann nahm man die Indiskretionen, in feines Papier eingepackt, mit ins Reich der Vorstädte, wo sie sich schlagartig in Luft auflösten. »Ich glaube nicht, daß ich es dir weitererzählen soll te. Sie hat mich zwar nicht ausdrücklich um Still schweigen gebeten, aber sie will nicht, daß du es weißt.« Rose nickte, immer noch neugierig, doch ohne Groll. »Na, das muß ich wohl respektieren. Hast du Bailey davon erzählt?« »Nein, aber vielleicht mach ich das noch. Das heißt, ich werde es ihm auf jeden Fall erzählen, aber das ist etwas anderes. Er kennt sie nicht.« 130
Rose nickte erneut. In dieser Hinsicht war sie sehr erwachsen, da sie genau wußte, was es heißt, Ver trauen nicht zu mißbrauchen. Sie liebte Klatsch, aber sie wußte auch, wie weit sie gehen und was sie erwar ten durfte. »Fandest du sie nett?« »Ja, sehr.« Aus Helens Mund war eine solch zurückhaltende Äußerung ein großes Lob. Rose schluckte den letzten Bissen Kuchen hinunter, lehnte sich zurück und rieb sich den vollen Bauch. »Das war eindeutig zu viel. Vor allem im Hinblick auf die traditionelle Hungerkur vor der Hochzeit«, sagte sie wenig überzeugt, zerdrückte dann mit der Kuchengabel die letzten Krümel und schob sie in den Mund. »Nur noch zwei Fragen, Aunty, dann lasse ich dich in Ruhe, großes Ehrenwort. Erstens, wurde sie vergewaltigt, und zweitens, kannst du ihr helfen?« Es war eine perfekte Redwood-Imitation. Helen wählte ihre Worte mit der Vorsicht, die Rose so oft auf die Palme brachte. Sie wollte eine schnelle Antwort, jetzt, wo das Einkaufsfieber vorübergehend nachgelassen hatte. »Wenn sie die Wahrheit sagt …« und Rose bemerkte sofort, daß Helen das »Wenn« nicht allzusehr beton te, nur ihr berufsmäßiges Mißtrauen zum Ausdruck brachte, das sie haßte wie die Pest »… dann wurde sie auf eine Weise vergewaltigt, die sie völlig lächer lich macht. Es ist derart verrückt, daß sie sich zum Narren machen würde, wenn sie davon erzählen würde. Ein übler Scherz. Der Täter war jemand, den sie verehrte, und er zeigte einen ziemlich grausamen Sinn für Humor. Jedenfalls weigert sie sich eisern, 131
eine Beratungsstelle aufzusuchen. Vielleicht hat es ihr geholfen, daß ich nicht gelacht habe.« Rose beschloß, ihr nicht zu sagen, daß sie das Ganze für blanken Unsinn hielt. »Und sie will auch nicht sagen, wer er ist.« »Sie deckt ihn?« fragte Rose ungläubig und wie im mer leicht abschätzig, ohne es zu wollen, wenn Helen formell wurde. Du kannst mit ihr Pferde stehlen, hat te sie Michael gesagt, aber glaub ja nicht, daß du sie kennst. »Nein. Sie will sich weitere Peinlichkeiten ersparen. Vielleicht kommt sie nächste Woche auf einen Drink oder zum Abendessen vorbei. Möglich, daß ihr das mehr hilft. Und sie liebt ihre Arbeit. Das hilft auch. Ich hab getan, was ich konnte, Rose. Viel ist es nicht, was?« »Doch, doch.« Das genügte. Irgendwas würde schon dabei rauskommen, dachte Rose, genügend jeden falls, um ihr eigenes Interesse daran aufgeben zu können. Trotzdem war sie überrascht zu hören, daß Anna ihre Arbeit liebte. Es war nicht das, was sie ge hört hatte, aber wenn Helen Anna mochte und um gekehrt, dann war schon was erreicht. Helen unter schätzte immer ihre eigene Kraft. Sie weiß nicht mal, wie glücklich ich mich schätze, sie zu kennen, auch wenn sie Dinge falsch versteht, dachte Rose, schob den Stuhl zurück und trat grinsend und vorsichtig wie eine Katze über die diversen Einkaufstaschen, die sich um den Nebentisch ausbreiteten. Sie konnte nichts anfangen mit Leuten, die Porzellan kauften. »Warum hast du eigentlich solche Angst vor dem Heiraten, Aunty?« fragte sie, als sie an den Handta schen vorbeikamen. Keine von ihnen hatte viel für 132
Leder übrig. Im übrigen waren die Preise schwindel erregend. »Keine Ahnung. Vielleicht weil ich schon mal verhei ratet war und es nicht mochte. Mein Mann war ein Gauner. Er wußte nicht mal, was Wahrheit eigentlich ist. Aber ein charmanter Gauner.« »Wahrscheinlich war er gut im Bett.« »Wir haben noch eine Stunde«, sagte Helen grimmig und entschlossen. Eine Dreiviertelstunde später entdeckten sie, was sie suchten – nicht in einem der oben erwähnten Luxus geschäfte, sondern im Schaufenster eines Ladens, wo keine von beiden es vermutet hätte. Weder ein Kleid noch einen Hosenanzug, sondern eine absolut himm lische Jacke.
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»In einem Strafverfahren, bei dem jemand der Verge waltigung angeklagt wird und ›nicht schuldig‹ plädiert, dürfen weder vom Angeklagten selbst noch zu seiner Verteidigung Beweise erbracht oder während des Kreuzverhörs Fragen gestellt werden, die die sexuellen Beziehungen der Klägerin zu Dritten betreffen, es sei denn mit ausdrücklicher Genehmigung des Richters.«
S
helley Pelmore kannte sich in Kaufhäusern aus wie in ihrer eigenen Westentasche. Seit sie allein auf die Straße durfte, hatte sie sich in ihnen herumge trieben. Als kleines Kind träumte sie von den vielen modischen Geschäften im West End, vor allem de nen, wo Musik lief und man ungestört stöbern konn te. Wenn man den Preis eines Artikels wissen wollte, mußte man schreien. Damals hätte sie nicht mal ge wagt, im Flüsterton nach etwas zu fragen, was für sie unerschwinglich war. Ein einziges Mal hatte sie etwas mitgehen lassen wollen. Doch als sie das Kaufhaus verlassen wollte, war sie von einer Kaufhausdetekti vin angehalten worden. Ein lumpiges Unterhemd! Nichts Besonderes, bloß ein häßliches Stück Ther mounterwäsche, das sie an einem Novembernachmit tag in den Ärmel ihrer Jacke gestopft hatte, um zu sehen, ob es wirklich so einfach war, etwas zu klauen, wie jemand behauptet hatte. Offenbar hatte ihr In formant geschwindelt, aber es war ein bitterkalter Tag, und Shelley reagierte bemerkenswert klug. Als 134
eine Frau, die ihrer Mutter ähnlich sah, sie festnahm, brach sie in Tränen aus. Es täte ihr leid, aber es wäre so kalt, und zu Hause wäre es noch kälter. Ein lie benswertes, notleidendes Kind, hager und zerlumpt. Man hatte ihr verziehen und sie mit einem freundli chen Klaps auf der Schulter und einer wohlgemein ten Warnung laufen lassen. Noch heute bekam Shel ley eine Gänsehaut, wenn sie daran dachte, wie die Hand sie damals am Ärmel gepackt hatte. Sie hatte einen echten Schock empfunden, eine Mi schung aus Scham und Schrecken, daß sie derart ver sagt hatte, aber schon auf halbem Weg nach Hause war ihr klar geworden, wie gut es gewesen war, mit einem Unterhemd die Probe aufs Exempel zu ma chen. Hätte sie etwas Wertvolleres mitgehen lassen, wäre sie nicht so leicht davongekommen. Shelley tat es niemals wieder. Ihre Liebe für große Kaufhäuser ließ nur vorüberge hend nach, denn Licht und Wärme, Waren und Far ben waren eine viel zu große Verlockung. Es verstand sich von selbst, daß sie später in einem großen Kauf haus mit vielen Rolltreppen arbeiten würde, ein kind licher Traum, und es wäre auch nur eine Frage der Zeit, bis sie ihren eigenen Laden hatte. Der Traum wurde niemals Wirklichkeit, ihr Gehalt war mies, und große Sprünge verboten sich von selbst, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Das Problem lag eher darin, daß die Geschäfte ihre Faszination verloren hatten und sie darauf wartete, daß dieses Gefühl zurückkehrte. Seit langem schon machte ihr nichts mehr richtig Spaß, es sei denn nackte Haut. »Kann ich Ihnen helfen, Madam? Oder sehen Sie sich nur um?« 135
Bedien dich selbst, du alte Ziege. Shelley hatte sich von einem unzufriedenen Waren hauslehrling zu einer erfahrenen Verkäuferin gemau sert und hätte es auch zur Abteilungsleiterin ge bracht, wäre da nicht dieser dumme Streit mit einem anderen Mädchen gewesen, der sie aus dem Rennen warf, wenn auch Gott sei Dank nicht aus dem Job. Sie hatte von ihrer Mutter gelernt – und dieses Wis sen hielt sie hoch wie einen Talisman –, daß es nichts Schlimmeres auf der Welt gab, als den Job zu verlie ren. Also blieb sie noch eine Weile in dem Kaufhaus, ob wohl sie wußte, daß sie dort nichts mehr werden konnte. Währendessen sah sie sich nach einem Job in einem klassischeren Laden um und fand eine Anstel lung in einer Edelboutique in der South Molton Street. Für sie war es wie eine Beförderung. Rolltrep pen ödeten sie mittlerweile an. Eine Freundin, die ein ungewolltes Kind zur Welt bringen mußte, hatte sie als Vertretung vorgeschla gen, solange sie verhindert war. Aber als sie den Job zurückwollte, fühlte sich Shelley unter den teuren Designerstücken so wohl wie ein Fisch im Wasser und war für die Besitzerin unersetzlich geworden. Die Appelle ihrer Freundin an ihre Loyalität verhall ten ungehört. Ende der Freundschaft; und wenn schon? Shelley hatte andere Freunde, andere Interes sen. Sie bewegte sich zwischen Seidenblusen und Leinenjacketts, trug selbst alles aus dem Laden, was zu ihrer Model-Figur paßte, und platzte fast vor un terdrückter Sexualität. Ihr finsteres Gesicht verlieh den Kleidungsstücken einen zusätzlichen Reiz. Sie verabscheute dicke Kundinnen, weil sie wußte, wie 136
sehr sie sich insgeheim danach sehnten, genauso ver führerisch und hinreißend wie sie zu sein. Sie hatte sich mit Ryan darüber unterhalten, wie satt sie es hatte, fette alte Kühe bedienen zu müssen, die nach nichts aussahen und doch ein viel aufregenderes Leben führten als sie. Und wie gut sie mit ihrer Che fin befreundet war. Es war eine Freundschaft, die ihr als freiwilliger Verbündeter Zutritt zu allen mögli chen Clubs und Pubs verschaffte, häufig in Beglei tung einer Gruppe von anderen Mädchen, die alle extrem schlank waren. Unausgesprochen verbarg sich dahinter die Hoffnung, daß sie der älteren, wei seren Frau den Rücken stärkten, wenn diese durch die Bars wanderte und nach einem geeigneten Mann mit einer dicken Brieftasche Ausschau hielt. Shelley wußte nie, wann sie benutzt wurde. Wie alle Freund schaften konnte die mit ihrer Chefin von heute auf morgen beendet sein, aber auch das wußte Shelley nicht. »Was war denn los mit Ihnen? Erst bleiben Sie zwei Tage weg, und dann sehen Sie schlimmer aus als je zuvor, also ich weiß nicht. Was ist los, Herzchen?« »Die Periode«, antwortete Shelley widerwillig. »Soll nicht wieder vorkommen.« Sie wußte, daß sie genau beobachtet wurde. Wenn sie diese launische Person ein weiteres Mal hängen ließ, riskierte sie ihren siche ren Job und den Spaß, der damit verbunden war, vor allem aber, und das war das Schlimmste, daß der Mann ihrer Träume und Alpträume dann nicht mehr wüßte, wo er sie finden sollte. Derek hatte recht gehabt: Shelley war noch viel zu erschöpft und hätte besser zu Hause bleiben sollen. Sie war nervös und gereizt, kein bißchen in Form. 137
Sobald das Telefon im hinteren Teil der Boutique läutete, zuckte sie zusammen, und wenn sie die Fal ten aus den Blusen bügelte, zitterten ihre Finger und waren unbeholfen. Hätte sie ihrer Chefin erzählt, was sie gerade durch gemacht hatte, hätte die vielleicht Verständnis gehabt – oder aber ihr nicht geglaubt. Außerdem war sich Shelley nicht sicher, ob sie in der Lage wäre, die Ge schichte so zu wiederholen, wie sie sie der Polizei während ihrer Vernehmung erzählt hatte; sie würde sich bestimmt verheddern. Panik breitete sich in ihr aus bei dem Gedanken, das Ganze nochmals durch machen zu müssen. Der einzige Mensch, mit dem sie darüber reden wollte, war er. Sie zog sich die Lippen nach, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und wartete. Später Nachmittag. Plötzlich lagen die braunen Hände vor ihr auf der Vitrine, in der sich die Unter wäsche befand: reine Seide, nur für jene bestimmt, die genügend Zeit oder Personal hatten, um ihre Schönheit angemessen zu pflegen. Unter dem Glas ein Traum von geschlagener Sahne und Spitze in der Modefarbe des Monats, café au lait. Seine Hände er schienen ihr im Gegensatz dazu riesig und fremd. »Bitte, Miss. Ich hätte gern zwei davon.« »Von den Shorts, Sir? Welche Größe?« Ihre Stimme zitterte; ihre Finger fuhren über den Stoff. »Ihre Größe.« »Wie Sie wollen.« »Und Ihre Farbe.« Sie packte die Sachen ein und versuchte, genauso gleichgültig und herablassend zu sein, wie sie es bei den dicken Damen geübt hatte, aber ihr Herz raste, 138
und der Schweiß lief ihr über die Stirn, während sie mit dem Seidenpapier hantierte. Sie hielt inne und wischte sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Wie würde der Herr gern zahlen?« Er reichte ihr seine Kreditkarte ohne ein Wort. Sie führte sie kurz an die Lippen, ehe sie sie durch die Maschine schob und wartete, bis sie den Beleg, den er unterschreiben mußte, ausspuckte, als enthielte dieses Stück Papier das Geheimnis des Universums. »Ich muß dich treffen«, flüsterte sie, als er sich vor beugte, um zu unterschreiben. Sie reichte ihm die ra schelnde Einkaufstüte über den Ladentisch und be merkte mit Schrecken, daß der Lack auf ihren ungepflegten Fingernägeln abblätterte. Sie hatten Proben unter den Fingernägeln genommen und auch von ihrem Speichel und natürlich einen Abstrich ge macht; das mußte er alles erfahren. Sie wollte ihm er zählen, wie gut sie sich geschlagen hatte und wie tap fer sie gewesen war. Sie brannte darauf, seinen kahlen Kopf zu berühren und mit den Fingern die glatten Furchen seines Schädels zu liebkosen, aber sie beherrschte sich. »Was für ein schöner Tag«, sagte er laut. »Viel zu schön zum Arbeiten.« »Ja«, antwortete sie. »Da kann man nichts machen.« »Vielleicht gehen Sie ja später noch in einem schatti gen Park spazieren, wer weiß? Und wenn nicht heu te, dann morgen. Das wäre doch etwas, auf das Sie sich freuen könnten … ein Spaziergang durch den Park.« »Ja, vielleicht«, sagte sie. Sie sah ihn weggehen und spürte, wie sie vor Ab scheu und Erregung schwitzte. Plötzlich spürte sie 139
den Atem ihrer Chefin im Nacken. Ihre langen Fin ger mit den tadellos lackierten Nägeln strichen Shel leys Kragen glatt, brachten ihn wieder in Form und fuhren über die heiße Haut, ehe sie nachsah, wieviel sie gerade eingenommen hatte. »Das ist schon das dritte Mal in einem Monat, daß der geile alte Glatzkopf hier einkauft. Seine Geliebte muß ganz schön verwöhnt sein. Oder kommt er etwa Ihretwegen, Herzchen?« Plötzlich sehnte sich Shelley nach der Rape Suite in dem abgelegenen Polizeirevier. Dort wäre sie wenig stens sicher. Vielleicht wäre das Leben einer wohlsituierten katho lischen Ehefrau besser zu ertragen gewesen, wenn sie gearbeitet hätte. Ein kleiner Job in irgendeinem Ge schäft zum Beispiel. Brigid Connor beobachtete das dunkelnde Abendlicht und spürte das herannahende Gewitter in den Knochen. Der Spätsommer brachte immer solche Warnzeichen mit sich. Sie hatte weni ger Angst vor dem Donner als vor dem Blitz. O Gott, wenn ein Sturm über ihrem Kopf ausbrach, würde sie sich im Schrank verstecken, und wenn der Teufel persönlich an die Tür klopfte, würde sie keinen Mo ment zögern, sich ihm in die Arme zu werfen. So schöne Augen hatte dieser Arzt, und er war so nett. Er war über die Wahrheit gestolpert, indem er sie einfach hatte reden lassen und selbst gar nichts sagte. Sie hatte gehofft, daß er irgendwas fand, das nicht in Ordnung war, irgendeinen Grund, warum sie keinen Sex haben konnte, aber das war nicht der Fall gewe sen. Vielleicht hatte er ihr diesen Zeitungsausschnitt mit der Post geschickt. Aber wahrscheinlich war es 140
eine der Frauen gewesen. Brigid warf einen Blick auf den Getränkewagen. Er war Aemons ganzer Stolz, obwohl sie niemals Cocktailpartys gaben. Sie wußte, daß sie der Versuchung nicht widerstehen konnte, egal wie verwerflich es war, um vier Uhr nachmittags und obendrein mit einem Gewitter vor der Tür ir gendwas anderes zu trinken als Tee. Wenn ihr Mann sie dann halb bewußtlos auf dem Sofa liegend fand, würde sie ihm sagen, es sei der Blitz gewesen, vor dem sie Todesangst gehabt hätte. Der Zorn Gottes, die gerechte Strafe. Ein Blitz vom Himmel, der die Wohnung in Flammen setzte, sie beide zur Hölle schickte und dann, was am schlimmsten war, sie wie der genau ins gleiche Leben zurückkatapultierte, das sie vorher gehabt hatten. Ein Gläschen vor dem Abendessen war eine Ge wohnheit, die sie von ihren Betschwestern über nommen hatte. Mittlerweile wußte sie, daß sie kei neswegs so beschränkt und unbeweglich waren, wie sie geglaubt hatte. Vielleicht hatte eine von ihnen den Zeitungsausschnitt geschickt. Es gab ein Ritual, das der Gewohnheit eines Drinks vorausging wie viele andere Rituale, die sie vage als Zeichen dafür sah, daß irgendwas mit ihr nicht stimmte. Doch sobald sie nach dem ersten Drink die Klarheit ihres Denkens wiedergewonnen hatte, schienen ihre vielen Neurosen nichts Ungewöhnli ches zu sein. Langsam kam sie zu der Erkenntnis, daß die sorgfältige Rationierung des Alkohols viel leicht doch keine gute Idee war. Aemon haßte Frauen, die tranken. Wenn er sie betrunken fand, würde er sie vielleicht nicht mehr anrühren, falls aber doch, so würde sie wenigstens während der ganzen 141
Prozedur nichts merken. Im Augenblick sah sie sich allerdings außerstande, diese Theorie in die Praxis umzusetzen. Ihr Stolz verbot es, und außerdem mangelte es ihr an Erfahrung mit Alkohol. Jedenfalls hätte ihr Leben ganz anders aussehen können, wenn sie schon eher Geschmack am Alkohol gefunden hätte. Trinken war schrecklich für die Haut, hatte sie ge hört. Frauen bekamen ein aufgedunsenes Gesicht und Falten, sagte ihre Mutter, Männer dagegen einen Bauch, der eher zu einer schwangeren Frau gepaßt hätte. Bei Aemon zumindest war es so. Alkohol ist schrecklich, Schwester. Über all das dachte sie nach, während sie das Wasser für ein Bad einlaufen ließ und sich vollkommen be wußt war, daß nur Frauen, die sonst nichts zu tun haben, zweimal am Tag baden können. Das Ritual aber erforderte es. Es war eine Variation der Vorstel lung, daß ein Bad Leib und Seele entspannt. Es hatte eine therapeutische Wirkung und konnte einen von vergangenen und zukünftigen Sünden gleichermaßen erlösen. Der Sünde zum Beispiel, daß sie heimlich die Pille nahm und Aemon den heißersehnten Sohn ver weigerte, Gottes Willen also doppelt mißachtete, und das auch noch ihrem Frauenarzt beichtete. Brigid liebte diesen Raum, er war der ideale Zu fluchtsort: groß, schön und luftig. Und alles war glatt und weich. So wie ich früher, dachte sie traurig und schaute auf ihre erschöpfte Gestalt in dem zum Glück vom Dunst beschlagenen Badezimmerspiegel. Die Brüste, natürlich, sie war bekannt für ihre straffen Brüste unter dem T-Shirt, die jeden Bleistifttest in der Schule bestanden hatten. Sie versank im perlen 142
den Wasser, tauchte vor dem Spiegel wieder auf und wischte sich mit beiden Händen den Schaum vom Oberkörper, um das Handtuch zu sparen. »Sie sind eine sehr attraktive und völlig gesunde Frau, Mrs. Connor. Haben kaum Falten. Sie könnten Kinder haben, wenn Sie wollten. Sie können natür lich tun, was Sie wollen, aber wenn ich bedenke, was Sie mir über ihre Lebensweise erzählen, da könnte man vielleicht noch was verbessern … um Ihren SexAppeal brauchen Sie sich wirklich keine Sorgen zu machen. Das ist nicht das Problem, oder?« Das hatte der aufmerksame Arzt gesagt, und sie nahm an, daß ihr Appeal, wie er es nannte, ihre Exi stenz definierte. Ob man gut oder schlecht aussah und aus einer armen Familie in ein besseres Leben heiratete, mit einem Badezimmer wie diesem, war eben Schicksal. Sie hielt den Zeitungsausschnitt über das Wasser und fragte sich erneut, wer ihn wohl ge schickt hatte. Wer es auch war, er konnte es gut ge meint haben, aber auch böse. Die Buchstaben verschwammen im nebligen Dampf, während Brigid Connor noch einmal die Meldung über die Frau las, die behauptet hatte, ihr Ehemann habe sie vergewaltigt und gequält. Asiatische Namen, daher nicht ohne weiteres auf sie übertragbar, selbst wenn das Urteil positiv ausgefallen wäre. Schön und gut das Ganze, aber Vergewaltigung in der Ehe ist sehr schwer zu beweisen. Fast unmöglich. Brigid hielt nicht viel von dem Zeitungsausschnitt. Mit einer Hand zerknüllte sie ihn, und mit der anderen betätig te sie die Toilettenspülung. Sie kam sich vor wie eine Geisel, die von Flucht träumt. Sich dafür des Geset zes zu bedienen, war undenkbar: Sie würde es nie 143
mals wagen, gegen Aemon zu prozessieren. Sie hatte keine Chance. Im heißen Wasser reinigte sie ihre Fingernägel mit einem Zahnstocher und wusch sich den eingebilde ten Dreck zwischen den Zehen weg. Möglicherweise gab es eine geringe Hoffnung, daß Aemon sich seine Frau lieber weniger aufreizend sauber wünschte, so wie er sie lieber in was anderem als der ewig gleichen Schürze gesehen hätte – ihre übliche Aufmachung beim Kochen. Sie war eine unfreie Frau. Sie saß zwar in einem goldenen Käfig, aber sie war unfrei, selbst wenn der Bademantel die Feuchtigkeit perfekt aufsog und leicht nach Rosenblüten und einer feuchtigkeits spendenden Moschuscreme duftete. Möglich, daß sie nach all den Waschungen stank wie eine Hure, aber das war ihr egal. Erwartungsvoll beugte sie sich über den Getränke wagen. Sie hatte den Gürtel des Bademantels eng um sich geschlungen und duftete beruhigend nach Par fum. Noch hatte sie mindestens eine Stunde, um sich den ersten großen Gin zu genehmigen, ehe Aemon nach Hause kam. Sie persönlich konnte nicht verstehen, warum man Tonic dazumischte. Zitrone und Eis aus einem sil bernen Eiskübel, das war in Ordnung. Das zweite Glas lag angenehm kühl in der Hand, als es an der Tür klingelte. In dem einfachen Bademantel, der ihr vom Hals bis zu den Knöcheln reichte, ging sie zur Tür. Unten am Eingang gab es einen Portier, der die lästigen Zeugen Jehovas und Staubsaugervertreter abwimmelte. Bri gid zögerte nie, die Tür zu öffnen, sie hoffte förmlich, daß irgendwer klingelte. In ihren Augen lebte derje 144
nige, der die größte Gefahr für ihr Leben darstellte, bereits in ihrer Wohnung, und bis er kam, blieb ihr noch ein Weilchen Zeit für sich. Da stand er, der nette Mann mit den wunderbaren Augen, der alles verstanden hatte, was sie ihm zwi schen den Zeilen verschwiegen hatte, als sie ihre nicht existenten Symptome erklärte. Es schien lange her, obwohl seitdem nur wenige Tage vergangen sein konn ten. Er lächelte, natürlich, das tun alle Besucher, und blieb vor der Tür stehen. Sollte sie ihn hereinbitten? »Oh«, brachte sie nur heraus. »Oh, Sie sind es. Kommen Sie doch rein.« Sie wußte nicht recht, ob sie angenehm überrascht, verlegen oder erstaunt sein sollte. Brigid hätte klarer denken können, wäre da nicht dieses überwältigende und unübersehbare Schuldgefühl gewesen. In der einen Hand hielt sie immer noch ein volles Glas Gin. Sie war zwar von Kopf bis Fuß bedeckt, aber keinesfalls passend ange zogen – um halb fünf nachmittags machte das keinen besonders guten Eindruck. Na, wenigstens sah sie nicht aus wie eine Schlampe, und außerdem hatte sie gerade gebadet, schoß es ihr durch den Kopf. »Ganz allein?« sagte er höflich, ohne eine Antwort zu erwarten. Irgendwie roch es in der Wohnung nach jemandem, der viel zuviel allein war. Keine Delle in den Sofakissen zeugte davon, daß dort jemand geses sen hatte. »Ich war zufällig in der Gegend«, fuhr er fort, »und dachte, Sie hätten sicher nichts dagegen, wenn ich mal nach Ihnen sehe. Ich hatte den Ein druck, daß Sie sehr unglücklich sind, wissen Sie. Das ist mir nicht aus dem Sinn gegangen. Verzeihen Sie, wenn ich störe.« Er stand am Fenster. »Was für eine schöne Aussicht.« 145
Das Gewitter war ausgeblieben, hinter den Wolken in verschiedensten Grautönen klarte der Himmel wieder auf. Brigid kannte die Aussicht auswendig; jeden Tag starrte sie stundenlang aus dem Fenster. Sie wußte, daß sie am höchsten Punkt von Clerken well standen, und von hier, der schönsten Wohnung weit und breit, konnte sie die Wolkenkratzer sehen, die nur aus der Ferne poetisch wirkten. Wenn man im Wagen saß und durch diese Straßen fuhr, wirkten sie kahl und deprimierend; hier oben aber war man erstaunt, wie grün die Gegend war. Man erkannte sogar das Glitzern des Wassers und den schattigen Baldachin von St. Pancras Gardens. »Aber nein, Sie stören nicht«, antwortete sie. »Ich habe mir gedacht, daß Sie … eine Therapie bräuchten, Mrs. Connor«, erklärte er leise, noch im mer mit dem Gesicht zum Fenster. »Eine Therapie?« wiederholte sie und beobachtete seine Hände, die er auf dem Rücken hielt, und die Finger, die gegen die Knöchel schlugen. Plötzlich fühlte sie sich leicht benebelt, es war die Wirkung von zwei Gläsern Gin auf leeren Magen und das erste undeutliche Anzeichen von Angst. Diese Augen. Er sagte nichts, und sein Schweigen brachte sie aus der Fassung. »Wollen Sie was trinken?« fragte sie und merkte, wie ihre Stimme zitterte. »Nein. Stellen Sie Ihren Drink weg, und setzen Sie sich zu mir.« Er zeigte auf das glänzende Ledersofa, ein tiefes und weiches Möbelstück, das laut aufseufz te, als sie sich hinsetzten. Wie peinlich. »Eine Therapie, Mrs. Connor. Für eine schöne, miß handelte Frau.« Sein Gesichtsausdruck war keineswegs gierig, son 146
dern neutral. Es war der objektive Blick eines Wis senschaftlers, der ein Objekt untersucht, das sein In teresse, nicht aber seine Leidenschaft weckt. Er faßte nach dem Kragen ihres rosenduftenden Bademantels, streifte ihn bis über die Schultern herab und hinderte sie damit an jeder Art von Bewegung, ehe sie wußte, wie ihr geschah. Dann löste er sorgfältig den festen Knoten des Gürtels und schob den dicken weichen Frottee auseinander. Sie starrte entsetzt und hilflos auf ihren nackten Körper herunter und schloß dann die Augen aus Protest gegen diese Zurschaustellung. Ihr Mund war wie ausgetrocknet. Vorsichtig befreite er eine Brust und nahm die Warze in den Mund. Sie hörte das leise saugende Geräusch eines Babys an ihrer Brust; daran konnte sie sich ver schwommen erinnern, es war die erotischste Erfah rung ihres Lebens gewesen. Zuerst die rechte Brust, dann die linke, wie ein Kind, warm und naß, bis die Brustwarzen hart und spitz waren und er von ihnen abließ. Sie spürte, wie sein leicht glänzendes Hemd ihre Haut streifte, der Mund eine feuchte Spur über ihren Bauch zog und seine langen Finger ihre Schen kel spreizten, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, obwohl sie die Fäuste geballt hatte und mit den Zähnen knirschte. In diesem Zustand läh menden Schocks war es alles, was sie tun konnte. »Ganz ruhig«, murmelte er. »Es ist nur eine Thera pie, Mrs. Connor. Mein armer Liebling.« Dieses zärtliche Wort, das er ausgesprochen hatte, ehe er das Gesicht zwischen ihren Schenkeln begrub und sie seine Zunge spürte, war genauso schockie rend wie das, was er tat. Seit Monaten hatte Brigid kein zärtliches Wort gehört, nicht mal die Andeutung 147
davon, sondern nur grobe Aufforderungen oder scharfe Anweisungen, beweg dich, nein, nicht so, und dann ein zufriedenes oder frustriertes Grunzen. Dieses zärtliche »Liebling« lähmte sie um so mehr. Ich müßte schreien, dachte sie, und versuchte es, doch der Schrei blieb ihr im Halse stecken. Sie hörte nur ihren eigenen Atem, spürte nur, wie seine Hände ihren Hintern umklammerten und sie mit überwälti gender Sanftheit zu seinem Mund emporhoben. Ihre weit aufgerissenen Augen starrten auf die Decken lampe, ein kunstvolles Ding aus Glas und Chrom, genauso neu wie das Sofa. Die Gedanken schossen wild durch ihren Kopf und machten sie schwindelig. Daß es keinen Zweck hatte zu schreien, weil niemand sie hören konnte, daß sie gleich aus diesem Alptraum aufwachen würde und in ihrer warmen Badewanne säße, daß ihre Brustwarzen schmerzten vor Erregung und dieser Mann kein Fremder, sondern ihr Ehe mann wäre. Oder dieser andere Junge, den sie vor vielen Jahren geliebt hatte. Die Deckenlampe gewann wieder an Schärfe, sie zählte die Birnen, sechs an der Zahl. Ihr Schimmern erinnerte sie daran, daß sie sich in der Gegenwart be fand, und das, was er mit ihr machte, ungeheuerlich war. Sie mußte schreien oder sich wehren, falls sie noch am Leben war. Sie mußte die Galle ausspucken, die ihr hochkam. Sie versuchte die Arme zu befreien, bewegte ein Bein, um ihn zu treten; sie hob den Kopf, um besser schrei en zu können; sie bog den Rücken hoch und fühlte, wie er ihren Schenkel festhielt, so daß sie das Bein nicht bewegen konnte. Die Wade baumelte über der Sofalehne, seine Finger bohrten sich in ihr Fleisch. 148
Und dann verebbte zu ihrem Schrecken selbst dieser schwache Widerstand in ihr. Eine angenehme Wär me breitete sich bis zu ihren Hüften aus, die Leisten gegend prickelte, und sie hatte das Gefühl, als wäre die Öffnung da unten riesig. Sie versuchte, die Beine zu schließen, das Gefühl zu unterdrücken, es zu er sticken, zu ignorieren, ihren verräterischen Körper wieder unter Kontrolle zu bringen, aber es war zu spät, der Verstand spielte nicht mehr mit. Brigid Connor erschauerte vor Lust, stöhnte und biß sich auf die Lippen, bis sie bluteten. »Eis gefällig?« fragte er. Sein Gesicht mit den schö nen Augen und der Schädel, der blankpoliert war wie das Treppengeländer, das hinunter zum Foyer führte, schwebten über ihr. Sie schloß die Augen, weil sie ihn nicht ansehen konnte. Das Sofa atmete aus, als er aufstand. Sie hörte leise Schritte und das Klirren von Glas, dann kam er zurück. »Das wird dich abküh len«, hatte er gemurmelt, oder etwas Ähnliches, wie sie sich später erinnerte. Ihr ganzer Körper war rot angelaufen und zitterte. Dann spürte sie die Eiswür fel, die er ihr zwischen die Beine schob. Halb ge schmolzenes Eis aus dem Kübel, das sie sorgfältig be reitgestellt hatte, damit das Ritual des Trinkens we niger verwerflich war und mehr der Zeremonie des nachmittäglichen Tees entsprach. Erst da schrie sie. Später schnappte die Tür leise hinter ihm ins Schloß. Der Behälter enthielt frisches Eis. Auf dem Tisch la gen Geschenke, die sie nicht bemerkt hatte: Blumen und Pralinen. Das glatte Leder des Sofas war mit ei nem Reinigungsmittel behandelt worden, und Mrs. Brigid Connor war wieder da, wo alles begonnen hat te, im Bad, wo sie leise und immer noch starr vor 149
Schock vor sich hin weinte. Der Gin, den er ihr ein geschenkt hatte, konnte den Schock nicht lindern. Sie versuchte, ihren unkonzentrierten, ohnehin nicht allzu wachen Verstand zu sammeln, um aus ihrem Bewußtsein zu löschen, wie er ausgesehen und was er getragen hatte. Ein elegantes, glänzendes Hemd aus Synthetik; eine undefinierbare Hose, nichts, das er abgelegt hätte. Kein Schmuck, kein Haar, keine Spuren. Ihr Leben lang hatte Brigid wegen ihrer eingebilde ten Sünden geweint, aber noch nie hatte sie eine der artig schreckliche und erniedrigende Scham empfun den. Rose Darvey hatte sich immer mal wieder an der In neneinrichtung des Hauses versucht, das sie mit Mi chael teilte, und dieses Bemühen, so etwas wie Har monie zu schaffen, wies auf Helen Wests Einfluß hin. Diese hatte ihre Souterrainwohnung in ein sonniges Plätzchen verwandelt, in dem gelbe und blaue Far ben dominierten. Rose fand das so schön, daß sich die Farben in ihr Bewußtsein eingebrannt hatten. Sie war wie Helen West nicht besonders häuslich, mußte sich aber geradezu zwanghaft ein Nest bauen, egal, wo sie wohnte, und Rose war viel rumgekommen, seit sie von zu Hause ausgerissen war. Ihre jeweilige Blei be war immer ein Musterbeispiel für Ordnung gewe sen. Sie war unschlagbar, wenn es darum ging, einem Ort mit Pinsel und Farbe ihren Stempel aufzudrük ken, doch kaum war das geschafft, ließ ihre Begeiste rung schlagartig nach. Rüschen, Verzierungen und Puppen waren aus ihrem Leben verschwunden, seit sie Michael kannte. Notgedrungen hatte sie Möbeln 150
gegenüber eine minimalistische Einstellung entwik kelt, und die Kücheneinrichtung war rudimentär, weil sie sich weigerte, Dinge zu benutzen, die andere Leute abgelegt hatten. Die Wände hatte sie eigen händig blaßgelb gestrichen, die Jalousien waren gelb und blau gestreift, Teppiche und Geschirr passend dazu ausgesucht. Rose fand die Idee, ihren Freunden und Michaels Familie eine Geschenkliste zu überrei chen, nicht nur unhöflich, sondern geradezu raffgie rig. Daher hatte sie allen gesagt, sie wünschte sich etwas in Gelb oder Blau und, falls es sich jemand lei sten konnte, einen elektrischen Bohrer für Michael. Mit dem Haus hatten sie Glück gehabt. Rose ver diente nicht mehr als ein Lehrling und hatte noch einen kleinen Notgroschen von ihrer Großmutter; Michaels Gehalt dagegen konnte sich sehen lassen. Es ging ihnen nicht schlecht, und mit der Zeit würde es noch besser werden. Sie waren nicht auf Hoch zeitsgeschenke angewiesen. Es gab nichts, das nicht warten konnte. Die Prioritäten in Roses Leben stan den fest. Sie wollte ihn lieben, hart arbeiten, um wei terzukommen, und so viel Spaß am Leben haben wie möglich. Das Anstreichen konnte warten, und die Pflanzen sollten von ihr aus krepieren. »Alles wieder gut?« fragte sie, als sie von der Arbeit kam und seinen breiten Rücken über die Küchen spüle gebeugt sah, um ihr Frühstücksgeschirr abzu waschen. Wenn er Nachtschicht hatte, sahen sie sich nicht jeden Tag. Manchmal vergingen sogar drei vol le Tage. Er antwortete nicht. Sie umarmte ihn von hinten; er spritzte ihr ein wenig Lauge ins Gesicht, sie schrie und boxte ihn sanft in die Rippen. Dann fielen sie sich in die Arme, wobei die ihren kaum um 151
seinen Brustkorb paßten, und drückten sich, bis sie keine Luft mehr kriegte, außer für einen endlosen Kuß, der alle Muskeln zu beanspruchen schien und ihre Zehen vom Boden hob. Als sie sich ein wenig voneinander lösten, zog Rose ihn zärtlich am Haar und warf ihm einen fragenden, aber herausfordernden Blick zu. »Du bleibst also?« Er hielt sie mit feuchten Händen fest, küßte sie auf Stirn, Nase und Lippen. »Ich dachte mir, ich könnte es verschieben. Vielleicht denke ich in vierzig Jahren noch mal darüber nach, wenn unsere Enkelkinder nichts dagegen haben.« Sie sah ihn ernst an. »Und wie viele werden das schätzungsweise sein, Daddy?« »Ein Dutzend oder so. Gib uns einen Kuß.« Versöhnungen nach einem Streit waren immer so. Sie war in einer Atmosphäre grollenden Schweigens und allgegenwärtiger Bedrohung aufgewachsen und hielt Zank und Streit einfach nicht aus. Sie nisteten sich im Gemäuer ein, hatte sie ihm erklärt, und irgendwann stürzte das Haus ein. Sie fingen an zu plaudern. Wie immer, wenn er nach Hause kam, während sie bereits auf dem Weg zur Arbeit war, hatte sich eine Menge Neuigkeiten ange staut. Als Frau eines Polizisten mußte man lernen, unabhängig zu sein. Rose wußte das. »Da wir gerade bei Kindern sind«, sagte er beim Ab trocknen. »Warst du eigentlich in dieser Klinik?« »Ja.« »Und – was hast du bezahlt?« »Nicht viel. Hab ich dir doch gesagt. Ich wäre nicht hingegangen, wenn Anna mich nicht überzeugt hätte, 152
daß es das Beste ist, und mir einen Sonderpreis be sorgt hätte. Die Klinik ist todschick, und sie hatte recht. Besser als zum Arzt zu gehen – und man muß nicht stundenlang warten.« Sie waren beide verrückt nach Kindern, aber nicht sofort. Bis jetzt hatte Rose die Pille genommen, ob wohl sie genau wie er nichts davon hielt. Er konnte nicht verstehen, daß man schon in jungen Jahren an fing, Drogen zu nehmen. Sie zog ihn damit auf und sagte, es sei nur sein sportlicher Übereifer, der ihm einredete, alle Medikamente seien Gift. Sie kicherte. »Komm mal nach oben. Ich will dir was zeigen. Du wirst es nicht glauben.« Eine steile Treppe führte zu einem Badezimmer und zwei kleinen Schlafzimmern im ersten Stock. Das Fenster des einen ging auf die Straße hinaus. Sobald das Haus vom Gerümpel befreit war, würden sie in das hintere Zimmer ziehen, das abgeschiedener war und auf die Bahngleise sah, die aber von einer Baum reihe verdeckt wurden. Nach vorne heraus blickten sie auf die Straße und ein paar Häuser. Es bestand daher kein Grund zur Eile. Die Vorhänge im Vorderzimmer waren ebenfalls blau und gelb. Die toten Pflanzen, die als vorgeschobener Grund für ihren Streit gedient hatten, bei dem es eigentlich um ganz was anderes gegangen war, lagen auf dem Boden. »Das haben sie mir gegeben«, erklärte Rose. »Ein Pessar, wie wir gesagt hatten. Anna hat mir erklärt, wie es geht. Sie meint, ich soll es eine Woche aus probieren … und dann noch mal wiederkommen, aber ich glaube nicht, daß es nötig ist. Dieser Arzt hat mir zu viele Fragen gestellt … und außerdem 153
fühlt man sich ganz schön blöd, wenn man das Ding da reinstecken muß. Ich war froh, daß Anna dabei war.« »Du meinst, sie zeigt es dir oder du ihr? Sieht ko misch aus, wie?« Er versuchte seine Abscheu vor dem runden Gummiding in der blauen Plastik schachtel zu verbergen. Es war der unerotischste Ge genstand, den er je gesehen hatte. Er erinnerte ihn an den Beißring seines Cousins. »Wie hast du es reinge kriegt?« »Ich werd mich hüten, die ganze Prozedur zum Spaß zu wiederholen«, antwortete Rose entrüstet. »Leicht ist es jedenfalls nicht, das kann ich dir sagen.« Sie griff in die Tüte, in der auch die blaue Schachtel ge wesen war, und zog eine Tube heraus. »Zuerst schmiert man es mit dem Zeug ein, und zwar in der Mitte und an den Rändern.« Sie machte es vor, wäh rend er fasziniert zusah. »Und dann preßt man es in der Mitte zusammen, siehst du, so – und steckt es sich rein, na, du weißt schon, wohin. Oh, Mist.« Rose kicherte schon wieder. Das Pessar war glitschig und schwer zu fassen. Ein komischer Gegenstand mit einem drahtverstärkten Rand, der ihr plötzlich aus der Hand geflutscht, im hohen Bogen durch die warme Abendluft geflogen und unten auf dem Bür gersteig gelandet war. Sie sahen sich entgeistert an und duckten sich dann wie zwei Soldaten auf der Flucht vor Heckenschützen unter die Fensterbank. Schließlich hob Michael den Kopf bis zum Sims und warf einen verstohlenen Blick nach unten. Rose folg te seinem Beispiel. Das Pessar lag ein wenig links von ihrer Haustür und glänzte wie ein anklagendes Auge. Beide Köpfe, ihr 154
dunkler und sein heller, duckten sich erneut. Rose fiel gegen die Heizung, hielt sich an ihm fest und schüttelte sich vor Lachen. »Psssst«, sagte er. »Psssst!« Dabei konnte er selbst kaum an sich halten. »Du gehst es holen …« »Nein, ich kann nicht, ich kann einfach nicht …« Sie lagen eng umschlungen auf dem alten blauen Teppich zwischen den abgestorbenen Pflanzen, und die Vorhänge flatterten in der Brise. Es war eine ru hige Straße, wenn auch nicht verlassen; bestimmt hatte man sie aus den gegenüberliegenden Fenstern beobachtet. Der Kuß wurde da wieder aufgenom men, wo sie in der Küche aufgehört hatten, und ging in eine weiche, süße und drängende Lust über. Man hörte nur noch das Rascheln von Kleidern, bis auch die Kleider verschwunden waren und Rose sagte, ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich … Er sagte dasselbe. Die Abendsonne stand tief am Himmel, als Michael erneut aus dem Fenster sah. Diesmal hatte er das Bettlaken um die Hüften geschlungen. Er warf einen Blick auf die Straße und dann noch einen. Dann stieß er sie an. »Hey, Rose … es ist weg … Ja, wirklich. Irgend je mand hat es geklaut.« Es klingelte an der Tür. Rose rappelte sich auf die Knie. »Meinst du, jemand bringt es uns zurück?« fragte er. »Nein«, entgegnete sie, griff nach ihren Klamotten und sah auf die Uhr. »Es sind deine Eltern.« »Sollen wir über die Regenrinne im anderen Zimmer abhauen?« schlug er grinsend vor. Rose zog ein Hemd über, beugte sich aus dem Fen 155
ster und rief den beiden grauhaarigen Köpfen vor der
Haustür zu: »Wir kommen!«
»O nein«, stöhnte er. »Ich halt’s nicht aus!«
Und Rose hatte den Anstand zu erröten.
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7
»Der Beischlaf ist eine kontinuierliche Handlung, die mit dem Zurückziehen des männlichen Gliedes beendet ist. Daher macht sich ein Mann der Vergewaltigung schuldig, sobald er sich bewußt wird, daß die Frau nach begonnenem Beischlaf Widerstand leistet, und er den Beischlaf nicht beendet …«
I
ch war nicht gewillt, das zu werden, was ich gewor den bin«, schrieb er auf seinen Block. »Ich bin ein gequälter Mensch und habe daher das Recht, andere zu quälen …« Moment mal. Er quälte niemanden. Er erlöste, schenk te Lust, befreite; das war alles. Doch das moralische Gift der Außenwelt hatte ihn längst infiziert und in diesen erniedrigenden Zustand versetzt, in dem er immer wieder über die Konsequenzen nachdenken und wie besessen in den Gesetzestexten und Kom mentaren wühlen mußte, um sich erneut zu vergewis sern. Diesen Texten zufolge brauchte er nur darauf zu achten, daß kein Teil seines Körpers in den anderen eindrang. (Die Zunge zählte nicht dazu – und im übri gen war sie ohnehin fast völlig immun gegen Anstek kung –, ebensowenig ein Finger oder Geräte wie eine Spritze, die lediglich medizinischen Zwecken dienten. Diese Art von Penetration stellte keine Vergewalti gung dar.) Er atmete erleichtert auf. Ein Buch war um vieles ver läßlicher als der Bildschirm eines Computers im grellen 157
Tageslicht. Bücher waren wie stabile Möbelstücke, man mußte einige Mühe aufwenden, um die mit Wis sen vollgestopften Seiten umzublättern. Aber auf jede Mühe folgte unweigerlich eine Belohnung. Danach las er einen Artikel über Kahlköpfigkeit, der Frauen aufforderte, sich der sagenhaften Potenz von glatzköpfigen Männern bewußt zu werden und sie ge nauso skrupellos zu jagen wie andere Männer. Er schüttelte den Kopf, als er gereizt feststellte, daß er schon wieder dabei war, über mögliche Konsequenzen nachzudenken. Er besaß am ganzen Körper kein einzi ges Haar mehr, das von der Spurensicherung gerichts medizinisch verwertet werden könnte. Das war nicht seine Schuld, es hatte sich so ergeben, Schicksal. Er schwitzte so gut wie nie, und am wohlsten fühlte er sich in synthetischen Stoffen, die fest verarbeitet waren und kaum Fasern verloren, die man unter dem Mikro skop hätte untersuchen können. Solange er also seine diversen Körperflüssigkeiten bei sich behielt, konnte man ihm nichts nachweisen, es sei denn, eine Frau würde sich nicht mit reinem Protest begnügen, son dern ihn tatsächlich anzeigen. Aber insbesondere Frauen schämten sich ihrer Lust einfach zu sehr, um einen solchen Schritt zu wagen. Liebe mich so, wie ich bin. Für das, was ich dir gebe. Schluß damit. Nächste Seite. »… Eine Weitung des Gebärmutterhalses in buchstäb lich jeder Phase der Schwangerschaft bringt im allge meinen Krämpfe der Gebärmutter mit sich, die wie derum dazu führen, daß die Gebärmutter ihren Inhalt ausstößt. In-vitro-Enthauptungen oder Fötuszerstük kelung sind einem Kaiserschnitt vorzuziehen … Man benutze eine Spritze mit einer Seifenlauge … und sto 158
chere mit einer langen Sonde im Inhalt … wie in ei
nem Pudding.«
Sie sollten mir dankbar sein für alles, was ich weiß und
zu geben habe.
Daß ich ihnen zeige, was Lust ist, ohne Schmerzen
oder sonstige Konsequenzen.
Daß ich sie vollpumpe mit Lust und Luft. Ihren Qua
len ein Ende mache.
»Bei einer Vergewaltigung kann man ziemlich in die Klemme geraten«, tönte Redwood. Irgendwer schnaubte verächtlich, doch er achtete nicht darauf. »Sexuelle Gewalt à la Redwood« – das klang wie eine vegetarische Delikatesse. Doch die Kombination war garantiert unverdaulich, vor allem weil sie genauso unbeabsichtigt war wie seine berüchtigten Wort spiele. Als er so vor ihnen im Saal stand, dachte Helen mit einem Anflug von Sympathie, daß er in einem seiner früheren Leben wahrscheinlich ein zerstreuter Pro fessor gewesen war, der sich weit besser auf das Ver fassen von Gesetzestexten verstand als auf deren Umsetzung in die Praxis. Er war ein ziemlich inkom petenter Abteilungsleiter und ein noch schlechterer Redner, dem es meistens gelang, die Augen vor den eigenen Unzulänglichkeiten zu verschließen. Trotz dem gab es gelegentlich Momente, in denen sie ihm bewußt wurden und ihn in ein Häufchen Elend ver wandelten. Er stand vor den Zuhörern, die an diesem obligatori schen Kurs teilnahmen, und versuchte, Stärke zu demonstrieren. Dabei verbreitete er nichts weiter als die Langeweile eines Akademikers, der meint, als er 159
ster eine Neuigkeit auszuposaunen, die schon der halben Welt bekannt ist. »Dem Gesetz zufolge«, verkündete er eifrig und fuchtelte dabei mit den Blättern herum, die bereits unter sämtlichen Anwesenden verteilt worden waren, einschließlich derer, die sich nicht schnell genug aus dem Staub gemacht oder ein überzeugendes Alibi ausgedacht hatten, »können auch Männer vergewal tigt werden.« »Bei mir steht vorgewaltigt«, murmelte eine Stimme. »Ein Druckfehler«, fauchte Redwood. »Stellen Sie sich nicht so blöd an.« Er räusperte sich. »Natürlich ist das nichts umwerfend Neues. Früher hieß es Pä derastie, nicht Vergewaltigung, vorausgesetzt, das Opfer hatte ein bestimmtes Alter noch nicht er reicht, und unabhängig davon, ob das Opfer einge willigt hatte oder nicht. Päderastie traf nicht zu, wenn das Opfer über einundzwanzig war und nichts dagegen hatte. Früher gab es auch noch den Ankla gepunkt der groben Unzucht, aber nur, wenn sich das Delikt in aller Öffentlichkeit abspielte. Jetzt läuft alles unter der Überschrift Vergewaltigung. Was von enormer Bedeutung ist, wenn man die Anklage schrift korrekt formulieren will.« Er strahlte, wäh rend alle anderen müde lächelten. Neuigkeiten von gestern wurden nicht besser, wenn man sie nach plapperte. »Jetzt ist alles Vergewaltigung. Verstehen Sie? Wenn eine Frau zur Sodomie gezwungen wird, dann ist es Vergewaltigung; dasselbe gilt für den Mann. Egal ob vaginal oder anal, alles dieselbe Chose. Ist das klar? Eine Anklage für alles. Natürlich gibt es nach wie vor Nötigung und Päderastie und Sodomie, wenn Sie 160
wollen. In bestimmten Fällen. Es hängt immer davon ab, was Sie beweisen können.« Diesmal kam das Murmeln einwandfrei von Rose, aber als Redwood herumfuhr und sie anstarrte, konn te er nur noch ihr stacheliges Haar sehen. Den Kopf fleißig über ihre Notizen gebeugt saß sie da, eine Musterschülerin, und nichts verriet sie, nur daß sie ein langes schlankes Bein über das andere geschlagen hatte und heftig mit dem nackten Fuß wippte, wäh rend sie sonst völlig reglos war. Aus dem Augenwin kel sah Redwood, wie sich die Tür öffnete und ein Nachzügler zögernd eintrat. Helen West nutzte die Gelegenheit und stahl sich in seinem Schatten aus dem Raum. »Ein Mann kann vergewaltigt werden«, fuhr Red wood weniger sicher fort. »Er muß sogar vergewal tigt werden, wenn alles unter einer Decke stecken soll … Was ist denn los?« Mittlerweile war Rose die einzige in der ersten Reihe, die völlig reglos dasaß. Sie war die Konzentration selbst, der Fuß unbeweglich, der Schuh angezogen. »Dasselbe gilt auch, was die Einwilligung anbelangt. Oh, ja. Und die Beweise natürlich.« Am Ende der Vorlesung war die Hälfte der Anwe senden fest eingeschlafen. Jemand dankte Redwood für die tiefen Einblicke in die Problematik des Rechts und setzte leise hinzu, daß dies der allgemeinen Libi do allerdings weniger bekommen sei. Grinsend trot teten sie aus dem Saal. Sobald er wieder in seinem Büro war, wischte sich Redwood den Schweiß von der Stirn und machte sich einen Tee. Für diesen Zweck hatte er eine Sekretärin, doch er fand, es schadete der Arbeitsmoral, sie dafür 161
einzuspannen. Schließlich sollte sie ihren Grips ge brauchen, um all seine Rundschreiben zu tippen und die unzähligen Anweisungen von oben in Klartext zu übersetzen. Außerdem bereitete er den Tee gern so zu, wie er ihn am liebsten mochte, und trank ihn dann aus einer Porzellantasse, die er von zu Hause mitgebracht hatte. Derartige Verschnaufpausen ver mittelten ihm eine Illusion von Kultiviertheit, die er ungestört genießen wollte. Daher runzelte er die Stirn, als Helen West, kaum daß sie angeklopft hatte, bereits im Zimmer stand. Sollte er ihr sagen, daß er gesehen hatte, wie sie sich klammheimlich aus seiner Vorlesung entfernt hatte? »Kann ich was mit Ihnen besprechen?« Ihre Höflichkeit war verdächtig. Sofort überlegte er, wie er ihr den Wind aus den Segeln nehmen konnte, getreu dem Motto: Angriff ist die beste Verteidigung. »Gleich, Helen. Sagen Sie, könnten Sie nicht was da gegen unternehmen, daß so viele Ihrer Vergewalti gungsfälle mit einem Freispruch enden? Ich habe in den Statistiken geblättert, es sieht gar nicht gut aus …« »Sie wollen sagen, daß es dem Ansehen der Kronan wälte schadet, wenn wir die Hälfte unserer Fälle ver lieren? Ich wüßte schon, wie wir das ändern könnten. Wir sollten potentielle Angeklagte in Seminare schik ken und sie davon überzeugen, daß sie erst noch ein paar andere Straftaten begehen, damit wir ihre Fin gerabdrücke und DNS bereits bei uns gespeichert haben. Und dann müßten wir ihnen noch beibringen, daß sie brauchbare Spuren hinterlassen – zum Bei spiel Körperflüssigkeiten und Fasern von ihren brandneuen Baumwollhemden, wenn sie beim näch sten Vollmond wieder zuschlagen. Außerdem könn 162
ten wir den Opfern einbleuen, sich keinesfalls mit Männern unter vierzig einzulassen, die sie nicht schon aus dem Sandkasten kennen, und dafür zu sorgen, daß sie ordentlich Verletzungen davontragen, damit keiner sagen kann, es hätte ihnen Spaß ge macht, wenn sie schon so dumm waren, sich überfal len zu lassen. Wie wär’s damit?« »Lassen Sie den Unsinn.« »Das ist kein Unsinn. Es gibt so viele Freisprüche, weil in jedem Fall, bei dem nicht von vorneherein al les völlig klar ist – zum Beispiel, wenn eine Frau mit vorgehaltenem Messer auf einem öffentlichen Park platz vergewaltigt wird –, ein Risikofaktor bleibt, auch wenn alles dafür spricht, daß die Frau die Wahrheit sagt. Hören Sie, eigentlich wollte ich mit Ihnen über einen ganz bestimmten Fall sprechen. Nur um sicher zu sein, okay?« »Warum fragen Sie nicht Mr. Bailey?« entgegnete Redwood listig. Helens Beziehung zu Bailey hatte schon immer Anlaß zu Spekulationen gegeben. Red wood war gar nicht damit einverstanden. »Ich bespreche nicht jeden Fall mit Bailey. Ach übri gens, wir werden heiraten, irgendwann bald«, sagte sie hastig. »Wahrscheinlich werde ich mir einen Tag frei nehmen müssen, aber wenn Sie eine Minute Zeit hätten …« Eigentlich war sie nicht gekommen, um mit ihm über die Hochzeit zu reden, aber schaden konnte es nicht. Trotz seiner vielen Unzulänglichkeiten war Redwood ein guter Resonanzkasten, und mehr brauchte sie nicht. Heute abend würde sie Anna Stirland treffen, und zuvor wollte sie sich vergewissern, daß sie richtig lag, obwohl sie sich bereits sicher war. 163
Redwood nickte verdutzt wie immer, wenn er mit etwas konfrontiert wurde, das unvorhergesehen kam. »Nehmen wir an, eine durchweg anständige und ver nünftige Frau lädt einen Mann, den sie nett findet, auf einen Drink zu sich nach Hause ein, um sich mit ihm zu unterhalten. Er weiß genau, daß sie sich von ihm angezogen fühlt, auch wenn sie sehr schüchtern ist. Sie sucht eine Liebesbeziehung, Sex natürlich auch, aber noch nicht. Er fällt über sie her, wobei sie sich erheblich verletzt, und steckt ihr ein Eis am Stiel in die Vagina. Dann geht er. Ein Witzbold, verstehen Sie. Sie fühlt sich so erniedrigt, daß sie keinem etwas sagt, bis sie an den traumatischen Folgen der Episode fast zerbricht. Unterdessen hat sie natürlich alle ge richtsmedizinisch verwertbaren Spuren wie Flecken und so weiter, gründlich beseitigt, und von wann ge nau ihre Verletzungen datieren, läßt sich nicht mehr feststellen. Wenn sie den Namen des Mannes preis geben würde, was sie im Moment nicht will, würden wir uns den Fall ansehen?« Redwood blieb ungerührt und schüttelte den Kopf, noch ehe sie ihre Ausführungen beendet hatte. Ihn überraschte lediglich die Hast ihres Vortrages. »Den Fall ansehen? Das ja, vorausgesetzt, sie erstattet offiziell Anzeige bei der Polizei. Und dann müßten wir ihn ablehnen, selbst wenn sie den Namen nennt. Er würde den Gerichtssaal als freier Mann verlassen, noch ehe der Richter die ganze Anklageschrift gehört hätte. Das wissen Sie genau. Die Verteidigung würde einfach behaupten, er sei nie bei ihr gewesen, es seien alles Hirngespinste, oder sie würde sagen, er sei da gewesen, aber nichts dergleichen sei passiert. Daß sie so lange gewartet hat, um Anzeige zu erstatten, macht 164
den Fall einfach aussichtslos. Wieso um aller Welt fragen Sie das eigentlich?« Sie zögerte. »Weil ich eine Bestätigung will, vermutlich. Tun Sie das nie? Sich die eigene Meinung nochmals bestäti gen lassen? Nennen wir es Frustration. Was kann die Rechtsprechung einer Frau wie ihr schon bieten? Sie ist anständig, verantwortungsvoll, vielleicht eine Spur besessen. Keine Ahnung, ich finde es nur schrecklich, daß so einer Frau keinerlei Rechtshilfe zusteht …« Er beugte das Gesicht über den duftenden Tee. »Sie verdient es nicht anders, wenn sie nicht rechtzeitig darum bittet. Außerdem glaube ich, daß sie sich viel leicht rächen sollte, um ihre Wunden zu heilen. Das ist die beste Therapie. Wir wissen doch, daß ein Op fer sich schneller erholt, wenn der Täter schuldig ge sprochen worden ist.« Redwood spielte gerne die Rolle des verkappten Psychiaters. »Angeblich be grenzt es den Schaden. Wenn ihr nichts anderes hilft, hat sie nur eine Möglichkeit, den Mann dranzukrie gen … aber das wäre natürlich eine ziemlich frivole Idee.« Er hielt inne und nahm einen Schluck Tee, um seine gute Laune wiederzufinden. »Verraten Sie mir Ihre frivole Idee? Sie haben sonst nicht viele.« Mit der Tasse in der Hand beugte er sich über den Tisch und grinste entschlossen. »Sie müßte ihn noch einmal einladen. Ihn dazu bringen, es wieder zu tun. Nur diesmal richtig.« »Was meinen Sie mit richtig?« »Mit Beweisen. Verletzungen, Körperflüssigkeiten, Blutspuren.« 165
Es war ganz still im Raum. Redwood nippte genüß lich an seinem Tee. »Das kann ich ihr wohl kaum vorschlagen«, antwor tete Helen knapp. Sein lautes Schlürfen war ein Signal, den Raum zu verlassen. »Helen, wenn man Sie um einen inoffiziel len Rat bittet, halten Sie lieber den Mund. Das Recht auf Nichtaussage verändert sogar das Gesetz, wenn auch nur geringfügig.« Am Abend beschloß Anna Stirland, zu Fuß zu Helen zu gehen. Es würde sie beruhigen – selbst wenn es ein langer Spaziergang war, der zumindest in der er sten Hälfte von Kohlenmonoxid beherrscht wurde. Sie wohnte genau zwischen zwei Bezirken, in einer von Straßen und Bahngleisen unkenntlich gemachten Gegend, wo der sommerliche Staub von unzähligen Autos aufgewirbelt wurde und in einer dichten Wol ke über den Straßen hing. Trotz der vielen Penner, Drogensüchtigen und Prostituierten, die sich in der Bahnhofsgegend rumtrieben, liebte sie diesen Stadt teil. Sie fand die Vielfalt faszinierend; sie erinnerte an ein Puzzlespiel mit fehlenden Teilen. Es war eine Mülldeponie, sie sich standhaft gegen eine Verjün gungskur wehrte. Es gab Häuserreihen, Plätze, zu Wohnungen umfunktionierte öffentliche Gebäude, häßliche, schnell hochgezogene Wohnblocks aus den sechziger Jahren inmitten belebter Straßen. Und es gab das, was sie für den Kirchenpark hielt – ein grü ner Baldachin mit einer auffallenden, aber schmutzi gen Statue neben dem Eingang. Anna Stirland ging am dunstverhangenen Kanal entlang und beobachte te neugierig das abendliche Treiben in den Gewölben 166
aus Backstein, die früher die Bögen einer Eisenbahn brücke gebildet hatten. Die Gewölbe paßten zu die sen verstohlenen Typen, die mit allem handelten, das nicht niet- und nagelfest war. Hier wurden Wagen umgebaut und Lastwagen getarnt, hier konnte man Leute finden, die einem über Nacht das Badezimmer oder einen ganzen Laden renovierten oder auf Bestel lung einen Bus klauten. Hier war alles zu haben – Kerzen und koscheres Fleisch, Spiegel oder Essen zum Mitnehmen – Hauptsache, man zahlte in bar. Vor dem Bahnhof stand eine lange Schlange von keuchenden Taxen, um die Fahrgäste aufzunehmen, die in Schüben aus dem Ausgang drängten und eilig ihr nächstes Ziel erreichen wollten. Anna Stirland mogelte, denn sie wollte den Menschenmassen aus dem Weg gehen, die zum größten Teil nicht aus Pas santen, sondern Pennern bestanden, und nahm für die letzte Meile zum Angel rauf den Bus. Von der unmittelbar eigenen Umgebung befreit, hat te sie Zeit, sich zu entspannen und einzugestehen, daß sie sich tatsächlich über die unerwartete Einla dung freute. Ungeachtet der Begleitumstände ihrer zweiten Begegnung mit Helen, zu der es ohne Roses entschlossener Mithilfe wohl nicht gekommen wäre, obendrein in einer Zeit, da sie selbst an ihrem Ur teilsvermögen zweifelte, hatte sie sich bereits über legt, daß man nur selten jemanden so rasch ins Herz schloß, wenn die Sympathie nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Da sie Helen mochte, mußte es also auch umgekehrt so sein. Dieser simple Umkehrschluß gilt natürlich nicht, wenn Leidenschaft im Spiel ist, dach te Anna traurig, aber ansonsten scheint einiges dafür zu sprechen. Gewöhnlich wußte sie, wenn auch nicht 167
immer sofort, wem sie vertrauen konnte. Jedenfalls war es für sie wichtig zu glauben, daß Helen an einer echten Freundschaft interessiert war und nicht aus Mitleid oder einer lästigen Verpflichtung heraus handelte. Selbst Neugier wäre besser als Herablas sung. Am Angel angekommen, ging sie zu Fuß weiter. Hier war der Verkehr genauso dicht, aber weniger kom merziell. Alle zwanzig Meter gab es Restaurants, die jedes Jahr Besitzer und Identität wechselten. Der Duft nach exotischen Gewürzen, heißem Öl, CurryHühnchen, Tortillas, Tomatensauce, frischem Brot, Gemütlichkeit und Menschen mit vollen Bäuchen war stärker als der Gestank nach Abgasen. Anna dachte an alte Freunde und verflossene Abende und fragte sich, warum sie ihr in dieser Situation nicht helfen konnten. Nicht, daß sie um Hilfe gebeten hat te. Vielleicht wollte sie ihren Ruf wahren – ihre Freunde sollten nicht wissen, wie sehr sie gedemütigt worden war. Es war, als schuldete sie ihnen eine Be ständigkeit, die sie einer neuen Freundschaft nicht schuldig war. Einmal blieb sie vor einem Restaurant stehen und las die Speisekarte, angeregt durch das Licht und den Gedanken an Essen. Doch die Preise schreckten sie ab, und insgeheim empfand sie sogar leichte Verach tung für Leute, die auswärts essen mußten, weil sie nicht selber kochen konnten. Plötzlich leuchtete in der Menge von Passanten vor ihr eine Glatze auf. Sie blieb derart unvermittelt ste hen, daß ein junges Mädchen hinter ihr sie anrempel te und sich im Vorbeigehen mürrisch entschuldigte. Es war nicht er; er sah ihm nicht mal ähnlich. Es war 168
nur ein Mann, der eine junge Frau anlächelte, die ge rade in seinen Wagen stieg. Ein gräßlich gekleideter junger Mann in einem teuren Schlitten, mit dem er möglicherweise zu kompensieren versuchte, daß sein Schädel so kahl wie eine umgestülpte Schüssel war. Er wirkte mindestens zehn Jahre jünger als der Dok tor. Mit arrogantem Reifenquietschen raste der Wa gen davon. Anna ging weiter. Wie viele Lügen hatte sie Helen West erzählt? Keine von Bedeutung. Es war eher so, daß sie Dinge ausge lassen hatte, statt die Unwahrheit zu sagen, und sie war auch überhaupt nicht sicher, ob sie irgendwas davon richtigstellen wollte. Es spielte keine große Rolle, daß sie aus einer Art Schamgefühl heraus, das sie selbst verabscheute, nicht zugegeben hatte, war um sie der Versuchung erlegen war, eine bessere Stel lung zu bekommen, obwohl sie ihr ganzes Leben lang stolz darauf gewesen war, Hebamme zu sein. Es war eine Notlüge gewesen, die davon ablenken sollte, daß ihr glatzköpfiger Liebhaber nach wie vor am gleichen Ort arbeitete wie sie und Macht über sie hatte. Ko misch, wie unmöglich es praktisch war, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu wiederholen. Wenn sie darüber nachdachte, was dieser Mann ihr angetan hatte, kam jedesmal eine andere Version heraus, de ren leicht verschobene Details das ganze Bild verzerr ten. Genau das bewirkt ein Trauma, dachte sie. Man zweifelt am eigenen Verstand und verliert ganz ein fach den Überblick. Wie hätte sie je unter Eid aussa gen sollen? Sie kam an einem Weinladen vorbei und an einer Schlange vor einem Kino. Sie trat ein paar Schritte 169
zurück und sah sich die Kinoplakate an. Liebesszenen, Spannung und Gewalt – sie zuckte zusammen und ging schnell weiter. Ich will mein altes Ich zurück, sonst nichts, dachte sie. Ich will wieder ganz normal sein, normal reagieren und meinen Humor wieder finden. Ich will sauber, anständig und ehrlich sein. Und was will ich an diesem Abend von meiner neuen Freundin? Sie – oder irgendwer – soll wissen, wie es ist, wenn man sich vor Scham und Wut kaum noch auf den Beinen halten kann. Aber die ganze Wahr heit kann ich ihr nicht erzählen – daß das, was er mir angetan hat, möglicherweise bloß eine brutale The rapie war, mich von meiner albernen Leidenschaft zu heilen. Und ich kann ihr auch nicht sagen, daß ich ihn seitdem unzählige Male vor mir gesehen habe, als ich am wenigsten damit rechnete, wenn auch nicht so oft, wie ich es mir einbildete, und daß mir jedesmal, wenn ich ihn sah oder zu sehen glaubte wie eben, schwindelig vor Übelkeit und Angst wurde. Daß ich dann plötzlich einen Kloß im Hals habe und nur noch würge. Sie hatte die Kreuzung erreicht, die das Geschäfts viertel von der grüneren Wohngegend trennte. Sie blieb einen Augenblick stehen und erinnerte sich an den Weg, den sie sich zu Hause auf einem Stadtplan angesehen hatte. Noch so ein Symptom: Konzentrati onsschwäche. Verdammt noch mal, sie wollte nicht an einem Syndrom leiden oder als Nervenbündel durch die Welt laufen. Sie korrigierte ihre Erwartungen, was den Abend mit Helen anging. Ein schüchterner erster Schritt auf eine Freundschaft hin, und wenn das nicht ging, würden es auch ein paar schöne Stunden tun. 170
»Ich kann nicht kochen, wissen Sie«, erklärte Helen. Sie log ebenfalls; mehr brauchte Anna nicht. Ihre Wohnung war eine etwas unordentliche, aber bunte und friedliche Zuflucht. Anna verspürte eine gewisse moralische Überlegenheit, die aus der Er kenntnis rührte, daß sie die weitaus bessere Hausfrau war als ihre Gastgeberin, und obendrein mit weitaus bescheideneren Mitteln. Sie ging umher, berührte Dinge, bewunderte alles und setzte sich schließlich, wie ein mißtrauisches Tier. Am besten gefiel ihr der wild wuchernde Garten, der so groß war, daß sich eine Katze darin verlieren konnte. Wie gerne hätte sie sich in einem solchen Garten ausgetobt! Viel, viel später, nachdem sie mehrere Gläser Wein und Unmengen Snacks zu sich genommen hatten, ge stand Anna leise und fast unbeschwert, daß sie sich im Grunde genommen einfach nur rächen wollte. Und Helen wiederholte ähnlich lässig Redwoods zy nischen Vorschlag. Locken Sie ihn in die Wohnung, bringen Sie ihn dazu, es wieder zu tun und sammeln Sie Beweise. Sie erwähnte auch, welche Optionen ihr im Rahmen der Rechtsprechung zur Verfügung stan den, nämlich gar keine. Sie lachten darüber. Keine von beiden war sich bewußt, daß die Idee Wurzeln schlagen konnte, wie eine von Annas Pflanzen auf trockenem Boden. Als Bailey eintraf, hatte sich Anna verabschiedet. Er war sehr nett zu ihr gewesen; ihr Unbehagen lag nur darin begründet, daß sie gar nicht so lange hatte bleiben wollen und im Moment ohnehin Probleme mit Männern hatte. Aber es war ein gutes Gefühl, sein Angebot, sie nach Hause zu fahren, abzulehnen und anschließend zum Taxi hinausbegleitet zu wer 171
den. Als wäre sie tatsächlich so normal, wie sie sich gab. Eine Frau, die sich wie früher freute, nach Hau se zu kommen und ihre eigene Haustür aufzuschlie ßen. Sie schämte sich, weil sie sich so fertigmachen ließ von einem Ereignis, das nicht mal ihr Leben be droht hatte. Doch alles andere lag ihr wie ein Stein auf der Brust: Liebe und Lügen. Bailey stand verlegen in der Küche, so wie manch mal, als hätte er sie noch nie gesehen, obwohl er hier ein- und ausging. Es gab Augenblicke, da wollte He len ihm unmißverständlich klar machen, daß er sich in ihrem Reich befand, und manchmal wünschte sie sich, er würde mit den Möbeln verschmelzen, als ge hörte das alles genauso selbstverständlich ihm wie ihr. Es erstaunte sie immer wieder, daß er ihr nie et was nachtrug, genauso wie seine Bescheidenheit, und daß er ihre verschwommenen Regeln einfach akzep tierte. Sie verdiente ihn wirklich nicht. »Tut mir leid«, entschuldigte er sich. »Ich wußte nicht, daß du Besuch hast. Ich wollte heute nicht al lein sein.« Aus seinem Mund klang es wie ein Schuldbekennt nis. Er hatte bereits einen großen Teil seiner fast krankhaften Zurückhaltung verloren, aber er würde nie jemand sein, dem es leicht fiel, ein Bedürfnis zu zugeben. »Schön. Es gibt noch Wein, und die Nacht ist jung. Geht es um Ryan?« Er nickte. Helen schlang die Arme um ihn. Sein Körper fühlte sich an wie knorriges Holz, vom Alter ein wenig brü chig, doch gehärtet von der Anspannung, die in sei ner Stimme mitschwang. »Vergiß den Wein«, sagte 172
Helen. »Was du brauchst, ist eine Massage. Vielleicht ein heißes Bad. Ein paar Streicheleinheiten, das ist alles.« Sie vermied jegliche Nervosität in der Stimme, aber seine Blässe war beunruhigend. Typisch für ihn, immer trotzte er dem Strom von Emotionen so lange, bis der Damm zum Bersten voll war. An sein Magen geschwür dachte sie nie. »Ich brauche Inspiration«, antwortete er. »Und einen anderen Job«, fügte er hinzu. Er nahm einen Drink und etwas, das aussah wie ein Wurstbrötchen, an und verschlang es gleichgültig. »Und … wo war ich stehengeblieben?« »Genau da.« Er setzte sich ein wenig entspannter an den Küchen tisch. Sie wollte gerade von dem Debakel mit Ryan anfangen, aber dann fiel ihr ein, daß in achtundvierzig Stunden viel passiert sein konnte. Irgendein Papier schnipsel aus dem Labor, irgendein Detail, das alles noch schlimmer machte. »Ich muß den Fall an diesen Säulenheiligen von Todd abgeben«, erklärte Bailey. »Es bleibt mir nichts anderes übrig. Es muß sein. Die Aussage der Kleinen ist völlig plausibel. Noch nie zu vor habe ich einen Fall abgegeben, und ich bin so sauer auf Ryan, daß ich in die Luft gehen könnte.« »Warum hat er das getan?« fragte sich Helen laut. Sie fühlte sich leicht unwohl, weil sie mit Ryan nie warm geworden war, obwohl sie es ihn nicht hatte spüren lassen. Es war größtenteils so was wie Eifersucht, vermutete sie. Daß Ryan vielleicht mehr über Bailey wußte als sie es je könnte; daß er möglicherweise so gar mehr Einfluß auf seine Gefühle hatte als sie. Bailey sah sie mit rot unterlaufenen Augen an. »Was willst du damit sagen? Warum hat es das getan? Viel 173
leicht hat er es gar nicht getan. Zieh keine voreiligen Schlüsse.« »Wieso nicht? Du bist dir auch sicher, sonst wärst du nicht halb so wütend. Oder ist es etwa nicht der Ge danke, daß er schuldig ist, was dich so fertigmacht? Du hast die Beweise und ziehst deine Schlüsse. War um soll ich nicht dasselbe tun dürfen?« Er holte tief Luft und versuchte zu lächeln. Sein Ma gen knurrte. Das Brötchen war nicht der Rede wert gewesen, aber daß sein Magen knurrte, hatte er sich selbst zuzuschreiben; er vergaß einfach, regelmäßig zu essen. Längst hatte er die Erwartung oder auch nur die Hoffnung aufgegeben, daß Helens Kühl schrank automatisch alles enthielt, was man brauch te, um eine anständige Mahlzeit zuzubereiten. Das war eher die Ausnahme statt die Regel. Er hatte sich daran gewöhnt. »Tut mir leid. Ich kann’s dir nicht erklären. Ich mei ne, ich muß mich schon mit den Beweisen und mei nen eigenen Folgerungen herumschlagen, und es sieht nicht gerade gut aus, aber wenn dann noch jemand den Finger auf die Wunde legt, verliere ich die Fas sung. Auch wenn dieser Idiot alles nur noch schlim mer macht, will ich nicht, daß andere ihn verurteilen. Ich will es nicht glauben, obwohl mir in Wahrheit gar nichts anderes übrig bleibt. Macht das einen Sinn? Nein, wahrscheinlich nicht. Ich hasse diesen Todd.« Helen stand hinter seinem Stuhl und massierte ihm die Schultern. Er hielt ihre Hand fest und drückte sie an seine Wange. Bailey war sehr empfänglich für Zärtlichkeiten; in seiner Jugend war er knapp gehal ten worden, was ihn später zu einem auf seine stille Art gefühlvollen Mann gemacht hatte. 174
»Übrigens, was für ein Zufall«, sagte Helen. »Anna, die Frau, die du gerade getroffen hast, meine neue Freundin. Möglich, daß sie auch von Ryan befragt worden wäre. Vor etwa einem Monat. Wenn sie An zeige erstattet hätte, natürlich. Sie wohnt bei ihm um die Ecke. Aber sie hat weder damals Anzeige erstat tet, noch wird sie es in Zukunft tun. Sie meint, daß ihr Fall viel zu absurd sei, als daß man sie ernst neh men würde.« »Und warum?« Sie hätte es ihm gerne gesagt, aber sie glaubte nicht, daß es ihm helfen würde. »Für heute hast du genug sexuelle Abartigkeiten ge hört. Das hier hat Zeit.« Gegen halb neun abends brachte Aemon Connor seine Frau mehr zufällig als absichtlich zur Polizei. Nicht daß er diese Maßnahme für irgendein Mitglied seiner Familie jemals erwogen hätte, obwohl er die Vorstellung, seine Töchter, als sie noch klein waren, in polizeilichen Gewahrsam zu bringen, sehr verlok kend gefunden hätte. Jetzt wünschte er sich, sie wä ren zu Hause, statt den Sommer bei irgendwelchen Verwandten zu verbringen. Er hatte einfach geglaubt, diese hätten einen besseren Einfluß auf seine Töchter als ihre eigene Mutter. Einen wildfremden Mann in die Wohnung zu lassen, war ihm ein Greuel. Es sei denn jemand, der die Architektur des Hauses bewun dern und ein ähnliches Gebäude in Auftrag geben wollte. Aber was sollte man machen, wenn die eigene Frau das Badezimmer partout nicht verlassen wollte? Nicht verlassen wollte oder nicht verlassen konnte. Er war nicht sicher, wo der Unterschied lag. Aber als er 175
sie da liegen sah, nachdem er die Tür, deren Schloß Ungestörtheit, nicht aber Sicherheit garantierte, ein getreten hatte, reagierte sie überhaupt nicht. Zuvor waren alle Versuche, durch die Tür Verbindung auf zunehmen, gescheitert. Sie hatte nur leise vor sich hin gesummt, und er hatte gemeint, ein Kirchenlied wie derzuerkennen, das aber schon nach der ersten Zeile in trostloses, schrilles Gelächter überging. Nun, wie er dem Arzt gesagt hatte, er wußte schon immer, daß es Brigid trotz ihrer Sanftmut, Nachgiebigkeit und schönen Singstimme leider an Grips fehlte, aber das war eine ganz andere Geschichte. Natürlich hätte er dem Arzt gegenüber niemals er wähnt, daß er seine sanftmütige Frau intellektuell so sterbenslangweilig fand, daß er sie aus schierer Ver zweiflung bumste. Mehr konnte ein Mann in seiner Lage nicht tun, wenn er bei Verstand bleiben und nicht untreu werden wollte, was sein Glaube ihm verbot. Er erwähnte vor dem Arzt auch nicht, daß seine Frau das kühlende Bad – in Wirklichkeit war es kalt gewesen, aber nicht so kalt, daß man an einem Tag wie diesem an eine Unterkühlung hätte denken müssen –, keineswegs freiwillig verlassen hatte. Als sie seiner Aufforderung nicht gefolgt war, hatte er sie an den Armen gepackt und dann um die Taille und sie mit Gewalt aus der Wanne gezerrt – laut fluchend und Gott als Zeugen anrufend. Dann hatte er ihr den verdammten Bademantel umgehängt, in dem sie sich ständig versteckte, um wie eine Nonne auszusehen, die Titten reingestopft, sie an den Fußknöcheln ge packt und ihr unsanft die Pantoffeln übergestülpt. Aemon verschwieg dem Arzt auch, daß ihre Passivi tät während des ganzen Manövers, die er keinesfalls 176
als Kooperation mißverstehen konnte, peinlicherwei se sein Verlangen geweckt hatte. Das einzige, was sie immer schaffte, machte sie in seinen Augen noch has senswerter. Ihre Haut war weißer als frische Milch und fühlte sich so weich an wie ein Schwamm. Als er sie auf das Sofa warf, hatte sie vor Schreck aufgeschrien, sich dann in eine Ecke gekauert und den Bademantel über die Füße gezogen. Und dann hatte sie den Daumen in den Mund gesteckt. Da dies ihr erstes wirkliches Lebenszeichen gewesen war, hat te er es als gutes Omen aufgefaßt. Er genehmigte sich einen ordentlichen Drink, um seine Nerven zu beruhigen, und dann einen weiteren. Sie schien ganz zufrieden zu sein, bis sie ihn mit ih ren großen Augen anstarrte und kicherte. Sie nahm den Daumen aus dem Mund, ballte die Hand und zielte mit dem Zeigefinger auf ihn, als hielte sie eine Waffe in der Hand. Peng, peng, peng, flüsterte sie. Wenig später hatte Aemon den Arzt angerufen. Der Arzt war ein untersetzter dunkelhaariger Mann, halb so groß wie Aemon, der kein Hehl daraus mach te, daß er beim Abendessen gestört worden war. Aemon mochte keine Asiaten, weil sie so viel tüchti gere Angestellte waren als seine eigenen Landsleute. Und diesen mochte er erst recht nicht, weil er sich anmaßte, eine eigene Meinung zu haben. Aemon wollte ihn gerade darüber belehren, daß seine Frau hysterisch war und ein Beruhigungsmittel brauchte, als sie plötzlich den Mund aufmachte und sehr deut lich sagte: »Bitte bringen Sie mich fort, ich bin ver gewaltigt worden.« Da Brigid selten einen Satz zu Ende führte, war es nicht verwunderlich, daß Aemon sie mit offenem 177
Mund anstarrte. Als sie fertig war und der Arzt ihn fragend ansah, wirkte er überrascht und schuldbe wußt. Brigids zerbrechliche Handgelenke tauchten wie durch Zufall aus dem ekligen Bademantel auf, als wollte sie ihn abschütteln. »Ich hasse ihn, ich hasse ihn, ich hasse ihn«, summte sie klar und gedanken verloren zugleich. An ihren schlanken Armen, wo er sie gepackt hatte, um sie aus dem Bad zu zerren, bil deten sich langsam blaue Flecken unter der Haut. Dem Arzt fielen sie sofort auf. Und auch die Blumen und die ungeöffnete Schachtel Pralinen auf dem Tisch. Geschenke eines schuldbewußten Ehemanns. Der Arzt fragte sie höflich, ob sie in der Lage sei, sich anzuziehen und mit ihm zu kommen. Sie gehorchte mit einem strahlenden Lächeln. Und Aemon stand völlig verwirrt daneben und brachte zum ersten Mal im Leben kein einziges Wort heraus. Sally Smythe mochte den Sommer nicht und war froh, daß er bald zu Ende gehen würde. Die ange nehm leichte Sommerkleidung war kein Ersatz für die Tatsache, daß die Wärme unzählige verletzliche Menschen in verschiedenster Verkleidung aus ihren Häusern auf die Straßen und in die Parks lockte und mit ihnen auch die andere Hälfte von verletzlichen Menschen, die sie möglicherweise überfallen würden. Zum Teufel mit den lauen Nächten! Die letzte Frau im Rape House war ziemlich schmutzig gewesen; eine Rucksacktouristin, die in Parks geschlafen hatte, bis sich ein fremder Mann an sie rangemacht und nicht gerade freundlich auf ihre Zurückweisung reagiert hatte. Sie hatte da auf dem Stuhl gesessen, der mit Papier bedeckt worden war, um den Stoffbezug zu 178
schonen, und fürchterlich gestunken, während alle auf den Arzt warteten. Es widerstrebte Sallys Instinkt, einen Menschen dar an zu hindern, sich zu waschen. Mrs. Connor war ganz das Gegenteil. Sie saß in dem anonymen Raum wie eine schüchterne Cousine, die zum Nachmittags tee eingeladen worden ist, und sie duftete, als hätte sie vor fünf Minuten gebadet. Sie war sehr zurückhaltend und offensichtlich dank bar für die Umgebung; jedenfalls sagte sie, daß es ihr hier gefiel. Ihre Stimme verriet den geübten Gast. Vom Ehemann vergewaltigt und/oder mißhandelt. Sally Smythe las den voreiligen Bericht des Arztes. Mrs. Connor dagegen schien keine Eile zu haben. Sie machte den Eindruck, als sei sie nur hier, um das Hotelzimmer zu genießen, das man ihr gleich zeigen würde. Bringen wir es hinter uns, dachte Sally; zuerst die blauen Flecken an den Armen. »Wer hat Sie angegriffen, Brigid? Bitte nennen Sie mich Sally. Hat Ihr Mann …« Nicht der leiseste Ge ruch nach Sex. Brigid schenkte ihr das strahlendste leere Lächeln. »Oh, nein«, antwortete sie. »Diesmal nicht.« Es gab Opfer, die einem Mann gegenüber viel offe ner waren. Wie jeden Abend, seit er vom Dienst suspendiert worden war, arbeitete Ryan im Garten, bis es dunkel wurde. Sonderbar, es war nicht die Leere des Tages, die ihm zu schaffen machte, wenn seine Frau bei der Arbeit war und seine Kinder, die sich jedem Um stand problemlos anpaßten, entweder ihrem vorpro 179
grammierten Lebenswandel nachgingen, als wäre nichts geschehen, oder darum bettelten, daß er sich mit ihnen beschäftigte. Sie wußten nur, daß Dad Är ger auf der Arbeit hatte und sich nach ein paar Wo chen Ruhe nach einem neuen Job umsehen wollte. Tagsüber waren seine Kinder eine Quelle des Tro stes, der Ablenkung und auch großer Sorge. Erst abends, wenn seine Frau nach Hause kam, fühlte er sich unwohl, eingeengt und schuldig. Das einzige Problem, das er mit dem Garten hatte, war die Jah reszeit. Es war zu früh, um mit den Vorbereitungen für den Winter zu beginnen, und zu spät, um irgend etwas zu pflanzen oder zu beschneiden. Normaler weise hätte er sich zurücklehnen und diesen Spät sommer genießen können: Die Blumenbeete waren frei von Unkraut, auch wenn ihre besten Tage vorbei waren; die beiden Obstbäume wiesen weder Bakteri en- noch Pilzbefall auf, und auch der Rasen war ge sund. So war er auf die Idee mit dem Teich gekom men. Mary hätte es lieber gehabt, wenn er sich auf ein paar Sachen im Haus konzentriert hätte, die dringend re pariert werden mußten. Doch dann hatte sie es sich anders überlegt. Solange sie beide nicht länger als eine Stunde im selben Raum verbringen mußten, war ihr alles recht. Wenn sie im Haus war und er drau ßen, konnten sie sich ganz normal verhalten. Dann mußte sie sich nicht auf die Zunge beißen, um die Frage zu vermeiden, sag mal, was genau ist an dem Abend passiert, als du mit dem Mädchen ausgegan gen bist? Ich weiß, daß du mir nicht die Wahrheit gesagt hast. Sie würde ihn vergeblich mit Fragen bombardieren, jede eine Anklage, ein Manifest des 180
Mißtrauens, auf die er mit dem hartnäckigen Schwei gen, das sie so fürchtete, oder mit einer Wahrheit antworten würde, die nur noch schrecklicher sein konnte. Und über alledem der schale Geschmack ei nes Déjà-vu. In der Vergangenheit waren beide fremdgegangen, und es hatte zu viele Abende mit unausgesprochenen Vorwürfen, Heimlichkeiten und Streitereien gegeben, als daß sie jetzt Lust hatten, das gleiche noch einmal durchzumachen. Sie war lebhaft und doch ruhig. Im Bett, im Schutz der Dunkelheit, hatte sie versucht, zärtlich zu sein, aber echte sexuelle Lust hatte sie nicht vortäuschen können, genauso wenig wie er. Wenn er sich schon so unruhig hin und her wälzen mußte, war es besser, sie kriegte nichts davon mit. Die Schlaftabletten, die sie vom Arzt bekommen hatte, waren äußerst wirk sam. Sie unterdrückten ihre kochende Wut und sorg ten dafür, daß sie tat, was sie tun mußte: ihm den Rücken zuwenden, und die Verpflichtung, nett zu ihm zu sein, zu der sie sich nicht überwinden konnte, im Schlaf ersticken. Der Teich nahm Gestalt an. Ryan hielt sich an die Anweisungen aus einer alten Ausgabe von Reader’s Digest. Zuerst, so las er, buddele ein Loch. Es stand nicht da, was man mit dem Haufen ausgehobener Erde machen sollte, außer ihn mit der Schubkarre in eine Ecke zu verfrachten und sich später eine weitere Freizeitbeschäftigung dafür auszudenken. Danach kam die Einfassung. Bald würde er Wasserpflanzen und Fische kaufen, danach ein Netz, um Räuber ab zuhalten, und schließlich etwas, um die Ränder wie der zu bepflanzen. Eine Aufgabe, die sich endlos hinziehen konnte. 181
Jetzt kniete er hundemüde auf allen vieren am Rand seiner Grube und rieb sich die Erde von den Hän den. Er starrte auf die schmutzigen, braunen Finger nägel und strich mit dem Finger über die Blasen, die er sich beim Graben zugezogen hatte. Wenn man wie er ohne Handschuhe im Garten arbeitete, bekam man Hände wie ein Bauarbeiter. Wie oft hatte sich seine Frau darüber beklagt. Er fragte sich, ob Shelley Pelmore sich an solche Hände auf ihrer weichen Haut erinnern würde, und falls nicht, ob ihn das ent lastete. Er stellte sich vor, wie der Verteidiger mit ei ner Stimme, die einem das Blut in den Adern gefrie ren ließ, fragte: »Madam, Sie müssen sich doch daran erinnern, ob seine Hände rauh oder sanft waren? Waren es die Hände eines Arbeiters oder eines Man nes, der an einem Computerterminal arbeitet? Waren es die Hände eines Mannes, der seinen Garten um gräbt? Das wissen Sie nicht?« Wenn er in den ver gangenen zwei Jahren im Gerichtssaal gesessen hatte, um den echten Vergewaltigungsopfern, seinen Zeu ginnen, moralischen Beistand zu leisten, hätte er die aufgeblasenen Affen, die solche Fragen stellten, um Verwirrung zu stiften, am liebsten mitsamt ihren al bernen Perücken auf den Mond geschossen. Jetzt würde er selbst sie dazu anstacheln. Er könnte dieses Weibsstück packen und ihr mit seinen eigenen rauhen Händen den Hals umdrehen. Sie sah so gut aus, schmal und biegsam, umwerfend gut eben. Und zärtlich, im Gegensatz zu seiner Frau. So schmal, daß er sich vorstellen konnte, sie in einer viel kleineren Grube zu beerdigen als der, die er gerade ausgeho ben hatte. Die Dunkelheit einer Augustnacht ist anders als die 182
echte Dunkelheit im Winter. Seine Augen hatten sich ihr angepaßt, und er stellte sich vor, wie er in einer warmen Nacht wie dieser herkam, um das schim mernde Wasser im Teich zu sehen und seine Füße hineinzutauchen, obwohl es nicht gerade das war, wozu man sich einen künstlichen Teich anlegte. Die gestreßte Stimme seiner Frau rief quer über den Rasen nach ihm, obwohl sie sich Mühe gab, nicht ungeduldig zu klingen. »Telefon«, rief sie kurz, als er im grellen Licht an der Hintertür auftauchte und sich die Augen rieb, bevor er in das Haus trat. Sie sah ihn schweigend und vorwurfsvoll an, als er mit den schmutzigen Stiefeln durch die Küche wanderte. »Wer ist es?« Das Telefon war in den letzten Tagen sehr stumm gewesen, außer wenn die Kinder angerufen wurden. »Keine Ahnung. Jedenfalls eine Frau. Ich habe sie nach ihrer Telefonnummer gefragt, damit du sie zu rückrufen kannst, aber sie wollte sie mir nicht ge ben.« Ryan wischte sich die Hände an der Hose ab und ging in den Flur. »Hilf mir«, sagte die Stimme. »Hilf mir, bitte.«
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8 »Zwar müssen die Geschworenen darüber belehrt werden, daß der Terminus ›Einwilligung‹ im Kontext einer Vergewaltigung seine ursprüngliche Bedeutung behält, doch muß der Richter gelegentlich einen Schritt weiter gehen … und darauf hinweisen, daß es einen Unterschied gibt zwischen Einwilligung und Duldung … Die Geschworenen müssen auch auf das breite Spek trum von Gemütszuständen hingewiesen werden, die unter den Oberbegriff Einwilligung fallen können, und auf die Frage, wo die Grenze zwischen echter Einwil ligung und bloßer Duldung zu ziehen ist …«
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as waren die Worte, die ihn erregten und ihn ent lasten würden, falls das je nötig sein sollte. Beide Mädchen, die umgekommen waren, hatten Angst gehabt, wenn auch nur anfänglich. Er hätte niemals eine von ihnen oder überhaupt eine Frau zu irgend etwas gezwungen. Der Gedanke, etwas so Grausames zu tun, schockierte ihn. Doch selbst die er fahrenste Patientin ist ängstlich, einfach aus Unkennt nis. Es gibt nichts »Bloßes« an Duldung. Man erduldet den Zahnarzt, den Arzt, das ganze Leben; Duldung ist überlebenswichtig. Sie steht nicht im Gegensatz zu Einwilligung, sondern ist eng mit ihr verwandt. Und am Ende erduldet man den Tod, das ist nicht Einwilli gung, sondern Unterwerfung. Aber worin besteht der Unterschied? Das Gesetz spricht nie von Erlösung. Daran glaubt das Gesetz nicht. 184
Nach dem Putzen wirkte das Innere des Rape House noch anonymer als vorher. Pflanzen, dachte Sally Smythe, es müssen unbedingt ein paar Pflanzen her. »Was haben Sie gemacht, als er Sie küßte?« hatte sie das Mädchen gefragt. Schweigen. »Nichts. Ich hab nichts gemacht.« »Nun ja, in dem Augenblick tat er ja auch nichts Un gewöhnliches, nicht wahr? Ich meine, Sie hatten doch nichts dagegen, daß er Sie küßte, oder?« »Nein.« Ihre Finger hörten nicht auf, das Papierta schentuch in kleine Fetzen zu zerreißen. »Er gefiel mir.« »Es heißt, man muß eine Menge Frösche küssen, um den Prinzen zu finden.« »Wie bitte?« Sally lächelte, um einen Seufzer zu unterdrücken. Bloß keine Spitzfindigkeiten. »Ich meine, man muß ein wenig experimentieren im Leben, nicht wahr?« Wie herablassend sie klang. Das Lächeln des Mädchens war mehr als matt. Die Befragung lief nicht besonders gut, und Sally hatte das Gefühl, durch Schlamm zu waten, nicht wegen der Lügen, sondern weil sie selbst nach Worten su chen mußte, um der Wahrheit näherzukommen. Hier saß dieses dickliche Mädchen, fröstelnd trotz der Hitze draußen und übertrieben unterwürfig. Das war sie nicht gewesen, als der Mann, der ihr gefiel, einen leidenschaftlichen Kuß als offene Einladung zum Beischlaf auf dem Vordersitz seines Lieferwagens verstand. Sie hatte sich gewehrt wie eine Katze und dabei eine Scheibe eingeschlagen. Das waren wert volle Indizien, obgleich es ihn nicht abgehalten hatte. 185
»Hat er zuerst noch irgend etwas anderes getan, ab gesehen davon, daß er Sie küßte und Sie ihn?« Erneutes langes Zögern. »An mir rumgefummelt … da hab ich versucht, ihn zu stoppen.« »Warum? Wenn er Ihnen doch gefiel?« »Ich wollte, daß er mich mit nach Hause nimmt. Das hatte er gesagt. Alles meine Schuld, nicht?« Jetzt flossen die Tränen, und sie waren genauso dick wie sie selbst. Sally schob die Schachtel mit den Ta schentüchern in ihre Richtung. »Ich hätte nicht mitgehen sollen, nicht? Ich hätte mich nie auf ihn einlassen dürfen.« Sally bedeutete ihrer Kollegin, ihre gute Tat zu Ende zu bringen, und ging in die Küche. Die Lichtstreifen, die durch die Jalousien des Rape House fielen, mach ten sie allmählich schwindlig, aber die Kleine hatte keine Sonne gewollt. Offenbar konnte sie, wenn überhaupt, nur im Halbdunkel reden. Das Licht in der Küche war herrlich und erinnerte Sally an eine verlockende Außenwelt und ihre müden Augen. Brigid Connor hatte die Küche sofort gefal len, trotz der Aussicht auf einen tristen Hinterhof. Zumindest hatte sie es gesagt, in ihrer nervös-höf lichen Art. Sie hatte sogar ein Dankeschön für eine widerliche Tasse Suppe rausgebracht; eine wirklich reizende Dame, immer bedacht, alles richtig zu ma chen, ganz anders als die Achtzehnjährige da drin, die nur vergessen wollte. Mrs. Connor war so scharf drauf zu gefallen, so abgedreht und zugegebenerma ßen so blöd, daß sie alles sagen würde und es auch tat, nur um mit einem Lächeln, einem zustimmenden Nicken oder der Aufforderung belohnt zu werden, 186
im gleichen oberflächlichen Fahrwasser weiterzuma chen. Es hatte keinen Sinn, zu Hause viel zu reden, hatte sie erzählt, Aemon haßte Plappermäuler. Sie badete gern zweimal am Tag, um stets einen angenehmen Duft zu verbreiten. Durchaus möglich, daß sie gerade in der Badewanne gesessen hatte, als der Mann vor der Tür stand, vielleicht aber auch nicht. Er hatte keine Haare gehabt, dieser Mann. Ihr Mann, Brigid? Nein, der Mann mit den strahlenden Augen. An die sem Punkt hatte Brigid die Handflächen auf die Au gen gelegt, als sei sie durch den Anblick der anderen geblendet, und sie dann wieder weggenommen, als spielte sie Verstecken mit einem Baby. Sie gehörten alle miteinander in den Sandkasten. Nervöse Erschöpfung, schloß Sally, vorzeitige Senili tät oder ein Rückfall ins Kindische. Doch während der ganzen Befragung hatte etwas gräßlich Aufrichti ges in ihrem unverstellten Gesicht gelegen. Ab und zu war eine beiläufige Bemerkung gefallen, die sich ans Küchenfenster oder an ihre Teetasse richtete. Er hat es wirklich getan, wissen Sie. Er hat mich völlig ausgelutscht, jawohl, das hat er, und nicht ein einzi ges Mal angerührt. Irgendwas war passiert. Sally füllte mechanisch den Wasserkessel. Die medi zinische Untersuchung, gegen die sich Brigid nicht gewehrt hatte, obgleich sie den Arzt darüber aufklär te, daß es nichts zu sehen gebe, ergab blaue Flecken auf dem Hintern, die schon ein paar Tage alt waren, und frische Quetschungen an Knöcheln und Hand gelenken. Sie waren nicht so weit gegangen, den Ehemann zu verhaften; sie hatten andere Vorschrif ten. 187
Überraschenderweise war Ryan mit dieser Behut samkeit immer einverstanden gewesen. Nichts unter nehmen, bis man ganz sicher ist, erst rauskriegen, wer von den Beteiligten eine Schraube locker hat. In diesem Fall ein Ehemann, der brüllte, er werde den Police Commissioner verklagen, und keine Spur eines Fremden im Haus des Ehemanns. Fasern von ihrem Morgenmantel auf seinem Anzug, was durchaus nicht auffällig war, doch keiner hatte sie vergewaltigt. Andererseits hatte der Ehemann weder die Pralinen noch die Blumen mitgebracht, die auf dem Tisch la gen. Sie war seine Frau, verdammt noch mal, und sie hatte ein gutes Leben. Sie war durchaus in der Lage, sich solche Dinge selbst zu kaufen. Pralinen und Blumen, Blumen und Herzen. Irgendwas war pas siert, aber Brigid Connor ging zu ihrem Mann zu rück, und das war’s. Kein Haar, kein Name, aber Blumen und Pralinen. Und Eis. Sie mußte Ryan anrufen. Nein, sie konnte Ryan nicht anrufen. Nicht jetzt. Ein häßliches Ritual, aber Todd genoß es, während die anderen eher nervös schienen und von einem Fuß auf den anderen traten, als sei es kalt und nicht so unerträglich heiß. Todd gab sich ungezwungen, was nur vor Zeugen ungefährlich war, und wenn es bloß der miese kleine Anwalt des Mannes war. »Sie kennen Ihre Rechte, okay? Sie brauchen nichts zu sagen, wenn Sie nicht wollen, aber Schweigen ist nicht immer Gold.« Er verzichtete sogar auf den üblichen strengen Wortlaut und reichte ihm ein Blatt Papier. 188
Ryans Lächeln war verzerrt. Er nahm das Schrift stück entgegen wie ein Mitglied der Königsfamilie ein lästiges Geschenk, das an einen Bediensteten weiter gereicht wird. »Sie haben versucht, Shelley Pelmore in der Nähe von King’s Cross zu vergewaltigen«, leierte Todd herunter, wobei er das Datum der Kürze halber weg ließ. »Haben Sie irgendwas dazu zu sagen?« »Hau ab, du Mistkerl«, sagte Ryan, bevor sein An walt ihm zuvorkommen konnte. »Wo zum Teufel steckt Bailey?« »Na schön«, antwortete Todd und lächelte dem Kleinen, der sich an Ryans Ärmel klammerte, milde zu. Aus Erfahrung wußte er, daß auf unüberlegte Bemerkungen häufig noch unüberlegtere Reaktionen folgen. »Ich laß das mal lieber weg. Ist wohl kaum die passende Antwort auf das, was Ihnen vorgewor fen wird, wie?« »Wo steckt der gottverdammte Bailey?« wiederholte Ryan mit erhobener Stimme. »Wo zum Teufel ist er?« Die Faust des Anwalts zerknüllte sein zweitbe stes Hemd. »Er hat den Fall abgegeben, Mr. Ryan. Er wollte nichts damit zu tun haben.« Ryan fuhr zurück und wandte sich ab. Beherrschung, o ja, er hatte gelernt, sich zu beherrschen. Er würde nichts unternehmen, denn er wußte genau, wie machtlos er war. Er wollte nur sehen, bloß für eine Sekunde, ob er in der Lage wäre, Todd mit seinem Schädel die Nase einzuschlagen. Aber so lange warte te Todd nicht. Ein rascher Fausthieb mit voller Wucht in den Solarplexus, und Ryan krümmte sich und taumelte stöhnend rückwärts gegen die Wand. 189
Die anderen studierten die gelbe Farbe über seinem Kopf und taten so, als hörten sie das Keuchen nicht. Keiner der Anwesenden hatte ein Interesse daran, ir gend etwas davon festzuhalten, weder die Aggression noch die Reaktion. Traurig, wirklich. Der Angeklagte war nicht ganz zu rechnungsfähig, aber daran war er, wie an allem an deren, selbst schuld. Polizeibeamte begehen genau dieselben Verbrechen wie andere Leute auch, hatte Bailey Helen oft erklärt, denn sie sind denselben Versuchungen ausgesetzt, allerdings liegt die Quote der Gesetzesübertretungen bei ihnen weit unter dem Durchschnitt. Und Leute wie ich werden turnusmäßig abkommandiert, um in solchen Fällen zu ermitteln. Es ist einfach nicht mög lich, einem jungen Mann beizubringen, sich hun dertprozentig zu beherrschen. Kein Fortbildungskurs kann ihm seine Sexualhormone austreiben oder das Verlangen nach Dingen in Schaufenstern, die er sich nicht leisten kann. Er muß Macht ausüben können, um der Gesellschaft nützlich zu sein; es ist also nur logisch, daß er sie gelegentlich mißbraucht. Es gibt Gelegenheiten genug, da wünscht man ihm die Kraft eines hirnlosen jungen Rohlings, damit er gegen an dere, weniger gehemmte junge Rohlinge bestehen kann, denen es völlig egal ist, ob er tot oder lebendig ist. Keiner will Pappmachébullen gegen Krawallma cher einsetzen, aber was die Öffentlichkeit erwartet, ist eine Art Vorbild, ein Übermensch, der sich zu Aggressionen oder Mitgefühl hinreißen läßt, nie aber zu Wut oder Unehrlichkeit. Die Öffentlichkeit will Muskelkraft, Intelligenz und perfekte Selbstbeherr 190
schung – alles auf einmal. Aber genau das gibt es nicht. Auf der anderen Seite des Schreibtischs saß der heu tige Kandidat. Er war älter als die meisten, ein ehe maliger Militär, der nie gelernt hatte, die Ansprüche seiner ersten und später auch der zweiten Frau zu rückzuschrauben. Irgendwann steckte er so tief in finanziellen Schwierigkeiten, daß er versuchte, seine Versicherung zu betrügen, war aber nicht gerissen genug gewesen, damit durchzukommen. Anschlie ßend wartete noch der Bursche, der mit seiner Ta schenlampe auf einen Autodieb losgegangen war. Für ihn empfand Bailey mehr Sympathie: Verbrechen dieser Art verfügen wenigstens über Elemente von Selbstjustiz. Der Sergeant wußte nicht, wie er sich rausreden soll te, und behauptete, daß er das Geld brauchte, um wahre Liebe zu finden, und das sei nun mal ein teu rer Spaß. Ich glaube nicht an die Macht der Liebe, dachte Bailey bei sich. Gräßliche Dinge geschehen im Namen der Liebe, genauso wie aus Rache, und sollte je wieder einer behaupten, er hätte irgendwas aus Liebe getan, würde er explodieren. Ryan verfolgte ihn. Das Telefon läutete. »Mr. Bailey, Sir?« »Wer sonst«, fauchte er, bedauerte jedoch im glei chen Augenblick seine Schroffheit. Sally Smythe klang leicht abgeschreckt. »Sorry«, fuhr er fort und versuchte, seine Unhöflich keit durch plumpe Vertraulichkeit wettzumachen. »Aber ich verhöre gerade einen Burschen, der sich dermaßen in Selbstmitleid wälzt, daß ich mich im Ton 191
vergriffen habe. Er geht mir auf die Nerven. Also, was kann ich für Sie tun?« Das klang nun wieder so übertrieben, daß sie zögerte. »Sie wissen doch noch, wie wir bei unserem Treffen über Ryans schwarze Liste gesprochen haben? Die mit den aussichtslosen Fällen?« Natürlich wußte er das noch, und zwar nur allzu gut. Das war auch so eine Sache, die ihn verfolgte. So sehr, daß er es Ryans Vorgesetztem gegenüber er wähnt hatte. Als dieser mit ungläubigem Gelächter reagierte, hatte sich Bailey gewünscht, er hätte es nicht getan. Sally faßte sein Schweigen als Ermunterung auf. »Nun, ich glaube, ich habe noch so einen Fall. Die selben Merkmale. Eis zum Beispiel.« »Ich kann mich nicht daran erinnern, daß jemals von Eis die Rede war.« »Und ich kann mich nicht daran erinnern, daß von irgendwas Sinnvollem die Rede war«, antwortete sie scharf. Ihre Wut gegen seine Vertraulichkeit. »Aber ich würde gern mit jemandem sprechen, und es gibt niemanden. Keiner will mir zuhören.« Bailey überlegte, vorsichtig wie immer. Vielleicht sprach doch einiges dafür, Ryan der liebevollen Ob hut von Todd und den Gesetzesvorschriften zu über lassen. »Ich werde mich keinesfalls an irgendwelchen Plänen beteiligen, Ihrem Ryan aus der Patsche zu helfen«, sagte er unheilvoll. »Darum geht’s doch gar nicht«, antwortete sie noch wütender als zuvor. Doch was Bailey betraf, so ging es um nichts anderes.
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Wenn man was nicht ändern kann, wird es einem egal, hatte Rose gelästert. Rose konnte lästern, solan ge es ihr Spaß machte; sie war trotzdem Helens Ver bündete. Das machte echte Freundschaft aus oder stellte zumindest eine ihrer vielen Facetten dar. Hätte Helen je Zuflucht im Familienleben gesucht, seit sie die Entscheidung getroffen hatte, ihre Familie zu ignorieren (so wie umgekehrt diese seit mehreren Jahren sie ignorierte), wüßte sie jetzt wahrscheinlich besser, was Freundschaft mit anderen Bindungen gemein hat, zum Beispiel der zwischen Geschwistern oder Eltern und Kindern. Bei ihrer Vergangenheit blieb Helen gar nichts anderes übrig, als ihre Freun de über alles zu stellen. In mancherlei Hinsicht war sie froh, allein durchs Leben zu gehen. Sie haßte die Vorstellung, Menschen lieben und alle damit ver bundenen Pflichten auf sich nehmen zu müssen, nur weil in ihren Adern dasselbe Blut floß wie in ihren eigenen. Vielleicht war sie einfach eiskalt. Ich würde für nichts auf der Welt jemanden töten, es sei denn, für meine Handtasche, hatte sie zu Rose gesagt. Viele Freunde hatte sie nicht: Sie war zu wählerisch, und selbst im Reich der Freundschaft waren Gefühle mehr oder weniger ein Zufall. Statt der Familie, nach der ich mich heimlich sehne, hatte Helen Bailey ein mal anvertraut, wünsche ich mir folgende Eigen schaften bei meinen Freunden: Sie sollen eigensinnig und mutig sein, aber keine Draufgänger; sie sollen das Beste aus dem machen, was sie haben; sie sollen an sich zweifeln können, aber sich ihres eigenen Wer tes bewußt sein; sie sollen ehrenhaft sein – wenn nicht immer, so doch wenigstens von der Anlage her; sie dürfen nicht ständig um Hilfe betteln, es sei denn, 193
sie brauchen sie wirklich, und sie müssen über sich lachen können. Bleib dir nur selbst treu, hatte er geantwortet und dann gefragt, ob sie auch selbstsüchtig, habgierig, unehrlich und berechnend sein durften? Aber klar, hatte Helen wie aus der Pistole geschossen gesagt, keiner kommt auf die Idee, daß man Menschen mag, weil sie so sind, wie sie sind. Sie müssen nicht unbe dingt konventionelle Tugenden besitzen, nur welche, die man selbst bewundert. Du sagst es, mein Schatz. Du magst immer Men schen, die das sind, was du bist oder sein willst. Bin ich kalt? Nein, nur zu analytisch. Aber ich mag dich trotzdem. Jetzt saß sie an ihrem Schreibtisch, die aufgeschlagene Zeitung mit dem Bericht des Leichenbeschauers vor sich, und heulte vor Wut. Da stand es schwarz auf weiß, nüchtern und emotionslos. Vor zwei Mona ten war eine junge Frau tot aufgefunden worden. Ge rade siebenundzwanzig. Schwanger, allein, Herzan fall, tot. Nichts Besonderes, obwohl sie erst nach zwei Tagen gefunden worden war. Wie kann es pas sieren, daß jemand so jung und ohne ersichtliche To desursache stirbt? Und wie kam es, daß sie selbst, die sonst so schüchtern war, wenn es um Freundschaften ging, so vorsichtig, wenn sie jemanden um einen Ge fallen bat, jetzt, ohne lange zu überlegen, Anna Stir land anrief? Sie mußte sie fragen, ob man an gebro chenem Herzen sterben kann. Nein, nein, sagte sich Anna Stirland, ich erzähl nicht gern, was ich mache, besonders im Augenblick. Die Tatsache, daß man Krankenschwester ist, wirft eine 194
Menge Fragen auf, die sich dann wie von selbst be antworten. Erzähl einem Mann, daß du Hebamme bist, und er wird sofort das Weite suchen. Sag einer Frau, daß du in einer Familienberatungsstätte arbei test, und sie treibt dich in die Ecke mit lauter nervö sen Fragen zu ihrer Thrombose. Erzähl, daß du in einem Krankenhaus tätig bist, und die meisten Leute denken an Unfälle und Intensivstationen, wie im Fernsehen, und zeigen dir womöglich ihre Blasen an den Füßen. Im großen und ganzen war es besser, nicht darüber zu reden, daß man Krankenschwester war. Die anderen wollen unbedingt irgendwelche dramatischen Geschichten hören. Aber keiner will wissen, wie schlecht du verdienst oder warum du früher deinen Beruf als Berufung empfunden hast, so lange, bis der ganze bürokratische Irrsinn mit seinem Wust von Formularen dir jeden Spaß daran gründ lich verdorben hat. Na schön; ich verteile die Pille, Kondome und andere Verhütungsmittel und assistiere bei einfachen Ab treibungen. Ich wünschte, ich wäre immer noch He bamme, ja wirklich, aber heutzutage könnte man zwanzig Jahre als Hebamme arbeiten und sich immer noch kein eigenes Haus leisten. Anders, wenn man bei einer Bank arbeitete oder Autos verkaufte. Ab treibung und Schwangerschaftsverhütung zahlten sich besser aus, das war nun mal eine Tatsache. Nur aus diesem Grund wechselte eine begabte und enga gierte Hebamme in eine private Abtreibungsklinik. Anna fragte sich, ob sie weniger verletzlich wäre, we niger ein potentielles Opfer, wenn sie das machen würde, worin sie gut war. Sie hatte immer irgendwie das Gefühl, sich dafür verteidigen zu müssen, was sie 195
tat, und ein Mensch, der solche Zweifel an der Natur seines Berufs hegt, riskiert tatsächlich, eines Tages seelisch krank zu werden. Helen West hat mir was klargemacht, sagte sie laut vor sich hin, als sie durch den Park ging: daß es auch in ihrer Welt der Gesetze keine Antworten, kein All heilmittel und keine Medizin gab, die das Problem lösten. Das hatte Anna bereits gewußt, aber sie konnte nicht akzeptieren, was er ihr, und noch weniger, was er möglicherweise anderen angetan hatte. In seiner Kar tei, in der Tiefe seines Computers und in seinen No tizbüchern stand genau verzeichnet, wen er sich für diese kleinen Späße aussuchen konnte. Denn sie, die Patientinnen, waren genauso wie sie selbst. Sie sahen ihm in die Augen und vertrauten ihm all ihre Hoff nungen und Ängste an. Der Park war der kühlste Ort, wo man sich am frü hen Abend aufhalten konnte. Eigentlich war es weni ger ein Park als ein Friedhof, der sich über einen Hügel erstreckte, abseits der lauten Straße im Schutz der alten Bäume, wo das Gras dünn war vom ewigen Schatten und das Licht nur unregelmäßig durch das Laubwerk fiel. Auch die Grabsteine waren alt und wuchsen rings um die Kirche aus dem Boden wie kleine mahnende Finger. Ihre Inschriften konnte man längst nicht mehr lesen, so daß sie kaum mehr waren als namenlose Steinstümpfe. Man mußte sich nicht schämen, mit einem Sandwich auf der Erde zu sitzen und sich gegen sie zu lehnen. Aber das taten nur die wenigsten Besucher, verbreiteter war die Angewohn heit, mit einer Flasche Cider im Gras zu liegen. 196
Es war kein besonders attraktiver Park, im Gegensatz zu den gepflegten Stadtparks, in die scharenweise Touristen strömten, um berühmte Statuen zu besich tigen. Es war einfach eine grüne Lunge, deren Ober fläche wegen der vielen vom Straßenverkehr ver staubten Blätter immer ein wenig schmutzig wirkte. Außerdem war es nie richtig ruhig hier drin. Ein Park für Penner und ähnliche Existenzen. Jeden Morgen bedeckte eine neue Ansammlung von Fla schen den Rasen. Auf der anderen Seite des Hügels, jenseits der eingesunkenen Kirche, lag der Coroner’s Court, ein hübsches viktorianisches Gebäude, und gleich daneben, auf einem anonymeren Betonfunda ment, die Leichenhalle. Es gab viele Gründe, warum der Park nicht nach jedermanns Geschmack war. Anna Stirland jedoch kam hin und wieder gerne her. Manchmal paßte er zu einer bestimmten morbiden Stimmung und war daher beruhigend. Im Sommer versprach er Kühle, im Gegensatz zu den vor Hitze wabernden Straßen. Doch als Liebesnest schien er ihr ungeeignet, es sei denn, man hatte einen Hang zur Nekrophilie. Sie schwang sich die Tasche mit den Lebensmitteln über die Schulter; vielleicht würde sie kochen, viel leicht auch nicht, jedenfalls hatte sie die Sachen ge kauft, weil sie sich dem gewöhnlichen Leben noch verpflichtet fühlte. Auf dem Weg zum Eingangstor bemerkte sie wieder mal überrascht, wieviel lauter der Verkehrslärm wurde, sobald man den Schutz der Bäume verließ. Sie begegnete einem jungen Mäd chen, das in die entgegengesetzte Richtung ging und versuchte, selbstsicher zu wirken. Sie ähnelte einer schüchternen Frau, die einen Pub betritt, um jeman 197
den zu treffen, und nicht ganz sicher ist, was sie mit sich anfangen soll, falls er noch nicht da ist – außer vor sich hinzustarren oder sich umzusehen, als sei sie mit den Gedanken ganz woanders. Das Gesicht kam ihr vage bekannt vor, so daß sie ihr beinahe zuge nickt hätte. Anna sah so viele junge Gesichter im Verlauf ihrer Arbeit, daß sie nie ganz sicher war, ob sie die Frau oder das Mädchen aus der Klinik kannte. Das hier war einfach ein Mädchen, auffallend dünn und offensichtlich nervös. Es gab Zeiten, in denen Anna es nicht bedauerte, die ersten schüchternen Jahre der Jugend hinter sich zu haben. Shelley Pelmore blieb in Sichtweite des Coroner’s Court stehen und zögerte. Sie fühlte sich jetzt weni ger gehemmt, denn es gab niemanden, der sie beob achtete, als sie sich umsah. Die Hände in die Hüften gestützt stand sie da, den Riemen der Handtasche quer über den Oberkörper geschlungen. Ihre langen Beine endeten in schweren Stiefeln, die – dem Diktat der Mode entsprechend – einen auffälligen Kontrast zu dem kurzen Rock und dem lose geschnittenen Top bildeten. Sie warf das Haar zurück und starrte auf die Buntglasfenster des Coroner’s Court. Da drinnen ist es wahrscheinlich immer dunkel, überleg te sie, wegen der Bäume. Man erkannte ein paar brennende Lampen, es sah aus wie im Winter. Doch ging keinerlei Bedrohung von dem Haus aus, eben sowenig wie von dem Betonklotz daneben. Shelley hatte keine Ahnung, welchem Zweck die Ge bäude dienten, und interessierte sich auch nicht da für. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, freiwillig spazierenzugehen, und schon gar nicht in einem 198
Park, doch diese leicht heruntergekommene Gegend war irgendwie faszinierend. Sex unter freiem Himmel war ungefähr so prickelnd, wie was Verbotenes zu tun. Shelley Pelmore hatte es nie nötig gehabt, in ei nem verlassenen Schuppen oder auf dem Rücksitz eines Wagens zu bumsen. Heimlicher Sex war bei ihr nicht vorgekommen. Es hatte immer nur Derek ge geben, obendrein mit dem Segen ihrer verdammten Mutter. Abgesehen von der anfänglichen Ungehörig keit war die Sache alles in allem eher enttäuschend. Nicht der geringste Anflug von Verruchtheit. Keine Spur von der unerträglichen Spannung, dem Gefühl, sich allein in eine gefährliche Situation zu begeben, dieser schrecklich faszinierenden Angst. Oder der Verzweiflung. Er roch nie und bewegte sich lautlos wie eine Katze. Tanzen konnte er auch, dieser umwerfende Arzt. Shelley hätte am liebsten einen Schleier über ihre er ste Begegnung gezogen, als sie ihm ihr Herz ausge schüttet hatte. Bei diesem ersten Mal schon hatte sie zu seiner Erbauung sämtliche Umstände ihres Le bens vor ihm ausgebreitet und dafür seine mitfüh lende Anteilnahme erhalten. Und dann seine Hände auf ihrer Haut, die sie sanft berührten. Seine weichen Fingerspitzen stellten lauter Fragen, und sie mußte lachen, obwohl sie mit gespreizten Beinen, seinen kühlen Instrumenten preisgegeben, vor ihm lag. Eine intime Untersuchung – zuerst hatte sie sich davor ge fürchtet, danach träumte sie davon. Vielleicht war es die Erleichterung, doch nicht schwanger zu sein, die sie so übermütig machte. Ge hen Sie manchmal aus, Doktor? Kommen Sie doch mal mit, wenn ich mich mit meinen Freundinnen 199
treffe. Er war natürlich ein bißchen zu alt für sie, aber es war bestimmt nicht ratsam, ihn in die Nähe ihrer unersättlichen Chefin zu bringen. Von ihr mußte sie ihn fernhalten. Ein glänzender brauner Schädel unter künstlichem Licht, wunderschöne, erregende Augen. Vermutlich war er zu gut, um ihn nicht zu teilen. »Hallo.« Geräuschlos war er hinter sie getreten und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?« fauchte sie. »Ich habe dich vermißt«, sagte er. »Die ganze Zeit.« Damit drängte er sie Richtung Kirche, wo niemand hinkam. Sie blieb abrupt stehen. Es war Zeit, sich gegen ihn zu behaupten, sie mußte ihm sagen, daß es so nicht weiterging. Die Welt und ihre Erwartungen zerrten an ihr. Sie fürchtete den Morgen, den Nachmittag, den Abend, und diesmal mußte sie wirklich etwas unternehmen wegen der Schwangerschaft, oder sie wäre für den Rest ihres Lebens eingesperrt. Ob er ihr helfen würde? O Gott, das schuldete er ihr. Sie wandte sich zu ihm um, halbwegs entschlossen, ihn anzuschreien und in aller Öffentlichkeit eine Szene zu machen. Doch er kam ihr zuvor. Mit einer Hand packte er ihr Haar und hielt den Kopf fest, gleichzeitig preßte sich sein Mund auf ihre Lippen. Die andere Hand wan derte unter ihr Top und zwirbelte kurz die Brustwar zen, glitt dann weiter unter den Rockbund, über den noch flachen Bauch und in ihr Höschen. Ein langer Finger – sie schnappte nach Luft. Die Leute würden sie sehen. Obwohl sie die Augen ge schlossen hatte, konnte sie sich die Menschenmenge 200
vorstellen, die beobachtete, wie die Hand eines Man nes ihr am hellichten Tag zwischen die Beine griff. Er schob sie sanft in den tieferen Schatten der Kir chenmauer. Sie legte beide Hände dagegen und spür te, wie der kühle Stein ihre Handflächen zerkratzte. Er war jetzt hinter ihr, seine Schenkel schoben sich gegen ihren Hintern. Mit beiden Händen fummelte er an ihren Brüsten, dann preßte er sich noch enger an sie und tastete über die Innenseite der Schenkel. Er glitt mit dem Finger zwischen die Schamlippen, hinein und wieder heraus, rhythmisch und stark. Was für eine süße Fotze, murmelte er, küßte ihren Hals und spürte, wie ihre Beine nachgaben, bis sie prak tisch auf seinem Schoß saß. Der Rock war bis zur Hüfte hochgerutscht, der winzige Tanga zerrissen. Ihr Atem ging stoßweise, und ihr Mund sagte lautlos nein nein nein, während sie doch alles geschehen ließ, bis sie mit weit gespreizten Beinen krampfhaft zuckend auf seiner Faust kam. O Gott, kein Fick mit Derek war so sicher und so gefährlich zugleich wie das hier. Sie drückte die Schenkel zusammen, hielt seine Hand einen Augenblick damit fest und entspannte sich dann mit einem bebenden Seufzer. In solchen Au genblicken, wenn die Gereiztheit in einer ungeahnten Euphorie unterging, wollte sie sich umdrehen und etwas für ihn tun, nach seinem Penis greifen, den sie noch nie berührt oder gesehen hatte, ihn auf irgend eine Art befriedigen, und sei es nur, um die Bedürf nisse, die Lust oder was auch immer irgendwie aus zugleichen. Andere Male ging sie nach Hause und stürzte sich förmlich auf Derek. Sie brauchte eine unkomplizierte, phantasielose Nummer, um die Sache 201
zu Ende zu bringen. Bei diesem Mann hier gab es wenigstens keine Gefahr wie Aids oder ein Baby. Er war so ungefährlich, daß sie ihn sogar mit ihren Freundinnen teilen konnte. Jetzt hörte sie ihn leise und befriedigt lachen. Sie verstand ihn nicht und wollte es auch nicht. Einer ih rer Freundinnen, Becky, hatte es überhaupt nicht ge fallen, was er mit ihr machte. Dumme Kuh. Jetzt sprach er mit ihr. Sein Körper schirmte sie vor frem den Blicken ab, während er ihre Hinterbacken strei chelte, sie spreizte und knetete. In einer Minute wür de ihre Lust von neuem erwachen. »Wahrscheinlich liegt es an der Schwerkraft«, mur melte er. »Das Blut fließt an die richtige Stelle. Viel leicht hat es damit zu tun, daß wir eigentlich immer noch auf allen vieren durch die Welt laufen müßten.« Sie schmiegte sich an ihn. »Würde die Schwerkraft, oder was immer es ist, das Baby rausholen können?« »Nein.« »Du hast gesagt, du würdest mir helfen. Ich habe dir auch geholfen. Ich will es nicht … ich will es nicht, und Derek würde nie zulassen, daß ich es … Wann wirst du es wegmachen?« »Nächste Woche in der Klinik. Kein Grund zur Eile.« Er strich den Rock über ihrem Hinterteil glatt. Ihr Tanga lag auf der Erde, sie hob ihn auf und stopfte ihn in die Handtasche. Sie war immer erstaunt über die Art, wie sie nebeneinander hergehen und sich un terhalten konnten, als seien sie ein Pärchen und über legten, was sie zum Tee bestellen sollten. »Als ich letztes Mal in die Klinik kam, warst du nicht da.« 202
»Sorry.«
»Und gestern warst du nicht hier.«
»Nochmals sorry.«
»Ich kann so nicht weitermachen.«
»Ich weiß.«
Die Furcht lähmte sie. Die Furcht, nicht so weiterzu
machen, mit diesem seltenen, wahnsinnigen, schwin
delerregenden Kick. »So habe ich es nicht gemeint.
Oh, ich weiß gar nicht, was ich meine.« Sie zitterte
und klammerte sich an seinen Arm.
»Nächstes Mal werde ich es wiedergutmachen«, sagte
er. »Versprochen. Aber jetzt mußt du nach Hause.«
Ihr Gesicht versteinerte. Sie hatte keine Lust, mit ei
nem Klaps auf den Rücken verabschiedet zu werden.
»Montag?« fragte sie. »Am Montag? Sprich mit mir.
Sprich mit mir, oder ich rede.«
Er hielt sie zärtlich fest und küßte sie auf beide Wan
gen, so wie man sich auf dem Kontinent zur Begrü
ßung küßt.
»Nein, das tust du nicht. Versprich es. Und über
haupt, was würdest du sagen?«
203
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M
ein Mann«, sagte Helen West, unsicher wie immer darüber, ob sie Bailey als ihren Partner, Freund oder ganz einfach als Lover bezeichnen sollte, »ist deprimiert und verwirrt. Im Schlaf redet er von Verrat und Schokolade. Und was quält ihn so, den Armen? Ein anderer Mann. Habe ich ein Problem?« Die Schwester lachte. »Ach je! Und wo wollen Sie heiraten? In der Kirche?« »Nein. Auf dem Standesamt.« »Oh. Das in Highgate ist sehr hübsch.« »Ach ja? Ich kenne nur das in Finsbury, da habe ich nämlich schon mal geheiratet. Ich glaube, er sagte Finsbury.« Helen ertappte sich dabei, wie sie in der Arztpraxis plauderte, als sei sie tatsächlich krank und nervös. Das war beunruhigend. Dabei sollte diese abergläu bische Vorsichtsmaßnahme sie nur auf die bevorste hende Veränderung ihres Familienstandes vorberei ten. Sie wollte sich wenigstens einmal von Kopf bis Fuß durchchecken lassen, Herz, nikotingeschädigte Lunge, Hör- und Sehvermögen, um – innerhalb der üblichen Grenzen – über ihren gesundheitlichen Zu stand Bescheid zu wissen. Sie wollte einsatzbereit sein, geistig und körperlich fit, als sei eine Hochzeit dasselbe wie eine Expedition in die Berge. Eine chronische Krankheit, und die Hochzeit würde ab geblasen. 204
Die Arztpraxis am Ende der Straße war klein, hielt sich aber wacker. Helen merkte, wie kleinlaut sie wurde, als sie durch die Tür trat und jemanden hu sten hörte. Selbst bei dieser oberflächlichen Untersu chung kam sie sich blöd und mehr als nackt vor. Es lag eine gewisse, in ihrem Fall redselige Verletzbar keit darin, halb angezogen vor wildfremden Men schen zu stehen, selbst in dieser klinischen Atmo sphäre. Es war wie bei einer öffentlichen Fleisch beschau, bei der die Schwester oder der Arzt nicht nur eine allgemeine Diagnose stellten, sondern sich zudem anmaßten, über ästhetische Fragen zu urtei len. (Hier zu dünn, dort zu schwabbelig, und über haupt, was denkt sich diese Person eigentlich, in dem Alter zu heiraten?) Und am Ende war das Peinlichste an der Sache, daß sie so geschwätzig gewesen war. Bailey redete nicht nur im Schlaf, sondern auch, wenn er wach war. Erläuterte ihr Ryans Dämlichkeit und beschwerte sich, daß Sally Smythe ihm so gut wie nichts über Ryans Theorien sagen konnte. Ryan und alle möglichen anderen Versuchungen spukten durch seine Träume. Das war ihr Bräutigam. Über die Hochzeit hatten sie nicht gesprochen. Mei stens war es ihr ganz recht so. Anna Stirland lachte laut und herzhaft. Helen erin nerte sich an dieses Lachen. Seit ihrer ersten Begeg nung hatte sie es nicht mehr gehört. »Ob sie viel reden, die Patienten? O ja, die ganze Zeit. Was auch gut ist, wenn sie sich deswegen bloß nicht so schämen würden. Warum sollte ich sie denn sonst dazu ermuntern, wenn ich nicht neugierig drauf wäre, wie andere Leute leben?« 205
Ein Drink nach der Arbeit, ein bißchen plaudern, Leute beobachten … es war eine gute Idee gewesen. »Ja«, hatte Anna am Telefon gesagt, ohne ihre Begei sterung zu verbergen. »Ja, das würde mir guttun. Aber unter einer Bedingung, okay?« Sie hatte tief Luft geholt. »Können wir über was anderes reden als den … Überfall? Ehrlich, es ist jetzt Wochen her, und mir geht’s viel besser. Ich habe mich wieder im Griff.« »Was schenken Sie Rose zur Hochzeit?« fragte sie jetzt. »Weisheit?« antwortete Helen. »Davon verstehe ich nichts«, sagte Anna. »Ich auch nicht. Außerdem läßt sie sich so schwer verpacken. Einen Wäschekorb, dachte ich, mit Putz mitteln für ein ganzes Jahr: Ata, Bleiche, Staubtücher. Und dann vielleicht noch irgendein extravagantes Stück Unterwäsche. Nicht für beide, nur für sie.« »Ich dachte, ich mache ihnen ein paar Blumenkä sten. Immergrün, irgendwas, das spät blüht. Es wird fast Herbst sein, wenn sie wiederkommen«, erklärte Anna. »Rose macht sich nichts aus Pflanzen«, bemerkte He len und dachte an den Grund für den letzten Streit zwischen Rose und Michael. »Niemand macht sich was aus Pflanzen, wenn es halbvertrocknete Azaleen oder ordinäre Gummi bäume fürs Wohnzimmer sind. Sie wird es schon ler nen. Sie haben es doch auch gelernt, in Ihrem Gar ten.« »Nicht wirklich. Ich pfusche nur herum. Manchmal rede ich mit den Pflanzen. Oder versuche, sie daran zu hindern, sich gegenseitig zu erdrosseln.« 206
»Das heißt, Sie kümmern sich um sie. Das wird Mi chael auch tun.« »War er eigentlich ein süßes Kind?« fragte Helen. »O ja, ein witziger kleiner Kerl. Damals schielte er noch, deshalb trug er eine Brille mit Augenklappe und wurde von den anderen Kindern gnadenlos auf gezogen. Aber dann fing er eines Tages an zu wach sen und hörte nicht mehr auf. Ich habe ihn mal von der Schule abgeholt und die anderen Jungs beobach tet. Sie provozierten ihn weiter, ohne sich klarzuma chen, wie groß er geworden war. Michael packte ei nen am Schlafittchen und hob ihn in die Luft, ganz vorsichtig, verstehen Sie. Dann steckte er ihn in einen Mülleimer und ging seines Weges. Er war eigentlich nicht besonders nachtragend. Rose kenne ich nicht halb so gut. Am Anfang fand ich sie unmöglich, aber jetzt liebe ich sie über alles. Damals dachte ich, sie wäre eine kleine Schlampe. Was ein Glück, daß ich den Mund gehalten habe.« »Goldstaub«, murmelte Helen. »Ich hoffe nur, daß die Vergangenheit sie nicht eines Tages wieder ein holt. Mich beschäftigt sie noch immer, dabei ist es nicht mal meine eigene.« »Wie kommt das?« fragte Anna neugierig. »Sie war bewegt, das weiß ich, aber …« »Sie wurde sexuell mißbraucht, von ihrem Dad, der höchstwahrscheinlich auch ihre Mutter ermordet hat – ach, das hätte ich nicht sagen sollen.« Anna nickte, als hätte sie gerade den Wetterbericht gehört. »Unser Leben ist doch wirklich privilegiert und glücklich«, sagte sie trocken. »Wird sie eine gute Anwältin?« »Ich hoffe nicht«, antwortete Helen heftig. »Das will 207
ich wirklich nicht hoffen.« Sie zögerte einen Augen blick. »Am Ende raubt es einem das Feuer, verstehen Sie? Wenn man an die Rechtsprechung glaubt, wird man innerlich kalt. All diese Objektivität. Genauso schlimm wie die endlosen Formulare. Man schafft es einfach nicht, etwas wirklich gut zu machen.« »Als Krankenschwester ist es genauso.« »Und als Hebamme? Mit all dem neuen Leben?« »Selbst dann«, sagte Anna und wurde feuerrot. Ir gendwie löste sich der Abend auf, und sie fühlten sich ein wenig unbehaglich miteinander. Anna sah auf die Uhr. »Sie haben abgenommen«, bemerkte Helen. Anna zuckte lächelnd die Achseln. »Ich habe be schlossen, das Haus doch nicht zu verkaufen. Schließ lich habe ich lange genug dafür geschuftet. Außerdem wollen alle, daß es mir besser geht, also werde ich auf sie hören. Oh, es war bloß eine dumme Episode«, sagte sie und vergaß ihre eigene Bedingung, nicht darüber zu sprechen. »Ein Rückfall in seine Zeit als Mannschaftssportler, die man am besten vergißt.« Gegen neun Uhr früh kam Ryan wieder in den Park, diesmal ohne Wagen. Der Nahverkehrszug spuckte ihn zusammen mit den ersten Pendlern aus; dann ging er zu Fuß bis Euston. Die Luft war so frisch, wie sie in King’s Cross nur sein kann, der Park vom nächtlichen Tau sterilisiert, das stoppelige Gras merklich grüner als am Nachmittag. Ein Mann fegte Laub, Zweige und Papier von den Wegen, betont langsam, wie um die Arbeit hinauszuzögern. Offen sichtlich machte sie ihm Spaß. Derselbe alte Knast bruder lag, alle viere von sich gestreckt, auf derselben 208
Bank in einem Fleckchen Sonne. An einem Morgen wie diesem konnte einem das Leben eines Penners geradezu romantisch erscheinen. Ryan ging leise vor bei, und wieder fiel ihm das vorzeitig gealterte Ge sicht im Vergleich zu dem relativ jungen Körper auf. Die Tür zum Coroner’s Court stand offen. Ryan lehnte sich an die Mauer und starrte hinauf zu den Gasometern. Wenn man so was heute bauen würde, dachte er, käme bestimmt irgendein Blödmann auf die Idee, die runden Metallbehälter, die so groß wa ren wie ein Haus und von blanken Trägern gehalten wurden, als moderne Kunst zu deklarieren. Sie sahen aus wie das Gerüst für eine Bombe. Ein Draufgänger könnte sich bemüßigt fühlen raufzuklettern, nur um den leichten Wind da oben zu spüren. Sie waren un heimlich. Sie hockten da wie Wächter und verschan delten den Blick, aber trotzdem hatte er was für sie übrig, denn sie waren schon immer dagewesen. Ryan strich seine Krawatte glatt. Nachdem er in den letzten Tagen nur in alten Gartenklamotten herum gelaufen war, kam ihm der Anzug vor wie eine Zwangsjacke. Aber ohne diese Uniform, die ihm trotz allem ein gewisses Vergnügen verschaffte, würde es ihm an Glaubwürdigkeit mangeln, die er ohne seine Hundemarke dringend brauchte. Dabei würde nie mand sie wirklich sehen wollen oder gar wissen, daß sie konfisziert worden war. Er kam nicht regelmäßig in die Leichenhalle oder zum Coroner’s Court – so viele Todesfälle hatte er nicht zu bearbeiten –, aber die Beamten im Hinterzimmer hatten sein Gesicht ein-, zweimal gesehen, genauso wie die diensthaben de Gerichtsmedizinerin. Keiner würde seine Autori tät in Frage stellen. 209
Im Foyer hatte sich ein klägliches Häuflein von An gehörigen versammelt. Ernst hörten sie sich an, wie die Zeugen die Fakten runterrasselten, die zum Tod von Tante Mary oder Bruder John geführt hatten, und anschließend der Coroner sein Urteil bekannt gab. Ein Unglücksfall, eine Art Unfall, höchstwahr scheinlich vom Verblichenen selbst verschuldet, völ lig normal bei einer Überdosis Stoff. Ein Selbstmord, für den über begründete Zweifel an einem natürli chen Tod hinaus Beweise vorliegen mußten; ein Un fall, der genau das bedeutete, was der Name sagte, und seltener als alles andere, seltener als man glauben mochte, Mord. Die Trauer dieser Angehörigen hatte sich bereits gesetzt: Sie standen nicht mehr unter dem ersten Schock des Verlustes, sondern wirkten nur nervös und ein wenig verloren, als warteten sie, daß ihnen jemand die Prozedur erklärte, um keinen Fehler zu machen. Ryan war nicht der einzige, der einen Anzug trug, allerdings war seiner nicht von Motten zerfressen. Die Halle selbst war ein Mittelding zwischen Kirche und Gerichtssaal mit geraden Sitzbänken und der üblichen Anordnung von Richterbank und Zeu genstand. Die Sonne stahl sich durch die farbigen Fenster. Doch ihre Kraft reichte nur zu einem ange nehm friedlichen Zwielicht, in dem es unmöglich ge wesen wäre, das Kleingedruckte zu lesen. Es war ein Ort, der unbewußt dazu bestimmt worden war, jede Art von Hysterie zu dämpfen. Ryan konnte sich kaum vorstellen, wie die Angestellten hier eine Weihnachts feier abhalten sollten. Plötzlich hörte er lautes Gelächter aus dem hinteren Raum. 210
»DS Ryan. Ist Dr. Webb schon da? Ich habe einen Termin bei ihr.« Er stellte sich beiläufig vor, war aber trotzdem erleichtert, als niemand an seiner Anwesen heit Anstoß nahm. Die Gerichtsmedizinerin besetzte den Schreibtisch so selbstverständlich, als sei sie hier zu Hause, und lächelte zuckersüß. »Ah, Sie sind’s, Mr. Ryan, Sie mit Ihren komischen Fragen. Was wollen Sie denn diesmal?« Er hatte das Gefühl, als müßte er nervös einen Hut in der Hand drehen wie jemand, der eine Herzogin um einen Gefallen bittet. Dr. Webb war groß, ausge sprochen attraktiv und sah keinen Anlaß, über Lei chen, Krankheiten und den Tod, diese unausweichli che Tatsache, nur im Flüsterton zu sprechen, da dies sowieso nicht ihre Art war. »Noch mal kurz aufwärmen, was wir letztes Mal be sprochen haben«, sagte er bescheiden. »Offenbar habe ich meine Notizen verloren.« Sie drohte ihm mit dem Zeigefinger. »Polizisten soll ten keine Aufsätze schreiben«, sagte sie. »Und mir macht es natürlich nicht das geringste aus, mich zu wiederholen. Wo waren wir stehengeblieben?« Ryan dämpfte die Stimme. »Ich hatte Sie gefragt, ob es möglich ist, eine gesunde junge Frau zu töten, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen, beispielsweise indem man ihr Eis in die Vagina einführt. Könnte sie aus Schock darüber einen Herzanfall bekommen?« »Und ich hatte diese Möglichkeit ausgeschlossen«, sagte sie ungeduldig. »Es sei denn, sie hätte ein schwaches Herz. Ich sagte Ihnen schon, daß die Temperatur des Instruments keine Rolle spielt … höchstens, wenn es so kalt wäre, daß es die Haut verbrennt. Es wäre eher eine Frage der Länge. Ein 211
langer Eiszapfen zum Beispiel. Aber wo sollte den jemand herkriegen? Nein. Ein nicht nachweisbarer Tod, noch dazu ohne äußerliche Verletzungen, kann nur dann herbeigeführt werden, wenn ein Instrument ungeachtet des Widerstands zu weit vordringt – dann kann man am Schock sterben – das ist Frauen früher gelegentlich bei Engelmachern passiert. Der Gebär mutterhals reagiert äußerst empfindlich auf Eingriffe. – Die Leute haben wirklich komische Arten, sich zu vergnügen. Kein Eiszapfen, aber vielleicht eine Sprit ze!« Ungeachtet des Verbotsschilds und aller Anspie lungen auf die Sterblichkeit der Spezies Mensch zündete sie sich eine Zigarette an. »Was ich wissen wollte«, bohrte Ryan weiter, »gibt es eine Technik, die man perfektionieren könnte?« Sie dachte einen Augenblick nach und schüttelte dann den hübschen Kopf. »Welche Technik? Die Technik des Mordens, meinen Sie? Das wäre aber ein ziemlich seltsames Ziel. Wie ein Abtreibungsspezia list könnte man die Technik perfektionieren, den Tod zu vermeiden – aber ihn herbeizuführen, das glaube ich nicht. Im übrigen verhält sich ein Sexual mörder anders, er kennt keine Selbstbeherrschung. Er würgt und beißt, oder er sticht auf sein Opfer ein.« Mit Händen und Füßen demonstrierte sie, was sie meinte. Vom anderen Ende des Raums kam ein höfliches Hüsteln. Dort saßen zwei Coroner’s Officers vor ih ren Akten und Telefonen. Der eine sah Ryan prüfend an, als versuchte er, sich zu erinnern, vielleicht an ir gendwas, das er gehört hatte. Ryan wurde bewußt, wie laut Dr. Webbs Stimme war, und es rief ihm auch die in Hörweite wartenden Angehörigen ins 212
Gedächtnis zurück. Außerdem fiel ihm sein erster chauvinistischer Eindruck von Dr. Webb ein – daß eine so hübsche Frau nicht so laut sprechen sollte. »Es ist angenehm draußen«, schlug er vor. »Sollen wir?« Sie willigte ein, wie immer, und folgte ihm mit der qualmenden Zigarette in der Hand. Draußen war es warm. Sie schlenderte Richtung Park, drückte den Stummel auf einem Grabstein aus, seufzte und sah auf die Uhr. »Reine Vorsichtsmaßnahme vor der Obduktion«, sagte sie, als sie sich die Hand am Rock abwischte. »Es mildert den Gestank. Wo waren wir?« »Gibt es noch mehr Methoden, wie ein Mann wäh rend des Geschlechtsverkehrs den Tod einer Frau herbeiführen kann, ohne Spuren zu hinterlassen?« fragte er, erleichtert, daß er nicht länger zu flüstern brauchte. Sie runzelte die Stirn. »O ja. Eine ist ziemlich ähnlich. Tod durch Blasen. Was beweist, daß oraler Sex einem mehr verderben kann als nur die Aussicht.« Sie brüllte vor Lachen. Ryan stand hölzern da, starrte auf das Gras und drückte mit dem Absatz die Lasche einer Coladose in den Erdboden. Dabei bemerkte er zu seinem großen Entsetzen, daß er Turnschuhe zu seiner gebügelten Anzughose trug. Er sah wieder auf. Bestimmt würde die Gerichtsmedizinerin ihm beide Füße amputieren, wenn er sie höflich darum bat. »Die Vagina ist voller empfindlicher kleiner Blutge fäße, die bei schwangeren Frauen außerordentlich schnell verletzbar sind. Nehmen wir an, unser Mann macht nicht das, was er soll, sondern bläst tatsächlich Luft in die Vagina. Eine Luftblase kann durch ein 213
Blutgefäß in den Blutkreislauf gelangen, bis zum Herzen wandern, und dann – puff! Embolie. Er bräuchte zirka zehn Kubikzentimeter. Ich hab’s Ih nen schon mal gesagt. Es ist ein bißchen so was wie ein Lufteinschluß in einer Zentralheizung. Die Frau stirbt, und ich finde keinerlei Spuren. Herz- und Lungenstillstand.« »Ich erinnere mich«, antwortete Ryan. »Aber läßt sich das denn so genau steuern?« »Sie wollen Sicherheit, aber die gibt es nicht, nir gendwo. Es wird leichter, je mehr einer übt, aber eine Garantie für den Erfolg gibt es nicht. Mit einer luft gefüllten Spritze schon eher. Ach ja, und nur bei schwangeren Frauen, besonders bei solchen mit Va ginalwarzen.« »Wie lange würde es dauern, bis das Opfer tot ist?« »Oh, das geht schnell. Hören Sie, ich muß jetzt los. Ist das alles?« »Danke. Sie waren sehr freundlich.« »Viel Glück für Ihren Aufsatz. Und kommen Sie ja nicht so schnell wieder.« Eine neue Gruppe von Angehörigen drängte sich vor dem Eingang, um eine Zigarette zu rauchen. Sie bo ten ein Bild mühsam beherrschten Jammers; Ryan vermutete, daß ein Kind gestorben war. Er sah, wie der Officer, der gehüstelt hatte, am Eingang stand und ihn über ihre Köpfe hinweg anstarrte. Nein, so schnell würde er nicht wiederkommen. Ryan wandte sich ab und ging entschlossen den Hü gel hinab, wobei er die Krawatte löste und auf seine Schuhe fluchte. Im Park hatte er das Gefühl, über Schädel zu wandern, und einer davon war sein eige ner. Die Schuhe waren nur ein Symptom dafür, wie 214
tief er gesunken war und wieviel schlimmer es noch werden konnte. Irgendwo da draußen trieb sich ein Mann herum, den er seit langer Zeit haßte. Seine Präsenz war so verschwommen, daß die Jagd auf ihn der nach einem Gespenst glich, einem nebulösen Londoner Phan tom, das sich in Luft auflöste, sobald man es erwähn te. Anders als seine Frau, die zu ihm gehalten hatte, bis Gefängnismauern sie trennten, und erst dann, um der Überlebenden willen, verschwunden war. Der junge Alte wälzte sich im Schlaf auf die Seite. Jetzt brannte die Sonne auf seinen Rücken. Ryan stopfte ihm eine Packung Zigaretten unter die stinkende Achselhöhle. »Halt mir die Bank warm«, sagte er. »Hör mal, Aunty, du wirst mir doch wohl Bescheid geben, wenn du deinen alten Knacker heiratest, oder? Ich möchte gern vorbeikommen und mich totlachen. Ich verstehe nicht, warum du so ein verdammtes Ge tue darum machst.« »Ich habe es dir erklärt, so gut ich kann. Und hinter her werde ich dir auch alles erzählen. Aber offen ge sagt, warum sollte ich dich einladen, nur, damit du das ernsthafte Anliegen eines mittelalterlichen Braut paars mit deinen unpassenden Bemerkungen stören kannst? Nein, mein Kleines, da hast du dich ge schnitten. Es war von Anfang an als sehr kurzfristige Privatangelegenheit gedacht, damit ich nicht sterbe vor Scham, und frag mich bloß nicht, warum. Au ßerdem kann Bailey Ryan auch nicht –« »Das wäre ja noch schöner!« explodierte Rose. »Ei nen gottverdammten Vergewaltiger!« 215
»– reichlich übertriebene Darstellung. Jedenfalls ist doch klar, daß ich unter diesen Umständen meine selbsternannte, schrecklich aufdringliche Nichte kei nesfalls einladen kann. Wir geben später eine Party, so daß du dir deine Glückwünsche sparen kannst, bis wir beide uns dran gewöhnt haben. Falls wir das je schaffen sollten.« »Ich versteh dich einfach nicht«, erklärte Rose. Helen strahlte sie an. »Gut. Wenn ich du wäre, würde ich versuchen, das Verstehen zu vermeiden. Sag mir lieber, ob dein Lover sich anständig benimmt. Ist er immer noch so nervös?« Rose dachte nach. »Die meiste Zeit benimmt er sich den Umständen entsprechend. Nicht unbedingt besser, keineswegs tadellos, aber auch nicht schlecht, zum Glück. Es kommt immer noch vor, daß Seine Lordschaft in Rage gerät, wenn ich seine botanischen Zöglinge ver kümmern lasse oder unser gemeinsames Konto plün dere, um in eine teure Klinik zu gehen, statt einem gewöhnlichen Arzt zu erlauben, im Interesse der Empfängnisverhütung unverschämt zu werden, aber ansonsten erfreut er sich einer ausgezeichneten Ge sundheit. Danke der Nachfrage, Ma’am.« »Wird Missy darauf bestehen, in diesem Jargon wei terzuplaudern, weil sie gerade ein Video von Stolz und Vorurteil gesehen hat, oder können wir jetzt an fangen zu arbeiten?« »Ach übrigens, hast du Anna getroffen?« »Ja. Gestern. Sie wird dir Blumenkästen zur Hoch zeit schenken. Diesmal solltest du besser drauf auf passen.« 216
»Ich werde mein Pessar im Blumenkasten vor dem Schlafzimmer aufbewahren. Statt es auf die Straße zu werfen, pflanze ich es ein und züchte lauter neue kleine Pessarchen …« »An die Arbeit, Rose.« »Okay, okay, aber hör zu. Du weißt doch noch, was ich dir über den Unfall mit dem gottverdammten Pessar erzählt habe? Na ja, jedenfalls ist es nie wieder aufgetaucht. Ich mußte in die Klinik fahren und mir ein neues besorgen, stell dir vor. Aber das Gute war, Anna hat gelacht. Gelacht? Sie hat sich gekugelt vor Lachen …« »Anna?« fragte Helen. »In der Klinik. Wo sie arbeitet. Warum sollte ich sonst in eine Privatklinik gehen?« »Ich dachte, sie ist Hebamme?« »Nee, schon lange nicht mehr. So verdient sie bes ser.« Nur eine kleine Lüge, dachte Helen, nur eine winzig kleine Lüge. Die Art, von der sie immer fürchtete, ein Zeuge unter Eid könne sie aussprechen – irgendeine Geheimniskrämerei oder Eitelkeit, die alles andere, was er sagte, verdächtig erschienen ließ, egal, wie wahr es war. Sie nahm eine Akte vom Boden und hievte sie auf den Schreibtisch. »An die Arbeit, Rose.« »Ach, du Scheiße! Hab ich ganz vergessen.« »Die Sache hier kommt zur Verhandlung. Studier sie und sag mir, ob du einverstanden bist. Ich habe die Anklage entworfen, du sorgst für die entsprechenden Anmerkungen; alles in sechsfacher Ausfertigung. Bring die Aussagen in die richtige Reihenfolge, damit die Geschichte der Reihe nach erzählt wird. Oben 217
drauf ein Code für den Kram, den Verteidigung und Staatsanwaltschaft gleichermaßen als überflüssig verwerfen könnten … und jetzt ab mit dir.« Rose blieb seelenruhig auf einer der Papierstapel in Roses Büro hocken und blickte dickköpfig und schmollend zu ihr auf. »Ich habe die Akte bereits ge lesen. Von vorn bis hinten, großes Ehrenwort. Und ich bin ganz und gar nicht einverstanden.« Helen lehnte sich zurück. Betrachtete ihre Finger nägel, dachte an Bailey als Mr. Darcy und dachte, ja, es besteht durchaus Ähnlichkeit, nicht zuletzt we gen der Tatsache, daß beide schwächere Freunde haben. »Warum um Himmels willen?« fragte sie unschuldig. Rose holte tief Luft, als wollte sie gleich anfangen zu singen und hätte Lampenfieber. Helens Gedanken schweiften ab; sie nahm sich vor, Rose bei nächster Gelegenheit nach der Klinik zu fragen, die sie eben erwähnt hatte. »Weil ihre Aussage perfekt ist, falls dir das entgangen sein sollte«, platzte Rose heraus. »Zu perfekt. Der Angeklagte ist ihr Ex-Freund, okay? Er hält es nicht aus, daß sie ihn wegen eines anderen verlassen hat, okay? Eines Abends fühlt er sich einsam, also geht er bei ihr vorbei und klopft. Sie sagt, sie hat Angst vor ihm, weil er gewalttätig ist, und das wäre auch der eigentliche Grund, warum sie ihn verlassen hat. Trotzdem läßt sie ihn rein. Reizend. Wie geht’s? Ich war gerade in der Nähe und dachte, ich schau mal vorbei. Und selbst? Ein Bier? fragt sie. Komm, setzen wir uns und schauen ein Video an, sagt sie. Nett, dich nach sechs Monaten wiederzusehen, sagt sie. Wo steht mein Kaffee?« 218
»Links von dir.« Rose umklammerte den Henkel eines halbvollen Be chers und benutzte ihn, um ihre Gestik zu unterstrei chen. »Dann fällt er über sie her. Es hätte ihr gefallen, und sie hätte ihn mehr als eine Stunde angemacht – sagt er. Sie hätte einen Minirock getragen und mit ihren Reizen nicht gegeizt und so weiter. Sie sagt, das Gan ze kam aus heiterem Himmel, verstehst du? Warum hätte sie dieses Arschloch bumsen sollen, wenn im Nebenzimmer der Kleine schläft, und ihr neuer Freund jeden Augenblick zur Tür reinplatzen kann? Na ja, vermutlich hat der Kerl sie wirklich regelmäßig versohlt, wie sie ausgesagt hat; er spielte den starken Macker, wie sie sagt; sie hat sich erst ein bißchen ge wehrt und dann beschlossen, ihn machen zu lassen. Was ist schon ein Mal mehr um der alten Zeiten wil len? Also, ich glaube, daß sie völlig die Wahrheit sagt, verstehst du; sie hat eine Vergewaltigung gegen eine eingeschlagene Nase abgewogen und sich für die Vergewaltigung entschieden. Und ich weiß, daß sie blaue Flecken an den Armen hatte, von denen er sagt, daß sie schon vorher da waren, denn der neue Typ faßt sie auch nicht gerade mit Samthandschuhen an. Bloß an ihm ist kein Kratzer zu finden. Die Frage ist nur, soll man das alles vor einer Jury ausbreiten?« Der Kaffee tropfte auf den Boden. Rose achtete nicht darauf. »Sie werden sagen, warum hat sie ihm nicht die Tür vor der Nase zugeschlagen, sobald sie sah, wer es war, wenn er so ein Mistkerl ist? Warum hat sie nicht um Hilfe geschrien? Wenn der Verteidiger mit sei nem Plädoyer fertig ist, wird keiner sich mehr daran 219
erinnern, wie schwierig das in ihrer Lage war. Keiner wird so denken, wie sie gedacht hat: noch einmal, damit er aufhört, mich zu schlagen. Um Hilfe schrei en kann ich nicht, wegen des Kindes. Sie hat mitge macht, und nur deshalb kann er behaupten, daß sie entweder wirklich eingewilligt hat oder er zumindest Grund zu der Annahme hatte, daß sie es tat.« »Sie hätte gar nicht erst aufmachen sollen.« »Das tut man nicht, und sie hat es auch nicht getan, aber es gibt keine Zeugen. Es gibt keinerlei Beweise. Nur berechtigte Zweifel. Und du wirst doch kein sechsjähriges Kind dazu bringen, über Mummys Not lage auszusagen, oder? Nein, nicht mal du. Und was die Nachbarn angeht, die können wir vergessen.« Helen war von ihrem Drehstuhl aufgestanden und beobachtete jetzt durch ihre schmutzigen Scheiben die Angestellten der Farbenfabrik auf der gegenüber liegenden Straßenseite. Sie hatten ihre graugespren kelten Wände gestrichen, jetzt sahen sie noch grauer aus als vorher. Die Angestellten selbst wirkten wie schweigende graue Schatten vor dem Dekor. Alle in irgendwelche verwaltungstechnischen Entscheidun gen vertieft. Lebensbedrohliche Farben. Sie winkte, doch niemand reagierte. »Na schön, Rose«, sagte sie lebhaft. »Wenn das so ist, dann gleich in den Mülleimer damit.« »Womit?« »Mit der Vergewaltigung.« Rose sah entsetzt auf. »Das könnte …« stammelte sie. »Ich wollte nicht … aber das würde sich auszahlen, wie?« »Ein Ausdruck, der im Juristenlatein nicht enthalten ist. Willst du diesen Fall etwa an Redwoods Budget 220
vorbei verfechten? Du hast es selbst gesagt. Wenn du schon einen berechtigten Zweifel siehst, bevor du das Für und Wider gehört hast, was zum Teufel werden dann die Geschworenen sehen?« Rose schwieg. Dann stand sie auf, öffnete ein Fenster und tat so, als wollte sie die Akte rauswerfen. Helen hielt sie zurück. »Das bringt auch nichts. Oder willst du, daß das Leben der Frau auf der ganzen Straße herumfliegt?« »Du hast mich dazu gebracht, es zu sagen«, tobte Rose. »Du hast mich dazu gebracht, Gott zu spielen! Du hast es geschafft, daß ich sage, lehnen wir den Fall ab, selbst wenn wir glauben, daß es wahr ist, was sie sagt. Manchmal bist du echt gemein, Aunty.« »Ich wünschte, das wäre ich«, sagte Helen beküm mert. »Ich wünschte es wirklich. Aber wir können nun mal kein Verfahren einleiten, wenn wir genau wissen, daß wir es verlieren. Die Wahrheit ist ein Lu xus. Und ich spiele auch nicht gern Gott.« Ein merkwürdiges Gebäude. Wahrscheinlich eine ehemalige Schule oder so was Ähnliches, schätzte Bailey, später in ungewöhnlich weitläufige Wohnun gen mit hohen, modernen Fenstern umgewandelt. Die Fassade stach hervor wie ein geschwollener Daumen in der Reihe von kleineren, weniger auffal lenden Häusern, die den historischen Bauvorschrif ten des Viertels unterlagen, während dieses als einzi ges entkommen war. Es stand an einer Straßenecke und markierte trotzig die Grenze zwischen zwei völ lig verschiedenen Territorien. Vor dem Gebäude breitete sich die Metropole aus, hinter ihm lagen die baumbestandenen Straßen des vornehmen Barnsbury. 221
Hier lebte man wegen der Aussicht, möglicherweise auch wegen des Gefühls von Macht. Die flexible Routine eines turnusmäßig wechselnden Dienstplans hatte seine Vorteile, das war Bailey klar. Es war ihm bisher immer gelungen, jeder Art von Job zu entkommen, der ihm allzu viele strenge Vorschrif ten auferlegte, es sei denn, im äußersten Notfall. Sei ne durchaus kreativen Fluchtmanöver wurden jedoch langsam, aber sicher erschwert von der Tatsache, daß das Ausfüllen diverser Formulare mittlerweile länger dauerte als die Arbeit selbst, aber noch schaffte er es. Solange er bereit war, Überstunden zu machen und nicht groß drüber zu reden, konnte er nach wie vor in Übereinstimmung mit seiner inneren Uhr handeln und hatte auch noch Zeit für einen ungewöhnlichen Einsatz wie diesen. Er wollte Sally Smythes Phantasi en über die aussichtslosen Fälle weiterspinnen und dabei auch Ryans Theorien nachgehen. Angefangen beim jüngsten Fall. Er hatte vorher angerufen und war zunächst auf Granit gestoßen. Doch mit Hilfe seiner angeborenen Diplomatie hatte er Aemon Connor so lange bearbei tet, bis dessen anfängliche Schroffheit zu einem un wirschen Grunzen geschmolzen war. Okay, sollte er vorbeikommen und ihm die Zeit stehlen und auch seiner Frau, wenn es unbedingt sein mußte, aber nicht lange. Zehn Minuten. Es gab ohnehin nicht viel zu sagen. Sie war noch nie ganz richtig im Kopf ge wesen. Im Foyer lag ein Hotelteppich, der mehr von Gel tungsbedürfnis als Geschmack zeugte. Bailey nahm den winzigen Aufzug und fuhr zu Connors Wohnung. Ein Mythos, der im Polizeibericht breiten Raum ein 222
nahm, zerstörte sich damit von selbst, nämlich der von einem Portier, der rund um die Uhr Wache schob oder zumindest jederzeit zur Verfügung stand. Mr. Connor war ein Mensch, dem seine chronische Gereiztheit in Fleisch und Blut übergegangen war. Es war sein natürlicher Zustand, abgefedert nur von hektischer Betriebsamkeit. Es sah aus, als sei er so krampfhaft bemüht, seine Position auf der Spitze ir gendeines Misthaufens zu halten, daß das Gefühl von Erfüllung höchstens von physischer Erschöpfung kommen konnte. Vielleicht entpuppte er sich in Ge genwart seiner Kinder als zärtlicher Vater, doch Bai ley bezweifelte es. Zwei halbwüchsige Mädchen, hat te er gelesen, die den Sommer woanders verbrachten. Als ihm die unnatürliche Hitze in dem hochgelege nen Apartment entgegenschlug, hatte Bailey das Ge fühl, daß sie ganz recht daran taten. Von der Frau keine Spur. »Im Bad«, sagte Aemon knapp. Er sah auf Baileys ausgestreckte Hand und überlegte, ob er sie ignorie ren sollte, doch da der Mann lächelte, schüttelte er die Hand. Bailey fragte sich insgeheim, ob eine so schwielige Hand den Unterschied zwischen einem kräftigen und einem laschen Händedruck überhaupt bemerken konnte. Irgendwas an der Beschaffenheit seiner eige nen Hand erschien ihm beruhigend. »Ich wollte Sie ohnehin sprechen, Sir«, sagte Bailey. »Nur ein paar Worte, bevor wir Ihr Frauchen behel ligen müssen.« »Sie redet sowieso nur Blödsinn«, grunzte Aemon. »War schon immer so.« »Typisch Frau, was, Sir?« Bailey seufzte mitfühlend. 223
»Oh, tut mir leid. Nicht gerade passend. Ich meinte es nicht persönlich.« »Sie haben es auf den Punkt gebracht, alter Junge.« Die Atmosphäre wärmte sich ein wenig auf. Beide schüttelten bekümmert den Kopf, wie zwei Männer, die darüber nachdenken, was sie mit dem Leguan pärchen anfangen sollen, das ihnen versehentlich und ohne rechte Anweisungen für artgerechte Haltung in die Hände gefallen ist. »Und ich dachte, der Fall wäre abgeschlossen«, grunzte Connor. Er dachte flüchtig daran, dem Besu cher einen Drink anzubieten. Kein übler Kerl, dafür, daß er ein Bulle war; außerdem wollte er selbst einen. Später Nachmittag, mit der Arbeit ging’s bergab, heiß wie sonstwas und nicht gerade Aussichten auf einen paradiesischen Abend. Ein Drink schien eine gute Idee. Nur einer, ein großer. »Das ist der Fall auch«, sagte Bailey. »Aber wissen Sie, Sir, es gibt da einen Aspekt an der traurigen Ge schichte, der vielleicht, nur vielleicht, mit einer ande ren Ermittlung zusammenhängen könnte, die anson sten gar nichts mit Ihnen zu tun hat. Nun, wie es scheint, phantasierte Ihre Frau von einem nachmit täglichen Besucher, als Sie nach Hause kamen und sie im Bad fanden …« »Das kommt häufig vor. Sie lebt sozusagen dort.« »Ja, sicher, aber normalerweise doch nicht den gan zen Tag, oder? Soweit ich weiß, mußten Sie an die sem Nachmittag einen Arzt rufen. Hören Sie, wir wissen natürlich, daß Sie selbst mit dieser vermeintli chen Vergewaltigung nichts zu tun haben. Ich spiele nur mit der Möglichkeit, daß sie tatsächlich einen Be sucher hatte. Ich weiß, es klingt scheußlich. Einen, 224
der sie so erschreckte oder schockierte, daß sie hyste risch wurde.« Aemon hörte zu. »Mir fällt niemand ein, den sie reinlassen würde. Höchstens Frauen aus der Pfarrgemeinde … oder den Priester, sie liebt den Priester, obwohl der Bur sche zu jedermann ziemlich streng ist, bis auf die Armen, die es gar nicht verdienen.« »Ein Verkäufer?« schlug Bailey vor. »Der Elektriker? Klempner? Jemand, der was abgeben wollte? Ein Arzt?« Letzteres setzte er hinzu, als sei es ihm gerade erst eingefallen. Aemon schüttelte den Kopf. Plötzlich versuchte er sich wütend zu verteidigen. »Ein Arzt? Warum zum Teufel sollte sie einen Arzt in die Wohnung lassen? Es ist alles in Ordnung mit ihr, oder etwa nicht?« »Nun«, sagte Bailey und sah auf die geballten Fäuste. Er fragte sich, warum die Erwähnung eines Arztes, der seine Frau behandelte, einen so empfindlichen Nerv traf. »Vielleicht war es nichts Offensichtliches? Vielleicht fühlte sie sich einfach nicht wohl?« Aemon schnaubte verächtlich. »Das sagt sie oft, aber es stimmt nicht. Sie ist robust wie ein Pferd.« In diesem Moment rauschte der Gegenstand ihrer Unterhaltung ins Zimmer wie eine preisgekrönte, ein wenig verblaßte Schauspielerin, die nie ihr Stichwort überhört. Im weißen Frotteemorgenrock, umhüllt von Rosenduft, das Haar unter einem Turban ver borgen. Gloria Swanson, dachte Bailey; Marlene Dietrich mit weicherem, erschöpfterem Gesicht und größerem Busen. Keinesfalls Jamie Lee Curtis. »Hast du neulich einen Arzt gerufen, Brigid?« fragte Aemon. Seine Stimme war sanft, höchstens eine Spur 225
ungeduldig. »Du weißt schon, an dem Tag, an dem wir unseren hübschen kleinen Ausflug zur Polizeiwa che gemacht haben.« Letzteres klang bitter. Sie zuckte zusammen, schüttelte den Kopf und lä chelte strahlend. »Wir haben unseren Hausarzt«, erklärte Aemon. »Ein völlig integrer Mann, vierundsechzig Jahre alt. Der könnte keiner Fliege was zuleide tun.« »Haben Sie je einen anderen Arzt aufgesucht, Mrs. Connor?« fragte Bailey. Sie schüttelte heftig den Kopf und sagte dann schnell mit kindlicher Stimme: »O nein, das würde ich nie tun.« Ihr Gesicht lief puterrot an. Aemon hatte ihr einen doppelten Gin eingeschenkt. »Eis?« bellte er. »O ja, bitte. Viel.« Der Eiskübel war himmlisch altmodisch, fiel Bailey auf; allein sein Anblick reichte, um einen gewöhnli chen Drink in einen Cocktail zu verwandeln. Aemon stürzte seinen Gin in einem Zug herunter, ohne Bai ley schließlich einen anzubieten, und fühlte sich so fort erheblich besser. »Einen anderen Arzt?« gluckste er. Das Thema Arzt schien ihn zu beschäftigen. »Als nächstes werden Sie sie noch bezichtigen, die Pille zu nehmen, was? Das würde sie nie tun. Nicht, solange wir noch Zeit für einen Sohn haben. Einen anderen Arzt! Was für ein Gedanke! Sie zieht sich ja nicht mal vor mir aus.« Bailey stimmte zu seiner Schande in Aemons Geläch ter ein. Und während es noch sein Gesicht erhellte und seinen Körper schüttelte, versuchte er, Mrs. Connors Blick zu erhaschen. »Ich frage nur, weil wir es offenbar mit einem Mann 226
zu tun haben, der sich in der Gegend rumtreibt und als harmloser Besucher ausgibt. Vielleicht sogar als Bote einer Auslieferung, der Blumen und Pralinen abgibt. Er hat noch ein paar andere Frauen belästigt, das ist alles. Er hat ihnen einen ziemlichen Schreck eingejagt.« Aemon war nachdenklich. »Sie meinen, vielleicht hat sie gar nicht gelogen? Sie war nicht die einzige, der das passiert ist?« »Ich habe eigentlich nicht den Eindruck, daß lügen zu ihr paßt, Mr. Connor.« »Nun, das höre ich gern. Ich hoffe, Sie schnappen das Schwein.« Aemons Blick wanderte zuerst auf die Uhr und dann zu seiner Frau. Bailey sah ihr Gesicht, errötet und ausdruckslos, als sie an einem kunstvoll verzierten Spiegel vorbeiging und ans Fenster trat. Eine leichte Brise trieb herein, in der die Kristalle des Kronleuchters leise klirrten. Mrs. Connor lehnte sich an den Fensterrahmen und sah aufmerksam nach unten, als wartete sie auf je manden. Er sah Spuren auf der Scheibe, Flecken und Streifen, die so gar nicht zu diesem blitzblank gewienerten Haus passen wollten. Sie mußte heute mehr Zeit am Fenster verbracht ha ben als im Bad. Möge Gott mich davor bewahren, je so glücklich verheiratet zu sein. Ryans blaue Mappe. Zwei Frauen hatten von einem Arzt gesprochen. Und es dann mit einem Lachen überspielt. 227
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»Wenn jemand mit dem Vorsatz, eine Straftat zu be gehen … eine Handlung ausführt, die mehr ist als eine bloße Vorbereitungshandlung, ist er des Versuchs schuldig. Jemand kann des Versuchs einer Straftat für schuldig befunden werden (darum geht es in diesem Absatz), obwohl angesichts der Umstände die tatsächliche Aus führung der Straftat unmöglich ist.«
D
erek konnte sich an die Warnungen erinnern, von Mum und Dad und all den anderen, aber am besten erinnerte er sich daran, wie seine Ge schlechtsgenossen nach Luft geschnappt hatten, als sie Shelley zum ersten Mal begegneten. Sie ist ein Flittchen, Derek. Alle haben dich gewarnt, daß sie ein Flittchen ist. Entschuldige, wenn ich so deutlich werde, sagte seine Schwester. Jetzt werd ich dir mal was sagen, hatte er geantwor tet, sie ist eine wunderbare Frau, sie braucht bloß ei nen anständigen Kerl. Sie hat sich gut gemacht, mei ne Shelley. O ja, sie amüsiert sich gern, aber sie arbeitet auch schwer. Er hatte diesen Spruch so oft aufgesagt, daß er sich in seinem Kopf schon beinahe reimte. Dabei hatte er immer die Zeiten vor Augen, als Shell sich verblüff fenderweise tatsächlich freute, ihn zu sehen. Zeiten, in denen seine Liebe von ihrer zehnminütigen Hin gabe mehr belohnt wurde als ein halbverhungertes 228
Haustier durch den Anblick eines vollen Futternapfs. In solchen Augenblicken verzieh er ihr alles. Sie ge nügten, um ihn in seiner hartnäckigen Entschlossen heit zu bestärken, eine so umwerfende und manch mal unberechenbare Freundin behalten zu wollen. Es konnte eine Qual sein, mit ihr zu leben, aber sie hat ten sich zusammengerauft, und seine Kumpel hatten ihn beneidet, egal, was sie später sagten. Er spürte ihren Neid wie Balsam auf der Stirn. Es tat seinem schwachen Selbstbewußtsein gut, daß sie ihn mit neuen Augen sahen. »Was schaust du, Shell?« »Gar nichts«, antwortete sie von ihrem Platz am Fen ster aus und sah aus wie eine Gefangene, die am lieb sten ihre Laken aneinandergeknotet hätte, um sich abzuseilen, denn das wäre schneller gegangen als durch die Haustür zu verschwinden. Es war keine besonders imposante Tür, einfaches Doppelglas in einem häßlichen Stahlrahmen. Die Lackschicht war voller Kratzer, und innen prangte die Aufforderung, die Tür leise zu schließen. Den meisten anderen Be wohnern war Sicherheit wichtiger als Schönheit. Äl tere Mitbürger, wie sie Derek höflich nannte. Es machte ihm nie was aus, einen Botengang für sie zu erledigen oder ihren Teekessel zu reparieren. Jenseits des Verfallsdatums, sagte Shelley verächtlich. Und langsam, ganz langsam entdeckte er, daß seine Prinzessin, seine Liebste, seine auserwählte Gefährtin fürs Leben eine Frau war, der Freundlichkeit nicht gerade im Blut lag. Ehrlich gesagt konnte sie ein ganz schönes Miststück sein. Derek hatte bisher der Ver suchung widerstanden, sich dieser Erkenntnis zu stel len, und sie aus seinem Bewußtsein verbannt, ebenso 229
wie seine anhaltende Angst vor ihrer Untreue. Er dämpfte seine ausschließliche Leidenschaft für dieses verwöhnte, ständig schmollende Geschöpf zu gutmü tiger Besorgtheit rund um die Uhr, von der er nicht ablassen konnte, selbst wenn er wußte, daß sie ihr auf die Nerven ging. Nichts war vergleichbar mit der Angst, daß sie ihn verlassen könnte. Und nicht nur verlassen, sondern zu einem anderen gehen. »He, du siehst die ganze Zeit aus diesem Fenster«, zog er sie auf. »Man könnte fast denken, du genießt die Aussicht.« Sie gähnte zur Antwort. »Ich glaube, ich gehe auf ei nen Sprung bei Kath vorbei«, sagte sie. »Ich dachte, du redest nicht mehr mit Kath?« »Na ja, ich kann’s ja versuchen. Im Kasten läuft auch nichts.« Als ob sie zu Kath ging, wenn er Nachtschicht hatte! Wer’s glaubt, wird selig. Wollte sie ihm etwa weis machen, daß sie so zappelig war und nervös gähnte, weil sie einen gemütlichen Plausch mit ihrer Freun din und deren Mutter im Sinn hatte? Weil die Aus sicht auf einen schönen heißen Kakao am Küchen tisch so verlockend war? »Ich glaube, du solltest lieber zu Hause bleiben und früh schlafen gehen«, schlug er vor. »So, na vielleicht mach ich das«, sagte sie spitz. Es dauerte immer lange, bis Derek in Wut geriet. Normalerweise gelang es ihm, sie zu verbergen, aber wenn man ihn belog, platzte er. Jetzt wußte er, was er tun würde, und haßte sich dafür. Er küßte sie zum Abschied, stapfte geräuschvoll die Treppe hinunter und ignorierte das Schild an der Tür, indem er sie laut hinter sich zuknallte. Dann setzte er sich in die 230
überdachte Bushaltestelle auf der anderen Straßen seite und wartete. Er machte sich nicht die Mühe, sich zu ducken, seine Anwesenheit zu verbergen oder sich zu fragen, ob sie ihn sehen konnte. Er wußte, daß sie aus dem Haus stürzen würde, ohne nach rechts oder links zu sehen. Jede Erinnerung an ihn war in dem Moment verblichen, wenn sie den Lip penstift auftrug. Er konnte sich sogar vorstellen, wo sie hinwollte: ins Wheatsheaf, ins Crown oder die Bar am Kanal. Sie waren nicht so aufgemotzt wie die zweitklassigen West-End-Clubs, die sie eigentlich be vorzugte, aber immerhin Kneipen, wo man als Frau rumsitzen, sich umschauen und ein paar Drinks ab stauben konnte. So jedenfalls machte sie es bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie zusammen ausgin gen; sie starrte lieber in die Luft, als ihn anzusehen. Aber später, im Bett, war es dann ganz anders. Köst licher Schmerz und höchste Lust von einem mal wil den, mal daumenlutschenden jungen Ding, das ihm entweder um den Bart ging oder mit seinen Launen tyrannisierte. Ein Kind eben. Da lief sie, schnell wie ein Pfeil, mit herrlichen langen Beinen durch die späte Nachmittagssonne, und plötzlich ging seine ganze Wut in einem Anfall von Sehnsucht unter, verstärkt noch von der Scham dar über, daß er so tief gesunken war, ihr nachzuspionie ren. Nein, sagte er sich, mach einen Spaziergang, geh was trinken, reg dich ab und dann troll dich nach Hause. Die Auseinandersetzung kann warten. Die Erkenntnis, daß sie eine unverbesserliche und überzeugende Lügnerin war, stand schon lange im Raum. Tatsache war, daß dies sich wahrscheinlich nie mit solcher Endgültigkeit in seinem langsamen, aber 231
präzisen Bewußtsein festgesetzt hätte, wenn er sie nicht selbst gesehen, sie ungläubig und aufmerksam beobachtet hätte, als er ihr am Abend zuvor gefolgt war und sie gegenüber vom Bahnhof im Spielsalon ge sehen hatte. Sie hatte dagesessen und sich lebhaft ge stikulierend mit diesem Mann unterhalten, Ryan, der vor einiger Zeit mal bei ihnen gewesen war. Obwohl er sie angeblich vergewaltigt und in das gedemütigte, wimmernde Häufchen Elend verwandelt hatte, das Derek so entzückt hatte. Er verstand es einfach nicht. Er war nicht in der Stimmung für einen Drink, ver suchte es aber trotzdem. Er stammte aus dem glei chen Stall wie Shelleys Mum und Dad, war genauso mißtrauisch gegenüber Alkohol und Vergnügungen aller Art, verachtete Fleisch allerdings weniger als sie. Bleib am Ball, mein Junge, oder jemand anders schnappt dir deinen Job weg; frag nach dem Renten plan, wenn du dich mit siebzehn bei einer Firma bewirbst; das Wichtigste im Leben ist eine Mauer gegen die Armut zu errichten, die deine Großmutter umgebracht hat. Natürlich mußte er das mit Shelley regeln, schließlich läßt man sich nicht einfach weg nehmen, was man hat. Weder die eigenen vier Wän de noch die Frau. Besonders, wenn sie schwanger ist, auch wenn sie glaubt, das sei ihr Geheimnis. O ja, er wußte Bescheid. Und sie hatte keine Ahnung, daß er dahintergekommen war, was sie letztes Mal gemacht hatte. Sie war zwar gewitzt, aber auch träge, beson ders, wenn es um die Details ging. Sie hatte die Be scheinigung der Klinik genauso sorglos herumliegen lassen wie die Quittungen für die Kleider, die sie ver steckte. Als hätte er nicht jedes Versteck in der Wohnung mit eigenen Händen gebaut. 232
Der Nachgeschmack von Verachtung und der Drink machten ihn sentimental. Er tat sich selber leid, das Kind auch, aber mehr er selbst, wie er zugeben muß te. Beim zweiten Bier standen ihm plötzlich Tränen in den Augen, was er beinahe genoß. Ein älterer Mann kam und setzte sich neben ihn. Es war einer der Stammkunden, bei deren Anblick De rek gewöhnlich auf die andere Straßenseite wechsel te, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Doch in diesem Augenblick, als er eigentlich bei der Arbeit und ein richtiger Mann hätte sein sollen statt des Waschlap pens, der er gerade war, machte es ihm nichts aus. »Alles in Ordnung, alter Junge?« Es war ein hastiges Flüstern, eifrig und verschwiegen wie das eines Beichtvaters. Derek bemerkte mit seltener Klarsicht, daß das Gesicht bei näherer Betrachtung jünger wirkte und von echter Anteilnahme erfüllt war. Er riß sich zusammen, bestellte zwei Drinks, wie es die Gelegenheit verlangte, und sagte, ja ja, alles bestens, danke sehr. Dann redeten sie über das Wetter in der altehrwürdigen Art und Weise von Fremden, die sich Gesellschaft leisten, bis Derek den tage- wenn nicht wochenalten Gestank nach Schweiß und Sommer nicht länger ertrug, so wenig wie die schmutzigen Hände mit den braunen Rändern unter den krallen artigen Fingernägeln, die sich zitternd um das Glas schlossen. Nachdem er anderthalb Stunden Zeit tot geschlagen hatte, brach er mit freundlichem Ab schiedsgruß auf, nur um festzustellen, daß die Welt jenseits des Eingangs sich verdunkelt hatte. Der Ver kehr hatte abgenommen, eine angenehme Brise strich über seine Stirn, und der Gestank der Dieselabgase war beinahe eine Erleichterung. 233
Zu Hause wartete er, folgte mit einem Auge einem langen Spielfilm im Fernsehen und nippte an einem Glas Brandy, der sonst für besondere Gelegenheiten reserviert war. Er trank und döste vor sich hin, bis der Hunger ihn weckte, gerade als der Abspann über den Bildschirm flimmerte. Er konnte sich nicht erinnern, was er gesehen hatte. Er wußte nur, daß es ein Uhr morgens und Shelley nicht zu Hause war. Er taperte durch die Wohnung, fand Kaths Nummer und rief sie an. Ihre Stimme klang abweisend. Nein, wieso sollte sie hier sein? Laß mich schlafen. Was hatte sie sonst für Freundinnen? Echte Freun dinnen? Es gab kaum welche. Kichernde Mädchen, die kamen und gingen; keine, auf die er zählen konn te, keine, die blieb. Der Gedanke jagte ihm einen Schauer über den Rük ken. Er war im Grunde alles, was sie hatte. Das war es; sie war irgendwo versackt und, lieber Himmel, dieser Kerl, Ryan, versuchte sich an sie ran zumachen oder so was. Sie hörte Männern immer zu, und sie machte sich immer Sorgen um Geld. Wir ha ben alles, was wir brauchen, hörte Derek sich sagen, und dann sie antworten: Alles, was wir brauchen – wofür? Ihm war kalt. Ein wenig steif vom unbequemen Sit zen griff er nach einer Jacke und knallte die ver dammte Haustür hinter sich zu, noch bevor er richtig wach war. Ein Schwall von Panik und neu erwachter Liebe breitete sich in ihm aus. Dumme Ziege. War um hat sie mir nichts gesagt? Und das Echo einer anderen Stimme antwortete, sie sagt dir nie was, das steht fest, nicht eine Frau wie sie. Ho ho ho. Wo hat 234
man das gesehen, ein Holzkopf wie du, der sich ein bildet, eine solche Puppe würde je Vertrauen zu ihm haben … Er ging los, zuerst ein wenig unsicher, dann rasch und mit langen Schritten, als hätte er ein Ziel vor Augen, obwohl es ihm erst unterwegs einfiel. Zuerst zum Wheatsheaf, acht Minuten zu Fuß. Er war leicht überrascht, als er es geschlossen fand. Irgendwie hat te er das Gefühl, daß man ihm öffnen sollte, schon deswegen, weil er selbst jetzt hellwach war. Trotzdem klopfte er nicht an die Scheiben, denn er konnte se hen, daß niemand mehr da war. Also weiter den Goods Way entlang, der schweigend im warmen Dunst lag, vorbei an der schrecklich aufgetakelten Yuppie-Bar, die eher nach Essex gepaßt hätte als an den stinkenden Kanal. Allmählich verlangsamte sich sein Schritt, denn jetzt ging ihm auf, daß seine Ziel strebigkeit verpufft war und alles schlief bis auf die Fernlastwagen. Ein Zug rumpelte durch seine Träu merei. Die ganze vibrierende Gegend hatte sich in eine Art hellerleuchtete Nachtruhe begeben. Hier gab es nicht viel zu sehen, und die wenigen Nacht schwärmer waren auf dem Weg woanders hin. Unter dem Arbeitsoverall, den er den ganzen Abend getra gen hatte, war ihm heiß. Um diese Zeit war sie be stimmt nicht mehr unterwegs, inzwischen mußte sie zu Hause sein. Nach Hause. Der kürzeste Weg verlief durch den Park, vom obersten Ende bis ganz runter, von der Straße unter den Gasometern bis zu der, die nach Hause führte. Das Tor war verschlossen, egal, er klet terte drüber, gleich neben einem Gebäude, aus dessen Innerem Licht fiel. Er wußte nicht, wozu es diente, 235
und es war ihm auch gleichgültig, denn er wohnte nur deshalb in dieser Gegend, um sie eines Tages mit Shelley zu verlassen, genau wie die Fernlastwagen. Es war schwer, das Mum und Dad beizubringen. Ihre Eltern verstanden seine Sehnsucht nach einer saube ren, modernen Sackgasse viel besser. Nicht wie hier, ein Viertel, das sich nie verändern würde, wo er einer von vielen war und der Lärm nie verebbte. Der Park war ihm als Kind größer erschienen. Es war einmal … vor langer Zeit, da hatte er dorthin gehen können, ohne zu riskieren, von einem vorbeirasenden Auto erfaßt zu werden. Die Gefahren, die nach Einbruch der Dunkelheit von Menschenhand drohten, konnten nicht schlimmer sein als die, denen man auf dem Weg hierher ausgesetzt war. Aber still war es hier; zu still für Dereks städtische Seele, die selbst auf relative Ruhe nicht eingestellt war. Still und verlassen, bis er den Mann aus dem Pub entdeckte, der halb über einem Grabstein hing. Es sah aus, als machte er Schwimmübungen auf dem Trockenen; Arme und Beine ruderten mit unkoordi nierten Bewegungen durch die Luft statt durchs Wasser. Während Derek ihn beobachtete, rutschte er rücklings am Stein herab, bis er flach auf dem Boden lag und leise summend zu den stillen Zweigen über seinem Kopf aufsah. Derek lauschte. Dann verwan delte sich das Summen in einen melodischen Sing sang. Derek ging rüber zu ihm, fasziniert von dem seltsa men Gebaren und dem Klang. Als er näherkam, verstand er die Worte, ach herrje, ach herrje, die wie im Takt stetig wiederholt wurden. Ach herrje, ach herrje, ach herrje, ach herrje, ach herrje, ach herrje … 236
aus irgendeinem Grund mußte Derek lächeln. Das Ganze erinnerte ihn an ein verwirrtes Kind. Der Mann lag auf so dumme Art unschuldig da, alle viere von sich gestreckt, als wartete er auf einen Tritt oder den Befehl aufzustehen. Derek erinnerte sich an sein Mitgefühl am frühen Abend. Es spielte keine Rolle, daß es dem Alkohol entsprang, es hatte trotzdem geholfen, jedenfalls für den Augenblick. Der Mann sah zu Derek auf und lä chelte liebenswürdig. Doch Dereks Neugier wurde durch den Gestank, den er verbreitete und der hier vor dem relativ frischen Grasgeruch noch unerträgli cher schien als zuvor, erheblich gedämpft. »Schwimmübungen«, sagte der Mann und lachte. »Jede Nacht, meine Schwimmübungen.« Dann hielt er plötzlich inne und rappelte sich in eine sitzende Position auf. »Ach herrje«, wiederholte er behutsam, als sei ihm gerade etwas eingefallen. »Sind Sie hier, um sie zu suchen?« »Wen denn, Alter?« »Na, sie natürlich.« Er zeigte in Richtung des Kirchenportals. Eine plötz liche Brise fuhr durch die Blätter der Baumwipfel über ihnen. Der Schein der Straßenlaternen sorgte dafür, daß es selbst hier nicht völlig dunkel war. De rek spürte, wie sich sein Herz zusammenzog. Der Mann hatte angefangen, von ihm wegzukrabbeln wie ein Krebs, als spürte er den Stimmungswechsel. De rek ging den Hügel wieder hinauf, langsam, aber ent schlossen. Shelley lag fast genauso da wie der Penner, nur viel eleganter, denn zu einer häßlichen Pose wäre sie gar nicht imstande gewesen. Ihre Beine waren auf obszöne 237
Weise gespreizt, ein Arm war ausgestreckt, der ande re lag über dem Gesicht, als wollte sie die Augen vor dem schwachen Schein der Lampe über dem Kir chenportal abschirmen. Genausogut hätte sie in der Sonne liegen können oder, was besser paßte, zu Hau se in ihrem Bett, nach dem Sex, und ihr unzufriede nes Gesicht vor der Aussicht auf den Morgen schüt zen. Derek bildete sich ein, daß sie den Geruch von Sex verströmte, als er neben ihrem reglosen Körper in die Hocke ging, vermischt mit einem Hauch von Parfum und Betrug. Es war der scharfe Gestank nach dem, was sie wirklich war: eine streunende Katze. Er hob den Arm von ihrem Gesicht. Die Augen standen offen. »Hilf mir«, schien sie zu flüstern. »Hilf mir.« Er phantasierte diese Worte, bildete sie sich später ein, genauso wie er sich oft vorgestellt hatte, daß Shelley ihn um etwas bat. Aber er würde ihr nicht helfen, diesmal nicht. O nein, diesmal nicht. Nie wieder würde er auf ihre Geschichte vom hilflosen kleinen Mädchen reinfallen. Es war nichts Hilfloses an ihr; hier lag sie, in einem schmutzigen Park, mit ten unter den Pennern, und das hatte sie sich selbst zuzuschreiben. Ihre Kleider waren intakt; und sie rä kelte sich genüßlich, als erinnerte sie sich an den letz ten Kerl, der sie gefickt hatte. Um den Hals trug sie einen hauchdünnen Seidenschal. Im schwachen Licht erkannte er seine Farben nicht wieder, doch er fühlte sich weich und glatt an. Er mußte teuer gewesen sein, nichts, was er ihr geschenkt haben konnte, und auch kein Kleidungsstück, das sie getragen hatte, als sie aus dem Haus geschossen war, sobald er ihr den Rücken gekehrt hatte. 238
Die Wut, die von der Sorge um sie gemildert gewe sen war, kehrte jetzt mit voller Macht zurück. Am liebsten hätte er mit beiden Händen ihren Kopf ge packt und auf den Boden geschlagen, bis er vom Gras nicht mehr zu unterscheiden war, und ihr dann den Mund mit Erde vollgestopft. Statt dessen griff er nach den beiden Enden des Schals, der um ihren Hals geschlungen war, und zog. Ihr Kopf flog ruck haft zur Seite, und er zog noch einmal. Sie machte keine Anstalten, sich zu wehren, und im gleichen Augenblick erlosch seine Wut. Nach kurzem Zögern löste er den Schal und schlug ihr sanft erst auf die eine, dann die andere Wange. »Na los, Shell, komm wieder zu dir, mach schon, Kleines.« Vielleicht war sie auch betrunken. Er stellte sich hinter sie, redete ihr gut zu und zerrte sie halb hoch, bis sie dasaß wie eine Stoffpuppe, von seinem Gewicht gestützt. »Leg den Kopf zwischen die Knie, Shell«, drängte er. Von ihr kam kein Ton, nicht mal ein Stöhnen, kein Protest, kein Atemzug. Das Rauschen in den Bäumen war wieder verstummt, fast vorwurfsvoll, und machte ihm klar, daß sie tot war. Er legte sie genau so wieder hin, wie er sie gefunden hatte, schob sogar den Arm wieder über das Gesicht. Obgleich er heftig zitterte, waren seine Bewegungen präzise, und die Art, wie er den Staub von den Klei dern klopfte, irgendwie pedantisch. Ein wenig Spei chel sickerte aus ihrem Mund. Derek trat stolpernd zurück und riß sich schließlich vom Anblick ihres Gesichts los. Wieder überkam ihn blinde Wut. Nach all der Zeit, du Schlampe, tust du mir das an, aber glaub bloß nicht, daß ich für dich 239
ins Kittchen gehe. Glaub das nicht, Shell, glaub das ja nicht. Auf dem Weg aus dem Park hinaus sah er sich nach dem Saufkopf um. Der Mann schlief tief und fest, er schöpft von seinen Schwimmübungen. Er lag noch immer zusammengerollt am gleichen Grabstein und schnarchte mit dem Daumen im Mund. Ob sie mit ihm zusammengewesen war? Nein, unmöglich. Wer immer es gewesen war, hatte mehr Macht als der Kerl, und obendrein haßte sie den Geruch nach Schweiß. Irgendwie erschien ihm die Vorstellung des schmutzigen Daumens, der von der Zunge um schlungen im Mund des Mannes steckte, widerwärti ger als alles andere. Als Derek im ersten weichen Licht der Dämmerung seine Freundin als vermißt meldete, schlug ihm nur Gleichgültigkeit entgegen. Hier werden ständig Mädchen als vermißt gemeldet, vielleicht hat sie bei einer Freundin übernachtet. Wir können nicht jedem Fall nachgehen, wo das Herzblatt vergißt, zu Hause anzurufen. Als er angab, daß Miss Pelmore eine Zeu gin im Fall gegen DS Ryan war, der sie erst kürzlich wieder belästigt hatte, nahm das Interesse schlagartig zu. Trotzdem riet man ihm abzuwarten. Als Shelley Pelmore ein paar Stunden später gefun den, das kurze Stück in die Leichenhalle getragen und die frohe Botschaft im örtlichen Radiosender verbreitet worden war, wurde auch Todd darüber informiert, daß er eine wichtige Zeugin verloren hat te. Dennoch dauerte es bis zum späten Abend, bevor jemand an Ryans Tür erschien. Seine zehnjährige Lieblingstochter lispelte die Wahr 240
heit heraus, bevor Mrs. Ryan sich zwischen das Kind und den Feind stellen konnte. Nein, Daddy war nicht zu Hause. Und gestern war er auch die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen. Blöder Daddy, dabei hatte er versprochen, ihnen einen Teich anzulegen. Sally Smythe kam um acht Uhr morgens im Rape House an, nur unzureichend erholt nach einem freien Tag, an dem sie eisern der Versuchung widerstanden hatte, ihr Haus zu putzen. Sie war verstimmt, weil es ganz danach aussah, als wäre, abgesehen von allem anderen, die Pflicht, das Rape House sauberzuhalten und für genügend Vorräte zu sorgen, in letzter Zeit an ihr hängengeblieben. Vielleicht hatte sie sie aber auch einfach übernommen, solange Ryan nicht da war. Sein Sinn für Ordnung, ja sogar Pingeligkeit überraschte sie immer wieder, besonders da er vor gab, bei sich zu Hause ganz anders zu sein. Das war eine der Eigenschaften, die sie an ihm moch te, er wartete nicht auf irgendwen anderes, der mit dem Staubsauger durch die Wohnung gehen, die Kissen aufschütteln oder den verdammten Tee ko chen würde. Der Schlüssel glitt verdächtig leicht ins Schloß, und die Tür öffnete sich, ohne daß sie wie üblich erst mal dagegentreten mußte. Zwar erwartete sie in einer halben Stunde zwei Mitarbeiter aus dem Team mit einer Frau, die in der öffentlichen Toilette von St. Pancras aufgefunden worden war und behauptete, sexuell belästigt worden zu sein, doch war ihres Wis sens seit zwei Tagen niemand mehr hiergewesen. Sie war extra früh gekommen, um Zeit zu haben, die Wohnung zu lüften, doch der vertraute, leicht abge 241
standene Sommermief machte sich nur durch seine Abwesenheit bemerkbar. Sally schloß die Tür, blieb im Flur stehen und horch te auf die Stille. Ihre Schritte auf dem dunklen Tep pichboden, der die Treppe bedeckte, klangen fremd. Das Bett war benutzt und frisch gemacht worden. Das Wasser im Tauchsieder war noch warm, und im Badezimmer sah es aus, als hätte sich jemand die Mühe gemacht, alle Spuren zu verwischen; man konnte sogar noch einen Rest des Putzmittels erken nen. Keine der Putzfrauen, die sie hin und wieder in Anspruch nahmen, war so gründlich. Der einzige Hinweis auf eine gewisse Nachlässigkeit waren die gebrauchten Teebeutel im Abfalleimer. Ir gend jemand war hier gewesen. Die Wohnung ström te die Restwärme eines menschlichen Körpers aus. Sally dachte an Rotkäppchen und den bösen Wolf. Wer immer es war, er hatte die Packung Haferflok ken sorgfältig wieder so hingestellt, wie sie vorher ge standen hatte. Außer den Instant-Suppen war es das einzige, was es im ganzen Haus zu essen gab. Ein paar Typen aus dem Polizeirevier, die nach einer durchzechten Nacht hier Unterschlupf gesucht hat ten? Sie wußte, daß es mehrere Duplikate des leicht erhältlichen und ebenso leicht nachzumachenden Yale-Schlüssels gab. Das Thema war diskutiert wor den, als sie das Haus eingerichtet hatten und ein jun ger Spund einmal dort gepennt hatte – auf eine Wie derholung dieses Vergehens stand seitdem die Todes strafe. Ihre Opfer verdienten eine Umgebung, die frei war von männlichen Bazillen und Biergestank; das Rape House sollte keine Eintrittskarte für Typen sein, die abends nicht mehr fahren konnten. Im übrigen 242
glaubte Sally nicht, daß einer, der mit einem Kater aufwachte, imstande gewesen wäre, seine Spuren so säuberlich zu verwischen. Dieser Eindringling war dermaßen sorgfältig zu Werk gegangen, daß die Woh nung jetzt sauberer war, als er sie vorgefunden hatte. Ryan, vermutete sie, und während sie noch versuchte, diesen Gedanken beiseite zu schieben, wurde er zu einer solchen Gewißheit, daß sie beinahe erwartete, seine Visitenkarte auf dem Kühlschrank zu finden, mit einer Entschuldigung, weil er den Vorrat an H-Milch dezimiert hatte. Warum Ryan, fragte sie sich. Immer hin hatte der Betreffende das Schloß geölt und eine liebevolle Fürsorge an den Tag gelegt – hatte er nichts Besseres zu tun? Ryan hatte schon immer eine übertriebene Zuneigung für das Haus gehabt, die Sally nicht teilte. Einmal hatte er sogar davon gere det, Blumen im Hof zu pflanzen. Aber selbst dann zeugte sein Verhalten von empö render Unverschämtheit. Wie konnte er es wagen? Entweder hielt er sie für blöd, wenn er annahm, sie würde nichts merken, oder er setzte sie einer Gefahr aus, indem er davon ausging, daß sie nichts sagte. Es war ein Mißbrauch ihrer warmherzigen Loyalität, wie auch immer sie es drehte und wendete, und oben drein eine Zweckentfremdung des Hauses. Wütend zog sie die Jalousien hoch. Das Telefon klingelte. »Wir kommen gleich, okay, Sal? Aber die Stimmung ist nicht besonders. Es gibt ein großes Geschrei um unseren Ryan, stell dir vor. Shelley Pelmore ist tot, und er ist untergetaucht.« Sally stand mit dem Rücken zum Fenster und starrte eindringlich auf die langweilige Flußlandschaft an der Wand. Sie hätte etwas sagen können, sie hätte 243
auch den Hörer auflegen und Todd oder Bailey oder sonstwen anrufen können. Statt dessen dachte sie mit großer Sorge an Ryan auf der Flucht und sagte: »Na, das ist ja ein Ding! Ach, übrigens scheint hier jemand versucht zu haben einzubrechen. Um ein Haar hätte ich die Tür nicht aufgekriegt. Ich lasse am besten das Schloß auswechseln, okay?« Bailey änderte seine Meinung, noch bevor er sich an zog. Dieses Jackett oder dieses Hemd? Als ob das bei dem Wetter eine Rolle spielte. Es war ungewöhnlich, daß er so unentschlossen war oder früher aufstand als unbedingt nötig oder sich überhaupt Gedanken über seine Kleidung machte. Helen wußte nie genau, wie es kam, daß Baileys An züge und Hemden sich in Reih und Glied in die Garderobe einfügten, die Bailey eigenhändig gebaut hatte. Ein ausklappbares Bügelbrett gehörte dazu, so daß die Hemden sich beinahe von selbst bügeln konnten. Ihr eigener Schrank war ein einziges Chaos. Sie wählte ihre Kleidung nur nach dem Zufallsprin zip aus, je nachdem, was ihr als erstes in die Hand fiel und sauber war. Rose sagte immer, daß sich bei Helens Figur die Falten in den Kleidern automatisch aushingen, und das paßte ihr gut in den Kram. Helen setzte sich in Baileys großem Bett auf und beobachtete, wie er in dem gestreiften Frotteebade mantel, den sie ihm geschenkt hatte, im Zimmer hin und her lief. Sie mochte dessen bunte Farben lieber als seine Anzüge. »Komm her«, sagte sie zärtlich. »Bitte.« Er tat wie geheißen, denn halb hatte er darauf gewar tet, daß sie ihn rief, und setzte sich schwer auf die 244
Bettkante. Ein grauer Morgen, wie sie sah. Sie schlang die Arme um ihn und legte ihr Kinn auf seine Schulter. »Fang ganz von vorn an«, sagte sie. »Ich mag dich wahnsinnig gern, weißt du. Und noch mehr, wenn du mit mir redest.« »Wie spät ist es?« »Du weißt ganz genau, wie spät es ist. Früh. Viel zu früh für die Arbeit.« Er war immer so. Er wollte reden, aber man mußte ihm alles aus der Nase ziehen. Manchmal nutzte sie wie heute die frühen Morgenstunden dafür. »Ryan hatte eine Akte«, sagte Bailey. »Hätten wir sein Haus durchsucht, hätten wir vielleicht ein Du plikat gefunden, aber haben wir nicht, obwohl es so sicher ist wie das Amen in der Kirche, daß Todd jetzt eine Hausdurchsuchung anordnen wird. Die Akte ist sowieso auf Diskette. Es ging um hoffnungslose Spinnerinnen, die sich mit verrückten Geschichten über Männer gemeldet hatten und sie nicht nennen konnten oder wollten, sowie Zeugen, die nicht helfen konnten. Ich dachte, vielleicht hat sich unser Ryan eine Liste mit Verrückten angelegt, die nichts dage gen hatten, gevögelt zu werden, und anschließend keine verläßliche Auskunft geben können. Aber es gibt ein zentrales Register. Du darfst dir eine be stimmte Anzahl von falschen Beschuldigungen wegen Vergewaltigung erlauben, aber dann setzt unweiger lich jemand ein Fragezeichen hinter deinen Namen. Ryan hat sich nie auf einen bestimmten Typ Frau festgelegt, er mochte sie auf seine Art alle, aber ich glaube nicht, daß er so verzweifelt war. Obwohl man nie wissen kann. Man kennt andere Menschen eigent lich nie ganz.« 245
Er glitt neben ihr ins Bett und zog die Daunendecke bis zur Brust. »Doch wenn er die Liste dafür angelegt hatte, warum hat er dann die Aussagen der Frauen behalten, die, kurz nachdem er sie getroffen hatte, umgekommen sind? Todesursache unbekannt; Herzanfall. Beide waren schwanger. Und das scheint übrigens auch bei der kleinen Shelley Pelmore der Fall gewesen zu sein. Todd ist verwirrt und wütend; deshalb ruft er mich den ganzen Tag an. Ich soll ihm helfen, den Mistkerl einzubuchten.« »Welchen Mistkerl?« »Ryan, den Schwachkopf. Weil er die ganze Sache viel zu persönlich durchzieht. Weil er selbst anfängt zu spinnen. Oh, ich weiß, daß er sich die Finger ver brannt hat, als er vorschlug, es könnte eine Verbin dung zwischen ein paar eingeschüchterten, konfusen, schuldbewußten Frauen geben, obwohl die jeweili gen Vorgehensweisen nicht das geringste miteinander zu tun hatten. Der einzige gemeinsame Nenner war der Mangel an gerichtsmedizinischem Beweismateri al. Kein Samen, keine Fasern. Der Täter kommt ent weder auf eine Art Einladung hin in ihre Wohnung, dann bringt er Pralinen und Blumen mit, oder zeigt wie im jüngsten Fall einen Hang zur freien Natur oder zum Wagen, ebenfalls auf Einladung. Keine Verletzungen. Ein Mann, den sie bereits kennen? Sie hätte ihn in einem Club kennengelernt, hat ein junges Ding gesagt; er stand plötzlich vor der Tür, sagte ein anderes Opfer. Und die jüngste Empfängerin von Blumen und Pralinen behauptet, er hätte wunderba re Augen. Nun, wenn man an Märchen glauben will, dann weiß wohl jeder, der alt genug ist, um James 246
Bond zu kennen, daß unheimliche Schurken mit gro ßer Potenz und schwarzen Katzen immer unwider stehliche Augen haben. Ich persönlich glaube übri gens, daß Sally Smythe allmählich ebenfalls ein bißchen durchdreht. Wenn ich daran denke, daß ich selbst diesen Mann ausgebildet habe!« »Und nicht nur theoretisch, sondern auch höchst praktisch«, warf Helen ein. »So praktisch nun auch wieder nicht. Man kann was gegen die Wand werfen, aber nur dann, wenn man was zu werfen hat. Ja, ich könnte ihn umbringen, und ich weiß, er hätte sie umbringen können, Shelley, meine ich. Er kann gewalttätig werden, ganz be stimmt.« Er schwang die Beine aus dem Bett. »Und deshalb will ich ihn finden. Ich bin seine beste Chance. Die vorläufigen Untersuchungen haben ergeben, daß Shelley ebenfalls an einer unbekannten Ursache ge storben ist. Es gab Würgemale am Hals, aber das hat sie nicht getötet. Zufälligerweise hat der gute Ryan sich mit einer Gerichtsmedizinerin darüber unterhal ten, wie man jemanden umbringen kann, ohne Spu ren zu hinterlassen, aber das bringt uns auch nicht weiter. Es gibt keinerlei gerichtsmedizinische Befunde, die auf ihn hinweisen, und auch sonst keine. Wenn er nur auftauchen und sagen würde, wo zum Teufel er gesteckt hat, müßten sie die Anklage wegen Verge waltigung fallen lassen. Die Zeugin ist tot, lang lebe die Zeugin! Ich hoffe, er war bloß auf Sauftour.« Er klang fröhlich. Helen haßte ihn. Haßte diesen An flug von Triumph, der von einem Mord rührte. Ein Mädchen war tot, und er lächelte darüber und dachte nur an die große Wiedervereinigung mit Ryan. 247
»Die Zeugin ist tot. Kein Beweismaterial. Ryan vom Dienst suspendiert. Das ist alles, was dich interes siert«, sagte sie tonlos. »Nicht ganz.« Er beugte sich herab und küßte sie auf die Stirn. Es fühlte sich an wie Eis. »Hauptsache, dein Kumpel schummelt sich irgendwie durch. Auf die Gefahr, eine Binsenweisheit zu verbreiten – aber was ist mit der Wahrheit?« »Oh, die Wahrheit?« sagte er, streifte entschlossen ein Hemd über und hielt sich nicht lange mit Socken, Unterhose oder Anzug auf. Er schaffte es immer, im Handumdrehen angezogen zu sein. »Die kann war ten.« »Und was ist mit der Möglichkeit, daß Ryan ein Ver gewaltiger und Mörder ist?« »Die kann auch warten«, sagte er ebenso tonlos wie sie. Doch seine Bewegungen wirkten jetzt langsamer und weniger entschieden als vorher. »Die Wahrheit muß oft warten.« »Du hast das Mädchen gehaßt, ohne irgendwas über sie zu wissen, und jetzt benimmst du dich, als wür dest du auf ihrem Grab tanzen.« »Du übertreibst.« »Wo bleibt denn dann dein Mitgefühl? Weißt du überhaupt noch, wie man das buchstabiert?« fragte sie wütend. Das also war ihr Bräutigam. Die Hochzeit war für morgen festgesetzt, und er benahm sich wie ein Au ßerirdischer mit außerirdischen Loyalitäten. All ihre Zweifel und Befürchtungen wurden bestätigt. Bailey war plötzlich abwehrend und kleinlaut zu gleich. »Die Dinge müssen einfach ihre Ordnung be halten, das ist alles«, fing er an. Dann warf er ihr ei 248
nen Blick zu, zuckte die Achseln und hielt lieber den
Mund.
Sie wußten beide, daß Helen nicht zuhören würde.
Sie zog sich wieder in sich selbst zurück und beob
achtete ihn, als er die Wohnung verließ. Der Tag war
nicht nur düster, sondern plötzlich auch kalt.
Weiß ist eine kalte Farbe. Weiße Blumen erinnerten
Anna an Schnee und Christrosen, und weiße Gänse
blümchen in einem weißgestrichenen Wohnzimmer
hatten nun mal einen Hauch von Klinik, selbst wenn
die Vorhänge geschlossen waren. Anna betrachtete
ihr Werk und spielte mit verschiedenen Möglichkei
ten. Natürlich standen die Vorhänge offen, denn es
kam ihr wie eine Sünde vor, sie jetzt schon zu schlie
ßen, trotzdem versuchte sie sich vorzustellen, wie das
Zimmer nach Einbruch der Dunkelheit aussehen
würde. Sie konnte vermutlich bis neun warten, wenn
das Licht allmählich abnahm, aber das war zu kom
pliziert. Ein paar Grünpflanzen zu den Gänseblüm
chen und eine Lampe dahinter würden den Effekt
mildern, ebenso die Farbe der Vorhänge, die bunten
Überwürfe, unter denen sie ihre alten Stühle ver
steckte, und das Schimmern des polierten Tisches …
Man mußte sich das Ganze bei Nacht vorstellen,
denn er würde abends kommen. Sie dachte daran,
daß die Abende allmählich kürzer wurden, und be
dauerte die Tatsache, daß sie die Wände weiß gestri
chen hatte. Sie hätte ein kuscheliges Liebesnest aus
diesem Zimmer machen können – mit Vorhängen aus
zweiter Hand, aus dunkelgrünem Samt vielleicht, wie
sie der Mann auf dem Markt manchmal anbot. Plötz
lich verfluchte sie ihre Phantasie und deren ober
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flächliche Prioritäten. Sie hatte ihren Beruf um dieses Hauses willen aufgegeben, und es gab Tage, da glaubte sie, daß sie ihre Seele verkaufen würde, nur um in ein großes Kaufhaus gehen und sich alles kau fen zu können, was sie zur Verschönerung des Hau ses brauchte, so wie Helen West es tat. Sie hatte die Nase voll davon, immer nur sparen zu müssen, um sich ein Stückchen Harmonie zu leisten. Andererseits tadelte sie sich für diese Ansprüche. Mehr Geld und die Qual der Wahl zu haben würde nichts ändern und obendrein den Stolz auf ihre Schnäppchen min dern. Warum sollte mehr Geld alles verändern? Die erhebliche Verbesserung ihrer finanziellen Lage seit dem Wechsel in eine Privatklinik hatte sie auch nicht glücklicher gemacht. Die Besessenheit für das kleine Haus mit der hohen Hypothek war nun mal kein Er satz für einen Mann und Kinder. Sie diente nur dazu, ein Vakuum zu kaschieren. Also keine Gänseblümchen. Zu fröhlich, und außer dem dufteten sie nicht. Nein, es mußte schon etwas Extravaganteres sein. Seit einiger Zeit lächelte sie ihm zu oder wechselte hin und wieder ein paar Worte mit ihm, und er hatte reagiert, in der festen Überzeugung natürlich, daß alles vergeben und vergessen war. Wenn sie sich an ihn rangeschlängelt und gesagt hätte, hör mal, warum kommst du nicht vorbei und ißt mit mir zu Abend, ich koche uns was Schönes, hätte er ziemlich sicher zugestimmt. Er war eitel und brauchte Liebe wie je der andere auch, also würde er darauf bedacht sein, ihre Gunst wiederzugewinnen. Er würde es nicht wagen abzulehnen. Ihm Gift ins Essen zu mischen wäre nur eine primitive Art der Rache, und der Ver 250
such, seinen guten Ruf zu schädigen, zum Scheitern verurteilt. Sie wußte genau, daß sie viel zu unbedeu tend war und Gefahr lief, daß der Schuß nach hinten losging. Er würde davonschweben, und sie würde vor die Tür gesetzt und als gehässig verschrien werden. Nein, dies war die einzige Möglichkeit. Es reichte nicht aus, ihn nur zu verletzen. Er mußte gedemütigt, bloßgestellt und aktenkundig gemacht werden. Annas Gewissen in dieser Hinsicht war rein, schließ lich war der Ratschlag von einer Anwältin der Krone gekommen. Die einzige Art, sich schadlos zu halten, hatte Helen West gesagt und dabei gelacht, ist, ihn noch mal dazu zu bringen. Rosen also, in diese Ecke. Dunkelrote Rosen, falls welche zu kriegen waren. Und sie würde ihm keinen Fisch versprechen, obgleich er ihr erzählt hatte, wie gern er ihn aß. Fisch stank immer so. Anna schüttelte sich. Sie hatte sich daran gewöhnt zu lügen. Sie erinnerte sich an das Eis; das war das Schlimmste gewesen. Eis, das den Gebärmutterhals berührt und begrüßt wird, als könnte es die Hitze löschen. Das war die Demütigung, die nach Rache schrie, denn das hatte er getan. Er hatte dafür gesorgt, daß ihr Körper jede Kontrolle aufgab und eine erschütternde Lust an sich selbst fand, unabhängig davon, was die Vernunft sagte. Und da war eine bohrende Sorge, die auch Eifer sucht sein konnte, denn als letztes hatte er sich den Namen der süßen kleinen Rose aus den Krankenblät tern gefischt.
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»Wenn der Beischlaf mit einer Frau stattgefunden hat, die intellektuell nicht in der Lage war, richtig und falsch zu unterscheiden, und die Geschworenen feststellen, daß sie unfähig war, einzuwilligen oder die Tatum stände angemessen zu beurteilen, und daß der Ange klagte (obwohl sie keinen Widerstand leistete) sie mit Gewalt und ohne ihre Einwilligung zum Beischlaf genö tigt hat, ist der Tatbestand der Vergewaltigung gege ben … Es wurde jedoch später für Recht befunden, daß die bloße Tatsache des Beischlafs mit einer geistig behin derten, körperlich aber voll entwickelten Frau, die in der Lage ist, den Angeklagten wiederzuerkennen und zu beschreiben, sowie ungeachtet ihrer eingeschränk ten geistigen Fähigkeiten starke sexuelle Instinkte zu haben, den Geschworenen nicht als ausreichender Beweis für eine Vergewaltigung vorgelegt werden kann …«
K
eine von ihnen verfügt über Intellekt. Und keiner von uns über einen Intellekt, der sich gegen Grundbedürfnisse behaupten kann!« Er schrieb auf ein Blatt Papier, der Bildschirm war leer. Natürlich mußte er das Blatt später wegwerfen. Seine langen, schmalen Finger, nicht ungewöhnlich für einen Künstler oder Chirurgen, berührten die Vase auf dem Schreibtisch. Er wußte nicht, ob er traurig oder euphorisch sein sollte. »Selbst wenn eine junge Frau Angst vor einer Schwan gerschaft hat, wird sie auf der Suche nach einem Kick 252
die verrücktesten Dinge tun«, schrieb er weiter. »Ex perimente machen ihr Spaß, besonders wenn sie das Gefühl hat, sie könnte mit ihren bisherigen Erfahrun gen hinter ihren Altersgenossinnen zurückstehen. Das selbe gilt für Frauen, deren Kenntnisse des Ge schlechtsverkehrs sich auf eine mehr oder weniger rücksichtslose Paarung beschränken, die dem Samen erguß dient und damit dem Zweck, die gute Laune des männlichen Partners wiederherzustellen. Im Regelfall handelt es sich um sprachfaule junge Männer, die von Anatomie oder Physiologie keine Ahnung haben und glauben, das Schlimmste, was ihnen zustoßen kann, sei eine nicht abstellbare Erektion in einer viel zu engen Hose. Diese Burschen wissen gar nicht, welches Glück sich hinter solchen kleinen Unpäßlichkeiten verbirgt. Sie haben keine Ahnung, was echter Schmerz ist.« Das gehörte eigentlich nicht zu der Geschichte, die er im Kopf hatte, aber er schrieb es trotzdem. »Trotz ihrer möglichen Enttäuschungen sind alle jun gen und jüngeren Frauen am ansprechbarsten in der Sekretionsphase – gleich nach der Ovulation –, wenn sie Progesteron produzieren. Unter dem Einfluß dieses aggressiven Hormons produzieren die Schleimdrüsen im Gebärmutterhals ein feines, dünnflüssiges Sekret. Die Progesteronproduktion hält in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft an …« Er legte den Stift nieder, überwältigt von Mitleid. Welche Chance hat die menschliche Natur gegen einen so erbarmungslosen Zyklus? Progesteron sorgt für ein geschränkte geistige Fähigkeiten. Das Gleichgewicht des Bewußtseins ist gestört, der Körper schmerzt vor Lust und läßt sich ungeheuer schnell befriedigen. Wel cher Preis ist schon der freie Wille für einen leeren 253
Schoß, der nicht weiß, daß er einem ganz bestimmten Zweck dient? Die Trauer war stärker als die Euphorie. Zum ersten Mal hatte er mühelos getötet, aber er war nicht stolz darauf. Das Gefühl von Taubheit und Grauen war überwältigend, vor allem, wenn er in die Tasche griff und die Spritze nicht fand. Es war jedesmal ein Au genblick schierer Panik. Da war sie wieder: die Angst vor der falschen Art von Vergeltung. Und dann das alte, lähmende Bedürfnis, geliebt zu werden. Diesmal war es so mächtig, daß er die leere Vase nahm und sie an die Wand schleuderte. Er hatte die Nase voll von diesem Spiel. Es machte ihn krank. Dabei stand die nächste Kandidatin bereits fest. Die süße kleine Rose Darvey, die dabei war, einen Dumm kopf von Polizeibeamten zu heiraten, mit dem sie jetzt schon Streit hatte. Bald würden nur noch Verbitterung und Frustration zwischen ihnen herrschen. Sie war ge nauso schlank wie Shelley und auch so sinnlich. Und ein Leben lang hatte es ihr an Liebe gefehlt. Außerdem war da noch Anna, die ihm verzieh, ob gleich es gar nichts zu verzeihen gab. Sie akzeptierte ihn so, wie er war. Vielleicht gab es nach all dem doch so etwas wie Erlö sung. Früher glaubte ich an die erlösende Kraft der Liebe, sagte sich Helen West, aber mittlerweile bin ich nicht mehr so sicher. Vielleicht ist sie nur für Leute taug lich, die zur Erlösung fähig sind. Der Herbst schickte seine Vorboten. Der Wind hatte die ersten von der trockenen Hitze verdorrten Blätter 254
auf den Fenstersims geweht. Sie wirkten verbrannt und beinahe tropisch. In der warmen Brise lag eine unheilvolle Kraft. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, Bailey zum Re den zu ermuntern, wenn sie sich über das, was er ge sagt hatte, so aufregte. Ehrlichkeit bedeutete häufig das Ende der Harmonie. Er hatte so widerwärtig tri umphiert wie ein kleiner Junge, der erleichtert ist, weil sein Freund einer Tracht Prügel entgeht. Er hat te das Haus mit einer auffallenden Krawatte um den Hals verlassen, als sei er schon vorzeitig zum Feiern aufgelegt und wolle sich obendrein auf ein mögliches Verhör vorbereiten. Sie konnte sich vorstellen, wie es verlaufen würde. Wo waren Sie vorletzte Nacht, DS Ryan? Wollten Sie rauskriegen, wie man einer Zeugin mit Hilfe eines vorgetäuschten kleinen Erdrosse lungsversuchs einen Herzanfall beibringt? Wie alle Jungs es hin und wieder tun? Nein, Sir, nichts der gleichen. Ich habe zu Hause gesessen und über mei ner Verteidigung gegen diese hinterhältige Beschul digung gebrütet. Irgendwann habe ich eine Pause gemacht, um mich mit A, B und C zu betrinken, die mein Alibi jederzeit bestätigen werden. Damit kön nen Sie sich Ihren Verdacht, ich hätte das arme ver zweifelte Ding, das sich mir anvertraute, vergewaltigt oder terrorisiert, von vornherein abschminken. So was passiert doch ständig, Sir. Großes Ehrenwort, ich habe nur gegen die Bedingungen meiner Freilas sung aus der Untersuchungshaft verstoßen. Klopfen Sie mir auf die Finger. Helen konnte sich nicht konzentrieren. Sie sah sich die Akten von heute an. Ein Fall mit der üblichen be rechtigten Hoffnung, auf was auch immer sie als Er 255
folg bezeichneten. Als wäre Freiheitsentzug ein Er folg. Das Äußerste an Erfolg in einem Vergewalti gungsfall war, daß man dem Opfer Glauben schenk te. Dabei durften die Geschworenen keine Chance haben, sich durch etwaige Sympathien für den Ange klagten ablenken zu lassen. Mittlerweile hing ihr die se Art von russischem Roulette zum Hals heraus. Ei gentlich wollte man sich doch bloß bestätigen lassen, daß das Opfer diese Schändung nicht verdient hatte, und zwar möglichst ohne daß die juristische Proze dur den Alptraum noch vergrößerte. »Die kleinste Penetration ist ausreichend …« Im Moment hatte He len das Gefühl, daß ein Kuß von Bailey etwa dasselbe wäre wie ein Schlag ins Gesicht. Intimität mit einem Fremden, den sie morgen vormittag heiraten sollte, und dem sein brutaler kleiner Freund mehr am Her zen lag als die Wahrheit. Im vorliegenden Fall, wie Redwood sagen würde, war an dem Beweismaterial nicht zu rütteln. Bei derarti gen Verletzungen stellte sich die Frage nach Einwilli gung gar nicht erst, und mehr interessierte Helen nicht. Mary und John, wer sie auch waren, ihre Kar riere, ihr zukünftiges Leben – das alles ging sie nichts an. Sie beurteilte das Leben der anderen nach den Vorfällen, die in den Akten festgehalten waren, nach Anzeichen für mißbrauchte Leidenschaft, Liebe, die erst in Abneigung und dann in Haß umschlägt. Sie bewertete sie allein unter dem Gesichtspunkt einer berechtigten Aussicht auf eine Verurteilung. Helen liebte Bailey mit Einschränkungen. Bailey lieb te Ryan bis zur Ausschaltung seines Gewissens. Ja, sie zog es vor, Menschen nur auf dem Papier zu kennen. Dabei wußte sie ganz genau, daß diese wütende Lita 256
nei von Anschuldigungen gegen Bailey unfair war. Er war nicht der einzige, der mit Heuchelei geschlagen war. Sie nährte ihre eigene Feigheit, wenn sie ihm die Schuld zuwies. Alles mögliche hätte dazu herhalten können zu verschleiern, daß sie bei dem Gedanken ans Heiraten kalte Füße bekam. »Ich beurteile nicht die Lebenden, sondern seziere die Toten«, erklärte Dr. Webb. »Aber ich mochte Ih ren Mr. Ryan. Er hat gesagt, er schriebe an einem Aufsatz, und ließ sich alles x-mal erklären.« »Von wegen Aufsatz!« Todds rosiges Gesicht war bleich vor Wut. Seine Haut glänzte, entweder vom Schweiß oder vom Re gen, einem halbherzigen Nieseln, das sich in Haar und Kleidern festsetzte. Sie standen vor der Leichen halle. Bailey rauchte, scheinbar lässig, ungerührt über die Feuchtigkeit, die vom vertrockneten Rasen des Parks gierig aufgesaugt wurde. Wenn man den Rasen lange genug beobachtete, würde man sehen können, wie er die Farbe wechselte. »Merkwürdig«, sagte Todd. »Wirklich verdammt merkwürdig, daß er sich erst bei Ihnen erkundigte, wie man eine Frau umbringen kann, ohne Spuren zu hinterlassen, und dann sozusagen auf Ihrer Tür schwelle eine gefunden wird, die an Herzversagen gestorben ist.« »Ja, Herz und Lunge. Das war die Todesursache. Aber nichts weist darauf hin, daß dieser Tod das ge ringste mit Mr. Ryans Recherche zu tun hat. Sicher, es ist ungewöhnlich, daß eine gesunde junge Frau so plötzlich stirbt, aber es kommt vor. Während einer Schwangerschaft passieren die seltsamsten Dinge.« 257
»Aber er hat versucht, sie zu erwürgen«, fauchte Todd. »Jemand hat es versucht, aber nicht richtig. Und so weit ich das bisher beurteilen kann, war sie zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Man kann kaum noch Würge male feststellen; die Haut verfärbte sich bereits, und sie hat nicht versucht, sich zu wehren. Nein, sie hat sich einfach mitten im Park hingelegt und ist einge schlafen. Kein Hinweis auf Alkohol oder Drogen; vielleicht hat sie ein paar Pillen genommen. Ein Un fall. Was Fasern, Haare und dergleichen angeht, konnte ich nichts entdecken.« »Er mußte es unbedingt drauf ankommen lassen«, tobte Todd. Er sprach mit sich selbst. Dr. Webb trat ein paar Schritte zurück, wie Bailey bemerkte, und betrachtete Todd wie einen Körper auf dem Seziertisch. Ihre Haltung verriet eine leichte Abneigung, aber Todd hatte die unangenehme An gewohnheit, einem immer viel zu dicht auf die Pelle zu rücken. Er drang in die Privatsphäre seiner Mit menschen ein, als brannte er darauf, den süßlichen Duft seines Rasierwassers, das er als Vorsichtsmaß nahme gegen Verwesungsgestank benützte, mit ihnen zu teilen. »Er wußte bestens Bescheid«, sagte Todd dickköp fig. »Worüber? Daß eine Lungenembolie tödlich ist?« Dr. Webb wurde allmählich böse, denn sie hatte das Gefühl, die beiden Männer hielten sie nur deshalb hier im Regen fest, damit sie aufgrund von Indizien, die nicht einmal vorlagen, jemanden beschuldigte. Offenbar erwarteten sie von ihr, auf die richtige Fährte gebracht zu werden, obwohl es gar keine gab. 258
Dabei waren die zwei nicht mal zuständig für die Ermittlungen in diesem Todesfall. Von Mord hätte sie zu diesem Zeitpunkt keinesfalls gesprochen. »Eine Lungenembolie ist immer tödlich, verstehen Sie? Ich weiß nicht mal, ob eine vorliegt. Und wie soll Ihr Kollege sie Ihrer Meinung nach herbeigeführt ha ben? Hat er ihr einen Strohhalm in die Nase ge steckt? Oder ihr kräftig einen geblasen?« Todd wieherte los. Die Nerven. Und die Verlegen heit. »Eine derartige Menge Luft in eine Frau zu pumpen ist nicht leicht. Sie muß in ihren Blutkreislauf gelan gen. Eine Injektion wäre das beste. Doch eine Spritze zu setzen ist auch nicht gerade einfach. Woher sollte Ihr netter Mr. Ryan wissen, wie er das anstellen muß, ohne einen Einstich zu hinterlassen?« Bailey war still, Todd mürrisch. »Aber die Tatsache, daß er ausdrücklich danach frag te …«, fing er an und drohte ihr mit dem Finger, so daß sie noch weiter zurückwich. »Sagt gar nichts aus! Vor vier Monaten hat mich Ryan zum ersten Mal zu diesem Thema befragt. Es ging um eine junge Frau, die überfallen wurde und später auf geheimnisvolle Weise gestorben ist. Das hätte ihm zu denken gegeben, sagte er, aber er war ziem lich begriffsstutzig. Man mußte ihm alles tausendmal erklären.« Wie Ihnen, hätte sie am liebsten gesagt, biß sich jedoch auf die Zunge. »Wo steckt er?« murmelte Todd finster. »Wo zum Teufel steckt er bloß?« Bailey dachte ans Rape House und hielt den Mund. Der Regen wurde stärker, während sein Blick über den Verkehr am Fuß des Hügels schweifte. Er sah 259
einen Mann zusammengekauert neben einem Grab stein hocken, der seinen Pullover bis über beide Oh ren hochgezogen hatte. Ryan könnte so leben; Ryan könnte in einer Telefon zelle hausen. Ryan war das perfekte Chamäleon – er wechselte seine Farbe je nach Landschaft. Ich habe dich nie richtig gekannt, dachte Bailey bei sich. Ich hab dich überhaupt nicht gekannt. Er wandte sich mit einem gequälten Lächeln an Dr. Webb. »Eine Frau zu töten, ohne Spuren zu hin terlassen, erfordert einige Kenntnisse, nicht wahr, Doktor?« In ihrem Blick lag nicht mehr Anerkennung, als sie vorher Todd entgegengebracht hatte. Sie waren alle beide Idioten, einer wie der andere. »Ja.« »Medizinische Kenntnisse?« Was glaubte er wohl, was sie meinte? Handwerkliche Kenntnisse? »Die eines Klempners vielleicht«, ant wortete sie, »eines medizinischen Klempners.« Das sind sie alle, dachte Anna Stirland, als sie nach der dritten Untersuchung an diesem Tag aufräumte, die Instrumente in die richtige Reihenfolge legte, die gepolsterte Untersuchungsliege desinfizierte und ein frisches Papierlaken darüberzog. Sensible Techniker des menschlichen Röhrensystems. Man mußte den Patientinnen nur das Gefühl vermitteln, daß eine Un tersuchung nichts anderes war, als den Klempner kommen zu lassen, damit er einen raschen Blick auf die Abflußleitungen warf. Das Ganze war ungefähr so entspannend wie eine halbe Stunde auf der Son nenbank, allerdings etwas teurer. Kein Rezept ohne Untersuchung, keine Operation ohne schriftliche 260
Einverständniserklärung und grenzenlose Sympathie, aber ohne vorherige Bezahlung lief gar nichts. Die Stimme der Sprechstundenhilfe, wenn sie fragte, wie die Dame zu zahlen wünsche und die Nummer der Kreditkarte notierte, als transkribiere sie ein kostba res Geheimnis, war genauso scheinheilig wie ihre ei gene Frage: Sind Sie auch ganz sicher, daß Sie es ma chen wollen? Es ist nur ein kleiner Kratzer, meine Liebe. Oh, hallo, Mrs. Smith. Auch mal wieder da? Wie seltsam, daß Frauen sogar in extremen Angstzu ständen dazu neigten, sich in den Arzt zu verlieben und die Schwester zu ignorieren. Wie seltsam, daß so viele völlig unterschiedliche Patientinnen herkamen, selbst solche, die es sich eigentlich nicht leisten konn ten und deren Hausärzte sie kostenlos beraten und behandelt hätten. Ah, aber zu bezahlen, das war so etwas wie eine Garantie auf Qualität und Sicherheit, auf Diskretion und sanfte, zärtliche Hände. Selbst verständlich mußte man in einer Klinik bezahlen, die derart persönlich auf ihre Patientinnen einging und ein so umfassendes Verständnis der gesamten weibli chen Psyche von der Taille abwärts bot. Natürlich taten sie Gutes, wies sie sich selbst zurecht; sie halfen Frauen, deren Leben ansonsten ruiniert wäre. Und sie verschafften dem Arzt einen Spielplatz. Anna bildete sich oft ein, das Echo eines weinenden Babys in der Stille der Praxis zu hören. Sie knüllte das benutzte Papier zusammen und warf es in einen versiegelten Eimer. Ein nettes kleines Ding, das gerade dagewesen war, glücklich mit ihrem Pessar, glücklich mit ihrem Leben und wie aus dem Ei gepellt. Die meisten kamen frisch gewaschen zur Untersuchung; sie wünschte nur, sie würden kein 261
Parfum tragen, als schämten sie sich des geringsten Hauchs von Körpergeruch. Saubere Unterwäsche für den Arzt. Keine machte sich Gedanken darüber, daß er allergisch gegen ihre künstlichen Düfte sein könn te, doch immun gegen alles Natürliche war. Nein, die Kleine von eben mit ihrer festen Beziehung und dem festen Vorsatz, ihre Zukunft selbst zu bestimmen, gehörte nicht zu denen, auf die der gute Doktor ein Auge werfen würde. Eher wäre es jemand wie Brigid Connor, vermutete Anna. Eine von Angst gequälte Frau, die sich am liebsten eine Papiertüte über den Kopf stülpen wür de, wenn man sie ließe. Allein die Tatsache, daß sie einen Arzt bitten mußte, irgend etwas zu finden, das mit ihr nicht stimmte, und ihr außerdem zu helfen, eine späte, gefürchtete Schwangerschaft zu vermei den, schien ihr so offensichtlich gottlos, daß sie vor lauter Furcht gezittert hatte. Das waren die Frauen, die er sich aussuchte. Anna sagte sich, daß sie schließlich nur wissen wollte, was er tat. Warum er sich immer wieder bestimmte persönliche Daten aus den vertraulichen Kranken blättern besorgte, unter Bevorzugung derjenigen, die er mit verdächtiger Zärtlichkeit behandelt hatte. Wieso er nach wie vor ein solches Interesse für unsi chere, manchmal geradezu häßliche Frauen an den Tag legte und dann sie – Anna – so behandelte, wie er es getan hatte. Auf dem Weg durch den langen Flur, in dem der dicke Teppich den Hall ihrer Schritte verschluckte, blieb sie stehen, um eine Blüte von einer Pflanze ab zuknipsen. Dann holte sie tief Luft, klopfte und setzte ein strahlendes Lächeln auf. »Heute abend, 262
okay?« würde sie sagen, und er würde antworten:
»Ja, fein.«
Ihr Haus würde voller Blumen sein. Die Blumenkä
sten, die sie im Hinterhof für Rose bepflanzt hatte,
fingen gerade an zu blühen.
Rose stand in der Tür zum Büro und schnitt Helen,
die mit dem Rücken zu ihr saß, eine Grimasse. Sie
hatte schon zweimal hallo gesagt, ohne Antwort zu
erhalten. Miss West starrte aus dem Fenster. Im
Raum stank es verdächtig nach Zigarettenrauch.
»Na, na, na«, sagte Rose laut. Das würde Redwood
niemals verzeihen. Eine mittlere Katastrophe, viel
leicht: allgemeiner Pfusch in der Justizverwaltung;
schlechte Zeiteinteilung; Unschuldige, die im Ge
fängnis schmachteten, Fälle, die durch Nachlässigkeit
vermasselt worden waren; alles, was nicht so leicht
nachzuweisen war; aber gegen das Rauchverbot oder
das Gesetz der aufgeräumten Schreibtische zu ver
stoßen bedeutete, die Todesstrafe zu riskieren.
»Wach auf, Helen, ja, so ist es recht. Oh, was ist
denn da drüben los?«
Die Angestellten im Büro gegenüber sorgten immer
für willkommene Ablenkung. Es war ungefähr so, als
schaute man sich ein Video ohne Ton an und ver
suchte, aus einer Entfernung von zwanzig Metern
und durch zwei Glasscheiben hindurch ihre Körper
sprache zu entschlüsseln.
Einmal hatten sie einen richtigen Kampf miterlebt,
und seitdem beobachteten Helen und Rose alles, was
sich da drüben tat. Etwas so Aufregendes war leider
nicht mehr geschehen, so daß Rose sich gezwungen
sah, eine Situation zu erfinden, in der zwei gutgeklei
263
dete Männer um die Gunst einer großen, erregend autoritären Frau unbestimmbaren Alters buhlten. »Sie nimmt schon wieder zu«, sagte Rose und zeigte nach drüben. »Eine Schande, nachdem sie so prima mit der Diät zurechtgekommen war. Schade um die vielen Äpfel. Sie muß unbedingt aufhören, sich zu Mittag so vollzustopfen. Hamburger und Fritten, ich hab’s gesehen. Was ist los? Sprich mit mir. Ich hab dir eine neue Anweisung mitgebracht.« »Großartig. Glaubst du, jemand hat ihr eine Anwei sung zum Körpergewicht mitgebracht, und sie hat deshalb den ganzen Nachmittag keinen Ton gesagt? Der da am anderen Ende zum Beispiel? Der Red woods Cousin sein könnte?« Rose kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen. »O ja, das würde zu ihm passen. Sie könnten ein paar Pflanzen gebrauchen, es sieht da drüben immer aus wie in einem Gewächshaus, das ein Schwarm Heu schrecken kahlgefressen hat. Ich hab dir übrigens auch ein paar Blumen mitgebracht zur Anweisung, für den Fall, daß Redwood es vergißt; du weißt ja, wie er ist.« Ein zarter Freesienstrauß landete ohne weiteres Zeremoniell auf Helens vollem Schreibtisch. »Danke«, sagte Helen gerührt, doch dann wurde sie mißtrauisch. »Womit habe ich das verdient?« »Mit gar nichts«, sagte Rose leichthin und fuhr sich mit den Fingern durch das stachelige Haar. »Mir ist nur aus sicherer Quelle zu Ohren gekommen, daß alle hinter diesem Mistkerl von Ryan her sind. Es wurde heute morgen als allgemeine Losung ausgege ben. Ich dachte, das könnte dicke Luft bei dir zu Hause bedeuten, das ist alles.« »Ja«, sagte Helen. »So ist es.« 264
Sie gähnte und streckte sich. Der Duft der Blumen hüllte sie ein, und plötzlich verspürte sie ein uner klärliches Bedürfnis, einfach loszuheulen. Im Mo ment hätte wahrscheinlich die kleinste Freundlich keit diesen Wunsch auslösen können, doch sie nahm sich zusammen. Tränen in der Öffentlichkeit nutzten gar nichts, wenn man sie nicht erklären konnte, und sie wußte genau, daß sie es nicht mal versuchen woll te. »Und was steht in der Anweisung?« Rose zuckte die Achseln und bot ihr einen Kaugum mi an, ihr ganz persönliches Allheilmittel für alle Ar ten von Bürowehwehchen. »Reorganisation. Wieder mal. Ich soll in die äußere Mongolei, und du wirst dich mit Spezialfällen beschäftigen. Auslieferungsan träge, Urkundenfälschung, Banknotenfälschung, und zwar jede Menge. Keine Vergewaltigungen mehr.« »Auf den Tag hab ich schon lange gewartet«, sagte Helen. »Welchen Teil der äußeren Mongolei?« »Camberwell Green. Er sagte, er glaubt, du hast ei nen schlechten Einfluß auf mich.« Diesmal war das Bedürfnis, einfach loszuheulen, rea listischer. »Vielleicht glaubt er auch bloß, Vergewal tigungen sind schlecht für uns.« »Jetzt hör aber auf, Helen. Sie sind für niemand gut.« Der Nachmittag war gewittrig und düster, der Regen sanft und unerbittlich. Regen füllte den Teich, den Ryan in seinem Garten ausgehoben und mit einer Plastikplane ausgelegt hat te, bevor er ihn unvollendet zurückgelassen hatte. Mary Ryan und ihr Jüngster, der mit knallroten Gummistiefeln ausstaffiert war, warfen Erdklumpen in die Grube, die für exotische Fische bestimmt ge 265
wesen war und jetzt mehr Ähnlichkeit mit einer un gewöhnlich großen Pfütze hatte. Das Kind kreischte vor Vergnügen. Daddy hätte ihm genausogut eine Vogelscheuche oder eine provisorische Blockhütte bauen können oder ihm etwas geben, das er zer schmettern oder sonstwie zerstören konnte. Und wo war Daddy jetzt? Und warum hatten die Männer das ganze Haus auf den Kopf gestellt? Das ist nur ein Spiel, mein Kleiner, Daddy hat sein Scheckbuch verloren, und seine Freunde suchen jetzt danach. Und Mummy erzählt nichts von dem kleinen Brief, den Daddy hinterlassen und den sie zerfetzt hat, nicht weil er darum gebeten hatte, sondern weil er sie rasend vor Wut machte. »Ich habe keine ande re Wahl«, hatte er geschrieben. »Ich muß was erledi gen, sonst kriegen wir das nie geregelt … mehr kann ich nicht erklären.« Als hätte er je irgendwas erklärt! Nein, bitte glaube mir, ich liebe dich etc. Nicht, daß romantische Sprüche oder Versprechungen eine gro ße Rolle in ihrer Beziehung gespielt hätten, aber es gab Zeiten wie diese, wo sie sich gern an ein freundli ches Wort oder einen Hilferuf geklammert hätte. So hatte sie daneben gestanden, rebellisch, unkooperativ und einsilbig, als das Haus durchsucht wurde, vage dankbar für die Tatsache, daß ihr Status als Ehefrau eines Detective, selbst wenn er unter dem Verdacht der Vergewaltigung oder gar Schlimmerem stand, seine Kollegen bewog, ordentlicher und rücksichts voller vorzugehen als sonst. Sie dachte an die Ge schichten, die Ryan voller Schadenfreude erzählt hat te, als er noch jünger war: Was für ein Spaß es war, ein Haus zu demolieren, wenn der Schuldige sich aus dem Staub gemacht hatte. 266
Der einzige andere Trost war, daß Bailey nicht unter den wildentschlossenen Männern war. Sie wäre mit einem Hammer auf ihn losgegangen. »Zeit reinzugehen, mein Kleiner. Wir sind naß bis auf die Knochen.« Das Kind war zu alt für derart kindische Spiele. Schwachsinnig, wie sie selbst, wenn sie sich mit Scho kolade vollstopfte, bis ihr schlecht wurde. Vielleicht hatte Ryan die Grube für den Teich ausgehoben, um sich selbst darin zu begraben. Sie wünschte es. Dann warf sie einen Blick auf seine Blumen, die Sträucher, die Blüten, diese Orgie von Farben – alles sein Werk. Im feuchten Dunst des frühen Abends versuchte sie sich davon zu überzeugen, daß er zu Grausamkeit nicht fähig war, doch es gelang ihr nicht. Das einzige, was Ryan liebte, waren Pflanzen und Kinder: Dinge, die wuchsen. Frauen paßten nicht in diese Kategorie. Frauen konnten dumm sein, aber nicht dümmer als Männer. Dummheit war manchmal die letzte Zu flucht, die einem blieb. Helen wußte, daß sie soweit war, als sie im oberen Deck des Busses saß und beob achtete, wie der Regen nachließ und der Himmel aufklarte, dunkelrot wie eine frische Platzwunde. Sie saß da und beschimpfte sich insgeheim als dumme Kuh. Dabei war ihr klar, daß sie die Beschreibung dumm, leichtsinnig, irrational von Zeit zu Zeit zwar durchaus verdiente, doch war das kein durchgehender Zustand, und so sehr sie es auch versuchte, sie war alles andere als eine Kuh. Ein weibliches Rind vieh hatte, soweit ihr bekannt war, keine besonders heimtückischen Gewohnheiten. Eigentlich war es gar 267
nicht so schlecht, eine Kuh zu sein. Dumme Kuh war nichts anderes als eine Umschreibung für Leichtsin nigkeit, mangelnde Ausgeglichenheit, das Ungleich gewicht zwischen Sein und Schein, zwischen dem Optimismus der Schönheit und der Häßlichkeit des Alters und so weiter. Bailey liebte das Oxford Eng lish Dictionary wegen der Definitionen vieler Wörter, die im großen und ganzen verdammt nichtssagend geworden waren. Wie »verdammt« zum Beispiel. Ein Wort, das durch schieren Mißbrauch zur Bedeu tungslosigkeit verkommen war. Helen betrat ihr Haus im Schein des rotgefärbten Himmels und machte sich daran, das Chaos in der Küche zu beseitigen. Sie folgte einer Art innerem Ka lender, der ihr sagte, daß morgen die Müllabfuhr ins Haus stand. Das Bedürfnis loszuheulen, ohne dafür einen einleuchtenderen Grund zu haben als das Ge fühl eines fundamentalen Scheiterns, war immer noch da. Nach einer oberflächlichen Säuberungsaktion war die Spüle frei und der Sack im Mülleimer viel zu voll. Sie drückte kräftig. Trotz ihrer Vorsicht schrammte sie sich den Zeigefinger der rechten Hand an der Hühnersuppendose von vorgestern auf, die mit hochstehendem, scharfkantigem Deckel ihren Platz zwischen den übrigen Abfällen behauptete. Was für eine Menge Blut, dachte sie düster, was für eine schreckliche Menge für einen so lächerlichen Unfall. Frisches Blut hat wirklich eine sehr deutliche und unverwechselbare Farbe. Sie hielt den Finger unter fließendes Wasser, fragte sich, ob man sich an Resten von Hühnersuppe infizieren konnte, und fluchte, daß sie unbedingt ein Nahrungsmittel hatte aussuchen 268
müssen, das vom Geschmack her eigentlich eher fade, dafür aber hochgefährlich verpackt war. Außerdem dachte sie darüber nach, ob die Verletzung des Fin gers sie auf Lebenszeit daran hindern könnte, eine Zigarette zu halten. Das Bedürfnis nach Tränen wur de immer stärker. Sie verarztete den Finger mit mehreren Lagen Kü chentüchern, trotzdem blutete er weiter. Auf den Bo den, in die Spüle, wo sie auch versuchte, den Finger vor weiteren Gefahren zu schützen, tropfte das Blut. Sie schaffte es, den Teppich zu retten, doch je mehr sie den Finger ermahnte, um so heftiger blutete er. Sie hielt die Hand über den Kopf wie eine in Küchen tücher eingewickelte Trophäe, und trotzdem blutete es. Irgendwo mußte sie Pflaster haben, aber sie wuß te nicht wo. Unerreichbar. Schließlich ging sie in den Garten. Blut war bestimmt gut für die Pflanzen. Es regnete nicht, doch der Himmel hatte sich von dunkelrot zu einem finsteren Grau verfärbt. Zeichen von Vernachlässigung hier draußen, sagte sich Helen und verschränkte die Arme vor der Brust. Anna Stirland behauptete, man sorgte für seine Pflanzen, wenn man sie daran hinderte, sich gegen seitig zu erdrosseln. Genau damit aber schienen sie, belebt vom Regen, gerade beschäftigt zu sein. Helen bildete sich ein, sehen zu können, wie sie sich beweg ten. Der Garten war ein Dschungel, der um Auf merksamkeit buhlte und auf Nahrung mit erhöhter Aggressivität reagierte. Handschuhe also, sollte der Finger doch im Inneren der steifen Gartenhandschuhe weiterbluten. Sie hin gen an der Tür und warteten auf eine Gelegenheit wie diese, wenn die Sorge für und Kontrolle über 269
den Garten wichtiger schien als alles andere, wenn auch bloß als Ersatz für die Kontrolle über ihr eige nes Leben. Nichts tat weh, wenn sie im Garten arbei tete. Später war sie immer überrascht, wie viele Schrammen und Kratzer sie sich auf Armen, Beinen und am Oberkörper geholt hatte, ohne es zu merken. Sie war stolz darauf und sah in ihnen Symbole dafür, daß irgend etwas in dieser kleinen Wildnis von ihrer Energie profitiert hatte, obwohl sie alles andere als eine Expertin war. Auf der anderen Seite der hohen Mauer befand sich ein Spielplatz, der Helens Garten nach hinten ab schloß und für noch größere Abgeschiedenheit sorg te. Sie genoß die Anwesenheit der Kinder, die sie nie sah, obwohl sie an Tagen, die sie zu Hause verbrach te, ihr heiseres Geschrei hörte und immer über den schier unglaublichen Lärm staunte, den sie veranstal teten, und die betäubende Stille hinterher. Jetzt, da Dämmerung und Schweigen sie umfingen, fiel ihr ein, wie lange sie gebraucht hatte, bis sie sich in diesem Garten sicher fühlte. Sie zupfte an einer Winde, die dem Efeu ein ungepflegtes Aussehen gab, und zog dann immer kräftiger, als sei die Pflanze ein echter Feind. Je höher der Haufen Unkraut auf dem Rasen wuchs, um so größer wurde auch ihre Befrie digung. Sanft erlosch das Zwielicht, die sommerliche Dämmerung verwandelte sich in tintenschwarze Nacht. Wenig später arbeitete sie nur noch im Schein des Lichts, das aus dem Küchenfenster fiel. Zeit aufzuhören. Helen streckte sich. Sie hatte Durst und wollte gerade in Richtung Küchentür gehen, als sie eine Gestalt durch den Lichtstreifen huschen und im Schatten verschwinden sah. 270
Ihre alte Katze war im Frühling gestorben, und die Erinnerung an sie verfolgte sie immer noch, aber es war klar, daß das keine Katze gewesen war und auch kein Geist. Plötzlich packte sie eine Angst, die einerseits fremd, andererseits widerlich vertraut war. Es gab mehr als eine Sorte Geister in diesem Garten. Bailey würde keine solchen Scherze machen, denn er kannte ihre Ängste nur allzu gut und respektierte sie. Als sie trotzdem seinen Namen rief, merkte sie, daß ihre Stimme unsicher zitterte. »Bailey? Bist du das?« Schweigen. Der Baum, der die Ecke ihrem Blick ent zog, schien zu seufzen und schüttelte das belaubte Haupt, bis auch die letzten Regentropfen herabfie len. Ein Schuh knirschte auf Stein. Nach ländlichen Maßstäben war es ein kleiner, nach städtischen ein großer Garten, doch jetzt erschien er Helen riesig. Der Abstand zwischen ihr und der Kü chentür war so groß wie ein Minenfeld. Sie rannte ohne nachzudenken auf den Lichtstreifen zu, der Si cherheit bedeutete, und stolperte. Die Handschuhe rutschten an der rauhen Oberfläche der Hausmauer ab, das Haar flog ihr in die Augen, ihr war schlecht vor Angst. Sie fiel ihm geradewegs in die Arme. Aus den oberen Stockwerken der Häuser auf beiden Seiten fiel Licht, ein Versprechen, das ihr wie Hohn erschien. Ihr Schrei verhallte ungehört, genau, wie sie es erwartet hatte. Sie wohnte in einer belebten Stra ße, da ging vieles unter. Der Eindringling hatte ihr von hinten einen Arm um den Hals geschlungen. Dann legte sich eine schmutzige Hand über ihren Mund. Genausogut hätte er sie an einem menschen 271
leeren Strand über eine Klippe halten können – Hilfe
war nicht zu erwarten.
»Halt’s Maul«, fauchte er. »Halt’s Maul!«
Sie nickte. Ihr Körper erschlaffte. Die Hand bewegte
sich von ihrem Mund zur Kehle, der andere Arm
schloß sich um ihre Taille und preßte sie an sich.
»Die hübsche Miss West«, murmelte eine Stimme.
»Und du hast nie gewußt, wieviel ich für dich übrig
habe.«
Sie spürte seinen Penis an ihrem weichen Hintern;
seine Hand rutschte tiefer und fuhr ihr über die
Brust. Ein Schauer überlief sie. Dann fing sie an zu
zittern.
»Offensichtlich beruht das Gefühl auf Gegenseitig
keit«, fuhr die Stimme fort. »Ich wußte schon immer,
daß du auf mich stehst. Sollen wir nicht reingehen,
Süße? Drinnen ist es bestimmt gemütlicher.«
Todd konnte nicht aufhören, sich darüber zu wun
dern, wie Ryan so spurlos von der Bildfläche hatte
verschwinden können. Er wiederholte es wieder und
wieder, ohne darüber nachzudenken, was er sagte.
Bailey war im Gegensatz zu ihm ganz und gar nicht
überrascht und hatte im übrigen die Nase voll von
dem frustrierten Gerede des anderen. Trotz seiner
vielen Jahre als Officer hatte Todd die Straße nie
gemocht und dort auch keinerlei Verbindungen auf
gebaut. Er konnte heute noch nicht verstehen, wie
ein Mann wie Ryan, der in unzähligen Nächten den
Weg zu seinem eigenen Zuhause nicht gefunden hat
te, jetzt so plötzlich untertauchen konnte. Bailey
dachte daran, Ryans Kreditkarten sperren zu lassen;
das wäre der schnellste Weg, ihn zur Rückkehr zu
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bewegen. Sollte er Katz und Maus spielen, wenn er wollte; er selbst hatte keine Lust auf dieses Spielchen und war sauer, weil Ryan es so in die Länge zog. »Der Freund der Kleinen tut mir leid«, sagte Todd und nippte an seinem Bier wie einer, der eigentlich Angst davor hat. Da saß er nun neben diesem unge mütlichen Bailey und hatte Schuldgefühle, weil er in einem Pub war. Aber wenn er jetzt einfach aufgab, würden sie noch stärker, das wußte er. Er war wie ein Hund, der an einem Knochen nagt, ihn mit der Pfote umdreht und dann am anderen Ende weitermacht. Wäre er Ryan gewesen, hätte er das Thema längst fal lenlassen und wäre in Urlaub gefahren. »Schien ein anständiger Bursche zu sein«, fuhr Todd fort. »Das ist er vermutlich auch«, stimmte Bailey zu und dachte an den großen, beweglichen Adamsapfel und die tränenerfüllten Augen. Dereks Streß hatte nach Baileys Meinung genausoviel mit Angst wie mit Kummer zu tun gehabt. Sein Blick war ruhelos hin und her gewandert, sobald er vergaß, den Beamten selbstbewußt und aufrichtig in die Augen zu sehen. Irgendwas stimmt nicht mit ihm, dachte Bailey. Der Kleine war so verdächtig erleichtert gewesen, als man ihm erklärte, seine Verlobte sei nicht erwürgt wor den, und noch verdächtiger war seine Verwirrung und Wut, als er hörte, daß es keinerlei Anzeichen für eine Vergewaltigung gab. Dann hatte er geweint. Bai ley hatte ihn noch weniger ausstehen können als die Chefin der Boutique, in der Shelley gearbeitet hatte: eine gottverfluchte Schlampe, die trotz des Schocks und echter Tränen versucht hatte, mit ihm zu flirten. Bailey hatte Todd nicht erzählt, daß er nach dem Bier 273
noch mal hingehen würde, um sich mit ihr zu unter halten. »Ach übrigens, stimmt es, daß Sie heiraten?« fragte Todd. Es war der späte Versuch, Konversation zu machen. »Ein Triumph der Hoffnung über die Er fahrung, nicht wahr?« Nur Ryan durfte es wagen, ihn aufzuziehen. Bailey wollte Todd schon wütend anfahren, als er merkte, daß er es vergessen hatte. Vergessen? Der Gedanke an die Hochzeit war versunken wie ein Stein. Wann war es? Nächste Woche? Morgen? Lieber Himmel, morgen. Vielleicht war er ja auch längst verheiratet, wenn man es recht besah, und zwar mit Ryan. Geh nach Hause, Todd, wünschte er sich insgeheim. Geh nach Hause und laß mich weitermachen. »Was? O ja.« Morgen. Verfluchte Scheiße. »Ent schuldigen Sie mich eine Sekunde, ja? Ich muß He len kurz anrufen. Sie weiß gern Bescheid, wenn ich später komme.« Todd nickte mit einem verständnisvollen Grinsen, das Bailey innerlich zusammenfahren ließ. Er wählte und trommelte mit den Fingern auf die Ablage in der Zelle. Vielleicht hatten Handys doch ihre Vorteile. Für ihn würden sie ohnehin bald Vor schrift werden, so wie heute schon jeder Streifenpoli zist ein Funkgerät bei sich trug. Dann konnten sie alle an irgendwelchen Straßenecken stehen und sich wie die übrige Hälfte der Bevölkerung gegenseitig anbrüllen. Idiotisch. Nach endlosem Klingeln nahm sie ab. Bailey dachte, daß sie draußen im Garten ge wesen sein mußte oder beim Bügeln. Jedenfalls bei irgendwas Frivolem, Weiblichem, so wie er sie sich insgeheim am liebsten vorstellte, zum Beispiel in ei 274
ner Badewanne voll parfümierten Wassers, das ihre olivfarbene Haut erhitzte. »Hör mal«, begann er, noch bevor sie hallo sagen konnte. »Du hast es doch nicht vergessen, oder?« Es folgte ein langes Schweigen und schweres Atmen. »Vergessen … was denn?« »Die Hochzeit«, sagte er knapp. »Es tut mir leid, ich war so … kurz angebunden heute morgen.« »Hast du Ryan gefunden?« fragte sie. »Nein.« »Wie schade. Wahrscheinlich ist er näher an zu Hau se, als man glaubt.« Ihre Stimme klang schrill. Obendrein bekam sie plötzlich einen Hustenanfall, der abrupt endete, als klopfte ihr jemand auf den Rücken. Heute morgen hatte sie noch nicht gehustet, nicht daß er wüßte. »Ich will nicht über Ryan reden. Ich habe die Nase voll von Ryan …« »Aber er ist dir sehr nahe, ich bin sicher …« Ihre Stimme klang jetzt so angespannt, daß sie sich fast so anhörte, als versuchte sie etwas zu verschluk ken oder zu ersticken. Vermutlich ein Lachen. »Hör mal, Schatz, bist du dir auch sicher? Ryan spielt jetzt keine Rolle, es geht um uns. Halb zwölf morgen vormittag. Komm nicht zu spät, okay?« Noch einmal erlaubte er sich die liebevolle Vorstel lung, daß Helen friedlich zu Hause war und ihre Garderobe für besondere Gelegenheiten aussuchte; er liebte ihre Kleider und die Art, wie sie sie trug. Dann hörte er das Geräusch von klirrenden Gläsern und eine Stimme, die nur Helen gehören konnte. Sie klang gedämpft, als legte sie die Hand über den Hö rer: »Schsch!« Dann eine männliche Stimme, sehr 275
nahe, flüsternd, wieder das Geräusch erstickten Ge lächters, und eine Flasche, die entkorkt wurde. Er verspürte so was Ähnliches wie einen leichten elektrischen Schlag und dann Verzweiflung. Was für eine Schande, Helen trank sich Mut an. Hatte sie je manden gefunden, der sie beruhigte? Das war es also. Hatte er nicht immer gewußt, daß ein Risiko dabei war? Das große Risiko, daß sie in letzter Sekunde doch noch davor zurückschrecken würde, sich ganz an ihn zu binden, daß die Vorstellung der Ehe sie in Angst und Schrecken versetzte und seine hochquali fizierte, leidenschaftliche Helen im Grunde genom men eiskalt und bürgerlich war. Wahrscheinlich glaubte sie, daß sie doch noch einen Besseren finden würde als ihn, jemanden, der aus der gleichen Gesell schaftsschicht stammte wie sie selbst. »Bailey?« Sie schien nicht zu wissen, was sie sagen sollte. Es war immer nur ein schlechtes Gewissen, das sie sprachlos machte. »Hör zu«, sagte er müde. »Es liegt bei dir, okay? Ich könnte später noch vorbeikommen, nur …« »Nicht später«, fauchte sie und verstummte dann. Bailey fiel nicht das Geringste ein, was er antworten konnte. Am anderen Ende hörte er im Hintergrund jemanden pfeifen. Jemand, der sich offenbar sehr zu Hause fühlte. Langsam legte er den Hörer auf. Er konnte den Klang nicht ertragen. »Du siehst wirklich umwerfend aus mit diesen Hand schuhen«, bemerkte Detective Sergeant Ryan. »War um zieht sich eine kluge Frau wie du eigentlich nicht um, bevor sie im Garten arbeitet? Ich mache das immer.« 276
Helen sah an sich herunter. Die behandschuhten Hände lagen gefaltet auf dem Schoß. Es war schwie rig gewesen, den Hörer damit zu halten. Sie saß auf dem unbequemsten Stuhl in der Küche, nahe am Fenster. Jetzt erst, da er davon sprach, fiel ihr auf, wie schmutzig Rock und Bluse waren, die sie sonst nur zur Arbeit trug. Ja, dachte sie, vielleicht wäre ich alles in allem ein besserer Mensch, wenn ich daran dächte, mich umzuziehen, bevor ich mich an die Gartenarbeit mache. Bailey mußte gemerkt haben, daß etwas nicht stimmte. Komm nicht später, hatte sie gesagt, sondern früher, hatte sie gemeint. Mach dir Gedanken über den Husten. Frag dich, warum ich Ryan erwähnt habe. Ryan legte den Hörer neben den Apparat. »Nur für den Fall, daß er noch mal anruft, nicht? Dann kann er sich schon denken, daß du mit was anderem be schäftigt bist.« »Warum wollten Sie ihn eigentlich merken lassen, daß jemand hier ist?« »Wollte ich gar nicht«, sagte er. »Ich hab dir nur ge sagt, du sollst ihn loswerden, bevor ich dir was antue, und auch, weil ich ihn umbringen würde, falls er hier auftaucht. Aber das wird er nicht tun. Wenn er glaubt, daß jemand hier ist, wird er ganz einfach schockiert sein. Er ist nicht eifersüchtig, unser Bailey, er hat einfach nur Schiß. Er verdient dich gar nicht, weißt du«, sagte er und äffte dabei ihre Stimme nach. »O nein, ganz und gar nicht.« Er nahm einen Schluck aus dem Whiskyglas. Sie beobachtete ihn mit einer Mischung aus Verblüffung und Verachtung und schauderte bei der Erinnerung daran, wie sein Körper sich an sie gepreßt hatte. Sie 277
bemerkte, daß er nicht rasiert war, sah die Turn schuhe und verspürte eine seltsame Resignation, jetzt, da sie mit Bailey gesprochen hatte. Im Moment machte sie sich keine großen Sorgen wegen des fun kelnden Tranchiermessers auf dem Kühlschrank, au ßerhalb ihrer Reichweite, aber in Ryans unmittelba rer Nähe. Sie zupfte an den Handschuhen. Der rechte klebte fest, sie zog kräftiger und verzog dabei das Gesicht. Schließlich löste er sich, und sie ließ beide auf die Erde fallen. Ihre Hände fühlten sich leicht und kühl an; sie strich sich das Haar aus dem Gesicht. Es war ein kleiner Versuch, sich gelassener zu geben, als sie war, ein winziger Schritt in der schwierigen Übung der Selbstbeherrschung. Plötzlich weiteten sich Ryans Augen, und sie zuckte voller Panik zurück. Das also war der Augenblick; jetzt würde das Schwein durchdrehen. »Liebe Güte, Helen, das war doch nicht ich, oder? O Gott, habe ich das gemacht?« Als sie in einer ersten Geste des Selbstschutzes die Hände vors Gesicht legte, merkte sie, daß sie voller getrocknetem Blut waren. Außerdem hatte der ver letzte Finger erneut angefangen zu bluten. »Um Himmels willen«, sagte er und zerrte sie am Handgelenk zur Spüle. »Laß kaltes Wasser drüber laufen, du dumme Kuh.« Immer war es irgendeine Freundlichkeit, die das Faß zum Überlaufen brachte. Sie heulte los.
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12
V
ielleicht könnte ich jemanden lieben. Vielleicht könnte mich jemand lieben. Vielleicht ist das, was mir passiert ist, reine Einbildung. Vielleicht liebte ich sie. Die kleine Shelley, die den Kick suchte, die Dekadenz, den Schmutz. Vielleicht ist meine düstere Stimmung nur eine Reaktion auf den Mord. Aber sie hat eingewilligt, bis zum Schluß. Es war nicht Duldung, sondern Einwilligung. Frauen haben ein großes Talent zum Verzeihen. Viel leicht ist es noch nicht zu spät für mich. Die Liebe ei ner guten Frau. Ich darf das nicht tun … Jetzt, da ich sie perfektioniert habe, erschreckt mich meine eigene Macht zu Tode. Sie wird mich verleiten. Meine Hände brennen darauf, das Instrument zu halten, es zwischen die weichen Lippen zu schieben … nur die Luft, die wir atmen … Ihr Le ben wäre ohnehin ruiniert gewesen. Sie hätte es selbst ruiniert, weil sie viel zu viel Angst hatte, es zu ändern. Vielleicht ist es noch nicht zu spät für mich. Ich könnte es immer wieder versuchen. Ich könnte ausprobieren, ob die Liebe mich erlöst. Mein Fleisch, mein Blut erlöst. Das Blut verlief sich unter dem Wasserhahn. Sie starrte fasziniert darauf und beobachtete das blasse Rosa des Wassers. 279
»Wahrscheinlich müßte der Finger genäht werden«, sagte Ryan. »Aber ein Pflaster tut es auch. Es ist im Badezimmer, wie?« Das Badezimmer lag am Ende des Flurs; die Haustür gleich neben der Küche. Als er merkte, wie eifrig sie nickte, schüttelte er traurig den Kopf. »Darauf falle ich nicht rein, glaub das ja nicht. In Wirklichkeit hast du keine Ahnung, wo das gottver dammte Pflaster ist. Kinderlose Frauen wissen das nie. Wenn man Kinder hat, gewöhnt man sich an den Anblick von Blut. Hier, und jetzt hör endlich auf zu heulen.« »Ich heule gar nicht.« Er grunzte und wickelte noch mehr Küchenpapier und ein Gummiband aus dem Korb, der diverse Brie fe, Heftklammern, Quittungen und Rechnungen ent hielt, um den Finger. Am Schluß sah es ganz passabel aus, und er schien beruhigt. Er drückte sie wieder auf ihren Stuhl und setzte sich gegenüber. »Jetzt kannst du dich betrinken, wenn du Lust hast. Hier.« Er hatte eine Flasche von dem schweren Rotwein entdeckt, den sie für den Winter hatte aufheben wol len. Unter anderen Umständen hätte sie das Ge räusch des Korkens geliebt. Sie dachte daran, wel chen Schaden ein gewalttätiger Mann mit einem Korkenzieher anrichten konnte, zum Beispiel, indem er ihr ein Auge ausstach oder Löcher in die Haut schlitzte. Der Wein war ein weicher Bordeaux. In der Schwüle des frühen Abends lag der erste Schluck wie ein Schwamm auf ihrer ausgetrockneten Zunge, und doch schmeckte er wie Nektar. Es würde wieder anfangen zu regnen; sie spürte, wie sich die Wolken zusammenballten. In der Küche war 280
es stickig. Als könne er ihre Gedanken lesen, stand er auf und schob das Fenster herunter, um frische Luft reinzulassen. Sie stellte sich vor, wie der vordere Teil ihrer Wohnung von der Straße her aussah, dunkel und leer, eine Souterrainwohnung, in der niemand zu Hause war. Sie war inzwischen fast hysterisch, doch geradezu gespenstisch ruhig. Die Tränen hatten Salzspuren auf ihren Wangen hinterlassen. Sie nahm den nächsten Schluck wie jemand, der eine Party vom Rande aus verfolgt und versucht, den Drink in die Länge zu ziehen und gleichzeitig beschäftigt zu wirken. »Welchen Umständen verdanke ich das Vergnü gen?« sagte sie. »Ich meine, ein Drink unter Freun den ist schön und gut, aber ich kann mich nicht dar an erinnern, Sie eingeladen zu haben.« »Es muß dir entfallen sein«, sagte Ryan. »Ich weiß bloß nicht wie. Aber ich war in den letzten sechsund dreißig Stunden auch schwer zu erreichen. Na, we nigstens hab ich letzte Nacht ein warmes Nest gefun den.« Er grinste anzüglich. »Sie hat mich rausgesetzt, also dachte ich, besser, ich suche mir was Neues.« Er hat auf dem Spielplatz gewartet. Er ist über die Mauer und dann ins Haus, dachte sie. Typisch für Ryan, daß er solche Wege kannte. Ihr war heiß. Sie schwitzte und wollte raus aus den dreckigen Klamot ten. »Wir fahrenden Vergewaltiger können es uns nicht leisten, wählerisch zu sein, verstehst du?« Sie nickte und nippte an ihrem Wein. »Kannst du dich noch erinnern, wie ich das erste Mal hier war? Nein, bestimmt nicht. Das war, als der Ver rückte dich überfallen hatte. Ich kam zufällig vorbei.« 281
»Das habe ich nie vergessen«, sagte sie langsam. »Ich habe Sie reingelassen. Ich habe halb ohnmächtig auf den Türöffner gedrückt, bis ich das Bewußtsein ver lor.« »Und seitdem hast du mich nicht gemocht.« »Stimmt.« »Ich frage mich oft, ob du wußtest, daß er unsterb lich in dich verliebt war, schon damals. Bailey meine ich. Vielleicht wußtest du es nicht.« »Nein, das wußte ich wirklich nicht. Ich merkte nur, wie ich auf ihn reagierte.« »Und ich habe diverse Umwege machen müssen, um rauszukriegen, daß meine Frau möglicherweise die beste auf der Welt ist. Vergleichswissenschaften nennt man das, soviel ich weiß.« »Sie haben eine komische Art, Ihre Gefühle zu zei gen. Sie muß halb verrückt vor Sorge sein.« »Was soll ich machen? Zu Hause anrufen? Hallo, Schatz, schön, dich zu hören … nach ein, zwei Ver gewaltigungen bin ich wieder da … mach’s gut … Sieh mich an, Miss West, sieh mich an, verdammt noch mal.« Er packte sie heftig an der Schulter. Ruhig sah sie zu ihm auf. Sie hatte mit Männern zu tun gehabt, die der Vergewaltigung oder gar des Mordes beschuldigt gewesen waren, aber immer mit mehreren Sperren zwischen ihnen und sich. Auf der Anklagebank, hin ter dem Geländer im Gerichtssaal, von ihrem eige nen, geschützten Raum aus. Jetzt sah sie ganz nah in das kantige Gesicht eines muskulösen Mannes. Er war auffallend attraktiv, sexy auf eine Art, die sie noch nie anziehend gefunden hatte, wie ein gutaus sehender Fußballstar. Kindern und Pflanzen gegen 282
über konnte er durchaus freundlich sein. Sie zwang sich zu der Vorstellung, daß er die braunen Augen einer Kuh hatte. Unter dem forschenden Blick, zu dem er sie selbst aufgefordert hatte, lief Ryan rot an. Er berührte den in Papier eingewickelten Finger und fing an zu spre chen. »Nein, ich mag dich auch nicht. Es ist nichts Persönliches; ich kann Anwälte einfach nicht leiden. Und ich mag nicht, was du mit Bailey machst. Aber ich dachte, besser ich platze hier rein als drüben in seine Bude, denn du könntest mir glauben. Außer dem ist es der letzte Ort, an dem er mich vermuten würde, und ich will nicht, daß er mich jetzt schon fin det. Ich mag dich nicht, aber du hörst wenigstens zu. Bailey tut es nur manchmal. Er reagiert auf andere Si gnale, verstehst du, was ich meine? Er ist mit seinen Gedanken immer woanders. Springt von einem Punkt zum anderen. Sein Bewußtsein funktioniert wie eine Serie von Fallen, die nacheinander zuschnappen. Das kommt, wenn man zuviel auf einmal macht. Ich weiß schon, was er sagen würde. Du bist aus dem Schneider, mein Junge, du mußt bloß deine Karten richtig ausspielen. Was willst du mehr, Gerechtigkeit etwa? Hast du eine Zigarette?« Zur Antwort durch wühlte er ihre Handtasche und zündete ihnen beide eine an. »Du dagegen hörst zu«, fuhr er fort. »Du würdest al les tun, um die verdammte Wahrheit rauszukriegen. Du bist besessen von der Wahrheit, jawohl. Oder so ähnlich.« »Mir sind Beweise lieber«, sagte sie. »Mir auch, Mädchen, mir auch.« Und dann fing er zu ihrem Entsetzen an zu weinen, ohne jedoch des 283
wegen die Kontrolle über die Situation zu verlieren. Das Messer auf dem Kühlschrank blieb in Sichtweite, obwohl dicke Tränen über seine Wangen kullerten. Irgendwie sah er aus wie ein Clown. Die Tränen machten ihn gefährlich, aber auch lächerlich. Sie wollte ihn nicht heulen sehen, selbst wenn sie nicht das geringste Mitleid mit ihm hatte. »Ich will nicht, daß meine Frau mich so sieht, ver stehst du? Ich will nicht, daß sie mich anschaut und sagt, daß ich verrückt bin. Verrückt oder böse, was ist das für ein Unterschied? Aber die kleine Shelley Pelmore hat mir etwas gesagt. Meine Frau würde es nicht glauben. Und ich auch nicht, wenn nicht …« »Ich brauche noch was …«, sagte Helen und hielt ihm das Glas hin. Er schenkte nach und verschüttete die Hälfte auf dem Boden. »Fangen Sie ganz von vorn an«, forderte sie ihn auf. Sollte er erzählen; so konnte sie wenigstens Zeit schinden. Er holte tief und zitternd Luft. Seine Stimme klang wie aus einem Traum. »Es hat alles mit den Frauen begonnen. Ehefrauen, Mädchen, die sich mit ihrem Sex oder ihrer Beziehung langweilen. Entweder we gen einer schwierigen Vergangenheit, Mißbrauch zum Beispiel, oder weil sie einfach unrealistische Vorstellungen von der ganzen Sache haben. Frauen, die eine Schwangerschaft fürchten, die enttäuscht sind, die Angst vor Sex haben. Frauen, die auf einen Kick aus sind, aber nicht mit Drogen. Verkorkste Frauen. Frauen wie Shelley Pelmore: angeödet vom Leben und immer auf der Jagd nach irgendwas Neuem oder Ungewöhnlichem. Oder eine andere Sorte, junge Mädchen, die es nicht abwarten kön 284
nen, ihre Unschuld loszuwerden … scharf auf Män ner …« »Wie alle Frauen, stimmt’s?« warf Helen ein, in dem Versuch, spöttisch zu sein. Er blickte sie halbwegs belustigt an. »Nach meiner Erfahrung ja, die meisten zumindest. Unterbrich mich nicht. Mädchen und Frauen mit unerfüllten sexuellen Bedürfnissen oder einer schlimmen sexuellen Ver gangenheit haben eine blühende Phantasie. Ich habe eine Menge Geschichten gehört über Männer, die er staunliche Sachen machen, mit Flaschen, diversen Ge räten, mit Eis; die Frauen betteln lassen … aber dann habe ich eine ganze Reihe von solchen Phantasien hintereinander gehört, und immer spielte ein Glatz kopf mit wundervollen Augen die Hauptrolle …« Helen starrte ihn an. »Er hat sie verführt, gedemütigt, sie reingelegt und verdorben. Er verdirbt Frauen, ja, genau: Er verdirbt sie. Und in zwei Fällen sind solche verwirrten Frauen gestorben, kurz nachdem sie ziemlich konfuse Aus sagen über einen Mann gemacht hatten, der zu ihnen nach Hause gekommen war. Wir haben sie angehört und dann weggeschickt. Keine gerichtsmedizinisch verwertbaren Spuren. Sie wollten seinen Namen nicht nennen, aber sie waren gedemütigt worden. Zwei starben eines natürlichen Todes – beide waren schwanger. Und dann kam Shelley Pelmores Freun din, die man in der Gosse fand; unverletzt, abgese hen davon, was sie sich selbst angetan hatte, und wie gelähmt vor Entsetzen. Irgendwas war ihr zugesto ßen, irgendein sexuelles Trauma, ich weiß es nicht.« Er starrte in den dunklen Garten. »Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, die größte 285
Demütigung für eine Frau ist Sex, zu dem sie den Mann irgendwie aufgefordert hat, freiwillig. Sie läßt sich ganz unschuldig auf etwas ein, und obwohl sie weiß, daß es falsch ist, reagiert der Körper. Aber wenn der Körper mitgemacht hat, wird die Scham unerträglich.« Er hustete. Selbst für sein Denken war diese Vorstellung ziemlich ungewöhnlich. Er konnte nicht richtig erklären, was er meinte. »Und dann kam die kleine Shelley selbst, die mir of fiziell überhaupt nichts sagen, andererseits aber ein wenig angeben wollte mit irgendwem oder irgendwas. Sie behauptete, ich hätte sie zweimal getroffen; in Wirklichkeit war es öfter. Auch sie erzählte von einem Mann; sie bestätigte im Grunde seine Exi stenz. Vorher hatte ich nur dieses merkwürdige, nicht sehr überzeugende Dossier über ihn. Shelley betete ihn an, hatte aber auch Angst vor ihm und hielt mich mit kleinen Informationen über diesen teuflischen Liebhaber hin, der nach ihren Worten zu gut war, um ihn nicht mit anderen zu teilen. Shelley war eine Spur pervers und überredete ein paar von ihren Freundinnen, es auch zu versuchen … sie glaubte, er hätte Becky dazu gebracht, auf einem Fla schenhals zu kommen. Würdest du nicht gern wis sen, wer es ist? fragte sie, und ich sagte, ja, und was hat er das letzte Mal mit dir gemacht? Als ich sie ein bißchen betrunken gemacht hatte, rückte sie damit raus. Er hat es geschafft, daß ich an einer Parkbank gekommen bin, sagte sie. Manchmal nahm er seinen Dildo, manchmal ein Eis. Sie waren so was wie Ver schwörer, Shelley und er. Sie war stolz drauf, aber sie hatte auch Angst vor ihm. Dann hat sie mich mit der Vergewaltigung reingelegt, damit ich aufhörte, ihn zu 286
jagen. Sie haben es geplant. Und ich Esel bin nichts ahnend in die Falle getappt.« Er lächelte verlegen. »Es war so leicht, weißt du. Der Alkohol und all das schweinische Gerede vorher. Ich fand sie klasse, es machte mir nichts aus, daß sie mich an der Nase rumführte. Ich wollte die Information und zog die Suche danach in die Länge, obwohl ich ja eigentlich hinter ihm her war. Irgendwie genoß ich das Ganze. Und ich habe sie wirklich im Pub zu rückgelassen. Dabei vergaß ich mein Jackett, wahr scheinlich hat sie es hinter dem Stuhl versteckt. Und sie hat gesehen, daß meine Fingernägel schwarz von Gartenerde waren. Als hätte ich im Park rumge macht«. Helen konnte ihm nicht ganz folgen, doch dann erinnerte sie sich. »Sie müssen sie dafür gehaßt haben. Falls sie es wirk lich so gemacht hat.« »Gehaßt? O ja, kann man wohl sagen. ›Gehaßt‹ wäre die Untertreibung des Jahres.« »Genug, um sie zu töten?« wollte sie fragen. »Und wenn ja, wie?« Doch irgendwie war das Eis, von dem er eben gesprochen hatte, im Moment wichtiger. Ryan war in einer eigenen Welt und redete weiter, ohne daß sie ihn auffordern mußte. Das Messer schien er vergessen zu haben. »Ich haßte sie etwas weniger, nachdem sie mich zu Hause angerufen hat te. Sie hatte Angst und wollte mich sehen. Ich habe mich mit ihr getroffen, aber sie wich mir aus, wollte nicht reden. Dann habe ich sie wieder getroffen, in einem Spielsalon. Da bin ich dann durchgedreht. Ich hätte sie am liebsten erwürgt. Sie ging wütend weg. Ich folgte ihr. In diesen Park, zur Leichenhalle …« »Wo sie gefunden wurde?« 287
»Genau.«
»Und?«
»Ich bin weggegangen«, sagte er bitter. »Ich hatte
Hunger, ich war sauer und bin gegangen. Ich glaubte
nicht, daß sie mit ihm verabredet war, aber dann
dachte ich, Scheiße, jede Wette, daß es so ist. Als ich
zurückkam, war sie tot. Und ich dachte, ich gehe
besser nicht nach Hause.«
Er schwieg einen Augenblick.
»So ein hübsches Ding.«
Er würde vielleicht denken, er sei in seiner eigenen
weihnachtlich geschmückten Wohnung, so viele
Blumen standen überall. Anna glaubte schon, sie hät
te es übertrieben. Er hatte ein paarmal davon gespro
chen, wie sehr er Blumen liebte, und sie hatte ihm
welche auf den Schreibtisch gestellt. Schneeglöck
chen im Winter, Osterglocken im März. Sie hatte nie
darüber nachgedacht, wie unkonventionell es war, ei
nem Mann mit Blumen den Hof zu machen, als spiel
te sie in ihrer Konstellation den männlichen Part.
Sie entfernte die Lilien doch wieder aus dem Wohn
zimmer; sie waren zu weiß, genau wie die Gänse
blümchen. Außerdem war der Kontrast zu den Rosen
zu groß. Sie wollte, daß der Raum mehr an ein Ar
beitszimmer erinnerte als ein Boudoir. Sie war aufge
regt, und er war spät dran. Die Aufregung machte ihr
mehr zu schaffen. Du mußt einen klaren Kopf behal
ten, sagte sie sich, höchstens ein Glas von dem Zeug.
Champagner, nicht ganz echt, eine australische Ko
pie, also das, was er ihrer Meinung nach eher von ihr
erwarten würde als den weit teureren echten Cham
pagner. Ein Glas, und schon flatterte ihr der Magen
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vor lauter Nervosität. Sie hatte das Gefühl, voller Luftperlen zu sein. Prellungen und Körperflüssigkeiten: Beweismaterial. Sie hatte das vage Gefühl, daß sie ein wenig nachhel fen sollte; sie könnte allerlei Küchenunfälle inszenie ren, die sie in letzter Zeit erlitten hatte, zum Beispiel die Schranktür offenstehen lassen und mit der Hüfte dagegenknallen. Das führte unweigerlich zu einem kräftigen blauen Fleck. Im Badezimmer gab es einen Spiegelschrank, an dem sie sich einmal eine Platz wunde am Kopf geholt hatte, als sie sich vom Zähne putzen aufrichtete und vergessen hatte, vorher die Tür zu schließen. Die verkrustete Wunde mitten auf der Stirn hatte ziemlich eindrucksvoll gewirkt und war Anlaß zu einigem Spott seitens ihrer Kolleginnen gewesen. Aber das hatte Zeit; sie konnte ihn schlecht mit einem Gesicht wie ein Ballon empfangen. Schließ lich wollte sie den Mann verführen, Himmel noch mal. Sie warf einen Blick auf ihr Gesicht im Badezimmer spiegel. Nun, murmelte sie vor sich hin, damit komme ich nicht weit. Ein Gesicht für den Stapellauf eines Überseedampfers? Mit dem hier hätte sie nicht mal ein Ruderboot auf die Themse locken können, und wieso war sie eigentlich so schrecklich aufgekratzt? Als es klingelte, nahm sie sich zusammen und sagte ein letztes Mal ihren Spruch auf. Oh, komm rein, wie schön, dich zu sehen, und wie nett, daß du gekom men bist … Bei den letzten Worten mußte sie die Hand auf den Mund legen und ein verrücktes La chen unterdrücken. So etwas konnte sie nicht sagen; es war unmöglich. Sie sollte lieber die Treppe runter gehen und mit Anstand die Tür aufmachen, in der Hoffnung, daß sie nicht zu elegant oder gar aufge 289
donnert wirkte mit dem ungewohnten Make-up. Je denfalls trug sie kein Parfum. Das Haus duftete oh nehin nach all den Blumen. Er klingelte erneut. Als sie ihn angemessen würdevoll hereinbat, nahm sie sich vor, ganz zwanglos zu sein. »Tut mir leid, daß es so lang gedauert hat«, sagte sie lächelnd. »Ich war draußen im Garten. Komm und sieh es dir an.« Als er sich tief vor ihr verbeugte, er haschte sie einen Blick auf die Oberfläche seines glat ten Schädels. Es gab nichts Besseres, einen Mann ins Haus zu locken, ohne daß er Verdacht schöpfte, als beiläufige Freundlichkeit. Er inspizierte Roses mit Immergrün bepflanzte Blu menkästen, und sie unterhielten sich darüber, warum die blühenden Sträucher nach dem Schauer vom Vormittag so jämmerlich aussahen. Nichts an alledem war im geringsten bedrohlich. Aus der Küche kamen die herrlichsten Gerüche. Sie plapperte wie ein Was serfall, wohl wissend, wie amüsant sie sein konnte. Hoffentlich ist das Kleid in Ordnung, dachte sie. Ein hübsches, locker fallendes Oberteil über einem aus gepolsterten Busen, ein bunter, fast bis zu den Knö cheln reichender Rock und elegante Lederpumps. Nicht unbedingt sexy, aber der Sonntagsstaat einer fülligen, berufstätigen Frau, die ein wenig aufs Geld achten muß. Das Kleid zeugte von mehr als durch schnittlichem Geschmack und ließ sich obendrein ganz leicht abstreifen, aber das war ein Zufall. Er hatte Blumen und Pralinen mitgebracht. Solche stereotypen Geschenke ärgerten sie, Wein wäre bes ser gewesen. Sie bestärkten sie in ihrem Vorhaben, obwohl sie sich auf eine beunruhigende Art wirklich freute, ihn zu sehen. 290
»Wie gemütlich«, sagte er, als sie mit dem zweiten Glas des eisgekühlten Sekts ins Wohnzimmer gingen. »Du hast wirklich ein Händchen für so was.« Es war, als sei er noch nie zuvor hiergewesen. Er be wegte sich, das Glas in der Hand, von Gegenstand zu Gegenstand und kommentierte das Aquarell einer Seelandschaft, das so ein wunderbares Schnäppchen gewesen war, das bunte Porzellan unbekannter Her kunft, das sie kunstvoll im Schrank arrangiert hatte, so daß es kostbar und vornehm wirkte, die pastell farbenen Überwürfe auf den einladenden Sitzmö beln. »Ich habe kein Talent für so etwas«, sagte er. »Ich schaffe es einfach nicht, Bequemlichkeit herzu stellen, dabei wünschte ich, daß ich es könnte. Meine Wohnung hat mehr Ähnlichkeit mit einer Zelle als einem Heim. Oh, was ist denn das?« Vorsichtig griff er nach ihrem Lieblingsstück unter dem sorgfältig ausgesuchten Krimskrams. Ein kleiner Vogel aus Ton, der neben einer Vase mit Moosröschen stand. Es war, als drehte er die Uhr zurück. Er war der In begriff eines Charmeurs, als er in genau der richtigen Mischung von Schüchternheit und Neugier durchs Zimmer schlenderte, ihren Antworten lauschte und sein Interesse bewundernd lächelnd allem zuwandte, was ihr gehörte. Er lieferte genau das, was ihr bei seinem ersten Besuch gefehlt hatte. Höflich, beschei den und doch stolz, so wie ein Mann sein sollte, wenn er sich ernsthaft für sie interessierte. Ach, wie wankelmütig sie war! Schon schmolz sie mit alber nem Grinsen dahin. Ihr Sofa war die perfekte Bühne; das Bügelbrett weiter weg als seine Erinnerung dar an, die Brandnarben auf ihrem Arm so blaß, wie sie nun immer bleiben würden, und ihre Fähigkeit, Rache 291
zu nehmen, beeinträchtigt. Seine Sanftheit kam ein fach zu überraschend. Und sie war leicht betrunken, nachdem sie den ganzen Nachmittag mit blauen Flecken experimentiert und dazwischen immer mal am Glas genippt hatte. Zwar mehr berauscht von der Hoffnung, den Rachegelüsten und der Anspannung als vom Wein, aber sie hatte sich wirklich nicht ganz im Griff. Sie lachte mit ihm; sie schenkte Wein nach; sie schüt telte schelmisch das schöne schulterlange Haar, das wie ein lebendiger Ausdruck ihrer Fröhlichkeit war. Dann berührte sie heimlich den blauen Fleck auf ih rem Schenkel, um sich an ihr eigentliches Ziel zu er innern, und fragte sich, ob man die Zeit nicht trotz allem zurückdrehen konnte. Sie sehnte sich nach dem, was hätte sein können. Es lief alles so leicht wie ein Uhrwerk, man hörte es nicht mal ticken. Sie aßen in der von Kerzen erhell ten Küche, die Tür zum Garten stand auf, und der Duft der Blumen wetteiferte mit dem Aroma von Au berginen, Öl und Gewürzen. Seine Bewunderung für das Essen entsprach genau ihren Vorstellungen von gutem Benehmen: Er übertrieb nicht; fragte nach der Zubereitung dieses oder jenes Gerichts, aß mit Ge nuß und unterhielt sich zwischendurch mit ihr über die Arbeit, warum er ausgerechnet das machte und nicht etwas anderes. Beide stimmten in ihrem Bedau ern über den augenblicklichen Stand der Medizin überein. Sie hätte ihm liebend gern erzählt, wie sehr sie sich ein Kind wünschte, ein gräßlicher, ziemlich radikaler Unterschied zu den meisten Patientinnen in der Klinik, aber das konnte warten. In der Planungs phase hatte sie noch geglaubt, dies sei ein sexueller 292
Trick, dem er unmöglich widerstehen könnte. Jetzt kam es ihr eher lächerlich vor. Das Essen, das sie kaum angerührt hatte, ernüchterte sie ein wenig. »Sag mal«, meinte sie beiläufig, als sie das Geschirr wegräumte und eine perfekte Mischung von Käse und Obst auf den Tisch stellte, »wie kommt es ei gentlich, daß dir manche Patientinnen so viel wichti ger sind als andere? Daß du dir so viel mehr Zeit für sie nimmst? Und dir dann später auch noch ihre Da ten im Computer ansiehst?« Einen Augenblick lang sah er sie eindringlich an, dann lachte er. »Tu ich das?« sagte er. »Wirklich? Wenn ja, dann weil ich mich um die Unglücklichen, die mich brauchen, einfach mehr kümmere.« Sie setzte sich mit hochrotem Kopf wieder hin. Er beugte sich über den Tisch, griff nach ihrer Hand und drehte sie um. Selbst im Kerzenschein war die V-förmige Narbe vom Bügeleisen auf ihrem Handge lenk noch deutlich erkennbar. »Wie hast du das ge macht?« fragte er zärtlich. Anna ließ ihre Hand liegen, wo sie war. »Du hast es gemacht«, sagte sie. Es war zu spät, um sich zu verstel len. »Du hast das gemacht.« Ihre Stimme war schrill. Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Oh, Anna, Lieb ling, das habe ich gar nicht gemerkt.« Und seine schönen braunen Augen waren voller Mitgefühl. Bailey fand die Geschäftsleiterin der Boutique der maßen abstoßend, daß er keine Schwierigkeiten hat te, es zu verbergen. Selbst wenn man ihm zugestand, daß ihm in seiner gegenwärtigen Stimmung keine Vertreterin des weiblichen Geschlechts gefallen konnte, fragte er sich doch zum wiederholten Mal, 293
wieso er imstande war, sich derart leicht zu verstel len. Ein natürliches Talent, sagte er sich ohne jede Selbstgefälligkeit; womöglich sogar eins, das diese aufgedonnerte alte Vettel mit ihm teilte. Vielleicht genoß sie seine Gesellschaft aber auch wirklich; je denfalls tat sie so. Eine Schnapsdrossel der alten Schule, deren Alter schlecht zu schätzen war, es sei denn, man sah ganz genau hin und entdeckte die Krähenfüße um die immer lächelnden Augen mit den langen Wimpern oder die Falten auf der Stirn, die kunstvoll unter blonden Fransen verborgen waren. Das Haar sah aus wie gesponnenes Gold, und die Frisur wirkte leicht und jugendlich, doch hatte er den Verdacht, daß sie sich anfühlte wie Stahlwolle und nur mit Unmengen Festiger in Form blieb. Bailey dachte an die Narbe auf Helens Stirn und ihre zu rückhaltende, gelegentlich unordentliche Eleganz. Ja, sie war viel zu gut für ihn. Die Geschäftsführerin hatte bereits raus, daß er Junggeselle war. Er hatte ihr ein paar Brocken völlig aus der Luft gegriffener Informationen aus seinem Leben hingeworfen, um die Unterhaltung voranzu bringen. Was sie ihm von sich anvertraute (schreckli che Scheidung, schweres Leben als alleinstehende Frau) war vermutlich ebenso geschwindelt. Nach etlichen Drinks und diversen gegenseitigen Kompli menten kamen sie endlich auf Shelley Pelmore zu sprechen. Bailey tat, als sei sein Interesse für Shelley rein dienstlicher Natur, das für sein Gegenüber aber alles andere. Es gab Zeiten, da verachtete er sich. »Die Kleine sah hinreißend aus«, schwärmte sie. »Ich meine, wirklich umwerfend. Das war natürlich ein Glück für den Laden, aber privat die reinste Ver 294
schwendung. Sie hätte sich ruhig etwas mehr zutrau en sollen. Aber wahrscheinlich ist es letztlich doch am besten, sich auf das zu konzentrieren, was man hat, wenn das Leben einem einen netten Mann ge schenkt hat, wie? Die sind nämlich ganz schön rar gesät. Jedenfalls habe ich ihr das immer gesagt.« »Aber Sie sind zusammen ausgegangen?« »O ja, das war lustig. Es gab ein paar Clubs, wo wir hingingen, wissen Sie.« »Ihr Freund hatte nichts dagegen?« »Nein, warum auch? Sie hat nie was gemacht, jeden falls so weit ich weiß. Nun ja, es gab ein paar Kerls, die kamen in den Laden, weil sie ihnen gefiel. Sehr sogar. O ja.« »Jemand Spezielles?« Musik erklang vom anderen Ende der Bar, da, wo sie in einen Club überging. Sie warf Bailey einen Blick zu. Er haßte Tanzen und war dankbar, daß Helen sich auch nichts draus machte. Plötzlich hatte er das Gefühl, daß mit dieser Frau zu tanzen so sein mußte, als hätte man eine Staffelei im Arm: unten lauter Ek ken und Kanten und oben ein Rahmen mit der Dar stellung eines Gesichts. »Ein Araber, der ziemlich hartnäckig war. Sie sorgte dafür, daß er jede Menge bei uns kaufte, kluges Mädchen! Eigentlich waren es zwei – beide ziemlich fett. Shelley hatte nichts übrig für dicke Männer. Ach ja, und dann war da noch dieser gutaussehende Bur sche, völlig kahl, aber wahnsinnig attraktiv. Ich hatte das Gefühl, daß sie sich mit ihm traf, aber ich war nie ganz sicher.« »Was machte er? Ich meine, um seine Brötchen zu verdienen?« 295
»Oh, es ist nicht meine Art, Leute zu fragen, was sie machen, jedenfalls nicht Männer. Normalerweise kau fen sie die Unterwäsche nicht für ihre Frauen, verste hen Sie. Aber wenn ich darüber nachdenke, ich glau be, es hieß Doktor Soundso auf seiner Kreditkarte.« Sie vermittelte ihm den deutlichen Eindruck, daß ein Mann mit Doktortitel einem Polizisten in jedem Fall vorzuziehen war. Bailey konnte ihr das nicht vorwer fen; die meisten Leute denken so. Die meisten Leute unterhalten sich auch nicht gern mit Polizeibeamten, während sie bei Ärzten reden können wie ein Buch. Plötzlich fühlte er sich äußerst unbehaglich, und zum ersten Mal, seit er in die Augen dieser Frau lächelte, verspürte er auch einen Anflug von Mitleid mit Shel ley Pelmore. Die Mischung aus einem Bier und drei undefinierba ren Cocktails, aber auch der eisige Blick seiner Ge sprächspartnerin, nachdem sie erklärt hatte, ja, es sei durchaus möglich, einen Durchschlag der Kreditkar tenabrechnung bei ihrer Bank anzufordern, und sie werde sich selbstverständlich gleich morgen darum kümmern, nur um dann erkennen zu müssen, daß er sie, egal, was sie versprach, auf ihrem einsamen Bar hocker sitzen lassen würde – all das zusammen trug nicht gerade zur Besserung seiner Stimmung bei. Es war noch nicht ganz dunkel. Der Regen hatte wieder eingesetzt, und er hatte Hunger und war ein sam. Er fuhr, höchstwahrscheinlich gesetzeswidrig, vom West End zu Helen und parkte vor ihrer Tür. Zum Teufel mit dem Stolz, mein Junge. Was macht es schon, wenn sie am Vorabend ihrer Hochzeit ei nen trinkt und, womöglich in Gesellschaft eines alten Freundes, beschließt, das Ganze am besten als Witz 296
anzusehen? Vielleicht hatte er es sich selbst zuzu schreiben; er hatte in den letzten ein, zwei Wochen Ryan wichtiger genommen als alles andere und war unausstehlich gewesen. Kein Wunder, daß sie noch in letzter Minute über die Stränge schlagen wollte. Aber sie ist nicht die einzige, dachte er plötzlich ge reizt; wie konnte sie glauben, daß er sich seiner Sache völlig sicher war? Als Bailey auf die Tür zuging, wuß te er, daß jemand zu Hause war. Leere Wohnungen werfen das eigene Unbehaustsein zurück, das war hier nicht der Fall. An den Fenstern, die von der Straße aus einsehbar waren, hatte jemand sorgfältig alle Vorhänge zugezogen, so daß kein Fitzelchen Licht nach außen drang; das allein war schon unge wöhnlich. Das Telefon war dauernd besetzt, wie er von unterwegs festgestellt hatte, mit anderen Worten, ausgehängt, und auf sein wiederholtes Klingeln rühr te sich nichts. Na schön, er hatte zwar seinen eigenen Schlüssel, aber sie hatten auch ihre eigenen Regeln, und verdammt noch mal, er würde nicht die Tür einschlagen, wenn sie ihn so offensichtlich nicht sehen wollte. Sollte sie sich doch verstecken, bitte sehr. Er war zutiefst ver letzt. Dumme Kuh! Eine Floskel ohne Bedeutung, die aber trotzdem in seinem Kopf widerhallte, als er wie der in den Wagen stieg, um nach Hause zu fahren. Auf halbem Weg fuhr er links ran und legte den Kopf auf das Steuer. Er war unglaublich müde, und außer dem war ihm inzwischen wirklich übel. Seit jenem Morgen, als er die Nachricht von Ryan gehört hatte, war eine Welle von Kummer und Sorgen über ihn her eingebrochen. Und jetzt erfaßte ihn obendrein Panik, wenn er daran dachte, wie leer sein Leben sein würde. 297
Als ihm klar wurde, daß jederzeit eine Polizeistreife vorbeikommen konnte, fuhr er weiter, obwohl er aus völlig unwissenschaftlichen Gründen sicher war, daß seine Aufgewühltheit den Alkohol doppelt so schnell wie sonst absorbierte. Kurz vor seiner Wohnung gab er noch mal Gas, als ihm ein letzter klarer Gedanke durch den Kopf schoß. Vielleicht wartete Ryan ja zu Hause. »Laß mich los!« brüllte sie und schlug ihm mit beiden Fäusten ins Gesicht. Wie eine Wildkatze versuchte sie, sich von ihm freizumachen oder wenigstens die Tür zu erreichen, selbst als das Motorengeräusch er starb und sie wußte, daß Bailey weg war. Ryan hielt sie mit beinahe verächtlicher Leichtigkeit fest, obwohl sie mit dem Fuß aufstampfte und schrie wie ein widerspenstiges Kind. Die Beschwichtigung hysterischer Menschen, inklusive Kinder, war ihm zur zweiten Natur geworden. Er wußte, wie man sie zum Schweigen bringt, wie man die gespreizten Fin ger so über ihr Gesicht legt, daß sie nicht beißen können. Sollte sie nur so lange um sich schlagen, tre ten und kratzen, bis sie erschöpft war! Eine rasche Ohrfeige machte schließlich dem Wider stand ein Ende. Das Geräusch, das trotz des Brum mens des alten Kühlschranks unnatürlich laut in ih rer Küche widerhallte, war wie die Ankündigung des Finales. »Dummes Ding« sagte er, halb entschuldigend, halb ungeduldig, als er sie wieder auf den Stuhl setzte. »Psssst, jetzt sei endlich still. Es hat überhaupt nicht weh getan, und das weißt du auch.« Nicht mehr als der Schnitt in den Finger. Es war nur 298
die Demütigung. Das Brennen im Gesicht schmerzte weniger als der völlig vergebliche Versuch, sich zu wehren. Es war die Erinnerung an die letztlich nie derschmetternde Wahrheit, daß eine Frau im offenen Kampf mit einem Mann keine Chance hat, die Ursa che einer primitiven Wut und Urangst in jeder Frau. Helen wollte Ryan nicht töten. Sie träumte davon, Zeugin zu sein, während er langsam, gnadenlos fer tiggemacht wurde, bis er um Gnade winselte – nur für diese schlichte Zurschaustellung seiner Macht. Er hatte sie dazu gebracht, Bailey zu belügen, ihm den Zugang zur Wohnung zu verwehren und ihn glauben zu lassen, sie habe ihn verraten wie eine Närrin. Eine dumme Kuh. Es graute ihr vor dem, was er über sie denken mochte, und irgendwo im Hinterkopf lauerte die entsetzliche Erkenntnis, daß sie auf Baileys Mei nung mehr Wert legte als alles andere auf der Welt. Und noch eine andere Einsicht kristallisierte sich trotz der beschämenden Gefühlsaufwallung heraus. Zwar wünschte sie Ryan die schrecklichsten Folter qualen, als sie ihn jetzt sprachlos vor Wut ansah, aber sie hatte keine Angst mehr vor ihm. Und daraus folg te, daß sie glaubte, was er ihr erzählt hatte. Ryan schenkte den letzten Rest Rotwein ein, als sei er ein aufmerksamer Gastgeber, der eine interessante Unterhaltung fortsetzte, nachdem sie kurz von einem Anruf unterbrochen worden war. »Bailey würde das alles als einen Haufen Unsinn abtun«, sagte er im Plauderton. »Er würde mich einsperren, zu meinem eigenen Besten, versteht sich. Nicht daß er etwas ge gen Spekulationen hat, aber es müssen seine eigenen sein. Es hat nicht den geringsten Zweck, Bailey ir gendwas zu erzählen, ohne es beweisen zu können.« 299
Sie spreizte die Finger auf dem Küchentisch, damit sie endlich aufhörten zu zittern. Blut sickerte durch das Küchenpapier, und sie fragte sich vage, was Ryan wohl machen würde, wenn er aufs Klo müßte. »Das einzige, was ich nicht weiß«, fuhr er fort, »ist der Ort, an dem meine phantasierenden Damen ihren glatzköpfigen Liebhaber kennenlernen. Bis auf Shel ley und ihre Freundin sehe ich keinen gemeinsamen Nenner, es gibt völlig unterschiedliche Hintergründe.« »Eine Klinik«, sagte Helen. »Eine Frauenklinik.« »Eine Klinik?« wiederholte er benommen. »Ein Ort, wo Frauen hingehen und dem Arzt ihr ganzes Leben erzählen«, sagte sie. »Wie wir Frauen es nun mal tun.« Erzähl mir von deinem Leben, Doktor. Erzähl mir, was dich zu einem so sanften, vertrauenerweckenden Monster gemacht hat. Du warst überzeugt, daß ich mich nie beklagen würde und dich nach einer Weile würde zurückhaben wollen; daß ich dich so sehr be gehrte, daß mir alle Knochen im Leib weh taten. Es muß was zu tun haben mit der Art, wie du deine Wit ze machst und das Leben in eine todernste und doch nicht ernstzunehmende Sache verwandelst. Irgendwas mit deinen Händen, den Augen, wer weiß? Sag mir, daß ich betrunken bin und mein Kopf mit alledem nichts zu tun hat, obwohl es das ist, was ich wollte, nicht wahr? Rache? Ich wollte diesen Mann verfüh ren und ihn dann wegen Vergewaltigung vor Gericht bringen. Und selbst wenn man mir letztlich nicht glauben würde, hätte ich gezeigt, wie es ist, von der Lust des eigenen Körpers so erniedrigt zu werden. Ich muß ihn alles auf seine Art machen lassen. 300
Er hat mich Liebling genannt. Er sagte, mein Lieb ling, es tut mir mehr leid, als ich sagen kann, daß ich dich so abscheulich behandelt habe, ausgerechnet dich, die mir am nächsten war, die ich am meisten respektierte, aber ich mußte dich wegstoßen, so bru tal ich konnte. Das verstehst du doch, nicht wahr? Nein, tu ich nicht, tu ich nicht … Hör mir zu, mein Liebes, sagte er: Du bist die einzige, die mir verzeiht. Ich möchte dich lieben. Bitte. Meine Schöne. Ich bin nicht schön, aber ich bin hier, gehorsam und erwartungsvoll. Meine Nerven sind bis zum Zerrei ßen gespannt. Ich liege auf meinem eigenen Bett, wie er es wollte; das Sofa hat er ausgeschlagen. Ich muß, ich wiederhole, ich muß ihn machen lassen, wie er es will. Ich muß heucheln. Ich muß seine Sklavin sein, um rauszukriegen, warum oder wie. Ich darf nichts dazu sagen, daß er sich nicht ganz auszieht. Er hat eine breite, haarlose Brust, was ungewöhnlich ist für einen Mann mit so dunkler Haut, oder? Wie soll ich das wissen? Wie viele Männer habe ich gehabt? Nur ein paar. Ich muß so tun, als gefiele es mir; er hat mir versprochen, mein Wohlbefinden und seine Erklä rung anschließend würden alles wieder gutmachen. Warum trägt er diese schreckliche Hose aus Poly ester? Ein Mann mit so viel Geschmack. Er hat sie nicht mal aufgeknöpft. Als ich die Hand ausstreckte, um seine Brustwarzen zu berühren, hat er gezittert. Heucheln? Ich heuchle nicht. Küsse, Küsse, Küsse. Seine Zunge schiebt sich in meinen Hals, nicht zu feucht und nicht zu trocken. Sie schmeckt nach Wein. Halt still, sagt er, laß mich, laß mich dich bewundern, bitte. Was er auch will, laß ihn machen. Ich könnte ihn nicht stoppen, selbst 301
wenn ich wollte, aber ich will ja gar nicht. Er liebkost meine Brüste wie Rosenknospen; dann hält er die eine umfangen und fühlt mit der anderen Hand, wie naß ich bin. Sein Knöchel massiert … ich schäme mich über diesen Strom von Lust … ich will ihn, ich will ihn; mittlerweile muß er das Verlangen riechen. Und was für zärtliche Worte: Liebling, Liebling, mein sü ßer Liebling, ein Wort, das so viel Spott enthalten kann, aber diesmal nicht, hier und jetzt nicht. Ich be rühre seinen Kopf und schließe die Augen vor mei ner eigenen Nacktheit. Laß es ihn auf seine Art ma chen, das war immer der Plan, aber ich will ihn in mir, ja, ich will, ich will, ich will. Er leckt mich wie eine Katze mit rauher Zunge. Ich habe mal von einer Frau gehört, die das ihrem Hund beigebracht hat. Hunde haben noch größere und rauhere Zungen. Mit der Zeit kam er auf den Geschmack. Ich will die Erlösung für uns beide, aber er hat ge sagt, ich soll die Augen zumachen, und ich tu, was er sagt. Es ist so dunkel hier drin. Das Zimmer geht nach vorn, die Vorhänge sind geschlossen, nur ein wenig Licht von der Straßenlaterne fällt herein. Ich habe mich dieser Vorhänge immer geschämt, sie sind häßlich und billig, und o Gott – warum fällt ausge rechnet er mir ein in einer solchen Situation – o Gott, ich kann nicht mehr aufhören … mach weiter, weiter, weiter. Er ist so kalt wie Eis. Kalt, kalt, kalt. Riesig. Irgendwann kann ich nicht mehr, schlage die Augen auf und finde mich wieder in den Armen eines Man nes, der mich küßt und liebkost, während ich mich auf dem Hals einer billigen Champagnerflasche winde. Ich frage mich, ob er sie vorher ausgespült hat. Als er sie rauszieht, macht sie ein lautes, hohles Ge 302
räusch, wie ein Korken, den man aus einer Weinfla sche zieht, lauter als normal, ein erlesener Korken, der nachhallt, und gleichzeitig ist ein Gefühl in mir, als würde mit einem Ruck ein Pflaster von einer offe nen, blutenden Wunde gerissen. Tief einatmen, du dumme Kuh. Du hast es gewollt, er wußte es, und du, du … hast eingewilligt. Jetzt zieht er seine Hose aus, wie ein Mann, der es sich gemütlich machen will, nachdem er seine Pflicht ge tan hat. Offenbar ist er bereit zu reden, aber ich habe noch nie im Leben einen solchen Haß empfunden. Ich strecke die Hand aus nach dem, was da offen liegt. Eine feste Faust und die ebenso feste Ent schlossenheit, ihn so schwer zu verletzen wie nur möglich. Ich bilde mir ein, es könnte sich in meiner Hand auf lösen: ein häßliches, schlaffes, verkümmertes Stück Fleisch, das ich nie erregen konnte. Es folgt ein kur zer Kampf, und mein Blick streift die grüne Flasche, die er sorgsam auf das Fensterbrett gestellt hat. Er will etwas sagen, ich will schreien. Ich hätte es nie gedacht, aber ich hab ihn wirklich zu Tode erschreckt. Ich kann die Angst sehen, während ich wie gelähmt daliege und er versucht, sich fortzu stehlen. Aber du hast eingewilligt, sagte er. Ich habe getan, was du wolltest, und ich bin, was man aus mir gemacht hat, und ich … liebe … dich. Dumme Kuh. Das Telefon schrillte in seinem Ohr. Bailey stützte sich auf einen Ellbogen. Sein Mund schmeckte nach bitterer Galle. Er hörte ihre Stimme und wußte wie üblich sofort, wie spät es war. Spät für einen Mann, dessen einzige Zuflucht Schlaf oder 303
Essen war, und er hatte nichts zu essen. Er war ein kultivierter Mensch, lebte in einem Randbezirk von London, einer der bedeutendsten Hauptstädte der Welt, und er hatte nichts zu essen. Ihm war schlecht. Die Höhe seines einsamen Horsts, die vielen Farben seiner Daunendecke … alles vermischte sich wie auf einer Palette mit dieser entsetzlichen Traurigkeit. Ein Buch lag ungelesen auf seinem Kopfkissen. Er konn te kaum hören. Sei da, sagte die Stimme, und ich bin es auch. Okay? Doch das Telefon schwieg. Alles, was er wirklich ge hört hatte, war eine Nachricht auf dem Anrufbeant worter, aber die stammte vom Tage. Dumme Kuh. Es war zu spät, um sich zu entschuldigen, und viel zu spät, um sich noch aufzuregen. Dann sah er seine ha geren Beine auf dem Weg zum Bad. Wer zum Teufel war das? Die Farben verschwammen, die Stimmen auch, und das einzige, woran er sich erinnerte, war die aufgedonnerte Schlampe in der Bar, die mit dem goldgesponnenen Haar, und ein Gesicht mit einer Narbe auf der Stirn. Und das undeutliche Bild einer phallusähnlichen Spritze in seiner Tasche, die der Penner im Park ihm zugesteckt hatte.
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13
»Was in Fällen von Vergewaltigung und ähnlichen Straftaten die Zulassung der Tatsache (als Beweis) be trifft, daß die Anzeige durch das Opfer kurz nach dem angeblichen Vorfall erhoben wurde, dessen Einzelhei ten nicht als Beweis für die angezeigten Handlungen, aber als Beweis für die Folgerichtigkeit der Angaben des Opfers dienen und auf nicht erfolgte Einwilligung hindeuten … so kann eine solche Aussage nicht als Be stätigung (der Anklage) angesehen werden, und es wäre irreführend, sie als solche zu bezeichnen.«
W
arten wir bis morgen früh, sagte Helen. Der
helle Tag bringt einen wieder zur Vernunft.
Weder meine Rose noch Anna werden ans Telefon
gehen, und warum sollten sie auch zu dieser Stunde?
Doch Ryan gab keine Ruhe. Ich muß ihn finden, sag
te er immer wieder. Ich muß ihn finden, es ist schon
nach zwei, ich muß ihn finden.
Was genau hat er getan, Ryan?
Er hat die Frauen verdorben. Wie gesagt, er verdirbt
sie. Er macht sie verrückt. Er tötet sie, tötet ihre
Seele.
Gibt es Beweise, Ryan? Wie lautet die Anklage?
Keine Ahnung. Ich muß zu dieser Klinik. Wenn es
dort Unterlagen über all diese Frauen gibt …
Sie können einen Krieg erklären. Aber Sie können
dort nicht einfach einbrechen, oder? Selbst wenn wir
rauskriegen, wo er ist.
Ich nicht. Aber du.
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Und so war Helen um sieben Uhr morgens, ge duscht, in frischen Klamotten und überdreht vor Müdigkeit, auf dem Weg zu Anna Stirland; und das an dem Tag, an dem sie sich freigenommen hatte, weil sie um halb zwölf eine Verabredung zur Hoch zeit hatte. Letzteres ließ sich unter Umständen nach holen, das andere hatte Vorrang. Sie war zu müde, um sich vorher zu überlegen, was sie sagen wollte. Obendrein hatte sie eine irrationale Wut auf die Krankenschwester, die gelogen und trotz Helens Versuch, sie zu erreichen, nicht zurückgeru fen hatte, möglicherweise nur deshalb, weil es zu spät in der Nacht gewesen war. Doch wenn sie es recht bedachte, hätte ein solcher Rückruf vielleicht auch nichts gebracht. Es war besser, ihr gegenüberzusit zen, kämpferisch vor Unruhe und Angst, und zu sa gen: »Hören Sie, Anna, ich will nicht die ganze Wahrheit, nur einen Teil davon. Zum Beispiel, wo Sie arbeiten und wie er heißt.« Es wäre ihr lieber ge wesen, wenn sie Rose hätte einschalten können. Die wäre gut bei so was. Aber Rose einzuschalten bedeu tete noch mehr Komplikationen, und außerdem hatte sie es nicht verdient. Der Versuch, die Straße zu überqueren, war selbst so früh am Morgen glatter Selbstmord. An einer Kreu zung, auf der sie die einzige Fußgängerin weit und breit war, kam sich Helen zwischen all dem don nernden Metall der vorbeirauschenden Lastwagen klein und unwichtig vor. Ein Zug rumpelte über die Brücke, unter der sie stand. Es war hier einfach zu laut, zu gefährlich und zu hektisch zum Nachdenken. Sie rannte auf die andere Seite. Das Straßenpflaster war noch feucht von einem kurzen Schauer, die Fri 306
sche des Tages wurde bereits von einem widerlichen Gestank erstickt. Bei jedem zweiten Schritt wäre sie am liebsten umgekehrt und zu Bailey gelaufen, ob wohl er, wie Ryan gesagt hatte, nicht zuhören würde. Sie glaubte ihm, wenn auch widerwillig, denn im merhin kannte Ryan ihn am besten. Vielleicht verpas se ich meine eigene Hochzeit, dachte sie, aber Bailey wird mich verstehen. Annas Tür war genauso frisch gestrichen, wie sie es in Erinnerung hatte, die Straße ruhig und der Ver kehrslärm nur ein fernes Hintergrundgeräusch, wie das Dröhnen der Bässe hinter der Melodie. Sie klopf te, klingelte und wartete, wiederholte den Prozeß und wartete erneut. Nun komm schon, trieb sie Anna innerlich an. So gefährlich ist das Leben auch wieder nicht, daß du um die Zeit die Tür nicht aufmachen kannst. Vielleicht ist es der Briefträger mit einem Ge schenk. Schließlich hörte man das Knirschen eines Sicher heitsschlosses, und dann öffnete sich die Tür einen Spaltbreit, weit genug für einen erschreckenden An blick. Ein aufgedunsenes Gesicht, blaß, ausdruckslos und leer. Nach einer Weile verzog es sich zu einem zittrigen halben Lächeln, irgendwo zwischen Grimas se und Ausdruck des Mißfallens, und die Lippen be wegten sich unsicher. »O nein«, murmelte Anna. »Gehen Sie weg.« Dann fing sie an, die Tür wieder ins Schloß zu ziehen, und wiederholte heftiger als zuvor: »Gehen Sie weg, das ist alles bloß Ihre Schuld.« Helen stellte einen Fuß in die Tür und merkte, daß trotz Annas Körpermasse der Widerstand nur schwach war. 307
»Ich muß wissen, wo Sie arbeiten und wie der glatz köpfige Arzt heißt«, rief Helen, als sie im Flur stand und beobachtete, wie Anna den Gürtel ihres Bade mantels zuzog. Anna fing an zu lachen. Es klang häßlich, aber sie schien sich kaum beherrschen zu können. Sie sah aus, als lachte sie über einen dreckigen Witz. Schließlich riß sie sich zusammen. »Was?« fragte sie. »Sie? Also, darauf wäre ich nun wirklich nicht gekommen.« »Was meinen Sie?« »Noch ein Opfer, das Dr. Littleton in die Falle ge gangen ist …« »Keine Ahnung, wovon Sie sprechen.« Kater, dachte Helen. Ausgesprochener Fall von Ka ter. Diese Frau konnte unmöglich heute zur Arbeit gehen, doch eigentlich kümmerte sie Annas Verfas sung im Moment weniger. Es tat ihr nicht mal leid, daß sie Anna um ein oder zwei Stunden Schlaf ge bracht hatte, die vielleicht einen Unterschied gemacht hätten zwischen dem Gefühl, wie ausgekotzt zu sein, und einem Zustand, der einigermaßen erträglich war. Die Küche war überraschend sauber für jemanden, der so offensichtlich zuviel gepichelt hatte. Hell, auf geräumt, geruchlos, keine Spur von Flaschen oder Gläsern. Man mußte schon ziemlich neurotisch sein, um sämtliche Hinweise auf eine verdächtige Zecherei so perfekt zu beseitigen. Vielleicht neigte Anna ein wenig dazu. »Wie spät ist es?« »Kurz vor acht.« »Oh, Scheiße.« Sie setzte sich an den Küchentisch und legte den Kopf auf die übereinandergeschlagenen Arme. Helen 308
rüttelte sie ungeduldig. »Wer ist Dr. Littleton, und wie heißt die Klinik?« Schweigen. »Kommen Sie schon, Anna. Der kahlköpfige Arzt. Ich muß es wissen.« »Wozu?« Helen überlegte hektisch, was diese Frau wohl zur Antwort bewegen würde; irgendwas, das sie zum Re den brachte. Und dann waren die Worte schon her aus, bevor sie selbst wußte, was sie da sagte: »Weil Rose da war, um ihn zu sehen, und das gefällt mir nicht. Ich muß wissen, wer und wo er ist.« Anna rührte sich ein wenig, hob den Kopf und stieß einen langen Seufzer aus. »Joseph Littleton. Wilson and Welcome Clinic, Cam den Street. In der Nähe des Parks.« Die Worte schie nen sie zu erschöpfen und gleichzeitig zu amüsieren. Dann gähnte sie. »Tun Sie mir einen Gefallen, ja? Sagen Sie dort Bescheid, daß ich heute nicht zur Ar beit komme. Vielleicht sogar nie wieder«, murmelte sie vor sich hin. »Ich habe es satt.« Sie schenkte He len ein müdes Lächeln. »Deshalb trinke ich, verste hen Sie?« Helen zögerte. Sie hatte das Gefühl, daß Anna log, konnte es aber nicht richtig definieren. Sie hatte noch den widerlichen Nachgeschmack des nächtlichen Rotweins im Mund, als sie das Haus verließ. Am Ende der Straße bog sie links ab und folgte einfach ihrem Instinkt. Dabei fragte sie sich die ganze Zeit, was sie tun sollte. Sich geradewegs in die Höhle des Löwen begeben, ohne die rechtlichen Befugnisse ei nes Polizeibeamten, der auf Information bestehen 309
konnte, falls sie nicht freiwillig damit rausrückten? So tun, als sei sie eine Patientin, und nach dem einzi gen Arzt fragen, dessen Namen sie kannte, nur um dann zu hören, daß sie nächste Woche wiederkom men solle? Oder sich irgendwo hinsetzen und ihr spärliches Talent zum Lügen aufbessern? Aber wozu? Was hatte dieser Mann eigentlich verbrochen? Wor in bestand sein Verbrechen, und wo waren die Be weise? Mittlerweile war die Welt erwacht, der Verkehr noch schlimmer, der Lärm noch unerträglicher und das Adrenalin in ihren Adern auf dem Rückzug. Sie woll te, daß man ihr sagte, was sie tun sollte, und sie woll te Bailey. Aber sie ging weiter, bis sie vor dem an spruchslosen Eingang der Wilson and Welcome Clinic stand und auf dem Schild »Öffnungszeiten ab 10.30 Uhr« las. Auf der anderen Straßenseite gab es ein Café von erlesener Schäbigkeit; dort setzte sie sich hin und wartete, nachdem sie kurz mit dem Ver langen gekämpft hatte, Bailey anzurufen. Ryan hatte sie angefleht, es nicht zu tun. Würde sie es schaffen, Bailey anzurufen, Frieden zu schließen und eine Er klärung zu finden, ohne Ryan zu erwähnen? Sie be zweifelte es, aber sie wußte, daß sie es versuchen mußte. Wozu hast du dein Köpfchen? Und so stand sie in einer Telefonzelle, die nach Alkohol stank, und lauschte dreimal hintereinander dem Anrufbeantwor ter mit der höflichen Nachricht, daß Bailey nicht zu Hause sei. Ich werde meine eigene Hochzeit verpas sen. Aber ich tu, was Bailey von mir erwarten würde, oder nicht? Und außerdem habe ich kalte Füße.
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Als Bailey am frühen Morgen bei Todd anrief, um sich krank zu melden, war das alles andere als eine Übertreibung, trotzdem hatte er den Anflug eines schlechten Gewissens. Daß er sich diesen Tag ohne hin freigenommen hatte, erwähnte er gar nicht erst, es hätte sowieso keine Rolle gespielt. Wenn weder Todd noch einer von den anderen auf die Idee ge kommen war, den Penner im Park zu befragen, hat ten sie ihn auch nicht verdient. Als er an die Tür der Boutique in der South Molton Street klopfte, die Seide im Schaufenster bewunderte und daran dachte, wie gut ein ganz bestimmtes Schokoladenbraun He len stehen würde, hatte er nur eine Hoffnung: daß Shelleys Chefin am Morgen weniger spröde sein würde als gestern abend beim Abschied oder daß sie zumindest ihrem Alter entsprechend aussah. Ihre mit Ringen geschmückte Hand reichte ihm die Kreditkartendurchschrift wie einen Lottogewinn. Obendrein schenkte sie ihm ein strahlendes Lächeln. Vielleicht weil er bei Tageslicht erheblich weniger at traktiv, sondern eher finster wirkte. Es war kein Problem, die offiziellen Muskeln spielen zu lassen und die Kreditkartengesellschaft dazu zu bewegen, die Adresse eines vermeintlichen Schwer verbrechers rauszurücken, der, wie sich herausstellte, nur selten Gebrauch von dieser Zahlungsmöglichkeit machte und seine Rechnungen stets pünktlich be zahlte. Bailey fuhr nach King’s Cross zurück und ließ sich von der Menschenmenge mit abwesenden Ge sichtern und Unmengen von Gepäck aus der U-BahnStation herausschwemmen. Er ertappte sich bei dem Wunsch, einfach in den nächstbesten Zug zu steigen. Rauf nach Schottland oder zu irgendeinem gottver 311
lassenen Moor in Yorkshire, irgendwohin, wo es kühler und grüner war als hier. Er ging an der roten Ziegelsteinfassade der British Library vorbei und sah, wie die Autos im Stau standen. Dann bog er in eine Seitenstraße und suchte nach der Hausnummer. Es war ein verstaubtes altes Mietshaus mit einer stei nernen Inschrift über der Tür, die ihn darüber be lehrte, daß es 1914 gebaut worden war. Die Zeit hat te ihre Spuren hinterlassen, doch war es ihr nicht gelungen, die Würde des imposanten Eingangs zu zerstören, trotz der abblätternden Farbe und der dicken Rußschicht auf den Erdgeschoßfenstern. Es war ein Haus, in dem man Wohnungen mietete, nicht kaufte. Ein Schild links neben der Tür wies Be sucher von »Passport Inc.« darauf hin, daß sie den Türdrücker betätigen und dann den Hinweisen in den zweiten Stock folgen sollten; für »Grafficko« galt das gleiche, das Büro aber lag im ersten Stock. Kleine Gewerbebetriebe, die auf den Durchbruch hofften, keinerlei Hinweise auf Mieter, abgesehen von einer ganzen Reihe Klingeln. Und erst recht kein Hinweis auf Littleton. Er klingelte bei einer der Firmen und trat ins Foyer. Ein muffiger Gestank nach altem Es sen erfüllte das Haus, teilweise überlagert vom Duft frisch gebratenen Specks. Bailey fiel ein, daß er un terwegs hätte frühstücken sollen. Helen hatte wenig Verständnis für seine Magenprobleme. Elf Uhr dreißig, Standesamt. Na gut, sie war weder zu Hause noch bei der Arbeit, er hatte es aus mehre ren Telefonzellen versucht und auch seinen eigenen Anrufbeantworter abgehört. Besser nicht dran den ken. Wie gewonnen, so zerronnen, gegen Neurosen kommt man nun mal nicht an. Aber tief in seinem 312
Inneren war er todunglücklich und haßte den Mann, den er noch nicht kannte, aber für seine merkwürdi ge Rolle in den letzten Tagen verantwortlich machen wollte, oder besser gesagt, für seine Rolle in Ryans Phantasien und seinem eigenen Bedürfnis nach Ryans Entlastung. Wie idiotisch war es gewesen, zu denken, daß der Tod dieses Mädchens, Shelley, zu Ryans Re habilitation führen könnte! Ihr Tod hatte nur dafür gesorgt, daß jetzt alles in einem riesigen Schmelztie gel gelandet war. Daß der hitzköpfige Ryan zu einer Vergewaltigung imstande sein sollte, daran hatte sich Bailey mittlerweile beinahe gewöhnt, aber kaltblütig morden – nein, unmöglich. Im Affekt, ja, dachte er, als er die Treppe hinaufging und in die düsteren Korridore spähte. Er wünschte, er hätte seine Brille dabei, um die gedruckten Namensschilder in Mes singrahmen an den mahagonifarbenen Türen lesen zu können. Aber ein kalkulierter Mord, den man tage lang planen muß, das ist nichts für Ryan! Blieb also nur der Glatzkopf, dieser Held zahlloser Phantasien, die plötzlich um einiges handfester erschienen als vorher. Und dann endlich der Name, im vierten von fünf Stockwerken. Allein dafür haßte Bailey ihn. Eine Filipina machte ihm auf. Sie trug einen rosafar benen Overall und zog einen Staubsauger hinter sich her. Ebenso wie ihre birnenförmige Gestalt erstaunte ihn ihre arglose Antwort, die auf so weltfremde Art von Weisheit zeugte. Lächelnd erklärte sie, daß sie jede Woche um diese Zeit zum Putzen käme, und, nein, er sei nicht da, bei der Arbeit vermutlich, wie üblich, und natürlich könne sein Cousin gern herein kommen. Ihr Gesicht erinnerte ihn an einen hübschen runden 313
Käse und die Augen an Rosinen. Er erwartet mich, sagte Bailey, spätestens gegen zwölf, hat er gesagt, aber ich glaube, ich bin zu früh dran. All dies mit ei nem Lächeln vorgetragen, das ein schlechtes Gewis sen in Angst und Schrecken versetzt hätte, nicht aber dieses unschuldige Wesen von einem anderen Stern. Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich auf ihn warten. Natürlich. Er ist ein guter Mann, Ihr Cousin, jeden falls zu mir ist er gut. Zu sich selbst dagegen weniger, dachte Bailey. Das jedenfalls schloß er aus dem, was er sah. Es gab ein einigermaßen großzügiges Wohn zimmer, das aber nicht darüber hinwegtäuschen konnte, daß die gesamte Wohnung früher einmal rie sig gewesen sein mußte und später in mehrere kleine unterteilt worden war. Sie strahlte etwas Vorläufiges aus, das an einen ewigen Studenten erinnerte oder einen zerstreuten Professor, der seine Umgebung als Provisorium betrachtet und keinen Sinn für Gemüt lichkeit oder Zerstreuung besitzt. Die unansehnli chen Möbel waren anscheinend vom Vermieter ge stellt, ohne daß viel hinzugekommen wäre. Luxus entdeckte er erst in den Küchenregalen, als die Putz frau zu ihrem nächsten Job mußte und ihn netterwei se allein ließ, wobei sie die Tür so leise hinter sich zu zog, als verließe sie ein Kloster. Der Mann hatte was übrig für gutes Essen. Jedenfalls zeugte alles vom Geschmack eines Gourmets, der al lein lebt. Mehrere Packungen Räucherlachs und Forel le, Feinschmeckersuppen, Oliven, Zitronen, eine statt liche Anzahl verschiedener Öle, jede Menge Grün zeug im Kühlschrank, dazu Eier von freilaufenden Hühnern, entrahmte Milch und vakuumverpackte 314
getrocknete Tomaten. Interessant, aber nichts für ei nen halbverhungerten Mann, der dringend eine Cho lesterinbombe von frisch gebratenem Speck und Ei auf Toast braucht. Bailey merkte sich das Brot für eventuellen späteren Gebrauch und stellte im Geist rein interessehalber eine Liste der vorhandenen Kräuter auf. Mit einer Tasse Kaffee aus der Espres somaschine des Mannes schlenderte er ins Schlaf zimmer, das zugleich als Arbeitsraum diente. Immer hin war er Dr. Littletons Cousin. Hier drin roch es nach Blumen. Ein Großteil des kleinen Raums mit der hohen Decke wurde von ei nem Schreibtisch beherrscht. Das Bett, eine helle Schlafcouch mit verwaschenem Überwurf, stand an der kahlen gegenüberliegenden Wand. Es gab weder Bilder noch Plakate an den Wänden, die auf irgend welche Interessen hätten schließen lassen. Es war das Zimmer eines Junggesellen, mit einer willkürlichen Auswahl bunt zusammengewürfelter Kleidungsstücke auf einer Stange. Staunend berührte Bailey die Poly esterhemden und Synthetikhosen im Leinenlook. Das einzige, was ihm an diesem Mann gefiel, war die Qualität seines Kaffees und die Tatsache, daß er gut zu seiner Putzfrau war. Vielleicht lag der Schlüssel zu allem in dem Stoß von Blättern, die auf dem Schreibtisch verstreut waren, das einzig Unordentliche in der ganzen Wohnung, abgesehen von den Bücherstapeln auf dem Boden. Eine Beichte, sauber auf dem Computer getippt und doppelzeilig ausgedruckt. In seinem langen Berufsleben war Bailey so etwas noch nicht untergekommen. Hier also führte der gu te Doktor sein geheimes Doppelleben. 315
Die Fenster waren doppelt verglast, so daß es in die sem Raum einigermaßen, wenn nicht völlig still war. Bailey verstand, warum das Haus keine Käufer an lockte; der gedämpfte Lärm des Verkehrs in nicht allzuweiter Entfernung und die ständigen Vibratio nen durch die Underground, die einen im Parterre verrückt machten und selbst im fünften Stock zu spüren waren, stellten allzugroße Nachteile dar. Er wartete, horchte auf nichts Bestimmtes, und wartete weiter. Er fand ein Krankenblatt des Arztes, schob Stapel von Papieren hin und her und fing schließlich an zu lesen. Er saß auf einem festen Stuhl, offensicht lich für ein männliches Gewicht bestimmt, bequem, aber nicht gemütlich. Das gedämpfte Rauschen des Verkehrs war seltsam hypnotisch, das Zimmer er schien ihm warm, schützte aber dennoch vor der Hitze des Tages. Seine Lider waren schwer wie Blei. Die Zeit verging. Als er die Augen wieder aufschlug, lag das Leben des Doktors vor ihm, verschlüsselt in Gesetzestexte. Und sein Magen knurrte. Zweimal klingeln lassen, auflegen und dann noch mal wählen, das war Helens Code für Ryan. Als sie ihn aus der Telefonzelle vor der Klinik anrief, sagte er nur, los, geh rein, Mädchen, mach schon. Er klang, als wollte er einen Windhund antreiben. Na, wenig stens mußte sie nicht im Büro anrufen. Der freie Tag heute war schon lange beantragt gewesen. Tu so, als wolltest du abtreiben oder so was, hatte Ryan gesagt. Helen fuhr sich mit der Hand über den Bauch, der ein wenig geschwollen war nach einem halben Brot und drei Milchkaffees aus einer dicken weißen Kan ne, verzehrt in einem Café, wo man nicht besonders 316
beachtet wurde, vorausgesetzt, man blieb nicht lange genug, um der kleinen Frühstücksgemeinde und dem hektischen Geschäft um die Mittagszeit in die Quere zu kommen. Niemand, auf den die Beschreibung des Doktors ge paßt hätte, betrat die Klinik oder kam heraus; es war aber trotzdem möglich, daß sie ihn verpaßt hatte. Sie kam sich ziemlich dämlich vor. Bei dem Versuch, unbekümmert zu wirken, wünschte sie, sie könnte ebenso gut heucheln wie Geheimnisse bewahren. Ich will den Mann bloß mal sehen, sagte sie sich. Beweisen, daß er existiert. Die Anmeldung war klein, nüchtern und auf unauf fällig elegante Art bequem. Vier große Sessel flan kierten den Eingang zum Empfangsschalter. Gläser ne Schwingtüren dämpften das Geschrei. Als Helen eintrat, beugte sich gerade eine Frau mit großem Busen und rotem Haar über den Schalter, packte die Sprechstundenhilfe an der Bluse und drohte ihr mit der geballten Faust. »Ich will den Arzt sprechen, Dr. Littleton … wo ist er?« rief sie. Die Sprechstundenhilfe geriet in Panik. Mit hochro tem Kopf versuchte sie sich zu befreien und sagte immer wieder: »Er ist nicht da, er ist nicht da!« Man konnte nicht genau verstehen, was gesagt wur de, aber der Inhalt war klar. Die Stimme wurde im mer hartnäckiger und lauter. Als die Frau mit der Faust ausholte, sah sich die Sprechstundenhilfe in ih rer Verzweiflung hilfesuchend um, aber in diesem Etablissement gab es keine Wachmänner, und beide Türen, sowohl die am Eingang als auch die innere, reduzierten jedes Geräusch auf ein Minimum. Helen 317
fiel nur noch Ryan ein. Sie rannte durch die Tür auf die Frau zu, packte die erhobene Faust und drehte ihr den Arm auf den Rücken. Dann zerrte sie sie ein Stück zurück und hielt sie fest. Die Frau war plötz lich ganz still. »Ganz ruhig«, sagte Helen ihr ins Ohr. »Und nun sagen Sie mir, was hier eigentlich los ist.« Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie die Frau festhalten soll te, deshalb ließ sie sie langsam los, klopfte ihr auf die Schulter und redete ihr gut zu, so wie sie es früher mit ihrer Katze gemacht hatte. »Dr. Littleton ist nicht da«, sagte sie ruhig. »Schade, nicht wahr? Ich hatte auch gehofft, ihn treffen zu können, aber wir schei nen Pech zu haben. Am besten gehen Sie nach Hause und rufen morgen wieder an.« Die Aggression der Frau verebbte. Offenbar war sie an Gehorsam gewöhnt. Sie setzte ein zittriges, strah lendes Lächeln auf, fuhr sich übers Haar und über das Jackett und wandte sich unsicher zur Tür. Sie trug ein Kleid mit einem herzförmigen Ausschnitt, das eher zu einem kleinen Mädchen als einer erwach senen Frau gepaßt hätte, und roch nach Babycreme, die auf ihren Armen glänzte. Helen stieß ihr schwungvoll die Tür auf. Die Sprechstundenhilfe sank dankbar auf ihren Stuhl zurück. »Kommt so was öfters vor?« »Nein … aber ich wußte nicht, was sie tun würde …« »Machen Sie sich keine Sorgen, ich hoffe, sie kommt nicht wieder. Hören Sie, würden Sie mir einen Gefal len tun? Ich bin Dr. Littletons Cousine. Ich habe lange im Ausland gelebt und wollte ihn gern besu chen. Würden Sie mir seine Privatadresse geben? Ah ja, und außerdem habe ich noch eine Nachricht von 318
Anna Stirland. Sie kommt heute nicht zur Arbeit, of fenbar hat sie sich erkältet, aber Sie kennen sie ja, morgen ist sie bestimmt wieder auf dem Damm.« So einfach war das. Als sie auf die Straße trat, sah sich Helen links und rechts nach der Rothaarigen um, dankbar für den Vorfall, der für die Kooperation der Sprechstundenhilfe ausschlaggebend gewesen war. Sie merkte, daß sie zitterte, hin und her gerissen zwischen dem Wunsch zu lachen und dem Verlangen wegzulaufen. Dazwischen kämpfte sie mit der Scham. Es ist ganz leicht zu lügen, und wenn man noch so viel Wert auf die Wahrheit legt. Sie sah auf die Uhr. Ob es irgendeinen Sinn hatte, noch mal bei Bailey anzurufen? Um ihm was zu sa gen? Schöne Scheiße, in die sie sich da reingeritten hatte. Ihr drehte sich der Magen um bei der Vorstel lung, welche Katastrophe das für ihr Leben bedeuten konnte, aber es gab nichts, das sie tun konnte, außer stärker und mutiger zu sein, als sie sich insgeheim fühlte. Dumme Kuh. Bailey machte sich eine Scheibe Toast und belegte sie mit den in der Sonne getrockneten Tomaten. Es schmeckte widerlich, aber er kaute langsam und sorg fältig. Butter gab es leider keine. Wenigstens war das Brot vakuumverpackt gewesen, sonst hätte er es viel leicht verschmäht. Es war ihm unangenehm, etwas anzufassen, was der Arzt mit seinen Wunderhänden bereits berührt hatte. Das Badezimmer blitzte genau so wie die Küche; jedenfalls war es nicht mangelnde Hygiene, was ihm eine Gänsehaut verursachte. »Wacholderextrakt, Überdosis tödlich«, las er. »Nieswurz und Aloe … Eisenstaub, Efeu …« Alles 319
Mittel, um eine Abtreibung durchzuführen. »Schei denspülung, starker Brandy, das Wasser so heiß wie möglich, Salzessig.« Abortiva, die anfangs einge nommen und später mittels einer Spritze verabreicht worden waren, als die Zeit voranschritt und man immer mehr wußte. Abtreiber benutzten eine Hig ginson-Spritze oder einen Einlauf mit Seifenwasser, stocherten mit einer langen Sonde im Uterus her um … Am häufigsten starben die Patientinnen nach einer Spritze, einfach, weil es die verbreitetste Praxis war. »… die Gefahr dabei war, daß Luftblasen in den Blutkreislauf gelangten … Tod durch Embolie er folgte innerhalb von wenigen Minuten nach der Pro zedur durch eine tödliche Luftblase in Lunge oder Gehirn. Es gab auch Fettembolien aufgrund von Sei fepartikeln im Lösungsmittel, aber am häufigsten wa ren Luftblasen, die über erweiterte Blutgefäße in den Blutkreislauf gerieten …« Und im Badezimmerschrank des Arztes zwei ver packte Spritzen. Sechzig Milliliter, zur Durchführung einer Blasen- oder Scheidenspülung, wie diejenige, die er im Park vergessen hatte. Hübsche Souvenirs hatte der Mann. Er war ein Historiker seines Gewerbes, das war alles. Nichts Unheimliches daran. Bailey fand Leihscheine aus der Bücherei, alle möglichen Bescheinigungen und in der Schreibtischschublade die Geschichte ei nes langen, verlorenen Rechtsstreits. Der Doktor schien seine Interessen zwischen Geburtshilfe und Jura zu teilen. Bestimmt kein humorvoller Mensch, vermutete Bailey. In seiner Büchersammlung gab es nichts, das auch nur das mindeste Verlangen nach Unterhaltung angedeutet hätte. Bailey nahm sich die 320
Rechtsunterlagen vor, müde, aber höchst interessiert. Er saß so angespannt auf der Stuhlkante, daß er gar nicht merkte, daß sein Fuß einschlief. Als es dann plötzlich an der Tür klingelte, sprang er mit einem Satz auf, und die Papiere landeten auf dem Boden. Schließlich hinkte er unbeholfen zur Tür. Er hatte das Recht, sich hier aufzuhalten, sagte er sich: Er war der Cousin des Doktors, und im Vergleich mit ihm strotzte er geradezu vor Gesundheit. Rose war in einer Stimmung, die ihre übliche Frech heit noch überschritt. Sie fand es selbst bescheuert, aber ihr bevorstehender Status als verheiratete Frau schien sie zu beflügeln. Es war, als würde man nun endlich der wirklichen Welt beitreten, das Geplap per junger Mädchen hinter sich lassen und in den Club derer aufgenommen, die von der Warte alt ehrwürdiger Autorität aus mit Fug und Recht über Männer stöhnen durften. Die Ehefrau. Wie in »nör gelnde« Ehefrau, »schimpfende« Ehefrau oder Ehe frau, »die die Hosen anhat«. Sie durfte das nicht so ernst nehmen, es war nur die Party, die zählte, aber trotzdem, ein neues Leben begann, und sie hatte ei gentlich gar nichts auszusetzen an dem, das jetzt zu Ende ging. Welcher Tag war heute? Die Wochentage spielten keine Rolle in diesem Büro oder im Gerichtssaal, es gab keine Routine, die dafür sorgte, daß montags dies und mittwochs jenes passierte, nicht mal eine Kantine mit immer gleichem wöchentlichen Speise plan. Wenn sie darüber nachdachte, welcher Tag heute war, dann nur, weil der Countdown lief. Noch einen Nachmittag und zwei ganze Arbeitstage, dann 321
wären Michael und sie unterwegs nach Mallorca, nach der Hochzeit natürlich. Und es gab noch so viel zu tun. Sie stahl sich aus dem Zimmer, das sie sich mit fünf Kolleginnen teilte, ging den Flur entlang, wo sie mit den Arbeitern, die die Lampen auswechselten, ein paar Witze riß, und weiter in Helens Büro, wo sie in Ruhe das Telefon benutzen konnte, um sich zu er kundigen, wie weit sie mit dem vermaledeiten Hoch zeitskuchen waren. Eine vielbeschäftigte Braut zu sein und die anderen im Büro zum Lachen zu brin gen, war gut und schön, aber es hatte seine Grenzen. Rose wußte, daß Kolleginnen es nicht unbedingt gut finden, wenn man so unverschämt glücklich ist. Es hatte Zeiten in ihrer Arbeitsvergangenheit gegeben, da hatte sie selbst gnadenlos über Ehekandidatinnen gespottet, mit den grausamsten Witzen, die ihr einge fallen waren, und es tat ihr nicht die Bohne leid. Sie stand in Helens Büro und hätte ihr gern von dem Kleid erzählt; statt dessen beobachtete sie, was die Angestellten auf der anderen Straßenseite an diesem frühen Nachmittag trieben, und blätterte in Helens Terminkalender. Warum hatte sich Helen eigentlich heute freigenommen? Das Blatt für den Tag war durchgestrichen und mit dem Kürzel B-SA versehen. Das hieß nicht viel, wahrscheinlich eine interessante Verabredung mit dem Klempner. Rose sah die Abtei lungsleiterin der Farbenfabrik auf der anderen Stra ßenseite am Fenster sitzen und verstohlen kauen. Zumindest glaubte sie es zu sehen. Leute, die nicht essen konnten, was sie wollten, ohne dick zu werden, taten ihr leid. Im gleichen Atemzug dachte sie an Anna. Sie mußte sie unbedingt anrufen und ihr eine 322
Nachricht hinterlassen, damit sie nicht vergaß, den Blumenschmuck zu organisieren. Sie war überrascht, als Anna ans Telefon ging. War denn niemand außer ihr selbst und ihrer unmittelba ren Umgebung heute bei der Arbeit? Machte halb London an diesem schwülen Tag blau? Annas Stimme klang kühl und entschuldigend: War es nicht furchtbar albern und geradezu peinlich, in ihrem Alter die Masern zu kriegen? Jedenfalls bedeu tete es, daß sie das Haus nicht verlassen und weder an der Hochzeit teilnehmen noch für die Blumen sorgen konnte. Es tat ihr ja so leid. Die Frau auf der anderen Straßenseite kaute immer noch, und Rose klopfte ungeduldig mit dem Finger auf den Schreibtisch. Sie drückte ihr Mitgefühl aus und plauderte noch ein bißchen mit Anna. Sie war so nett, wie es nur ging, und dachte die ganze Zeit, na schön, vergessen wir die Blumen, sie sind sowieso nicht so wichtig. Sie wußte, daß Annas Masern Vor rang vor ihrer Hochzeitsdekoration hatten, ärgerte sich aber trotzdem, denn es bedeutete noch mehr Arbeit. Sie selbst machte sich zwar nicht viel aus den verdammten Blumen, andere Leute aber schon. Also, dann gute Besserung. Ich ruf dich an, wenn wir aus Mallorca zurück sind. Wiedersehn. Was bedeutete bloß SA? Standesamt? Die dumme Kuh. Cousin und Cousine von Dr. Littleton standen sich leicht schockiert über dieses unerwartete Wiederse hen in dessen Wohnung gegenüber. Der Fortgang des Tages machte Helen allmählich immun gegen Überraschungen, und im übrigen hatte ihr Herz aus 323
Furcht vor dem, was sie möglicherweise erwartete, so schnell geschlagen, daß diese Überraschung eine ech te Erleichterung bedeutete. »Hallo.« »Nur herein«, sagte er höflich. »Was führt dich hier her? Wolltest du dich behandeln oder bloß beraten lassen?« Ihr Lächeln wirkte unecht. Plötzlich schämte sie sich in Grund und Boden. »Ich bin froh, daß du da bist, obwohl ich nicht weiß, was du hier zu suchen hast«, fuhr er fort und winkte sie lässig herein, als sei er der Hausherr. »Ich brauche Hilfe. Unser guter Doktor hat einen interessanten Schreibtisch. Man muß ihn nur entschlüsseln.« Er setzte sich auf die eine, sie auf die andere Seite, wie eine Schülerin, die zum Direktor gerufen worden war. »Ich gehe davon aus, daß du irgendwas über den Bewohner dieser nicht gerade einladenden Behausung weißt«, fuhr Bailey schulmeisterlich fort. »Die These lautet, daß er bei seinem Job in der Klinik gestörte oder unglückliche Frauen auftut, manche schwanger, andere nicht, ihr Vertrauen erwirbt, ihnen irgendeine alternative Behandlung anbietet oder aufzwingt und sie dann vergewaltigt.« »Oder so was Ähnliches.« »Vermutlich. Sämtliche Frauen sind entweder zu be schämt oder zu konfus, um sich präzise auszudrük ken. Dann gibt es noch eine andere Kategorie von Frauen: das sind die, die seine unwiderstehlichen Aufmerksamkeiten aktiv genießen. Im Fall Shelley Pelmore und zwei anderen besteht irgendwann die Gefahr, daß sie alles ausplaudern. So wendet er eine 324
Methode an, die er ausgiebig studiert und perfektio niert hat … eine alte Abtreibungstechnik, besser ge sagt. Er überredet sie zu einer Spritze, löst damit eine Embolie aus und bringt sie so um. Kann sein, daß es nicht absichtlich passierte, es könn ten auch Unfälle gewesen sein. Vielleicht hatten sie ihn darum gebeten. Kannst du mir bis dahin folgen?« »Es kann kein Unfall gewesen sein.« »Doch, theoretisch schon. Es könnte im Verlauf ei ner Abtreibung unabsichtlich dazu gekommen sein. Im übrigen ist sowieso keine mehr da, die es bezeu gen könnte. Wenn man in sexuelle Experimente oder eine billige Abtreibung einwilligt, gibt man dann gleichzeitig seine Zustimmung zum Tod? Zwar hat der gute Doktor ziemlich viel geschrieben, sogar Lie besbriefe, die so hochgestochen sind, daß sie auch in Griechisch verfaßt sein könnten, doch finden sich keinerlei Geständnisse unter seinen Notizen. Er er wähnt zwar seine Haarlosigkeit und seine fusselfreien Anzüge, ansonsten aber weist nichts auf ein kriminel les Bewußtsein oder auch nur ein schlechtes Gewis sen hin.« »Welche Rolle spielt Ryan dabei?« Er musterte sie spöttisch, hob sich seine eigenen Fra gen jedoch für später auf. Es war ein durchdringen der Blick, bei dem ihr unbehaglich wurde. »Ah, der gute Doktor könnte uns da äußerst behilf lich sein. Er hat freundlicherweise die persönlichen Daten mehrerer Opfer gespeichert, wenn man sie als solche bezeichnen kann, darunter auch die von Shel ley. Damit meine ich, daß er persönliche Einzelheiten aus den Krankenblättern der Klinik kopiert und mit nach Hause genommen hat. In gewisser Weise ist das 325
belastend, denn die Namen auf seiner Liste stimmen mit einer Reihe der Frauen überein, die zur Polizei gegangen sind. Mehr als vage Beschuldigungen ka men jedoch dabei nicht heraus, bestenfalls haben sie ihn rein äußerlich und schlimmstenfalls gar nicht be schrieben. Die Liste des Doktors ist natürlich länger. Darunter befindet sich übrigens auch eine Lady Hormsby Soundso. Sie wohnt bei dir in der Nähe. Kennst du sie?« »Ich kenne zwar jede Menge Ladys, aber keine mit Titel.« »Jedenfalls hat er guten Kaffee, dieser Mann«, sagte Bailey. »Was sehr nett von ihm ist. Immerhin hatte er keine Ahnung, daß wildfremde Leute seine Gast freundschaft in Anspruch nehmen würden.« »Ich bin keine Fremde. Ich habe mich in seine Fami lie geschmuggelt, um bis hierher vorzudringen.« »Ich auch.« »Aber ich bin die einzige Verwandte weiblichen Ge schlechts, die er gern sehen würde«, sagte Helen in dem verzweifelten Versuch, Bailey in diesem bedrük kenden Raum zum Lächeln zu bringen. »Wir haben uns seit Jahren geschrieben. Wir haben schon im Sandkasten zusammen gespielt. Meistens Doktorspie le übrigens. Er war ein schlaues Bürschchen. Er hatte nur eine klitzekleine Schwäche dafür, anderen Ge walt anzutun. Sein größter Ehrgeiz war es, Klempner zu werden. Er kennt mich gut.« »Wie schön für ihn. Das kann ich nicht behaupten«, antwortete Bailey. Er stand auf und ging im Raum hin und her. »Seltsam, wie wenig man über andere weiß. Ich war vor einer Stunde mit einer Frau zur Hochzeit verab 326
redet, die dir entfernt ähnlich sieht. Ich war pünkt lich auf die Minute da und bin ein wenig auf und ab geschlendert, für den Fall, daß sie tatsächlich auftau chen sollte, aber letztlich stellte sich raus, daß ich mir nur eingebildet habe, sie könnte meinen, was sie sagt. Also kam ich her, um Doktor zu spielen. Glaubst du, ich könnte die Rolle übernehmen?« Helen hatte das Gefühl, daß ihre Fingerspitzen er frieren würden, wenn sie ihn berührte. Baileys Haut war blaß; er wirkte alt. »Du siehst aus wie der leben dige Doktor Tod.« »Es ist nur die Liste von Namen, die ihn verdächtig macht. Möglicherweise ist er nicht koscher. Ein neuer Ausdruck, den ich gerade erfunden habe. Aber genau wie deine juristischen Ausdrücke paßt er nicht. Höch stens insofern, als sich damit beweisen läßt, daß Ryan echte Ermittlungen durchführte, daß er mit seinem Schweigen ein ehrenhaftes Ziel verfolgte und daß es einen anderen Kandidaten für den Überfall auf Shelley und ihren plötzlichen Tod geben muß. Wir können alles diesem Doktor in die Schuhe schieben. Bloß …« Und dann fing er an zu lachen, aber sie blieb stumm. Er ging im Zimmer hin und her und lachte. »Dieser Mann verdient es, daß man ihn an der näch sten Ecke zusammenschlägt«, sagte er. »Früher durf ten wir das. Oder in die Eier treten. Bloß taugen sie nichts mehr, genauso wenig wie sein Pimmel.« Er schien das alles komisch zu finden, äußerst ko misch. Schließlich zog er sogar ein großes Taschen tuch aus der Tasche, um sich die Lachtränen aus den Augen zu wischen. Er sah so durchtrieben aus wie ein Fuchs mit glänzender Nase. Sie fand ihn widerlich. »Wo war ich stehengeblieben? Ach ja. Nur ein Mann 327
wie Ryan konnte einen Vergewaltiger verfolgen, der keinen mehr hochkriegt. Er kann keine Frau verge waltigen, dieser Bursche. Impotent. Schlimm. Folgen einer Chemotherapie. Er hat seine Ärzte verklagt, weil die Krebstherapie mißlungen ist, doch ohne Er folg. Armes Schwein.« Helen saß da wie vom Donner gerührt. »Kein Wunder, daß er zum Feinschmecker geworden ist«, fügte Bailey zusammenhanglos hinzu. »Und noch was. Falls der gute Mann nach Hause kommt, habe ich nicht das geringste Recht, mich hier aufzuhalten. Keinen Durchsuchungsbefehl, kein Nichts. Es gibt nicht den geringsten Beweis dafür, daß der Mann ein Verbrechen begangen hat, nur jede Menge Hinweise darauf, daß eine Reihe von Frauen unangenehme Phantasien von ihm hatte. Das könnte reichen, um Ryan offiziell zu rehabilitieren, es sei denn, der Arzt besorgt sich einen Anwalt und hindert uns daran, il legal erworbene Privataufzeichnungen als Beweisma terial zu benutzen. Das wäre sein gutes Recht. Im Grunde wäre es das Bequemste, wenn der Mistkerl das Land verließe und nie wieder nach Hause käme. Wo steckt Ryan, hast du zufällig eine Ahnung?« Sie fühlte sich, als müßte sie ihm einen Schlag in die Rippen versetzen. »Bei mir. Er bringt den Garten in Ordnung.« Er stand vor dem Fenster, unfähig, sie anzusehen. Dann griff er nach der seltsam geformten Vase, dem einzigen Schmuck im Raum, betrachtete sie und stell te sie vorsichtig wieder hin. »Der arme impotente Doktor hat niemandem, dem er vertrauen kann«, sagte er. »Ich glaube, dieses Ge fühl kenne ich.« 328
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»Vergewaltigung und versuchte Vergewaltigung wer den mit Gefängnis bestraft … Außer in extremen Aus nahmefällen soll nach der Urteilsverkündung sofortiger Freiheitsentzug verhängt werden, um die Schwere der Straftat zu kennzeichnen, die öffentliche Mißbilligung zu unterstreichen, als Warnung für andere zu dienen und Frauen zu schützen. Die Haftdauer richtet sich nach einer Gesamtabwägung aller Faktoren.«
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ein Kabinettsmitglied machte mit Vergewalti gung oder irgendwelchen sexuellen Kavaliersde likten Schlagzeilen. Das Parlament war in Urlaub. Die Medien versuchten das Spätsommerloch mit ei nem neuen Skandal in der Königsfamilie und der Entführung zweier englischer Kinder durch ihren spanischen Vater zu überbrücken. Die letzte Au gustwoche hatte weitere Regenfälle und eine Welle von Urlaubsheimkehrern mit sich gebracht. Die Lä den im West End wimmelten von Müttern und Teen agern, die sich über die passende Kleidung für das nächste Schuljahr stritten. Mitglieder der Eisenbah nergewerkschaft traten in Streik, und zwei glückliche Tage lang ging es auf den größeren Bahnhöfen so still zu wie in einem Museum. Ein Arzt war verschwunden und nicht wieder aufge taucht. Seine Arbeitgeber vermuteten, daß er plötz lich auf die Idee gekommen sein mußte, zusammen mit einem Cousin in Ferien zu fahren. 329
Ein Mann im Norden von London schickte seine Frau zum Psychiater, weil sie sich angewöhnt hatte, bei den seltenen Gelegenheiten, da sie freiwillig das Badezimmer verließ, ziellos durch die Straßen zu ir ren. Der Psychiater diagnostizierte eine bis dahin un bekannte Form von Platzangst. Miss Rose Darvey bereitete sich selig darauf vor, ih ren Namen zu ändern. »Ich konnte Darvey sowieso noch nie ausstehen«, erklärte sie. Detective Sergeant Ryan wurde von seinen Vorge setzten verwarnt. Seine Wiedereinsetzung war so gut wie beschlossene Sache, abhängig nur von der Zu stimmung des richtigen Komitees. Irgendwer stellte sich allerdings noch quer. Ein berühmter englischer Kricketspieler erklärte, er sei schwul. Ryan und Bailey saßen in dessen großem, sauberem Apartment und beobachteten den Sonnenuntergang. Es war ein langer Lunch geworden. »Vermutlich sollte ich auch noch Mitleid mit dem Kerl haben«, sinnierte Ryan. »Und wahrscheinlich hab ich es sogar. Man stelle sich das vor! Eine Über dosis Chemotherapie hast du gesagt? Auweia. Jeden falls fällt es mir bedeutend schwerer, Angst vor ei nem Mann zu haben, dessen Schwanz so nutzlos ist wie eine chipolata. Wie zum Teufel konnte er den Prozeß bloß verlieren?« »Er hatte sich in die Behandlung eingemischt, weil er glaubte, alles besser zu wissen, und einem Pfleger fal sche Anweisungen gegeben. Ganz schön arrogant.« »Du meinst, er hatte also teilweise selbst schuld? Nein, so einfach ist das nicht. Krebs zu kriegen war 330
nicht seine Schuld. Schließlich betet man nicht um so was, oder? Na los, mach schon, lieber Gott, mach mich zum Krüppel.« »Offensichtlich war er ziemlich tapfer. Ruhig, philo sophisch, gelassen trotz der Schmerzen und so wei ter. Und als Arzt verehrte man ihn vor allem wegen seiner mitfühlenden Art.« »Ach ja? Du willst sagen, er liebte seine Patientin nen?« »Aber trotzdem wollte der arme Kerl zum Zug kommen«, fuhr Bailey leise fort. »Wollen wir das nicht alle?« »Immer langsam, Chef«, sagte Ryan plötzlich gereizt. Er hatte keine Lust auf Sentimentalitäten, jedenfalls noch nicht. »Nun mach mal halblang. Soll mir dieses verdammte eierlose Phantom etwa leid tun? Bleiben wir auf dem Boden der Tatsachen. Was hat er ge macht? Man hat ihm Vertrauen, heiliges Vertrauen, die Sorte, die du und ich nur alle Jubeljahre mal er leben, auf einem silbernen Tablett serviert. Und er hat es mißbraucht. Wozu? Für seine verdammte Ra che. Ein Machtspiel. Er sorgte dafür, daß die Frauen anfingen, sich selbst zu hassen, so verrückt waren sie nach ihm. Erst vertrauten sie ihm, und dann brachte er sie ums Leben oder um den Verstand, bloß um seine verdammten Experimente durchzuziehen.« Er war sprachlos vor Zorn. »Ich meine, was für ein Scheißwichser macht so was? Und kriegt obendrein so einen Job?« »Du gehst zu weit«, fiel Bailey ihm ins Wort. »Viel leicht hatte er in bezug auf seinen Job keine große Wahl.« »Ach, hör auf mit der Scheiße! Er ist Arzt«, rief Ryan. 331
»Er wurde doch nicht nach seinen Eiern beurteilt. Und ein Arzt sollte verdammt noch mal wissen, und zwar besser als jeder andere, daß Krankheit und Ent täuschung zum Leben dazugehören. Das bedeutet noch lange nicht, daß man sie nach Lust und Laune weiterverbreiten darf. Und den verdammten Eid des Hippokrates geleistet zu haben, der einem ein golde nes Rentendasein garantiert, gibt einem nicht das Recht, andere Menschen zu mißbrauchen. Mann, Bailey, du wirst allmählich weich in der Birne. Hör auf mit deinen verdammten Entschuldigungen. Er hatte Spaß an dem, was er tat; es ging nicht um Lie be. Er experimentierte mit dem Leben anderer Men schen, und obendrein schwamm er in Selbstmitleid. Das ist das Schlimmste. Siehst du das Böse nicht mehr, nicht mal, wenn man dich mit der Nase drauf stößt? Du und deine Scheißrechtfertigungen. Er ist und bleibt ein Monster, denn er wußte, was er tat. Dafür gibt es keine Entschuldigung. Ich wünschte bloß, eine seiner Frauen hätte die Möglichkeit ge habt, zurückzuschlagen.« Sein Zorn verblaßte zu einem dumpfen Schmerz. Er ließ sich zurücksinken in die Tiefen des riesigen Sofas und sah sich mit zusammengekniffenen Augen den karg, aber alles andere als farblos eingerichteten Raum an. Etwas versöhnlicher dachte er, daß es ihm hier immer ein wenig kalt erschienen war, dabei war es das gar nicht, sondern im Gegenteil eigentlich ganz gemütlich, trotz der Leere. Zumindest mußte er nicht den parkplatzgroßen Flur durchqueren, um sich weiter zu stärken. Die Flasche stand gleich ne ben seinem Ellbogen. Er persönlich zog das Durch einander und den Lärm bei sich zu Hause vor, wie 332
jeder andere auch, obwohl der Whisky hervorragend war. Wenn er die Wahl hätte, würde er sich wohl eher für Helens Wohnung entscheiden. Er mußte schon sagen, sie war klasse, trotz seiner vielen Vor behalte. Sie hatte stundenlang mit seiner Frau telefo niert und die Wogen geglättet. Jetzt konnte er nach Hause gehen und alles noch mal erklären, in dem Wissen, daß er schon halb am Ziel war. Plötzlich schämte er sich seines Glücks und seiner Rolle in diesem Spiel. Er hatte unbedingt seinen Dickkopf durchsetzen wollen. Aber Baileys Abnei gung, Stellung zu beziehen, brachte ihn in Rage. Er würde es nie wagen, Bailey zu fragen, ob er ihm tat sächlich zugetraut hätte, eine Frau zu vergewaltigen. Wenn ja, hätte Bailey ihn erschießen sollen. Das wäre Gerechtigkeit gewesen, nicht diese Psycho-Tour und der dämliche Versuch, immer alles zu verstehen. Ryan war noch nicht fertig. »Ich hab mir das doch nicht bloß zusammengespon nen, wie? Er existiert wirklich, oder? Wie soll ich ei nen Lügner von einem Liebhaber unterscheiden? Keine Ahnung.« Eins ließ sich nicht von der Hand weisen: Glenmo rangie schmeckte immer hervorragend. Nichts ging über den ersten Schluck, aber er blieb hervorragend. »Nein, Littleton war keine Einbildung, jedenfalls nicht ganz. Fünfzig Prozent entsprangen möglicher weise der erhitzten Phantasie derjenigen, die Aussa gen über ihn machten, aber es war mehr dran als nur ein Körnchen Wahrheit.« »Der Mistkerl ist untergetaucht. Wo zum Teufel ist er bloß hin?« grunzte Ryan und beschloß insgeheim, wie er es auch öffentlich erklärt hatte, keinesfalls 333
selbst nach ihm zu suchen. Sie würden das wenige, was sie wußten, den medizinischen Standesvertre tungen übergeben; sollten die ihm das Handwerk le gen. Wenn Littleton nicht mehr praktizieren durfte, hatte er auch keine Basis mehr für seine Machen schaften. Aber es ärgerte Ryan doch, daß sie nicht mehr tun konnten. »Wo ist er hin? Vor ein paar Tagen haben die Leute dieselbe Frage über dich gestellt«, sagte Bailey. »Wie kommst du darauf, daß nur du das Recht hast, eine Weile von der Bildfläche zu verschwinden? Der Bur sche hat Geld genug. Er kann es sich leisten, zu ge hen, wann und wohin er will. Er hat Geld verdient und Geld geerbt, eine gute Mischung. Er ist und bleibt ein Rätsel. Und du bist ein Idiot, Ryan. Warum hast du mir nicht vertraut?« Ryan ermahnte sich, nicht gleich zu antworten, son dern erst nachzudenken, bevor er den Mund auf machte. Es hatte Bailey Jahre gekostet, ihm das bei zubringen. »Es ging nicht. Ich konnte es nicht. Du mußtest dei nen Job machen, und du kennst mich zu gut. Du wußtest, daß ich hätte entgleisen können; du weißt, wie nahe ich dran war … Außerdem wollte ich dir heimzahlen, daß du es nicht geschafft hast, mich da rauszuboxen. Ich wollte dich treffen. Am liebsten hätte ich dir in die Eier getreten. Aber du warst im mer so unnahbar, genauso wie Helen.« »Helen ist nicht unnahbar«, sagte Bailey. »Nur abwe send.« »Wirfst du mir etwa vor, daß ich es vermasselt habe? Die Hochzeit, meine ich? Na schön, steinige mich. Wenn du unbedingt in aller Stille heiraten mußt, 334
kannst du dich auch nicht beschweren, oder? Ich habe nicht geglaubt, daß du es je tun würdest, und sie auch nicht. Komisch, was man alles so ausplau dert mitten in der Nacht.« Plötzlich stand Bailey über ihm, packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn wie eine Ratte. Man hörte, wie der Hemdenstoff riß. Es war beherrschte Gewalt, aber sie sollte ihn einschüchtern. Es war ein gutes Hemd gewesen. »Um Himmels willen, hör auf mit der Scheiße, hast du verstanden? Würde ich je deine Frau anrühren, du gottverdammter Esel? Besser gesagt, würde sie mich anrühren? Sie haßt mich aus ganzem Herzen; sie kann mich nicht ausstehen. Und ich sie auch nicht, um ehrlich zu sein. Hör auf, Bailey. Ja, so ist es besser.« Bailey kehrte ruhig wie eine schläfrige Spinne zu dem anderen Sessel zurück. Eifersucht hatte bei seinem plötzlichen Ausbruch keine große Rolle gespielt; eher der unbestimmte Verdacht, daß Ryan seine Heirats pläne absichtlich sabotiert hatte. »Sie redet im Schlaf, das ist alles, und zwar ziemlich laut. Jedenfalls hört man es bis zum Sofa im Wohn zimmer, wo sie mich für die Nacht untergebracht hatte. Sie redet alles mögliche. Zum Beispiel, daß sie glaubt, einem Mann wie dir nicht gerecht zu werden. Und wenn man bedenkt, wie du funktionierst – diese Laschheit, dieser Wunsch, immer alles verstehen zu wollen – dann könnte sie sogar recht haben.« Ryan wurde unruhig, wie immer, wenn er mit Gefühlen zu tun hatte, die nicht in einem professionellen Kontext standen. Er kam mit heulenden Frauen klar, voraus gesetzt, es waren Fremde. Gefühlsduselei bei Män 335
nern war eine andere Sache, und außerdem hatte er gerade ein bißchen geschwindelt. Er hatte Helen immer ziemlich knackig gefunden, egal, ob er sie mochte oder nicht. »Und wie steht die Sache jetzt?« fragte er. Bailey verstand ihn absichtlich falsch. »Oh, wir stek ken in einer Sackgasse. Wir haben nicht genug in der Hand, um einen Haftbefehl gegen den Doktor bean tragen zu können. Der Obduktionsbefund zu Shelley Pelmore wird auf einen Unfall mit Todesfolge hin auslaufen. Die Gerichtsmedizinerin vermutet eine Embolie, kann aber nicht die Hand auf das eigene Herz legen und es mit hundertprozentiger Sicherheit beschwören. Es könnte auch eine ungewöhnliche Re aktion auf die Drinks und ein paar Paracetamols sein, die sie im Körper hatte … Wenn der Doktor wieder auftaucht, könnten wir ihn vernehmen, das ist alles. Und wenn er nichts sagt, können wir nichts machen. Wir könnten auch die Frauen in deiner schwarzen Liste nochmals aufsuchen, da sie aber schon beim er sten Mal nicht gerade zuverlässige Aussagen gemacht haben, wären sie nicht besonders glaubwürdig. Und dann haben wir noch Anna Stirland, die sich krank gemeldet und mir am Telefon erklärt hat, daß sie keine Aussage machen wird. Punktum. Ich kann sie nicht zwingen. Alles was wir wissen, ist, daß er kein Vergewaltiger sein kann. Nicht in seinem Zustand.« Es war die Wiederholung der immer gleichen alten Leier. Ryan hatte die Nase voll. »Muß man eigentlich eine Stornierungsgebühr zahlen, wenn man nicht auf dem Standesamt erscheint?« fragte er höflich. »Nur das, was man angezahlt hat. Offensichtlich sind sie dran gewöhnt. Manche tauchen gar nicht auf, 336
andere alle paar Jahre.« Mehr ließ sich Bailey nicht
aus der Nase ziehen.
»Ich hoffe, sie stellen mich erst wieder ein, wenn ich
den Teich fertig habe«, sagte Ryan.
Auch Helen gab sich zugeknöpft.
»Na schön, ihr habt also nicht geheiratet. Aber das
werdet ihr doch wohl jetzt nachholen, nachdem Ryan
aus der Klemme ist, oder?« fragte Rose.
»Halt still. Das Etikett guckt noch raus. Da.«
»Bloß wartet, bis ich wieder da bin. Versprochen?«
»Versprochen. Großes Ehrenwort. Du siehst … hin
reißend aus.«
»Es ist okay, nicht?«
Rose stand vor dem Wandspiegel, schob eine Hüfte
vor und kniff die Augen zusammen. Ihr Haar war
weich und voll, ein Kompromiß zwischen Stacheln
und Locken. Kleine silberne Anhänger funkelten in
ihren Ohren. Das Kleid war ein kurzärmliger karmin
roter Traum. Ein Designerstück, bei Oxfam erstan
den. Wer würde das schon merken, hatte Rose ge
sagt, und wenn, wen würde es kümmern, daß es bloß
fünf Pfund gekostet hat? Wahrscheinlich hat es einer
Frau gehört, die zu dick geworden ist und es in ei
nem Wutanfall weggeben hat. Mein Glück – als wäre
es für mich gemacht. Ich würde es auch so machen.
Sieh mich an, Liebster, sieh mich an.
Helen trat einen Schritt zurück und fühlte sich an die
junge Audrey Hepburn auf dem Weg zum Frühstück
bei Tiffany erinnert. Rose war kein Opferlamm, sie
war atemberaubend.
»Irgendwie wünschte ich, es wäre in der Kirche«, sag
te Helen. »Der Pfarrer würde in Ohnmacht fallen.«
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»Ach, vergiß die anderen. Hauptsache, Michael ge fällt es. Los, komm.« Michael saß unten bei seiner Mutter und kaute ner vös an den Fingernägeln. Helen und Rose hatten oben im Schlafzimmer auf den Wagen gewartet und die letzten unnötigen Änderungen getroffen. Es war weniger das Kleid, dachte Helen später, als Roses ganze Ausstrahlung, die dafür sorgte, daß die Leute bewundernd nach Luft schnappten, als sie die Trep pe zum Rathaus hinaufstolzierte. Ihre Haltung und das unglaubliche Selbstbewußtsein trieben Helen die Tränen in die Augen und erfüllten ihr Herz mit Neid. Was gäbe sie darum, so fest daran glauben zu kön nen, daß sich immer alles regeln ließ und sie alles, was kaputt war, reparieren konnte. Wenn sie diese Art von Zuversicht je besessen hatte, mußte sie sie irgendwann verloren haben, aber es war eine Freude, diese Sicherheit jetzt bei Rose zu ent decken. Es gab sie also, die wahre, unkomplizierte Liebe. Es gab sie, und sie brauchte nur den Glauben an sich selbst, um zu erblühen. Und vielleicht eine Kindheit, in der jede Form von Sicherheit ein Fremdwort gewesen war. Dann war es leicht, sie zu erkennen und nie wieder loszulassen, wenn man sie einmal gefunden hatte. Eines jedenfalls hatte Rose: einen unverwüstlichen Sinn für die Realität. Und deshalb war ihre Art von wahrer Liebe auch gar nicht so ausgefallen. Nach der kurzen Zeremonie im Standesamt platzte das Foyer des Hotels, in dem sie feierten, beinahe aus den Nähten, so viele Leute waren gekommen. Auf Roses ausdrücklichen Wunsch hatten sich die Frauen 338
in Schale geworfen. Ich möchte, daß ihr euch ganz besonders fein macht, hatte sie befohlen. Bei Zuwi derhandlung drohte die Todesstrafe. Es gab Hüte mit dreißig Zentimeter langen Federn, bauschige Taftröcke, Ohrringe so groß wie Blechdosendeckel und überall nacktes Fleisch. Vor allem aber war die Menge einfach nicht imstande, ruhig zu sein. Das Geplapper verebbte nur für den Moment des Jaworts und wurde durch allgemeines Schnüffeln ersetzt. Neben Helen stand einer der wenigen Männer, die sich im Anzug wohl zu fühlen schienen. Bailey griff in die Tasche und reichte ihr sein Taschentuch. Un ter der extra breiten Krempe ihres tief in die Stirn gezogenen nachtblauen Hutes sah niemand, wie sie sich die Nase putzte. »Keiner darf sich hinsetzen«, hatte Rose sich für den Empfang gewünscht. »Das zerknittert bloß die Klei der. Ich möchte, daß alle herumlaufen, essen, trin ken, sich in Szene setzen und unterhalten.« Und genau das taten sie jetzt. Der Saal ging in einen Garten über. Das Buffet war für die sechzig gelade nen Gäste weniger wichtig als der Alkohol; das Stim mengewirr war so laut, daß niemandem der Mangel an Blumenschmuck auffiel. Bailey wirkte gelöst und schien sich zu amüsieren. Das hoffte Helen jeden falls, denn sie selbst tat es, schon aus Erleichterung darüber, daß das Ganze genau die Art von Ausgelas senheit ansteuerte, die Rose im Sinn gehabt hatte. Sie würden wahrscheinlich gehen, bevor die Lampions im Garten aufflammten, und die Musik, Roses heim liche Waffe gegen mögliche Reden und Ansprachen, die Gäste zum Tanzen aufforderte. »Was für Musik?« fragte Bailey mißtrauisch. 339
»Ach, alle möglichen ollen Kamellen. Immerhin ha ben sich hier drei Generationen versammelt.« »Dann muß ich also Walzer tanzen, oder?« »Wir können ja erst ein bißchen zugucken.« Er nahm ihre Hand. Sie saßen in einer Ecke des Gar tens. Er beobachtete mit offensichtlichem Vergnü gen, wie Michaels Onkel und Tanten einander hin und her schoben, manche mit ernsten Gesichtern, andere die ganze Zeit kichernd. Jedenfalls waren alle mit Feuereifer bei der Sache. »Ich weiß nicht, wie man heiraten kann, ohne seine Verwandtschaft einzuladen«, rief Bailey ihr über den Lärm hinweg zu. »Macht keinen Spaß«, stimmte sie zu. »Ich glaube, ich habe nur noch zwei«, fuhr er fort. »Keine Ahnung, was aus den anderen geworden ist.« »Ich auch nicht.« »Hör mal, Helen«, rief er. »So kann es nicht weiter gehen mit uns. Es hat keinen Sinn, es wird allmählich neurotisch.« Sie spürte, wie sie erstarrte. Sie wollte einfach keine Diskussion über das immer gleiche alte Thema zwi schen ihnen; nicht hier, nicht jetzt. »Warum habe ich bloß so eine verfluchte Angst vor dem Tanzen?« jammerte er. »Glaubst du, das geht zurück auf die Schulzeit? Als ich Gloria Smith auf die Füße getreten bin und sie schrie, ich hätte sie vergewaltigt?« Musik erfüllte Anna Stirlands Haus. Sie war mit ih ren Pflanzen beschäftigt. Im Garten lag bereits ein Haufen von verwelkten Blüten und trockenen Blät tern. Sie hatte die Blumenkästen, die für Roses 340
Hochzeit bestimmt gewesen waren, ausgekippt und die Pflanzen wieder in die Beete eingesetzt. Jetzt füll ten sie die Lücken, die entstanden waren, als sie die Blumen abgeschnitten hatte. Normalerweise wären sie an den Stengeln verblüht. Immer wenn das Leben komplizierter war als gewöhnlich, fand sie es tröst lich, ein paar Blumen mehr als sonst im Haus zu ha ben. Es war wirklich ein Witz, daß ihre Tante, die netteste Verwandte, die man als mutterlose Frau ha ben konnte, noch zu der Fülle beitrug, indem sie ihr einen Blumenstrauß schickte als Zeichen des Mitge fühls für die arme Kranke. Auf der beiliegenden Kar te stand, daß sie Anna auf der Hochzeit vermissen und gerne besuchen würde, sobald es ihr besser ging. Um die fröhlichen Schnappschüsse zu begutachten, dachte Anna und stellte die Rosenstiele in heißes Wasser, oder, Gott behüte, ein Video anzusehen. Die Treibhausblumen, die der Doktor als Gastge schenk mitgebracht hatte, waren schon lange in den Mülleimer gewandert. Ihre herabfallenden Blüten und faulen Blätter hatten für eine ziemliche Schwei nerei gesorgt. Sie ging langsam nach oben und steckte ein wenig Farnkraut in das Arrangement neben dem Bett. Trotz des offenen Fensters und einer leichten Brise stank das ganze Zimmer nach Pflanzen, als wäre eine Haus frau mit Airfresh und einer Tonne getrockneter Blü tenblätter hindurchgefegt. Darüber hing der beißen de Geruch eines antiseptischen Reinigungsmittels. »Alles okay?« fragte sie honigsüß und streichelte ihm über die Stirn. Die Haut fühlte sich an wie Kerzen wachs. Besser gesagt, Bienenwachs, mehr gelb als weiß. 341
Eine der Kenntnisse, die sie als Hebamme von einer älteren Kollegin erworben hatte, ohne es zu wollen, war, wie man die Leiche eines toten Babys aufbahrt, ohne dabei die ganze Zeit zu heulen. Natürlich war das Aufbahren eines erwachsenen Mannes erheblich schwieriger, doch glaubte sie, es einigermaßen hinge kriegt zu haben. Und selbst wenn es mehr schlecht als recht gemacht war, würde es reichen. Das Kon servierungsmittel, das für Eingeweihte ohne Proble me zu beschaffen war, würde ihn eine Weile so erhal ten, wie er war. Es gab einen Künstler, der damit ein totes Schaf präpariert hatte und es ausstellte. Nicht daß Anna die Absicht hatte, den guten Doktor der Öffentlichkeit zu präsentieren, schon gar nicht mit ihrer mangelhaften Ausrüstung und schwerwiegen den Lücken in der Kunst der Bestattung. Im übrigen war sie sich darüber im klaren, daß dies nur eine vor übergehende Maßnahme war. Außerdem mißfiel ihr die Tatsache, daß er auf der Seite lag, so daß man sein hübsches Profil sah, in einer Pose, die ihn ir gendwie schüchtern wirken ließ. Die linke Seite des Gesichts, die unglücklicherweise stark beschädigt war infolge mehrerer starker Schläge mit der Cham pagnerflasche, lag gemütlich auf dem Kopfkissen. Anna war ziemlich sicher, daß es nicht nur die Ver letzungen im Gesicht waren, die zum Tod geführt hatten … das war selten der Fall … der Schlag auf den Hinterkopf war ausschlaggebend gewesen, aber selbst dann hatte er ziemlich lange gebraucht, wäh rend sie herumwuselte und das tat, worin sie gut war, nämlich die Verletzungen verarzten. Sie war so kon fus, daß sie nicht wußte, was sie wollte – ob sie ihn leben oder sterben lassen sollte. 342
Am Ende hatte er ihr die Entscheidung abgenom men. »Was hättest du mir je Gutes getan?« hatte sie ihn gefragt. »Was habe ich bloß in dir gesehen?« Sie wußte, daß sie ihn loswerden mußte, bevor sie das Haus wieder zum Kauf anbot und all die anderen Entscheidungen über ihr Leben traf, aber zwischen den Augenblicken akuter Angst war sie ziemlich si cher, daß sie ihren Weg finden würde. Was die ver zwickte Frage anging, ob das, was von diesem Mann übriggeblieben war, das Schicksal verdiente, zu des sen Annahme sie ihn ermuntert hatte, so konnte sie das im Augenblick weder mit ihm noch mit sich selbst erörtern. Das Gewissen ist ein Luxus, und sei ne Haut war so kalt, selbst in der angenehmen Wär me dieser Jahreszeit, daß er ihr schon gar nicht mehr ganz wirklich erschien. Eher ein Phantasiegebilde, bloßer Abklatsch dessen, was er mal gewesen war. Anna seufzte angesichts der riesigen Aufgaben, die vor ihr lagen. Und zu guter Letzt, so vermutete sie, würde sie das Haus noch einmal streichen müssen. Irgendwer würde es kaufen, und sei es nur des Gar tens wegen. Die Dämmerung verwandelte sich in Nacht. Sie ging nach unten, ein wenig zögernd. Auf seine besondere Art war er so etwas wie Gesellschaft. Noch nie war ein so schöner Mann so lange bei ihr geblieben. In der Küche fummelte sie am Radio herum, bis sie den Klassiksender fand. Sie spielten Strauß. »Er tanzt ganz passabel, der alte Bailey«, bemerkte Rose an Michael gewandt. »Aber Walzer! Wie alt ist er bloß?« 343
»Genauso alt wie meine Mutter«, sagte Michael.
»Mach dir deshalb keine Sorgen.«
Die Musik verstummte. Zeit für den zweiten Teil des
Abends nach Roses Plan.
In der Pause zwischen orchestralem Palmengarten
schmalz vom Band und dem dumpfen Beat des Dis
co-Sounds hörte man deutlich das Funkgerät an Bai
leys Gürtel piepsen. Die Hälfte der Umstehenden
verstand es, die andere nicht. Lachen brandete auf
und dann mitfühlender Applaus.
Rose packte Helen am Arm. »Hör zu«, sagte sie.
»Selbst wenn er weg muß, kannst du bleiben, oder?
Wir haben doch noch gar nicht richtig angefangen.«
Helen folgte Bailey ins Foyer. Sie war an solche Stö
rungen gewöhnt, doch diesmal hatte sie das Gefühl,
daß die Unterbrechung des Abends entweder vorher
abgesprochen oder aber vorherbestimmt war, und
wollte dafür sorgen, daß er gutgelaunt aufbrach.
»Großartige Hochzeit«, sagte er, bevor er draußen in
den Wagen stieg. »Glaubst du, es spielt eine Rolle,
daß wir das Schiff verpaßt haben? Oder ist es wichti
ger, daß wir an irgendeinem Punkt tatsächlich den
Willen hatten, es zu kriegen?«
»Das ist das einzig Wichtige«, sagte Helen.
»Bist du sicher, daß es dir nichts ausmacht, allein
nach Hause zu gehen?«
»Natürlich nicht.«
»Natürlich nicht«, murmelte er. »Kommt ganz natür
lich, nicht? Du wirst immer allein nach Hause gehen
wollen, und ich werde mir deiner nie sicher sein,
was?«
»Ich verdiene dich einfach nicht«, antwortete Helen.
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Bis bald, auf Wiedersehen, paß auf dich auf, ruf an, adieu, mach’s gut. Es gibt ein Dutzend verschiedene Möglichkeiten, sich zu verabschieden. Darunter auch eine erstickende Leere, in der keiner einen Ton raus kriegt. Und er hatte geglaubt, daß sie bei der Trauung vor Rührung geweint hatte! Dabei trauerte sie mehr über das Ende, als sich über den Neuanfang zu freuen. Na, wenigstens hatte er ihr sein Taschentuch dagelassen. Vielleicht war ihr ewiges Verlangen danach, allein zu sein, unnatürlich. Vielleicht sollte sie darüber mal mit einem Arzt sprechen. Vielleicht würde sie morgen, in der Verlorenheit ei nes leeren Sonntags, versuchen, Anna Stirland zu treffen. Um ihr von der Party zu erzählen und die Vorteile des Alleinlebens, wahre Liebe, die Bedeu tung der Hoffnung und den Trost wachsender Dinge zu erörtern.
Frances Fyfield, Jahrgang 1948, zählt mit ihren psychologisch aus gefeilten Krimis zu den heraus ragenden Krimiautorinnen Eng lands. Die in London lebende Autorin arbeitet neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit als Anwältin.
Auf Deutsch sind ihre Romane bei Hoffmann und Campe erschienen, zuletzt: »Ein böser Verdacht« (2002), ausgezeichnet mit dem Radio Bremen Krimipreis, und »Nur wer frei von Sünde ist« (2004). In der Sarah-FortuneReihe erschien bisher »Roter Rausch« und »Bruderkuss«.
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Helen West, Anwältin der Krone, vertritt die Anklage gegen einen Polizisten, der wegen Vergewaltigung vor Gericht steht. Im Hinter grund erkennt sie das Profil eines Täters, der seine Opfer mit ihrer eigenen Scham zum Schweigen bringt, der mordet, ohne Spuren zu hinterlassen. »Gegen ihren Willen bestätigt Fyfields Ruf als Englands beste Kriminalschriftstellerin. Aber es ist kein Buch für schwache Nerven!« Natasha Garnett im Express on Sunday
ISBN 3-455-02230-8 348