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Das Buch In die von Staubstürmen und Mißernten bedrohte Landschaft von Oklahoma dringt Anfang der dreißiger Jahre die Nachricht vom Reichtum Kaliforniens. Die Depression und die neuen Agrartechniken haben Tausenden von Landarbeitern und Farmpächtern den wirtschaftlichen Zusammenbruch gebracht. Sie machen sich mit ihren Familien auf den Weg, um durch die Arbeit in den kalifornischen Obstplantagen eine neue Existenzgrundlage zu finden. Als der junge Tom Joad aus dem Gefängnis zurückkommt, trifft er seine Familie, Eltern, Großeltern und Geschwister, reisefertig an. Der Treck mit dem altersschwachen, überladenen Lastwagen wird zu einer Strapaze, die Toms Großeltern nicht überstehen. Das Gelobte Land hält seine Versprechungen nicht. Die verzweifelten Menschen müssen erleben, daß auch hier die Großgrundbesitzer Hungerlöhne zahlen, auf verbrecherische Weise mit brachliegendem Land spekulieren und mit der Polizei zusammenarbeiten, um jeden Widerstand brutal zu unterdrücken. – John Steinbeck hat mit diesem Buch seinen literarischen Ruhm begründet. Das Echo in Amerika war gewaltig, als es erschien. Gegenschriften wurden veröffentlicht, Politiker und Erzbischöfe verdammten es, der Autor wurde als Volksverhetzer und Klassenkämpfer verurteilt – und als Anwalt der Unterdrückten und Ausgebeuteten gefeiert. Sein Roman, der auf ausführlichen Recherchen beruhte, wurde zur Basis von soziologischen Untersuchungen und zur Vorlage für den gleichnamigen Film von John Ford. 1940 erhielt Steinbeck dafür den Pulitzer-Preis.
Der Autor John Ernst Steinbeck, amerikanischer Erzähler deutschirischer Abstammung, geboren am 27. Februar 1902 in Salinas, wuchs in Kalifornien auf. 1918–24 Studium der Naturwissenschaften an der Stanford University, Gelegenheitsarbeiter, danach freier Schriftsteller in Los Gatos bei Monterey. Im 2. Weltkrieg Kriegsberichterstatter, 1962 Nobelpreis für Literatur, gestorben am 20. Dezember 1968 in New York.
John Steinbeck: Früchte des Zorns Roman Deutsch von Klaus Lambrecht
Deutscher Taschenbuch Verlag
D
Ungekürzte Ausgabe Oktober 1985 5. Auflage Januar 1991 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München © 1939, 1967 John Steinbeck Titel der amerikanischen Originalausgabe: ›The Grapes of Wrath‹ © 1940, 1983 der deutschsprachigen Ausgabe: Diana Verlag AG, Zürich Isbn 3-905414-01-5 Umschlaggestaltung: Celestino Piatti Gesamtherstellung: C. H. Beck’sche Buchdruckerei, Nördlingen Printed in Germany • Isbn 3-423-10474-0
Carol wollte dieses Buch. Tom lebte es.
1 Über das rote Land und einen Teil des grauen Landes von Oklahoma fiel sanft der letzte Regen; aber er drang nicht in die rissige Erde ein. Die Pflüge kreuzten wieder und immer wieder die kleinen Furchen der Bäche. Der letzte Regen ließ das Korn und das Unkraut und das Gras am Rande der Straßen rasch wachsen, und bald begannen das graue Land und das dunkelrote Land unter einer grünen Decke zu verschwinden. Am Ende des Monats Mai wurde der Himmel bleich, und die Wolken, die in dichten Ballen den ganzen Frühling über herabgehangen hatten, lösten sich auf. Die Sonne brannte hernieder auf das wachsende Korn, Tag für Tag, bis die grünen Speere an den Rändern braune Streifen bekamen. Wolken tauchten auf und verschwanden wieder, und nach einer Weile kamen sie überhaupt nicht mehr. Das Unkraut wurde dunkelgrün, um sich zu schützen, aber es wucherte nicht mehr. Die Erde setzte eine Kruste an, eine dünne, harte Kruste, und wie der Himmel bleich wurde, so wurde auch die Erde bleich – blaßrot das rote Land und weiß das graue Land. In den Wasserrinnen trocknete die Erde zu Staub, zu trockenen kleinen Strömen. Goffer und Ameisenlöwen setzten kleine Lawinen in Bewegung. Und da die stechende Sonne Tag für Tag herniederbrannte, blieb das Korn nicht mehr steif und aufrecht. Erst beugte es sich nur ein wenig, und dann, als auch die starken Mittelrippen ihre Kraft verloren, neigten sich die Blätter ganz nach unten. 9
Dann kam der Juni, und die Sonne schien nun noch brennender. Die braunen Streifen an den Getreideblättern verbreiterten sich bis zu den Mittelrippen. Das Unkraut wurde welk und trocknete ein. Die Luft war dünn und der Himmel noch bleicher, und mit jedem Tag bleichte auch die Erde mehr. Auf den Straßen, wo die Gespanne entlangzogen, wo die Räder den Boden zermahlten und die Hufe der Pferde den Boden zertraten, brach die Schmutzkruste, und Staub bildete sich. Jedes sich bewegende Ding hob den Staub in die Luft: bei einem Menschen hob er sich bis zu den Hüften, bei einem Wagen bis über die Plane, und ein Auto wirbelte eine mächtige Wolke hinter sich auf. Es dauerte lange, bis der Staub sich wieder gelegt hatte. Als der Juni zur Hälfte vorüber war, kamen von Texas und dem Golf her Wolken, hohe, schwere Wolken, Regenköpfe. Die Männer auf den Feldern blickten zu den Wolken auf und schnüffelten und hielten angefeuchtete Finger hoch, um zu spüren, woher der Wind kam. Und die Pferde waren unruhig, solange die Wolken am Himmel standen. Die Regenköpfe ließen ein paar Spritzer fallen und zogen eilends weiter in ein anderes Land. Hinter ihnen war der Himmel wieder bleich, und die Sonne stach. Im Staub, dort, wo die Tropfen niedergefallen waren, hatten sich kleine Krater gebildet, und die Getreidehalme hatten hier und da saubere Stellen – das war alles. Ein sanfter Wind folgte den Regenwolken und trieb sie nach Westen; ein Wind, der leise durch das trockene 10
Korn strich. Ein Tag verging, und der Wind wurde, gleichmäßig und ohne Stoßböen, immer stärker. Der Staub flog von den Straßen auf und breitete sich aus und fiel auf das Unkraut am Rande der Felder. Dann wurde der Wind noch stärker und heftiger und griff auch die Regenkruste in den Kornfeldern an. Nach und nach verdunkelte sich der Himmel vom Staub, und der Wind strich über die Erde, lockerte den Staub und trug ihn davon. Der Wind wurde stärker. Die Regenkruste brach, und der Staub erhob sich über die Kornfelder und flog gleich trägem Rauch in grauen Schleiern in die Luft. Das Korn schlug den Wind und machte ein trokkenes, raschelndes Geräusch. Der feinste Staub senkte sich nicht wieder auf die Erde herab, sondern verschwand im dunkelnden Himmel. Der Wind wurde stärker, fegte unter die Steine, trug Stroh und alte Blätter, ja selbst kleine Klumpen davon und zeichnete seinen Weg ab, wenn er über die Felder strich. Die Luft und der Himmel verdunkelten sich, die Sonne schien rötlich hindurch, und es war ein empfindliches Stechen in der Luft. In der Nacht jagte der Wind noch heftiger über das Land, grub geschickt an den Wurzeln der Getreidehalme, und die Getreidehalme wehrten sich gegen den Wind mit ihren welken Blättern, bis die Wurzeln frei waren. Da legten die Halme sich seitwärts zur Erde, und ihre Spitzen deuteten in die Richtung des Windes. Es kam die Dämmerung, aber es kam kein Tag. Am grauen Himmel erschien eine rote Sonne, eine verschwommene rote Scheibe, die wenig Licht gab, und als 11
der Tag vorrückte, wurde aus der Dämmerung wieder Dunkelheit, und der Wind heulte über das gefallene Korn hinweg. Die Männer und Frauen drängten sich in ihre Häuser, und wenn sie hinausgingen, banden sie sich Taschentücher um die Nasen und trugen Brillen, um ihre Augen zu schützen. Als die Nacht wiederkam, war es schwarze Nacht; denn die Sterne konnten den Staub nicht durchdringen, und die Lichter in den Fenstern breiteten ihren Schein nicht über den eigenen Hof hinaus. Jetzt war der Staub gleichmäßig mit der Luft vermischt. Die Häuser wurden dicht verschlossen und Tücher um die Fenster und Türen gelegt, aber der Staub drang doch herein, so dünn, daß er gar nicht zu sehen war, und er legte sich wie Pollen auf die Teller, auf die Tische und Stühle. Die Leute wischten ihn sich von den Schultern. Kleine Wälle von Staub lagen auf den Türschwellen. In der Mitte jener Nacht trieb der Wind weiter und ließ das Land in Frieden. Die staubgefüllte Luft dämpfte alle Laute, noch mehr, als Nebel es tut. Die Menschen, die in ihren Betten lagen, hörten, daß der Wind schwieg. Sie erwachten davon. Sie waren ganz ruhig und lauschten in die Stille hinein. Dann krähten die Hähne, und das Krähen klang gedämpft, und die Leute wälzten sich in ihren Betten und wünschten den Morgen herbei. Sie wußten, es würde lange dauern, bis der Staub sich aus der Luft wieder herabgesenkt hatte. Am Morgen hing der Staub dicht wie Nebel über der Erde, und die Sonne war rot wie frisches, reifes Blut. Den ganzen Tag 12
lang rieselte der Staub vom Himmel, und auch am nächsten Tag noch rieselte er herab. Eine gleichmäßige Decke breitete sich über die Erde. Der Staub legte sich auf das Korn, auf die Spitzen der Zaunpfähle, auf die Drähte und auf die Dächer, auf das Unkraut und auf die Bäume. Die Männer kamen aus ihren Häusern und rochen die heiße, stechende Luft und bedeckten schützend ihre Nasen. Und die Kinder kamen aus den Häusern, aber sie rannten nicht und schrien nicht, wie sie es nach einem Regen getan hätten. Die Männer standen an ihren Zäunen und blickten auf das verdorbene Korn, das jetzt rasch vertrocknete und unter der Staubschicht nur noch ganz wenig Grün sehen ließ. Die Männer schwiegen und bewegten sich nicht viel. Und die Frauen kamen aus den Häusern und stellten sich neben ihre Männer und versuchten zu spüren, ob diesmal die Männer zusammenbrechen würden. Die Frauen forschten heimlich in den Gesichtern der Männer, denn das Korn mochte verderben, solange noch etwas anderes blieb. Die Kinder standen daneben und zeichneten mit ihren nackten Zehen Figuren in den Staub und versuchten mit tastenden Sinnen zu ergründen, ob die Männer und Frauen zusammenbrechen würden. Die Kinder blinzelten auf zu den Gesichtern der Männer und Frauen und zeichneten mit ihren Zehen bedächtig Linien in den Staub. Die Pferde kamen zu den Wassertrögen und schnaubten, um den Staub vom Wasser zu vertreiben. Nach einer Weile wich der Ausdruck trunkener Bestürzung aus den Gesichtern der Männer, und sie wurden hart und zornig 13
und entschlossen. Da wußten die Frauen, daß sie gerettet waren und daß kein Zusammenbruch kommen würde. Dann fragten sie: Was tun wir nun? Und die Männer antworteten: Ich weiß nicht. Aber es war alles gut. Die Frauen wußten, daß alles gut war, und die Kinder wußten, daß alles gut war. In ihrem tiefsten Innern wußten die Frauen und Kinder, daß ein Unglück nicht zu schwer zu ertragen war, wenn ihre Männer unversehrt blieben. Die Frauen gingen in die Häuser an ihre Arbeit, und die Kinder begannen zu spielen – noch zaghaft zuerst. Während der Tag vorrückte, verlor die Sonne allmählich ihr Rot. Sie brannte hernieder auf das staubbedeckte Land. Die Männer saßen auf den Türschwellen ihrer Häuser, und ihre Hände spielten mit Stöcken und Steinchen. Die Männer saßen still – nachdenkend und überlegend.
2 Ein mächtiger roter Lastwagen stand vor dem kleinen Gasthaus. Aus dem senkrechten Auspuffrohr knatterte es leise, und ein fast unsichtbarer Dunst von stahlblauem Rauch schwebte darüber. Es war ein neuer Lastwagen, glänzend rot, und auf seinen Seitenwänden stand in Zwanzig-Zentimeter-Lettern: Oklahoma City Transport Company. Seine Doppelreifen waren neu, und ein Messingschloß stand stramm ab von der Krampe an den großen Hintertüren. Im Gasthaus spielte ein Radio 14
Tanzmusik. Es war leise gestellt, so, wie es ist, wenn niemand zuhört. In dem runden Loch über der dicht verrammelten Eingangstür summte ein Abzugsventilator, und Fliegen brummten aufgeregt an den Türen und Fenstern herum und stießen gegen die herabgelassenen Jalousien. Ein Mann, der Lastwagenchauffeur, saß auf einem Schemel, hatte die Ellbogen auf die Theke gestützt und blickte über seinen Kaffee hinweg die magere einsame Kellnerin an. Er redete mit ihr in der flotten, nachlässigen Sprache der Leute auf der Landstraße. »Vor drei Monaten habe ich ihn mal gesehen. Hat’ne Operation gehabt. Irgendwas rausgeschnippelt. Habe vergessen, was.« Und sie: »Mir kommt’s vor, als hätte ich ihn erst vor ’ner Woche gesehen. Sah gut aus. Er ist’n netter Kerl, wenn er nicht besoffen ist.« Hin und wieder dröhnten die Fliegen leise an der Tür. Die Kaffeemaschine spie Dampf aus, und ohne sich umzublicken, griff die Kellnerin hinter sich und drehte sie ab. Draußen ging ein Mann am Rande der Straße entlang, überquerte sie und trat an den Lastwagen heran. Er ging langsam um ihn herum, legte seine Hand auf den glänzenden Kühler und blickte auf das Schild an der Windschutzscheibe, das besagte, daß »Mitfahrer verboten« seien. Einen Augenblick schien es, als wollte er weitergehen, statt dessen aber setzte er sich auf das Trittbrett. Er war nicht über dreißig. Seine Augen waren dunkelbraun, und selbst das Weiße hatte einen Schimmer von braunem Pigment. Seine Backenknochen waren hoch und breit, und starke, tiefe Linien hatten sich zu beiden Seiten des Mundes eingeschnitten. Seine Oberlippe war lang, und 15
da seine Zähne vorstanden, dehnten sich die Lippen, um sie zu verdecken; denn dieser Mann hielt seine Lippen geschlossen. Seine Hände waren hart, mit breiten Fingern und Nägeln, die so dick und gekerbt waren wie kleine Muschelschalen. Die Spannen zwischen Daumen und Zeigefinger und die Handflächen waren voller Schwielen. Die Kleider des Mannes waren neu – billig und neu war alles, was er anhatte. Seine graue Mütze war so neu, daß das Schild noch steif war und sogar den Knopf noch hatte, nicht formlos und ausgebeult, wie sie gewesen wäre, wenn sie bereits den verschiedenen Zwecken einer Mütze gedient hätte – als Tragsack, Handtuch, Taschentuch. Sein Anzug war aus billigem grauem Tuch und so neu, daß die Hosen noch Bügelfalten hatten. Sein blaues Hemd war steif und glatt von Appretur. Die Jacke war zu groß, die Hosen waren zu kurz: er war ein hochgewachsener Mann. Die Schulternähte der Jacke hingen an den Ärmeln herunter, und selbst dann noch waren die Ärmel zu kurz, und das Vorderteil schlenkerte ihm lose über dem Bauch. Er trug ein Paar neue braune Schuhe, »Armeeschuhe«, wie sie genannt werden, genagelte Schuhe mit Hufeisen an den Hacken, damit sie sich nicht abnützen. Dieser Mann saß nun auf dem Trittbrett und nahm seine Mütze vom Kopf und wischte sich das Gesicht damit. Dann setzte er sie wieder auf, und indem er sie herunterzog, begann der künftige Ruin des Mützenschildes. Seine Füße erregten seine Aufmerksamkeit. Er bückte sich und lockerte die Schnürbänder und band die Enden nicht wieder zu. Über seinem Kopf 16
schickte der Auspuff des Dieselmotors blaue Rauchwolken in die Luft. Im Gasthaus brach die Musik ab, und eine Männerstimme ertönte aus dem Lautsprecher, aber die Kellnerin drehte ihn nicht ab, denn sie wußte nicht, daß die Musik aufgehört hatte. Ihre suchenden Finger hatten unter ihrem Ohr eine Beule entdeckt. Sie bemühte sich, sie in einem Spiegel hinter der Theke zu betrachten, ohne daß der Lastwagenchauffeur es merkte. Daher tat sie so, als ordnete sie ihr Haar. Der Lastwagenfahrer sagte: »In Shawnee war ’ne große Tanzerei. Ich habe gehört, sie haben einen umgebracht oder so ähnlich. Wissen Sie was davon?« »Nein«, sagte die Kellnerin und betastete liebevoll die Beule unter ihrem Ohr. Draußen stand der Mann vom Trittbrett auf, blickte über die Motorhaube des Lastwagens hinweg und betrachtete einen Moment lang das Gasthaus. Dann setzte er sich wieder und zog ein Säckchen Tabak und ein Paket Zigarettenpapier aus seiner Seitentasche. Er rollte seine Zigarette langsam und sorgfältig, sah sie kritisch an und glättete sie. Schließlich zündete er sie an und warf das brennende Streichholz in den Staub zu seinen Füßen. Die Sonne vertrieb den Schatten des Lastwagens, als der Mittag näher kam. Im Gasthaus bezahlte der Fahrer seine Rechnung und steckte die zwei Nickel, die er zurückbekam, in einen Glücksautomaten. Die wirbelnden Zylinder aber ließen ihn nicht gewinnen. »Die richten’s so ein, daß man nichts gewinnen kann«, sagte er zu der Kellnerin. »Vor zwei Stunden hat einer den Großen rausgeholt. 17
Drei achtzig hat er gekriegt. Wann kommen Sie wieder zurück?« Er hatte die Schwingtür halb geöffnet. »In acht bis zehn Tagen«, sagte er. »Hab ’ne Fuhre nach Tulsa, und ich komme eh nie so bald zurück, wie ich denke.« Sie sagte ungehalten: »Lassen Sie doch nicht die Fliegen rein. Entweder Sie gehen raus oder Sie bleiben drin.« »Also – bis dann!« sagte er und ging hinaus. Die Schwingtür schlug hinter ihm zu. Er stand in der Sonne und pellte von einem Stück Kaugummi das Papier ab. Er war ein kräftiger Mann, breit in den Schultern und dick um den Bauch herum. Sein Gesicht war rot, und seine blauen Augen waren lang und geschlitzt vom vielen Blinzeln gegen blendendes Licht. Er trug Kniehosen und hohe Schnürstiefel. Bevor er sich das Stück Kaugummi in den Mund steckte, rief er durch die Schwingtür hinein: »Und daß mir keine Klagen kommen, verstanden?« Die Kellnerin stand an der Rückwand vor dem Spiegel. Sie knurrte eine Antwort. Der Fahrer kaute langsam sein Stück Gummi und öffnete bei jedem Biß den Mund weit. Er formte das Stück Gummi in seinem Mund und rollte es unter die Zunge, während er auf den Lastwagen zuging. Der junge Mann stand auf und blickte durch die Fenster zu dem Fahrer hinüber. »Kannst du mich mitnehmen, Kollege?« Der Fahrer schaute sich hastig nach dem Gasthaus um. »Hast du nicht das Schild an meiner Scheibe gesehen?« »Natürlich hab ich’s gesehen. Aber manchmal gibt’s doch noch anständige Kerle, auch wenn so’n reiches Schwein ihnen das Ding an die Scheibe klebt.« 18
Der Fahrer stieg langsam ein und überlegte sich seine Antwort. Wenn er es ablehnte, war er nicht nur kein anständiger Kerl, sondern hatte sich zu dem Verbotsschild zwingen lassen und durfte niemanden mitnehmen. Wenn er den Mann aber mitnahm, war er automatisch ein anständiger Kerl und einer, mit dem die reichen Schweine nicht machen konnten, was sie wollten. Er wußte, es war eine Falle, aber er sah keinen Ausweg. Und er wollte ein anständiger Kerl sein. Wieder warf er einen Blick zurück zum Gasthaus. »Quetsch dich aufs Trittbrett, bis wir um die Kurve sind«, sagte er. Der Mann ließ sich fallen und umklammerte den Türgriff. Der Motor heulte auf, das Getriebe sprang ein, und der große Lastwagen setzte sich in Bewegung. Erster Gang, zweiter Gang, dritter Gang, dann ein lautes Aufheulen und vierter Gang. Unter dem sich festklammernden Mann brauste schwindelnd die Straße vorbei. Es war eine Meile bis zur ersten Kurve, dann verlangsamte der Wagen seine Fahrt. Der Mann erhob sich, zwängte die Tür auf und ließ sich auf den Sitz fallen. Der Fahrer blickte zu ihm hinüber und kaute, als würden Gedanken und Eindrücke erst von seinen Kinnladen sortiert und geordnet, bevor sie in seinem Gehirn registriert wurden. Seine Augen begannen ihre Wanderung bei der neuen Mütze und glitten hinab zu den neuen Kleidern und den neuen Schuhen. Der Mitfahrer lehnte seinen Rücken bequem gegen das Sitzpolster, nahm seine Mütze vom Kopf und wischte sich die schwitzende Stirn und das Kinn damit ab. »Vielen Dank, Kollege«, sagte er. »Meine Haxen wollten’s nicht mehr machen.« 19
»Neue Schuhe, was?« sagte der Fahrer. Seine Stimme hatte denselben Anflug von Heimlichkeit und Anspielung, den auch seine Augen hatten. »Man soll auch keine neuen Schuhe anziehen zum Laufen – bei der Hitze.« Der Mitfahrer blickte hinunter auf seine staubigen gelben Schuhe. »Ich habe keine anderen gehabt«, sagte er. »Und darum muß ich eben die tragen.« Der Fahrer schielte geradeaus auf die Straße und beschleunigte das Tempo noch ein wenig. »Willst du weit?« »Nö – nö! Ich wär’ auch gelaufen, wenn meine Haxen noch mitgemacht hätten.« Die Fragen, die der Fahrer stellte, hatten den Ton eines vorsichtigen Verhörs. Er schien Netze auszulegen, Fallen zu stellen mit seinen Fragen. »Suchst wohl Arbeit?« »Nein, mein Alter hat ’n Stück Land. Vierzig Hektar. Er ist Farmer, aber wir sind schon lange hier.« Der Fahrer warf einen bedeutungsvollen Blick auf die Felder entlang der Straße, wo das Korn sich umgelegt hatte und der Staub darauf lag. Kleine Kieselsteine waren im staubigen Boden zu sehen. Der Fahrer sagte, wie zu sich selbst: »Ein Farmer mit vierzig Hektar Land – und der Staub und die Traktoren haben ihn noch nicht weggejagt?« »Natürlich habe ich jetzt auch lange nichts mehr gehört«, sagte der Mitfahrer. Eine Biene kam hereingeflogen und brummte an der Windschutzscheibe herum. Der Fahrer streckte die Hand aus und trieb die Biene in einen Windstrom hinein, der sie aus dem Fenster blies. »Die Farmer beeilen 20
sich jetzt, daß sie fortkommen«, sagte er. »Ein Traktor schiebt zehn Familien raus. Sind jetzt überall, diese Biester. Reißen alles ein und vertreiben die Farmer. Wie kann denn da dein Alter bleiben?« Seine Zunge und seine Kinnladen beschäftigten sich wieder mit dem vernachlässigten Gummi, drehten und kauten ihn. »Wie gesagt, ich habe lange nichts mehr gehört. Bin nie ein großer Schreiber gewesen – und mein Alter auch nicht.« Schnell fügte er hinzu: »Aber wir können’s beide, wenn wir wollen.« »Hast wohl irgendwo gearbeitet?« Wieder die heimlich forschende Beiläufigkeit. Er blickte hinaus, über die Felder, in die flimmernde Luft und spuckte aus dem Fenster. »Natürlich habe ich gearbeitet«, sagte der Mitfahrer. »Habe ich mir gedacht. Ich habe deine Hände gesehen. Du hast ’ne Pike geschwungen oder ’ne Axt oder ’nen Hammer. Das sieht man deinen Händen an. Ich merke so was gleich. Und bin stolz drauf.« Der Mitfahrer starrte ihn an. Die schweren Reifen des Lastwagens sangen auf der Straße. »Willst du noch was wissen? Ich sag’s dir gern. Brauchst nicht erst zu raten.« »Nun sei man nicht gleich beleidigt. Das war ja keine Neugier von mir.« »Ich sage dir alles. Ich habe nichts zu verbergen.« »Sei nicht beleidigt. Ich merke solche Sachen einfach. Damit vertreibe ich mir die Zeit.« »Ich sage dir alles. Ich heiße Joad, Tom Joad. Mein Alter ist der alte Tom Joad.« Seine Augen ruhten nachdenklich auf dem Fahrer. 21
»Du sollst nicht beleidigt sein, sage ich. Ich habe ja gar nichts weiter gemeint.« »Ich habe auch nichts weiter gemeint«, sagte Joad. »Ich gebe mir nur immer Mühe, bei keinen Leuten anzuecken.« Er hielt inne und blickte hinaus auf die trockenen Felder und die sterbenden Bäume, die in der zitternden Hitze undeutlich in der Ferne zu sehen waren. Aus seiner Seitentasche zog er Tabak und Papier heraus. Er rollte sich die Zigarette unten zwischen den Knien, wo der Wind nicht hinkommen konnte. Der Fahrer kaute so rhythmisch und gedankenvoll wie eine Kuh. Er wartete eine Weile, um den Eindruck des vorangegangenen Gesprächs verfliegen zu lassen. Schließlich, als die Wirkung des Gesprächs überwunden zu sein schien, sagte er: »Jemand, wo niemals einen Lastwagen gefahren hat, kann sich gar nicht vorstellen, wie das ist. Die Eigentümer wollen, daß wir niemand mitnehmen. Also können wir nur dasitzen und die Straße entlangrutschen, wenn wir nicht riskieren wollen, rausgeschmissen zu werden – wie ich’s jetzt mit dir riskiert habe.« »Nett von dir«, sagte Joad. »Ich habe Kerle gekannt, die haben beim Fahren die komischsten Sachen gemacht. Ich weiß noch – einer hat gedichtet. Dabei ist ihm die Zeit vergangen.« Er blickte heimlich hinüber, um zu sehen, ob Joad interessiert oder erstaunt war. Joad schwieg und sah vor sich hin auf die Straße, die lange weiße Straße, die leicht gewellt war, wie eine sanfte Dünung. Der Fahrer fuhr schließlich fort: »Ich erinnere mich noch an so ein Gedicht, das 22
dieser Bursche da geschrieben hatte. Es handelte von ihm und noch zwei anderen, die wo durch die Welt ziehen und Lärm machen und saufen und alles verprügeln. Mir fällt aber nicht mehr ein, wie das Gedicht ging. Der Kerl hatte Worte, wo Jesus Christus nicht gewußt hätte, was sie bedeuten sollen. Ein Teil ging so: ›Und wir sahen einen Nigger mit ’nem Trigger, der war bigger als ’n Elefants-Proboscis oder als ’n Walfischschwanz.‹ Proboscis ist so was wie ’ne Nase. Beim Elefanten ist’s der Rüssel. Er hat mir’s im Wörterbuch gezeigt. Das Wörterbuch hat er überall mit sich rumgeschleppt. Und er hat immer drin gelesen, wenn er zum Kaffeetrinken irgendwo angehalten hat.« Er hielt inne, denn er fühlte sich ziemlich allein bei seiner langen Rede. Seine Augen wandten sich heimlich dem Mitfahrer zu. Joad schwieg. Ungeduldig versuchte der Fahrer, ihn zur Teilnahme an dem Gespräch zu bewegen. »Hast du schon mal jemand gekannt, der so große Worte gebraucht hat?« »Den Pfarrer«, sagte Joad. »Ja, aber es macht einen wahnsinnig, wenn ein Kerl so große Worte redet. Bei ’nem Pfarrer ist das was andres, weil man mit ’nem Pfarrer sowieso keinen Quatsch macht. Aber dieser Kerl meinte ’s nur komisch. Man kümmerte sich gar nicht drum, wenn er große Worte redete, weil er’s nur aus Blödsinn machte. Er wollte sich nicht damit aufblasen.« Der Fahrer war erleichtert. Er wußte zumindest, daß Joad zuhörte. Er steuerte den Wagen schlecht um die Kurve, und die Reifen quietschten. »Wie gesagt«, fuhr er fort, »als Lastwagenfahrer kommt man auf komische Sachen. Muß man ja auch. 23
Man wird ja verrückt, wenn man so dasitzt und die Straße saust unter den Rädern weg. Jemand hat mal gesagt, daß wir Lastwagenkutscher die ganze Zeit essen – die ganze Zeit, in jeder Kneipe an der Straße.« »Ja, ihr scheint da zu leben«, pflichtete Joad bei. »Natürlich halten wir an, aber nicht, um was zu essen. Wir haben überhaupt kaum Hunger. Man hat’s nur satt, verflucht noch mal – satt. Und ’ne Kneipe ist das einzige, wo man anhalten kann, und wenn man anhält, muß man ja auch was nehmen. Und da bestellt man eben ’ne Tasse Kaffee und ’n Stück Kuchen. Das ruht einen dann wieder ’n bißchen aus.« Er kaute langsam seinen Gummi und drehte ihn mit der Zunge um. »Muß langweilig sein«, sagte Joad ohne sonderliche Betonung. Der Fahrer blickte ihn an, um zu sehen, ob er sich über ihn lustig machte. »Ja, es ist keine Kleinigkeit«, sagte er nachdrücklich. »Sieht so einfach aus, bloß dazusitzen und seine acht oder vielleicht zehn und vierzehn Stunden durch die Gegend zu fahren. Aber die Straße geht einem auf die Nerven. Man muß was tun. Manche singen und manche pfeifen. Radio gibt uns die Gesellschaft nicht. Manche nehmen sich auch ’ne Flasche mit, aber die machen’s nicht lange.« Und das letzte sagte er selbstgefällig: »Ich trinke keinen Schluck, bis ich fertig bin.« »Wirklich?« fragte Joad. »Wirklich! Man muß ja auch weiterkommen. Ich denke daran, einen Unterrichtskurs zu nehmen. In Maschinenbau. Ist ganz einfach. Man braucht nur ein paar leichte Sachen zu studieren zu Hause. Dann fahre 24
ich keinen Lastwagen mehr. Dann erzähle ich anderen Leuten, wie man Lastwagen fährt.« Joad zog eine kleine Flasche Whisky aus der Seitentasche seiner Jacke. »Willst du wirklich keinen Schluck?« Seine Stimme klang einladend. »Nein, um Gottes willen. Ich rühre das Zeug nicht an. Kannst ja nicht die ganze Zeit Schnaps trinken und dann studieren, wie ich’s machen will.« Joad korkte die Flasche auf, nahm zwei hastige Schlucke, verschloß sie wieder und steckte sie zurück in seine Tasche. Ein scharfer, heißer Geruch von Whisky füllte die Kabine. »Du hast ja Großes vor«, sagte Joad. »Was ist denn los – hast wohl ’n Mädchen?« »Sicher habe ich ’n Mädchen. Aber ich will auch so weiterkommen. Ich habe meinen Kopf schon eine verdammt lange Zeit trainiert.« Der Whisky schien Joad aufzulockern. Er drehte sich eine neue Zigarette und zündete sie an. »Jetzt habe ich’s nicht mehr weit«, sagte er. Der Fahrer fuhr schnell fort: »Ich brauche keinen Schnaps. Ich trainiere meinen Kopf die ganze Zeit. Vor zwei Jahren habe ich mal einen Kurs dafür genommen.« Er klopfte mit seiner Hand auf das Steuerrad. »Angenommen, ich fahre auf der Straße an jemand vorbei. Ich sehe ihn mir an, und dann, wenn ich vorbei bin, versuche ich, mich an alles an ihm zu erinnern, an seine Kleider und seine Schuhe und seinen Hut, und wie er gegangen ist und vielleicht wie groß er war und wie schwer, und ob er ’ne Narbe gehabt hat. Ich kann’s ganz gut. Ich kann mir in meinem Kopf richtig ein ganzes 25
Bild machen. Manchmal denke ich, ich sollte einen Kurs nehmen und mich auf Fingerabdrücke spezialisieren. Du würdest dich wundern, wieviel ein Mann in seinem Kopf behalten kann.« Joad nahm einen schnellen Schluck aus seiner Flasche. Er zog den letzten Rauch aus seiner ausgefransten Zigarette, und dann drückte er mit seinem schwieligen Daumen und Zeigefinger die Glut aus. Er zerrieb den Stummel zu Mus und hielt ihn aus dem Fenster und ließ ihn sich von den Fingern wehen. Die großen Reifen sangen schrill auf dem Straßenpflaster. Joads dunkle, stille Augen nahmen einen belustigten Ausdruck an, als er so auf die Straße starrte. Der Fahrer wartete und blickte beunruhigt zu ihm hinüber. Schließlich zog sich Joads lange Unterlippe grinsend von den Zähnen, und er kicherte leise vor sich hin. Seine Brust zuckte vor verhaltenem Lachen. »Du hast aber verdammt lange gebraucht, bis du drauf gekommen bist, Kollege.«. Der Fahrer sah ihn nicht an. »Worauf gekommen? Was meinst du?« Joads Lippen schlossen sich für einen Augenblick über den langen Zähnen, dann leckte er sie sich, zweimal, von der Mitte aus zu den Mundwinkeln. Seine Stimme wurde rauh. »Du weißt genau, was ich meine. Du hast mich von oben bis unten angesehen, wie ich eingestiegen bin. Ich hab’s doch gemerkt.« Der Fahrer blickte geradeaus und umklammerte das Steuerrad so fest, daß das Weiche seiner Hände hervorquoll und die Handrücken weiß wurden. Joad fuhr fort: »Du weißt, wo ich herkomme.« 26
Der Fahrer schwieg. »Oder nicht?« Joad war beharrlich. »Na, sicher. Das heißt – vielleicht. Aber ’s geht mich nichts an. Ich kümmere mich um meinen eigenen Kram. Ist mir auch ganz schnuppe.« Die Worte sprudelten jetzt heraus. »Ich stecke meine Nase nicht bei andern Leuten in den Kram.« Und plötzlich verstummte er und wartete. Und seine Hände auf dem Steuerrad waren noch immer weiß. Eine Heuschrecke flog zum Fenster herein, setzte sich auf das Armaturenbrett und begann sich mit ihren gewinkelten Sprungbeinen die Flügel zu putzen. Joad griff zu und zerdrückte den harten kleinen Kopf der Heuschrecke zwischen seinen Fingern und hielt ihn in den Windstrom aus dem Fenster. Er kicherte wieder, während er sich die Überreste des toten Insekts von den Fingerspitzen wischte. »Du hast mich falsch verstanden, Kollege«, sagte er. »Ich will gar nichts verschweigen. Natürlich bin ich in McAlester gewesen. Vier Jahre. Und die Kleider, wo ich anhabe, haben sie mir gegeben, wie ich rauskam. Ist mir egal, ob man’s sieht. Und jetzt gehe ich zur Farm von meinem Alten. Da brauche ich mir wenigstens keine Arbeit zu suchen.« Der Fahrer sagte: »Geht mich ja nichts an. Ich stecke meine Nase nicht bei andern Leuten in den Kram.« »Aber verdammt steckst du sie rein«, sagte Joad. »Sie steht dir ja acht Meilen weit aus dem Gesicht. Und mit deiner großen, alten Nase hast du mich beschnüffelt wie ein Schaf ’n Gemüsebeet.« Das Gesicht des Fahrers spannte sich. 27
»Du hast’s ganz falsch verstanden …«, begann er schwach. Joad lachte. »Du bist ein anständiger Kerl gewesen. Du hast mich mitgenommen. Verdammt – natürlich habe ich gesessen! Na und? Jetzt willst du wohl wissen, warum ich gesessen habe, was?« »Das geht mich nichts an.« »Jawohl, nichts geht dich was an, außer deiner Kiste hier. Und nicht mal um die kümmerst du dich richtig. Nun paß auf. Siehst du die Straße da oben?« »Ja.« »Gut. Da steige ich aus. Sicher, ich weiß, daß du dir in die Hosen machst aus Neugier, weshalb ich gesessen habe. Warte nur, ich bin nicht so, daß ich’s dir nicht verrate.« Das hohe Summen des Motors wurde matter, und das Singen der Reifen ließ nach. Joad holte seine Flasche heraus und nahm noch einen kurzen Schluck. Der Lastwagen hielt dort, wo ein Feldweg auf die große Straße mündete, an. Joad stieg aus und stand neben dem Kabinenfenster. Das senkrechte Auspuffrohr stieß tuckernd seinen kaum sichtbaren Rauch aus. Joad beugte sich zu dem Fahrer hinein. »Totschlag«, sagte er schnell. »Ein großes Wort, was? – und heißt, daß ich einen umgebracht habe. Sieben Jahre. Habe aber nur vier gesessen, weil ich mich ordentlich verhalten habe.« Die Augen des Fahrers wanderten über Joads Gesicht, um sich später an ihn zu erinnern. »Ich habe dich nach nichts gefragt« sagte er. »Ich kümmere mich um meinen eigenen Kram.« 28
»Du kannst’s in jeder Kneipe von hier bis Texola erzählen.« Er lächelte. »Wiedersehn, Kollege. Bist ’n anständiger Kerl gewesen. Aber sieh mal, wenn man ’ne Weile im Kittchen gesessen hat, kann man ’ne Frage schon von weitem riechen. Und du hast deine in die Gegend telegrafiert, wie du ’s erstemal die Schnauze aufgemacht hast.« Er klopfte mit der Handfläche auf die Metalltür. »Danke fürs Mitnehmen«, sagte er. Dann drehte er sich um und trat auf den Feldweg. Einen Moment lang blickte der Fahrer ihm nach, dann rief er: »Viel Glück!« Joad winkte mit der Hand, ohne sich umzusehen. Der Motor heulte auf, der erste Gang wurde eingeschaltet, und der große rote Lastwagen rollte schwer davon.
3 Am Rande der großen Asphaltstraße wuchs Gras, struppiges, geknicktes, trockenes Gras, und die Grasköpfe waren schwer von Haferbärten, um sich am Pelz eines Hundes festzuklammern, von Fuchsschwänzen, um sich an das Knötenhaar eines Pferdes zu hängen, von Kleebällchen, um sich in die Wolle von Schafen zu setzen – schlafendes Leben, das nur darauf wartete, verstreut und verbreitet zu werden, jeder Samen bewaffnet mit einem Mittel zur Verbreitung, mit kleinen Pfeilen und Fallschirmen für den Wind, kleinen Speeren und Ballen von winzigen Dornen, und sie alle warteten auf Tiere oder 29
auf den Wind, auf eines Mannes Hosenumschlag oder den Kleidersaum einer Frau, passiv alle, aber bewaffnet mit Mitteln der Aktivität, reglos, aber ein jedes erfüllt vom Trieb nach Bewegung. Die Sonne lag auf dem Gras und wärmte es, und im Schatten unter dem Gras krochen Insekten umher, Ameisen und Ameisenlöwen, die ihnen Fallen stellten; Grashüpfer, die in die Luft sprangen und ihre gelben Flügel eine Sekunde lang herausschnellen ließen; Asseln, die kleinen Gürteltieren glichen und auf ihren vielen zarten Füßen rastlos umherliefen. Und auf dem Gras am Rande der Straße kroch eine Schildkröte, wandte sich grundlos zur Seite und schleppte ihren hochgewölbten Panzer über das Gras. Ihre harten Beine und die Füße mit den gelben Nägeln zogen sich mühsam durchs Gras, sie gingen nicht eigentlich, sondern zogen und schleppten angestrengt den Panzer weiter. Die Gerstengrannen glitten an dem Panzer ab, die Kleebällchen fielen auf ihn und rollten wieder zu Boden. Der hornige Schnabel war halb geöffnet, und die ungestümen, lustigen Augen unter den Brauen, die Fingernägeln glichen, blickten geradeaus. Sie kroch über das Gras und ließ eine zertretene Spur hinter sich, und ein Hügel – der Damm der großen Asphaltstraße – türmte sich vor ihr auf. Einen Moment lang blieb sie stehen, den Kopf hochgehalten. Sie blinzelte und blickte auf und nieder. Schließlich begann sie den Damm zu erklimmen. Die kralligen Vorderfüße griffen nach vorn, packten aber nicht zu. Die Hinterfüße stießen den Panzer vorwärts, er schrammte auf dem Gras und auf dem Sand. Und je steiler der 30
Damm wurde, desto angestrengter die Bemühungen der Schildkröte. Die schiebenden Hinterbeine spannten und beugten sich, und der hornige Kopf streckte sich so weit vor, wie der Hals sich dehnte. Nach und nach gelangte der Panzer auf den Damm, bis schließlich eine Mauer den Weg versperrte, die Kante der Straße, ein zehn Zentimeter hoher Zementwall. Gleichsam als arbeiteten sie unablässig, stießen die Hinterbeine den Panzer gegen den Wall. Der Kopf hob sich und blickte über die Mauer auf die breite, glatte Asphaltstraße. Jetzt streckten die an die Mauer angeklammerten Vorderfüße sich und zogen, und langsam hob sich der Panzer, bis er mit dem vorderen Ende auf der Mauer lag. Einen Augenblick ruhte die Schildkröte sich aus. Eine rote Ameise rannte in den Panzer hinein, in die weiche Haut im Innern des Panzers, und plötzlich wurden Kopf und Beine eingezogen und der gepanzerte Schwanz seitwärts nach innen geschlagen. Die rote Ameise wurde zwischen Körper und Beinen zerquetscht. Und ein Kopf von wildem Hafer war von den Vorderbeinen in den Panzer geklemmt worden. Eine lange Weile lag die Schildkröte still, und dann kroch der Hals heraus, und die alten, lustigen, besorgten Augen blickten sich um, und Beine und Schwanz kamen heraus. Die Hinterbeine begannen zu arbeiten, angestrengt wie die Beine eines Elefanten, und der Panzer kippte auf einen Winkel, in dem die Vorderbeine den ebenen Asphaltboden noch nicht erreichen konnten. Aber höher und höher schoben die Hinterbeine ihn, bis er schließlich auf dem Gleichgewichtspunkt angelangt war. Das Vorderteil kippte nach 31
vorn, die Vorderbeine kratzten auf dem Pflaster, und die Schildkröte war oben. Aber die Vorderbeine hielten noch immer den Kopf des Haferhalms beim Stiel. Jetzt war das Gehen leicht, und alle Beine arbeiteten, und der Panzer kroch, von einer Seite auf die andere wackelnd, weiter. Ein Auto, das von einer vierzigjährigen Frau gesteuert wurde, näherte sich. Sie sah die Schildkröte und bog rechts aus, kam von der Straße herunter, die Räder schrien, und eine Staubwolke wirbelte auf. Zwei Räder hoben sich für einen Moment und kamen dann wieder auf den Boden. Der Wagen schlitterte zurück auf die Straße und fuhr weiter, langsamer jetzt. Die Schildkröte hatte sich in ihren Panzer zurückgezogen, aber jetzt eilte sie weiter; denn die Straße war brennend heiß. Und dann kam ein leichter Lastwagen, und als er sich näherte, sah der Fahrer die Schildkröte und steuerte auf sie zu, um sie zu überfahren. Ein Vorderrad traf die Kante des Panzers, und die Schildkröte flog, gleich einem Plättchen beim Flohspiel, hoch, wirbelte herum wie eine Münze und rollte von der Straße herunter. Der Lastwagen fuhr auf die rechte Seite zurück und weiter. Die Schildkröte lag auf dem Rücken und hielt sich für lange Zeit still in ihrem Gehäuse. Aber schließlich griffen die Beine in die Luft, um etwas zu erhaschen, woran sie sich herumziehen konnte. Die Vorderfüße fanden ein Stück Quarz, und nach und nach wurde das Gehäuse herumgezogen, bis die Schildkröte wieder auf dem Bauch lag. Der wilde Hafer fiel heraus, und drei kleine Pfeilspitzen stachen sich in den Boden ein. Und als die 32
Schildkröte vom Straßendamm herunterkroch, zog sie mit ihrem Panzer Schmutz über die Samen. Die Schildkröte kam auf einen Feldweg und stieß sich vorwärts, und der Panzer ließ auf dem Sand eine flache, wellige Spur zurück.
4 Als Joad hörte, wie der Lastwagen weiterfuhr, wie ein Gang nach dem anderen geschaltet wurde und der Boden unter den mächtigen Reifen dröhnte, blieb er stehen, drehte sich um und blickte ihm nach, bis er verschwand. Und als der Lastwagen nicht mehr zu sehen war, sah Joad in den blauen Luftschimmer und in die Ferne. Nachdenklich zog er die Flasche hervor, schraubte den kleinen Metalldeckel ab und schlürfte den Whisky genießerisch. Er steckte die Zunge in den Flaschenhals und fuhr sich dann mit ihr über die Lippen, damit ihm auch nicht der kleinste Tropfen entginge. Er sagte langsam: »Und wir sahen einen Nigger …«, aber das war auch alles, was ihm noch einfiel. Schließlich wandte er sich wieder um und hatte den staubigen Feldweg vor sich, der in rechtwinkligen Windungen durch Äcker führte. Die Sonne war heiß, und nicht der leiseste Wind rührte den dünnen Staub auf. Der Weg war gefurcht von Rillen, dort, wo der Staub sich gelöst hatte und zurückgefallen war in die Wagenspuren. Joad tat ein paar Schritte, und der mehlige Staub sprühte vor seinen 33
neuen gelben Schuhen auf, und das Gelb verschwand unter grauem Staub. Er bückte sich, band die Schnürbänder auf und zog erst den einen Schuh und dann den anderen aus. Und er wühlte seine feuchten Füße in den heißen, trockenen Staub, bis er zwischen seinen Zehen hindurchquoll und die Haut seiner Füße sich vor Trockenheit spannte. Er zog seine Jacke aus und wickelte seine Schuhe hinein und schob sich das Bündel unter den Arm. Und schließlich ging er weiter. Der Staub schoß vor ihm hoch und bildete eine Wolke, die hinter ihm noch lange über dem Boden hing. An der rechten Seite des Weges war ein Zaun, zwei Reihen Stacheldraht an Weidenpfählen. Die Pfähle waren schief und schlecht eingesetzt. Wo ein Haken in der richtigen Höhe saß, war der Draht hindurchgezogen, und wo es keinen Haken gab, war der Stacheldraht mit rostigem anderem Draht an den Pfosten gebunden. Jenseits des Zaunes lag das Korn, von Wind, Hitze und Trockenheit niedergeschlagen, am Boden, und die Winkel, wo die Blätter sich mit dem Stiel vereinigten, waren ausgefüllt von Staub. Joad trottete den Weg entlang und zog eine Staubwolke hinter sich her. Ein paar Schritte vor sich sah er den hochgewölbten Panzer einer Schildkröte, die langsam und mit steifen, ruckartigen Bewegungen ihrer Beine durch den Staub kroch. Joad blieb stehen, um sie zu betrachten, und sein Schatten fiel auf die Schildkröte. Sofort wurden Kopf und Beine eingezogen und der kurze, dicke Schwanz seitwärts in den Panzer geklemmt. 34
Joad hob sie auf und drehte sie um. Der Rücken war braungrau wie der Staub, aber die Unterseite des Panzers war cremegelb, sauber und glatt. Joad schob sich das Bündel höher unter den Arm und strich mit seinem Finger über die glatte Fläche des Panzers und drückte sie. Sie war weicher als der Rücken. Der harte alte Kopf kam heraus und versuchte, den drückenden Finger zu sehen, und die Beine strampelten wild. Die Schildkröte näßte auf Joads Hand und kämpfte nutzlos in der Luft. Joad drehte sie wieder auf den Rücken und rollte sie zusammen mit den Schuhen in seine Jacke ein. Er ging jetzt schneller weiter und grub dabei seine Hacken ein wenig in den feinen Staub. Vor ihm, neben der Straße, warf ein knorriger, mit Staub bedeckter Weidenbaum einen fleckigen Schatten. Joad konnte ihn vor sich sehen, seine dünnen Äste hingen über dem Weg, sein Blätterschmuck war zerfetzt und struppig, wie die Federn eines Huhnes, das sich mauserte. Joad schwitzte jetzt. Sein blaues Hemd wurde am Rücken und unter den Armen dunkel. Er zog am Schild seiner Mütze, drückte es in der Mitte und zerbrach dabei die Pappfüllung so vollständig, daß die Mütze nie mehr neu aussehen würde. Schneller und zielbewußter trugen ihn seine Schritte auf den Schatten des entfernten Weidenbaumes zu. Bei der Weide – das wußte er – würde er Schatten finden, zumindest einen Streifen von dichtem Schatten, den der Stamm warf, denn die Sonne war bereits über den Zenit. Die Sonne stach ihn in den Nacken und verursachte ein leises Summen in seinem Kopf. Das Untere des Baumes 35
konnte er nicht sehen, denn er stand in einer kleinen Senke, in der sich das Wasser länger hielt als auf ebenen Stellen. Joad beschleunigte seinen Schritt und begann den Abhang hinunterzulaufen. Doch dann zögerte er, denn der Streifen von dichtem Schatten war besetzt. Ein Mann saß auf der Erde und lehnte sich gegen den Baumstamm. Er hatte die Beine gekreuzt, und einer seiner Füße lag fast so hoch wie sein Kopf. Er hörte Joad nicht kommen, denn er pfiff feierlich die Melodie von »Yes, Sir, that’s my baby«. Sein ausgestreckter Fuß wippte im Takt langsam auf und ab. Es war kein Tanztakt. Er hörte auf zu pfeifen und sang mit einer leichten, dünnen Tenorstimme: Ja, Herr, das ist mein Heiland, Je-sus ist mein Heiland, Je-sus ist mein Heiland jetzt. Obenauf ist nicht Mehr der Bösewicht, Je-sus ist mein Heiland jetzt. Erst als Joad in den durchlässigen Schatten der struppigen Blätter getreten war, bemerkte der Mann ihn, hörte auf zu singen und wandte den Kopf um. Es war ein länglicher Kopf, knochig und mit strammer Haut, und er saß auf einem Hals, der so sehnig und muskulös war wie ein Selleriestengel. Seine Augen waren schwer und standen ein wenig hervor, und die Lider, die sich darüber deckten, waren rot und entzündet. Seine Wangen waren braun und glänzend und haarlos, und sein Mund 36
war voll – lustig oder sinnlich. Über der Nase spannte sich die Haut so stramm, daß der Nasenrücken weiß war. Es stand kein Schweiß auf dem Gesicht, nicht einmal auf der hohen, blassen Stirn. Es war eine ungewöhnlich hohe Stirn, an den Schläfen von feinen blauen Adern durchzogen. Die volle Hälfte des Gesichtes lag über den Augen. Sein steifes graues Haar war zurückgestrichen. Er trug einen Overall und ein blaues Hemd. Eine Zwillichjacke mit Messingknöpfen und ein fleckiger brauner Hut, runzlig wie eine Boulette, lagen neben ihm auf der Erde. Segeltuchschuhe, grau von Staub, lagen dort, wohin sie gefallen waren, als er sie abgestreift hatte. Der Mann blickte Joad lange an. Das Licht schien tief in seine braunen Augen zu dringen und ließ in der Iris kleine goldene Flecke aufleuchten. Die gespannten Muskeln am Hals standen hervor. Joad stand noch immer in dem gesprenkelten Schatten. Er nahm seine Mütze ab, wischte sich das Gesicht damit und warf dann die Mütze und die zusammengerollte Jacke auf den Boden. Der Mann in dem dichten Schatten nahm seine gekreuzten Beine auseinander und grub mit den Zehen in der Erde. Joad sagte: »Höllisch heiß auf der Straße.« Der sitzende Mann blickte überlegen zu ihm auf. »Sag mal, bist du nicht Tom Joad – der Junge vom alten Tom?« »Ja«, sagte Joad. »Schon immer gewesen. Will jetzt nach Hause.« »Du wirst dich nicht mehr an mich erinnern, wahr37
scheinlich«, sagte der Mann. Er lächelte, und hinter seinen vollen Lippen waren große Pferdezähne zu sehen. »Nein, nein – du kannst dich nicht erinnern. Du hast die ganze Zeit das kleine Mädchen am Zopfschwänzchen gezupft, wie ich dich mit dem Heiligen Geist getauft habe. Du hast alles drangesetzt gehabt, um ihr den kleinen Zopf bei den Wurzeln auszureißen. Du wirst’s wahrscheinlich nicht mehr wissen, aber ich weiß es. Und wegen dieses Zöpfchenzerrens seid ihr beide gleich zu Jesus gekommen. Ich habe euch sofort im Bewässerungsgraben getauft. Geschrien und gestrampelt habt ihr wie zwei kleine Katzen.« Joad sah ihn mit gesenkten Augen an, und dann lachte er. »Natürlich, du bist der Prediger. Du bist der Prediger. Noch keine Stunde her, da habe ich zu jemand was über dich gesagt.« »Ich war Prediger«, sagte der Mann ernst. »Reverend * Jim Casy – vom Brennenden Dornbusch . Und ich habe Jesu Namen schreiend gepriesen. Und der Bewässerungsgraben war immer so gerammelt voll von reuigen Sündern, daß die Hälfte fast ersoffen wäre. Aber das war mal …«, er seufzte. »Jetzt bin ich nur noch Jim Casy. Bin nicht mehr berufen. Habe ’nen Haufen sündige Gedanken – aber irgendwie sind sie ganz vernünftig.« Joad sagte: »Man muß ja auf Gedanken kommen, wenn man über die Sachen nachdenkt. Natürlich erinnere ich mich an dich. Du hast immer schöne Versammlungen gemacht. Ich weiß noch, einmal hast du *
Religiöse Sekte (Anmerkung des Übersetzers). 38
’ne ganze Rede gehalten und bist dabei auf den Händen rumgelaufen und hast dir die Seele aus dem Leibe geschrien. Mutter hat mehr von dir gehalten als wie von allen andern. Und Großmutter hat gesagt, du wärst vom Geist besessen.« Joad wühlte in seiner zusammengerollten Jacke, fand die Tasche und zog seine Flasche hervor. Die Schildkröte bewegte ein Bein, aber er wickelte sie wieder fest ein. Er schraubte den Deckel ab und hielt dem Prediger die Flasche hin. »Trinkst du ’n Schluck?« Casy nahm die Flasche und betrachtete sie sinnend. »Ich predige nicht mehr viel. Der Geist ist nicht mehr in den Leuten, und – was viel schlimmer ist – der Geist ist nicht mehr in mir. Natürlich – ab und zu regt sich der Geist, und dann halte ich ’ne Versammlung, oder wenn die Leute sich zum Essen setzen, gebe ich ihnen meinen Segen, aber mein Herz ist nicht mehr dabei. Ich mach’s nur, weil sie’s von mir erwarten.« Joad wischte sich wieder das Gesicht mit seiner Mütze ab. »Du bist aber doch nicht zu heilig, um einen zu heben – oder?« fragte er. Casy schien die Flasche jetzt zum erstenmal zu sehen. Er hob sie und nahm drei große Schlucke. »Guter Schnaps«, sagte er. »Muß ja auch«, sagte Joad. »Das ist Fabrikschnaps. Hat ’n Dollar gekostet.« Casy nahm noch einen Schluck, dann gab er die Flasche zurück. »Jaja!« sagte er. »Jaja!« Joad nahm die Flasche und wischte aus Höflichkeit den Flaschenhals nicht mit seinem Ärmel ab, bevor er 39
trank. Er hockte sich hin und stellte die Flasche aufrecht gegen seine Jackenrolle. Seine Finger fanden ein Stöckchen, mit dem er seine Gedanken auf den Boden zeichnen konnte. Er fegte die Blätter vor sich weg, strich den Staub glatt und zeichnete Winkel und kleine Kreise. »Ich habe dich lange nicht gesehen«, sagte er. »Niemand hat mich gesehen«, erwiderte der Prediger. »Ich bin weggegangen, alleine, und habe mich hingesetzt und nachgedacht. Der Geist ist stark in mir, nur ist’s nicht mehr dasselbe. Ich bin mir über viele Sachen nicht mehr so sicher.« Er setzte sich etwas aufrechter gegen den Baum. Seine knochige Hand bohrte sich gleich einem Eichhörnchen in die Tasche seines Overalls und zog ein schwarzes zerbissenes Stück Tabak hervor. Er wischte sorgfältig die kleinen Stückchen Stroh und den grauen Taschendreck herunter, bevor er eine Ecke abbiß, die er sich in die Backe schob. Joad winkte verneinend mit seinem Stöckchen, als ihm der Kautabak hingehalten wurde. Die Schildkröte wühlte in der zusammengerollten Jacke herum. Casy sah das sich bewegende Kleidungsstück an. »Was hast du da? Ein Huhn? Du wirst’s ersticken.« Joad rollte die Jacke fester zusammen. »Eine alte Schildkröte«, sagte er. »Ich habe sie auf der Straße aufgelesen. Ich dachte, ich will sie meinem kleinen Bruder mitnehmen. Kinder haben immer Spaß an Schildkröten.« Der Prediger nickte langsam mit dem Kopf. »Jedes Kind hat irgendwann mal ’ne Schildkröte gehabt. Trotzdem – niemand kann ’ne Schildkröte halten. Sie arbeiten und arbeiten, und eines Tages haben sie’s geschafft und 40
sind draußen und laufen weg – irgendwohin. Genau wie ich. Ich habe das gute alte Evangelium, das wo direkt neben mir lag, nicht gewollt. Ich habe daran rumgepickt und daran herumgearbeitet, bis ich’s ganz zerrissen hatte. Und jetzt habe ich den Geist manchmal in mir und nichts, über was ich predigen kann. Ich bin berufen, die Leute zu führen, und weiß nicht, wohin ich sie führen soll.« »Führ sie einfach rundherum«, sagte Joad. »Schmeiß sie in den Bewässerungsgraben. Erzähl ihnen, sie müssen in der Hölle verbrennen, wenn sie nicht denken wie du. Warum, zum Teufel, willst du sie irgendwohin führen? Führ sie einfach. Das genügt.« Der Schatten des Baumstammes auf der Erde war länger geworden. Joad rückte zur Seite, mehr in den Schatten hinein, und machte sich eine neue glatte Stelle, auf die er mit dem Stöckchen seine Gedanken zeichnen konnte. Ein gelber Schäferhund mit dickem Fell kam die Straße entlanggetrottet, den Kopf gesenkt, die tropfende Zunge heraushängend. Sein Schwanz war lahm zusammengerollt, und er keuchte laut. Joad pfiff ihm zu, aber er senkte den Kopf nur noch tiefer und lief schnell auf irgendein bestimmtes Ziel zu. »Läuft irgendwohin«, erklärte Joad, ein wenig gekränkt. »Nach Hause wahrscheinlich.« Der Prediger war nicht von seinem Thema abzubringen. »Läuft irgendwohin«, wiederholte er. »Das ist richtig, er läuft irgendwohin. Und ich – ich weiß nicht, wo ich hinlaufen soll. Ich will dir was sagen – früher habe ich die Leute so weit gebracht, daß sie gesprungen sind und in Zungen geredet haben und Hallelujah geschrien haben, bis sie einfach hingefallen sind und weg waren. 41
Und manchmal habe ich sie dann getauft, damit sie wieder zu sich kamen. Und dann – weißt du, was ich dann gemacht habe? Ich habe eins von den Mädchen mit rausgenommen ins Gras und mit ihm geschlafen. Das habe ich jedesmal gemacht. Dann habe ich ein schlechtes Gewissen gehabt und habe gebetet und gebetet, aber das hat nichts geholfen. Das nächstemal, da waren sie und ich wieder ganz voll vom Geist, und da hab’ ich’s wieder gemacht. Und ich habe gedacht, daß da einfach keine Hoffnung mehr für mich ist und daß ich ein elender alter Heuchler bin. Aber ich habe keiner sein wollen.« Joad lächelte, und seine langen Zähne teilten sich, und er leckte sich die Lippen. »Nichts ist so gut wie eine richtige wilde Versammlung, um sie rumzukriegen«, sagte er. »Ich hab’s selbst auch gemacht.« Casy beugte sich aufgeregt nach vorn. »Siehst du«, rief er, »ich habe gesehen, daß es so war, und habe angefangen, mir’s zu überlegen.« Er wedelte in einer tätschelnden Geste mit seiner Hand auf und nieder. »Ich habe mir’s so gedacht: ›Hier predige ich den Leuten meine Gnade. Und hier sind die Leute und kriegen so viel Gnade, daß sie anfangen zu springen und zu schreien. Nun sagt man, daß mit einem Mädchen schlafen vom Teufel kommt. Aber je mehr Gnade ein Mädchen in sich hat, um so schneller will sie mit einem rausgehen ins Gras.‹ Und ich habe mir überlegt, wie denn der Teufel in so ein Mädchen fahren kann, wenn sie so voll ist vom Heiligen Geist, daß er ihr aus Nase und Ohren sprüht. Man konnte denken, daß der Teufel sich eines 42
Tages in seiner Hölle verdammt alleine fühlen wird. Aber so war es nun.« Seine Augen leuchteten vor Aufregung. Er knetete seine Backen, und dann spuckte er in den Staub, und die Spucke rollte und rollte, setzte Staub an, bis sie aussah wie ein rundes trockenes Kügelchen. Der Prediger breitete seine Hand aus und blickte in seine Handfläche, als läse er ein Buch. »Und da bin ich«, fuhr er halblaut fort. »Da bin ich mit den Seelen all der Leute in meiner Hand – und ich fühle die Verantwortung –, und jedesmal schlafe ich mit einem der Mädchen.« Er blickte zu Joad hinüber und sah hilflos aus. Sein Gesichtsausdruck flehte um Hilfe. Joad zeichnete langsam den Akt einer Frau in den Sand, Brüste, Hüften, Becken. »Ich bin nie Prediger gewesen«, sagte er. »Ich habe mir nie etwas entgehen lassen, wenn ich’s kriegen konnte. Und ich habe mir nie Gedanken drüber gemacht, außer daß ich verdammt froh war, wenn ich eine hatte.« »Aber du warst kein Prediger«, ereiferte sich Casy. »Ein Mädchen war einfach ein Mädchen für dich. Nichts weiter. Aber für mich waren sie was Heiliges. Ich rettete ihre Seelen. Und mit all der Verantwortung auf mir habe ich sie einfach zum Überschäumen gebracht, und dann habe ich sie mir raus ins Gras genommen.« »Vielleicht hätte ich auch Prediger werden sollen«, sagte Joad. Er zog Tabak und Papier hervor und drehte sich eine Zigarette. Er brannte sie an und blinzelte durch den Rauch zu dem Prediger hinüber. »Ich habe lange kein Mädchen gehabt«, sagte er. »Wird nicht leicht sein, eine zu finden.« 43
Casy fuhr fort: »Es hat mir solche Sorgen gemacht, daß ich nicht schlafen konnte. Und wenn ich predigen gegangen bin, habe ich mir gesagt: ›Diesmal machst du’s nicht.‹ Und während ich mir’s noch sagte, wußte ich, daß ich’s doch machen würde.« »Du müßtest ’ne Frau haben«, sagte Joad. »Bei uns hat mal ’n Prediger mit seiner Frau gewohnt. Das waren Jehoviten. Haben oben geschlafen. Und in unserer Scheune haben sie Versammlungen abgehalten. Wir Kinder haben immer zugehört. Und die Frau von dem Prediger hat jedesmal nach ’ner Versammlung nachts verdammt in ihrem Bett gestöhnt.« »Ich freue mich, daß du mir das erzählst«, sagte Casy. »Ich dachte schon, nur ich bin so. Schließlich hat’s mich so gequält, daß ich weggelaufen bin und richtig gründlich drüber nachgedacht habe.« Er schlug die Beine übereinander und kratzte sich zwischen seinen trockenen, staubigen Zehen. »Ich sage zu mir: ›Was ist nun eigentlich mit dir los? Bist du verrückt?‹ Und ich sage: ›Nein, es ist die Sünde.‹ Und ich sage: ›Warum muß ein Mann, grade wenn er vor der Sünde sicher sein sollte und ganz erfüllt sein sollte von Jesus, warum muß ein Mann dann ausgerechnet an seinen Hosenknöpfen rumfingern?‹« Er ließ zwei Finger rhythmisch auf seine Handfläche fallen, als lege er dort langsam ein Wort neben das andere. »Ich sage: ›Vielleicht ist es gar keine Sünde. Vielleicht sind die Leute einfach so. Vielleicht haben wir für nichts und wieder nichts die Hölle aus uns herausgepeitscht.‹ Und ich dachte an irgendwelche Schwestern, die mal angefangen haben, sich mit einem 44
drei Fuß langen Stacheldraht zu schlagen. Und ich dachte, vielleicht tun wir uns ganz gerne selbst weh, und vielleicht tue auch ich mir ganz gerne selbst weh. Na also, ich lag unter einem Baum, wie ich mir das alles überlegte, und ich schlief ein. Und dann kommt die Nacht, und es war dunkel, wie ich aufwache. Und irgendwo hat ein Steppenwolf geheult. Ehe ich’s wußte, sagte ich laut: ›Ach was, zum Teufel! Es gibt keine Sünde und es gibt keine Keuschheit. Es gibt nur das, was die Menschen tun. Es ist alles ein Teil von ein und derselben Sache. Und manches, was die Leute tun, ist gut, und manches ist nicht gut, aber das ist auch alles, was man sagen kann.‹« Joad grinste ihn an, aber Joads Augen waren scharf und interessiert. »Na, das hast du dir ja gründlich überlegt.« Casy sprach abermals, und in seiner Stimme klangen Schmerz und Verwirrung. »Ich sage: ›Was ist diese Berufung, dieser Geist?‹ Und ich sage: ›Es ist Liebe. Ich liebe die Menschen so, daß ich manchmal beinahe zerspringe.‹ Und ich sage: ›Liebst du Jesus?‹ Na, darüber dachte ich dann nach und dachte nach, und schließlich sage ich: ›Nein, ich kenne niemand, wo Jesus heißt. Ich kenne ein Buch mit Geschichten, aber ich liebe nur die Menschen. Und manchmal liebe ich sie so, daß ich beinahe zerspringe, und ich will sie glücklich machen, und deshalb habe ich ihnen was vorgepredigt, weil ich geglaubt habe, davon würden sie glücklich.‹ Und dann – ich habe aber schon verflucht viel geredet. Vielleicht wunderst du dich, daß ich solche schlimmen Worte gebrauchte. 45
Siehst du, sie sind eben nicht mehr schlimm für mich. Sind einfach Worte, wo die Leute gebrauchen, und die Leute meinen nichts Schlimmes damit. Jedenfalls will ich dir noch eine Sache sagen, wo ich mir ausgedacht habe, und für einen Prediger ist das eine furchtbar unreligiöse Sache, und ich kann kein Prediger mehr sein, weil ich mir das ausgedacht habe und weil ich daran glaube.« »Na, und was ist das?« fragte Joad. Casy blickte ihn schüchtern an. »Wenn’s dir nicht richtig vorkommt, dann sei nicht beleidigt, nein?« »Ich bin nie beleidigt, außer wenn mir jemand die Nase einschlägt«, sagte Joad. »Was hast du dir ausgedacht?« »Ich habe über den Heiligen Geist und Jesus nachgedacht. Ich habe gedacht: ›Weshalb müssen wir immer alles an Gott oder an Jesus hängen?‹ – ›Vielleicht‹, habe ich gedacht, ›vielleicht ist alles nur für die Männer und Frauen, die wir lieben. Vielleicht ist das der Heilige Geist – der menschliche Geist – und das Ganze, was wir drum rumreden. Vielleicht haben alle Menschen eine große Seele, und jeder hat ein Teil davon.‹ Und ich sitze da und überlege mir das, und ganz plötzlich – ganz plötzlich habe ich’s gewußt. Ich habe es ganz tief in mir drin gewußt, daß es wahr ist, und ich weiß es immer noch.« Joad senkte den Blick zu Boden, als könne er der nackten Ehrlichkeit in den Augen des Predigers nicht standhalten. »Du kannst aber keine Kirche halten mit solchen Ideen«, sagte er. »Die Leute würden dich aus dem Land 46
treiben mit solchen Ideen. Springen und schreien. Das ist’s, was die Leute wollen. Da fühlen sie sich ganz groß. Wenn Großmutter anfing in Zungen zu reden, war nichts mit ihr zu machen. Da konnte sie mit ihrer Faust ’nen ausgewachsenen Geistlichen niederschlagen.« Casy betrachtete ihn brütend. »Ich muß dich was fragen«, sagte er, »was mir keine Ruhe läßt.« »Man los. Ich rede gerne – manchmal.« »Ja …«, sagte der Prediger langsam, »siehst du, ich habe dich doch getauft, wie ich noch allen Segen hatte. Und an dem Tag war ich so erfüllt von Jesus, daß er mir aus dem Mund geströmt ist. Du weißt das nicht mehr, weil du dauernd an dem Zöpfchen gezerrt hast.« »Doch, ich weiß«, sagte Joad. »Das war die kleine Susie. Sie hat mich ein Jahr später in den Finger gebissen.« »Ja – und hat dir das Taufen irgendwas Gutes getan? Ich meine, ist dein Wandel besser gewesen?« Joad dachte darüber nach. »N-n-nein, kann nicht sagen, daß ich irgendwas gefühlt hätte.« »Ja – und hast du was Schlechtes davon gehabt? Denk mal scharf nach.« Joad nahm die Flasche und trank einen Schluck. »Da war nichts weiter dran, nichts Gutes nicht und nichts Schlechtes nicht. Es hat mir nur Spaß gemacht.« Er reichte die Flasche dem Prediger hinüber. Casy seufzte und trank und sah, wie wenig Whisky noch in der Flasche war, und nahm einen weiteren kleinen Schluck. »Das ist gut«, sagte er. »Ich habe mir schon Sorgen gemacht, ob mein Herumschlafen vielleicht jemand geschadet hätte.« 47
Joad blickte hinüber zu seiner Jacke und sah, daß die Schildkröte sich befreit hatte und in derselben Richtung davoneilte, die sie verfolgt hatte, als Joad sie fand. Joad beobachtete sie eine Weile, dann stand er langsam auf und holte sie zurück und wickelte sie wieder in seine Jacke. »Ich habe den Kindern gar nichts mitzubringen«, sagte er. »Nichts wie diese alte Schildkröte.« »Komisch«, sagte der Prediger, »ich habe grade an den alten Tom Joad gedacht, wie du angekommen bist. Ich habe mir gedacht, daß ich ihn doch wohl mal besuchen muß. Früher habe ich manchmal gefunden, er ist ein gottloser Mann. Wie geht’s ihm eigentlich?« »Ich weiß nicht, wie’s ihm geht. Ich bin vier Jahre nicht zu Hause gewesen.« »Hat er dir nicht geschrieben?« Joad war verlegen. »Nee, Vater war nie ein großer Schreiber, nicht aus Spaß und nicht, wenn er mußte. Er hat seinen Namen so gut geschrieben wie jeder andere und seinen Bleistift so gut angeleckt wie jeder andere. Aber Vater hat nie keine Briefe geschrieben. Er hat immer gesagt, was er ’nem Mann nicht mit dem Mund erzählen kann, ist auch nicht wert, daß er dafür den Bleistift in die Hand nimmt.« »Bist wohl auf Reisen gewesen?« fragte Casy. Joad betrachtete ihn mißtrauisch. »Hast du nicht von mir gehört? Ich war in allen Zeitungen.« »Nein – nie gehört. Was war denn?« Er schlug ein Bein über das andere und rutschte an dem Baumstamm, gegen den er sich gelehnt hatte, etwas tiefer. Der Nach48
mittag rückte jetzt rasch vor, und die Sonne bekam eine vollere Farbe. Joad sagte freundlich: »Dann will ich’s dir lieber erzählen, damit ich’s hinter mir habe. Wenn du aber noch predigen tätest, würde ich dir nichts sagen, aus Angst, du würdest für mich beten.« Er sog die letzten Tropfen aus der Flasche und warf sie fort. »Ich bin die vier Jahre in McAlester gewesen.« Casy drehte sich zu ihm herum, und seine Brauen senkten sich, so daß seine hohe Stirn noch höher wirkte. »Willst wohl nicht drüber sprechen, was? Ich will dich auch nicht fragen, ob du was Schlimmes gemacht hast …« »Was ich gemacht habe, würde ich auch wieder machen«, sagte Joad. »Ich habe im Kampf einen umgebracht. Bei einer Tanzerei, und wir waren betrunken. Er hat mir ein Messer in den Balg gejagt, und ich habe ihn mit einer Schaufel totgemacht, die gerade dalag. Habe ihm den Kopf platt und zu Brei geschlagen.« Casys Augenbrauen nahmen wieder ihren normalen Platz ein. »Dann schämst du dich also für nichts, was?« »Nein«, sagte Joad. »Ich habe sieben Jahre gekriegt, weil er doch das mit dem Messer gemacht hat. Nach vieren bin ich rausgekommen – Bewährungsfrist.« »Dann hast du vier Jahre nichts von deinen Leuten gehört?« »Ja, gehört schon. Mutter hat mir vor zwei Jahren ’ne Karte geschickt, und letzte Weihnachten hat Großmutter ’ne Karte geschickt. Gott, haben die Jungs in meinem Zellenblock gelacht! Da war ein Weihnachtsbaum 49
drauf und so glitzerndes Zeug, das wie Schnee aussah. Und ein Gedicht, das ging: ›Glückliche Weihnacht, herziges Kind, Jesus mild und Jesus lind, Unter unserm Weihnachtsbaum Liegt ein Geschenk, brauchst nur zu schaun.‹ Wahrscheinlich hat’s Großmutter nie gelesen. Sicher hat sie’s mal von ’nem Hausierer gekauft und die Karte rausgesucht, weil sie das meiste glitzernde Zeug hatte. Die Jungs in meinem Zellenblock sind fast vor Lachen gestorben. ›Jesus lind‹ haben sie mich nachher genannt. Großmutter hat’s aber bestimmt nicht komisch gemeint. Sie hat einfach gedacht, die Karte ist so schön, daß sie sie gar nicht zu lesen braucht. Sie hat ihre Brille verloren gehabt in dem Jahr, wie ich weg bin. Vielleicht hat sie sie nie wieder gefunden.« »Wie haben sie dich in McAlester behandelt?« fragte Casy. »Och, ganz ordentlich. Man ißt regelmäßig und kriegt saubere Kleider, und dann haben sie sogar was, wo man baden kann. Ist recht hübsch einerseits. Das Schlimmste ist nur, daß man keine Frauen hat.« Plötzlich lachte er. »Da war ein Junge, der hat Bewährungsfrist gekriegt«, sagte er. »Etwa ’nen Monat später kommt er zurück. Bewährungsfrist gebrochen. Ein anderer fragt ihn, warum er seine Bewährungsfrist gebrochen hat. ›Ja, verdammt‹, sagt er, ›bei meinem Alten zu Hause haben sie ja gar keinen Komfort. Kein elektrisches Licht nicht 50
und kein Bad nicht. Und keine Bücher haben sie auch nicht, und das Essen ist lausig.‹ Und er sagt, da ist er eben zurückgekommen, wo’s ’n bißchen Komfort gibt und er regelmäßig zu essen kriegt. Er sagt, er fühlt sich ganz alleine da draußen im Freien, wo er sich immer überlegen muß, was er nun als Nächstes macht. Da hat er einfach ein Auto gestohlen und ist zurückgekommen.« Joad zog seinen Tabak heraus und blies ein Stück braunes Papier aus dem Päckchen frei und drehte sich eine Zigarette. »Der Junge hat recht gehabt«, sagte er. »Letzte Nacht, wie ich mir überlegt habe, wo ich schlafen soll, habe ich Angst gekriegt. Ich habe an meine Zelle gedacht und mir überlegt, was der Zappelphilipp, der wo in meiner Zelle war, wohl macht. Ich und ein paar andre Jungs haben eine Streichkapelle gehabt. Eine gute. Jemand hat gesagt, wir müßten zum Radio gehen. Und diesen Morgen habe ich nicht gewußt, wann ich aufstehen sollte. Habe einfach dagelegen und gewartet, daß es klingelt.« Casy lachte. »Ja, man kann’s so weit bringen, daß man das Geräusch von ’ner Sägemühle vermißt.« Das gelbe, staubige Abendlicht warf einen goldenen Schein über das Land. Die Kornhalme sahen golden aus. Ein Schwarm von Schwalben flog zu irgendeinem Wasserloch. Die Schildkröte in Joads Jacke begann einen neuen Fluchtversuch. Joad kniffte sein Mützenschild. Es hatte jetzt die lange vorstehende Wölbung eines Krähenschnabels angenommen. »Ich glaube, ich mache weiter«, sagte er. »Die Sonne ist jetzt auch nicht mehr so schlimm.« 51
Casy raffte sich zusammen. »Ich habe den alten Tom eine Ewigkeit nicht gesehen«, sagte er. »Ich wollte sowieso bei ihm vorbeigehen. Ich habe euch allen den Heiligen Geist gebracht und nie was dafür angenommen außer ’nem Bissen zu essen.« »Komm mit«, sagte Joad. »Vater wird sich freuen, dich zu sehen. Er hat immer gesagt, du hast ’nen viel zu großen Schnabel für ’nen Prediger.« Er nahm seine Jakkenrolle und schnürte sie fest um die Schuhe und die Schildkröte herum. Casy suchte seine Segeltuchschuhe zusammen und schob seine nackten Füße hinein. »Ich habe nicht so viel Vertrauen wie du«, sagte er. »Ich habe immer Angst vor Draht und Glassplittern unter dem Staub. Und nichts ist so ekelhaft wie ’ne zerschnittene Zehe.« Am Rande des Schattens blieben sie zögernd stehen, dann stürzten sie sich in das gelbe Sonnenlicht, wie zwei Schwimmer, die eilends dem Ufer zustrebten. Nach ein paar schnellen Schritten verfielen sie in ein langsameres, nachdenklicheres Tempo. Die Kornhalme warfen jetzt ihre grauen Schatten seitwärts, und es war ein beißender Geruch von heißem Staub in der Luft. Die Kornfelder hörten auf, und dunkelgrüne Baumwolle begann, dunkelgrüne Blätter und kleine sich formende Kapseln unter einer Schicht von Staub. Sie waren sehr unterschiedlich, diese Baumwollfelder – dicht an den niedrig gelegenen Stellen, wo das Wasser gestanden hatte, und kahl auf den Höhen. Die Pflanzen kämpften gegen die Sonne. Und die Ferne, gegen den Horizont zu, war braun bis weithin, wo man nichts mehr sah. Der Feldweg dehnte 52
sich in sanften Wellenlinien vor ihnen aus. Eine Reihe von Weiden, entlang einem Bach, zog sich nach Westen, und auf den brachliegenden Feldern gen Nordwesten wucherte verstreutes Buschwerk. Aber der Geruch von brennendem Staub hing in der Luft, und die Luft war so trocken, daß der Schleim in der Nase krustig wurde und die Augen tränten, um sich vor der Trockenheit zu schützen. Casy sagte: »Da kannst du mal sehen, wie gut das Korn gestanden hat, bis der Staub gekommen ist. Wäre eine ganz große Ernte geworden.« »War jedes Jahr so«, sagte Joad. »Jedes Jahr, solange wie ich denken kann, sollte es ’ne gute Ernte werden, und nie ist’s eine geworden. Großvater sagt, die ersten fünf Male Pflügen ist das Land gut gewesen, weil das wilde Gras noch drin war.« Die Straße führte einen kleinen Hügel hinab und kletterte einen nächsten kleinen Hügel hinauf. Casy sagte: »Das Haus vom alten Tom kann doch nicht weiter als ’ne Meile von hier sein. War’s nicht hinter der dritten Höhe?« »Stimmt«, sagte Joad. »Wenn’s nicht jemand gestohlen hat, wie Vater ’s gemacht hat.« »Dein Vater hat das Haus gestohlen?« »Natürlich, anderthalb Meilen von hier hat er sich’s geholt. Damals wohnte ’ne Familie drin, und die sind ausgezogen. Großvater und Vater und mein Bruder Noah wollten das ganze Haus mitnehmen, aber das Haus wollte nicht. Da haben sie nur ’n Teil davon genommen. Deshalb sieht’s auch an der einen Seite so 53
komisch aus. Sie haben’s in der Mitte auseinandergeschnitten und mit zwölf Pferden und zwei Mauleseln rübergezogen. Und dann wollten sie zurück und die andere Hälfte auch holen und das Ganze wieder zusammenflicken, aber eh sie noch wieder zurück waren, ist schon Wink Manley mit seinen Jungs dagewesen und hat die andre Hälfte geklaut. Vater und Großvater waren sauwütend, aber ’n bißchen später haben sie dann mal mit Wink zusammen gesoffen und sich totgelacht drüber. Wink sagt, sein Haus ist ’n Zuchthengst, und wenn wir unsers rüberbringen und decken lassen, kriegen wir vielleicht ’n paar kleine Häuser. Wink war ganz groß, wenn er besoffen war. Und danach waren er und Vater und Großvater Freunde. Haben sich immer zusammen besoffen, wenn’s nur Gelegenheit gab.« »Ja, Tom ist ’n feiner Kerl«, stimmte Casy zu. Sie trotteten langsam durch den Staub den Abhang hinunter und stiegen noch langsamer den nächsten Hügel hinauf. Casy wischte sich mit dem Ärmel die Stirn ab und setzte seinen flachen Hut wieder auf. »Ja«, wiederholte er, »Tom ist ’n feiner Kerl. Für ’nen gottlosen Mann ist er ’n feiner Kerl. Ich habe ihn bei Versammlungen gesehen, wenn der Geist nur ’n ganz kleines bißchen in ihn gedrungen war, und ich habe ihn auch schon zehn, zwölf Fuß hoch springen gesehen. Ich sage dir, wenn der alte Tom ’ne Dosis Heiligen Geist in sich hatte, haben die Leute sich beeilt, damit er sie nicht umrannte. Wild wie ’n Hengst im Stall.« Sie erreichten die nächste Höhe, und die Straße fiel ab zu einem alten Wassergraben, einer häßlichen felsigen 54
Senke. Wo die Straße ihn kreuzte, lagen ein paar Steine. Joad tastete sich auf seinen nackten Füßen vorsichtig hinüber. »Du redest von meinem Vater«, sagte er. »Wahrscheinlich hast du meinen Onkel John nicht gesehen, wie sie ihn damals drüben bei Polk getauft haben. Was der getaucht und gesprungen ist! Über ’nen Busch ist er weggesprungen, so groß wie ’n Piano, rüber und wieder zurück, und geheult hat er dabei wie ’n Wolfshund bei Mondschein. Na, und Vater sieht ihn, und Vater denkt doch, er ist der beste Jesus-Springer in der ganzen Gegend. Also sucht Vater sich einen Busch aus, der zweimal so groß ist wie Onkel John sein Busch, und schreit wie ’ne Sau, wenn sie Junge kriegt, und dann nimmt er ’n Anlauf und springt über den Busch und bricht sich sein rechtes Bein. Und damit war der Heilige Geist raus aus Vatern. Der Prediger will’s wieder gesundbeten, aber Vater sagt, nein, er will nichts andres wie den Doktor. Aber natürlich war nirgends kein Doktor da, nur ’n reisender Dentister, und der hat’s dann gerichtet. Der Prediger hat trotzdem noch gebetet.« Sie stiegen den Hang auf der anderen Seite des Wassergrabens hinauf. Jetzt, da die Sonne im Abstieg war, hatte sie ihre stechende Kraft verloren. Zwar war die Luft noch heiß, aber die sengenden Strahlen waren schwächer. Der schiefe Drahtzaun säumte noch immer die Straße. Auf der rechten Seite zog sich eine Drahtverzäunung auch durch das Baumwollfeld, aber die Baumwollpflanzen waren auf beiden Seiten gleich – staubig und trocken und dunkelgrün. Joad deutete auf den trennenden Zaun. »Das da ist 55
unsre Linie. Den Zaun hätten wir dort eigentlich gar nicht gebraucht, aber wir hatten gerade den Draht, und Vater hat’s gefallen. Er sagt, dann hat er wenigstens das Gefühl, daß vierzig vierzig ist. Und wir hätten den Zaun auch nicht gemacht, wenn nicht Onkel John eines Abends gekommen wäre mit sechs Rollen Draht auf seinem Wagen. Er hat ihn Vater für ’n Ferkel verkauft. Wo er den Draht her hatte, weiß kein Mensch.« Da der Weg anstieg, gingen sie langsam und schoben ihre Füße in den tiefen, weichen Staub und fühlten mit jedem Fuß und mit jedem Schritt die Erde. Joad war in Erinnerungen versunken, und er schien leise in sich hineinzulachen. »Onkel John war ein verrückter Kerl«, sagte er. »Zum Beispiel, was er mit dem Ferkel gemacht hat.« Jim Casy wartete ungeduldig. Aber die Geschichte wurde nicht fortgesetzt. Eine Zeitlang dachte Casy, es würde doch noch etwas kommen. »Na, und? Was hat er mit dem Ferkel gemacht?« fragte er schließlich, ein wenig gereizt. »Was? Ach so! Ja, er hat das Ferkel gleich totgemacht, und Mutter mußte den Herd anbrennen. Dann hat er sich die Koteletts rausgeschnitten und in die Pfanne gelegt und die Rippen und ein Bein in die Röhre. Und wie er die Koteletts gegessen hatte, waren die Rippen und das Bein fertig, und dann hat er sich an das Bein rangemacht. Ganz große Stücke runtergerissen und sich in den Mund geschoben. Wir Kinder standen dabei, und er hat uns was abgegeben, aber Vater wollte er nichts geben. Nach und nach hat er dann genug gehabt und hat gerülpst und sich schlafen gelegt. Inzwischen haben 56
wir Kinder und Vater das Bein aufgegessen. Na, und wie Onkel John am Morgen aufwacht, hat er gleich ein neues Bein in den Herd geschoben. Und Vater sagt: ›John, du wirst doch nicht das ganze Schwein aufessen?‹ Und er sagte: ›Doch, Tom, denn ich habe Angst, daß es verdirbt, eh ich’s essen kann, hungrig, wie ich bin nach Schwein. Aber vielleicht ißt du ’n Teller voll mit und gibst mir zwei von den Drahtrollen zurück.‹ Jawoll, aber Vater war nicht dumm. Er läßt Onkel John einfach essen, bis ihm schlecht wird, und wie er wegfährt, hat er noch nicht die Hälfte gegessen. Vater sagt: ›Warum salzt du’s denn nicht ein?‹ Aber das ist nichts für unsren Onkel John. Wenn er Schwein will, dann will er ’n ganzes Schwein, und wenn er damit fertig ist, dann will er auch nichts mehr davon in der Bude rumstehen haben. Also fährt er ab, und Vater salzt ein, was übriggeblieben ist.« Casy sagte: »Wenn ich noch Prediger wäre, würde ich da jetzt eine Lektion draus machen und sie dir sagen, aber so was mache ich nicht mehr. Warum, meinst du, hat er denn das gemacht, dein Onkel John?« »Weiß nicht«, sagte Joad. »Er hat einfach Hunger auf Schwein gehabt. Und wenn ich bloß dran denke, kriege ich auch Hunger. Ich habe in vier Jahren nur vier Scheiben gebratenes Schwein gegessen – jedesmal eine zu Weihnachten.« Casy meinte hoffnungsvoll: »Vielleicht wird der alte Tom das gemästete Kalb für den verlorenen Sohn schlachten – wie in der Bibel.« Joad lachte verächtlich. »Da kennst du Vater nicht. Wenn er ’n Huhn schlachtet, macht er das meiste Ge57
schrei – nicht das Huhn. Er lernt’s nie. Er sagt immer, wir sollen uns das Schwein für Weihnachten aufsparen, und dann stirbt’s im September an der Seuche oder sonstwas, und man kann’s nicht mehr essen. Aber wenn Onkel John Schwein will, dann ißt er Schwein. Aber richtig!« Sie gingen über den geschwungenen Hang des Hügels und sahen die Farm der Joads unter sich. Und Joad blieb stehen. »Das ist doch ganz anders«, sagte er. »Sieh dir das Haus an. Irgendwas muß passiert sein. Ist auch gar niemand zu sehen.« Und die beiden Männer standen da und starrten auf die kleine Gruppe von Gebäuden.
5 Die Besitzer des Landes kamen auf das Land, oder noch öfter kam ein Vertreter an ihrer Stelle. Sie kamen in geschlossenen Wagen, und sie befühlten die trockene Erde mit ihren Fingern, und manchmal trieben sie große Bohrer in die Erde, um den Boden zu prüfen. Die Pächter sahen von ihren sonnenheißen Höfen aus beunruhigt zu, wie die geschlossenen Wagen an den Feldern entlangfuhren. Und schließlich kamen die Landbesitzer in die Höfe hereingefahren und blieben in ihren Wagen sitzen und sprachen aus den Fenstern heraus. Die Pächter standen eine Weile lang neben den Wagen, und dann hockten sie sich auf die Erde und suchten sich Stöckchen, mit denen sie in den Sand zeichneten. In 58
den offenen Türen standen die Frauen und blickten hinaus und hinter ihnen die Kinder – strohblonde Kinder mit großen Augen, einen nackten Fuß auf dem anderen nackten Fuß, und ihre Zehen spielten. Die Frauen und Kinder beobachteten, wie ihre Männer mit den Landbesitzern sprachen. Sie schwiegen. Manche Landbesitzer waren freundlich, weil sie das, was sie taten, ungern taten, und manche waren böse, weil es ihnen zuwider war, grausam zu sein, und manche waren kühl, weil sie schon vor langer Zeit herausgefunden hatten, daß man kein Landbesitzer sein kann, ohne kühl zu sein. Und sie allesamt waren in etwas befangen, das größer war als sie selbst. Manche von ihnen haßten die Zahlen, von denen sie getrieben wurden, manche fürchteten sich, und manche beteten die Zahlen an, weil sie ihnen eine Zuflucht gaben vor Gedanken und Gefühlen. Wenn eine Bank oder eine Finanzgesellschaft das Land besaß, so sagten die Männer, die gekommen waren: Die Bank – oder die Gesellschaft – wünscht – braucht – befiehlt – muß haben –, als sei die Bank oder die Gesellschaft ein Ungeheuer mit Gedanken und Gefühlen, das sie verführt hatte. Und jene, die das sagten, wollten keine Verantwortung für die Banken oder die Gesellschaften auf sich nehmen, weil sie Menschen und Sklaven waren, während die Banken Maschinen waren und Herren zu gleicher Zeit. Manche der Männer, die kamen, waren stolz darauf, Sklaven solch kühler und mächtiger Herren sein zu können. Sie saßen in ihren Wagen und erklärten: Du weißt, das Land ist schlecht. Du hast dich, weiß Gott, lange genug damit herumgeplagt. 59
Die am Boden sitzenden Pächter nickten und überlegten und zeichneten Figuren in den Staub, und ja, weiß Gott, sie wüßten es. Wenn der Staub nur nicht fliegen würde. Wenn die Oberfläche nur auf dem Boden bleiben würde, dann wäre es nicht so schlimm. Die Landbesitzer ließen sich nicht von ihrem Thema abbringen: Du weißt, das Land wird immer schlechter. Du weißt, was die Baumwolle mit dem Land macht, sie raubt es aus, saugt alles Blut aus ihm heraus. Die am Boden hockenden Männer nickten – weiß Gott, sie wüßten es. Wenn sie nur abwechseln könnten mit dem Anbau, dann würden sie vielleicht wieder etwas Blut in das Land zurückpumpen. Nun ja, es ist zu spät. Und die Landbesitzer erklärten das Arbeiten und Denken des Ungeheuers, das stärker war als sie. Ein Mann kann das Land halten, wenn er nur essen und seine Steuern bezahlen kann. Natürlich kann er das. Ja, das kann er, bis eines Tages seine Ernte ausbleibt und er Geld borgen muß von der Bank. Aber – siehst du, eine Bank oder eine Gesellschaft kann das nicht, weil diese Kreaturen ja keine Luft atmen und sich nicht von Fleisch nähren. Sie atmen Profite, und sie nähren sich von Geldinteressen. Wenn sie das nicht bekommen, sterben sie, wie du stirbst ohne Luft und ohne Fleisch. Es ist eine traurige Sache, aber es ist so. Es ist einfach so. Die am Boden hockenden Männer hoben die Augen, um zu sehen, ob sie richtig verstanden hätten. Können wir es nicht anstehen lassen? Vielleicht ist nächstes Jahr 60
ein besseres Jahr. Gott weiß, wieviel Baumwolle es nächstes Jahr gibt. Und bei all den Kriegen – Gott weiß, was für Preise die Baumwolle bringen wird. Macht man nicht Explosivstoffe aus Baumwolle? Und Uniformen? Wenn’s genug Kriege gibt, wird die Baumwolle steigen. Nächstes Jahr vielleicht. Sie blickten fragend auf. Darauf können wir uns nicht verlassen. Die Bank – das Ungeheuer muß die ganze Zeit Profite haben. Sie kann nicht warten. Sonst stirbt sie. Nein, die Steuern gehen ja weiter. Wenn das Ungeheuer nicht mehr wächst, so stirbt es. Es kann nicht immer gleich groß bleiben. Weiche Finger begannen auf dem Sims des Wagenfensters zu trommeln, und harte Finger spannten sich um die rastlos zeichnenden Stöcke. In den Türen der sonnenheißen Pachthäuser seufzten die Frauen und traten von einem Fuß auf den anderen, so daß jener, der bisher zuunterst gewesen, jetzt oben war, und spielten mit den Zehen. Hunde kamen und schnüffelten an den Wagen der Landbesitzer herum und machten nacheinander alle vier Räder naß. Und Hühner lagen in dem heißen Staub und plusterten ihre Federn auf, damit der reinigende Staub ihnen bis auf die Haut drang. In den kleinen Ställen grunzten die Schweine fragend über den matschigen Resten in ihren Trögen. Die am Boden hockenden Männer senkten die Augen wieder. Was wollen wir denn tun? Wir können uns ja nicht noch weniger Anteil an der Ernte nehmen – wir sind ja jetzt schon halb verhungert. Die Kinder sind hungrig die ganze Zeit. Wir haben keine Kleider, alles zerrissen und zerlumpt. Wenn es nicht allen Nachbarn 61
ebenso ginge, würden wir uns schämen, zu einer Versammlung zu gehen. Und schließlich kamen die Landbesitzer zu ihrem eigentlichen Punkt. Das Pachtsystem bewährt sich nicht mehr. Ein Mann auf einem Traktor kann zwölf oder vierzehn Familien ersetzen. Zahl ihm seinen Lohn, und er besorgt die ganze Ernte. Wir müssen das machen. Wir machen es nicht gern. Aber das Ungeheuer ist krank. Irgend etwas muß mit dem Ungeheuer geschehen. Aber ihr werdet das Land töten mit der Baumwolle. Wir wissen das. Wir müssen schnell Baumwolle anbauen, bevor das Land stirbt. Dann werden wir das Land verkaufen. Viele Familien im Osten würden gern ein Stückchen Land besitzen. Die Pächter blickten beunruhigt auf. Aber was geschieht mit uns? Wovon sollen wir leben? Ihr müßt das Land verlassen. Die Pflüge werden durch euren Hof gehen. Und jetzt standen die Männer wütend auf. Großvater ist als erster auf das Land gekommen. Er mußte die Indianer töten und sie fortjagen. Und Vater ist hier geboren. Er hat das Unkraut ausgerupft und die Schlangen umgebracht. Dann kam ein schlechtes Jahr, und wir mußten ein bißchen Geld borgen. Und wir sind hier geboren. Dort in der Tür – unsere Kinder sind hier geboren. Und Vater mußte Geld borgen. Dann gehörte das Land der Bank, aber wir blieben, und wir hatten ein kleines bißchen von dem, was wir anbauten. Wir wissen das – wissen das alles. Wir sind’s ja auch 62
nicht, es ist die Bank. Eine Bank ist nicht wie ein Mensch. Oder einer, der fünfzigtausend Hektar besitzt, ist auch nicht wie ein Mensch. Das ist das Ungeheuer. Sicher, riefen die Pächter, aber es ist unser Land. Wir haben es vermessen und haben es umgepflügt. Wir sind darauf geboren, und wir sind darauf getötet worden, wir sind darauf gestorben. Wenn es auch nicht gut ist, es ist doch unser Land. Darauf geboren zu sein, es bearbeitet zu haben, darauf gestorben zu sein – dadurch ist es unser Land geworden. Nur dadurch und nicht durch ein Papier mit Zahlen darauf gehört einem das Land. Tut uns leid. Wir sind’s ja nicht. Es ist das Ungeheuer. Die Bank ist nicht wie ein Mensch. Ja, aber die Bank ist ja auch nur von Menschen gemacht. Nein, da hast du unrecht – völlig unrecht. Die Bank ist etwas ganz anderes als Menschen. Jeder Mensch in der Bank haßt das, was die Bank tut, und doch tut die Bank es. Die Bank ist mehr, als Menschen sind, das sage ich dir. Sie ist ein Ungeheuer. Menschen haben sie zwar gemacht, aber sie können sie nun nicht mehr kontrollieren. Die Pächter schrien: Großvater hat Indianer, Vater Schlangen umgebracht für das Land. Vielleicht können wir die Banken umbringen – sie sind schlimmer als Indianer und Schlangen. Vielleicht müssen wir kämpfen, um unser Land zu behalten, wie Vater und Großvater es getan haben. Und jetzt wurden die Landbesitzer wütend. Ihr müßt gehen! 63
Aber es ist unser Land, schrien die Pächter. Wir … Nein. Der Bank, dem Ungeheuer gehört es. Ihr müßt gehen. Wir holen unsere Gewehre, wie Großvater, als die Indianer kamen. Was dann? Gut – zuerst der Sheriff und dann die Truppen. Wenn ihr versucht zu bleiben, so stehlt ihr; wenn ihr schießt, um zu bleiben, so seid ihr Mörder. Das Ungeheuer ist kein Mensch, aber es kann den Menschen befehlen, das zu tun, was es will. Aber wenn wir gehen, wohin sollen wir? Und wie? Wir haben kein Geld. Das tut uns leid, sagten die Landbesitzer. Die Bank, der fünfzigtausend Hektar gehören, kann dafür keine Verantwortung übernehmen. Ihr befindet euch auf Land, das nicht euch gehört. Wenn ihr einmal über der Grenze seid, könnt ihr vielleicht Baumwolle pflücken im Herbst. Vielleicht kriegt ihr auch Wohlfahrt. Weshalb geht ihr nicht nach Westen, nach Kalifornien? Dort gibt’s Arbeit, und es wird nie kalt. Ihr braucht bloß die Hand auszustrecken und könnt euch überall eine Orange pflücken. Dort gibt’s immer irgendeine Ernte, wo ihr arbeiten könnt. Weshalb geht ihr nicht dorthin? Und die Landbesitzer starteten ihre Wagen und rollten davon. Die Pächter hockten sich wieder auf den Boden und zeichneten mit einem Stock in den Staub und überlegten und dachten nach. Ihre sonnenverbrannten Gesichter waren dunkel und ihre sonnengebleichten Augen hell. Die Frauen kamen langsam von der Tür her auf 64
ihre Männer zu, und die Kinder krochen hinter den Frauen her, vorsichtig und bereit, sofort davonzulaufen. Die größeren Buben hockten sich neben ihre Väter, weil sie das zu Männern machte. Nach einer Weile fragten die Frauen: Was wollte er denn? Und die Männer blickten eine Sekunde lang auf, und in ihren Augen glomm der Schmerz. Wir müssen fort. Ein Traktor und ein Aufpasser. Wie Fabriken. Aber wohin sollen wir denn? fragten die Frauen. Wir wissen’s nicht. Wir wissen’s nicht. Und die Frauen gingen schnell und ruhig zurück in die Häuser und schoben die Kinder vor sich her. Sie wußten, daß ein so geschlagener, so verwundeter Mann sich in seiner Wut selbst gegen jene Menschen wenden kann, die er liebt. Sie ließen die Männer allein sitzen im Staub und nachdenken und überlegen. Nach einer Weile vielleicht blickte der Pächter sich um – sah die Pumpe, die vor zehn Jahren aufgestellt worden war, eine Pumpe mit einem Gänsehals als Schwengel und mit eisernen Blumen an der Rinne, sah den Hackklotz, auf dem tausend Hühner ihr Leben gelassen hatten, den Handpflug, der im Schuppen lag, und die Raufe, die in den Sparren darüber hing. In den Häusern bestürmten die Kinder ihre Mütter. Wo gehen wir hin, Mutter? Wo gehen wir hin? Die Frauen sagten: Wir wissen’s noch nicht. Jetzt lauft hinaus und spielt. Aber kommt eurem Vater nicht zu nah. Sonst schreit er euch womöglich an. Und die Frauen fuhren mit ihrer Arbeit fort, aber die ganze Zeit 65
über beobachteten sie die Männer, die draußen hockten im Staub – verwundert und nachdenklich. Die Traktoren kamen über die Straßen und in die Felder, große Krauchtiere, die sich bewegten wie Insekten und auch die unglaublichen Kräfte von Insekten hatten. Sie krochen über den Boden, legten ihren Kettenstrang aus, rollten darauf entlang und nahmen ihn wieder auf. Diesel-Traktoren, die tuckerten, wenn sie stillstanden, die donnerten, wenn sie anfuhren, und halblaut dröhnten, wenn sie in Bewegung waren. Stumpfnasige Ungeheuer, die den Staub durchwühlten und ihre Schnauzen hineinsteckten. Sie durchzogen kreuz und quer das Land, kamen durch Zäune, durch Höfe und durch Gräben. In geraden Linien durchzogen sie das Land. Sie fuhren nicht auf dem Boden, sondern in ihren eigenen Fährten. Sie kümmerten sich nicht um Hügel und Schluchten, nicht um Wasserläufe und Zäune und auch nicht um Häuser. Der Mann, der auf dem eisernen Sitz saß, sah nicht aus wie ein Mensch – behandschuht, bebrillt mit einer Gummimaske gegen den Staub über Nase und Mund, war er ein Teil des Ungeheuers, ein Roboter auf dem Führersitz. Der Donner der Zylinder klang durch das Land, wurde eins mit der Luft und der Erde, so daß Erde und Luft mit ihm im Gleichklang dröhnten. Der Fahrer hatte keine Kontrolle – schnurgerade über das Land trieb er seinen Traktor, durch ein Dutzend Farmen hindurch und schnurgerade wieder zurück. Die Drehung eines Hebels hätte genügt, um den Traktor abzulenken, aber die Hände des Fahrers konnten den Hebel 66
nicht drehen, weil das Ungeheuer, welches den Traktor gebaut hatte, das Ungeheuer, welches den Traktor ausgesandt hatte, ihm in Hände, Kopf und Muskeln gefahren war, ihn verdreht und geknebelt hatte – seinen Verstand verdreht, seine Sprache geknebelt, seine Empfindung verdreht und seinen Protest geknebelt. Er konnte das Land nicht so sehen, wie es war. Er konnte das Land nicht so riechen, wie es roch, seine Füße traten nicht auf Erdklumpen und spürten nicht die Wärme und Kraft der Erde. Er saß auf einem eisernen Sitz und trat auf eiserne Pedale. Er konnte seine Maschine nicht anfeuern oder schlagen oder beschimpfen, und deshalb konnte er auch sich selbst nicht anfeuern oder schlagen oder beschimpfen. Das Land gehörte ihm nicht, er hatte kein Interesse daran, und er wünschte nichts von ihm. Wenn ein ausgestreuter Samen nicht keimte, so bedeutete es ihm nichts. Wenn die junge treibende Pflanze in der Trockenheit verdorrte oder von einer Regenflut weggespült wurde, so ging es den Fahrer ebensowenig an wie den Traktor. Er liebte das Land nicht mehr, als die Bank es liebte. Er konnte den Traktor bewundern – seine polierte Oberfläche, das Anschwellen seiner Kraft, das Dröhnen der Zylinder, aber es war nicht sein Traktor. Hinter dem Traktor rollten die blitzenden Scheiben und zerschnitten mit ihren Klingen die Erde. Es war kein Pflügen, sondern ein blutiges Schneiden. Und die zerschnittene Erde wurde nach rechts geworfen, wo eine zweite Reihe von Scheiben sie abermals zerschnitt und nach links warf, scharfe glänzende Klingen, von der Erde poliert. Und 67
hinter den Klingen kamen die Eggen und kämmten mit eisernen Zähnen, so daß die kleinen Klumpen zerfielen und die Erde glatt lag. Hinter den Eggen die langen Säer – zwölf gebogene eiserne Glieder, in der Gießerei gesteift, methodisch zeugend, aber ohne Leidenschaft. Der Fahrer saß auf seinem eisernen Sitz und war stolz auf die geraden Linien, die er nicht geschaffen hatte, stolz auf den Traktor, den er weder besaß noch liebte, stolz auf die Kraft, die er nicht kontrollieren konnte. Und wenn die Frucht wuchs und die Ernte eingebracht wurde, so hatte kein Mensch einen heißen Klumpen in seinen Fingern zerkrümelt und sich langsam Erde durch die Finger rieseln lassen. Kein Mensch hatte den Samen berührt, keiner sein Wachstum ersehnt. Und Menschen aßen, was sie nicht selbst gezogen hatten, und nichts verband sie mit ihrem Brot. Das Land wurde trächtig unter Eisen, und unter Eisen starb es allmählich, denn es wurde weder geliebt noch gehaßt. Zu Mittag hielt der Fahrer manchmal in der Nähe eines Pachthauses an und aß seinen Lunch: in Wachspapier gewickelte Sandwiches, Weißbrot, Gurke, Käse, Spam, ein Stück Kuchen, das wie ein Maschinenteil mit einem Warenzeichen versehen war. Er aß ohne Appetit. Und die Pächter, die noch nicht davongezogen waren, kamen heraus, um sich ihn anzusehen. Sie betrachteten ihn neugierig, während er seine Brille und seine Gummimaske abnahm, die weiße Kreise um die Augen und einen großen weißen Fleck um Nase und Mund hinterließen. Der Auspuff des Traktors tuckerte weiter, denn 68
Schweröl ist so billig, daß es praktischer ist, den Motor laufen zu lassen, als ihn beim Starten nochmals anzuheizen. Neugierige Kinder drängten sich heran, zerlumpte Kinder, die ihre in Öl gebackenen Kuchen aßen und die Augen aufrissen. Sie sahen hungrig zu, wie die Sandwiches ausgepackt wurden, und ihre vom Hunger geschärften Nasen rochen die Gurke, den Käse und Spam. Sie sprachen nicht mit dem Fahrer. Sie beobachteten seine Hand, die das Essen zum Munde führte. Sie sahen nicht zu, wie er kaute, ihre Augen folgten nur der Hand mit dem Sandwich. Nach einer Weile kam der Pächter heraus und hockte sich neben ihn. »He, bist du nicht der Junge vom Joe Davis?« »Natürlich –«, sagte der Fahrer. »Na – und weshalb machst du diese Arbeit … gegen deine eigenen Leute?« »Drei Dollars am Tag. Ich hab’s verdammt satt, für mein Essen zu kriechen und nachher doch nichts zu bekommen. Ich habe Frau und Kinder. Wir müssen ja was essen. Drei Dollars am Tag – und das jeden Tag.« »Das ist richtig«, sagte der Pächter. »Aber für deine drei Dollars am Tag können fünfzehn oder zwanzig Familien überhaupt nichts essen. Rund hundert Leute müssen weg für deine drei Dollars am Tag. Stimmt’s nicht?« Und der Fahrer sagte: »Darum kann ich mich nicht kümmern. Ich muß an meine Kinder denken. Drei Dollars am Tag, und das jeden Tag. Die Zeiten ändern sich, lieber Freund, hast du das nicht gewußt? Auf dem Land kann man sein Leben nicht mehr verdienen, wenn man 69
nicht zwei-, fünf-, zehntausend Hektar und einen Traktor hat. Für kleine Leute wie uns ist das Land nichts mehr. Du machst ja auch kein Geschrei, weil du keine Fords bauen kannst oder weil du nicht die Telefongesellschaft bist. Siehst du, und mit dem Land ist es genau dasselbe. Nichts mehr damit zu machen. Du mußt versuchen, deine drei Dollars am Tag irgendwoher zu kriegen. Das ist das einzige.« Der Pächter dachte nach. »Komische Sache ist das. Wenn ein Mann eine kleine Besitzung hat, die ihm gehört, dann ist diese Besitzung er, ist ein Teil von ihm und ist genau wie er. Und wenn er nur eine Besitzung hat, um darauf spazierenzugehen und sie zu verwalten und traurig zu sein, wenn’s nicht gut geht, und froh zu sein, wenn der Regen kommt, dann ist diese Besitzung er, und irgendwie ist er größer, weil er sie hat. Selbst wenn er keinen Erfolg hat, ist er ein großer Mann mit seiner Besitzung. Das ist so.« Und der Pächter sann weiter. »Aber laß einen Mann eine Besitzung haben, die er nicht sehen kann, für die er keine Zeit hat oder auf der er nicht spazierengehen kann – nun, dann ist die Besitzung der Mann. Er kann nicht tun, was er will, und er kann nicht denken, was er will. Die Besitzung ist der Mann, und die Besitzung ist stärker als er. Und er ist klein, nicht groß. Nur seine Besitzung ist groß – und er ist der Sklave seiner Besitzung. Das ist so.« Der Fahrer kaute schmatzend seinen Kuchen mit dem Warenzeichen und warf die Kruste weg. »Die Zeiten ändern sich, hast du das nicht gewußt? Wenn du an 70
solches Zeug denkst, kriegst du deine Kinder nicht satt. Verdien deine drei Dollars am Tag, dann haben deine Kinder zu essen. Du hast es nicht nötig, dir über andere Kinder Sorgen zu machen wie über deine eigenen. Wenn du einmal in den Ruf kommst, daß du solche Reden führst, dann kriegst du nie drei Dollars am Tag. Die Bonzen geben dir bestimmt keine drei Dollars am Tag, wenn du dir über was anderes Sorgen machst als über deine drei Dollars.« »Rund hundert Leute sind auf der Straße für deine drei Dollars. Wohin sollen wir denn gehen?« »Eh’ ich’s vergesse«, sagte der Fahrer, »du machst lieber bald, daß du rauskommst. Nach dem Essen fahre ich durch deinen Hof.« »Du hast heute früh schon meine Pumpe zugeschüttet.« »Ich weiß. Ich mußte ja ’ne grade Linie machen. Aber nach dem Essen fahre ich durch deinen Hof. Geht nicht anders, ich muß mich an die Linien halten. Und – schön, du kennst Joe Davis, meinen Alten, drum will ich dir was sagen. Ich habe den Befehl, wo eine Familie noch nicht ausgezogen ist – wenn’s da einen kleinen Unfall gibt – du weißt schon, wenn ich zu dicht rankomme und das Haus ’n bißchen einbeule –, also, dann kriege ich vielleicht zwei Dollars extra. Und mein Jüngstes hat noch keine Schuhe.« »Ich hab’s mit meinen Händen gebaut. Habe alte Nägel grade geschlagen für die Verschalung. Die Sparren habe ich selbst mit Draht festgemacht. Es ist mein Haus. Ich habe es gebaut. Wenn du es rammst, bin ich mit 71
dem Gewehr am Fenster. Wenn du auch nur nahe kommst, knalle ich dich nieder wie einen Hund.« »Ich bin’s ja nicht. Ich kann nichts dafür. Ich verliere meine Arbeit, wenn ich’s nicht mache. Und sieh mal – angenommen, du bringst mich um. Dann werden sie dich einfach hängen, aber noch lange eh’ du hängst, sitzt schon ein anderer auf dem Traktor und rammt dein Haus. Du bringst nicht den Richtigen um.« »Ja, ja«, sagte der Pächter. »Wer hat dir den Befehl gegeben? Dann werde ich mich an den halten. Er ist der, wo umgebracht werden muß.« »Du hast unrecht. Er hat auch nur seinen Befehl von der Bank. Die Bank hat ihm gesagt: ›Schmeiß die Leute raus; oder du fliegst.‹« »Ja, aber es gibt doch einen Präsidenten von der Bank. Es gibt doch Direktoren. Da fülle ich eben mein Gewehrmagazin und gehe in die Bank.« Der Fahrer sagte: »Jemand hat mir erzählt, die Bank hat Befehl aus dem Osten gekriegt. Und der Befehl war: ›Sorgt dafür, daß das Land was abwirft, oder wir machen euch die Bude zu.‹« »Aber wo hört denn das auf? Wen könnten wir denn erschießen? Ich habe keine Lust, zu verhungern, eh’ ich den Mann umgebracht habe, der wo mich aushungert.« »Ich weiß es nicht. Vielleicht ist da überhaupt niemand zu erschießen. Vielleicht ist das Ganze überhaupt nicht von Menschen gemacht. Vielleicht ist wirklich, wie du sagst, die Besitzung selbst dran schuld. Jedenfalls habe ich dir gesagt, was für Befehle ich habe.« »Ich muß mir’s überlegen«, sagte der Pächter. »Wir 72
alle müssen’s uns überlegen. Es gibt doch eine Möglichkeit, da ein Ende zu machen. Es ist nicht wie Blitz und Erdbeben. Es ist einfach eine böse Sache, die Menschen gemacht haben, und – bei Gott – das ist was, wo wir ändern können.« Der Pächter setzte sich auf seine Türschwelle, und der Fahrer donnerte mit seiner Maschine los, der Kettenstrang fiel und wurde wieder aufgenommen, die Eggen kämmten, und die Phalli der Säer schlüpften in den Boden. Der Traktor fuhr durch den Hof, und die harte, festgetretene Erde wurde besätes Feld, und noch einmal fuhr der Traktor hindurch, und der unbearbeitete Platz war nur noch zehn Fuß breit. Dann kam er zurück. Die eiserne Nase drang in die Hausecke ein, zertrümmerte die Mauer und löste das kleine Haus von seinem Fundament, so daß es zur Seite fiel, einem Käfig gleich zertreten. Und der Fahrer war bebrillt und hatte eine Gummimaske über Nase und Mund. Der Traktor schnitt eine gerade Linie durch das Land, und die Luft und der Boden vibrierten unter seinem Donner. Der Pächter starrte ihm nach, das Gewehr in der Hand. Seine Frau stand neben ihm und hinter ihr still die Kinder. Und sie alle starrten dem Traktor nach.
6 Der Reverend Casy und der junge Tom standen auf dem Hügel und blickten hinunter auf die Farm der Joads. Das kleine ungestrichene Haus war an einer Ecke 73
eingedrückt und aus seinem Fundament gehoben worden, so daß es auf einer Seite zusammengesackt war und die blinden Fenster der Vorderfront zu einem Punkt am Himmel deuteten, der weit über dem Horizont lag. Die Zäune waren verschwunden, im Hof, bis an das Haus heran, wuchs Baumwolle, und Baumwolle wuchs auch im Schuppen. Das Nebengebäude lag auf der Seite, und die Baumwolle wucherte dicht darum herum. Wo der Boden im Hof von den nackten Füßen der Kinder und den stampfenden Hufen der Pferde und den breiten Wagenrädern festgedrückt worden war, war die Erde jetzt kultiviert, und dunkelgrüne staubige Baumwolle wuchs darauf. Der junge Tom betrachtete lange Zeit die ruppige Weide neben der ausgetrockneten Pferdetränke und die Zementfläche, wo die Pumpe gestanden hatte. »Jesus!« sagte er schließlich. »Hier muß ja die Hölle übergekocht sein. Kein Mensch mehr da.« Dann lief er rasch den Hügel hinunter, und Casy folgte ihm. Er blickte in den verlassenen Schuppen; ein wenig Stroh lag noch auf dem Boden, und in der einen Ecke befand sich der Mauleselstall. Und wie er hineinblickte, war ein Rascheln auf dem Boden zu hören, und eine Mäusefamilie verschwand unter dem Stroh. Am Eingang des Werkzeugschuppens blieb Joad stehen. Keine Werkzeuge waren mehr da – eine zerbrochene Pflugstange, ein Durcheinander von Draht in der einen Ecke, ein eisernes Rad von einem Heurechen und ein von Mäusen benagtes Zaumzeug, ein flacher Ölkanister, verkrustet von Dreck und Öl, und ein Paar zerrissene Overalls, die an einem Nagel hingen. 74
»Nichts mehr da«, sagte Joad. »Wir hatten sehr schöne Werkzeuge. Jetzt ist nichts mehr da.« Casy sagte: »Wenn ich noch Prediger wäre, würde ich sagen, hier hat der Arm des Herrn zugeschlagen. Aber was wirklich passiert ist, weiß ich nicht. Ich bin fortgewesen. Und ich habe nichts gehört.« Sie gingen auf die zementierte Fläche zu, wo die Pumpe gestanden hatte, gingen durch Baumwollpflanzen, an denen sich schon die Kapseln bildeten, gingen über kultiviertes Land. »Wir haben hier nie was gepflanzt«, sagte Joad. »Wir haben das hier immer frei gehalten. Jetzt kann nicht mal mehr ein Pferd in den Hof, ohne daß es die Baumwolle zertrampelt.« Sie blieben an dem trockenen Wassertrog stehen, und das Unkraut, das sonst unter dem Trog wuchs, war verschwunden, und das alte dicke Holz des Troges war trocken und zersprungen. Die Bolzen, mit denen die Pumpe befestigt gewesen war, steckten noch da, aber sie waren rostig, und die Schrauben waren fort. Joad blickte in den Pumpenschacht hinunter, spuckte und lauschte dann. Er ließ ein Steinchen hinunterfallen und lauschte abermals. »Das ist mal eine gute Quelle gewesen«, sagte er. »Jetzt höre ich überhaupt kein Wasser mehr.« Anscheinend scheute er sich noch, ins Haus zu gehen. Er ließ ein Steinchen nach dem andern hinunter in den Brunnen fallen. »Vielleicht sind sie alle tot«, sagte er. »Aber irgend jemand hätte mir’s doch gesagt. Irgendwie hätte ich doch Nachricht gekriegt.« »Vielleicht haben sie einen Brief oder so was im Haus zurückgelassen. Haben sie denn gewußt, daß du rauskommst?« 75
»Ich weiß nicht«, sagte Joad. »Nein, ich glaube nicht. Ich hab’ es ja selbst erst vor ’ner Woche erfahren.« »Gehen wir doch mal ins Haus. Ist ja ganz zusammengerumpelt. Irgendwas muß dagegengeknallt sein.« Sie gingen langsam auf das zusammengesackte Haus zu. Von den Säulen der Veranda waren zwei zusammengefallen, so daß das Dach an einem Ende tief herabhing. Und die Hausecke war eingedrückt. Durch zersplittertes Holz konnte man in das Eckzimmer hineinsehen. Die Eingangstür hing nach innen, und das starke Gitter quer über der Eingangstür hing an seinen Lederscharnieren nach außen. Joad blieb an der Treppe stehen. »Die Treppe ist noch da«, sagte er. »Aber meine Leute sind weg – oder Mutter ist tot.« Er deutete auf das Gitter über der Eingangstür. »Wenn Mutter irgendwo in der Nähe wäre, wäre das Gitter verschlossen und verriegelt. Das ist eine Sache, die sie immer gemacht hat – aufgepaßt, daß das Gitter zu ist.« In seine Augen drang Wärme. »Immer, seit das Schwein rüber zu Jacobs gelaufen ist und das Baby gefressen hat. Milly Jacobs war gerade draußen in der Scheune. Und wie sie zurückgekommen ist, hat das Schwein noch gefressen. Ja, und Milly Jacobs war gerade wieder in Umständen und ist verrückt geworden. Hat’s nie überwunden. Einen kleinen Stich hat sie immer behalten. Aber Mutter hat daraus gelernt. Sie hat nie mehr das Schweinegitter offengelassen, wenn sie nicht selbst im Haus war. Sie hat’s nie vergessen. Nein – sie sind alle fort – oder tot.« Er kletterte auf die zersplitterte Veranda und blickte in die Küche hinein. Die Fenster 76
waren herausgebrochen, und Steine lagen auf dem Boden, und der Boden und die Wände sackten steil ab von der Tür. Auf den Brettern lag Staub. Joad deutete auf die Glassplitter und die Steine. »Die Kinder«, sagte er. »Sie laufen zwanzig Meilen, wenn sie irgendwo ein Fenster einschmeißen können. Ich hab’s selbst auch gemacht. Sie wissen, wenn irgendwo ein Haus leer steht, sie wissen’s ganz genau. Und das ist das erste, was Kinder machen, wenn Leute ausziehen.« Die Küche war vollständig leer, der Herd war fort, und durch das runde Loch, in dem das Ofenrohr gesessen hatte, schien das Licht. Auf dem Spülstein lagen ein alter Flaschenöffner und eine zerbrochene Gabel, an der der Holzgriff fehlte. Joad betrat vorsichtig den Raum. Der Boden knarrte unter seinem Gewicht. Eine alte Nummer des ›Philadelphia Ledger‹ lag auf dem Boden an der Wand, die Seiten hatten sich gekräuselt und waren vergilbt. Joad blickte in das Schlafzimmer – keine Betten, keine Stühle, nichts. An der Wand das farbige Bild eines Indianermädchens. Es hieß »Red Wing«. Eine Bettstelle lehnte an der Wand, und in einer Ecke stand ein hoher Knüpfstiefel, an den Zehen faltig und am Spann gebrochen. Joad nahm ihn auf und betrachtete ihn. »An den erinnere ich mich«, sagte er. »Der hat Mutter gehört. Ist jetzt ganz abgetragen. Mutter hat diese Schuhe gerne gehabt und sie jahrelang getragen. Nein, sie sind fort – und haben alles mitgenommen.« Die Sonne stand jetzt so niedrig, daß sie durch die Fenster an der Rückseite des Hauses drang und auf dem zersplitterten Glas blitzte. Joad wandte sich schließlich um und ging hinaus und überquerte die Veranda. Er 77
setzte sich hin auf die Kante und stellte seine nackten Füße auf die Treppenstufe. Das Abendlicht lag über den Feldern, und die Pflanzen warfen lange Schatten. Casy setzte sich neben Joad. »Sie haben dir nie was geschrieben?« fragte er. »Nein. Wie gesagt, sie haben nie gerne geschrieben. Vater konnte schreiben, aber er wollte nicht. Ist immer wütend geworden, wenn er schreiben mußte. Er konnte ’ne Katalogbestellung ebensogut ausfüllen wie jeder andere, aber Briefe schreiben nur aus Spaß – das kam nicht in Frage.« Sie saßen nebeneinander und blickten in die Ferne. Joad legte seine zusammengerollte Jacke auf die Veranda neben sich. Seine Hände drehten eine Zigarette, glätteten sie und brannten sie an, dann sog er den Rauch tief ein und stieß ihn durch die Nase wieder aus. »Irgendwas stimmt nicht«, sagte er. »Aber ich weiß nicht, was. Ich habe so ’n verdammtes Gefühl, als wenn was nicht stimmt. Einfach weil sie dieses Haus eingerammt haben und meine Leute fort sind.« Casy sagte: »Dort drüben war der Graben, wo ich immer getauft habe. Du warst nicht böse, aber du warst ein zähes Kerlchen. Hast dich wie eine Bulldogge an den Zopf von dem Mädchen geklammert. Wir haben euch beide im Namen des Heiligen Geistes getauft, aber du hast nicht losgelassen. Der alte Tom hat gesagt: ›Halt ihn doch unter Wasser.‹ Da habe ich einfach deinen Kopf untergetaucht, bis du zu blubbern anfingst und den Zopf losgelassen hast. Du warst nicht böse, du warst nur zäh. Und so ein zähes Kind wächst manchmal auf und hat viel vom Heiligen Geist in seinem Kopf.« 78
Eine magere graue Katze kam aus dem Schuppen herausgeschlichen und kroch durch die Baumwollpflanzen auf das Ende der Veranda zu. Sie sprang lautlos hinauf und schlich sich geduckt zu den Männern heran. Kurz hinter ihnen setzte sie sich hin, ihr Schwanz streckte sich gerade und flach am Boden aus, und nur das letzte Ende des Schwanzes klopfte leise. So saß sie da und blickte in die Ferne, wohin auch die Männer blickten. Joad wandte sich zu ihr um. »Guter Gott! Sieh doch, wer da ist! Irgend jemand muß geblieben sein.« Er streckte seine Hand aus, aber die Katze sprang davon, so daß er sie nicht mehr erreichen konnte, und setzte sich hin und leckte die Ballen ihrer erhobenen Pfote. Joad sah sie an, und sein Gesicht drückte Ratlosigkeit aus. »Jetzt weiß ich, was los ist«, rief er plötzlich. »Die Katze hat mich drauf gebracht.« »Scheint mir, es ist einiges los«, sagte Casy. »Gar nicht so schlimm. Sieh mal, zum Beispiel diese Katze – weshalb ist sie nicht mit den Nachbarn mitgegangen, mit den Rances? Weshalb ist niemand gekommen und hat sich das Holz von unserm Haus geholt? Drei – vier Monate lang ist kein Mensch hier gewesen, und niemand hat das Holz gestohlen. Die schönen Bretter im Schuppen, die vielen Bretter im Haus, die Fensterrahmen – und kein Mensch hat was gestohlen. Das ist doch nicht richtig. Das war’s, was mir von Anfang an komisch vorgekommen ist, aber ich bin nicht gleich drauf gekommen.« »Schön, aber ich weiß nicht, was du damit willst.« Casy bückte sich, zog seine Schuhe aus und krallte seine langen Zehen um die Kante der Treppenstufe. 79
»Ich weiß nicht. Scheint so, als wären überhaupt keine Nachbarn mehr da. Denn wenn noch welche da wären, so wären bestimmt alle die guten Bretter verschwunden. Mein Gott, wenn ich mir das überlege! Einmal zu Weihnachten ist Albert Rance mit seiner Familie, Kindern und Hunden und allen, nach Oklahoma City gefahren. Sie wollten Alberts Cousin besuchen. Aber die Leute in der ganzen Gegend haben gedacht, Albert ist weggezogen, ohne ’n Wort zu sagen. Sie dachten, vielleicht hat er Schulden gehabt oder ’ne Frau ist hinter ihm her gewesen. Und wie Albert ’ne Woche später wieder zurückkam, war im ganzen Haus kein Stück mehr da – der Herd war fort, die Betten waren fort, die Fensterrahmen waren fort, und acht Fuß von der Holzverschalung an der Südseite vom Haus waren fort. Man konnte direkt durchgucken, und grade wie er heimkam, ging Muley Graves mit den Türen und mit der Pumpe fort. Hat zwei Wochen gedauert, bis Albert all sein Zeug wieder zusammen hatte.« Casy kratzte sich behaglich die Zehen. »Hat’s denn keinen Streit gegeben? Ich meine, haben sie denn alle das Zeug gleich wieder rausgerückt?« »Na, sicher. Sie haben’s ja nicht gestohlen. Sie haben gedacht, er hat’s dagelassen, und da haben sie sich’s einfach geholt. Er hat alles zurückgekriegt – alles, nur ein Sofakissen nicht, eins aus Samt mit ’nem Bild von ’nem Indianer drauf. Albert hat behauptet, Großvater hätte es. Großvater hätte Indianerblut, hat er gesagt, deshalb hätte er auch das Kissen gewollt. Und natürlich hat’s Großvater gehabt, aber das Bild drauf war ihm 80
ganz schnuppe. Das Kissen hat ihm einfach gefallen. Er hat’s überall mit rumgeschleppt und sich’s überall untergelegt, wenn er sich wo hingesetzt hat. Er wollt’ es Albert einfach nicht zurückgeben. ›Wenn Albert das Kissen unbedingt haben will‹, hat er gesagt, ›so soll er sich’s doch holen. Aber er soll sich lieber sein Schießgewehr mitbringen, weil ich ihm nämlich seinen elenden, stinkenden Kopf runterpuste, wenn er kommt und mir wegen meinem Kissen Krach schlägt!‹ Schließlich hat’s Albert aufgegeben und hat Großvater das Kissen geschenkt. Aber es hat Großvater auch auf Ideen gebracht. Er hat plötzlich angefangen, Hühnerfedern zu sammeln. Er hat gesagt, er will mal ’n ganzes Bett aus Federn haben. Aber das Federbett hat er nie gekriegt. Einmal hat Vater unterm Haus ein Stinktier gejagt und es erschlagen, und Mutter mußte alle Federn verbrennen, wo Großvater gesammelt hatte, damit wir überhaupt noch in dem Haus leben konnten.« Er lachte. »Großvater ist ein zäher alter Bursche. Hat sich einfach auf das Indianerkissen gesetzt und gesagt: ›Albert soll nur kommen und sich’s holen. Dann nehme ich aber die Spritze und puste ihm seinen Kopf runter.‹« Die Katze kam wieder zwischen die Männer gekrochen, ihr Schwanz lag flach am Boden, und hin und wieder zuckte sie mit ihrem Schnurrbart. Die Sonne stand tief am Horizont, und die staubige Luft war rot und golden. Die Katze streckte eine graue fragende Pfote aus und berührte Joads Jacke. Er blickte sich um. »Richtig, ich habe ja die Schildkröte vergessen. Ich kann sie ja nicht dauernd mit rumschleppen.« Er wickelte die 81
Schildkröte aus und stieß sie unter das Haus. Aber gleich darauf erschien sie wieder und lief eilends nach Südwesten, in die Richtung, die sie von Anfang an eingeschlagen hatte. Die Katze sprang auf sie zu und schlug nach dem vorgestreckten Kopf und den sich bewegenden Füßen. Der alte listige Kopf wurde zurückgezogen, und der dicke Schwanz klappte sich unter den Panzer, und als die Katze des Wartens müde wurde und davonlief, eilte die Schildkröte weiter nach Südwesten. Tom Joad und der Prediger sahen der Schildkröte nach, wie sie auf ihren Beinen einherwankte und ihren schweren hochgewölbten Panzer nach Südwesten schleppte. Die Katze kroch eine Weile lang hinter ihr her, aber nach einigen Metern machte sie einen steifen Buckel und kam leise zurück zu den beiden Männern. »Wo, zum Teufel, will sie eigentlich hin?« fragte Joad. »Ich habe mein Leben lang Schildkröten gesehen – sie gehen immer irgendwohin. Sie scheinen immer wohin zu wollen.« Die graue Katze setzte sich wieder hinter sie und blinzelte langsam. Das Fell über ihren Schultern richtete sich auf unter einer Fliege und legte sich langsam wieder glatt. Die Katze hob eine Pfote und betrachtete sie, spreizte spielerisch die Krallen und zog sie wieder ein und leckte die kleinen Ballen mit ihrer muschelroten Zunge. Die Sonne berührte den Horizont und breitete sich aus, wie eine Qualle an Land, und der Himmel über ihr erschien jetzt viel leuchtender und lebendiger, als er gewesen war. Joad rollte seine neuen gelben Schuhe aus der Jacke, wischte sich die staubigen Füße mit der Hand ab und zog die Schuhe an. 82
Der Prediger, der über die Felder hinwegschaute, sagte: »Dort kommt jemand. Sieh doch! Dort hinten, direkt durch die Baumwolle.« Joad blickte in die Richtung, in die Casys Finger deutete. »Kommt zu Fuß«, sagte er. »Das sieht man an dem Staub, den er aufwirbelt. Wer, zum Teufel, kann das denn sein?« Sie beobachteten die Gestalt, die sich im Abendlicht langsam näherte. Der Staub, den sie aufwirbelte, war rot von der untergehenden Sonne. »Ein Mann«, sagte Joad. Der Mann kam näher, und als er an dem Schuppen vorbeiging, sagte Joad: »Natürlich, ich kenne ihn! Du kennst ihn auch – es ist Muley Graves.« Und er rief: »He, Muley! Wie geht’s?« Der Mann blieb stehen, überrascht durch den Ruf, und dann kam er schnell näher. Er war ein magerer, ziemlich kleiner Mann. Seine Bewegungen waren ruckartig und schnell. Er trug einen Jutesack in der Hand. Seine blaue Köperhose war an den Knien und an der Sitzfläche verschossen, und er trug eine alte schwarze Jacke, fleckig und zerrissen, deren Ärmel an den Schulternähten aufgegangen waren und an den Ellbogen Löcher hatten. Sein schwarzer Hut war ebenso fleckig wie die Jacke, und das Band, das zur Hälfte losgerissen war, wippte auf und nieder, wenn er ging. Muleys Gesicht war glatt und ohne Falten, aber es hatte den wilden Ausdruck eines bösen Kindergesichts. Der Mund war schmal und fest geschlossen, und die Augen waren mürrisch, düster und verdrießlich. »Du kennst doch Muley noch?« sagte Joad leise zu dem Prediger. 83
»Wer ist da?« rief der herankommende Mann. Joad antwortete nicht. Muley kam näher, kam ganz nahe heran, bis er die Gesichter erkannte. »Na, wenn das nicht Tommy Joad ist!« rief er. »Wann bist du denn rausgekommen?« »Vor zwei Tagen«, sagte Joad. »Hat einige Zeit gedauert, bis ich mich nach Hause durchgefochten habe. Und nun finde ich das hier. Wo sind denn meine Leute, Muley? Weshalb haben sie denn das Haus kaputtgemacht und Baumwolle in den Hof gepflanzt?« »Mein Gott, ja – da hast du Glück, daß ich grade vorbeikomme!« sagte Muley. »Denn der alte Tom hat sich selber Sorgen gemacht. Wie sie alles zum Ausziehen einpackten, habe ich da drüben in der Küche gesessen. Ich habe dem alten Tom gesagt, daß ich nicht mitgehe. Jawohl, das habe ich ihm gesagt, und Tom hat gemeint: ›Ich mache mir Sorgen um Tommy. Angenommen, er kommt nach Hause und kein Aas ist mehr da. Was wird er dann denken?‹ Ich sage: ›Weshalb schreibst du ihm nicht ’n Brief?‹ Und Tom sagt: ›Vielleicht schreibe ich auch einen. Ich muß mir’s überlegen. Aber wenn ich nicht schreibe, dann paßt du auf, ob Tommy kommt, wenn du noch da bist.‹ – ›Ich bin noch da‹, sage ich. ›Ich bin so lange da, bis die Hölle zufriert. Gibt niemand, der wo Muley Graves aus dem Land jagen kann.‹ Und bis jetzt haben sie’s auch noch nicht fertiggebracht.« Joad sagte ungeduldig: »Wo sind meine Leute? Das andere kannst du mir alles später erzählen. Aber wo sind meine Leute?« »Ja, also eigentlich wollten sie ja bleiben, wie die 84
Bank kam und sie mit Traktoren fortgejagt hat. Dein Großvater hat da draußen mit ’nem Gewehr gestanden und hat dem Traktor die Scheinwerfer eingeschossen, aber er ist trotzdem gekommen, der Traktor. Dein Großvater wollte den Burschen auf dem Traktor nicht erschießen, denn das war Willy Feeley, und Willy hat das gewußt, deshalb ist er einfach drauflosgefahren und hat das Haus gerammt und zusammengerüttelt, wie ein Hund ’ne alte Ratte. Na, und das ist Tom doch mächtig in die Glieder gefahren. Er ist seitdem nicht mehr derselbe.« »Ja, aber wo sind meine Leute?« rief Joad wütend. »Was ich dir sage! Dreimal sind sie gefahren mit dem Wagen von deinem Onkel John. Sie haben den Herd und die Pumpe und die Betten mitgenommen. Du hättest mal die Betten sehen sollen – mit all den Kindern und deiner Großmutter und deinem Großvater obendrauf und deinem Bruder Noah, wie er dasaß und ’ne Zigarette rauchte und zum Wagen runterspuckte.« Joad öffnete den Mund, um etwas zu sagen. »Sie sind alle bei deinem Onkel John«, fügte Muley rasch hinzu. »So! Alle bei Onkel John. Na, und was machen sie da? Jetzt bleib mal hier, Muley. Nur ’ne Minute, dann kannst du gehen. Was machen sie da?« »Sie haben Baumwolle gepflückt, alle, sogar die Kinder und dein Großvater. Sie müssen ja Geld zusammenkriegen, damit sie nach Westen können. Wollen sich einen Wagen kaufen und nach Westen fahren, wo das Leben besser ist. Hier geht’s nicht mehr. Fünfzig Cents pro Hektar fürs Baumwollpflücken, und die Leute betteln noch drum, daß sie pflücken können.« 85
»Und sie sind noch nicht losgefahren?« »Nein«, sagte Muley, »nicht daß ich wüßte. Das letzte, was ich gehört habe, war vor vier Tagen, wie ich deinen Bruder Noah beim Kaninchenschießen getroffen habe. Er hat gesagt, daß sie in rund zwei Wochen losfahren wollen. Dein Onkel John hat die Nachricht gekriegt, daß er auch weg muß. Du brauchst nur acht Meilen zu laufen bis zu Johns Farm. Deine Leute hocken da zusammen wie die Goffer beim Winterschlaf.« »Okay«, sagte Joad. »Jetzt kannst du dich wieder auf deinen Weg machen, wenn du willst. Du hast dich nicht’n bißchen verändert, Muley.« Muley sagte mürrisch: »Du hast dich auch nicht verändert. Du warst immer ein patenter, feiner Bursche und bist’s auch immer noch. Vielleicht kannst du mir zufällig sagen, wovon ich hier leben soll.« Joad grinste. »Nee, das kann ich nicht. Wenn du deinen Kopf in ’nen Haufen Glasscherben stecken willst, so wird dir niemand was anderes sagen. Du kennst doch den Prediger hier, was, Muley? Reverend Casy.« »Natürlich, habe ihn nur nicht gleich gesehen. Kenne ihn ganz genau.« Casy stand auf, und die beiden schüttelten einander die Hände. »Freut mich, dich wiederzusehen«, sagte Muley. »Du bist verflucht lange nicht hier gewesen.« »Ich habe mich ’n bißchen umgesehen und herumgefragt«, sagte Casy. »Was ist denn hier passiert? Weshalb jagt man denn die Leute von ihrem Land?« Muleys Mund schnappte so fest zu, daß sich in der Mitte seiner Oberlippe ein kleiner Papageienschnabel 86
bildete und über die Unterlippe hing. Er machte ein finsteres Gesicht. »Die Schweine«, sagte er. »Diese drekkigen Schweine. Ich sage euch, ich bleibe. Mich können sie nicht loswerden. Wenn sie mich rausschmeißen, komme ich zurück, und wenn sie glauben, daß ich unter der Erde ruhiger bin, dann nehme ich zwei oder drei von den Schweinen zur Gesellschaft mit.« Er klopfte auf die prall gefüllte Seitentasche seiner Jacke. »Ich rühre mich nicht vom Fleck. Mein Vater ist vor fünfzig Jahren hergekommen. Ich rühre mich nicht vom Fleck.« Joad sagte: »Was soll das eigentlich heißen, daß sie die Leute hier fortjagen?« »Ach – sie haben uns große Sachen erzählt. Du weißt, was für Jahre wir gehabt haben. Der Staub ist gekommen und hat alles kaputtgemacht, und die ganze Ernte ist zum Teufel gegangen. Und alle hatten beim Kaufmann Schulden. Du weißt ja, wie’s ist. Na, und die Leute, denen wo das Land gehört, sagen: ›Wir können uns keine Pächter mehr leisten.‹ Und sie sagen: ›Der Anteil, wo ein Pächter kriegt, ist grade das bißchen Profit, was wir nicht verlieren können.‹ Und sie sagen: ›Wenn wir aber ein einziges Stück Land haben, dann macht’s sich gerade für uns bezahlt.‹ Und da sind sie eben mit ihren Traktoren gekommen und haben die Leute von ihrem Land verjagt. Alle außer mir, und ich gehe nicht. Tommy, du kennst mich. Du hast mich dein ganzes Leben lang gekannt.« »Richtig!« sagte Joad. »Mein ganzes Leben lang.« »Na ja, und du weißt, daß ich kein Idiot bin. Daß dieses Land nicht mehr gut ist, weiß ich auch. War nie 87
zu nicht viel anderem gut als zum Weiden. Die Leute hätten’s nie umpflügen sollen. Und jetzt haben sie’s mit der verdammten Baumwolle noch ganz ausgehungert. Wenn sie mir nicht gesagt hätten, ich soll weg, dann wäre ich vielleicht jetzt in Kalifornien und würde Weintrauben essen und Orangen pflücken, wie’s mir gefällt. Aber diese Schweine sagen, ich muß weg – und ich gehe einfach nicht, wenn man mir’s sagt!« »Na, sicher«, sagte Joad. »Ich wundere mich, daß Vater so leicht gegangen ist. Ich wundere mich, daß Großvater keinen umgebracht hat. Großvater hat sich niemals nicht sagen lassen, wohin er gehen soll. Und Mutter ist auch keine, wo sich so leicht rumstoßen läßt. Mal habe ich gesehen, wie sie mit ’nem lebenden Huhn auf ’nen Hausierer losgegangen ist, der wo Streit mit ihr angefangen hat. Sie hat das Huhn in der einen Hand gehabt und die Axt in der anderen, weil sie dem Huhn gerade den Kopf abschlagen wollte. Sie war drauf und dran, mit der Axt auf den Hausierer loszugehen, aber dann hat sie vergessen, welche Hand es war, und ist mit dem Huhn auf ihn losgegangen. Und das Huhn war nachher überhaupt nicht mehr zu essen. Sie hat nur noch ein Paar Beine in der Hand gehabt. Großvater hat sich ein Loch in den Bauch gelacht. Ich verstehe nicht, daß meine Leute so leicht gegangen sind.« »Ganz einfach – da ist ein Kerl gekommen und hat honigsüß geredet. ›Sie müssen gehen. Ich kann nichts dafür.‹ – ›Gut‹, sagte ich, ›wer kann denn dann was dafür? Dem Kerl will ich eins über den Schädel hauen.‹ – ›Es ist die Shawnee-Land-und-Viehgesellschaft. Ich habe 88
nur den Befehl.‹ – ›Und wer ist die Shawnee-Land-undViehgesellschaft?‹ – ›Das ist niemand – eine Gesellschaft.‹ Da kann man doch verrückt werden. Kein Mensch, wo dafür verantwortlich ist. Viele von den Leuten haben’s einfach satt gekriegt, darauf zu warten, daß sie jemand verantwortlich machen können – aber ich nicht. Ich mache sie alle verantwortlich. Und ich bleibe.« Ein großer roter Sonnentropfen hing am Horizont, dann fiel er herab und war verschwunden, und der Himmel leuchtete über der Stelle, wo er verschwunden war, und eine zerfetzte Wolke hing gleich einem blutigen Lumpen darüber. Und die Dämmerung kroch vom östlichen Horizont her über den Himmel. Und über das Land kam von Osten die Dunkelheit geschlichen. Der Abendstern blitzte und glitzerte am dämmrigen Himmel. Die graue Katze huschte wie ein Schatten vorbei, in den offenen Schuppen hinein. Joad sagte: »Ja, aber heute nacht können wir die acht Meilen bis zu Onkel Johns Farm nicht mehr laufen. Meine Füße sind ganz wund. Wie wär’s, wenn wir zu dir gingen, Muley? Das ist doch nicht mehr als eine Meile.« »Lieber nicht.« Muley schien verlegen zu sein. »Meine Frau und die Kinder und ihr Bruder sind nach Kalifornien gefahren und haben alles mitgenommen. War ja nichts zu essen mehr da. Sie sind nicht so wütend gewesen wie ich, deshalb sind sie auch nicht geblieben. Hier hat’s nichts mehr zu essen gegeben.« Der Prediger rutschte nervös hin und her. »Du hättest mitgehen sollen. Ist nie gut, die Familie zu trennen.« 89
»Ich konnte nicht«, sagte Muley. »Irgendwas hat mich einfach nicht gehen lassen.« »Gott, habe ich einen Hunger«, sagte Joad. »Vier Jahre lang habe ich pünktlich auf die Minute gegessen. Jetzt schreien meine Gedärme vor Hunger. Was ißt du denn, Muley? Wo hast du denn die ganze Zeit dein Essen hergekriegt?« Muley sagte beschämt: »Eine Zeitlang habe ich Frösche und Eichhörnchen und manchmal Präriehunde gegessen. Blieb mir ja weiter nichts übrig. Aber jetzt habe ich Drahtschlingen ausgelegt in dem trockenen Gebüsch am Fluß. Da gibt’s Kaninchen und manchmal wilde Hühner. Auch Stinktiere fangen sich und kleine Bären.« Er bückte sich, nahm seinen Sack auf und schüttelte den Inhalt auf die Veranda. Drei Kaninchen fielen heraus und rollten klumpig, weich und pelzig auf den Boden. – »Guter Gott«, sagte Joad, »seit mehr als vier Jahren habe ich kein frisches Fleisch gegessen.« Casy hob eines der Kaninchen auf und hielt es in der Hand. »Teilst du mit uns, Muley Graves?« fragte er. Muley zögerte verlegen. »Bleibt mir ja nichts anderes übrig.« Bei dem unfreundlichen Ton seiner Worte hielt er inne. »Das heißt nicht, daß ich’s nicht will. So ist’s nicht. Ich meine«, er stotterte ein wenig, »ich meine, wenn einer was zu essen hat und der andere hungrig ist – dann bleibt einem eben nichts anderes übrig. Ich meine, angenommen, ich nehme meine Kaninchen über den Arm und gehe weg und esse sie alleine auf. Verstehst du?« »Ich verstehe«, sagte Casy. »Ich verstehe das sehr gut. Muley hat sich da was ausgedacht, Tom. Was ausge90
dacht, was zu groß für ihn ist und was auch zu groß für mich ist.« Tom rieb sich die Hände. »Wer hat ein Messer? Fangen wir mal an mit diesen süßen Tierchen. Los, fangen wir an.« Muley zog ein großes Taschenmesser mit Horngriff aus der Hosentasche. Tom Joad nahm es ihm aus der Hand, machte es auf und roch an der Klinge. Er stieß die Klinge ein ums andere Mal in die Erde, roch abermals daran, wischte sie an seinem Hosenbein ab und befühlte die Schneide mit seinem Daumen. Muley holte eine Viertelliterflasche mit Wasser aus seiner hinteren Hosentasche und stellte sie auf die Veranda. »Seid vorsichtig mit dem Wasser«, sagte er. »Das ist alles, was ich habe. Und hier die Quelle ist zugeschüttet.« Tom nahm eines der Kaninchen in die Hand. »Einer von euch muß ein Stück Draht aus dem Schuppen holen. Feuer können wir mit diesen kaputten Brettern hier machen.« Er blickte auf das tote Kaninchen. »Nichts läßt sich so leicht zubereiten wie ein Kaninchen«, sagte er. Er zog die Haut am Rücken hoch, schlitzte sie ein, steckte seinen Finger in das Loch und zog die Haut ab. Sie ließ sich wie ein Strumpf abziehen, am Körper bis zum Hals und an den Beinen bis zu den Pfoten. Joad nahm das Messer und schnitt Kopf und Füße ab. Er legte das Fell auf die Erde, schlitzte das Kaninchen an den Rippen entlang auf, schüttelte die Eingeweide auf das Fell und warf dann das Ganze hinaus in das Baumwollfeld. Und der saubere, muskulöse kleine Kaninchenkörper war zum Braten bereit. Joad schnitt die Beine ab 91
und zerteilte den fleischigen Rücken in zwei Stücke. Er hob grade das zweite Kaninchen auf, als Casy mit einer Drahtrolle zurückkam. »Nun macht Feuer und stellt zwei Pflöcke auf«, sagte Joad. »Guter Gott, habe ich einen Hunger auf diese Viecher!« Er nahm die anderen Kaninchen aus, zerschnitt sie und reihte sie auf den Draht. Muley und Casy rissen zersplitterte Bretter aus dem zertrümmerten Haus und machten Feuer. Dann trieben sie zu beiden Seiten des Feuers Pflöcke in den Boden, an denen der Draht befestigt werden sollte. Muley kam zurück zu Joad. »Paß auf, daß die Kaninchen keine Geschwüre haben«, sagte er. »Ich habe keine Lust, Kaninchen mit Geschwüren zu essen.« Er zog ein kleines Stoffsäckchen aus seiner Tasche und legte es auf die Veranda. Joad sagte: »Die Kaninchen waren ganz sauber – mein Gott, hast du auch Salz? Hast du vielleicht zufällig auch Teller und Besteck in deinen Taschen?« Er schüttelte sich Salz in die Hand und streute es über das Kaninchenfleisch. Das Feuer flammte auf und warf Schatten auf das Haus, und das trockene Holz knisterte und krachte. Der Himmel war jetzt fast dunkel, und die Sterne waren deutlich zu sehen. Die graue Katze kam aus dem Schuppen und trottete miauend auf das Feuer zu, drehte sich aber, als sie schon fast herangekommen war, um und ging direkt auf einen der kleinen Haufen von Kanincheneingeweiden zu, die am Boden lagen. Sie kaute und schluckte, und die Eingeweide hingen ihr aus dem Maul. Casy saß auf der Erde neben dem Feuer, legte zerbrochene Holzstücke auf und stieß die langen Bretter 92
hinein, wenn die Flammen an ihren Enden zu fressen begannen. Fledermäuse flogen durch den Feuerschein, die Katze kroch zurück, leckte sich die Schnauze und putzte sich Gesicht und Schnurrbart. Joad hielt den mit Kaninchenfleisch beladenen Draht zwischen beiden Händen hoch und ging zum Feuer. »Hier, nimm das eine Ende, Muley. Wickle das Ende um den Pflock. Ja, so ist’s richtig. Nun noch ein bißchen strammziehen. Wir sollten zwar warten, bis das Feuer runtergebrannt ist, aber ich kann nicht warten.« Er spannte den Draht, nahm dann einen Stock und schob die Fleischstücke an dem Draht entlang, bis sie über dem Feuer hingen. Und die Flammen leckten an dem Fleisch und härteten und glasierten seine Oberfläche. Joad setzte sich neben das Feuer, aber mit seinem Stock schob und drehte er die Stücke ständig herum, damit sie nicht an dem Draht kleben blieben. »Das ist ’ne richtige Dinnergesellschaft«, sagte er. »Muley hat Salz und Wasser und Kaninchen. Ich wollte, er hätte auch noch ’nen Topf Maisbrei in seiner Tasche. Weiter wünsche ich mir nichts.« Muley sagte über das Feuer hinweg: »Ihr beiden denkt wahrscheinlich, ich bin verrückt – so, wie ich lebe.« »Quatsch – verrückt!« sagte Joad. »Wenn du verrückt bist, wünsche ich, alle Leute wären verrückt.« Muley fuhr fort: »Na ja, siehst du, es ist eben ’ne komische Sache. In mir drin ist irgendwas passiert, wie sie mir gesagt haben, ich muß fort. Erst wollte ich losgehen und ’ne ganze Herde von Leuten umbringen. Dann ist meine Familie weggezogen nach Westen. Und ich habe 93
angefangen rumzuwandern. Einfach rumzuwandern, nichts weiter. Bin auch nie sehr weit gekommen. Und ich habe geschlafen, wo ich gerade war. Heute nacht wollte ich hier schlafen. Deshalb bin ich überhaupt nur hergekommen. Ich habe immer gesagt, ich schaue nur nach dem Rechten, damit alles in Ordnung ist, wenn die Leute zurückkommen. Aber ich habe genau gewußt, daß das nicht stimmt. Ist ja gar nichts mehr da, wonach ich schauen kann. Und die Leute kommen nie zurück. Ich wandere einfach herum, wie ’n elender alter Kirchhofsgeist.« »Wenn man sich einmal an ein Fleckchen Erde gewöhnt hat«, sagte Casy, »so geht man nicht gerne. Wenn man sich einmal dran gewöhnt hat, in ’ner bestimmten Weise zu denken, so läßt man’s nicht gerne sein. Ich bin kein Prediger mehr, aber ich merke andauernd, daß ich bete, ohne daß ich’s richtig weiß.« Joad drehte die Fleischstücke am Draht um. Der Saft tropfte herab, und bei jedem Tropfen, der ins Feuer fiel, schoß eine Flamme hoch. Die glatte Oberfläche des Fleisches krümmte sich jetzt und wurde hellbraun. »Riech doch nur«, sagte Joad. »Mein Gott, riech doch nur. Wie das riecht!« Muley fuhr fort: »Wie ’n elender alter Kirchhofsgeist. Ich bin überall dort rumgelaufen, wo früher mal was passiert ist. Wie da drüben in dem Graben, wo der Busch steht. Da habe ich zum erstenmal mit ’nem Mädchen geschlafen. Vierzehn Jahre war ich, wild und ausgelassen, und habe gestöhnt und geschnauft wie ’n Bock. Da bin ich nun wieder hingegangen und habe mich auf den 94
Boden gelegt und alles noch mal erlebt. Und dann die Stelle unten bei der Scheune, wo Vater von ’nem Bullen aufgespießt worden ist. Sein Blut ist noch dort in dem Boden. Muß ja sein. Hat nie kein Mensch weggewaschen. Und ich habe meine Hand auf den Boden gelegt, wo das Blut von meinem Vater geflossen ist.« Er machte eine verlegene Pause. »Denkt ihr nun, ich bin verrückt?« Joad drehte das Fleisch um, und seine Augen waren nach innen gerichtet. Casy hatte die Füße hochgezogen und starrte ins Feuer. Ein paar Schritte von ihnen entfernt saß die satte Katze und hatte sich ihren langen grauen Schwanz sauber um die Vorderpfoten gewickelt. Eine große Eule schrie, als sie über ihren Köpfen vorbeiflog. Im Feuerschein waren ihre ausgebreiteten Flügel und ihre weiße Unterseite zu sehen. »Nein«, sagte Casy. »Du bist allein – aber du bist nicht verrückt.« Muleys gespanntes kleines Gesicht wurde starr. »Ich habe meine Hand direkt auf den Boden gelegt, wo das Blut von meinem Vater ist. Und ich habe meinen Vater gesehen mit ’nem Loch in der Brust und habe gefühlt, wie er geschaudert hat, genau wie damals, und ich habe gesehen, wie er dann so zurückgesunken ist und mit seinen Händen und seinen Füßen in die Luft gegriffen hat. Und ich habe gesehen, wie seine Augen ganz milchig wurden vor Schmerz, und dann lag er ganz still, und seine Augen waren klar – und er hat zu mir aufgeblickt. Und ich kleiner Kerl habe dagesessen und nicht geheult und nichts. Einfach dagesessen.« Er schüttelte heftig den Kopf. Joad drehte das Fleisch um und um. »Und dann 95
bin ich in das Zimmer gegangen, wo Joe geboren ist. Das Bett war nicht mehr da, aber es war genau dasselbe Zimmer. Und alles das ist wahr, und ich habe alles noch einmal gesehen, wie’s passiert ist. Joe ist dort zur Welt gekommen. Er hat ganz laut gestöhnt und dann losgeschrien, daß man’s ’ne Meile weit hören konnte, und Großmutter hat dabeigestanden und gesagt: ›Was für ein Süßer! Was für ein Süßer!‹ Immer und immer wieder. Und sie war so stolz, daß sie damals in der Nacht drei Tassen kaputtgeschlagen hat.« Joad räusperte sich. »Ich glaube, wir essen’s jetzt lieber.« »Laß es nur richtig gar werden, richtig braun, beinahe schwarz«, sagte Muley ein wenig gereizt. »Ich will jetzt reden. Ich habe mit niemand geredet. Wenn ich verrückt bin, bin ich verrückt, dann ist eben Schluß. Wie ’n alter Kirchhofsgeist bin ich nachts in die Nachbarhäuser gegangen. Zu Peters, Jacobs, Rances und Joads. Und die Häuser sind alle dunkel und stehen da wie elende alte Kisten, aber früher gab’s da Gesellschaften und Tanz. Und Versammlungen und Hallelujahgeschrei. Und dann gab’s Hochzeiten – und alles in diesen Häusern. Und da habe ich Lust gekriegt, in die Stadt zu laufen und Leute umzubringen. Denn was haben sie eigentlich davon, daß sie uns von unserem Land vertreiben? Womit haben sie sich denn jetzt ihren Profit gesichert? Sie haben Vater, der dort drüben an der Scheune gestorben ist, und Joe, der hier seinen ersten Atemzug getan hat, und mich, wie ich da in ’ner Nacht mit ’nem Mädchen unter dem Busch gelegen und gestöhnt habe. Was haben sie denn? Weiß Gott, das Land ist nicht gut. Seit Jahren 96
hat keiner ’ne Ernte machen können. Aber diese Schweine an ihren Schreibtischen – die haben einfach die Leute entzweigehauen für ihren Profit. Einfach entzweigehauen. Das Land gehört doch unsern Leuten. Sie haben darauf gelebt. Jetzt, allein da draußen auf der Straße mit ’nem hochbepackten Wagen – jetzt sind sie nicht mehr ganz. Sind nicht mehr gesund. Sie können nicht mehr leben. Die Schweine haben sie umgebracht.« Er schwieg, aber seine Lippen bewegten sich noch, und seine Brust keuchte noch. Er saß da und blickte im Feuerschein hinunter auf seine Hände. »Ich … ich habe lange mit niemand mehr gesprochen«, entschuldigte er sich leise. »Ich bin rumgeschlichen wie ’n alter Kirchhofsgeist.« Casy schob die langen Bretter ins Feuer, und die Flammen leckten an ihnen herum und sprangen wieder hinauf zu dem Fleisch. Im Hause krachte es laut, als die kühlere Nachtluft das Holz wieder mehr zusammenzog. Casy sagte ruhig: »Ich muß mir die Leute mal ansehen, die da raus auf die Straße gehen. Ich habe das Gefühl, daß ich sie sehen muß. Sie brauchen Hilfe, die ihnen kein Prediger geben kann. Hoffnung auf den Himmel, wenn sie noch nicht mal ihr Leben gelebt haben? Heiliger Geist, wenn ihr eigener Geist niedergeschlagen und traurig ist? Sie brauchen Hilfe. Sie müssen doch leben, bevor sie sich’s leisten können zu sterben.« Joad rief unwillig: »Um Gottes willen, jetzt wollen wir doch endlich das Fleisch essen, ehe es zusammenschrumpft wie ’ne gekochte Maus. Hier, seht’s euch an. Riecht doch nur!« Er sprang auf und schob die 97
Fleischstücke an dem Draht entlang, bis sie aus der Reichweite der Flammen waren. Er nahm Muleys Messer und stach so lange durch ein Stück Fleisch hindurch, bis es sich von dem Draht gelöst hatte. »Das hier ist für den Prediger«, sagte er. »Ich habe dir schon gesagt, ich bin kein Prediger mehr.« »Schön, also dann für den Mann.« Er schnitt ein neues Stück ab. »Hier, Muley, wenn du nicht zu aufgeregt bist zum Essen.« Dann lehnte er sich zurück, biß mit seinen Zähnen in das Fleisch, riß ein großes Stück heraus und kaute es. »Jesus Christ! Hört ihr’s krachen?« Und er biß abermals gierig hinein. Muley saß still da und betrachtete sein Fleisch. »Vielleicht hätte ich nicht so reden sollen«, sagte er. »Man soll so was für sich behalten.« Casy blickte zu ihm hinüber, den Mund voll Kaninchenfleisch. Er kaute, und seine muskulöse Kehle hüpfte beim Schlucken auf und ab. »Ja, natürlich sollst du reden«, sagte er. »Manchmal kann ein Mann, wenn er traurig ist, sich die Traurigkeit von der Seele reden. Manchmal kann ein Mann, wenn er einen umbringen will, sich sogar den Mord von der Seele reden und braucht ihn gar nicht erst zu begehen. Du hast ganz recht, Muley. Bring niemanden um, wenn’s ohne dem geht.« Und er biß wiederum in das Fleisch. Joad warf die Knochen in das Feuer, sprang auf und schnitt noch mehr von dem Draht herunter. Muley aß jetzt langsam, und seine ruhelosen kleinen Augen wanderten von einem 98
zum anderen. Joad aß wild und gierig wie ein Tier, und ein Ring von Fett bildete sich um seinen Mund. Muley betrachtete ihn lange, fast schüchtern. Er ließ die Hand sinken, die das Fleisch hielt. »Tommy«, sagte er. Joad blickte auf, knabberte aber weiter an seinem Fleisch. »Was denn?« fragte er mit vollem Mund. »Tommy, du bist doch nicht böse mit mir, weil ich was von Umbringen gesagt habe? Du nimmst doch nicht so leicht übel, was, Tom?« »Nein«, sagte Tom. »Ich nehme nicht so leicht übel. Es ist einfach ’ne Sache, wo passiert ist.« »Jeder weiß, daß es nicht deine Schuld war«, sagte Muley. »Der alte Turnbull hat gesagt, er will auf dich losgehen, wenn du rauskommst. Er hat gesagt, niemand kann einen von seinen Jungens umbringen. Aber die Leute haben’s ihm ausgeredet.« »Wir waren betrunken«, sagte Joad leise. »Es war bei ’ner Tanzerei, und wir waren betrunken. Ich weiß nicht mehr, wie’s anfing. Und dann habe ich plötzlich gefühlt, wie er mir das Messer in den Balg jagt, und da bin ich nüchtern geworden. Das erste, was ich gesehen habe, war Herb, wie er wieder mit dem Messer auf mich zukommt. Und da hat grade diese Schaufel an der Schulhausmauer gelehnt, und da habe ich sie genommen und ihm über den Kopf gehauen. Ich habe nie was gegen Herb gehabt. Er war ’n netter Bursche. Als kleiner Kerl ist er mal hinter meiner Schwester Rosasharn hergewesen. Nein, ich habe Herb eigentlich ganz gern gehabt.« »Ja, das haben wir alle seinem Vater auch gesagt, und schließlich hat er sich beruhigt. Jemand hat mir erzählt, 99
der alte Turnbull hat von seiner Mutter her HatfieldBlut in sich, und das merkt er manchmal. Ich weiß darüber weiter nichts. Er ist mit seinen Leuten vor sechs Monaten nach Kalifornien gegangen.« Joad nahm die letzten Stücke Kaninchenfleisch vom Draht und verteilte sie. Er setzte sich wieder und aß jetzt langsamer, kaute gleichmäßiger und wischte sich mit seinem Ärmel das Fett vom Mund. Und seine Augen, dunkel und halb geschlossen, waren nachdenklich, als er in das sterbende Feuer blickte. »Alle gehen sie nach Westen«, sagte er. »Ich muß mich an meine Bewährungsfrist halten. Darf den Staat nicht verlassen.« »Bewährungsfrist?« fragte Muley. »Ich habe schon davon gehört. Wie ist das eigentlich?« »Na ja, ich bin früher rausgekommen, drei Jahre früher. Und da gibt’s alles mögliche, was ich nicht machen darf, sonst sperren sie mich wieder ein. Muß mich auch dauernd melden.« »Wie behandeln sie einen denn in McAlester? Der Cousin von meiner Frau war auch mal da, und den haben sie säuisch behandelt.« »Ist gar nicht so schlimm«, sagte Joad. »Wie überall anders auch. Sie behandeln einen säuisch, wenn man sich säuisch benimmt. Sonst ist alles okay, wenn’s nicht einer der Wärter auf dich abgesehen hat. Dann ist’s natürlich mies. Bei mir war alles okay. Ich habe mich nur um meinen eigenen Kram gekümmert, wie jeder andere es auch getan hätte. Außerdem habe ich verdammt gut schreiben gelernt. Vögel und all so ’n Zeug, nicht nur gewöhnliche Schrift. Mein Alter wird wütend werden, 100
wenn er sieht, daß ich jetzt einen Vogel in einem Zug malen kann. Jawohl, wütend wird er werden, wenn er das sieht. Er hat solche Geschichten nicht gerne. Wo er noch nicht mal einfaches Schreiben gerne hat. Macht ihm irgendwie Angst, glaube ich. Jedesmal, wenn ich Vater schreiben gesehen habe, hat ihm jemand was weggenommen.« »Und sie haben dir keine Schläge und so was gegeben?« »Nein, ich habe mich einfach um meinen eigenen Kram gekümmert. Natürlich kriegt man’s verflucht satt, vier Jahre lang jeden Tag dasselbe zu tun. Wenn man irgendwas begangen hat, worüber man sich schämt, so kann man wenigstens darüber nachdenken. Aber verdammt, wenn Herb Turnbull jetzt wieder mit dem Messer auf mich zukäm’, würde ich ihn noch mal mit der Schaufel niederschlagen.« »Das würde jeder«, sagte Muley. Der Prediger starrte in das Feuer, und seine hohe Stirn war weiß in der Dunkelheit. Im Aufblitzen der kleinen Flammen waren die Sehnenstränge an seinem Hals zu sehen. Seine Hände, mit denen er die Knie umspannte, spielten eifrig miteinander. Joad warf die letzten Knochen ins Feuer, leckte sich die Hände und wischte sie an seiner Hose ab. Er stand auf, holte die Wasserflasche von der Veranda, nahm einen sparsamen Schluck und reichte die Flasche herum, bevor er sich wieder hinsetzte. Er fuhr fort: »Am meisten Kopfzerbrechen hat mir gemacht, daß überhaupt kein Sinn drin ist. Wenn der Blitz ’ne Kuh tötet oder wenn die Flut kommt, sucht man nicht nach ’nem Sinn. Das 101
sind einfach Sachen, die passieren. Aber wenn ’ne Bande von Männern einen vier Jahre lang einsperrt, so sollte das eigentlich irgend ’ne Bedeutung haben. Man sagt doch immer, die Menschen überlegen sich alles. Also, mich haben sie eingesperrt und vier Jahre lang ernährt. Eigentlich sollte ich mich dabei so verändern, daß ich’s nicht wieder mache, oder ich sollte so ’ne Strafe kriegen, daß ich Angst habe, es wieder zu machen.« Er hielt inne. »Aber wenn Herb oder irgendein anderer auf mich losgeht, würde ich’s eben doch wieder machen. Ich würd’ es wieder machen, ehe ich mir’s überhaupt überlege. Besonders, wenn ich betrunken wäre. Und so eine Sinnlosigkeit gibt einem doch zu denken.« »Der Richter hat gesagt«, warf Muley ein, »er hat dir nur ’ne leichte Strafe gegeben, weil du nicht allein schuld warst.« Joad sagte: »Da ist ein Bursche in McAlester, ein Lebenslänglicher, der studiert die ganze Zeit. Er ist Sekretär vom Vorsteher – schreibt dem Vorsteher seine Briefe und alles. Ein mächtig heller Bursche, liest Gesetzbücher und lauter so Zeug. Also, mit dem habe ich mal darüber gesprochen, weil er doch so viel liest. Und er sagte, es hat überhaupt keinen Zweck, Bücher zu lesen. Sagt, er hat jetzt alles über Gefängnisse von heute und früher gelesen, aber er sagt, jetzt versteht er’s noch weniger als wie vorher. Das hört überhaupt nicht wieder auf, sagt er, und niemand kann was dazu tun, und niemand ist gescheit genug, um’s zu ändern. Er sagt, um Gottes willen, lies nichts drüber, denn erstens wirst du dann ganz durcheinander, und zweitens hast du dann 102
überhaupt keinen Respekt mehr vor den Burschen, die wo in der Regierung sitzen.« »So verdammt großen Respekt habe ich jetzt auch nicht grade für sie«, sagte Muley. »Die einzige Regierung, wo wir haben, hat’s nur auf uns abgesehen mit ihrem sicheren Profit. Aber da ist eine Sache, die ich nicht begreifen kann, und das ist Willy Feeley, der wo jetzt ’nen Traktor fährt und Aufpasser geworden ist auf dem Land, wo seine eigenen Leute früher ’ne Farm gehabt haben. Das verstehe ich nicht. Was anderes ist es, wenn einer aus ’ner anderen Gegend kommt und es nicht besser weiß, aber Willy gehört doch dazu. Ich habe mir solche Gedanken gemacht, daß ich schließlich zu ihm gegangen bin und ihn gefragt habe. Und natürlich ist er stinkwütend geworden. ›Ich habe zwei kleine Kinder‹, hat er gesagt. ›Ich habe ’ne Frau, und ich habe die Mutter von meiner Frau auf dem Hals. Die wollen alle essen.‹ Stinkwütend ist er geworden. ›Die erste und einzige Sache, über die, wo ich mir den Kopf zerbrechen muß, sind meine eigenen Leute‹, sagt er. ›Was mit den anderen passiert, geht mich nichts an‹, sagt er. Wahrscheinlich hat er sich geschämt und ist deshalb so wütend geworden.« Jim Casy hatte in das sterbende Feuer gestarrt, seine Augen hatten sich geweitet, und seine Halsmuskeln standen hervor. Plötzlich rief er: »Ich hab’s! Wenn überhaupt jemals einer ’ne richtige Idee gehabt hat, dann bin ich’s! Ist mir wie ein Blitz gekommen!« Er sprang auf, lief ein paarmal hin und her und wiegte seinen Kopf. »Früher habe ich ein Zelt gehabt. Jeden Abend sind 103
mindestens fünfhundert Leute bei mir gewesen. Das war, noch eh’ ihr beiden mich gekannt habt.« Er blieb vor ihnen stehen. »Habt ihr gemerkt, daß ich nie Sammlungen gemacht habe, wenn ich hier draußen vor Leuten gepredigt habe – ganz gleich, ob in ’ner Scheune oder im Freien?« »Nee, weiß Gott, hast du nie gemacht«, sagte Muley. »Und die Leute hier hatten sich so dran gewöhnt, dir kein Geld zu geben, daß sie richtig wütend wurden, wenn ein anderer Prediger kam und seinen Hut rumgehen ließ. Jawohl, das stimmt!« »Ich habe was zu essen bekommen«, sagte Casy. »Auch mal ’n Paar Hosen, wenn meine schlecht waren, und ’n altes Paar Schuhe, wenn ich schon auf den bloßen Sohlen lief, aber wie ich das Zelt hatte, war’s anders. Manche Tage habe ich da zehn bis zwanzig Dollars eingenommen. Aber ich war nicht glücklich dabei und hab’s aufgegeben, und dann war ich ’ne Zeitlang glücklich. Jetzt habe ich ’ne Idee. Ich weiß nicht, ob ich’s richtig ausdrücken kann, aber ich will’s versuchen. Ich meine, vielleicht ist jetzt Platz für ’nen Prediger. Vielleicht kann ich wieder predigen. Alle die Leute draußen auf der Landstraße, ganz allein, Leute ohne Land und Leute mit keinem Zuhause. Vielleicht …« Er stand über dem Feuer. Die hundert Sehnen und Muskeln seines Halses traten deutlich hervor, und der Feuerschein drang tief in seine Augen. Er stand da und blickte in das Feuer, sein Gesicht war gespannt, als lausche er, und die Hände, die geschäftig nach Ideen gegriffen, sie bearbeitet und verworfen hatten, wurden still und 104
krochen für einen Moment in seine Taschen. Die Fledermäuse flogen durch den tauben Feuerschein, und über die Felder kam das sanfte, wäßrige Blurren einer Nachtschwalbe. Tom griff langsam in seine Tasche, zog seinen Tabak heraus, drehte sich eine Zigarette und blickte dabei auf das verkohlte Holz der Feuerstelle. Er schien die ganze Rede des Predigers überhört zu haben, als sei sie eine private Sache, der man nicht weiter nachzugehen brauchte. Er sagte: »Jede Nacht auf meiner Pritsche habe ich mir überlegt, wie’s sein würde, wenn ich wieder nach Hause komme. Ich habe mir gedacht, vielleicht sind Großvater und Großmutter tot, und vielleicht sind ein paar neue Kinder da. Vielleicht ist Vater nicht mehr so rabiat. Vielleicht setzt sich Mutter ’n bißchen zur Ruhe und läßt Rosasharn die Arbeit machen. Ich habe gewußt, es wird nicht mehr so sein, wie es gewesen ist. Na ja schön, wir schlafen, glaube ich, hier, und am Morgen gehen wir rüber zu Onkel John. Jedenfalls ich. Kommst du mit, Casy?« Der Prediger stand noch immer da und blickte auf die Feuerstelle. Er sagte langsam: »Ja, ich komme mit. Und wenn deine Leute auf die Landstraße gehen, komme ich auch mit. Und wo immer Leute auf der Landstraße sind, bin ich dabei.« »Du bist willkommen«, sagte Joad. »Mutter hat dich immer gern gehabt. Sie hat gesagt, du bist ein Prediger, dem man vertrauen kann. Rosasharn war damals noch klein.« Er wandte den Kopf um. »Muley, kommst du mit uns rüber?« Muley blickte in Richtung der Straße, 105
über die sie gekommen waren. »Was meinst du, Muley, kommst du mit?« wiederholte Joad. »Was? Nein. Ich gehe nirgendswohin, und ich bleibe, wo ich bin. Siehst du das Licht da drüben – das da, wo immer auf und ab hüpft? Das ist wahrscheinlich der Flurwächter von den Baumwollfeldern hier. Vielleicht hat jemand unser Feuer gesehen.« Tom blickte hinüber. Das Licht kam jetzt über den Hügel. »Wir haben ja nichts weiter gemacht«, sagte er. »Wir haben einfach hier gesessen. Oder was haben wir gemacht?« Muley lachte. »Natürlich haben wir was gemacht – einfach, daß wir hier sind. Verbotenes Gelände. Wir können hier nicht bleiben. Seit zwei Monaten versuchen sie, mich zu kriegen. Nun paßt auf. Wenn das ein Wagen ist, wo da kommt, gehen wir raus ins Baumwollfeld und legen uns hin. Brauchen gar nicht weit zu gehen. Dann können sie von mir aus suchen. Dazu müssen sie nämlich jede Reihe einzeln abgehen. Ihr braucht nur den Kopf auf den Boden zu halten.« »Was ist denn mit dir passiert, Muley?« fragte Joad. »Du bist doch nie einer gewesen, wo sich versteckt hat. Du warst doch immer ganz mutig.« Muley beobachtete die näher kommenden Lichter. »Tja!« sagte er. »Ich war mutig wie ein Wolf. Jetzt bin ich mutig wie ein Wiesel. Wenn man was jagt, ist man der Jäger und ist stark. Niemand kann ’nem Jäger was tun. Aber wenn man gejagt wird, dann ist’s anders. Dann passiert was mit einem. Man ist nicht stark – vielleicht ist man wild und wütend, aber man ist nicht 106
stark. Mich haben sie jetzt schon verdammt lange gejagt. Ich bin kein Jäger mehr. Ich würde vielleicht noch im Dunkeln einen Kerl erschießen, aber ich würde niemand mehr mit ’nem Zaunpfahl verprügeln. Unvorsichtig sein ist dumm – dumm für euch und dumm für mich. So ist das nun eben.« »Gut, also dann geh und versteck dich«, sagte Joad. »Laß mich und Casy diesen Schweinen mal ein paar Sachen erzählen.« Der Lichtstrahl war jetzt näher gekommen, er schoß hinauf zum Himmel, verschwand dann und schoß wieder hinauf. Die drei Männer warteten gespannt. Muley sagte: »Und da ist noch was mit dem Gejagtwerden. Man fängt an, überhaupt nur noch an gefährliche Sachen zu denken. Wenn man selber jagt, denkt man gar nicht dran, und man hat auch keine Angst. Wie du vorhin gesagt hast, wenn du wieder irgendwas Dummes machst, dann schicken sie dich zurück nach McAlester, und du mußt deine Zeit fertig absitzen.« »Das ist richtig«, sagte Joad. »Jedenfalls hat man mir das gesagt. Aber wenn ich hier sitze und mich ausruhe oder auf der Erde schlafe – da kann doch niemand was dagegen sagen. Das ist doch nichts Böses. Das ist nicht wie Betrunkenwerden und Krachschlagen.« Muley lachte. »Du wirst schon sehen. Bleib nur hier sitzen, wenn der Wagen kommt. Vielleicht ist’s Willy Feeley, und Willy ist jetzt so was wie Sheriff geworden. ›Was machst du hier? Hier ist verbotenes Gelände‹, sagt Willy. Na, du hast gewußt, daß Willy immer viel Blödsinn im Kopf gehabt hat, und du sagst: ›Was geht das dich an?‹ Willy wird wütend und schreit: ›Mach, daß du 107
weiterkommst, oder ich sperre dich ein.‹ Aber du willst dich nicht von Feeley anschreien lassen, bloß weil er wütend ist und Angst hat. Er hat geblufft und muß das nun auch weitermachen, und du hast dich verbissen und mußt weiter beißen – weißt du, es ist viel einfacher, da draußen in der Baumwolle zu liegen und sie suchen zu lassen. Macht sogar Spaß, weil sie wütend sind und nichts ausrichten können, und du liegst da draußen und kannst dir ins Fäustchen lachen. Wenn du aber mit Willy oder irgend ’nem anderen Bullen redest und es drauf ankommen läßt, dann packen sie dich beim Kragen und stecken dich drei Jahre nach McAlester.« »Du hast schon recht«, sagte Joad. »Mit jedem Wort hast du recht. Aber, verdammt, ich will mich nicht verstecken. Ich würde viel lieber diesem Willy eins in die Fresse hauen.« »Er hat ’nen Revolver«, sagte Muley. »Er wird ihn auch benutzen, dafür ist er ja Bulle. Denn entweder muß er dich umlegen, oder du mußt ihm seinen Revolver abnehmen und ihn umlegen. Also komm, Tommy. Du mußt dir doch selbst sagen, daß es besser ist und daß du sie an der Nase rumführst, wenn du da draußen liegst. Und schließlich kommt’s ja nur auf das an, was du dir selber sagst.« Der starke Lichtschein schoß jetzt wieder zum Himmel hinauf, und das gleichmäßige Dröhnen eines Motors war zu hören. »Komm, Tommy. Wir brauchen gar nicht weit zu gehen, nur vierzehn, fünfzehn Reihen weit, dann können wir zugucken, was sie machen.« 108
Tom stand auf. »Jaja, du hast recht!« sagte er. »Ich habe ja nicht das Geringste dabei zu gewinnen, ganz gleich, wie’s ausgeht.« »Also, dann komm! Nein, hier herum.« Muley ging um das Haus und etwa fünfzehn Meter weit hinaus in das Baumwollfeld. »Das reicht schon«, sagte er. »Nun legt euch hin. Ihr braucht nur eure Köpfe zu ducken, wenn sie mit dem Scheinwerfer kommen. Ist beinahe wie Versteckspielen.« Die drei Männer streckten sich der Länge nach aus und stützten sich auf die Ellbogen. Muley sprang auf und rannte auf das Haus zu, und einen Augenblick später kam er zurück und warf ein Bündel Jacken und Schuhe auf die Erde. »Die hätten sie sonst mitgenommen«, sagte er. Der Lichtschein fiel jetzt auf die Anhöhe und senkte sich nieder auf das Haus. Joad fragte: »Kommen sie nicht mit Scheinwerfern hier raus und suchen nach uns? Ich wollte, ich hätte ’nen richtigen Stock.« Muley kicherte. »Nein, das machen sie nicht. Ich habe dir ja gesagt, ich bin mutig wie ein Wiesel. Willy hat das mal einen Abend gemacht. Aber da habe ich ihm mit ’ner Zaunlatte eins drübergehauen. Ist glatt zusammengesackt, der Kerl. Nachher hat er erzählt, fünf Leute wären auf ihn losgegangen.« Der Wagen fuhr am Haus vor, und ein Scheinwerfer flammte auf. »Ducken«, sagte Muley. Ein Streifen kalten weißen Lichtes fuhr über ihren Köpfen vorbei und huschte über das Feld. Die drei Männer konnten nichts sehen, aber 109
sie hörten, wie eine Wagentür zugeschlagen wurde und wie Stimmen miteinander sprachen. »Der hat Angst, sich ins Licht zu stellen«, flüsterte Muley. »Mal habe ich ihm nämlich die Scheinwerfer kaputtgeschossen. Seitdem ist Willy vorsichtig. Heute hat er auch noch jemand mit.« Sie hörten Schritte auf Holz und sahen dann im Innern des Hauses den Schein einer grellen Taschenlampe. »Soll ich durchs Haus schießen?« flüsterte Muley. »Sie könnten nicht sehen, woher’s kommt. Das würde ihnen was zum Nachdenken geben.« »Natürlich, mach nur«, sagte Joad. »Nein, laß es sein«, flüsterte Casy. »Hat ja keinen Zweck. Ist nur Verschwendung. Wir müssen uns überlegen, daß wir irgendwas machen, was wirklich nützt.« Ein leises Scharren drang aus der Nähe des Hauses herüber. »Jetzt machen sie das Feuer aus«, flüsterte Muley. »Sie schmeißen Dreck drüber.« Die Wagentüren wurden zugeschlagen, die Scheinwerfer schwenkten herum und standen wieder in Richtung der Straße. »Jetzt ducken!« sagte Muley. Sie senkten ihre Köpfe, und das Sucherlicht fegte über sie hinweg, über das Baumwollfeld und wieder zurück. Dann fuhr der Wagen an, entfernte sich, erreichte die Anhöhe und verschwand. Muley richtete sich auf. »Willy macht das mit dem Sucher immer zum Schluß. Sooft ich ihn gesehen habe, hat er’s gemacht. Und er denkt wahrscheinlich noch, er ist mächtig gescheit.« Casy sagte: »Vielleicht hat er ein paar Kerle im Haus gelassen. Die halten uns dann fest, wenn wir zurückkommen.« 110
»Vielleicht. Wartet mal hier, ihr beiden. Ich kenne den Scherz schon.« Er ging ruhig davon, und nur ein ganz leises Knirschen der Erdklumpen unter seinen Schritten war zu hören. Die beiden Männer versuchten zu lauschen, aber er war schon verschwunden. Einen Augenblick später rief er ihnen vom Hause her zu: »Ist niemand da. Kommt nur zurück.« Casy und Joad standen auf und gingen auf die schwarze Silhouette des Hauses zu. Muley kam ihnen bis zu dem rauchenden Dreckhaufen entgegen, der ihre Feuerstelle gewesen war. »Ich habe doch gewußt, daß er niemand da läßt«, sagte er stolz. »Seit ich ihm eins drübergehauen und seine Scheinwerfer kaputtgeschossen habe, ist unser Willy vorsichtig. Sie wissen nicht ganz genau, wer’s ist, und ich lasse mich auch nicht von ihnen kriegen. Ich schlafe zum Beispiel nicht in der Nähe von irgend ’nem Haus. Wenn ihr mit mir kommen wollt, zeige ich euch, wo ihr schlafen könnt, ohne daß jemand über euch stolpert.« »Man los«, sagte Joad. »Wir kommen mit. Ich hätte mir nie gedacht, daß ich mich mal auf der Farm von meinem Alten verstecken müßte.« Muley machte sich auf den Weg durch die Felder, und Joad und Casy folgten ihm. Sie knickten im Gehen die Baumwollpflanzen um. »Du wirst dich noch oft verstecken müssen«, sagte Muley. Sie liefen hintereinander her durch die Felder. Sie kamen zu einem Wassergraben und ließen sich hinuntergleiten. »Guter Gott, ich weiß!« rief Joad. »Es ist die Höhle da im Ufer. Stimmt’s?« »Richtig. Woher weißt du’s denn?« 111
»Ich habe sie selber gegraben«, sagte Joad. »Ich und mein Bruder Noah. Wir haben nach Gold gesucht, wie wir damals gesagt haben, aber wir wollten weiter nichts, als ’ne Höhle graben, wie’s alle Kinder machen.« Das Ufer des Wassergrabens war jetzt über ihnen. »Muß doch ganz nah sein«, sagte Joad. »Es kommt mir so vor, als müßt’ es ganz nah sein.« Muley sagte: »Ich habe sie mit Gestrüpp zugedeckt. Kein Mensch kann sie finden.« Der Boden wurde jetzt eben, und ihre Füße traten auf Sand. Joad ließ sich auf dem sauberen Sand nieder. »Ich will in keiner Höhle schlafen«, sagte er. »Ich schlafe gleich hier.« Er rollte seine Jacke zusammen und legte sie sich unter den Kopf. Muley schob das Gestrüpp beiseite und kroch in seine Höhle. »Mir gefällt’s hier drin«, rief er. »Hier kann mir niemand mehr was wollen.« Jim Casy setzte sich neben Joad in den Sand. »Bißchen schlafen«, sagte Joad. »Wir wollen gleich bei Tagesanbruch zu Onkel John.« »Ich schlafe nicht«, sagte Casy. »Ich habe mir zu viel zu überlegen.« Er zog seine Füße hoch und umklammerte mit den Händen seine Beine. Er warf den Kopf zurück und blickte hinauf zu den helleuchtenden Sternen. Joad gähnte und schob sich eine Hand unter den Kopf. Sie schwiegen, und allmählich begann das huschende Leben auf dem Boden, in den Löchern und Höhlen und im Gebüsch wieder. Die Goffer bewegten sich, die Kaninchen krochen zum Grün, die Mäuse huschten über die 112
kleinen Erdhügel davon, und am Himmel zogen lautlos die schwingentragenden Jäger ihre Kreise.
7 In den Städten, am Rande der Städte, auf Feldern, auf unbebauten Grundstücken: Autohöfe, Schutthalden von Autos, Garagen mit Schildern: Gebrauchte Wagen, gute gebrauchte Wagen. Billige Transportwagen, drei Anhänger, 27er Ford, sauber. Plombierte Wagen, garantierte Wagen. Freies Radio. Wagen mit hundert Gallonen Benzin gratis. Besichtigung verpflichtet zu nichts. Gebrauchte Wagen. Keine Übervorteilung. Ein Grundstück und ein Haus, groß genug für einen Schreibtisch und einen Stuhl und ein Kopierbuch. Bündel von Verträgen mit Eselsohren, zusammengehalten von Papierklammern, und ein sauberer Stapel Vertragsformulare. Federhalter – paß auf, daß er gefüllt ist, paß auf, daß er funktioniert. Es ist schon mal ein Geschäft nicht zustande gekommen, weil der Federhalter nicht funktioniert hat. Diese Schweine da drüben wollen ja gar nicht kaufen. Auf jedem Autohof kann man sie sehen. Sind nur Gaffer. Verbringen ihre ganze Zeit mit Gaffen. Sie wollen gar keine Wagen kaufen und stehlen uns nur unsere Zeit. Ist ihnen ganz schnuppe, unsere Zeit. Da drüben, die beiden – nein, die mit den Kindern. Setz sie in ’nen Wagen. Fang bei zweihundert an und geh runter. Sie 113
sehen aus, als wären sie für hundertfünfundzwanzig gut. Fahr sie rum. Steck sie in ’ne Kutsche. Dreh ihnen das Ding an. Sie haben uns Zeit gekostet. Chefs mit aufgerollten Ärmeln. Aalglatte Verkäufer mit kleinen listigen Augen, die jede Schwäche sehen. Paß auf, was die Frau für ’n Gesicht macht. Wenn er der Frau gefällt, kriegst du auch den Alten rum. Fang mit dem Cadillac an. Dann kannst du bis zu dem 26er Buick runtergehen. Wenn du mit dem Buick anfängst, landen sie schließlich doch bei ’nem Ford. Roll dir die Ärmel hoch und arbeite. Das kann ja nicht ewig so weitergehen. Zeig ihnen den Nash. Ich pumpe inzwischen den 25er Dodge ’n bißchen auf. Wenn ich fertig bin, mache ich dir ’n Zeichen. Sie brauchen einen Transportwagen, nicht wahr? Schön, keine Reifen. Natürlich sind die Polster kaputt. Aber die Polster bringen die Karre ja nicht in Gang. Reihen von Wagen, Kühler nach vorn, rostige Kühler, flache Reifen. Dicht nebeneinander geparkt. Diesen möchten Sie sehen? Nein, gar keine Schwierigkeit. Ich hole ihn Ihnen heraus. Du mußt dir die Leute verpflichten. Sie müssen dich Zeit kosten. Aber laß sie merken, daß sie dich Zeit kosten. Die meisten Menschen sind nett. Ist ihnen unangenehm, dich auszunützen. Laß dich ausnützen, und dann dreh ihnen die Karre an. Reihen von Wagen, T-Modelle, hochbeinig und dreckig, quietschende Räder, zerrissene Drähte. Buicks, Nashes, De Sotos. Jawohl, Mister. Ein 22er Dodge. Der beste Dodge, 114
der je rausgekommen ist. Nicht kaputtzukriegen. Niedrige Kompression. Hohe Kompression war ’ne Zeitlang große Sache. Aber das Metall kann’s nicht lange aushalten. Plymouths, Rocknes, Stars. Mein Gott, wo kommt denn dieser Apperson her – von der Arche Noah? Und ein Calmers und ein Chandler – gibt’s schon seit Jahren nicht mehr. Wir verkaufen keine Wagen – wir verkaufen Dreck auf Rädern. Verdammt noch mal, wenn ich doch nur mehr von diesen Kutschen hätte. Ich will nichts, was teurer ist wie fünfundzwanzig bis dreißig Dollar. Verkaufen kann ich sie für fünfzig bis fünfundsiebzig. Das nenne ich Geschäft! Und was hat man an ’nem neuen Wagen? Nichts. Diese Kutschen sind das einzig Richtige. Ich kann sie so schnell verkaufen, wie ich sie kriege. Nichts über zweihundertfünfzig. Jim, schieb den alten Onkel da in die Seitenstraße. Der kann ja seinen Arsch nicht von ’nem Loch im Boden unterscheiden. Versuch’s mit dem Apperson. He, wo ist der Apperson? Verkauft? Wenn wir nicht noch ein paar Kutschen kriegen, können wir die Bude zumachen. Fahnen, rot und weiß, weiß und blau – die ganze Straße entlang. Gebrauchte Wagen. Gute gebrauchte Wagen. Die Gelegenheit des Tages – oben auf dem Podium. Die verkaufen wir nie. Aber sie zieht die Leute an. Wenn wir die Karre zu diesem Preis verkaufen, verdienen wir kaum einen Cent dran. Erzähl ihnen, sie ist grade verkauft. Nimm die gute Batterie raus, eh’ du das Ding ablieferst, und setz die leere rein. Guter Gott, was wollen 115
die denn noch für ihre sechzig Sachen? Roll dir die Ärmel hoch – und dann los. Das dauert nicht ewig. Wenn ich nur genug von diesen Kutschen hätte, würde ich mich in sechs Monaten zur Ruhe setzen. Paß auf, Jim, ich habe das Differential von diesem Chevrolet gehört. Klingt, als wenn Flaschen zersplittern. Spritz zwei Viertel Sägemehl rein. Tu auch was ins Getriebe. Diesen Eimer müssen wir für fünfunddreißig loswerden. Damit hat mich einer beschissen. Ich habe zehn geboten, und er bringt mich auf fünfzehn – und dann nimmt das Schwein auch noch die Werkzeuge raus. Allmächtiger Gott! Ich wollte, ich hätte fünfhundert solche Kutschen. Denn das geht ja nicht ewig so. Was, die Reifen gefallen ihm nicht? Sag ihm, es sind zehntausend drauf, und dann geh anderthalb Dollar runter. Haufen rostiger Ruinen am Zaun, Reihen von Wracks dahinter, Karosserien, fettbeschmiert und eingebeult, Motorblöcke, die am Boden liegen und durch deren Zylinder das Unkraut wächst. Bremsgestänge, Auspuffrohre, gleich Schlangen aufeinandergehäuft. Schmieröl, Benzin. Sieh zu, ob du eine Zündkerze finden kannst, die nicht gesprungen ist. Guter Gott, wenn ich doch nur fünfzig Anhänger unter hundert hätte, dann wäre ich ein gemachter Mann. Was zum Teufel rennt der denn so herum? Was will er? Wir verkaufen Autos, aber wir liefern sie nicht ins Haus. Sehr gut! Nein, liefern sie nicht ins Haus. Ich wette, den kriegst du zu Monatszahlungen rum. Meinst du nicht, er sieht so aus? Gut, dann schmeiß ihn raus. Wir haben zu viel zu tun, um uns mit 116
so einem Kerl abzuquälen, der wo nicht weiß, was er will. Nimm den rechten Vorderreifen von dem Graham. Dreh die geflickte Seite nach unten. Das übrige sieht gut aus. Gut erhalten und alles. Na sicher! In dem alten Eimer sind mindestens noch fünfzigtausend drin. Gießen Sie nur genug Öl rein. Wiedersehen, viel Glück. Sie suchen einen Wagen? Was haben Sie sich vorgestellt? Sehen Sie etwas, das Ihnen gefällt? Ich habe Durst. Wie wär’s, wenn wir ’n Schluck trinken würden? Kommen Sie – Ihre Frau sieht sich inzwischen den La Salle an. Der La Salle ist nichts für Sie. Lager ausgelaufen. Verbraucht zu viel Öl. Ich habe einen 24er Lincoln. Das ist ein Wagen! Hält ’ne Ewigkeit. Sie können gut ’nen Laster draus machen. Heiße Sonne auf verrostetem Metall. Öl auf dem Boden. Menschen kommen herein und laufen umher, verwirrt, verängstigt – sie brauchen einen Wagen. Treten Sie sich die Füße ab. Lehnen Sie sich nicht an den Wagen, er ist dreckig. Wie kauft man einen Wagen? Was kostet er? Paß auf die Kinder auf. Ich möchte wissen, was dieser hier kostet. Wir können ja fragen. Fragen kostet nichts. Wir können doch fragen, nicht wahr? Mehr als fünfundsiebzig können wir nicht ausgeben, sonst reicht’s nicht bis nach Kalifornien. Gott, wenn ich nur noch hundert solcher Kutschen hätte. Ist mir ganz schnuppe, ob sie fahren oder nicht. Verbrauchte Reifen, verbeulte Reifen, rostige Zylinder, rote, graue Rohre, gleich Würsten herabhängend. Reifenflicken? Kühler-Reiniger? Zündverteiler? Tun 117
Sie diese kleine Pille in Ihren Benzintank, dann holen Sie zehn Meilen mehr aus Ihrer Karre raus. Malen Sie ihn doch an – für fünfzig Cents kriegen Sie ’nen neuen Anstrich. Scheibenwischer, Keilriemen, Dichtungen? Vielleicht sind’s die Ventile. Bauen Sie neue ein. Was können Sie für einen Nickel schon verlieren? Gut, Joe. Mach sie fertig und schieb sie zu mir rein. Ich schließe dann ab oder schmeiße sie raus. Aber schick mir keine faulen Kunden. Ich will Geschäfte machen. Jawohl, Mister, kommen Sie nur herein. Hier haben Sie eine Gelegenheit. Jawohl! Für achtzig Dollars ist der Wagen geschenkt. Ich kann aber nicht höher als fünfzig gehen. Der Mann draußen hat fünfzig gesagt. Fünfzig! Fünfzig! Der ist verrückt. Ich habe ja selber achtundsiebzig fünfzig bezahlt. Joe, du Trottel, willst du uns wohl ruinieren? Ich muß den Kerl rausschmeißen. Für den Wagen kann ich glatt sechzig kriegen. Jetzt hören Sie mal zu, Mister, ich habe nicht den ganzen Tag für Sie Zeit. Ich bin ein Geschäftsmann, aber ich will niemanden übervorteilen. Haben Sie was in Zahlung zu geben? Ich habe ein paar Maulesel – die kann ich in Zahlung geben. Maulesel! He, Joe, hörst du das? Der Mann hier will Maulesel in Zahlung geben. Hat Ihnen noch niemand erzählt, daß wir im Zeitalter der Maschinen leben? Mit Mauleseln kann man ja nichts weiter wie Leim draus machen. Feine, große Tiere, meine Maulesel – fünf und sieben 118
Jahre alt. Aber vielleicht überlegen wir’s uns noch ’n bißchen. So ist’s richtig! Da kommen Sie an, wenn wir grade alle Hände voll zu tun haben, und stehlen uns unsere Zeit, und dann rennen Sie fort! Joe, hast du nicht gemerkt, daß der Mann gar nicht ernsthaft will? Natürlich will ich ernsthaft. Ich muß einen Wagen haben. Wir wollen nach Kalifornien. Ich brauche einen Wagen. Schön, ich bin ein Trottel. Joe sagt, ich bin ein Trottel. Ich schenke mein letztes Hemd weg, sagt er, und ich werde verhungern. Aber passen Sie auf, wie wir’s machen – ich kann fünf Dollar pro Stück für Ihre Maulesel kriegen. Als Hundefutter. Aber meine Mausesel sind kein Hundefutter. Gut, vielleicht kann ich sieben kriegen, vielleicht auch zehn. Ich will Ihnen sagen, was wir machen. Wir nehmen Ihre Maulesel für zwanzig Dollar in Zahlung. Der Wagen ist doch dabei? Dann zahlen Sie fünfzig und unterschreiben einen Vertrag, daß Sie den Rest in Monatsraten von zehn Dollar zahlen. Aber Sie haben doch achtzig gesagt. Haben Sie nie was von Unkosten und Versicherung gehört? Das ist immer ein kleiner Aufschlag. In vier, fünf Monaten haben Sie alles bezahlt. Unterschreiben Sie hier Ihren Namen. Alles andere besorgen wir. Tja, ich weiß noch nicht … Jetzt hören Sie mal zu. Ich schenke Ihnen mein letztes Hemd, und Sie kosten mich meine teure Zeit. Ich hätte inzwischen schon drei Verkäufe machen können. Wie 119
unanständig von Ihnen! Ja, unterschreiben Sie nur ruhig hier. Gut, gemacht. Joe, füll dem Herrn den Tank auf. Wir schenken ihm das Benzin. Der war aber schwierig, was, Joe? Was haben wir für die Kutsche bezahlt? Dreißig oder fünfunddreißig, was? Jetzt habe ich das Gespann, und wenn ich dafür nicht mindestens fünfundsiebzig kriege, bin ich kein Geschäftsmann. Und dann habe ich fünfzig in bar und einen Vertrag für nochmals vierzig. Natürlich, ich weiß, sie sind nicht alle ehrlich, aber du wirst dich wundern, wie viele trotzdem den Rest anbringen. Ein Bursche hat mir neulich noch hundert gezahlt, die ich schon vor zwei Jahren abgeschrieben habe. Ich wette, dieser Kerl schickt das Geld. Guter Gott, wenn ich nur noch fünfhundert solcher Kutschen kriegen könnte! Roll dir die Ärmel hoch, Joe. Geh raus und mach sie fertig und schick sie zu mir. Von dem letzten Verkauf kriegst du zwanzig ab. Du machst dich nicht schlecht. Schlaffe Fahnen in der Nachmittagssonne. Die Gelegenheit des Tages. 29er Ford. In bestem Zustand. Was wollen Sie für fünfzig Dollar – einen Zephyr? Roßhaar, das aus den Sitzpolstern quillt, eingedrückte Karosserien, die wieder ausgebeult sind. Herabhängende Stoßdämpfer. Ford-Roadster mit Spezialkarosserie, kleine farbige Lichter auf den Kotflügeln, auf dem Kühler und hinten. Kotfänger und ein großer Totenkopf am Schalthebel. Ein hübsches Mädchen auf der Reifendecke, buntbemalt, und Cora heißt sie. Nachmittagssonne auf den staubigen Windschutzscheiben. Guter Gott, ich habe noch nicht mal Zeit gehabt, 120
was zu essen! Joe, schick ein Kind, ’nen Hamburger holen. Spuckendes Dröhnen alter Motoren. Da sieht einer sich den Chrysler an. Paß auf, ob er Zimt in der Tasche hat. Diese Farmerjungen sind manchmal verdammt gerissen. Mach sie fertig, Joe, und roll sie zu mir rein. Du machst dich gut. Natürlich haben wir ihn verkauft. Garantie? Wir haben garantiert, daß es ein Auto ist. Ein Kindermädchen für den Wagen haben wir Ihnen nicht garantiert. Jetzt hören Sie mal zu, Mister, Sie – Sie haben einen Wagen gekauft, und jetzt kommen Sie her und meckern. Es ist mir ganz egal, ob Sie Zahlungen leisten oder nicht. Wir haben ja das Papier. Das übergeben wir einfach der Inkassogesellschaft. Die kümmert sich dann drum, nicht wir. Es ist ja nicht so, daß wir nichts in Händen haben. Was? Ja, werden Sie nur frech – dann hole ich die Polizei. Schmeiß ihn raus, Joe. Er hat ’nen Wagen gekauft, und jetzt ist er nicht zufrieden. Was würden Sie denn sagen, wenn ich ein Beefsteak kaufen würde, die Hälfte essen täte und es dann zurückbrächte? Wir sind ein Automobilgeschäft, Mister, und kein Wohlfahrtsamt. Was sagst du zu diesem Burschen, Joe? Paß auf – da drüben! Der hat ’nen Elchzahn! Lauf rüber, zeig ihm den 36er Pontiac. Breite Kühler, runde Kühler, rostige Kühler, Stromlinien und die flachen Karosserien vor der Stromlinienzeit. Heute Gelegenheitskäufe. Alte Ungeheuer mit tiefen Polstern – Sie können leicht ’nen Laster draus machen. Zweirädrige Anhänger, die Achsen rostig in 121
der grellen Nachmittagssonne. Gebrauchte Wagen. Gute gebrauchte Wagen. Sauber, fahren gut. Geringer Ölverbrauch. Gott, sieh dir das an! Den hat einer hübsch zugerichtet. Cadillacs, La Salles, Buicks, Packards, Plymouths, Chevrolets, Fords, Pontiacs. Reihe an Reihe. Scheinwerfer glitzern in der Nachmittagssonne. Gute gebrauchte Wagen. Sie wollen nach Kalifornien? Hier habe ich das, was Sie brauchen. Sieht nach nichts aus, hat aber glatt noch tausend Meilen in sich. In langen Reihen nebeneinander. Gute gebrauchte Wagen. Gelegenheitskäufe. Sauber, fahren gut.
8 Der Himmel zwischen den Sternen wurde grau, und der bleiche späte Viertelmond war substanzlos und dünn. Tom Joad und der Prediger gingen eilig über einen Weg, der nichts anderes war als Wagen- und Raupenspuren in einem Baumwollfeld. Nur der ungleichmäßig gefärbte Himmel deutete die kommende Dämmerung an. Im Westen war kein Horizont zu sehen, im Osten nur ein schmaler Streifen. Die beiden Männer liefen schweigend vor sich hin und atmeten den Staub ein, den ihre Füße aufwirbelten. »Ich hoffe, du kennst dich mit dem Weg aus«, sagte Jim Casy. »Es wäre blöd, wenn die Dämmerung käme 122
und wir uns weiß der Teufel wohin verirrt hätten.« Im Baumwollfeld wimmelte es von erwachendem Leben. Das Flattern der Morgenvögel, die sich am Boden ihr Futter suchten, und das Huschen der gestörten Kaninchen war zu hören. Das halblaute Auftreten der Füße der beiden Männer im Staub, das Knirschen zerkrümelnder Erdklumpen unter ihren Schuhen durchbrachen die heimlichen Geräusche der Dämmerung. Tom sagte: »Ich könnte mit geschlossenen Augen hier laufen. Ich gehe nur falsch, wenn ich’s mir überlege. Ich darf einfach nicht dran denken, dann gehe ich schon richtig. Was willst du, ich bin doch hier geboren! Als Kind bin ich hier rumgelaufen. Zum Beispiel der Baum da drüben – da, du kannst ihn grade sehen. In diesen Baum hat mein Alter mal einen toten Kojoten gehängt. Drei Tage hat er da gehangen, bis er ganz wie aufgelöst war und runtergefallen ist. Ist abgetrocknet oder so. Gott, ich hoffe, Mutter hat was gekocht. Ich hab ’n richtiges Loch im Magen.« »Ich auch«, sagte Casy. »Willst du ’n Stück Kautabak? Dann wirst du nicht so hungrig. Wäre besser gewesen, wir wären nicht so früh losgegangen. Wenn’s hell ist, geht sich’s besser.« Er blieb stehen und biß ein Stück Kautabak ab. »Ich habe gut geschlafen.« »Der närr’sche Muley ist dran schuld«, sagte Tom. »Der hat mich ganz unsicher gemacht. Hat mich aufgeweckt und gesagt: ›Wiedersehen, Tom. Ich gehe los. Ich habe zu tun.‹ Und er hat gesagt: ›Ihr geht lieber auch, damit ihr hier fort seid, wenn’s hell wird.‹ Er wird ängstlich wie ein Goffer, so, wie er jetzt lebt. Man könnte 123
denken, die Indianer sind hinter ihm her. Meinst du, er ist verrückt?« »Ach, ich weiß nicht. Du hast ja gesehen, wie das Auto gekommen ist letzte Nacht, wo wir das Feuer hatten. Du hast gesehen, wie das Haus eingerammt ist. Hier ist was ganz Gemeines im Gange. Natürlich ist Muley verrückt. Wenn man so rumkriecht wie ein Kojote, muß man ja verrückt werden. Er wird sehr bald mal einen umbringen, und dann werden sie ihn mit Hunden hetzen. Ich sehe das ganz deutlich, es ist wie ’ne Vorahnung. Und es wird schlimmer und schlimmer mit ihm werden. Er wollte nicht mitkommen mit uns, was?« »Nein«, sagte Joad. »Ich glaube, er hat jetzt Angst vor Leuten. Ein Wunder, daß er überhaupt zu uns gekommen ist. Bei Sonnenaufgang sind wir bestimmt da, paß nur auf.« Schweigend gingen sie eine Zeitlang weiter, und die verspäteten Eulen flogen über ihren Köpfen vorbei, auf Scheunen, hohle Bäume und alte Wassertanks zu, wo sie sich vor dem Tageslicht verstecken konnten. Der östliche Himmel wurde heller, und bald war es möglich, die Baumwollpflanzen und die grau werdende Erde zu erkennen. »Verdammt, ich möchte wissen, wie sie eigentlich alle bei Onkel John schlafen. Er hat nur einen Raum und einen Küchenanbau und ein bißchen Schuppen. Ist doch ein Haufen Leute, die wo er jetzt bei sich hat.« Der Prediger sagte: »Ich weiß gar nicht mehr, ob John überhaupt Familie hat. Er ist doch allein, was? Ich weiß überhaupt nicht mehr viel von ihm.« »Er ist der alleinigste Mann der Welt«, sagte Joad. 124
»Ein verrückter Kerl – so ähnlich wie Muley, nur noch schlimmer in manchen Sachen. Kannst ihn überall sehen – in Shawnee betrunken oder zwanzig Meilen entfernt bei ’ner Witwe, die er manchmal besucht. Oft läuft er auch mit ’ner Laterne auf seiner Farm rum. Verrückt. Alle haben gedacht, er wird nicht lange leben. Ein so alleiniger Mann lebt nicht lange. Aber Onkel John ist älter wie Vater. Wird einfach mit jedem Jahr sehniger und gerissener. Gerissener sogar wie Großvater.« »Sieh mal, wie’s hell wird«, sagte der Prediger. »Ganz silbern. Hat John denn nie Familie gehabt?« »Ja, doch, und da kannst du gleich sehen, was für ein Kerl er ist – wie festgefahren auf seine Art. Vater hat das mal erzählt. Onkel John hat ’ne junge Frau gehabt. Sind vier Monate verheiratet gewesen. Sie war sogar in Umständen. Und einmal nachts hat sie Magenschmerzen gekriegt und gesagt: ›Du holst lieber den Arzt!‹ Aber John, der sitzt da und sagt: ›Du hast einfach Bauchweh. Hast zuviel gegessen. Das Beste ist, du nimmst ’ne Pille. Du hast dir den Bauch überladen, und jetzt hast du Bauchweh‹, sagte er. Nächsten Mittag hat sie die Besinnung verloren, und so gegen vier Uhr ist sie dann gestorben.« »Was war’s denn?« fragte Casy. »Hat sie sich mit was vergiftet, was sie gegessen hat?« »Nein, es ist einfach was in ihr geplatzt. Ap… Appendick oder so was Ähnliches. Onkel John ist immer ’n leichtsinniger Bursche gewesen, aber das hat ihn doch sehr schwer mitgenommen. Er hat geglaubt, es ist Sünde gewesen. Lange Zeit hat er überhaupt mit niemand 125
reden gewollt. Ist rumgelaufen, wie wenn er überhaupt nichts sieht, und manchmal hat er ’n bißchen gebetet. Zwei Jahre hat’s gedauert, bis er drüber weggekommen ist, aber er ist nicht mehr derselbe. Er macht sich selber verrückt und andere auch. Jedesmal, wenn eins von uns Kindern Würmer oder Bauchweh gehabt hat, ist Onkel John mit dem Doktor angekommen. Schließlich hat Vater ihm gesagt, er soll damit aufhören. Kinder haben immer mal Bauchweh. Er denkt aber, es ist seine Schuld, daß seine Alte gestorben ist. Komischer Kerl. Er hat’s an allen Leuten wieder gutmachen wollen – hat uns Kinder Sachen geschenkt und bei irgendwelchen Leuten ’nen Sack mit Essen auf die Veranda gestellt. Hat beinah’ alles weggeschenkt, was er hat, und ist trotzdem nicht froh geworden. Manchmal läuft er nachts allein durch die Gegend. Aber ’n guter Farmer ist er, hat sein Land immer hübsch instandgehalten.« »Armer Kerl«, sagte der Prediger. »Armer alleiniger Kerl. Ist er denn viel in die Kirche gegangen, wie seine Alte gestorben ist?« »Nee, eben nicht. Er hat nie unter die Leute gehen gewollt. Wollte immer alleine sein. Aber ich habe kein Kind gekannt, wo nicht närrisch nach ihm gewesen wäre. Manchmal ist er abends zu uns gekommen, und dann hat jedesmal neben jedem Bett von uns Kindern ein Päckchen Gummibonbons gelegen. Wir haben gedacht, es war Jesus Christus der Allmächtige.« Der Prediger schritt schweigend vor sich hin, den Kopf gesenkt. Er antwortete nicht. Und im Licht des kommenden Morgens schien es, als leuchte seine Stirn, 126
und auf seine schlenkernden Hände fielen abwechselnd Licht und Schatten. Auch Tom schwieg, als sei das, was er gesagt hatte, etwas zu Vertrauliches gewesen, und als schäme er sich nun. Er beschleunigte seinen Gang, und der Prediger hielt Schritt. In der grauen Ferne, die vor ihnen lag, konnten sie jetzt schon ein wenig sehen. Eine Schlange kroch langsam aus den Reihen der Baumwollpflanzen hinaus auf die Straße. Tom blieb kurz vor ihr stehen und betrachtete sie. »Eine Gofferschlange«, sagte er. »Lassen wir sie laufen.« Sie gingen um die Schlange herum und setzten ihren Weg fort. Der östliche Himmel färbte sich ein wenig, und fast unmittelbar darauf kroch einsames Dämmerlicht über das Land. Auf den Baumwollpflanzen erschien hier und da ein wenig Grün, und die Erde war graubraun. Die Gesichter der beiden Männer verloren ihren gräulichen Schein. Joads Gesicht schien dunkler zu werden mit dem wachsenden Licht. »Das ist schön«, sagte er leise. »Wie ich klein war, bin ich manchmal aufgestanden und allein herumgelaufen, wenn es so war. Was ist denn da vorn los?« Ein Komitee von Hunden hatte sich zu Ehren einer Hündin auf dem Weg versammelt. Fünf Männchen, Schäferhund-Bastarde, Hunde, deren Rasse durch die Freiheit ihres gesellschaftlichen Lebens beträchtliche Mischungen erfahren hatte, waren damit beschäftigt, einer Hündin den Hof zu machen. Denn ein jeder von ihnen schnüffelte lüstern, stelzte dann auf steifen Beinen zu einer Baumwollpflanze, hob feierlich ein Hinterbein 127
und pinkelte, worauf er wieder schnüffeln ging. Joad und der Prediger blieben stehen und sahen zu, und plötzlich lachte Joad belustigt auf. »Guter Gott!« sagte er. »Guter Gott!« Jetzt waren alle Hunde beisammen, ihre Haare sträubten sich, sie knurrten und standen steif da, und ein jeder wartete darauf, daß der andere den Kampf beginne. Schließlich bestieg ein Hund die Hündin, und nun, da es geschehen war, gaben die anderen nach und sahen mit Interesse zu. Die Zungen hingen ihnen aus den Mäulern und tropften. Die beiden Männer gingen weiter. »Guter Gott!« sagte Joad. »Ich glaube, der Hund, der’s gemacht hat, ist unser Flash. Ich dachte, er wäre längst tot. Komm, Flash!« Er lachte wieder. »Ganz richtig! Wenn mich dabei jemand rufen würde, würde ich auch nicht hören. Da muß ich an eine Geschichte denken, die sie von Willy Feeley erzählen, wie er ’n junger Bursche war. Willy war schüchtern, furchtbar schüchtern. Und eines Tages muß er ’ne Färse zu dem Bullen von Graves bringen. Alle Leute waren fort außer Elsie Graves, und Elsie war ganz und gar nicht schüchtern. Willy steht da und wird rot und kann überhaupt kein Wort rausbringen. Schließlich sagt Elsie: ›Ich weiß, warum du kommst. Der Bulle ist draußen in der Scheune.‹ Na, und da haben sie die Färse rausgeführt, und Willy und Elsie haben sich hingesetzt und zugeguckt. Und unser Willy wird bald unruhig und zappelig. Elsie sieht ihn an und sagt, als wenn sie überhaupt nichts weiß: ›Was ist denn los, Willy?‹ Willy ist so zappelig, daß er kaum noch stillsitzen kann. ›Lieber Gott‹, sagt er, ›ich wollte, ich machte das da jetzt!‹ Und da sagt 128
Elsie: ›Warum eigentlich nicht, Willy? Es ist doch deine Kuh.‹« Der Prediger lachte leise. »Weißt du«, sagte er, »es ist ’ne gute Sache, nicht mehr Prediger zu sein. Früher hat kein Mensch Geschichten erzählt, wenn ich dabei war, oder wenn sie welche erzählt haben, durfte ich nicht lachen. Und fluchen durfte ich auch nicht. Jetzt kann ich fluchen, so viel ich will und wann ich will, und manchmal tut’s einem gut zu fluchen.« Eine Röte wuchs am östlichen Horizont empor, und auf der Erde begannen die Vögel scharf zu zirpen. »Da!« sagte Joad. »Direkt vor uns – das ist Onkel Johns Tank. Das Windrad kann ich zwar noch nicht sehen, aber das ist sein Tank. Dort gegen den Himmel – siehst du ihn?« Er beschleunigte seinen Schritt. »Ich möchte mal wissen, ob sie auch wirklich alle da sind.« Der massive Wassertank stand auf einer Anhöhe. Joad eilte so, daß der Staub bis zu seinen Knien aufwirbelte. »Ich möchte mal wissen, ob Mutter …« Jetzt sahen sie das Gestell des Tanks und das Haus, einen viereckigen kleinen Kasten, ungestrichen und kahl, und die Scheune mit ihrem niedrigen Dach. Aus dem dünnen Blechschornstein des Hauses stieg Rauch. Im Hof lag ein Durcheinander von Möbeln und Plunder, Flügel und Motor des Windrades, Bettstellen, Stühle und Tische. »Guter Gott, sie ziehen schon aus!« sagte Joad. Ein Lastwagen stand im Hof, ein Lastwagen mit hohen Wänden, aber ein merkwürdiger Lastwagen – vorn war er eine Limousine, hinten war der obere Teil von der Mitte an abgeschnitten und ein Lastwagen-Aufsatz darauf befestigt worden. Und als die 129
beiden Männer näher kamen, hörten sie Klopfen im Hof, und als der Rand der blendenden Sonne über dem Horizont erschien, fiel der Schein auch auf den Lastwagen, und sie sahen einen Mann und das Blitzen seines Hammers, der erhoben wurde und wieder niederfiel. Und die Sonne blitzte auch auf den Fenstern des Hauses. Die verwitterten Bretter leuchteten auf. Zwei rote Hühner am Boden flammten vom reflektierten Licht. »Nicht rufen«, sagte Tom. »Wir wollen uns ranschleichen«, und er ging so schnell, daß der Staub ihm bis zu den Hüften stieg. Und dann kamen sie an den Rand des Baumwollfeldes. Jetzt waren sie im Hof, in dem die Erde festgetreten war, glänzend und fest. Ein bißchen staubiges Unkraut wuchs am Boden. Und Joad ging langsamer, als fürchtete er sich, näher zu treten. Der Prediger beobachtete ihn, und auch er ging langsamer, um seinen Schritt dem des anderen anzugleichen. Zögernd und verlegen tastete Tom sich von der Seite her an den Lastwagen heran. Es war ein Hudson Super-Six, dessen Oberteil mit einem Meißel entzweigeschnitten war. Der alte Tom Joad stand auf dem Lastwagen-Aufsatz und nagelte Gestänge auf die Seitenwände. Sein graues bärtiges Gesicht war tief über die Arbeit gebeugt, und ein Bündel von Sechs-Penny-Nägeln steckte ihm im Mund. Er stellte einen Nagel auf und schlug ihn mit seinem Hammer ein. Vom Hause her kam das Klappern von Herdringen und das Heulen eines Kindes. Joad ging auf den Lastwagen zu und lehnte sich gegen ihn. Und sein Vater blickte auf ihn und sah ihn nicht. Er schlug nun abermals einen Nagel ein. Ein Schwarm von Tauben hob 130
sich vom Wassertank, flog einmal herum und ließ sich wieder nieder und stolzierte bis zur Kante, um herabzublicken – weiße Tauben, graue und blaue Tauben mit schillerndem Gefieder. Joad hakte seine Finger über die unterste Latte der Lastwagenwand. Er blickte auf den alternden, ergrauenden Mann. Er fuhr sich mit der Zunge über die dicken Lippen und sagte leise: »Vater.« »Was willst du?« murmelte der alte Tom mit dem Mund voller Nägel. Er trug einen schwarzen schmutzigen Schlapphut, ein blaues Arbeitshemd und darüber eine Weste ohne Knöpfe. Seine Hosen wurden von einem breiten Gürtel aus Zaumleder mit einer großen viereckigen Messingschnalle gehalten, und Leder und Metall waren von vielen Jahren des Tragens poliert. Seine Schuhe waren rissig und die Sohlen aufgedunsen und bootsförmig von Jahren der Sonne, der Nässe und des Staubes. Seine Hemdsärmel saßen stramm um die Unterarme, über stark sich abzeichnenden, kräftigen Muskeln. Bauch und Hüften waren mager, die Beine kurz, schwer und stark. Sein Gesicht, von einem wuchernden grauen Bart viereckig eingerahmt, zog sich herab zu einem energischen Kinn, einem Kinn, das hervortrat und von dem Stoppelbart noch verstärkt wurde, der dort noch nicht so grau war und dem Kinn Gewicht und Kraft gab. Über den Backenknochen war die Haut braun wie Meerschaum, und in den Augenwinkeln hatten sich vom Blinzeln strahlengleiche kleine Fältchen gebildet. Seine Augen waren braun, kaffeebraun, und er streckte den Kopf nach vorn, wenn er etwas betrachtete, denn seine leuchtenden dunklen Augen sahen nicht mehr gut. 131
Seine Lippen, zwischen denen er jetzt die langen Nägel hielt, waren dünn und rot. Er hielt den Hammer ausgestreckt in der Luft, wollte ihn eben auf einen Nagel niedersausen lassen, aber dann blickte er über die Seitenwand des Lastwagens auf Tom, vorwurfsvoll, weil er unterbrochen worden war. Sein Kinn streckte sich nach vorn, seine Augen richteten sich auf Toms Gesicht, und dann wurde ihm in seinem Kopf allmählich klar, was er sah. Er ließ langsam den Hammer sinken und nahm sich mit der linken Hand die Nägel aus dem Mund. Und er sagte nachdenklich, als bringe er sich selbst die Tatsache zum Bewußtsein: »Das ist Tommy …« Und dann, noch immer zu sich selbst: »Das ist Tommy, der nach Hause kommt.« Sein Mund öffnete sich wieder, und ein Ausdruck von Furcht trat in seine Augen. »Tommy«, sagte er leise, »du bist doch nicht ausgebrochen? Du mußt dich doch nicht verstekken?« Er lauschte gespannt. »Nein«, sagte Tom. »Ich habe Bewährungsfrist. Ich bin frei. Ich habe meine Papiere.« Er umklammerte die untere Latte der Wagenwand und blickte zu seinem Vater hinauf. Der alte Tom legte den Hammer sanft zu Boden und steckte die Nägel in die Tasche. Er schwenkte sein Bein über die Seitenwand und ließ sich gelenkig zur Erde gleiten. Als er aber neben seinem Sohn stand, schien er verlegen und befremdet. »Tommy«, sagte er, »wir gehen nach Kalifornien. Aber wir wollten dir einen Brief schreiben und dir’s sagen.« Und er sagte ungläubig: »Aber nun bist du ja zurück. Du kannst mit uns kommen. Du 132
kannst mitkommen!« Im Hause wurde der Deckel einer Kaffeekanne zugeschlagen. Der alte Tom blickte über seine Schulter hinweg. »Wir wollen sie überraschen«, sagte er, und seine Augen leuchteten vor Aufregung. »Für deine Mutter ist es ganz schlimm gewesen, daß sie dich nie wiedersehen sollte. Sie hat schon so einen Ausdruck, wie wenn einer gestorben ist. Fast hat sie gar nicht nach Kalifornien gewollt – aus Angst, sie würde dich nie wiedersehen.« Wieder klapperten im Haus die Herdringe. »Komm, wir wollen sie überraschen«, wiederholte der alte Tom. »Wir gehen einfach rein, als wärst du überhaupt nie fort gewesen. Dann wollen wir mal sehen, was deine Mutter sagt.« Endlich berührte er Tom, aber er berührte ihn nur an der Schulter, ganz zaghaft, und zog sofort seine Hand wieder zurück. Er blickte hinüber zu Jim Casy. Tom sagte: »Du kennst doch sicher den Prediger noch. Er ist mit mir gekommen.« »Ist er denn auch im Gefängnis gewesen?« »Nein, ich habe ihn auf der Straße getroffen. Er ist fort gewesen.« Vater schüttelte ihm die Hand. »Sie sind willkommen bei uns.« Casy sagte: »Ich freue mich. Es ist eine Sache, zu sehen, wenn ein Junge nach Hause kommt. Eine Sache, die man gesehen haben muß.« »Nach Hause«, sagte Vater. »Na ja, heim zu seinen Leuten«, verbesserte sich der Prediger schnell. »Wir haben gestern abend da drüben auf der alten Farm gesessen.« 133
Vater stieß sein Kinn vor und blickte einen Moment lang über die Straße zurück. Dann wandte er sich an Tom. »Wie wollen wir’s machen?« begann er aufgeregt. »Wie wär’s, wenn ich reingehen und sagen würde: ›Hier sind zwei Burschen, die gerne Frühstück haben wollen‹, oder ob du einfach reingehst und stehen bleibst, bis sie dich sieht? Wie wäre das?« Sein Gesicht leuchtete vor Aufregung. »Wir wollen sie nicht erschrecken«, sagte Tom. Zwei Schäferhunde kamen freundlich angetrottet, bis sie die Fremden rochen. Dann zogen sie sich vorsichtig und wachsam zurück, wedelten langsam und gespannt mit ihren Schwänzen in der Luft, aber ihre Augen und Nasen waren zu Feindseligkeit und Abwehr von Gefahr bereit. Der eine streckte den Kopf vor, kam langsam näher, auf Toms Beine zu, die er hörbar beschnüffelte. Dann zog er sich zurück und wartete auf ein Zeichen von seinem Herrn. Der andere Hund war nicht so kühn. Er sah sich nach etwas um, was auf ehrbare Weise seine Aufmerksamkeit ablenken könnte, entdeckte ein rotes Huhn, das vorbeistolzierte, und rannte darauf zu. Es gab ein lautes Geschrei der verängstigten Henne, ein Gestiebe von roten Federn, und die Henne rannte davon und schlug zur Beschleunigung mit ihren struppigen Flügeln. Der Hund blickte stolz zu den Männern zurück, ließ sich dann seufzend in den Staub nieder und klopfte zufrieden mit dem Schwanz auf den Boden. »Komm«, sagte Vater, »wir wollen reingehen. Sie muß dich sehen. Und ich muß ihr Gesicht sehen, wenn sie dich sieht. Komm. Sie wird gleich zum Frühstück rufen. 134
Ich habe schon vor ’ner ganzen Weile gehört, wie sie das Salzfleisch in die Pfanne geworfen hat.« Er ging voran über den dünn bestaubten Boden. Das Haus hatte keine Veranda, nur eine Treppenstufe und dann die Tür. Neben der Tür stand ein Hackklotz, dessen Oberfläche von jahrelangem Holzhacken filzig und weich geworden war. Die Maserung der Bretter am Haus war ein wenig erhöht, denn der Staub und die Trockenheit hatten das weichere Holz zurückgetrieben. Der Geruch brennenden Weidegestrüpps hing in der Luft, und als die Männer sich der Tür näherten, mischte er sich mit dem Geruch von gebratenem Fleisch, dem Geruch brauner Pfannkuchen und starken Kaffees. Vater trat in die offene Tür und blieb dort stehen und blockierte sie mit seiner breiten kurzen Gestalt. Er sagte: »Mutter, hier sind zwei Burschen, die grade vorbeikommen und fragen, ob wir nicht was übrig haben.« Tom hörte die Stimme seiner Mutter, die er nie vergessen hatte, eine kühle, ruhige, langsame Stimme, freundlich und demütig: »Laß sie nur reinkommen«, sagte sie. »Wir haben genug. Sag ihnen aber, sie müssen sich die Hände waschen. Das Brot ist grade gar. Ich brate jetzt das Fleisch.« Und vom Herd her kam das wütende Zischen von Fett. Vater trat in den Raum, gab die Tür frei, und Tom blickte hinein zu seiner Mutter. Sie hob eben die sich krümmenden Fleischstücke aus der Bratpfanne. Die Tür zur Ofenröhre war offen, und eine große Schüssel voll runder brauner Pfannkuchen stand da. Die Mutter blickte hinüber zur Tür, aber die Sonne war hinter 135
Tom, so sah sie nur die Umrisse einer dunklen Gestalt gegen das leuchtende gelbe Sonnenlicht. Sie nickte freundlich. »Komm nur rein«, sagte sie. »Hast Glück, daß ich heute grade viel Brot gemacht habe.« Tom stand da und blickte hinein. Seine Mutter war schwer, aber nicht dick, aufgedunsen vom Kinderkriegen und von körperlicher Arbeit. Sie trug einen weiten Kittel aus grauem Tuch, das einmal bunt geblümt gewesen war, aber jetzt war die Farbe verwaschen, und das kleine Blumenmuster war nur noch etwas heller grau als der Untergrund. Ihr Kittel fiel ihr bis zu den Knöcheln, und ihre breiten nackten Füße bewegten sich schnell und geschickt über den Boden. Ihr dünnes stahlgraues Haar war am Hinterkopf zu einem spärlichen kleinen Knoten zusammengesteckt. Die starken, ein wenig gefleckten Arme waren bis zu den Ellbogen nackt, und ihre Hände waren plump und empfindlich, wie die eines rundlichen kleinen Mädchens. Sie blickte hinaus in den Sonnenschein. Ihr volles Gesicht war nicht weich, es war beherrscht und gütig. Ihre braunen Augen schienen alles Tragische erfahren zu haben, sie schienen über Schmerz und Leiden gegangen zu sein wie über Stufen zu einem hohen, ruhigen und übermenschlichen Verständnis. Sie schien sich ihrer Stellung bewußt zu sein, schien sie anzuerkennen und zu begrüßen, ihre Stellung als Bollwerk der Familie, eine Stellung, die ihr nicht genommen werden konnte. Und da der alte Tom und die Kinder weder Schmerz noch Furcht erfahren konnten, wenn sie, die Mutter, es nicht wußte, hatte sie es sich längst abgewöhnt, für sich selbst Schmerz und Furcht zu empfinden. 136
Und da sie alle, wenn etwas Frohes geschah, auf sie blickten, um zu sehen, ob die Freude auch sie berührte, war es ihr zur Gewohnheit geworden, aus den unzulänglichsten Dingen Frohsinn zu gewinnen. Aber besser noch als Frohsinn war Ruhe. Auf ihre Unerschütterlichkeit konnte sich jeder verlassen. Und aus ihrer großen und zugleich demütigen Stellung in der Familie hatte sie Würde gewonnen und eine saubere, stille Schönheit. Durch ihre Eigenschaft als Helfende waren ihre Hände sicher, kühl und ruhig geworden, ihre Stellung als Vermittlerin hatte sie unparteiisch gemacht, gerecht und unfehlbar in ihrem Urteil, wie eine Göttin. Sie schien zu wissen, daß, wenn sie schwankte, die Familie erschüttert war und daß, sollte sie jemals wirklich tief in ihrem Innern unsicher sein oder verzweifelt, die Familie fallen und ihr Lebenswille zerstört sein würde. Sie blickte hinaus in den sonnigen Hof, auf die dunkle Gestalt eines Mannes. Vater stand neben ihr, zitternd vor Aufregung. »Kommen Sie nur rein«, rief er. »Kommen Sie nur rein, Mister!« Und mit ein wenig beschämtem Gesicht trat Tom über die Schwelle. Freundlich blickte die Mutter von ihrer Bratpfanne auf. Und dann sank langsam ihre Hand, und die Gabel fiel auf den Fußboden. Ihre Augen öffneten sich weit, und die Pupillen dehnten sich. Sie atmete schwer durch den offenen Mund. Dann schloß sie die Augen. »Gott sei Dank«, sagte sie. »Oh, Gott sei Dank!« Und plötzlich wurde ihr Gesicht besorgt. »Tommy, sie suchen dich doch nicht? Du bist doch nicht ausgebrochen?« 137
»Nein, Mutter. Bewährungsfrist. Ich habe meine Papiere hier.« Und er griff sich in die Brusttasche. Sie kam behende und lautlos auf ihren nackten Füßen auf ihn zu, und ihr Gesicht war voller Erstaunen. Ihre kleine Hand befühlte seinen Arm, befühlte die starken Muskeln. Dann tasteten sich ihre Finger, gleich den Fingern einer Blinden, hinauf zu seiner Wange. Und ihre Freude war fast wie Schmerz. Tom zog seine Unterlippe zwischen die Zähne und biß zu. Ihre Augen sahen verwundert seine zerbissene Lippe, sahen den kleinen Strich von Blut an seinen Zähnen und den Tropfen, der auf der Lippe stand. Da wußte sie alles, und ihre Selbstbeherrschung kehrte zurück, und ihre Hand sank herab. Sie seufzte laut auf. »Ja, siehst du«, rief sie, »jetzt wären wir beinahe ohne dich losgefahren. Und wir haben uns schon überlegt, wie in aller Welt du uns finden sollst.« Sie hob die Gabel wieder auf, fuhr damit durch das brutzelnde Fett und holte die dunkel gebratenen knusprigen Fleischstücke heraus. Dann stellte sie den Kaffeetopf weiter nach hinten auf den Herd. Der alte Tom lachte: »Jetzt haben wir dich aber reingelegt, was, Mutter? Wir haben dich reinlegen wollen und haben’s tatsächlich auch fertiggebracht. Du hast dagestanden wie ’n Schaf, das wo eins vor den Kopf gekriegt hat. Ich wollte, Großvater hätte das gesehen. Der hätte sich vor Freude so aufs Bein geschlagen, daß seine Hüfte wieder rausgesprungen wäre – wie damals, als Al nach dem großen Luftschiff geschossen hat, was sie jetzt in der Armee haben. Tommy, das ist eines Tages bei uns vorbeigeflogen, mindestens ’ne halbe Meile lang 138
ist es, und Al nimmt sein Gewehr und schießt. Großvater schreit: ›Schieß doch nicht auf junge Vögel, Al! Warte doch, bis sie groß sind.‹ Und dann hat er sich so aufs Bein geschlagen, daß seine Hüfte wieder rausgesprungen ist.« Mutter lachte und holte einen Stapel Blechteller vom Wandbrett. Tom fragte: »Wo ist denn Großvater? Ich habe den alten Teufel gar nicht gesehen.« Mutter stellte die Teller auf den Küchentisch und die Tassen daneben. Sie sagte vertraulich: »Weißt du, er und Großmutter schlafen jetzt im Schuppen. Sie haben nachts immer soviel raus gemußt, und da sind sie immer über die Kleinen gestolpert.« Vater unterbrach sie: »Ja, Großvater ist jede Nacht wütend geworden. Ist über Winfield gestolpert, und Winfield hat zu schreien angefangen, und Großvater ist wütend geworden und hat sich die Hosen naß gemacht, und davon ist er noch wütender geworden, und bald haben sich alle im Haus die Lunge aus dem Leib geschrien.« Er blubberte seine Worte fast unverständlich zwischen Lachausbrüchen hervor. »Jaja, wir haben ’ne lustige Zeit gehabt. Einmal nachts, wie alle deinen Bruder Al angeschrien und auf ihn geflucht haben – Al ist jetzt ein großer, schneidiger Bursche –, sagt er: ›Zum Teufel, Großvater, weshalb läufst du eigentlich nicht fort und wirst Pirat?‹ Na, und da ist Großvater dann so elend wütend geworden, daß er sein Gewehr geholt hat, Al mußte die Nacht draußen auf dem Feld schlafen. Aber jetzt schlafen Großvater und Großmutter beide im Schuppen.« 139
Mutter sagte: »Da können sie einfach aufstehen und rausgehen, wenn ihnen danach ist. Vater, lauf schnell rüber und sag ihnen, Tom ist da. Er ist immer ein Liebling von Großvater gewesen.« »Natürlich«, sagte Vater. »Das hätte ich längst machen sollen.« Er ging aus der Tür und überquerte armschlenkernd den Hof. Tom blickte ihm nach, und dann rief ihn die Stimme seiner Mutter zurück. Sie goß Kaffee ein. Sie sah ihn nicht an. »Tommy«, sagte sie zögernd und scheu. »Ja?« Seine Verlegenheit wurde durch die ihre angesteckt. Jeder wußte, daß der andere verlegen war, und wurde es dadurch nur noch mehr. »Tommy, ich muß dich was fragen – du bist doch nicht verrückt?« »Ich verrückt, Mutter?« »Ja, verrückt. Ich meine, du haßt doch niemanden? Sie haben doch im Gefängnis nichts mit dir gemacht, daß du verrückt geworden bist?« Er sah sie von der Seite her an, beobachtete sie, und seine Augen schienen zu fragen, woher sie von solchen Dingen wisse. »N-n-n-nein«, sagte er. »Ich war’s für ’ne Weile. Aber ich bin nicht so stolz, wie manche Leute sind. Das meiste ist einfach von mir abgerutscht. Aber was meinst du eigentlich, Mutter?« Jetzt blickte sie ihn an, ihr Mund war geöffnet, als wolle sie deutlicher hören, ihre Augen gruben sich in ihn, als wolle sie deutlicher erkennen. Ihr Gesicht suchte nach der Antwort, die sich immer hinter Worten verbirgt. 140
Schließlich sagte sie verwirrt: »Ich habe den kleinen Floyd gekannt und auch seine Mutter. Das waren anständige Leute. Sicher, er war höllisch wild, wie jeder richtige Junge es sein muß.« Sie unterbrach sich, und dann strömten ihre Worte hervor: »Ich weiß nicht alles, aber ich habe was drüber gehört. Er hat irgend ’ne kleine Sache gemacht, die wo nicht ganz richtig war, und sie haben ihn geschlagen, haben ihn gefangen und geschlagen, und bald ist er ganz verrückt geworden, wahnsinnig, wie man sagt. Und gefährlich. Sie haben nach ihm geschossen, wie nach ’nem Tier, und er hat zurückgeschossen, und dann haben sie ihn gejagt wie einen Kojoten. Und er hat geschrien und gebissen. Er war verrückt. Er war kein Bursche mehr und kein Mann, er war einfach ein Stückchen Wahnsinn. Aber die Leute, wo ihn kannten, haben ihn nicht geschlagen. Und zu denen war er auch nicht bös. Schließlich haben sie ihn gekriegt und umgebracht. Ganz gleich, was sie in der Zeitung sagen, wie schlecht er war – so ist es jedenfalls gewesen.« Sie schwieg und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen, und ihr ganzes Gesicht war eine einzige schmerzliche Frage. »Ich muß das wissen, Tommy. Haben sie dich auch so viel geschlagen? Haben sie dich auch so wahnsinnig gemacht?« Toms Lippen schlossen sich über den Zähnen. Er blickte nieder auf seine großen flachen Hände. »Nein«, sagte er. »Ich bin ja auch nicht so.« Er unterbrach sich und betrachtete seine kurzen Fingernägel, die gerillt waren wie Muschelschalen. »Ich habe mich die ganze Zeit von so was zurückgehalten. Ich bin nicht verrückt.« 141
Sie seufzte. »Gott sei Dank!« flüsterte sie. Er blickte hastig auf. »Mutter, wie ich gesehen habe, was sie mit unserem Haus gemacht haben …« Sie trat ganz dicht an ihn heran und sagte leidenschaftlich: »Tommy, du kannst nicht alleine mit ihnen kämpfen. Sie jagen dich und schießen dich nieder wie ’nen Hund. Tommy, ich habe viel nachgedacht und viel geträumt und mir überlegt. Die Leute erzählen, es sind Hunderttausende von uns weggejagt worden. Wenn sie alle so wütend sind, jeder einzelne, Tommy – dann können sie uns nicht jagen und niederschießen …« Sie hielt inne. Tommy, der sie angesehen hatte, ließ langsam die Augenlider sinken. »Denken viele Leute so?« fragte er. »Ich weiß nicht. Sie sind wie erstarrt, sie laufen rum, wie wenn sie schlafen würden.« Von draußen, vom Hofe her, kam lautes, heiseres Rufen. »Gott sei Lob und Dank! Gott sei Lob und Dank!« Tom wandte seinen Kopf um und lachte. »Jetzt hat Großvater gehört, daß ich wieder da bin, Mutter«, sagte er, »du bist sonst nie so gewesen – so – ich weiß nicht, wie.« Ihr Gesichtsausdruck verhärtete sich, und ihre Augen wurden kalt. »Man hat mir auch noch nie mein Haus umgestoßen«, sagte sie. »Man hat mir auch noch nie meine Familie auf die Straße geschickt. Ich habe auch noch nie alles verkaufen müssen … alles … Da, jetzt kommen sie.« Sie trat zurück zum Herd und legte die großen runden Pfannkuchen auf zwei Blechteller. Sie 142
schüttete Mehl in das Fett, um Soße zu machen, und ihre Hand war weiß vom Mehl. Einen Augenblick lang beobachtete Tom sie, dann ging er zur Tür. Über den Hof kamen vier Menschen. Großvater war der erste, ein magerer, zerlumpter, eifriger alter Mann, der mit schnellen, sprunghaften Schritten ging und dabei sein rechtes Bein, das aus dem Gelenk gesprungen war, ein wenig schonte. Er knöpfte sich im Gehen die Hose zu, und seine alten Hände hatten Schwierigkeiten, die Knöpfe zu finden, denn er hatte den obersten Knopf in das zweite Knopfloch geknöpft und damit alles durcheinandergebracht. Er trug dunkle zerlumpte Hosen und ein zerrissenes blaues Hemd, das vollständig offen war und ein gleichfalls nicht zugeknöpftes graues Unterhemd sehen ließ. Durch die Öffnung in seinem Unterhemd erschien seine weiße Brust mit ihrem kräuseligen weißen Haar. Er gab die Bemühung mit seiner Hose auf und ließ sie offen und plagte sich mit den Knöpfen seines Unterhemds herum. Schließlich ließ er auch das sein und zog seine braunen Hosenträger hoch. Er hatte ein mageres, erregbares Gesicht mit kleinen leuchtenden Augen, die bös waren wie die eines wilden Kindes. Ein streitsüchtiges, boshaftes, lachendes Gesicht. Er kämpfte und stritt und erzählte oft schmutzige Geschichten. Er war genauso lüstern, wie er stets gewesen war. Lasterhaft, grausam und ungeduldig, wirklich wie ein wildes Kind. Und über dem Ganzen lag stets ein leiser Anflug von Belustigung. Er trank zuviel, wenn er es kriegen konnte, aß zuviel, wenn genügend da war, und redete zuviel – die ganze Zeit. 143
Hinter ihm her stolperte Großmutter, die sich nur behauptet hatte, weil sie ebenso bös war wie ihr Mann. Sie hatte sich behauptet mit einer lauten, wilden Religiosität, die ebenso lüstern und ungezügelt war wie alles, was Großvater zu bieten hatte. Einmal, nach einer Versammlung, als sie noch in Zungen sprach, hatte sie beide Läufe eines Gewehrs auf ihren Mann abgefeuert und ihm dabei fast den ganzen Hintern weggeschossen. Nach diesem Vorfall aber bewunderte er sie und quälte sie nicht mehr, wie Kinder einen Käfer quälen. Jetzt hatte sie es so eilig, daß sie sich ihren Rock bis zu den Knien hochhob, und dabei stieß sie ihren schrillen Kriegsruf aus: »Gott sei Lob und Dank!« Großvater und Großmutter rannten um die Wette über den großen Hof. Sie kämpften um alles miteinander und liebten und brauchten den Kampf. Hinter ihnen, langsam und ruhig, aber dennoch im gleichen Tempo, kamen Vater und Noah – Noah, der Erstgeborene, ein großer und seltsamer Bursche, der stets einen verwunderten Ausdruck auf dem Gesicht hatte. Er war noch nie in seinem Leben wütend gewesen. Er sah wütende Leute nur mit Erstaunen an, mit Erstaunen und Unbehagen, wie normale Menschen Geisteskranke betrachten. Noah bewegte sich langsam, sprach selten und dann so langsam, daß Menschen, die ihn nicht kannten, oft glaubten, er sei ein wenig blöd. Er war nicht blöd, aber er war seltsam. Er besaß wenig Stolz und hatte keine sexuellen Bedürfnisse. Er arbeitete und schlief in einem komischen Rhythmus, der ihn dennoch zu befriedigen schien. Er liebte seine Eltern und 144
Geschwister, zeigte es aber nicht. Obwohl man nicht hätte sagen können, weshalb, machte Noah doch den Eindruck, mißgestaltet zu sein – der Kopf oder der Körper oder die Beine oder der Verstand –, aber von einem mißgestalteten Mitglied der Familie war nichts bekannt. Vater glaubte zu wissen, weshalb Noah so seltsam war; aber Vater war beschämt und sagte es nie. Denn in der Nacht, als Noah geboren wurde, hatte Vater Angst gekriegt. Er war allein im Haus gewesen, das schreiende Tier, das aus seiner Frau geworden war, hatte ihm Furcht eingejagt, und er war fast wahnsinnig geworden vor Ungewißheit. Da hatte er seine Hände gebraucht, hatte seine starken Finger als Zange benützt und das Kind hervorgezogen. Die Hebamme, die zu spät kam, sah, daß der Kopf des Kindes deformiert war, der Hals in die Länge gezogen, der Körper verkrümmt, und sie hatte den Kopf zurückgedrückt und den Körper mit ihren Händen geformt. Aber Vater dachte ständig daran und war beschämt. Und er war zu Noah freundlicher als zu den anderen. In Noahs breitem Gesicht, dessen Augen zu weit auseinanderstanden und dessen Kinn lang und schmal war, glaubte Vater den verquetschten und verkrümmten Schädel des Kindes zu erkennen. Noah konnte alles, was von ihm verlangt wurde, konnte lesen und schreiben, konnte arbeiten und nachdenken, aber es schien ihm alles gleich zu sein, und er schien gegen Menschen und Dinge nur Teilnahmslosigkeit zu empfinden. Er lebte in einem seltsam stillen Haus, aus dem er mit ruhigen Augen in die Welt blickte. Er war allen fremd, aber er war nicht allein. 145
Die vier kamen über den Hof, und Großvater fragte: »Wo ist er? Gottverdammt, wo ist er denn?«, und seine Finger tasteten an den Hosenknöpfen herum, vergaßen es dann und verschwanden in der Tasche. Schließlich sah er Tom in der Tür stehen. Er hielt an, und mit ihm hielten auch die anderen an. Seine kleinen Augen blitzten vor Arglist. »Da, seht ihn euch an«, sagte er. »Einer, wo im Gefängnis war. Noch nie ist einer von den Joads im Gefängnis gewesen.« Seine Gedanken machten einen Sprung. »Sie haben kein Recht, ihn ins Gefängnis zu stecken. Er hat nur das gemacht, was ich auch gemacht hätte. Die Schweine haben kein Recht dazu.« Wieder sprangen seine Gedanken. »Und der alte Turnbull, das alte Stinktier, hat geschrien, er will dich erschießen, wenn du rauskommst. Er sagt, er hat Hatfield-Blut. Na, da habe ich ihm aber was ausrichten lassen. Ich habe gesagt: ›Laß dich ja nicht mit einem Joad ein. Denn soviel ich weiß, habe ich McCoy-Blut!‹, und ich sage: ›Wenn du unserm Tommy auch nur nahe kommst, nehme ich mein Gewehr und renne es dir in deinen Arsch‹, habe ich gesagt. Na, das hat ihm dann ’n bißchen Angst gemacht.« Großmutter, die dem Gespräch nicht gefolgt war, schrie laut: »Gott sei Lob und Dank!« Großvater ging auf Tom zu und schlug ihm auf die Brust, und seine Augen lachten vor Zärtlichkeit und Stolz. »Wie geht’s dir denn, Tommy?« »Okay«, sagte Tom. »Und dir?« »Geht so«, sagte Großvater. Und dann machten seine Gedanken wieder einen Sprung. »Wie ich sage, sie haben kein Recht, ’nen Joad ins Gefängnis zu stecken. Ich sage: 146
›Unser Tommy wird aus dem Gefängnis brechen wie’n Bulle durch ’nen Zaun.‹ Und du hast’s gemacht. Jetzt geh mir aus dem Weg, ich habe Hunger.« Er schob ihn zur Seite, setzte sich, belud seinen Teller mit Fleisch und zwei großen Pfannkuchen und goß die dicke Soße darüber, und noch ehe die anderen überhaupt das Haus betreten hatten, war Großvaters Mund schon voll. Tom lachte ihn zärtlich an. »Ein alter Teufel!« sagte er. Und Großvaters Mund war so voll, daß er überhaupt nichts sagen konnte, aber seine listigen kleinen Augen lächelten, und er nickte heftig mit dem Kopf. Großmutter sagte stolz: »Einen schlechteren, verdorbeneren Mann hat’s überhaupt nie gegeben. Der fährt noch mal auf ’ner Feuerzange in die Hölle. Gott sei Lob und Dank! Jetzt will er sogar den Lastwagen steuern«, sagte sie verächtlich. »Aber das wird er nicht.« Großvater hustete, und alles, was er im Mund hatte, fiel ihm auf den Schoß. Großmutter lächelte Tom an. »Ein altes Schwein, was?« bemerkte sie strahlend. Noah stand in der Tür und betrachtete Tom, und seine weit auseinanderstehenden Augen schienen um ihn herum zu blicken. Sein Gesicht hatte nur wenig Ausdruck. Tom sagte: »Wie geht’s dir, Noah?« »Gut«, sagte Noah. »Und dir?« Das war alles, aber es war doch gut. Mutter scheuchte die Fliegen von der Soßenschüssel. »Wir haben nicht genug Platz zum Hinsetzen«, sagte sie. »Holt euch nur einfach ’nen Teller und setzt euch, wo’s geht. Draußen in den Hof oder irgendwohin.« 147
Plötzlich sagte Tom: »He! Wo ist denn der Prediger? Er war doch vorhin noch da. Wo ist er denn hingegangen?« Vater sagte: »Ich habe ihn gesehen, aber er ist fort.« Und Großmutter erhob ihre schrille Stimme: »Prediger? Ihr habt ’nen Prediger? Schnell, holt ihn. Dann kann er uns ’nen Segen sprechen.« Sie deutete auf Großvater. »Für den ist’s zu spät – der hat schon gegessen. Schnell, holt den Prediger.« Tom trat hinaus. »He, Jim! Jim Casy!« rief er, und er ging durch den Hof. »He, Casy!« Der Prediger kam unter dem Wassertank hervor, stand auf und ging auf das Haus zu. Tom fragte: »Was hast du denn gemacht – dich versteckt?« »Nein, nein. Aber man soll seinen Kopf nicht reinstecken, wo Leute ihre Familiengeschichten zu regeln haben. Ich habe dagesessen und nachgedacht.« »Komm doch rein, essen! Großmutter möchte ’nen Segen.« »Aber ich bin doch kein Prediger mehr«, widersprach Casy. »Ach, nun komm schon. Gib ihr den Segen. Dir schadet’s nichts, und sie hat’s gerne.« Sie gingen miteinander in die Küche. Mutter sagte: »Ihr seid willkommen.« Und Vater sagte: »Ihr seid willkommen. Frühstückt mit uns.« »Erst der Segen«, rief Großmutter, »erst der Segen.« Großvater richtete seine Augen auf Casy, und es dauerte eine Weile, bis er ihn erkannte. »Ach, dieser Prediger ist das«, sagte er. »Jaja, der ist richtig. Den habe ich 148
immer gern gehabt …« Er blinzelte so lüstern, daß Großmutter glaubte, er hätte gesprochen, und ihn anschrie: »Halt den Mund, du sündiger alter Bock.« Casy fuhr sich nervös mit den Fingern durchs Haar. »Ich muß euch sagen, ich bin kein Prediger mehr. Wenn ich hier sein darf und mich freuen und dankbar sein für Leute, die gut und freigebig sind, wenn das genug ist – dann sage ich gerne so was wie ’nen Segen. Aber ich bin kein Prediger mehr.« »Nun sag’s schon«, rief Großmutter. »Und sag auch was, daß wir nach Kalifornien wollen.« Der Prediger neigte seinen Kopf, und auch die anderen neigten die Köpfe. Mutter faltete ihre Hand über dem Bauch und neigte den Kopf. Großmutter neigte ihn so tief, daß ihre Nase fast den Teller mit den Pfannkuchen und der Soße berührte. Tom, der mit dem Teller in der Hand an der Wand lehnte, neigte seinen Kopf ein wenig steif, und Großvater neigte ihn seitwärts, so daß er ein boshaftes und listiges Auge auf den Prediger werfen konnte. Und auf dem Gesicht des Predigers war kein Ausdruck von Frömmigkeit, sondern ein Ausdruck von Nachdenken, und in seinem Ton lag nicht Demut, sondern Argwohn. »Ich habe nachgedacht«, sagte er. »Ich bin in den Bergen gewesen und habe nachgedacht. Ihr werdet vielleicht sagen, beinahe wie Jesus, der in die Wildnis gegangen ist, um sich seinen Weg zu suchen aus dem ganzen Durcheinander von Schwierigkeiten.« »Gelobet sei Gott!« sagte Großmutter, und der Prediger blickte überrascht zu ihr hinüber. »Scheint so, als wenn Jesus in ’nem großen Durchein149
ander von Schwierigkeiten gewesen ist und nicht mehr rausfinden konnte. Und schließlich hat Er das Gefühl gehabt, was zum Teufel hat das ganze Kämpfen und Nachdenken eigentlich für ’n Zweck. Und er ist müde geworden, ganz verdammt müde, und Sein Geist auch. Und wie Er schon beinah’ zu dem Schluß gekommen ist, ach, zum Teufel mit all dem Kram, da ist Er in die Wüste gegangen und hat nachgedacht.« »A-men«, rief Großmutter. So viele Jahre lang hatte sie in den Pausen ihre Antworten gerufen, und es war so lange her, daß sie den Worten, die gesprochen wurden, wirklich gelauscht oder über sie nachgedacht hatte. »Ich sage nicht, daß ich wie Jesus bin«, fuhr der Prediger fort. »Aber ich bin so müde gewesen wie Er und habe genauso ein Durcheinander gehabt wie Er, und da bin ich in die Wüste gegangen wie Er, ohne Nachtzeug und ohne alles. Und in der Nacht habe ich auf meinem Rücken gelegen und zu den Sternen aufgeschaut; morgens habe ich zugesehen, wie die Sonne hochkam, mittags habe ich von ’nem Berg auf das trockene Land runtergeblickt, und abends habe ich die Sonne untergehen gesehen. Manchmal habe ich gebetet wie früher. Nur daß ich nicht mehr gewußt habe, zu wem ich bete oder wofür. Da waren die Berge, und da war ich, und wir waren nicht mehr zu trennen. Wir waren eins. Und das Eine war heilig.« »Halleluja«, sagte Großmutter und schaukelte vor und zurück und versuchte, ein wenig in Erregung zu geraten. »Und ich habe angefangen nachzudenken, aber ich habe nicht nachgedacht, es war viel tiefer als Nachdenken. 150
Ich habe gedacht, wie heilig wir sein würden, wenn wir eins wären, und wie die ganze Menschheit heilig sein würde, wenn sie eins wäre. Und daß alles nur unheilig wird, wenn ein elender Bursche seine Zähne in was verbeißt und seinem eigenen Weg davonläuft und tritt und zerrt und kämpft. So ein Bursche macht die ganze Heiligkeit kaputt. Aber wenn alle zusammenarbeiten, nicht einer für den anderen, sondern einer für das Ganze – dann ist das richtig und dann ist das heilig. Und ich habe mir gedacht, daß ich noch nicht einmal weiß, was ich eigentlich mit heilig meine.« Er hielt inne, aber die geneigten Köpfe blieben geneigt, denn sie waren wie Hunde darauf dressiert, sich erst bei dem Zeichen »Amen« zu erheben. »Ich kann keinen Segen mehr sprechen wie früher. Ich bin froh über die Heiligkeit des Frühstücks. Ich bin froh, daß es hier Liebe gibt in diesem Haus. Das ist alles.« Die Köpfe blieben geneigt. Der Prediger blickte sich um. »Jetzt ist euer ganzes Frühstück kalt geworden«, sagte er, und dann fiel es ihm ein, und er fügte ein »Amen« hinzu, und alle Köpfe erhoben sich. »A-men«, sagte Großmutter und fiel über ihr Frühstück her und zerbiß die saftigen Pfannkuchen mit ihrem harten, zahnlosen alten Kiefer. Tom aß hastig, und Vater stopfte sich den Mund voll. Es wurde nicht gesprochen, bis das ganze Essen verschlungen und der Kaffee getrunken war. Mutter beobachtete den Prediger beim Essen, ihre Augen waren fragend, prüfend und verstehend. Sie beobachtete ihn, als sei er plötzlich ein Geist, kein Mensch mehr, sondern eine Stimme, die aus dem Boden kam. 151
Die Männer aßen auf und stellten ihre Teller hin und schlürften ihren letzten Kaffee, und dann gingen die Männer hinaus, Vater und der Prediger und Noah und Großvater und Tom. Sie gingen hinüber zu dem Lastwagen, an dem Durcheinander von Möbeln, von hölzernen Bettstellen, dem Motor des Windrads und dem alten Pflug vorbei. Und dann stellten sie sich neben den Lastwagen und berührten mit ihren Händen das frische Holz der Seitenwände. Tom öffnete die Motorhaube und sah sich den großen öligen Motor an. Vater kam zu ihm und stellte sich neben ihn. Er sagte: »Dein Bruder Al hat ihn genau angesehen, eh’ er ihn gekauft hat. Er sagt, er ist in Ordnung.« »Was versteht er denn davon? Er ist doch noch ein Lausejunge«, sagte Tom. »Er hat für ’ne Gesellschaft gearbeitet. Letztes Jahr hat er ’n Lastwagen gefahren. Er versteht schon was, gerissen, wie er ist. Doch, er versteht was. Er kann sogar ’n Motor reparieren, unser Al.« Tom fragte: »Wo ist er denn jetzt?« »Ach«, sagte Vater, »der rennt die ganze Zeit in der Gegend rum hinter den Mädchen her. Wie ’n geiler Kater. Macht sich ganz kaputt damit. Er denkt, weiß Gott, wer er ist, mit seinen sechzehn Jahren, und fängt schon an. Er denkt an nichts anderes wie an Mädchen und Autos. Ein richtiger Liederjan. Seit ’ner Woche ist er nachts nicht zu Hause gewesen.« Großvater tastete unbeholfen an seiner Brust herum, und schließlich war es ihm gelungen, die Knöpfe seines blauen Hemdes in die Knopflöcher seiner Unterjacke zu 152
knöpfen. Seine Finger fühlten, daß etwas nicht stimmte, aber er machte sich nicht die Mühe, den Fehler zu suchen. Seine Finger wanderten nach unten und bemühten sich, die Verwirrung der Hosenknöpfe zu lösen. »Ich war noch schlimmer«, sagte er strahlend. »Ich war noch viel schlimmer. Ich war ein Teufel, wie man so sagt. Da war zum Beispiel mal ’ne Versammlung drüben in Sallisaw, wie ich ’n junger Bursche war, bißchen älter wie Al. Er ist ja noch ’n Lausejunge. Aber ich war älter, und wir waren drüben zu dieser Versammlung. Fünfhundert Leute und ’n Haufen ganz junger Kerle.« »Du siehst immer noch wie ’n Teufel aus, Großvater«, sagte Tom. »Bin ich auch, wenn du willst. Aber ich bin ganz und gar nicht mehr so, wie ich war. Laß mich erst mal nach Kalifornien kommen, wo ich mir ’ne Orange abpflücken kann, wann und wo ich will. Oder Trauben. Das ist ’ne Sache, wo ich nie genug von kriegen kann. Da pflücke ich mir mal ’n ganzes Ding ab vom Busch oder wo sie grade wachsen und quetsche sie mir über meinem Gesicht aus und lasse mir den Saft zum Kinn runterlaufen.« Tom fragte: »Wo ist denn Onkel John? Wo ist Rosasharn? Wo Ruthie und Winfield? Von denen hat mir noch kein Mensch was gesagt.« »Hat ja auch noch kein Mensch gefragt«, sagte Vater. »John ist nach Sallisaw gefahren mit ’ner Ladung Zeug zum Verkaufen. Ruthie und Winfield sind mit. Sie sind schon vor Tag losgefahren.« »Komisch, daß ich sie nicht gesehen habe«, sagte Tom. 153
»Na ja, du bist über die große Straße gekommen, nicht wahr? Er ist hintenrum über Cowlington gefahren. Und Rosasharn, die wohnt jetzt mit bei Connies Leuten. Gott, du weißt ja noch nicht mal, daß Rosasharn den Connie Rivers geheiratet hat! Du kennst doch Connie, ’n netter junger Bursche. Und Rosasharn kriegt schon in drei – vier – fünf Monaten was Kleines. Wird schon ganz dick. Und dabei sieht sie hübsch aus.« »Jesus!« rief Tom. »Rosasharn war doch noch ’n ganz kleines Kind. Und jetzt soll sie ’n Baby kriegen. So viel passiert in vier Jahren, wenn man weg ist. Wann wollt ihr denn losfahren, Vater?« »Ja, wir müssen noch das Zeug hier aufladen und verkaufen. Wenn Al zurückkommt, habe ich mir gedacht, er packt das alles aufs Auto, und dann können wir vielleicht schon morgen oder übermorgen fahren. Wir haben nicht sehr viel Geld, und jemand hat mir gesagt, es sind fast zweitausend Meilen nach Kalifornien. Je eher wir fahren, um so schneller sind wir da. Aber das Geld geht weg wie nichts. Hast du vielleicht Geld?« »Nur ’n paar Dollar. Woher habt ihr denn Geld gekriegt?« »Na ja, wir haben eben das ganze Zeug von drüben verkauft – wir haben Baumwolle gepflückt. Sogar Großvater hat mitgemacht.« »Aber feste«, sagte Großvater. »Wir haben alles zusammengelegt – zweihundert Dollars. Für den Wagen hier haben wir fünfundsiebzig bezahlt, und ich und Al haben das Dach abgeschnitten und den Aufbau gemacht. Al wollte noch die Ventile 154
einschleifen, aber jetzt ist er die ganze Zeit in der Gegend rumgelungert und ist vor lauter Rumlungern nicht dazu gekommen. Vielleicht haben wir noch hundertfünfzig, wenn wir losfahren. Die Reifen sind schon elend alt und halten nicht mehr lange. Wir müssen uns noch ’n paar zur Reserve kaufen. Gebraucht kriegt man sie schon ganz billig.« Die Sonne fiel jetzt mit aller Kraft hernieder, und ihre Strahlen stachen. Der Lastwagen roch nach heißem Benzin, nach Wachstuch und Farbe. Die wenigen Hühner hatten sich aus dem Hof in den Werkzeugschuppen zurückgezogen, um sich vor der Sonne zu schützen. Im Stall lagen die Schweine und keuchten, sie lagen dicht am Zaun, wohin ein dünner Schatten fiel, und ließen dann und wann ein klagendes schrilles Quieken hören. Die beiden Hunde hatten sich in dem roten Staub unter dem Lastwagen ausgestreckt, auch sie keuchten, und ihre tropfenden Zungen waren mit Staub bedeckt. Vater zog sich den Hut tiefer über die Augen und hockte sich auf den Boden. Und als sei dies seine natürliche Stellung zum Nachdenken und Beobachten, betrachtete er Tom kritisch, betrachtete die neue, aber bereits alternde Mütze, den Anzug und die neuen Schuhe, und fragte: »Hast du denn für die Kleider da dein Geld ausgegeben? Die nützen dir nämlich gar nichts – im Gegenteil.« »Nein, sie haben sie mir geschenkt«, sagte Tom. »Wie ich rausgekommen bin, haben sie sie mir geschenkt!« Er nahm seine Mütze ab, betrachtete sie mit einer gewissen Bewunderung, dann wischte er sich die Stirn damit, 155
setzte sie sich verwegen wieder auf und zog an dem Mützenschild. »Die Schuhe, wo sie dir geschenkt haben, sehen ganz hübsch aus«, bemerkte der Vater. »Ja«, pflichtete Joad bei, »sehen hübsch aus, aber sie sind nichts, um an ’nem heißen Tag drin zu laufen.« Er hockte sich neben seinen Vater. Noah sagte langsam: »Wenn die Bretter an der Seite dran sind, können wir ja das Zeug schon aufladen. Wenn Al dann kommt …« »Ich kann ihn auch fahren, wenn ihr das wollt«, sagte Tom. »Ich habe in McAlester ’nen Lastwagen gefahren.« »Gut«, sagte Vater, und dann blickte er hinüber zur Straße. »Wenn ich mich nicht irre, ist das unser Lausejunge, wo da kommt.« Jetzt blickten auch Tom und der Prediger hinüber zur Straße. Und der leichtsinnige Al, der sah, daß er bemerkt wurde, warf die Schultern zurück und kam mit gesträubtem Kamm, gleich einem Hahn, der krähen will, in den Hof. Als er Tom erkannte, änderte sich sein Ausdruck, Bewunderung und Ehrfurcht leuchteten in seinen Augen, und das prahlerische Wesen fiel von ihm ab. Seine steifen blauen Hosen, deren Umschläge ein wenig hochgerollt waren, damit man die eleganten Schuhe sah, sein fünf Zentimeter breiter Gürtel mit den Kupferfiguren an der Schnalle, ja selbst die roten Armbänder an seinem blauen Hemd und der verwegen aufgesetzte Stetson-Hut vermochten nicht, ihm das Format seines Bruders zu leihen, denn sein Bruder hatte einen Mann umgebracht, und das würde man nie vergessen. 156
Al wußte, er hatte sich sogar bei den Burschen seines Alters einige Bewunderung damit erworben, daß sein Bruder einen Mann umgebracht hatte. Er hatte in Sallisaw gehört, wie jemand sagte, als er vorbeiging: »Das ist Al Joad. Sein Bruder hat mit ’ner Schaufel einen erschlagen.« Und jetzt sah Al, während er ehrfürchtig näherkam, daß sein Bruder gar nicht der Prahler war, als den er ihn in Erinnerung hatte. Al sah die dunklen sinnenden Augen seines Bruders und die Gefängnisruhe, das glatte harte Gesicht, das gewöhnt war, einem Gefängniswärter nichts zu verraten, weder Widerstand noch sklavische Unterwürfigkeit. Und sofort veränderte sich Al. Unbewußt wurde er wie sein Bruder. Sein hübsches Gesicht bekam einen sinnenden Ausdruck, und seine Schultern fielen herab. Er hatte nicht mehr gewußt, wie Tom war. Tom sagte: »Hallo, Al! Mein Gott, du wächst ja wie ’ne Bohnenstange! Ich hätte dich nicht erkannt.« Al, der seine Hand bereithielt für den Fall, daß Tom sie ergreifen wollte, lachte verlegen. Tom streckte seine Rechte aus, die beiden schüttelten sich die Hände, und es war deutlich, daß sie einander gern mochten. »Vater erzählt mir, daß du allerhand von ’nem Lastwagen verstehst«, sagte Tom. Und Al, der spürte, daß seinem Bruder jedes Prahlen zuwider sein würde, sagte: »Ich verstehe gar nicht viel davon.« »Bist ja mal wieder schön rumgelumpt. Siehst ganz mitgenommen aus. Du mußt noch ’ne Ladung Zeug nach Sallisaw fahren zum Verkaufen.« 157
Al sah seinen Bruder Tom an. »Willst du mitfahren?« fragte er so gleichgültig, wie es ihm möglich war. »Nein, ich kann nicht«, sagte Tom. »Ich muß hier helfen. Aber wir fahren dann noch lange genug zusammen.« Al versuchte die Frage, die ihn außerordentlich beschäftigte, recht beherrscht zu stellen: »Bist du … bist du ausgebrochen? Aus dem Gefängnis?« »Nein«, sagte Tom. »Ich habe Bewährungsfrist gekriegt.« »Ach so.« Und Al war ein wenig enttäuscht.
9 In den kleinen Häusern lasen die Pächter für die Reise nach Westen ihre Habseligkeiten aus, die Habseligkeiten ihrer Väter und Großväter. Die Männer waren erbarmungslos, weil die Vergangenheit zerstört war, aber die Frauen wußten, daß in den kommenden Tagen die Vergangenheit wieder und immer wieder an sie herankommen würde. Die Männer gingen in die Schuppen und Scheunen. Dieser Pflug, diese Egge – weißt du noch, im Krieg haben wir Senf gepflanzt? Weißt du noch, jemand wollte, daß wir diesen Gummibaum einsetzen, den sie Guayule nennen? Das bringt Geld, hat er gesagt. Hol die Werkzeuge raus – da kriegen wir ’n paar Dollars für. Dieser Pflug hat achtzehn Dollars gekostet plus Fracht – Sears 158
Roebuck. – Zaumzeug, Karren, Säer, kleine Bündel von Hacken. Hol sie raus. Schmeiß sie in den Hof. Lad sie auf den Wagen. Fahr sie in die Stadt. Verkauf sie für jeden Preis. Verkauf auch das Gespann und den Wagen. Wir brauchen nichts mehr. Fünfzig Cents ist nicht genug für so ’nen guten Pflug. Der Säer hat achtunddreißig Dollars gekostet. Zwei Dollars ist zu wenig. Ich kann ja nichts anderes machen. Schön, also nimm ihn und die ganze Bitterkeit dazu. Nimm die Pumpe und das Zaumzeug. Nimm die Halfter und die Zügel und die Ketten. Nimm das Stirnband mit den kleinen Glasjuwelen, roten Rosen unter Glas. Das habe ich für das Beschneiden des Braunen gekriegt. Weißt du noch, wie er im Trott seine Füße gehoben hat? Alter Plunder, aufgehäuft im Hof. Ein Handpflug ist nicht mehr zu verkaufen. Fünfzig Cents für das gewogene Metall. Schneidescheiben und Traktoren, das ist das Zeug, was man heute braucht. Ja, nimm’s nur – nimm den ganzen Lumpenkram – und gib mir fünf Dollar. Du kaufst nicht nur Lumpenkram, du kaufst auch zerlumpte Leben. Und noch mehr – wirst’s schon sehen –, du kaufst den Kummer und die ganze Bitterkeit. Du kaufst ’nen Pflug und pflügst deine eigenen Kinder unter, du kaufst den Geist und die Waffen, die dich hätten retten können. Fünf Dollars, nicht vier. Ich kann ja nichts machen. Also, nimm sie schon für vier. Aber ich warne dich, du kaufst was, womit du deine eigenen Kinder unterpflügst. Und du siehst’s nicht. Du kannst’s nicht sehen. Nimm’s schon für vier. Na, und was gibst du für das Gespann und den Wagen? 159
Zwei gute Braune – sie passen zusammen, in der Farbe, im Gang, in jedem Schritt. Sie passen zusammen, wenn sie ziehen und ihre Muskeln an Lenden und Schenkeln sich spannen. Und am Morgen, wenn das Licht auf sie fällt, das braune Licht. Sie schnüffeln über den Zaun zu uns herüber, und die steifen Ohren wedeln, um uns zu hören. Und dann der schwarze Schopf! Ich habe ein Mädchen. Das flechtet den Pferden immer Mähne und Schopf und bindet kleine rote Schleifen hinein. Das macht ihr Spaß. Aber jetzt nicht mehr. Ich könnte dir eine lustige Geschichte erzählen über das Mädchen und unsern einen Braunen. Du würdest lachen. Das eine Pferd ist acht, das andere ist zehn, aber sie hätten Zwillingsfohlen sein können, so, wie sie zueinander passen. Sieh doch nur – die Zähne! Ganz und gar gesund. Kräftige Lungen. Saubere und gesunde Hufe. Wieviel? Zehn Dollars? Für beide? Und den Wagen? Ach, du guter Gott! Eher würde ich sie doch erschießen und als Hundefutter verkaufen. Na, nimm sie schon! Aber schnell! Ich sage dir, du kaufst ein kleines Mädchen, das den Pferden die Schöpfe flechtet, das sein eigenes Haarband nimmt, um ihnen Schleifen zu binden, das zurücktritt, den Kopf geneigt, und sich dann die Wange von ihren weichen Nüstern reiben läßt. Du kaufst viele Jahre der Arbeit, der Plackerei in der heißen Sonne, du kaufst einen Schmerz, der keine Worte hat. Aber paß nur auf, du kriegst eine Zugabe zu diesem Haufen von Lumpenkram und den braunen Pferden, ein Paket von Bitterkeit, von Bitterkeit, die wachsen und sich in deinem Hause breitmachen wird. Wir hätten dich retten können, aber 160
du hast uns im Stich gelassen, und bald wirst du im Stich gelassen werden, und dann ist keiner von uns mehr da, um dich zu retten. Und die Pächter kamen heim, die Hände in den Taschen, den Hut ins Gesicht gezogen. Manche kauften sich eine Flasche und tranken sie schnell leer, denn sie wollten hart werden im Innern und Widerstand zeigen und wollten nicht wanken. Aber sie lachten nicht, und sie tanzten nicht. Sie sangen nicht und zupften nicht die Gitarre. Sie gingen zurück zu ihren Häusern, die Hände in den Taschen und die Köpfe gesenkt, und wirbelten mit ihren Schuhen den roten Staub vor sich her. Vielleicht können wir neu beginnen, dort drüben in dem reichen Land – in Kalifornien, wo die Früchte wachsen. Wir werden neu beginnen. Aber du kannst nicht mehr beginnen. Nur ein kleines Kind kann beginnen. Du und ich – wir sind so, wie wir immer gewesen. Der Ärger eines Augenblicks, die tausend Bilder – das sind wir. Das Land, dieses rote Land, sind wir. Und die Jahre der Überschwemmung und die Jahre des Staubes und die Jahre der Trockenheit sind wir. Wir können nicht neu beginnen. Die Bitterkeit, die wir dem Lumpenmann verkauft haben – schön, er hat sie jetzt, aber auch wir haben sie noch. Und als die Landbesitzer uns befahlen, zu gehen, das sind wir. Und wie der Traktor unser Haus gerammt hat, das sind wir – bis wir tot sind. Nach Kalifornien oder irgendwohin – jeder ein Trommelmajor, der eine Schmerzensparade anführt, die marschiert, marschiert mit unserer Bitterkeit. Und eines Tages werden die Armeen der Bitterkeit 161
alle in derselben Richtung gehen. Und sie werden alle zusammen marschieren, und dann wird es Tod und Schrecken geben. Die Pächter schlurften durch den roten Staub heim zu ihren Farmen. Als alles, was verkauft werden konnte, verkauft war, Herd und Bettstellen, Tische und Stühle, kleine Eckschränke und Wandregale, Rohre und Wassertanks, hatten sie noch immer einen Haufen von Habseligkeiten. Und die Frauen saßen dazwischen, drehten jeden Gegenstand um und um, blickten ihn an von unten und von oben, von hinten und von vorn, Bilder und Spiegel – und hier ist noch eine Vase. Du weißt doch ganz genau, was wir mitnehmen können und was nicht. Wir werden draußen schlafen müssen – ein paar Töpfe zum Kochen und zum Waschen, Matratzen und Kissen, Laternen und Eimer und ein Stück Segeltuch. Das nehmen wir als Zelt. Diese Kerosin-Büchse – weißt du, was das ist? Das ist der Herd. Und Kleider – ja, nimm all die Kleider mit. Und das Gewehr? Ohne Gewehr würde ich niemals fahren. Wenn wir keine Kleider und keine Schuhe und kein Essen, ja selbst keine Hoffnung mehr haben, dann haben wir noch immer das Gewehr. Wie Großvater kam – habe ich dir das nicht erzählt? –, hat er nur Pfeffer und Salz und ein Gewehr gehabt. Nichts weiter. Also das kommt mit. Und eine Flasche für Wasser. Dann ist die Kiste aber auch voll. Ja, an die Seiten vom Anhänger, und die Kinder können sich in den Anhänger setzen und Großmutter auf die Matratze. Werkzeuge, eine Schaufel, eine 162
Säge, einen Schraubenzieher und eine Zange. Natürlich auch ’ne Axt. Diese Axt haben wir vierzig Jahre lang gehabt. Sieh nur, wie abgenützt sie schon ist. Und Stricke, natürlich. Der Rest? Den lassen wir da – oder verbrennen ihn. Und die Kinder kommen. Wenn Mary ihre Puppe mitnimmt, die dreckige zerlumpte Puppe, will ich meinen Indianerbogen mitnehmen. Den brauche ich. Und diesen Stock – der ist so groß wie ich. Vielleicht habe ich ihn mal nötig. So lange habe ich den Stock schon gehabt – ’nen Monat oder vielleicht sogar schon ein Jahr. Ich muß ihn mitnehmen. Wie ist’s eigentlich in Kalifornien? Die Frauen saßen inmitten der aufgehäuften Dinge, drehten sie um und um, betrachteten sie von unten und von oben, von hinten und von vorn. Dieses Buch. Das hat Vater gehört. Er hat’s sehr gern gehabt. ›Pilgrim’s Progress.‹ Hat viel drin gelesen. Es steht sogar sein Name drin. Und seine Pfeife – die stinkt noch immer. Und dieses Bild – ein Engel. Bei den ersten drei Kindern habe ich’s immer angeschaut, eh’ sie gekommen sind – hat aber auch nicht viel geholfen. Meinst du, wir können diesen Porzellanhund noch reinkriegen? Tante Sadie hat ihn auf der Ausstellung in St. Louis gekauft. Siehst du? Sie hat sogar was draufgeschrieben. Nein, ich glaube nicht. Hier ist ein Brief, den mein Bruder geschrieben hat an dem Tag, eh’ er gestorben ist. Und hier ist ein Hut von früher. Die Federn habe ich nie verwenden können. Nein, es ist ja kein Platz mehr. Wie sollen wir leben ohne unsere Leben? Woher sollen 163
wir wissen, daß wir’s sind – ohne unsere Vergangenheit? Nein. Laß es da. Verbrenn’s. Sie saßen da und sahen es an und verbrannten es bereits in ihren Köpfen. Wie wird es sein, wenn man nicht weiß, was für ein Land da ist vor der Tür? Wie wird es sein, wenn man nachts aufwacht und weiß – und weiß, daß der Weidenbaum nicht mehr da ist? Kann man denn leben ohne den Weidenbaum? Nein, man kann’s nicht. Der Weidenbaum bist du. Der Schmerz auf der Matratze da – dieser furchtbare Schmerz –, das bist du. Und die Kinder – wenn Sam seinen Indianerbogen und seinen langen runden Stock mitnimmt, muß ich auch zwei Sachen mitnehmen dürfen. Ich nehme das weiche Federkissen mit: Das ist meins. Plötzlich wurden sie unruhig. Jetzt müssen wir schnell los. Können nicht warten. Wir können nicht warten. Und sie häuften ihre alten Sachen in den Höfen auf und zündeten sie an. Sie standen da und sahen zu, wie die Sachen brannten, und dann luden sie hastig ihre Wagen voll und fuhren davon, in den Staub hinein. Und als die Wagen längst verschwunden waren, hing der Staub noch immer in der Luft.
10 Nachdem der Lastwagen abgefahren war, beladen mit Geräten, mit schweren Werkzeugen, mit Betten und Matratzen, mit allen beweglichen Gegenständen, die 164
verkauft werden konnten, lungerte Tom auf der Farm herum. Er lief in die Scheune, in die leeren Ställe, in den Geräteschuppen, sah sich an, was zurückgeblieben war, drehte mit dem Fuß den zerbrochenen Zahn einer Mähmaschine um. Er suchte Plätze auf, an die er sich erinnerte. Den Hausfirst, wo die Schwalben ihre Nester hatten, den Weidenbaum am Schweinestall. Zwei Ferkel grunzten und schnüffelten ihn durch den Zaun hindurch an, zwei schwarze kleine Schweine, die sich faul und zufrieden in der prallen Sonne aalten. Und dann war sein Pilgergang zu Ende, und er setzte sich auf die Treppenstufe, auf der jetzt der Schatten lag. Hinter ihm machte Mutter sich in der Küche zu schaffen. Sie wusch in einem Eimer Kinderkleider aus, und von ihren starken gefleckten Armen tropfte der Seifenschaum herab. Sie hörte auf zu rumpeln, als er sich hinsetzte. Sie sah ihn lange an, obwohl sie nur seinen Hinterkopf sehen konnte, denn er saß vor ihr und blickte hinaus in die Sonne. Und dann machte sie sich wieder ans Rumpeln. Sie sagte: »Tom, ich hoffe, es ist auch alles so in Kalifornien, wie die Leute sagen.« Er wandte sich um und blickte sie an. »Wie kommst du darauf, daß es vielleicht nicht so ist?« fragte er. »Ach – ich weiß nicht. Kommt mir zu schön vor, irgendwie. Ich habe die Handzettel gesehen, wo die Leute verteilen, und wieviel Arbeit es da gibt und die hohen Löhne und alles. Und dann habe ich in der Zeitung gelesen, daß sie Leute brauchen zum Pflücken von Trauben und Orangen und Pfirsichen. Das ist hübsche Arbeit, Tom, Pfirsiche pflücken. Selbst wenn man keine essen 165
darf, kann man doch sicher hier und da mal einen einstecken, der nicht ganz gut ist. Und unter den Bäumen im Schatten zu arbeiten ist auch schön. Ich habe Angst vor etwas, was so schön ist. Ich habe kein Zutrauen. Ich habe Angst, es ist gar nicht alles so schön.« Tom sagte: »Jauchze niemals himmelhoch, so bist du auch nie zu Tode betrübt.« »Jaja, das ist richtig. Das ist doch die Heilige Schrift, nicht wahr?« »Ich glaube, ja«, sagte Tom. »Ich kann die Heilige Schrift gar nicht mehr richtig unterscheiden, seit ich so ’n Buch gelesen habe, das ›Die Eroberung der Barbara Worth‹ geheißen hat.« Ein Lächeln lag um seine harten Lippen. Mutter lachte leise, hob die triefenden Kleider aus dem Eimer und stieß sie wieder hinein. Sie wrang Overalls und Hemden aus, und die Muskeln ihrer Oberarme traten hervor. »Der Vater von deinem Vater hat dauernd was aus der Heiligen Schrift gesagt. Aber er hat’s auch immer durcheinandergebracht. Bei ihm war’s der ›Doktor-Miles-Kalender‹, womit er’s verwechselt hat. Er hat jedes Wort aus diesem Kalender laut vorgelesen – Briefe von Leuten, wo nicht schlafen konnten oder lahme Rücken hatten. Und später hat er’s dann den Leuten als Beispiel gegeben und gesagt: ›Das ist ein Gleichnis aus der Bibel.‹ Dein Vater und Onkel John haben ihn sehr geärgert, wenn sie dann gelacht haben.« Sie häufte die ausgewrungene Wäsche auf den Tisch. »Die Leute sagen, es ist zweitausend Meilen, wo wir hinwollen. Was glaubst du, wie weit es ist? Ich hab’s auf ’ner Karte gesehen. Da 166
sind hohe Berge, wo wir durch müssen. Wie lange, glaubst du, müssen wir fahren, Tommy?« »Ich weiß nicht«, sagte er. »Zwei Wochen, vielleicht zehn Tage, wenn wir Glück haben. Aber hör mal, Mutter, du darfst dir keine Sorgen machen. Ich will dir sagen, wie man’s macht, wenn man im Kittchen ist. Man darf nicht dran denken, wann man rauskommt. Sonst wird man verrückt. Man darf nur an den einen Tag denken und an den nächsten Tag und vielleicht noch an Samstag. Das ist alles, was man tun darf. Die Langjährigen machen’s jedenfalls so. Ein junger Kerl, der wo neu kommt, schlägt seinen Schädel gegen die Zellentür und denkt an nichts anderes, als wie lange er’s noch aushalten muß. Nur an den einen Tag denken – das ist das Richtige. Weshalb machst du’s nicht auch so?« »Das ist ’ne gute Idee«, sagte sie und füllte ihren Eimer mit heißem Wasser, das sie vom Herd holte, und warf die schmutzigen Kleider hinein und tauchte sie unter. »Ja, das ist ’ne gute Idee. Aber ich denke doch auch gerne dran, wie’s vielleicht in Kalifornien sein wird. Niemals kalt. Und Obst überall, und die Leute leben dort, wo’s am schönsten ist, in kleinen weißen Häusern, mitten unter Orangenbäumen. Vielleicht, wenn wir alle Arbeit kriegen – vielleicht haben wir dann auch so ’n kleines weißes Haus. Und die Kinder brauchen dann bloß rauszulaufen und sich ’ne Orange abzupflükken. Und dann hängen die Orangen zu hoch, und sie fangen furchtbar an zu schreien.« Tom beobachtete sie beim Arbeiten, und seine Augen lächelten. »Es ist schön, sich das nur auszudenken. Ich 167
habe einen Mann gekannt, der war aus Kalifornien. Der hat ganz anders gesprochen wie wir. Man hätte glauben können, er ist von sehr weit her, so, wie er gesprochen hat. Aber er hat gesagt, daß da gerade jetzt sehr viele Leute Arbeit suchen. Und er hat gesagt, die Leute, wo Obst pflücken, leben in dreckigen alten Camps und haben kaum genug zu essen. Er sagt, die Löhne sind niedrig, und man hat Glück, wenn man überhaupt was kriegt.« Ein Schatten fiel über ihr Gesicht. »Ach, das stimmt nicht«, sagte sie. »Dein Vater hat so ’nen gelben Handzettel, auf dem steht, daß sie Leute zum Arbeiten brauchen. Sie würden sich doch nicht die Mühe machen, wenn’s nicht viel Arbeit gäbe. Kostet sie doch Geld, diese Handzettel zu machen. Und was wollen sie lügen, wenn das Lügen auch noch Geld kostet?« Tom schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, Mutter. Es ist natürlich schwer zu sagen, warum sie’s gemacht haben. Vielleicht …« Er blickte hinaus in die heiße Sonne, die auf die rote Erde schien. »Vielleicht was?« »Vielleicht ist’s wirklich so schön, wie du sagst. Wo ist denn Großvater hin? Und wo ist der Prediger?« Mutter ging aus dem Haus, die Arme hoch beladen mit Wäschestücken. Tom rückte zur Seite, um sie vorbeizulassen. »Der Prediger hat gesagt, er läuft ’n bißchen herum. Großvater schläft hier im Haus. Er kommt jetzt manchmal am Tag rein und legt sich hin.« Sie ging zur Wäscheleine und begann, verblichene blaue Hosen und Hemden und graues Unterzeug aufzuhängen. 168
Tom hörte hinter sich schlurfende Schritte und drehte sich um. Großvater kam aus dem Schlafzimmer und fingerte, wie am Morgen, an seinen Hosenknöpfen herum. »Ich habe euch reden gehört«, sagte er. »Ihr Schweine könnt einen doch nicht in Ruhe schlafen lassen. Wenn ihr erst mal trocken hinter den Ohren seid, lernt ihr’s vielleicht, daß so ’n alter Kerl wie ich schlafen muß.« Seinen zittrigen Fingern gelang es, die einzigen beiden Knöpfe seines Hosenlatzes, die zugeknöpft gewesen waren, wieder aufzuknöpfen. Und seine Hand vergaß, was sie eigentlich hatte tun wollen, und fuhr in die Hose hinein und kratzte darin herum. Mutter kam mit nassen Händen ins Haus, die Hände waren rot und angeschwollen von heißem Wasser und Seife. »Ich dachte, du schläfst. Komm her, laß dich zuknöpfen.« Und obwohl er sich weigerte, hielt sie ihn fest und knöpfte sein Unterzeug, sein Hemd und seinen Hosenlatz zu. »So, nun lauf ein bißchen spazieren«, sagte sie und ließ ihn gehen. Und er sprudelte ärgerlich hervor: »Weit ist’s mit einem gekommen – sehr weit –, wenn man sich schon die Hosen zuknöpfen lassen muß. Ich lasse mir von niemand die Hosen zuknöpfen.« Mutter sagte neckend: »In Kalifornien lassen sie die Leute aber nicht unzugeknöpft rumlaufen.« »So – das machen sie nicht, sagst du? Ich werd’s ihnen schon zeigen. Die glauben wohl, sie können mir beibringen, wie ich mich benehmen soll! Ich laufe ganz offen und ohne überhaupt welche Knöpfe rum, wenn’s mir gefällt!« 169
Mutter sagte: »Seine Sprache scheint jedes Jahr schlimmer zu werden.« Der alte Mann stieß sein Stoppelkinn vor und betrachtete Mutter mit seinen boshaften lustigen Augen. »Jawoll«, sagte er, »jetzt werden wir ja nun bald losfahren. Und guter Gott – diese Trauben da unten, die bis über die Straße hängen! Weißt du, was ich mache? Ich pflücke mir ’nen ganzen Waschtrog voll Trauben, und dann setze ich mich rein und rutsche drin rum und lasse mir den Saft die Hose runterlaufen.« Tom lachte. »Ja, Großvater ist nicht umzubringen«, sagte er. »Also, du bist entschlossen, mitzufahren, Großvater?« Der alte Mann zog eine Kiste heraus und ließ sich schwer darauf nieder. »Jawoll«, sagte er. »Und zwar verdammt bald. Mein Bruder ist vor vierzig Jahren da runtergegangen. Ich habe nie ein Wort von ihm gehört. War so ein aalglatter Bursche, mein Bruder. Niemand hat ihn leiden gekonnt. Außerdem ist er mit meinem Colt durchgegangen. Aber wenn ich jetzt mal auf ihn oder seine Kinder stoße, wenn er überhaupt welche hat da unten in Kalifornien, dann frage ich ihn nach dem Colt. Aber wie ich ihn kenne, hat er seine Kinder, wenn er welche gemacht hat, andern Leuten untergeschoben, die sie nun wo großziehen. Jedenfalls freue ich mich, hier rauszukommen. Ich habe so ’n Gefühl, als würd’ ich ’n ganz andrer Kerl werden. Und dann geh’ ich gleich Obst pflücken.« Mutter nickte. »Er meint’s ernst«, sagte sie. »Er hat hier auch gearbeitet bis vor drei Monaten, wie ihm die Hüfte zum letztenmal rausgerutscht ist.« 170
»Jawoll«, sagte Großvater. Tom blickte von seinem Sitz auf der Treppenstufe nach draußen. »Da kommt der Prediger – da von hinten um den Schuppen herum.« Mutter sagte: »Das war der komischste Segen, den ich je gehört habe, wo er heute früh gesprochen hat. Eigentlich war’s gar kein richtiger Segen. Er hat nur geredet, aber es hat doch geklungen wie ein Segen.« »Er ist ’n komischer Bursche«, sagte Tom. »Redet die ganze Zeit merkwürdiges Zeug. Scheinbar spricht er immer zu sich selbst.« »Und dann der Ausdruck, den er in den Augen hat«, sagte Mutter. »Er sieht ganz getauft aus. Er hat den Blick, von dem man sagt, er geht durch. Jaja, er sieht getauft aus. Und dann läuft er immer mit dem Kopf gesenkt und sieht nichts andres an wie den Boden. Der Mann ist wirklich getauft.« Und sie schwieg, denn Casy näherte sich der Tür. »Du wirst ’nen Sonnenstich kriegen, wenn du so rumläufst«, sagte Tom. »Hm, ja – vielleicht«, erwiderte Casy, und dann wandte er sich plötzlich an sie alle, an Mutter und Großvater und Tom. »Ich muß mit nach Westen. Unbedingt. Und ich habe mir überlegt, ob ich mit euch kommen kann.« Und dann stand er da, verlegen über seine eigene Rede. Mutter sah zu Tom hinüber und erwartete, daß er etwas sagen würde, weil er doch ein Mann war, aber Tom sagte nichts. Sie hatte ihm die Chance gegeben, die ihm zustand, und dann begann sie: »Aber natürlich, wir 171
würden uns freuen. Allerdings kann ich’s jetzt noch nicht sagen. Vater meint, die Männer wollen heute abend sprechen und sehen, wann wir losfahren. Ich glaube, wir sagen lieber noch nichts, bis die Männer kommen. John und Vater und Noah und Tom und Großvater und Al und Connie – die werden sich zusammensetzen, sowie sie zurück sind. Aber wenn wir Platz haben, glaube ich, werden wir uns alle freuen, wenn Sie mitkommen.« Der Prediger seufzte. »Ich würde sowieso gehn«, sagte er. »Es passiert was. Ich bin da raufgegangen und habe geschaut, und die Häuser sind alle leer, und die Felder sind leer, und unser ganzes Land ist leer. Ich kann nicht mehr bleiben. Ich muß dorthin, wo die Leute hingehen. Ich will auf den Feldern arbeiten – dann bin ich vielleicht glücklich.« »Und du willst nicht predigen?« fragte Tom. »Nein, ich will nicht predigen.« »Und Sie wollen auch nicht taufen?« fragte die Mutter. »Nein, ich will auch nicht taufen. Ich will in den Feldern arbeiten, in den grünen Feldern, und ich will nahe bei den Leuten sein. Und ich will auch gar nicht versuchen, sie was zu lehren. Ich will selber lernen. Ich will lernen, weshalb die Leute im Gras laufen, will hören, wie sie reden, und will hören, wie sie singen. Und ich will zugucken, wie die Kinder ihren Brei essen, und zuhören, was Mann und Frau nachts in ihren Betten machen. Ich will mit ihnen essen und will lernen.« Seine Augen waren feucht und leuchteten. »Ich will im Gras liegen, ganz offen und ehrlich, mit jeder, die mich haben 172
will. Ich will fluchen und schimpfen und die Verse hören, die die Leute sagen. Das alles ist heilig, und das alles habe ich nicht verstanden. Alle diese Dinge sind gut.« Mutter sagte: »A-men.« Der Prediger setzte sich bescheiden auf den Hackklotz neben der Tür. »Ich möchte wissen, was es zu tun gibt für einen, der so alleine ist.« Tom hustete zurückhaltend. »Für einen, der nicht mehr predigt …«, begann er. »Ach, ich bin ein Redner!« sagte Casy. »Da ist nichts dran zu ändern. Aber ich predige nicht mehr. Predigen ist, den Leuten Geschichten erzählen. Ich frage sie. Das ist doch nicht Predigen, was?« »Ich weiß nicht«, sagte Tom. »Predigen ist ein besonderer Ton in der Stimme, und Predigen ist ’ne besondere Art, die Dinge anzusehen. Predigen ist gut sein zu Leuten, wenn sie einen dafür umbringen wollen. Letzte Weihnachten in McAlester ist die Heilsarmee gekommen und hat uns was vorgespielt. Drei volle Stunden Musik, und wir haben dagesessen und zugehört. Sie waren nett zu uns. Aber wenn einer von uns versucht hätte rauszulaufen, wären wir allesamt wild geworden. Das ist Predigen. Jemand was Gutes tun, dem’s schlecht geht und der dir’s nicht bezahlen kann. Nein, du bist kein Prediger. Du sitzt nicht hier und machst Heilsarmeemusik.« Mutter warf ein paar Stöcke in den Herd. »Ich will euch was zu essen machen, aber es ist nicht viel.« Großvater schleppte seine Kiste vor die Tür und setzte sich darauf und lehnte sich gegen die Wand, und auch 173
Tom und Casy lehnten sich gegen die Wand. Und bald warf das Haus seinen nachmittäglichen Schatten. Am späten Nachmittag kam der Lastwagen zurück, er holperte und ratterte durch den Staub, eine Schicht von Staub lag bereits in dem Lastwagenaufsatz, und die Motorhaube war mit Staub bedeckt, und die Scheinwerfer waren von rotem Mehl verdunkelt. Die Sonne ging unter, als der Lastwagen zurückkam, und die Erde war blutig im sinkenden Licht. Al saß über das Steuerrad gebeugt, stolz und ernst und tüchtig, und Vater und Onkel John, als die ehrbaren Häupter der Familie, nahmen die Ehrensitze neben dem Fahrer ein. Hinten im Aufsatz, sich an den Seitenwänden festhaltend, standen die anderen, die zwölfjährige Ruthie und der zehnjährige Winfield, wild und mit verschmierten Gesichtern, die Augen müde, aber aufgeregt, die Finger und Mundwinkel schwarz und klebrig von den Lakritzenstangen, die sie sich in der Stadt von ihrem Vater erbettelt hatten. Ruthie, die ein richtiges Kleid aus rosa Musselin anhatte, das ihr bis unter die Knie ging, war bereits ein wenig ernst im Bewußtsein ihrer Damenhaftigkeit. Aber Winfield war noch ein rechter Lausebengel, der hinter der Scheune sitzt und heimlich gesammelte Zigaretten raucht. Und während Ruthie die Kraft, die Verantwortlichkeit und Würde ihrer sich entwickelnden Brüste spürte, war Winfield wild und tolpatschig, wie ein kleines Kalb. Neben ihnen stand Rose von Sharon. Sie balancierte, auf den Ballen ihrer Füße wippend, und fing jeden Stoß in Knien und Schenkeln auf. Denn Rose von Sharon war schwanger und vorsichtig. Ihr Haar, geflochten und 174
rund um den Kopf gewunden, bildete eine aschblonde Krone. Ihr rundes, weiches Gesicht, das noch vor ein paar Monaten wollüstig und einladend gewesen war, trug bereits jenen in Schranken weisenden Ausdruck der Schwangerschaft, das genügsame Lächeln, den wissenden Blick, und ihr rundlicher Körper – die vollen weichen Brüste und der Bauch, die harten Hüften und strammen Schenkel, die sie so freimütig und provozierend gewiegt hatte, wie einladend zum Streicheln und zum Klapsen –, ihr ganzer Körper war ehrbar geworden und ernst. All ihr Denken und Handeln war nach innen gerichtet auf das Kind. Sie balancierte jetzt auf den Zehen, um des Kindes willen. Und die ganze Welt war schwanger für sie – sie dachte nur noch an Fortpflanzung und Mutterschaft. Connie, ihr neunzehnjähriger Mann, der ein rundliches, leidenschaftlich-wildes Mädchen geheiratet hatte, war noch immer ein wenig beängstigt und verwirrt über die Veränderung, die mit ihr vorgegangen war; denn jetzt gab es keine Kämpfe mehr im Bett, kein Beißen und Kratzen mit verhaltenem Kichern und schließlich mit Tränen. Da war ein ausgeglichenes, vorsichtiges, kluges Wesen, das ihn scheu, aber sehr bestimmt anlächelte. Connie war stolz auf Rose von Sharon und hatte zugleich Angst um sie. Wann immer er konnte, legte er seine Hand auf sie und stellte sich neben sie, so daß sein Körper sie an Hüfte und Schulter berührte, und er fühlte, daß er auf diese Weise eine Verbindung hielt, die er sonst womöglich verlieren würde. Er war ein magerer junger Mann mit scharfem Gesicht, der aus Texas stammte, und seine hellblauen Augen 175
waren manchmal gefährlich, manchmal freundlich, und manchmal hatten sie Angst. Er war ein guter Arbeiter und würde auch ein guter Ehemann sein. Er trank genug, aber nicht zu viel; er schlug sich, wenn es von ihm verlangt wurde, und er prahlte nie. In einer Versammlung saß er still da und sagte nichts, und dennoch bemerkte man seine Gegenwart und erkannte ihn. Wäre Onkel John nicht fünfzig Jahre alt gewesen und damit auf ganz natürliche Weise eines der Familienhäupter, so hätte er es vorgezogen, nicht auf dem Ehrenplatz neben dem Fahrer zu sitzen. Er hätte es lieber gesehen, wenn Rose von Sharon dort gesessen hätte. Das war unmöglich, weil sie jung und außerdem eine Frau war. Aber Onkel John fühlte sich unbehaglich, seine einsamen rastlosen Augen fanden keinen rechten Frieden und sein magerer, zäher Körper keine Ruhe. Fast immer schnitt die Schranke der Einsamkeit Onkel John von Menschen und Gelüsten ab. Er aß wenig, trank nichts und hatte keine Frau. Aber unter der Oberfläche wuchsen seine Gelüste und schwollen an, bis sie eines Tages durchbrachen. Dann aß er irgendwelches erbetteltes Zeug, bis ihm schlecht wurde, oder er trank Jake und Whisky, bis er nur noch ein zitternder Paralytiker war mit roten Triefaugen, oder er gierte lüstern nach irgendeiner Hure in Sallisaw. Man erzählte von ihm, daß er einmal nach Shawnee gegangen war, sich drei Huren zu gleicher Zeit mit ins Bett genommen und eine Stunde lang mit ihren teilnahmslosen Körpern herumgetobt hatte. Aber wenn eines seiner Gelüste gesättigt war, schämte er sich und war traurig und wieder allein. Er 176
versteckte sich vor Menschen und versuchte, durch Geschenke an alle Leute das Begangene wiedergutzumachen. Dann schlich er sich in die Häuser und legte unter die Kissen Gummibonbons für die Kinder, dann hackte er Holz und ließ sich nichts dafür bezahlen. Dann gab er alles weg, was er besaß: einen Sattel, ein Pferd, ein neues Paar Schuhe. Man konnte dann nicht mit ihm sprechen, denn er lief davon, oder wenn man ihn doch stellte, so zog er sich in sich selbst zurück und blickte einen aus verängstigten Augen an. Der Tod seiner Frau, dem Monate des Alleinseins folgten, hatte ihn mit Schuld und Scham beladen und eine Einsamkeit über ihn verhängt, die nicht zu durchbrechen war. Aber es gab Dinge, denen er nicht entfliehen konnte. Da er eines der Familienhäupter war, mußte er regieren – und jetzt mußte er eben auf dem Ehrenplatz neben dem Fahrer sitzen. Die drei Männer auf dem Vordersitz waren mürrisch, wie sie über die staubige Straße heimwärts fuhren. Al, der sich über das Steuerrad beugte, hielt seinen Blick abwechselnd auf die Straße und auf das Armaturenbrett gerichtet. Er beobachtete die Nadel des Amperemeters, die verdächtig hüpfte, den Öldruckmesser und das Thermometer. Und in seinem Kopf registrierte er alle schwachen Punkte und verdächtigen Dinge an dem Wagen. Er hörte auf das Heulen, das möglicherweise das trockene Differential war, und auf das leise Klappern der Ventile. Er hielt seine Hand auf dem Schalthebel und spürte durch ihn hindurch das sich drehende Getriebe. Dann und wann trat er vorsichtig auf die Kupplung, um 177
festzustellen, ob sie noch griff und die Kupplungsbeläge sich nicht gelockert hatten. Er mochte zeitweise ein rechtes Lotterleben führen, aber für diesen Wagen, für sein gutes Fahren und seinen einwandfreien Zustand trug er die Verantwortung. Wenn etwas schiefging, so war es seine Schuld, und obwohl niemand es aussprechen würde, so würde doch jeder – und vor allem Al selbst – wissen, daß es seine Schuld war. Und so fühlte und spürte er, beobachtete und lauschte. Sein Gesicht war ernst und verantwortungsbewußt. Und jeder achtete ihn und seine Verantwortlichkeit. Selbst Vater, der doch der Anführer war, hielt ihm manchmal den Schraubenschlüssel und führte seine Befehle aus. Sie waren alle müde auf dem Lastwagen. Ruthie und Winfield waren müde, weil sie zuviel Betrieb und Bewegung gesehen hatten, zu viele Gesichter, müde vom langen Betteln um die Lakritzenstangen und müde von der Aufregung über die Gummibonbons, die Onkel John ihnen heimlich in die Taschen geschoben hatte. Und die Männer auf dem Vordersitz waren müde und böse und verärgert, denn sie hatten für sämtliche beweglichen Gegenstände, die sie von der Farm mitgenommen, nur achtzehn Dollars gekriegt: für die Pferde, den Wagen, die Geräte und die Möbel aus dem Haus. Achtzehn Dollars. Sie hatten den Käufer bestürmt, hatten geredet, aber als sein Interesse nachzulassen schien und er ihnen sagte, er wolle das Zeug nicht um jeden Preis kaufen, hatten sie Angst bekommen. Sie hatten ihm geglaubt und sich geschlagen gegeben und hatten schließlich zwei Dollars weniger bekommen, als er anfangs geboten. Und 178
jetzt waren sie erschöpft und verängstigt, weil sie gegen etwas angestürmt waren, was sie nicht verstanden hatten und sie dann auch geschlagen hatte. Sie wußten, daß der Wagen und das Gespann viel mehr wert waren. Sie wußten, daß der Käufer auch viel mehr dafür kriegen würde, aber sie wußten nicht, wie sie es hätten anstellen sollen, Handeln war ein Geheimnis für sie. Al, dessen Augen ständig von der Straße zum Armaturenbrett wanderten, sagte: »Der Kerl war nicht von hier. Er hat nicht so geredet, als wär’ er von hier.« Und Vater erklärte: »Wie ich in dem Eisenwarengeschäft war, habe ich mit ein paar Leuten gesprochen, die ich kenne. Sie sagten, diese Kerle kommen nur her, um das Zeug zu kaufen, wo wir nicht mitnehmen können, wenn wir losfahren. Sie sagen, diese Burschen machen große Geschäfte. Aber wir können nichts dran ändern. Vielleicht hätte Tommy mitkommen sollen. Der hätte es vielleicht besser gemacht.« John sagte: »Aber der Mann hätt’ es ja nicht genommen. Und was sollen wir denn mit dem Zeug machen? Wieder mit heim nehmen? Nee, mein Lieber.« »Die Leute, wo ich gesprochen habe, sagen, diese Kerle machen das immer so«, erklärte Vater. »Sie machen einem damit Angst. Wir wissen einfach nicht, wie man so was anpacken muß. Mutter wird enttäuscht sein. Wütend und enttäuscht.« »Was meinst du, wann wir losfahren können?« »Ich weiß nicht. Wir werden’s heute abend besprechen und dann sehen. Ich bin froh, daß Tom zurück ist. Das ist doch ein sicheres Gefühl. Und Tom ist ein feiner Kerl.« 179
Al sagte: »Vater, da haben vorhin ein paar Burschen über Tom gesprochen und gesagt, er hat Bewährungsfrist. Und sie behaupten, das heißt, daß er nicht aus dem Staat raus kann, und wenn er doch geht, dann verhaften sie ihn und sperren ihn seine restlichen Jahre ein.« Vater machte ein beunruhigtes Gesicht. »So, das haben sie gesagt? Und waren das welche, die was davon verstehen? Oder haben sie nur so gequatscht?« »Ich weiß nicht«, sagte Al. »Sie haben einfach darüber geredet, und ich habe nichts davon gesagt, daß er mein Bruder ist. Ich habe nur dagestanden und zugehört.« »Lieber Gott«, sagte Vater, »ich hoffe, es ist nicht wahr! Wir brauchen Tom. Ich werde ihn fragen. Wir haben genug Schwierigkeiten, auch ohne daß sie hinter ihm her sind. Ich hoffe, es ist nicht wahr. Wir müssen das heute abend besprechen.« Onkel John sagte: »Tom wird’s schon wissen.« Sie verfielen wieder in Schweigen, und der Wagen ratterte über die Straße. Der Motor machte großen Lärm, von Zeit zu Zeit war ein Klappern zu hören, und die Bremsgestänge schlugen irgendwo an. Die Räder knarrten, und eine dünne Dampfsäule stieg aus dem Loch im Kühlerverschluß auf. Der Wagen zog mächtige Wolken von rotem Staub hinter sich her. Sie holperten die letzte kleine Anhöhe hinauf, als die Sonne noch zur Hälfte über dem Horizont zu sehen war, und als sie am Haus vorfuhren, war sie verschwunden. Die Bremsen kreischten beim Anhalten, und der Laut prägte sich in Als Kopf ein – kein Bremsbelag mehr drauf. Ruthie und Winfield kletterten über die Seitenwände 180
und sprangen auf den Boden. Sie schrien: »Wo ist er denn? Wo ist Tom?« Dann sahen sie ihn neben der Tür stehen und hielten verlegen inne und gingen langsam auf ihn zu und blickten ihn schüchtern an. Und als er sagte: »Hallo, wie geht’s euch denn – euch beiden?«, erwiderten sie leise: »Hallo! Gut!« Und sie standen in einiger Entfernung und sahen ihn verstohlen an, ihren großen Bruder, der einen Mann umgebracht hatte und im Gefängnis gewesen war. Und sie dachten daran, wie sie im Hühnerstall Gefängnis gespielt und sich darum gestritten hatten, wer der Gefangene sein sollte. Connie Rivers hob die hohe Rückwand des Lastwagens heraus, sprang hinunter und half Rose von Sharon beim Aussteigen. Sie ließ es gnädig geschehen, lächelte ihr kluges, genügsames Lächeln, und ihr Mund hatte einen stolzen, ein wenig eingebildeten Ausdruck. Tom sagte: »He, das ist doch Rosasharn! Ich habe ja gar nicht gewußt, daß du mitkommst.« »Wir sind grade losgelaufen«, sagte sie, »und da ist der Lastwagen gekommen und hat uns mitgenommen.« Sie machte eine kleine Pause und fuhr dann fort: »Das ist Connie, mein Mann.« Und es war ganz groß, wie sie das sagte. Die beiden schüttelten sich die Hände, sie maßen einander, und ein jeder blickte tief in den anderen hinein, und sie waren befriedigt voneinander, und Tom sagte: »Hm – ich sehe, ihr seid nicht faul gewesen.« Sie blickte an sich herab. »Man sieht doch nichts? Noch nicht.« »Mutter hat’s mir erzählt. Wann soll’s denn passieren?« »Ach, noch lange nicht. Erst im Winter.« 181
Tom lachte. »Dann wirst du ihn wohl auf ’ner Orangenfarm zur Welt bringen, was? In so ’nem weißen Haus mit lauter Orangenbäumen drumrum.« Rose von Sharon befühlte ihren Bauch mit beiden Händen. »Nein, man sieht nichts«, sagte sie und lächelte selbstzufrieden und ging ins Haus. Es war ein heißer Abend, und am westlichen Horizont flutete noch immer blendendes Licht auf. Ohne irgendein Zeichen versammelte sich die Familie am Lastwagen, und der Kongreß, die Familien-Regierung, begab sich zur Sitzung. Der Schein des Abendlichtes ließ die rote Erde erglänzen, und ihre Dimensionen wurden vertieft. Ein Stein, ein Pfosten, ein Gebäude hatten größere Tiefen und schienen greifbarer zu sein als bei Tageslicht, und die Dinge wurden gegenständlicher – ein Pfosten war viel wirklicher als ein Pfosten, er hob sich von der Erde ab, in der er steckte, oder von dem Kornfeld, in dem er stand. Und die Pflanzen waren Lebewesen, einzelne Lebewesen, nicht mehr die Masse von Gewächs, und der zerzauste Weidenbaum war ganz er selbst und hob sich von allen anderen Weidenbäumen ab. Die Erde trug auch zum Licht des Abends bei. Die Front des grauen ungestrichenen Hauses, die dem Westen zugewandt war, leuchtete farblos wie der Mond. Der graue Lastwagen im Hofe vor der Tür zeichnete sich geheimnisvoll ab in diesem Licht, in der verzeichneten Perspektive eines Stereoptikons. Auch die Menschen waren verändert am Abend. Sie waren stiller geworden und schienen Teil einer Organisation des Unbewußten zu sein. Sie gehorchten Impulsen, 182
die sie selbst nur schwach in ihren denkenden Köpfen verzeichneten. Ihre Blicke waren nach innen gerichtet und ruhig, und ihre Augen glänzten vom Abendlicht, glänzten in ihren staubigen Gesichtern. Die Familie versammelte sich an dem allerwichtigsten Platz – in der Nähe des Wagens. Das Haus war tot, und die Felder waren tot, aber dieser Wagen war etwas Aktives, war das Lebensprinzip. Der alte Hudson mit seinem zerbeulten und zerkratzten Kühlergitter, mit Fett in staubigen Kügelchen an den Ecken eines jeden sich bewegenden Teils, mit den fehlenden Radkappen, deren Stellen jetzt Kappen aus rotem Staub einnahmen – dieser alte Wagen war der neue Herd, das Lebenszentrum der Familie, halb Personenwagen, halb Lastwagen, hochrädrig und ungeschickt. Vater ging um ihn herum, betrachtete ihn von allen Seiten und hockte sich dann in den Staub und suchte sich ein Stöckchen zum Zeichnen. Der eine Fuß war am Boden ausgestreckt, der andere ruhte, leicht hochgezogen, auf der Ferse, so daß das eine Knie höher war als das andere. Der linke Unterarm lag auf dem niedrigeren, dem linken Knie, und der rechte Ellbogen wurde auf das rechte Knie gestützt, und die Hand formte sich zu einer Stütze für das Kinn. So hockte Vater da, betrachtete den Wagen und stützte das Kinn in die Hand. Und Onkel John kam langsam auf ihn zu und hockte sich neben ihn. Ihre Augen waren nachdenklich. Großvater kam aus dem Haus und sah die beiden dort hocken, kam mit seinen ruckartigen Schritten durch den Hof und setzte sich auf das Trittbrett des Wagens, ihnen gegenüber. 183
Und das war das Zeichen zum Anfang. Tom und Connie und Noah kamen herangeschlendert und hockten sich auf den Boden, und die Versammlung bildete somit einen Halbkreis, in dessen Öffnung Großvater saß. Und dann kam Mutter aus dem Haus, und Großmutter kam mit ihr, und hinter ihr erschien Rose von Sharon, die mit vorsichtigen, wiegenden Schritten ging. Sie nahmen ihre Plätze hinter den hockenden Männern ein, sie standen aufrecht und stemmten die Hände in die Hüften. Und die Kinder, Ruthie und Winfield, hüpften neben den Frauen von einem Fuß auf den anderen, sie gruben ihre Zehen in den roten Sand, aber sie schwiegen und verhielten sich ganz still. Nur der Prediger war nicht da. Er hatte sich hinter dem Haus auf die Erde gesetzt. Er war ein guter Prediger und kannte seine Leute. Das Abendlicht wurde weicher, und für eine Weile saß und stand die Familie schweigend da. Dann begann Vater seinen Bericht. Er wandte sich an keinen im besonderen, sondern an die ganze Gruppe. Er sagte: »Wir sind elend reingelegt worden mit dem Zeug, was wir verkauft haben. Der Kerl hat gewußt, wir können nicht warten. Wir haben nur achtzehn Dollars gekriegt.« Mutter machte eine unwillige Bewegung, aber sie schwieg. Noah, der älteste Sohn, fragte: »Wieviel haben wir denn nun alles in allem?« Vater malte Zahlen in den Staub und murmelte einen Augenblick lang vor sich hin. »Hundertvierundfünfzig«, sagte er. »Aber Al meint, wir brauchen noch bessere Reifen. Diese hier halten nicht lange, meint er.« Al nahm an diesem Abend zum erstenmal an der 184
Konferenz teil. Vorher hatte er immer hinten bei den Frauen gestanden. Und jetzt erstattete er feierlich Bericht: »Es ist ’ne alte und gewöhnliche Karre«, sagte er gewichtig. »Ich habe sie genau untersucht, eh’ wir sie gekauft haben. Was der Kerl uns Großartiges erzählt hat, habe ich gar nicht gehört. Ich habe meinen Finger ins Differential gesteckt, und es war kein Sägemehl drin. Auch im Getriebe war kein Sägemehl. Ich habe die Kupplung probiert und die Räder gedreht. Auch von unten habe ich mir die Karre angesehen, und das Chassis ist in Ordnung. Nichts dran gemacht – gelötet oder so. In der Batterie war ’ne Zelle kaputt – die hat er mir auswechseln müssen. Die Reifen sind Dreck, natürlich, aber sie haben ’ne gute Größe. Man kann sie überall kriegen. Er wird zwar ziemlich holpern und rattern, der Wagen, aber er verbraucht kein unnützes Öl. Und der Grund, weshalb ich gesagt habe, wir wollen ihn kaufen, ist der, daß es ein vielgefahrener Wagen ist. Die Autohöfe sind voll von Hudson Super-Sixen, und die Ersatzteile sind billig zu kriegen. Wir hätten für das Geld ’nen größeren Wagen haben können, der vielleicht mehr hergemacht hätte, aber da sind wieder die Ersatzteile schwer zu kriegen und teuer außerdem. So habe ich mir’s jedenfalls überlegt.« Diese letzte Bemerkung war sein Zugeständnis an die Familie. Er schwieg und wartete auf ihre Meinungsäußerung. Großvater war noch immer das Familienoberhaupt, aber er regierte nicht mehr. Seine Stellung war eine Ehrensache, und es war Brauch, daß er sie beibehielt. Aber er hatte das Recht, sich als erster zu äußern, ganz gleich, 185
wie töricht sein alter Kopf auch sein mochte. Und die hockenden Männer und die stehenden Frauen warteten auf ihn. »Du bist schon ganz richtig so, wie du bist, Al«, sagte Großvater. »Wie ich ein Bengel war wie du, habe ich genauso rumgelumpt. Aber wenn was zu tun war, habe ich’s getan. Du bist ganz richtig so, Al.« Er schloß mit diesen Worten, die fast wie ein Segen klangen, und Al wurde vor Freude ein wenig rot. Vater sagte: »Ja, mir kommt’s auch vor, als wäre mit dem Wagen alles in Ordnung. Wenn’s Pferde wären, brauchten wir Al nicht. Aber Al ist ja der einzige hier, wo was von Autos versteht.« Tom sagte: »Ich verstehe auch ’n bißchen. Ich hab’s in McAlester gelernt. Al hat recht. Das mit dem Wagen hat er gut gemacht.« Und Al errötete über das Lob. Tom fuhr fort: »Ich wollte noch sagen … Ja, der Prediger, ihr wißt schon … der möchte gern mitkommen.« Er schwieg. Seine Worte waren mitten in die Gruppe der Männer und Frauen gefallen, und die Gruppe schwieg. »Er ist ein netter Kerl«, fügte Tom hinzu. »Wir kennen ihn ja auch schon lange. Manchmal redet er ’n bißchen viel, aber er redet immer vernünftiges Zeug.« Und damit hatte er der Familie den Vorschlag unterbreitet. Das Licht schwand jetzt allmählich. Mutter verließ die Gruppe und ging ins Haus, und die Männer hörten, daß sie sich am Herd zu schaffen machte. Einen Augenblick später kam sie schon zurück in den Familienrat. Großvater sagte: »Die Sache hat zwei Seiten. Früher hat’s Leute gegeben, die gesagt haben, ’n Prediger bringt Unglück.« 186
»Unserer sagt aber, er sei kein Prediger mehr«, warf Tom ein. Großvater winkte ab. »Wenn einer einmal ’n Prediger ist, dann ist er auch immer ein Prediger. Das ist was, wo er nicht loswerden kann. Dann hat’s Leute gegeben, die gesagt haben, es ist ’ne gute und ehrbare Sache, ’nen Prediger mitzunehmen. Wenn jemand stirbt, kann der Prediger ihn begraben. Wenn ’ne Hochzeit fällig ist – oder überfällig –, dann ist der Prediger da. Wenn was Kleines kommt, so hat man gleich einen im Haus, der’s tauft. Was ich bin – ich habe immer gesagt, es gibt Prediger und Prediger. Man muß sie sich nur aussuchen. Und der hier gefällt mir. Der ist gar nicht so dumm.« Vater stieß sein Stöckchen in den Staub und drehte es zwischen den Fingern, so daß es ein kleines Loch bohrte. »Aber es geht ja nicht nur darum, ob er Glück bringt oder ’n netter Kerl ist«, sagte Vater. »Wir müssen doch sehr rechnen. Es ist ’ne verdammte Sache, wenn man so rechnen muß. Aber überlegen wir doch mal. Da ist Großvater und Großmutter – das sind zwei. Und ich und John und Mutter – das macht fünf. Und Noah und Tommy und Al – acht. Rosasharn und Connie – zehn, und Ruthie und Winfield sind zwölf. Dann müssen wir die Hunde mitnehmen, denn was sollen wir sonst mit ihnen machen? Man kann doch einen guten Hund nicht erschießen, und es ist niemand mehr da, dem wir sie schenken können. Also – das macht vierzehn.« »Die Hühner nicht mitgerechnet und die beiden Schweine«, sagte Noah. 187
»Ich glaube, die Schweine salzen wir ein für unterwegs«, sagte Vater. »Wir brauchen ja Fleisch. Dann nehmen wir eben einfach die Salzfässer mit. Aber die Frage ist, ob wir alle auf den Wagen gehen – und der Prediger noch dazu. Und können wir denn noch einen außerdem ernähren?« Ohne den Kopf umzuwenden, fragte er: »Können wir das, Mutter?« Mutter räusperte sich. »Es ist nicht die Frage, ob wir’s können. Es ist die Frage, ob wir’s wollen«, sagte sie bestimmt. »Und was das ›Können‹ betrifft, so können wir gar nichts, nicht nach Kalifornien fahren und nichts. Aber was das ›Wollen‹ betrifft, so machen wir einfach, was wir wollen. Und was das ›Wollen‹ betrifft – ja, wir haben nun schon lange hier im Osten gelebt, und nie hat einer von den Joads oder von den Hazletts sagen können, daß sie jemand Essen und Unterkunft verweigert hätten, wenn er sie gebeten hat. Es hat gehässige Joads gegeben, aber so gehässig waren sie nie gewesen.« »Aber angenommen, wir haben einfach keinen Platz mehr?« warf Vater ein. Er hatte jetzt den Kopf umgedreht, um sie anzusehen, und er war beschämt. Es war ihr Tonfall gewesen, der ihn beschämt hatte. »Angenommen, wir gehen einfach nicht alle auf den Wagen drauf?« »Es ist ja auch jetzt nicht genug Platz«, sagte sie. »Es ist nicht mehr Platz wie für sechs, und zwölf sind’s sicher, die fahren müssen. Einer mehr macht da auch nichts aus, und ein Mann, wo stark und gesund ist, ist nie ’ne Last. Jedenfalls, wenn wir zwei Schweine haben und über hundert Dollars und uns dann noch überlegen, ob wir 188
einen Mann mehr ernähren können …« Sie brach ab, und Vater wandte sich wieder um. Er war geschlagen. Großmutter sagte: »Einen Prediger mitzunehmen, das ist ’ne gute Sache. Und heute morgen hat er uns ’nen hübschen Segen gesagt.« Vater blickte jeden der Anwesenden an, um abzuwarten, ob etwa noch Einwendungen gemacht würden, und dann sagte er: »Hol ihn doch rüber, Tommy. Wenn er mitkommt, dann muß er jetzt auch dabeisein.« Tom stand auf und ging zum Haus und rief: »Casy! Hallo, Casy!« Eine gedämpfte Stimme antwortete von hinter dem Hause her. Tom ging bis zur Ecke und sah den Prediger gegen die Mauer gelehnt sitzen und den blitzenden Abendstern am hellen Himmel betrachten. »Hast du mich gerufen?« fragte Casy. »Ja. Wir finden, weil du doch mitkommst mit uns, solltest du auch drüben sitzen und uns helfen, alles zu überlegen.« Casy erhob sich. Er kannte die Regierungsformen der Familien und wußte, daß er jetzt in die Familie aufgenommen worden war. Tatsächlich war seine Stellung hervorragend, denn Onkel John rückte zur Seite und machte zwischen sich und Vater für den Prediger Platz. Casy hockte sich hin, wie die anderen, dem Großvater gegenüber, der auf dem Trittbrett des Wagens thronte. Mutter ging wieder ins Haus. Das leise Kreischen der Lampenhaube war zu hören, und gleich darauf flammte in der dunklen Küche das gelbe Licht auf. Als sie den Deckel des großen Kochtopfes hob, drang der Geruch von kochendem Fleisch und Rüben aus der Tür. Sie 189
warteten, bis Mutter durch den dunkelnden Hof zurückkam, denn Mutter war ein mächtiges Mitglied im Familienrat. Vater sagte: »Wir müssen uns überlegen, wann wir losfahren. Je eher, um so besser. Was wir vorher noch machen müssen, ist – die Schweine schlachten und einsalzen und unser Zeug einpacken und aufladen. Und je schneller das geht, um so besser.« Noah pflichtete ihm bei. »Wenn wir uns beeilen, können wir morgen schon fertig sein und übermorgen in aller Frühe fahren.« »Wir können das Fleisch am Tag nicht kalt kriegen«, wandte Onkel John ein. »Es ist nicht die Jahreszeit zum Schlachten. Das Fleisch wird uns schlecht, wenn wir’s nicht richtig auskühlen lassen.« »Gut, dann machen wir’s eben heute nacht. In der Nacht kühlt’s bestimmt genug aus. Nach dem Essen fangen wir gleich an. Haben wir genug Salz?« Mutter sagte: »Ja, wir haben viel Salz. Und zwei hübsche Fässer haben wir auch.« »Gut, dann machen wir’s also nachher«, sagte Tom. Großvater begann, herumzutasten und nach einem Handgriff zu suchen, an dem er sich hochziehen konnte. »Es wird dunkel«, sagte er. »Und ich habe Hunger. Wenn wir erst in Kalifornien sind, dann habe ich die ganze Zeit Weintrauben, wo ich von essen kann. Jawoll!« Er stand auf, und auch die anderen Männer erhoben sich. Ruthie und Winfield sprangen aufgeregt im Staub herum, wie kleine wildgewordene Tiere. Ruthie flüsterte Winfield heiser zu: »Schweineschlachten und 190
nach Kalifornien fahren. Schweineschlachten und nach Kalifornien fahren – alles zu gleicher Zeit!« Und Winfield schien dem Wahnsinn nahe zu sein. Er bohrte sich den Finger gegen die Kehle, machte ein entsetzliches Gesicht und sprang herum und schrie halblaut: »Ich bin ’n altes Schwein. Schau doch! Ich bin ’n altes Schwein. Sieh doch nur das Blut, Ruthie!« Und er taumelte und sank zu Boden und schlug schwach mit Armen und Beinen. Aber Ruthie war älter, und ihr war das Ungeheuerliche ihrer Erlebnisse bewußt. »Und nach Kalifornien fahren«, sagte sie wiederum. Und sie wußte, daß dies das größte Erlebnis ihres bisherigen Lebens war. Die Erwachsenen gingen durch die Dunkelheit in die erleuchtete Küche hinein, und Mutter setzte ihnen auf Blechtellern Fleisch und Rüben vor. Aber bevor sie selbst aß, stellte sie den großen runden Waschtopf auf den Ofen und schürte das Feuer an, daß es dröhnte. Sie schleppte Eimer voll Wasser heran, bis der große Waschtopf gefüllt war, und dann baute sie um den Topf herum die vollen Eimer auf. Die Küche wurde bald dampfig von Hitze, und die Familie aß hastig und ging dann hinaus und setzte sich auf die Treppenstufe und wartete darauf, daß das Wasser heiß würde. Sie saßen da und blickten hinaus in die Dunkelheit und auf das Rechteck von Licht, das die Küchenlampe auf den Boden vor der Tür warf und in dessen Mitte der gekrümmte Schatten Großvaters zu sehen war. Noah säuberte sich seine Zähne mit einem Strohhalm. Mutter und Rose von Sharon wuschen die Teller ab und stapelten sie auf den Tisch. 191
Und dann, ganz plötzlich, wurde die Familie tätig. Vater stand auf und brannte eine Laterne an. Noah holte aus einer Schublade in der Küche ein gebogenes Schlachtmesser und schliff es an einem abgebrauchten kleinen Carborund-Stein. Und er legte das Schabeisen auf den Hackklotz und das Messer daneben. Vater brachte zwei kräftige Stöcke an, ein jeder drei Fuß lang, und spitzte sie an den Enden an und band in der Mitte je einen kräftigen Strick dran fest. Das Wasser in den Töpfen wallte und dampfte. Noah fragte: »Wollen wir das Wasser runtertragen oder die Schweine hier raufbringen?« »Natürlich die Schweine hier raufbringen«, sagte Vater. »Hier können wir sie viel besser abbrühen. Ist das Wasser soweit?« »Gerade richtig«, sagte Mutter. »Gut. Noah, du und Tom und Al – ihr kommt mit. Ich trage die Laterne. Wir schlachten sie unten und bringen sie dann hier rauf.« Noah nahm das Messer und Al die Axt, und die vier Männer gingen hinunter zum Stall, und das Laternenlicht spielte zuckend auf ihren Beinen. Ruthie und Winfield liefen mit. Am Stall beugte Vater sich über den Zaun und hielt die Laterne hinüber. Die schläfrigen Schweine wälzten sich herum auf die Füße und grunzten mißtrauisch. Onkel John und der Prediger kamen nach, um zu helfen. »Also, los«, sagte Vater. »Wir stechen sie hier ab und lassen sie ausbluten, und dann tragen wir sie rauf zum Haus.« Noah und Tom kletterten über den Zaun. Sie verrichteten ihre Arbeit schnell und geschickt. Tom 192
schlug mit der stumpfen Seite seiner Axt zweimal zu, und Noah beugte sich über die betäubten Schweine, fand die große Schlagader und öffnete sie mit seinem Schlachtmesser. Dann zogen sie die Schweine über den Zaun. Der Prediger und Onkel John schleppten das eine bei den Hinterbeinen hinter sich her und Tom und Noah das andere. Vater leuchtete ihnen mit der Laterne, und das schwarze Blut hinterließ im Staub zwei lange Spuren. Am Hause angelangt, stach Noah mit seinem Messer zwischen Sehne und Knochen der Hinterbeine, die angespitzten Stöcke wurden hindurchgesteckt, um die Beine zu spreizen, und kurze Zeit darauf hingen die Schweine an den Sparren am Haus. Dann schleppten die Männer das kochende Wasser herbei und gossen es über die schwarzen Leiber. Noah schlitzte die Bäuche von einem Ende zum anderen auf, holte die Eingeweide heraus und ließ sie auf die Erde fallen. Vater spitzte noch zwei weitere Stöcke an, mit denen er die Leiber offenhalten wollte für die Luft, während Tom mit dem Schabeisen und Mutter mit einem stumpfen Messer die Borsten abkratzten. Al holte sich einen Eimer und schaufelte die Eingeweide hinein und warf sie in einiger Entfernung vom Hause auf einen Haufen. Zwei Katzen folgten ihm miauend, und die Hunde folgten ihm und knurrten die Katzen böse an. Vater saß auf der Treppenstufe und betrachtete die Schweine, die draußen im Laternenlicht hingen. Das Schaben war beendet, und nur noch ein paar Blutstropfen fielen hin und wieder hinab, in die kleine schwarze 193
Pfütze, die sich bereits am Boden gebildet hatte. Vater stand auf und trat an die Schweine heran und befühlte sie mit seiner Hand, und dann setzte er sich wieder hin. Großvater und Großmutter gingen hinüber zum Schuppen, um sich schlafen zu legen. Großvater trug die Laterne mit einer Kerze darin. Die übrigen saßen still um die Tür herum, Connie und Al und Tom auf dem Boden, die Rücken gegen die Hausmauer gelehnt, Onkel John auf einer Kiste und Vater auf der Türschwelle. Ruthie und Winfield waren jetzt müde, aber sie kämpften gegen den Schlaf. Sie stritten schläfrig miteinander draußen in der Dunkelheit. Noah und der Prediger hockten Seite an Seite, dem Haus gegenüber. Vater kratzte sich nervös, nahm seinen Hut ab und fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. »Morgen salzen wir gleich ganz früh das Schweinefleisch ein, und dann laden wir den Wagen voll – nur die Betten lassen wir noch draußen –, und am nächsten Morgen geht’s los. Ist kaum ein Tag Arbeit, alles zusammen«, sagte er. Tom warf ein: »Wir werden den ganzen Tag rumlungern und nichts zu tun haben.« Sie schienen alle ein wenig unruhig zu werden. »Wir könnten mit allem fertig sein, wenn’s Tag wird, und dann gleich losfahren«, schlug Tom vor. Vater rieb sich sein Knie mit der Hand. Jetzt hatte die Unruhe sie alle befallen. Noah sagte: »Es kann doch dem Fleisch nichts schaden, wenn wir’s jetzt gleich in Salz packen. Wir müssen’s zerschneiden, dann kühlt’s sowieso schneller aus.« Schließlich war es Onkel John, der es nicht mehr aushalten konnte und den Bann brach. »Was sitzen wir hier rum? Ich wollte, wir wären 194
schon fertig. Wenn wir nun wirklich wegfahren, weshalb fahren wir denn nicht gleich?« Und die anderen nahmen den umwälzenden Vorschlag auf. »Ja, weshalb fahren wir nicht? Schlafen können wir doch unterwegs.« Und etwas Unerklärliches trieb sie zur Eile. Vater sagte: »Die Leute meinen alle, es sind zweitausend Meilen. Das ist ’ne verdammte Reise. Jaja, wir müssen losfahren. Noah, du und ich, wir schneiden das Fleisch klein, und dann können wir all das Zeug hier auf den Wagen laden.« Mutter steckte ihren Kopf aus der Tür. »Aber wenn wir nun was vergessen, was wir in der Dunkelheit nicht sehen?« »Wir können uns ja bei Tag noch mal umgucken«, sagte Noah. Dann saßen sie still und überlegten es sich nochmals. Aber einen Augenblick später stand Noah auf und begann, mit seinem kleinen abgewetzten Stein das Schlachtmesser zu schärfen. »Mutter, räum den Tisch ab«, sagte er. Und er trat auf eines der Schweine zu, machte mit seinem Messer einen tiefen langen Schnitt am Rückgrat entlang und schälte das Fleisch. Vater erhob sich aufgeregt. »Wir müssen unser Zeug zusammenpacken«, sagte er. »Kommt, ihr andern.« Nun, da der Entschluß gefaßt war, wurden sie alle von der Eile angesteckt. Noah trug die Fleischstücke in die Küche und zerschnitt sie in kleinere Stücke zum Einsalzen. Mutter bestrich sie mit Salz und legte sie, eines nach dem anderen, in die Fässer und achtete darauf, daß die Stücke sich nicht berührten. Sie legte sie wie Ziegel195
steine nebeneinander und aufeinander und füllte die Zwischenräume mit Salz aus. Sie hielt das Feuer in Gang, und als Noah die Rippen und Rückenwirbel und Beinknochen so gut, wie es ihm möglich war, von Fleisch befreit hatte, legte sie sie in die Ofenröhre, um sie für späteres Abknabbern zu rösten. Im Hof und im Schuppen bewegten sich die Kreise der Laternenlichter hin und her, und die Männer trugen alles zusammen, was mitgenommen werden sollte, und häuften es auf den Lastwagen. Rose von Sharon brachte sämtliche Kleider heraus, die die Familie besaß: die Overalls, die abgetragenen guten Anzüge, die Sweater, die Schaffellmäntel, die dicksohligen Schuhe und die Gummistiefel. Und sie packte die Sachen in eine Kiste und stieg hinein und stampfte sie zusammen. Dann brachte sie die gemusterten Kleider und Schals heraus, die schwarzen Baumwollstrümpfe und die Kleider der Kinder – kleine Overalls und billige gemusterte Kleider – und packte sie in die Kiste und stampfte sie zusammen. Tom ging in den Werkzeugschuppen und holte die Werkzeuge, die mitgenommen werden mußten – eine Handsäge und einen Satz Schraubenzieher, einen Hammer und eine Büchse aussortierter Nägel, eine Zange und eine flache Feile und einen Satz Rundfeilen. Und Rose von Sharon schleppte ein großes Stück Persenning heraus und breitete es hinter dem Lastwagen auf der Erde aus. Sie quetschte sich mit den Matratzen durch die Tür, zwei doppelten Matratzen und einer einfachen. Sie stapelte sie auf die Persenning, dann holte sie das zerschlissene Bettzeug und legte es obendrauf. Mutter 196
und Noah arbeiteten geschäftig mit dem Schweinefleisch, und der Geruch der sich bräunenden Knochen drang aus der Herdröhre. Die Kinder waren eingeschlafen. Winfield lag zusammengerollt im Staub vor der Tür, und Ruthie, die sich in der Küche auf eine Kiste gesetzt hatte, um beim Schlachten zuzusehen, hatte ihren Kopf gegen die Wand sinken lassen. Sie atmete unbeschwert im Schlaf, und ihre Lippen waren ein wenig geöffnet. Tom war mit den Werkzeugen fertig, er kam mit seiner Laterne in die Küche, und der Prediger folgte ihm. »Guter Gott«, rief er, »riech doch nur – das Fleisch! Und hörst du, wie’s brutzelt im Herd?« Mutter legte noch immer Fleischstücke in ein Faß, streute Salz um die einzelnen Stücke herum und bedeckte die Schicht mit Salz und klopfte und drückte das Ganze zusammen. Sie blickte auf zu Tom und lächelte ihn leise an, aber ihre Augen waren ernst und müde. »Ist schön, daß wir Schweineknochen zum Frühstück haben«, sagte sie. Der Prediger trat neben sie. »Lassen Sie mich doch das Fleisch einsalzen«, sagte er. »Ich kann’s auch. Und Sie haben noch andres zu tun.« Sie hielt mit ihrer Arbeit inne und betrachtete ihn mit einem seltsamen Blick, so, als habe er etwas ganz Merkwürdiges vorgeschlagen. Und ihre Hände waren von Salz verkrustet und rötlich von dem Saft des frischen Fleisches. »Das ist Frauenarbeit«, sagte sie schließlich. »Es ist alles Arbeit«, erwiderte der Prediger. »Und es gibt zu viel zu tun, um’s in Frauen- und Männerarbeit 197
zu teilen. Sie haben genug anderes zu tun. Lassen Sie mich das Fleisch einsalzen.« Noch einen Augenblick starrte sie ihn an, und dann goß sie aus einem Eimer Wasser in eine Blechschüssel und wusch sich die Hände. Der Prediger nahm die Fleischstücke und bestrich sie mit Salz, und Mutter beobachtete ihn. Dann legte er sie in die Fässer, wie sie es getan hatte. Und erst als er mit einer Schicht fertig war und sie sorgfältig mit Salz bedeckt und das Salz festgeklopft hatte, war sie befriedigt. Sie trocknete ihre gebleichten, aufgedunsenen Hände ab. »Mutter, was nehmen wir denn von diesen Sachen hier mit?« fragte Tom. Sie blickte sich rasch in der Küche um. »Die Eimer«, sagte sie. »Alles, was wir fürs Essen brauchen: die Teller und Tassen, die Löffel und Messer und Gabeln. Leg sie alle in die Schublade da und nimm die Schublade mit. Die große Bratpfanne und den großen Kessel und den Kaffeetopf. Und wenn der Bratrost im Herd abgekühlt ist, nimm ihn raus. Den können wir immer brauchen, wenn wir Feuer machen. Ich würde gerne auch den Waschtrog mitnehmen, aber ich glaube, wir haben nicht genug Platz. Ich kann ja die Wäsche im Eimer waschen. Das kleine Zeug mitzunehmen hat keinen Zweck. Man kann immer kleine Sachen in ’nem großen Kessel kochen, aber keine großen Sachen in ’nem kleinen Topf. Nimm die Bratpfannen mit – alle. Sie passen ineinander.« Sie stand da und blickte sich in der Küche um. »Nimm nur die Sachen, die ich dir gesagt habe. Ich mache dann schon das andre. Das können wir ja bis zuletzt 198
lassen.« Sie nahm eine Laterne und ging hinüber ins Schlafzimmer, und ihre nackten Füße machten kaum ein Geräusch auf dem Boden. Der Prediger sagte: »Sie sieht müde aus.« »Frauen sind immer müde«, sagte Tom. »Sind einfach so, die Frauen. Nur manchmal bei ’ner Versammlung sind sie anders.« »Ja, aber sie ist viel müder. Richtig müde, wie wenn sie krank wäre.« Mutter hatte die Tür noch nicht hinter sich geschlossen und hörte diese Worte. Langsam spannte sich ihr schlaffgewordenes Gesicht wieder, und die scharfen Falten verschwanden. In ihre Augen kam wieder Leben, und ihre Schultern richteten sich auf. Sie blickte sich in dem kahlen Raum um. Außer Gerümpel war nichts mehr da. Die Matratzen, die auf dem Boden gelegen hatten, waren schon draußen. Die Tische waren verkauft. Auf der Erde lagen ein zerbrochener Kamm, eine leere Puderbüchse und ein bißchen Mäusedreck. Mutter stellte ihre Laterne hin. Sie griff hinter eine der Kisten, die als Stühle gedient hatten, und holte eine Briefpapierschachtel hervor, die alt und geflickt und an den Ecken eingedrückt war. Sie setzte sich hin und öffnete die Schachtel. Es waren Briefe darin, Ausschnitte, Fotografien, ein Paar Ohrringe, ein kleiner goldener Siegelring, eine Uhrkette aus geflochtenem Haar, mit Goldfäden durchzogen. Sie befühlte die Briefe sanft mit ihren Fingern und glättete einen Zeitungsausschnitt, der den Bericht von Toms Prozeß enthielt. Eine lange Weile hielt sie die Schachtel auf dem Schoß und durchsuchte sie. 199
Ihre Finger brachten die Briefe durcheinander und ordneten sie dann wieder. Sie überlegte und erinnerte sich und biß sich auf die Unterlippe. Und schließlich faßte sie einen Entschluß. Sie nahm den Ring heraus und die Uhrkette und die Ohrringe und wühlte unter den Briefen und zog das Glied eines goldenen Armbands hervor. Sie nahm einen Brief aus dem Umschlag und legte die Dinge in den Umschlag hinein. Sie faltete ihn zusammen und steckte ihn in ihre Kleidertasche. Dann schloß sie sanft und zärtlich die Schachtel wieder und fuhr noch einmal tastend mit ihren Fingern über den Deckel. Ihre Lippen öffneten sich. Und dann stand sie auf, nahm ihre Laterne und ging zurück in die Küche. Sie nahm die Herdringe heraus und legte die Schachtel sorgfältig zwischen die Kohlen. Die Hitze bräunte das Papier, und eine Flamme züngelte um die Schachtel herum. Sie schloß den Herd wieder, und sofort fauchte das Feuer auf, und die Schachtel verbrannte. Draußen im Hof, im Licht der Laterne, beluden Vater und Al den Wagen. Die Werkzeuge zuunterst, aber doch in erreichbarer Nähe für den Fall einer Panne. Dann die Kisten mit den Kleidern, der Jutesack mit den Küchengegenständen und die Kiste mit den Tellern und Bestecken. Sie machten die unterste Schicht der Ladung so eben wie möglich und füllten die Zwischenräume mit zusammengerollten Decken aus. Darauf legten sie die Matratzen, und damit war der Lastwagenaufsatz bis obenhin voll. Und schließlich breiteten sie die Persenning über die Ladung, und Al bohrte in Abständen Löcher in 200
den Rand der Plane, zog Stricke durch und band sie an den Latten der Seitenwände an. »Wenn’s regnet«, sagte er, »binden wir’s an der obersten Latte fest. Dann können sie drunterkrauchen und werden nicht naß. Vorn bei uns ist es trocken.« »Das ist ’ne gute Idee«, pflichtete Vater bei. »Aber das ist noch nicht alles«, sagte Al. »Wenn ich kann, kaufe ich ’ne lange Latte. Die machen wir dann in der Mitte fest und ziehen die Plane drüber. Dann ist alles zu, und sie sitzen auch nicht so in der Sonne.« »’ne gute Idee. Weshalb hast du nicht eher dran gedacht?« »Keine Zeit gehabt«, sagte Al. »So – keine Zeit gehabt! Aber in der Gegend rumzulumpen, dazu hast du Zeit gehabt. Weiß Gott, wo du in den letzten beiden Wochen gewesen bist.« »Schließlich hat man alles in Ordnung zu bringen, eh’ man wegfährt«, sagte Al. Und dann verlor er etwas von seiner Sicherheit. »Vater«, fragte er, »freust du dich, daß wir fahren – Vater?« »Was? Ja – natürlich. Wir haben’s schwer gehabt hier. Und da unten wird alles anders sein – viel Arbeit und alles schön und grün und kleine weiße Häuser und überall Orangen.« »Wirklich überall Orangen?« »Na, vielleicht nicht überall – aber beinah.« Das erste Grau des kommenden Tages färbte den Himmel. Und die Arbeit war getan – das Fleisch war eingesalzen, und die Hühnerställe standen bereit, um aufgeladen zu werden. Mutter öffnete die Herdröhre 201
und zog den Haufen gebratener Knochen hervor, die knusprig und braun waren und noch eine ganze Menge Fleisch hatten. Ruthie war halb aufgewacht und von der Kiste heruntergerutscht und wieder eingeschlafen. Aber die Erwachsenen standen um die Tür herum und froren ein wenig und knabberten die knusprigen Knochen ab. »Ich glaube, wir sollten Großvater und Großmutter wecken«, sagte Tom. »Es wird schon Tag.« Mutter sagte: »Eigentlich möchte ich’s noch nicht – erst zuallerletzt. Sie brauchen ihren Schlaf. Ruthie und Winfield haben auch nicht richtig geschlafen.« »Ach, dazu haben sie oben auf dem Wagen noch genug Zeit«, sagte Vater. »Es ist sehr hübsch und gemütlich da oben.« Plötzlich fuhren die Hunde vom staubigen Boden auf und lauschten. Und dann schossen sie mit wildem Gebell in die Dunkelheit davon. »Was ist denn da los?« fragte Vater. Einen Augenblick später hörten sie, wie eine Stimme die Hunde beruhigte und das Bellen schwächer wurde. Dann kamen Schritte, und ein Mann erschien. Es war Muley Graves, den Hut tief ins Gesicht gezogen. Er kam schüchtern näher. »Morgen«, sagte er. »Hallo, Muley!« Vater winkte mit dem Knochen, den er gerade in der Hand hatte. »Komm doch rein, iß was mit uns.« »Nö, ich habe eigentlich keinen Hunger«, sagte Muley. »Na, komm schon, Muley. Hier, iß was!« Und Vater trat ins Haus und brachte eine Handvoll Rippen mit an. »Ich wollte euch eigentlich nichts wegessen«, sagte 202
Muley. »Ich bin nur grade hier vorbeigekommen und habe mir gedacht, ich will euch noch auf Wiedersehen sagen.« »Ja, wir fahren jetzt bald los«, sagte Vater. »In ’ner Stunde wären wir schon nicht mehr dagewesen. Ist schon alles eingepackt – siehst du?« »Alles eingepackt.« Muley blickte auf den beladenen Lastwagen. »Manchmal denke ich, ich sollte auch fahren und meine Leute suchen.« Mutter fragte: »Hast du was von ihnen gehört aus Kalifornien?« »Nein«, sagte Muley. »Nichts gehört. Aber ich bin auch nicht fragen gewesen auf der Post. Ich müßte mal hingehen.« »Al, lauf runter und weck Großvater und Großmutter«, sagte Vater. »Sag ihnen, sie sollen kommen und was essen. Wir fahren bald los.« Und als Al zum Schuppen hinüberschlenderte: »Muley, willst du dich nicht noch bei uns reinquetschen und mitkommen? Wir würden schon noch Platz für dich haben.« Muley biß ein Stück Fleisch von dem Rippenknochen herunter und kaute es. »Manchmal denke ich, ich sollte auch fahren. Aber ich weiß, ich fahre nicht«, sagte er. »Ich weiß ganz genau, im letzten Augenblick würde ich doch weglaufen und mich verstecken, wie ’n elender alter Kirchhofsgeist.« Noah sagte: »Hier draußen wirst du eines Tages einfach krepieren, Muley.« »Ich weiß. Das habe ich mir auch schon überlegt. Manchmal ist’s auch verdammt einsam, und manchmal 203
ist dann wieder alles ganz richtig und gut. Es ist ja auch ganz gleich. Aber wenn ihr meine Leute trefft – deshalb bin ich eigentlich nur gekommen –, wenn ihr irgendeinen von meinen Leuten trefft, da unten in Kalifornien, dann sagt, mir geht’s gut. Sagt ihnen, bei mir ist alles in Ordnung. Erzählt ihnen nicht, wie’s wirklich mit mir ist. Sagt ihnen, daß ich nachkomme, sowie ich Geld habe.« »Und kommst du nach?« fragte Mutter. »Nein«, sagte Muley leise. »Nein, ich komme nicht nach. Ich kann nicht weg. Ich muß jetzt hierbleiben. Es ist noch nicht lange her, da habe ich gedacht, ich würde auch fahren. Aber jetzt nicht mehr. Wenn man alleine ist, überlegt man viel, und dann weiß man vieles, was man vorher nicht gewußt hat. Ich fahre nie nach Kalifornien.« Die Dämmerung wurde heller jetzt, und das Licht der Laternen verblaßte allmählich. Al kam zurück, und neben ihm humpelte Großvater. »Er hat gar nicht geschlafen«, sagte Al. »Er hat draußen gesessen hinter dem Schuppen. Es ist irgendwas mit ihm los.« Großvaters Augen waren stumpf geworden, und die alte Boshaftigkeit war aus ihnen gewichen. »Nichts ist mit mir los«, sagte er. »Ich fahre nur nicht mit.« »Du fährst nicht mit?« fragte Vater. »Was heißt das – du fährst nicht mit? Wir haben doch alles schon gepackt. Wir müssen fort. Wir haben nichts mehr, wo wir bleiben können.« »Ich sage ja auch nicht, daß ihr bleiben sollt«, sagte Großvater. »Fahrt ihr nur ruhig los. Aber ich – ich bleibe. 204
Ich habe mir’s die ganze Nacht überlegt – oder fast die ganze Nacht. Das hier ist mein Land. Und es ist mir ganz egal, ob einem da unten die Orangen und Trauben sogar ins Bett wachsen. Ich fahre nicht mit. Das Land hier ist nicht gut, aber es ist mein Land. Nein, fahrt nur ruhig alle los. Ich bleibe hier, wo ich hingehöre.« Sie versammelten sich um ihn, und Vater sagte: »Das geht gar nicht, Großvater. Das Land hier kommt unter den Traktor. Wer soll denn für dich kochen? Wie willst du denn leben? Du kannst nicht hierbleiben. Wenn niemand da ist, wo für dich sorgt, dann verhungerst du doch!« Großvater rief: »Zum Teufel, ich bin zwar ’n alter Mann, aber ich kann noch immer für mich sorgen. Wie macht’s denn Muley? Wenn er lebt, kann ich auch leben. Ich sage euch, ich fahre nicht mit – macht, was ihr wollt. Nehmt Großmutter mit, von mir aus, aber mich nicht – und damit Schluß!« »Nun hör mal zu, Großvater«, sagte Vater hilflos. »Hör mir nur mal ’ne Minute zu.« »Ich höre nicht zu – dir nicht und wem anderen auch nicht. Ich habe dir gesagt, ich fahre nicht mit.« Tom berührte seinen Vater an der Schulter. »Vater, komm mit ins Haus. Ich will dir was sagen.« Während sie auf das Haus zugingen, rief er: »Mutter – komm mal ’nen Augenblick rein, ja?« In der Küche brannte eine Laterne, und die Schüssel mit den Schweineknochen war noch immer hoch gefüllt. Tom sagte: »Hört zu – ich weiß, Großvater hat das Recht, zu sagen, er fährt nicht mit, aber er kann doch nicht bleiben. Das wissen wir alle.« 205
»Natürlich kann er nicht bleiben«, sagte Vater. »Also paßt auf. Wenn wir ihn fangen und ihn fesseln, dann tun wir ihm womöglich weh, und er wird so wütend, daß er sich selbst verletzt. Mit ihm zu streiten hat auch keinen Zweck. Wenn wir ihn betrunken machen könnten, dann würd’ es gehen. Habt ihr Whisky?« »Nein«, sagte Vater. »Es ist nicht ein Tropfen Whisky im Hause. Und John hat auch keinen. Er hat nie welchen, wenn er nicht trinkt.« Mutter sagte: »Tom, ich habe noch ’ne halbe Flasche von der Medizin, die Winfield gekriegt hat, wie er seine Ohrenschmerzen hatte. Das war zum Beruhigen. Glaubst du, das geht? Winfield ist danach immer eingeschlafen.« »Vielleicht«, sagte Tom. »Hol’s nur, Mutter. Jedenfalls können wir’s versuchen.« »Ich habe die Flasche schon auf den Dreckhaufen geworfen«, sagte Mutter. Sie nahm die Laterne und ging hinaus, und einen Augenblick später kam sie zurück mit einer Flasche, die halb gefüllt war mit schwarzer Medizin. Tom nahm sie ihr aus der Hand und probierte die Medizin. »Schmeckt nicht schlecht«, sagte er. »Mach ihm ’ne Tasse schwarzen Kaffee, guten, starken Kaffee. Mal sehen – ein Teelöffel steht drauf. Wir geben ihm möglichst viel, sagen wir: zwei Eßlöffel.« Mutter nahm die Herdringe ab, stellte den Wasserkessel auf und maß Wasser und Kaffee ab. »Er muß aus ’ner Konservenbüchse trinken«, sagte sie. »Die Tassen sind schon alle eingepackt.« 206
Tom und sein Vater gingen wieder hinaus. »Man wird doch noch sagen können, was man will«, rief ihnen Großvater entgegen. »He, wer ißt da Schweinerippen?« »Wir haben welche gegessen«, sagte Tom. »Mutter macht dir grade ’ne Tasse Kaffee und brät ’n bißchen Fleisch für dich.« Großvater ging ins Haus und trank seinen Kaffee und aß seine Portion Fleisch. Die anderen, die draußen in der bleichen Dämmerung standen, beobachteten ihn durch die Tür. Sie sahen ihn gähnen und ein wenig schwanken, sahen, wie er seine beiden Arme auf den Tisch legte und den Kopf darauf fallen ließ und sofort einschlief. »Er war sowieso müde«, sagte Tom. »Laß ihn nur.« Nun waren sie soweit. Großmutter, nichtsahnend und unsicher, fragte: »Was ist eigentlich los? Was macht ihr denn hier in aller Herrgottsfrühe?« Aber sie war gewaschen und angezogen. Und Ruthie und Winfield waren wach, aber sie standen noch unter dem Druck der Müdigkeit und schliefen halb. Das Licht fiel jetzt schnell über das Land hernieder, und die Familie hatte aufgehört, geschäftig zu sein. Sie standen herum, und keiner wollte den ersten Schritt tun. Jetzt, da die Zeit gekommen war, fürchteten sie sich – fürchteten sich ebenso, wie Großvater sich gefürchtet hatte. Sie sahen, wie die Scheune allmählich Form annahm gegen das Licht, und sie sahen die Laternen verblassen, bis der gelbe Schein, den sie warfen, fast völlig ausgelöscht war. Nach Westen zu gingen die Sterne aus, einer nach dem anderen. Und die Joads standen herum wie Traumwandler, 207
ihre Augen erfaßten die Weite, sie sahen keine Einzelheiten, sondern die ganze Dämmerung, das ganze Land, das ganze Gewebe des Landes auf einmal. Nur Muley Graves streifte rastlos umher, blickte durch die Lattenwände in den Lastwagen hinein und befühlte die Reservereifen, die hinten am Wagen hingen. Und schließlich trat Muley zu Tom heran. »Du gehst über die Grenze?« fragte er. »Da brichst du doch deine Bewährungsfrist.« Tom schüttelte die Starrheit von sich ab. »Guter Gott, jetzt geht schon bald die Sonne auf«, sagte er laut. »Wir müssen losfahren.« Und auch die anderen verloren ihre Starrheit und gingen endlich auf den Lastwagen zu. »Kommt«, sagte Tom. »Wir müssen Großvater holen.« Vater und Onkel John und Tom und Al gingen in die Küche, wo Großvater schlief, den Kopf auf den Armen und einen Streifen von trocknendem Kaffee vor sich auf dem Tisch. Sie faßten ihn unter die Achseln und hoben ihn hoch, und er murmelte und fluchte mit dicker Stimme, gleich einem Betrunkenen. Sie schleppten ihn aus der Tür, und als sie zum Wagen kamen, kletterten Tom und Al hinauf und griffen ihm, indem sie sich herabbeugten, unter die Arme und hoben ihn sanft hinauf und legten ihn oben auf die Wagenladung. Al band die Plane auf, und sie schoben ihn darunter und stellten eine Kiste neben ihn, damit er nicht das ganze Gewicht der schweren Plane auf sich hatte. »Schade, daß wir die Mittelstange noch nicht haben«, sagte Al. »Ich werd’s heute abend machen, wenn wir 208
anhalten.« Großvater knurrte und kämpfte matt gegen das Erwachen, und als er schließlich so lag, wie er liegen mußte, fiel er wieder in tiefen Schlaf. Vater sagte: »Mutter, du setzt dich mit Großmutter erst ein Weilchen vorn zu Al. Wir wechseln dann immer ab.« Sie stiegen auf den Vordersitz, und die anderen kletterten hinauf auf die Wagenladung, Connie und Rose von Sharon, Vater und Onkel John, Ruthie und Winfield, Tom und der Prediger. Noah stand unten und blickte zu ihnen hinauf. Al lief um den Wagen herum, bückte sich und betrachtete die Federn. »Guter Gott«, sagte er, »die Federn sind verdammt flach. Gut, daß ich sie ein bißchen hochgebockt habe.« Noah sagte: »Und was machen wir mit den Hunden, Vater?« »Die habe ich ganz vergessen!« sagte Vater. Er pfiff, und einer der Hunde kam angelaufen, aber nur einer. Noah fing ihn und warf ihn hinauf, wo er dann steif und zitternd saß. »Die andern beiden müssen wir dalassen«, rief Vater. »Muley, willst du dich ein bißchen um sie kümmern? Damit sie nicht verhungern.« »Ja«, sagte Muley. »Ich freue mich, wenn ich zwei Hunde habe. Natürlich! Ich nehme sie mit.« »Nimm dir auch die Hühner«, sagte Vater. Al stieg auf den Fahrersitz. Der Starter surrte, er griff und surrte nochmals. Und dann kam das lockere Dröhnen der sechs Zylinder, und blauer Rauch drang aus dem Auspuff. »Wiedersehen, Muley«, rief Al. Und »Wiedersehen, Muley!« riefen auch die anderen. 209
Al schaltete den ersten Gang ein und kuppelte aus. Der Wagen zog an und rollte schwer durch den Hof. Und der zweite Gang faßte. Sie krochen die kleine Anhöhe hinauf, und um sie herum hob sich der rote Staub. »Mein Gott, was für eine Ladung!« sagte Al. »Schnell fahren können wir auf dieser Reise nicht.« Mutter versuchte zurückzuschauen, aber die hohe Wagenladung versperrte ihr die Sicht. So wandte sie den Kopf wieder um und blickte gradeaus auf die staubige Straße. Und eine große Mattigkeit war in ihren Augen. Die anderen, die oben auf der Wagenladung saßen, blickten zurück. Sie sahen das Haus und den Schuppen und eine kleine Rauchwolke, die noch aus dem Schornstein stieg. Sie sahen, wie die Fenster rot wurden von der aufgehenden Sonne. Sie sahen Muley einsam im Hof stehen und ihnen nachschauen. Und dann kam die Anhöhe dazwischen, und sie sahen nichts mehr. Baumwollfelder säumten den Weg. Und der Lastwagen kroch langsam durch den Staub auf die große Straße zu nach Westen.
11 Die Häuser auf dem Land waren verlassen, und das Land war verlassen, weil die Häuser leer standen. Nur in den Traktorenschuppen aus silbern glänzendem Wellblech herrschte Leben – Leben von Metall und Benzin und Öl, von blitzenden Pflugscheiben. Die Traktoren 210
hatten glänzende Lichter, denn für einen Traktor gibt es nicht Tag und nicht Nacht, und die Pflugscheiben werfen die Erde um in der Dunkelheit und glitzern im Tageslicht. Und wenn ein Pferd aufhört zu arbeiten und in den Stall geht, so ist doch noch Leben und Lebenskraft da, Atem und Wärme, und die Füße stampfen auf dem Stroh, und die Kiefer zermahlen das Heu, und die Augen und Ohren leben. Eine Wärme von Leben herrscht im Stall, die Hitze und der Geruch von Leben. Aber wenn der Motor eines Traktors stehenbleibt, so ist er tot wie das Erz, aus dem er gemacht ist. Die Hitze verläßt ihn, wie die Lebenswärme aus einem toten Körper flieht. Dann werden die Wellblechtüren geschlossen, und der Traktormann fährt heim in die Stadt, vielleicht zwanzig Meilen weit, und er braucht wochen- oder monatelang nicht zurückzukommen, denn der Traktor ist tot. Und das ist einfach und bequem. So einfach, daß das Wunder aus der Arbeit schwindet, so bequem, daß das Wunder aus dem Land und seiner Bearbeitung schwindet und mit dem Wunder das tiefe Verständnis und die Beziehung. Und in dem Traktorfahrer wächst die Verachtung, die nur einen Fremden befällt, der wenig Verständnis und keine Beziehung hat. Denn Nitrate sind nicht das Land, auch Phosphate nicht, und die Länge der Faser in der Baumwollpflanze ist nicht das Land. Kohle ist nicht der Mensch, auch Salz nicht oder Wasser oder Kalk. Er ist all das, aber er ist viel mehr, sehr viel mehr, und auch das Land ist mehr als seine Analyse. Der Mensch, der mehr ist als seine Chemikalien, der über die Erde geht, der wegen eines Steines 211
seiner Pflugschar eine Drehung gibt, der die Handgriffe niederdrückt, um die Schollen umzuwerfen, der sich auf die Erde kniet, um sein Vesperbrot zu essen – dieser Mensch, der mehr ist als seine Elemente, weiß, daß auch das Land mehr ist als seine Analyse. Aber der Maschinenmensch, der einen toten Traktor fährt über Land, das er nicht kennt und nicht liebt, versteht nur Chemie, und er ist verächtlich gegen das Land und gegen sich selbst. Wenn die Wellblechtüren geschlossen sind, geht er nach Hause, und sein Zuhause ist nicht das Land. Die Türen der leeren Häuser flogen auf und schwangen hin und her im Wind. Banden von kleinen Buben kamen aus den Städten, um die Fenster einzuschmeißen und im Müll nach Schätzen zu suchen. Hier ist ein Messer, das nur noch eine halbe Klinge hat. Eine gute Sache. Und – es riecht doch, als wäre hier ’ne Ratte krepiert. Und sieh doch, was Whitey an die Wand geschrieben hat. Er hat das auch in der Toilette in der Schule an die Wand geschrieben, und der Lehrer hat gesagt, er muß es wieder wegwischen. Als die Leute den ersten Tag fort waren und der Abend kam, schlichen sich die Katzen von den Feldern zurück und miauten auf der Veranda. Und als niemand herauskam, krochen die Katzen durch die offenen Türen hinein und liefen miauend durch die leeren Räume. Und dann gingen sie zurück in die Felder und waren von nun an wilde Katzen, sie jagten Goffer und Feldmäuse und schliefen tagsüber in Gräben. Wenn die Nacht kam, stürzten sich die Fledermäuse, die aus Angst 212
vor dem Licht stets vor den Türen wieder umgekehrt waren, in die Häuser und flatterten durch die leeren Räume, und nach einer Weile blieben sie über Tag in den dunklen Ecken der Zimmer, schlugen ihre Flügel hoch, hängten sich mit dem Kopf nach unten zwischen die Sparren, und der Geruch ihres Unrats füllte die leeren Häuser. Und die Mäuse kamen herein und legten ihre Vorräte in die Ecken, in die Kisten und in die Schubfächer der Küche. Und die Wiesel kamen, um die Mäuse zu jagen, und die braunen Eulen flogen schreiend aus und ein. Dann kam ein Schauerregen. Das Unkraut schoß auf vor der Treppenstufe, wo es nicht hatte wachsen dürfen, und das Gras drang durch die Bodenbretter der Veranda. Die Häuser waren verlassen, und verlassene Häuser zerfallen schnell. Risse zogen sich von den Nägeln aus durch die Holzverschalung. Staub setzte sich auf die Fußböden, und nur die Spuren von Mäusen und Wieseln und Katzen waren darauf zu sehen. Eines Nachts lockerte der Wind eine Schindel und wehte sie hinunter auf die Erde. Der nächste Wind griff in das Loch hinein, das die Schindel hinterlassen hatte, wehte drei weitere davon, und der nächste ein Dutzend. Die Mittagssonne brannte durch das Loch und warf einen leuchtenden Fleck auf den Boden. Die wilden Katzen kamen nachts von den Feldern hereingekrochen, aber sie miauten nicht mehr vor der Tür. Sie schlichen, gleich Wolkenschatten, die über den Mond ziehen, ins Haus und jagten nach Mäusen. Und 213
in windigen Nächten schlugen die Türen der Häuser, und die zerfetzten Vorhänge flatterten in den zerschlagenen Fenstern.
12 Die Route 66 ist die Hauptwanderstraße. Route 66 – der lange Betonweg durch das Land, der auf der Karte in sanften Wellenlinien auf und ab fährt, vom Mississippi nach Bakersfield, über das rote Land und über das graue Land, der sich hinaufschlängelt in die Berge, die Wetterscheide überquert, hinunterführt in das fruchtbare, leuchtende Ödland, über Ödland wieder in die Berge und dann in die reichen Täler Kaliforniens. Die Route 66 ist die Straße eines Volkes auf der Flucht, die Straße derer, die vor dem Staub flüchten, vor dem Donner der Traktoren, vor dem schrumpfenden Land, vor dem langsamen Einbruch des Ödlandes von Norden, vor den Wirbelwinden, die aus Texas gestürmt kommen, vor den Überschwemmungen, die dem Land keinen Reichtum bringen und ihm das bißchen Reichtum, das es besitzt, noch stehlen. Vor all dem sind diese Menschen auf der Flucht, und sie kommen aus den Seitenstraßen, aus den furchigen Landwegen und Wagenstraßen auf die Route 66. Sie ist die Mutterstraße, die Straße der Flucht. Clarksville und Ozark und Van Buren und Fort Smith auf der Route 64 – und hier ist Arkansas zu Ende. 214
Und alle die Straßen nach Oklahoma City, Route 66 herunter von Tulsa, Route 270 herauf von McAlester. Route 81 von Wichita Falls nach Süden, von Enid nach Norden. Edmond, McLoud, Purcell. Auf Route 66 aus Oklahoma City heraus nach Westen – El Reno und Clinton. Hydro, Elk City und Texola – und hier ist Oklahoma zu Ende. Auf Route 66 durch den Pfannenstiel von Texas. Shamrock und McLean, Conway und das gelbe Amarillo. Wildorado und Vega und Boise – und hier ist Texas zu Ende. Tucumcari und Santa Rosa und dann in die Berge von New Mexico nach Albuquerque, wo die Straßen herankommen von Santa Fé. Dann hinab zum schluchtigen Rio Grande nach Los Lunas und wieder westlich auf Route 66 nach Gallup – und hier ist die Grenze von New Mexico. Und dann kommen die hohen Berge. Holbrook und Winslow und Flagstaff in den Bergen von Arizona. Dann als eine abgeschliffene Höhe das große Plateau. Ashfork und Kingman und wieder felsige Berge, wo das Wasser stundenweit hergeholt werden muß und verkauft wird. Aus den sonnenverwitterten Bergen von Arizona zum Colorado, an dessen grünen Ufern Schilf wächst – und hier ist Arizona zu Ende. Kalifornien ist gleich am anderen Flußufer und fängt an mit einer hübschen Stadt. Needles am Fluß. Aber der Fluß ist hier ein Fremdling. Von Needles hinauf und über eine verbrannte Höhenkette – und dann beginnt das Ödland. Und die Route 66 führt über dieses fruchtbare Ödland, wo man ewig die schimmernde Ferne sieht mit ihren unerträglichen schwarzen Bergen. Und schließlich kommt Barstow und noch mehr Ödland, bis 215
sich endlich wieder Berge erheben, gute Berge, durch die sich die Route 66 hindurchwindet. Dann plötzlich ein Paß und unten ein schönes Tal – Obst- und Weingärten und kleine Häuser und in der Ferne eine Stadt. Und – mein Gott, wir sind da. Die Menschen auf der Flucht strömten auf Route 66 hinaus, manchmal in einzelnen Wagen, manchmal mit kleinen Anhängern. Den ganzen Tag über rollten sie langsam die Straße entlang, und in der Nacht hielten sie irgendwo in der Nähe eines Wassers. Am Tag stiegen aus alten undichten Kühlern Dampfsäulen auf, und lockere Verbindungsstangen hämmerten und klopften. Und die Männer, die die Lastwagen und überladenen Autos fuhren, lauschten ängstlich und gespannt. Wie weit bis zur nächsten Stadt? Die Strecken zwischen den Städten sind das furchtbarste. Wenn etwas kaputtgeht – ja, wenn etwas kaputtgeht, halten wir einfach hier an, und Jim geht in die Stadt, kauft ein Ersatzteil und kommt zurück und – wieviel Essen haben wir eigentlich noch? Höre auf den Motor. Höre auf die Räder. Höre mit deinen Ohren und mit deinen Händen am Steuerrad, höre mit deiner Handfläche am Schalthebel, höre mit deinen Füßen auf den Bodenbrettern. Höre mit all deinen Sinnen auf diese keuchende alte Kutsche, denn ein Wechsel im Ton oder im Rhythmus bedeutet vielleicht – eine Woche hierbleiben. Dieses Rattern, das sind die Ventile. Das schadet nichts. Die Ventile können rattern, bis Jesus wieder auf die Erde kommt, und es schadet nichts. Aber dieses Klopfen – wenn der Wagen fährt –, man kann’s nicht hören, man kann’s nur spüren. 216
Vielleicht kommt das Öl irgendwo nicht hin. Vielleicht hat ein Lager sich ausgelaufen. Guter Gott, wenn’s ein Lager ist, was machen wir dann? Das Geld geht so schnell weg. Und weshalb wird das Biest denn heute so schnell heiß? Die Straße steigt doch gar nicht an. Mal sehen. Allmächtiger Gott, der Ventilatorriemen ist hin! Hier, aus diesem Stückchen Strick kannst du ’nen Riemen machen. Mal sehen, wie lange … Und nun langsam, bis wir in ’ne Stadt kommen. Der Strick hält nicht lange. Wenn wir nur nach Kalifornien kommen, wo die Orangen wachsen, eh’ dieser alte Eimer in die Luft geht. Wenn wir nur vorher hinkommen! Und die Reifen – zwei Schichten sind schon durch. Und er hat nur vier. Vielleicht holen wir noch hundert Meilen raus, wenn wir nicht vorher auf ’nen Stein fahren. Was wollen wir machen – vielleicht noch hundert Meilen oder uns den Schlauch zuschanden fahren? Was wollen wir machen? Hundert Meilen. Jaja, das will überlegt sein. Wir haben Flickzeug mit. Vielleicht gibt’s nur ein kleines Loch, und er hält noch fünfhundert Meilen. Ach was, fahren wir weiter, bis er knallt. Wir müssen ’nen neuen Reifen haben, aber, guter Gott, die Kerle verlangen ja so viel Geld dafür. Sie sehen einen an. Sie wissen, daß wir weiter müssen. Sie wissen, wir können nicht warten. Und dann geht der Preis hoch. Nehmen Sie’s oder nehmen Sie’s nicht? Ich bin doch nicht zu meinem Vergnügen hier im Geschäft. Ich bin hier, um Reifen zu verkaufen. Ist mir ganz schnuppe, 217
was aus Ihnen wird. Ich muß dran denken, was aus mir wird. Wie weit ist es zur nächsten Stadt? Gestern sind zweiundvierzig Wagen, voll von Leuten wie ihr, hier vorbeigekommen. Wo kommt ihr denn alle her? Und wo wollt ihr alle hin? Na, Kalifornien ist ein großer Staat. So groß ist er nun auch wieder nicht. Die ganzen Vereinigten Staaten sind nicht so groß. Nein, so groß ist er nicht. Jedenfalls nicht groß genug. Es ist nicht Platz genug für euch und mich, für eure Leute und meine Leute, für reich und arm, alle in einem Land, für Diebe und ehrliche Menschen. Für Hunger und Sattheit. Weshalb geht ihr nicht zurück, wo ihr herkommt? Wir sind doch in ’nem freien Land. Man kann doch gehen, wohin man will. Das denken Sie! Haben Sie schon mal was von der Polizeikontrolle an der kalifornischen Grenze gehört? Das ist Polizei aus Los Angeles – die hält euch an und schickt euch zurück. Die sagt, wenn ihr keine Grundstücke kaufen könnt, wollen wir euch nicht. Haben Sie ’nen Führerschein? Zeigen Sie mal her. Und dann wird er zerrissen. Und die Polizisten sagen, ohne Führerschein dürft ihr nicht ins Land. Aber wir sind doch hier in ’nem freien Land. Ja, versuchen Sie’s nur mal mit der Freiheit. Es hat mal einer gesagt, man ist grade so frei, wieviel man Geld hat, um dafür zu bezahlen. Aber in Kalifornien kriegen sie hohe Löhne. Ich habe so ’nen Handzettel, wo alles draufsteht. 218
Alles Beschiß! Ich habe Leute gesehen, wo zurückkommen. Großer Betrug. Wollen Sie nun eigentlich diesen Reifen, oder wollen Sie ’n nicht? Ich brauche ihn ja, aber ich sage Ihnen, das schneidet uns verflucht ins Geld. Wir haben fast nichts mehr. Lieber Freund, ich bin kein Wohlfahrtsamt. Nehmen Sie ’n nur. Ich muß schon. Aber erst will ich mir ’n ansehen. Machen Sie ’n auf. Da – sehen Sie sich den Mantel an, Sie Schwein! Sie haben gesagt, der Mantel ist gut. Dabei ist er schon fast durch. Verdammt! Ja, Sie haben recht. Wie kommt’s denn, daß ich das nicht gesehen habe? Natürlich haben Sie’s gesehen, Sie Schwein. Und Sie verlangen vier Dollars für ’nen kaputten Mantel. Am liebsten möchte ich Ihnen eins in die Fresse hauen! Na, regen Sie sich mal wieder ab. Ich sage Ihnen doch, ich hab’s nicht gesehen. Hören Sie zu, was wir machen. Ich lasse Ihnen den Reifen für drei fünfzig. Einen Dreck machen wir! Wir fahren zur nächsten Stadt. Glaubst du wirklich, wir kommen mit dem Reifen noch hin? Und wenn nicht? Wir müssen. Ich fahre lieber auf den Felgen, eh’ ich diesem Schwein auch nur ’nen Nickel in den Rachen werfe. Was meinst du denn, was so ’n Geschäftsmann für ein Kerl ist? Wie er sagt, er macht’s nicht zu seinem Vergnügen. Ich will dir sagen, was Geschäft ist. Geschäft ist, wenn einer immer den anderen bescheißt. Ein 219
Geschäftsmann muß lügen und betrügen – er nennt’s nur nicht so. Das ist der ganze Unterschied. Wenn du jetzt losgehst und den Reifen da stiehlst, dann bist du ’n Dieb, aber er hat versucht, uns unsre vier Dollars zu stehlen und ’nen kaputten Reifen dafür herzugeben. Das nennen die Leute Geschäft. Danny im Rücksitz möchte ’n Schluck Wasser. Er muß warten. Wir haben kein Wasser. Hör mal – ist das im Differential? Weiß nicht. Das Chassis leitet ja den Ton, und man kann nie sagen, woher er kommt. Da – ’ne Dichtung hin. Aber wir müssen weiter. Hör nur, wie’s pfeift. Wenn wir ’ne hübsche Stelle finden, halten wir an, und ich bring’s in Ordnung. Aber, mein Gott, das Essen wird weniger und das Geld wird weniger. Wenn wir kein Benzin mehr kaufen können – was dann? Danny möchte ’n Schluck Wasser. Der kleine Kerl hat Durst. Hör nur, wie die Dichtung pfeift. Gottogottogott! Jetzt ist er hin! Schlauch und Mantel und alles geplatzt. Jetzt müssen wir sehen, was wir machen. Heb den Mantel auf – den können wir noch zum Flicken brauchen. Wagen am Straßenrand, Motorblöcke abmontiert, Reifen geflickt. Wagen, die gleich verwundeten Tieren über die Route 66 humpeln, mühsam und keuchend. Zu heiß, Verbindungen locker, Lager halb ausgelaufen, ratternde Karosserie. 220
Danny möchte ’n Schluck Wasser. Route 66 – Menschen auf der Flucht. Und die Betonstraße glänzte unter der Sonne wie ein Spiegel, und in der Ferne sah es so aus, als stünden Pfützen auf der Straße. Danny möchte ’n Schluck Wasser. Er muß warten, der arme kleine Kerl. An der nächsten Tankstelle. Zweihundertfünfzigtausend Menschen auf der Straße. Fünfzigtausend alte Wagen – dampfend und halb kaputt. Autowracks am Rande der Straße. Stehen gelassen. Was ist passiert? Und was ist aus den Leuten geworden, denen der Wagen gehörte? Sind sie gelaufen? Wo sind sie? Woher haben sie diesen Mut? Woher haben sie diesen furchtbaren Glauben? Und nun eine Geschichte, die man kaum glauben kann, aber sie ist wahr, sie ist komisch und schön zugleich. Da war eine Familie von zwölf Personen, die von ihrem Land vertrieben wurde. Sie hatten keinen Wagen. Sie haben sich aus altem Zeug einen Anhänger gebaut und ihre Sachen daraufgeladen. Dann haben sie ihn hinaufgezogen zur Route 66 und haben gewartet. Und bald ist eine Limousine gekommen und hat sie mitgenommen. Fünf sind in der Limousine gefahren und sieben auf dem Anhänger – und ein Hund auch auf dem Anhänger. So sind sie ganz schnell nach Kalifornien gekommen. Der Mann, der sie mitnahm, hat ihnen auch zu essen gegeben. Und das ist wahr. Aber woher kommt dieser Mut und woher dieser Glaube an die Mitmenschen? Es gibt so wenig, woher man solchen Glauben nehmen kann. 221
Die Menschen auf der Flucht vor dem Terror hinter ihnen – es geschehen seltsame Dinge, manche bitter und grausam und manche so schön, daß sie den Glauben nähren für immer.
13 Der alte überladene Hudson krachte und knarrte bei Sallisaw auf die große Straße und wandte sich nach Westen, und die Sonne blendete. Aber auf der Betonstraße beschleunigte Al das Tempo, denn die flachgedrückten Federn waren jetzt nicht mehr in Gefahr. Von Sallisaw nach Gore sind es zweiundzwanzig Meilen, und der Hudson fuhr fünfunddreißig Meilen in der Stunde. Von Gore nach Warner sind es dreizehn Meilen, von Warner nach Checotah vierzehn, von Checotah eine lange Strekke nach Henrietta – vierunddreißig Meilen –, aber am Ende der langen Strecke eine richtige Stadt. Von Henrietta nach Castle neunzehn Meilen, und die Sonne stand hoch, und über den roten Feldern zitterte die Luft. Al saß am Steuer, das Gesicht zielbewußt, sein ganzer Körper lauschte auf die Geräusche des Wagens, seine rastlosen Augen flogen von der Straße auf das Armaturenbrett. Al war eins mit seinem Motor, jeder Nerv lauschte nach Schwächen, nach dem Klopfen oder dem Quietschen, dem Summen und Klappern, das eine Veränderung andeutete, dem Geräusch, das eine Panne verursachen kann. 222
Er war die Seele des Wagens geworden. Großmutter, die neben ihm saß, schlief halb und wimmerte leise im Schlaf. Dann und wann öffnete sie die Augen, blinzelte vor sich hin und döste wieder ein. Und Mutter saß neben Großmutter, ihr einer Ellbogen lag auf dem Fenster, und ihre Haut rötete sich unter der brennenden Sonne. Auch Mutter blickte auf die Straße, aber ihre Augen waren ausdruckslos und sahen weder die Straße noch die Felder, weder die Tankstellen noch die Würstchenbuden. Sie wandte im Vorbeifahren kaum ihren Blick. Al rutschte in eine andere Stellung auf seinem Sitz und änderte seinen Griff am Steuerrad. Und er seufzte: »Macht verdammten Lärm, der Wagen, aber ich glaube, er ist in Ordnung. Aber Gott behüte, wenn wir ’nen Berg raufmüssen, mit der Ladung, wo wir haben. Gibt’s eigentlich Berge zwischen hier und Kalifornien, Mutter?« Mutter wandte langsam den Kopf, und in ihre Augen kam wieder Leben. »Ich glaube schon«, sagte sie. »Natürlich weiß ich’s nicht. Aber ich glaube, ich habe gehört, da sind Berge. Sehr hohe sogar.« Großmutter seufzte wimmernd im Schlaf. Al sagte: »Wir fliegen glatt in die Luft, wenn wir auch noch Berge fahren müssen. Wir werden wohl was von unserem Zeug rausschmeißen müssen. Vielleicht hätten wir doch den Prediger nicht mitnehmen sollen.« »Über den Prediger werden wir uns noch mal freuen«, sagte Mutter. »Der wird uns helfen, der Prediger.« Sie blickte wieder vor sich hin auf die glitzernde Straße. 223
Al steuerte mit einer Hand und legte die andere auf den vibrierenden Schalthebel. Das Sprechen fiel ihm schwer. Sein Mund formte schweigend die Worte, bevor er sie aussprach: »Mutter …« Sie wandte ihm langsam den Blick zu, und ihr Kopf zitterte ein wenig von der Bewegung des Wagens. »Mutter, hast du eigentlich Angst – Angst, woanders hinzufahren, in ’ne fremde Gegend?« Ihre Augen wurden nachdenklich. »Ein bißchen«, sagte sie. »Aber nicht so sehr, wie du denkst. Ich sitze einfach hier und warte. Wenn was passiert und ich was tun muß, tue ich’s.« »Und denkst du nicht, wie’s sein wird, wenn wir hinkommen? Hast du keine Angst, es ist vielleicht nicht so schön, wie wir gedacht haben?« »Nein«, sagte sie schnell. »Nein, das nicht. Das kann ich nicht. Das ist zu viel – das heißt, zu viele Leben auf einmal leben. Vor uns sind tausend Leben, aber wenn’s soweit kommt, ist es doch nur eins. Wenn ich im voraus dran denke, das ist zu viel. Du mußt im voraus leben, weil du jung bist, aber für mich ist’s weiter nichts wie die Straße, die hier vor uns ist. Und weiter nichts, als wie bald sie wohl wieder was von den Schweineknochen essen wollen.« Ihr Gesicht spannte sich. »Mehr kann ich nicht. Wenn ich an was andres denke, würde alles durcheinandergehen. Sie verlassen sich doch schon dabei alle auf mich.« Großmutter gähnte laut und öffnete die Augen. Sie sah sich mit wilden Blicken um. »Ich muß raus, guter Gott, ich muß raus«, sagte sie. 224
»Augenblick – da vorne kommen Büsche«, sagte Al. »Büsche oder keine Büsche – ich muß raus, sage ich dir.« Und sie begann zu wimmern: »Ich muß raus, o Gott, ich muß raus.« Al fuhr schneller, und als sie an das Gebüsch kamen, hielt er an. Mutter warf die Tür auf und zog die stöhnende alte Frau hinaus auf die Straße und ins Gebüsch. Und Mutter hielt sie, damit sie nicht fiel, wenn sie sich hinhockte. Oben auf dem Lastwagen begannen auch die anderen sich zu regen. Ihre Gesichter leuchteten vom Sonnenbrand, vor dem sie sich nicht schützen konnten. Tom und Casy und Noah und Onkel John ließen sich müde herab. Ruthie und Winfield kletterten aufgeregt an den Seiten hinunter und verschwanden im Gebüsch. Connie half zärtlich Rose von Sharon beim Absteigen. Unter der Plane wurde Großvater wach und streckte seinen Kopf heraus, aber seine Augen waren betäubt und wäßrig und noch ohne Verstand. Tom rief ihm zu: »Willst du nicht auch runterkommen, Großvater?« Die alten Augen wandten sich ihm verständnislos zu. »Nein«, sagte Großvater. Für einen Augenblick schien die frühere Wildheit wieder in ihm zu erwachen. »Ich komme nicht mit, sage ich dir. Ich mach’ es wie Muley – ich bleibe.« Und dann verlor er wieder alles Interesse. Mutter kam zurück und half Großmutter auf die Straße. »Tom«, sagte sie, »hol die Schüssel mit den Knochen. Sie steht hinten unter der Plane, wir müssen was essen.« Tom holte die Schüssel und reichte sie herum, und die 225
Familie stand am Straßenrand und knabberte die knusprigen Fleischteilchen von den Knochen. »Fein, daß wir sie mitgebracht haben«, sagte Vater. »Ich bin da oben so steif geworden, daß ich mich kaum mehr bewegen kann. Wo ist denn das Wasser?« »Ist es nicht da oben bei euch?« fragte Mutter. »Ich hatte doch den Kanister rausgestellt.« Vater kletterte an der Seitenwand hinauf und schaute unter die Plane. »Nicht da. Wir müssen’s vergessen haben.« Sofort setzte der Durst ein. Winfield stöhnte: »Ich will was trinken. Ich will was trinken.« Die Männer fuhren sich mit den Zungen über die Lippen und merkten, daß sie Durst hatten. Eine kleine Panik brach aus. In Al stieg die Angst auf. »Wir holen uns an der nächsten Tankstelle Wasser. Wir brauchen sowieso Benzin.« Die Familie kletterte wieder auf den Wagen, Mutter half Großmutter hinein und setzte sich neben sie. Al startete den Motor, und sie fuhren weiter. Fünfundzwanzig Meilen von Castle nach Paden, und die Sonne wanderte über den Zenit und brannte hernieder. Und der Kühlerdeckel begann auf und ab zu hüpfen, und Dampf zischte heraus. In der Nähe von Paden stand eine Baracke an der Straße und zwei Benzinpumpen davor. Und an der Seite, vor dem Zaun, ein Wasserhahn und ein Schlauch. Al fuhr vor und hielt so an, daß der Kühler des Hudson direkt vor den Wasserschlauch zu stehen kam. Als sie vorfuhren, erhob sich ein dicklicher Mann mit rotem Gesicht und roten Armen von einem Stuhl hinter den Benzinpumpen und 226
kam auf sie zu. Er trug braune Cordhosen, Hosenträger und ein Polohemd, und auf der Stirn hatte er ein silbern bemaltes Pappschild, zum Schutz gegen die Sonne. Der Schweiß stand ihm in Perlen auf der Nase und unter den Augen und bildete in den Falten seines Halses kleine Bäche. Er kam mit ernstem, mürrischem Gesicht auf den Wagen zugeschlendert. »Wollt ihr was kaufen? Benzin oder so?« fragte er. Al war bereits ausgestiegen, er schraubte mit den Fingerspitzen den Kühlerdeckel ab und zog immer wieder hastig seine Hand fort, um nicht den heißen Wasserstrahl abzukriegen, wenn der Deckel aufging. »Jawohl, wir brauchen Benzin.« »Habt ihr denn Geld?« »Natürlich. Glauben Sie, wir betteln?« Das Gesicht des dicken Mannes wurde etwas freundlicher. »Also, dann ist’s gut. Holt euch nur Wasser.« Und er beeilte sich, zu erklären: »Die Straße ist voll von Leuten, die reinkommen, die Toilette dreckig machen – dann klauen sie sogar noch was, und kaufen tun sie nichts. Haben kein Geld, was zu kaufen. Sie kommen einfach her und erbetteln sich ’ne Gallone Benzin und fahren weiter.« Tom sprang ärgerlich vom Wagen herunter und ging auf den dicken Mann zu. »Wir bezahlen, verstanden?« sagte er wütend. »Sie haben gar kein Recht, uns so auszufragen und so anzugukken. Wir haben Sie um nichts gebeten.« »Nein, nein«, sagte der dicke Mann schnell. Der Schweiß begann jetzt durch sein kurzärmeliges Polo227
hemd zu dringen. »Holt euch nur Wasser, und die Toilette könnt ihr auch benutzen, wenn ihr wollt.« Winfield hatte sich den Schlauch geholt. Er trank daraus und ließ sich den Strahl über Kopf und Gesicht spritzen. »Nicht kalt genug«, sagte er. »Ich weiß nicht, wohin das Land noch kommt«, fuhr der dicke Mann fort. Seine Klage hatte jetzt den Gegenstand gewechselt, er sprach nicht mehr zu den Joads oder über sie. »Sechsundfünfzig Wagen voll von Leuten kommen jeden Tag vorbei – Leute, wo mit Kind und Kegel nach Westen fahren. Wohin wollen die alle? Was wollen die alle machen?« »Dasselbe wie wir«, sagte Tom. »Sie wollen irgendwohin, wo sie leben können. Das ist alles.« »Na, ich weiß nicht, wohin das Land noch kommt. Ich weiß es einfach nicht. Und ich hab’ es auch schwer. Glauben Sie, daß auch nur einer von den großen Wagen bei mir hält? Gar nicht dran zu denken! Die halten in der Stadt bei den gelben Tankstellen von der Gesellschaft. Die halten nicht bei mir. Die, wo hier halten, haben meistens nichts.« Al ließ den Kühlerdeckel los, und er flog mit einem Strahl von Dampf in die Luft. Ein hohles blubberndes Geräusch kam aus dem Kühler. Oben auf dem Lastwagen kroch der Hund schüchtern bis zur Kante und blickte hinunter und wimmerte nach Wasser. Onkel John kletterte hinauf und holte ihn herunter. Einen Augenblick lang taumelte der Hund auf steifen Beinen umher, dann lief er auf die Pfütze unter dem Wasserhahn zu. Auf der Straße brausten die Wagen vorbei, sie 228
glitzerten in der Hitze, und der heiße Fahrtwind wehte zur Tankstelle herüber. Al füllte den Kühler mit Wasser. »Es ist ja nicht so, daß ich aus den reichen Leuten was rausschinden will«, fuhr der dicke Mann fort. »Ich will ja nichts weiter wie mein Geschäft machen. Aber die Leute, wo hier anhalten, betteln für Benzin und handeln für Benzin. Ich könnte ihnen hinten das ganze Zeug zeigen, was sie mir als Bezahlung für Benzin und Öl gegeben haben: Betten und Kinderwagen und Töpfe und Pfannen. Eine Familie hat mir sogar mal die Puppe von ihrem Kind gegeben für ’ne Gallone Benzin. Und was soll ich mit dem Zeug – ’n Trödlerladen aufmachen? Einer hat mir seine Schuhe geben wollen für ’ne Gallone. Wenn ich so einer wäre, ich wette, ich könnte sogar …« Er blickte zu Mutter hinüber und brach ab. Jim Casy hatte sich Wasser über den Kopf laufen lassen, die Tropfen rannen ihm noch die Stirn hinunter, und sein Hals und sein Hemd waren naß. Er trat zu Tom heran. »Die Leute können nichts dafür«, sagte er. »Oder würden Sie etwa gerne das Bett, wo Sie drin schlafen, für ’nen Tank voll Benzin verkaufen?« »Ich weiß, sie können nichts dafür. Jeder, mit dem ich gesprochen habe, hat seinen guten Grund, weshalb er auf der Straße ist. Aber wo kommt das Land denn hin? Das möchte ich wissen. Wohin soll das alles führen? Man kann ja sein Leben nicht mehr verdienen. Und mit ’ner Farm schon gar nicht mehr. Ich frage Sie, wohin soll das führen? Ich kann’s mir nicht vorstellen. Und keiner, den ich gefragt habe, weiß es. Da gibt mir einer seine Schuhe, damit er hundert Meilen weiterfahren kann. Ich kann’s 229
mir nicht vorstellen.« Er nahm sich das silberne Schild von der Stirn und wischte sich mit der Hand den Schweiß ab. Und Tom nahm seine Mütze ab und wischte sich die Stirn damit. Er ging zum Wasserschlauch, machte die Mütze naß und setzte sie wieder auf. Mutter zerrte eine Blechtasse zwischen den Latten des Lastwagens heraus und brachte Großmutter und Großvater, die noch oben saßen, Wasser. Sie stellte sich auf die Latten und reichte Großvater die Tasse. Er feuchtete sich die Lippen an, schüttelte dann den Kopf und gab ihr die Tasse zurück. Seine alten Augen richteten sich in Schmerz und Verwirrung auf Mutter, nur einen Moment, bis die Klarheit und Erkenntnis wieder aus ihnen wichen. Al startete den Motor und fuhr den Wagen rückwärts zur Benzinpumpe. »Füll ihn nur voll. Es gehen ungefähr sieben rein«, sagte Al. »Wir nehmen lieber nur sechs, damit nichts überläuft.« Der dicke Mann steckte den Schlauch in den Tank. »Nein«, sagte er, »ich weiß einfach nicht, wohin das Land noch kommen soll. Mit den Arbeitslosen und der Wohlfahrt und allem.« Casy sagte: »Ich bin ziemlich viel im Land rumgelaufen. Und alle fragen das. Wohin sollen wir noch kommen? Mir scheint’s, daß wir überhaupt nie wohin kommen. Wir sind immer unterwegs. Immer auf der Straße. Weshalb denken die Leute nicht mal drüber nach? Das ist doch ’ne richtige Wanderung. Die Leute wandern. Wir wissen, warum, und wir wissen, wie. Wir wandern, weil wir müssen. Das ist der einzige Grund, weshalb die Leute immer wandern. Weil sie’s besser 230
haben wollen. Und das ist die einzige Möglichkeit, daß sie’s jemals besser haben werden. Wenn sie’s wollen und brauchen, dann gehen sie eben und holen sich’s. Wenn man ihnen was tut, dann werden sie eben wild und wehren sich. Ich bin viel im Land rumgelaufen, und alle Leute haben geredet wie Sie.« Der dicke Mann pumpte Benzin. Und die Meßuhr der Pumpe sprang und zeigte das Maß an. »Ja, aber wo soll das hinführen? Das möchte ich wissen.« Tom fiel ihm gereizt ins Wort: »Sie werden’s nie wissen. Casy hat versucht, es Ihnen zu sagen, und Sie fragen bloß diese dämliche Sache immer wieder. Ich kenne so Leute wie Sie. Ihr wollt ja gar nichts wissen, ihr leiert nur immer wieder euer altes Gebet her. ›Wo soll das hinführen?‹ Ihr wollt’s ja gar nicht wissen. Das Land wandert, und überall sterben die Leute. Vielleicht sterben Sie auch bald, aber wissen wollen Sie von der ganzen Sache nichts. Ich kenne zu viele Kerle wie Sie. Ihr wollt nichts wissen. Ihr singt euch bloß in den Schlaf mit eurem ›Wo soll das hinführen?‹.« Er sah die Benzinpumpe, die alt und verrostet war, und die Barakke dahinter, aus schon einmal gebrauchtem Holz gebaut – die alten Nagellöcher waren noch zu sehen durch die kühne gelbe Farbe, mit der die Tankstellen der großen Gesellschaften der Stadt hatten imitiert werden sollen. Aber die Farbe konnte die alten Nagellöcher und die alten Risse im Holz nicht verdecken, und die abgeblätterte Farbe konnte nicht erneuert werden. Die Imitation war ein Mißgriff gewesen, und der Besitzer wußte, daß sie ein Mißgriff war. Und im Innern der offenen 231
Baracke sah Tom die Ölkanister, es waren nur zwei, und einen Ladentisch mit verstaubtem Zuckerzeug und Lakritzenstangen, die vor Alter braun geworden waren. Er sah den beschädigten Stuhl und das Fliegennetz mit einem rostigen Loch in der Mitte. Und den unordentlichen Hof, der eigentlich mit Kies bestreut sein sollte, und dahinter ein Kornfeld, das in der Sonne vertrocknete und starb. Neben dem Haus den kleinen Vorrat gebrauchter und erneuerter Reifen. Und er sah zum erstenmal die billigen gewaschenen Hosen, die der Mann trug, und sein billiges Polohemd und seinen Pappschirm vor der Stirn. Er sagte: »Ich hab’ es nicht so gemeint. Es ist die Hitze. Sie haben ja selber nichts. Bald werden Sie auch auf der Straße sein. Aber bei Ihnen sind’s nicht die Traktoren. Bei Ihnen sind’s die feinen gelben Tankstellen in der Stadt. Alle Welt ist auf der Straße«, sagte er beschämt. »Und Sie sind auch bald auf der Straße, Mister.« Der dicke Mann hatte langsamer gepumpt und schließlich ganz aufgehört, als Tom sprach. Er sah ihn verängstigt an. »Woher wissen Sie denn, daß wir schon drüber gesprochen haben, daß wir alles einpacken und nach Westen wollen?« Es war Casy, der ihm antwortete. »Allen geht’s so«, sagte er. »Sehen Sie, ich habe früher mit aller Kraft gegen den Teufel gekämpft, weil ich geglaubt habe, der Teufel ist der Feind. Aber jetzt hat was viel Schlimmeres wie der Teufel das Land gepackt, und es wird’s nicht loslassen, bis man’s abhackt. Haben Sie schon mal gesehen, wie so ’n Gila-Ungeheuer zupackt, Mister? Das 232
krallt sich fest, und wenn man’s in zwei Stücke schlägt, bleibt der Kopf noch dran. Und wenn man am Genick zuschlägt, bleibt der Kopf auch dran. Man muß ihm erst ’nen Keil in den Kopf jagen, damit er auseinanderplatzt und endlich losläßt. Und wenn er dann daliegt, tropft Gift in das Loch, das er mit seinen Zähnen gemacht hat.« Er brach ab und blickte Tom von der Seite her an. Der dicke Mann starrte hoffnungslos vor sich hin. Seine Hand drehte langsam den Hahn zu. »Ich weiß nicht, wo das noch hinführen soll«, sagte er leise. Drüben beim Wasserschlauch standen Connie und Rose von Sharon und sprachen heimlich miteinander. Connie wusch die Blechtasse aus und ließ das Wasser prüfend über den Finger laufen, bevor er die Tasse wieder füllte. Rose von Sharon beobachtete, wie die Wagen auf der großen Straße vorüberbrausten. Connie hielt ihr die Tasse hin. »Das Wasser ist nicht kalt, aber es ist naß«, sagte er. Sie blickte ihn an und lächelte geheimnisvoll. Sie war ganz Geheimnis, jetzt, da sie schwanger war, Geheimnis und Schweigen, das eine Bedeutung zu haben schien. Sie war zufrieden mit sich selbst und beklagte sich über Dinge, die in Wahrheit ganz unwichtig waren. Und sie verlangte Hilfeleistungen von Connie, die töricht waren, und sie beide wußten, daß sie töricht waren. Auch Connie war mit ihr zufrieden und erfüllt von Staunen darüber, daß sie schwanger war. Er dachte gern, er sei in ihre Geheimnisse eingeweiht. Wenn sie verhalten lächelte, lächelte auch er verhalten, und sie wechselten im Flüsterton Vertraulichkeiten. Die Welt 233
um sie herum war eng geworden, und sie standen im Mittelpunkt – oder vielmehr Rose von Sharon stand im Mittelpunkt, und Connie zog gleich einem Trabanten seine Kreise um sie. Alles, was sie sagten, war ein Geheimnis. Sie wandte ihre Augen von der Straße weg. »Ich habe eigentlich keinen Durst«, sagte sie geziert. »Aber vielleicht ist es besser, wenn ich was trinke.« Und er nickte, denn er wußte genau, was sie meinte. Sie nahm die Tasse, spülte sich den Mund aus und spuckte, und dann trank sie tapfer die ganze Tasse voll lauwarmen Wassers leer. »Noch mehr?« fragte er. »Noch halb voll.« Und er füllte die Tasse zur Hälfte und reichte sie ihr. Ein Lincoln-Zephyr, silbern und niedrig, pfiff vorbei. Sie wandte sich um, um zu sehen, wo die anderen wären, und sah sie um den Lastwagen herumstehen. Beruhigt sagte sie: »Wie wär’s, in so ’nem Wagen zu fahren?« Connie seufzte: »Vielleicht nachher.« Sie wußten beide, was er meinte. »Und wenn’s in Kalifornien viel Arbeit gibt, haben wir bald unseren eigenen Wagen. Aber die da« – er deutete auf den verschwindenden Zephyr –, »die kosten beinahe so viel wie ’n richtiges Haus. Dann möchte ich schon lieber ein Haus haben.« »Und ich ein Haus und ’nen Zephyr«, sagte sie. »Aber natürlich kommt das Haus zuerst, denn …« Und sie beide wußten, was sie meinte. Sie waren schrecklich aufgeregt über die Schwangerschaft. »Fühlst du dich denn auch gut?« fragte er. »Müde. Einfach müde vom Fahren in der Sonne.« 234
»Aber das ist nicht zu ändern – sonst kommen wir ja nicht nach Kalifornien.« »Ich weiß«, sagte sie. Der Hund lief schnüffelnd an dem Wagen vorbei zu der Pfütze unter dem Schlauch und leckte das schmutzige Wasser auf. Dann trottete er davon, die Nase am Boden und die Ohren herabhängend. Er schnüffelte im staubigen Unkraut am Straßenrand herum und kam bis zur Kante der Betonpflasterung. Er hob den Kopf, blickte sich um und lief dann über die Straße. Rose von Sharon schrie kreischend auf. Ein großer, leiser Wagen kam herangefegt – schrill heulten die Reifen. Der Hund wich hilflos aus, schoß dann jaulend zurück auf die Mitte der Straße und lief unter die Räder. Der große Wagen verlangsamte für einen Augenblick sein Tempo, Gesichter blickten sich um, dann fuhr er schnell weiter und verschwand. Und der Hund, ein Haufen von Blut und Eingeweiden, zuckte auf der Straße. Rose von Sharons Augen waren weit geöffnet. »Glaubst du, es hat was geschadet?« jammerte sie. »Glaubst du, es hat was geschadet?« Connie legte den Arm um sie. »Komm – setz dich«, sagte er. »Es war bestimmt nicht schlimm.« »Aber ich hab’s doch gefühlt. Ich habe einen richtigen Ruck gespürt, wie ich geschrien habe.« »Komm, setz dich. Es war nicht schlimm. Es hat bestimmt nichts geschadet.« Er führte sie um den Lastwagen herum, fort von dem sterbenden Hund, und half ihr, sich auf das Trittbrett zu setzen. Tom und Onkel John gingen auf die Straße. Das 235
letzte Lebenszeichen war aus dem zerquetschten Hundekörper gewichen. Tom nahm ihn bei den Beinen und zog ihn zum nahen Straßenrand. Onkel Johns Gesicht hatte einen bestürzten Ausdruck, so, als trage er Schuld an dem Vorfall. »Ich hätte ihn doch lieber anbinden sollen«, sagte er. Vater blickte auf den Hund herab, dann wandte er sich um. »Laß ihn liegen«, sagte er. »Ich weiß sowieso nicht, wie wir ihn hätten füttern sollen. Vielleicht ist’s ganz gut so.« Der dicke Mann kam hinter dem Lastwagen hervor. »Tut mir leid«, sagte er. »An so ’ner großen Straße hält sich ’n Hund nicht lange. Mir sind in einem Jahr drei überfahren worden. Jetzt schaffe ich mir keinen mehr an.« Und er sagte: »Macht euch nur keine Sorgen. Ich kümmere mich schon drum. Ich begrabe ihn draußen im Kornfeld.« Mutter ging hinüber zu Rose von Sharon, die, noch immer zitternd, auf dem Trittbrett saß. »Ist dir was, Rosasharn?« fragte sie. »Fühlst du dich nicht gut?« »Ich habe das da gesehen, und das hat mir so ’n komischen Ruck gegeben.« »Ich habe dich schreien gehört«, sagte Mutter. »Beruhige dich nur wieder.« »Meinst du, es hat ihm was geschadet?« »Nein«, sagte Mutter. »Aber wenn du zu vorsichtig bist und dich selber in Watte einpackst, schadet es ihm eines Tages vielleicht doch. Jetzt steh auf und hilf mir, Großmutters Platz zurechtzumachen. Vergiß das Kleine mal ’n Augenblick. Das sorgt schon für sich selber.« 236
»Wo ist denn Großmutter?« fragte Rose von Sharon. »Ich weiß nicht. Sie muß hier irgendwo sein. Vielleicht drin – du weißt schon.« Das Mädchen ging hinein zur Toilette, und einen Augenblick später kam sie zurück und führte Großmutter am Arm. »Sie war eingeschlafen da drin«, sagte Rose von Sharon. Großmutter lachte. »Es ist sehr hübsch da«, sagte sie. »Eine Patent-Toilette, wo das Wasser von oben runterkommt. Hat mir gefallen da drin«, sagte sie zufrieden. »Und ich hätte sehr hübsch geschlafen, wenn ihr mich nicht geweckt hättet.« »Aber es ist nicht sehr hübsch, da zu schlafen«, sagte Rose von Sharon und half Großmutter in den Wagen. »Vielleicht ist’s nicht hübsch, da zu schlafen – aber es ist trotzdem hübsch«, sagte Großmutter. »Wir müssen weiter!« rief Tom. »Wir haben noch einige Meilen vor uns.« Vater stieß einen lauten Pfiff aus. »Wo sind denn nun die Kinder wieder hin?« Er steckte die Finger in den Mund und pfiff nochmals. Sie kamen aus dem Kornfeld gelaufen, Ruthie voran und Winfield hinter ihr her. »Eier!« schrie Ruthie. »Ich habe Eier gefunden.« Sie kam näher gelaufen, Winfield dicht hinter ihr. »Schau, hier!« Ein Dutzend kleiner grauweißer Eier lag in ihrer verschmierten Hand. Und als sie die Hand ausstreckte, fielen ihre Augen auf den toten Hund am Straßenrand. »Oh!« rief sie. Ruthie und Winfield gingen langsam auf den Hund zu und betrachteten ihn. 237
Vater rief zu ihnen hinüber: »Nun kommt endlich, sonst fahren wir ohne euch weiter!« Sie drehten sich um und liefen langsam hinüber zum Lastwagen. Ruthie betrachtete noch einmal die grauen Schlangeneier in ihrer Hand, dann warf sie sie fort. Sie kletterte hinauf auf den Lastwagen. »Er hat die Augen noch offen gehabt«, sagte Ruthie halblaut. Aber für Winfield war es eine Sensation. »Seine Darmgedärme sind glatt rausgeplatzt und liegen überall verstreut … überall verstreut …« Er schwieg einen Augenblick. »Überall … verstreut …«, sagte er noch einmal. Und dann rollte er sich schnell hinüber zur Kante des Lastwagens und erbrach sich. Als er sich wieder aufrichtete, waren seine Augen wäßrig, und seine Nase lief. »Es ist doch was andres wie Schweineschlachten«, sagte er zur Erklärung. Al hatte die Haube des Hudson aufgemacht und kontrollierte den Ölstand. Er holte aus dem Vordersitz einen Kanister, goß etwas von dem billigen schwarzen Öl in den Motor und prüfte dann den Stand noch einmal. Tom trat neben ihn. »Soll ich mal ’n Stück fahren?« fragte er. »Ich bin nicht müde«, sagte Al. »Du hast letzte Nacht überhaupt nicht geschlafen. Ich habe wenigstens heute früh ’n bißchen gedöst. Hopp, steig rauf. Jetzt fahr ich mal.« »Gut«, sagte Al widerstrebend. »Aber paß genau auf den Ölstand auf. Und fahr langsam. Man muß verdammt aufpassen, daß es keinen Kurzschluß gibt. Wirf ab und zu mal ’n Blick auf die Nadel. Wenn sie über 238
den roten Strich rausspringt, hast du Kurzschluß. Und fahr langsam. Die Karre ist überladen.« Tom lachte. »Ich passe schon auf«, sagte er. »Du kannst beruhigt sein.« Die Familie kletterte wieder auf die Ladung hinauf. Mutter setzte sich vorn neben Großmutter, Tom nahm seinen Platz hinter dem Steuerrad ein und startete den Motor. »Macht verdammten Krach, das Ding«, sagte er, schaltete den Gang ein und steuerte langsam wieder auf die Straße. Der Motor brummte gleichmäßig, und die Sonne wanderte langsam vor ihnen am Himmel hinab. Großmutter schlief, und selbst Mutter ließ den Kopf sinken und schlummerte dann und wann ein. Tom zog sich die Mütze über die Augen, um sich vor der blendenden Sonne zu schützen. Von Paden nach Meeker sind es dreizehn Meilen, von Meeker nach Harrah vierzehn. Dann kommt Oklahoma City – die große Stadt. Tom fuhr geradewegs weiter. Mutter wachte auf und blickte auf die Straßen, als sie durch die Stadt fuhren. Und die Familie oben auf dem Lastwagen sah mit Staunen die großen Geschäfte, die großen Häuser und Bürogebäude. Dann wurden die Gebäude kleiner und die Geschäfte kleiner. Autohöfe, Würstchenbuden, Tanzkneipen. Ruthie und Winfield sahen das alles, und es verwirrte sie mit seiner Größe und Fremdheit, und die fein gekleideten Menschen, die sie sahen, ängstigten sie. Sie sprachen nicht miteinander darüber. Später – ja, später würden sie darüber sprechen, aber jetzt nicht. Sie sahen 239
die Öltanks in der Stadt und am Rande der Stadt, die riesigen schwarzen Öltanks, und spürten den Geruch von Öl und Benzin in der Luft. Aber sie sagten nichts. Es war alles so groß und so fremd, daß es sie beängstigte. Rose von Sharon sah auf der Straße einen Mann im hellen Anzug. Er trug weiße Schuhe und einen flachen Strohhut. Sie stieß Connie an und deutete mit ihren Augen auf den Mann, und das Kichern überwältigte sie. Sie hielten sich die Münder zu. Und es machte solchen Spaß, daß sie noch nach anderen Leuten Ausschau hielten, über die sie lachen konnten. Ruthie und Winfield sahen sie lachen, und es war ein so komischer Anblick, daß sie es auch versuchten – aber es ging nicht. Das Lachen wollte einfach nicht kommen. Doch Connie und Rose von Sharon waren atemlos und rot vor Lachen. Es wurde so schlimm, daß es jedesmal von neuem losging, wenn sie einander nur ansahen. Die Vorstädte dehnten sich. Tom fuhr langsam und vorsichtig im Verkehr, und dann kamen sie auf die Route 66, die große Straße nach Westen, und die Sonne sank. Die Windschutzscheibe war mit Staub bedeckt. Tom zog sich seine Mütze noch tiefer über die Augen, so tief, daß er den Kopf zurücklegen mußte, um überhaupt etwas zu sehen. Großmutter schlief weiter, die Sonne lag auf ihren geschlossenen Augenlidern, und die Adern an ihren Schläfen waren blau und die kleinen Äderchen auf den Wangen weinrot, und die alten braunen Flecken auf ihrem Gesicht wurden dunkler. Tom sagte: »Jetzt bleiben wir immer auf dieser Straße – bis wir da sind.« 240
Mutter hatte lange Zeit geschwiegen. »Vielleicht suchen wir uns lieber ein Plätzchen, eh’ die Sonne untergeht«, sagte sie. »Ich muß Fleisch braten und Brot machen. Das dauert seine Zeit.« »Na, sicher«, stimmte Tom zu. »Wir kommen ja doch nicht in einem Rutsch nach Kalifornien. Wir müssen nur ’n richtigen Platz finden.« Von Oklahoma City nach Bethamy sind es vierzehn Meilen. Tom sagte: »Ich glaube, wir halten lieber an, eh’ die Sonne ganz weg ist. Al muß unbedingt die Latte da oben anmachen. Die Sonne bringt einen ja um.« Mutter war wieder eingedöst. Mit einem Ruck richtete sie sich auf. »Ich muß was zum Nachtessen kochen«, sagte sie. Und sie sagte: »Tom, dein Vater meint, du darfst nicht über die Grenze.« Es dauerte lange, bis er etwas erwiderte. »So …?« sagte er dann. »Ja, und ich habe Angst deswegen. Es sieht doch aus, als würdest du davonlaufen. Und vielleicht holen sie dich dann wieder.« Tom hielt sich die Hand über die Augen, weil die letzten Sonnenstrahlen ihn blendeten. »Mach dir nur keine Sorgen«, sagte er. »Ich hab’ es mir schon überlegt. Es gibt ’n Haufen Leute, wo mit Bewährungsfrist rumlaufen, und ’s werden immer mehr. Wenn sie mich wegen irgendwas festnehmen drüben im Westen, dann haben sie mein Bild und meine Fingerabdrücke in Washington. Dann schicken sie mich zurück. Aber wenn ich kein Verbrechen mache, kümmern sie sich ’n Dreck um mich.« 241
»Ja, ich habe aber trotzdem Angst deswegen. Manchmal macht man ein Verbrechen und weiß gar nicht, daß es was Schlimmes ist. Vielleicht gibt’s in Kalifornien Verbrechen, wo wir gar nichts von wissen. Vielleicht machst du irgendwas, wo ganz richtig ist, und in Kalifornien ist’s dann nicht richtig.« »Gut, dann bleibt sich’s aber auch ganz gleich, ob ich Bewährungsfrist habe oder nicht«, sagte er. »Nur wenn sie mich kriegen, ist’s schlimmer wie bei andern. Aber jetzt mach dir keine Sorgen mehr«, sagte er. »Wir haben genug, über was wir uns Sorgen machen müssen – auch ohne daß du dir noch was Neues ausdenkst.« »Ich kann mir nicht helfen«, sagte sie, »wenn du über die Grenze gehst, hast du ’n Verbrechen begangen.« »Ist immer noch besser, wie in Sallisaw zu hocken und zu verhungern«, sagte er. »Jetzt wollen wir uns lieber mal ’n Platz suchen für die Nacht.« Sie fuhren durch Bethamy hindurch und kamen auf der anderen Seite wieder auf die Route 66. In einer Senke, wo ein Kanal unter der Straße durchführte, stand ein wenig abseits vom Verkehr ein alter Tourenwagen. Daneben war ein kleines Zelt aufgebaut, und aus einem durch das Zelt gesteckten Ofenrohr kam Rauch. Tom zeigte darauf. »Da sind schon Leute. Sieht mindestens so gut aus wie alles andere, was wir gesehen haben.« Er verlangsamte das Tempo und hielt dann an der Straßenseite an. Die Motorhaube des alten Tourenwagens war offen, und ein Mann mittleren Alters stand über den Motor gebeugt. Er trug einen billigen Stroh-Sombrero, ein blaues Hemd und eine schwarze fleckige Weste, und 242
seine Hosen waren steif und glänzend von Dreck. Sein Gesicht war mager, die tiefen Linien in seinen Wangen bildeten große Furchen in seinem Gesicht, so daß die Backenknochen und das Kinn scharf hervorstanden. Er blickte hinauf zu dem Wagen der Joads, und seine Augen waren fragend und unfreundlich. Tom beugte sich aus dem Fenster. »Sagen Sie, ist es verboten, hier zu übernachten?« Der Mann hatte bisher nur den Wagen gesehen. Seine Augen richteten sich jetzt auf Tom. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Wir haben hier nur gehalten, weil wir nicht weitergekommen sind.« »Gibt’s Wasser?« Der Mann deutete auf die Baracke einer Tankstelle, die etwa eine Viertelmeile entfernt war. »Die da drüben haben Wasser und geben einem auch mal ’nen Eimer voll.« Tom zögerte. »Also Sie meinen, wir könnten da unten mit übernachten?« Der Mann machte ein erstauntes Gesicht. »Uns gehört’s ja nicht«, sagte er. »Wir haben hier nur angehalten, weil diese elende alte Kiste plötzlich gestreikt hat.« Tom war beharrlich. »Jedenfalls sind Sie zuerst dagewesen. Sie haben das Recht, zu sagen, ob Sie Nachbarn haben wollen oder nicht.« Dieser Appell an die Gastfreundschaft hatte einen sofortigen Erfolg. Auf dem mageren Gesicht erschien ein Lächeln. »Aber natürlich, kommen Sie nur, wir freuen uns.« Und er rief: »Sairy, hier sind Leute, wo bei uns übernachten wollen. Komm raus und sag guten Tag. Es geht ihr nämlich nicht gut«, fügte er hinzu. Der 243
Zelteingang öffnete sich, und eine vertrocknete Frau erschien – ein Gesicht, so runzlig wie ein trockenes Blatt, und Augen, die aus einem Abgrund des Schrekkens und der Schmerzen herauszublicken schienen. Sie war klein und zitterig. Sie hielt sich am Zelteingang fest, und die Hand, die sich an das Segeltuch klammerte, war ein mit faltiger Haut bedecktes Skelett. Sie hatte eine schöne tiefe Stimme, weich und moduliert, in der dennoch Obertöne mitklangen. Sie wandte sich an ihren Mann: »Sag ihnen Willkommen. Sag ihnen, wir freuen uns, und sie sind willkommen.« Tom fuhr von der Straße herunter, lenkte den Wagen auf das Feld und hielt neben dem anderen an. Und Menschen kletterten von dem Lastwagen herab – Ruthie und Winfield zu schnell, so daß ihnen die Füße abrutschten und sie schrien, weil die Nadeln und Steinchen sie in die Beine stachen. Mutter machte sich schnell an die Arbeit. Sie holte den großen Eimer hinten vom Lastwagen und ging damit zu den schreienden Kindern. »So, jetzt lauft ihr Wasser holen – dort drüben. Aber seid anständig und fragt nett. Sagt: ›Bitte schön, können wir vielleicht ’nen Eimer voll Wasser haben?‹ Und sagt nachher: ›Danke schön.‹ Und tragt den Eimer zusammen und verschüttet nichts. Und wenn ihr unterwegs Holz findet zum Feuermachen, dann bringt’s mit.« Die Kinder stapften in Richtung Tankstelle davon. Beim Zelt hatte eine verlegene Unterhaltung eingesetzt, die bereits unterbrochen war, bevor sie richtig begonnen hatte. Vater sagte: »Ihr seid doch nicht von Oklahoma?« 244
Und Al, der in der Nähe des Wagens stand, sah auf das Nummernschild. »Kansas«, sagte er. Der magere Mann erklärte: »Von Galena – oder jedenfalls nicht weit davon. Wilson, Ivy Wilson.« »Wir heißen Joad«, sagte Vater. »Wir kommen aus der Gegend von Sallisaw.« »Wir freuen uns, euch kennenzulernen«, sagte Ivy Wilson. »Sairy, das sind die Joads.« »Ich habe gleich gewußt, ihr seid nicht von Oklahoma. Ihr sprecht irgendwie komisch – da ist natürlich nichts weiter bei, verstehen Sie?« »Natürlich, jeder redet anders«, sagte Ivy. »Die aus Arkansas reden anders, und die aus Oklahoma reden anders. Und wir haben mal mit ’ner Dame aus Massachusetts gesprochen, die hat noch viel anders geredet. War kaum zu verstehen, was sie überhaupt gemeint hat.« Noah und Onkel John und der Prediger begannen den Wagen abzuladen. Sie halfen Großvater herunter, setzten ihn auf den Boden, und er saß zusammengesunken da und starrte vor sich hin. »Bist du krank, Großvater?« fragte Noah. »Jawoll«, sagte Großvater. »Verdammt krank.« Sairy Wilson ging langsam und vorsichtig auf ihn zu. »Wollen Sie nicht in unser Zelt kommen?« fragte sie. »Sie können sich auf unsere Matratze legen und ausruhen.« Er blickte zu ihr auf, angezogen durch ihre sanfte Stimme. »Kommen Sie nur«, sagte sie. »Sie können sich ausruhen. Wir helfen Ihnen rüber.« Ganz unvermutet begann Großvater zu weinen. Sein Kinn zitterte, seine alten Lippen spannten sich über 245
seinen Mund, und er schluchzte heiser. Mutter kam zu ihm herübergeeilt und legte ihre Arme um ihn. Sie hob ihn hoch und half ihm in das Zelt. Onkel John sagte: »Er muß wirklich verdammt krank sein. Das hat er noch nie gemacht. Ich habe ihn noch nie in meinem Leben heulen sehen.« Er sprang auf den Wagen hinauf und zog eine Matratze herunter. Mutter kam aus dem Zelt und ging zu Casy. »Sie sind doch schon bei kranken Leuten gewesen«, sagte sie. »Großvater ist krank. Sehn Sie ihn doch mal an.« Casy ging rasch zum Zelt und trat ein. Eine Doppelmatratze lag auf dem Boden und saubere Decken darüber. Ein kleiner Blechofen stand da auf eisernen Beinen, und das Feuer darin brannte ungleichmäßig. Ein Eimer Wasser, eine Kiste mit Lebensmitteln und eine zweite Kiste, die als Tisch diente – das war alles. Das Licht der untergehenden Sonne drang rötlich durch die Zeltwände. Sairy Wilson kniete neben der Matratze auf dem Boden. Großvaters Augen waren geöffnet und starrten nach oben, und auf seinen Wangen stand die Röte. Er atmete schwer. Casy nahm das knochige alte Handgelenk zwischen seine Finger. »Müde, Großvater?« fragte er. Die Augen wandten sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, fanden ihn aber nicht. Und die Lippen formten Worte, sprachen aber nicht. Casy fühlte den Puls und legte dann seine Hand auf Großvaters Stirn. Im Körper des alten Mannes setzte ein Kampf ein, seine Beine bewegten sich ständig, und seine Hände fanden keine Ruhe. Er stieß undeutliche Laute hervor, die keine 246
Worte waren, und sein Gesicht war rot unter dem weißen Stoppelbart. Sairy Wilson wandte sich an Casy. »Wissen Sie, was es ist?« Er blickte in das runzelige Gesicht und die brennenden Augen. »Wissen Sie’s?« »Ich glaube – ja.« »Was?« fragte Casy. »Vielleicht ist’s nicht richtig. Ich möcht’ es nicht gern sagen.« Casy richtete seinen Blick wieder auf das verzerrte rote Gesicht. »Meinen Sie … daß er … daß er vielleicht ’nen Schlag kriegt?« »Ja«, sagte Sairy. »Ich habe das schon dreimal erlebt.« Von draußen kamen die Geräusche des Auspackens und Einrichtens, Holz wurde gehackt, und Pfannen klapperten. Mutter steckte ihren Kopf zum Zelteingang herein. »Großmutter möchte kommen. Soll sie?« Der Prediger sagte: »Wenn wir ihr’s nicht erlauben, wird sie doch nur wütend.« »Geht’s ihm besser?« fragte Mutter. Casy schüttelte langsam den Kopf. Mutter sah auf das entstellte alte Gesicht, durch das Blut pulste. Sie zog den Kopf wieder zurück, und ihre Stimme war kaum zu hören, als sie sagte: »Es ist gar nicht schlimm, Großmutter. Er ruht sich nur ’n bißchen aus.« Und Großmutter antwortete böse: »Ja, aber ich will ihn sehen. Er ist ein tückischer alter Teufel. Man weiß nie, wie man mit ihm dran ist.« Und sie kam in das Zelt hereingeschossen, stellte sich vor die Matratze und blickte 247
zu ihm hinunter. »Was ist denn mit dir los?« fragte sie. Und wieder suchten seine Augen in der Richtung der Stimme, und seine Lippen bewegten sich. »Er trotzt«, sagte Großmutter. »Ich sage ja, er ist tückisch. Heute früh hat er sich davonschleichen wollen, damit er nicht mitzukommen braucht. Und dann hat ihm plötzlich die Hüfte wehgetan«, sagte sie verächtlich. »Er trotzt nur. Ich kenne das schon, dann will er mit niemand reden.« Casy sagte sanft: »Er trotzt nicht, Großmutter. Er ist krank.« »Oh!« Wieder sah sie den alten Mann an. »Sehr krank, wirklich?« »Ziemlich krank, Großmutter.« Einen Augenblick lang zögerte sie. »Na, und –«, sagte sie dann, »weshalb beten Sie dann nicht? Sie sind doch Prediger!« Casys starke Finger griffen wieder nach Großvaters Handgelenk. »Ich habe schon gesagt, ich bin kein Prediger mehr.« »Beten Sie trotzdem«, befahl sie. »Sie können doch das ganze Zeug auswendig.« »Ich kann’s nicht«, sagte Casy. »Ich weiß nicht, wofür ich beten soll oder zu wem.« Großmutters Augen wanderten und blieben schließlich auf Sairy ruhen. »Er will nicht beten«, sagte sie. »Hab’ ich Ihnen schon mal erzählt, wie Ruthie gebetet hat, wie sie ganz klein war? Sie hat gesagt: ›Jetzt lege ich mich schlafen. Und Gott soll meine Seele beschützen. Und wie er hinkam, war der Schrank leer, und der arme Hund hatte nichts mehr. Amen.‹ So hat sie gebetet.« 248
Der Schatten von jemandem, der draußen zwischen dem Zelt und der Sonne vorbeiging, wanderte über das Segeltuch. Großvater schien einen schweren Kampf zu kämpfen, alle seine Muskeln verzerrten sich. Und plötzlich zuckte er zusammen, wie unter einem schweren Schlag. Er lag still, und sein Atem hatte aufgehört. Casy blickte hinab auf das Gesicht des alten Mannes und sah, daß es dunkelrot anlief. Sairy berührte Casys Schulter. Sie flüsterte: »Die Zunge, die Zunge, die Zunge!« Casy nickte. »Stellen Sie sich vor Großmutter, daß sie nichts sieht.« Er zwängte die festgepreßten Kiefer des alten Mannes auf und griff hinein nach der Zunge. Und als er sie nach vorn gezogen hatte, kam ein rasselnder Atemzug. Casy fand ein Stöckchen am Boden, mit dem er die Zunge hinunterdrückte, und der Atem rasselte ungleichmäßig weiter. Großmutter hüpfte herum wie ein Huhn. »Beten!« sagte sie. »Beten, haben Sie mich verstanden. Beten Sie doch, verdammt noch mal!« rief Großmutter. Casy blickte einen Moment lang zu ihr auf. Der röchelnde Atem wurde lauter und noch unregelmäßiger. »Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiliget sei Dein Name …« »Lob und Preis!« schrie Großmutter. »Dein Reich komme, Dein Wille geschehe – wie im Himmel, also auch auf Erden.« »Amen.« Ein langer röchelnder Seufzer drang aus dem offenen Mund, und dann ein heulender Atemzug. 249
»Unser täglich Brot gib uns heute – und vergib uns …« Der Atem stand still. Casy blickte in Großvaters Augen, die klar waren und tief und durchdringend und einen ernsten, wissenden Ausdruck hatten. »Halleluja!« sagte Großmutter. »Weiter.« »Amen«, sagte Casy. Da war Großmutter still. Und draußen vor dem Zelt waren alle Laute verstummt. Auf der Straße fegte ein Wagen vorbei. Casy kniete noch immer auf dem Boden neben der Matratze. Die Leute draußen lauschten, sie standen da und lauschten still auf die Laute des Sterbens. Sairy nahm Großmutter beim Arm und führte sie hinaus, und Großmutter schritt würdevoll und hielt den Kopf hoch. Sie schritt für die Familie und hielt den Kopf aufrecht für die Familie. Sairy brachte sie zu einer Matratze, die am Boden lag, und setzte sie darauf, und Großmutter blickte stolz vor sich hin, denn sie wußte sich beobachtet. Im Zelt war alles still. Und nach einer Weile erschien Casy im Eingang und trat hinaus. Vater fragte leise: »Was war’s denn?« »Der Schlag«, sagte Casy. »Es ist schnell gegangen.« Das Leben begann wieder. Die Sonne berührte den Horizont und breitete sich rötlich aus. Und über die große Straße kam ein langer Zug gewaltiger Lastwagen mit roten Seitenwänden. Sie dröhnten und verursachten ein kleines Erdbeben, und die Auspuffrohre spuckten blauen Rauch von Dieselöl in die Luft. Jeder der Lastwagen wurde von einem Mann gesteuert, und sein Ersatzmann schlief in einer Koje hoch oben am Wagendach. Die Lastwagen hielten niemals an. Sie donnerten 250
durch den Tag und durch die Nacht, und der Boden zitterte unter ihrem schweren Gewicht. Die Familie wurde eine Einheit. Vater hockte sich auf den Boden und Onkel John neben ihm. Noah und Tom und Al hockten sich gleichfalls hin, der Prediger setzte sich und stützte sich auf die Ellbogen. Connie und Rose von Sharon hielten sich ein wenig abseits. Jetzt erschienen Ruthie und Winfield laut schwatzend mit ihrem gefüllten Wassereimer, und als sie merkten, daß eine Veränderung vorgegangen war, verhielten sie ihre Schritte, stellten den Eimer hin und gingen still hinüber zur Mutter. Großmutter saß stolz und kühl da, bis die Gruppe sich gebildet hatte und niemand sie mehr ansah. Da legte sie sich nieder und bedeckte ihr Gesicht mit dem Arm. Die rote Sonne verschwand und ließ ein glimmendes Zwielicht auf der Erde zurück, so daß die Gesichter hell waren im Abend, und die Augen leuchteten vom Widerschein des Himmels. Der Abend sammelte Licht, wo er es finden konnte. Vater sagte: »Es ist in Mister Wilsons Zelt gewesen.« Onkel John nickte. »Er hat uns sein Zelt geliehen.« »Ja, das sind nette, freundliche Leute«, sagte Vater leise. Wilson stand bei seinem Wagen, und Sairy war zu Großmutter gegangen und hatte sich neben sie auf die Matratze gesetzt, aber sie hütete sich, Großmutter zu berühren. Vater rief: »Mister Wilson!« Der Mann schlurfte näher und hockte sich hin, und Sairy kam heran und stellte sich neben ihn. Vater sagte: »Wir sind euch sehr dankbar.« 251
»Wir helfen gerne«, sagte Wilson. »Wir sind euch verpflichtet«, sagte Vater. »Unsinn, verpflichtet! Das gibt’s nicht, wenn einer stirbt«, sagte Wilson, und Sairy pflichtete ihm bei. Al sagte: »Wir machen euch euren Wagen in Ordnung – Tom und ich.« Und Al war stolz, daß er die Verpflichtung der Familie abtragen konnte. »Ja, das wäre gut«, gab Wilson zu. Vater sagte: »Wir müssen überlegen, was wir jetzt machen. Es gibt doch Gesetze. Wenn einer stirbt, muß man’s melden, und wenn man das macht, nehmen sie einem entweder gleich vierzig Dollars für den Leichenbestatter ab, oder sie machen ’n Armenbegräbnis.« »Das hat’s bei uns noch nie gegeben«, warf Onkel John ein. Tom sagte: »Wir müssen eben lernen. Wir sind auch noch nie von unserm Land gejagt worden.« »Uns kann niemand was vorwerfen«, sagte Vater. »Wir haben nie was genommen, was wir nicht bezahlen konnten. Und sind noch nie jemand zur Last gefallen. Wie die Sache mit Tom war, haben wir auch den Kopf oben behalten können und haben uns nicht zu schämen gebraucht. Er hat nur das getan, was jeder anständige Mensch auch getan hätte.« »Ja, aber was machen wir?« fragte Onkel John. »Wenn wir’s so machen, wie ’s Gesetz ist, dann kommen sie und holen ihn. Wir haben nur hundertfünfzig Dollars. Sie nehmen uns vierzig ab, und wir kommen nicht nach Kalifornien – oder sonst kriegt er ’n Armenbegräbnis.« 252
Die Männer wurden unruhig und betrachteten den dunkler werdenden Boden zu ihren Füßen. Vater sagte halblaut: »Großvater hat seinen Vater selber begraben, mit seiner eigenen Schaufel. Und es war ein gutes Begräbnis. Damals hat man noch das Recht gehabt, sich von seinem eigenen Sohn begraben zu lassen, und der Sohn hat das Recht gehabt, seinen eigenen Vater zu begraben.« »Ja, das ist jetzt aber anders«, sagte Onkel John. »Manchmal kann man aber das Gesetz nicht so befolgen«, sagte Vater. »Jedenfalls nicht, wenn man anständig bleiben will. Sehr oft geht das einfach nicht. Wie Floyd ausgebrochen war und wild geworden ist, haben sie gesagt, wir müssen ihn ausliefern – und kein Mensch hat ihn ausgeliefert. Manchmal muß man das Gesetz eben umgehen. Ich sage, ich habe das Recht, meinen eigenen Vater zu begraben. Hat jemand ’ne andere Meinung?« Der Prediger richtete sich auf seinen Ellbogen auf. »Gesetze ändern sich«, sagte er, »aber wozu einer ’n Recht hat – das bleibt. Und das ist euer Recht.« Vater wandte sich zu Onkel John. »Es ist auch dein Recht, John. Hast du was dagegen zu sagen?« »Nichts«, sagte John. »Es gefällt mir nur nicht, daß wir ihn in der Nacht einfach so verscharren wollen. Großvater hätte das nicht gemacht.« Vater sagte beschämt: »Wir können nicht das machen, was Großvater gemacht hätte. Wir müssen nach Kalifornien, eh’ uns das Geld ausgeht.« Tom unterbrach ihn. »Manchmal graben die Leute 253
beim Arbeiten einen Mann wieder aus, und dann gibt’s eine große Geschichte, weil sie glauben, einer hat ihn ermordet. Die Regierung hat viel mehr Interesse für einen toten Mann wie für einen, der noch lebt. Dann müssen sie unbedingt alles rausfinden – wer er war und von was er gestorben ist. Ich schlage vor, wir stecken einen Zettel in ’ne Flasche, wo alles draufsteht, wie er gestorben ist und weshalb wir ihn hier begraben haben, und die Flasche geben wir ihm mit!« Vater nickte zustimmend. »Das ist gut. Schreib ’nen Zettel – aber schön. Dann ist er auch nicht so alleine, wenn er weiß, daß er seinen Namen bei sich hat und nicht einfach ein alter Mann ist, den seine Leute verscharrt haben. Ist noch was zu sagen?« Die Familie schwieg. Vater wandte sich zu Mutter um. »Willst du ihn anziehen?« »Ja, ich ziehe ihn an«, sagte Mutter. »Aber wer macht das Essen?« Sairy Wilson sagte: »Gehen Sie nur! Ich mach’ es schon. Ich und Ihr großes Mädchen.« »Sie sind so gut«, sagte Mutter. »Noah, du holst was von dem Fleisch aus den Fässern. Das Salz ist noch nicht sehr tief, aber es wird ’n schönes Essen geben.« »Wir haben ’nen halben Sack Kartoffeln«, sagte Sairy. »Gib mir zwei halbe Dollars«, bat Mutter. Vater grub in seinen Taschen und gab ihr die Silberstücke. Sie suchte sich eine Schüssel, füllte sie voll Wasser und ging in das Zelt. Es war fast dunkel. Sairy kam herein, brannte eine Kerze an und stellte sie auf eine Kiste, 254
dann ging sie wieder hinaus. Mutter sah den toten alten Mann an. Und sie riß ein Band von ihrer Schürze ab und schnürte ihm mitleidig den Kiefer hoch. Sie streckte seine Glieder und faltete seine Hände über der Brust. Sie hielt ihm die Augenlider zu und legte über jedes ein Silberstück. Sie knöpfte ihm das Hemd zu und wusch ihm das Gesicht. Sairy blickte herein und fragte: »Kann ich Ihnen was helfen?« Mutter sah auf. »Kommen Sie rein«, sagte sie. »Ich möchte mit Ihnen sprechen.« »Das ist ein gutes Mädchen, Ihre Große«, sagte Sairy. »Sie schält jetzt grade Kartoffeln. Was kann ich Ihnen helfen?« »Ich will Großvater ganz und gar waschen«, sagte Mutter, »aber er hat nichts anzuziehen. Und ich habe mir gedacht, Ihre Decke da ist doch nicht mehr zu brauchen. Den Todesgeruch kriegen Sie nie wieder raus. Ich habe gesehen, wie ’n Hund geknurrt und an der Matratze herumgezerrt hat, wo meine Mutter drauf gestorben ist – und das war zwei Jahre später. Ich dachte mir, ich wickle ihn in Ihre Decke ein. Wir vergelten’s Ihnen. Sie kriegen ’ne andere Decke von uns.« Sairy sagte: »Sie müssen nicht so reden. Wir helfen doch gerne. Ich habe mich seit langer Zeit nicht so … so sicher gefühlt. Manchmal braucht man, daß man jemand hilft.« Mutter nickte. »Das ist richtig«, sagte sie. Sie blickte lange in das alte bärtige Gesicht mit dem festgebundenen Unterkiefer und den silbernen Augen, die im Kerzen255
licht glänzten. »Er soll natürlich aussehen. Wir werden ihn einwickeln.« »Die alte Dame hat’s aber gar nicht schwer genommen.« »Ach, sie ist so alt«, sagte Mutter, »vielleicht weiß sie gar nicht mal, was eigentlich passiert ist. Vielleicht weiß sie’s noch ganz lange nicht. Außerdem – wir Joads haben so was nie gezeigt. Mein Vater hat immer gesagt: ›Jeder kann zusammenbrechen. Und um nicht zusammenzubrechen, dazu braucht’s schon ’nen Mann.‹ Ja, wir versuchen immer, uns nichts anmerken zu lassen.« Sie faltete die Decke sauber um Großvaters Beine und um seine Schultern. Sie zog ihm die Decke wie eine Kapuze über den Kopf und das Gesicht. Sairy reichte ihr ein halbes Dutzend großer Sicherheitsnadeln, und sie steckte die Decke überall fest. Und schließlich stand sie auf. »Er kriegt gar kein schlechtes Begräbnis«, sagte sie. »Wir haben ’nen Prediger bei uns, der was sagen kann, und dann ist ja auch die ganze Familie da.« Plötzlich schwankte sie ein wenig, und Sairy ging zu ihr und stützte sie. »Es ist der Schlaf …«, sagte Mutter in beschämtem Ton. »Nein, es geht schon wieder. Wir haben nur die ganze Nacht gearbeitet, um fertig zu werden, verstehen Sie?« »Kommen Sie raus an die Luft«, sagte Sairy. »Ja, ich bin ja auch fertig.« Sairy blies die Kerze aus. Unten in der Senke brannte ein helles Feuer. Und Tom hatte mit Stücken und Draht einen Aufbau gemacht, von dem zwei Kessel herabhingen und bereits 256
heftig brodelten. Unter den Deckeln quoll der Dampf hervor. Rose von Sharon kniete abseits vom heißen Feuer am Boden und hatte einen langen Löffel in der Hand. Sie sah Mutter aus dem Zelt kommen, stand auf und ging auf sie zu. »Mutter«, sagte sie. »Ich muß dich was fragen.« »Hast du schon wieder Angst?« fragte Mutter. »Es geht einfach nicht neun Monate lang ohne Kummer ab.« »Aber wird es denn … dem Kleinen nichts schaden?« Mutter sagte: »Es gibt ’ne Redensart, die heißt: ›Wird ein Kind aus Kummer geboren, so ist’s ein glückliches Kind.‹ Stimmt’s nicht, Missis Wilson?« »Ja, die Leute sagen so. Und ich habe auch noch ’ne andre gehört: ›Wird eins aus zuviel Glück geboren, so wird’s ein dummes Kind.‹« »Aber ich bin die ganze Zeit so aufgeregt«, sagte Rose von Sharon. »Das sind wir alle«, sagte Mutter. »Jetzt geh und paß auf die Töpfe auf.« An der Kante des Lichtringes, den das Feuer zeichnete, arbeiteten die Männer. Als Werkzeuge hatten sie eine Schaufel und eine Hacke. Vater umriß den Platz – ein acht Fuß langes und drei Fuß breites Stück Boden. Sie lösten einander ab bei der Arbeit. Vater hackte die Erde locker, und Onkel John schaufelte sie aus. Al hackte und Tom schaufelte, Noah hackte und Connie schaufelte. Und das Loch wurde tiefer, denn sie arbeiteten ständig in gleich schnellem Tempo. Als Tom schultertief in dem rechteckigen Loch stand, sagte er: »Wie tief noch, Vater?« 257
»Schön tief. Noch zwei Fuß mehr. Aber du gehst jetzt raus, Tom, und schreibst das Papier.« Tom kletterte heraus, und Noah nahm seinen Platz ein. Tom ging zu Mutter, die das Feuer anschürte. »Haben wir Papier und Feder, Mutter?« Mutter schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Das ist ’ne Sache, die wir nicht mitgenommen haben.« Sie blickte zu Sairy hinüber. Und die kleine Frau ging schnell in ihr Zelt. Sie kam zurück mit einer Bibel und einem halben Bleistift. »Hier«, sagte sie. »Da ist vorne eine freie Seite drin. Die können Sie benutzen und rausreißen.« Sie reichte Tom das Buch und den Bleistift. Tom setzte sich neben das Feuer. Er kniff nachdenklich die Augen zusammen, und schließlich schrieb er langsam und vorsichtig mit großen Buchstaben auf das Vorsatzpapier: »Dihs ist William James Joad, vom Schlak gestorben, wie er schonn sehr ald war. Seine Familje hat ihn begrabn, weil sie kein Gelt gehabd habn fürs Begrepniss. Nihmant hat ihn totgemachd. Er hat einfach den Schlak gekrigd und ist gestorbn.« Er hielt inne. »Mutter, hör mal zu.« Er las es ihr langsam vor. »Ja, das klingt nicht schlecht«, sagte sie. »Kannst du nicht noch was aus der Bibel dranschreiben, damit’s ’n bißchen religiös ist? Such doch irgend ’nen hübschen Satz aus der Bibel aus.« »Darf aber nicht lang sein«, sagte Tom. »Ich habe nicht mehr viel Platz auf der Seite.« Sairy machte einen Vorschlag: »Wie wär’s mit ›Gott sei seiner Seele gnädig‹?« »Nein«, sagte Tom. »Das klingt zu sehr, wie wenn er 258
erhängt worden wäre. Ich werde schon was finden.« Er blätterte und las, er bewegte dabei seine Lippen und murmelte halblaut vor sich hin. »Hier ist’n schöner kurzer Satz«, sagte er. »›Und Lot sprach zu ihnen: – Oh, nicht so, Herr.‹« »Das bedeutet nichts«, sagte Mutter. »Wenn du schon was schreibst, dann muß es auch was bedeuten.« Sairy sagte: »Sehen Sie doch in den Psalmen nach, weiter hinten. Aus den Psalmen kann man immer was nehmen.« Tom blätterte und las einzelne Verse. »Hier habe ich einen«, sagte er. »Der ist schön und mächtig religiös: ›Glücklich ist der, dessen Schuld vergeben und dessen Sünde verziehen ist.‹ Wie ist das?« »Das ist wirklich schön«, sagte Mutter. »Schreib das hin.« Tom schrieb langsam. Mutter spülte und wischte ein Marmeladeglas aus, Tom legte den Zettel hinein und schraubte den Deckel fest darauf. »Vielleicht hätt’ es lieber der Prediger schreiben sollen«, sagte er. »Nein, der Prediger ist kein Verwandter«, meinte Mutter. Sie nahm ihm das Glas ab und ging damit in das dunkle Zelt. Sie löste eine der Nadeln, schob das Marmeladeglas unter die dünnen kalten Hände des Toten und schloß die Decke wieder fest darüber. Und dann ging sie zum Feuer zurück. Die Männer kamen vom Grab herüber, ihre Gesichter glänzten vor Schweiß. »Fertig«, sagte Vater. Er ging mit John und Noah und Al in das Zelt, und sie trugen gemeinsam das lange Bündel heraus und brachten es 259
zum Grab. Vater sprang hinunter und nahm das Bündel in die Arme und legte es sanft in die Erde. Onkel John streckte seine Hand aus und half Vater wieder herauf. Vater fragte: »Und wie ist’s mit Großmutter?« »Ich will mal sehen«, sagte Mutter. Sie ging zur Matratze hinüber und blickte herab auf die alte Frau. Dann kam sie zum Grab zurück. »Sie schläft«, sagte sie. »Vielleicht hält sie’s mir nachher vor, aber ich kann sie nicht wecken. Sie war so müde.« Vater sagte: »Wo ist der Prediger? Er muß uns was beten.« »Ich habe ihn vorhin auf der Straße drüben gesehen«, sagte Tom. »Er betet nicht mehr gern.« »Betet nicht mehr gern?« »Nein. Er ist ja kein Prediger mehr. Er meint, es ist nicht richtig, so zu tun wie ’n Prediger, wenn er keiner mehr ist. Ich wette, er ist weggelaufen, damit wir ihn nicht drum bitten.« Casy war langsam näher gekommen und hatte Toms Worte gehört. »Ich bin nicht weggelaufen«, sagte er. »Ich will euch helfen, aber ich will euch nichts vormachen.« »Kannst du nicht ’n paar Worte sagen?« fragte Vater. »Es ist noch nie einer von uns ohne ’n paar Worte begraben worden.« »Ja, ich will etwas sagen«, erklärte sich der Prediger bereit. Connie führte Rose von Sharon an das Grab. Sie folgte widerstrebend. »Du mußt«, sagte Connie. »Es wäre nicht anständig. Es dauert ja nicht lange.« Der Feuerschein fiel auf die Menschen, die um das 260
Grab standen, leuchtete in ihre Gesichter und in ihre Augen und zuckte schwach auf ihren dunklen Kleidern. Sie hatten ihre Hüte und Mützen abgenommen. Casy sagte: »Ich will’s kurz machen.« Er neigte den Kopf, und die anderen folgten seinem Beispiel. Casy sagte feierlich: »Dieser alte Mann hat sein Leben gelebt und ist daran gestorben. Ich weiß nicht, ob er gut war oder schlecht, aber das ist auch gleich. Er hat gelebt, und das ist wichtig. Und jetzt ist er tot, und das ist gleich. Ich habe mal gehört, wie jemand ein Gedicht gesprochen hat, wo es drin heißt: ›Alles, was lebt, ist heilig.‹ Wenn man sich das überlegt, bedeutet’s bald mehr, wie die Worte sagen. Ich will nicht beten für einen Mann, der tot ist. Er braucht’s nicht. Er hat seine Aufgabe, und die ist ihm ganz deutlich gestellt, und er weiß genau, wie er sie erfüllen muß. Und wir, wir haben auch eine Aufgabe, aber wir wissen nicht, wie wir sie erfüllen sollen, weil’s so viele Wege gibt für uns. Und wenn ich beten soll, dann will ich für die Leute beten, die nicht wissen, welchen Weg sie gehen müssen. Großvater hier – der hat’s jetzt leicht. Und nun deckt ihn zu und laßt ihn seine Aufgabe erfüllen.« Er hob den Kopf. Vater sagte: »Amen.« Und auch die andern murmelten leise ein »Amen«. Dann nahm Vater die Schaufel, füllte sie halb mit Erde, die er dann langsam in das Grab hinunterrieseln ließ. Er reichte Onkel John die Schaufel, und auch John warf Erde hinab. Die Schaufel ging von Hand zu Hand, bis jeder an der Reihe gewesen war. Als alle ihr Recht erhalten und ihre Pflicht getan hatten, ging Vater zu dem Hügel lockerer Erde und füllte 261
schnell das Grab. Die Frauen gingen zurück zum Feuer, um nach dem Essen zu sehen. Ruthie und Winfield waren nachdenklich stehengeblieben. Ruthie sagte feierlich: »Großvater liegt jetzt da unten.« Und Winfield sah sie mit erschrockenen Augen an, dann lief er hinüber zum Feuer und setzte sich auf den Boden und schluchzte in sich hinein. Vater hatte das Grab zur Hälfte gefüllt, er richtete sich keuchend von der Anstrengung auf, und Onkel John vollendete die Arbeit. Und John schaufelte gerade einen Grabhügel, als Tom hinzutrat. »Hör mal«, sagte Tom, »wenn wir das machen, dann schaufeln die Leute es gleich wieder auf. Wir müssen’s verwischen. Eben machen und trockenes Gras drüber streuen. Es geht nicht anders.« Vater sagte: »Daran habe ich gar nicht gedacht. Ein Grab ohne Grabhügel ist aber nicht richtig.« »Ich kann’s nicht ändern«, sagte Tom. »Sie würden ihn gleich wieder ausgraben, und dann gibt’s was für uns, weil wir uns nicht ums Gesetz gekümmert haben. Du weißt, was ich dann kriege.« »Ja«, sagte Vater, »das habe ich vergessen.« Er nahm Onkel John die Schaufel ab und glättete die Grabstelle. »Im Winter wird’s einsinken«, sagte er. »Das kann ich nicht ändern«, sagte Tom. »Im Winter sind wir schon weit weg. Tritt es gut fest, und lege grünes Zeug drüber.« Als das Fleisch und die Kartoffeln gar waren, setzten sich die beiden Familien auf den Boden und aßen. Sie waren schweigsam und blickten ins Feuer. Wilson, der 262
mit seinen Zähnen ein Stück Fleisch herunterriß, seufzte vor Zufriedenheit. »Schweinefleisch essen ist mal wieder schön«, sagte er. »Ja, wir haben zwei Schweine gehabt«, erklärte Vater, »und haben uns gedacht, das beste ist, wenn wir sie essen. Man kriegt ja nichts dafür. Wenn wir uns erst mal ans Fahren gewöhnt haben und Mutter Brot machen kann, dann ist’s schön, so durchs Land zu reisen mit zwei Fässern Schweinefleisch hinten im Wagen. Wie lange seid ihr denn schon unterwegs?« Wilson bohrte sich mit der Zunge in den Zähnen und schluckte. »Wir haben Pech gehabt«, sagte er. »Vor drei Wochen sind wir losgefahren.« »Guter Gott, und wir wollen in zehn Tagen in Kalifornien sein!« »Ich weiß nicht, Vater«, unterbrach ihn Al. »Mit unserer Ladung kommen wir vielleicht niemals hin. Jedenfalls nicht, wenn da noch Berge kommen.« Sie schwiegen und blickten ins Feuer. Ihre Köpfe waren geneigt, und ihre Haare und ihre Stirnen leuchteten im Feuerschein. Über ihnen blitzten schwach die sommerlichen Sterne, und die Hitze des Tages ließ allmählich nach. Auf der Matratze, abseits vom Feuer, wimmerte Großmutter leise, wie ein kleiner Hund. Alle Köpfe wandten sich zu ihr um. Mutter sagte: »Rosasharn, sei ein gutes Mädchen und leg dich drüben zu Großmutter. Sie braucht jemand. Sie weiß es jetzt.« Rose von Sharon stand auf und ging hinüber zu der Matratze und legte sich neben die alte Frau, und das 263
Gemurmel ihrer leisen Stimmen drang herüber zum Feuer. Rose von Sharon und Großmutter flüsterten miteinander. Noah sagte: »Komisch ist das – jetzt ist Großvater nicht mehr da, und ich fühle mich doch nicht anders wie vorher. Jedenfalls nicht trauriger wie vorher.« »Es ist auch nicht anders«, sagte Casy. »Großvater und eure alte Farm – das war dasselbe.« Al sagte: »Es ist ’ne elende Schande. Da hat er nun immer geredet, was er machen wird, wie er sich die Weintrauben über dem Kopf zerquetschen wird, daß ihm der Saft den Bart hinunterläuft.« Casy sagte: »Er hat nur so getan, die ganze Zeit. Ich glaube, ich hab’ es gewußt. Großvater ist nicht erst heute abend gestorben. Er ist gestorben, wie wir ihn von der Farm mitgenommen haben.« »Weißt du das genau?« rief Vater. »So meine ich’s nicht. Natürlich, er hat geatmet, aber er war tot. Er war die Farm, und das hat er gewußt.« »Und du hast gewußt, daß er stirbt?« fragte Onkel John. »Ja«, sagte Casy, »ich hab’ es gewußt.« John starrte ihn an, und auf seinem Gesicht stand das Entsetzen. »Und du hast niemand was gesagt?« »Wozu?« fragte Casy. »Wir … wir hätten doch was tun können.« »Was?« »Ich weiß nicht, aber …« »Nein«, sagte Casy, »ihr hättet nichts tun können. Euer Weg war festgelegt, und Großvater hat nicht mehr dazugehört. Er hat auch nicht gelitten. Nur heute früh 264
ein bißchen. Er ist dageblieben, auf dem Land, wo er bleiben wollte. Er hat nicht fortgekonnt.« Onkel John seufzte tief. Wilson sagte: »Wir haben meinen Bruder Will leider zurücklassen müssen.« Die Blicke wandten sich ihm zu. »Er und ich, wir haben unsere Felder nebeneinander gehabt. Er ist älter wie ich. Wir haben beide noch nie ’n Auto gefahren. Also, wir sind losgegangen und haben alles verkauft. Will, der hat sich ’nen Wagen gekauft, und die Leute haben ihm ’n Jungen mitgegeben, wo’s ihm gezeigt hat. Und am Nachmittag, eh’ wir wegfahren wollten, haben Will und Tante Minnie ein bißchen Autofahren geübt. Will kommt an eine Kurve und schreit: ›Prrr!‹, wie zu seinen Pferden, und fährt durch ’nen Zaun. Und er schreit: ›Prrr! willst du wohl!‹ und tritt aufs Gas – und rin in ’nen Graben. Und da saß er nun. Er hat nichts mehr zu verkaufen gehabt, und der Wagen war auch hin. Aber es war seine eigene Schuld. Er ist so wütend geworden, daß er dann überhaupt nicht mehr mitfahren gewollt hat und nur dagesessen ist und immerfort geflucht hat.« »Na, und was macht er nun?« »Ich weiß nicht. Er ist zu wütend, um sich’s zu überlegen. Und wir haben nicht warten können. Wir haben nur fünfundachtzig Dollars gehabt. Die wollten wir nicht anbrechen, aber sie sind sowieso bald alle. Wir sind hundert Meilen gefahren, und da ist im Differential was kaputtgegangen, und das hat dreißig Dollars gekostet. Dann haben wir ’nen Reifen gebraucht, und dann ist uns ’ne Zündkerze zerknallt, und dann ist Sairy krank 265
geworden. Da haben wir zehn Tage anhalten müssen. Und jetzt ist diese verdammte Karre wieder kaputt, und das Geld ist bald alle. Ich weiß nicht, wann wir überhaupt nach Kalifornien kommen. Wenn ich nur ’n Auto reparieren könnte. Aber ich verstehe rein gar nichts von Autos.« Al fragte gewichtig: »Was ist denn mit dem Wagen?« »Er fährt einfach nicht. Der Motor springt an, und dann spuckt er und bleibt stehen, ’ne Minute später starte ich ihn dann wieder, aber eh’ er noch fährt, ist’s schon wieder aus.« »Also, er läuft ’ne Minute und bleibt dann einfach weg?« »Ja, so ist es. Und er fährt einfach nicht, ganz gleich, wieviel Gas ich gebe. Und das wird immer schlimmer.« Nun war Al sehr stolz und sehr erfahren. »Da haben Sie bestimmt nur ’ne verstopfte Benzinleitung. Ich werde sie mal durchblasen.« Und auch Vater war stolz. »Er versteht was von Autos«, sagte Vater. »Da bin ich Ihnen sehr dankbar. Man kommt sich vor wie ’n kleines Kind, wenn man so was nicht in Ordnung bringen kann. Wenn wir nach Kalifornien kommen, möchte ich mir ’nen richtigen Wagen kaufen. Vielleicht geht der nicht dauernd kaputt.« Vater sagte: »Wenn wir hinkommen. Das Hinkommen ist die große Schwierigkeit.« »Ja, aber es lohnt sich«, sagte Wilson. »Ich habe Handzettel gesehen, wo draufsteht, daß sie Leute zum Obstpflücken brauchen und gute Löhne zahlen. Überlegen Sie 266
doch nur mal, wenn wir da unter den schattigen Bäumen Obst pflücken und uns ab und zu mal was in den Mund stecken. Verdammt, es ist den Leuten ganz egal, wieviel wir essen, weil sie soviel haben. Und bei den guten Löhnen kann man sich vielleicht bald ’n Stückchen Land kaufen, und dann arbeitet man nur noch, wenn man mal was extra braucht. Na, und in ’n paar Jahren kann man schon wieder seine eigene Farm haben.« Vater sagte: »Wir haben die Handzettel auch gesehen. Ich habe sogar einen hier.« Er holte sein Portemonnaie aus der Tasche und entnahm ihm einen zusammengefalteten Handzettel. In schwarzen Drucktypen stand darauf: »Erbsenpflücker gesucht in Kalifornien. Gute Löhne. 800 Pflücker gesucht.« Wilson betrachtete ihn. »Ja, den habe ich auch gesehn. Genau denselben. Meinen Sie – die haben vielleicht schon ihre achthundert?« Vater sagte: »Das ist doch nur ein kleiner Teil von Kalifornien. Es ist der größte Staat, wo wir haben. Angenommen, die haben ihre achthundert schon – dann gibt’s noch viele andre Farmen. Ich möchte sowieso lieber Obst pflücken. Wie Sie sagen, unter den schattigen Bäumen und Obst pflücken – ja, das würden sogar die Kinder gerne machen.« Al stand plötzlich auf und ging hinüber zu dem Wagen der Wilsons. Er betrachtete ihn einen Augenblick, kam dann zurück und setzte sich wieder hin. »Heute nacht können Sie’s doch nicht machen«, sagte Wilson. »Ich weiß. Ich mache mich gleich morgen früh dran.« 267
Tom hatte seinen jüngeren Bruder nachdenklich beobachtet. »So was Ähnliches habe ich mir auch grade gedacht«, sagte er. Noah fragte: »Von was redet ihr eigentlich – ihr beiden?« Tom und Al schwiegen, denn jeder wartete auf den anderen. »Sag du’s ihnen«, forderte Al schließlich seinen Bruder auf. »Ja, also – vielleicht ist es ganz dumm, und vielleicht ist es auch gar nicht dasselbe, was Al will. Aber ich sag’s trotzdem. Wir sind überbelastet, aber Mister und Mistress Wilson sind’s nicht. Wenn nun ein paar von uns mit ihnen fahren könnten und wir etwas von ihrem leichten Zeug zu uns nehmen würden, dann gehen unsere Federn nicht kaputt, und wir können auch die Berge schaffen. Und ich und Al, wir verstehen was von Autos und werden schon dafür sorgen, daß die Karre rollt. Wir halten uns immer zusammen auf der Straße, und das kann für beide Teile nur gut sein.« Wilson sprang auf. »Aber natürlich! Wir freuen uns! Hörst du das, Sairy?« »Das wäre schön«, sagte Sairy. »Aber fallen wir nicht zur Last?« »Nein, weiß Gott nicht«, sagte Vater. »Ihr fallt uns gar nicht zur Last. Im Gegenteil. Ihr würdet uns helfen.« Wilson setzte sich unschlüssig wieder hin. »Hmm, ich weiß nicht.« »Was ist denn? Wollen Sie nicht?« »Ja, sehn Sie … ich habe nur noch ungefähr dreißig Dollars, und ich will niemand nicht zur Last fallen.« 268
Mutter sagte: »Sie fallen uns nicht zur Last. Jeder hilft dem andern, und dann kommen wir alle nach Kalifornien. Sairy Wilson hat auch bei Großvaters Begräbnis geholfen«, und sie brach ab. Das Verhältnis war klar. Al rief: »In dem Wagen können glatt sechs Leute fahren. Sagen wir, ich am Steuer und Rose von Sharon und Connie und Großmutter. Dann nehmen wir das große leichte Zeug und packen’s hinten auf den Lastwagen. Dann können wir ja auch immer wechseln.« Er sprach sehr laut, denn eine große Sorgenlast war ihm abgenommen. Sie lächelten scheu und blickten zu Boden. Vater fuhr mit seinen Fingerspitzen über die staubige Erde. Er sagte: »Mutter möchte ein weißes Haus haben mit Orangen drumrum. Sie hat mal so ’n Bild auf ’nem Kalender gesehn.« Sairy sagte: »Wenn ich wieder krank werde, müßt ihr weiterfahren, damit ihr hinkommt. Wir wollen euch nicht zur Last fallen.« Mutter blickte sie an und schien zum erstenmal die schmerzgequälten Augen und das von Schmerzen entstellte Gesicht zu sehen. Und sie sagte: »Wir müssen sehn, daß ihr durchkommt. Sie haben selber gesagt, wo Not ist, muß man helfen.« Sairy betrachtete ihre faltigen runzligen Hände im Feuerschein. »Wir müssen jetzt schlafen gehn.« Sie stand auf. »Großvater – es ist, als wär’ er schon ein Jahr lang tot«, sagte Mutter. Sie legten sich müde schlafen und gähnten behaglich. 269
Mutter wusch noch die Blechteller und rieb das Fett mit einem alten Mehlsack ab. Das Feuer erstarb, und die Sterne leuchteten stärker. Auf der Straße waren jetzt nur wenig Personenwagen zu hören, aber die großen Transportzüge donnerten in Abständen vorbei, und jedesmal gab es ein kleines Erdbeben. Die beiden Wagen in der Senke waren kaum zu sehen. Ein Hund heulte im Hof der Tankstelle an der Straße. Die beiden Familien waren zur Ruhe gekommen und schliefen, und die Feldmäuse wurden frech und huschten zwischen den Matratzen umher. Nur Sairy Wilson lag wach. Sie blickte hinauf zum Himmel und spannte ihren Körper fest an gegen den Schmerz.
14 Das Land im Westen wird unruhig unter der beginnenden Veränderung. Die Weststaaten werden unruhig wie Pferde vor einem Gewitter. Die großen Eigentümer werden unruhig, sie spüren die Veränderung und wissen nichts von dem Charakter dieser Veränderung. Die großen Eigentümer schlagen zu auf das Unmittelbare, auf die sich vergrößernde Regierung, die wachsende Einheit der Arbeiterschaft, auf die neuen Steuern und neuen Pläne, ohne zu wissen, daß diese Dinge Ergebnisse sind, nicht Ursachen. Ergebnisse, nicht Ursachen. Die Ursachen liegen tief und sind einfach – die Ursachen sind Hunger im Bauch, millionenmal vervielfacht, Hunger in 270
der Seele, Hunger nach Freude und ein wenig Sicherheit, millionenmal vervielfacht; Muskeln und Gehirne, die wachsen, arbeiten und schaffen wollen, millionenmal vervielfacht. Die letzte klare, bestimmte Funktion des Menschen – Muskeln, die arbeiten wollen. Gehirne, die schaffen wollen über das einfache Bedürfnis hinaus – das ist der Mensch. Eine Mauer zu bauen, ein Haus, einen Damm, und in die Mauer und das Haus und den Damm etwas vom Menschen zu legen und den Menschen etwas zurückzubringen von der Mauer, dem Haus, dem Damm; die harten Muskeln vom Heben, die klaren Linien und Formen vom Schaffen. Denn der Mensch, anders als jedes organische oder anorganische Ding im Universum, wächst über seine Arbeit hinaus, klimmt die Stufen seiner Vorstellungen empor, läuft seinen Kenntnissen voraus. Und dies mag man sagen vom Menschen – wenn Theorien sich ändern und zusammenbrechen, wenn Schulen, Philosophien, wenn enge dunkle Wege des nationalen, religiösen, ökonomischen Denkens wachsen und zerfallen, greift und strauchelt der Mensch vorwärts, unter Schmerzen manchmal und vergebens. Wenn er vorwärtsgeschritten ist, mag er zurückgleiten, aber nur einen halben Schritt, niemals den ganzen. Dies soll man sagen vom Menschen und es wissen. Dies soll man wissen, wenn aus den schwarzen Flugzeugen die Bomben auf den Marktplatz fallen, wenn Gefangene getreten werden wie die Schweine, wenn zerschossene Körper sich im Staub wälzen. Dann soll man’s wissen. Wäre der Schritt nicht getan, wäre der vorwärtsstrauchelnde Wille nicht mehr am Leben, so 271
würden keine Bomben fallen und keine Kehlen durchgeschnitten werden. Fürchte dich vor der Zeit, da keine Bomben mehr fallen, aber die Bombardierenden leben – denn eine jede Bombe ist der Beweis dafür, daß der Geist nicht gestorben ist. Und fürchte dich vor der Zeit, da die Streiks aufhören und die großen Unternehmer leben – denn jeder kleine geschlagene Streik ist Beweis dafür, daß der Schritt getan wird. Und dies sollst du wissen – fürchte die Zeit, da der Mensch nicht mehr leiden und sterben wird für ein Ideal, denn diese eine Eigenschaft ist die Grundlage der Menschheit, diese eine Eigenschaft ist der Mensch, einmalig im Universum. Die Weststaaten werden unruhig unter der beginnenden Veränderung. Texas und Oklahoma, Kansas und Arkansas, New Mexico, Arizona, Kalifornien. Eine einzelne Familie zog weg von ihrem Land. Vater hat Geld geborgt von der Bank, und jetzt will die Bank das Land. Die Landgesellschaft – das ist die Bank, wenn sie Land besitzt – will Traktoren und keine Familien auf dem Land. Ist ein Traktor schlecht? Ist die Kraft, die die langen Furchen aufwirft, schlecht? Wenn dieser Traktor uns gehörte, wäre er gut – nicht mir, sondern uns. Wenn unser Traktor die langen Furchen aufwerfen würde in unserem Land, wäre er gut. Nicht in meinem, in unserem Land. Dann würden wir den Traktor lieben, wie wir das Land geliebt haben, als es noch unser war. Aber dieser Traktor tut zweierlei – er wirft die Furchen auf und vertreibt uns von unserem Land. Es besteht kaum ein Unterschied zwischen diesem Traktor und 272
einem Tank. Von beiden werden Menschen vertrieben, furchtsam gemacht, verletzt. Das müssen wir uns überlegen. Ein Mann, eine Familie, vom Land vertrieben. Der rostige Wagen knarrt über die Straße nach Westen. Ich habe mein Land verloren, ein einziger Traktor hat mir mein Land genommen. Ich bin allein und bin verwirrt. Und die Familie übernachtet in einem Graben, und eine andere Familie kommt, und Zelte werden aufgebaut. Die beiden Männer hocken sich auf den Boden, und die Frauen und Kinder hören zu. Hier ist der Wendepunkt – du, der du Veränderung hassest und Revolution fürchtest. Halte diese beiden Männer auseinander, sie müssen sich hassen, fürchten, müssen einander mißtrauen. Hier beginnt das, was du fürchtest. Hier liegt der Keim. Denn hier ändert sich das »Ich habe mein Land verloren«; eine Zelle spaltet sich, und aus dieser Spaltung wächst das, was du hassest, das »Wir haben unser Land verloren«. Hier liegt die Gefahr, denn zwei Männer sind nicht so allein und verwirrt wie einer. Und aus diesem ersten »Wir« wächst etwas noch viel Gefährlicheres: »Ich habe ein bißchen Essen« und »Ich habe keins«. Wenn die Lösung dieses Problems ist: »Wir haben ein bißchen Essen«, dann ist die Sache im Gang, dann hat die Bewegung Ziel. Nur noch eine Vervielfältigung jetzt, und dieses Land und dieser Traktor gehören uns. Die beiden Männer, die im Graben hocken, das kleine Feuer, das Fleisch, das da im Topfe schmort, die schweigenden Frauen mit ihren steinernen Augen und hinter ihnen die Kinder, die mit ihren Herzen auf Worte lauschen, die ihre Köpfe nicht verstehen. Die Nacht fällt herab. Das 273
Baby friert. Hier, nimm diese Decke. Sie ist aus Wolle. Sie hat meiner Mutter gehört, diese Decke – nimm sie für das Kleine. Ja, hierhin mußt du deine Bombe werfen. Denn hier ist der Anfang – vom »Ich« zum »Wir«. Wenn du, der all die Dinge besitzt, die die Leute haben müssen, das verstehst, kannst du dich vielleicht retten. Wenn du Ursachen von Ergebnissen unterscheiden kannst, wenn du weißt, daß Paine, Marx, Jefferson, Lenin Ergebnisse, nicht Ursachen waren, wirst du vielleicht am Leben bleiben. Aber du kannst es nicht wissen. Denn die Eigenschaft des Besitzens versteinert dich für immer in ein »Ich« und schneidet dich für immer ab vom »Wir«. Die Weststaaten werden unruhig unter der beginnenden Veränderung. Not ist ein Stimulans für Ideal, Ideal für Handeln. Eine halbe Million Menschen, die durch das Land zieht, eine weitere Million noch seßhaft, aber zum Wandern bereit, und weitere zehn Millionen spüren die erste Unruhe. Und Traktoren werfen die vielfachen Furchen auf im verlassenen Land.
15 An der Route 66 stehen die Buden für Würstchen und Hamburger – Al Susy’s Place – Carl’s Lunch – Joe & Minnie – Will’s Eats. Bretterbaracken. Zwei Benzinpumpen davor, eine Schwingtür, eine lange Theke, Schemel und eine Stange für die Füße. Neben der Tür 274
drei Spielautomaten, in denen unter Glas der Reichtum zu sehen ist, den man für einen Nickel gewinnen kann. Und dann das Grammophon mit den wie Tortenböden aufgeschichteten Platten, bereit, auf den Plattenteller zu fallen und Tanzmusik zu spielen, ›Ti-pi-ti-pi-tin‹, ›Thanks for the Memory‹, Bing Crosby, Benny Goodman. An einem Ende der Theke ein Glaskasten – Hustenbonbons, Coffein-Sulphat, genannt »Schlaflos«, Bonbons, Zigaretten, Rasierklingen, Aspirin, BromoSelters, Alka-Selters. Die Wände mit Plakaten dekoriert, badende Mädchen, Blondinen mit großen Brüsten und schlanken Hüften und Wachsgesichtern in weißen Badeanzügen, eine Flasche Coca-Cola haltend und lächelnd – siehst du, das kriegst du alles bei einem Coca-Cola dazu. Lange Theke, Pfeffer- und Salzstreuer, Mostrichtöpfe und Papierservietten. Bierhähne hinter der Theke, und an der Rückwand die Kaffeemaschinen, glänzend und dampfend, mit Glasröhren, die anzeigen, wieviel Kaffee noch darin ist. Und Kuchen unter Drahtgittern und Orangen in Pyramiden zu vieren. Und kleine Stapel von Post Toasties, Cornflakes, in Mustern aufgebaut. Und Sprüche auf Karten mit leuchtenden Glimmerbuchstaben: »Kuchen wie bei Muttern.« »Kredit schafft Feinde, wir wollen Freunde sein.« »Damen dürfen rauchen, aber Vorsicht mit den Zigarettenstummeln.« »Spar Deiner Frau die Mühe und iß bei uns.« Unten am anderen Ende die Kochplatten, Töpfe mit Schmorfleisch, Kartoffeln, Roastbeef, Schweinebraten, der darauf wartet, aufgeschnitten zu werden. Minnie oder Susy oder Mae, meist mittleren Alters, 275
hinter der Theke, das Haar gewellt und Rouge und Puder auf dem schwitzenden Gesicht. Sie nimmt die mit leiser Stimme aufgegebenen Bestellungen entgegen und ruft sie mit pfauenartigem Kreischen dem Koch zu. Sie wischt mit kreisenden Handbewegungen die Theke ab und poliert die großen glänzenden Kaffeemaschinen. Der Koch heißt Joe oder Carl oder Al, trägt eine weiße Jacke und Schürze, und unter seiner weißen Mütze steht ihm in Perlen der Schweiß auf der Stirn. Er ist launisch, redet kaum, blickt jedesmal, wenn ein neuer Gast eintritt, einen Moment lang auf. Er wischt die Pfanne aus, knallt den Hamburger hinein, wiederholt Macs Bestellungen halblaut, kratzt die Pfanne aus, wischt sie mit seinem Lappen sauber. Launisch und stumm. Mae ist für das Publikum da, lächelnd, gereizt, immer einem Ausbruch nahe, lächelnd, während ihre Augen an einem vorbeiblicken – nur bei Lastwagenfahrern nicht. Sie ist das Rückgrat der ganzen Kneipe. Wo die Lastwagen anhalten, da kommen die Kunden. Lastwagenfahrern kann man nichts vormachen, die wissen’s. Sie bringen die Kundschaft. Das wissen sie. Setz ihnen ’ne Tasse schlechten Kaffee vor, und sie rennen weg. Behandle sie richtig, dann kommen sie wieder. Mae lächelt die Lastwagenfahrer mit aller Kraft an. Sie ziert sich ein bißchen, ordnet ihre Haare im Nacken, so daß ihre Brüste sich heben mit den erhobenen Armen, sagt ihnen die Zeit, zeigt ihnen große Sachen, erzählt große Geschichten und große Witze. Al spricht nie etwas. Er ist nicht fürs Publikum da. Manchmal lächelt er matt über einen Witz, aber lachen tut er nie. Manchmal blickt er auf, 276
wenn Maes Stimme gar zu lebhaft wird, und dann kratzt er die Pfanne mit einem Spatel aus, kratzt das Fett in eine eiserne Rinne, die um die Kochplatte herumläuft. Er preßt den zischenden Hamburger mit seinem Spatel herunter. Er legt die zerschnittenen Semmeln auf die Platte, damit sie heiß werden und rösten. Er nimmt die verstreuten Zwiebelstückchen von der Platte und häuft sie auf das Fleisch und drückt sie mit seinem Spatel ein. Er legt die eine Hälfte der Semmel oben auf das Fleisch, bestreicht die andere Hälfte mit zerschmolzener Butter und mit dünner schwarzer Würze. Und indem er die eine Semmelhälfte auf dem Fleisch festhält, fährt er mit seinem Spatel unter den dünnen Fleischkloß, dreht ihn herum, legt die bebutterte Hälfte obendrauf und wirft den Hamburger auf einen kleinen Teller. Ein Stückchen Gurke und zwei schwarze Oliven daneben. Er läßt den Teller wie eine Diskusscheibe über die Theke sausen. Und er kratzt seine Pfanne mit dem Spatel aus und blickt schlechtgelaunt auf den Schmortopf. Wagen fegen vorbei auf der Route 66. Nummernschilder: Mass., Tenn., R. I., N. Y., Vt., Ohio. Sie fahren nach Westen. Feine Wagen. Im Fünfundsechzig-MeilenTempo. Da kommt so ein Ford. Sieht aus wie ’n Sarg auf Rädern. Aber, guter Gott, wie die Leute reisen! Siehst du den La Salle? Der ist das Richtige für mich. Ich bin gar nicht so – ich würd’ ’n direkt nehmen. Wenn du schon groß anfängst, warum dann keinen Cad? ’n bißchen größer und ’n bißchen schneller. 277
Was mich angeht – ich nehme lieber ’nen Zephyr. Da fährst du kein Vermögen spazieren, aber der Wagen ist Klasse und hat Tempo. Jawohl, ich nehme ’nen Zephyr. Jetzt wirst du lachen – ich bin schon mit ’nem BuickPuick zufrieden. Grade gut genug für mich. Quatsch, der kostet so viel wie ’n Zephyr und reicht da doch nicht ran. Ist mir schnuppe. Ich will mit Henry Ford nichts zu tun haben. Ich kann den Burschen nicht leiden. Ein Bruder von mir hat bei ihm in der Fabrik gearbeitet. Du hättest mal hören sollen, was der erzählt hat. Ja, aber so ’n Zephyr ist nicht schlecht. Die großen Wagen auf der Straße. Ermattete, hitzegerötete Damen, die zum Leben tausend kleine Dinge nötig haben: Cremes, Salben, um sich einzufetten, Farben in kleinen Flaschen – Schwarz, Rosa, Rot, Weiß, Grün, Silber –, um die Farbe der Haare, der Augen, der Lippen, der Nägel, der Brauen, der Wimpern, der Lider zu ändern. Öle, Gifte und Pillen, Puder, Flüssigkeiten, Gelees, um ihren Geschlechtsverkehr sicher, geruchlos und unproduktiv zu machen. Und das alles außer ihren Kleidern. Mein Gott, was für ein heilloser Unsinn! Linien der Müdigkeit um die Augen, Linien der Unzufriedenheit um den Mund, Brüste, die schwer in kleinen Körben liegen, Bauch und Schenkel, die sich gegen Gummihüllen pressen. Und die Münder, die stöhnen, Augen, die böse sind – sie verabscheuen Sonne und Wind und Erde, klagen über das Essen und ihre Müdigkeit und hassen die Zeit, die sie selten schön macht, aber immer alt. 278
Neben ihnen kleine dickbäuchige Männer in hellen Anzügen und Panamahüten, blitzsaubere, rosige Männer mit sorgenvollen, rastlosen Augen. Sorgenvoll, weil ihre Berechnungen nicht stimmen, hungernd nach Sicherheit und dennoch spürend, daß die Sicherheit auf unserer Erde langsam schwindet. An ihren Wagen die Insignien von Hotels und Serviceclubs, Orten, wohin sie gehen, um sich mit Hilfe einer Anzahl weiterer sorgenvoller kleiner Männer versichern zu können, daß Geschäft eine noble Sache ist und nicht die komische ritualisierte Dieberei, die es, wie sie sehr wohl wissen, ist, daß Geschäftsleute intelligent sind trotz der Rekorde ihrer Dämlichkeit, daß sie gütig und wohltätig sind trotz den Prinzipien gesunder Geschäftsführung, daß ihr Leben reich ist und nicht der ermüdende Trott, den sie kennen, und daß eine Zeit kommen wird, in der sie keine Angst mehr haben werden. Und diese beiden reisen nach Kalifornien. Sie sitzen in der Halle des »Berley-Wilshire-Hotels« und beobachten die Leute, die vorbeigehen und die sie beneiden, blicken hinauf zu den Bergen – Berge, siehst du, und große Bäume –, er mit sorgenvollen Augen und sie mit dem Gedanken, wie die Sonne ihre Haut austrocknen wird. Sie sehen sich den Großen Ozean an, und ich wette hunderttausend Dollars gegen nichts, daß er sagt: »Er ist gar nicht so groß, wie ich ihn mir vorgestellt habe.« Und sie beneidet die frischen jungen Körper am Strand. Sie reisen nach Kalifornien, um wieder heimfahren zu können. Um sagen zu können: »Die Soundso hat im ›Trocadero‹ am Tisch neben uns gesessen. Sie ist eine 279
furchtbare Ziege, aber sie zieht sich gut an.« Und er: »Ich habe da unten mit tüchtigen Geschäftsleuten gesprochen. Sie sehen überhaupt keine Chance, wenn wir nicht den Kerl im Weißen Haus loswerden.« Und: »Ich hab’ es von jemandem gehört, der Bescheid weiß – sie hat Syphilis. In dem Warner-Film damals hat sie mitgespielt. Sie hat sich ihren Weg zum Film erschlafen. Na ja, nun hat sie, was sie gewollt hat.« Aber die sorgenvollen Augen finden keine Ruhe, und der böse Mund wird niemals froh. Der große Wagen fegt im Sechzig-MeilenTempo über die Straße. Ich möchte etwas Kühles trinken. Ja, da vorn ist ein Lokal. Soll ich anhalten? Meinst du denn, es ist sauber? So sauber, wie man’s in dieser gottverlassenen Gegend eben finden kann. Aber mit Soda in Flaschen kann einem doch nicht viel passieren. Die Bremsen des großen Wagens kreischen, und er hält an. Der dicke sorgenvolle Mann hilft seiner Frau heraus. Mae sieht sie an und sieht an ihnen vorbei, als sie eintreten. Al blickt von seiner Pfanne auf und senkt den Kopf wieder. Mae weiß schon Bescheid. Sie werden für fünf Cents ein Sodawasser trinken und meckern, daß es nicht kalt genug ist. Die Frau wird sechs Papierservietten benützen und sie auf die Erde werfen. Der Mann wird sich verschlucken und wird Mae dafür verantwortlich machen. Die Frau wird schnüffeln, als röche sie verfaultes Fleisch, und dann werden sie hinausgehen und 280
allen Leuten erzählen, daß die Menschen im Westen so unfreundlich sind. Und Mae hat, wenn sie mit Al alleine ist, einen Namen für sie. Sie nennt sie Drecksbande. Lastwagenfahrer. Das ist was anderes. »Hier kommt ein großer Transportzug. Ich hoffe, sie halten an und kommen rein, damit wir den Geruch von der Drecksbande aus der Bude kriegen. Wie ich in dem Hotel in Albuquerque gearbeitet habe, Al – wie die klauen! Alles, was ihnen unter die Finger kommt. Und je größer der Wagen, desto mehr stehlen sie – Handtücher, Silber, Seifenschüsseln. Du kannst dir’s nicht vorstellen.« Und Al mürrisch: »Was glaubst du denn, wo die ihre großen Wagen und das ganze Zeug herhaben? Die sind doch nicht damit auf die Welt gekommen. Du wirst nie was haben.« Der Transportzug, ein Fahrer und sein Begleitmann. »Wie wär’s, wenn wir da anhalten würden für ’ne Tasse Schwarzen? Ich kenne die Bude.« »Und unsre Fahrzeit?« »Ach, wir sind früh dran!« »Na, dann halt an. Das Mädchen da drin ist nicht schlecht. Und guten Kaffee haben sie auch.« Der Lastzug hält an. Zwei Männer in Khaki-Reithosen, Stiefeln, kurzen Jacken und Militärmützen mit glänzenden Schildern. Schwingtür – krach. »Na, Mae?« »Wenn das nicht der große Bill ist! Wann bist du denn zurückgekommen?« »Vor ’ner Woche.« 281
Der andere Mann steckt einen Nickel in das Grammophon, beobachtet, wie die Platte herausrutscht und der Plattenteller darunter sich hebt. Bing Crosbys goldene Stimme. »Hab Dank für die Erinnerung, für Sonne, Meer und Licht – Du warst zwar eine bittre Kur, doch trotzdem lieb’ ich dich–« Und der Lastwagenfahrer singt, so daß Mae es hören kann: »Du warst zwar eine bittre Hur’, doch gingst nie auf den Strich.« Mae lacht. »Wer ist denn dein Freund, Bill? Zum erstenmal mit auf deiner Tour, was?« Der andere steckt einen Nickel in den Spielautomaten, gewinnt vier Jetons und steckt sie wieder in den Apparat. Tritt an die Theke. »Also, was soll’s denn sein?« »Tasse Schwarzen. Was hast du denn für Kuchen?« »Bananen-Creme, Ananas-Creme, Schokoladen-Creme – und Apfel.« »Also Apfel. Warte … Was ist denn das Dicke da?« Mae holt den Kuchen heraus und schnüffelt daran. »Bananen-Creme.« »Schneid ’n Stück ab – aber ’n großes.« Der andere sagt: »Zwei.« »Gut, zwei. Weißt du neue Witze, Bill?« »Ja, hör zu.« »Mensch, sei vorsichtig vor ’ner Dame.« »Ach was, der ist nicht schlimm. Ein kleiner Junge kommt zu spät zur Schule. Der Lehrer fragt: ›Weshalb kommst du denn zu spät?‹ Der Junge antwortet: ›Ich habe ’ne Kuh wegbringen müssen – zum Decken.‹ Der 282
Lehrer sagt: ›Kann das dein Vater nicht machen?‹ Und der Junge antwortet: ›Na sicher, aber nicht so gut wie der Bulle.‹« Mae kreischt vor Lachen, und Al, der sorgfältig auf einem Brett Zwiebeln zerschneidet, blickt auf und lächelt und wendet sich dann wieder seinen Zwiebeln zu. Lastwagenfahrer – die sind richtig. Lassen jeder einen Vierteldollar liegen. Fünfzehn Cents für Kaffee und Kuchen und ’nen Zehner für Mae. Und dabei wollen sie gar nichts von ihr. Sie sitzen nebeneinander auf den Hockern, die langen Löffel stecken in den Kaffeetassen. Sie rufen sich die Tageszeit zu. Und Al, der seine Pfanne abwischt, hört zu, aber macht keine Bemerkungen. Bing Crosbys Stimme verstummt. Der Plattenteller senkt sich wieder, und die Platte rutscht in den Stapel zurück. Das rote Licht geht aus. Der Nickel, der den ganzen Mechanismus in Gang gesetzt hat, der Crosbys Stimme und das Orchester hat erklingen lassen – dieser Nickel fällt zwischen den beiden Kontaktpunkten heraus und in die Büchse. Dieser Nickel hat, im Gegensatz zu dem meisten Geld, eine Arbeit geleistet, er hat mit seiner physikalischen Kraft eine Reaktion ausgelöst. Dampf sprudelt aus der Kaffeemaschine. Der Kompressor des Eisschranks summt leise und verstummt dann. Der elektrische Ventilator in der Ecke dreht langsam seinen Kopf und bläst einen warmen Wind in den Raum. Auf der Straße, der Route 66, fegen die Wagen vorbei. »Vorhin hat einer aus Massachusetts hier gehalten«, sagte Mae. 283
Bill umgriff seine Tasse am oberen Rand, so daß der Löffel zwischen seinem Zeige- und Mittelfinger steckte. Er sog schlürfend Luft ein mit dem Kaffee, um ihn abzukühlen. »Du solltest nur mal draußen fahren. Da sind jetzt Wagen aus allen Staaten unterwegs. Und alle fahren nach Westen. Ich habe noch nie so viele gesehen. Hübsche Dinger dabei.« »Heute früh haben wir ’nen Unfall gesehen«, sagte sein Begleiter. »Großer Wagen, Cadillac, Spezialkarosserie, hübsches Ding, niedrig, cremefarben – eben Spezialkarosserie. Ist mit ’nem Lastwagen zusammengefahren. Hat dem Fahrer den Kühler direkt in den Bauch gedrückt. Muß mindestens neunzig gefahren sein. Das Steuerrad ist direkt in den Kerl reingesaust. Er hat gezappelt wie ’n Frosch am Angelhaken. Süßer kleiner Wagen. Feines Ding. Jetzt ist er keinen Dreck mehr wert. Ist allein gefahren, der Bursche.« Al blickte von seiner Arbeit auf. »Und der Lastwagen ist hin?« »Ach, du guter Gott! War überhaupt kein Lastwagen. War so ’n zurechtgebauter Personenwagen, voll von Töpfen und Pfannen und Matratzen und Kindern und Hühnern. Die fahren jetzt in Massen nach Westen. Also, der Kerl kommt mit seinen neunzig Sachen an uns vorbeigebraust – macht’s glatt auf zwei Rädern, damit er noch an uns vorbeikommt, und ein Wagen kommt entgegen, und er muß ausweichen und saust in den Lastwagen rein. Ist wie ’n Besoffener gefahren, der Bursche. Guter Gott, und alles war voll von Bettlaken und Hühnern und Kindern. Ein Kind ist tot. So was habe 284
ich noch nicht gesehen. Wir haben angehalten. Der Alte, wo den Lastwagen fährt, steht da und guckt auf das tote Kind. War kein Wort aus ihm rauszukriegen. Einfach stumm und taub, der Alte. Ja, und die Straße ist voll von solchen Familien, wo nach Westen fahren. Ich habe noch nie so viele gesehen. Es wird auch immer schlimmer. Ich möchte wissen, wo die alle herkommen.« »Ich möchte wissen, wo die alle hinwollen«, sagte Mae. »Manchmal halten sie hier an wegen Benzin, aber was andres kaufen sie fast nie. Manche sagen, daß sie klauen. Aber wir haben ja nichts rumliegen. Von uns haben sie noch nie was geklaut.« Bill, der schmatzend seinen Kuchen aß, blickte durch das Fenster auf die Straße. »Paß auf, ich glaube, da kommen welche.« Ein 1926er Nash bog müde von der Straße ab und hielt an. Der Rücksitz war fast bis oben hin mit Säcken, Töpfen und Pfannen vollgeladen, und ganz oben auf der Ladung hockten zwei kleine Buben. Auf dem Wagendach eine Matratze und ein zusammengelegtes Zelt, die Zeltstäbe auf dem Trittbrett festgebunden. Der Wagen hielt vor den Benzinpumpen an. Ein dunkelhaariger Mann mit scharfgeschnittenen Zügen stieg langsam aus. Und die beiden Buben rutschten von der Ladung herunter auf den Boden. Mae trat hinter ihrer Theke hervor und stellte sich in die Tür. Der Mann hatte graue Wollhosen an und ein blaues Hemd, das am Rücken und unter den Armen dunkelblau war von Schweiß. Die Buben trugen Overalls und nichts weiter, zerlumpte, gestopfte Overalls. Ihr 285
Haar war strohblond und stand ihnen gleichmäßig vom Kopfe ab, denn sie waren geschoren worden. Ihre Gesichter waren verschmiert von Staub. Sie liefen zu der Pfütze unter dem Wasserschlauch und steckten ihre Zehen hinein. Der Mann fragte: »Können wir ’n bißchen Wasser haben, Ma’am?« Ein Anflug von Ärger zog über Maes Gesicht. »Ja, holen Sie sich’s nur.« Sie sagte leise über die Schulter hinweg: »Ich passe schon auf.« Sie sah zu, wie der Mann langsam den Kühler aufschraubte und das Schlauchende hineinsteckte. Eine Frau in dem Wagen, eine flachshaarige Frau, sagte: »Versuch doch, ob du’s hier kriegen kannst.« Der Mann drehte das Wasser ab, zog den Schlauch heraus und schraubte den Kühler wieder zu. Die beiden Buben nahmen ihm den Schlauch aus der Hand, drehten wieder auf und tranken durstig. Der Mann nahm seinen schwarzen fleckigen Hut ab und stand in komischer Bescheidenheit einen Augenblick vor seinem Wagen. »Können Sie uns wohl ’n Laib Brot verkaufen, Ma’am?« Mae sagte: »Wir haben keinen Laden. Das Brot, was wir haben, brauchen wir für unsre Sandwiches.« »Ich weiß, Ma’am.« Er war beharrlich in seiner Bescheidenheit. »Wir brauchen Brot, und auf der ganzen Strecke hier gibt’s keinen Laden.« »Wenn wir Brot verkaufen, dann wird’s uns nachher knapp.« Mae war schwankend geworden. »Wir haben Hunger«, sagte der Mann. 286
»Weshalb kauft ihr euch keine Sandwiches? Wir haben sehr gute Sandwiches – Hamburger.« »Das würden wir sehr gerne, Ma’am. Aber wir können’s nicht. Wir müssen alle zusammen von ’nem Zehner satt werden.« Und er sagte verlegen: »Wir haben nämlich nicht viel.« Mae sagte: »Für ’nen Zehner kriegen Sie aber keinen Laib Brot. Wir haben leider nur welche zu fünfzehn.« Hinter ihrem Rücken rief Al: »Guter Gott, Mae, nun gib ihnen doch schon endlich Brot.« »Dann wird’s aber bei uns knapp, bis der Brotwagen kommt.« »Dann wird’s eben knapp, verdammt noch mal«, sagte Al. Und er blickte verdrießlich hinunter auf den Kartoffelsalat, den er gerade zubereitete. Mae zuckte die Achseln und sah die Lastwagenfahrer an, um ihnen zu zeigen, wie geplagt sie war. Sie hielt die Schwingtür auf, und der Mann trat ein und brachte einen Geruch von Schweiß mit sich. Die Buben zwängten sich hinter ihm gleichfalls herein und liefen sofort zu dem Glaskasten mit Zuckerzeug und betrachteten es – nicht begierig oder hoffnungsvoll, nicht einmal sehnsüchtig, sondern mit einem gewissen Staunen darüber, daß es solche Dinge überhaupt gab. Sie waren gleich groß, und auch ihre Gesichter glichen einander. Der eine kratzte sich seinen staubigen Knöchel mit den Zehennägeln seines anderen Fußes. Der andere flüsterte ihm leise etwas zu, und dann reckten sie ihre Arme so, daß ihre geballten Fäuste in den Taschen der Overalls durch den dünnen Stoff hindurch zu sehen 287
waren. Mae zog eine Schublade heraus und entnahm ihr einen langen, in Wachspapier eingewickelten Brotlaib. »Das ist ein Fünfzehn-Cents-Brot.« Der Mann setzte seinen Hut wieder auf. Er antwortete mit unwandelbarer Bescheidenheit: »Könnten Sie … ich meine, könnten Sie nicht für zehn Cents davon abschneiden?« Al sagte unfreundlich: »Nun gib ihnen doch schon das Brot, Mae!« Der Mann wandte sich an Al. »Nein, wir möchten gerne für zehn Cents davon haben. Wir müssen verdammt rechnen, damit wir nach Kalifornien kommen.« Mae sagte resigniert: »Hier, Sie können das für zehn Cents haben.« »Wir wollen Sie aber nicht berauben, Ma’am.« »Machen Sie keine Geschichten – Al sagt, Sie sollen’s nehmen.« Und sie schob das Brot über die Theke. Der Mann zog seinen Geldbeutel aus seiner hinteren Hosentasche und öffnete ihn. Er war voller Silbergeld und speckiger Scheine. »Klingt vielleicht komisch, daß wir so rechnen müssen«, entschuldigte er sich. »Aber wir haben noch tausend Meilen zu fahren und wissen nicht, ob wir überhaupt hinkommen.« Er wühlte mit einem Finger in dem Beutel, fand einen Zehner und holte ihn heraus. Als er ihn auf die Theke legte, hatte er einen Penny mitgegriffen. Er wollte ihn gerade wieder in den Beutel stecken, als sein Blick auf die beiden Buben fiel, die wie angewurzelt vor dem Glaskasten mit dem Zuckerzeug standen. Er ging langsam zu ihnen hinüber. Er deutete auf die Stangen 288
von gestreiftem Pfefferminz-Zucker in dem Glaskasten. »Sind das Penny-Stangen, Ma’am?« Mae trat hinzu. »Welche?« »Da, die gestreiften.« Die kleinen Buben hoben ihre Blicke zu ihr auf und hielten den Atem an. Ihre Münder waren halb geöffnet, sie standen steif und unbeweglich da. »Ach so, die. Nein – die kosten zwei Stück ’nen Penny.« »Gut, dann geben Sie mir zwei, Ma’am.« Er legte den Kupfer-Cent bedächtig auf die Theke. Die Buben atmeten hörbar auf. Mae hielt ihnen die Stangen entgegen. »Nehmt sie nur«, sagte der Mann. Sie griffen schüchtern zu. Jeder nahm eine Stange, sie hielten sie nach unten, fest gegen ihre Hosenbeine gepreßt, und sahen sie nicht an. Aber sie warfen einander Blicke zu, und in ihren Mundwinkeln stand ein verlegenes Lächeln. »Vielen Dank, Ma’am.« Der Mann nahm das Brot und ging aus der Tür, und die Buben marschierten steif hinter ihm her und hielten die rotgestreiften Stangen noch immer fest gegen die Beine gepreßt. Sie sprangen wie Eichhörnchen über den Vordersitz auf die Wagenladung hinauf und vergruben sich dort wie Eichhörnchen, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Der Mann stieg ein und startete den Wagen, und der alte Nash kletterte mit dröhnendem Motor, eine Wolke von blauem, öligem Rauch hinter sich lassend, die Straße hinauf und fuhr weiter nach Westen. Die Lastwagenfahrer und Mae und Al blickten ihnen durch das Fenster nach. 289
Bill wandte sich um. »Das waren doch keine Stangen, wo zwei Stück ’n Penny kosten«, sagte er. »Was geht das dich an?« erwiderte Mae wütend. »Die kosten doch ’n Nickel das Stück«, sagte Bill. »Wir müssen weiter«, sagte der andere Mann. »Sonst wird’s zu spät.« Sie griffen in ihre Taschen. Bill legte eine Münze auf die Theke, der andere Mann sah sie an, griff nochmals in seine Tasche und legte eine weitere Münze dazu. Sie drehten sich um und gingen zur Tür. »Wiedersehn!« sagte Bill. Mae rief: »He! Moment mal! Ihr kriegt noch was raus.« »Scher dich zum Teufel!« sagte Bill, und die Schwingtür schlug zu. Mae sah sie in den großen Lastwagen steigen, sah, wie er im ersten Gang langsam anfuhr, und hörte das Aufheulen des Motors und das Einschalten der anderen Gänge. »Al …«, sagte sie leise. Er blickte von dem Hamburger auf, den er gerade flachklopfte und in eine Wachspapiertüte steckte. »Was ist denn?« »Sieh mal – hier.« Sie deutete auf die Münzen, die neben den Tassen lagen. Zwei halbe Dollars. Al trat heran und betrachtete sie, dann ging er zu seiner Arbeit zurück. »Lastwagenfahrer«, sagte Mae ehrfürchtig. »Und das nach dieser Drecksbande.« Fliegen brummten mit leisem, dumpfem Knall gegen das Fenster und flogen davon. Der Kompressor surrte und verstummte wieder. Auf der Route 66 dröhnte der Verkehr vorbei, Lastwagen und schöne neue Autos mit Stromlinienkaros-Serien und alte Klapperkisten – mit 290
unheilvollem Dröhnen flogen sie vorbei. Mae nahm die Teller herunter und warf die Kuchenkrusten in einen Eimer. Sie nahm ihren feuchten Lappen und wischte mit runden Strichen die Theke ab. Und ihre Augen waren auf der Straße, auf der das Leben vorüberflog. Al wischte sich die Hände an seiner Schürze ab. Er blickte auf ein Papier, das über ihm an der Wand festgemacht war. Auf dem Papier waren drei Reihen von kurzen Bleistiftstrichen. Al zählte die Striche der längsten Reihe. Er ging hinter die Theke zur Kasse, drückte auf den Hebel »Kein Verkauf« und nahm eine Handvoll Nickelstücke heraus. »Was machst du denn?« fragte Mae. »Nummer drei ist wieder fällig«, sagte Al. Er trat an den dritten Spielautomaten, warf nacheinander ein paar Nickelstücke hinein, und als die Räder sich zum drittenmal drehten, erschienen die drei Streifen, und der große Gewinn prasselte heraus. Al sammelte die Münzen ein, es war eine große Handvoll, und ging wieder hinter die Theke. Er warf sie in die Kassenschublade und schob die Schublade zu. Dann ging er zu seinem Platz zurück und strich die Reihe von Bleistiftstrichen aus. »Nummer drei wird mehr gespielt wie die anderen«, sagte er. »Vielleicht muß ich sie mal verschieben.« Er hob einen Deckel hoch und rührte langsam in dem schmorenden Fleisch. »Ich möchte wissen, was die alle in Kalifornien wollen«, sagte Mae. »Wer?« »Na, zum Beispiel die Leute, wo eben hier waren.« 291
»Keine Ahnung«, sagte Al. »Meinst du, sie kriegen Arbeit?« »Woher soll ich denn das wissen?« sagte Al. Sie blickte hinaus auf die Straße. »Da kommt ein Transportzug. Hoffentlich hält er an.« Und als die beiden schweren Lastwagen von der Straße herunterrollten und anhielten, ergriff Mae ihren Lappen und wischte die ganze Theke von oben bis unten ab. Sie fuhr auch einmal über die glänzende Kaffeemaschine und drehte das Flaschengas darunter an. Al holte sich eine Handvoll kleiner Rüben und begann sie zu schälen. Maes Gesicht strahlte, als die Tür geöffnet wurde und die beiden uniformierten Lastwagenfahrer eintraten. »Hallo, Schwester!« »Ich bin keinem Mann seine Schwester. Macht mir gar keinen Spaß«, sagte Mae. Die Männer lachten, und Mae lachte auch. »Was soll’s denn sein, Kinder?« »Tasse Schwarzen. Was hast du denn für Kuchen?« »Ananas-Creme und Bananen-Creme und Schokoladen-Creme und Apfel.« »Also Apfel. Nee, warte – was ist denn das große Dikke da?« Mae holte den Kuchen heraus und schnüffelte daran. »Ananas-Creme«, sagte sie. »Gut, schneid da ’n Stück von ab.« Und auf der Route 66 fegten unheilvoll die Wagen vorbei.
292
16 Die Joads und die Wilsons krochen gemeinsam über die Straße nach Westen: El Reno und Bridgeport, Clinton. Elk City, Sayre und Texola. Da ist die Grenze, und Oklahoma lag hinter ihnen. Und an diesem Tage krochen die Wagen weiter und weiter, durch den Pfannenstiel von Texas. Shamrock und Alanreed. Groom und Yarnell. Dann fuhren sie am Abend durch Amarillo, sie fuhren zu lange und machten erst halt, als es schon dunkel war. Sie waren müde, verstaubt und verschwitzt. Großmutter hatte Zuckungen von der Hitze und war sehr schwach, als sie anhielten. In der Nacht stahl Al ein Stück von einem Zaun, befestigte es als Stange oben auf dem Lastwagen und verankerte es an beiden Enden. Sie aßen nichts außer kalten harten Pfannkuchen, die vom Frühstück übriggeblieben waren. Sie fielen auf ihre Matratzen und schliefen in den Kleidern. Die Wilsons bauten noch nicht einmal ihr Zelt auf. Die Joads und die Wilsons durchquerten fluchtartig den Pfannenstiel von Texas, das wellige graue Land, zerfurcht und zerschnitten von Narben alter Überschwemmungen. Sie waren auf der Flucht von Oklahoma nach Texas. Die Schildkröten krochen durch den Staub, und die Sonne peitschte die Erde, und am Abend verschwand die Hitze vom Himmel, und nur die Erde schickte noch eine Welle von Hitze empor. Zwei Tage lang waren die Familien auf der Flucht, aber am dritten Tag wurde ihnen das Land zu gewaltig, 293
und sie nahmen eine neue Lebensweise an. Die Straße wurde ihre Heimat und Bewegung ihr Ausdrucksmittel. Nach und nach gewöhnten sie sich an das neue Leben. Ruthie und Winfield zuerst, dann Al, dann Connie und Rose von Sharon und zuletzt die Älteren. Das Land dehnte sich wellig vor ihnen aus. Wildorado und Vega und Boise und Glenrio. Hier ist Texas zu Ende. New Mexico und die Berge. In der Ferne, eine Wellenlinie am Horizont, die Berge. Und die Räder der Wagen krachten, die Motoren waren heiß, und Dampf schoß aus den Kühlern hoch. Sie krochen zum Pecos, überquerten ihn bei Santa Rosa. Und sie fuhren noch zwanzig Meilen weiter. Al Joad fuhr den Wagen der Wilsons, seine Mutter saß neben ihm, und Rose von Sharon hinter ihr. Vor ihnen kroch der Lastwagen. Die heiße Luft flog in Wellen über das Land, und die Berge zitterten in der Hitze. Al fuhr unbekümmert, in den Sitz zurückgelehnt, die Hand nachlässig auf der Querstange des Steuerrades. Sein grauer Hut, eingebeult und in eine unbeschreibliche Form gebracht, saß ihm tief über einem Auge. Er wandte im Fahren ab und zu den Kopf und spuckte aus dem Fenster. Mutter neben ihm hatte die Hände im Schoß gefaltet und sich in einen Widerstand gegen die Müdigkeit zurückgezogen. Sie saß gelockert da, ließ ihren Körper und ihren Kopf von den Bewegungen des Wagens schütteln. Sie blinzelte zu den Bergen am Horizont. Rose von Sharon stemmte sich gegen die Bewegungen des Wagens, 294
ihre Füße ruhten fest auf dem Boden, ihr rechter Arm war um die Tür gehakt. Ihr rundliches Gesicht war angespannt, und ihr Kopf ruckte scharf bei jeder Bewegung, denn auch ihre Halsmuskeln waren angespannt. Sie versuchte, mit ihrem ganzen krampfhaft versteiften Körper ihre Leibesfrucht vor einem Stoß zu bewahren. Sie wandte den Kopf zu ihrer Mutter um. »Mutter«, sagte sie. Mutters Augen leuchteten auf, und sie drehte sich zu Rose von Sharon herum. Ihre Augen wanderten über das angespannte, müde, rundliche Gesicht, und sie lächelte. »Mutter«, sagte das Mädchen, »wenn wir dort sind, dann wollt ihr alle Obst pflücken und wieder auf dem Land leben, nicht wahr?« Mutter lächelte ein kleines bitteres Lächeln. »Wir sind noch nicht da«, sagte sie. »Wir wissen auch gar nicht, wie’s dort ist. Wir müssen sehen.« »Ich und Connie, wir wollen nicht mehr auf dem Land leben«, sagte das Mädchen. »Wir haben uns schon genau ausgedacht, was wir machen wollen.« Ein kleiner besorgter Ausdruck erschien auf Mutters Gesicht. »Wollt ihr denn nicht bei uns bleiben – bei der Familie?« fragte sie. »Ja, siehst du, wir haben schon alles besprochen, ich und Connie. Wir wollen in der Stadt leben, Mutter.« Sie fuhr aufgeregt fort. »Connie will sich Arbeit suchen in ’nem Laden oder in ’ner Fabrik. Und dann will er zu Hause studieren, vielleicht Radio, damit er auf was spezialisiert ist und vielleicht später mal sein eigenes Geschäft haben kann. Und dann können wir immer ins Kino gehen. Und Connie sagt, ich soll einen Doktor 295
haben, wenn das Kleine kommt, und er sagt, wir wollen sehn, wie die Zeiten sind, vielleicht kann ich sogar ins Spital gehn. Und dann wollen wir ’n Auto haben, ’n kleines Auto. Und abends studiert er dann zu Hause und … das wird alles sehr schön sein. Er hat ’ne Seite aus den ›Western Love Stories‹ rausgerissen, und die will er wegschicken, damit sie ihm ’n Kurs schicken. Das kostet gar nichts. So steht’s auch auf der Seite drauf, ich hab’ es selber gesehn. Und – ja, die verschaffen einem sogar Arbeit, wenn man den Kurs nimmt. Radio – das ist ’ne schöne, saubere Arbeit, und Zukunft hat sie auch. Und dann leben wir in der Stadt und gehn immer ins Kino und … ja, und ich kriege ’n elektrisches Bügeleisen, und das Kleine kriegt lauter neue Sachen. Connie sagt, lauter neue Sachen – weiß und … Ja, du hast ja in dem Katalog gesehn, was es alles für ’n Baby gibt. Vielleicht wird’s ganz zu Anfang noch nicht so einfach sein, wenn Connie zu Hause studiert … aber wenn das Kleine kommt, dann ist er vielleicht schon fertig mit Studieren, und wir haben ’ne Wohnung. Wir wollen ja gar nichts Großes, wir wollen’s nur hübsch haben für das Kind …« Ihr Gesicht glühte vor Aufregung. »Und ich habe mir gedacht … ja, ich habe mir gedacht, vielleicht gehn wir alle in die Stadt, und wenn Connie sein Geschäft hat, kann Al für ihn arbeiten.« Mutters Blicke wichen nicht von dem geröteten Gesicht. »Wir wollen aber nicht, daß du weggehst von uns«, sagte sie. »Es ist nicht gut, wenn ’ne Familie sich trennt.« Al knurrte: »Ich für Connie arbeiten? Wie wär’s denn, 296
wenn Connie für mich arbeiten käme? Er denkt wohl, er ist der einzige, wo nachts studieren kann?« Für Mutter war das plötzlich alles wie ein Traum. Sie wandte den Kopf wieder um, ihr Körper entspannte sich, aber das kleine Lächeln um ihre Augen blieb. »Ich möchte mal wissen, wie Großmutter sich heute fühlt.« Al wurde plötzlich aufmerksam über seinem Steuerrad. Ein kleines Rattern war im Motor zu hören. Er gab Gas, und das Rattern wurde lauter. Er schaltete auf Spätzündung und lauschte, gab wiederum Gas und lauschte abermals. Das Rattern wurde zu einem metallischen Klopfen. Al hupte und lenkte den Wagen an den Straßenrand. Der Lastwagen vor ihm hielt an und kam langsam zurückgefahren. Drei Wagen sausten vorbei nach Westen, und jeder hupte, und der Fahrer des letzten Wagens beugte sich heraus und schrie: »Seid wohl verrückt, hier anzuhalten?« Tom fuhr den Lastwagen rückwärts dicht heran, dann stieg er aus und ging auf den anderen Wagen zu. Von dem beladenen Lastwagen herunter blickten neugierige Köpfe. Al hatte Spätzündung eingestellt und lauschte auf den Motor im Leerlauf. Tom fragte: »Was ist denn los, Al?« Al gab Gas. »Hör doch!« Das Klopfen war jetzt noch lauter geworden. Tom lauschte. »Gib Frühzündung und nimm das Gas weg«, sagte er. Er öffnete die Haube und steckte seinen Kopf hinein. »Jetzt Gas!« Er lauschte einen Augenblick, dann schloß er die Haube wieder. »Ja, ich glaube, du hast recht, Al«, sagte er. 297
»Das Pleuellager, was?« »Klingt so«, sagte Tom. »Ich habe aber immer genug Öl drin gehabt«, jammerte Al. »Ja, es ist eben einfach nicht rangekommen, und jetzt ist es trockner wie ’n Affenweibchen. Nichts zu machen. Wir müssen’s rausbauen. Paß auf, ich fahre voraus und suche ’nen flachen Platz, wo wir anhalten können. Du kommst langsam nach.« Wilson fragte: »Ist’s schlimm?« »Ziemlich«, sagte Tom, ging zum Lastwagen zurück und fuhr langsam voraus. Al erklärte: »Ich weiß nicht, wovon sich’s ausgelaufen hat. Ist immer genug Öl drin gewesen.« Al wußte, daß die Schuld auf ihn fiel. Er fühlte, er hatte einen Fehler begangen. Mutter sagte: »Es ist ja nicht deine Schuld. Du hast alles ganz richtig gemacht.« Und dann fragte sie ein wenig schüchtern: »Ist es schrecklich schlimm?« »Na ja, es ist eben schwer ranzukommen, und wir müssen ’ne neue Pleuelstange haben oder an der hier das Lager reparieren.« Er seufzte tief. »Ich bin verdammt froh, daß Tom da ist. Ich habe noch nie ’n Lager eingepaßt. Ich hoffe, Tom kann’s.« Eine große rote Plakattafel stand vorn an der Straße und warf einen gewaltigen rechteckigen Schatten. Tom lenkte den Lastwagen von der Straße herunter, über den flachen Straßengraben, und hielt in dem Schatten an. Er stieg aus und wartete, bis Al kam. »Nun Vorsicht«, rief er. »Fahr langsam. Sonst brichst du auch noch die Federn.« 298
Als Gesicht wurde rot vor Wut. Er drosselte seinen Motor. »Gottverdammt«, schrie er, »ich habe ja das Lager nicht trocken laufen lassen! Was meinst du, daß ich auch noch die Federn breche?« Tom grinste. »Beruhige dich, Kleiner«, sagte er. »Ich habe gar nichts gemeint. Sei nur vorsichtig, wenn du über den Graben fährst.« Al murrte und ließ den Wagen ganz langsam hinunterrollen und hielt neben dem anderen an. »Behaupte um Gottes willen nicht, ich habe das Lager trocken laufen lassen.« Der Motor klapperte jetzt sehr laut, und Al stellte ihn ab. Tom öffnete die Motorhaube und stellte die Seitenflügel fest. »Wir können erst anfangen, wenn er abgekühlt ist«, sagte er. Die Familie war aus dem Wagen geklettert und versammelte sich um den Motor. Vater fragte: »Schlimm?«, und er hockte sich auf den Boden. Tom wandte sich an Al. »Hast du schon mal eins eingepaßt?« »Nein, noch nie. Die Wanne habe ich natürlich schon draußen gehabt.« Tom sagte: »Ja, wir müssen die Ölwanne rausnehmen und dann die Pleuelstange, dann müssen wir sehen, daß wir ’n Ersatzteil kriegen, und es abschleifen und einpassen. Das ist gut ’n Tag Arbeit. Wir müssen zurück nach Santa Rosa wegen dem Ersatzteil. Albuquerque ist noch mindestens fünfundsiebzig Meilen weit … Ach, guter Gott, morgen ist ja Sonntag! Da können wir nichts kriegen.« Die Familie stand schweigend umher. Ruthie schlich sich dicht heran und guckte in den Motor hinein, 299
in der Hoffnung das zerbrochene Teil sehen zu können. Tom fuhr leise fort: »Morgen ist Sonntag. Montag können wir dann das Ding kriegen, aber wir sind sicher nicht vor Dienstag fertig. Wir haben gar nicht die Werkzeuge dazu. Wird ’ne verdammte Arbeit werden.« Der Schatten eines Bussards glitt über die Erde, und alle hoben die Köpfe, um den segelnden schwarzen Vogel zu betrachten. Vater sagte: »Ich habe nur Angst, daß unser Geld alle wird und wir überhaupt nicht mehr hinkommen. Schließlich müssen wir alle essen und brauchen Benzin und Öl. Wenn unser Geld alle wird, weiß ich nicht, was wir machen sollen.« Wilson sagte: »Scheint mir, als wär’s meine Schuld. Dieses verdammte Wrack hier hat schon von Anfang an gestreikt. Ihr seid sehr nett zu uns gewesen. Aber jetzt packt eure Sachen und fahrt weiter. Sairy und ich bleiben hier und werden uns schon was überlegen. Wir wollen euch nicht aufhalten.« Vater sagte langsam: »Das machen wir nicht. Wir sind doch beinahe dieselbe Familie. Großvater ist in eurem Zelt gestorben.« »Wir sind nur ’ne Last gewesen«, sagte Sairy müde. Tom drehte sich langsam eine Zigarette, betrachtete sie und brannte sie an. Er nahm seine ehemals neue Mütze ab und wischte sich die Stirn. »Ich habe ’ne Idee«, sagte er. »Vielleicht gefällt’s euch nicht, aber ich sag’s trotzdem. Je näher wir nach Kalifornien kommen, je schneller kriegen wir Geld rein. Und dieser Wagen hier fährt zweimal so schnell wie unserer. Meine Idee ist nun, ihr schmeißt was von dem Zeug aus dem Lastwagen raus, 300
und dann steigt ihr alle ein, nur ich und der Prediger nicht, und fahrt weiter. Ich und Casy bleiben hier, bringen den Wagen in Ordnung, und dann fahren wir los, Tag und Nacht, und holen euch ein. Und wenn wir euch nicht auf der Straße treffen, dann arbeitet ihr eben schon irgendwo. Und wenn ihr ’ne Panne habt, na, dann müßt ihr eben so lange kampieren, bis wir kommen. Für euch ist’s nicht schlechter, und wenn ihr durchkommt, na, dann arbeitet ihr eben schon, und alles ist einfach. Casy hilft mir hier mit dem Wagen, und dann kommen wir angesegelt.« Die Familie überlegte den Vorschlag. Onkel John hockte sich neben Vater auf den Boden. Al sagte: »Und soll ich dir nicht helfen bei der Pleuelstange?« »Du hast doch selber gesagt, du hast’s noch nie gemacht.« »Das ist richtig«, pflichtete Al bei. »Aber vielleicht will der Prediger gar nicht mit hierbleiben.« »Na ja, mir ist’s ganz gleich, wer bleibt«, sagte Tom. Vater kratzte mit dem Zeigefinger auf der trockenen Erde. »Ich habe das Gefühl, Tom hat recht«, sagte er. »Hat keinen Zweck, daß wir alle hierbleiben. Wir können vor Dunkelheit noch fünfzig, sogar hundert Meilen machen.« Mutter sagte besorgt: »Aber wie wollt ihr uns finden?« »Wir fahren doch auf derselben Straße«, sagte Tom. »Die ganze Zeit schon auf der Sechsundsechzig. Die geht bis zu ’ner Stadt, die Bakersfield heißt. Ihr bleibt einfach immer nur auf der Straße.« 301
»Ja, aber wenn wir nach Kalifornien kommen und Seitenstraßen fahren müssen …?« »Mach dir keine Sorgen«, beruhigte Tom sie. »Wir finden euch schon. Kalifornien ist ja nicht die Welt.« »Sieht aber auf der Karte furchtbar groß aus«, sagte Mutter. Vater holte Ratschläge ein. »John, hast du was dagegen, daß mein Junge ihn repariert und dann nachkommt?« »Nein«, sagte John. »Mister Wilson, es ist Ihr Wagen. Haben Sie was dagegen, daß mein Junge ihn repariert und dann nachkommt?« »Nein, sicher nicht«, sagte Wilson. »Ihr habt schon so viel für uns getan. Weshalb soll ich da Ihrem Jungen nicht helfen?« »Ihr könnt schon arbeiten und Geld verdienen, wenn wir euch nicht einholen«, sagte Tom. »Und stellt euch doch nur mal vor, wenn wir alle hier rumliegen. Es gibt kein Wasser, und diesen Wagen hier kriegen wir nicht mehr vom Fleck. Aber stellt euch vor, ihr fahrt alle schon nach Kalifornien und fangt an zu arbeiten. Dann kriegt ihr Geld und habt vielleicht schon ’n Haus, wo ihr drin wohnen könnt. Was sagst du, Casy? Willst du mit hierbleiben und mir helfen?« »Ich mache alles, was gut für euch ist«, sagte Casy. »Ihr habt mich mitgenommen. Ich mache alles – ganz gleich, was.« »Ja, aber du mußt auf dem Rücken liegen und kriegst Schmieröl ins Gesicht, wenn du hierbleibst«, sagte Tom. »Ist mir auch recht.« 302
Vater sagte: »Ja, wenn wir’s so machen wollen, dann müssen wir aber bald weiter. Vielleicht können wir heute noch hundert Meilen rausholen.« Mutter trat vor ihn hin. »Ich gehe nicht mit.« »Was meinst du damit – du gehst nicht mit? Du mußt. Wir brauchen dich doch.« Vater war erstaunt über ihre Auflehnung. Mutter trat an den Wagen heran und griff hinein auf den Boden des Rücksitzes. Sie holte die Kurbel des Wagenhebers heraus und wog sie leicht in ihrer Hand. »Ich gehe nicht mit«, sagte sie. »Ich sage dir, du mußt. Wir haben’s doch schon beschlossen.« Und jetzt wurde Mutters Mund hart. Sie sagte halblaut: »Du kriegst mich nur mit, wenn du mich niederschlägst.« Sie winkte herausfordernd mit der Kurbel des Wagenhebers. »Und das wird dir schlecht bekommen, Vater. Ich lasse mich nicht schlagen, und heulen und betteln tu ich auch nicht. Es wird dir schlecht bekommen. Und außerdem ist es noch gar nicht so sicher, daß du mich niederschlagen kannst. Und wenn du’s kannst – ich schwöre zu Gott, ich warte, bis du den Rücken gedreht hast oder dich hingesetzt hast, dann schlage ich dir mit ’nem Eimer eins über den Kopf. Ich schwöre zum Heiland, daß ich das mache.« Vater blickte sich hilflos zu den anderen um. »Sie wird frech«, sagte er. »Das habe ich noch nicht erlebt bei ihr – daß sie frech wird.« Ruthie kicherte. Die Kurbel des Wagenhebers in Mutters Hand wurde drohend hin und her geschwenkt. »Komm nur her«, 303
sagte Mutter. »Du hast’s beschlossen. Komm nur her und schlag mich. Versuch’s nur! Aber ich gehe nicht mit – oder wenn ich mitgehe, dann hast du keinen ruhigen Schlaf mehr, denn dann warte ich und warte ich, und sowie du die Augen zugemacht hast, haue ich dir mit ’nem Stück Holz eins über den Schädel.« »So was Freches!« murmelte Vater. »Dabei ist sie doch gar nicht mehr so jung.« Die ganze Gruppe beobachtete die Revolte. Sie beobachteten Vater und warteten darauf, daß er in Wut ausbrechen würde. Sie beobachteten seine schlaffen Hände, um zu sehen, wenn er die Fäuste ballte. Und Vaters Wut kam nicht, und die Hände hingen weiter schlaff herab. Da wußten sie, daß Mutter gesiegt hatte. Und Mutter wußte es auch. Tom sagte: »Aber Mutter, was ist denn in dich gefahren? Was ist denn mit dir los? Willst du uns im Stich lassen?« Mutters Gesicht entspannte sich, aber ihre Augen waren noch immer wild. »Du hast dir’s nicht überlegt«, sagte Mutter. »Was haben wir denn noch in der Welt? Nichts weiter wie uns. Nichts weiter wie unsre Familie. Wir sind von daheim weggefahren, und gleich haben wir Großvater ins Grab gelegt. Und jetzt … jetzt willst du uns auseinanderbringen …« Tom rief: »Aber wir würden euch doch wieder einholen, Mutter. Wir würden ja nicht lange bleiben.« Mutter schwenkte die Kurbel. »Angenommen, wir liegen irgendwo und ihr fahrt vorbei. Angenommen, wir kommen bis hin, wo sollen wir dann Nachricht hinter304
lassen, und wie wollt ihr wissen, wo ihr nach uns fragen müßt?« Sie sagte: »Wir haben noch einen bitteren Weg. Großmutter ist krank. Sie liegt da oben auf dem Wagen, und vielleicht dauert’s nicht lange, da müssen wir sie auch einscharren, wie Großvater. Sie ist einfach fertig. Wir haben noch einen langen bitteren Weg vor uns.« Onkel John sagte: »Aber wir könnten schon Geld verdienen. Wir könnten schon was sparen, bis die andern kommen.« Die Blicke der ganzen Familie wanderten wieder zurück zu Mutter. Sie war die Macht. Sie hatte das Heft in der Hand. »Das Geld, was wir verdienen, würde nichts nützen«, sagte sie. »Alles, was wir haben, ist die Familie, die zusammenhält. Ich habe keine Angst, solange wir alle da sind, alles, was da lebt, aber ich will nicht, daß wir auseinandergerissen werden. Die Wilsons hier sind mitgekommen und der Prediger ist mitgekommen. Wenn die gehn wollen, kann ich nichts sagen. Aber wenn meine Familie auseinandergerissen wird, dann schlage ich mit dieser Eisenstange hier um mich.« Ihr Ton war kühl und bestimmt. Tom sagte beschwichtigend: »Mutter, wir können nicht alle hier kampieren. Ist ja kein Wasser da. Noch nicht mal richtigen Schatten gibt’s, und Großmutter braucht Schatten.« »Gut«, sagte Mutter, »wir fahren weiter und halten am ersten Platz an, wo’s Wasser und Schatten gibt. Und dann fährt der Lastwagen zurück und bringt euch in die Stadt, und ihr kauft euer Ersatzteil und fahrt wieder her. Zu Fuß kannst du doch nicht gehen bei der Sonne, und 305
daß du hier alleine bleibst, will ich auch nicht. Wenn dir was passiert, ist niemand da, wo dir helfen kann.« Tom zog seine Lippen über die Zähne und ließ sie dann wieder zurückweichen. Er breitete hilflos die Hände aus und ließ sie sinken. »Vater«, sagte er, »wenn du dich von der einen Seite auf sie wirfst und ich von der andern und der Rest hintendran, und wenn Großmutter von oben auf sie draufspringt, vielleicht kriegen wir Mutter dann unter, ohne daß sie mehr als zwei oder drei von uns mit der Kurbel erschlägt. Aber wenn du dir nicht deinen Kopf zu Brei schlagen lassen willst, dann mach’s so, wie Mutter sagt. Jesus Christ, ein Mensch, der weiß, was er will, kann ’ne ganze Bande von Leuten umkippen! Du hast gewonnen, Mutter. Aber jetzt leg die Kurbel weg, eh’ du jemand was damit tust.« Alle waren erleichtert. Mutter blickte erstaunt auf das Stück Eisen. Ihre Hand zitterte. Sie ließ die Waffe zu Boden fallen, und Tom hob sie mit vollendeter Sorgfalt auf und legte sie zurück in den Wagen. Er sagte: »Al, du fährst die Leute weiter und siehst, daß sie ’nen Platz finden, und dann kommst du mit dem Wagen wieder hierher zurück. Ich und der Prediger bauen inzwischen die Wanne aus. Dann fahren wir, wenn’s noch geht, nach Santa Rosa und versuchen, ’ne Pleuelstange zu kriegen. Vielleicht haben wir Glück, weil’s Samstag abend ist. Beeil dich, damit wir bald wegkommen. Laß mir den Schraubenschlüssel und die Zange aus dem Lastwagen da.« Er griff unter den Wagen und befühlte die schmierige Ölwanne. »Ach ja, und laß mir ’nen Behälter da, den alten Eimer, 306
wo ich das Öl reinlaufen lassen kann. Das müssen wir aufheben.« Al reichte ihm den Eimer herüber, und Tom schob ihn unter den Wagen und lockerte mit einer Zange die Schraube an der Ölwanne. Das schwarze Öl floß ihm am Arm herab, während er die Schraube mit seinen Fingern löste, und dann rann der schwarze Strom geräuschlos in den Eimer. Al hatte die Familie auf den Lastwagen geladen, und als er losfuhr, war der Eimer halb voll. Tom, das Gesicht bereits mit Öl beschmiert, blickte zwischen den Rädern heraus. »Komm schnell zurück, verstanden!« rief er. Und er lockerte die Schrauben an der Ölwanne, als der Wagen langsam durch den Graben fuhr und auf der Straße verschwand. Tom löste die Schrauben gleichmäßig, indem er einer nach der anderen je eine Drehung gab, um die Dichtung zu schonen. Der Prediger kniete sich vor den Rädern auf die Erde. »Was kann ich helfen?« »Im Moment nichts. Sobald das Öl rausgelaufen ist, nehmen wir die Wanne ab. Dazu brauche ich dich dann.« Er rutschte wieder unter den Wagen, arbeitete mit dem Schraubenschlüssel und drehte die Schrauben dann mit den Fingern weiter heraus. Er nahm die Schrauben an den beiden Enden aber nicht heraus, weil er verhindern wollte, daß die Wanne schon herunterfiel. »Hier unten ist’s noch ganz heiß«, sagte Tom. Und dann: »Sag mal, Casy, du bist verdammt still gewesen in den letzten Tagen. Wie wir uns zuerst getroffen haben, hast du jede halbe Stunde ’ne Rede gehalten. Und jetzt hast du die letzten zwei Tage kaum zehn Worte gesagt. Was ist denn los – hast du’s schon satt?« 307
Casy lag auf dem Bauch und blickte unter den Wagen. Sein stoppeliges Kinn hatte er auf den Rücken seiner einen Hand gestützt. Sein Hut war zurückgeschoben und saß ihm jetzt im Genick. »Ich habe für mein ganzes Leben genug geredet, wie ich Prediger war«, sagte er. »Ja, aber du hast seitdem doch auch noch manchmal was gesagt.« »Ich mache mir Gedanken, furchtbare Gedanken«, sagte Casy. »Wie ich noch gepredigt habe, habe ich’s natürlich nicht gewußt, aber ich bin doch verdammt rumgelumpt. Und wo ich nun nicht mehr predige, wollte ich eigentlich heiraten. Verstehst du, Tommy, mich gelüstet’s nach Fleisch.« »Mich auch«, sagte Tom. »An dem Tag, wie ich aus McAlester gekommen bin, war ich ganz wild. Da habe ich mir ’n Mädchen aufgegabelt, ’ne Hure, ein tolles Stück. Ich will dir nicht sagen, was passiert ist. Das kann ich niemand sagen.« Casy lachte. »Ich weiß schon. Ich bin mal fasten gegangen in die Wildnis, und wie ich wiedergekommen bin, war’s genauso bei mir.« »Natürlich, ist bei jedem Mann so«, sagte Tom. »Na, ich habe jedenfalls mein Geld gespart und das Mädchen fortgeschickt. Die hat gedacht, ich bin verrückt. Natürlich hätte ich ihr was bezahlen sollen, aber ich habe nur fünf Dollars gehabt. Und sie hat gesagt, sie will kein Geld. Also, jetzt kannst du kommen. Paß auf, ich klopfe sie ’n bißchen locker. Dann drehst du die Schraube da drüben raus und ich die an meiner Seite, und dann lassen wir sie langsam runter. Vorsichtig, wegen der Dichtung. 308
Wir müssen sehn, daß sie im Ganzen runterkommt. Diese alten Dodges haben ja nur vier Zylinder. Ich habe mal einen auseinandergebaut. Hat richtige faustdicke Lager gehabt. Jetzt … langsam runterlassen … halt fest … Mach oben die Dichtung los, wo sie noch festklebt … Vorsicht! So, sehr schön!« Die Ölwanne lag auf der Erde zwischen ihnen, und ein wenig Öl stand noch in den Vertiefungen. Tom griff in eine der Vertiefungen hinein und zog ein paar Bruchstücke von Metall hervor. »Da haben wir’s«, sagte er und drehte die Metallstücke betrachtend zwischen den Fingern. »Die Welle ist oben. Rutsch ein Stück nach vorn und sieh, daß du das Schwungrad kriegst. Dreh es rum, bis ich ›Halt‹ sage.« Casy suchte das Schwungrad, fand es und drehte. »Fertig?« »Ja … langsam … noch ’n bißchen … noch ’n bißchen … Halt!« Tom rüttelte an dem Pleuellager. »Ja, hier ist die Stelle, hier ist’s kaputt.« »Was meinst du denn, woher das gekommen ist?« fragte Casy. »Keine Ahnung! Die Karre ist dreizehn Jahre lang gefahren worden. Der Tachometer steht auf sechzigtausend Meilen. Das heißt hundertsechzig, und wer weiß, wie oft sie ihn zurückgestellt haben. Das läuft sich heiß – und vielleicht ist auch mal einer ohne Öl gefahren. Da knallt so ’n Ding eben raus.« Er zog die Splinte heraus und setzte einen Schraubenschlüssel an eine Schraube des Pleuellagers. Er drehte, und der Schraubenschlüssel rutschte ab. Eine lange Schramme erschien auf seinem Handrücken. Er betrachtete sie, das Blut floß gleich309
mäßig aus der Wunde, vereinigte sich mit dem Öl und tropfte in die Wanne. »Dumme Sache«, sagte Casy. »Soll ich das weitermachen, und du verbindest dir deine Hand?« »Ach wo! Ich habe noch nie in meinem Leben ’nen Wagen repariert, ohne mich dabei zu schrammen. Jetzt ist’s passiert, und ich brauche mir keine Sorgen mehr zu machen.« Er setzte den Schraubenschlüssel abermals an. »Wenn ich doch nur ’nen anderen Schlüssel hätte«, sagte er und hämmerte mit der Faust gegen den Schlüsselschaft, bis die Schrauben sich gelockert hatten. Er nahm sie heraus und legte sie zusammen mit den Splinten in die Ölwanne zu den anderen Schrauben. Dann zog er den Kolben heraus und legte Kolben und Pleuelstange in die Ölwanne. »Gott sei Dank!« Er rutschte unter dem Wagen hervor und zog die Ölwanne heraus. Er wischte sich die Hand an einem Stück Sackleinwand ab und untersuchte den Schnitt. »Blutet wie ’n Schwein«, sagte er. »Aber paß auf, das haben wir gleich gestillt.« Er ließ Wasser, und sein Urin sickerte in die Erde. Dann nahm er eine Handvoll von dem durchnäßten Schmutz und strich ihn sich über die Wunde. Einen Moment lang noch drang das Blut durch, dann hörte es auf. »Das Beste, was es gibt zum Blutstillen«, sagte er. »’n bißchen Spinngewebe tut’s auch«, sagte Casy. »Ich weiß, aber wir haben ja kein Spinngewebe. Und pinkeln kann man immer.« Tom setzte sich auf das Trittbrett und untersuchte das zerbrochene Lager. »Wenn wir jetzt einen Fünfundzwanziger Dodge finden und ’ne gebrauchte Pleuelstange kriegen können und ein 310
paar Plättchen, schaffen wir’s vielleicht. Al muß aber verdammt weit gefahren sein.« Der Schatten der Plakattafel war jetzt sechzig Fuß lang. Der Nachmittag neigte sich dem Abend zu. Casy setzte sich auf das Trittbrett und blickte nach Westen. »Jetzt sind wir bald in den hohen Bergen«, sagte er. Dann schwieg er einige Augenblicke. »Tom!« »Was?« »Tom, ich habe mir die Wagen auf der Straße angesehn, die wir getroffen haben. Und …« »Und was?« »Tom, das sind Hunderte von Familien wie wir, und die fahren alle nach Westen. Ich habe aufgepaßt. Kein einziger fährt nach Osten – aber Hunderte nach Westen. Hast du das gemerkt?« »Ja, das habe ich gemerkt.« »Das ist, wie … wie wenn sie alle vor den Soldaten davonlaufen. Wie wenn ein ganzes Land sich in Bewegung gesetzt hätte.« »Ja«, sagte Tom. »Das ganze Land hat sich in Bewegung gesetzt. Und wir auch.« »Na ja, nun überleg dir aber mal – alle diese Leute finden keine Arbeit da unten. Was dann?« »Zum Teufel!« rief Tom. »Woher soll ich das wissen? Ich mache nichts weiter wie einen Fuß vor den andern setzen. Das habe ich vier Jahre lang so gemacht in McAlester, hin und her in der Zelle und hin und her in der Messe. Mein Gott, und ich habe gedacht, das würde anders werden, wenn ich rauskomme! Da drin kannst du an nichts andres denken, sonst wirst du verrückt. Aber 311
jetzt kannst du auch an nichts andres denken.« Er wandte sich zu Casy herum. »Siehst du, das Lager hier ist kaputtgegangen. Wir haben nicht gewußt, daß es kaputtgeht, und haben uns keine Sorgen drum gemacht. Jetzt, wo’s kaputt ist, bringen wir’s eben wieder in Ordnung. Und so ist’s mit den anderen Sachen auch. Ich will mir keine Sorgen machen. Ich kann’s nicht. Dieses kleine Stückchen Eisen hier – siehst du’s? Siehst du’s, ja? Also, das ist das einzige, wo ich mir jetzt Gedanken drum mache. Ich möchte wissen, wo dieser Al bleibt.« Casy sagte: »Hör mal zu, Tom. Ach, verdammt! Es ist so elend schwer, was zu erklären.« Tom löste das Dreckpflaster von seiner Hand und warf es auf die Erde. Die Wunde war von Schmutz umrändert. Er blickte hinüber zu dem Prediger. »Du willst ’ne Rede halten, was?« sagte er. »Dann man los. Ich hab’ es gerne, wenn einer Reden hält. Unser Gefängniswärter hat andauernd welche gehalten. Uns war’s egal, und ihm hat’s Spaß gemacht. Also, schieß los.« Casy schlug die Knöchel seiner langen knotigen Finger gegeneinander. »Es ist was im Gang, und die Leute machen Geschichten. Diese Leute, wo einen Fuß vor den andern setzen, wie du sagst, die denken nicht dran, wo sie hingehn, wie du sagst – aber sie setzen ihre Füße alle in einer Richtung, alle in derselben Richtung. Und wenn Du zuhörst, dann hörst du sich’s bewegen und krauchen und rascheln – eine einzige große Ratlosigkeit. Es ist was im Gang, und die Leute, die’s in Gang gebracht haben, wissen nichts davon – noch nicht. Aber aus diesen Leuten, wo alle nach Westen ziehen, da 312
wächst noch mal was – aus diesen Leuten und aus den Farmen, die sie stehngelassen haben. Da wächst eine Sache, die das ganze Land verändern wird.« Tom sagte: »Und trotzdem setze ich meine Füße immer hübsch einen vor den andern.« »Ja, aber wenn ’n Zaun kommt, dann kletterst du rüber.« »Ich klettere über Zäune, wenn Zäune da sind«, sagte Tom. Casy seufzte. »Das ist wahrscheinlich das beste. Muß ich zugeben. Aber es gibt auch noch andre Zäune. Leute wie ich klettern über Zäune, die noch nicht mal dastehn. Ich kann’s nicht ändern.« »Ist das nicht Al da hinten?« fragte Tom. »Ja. Sieht so aus.« Tom stand auf und wickelte die Pleuelstange und die beiden Hälften des Lagers in ein Stück Sackleinwand. »Wir müssen aufpassen, daß wir auch dasselbe kriegen.« Der Lastwagen hielt am Straßenrand, und Al beugte sich aus dem Fenster. Tom sagte: »Du bist aber verdammt lange geblieben. Wie weit seid ihr denn gefahren?« Al seufzte. »Hast du die Stange draußen?« »Ja.« Tom hielt das Paket aus Sackleinwand hoch. »Glatt durchgebrochen.« »Ist aber nicht meine Schuld gewesen«, sagte Al. »Nein. Wo hast du sie denn hingefahren?« »Ach, wir haben ’ne Geschichte gehabt«, sagte Al. »Großmutter hat angefangen zu heulen und hat Rosasharn angesteckt, und die hat auch losgeheult. Hat einfach ihren Kopf unter ’ne Matratze gesteckt und geflennt. 313
Aber Großmutter – die hat sich zurückgelehnt und geheult wie ’n Hund beim Mondschein. Scheint so, als wenn Großmutter den Verstand verloren hat. Sie ist wie ’n kleines Kind. Spricht mit niemand und scheint keinen zu erkennen. Aber sie redet, wie sie früher mit Großvater geredet hat.« »Wo hast du sie denn abgesetzt?« beharrte Tom. »Wir haben ein Camp gefunden. Hat viel Schatten und ’ne Wasserleitung. Es kostet ’nen halben Dollar pro Tag, wenn man dableiben will. Aber alle waren so müde und elend, daß sie eben dageblieben sind. Mutter sagt, sie muß das schon wegen Großmutter. Wir haben Wilsons Zelt aufgebaut und unsre Plane. Ich glaube, Großmutter ist verrückt geworden.« Tom blickte in die untergehende Sonne. »Casy«, sagte er, »jemand muß beim Wagen bleiben, sonst wird er geklaut. Willst du?« »Natürlich. Ich bleibe hier.« Al holte eine Papiertüte vom Sitz. »Hier ist ein bißchen Brot und Fleisch. Mutter schickt’s euch. Und ’n Krug Wasser habe ich auch mit.« »Sie vergißt doch keinen«, sagte Casy. Tom stieg neben Al in den Wagen. »Hör zu«, sagte er, »wir kommen zurück, so schnell ’s geht. Aber wie lange ’s dauert, kann ich natürlich nicht sagen.« »Ich warte.« »Gut. Und halt dir keine langen Reden. Los, Al.« Und der Lastwagen fuhr in den Abend hinein. »Er ist ein netter Kerl«, sagte Tom. »Er denkt furchtbar viel nach.« 314
»Na ja, wenn du ’n Prediger bist, mußt du das wahrscheinlich. Vater ist stinkwütend, weil’s fünfzig Cents kostet, da in dem Camp unter ’nem Baum zu liegen. Das gibt’s doch nirgends, sagt er. Und er sitzt da und flucht. Er sagt, nächstens verkaufen sie einem auch noch die Luft. Mutter meint aber, sie muß wo sein, wo’s Schatten gibt und Wasser – wegen Großmutter.« Der Wagen ratterte über die Straße, und jetzt, da er unbeladen war, klapperten und schlugen alle Teile gegeneinander. Die Seitenwände des Lastwagenaufsatzes, die zerschnittene Karosserie. Er fuhr hart und leicht. Al brachte ihn auf achtunddreißig Meilen, im Motor rasselte es, und blauer Rauch von verbranntem Öl drang durch die Bodenbretter. »Langsamer«, sagte Tom. »Sonst fahren wir plötzlich auf den Radnaben. Was ist denn mit Großmutter los?« »Ich weiß nicht. Die letzten Tage ist sie doch überhaupt nicht dagewesen und hat mit keinem geredet. Na, dafür schreit sie jetzt um so mehr, aber sie redet nur mit Großvater. Schreit ihn an. Scheint aber auch Angst zu haben. Man kann ihn direkt dasitzen sehn und grinsen, wie er’s immer gemacht hat, nachdenken und grinsen. Sie scheint ihn auch zu sehn. Kannst dir vorstellen, wie sie loslegt. Übrigens – Vater hat mir zwanzig Dollars für dich gegeben. Er weiß nicht, wieviel du brauchst. Hast du schon mal gesehn, daß Mutter sich so gegen ihn auflehnt wie heute?« »Nee, kann mich nicht erinnern. Aber ich muß sagen, ich habe mir ’ne hübsche Zeit ausgesucht für meine Bewährungsfrist. Ich hatte mir gedacht, ich würde mal ’ne 315
Weile nichts machen – nur rumliegen und spät aufstehn und viel essen. Und mal zum Tanzen gehn und dann mit Mädchen schlafen – und bis jetzt habe ich noch zu nichts davon Zeit gehabt.« Al sagte: »Ich habe ganz vergessen, ich soll dir ’n Haufen Sachen von Mutter bestellen. Sie sagt, du sollst nichts trinken und dich nicht streiten und keine Rauferei anfangen. Weil sie sagt, sie hat Angst, daß sie dich zurückschicken.« »Sie hat, weiß Gott, genug andres zu tun, als wie sich wegen mir Sorgen zu machen«, sagte Tom. »Sag mal, wollen wir nicht ’n Bier trinken? Ich bin ganz verrückt nach Bier.« »Ich weiß nicht«, sagte Tom. »Vater wird wütend werden …« »Hör zu, Tom. Ich habe sechs Dollars. Wir könnten doch was trinken und vielleicht ’n Mädchen … Keiner weiß, daß ich diese sechs Dollars habe. Wir könnten uns ’n vergnügten Abend machen.« »Heb dein Geld auf«, sagte Tom. »Wenn wir runter an die Küste kommen, dann nehmen wir’s und gehn mal ’n Abend los. Vielleicht, wenn wir arbeiten …« Er drehte sich auf seinem Sitz um. »Ich dachte, das mit den Mädchen hättest du dir abgewöhnt.« »Quatsch, ich kenne einfach keine hier. Wenn ich noch so viel in der Gegend rumfahre, dann muß ich heiraten. Aber paß auf, wenn wir nach Kalifornien kommen, gehe ich mal richtig los.« »Wenn wir hinkommen«, sagte Tom. »Du meinst, das ist nicht so sicher?« 316
»Nee, nichts ist sicher.« Nach einer Weile: »Du – wie du den umgebracht hast, den Herb, hast du da … ich meine, hast du dann eigentlich später mal von ihm geträumt oder so? Hat’s dich gedrückt?« »Nee.« »Na, hast du denn nie dran gedacht?« »Natürlich. Es hat mir leid getan, daß er tot war.« »Und du hast’s dir nicht immer wieder vorgehalten?« »Nein. Ich habe meine Zeit abgesessen – meine gute Zeit.« »War’s denn sehr schlimm dort?« Tom sagte gereizt: »Ich will dir was sagen, Al. Ich habe meine Zeit abgesessen, und jetzt ist’s vorbei. Ich will nicht immer und immer wieder drüber reden. Da vorne ist der Fluß – und da ist die Stadt. Jetzt wollen wir versuchen, ’ne Pleuelstange zu kriegen, und uns ’n Dreck um andre Sachen kümmern.« »Mutter hält verdammt zu dir«, sagte Al. »Sie hat richtig getrauert, wie du weg warst. Ganz für sich alleine. Wie wenn sie in sich reingeheult hätte. Aber sie hat sich nichts merken lassen.« Tom zog seine Mütze tiefer über die Augen. »Hör zu, Al – wie wär’s, wenn wir über was andres reden würden.« »Ich habe dir ja auch nur erzählt, was Mutter gemacht hat.« »Ich weiß, ich weiß. Aber – lieber nicht. Ich will lieber … meine Füße einen vor den andern setzen.« Al zog sich in ein beleidigtes Schweigen zurück. »Ich wollte dir’s ja nur erzählen«, sagte er nach einer Weile. 317
Tom sah ihn an, aber Al blickte geradeaus. Der Wagen polterte lärmend weiter. Tom zog seine langen Lippen von den Zähnen zurück und sagte leise: »Ich weiß ja, Al. Vielleicht bin ich noch ein bißchen gefängniskrank. Vielleicht erzähle ich dir mal davon. Natürlich, es ist einfach ’ne Sache, die du wissen willst. Aber ich habe das komische Gefühl, es ist besser, wenn ich’s mal ein Weilchen vergesse. Vielleicht ist es anders, nach ’ner Zeit. Aber jetzt, wenn ich dran denke, dreht sich mir alles um. Ich will dir was sagen, Al – das Gefängnis ist einfach ’ne besondere Art, einen langsam verrückt zu machen. Verstehst du, wie ich es meine? Und sie werden auch verrückt, und du kannst sie sehn, und du kannst sie hören, und bald weißt du nur nicht mehr, ob du verrückt bist oder nicht. Wenn sie manchmal nachts anfangen zu schrein, denkst du, du bist’s, der schreit – und manchmal bist du’s auch.« Al sagte: »Ich will nicht mehr drüber reden, Tom.« »Dreißig Tage – das geht«, sagte Tom. »Und hundertachtzig Tage, das geht auch. Aber über ein Jahr – ich weiß nicht. Das ist ’ne Sache, die man nicht beschreiben kann. Was Wahnsinniges, was ganz Wahnsinniges, daß man überhaupt Leute einsperrt. Ach, zum Teufel! Ich will nicht mehr drüber reden. Da hinten – die Sonne, wie die auf den Fenstern blitzt!« Der Wagen kam in die Vorstadt mit ihren unzähligen Tankstellen, und da, auf der rechten Seite der Straße, war ein Autohof – ein kleines Grundstück, mit einem hohen Stacheldrahtzaun eingefaßt, ein Wellblechschuppen, vor dem gebrauchte Reifen mit aufgezeichneten 318
Preisen gestapelt waren. Hinter dem Schuppen stand eine kleine Baracke, aus Abfallholz und Blechstücken zusammengebaut. Die Fenster waren alte Windschutzscheiben, die in die Wände eingelassen waren. Auf dem grasüberwucherten Grundstück lagen die alten Autos, Wagen mit verbogenen und eingedrückten Kühlern, auf der Seite liegende Wracks, denen die Räder fehlten. Rostige Motoren draußen und im Schuppen. Ein großer Berg von Schrott, Steinschlaggittern und halbe Karosserien, Räder und Achsen. Über dem Ganzen der Hauch von Verfall, von Moder und Rost. Verbogenes Eisen, Eingeweide von Motoren, ein Haufen von Strandgut. Al hielt auf dem öligen Boden vor dem Schuppen an. Tom stieg aus und blickte in den dunklen Raum hinein. »Ich sehe keinen Menschen«, sagte er und rief: »Ist jemand da? Guter Gott, ich hoffe, sie haben einen Fünfundzwanziger Dodge.« Hinter dem Schuppen schlug eine Tür. Ein Gespenst von einem Mann kam aus der Dunkelheit hervor. Dünn, dreckig, straffe, ölige Haut, strähnige Muskeln. Er hatte nur ein Auge, und in der rötlichen offenen Höhle zuckten die Muskeln, wenn er sein gesundes Auge bewegte. Seine Hosen und sein Hemd waren speckig und glänzend von altem Schmieröl, und seine Hände waren rissig, narbig und zerschnitten. Seine dicke, aufgeworfene Unterlippe hing mißmutig herab. Tom fragte: »Sind Sie der Chef?« In dem einen Auge blitzte es auf. »Nee, ich arbeite für den Chef«, sagte er unfreundlich. »Was wollen Sie?« »Habt ihr ’n alten Fünfundzwanziger Dodge? Wir brauchen ’ne Pleuelstange.« 319
»Ich weiß nicht. Wenn der Chef hier wäre, könnte er’s Ihnen sagen – aber der ist nicht hier. Ist nach Hause gegangen.« »Na, vielleicht können wir mal suchen?« Der Mann schneuzte sich in die Hand und wischte die Hand an seiner Hose ab. »Seid ihr von hier?« »Nee, aus dem Osten – und wir fahren nach Westen.« »Seht euch nur um. Und brennt den ganzen Hof runter, von mir aus.« »Sie scheinen ja Ihren Chef nicht gerade zu lieben.« Der Mann kam näher, sein eines Auge blitzte. »Ich hasse ihn«, sagte er leise. »Ich hasse das Schwein! Jetzt ist er nach Hause gegangen.« Die Worte kamen sprudelnd heraus. »Er hat ’ne Art … ’ne Art, auf einem rumzuhacken und an einem rumzuzerren, daß man die Wut kriegen kann. Das Schwein. Er hat ’n Mädchen von neunzehn Jahren, hübsches Mädchen. Und er sagte zu mir: ›Möchtest sie wohl gerne heiraten?‹ Und das zu mir. Und heute abend hat er gesagt: ›Da ist ’ne Tanzerei heute – willst du nicht gehn?‹ Das zu mir.« Die Tränen schossen ihm in die Augen, und Tränen tropften aus dem Winkel seiner roten Augenhöhle. »Aber eines Tages, das sage ich Ihnen – eines Tages, da habe ich ’nen großen Schraubenschlüssel in meiner Tasche. Wenn er solche Sachen sagt, dann guckt er immer auf mein Auge. Und dann … dann haue ich ihm den Kopf ab mit dem Schraubenschlüssel – Stückchen für Stückchen.« Er keuchte in seiner Wut. »Stückchen für Stückchen, bis zum Hals.« Die Sonne verschwand hinter den Bergen. Al schlenderte in den Hof und warf einen Blick auf die alten 320
Wagen. »Da drüben! Das sieht doch aus wie ein Fünfoder Sechsundzwanziger.« Tom wandte sich an den einäugigen Mann. »Haben Sie was dagegen, wenn wir suchen?« »Herrgott, nein! Nehmt ruhig alles, was ihr wollt.« Sie schlängelten sich hinter toten Autos hindurch zu einer rostigen Limousine, die auf flachen Reifen stand. »Natürlich ist’s ein Fünfundzwanziger«, rief Al. »He, Sie! Können wir die Wanne rausbauen?« Tom kniete sich auf die Erde und blickte unter den Wagen. »Die Wanne ist schon draußen, und eine Pleuelstange fehlt. Ja, sieht aus, als wäre eine weg.« Er rutschte unter den Wagen. »Hol ’ne Kurbel und dreh, Al.« Er rüttelte an der Pleuelstange. »Ziemlich verklebt mit altem Fett.« Al drehte langsam. »Sachte«, rief Tom. Er hob einen Holzsplitter vom Boden auf und kratzte die Fettschicht vom Lager und von den Schrauben ab. »Wie sitzt sie denn?« fragte Al. »Ein bißchen locker, aber nicht schlecht.« »Sehr ausgeleiert?« »Sind noch ’ne Menge Plättchen dazwischen. Ganz wenig erst rausgenommen. Ja, ich glaube, sie ist richtig. Dreh langsam weiter. Bis nach unten … sachte … halt! Lauf zum Wagen und hol die Werkzeuge.« Der einäugige Mann sagte: »Ich bringe euch ’nen Werkzeugkasten!« Er schlurfte zwischen den rostigen Wagen davon und erschien gleich darauf wieder mit einem Blechkasten voller Werkzeuge. Tom zog einen Schraubenschlüssel hervor und reichte ihn Al. »Bau du sie aus. Aber verlier keins von den Plättchen 321
und paß auf, wo du die Schrauben und die Splinte hinlegst. Mach schnell. Es wird schon verdammt dunkel.« Al kroch unter den Wagen. »Wir müßten ’nen Satz Schraubenschlüssel haben«, rief er. »Mit unserem Ding kommt man ja nirgendwohin.« »Wenn ich dir helfen soll, mußt du schreien«, sagte Tom. Der einäugige Mann stand hilflos daneben. »Ich helfe Ihnen auch gerne, wenn Sie wollen«, sagte er. »Wissen Sie, was das Schwein gemacht hat? Er ist hier vorbeigekommen und hat weiße Hosen angehabt. Und hat gesagt: ›Komm mit, wir gehen runter zu meiner Jacht!‹ Weiß Gott, eines Tages schlage ich ihn noch nieder!« Er atmete schwer. »Ich bin mit keiner Frau ausgegangen, seit ich mein Auge verloren habe. Und dann sagte er so was.« Und große Tränen rollten ihm über die Backen und hinterließen weiße Spuren in dem Schmutz neben seiner Nase. Tom sagte ungeduldig: »Weshalb machst du nicht, daß du weiterkommst? Bist doch nicht mit dem Laden verheiratet.« »Ja, das ist leicht gesagt. Aber es ist nicht so einfach, ’ne Arbeit zu kriegen – nicht für einen einäugigen Mann.« Tom drehte sich zu ihm um. »Jetzt hör mal zu, alter Freund. Du hast das Auge ganz groß offen. Und du bist dreckig und stinkst. Du willst’s ja gar nicht anders. Es gefällt dir ja. Da kannst du dir leid tun. Natürlich kannst du keine Frau kriegen mit deinem offenen leeren Auge. Bind dir was drüber und wasch dir dein Gesicht. 322
Dann brauchst du keinen mehr mit ’nem Schraubenschlüssel zu erschlagen.« »Ich sage dir, ein einäugiger Mann hat’s schwer«, fuhr der Mann fort. »Ich sehe doch nicht so, wie andre Leute sehen. Zum Beispiel, wie weit weg eine Sache ist. Es ist einfach alles flach.« Tom sagte: »Red doch keinen Unsinn! Ich habe einen Buckligen gekannt in … na, wo ich mal war. Der hat davon gelebt, daß ihm die Leute über seinen Buckel gestrichen haben. Weil das doch Glück bringt. Und, guter Gott – alles, was dir fehlt, ist ein Auge.« Der Mann sagte verwirrt: »Ja, aber wenn du siehst, wie die Leute von dir wegrücken, dann wirst du eben anders.« »Bind dir was drüber, zum Teufel! Du streckst’s ja in die Gegend wie ’ne Kuh ihren Hintern. Es macht dir Spaß, wenn du dir selbst leid tun kannst. Weiter ist gar nichts mit dir. Kauf dir ’n Paar weiße Hosen. Du besäufst dich und heulst nachts im Bett, möchte ich wetten. Soll ich dir helfen, Al?« »Nein«, sagte Al. »Das Lager habe ich schon locker. Ich versuche grade den Kolben runterzukriegen.« »Paß auf, daß du dir nichts machst«, sagte Tom. Der einäugige Mann fragte leise: »Glaubst du denn … daß sich jemand für mich interessieren könnte?« »Na sicher!« sagte Tom. »Wo fahrt ihr denn eigentlich hin?« »Nach Kalifornien. Die ganze Familie. Wir wollen arbeiten da unten.« »Glaubst du denn, daß einer wie ich Arbeit kriegen kann? Mit ’ner schwarzen Binde über dem Auge?« 323
»Warum nicht? Du bist doch kein Krüppel.« »Ja – könnte ich vielleicht mit euch mitfahren?« »Gott behüte, nein. Wir sind schon so voll, daß wir uns kaum rühren können. Du mußt’s schon irgendwie anders machen. Bau dir doch eine von diesen Kisten hier zurecht und fahr alleine los.« »Vielleicht mache ich’s«, sagte der einäugige Mann. Ein lautes Klappern von Metall war zu hören. »Ich hab’s«, rief Al. Tom sagte: »Gut, dann bring sie raus. Wir wollen sehn, ob sie paßt.« Al reichte ihm den Kolben und die Pleuelstange und die untere Hälfte des Lagers. Tom wischte die metallene Oberfläche ab, hob das Teil dicht an sein Auge und untersuchte es. »Scheint gut zu sein«, sagte er. »Weißt du, wenn wir jetzt Licht hätten, könnten wir’s sogar noch heute abend einmontieren.« »Hör mal, Tom«, sagte Al, »ich habe mir was überlegt. Wir haben keine Ringklammern. Es wird ’ne verdammte Arbeit sein, die Ringe ’reinzukriegen, besonders von unten.« Tom sagte: »Mir hat mal jemand erzählt, man kann auch dünnen Messingdraht um die Ringe wickeln, um sie festzuklammern.« »Ja, aber wie willst du den Draht wieder runterkriegen?« »Den brauchst du gar nicht runterzukriegen. Der zerschmilzt und schadet nirgends was.« »Kupferdraht ist besser.« »Ist nicht stark genug«, sagte Tom. Er wandte sich an den einäugigen Mann. »Habt ihr dünnen Messingdraht?« 324
»Ich weiß nicht. Ich glaube, wir haben irgendwo ’ne Spule. Was meinst du denn, wo man so ’ne schwarze Binde kriegen kann?« »Keine Ahnung«, sagte Tom. »Jetzt wollen wir mal sehn, ob wir den Draht finden.« Im Schuppen durchwühlten sie einige Kisten, bis sie die Spule fanden. Tom steckte die Pleuelstange in einen Schraubstock und wickelte vorsichtig den Draht um die Kolbenringe, zwängte sie tief in ihre Schlitze hinein, und die Stellen, wo er die Drahtenden verknüpft hatte, hämmerte er flach. Dann drehte er den Kolben und schlug rundherum auf den Draht, bis er mit der Kolbenwand eine Oberfläche bildete. Er fuhr mit dem Finger auf und ab, um sich davon zu überzeugen, daß die Ringe und der Draht glatt waren wie die Kolbenwand. Es wurde dunkel im Schuppen. Der einäugige Mann brachte eine Taschenlampe an und beleuchtete damit den Arbeitsplatz. »Fertig!« sagte Tom. »Sag mal – was willst du denn für die Lampe da haben?« »Ach, die ist nicht viel wert. Hat ’ne neue Batterie für fünfzehn Cents. Ihr könnt sie haben – sagen wir, für fünfunddreißig Cents.« »Okay. Und was schulden wir dir für die Pleuelstange und den Kolben?« Der einäugige Mann rieb sich die Stirn mit dem Handrücken, und ein Streifen von Dreck löste sich ab. »Ja, hör mal, ich weiß nicht. Wenn der Chef hier wäre, würde er in dem Katalog von den Ersatzteilen nachsehn, wieviel ein neuer kostet, und während du arbeitest, hätte 325
er schon rausgefunden, wie du dran bist und wieviel Geld du hast, und dann würde er – angenommen, es steht acht Dollars im Katalog –, dann würde er fünf verlangen. Und wenn du ’n bißchen Geschrei machst, würdest du’s für drei kriegen. Du denkst vielleicht, ich sage das nur so, aber er ist wirklich ein Schwein. Er weiß ganz genau, wie nötig du’s brauchst. Ich habe schon erlebt, daß er für ein Getrieberad mehr gekriegt hat, wie er für den ganzen Wagen bezahlt hat.« »Jaja! Aber wieviel soll ich dir nun für das Ding hier geben?« »Ach, ich denke – ’n Dollar.« »Gut. Und dann gebe ich dir noch fünfundzwanzig für diesen Schraubenschlüssel. Geht alles viel einfacher damit.« Er reichte ihm das Geld. »Danke. Und bind dir was über dein Auge.« Tom und Al stiegen in den Wagen. Es war jetzt ganz dunkel. Al startete den Motor und drehte die Lichter an. »Wiedersehen«, rief Tom. »Vielleicht in Kalifornien.« Sie wendeten den Wagen und fuhren die Straße zurück. Der einäugige Mann blickte ihnen nach, dann ging er durch den Schuppen nach hinten in seine Baracke. Es war dunkel. Er tastete sich zu der Matratze, die am Boden lag, streckte sich aus und weinte in seine Kissen hinein, und draußen jagten die Wagen vorbei und verstärkten noch seine Einsamkeit. Tom sagte: »Wenn du mir erzählt hättest, daß wir das Ding hier noch heute abend kriegen und einbauen, hätte ich gesagt, du bist verrückt.« 326
»Natürlich bauen wir’s noch ein«, sagte Al. »Aber du mußt’s machen. Ich hätte Angst, daß es zu stramm sitzt und sich ausläuft oder zu locker und sich losklopft.« »Ja, ich mach’ es schon«, sagte Tom. »Wenn es wieder rausgeht, geht’s eben wieder raus. Ich habe nichts zu verlieren.« Al blickte in die Dunkelheit. Die Scheinwerfer reichten nicht weit, aber vor ihnen blitzten die Augen einer Katze grün im Widerschein. »Dem Burschen hast du’s aber gegeben«, sagte Al. »Ja, er hat’s doch geradezu herausgefordert! Bemitleidet sich, weil er nur ein Auge hat, und schiebt alle Schuld auf das Auge. Er ist ein faules Schwein. Vielleicht kommt er raus aus seiner Bruchbude, wenn er Leute hat, die ihm mal die Meinung sagen.« Al sagte: »Tom, ich kann nichts dafür – für die Sache mit dem Lager.« Tom schwieg einen Augenblick. Und dann: »Jetzt werde ich aber wild, Al. Warum zitterst du eigentlich, daß jemand dir die Schuld zuschieben möchte? Ich weiß, was mit dir los ist. Du bist ’n junger Bursche und hast große Rosinen im Kopf und willst immer alles großartig machen. Aber verdammt noch mal, Al, verteidige dich doch nicht, wenn kein Mensch von dir was will. Du bist schon ganz richtig so, wie du bist.« Al antwortete nicht. Er blickte geradeaus auf die Straße. Der Wagen klapperte und rasselte. Eine Katze rannte über die Straße, und Al bog ab, um sie zu überfahren, aber die Räder verfehlten sie, und die Katze verschwand. »Beinah!« sagte Al. »Hast du eigentlich gehört, Tom, 327
daß Connie abends studieren will? Ich habe gedacht, daß ich das vielleicht auch mache. Radio oder Fernsehen oder Dieselmotoren. Vielleicht ist das ’n Anfang.« »Möglich«, sagte Tom. »Aber erst mußt du mal wissen, wieviel sie dir dafür abnehmen. Dann kannst du dir’s immer noch überlegen. Da waren welche in McAlester, wo solche Fernkurse genommen haben. Aber ich weiß keinen, der damit fertig geworden ist. Sie haben’s einfach satt gekriegt und liegengelassen.« »Herrgott, jetzt haben wir doch vergessen, uns was zu essen zu kaufen.« »Ach, Mutter hat genug geschickt. Der Prediger kann das nicht alles essen. Ist bestimmt noch was übrig. Ich möchte wissen, wie lange wir bis nach Kalifornien brauchen.« »Ach, ich weiß nicht. Wir werden’s schon sehn.« Sie verfielen in Schweigen, und die Dunkelheit kam, und die Sterne waren glitzernd und weiß. Casy kletterte aus dem Rücksitz des Dodge und schlenderte hinüber zum Straßenrand, als der Lastwagen anhielt. »Ich hätte euch nie so früh erwartet«, sagte er. Tom sammelte die Ersatzteile in das Stück Sackleinwand, das er mitgenommen hatte. »Wir haben Glück gehabt«, sagte er. »Sogar ’ne Taschenlampe haben wir gekriegt. Wir fangen gleich an.« »Ihr habt euer Essen dagelassen«, sagte Casy. »Wir wollen erst den Wagen machen. Al, fahr ’n bißchen weiter von der Straße runter, und dann halt mir die Lampe.« Er ging direkt zu dem Dodge und kroch 328
auf dem Rücken darunter. Al legte sich auf den Bauch und leuchtete. »Mensch, nicht in meine Augen. Hier, ’n bißchen höher.« Tom schob den Kolben in den Zylinder, drehend und stoßend zwängte er ihn hinein. Der Messingdraht schleifte ein wenig an der Zylinderwand. »Gut, daß er schön locker sitzt, sonst würde er verdammt bremsen. Ja, ich glaube, es geht.« »Ich hoffe, daß der Draht nicht die Ringe verklebt«, sagte Al. »Deshalb habe ich ihn ja flachgehämmert. Ich denke, er wird einfach schmelzen und sich an die Wände setzen – wie ’n dünner Messingüberzug.« »Meinst du nicht, daß er sie zerkratzt?« Tom lachte. »Die Wände können’s, weiß Gott, vertragen. Die Karre säuft sowieso schon genug Öl – da kommt’s auf ein bißchen mehr auch nicht an.« Er brachte das Gelenk der Pleuelstange unten auf die Welle und probierte die untere Hälfte des Lagers an. »Werden noch ’n paar Plättchen brauchen.« Und er rief: »Casy!« – »Was?« – »Ich schraube jetzt das Lager an. Geh nach vorn zum Schwungrad und dreh’s langsam rum, bis ich ›Halt!‹ sage.« Er zog die Schrauben an. »Jetzt! Aber langsam!« Und als die Welle sich drehte, rüttelte er an dem Lager. »Doch zu viele Plättchen«, sagte Tom. »Anhalten, Casy!« Er schraubte das Lager auf, nahm an jeder Seite ein paar von den dünnen Plättchen heraus und zog die Schrauben wieder an. »Weiterdrehen, Casy!« Und er rüttelte nochmals an der Pleuelstange. »Jetzt ist sie noch ein kleines bißchen locker. Wenn ich noch mehr raus329
nehme, sitzt sie vielleicht zu stramm. Aber ich will’s versuchen.« Wieder lockerte er die Schrauben und nahm auf jeder Seite ein weiteres Plättchen heraus. »Drehen, Casy!« »Sieht aus, als wär’s gut«, sagte Al. Tom rief: »Dreht sich’s schwer, Casy?« »Nein, ich glaube nicht.« »Also, ich hoffe, dann sitzt’s. Denn zum Abschleifen haben wir nicht die Werkzeuge. Aber mit diesem Schraubenschlüssel hier ist’s schon viel leichter gegangen.« Al sagte: »Der Chef von dem Autohof da unten wird wütend werden, wenn er nach dem Schraubenschlüssel sucht, und er ist nicht da.« »Das ist seine Sache«, sagte Tom. »Wir haben ihn ja nicht geklaut.« Er klopfte die Splinte hinein und bog die Enden aus. »Ich glaube, so ist’s gut. Hör zu, Casy. Du hältst jetzt die Lampe, und Al und ich schrauben die Wanne wieder an.« Casy kniete auf den Boden und nahm die Lampe. Er richtete den Lichtstrahl auf die arbeitenden Hände, die vorsichtig die Dichtung herumlegten. Die beiden Männer spannten alle Muskeln an unter dem Gewicht der schweren Ölwanne, dirigierten die Schrauben in die Löcher und befestigten die Muttern. Als sie alle befestigt waren, schraubte Tom sie nach und nach hoch, bis die Wanne sich gleichmäßig gegen die Dichtung preßte. Dann zog er die Muttern stramm an. »So, das hätten wir geschafft«, sagte Tom. Er befestigte die Schließschraube wieder an der Ölwanne, untersuchte alles noch einmal sorgfältig, dann nahm er die Lampe und suchte auch noch den Boden ab. 330
»Fertig. Jetzt gießen wir das Öl wieder rein.« Sie krochen unter dem Wagen hervor und ließen das schwarze Öl aus dem Eimer wieder in den Motor fließen. Tom leuchtete noch einmal die Dichtung ab, um festzustellen, ob auch nirgends Öl durchsickerte. »Okay, Al. Schmeiß ihn an«, sagte er. Al stieg in den Wagen und trat auf den Starter. Der Motor sprang dröhnend an. Blauer Rauch drang aus dem Auspuff. »Nimm Gas weg!« schrie Tom. »Wird noch so lange Öl verbrennen, bis der Draht geschmolzen ist. Jetzt wird’s schon dünner.« Er lauschte auf den Motor. »Gib Frühzündung und laß ihn leer laufen.« Er lauschte wiederum. »Okay, Al. Dreh ihn ab. Ich denke, wir haben’s jetzt geschafft. Und jetzt schleunigst was essen.« »Du bist ’n verdammt guter Mechaniker«, sagte Al. »Ich habe schließlich auch ein Jahr in ’ner Autobude gearbeitet. Jetzt werden wir die nächsten zweihundert Meilen hübsch langsam fahren. Damit sich das Ding einläuft.« Sie wischten sich ihre öligen Hände an Grasbüscheln ab und rieben sie schließlich an ihren Hosen sauber. Hungrig fielen sie über das gekochte Schweinefleisch her und nahmen ab und zu einen Schluck aus der Wasserflasche. »Bin beinahe verhungert«, sagte Al. »Und was machen wir nun? Gehn wir auch in das Camp?« »Ich weiß nicht«, sagte Tom. »Vielleicht nehmen sie uns noch ’n halben Dollar extra ab. Aber wir können ja hinfahren und unsern Leuten Bescheid sagen. Wenn sie uns dann was wollen, fahren wir eben weiter. Aber die 331
werden sich freuen, daß wir schon fertig sind. Ich bin froh, daß Mutter uns heute nachmittag aufgehalten hat. Jetzt leuchte noch mal alles ab, Al. Damit wir nichts liegenlassen. Und nimm den guten Schraubenschlüssel mit. Vielleicht brauchen wir ihn noch mal.« Al suchte den Boden ab. »Ich sehe nichts.« »Gut, ich fahre den Dodge, und du nimmst den Lastwagen, Al.« Tom startete den Motor. Der Prediger stieg ein. Tom fuhr langsam, um den Motor zu schonen, und Al folgte mit dem Lastwagen. Er überquerte den Graben im zweiten Gang. Tom sagte: »Diese Dodges können ’n ganzes Haus zerren im zweiten Gang, wenn du willst. Jetzt qualmt er schon nicht mehr so. Sehr gut – dann läuft sich der Kolben bald ein.« Der Wagen fuhr langsam die Straße entlang. Die Zwölf-Volt-Lampen warfen einen kurzen Schein von gelblichem Licht auf das Pflaster. Casy wandte sich zu Tom. »Komisch, wir ihr so ’n Wagen reparieren könnt. Ihr leuchtet einfach mal rein, und schon ist’s gemacht. Ich könnte keinen Wagen reparieren, noch nicht mal jetzt, wo ich’s gesehn habe.« »Man muß es von klein auf gelernt haben«, sagte Tom. »Aber es ist nicht nur, daß man’s lernt. Es ist mehr. Heute können Kinder ’nen Wagen auseinanderbauen, ohne daß sie groß überlegen müssen.« Ein Kaninchen erschien im Licht und lief vor dem Wagen her, und seine langen Ohren wippten bei jedem Sprung. Dann und wann versuchte es, von der Straße abzubiegen, aber die Mauer von Dunkelheit warf es zurück. In der Ferne erschienen grelle Scheinwerfer und schleuder332
ten ihnen ihren Strahl entgegen. Das Kaninchen zögerte, drehte sich um und rannte auf die kleineren Lichter des Dodge zu. Es gab einen leisen Stoß, als es unter die Räder geriet. Der entgegenkommende Wagen zischte vorbei. »Das haben wir überfahren«, sagte Casy. »Ja«, erwiderte Tom. »Es gibt Fahrer, die zielen’s gradezu darauf ab. Mir gibt’s jedesmal ’n Ruck, wenn ich eins überfahre. Aber der Wagen läuft gut. Die Ringe müssen schon losgeplatzt sein. Er qualmt kaum noch.« »Das habt ihr gut gemacht«, sagte Casy. Ein kleines Holzhaus beherrschte das Camp, und auf der Veranda des Hauses brannte zischend eine Benzinlampe und warf einen großen runden Schein von weißem Licht. Ein halbes Dutzend Zelte war in der Nähe des Hauses aufgebaut, und Autos standen neben den Zelten. Das Kochen des Nachtessens war längst beendet, aber die kleinen Feuer glimmten noch auf den Lagerplätzen. Eine Gruppe von Männern hatte sich um die Veranda versammelt, wo die Lampe brannte, und ihre Gesichter wirkten scharf und muskulös im grellen weißen Lichtschein. Ihre Hüte warfen ihnen schwarze Schatten über Stirn und Augen, und ihre Kinne sahen aus, als sprängen sie vor. Sie saßen auf den Stufen, und manche standen unten auf der Erde und stützten ihre Ellbogen auf die Kante der Veranda. Der Besitzer selbst, ein mürrischer, schmächtiger Mann, saß in einem Stuhl auf der Veranda. Er lehnte sich zurück gegen die Wand und trommelte mit den Fingern auf seine Knie. Im Hause brannte eine 333
Petroleumlampe, aber ihr dünnes Licht wurde von dem grellen Schein der Benzinlampe überdeckt. Die Männer hatten sich um den Besitzer versammelt. Tom fuhr den Dodge an den Straßenrand heran und parkte. Al fuhr mit dem Lastwagen durch das Tor. »Ich lasse ihn draußen stehn«, sagte Tom. Er stieg aus und ging durch das Tor auf den weißen Lichtschein zu. Der Besitzer ließ die Vorderbeine seines Stuhles wieder auf den Boden und beugte sich nach vorne. »Wollt ihr hier übernachten?« »Nein«, sagte Tom. »Wir haben unsre Familie hier. He, Vater.« Vater, der auf der untersten Verandastufe saß, sagte: »Ich dachte, ihr würdet mindestens ’ne Woche bleiben. Schon fertig?« »Schwein gehabt«, sagte Tom. »Wir haben doch noch heute ’n Ersatzteil gekriegt. Wir können gleich morgen früh weiter.« »Das ist ’ne feine Sache«, sagte Vater. »Mutter macht sich Sorgen. Deine Großmutter ist nicht mehr ganz richtig.« »Ja. Al hat mir’s erzählt. Geht’s ihr denn jetzt besser?« »Na, jedenfalls schläft sie.« Der Besitzer sagte: »Wenn ihr hier reinfahren und übernachten wollt, dann kostet’s was. Aber wir haben genug Platz, und Wasser und Holz haben wir auch. Und keiner stört euch.« »Ach, Quatsch«, sagte Tom. »Wir können im Straßengraben schlafen. Da kostet’s uns nichts.« Der Besitzer trommelte sich mit den Fingern aufs 334
Knie. »Der Sheriff kommt nachts immer vorbei. Und da setzt’s was. Im Freien schlafen ist verboten, hier bei uns. Wir haben ein Landstreichergesetz.« »Und wenn ich dir ’n halben Dollar bezahle, bin ich kein Landstreicher, was?« »Sehr richtig.« In Toms Augen glimmte es wütend auf. »Der Sheriff ist wohl zufällig dein Schwager, was?« Der Besitzer beugte sich noch weiter nach vorne. »Nein, das ist er nicht. Und so weit ist’s, Gott sei Dank, noch nicht gekommen, daß wir uns von euch Bettelvolk was sagen lassen müssen.« »Ich habe dich um nichts gebeten. Seit wann sind wir denn Bettelvolk? He, willst du mir das vielleicht sagen? Ich habe ja keinen halben Dollar von dir haben gewollt – dafür, daß ich hier übernachten darf!« Die Männer standen steif, regungslos und schweigend da. Aller Ausdruck war von ihren Gesichtern gewichen, und ihre Augen, im Schatten unter den Hüten, wanderten heimlich zu dem Besitzer hinüber. Vater brummte: »Komm, laß ihn, Tom.« »Jaja, ich lasse ihn schon.« Die Männer im Kreise, die auf den Stufen saßen und sich gegen die Veranda lehnten, waren stumm. Ihre Augen blitzten im grellen Licht der Benzinlampe. Ihre Gesichter waren hart, und sie waren sehr still. Nur ihre Augen wanderten von Sprecher zu Sprecher, und ihre Gesichter waren ausdruckslos und verschlossen. Ein Nachtfalter schlug gegen die Lampe und verbrannte sich und fiel hinunter ins Dunkel. 335
In einem der Zelte weinte ein Kind, und die sanfte Stimme einer Frau tröstete es und sang dann leise: »Jesus liebt dich in der Nacht. Schlaf ein, schlaf ein. Jesus wacht über dir in der Nacht. Schlaf ein, schlaf ein.« Die Lampe auf der Veranda zischte. Der Besitzer kratzte sich in seiner Hemdöffnung, in der seine weiße haarige Brust zu sehen war. Er war wachsam und ängstlich. Er betrachtete die Männer im Kreise um sich, suchte nach einem Ausdruck auf ihren Gesichtern. Aber sie rührten sich nicht. Tom schwieg eine lange Weile. Seine dunklen Augen blickten langsam auf zu dem Besitzer. »Ich will keine Geschichten machen«, sagte er. »Es ist nur ’ne bittere Sache, wenn man Bettelvolk genannt wird. Ich habe keine Angst. Wenn’s sein muß, gehe ich mit meinen Pfoten auf dich und deinen Sheriff los. Hier – die kannst du zu spüren kriegen. Wenn’s sein muß. Aber es hat ja keinen Zweck.« Die Männer bewegten sich, änderten ihre Stellungen, und ihre blitzenden Augen hoben sich langsam auf zu dem Mund des Besitzers und warteten darauf, daß seine Lippen sich bewegten. Er war beruhigt. Er fühlte, daß er gesiegt hatte, fühlte es aber nicht entschieden genug, um einzugreifen. »Hast du denn keinen halben Dollar?« fragte er. »Natürlich habe ich einen. Aber ich brauche ihn und kann ihn nicht fürs Übernachten rausschmeißen.« »Wir müssen alle unser Leben verdienen.« »Richtig«, sagte Tom. »Ich wollte nur, man könnte das, ohne ’s jemand anders wegzunehmen.« 336
Wieder bewegten sich die Männer. Und Vater sagte: »Wir fahren ganz früh weiter, und der Junge hier gehört zu uns. Wir haben doch bezahlt. Kann er nicht hierbleiben? Wir haben doch bezahlt.« »Kostet ’nen halben Dollar pro Wagen«, sagte der Besitzer. »Sehn Sie, und er hat gar keinen Wagen. Der steht draußen auf der Straße.« »Er ist aber mit ’nem Wagen gekommen«, sagte der Besitzer. »Da könnten doch alle Leute ihre Wagen draußen stehn lassen und umsonst hier bei mir übernachten.« Tom sagte: »Wir fahren die Straße ’n Stück weiter und holen euch morgen früh ab. Wir passen schon auf euch auf. Al kann hierbleiben, und Onkel John kommt mit uns …« Er wandte sich an den Besitzer. »Da hast du doch nichts dagegen?« Der Mann überlegte und entschied sich dann für ein Zugeständnis. »Wenn genauso viele Leute bleiben, wie gekommen sind und bezahlt haben – dann habe ich nichts dagegen.« Tom zog sein Tabakpäckchen hervor, das jetzt grau und zerfetzt war und nur noch ganz unten am Boden ein bißchen Tabakstaub enthielt. Er drehte sich eine magere Zigarette und warf das Päckchen weg. »Wir gehn gleich«, sagte er. Vater wandte sich an den Kreis von Männern. »Es ist verdammt schwer, wenn man so weg muß wie wir. Wir haben unsre eigene Farm gehabt. Und wir können was. Bis die Traktoren gekommen sind, waren wir Farmer.« 337
Ein junger, dünner Mann, dessen Augenbrauen von der Sonne gebleicht waren, wandte langsam den Kopf. »Baumwolle?« fragte er. »Ja. Baumwolle auf Anteil. Früher hat uns die Farm gehört.« Der junge Mann wandte seinen Blick wieder ab. »Genau wie wir«, sagte er. »Gott sei Dank dauert’s ja nicht lange«, sagte Vater. »Wir gehn nach Westen, und da werden wir Arbeit kriegen und vielleicht ein Stückchen Ackerland mit Wasser.« An der Kante der Veranda stand ein zerlumpter Mann. Von seiner schwarzen Jacke hingen die Fetzen herab, und an seinen Hosen waren die Knie durchgescheuert. Sein Gesicht war schwarz von Staub, und wo die Schweißperlen heruntergelaufen waren, hatten sich weiße Streifen gebildet. Er drehte seinen Kopf zu Vater um. »Da müßt ihr ja ’n ganz hübschen Batzen Geld haben.« »Nee, wir haben kein Geld«, sagte Vater. »Aber wir sind viele Männer, wo arbeiten können. Und da unten gibt’s gute Löhne. Wir legen zusammen, dann geht’s schon.« Der zerlumpte Mann starrte Vater an, als er das sagte, dann lachte er, und sein Lachen wurde zu einem hohen, wiehernden Gekicher. Die Männer im Kreis wandten ihm ihre Gesichter zu. Das Kichern endete in einem Hustenanfall. Seine Augen waren rot und tränten, als er endlich wieder zu sich kam. »Ihr fahrt … ihr fahrt nach Westen? Ach, du guter Gott!« Wieder begann er zu lachen. »Ihr fahrt nach Westen … wegen den guten Löhnen – du guter Gott!« Er hielt inne und fügte dann leise hinzu: »Orangen pflücken, was? Und Pfirsiche?« 338
Vaters Ton war würdevoll. »Wir nehmen, was wir kriegen. Es gibt viele Arten von Arbeit da unten.« Der zerlumpte Mann kicherte verhalten. Tom fuhr gereizt herum. »Was ist denn da so komisch dran?« Der zerlumpte Mann schloß den Mund und blickte verdrossen auf die Bodenbretter der Veranda. »Ihr geht alle nach Kalifornien, möchte ich wetten.« »Das habe ich dir ja eben erzählt«, sagte Vater. »Du hast’s nicht erst zu erraten brauchen.« Der zerlumpte Mann sagte langsam: »Ich – ich komme grade zurück. Ich bin schon dagewesen, da unten.« Die Gesichter wandten sich ihm zu. Die Männer rührten sich nicht. Das Zischen der Lampe wurde zu einem Seufzer, und der Besitzer kippte mit den Vorderbeinen seines Stuhles auf den Boden, erhob sich und pumpte die Lampe auf, bis das Zischen wieder scharf und laut war. Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl, aber er schaukelte nicht mehr zurück. Der zerlumpte Mann wandte sich an die Zuhörenden. »Jetzt kann ich nur noch verhungern. Aber verhungern ist mir immer noch lieber.« Vater sagte: »Wovon redest du eigentlich, verdammt noch mal! Ich habe einen Handzettel, auf dem steht, daß sie gute Löhne zahlen. Und vor kurzem habe ich ein Ding in der Zeitung gelesen, daß sie Leute zum Obstpflücken brauchen.« Der zerlumpte Mann wandte sich an Vater. »Habt ihr noch was, wo ihr wieder hingehn könnt – ein Zuhause?« »Nein«, sagte Vater. »Sie haben uns fortgejagt. Die Traktoren sind gekommen.« 339
»Dann wollt ihr also nicht zurück?« »Natürlich nicht.« »Schön, dann will ich’s euch nicht miesmachen«, sagte der zerlumpte Mann. »Ist auch besser. Ich habe ’nen Handzettel, auf dem steht, sie brauchen Leute. Das hätte doch gar keinen Sinn, wenn sie keine Leute brauchen. Kostet sie doch nur Geld. Und sie würden sie ja auch nicht verteilen, wenn sie keine Leute brauchen täten.« »Ich will’s euch nicht miesmachen.« Vater sagte ärgerlich: »Du hast die ganze Zeit drum herumgeredet. Jetzt kannst du nicht plötzlich die Klappe halten. Auf meinem Handzettel steht, sie brauchen Leute. Du lachst und sagst, sie brauchen keine. Wer von euch lügt nun?« Der zerlumpte Mann blickte in Vaters unwillige Augen. Es schien ihm leid zu tun, was er gesagt hatte. »Auf dem Handzettel steht’s richtig. Sie brauchen Leute.« »Also – warum lachst du dann eigentlich?« »Weil du ja nicht weißt, was für Leute sie brauchen.« »Was meinst du damit?« Der zerlumpte Mann war zu einem Entschluß gekommen. »Hör zu«, sagte er. »Wie viele Leute steht auf dem Handzettel, daß sie brauchen?« »Achthundert, und das ist nur auf einer Stelle.« »Orangener Zettel, was?« »Ja – warum?« »Steht auch’n Name drauf – Soundso, Arbeitsvermittler?« Vater griff in seine Tasche und brachte den zusam340
mengefalteten Zettel zum Vorschein. »Richtig. Woher weißt du denn das?« »Paß auf«, sagte der Mann, »dieser Kerl braucht achthundert Leute. Er druckt fünftausend von diesen Dingern, und vielleicht zwanzigtausend Leute sehen sie. Dann machen sich vielleicht zwei- bis dreitausend Leute auf den Weg wegen diesen Handzetteln. Leute, die weg müssen und schon ganz verrückt sind, weil sie nicht wissen, wohin.« »Aber wozu denn das?« rief Vater. »Das wirst du kapieren, wenn du den Burschen siehst, der diese Handzettel rausgeschickt hat. Du wirst ihn schon sehn – ihn oder ’nen andern, wo für ihn arbeitet. Du wirst im Straßengraben übernachten oder irgendwo auf ’nem Schuttabladeplatz mit fünfzig anderen Familien. Und er guckt in dein Zelt rein und sieht nach, ob du noch was zu essen hast. Und wenn du nichts hast, dann sagt er: ›Willst du Arbeit haben?‹ Und du sagst: ›Und ob ich will, Mister. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir Arbeit geben würden.‹ Und er sagt: ›Ja, ich kann dich verwenden.‹ Und du sagst: ›Wann kann ich anfangen?‹ Und dann sagt er dir, wohin du kommen sollst und um welche Zeit, und dann geht er weiter. Er braucht vielleicht zweihundert Leute, aber er redet mit fünfhundert, und die erzählen’s wieder andern, und wenn du hinkommst, dann sind tausend Leute da. Der Bursche sagt: ›Ich zahle zwanzig Cents pro Stunde.‹ Und vielleicht die Hälfte von den Leuten gehen weg. Aber es bleiben immer noch fünfhundert da, die so verdammten Hunger haben, daß sie auch für nichts andres 341
wie ’n bißchen Zwieback arbeiten würden. Ja, und dieser Bursche hat mit dem Landbesitzer einen Vertrag abgeschlossen, daß die Pfirsiche gepflückt werden oder die Baumwolle oder was es grade ist. Verstehst du’s jetzt? Je mehr Leute er kriegt und je hungriger sie sind, desto weniger braucht er zu zahlen. Und er sucht sich Leute mit Kindern aus, wenn er kann, weil … verdammt, und ich sage, ich will’s euch nicht miesmachen!« Die Gesichter der Männer im Kreis blickten ihn kühl an. Die Augen prüften seine Worte. Der zerlumpte Mann wurde befangen. »Ich sage, ich will’s euch nicht miesmachen, und dabei mache ich’s doch. Ihr müßt weiter. Ihr könnt ja nicht zurück.« Das Schweigen hing über den Männern, die um die Veranda standen. Und die Lampe zischte, und ein Schwarm von Nachtfaltern flog um das Licht herum. Der zerlumpte Mann fuhr nervös fort: »Ich will auch sagen, was ihr machen müßt, wenn so ein Bursche kommt und euch sagt, er hat Arbeit. Fragt ihn, was er zahlt. Sagt ihm, er muß es euch schriftlich geben, was er zahlt. Sagt ihm das. Wenn ihr’s nicht macht, werdet ihr nur betrogen.« Der Besitzer beugte sich in seinem Stuhl nach vorn, um den schmutzigen, zerlumpten Mann besser sehen zu können. Er kratzte sich zwischen den grauen Haaren auf seiner Brust und sagte kühl: »Sag mal, du bist doch nicht einer von diesen Unruhestiftern? Einer von denen, wo die Arbeiter aufhetzen?« Und der zerlumpte Mann rief: »Ich schwöre – nein!« »Es gibt nämlich viele solche«, sagte der Besitzer. »Laufen herum und wiegeln die Leute auf. Machen sie 342
verrückt. Hämmern ihnen Geschichten ein. Es gibt viele solche. Eines Tages werden wir sie alle aufhängen, diese Unruhestifter. Wir werden sie aus dem Land verjagen. Wenn ein Mann arbeiten will – okay. Wenn nicht – dann zum Teufel mit ihm. Aber wir lassen ihn keine Unruhe stiften.« Der zerlumpte Mann richtete sich auf. »Ich habe euch nur sagen wollen, wie’s ist«, sagte er. »Mich hat das ein volles Jahr gekostet, bis ich dahintergekommen bin. Hat mich zwei Kinder gekostet und meine Frau, bis ich dahintergekommen bin. Aber ihr glaubt’s mir nicht. Das hätte ich wissen sollen. Ich hätt’s auch niemand geglaubt. Nein, nein, ihr könnt’s nicht glauben. Wie die Kinder im Zelt gelegen haben mit aufgeblähten Bäuchen, und nur noch Haut und Knochen, und wie sie gezittert und geheult haben, wie kleine Hunde, und wie ich losgelaufen bin und Arbeit gesucht habe – nicht für Geld, nicht für Lohn!« schrie er. »Guter Gott, nein! Für ’ne Tasse Mehl und ’n Löffel Fett. Und wie dann der Leichenbeschauer gekommen ist. ›Die Kinder sind an Herzschwäche gestorben‹, hat er gesagt. Und so hat er’s auch aufgeschrieben. Gezittert haben sie, und ihre Bäuche waren aufgebläht wie ’ne Schweinsblase.« Die Männer im Kreise schwiegen, ihre Münder waren ein wenig geöffnet. Ihr Atem ging schnell, und ihre Augen lauerten. Der Mann blickte sich im Kreise um, dann ging er schnell in die Dunkelheit davon. Und die Dunkelheit verschlang ihn, aber seine schleifenden Schritte waren noch lange zu hören, nachdem er gegangen war, Schritte drüben auf der Straße. Und ein Wagen kam auf 343
der Straße vorbei, und in seinem Lichtschein war der zerlumpte Mann zu sehen, wie er weiterschlurfte, den Kopf herabhängend und die Hände in den Taschen seiner schwarzen Jacke. Die Männer waren unruhig. Einer sagte: »Ja – es ist schon spät. Ich gehe schlafen.« Der Besitzer sagte: »Wahrscheinlich ein Ungelernter. Sind jetzt so viele Ungelernte auf der Straße.« Und dann war er still. Und er kippte seinen Stuhl wieder zurück an die Wand und betastete seine Kehle. Tom sagte: »Ich will noch schnell mit Mutter sprechen, und dann fahren wir lieber ’n Stück weiter.« Die beiden Joads gingen davon. »Meinst du, daß das stimmt, was der erzählt hat?« Der Prediger, der ihnen gefolgt war, antwortete. »Natürlich stimmt’s. Für ihn. Er hat’s eben nicht geschafft.« »Und wir?« fragte Tom. »Ob’s nicht für uns auch stimmt?« »Ich weiß nicht«, sagte Casy. »Ich weiß nicht«, sagte Vater. Sie kamen zu dem Zelt, der Plane, die über ein Seil gehängt war. Drinnen war es dunkel und still. Als sie näher traten, erhob sich vor dem Eingang jemand und kam ihnen entgegen. Es war Mutter. »Schlafen schon alle«, sagte sie. »Großmutter endlich auch.« Dann sah sie, daß es Tom war. »Wie kommst du denn hierher?« fragte sie ängstlich. »Es ist doch nichts passiert?« »Ach, woher! Wir sind fertig«, sagte Tom. »Wir können fahren, sobald ihr wollt.« »Gott sei Dank«, sagte Mutter. »Ich kann’s schon kaum noch aushalten, daß wir weiterkommen. Ich 344
möchte bald da sein. Wo’s grün ist und wo wir arbeiten können.« Vater räusperte sich. »Eben hat einer erzählt …« Tom ergriff seinen Arm und rüttelte ihn. »Ja, komisch«, sagte er, »der erzählt, es sind furchtbar viele Leute unterwegs.« Mutter blinzelte durch die Dunkelheit zu ihnen herüber. Im Zelt hustete Ruthie und schnarchte leise im Schlaf. »Ich habe die Kinder gewaschen«, sagte Mutter. »Das erstemal, daß wir genug Wasser gehabt haben. Ich habe die Eimer draußen gelassen, wenn ihr euch auch waschen wollt. Man wird furchtbar dreckig auf der Straße.« »Sind alle drin?« fragte Vater. »Alle außer Connie und Rosasharn. Die sind weggegangen und wollen draußen schlafen. Sie sagen, es ist ihnen zu warm da drunter.« Vater bemerkte unwillig: »Unsere Rosasharn wird verdammt ängstlich und zimperlich.« »Es ist doch ihr erstes«, sagte Mutter. »Sie und Connie versprechen sich so viel davon. Du bist genauso gewesen.« »Wir müssen jetzt gehn«, sagte Tom. »Wir fahren noch ’n Stückchen die Straße weiter. Paßt auf, falls wir euch nicht sehn. Wir sind irgendwo auf der rechten Seite.« »Bleibt Al hier?« »Ja. Onkel John kommt dafür mit. Nacht, Mutter.« Sie gingen durch das schlafende Camp. Vor einem Zelt brannte ein niedriges zuckendes Feuer, und eine Frau saß davor und kochte bereits das Frühstück für den 345
nächsten Morgen. Der Geruch der kochenden Bohnen war kräftig und gut. »Da möchte ich jetzt ’n Teller von haben«, sagte Tom höflich, als sie vorbeigingen. Die Frau lächelte. »Gerne – wenn sie schon gar wären«, sagte sie. »Kommen Sie wieder, wenn’s hell wird.« »Vielen Dank, Ma’am«, sagte Tom. Er und Casy und Onkel John gingen an der Veranda vorbei. Der Besitzer saß noch immer auf seinem Stuhl, und die Lampe zischte und flackerte. Er wandte den Kopf, als die drei vorüberkamen. »Sie haben keinen Saft mehr in Ihrer Lampe«, sagte Tom. »Na ja, ist sowieso Zeit, daß ich schließe.« »Jetzt kommen wohl keine halben Dollars mehr die Straße angerollt, was?« fragte Tom. Die Stuhlbeine stießen auf den Boden. »Werd man nicht frech! Ich kenne dich. Du bist einer von diesen Aufhetzern.« »Richtig«, sagte Tom. »Ich bin ein Aufhetzer.« »Ja, und es gibt viel zu viele von deiner Sorte.« Tom lachte, als sie aus dem Tor gingen und in den Dodge kletterten. Er hob einen kleinen Dreckklumpen auf und warf ihn hinüber in das Licht auf der Veranda. Sie hörten, wie er gegen das Haus flog, und sahen den Besitzer aufspringen und in die Dunkelheit starren. Tom startete den Wagen und bog in die Straße ein, und er lauschte dem Motorgeräusch, lauschte auf ein Klappern. Die Straße war unter den schwachen Lichtern des Wagens nur undeutlich zu sehen. 346
17 Die Wagen der Wandernden krochen aus den Seitenwegen auf die große Durchgangsroute, die Wanderstraße nach Westen. Am Tage hasteten sie gleich Käfern westwärts, und wenn die Dunkelheit kam, versammelten sie sich gleich Käfern in Schwärmen nahe bei Schutz und Wasser. Und weil sie allein waren und verwirrt, und weil sie alle aus einem Land der Sorgen, der Traurigkeit und Enttäuschung kamen, und weil sie alle einem neuen geheimnisvollen Lande zustrebten, drängten sie sich zusammen, sprachen miteinander über alles, was sie von dem neuen Land erhofften, teilten ihr Leben und ihr Essen miteinander. So konnte es geschehen, daß eine Familie sich in der Nähe einer Quelle niedergelassen hatte und eine zweite sich hinzugesellte, weil sie dort Wasser fand und Gesellschaft, und eine dritte, weil zwei Familien den Platz ausgekundschaftet und ihn gut gefunden hatten. Und wenn die Sonne unterging, waren vielleicht zwanzig Familien und zwanzig Wagen an diesem Platz. Am Abend geschah etwas Seltsames: Die zwanzig Familien wurden eine Familie, und die Kinder waren die Kinder aller. Der Verlust des alten Heims wurde ein gemeinsamer Verlust und die goldene Zeit im Westen ein gemeinsamer Traum. Und es konnte geschehen, daß ein krankes Kind die Herzen von zwanzig Familien, von hundert Menschen, mit Verzweiflung erfüllte, daß eine Geburt in einem der Zelte hundert Menschen still und ehrfürchtig werden ließ während der Nacht und hundert 347
Menschen am Morgen mit Freude erfüllte. Eine Familie, die noch in der Nacht vorher angstvoll umhergeirrt war, suchte dann vielleicht in ihren Habseligkeiten nach einem Geschenk für das neugeborene Kind. Die zwanzig Familien wurden, wenn sie abends um die Feuer herumsaßen, eine Einheit. Eine Gitarre wurde aus einer Decke gewickelt, und Lieder wurden gesungen, Volkslieder. Die Männer sangen die Worte, und die Frauen summten die Melodien. Jede Nacht wurde eine Welt geschaffen, wurden Freundschaften geschlossen und Feindschaften begründet, eine vollständige Welt mit Prahlern und Feiglingen, mit stillen Menschen, mit bescheidenen Menschen und mit gütigen Menschen. Jede Nacht bahnten sich die Beziehungen an, auf denen eine Welt beruht, und jeden Morgen wurde die Welt gleich einem Zirkus abgerissen. Zuerst waren die Familien schüchtern beim Bauen und Einreißen ihrer Welten, aber allmählich wurde ihnen die Technik des Weltenbauens zu eigen. Dann traten Führer hervor, und Gesetze wurden gemacht. Und wie die Welten westwärts zogen, waren sie vollständiger und besser ausgestattet, denn ihre Erbauer hatten inzwischen größere Erfahrung erlangt. Die Familien lernten, welche Rechte eingehalten werden mußten – das Recht des Privatlebens im Zelt, das Recht, die Vergangenheit im Herzen zu verschließen, das Recht, zu sprechen und zuzuhören, das Recht, Hilfe anzunehmen oder abzulehnen, Hilfe anzubieten oder zu verweigern, das Recht des Sohnes, einem Mädchen den Hof zu machen, und das Recht der Tochter, sich den 348
Hof machen zu lassen, das Recht der Hungrigen auf Essen und die Rechte der Schwangeren und Kranken, die allen anderen Rechten vorangingen. Und die Familien lernten, obwohl niemand es ihnen sagte, welche Rechte gefährlich sind und unterbunden werden müssen: das Recht, in das Privatleben einzudringen, das Recht, laut zu sein, während im Camp alles schlief, das Recht zur Verführung oder Vergewaltigung, das Recht auf Ehebruch und Diebstahl und Mord. Diese Rechte wurden unterdrückt, denn die kleinen Welten könnten sonst auch nicht eine einzige Nacht bestehen, wenn solche Rechte zur Anwendung kommen. Und wie die Welten westwärts zogen, wurden die Regeln Gesetze, obwohl niemand es den Familien sagte. Es ist ungesetzlich, das Lager zu beschmutzen, es ist ungesetzlich, das Trinkwasser auf irgendeine Weise zu verunreinigen, es ist ungesetzlich, in der Nähe eines Menschen, der Hunger hat, gute Sachen zu essen, ohne ihm etwas abzugeben. Und mit den Gesetzen kamen Strafen – es gab deren nur zwei –, ein schneller und mörderischer Kampf oder die Verbannung, und die Verbannung war die schlimmere. Denn wenn jemand das Gesetz brach, gingen sein Name und sein Gesicht mit ihm, und er hatte in keiner der Welten, ganz gleich, wo sie gebaut wurden, mehr Platz. In den Welten wurde ein bestimmter gesellschaftlicher Umgang herausgebildet und steif eingehalten. Ein Mann mußte »Guten Morgen« sagen, wenn ihm der Gruß entboten wurde. Ein Mann konnte ein williges Mädchen finden, wenn er bei ihr blieb, Kinder mit ihr 349
zeugte und sie beschützte. Aber ein Mann durfte nicht diese Nacht ein Mädchen haben und die nächste ein anderes, denn das würde die Welten gefährden. Die Familien zogen westwärts, und die Technik des Weltenbauens verbesserte sich so, daß die Menschen sicher sein konnten in ihren Welten, und alles war darauf angelegt, daß eine Familie, die die Regeln einhielt, wußte, daß die Regeln sie sicherten. Regierungen bildeten sich in den Welten, Regierungen mit Führern und Ältesten. Ein Mann, der klug war, fand bald heraus, daß seine Klugheit in jedem Camp gebraucht wurde. Ein Mann, der ein Tor war, konnte mit seiner Welt seine Torheit nicht ändern. Und eine Art von Versicherung entwickelte sich in diesen Nächten. Ein Mann, der zu essen hatte, gab einem Hungrigen etwas ab und versicherte sich auf diese Weise selbst gegen Hunger. Und wenn ein kleines Kind starb, wuchs ein Häufchen von Silbermünzen vor dem Zelteingang auf, denn ein kleines Kind muß richtig begraben werden, da es ja nichts sonst vom Leben gehabt hat. Ein alter Mann mag im Felde verscharrt werden, aber nicht ein kleines Kind. Gewisse Vorbedingungen sind nötig zum Bauen einer Welt – Wasser, ein Flußufer, ein Bach, eine Quelle oder selbst eine unbewachte Wasserleitung. Ein flacher Platz ist nötig, wo die Zelte aufgebaut werden können, ein wenig Gebüsch oder Holz für die Feuer. Wenn es nicht weit entfernt einen Schutthaufen gibt, so ist es um so besser, denn dort sind manchmal recht nützliche Gegenstände zu finden – eine Herdplatte, ein Kamingitter, um 350
das Feuer zu schützen, und alte Büchsen, in denen man kochen und aus denen man essen kann. Und so wurden abends die Welten gebaut. Die Menschen, die von den Straßen kamen, bauten sie mit ihren Zelten, mit ihren Herzen und ihrem Verstand. Am Morgen wurden die Zelte eingerissen, die Planen zusammengelegt, die Zeltstäbe auf das Trittbrett gebunden, die Betten und die Kochtöpfe auf den Wagen an ihren Plätzen verstaut. Und wie die Familien westwärts zogen, erlangten sie bald eine ganz bestimmte Technik darin, ihr Heim am Abend aufzubauen und im Morgengrauen wieder einzureißen. Das zusammengelegte Zelt hatte seinen Platz, und die Kochtöpfe hatten ihren Platz. Und wie sie westwärts fuhren, gewöhnten sich auch die einzelnen Mitglieder der Familie ein jedes an seinen Platz und an seine Pflichten – derart, daß ein jedes, ob alt oder jung, seinen Platz im Wagen hatte, daß an den müden, heißen Abenden, wenn die Wagen auf die Lagerplätze fuhren, ein jedes Familienmitglied seine bestimmte Pflicht hatte und sie von sich aus erfüllte: Die Kinder sammelten Holz oder trugen Wasser, die Männer bauten die Zelte auf und holten die Betten herunter, die Frauen kochten das Essen und sahen zu, wie die Familie aß. Und dies wurde ohne Befehl getan. Die Familien, deren Grenzen nachts ein Haus, tags eine Farm gewesen war, änderten ihre Grenzen. Unter der heißen Sonne zogen sie schweigend westwärts, aber nachts gesellten sie sich zu jeder Gruppe, die sie fanden. So änderten sie ihr gesellschaftliches Leben – änderten 351
sich, wie im ganzen Universum nur der Mensch sich ändern kann. Sie waren keine Farmer mehr, sie waren Wanderer. Und das Planen, das lange Schweigen und die Gedanken, die früher hinausgegangen waren auf die Felder, gingen jetzt auf die Straßen, in die Ferne, nach Westen. Der Mann, der früher in Äckern gedacht hatte, dachte jetzt in engen Straßenmeilen. Und seine Gedanken und seine Sorgen waren nicht mehr der Regen, der Wind und der Staub und die Ernte. Seine Augen untersuchten die Reifen, seine Ohren lauschten auf das Klappern der Motoren, und seine Sorgen galten dem Öl, dem Benzin und dem dünner werdenden Gummi zwischen der gepreßten Luft und der Straße. Dann war ein gebrochenes Getrieberad eine Tragödie. Dann waren das Wasser am Abend und das Essen über dem Feuer das einzige Verlangen. Dann war die Gesundheit zum Weiterfahren die große Notwendigkeit, die Stärke zum Weiterfahren und der Mut zum Weiterfahren. Der Wille flog ihnen westwärts voraus, und die Ängste, die früher der Trockenheit oder Überschwemmung gegolten hatten, richteten sich jetzt auf alles, was sie in ihrem Zuge nach Westen aufhalten könnte. Die Camps wurden festgesetzte Lagerplätze, jeder eine kurze Tagesreise vom anderen entfernt. Und auf der Straße überkam manche Familien die Panik, und sie fuhren Tag und Nacht, hielten an und schliefen in ihren Wagen und fuhren weiter nach Westen. Sie flohen vor der Straße, flohen vor dem Wandern. Ihr Verlangen, endlich zur Ruhe zu kommen, war so groß, daß sie ihre Gesichter nach Westen richteten 352
und fuhren und fuhren und ihre klappernden Motoren über die Straße hetzten. Aber die meisten Familien änderten sich und wuchsen rasch in das neue Leben hinein. Und wenn die Sonne unterging … Wird Zeit, daß wir uns ’n Platz suchen zum Übernachten. Und – da vorn sind schon Zelte. Der Wagen fuhr von der Straße herunter und hielt an, und da die anderen zuerst dagewesen waren, mußten gewisse Höflichkeiten ausgetauscht werden. Der Mann, das Oberhaupt der Familie, beugte sich aus dem Wagen. Können wir hier übernachten? Natürlich, wir freuen uns, daß ihr kommt. Aus welchem Staat seid ihr denn? Wir kommen von Arkansas runter. Da hinten im vierten Zelt sind noch andere Leute aus Arkansas. Ach, wirklich? Und die große Frage: Wie ist das Wasser? Na, es schmeckt nicht gerade gut, aber es hat viel. Also, danke schön. Nichts zu danken. Aber die Höflichkeiten mußten sein. Der Wagen holperte über den Boden bis zum letzten Zelt und hielt an. Dann kletterten die müden Leute vom Wagen herunter und reckten ihre steifen Glieder. Dann wurde das neue Zelt aufgerichtet, die Kinder gingen Wasser holen und die älteren Buben Holz sammeln. Das Feuer wurde 353
angebrannt und die Töpfe aufgesetzt. Andere Leute, die schon früher dagewesen waren, kamen vorüber, man grüßte sich, nannte den Staat, aus dem man kam, entdeckte Freunde und manchmal Verwandte. Aus Oklahoma? Welche Gemeinde? Cherokee. Mensch, da habe ich doch Verwandte. Kennst du die Allens? In ganz Cherokee gibt’s Allens. Kennst du die Willises? Na, und ob! Und eine neue Einheit bildete sich. Die Dämmerung kam, aber noch ehe es dunkel wurde, gehörte die neue Familie schon zum Camp. Mit jeder Familie war schon ein Wort gesprochen worden. Sie waren bekannte Leute – gute Leute. Ich habe die Allens mein Leben lang gekannt. Simon Allen, der alte Simon, hat doch Geschichten mit seiner ersten Frau gehabt. Die war aus Cherokee. Hübsch wie ’n schwarzes Fohlen. Ja, und der junge Simon, der hat doch eine Rudolph geheiratet, stimmt’s nicht? Das habe ich mir gedacht. Sie leben jetzt in Enid, und es geht ihnen gut – richtig gut. Der einzige Allen, dem ’s jemals gut gegangen ist. Er hat ’ne Garage. Als das Wasser geholt und das Holz gehackt war, schlenderten die Kinder, scheu und noch schüchtern, zwischen den Zelten umher. Und sie versuchten geschickt, Bekanntschaften zu schließen. Ein kleiner Junge blieb neben einem anderen kleinen Jungen stehen und betrachtete einen Stein, hob ihn auf, untersuchte ihn 354
genau, spuckte darauf und rieb ihn sauber und betrachtete ihn so lange, bis er dem anderen die Frage abgezwungen hatte: Was hast du denn da? Und beiläufig: Och, nichts, ’n Stein. Aber warum guckst du ihn denn dann so an? Ich dachte, ich habe Gold drin gesehn. Wie willst du denn das wissen? Gold ist gar nicht golden. In ’nem Stein ist’s schwarz. Natürlich, das weiß doch jeder. Es ist sicher falsches Gold, und du hast schon gedacht, es ist richtiges Gold. Nee, nee. Mein Vater hat nämlich schon ganze Haufen Gold gefunden und hat mir gesagt, wie man’s suchen muß. Was würdest du denn mit ’nem richtigen großen Stück Gold machen? Me-e-nsch! Ich würde mir ’ne ganz furchtbar riesengroße Zuckerstange kaufen. Verdammt noch eins, das wäre ’ne Sache. Ich darf nicht fluchen, aber ich mach’ es trotzdem. Ich auch. Kommst du mit rüber zur Quelle? Und auch die kleinen Mädchen fanden zueinander und prahlten bescheiden mit ihrer Beliebtheit und ihren Aussichten. Die Frauen arbeiteten am Feuer und beeilten sich, die hungrigen Mägen der Familie zu sättigen – Schweinefleisch, wenn sie viel Geld hatten, Schweinefleisch mit Kartoffeln und Zwiebeln. Pfannkuchen oder Maisbrot, mit viel Soße darüber. Filet oder Koteletts und eine Kanne Tee, schwarz und bitter. Schmalzkuchen, wenn das Geld knapp war, knusprig und braun und das Fett darüber gegossen. 355
Jene Familien, die sehr reich waren oder sehr töricht mit ihrem Geld umgingen, aßen Konservenbohnen und Konservenpfirsiche und Spezialbrot und Kuchen vom Bäcker, aber sie aßen es heimlich in ihren Zelten, denn es wäre nicht gut gewesen, diese Dinge ganz offen vor allen Leuten zu essen. Dennoch rochen die Kinder, während sie ihre Kuchen aßen, wie die Bohnen gewärmt wurden, und waren unglücklich darüber. Wenn das Essen vorbei war und die Teller gewaschen und abgetrocknet waren, kam die Dunkelheit, und dann hockten sich die Männer hin und sprachen miteinander. Sie sprachen von dem Land, das hinter ihnen lag. Ich weiß nicht, wo das noch hinführen soll, sagten sie. Das Land ist hin. Es wird schon bald wieder in Ordnung kommen, nur sind wir dann nicht mehr da. Vielleicht dachten sie, vielleicht haben wir gesündigt und wissen’s nicht. Und sie sprachen leise von ihrem Zuhause, wie es gewesen war: Wir haben ein kleines Kühlhaus gehabt unter dem Windrad. Da haben wir immer die Milch hingestellt zum Abrahmen – und Wassermelonen auch. Wenn’s mittags ganz furchtbar heiß gewesen ist, war’s da drin kühl, so kühl, wie man sich’s nur wünschen konnte. Dann haben wir ’ne Melone aufgeschnitten, und es hat uns richtig der Mund weh getan, so kalt ist sie gewesen. Das hat das Wasser gemacht, das immer vom Tank runtergetropft ist. Sie erzählten sich gegenseitig ihre Tragödien: Ich hab ’nen Bruder gehabt, Charley, strohblond und ’n erwach356
sener Mann. Hat auch Ziehharmonika spielen gekonnt. Und eines Tages hat er geeggt, um die Furchen sauberzumachen. Da ist plötzlich ’ne Klapperschlange auf ihn losgeschossen, und die Pferde haben gescheut, und die Egge ist über Charley weggegangen. Die Spitzen direkt in seinen Bauch und in seine Gedärme rein, und sein ganzes Gesicht haben sie zerrissen … allmächtiger Gott! Sie sprachen über die Zukunft: Ich möchte wissen, wie’s da unten ist. Na, auf den Bildern sieht’s jedenfalls hübsch aus. Ich habe eins gesehn, wo’s warm ist und Nußbäume und Beerensträucher hat – und direkt dahinter, ganz nahe, ein mächtig hoher Berg mit Schnee obendrauf. Das war ’n hübsches Bild. Wenn wir Arbeit kriegen, ist’s sicher schön da unten. Und nicht kalt im Winter. Da brauchen die Kinder auf dem Schulweg nicht zu frieren. Ich werde aufpassen, daß meine Kinder jetzt keine Schule mehr versäumen. Ich kann gut lesen, natürlich, aber es macht mir nicht den Spaß wie einem, der wo’s gewöhnt ist. Und vielleicht holte einer der Männer seine Gitarre vor das Zelt. Und er setzte sich auf eine Kiste und spielte, und alle im Camp kamen langsam auf ihn zu, angezogen von der Musik. Viele Männer können Gitarre spielen, aber vielleicht konnte dieser Mann sie zupfen. Und das ist nun etwas ganz Besonderes – die tiefen Saiten klingen auf, während die Melodie mit kleinen Schritten auf den Saiten nebenherläuft. Der Mann spielte, und die Leute traten langsam zu ihm heran, bis der Kreis fest geschlossen war, und dann sang er ›Ten-Cent Cotton and FortyCent Meat‹. Und im Kreise sangen sie leise mit. Und er 357
sang ›Why Do You Cut Your Hair, Girls?‹ Und im Kreis sangen sie mit. Er heulte das Lied: ›I’m Leaving Old Texas‹, das unheimliche Lied, das gesungen wurde, ehe die Spanier kamen, nur daß die Worte damals noch indianisch waren. Und jetzt war die Gruppe zu einer Einheit zusammengeschweißt, die dunklen Augen der Leute waren nach innen gerichtet, ihre Gedanken spielten mit vergangenen Zeiten, und ihre Schwermut war wie ein Ausruhen, war wie Schlaf. Er sang den ›McAlester Blues‹, und dann, um es bei den alten Leuten wieder gutzumachen, sang er ›Jesus Calls Me To His Side‹. Die Kinder wurden schläfrig von der Musik und gingen in die Zelte und schliefen ein, und der Gesang drang in ihre Träume. Und nach einer Weile stand der Mann mit der Gitarre auf und gähnte. Gute Nacht, Leute, sagte er. Und ein jeder wünschte sich, auch Gitarre zupfen zu können, denn das ist eine schöne Sache. Dann gingen die Leute in ihre Betten, und im Lager wurde es still. Die Eulen strichen über den Zelten vorbei, und in der Ferne heulten die Kojoten, und Skunks kamen in das Camp hereingelaufen, um sich etwas zu fressen zu suchen – watschelnde, freche Skunks, die sich vor nichts fürchteten. Die Nacht verging, und beim ersten Morgengrauen kamen die Frauen aus den Zelten, machten Feuer und setzten Kaffee auf. Und die Männer kamen heraus und sprachen leise in der Dämmerung. Wenn man über den Colorado kommt, dann ist da die Wüste, sagten sie. Paß auf, daß du da keine Panne hast. Nimm genug Wasser mit, falls was passiert. 358
Wir wollen nachts fahren. Wir auch. Sonst trocknet’s einem ja die Seele aus dem Leibe. Die Familien aßen hastig, die Teller wurden gespült und abgetrocknet. Dann wurden die Zelte abgerissen. Alle beeilten sich, weiterzukommen. Und wenn die Sonne aufging, war der Lagerplatz leer, und nur die hinterlassenen Spuren deuteten noch darauf hin, daß hier Menschen übernachtet hatten. Und der Lagerplatz war bereit für eine neue Welt in einer neuen Nacht. Aber auf der großen Straße krochen gleich Käfern die Wagen der Wanderer westwärts, und die Meilen dehnten sich vor ihnen – endlos.
18 Die Joads drangen langsam nach Westen vor. Hinauf in die Berge von New Mexico, vorüber an den Gipfeln und Pyramiden des Hochlandes. Sie kletterten in das bergige Arizona und blickten durch eine Schlucht hinunter ins Ödland, in die Wüste. Ein Grenzposten hielt sie an. »Wohin fahrt ihr?« »Nach Kalifornien«, sagte Tom. »Wie lange wollt ihr in Arizona bleiben?« »Nicht länger, als bis wir durch sind.« »Habt ihr Pflanzen mit?« »Nein, keine Pflanzen.« »Ich müßte ja eure Sachen durchsuchen.« 359
»Ich sage Ihnen doch, wir haben keine Pflanzen mit.« Der Grenzposten klebte einen Zettel an die Windschutzscheibe. »Okay. Fahrt weiter, aber beeilt euch.« »Das sowieso.« Sie krochen die Hänge hinauf, und niedrige verkrüppelte Bäume bedeckten die Hänge. Holbrook, Joseph City, Winslow. Und dann kamen hohe Bäume, und die Wagen spuckten Dampf und keuchten die Berge hinauf. Sie kamen nach Flagstaff, und hier war die Steigung zu Ende. Von Flagstaff hinunter über die großen Plateaus, und die Straße verschwand in der Ferne. Das Wasser wurde rar und war für fünf Cents, zehn Cents, fünfzehn Cents die Gallone zu kaufen. Die Sonne trocknete das bergige Land aus. Vor ihnen lagen die zackigen, zerklüfteten Höhenzüge, die Westwand von Arizona. Und jetzt waren sie auf der Flucht vor Sonne und Trockenheit. Sie fuhren die ganze Nacht und kamen nachts in die Berge. Sie krochen die zerklüfteten Wände hinauf, und das gelbe kraftlose Licht ihrer Scheinwerfer wanderte über die bleichen Steinmauern der Straße. Sie kamen in der Dunkelheit über die Höhe und fuhren in der späten Nacht langsam bergab, durch den steinernen Trümmerhaufen von Oatman, und als der Tag anbrach, sahen sie den Colorado-Fluß unter sich. Sie fuhren nach Topock, hielten auf der Brücke an, während ein Grenzposten ihnen den Zettel von der Windschutzscheibe herunterwusch. Dann über die Brücke und in die Felsenwüste. Und obwohl sie todmüde waren und schon die Hitze kam, hielten sie an. Vater rief: »Wir sind da – wir sind in Kalifornien!« 360
Sie blickten auf die Felsblöcke, die in der Sonne glitzerten, und über den Fluß zurück zu den furchtbaren Bergwänden Arizonas. »Wir müssen noch durch die Wüste«, sagte Tom. »Wir müssen zum Wasser und uns ausruhn.« Die Straße läuft parallel zum Fluß, und der Tag war schon recht fortgeschritten, als die heißgelaufenen Wagen nach Needles kamen, wo der Fluß sanft durch das Schilf fließt. Die Joads und die Wilsons fuhren zum Fluß, sie saßen in ihren Wagen und blickten auf das herrliche Wasser, das vorbeifloß, und auf das grüne Schilf, das sich leise mit der Strömung wiegte. Am Fluß war bereits ein kleines Lager aufgebaut, elf Zelte nahe am Wasser und etwas weiter entfernt auf dem Sumpfgras. Und Tom beugte sich aus dem Fenster. »Habt ihr was dagegen, wenn wir hier anhalten?« Eine dicke Frau, die in einem Eimer Wäsche scheuerte, blickte auf. »Uns gehört das hier ja nicht. Haltet nur, wenn ihr wollt. Aber es wird bald ’n Bulle kommen und euer Zeug durchsuchen.« Und sie wandte sich wieder ihrer Wäsche zu. Die beiden Wagen hielten an einem freien Platz auf dem Sumpfgras an. Die Zelte wurden heruntergeholt, das Zelt der Wilsons wurde aufgebaut und die Plane der Joads über einen Strick gehängt. Winfield und Ruthie gingen langsam zwischen Weiden hindurch hinunter zum schilfigen Ufer. Ruthie sagte mit unterdrückter Erregung: »Kalifornien. Das hier ist Kalifornien, und wir sind mittendrin!« 361
Winfield riß eine Binse ab, schlitzte sie auf, steckte sich das weiße Mark in den Mund und kaute es. Sie gingen ins Wasser und blieben ganz still stehen, und das Wasser spülte ihnen um die Waden. »Wir müssen noch durch die Wüste«, sagte Ruthie. »Wie ist denn die Wüste?« »Ich weiß nicht. Ich habe mal Bilder gesehn von ’ner Wüste. Da lagen überall Knochen rum.« »Menschenknochen?« »Ein paar sicher, aber hauptsächlich Rinderknochen.« »Ob wir auch Knochen sehn?« »Vielleicht. Ich weiß nicht. Wir müssen ja in der Nacht fahren, hat Tom gesagt. Er sagt, es brennt uns die Seele aus dem Leib, wenn wir am Tag fahren.« »Ist hübsch kühl hier«, sagte Winfield und bohrte seine Zehen in den Sand am Grunde des Wassers. Sie hörten Mutter rufen: »Ruthie! Winfield! Kommt zurück!« Sie machten kehrt und schlenderten langsam durch das Schilf und die Weiden zurück. In den anderen Zelten war es still. Als die Wagen ankamen, waren ein paar Köpfe in den Zelteingängen erschienen und dann gleich wieder zurückgezogen worden. Jetzt waren die Zelte der beiden Familien aufgebaut, und die Männer hatten sich versammelt. Tom sagte: »Ich gehe dann baden. Jawohl, das mache ich – und dann wird geschlafen. Wie geht’s denn Großmutter, jetzt, wo sie im Zelt liegt?« »Weiß nicht«, sagte Vater. »Ich habe sie gar nicht wach kriegen können.« Er lauschte in der Richtung des 362
Zeltes. Eine heulende, plärrende Stimme kam unter der Plane hervor. Mutter ging schnell hinein. »Sie ist aufgewacht«, sagte Noah. »Die ganze Nacht hat sie da oben auf dem Wagen rumgekrächzt. Scheint so, als wenn sie überhaupt nicht mehr bei Verstand ist.« Tom sagte: »Ach was, sie ist einfach erschöpft. Wenn sie nicht bald ein bißchen Ruhe hat, macht sie’s nicht mehr lange. Sie ist richtig erschöpft. Kommt jemand mit? Ich will mich waschen und dann im Schatten schlafen, den ganzen Tag.« Er ging zum Fluß hinunter, und die anderen Männer folgten ihm. Sie zogen im Weidengebüsch ihre Kleider aus, gingen dann in den Fluß und setzten sich ins Wasser. Eine lange Zeit saßen sie so da, die Hacken in den Sand gegraben, um sich zu halten, und nur ihre Köpfe sahen noch aus dem Wasser hervor. »Mein Gott, das habe ich nötig gehabt«, sagte Al. Er nahm eine Handvoll Sand und schrubbte sich damit. Sie lagen im Wasser und blickten hinüber zu den scharfen Zacken, die Needles heißen, und zu den weißen Felswänden von Arizona. »Da sind wir durchgekommen«, sagte Vater voller Staunen. Onkel John tauchte seinen Kopf unter Wasser, tauchte wieder auf. »Jaja, wir sind da. Wir sind in Kalifornien, wenn’s auch nicht grade üppig aussieht.« »Wir müssen noch durch die Wüste«, sagte Tom. »Und ich habe gehört, das ist ’n verdammtes Ding.« Noah fragte: »Machen wir’s heute nacht?« »Was meinst du, Vater?« fragte Tom. 363
»Ich weiß nicht, ’n bißchen ausruhn würde uns ganz guttun, besonders Großmutter. Aber andrerseits möchte ich gerne bald rüber und mir ’ne vernünftige Arbeit suchen. Wir haben nur noch vierzig Dollars. Und mir wäre wohler, wenn wir schon alle arbeiten täten, damit ’n bißchen Geld reinkommt.« Sie saßen im Wasser und fühlten den Zug der Strömung. Der Prediger ließ seine Arme und Hände auf der Oberfläche schwimmen. Die Körper waren weiß bis zum Hals und zu den Handgelenken, aber die Hände und Gesichter und ein V am Schlüsselbein waren von der Sonne dunkelgebrannt. Sie rieben sich mit Sand ab. Und Noah sagte träge: »Am liebsten würde ich hierbleiben. Einfach hier im Wasser liegen. Nie Hunger haben und nie verzweifelt sein. Mein ganzes Leben lang im Wasser liegen, faul wie ’ne Sau im Dreck.« Und Tom, der seine Blicke über den Fluß zu den Bergen wandern ließ: »Ich habe noch nie solche Berge gesehn. Sie sind das Rückgrat vom ganzen Land. Aber ’s ist ein mörderisches Land. Ich möchte wissen, ob wir jemals wohin kommen, wo Leute ihr Leben verdienen können, ohne daß sie in Felsen und Steinen rumkrebsen müssen. Ich habe Bilder gesehn, wo das Land flach war und grün mit kleinen weißen Häusern, wie Mutter sagt. Sie hat ihr Herz drangehängt, an so ’n kleines weißes Haus. Man könnte beinahe denken, so ’n Land gibt’s überhaupt nicht. Aber ich habe Bilder gesehn.« Vater sagte: »Warte nur, bis wir nach Kalifornien 364
kommen. Da wirst du schon sehen, wie schön ’n Land sein kann.« »Mensch, Vater! Wir sind doch in Kalifornien!« Zwei Männer in blauen Baumwollhosen und verschwitzten blauen Hemden kamen durch das Weidengebüsch und sahen die nackten Männer. Sie riefen: »Kann man schwimmen?« »Weiß nicht«, sagte Tom. »Wir haben’s nicht versucht. Aber zu sitzen ist’s schön.« »Dürfen wir reinkommen?« »Ist ja nicht unser Fluß. Wir borgen euch gerne ’n Stückchen davon.« Die Männer streiften Hosen und Hemden ab und wateten hinaus. Der Staub bedeckte ihre Beine bis zu den Knien, und ihre Füße waren blaß und weich von Schweiß. Sie setzten sich ins Wasser und wuschen sich träge ihre Schenkel. Sie waren sonnenverbrannt beide, Vater und Sohn. Sie grunzten und stöhnten im Wasser. Vater fragte höflich: »Wollt ihr auch nach Westen?« »Nee. Da kommen wir grade her. Wir fahren wieder nach Hause. Da unten können wir nichts verdienen.« »Und wo seid ihr zu Hause?« fragte Tom. »Im Pfannenstiel, in der Nähe von Pampa.« Vater fragte: »Könnt ihr denn da was verdienen?« »Nee. Aber da können wir wenigstens mit Leuten verhungern, die wir kennen. Und nicht mit ’nem Haufen von Kerlen, die wo uns hassen.« Vater sagte: »Sie sind schon der zweite, der wo so redet. Weshalb hassen die euch denn?« »Ich weiß nicht«, sagte der Mann. Er füllte sich die 365
Hände mit Wasser und rieb sich schnaufend und prustend das Gesicht. Schmutziges Wasser rann ihm aus dem Haar und über den Hals. »Ich möchte gerne mehr darüber hören«, sagte Vater. »Ich auch«, fügte Tom hinzu. »Weshalb hassen euch denn die Leute da unten?« Der Mann sah Tom scharf an. »Ihr fahrt wohl nach Westen?« »Ja, wir sind auf dem Weg.« »Ihr seid noch nie in Kalifornien gewesen?« »Nee, noch nie.« »Also, dann hört nicht auf mich. Seht’s euch selber an.« »Gut«, sagte Tom, »aber man will doch gerne wissen, wie’s da ist, wo man hinfährt.« »Na, wenn ihr’s wirklich wissen wollt – ich bin einer, wo viel rumgefragt hat und viel drüber nachgedacht hat. Ist ’n schönes Land. Aber sie haben’s gestohlen, schon vor langer Zeit. Wenn ihr die Wüste hinter euch habt, kommt ihr in das Land, was um Bakersfield rum liegt. Und ihr habt noch nie so schönes Land gesehn. Lauter Weingärten und überall Obst – wirklich das schönste Land, was ihr euch denken könnt. Und ihr fahrt an guten, fetten Feldern vorbei, und die Felder liegen brach. Aber ihr könnt nichts haben von den Feldern. Die gehören der Land- und Viehgesellschaft. Und wenn sie die Felder nicht bearbeiten wollen, dann lassen sie’s eben bleiben. Aber wenn ihr auf die Felder geht und euch da ’n bißchen was anbaut, stecken sie euch ins Gefängnis.« »Gutes Land, sagen Sie? Und die Leute bearbeiten’s nicht?« 366
»Jawohl, gutes Land, und sie bearbeiten’s nicht. Und wenn ihr das seht, dann packt euch ’ne leise Wut – aber ihr habt noch lange nicht alles gesehn. Die Leute haben ’nen ganz besonderen Ausdruck in den Augen. Und sie gucken euch an, und ihre Gesichter sagen: ›Du gefällst mir nicht, du Schwein.‹ Und dann gibt’s Bullen und Sheriffs, die jagen euch überall fort. Ihr macht ’n Lager irgendwo an der Straße, und sie jagen euch fort. Ihr braucht den Leuten nur ins Gesicht zu sehen und wißt, sie hassen euch. Und – ich will euch was sagen. Sie hassen euch, weil sie Angst haben. Sie wissen, daß einer, der Hunger hat, sich schon was zu fressen verschaffen wird, und wenn er’s klauen muß. Sie wissen, das Brachland ist ’ne Sünde, und bald wird sich’s jemand nehmen. Verdammt! Euch hat noch keiner ›Okie‹ genannt.« Tom sagte: »Okie? Was ist denn das?« »Ja, Okie hat früher mal bedeutet, daß einer aus Oklahoma kommt. Jetzt heißt’s soviel wie verdammtes Schwein. Okie heißt, ihr seid nichts wie Dreck. Das Wort selber bedeutet nichts, das Schlimme ist, wie sie’s sagen. Aber ich will euch nichts erzählen. Ihr müßt’s selber sehn. Es sollen jetzt dreihunderttausend Leute da unten sein – und sie leben wie die Schweine, weil alles in Kalifornien jemand gehört. Ist nichts mehr übrig. Und die Leute, denen’s gehört, die klammern sich dran – und wenn sie dabei die ganze Menschheit umbringen müssen. Und sie haben Angst, und das macht sie wild. Ihr werdet’s ja sehn. Ein verdammt schönes Land, aber die Leute sind nicht nett. Sie haben solche Angst, daß sie noch nicht mal miteinander nett sind.« 367
Tom blickte ins Wasser und grub seine Hacken tiefer in den Sand. »Wenn nun einer arbeitet und sich was spart – kann er denn dann ’n Stückchen Land kaufen?« Der ältere Mann lachte und sah seinen Jungen an, und der Junge grinste fast triumphierend. Und der Mann sagte: »Ihr kriegt aber keine regelmäßige Arbeit. Ihr müßt jeden Tag eure paar Kröten fürs Essen zusammenkratzen. Und ihr müßt bei Leuten arbeiten, wo gemein zu euch sind. Wenn ihr Baumwolle pflückt, könnt ihr sicher sein, daß die Waage nicht stimmt. Natürlich gibt’s auch welche, die stimmen, aber die meisten stimmen nicht. Aber ihr denkt schon, alle Waagen sind verstellt, und seid mißtrauisch. Und ihr könnt nichts machen, einfach nichts machen.« Vater sagte zögernd: »Ist es denn … ist es denn da unten überhaupt nicht schön?« »Natürlich, schön anzusehn, aber man hat nichts davon. Da ist zum Beispiel ein Wald mit gelben Orangen – und ein Kerl mit ’nem Revolver, der einen glatt niederschießen kann, wenn man nur eine anrührt. Und da ist ein Mann, ein Zeitungsmann irgendwo an der Küste, der hat ’ne Million Hektar …« Casy blickte überrascht auf. »Eine Million Hektar? Was in aller Welt macht er denn mit einer Million Hektar?« »Ich weiß nicht. Er hat’s einfach. Er züchtet ’n bißchen Vieh und hat überall Wachen aufgestellt, damit keiner reinkommt. Und er fährt in ’nem kugelsicheren Wagen rum. Ich habe Bilder von ihm gesehn. Ein fetter Bursche mit kleinen bösen Augen und ’nem Maul wie ’n 368
Loch. Hat Angst, daß er stirbt. ’ne Million Hektar und Angst vorm Sterben.« Casy fragte: »Was zum Teufel macht er denn mit einer Million Hektar?« Der Mann nahm seine weiß werdenden Hände aus dem Wasser und spreizte sie, er zog seine Unterlippe ein und legte seinen Kopf seitwärts auf die Schulter. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Vielleicht ist er verrückt. Ich habe ’n Bild von ihm gesehn. Er sieht auch so aus. Verrückt und gemein.« »Sie sagen, er hat Angst vorm Sterben?« fragte Casy. »Ja, die Leute erzählen’s.« »Er hat Angst, daß Gott ihn holen wird?« »Ich weiß nicht. Er hat einfach Angst.« »Na, und warum?« fragte Vater. »Scheint doch nicht so, als hätte er keinen Spaß.« »Großvater hat keine Angst gehabt«, sagte Tom. »Wenn Großvater am meisten Spaß gehabt hat, ist er immer dem Tod am nächsten gewesen. Zum Beispiel, wie Großvater und noch ein andrer nachts in ’ne Horde Navajos reingehauen haben. Da haben sie den größten Spaß ihres Lebens gehabt, und doch hätte niemand mehr ’nen Goffer dafür gegeben, daß sie lebend davonkämen.« Casy sagte: »Ja, so ist’s wahrscheinlich richtig. Wenn einer Spaß hat, ist ihm alles egal, aber einer, wo allein ist und alt und gemein und enttäuscht – der hat eben Angst vorm Sterben!« Vater fragte: »Aber über was ist er denn enttäuscht, wo er doch ’ne Million Hektar hat?« 369
Der Prediger lächelte und machte ein nachdenkliches Gesicht. Er schnippte mit der Hand einen schwimmenden Wasserkäfer weg. »Wenn er ’ne Million Hektar braucht, um sich reich zu fühlen, so scheint’s mir, er braucht sie, weil er in seinem Innern schrecklich arm ist, und wenn er das ist, dann können ihn auch die Million Hektar nicht reich machen, und vielleicht ist er enttäuscht, weil er nichts machen kann, um sich reich zu fühlen – nicht so reich, wie Missis Wilson war, wie sie ihr Zelt hergegeben hat, als Großvater gestorben ist. Ich will hier keine Predigt halten, aber ich habe noch nie gesehn, daß einer, wo sein Geld so zusammengescheffelt hat, nicht enttäuscht gewesen ist.« Er lachte. »Klingt doch wie ’ne Predigt, was?« Die Sonne brannte jetzt heftig hernieder. Vater sagte: »Ich glaube, wir tunken uns lieber ’n bißchen unter Wasser. Die Sonne brennt uns ja die Seele aus dem Leib.« Und er legte sich zurück und ließ sich das sanft strömende Wasser um den Hals herumlaufen. »Wenn man nun unbedingt arbeiten will, geht’s dann auch nicht?« fragte Vater. Der Mann richtete sich auf und sah ihn an. »Hören Sie, ich weiß ja auch nicht alles. Vielleicht kommen Sie an und kriegen gleich ’ne regelmäßige Arbeit, und dann habe ich gelogen. Andrerseits kriegen Sie vielleicht nie Arbeit, und dann bin ich’s gewesen, der wo Sie nicht gewarnt hat. Ich kann Ihnen nur sagen, es geht den meisten Leuten da unten ziemlich dreckig.« Er legte sich wieder ins Wasser. »Man kann ja auch nicht alles wissen«, sagte er. 370
Vater wandte den Kopf und sah Onkel John an. »Du bist nie einer gewesen, der viel geredet hat«, sagte Vater. »Aber der Teufel soll mich holen, wenn du öfter als zweimal dein Maul aufgemacht hast, seit wir von zu Hause fort sind. Wie denkst du denn über die Sache?« Onkel John machte ein finsteres Gesicht. »Ich denke überhaupt nichts darüber. Wir fahren doch hin, nicht wahr? Und das ganze Gerede kann uns nicht dran hindern, daß wir hinfahren. Wenn wir da sind, sind wir eben da. Wenn wir Arbeit kriegen, arbeiten wir, und wenn wir keine kriegen, setzen wir uns auf unsern Hintern. Dieses ganze Gerede ist zu überhaupt nichts gut.« Tom legte sich zurück, ließ sich den Mund voll Wasser laufen, spuckte das Wasser in die Luft und lachte. »Onkel John redet nicht viel, aber wenn er was redet, hat er recht. Jawohl, er hat recht. Fahren wir heute abend weiter, Vater?« »Können wir machen. Dann haben wir’s hinter uns.« »Gut, ich lege mich jetzt ins Gebüsch und schlafe.« Tom stand auf und watete an das sandige Ufer. Er zog seine Kleider auf die nasse Haut und zuckte ein wenig zusammen, denn die Kleider hatten in der Sonne gelegen und waren heiß. Die anderen folgten ihm. Der Mann und sein Junge, die noch im Wasser saßen, sahen die Joads verschwinden. Und der Junge sagte: »Die möchte ich in sechs Monaten sehn. Du guter Gott!« Der Mann wischte sich mit dem Zeigefinger die Augenwinkel aus. »Ich hätte das nicht machen sollen«, sagte er. »Aber man will ja immer gescheit sein und den Leuten Sachen erzählen.« 371
»Ja, mein Gott, Vater – sie haben dich doch drum gefragt.« »Ich weiß. Aber wie der Mann sagt, sie fahren ja sowieso hin. Und was ich ihnen erzählt habe, hat nichts genützt. Sie fühlen sich nur elend, wo sie’s noch gar nicht nötig haben.« Tom ging in das Weidengebüsch hinein, kroch in den Schatten und legte sich hin. Und Noah folgte ihm. »Hier schlafe ich jetzt«, sagte Tom. »Tom!« »Was?« »Tom, ich fahre nicht weiter mit.« Tom richtete sich auf. »Was sagst du?« »Tom, ich gehe nicht hier vom Wasser weg. Ich laufe weiter, hier den Fluß runter.« »Du bist verrückt«, sagte Tom. »Ich beschaffe mir ’n Stückchen Leine und fange Fische. An ’nem Fluß kann man nicht verhungern.« Tom sagte: »Und was ist mit den andern? Was ist mit Mutter?« »Ich kann’s nicht ändern. Ich kann hier nicht weg von dem Fluß.« Noahs Augen waren halb geschlossen. »Du weißt doch, wie’s ist, Tom. Du weißt, sie sind alle nett zu mir. Aber in Wirklichkeit bin ich ihnen gleichgültig.« »Du bist verrückt.« »Nein, Tom. Ich weiß genau, wie ich bin. Ich weiß, sie sind traurig. Aber … Also, ich komme nicht mit. Du mußt’s Mutter sagen.« 372
»Jetzt hör mal zu«, begann Tom. »Nein. Es hat keinen Zweck. Ich bin hier in dem Wasser gewesen. Und ich gehe nicht weg von dem Fluß. Ich laufe einfach weiter, Tom – den Fluß entlang. Ich kann Fische fangen und so, aber ich gehe nicht hier weg. Ich kann’s nicht.« Er kroch langsam zurück. »Du mußt’s Mutter sagen, Tom.« Und er ging davon. Tom folgte ihm bis zum Flußufer. »Jetzt hör mal zu, du verdammter Esel …« »Es hat keinen Zweck«, sagte Noah. »Ich bin schlecht, aber ich kann’s nicht ändern. Ich muß gehn.« Er wandte sich hastig um und ging am Ufer entlang flußabwärts. Erst wollte Tom ihm folgen, doch dann blieb er stehen. Er sah Noah im Gebüsch verschwinden, dann wieder auftauchen und weiterwandern am Flußufer entlang. Und er blickte Noah nach, wie er immer kleiner wurde und dann endgültig im Weidendickicht verschwand. Und Tom nahm seine Mütze ab und kratzte sich den Kopf. Er ging in sein Gebüsch zurück und legte sich schlafen. Unter der ausgebreiteten Plane lag Großmutter auf einer Matratze, und Mutter saß neben ihr. Die Luft war zum Ersticken heiß, und im Schatten der Plane summten die Fliegen hin und her. Großmutter war nackt, nur mit einer langen rosa Gardine zugedeckt. Sie warf ihren alten Kopf unruhig von einer Seite auf die andere, sie murmelte und röchelte. Mutter saß auf der Erde neben ihr, jagte mit einem Stück Karton die Fliegen weg und wehte einen Strom von heißer Luft über das verzerrte alte 373
Gesicht. Rose von Sharon saß auf der anderen Seite und betrachtete ihre Mutter. Großmutter rief gebieterisch: »Will! Will! Komm sofort her, Will.« Sie öffnete ihre Augen und sah sich mit wilden Blicken um. »Ich habe ihm gesagt, er soll herkommen«, sagte sie. »Ich werde ihn schon kriegen. Ich reiße ihm die Haare aus.« Sie schloß die Augen wieder und rollte ihren Kopf hin und zurück und murmelte erstickte, unverständliche Worte. Mutter fächelte mit der Pappe. Rose von Sharon blickte die alte Frau hilflos an. Sie sagte leise: »Sie ist furchtbar krank.« Mutter hob ihre Augen zu dem Gesicht des Mädchens. Mutters Augen waren ruhig und gefaßt, aber auf ihrer Stirn standen Falten. Und Mutter fächelte und fächelte und jagte mit ihrer Pappe die Fliegen weg. »Wenn man jung ist, Rosasharn, ist alles, was geschieht, eine Sache für sich. Eine Sache für sich allein. Ich weiß das, ich erinnere mich genau daran, Rosasharn.« Ihr Mund liebte den Namen ihrer Tochter. »Du kriegst ein Kind, Rosasharn, und das ist etwas ganz für dich allein. Das wird dir weh tun, und der Schmerz ist dein Schmerz, nur dein Schmerz, und dieses Zelt hier steht allein in der Welt, Rosasharn.« Sie fuhr peitschend mit ihrer Pappe durch die Luft, um eine brummende Fliege zu vertreiben, und die große Fliege flog zweimal im Kreise durch das Zelt und summte dann hinaus in den blendenden Sonnenschein. Und Mutter fuhr fort: »Es kommt ’ne Zeit, wo sich das alles ändert, wo Sterben ein Teil vom großen Sterben ist und Ertragen ein Teil vom großen Ertragen, sind beides Teile von derselben Sache. Und dann ist’s 374
nicht mehr alles dein. Dann tut ein Schmerz auch nicht mehr so weh, weil’s nicht mehr allein dein Schmerz ist, Rosasharn. Ich wollte, ich könnte dir das alles so sagen, daß du’s weißt, aber ich kann’s nicht.« Und ihre Stimme war so weich, so voller Liebe, daß Rose von Sharon die Tränen in die Augen traten und die Augen überfluteten und sie blendeten. »Nimm das und fächle damit weiter«, sagte Mutter und reichte ihrer Tochter das Stück Pappe. »Fächeln ist gut. Ich wollte, ich könnte dir’s sagen, daß du’s weißt.« Großmutter, deren Brauen sich über den geschlossenen Augen zusammengezogen hatten, schrie: »Will! Du bist dreckig! Noch nie in deinem Leben bist du sauber gewesen!« Ihre kleinen runzligen Finger hoben sich und kratzten auf ihrer Backe. Eine rote Ameise lief über die Gardine, mit der die alte Frau zugedeckt war, und verkroch sich in den Falten ihres Halses. Mutter griff rasch zu und nahm sie weg, zerquetschte sie zwischen Daumen und Zeigefinger und wischte sich die Finger am Kleid ab. Rose von Sharon fächelte mit der Pappe. Sie blickte zu Mutter auf. »Sie …« Und die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. »Tritt dir die Füße ab, Will – du dreckiges Schwein!« rief Großmutter. Mutter sagte: »Ich weiß nicht. Vielleicht, wenn wir sie irgendwohin bringen könnten, wo’s nicht so heiß ist, aber ich weiß nicht. Mach du dir nur keine Gedanken, Rosasharn.« Eine große Frau in einem zerrissenen schwarzen Kleid 375
blickte in das Zelt hinein. Ihre Augen waren trübe und verschwommen, und am Halse hing ihr die Haut in Falten herab. Ihre Lippen waren locker, so daß die Oberlippe wie ein Vorhang über die Zähne hing und die Unterlippe von ihrem eigenen Gewicht herabgezogen wurde und das Zahnfleisch sehen ließ. »Guten Morgen, Ma’am«, sagte sie. »Guten Morgen, und Gott sei Lob und Preis.« Mutter blickte sich um. »Morgen«, sagte sie. Die Frau trat ins Zelt und beugte ihren Kopf über Großmutter. »Wir hören, ihr habt eine Seele für unsern Herrn Jesus bereit. Gott sei Lob und Preis!« Mutters Gesicht spannte sich, und in ihren Augen leuchtete es unwillig auf. »Sie ist müde, das ist alles«, sagte Mutter. »Sie ist erschöpft vom Fahren und von der Hitze. Einfach erschöpft. Sie muß sich ein bißchen ausruhn, dann ist sie wieder gesund.« Die Frau beugte sich über Großmutters Gesicht, und fast schien es, als schnüffelte sie. Dann wandte sie sich an Mutter und nickte, wobei ihre Lippen wippten und an ihrem faltigen Hals alles zitterte. »Eine gute Stelle, für unsern Herrn Jesus bereit«, sagte sie. Mutter rief: »Das stimmt nicht!« Die Frau nickte, doch langsamer dieses Mal, und dann legte sie Mutter ihre aufgedunsene Hand auf die Stirn. Mutter machte eine Bewegung, als wollte sie die Hand fortschlagen, nahm sich aber dann schnell zusammen. »Ja, es ist so, Schwester«, sagte die Frau. »Wir sind sechs Fromme und Gläubige in unserm Zelt. Ich hole sie, und dann halten wir ’ne Versammlung ab – mit 376
Gebeten und Segen. Sind alles Jehoviten. Sechs, mich mitgezählt. Ich gehe sie holen.« Mutter wurde steif. »Nein – nein«, sagte sie. »Nein, Großmutter ist müde. Das würde sie nicht aushalten.« Die Frau sagte: »Einen Segen könnte sie nicht aushalten? Den süßen Atem unseres Herrn Jesus? Du weißt nicht, wovon du redest, Schwester.« Mutter sagte: »Nein, nicht hier. Sie ist zu müde.« Die Frau sah Mutter vorwurfsvoll an. »Seid ihr denn nicht gläubig, Ma’am?« »Wir sind immer fromm gewesen«, sagte Mutter, »aber Großmutter ist müde, und wir sind die ganze Nacht gefahren. Wir wollen euch nicht bemühen.« »Es ist keine Mühe, und wenn’s eine wäre, so würden wir’s schon auf uns nehmen für eine Seele, die zu unserm Herrn Jesus geht.« Mutter erhob sich auf die Knie. »Wir danken euch«, sagte sie kalt. »Aber wir wollen keine Versammlung hier im Zelt.« Die Frau sah sie lange an. »Gut, aber wir lassen eine Schwester nicht ohne Segen von uns gehn. Wir werden eine Versammlung in unserm Zelt abhalten. Und wir werden dir deine Hartherzigkeit verzeihn.« Mutter setzte sich wieder hin, Großmutter gegenüber, und ihr Gesicht war noch immer hart und entschlossen. »Sie ist müde«, sagte Mutter. »Sie ist einfach müde.« Großmutter schwenkte ihren Kopf hin und her und murmelte verhalten. Die Frau ging steif aus dem Zelt. Mutter hob den Blick nicht von dem alten, leidenden Gesicht. 377
Rose von Sharon fächelte weiter und brachte mit ihrer Pappe die heiße Luft in Bewegung. Sie sagte: »Mutter!« »Was?« »Weshalb hast du denn nicht gewollt, daß sie ’ne Versammlung halten?« »Ich weiß nicht«, sagte Mutter. »Jehoviten sind gute Menschen. Fromm und gläubig. Ich weiß nicht, ’s ist so über mich gekommen. Ich dachte, ich könnt’ es nicht aushalten. Ich würde einfach in Stücke gehn.« Aus einiger Entfernung kamen die Laute der beginnenden Versammlung, ein Bittgesang wurde angestimmt. Die Worte waren nicht zu hören, nur die Melodie. Die Stimme hob und senkte sich und kletterte immer höher. Dann brach sie ab, und eine andere Stimme antwortete, und der Bittgesang hob sich zu einem triumphierenden Schreien, und die Stimme bekam einen drohenden Ton. Sie schwoll an und brach ab, und auch die antwortende Stimme klang drohend. Und nach und nach wurden die Sätze des Bittgesanges kürzer, wurden schärfer, klangen wie Ermahnungen und Befehle, und die Antworten hatten einen klagenden Ton. Der Rhythmus wurde schneller. Männliche und weibliche Stimmen hatten bisher zusammengeklungen, aber jetzt, in der Mitte einer Antwort, erhob sich eine Frauenstimme zu einem heulenden Schrei, wild und furchtbar, wie der Schrei eines Tieres, und eine tiefere Frauenstimme folgte ihr, eine bellende Stimme, und eine Männerstimme kletterte mit Wolfsgeheul die Tonleiter hinauf. Der Bittgesang verstummte, und nur das tierische Heulen war noch zu hören, begleitet von einem klopfenden Laut auf der Erde. Mutter 378
schauerte. Rose von Sharons Atem ging schnell und keuchend, und der heulende Chor fuhr fort, bis es schien, daß die Lungen platzen müßten. Mutter sagte: »Das macht mich verrückt. Irgendwas ist mit mir geschehn.« Jetzt brach die hohe Stimme in hysterisches Schreien aus, das Schreien einer Hyäne, und das Klopfen wurde lauter. Die Stimmen überschlugen sich und brachen ab, und dann verfiel der ganze Chor in ein röchelndes Schluchzen, und ein Klatschen und Klopfen drang herüber. Das Schluchzen wurde zu einem Heulen, das dem Gejaul kleiner Hunde vor dem Futternapf glich. Rose von Sharon weinte leise vor Nervosität. Großmutter schob sich den Vorhang von den Beinen, die gleich grauen knorrigen Stöcken auf der Matratze lagen. Und Großmutter winselte mit dem Winseln, das aus dem anderen Zelt herüberdrang. Mutter zupfte den Vorhang wieder zurecht. Und dann seufzte Großmutter tief, und ihr Atem wurde leicht und gleichmäßig, und ihre Augenlider zuckten nicht mehr. Sie sank in tiefen Schlaf und schnarchte mit offenem Mund. Das Winseln in der Ferne wurde leiser, bis es überhaupt nicht mehr zu hören war. Rose von Sharon blickte ihre Mutter an, und ihre Augen glänzten von Tränen. »Es hat genützt«, sagte sie. »Es hat Großmutter gutgetan. Sie schläft.« Mutter hatte den Kopf geneigt, sie war beschämt. »Vielleicht habe ich den guten Leuten unrecht getan. Großmutter ist eingeschlafen.« »Weshalb fragst du unsern Prediger nicht, ob du ’ne Sünde getan hast?« fragte das Mädchen. 379
»Ich will ihn fragen, aber er ist ’n komischer Mann. Vielleicht ist er dran schuld, daß ich den Leuten gesagt habe, sie dürften nicht hier ins Zelt kommen. Der Prediger – der hat sich ausgedacht, daß alles, was die Menschen machen, richtig ist.« Mutter blickte auf ihre Hände und sagte: »Rosasharn, wir müssen ’n bißchen schlafen. Wenn wir heute nacht weiterfahren, müssen wir ’n bißchen schlafen.« Sie streckte sich auf der Erde neben der Matratze aus. Rose von Sharon fragte: »Und wer fächelt Großmutter?« »Sie schläft doch jetzt. Leg dich hin und ruh dich aus.« »Ich möchte wissen, wo Connie ist«, sagte das Mädchen. »Er ist schon ganz lange weg.« Mutter sagte: »Schscht! Du sollst dich ausruhn.« »Mutter, Connie will nachts studieren und was werden.« »Ja, das hast du mir schon gesagt. Jetzt schlaf.« Das Mädchen legte sich auf die Kante von Großmutters Matratze. »Connie hat ’nen neuen Plan. Er denkt sich dauernd was aus. Wenn er Elektrizität gelernt hat, wird er sein eignes Geschäft haben – und rate mal, was wir dann kriegen werden?« »Was?« »Eis – so viel Eis, wie wir wollen. Wir schaffen uns ’nen Eisschrank an. Und der ist dann immer voll. Die Sachen verderben nicht, wenn man Eis hat.« »Connie denkt sich dauernd was aus«, sagte Mutter und lachte. »Aber du solltest jetzt lieber schlafen.« Rose von Sharon schloß die Augen. Mutter legte sich auf den Rücken und kreuzte die Hände unter dem Kopf. Sie lauschte auf Großmutters Atem und auf den 380
Atem des Mädchens. Sie zog eine Hand unter dem Kopf hervor, um sich eine Fliege von der Stirn zu verjagen. Das Camp war still in der brennenden Hitze, und die Geräusche im heißen Gras, das Zirpen der Grillen und das Summen der Fliegen waren Geräusche, die fast der Stille glichen. Mutter seufzte tief und gähnte und schloß die Augen. Im Halbschlaf hörte sie, wie Schritte sich näherten, aber erst eine Männerstimme weckte sie vollständig auf. »Wer ist hier drin?« Mutter fuhr hoch. Ein gebräuntes Männergesicht erschien im Zelteingang, und dann trat der Mann ein. Er trug Schaftstiefel, Khakihosen und Khakihemd mit Achselstücken. An einem breiten Gürtel hing eine Pistolentasche, und ein großer silberner Stern war auf der linken Brusthälfte des Hemdes angeheftet. Seine Militärmütze saß ihm auf dem Hinterkopf. Er klopfte mit der Hand gegen die Zeltleinwand, und das gesamte Segeltuch vibrierte wie eine Trommel. »Wer ist hier drin?« fragte er noch einmal. »Was wollen Sie denn?« erkundigte sich Mutter. »Na, was glauben Sie denn? Ich will wissen, wer hier drin ist.« »Nur wir drei. Ich und Großmutter und meine Tochter.« »Und wo sind eure Männer?« »Ach, die sind runtergegangen, sich waschen. Wir sind die ganze Nacht gefahren.« »Wo kommt ihr denn her?« »Aus der Gegend von Sallisaw, Oklahoma.« »Gut, aber hier könnt ihr nicht bleiben.« 381
»Wir wollen heute nacht weiter, über die Wüste, Mister.« »Ja, das rate ich euch auch. Wenn ihr morgen um diese Zeit noch hier seid, sperre ich euch ein. Wir wollen euch nicht hier haben.« Mutters Gesicht wurde rot vor Wut. Sie stand langsam auf, beugte sich über eine Gerätekiste und zog einen eisernen Tiegel heraus. »Mister«, sagte sie. »Sie haben ’nen Silberstern und ’ne Pistole. Da, wo ich herkomme, benimmt man sich anständig und höflich.« Sie ging mit dem Tiegel auf ihn zu. Er lockerte seine Pistole. »Man los«, sagte Mutter. »So was – Frauen Angst zu machen! Ich bin froh, daß die Männer nicht da sind. Die würden Sie in Stücke reißen. In unserm Land sagt man das, was man zu sagen hat, anständig.« Der Mann trat zwei Schritte zurück. »Ja, jetzt seid ihr aber nicht in eurem Land. Ihr seid in Kalifornien, und wir wollen nicht, daß ihr gottverdammten Okies euch hier niederlaßt.« Mutter blieb stehen. Sie war verblüfft. »Okies?« sagte sie leise. »Okies.« »Jawohl, Okies! Und wenn ihr morgen noch hier seid, sperre ich euch ein.« Er drehte sich um, ging zum nächsten Zelt und schlug mit der Hand gegen die Zeltwand. »Wer ist hier drin?« fragte er. Mutter ging langsam wieder zurück unter die Plane. Sie legte den Tiegel in die Kiste. Sie setzte sich nachdenklich hin. Rose von Sharon beobachtete sie heimlich. Und als sie sah, daß es in Mutters Gesicht zuckte, schloß sie die Augen und stellte sich schlafend.
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Die Sonne stand schon tief, aber die Hitze schien nicht abzunehmen. Tom erwachte im Weidengebüsch, sein Mund war ausgetrocknet, sein Körper war feucht von Schweiß, und sein Kopf war unbefriedigt vom Schlaf. Er taumelte auf die Füße und ging zum Fluß hinunter. Er zog sich die Kleider aus und watete ins Wasser. Und sowie er das Wasser um sich spürte, war sein Durst vergangen. Er legte sich zurück und ließ sich mit der Strömung gleiten. Dann stemmte er seine Ellbogen in den Sand und betrachtete seine Zehen, die über die Wasserfläche herausragten. Ein blasser, magerer kleiner Junge kam wie ein Tier durch das Schilf gekrochen und schlüpfte aus seinen Kleidern. Und er kroch ins Wasser wie eine Bisamratte, nur seine Nase und seine Augen waren noch zu sehen. Dann plötzlich entdeckte er Tom und sah, daß Tom ihn beobachtete. Er gab sein Spiel auf und setzte sich hin. Tom sagte: »Hallo.« Der Gruß wurde schüchtern erwidert. »Hast wohl Bisamratte gespielt?« »Hm.« Er drehte sich um, watete dem Ufer zu, sprang heraus, nahm seine Kleider unter den Arm und war im Gebüsch verschwunden. Tom lachte. Und dann hörte er, wie schrill sein Name gerufen wurde. »Tom! He, Tom!« Er setzte sich im Wasser auf und pfiff durch die Zähne, ein durchdringendes Pfeifen mit einem kühnen Schwung am Ende. Das Gebüsch teilte sich, und Ruthie stand da. »Mutter braucht dich«, sagte sie. »Du sollst sofort zurückkommen.« 383
»Gut.« Er stand auf und ging durch das Wasser zum Ufer. Ruthie betrachtete mit Interesse und Erstaunen seinen nackten Körper. Tom, der ihre Blicke bemerkte, sagte: »Lauf weiter! Mach!« Und Ruthie rannte davon. Tom hörte, wie sie aufgeregt nach Winfield rief. Er zog sich die warmen Kleider über die kühle, feuchte Haut und ging durch das Weidengebüsch zum Zelt. Mutter hatte aus trockenen Weidenzweigen ein Feuer gemacht und Wasser aufgesetzt. Sie war sichtlich erleichtert, als er kam. »Was ist denn los, Mutter?« fragte er. »Ich habe Angst gehabt«, sagte sie. »Ein Polizist war da. Er sagt, wir dürfen nicht hierbleiben. Ich habe Angst gehabt, daß er auch mit dir gesprochen hat und daß du ihm was getan hast.« Tom sagte: »Warum soll ich denn ’nem Polizisten was tun?« Mutter lächelte. »Ja … Er hat so böse geredet … Ich hätte ihm beinahe selber was getan.« Tom ergriff ihren Arm und schüttelte sie. Er lachte. Dann setzte er sich, noch immer lachend, auf die Erde. »Mein Gott, Mutter. Ich habe dich gekannt, wie du noch nicht so gewalttätig warst. Was ist denn mit dir los?« Sie machte ein ernstes Gesicht. »Ich weiß nicht, Tom.« »Erst gehst du mit ’ner Eisenstange auf uns los, und jetzt willst du sogar ’nem Polizisten was tun.« Er lachte leise und streckte seine Hand aus und tätschelte zärtlich ihren nackten Fuß. »Alte Hexe«, sagte er. »Tom.« »Was?« 384
Sie zögerte eine Weile. »Tom, dieser Polizist … der hat uns – Okies genannt. Er hat gesagt: ›Wir wollen nicht, daß ihr gottverdammten Okies euch hier niederlaßt.‹« Tom sah sie an, und seine Hand lag noch immer sanft auf ihrem nackten Fuß. »Mir hat schon einer davon erzählt«, sagte er. »Er hat mir erzählt, wie sie’s sagen.« Er dachte nach. »Mutter, würdest du sagen, ich bin ein schlechter Kerl? Ich müßte eingesperrt werden oder so?« »Nein«, sagte sie. »Du hast deinen Prozeß gehabt … Nein. Warum fragst du?« »Ach, ich weiß nicht. Ich hätte dem Polizisten eins in die Fresse gehaun.« Mutter lächelte belustigt. »Dann hätte ich dich das ja fragen müssen, weil ich’s nämlich beinahe selber gemacht hätte.« »Was hat er denn gesagt, warum wir nicht hierbleiben dürfen?« »Er hat einfach gesagt, sie wollen nicht, daß wir verdammten Okies uns hier niederlassen. Er will uns einsperren, wenn wir morgen noch hier sind, hat er gesagt.« »Aber wir sind’s doch nicht gewöhnt, uns von Bullen fortjagen zu lassen.« »Das habe ich ihm auch erzählt«, sagte Mutter. »Er sagt, wir sind hier nicht bei uns, wir sind in Kalifornien, und da machen sie, was sie wollen.« Tom sagte verlegen: »Mutter, ich muß dir was erzählen. Noah … Noah ist flußabwärts gelaufen. Er kommt nicht mehr mit.« 385
Es dauerte einen Augenblick, bis Mutter verstand. »Warum?« fragte sie leise. »Ich weiß nicht. Er sagt, er muß. Er sagt, er muß hierbleiben. Und ich sollte dir’s erzählen.« »Aber wie will er denn essen?« fragte sie. »Keine Ahnung. Er sagte, er will Fische fangen.« Mutter schwieg eine lange Zeit. »Die Familie fällt auseinander«, sagte sie. »Ich weiß nicht. Scheint so, daß ich gar nicht mehr denken kann. Ich kann einfach nicht mehr denken. Es ist zu viel.« »Es wird ihm schon gutgehn, Mutter«, sagte er lahm. »Er ist ’n komischer Kerl.« Mutters Augen richteten sich starr auf den Fluß. »Ich kann einfach nicht mehr denken.« Tom blickte an der Reihe der Zelte entlang und sah Ruthie und Winfield vor einem Zelt stehen, im Gespräch mit jemandem im Innern. Ruthie zerknüllte ihr Kleid mit den Händen, während Winfield mit seiner Zehe ein Loch in den Boden bohrte. Tom rief: »He, Ruthie!« Sie blickte auf und sah ihn und kam langsam auf ihn zugeschlendert, Winfield dicht hinter ihr. Als sie bei ihm angelangt waren, sagte Tom: »Lauf und hol unsre Leute. Sie schlafen unten bei den Weiden. Und du, Winfield – sag den Wilsons, wir fahren weiter, sobald wir können.« Die Kinder drehten sich um und liefen davon. Tom fragte: »Mutter, wie geht’s denn Großmutter jetzt?« »Na, jedenfalls ist sie eingeschlafen. Vielleicht geht’s ihr besser. Sie schläft sogar noch.« 386
»Das ist gut. Wieviel Fleisch haben wir noch?« »Nicht sehr viel. ’n Viertel Schwein vielleicht.« »Also, dann müssen wir das andre Faß voll Wasser machen. Wir müssen Wasser mitnehmen.« Sie hörten, wie Ruthie unten bei den Weiden nach den Männern schrie. Mutter schob neues Holz ins Feuer und schürte es, bis die Flammen um den schwarzen Topf aufzüngelten. Sie sagte: »Ich bitte Gott, daß wir bald zur Ruhe kommen. Ich bitte unsern Herrn Jesus, daß wir ’nen hübschen Platz für uns finden.« Die Sonne neigte sich den dürren, zerklüfteten Bergen im Westen zu. In dem Topf über dem Feuer brodelte es. Mutter ging unter die Zeltplane und kam mit einer Schürze voll Kartoffeln wieder heraus und warf sie in das kochende Wasser. »Ich bitte Gott, daß wir bald ein paar Kleider waschen können. Wir sind noch nie so dreckig gewesen wie jetzt. Wir waschen noch nicht mal mehr die Kartoffeln, eh’ wir sie kochen. Warum eigentlich? Scheint so, als hätten wir alle unser Herz verloren.« Die Männer kamen von den Weiden her, ihre Augen waren noch voller Schlaf, und ihre Gesichter waren rot und aufgedunsen, denn sie waren es nicht gewohnt, am Tage zu schlafen. Vater sagte: »Was ist los?« »Wir fahren weiter«, sagte Tom. »Ein Bulle war hier und hat gesagt, wir müssen. Schadet auch nichts, dann haben wir’s hinter uns. Wenn wir bald losfahren, sind wir vielleicht bald durch. Wir haben beinahe noch dreihundert Meilen vor uns.« Vater sagte: »Ich dachte, wir wollen uns ausruhn.« 387
»Das geht eben nicht. Wir müssen, Vater. Übrigens – Noah kommt nicht mit. Er ist flußabwärts gelaufen.« »Kommt nicht mit? Was ist denn los mit ihm, zum Teufel!« Und dann hielt Vater inne. »Meine Schuld«, sagte er kläglich. »Der Junge ist nur meine Schuld.« »Nein.« »Ich will nicht drüber reden«, sagte Vater. »Ich kann’s nicht … Meine Schuld.« »Ja, wir müssen aber trotzdem weiter«, sagte Tom. Bei den letzten Worten war Wilson herangetreten. »Wir können nicht fahren«, sagte er. »Sairy ist vollständig fertig. Sie muß Ruhe haben. Wenn wir jetzt mit ihr durch die Wüste fahren – das überlebt sie nicht.« Sie schwiegen. Und dann sagte Tom: »Der Bulle, wo hier war, hat gesagt, er sperrt uns ein, wenn wir morgen noch da sind.« Wilson schüttelte den Kopf. Seine Augen waren glasig vor Sorgen, und trotz seiner gebräunten Haut war er blaß. »Dann müssen sie uns eben einsperren. Sairy kann nicht fahren. Sie muß Ruhe haben und sich erholen.« Vater sagte: »Vielleicht warten wir dann lieber auch und fahren alle zusammen.« »Nein«, sagte Wilson. »Ihr seid nett zu uns gewesen und gut, aber ihr könnt nicht hierbleiben. Ihr müßt weiterfahren und auch Arbeit suchen. Wir lassen euch nicht bleiben.« »Aber ihr habt doch nichts!« sagte Vater erregt. Wilson lächelte. »Wir haben auch vorher nichts gehabt, wie wir zuerst mitgekommen sind mit euch. Das ist nicht eure Sache. Paßt auf, daß ich nicht böse werde. 388
Ihr fahrt weiter, oder ich werde ganz böse und wütend und gemein.« Mutter zog Vater unter die Zeltplane und sprach dort leise mit ihm. Wilson wandte sich an Casy. »Sairy möchte gerne, daß Sie zu ihr kommen.« »Gerne«, sagte der Prediger. Er ging zu dem kleinen grauen Zelt der Wilsons und trat ein. Es war dämmrig und heiß. Die Matratze lag auf der Erde, und die Habseligkeiten der Wilsons waren im Zelt verstreut, so, wie sie am Morgen abgeladen worden waren. Sairy lag auf der Matratze, ihre Augen waren groß und glänzend. Er stand da und blickte zu ihr hinab, sein großer Kopf war geneigt, und die strähnigen Muskeln an den Seiten des Halses waren gespannt. Und er nahm seinen Hut ab und hielt ihn in der Hand. Sie sagte: »Hat mein Mann gesagt, daß wir nicht fahren können?« »Ja, das hat er gesagt.« Ihre schöne tiefe Stimme fuhr fort: »Ich habe gewollt, daß wir fahren. Ich habe gewußt, daß ich bis drüben nicht mehr leben werde, aber dann ist er wenigstens da. Aber er will nicht. Er weiß es nicht. Er denkt, ich werde wieder gesund. Er weiß es nicht.« »Er sagt, er will nicht fahren.« »Ja, ja. Er ist eigensinnig. Ich möchte gerne, daß Sie mir ’n Gebet sagen.« »Ich bin kein Prediger«, sagte er leise. »Meine Gebete sind zu nichts gut.« Sie befeuchtete sich die Lippen. »Ich war dabei, wie 389
der alte Mann gestorben ist. Da haben Sie auch ’n Gebet gesagt.« »Das war kein Gebet.« »Doch, es war ein Gebet«, sagte sie. »Es war kein Gebet von ’nem Prediger.« »Es war ein schönes Gebet. Ich möchte, daß Sie mir auch eins sagen.« »Ich weiß nicht, was ich beten soll.« Sie schloß für einen Moment die Augen und öffnete sie dann wieder. »Dann sagen Sie’s zu sich selber. Sie brauchen keine Worte zu sprechen. Dann geht’s schon.« »Ich habe keinen Gott«, sagte er. »Doch, Sie haben einen Gott. Ist ja ganz gleich, ob Sie wissen, wie er aussieht.« Der Prediger neigte den Kopf. Sie sah ihn aufmerksam an. Und als er den Kopf wieder hob, schien sie erleichtert zu sein. »Das war gut«, sagte sie. »Das habe ich gebraucht. Jemand ganz nahe – zum Beten.« Er schüttelte den Kopf, als müsse er einen Traum abschütteln. »Ich verstehe das nicht – das hier«, sagte er. Und sie erwiderte: »Ja, Sie wissen’s doch, nicht wahr?« »Ich weiß«, sagte er, »ich weiß es, aber ich verstehe es nicht. Vielleicht ruhn Sie sich ein paar Tage aus und sind dann wieder gesund.« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Ich bin nur Schmerzen mit Haut darüber. Ich weiß, was es ist, aber ich will’s ihm nicht sagen. Es wäre zu schlimm für ihn. Er würde sowieso nicht wissen, was er dagegen machen soll. Vielleicht nachts, wenn er schläft – wenn er aufwacht, vielleicht wär’s dann nicht so schlimm.« 390
»Soll ich hierbleiben mit euch und nicht weiterfahren?« »Nein«, sagte sie. »Nein. Wie ich ein kleines Mädchen war, habe ich immer gesungen. Die Leute haben gesagt, ich singe so schön wie Jenny Lind. Und alle Leute sind gekommen und haben zugehört, wenn ich gesungen habe. Und – wie sie dagestanden sind und ich gesungen habe, da waren wir ganz nahe beisammen, die Leute und ich. Ich war dankbar. Das gibt’s nicht oft, daß man so ganz erfüllt ist und die Menschen so nahe spürt – so wie damals, wie ich gesungen habe und sie um mich rumgestanden sind. Ich habe gedacht, vielleicht singe ich mal im Theater, aber ich hab’ es nie gemacht. Und ich bin froh. Es gab nichts, was zwischen mich und die Leute treten konnte und – deshalb habe ich gewollt, daß Sie kommen und für mich beten. Ich wollte noch einmal spüren, daß mir jemand so nahe ist. Singen und beten, das ist dieselbe Sache. Genau dieselbe Sache. Ich wollte, Sie hätten mich mal singen gehört.« Er blickte zu ihr hinab, in ihre Augen. »Auf Wiedersehn«, sagte er. Wieder schüttelte sie langsam den Kopf und schloß fest ihre Lippen. Und der Prediger trat aus dem dämmrigen Zelt in das blendende Licht hinaus. Die Männer beluden den Lastwagen. Onkel John stand oben, während die anderen ihm die Sachen hinaufreichten. Er verstaute sie sorgfältig und achtete darauf, daß die ebene Oberfläche bewahrt blieb. Mutter füllte das restliche Schweinefleisch in einen Topf, und Tom und Al trugen beide Fäßchen hinunter zum Fluß und wuschen sie aus. Sie banden sie auf dem Trittbrett fest und holten in Eimern Wasser heran und füllten sie. 391
Dann spannten sie Segeltuch darüber, damit das Wasser nicht ausschwappte. Nur die Plane und Großmutters Matratze waren noch aufzuladen. Tom sagte: »Bei der Ladung, die wir mitnehmen, wird die alte Karre bald wie verrückt kochen. Wir brauchen viel Wasser.« Mutter goß die gekochten Kartoffeln ab, holte den Kartoffelsack aus dem Zelt und legte ihn zu dem Topf mit dem Schweinefleisch. Die Familie aß im Stehen, sie warfen die heißen Kartoffeln von einer Hand in die andere, bis sie abgekühlt waren. Mutter ging in das Zelt der Wilsons, blieb dort zehn Minuten und kam still wieder heraus. »Es ist Zeit, daß wir losfahren«, sagte sie. Die Männer krochen unter die Zeltplane. Großmutter schlief noch immer, den Mund weit geöffnet. Sie hoben die ganze Matratze hoch und legten sie oben auf die Wagenladung. Großmutter zog die Beine an und machte im Schlaf ein unwilliges Gesicht, aber sie wachte nicht auf. Onkel John und Vater banden die Plane über die Querstange, so daß sie ein kleines dichtes Zelt bildete. Die Enden befestigten sie an den Seitenwänden des Wagens. Und dann waren sie fertig. Vater zog seine Geldbörse und nahm zwei zerknüllte Scheine heraus. Er ging zu Wilson und streckte ihm die Scheine entgegen. »Hier, wir möchten, daß Sie das nehmen und« – er deutete auf das Schweinefleisch und die Kartoffeln – »das auch.« Wilson schüttelte energisch den Kopf. »Das mache ich nicht«, sagte er. »Ihr habt selber nicht viel.« 392
»Genug, bis wir hinkommen«, sagte Vater. »Wir lassen ja nicht alles hier. Wir kriegen doch gleich Arbeit da unten.« »Ich mach’s nicht«, sagte Wilson. »Ich werde böse, wenn ihr’s nicht mitnehmt.« Mutter nahm Vater die beiden Scheine aus der Hand. Sie faltete sie sauber zusammen, legte sie auf die Erde und stellte den Topf mit dem Schweinefleisch darauf. »Da bleiben sie liegen«, sagte sie. »Wenn ihr sie nicht nehmt, nimmt sie jemand anders.« Wilson hatte den Kopf gesenkt. Er drehte sich um und ging zu seinem Zelt und verschwand darin. Eine kleine Weile noch wartete die Familie, und dann sagte Tom: »Wir müssen jetzt fahren. Es ist bestimmt schon beinahe vier.« Die Familie kletterte auf den Wagen, Mutter oben auf die Ladung neben Großmutter, Tom und Al und Vater auf den Vordersitz und Winfield auf Vaters Schoß. Connie und Rose von Sharon machten es sich oben dicht an der Rückwand des Führersitzes bequem. Der Prediger und Onkel John und Ruthie verteilten sich, wo noch Platz war. Vater rief: »Auf Wiedersehn, Mister und Missis Wilson.« Aus dem Zelt kam keine Antwort. Tom startete den Motor, und der Wagen holperte davon. Und als sie den kleinen Weg nach Needles und der Hauptstraße zu hinaufkrochen, blickte Mutter sich um. Wilson stand vor seinem Zelt und sah ihnen nach und hielt seinen Hut in der Hand. Die Sonne fiel ihm voll aufs Gesicht. Mutter winkte, aber er erwiderte das Winken nicht. Tom fuhr über den kleinen Holperweg im zweiten 393
Gang, um die Federn zu schonen. In Needles fuhr er bei einer Tankstelle vor und ließ den Luftdruck in den Reifen prüfen. Er ließ den Benzintank füllen und kaufte zwei Fünf-Gallonen-Kanister Benzin und einen ZweiGallonen-Kanister Öl. Er füllte den Kühler, ließ sich eine Karte geben und studierte sie. Der Tankstellenjunge in seiner weißen Uniform schien beunruhigt, bis die Rechnung bezahlt war. Er sagte: »Ihr habt Mut, das muß man sagen.« Tom blickte von der Karte auf. »Wieso? Was meinst du damit?« »Na, in so ’ner Kutsche rüberzufahren.« »Bist du schon mal drüben gewesen?« »Natürlich, oft, aber nicht in so ’ner Kiste.« Tom sagte: »Wenn wir ’ne Panne haben, hilft uns sicher jemand.« »Ja, vielleicht. Aber die Leute haben Angst, nachts zu halten. Ich würd’s nicht gerne machen. Da braucht man mehr Mut dazu, wie ich habe.« Tom lachte. »Wenn einem nichts anderes übrigbleibt, braucht’s eben keinen Mut. Na, also danke schön. Wir machen weiter.« Und er stieg ein und fuhr davon. Der Junge in Weiß ging hinein in das Tankstellengebäude, wo sein Kollege über einem Rechnungsbuch saß. »Mensch, was für ’ne Ladung.« »Die Okies? Die sehn doch alle so aus.« »Guter Gott, in so ’ner Kutsche möchte ich nicht fahren.« »Na ja, du und ich, wir haben ja auch Verstand. Aber diese gottverdammten Okies haben keinen Verstand 394
und kein Gefühl. Sind überhaupt keine Menschen. Ein Mensch könnte gar nicht so leben wie sie. Ein Mensch könnt’ es auch gar nicht aushalten, so dreckig und elend zu sein. Die sind nicht viel besser wie die Affen.« »Trotzdem bin ich froh, daß ich in keinem HudsonSuper-Six rüberfahren muß. Das Ding klingt wie ’ne Dreschmaschine.« Der andere beugte sich wieder über sein Rechnungsbuch. Und ein großer Schweißtropfen rollte ihm die Finger herunter und fiel auf die rosa Rechnungen. »Ich will dir was sagen – denen macht’s nichts aus. Die sind so kotzdämlich, daß sie gar nicht wissen, wie gefährlich es ist. Mein Gott, sie können’s ja gar nicht besser wissen. Also, was willst du?« »Gar nichts will ich. Ich habe nur gedacht, ich würd’s nicht so machen.« »Na ja, weil du’s besser weißt. Die wissen’s aber nicht besser.« Und er wischte den Schweißtropfen von der Rechnung mit seinem Ärmel ab. Der Wagen kam auf die große Straße und fuhr eine lange Steigung hinauf, zwischen zerklüfteten, verwitterten Felsen hindurch. Das Kühlerwasser kochte sehr bald, und Tom fuhr langsamer, die lange, ansteigende Straße hinauf, die sich durch totes Land schlängelte, das grau und weiß gebrannt war und keinerlei Lebenszeichen aufwies. Einmal hielt Tom ein paar Minuten lang an, um den Motor abkühlen zu lassen, und dann fuhr er weiter. Sie kamen über den Paß, als die Sonne noch am Himmel stand, und blickten hinunter in die Wüste – 395
schwarze Aschenberge in der Ferne und gelbes Sonnenlicht auf dem öden grauen Land. Die kleinen vertrockneten Büsche, Salbei und Hauswurz, warfen kühne Schatten auf den Sand und die Steine. Sie hatten die Sonne vor sich, und Tom hielt sich die Hand vor die Augen, um überhaupt etwas sehen zu können. Sie kamen über die Höhe und fuhren im Leerlauf bergab, um den Motor abkühlen zu lassen. Sie fuhren den langen Hang hinunter bis in das flache Wüstenland, und der Ventilator drehte sich und kühlte das Wasser, das durch den Motor lief. Auf dem Fahrersitz blickten Tom und Al und Vater und Winfield, auf Vaters Knien, in die blendende untergehende Sonne, ihre Augen waren starr und ihre braunen Gesichter feucht von Schweiß. Das verbrannte Land und die schwarzen Aschenhügel wirkten furchterregend im roten Licht der sinkenden Sonne. Al sagte: »Mein Gott, was für ’ne Gegend! Möchtest du alles zu Fuß gehn?« »Das haben schon Leute gemacht«, sagte Tom. »’ne Menge Leute haben’s schon gemacht, und was die gekonnt haben, würden wir auch können.« »Sind aber auch viele dabei draufgegangen«, sagte Al. »Warte nur, wir sind noch nicht durch.« Al schwieg eine Weile, und die rote Wüste flog vorbei. »Glaubst du, wir sehn die Wilsons noch mal wieder?« fragte Al. Tom warf einen Blick auf den Öldruckmesser. »Ich habe das Gefühl, Missis Wilson sieht niemand mehr lange. Das ist einfach so ’n Gefühl von mir.« Winfield sagte: »Vater, ich muß raus.« 396
Tom blickte zu ihm hinüber. »Wir könnten eigentlich alle noch mal rauslassen, eh’s richtig dunkel wird.« Er verlangsamte das Tempo und hielt an. Winfield kletterte hinaus, lief an den Straßenrand und ließ Wasser. Tom beugte sich hinaus. »Noch jemand?« »Wir halten unser Wasser an«, rief Onkel John. Vater sagte: »Winfield, du kletterst jetzt mal ’n bißchen nach oben. Meine Beine schlafen mir ein, wenn du so lange drauf sitzt.« Der kleine Junge kletterte sofort gehorsam an der Rückwand des Wagens hinauf und kroch über Großmutters Matratze zu Ruthie. Der Wagen fuhr weiter in den Abend hinein, und die Sonne berührte den gezackten Horizont, und alles wurde rot. Ruthie sagte: »Die wollten dich wohl da unten nicht haben, was?« »Nein, ich habe nicht gewollt. War gar nicht so hübsch da unten. Ich habe mich nicht hinlegen können.« »Aber ich sage dir, stör mich nicht mit deinem Gequatsche und Gerede«, sagte Ruthie. »Ich will schlafen, und wenn ich aufwache, dann sind wir da. Tom hat’s gesagt. Wird komisch sein, mal wieder hübsches grünes Land.« Die Sonne verschwand und hinterließ einen großen Heiligenschein am Himmel. Und unter der Zeltplane wurde es dunkel, eine lange dunkle Höhle mit einem dreieckigen Ausschnitt von Licht an jedem Ende. Connie und Rose von Sharon lagen gegen den Führersitz gelehnt, und der heiße Wind, der durch das Zelt fuhr, schlug ihnen gegen die Hinterköpfe, und die Persenning peitschte und trommelte über ihnen. Sie 397
sprachen leise miteinander, ihre Stimmen wurden von dem trommelnden Segeltuch übertönt, so daß niemand sie hören konnte. Wenn Connie sprach, drehte er den Kopf und sprach in ihr Ohr, und sie tat das gleiche bei ihm. Sie sagte: »Mir kommt’s vor, als würden wir überhaupt nichts anderes mehr machen wie fahren. Ich hab’ es so satt.« Er drehte seinen Kopf zu ihrem Ohr. »Morgen früh sind wir vielleicht schon da. Wie wär’s, wenn wir jetzt alleine wären?« In der Dunkelheit streckte er seine Hand aus und streichelte ihre Hüfte. Sie sagte: »Nicht! Du machst mich ganz wild. Laß das sein.« Und sie drehte den Kopf, um seine Antwort zu hören. »Vielleicht … wenn die andern alle schlafen.« »Vielleicht«, sagte sie. »Aber dann warte doch, bis sie schlafen. Du machst mich wild, und nachher schlafen sie nicht.« »Ich kann aber nicht aufhören«, sagte er. »Ich weiß. Ich auch nicht. Komm, reden wir lieber davon, wie’s wird, wenn wir da sind. Und rück ein bißchen weg, eh’ ich ganz wild werde.« Er rutschte ein wenig zur Seite. »Ja, ich werde gleich anfangen, nachts zu studieren«, sagte er. Sie seufzte tief. »Ich werde mir so ein Buch besorgen, wo alles drin steht, und sofort den Abschnitt wegschicken.« »Wie lange, meinst du?« fragte sie. »Wie lange was?« »Ich meine, wie lange ’s dauern wird, bis du Geld verdienst und wir unser Eis kriegen?« 398
»Das kann ich nicht sagen«, erklärte er gewichtig. »Das kann ich wirklich nicht sagen. Aber bis Weihnachten müßte ich eigentlich alles studiert haben.« »Und sowie du fertig studiert hast, können wir uns doch das Eis und alles kaufen. Sicher, nicht?« Er lachte. »Das macht die Hitze«, sagte er. »Wozu brauchst du denn in der Weihnachtszeit Eis?« »Das ist richtig. Aber ich möchte gerne immer Eis haben. Nicht! Laß das sein! Du willst mich nur wild machen.« Aus der Dämmerung wurde Dunkelheit, und die Sterne erschienen am Himmel, scharfe, blitzende Sterne mit Spitzen und Strahlen, und der dunkle Himmel war wie Samt. Und die Hitze änderte sich. Als die Sonne noch geschienen hatte, war es eine sengende, stechende Hitze gewesen, aber jetzt kam die Hitze von unten, von der Erde selbst, und sie war dick und dumpfig. Die Lampen des Lastwagens gingen an und beleuchteten einen kleinen Fleck Straße und einen Streifen von Wüstenland zu beiden Seiten. Und manchmal blitzten weit vorn Augen auf, aber kein Tier erschien in den Lichtern. Unter der Plane war es jetzt stockdunkel. Onkel John und der Prediger lagen zusammengerollt in der Mitte auf der Ladung, sie hatten sich auf die Ellbogen gestützt und blickten durch das hintere Dreieck hinaus. Sie konnten gerade zwei Silhouetten sehen gegen die helle Außenwelt – Mutter und Großmutter. Sie konnten sehen, wie Mutter sich gelegentlich bewegte und ihren dunklen Arm hinausstreckte. Onkel John sprach mit dem Prediger. »Casy«, sagte 399
er, »Sie sind doch einer, der weiß, was man machen muß.« »Was machen muß, wofür?« »Ich weiß nicht«, sagte Onkel John. Casy sagte: »Da haben Sie’s mir aber ganz genau gesagt!« »Na ja, ich dachte, Sie sind doch Prediger gewesen.« »Mein Gott, alle Leute wollen was von mir, weil ich mal Prediger gewesen bin. Ein Prediger ist auch nur ’n Mensch.« »Ja, aber … er ist ’n besonderer Mensch, sonst wäre er kein Prediger. Ich wollte Sie fragen … glauben Sie, daß jemand andern Leuten Unglück bringen kann?« »Ich weiß nicht«, sagte Casy. »Ich weiß nicht.« »Ja, sehn Sie, ich bin verheiratet gewesen … mit ’nem guten anständigen Mädchen. Und einmal nachts hat sie Schmerzen in ihrem Bauch gekriegt. Und sie sagt: ›Du holst lieber den Doktor.‹ Und ich sage: ›Quatsch, du hast einfach zuviel gegessen.‹« Onkel John legte seine Hand auf Casys Knie und blinzelte ihn durch die Dunkelheit an. »Sie hat mir nur einen Blick zugeworfen. Und dann hat sie die ganze Nacht gestöhnt und ist am nächsten Nachmittag gestorben.« Der Prediger murmelte etwas. »Verstehn Sie«, fuhr John fort, »ich habe sie umgebracht. Und seither habe ich immer versucht, das wieder gutzumachen – meistens bei Kindern. Und ich habe versucht, gut zu sein, aber ich kann’s nicht. Ich besaufe mich, und dann packt mich die Lust.« »Jeden packt die Lust«, sagte Casy. »Mich auch.« 400
»Ja, aber Sie haben keine Sünde auf der Seele wie ich.« Casy sagte sanft: »Natürlich habe ich Sünden. Jeder hat Sünden. ’ne Sünde ist was, über was man sich nicht sicher ist. Die Leute, wo sich über alles sicher sind und keine Sünden haben – ja, das sind auch Schweine auf ihre Art, und wenn ich der liebe Gott wäre, würde ich ihnen ’nen Tritt geben, daß sie gleich wieder aus dem Himmel rausfliegen! Ich könnte sie nicht ertragen!« Onkel John sagte: »Ich habe das Gefühl, ich bringe meinen eigenen Leuten Unglück. Ich habe das Gefühl, ich sollte weggehn und sie allein lassen. Mir ist nicht wohl dabei.« Casy sagte schnell: »Ich kenne das – ein Mann muß machen, was er für richtig hält. Ich kann’s Ihnen nicht sagen. Ich kann’s Ihnen wirklich nicht sagen. Ich glaube nicht, daß es so was wie Glück und Unglück gibt. Ich weiß nur eins, und das ist, daß keiner ein Recht hat, sich in das Leben von ’nem andern einzumischen. Das muß er alles selber machen. Helfen – ja, vielleicht. Aber ihm sagen, was er machen soll – nein!« Onkel John sagte enttäuscht: »Dann wissen Sie’s also auch nicht?« »Nein, keine Ahnung.« »Glauben Sie, es ist ’ne Sünde gewesen, daß ich meine Frau so sterben lassen habe?« »Tja«, sagte Casy, »für jeden andern wär’s einfach ein Fehler gewesen, aber wenn Sie glauben, es war ’ne Sünde – dann war’s eben ’ne Sünde. Sünden macht man sich selber. Sünden begeht man nicht.« »Das muß ich mir jetzt gründlich überlegen«, sagte 401
Onkel John und rollte sich auf den Rücken und lag mit hochgezogenen Knien da. Der Wagen rollte über die heiße Erde, und die Stunden vergingen. Ruthie und Winfield schliefen ein. Connie zog eine Decke hervor, breitete sie über sich und Rose von Sharon, und dann wälzten sie sich in der Hitze miteinander und hielten den Atem an. Und nach einer Weile warf Connie die Decke ab, und der heiße Wind, der durch den Zelttunnel kam, strich kühl über ihre feuchten Körper. Hinten auf dem Wagen lag Mutter auf der Matratze neben Großmutter. Sie konnte sie nicht sehen, aber sie konnte den sich sträubenden Körper spüren und das kämpfende Herz, und der keuchende Atem drang an ihr Ohr. Und Mutter sagte wieder und immer wieder. »Es wird schon gut. Es wird schon gut.« Und sie sagte heiser: »Du weißt doch, wir müssen weiter. Das weißt du doch.« Onkel John rief: »Alles in Ordnung?« Es dauerte einen Augenblick, bevor sie antwortete. »Ja, ja. Ich glaube, ich war gerade eingeschlafen.« Und nach einer Weile war Großmutter still, und Mutter lag steif neben ihr. Die Nachtstunden gingen dahin, und um den Lastwagen war Dunkelheit. Manchmal wurden sie von Wagen überholt, die nach Westen fuhren und verschwanden, und manchmal kamen große Lastwagen aus westlicher Richtung und rumpelten nach Osten. Und die Sterne fluteten in einer langsamen Kaskade über den westlichen Horizont. Es war gegen Mitternacht, als sie sich Daggett näherten, wo die Kontrollstelle ist. Die 402
Straße war hier strahlend erhellt, und eine Tafel erschien, auf der stand: Rechts fahren und anhalten! Die Beamten standen unter dem Dach ihres Inspektionshäuschens, als Tom anhielt. Einer von ihnen schrieb die Wagennummer auf und öffnete die Motorhaube. Tom fragte: »Was ist denn das hier?« »Landwirtschafts-Kontrolle. Wir müssen eure Sachen durchsuchen. Habt ihr Gemüse oder Samen mit?« »Nein«, sagte Tom. »Gut, aber wir müssen eure Sachen durchsuchen. Ihr müßt ausladen.« Jetzt kletterte Mutter mühsam vom Wagen herunter. Ihr Gesicht war verquollen, und ihre Augen waren hart. »Hören Sie mal her, Mister. Wir haben ’ne kranke alte Dame bei uns. Wir müssen sie zum Doktor bringen. Wir können uns nicht aufhalten.« Sie schien einen hysterischen Anfall niederzukämpfen. »Ihr dürft uns nicht aufhalten.« »Soo? Aber wir müssen euch durchsuchen.« »Ich schwöre, wir haben nichts!« rief Mutter. »Ich schwör’ es. Und Großmutter ist schrecklich krank.« »Sie sehn selber nicht gerade gut aus«, sagte der Beamte. Mutter stieg hinten auf den Lastwagen hinauf und zog sich mit großer Kraftanstrengung hoch. »Hier, sehn Sie!« sagte sie. Der Beamte richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf das verschrumpfte alte Gesicht. »Mein Gott!« sagte er. »Und sie schwören, Sie haben keine Samen, kein Obst oder Gemüse, kein Korn, keine Orangen?« 403
»Nichts, nichts! Ich schwör’ es!« »Also – dann fahrt weiter. In Barstow gibt’s einen Doktor. Das sind nur acht Meilen. Los, fahrt weiter.« Tom kletterte hinein und fuhr an. Der Beamte wandte sich an seinen Kollegen. »Das könnte ich nicht verantworten.« »Vielleicht war’s nur Bluff«, sagte der andere. »Nein, weiß Gott nicht! Du hättest nur mal das Gesicht von der alten Frau sehn sollen. Das war kein Bluff.« Tom beschleunigte das Tempo, und als sie nach Barstow kamen, hielt er an, stieg aus und ging um den Lastwagen herum. Mutter beugte sich heraus. »Es ist alles in Ordnung«, sagte sie. »Ich wollte nur da nicht anhalten, aus Angst, wir kommen nicht rüber.« »Aha! Aber wie geht’s Großmutter?« »Gut. Fahr nur weiter. Es geht ihr gut. Und wir müssen doch rüber.« Tom schüttelte den Kopf und ging zurück. »Al«, sagte er, »jetzt füllen wir die Karre voll, und dann fährst du ’n bißchen.« Er hielt bei einer Nacht-Tankstelle an, füllte den Tank und den Kühler und kontrollierte das Öl. Dann setzte Al sich ans Steuer, und Tom nahm den Platz am anderen Fenster ein, so daß Vater in der Mitte zwischen ihnen saß. Sie fuhren weiter in die Dunkelheit hinein, und die kleinen Berge um Barstow lagen hinter ihnen. Tom sagte: »Ich weiß nicht, was in Mutter gefahren ist. Sie ist kribblig wie ’n Hund, der ’ne Fliege hinterm Ohr 404
hat. Es hätte doch gar nicht lange gedauert, unser Zeug zu durchsuchen. Und erst sagt sie, Großmutter ist krank, und jetzt auf einmal geht’s ihr gut. Da werde ich nicht mehr klug draus. Mutter macht mir Angst. Vielleicht hat sie den Verstand verloren auf der langen Fahrt.« Vater sagte: »Mutter ist beinahe, wie sie als Mädchen gewesen ist. Da war sie ’ne ganz Wilde. Da hat sie vor nichts Angst gehabt. Ich dachte, bei dem vielen Kinderkriegen und Arbeiten wär’s ihr vergangen, aber scheint nicht so. Mein Gott! Wie sie die Eisenstange in der Hand gehabt hat, möchte ich nicht der gewesen sein, wo sie ihr wegnimmt.« »Ich weiß nicht, was in sie gefahren ist«, sagte Tom. »Vielleicht ist sie nur erschöpft.« Al sagte: »Ich kann mich da nicht drum kümmern. Ich muß auf diese Karre hier aufpassen.« »Ja, Al«, sagte Tom, »den Wagen hast du gut gekauft. Wir haben kaum was damit gehabt.« Und sie bahnten sich weiter ihren Weg durch die Hitze und durch die Dunkelheit, manchmal erschienen Kaninchen im Licht der schwachen Scheinwerfer und hüpften mit großen Sprüngen davon. Und der Morgen graute, als vor ihnen die Lichter von Mojave erschienen. Und in der Dämmerung waren im Westen hohe Berge zu sehen. In Mojave füllten sie Öl und Wasser nach und krochen hinauf in die Berge. Tom sagte: »Gott sei Dank, die Wüste haben wir hinter uns! Vater, Al – in Gottes Namen! Die Wüste ist vorbei!« »Ist mir egal. Ich bin viel zu müde«, sagte Al. 405
»Soll ich fahren?« »Nein, warte noch ein bißchen.« Im Morgenrot fuhren sie durch Tehachapi, und die Sonne ging hinter ihnen auf – und dann plötzlich sahen sie das große Tal unter sich. Al trat auf die Bremse, hielt mitten auf der Straße an und sagte: »Jesus Christ! Seht doch nur! Die Weingärten, die Obstgärten, das große grüne Tal, die Reihen von Bäumen und die Farmhäuser.« Und Vater sagte: »Allmächtiger Gott!« Die fernen Städte, die Dörfer im Obstland und die Morgensonne, die golden über dem Tal lag. Ein Wagen hupte hinter ihnen. Al fuhr zum Straßenrand und parkte dort. »Das muß ich mir ansehn.« Die Kornfelder, die golden schimmerten im Morgenlicht, die Weiden und die Reihen von Eukalyptusbäumen. Vater seufzte: »Ich hätte nie gedacht, daß es so was gibt …« Die Pfirsichbäume und die Walnußwäldchen und die dunkelgrünen Orangenhecken. Und rote Dächer zwischen den Bäumen und Scheunen – volle Scheunen. Al stieg aus und reckte seine Beine. Er rief: »He, Mutter! Wir sind da!« Ruthie und Winfield rutschten vom Wagen herunter, und dann standen sie da, schweigend und ehrfürchtig, und betrachteten das große Tal. In der Ferne lag dünner Nebelhauch, und das Land wurde weich und samten in der Ferne. Ein Windrad blitzte in der Sonne und glich mit seinen sich drehenden Flügeln, auf denen die Sonnenstrahlen reflektierten, einem kleinen Spiegeltelegrafen. Ruthie und Winfield sahen es, sie erfaßten das alles 406
mit ihren Augen, und Ruthie flüsterte: »Das ist Kalifornien.« Winfield bewegte leise seine Lippen, als schmecke er die Silben ab. »Und da ist Obst«, sagte er laut. Casy und Onkel John, Connie und Rose von Sharon kletterten herunter. Und sie standen schweigend da. Rose von Sharon war grade dabei gewesen, sich das Haar zurückzustreichen, aber als sie das Tal erblickte, sank ihre Hand langsam herab. Tom sagte: »Wo ist denn Mutter? Ich will, daß Mutter das sieht. Komm runter, Mutter!« Mutter kletterte langsam und steif über die Rückwand des Wagens herab. Tom sah sie an. »Mein Gott, Mutter, bist du krank?« Ihr Gesicht war steif und verquollen, die Augen schienen ihr tief in den Kopf gesunken zu sein und waren rot gerändert vor Müdigkeit. Ihre Füße berührten den Boden, und sie mußte sich an der Seitenwand des Wagens festhalten. Ihre Stimme war ein Krächzen. »Wir sind da, sagt ihr?« Tom deutete auf das große Tal. »Sieh doch nur!« Sie wandte den Kopf, und ihr Mund öffnete sich. Ihre Finger fuhren hinauf zum Hals und fanden eine Hautfalte und kniffen sie sanft. »Gott sei Dank!« sagte sie. »Die Familie ist da.« Ihre Knie knickten ein, und sie setzte sich auf das Trittbrett. »Bist du krank, Mutter?« »Nein, nur müde.« »Hast du nicht geschlafen?« »Nein.« »War’s schlimm mit Großmutter?« 407
Mutter blickte herab auf ihre Hände, die wie zwei Liebende zusammen in ihrem Schoß lagen. »Ich wollte, ich brauchte es euch noch nicht zu sagen. Ich wollte, es wäre alles nur – schön.« Vater sagte: »Dann geht’s Großmutter also schlecht.« Mutter hob die Augen und blickte über das Tal hinweg. »Großmutter ist tot.« Sie sahen Mutter an, und Vater fragte: »Wann denn?« »Noch eh’ sie uns angehalten haben letzte Nacht.« »Also deshalb hast du nicht gewollt, daß sie uns durchsuchen.« »Ich habe Angst gehabt, wir würden dann nie rüberkommen«, sagte sie. »Und ich habe Großmutter gesagt, wir können ihr nicht helfen. Wir müssen rüber, habe ich ihr gesagt, wie sie gestorben ist. Wir konnten doch nicht anhalten in der Wüste. Da waren die Kinder – und Rosasharns Kleines. Das habe ich ihr gesagt.« Sie hob die Hand und bedeckte für einen Augenblick ihr Gesicht. »Jetzt kann sie begraben werden, wo’s hübsch und grün ist«, sagte Mutter leise. »Und wo’s Bäume gibt und Schatten. Jetzt kann sie sich in Kalifornien zur Ruhe legen.« Mit einem leisen Schrecken vor ihrer Stärke sahen die anderen Mutter an. Tom sagte: »Mein Gott! Und du hast die ganze Nacht bei ihr gelegen!« »Die Familie mußte doch rüber«, sagte Mutter kläglich. Tom trat zu ihr heran und legte seine Hand auf ihre Schulter. 408
»Rühr mich nicht an«, sagte sie. »Sonst kann ich mich nicht mehr zusammenhalten.« »Wir müssen jetzt weiter«, sagte Vater. »Dort runter.« Mutter blickte zu ihm auf. »Kann … kann ich jetzt vorn sitzen? Ich möchte nicht mehr nach hinten. Ich bin müde. Ich bin schrecklich müde.« Sie kletterten auf den Wagen und mieden die lange steife Gestalt, die bis über den Kopf zugedeckt und eingepackt war. Sie rutschten auf ihre Plätze und bemühten sich, die Gestalt nicht anzusehen – den Hügel auf der Decke, der die Nase war, und den scharfen Vorsprung, der das Kinn sein mußte. Sie bemühten sich, das nicht zu sehen, aber es gelang ihnen nicht. Ruthie und Winfield, die in die äußerste Ecke gekrochen waren, so weit wie möglich von der Leiche entfernt, starrten unentwegt hinüber. Und Ruthie flüsterte: »Das ist Großmutter. Die ist tot.« Winfield nickte feierlich. »Sie atmet überhaupt nicht mehr. Sie ist ganz furchtbar tot.« Und Rose von Sharon sagte leise zu Connie: »Sie ist gestorben, wie wir gerade …« »Das konnten wir doch nicht wissen«, beruhigte er sie. Al kletterte hinauf und überließ Mutter seinen Platz auf dem Vordersitz. Und Al schwankte ein wenig, denn er war traurig. Er ließ sich neben Casy und Onkel John nieder. »Na ja, sie waren eben alt. Und ihre Zeit war um«, sagte Al. »Jeder muß mal sterben.« Casy und Onkel John sahen ihn ausdruckslos an. »Oder etwa nicht?« fragte er. Und die Augen blickten wieder weg, und Al war noch trauriger als zuvor. 409
Casy sagte verwundert: »Die ganze Nacht lang ist sie mit ihr alleine gewesen.« Und er sagte: »John, die Frau ist so groß in ihrer Liebe – sie macht mir Angst, jaja, sie macht mir Angst.« John fragte: »Ob das ’ne Sünde war? Meinen Sie nicht, daß was daran ’ne Sünde war?« Erstaunt wandte Casy sich ihm zu. »Eine Sünde? Nein, nichts daran war Sünde.« »Ich habe nie was gemacht, wo nicht Sünde dran war«, sagte John und blickte hinüber zu der langen eingepackten Gestalt. Tom und Mutter und Vater stiegen auf den Vordersitz. Tom ließ den Wagen rollen und schaltete die Zündung ein. Und der schwere Lastwagen fuhr knatternd und knallend den Berg hinunter. Die Sonne stand hinter ihnen, und vor ihnen lag das goldene grüne Tal. Mutter schüttelte langsam den Kopf. »Schön«, sagte sie. »Ich wollte, sie hätten’s noch gesehn.« »Ich auch«, sagte Vater. Tom schlug leise mit der Hand auf das Steuerrad. »Sie waren zu alt«, sagte er. »Sie hätten’s doch nicht mehr richtig begriffen. Großvater hätte geglaubt, er sieht Indianer und das Prärieland, wo er als junger Bursche war. Und Großmutter hätte an das erste Haus gedacht, wo sie drin gelebt hat, und hätte nur das Haus gesehn. Sie sind zu alt gewesen. Aber wer’s richtig sieht, das sind Ruthie und Winfield.« Vater sagte: »Unser Tommy redet wie ’n erwachsener Mann, beinahe wie ’n Prediger.« Und Mutter lächelte ein kleines trauriges Lächeln. »Er 410
ist auch ’n erwachsener Mann. Er ist so gewachsen, unser Tommy, daß ich’s manchmal gar nicht glauben kann.« Sie rollten bergab, in Windungen und Schleifen, verloren das Tal manchmal und fanden es dann wieder. Und der heiße Atem des Tales drang zu ihnen herauf mit seinen guten grünen Gerüchen. Die Grillen zirpten am Straßenrand. Eine Klapperschlange kroch über die Straße, und Tom überfuhr sie. Tom sagte: »Ich glaube, jetzt müssen wir erst ’nen Leichenbeschauer suchen. Sie muß doch ein anständiges Begräbnis kriegen. Wieviel Geld haben wir denn noch, Vater?« »Etwa vierzig Dollars«, sagte Vater. Tom lachte. »Na, da sind wir ja blank, wenn wir anfangen. Weiß Gott, wir bringen nichts mit.« Er lachte noch einen Augenblick, und dann wurde sein Gesicht ernst. Er zog sein Mützenschild tief über die Augen. Und der Wagen rollte den Berg hinunter in das große Tal.
19 Einst gehörte Kalifornien zu Mexiko und das Land den Mexikanern, und eine Horde von zerlumpten, tollwütigen Amerikanern brach herein. Und ihr Hunger nach Land war so groß, daß sie sich das Land nahmen, daß sie es stahlen, Sutters Land, Guerreros Land, die Urkunden nahmen und sie zerrissen und sich darüber stritten, diese rasenden, hungrigen Menschen, und mit Gewehren das 411
Land bewachten, das sie gestohlen hatten. Sie bauten Häuser auf und Scheunen, sie pflügten die Äcker und legten Samen in das Land. Und diese Dinge waren nun ihr Besitz, und aus dem Besitz wurde Eigentum. Die Mexikaner waren schwach und wohlgenährt. Sie konnten keinen Widerstand bieten, weil sie nichts auf der Welt so dringend brauchten, wie die Amerikaner das Land gebraucht hatten. Und mit der Zeit waren die Eindringlinge keine Eindringlinge mehr, sondern Landbesitzer. Ihre Kinder wuchsen, auf und gebaren Kinder auf dem Land. Und der Hunger war von ihnen gewichen, der tierische Hunger, der beißende, zehrende Hunger nach Land und Wasser und dem guten Himmel darüber, nach dem grün emporschießenden Gras und den schwellenden Wurzeln. Sie hatten diese Dinge alle, sie hatten sie so vollständig, daß sie gar nicht mehr von ihnen wußten. Sie hatten kein Verlangen mehr nach einem fruchtbaren Acker und einem blitzenden Pflug, um es zu bearbeiten, nach Samen und einem Windrad, das seine Flügel drehte. Sie standen nicht mehr in der Dunkelheit auf, um das schläfrige Zwitschern der ersten Vögel zu hören und den Morgenwind, der um das Haus strich, während sie auf das Frühlingslicht warteten, um hinauszugehen auf ihre geliebten Felder. Diese Dinge waren verloren, und die Ernte wurde in Dollars berechnet, und das Land wurde nach Kapital plus Zinsen bewertet, und die Ernten wurden gekauft und verkauft, noch ehe sie überhaupt gepflanzt waren. Nun waren Ernteausfall, Trokkenheit und Überschwemmung nicht mehr kleine Tode 412
mitten im Leben, sondern einfach Geldverluste. Und all ihre Liebe wurde vom Geld verdünnt, und all ihr Ungestüm verflog beim Anwachsen ihrer Macht, bis sie überhaupt keine Farmer mehr waren, sondern Geschäftsleute, kleine Fabrikanten, die verkaufen müssen, bevor sie überhaupt herstellen können. Und jene Farmer, die keine guten Geschäftsleute waren, verloren ihr Land an die guten Geschäftsleute. Ganz gleich, wie geschickt ein Mann war, wie sehr er die Erde und alles Wachsende liebte, er konnte nicht bestehen, wenn er nicht auch ein guter Geschäftsmann war. Und mit der Zeit besaßen die Geschäftsleute die Farmen, und die Farmen wurden größer, sie wurden aber auch weniger. Jetzt wurde die Landwirtschaft eine Industrie, und die Landbesitzer folgten dem alten Rom, wenn sie es auch nicht wußten. Sie importierten Sklaven, obwohl sie sie nicht Sklaven nannten: Chinesen, Japaner, Mexikaner, Filipinos. Sie leben von Reis und Bohnen, sagten die Geschäftsleute. Sie brauchen nicht viel. Sie wüßten gar nicht, was sie mit guten Löhnen anfangen sollen. Seht euch doch an, wie sie leben. Seht euch doch an, was sie essen. Und wenn sie frech werden – dann jagen wir sie aus dem Land. Und die Farmen wurden immer größer und die Landbesitzer immer weniger. Es gab nur noch erbärmlich wenig Farmer auf dem Land. Und die importierten Sklaven verhungerten, sie wurden geschlagen und wurden verängstigt, und manche gingen wieder zurück, woher sie gekommen waren, und manche wurden wild, bis man sie umbrachte oder aus dem Lande vertrieb. Und die Farmen wurden größer und die Landbesitzer weniger. 413
Und anderes wurde jetzt angebaut. Obstbäume nahmen den Platz der Kornfelder ein, und Gemüse zur Ernährung der Welt breitete sich am Boden aus: Salat, Blumenkohl, Artischocken, Kartoffeln. Ein Mann kann stehen, wenn er mit der Sense, dem Pflug, der Mistgabel arbeitet, aber zwischen den Salatreihen muß er kriechen wie ein Käfer, zwischen den Baumwollreihen muß er den Rücken beugen und seinen langen Sack hinter sich herziehen, an einem Blumenkohlbeet muß er sich hinknien wie ein Büßer. Und es kam so weit, daß die Landbesitzer nicht mehr auf ihren Farmen arbeiteten. Sie arbeiteten auf dem Papier und vergaßen das Land, seinen Geruch und das Gefühl, es zu besitzen. Sie wußten nur noch, daß sie es besaßen, wußten nur noch, was sie mit ihm gewannen und verloren. Und manche Farmen wurden so groß, daß ein einzelner Mann sich nicht einmal mehr eine Vorstellung davon machen konnte, so groß, daß Regimenter von Buchhaltern beschäftigt werden mußten, die Zinsen und Gewinn und Verlust nachrechneten; Chemiker, die den Boden prüften und wieder fruchtbar machten; Vorarbeiter, die aufpaßten, daß die gebückten Männer so schnell arbeiteten, wie ihre Körperkräfte es zuließen. Nun wurde ein solcher Farmer wirklich ein Geschäftsmann, ein Mann mit einem Geschäft. Er bezahlte die Arbeiter und verkaufte ihnen Essen und behielt das Geld zurück. Und nach einer Weile bezahlte er die Arbeiter überhaupt nicht mehr und sparte sich die Buchhaltung. Die Farmen gaben Nahrungsmittel auf Kredit. So konnte ein Mann arbeiten und essen, und 414
wenn seine Arbeit getan war, konnte er plötzlich feststellen, daß er der Gesellschaft noch Geld schuldete. Und nicht nur arbeiteten die Landbesitzer nicht auf den Farmen, viele von ihnen hatten die Farmen, die sie besaßen, noch nicht einmal gesehen. Und dann kamen die Vertriebenen nach Westen – aus Kansas, Oklahoma, Texas, New Mexico, aus Nevada und Arkansas, Familien und Stämme, vom Staub vertrieben, von Traktoren verjagt. Wagenladungen und Karawanen voll Heimatloser und Hungriger – zwanzigtausend und fünfzigtausend und hunderttausend und zweihunderttausend. Sie fluteten über die Berge ins Land herein, hungrig und ruhelos – ruhelos wie Ameisen, hungrig nach Arbeit –, zu heben, zu schieben, zu ziehen, zu hakken, zu schneiden, alles zu tun, jede Last zu tragen für ein bißchen Essen. Die Kinder sind hungrig. Wir haben kein Heim. Ruhelos wie Ameisen. Sie wollen Arbeit, sie wollen Essen, und vor allem wollen sie Land. Wir sind keine Ausländer. Seit sieben Generationen Amerikaner und vorher Iren, Schotten, Engländer, Deutsche. Einer von unsern Vorfahren hat die Revolution mitgemacht und viele den Bürgerkrieg, auf beiden Seiten. Ja, Amerikaner. Sie waren hungrig, und sie waren wild. Und sie hatten gehofft, ein Heim zu finden, und fanden nur Haß, Okies – die Landbesitzer haßten sie, weil die Landbesitzer wußten, daß sie verweichlicht waren und die Okies stark, daß sie satt waren und die Okies hungrig. Und vielleicht hatten die Landbesitzer von ihren Großvätern gehört, wie leicht es ist, einem verweichlichten Mann 415
Land zu stehlen, wenn man selbst tollwütig ist und Hunger hat und eine Waffe bei sich trägt. Die Landbesitzer haßten sie. Und die Kaufleute in den Städten haßten sie, weil sie kein Geld hatten. Es gibt keinen kürzeren Weg, um die Verachtung eines Geschäftsmannes zu erlangen. Und all seine Sympathien sind genau entgegengesetzt. Die Leute in den Städten, die kleinen Bankiers, haßten die Okies, weil an ihnen nichts zu gewinnen war. Sie hatten nichts. Und die Arbeiter haßten die Okies, weil ein hungriger Mensch arbeiten muß, und wenn er arbeiten muß, wenn er keine Arbeit hat, gibt ihm der Lohnzahler automatisch weniger für seine Arbeit, und dann kann keiner wieder mehr kriegen. Und die Vertriebenen fluteten herein nach Kalifornien, zweihundertfünfzigtausend und dreihunderttausend. Hinter ihnen gingen neue Traktoren über das Land, und andere Pächter wurden vertrieben. Und neue Wellen waren unterwegs, neue Wellen von Vertriebenen und Heimatlosen, Verhärteten, Gierigen und Gefährlichen. Und während die Kalifornier sich viele Dinge wünschten, Warenanhäufung, gesellschaftlichen Erfolg, Vergnügen, Luxus und Banksicherheit, wünschten sich die neuen Barbaren nur zwei Dinge – Land und Essen, und für sie waren die beiden Dinge eins. Und während die Wünsche der Kalifornier nebelhaft und unbestimmt waren, lagen die Wünsche der Okies an der Straße; die grünen Felder mit Wasser, nach dem man bohren konnte, die guten grünen Felder, Erde, die man prüfend in der Hand zerkrümeln konnte, Gras, das man riechen konnte, Haferhalme, die man kauen konnte, bis man 416
eine beißende Süße in der Kehle verspürte. Sie konnten auf das brachliegende Feld blicken und wissen, daß ihre gebeugten Rücken und ihre arbeitenden Hände den Kohl, den goldenen Mais, die Rüben und Karotten zutagebringen würden. Und ein heimatloser hungriger Mann, der mit seiner Frau neben sich und seinen mageren Kindern auf dem Rücksitz über die Straßen fuhr, konnte auf die brachliegenden Felder blicken, die zwar keinen Profit abwerfen mochten, aber doch Nahrung hervorbringen konnten, und dann wußte dieser Mann, daß ein brachliegendes Feld eine Sünde ist und unbearbeitetes Land ein Verbrechen gegen die mageren Kinder. Und so ein Mann fuhr über die Straßen und spürte die Versuchung, spürte das Verlangen, sich diese Felder anzueignen und auf ihnen Stärke wachsen zu lassen für seine Kinder und ein wenig Trost für seine Frau. Die Versuchung lag ständig vor ihm. Die Felder und die Gräben der Landgesellschaft mit dem guten Wasser darin stachelten diese Versuchung ewig von neuem an. Und im Süden sah er die goldenen Orangen an den Bäumen hängen, die kleinen goldenen Orangen an den dunkelgrünen Bäumen, und sah Wachen mit Gewehren davor auf und ab patrouillieren, damit nur ja keiner eine Orange abpflücke für sein mageres Kind, eine Orange von den vielen Orangen, die ins Ausland verkauft wurden, wenn im Inland die Preise allzusehr sanken. Er fuhr mit seinem alten Wagen in eine Stadt. Er graste die Farmen ab nach Arbeit. Wo sollen wir denn heute nacht schlafen? 417
Na, in Hooverville unten am Fluß. Da ist schon ’ne ganze Horde von Okies. Er fuhr mit seinem alten Wagen nach Hooverville. Und er fragte nie wieder, denn am Rande einer jeden Stadt gab es ein Hooverville. Die Lumpenstadt lag dicht am Wasser, und die Häuser waren Zelte, von Unkraut überwucherte Höhlen, Papierhäuser, ein großer Schutthaufen. Der Mann fuhr mit seiner Familie hinein und wurde ein Bürger von Hooverville – überall wurden diese Städte Hooverville genannt. Der Mann baute sein Zelt so nahe wie möglich am Wasser auf, oder wenn er kein Zelt hatte, ging er zum Schuttabladeplatz der Stadt und holte sich Kartons und baute ein Haus aus Wellpappe. Und wenn der Regen kam, schmolz das Haus zusammen und wurde davongespült. Er ließ sich in Hooverville nieder und graste das Land ab nach Arbeit, und das wenige Geld, das er hatte, gab er für Benzin aus, um sich Arbeit zu suchen. Am Abend versammelten sich die Männer und sprachen miteinander. Sie hockten sich auf die Erde und sprachen von dem Land, das sie gesehen hatten. Da gab’s dreißigtausend Hektar, ein Stück westlich von hier. Und das liegt brach. Gott, was könnte ich damit machen – wenn ich nur fünf Hektar davon hätte. Da könnten wir alles zu essen haben, was wir wollen. Hast du schon eins gemerkt? Auf den Farmen gibt’s kein Gemüse und keine Hühner und keine Schweine. Die bauen nur eine Sache – Baumwolle, sagen wir, oder Pfirsiche oder Salat. Woanders ziehen sie dann wieder nur Hühner. Und sie kaufen die Sachen, die sie mit Leichtigkeit hinterm Haus anpflanzen könnten. 418
Gott, was könnte ich alles mit zwei Schweinen machen! Tja, aber es gehört nicht dir, und es wird auch nie dir gehören. Was sollen wir bloß machen? Die Kinder können doch so nicht wachsen. Und in den Lagern sprach sich flüsternd die Nachricht herum: In Shafter gibt’s Arbeit. Da wurden nachts die Wagen beladen, und die Straßen waren überfüllt – ein Wettrennen nach Arbeit. Die Leute kamen in Scharen nach Shafter, fünfmal soviel, wie gebraucht wurden. Ein Wettrennen nach Arbeit. Und an den Straßen lag die Versuchung, die Felder, auf denen sie sich Nahrung bauen konnten. Das gehört schon jemand. Da ist für uns nichts zu machen. Aber vielleicht können wir ein kleines Stück davon kriegen. Vielleicht ein ganz kleines Stück. Da unten – da ist ein Beet. Ganz voller Unkraut. Da könnte ich genug Kartoffeln rausholen, um eine ganze Familie zu ernähren. Es gehört aber nicht uns. Da muß jetzt Unkraut wachsen. Dann und wann versuchte es einer, kroch auf das Land, jätete es und versuchte wie ein Dieb, der Erde etwas von ihrem Reichtum zu stehlen. Geheime Gärten, hinter Unkraut verborgen. Ein Päckchen Karottensamen und ein paar Rüben und Kartoffeln. Heimlich kroch er am Abend hinaus und bearbeitete die gestohlene Erde. Laß nur das Unkraut am Rand wachsen, dann sieht’s kein Mensch. Laß auch in der Mitte noch ein bißchen 419
Unkraut stehen, von dem großen. Heimliche Gartenarbeit am Abend und Wasser, das in rostigen Blechbüchsen herbeigeschleppt wurde. Und dann kam eines Tages die Polizei. He, was machst du denn da? Ich mache nichts Schlimmes. Ich habe dich beobachtet. Das ist doch nicht dein Land. Was bildest du dir denn ein? Das Land liegt brach. Ich tue niemand Schaden. Ihr gottverdammten Okies! Bald würdest du dir einbilden, es gehört dir. Würdest wütend werden, weil du glaubst, es gehört dir. Geh hier runter jetzt. Und die Karottenpflänzchen wurden herausgerissen und das Rübenkraut zertrampelt. Und dann wucherte das Unkraut wieder darüber. Aber der Polizist hatte recht. Die erste kleine Ernte – und das Land hätte dem Manne gehört. Hat er es einmal bearbeitet und die ersten Karotten gegessen, so ist er bereit, für das Stückchen Land zu kämpfen, das ihm Nahrung gegeben hat. Also jag ihn schnell fort! Sonst denkt er, es gehört ihm. Sonst ist er sogar bereit zu sterben für das Stückchen Land mitten im Unkraut. Hast du das Gesicht gesehen, wie wir ihm die Rüben zertrampelt haben? Das kann einen Kerl umbringen, so, wie er ausgesehen hat. Wir dürfen diese Leute nicht groß werden lassen, sonst nehmen sie das ganze Land. Jawohl, das ganze Land. Fremde, Ausländer. Sicher, sie sprechen dieselbe Sprache wie wir, aber sie sind ganz anders wie wir. Sieh dir doch bloß an, wie sie 420
leben. Glaubst du, einer von uns könnte so leben? Verdammt noch mal, nein! Und am Abend hockten sie da und sprachen. Und ein aufgeregter Mann sagte: Weshalb nehmen nicht zwanzig von uns einfach ein Stück Land? Wir haben doch Gewehre und Revolver. Einfach nehmen und dann sagen: »Jagt uns fort, wenn ihr könnt.« Warum machen wir das nicht? Sie würden uns erschießen wie die Ratten. Na und – was willst du denn lieber, tot sein oder hier rumsitzen? Unter der Erde oder in ’nem Haus aus Kartoffelsäcken? Und was willst du lieber, daß deine Kinder jetzt oder in zwei Jahren sterben, an Unterernährung, wie die Leute es nennen? Weißt du, was wir die ganze Woche gegessen haben? Brennesseln und Ölkuchen! Weißt du, wo wir das Mehl zum Ölkuchen her haben? Wir haben den Boden von ’nem Mehlwagen ausgefegt. So reden sie in den Camps, und die Polizisten, dicke Männer mit Revolvertaschen an ihren fetten Hüften, schlendern durch die Lager. Damit sie uns nicht vergessen. Wir dürfen sie nicht groß werden lassen, sonst – weiß Gott, was sie anstellen! Sie sind ja schlimmer wie die Neger im Süden! Wenn die sich jemals zusammentun, dann kann sie nichts mehr halten. Notiz: In Lawrenceville vertrieb ein Polizist einen unrechtmäßigen Ansiedler. Dieser leistete Widerstand und zwang somit den Beamten, Gewalt anzuwenden. Der elfjährige Sohn des Besagten schoß und tötete den Polizisten.
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Klapperschlangen! Laß dich mit ihnen auf nichts ein, und wenn sie was wollen, dann schieß. Wenn ein Kind schon einen Polizisten umbringt, was machen dann erst die Männer? Die einzige Sache ist: sie schlecht behandeln. Mach ihnen Angst. Wenn sie sich nun nicht Angst machen lassen? Wenn sie’s nun riskieren und schießen! Diese Männer haben schon seit ihrer Kindheit Waffen. Ein Gewehr und einen Revolver – das gehört zu ihnen. Ja, wenn sie sich nun nicht Angst machen lassen? Wenn nun eines Tages eine Armee von ihnen auf das Land marschiert, wie es die Lombarden in Italien gemacht haben und die Deutschen in Gallien und die Türken in Byzanz? Auch das waren landhungrige, schlechtbewaffnete Horden, und die Legionen konnten sie nicht aufhalten. Mord und Terror konnten sie nicht aufhalten. Wie kann man einem Manne Angst machen, dessen Hunger nicht nur in seinen eigenen verkrampften Gedärmen rumort, sondern auch in den armseligen Bäuchen seiner Kinder? Man kann ihm nicht Angst machen – er hat eine Angst durchlebt, die jede andere überwiegt. In Hooverville sprachen die Männer: Großvater hat sein Land von den Indianern erbeutet. Nein, das stimmt nicht. Wir sitzen nur hier und reden. Und das, was du da sagst, wäre ja Stehlen. Ich bin kein Dieb. Nein? Du hast ’ne Flasche Milch gestohlen von ’ner Veranda vorletzte Nacht. Und du hast Kupferdraht gestohlen und ihn für ein Stück Fleisch verkauft. Ja, aber die Kinder hatten Hunger. 422
Trotzdem ist’s Stehlen. Weißt du, wie die Fairfield-Ranch zustandegekommen ist? Ich will’s dir sagen. Das Land hat der Regierung gehört und konnte bebaut werden. Na, und da ist der alte Fairfield nach San Francisco in die Bars gegangen und hat sich dreihundert Säufer zusammengeholt. Und die haben das Land besetzt. Fairfield hat ihnen Essen und Whisky gegeben, und dann, wie sie das Land hatten, hat der alte Fairfield es ihnen abgenommen. Er hat immer gesagt, es hat ihn pro Hektar ’ne Flasche Fusel gekostet. Und nennst du das nicht stehlen? Natürlich war’s nicht richtig, aber er hat doch nie Gefängnis dafür gekriegt. Nein, er hat nie Gefängnis dafür gekriegt. Und der Bursche, der sich ein Boot auf den Wagen geladen hat und seinen Bericht so gemacht hat, als wäre alles unter Wasser, weil er mit dem Boot gekommen ist – der hat auch nie Gefängnis gekriegt. Und alle die Kerle, die die Kongreßmänner bestochen haben, damit die Gesetze durchkommen, haben auch nie Gefängnis gekriegt. In allen Hoovervilles im ganzen Staat geht das Geschwätz. Und dann die Razzien – ein Trupp bewaffneter Polizisten, der die Camps überschwemmt. Ihr müßt raus. Befehl des Gesundheitsamtes. Dieses Camp ist eine Gefahr für die Volksgesundheit. Wo sollen wir denn aber hin? Das ist nicht unsere Sache. Wir haben nur Befehl, das Camp zu säubern. In ’ner halben Stunde legen wir Feuer an. 423
Da unten hat’s Typhus. Wollt ihr, daß wir’s im ganzen Land verbreiten? Wir haben den Befehl, das Camp zu säubern. Also geht! In ’ner halben Stunde zünden wir’s an. Und eine halbe Stunde später stieg der Rauch der Papierhäuser zum Himmel, und die Leute fuhren in ihren Wagen über die Landstraßen und suchten nach einem anderen Hooverville. Und in Kansas und Arkansas, in Oklahoma und Texas und in New Mexico kamen die Traktoren und jagten die Pächter von ihrem Land. Dreihunderttausend in Kalifornien, und noch immer kommen mehr. Und in Kalifornien sind die Straßen voll von tollwütigen Menschen, die rennen wie die Ameisen, um zu ziehen, zu schieben, zu heben, zu arbeiten. Für jede Last, die zu heben ist, fünf ausgestreckte Arme, für jede Handvoll Essen, die es gibt, fünf offene Münder. Und die großen Landbesitzer, die bei einer Umwälzung ihr Land verlieren müssen, die großen Landbesitzer, die Zugang haben zur Geschichte, die Augen haben, um Geschichte lesen und die große Tatsache wissen zu können: Wenn Eigentum sich in zu wenig Händen ansammelt, wird es weggenommen. Und die zweite Tatsache, die zur ersten gehört: Wenn die Überzahl des Volkes Hunger hat und friert, dann wird sie sich mit Gewalt das nehmen, was sie braucht. Und die schreiende Tatsache, die durch die ganze Geschichte hindurchklingt: Unterdrückung bewirkt nur die Stärkung und den Zusammenschluß der Unterdrückten. Die großen Land424
besitzer überhörten die drei Schreie der Geschichte. Das Land ging in immer weniger Hände über, die Zahl der Enteigneten, der Vertriebenen vergrößerte sich, und jede Bestrebung der großen Landbesitzer war auf Unterdrükkung gerichtet. Das Geld wurde für Waffen ausgegeben und für Gas, um die großen Besitzungen zu schützen, und Spione wurden ausgeschickt, um drohende Revolten aufzudecken, die erstickt werden mußten. Die Veränderungen in der Wirtschaft wurden übersehen, Pläne zur Veränderung ignoriert, nur um Mittel zur Vernichtung von Revolten ging es, und die Ursachen zu den Revolten blieben bestehen. Die Traktoren, die den Menschen vom Land verjagen und ihm die Arbeit nehmen, die laufenden Bänder, die Lasten tragen, die Maschinen, die produzieren – das alles wurde verbessert, vergrößert und verstärkt, und immer mehr Familien zogen über die Straßen, suchten nach Krumen, die von den großen Besitzungen für sie abfallen mochten, gierten nach dem Land am Rande der Straßen. Die Landbesitzer bildeten Schutzverbände und versammelten sich und besprachen Mittel und Wege, um zu unterdrücken, zu töten, zu vergasen. Und ständig hatten sie vor einem Angst: Dreihunderttausend – wenn die einmal einen Führer haben und sich in Bewegung setzen – das ist das Ende. Dreihunderttausend, hungrig und elend, wenn die einmal sich selbst erkennen, dann wird das Land ihnen gehören, und alles Gas, alle Gewehre der Welt können ihnen nicht Einhalt gebieten. Und die großen Landbesitzer, die durch ihre Gesellschaften zugleich mehr oder weniger als Menschen ge425
worden waren, rannten in ihr Verderben und wandten alle die Mittel an, die auf lange Sicht sie selbst zerstören würden. Jedes kleine Mittel, jede Gewaltanwendung, jede Razzia in einem Hooverville, jeder Polizist, der dickbäuchig durch ein Lumpencamp schlenderte, schob den Tag ein wenig hinaus und trug zur Unvermeidlichkeit des Tages bei. Die Männer hockten sich auf den Boden, Männer mit scharfgeschnittenen Gesichtern, mager vom Hunger und hart vom Widerstand gegen den Hunger, mit finsteren Augen und kräftigen Kinnladen. Und das reiche, fruchtbare Land war um sie. Hast du schon von dem Kind gehört im vierten Zelt da unten? Nein, ich bin grade gekommen. Ja, das Kind hat im Schlaf geschrien und sich rumgewälzt, und die Leute haben gedacht, es hat Würmer. Sie haben ihm was zum Abführen gegeben, und er ist gestorben, der kleine Kerl. Die Leute nennen’s Fleckfieber, was er gehabt hat. Kommt davon, wenn einer nichts Richtiges zu essen kriegt. Armer kleiner Bursche. Ja, aber seine Eltern können ihn nicht begraben. Er muß auf den Armenfriedhof. Verdammt! Und Hände fuhren in die Taschen und zogen kleine Münzen heraus. Vor dem Zelt wuchs ein Häufchen von Silbergeld. Und die Familie fand es da. Unsere Leute sind gute Leute. Bitte Gott, daß eines Tages die guten Leute nicht mehr alle arm sind. Bitte Gott, daß eines Tages ein Kind was zu essen hat. 426
Und die Verbände der Landbesitzer wußten, daß eines Tages das Bitten aufhören würde. Und das wird das Ende sein.
20 Sie saßen steif und zusammengedrückt oben auf dem Wagen, die Kinder und Connie und Rose von Sharon und der Prediger. Sie hatten vor dem Hause des Leichenbeschauers in Bakersfield gewartet, während Vater und Mutter und Onkel John hineingegangen waren. Dann wurde ein langer Korb herausgebracht und das Bündel vom Wagen heruntergehoben. Und sie warteten in der Sonne, während die Leiche untersucht, die Todesursache festgestellt und der Totenschein ausgeschrieben wurde. Al und Tom schlenderten die Straße entlang und sahen sich die Schaufenster an und die fremden Leute. Und schließlich kamen Vater und Mutter und Onkel John wieder heraus. Sie waren kleinlaut und still. Onkel John kletterte nach oben, und Vater und Mutter stiegen auf den Vordersitz. Tom und Al kamen zurück, und Tom setzte sich ans Steuerrad. Dort saß er schweigend und stumm und wartete auf eine Anweisung. Vater starrte vor sich hin, den Hut ins Gesicht gezogen. Mutter rieb sich die Mundwinkel, und ihre Augen waren weit weg und tot von Müdigkeit. Vater seufzte tief. »Es war nichts andres zu machen«, sagte er. 427
»Ich weiß«, sagte Mutter. »Aber sie hat sich immer ein hübsches Begräbnis gewünscht. Immer.« Tom blickte sie von der Seite her an. »Armenfriedhof?« fragte er. »Ja.« Vater schüttelte hastig den Kopf, als müsse er sich in die Wirklichkeit zurückholen. »Wir haben nicht genug gehabt. Es wäre nicht gegangen.« Er wandte sich an Mutter: »Du darfst es nicht so schwer nehmen. Wir hätten’s nicht gekonnt, wenn wir uns auch noch so viel Mühe gegeben hätten. Wir haben’s einfach nicht gehabt. Einbalsamieren und ein Sarg und ein Prediger und das Grab auf dem Friedhof – das hätte zehnmal soviel gekostet, wie wir haben. Wir haben alles gemacht, was wir konnten.« »Ich weiß«, sagte Mutter. »Es will mir nur einfach nicht aus dem Kopf, wie sehr sie sich ein hübsches Begräbnis gewünscht hat. Nicht zu ändern.« Sie seufzte tief und rieb sich ihren Mundwinkel. »Der Mann da drin war sehr nett. Ruppiger Kerl, aber nett.« »Ja«, sagte Vater. »Und er hat uns kräftig Bescheid gesagt.« Mutter strich mit der Hand das Haar zurück. Die Muskeln in ihrem Gesicht spannten sich wieder. »Wir müssen weiter«, sagte sie. »Wir müssen was finden, wo wir bleiben können. Wir müssen uns Arbeit suchen und dann endlich zur Ruhe kommen. Es hat keinen Zweck, die kleinen Kerle hungern zu lassen. War auch nicht Großmutters Art. Bei ihr hat’s immer ’nen Leichenschmaus gegeben.« 428
»Wo fahren wir denn hin?« fragte Tom. Vater nahm seinen Hut ab und kratzte sich auf dem Kopf. »Na, in ’n Camp«, sagte er. »Das bißchen, was wir noch haben, dürfen wir nicht ausgeben. Fahr nur raus aus der Stadt.« Tom startete den Wagen, und sie fuhren durch die Straße hinaus aufs Land. Bei einer Brücke sahen sie eine Ansammlung von Zelten und Baracken. Tom sagte: »Wir können ebensogut hier anhalten. Müssen ja erst mal sehn, was alles los ist und wie’s mit der Arbeit steht.« Er fuhr einen kurzen steilen Feldweg hinunter und hielt am Rande des Lagers an. Es herrschte keine Ordnung in diesem Camp, kleine graue Zelte, Baracken und Wagen standen durcheinander. Das erste Haus war unbeschreiblich. Die Südwand bestand aus drei Platten von Wellblech, die Ostwand war ein alter dreckiger, zwischen zwei Latten gespannter Teppich, die Nordwand ein Streifen Dachpappe und ein Streifen verwittertes Segeltuch, und die Westwand bestand aus sechs zusammengenähten Stücken Sackleinwand. Auf dem Dach lagen Weidenzweige und darauf war Gras gelegt, nicht regelmäßig verteilt, sondern zu einem niedrigen Wall aufgehäuft. Vor dem Eingang an der Sackleinwandseite lag ein Durcheinander von Gegenständen. Ein alter Kerosinkanister diente als Herd. Er lag auf der Seite, und ein Stückchen rostiges Ofenrohr war an einem Ende hineingesteckt. Ein Waschtopf stand gegen die Wand gelehnt, und eine Anzahl von Kisten lag herum, Kisten, die als Tische und Stühle verwendet wurden. Eine Ford-Limousine, Modell T, und 429
ein zweirädriger Anhänger waren neben der Baracke geparkt. Über dem Ganzen hing eine Atmosphäre von Unordnung und Trostlosigkeit. Neben der Baracke stand ein kleines Zelt, verwittert, aber sauber und ordentlich aufgebaut. Die Kisten, die davor standen, waren gegen die Zeltwand gerückt. Ein Ofenrohr war durch den Zelteingang nach oben gerichtet, und der Staub und die Erde vor dem Zelt waren glattgefegt und gesprengt worden. Ein Eimer voll eingeweichter Wäsche stand auf einer der Kisten, und hinter dem Zelt waren ein Modell-A-Roadster und ein selbstgebauter kleiner Anhänger zu sehen. Das nächste war ein hohes Zelt, zerlumpt, zerrissen und die Risse mit Draht geflickt. Der Eingang war offen, und drinnen lagen vier breite Matratzen auf dem Boden. Eine Wäscheleine war draußen aufgespannt, auf der rosa Baumwollkleider und verschiedene Overalls hingen. Es waren im ganzen vierzig Zelte und Baracken, und neben jeder Behausung stand irgendeine Art von Auto. Weiter hinten tummelten sich ein paar Kinder, betrachteten den neuangekommenen Wagen und liefen auf ihn zu, kleine Buben in Overalls, barfüßig, das Haar grau von Staub. Tom hielt an und sagte zu Vater: »Nicht grade sehr hübsch hier. Wollen wir woanders hin?« »Wir können nirgends woanders hin, eh’ wir nicht wissen, wie wir dran sind«, sagte Vater. »Wir müssen doch wegen der Arbeit fragen.« Tom öffnete die Tür und sprang hinaus. Die Familie kletterte von oben herunter und sah sich neugierig um. 430
Ruthie und Winfield nahmen aus alter Gewohnheit von der Straße den Eimer herunter und liefen in Richtung der Weiden davon, wo es wahrscheinlich Wasser geben würde, und die Reihe von Kindern teilte sich, um sie durchzulassen, und schloß sich hinter ihnen wieder. Im Eingang der ersten Baracke erschien der Kopf einer Frau. Ihr graues Haar war geflochten, und sie trug eine schmutzige, geblümte Haube. Ihr Gesicht war runzelig und töricht, sie hatte starke graue Säcke unter den Augen und einen schlaffen Mund. Vater fragte: »Können wir einfach irgendwo hier unser Zeug aufbaun?« Der Kopf wurde zurückgezogen, einen Augenblick war es still, dann trat ein bärtiger Mann in Hemdsärmeln heraus. Die Frau streckte hinter ihm den Kopf aus dem Eingang zwischen den Säcken hervor, aber sie kam nicht ins Freie. Der bärtige Mann sagte: »Tag, Leute«, und seine rastlosen Augen sprangen von einem Mitglied der Familie zum anderen und von da zum Lastwagen. Vater sagte: »Ich habe grade Ihre Frau gefragt, ob wir unser Zeug einfach hier irgendwo aufbauen können.« Der bärtige Mann betrachtete Vater interessiert, als hätte er etwas sehr Kluges gesagt, das einiges Nachdenken erforderte. »Ihr Zeug irgendwo aufbauen, hier im Camp?« fragte er. »Ja. Ich meine, gehört das Camp jemand, wo wir vorher fragen müssen?« Der bärtige Mann kniff sein eines Auge zu und betrachtete Vater. »Ihr wollt wohl hier kampieren?« 431
Vaters Ungeduld wuchs. Die graugesichtige Frau steckte ihren Kopf zwischen der Sackleinwand hindurch. »Mensch, was glaubst du eigentlich, wovon ich rede?« sagte Vater. »Ja, wenn ihr hier kampieren wollt, warum macht ihr’s dann nicht? Ich hindere euch nicht daran.« Tom lachte. »Jetzt hat er’s erfaßt.« Vater faßte sich in Geduld. »Ich wollte ja nur wissen, ob das Camp jemand gehört. Müssen wir was bezahlen?« Der bärtige Mann stieß sein Kinn hervor. »Wem gehört’s?« fragte er. Vater wandte sich ab. »Ach, geh zum Teufel!« sagte er. Die Frau zog ihren Kopf zurück. Der bärtige Mann trat drohend ein paar Schritte vor. »Wem gehört’s?« fragte er. »Wer will uns hier rausschmeißen? Das sagen Sie mir mal.« Tom trat zwischen ihn und Vater. »Du schläfst dich lieber mal richtig aus«, sagte er. Der bärtige Mann öffnete seinen Mund und fuhr sich mit seinem dreckigen Finger an die Unterlippe. Er betrachtete Tom nachdenklich, dann drehte er sich um und schlurfte in die Baracke zurück zu seiner graugesichtigen Frau. Tom wandte sich an Vater. »Mein Gott, was war denn das?« fragte er. Vater zuckte die Achseln. Er ließ seinen Blick über das Camp wandern. Vor einem der Zelte stand ein alter Buick, dessen Motorhaube abmontiert war. Ein junger Mann schliff die Ventile des Wagens ein, und während er das Schleifband hin und her zog, blickte er auf und zu dem 432
Lastwagen der Joads herüber. Sie konnten sehen, daß er lachte. Als der bärtige Mann gegangen war, ließ der junge Mann seine Arbeit liegen und kam zu ihnen herüber. »Tag«, sagte er, und seine blauen Augen glänzten belustigt. »Ich habe gesehen, wie ihr mit dem Major gesprochen habt.« »Ja, was ist denn mit dem Kerl los?« fragte Tom. Der junge Mann lachte. »Er ist einfach verrückt, so wie du und ich. Vielleicht ist er noch ’n bißchen verrückter als ich – ich weiß es nicht.« Vater sagte: »Ich habe ihn nur gefragt, ob wir hier kampieren können.« Der junge Mann wischte sich seine öligen Hände an den Hosen ab. »Natürlich. Warum denn nicht? Ihr seid wohl grade gekommen?« »Ja«, sagte Tom. »Grade heute früh.« »Seid ihr noch nie in Hooverville gewesen?« »Wo ist Hooverville?« »Na, das ist hier!« »Aha!« sagte Tom. »Nee, wir sind grade gekommen.« Winfield und Ruthie kamen zurück und schleppten gemeinsam den gefüllten Wassereimer. Mutter sagte: »Kommt – das Zelt aufbauen. Ich bin einfach fertig. Vielleicht können wir uns jetzt ’n bißchen ausruhn.« Vater und Onkel John kletterten auf den Wagen, um die Plane und die Betten herunterzuholen. Tom blieb bei dem jungen Mann und ging mit ihm hinüber zu dem Wagen, an dem er gearbeitet hatte. Das Schleifband lag auf dem abmontierten Zylinderblock, und eine kleine gelbe Büchse mit Ventilschleifmasse 433
stand auf dem leeren Benzintank. Tom fragte: »Was ist denn eigentlich los mit dem alten Kerl mit dem Bart?« Der junge Mann nahm das Schleifband auf und machte sich wieder an die Arbeit, er zog es hin und her und schliff das Ventil in den Ventilsitz ein. »Der Major? Weiß der Teufel. Ich nehme an, er ist einfach bullenscheu.« »Was ist denn das – bullenscheu?« »Na, die Bullen haben ihn eben so viel herumgeschubst, daß er jetzt spinnt.« Tom fragte: »Weshalb schubsen sie denn so einen Kerl herum?« Der junge Mann unterbrach seine Arbeit und sah Tom in die Augen. »Weiß der Teufel«, sagte er. »Du bist grade gekommen. Vielleicht kommst du dahinter. Die einen sagen so, und die andern sagen anders. Aber bleib nur mal ’ne kurze Zeit an einer Stelle, dann wirst du schon merken, wie schnell dich die Bullen fortjagen.« Er hob ein Ventil heraus und schmierte etwas von der Masse auf den Schaft. »Aber warum denn – verdammt noch mal?« »Ich sage dir, ich weiß es nicht. Es gibt welche, die sagen, sie wollen nicht, daß wir wählen, und deshalb schicken sie uns überall fort, damit wir kein Wahlrecht haben. Und andere sagen, damit wir keine Wohlfahrt kriegen können. Und wieder andere sagen, sie haben Angst, daß wir uns organisieren, wenn wir an einer Stelle bleiben. Ich weiß nicht, warum. Ich weiß nur, daß wir überall rausgeschmissen werden. Du wirst’s erleben, warte nur.« »Aber wir sind doch keine Strauchdiebe«, beharrte 434
Tom. »Wir suchen nach Arbeit. Und wir nehmen jede Arbeit an.« Der junge Mann blickte erstaunt zu Tom auf. »Ach, ihr sucht nach Arbeit?« sagte er. »So – ihr sucht nach Arbeit. Was glaubst du denn, wonach wir alle hier suchen? Nach Diamanten? Was glaubst du denn, wofür ich mir die ganze Zeit meinen Rücken auf dieser alten Kutsche hier wundgerieben habe?« Er zog das Schleifband hin und her. Tom blickte um sich, er sah die schmierigen Zelte, den Lumpenkram vor den Zelten, die alten Autos, die abgeschlissenen Matratzen, die in der Sonne lagen, die schwarzen Kanister in den feuergeschwärzten Löchern, auf denen die Leute kochten. Er fragte leise: »Gibt’s denn keine Arbeit?« »Ich weiß nicht. Müßte eigentlich. Jetzt gibt’s grade keine Ernte hier. Traubenpflücken und Baumwollpflücken – das kommt alles erst später. Wir fahren weiter, sowie ich mit den Ventilen hier fertig bin. Ich und meine Frau und die Kinder. Wir haben gehört, weiter im Norden gibt’s Arbeit. Oben in der Nähe von Salinas.« Tom sah Onkel John und Vater und den Prediger die Zeltplane über die Stangen ziehen und sah Mutter drinnen auf den Knien die Matratze abbürsten, die auf der Erde lag. Ein Kreis von Kindern stand in einiger Entfernung und beobachtete mit stummem Interesse, wie die Familie sich einrichtete, stille Kinder, barfuß und mit schmutzigen Gesichtern. Tom sagte: »Bei uns zu Hause sind Leute durchgekommen mit Handzetteln 435
– so orangenen Dingern. Da steht drauf, sie brauchen hier ’nen Haufen Leute für die Erntearbeiten.« Der junge Mann lachte. »Es sollen dreihunderttausend Leute hier sein, so wie wir. Und ich wette, jede Familie hat diesen verdammten Handzettel gesehn.« »Ja, aber wenn sie keine Leute brauchen, weshalb machen sie dann überhaupt das mit den Handzetteln?« »Streng mal deinen Kopf ’n bißchen an, verstanden?« »Gut, aber ich möcht’ es wissen.« »Hör zu«, sagte der junge Mann. »Angenommen, du hast Arbeit zu vergeben, und es kommt nur ein einziger Mann, wo Arbeit sucht. Da mußt du ihm bezahlen, was er verlangt. Aber angenommen, es kommen hundert Leute.« Er legte sein Werkzeug hin. Seine Augen wurden hart und seine Stimme scharf. »Angenommen, es kommen hundert Leute, die die Arbeit wollen. Angenommen, diese Leute haben Kinder, und die Kinder haben Hunger. Für zehn Cents kriegt man schon Maisbrei für die Kinder. Für ’nen Nickel können sie sich schon satt essen. Und da kommen die hundert Leute, und du bietest ihnen nicht mehr wie ’nen Nickel an – und paß auf, sie bringen sich um für den Nickel. Weißt du, was sie mir bezahlt haben auf meiner letzten Arbeit? Fünfzehn Cents die Stunde. Zehn Stunden für anderthalb Dollar, und natürlich kann man da nicht bleiben auf der Farm. Man muß auch noch Benzin verpulvern, um hinzukommen.« Er keuchte vor Wut, und in seinen Augen stand der Haß. »Und deshalb haben sie diese Handzettel verteilt. Du kannst verdammt viele Handzettel drucken für das Geld, was du sparst, 436
wenn du nur fünfzehn Cents pro Stunde für Feldarbeit bezahlst.« Tom sagte: »So ’ne Gemeinheit. Das stinkt ja zum Himmel.« Der junge Mann lachte heiser. »Bleib nur ’n Weilchen hier, und wenn du Rosen riechst, dann laß mich auch mal dran schnuppern.« »Aber es muß doch Arbeit geben«, sagte Tom. »Großer Gott, bei all dem Zeug, wo hier wächst, Obst, Trauben, Gemüse – ich hab’s doch selber gesehn. Die müssen doch Leute brauchen. Ich habe das Zeug selber gesehn.« Im Zelt neben dem Wagen schrie ein Kind. Der junge Mann ging hinein, und seine Stimme drang halblaut durch die Zeltwand. Tom nahm das Schleifband auf, steckte es in den Ventilsitz und zog es hin und her. Das Kind hörte auf zu schreien. Der junge Mann kam heraus und beobachtete Tom. »Du kannst’s«, sagte er. »Gute Sache. Du wirst’s noch mal brauchen.« »Na, und wie ist’s mit dem, was ich gesagt habe?« griff Tom das Thema wieder auf. »Ich habe gesehn, wie das ganze Zeug da wächst.« Der junge Mann setzte sich auf die Hacken. »Ich will dir’s sagen«, begann er. »Es gibt hier ’n Riesending von ’ner Pfirsichfarm, wo ich gearbeitet habe. Braucht das ganze Jahr neun Leute.« Er machte eine eindrucksvolle Pause. »Aber wenn die Pfirsiche reif werden, braucht’s dreitausend Leute für zwei Wochen. Die Pfirsiche müssen gepflückt werden, sonst verfaulen sie. Also – was machen die Burschen? Sie schicken Handzettel raus. Sie brauchen dreitausend Leute, und sechstausend kommen. Und sie 437
kriegen die Leute für das, was sie bezahlen wollen. Wenn dir’s zu wenig ist, dann mußt du’s eben bleiben lassen. Es warten schon tausend andere Leute auf deine Arbeit. Also pflückst du und pflückst – und dann ist Schluß. Es gibt ’ne ganze Gegend, wo sie nur Pfirsiche bauen. Und die werden alle zu gleicher Zeit reif. Und wenn du mit Pflücken fertig bist, sind alle gepflückt. Dann gibt’s in der ganzen Gegend nichts mehr zu tun. Und dann wollen die Landbesitzer euch da nicht mehr sehn. Ihr seid dreitausend Leute. Die Arbeit ist fertig. Womöglich stehlt ihr, womöglich besauft ihr euch und schlagt Krawall. Und außerdem seht ihr nicht gut aus, lebt in alten Zelten, aber die Gegend ist hübsch, und ihr verderbt sie. Sie wollen euch nicht mehr sehn. Also schmeißen sie euch raus und jagen euch fort. Siehst du, so ist das.« Tom, der hinunterblickte zum Zelt seiner Familie, sah seine Mutter, schwer und langsam vor Müdigkeit, ein kleines Feuer aufbauen und anzünden und die Kochtöpfe darüberstellen. Der Kreis von Kindern war näher gekommen, und die stillen großen Augen der Kinder verfolgten jede Bewegung von Mutters Händen. Ein alter, sehr alter Mann mit gebeugtem Rücken kam wie ein Dachs aus einem der Zelte heraus, schlurfte heran und atmete schnüffelnd die Luft ein im Näherkommen. Er hielt die Arme auf dem Rücken, trat zu den Kindern und sah Mutter zu. Ruthie und Winfield standen neben Mutter und sahen die Fremden mit kriegerischen Blicken an. Tom sagte wütend: »Die Pfirsiche müssen doch sofort gepflückt werden, nicht wahr? Sowie sie reif sind?« 438
»Ja, natürlich.« »Schön, angenommen, die Leute tun sich zusammen und sagen: ›Sollen sie doch verfaulen.‹ Da würd’ es nicht lange dauern, und die Löhne würden steigen!« Der junge Mann blickte von den Ventilen auf und sah Tom hämisch an. »Na, da hast du dir ja was ausgedacht. Und du bist ganz alleine draufgekommen, was?« »Ich bin müde«, sagte Tom. »Wir sind die ganze Nacht gefahren. Ich will keinen Streit anfangen. Aber ich bin so verdammt müde, daß ich bestimmt leicht Streit anfange. Also, mach keine Geschichten, ich bitte dich.« Der junge Mann grinste. »Ich hab’s nicht so gemeint. Du bist ja jetzt erst gekommen. Die Leute haben sich das auch schon ausgedacht. Aber auch die Leute mit der Pfirsichfarm sind drauf gekommen. Und, überleg dir doch, wenn die Pflücker sich zusammentun, dann müssen sie ’n Führer haben – das geht nicht anders –, einen, wo für sie redet. Aber wenn dieser Mann das erstemal das Maul auftut, dann greifen sie ihn sich und stecken ihn ins Kittchen. Und wenn dann ’n andrer Führer kommt, dann stecken sie den auch ins Kittchen.« Tom sagte: »Na, im Kittchen kriegt man wenigstens was zu essen.« »Aber die Kinder nicht. Und möchtest du im Kittchen sein, und deine Kinder verhungern inzwischen draußen?« »Das ist richtig«, sagte Tom langsam. »Ja, das ist richtig.« »Und noch ’ne andre Sache. Hast du schon mal was von der schwarzen Liste gehört?« »Was ist das?« 439
»Du brauchst nur die Schnauze aufzumachen und was davon zu sagen, daß wir uns zusammentun – dann wirst du’s schon sehn. Sie nehmen dein Bild und schicken’s überall hin, und du kannst nirgends mehr Arbeit kriegen. Und wenn du Kinder hast …« Tom nahm seine Mütze vom Kopf und drehte sie zwischen den Händen. »Also müssen wir nehmen, was wir kriegen – oder wir verhungern. Und wenn wir ’s Maul auftun, verhungern wir auch.« Der junge Mann machte eine ausholende Bewegung mit seiner Hand, und die Bewegung schloß die zerlumpten Zelte und die rostigen Wagen in sich ein. Tom blickte wieder hinüber zu seiner Mutter, die dasaß und Kartoffeln schälte. Und die Kinder waren jetzt noch näher zu ihr herangekommen. Er sagte: »Ich lasse mir’s nicht gefallen. Verdammt – ich und meine Leute, wir sind doch keine Schafe. Ich haue um mich, ganz gleich, wen’s trifft.« »Zum Beispiel ’nen Bullen?« »Ist mir ganz egal.« »Du bist verrückt«, sagte der junge Mann. »Die machen kurzen Prozeß mit dir. Du hast keinen Namen und kein Eigentum. Die Leute finden dich dann im Straßengraben, und das Blut ist dir schon auf Mund und Nase getrocknet. Dann steht ’ne kleine Notiz in der Zeitung – weißt du, wie die heißt? ›Landstreicher tot aufgefunden‹. Und das ist alles. Steht jetzt oft in den Zeitungen. ›Landstreicher tot aufgefunden.‹« Tom sagte: »Da werden sie aber neben diesem Landstreicher noch jemand anderen tot auffinden.« 440
»Du bist verrückt«, sagte der junge Mann. »Das nützt dir doch auch nichts.« »Na, und was machst du?« Er blickte in das ölbeschmierte Gesicht. Und ein Schleier zog sich über die Augen des jungen Mannes. »Nichts. Wo kommt ihr denn her?« »Wir? Aus der Nähe von Sallisaw, Oklahoma.« »Seid grade gekommen?« »Ja, heute früh.« »Bleibt ihr lange hier?« »Weiß nicht. Wir bleiben, wo wir Arbeit kriegen können. Warum?« »Ach, nur so.« Und wieder kam der Schleier über die Augen. »Wir müssen uns erst ausschlafen«, sagte Tom. »Morgen gehn wir dann los und suchen uns Arbeit.« »Ihr könnt’s ja versuchen.« Tom drehte sich um und ging auf das Zelt seiner Familie zu. Der junge Mann nahm die Büchse mit der Schleifmasse und steckte seinen Finger hinein. »He!« rief er. Tom drehte sich um. »Was willst du?« »Ich will dir was sagen.« Er bewegte seinen Finger, an dem ein Klumpen von der Masse klebte. »Ich will dir was sagen. Mach keine Geschichten. Denk dran, wie der bullenscheue Kerl ausgesehn hat.« »Der Alte in dem Zelt da vorn?« »Ja. Der sieht doch blöd aus, wie wenn er den Verstand verloren hat, nicht wahr?« »Na, und was ist mit ihm?« 441
»Wenn die Bullen kommen, und die kommen andauernd, dann mußt du dich so stellen wie der Alte. Blöd – nichts wissen. Nicht verstehn. So wollen die Bullen uns haben. Geh nicht auf sie los. Das ist Selbstmord. Bullenscheu, das ist das Richtige.« »Ich soll mich von den Bullen umrennen lassen und nichts machen?« »Jetzt hör mal zu. Ich hole dich heute abend ab. Vielleicht mache ich ’n Fehler. Es laufen hier dauernd Spitzel rum. Ich riskier’s, und ich habe Kinder, verstehst du? Aber ich hole dich ab. Und wenn du ’n Bullen siehst, dann bist du einfach ’n blöder Okie, verstanden?« »Einverstanden – wenn wir wenigstens was machen«, sagte Tom. »Und ob wir was machen! Wir machen bloß kein Geschrei drum. Ein Kind ist schnell verhungert. Das dauert zwei bis drei Tage.« Er ging wieder an seine Arbeit, strich die Masse in den Ventilsitz, zog das Schleifband ruckweise hin und her, und sein Gesicht war ausdruckslos und töricht. Tom ging langsam hinüber zum Zelt. »Bullenscheu«, sagte er zu sich selbst. Vater und Onkel John kamen mit trockenen Weidenzweigen beladen zum Zelt zurück, warfen die Zweige neben das Feuer und hockten sich auf die Erde. »Das war ’ne Arbeit«, sagte Vater. »Wir haben weit laufen müssen für dieses bißchen Holz.« Er blickte auf zu dem Kreis der staunend umherstehenden Kinder. »Gerechter Gott!« rief er. »Wo kommt ihr denn alle her?« Die Kinder blickten verlegen auf ihre Füße. 442
»Wahrscheinlich haben sie gerochen, daß hier gekocht wird«, sagte Mutter. »Winfield, geh mir aus dem Weg.« Sie schob ihn zur Seite. »Ich will uns ’n bißchen Gulasch machen«, sagte sie. »Wir haben nichts richtig Gekochtes gegessen, seit wir von zu Hause fort sind. Vater, du gehst rauf zum Kaufmann und holst Fleisch zum Schmoren. Ich mache euch ’n hübsches Essen.« Vater stand auf und schlenderte davon. Al hatte die Haube des Wagens aufgemacht und sah sich den öligen Motor an. Er blickte auf, als Tom herantrat. »Na, du siehst ja quietschvergnügt aus«, sagte Al. »Ja, quietschvergnügt, wie ’ne Kröte im Frühlingsregen«, sagte Tom. »Hier, sieh dir den Motor an. Gut, was?« Tom blickte hinein. »Sieht nicht schlecht aus.« »Nicht schlecht? Mensch, wunderbar! Sag nichts gegen den Motor, er hat kein Öl verpufft und nichts.« Er schraubte eine Zündkerze heraus und steckte seinen Zeigefinger in das Loch. »Ein bißchen verkrustet, aber trocken.« Tom sagte: »Ja, den Wagen hast du gut gekauft; das wolltest du doch nur hören, was?« »Jedenfalls habe ich den ganzen Weg verdammte Angst gehabt, daß die Karre nicht mehr mitmacht. Dann wäre ich doch schuld gewesen.« »Nein, nein, du hast’s schon gut gemacht. Aber jetzt mußt du ihn richtig überholen, denn morgen fahren wir los und suchen uns Arbeit.« »Keine Sorge«, sagte Al. »Er wird schon fahren.« Er 443
zog ein Taschenmesser heraus und kratzte den Ruß von den Zündenden der Kerze ab. Tom ging um das Zelt herum und sah Casy auf der Erde sitzen und nachdenklich seinen nackten Fuß betrachten. Tom setzte sich neben ihn. »Glaubst du, er macht’s noch?« »Wer?« fragte Casy. »Na, der Fuß da.« »Ach so. Ich sitze nur hier und denke ’n bißchen nach.« »Du machst dir’s immer gemütlich dabei«, sagte Tom. Casy richtete seine große Zehe nach oben und die zweite nach unten und lächelte. »Schwer genug, richtig nachzudenken, ohne sich dabei zu verheddern.« »Ich habe seit Tagen nicht einen Pieps von dir gehört«, sagte Tom. »Hast du die ganze Zeit nachgedacht?« »Ja, die ganze Zeit nachgedacht.« Tom nahm seine Mütze ab, die jetzt dreckig und ruiniert war und deren Schild einem Vogelschnabel glich. Er klappte das Schweißband heraus und zog einen Streifen von zusammengefaltetem Zeitungspapier hervor. »Ich habe so geschwitzt, daß sie eingegangen ist«, sagte er. Er blickte auf Casys sich bewegende Zehen. »Kannst du nicht mal das Nachdenken ’n bißchen sein lassen und mir zuhören?« Casy drehte den Kopf auf seinem stielähnlichen Halse um. »Ich höre die ganze Zeit zu. Deshalb denke ich ja nur nach. Ich höre zu, wie die Leute reden, und bald höre ich auch, wie die Leute fühlen. Das geht die ganze Zeit so. Ich höre und fühle sie, und sie schlagen sich die 444
Flügel an wie ’n Vogel im Estrich. Schlagen sich die Flügel an ’nem staubigen Fenster an, weil sie rauswollen.« Tom betrachtete ihn mit großen Augen, dann wandte er sich um und blickte zu einem zwanzig Fuß entfernten Ziel hinüber. Er sagte leise: »Darüber wollte ich grade mit dir reden. Und nun hast du’s schon gesehn.« »Ja, ich hab’s schon gesehn. Es hat ’ne ganze Armee von uns, ’ne Armee ohne Harnisch.« Er senkte den Kopf und fuhr sich mit der Hand langsam über die Stirn und durch das Haar. »Überall habe ich’s gesehn«, sagte er. »Überall, wo wir angehalten haben. Die Leute haben Hunger nach Fleisch, und wenn sie welches kriegen, werden sie nicht satt davon. Und wenn sie solchen Hunger haben, daß sie’s nicht mehr aushalten können, dann soll ich für sie beten. Manchmal habe ich’s auch gemacht.« Er umklammerte seine Knie mit den Händen und zog die Beine an. »Und ich habe gedacht, damit würd’ es gut«, sagte er. »Ich habe ’n Gebet gesagt und alle die bösen Geschichten an das Gebet rangehängt, wie Fliegen an ’nen Fliegenfänger, und das Gebet ist fortgeflogen und die bösen Geschichten mit. Aber das geht jetzt nicht mehr.« Tom sagte: »Von ’nem Gebet hat noch nie einer Fleisch gekriegt. Dazu braucht’s schon ’n richtiges Schwein.« »Ja«, sagte Casy. »Und der liebe Gott hat auch noch nie die Löhne steigen lassen. Diese Leute hier wollen doch nur anständig leben und ihre Kinder anständig großziehen. Und wenn sie alt sind, wollen sie sich vor die Tür setzen und den Sonnenuntergang betrachten. 445
Und wenn sie jung sind, wollen sie singen und tanzen und beieinander liegen und sich lieben. Sie wollen essen und sich betrinken und arbeiten. Und das ist eigentlich alles – sie wollen ihre Muskeln gebrauchen, bis sie müde sind. Gott! Wovon rede ich eigentlich?« »Ich weiß nicht«, sagte Tom. »Aber ’s klingt nicht schlecht. Glaubst du, du kannst mal mit Nachdenken aufhören und arbeiten? Wir müssen uns Arbeit suchen. Das Geld ist fast alle. Vater hat fünf Dollar bezahlt für ’n gestrichenes Stück Brett, was sie über Großmutter gedeckt haben. Nun ist nicht mehr viel übrig.« Ein magerer brauner Hund kam schnüffelnd um das Zelt herum. Er war verängstigt und sprungbereit. Er schnüffelte eine Weile am Boden, bevor er die beiden Männer bemerkte, und als er sie sah, sprang er zur Seite und rannte mit zurückgelegten Ohren und eingekniffenem Schwanz davon. Casy blickte ihm nach, wie er um das Zelt lief und verschwand. Casy seufzte. »Ich bin für nichts gut«, sagte er. »Für mich selber nicht und für andre Leute auch nicht. Ich habe mir schon überlegt, ob ich nicht alleine fortgehen soll. Ich esse euch nur euer Zeug auf und nehme euch auch noch Platz weg. Und geben kann ich euch nichts. Vielleicht könnte ich ’ne regelmäßige Arbeit finden und euch dann was zurückzahlen.« Tom öffnete den Mund, streckte den Unterkiefer vor und klopfte sich mit einem trockenen Senfkrautstengel gegen die Zähne. Seine Augen blickten über das Camp hinweg, über die grauen Zelte und die Baracken aus Blech, Papier und Unkraut. »Ich wollte, ich hätte ’n 446
Säckchen Durham«, sagte er. »Ich habe verdammt lange nichts zu rauchen gehabt. In McAlester haben wir immer Tabak gekriegt. Wäre beinahe besser, ich wäre wieder dort.« Er klopfte sich abermals gegen die Zähne, und dann plötzlich drehte er sich zu dem Prediger um. »Bist du schon mal im Kittchen gewesen?« »Nee«, sagte Casy. »Noch nie.« »Geh noch nicht gleich wieder fort«, sagte Tom. »Noch nicht gleich.« »Je eher ich mir Arbeit suche – je eher finde ich welche.« Tom beobachtete ihn mit halbgeschlossenen Augen und setzte seine Mütze wieder auf. »Hör zu«, sagte er, »das hier ist kein Land, wo Milch und Honig fließt, wie die Prediger sagen. Hier ist was Böses los. Die Leute hier haben Angst vor denen, wo aus dem Osten kommen, und deshalb schicken sie ihre Bullen raus, um uns Angst zu machen.« »Ja«, sagte Casy. »Ich weiß. Weshalb fragst du, ob ich schon mal im Kittchen gewesen bin?« Tom sagte langsam: »Wenn du mal im Kittchen gewesen bist … dann kommst du so weit, daß du Sachen einfach spürst. Man darf nicht viel miteinander reden – zu zweit vielleicht, aber nicht ’ne ganze Bande. Und da fängst du plötzlich an zu spüren. Wenn irgendwas platzt – wenn ein Kerl plötzlich ’nen Anfall kriegt und der Wache mit ’nem Besenstiel eins über den Kopf haut, dann weißt du’s schon, eh’ es überhaupt passiert. Und wenn’s Krach gibt oder welche sich zusammentun und losschlagen, dann braucht’s dir keiner vorher zu sagen. Du spürst’s und du weißt’s.« 447
»Ja.« »Bleib nur hier«, sagte Tom. »Wenigstens bis morgen. Es kommt was. Ich habe da drüben mit ’nem Jungen gesprochen. Er schleicht drumherum wie ’n Kojote und ist furchtbar gescheit, aber er ist zu gescheit. Wie ’n Kojote, der sich um nichts andres kümmert und gut und unschuldig ist … Verstehst du?« Casy sah ihn aufmerksam an, wollte eine Frage stellen, schloß dann aber seinen Mund. Er bewegte langsam seine Zehen, ließ seine Knie los und streckte die Füße aus, so daß er sie sehen konnte. »Gut«, sagte er, »ich gehe noch nicht gleich.« Tom sagte: »Wenn die Leute plötzlich von nichts ’ne Ahnung haben – dann ist was im Gange.« »Ich bleibe«, sagte Casy. »Und morgen fahren wir los und suchen uns Arbeit.« »Ja«, sagte Casy, bewegte seine Zehen auf und ab und betrachtete sie ernst. Tom legte sich, auf die Ellbogen gestützt, zurück und schloß die Augen. Aus dem Zelt drang das Gemurmel von Rose von Sharons Stimme und Connies Antworten. Unter der Plane war es dunkel, und das keilförmige Licht an den beiden Enden war hart und scharf. Rose von Sharon lag auf einer Matratze, und Connie hockte neben ihr. »Ich müßte ja Mutter helfen«, sagte Rose von Sharon. »Ich hab’ es schon versucht, aber jedesmal, wenn ich aufgestanden bin, habe ich mich übergeben.« Connies Augen waren finster. »Wenn ich gewußt hätte, daß alles so ist, wäre ich gar nicht mitgekommen. Ich hätte nachts über Traktoren studiert daheim und ’ne 448
Drei-Dollar-Stellung angenommen. Von drei Dollars pro Tag kann man verdammt gut leben und außerdem noch jeden Abend ins Kino gehn.« Rose von Sharons Gesicht spannte sich. »Du willst doch nachts Radio studieren«, sagte sie. Lange antwortete er nicht. »Oder nicht?« fragte sie. »Ja, sicher. Sowie ich wieder ein bißchen auf den Beinen stehe. Sowie ich Geld habe.« Sie drehte sich herum und stützte sich auf den Ellbogen. »Du gibst doch nicht auf!« »Nein … nein … natürlich nicht. Aber … ich habe nicht gewußt, daß wir so leben müssen wie hier.« Die Augen des Mädchens wurden hart. »Du mußt!« sagte sie ruhig. »Sicher. Natürlich, ich weiß. Ich muß wieder auf meine eigenen Beine kommen. Geld verdienen. Wäre besser gewesen, wenn ich zu Hause geblieben wäre und über Traktoren studiert hätte. Drei Dollars am Tag kriegen die, und manchmal noch was extra.« Rose von Sharons Augen rechneten. Als er zu ihr hinabblickte, sah er, wie ihre Augen ihn berechnend maßen. »Aber ich werde schon studieren«, sagte er. »Sowie ich wieder auf meinen Beinen stehe.« Sie sagte ungestüm: »Wir müssen ein Haus haben, wenn das Kleine kommt. Ich will es nicht in ’nem Zelt kriegen.« »Natürlich«, sagte er. »Sowie ich wieder auf meinen Beinen stehe.« Er ging aus dem Zelt und blickte hinunter zu Mutter, die neben dem Feuer kniete. Rose von Sharon drehte sich auf den Rücken und blickte hinauf 449
zum Zeltdach. Und dann steckte sie den Daumen in den Mund, um nicht laut zu schreien, und weinte leise. Mutter kniete neben dem Feuer und knickte Weidenzweige, um das Feuer unter dem Kochtopf in Gang zu halten. Es flammte auf und sank zurück, flammte auf und sank zurück. Die Kinder, fünfzehn an der Zahl, standen schweigend herum und sahen zu. Und als der Geruch des schmorenden Fleisches an ihre Nasen drang, schnüffelten sie leise. Das Sonnenlicht glitzerte auf ihren staubigen Haaren. Die Kinder waren verlegen, wie sie dort standen, aber sie gingen nicht. Mutter sprach leise mit einem kleinen Mädchen, das mit in dem Kreise stand. Sie war älter als die anderen. Sie stand auf einem Fuß und strich ständig mit der Sohle des anderen Fußes an ihrer Wade entlang. Die Arme hatte sie auf dem Rücken verschlungen. Sie beobachtete mit ruhigen kleinen grauen Augen. »Ich kann Ihnen noch Zweige holen, wenn Sie wollen, Ma’am«, schlug sie vor. Mutter blickte von ihrer Arbeit auf. »Dafür willst du dann wohl mitessen, was?« »Ja, Ma’am«, sagte das Mädchen mit unentwegter Ruhe. Mutter schob die Zweige unter den Topf, und die Flamme gab ein puffendes Geräusch. »Hast du kein Frühstück gehabt?« »Nein, Ma’am. Gibt ja keine Arbeit hier in der Gegend. Vater ist in der Stadt und versucht, was zu verkaufen, damit wir Benzin kriegen können zum Weiterfahren.« Mutter blickte auf. »Haben die denn alle kein Früh450
stück gehabt?« Die Kinder traten verlegen vom einen Bein aufs andere und wandten ihre Augen von dem Fleischtopf ab. Ein kleiner Junge sagte prahlerisch: »Ich und mein Bruder, wir haben ja gefrühstückt. Und die beiden da auch, weil ich’s gesehen habe. Gute Sachen haben wir gegessen. Und heut abend fahren wir weiter.« Mutter lächelte. »Dann hast du also keinen Hunger. Es ist eh nicht genug für alle.« Der kleine Junge streckte seine Lippe vor. »Ja, wir haben gute Sachen gegessen«, sagte er, dann drehte er sich um, rannte davon und verschwand in ein Zelt. Mutter blickte ihm so lange nach, daß das älteste Mädchen sie ermahnen mußte: »Das Feuer brennt runter, Ma’am. Ich kann aber aufpassen, wenn Sie wollen.« Ruthie und Winfield standen in dem Kreis und verhielten sich kühl und würdevoll. Ruthie sah das kleine Mädchen mit unwilligen Blicken an. Und Ruthie hockte sich hin und zerknickte Zweige für das Feuer. Mutter hob den Topfdeckel und rührte das Fleisch mit einem Stock um. »Ich bin froh, daß ihr wenigstens nicht alle Hunger habt. Der kleine Kerl da hat doch jedenfalls keinen.« Das Mädchen rümpfte die Nase. »Ach, der! Der hat ja nur angegeben. Mächtig angegeben. Wenn er kein Nachtessen hat – wissen Sie, was er dann macht? Gestern abend, da ist er rausgekommen und hat erzählt, sie haben Hühnchen zu essen. Na, und ich habe mal reingeguckt, wie sie gegessen haben, und sie haben auch nur Ölkuchen gehabt wie alle andern.« »Ach so!« sagte Mutter und blickte hinüber zu dem 451
Zelt, in das der kleine Junge verschwunden war. Dann sah sie das kleine Mädchen an. »Wie lange bist du denn schon in Kalifornien?« fragte sie. »Och, vielleicht sechs Monate. Wir haben ’ne Weile in ’nem Camp gelebt, wo dem Staat gehört. Und dann sind wir ’n Stück weitergefahren, und wie wir wiedergekommen sind, war alles voll. Aber schön ist’s da, sage ich Ihnen.« »Wo ist das?« fragte Mutter. Sie nahm Ruthie das Holz aus der Hand und schob es ins Feuer. Ruthie blickte voller Haß zu dem älteren Mädchen auf. »Drüben bei Weedpatch. Da gibt’s richtige Toiletten und Bad, und die Wäsche kann man in ’nem richtigen Zuber waschen, und überall gibt’s Wasser, gutes Trinkwasser, und nachts machen die Leute Musik, und Samstag ist immer Tanz. So was haste bestimmt noch nicht gesehn. Und ’n Platz für die Kinder zum Spielen, und auf den Toiletten gibt’s sogar Papier. Man braucht nur ziehen, und dann kommt das Wasser runtergelaufen. Und keine Bullen, wo dauernd ins Zelt kommen, wann sie wollen, und der Mann, der das Camp macht, ist so höflich und kommt immer und spricht und schimpft nie. Ich wollte, wir könnten da wieder hin.« Mutter sagte: »Da habe ich noch nie von gehört, ’nen Waschzuber könnte ich schon brauchen, sage ich dir.« Das Mädchen fuhr aufgeregt fort: »Ja, und dann haben sie ’ne richtige heiße Wasserleitung, und wenn man das Bad andreht, ist es ganz warm. Ich schwöre dir, so was haste noch nicht gesehn.« 452
»Jetzt ist alles voll, sagst du?« »Ja. Das letztemal war’s voll.« »Kostet wahrscheinlich auch furchtbar viel«, sagte Mutter. »Ja, ’s kostet, aber wenn du kein Geld hast, kannste’s abarbeiten – ’n paar Stunden die Woche, Reinemachen und so. Und abends gibt’s Musik, und die Leute sitzen zusammen – und ’ne richtige heiße Wasserleitung. So was Schönes haste noch nicht gesehn.« Mutter sagte: »Ja, da möchte ich schon gerne hin.« Jetzt hielt Ruthie es nicht mehr aus. Ungestüm sprudelte sie hervor: »Und Großmutter ist direkt da oben auf dem Wagen gestorben.« Das Mädchen sah sie fragend an. »Jawohl«, sagte Ruthie. »Und jetzt hat der Leichenschauer sie gekriegt.« Sie biß die Lippen fest zusammen und zerknickte ein paar weitere Stöckchen. Winfield wurde von der Kühnheit dieses Angriffs angesteckt. »Jawohl, direkt oben auf unserm Wagen«, echote er. »Und der Leichenschauer hat sie in ’nen großen Korb gesteckt.« Mutter sagte: »Seid jetzt still, ihr beiden, sonst schicke ich euch fort.« Und sie schob neues Holz ins Feuer. Weiter hinten war Al zu dem Buick herangeschlendert, um beim Einschleifen der Ventile zuzusehen. »Du bist ja, scheint’s, bald fertig«, sagte er. »Noch zwei.« »Gibt’s Mädchen hier im Camp?« »Ich habe ’ne Frau«, sagte der junge Mann. »Ich habe keine Zeit für Mädchen.« 453
»Ich habe immer Zeit für Mädchen«, sagte Al. »Für Mädchen – und für nichts andres.« »Wenn du erst mal ’n Hunger hast, hört sich das auch auf.« Al lachte. »Vielleicht. Aber bisher hat sich’s bei mir noch nie aufgehört.« »Der Junge, mit dem ich vorhin gesprochen habe, der gehört doch zu euch, was?« »Ja. Das ist mein Bruder Tom. Ich rate dir, fang mit dem keine Geschichten an. Der hat mal einen gekillt.« »Ach nee. Warum denn?« »Die haben sich gestritten, und der Kerl hat Tom ’n Messer in den Bauch gerannt. Tom hat ihn mit ’ner Schaufel erschlagen.« »Ach nee. Und die Polizei?« »Die haben ihn dann laufenlassen, weil’s doch Notwehr war«, sagte Al. »Sieht aber gar nicht so streitsüchtig aus.« »Ist er auch nicht. Aber Tom läßt sich von niemand was gefallen.« Als Stimme war sehr stolz. »Tom ist ’n Stiller. Aber, ich sage dir – paß auf!« »Ich habe mit ihm geredet. Schien mir aber gar nicht so schlimm.« »Er ist auch nicht schlimm. Er ist die Gutmütigkeit selber, aber wenn ihm jemand was will – dann gnade Gott.« Der junge Mann schliff das letzte Ventil ein. »Soll ich dir helfen die Ventile einsetzen und den Block aufmontieren?« »Gerne, wenn du nichts andres zu tun hast.« 454
»Ich müßte ’n bißchen schlafen«, sagte Al. »Aber wenn ich ’n abmontierten Motor sehe, dann muß ich meine Pfoten reinstecken. Das geht nicht anders.« »Also, ich freue mich, wenn du mir hilfst«, sagte der junge Mann. »Ich heiße Floyd Knowles.« »Und ich Al Joad.« »Freut mich.« »Mich auch«, sagte Al. »Nimmst du dieselbe Dichtung?« »Ich muß«, sagte Floyd. Al zog sein Taschenmesser heraus und kratzte an dem Block herum. »Mensch«, sagte er, »es geht doch nichts über so ’n Motor.« »Und wie ist’s mit Mädchen?« »Ja, Mädchen außerdem! Ich wollte, ich könnte mal ’nen Rolls auseinanderreißen und wieder zusammenbauen. Ich habe mal unter die Haube von ’nem Cad sechzehn geguckt – Mensch, so was Süßes hast du in deinem Leben noch nicht gesehn! Das war in Sallisaw – der Sechzehner steht vor ’nem Restaurant, und ich mache einfach die Haube auf. Da kommt ein Kerl raus und sagt: ›Was machst du denn da, zum Teufel?‹ Und ich sage: ›Ach, ich gucke nur. Ganz groß, der Wagen.‹ Und der Kerl bleibt neben mir stehn. Ich glaube, er hat sich vorher noch nie den Motor angesehn gehabt. Steht einfach da und sagt nichts. Reicher Kerl mit ’nem Strohhut. Gestreiftes Hemd und Brille. Und ich sage auch nichts. Gucke nur. Und plötzlich sagt er: ›Willst du mal fahren?‹« »Mensch!« sagte Floyd. 455
»Jawohl. ›Willst du mal fahren?‹ Na, und ich hatte meine dreckigen Hosen an und sage: ›Da mache ich Ihnen aber alles dreckig!‹ – ›Komm nur!‹ sagte er. ›Kannst mal um den Block rumfahren.‹ Na, also – ich setze mich rein und fahre achtmal um den Block rum. Mensch, ich kann dir sagen!« »Schön?« fragte Floyd. »Na, Mensch!« sagte Al. »Wenn ich den mal auseinandernehmen könnte – da würde ich alles für hergeben.« Floyd hielt mit Schleifen inne. Er hob das letzte Ventil heraus und betrachtete es. »Gewöhn dich lieber an eine von unsern Kutschen«, sagte er, »denn ’nen Sechzehner wirst du doch nie fahren.« Er legte das Schleifband auf das Trittbrett und nahm einen Meißel und kratzte damit den Zylinderblock ab. Zwei stämmige Frauen, barhaupt und barfuß, kamen mit einem Eimer voll milchigem Wasser an ihnen vorbei. Sie humpelten unter dem Gewicht des Eimers, und keine von beiden blickte vom Boden auf. Die Sonne stand schon im letzten Viertel ihrer Bahn. Al sagte: »Du scheinst nicht grade sehr zufrieden zu sein.« Floyd kratzte schärfer mit seinem Meißel. »Ich bin jetzt sechs Monate hier«, sagte er. »Und die ganze Zeit bin ich rumgekrebst und habe Arbeit gesucht und gesehn, daß ich ’n bißchen Fleisch und Kartoffeln für meine Frau und meine Kinder zusammenkriege. Ich habe mich drangehalten wie ’n Kaninchen – aber es geht nicht. Ich kriege einfach nicht genug zu essen zusammen, ganz gleich, was ich mache. Ich hab’ es satt, das ist 456
alles. Verdammt satt. Und ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.« »Gibt’s denn keine regelmäßige Arbeit?« fragte Al. »Nee, gibt’s nicht.« Er schob mit seinem Meißel das Abgekratzte von dem Block herunter und wischte das stumpfe Metall mit einem öligen Lappen ab. Ein rostiger Tourenwagen kam von der Straße heruntergefahren. Es saßen vier Männer darin, Männer mit braunen harten Gesichtern. Der Wagen fuhr langsam durch das Camp. Floyd rief zu ihnen hinüber: »Glück gehabt?« Der Wagen hielt an. Der Fahrer sagte: »Wir haben alles abgegrast. Es gibt nicht das kleinste Fetzchen Arbeit mehr. Wir müssen weiter.« »Wohin?« rief Al. »Weiß Gott, wohin. Hier sind wir jedenfalls fertig.« Er kuppelte aus und fuhr langsam weiter. Al blickte ihnen nach. »Wär’s nicht besser, wenn immer einer alleine fahren würde? Für den Fall, daß irgendwo nur eine Stelle frei ist.« Floyd legte den Meißel hin und lächelte säuerlich. »Du hast ja keine Ahnung«, sagte er. »Es braucht doch Benzin, und Benzin kostet fünfzehn Cents die Gallone. Diese vier Leute können sich keine vier Wagen leisten. So zahlt jeder etwas für das Benzin. Du mußt noch allerhand lernen.« »Al!« Al blickte herab zu Winfield, der mit wichtigem Gesicht neben ihm stand. »Al, Mutter füllt schon das Fleisch auf. Du sollst kommen.« 457
Al wischte sich die Hände an seinen Hosen ab. »Wir haben heute noch nichts gegessen«, sagte er zu Floyd. »Ich komme wieder, wenn ich fertig bin.« »Aber nur, wenn du willst.« »Natürlich will ich.« Er folgte Winfield hinüber zum Zelt. Dort hatten sich jetzt viele versammelt. Die fremden Kinder standen dicht am Fleischtopf, so dicht, daß Mutter sie ab und zu mit den Ellbogen wegstoßen mußte. Tom und Onkel John standen neben ihr. Mutter sagte hilflos: »Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Ich muß doch die Familie satt kriegen. Und was mache ich mit denen hier?« Die Kinder standen regungslos da und sahen sie an. Ihre Gesichter waren steif und ausdruckslos, und ihre Augen wanderten mechanisch von dem Topf zu dem Blechteller, den Mutter in der Hand hielt. Ihre Augen folgten dem Löffel vom Topf zum Teller, und als sie Onkel John den dampfenden Teller reichte, gingen auch die Augen der Kinder mit. Onkel John grub seinen Löffel in das Gulasch, und die Augen der Kinder hoben sich mit dem Löffel. Ein Stück Kartoffel verschwand in Johns Mund, und die Augen richteten sich auf sein Gesicht, um zu beobachten, wie er auf die Kartoffel reagieren würde. War die Kartoffel gut? Würde sie ihm schmecken? Und dann schien Onkel John sie zum erstenmal zu sehen. Er kaute langsam. »Komm, nimm das«, sagte er zu Tom. »Ich habe keinen Hunger.« »Aber du hast doch heute noch nichts gegessen.« 458
»Ich weiß, aber ich habe Bauchweh. Ich habe keinen Hunger.« Tom sagte ruhig: »Nimm deinen Teller mit ins Zelt und iß.« »Ich habe keinen Hunger«, beharrte Onkel John. »Und drinnen würde ich sie trotzdem noch sehn.« Tom wandte sich an die Kinder. »Jetzt lauft«, sagte er. »Los, lauft!« Die Augen wanderten von dem Gulasch zu seinem Gesicht, auf dem sie verwundert ruhen blieben. »Lauft, sag’ ich euch. Wir können euch hier nicht brauchen. Es ist nicht genug für euch da.« Mutter löffelte das Gulasch auf die Blechteller, es war sehr wenig Gulasch, und sie stellte die Teller auf die Erde. »Ich kann sie nicht wegschicken«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was ich machen soll. Nehmt eure Teller und geht damit ins Zelt. Ich gebe ihnen, was übrig ist. Hier, nehmt Rosasharn ihren Teller mit.« Sie lächelte zu den Kindern auf. »Hört zu«, sagte sie, »ihr lauft jetzt und holt euch jeder ’nen flachen Stock, und dann dürft ihr was essen. Aber ich will keinen Streit haben.« Die Gruppe löste sich mit schweigender Schnelligkeit auf. Die Kinder rannten, um sich Stöcke zu suchen, sie rannten in ihre Zelte und holten sich Löffel. Und noch ehe Mutter fertig aufgefüllt hatte, waren sie schon wieder da, stumm und gierig. Mutter schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich kann’s doch den anderen nicht wegnehmen. Ich muß sie doch satt kriegen. Ruthie, Winfield, Al«, rief sie laut und beängstigt. »Nehmt eure Teller. Schnell! Und geht ins Zelt.« Sie sah die wartenden Kinder entschuldigend an. 459
»Es ist nicht genug da«, sagte sie kleinlaut. »Ich stelle euch den Topf hier hin, und ihr müßt sehn, was ihr noch rausholt. Viel ist’s nicht.« Sie stammelte: »Ich kann’s nicht ändern. Ich muß euch was geben.« Sie hob den Topf und setzte ihn auf die Erde. »Wartet. Es ist doch noch zu heiß«, sagte sie. Und dann ging sie schnell ins Zelt, damit sie es nicht zu sehen brauchte. Die anderen saßen auf der Erde, jeder mit seinem Teller, und sie hörten, wie draußen die Kinder mit ihren Stöcken und Löffeln und rostigen Blechstücken den Topf auskratzten. Der Topf war hinter einer Mauer von Kindern verschwunden. Sie sprachen nicht, sie zankten und stritten sich nicht, sie aßen mit stillem Eifer, mit stummer Wildheit. Mutter drehte ihnen den Rücken zu, um sie nicht sehen zu müssen. »Das können wir nicht mehr machen«, sagte sie. »Wir müssen alleine essen.« Jetzt war das Kratzen am Boden des Topfes zu hören, und der Wall von Kindern teilte sich, und die Kinder gingen davon und ließen den ausgekratzten Topf stehen. Mutter blickte auf die leeren Teller. »Jetzt hat keiner von euch genug gekriegt.« Vater stand auf und ging ohne zu antworten aus dem Zelt. Der Prediger lächelte zu sich selbst und legte sich lang auf den Boden, die Hände hinter dem Kopf gefaltet. Al erhob sich. »Ich muß jemand bei seinem Wagen helfen.« Mutter sammelte die Teller auf und trug sie hinaus zum Spülen. »Ruthie«, rief sie, »Winfield! Holt mir gleich mal’n Eimer Wasser.« Sie reichte ihnen den Eimer, und die beiden trotteten hinunter zum Fluß. 460
Eine große starke Frau erschien. Ihr Kleid hatte Schmutzflecke und war mit Autoöl bespritzt. Sie trug ihr Kinn hoch vor Stolz, blieb in einiger Entfernung stehen und warf Mutter kriegerische Blicke zu. Schließlich kam sie näher. »Tag«, sagte sie kühl. »Tag«, sagte Mutter. Sie erhob sich von den Knien und schob eine Kiste heran. »Wollen Sie sich nicht setzen?« Die Frau trat heran. »Nein, ich will mich nicht setzen.« Mutter blickte sie fragend an. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« Die Frau stützte die Hände auf die Hüften. »Sie können mir helfen, wenn Sie sich um Ihre eigenen Kinder kümmern und meine in Frieden lassen.« Mutters Augen öffneten sich weit. »Aber ich habe doch nichts gemacht …«, begann sie. Die Frau sah sie finster an. »Mein Kleiner ist nach Hause gekommen und hat nach Gulasch gerochen. Und Sie haben’s ihm gegeben. Er hat’s mir erzählt. Ich sage Ihnen, tun Sie sich nicht dicke mit Ihrem Gulasch! Machen Sie das nicht! Ich habe auch ohne das schon genug Ärger. Kommt nach Hause, der Kleine, und fragt: ›Mutter, warum haben wir kein Gulasch?‹« Ihre Stimme zitterte vor Wut. Mutter trat dicht zu ihr heran. »Setzen Sie sich«, sagte sie. »Setzen Sie sich, dann können wir reden.« »Nein, ich setze mich nicht. Ich gebe mir Mühe, meine Leute satt zu kriegen – und dann kommen Sie mit Ihrem Gulasch.« »Setzen Sie sich«, sagte Mutter. »Das war unser letztes Gulasch, bis wir Arbeit kriegen. Stellen Sie sich vor, Sie 461
kochen Gulasch, und ’ne Horde kleiner Kinder steht drumrum und macht Augen – was bleibt Ihnen da anderes übrig? Wir haben selber nicht genug gehabt, aber ich hab’s ihnen einfach nicht verwehren können, wie sie mich so angesehn haben.« Die Hände der Frau sanken von den Hüften herab. Einen Augenblick lang ruhten ihre Augen noch fragend auf Mutter, dann drehte sie sich um und ging schnell davon, ging in ihr Zelt und machte den Eingang hinter sich zu. Mutter blickte ihr nach, und dann ließ sie sich wieder neben dem Stapel von Blechtellern auf die Knie nieder. Al kam herbeigeeilt. »Tom!« rief er. »Mutter, ist Tom drin?« Tom streckte den Kopf heraus. »Was willst du?« »Komm mit«, sagte Al aufgeregt. Sie gingen miteinander davon. »Was ist denn los?« fragte Tom. »Du wirst’s schon merken. Warte nur.« Al führte Tom zu dem abmontierten Wagen. »Das ist Floyd Knowles«, sagte er. »Ja, ich habe schon mit ihm gesprochen. Bald fertig?« »Wir müssen nur noch den Block draufschrauben.« Tom fuhr mit dem Finger über den Zylinderblock. »Also, was ist los, Al?« »Floyd hat mir grade was gesagt. Erzähl’s ihm, Floyd.« Floyd sagte: »Vielleicht ist’s Unsinn, daß ich’s mache, aber … ja, ich will’s dir sagen. Neulich ist einer hier durchgekommen und hat gesagt, weiter oben im Norden gibt’s Arbeit.« »Weiter oben im Norden?« 462
»Ja – Santa Clara Valley heißt’s. Ziemlich weit oben im Norden.« »So? Und was für Arbeit?« »Pflaumen pflücken und Birnen und Konservenarbeit. Der Mann hat gesagt, sie sind bald soweit.« »Und wieviele Meilen sind’s bis dahin?« fragte Tom. »Keine Ahnung. Vielleicht zweihundert.« »Das ist verdammt weit«, sagte Tom. »Und woher wissen wir, daß es dann auch Arbeit gibt, wenn wir kommen?« »Natürlich wissen wir das nicht«, sagte Floyd. »Aber hier ist ja nichts zu machen, und der Mann sagt, er hat ’nen Brief von seinem Bruder, und der ist schon unterwegs. Er sagt, ich soll’s niemand erzählen, weil sonst zu viele kommen. Wir müssen nachts hier weg. Und wenn wir hinkommen, werden wir schon sehn.« Tom sah ihn forschend an. »Warum müssen wir uns hier so wegschleichen?« »Mensch, wenn alle hinkommen, dann gibt’s für keinen Arbeit.« »Ist aber doch verdammt weit«, sagte Tom. Floyd schien verletzt. »Ich habe euch ja auch nur den Tip gegeben. Ihr braucht’s nicht zu machen. Dein Bruder hat mir geholfen, und ich gebe euch den Tip.« »Bist du sicher, daß es hier keine Arbeit gibt?« »Hör zu, ich bin drei Wochen wie ein Irrer rumgefahren. Und nicht ein Stückchen Arbeit. Nichts. Wenn du selber suchen willst und dabei Benzin verpulvern – bitte schön. Mir ist’s nur recht, wenn ihr nicht fahrt. Je mehr kommen, desto weniger Chancen habe ich.« 463
Tom sagte: »Ich sage ja gar nichts dagegen. Es ist nur so verdammt weit. Und wir haben gehofft, wir könnten hier arbeiten und uns ’n Haus mieten.« Floyd sagte geduldig: »Ich weiß, ihr seid grade gekommen. Ihr müßt noch lernen. Wenn ihr euch was von mir sagen lassen wollt, dann kann ich euch ’n paar schlimme Sachen ersparen. Und wenn ihr’s euch nicht von mir sagen lassen wollt, dann müßt ihr’s eben selber erfahren. Ihr könnt nicht hierbleiben, weil’s keine Arbeit gibt zum Hierbleiben und weil euer Magen euch nicht in Ruhe läßt. Also – das ist klar.« »Ich wollte doch, ich könnte mich erst mal umsehn«, sagte Tom unentschlossen. Eine Limousine kam durch das Camp gefahren und hielt vor dem Nebenzelt an. Ein Mann in Overall und blauem Hemd stieg aus. Floyd rief ihm zu: »Glück gehabt?« »Es gibt nicht ’ne Handvoll Arbeit in dem ganzen gottverfluchten Land. Erst bei der Baumwollernte.« Und er trat in das zerlumpte Zelt. »Siehst du?« sagte Floyd. »Jaja. Aber zweihundert Meilen, Menschenskind!« »Du kannst aber doch nirgends bleiben, wo’s keine Arbeit gibt. Also überleg dir’s lieber jetzt.« »Das beste ist, glaube ich, wir fahren«, sagte Al. Tom fragte: »Wann fängt’s denn hier an mit der Arbeit?« »Na, in ’nem Monat, bei der Baumwollernte. Und wenn du viel Geld hast, kannst du auf die Baumwollernte warten.« Tom sagte: »Mutter wird nicht wollen. Sie ist ganz erschöpft von der Fahrerei.« 464
Floyd zuckte die Achseln. »Ich will euch nicht drängen. Macht, was ihr wollt. Ich habe euch nur gesagt, was ich gehört habe.« Er nahm die ölige Dichtung vom Trittbrett, paßte sie sorgfältig auf den Block und drückte sie fest. »Wenn du mir jetzt helfen würdest mit dem Block«, sagte er zu Al. Tom sah zu, wie die beiden den schweren Block langsam und gleichmäßig auf die Schrauben des Unterteils setzten. »Wir müssen drüber sprechen«, sagte er. Floyd sagte: »Es darf aber keiner außer euch was davon erfahren. Nur ihr. Und ich hätt’ es euch auch nicht gesagt, wenn der hier mir nicht geholfen hätte.« »Ja, ich danke dir jedenfalls, daß du’s uns gesagt hast«, sagte Tom. »Wir müssen’s uns überlegen. Vielleicht fahren wir auch.« »Ich glaube, ich fahre«, sagte Al, »ob die andern nun fahren oder nicht. Und wenn ich Autos stoppen muß, um hinzukommen.« »Einfach die andern alleine lassen?« fragte Tom. »Sicher. Und dann komme ich zurück mit den Hosentaschen voll Moneten. Warum nicht?« »Weil Mutter das bestimmt nicht will«, sagte Tom. »Und Vater auch nicht.« Floyd setzte die Muttern auf und schraubte sie so weit fest, wie er es mit den Fingern konnte. »Ich und meine Frau, wir sind ohne Familie hierhergekommen«, sagte er. »Zu Hause hätten wir nie dran gedacht, von ihnen wegzugehn. Das wär’ uns gar nicht eingefallen. Aber das ist anders geworden. Wir waren alle weiter oben im Norden, und wir sind dann hier runtergekommen, und 465
sie sind weitergefahren. Weiß Gott, wo sie jetzt stecken. Wir haben die ganze Zeit nach ihnen gefragt.« Er setzte seinen Schraubenschlüssel an die Muttern und drehte sie gleichmäßig fest, indem er rundherum jeder einzeln eine Drehung gab. Tom hockte sich neben den Wagen auf die Erde und blinzelte hinüber zu den Zelten. Das bißchen Stoppelgras zwischen den Zelten war zu Boden getreten. »Nein, nein«, sagte er, »Mutter wird nicht gerne wollen, daß du fortgehst.« »Ich glaube, einer alleine hat mehr Aussichten, was zu finden.« »Vielleicht, aber Mutter wird’s nicht wollen.« Zwei mit Männern besetzte Wagen fuhren von der Straße herunter ins Camp. Floyd hob die Augen, aber er fragte sie nicht, ob sie Glück gehabt hätten. Ihre staubigen Gesichter waren mürrisch und verschlossen. Die Sonne sank jetzt, und das gelbe Licht fiel auf Hooverville und die Weiden am Fluß. Die Kinder kamen aus den Zelten und liefen im Camp umher. Und die Frauen kamen heraus und schichteten ihre kleinen Feuer auf. Die Männer hockten sich in Gruppen auf die Erde und sprachen miteinander. Eine neue Chevrolet-Limousine bog von der Straße ab und kam in das Camp heruntergefahren. In der Mitte des Camps hielt der Wagen an. Tom fragte: »Wer ist denn das? Die gehören doch nicht hierher?« Floyd sagte: »Ich weiß nicht – vielleicht Bullen.« Die Wagentür wurde geöffnet, ein Mann stieg aus und stellte sich neben den Wagen. Sein Begleiter blieb sitzen. 466
Jetzt blickten alle am Boden hockenden Männer zu den Neuankömmlingen auf, und die Gespräche verstummten. Und die Frauen an ihren Feuern betrachteten heimlich den glänzenden Wagen. Die Kinder schlichen sich auf geschickten Umwegen in großen Bogen heran. Floyd legte seinen Schraubenschlüssel hin. Tom stand auf. Al wischte sich die Hände an den Hosen ab. Und alle drei gingen langsam auf den Chevrolet zu. Der Mann, der ausgestiegen war, hatte Khakihosen und ein Flanellhemd an. Er trug einen Stetsonhut mit glatter Krempe. Ein Bündel von Papieren wurde durch einen kleinen Zaun von Füllfederhaltern und gelben Bleistiften in der Hemdtasche gehalten, und in seiner hinteren Hosentasche war ein Notizbuch mit Metalldeckeln zu sehen. Er ging auf eine Gruppe der am Boden hockenden Männer zu, und die Männer blickten auf, mißtrauisch und stumm. Sie beobachteten ihn und rührten sich nicht. Unter den Pupillen wurde das Weiße ihrer Augen sichtbar, denn sie hoben die Köpfe nicht, als sie ihn ansahen. Tom und Al und Floyd kamen scheinbar uninteressiert näher. Der Mann fragte: »Wollt ihr Arbeit?« Noch immer sahen sie ihn stumm und mißtrauisch an. Und aus dem ganzen Camp kamen jetzt die Männer heran. Einer der am Boden Hockenden sprach schließlich. »Natürlich wollen wir Arbeit. Wo gibt’s denn welche?« »Tulare County. Da wird jetzt das Obst reif. Wir brauchen ’ne Menge Pflücker.« Floyd fragte: »Vergeben Sie denn die Arbeit?« »Ja, ich habe das Land unter Vertrag.« 467
Die Männer hatten jetzt eine große Gruppe gebildet. Ein Mann im Overall nahm seinen schwarzen Hut ab und fuhr sich mit den Fingern durch das lange schwarze Haar. »Was zahlen Sie denn?« fragte er. »Kann ich noch nicht genau sagen. Wahrscheinlich dreißig Cents.« »Warum können Sie’s nicht sagen? Sie haben doch schon Vertrag gemacht, oder?« »Das ist richtig«, sagte der Mann in Khakihosen. »Aber es hängt noch vom Preis ab. Vielleicht ’n bißchen mehr, vielleicht ’n bißchen weniger.« Floyd trat vor. Er sagte ruhig: »Ich komme arbeiten, Mister. Sie sind Kontraktor, und Sie haben ’ne Lizenz. Sie brauchen uns nur Ihre Lizenz zu zeigen und uns zur Arbeit zu bestellen und zu sagen, wann und wo und wieviel wir kriegen, und das Ganze zu unterschreiben – dann kommen wir.« Der Kontraktor drehte sich mit finsterem Gesicht um. »Wollen Sie mir sagen, wie ich mein Geschäft anpacken soll?« »Wenn wir für Sie arbeiten, ist’s auch unser Geschäft.« »Sie brauchen mir nicht zu sagen, was ich machen soll. Ich bin hierher gekommen, weil ich Leute brauche.« Floyd sagte wütend: »Sie haben aber nicht gesagt, wieviel Leute, und Sie haben auch nicht gesagt, was Sie zahlen.« »Zum Donnerwetter, ich weiß es noch nicht.« »Wenn Sie’s noch nicht wissen, haben Sie auch kein Recht, sich Leute zu holen.« 468
»Ich habe das Recht, es so zu machen, wie ich will. Wenn ihr hier auf euren Hintern sitzen wollt – bitte schön. Ich brauche Leute zum Pflücken, ’ne Menge Leute.« Floyd wandte sich an die übrigen Männer. Sie waren jetzt aufgestanden und blickten mit unbeweglichen Gesichtern vom einen der Sprechenden zum anderen. Floyd sagte: »Zweimal bin ich auf so was reingefallen. Er braucht vielleicht tausend Leute. Aber fünftausend kommen hin, und dann zahlt er fünfzehn Cents die Stunde. Und ihr armen Schweine müßt’s annehmen, weil ihr Hunger habt. Wenn er Leute braucht, soll er uns schriftlich geben, was er zahlt. Sagt ihm, ihr wollt seine Lizenz sehen. Ohne Lizenz darf er keine Leute annehmen.« Der Kontraktor drehte sich herum zu dem Chevrolet und rief: »Joe!« Sein Begleiter blickte heraus, dann riß er die Wagentür auf und sprang heraus. Er trug Reithosen und Schnürstiefel. Eine schwere Pistolentasche hing ihm am Patronengürtel. An seinem braunen Hemd war der Polizeistern befestigt. Er kam mit schweren Schritten zu der Gruppe herüber. Ein dünnes Lächeln stand auf seinem Gesicht. »Was ist los?« Die Pistolentasche hüpfte beim Gehen auf und ab. »Kennst du den Kerl hier, Joe?« »Welchen?« fragte der Polizist. »Den hier.« Der Kontraktor deutete auf Floyd. »Was hat er denn gemacht?« Der Polizist lächelte Floyd an. 469
»Scheint ’n Roter zu sein. Wiegelt die Leute auf.« »Hm-m-m.« Der Polizist ging langsam um Floyd herum, betrachtete sein Profil, und Floyd stieg das Blut in den Kopf. »Da seht ihr’s!« rief Floyd. »Wenn der Bursche es ernst meint, weshalb bringt er dann ’n Bullen mit?« »Na, kennst du ihn?« beharrte der Kontraktor. »Hmm, scheint mir beinahe so. Letzte Woche, wie sie in den Autohof eingebrochen sind. Kommt mir vor, wie wenn ich den Kerl da gesehn hätte. Jawohl! Ich möchte schwören, er ist derselbe.« Plötzlich wich das Lächeln von seinem Gesicht. »Steig da in den Wagen«, sagte er und hakte den Riemen ab, mit dem der Kolben seines automatischen Revolvers am Gürtel befestigt war. Tom sagte: »Sie können ihm doch gar nichts nachweisen.« Der Polizist fuhr herum. »Wenn du auch mitkommen willst, brauchst du nur dein Maul noch einmal aufzumachen. Es waren nämlich zwei Leute, wo ich da bei dem Autohof gesehn habe.« »Ich war vorige Woche noch gar nicht hier«, sagte Tom. »Na, dann suchen sie dich vielleicht woanders. Ich rate dir, halt die Schnauze.« Der Kontraktor wandte sich wieder den Männern zu. »Ihr dürft nicht auf diese verdammten Roten hören. Die stiften nur Unruhe – und dann sitzt ihr alle drin. Also, wie gesagt, ich kann euch zum Obstpflücken brauchen.« Die Männer antworteten nicht. 470
Jetzt drehte der Polizist sich zu ihnen herum. »Ist vielleicht gar nicht so schlecht, wenn ihr geht«, sagte er. Das dünne Lächeln war wieder auf seinem Gesicht erschienen. »Das Gesundheitsamt hat angeordnet, wir sollen das Camp hier säubern. Und wenn sich’s rumspricht, daß ihr Rote hier habt – na, dann passiert womöglich was. Ist vielleicht gar nicht so schlecht, wenn ihr alle nach Tulare geht. Hier ist ja doch nichts zu tun. Ich sag’ es euch im Guten. Wir schicken Leute hier runter, vielleicht mit Spitzhacken, wenn ihr nicht fort seid.« Der Kontraktor sagte: »Ich habe euch gesagt, ich brauche Leute. Wenn ihr nicht arbeiten wollt, das ist eure Sache.« Der Polizist lächelte. »Wenn sie nicht arbeiten wollen, dann haben wir hier auch keinen Platz für sie. Dann schmeißen wir sie eben raus.« Floyd stand steif neben dem Polizisten und hatte die Daumen über den Gürtel gehakt. Tom warf ihm einen Blick zu und sah dann zu Boden. »Das ist alles«, sagte der Kontraktor. »In Tulare werden Leute gebraucht. Es gibt viel Arbeit.« Tom blickte langsam auf zu Floyds Händen und sah, wie an den Handgelenken die Sehnen hervortraten. Jetzt hob auch er die Hände und hakte seine Daumen über den Gürtel. »Ja, das ist alles. Und morgen früh will ich keinen von euch mehr hier sehn.« Der Kontraktor stieg in den Wagen. Der Polizist wandte sich Floyd zu. »Los, steig ein.« Er streckte seine große Hand aus und ergriff Floyds linken 471
Arm. Floyd fuhr mit einer Bewegung herum. Seine Faust schoß in das Gesicht des Polizisten, und im selben Augenblick lief er auch schon davon, um die Zelte herum zu den Weiden. Der Polizist taumelte, und Tom stellte ihm ein Bein. Der Polizist fiel schwer zu Boden, rollte ein Stück und griff nach seinem Revolver. Floyd tauchte hier und dort zwischen den Zelten auf. Der Polizist feuerte seinen Revolver vom Boden aus ab. Vor einem Zelt schrie eine Frau auf und blickte hinunter auf ihre Hand, die keine Knöchel mehr hatte. Die Finger hingen nur noch an Sehnen, und das zerfetzte Fleisch war weiß und blutlos. Weit hinten kam Floyd wieder in Sicht und lief auf die Weiden zu. Der Polizist, der noch immer auf der Erde war, hob seinen Revolver noch einmal, und plötzlich sprang aus der Gruppe von Männern der Reverend Casy hervor. Er versetzte dem Polizisten einen Tritt ins Genick, und der schwere Mann sank bewußtlos um. Der Motor des Chevrolet heulte auf, und der Wagen jagte in einer Staubwolke hinauf zur Straße und schoß davon. Die Frau vor dem Zelt betrachtete noch immer ihre zerfetzte Hand. Kleine Blutstropfen drangen jetzt aus der Wunde. Und ein hysterisches Lachen stieg in ihrer Kehle auf, ein heulendes Lachen, das mit jedem Atemzug lauter wurde. Der Polizist lag auf der Seite, den Mund offen im Staub. Tom nahm den Revolver auf, zog das Magazin heraus und warf es ins Gebüsch und stieß die Patrone aus dem Lager. »So ein Kerl dürfte gar keinen Revolver tragen«, sagte er und ließ das Ding wieder auf die Erde fallen. 472
Um die Frau mit der zerschossenen Hand hatte sich jetzt eine Gruppe versammelt, und ihr hysterisches Lachen wurde zu einem Schreien. Casy trat dicht an Tom heran. »Du mußt hier fort«, sagte er. »Geh runter zu den Weiden und warte. Er hat nicht gesehen, wie ich ihn getreten habe, aber er hat gesehn, daß du ihm ein Bein gestellt hast.« »Ich will aber nicht«, sagte Tom. Casy kam mit seinem Kopf dicht heran. Er flüsterte: »Paß auf, die nehmen deine Fingerabdrücke. Du bist doch auf Bewährungsfrist. Sie schicken dich glatt zurück.« Tom seufzte auf. »Großer Gott! Das habe ich ganz vergessen.« »Mach schnell«, sagte Casy. »Eh’ er wieder zu sich kommt.« »Den Revolver würde ich gerne mitnehmen«, sagte Tom. »Nein. Laß ihn liegen. Wenn du zurückkommen kannst, pfeife ich viermal.« Tom schlenderte so unverdächtig wie möglich davon, aber sowie er durch die Gruppe hindurch war, beschleunigte er seine Schritte und verschwand zwischen den Weiden am Fluß. Al trat über den am Boden liegenden Polizisten hinweg. »Mensch«, sagte er bewundernd, »dem hast du’s aber gegeben!« Die Herumstehenden hatten unentwegt auf den bewußtlosen Mann gestarrt. Und jetzt heulte in der Ferne eine Sirene auf und verstummte und heulte abermals auf, diesmal schon näher. Sofort wurden die Leute un473
ruhig. Sie traten von einem Fuß auf den anderen, und dann gingen sie fort, jeder zu seinem Zelt. Nur Al und der Prediger blieben. Casy wandte sich an Al. »Hau ab«, sagte er. »Hau ab! Lauf ins Zelt. Du weißt von nichts.« »Soo? Und was ist mit dir?« Casy grinste ihn an. »Jemand muß es doch gewesen sein. Und ich habe keine Kinder. Sie werden mich einfach ins Kittchen stecken. Hier habe ich auch bloß rumgesessen.« »Sie haben aber gar keinen Grund …« »Hau ab!« sagte Casy scharf. »Sie brauchen dich hier nicht zu sehn.« Al sträubte sich. »Ich lasse mir nicht befehlen.« Casy sagte leise: »Wenn du dich hier reinmischst, sitzt deine ganze Familie drin. Bei dir wär’ mir’s egal. Aber dann machen sie deiner Mutter und deinem Vater auch Geschichten. Und vielleicht schicken sie Tom nach McAlester zurück.« Al überlegte einen Augenblick. »Okay. Trotzdem ist es blöd von dir.« »Natürlich«, sagte Casy. »Warum soll ich nicht mal blöd sein?« Wieder und immer wieder heulte die Sirene, und jedesmal kam sie näher. Casy kniete sich neben den Polizisten und drehte ihn herum. Der Mann stöhnte und versuchte, die Augen zu öffnen. Casy wischte ihm den Staub vom Mund. Die Familien waren jetzt alle in ihren Zelten, die Eingänge wurden geschlossen, und die untergehende Sonne färbte die Luft rot und die Zelte bronzen. 474
Reifen kreischten oben auf der Straße, und ein offener Wagen kam schnell und geräuschlos in das Camp heruntergefahren. Vier Männer mit Gewehren kletterten heraus. Casy stand auf und ging ihnen entgegen. »Also – was ist denn hier los?« Casy sagte: »Ich habe Ihren Mann hier niedergeschlagen.« Einer der bewaffneten Leute ging zu dem Polizisten. Er war jetzt wieder bei Bewußtsein und versuchte schwach, sich aufzusetzen. »Also – was ist hier passiert?« »Ich bin auf ihn losgegangen«, sagte Casy, »weil er gemein geworden ist. Und dann hat er geschossen und da unten ’ne Frau verletzt. Da habe ich ihm noch mal eins gegeben.« »Und wie hat’s zuerst angefangen?« »Ich habe ihm widersprochen«, sagte Casy. »Los – in den Wagen.« »Aber gewiß«, sagte Casy, kletterte in den Wagen und setzte sich. Zwei Männer halfen dem niedergeschlagenen Polizisten auf die Beine. Er befühlte vorsichtig sein Genick. Casy sagte: »Die Frau da unten wird sich verbluten.« »Wir werden uns schon um sie kümmern. Mike, ist das der Kerl, wo dich niedergeschlagen hat?« Der taumelnde Mann blickte mit verzogenem Gesicht zu Casy hinüber. »Sieht nicht so aus.« »Ich war’s aber«, sagte Casy. »Sie sind an den Falschen geraten. Mit mir können Sie das nicht machen.« 475
Mike schüttelte langsam den Kopf. »Sieht nicht so aus, wie wenn er’s wäre. Gott, ist mir schlecht!« Casy sagte: »Ich mache euch keine Geschichten, ich komme mit. Jetzt kümmert euch lieber mal um die Frau.« »Wo ist sie denn?« »In dem Zelt da drüben.« Einer der Polizisten ging mit dem Gewehr in der Hand hinüber zu dem Zelt. Er rief durch die Zeltwände etwas hinein und trat dann ein. Einen Augenblick später kam er wieder zurück. Und er sagte, ein wenig stolz: »Großer Gott, was so eine Fünfundvierziger doch anrichten kann! Sie haben’s schon abgebunden. Wir schikken ’nen Arzt raus.« Neben Casy nahm je ein Polizist Platz. Die Sirene heulte auf. Im Camp rührte sich nichts. Die Leute blieben in ihren Zelten, und die Zelte blieben geschlossen. Der Motor wurde gestartet, der Wagen beschrieb einen Bogen und fuhr hinauf zur Straße. Casy saß stolz zwischen seinen beiden Wachen, er hielt den Kopf hoch, und seine strähnigen Muskeln am Hals standen hervor. Auf seinen Lippen lag ein schwaches Lächeln, und sein Gesicht trug einen seltsamen Siegerblick. Als die Polizisten verschwunden waren, kamen die Leute aus ihren Zelten. Die Sonne war jetzt untergegangen, und das sanfte blaue Abendlicht lag über dem Camp. Im Osten waren die Berge noch gelb von der Sonne. Die Frauen gingen zu ihren heruntergebrannten Feuern zurück, und die Männer versammelten sich, hockten sich auf den Boden und sprachen leise miteinander. Al kroch unter der Zeltplane hervor, ging auf die 476
Weidenbüsche zu und pfiff nach Tom. Mutter kam heraus und baute ein kleines Feuer aus Zweigen. »Viel gibt’s nicht, Vater«, sagte sie. »Wir haben so spät gegessen.« Vater und Onkel John blieben beim Zelt und sahen zu, wie Mutter Kartoffeln schälte, sie zerschnitt und sie roh in eine Bratpfanne ins Fett warf. Vater sagte: »Warum hat nun der Prediger das gemacht?« Ruthie und Winfield schlichen sich heran, um das Gespräch zu hören. Onkel John kratzte mit einem langen rostigen Nagel in der Erde. »Er war gescheit. Er hat was über Sünden gewußt. Ich habe ihn mal gefragt, und er hat mir da was gesagt, aber ich weiß nicht, ob’s richtig ist. Er hat gesagt, daß einer nur gesündigt hat, wenn er glaubt, er hat gesündigt.« Onkel Johns Augen waren müde und trostlos. »Ich bin mein Leben lang ’n Heimlicher gewesen«, sagte er. »Ich habe Sachen gemacht, wo ich nie drüber geredet habe.« Mutter wandte sich vom Feuer ab. »Erzähl uns nichts, John«, sagte sie. »Erzähl’s dem lieben Gott. Plag nicht andre Leute mit deinen Sünden. Das geht nicht.« »Aber sie fressen mich kaputt«, sagte John. »Trotzdem – erzähl sie uns nicht. Geh runter zum Fluß und tauch deinen Kopf unter und erzähl sie dem Wasser.« Vater nickte langsam bei Mutters Worten. »Sie hat recht«, sagte er. »Das Reden erleichtert einen, aber die Sünde verbreitet sich nur damit.« Onkel John blickte hinauf zu den sonnenvergoldeten 477
Bergen, und die Berge spiegelten sich in seinen Augen. »Ich wollte, ich könnt’ es loswerden«, sagte er. »Aber ich kann’s nicht. Es zerreißt mir die Gedärme.« Hinter ihm kam Rose von Sharon taumelnd aus dem Zelt. »Wo ist denn Connie?« fragte sie gereizt. »Ich habe ihn schon lange nicht gesehn. Wo ist er denn?« »Ich weiß nicht«, sagte Mutter. »Aber wenn ich ihn sehe, sage ich ihm, daß er zu dir kommen soll.« »Ich fühle mich gar nicht gut«, sagte Rose von Sharon. »Connie hätte mich nicht alleine lassen dürfen.« Mutter blickte auf in das verschwollene Gesicht des Mädchens. »Du hast ja geheult«, sagte sie. Von neuem stiegen Rose von Sharon die Tränen in die Augen. Mutter fuhr in bestimmtem Ton fort: »Du mußt dich zusammennehmen. Wir sind doch alle da. Nimm dich ein bißchen zusammen. Komm her und schäl ein paar Kartoffeln. Dann ist dir gleich nicht mehr so traurig.« Das Mädchen wollte wieder ins Zelt zurückgehen. Sie bemühte sich, Mutters strengen Blicken auszuweichen, aber die Blicke zwangen sie, und sie kam auf das Feuer zu. »Er hätte nicht weggehn dürfen«, sagte sie, aber ihre Tränen waren versiegt. »Du mußt was arbeiten«, sagte Mutter. »Wenn du da im Zelt sitzt, tust du dir nur ewig leid. Ich habe noch nicht die Zeit gehabt, dich richtig in die Hand zu nehmen. Aber von nun an mache ich’s. Hier, nimm das Messer und mach dich an die Kartoffeln.« Das Mädchen kniete sich hin und gehorchte. Sie sagte wild: »Warte nur, wenn er kommt. Dann sage ich’s ihm aber!« 478
Mutter lächelte. »Vielleicht haut er dich. Du bist selber schuld, wenn du ewig herumheulst und dir leid tust. Wenn er dir mit Haue ’n bißchen Vernunft beibringt, soll’s mir nur recht sein.« In den Augen des Mädchens leuchtete es unwillig auf, aber sie schwieg. Onkel John trieb seinen rostigen Nagel mit seinem breiten Daumen tief in die Erde. »Ich muß es erzählen«, sagte er. Vater sagte: »Na, dann erzähl’s doch endlich – verdammt noch mal! Wen hast du denn umgebracht?« Onkel John fuhr mit dem Daumen in die Uhrtasche seiner blauen Hose und holte einen zusammengefalteten dreckigen Geldschein heraus. Er faltete ihn auseinander und zeigte ihn. »Fünf Dollars«, sagte er. »Gestohlen?« fragte Vater. »Nein, ich habe sie gehabt. Und ich habe sie für mich behalten.« »Na ja, es ist doch dein Geld.« »Ich habe aber kein Recht gehabt, es für mich zu behalten.« »Da kann ich nicht viel Sünde drin sehen«, sagte Mutter. »Es ist doch deins.« Onkel John sagte langsam: »Es ist ja auch nur, daß ich’s für mich behalten habe. Ich hab’ es behalten, um mich zu besaufen. Ich habe gewußt, irgendwann mal muß ich mich besaufen. Wenn mir innendrin was weh tut, muß ich mich besaufen. Ich habe mir gerade gedacht, es ist noch nicht soweit, und dann … dann hat der Prediger sich der Polizei gestellt, damit sie Tom nicht einsperren.« 479
Vater nickte langsam. Ruthie kam näher, kam wie ein Hündchen auf allen Vieren herangekrochen, und Winfield folgte ihr. Rose von Sharon stach ein tiefes Auge aus einer Kartoffel heraus. Der Abend dunkelte, und das Licht wurde blauer und blasser. Mutter sagte in scharfem nüchternem Ton: »Ich verstehe nur nicht, weshalb du dich besaufen mußt, wenn der Prediger sich für unsern Tom der Polizei stellt.« John sagte trübselig: »Ich kann’s auch nicht erklären. Aber ich fühle mich ganz schrecklich. Er hat das so gemacht, wie wenn’s gar nicht wäre. Einfach gesagt: ›Ich war’s.‹ Und dann haben sie ihn mitgenommen. Und jetzt muß ich mich besaufen.« Vater nickte noch immer. »Ich verstehe nicht, warum du uns das erzählen mußt«, sagte er. »Ich an deiner Stelle würde einfach gehn und mich besaufen, wenn ich’s müßte.« »Jetzt hätt’ ich mal wirklich was Großes machen können und wäre die alte Sünde losgeworden«, sagte Onkel John trübe. »Und ich habe mich drum gedrückt. Ich bin nicht gleich gesprungen – und schon war’s zu spät. Hör zu!« sagte er. »Du hast doch das Geld. Gib mir zwei Dollars.« Vater griff widerstrebend in seine Tasche und zog den Lederbeutel hervor. »Du brauchst doch keine sieben Dollars, um dich zu besaufen. Oder willst du Schampanjerwasser trinken?« Onkel John hielt ihm seinen Geldschein hin. »Du nimmst das hier und gibst mir zwei Dollars. Ich kann mich für zwei Dollars wunderschön besaufen. Und ich 480
gebe alles aus, was ich habe. Das habe ich immer so gemacht.« Vater nahm den schmutzigen Geldschein und gab Onkel John zwei Silberdollars. »Da hast du’s«, sagte er. »Jeder muß machen, was er machen muß. Keiner ist gescheit genug, daß er ihm was andres sagen kann.« Onkel John nahm die Münzen. »Und du bist nicht wütend, nein? Du weißt, daß ich muß, nicht wahr?« »Herrgott, ja«, sagte Vater. »Du weißt selber am besten, was du machen mußt.« »Ich weiß nicht, wie ich die Nacht sonst hinter mich bringen soll«, sagte er. Er wandte sich an Mutter: »Hältst du’s mir dann auch nicht vor?« Mutter blickte nicht auf. »Nein«, sagte sie leise. »Nein – nun geh nur.« Er stand auf und ging betrübt in den Abend hinein. Er ging hinauf zur großen Straße und über die Straße zum Kramladen. Vor der Schwingtür des Ladens nahm er seinen Hut ab, warf ihn in den Staub und trampelte in vollendeter Selbsterniedrigung mit den Hacken darauf. Und er ließ den schwarzen Hut schmutzig und zerbeult dort liegen. Er betrat den Laden und ging zu den Regalen, auf denen hinter Drahtnetzen die Whiskyflaschen standen. Vater und Mutter und die Kinder sahen Onkel John davongehen. Rose von Sharon schälte verdrossen ihre Kartoffeln und hob den Blick nicht von der Arbeit. »Armer John«, sagte Mutter. »Ich möchte wissen, ob es was genützt hätte, wenn … Nein, wahrscheinlich nicht. Ich habe noch nie einen Mann gesehn, der sich so treiben läßt.« 481
Ruthie rollte sich im Staub auf die Seite. Sie legte ihren Kopf dicht an Winfields Kopf und zog sein Ohr an ihren Mund. Sie flüsterte: »Ich muß mich besaufen.« Winfield prustete und kniff den Mund zu. Die beiden Kinder krochen davon und hielten den Atem an, und ihre Gesichter waren rot vom zurückgehaltenen Lachen. Sie krochen um das Zelt herum, sprangen auf und rannten schreiend vom Zelt weg. Sie rannten zu den Weiden, und da sie hier verborgen waren, stimmten sie ein unbändiges Gelächter an. Ruthie begann zu schielen, taumelte herum mit schlenkernden Gliedern und ließ die Zunge aus dem Mund hängen. »Ich bin besoffen«, sagte sie. »Nein«, rief Winfield. »Hier, ich …! Ich bin Onkel John.« Er schlug mit den Armen und wirbelte herum, bis er schwindlig war. »Du kannst es nicht«, sagte Ruthie. »Paß auf – so. Hier – so. Ich bin Onkel John. Ich bin furchtbar besoffen.« Al und Tom kamen zwischen den Weiden hervor und sahen die Kinder, die wie die Wahnsinnigen herumtaumelten. Es war jetzt schon ziemlich dunkel. Tom blieb stehen und blinzelte. »Sind das nicht Ruthie und Winfield? Was ist denn mit denen los?« Sie gingen näher heran. »Seid ihr denn verrückt?« fragte Tom. Verlegen hielten die Kinder inne. »Wir haben nur … nur gespielt«, sagte Ruthie. »Verrücktes Spiel«, sagte Al. Schnippisch erwiderte Ruthie: »Auch nicht verrückter wie viele andere Sachen.« 482
Al ging weiter. Er sagte zu Tom: »Ruthie verdient schon lange mal ’ne Tracht Prügel. Das ist bald fällig.« Ruthie zog ihm hinter dem Rücken ein Gesicht, sie zerrte sich den Mund mit den Zeigefingern breit, streckte ihm die Zunge heraus und schnitt ihm alle erdenklichen Fratzen, aber Al drehte sich nicht mehr um. So wandte sie sich wieder Winfield zu, um das Spiel von neuem anzufangen, aber es war ihnen verdorben worden. Das wußten sie beide. »Komm, gehen wir zum Wasser – Köpfe untertauchen«, schlug Winfield vor. Sie liefen durch die Weidenbüsche zum Fluß und waren wütend auf Al. Al und Tom gingen langsam zum Zelt. Tom sagte: »Casy hätte das nicht machen sollen. Aber ich hätt’ es mir denken können. Er hat schon davon geredet, daß er gar nichts für uns machen kann. Er ist ein komischer Kerl, Al. Denkt die ganze Zeit nach.« »Das kommt davon, wenn man Prediger ist«, sagte Al. »Die haben ihre Köpfe immer voll von allem möglichen Zeug.« »Was meinst du denn, wohin Connie gegangen ist?« »Weg.« »Ja, aber verdammt weit, scheint’s.« Sie kamen zu den Zelten und hielten sich dicht an die Zeltwände. Bei dem Floydschen Zelt wurden sie leise angerufen. Sie traten näher zum Eingang heran und hockten sich hin. Floyd hob das Segeltuch ein wenig. »Haut ihr ab?« Tom sagte: »Ich weiß nicht. Glaubst du, wir müssen?« 483
Floyd lachte bitter: »Du hast ja gehört, was der Bulle gesagt hat. Die brennen das ganze Lager an, und dann müßt ihr sowieso fort. Außerdem – wenn du meinst, der Kerl läßt sich von dir ’n Bein stellen, ohne dir Schweinereien zu machen, dann bist du verrückt. Und die Jungens kommen heute abend und brennen den ganzen Zimt an.« »Ja, dann hauen wir wohl lieber ab«, sagte Tom. »Und wo fährst du hin?« »’n Stück weiter nach Norden, wie gesagt.« Al sagte: »Hör mal, mir hat da jemand was von ’nem staatlichen Camp hier in der Nähe gesagt. Wo ist denn das?« »Ach, ich glaube, das ist voll.« »Gut, aber wo ist es?« »Du fährst auf der Neunundneunzig an die zwölf bis vierzehn Meilen südlich und biegst dann nach Osten nach Weedpatch ab. Da ist’s dann irgendwo. Aber ich glaube, ’s ist voll.« »Der hat gesagt, es ist hübsch da«, fuhr Al fort. »Natürlich ist es hübsch. Wirst wie ’n Mensch behandelt und nicht wie ’n Hund, ’s gibt auch keine Bullen da. Aber es ist voll.« Tom sagte: »Ich verstehe nicht, warum der Bulle vorhin so gemein geworden ist. Es kommt mir so vor, als hätte er’s drauf abgesehn gehabt. Als wollte er einen nur piksen, bis man hochgeht.« Floyd sagte: »Wie’s hier ist, weiß ich nicht, aber im Norden, da habe ich einen gekannt, der hat mir’s erzählt. Er sagt, die Polizisten müssen sich Leute fürs Kittchen holen. Der Sheriff kriegt für jeden, wo im Kittchen 484
sitzt, fünfundsiebzig Cents pro Tag, und ihn selbst kostet er nicht mehr als ’n Vierteldollar. Wenn er keine Gefangenen hat, verdient er nichts dran. Und der da hat mir erzählt, er hat mal ’ne Woche lang keinen gebracht, und der Sheriff hat ihm gesagt, er soll lieber welche bringen, sonst fliegt er. Der Kerl von heute hat ja nun wirklich so ausgesehn, wie wenn er unbedingt welche fürs Kittchen braucht.« »Wir müssen weiter«, sagte Tom. »Wiedersehn, Floyd.« »Wiedersehn. Wahrscheinlich treffen wir uns. Ich hoff’s.« »Wiedersehn«, sagte Al. Sie gingen durch das dunkle Camp zu ihrem Zelt hinüber. In der Bratpfanne mit den Kartoffeln zischte und spritzte das Öl. Mutter rührte mit einem Löffel darin herum. Vater hockte auf den Knien daneben. Rose von Sharon saß unter der Plane. »Es ist Tom!« rief Mutter. »Gott sei Dank.« »Wir müssen hier fort«, sagte Tom. »Was ist denn nun wieder los?« »Floyd sagt, sie brennen heute nacht das Camp an.« »Warum denn, zum Teufel?« fragte Vater. »Wir haben doch nichts gemacht.« »Nee, nur ’n Bullen niedergeschlagen«, sagte Tom. »Das haben wir nie gemacht!« »Der Bulle sagt, sie wollen uns fortjagen.« Rose von Sharon fragte: »Hast du Connie gesehn?« »Ja«, sagte Al. »Oben am Fluß. Er geht nach Süden.« »Ist er … ist er denn fortgegangen?« »Ich weiß nicht.« 485
Mutter wandte sich an das Mädchen. »Rosasharn, du redest komisch und benimmst dich komisch. Was hat Connie dir denn gesagt?« Rose von Sharon sagte mürrisch: »Er meint, es wäre gut gewesen, wenn er doch zu Hause geblieben wäre und Traktoren studiert hätte.« Sie waren sehr still. Rose von Sharon blickte in das Feuer, und ihre Augen glänzten in seinem Schein. Die Kartoffeln zischten in der Bratpfanne. Das Mädchen schnüffelte und wischte sich mit dem Handrücken die Nase. Vater sagte: »Connie hat nichts getaugt. Ich habe das schon lange gemerkt. Innendrin hat er nichts getaugt. War zu groß für seinen Overall, der Herr.« Rose von Sharon stand auf und ging ins Zelt. Sie legte sich auf die Matratze, rollte sich auf den Bauch und vergrub ihren Kopf in den gekreuzten Armen. »Hat auch keinen Zweck, wahrscheinlich, ihn zurückzuholen«, sagte Al. Vater erwiderte: »Nein. Wenn er nichts taugt, wollen wir ihn auch nicht.« Mutter blickte hinein ins Zelt, wo Rose von Sharon auf der Matratze lag. »Schscht! Sag das doch nicht.« »Na, er hat doch nichts getaugt«, fuhr Vater beharrlich fort. »Immer nur gesagt, was er machen will. Und nie was gemacht. Ich wollte nichts sagen, wie er noch hier war. Aber jetzt, wo er fortgelaufen ist …« »Schscht!« machte Mutter abermals. »Warum denn, zum Teufel! Oder ist er etwa nicht fortgelaufen?« Mutter rührte die Kartoffeln um, und das Öl kochte 486
und zischte. Sie legte neue Zweige ins Feuer, und die Flammen züngelten auf und beleuchteten das Zelt. Mutter sagte: »Rosasharn kriegt doch was Kleines, und das Kleine ist zur Hälfte Connie. Es ist nicht gut für ein Kind, wenn’s bei Leuten aufwächst, die sagen, sein Vater hat nichts getaugt.« »Immer noch besser wie drumrum zu lügen«, sagte Vater. »Nein, eben nicht«, unterbrach ihn Mutter. »Wir wollen’s so halten, wie wenn er tot wäre. Du würdest ja auch nichts Schlechtes über Connie sagen, wenn er tot wäre.« »Was redet ihr eigentlich?« fiel Tom ein. »Wir wissen doch gar nicht, ob Connie für immer weg ist. Wir haben keine Zeit zum Reden. Wir müssen essen und dann los.« »Los? Wir sind doch grade gekommen.« Mutter sah ihn durch den Feuerschein hindurch an. Er erklärte nochmals genau: »Sie wollen heute nacht das Camp abbrennen, Mutter. Du weißt, daß ich keiner bin, der dabeisteht und zuguckt, wie sie unser Zeug verbrennen – Vater auch nicht und Onkel John auch nicht. Wir würden losschlagen, und es geht einfach nicht, daß sie mich jetzt wieder einsperren. Heute wär’s schon beinahe mal soweit gewesen, wenn der Prediger nicht eingesprungen wäre.« Mutter hatte noch immer eifrig gerührt. Jetzt faßte sie ihren Entschluß. »Schnell!« rief sie. »Schnell das Zeug essen – und dann fahren wir.« Sie verteilte die Blechteller. »Und Onkel John?« fragte Vater. »Ja, wo ist denn Onkel John?« Tom hatte seine Abwesenheit erst jetzt bemerkt. 487
Vater und Mutter schwiegen einen Augenblick, und dann sagte Vater: »Er ist sich besaufen gegangen.« »Großer Gott!« sagte Tom. »’ne bessere Zeit hätte er sich wohl nicht aussuchen können. Wo ist er denn hingegangen?« »Ich weiß nicht«, sagte Vater. Tom stand auf. »Hört zu«, sagte er, »ihr eßt erst und ladet dann das Zeug auf. Ich gehe Onkel John suchen. Er wird in dem Laden über der Straße sein.« Tom ging eilig davon. Überall vor den Zelten und Baracken brannten kleine Feuer, und ihr Schein fiel auf die Gesichter der zerlumpten Männer und Frauen und auf die kauernden Kinder. Hier und da drang durch die Zeltwände das Licht einer Petroleumlampe und zeichnete die Schatten der Menschen unnatürlich groß auf die Zeltleinwand. Tom ging den staubigen Weg hinauf und über die Straße zu dem Kramladen. Vor der Schwingtür blieb er stehen und blickte hinein. Der Besitzer, ein kleiner grauer Mann mit unordentlichem Schnurrbart und wäßrigen Augen, lehnte am Ladentisch und las eine Zeitung. Seine dünnen Arme waren nackt, und er trug eine lange weiße Schürze. Um ihn und hinter ihm waren Berge und Pyramiden und Wälle von Konserven aufgebaut. Er blickte auf, als Tom eintrat, und kniff die Augen zusammen. »’n Abend«, sagte er. »Suchen Sie was?« »Ja, meinen Onkel«, sagte Tom. Der graue Mann machte ein überraschtes und zugleich besorgtes Gesicht. Er berührte sanft seine Nasenspitze 488
und rieb dann an ihr herum, denn sie schien ihn zu jucken: »Scheint so, daß ihr Leute dauernd jemanden verliert«, sagte er. »Zehnmal am Tag und mehr kommt jemand hier rein und sagt: ›Wenn Sie einen Mann mit Namen soundso sehn, der soundso aussieht, dann sagen Sie ihm, wir sind weiter nach Norden gefahren‹. So geht’s die ganze Zeit.« Tom lachte. »Mensch, wenn Sie ’ne junge Rotznase namens Connie sehn, der so ’n bißchen wie ’n Kojote aussieht, dann sagen Sie ihm, er soll sich zum Teufel scheren. Wir sind nach Süden gefahren. Aber den suche ich eigentlich gar nicht. Ist ein Mann von etwa sechzig Jahren, schwarze Hosen, graues Haar, hier gewesen und hat Whisky gekauft?« Die Augen des grauen Mannes leuchteten auf. »Ja, der war hier. So was habe ich noch nicht gesehn. Er hat erst hier vor der Tür gestanden, seinen Hut hingeschmissen und draufgetrampelt. Hier, ich habe seinen Hut hier.« Er zog den dreckigen zertrampelten Hut unter dem Ladentisch hervor. Tom nahm ihn ihm ab. »Jaja, das ist er.« »Also, er hat sich zwei kleine Whisky gekauft und nicht einen Ton gesagt. Er hat den Korken rausgezogen und die Flasche angesetzt. Nun habe ich hier keine Konzession fürs Trinken, und ich sage zu ihm: ›Hier können Sie nicht trinken. Aber draußen, wenn Sie wollen.‹ Was soll ich Ihnen sagen? Er geht vor die Tür, und ich wette, er hat die Flasche in vier Zügen leer getrunken. Er hat sie weggeschmissen und sich gegen die Tür gelehnt. Die 489
Augen schon ’n bißchen stumpf. ›Vielen Dank!‹ sagt er und geht. Ich habe noch nie in meinem Leben einen so trinken gesehn.« »Wohin ist er denn gegangen? Ich muß ihn zurückholen.« »Ja, zufällig kann ich Ihnen das auch sagen. Ich habe noch nie einen so trinken sehn, deshalb habe ich rausgeguckt, wie er gegangen ist. Er ist die Straße nördlich gegangen, und dann ist ein Wagen gekommen und hat ihn angeleuchtet, und da ist er zum Graben runtergegangen. Die Beine sind ihm schon ein bißchen eingeknickt. Die andre Flasche hat er schon offen gehabt. Er kann noch nicht weit sein – so, wie er gegangen ist.« Tom sagte: »Danke schön. Ich werde ihn schon finden.« »Wollen Sie den Hut mitnehmen?« »Ja, natürlich! Er wird ihn brauchen. Vielen Dank.« »Was ist denn mit ihm los?« fragte der graue Mann. »Das Trinken hat ihm doch gar keinen Spaß gemacht.« »Ach, er ist … er hat so seine Launen. Na, gute Nacht. Und wenn Sie den Lausejungen Connie sehen, sagen Sie ihm, wir sind nach Süden gefahren.« »Ich habe so viele Leute, denen ich was bestellen muß, daß ich sie gar nicht immer alle weiß.« »Strengen Sie sich nicht zu sehr an«, sagte Tom. Er ging mit Onkel Johns dreckigem schwarzem Hut aus der Schwingtür. Er überquerte die Straße und ging am Rande entlang weiter. Unter ihm, im tiefer liegenden Feld, lag Hooverville, und die kleinen Feuer flackerten, und die Lampen schienen durch die Zelte hindurch. 490
Irgendwo im Camp wurde Gitarre gespielt, langsam und ohne Takt. Tom blieb stehen und lauschte, dann ging er langsam weiter am Straßenrand entlang, und nach einer Weile blieb er wieder stehen und lauschte. Er war etwa eine Viertelmeile gegangen, als er das hörte, wonach er gelauscht hatte. Von der Böschung kam der Laut einer dicken, tonlos singenden Stimme. Tom streckte den Kopf vor, um besser hören zu können. Und die dumpfe Stimme sang: »Ich habe Jesus mein Herz geschenkt – nun, Jesus, nimm mich heim. Ich habe Jesus meine Seele geschenkt, drum ist Jesus jetzt mein Heim.« Das Singen wurde zu einem Murmeln und hörte dann überhaupt ganz auf. Tom lief von der Böschung hinunter, auf die singende Stimme zu. Nach einer Weile blieb er stehen und lauschte wieder. Die Stimme war diesmal ganz nahe, und dasselbe langsame tonlose Singen: »Oh, in der Nacht, wie Maggie starb, da hat sie mich gerufen, und dann hat sie mir gegeben ihre alten roten Hosen, ihre alten roten Hosen, und die waren an den Knien schon ganz abgestoßen …« Tom ging vorsichtig weiter. Er sah die schwarze Gestalt auf der Erde sitzen, schlich sich heran und setzte sich daneben. Onkel John hob die Flasche, und der Whisky gurgelte leise im Flaschenhals. Tom sagte ruhig: »He – laß mir auch noch was drin.« Onkel John wandte den Kopf. »Wer ist das?« »Hast du mich schon vergessen? Du hast vier Schlucke gehabt und ich erst einen.« »Nee, Tom. Mach keinen Quatsch. Ich bin hier ganz alleine. Du bist noch nicht dagewesen.« 491
»Ja, aber jetzt bin ich da. Wie wär’s, wenn du mir auch ’n Schluck geben würdest?« Onkel John hob die Flasche noch einmal, und der Whisky gurgelte. Dann schüttelte er sie. Sie war leer. »Nichts mehr«, sagte er. »Möchte sterben. Möchte furchtbar sterben. Kleines bißchen sterben. So müde. Jawohl, müde. Vielleicht … und dann wache ich vielleicht gar nicht mehr auf.« Seine Stimme summte weiter. »Eine Krone werde ich tragen – eine goldene Krone.« Tom sagte: »Jetzt hör mal zu, Onkel John. Wir müssen weiter. Du kommst jetzt schön mit mir, und dann kannst du gleich oben auf dem Wagen schlafen.« John schüttelte den Kopf. »Nein. Geh nur. Ich komme nicht mit. Ich bleibe hier. Nie gut, wohin zurückzugehen. Und ich tauge nichts – ich ziehe nur meine Sünden wie ’n Paar dreckige Hosen zwischen den Leuten rum. Nee. Ich bleibe hier.« »Komm. Wir können doch nicht ohne dich fahren.« »Geh nur. Und fahrt nur los. Ich tauge nichts. Nein, ich tauge nichts. Ich schleppe nur überall meine Sünden mit und mache alle Leute dreckig.« »Du hast auch nicht mehr Sünden wie jeder andre.« John kam dicht heran mit seinem Kopf und blinzelte verschmitzt mit einem Auge. Tom konnte sein Gesicht nur undeutlich sehen. »Niemand kennt meine Sünden, niemand außer Jesus.« Tom kniete sich hin und legte seine Hand auf Onkel Johns Stirn. Sie war heiß und trocken. John wischte die Hand ungeschickt weg. 492
»Komm doch«, bat Tom. »Nun komm doch, Onkel John.« »Ich komme nicht. Ich bin müde. Ich bleibe hier. Jawohl, hier.« Tom war sehr dicht bei ihm. Er legte seine Faust an die Spitze von Onkel Johns Kinn. Zweimal beschrieb er mit der Faust einen kleinen Bogen, um die Entfernung abzuschätzen, und dann schlug er zu, kunstgerecht und sicher. Johns Kinn schnappte hoch, er fiel zurück und versuchte, sich wieder aufzurichten. Aber Tom kniete bereits über ihm, und als John sich auf einen Ellbogen stützte, schlug Tom nochmals zu. Onkel John lag regungslos da. Tom stand auf, bückte sich und lud sich den lockeren, nachgiebigen Körper auf die Schulter. Er taumelte ein wenig unter dem Gewicht. Johns herabhängende Hände schlugen ihm gegen den Rücken, als er langsam und schwer atmend zur Straße hinaufstieg. Einmal kam ein Wagen vorbei und beleuchtete ihn mit seiner Last auf der Schulter. Der Wagen verlangsamte für einen Augenblick sein Tempo und schoß dann weiter. Tom keuchte, als er von der Straße herunter zurück nach Hooverville kam. John kam wieder zur Besinnung und wehrte sich matt. Tom setzte ihn neben den Lastwagen sanft auf die Erde. Das Zelt war inzwischen abgebrochen worden. Al reichte die Bündel hinauf auf den Wagen. Die Plane brauchte nur noch darübergebunden zu werden. Al sagte: »Na, der hat ja nicht schlecht geladen.« Tom entschuldigte sich. »Ich habe ihm ’nen Schlag 493
geben müssen, sonst wäre er nicht mitgekommen. Der arme Kerl.« »Du hast ihm doch nicht weh getan?« fragte Mutter »Ich glaube nicht. Er kommt schon wieder zu sich.« Onkel John kämpfte schwach mit der Übelkeit, und schließlich übergab er sich. Mutter sagte: »Ich habe dir noch ’n Teller Kartoffeln übriggelassen, Tom.« Tom lachte. »Ich muß sagen, nach Kartoffeln ist mir jetzt grade nicht.« Vater rief: »Fertig, Al! Bind die Plane drauf.« Der Wagen war beladen und reisefertig. Onkel John war eingeschlafen. Tom und Al hoben und zogen ihn herauf, während Winfield hinter dem Wagen Brechgeräusche von sich gab und Ruthie sich den Mund mit der Hand zustopfte, um nicht loslachen zu müssen. »Fertig«, sagte Vater. Tom fragte: »Wo ist denn Rosasharn?« »Da drüben«, sagte Mutter. »Komm, Rosasharn. Wir fahren los.« Das Mädchen saß still am Boden, das Kinn auf die Brust gesunken. Tom ging zu ihr hinüber. »Komm«, sagte er. »Ich komme nicht mit.« Sie hob dabei nicht ihren Kopf. »Du mußt mitkommen.« »Ich will Connie. Ich gehe nicht weg, bis er zurück ist.« Drei Wagen verließen das Lager und fuhren hinauf zur großen Straße, alte Wagen, mit Zelten und Menschen beladen. Sie kletterten den Hang hinauf zur Straße 494
und rollten davon, und nur ihre gelblichen Lichter waren noch eine Weile zu sehen. Tom sagte: »Connie findet uns schon. Ich habe oben im Laden Nachricht hinterlassen, wo wir sind. Er findet uns schon.« Mutter kam nun heran und trat neben ihn. »Komm, Rosasharn. Komm, mein Herz«, sagte sie sanft. »Ich will warten.« »Wir können aber nicht warten.« Mutter bückte sich und nahm das Mädchen beim Arm und half ihr auf die Füße. »Er findet uns schon«, sagte Tom. »Mach dir keine Sorgen. Er findet uns bestimmt.« Sie nahmen das Mädchen zwischen sich. »Vielleicht kauft er sich auch nur die Bücher zum Studieren«, sagte Rose von Sharon. »Vielleicht hat er uns überraschen wollen.« Mutter sagte: »Ja, vielleicht hat er das gewollt.« Sie führten sie zu dem Lastwagen und halfen ihr hinauf, und sie verschwand unter der Plane. Jetzt kam der bärtige Mann aus der ersten Baracke schüchtern zu ihnen heran. Er stand wartend herum, die Hände auf dem Rücken. »Laßt ihr nicht irgendwelches Zeug da, wo man brauchen kann?« fragte er schließlich. Vater sagte: »Nicht, daß ich wüßte. Wir haben nichts zum Dalassen.« Tom fragte: »Geht ihr nicht auch fort?« Der bärtige Mann starrte ihn lange an. »Nein«, sagte er schließlich. »Aber sie wollen doch das Camp ausbrennen.« 495
Die unruhigen Augen senkten sich zu Boden. »Ich weiß. Das haben sie schon manchmal gemacht.« »Na, und weshalb geht ihr dann nicht fort?« Die verwirrten Augen blickten einen Moment auf, dann senkten sie sich wieder, und der Schein des ersterbenden Feuers spiegelte sich rötlich in ihnen. »Ich weiß nicht. Dauert zu lange, bis wir unser Zeug zusammen haben.« »Aber wenn sie’s euch anbrennen, habt ihr gar nichts mehr.« »Ich weiß. Also, ihr laßt nichts da, was man brauchen könnte?« »Nee, alles mitgenommen«, sagte Vater. Der bärtige Mann wanderte davon. »Was ist denn mit dem los?« fragte Vater. »Bullenscheu«, sagte Tom. »Das hat mir einer gesagt – er ist bullenscheu. Zu oft eins über den Kopf gekriegt.« Eine zweite kleine Karawane fuhr an ihnen vorbei, kletterte hinauf zur Straße und verschwand. »Komm, Vater, wir wollen losfahren. Hör zu – du und ich und Al, wir fahren vorn. Mutter kann nach hinten gehn. Nein. Mutter, du fährst in der Mitte. Al« – Tom griff unter den Sitz und zog einen großen Schraubenschlüssel hervor –, »Al, du gehst nach hinten. Nimm das mit. Nur für den Fall. Wenn einer hinten draufklettern will, dann gib’s ihm.« Al nahm den Schraubenschlüssel und kletterte an der Rückwand des Wagens hoch und setzte sich mit gekreuzten Beinen hin, den Schraubenschlüssel in der 496
Hand. Tom zog noch die Eisenstange des Wagenhebers unter dem Sitz hervor und legte sie auf den Boden neben das Bremspedal. »So, alles fertig«, sagte er. »Steig ein, in die Mitte, Mutter.« Vater sagte: »Aber ich habe gar nichts in der Hand.« »Du kannst dir ja die Eisenstange greifen«, sagte Tom. »Ich hoffe zu Gott, du brauchst sie nicht.« Er trat auf den Starter, und das klirrende Schwungrad drehte sich, der Motor sprang an und erstarb wieder und sprang von neuem an. Tom drehte die Lichter an und fuhr im ersten Gang aus dem Camp. Die gelblichen Lichter tasteten unsicher die Straße hinauf. Sie kletterten hinauf zur großen Route und wandten sich nach Süden. Tom sagte: »Es kommt ’ne Zeit, wo man wild wird.« Mutter unterbrach ihn: »Tom … du hast mir gesagt … du hast mir versprochen, du bist nicht so. Du hast’s versprochen.« »Ich weiß, Mutter. Ich versuch’ es auch. Aber die Polizisten … Hast du schon mal ’nen Polizisten gesehn, der keinen fetten Hintern hat? Und sie wackeln damit, daß ihre Revolver auf und ab hüpfen. Mutter«, sagte er, »wenn’s das Gesetz wär’, das uns was will, dann würde ich mir’s gefallen lassen. Aber ’s ist nicht das Gesetz. Sie hauen auf uns ein und wollen uns die Seele aus dem Leib hauen. Sie wollen, daß wir kriechen und uns krümmen wie ’n geschlagener Hund. Sie wollen uns kaputtmachen. Und, mein Gott, Mutter, da kommt ’ne Zeit, wo einer nur noch seine Anständigkeit behalten kann, wenn er so ’nem Bullen eine in die Fresse schlägt. Sie haben’s auf unsre Anständigkeit abgesehn.« 497
Mutter sagte: »Du hast mir’s versprochen, Tom. So hat’s der kleine Floyd auch gemacht. Ich habe seine Mutter gekannt. Und sie haben ihn geschlagen.« »Ich versuch’ es, Mutter. Weiß Gott, ich versuch’ es. Aber du willst doch nicht, daß ich auf dem Bauch krieche wie ’n geschlagener Hund, oder?« »Ich bete, Tom. Du mußt dich da raushalten. Die Familie zerfällt. Du mußt dich raushalten.« »Ich will’s versuchen, Mutter. Aber wenn einer von diesen Fettbäuchigen kommt und mir was will, dann ist’s verdammt schwer für mich. Wenn’s wirklich das Gesetz wär’, wär’ es was andres. Aber ein Camp anbrennen – das ist nicht das Gesetz.« Der Wagen ratterte weiter. In einiger Entfernung war eine kleine Reihe roter Laternen auf der Straße zu sehen. »Wahrscheinlich ’ne Umleitung«, sagte Tom. Er verlangsamte das Tempo und hielt an, und sofort belagerte eine Gruppe von Männern den Wagen. Sie waren mit Spitzhacken und Gewehren bewaffnet. Sie trugen Pikkelhauben, und manche trugen Mützen der Amerikanischen Legion. Einer der Männer steckte den Kopf zum Fenster herein, und ein scharfer, warmer Whiskygeruch ging von ihm aus. »Wohin wollt ihr?« Er kam mit seinem roten Gesicht dicht an Toms Gesicht heran. Toms Hand fuhr zu Boden und tastete nach der Eisenstange. Mutter ergriff seinen Arm und hielt ihn fest. Tom sagte: »Ja, wir …«, und dann nahm seine Stimme einen demütigen Ton an. »Wir sind fremd hier«, sagte er. »Wir haben gehört, es gibt in Tulare Arbeit.« 498
»Nee, alter Freund, ihr fahrt falsch. Wir wollen euch verdammten Okies nicht hier in der Stadt.« Toms Schultern und Arme waren steif, und ein Schauer durchfuhr ihn. Mutter umklammerte seinen Arm. Der Wagen war jetzt von bewaffneten Männern umzingelt. Einige von ihnen trugen des kriegerischen Aussehens wegen Militärröcke und Patronengürtel. Tom fragte in jammerndem Tonfall: »Wie müssen wir denn dann fahren, Mister?« »Ihr dreht um und fahrt nach Norden. Und daß ihr mir bis zur Baumwollernte nicht zurückkommt.« Tom zitterte am ganzen Körper. »Jawohl«, sagte er. Er wendete den Wagen und fuhr in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Mutter ließ seinen Arm los und tätschelte ihn sanft. Und Tom bemühte sich, ein ersticktes Schluchzen niederzukämpfen. »Mach dir nichts draus«, sagte Mutter. »Mach dir nichts draus.« Tom putzte sich zum Fenster hinaus die Nase und wischte sich mit dem Ärmel die Augen ab. »Diese verdammten Schweine …« »Du hast’s gut gemacht«, sagte Mutter zärtlich. »Du hast’s sehr gut gemacht.« Tom bog in eine Seitenstraße ein, fuhr noch etwa hundert Meter weiter, dann drehte er die Lichter und den Motor ab. Er stieg aus und nahm die Eisenstange mit. »Wo willst du denn hin?« fragte Mutter. »Mich umsehn. Wir wollen nicht nach Norden.« Die roten Laternen bewegten sich auf der Straße. Tom sah 499
sie an der Kreuzung der Seitenstraße vorbeiziehen. Ein paar Augenblicke später war Geschrei und Gejohle zu hören, und in der Richtung von Hooverville stieg ein Flammenschein auf. Der Schein wuchs und breitete sich aus, und aus der Ferne kam ein leises Krachen. Tom stieg wieder in den Wagen. Er drehte um und fuhr ohne Lichter die Seitenstraße zurück. Auf der Hauptstraße wandte er sich wieder nach Süden und drehte die Lichter an. Mutter fragte schüchtern: »Wohin fahren wir, Tom?« »Nach Süden«, sagte er. »Wir werden uns doch von diesen Schweinen nicht verjagen lassen. Wir müssen sehn, wie wir um die Stadt rumkommen.« »Ja, aber wohin wollen wir denn?« Vater sprach zum erstenmal. »Das möchte ich gerne wissen.« »Wir werden das staatliche Camp suchen«, sagte Tom. »Mir hat einer erzählt, sie lassen dort keine Polizisten rein. Mutter – ich muß den Kerlen aus dem Weg gehen. Ich habe Angst, ich bringe einen um.« »Sachte, Tom!« Mutter streichelte ihn. »Sachte, Tommy. Du hast’s einmal gut gemacht, da wirst du’s das nächstemal wohl auch gut machen.« »Ja, und wenn das ’ne Weile so weitergeht, dann ist von meiner Anständigkeit nichts mehr übrig.« »Du mußt Geduld haben, Tom. Du weißt doch, wir werden immer leben, wenn die andern schon längst nicht mehr da sind. Wir sind die Leute, die leben. Sie können uns nicht kaputtkriegen. Tom, wir sind die richtigen Leute – wir leben weiter.« »Ja, aber wir lassen uns dauernd schlagen.« 500
»Ich weiß.« Mutter lachte. »Vielleicht werden wir davon nur so zäh. Die Reichen werden groß und sterben, und ihre Kinder taugen nichts, und sie sterben aus. Aber wir, Tom, wir kommen. Ärgere dich nicht, Tom. Es kommt bald ’ne andre Zeit.« »Woher weißt du das?« »Ich weiß nicht, woher.« Sie kamen zur Stadt, und Tom bog in eine Seitenstraße ein, um nicht durch das Zentrum fahren zu müssen. Im Licht der Straßenlaternen sah er seine Mutter an. Ihr Gesicht war ruhig, und ein seltsamer Ausdruck lag in ihren Augen, jenen Augen, die den zeitlosen Augen einer Statue glichen. Tom streckte seine rechte Hand aus und berührte sie an der Schulter. Das mußte er. Und dann zog er die Hand zurück. »Ich habe dich in meinem Leben noch nicht so viel reden hören«, sagte er. »Ich habe auch noch nie so viel Grund gehabt«, sagte sie. Er fuhr durch die Seitenstraße um die Stadt herum. An einer Kreuzung stand ein Schild mit der Bezeichnung »99«. Er wandte sich nach Süden. »Jedenfalls haben sie uns nicht nach Norden abschieben können«, sagte er. »Wir fahren noch immer dahin, wo wir hinwollen, auch wenn wir dafür kriechen müssen.« Die gelblichen Lichter tasteten sich auf der breiten schwarzen Straße langsam vorwärts.
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21 Die dahintreibenden, suchenden Menschen waren jetzt wanderndes Volk. Jene Familien, die auf einem kleinen Stück Land gelebt hatten, die gelebt hatten und gestorben waren auf ihren vierzig Hektar, die von den Produkten der vierzig Hektar gegessen oder an ihnen verhungert waren, hatten jetzt den ganzen Westen zum Umherstreifen zur Verfügung. Und sie streiften umher und suchten nach Arbeit, und über die Straßen zogen Ströme von Menschen, und in den Straßengräben übernachteten Horden von Menschen. Und hinter ihnen kamen mehr. Über die großen Straßen strömte das wandernde Volk. Im Mittel- und Südwesten hatte eine einfache Landbevölkerung gelebt, die sich mit der Industrie nicht verändert hatte, die auf den Farmen keine Maschinen verwendet und die Macht und Gefahr von Maschinen in Privathänden nicht kennengelernt hatte. Diese Menschen waren nicht unter den Widersprüchen der Industrie aufgewachsen. Ihre Sinne waren noch scharf, und sie konnten das industrielle Leben belachen. Und plötzlich wurden sie von den Maschinen vertrieben, und dann schwärmten sie über die großen Straßen. Das Wanderleben veränderte sie. Die großen Straßen, die Camps, die Angst vor dem Hunger und der Hunger selbst – das alles veränderte sie. Die Kinder, die nichts zu essen bekamen, veränderten sie, das endlose Fahren veränderte sie. Sie waren wanderndes Volk. Und die Feindseligkeit veränderte sie, schweißte sie zusammen, vereinigte sie – eine Feindseligkeit, in der die kleinen 502
Städte sich zusammentaten und bewaffneten, als gelte es, einen Eindringling zurückzuwerfen, kleine Truppen mit Spitzhacken, Verkäufer und Ladenbesitzer mit Gewehren, die die Welt vor ihren eigenen Leuten bewachten. Im Westen entstand eine Panik, als die Wanderer auf den Straßen sich mehrten. Die Besitzer fürchteten um ihren Besitz. Menschen, die noch nie Hunger gehabt, sahen die Augen der Hungrigen. Menschen, die noch nie etwas dringend gebraucht, sahen die Not in den Augen der Wandernden. Und die Leute in den Städten und dem flachen Vorstadtland taten sich zusammen, um sich zu verteidigen, und sie versicherten sich gegenseitig, daß sie gut seien und die Eindringlinge schlecht, wie ein Mensch es eben tun muß, bevor er kämpft. Sie sagten: Diese gottverdammten Okies sind dreckig und ungebildet. Sie sind Degenerierte, sind sexuelle Wüstlinge. Diese gottverdammten Okies sind Diebe. Sie stehlen alles. Sie haben keinen Sinn für Eigentumsrecht. Und das stimmte, denn wie kann ein Mann ohne Besitz die Schmerzen eines Besitzers verstehen? Und die Leute, die sich verteidigen mußten, sagten: Sie bringen Krankheiten mit, sie sind schmutzig. Wir können sie nicht in unsere Schulen lassen. Sie sind Fremde. Würdest du etwa deine Schwester mit einem von ihnen ausgehen lassen? Und die Leute zwangen sich zur Grausamkeit. Sie bildeten Einheiten, kleine Truppen, und bewaffneten sie – bewaffneten sie mit Gummiknüppeln, mit Gas, mit Gewehren. Uns gehört das Land. Wir dürfen diese Okies nicht aus den Augen verlieren. Und den Männern, 503
die sich bewaffneten, gehörte das Land nicht, doch sie glaubten, es gehöre ihnen. Und die Verkäufer, die abends exerzierten, besaßen nichts, und die kleinen Krämer besaßen nur eine Schublade voller Schulden. Aber selbst Schulden sind etwas, und eine Anstellung ist etwas. Der Verkäufer dachte: Ich verdiene fünfzehn Dollars die Woche. Angenommen, so ein gottverdammter Okie würde für zwölf arbeiten! Und der kleine Krämer dachte: Wie kann ich’s mit einem Mann aufnehmen, der keine Schulden hat? Und das wandernde Volk strömte auf den Straßen herein, und in den Augen der Menschen stand der Hunger und stand die Not. Es gab keinen Wortwechsel, kein System, es gab nur ihre Nummern und ihre Not. Wenn es Arbeit gab für einen, kämpften ihrer zehn darum – kämpften mit niedrigem Lohn. Wenn der da für dreißig Cents arbeitet, arbeite ich für fünfundzwanzig. Nein, ich – ich habe Hunger. Ich arbeite für fünfzehn. Ich arbeite auch für ’n bißchen Essen. Die Kinder. Du solltest sie nur sehn. Überall kommen kleine Geschwüre raus, und sie können nicht rumlaufen. Ich habe ihnen Fallobst gegeben, und das hat sie ganz aufgebläht. Ich arbeite für ’n kleines Stückchen Fleisch. Und das war gut, denn die Löhne fielen, und die Preise blieben hoch. Die großen Landbesitzer freuten sich und schickten neue Handzettel hinaus, um noch mehr Leute zu kriegen. Und die Löhne fielen, und die Preise blieben hoch. Und bald wird es bei uns wieder Sklaven geben. Und jetzt erfanden die großen Unternehmer und die Gesellschaften eine neue Methode. Ein Unternehmer 504
kaufte eine Konservenfabrik. Und als die Pfirsiche und Birnen reif wurden, drückte er den Obstpreis unter die Selbstkosten herab. Und als Konservenfabrikant bezahlte er sich selbst einen niedrigen Preis für das Obst, hielt aber den Preis für Konserven hoch und machte seinen Profit. Und die kleinen Farmer, die keine Konservenfabriken besaßen, verloren ihre Farmen. Die großen Landbesitzer, die Banken und die Gesellschaften, die Konservenfabriken besaßen, nahmen sie ihnen ab. Und mit der Zeit wurden die Farmen weniger. Die kleinen Farmer zogen in die Stadt, nützten ihren Kredit, ihre Freunde und ihre Verwandten aus. Und dann gingen auch sie auf die großen Straßen. Und die Straßen waren voll von Menschen, die nach Arbeit hungerten. Und die Gesellschaften arbeiteten an ihrem eigenen Verderben und wußten es nicht. Die Felder waren voller Früchte, und über die Straßen zogen hungernde Menschen. Die Kornkammern waren voll, und die Kinder der Armen waren rachitisch, und auf ihren Rippen schwollen Aussatzgeschwüre an. Die großen Gesellschaften wußten nicht, daß es von Hunger zu Empörung nur ein kurzer Schritt ist. Und das Geld, das für die Löhne hätte verwendet werden können, wurde für Gas, für Gewehre, für Agenten und Spitzel, für schwarze Listen, fürs Exerzieren ausgegeben. Über die Straßen krochen gleich Ameisen die Menschen und suchten nach Arbeit, nach Essen. Und die Empörung begann zu gären.
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22 Es war spät, als Tom Joad über eine Landstraße fuhr und nach dem Weedpatch-Camp suchte. Es waren nur wenig Lichter zu sehen. Ein heller Schein am Himmel zeigte die Richtung von Bakersfield an. Der Wagen holperte langsam weiter, und ab und zu sprangen wilde Katzen vor ihm über den Weg. An einer Straßenkreuzung standen ein paar kleine weiße Holzhäuser. Mutter schlief, und Vater hatte sich schon seit längerer Zeit in Schweigen zurückgezogen. Tom sagte: »Ich weiß nicht, wo es ist. Vielleicht warten wir, bis es Tag wird, und fragen dann jemand.« Er hielt an einem Wegzeichen an, als gerade ein anderer Wagen an der Kreuzung hielt. Tom beugte sich heraus. »He, Mister! Wissen Sie, wo das große Camp ist?« »Da – geradeaus.« Tom überquerte die große Straße und fuhr weiter, ein paar hundert Meter, dann hielt er an. Ein großer Drahtzaun schloß das Grundstück zur Straße hin ab, und die breiten Einfahrtstore waren weit offen. Hinter dem Zaun stand ein kleines Haus, in dem ein Fenster erleuchtet war. Tom fuhr hinein. Der Wagen sprang in die Luft und kam krachend wieder auf den Boden. »Herrgott!« sagte Tom. »Den verdammten Höcker habe ich gar nicht gesehn.« Ein Wächter stand von der Veranda auf und kam zum Wagen. Er lehnte sich gegen das Fenster. »Das war ’n bißchen zu schnell«, sagte er. »Das nächstemal fahren Sie langsamer.« 506
»Was ist denn das, um Gottes willen?« Der Wächter lachte. »Ja, sehn Sie, hier spielt immer ein Haufen Kinder. Und man sagt den Leuten, sie sollen langsam fahren, und das vergessen sie natürlich. Aber wenn sie einmal mit aller Wucht über den Höcker fahren, dann vergessen sie’s nicht mehr.« »Aha! Ich hoffe, es ist uns nichts kaputtgegangen. Sagen Sie – haben Sie hier noch Platz für uns?« »Ja, grade einen. Wieviel seid ihr denn?« Tom zählte an den Fingern ab. »Ich und Vater und Mutter, Al und Rosasharn und Onkel John und Ruthie und Winfield. Die beiden, das sind Kinder.« »Ich glaube, wir können’s einrichten. Habt ihr was zum Übernachten?« »’ne große Plane und Betten.« Der Wächter stieg auf das Trittbrett. »Fahren Sie hier die Reihe hinunter und dann rechts. Ihr kommt in die Sanitärabteilung Vier.« »Was ist denn das?« »Toiletten und Duschen und Waschwannen.« Mutter fragte: »Ihr habt Waschwannen – und fließendes Wasser?« »Natürlich.« »Gott sei Dank!« sagte Mutter. Tom fuhr an der dunklen Reihe von Zelten entlang. Im Sanitärgebäude brannte ein kleines Licht. »Halten Sie hier an«, sagte der Wächter. »Das ist ein hübscher Platz. Die Leute, die bis jetzt hier waren, sind grade ausgezogen.« Tom hielt an. »Hier?« »Ja. Nun lassen Sie die andern auspacken – inzwischen 507
können wir Sie eintragen. Dann will ich nämlich schlafen. Das Komitee kommt dann morgen früh und erklärt Ihnen alles.« Toms Blicke senkten sich. »Bullen?« fragte er. Der Wächter lachte. »Nee, keine Bullen. Wir haben unsre eignen Bullen. Kommen Sie.« Al sprang hinten vom Wagen herunter und kam herum zu Tom. »Bleiben wir hier?« »Ja«, sagte Tom. »Du lädst mit Vater ab, und ich gehe nach vorn ins Büro.« »Seid aber still«, sagte der Wächter. »Die Leute schlafen schon alle.« Tom folgte ihm durch das Dunkel, ging die Treppen zum Büro hinauf und betrat einen winzigen Raum, in dem ein alter Schreibtisch und ein Stuhl standen. Der Wächter setzte sich an den Schreibtisch und nahm ein Formular heraus. »Name?« »Tom Joad.« »Ist das Ihr Vater?« »Ja.« »Und der heißt?« »Auch Tom Joad.« Die Fragen gingen weiter. »Woher, wie lange schon im Staat und was bisher gearbeitet.« Der Wächter blickte auf. »Ich bin nicht neugierig. Aber wir müssen das wissen.« »Natürlich«, sagte Tom. »Also – habt ihr Geld?« »’n bißchen.« 508
»Ihr seid nicht mittellos?« »Wir haben ’n bißchen. Warum?« »Ja, der Camp-Platz kostet einen Dollar die Woche, aber ihr könnt’s auch abarbeiten. Mülleimer tragen, das Camp saubermachen und so was.« »Dann wollen wir’s abarbeiten«, sagte Tom. »Morgen sprecht ihr dann mit dem Komitee. Die zeigen euch alles und sagen euch unsere Regeln.« »Sagen Sie – was ist denn das, dieses Komitee?« Der Wächter lehnte sich zurück. »Passen Sie auf«, sagte er. »Es gibt fünf Sanitärabteilungen. Jede wählt einen Mann für das Zentralkomitee. Und das Komitee macht die Gesetze. Was das Komitee sagt, gilt.« »Wenn die aber nun mal ungerecht sind«, sagte Tom. »Ja, das Komitee ist genauso schnell aufgelöst, wie’s gewählt ist. Aber sie haben schon gute Sachen gemacht. Ich will Ihnen was erzählen – Sie kennen doch die HolyRoller-Prediger, die den Leuten nachlaufen und beim Predigen immer einsammeln? Also, die wollten auch mal hier predigen. Und ’ne Menge von den alten Leuten war dafür. Da mußte das Zentralkomitee entscheiden. Die haben ’ne Sitzung abgehalten und ’ne hübsche Sache ausgekocht. ›Jeder Prediger kann in unserm Camp predigen‹, haben sie gesagt. ›Aber keiner darf in unserm Camp ’ne Sammlung machen.‹ Für die alten Leute war’s natürlich ’n bißchen traurig, denn sie hatten lange keinen Prediger gehört.« Tom lachte, und dann fragte er: »Sie sagen also, die Leute, wo das Camp machen … leben auch hier … wie alle andern?« 509
»Ja. Und es klappt.« »Und Sie sagen, es gibt keine Bullen …?« »Das Zentralkomitee hält Ordnung und setzt die Regeln fest. Dann sind da noch die Damen. Die kommen morgen zu Ihrer Mutter. Die halten Ordnung, passen auf die Kinder auf und kümmern sich um die Sanitärabteilungen. Wenn Ihre Mutter nicht arbeitet, muß sie auf die Kinder von ’ner Frau aufpassen, die arbeitet. Und wenn sie ’ne Arbeit kriegt – dann machen eben die andern dasselbe. Sie nähen, und sie haben ’ne Lehrerin, die sie unterrichtet. Lauter solche Sachen gibt’s hier.« »Sie sagen, es gibt hier wirklich keine Bullen?« »Nein. Hier darf kein Bulle rein, der nicht ’n besonderen Befehl hat.« »Ja, aber angenommen, es wird einer mal frech oder es ist einer besoffen und fängt Streit an. Was dann?« Der Wächter stach mit einem Bleistift auf das Löschblatt. »Na, das erstemal verwarnt ihn das Zentralkomitee. Und das zweitemal kriegt er ’ne richtige Verwarnung. Und beim drittenmal wird er rausgeschmissen.« »Großer Gott, ich kann’s kaum glauben! Heute abend haben die Polizisten und die Kerle mit den kleinen Mützen das Camp unten am Fluß abgebrannt.« »Hier dürfen sie nicht rein«, sagte der Wächter. »Manchmal abends marschieren sie vor dem Zaun auf und ab, besonders wenn wir Tanz haben.« »Tanz? Mein Gott!« »Ja, wir haben jeden Samstagabend den schönsten Tanz in der ganzen Gemeinde.« 510
»Na, um Gottes willen, weshalb gibt’s denn dann nicht mehr solche Camps?« Der Wächter machte ein mürrisches Gesicht. »Das müssen Sie schon selber rausfinden. Jetzt gehn Sie schlafen.« »Gute Nacht«, sagte Tom. »Mutter wird’s hier gefallen. Sie ist schon lange nicht mehr anständig behandelt worden.« »Gute Nacht«, sagte der Wächter. »Gehn Sie schlafen. Das Camp wacht früh auf.« Tom ging die Straße zwischen den Zelten hinunter. Seine Augen gewöhnten sich an das Sternenlicht. Er sah, daß die Reihen gerade waren und daß kein Unrat um die Zelte herumlag. Die Straße war gefegt und gesprengt worden. Aus den Zelten drang das Schnarchen der schlafenden Leute. Das ganze Camp summte und schnarchte. Tom ging langsam. Er näherte sich der Sanitärabteilung Vier und betrachtete das niedrige ungestrichene Gebäude mit neugierigen Blicken. Unter einem Dach, doch zu beiden Seiten offen, die Reihen von Waschtrögen. Er sah den Lastwagen der Familie, der ganz in der Nähe stand, und ging langsam auf ihn zu. Die Plane war schon aufgebaut, und alles war still. Als er näher kam, löste sich eine Gestalt aus dem Schatten des Lastwagens und trat zu ihm. Mutter sagte leise: »Bist du das, Tom?« »Ja.« »Schscht!« machte sie. »Die schlafen schon alle. Waren so müde.« »Du solltest auch schlafen«, sagte Tom. 511
»Ja, ich wollte dich aber noch sprechen. Ist alles in Ordnung?« »Ja, großartig«, sagte Tom. »Ich sage dir aber noch nichts. Du wirst’s schon morgen früh hören. Und es wird dir gefallen.« Sie flüsterte: »Es soll sogar heißes Wasser geben.« »Ja. Aber jetzt leg dich schlafen. Ich weiß nicht, wann du das letztemal richtig geschlafen hast.« »Und du willst mir wirklich nichts sagen?« »Nein. Du mußt jetzt schlafen.« Sie war plötzlich ganz mädchenhaft. »Wie kann ich denn schlafen, wenn ich dauernd dran denken muß, was du mir nicht sagst?« »Du wirst schon schlafen«, sagte Tom. »Und morgen früh ziehst du dir gleich dein andres Kleid an, und dann – dann wirst du’s schon erfahren.« »Aber ich kann nicht schlafen, wenn das immer über mir hängt.« »Du mußt.« Tom lachte glücklich. »Du mußt einfach.« »Gute Nacht«, sagte sie leise, bückte sich und kroch unter die dunkle Plane. Tom kletterte auf die Rückwand hinauf auf den Lastwagen. Er legte sich auf den hölzernen Boden, die Hände hinter dem Kopf gefaltet und die Unterarme gegen die Ohren gepreßt. Die Nacht wurde kühler. Tom knöpfte sich den Rock über der Brust zu und legte sich wieder zurück. Die Sterne über ihm waren klar und scharf.
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Es war noch dunkel, als er erwachte. Ein kleines Klappern hatte ihn aufgeweckt. Tom lauschte und hörte abermals das Klirren von Eisen auf Eisen. Er bewegte sich steif und schauerte in der Morgenluft. Das Camp schlief noch. Tom stand auf und blickte über die Seitenwand des Wagens. Die Berge im Osten waren blauschwarz, und während er sie beobachtete, hob sich hinter ihnen schwach das Licht, färbte ihre Ränder mit einem verwaschenen Rot, wurde dann, als es höher stieg, kühler, grauer, dunkler, bis es sich an einer Stelle nahe am westlichen Horizont mit der reinen Nacht vermischte. Unten im Tal war die Erde lavendelgrau vom dämmernden Tag. Wieder drang das Geräusch von klapperndem Eisen an sein Ohr. Tom blickte hinunter zu den Zelten, die nur ein wenig heller grau waren als der Boden. Neben einem Zelt sah er das Blitzen eines Feuers, das durch die Risse in einem alten eisernen Herd drang. Grauer Rauch schoß aus dem kurzen Ofenrohr auf. Tom kletterte über die Seitenwand des Wagens und sprang zu Boden. Er ging langsam auf den Herd zu. Er sah an dem Herd ein Mädchen arbeiten, sah, daß sie ein Baby im Arm trug und daß das Baby trank, wobei es den Kopf unter das Hemdmieder des Mädchens gesteckt hatte. Und das Mädchen lief umher, schürte das Feuer an, hob die rostigen Ringe ab, um besseren Zug zu machen, öffnete die Herdtür – und die ganze Zeit trank das Baby, und die Mutter nahm es geschickt von einem Arm in den anderen. Das Baby störte sie nicht bei der Arbeit oder bei ihren raschen anmutigen Bewegungen. 513
Und das Feuer züngelte aus den Herdrissen hervor und warf einen flackernden Widerschein auf das Zelt. Tom trat näher. Er roch bratenden Schinken und frischgebackenes Brot. Im Osten nahm das Licht jetzt rasch zu. Tom trat an den Herd und hielt seine Hände darüber. Das Mädchen sah ihn an und nickte, und ihre Zöpfe wippten. »Guten Morgen«, sagte sie und drehte den Schinken in der Pfanne um. Der Zelteingang öffnete sich, und ein junger Mann trat heraus, und ein alter Mann folgte ihm. Sie trugen neue blaue Baumwollanzüge, die noch steif von Appretur waren und deren Messingknöpfe glänzten. Sie hatten scharfgeschnittene Gesichter und sahen einander sehr ähnlich. Der jüngere Mann hatte einen dunklen Stoppelbart und der ältere einen weißen. Ihre Köpfe und Gesichter waren naß, ihre Haare tropften, und das Wasser hing ihnen in Tropfen in ihren Bärten. Zusammen blieben sie stehen und blickten in den dämmernden Morgen. Sie gähnten zusammen und beobachteten das Licht am Rand der Berge. Und dann drehten sie sich um und sahen Tom. »Morgen«, sagte der ältere Mann, und sein Gesicht war weder freundlich noch unfreundlich. »Morgen«, sagte Tom. Und »Morgen« sagte der jüngere Mann. Das Wasser trocknete langsam auf ihren Gesichtern. Sie kamen zum Herd und wärmten sich ihre Hände. Das Mädchen fuhr mit ihrer Arbeit fort. Einmal setzte sie das Baby hin und band sich die Zöpfe zurück, und 514
bei der Arbeit wippten und baumelten die beiden Zöpfe an ihrem Hinterkopf. Sie stellte Blechtassen auf eine große Kiste und verteilte Teller und Messer und Gabeln. Dann nahm sie den Schinken aus dem brutzelnden Fett und legte ihn auf eine Blechschüssel, und der Schinken knisterte und raschelte, während er knusprig wurde. Sie öffnete die rostige Ofentür und zog eine große viereckige Schüssel voll runder Pfannkuchen hervor. Als der Duft der Pfannkuchen zu ihnen drang, atmeten die beiden Männer tief ein. Der jüngere sagte leise: »Li-i-ieber Gott!« Jetzt wandte sich der ältere Mann an Tom: »Hast du schon gefrühstückt?« »Ja, nein, noch nicht. Aber ich habe meine Familie da drüben. Sie sind noch nicht auf. Haben den Schlaf auch nötig.« »Na, dann setz dich doch zu uns. Wir haben genug – Gott sei Dank!« »Vielen Dank«, sagte Tom. »Das riecht so verdammt gut, daß ich nicht nein sagen kann.« »Riecht gut, was?« sagte der jüngere Mann. »Hast du schon mal in deinem Leben so was Gutes gerochen?« Sie gingen zu der Kiste und hockten sich daneben auf den Boden. »Arbeitest du hier in der Gegend?« fragte der jüngere Mann. »Ich würde gerne«, sagte Tom. »Wir sind die letzte Nacht erst gekommen. Da habe ich mich natürlich noch nicht umsehn können.« »Wir haben grade zwölf Tage gearbeitet«, sagte der junge Mann. 515
Das Mädchen, das am Ofen arbeitete, warf ein: »Sie haben sogar neue Anzüge gekriegt.« Die beiden Männer blickten auf ihre steifen blauen Anzüge und lächelten verlegen. Das Mädchen brachte die Schüssel mit Schinken, die runden braunen Pfannkuchen, eine Tasse mit Schinkenfett und eine Kanne Kaffee, und dann hockte auch sie sich neben der Kiste auf den Boden. Das Baby trank noch immer, den Kopf unter dem Hemdmieder des Mädchens. Sie füllten sich die Teller, gossen Schinkenfett über die Pfannkuchen und zuckerten ihren Kaffee. Der ältere Mann stopfte sich den Mund voll und kaute und schluckte. »Großer Gott, das ist gut!« sagte er und stopfte sich den Mund von neuem voll. Der jüngere Mann sagte: »Wir haben jetzt zwölf Tage lang gut gegessen. Nicht eine Mahlzeit versäumt in zwölf Tagen – keiner von uns. Wir arbeiten und kriegen unser Geld und essen.« Er fiel wieder über seinen Teller her und füllte ihn sich nach einer Weile von neuem. Sie tranken den heißen Kaffee und gossen den Satz auf die Erde und schenkten die Tassen wieder voll. Das Licht begann sich zu färben und wurde ein rötlicher Schein. Vater und Sohn hörten zu essen auf, ihre Gesichter waren nach Osten gerichtet und wurden von der Dämmerung erhellt. Das Bild der Berge und des kommenden Lichtes darüber spiegelte sich in ihren Augen. Und dann gossen sie den Kaffeesatz aus ihren Tassen auf die Erde und standen auf, beide zu gleicher Zeit. »Wir müssen los«, sagte der ältere Mann. Der jüngere wandte sich an Tom. »Hör zu«, sagte er. 516
»Wir haben doch Arbeit. Wenn du mitkommen willst, können wir dich vielleicht anbringen.« Tom sagte: »Das ist schrecklich nett von euch. Und ich danke euch auch für das Frühstück.« »Wir haben uns gefreut«, sagte der ältere Mann. »Wenn du willst, können wir versuchen, daß du Arbeit kriegst.« »Und ob ich will«, sagte Tom. »Wartet nur eine Minute. Ich muß meinen Leuten Bescheid sagen.« Er eilte zum Zelt und bückte sich und blickte hinein. Im Dunkel unter der Plane sah er nur die Umrisse schlafender Gestalten. Aber etwas bewegte sich unter den Bettüchern. Ruthie schlängelte sich heraus, das Haar hing ihr über die Augen, und ihr Kleid war zerknüllt und verdreht. Sie kroch behutsam heraus und stand auf. Ihre grauen Augen waren klar und ruhig vom Schlaf, und nichts Böses war in ihnen. Tom ging einige Schritte vom Zelt weg und machte ihr ein Zeichen, ihm zu folgen. Als er sich umdrehte, blickte sie zu ihm auf. »Mein Gott, du wirst ja erwachsen«, sagte er. In plötzlicher Verlegenheit blickte sie weg. »Hör zu«, sagte Tom. »Weck niemand auf, aber wenn sie aufstehn, sag ihnen, daß ich vielleicht Arbeit kriege und hingegangen bin. Sag Mutter, ich habe bei Nachbarn gefrühstückt. Hast du das gehört?« Ruthie nickte und wandte den Kopf ab, und ihre Augen waren die Augen eines kleinen Mädchens. »Weck sie nicht auf«, wiederholte Tom. Er eilte zurück zu seinen neuen Freunden. Und Ruthie schlich sich zum Sanitärgebäude heran und spähte in die offene Tür hinein. 517
Die beiden Männer warteten, als Tom zurückkam. Die junge Frau hatte eine Matratze herausgezogen und das Baby daraufgelegt und wusch jetzt die Teller ab. Tom sagte: »Ich wollte nur meinen Leuten sagen, wo ich bin. Sie waren noch nicht wach.« Die drei gingen die Straße zwischen den Zelten entlang. Das Camp war zum Leben erwacht. An den frisch angezündeten Feuern arbeiteten die Frauen, schnitten Fleisch und kneteten den Teig für das Morgenbrot. Und die Männer machten sich an den Zelten und an den Autos zu schaffen. Der Himmel war jetzt rötlich gefärbt. Vor dem Büro harkte ein magerer alter Mann sorgfältig den Boden. Er zog seine Harke so, daß die Streifen gerade und tief wurden. »Du bist aber heute früh auf, Vater«, sagte der junge Mann, als sie vorbeigingen. »Jaja, ich muß mir doch meinen Zins verdienen.« »Ach was, Zins!« sagte der junge Mann. »Letzten Samstag war er besoffen. Hat die ganze Nacht in seinem Zelt gesungen. Da hat ihm das Komitee Arbeit für gegeben.« Sie gingen am Straßenrand entlang. Eine Reihe von Walnußbäumen wuchs am Weg. Die Sonne schob ihren Rand über die Berge. Tom sagte: »Komisch, jetzt habe ich euer Frühstück gegessen und noch nicht mal meinen Namen gesagt – und ihr auch nicht euren. Ich heiße Tom Joad.« Der ältere Mann sah ihn an, und dann lächelte er ein wenig. »Du bist wohl noch nicht lange hier unten?« »Weiß Gott nicht! Nur ’n paar Tage.« 518
»Hab’ ich’s doch gewußt! Komisch, man gewöhnt sich’s hier bald ab, seinen Namen zu sagen. Es sind zu viele hier. Einfach du und ich. Also – ich heiße Timothy Wallace, und das ist mein Sohn Wilkie.« »Freut mich sehr«, sagte Tom. »Seid ihr schon lange hier?« »Zehn Monate«, sagte Wilkie. »Wir sind gleich nach der Überschwemmung letztes Jahr hergekommen. Gottogott! Das war ’ne Zeit! Da sind wir verdammt nahe am Verhungern gewesen.« Ihre Schuhe klapperten auf der Straße. Ein Lastwagen voller Männer kam vorbei, und jeder der Männer schien in sich versunken. Jeder der Männer hielt sich irgendwo oben auf dem Lastwagen fest und starrte finster ze Boden. »Die fahren für die Gas-Gesellschaft raus«, sagte Timothy. »Die haben ’ne hübsche Arbeit.« »Ich hätte ja unsern Lastwagen mitnehmen können«, meinte Tom. Timothy bückte sich und hob eine grüne Walnuß auf. Er prüfte sie mit seinem Daumen und warf sie dann auf eine Amsel, die auf einem Zaun saß. Der Vogel flog auf, ließ die Nuß unter sich vorbeisausen und setzte sich dann wieder auf den Zaun und glättete mit dem Schnabel seine glänzenden schwarzen Federn. Tom fragte: »Habt ihr keinen Wagen?« Die beiden schwiegen, und Tom, der ihnen in die Gesichter blickte, sah, daß sie beschämt waren. Wilkie sagte: »Das Grundstück, wo wir arbeiten, ist nur ’ne Meile weit.« Doch Timothy erklärte aufgebracht: »Nein, wir haben 519
keinen Wagen. Wir haben unsern Wagen verkauft. Das mußten wir. Wir hatten kein Essen mehr und nichts. Konnten auch keine Arbeit kriegen. Und hier kommen jede Woche welche vorbei und kaufen Wagen. Sie kommen, und wenn du Hunger hast, kaufen sie dir eben deinen Wagen ab. Und wenn du genug Hunger hast, brauchen sie nichts dafür zu bezahlen. Und wir – wir haben genug Hunger gehabt. Sie haben uns zehn Dollar dafür gegeben.« Er spuckte auf die Straße. Wilkie sagte ruhig: »Ich war letzte Woche in Bakersfield. Da habe ich ihn gesehn, in ’nem Autohof, und fünfundsiebzig Dollars hat drangestanden.« »Aber was sollten wir denn machen?« sagte Timothy. »Entweder mußten wir uns von ihnen unsern Wagen stehlen lassen, oder wir mußten was von ihnen stehlen. Bis jetzt haben wir ja noch nichts zu stehlen gebraucht, aber es war manchmal verdammt nahe dran!« Tom sagte: »Wie wir noch zu Hause waren, haben wir gehört, es soll hier unten viel Arbeit geben. Wir haben Handzettel gesehn, wo sie den Leuten sagen, sie sollen kommen.« »Ja«, sagte Timothy. »Haben wir auch gesehn. Und es gibt nicht viel Arbeit. Und die Löhne werden dauernd niedriger. Ich hab’ es so verdammt satt, mir immer zu überlegen, wo ich was zu fressen herkriege.« »Na, ihr habt doch jetzt Arbeit«, meinte Tom. »Ja, aber das dauert nicht lange. Wir arbeiten für ’n netten Kerl. Er hat ’n kleines Grundstück. Arbeitet mit uns zusammen. Aber, verdammt – das dauert ja nicht lange.« 520
Tom sagte: »Und warum nehmt ihr dann mich noch mit? Wenn ich eit arbeite, dauert’s doch noch kürzer. Warum schneidet ihr euch eure eigene Kehle ab?« Timothy schüttelte langsam den Kopf. »Ich weiß nicht. Wir sind wahrscheinlich blöd. Wir haben uns gedacht, wir wollen uns jeder ’n neuen Hut kaufen. Geht nicht, wahrscheinlich. Da ist das Grundstück – da rechts. Ganz hübsche Arbeit. Wir kriegen dreißig Cents die Stunde. Für den Mann arbeitet sich’s schön.« Sie bogen von der Hauptstraße ab und gingen über einen Kiesweg durch•einen kleinen Küchengarten, und hinter den Bäumen kamen sie zu einem kleinen weißen Farmhaus und einem Schuppen. Hinter dem Schuppen lagen ein Weingarten und ein Baumwollfeld. Als die drei Männer an dem Hause vorbeigingen, schlug eine Schwingtür, und ein stämmiger, sonnenverbrannter Mann kam die Hintertreppe herunter. Er trug einen Papierhelm zum Schutz gegen die Sonne und rollte sich die Ärmel hoch, als er durch den Garten kam. Seine dicken sonnengebleichten Augenbrauen waren finster zusammengezogen. Seine Backen waren rot von der Sonne. »Morgen, Mister Thomas«, sagte Timothy. »Morgen.« Der Mann sprach gereizt. Timothy sagte: »Das hier ist Tom Joad. Wir haben gedacht, ob er vielleicht bei Ihnen arbeiten kann.« Thomas warf Tom einen finsteren Blick zu. Und dann lachte er kurz, und seine Brauen waren noch immer zusammengezogen. »Na, sicher kann er bei mir arbeiten! Bei mir können alle arbeiten. Hundert Leute können hier arbeiten, und ich stelle sie alle an.« 521
»Wir haben nur gedacht …«, begann Timothy entschuldigend. Thomas unterbrach ihn. »Ja, ich habe auch gedacht.« Er fuhr herum und sah sie an. »Ich muß euch was sagen. Ich habe euch dreißig Cents pro Stunde bezahlt – stimmt’s?« »Natürlich, Mister Thomas … aber …« »Und ich habe für dreißig Cents Arbeit dafür gekriegt.« Seine schweren harten Hände klatschten gegeneinander. »Wir geben uns Mühe, gut zu arbeiten.« »Ja, verdammt noch mal, heute kriegt ihr aber nur fünfundzwanzig Cents die Stunde. Nehmt’s oder laßt’s bleiben.« Sein Gesicht wurde noch röter vor Wut. Timothy sagte: »Wir haben gut gearbeitet. Das haben Sie selber gesagt.« »Ich weiß es. Aber es scheint, daß ich keine Leute mehr anstellen kann, wie ich will.« Er schluckte. »Hört zu«, sagte er, »ich habe hier fünfundsechzig Hektar. Habt ihr schon mal was vom Farmer-Verband gehört?« »Natürlich.« »Also, da gehöre ich dazu. Wir haben gestern abend ’ne Versammlung gehabt. Aber wißt ihr auch, wer den Farmer-Verband in Wirklichkeit macht? Ich will’s euch sagen. Die Bank des Westens. Der Bank gehört fast das ganze Tal, und was ihr nicht gehört, da hat sie Papiere von, und gestern abend hat mir einer von der Bank gesagt: ›Sie bezahlen doch dreißig Cents die Stunde‹, sagt er. ›Ich rate Ihnen, drücken Sie’s auf fünfundzwanzig.‹ Und ich sage: ›Aber ich habe gute Leute. Sie sind dreißig 522
wert.‹ Und er sagt: ›Darum geht’s nicht‹, sagt er. ›Der Lohn ist jetzt fünfundzwanzig, und wenn Sie dreißig bezahlen, bringt das nur Unruhe. Und nebenbei‹, sagte er, ›Sie brauchen doch wohl wieder das übliche ErnteDarlehen nächstes Jahr?‹« Thomas hielt inne. Der Atem kam ihm keuchend über die Lippen. »Versteht ihr? Also, der Lohn ist fünfundzwanzig Cents – macht, was ihr wollt.« »Aber wir haben doch gut gearbeitet«, sagte Timothy hilflos. »Hast du’s noch nicht kapiert? Die Bank stellt zweitausend Leute an und ich nur drei. Und die Bank hat Papiere von mir. Wenn ihr ’n Ausweg wißt – mir soll’s recht sein! Die haben mich in der Hand.« Timothy schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« »Wartet mal ’n Augenblick.« Thomas lief schnell ins Haus. Die Tür schlug hinter ihm zu. Einen Moment später war er zurück, mit einer Zeitung in der Hand. »Habt ihr das gesehn? Paßt auf, ich les’ es vor: ›Städter brennen Camp nieder – aus Wut über rote Agitatoren. In der vergangenen Nacht brannten Städter, aufgebracht über die Agitation in einem Siedlercamp, die Zelte nieder und forderten die Agitatoren auf, das Land zu verlassen.‹« Tom begann: »Aber ich …«, und dann schloß er den Mund und schwieg. Thomas faltete die Zeitung sorgfältig zusammen und steckte sie in die Tasche. Er hatte sich wieder in der Gewalt. Er sagte ruhig: »Diese Leute sind vom Verband 523
geschickt worden. Jetzt wißt ihr’s. Und wenn die jemals erfahren, daß ich’s euch gesagt habe, dann habe ich nächstes Jahr keine Farm mehr.« »Ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll«, sagte Timothy. »Wenn’s wirklich Agitatoren waren, verstehe ich schon, daß die Leute wütend geworden sind.« Thomas sagte: »Ich habe das schon lange beobachtet. Immer vor ’ner Lohnsenkung gibt’s rote Agitatoren. Immer. Verdammt, die Kerle haben mich in der Hand. Also, was wollt ihr machen? Fünfundzwanzig Cents?« Timothy blickte zu Boden. »Ich arbeite«, sagte er. »Ich auch«, erklärte Wilkie. Tom sagte: »Scheint, als wäre ich da in was reingetreten. Natürlich arbeite ich. Ich muß ja.« Thomas zog ein braunes Taschentuch aus der hinteren Hosentasche und wischte sich Mund und Kinn damit ab. »Ich weiß nicht, wie lang es noch geht. Wie wollt ihr denn ’ne Familie ernähren mit dem, was ihr jetzt kriegt?« »Wenn wir arbeiten, geht’s schon«, sagte Wilkie. »Schlimm ist’s nur, wenn wir keine Arbeit haben.« Thomas blickte auf seine Uhr. »Also, dann gehn wir mal unsern Graben schaufeln. Ach ja«, sagte er, »ich muß euch was erzählen. Ihr lebt doch in dem staatlichen Camp da drüben, nicht wahr?« Timothy sah ihn an. »Jawohl.« »Und ihr habt jeden Samstagabend ’ne Tanzerei?« Wilkie lächelte. »Tja, und ob!« »Also, paßt mal nächsten Samstagabend ’n bißchen auf.« 524
Plötzlich richtete Timothy sich auf. Er trat näher an Thomas heran. »Wie meinen Sie das? Ich gehöre zum Zentralkomitee. Ich muß das wissen.« Thomas machte ein beunruhigtes Gesicht. »Aber sagen Sie keinem was, daß ich’s erzählt habe.« »Was ist denn los?« fragte Timothy. »Also, der Verband – dem gefallen die staatlichen Lager nicht. Er kann keine Polizisten reinschicken. Die Leute machen ihre eignen Gesetze, wie ich höre, und ohne Haftbefehl kann man keinen festnehmen. Wenn’s aber nun zum Beispiel ’ne große Schlägerei geben würde mit Schießen und so – dann könnten die Polizisten reingehn und das Camp ausräumen.« Mit Timothy war eine Veränderung vorgegangen. Seine Schultern waren aufrecht und seine Augen kalt. »Was meinen Sie damit?« »Erzählt keinem Menschen, wo ihr’s gehört habt!« sagte Thomas beunruhigt. »Nächsten Samstag gibt’s ’ne Schlägerei bei euch im Camp, und draußen stehn Polizisten, die sofort reinstürzen, wenn’s losgeht.« Tom fragte: »Aber warum denn, um Gottes willen? Die Leute tun doch keinem Menschen was.« »Ich will Ihnen sagen, warum«, erklärte Thomas. »Die Leute in dem Camp gewöhnen sich dran, wie Menschen behandelt zu werden. Wenn sie dann mal zurückmüssen in die anderen dreckigen Camps, dann sind sie schwer zu behandeln.« Er wischte sich wieder das Gesicht. »Jetzt geht arbeiten. Gott, ich hoffe, ich habe mich nicht um meine Farm geredet. Aber ihr gefallt mir.« Timothy trat vor ihn und streckte seine magere harte 525
Hand aus, die Thomas ergriff. »Es erfährt niemand, wer’s uns erzählt hat. Wir danken Ihnen. Es gibt keine Schlägerei am Samstag.« »Jetzt geht arbeiten«, sagte Thomas. »Und fünfundzwanzig Cents die Stunde – verstanden?« »Ja, fünfundzwanzig Cents«, sagte Wilkie. »Weil Sie’s sind.« Thomas ging zum Hause zurück. »Ich komme gleich raus«, sagte er. »Fangt nur schon an.« Die Schwingtür schlug hinter ihm zu. Die drei Männer gingen an einem kleinen getünchten Schuppen vorbei und an einem Feld entlang und kamen an einen langen, schmalen Graben, neben dem Teile einer Betonröhrenleitung lagen. »Hier arbeiten wir«, sagte Wilkie. Sein Vater öffnete den Schuppen und holte zwei Spitzhacken und drei Schaufeln heraus. Und er sagte zu Tom: »Hier hast du deine Süße!« Tom ergriff die Spitzhacke. »Lieber Gott! Ist das ein schönes Gefühl!« »Warte nur bis um elf«, meinte Wilkie, »ob’s dann auch noch so ’n schönes Gefühl ist.« Sie gingen zum Ende des Grabens. Tom zog seine Jacke aus und warf sie auf den Erdhaufen. Er schob sich die Mütze zurück und sprang in den Graben. Dann spuckte er sich in die Hände. Er holte aus und ließ die Hacke niedersausen und grunzte leise dabei. Die Hacke hob sich und fiel nieder, und das Grunzen kam in dem Augenblick, in dem sie in den Boden drang und ihn lockerte. 526
Wilkie sagte: »Tja, Vater, das ist ’n Maulwurf. Der Junge ist mit seiner kleinen Hacke verheiratet.« Tom sagte: »Hat mich auch Zeit gekostet (m-mpf!). Jawohl (m-mpf!). Hat mich Jahre gekostet (m-mpf!). Mensch, das ist ’n Gefühl (m-mpf!).« Vor ihm lockerte sich der Boden. Die Sonne drang jetzt durch die Obstbäume, und die Blätter an den Weinstöcken waren goldgrün. Sechs Fuß weiter – und Tom trat zur Seite und wischte sich die Stirn. Wilkie holte ihn ein. Die Schaufel hob sich und fiel, und die Erde flog auf den Haufen neben den Graben. »Ich habe schon von dem Zentralkomitee gehört«, sagte Tom. »Also, du gehörst dazu.« »Jawohl«, erwiderte Timothy. »Und das ist ’ne Verantwortung. Alle die Leute. Wir tun unser Bestes. Und die Leute im Camp tun auch ihr Bestes. Ich wollte, die großen Farmer würden uns nicht so zusetzen. Dann wär’ alles gut.« Tom kletterte wieder in den Graben, und Wilkie ruhte sich aus. Tom sagte: »Und diese Keilerei am Samstag (m-mpf!), wo er von gesprochen hat (m-mpf!) … warum machen die so was?« Timothy folgte hinter Wilkie, und Timothys Schaufel schrägte den Boden des Grabens ab und glättete ihn für die Röhrenleitung. »Scheint so, daß sie uns fortjagen wollen«, sagte Timothy. »Sie haben Angst, daß wir uns organisieren, nehme ich an. Und wahrscheinlich haben sie recht. Unser Camp ist ’ne Organisation. Die Leute da sorgen für sich selber. Wir haben die schönste Musikkapelle in der ganzen Gegend. Und wir haben ein 527
kleines Konto beim Krämer – für Leute, wo nichts zu fressen haben. Und wir haben noch nie Geschichten mit der Polizei gehabt. Ich glaube, das ist’s, wo die großen Farmer Angst vor haben. Können uns nicht ins Kittchen stecken und denken wahrscheinlich, wenn wir für uns selber sorgen können, können wir vielleicht auch noch andre Sachen machen.« Tom stieg aus dem Graben und wischte sich den Schweiß von den Augen. »Habt ihr gehört, was er aus der Zeitung vorgelesen hat über die Agitatoren da im Norden von Bakersfield?« »Jaja«, sagte Wilkie. »Das machen sie andauernd.« »Na, ich war da in dem Camp. Nicht die Spur von Agitatoren. Von Roten, wie sie’s nennen. Was, zum Teufel, sind überhaupt diese Roten?« Timothy trug eine kleine Erhebung am Boden des Grabens ab. Die Sonne fing sich in seinen weißen Bartstoppeln. »Es gibt viele, die wissen wollen, was eigentlich Rote sind.« Er lachte. »Einer von unsern Jungens hat’s rausgefunden.« Er klopfte die Erde mit seiner Schaufel glatt. »Da ist ein Mann namens Hines – hat rund dreißigtausend Hektar, Pfirsiche und Trauben – und hat ’ne Konservenfabrik und ’ne Kelterei. Der redet dauernd von den ›verdammten Roten‹. ›Diese verdammten Roten treiben das Land noch in den Ruin‹, sagt er, und ›Wir müssen diese roten Schweine fortjagen‹. Na, und da war ein junger Kerl, der grad in den Westen gekommen ist, und der hört das eines Tages. Er kratzt sich den Kopf und sagt: ›Mister Hines, ich bin noch nicht lange hier. Was ist denn das – diese verdammten Roten?‹ Na, 528
und Hines sagt: ›Jedes Schwein, wo dreißig Cents die Stunde will, wenn wir fünfundzwanzig zahlen, ist ’n Roter!‹ Der junge Kerl überlegt sich’s und kratzt sich den Kopf und sagt: ›Tja, Mister Hines, ich bin kein Schwein, aber wenn das die Roten sind – ja, ich will auch dreißig Cents die Stunde. Das wollen wir alle. Verdammt noch mal, Mister Hines, dann sind wir ja alle Rote.‹« Timothy fuhr mit seiner Schaufel am Boden des Grabens entlang, und die feste Erde glänzte an den Stellen, wo die Schaufel sie zerschnitt. Tom lachte. »Ich auch, glaube ich.« Er schwang seine Hacke und ließ sie niedersausen, und die Erde krachte unter dem Schlag. Der Schweiß lief ihm über die Stirn und zu beiden Seiten der Nase hinab und glitzerte auf seinem Hals. »Verdammt noch eins«, sagte er, »’ne Hacke ist ’ne gute Sache (m-mpf!), wenn man’s versteht (m-mpf!). Wenn man mit ihr zusammenarbeitet (m-mpf!) – mit der Hacke (m-mpf!).« Die drei Männer arbeiteten, und der Graben wurde langsam länger, und die Sonne schien heiß auf sie nieder, je mehr der Morgen vorrückte. Als Tom sie verlassen hatte, stand Ruthie noch ein Weilchen an der Tür des Sanitärgebäudes und spähte hinein. Ihr Mut war nicht groß, wenn kein Winfield da war, vor dem sie damit prahlen konnte. Sie setzte ihren nackten Fuß auf den Betonboden und zog ihn dann zurück. In der Zeltstraße kam eine Frau aus ihrem Zelt heraus und zündete in einem Blechherd ein Feuer an. Ruthie tat ein paar Schritte in dieser Richtung, aber sie konnte nicht 529
den Entschluß fassen, sich weiter zu entfernen. Sie kroch zum Eingang ihres elterlichen Zeltes und blickte hinein. Auf der einen Seite lag Onkel John auf der Erde, den Mund offen und leise und tief in der Kehle schnarchend. Vater und Mutter lagen unter einer Decke im Dunkeln, die Köpfe vom Eingang entfernt. Al lag auf der Seite gegenüber von Onkel John und hatte sich den Arm über die Augen gedeckt. Nahe am Eingang des Zeltes lagen Rose von Sharon und Winfield, und neben Winfield, wo Ruthie gelegen hatte, war ein freier Platz. Sie hockte sich hin und blickte hinein. Ihre Augen blieben auf Winfields Strohkopf ruhen, und während sie ihn noch betrachtete, wurde der Kleine wach und blickte mit ernsten Augen zu ihr heraus. Ruthie legte ihren Finger an den Mund und machte ihm mit der anderen Hand ein Zeichen. Winfield rollte seine Augen hinüber zu Rose von Sharon. Ihr vom Schlaf gerötetes Gesicht war ihm nahe, und ihr Mund war ein wenig geöffnet. Winfield schlug vorsichtig die Decke zurück und schlüpfte hinaus. Langsam und geräuschlos kroch er aus dem Zelt zu Ruthie. »Wie lange bist du denn schon auf?« flüsterte er. Sie führte ihn mit vollendeter Vorsicht vom Zelt weg, und als sie in Sicherheit waren, sagte sie: »Ich bin gar nicht im Bett gewesen. Ich war die ganze Nacht auf.« »Warst du nicht!« sagte Winfield. »Du lügst!« »Gut«, sagte sie, »wenn ich lüge, erzähl ich dir auch nicht, was alles passiert ist. Dann erzähl ich dir nicht, wie der Mann mit ’nem Dolchmesser erstochen worden ist – und wie ’n Bär gekommen ist und ’n kleines Kind geholt hat.« 530
»Kein Bär ist dagewesen«, sagte Winfield unbehaglich. Er kämmte sein Haar mit den Fingern zurück und zog sich die Hosen hoch. »Gut – dann war eben kein Bär da«, sagte sie hämisch. »Und da sind auch keine weißen Sachen aus Tellerporzellan, wie in den Katalogen.« Winfield betrachtete sie ernst. Er deutete auf das Sanitärgebäude. »Da drin?« »Ich lüge doch«, sagte Ruthie. »Da brauche ich dir ja auch nichts mehr zu erzählen.« »Komm, gehn wir gucken«, sagte Winfield. »Ich bin schon dringewesen«, sagte Ruthie. »Ich habe sogar schon auf einer draufgesessen und …« »Hast du nicht!« sagte Winfield. Sie gingen zu dem Gebäude hinüber, und diesmal hatte Ruthie keine Angst. Mutig trat sie vor ihm ein. Die Toiletten nahmen die eine Wand des großen Raumes ein, und jede Toilette hatte ein kleines Abteil mit einer Tür davor. Das Porzellan war glänzend weiß. An der gegenüberliegenden Wand befanden sich die Waschbecken, und an der anderen vier Duschräume. »Da«, sagte Ruthie. »Das sind die Toiletten. Ich habe sie schon im Katalog gesehn.« Die Kinder schlichen sich an eine der Toiletten heran. Ruthie, in einer Anwandlung von Mut und Prahlerei, hob ihr Kleid hoch und setzte sich hin. »Ich habe dir doch gesagt, ich bin schon hier gewesen«, sagte sie. Und wie zum Beweis dafür lief Wasser in das Becken. Winfield war verlegen. Seine Hand umklammerte den 531
Zugriff, und das Wasser brauste herab. Ruthie sprang in die Luft und lief davon. Sie und Winfield blieben in der Mitte des Raumes stehen und blickten hinüber zu der Toilette. Das Wasser zischte noch immer. »Du bist’s gewesen«, sagte Ruthie. »Du hast’s kaputtgemacht. Ich hab’ es gesehn.« »Nein, ich war’s nicht. Wirklich nicht.« »Ich hab’ es doch gesehn«, sagte Ruthie. »Auf dich kann man sich eben nicht verlassen bei so hübschen Sachen.« Winfields Kopf sank herab. Er blickte zu Ruthie auf, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Sein Kinn zitterte. Und Ruthie bereute sofort. »Nicht so schlimm«, sagte sie. »Ich petz’ es auch nicht. Wir sagen einfach, es war schon kaputt. Oder wir sagen, wir sind überhaupt nicht dringewesen.« Sie führte ihn hinaus. Die Sonne war jetzt über den Bergen, schien auf die Wellblechdächer der fünf Sanitärgebäude, schien auf die grauen Zelte und auf den gefegten Boden der Straße zwischen den Zelten. Und das Camp erwachte. In den Kochherden brannten Feuer, den Herden, die aus Kerosinbüchsen und Blech zusammengebaut waren. Die Luft roch nach Rauch. Zelteingänge wurden geöffnet, und in den Straßen erschienen Leute. Vor dem Zelt der Joads stand Mutter und suchte mit den Augen die Straße ab. Sie sah die Kinder und kam ihnen entgegen. »Ich habe mir Sorgen gemacht«, sagte Mutter. »Wo seid ihr denn gewesen?« »Och, wir haben nur geguckt«, sagte Ruthie. 532
»Und wo ist Tom? Habt ihr ihn gesehn?« Ruthie nahm eine wichtige Miene an. »Ja, ich habe ihn gesehn! Tom – der hat mich aufgeweckt und mir gesagt, was ich dir sagen soll.« Sie machte eine Pause, damit ihre Wichtigkeit auch deutlich genug wurde. »Also – was?« fragte Mutter. »Er hat gesagt, ich soll dir sagen …« Sie machte eine neue Pause und blickte hinüber zu Winfield, um zu sehen, ob dieser ihre Wichtigkeit auch genügend würdigte. Mutter hob die Hand, den Handrücken gegen Ruthie gerichtet. »Was?« »Er hat Arbeit«, sagte Ruthie schnell. »Er ist arbeiten gegangen.« Sie sah ängstlich auf Mutters erhobene Hand. Die Hand sank und griff nach Ruthie. Mutter umspannte Ruthies Schultern und umarmte sie schnell und zärtlich, dann ließ sie sie wieder los. Ruthie starrte verlegen zu Boden und änderte das Thema. »Da drüben hat’s Toiletten«, sagte sie. »Weiße.« »Bist du schon dort gewesen?« fragte Mutter. »Ja, ich und Winfield«, sagte sie, und dann – die Verräterin! –: »Winfield hat ’ne Toilette kaputtgemacht.« Winfield wurde rot. Er warf Ruthie einen Blick zu. »Und Ruthie hat P… gemacht in eine«, sagte er bös. Mutter wurde argwöhnisch. »Also, was habt ihr gemacht? Zeigt’s mir.« Sie schob die beiden zur Tür hinein. »Was habt ihr gemacht?« Ruthie zeigte auf die Toilette. »Das hat gezischt und gepfeift. Jetzt hat’s aufgehört.« »Zeig mir, was ihr gemacht habt«, verlangte Mutter. 533
Winfield ging widerstrebend zu der Toilette. »Ich habe gar nicht sehr gezogen«, sagte er. »Ich habe mich nur hier angehalten und …« Wieder kam das Wasser heruntergebraust. Er sprang zur Seite. Mutter warf den Kopf zurück und lachte, während Ruthie und Winfield sie finster betrachteten. »Das muß doch so sein«, sagte Mutter. »Ich hab’ das früher schon mal gesehn. Wenn man fertig ist, zieht man da.« Die Scham über ihre Unwissenheit war zu groß für die Kinder. Sie liefen hinaus und gingen die Straße hinunter und sahen einer Familie beim Frühstück zu. Mutter blickte ihnen nach. Dann sah sie sich in dem Raum um. Sie ging zu den Duschräumen und blickte hinein. Sie ging zu den Waschbecken und fuhr mit dem Finger über das weiße Porzellan. Sie drehte das Wasser ein wenig an und hielt ihren Finger darunter und zuckte zurück, denn das Wasser war heiß. Einen Augenblick lang betrachtete sie das Waschbecken, dann steckte sie den Stöpsel in den Abfluß und ließ ein wenig kaltes und ein wenig warmes Wasser in das Becken fließen. Und sie wusch sich die Hände in dem warmen Wasser und wusch sich das Gesicht. Sie strich sich gerade mit den Fingern Wasser ins Haar, als sie hinter sich Schritte auf dem Betonfußboden hörte. Sie fuhr herum. Ein älterer Mann stand da und sah sie mit einem Ausdruck berechtigten Entsetzens an. Er sagte scharf: »Wie kommen Sie denn hier rein?« Mutter schluckte, und sie fühlte, wie ihr das Wasser vom Kinn heruntertropfte und das Kleid durchnäßte. 534
»Ich habe nicht gewußt …«, sagte sie entschuldigend. »Ich habe gedacht, man kann das hier benutzen.« Der ältere Mann sah sie finster an. »Ja, Männer«, sagte er streng. Er ging zur Tür und zeigte auf ein Schild: Männer. »Hier – damit Sie mir’s glauben!« sagte er. »Haben Sie das denn nicht gesehn?« »Nein«, sagte Mutter beschämt, »ich hab’ es nicht gesehn. Gibt’s denn nichts, wo wir hingehn können?« Der Ärger des Mannes verflog. »Sie sind wohl grade gekommen?« fragte er freundlicher. »Ja, mitten in der Nacht«, sagte Mutter. »Da haben Sie noch nicht mit dem Komitee gesprochen?« »Was für ’n Komitee?« »Na, das Damenkomitee.« »Nein, noch nicht.« Er sagte mit gewissem Stolz: »Das Komitee wird Sie heute früh besuchen und Ihnen alles zeigen. Wir kümmern uns um Leute, wo grade gekommen sind. Und wenn Sie auf die Damentoilette wollen, dann müssen Sie auf der anderen Seite reingehn. Das ist Ihre Seite.« Mutter sagte unbehaglich: »Sie sagen, ein Damenkomitee … kommt uns besuchen in unserem Zelt?« Er nickte. »Ja, und wahrscheinlich bald, nehme ich an.« »Vielen Dank«, sagte Mutter. Sie eilte hinaus und lief zum Zelt. »Vater!« rief sie. »John! Steht auf! Al! Aufstehen und waschen.« Verblüffte, schläfrige Augen blickten zu ihr heraus. 535
»Ja, ihr alle!« rief Mutter. »Steht auf und wascht euch das Gesicht. Und kämmt euch die Haare.« Onkel John sah blaß und krank aus. Er hatte eine rote, geschwollene Stelle am Kinn. Vater fragte: »Was ist denn los?« »Das Komitee«, rief Mutter. »Es hat ein Komitee – ein Damenkomitee … und die besuchen uns. Steht auf und wascht euch. Und wie wir noch geschlafen und geschnarcht haben, ist Tom schon fortgegangen und hat Arbeit. Jetzt steht auf!« Sie kamen schläfrig aus dem Zelt. Onkel John schwankte ein wenig, und sein Gesicht war schmerzverzogen. »Geht da in das Haus und wascht euch«, befahl Mutter. »Wir müssen frühstücken und uns fertigmachen für das Komitee.« Sie ging zu einem kleinen Haufen Holz, der auf ihrem Campplatz lag. Sie brannte ein Feuer an und holte ihre Kochtöpfe hervor. »Maiskuchen«, sagte sie zu sich selbst. »Maiskuchen und Soße. Das geht schnell. Muß ja auch schnell gehn.« Sie sprach weiter zu sich selbst, und Ruthie und Winfield standen verwundert daneben. Der Rauch der Feuer lag über dem Camp, und von allen Seiten kamen Stimmen. Rose von Sharon, ungekämmt und mit verschlafenen Augen, kroch aus dem Zelt. Mutter warf ein paar Hände voll Maismehl in eine Schüssel. Sie drehte sich um, sah das zerknüllte, schmutzige Kleid des Mädchens und ihr verfilztes unordentliches Haar. »Du mußt dich waschen und ’n bißchen herrichten«, sagte sie. »Geh da rüber und wasch dich. Du hast auch ’n sauberes Kleid. Und kämm dir das Haar. 536
Und wasch dir den Schlaf aus den Augen.« Mutter war sehr aufgeregt. Rose von Sharon sagte verdrossen: »Ich fühle mich nicht gut. Ich wollte, Connie wäre da. Ich kann überhaupt nichts machen ohne Connie.« Mutter wandte sich ganz zu ihr um. Das gelbe Maismehl klebte ihr an den Händen und Handgelenken. »Rosasharn«, sagte sie streng, »nimm dich zusammen. Du hast genug geheult. Es kommt ein Damenkomitee uns besuchen, und die Familie darf nicht schmuddelig aussehn, wenn die kommen.« »Aber ich fühle mich nicht gut.« Mutter trat auf sie zu, die mehligen Hände ausgestreckt. »Jetzt geh«, sagte Mutter. »Es gibt Momente, wo man’s für sich behalten muß, wie man sich fühlt.« »Ich muß mich erbrechen«, winselte Rose von Sharon. »Gut, dann geh dich erbrechen. Natürlich mußt du dich erbrechen. Das müssen alle. Und wenn du fertig bist, dann mach dich hübsch und wasch dir die Beine und zieh deine guten Schuhe an.« Sie wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. »Und flecht dir deine Haare«, sagte sie. Eine Bratpfanne voll Fett stand auf dem Feuer, und das Fett spritzte und zischte, als Mutter mit einem Löffel den Teig hineintat. Sie mischte in einem Tiegel Mehl mit Fett, gab Wasser und Salz dazu und rührte die Soße um. Der Kaffee begann überzukochen, und ein guter Geruch stieg auf. Vater kam aus dem Sanitärgebäude zurück, und Mutter betrachtete ihn kritisch. Vater sagte: »Also, Tom hat schon Arbeit?« 537
»Jawohl. Er ist fortgegangen, eh’ wir überhaupt wach waren. Jetzt geh an die Kiste da und hol dir einen sauberen Overall und ein Hemd raus. Und, Vater, ich habe schrecklich zu tun. Kümm’re du dich um Ruthies und Winfields Ohren. Es hat auch heißes Wasser. Willst du das machen? Schrubb ihnen richtig die Ohren und auch die Hälse. Sie müssen rot sein und glänzen.« »So aufgeregt habe ich dich noch nie gesehn«, sagte Vater. Mutter rief: »Es kommt ’n Moment, wo ’ne Familie auch mal wieder ordentlich werden muß. Auf der Fahrt ist das nicht gegangen. Aber jetzt geht’s. Wirf deinen dreckigen Overall ins Zelt, ich wasche ihn dir aus.« Vater ging ins Zelt und kam einen Augenblick später wieder heraus und hatte einen blaßblauen, gewaschenen Overall und ein ebensolches Hemd an. Und er führte die zerknirschten und verblüfften Kinder in den Waschraum. Mutter rief ihm nach: »Schrubb ihnen gut die Ohren!« Onkel John kam auf der Männerseite aus der Tür und sah sich um, dann ging er wieder zurück und setzte sich auf die Toilette und hielt lange seinen schmerzenden Kopf in den Händen. Mutter hatte die Pfanne mit den braunen Maiskuchen vom Feuer genommen und tat eben mit dem Löffel Teig in eine zweite Pfanne, als auf die Erde neben ihr ein Schatten fiel. Sie blickte sich über die Schulter um. Ein kleiner Mann ganz in Weiß stand hinter ihr – ein Mann mit einem dünnen braunen faltigen Gesicht und lustigen Augen. Er war mager wie ein Zaunpfahl. Sein 538
sauberer weißer Anzug war an den Nähten ausgefranst. Er lächelte Mutter an. »Guten Morgen«, sagte er. Mutter blickte auf seinen weißen Anzug, und ihr Gesicht verschloß sich voller Mißtrauen. »Morgen«, sagte sie. »Sind Sie Missis Joad?« »Ja.« »Ich bin Jim Rawley, der Vorsteher. Ich komme nur vorbei, weil ich sehen will, ob alles in Ordnung ist. Haben Sie alles, was Sie brauchen?« Mutter betrachtete ihn mißtrauisch. »Ja«, sagte sie. »Ich habe schon geschlafen, wie Sie gestern abend kamen. Schön, daß wir noch einen Platz für Sie hatten.« Seine Stimme war warm. Mutter sagte einfach: »’s ist hübsch hier. Besonders die Waschwannen.« »Warten Sie nur, bis die Frauen zum Waschen gehn. Sehr bald wahrscheinlich. So ’n Lärm haben Sie noch nie gehört. Wie ’ne Versammlung. Wissen Sie, was sie gestern gemacht haben, Missis Joad? Sie haben ’nen Chor gemacht. Einen Choral gesungen und dabei Wäsche geschrubbt. Das muß man gehört haben.« Das Mißtrauen schwand aus Mutters Gesicht. »Muß hübsch gewesen sein. Sind Sie der Boß?« »Nein«, sagte er. »Die Leute hier haben mir ja die Arbeit abgenommen. Sie halten das Camp sauber, halten Ordnung, machen alles. Ich habe noch nie solche Leute gesehen. Im Versammlungssaal nähen sie Kleider. Und dann machen sie Spielzeuge. In meinem Leben noch nicht solche Leute gesehn.« 539
Mutter sah an ihrem schmutzigen Kleid hinab. »Wir sind noch nicht sauber«, sagte sie. »Beim Reisen bleibt man einfach nicht sauber.« »Das kenne ich«, sagte er. Er sog schnüffelnd die Luft ein. »Sagen Sie – ist das Ihr Kaffee, der so gut riecht?« Mutter lächelte: »Riecht gut, was? Draußen im Freien riecht er immer besonders gut.« Und sie sagte stolz: »Es würde uns eine große Ehre sein, wenn Sie mit uns frühstücken würden.« Er kam zum Feuer und hockte sich auf den Boden, und Mutters letzter Widerstand brach. »Wir würden uns sehr freuen«, sagte sie. »Wir haben nicht viel Gutes, aber Sie sind willkommen.« Der kleine Mann lächelte sie an. »Ich habe schon gefrühstückt. Aber ’ne Tasse von Ihrem Kaffee nehme ich gerne. Riecht so gut.« »Aber … aber natürlich.« »Beeilen Sie sich nicht.« Mutter goß in eine Blechtasse Kaffee aus der großen Kanne. Sie sagte: »Wir haben noch keinen Zucker. Vielleicht kaufen wir heute welchen. Wenn Sie Zucker brauchen, schmeckt’s Ihnen sicher nicht so gut.« »Ich nehme nie Zucker«, sagte er. »Das verdirbt den Geschmack von gutem Kaffee.« »Na, ich nehme gerne ’n bißchen«, sagte Mutter. Sie sah ihn plötzlich genau an, vielleicht, um festzustellen, wie er ihr so schnell hatte so nahekommen können. Sie suchte in seinem Gesicht nach einem Motiv und fand nichts als Freundlichkeit. Sie sah die ausgefransten Nähte an seiner Jacke, und da war sie beruhigt. 540
Er schlürfte den Kaffee. »Ich nehme an, die Damen werden Sie heute früh besuchen kommen.« »Aber wir sind noch nicht eingerichtet«, sagte Mutter. »Sie sollen erst kommen, wenn wir uns ein bißchen in Ordnung gebracht haben.« »Aber die wissen doch, wie’s ist«, sagte der Vorsteher. »Sie sind doch genauso gekommen. Nein, nein. Die Komitees sind gut in diesem Camp, weil sie Bescheid wissen.« Er trank seinen Kaffee aus und stand auf. »Ja, ich muß weiter. Wenn Sie was brauchen, dann kommen Sie nur in mein Büro. Ich bin immer da. Wunderbarer Kaffee. Vielen Dank.« Er stellte die Tasse auf die Kiste zu den anderen, grüßte mit der Hand und ging weiter an der Zeltreihe entlang. Und Mutter hörte ihn überall mit den Leuten sprechen. Mutter ließ ihren Kopf sinken und kämpfte mit den Tränen. Vater kam mit den Kindern zurück, deren Augen noch feucht waren von dem ausgestandenen Schmerz beim Ohrenschrubben. Sie waren klein, gebändigt und glänzten. Die sonnenverbrannte Haut auf Winfields Nase war heruntergeschrubbt. »Da sind wir«, sagte Vater. »Dreck und zwei Schichten Haut sind runtergekommen. Wollten überhaupt nicht stillstehn, die Bälger.« Mutter lobte sie. »Jetzt seht ihr aber hübsch aus«, sagte sie. »Nehmt euch Maiskuchen und Soße. Wir müssen das Zeug wegräumen und das Zelt ordentlich machen.« Vater legte den Kindern und sich selbst auf. »Möchte wissen, wo Tom Arbeit gekriegt hat.« »Ich weiß nicht.« 541
»Na, was der kann, können wir auch.« Al kam aufgeregt zurück zum Zelt. »Das ist ein Camp!« sagte er. Er legte sich auf und goß sich Kaffee ein. »Wißt ihr, was da hinten einer macht? Er baut sich ’n Wohnwagen. Gleich da drüben, hinter den Zelten. Hat Betten und ’n Herd und alles. Kannst richtig drin wohnen. Tja, so muß man leben! Wo man anhält, da kann man bleiben.« Mutter sagte: »Ich habe lieber ’n kleines Haus. Sobald wir können, möchte ich ’n kleines Haus.« Vater sagte: »Al – wenn wir gegessen haben, nehmen wir den Wagen, du und ich und Onkel John, und suchen uns Arbeit.« »Na, Mensch, und ob!« sagte Al. »Ich möchte in ’ner Garage arbeiten, wenn’s überhaupt was gibt. Das ist ’ne Arbeit, die ich wirklich gerne mache. Und dann ’n alten kleinen Ford und den gelb angestrichen und dann losgefahren. Ich habe da unten auf der Straße ’n hübsches Mädchen gesehn. Und zugewinkt habe ich ihr, ganz groß, natürlich. Verdammt hübsch gewesen, das Mädchen.« Vater sagte streng: »Such dir lieber erst mal Arbeit, eh’ du dein Lotterleben wieder anfängst.« Onkel John kam aus der Toilette und schlurfte langsam näher. Mutter sah ihn mißbilligend an. »Du bist ja nicht gewaschen …«, begann sie, und dann merkte sie, wie schlecht, wie schwach und niedergeschlagen er aussah. »Geh ins Zelt und leg dich hin«, sagte sie. »Dir geht’s ja nicht gut.« Er schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Ich habe 542
gesündigt und muß bestraft werden.« Er setzte sich verzweifelt hin und goß sich Kaffee ein. Mutter nahm die letzten Maiskuchen aus der Pfanne. Sie sagte ganz nebenbei: »Der Vorsteher vom Camp war hier und hat Kaffee bei mir getrunken.« Vater blickte langsam auf und zu ihr hinüber. »Soo? Schon? Was hat er denn gewollt?« »Ach, nur so zum Zeitvertreib«, sagte Mutter geziert. »Hat sich hier hingesetzt und Kaffee getrunken. Er hat gesagt, er kriegt nicht oft guten Kaffee und hat unsern gerochen.« »Was hat er denn gewollt?« fragte Vater noch einmal. »Nichts hat er gewollt. Nur sehn, ob wir alles haben.« »Das glaube ich nicht«, sagte Vater. »Wahrscheinlich hat er nur rumgeschnüffelt.« »Das hat er nicht!« rief Mutter ärgerlich. »Ich kann genausogut wie jeder andre sehn, wenn einer rumschnüffelt.« Vater goß den Kaffeesatz aus seiner Tasse auf den Boden. »Das mußt du dir abgewöhnen«, sagte Mutter. »Hier ist nämlich ’n sauberes Camp.« »Paß nur auf, bald ist’s so verdammt sauber, daß man gar nicht mehr drin leben kann«, sagte Vater bissig. »Mach schnell, Al. Wir müssen auf Arbeitssuche.« Al wischte sich den Mund mit der Hand ab. »Ich bin fertig«, sagte er. Vater wandte sich an Onkel John. »Kommst du mit?« »Ja, ich komme mit.« »Du siehst aber gar nicht gut aus.« 543
»Mir geht’s auch nicht gut, aber ich komme mit.« Al stieg in den Wagen. »Wir brauchen Benzin«, sagte er. Er startete den Motor. Vater und Onkel John setzten sich neben ihn, und der Wagen fuhr durch die Straße davon. Mutter blickte ihnen nach. Dann nahm sie einen Eimer und ging zu den Waschtrögen unter dem offenen Teil des Sanitärgebäudes. Sie füllte den Eimer mit heißem Wasser und trug ihn zurück zu ihrem Lagerplatz. Sie wusch gerade die Teller im Eimer ab, als Rose von Sharon zurückkam. »Ich habe dir dein Essen auf ’n Teller getan«, sagte Mutter. Und dann sah sie das Mädchen näher an. Ihr Haar war naß und gekämmt, und ihre Haut war rosig und glänzte vor Sauberkeit. Sie hatte ein blaues, mit kleinen weißen Blumen bedrucktes Kleid an. An den Füßen trug sie die Halbschuhe mit hohen Absätzen, die sie zu ihrer Hochzeit bekommen hatte. Sie errötete unter Mutters Blick. »Du hast ja gebadet«, sagte Mutter. Rose von Sharon sprudelte hervor: »Wie ich da drin war, hat’s grade eine Dame gemacht. Weißt du, was du machen mußt? Du gehst in einen kleinen Stall und drehst an irgendwelchen Hähnen, und dann kommt das Wasser auf dich runter – heißes Wasser oder kaltes Wasser, wie du’s willst. Und das habe ich gemacht!« »Ich mach’ es dann auch«, rief Mutter. »Sowie ich hier fertig bin. Aber du mußt’s mir zeigen.« »Das mache ich jetzt jeden Tag«, sagte das Mädchen. »Und die Dame – die hat mich gesehn und hat das mit dem Kind gesehn und … weißt du, was sie gesagt hat? 544
Sie sagt, es kommt jede Woche ’ne Krankenschwester. Und ich soll zu der Krankenschwester gehn, und die wird mir genau sagen, was ich machen muß, damit das Kleine kräftig wird. Sie sagt, alle die Damen machen das. Und ich mach’ es auch. Und weißt du was? Letzte Woche ist was Kleines geboren worden, und das ganze Camp hat ein Fest gegeben, und alle haben Kleider geschenkt und Sachen für das Kind – sogar ’n Wagen, ’n Korbwagen. Ist nicht neu gewesen, natürlich, aber sie haben ihn rosa angestrichen, und da war er wie neu. Und dann haben sie dem Kleinen ’n Namen gegeben und haben ’n großen Kuchen gebacken. Ach Gott!« Sie ließ sich schwer atmend zu Boden fallen. Mutter sagte: »Gott sei Lob und Dank, wir sind heimgekommen zu unsren eigenen Leuten. Ja, und ich werde baden.« »Ach Mutter, das ist schön!« sagte das Mädchen. Mutter wischte die Blechteller ab und stapelte sie auf. Sie sagte: »Wir sind die Joads. Wir blicken zu niemand auf. Großvaters Großvater hat in der Revolution gekämpft. Wir waren Farmer, bis die Schulden kamen. Und dann – diese Leute. Die haben uns was getan. Jedesmal war mir’s so, als hätten sie mich geschlagen – und uns alle. Und dann in Needles, die Polizei. Die hat mir auch was getan. Gemein habe ich mich gefühlt, geschämt hab’ ich mich. Und jetzt schäm’ ich mich nicht mehr. Die Leute hier sind unsre Leute – ja, unsre Leute. Und der Vorsteher ist gekommen und hat bei mir Kaffee getrunken und hat gesagt: ›Missis Joad dies‹ und ›Missis Joad das‹ – und ›Haben Sie auch alles, Missis Joad?‹« Sie 545
brach ab und seufzte. »Ja, jetzt fühl’ ich mich doch wieder wie ’n Mensch.« Sie wischte den letzten Teller ab. Dann ging sie ins Zelt und wühlte in den Kleiderkisten nach ihren Schuhen und einem sauberen Kleid. Und sie fand auch ein kleines Päckchen, in dem ihre Ohrringe waren. Und als sie an Rose von Sharon vorbeiging, sagte sie: »Wenn die Damen kommen, bin ich gleich wieder da.« Sie verschwand um die Ecke des Sanitärgebäudes. Rose von Sharon setzte sich schwer auf eine Kiste und betrachtete ihre lackledernen Hochzeitsschuhe. Sie wischte die Spitzen mit dem Finger ab und wischte den Finger innen an ihr Kleid. Beim Bücken drückte sie ihr größer werdender Leib. Sie richtete sich gerade und betastete sich mit vorsichtigen Fingern, und sie lächelte, als sie das tat. Über die Straße kam eine untersetzte Frau, sie trug eine Apfelkiste mit schmutziger Wäsche und ging zu den Waschtrögen hinüber. Ihr Gesicht war braun gebrannt, und ihre Augen waren schwarz und scharf. Sie trug eine große Schürze, aus einem Baumwollsack gemacht, über ihrem verwaschenen Kleid und an den Füßen braune Männerschuhe. Sie sah, wie Rose von Sharon zärtlich ihren Leib befühlte und sah das kleine Lächeln auf dem Gesicht des Mädchens. »So!« rief sie und lachte vor Freude. »Was wird’s denn, glaubst du?« Rose von Sharon errötete und blickte zu Boden, dann hob sie den Kopf wieder, und die kleinen glänzenden Augen der Frau musterten sie. »Ich weiß nicht«, murmelte sie. 546
Die Frau ließ ihre Apfelkiste auf die Erde plumpsen. »Hast was Kleines, Lebendiges da drin«, sagte sie und gluckste wie eine zufriedene Henne. »Was willst du denn lieber?« fragte sie. »Ich weiß nicht – ’n Jungen, glaube ich. Ja – ’n Jungen.« »Ihr seid grade gekommen, was?« »Ja, spät, letzte Nacht.« »Wollt ihr bleiben?« »Ich weiß nicht. Wenn wir Arbeit kriegen, sicher.« Ein Schatten flog über das Gesicht der Frau, und die kleinen schwarzen Augen wurden bös. »Wenn ihr Arbeit kriegen könnt. Das sagen wir alle.« »Mein Bruder hat heute früh schon Arbeit gekriegt.« »So, hat er? Na, vielleicht habt ihr Glück. Aber paß nur auf, dem Glück ist nicht zu traun.« Sie trat näher heran. »Man kann nur ein Glück haben. Nur eins, nicht mehr. Du bist ’n gutes Mädchen«, sagte sie, »du bist gut. Wenn du aber Sünde in dir hast – dann paß lieber auf dein Kleines auf.« Sie hockte sich vor Rose von Sharon auf die Erde. »Es sind schlimme Sachen im Gang hier im Camp«, sagte sie düster. »Jeden Samstag abend machen sie Tanz – und keinen Volkstanz oder so! Nein, ganz unanständigen Tanz! Ich hab’s gesehn.« Rose von Sharon sagte zurückhaltend: »Ich tanze gern – Volkstanz.« Und sie fügte tugendhaft hinzu: »Das andre habe ich nie getanzt.« Die braungebrannte Frau nickte trübe mit dem Kopf. »Gibt aber welche, die tanzen so. Aber der Herr läßt’s ihnen nicht durchgehn. Glaub nur das nicht!« 547
»Nein, Ma’am«, sagte das Mädchen leise. Die Frau legte ihre braune runzlige Hand auf Rose von Sharons Knie, und das Mädchen zuckte unter der Berührung zusammen. »Ich will dich warnen. Hier gibt’s nicht mehr viel Fromme und Gottesfürchtige im Camp. Jeden Samstagabend, wenn die mit ihrer Kapelle anfangen zu spielen, dann werden sie rasend und taumeln und wirbeln rum – jawohl, taumeln und wirbeln. Ich hab’ es selber gesehn. Aber nahe ran gehe ich nicht, nein, ich nicht und auch meine Leute nicht. Unanständig tanzen die, unanständig, sage ich dir.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause und fuhr dann in heiserem Flüsterton fort: »Und das ist noch nicht alles. Sie machen sogar Theater.« Sie lehnte sich zurück und stieß den Kopf vor, um zu sehen, wie Rose von Sharon eine solche Eröffnung aufnehmen würde. »Schauspieler?« fragte das Mädchen ehrfürchtig. »Aber nein!« platzte die Frau heraus. »Keine Schauspieler, nicht dieses Höllenvolk. Unsre eigenen Leute. Und sogar Kinder haben mitgemacht, die wo’s nicht besser wissen, und da müssen sie was spielen, was sie nicht sind. Aber ich gehe da nicht hin. Nicht in die Nähe. Ich habe nur gehört, was sie machen. Jaja, der Teufel ist hier durchs Camp spaziert.« Rose von Sharon hörte mit offenen Augen und offenem Mund zu. »Mal in der Schule haben wir zu Weihnachten ’n Christkindspiel gemacht.« »Ja – da sage ich nun nicht, das ist schlecht oder gut. Es gibt Leute, wo finden, ein Christkindspiel ist gut. Aber ich – ich will das nicht so ohne weiteres sagen. 548
Hier, das war aber kein Christkindspiel. Das war Sünde und Blendwerk und Teufelszeug. Herumstolzieren und paradieren und reden wie jemand, der sie nicht sind. Und unanständig tanzen – so unanständig, sage ich dir!« Rose von Sharon seufzte. »Und nicht etwa nur ’n paar«, fuhr die braungebrannte Frau fort, »nein, es ist so weit gekommen, daß man sich die Frommen und Gottesfürchtigen an den Fingern abzählen kann. Aber glaub nicht, daß Gott diese Sünder ungestraft ausgehn läßt. Nein, nein! Er kreidet ihnen Sünde für Sünde an, und Er zieht Seinen Strich und rechnet’s ihnen auf, Sünde für Sünde. Gott paßt auf, und ich passe auch auf. Zweien von ihnen hat Er’s schon heimgezahlt.« »Wirklich?« fragte Rose von Sharon atemlos. Die Stimme der Frau wurde lauter und eindringlicher. »Ich hab’ es gesehn. Ein Mädchen, wo was Kleines getragen hat, genau wie du. Und sie hat Theater gespielt und getanzt. Und dann« – die Stimme wurde kalt und unheilvoll –, »dann ist sie vom Fleische gefallen und immer dünner geworden und hat das Kind verloren – tot.« »Lieber Gott!« Das Mädchen wurde blaß. »Ja, blutig und tot. Natürlich hat niemand mehr mit ihr sprechen wollen. Sie hat weggemußt. Wer Sünde anfaßt, steckt sich an. So ist es. Und dann war da ’ne andre, die hat’s genauso gemacht. Und die ist auch immer dünner geworden – weißt du, was? Eines Nachts ist sie weg. Und zwei Tage später ist sie wieder da. Sagt, sie hat jemand besucht. Aber sie hat nichts Kleines mehr gekriegt. Und weißt du, was ich glaube? Ich glaube, der 549
Vorsteher, der hat sie weggebracht, damit sie ihr Kleines verliert. Der glaubt nämlich nicht an Sünde. Hat er mir selber gesagt. ›Sünde ist Hunger haben‹, sagt er. ›Und Sünde ist frieren. Ich sehe keinen Gott in diesen Dingen‹, hat er gesagt – jawohl, hat er mir selber gesagt. Und er hat gemeint, das Mädchen ist bloß immer dünner geworden, weil sie nicht genug zu essen gekriegt hat. Na, da habe ich’s ihm aber gegeben.« Sie stand auf und trat ein paar Schritte zurück. Ihre Augen waren scharf. Sie hielt Rose von Sharon einen steifen Zeigefinger vor das Gesicht. »Ich sage: ›Weiche zurück!‹ sage ich. Ich sage: ›Ich weiß, der Teufel wütet hier in diesem Camp. Jetzt weiß ich auch, wer der Teufel ist. Weiche zurück, Satan‹, sage ich. Und bei Gott, er ist zurückgewichen! Und gezittert hat er und gekrochen ist er! ›Bitte!‹ hat er gesagt. ›Bitte, machen Sie die Leute nicht unglücklich.‹ Ich sage: ›Unglücklich?‹ sage ich. ›Und was ist mit ihrer Seele? Und was ist mit den toten Kindern und den armen Sünderinnen, die das Theaterspielen ruiniert hat?‹ Er hat mich nur angeguckt und hat böse gegrinst und ist weggegangen. Er weiß, ich bin eine echte Dienerin des Herrn. Ich sage: ›Ich helfe Gott über diesem Camp wachen. Und Sie und die andren Sünder – ihr geht nicht ungestraft aus.‹« Sie nahm ihre Kiste mit der schmutzigen Wäsche wieder auf. »Und du – nimm dich in acht. Paß auf das arme Kleine da in deinem Bauch auf und halt dich von der Sünde fern.« Sie schritt majestätisch davon, und ihre Augen glänzten vor Tugend. Rose von Sharon blickte ihr nach, dann ließ sie den Kopf in die Hände sinken und wimmerte leise vor sich 550
hin. Eine sanfte Stimme erklang neben ihr. Sie blickte beschämt auf. Es war der kleine Vorsteher in seinem weißen Anzug. »Mach dir nichts draus«, sagte er. »Mach dir nichts draus.« Ihre Augen waren voller Tränen. »Aber ich hab’ es doch getan«, rief sie. »Ich habe doch so getanzt. Ich hab’ es ihr nur nicht gesagt. Wir haben so getanzt. Connie und ich – in Sallisaw.« »Mach dir nichts draus«, sagte er. »Sie sagt, daß ich nun das Kleine verliere.« »Ich weiß. Ich behalte sie immer im Auge. Sie ist ’ne gute Frau, aber sie macht die Leute unglücklich.« Rose von Sharon schnüffelte feucht. »Sie sagt, sie hat zwei Mädchen gekannt hier im Camp, die beide ihre kleinen Kinder verloren haben.« Der Vorsteher hockte sich vor ihr auf die Erde. »Hör zu!« sagte er. »Hör mal gut zu. Ich habe die Mädchen auch gekannt. Sie haben zu viel Hunger gehabt und sind zu erschöpft gewesen. Und sie haben auch schwer gearbeitet. Und sind in ’nem Lastwagen über Schlaglöcher gefahren. Sie waren krank. Das war nicht ihre Schuld.« »Aber sie hat doch gesagt …« »Du mußt nicht drauf hören. Die Frau stiftet nur Unruhe, weiter nichts.« »Aber sie hat gesagt, Sie sind der Teufel.« »Ich weiß, ich weiß. Das sagt sie, weil ich ihr nicht erlaube, die Leute unglücklich zu machen.« Er klopfte ihr auf die Schulter. »Mach dir nichts draus. Sie weiß es nicht besser.« Und er ging schnell davon. 551
Rose von Sharon blickte ihm nach, seine mageren Schultern bewegten sich ruckartig beim Gehen. Sie blickte noch immer hinter ihm her, als Mutter zurückkam, sauber und rosig, das Haar feucht und gekämmt und zu einem Knoten zusammengebunden. Sie trug ihr geblümtes Kleid und die alten aufgeplatzten Schuhe – und die kleinen Ohrringe hingen ihr in den Ohren. »Ich hab’ es gemacht«, sagte sie. »Ich habe dagestanden und das warme Wasser an mir runterlaufen und runterfließen lassen. Und ’ne Dame war da, die hat gesagt, man kann’s jeden Tag machen, wenn man will. Und … ist das Damenkomitee schon dagewesen?« »Uh-uh!« sagte das Mädchen. »Und du hast die ganze Zeit dagesessen und überhaupt nichts aufgeräumt!« Mutter nahm die Blechteller auf. »Wir müssen doch Ordnung machen«, sagte sie. »Komm, rühr dich auch mal ’n bißchen! Nimm den Sack da und feg damit den Boden.« Sie legte die Töpfe und Pfannen in die Haushaltskiste und schob die Kiste ins Zelt. »Und dann mach die Betten«, befahl sie. »Mir hat lange nichts so gutgetan, sage ich dir, wie das warme Wasser da drüben.« Rose von Sharon führte teilnahmslos die Befehle aus. »Meinst du, daß Connie heute zurückkommt?« »Vielleicht – vielleicht auch nicht. Ich kann dir’s nicht sagen.« »Bist du auch sicher, er weiß, wohin er kommen muß?« »Ganz sicher.« »Mutter … du glaubst doch nicht … daß sie ihn umgebracht haben bei dem Feuer im Camp …?« 552
»Nein, Connie nicht«, sagte Mutter vertrauensvoll. »Der kann doch immer auskratzen, wann er will – so flink und gewandt, wie er ist.« »Ich wollte, er würde kommen.« »Er wird schon kommen.« »Mutter …« »Ich wollte, du würdest jetzt an deine Arbeit gehn.« »Mutter, glaubst du, daß Tanzen und Theaterspielen Sünde ist und daß ich davon mein Kleines verliere?« Mutter unterbrach ihre Arbeit und stemmte die Hände in die Hüften. »Was redest du denn da eigentlich? Du hast doch kein Theater gespielt.« »Ja, aber es gibt hier Leute, die machen’s, und ein Mädchen hat ihr Kleines davon verloren – tot und blutig, wie wenn’s ’ne Strafe des Himmels gewesen wäre.« Mutter starrte sie an. »Wer hat dir denn das erzählt?« »’ne Frau, wo vorbeigekommen ist. Und der kleine Mann im weißen Anzug – der ist auch vorbeigekommen und hat gesagt, daß es ganz was andres gewesen ist.« Mutter runzelte die Stirn. »Rosasharn«, sagte sie, »jetzt hör mal auf, dich mit solchen Geschichten zu plagen. Du quälst dich immer so lange, bis du heulst. Ich weiß gar nicht, was mit dir los ist. In unserer Familie haben sie das nie gemacht. Alles, was gekommen ist, haben sie mit trockenen Augen hingenommen. Ich wette, es ist dieser Connie, der dir alle die dummen Gedanken beigebracht hat. Der war einfach zu groß für seinen Overall.« Und sie sagte streng: »Rosasharn, du bist nur eine, und es gibt ’ne Unmenge andre Leute. Du gehörst auf deinen bestimmten Platz, und da mußt du auch 553
bleiben. Ich habe Leute gekannt, die haben sich so viele Sünden eingeredet, bis sie geglaubt haben, sie sind vor den Augen des Herrn nichts wie große erbärmliche Taugenichtse.« »Aber, Mutter …« »Nein. Jetzt sei still und arbeite. Du bist nicht groß genug oder nicht erbärmlich genug, um den lieben Gott ewig mit deinen Geschichten zu quälen. Und von mir kriegst du ein paar Backpfeifen, wenn du nicht aufhörst, an dir rumzuzerren.« Sie fegte die Asche ins Feuerloch und bürstete die Steine ab. Sie sah das Komitee über die Straße kommen. »Los, arbeite«, sagte sie. »Die Damen kommen. Arbeite tüchtig, damit ich stolz auf dich sein kann.« Sie blickte nicht wieder auf, aber sie wußte genau, daß das Komitee sich näherte. Es konnte kein Zweifel bestehen, daß es das Komitee war – drei Damen, frisch gewaschen und mit ihren besten Kleidern angetan: eine magere Frau mit strähnigem Haar und stahlgerahmter Brille, eine kleine dickliche Dame mit gelocktem grauem Haar und einem kleinen süßlichen Mund und eine mammutartige Dame mit kräftigen Beinen und Hüften, kräftigem Busen und mit Muskeln wie ein Ackergaul, mächtig und selbstsicher. Und das Komitee kam voller Würde über die Straße gegangen. Mutter richtete es so ein, daß sie ihnen den Rücken zudrehte, als sie bei ihr ankamen. Sie blieben stehen, eine neben der anderen. Und die große Frau sagte mit tiefer Stimme: »Morgen! Sie sind Missis Joad, nicht wahr?« Mutter fuhr herum, als sei sie überrascht worden. »Ja – ja! Woher wissen Sie denn meinen Namen?« 554
»Wir sind das Komitee«, sagte die große Frau. »Damenkomitee der Sanitärabteilung Nummer Vier. Wir haben Ihren Namen im Büro erfahren.« Mutter sagte aufgeregt: »Wir sind noch nicht ganz eingerichtet. Ich würde mich freuen, wenn die Damen sich setzen würden, während ich ein bißchen Kaffee mache.« Die rundliche kleine Frau sagte: »Stell uns doch vor, Jessie. Sag Missis Joad doch unsere Namen. Jessie ist die Vorsitzende«, erklärte sie. Jessie sagte formell: »Missis Joad – das ist Annie Littlefield, das ist Ella Summers, und ich heiße Jessie Bullitt.« »Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte Mutter. »Wollen Sie sich nicht setzen? Wir haben noch nichts zum Setzen«, fügte sie noch hinzu. »Aber ich kann Ihnen etwas Kaffee machen.« »Aber nein«, sagte Annie steif. »Machen Sie sich keine Umstände. Wir wollen Sie nur mal besuchen und sehen, ob Sie alles haben und was wir machen können, damit Sie sich zu Hause fühlen.« Jessie Bullitt sagte streng: »Annie, ich bitte dich, nicht zu vergessen, daß ich die Vorsitzende bin.« »Jaja, natürlich. Aber nächste Woche bin ich’s.« »Gut, dann warte gefälligst bis nächste Woche. Wir wechseln nämlich jede Woche«, erklärte sie Mutter. »Wollen Sie wirklich keinen Kaffee?« fragte Mutter hilflos. »Nein, vielen Dank.« Jessie hatte das Zepter wieder in der Hand. »Wir wollen Ihnen erst im Sanitärgebäude Bescheid zeigen, und dann, wenn Sie wollen, tragen wir 555
Sie im Damenklub ein und geben Ihnen ein Amt. Natürlich brauchen Sie nicht beizutreten.« »Ja … ich meine, kostet’s viel?« »Es kostet nichts außer Arbeit. Und wenn Sie bekannt sind, können Sie in dieses Komitee gewählt werden«, unterbrach Annie. »Jessie ist für das ganze Camp im Komitee. Sie ist eine große Komiteedame.« Jessie lächelte vor Stolz. »Einstimmig gewählt«, sagte sie. »Ja, Missis Joad, ich glaube, es ist Zeit, daß wir Ihnen was über dieses Camp erzählen.« Mutter sagte: »Hier – das ist meine Tochter, Rosasharn.« »Sehr erfreut«, sagte sie. »Dann kommt sie am besten auch mit.« Die große Jessie sprach, ihre Haltung war würdevoll und gütig, und die Rede, die sie hielt, klang eingelernt. »Sie müssen nicht denken, daß wir uns in Ihre Angelegenheiten mischen, Missis Joad. Hier im Camp gibt’s viele Sachen, die alle benützen. Und wir haben Vorschriften, die wir selbst ausgearbeitet haben. Wir gehn jetzt zum Sanitärgebäude. Das da – das benützt jeder, und jeder muß da für Ordnung sorgen.« Sie schlenderten hinüber zu dem unüberdachten Teil, wo sich die Waschtröge befanden, zwanzig an der Zahl. Acht waren im Gebrauch, die Frauen standen darübergebeugt und schrubbten ihre Wäsche, und auf dem sauberen Betonboden lagen Haufen von bereits gewaschenen und ausgewrungenen Stücken. »Das können Sie jederzeit benutzen«, sagte Jessie. »Die einzige Sache ist, Sie müssen’s sauber hinterlassen.« Die Frauen an den Waschtrögen 556
blickten interessiert auf. Jessie sagte laut: »Das hier sind Missis Joad und Rosasharn, die bei uns bleiben wollen.« Sie begrüßten Mutter im Chor, und Mutter machte eine ungeschickte kleine Verbeugung und sagte: »Freut mich sehr.« Jessie ging ihnen voran in den Toiletten- und Waschraum. »Hier bin ich schon gewesen«, sagte Mutter. »Ich habe sogar schon gebadet.« »Dafür ist’s ja da«, sagte Jessie. »Und hier gilt dieselbe Regel. Alles sauber hinterlassen. Jede Woche ist ein neues Komitee dran, das hier einmal am Tag auswischen muß. Vielleicht kommen Sie in dieses Komitee. Sie müssen sich Ihre eigene Seife mitbringen.« »Wir müssen uns Seife kaufen«, sagte Mutter. »Wir sind ganz leergebrannt.« Jessies Stimme wurde fast ehrfurchtsvoll. »Haben Sie schon mal so was hier benützt?« sagte sie und zeigte auf die Toiletten. »Jawohl, Ma’am. Erst heute morgen.« Jessie seufzte. »Dann ist’s gut.« Ella Summers sagte: »Nämlich letzte Woche …« Jessie unterbrach sie streng: »Missis Summers – ich erzähle das!« Ella gab nach. »Gut, bitte!« Jessie sagte: »Letzte Woche, wie Sie Vorsitzende waren, haben Sie das alles gemacht. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich diese Woche nicht hineinmischen würden.« »Gut, aber nun erzählen Sie schon, was die Dame gemacht hat«, sagte Ella. 557
»Ja«, sagte Jessie, »es ist nicht die Aufgabe von diesem Komitee, zu klatschen, aber ich erwähne ja keine Namen. Eine Dame ist letzte Woche ins Camp gekommen und ist hier reingegangen, eh’ das Komitee bei ihr war. Sie hat die Hosen von ihrem Mann in die Toilette gesteckt und gesagt: ›Das ist doch zu niedrig, und groß genug ist’s auch nicht. Da zerbricht man sich ja das Kreuz beim Waschen‹, hat sie gesagt. ›Weshalb haben Sie’s denn nicht ’n bißchen höher gebaut?‹« Das Komitee lächelte überlegen. Ella fiel ein: »›Man kriegt ja gar nicht genug auf einmal rein‹, hat sie gesagt.« Und Ella trotzte Jessies strengem Blick. Jessie sagte: »Wir haben Ärger mit dem Toilettenpapier. Die Vorschrift ist, daß man keins von hier mitnehmen darf. Das ganze Camp beteiligt sich an dem Toilettenpapier.« Sie schwieg einen Augenblick, und dann gestand sie: »Nummer Vier verbraucht mehr als alle andern. Jemand muß welches stehlen. In der Generalversammlung ist es vorgebracht worden. ›Nummer Vier, Damenseite, verbraucht zu viel.‹ Jawohl, in der Generalversammlung!« Mutter folgte dem Gespräch atemlos. »Jemand stiehlt’s – ja wofür denn?« »Ja«, sagte Jessie, »wir haben den Ärger schon mal gehabt. Damals waren’s drei kleine Mädchen, die sich Papierpuppen daraus geschnitten haben. Na, wir haben sie erwischt. Aber diesmal wissen wir’s nicht. Wir hängen kaum eine Rolle an, da ist sie auch schon wieder alle. In der Generalversammlung ist’s vorgebracht worden. 558
Eine Dame sagt, wir müßten ’ne kleine Glocke dranmachen, die jedesmal klingelt, wenn die Rolle sich einmal dreht. Dann würden wir genau wissen, wieviel jeder nimmt.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß einfach nicht mehr, was ich machen soll«, sagte sie. »Die ganze Woche haben sie mir in den Ohren gelegen. Jemand stiehlt Toilettenpapier aus Nummer Vier.« Von der Tür her kam eine jammernde Stimme: »Missis Bullitt.« Das Komitee drehte sich um. »Missis Bullitt, ich habe gehört, was Sie gesagt haben.« Eine errötete schwitzende Frau stand in der Tür. »In der Versammlung habe ich nicht aufstehn können, Missis Bullitt. Ich hab’ es einfach nicht gekonnt. Die hätten alle gelacht oder so.« »Wovon reden Sie eigentlich?« Jessie trat zu ihr heran. »Ja, wir … vielleicht sind wir’s. Aber wir stehlen’s nicht, Missis Bullitt.« Der Schweiß stand in Perlen auf dem Gesicht der Bekennerin. »Wir können’s nicht ändern, Missis Bullitt.« »Nun erzählen Sie mal, was Sie mir zu sagen haben«, forderte Jessie sie auf. »Nummer Vier hat einen schmählichen Tadel erhalten wegen diesem Toilettenpapier.« »Die ganze Woche, Missis Bullitt. Wir konnten’s nicht ändern. Sie wissen, ich habe fünf kleine Mädchen.« »Was haben die denn damit gemacht?« fragte Jessie drohend. »Sie haben’s benutzt. Wirklich, nur benutzt.« »Aber sie haben nicht das Recht dazu! Vier bis fünf Blätter genügen. Was ist denn mit ihnen los?« 559
»Durchfall. Alle fünf. Wir haben kein Geld gehabt. Und die Mädchen haben grüne Trauben gegessen und alle fünf Durchfall gekriegt. Alle zehn Minuten haben sie rausgemußt.« Sie verteidigte sie: »Aber sie haben’s nicht gestohlen.« Jessie seufzte. »Das hätten Sie doch sagen müssen. Jawohl, das hätten Sie sagen müssen. Nummer Vier ist schmählich getadelt worden, nur weil Sie nichts gesagt haben. Jeder kann doch mal Durchfall kriegen.« Die demütige Stimme jammerte: »Und ich kann nichts machen, sie essen immer weiter grüne Trauben. Und es wird immer, immer schlimmer.« Ella Summers sprudelte hervor: »Da muß sie doch die Nothilfe kriegen.« »Ella Summers«, sagte Jessie, »ich sage Ihnen zum letztenmal, Sie sind nicht die Vorsitzende.« Sie wandte sich wieder der aufgeregten kleinen Frau zu. »Haben Sie überhaupt kein Geld, Missis Joyce?« Sie blickte beschämt zu Boden. »Nein, aber wir kriegen sicher bald Arbeit.« »Nun, halten Sie nur den Kopf hoch«, sagte Jessie. »Das ist doch kein Verbrechen. Laufen Sie sofort rüber zum Laden in Weedpatch und kaufen Sie sich Lebensmittel. Das Camp hat da zwanzig Dollars Kredit. Sie können für fünf Dollars anschreiben lassen. Und wenn Sie Arbeit haben, zahlen Sie’s dem Zentralkomitee zurück. Missis Joyce, Sie haben das doch gewußt«, sagte sie streng. »Wie kommen Sie nur dazu, Ihre kleinen Mädchen hungern zu lassen?« »Wir haben doch noch nie Wohltätigkeit angenommen«, sagte Mrs. Joyce. 560
»Das ist keine Wohltätigkeit, und Sie wissen’s auch«, wütete Jessie. »Das ist doch längst klargestellt worden. Hier im Camp gibt’s keine Wohltätigkeit. Das wollen wir alle nicht. Jetzt laufen Sie rüber und suchen sich Lebensmittel aus, und dann bringen Sie mir den Zettel.« Mrs. Joyce sagte schüchtern: »Aber wenn wir’s nun nie bezahlen können? Wir haben schon lange keine Arbeit gehabt.« »Sie bezahlen’s, wenn Sie können, dann ist das nicht unsre Sache und auch nicht Ihre Sache. Es ist mal einer weggegangen hier aus dem Camp, und zwei Monate später hat er das Geld geschickt. Sie haben nicht das Recht, Ihre kleinen Mädchen hungern zu lassen – hier in unserm Camp.« Mrs. Joyce gab sich geschlagen. »Jawohl, Ma’am«, sagte sie. »Kaufen Sie Käse für die Mädchen«, befahl Jessie. »Das ist gut gegen Durchfall.« »Jawohl, Ma’am.« Und Mrs. Joyce schlurfte hinaus. Jessie wandte sich voller Empörung an das Komitee. »Sie hat kein Recht, so dickköpfig zu sein. Sie hat kein Recht, nein, nicht mit unsern eigenen Leuten.« Annie Littlefield sagte: »Sie ist noch nicht lange hier. Vielleicht weiß sie’s nicht. Vielleicht hat sie auch dann und wann schon mal Wohltätigkeit annehmen müssen. Nein«, sagte Annie, »ich bin nicht still, Jessie. Ich habe auch ein Recht, was zu sagen.« Sie wandte sich halb zu Mutter. »Wenn man mal Wohltätigkeit angenommen hat, das brennt und kommt nicht raus. Das ist hier keine Wohltätigkeit, aber wenn man mal welche annehmen 561
hat müssen, dann vergißt man’s nicht. Ich wette, Jessie hat’s nie gemußt.« »Nein, noch nie«, sagte Jessie. »Aber ich«, sagte Annie. »Letzten Winter – da waren wir beinahe am Verhungern, ich und Vater und die Kleinen. Und geregnet hat’s auch. Jemand hat uns gesagt, wir sollen zur Heilsarmee gehn.« Ihre Augen wurden leidenschaftlich. »Wir haben Hunger gehabt, und sie haben uns für unser Essen kriechen lassen. Sie haben uns die Würde genommen, die Menschenwürde. Ich – ich hasse sie! Und vielleicht hat Missis Joyce auch mal Wohltätigkeit angenommen. Vielleicht hat sie nicht gewußt, daß das hier keine ist. Missis Joad, wir gestatten niemand hier im Camp, sich mit solchen Sachen großzutun. Keiner darf dem andern was geben. Sie können’s dem Camp geben, und das Camp verteilt’s dann. Wir wollen keine Wohltätigkeit!« Ihre Stimme war heiser und erregt. »Ich hasse sie«, sagte sie. »Noch nie hat meinen Mann was untergekriegt, aber die – die Heilsarmee –, die hat’s fertiggebracht.« Jessie nickte. »Ich weiß«, sagte sie leise, »ich weiß. Aber jetzt müssen wir Missis Joad rumführen.« »Gehn wir doch in den Nähsaal«, schlug Annie vor. »Wir haben zwei Maschinen. Sie steppen und machen Kleider. Da würden Sie sicher gerne arbeiten.« Als das Komitee bei Mutter erschien, verschwanden Ruthie und Winfield unmerklich aus der Reichweite. »Weshalb gehn wir nicht mit und hören zu?« fragte Winfield. 562
Ruthie ergriff seinen Arm. »Nee«, sagte sie. »Wir haben uns für die alten Ziegen waschen lassen müssen. Ich gehe nicht mit.« Winfield sagte: »Du hast das mit der Toilette gepetzt. Jetzt sage ich auch, wie du die Damen genannt hast.« Ein Schatten von Angst fiel über Ruthies Gesicht. »Mach’s nicht. Ich hab’ es ja auch nur gesagt, weil ich gewußt habe, du hast’s eigentlich gar nicht kaputtgemacht.« »Du lügst«, sagte Winfield. »Komm – gehn wir ’n bißchen gucken.« Sie strolchten an den Zelten entlang und blickten in jedes hinein. Am Ende der Sektion des Camps befand sich ein ebener Platz, auf dem ein Krocketspiel aufgestellt war. Ein halbes Dutzend Kinder spielte eifrig und ernst. Vor einem Zelt saß eine ältere Dame auf einer Bank und sah zu. Ruthie und Winfield verfielen in einen kleinen Trott. »Wir wollen mitspielen«, rief Ruthie. »Wir wollen mitspielen.« Die Kinder blickten auf. Ein bezopftes kleines Mädchen sagte: »Ja, beim nächsten Spiel könnt ihr.« »Ich will aber jetzt«, rief Ruthie. »Nein, das geht nicht. Erst beim nächsten Spiel.« Ruthie trat drohend in das Spielfeld. »Ich will mitspielen.« Die Bezopfte umspannte fest ihren Schläger. Ruthie sprang auf sie zu, schlug sie, stieß sie und entwand ihr den Schläger. »Ich habe doch gesagt, ich will mitspielen«, sagte sie triumphierend. Die ältere Dame stand auf und kam zum Spielfeld herüber. Ruthies Gesicht verfinsterte sich, und ihre 563
Hände umgriffen fest den Schläger. Die Dame sagte: »Laßt sie doch spielen – so, wie ihr’s vorige Woche mit Ralph gemacht habt.« Die Kinder legten die Schläger auf die Erde und gingen schweigend aus dem Spielfeld. Sie blieben in einiger Entfernung stehen und sahen mit ausdruckslosen Augen zu. Erst blickte Ruthie ihnen nach, dann schlug sie eine Kugel und lief hinter ihr her. »Komm doch, Winfield! Nimm dir’n Stock!« rief sie. Und dann blickte sie sich erstaunt um. Winfield hatte sich zu den anderen Kindern gestellt und sah mit den gleichen ausdruckslosen Augen zu ihr herüber. Trotzig schlug sie noch einmal. Sie wirbelte viel Staub auf. Sie tat so, als vergnüge sie sich großartig. Und die Kinder standen da und sahen zu. Ruthie legte zwei Kugeln nebeneinander und schlug sie beide, und sie hatte den kleinen Zuschauern den Rükken zugewandt. Dann drehte sie sich um und ging plötzlich mit dem Schläger in der Hand auf sie zu. »Kommt spielen!« befahl sie. Die Kinder wichen schweigend zurück. Einen Augenblick noch starrte Ruthie sie an, dann warf sie den Schläger auf die Erde und rannte heulend nach Hause. Die Kinder gingen ins Spielfeld zurück. Das bezopfte Mädchen sagte zu Winfield: »Beim nächsten Spiel kannst du mitmachen.« Und die Dame warnte die Kinder: »Wenn sie zurückkommt und artig sein will, dann laßt ihr sie mitspielen. Du bist selbst häßlich gewesen, Amy.« Das Spiel ging weiter, während Ruthie im Zelt der Joads jämmerlich weinte.
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Der Wagen fuhr über die schönen Straßen, an Obstgärten vorbei, in denen die Pfirsiche sich zu färben begannen, an Weingärten mit blaßgrünen Trauben vorbei und unter Walnußbäumen, deren Zweige über die halbe Straße hingen. An jeder Einfahrt verlangsamte Al das Tempo, und an jedem Tor war ein Schild: »Keine Arbeit zu vergeben. Eintritt verboten.« Al sagte: »Vater, es gibt aber bestimmt Arbeit, wenn das Obst alles reif ist. Komische Leute – sagen, sie brauchen einen nicht, wenn man sie noch gar nicht gefragt hat.« Er fuhr langsam weiter. Vater sagte: »Vielleicht gehn wir einfach irgendwo rein und fragen, ob sie wissen, wo’s Arbeit gibt. Das könnten wir eigentlich doch machen.« Ein Mann in blauem Overall und blauem Hemd wanderte am Straßenrand entlang. Al hielt neben ihm an. »He, Mister«, sagte Al, »wissen Sie, wo’s hier Arbeit gibt?« Der Mann blieb stehen und grinste, und in seinem Mund fehlten die Vorderzähne. »Nein«, sagte er. »Sie vielleicht? Ich laufe schon ’ne Woche lang rum und finde nichts.« »Leben Sie da in dem staatlichen Camp?« fragte Al. »Ja!« »Na, dann steigen Sie man ein – und wir suchen alle zusammen.« Der Mann kletterte über die Seitenwand und sprang in den Lastwagen. Vater sagte: »Ich habe nicht das Gefühl, daß wir was finden. Aber wahrscheinlich müssen wir trotzdem suchen. Wir wissen ja noch nicht mal, wo wir suchen müssen.« 565
»Wir hätten mit den Leuten im Camp reden sollen«, sagte Al. »Wie fühlst du dich denn, Onkel John?« »Tut mir alles weh. Alles. Und es geht erst los«, sagte Onkel John. »Ich sollte fortgehn, damit ich nicht auch noch Strafe herabbringe auf meine Familie.« Vater legte seine Hand auf Johns Knie. »Hör zu«, sagte er, »du gehst nicht fort. Wir sind schon die ganze Zeit weniger geworden – Großvater und Großmutter tot, Noah und Connie weggelaufen und der Prediger im Kittchen.« »Ich habe so ’ne Ahnung, daß wir den Prediger noch mal wiedersehn«, sagte John. Als Finger spielten mit dem Knauf des Schalthebels. »Dir geht’s gar nicht gut genug, daß du Ahnungen haben kannst«, sagte er. »Ach, zum Teufel! Am besten fahren wir zurück und erkundigen uns, wo’s Arbeit gibt. So jagen wir ja nur Skunks unter Wasser.« Er hielt an, beugte sich aus dem Fenster und rief nach hinten: »He, hör zu! Wir fahren ins Camp zurück und erkundigen uns, wo’s Arbeit gibt. Hat ja keinen Zweck, das Benzin so umsonst zu verpulvern.« Der Mann beugte sich über die Seitenwand. »Ist mir recht«, sagte er. »Ich hab’ mir die Haxen schon bis zu den Knöcheln abgelaufen. Und gegessen hab’ ich auch noch nichts.« Al drehte auf der Mitte der Straße um und fuhr zurück. Vater sagte: »Mutter wird ja böse sein, besonders wo Tom so leicht was gefunden hat.« »Vielleicht hat er gar nichts gefunden«, sagte Al. 566
»Vielleicht ist er auch nur suchen gegangen. Ich wollte, ich könnte in ’ner Garage arbeiten.« Vater brummte, und sie fuhren schweigend zum Camp zurück. Als das Komitee gegangen war, setzte Mutter sich vor dem Zelt auf eine Kiste und sah Rose von Sharon hilflos an. »Tja …«, sagte sie, »tja … ich bin seit Jahren nicht mehr so froh gewesen. Waren die Damen nicht nett?« »Ich soll in der Kinderkrippe arbeiten«, sagte Rose von Sharon. »Sie haben’s mir gesagt. Da kann ich alles lernen, was man mit Kindern macht, und dann weiß ich’s für später.« Mutter nickte. »Wär’ es nicht schön, wenn die Männer nun alle Arbeit kriegten?« fragte sie. »Wenn die arbeiten und ’n bißchen Geld reinkommt?« Ihre Augen wanderten in die Ferne. »Wenn die draußen arbeiten und wir hier – und dann alle die netten Leute. Wenn’s uns ’n bißchen besser geht, kaufe ich mir gleich ’nen kleinen Herd – ’n hübschen. Die kosten nicht viel. Und dann kaufen wir uns ein Zelt, das richtig groß genug ist, und dann vielleicht Federmatratzen für die Betten. Unter der Plane hier könnten wir dann essen. Und Samstag abends gehen wir dann alle tanzen. Man kann sogar Leute einladen, wenn man will. Ach, wenn wir doch nur Freunde hätten zum Einladen. Vielleicht wissen die Männer welche.« Rose von Sharon blickte die Straße hinunter. »Die Frau, die wo gesagt hat, daß ich mein Kleines verliere …«, begann sie. 567
»Jetzt sei still davon«, warnte Mutter sie. Rose von Sharon sagte leise: »Ich habe sie gesehn. Ich glaube, sie kommt her. Ja! Da kommt sie. Mutter, laß sie nicht …« Mutter drehte sich um und blickte der herankommenden Gestalt entgegen. »Tag«, sagte die Frau. »Ich bin Missis Sandry – Lisbeth Sandry. Ich habe heute früh mit Ihrem Mädchen gesprochen.« »Tag«, sagte Mutter. »Sind Sie glücklich im Herrn?« »Ja, recht glücklich«, sagte Mutter. »Sind Sie erlöst?« »Ja, ich bin erlöst!« Mutters Gesicht war abwartend und verschlossen. »Na, das freut mich«, sagte Lisbeth. »Die Sünder sind stark hier im Camp. Sie sind an einen schlimmen Ort gekommen. Böses überall. Böse Menschen, böses Treiben, und ein Frommer und Gottesfürchtiger kann’s kaum aushalten. Sünder überall um uns herum.« Mutter wurde ein wenig rot, aber sie schloß ihren Mund fest. »Mir scheint, daß hier doch recht anständige Leute sind«, sagte sie schließlich. Mrs. Sandry starrte sie entsetzt an. »Anständig!« rief sie. »Finden Sie das anständig, wie die hier tanzen? Ich sage Ihnen, Ihre ewige Seele findet keine Ruhe hier in diesem Camp. Gestern abend bin ich zu ’ner Versammlung in Weedpatch gewesen. Wissen Sie, was der Prediger sagt? Er sagt: ›Der Böse geht um in diesem Camp.‹ Und er sagt: ›Der Arme versucht da, reich zu sein.‹ Und 568
er sagt: ›Und sie tanzen, wenn sie vor Sünde heulen und wehklagen sollten.‹ Ja, das hat er gesagt. Jeder, wo nicht hier ist, ist ein schwarzer Sünden, hat er gesagt. Das war gut, ihn so sprechen zu hören, sage ich Ihnen. Und wir haben gewußt, uns kann nichts geschehn. Wir haben nicht getanzt.« Mutters Gesicht wurde rot. Sie stand langsam auf und stellte sich vor Mrs. Sandry. »Gehn Sie!« sagte sie. »Gehn Sie sofort, eh’ ich mich versündige und Ihnen sage, wohin Sie gehn sollen. Gehn Sie zu Ihrem Heulen und Wehklagen.« Mrs. Sandrys Mund stand offen. Sie trat einen Schritt zurück. Und dann wurde sie wild. »Ich habe gedacht, ihr seid Christen!« »Sind wir auch«, sagte Mutter. »Nein, seid ihr nicht. Ihr seid höllische Sünder, seid ihr! Und ich werd’ es auch in ’ner Versammlung erzählen. Ich sehe schon Ihre schwarze Seele brennen. Und ich sehe das unschuldige Kind in dem Bauch von dem Mädchen da brennen.« Ein halblauter klagender Schrei kam über Rose von Sharons Lippen. Mutter bückte sich und nahm ein Stück Holz auf. »Gehn Sie!« sagte sie kalt. »Und kommen Sie nie wieder. Wollen Sie so freundlich sein, ja?« Mutter ging drohend auf Mrs. Sandry zu. Im ersten Augenblick wich die Frau zurück, dann warf sie plötzlich den Kopf in den Nacken und heulte. Ihre Augen verdrehten sich, ihre Schultern und Arme hingen locker herab, und eine Strähne von dickem zähem 569
Speichel rann aus ihrem Mundwinkel herab. Sie heulte wieder und immer wieder, das tiefe, langgezogene Heulen eines Tieres. Männer und Frauen kamen von den anderen Zelten herübergelaufen und blieben stehen – verängstigt und still. Langsam sank die Frau auf die Knie, und das Heulen wurde zu einem stoßweisen Röcheln. Sie fiel auf die Seite, und die Arme und Beine zuckten. Unter ihren geöffneten Augenlidern war das Weiße ihrer Augen zu sehen. Ein Mann sagte leise: »Der Geist. Das ist der Geist.« Mutter stand da und blickte herab auf die zuckende Gestalt. Der kleine Vorsteher kam zufällig vorbei. »Ist was passiert?« fragte er. Die Menge teilte sich und ließ ihn durch. Er sah die Frau am Boden liegen. »Böse Sache«, sagte er. »Will mir jemand von euch helfen, sie in ihr Zelt zurückzutragen?« Die schweigenden Leute rührten sich. Zwei Männer hoben die Frau auf, der eine hielt sie unter den Armen, der andere faßte an ihren Füßen an. Sie trugen sie fort, und die Leute gingen langsam hinter ihnen her. Rose von Sharon kroch unter die Plane und legte sich hin und bedeckte sich das Gesicht. Der Vorsteher sah Mutter an, sah herab auf den Stock in ihrer Hand und lächelte matt. »Haben Sie sie geschlagen?« fragte er. Mutter starrte hinter der Menschenmenge her. Sie schüttelte langsam den Kopf. »Nein – aber beinahe. Zweimal schon hat sie mir heute mein Mädchen verrückt gemacht.« Der Vorsteher sagte: »Schlagen Sie sie nicht. Sie ist 570
nicht richtig. Sie ist einfach nicht ganz richtig.« Und er fügte noch hinzu: »Ich wollte, sie würde endlich fortgehn mit ihrer ganzen Familie. Sie bringt mehr Aufregung in das Camp wie alle andern Leute zusammen.« Mutter hatte sich wieder in der Hand. »Wenn sie wiederkommt, schlage ich sie womöglich. Ich lasse mir nicht mein Mädchen von ihr verrückt machen.« »Seien Sie beruhigt, Missis Joad«, sagte er. »Sie werden sie nicht wiedersehn. Sie macht’s nur mit den Neuen so. Sie wird nicht wiederkommen. Sie denkt jetzt, Sie sind ’ne Sünderin.« »Bin ich auch«, sagte Mutter. »Sicher. Sind wir alle, aber nicht so, wie sie’s meint. Sie ist nicht richtig, Missis Joad.« Mutter sah ihn dankbar an, und dann rief sie: »Hörst du das, Rosasharn? Sie ist nicht richtig, sie ist verrückt.« Aber das Mädchen antwortete nicht. Mutter sagte: »Ich warne Sie, Mister. Wenn sie wiederkommt, garantiere ich für nichts. Ich schlage sie.« Er lächelte bitter. »Ich weiß, wie Ihnen zumute ist«, sagte er. »Aber nehmen Sie sich zusammen. Das ist alles, was ich will – nehmen Sie sich zusammen.« Er ging langsam in der Richtung des Zeltes davon, wohin Mrs. Sandry getragen worden war. Mutter ging ins Zelt und setzte sich neben Rose von Sharon. »Komm, Rosasharn«, sagte sie. Das Mädchen lag still. Mutter nahm ihr sanft die Decke vom Gesicht. »Die Frau ist ’n bißchen verrückt«, sagte sie. »Du mußt ihr nichts glauben.« Rose von Sharon flüsterte entsetzt: »Wie sie das gesagt 571
hat vom Brennen, habe ich … habe ich’s brennen gefühlt.« »Das ist nicht wahr«, sagte Mutter. »Ich bin so müde«, flüsterte das Mädchen. »Ich bin so müde von all den Sachen, die hier passiert sind. Ich will schlafen. Ich will schlafen.« »Na, dann schlaf. Hier ist’s hübsch. Hier kannst du schlafen.« »Aber sie kommt vielleicht zurück.« »Nein«, sagte Mutter. »Ich bleibe draußen sitzen und passe auf, daß sie nicht zurückkommt. Jetzt ruh dich aus, denn dann mußt du ja bald in der Kinderkrippe arbeiten.« Mutter stand mühsam auf und ging hinaus und setzte sich vor den Zelteingang. Sie setzte sich auf eine Kiste und stützte die Ellbogen auf die Knie und das Kinn in die Hände. Sie sah das Leben im Camp, hörte die Stimmen der Kinder, hörte ein Hämmern, aber sie starrte nur vor sich hin. Vater kam über die Straße zurück und fand sie so und hockte sich zu ihr. Sie blickte langsam zu ihm hinüber. »Habt ihr Arbeit?« fragte sie. »Nein«, sagte er beschämt. »Wir haben gesucht.« »Und wo sind Al und John und der Wagen?« »Al repariert was. Er hat sich Werkzeuge borgen müssen. Und der Mann hat gesagt, er soll’s gleich dort machen.« Mutter sagte traurig: »Hier ist’s so hübsch. Wir könnten mal ’n Weilchen glücklich sein.« »Wenn wir Arbeit kriegen könnten.« 572
»Ja! Wenn ihr Arbeit kriegen könntet.« Er spürte ihre Traurigkeit und sah ihr ratlos ins Gesicht. »Was jammerst du denn? Wenn’s hier so hübsch ist, warum jammerst du dann?« Sie sah ihn an und schloß langsam die Augen. »Komisch, nicht? Die ganze Zeit, die wir gefahren sind, habe ich überhaupt an nichts gedacht. Und jetzt, wo die Leute hier alle so nett zu mir sind, so schrecklich nett – was mache ich da? Ich denke an alle die traurigen Sachen – die Nacht, wie Großvater gestorben ist und wir ihn begraben haben. Wie wir gefahren sind und wie’s nichts andres gegeben hat wie das Fahren und das Ruckeln und das Stoßen, da war’s nicht so schlimm. Aber jetzt, wo ich hier bin, ist’s viel schlimmer. Und Großvater … und Noah fortgelaufen! Einfach fortgelaufen, den Fluß runter. Das hat noch alles so dazugehört zum Fahren und Ruckeln und Stoßen, aber jetzt kommt alles zurück. Und Großmutter auf dem Armenfriedhof. Das sticht jetzt. Das sticht jetzt ganz schrecklich. Und Noah fortgelaufen, den Fluß hinunter. Er weiß doch gar nicht, wie’s da ist. Das weiß er doch nicht. Und wir wissen’s auch nicht. Wir werden auch nie wissen, ob er lebt oder schon tot ist. Nie werden wir das wissen. Und Connie davongeschlichen. Das hat alles gar keinen Platz gehabt in meinem Kopf, aber jetzt kommt’s zurück. Und ich sollte mich doch freuen, weil’s hier so hübsch ist.« Vater sah ihren Mund an, während sie sprach. Ihre Augen waren geschlossen. »Ich weiß noch genau, wie die Berge waren, scharf wie alte Zähne, die Berge da am Fluß, wo Noah fortgelaufen ist. Ich weiß noch genau den 573
Hackklotz daheim mit ’ner Feder, die hängengeblieben ist, und kreuz und quer zerhackt und schwarz von Hühnerblut.« Vaters Stimme nahm ihren Tonfall an. »Heute habe ich Enten gesehn«, sagte er. »Wildenten, die nach Süden fliegen – ganz hoch. Und Amseln auf den Drähten und Tauben auf den Zäunen.« Mutter öffnete die Augen und sah ihn an. Er fuhr fort: »Und ’ne kleine Windhose habe ich gesehn, wie ’n Mann ist sie über das Feld gekommen. Und die Wildenten, die nach Süden fliegen.« Mutter lächelte. »Weißt du noch?« sagte sie. »Weißt du noch, was wir zu Hause immer gesagt haben, wenn die Wildenten geflogen sind? Immer haben wir das gesagt, und der Winter ist doch gekommen, wann er wollte. Aber wir haben immer gesagt: ›Das gibt ’n frühen Winter.‹ Ich möchte wissen, was wir wohl damit gemeint haben.« »Ich habe die Amseln auf den Drähten gesehn«, sagte Vater. »Haben ganz dicht beisammen gesessen. Und die Tauben. Nichts sitzt so still wie ’ne Taube – auf den Zaundrähten. Manchmal zwei nebeneinander. Und die kleine Windhose … wie ’n Mann ist sie über das Feld getanzt gekommen. Machen sie immer so, die kleinen, wie die Männer kommen sie angetanzt.« »Ich wollte, ich würde nicht mehr dran denken, wie’s zu Hause ist«, sagte Mutter. »Es ist ja nicht mehr unser Zuhause. Ich wollte, ich könnt’ es vergessen. Und Noah auch.« »Er ist nie richtig gewesen … Ich meine … ’s war doch meine Schuld.« 574
»Ich habe dir gesagt, du sollst das nicht mehr sagen. Vielleicht hätte er gar nicht gelebt.« »Aber ich hätt’ es besser wissen sollen.« »Jetzt hör auf«, sagte Mutter. »Noah war komisch. Vielleicht ist’s schön für ihn da am Fluß. Vielleicht ist’s besser so. Wir dürfen uns keine Sorgen machen. Hier ist es so hübsch, und vielleicht kriegt ihr auch gleich Arbeit.« Vater deutete zum Himmel. »Da, schau – wieder Enten, ’n großer Schwarm. Und Mutter, das gibt ’n frühen Winter.« Sie lachte. »Ja, man macht Sachen und weiß nicht, warum.« »Da ist John«, sagte Vater. »Komm, setz dich, John.« Onkel John kam zu ihnen. Er hockte sich vor Mutter auf die Erde. »Nichts erreicht«, sagte er. »Sind nur rumgefahren. Hör mal, Al will dich sprechen. Er sagt, er braucht ’n neuen Reifen. Auf dem alten ist nur noch eine Schicht drauf.« Vater stand auf. »Ich hoffe, er kriegt ’n billigen. Wir haben nicht mehr viel übrig. Wo ist denn Al?« »Da unten, die nächste Querstraße rechts. Er sagt, das Ding platzt, und dann geht uns auch noch der Schlauch kaputt, wenn wir keinen neuen kaufen.« Vater schlenderte davon, und seine Augen folgten dem großen keilförmigen Schwarm der Wildenten am Himmel. Onkel John las einen Stein vom Boden auf und ließ ihn aus der Hand herunterfallen und nahm ihn wieder auf. Er sah Mutter nicht an. »Es gibt keine Arbeit«, sagte er. »Ihr habt ja noch nicht überall gesucht«, sagte Mutter. 575
»Nein, aber überall sind Schilder draußen.« »Na, Tom muß doch Arbeit gekriegt haben. Er ist noch nicht wieder da.« Onkel John meinte: »Vielleicht ist er weggegangen – wie Connie oder Noah.« Mutter warf ihm einen scharfen Blick zu, dann wurden ihre Augen sanft. »Es gibt Sachen, die man weiß«, sagte sie. »Wo man ganz sicher ist. Tom hat Arbeit, und er kommt heute abend zurück. Das sage ich dir!« Sie lächelte stolz und zufrieden. »Ist das nicht ein feiner Junge?« sagte sie. »Ist das nicht ein guter Junge?« Autos und Lastwagen kamen in das Camp gefahren, und die Männer strömten zu ihrem Waschraum. Und jeder Mann hatte einen sauberen Overall und ein sauberes Hemd über dem Arm. Mutter nahm sich zusammen. »John, du holst Vater, und dann geht ihr rüber in den Laden, Ich brauche Bohnen und Zucker und … ’n Stück Fleisch und Karotten … und sag Vater, er soll was Hübsches kaufen, irgendwas, aber hübsch muß es sein. Für heute abend. Heute abend soll’s bei uns mal was besonders Hübsches geben.«
23 Mitten im Wettrennen nach Arbeit und Lebensunterhalt suchte das wandernde Volk nach Freude, grub nach Freude, fabrizierte Freude und hungerte nach Vergnügen. 576
Manchmal lag das Vergnügen im Reden, im Witzereißen. Und in den Camps am Rande der Straßen, an den Ufern der Flüsse unter den Maulbeerbäumen wurden Geschichtenerzähler geboren, und die Menschen versammelten sich im Schein des Feuers, um ihnen zuzuhören. Und sie lauschten den Geschichten, und durch ihre Anteilnahme wurden die Geschichten groß. Ich bin als Rekrut gegen Geronimo gezogen … Und sie hörten zu, und in ihren Augen spiegelte sich das sterbende Feuer. Die Indianer sind tolle Burschen gewesen – glatt wie die Schnecken und ganz still, wenn sie gewollt haben. Die konnten durch trockenes Laub laufen, und es hat nicht geraschelt. Versuch das mal. Und die Leute hörten zu und erinnerten sich, wie trockenes Laub unter den Füßen raschelt. Und dann ist der Wetterwechsel gekommen und die großen Wolken. War natürlich die falsche Zeit. Hast du schon mal gehört, daß die Armee was richtig gemacht hat? Kannst ihr zehn Chancen geben, und sie macht’s trotzdem falsch. Hat drei Regimenter gebraucht, um hundert Tapfere zu schlagen – und das immer. Und die Leute hörten zu, und ihre Gesichter wurden ruhig vom Zuhören. Die Geschichtenerzähler, die ihre Aufmerksamkeit spürten, sprachen in großen Rhythmen, sprachen in großen Worten, weil die Geschichten groß waren, und die Zuhörer wurden groß mit ihnen. Da hat einer auf ’nem Bergkamm gestanden, gegen die Sonne. Er hat gewußt, daß er von überall zu sehn war. Er hat die Arme ausgebreitet und dagestanden, gegen die 577
Sonne, und nackt wie der Morgen. Vielleicht ist er verrückt gewesen. Ich weiß nicht. Hat dagestanden mit ausgebreiteten Armen – wie ’n Kreuz hat er ausgesehn. Vierhundert Meter. Und die Leute – ja, die haben angelegt und mit den Fingern gespürt, woher der Wind kam, und dann haben sie dagelegen und haben nicht schießen gekonnt. Vielleicht hat der Indianer was gewußt. Vielleicht hat er gewußt, wir können nicht schießen. Wir haben einfach dagelegen mit unsern Gewehren und zu ihm rübergeguckt. Ein Stirnband hat er gehabt mit einer Feder. Das konnten wir sehn – und nackt wie die Sonne ist er gewesen. Lange haben wir so dagelegen, und er bewegte sich nicht. Und dann ist der Hauptmann wütend geworden. »Schießt doch, ihr verrückten Hunde, schießt!« schreit er. Und wir haben dagelegen und nicht geschossen. »Ihr fliegt alle in den Kerker, wenn ihr nicht schießt«, sagte der Hauptmann. Na, also – wir haben wieder angelegt, und jeder hat gehofft, der andere schießt zuerst. Ich bin nie in meinem Leben so traurig gewesen. Und dann habe ich auf seinen Bauch gezielt, weil man ’nen Indianer nicht anders kriegen kann – und dann … ja. Er ist einfach umgekippt und runtergerollt. Und wir auf. Er war nicht groß, hat nur so groß ausgesehn da oben. Und ganz in Stücke gerissen. Hast du schon mal ’nen Fasan gesehn, so steif und schön und jede Feder gezeichnet und gemalt und sogar die Augen so hübsch gefärbt? Und dann – peng! Du hebst ihn auf, blutig und verkrümmt, und hast was kaputtgemacht, was besser war wie du, und er schmeckt dir auch nicht, weil in dir drin was kaputtgegangen ist, was du nicht wieder ganz machen kannst. 578
Und die Leute nickten, und vielleicht sprühte das Feuer ein wenig Licht auf und ließ ihre nach innen gerichteten Blicke erkennen. Gegen die Sonne, die Arme ausgestreckt. Und groß hat er ausgesehn, groß … wie Gott. Und vielleicht sparte ein Mann sich zwanzig Cents ab und ging ins Kino nach Marysville oder Tulare, nach Ceres und Mountain View. Und er kam zurück in das Camp am Fluß mit dem Kopf voller Bilder. Und dann erzählte er, was er gesehn hatte: Da war dieser reiche Kerl und hat so getan, wie wenn er arm ist, das reiche Mädchen, und das hat auch so getan, wie wenn es arm ist. Und die haben sich an ’ner Würstchenbude getroffen. Warum? Ich weiß nicht, warum – es ist einfach so gewesen. Warum haben sie denn so getan, wie wenn sie arm sind? Na, weil sie das Reichsein satt gehabt haben. Mensch, so ’n Dreck. Also – willste’s nun hören oder nicht? Jaja, mach nur weiter. Natürlich will ich’s hören, aber wenn ich reich wäre … wenn ich reich wäre, dann würde ich mir ’n Haufen Schweinskoteletts kaufen und sie an ’ner Strippe rund um mich rum aufhängen und mich nach draußen durchfressen. Aber mach weiter. Na, also die denken jeder, der andre ist arm. Und dann werden sie verhaftet und kommen ins Kittchen und kommen nicht wieder raus, weil sie dann doch merken würden, daß sie reich sind. Und der Boß vom 579
Gefängnis ist gemein zu ihnen, weil er denkt, sie sind arm. Na, dem sein Gesicht hättest du sehn sollen, wie er dahinterkommt. Setzt sich glatt hin, der Kerl. Warum sind sie denn ins Gefängnis gekommen? Ja, sie sind auf ’ner Versammlung von den Radikalen geschnappt worden, sind aber keine Radikalen. Sind nur zufällig da. Und keiner will den andern wegen Geld heiraten, das ist die Sache, verstehste? Da lügen sie sich also gleich von Anfang an was vor. Ja, aber im Film war das alles ganz richtig. Sie sind auch nett zu andern Leuten. Ich war mal im Kino, und da war einer, der war genauso wie ich. Aber mehr wie ich und größer wie ich – und alles andre war auch größer. Ich habe genug im Kopf. Da möchte ich manchmal weg von. Jaja, wenn man’s glauben kann. Also – die haben sich dann geheiratet, und alle haben’s rausgekriegt und auch die Leute, die wo sie so schlecht behandelt haben. Da war einer, der ist immer furchtbar eingebildet gewesen, ein aufgeblasener Kerl, sage ich dir – und der hat sich beinahe hingesetzt, wie er den Mann gesehn hat mit seinem Schornstein auf dem Kopf. Und dann hat’s ’ne Wochenschau gegeben mit deutschen Soldaten, die ihre Beine so schmeißen. Das sieht verdammt komisch aus, sage ich dir. Und wenn ein Mann ein wenig Geld hatte, konnte er sich betrinken. Die harten Kanten sind verschwunden, und alles ist warm. Dann gab es keine Einsamkeit mehr, 580
denn der Mann konnte viele Freunde haben in seiner Vorstellung, konnte seine Feinde finden und sie vernichten. Er saß in einem Graben, und die Erde wurde weich unter ihm. Fehlschläge verblaßten, und die Zukunft war kein Schrecken mehr. Und kein Hunger schlich umher, die Welt war gut und einfach, und der Mann kam überall hin, wohin er wollte. Der Himmel war sanft und gut, und die Sterne waren so nah. Der Tod war ein Freund, und der Schlaf war des Todes Bruder. Die alten Zeiten kamen wieder – ein Mädchen mit hübschen Füßen, das einmal getanzt hatte daheim – ein Pferd –, und das war schon lange her. Ein Pferd und ein Sattel. Und das Leder war geschnitzt. Wann war das denn? Ich müßte ein Mädchen finden, mit dem ich sprechen kann. Das wäre hübsch. Vielleicht würde ich mich auch mit ihr hinlegen. Aber warm hier. Und die Sterne so tief, und Traurigkeit und Freude so dicht beisammen – dasselbe eigentlich. Möchte immer betrunken sein. Wer sagt, daß es was Schlimmes ist? Wer wagt das zu sagen? Die Prediger, aber die haben ihre eigne Betrunkenheit. Dünne, verwelkte Frauen, aber die sind zu jämmerlich, um’s zu wissen. Reformer – aber die haben nicht tief genug ins Leben geguckt, um’s zu wissen. Nein – die Sterne sind nah, und ich gehöre zur Bruderschaft der Welt. Und alles ist heilig – alles, auch ich. Eine Harmonika ist leicht mitzunehmen. Zieh sie aus deiner Hosentasche, klopf sie gegen die Handfläche, damit der Schmutz rausfällt und der Taschenstaub und der Tabak. Und dann kannst du anfangen. Du kannst 581
alles machen mit ’ner Harmonika: einen dünnen Flötenton oder Akkorde oder eine rhythmische Melodie. Du kannst die Musik formen mit deinen gewölbten Händen, kannst sie heulen und weinen lassen wie Dudelsackmusik, kannst sie wie Orgeltöne voll und rund erklingen lassen oder scharf und bitter wie die Rohrflöten in den Bergen. Und du kannst spielen und kannst sie wieder in deine Tasche stecken. Du hast sie immer bei dir, immer in deiner Tasche. Und wenn du spielst, lernst du neue Tricks, neue Arten, den Ton mit deinen Händen zu formen, ihn mit deinen Lippen zu pressen, und niemand lehrt es dich. Und du spielst und versuchst – manchmal nachmittags allein im Schatten, manchmal nach dem Nachtessen vor dem Zelt, wenn die Frauen abwaschen. Dein Fuß klopft leise an den Boden. Deine Augenbrauen heben und senken sich im Rhythmus. Und wenn du sie verlierst oder kaputtmachst, dann ist’s kein großer Verlust. Für einen Vierteldollar kannst du dir eine neue kaufen. Eine Gitarre ist wertvoller. Das mußt du lernen. Die Finger der linken Hand müssen schwielige Kuppen haben. Der Daumen der rechten Hand ein schwieliges Horn. Du mußt die Finger der Linken wie Spinnenbeine spreizen, wenn du die Töne greifen willst. Die Klampfe hat meinem Vater gehört. Ich war noch ’n kleiner Knirps, wie er sie mir geschenkt hat. Und wie ich’s so gut gelernt hatte wie er, hat er gar nicht mehr spielen wollen. Er hat in der Tür gesessen und zugehört und den Takt geklopft mit dem Fuß. Manchmal habe ich’s drauf ankommen lassen, und dann hat er ’n finsteres 582
Gesicht gemacht, bis ich sie geholt habe. Und dann hat er sich zurückgelehnt und genickt. »Spiel«, hat er gesagt. »Spiel was Hübsches.« Es ist ’ne gute Klampfe. Sieh nur, wie verkratzt die Decke ist. Da sind viele Millionen Lieder drauf runtergefetzt worden. Die Decke ist ganz dünn davon. Und eines Tages wird sie sich eindrücken lassen wie ’n Ei. Und wenn ich abends spiele, dann spielt nebenan im Zelt eine Harmonika. Das klingt schön zusammen. Die Fiedel ist selten – und schwer zu lernen. Keine Grifftasten, keine Anleitung. Ich hab ’nem alten Mann zugehört und versucht, es zu lernen. Die Doppelgriffe hat er mir nicht erklärt. Er sagt, das ist ’n Geheimnis. Aber ich habe aufgepaßt. Und so hat er’s gemacht. Schrill wie der Wind, die Fiedel, schnell, unruhig und schrill. Ist keine gute Fiedel. Zwei Dollars habe ich dafür bezahlt. Einer hat mir erzählt, es gibt welche, die sind vierhundert Jahre alt und mild wie guter Whisky. Fünfzig-, sechzigtausend Dollars, sagt er, kosten die. Ich weiß nicht. Wahrscheinlich hat er gelogen. Kreischt ein bißchen, was? Wollt ihr tanzen? Ich reibe den Bogen mit Harz ein. Mensch! Dann schreit sie. Hörst sie ’ne Meile weit. Und abends spielen sie Harmonika, Fiedel und Gitarre, spielen Wirbel und schlagen den Takt, und die großen, tiefen Saiten der Gitarre schlagen wie ein Herz, die Harmonika flötet scharf, und winselnd begleitet sie die Fiedel. Die Leute müssen näher kommen. Sie können nicht anders. Jetzt der ›Chicken Reel‹, und die Füße 583
klopfen, und ein junger Kerl macht drei schnelle Schritte, und seine Arme hängen lahm herab. Der Kreis schließt sich, und das Tanzen beginnt, Füße auf dem kahlen Boden, dröhnen dumpf, schlagen mit den Absätzen auf. Die Hände um sie schwingen. Das Haar fällt herab, und keuchend geht der Atem. Jetzt zur Seite beugen. Da – der Texas-Junge, mit langen schlenkernden Beinen, klopft viermal auf bei jedem Schritt. Ich habe noch nie einen so rumschwingen sehen. Da – wie er das Cherokee-Mädchen hernimmt mit den roten Backen, und ihr großer Zeh zuckt raus. Da – wie sie keucht, wie sie rumfliegt. Du meinst, sie ist müde? Du meinst, sie kann nicht mehr? Da irrst du dich. Dem Texas-Jungen hängt das Haar in die Augen. Sein Mund ist weit offen, er kriegt keine Luft mehr, aber er klopft viermal bei jedem Schritt – und das Cherokee-Mädchen läßt er niemals los. Die Fiedel schreit, und die Gitarre dröhnt. Der Harmonika-Mann ist rot im Gesicht. Der Texas-Junge und das Cherokee-Mädchen – die japsen wie die Hunde und wirbeln noch immer herum. Die Alten stehen daneben und klatschen in die Hände. Sie lächeln ein bißchen und klopfen mit den Füßen den Takt. Daheim – im Schulhaus war’s. Der Vollmond segelte nach Westen. Und wir sind gelaufen, er und ich, ein Stückchen von den andern fort. Wir haben nichts gesprochen, die Kehlen waren uns wie zugeschnürt. Überhaupt nichts gesprochen. Und bald sind wir an einen Heuschober gekommen, und da haben wir uns hingelegt. Der Texas-Junge und das Mädchen – ich habe gesehn, wie sie weggegangen sind ins Dunkel. Sicher haben sie 584
gedacht, daß niemand sie sieht. Ach Gott! Ich wollte, ich könnte mit diesem Texas-Jungen gehn. Der Mond wird bald kommen. Und der Alte von dem Mädchen wollte die beiden zurückhalten und hat es dann nicht gemacht. Er hat’s wohl gewußt. Er könnte ebenso verbieten, daß der Herbst kommt oder daß der Saft steigt in den Bäumen. Bald wird der Mond kommen. Spiel noch … Spiel: ›Als ich durch die Straßen von Laredo ging‹. Das Feuer ist runtergebrannt. Hat keinen Zweck, frisch aufzulegen. Der Mond kommt ja bald. Neben einem Bewässerungsgraben gestikulierte ein Prediger, und die Leute schrien. Und der Prediger lief gleich einem Tier auf und ab, peitschte die Leute mit seiner Stimme, und sie krochen heulend am Boden. Er maß sie ab, berechnete sie, spielte mit ihnen, und als sie alle sich am Boden krümmten, bückte er sich und nahm mit seiner großen Kraft einen nach dem anderen in die Arme und schrie: »Jesus, nimm sie hin!« und warf sie einen nach dem anderen ins Wasser. Und als sie alle bis zur Brust im Wasser standen und mit verängstigten Augen auf den Meister blickten, kniete er am Ufer nieder und betete für sie, und er betete, daß alle Männer und Frauen heulend am Boden kriechen möchten. Und die Männer und Frauen in ihren tropfenden, klebenden Kleidern sahen ihm zu und gingen in ihren schlüpfrigen Schuhen zurück ins Camp, zurück zu ihren Zelten und sprachen miteinander, von großem Staunen erfüllt: Wir sind erlöst, sagten sie. Wir sind weiß wie Schnee. Wir werden nie wieder sündigen. 585
Und die Kinder, naß und verängstigt, flüsterten einander zu: Wir sind erlöst. Wir werden nie wieder sündigen. Ich wollte, ich wüßte, was alle die Sünden sind, damit ich sie begehn kann. Das wandernde Volk suchte auf den Straßen bescheiden nach etwas Freude.
24 Am Samstagmorgen waren die Frauen alle an den Waschtrögen. Sie wuschen Kleider, rosa und geblümte Baumwollkleider, und hängten sie in die Sonne und zogen den Stoff, um ihn zu glätten. Als der Nachmittag kam, setzte im Camp lebhafte Tätigkeit ein, und die Leute waren aufgeregt. Das Fieber ging auch auf die Kinder über, und sie waren noch lauter als sonst. Ein großes Kinderbaden begann, und als alle Kinder eingefangen, gezähmt und gewaschen worden waren, hörte der Lärm auf den Spielplätzen auf. Um fünf waren die Kinder geschrubbt und wurden ermahnt, sich nicht wieder schmutzig zu machen, und liefen steif in ihren sauberen Kleidern, unglücklich in ihrer Achtsamkeit. Auf der großen Tanzfläche im Freien war ein Komitee in voller Tätigkeit. Jedes Stückchen elektrischer Draht war requiriert worden. Der Schuttabladeplatz war durchsucht worden, und jeder Werkzeugkasten hatte Draht und Isolierband hergeben müssen. Und jetzt war 586
der zusammengeflickte Draht, mit Flaschenhälsen isoliert, zur Tanzfläche gespannt worden. An diesem Abend sollte die Tanzfläche zum erstenmal erleuchtet werden. Gegen sechs kamen die Männer von der Arbeit oder vom Suchen nach Arbeit zurück, und eine neue Badewelle setzte ein. Gegen sieben Uhr, als das Nachtessen vorbei war, hatten die Männer ihre besten Anzüge an: frischgewaschene Overalls, saubere blaue Hemden und manchmal die vornehmen schwarzen Jacken. Die Mädchen hatten ihre bedruckten Kleider an, die sauber und gebügelt waren, hatten sich das Haar geflochten und Schleifen hineingebunden. Die besorgten Frauen inspizierten die Familie und räumten die Teller ab. Auf der Tanzfläche übte die Streichkapelle, umgeben von einer doppelten Mauer von Kindern. Die Leute waren gespannt und erregt. Im Zelt von Ezra Huston, dem Vorsitzenden, versammelte sich das Zentralkomitee. Huston, ein großer vierschrötiger Mann, wettergebräunt, mit stechenden Augen, sprach zu seinem Komitee, in dem aus jeder Sanitärabteilung ein Mann Mitglied war. »Großes Glück, daß wir erfahren haben, die Leute wollen heute unseren Abend sprengen!« sagte er. Der rundliche kleine Vertreter von Abteilung Drei meinte: »Wir sollten’s ihnen ja gehörig geben.« »Nein«, sagte Huston. »Das wollen sie ja grade. Wenn sie ’ne Keilerei anzetteln können, dann kommen die Bullen und sagen, wir können keine Ordnung halten. Das haben sie schon öfters versucht – in andern Camps.« Er wandte sich an den melancholischen schwarzhaarigen 587
Jungen aus Abteilung Zwei. »Sind Leute an den Zäunen und passen auf, daß keiner durchschlüpft?« Der melancholische Junge nickte. »Ja. Zwölf. Ich habe ihnen gesagt, sie dürfen nicht schlagen. Sollen sie nur einfach wieder rausschicken.« Huston sagte: »Willst du mir mal Willie Eaton holen? Er ist doch Vorsitzender vom Vergnügungskomitee, nicht wahr?« »Ja.« »Sag ihm, wir wollen ihn sprechen.« Der Junge ging hinaus und kam nach wenigen Augenblicken in Begleitung eines sehnigen Mannes wieder. Willie Eaton hatte ein langes, schmales Kinn und staubfarbenes Haar. Seine Arme und Beine waren lang und schlaksig, und er hatte die grauen, sonnengebleichten Augen des Texaners. Er stand grinsend im Zelt und drehte unruhig seine Hände in den Gelenken. Huston sagte: »Hast du das gehört wegen heute abend?« Willie grinste. »Ja.« »Hast du was dafür getan?« »Ja.« »Erzähl!« Willie Eaton grinste glücklich. »Ja, also – für gewöhnlich sind wir fünf im Komitee. Ich habe mir noch zwanzig geholt – alles richtige starke Jungens. Die sollen tanzen und ihre Augen und Ohren aufsperren. Beim ersten Zeichen, beim ersten Wortwechsel kreisen sie gleich ein. Wir haben das schon ausprobiert. Klappt sehr gut. Man kann noch nicht mal was sehn. Die schieben sich dann raus und schieben den betreffenden Kerl mit.« 588
»Sag ihnen aber, sie sollen den Kerlen nichts tun.« Willie lachte vergnügt. »Habe ich ihnen schon gesagt.« »Sag’s ihnen noch mal, damit sie sich’s merken.« »Sie merken sich’s. Fünf Leute stehen draußen bei den Toren und sehn sich die an, wo reinkommen. Wir wollen versuchen, sie zu kriegen, eh’ sie überhaupt was anfangen können.« Huston stand auf. Seine stahlfarbenen Augen waren streng. »Jetzt hör mal zu, Willie. Wir wollen den Kerlen nichts tun. Sie haben doch Polizisten draußen vor dem Tor. Wenn ihr sie blutig haut – dann habt ihr die Polizei auf dem Hals.« »Wir haben uns das alles überlegt«, sagte Willie. »Wir bringen sie durchs Hintertor raus aufs Feld. Und welche von unsern Leuten passen auf, daß sie auch wirklich gehn.« »Ja, das ist ganz gut«, sagte Huston besorgt. »Aber paß auf, daß nichts passiert, Willie. Ihr dürft den Kerlen nichts tun. Keine Stöcke, keine Messer und so – verstanden?« »Nein, nein«, sagte Willie. »Wir tun ihnen schon nichts.« Huston war mißtrauisch. »Ich wollte, ich könnte mich auf dich verlassen, Willie. Wenn ihr sie schlagen müßt, dann schlagt sie bitte da, wo sie nicht bluten.« »Jawohl!« sagte Willie. »Und die Leute, die wo du ausgesucht hast, sind sicher?« »Jawohl.« »Gut. Und wenn ihr’s nicht schafft, ich stehe in der rechten Ecke auf dieser Seite der Tanzfläche.« 589
Willie salutierte zum Scherz und ging hinaus. Huston sagte: »Ich weiß nicht. Ich hoffe nur, Willies Jungens legen keinen um. Was, zum Teufel, will eigentlich die Polizei in unserm Camp? Warum können sie uns denn nicht mal in Ruhe lassen?« Der melancholische Junge von Abteilung Zwei sagte: »Ich habe da unten im Lager von der Sunland-Landund-Viehgesellschaft gelebt. Die haben da doch, weiß Gott, für zehn Leute einen Bullen. Und nur einen Wasserhahn für rund zweihundert Leute.« Der rundliche Mann sagte: »Lieber Gott, Jeremy, das brauchst du mir nicht erzählen. Ich war selber da. Sie haben einen Barackenblock – fünfunddreißig in einer Reihe und immer fünfzehn hintereinander. Und für die ganze Bande nur zehn Lokusse. Herrgott, das Zeug stank ’ne Meile weit. Einer von den Polizisten hat mal ’ne Sache mit mir anfangen wollen. Wir haben rumgesessen, und er sagt: ›Diese verfluchten staatlichen Lager‹, sagt er. ›Da kriegen die Leute heißes Wasser, und dann geht’s plötzlich nicht mehr ohne heißes Wasser. Da haben die Leute blitzblanke Toiletten, und dann geht’s plötzlich nicht mehr ohne.‹ Er sagt: ›Wenn man den gottverdammten Okies solches Zeug gibt, dann brauchen sie’s plötzlich.‹ Und er sagt: ›Sie halten auch rote Versammlungen ab in den staatlichen Lagern. Sind nur scharf drauf, daß sie Wohlfahrt kriegen‹, sagt er.« Huston fragte: »Und hat ihn niemand in die Fresse gehaun?« »Nein. Aber da war ein kleiner Kerl, und der hat gefragt: ›Wie meinen Sie das – Wohlfahrt?‹ 590
›Ich meine Wohlfahrt – was wir Steuerzahler in den großen Topf schmeißen und ihr gottverdammten Okies euch rausholt.‹ ›Wir zahlen Verkaufssteuer und Benzinsteuer und Tabaksteuer‹, sagt der kleine Kerl. Und er sagt: ›Die Farmer kriegen vier Cents pro Pfund Baumwolle von der Regierung – ist das nicht Wohlfahrt?‹ Und er sagt: ›Die Eisenbahnen und Schiffsgesellschaften kriegen Zuschüsse – ist das keine Wohlfahrt?‹ ›Die machen auch Sachen, die gemacht werden müssen‹, sagt der Polizist. ›Na‹, sagt der kleine Kerl, ›und wie würdet ihr eure verdammten Ernten einbringen, wenn wir nicht wären?‹« Der rundliche Mann blickte sich um. »Und was hat der Polizist gesagt?« fragte Huston. »Na, der Polizist ist wütend geworden. Er sagt: ›Ihr gottverdammten Roten macht uns überall Geschichten‹, sagt er. ›Kommen Sie mal mit.‹ Und er nimmt den kleinen Kerl mit, und sie geben ihm sechzig Tage Gefängnis wegen Vagabundage.« »Und was hätten sie gemacht, wenn der Arbeit gehabt hätte?« fragte Timothy Wallace. Der rundliche Mann lachte. »Das weißt du doch«, sagte er. »Wenn ’n Bulle einen nicht leiden kann, sperrt er ihn wegen Vagabundage ein. Und deshalb haben sie’s ja auch auf die Camps abgesehen. Weil kein Bulle reindarf. Das hier sind die Vereinigten Staaten und nicht Kalifornien.« Huston seufzte. »Ich wollte, wir könnten hierbleiben. Wahrscheinlich müssen wir bald wieder fort. Hier 591
gefällt’s mir. Die Leute kommen gut aus. Guter Gott, weshalb können sie uns denn nicht gehn lassen, anstatt uns unglücklich zu machen und ins Gefängnis zu sperren? Ich schwöre, sie treiben uns noch mal so weit, daß wir losschlagen, wenn sie uns nicht in Ruhe lassen.« Er dämpfte seine Stimme. »Wir müssen einfach Frieden halten«, ermahnte er sich selbst. »Das Komitee hat kein Recht, handgreiflich zu werden.« Der rundliche Mann von Abteilung Drei sagte: »Wenn Leute glauben, das Komitee macht sich das Leben schön, dann irren sie sich. Heute hat’s in meiner Abteilung ’ne Sache gegeben. Bei den Frauen. Erst haben sie sich beschimpft und dann mit Abfällen beschmissen. Das Damenkomitee ist nicht damit fertig geworden, und da haben sie mich geholt. Sie haben gewollt, ich soll die Geschichte hier vors Komitee bringen. Ich habe ihnen gesagt, Weiberstreit müssen sie selber regeln. Da mischt sich unser Komitee nicht rein.« Huston nickte. »Sehr richtig«, sagte er. Die Dämmerung war gekommen, und mit der zunehmenden Dunkelheit schien das Üben der Streichkapelle lauter zu werden. Die Lichter flammten auf, und zwei Männer untersuchten den zusammengeflickten Draht, der zur Tanzfläche gespannt war. Die Kinder standen dicht gedrängt um die Musikanten herum. Ein junger Mann mit einer Gitarre sang und spielte den ›Down Home Blues‹ leise vor sich hin, und bei der zweiten Strophe fielen drei Harmonikas und eine Fiedel mit ein. Von den Zelten her strömten die Leute zu der Tanzfläche, die Männer in ihren sauberen blauen 592
Anzügen und die Frauen in ihren geblümten Kleidern. Sie traten an die Tanzfläche und blieben wartend stehen, und ihre Gesichter waren gespannt und hell unter dem Licht. Um das Camp herum lief ein hoher Drahtzaun, und am Zaun entlang saßen in Abständen von fünfzig Fuß die Wächter im Gras und warteten. Jetzt kamen die Wagen der Gäste, kleine Farmer mit ihren Familien und Leute aus anderen Camps. Und jeder Gast, der durch das Tor kam, nannte den Namen des Campbewohners, der ihn eingeladen hatte. Die Streichkapelle spielte jetzt laut, denn sie übte nicht mehr. Vor ihren Zelten saßen die Frommen und sahen mit harten, vorwurfsvollen Gesichtern zu. Sie sprachen nicht miteinander, sie harrten der Sünde, und ihre Gesichter verdammten das ganze Geschehen. Vor dem Zelt der Joads hatten Ruthie und Winfield ihr weniges Essen hinuntergeschlungen und liefen dann los zur Tanzfläche. Mutter rief sie zurück, hielt ihnen mit der Hand unter dem Kinn die Gesichter hoch, sah ihnen in die Nasen, zog sie an den Ohren und sah hinein und schickte sie dann hinüber zum Waschraum, damit sie sich noch einmal die Hände wuschen. Sie drückten sich hinter dem Sanitärgebäude vorbei und stürzten zur Tanzfläche, wo sie dann mit den anderen Kindern dichtgedrängt bei der Kapelle standen. Al hatte gegessen und sich eine halbe Stunde lang mit Toms Rasierapparat rasiert. Er hatte einen strammsitzenden Wollanzug und ein gestreiftes Hemd an, er hatte gebadet, er hatte sich gewaschen und sein widerspenstiges 593
Haar zurückgekämmt. Und als der Waschraum für einen Moment leer war, lächelte er sich gewinnend im Spiegel zu und drehte sich und versuchte, sich beim Lächeln im Profil zu sehen. Er streifte sich seine roten Armbänder über und zog seine enge Jacke an. Und dann rieb er sich seine gelben Schuhe mit einem Stück Toilettenpapier ab. Und als jemand in den Waschraum kam, eilte Al hinaus und spazierte sorglos zur Tanzfläche hin und hielt eifrigst nach Mädchen Ausschau. In der Nähe der Tanzfläche sah er vor einem Zelt ein hübsches blondes Mädchen sitzen. Er trat näher. »Gehst du nicht tanzen heute abend?« fragte er. Das Mädchen schaute fort und antwortete nicht. »Kann man denn nicht mal ’n Wort mit dir sprechen? Wie wär’ es denn, wenn wir zusammen tanzen würden?« Und er sagte nachlässig: »Ich kann walzen.« Das Mädchen hob scheu die Augen und sagte: »Das ist doch gar nichts – walzen kann jeder.« »Aber nicht wie ich«, sagte Al. Die Musik schwoll an, und er klopfte mit dem Fuß den Takt. »Komm«, sagte er. Eine sehr dicke Frau steckte den Kopf aus dem Zelt und sah ihn finster an. »Mach, daß du weiterkommst«, sagte sie böse. »Das Mädchen hier ist besetzt. Die heiratet bald, und ihr Zukünftiger holt sie ab.« Al blinzelte dem Mädchen verwegen zu und schlenderte weiter. Er schleifte seine Füße im Takt der Musik und schwang die Schultern und schlenkerte mit den Armen. Das Mädchen blickte ihm nach. Vater setzte seinen Teller hin und stand auf. »Komm, John«, sagte er, und er erklärte Mutter: »Wir wollen mit 594
ein paar Leuten sprechen wegen Arbeit.« Und Vater und Onkel John gingen zum Hause des Vorstehers. Tom wischte das Fett auf seinem Teller mit einem Stück Brot auf und steckte das Brot in den Mund. Er reichte Mutter den Teller, und sie tat ihn in einen Eimer mit heißem Wasser und wusch ihn ab und gab ihn Rose von Sharon zum Abtrocknen. »Gehst du denn nicht zum Tanzen?« fragte Mutter. »Sicher«, sagte Tom. »Ich bin in ’nem Komitee. Wir machen was Besonderes für ’n paar Leute.« »Schon in ’nem Komitee?« sagte Mutter. »Wahrscheinlich, weil du Arbeit hast.« Rose von Sharon drehte sich um und stellte den Teller weg. Tom deutete auf sie. »Lieber Gott, jetzt wird sie aber dick«, sagte er. Rose von Sharon errötete und nahm Mutter einen neuen Teller ab. »Natürlich wird sie das«, sagte Mutter. »Und sie wird hübscher«, sagte Tom. Das Mädchen wurde noch röter und senkte den Kopf. »Laß das«, sagte sie leise. »Natürlich«, sagte Mutter, »ein Mädchen mit ’nem Kind wird immer hübscher.« Tom lachte. »Wenn sie noch dicker wird, braucht sie bald ’ne Schiebkarre.« »Jetzt hör aber auf«, sagte Rose von Sharon und verschwand in das Zelt. Mutter lachte. »Du darfst sie nicht so ärgern.« »Sie hat’s doch gerne«, sagte Tom. 595
»Ich weiß, daß sie’s gerne hat, aber es ärgert sie auch. Und sie trauert doch wegen Connie.« »Na, den sollte sie lieber aufgeben. Jetzt studiert er wahrscheinlich, um Präsident der Vereinigten Staaten zu werden.« »Ärgere sie nicht«, sagte Mutter. »Sie hat’s nicht leicht.« Willie Eaton trat heran. Er grinste und sagte: »Bist du Tom Joad?« »Ja.« »Ich bin der Vorsitzende vom Vergnügungskomitee. Wir brauchen dich. Mir hat einer von dir erzählt.« »Natürlich. Ich mache mit«, sagte Tom. »Das hier ist Mutter.« »Freut mich«, sagte Willie. »Freut mich auch.« Willie sagte: »Du mußt erst ans Eingangstor und dann auf den Tanzboden. Wir wollen uns alle genau ansehn, die wo reinkommen, und versuchen, die Kerle rauszufinden. Du und noch einer – ihr seid zusammen. Dann später müßt ihr tanzen und aufpassen.« »Ja. Das kann ich natürlich machen«, sagte Tom. Mutter fragte gespannt: »Es gibt doch keine Geschichten?« »Nein, Ma’am«, sagte Willie. »Es gibt hier ganz bestimmt keine Geschichten.« »Bestimmt nicht«, sagte Tom. »Gut, also ich komme mit. Wir sehn uns ja dann nachher, Mutter.« Die beiden jungen Männer gingen schnell in der Richtung des Haupteingangs davon. 596
Mutter stapelte die abgewaschenen Teller auf eine Kiste. »Komm doch raus«, rief sie, und als keine Antwort kam: »Rosasharn, los – komm raus.« Das Mädchen trat aus dem Zelt und trocknete weiter Teller ab. »Tom hat doch nur seinen Spaß mit dir gemacht.« »Ich weiß. Es macht mir auch nichts aus. Ich will nur nicht, daß die Leute mich ansehn.« »Das ist nun nicht zu ändern. Die Leute sehn dich eben an. Aber es macht ihnen Spaß, ’n Mädchen zu sehn, wo was Kleines kriegt – das macht sie irgendwie lustig und froh. Gehst du denn nicht zum Tanz?« »Ich wollte … Aber ich weiß nicht. Wenn Connie doch nur hier wäre! Ich kann’s kaum aushalten.« Mutter sah sie an. »Ich weiß«, sagte sie. »Aber Rosasharn – mach uns keine Schande.« »Will ich auch nicht, Mutter.« »Jaja, mach uns keine Schande. Wir haben schon genug auf dem Hals.« Des Mädchens Lippen zitterten. »Ich … ich gehe nicht zum Tanz. Ich kann’s nicht … Mutter, hilf mir doch!« Sie setzte sich und vergrub ihren Kopf in den Armen. Mutter wischte sich die Hände am Geschirrtuch ab und hockte sich vor ihre Tochter hin und legte ihr beide Hände aufs Haar. »Du bist ein gutes Mädchen«, sagte sie. »Du bist immer ein gutes Mädchen gewesen. Ich passe schon auf dich auf. Mach dir keine Gedanken.« Ihr Tonfall wurde lebhafter. »Weißt du, was wir machen? Wir gehn zum Tanz und setzen uns hin und gucken zu. 597
Wenn jemand mit dir tanzen will – dann sage ich einfach, du bist nicht kräftig genug. Ich sage, es geht dir nicht ganz gut. Und du kannst die Musik und alles hören.« Rose von Sharon hob den Kopf. »Du läßt mich auch bestimmt nicht tanzen?« »Nein, bestimmt nicht.« »Und du läßt nicht zu, daß mich jemand anrührt?« »Nein, bestimmt nicht.« Das Mädchen seufzte. Sie sagte verzweifelt: »Ich weiß nicht, was ich machen soll, Mutter. Ich weiß einfach nicht.« Mutter tätschelte ihr das Knie. »Hör zu«, sagte sie. »Hör mal gut zu. Ich will dir was sagen – sehr bald ist es schon nicht mehr so schlimm. Sehr bald. Das ist bestimmt so. Nun komm. Wir gehn uns waschen und ziehn uns hübsch an, und dann gucken wir beim Tanzen zu.« Sie ging mit Rose zum Waschraum. Vater und Onkel John hockten mit einer Gruppe von Männern vor der Veranda des Büros. »Wir haben heute beinahe Arbeit gekriegt«, sagte Vater. »Wir sind nur’n paar Minuten zu spät gekommen. Da haben sie grade zwei gehabt, ’ne komische Sache war das. Da ist ’n Verwalter, und der sagt: ›Wir haben grade ’n paar Leute zu fünfundzwanzig angenommen. Natürlich können wir noch welche zu zwanzig brauchen. Wir können sogar viele zu zwanzig brauchen. Geht nur in euer Camp und sagt, wir stellen ’n Haufen Leute zu zwanzig Cents an.‹« Die Männer rutschten unruhig hin und her. Ein breitschultriger Mann, dessen Gesicht von einem schwarzen Hut völlig beschattet war, schlug sich mit der Hand aufs 598
Knie. »Das kenne ich, verdammt noch mal!« rief er. »Und sie kriegen auch welche. Hungrige Leute kriegen sie. Du kannst deine Familie nicht von zwanzig Cents pro Stunde ernähren, aber du nimmst alles an. Die machen mit dir, was sie wollen. Sie verauktionieren die Arbeit. Weiß Gott, bald müssen wir noch was dafür bezahlen, daß wir überhaupt arbeiten dürfen.« »Wir hätten’s auch angenommen«, sagte Vater. »Wir haben ja nichts. Natürlich hätten wir’s angenommen. Aber die beiden Kerle waren dabei, und die haben uns solche Blicke zugeschmissen, daß wir Angst gekriegt haben, es anzunehmen.« Der mit dem schwarzen Hut sagte: »Und wenn man sich alles überlegt, wird man verrückt! Ich habe für einen gearbeitet, der wo nicht mal seine Ernte pflücken lassen kann. Kostet ihn mehr, wie er nachher dafür kriegt, und er weiß nicht mehr, was er machen soll.« »Mir scheint …« Vater hielt inne. Im Kreise schwiegen sie und warteten, was er zu sagen hatte. »Ja – ich habe grade gedacht, wenn man ’nen Acker hätte. Meine Frau könnte ’n bißchen Gemüse ziehn und ’n paar Schweine und Hühner. Und wir Männer könnten losgehn und uns Arbeit suchen und dann zurückkommen. Die Kinder könnten vielleicht in die Schule gehn. Ich habe noch nie solche Schulen gesehn wie hier.« »Unsern Kindern gefällt’s nicht in den Schulen«, sagte der mit dem schwarzen Hut. »Warum nicht? Sind doch sehr hübsch, die Schulen.« »Na, ’n zerlumptes Kind ohne Schuhe und alle die andern Kinder mit Socken und hübschen Hosen – und 599
dann schreien sie immer ›Okie‹. Mein Junge ist in die Schule gegangen. Er hat jeden Tag ’ne Keilerei gehabt. Hat ihm aber auch gutgetan. Zäher kleiner Bursche. Jeden Tag hat er sich prügeln müssen. Ist nach Hause gekommen mit ’nem kaputten Anzug und ’ner blutigen Nase. Und seine Mutter hat ihn dann noch verdroschen. Das habe ich ihr aber verboten. Hat ja keinen Zweck, dem armen Kerl die Seele aus dem Leib zu prügeln. Guter Gott – den andern hat er’s aber gegeben, den Feinen. Ich weiß nicht. Ich weiß nicht.« Vater fragte: »Ja, aber was, zum Teufel, soll ich nun machen? Wir haben kein Geld mehr. Einer von meinen Jungens hat Arbeit, aber davon können wir nicht leben – und außerdem dauert’s auch nicht lange. Ich gehe und nehme die zwanzig Cents. Bleibt mir nichts andres übrig.« Der mit dem schwarzen Hut hob den Kopf, sein Stoppelkinn war im Lichtschein zu sehen und sein sehniger Hals, auf dem der Bart glatt anlag wie Pelz. »Ja!« sagte er bitter. »Mach das nur. Und ich bin einer, wo für fünfundzwanzig arbeitet. Du nimmst mir meine Arbeit für zwanzig weg. Und dann kriege ich Hunger und nehme sie für fünfzehn wieder. Ja! Geh nur und mach’s so.« »Ja, zum Teufel, wie soll ich’s denn anders machen?« fragte Vater. »Ich kann doch nicht verhungern, nur damit du deine fünfundzwanzig kriegst.« Der mit dem schwarzen Hut senkte den Kopf wieder, und über seinem Kinn lag Schatten. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich weiß einfach nicht. Es ist schon schlimm genug, wenn man zwölf Stunden am Tag arbeitet und nachher immer noch ’n bißchen Hunger hat und die 600
ganze Zeit rechnen muß und rechnen. Mein Kleiner kriegt nicht genug zu essen. Ich kann nicht die ganze Zeit nur denken, gottverdammt! Das macht einen ja verrückt.« Die Männer im Kreise traten unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Tom stand am Tor und beobachtete die Leute, die hereinkamen zum Tanz. Ein Scheinwerfer leuchtete herab in ihre Gesichter. Willie Eaton sagte: »Sperr nur die Augen auf. Ich schicke dir Jule Vitela rüber. Der ist ’n halber Cherokee. Netter Kerl. Sperr nur die Augen auf. Und sieh zu, daß du sie findest – diejenigen, wo.« »Okay«, sagte Tom. Er sah die Farmerfamilien hereinkommen, die Mädchen mit geflochtenem Haar und die blankgeputzten Burschen. Jule kam und stellte sich neben ihn. »Ich helfe dir«, sagte er. Tom betrachtete die Habichtsnase und die hohen braunen Backenknochen und das kleine zurückweichende Kinn. »Sie sagen, du bist ’n halber Indianer. Für mich siehst du wie ’n ganzer aus.« »Nein«, sagte Jule. »Bin aber nur ’n halber. Ich wollte, ich wäre Vollblut. Dann hätte ich mein Land in der Reservation. Den richtigen Indianern geht’s gut – manchen von ihnen.« »Sieh dir die Leute an«, sagte Tom. Die Gäste kamen durch das Tor. Familien von den umliegenden Farmen und Leute aus den Lumpencamps. Kinder, die sich losreißen wollten, und Eltern, die sie festhielten. Jule sagte: »Diese Tanzabende hier sind ’ne tolle Sache. 601
Unsre Leute haben nichts, aber wenn sie ihre Freunde hier zum Tanz einladen können, das bringt sie hoch und macht sie stolz. Und die andern haben Achtung vor ihnen wegen diesen Tanzabenden. Da ist zum Beispiel einer mit ’ner kleinen Farm, wo ich gearbeitet habe. Der ist auch mal gekommen. Ich habe ihn selber eingeladen, und er sagt, das hier ist der einzige anständige Tanz in der ganzen Gegend, wo einer auch seine Frau und seine Mädchen mitnehmen kann. He! Da!« Drei junge Männer kamen durch das Tor – junge Arbeiter in blauen Köperhosen. Der Wächter am Tor fragte sie aus, und sie antworteten und kamen herein. »Paß gut auf«, sagte Jule. Er ging zu dem Wächter. »Wer hat die drei denn eingeladen?« fragte er. »Jackson, Abteilung Vier.« Jule kam zurück zu Tom. »Ich glaube, das sind unsre Kerle.« »Woher weißt du?« »Weiß nicht, aber ich habe so ’n Gefühl. Sie sind ’n bißchen unsicher. Geh ihnen nach und sag Willie, er soll sie sich ansehn und dann Jackson, Abteilung Vier, fragen. Dann wird sich schon rausstellen, ob’s stimmt. Ich bleibe hier.« Tom schlenderte hinter den drei jungen Männern her. Sie gingen zur Tanzfläche und blieben unbeachtet in der Menschenmenge stehen. Tom sah Willie in der Nähe der Kapelle und machte ihm ein Zeichen. »Was ist los?« fragte Willie. »Die drei da – siehst du die?« »Ja.« 602
»Sie sagen, Jackson, Abteilung Vier, hat sie eingeladen.« Willie reckte seinen Hals und sah Huston und rief ihn herüber. »Die drei Kerle da«, sagte er. »Am besten holen wir Jackson, Abteilung Vier, und fragen ihn, ob er sie eingeladen hat.« Huston drehte sich um und ging weg, und wenige Augenblicke später kam er mit einem mageren, knochigen Burschen aus Kansas zurück. »Das ist Jackson«, sagte Huston. »Paß auf, Jackson, siehst du die drei jungen Kerle da drüben?« »Ja.« »Hast du sie eingeladen?« »Nee.« »Hast du sie schon mal gesehn?« Jackson spähte zu ihnen hinüber. »Natürlich. Ich habe bei Gregorio mit ihnen gearbeitet.« »Also wissen sie deinen Namen.« »Natürlich. Ich habe direkt neben ihnen gearbeitet.« »Gut«, sagte Huston. »Aber geh nicht zu ihnen. Wir schmeißen sie nicht raus, wenn sie sich anständig benehmen. Danke, Jackson.« »Saubere Arbeit«, sagte er zu Tom. »Ich glaube, das sind die Kerle.« »Jule hat sie entdeckt«, sagte Tom. »Mensch, kein Wunder«, sagte Willie. »Das ist sein Indianerblut, was sie gerochen hat. Also, ich werde sie den Jungens zeigen.« Ein sechzehnjähriger Bursche kam durch die Menschenmenge gerannt. Er blieb keuchend vor Huston 603
stehn. »Mister Huston«, sagte er, »ich bin da gewesen, wo sie gesagt haben. Da steht ’n Wagen mit sechs Männern unten bei den Eukalyptusbäumen und einer mit vieren in der nördlichen Seitenstraße. Ich habe sie nach ’nem Streichholz gefragt. Sie haben Gewehre. Ich hab’ es gesehn.« Hustons Augen wurden hart und grausam. »Willie«, sagte er, »ist auch bestimmt alles vorbereitet?« Willie grinste glücklich. »Bestimmt! Paß auf, es gibt keine Keilerei.« »Willie, daß ihr ihnen nichts tut, verstanden? Wenn ihr könnt, möchte ich die Kerle gern sehen. Ich bin in meinem Zelt.« »Ich will sehn, was wir machen können«, sagte Willie. Das Tanzen hatte noch nicht eigentlich begonnen, aber jetzt trat Willie auf den Tanzboden und rief: »In Paaren aufstellen!« Die Musik schwieg. Burschen und Mädchen, junge Männer und Frauen eilten auf die Tanzfläche, bis acht Gruppen sich gebildet hatten und wartend bereitstanden. Die Mädchen streckten ihre Hände aus und krümmten die Finger. Die Burschen klopften ungeduldig mit den Füßen. Um die Tanzfläche herum saßen die alten Leute und lächelten und hielten die Kinder fest. Und in einiger Entfernung saßen die Frommen und sahen der Sünde zu. Mutter und Rose von Sharon hatten eine Bank gefunden und sich hingesetzt. Und wie ein Bursche nach dem anderen Rose von Sharon zum Tanz holen wollte, sagte Mutter: »Nein, es geht ihr nicht gut.« Und Rose von Sharon wurde rot, und ihre Augen leuchteten. 604
Der Ausrufer trat in die Mitte der Tanzfläche und hielt die Hände hoch. »Alles fertig? Dann los!« Die Musik schmetterte den ›Chicken Reel‹, schrill und klar, die Fiedel kreischte, die Harmonikas tönten scharf und nasal, und die Gitarren brummten mit ihren Baßsaiten. Der Ausrufer bezeichnete die Reihenfolge, und die Paare begannen zu tanzen. Und sie tanzten vorwärts und rückwärts und – Hände greift und schwenkt herum. Der Ausrufer klopfte wie ein Wilder mit den Füßen den Takt, paradierte hin und zurück, tanzte durch die Gruppen, während er sie aufrief. »Schwenkt eure Damen einmal rum. Hände greift und dann herum.« Die Musik schwoll an und schwoll ab, und die tanzenden Füße, die im Takt auf den Boden schlugen, klangen wie Trommeln. »Schwenkt nach rechts und schwenkt nach links – trennt euch – und – zurück!« sang der Ausrufer mit hoher monotoner Stimme. Jetzt löste sich das sorgfältig gelegte Haar der Mädchen. Jetzt stand den Burschen der Schweiß auf den Stirnen. Jetzt zeigten die Experten ihre raffinierten Zwischenschritte. Und die alten Leute am Rande der Tanzfläche wurden von dem Rhythmus angesteckt, sie klatschten leise in die Hände, traten mit den Füßen den Takt und lächelten und nickten, wenn ihre Blicke einander begegneten. Mutter beugte sich zu Rose von Sharon hinüber und sagte ihr ins Ohr: »Du wirst’s vielleicht nicht glauben, aber dein Vater hat sehr gut getanzt, wie er jung war.« Und Mutter lächelte. »Da muß ich an früher denken«, sagte sie. Und auf den Gesichtern der Zuschauenden stand das gleiche Lächeln. 605
»Da oben in der Nähe von Muskogee hat’s vor zwanzig Jahren ’nen Blinden gegeben mit ’ner Fiedel …« »Ich habe mal einen gesehen, der hat bei einem Sprung viermal mit den Hacken aufgeschlagen.« »Die Schweden oben in Dakota – weißt du, was die manchmal machen? Die streuen Pfeffer auf den Tanzboden. Der geht den Mädchen unter die Kleider und macht sie ganz wild. Das machen die Schweden manchmal.« Aus der Entfernung beobachteten die Frommen den Tanz und hielten ihre störrischen Kinder fest. »Die Sünde«, sagten sie. »Sie reiten auf ’nem Besenstiel zur Hölle. Es ist ’ne Schande, daß die Gottesfürchtigen das mitansehn müssen.« Und ihre Kinder waren still und ungeduldig. »Noch eine Runde und dann ausruhn«, sang der Ausrufer. »Schnell herum, denn gleich ist’s aus.« Und die Mädchen waren erhitzt und errötet und tanzten mit offenen Mündern und ernsten ergebenen Gesichtern, und die Burschen warfen ihre langen Haare zurück und bäumten sich und stießen mit den Zehen auf und schlugen mit den Hacken an. Und die Paare tanzten, durchkreuzten die Gruppen, wirbelten herum und zurück, und die Musik schrillte. Dann plötzlich verstummte sie. Die Tänzer blieben stehn, keuchend vor Erschöpfung. Und die Kinder rissen sich los, rannten auf die Tanzfläche, haschten einander, schlüpften den Großen zwischen den Beinen hindurch, stahlen ihnen die Mützen und zupften sie an den Haaren. Die Tänzer setzten sich und fächelten sich mit den 606
Händen kühle Luft zu. Die Musiker standen auf und reckten sich und setzten sich wieder hin. Und die Gitarrenspieler stimmten leise ihre Saiten. Jetzt rief Willie: »Stellt euch auf zum neuen Tanz, wenn ihr könnt.« Und die Männer strauchelten auf die Füße, und neue Tänzer kamen und sahen sich nach Partnerinnen um. Tom stand in der Nähe der drei jungen Männer. Er sah, wie sie sich durch die Menge hindurchzwängten, auf eine der sich bildenden Gruppen zu. Er gab Willie ein Zeichen, und Willie sprach mit dem Geiger. Der Geiger zog seinen Bogen heulend über die Saiten. Zwanzig junge Männer schlenderten langsam über die Tanzfläche. Die drei erreichten die Gruppe. Und einer von ihnen sagte: »Ich tanze mit der hier.« Ein blonder Bursche blickte erstaunt auf. »Das ist aber meine Tänzerin.« »Hör zu, du lächerlicher Knirps …« Draußen in der Dunkelheit ertönte ein schrilles Pfeifen. Die drei waren jetzt eingekreist. Und jeder fühlte, wie Hände ihn packten. Und dann bewegte sich der Kreis von Männern langsam von der Tanzfläche herunter. Willie schrie: »Fertig – los!« Die Musik setzte ein, der Ausrufer deutete die Figuren an, und Füße tanzten über den Boden. Ein Tourenwagen fuhr am Eingang vor. Der Fahrer rief: »Aufmachen! Wir hören, bei euch ist ’ne Keilerei.« Der Wächter blieb stehen, wo er stand. »Wir haben keine Keilerei. Da – hört doch die Musik. Wer seid ihr überhaupt?« »Polizei.« 607
»Habt ihr ’n Befehl?« »Brauchen wir nicht, wenn ’ne Keilerei ist.« »Bei uns gibt’s keine Keilereien«, sagte der Torwächter. Die Männer im Wagen hörten die Musik und die Stimme des Ausrufers, und dann fuhren sie langsam weg und hielten in einer Seitengasse an und warteten. Die drei Männer in dem Trupp waren gefesselt, und die Münder wurden ihnen zugehalten. Als sie in die Dunkelheit kamen, öffnete sich der Kreis. Tom sagte: »Das hat gut geklappt.« Er hielt dem einen Mann die Arme auf dem Rücken fest. Willie kam vom Tanzboden herübergelaufen. »Saubere Arbeit«, sagte er. »Jetzt brauchen wir nur noch sechs. Huston möchte die Kerle gerne sehen.« Doch Huston erschien bereits. »Sind das die Burschen?« »Jawohl«, sagte Jule. »Wollten grade anfangen. Haben aber kein Schwein gehabt.« »Dann wollen wir sie uns mal ansehen.« Die Gefangenen wurden zu ihm herumgedreht. Ihre Köpfe waren gesenkt. Huston leuchtete ihnen mit einer Taschenlampe in die Gesichter. »Warum habt ihr denn das machen wollen?« fragte er. Es kam keine Antwort. »Wer, zum Teufel, hat euch denn den Auftrag gegeben?« »Wir haben doch gar nichts gemacht, verdammt noch mal! Wir wolln einfach tanzen.« »Nein, das wolltet ihr nicht«, sagte Jule. »Ihr habt mit dem Kleinen ’ne Keilerei anfangen wollen.« Tom sagte: »Mister Huston, grade wie diese Kerle auf den Tanzboden gekommen sind, hat jemand gepfiffen.« 608
»Ja, ich weiß! Die Bullen sind schon ans Tor gekommen.« Er wandte sich wieder den drei Männern zu. »Wir wollen euch nichts tun. Aber – wer hat euch gesagt, daß ihr unsern Tanz auffliegen lassen sollt?« Er wartete auf eine Antwort. »Ihr seid doch unsre Leute. Wie kommt ihr denn dazu? Wir wissen nämlich alles«, fügte er hinzu. »Na ja, verdammt, man will doch sein Essen verdienen.« »Also, wer hat euch geschickt? Wer hat euch dafür bezahlt?« »Wir sind nicht bezahlt worden.« »Und ihr werdet auch nicht bezahlt. Keine Keilerei, keine Bezahlung. Stimmt’s nicht?« Einer der gefesselten Männer sagte: »Macht, was ihr wollt. Wir sagen nichts.« Huston senkte einen Augenblick den Kopf, dann sagte er leise: »Okay. Dann sagt ihr eben nichts. Aber hört mal zu. Fallt nicht euren eignen Leuten in den Rücken. Wir versuchen zu leben, ein bißchen Spaß zu haben und Ordnung zu halten. Macht uns das nicht kaputt. Überlegt’s euch mal. Ihr schadet euch nur selbst. Gut, Kinder, schmeißt sie hinten über den Zaun. Aber tut ihnen nichts. Die wissen nicht, was sie machen.« Der Trupp zog langsam dem anderen Ende des Camps zu, und Huston blickte ihnen nach. Jule sagte: »Einen Tritt müssen wir ihnen aber geben.« »Nein, das machen wir nicht!« rief Willie. »Ich hab’ es fest versprochen.« »Nur einen kleinen hübschen Tritt«, bettelte Jule. »Nur daß sie über den Zaun fliegen.« 609
»Nein!« Willie blieb beharrlich. »Jetzt hört mal zu«, sagte er, »diesmal lassen wir euch laufen. Aber verlaßt euch darauf – wenn das noch mal passiert, schlagen wir jeden, der kommt, krumm und lahm. Und brechen euch sämtliche Knochen im Leib. Das könnt ihr euren Leuten bestellen. Huston sagt, ihr gehört zu uns. Vielleicht – aber ich hoff es nicht.« Sie kamen zum Zaun. Zwei von den Wächtern, die sich hingesetzt hatten, standen auf und traten ihnen entgegen. »Hier sind welche, die zeitig nach Hause wollen«, sagte Willie. Die drei Männer kletterten über den Zaun und verschwanden in der Dunkelheit. Und der kleine Trupp ging schnell zurück zum Tanzboden. Die Musik spielte kreischend und heulend ›Ol’ Dan Tucker‹. Drüben beim Büro hockten noch immer die Männer und sprachen miteinander, und die Musik drang laut zu ihnen herüber. Vater sagte: »Aber es gibt ’ne Veränderung. Ich weiß nicht, was. Vielleicht erleben wir’s nicht mehr. Aber es kommt. Alle werden unruhig. Können nichts mehr richtig denken – so unruhig sind sie.« Und der mit dem schwarzen Hut hob den Kopf wieder, und auf seinen stoppeligen Bart fiel das Licht. Er sammelte ein paar kleine Steine und schoß sie wie Murmeln mit dem Daumen fort. »Ich weiß nicht. Es kommt schon, wie du sagst. Einer hat mir erzählt, was in Akron, Ohio, passiert ist. Bei den Gummigesellschaften. Die holen sich Leute aus den Bergen, weil die für billiges 610
Geld arbeiten. Und die Bergleute sind in die Gewerkschaften eingetreten. Na, da hat’s natürlich die Hölle gegeben. Alle die Ladenbesitzer und Legionäre und die ganzen Leute, die haben geschrien: ›Das sind Rote!‹ Und dann haben sie die Gewerkschaft aus Akron verjagen wollen. Die Prediger haben davon gepredigt, und in den Zeitungen haben sie gewütet, und die Gummigesellschaften haben Totschläger verteilt und Gas gekauft. Großer Gott, man hätte denken können, diese Burschen aus den Bergen sind die reinen Teufel!« Er brach ab und suchte sich neue Steinchen zusammen. »Also – das war letzten März, und eines Sonntags haben fünftausend von den Leuten aus den Bergen ein Preisschießen vor der Stadt gemacht. Fünftausend sind mit ihren Gewehren durch die Stadt marschiert. Und dann haben sie draußen ihr Preisschießen gemacht und sind wieder zurückmarschiert. Und das war alles, was sie gemacht haben. Aber was soll ich euch sagen? Seitdem hat’s keine Geschichten mehr gegeben. Die Bürgerkomitees haben die Totschläger zurückgebracht, die Geschäftsleute kümmern sich um ihre Geschäfte – und nichts von Gummiknüppeln und Tränengas, nichts!« Es folgte ein langes Schweigen, und dann sagte der mit dem schwarzen Hut: »Hier draußen werden sie jetzt verdammt ekelhaft. Haben das Camp da runtergebrannt und die Leute verprügelt. Ich habe mir’s schon lange überlegt. Unsre Leute haben alle Gewehre. Ich habe mir gedacht, vielleicht machen wir ’nen Schießklub – dann können wir jeden Sonntag üben und Preisschießen machen.« 611
Die Männer blickten zu ihm auf und blickten wieder zu Boden und traten unruhig von einem Fuß auf den anderen.
25 Der Frühling ist schön in Kalifornien. Täler, in denen die Obstblüten duftende rosa und weiße Wasser sind in einem seichten Meer. Dann fluten die ersten Ranken der Trauben, die an den knorrigen Weinstöcken schwellen, über die Stämme herab. Die vollen grünen Hügel sind wie Brüste, rund und weich. Und in der Ebene, im Gemüseland, gibt es meilenlange Reihen von blaß grünem Salat, von kleinen Blumenkohlköpfen und von graugrünen unirdischen Artischocken. Und dann brechen die Blätter aus den Bäumen, und die Blüten fallen herab und bedecken die Erde mit einem Teppich aus Rosa und Weiß. Die Fruchtknollen schwellen an und wachsen und färben sich: Kirschen und Äpfel, Birnen und Pfirsiche. Feigen, deren Frucht die Blüte in sich schließt. Ganz Kalifornien gebiert, die Frucht wird schwer, die Äste biegen sich allmählich unter der Frucht, so daß sie mit Stöcken gestützt werden müssen. Hinter dieser Fruchtbarkeit stehen Männer mit Verständnis, Wissen und Können, Männer, die mit Samen experimentieren und endlos neue Möglichkeiten für bessere Ernten entdecken an Pflanzen, deren Wurzeln den 612
Millionen Feinden der Erde Widerstand leisten: den Maulwürfen, den Insekten, den Pilzen und dem Brand. Diese Männer arbeiten sorgfältig und unaufhaltsam, um den Samen, die Wurzeln zu verbessern. Und da sind die Chemiker, die die Bäume zum Schutz gegen die Seuchen bespritzen, die die Trauben einschwefeln, die Seuchen und Krankheiten, Fäulnis und Mehltau ausrotten. Doktoren der Präventivmedizin, Männer an den Grenzen, die nach Schädlingen suchen, nach der japanischen Fliege, Männer, die kranke Bäume in Quarantäne bringen und sie verbrennen, Männer von Wissen. Die Männer, die die jungen Bäume aufpfropfen, die kleinen Weinstöcke, sind die geschicktesten von allen, denn ihre Arbeit ist zart und fein wie die eines Chirurgen, und diese Männer müssen die Hände von Chirurgen haben und die Herzen von Chirurgen, um die Rinde aufzuritzen, den Pfropf einzusetzen, die Wunden zu verbinden und sie vor der Luft zu bewahren. Es sind große Männer. Durch die Reihen gehen die Bauern, reißen das Frühlingsgras aus und graben es unter, damit die Erde fruchtbar wird, brechen den Boden, damit er das Wasser nahe an der Oberfläche hält, ziehen kleine Gräben zur Bewässerung, jäten das Unkraut aus, das sonst den Bäumen das Wasser wegtrinkt. Und die ganze Zeit schwellen die Früchte, und die Blüten hängen in langen Dolden an den Weinstöcken herab. Und mit dem fortschreitenden Jahr kommt die Wärme, und die Blätter werden dunkelgrün. Die Pflaumen werden länglich wie kleine grüne Vogeleier, und die Äste senken sich unter der Last herab auf die 613
Stöcke, die sie stützen. Und die harten kleinen Birnen nehmen Form an, und auf den Pfirsichen erscheint schon der Flaum. Die Rebenblüten werfen ihre winzigen Blätter ab, und die harten kleinen Perlen werden grüne Knöpfe, und die Knöpfe wachsen und werden schwer. Die Männer, die in den Feldern arbeiten, die Besitzer der kleinen Obstgärten, sehen zu und rechnen. Das Jahr ist reich und fruchtbar. Und die Männer sind stolz, denn mit ihrem Wissen können sie das Jahr reich und fruchtbar machen. Sie haben die Welt verändert mit ihrem Wissen. Der kurze, magere Weizen ist groß und produktiv geworden. Aus kleinen sauren Äpfeln haben sie pausbäckige, süße gemacht, und die alte Rebe, die zwischen den Bäumen wuchs und mit ihren winzigen Früchten die Vögel ernährte, hat tausend Abarten hervorgebracht, rote und schwarze, grüne und blaßrosa, purpurrote und gelbe, und jede Abart hat ihren eigenen Geschmack. Die Männer, die auf den Versuchsfarmen arbeiten, haben neue Früchte geschaffen: NektarPfirsiche und vierzig Arten von Pflaumen und Walnüsse mit papierdünnen Schalen. Und sie arbeiten, lesen aus, pfropfen, verändern, treiben sich selbst, treiben die Erde zur Produktion an. Und die ersten Kirschen reifen. Anderthalb Cents das Pfund. Verdammt, dafür können wir sie ja nicht mal pflücken. Schwarze Kirschen und rote Kirschen, voll und süß, und die Vögel fressen die Hälfte einer jeden Kirsche, und die Wespen kriechen in die Löcher, die die Vögel gemacht haben. Und die Kerne fallen auf die Erde und trocknen mit den schwarzen Fetzen, die noch an 614
ihnen hängen. Die roten Pflaumen werden weich und süß. Mein Gott, wir können sie nicht pflücken und trocknen und einschwefeln. Wir können keine Löhne zahlen, ganz gleich, was für Löhne. Und die roten Pflaumen fallen zur Erde und bedecken gleich einem Teppich den Boden. Erst schrumpft die Haut ein wenig, und Schwärme von Fliegen kommen und fressen sich an den Pflaumen satt, und das Tal ist erfüllt von dem Geruch süßer Fäulnis. Das Fleisch wird dunkel, und die Früchte schrumpfen auf der Erde ein. Und die Birnen werden gelb und weich. Fünf Dollars die Tonne. Fünf Dollars für vierzig Fünfzig-PfundKisten. Die Bäume beschnitten und bespritzt, die Obstgärten kultiviert – die Früchte gepflückt, in Kisten gepackt, auf Wagen geladen, zur Konservenfabrik gefahren – vierzig Kisten für fünf Dollars. Wir können’s nicht. Und die gelben Früchte fallen schwer zu Boden und zerplatzen. Die Wespen graben sich in das weiche Fleisch, und es riecht nach Gärung und Fäulnis. Dann die Trauben – wir können keinen guten Wein machen. Die Leute können keinen guten Wein kaufen. Rupft die Trauben von den Stöcken, gute Trauben, schlechte Trauben, angefressene Trauben. Preßt die Stiele, preßt den Dreck und das Faule. Aber es ist Mehltau und Ameisensäure in den Trögen. Tut Schwefel hinein und Gerbsäure. Der Geruch der Gärung ist nicht der reiche Duft des Weins, sondern der Geruch von Fäulnis und Chemikalien. Ganz egal. Jedenfalls ist Alkohol drin. Die Leute werden davon betrunken. 615
Die kleinen Farmer sehen, wie die Schulden auf sie zuschleichen, gleich einer Flut. Sie haben die Bäume gespritzt und die Ernte nicht verkauft, sie haben beschnitten und aufgepfropft und haben die Ernte nicht pflücken können. Und die Männer von Wissen haben gearbeitet, haben gerechnet und gespart, und die Früchte verrotten am Boden, und der faule Brei in den Weintrögen vergiftet die Luft. Und der Geschmack des Weines ist nicht der Duft der Trauben, sondern Schwefel, Gerbsäure und Alkohol. Dieser kleine Obstgarten wird im nächsten Jahr einer großen Gesellschaft gehören, denn die Schulden haben den Besitzer erstickt. Dieser Weingarten wird der Bank gehören. Nur die großen Besitzer bleiben am Leben, denn sie haben zugleich auch Konservenfabriken. Und vier geschälte und halbierte Birnen, gekocht und konserviert, kosten noch immer fünfzehn Cents. Und Konservenbirnen verderben nicht, sie halten jahrelang. Die Fäulnis breitet sich aus über den ganzen Staat, und der süße Geruch ist eine große Sorge auf dem Land. Die Männer, die Bäume aufpfropfen und Samen groß und fruchtbar machen können, finden keine Möglichkeit, daß die hungernden Menschen das essen können, was sie gebaut haben. Menschen, die der Welt neue Früchte geschaffen haben, finden kein System, daß die Früchte gegessen werden können. Und der Mißerfolg hängt wie eine große Sorge über dem Staat. Die Arbeit der Wurzeln der Weinstöcke, der Bäume muß zerstört werden, damit die Preise hoch bleiben. 616
Und das ist das Traurigste, Bitterste von allem. Wagenladungen von Orangen, die weggeworfen werden. Die Leute kamen meilenweit, um sich die Früchte zu holen, aber das darf natürlich nicht sein. Wie würden sie denn Orangen für zwanzig Cents das Dutzend kaufen, wenn sie bloß herauszufahren und sie aufzulesen brauchen? Und Männer mit Schläuchen spritzen Petroleum auf die Orangen und sind wütend über das Verbrechen, wütend über die Leute, die gekommen sind, um sich die Orangen zu holen. Eine Million Hungernde, die Obst brauchen – und über die goldenen Berge wird Petroleum gespritzt. Und der Geruch der Fäulnis erfüllt das Land. Sie verbrennen Kaffee als Feuerung in den Schiffen. Sie verbrennen Korn zur Heizung, denn es gibt ein gutes Feuer. Sie werfen Kartoffeln in die Flüsse und stellen an den Ufern Wachen auf, damit die hungrigen Leute sie nicht herausfischen können. Sie schlachten die Schweine und graben sie ein und lassen sie verfaulen und den Saft in die Erde sickern. Es gibt Verbrechen hier, die nicht zu schildern sind. Es gibt hier Leid, das Tränen selbst nicht sprechen lassen können. Es gibt hier Mißerfolg, der all unsere Bemühungen zunichte macht. Die fruchtbare Erde, die geraden Baumreihen, die starken Stämme und die reife Frucht. Und Kinder müssen sterben, weil die Orange ihren Profit nicht verlieren darf. Und die Leichenbeschauer müssen in den Totenschein schreiben: »Starb an Unterernährung«, weil Nahrungsmittel verfaulen müssen. Die Leute kommen mit Netzen, um die Kartoffeln 617
aus dem Fluß zu fischen, aber die Wächter verbieten es ihnen. Sie kommen in ratternden Wagen, um sich Orangen zu holen, aber die Orangen sind mit Petroleum bespritzt. Und sie stehen still und sehen zu, wie die Kartoffeln vorbeischwimmen, hören die Schweine schreien, die in einem Graben geschlachtet und mit Ätzkalk bedeckt werden, sehen die Orangenberge zu einem Fäulnisbrei zusammensinken, und in den Augen der Hungernden steht ein wachsender Zorn. In den Herzen der Menschen wachsen die Früchte des Zorns und werden schwer, schwer und reif zur Ernte.
26 Im Weedpatch-Camp, an einem Abend, an dem lange, streifige Wolken sich über die untergehende Sonne zogen und an den Rändern rot gefärbt wurden, blieb die Familie Joad nach dem Nachtessen unschlüssig sitzen. Mutter zögerte, ehe sie anfing, die Teller abzuräumen und zu spülen. »Wir müssen etwas machen«, sagte sie. Und sie zeigte auf Winfield. »Da – seht euch an«, sagte sie. Und als sie alle zu dem kleinen Jungen hinüberblickten: »Er zuckt und krümmt sich im Schlaf. Und so blaß ist er.« Sie blickten beschämt wieder zu Boden. »Ölkuchen«, sagte Mutter. »Einen Monat sind wir jetzt hier. Und Tom hat fünf Tage Arbeit gehabt. Und ihr andern seid jeden Tag rumgekrebst und habt nichts gefunden. 618
Und habt Angst zu reden. Und das Geld ist alle. Ihr habt Angst, es mal richtig zu bereden. Abends eßt ihr nur, und dann lauft ihr weg. Aber ihr müßt’s bereden. Rosasharn ist bald fällig, und seht euch an, was sie für ’ne Farbe hat. Ihr müßt’s bereden. Jetzt steht keiner von euch auf, bis wir uns nicht was überlegt haben. Noch für einen Tag Fett und für zwei Tage Mehl – und zehn Kartoffeln. Jetzt bleibt ihr sitzen und überlegt euch was!« Sie blickten zu Boden. Vater machte sich seine dicken Fingernägel mit dem Taschenmesser sauber. Onkel John zupfte an einem Holzsplitter der Kiste, auf der er saß. Tom kniff sich in die Unterlippe und zog sie herab. Er ließ die Lippe zurückschnellen und sagte leise: »Wir haben doch gesucht, Mutter. Und wir sind gelaufen, seit wir kein Benzin mehr kaufen können. In jedes Tor sind wir reingegangen, zu jedem Haus, auch wenn wir gewußt haben, es ist nichts. Und das bedrückt einen, nach was zu suchen, wovon man weiß, man wird’s nicht finden.« Mutter sagte ungehalten: »Ihr könnt’s euch nicht leisten, den Mut zu verlieren. Unsere Familie geht vor die Hunde. Ihr könnt’s euch einfach nicht leisten.« Vater betrachtete seinen ausgekratzten Nagel. »Wir müssen weiter«, sagte er. »Und wir haben nicht gehn wollen. Es ist so hübsch hier, und die Leute sind so nett. Wir haben Angst gehabt, wir kommen dann wieder in ein Hooverville.« »Na, wenn’s sein muß, muß es sein. Das Wichtigste ist, wir müssen was zu essen haben.« 619
Al warf ein: »Der Benzintank im Wagen ist voll. Das hab’ ich keinem gesagt.« Tom lächelte. »Unser Al ist doch nicht ganz so blöd, wie er aussieht.« »Also, überlegt euch was«, sagte Mutter. »Ich kann nicht mehr zusehn, wie die Familie verhungert. Noch für einen Tag Fett. Das ist alles, was wir haben. Und wenn Rosasharn sich legt, dann muß sie gut zu essen kriegen. Überlegt euch was!« »Das heiße Wasser hier und die Toiletten …«, begann Vater. »Die Toiletten können wir nicht essen.« Tom sagte: »Da ist heute einer vorbeigekommen, der sucht Leute für Marysville. Obst pflücken.« »Gut, warum gehn wir dann nicht nach Marysville?« fragte Mutter. »Ich weiß nicht«, sagte Tom. »Ist mir irgendwie nicht richtig vorgekommen. Es war ihm zu dringend. Er hat auch nicht gesagt, was er zahlt. Er weiß es noch nicht genau, hat er gesagt.« »Wir gehn nach Marysville«, sagte Mutter. »Ist mir ganz egal, was er zahlt. Wir fahren hin.« »Es ist zu weit«, sagte Tom. »Wir haben kein Geld für Benzin. Wir würden gar nicht bis hin kommen. Mutter, du sagst, wir sollen überlegen. Ich habe die ganze Zeit nichts andres getan wie überlegen.« Onkel John sagte: »Einer hat erzählt, oben im Norden, in der Nähe von Tulare, kommt jetzt die Baumwolle. Das ist nicht weit, hat er gesagt.« »Ja, wir müssen weiter – und schnell weiter. Ich will 620
hier nicht länger rumsitzen, ganz egal, wie hübsch es ist.« Mutter nahm ihren Eimer und ging zum Sanitärgebäude, um heißes Wasser zu holen. »Mutter wird keß«, sagte Tom. »Ich habe sie jetzt verdammt oft wütend gesehn. Sie kocht einfach über.« Vater sagte mit einer gewissen Erleichterung: »Na, sie hat jedenfalls davon angefangen. Ich habe nachts dagelegen und mir den Kopf zerbrochen. Jetzt können wir’s jedenfalls bereden.« Mutter kam mit ihrem Eimer voll dampfenden Wassers zurück. »Na«, fragte sie, »habt ihr euch was überlegt?« »Wir sind grade dabei«, sagte Tom. »Wenn wir nun wirklich einfach nach Norden fahren, wo’s Baumwolle hat? Hier sind wir fertig. Wir wissen, hier gibt’s nichts. Wenn wir nun unsern Kram packen und nach Norden fahren? Dann sind wir da, sowie die Baumwolle soweit ist. Baumwolle pflücken ist außerdem nicht schlecht. Du hast den Tank voll, Al?« »Beinahe – etwa zwei Zentimeter fehlen.« »Damit sollten wir eigentlich hinkommen.« Mutter hielt einen Teller über den Eimer. »Na?« fragte sie. Tom sagte: »Du hast’s erreicht. Wir fahren weiter, denke ich. Was, Vater?« »Ich glaube, wir müssen«, sagte Vater. Mutter blickte ihn an. »Wann?« »Tja – hat keinen Zweck, lange zu warten. Am besten gleich morgen früh.« »Wir müssen morgen früh fahren. Ich habe euch ja gesagt, was wir noch haben.« 621
»Du mußt nicht denken, ich will nicht, Mutter. Ich habe seit zwei Wochen den Bauch nicht richtig voll gehabt. Das heißt – voll schon, aber nicht richtig.« Mutter tauchte den Teller in den Eimer. »Wir fahren morgen früh«, sagte sie. Vater schnüffelte. »Scheint so, daß die Zeiten sich geändert haben«, sagte er sarkastisch. »Früher hat der Mann gesagt, was die Familie machen muß. Scheint so, daß das jetzt die Frau macht. Scheint so, daß ich mir bald meinen Stock rausholen muß.« Mutter stellte den sauberen tropfenden Blechteller auf eine Kiste. Sie lächelte über ihrer Arbeit. »Hol du dir nur deinen Stock raus, Vater«, sagte sie. »Wenn mal was zu essen da ist und ’n Platz, wo wir uns niederlassen können, dann kannst du deinen Stock vielleicht gebrauchen und brauchst dich nicht mehr anzustrengen. Aber jetzt machst du ja nichts, überlegst dir nichts und arbeitest nichts. Wenn du was machen tätest, dann könntest du deinen Stock gebrauchen, und die Frauen würden rumschnüffeln und rumkriechen. Aber hol dir nur deinen Stock raus – dann hast du keine Frau mehr zum Lieben, dann mußt du dich wehren, denn ich habe auch ’n Stock da.« Vater grinste verlegen. »Nicht grade gut, wenn die Kinder dich so reden hören«, sagte er. »Sorg lieber dafür, daß die Kinder ’n bißchen Schinken in den Bauch kriegen, eh’ du mir erzählst, was gut für sie ist«, sagte Mutter. Vater stand angeekelt auf und ging weg, und Onkel John folgte ihm. 622
Mutters Hände arbeiteten im Wasser, aber sie sah den beiden nach und sagte zu Tom: »Er ist schon richtig so, der Alte. Er läßt sich nicht unterkriegen. Und hauen tut er mich auch nicht.« Tom lachte. »Du willst ihn wohl nur aufstacheln?« »Natürlich«, sagte Mutter. »Überleg dir doch – ein Mann sorgt sich und sorgt sich und frißt sich auf, und bald legt er sich hin und stirbt, weil’s ihm das Herz zerfressen hat. Wenn du ihn aber hernehmen und wild machen kannst – dann ist er richtig. Vater hat nichts gesagt, aber jetzt ist er wild. Jetzt wird er mir’s zeigen. Er ist ganz richtig, der Alte.« Al stand auf. »Ich gehe ’n Stückchen«, sagte er. »Sorg lieber dafür, daß der Wagen in Ordnung ist«, ermahnte Tom ihn. »Ist in Ordnung.« »Gut, aber wenn er’s nicht ist, lasse ich Mutter auf dich los.« »Ist in Ordnung.« Al schlenderte an den Zelten entlang. Tom seufzte. »Ich hab’ es satt, Mutter. Wie wär’s, wenn du mich mal wild machen würdest?« »Du hast mehr Verstand, Tom. Dich brauche ich nicht wild zu machen. Auf dich muß ich mich verlassen können. Die anderen – die sind irgendwie Fremde, alle außer dir. Du gibst nicht auf, Tom.« Die Verantwortung belastete ihn. »Das gefällt mir nicht«, sagte er. »Ich möchte ausgehn wie Al. Und ich möchte wild werden wie Vater, und ich möchte mich besaufen wie Onkel John.« Mutter schüttelte den Kopf. »Das kannst du nicht, 623
Tom. Ich weiß es. Ich hab’ es schon gewußt, wie du noch ’n kleiner Kerl warst. Du kannst es nicht. Es gibt Leute, die sind nur sie selbst und nichts weiter und nicht mehr. Unser Al – der ist nur ’n junger Bursche, wo hinter Mädchen herläuft. Du bist nie so gewesen, Tom.« »Doch, ich bin so gewesen«, sagte Tom. »Und ich bin auch noch so.« »Nein, bist du nicht. Alles, was du machst, ist mehr als du. Wie sie dich ins Gefängnis geschickt haben, habe ich’s gewußt, du bist was Besondres.« »Jetzt sei aber still, Mutter. Das ist nicht wahr. Du bildest dir’s nur ein.« Sie legte die Messer und Gabeln oben auf den Tellerstapel. »Vielleicht. Vielleicht bilde ich’s mir nur ein. Rosasharn, trockne das Zeug hier ab und stell’s weg.« Das Mädchen stand kurzatmig auf, und ihr rundlicher Bauch wölbte sich prall unter dem Kleid. Sie ging schwerfällig zu der Kiste und nahm einen der abgewaschenen Teller auf. Tom sagte: »Die Haut wird ihr so eng, daß es ihr die Augen aufzerrt.« »Ärgere sie nicht«, sagte Mutter. »Sie ist ein braves Mädchen. Geh und sag den Leuten, die du kennst, auf Wiedersehn.« »Okay. Ich will mich mal erkundigen, wie weit es nach dort ist.« Mutter sagte zu dem Mädchen: »Er meint’s nicht böse. Wo sind denn Ruthie und Winfield?« »Die sind hinter Vater hergeschlichen. Ich habe sie gesehn.« 624
»Schön, sollen sie laufen.« Rose von Sharon bewegte sich träge bei ihrer Arbeit. Mutter beobachtete sie heimlich. »Fühlst du dich nicht gut? Du siehst so blaß aus.« »Ich habe keine Milch getrunken, so, wie sie gesagt haben.« »Ich weiß. Wir haben einfach keine Milch gehabt.« Rose von Sharon sagte töricht: »Wenn Connie nicht weggegangen wäre, würden wir jetzt ’n kleines Haus haben, und er würde studieren und alles. Ich würde so viel Milch haben, wie ich brauche, und dann würde ich ’n hübsches Kind kriegen. Dieses Kind kann ja nichts werden. Ich müßte Milch haben.« Sie griff in ihre Schürzentasche und steckte etwas in den Mund. Mutter sagte: »Was ißt du denn da?« »Ach, nichts.« »Komm – was ißt du da?« »Nur ’n bißchen Kalk. Ich habe ’n großes Stück gefunden.« »Aber das ist doch wie Dreck essen.« »Ich habe so ’n Gefühl, daß ich’s brauche.« Mutter schwieg und strich sich das Kleid glatt. »Ich weiß«, sagte sie schließlich. »Ich habe mal Kohle gegessen, wie ich in Umständen war. Ein großes Stück Kohle. Großmutter hat gesagt, ich dürft’ es nicht. Aber sag nicht so was von dem Kind. Das darfst du nicht mal denken.« »Ich habe keinen Mann! Ich habe keine Milch!« Mutter sagte: »Wenn du nicht in Umständen wärst, würde ich dir ’ne Ohrfeige geben. Jawohl!« Sie stand auf und ging ins Zelt. Sie kam wieder heraus und trat vor 625
Rose von Sharon und streckte ihre Hand aus. »Hier!« Die schmalen goldenen Ohrringe lagen in ihrer Hand. »Das ist für dich.« Die Augen des Mädchens leuchteten auf, aber dann wandte sie sich ab. »Ich habe doch keine Löcher in den Ohren.« »Na, dann mache ich dir welche.« Mutter eilte zurück ins Zelt und kam mit einer Pappschachtel wieder. Sie fädelte eine Nadel ein, nahm den Faden doppelt und knotete ihn an verschiedenen Stellen. Sie fädelte eine zweite Nadel ein und knotete den Faden. Dann holte sie ein Stück Kork aus der Schachtel. »Das tut weh, Mutter. Das tut weh.« Mutter trat zu ihr, hielt den Kork hinter das Ohrläppchen und stieß die Nadel durch das Ohr in den Kork hinein. Das Mädchen zuckte zusammen. »Das pikst. Das tut weh.« »Paß auf, es ist gar nicht so schlimm.« »Ja, aber es wird weh tun.« »Na, dann machen wir das andre Ohr zuerst.« Sie hielt den Kork hinter das Ohrläppchen und stieß die Nadel durch. »Es wird weh tun.« »Still!« sagte Mutter. »Ist schon fertig.« Rose von Sharon sah sie erstaunt an. Mutter schnitt die Nadeln ab und zog an jedem Ohr den Faden mit einem Knoten durch das Ohrläppchen. »So«, sagte sie. »Jetzt ziehn wir jeden Tag einen Knoten durch, und in zwei Wochen ist alles gut, und du kannst sie behalten.« 626
Rose von Sharon betastete zaghaft ihre Ohren und betrachtete die Blutströpfchen an ihren Fingern. »Es hat gar nicht weh getan. Nur ein bißchen gepikst.« »Das hätten wir schon längst machen müssen«, sagte Mutter. Sie sah dem Mädchen ins Gesicht und lächelte triumphierend. »Jetzt trockne die Teller fertig ab. Und paß auf, du kriegst ein hübsches Kind. Beinahe hättest du’s gekriegt, und deine Ohrläppchen wären noch nicht durchstochen gewesen. Aber jetzt brauchst du nichts mehr zu fürchten.« »Bedeutet das denn was?« »Natürlich«, sagte Mutter. »Natürlich bedeutet’s was.« Al schlenderte die Straße hinunter, der Tanzfläche zu. Vor einem sauberen kleinen Zelt pfiff er leise, dann ging er weiter. Er ging bis zum Feld und setzte sich ins Gras. Die Wolken im Westen hatten jetzt keine roten Bänder mehr und waren in der Mitte schwarz. Al kratzte sich die Beine und blickte in den Abendhimmel. Wenige Augenblicke später kam ein blondes Mädchen, sie war hübsch und hatte schön geschnittene Züge. Sie setzte sich neben ihn ins Gras und sagte nichts. Al legte den Arm um sie und ließ seine Finger wandern. »Nicht!« sagte sie. »Du kitzelst.« »Wir fahren morgen fort«, sagte Al. Sie blickte überrascht zu ihm auf. »Morgen? Wohin denn?« »Ach, nach Norden«, sagte er leichthin. »Aber wir wollen doch heiraten – oder nicht?« »Sicher. Natürlich – irgendwann.« 627
»Du hast gesagt, sehr bald!« rief sie aufgebracht. »Ja, bald. Aber wer weiß, wann bald ist?« »Du hast’s versprochen.« Er ließ seine Finger weiterwandern. »Geh!« rief sie. »Du hast gesagt, wir heiraten.« »Ja, natürlich heiraten wir.« »Und jetzt fährst du weg.« Al fragte: »Was ist denn los mit dir? Bist du in Umständen?« »Nein, bin ich nicht.« Al lachte. »Dann habe ich mich also ganz vergebens angestrengt, was?« Sie sprang auf. »Mach, daß du wegkommst, Al Joad. Ich will dich nicht mehr sehn.« »Na, komm, sei gut. Was ist denn los?« »Du denkst, du kannst dir immer alles leisten.« »He, sachte, warte mal!« »Du denkst, ich bin auf dich angewiesen. Bin ich aber nicht! Ich kann ’nen Haufen andre haben, wenn ich will.« »He, warte mal!« »Nein – laß mich in Frieden.« Al fuhr plötzlich herum, ergriff ihren Fußknöchel und brachte sie zum Straucheln. Er fing sie auf, als sie fiel, und hielt sie fest und preßte ihr die Hand auf den Mund. Sie versuchte, ihn in die Hand zu beißen, aber er wölbte sie über ihrem Mund und drückte sie mit dem anderen Arm nach unten. Einen Augenblick später lag sie still, gleich darauf saßen sie miteinander im Gras. »Wir kommen doch bald zurück«, sagte Al. »Und 628
dann habe ich die Taschen voll Moneten. Dann fahren wir nach Hollywood und gehn immer ins Kino.« Sie lag auf dem Rücken. Al beugte sich über sie. Und er sah den blitzenden Abendstern, der sich in ihren Augen spiegelte, und sah die dunkle Wolke, die sich in ihren Augen spiegelte. »Wir fahren mit dem Zug«, sagte er. »Und wie lange, glaubst du, wird’s dauern?« fragte sie. »Ach, vielleicht ’n Monat«, sagte er. Das Abenddunkel fiel hernieder, und Vater und Onkel hockten mit den anderen Familienhäuptern vor der Veranda des Büros. Sie blickten in die Nacht und in die Zukunft. Der kleine Vorsteher in seinem weißen Anzug, der sauber und ausgefranst war, hatte seine Ellbogen auf das Geländer der Veranda gestützt. Sein Gesicht war müde und abgespannt. Huston sah ihn an. »Sie sollten lieber schlafen gehn, Mister.« »Ja, das sollte ich wohl. Letzte Nacht ist in Abteilung Drei ein Baby geboren worden. Ich werde allmählich ’ne gute Hebamme.« »Man muß sich auch da auskennen«, sagte Huston. »Vor allen Dingen einer, der wo verheiratet ist.« Vater sagte: »Wir fahren morgen früh weg.« »Ja? Wohin denn?« »Wir haben gedacht, ’n Stück nach Norden. Vielleicht kommen wir grade zurecht zur Baumwolle. Wir haben keine Arbeit gehabt. Und man muß ja essen.« »Wißt ihr denn, ob’s da Arbeit gibt?« fragte Huston. »Nein, aber wir wissen, hier gibt’s keine.« 629
»Wird aber welche geben, ’n bißchen später«, sagte Huston. »Wir warten.« »Wir gehn auch sehr ungern weg«, sagte Vater. »Die Leute sind so nett hier gewesen – und die Toiletten und alles. Aber wir müssen ja essen. Wir haben den Tank voll Benzin. Damit kommen wir schon ein Stückchen weiter. Wir haben hier jeden Tag gebadet. Ich bin noch nie in meinem Leben so sauber gewesen. Komische Sache – früher habe ich nur einmal die Woche gebadet und habe, glaube ich, nie gestunken. Aber wenn ich jetzt nicht jeden Tag bade, dann rieche ich. Ich möchte wissen, ob das vom vielen Baden kommt?« »Vielleicht hast du dich vorher nicht so riechen können«, sagte der Vorsteher. »Vielleicht. Ich wollte, wir könnten bleiben.« Der kleine Vorsteher preßte sich die Hände gegen die Schläfen. »Ich glaube, heute nacht kommt wieder ’n Baby«, sagte er. »Wir kriegen auch bald eins in unsrer Familie«, sagte Vater. »Ich wollte, wir könnten’s hier kriegen. Ach ja, das wollte ich.« Tom und Willie und Jule, der Mischling, saßen auf der Kante des Tanzbodens und baumelten mit den Beinen. »Ich habe ’n Säckchen Durham«, sagte Jule. »Willst du rauchen?« »Und ob ich will«, sagte Tom. »Ich habe verdammt lange nichts geraucht.« Er drehte sich sorgfältig eine Zigarette. 630
»Tja, das tut uns ja nun leid, daß ihr wegmüßt«, sagte Willie. »Ihr seid ordentliche Leute.« Tom brannte sich die Zigarette an. »Ich habe viel drüber nachgedacht. Großer Gott, ich wollte, wir könnten irgendwo zur Ruhe kommen.« Jule steckte seinen Durham wieder ein. »Ja, es ist nicht schön«, sagte er. »Ich habe ’n kleines Mädchen. Habe gedacht, wenn wir hier runterkommen, kann sie in die Schule gehn. Aber verdammt, wir sind ja nirgends lange genug. Da fängt sie grade an – und schon müssen wir wieder weiter.« »Ich hoffe, wir brauchen in kein Hooverville mehr!« sagte Tom. »Ich habe da richtige Angst gehabt.« »Haben die Bullen euch fortgejagt?« »Ich habe Angst gehabt, ich bringe einen um«, sagte Tom. »Wir waren nur ganz kurz dort, aber in mir hat’s die ganze Zeit gekocht. Die Polizei ist gekommen und hat uns ’nen Freund weggeholt, nur weil er was gesagt hat. Ich habe die ganze Zeit gekocht.« »Hast du schon mal ’n Streik mitgemacht?« fragte Willie. »Nee.« »Ja, ich habe mir’s überlegt. Warum kommt die Polizei nicht hier zu uns und schlägt Krach, wie sie’s überall macht? Glaubt ihr etwa, der kleine Kerl im Büro hindert sie dran? Nee, Kinder.« »Na, was denn dann?« fragte Jule. »Ich will’s euch sagen. Es ist, weil wir alle zusammenarbeiten. Die Polizei kann hier nicht nur einen Kerl rausholen. Deshalb hat sie’s auf das ganze Camp abgesehn. 631
Aber sie wagen nicht, was zu machen. Wir brauchen nur zu schreien, und zweihundert Leute stehn da. Einer, der für die Gewerkschaft organisiert, hat mir’s unterwegs erzählt, draußen auf der Straße. Er sagt, wir können das überall machen. Einfach zusammenhalten. Zweihundert Leute sperren sie nicht so leicht ein. Aber ’nen einzelnen – ja.« »Das ist richtig«, sagte Jule, »aber angenommen, wir machen ’ne Gewerkschaft? Dann müssen wir Führer haben. Also sperren sie einfach unsre Führer ein – und wo bleibt dann die Gewerkschaft?« »Tja«, sagte Willie. »Das müssen wir uns mal gründlich überlegen. Ich bin jetzt ’n Jahr hier unten, und die Löhne gehn immer niedriger. Ein Mann kann seine Familie jetzt schon nicht mehr mit seiner Arbeit ernähren, und das wird immer schlimmer. Hat ja keinen Zweck, so rumzusitzen und zu verhungern. Ich weiß nicht, was wir machen sollen. Wenn einer zwei Pferde hat, macht er kein Geschrei, weil er sie ernähren muß, wenn sie arbeiten. Aber wenn er Leute für sich arbeiten läßt, ist’s ihm einfach egal. Pferde sind, scheint’s, verdammt viel mehr wert wie Menschen. Das verstehe ich nicht.« »Manchmal kommt’s so weit, daß ich gar nicht dran denken möchte«, sagte Jule. »Aber ich muß dran denken. Ich habe ja mein kleines Mädchen. Ihr wißt genau, was für ’n hübsches Ding sie ist. Neulich haben sie ihr ’n Preis gegeben hier im Camp, weil sie so hübsch ist. Na, und was soll mit ihr werden? Sie wird schon ganz dürr. Das halte ich nicht aus. Ich mache was – ich gehe los und mache was.« »Was denn?« fragte Willie. »Was willst du machen – 632
was stehlen und dich ins Kittchen stecken lassen? Oder einen umbringen, damit sie dich aufhängen?« »Ich weiß nicht«, sagte Jule. »Ich werde verrückt, wenn ich dran denke. Glatt verrückt.« »Die Tanzabende werden mir verdammt abgehn«, sagte Tom. »Das waren die schönsten Tanzabende, wo ich in meinem Leben mitgemacht habe. Ja, ich glaube, ich gehe schlafen. Wiedersehn. Wir werden uns schon irgendwo treffen.« Er reichte den anderen die Hand. »Sicher«, sagte Jule. »Also, Wiedersehn.« Und Tom verschwand in der Dunkelheit. Im dunklen Zelt lagen Ruthie und Winfield auf ihrer Matratze, und Mutter lag neben ihnen. Ruthie flüsterte: »Mutter!« »Was ist? Schläfst du noch nicht?« »Mutter – gibt’s da auch ’n Krocket, wo wir hinfahren?« »Ich weiß nicht. Jetzt schlaf. Wir müssen morgen früh losfahren.« »Ich wollte, wir würden hierbleiben, wo’s ein Krocket hat.« »Schscht!« machte Mutter. »Mutter, Winfield hat vorhin einen gehauen.« »Das hätte er nicht machen dürfen.« »Ich weiß. Ich hab’ es ihm auch gesagt, aber er hat den Jungen direkt auf die Nase gehauen und … au verdammt, wie das Blut runtergeloffen ist!« »Sprich nicht so! Das schickt sich nicht für ’n kleines Mädchen.« 633
Winfield drehte sich herum. »Der hat gesagt, wir sind Okies«, rief er aufgebracht. »Er sagte, er ist kein Okie, weil er von Oregon ist. Wir sind verdammte Okies, hat er gesagt. Da habe ich ihn gehauen.« »Schscht! Das darfst du nicht. Es tut dir ja nicht weh, wenn er dich schimpft.« »Ja, aber ich lasse mir’s nicht gefallen«, sagte Winfield ungestüm. »Schscht! Jetzt schlaft.« Ruthie sagte: »Du hättst nur sehn sollen, wie ihm das Blut runtergeloffen ist – über den ganzen Anzug.« Mutter streckte die Hand unter der Decke aus und gab Ruthie einen leisen Klaps auf die Backe. Das kleine Mädchen lag einen Augenblick stocksteif da, dann flüchtete sie sich in ein schnüffelndes, leises Weinen. Im Sanitärgebäude saßen Vater und Onkel John in zwei nebeneinanderliegenden Kabinen. »Wir müssen’s kräftig ausnützen – das letztemal«, sagte Vater. »Ist so hübsch hier. Weißt du noch, was die Kinder für ’ne Angst gehabt haben, wie zum erstenmal das Wasser runtergebraust ist?« »Mir war’s auch komisch«, sagte Onkel John. Er zog sich seinen Overall zu den Knien herauf. »Ich bin ’n schlechter Mensch«, sagte er. »Ich denke schon wieder an Sünde.« »Kannst aber nicht sündigen«, sagte Vater. »Du hast ja kein Geld. Du sitzt fest. Kostet dich mindestens zwei Dollars, wenn du sündigen willst, und wir haben nichts.« 634
»Jaja! Aber ich denke an Sünde.« »Gut. Das kostet dich ja nichts.« »Ist aber genauso schlimm«, sagte Onkel John. »Aber verdammt viel billiger«, sagte Vater. »Sünde soll man nicht leichtnehmen.« »Tue ich auch nicht. Sündige du nur. Du mußt’s scheinbar immer, wenn bei uns der Teufel los ist.« »Ich weiß«, sagte Onkel John. »Ist immer schon so gewesen. Ich habe noch nicht die Hälfte von dem erzählt, was ich gemacht habe.« »Behalt’s auch lieber für dich.« »Ich glaube, diese Toiletten hier machen mich sündig.« »Na, dann geh doch ins Gebüsch. Komm, knöpf dir die Hosen zu, und dann gehn wir schlafen.« Vater zog seine Hosenträger hoch und knipste die Schnalle zu. Er spülte und sah nachdenklich zu, wie das Wasser ins Bekken sprudelte. Es war noch dunkel, als Mutter ihre Leute weckte. Ein schwacher Lichtschein kam aus der offenen Tür des Waschraumes. Aus den Zelten an der Straße drang verschiedenartiges Schnarchen herüber. Mutter sagte: »Kommt! Steht auf! Wir müssen losfahren. Es ist bald Tag.« Sie hob die kreischende Haube der Petroleumlampe und brannte den Docht an. »Kommt! Aufstehn – ihr alle!« Auf dem Boden des Zeltes bewegte es sich langsam. Decken wurden zurückgeworfen, und schläfrige Augen blinzelten ins Licht. Mutter zog ihr Kleid über das Unterzeug, das sie zum Schlafen trug. »Wir haben keinen Kaffee«, sagte sie. »Aber ich habe noch ’n paar Ölkuchen. 635
Die essen wir, und dann geht’s los. Jetzt steht auf, damit wir den Wagen laden können. Macht schnell. Aber seid schön leise, sonst weckt ihr die ganzen Nachbarn auf.« Es dauerte nicht lange, bis sie alle aufgestanden waren. »Lauft nicht weg, verstanden!« ermahnte die Mutter die Kinder. Die anderen zogen sich an. Die Männer bauten die Plane ab und luden die Sachen auf den Wagen. »Paßt auf, daß es schön flach ist«, sagte Mutter. Sie legten die Matratze oben auf die Ladung und banden die Plane über die Latte, so wie sie es immer gehabt hatten. »Fertig, Mutter!« sagte Tom. Mutter hielt einen Teller mit kalten Ölkuchen in der Hand. »Hier – für jeden eins. Mehr haben wir nicht.« Ruthie und Winfield nahmen ihre Kuchen und kletterten hinauf auf den Wagen. Sie deckten sich zu und schliefen wieder ein und hielten dabei noch immer die kalten, harten Ölkuchen in der Hand. Tom setzte sich ans Steuer und trat auf den Starter. Es surrte ein bißchen, dann war alles still. »Zum Teufel, Al!« rief Tom. »Jetzt hast du die Batterie leerlaufen lassen.« Al sprudelte hervor: »Wovon soll sie denn voll bleiben, wenn wir kein Benzin zum Fahren haben?« Tom lachte plötzlich. »Ja, ich weiß auch nicht, wie – aber es ist deine Schuld. Jetzt mußt du ihn ankurbeln.« »Ich sage dir, es ist nicht meine Schuld.« Tom kletterte heraus und holte die Kurbel unter dem Sitz hervor. »Gib mir die Kurbel.« Al nahm sie ihm aus der Hand. 636
»Dreh die Zündung runter, damit’s mir nicht den Arm abreißt.« »Okay. Dreh ihn mal ’n bißchen am Schwanz.« Al arbeitete schwer – er drehte und drehte. Der Motor sprang an, spuckte und dröhnte, während Tom vorsichtig Gas gab. Er stellte die Zündung vor und drosselte das Gas wieder etwas ab. Mutter kletterte neben ihn auf den Sitz. »Jetzt haben wir das ganze Camp aufgeweckt«, sagte sie. »Die schlafen schon wieder ein.« Al stieg auf der anderen Seite ein. »Vater und Onkel John sind oben«, sagte er. »Die wollen noch schlafen.« Tom fuhr zum Tor. Der Wächter kam aus dem Büro und richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf den Wagen. »Wartet ’n Augenblick.« »Was ist los?« »Ihr haut ab?« »Ja.« »Na, dann muß ich euch ausstreichen.« »Okay.« »Wohin fahrt ihr denn?« »Wir wollen’s mal weiter nördlich versuchen.« »Dann viel Glück«, sagte der Wächter. »Ja, Ihnen auch. Wiedersehn.« Der Wagen holperte vorsichtig über den großen Hökker und auf die Straße. Tom fuhr denselben Weg zurück, den sie gekommen waren, an Weedpatch vorbei bis zur Route 99, dann nördlich auf der großen betonierten Straße in Richtung Bakersfield. Der Morgen dämmerte, als sie in die Vorstädte kamen. Tom sagte: »Wo man hinguckt, gibt’s Restaurants. 637
Und in all den Restaurants gibt’s Kaffee. Hier, die Nachtkneipe. Ich wette, die haben mindestens zehn Gallonen Kaffee – und ganz heiß!« »Ach, halt die Schnauze«, sagte Al. Tom grinste zu ihm hinüber. »Ich merke, du hast dir da im Camp gleich ’n Mädchen geschnappt.« »Und wenn schon. Wieso?« »Weil du schlechte Laune hast am Morgen.« Al sagte gereizt: »Ich mache nächstens überhaupt alleine weiter. Ist alles viel einfacher, wenn man keine Familie hat.« Tom sagte: »In neun Monaten würdest du eine haben. Ich habe dich doch rumtigern gesehn.« »Bist verrückt«, sagte Al. »Ich würde mir Arbeit in ’ner Garage suchen und in Restaurants essen …« »Ja, und ’ne Frau haben und ’n Kind in neun Monaten.« »Nein, sage ich dir!« Tom sagte: »Du bist ’n kesser Bursche, Al. Paß nur auf, daß du nicht eins über den Kopf kriegst.« »Wer soll mir denn eins über den Kopf hauen?« »Es gibt immer welche, die’s machen«, sagte Tom. »Du meinst wohl, weil du …« »Jetzt hört aber auf«, mischte Mutter sich ein. »Ich bin dran schuld«, sagte Tom. »Ich habe ihn gezwickt. Aber es war nicht so gemeint, Al. Ich habe nicht gewußt, daß du das Mädchen so gern hast.« »Ich habe kein Mädchen gern.« »Gut, dann nicht. Ich will mich nicht mehr streiten.« Der Wagen kam an den Rand der Stadt. »Seht doch 638
nur die Würstchenbuden – zu Hunderten stehn die hier rum«, sagte Tom. »Tom!« sagte Mutter. »Ich habe ’nen Dollar beiseite gelegt. Wenn du unbedingt Kaffee willst …« »Nein, Mutter. Ich habe nur Spaß gemacht.« »Aber du kannst ihn haben, wenn du Kaffee willst.« »Nein, ich nehm’ es nicht.« Al sagte: »Dann halt auch die Schnauze mit deinem Kaffee.« Tom schwieg eine Weile. »Scheint so, daß ich dauernd ins Fettnäpfchen trete«, sagte er. »Da ist die Straße, wo wir damals am Abend gefahren sind.« »Ich hoffe, so was brauchen wir nicht noch mal zu erleben«, sagte Mutter. »Das war ’n böser Abend.« »Ja, mir hat er auch nicht gefallen.« Zu ihrer Rechten ging die Sonne auf, und der große Schatten des Wagens lief neben ihnen her und huschte über die Zaunpfähle an der Straße. Sie fuhren an dem wiederaufgebauten Hooverville vorbei. »Da!« rief Tom. »Es sind offenbar neue Leute da. Sonst ist’s aber noch genauso.« Al streifte allmählich seine schlechte Laune ab. »Einer hat mir erzählt, daß sie manchen schon fünfzehn- bis zwanzigmal ihr Zeug runtergebrannt haben. Er sagt, die verstecken sich dann einfach unten bei den Weiden, und dann kommen sie wieder und bauen sich neue Baracken auf. Wie die Goffer. Und sie haben sich so dran gewöhnt, daß sie nicht mal mehr wütend werden, hat der gesagt. Es ist wie schlechtes Wetter für sie.« 639
»Für mich war’s auch schlechtes Wetter damals«, sagte Tom. Sie fuhren weiter über die breite Straße. In der Sonnenwärme schauerten sie. »Wird schon kühl jetzt morgens«, sagte Tom. »Der Winter kommt. Ich hoffe nur, wir können vorher ’n bißchen was verdienen. Das Zelt ist nicht grade hübsch für den Winter.« Mutter seufzte, dann richtete sie sich auf. »Tom«, sagte sie, »im Winter müssen wir ’n Haus haben. Wir müssen einfach. Ruthie ist gesund, aber Winfield ist nicht sehr kräftig. Wir müssen ein Haus haben, eh’ der Regen kommt. Die Leute sagen, es soll hier gradezu Katzen regnen.« »Wir kriegen schon ’n Haus, Mutter. Sei nur ruhig. Du kriegst schon ’n Haus.« »Nur daß wir Dach und Fußboden haben. Damit die Kleinen nicht auf der Erde zu schlafen brauchen.« »Wir werden schon sehn, Mutter.« »Ich will euch auch jetzt nicht damit in den Ohren liegen.« »Wir werden schon sehn, Mutter.« »Ich habe einfach manchmal Angst«, sagte sie. »Und manchmal verliere ich den Mut.« »Das habe ich aber noch nicht erlebt.« »Ja, manchmal nachts.« Vorn am Wagen war ein scharfes Zischen zu hören. Tom umspannte das Steuerrad fest und trat auf die Bremse. Der Wagen hielt bockend an. Tom seufzte. »Passiert!« Er lehnte sich im Sitz zurück. Al sprang heraus und lief zum rechten Vorderrad herum. »Ein riesiger Nagel«, rief er. 640
»Haben wir Flickzeug?« »Nee«, sagte Al. »Alles aufgebraucht. Flicken haben wir, aber keinen Kleister.« Tom drehte sich zu Mutter herum und lächelte. »Du hättest uns das mit dem Dollar nicht erzählen dürfen«, sagte er. »Wir wären schon irgendwie zurechtgekommen.« Er stieg aus und sah sich den flachen Reifen an. Al zeigte auf den großen Nagel, der in dem Reifenmantel steckte. »Das ist das Ding.« »Na, wenn’s einen Nagel in diesem Land gibt, dann sind wir drübergefahren.« »Schlimm?« rief Mutter heraus. »Nee, nicht schlimm, aber wir müssen’s machen.« Die anderen kamen von oben heruntergeklettert. »Reifenpanne?« fragte Vater, dann sah er den Reifen an und schwieg. Tom schob Mutter vom Sitz herunter und holte unter dem Polster ein Büchschen mit Reifenflicken hervor. Er breitete den Gummiflicken aus, holte die Leimtube heraus und drückte vorsichtig. »Beinahe trocken«, sagte er. »Aber vielleicht reicht’s. Gut, Al. Blockiere die Hinterräder, und dann drehen wir ihn vorne hoch.« Tom und Al arbeiteten eifrig miteinander. Sie legten Steine gegen die Hinterräder, setzten den Wagenheber unter der Vorderachse an und drehten ihn hoch. Sie zogen den Reifenmantel ab, fanden das Loch, tauchten einen Lappen in den Benzintank und wuschen den Schlauch um das Loch herum ab. Und dann, während Al sich den Schlauch mit der defekten Stelle leicht über 641
das Knie spannte, zerriß Tom die Klebstofftube und strich die Masse, die noch darin war, mit seinem Taschenmesser auf den Gummi. »Jetzt müssen wir’s trocknen lassen. Inzwischen schneide ich den Flicken zu.« Er rauhte den Gummiflicken ein wenig auf und schrägte die Kanten ab. Al spannte den Schlauch straffer über sein Knie, während Tom den Flicken aufklebte. »So. Jetzt leg ihn aufs Trittbrett, und wir beklopfen ihn ein bißchen mit dem Hammer.« Er klopfte einige Male auf den Flicken, dann dehnte er den Schlauch etwas und sah sich die Flickenränder genau an. »Fertig! Ich glaube, es hält. Jetzt stopfen wir ihn wieder rein und pumpen ihn auf. Scheint so, daß du deinen Dollar behalten kannst, Mutter.« Al sagte: »Ich wollte, wir hätten ’n Reservereifen. Wir müssen uns einen kaufen, Tom, gleich aufmontiert und aufgepumpt. Dann können wir von mir aus sogar nachts ’ne Reifenpanne haben.« »Wenn wir Geld für ’nen Reservereifen haben, dann kaufen wir zuerst mal Kaffee und Fleisch«, sagte Tom. Auf der Straße hatte jetzt der morgendliche Verkehr eingesetzt, und die Sonne schien hell und warm. Ein sanfter, flüsternder Wind kam in leisen Stößen aus Südwesten, und die Berge zu beiden Seiten des großen Tales lagen in silbrigem Dunst. Tom pumpte den Reifen auf, als ein aus nördlicher Richtung kommender Roadster auf der anderen Straßenseite anhielt. Ein braungebrannter Mann in hellgrauem Straßenanzug stieg aus und kam zu dem Lastwagen herüber. Er war barhäuptig. Er lächelte, und seine Zähne 642
waren sehr weiß gegen die braune Haut. Er trug einen dicken goldenen Ehering am dritten Finger seiner linken Hand. Ein kleiner goldener Fußball hing an einer dünnen Kette, die sich über seine Weste spannte. »Morgen«, sagte er freundlich. Tom ließ das Pumpen sein und blickte auf. »Morgen.« Der Mann fuhr sich mit den Fingern durch sein struppiges, kurzes graues Haar. »Sucht ihr Arbeit?« »Und ob wir welche suchen, Mister!« »Könnt ihr Pfirsiche pflücken?« »Wir haben’s noch nie gemacht«, sagte Vater. »Wir können alles«, erklärte Tom hastig. »Wir können alles pflücken, was es gibt.« Die Finger des Mannes spielten mit dem goldenen Fußball. »Wenn ihr noch vierzig Meilen weiterfahrt, gibt’s viel Arbeit für euch.« »Ja, wir möchten furchtbar gerne Arbeit haben«, sagte Tom. »Sagen Sie uns nur, wie wir hinkommen, dann brausen wir los.« »Also, ihr fahrt bis Pixley, das sind fünfunddreißig oder sechsunddreißig Meilen, und biegt nach Osten ab. Dann ist’s noch rund sechs Meilen. Ihr könnt jedes Kind fragen, wo die Hooper-Ranch ist. Da gibt’s viel Arbeit für euch.« »Ja, wir fahren gleich los.« »Wißt ihr noch andere Leute, die Arbeit suchen?« »Sicher«, sagte Tom. »Drüben im Weedpatch-Camp suchen viele Arbeit.« »Gut, dann werde ich mal da hinfahren. Wir können ’ne ganze Menge brauchen. Also, vergeßt’s nicht – in Pixley nach Osten bis zur Hooper-Ranch.« 643
»Jawohl«, sagte Tom. »Und wir danken Ihnen auch, Mister. Wir brauchen sehr dringend Arbeit.« »Schon gut. Fahrt nur sobald wie möglich hin.« Er ging über die Straße zurück, stieg in seinen offenen Roadster und fuhr weiter in südlicher Richtung. Tom stemmte sich auf die Pumpe. »Jeder zwanzig«, rief er. »Eins – zwei – drei – vier –« Bei zwanzig nahm Al die Pumpe, dann Vater und Onkel John. Der Reifen füllte sich und wurde rund und glatt. Dreimal ging die Pumpe reihum. »Jetzt laß ihn runter, damit wir sehn, ob’s reicht«, sagte Tom. Al drehte den Wagenheber herunter, und der Wagen senkte sich langsam. »Ist viel drin«, sagte er. »Vielleicht sogar ’n bißchen zu viel.« Al warf die Werkzeuge in den Wagen. »Kommt, wir fahren weiter«, rief Tom. »Jetzt kriegen wir endlich Arbeit.« Mutter setzte sich wieder in die Mitte, aber diesmal fuhr Al. »Fahr schön langsam. Nimm ihn nicht so hoch, Al.« Sie fuhren zwischen Feldern hindurch, auf denen die Morgensonne lag. Der Nebel hob sich von den Bergen, sie waren jetzt klar und braun, mit schwarzroten Falten. Die wilden Tauben flogen von den Zäunen auf, wenn der Wagen vorbeikam. Unbewußt beschleunigte Al das Tempo. »Sachte«, ermahnte Tom ihn. »Er fliegt uns in die Luft, wenn du ihn so hochnimmst. Wir müssen doch hinkommen. Vielleicht kriegen wir heute noch Arbeit.« Mutter sagte aufgeregt: »Mit vier Männern, die arbeiten, kann ich vielleicht irgendwo ’nen Pump machen. 644
Das erste, was ich kaufe, ist Kaffee, weil du den haben möchtest – und dann Mehl und Backpulver und Fleisch. Aber nicht gleich Filet. Das sparen wir uns für später auf. Vielleicht für Samstag. Und Seife, Seife brauchen wir unbedingt. Ich möchte wissen, wo wir die Nacht schlafen.« Sie plapperte weiter. »Und Milch. Ich muß Milch kaufen wegen Rosasharn. Die braucht welche. Das hat die Schwester gesagt.« Eine Schlange kroch über die warme Straße. Al machte einen Bogen und überfuhr sie und steuerte wieder auf die rechte Seite. »’ne Gofferschlange«, sagte Tom. »Das hättest du nicht machen sollen.« »Ich kann sie nicht leiden«, sagte Al. »Alle Schlangen kann ich nicht leiden.« Der Vormittagsverkehr auf der großen Straße nahm zu – Geschäftsvertreter in glänzenden Limousinen mit den Insignien ihrer Gesellschaften auf den Türen, rote und weiße Benzintankwagen, die rasselnde Ketten hinter sich herzogen, große breittürige Lastwagen der Kolonialwaren-Engros-Häuser. Das Land zu beiden Seiten war reich und fruchtbar. Es gab Obstgärten mit schwerbehangenen Bäumen und Weingärten mit großen prallen Trauben. Es gab Melonenbeete und Kornfelder. Weiße Häuser standen im Grün, von Rosen umwuchert. Über Mutter und Tom und Al, die im Vordersitz saßen, war eine seltsame Fröhlichkeit gekommen. »Ich habe mich schon lange nicht mehr so gut gefühlt«, sagte Mutter. »Wenn wir viele Pfirsiche pflücken, können wir uns vielleicht ’n Haus leisten und sogar Miete zahlen – 645
für zwei Monate oder so. Wir müssen doch ’n Haus haben.« Al sagte: »Ich werde sparen. Ja, ich werde sparen, und dann gehe ich in die Stadt und suche mir Arbeit in ’ner Garage. Dann wohne ich in ’nem Zimmer und esse in Restaurants. Und jeden Abend gehe ich ins Kino. Kostet nicht viel. Cowboy-Filme.« Seine Hände umspannten das Steuerrad fester. Der Kühler blubberte und spuckte Dampf. »Hast du ihn denn nicht richtig gefüllt?« fragte Tom. »Doch. Aber wir haben den Wind im Rücken. Drum kocht er.« »Ist ’n schöner Tag heute«, sagte Tom. »Wie ich in McAlester war, habe ich mir immer alles mögliche ausgedacht, was ich machen wollte. Einfach losfahren und nirgends anhalten. Kommt mir vor, als wenn’s schon furchtbar lange her ist, daß ich dort war. Kommt mir wie Jahre vor. Da war ein Wärter, der war besonders gemein. Und auf mich hat er’s abgesehn gehabt. Wahrscheinlich bin ich deshalb so wild auf die Bullen. Kommt mir vor, als wenn jeder Bulle das Gesicht von dem Kerl hat. Er ist immer ganz rot angelaufen. Dann hat er wie ’n Schwein ausgesehn. Er soll ’nen Bruder hier im Westen haben. Er hat immer Leuten Bewährungsfrist verschafft und sie zu seinem Bruder geschickt, und da haben sie dann für nichts arbeiten müssen. Wenn sie gestänkert haben, sind sie einfach wieder ins Kittchen geschickt worden. So ist’s jedenfalls erzählt worden.« »Denk nicht mehr dran«, bat Mutter ihn. »Ich schaffe dann viele Sachen zu essen an. Viel Mehl und Speck.« 646
»Warum soll ich nicht dran denken?« sagte Tom. »Wenn ich’s vergessen will, dann kommt’s eines Tages doch nur um so schlimmer raus. Da war ’n Einbrecher. Von dem habe ich euch noch nie etwas erzählt. Der hat ausgesehn wie Happy Hooligan. Ein harmloser Bursche. Der hat immer ausbrechen wollen. Wir haben ihn alle Hooligan genannt.« Tom lachte in sich hinein. »Denk nicht mehr dran«, bat Mutter ihn. »Erzähl doch weiter«, sagte Al. »Es tut nicht mehr weh, Mutter«, sagte Tom. »Also – der Bursche hat immer ausbrechen wollen. Er hat ’n Plan gemacht, aber den hat er nie für sich behalten können, und bald haben’s alle gewußt, auch die Wärter. Na, und dann ist er ausgebrochen, und sie haben ihn bei der Hand genommen und zurückgebracht. Einmal hat er einen Plan gezeichnet, wo er rüberwill. Natürlich hat er ihn rumgezeigt, und keiner hat was verraten. Er hat sich irgendwo ’n Stück Strick beschafft und ist über die Mauer geklettert. Draußen haben sechs Wärter gestanden mit ’nem großen Sack, und Hooligan kommt langsam an seinem Strick runter, und sie halten den Sack auf, und er plumpst direkt rein. Sie binden den Sack oben zu und tragen ihn wieder rein. Die Kerle haben sich halbtot gelacht. Aber mit Hooligan war’s aus. Er hat geheult und geheult und ist krank geworden, weil sie seine Gefühle verletzt haben. Dann hat er sich mit ’ner Nadel die Pulsadern aufgestochen. Er hat’s einfach nicht überleben können. Ein harmloser Bursche. Es gibt alle möglichen Arten von komischen Verbrechern in ’nem Kittchen.« 647
»Sprich nicht mehr drüber«, sagte Mutter. »Ich habe dem kleinen Floyd seine Mutter gekannt. Er war kein schlechter Kerl. Sie haben ihn einfach in die Enge getrieben.« Die Sonne wanderte höher am Himmel, und der Schatten des Wagens wurde dünn und mager und verschwand langsam unter den Rädern. »Muß Pixley sein da vorn«, sagte Al. »Ich habe vor ’ner Weile auch ’n Schild gesehn.« Sie fuhren in die kleine Stadt hinein und bogen auf einer schmaleren Straße nach Osten ab. Obstgärten säumten den Weg. »Ich hoffe, es ist leicht zu finden«, sagte Tom. »Der Mann hat gesagt, die Hooper-Ranch. Und jeder könnte uns Bescheid sagen. Ich hoffe, es gibt ’n Laden in der Nähe. Da kriege ich vielleicht was auf Pump, wenn vier Männer arbeiten. Da würde ich ein hübsches Essen machen. Vielleicht ’n großes Gulasch.« »Und Kaffee«, sagte Tom. »Vielleicht sogar ’n Säckchen Durham für mich. Ich habe schon lange keinen Tabak mehr gehabt.« Vor ihnen war die Straße mit Wagen blockiert, und eine Reihe weißer Motorräder war am Straßenrand aufgestellt. »Scheint ’n Unfall zu sein«, sagte Tom. Als sie näher herankamen, trat ein Polizist in hohen Schaftstiefeln und mit Patronengürtel hinter dem zuletzt geparkten Wagen hervor. Er hielt die Hand hoch, und Al bremste. Der Polizist lehnte sich vertraulich gegen den Wagen. »Wo wollt ihr hin?« Al sagte: »Ein Mann hat uns gesagt, hier gibt’s Arbeit. Pfirsiche pflücken.« 648
»Also, ihr wollt arbeiten?« »Na, und ob!« sagte Tom. »Okay. Wartet mal hier.« Er trat an den Straßenrand und rief nach vorn: »Noch einer. Das sind jetzt sechs Wagen. Ich glaube, wir lassen den Schub durch.« Tom rief: »He! Was ist denn los?« Der Polizist kam zurück. »Wir haben da vorn ’n kleinen Auflauf. Aber seid nur ruhig. Ihr kommt schon durch. Fahrt nur den anderen nach.« Ein lautes Geknatter von startenden Motorrädern erhob sich. Die Wagenreihe bewegte sich weiter, mit dem Wagen der Joads als letztem. Zwei Motorräder fuhren voran, und zwei folgten. Tom sagte unbehaglich: »Ich möchte wissen, was hier los ist.« »Vielleicht ist die Straße gesperrt«, meinte Al. »Wir brauchen aber doch keine vier Bullen zur Begleitung. Das gefällt mir nicht.« Die Motorräder an der Spitze beschleunigten ihr Tempo, und auch die alten Wagen fuhren schneller. Al beeilte sich, um dicht hinter dem letzten Wagen zu bleiben. »Das sind doch alles unsre Leute, alles«, sagte Tom. »Mir gefällt das nicht.« Plötzlich bogen die Polizisten an der Spitze von der Straße ab in eine mit Kies bestreute große Einfahrt. Die alten Wagen keuchten hinterher. Die Motoren donnerten. Tom sah eine Reihe von Männern im Straßengraben stehen, sah, daß ihre Münder geöffnet waren, als schrien sie, sah ihre drohenden Fäuste und ihre wütenden Gesichter. Eine dicke Frau rannte auf die Wagen zu, 649
aber ein knatterndes Motorrad versperrte ihr den Weg. Ein hohes Gittertor tat sich auf. Die sechs alten Wagen fuhren hindurch, und das Tor schloß sich wieder hinter ihnen. Die vier Motorräder drehten um und fuhren in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Und jetzt, da die knatternden Motoren sich entfernten, war das Schreien der Leute im Graben zu hören. Zwei Männer standen an der mit Kies bestreuten Straße. Jeder von ihnen hatte ein Gewehr. Der eine rief: »Weiter! Weiter! Auf was wartet ihr denn?« Die sechs Wagen fuhren weiter, bogen um eine Kurve und kamen in ein Camp. Da waren fünfzig kleine niedrige Häuser mit flachen Dächern, ein jedes mit einer Tür und einem Fenster. Ein hoher Wassertank stand am einen Ende des Camps und auf der anderen Seite ein kleiner Schuppen: der Krämerladen. Am Ende einer jeden Häuserreihe standen zwei Leute mit Gewehren und mit großen silbernen Sternen auf der Brust. Die sechs Wagen hielten an. Zwei Buchhalter gingen von einem Wagen zum anderen. »Wollt ihr arbeiten?« Tom antwortete: »Sicher, aber was ist denn hier eigentlich los?« »Das geht euch nichts an. Wollt ihr arbeiten?« »Natürlich wollen wir.« »Name?« »Joad.« »Wie viele Männer?« »Vier.« »Frauen?« 650
»Zwei.« »Kinder?« »Zwei.« »Könnt ihr alle arbeiten?« »Ja – ich glaube schon.« »Okay. Fahrt zum Haus dreiundsechzig. Lohn ist fünf Cents die Kiste. Und keine angestoßenen Früchte. Also – los, weiter! Ihr könnt gleich arbeiten gehn.« Die Wagen fuhren weiter. An der Tür eines jeden Hauses stand eine Nummer. »Sechzig«, sagte Tom. »Das hier ist sechzig. Muß da drüben sein. Einundsechzig, zweiundsechzig … Da ist es.« Al hielt dicht vor der Tür des kleinen Hauses. Die Familie kam vom Wagen herunter und sah sich verwirrt um. Zwei Polizisten näherten sich. Sie sahen jedem ins Gesicht. »Name?« »Joad«, sagte Tom ungeduldig. »Sagen Sie, was ist hier eigentlich los?« Einer der Polizisten zog eine lange Liste hervor. »Nicht hier. Hast du sie schon mal gesehn? Sieh dir ’s Nummernschild an. Nee. Sind nicht drauf. Glaube, die sind okay.« »Jetzt hört mal zu. Wir wollen euch keine Geschichten machen. Tut eure Arbeit und kümmert euch um euren eigenen Kram, dann ist alles in Ordnung.« Beide drehten sich um und gingen davon. Am Ende der staubigen Straße setzten sie sich auf zwei Kisten, von wo aus sie die Straße in ihrer ganzen Länge übersehen konnten. Tom blickte ihnen nach. 651
»Na, es wird jedenfalls dafür gesorgt, daß wir uns zu Hause fühlen.« Mutter öffnete die Tür des Hauses und trat ein. Der Fußboden war mit Fett bespritzt. In dem einen und einzigen Raum stand ein rostiger Ofen und weiter nichts. Er stand auf vier Backsteinen, und das rostige Ofenrohr ging hinauf durchs Dach. Der Raum roch nach Schweiß und Fett. Rose von Sharon stand neben Mutter. »Hier sollen wir wohnen?« Mutter schwieg einen Augenblick. »Natürlich«, sagte sie dann. »Ist gar nicht so schlimm, wenn wir’s mal ausgewaschen haben. Wir müssen den Boden polieren.« »Mir ist das Zelt lieber«, sagte das Mädchen. »Aber hier hat’s ’n Fußboden«, meinte Mutter. »Und es regnet auch sicher nicht rein.« Sie drehte sich zur Tür um. »Na, dann laden wir doch ab«, sagte sie. Die Männer luden schweigend ab. Eine Angst hatte sie überkommen. In dem ganzen Barackenblock war es still. Eine Frau kam auf der Straße vorbei, aber sie blickte nicht zu ihnen herüber. Ihr Kopf war gesenkt, und von ihrem schmutzigen Kleid hingen die Fransen herunter. Auch über Ruthie und Winfield war die Mutlosigkeit gekommen. Sie liefen nicht weg, um die Gegend auszukundschaften. Sie blieben dicht beim Wagen, dicht bei der Familie. Sie blickten teilnahmslos die Straße auf und ab. Winfield hatte ein Stückchen Draht gefunden, das er so lange hin und her bog, bis es zerbrach. Von dem kurzen Stück machte er eine kleine Kurbel und drehte sie unentwegt in seinen Händen. 652
Tom und Vater trugen gerade die Matratzen ins Haus, als ein Beamter erschien. Er trug Khakihosen, ein blaues Hemd und eine schwarze Krawatte. Er hatte eine silbern gerahmte Brille auf, und seine Augen waren matt und rot hinter den dicken Gläsern, und seine Pupillen glichen kleinen Kuhaugen. Er beugte sich vor, um Tom zu betrachten. »Ich möchte euch aufschreiben«, sagte er. »Wie viele von euch gehn arbeiten?« Tom sagte: »Wir sind vier Männer. Ist es schwere Arbeit?« »Pfirsiche pflücken«, sagte der Beamte. »Stückarbeit. Wir zahlen fünf Cents die Kiste.« »Da können doch die Kleinen mithelfen?« »Natürlich, wenn sie’s vorsichtig machen.« Mutter stand in der Tür. »Sowie ich Ordnung habe, komme ich auch helfen. Wir haben nichts zu essen, Mister. Können wir nicht gleich was bezahlt kriegen.« »Nein, nicht gleich. Aber im Laden habt ihr Kredit für das, was ihr gearbeitet habt.« »Komm, macht schnell«, sagte Tom. »Heute abend möchte ich ’n bißchen Fleisch und Brot haben. Wo müssen wir denn hin, Mister?« »Ich gehe auch rüber. Kommt nur mit.« Tom und Vater und Al und Onkel John gingen mit ihm die staubige Straße hinunter und in einen Obstgarten. Die schmalen Pfirsichblätter begannen schon blaßgelb zu werden. Die Pfirsiche hingen wie kleine Kugeln aus Gold und Rot an den Zweigen. Zwischen den Bäumen standen leere Kisten aufgestapelt. Die 653
Pflücker hasteten umher, pflückten die Früchte in Eimer, legten die Pfirsiche in Kisten und trugen die Kisten zur Sammelstelle. An den Sammelstellen standen Stöße von Kisten und warteten auf die Wagen, standen Beamte, die bei jeder Kiste den Namen des Pflückers aufschrieben. »Hier sind noch vier«, sagte der Mann, der sie geführt hatte, zu dem Beamten an der Sammelstelle. »Okay. Habt ihr schon mal gepflückt?« »Nee, noch nie«, sagte Tom. »Also, dann pflückt vorsichtig. Keine angestoßenen Früchte, kein Fallobst. Angestoßenes wird nicht berechnet. Hier habt ihr Eimer.« Tom nahm einen Eimer und betrachtete ihn. »Der hat ja lauter Löcher im Boden.« »Natürlich«, sagte der kurzsichtige Beamte. »Dann klauen die Leute ihn nicht. Also ihr – nehmt diese Reihe. Los, fangt an.« Die vier Joads nahmen ihre Eimer und zogen los. »Die haben’s aber eilig«, sagte Tom. »Guter Gott«, sagte Al, »ich möchte lieber in ’ner Garage arbeiten.« Vater war gehorsam in die angewiesene Reihe gegangen. Er drehte sich plötzlich zu Al um. »Jetzt sei still«, sagte er. »Du hast lange genug rumgelumpt und rumgejammert. Jetzt wird gearbeitet. Du bist noch nicht so groß, daß ich dir nicht ’ne Tracht Prügel geben kann.« Als Gesicht wurde rot vor Wut. Er wollte losplatzen, aber Tom trat zu ihm. »Komm, Al«, sagte er ruhig. »Wir müssen ja was zu essen haben.« 654
Sie pflückten die Früchte und warfen sie in die Eimer. Tom arbeitete schnell. Ein Eimer voll, zwei Eimer. Er schüttete sie in die Kiste. Drei Eimer. Die Kiste war voll. »Jetzt hab’ ich ’n Nickel verdient«, rief er. Er nahm die Kiste und eilte zur Sammelstelle. »Hier haben Sie für ’n Nickel«, sagte er zu dem Beamten. Der Mann blickte in die Kiste und drehte ein paar Pfirsiche um. »Stell’s da hin. Ausschuß«, sagte er. »Ich habe euch doch gesagt, ihr dürft sie nicht anschlagen. Ihr habt sie in den Eimer geschmissen, was? Ja, und nun ist jeder Pfirsich angeschlagen. Kann ich nicht berechnen. Legt sie vorsichtig hinein, oder ihr arbeitet umsonst.« »Also … Verdammt …« »Mach weiter. Ich habe dich ja vorher gewarnt.« Tom wandte sich mürrisch ab. »Okay«, sagte er. »Okay.« Er ging schnell zu den anderen zurück. »Das Zeug könnt ihr wegschmeißen«, sagte er. »Ist genauso wie bei mir. Er nimmt’s nicht.« »Warum denn, zum Teufel?« begann Al. »Wir müssen vorsichtig pflücken. Dürfen sie nicht in den Eimer schmeißen. Müssen sie reinlegen.« Sie begannen von neuem, und diesmal behandelten sie die Früchte zärtlicher. Die Kisten füllten sich langsamer. »Wir müssen uns da was ausdenken«, sagte Tom. »Wenn Ruthie und Winfield oder Rosasharn sie in die Kisten legen, können wir ein System ausarbeiten.« Er trug die neue Kiste zur Sammelstelle. »Ist die hier ’n Nickel wert?« Der Beamte sah sich die Pfirsiche an und holte auch aus den unteren Schichten einige heraus. »Das ist schon 655
besser«, sagte er und trug die Kiste ein. »Immer hübsch sachte müßt ihr’s machen.« Tom eilte zurück. »Ich habe ’n Nickel verdient«, rief er. »Ich habe ’n Nickel verdient. Das brauche ich nur zwanzigmal zu machen. Dann habe ich ’n Dollar.« Sie arbeiteten eifrig den ganzen Nachmittag. Nach einer Weile erschienen Ruthie und Winfield. »Ihr müßt arbeiten«, sagte Vater ihnen. »Ihr müßt die Pfirsiche vorsichtig in die Kiste legen. Nein, immer nur einen.« Die Kinder hockten sich hin und legten die Pfirsiche vom Eimer in die Kiste, und eine Reihe von Eimern stand für sie bereit. Tom trug die vollen Kisten zur Sammelstelle. »Das macht sieben«, sagte er. »Das macht acht. Jetzt haben wir vierzig Cents. Gibt schon ’n hübsches Stück Fleisch für vierzig Cents.« Der Nachmittag verging. Ruthie versuchte sich zu drücken. »Ich bin müde«, jammerte sie. »Ich muß mich ausruhn.« »Du bleibst hier, wo du bist«, sagte Vater. Onkel John pflückte langsam. Während Tom zwei Eimer füllte, füllte er nur einen. Sein Arbeitstempo änderte sich nicht. Am späten Nachmittag kam Mutter. »Ich habe nicht eher gekonnt. Rosasharn ist umgefallen«, sagte sie. »Glatt umgefallen.« »Ihr habt Pfirsiche gegessen«, sagte sie zu den Kindern. »Na, ihr werdet Durchfall kriegen.« Mutters rundlicher, untersetzter Körper bewegte sich schnell. Sie ließ bald den Eimer stehen und pflückte in ihre Schürze. Als 656
die Sonne sich dem Horizont zuneigte, hatten sie zwanzig Kisten vollgepflückt. Tom stellte die zwanzigste Kiste hin. »Ein Dollar«, sagte er. »Wie lange wird gearbeitet?« »So lange, wie ihr sehn könnt.« »Ja, und können wir jetzt Vorschuß kriegen? Mutter muß was zu essen kaufen.« »Aber natürlich. Ich gebe euch ’n Zettel über einen Dollar.« Er schrieb einen Papierstreifen aus und reichte ihn Tom. Er brachte ihn zu Mutter. »Hier – damit kannst du im Laden für ’n Dollar was kaufen.« Mutter richtete sich aus ihrer gebückten Stellung auf. »Das geht einem in die Knochen das erstemal, was?« »Natürlich. Aber wir werden uns bald dran gewöhnen. Nun schieb ab und mach uns was zu essen.« Mutter sagte: »Was willst du denn gerne essen?« »Fleisch«, sagte Tom. »Fleisch und Brot und ’n großen Topf Kaffee mit Zucker drin. Großes Stück Fleisch.« Ruthie jammerte. »Mutter, wir sind so müde.« »Na, dann kommt mit.« »Die waren schon müde, wie sie angefangen haben«, sagte Vater. »Die werden wild wie die Kaninchen. Und wenn wir sie nicht bald ’n bißchen kurzhalten, dann wird’s nichts mit ihnen.« »Wenn wir irgendwo bleiben können, schicken wir sie in die Schule«, sagte Mutter. Sie trottete davon, und Ruthie und Winfield folgten ihr schüchtern. »Müssen wir jeden Tag arbeiten?« fragte Winfield. Mutter blieb stehen und wartete. Sie nahm ihn bei 657
der Hand und ging weiter. »Ist ja keine schwere Arbeit«, sagte sie. »Tut euch ganz gut. Und ihr helft uns. Wenn wir alle arbeiten, dann können wir bald in ’nem hübschen Haus wohnen.« »Aber ich bin ganz kaputt davon.« »Ich weiß. Mich hat’s auch angestrengt. Jeder wird mal müde. Ihr müßt an was andres denken. Denkt dran, wenn ihr in die Schule geht.« »Ich will nicht in die Schule. Und Ruthie auch nicht. Wir haben welche gesehn, die wo in die Schule gehn. Solche Schweine. Nennen uns immer Okies. Wir haben welche gesehn. Wir wollen nicht in die Schule.« Mutter blickte mitleidig hinab auf sein strohblondes Haar. »Macht uns jetzt keine Geschichten«, bat sie. »Wenn wir mal wieder auf unsren Beinen stehn, könnt ihr ungezogen sein. Aber jetzt nicht. Wir haben’s zu schwer jetzt.« »Ich habe sechs Pfirsiche gegessen«, sagte Ruthie. »Na, dann wirst du Durchfall kriegen. Und es ist weit zur Toilette.« Der Laden der Gesellschaft war ein großer Wellblechschuppen. Er hatte kein Schaufenster. Mutter öffnete die Schwingtür und trat ein. Ein kleiner Mann stand hinter dem Ladentisch. Er war vollständig kahl, sein Kopf war blauweiß. Große braune Augenbrauen wölbten sich in einem so hohen Bogen über seine Augen, daß sein Gesicht überrascht und ein wenig verängstigt aussah. Seine Nase war lang und dünn und gebogen wie ein Vogelschnabel, und die Nasenlöcher waren mit hellbraunem Haar zugewachsen. Über seinen blauen Hemdärmeln trug 658
er Ärmelschützer aus schwarzem Satin. Er stützte sich mit den Ellbogen auf den Ladentisch, als Mutter eintrat. »’n Abend«, sagte sie. Er betrachtete sie mit Interesse. Die Bogen über seinen Augen wölbten sich noch höher. »’n Abend.« »Ich habe ’n Zettel über einen Dollar.« »Dann können Sie für einen Dollar kaufen«, sagte er und kicherte. »Jawohl. Für einen Dollar können Sie kaufen. Für einen Dollar.« Er deutete mit einer Handbewegung auf sein Lager. »Alles, was Sie wollen.« Er zog sich seine Ärmelschützer hoch. »Ich habe gedacht, ich nehme ’n Stück Fleisch.« »Ja, alles, was Sie wünschen«, sagte er. »Gehacktes vielleicht? Wollen Sie Gehacktes? Zwanzig Cents das Pfund.« »Ist das nicht furchtbar teuer? Ich glaube, das letztemal, wie ich welches gekauft habe, hat’s fünfzehn gekostet.« »Ja«, kicherte er leise, »ja, es ist teuer, und es ist auch wieder nicht teuer. Wenn Sie in die Stadt fahren und sich’s kaufen, dann kostet Sie’s ’ne Gallone Benzin. Sie sehn also, eigentlich ist’s gar nicht teuer hier, weil Sie kein Benzin auszugeben brauchen.« Mutter sagte streng: »Es hat Sie aber keine Gallone Benzin gekostet, Ihr Zeug hierherzuholen.« Er lachte entzückt. »Sie sehn die Sache ganz schief an«, sagte er. »Wir kaufen’s ja nicht, sondern verkaufen’s. Wenn wir’s kaufen täten, wär’s was anderes.« Mutter legte zwei Finger an den Mund und zog nachdenklich die Stirn kraus. »Ist aber lauter Fett und Knorpel drin.« 659
»Ich garantiere auch nicht dafür, daß es nicht zusammenschnurrt«, sagte der Verkäufer. »Ich sage auch nicht, daß ich selber es essen würde, aber es gibt vieles, was ich nicht mache.« Mutter blickte wütend zu ihm auf. Sie zwang sich zur Ruhe. »Haben Sie nicht billigeres Fleisch?« »Suppenknochen«, sagte er. »Zehn Cents das Pfund.« »Aber das sind eben nur Knochen.« »Das sind nur Knochen«, sagte er. »Gibt aber ’ne hübsche Suppe. Ja, nur Knochen.« »Haben Sie Kochfleisch?« »Aber gewiß! Fünfundzwanzig das Pfund.« »Dann kann ich vielleicht kein Fleisch kaufen«, sagte Mutter. »Aber sie möchten’s doch, haben gesagt, sie möchten Fleisch.« »Jeder möchte Fleisch, und jeder braucht Fleisch. Das Gehackte ist nicht schlecht. Und das Fett, wo rauskommt, können Sie zur Soße benützen. Sehr gut. Da haben Sie keinen Abfall. Keine Knochen zum Wegwerfen.« »Wieviel – wieviel kostet denn das Filet?« »Na, jetzt werden Sie aber üppig. Das ist doch Weihnachtsessen. Sonntagsessen. Fünfunddreißig Cents das Pfund. Truthahn könnte ich Ihnen billiger verkaufen, wenn ich welchen hätte.« Mutter seufzte. »Also geben Sie mir zwei Pfund Gehacktes.« »Jawohl, Ma’am.« Er häufte das blaßrosa Fleisch auf ein Stück Wachspapier. »Und was noch?« 660
»Tja – Brot.« »Jawohl, hier. Ein schöner großer Laib, fünfzehn Cents.« »Das ist aber doch ein Zwölf-Cents-Brot.« »Natürlich. Fahren Sie nur in die Stadt und holen sich’s für zwölf Cents. Eine Gallone Benzin. Was kann ich Ihnen noch verkaufen – Kartoffeln?« »Ja, Kartoffeln.« »Fünf Pfund ’n Vierteldollar.« Mutter kam drohend auf ihn zu. »Jetzt habe ich aber genug. Ich weiß, was sie in der Stadt kosten.« Der kleine Mann klappte den Mund zu. »Dann kaufen Sie es doch in der Stadt«, murmelte er. Mutter betrachtete ihre Hände. »Gehört Ihnen dieser Laden?« fragte sie leise. »Nein. Ich arbeite nur hier.« »Haben Sie dann ’n Grund, sich lustig zu machen? Hilft Ihnen das?« Sie betrachtete ihre glänzenden faltigen Hände. Der kleine Mann schwieg. »Wem gehört der Laden?« »Hooper Ranches, Incorporated, Ma’am.« »Und die setzen die Preise fest?« »Ja, Ma’am.« Sie lächelte leise. »Reden alle, die herkommen, so wie ich? Sind wütend?« Er zögerte einen Augenblick. »Ja, Ma’am.« »Und darum machen Sie sich lustig, was?« »Wie meinen Sie das?« »Weil Sie so was Dreckiges machen müssen. Ist ’ne Schande, für Sie, was? Und da müssen Sie keß sein, was?« Ihre Stimme war sanft. 661
Der Verkäufer sah sie verwundert an. Er antwortete nicht. »Jaja, so ist es«, sagte Mutter schließlich. »Vierzig Cents das Fleisch, fünfzehn das Brot, fünfundzwanzig die Kartoffeln. Das macht achtzig Cents. Kaffee?« »Zwanzig Cents der billigste, Ma’am.« »Und da ist der Dollar voll. Zu sieben Leuten haben wir gearbeitet, und das ist grade unser Essen.« Sie betrachtete ihre Hand. »Wickeln Sie das Zeug ein«, sagte sie schnell. »Jawohl, Ma’am«, sagte er. »Danke sehr.« Er schüttete die Kartoffeln in eine Tüte und kniff sie sorgfältig zu. Seine Augen huschten zu Mutter hinüber, dann wieder zurück zu seiner Arbeit. Sie beobachtete ihn und lächelte. »Wie kommen Sie denn zu so ’ner Stellung?« fragte sie. »Man muß doch essen«, begann er und fuhr kriegerisch fort: »Man hat doch das Recht, zu essen.« »Wer – man?« fragte Mutter. Er legte vier Pakete auf den Ladentisch. »Fleisch«, sagte er. »Kartoffeln, Brot, Kaffee. Macht gerade einen Dollar.« Sie reichte ihm ihren Zettel und sah zu, wie er den Namen und den Betrag in ein Buch eintrug. »So«, sagte er. »Jetzt sind wir quitt.« Mutter nahm ihre Tüten. »Hören Sie«, sagte sie, »wir haben keinen Zucker zum Kaffee. Und mein Tom möchte so gerne Zucker. Hören Sie!« sagte sie. »Die Männer arbeiten noch draußen. Geben Sie mir den Zucker, und ich bringe Ihnen den Zettel später.« Der kleine Mann blickte weg – so weit von Mutter weg, wie er konnte. »Ich kann’s nicht machen«, sagte er leise. 662
»Das ist Bestimmung. Ich kann’s nicht. Ich würde ’n großen Krach kriegen, und sie würden mich rausschmeißen.« »Aber die Männer arbeiten doch noch draußen. Sie kriegen doch nachher was. Geben Sie mir für zehn Cents Zucker! Tom möchte Zucker zum Kaffee. Er hat’s extra gesagt.« »Ich kann’s nicht machen, Ma’am. Die Bestimmung ist so. Kein Zettel, keine Waren. Der Verwalter sagt mir das die ganze Zeit. Nein, ich kann’s nicht. Ich kann’s nicht machen. Sie würden mich erwischen. Sie erwischen dauernd welche. Ich kann’s nicht.« »Für zehn Cents?« »Für alles, Ma’am.« Er sah sie flehend an. Und dann wich die Angst aus seinem Gesicht. Er nahm zehn Cents aus seiner Tasche und registrierte den Betrag in der Kasse. »So!« sagte er erleichtert. Er zog eine kleine Tüte unter dem Ladentisch hervor, schnippte sie auf und wog den Zucker hinein und fügte noch ein wenig über das Gewicht hinzu. »Hier haben Sie Ihren Zucker«, sagte er. »Jetzt sind wir alle zufrieden. Sie bringen mir Ihren Zettel, und dann kriege ich meine zehn Cents zurück.« Mutter sah ihn an. Ihre Hand ergriff die kleine Tüte und legte sie zu den anderen Paketen in ihren Arm. »Vielen Dank«, sagte sie. Sie ging zur Tür, und als sie dort angelangt war, drehte sie sich um. »Eins weiß ich«, sagte sie. »Ich merk’ es immer und jeden Tag wieder. Wenn man in Schwierigkeiten ist oder in Not – dann soll man nur zu seinen eigenen Leuten gehn. Das sind die einzigen, wo helfen, die einzigen.« Die Schwingtür schlug hinter ihr zu. 663
Der kleine Mann stützte sich mit den Ellbogen auf den Ladentisch und sah ihr mit erstaunten Augen nach. Eine dicke schildpattfarbene Katze sprang auf den Ladentisch und schlich faul auf ihn zu. Sie rieb sich an seinem Arm, und er griff nach ihr und hob sie herauf an seine Backe. Die Katze schnurrte laut, und ihr Schwanzende zuckte hin und her. Tom und Al und Vater und Onkel John kamen aus dem Obstgarten, als es schon dunkel war. Ihre Füße waren müde und schwer. »Man sollte nicht denken, daß einem das Pflücken so ins Kreuz geht«, sagte Vater. »In ’n paar Tagen hast du dich dran gewöhnt«, sagte Tom. »Du, Vater, nach dem Essen gehe ich mal raus und sehe nach, was da vor dem Tor eigentlich los ist. Das läßt mir keine Ruhe. Kommst du mit?« »Nee«, sagte Vater. »Ich möchte mal ’ne Weile nur arbeiten und an nichts denken. Ich habe mir genug den Kopf zerbrochen. Nee, ich bleibe noch ’n Weilchen auf, und dann gehe ich ins Bett.« »Und du, Al?« Al blickte weg. »Ich glaube, ich sehe mich erst mal hier ’n bißchen um«, sagte er. »Na, und daß Onkel John nicht mitkommt, weiß ich. Da muß ich eben alleine gehn. Bin verdammt neugierig, was da draußen los ist.« Vater sagte: »Ich muß noch verdammt viel neugieriger werden, eh’ ich hier rausgeh – bei den vielen Bullen.« »Vielleicht sind sie abends nicht da«, meinte Tom. 664
»Na, ich kümmere mich jedenfalls nicht drum. Und du sagst Mutter lieber nichts davon, wo du hingehst. Die macht sich sonst kaputt vor lauter Sorgen.« Tom wandte sich an Al. »Und dir ist’s ganz egal, was da los ist?« »Ich glaube, ich seh mich erstmal hier im Camp um«, sagte Al. »Ob’s Mädchen gibt, was?« »Jedenfalls kümmere ich mich um meinen eigenen Kram«, sagte Al beißend. »Ich gehe trotzdem«, sagte Tom. Sie kamen auf die staubige Straße zwischen den Baracken. Das gelbe Licht von Petroleumlampen drang aus den offenen Türen, und im Innern, im Halbdunkel, bewegten sich die schwarzen Schatten der Leute hin und her. Am Ende der Straße saß noch immer ein Wächter, sein Gewehr gegen das Knie gelehnt. Tom blieb stehen, als sie an dem Wächter vorbeikamen. »Gibt’s hier was, wo man baden kann, Mister?« Der Wächter betrachtete ihn im Zwielicht. »Sehn Sie den Wassertank da?« »Ja.« »Da gibt’s ’n Schlauch.« »Hat’s warmes Wasser?« »Sagen Sie mal, was glauben Sie denn, wer Sie sind – John Pierpont Morgan?« »Nee«, sagte Tom. »Nee, das bestimmt nicht. Nacht, Mister.« Der Wächter grunzte verächtlich. Er sah den Joads ärgerlich nach. 665
Ein zweiter Wächter kam um das letzte Haus herum. »Was ist denn los, Mack?« »Ach, diese gottverdammten Okies. ›Hat’s warmes Wasser?‹ fragte der.« Der zweite Wächter stellte sein Gewehr auf die Erde. »Das machen die staatlichen Lager«, sagte er. »Ich wette, der Kerl ist in so ’nem staatlichen Lager gewesen. Wir haben keine Ruhe, eh’ die verschwunden sind. Paß auf, nächstens wollen sie noch reine Bettücher.« Mack fragte: »Was ist’s denn draußen am Tor – hast du was gehört?« »Na, die haben den ganzen Tag geschrien da draußen. Jetzt hat’s die Staatspolizei in die Hand genommen. Die treiben’s den Leuten schon aus. Ich habe gehört, so ’n langer, magerer Kerl soll alles angestiftet haben. Einer hat mir gesagt, heute abend kriegen sie ihn, und dann ist Schluß.« »Aber wir haben dann nichts mehr zu tun, wenn’s so schnell geht!« »Und ob wir was zu tun haben! Auf diese gottverdammten Okies muß man die ganze Zeit aufpassen. Wenn’s zu ruhig wird, können wir immer dafür sorgen, daß es wieder losgeht.« »Gibt bestimmt wieder Krach, wenn sie hier die Löhne senken.« »Aber sicher. Mach dir nur keine Sorge, daß wir nichts zu tun haben – dafür sorgt Hooper schon.« Im Hause der Joads prasselte das Feuer. Die Buletten spritzten und zischten im Fett, und die Kartoffeln blubberten. Das Haus war voller Rauch, und das gelbe 666
Lampenlicht warf schwarze Schatten an die Wand. Mutter arbeitete eifrig über dem Feuer, während Rose von Sharon auf einer Kiste saß und ihren schweren Leib ausruhte. »Geht’s dir jetzt besser?« fragte Mutter. »Der Essensgeruch geht mir auf den Magen. Aber ich habe auch Hunger.« »Geh, setz dich in die Tür«, sagte Mutter. »Ich muß eh die Kiste zerhacken.« Die Männer strömten herein. »Guter Gott, Fleisch!« sagte Tom. »Und Kaffee! Ich riech’ es. Mensch, habe ich Hunger! Ich habe ’n Haufen Pfirsiche gegessen, aber das ist ja nichts. Wo können wir uns denn waschen, Mutter?« »Unten beim Wassertank. Ich habe grade Ruthie und Winfield hingeschickt.« Die Männer gingen wieder hinaus. »Nun mach, Rosasharn«, befahl Mutter. »Entweder setzt du dich in die Tür oder aufs Bett. Ich muß die Kiste zerhacken.« Das Mädchen half sich mit den Händen auf. Sie ging schwerfällig zu einer der Matratzen und setzte sich hin. Ruthie und Winfield kamen leise herein und versuchten durch Schweigen, und indem sie sich möglichst dicht an die Wand drückten, unauffällig zu bleiben. Mutter blickte zu ihnen hinüber. »Ich habe das Gefühl, ihr freut euch, daß es hier nicht sehr hell ist«, sagte sie. Sie trat zu Winfield und befühlte sein Haar. »Na, naß bist du jedenfalls, aber ich wette, du bist nicht sauber.« »War ja keine Seife da«, beklagte sich Winfield. 667
»Nein, ich habe keine kaufen können. Vielleicht morgen.« Sie ging zum Ofen zurück, verteilte die Teller und begann das Essen aufzulegen. Zwei Buletten für jeden und eine große Kartoffel. Sie legte drei Scheiben Brot auf jeden Teller. Als alles Fleisch aufgeteilt war, goß sie auf jeden Teller ein wenig Fett. Die Männer kamen mit tropfenden Gesichtern und klatschnassen Haaren zurück. »Gib’s her!« rief Tom. Sie nahmen ihre Teller, aßen schweigend und gierig und wischten das Fett mit Brot auf. Die Kinder zogen sich in eine Ecke des Zimmers zurück, stellten die Teller auf den Boden und knieten sich davor, wie kleine Tiere. Tom aß sein letztes Stück Brot. »Hast du noch was, Mutter?« »Nein«, sagte sie. »Das war alles. Ihr habt ’n Dollar verdient, und das war für ’n Dollar.« »Das bißchen?« »Sie nehmen Aufschlag hier. Wir müssen in die Stadt, wenn wir können.« »Ich bin aber nicht satt«, sagte Tom. »Morgen haben wir ’n ganzen Tag. Morgen abend – da gibt’s dann viel.« Al wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab. »Ich gehe ’n Stück«, sagte er. »Warte, ich komm’ mit.« Tom folgte ihm nach draußen. In der Dunkelheit kam er dicht an seinen Bruder heran. »Willst du wirklich nicht mitkommen?« »Nein. Wie gesagt, ich will mich hier umsehn.« »Okay«, sagte Tom. Er drehte sich um und schlenderte die Straße hinunter. Der Rauch, der aus den Häusern 668
drang, hing tief über dem Boden, und die Lampen warfen Bilder von Türen und Fenstern auf die Straße. Auf den Türstufen saßen die Leute und blickten hinaus in die Dunkelheit. Tom konnte sehen, wie ihre Köpfe sich drehten, während ihre Augen ihm folgten. Am Ende der Straße führte der Weg durch ein Stoppelfeld, und im Dunkel waren die Umrisse von Heuhaufen zu sehen. Eine dünne Mondscheibe hing tief am westlichen Himmel, und die lange Wolke der Milchstraße zog sich klar über das Firmament. Toms Füße klangen dumpf auf der staubigen Straße, einem dunklen Streifen im gelben Stoppelfeld. Er steckte die Hände in die Taschen und trottete auf das große Tor zu. Eine Böschung kam dicht an den Weg heran. Tom konnte das Wasser im Graben flüstern hören. Er stieg hinauf auf die Böschung und blickte hinunter in das dunkle Wasser und sah, daß die Sterne sich spiegelten. Die Staatsstraße lag vor ihm. Die vorbeifliegenden Autolichter zeigten ihm die Richtung. Tom ging weiter und kam an das hohe Drahtgitter. Eine Gestalt regte sich am Straßenrand. Eine Stimme sagte: »He! Wer da?« Tom blieb stehen. »Wer ist das?« Ein Mann stand auf und kam näher. Tom sah das Gewehr in seiner Hand. Dann fiel der Schein einer Taschenlampe auf sein Gesicht. »Wo willst du denn hin?« »Ein Stück spazieren. Ist das verboten?« »Du spazierst lieber nach der anderen Richtung.« Tom fragte: »Kann ich noch nicht mal hier raus?« »Nein, heute abend nicht. Willst du nun zurückgehn, oder soll ich pfeifen und dich zurückbringen lassen?« 669
»Mensch«, sagte Tom, »mir ist’s egal. Wenn’s so ’ne große Geschichte ist, gehe ich natürlich zurück.« Die dunkle Gestalt wandte sich ab. Der Lichtstrahl wich von seinem Gesicht. »Verstehst du, es ist nur dein Bestes. Die Streiker da draußen könnten dir was tun.« »Was für Streiker?« »Na, die verdammten Roten.« »Ach, da habe ich gar nichts von gewußt«, sagte Tom. »Du hast sie doch gesehen, wie du gekommen bist, oder?« »Ja, ich habe ’n paar Leute gesehn, aber es waren so viele Polizisten da, daß ich weiter gar nichts gemerkt habe. Ich habe gedacht, es ist ’n Unfall.« »Also, jetzt mach, daß du zurückkommst.« »Ich gehe ja schon, Mister.« Er drehte sich um und ging zurück. Er ging etwa hundert Meter, dann blieb er stehen und lauschte. Der zitternde Ruf eines Waschbären kam aus der Nähe des Bewässerungsgrabens und von weither das Heulen eines Hofhundes. Tom setzte sich an die Straße und lauschte. Er hörte das hohe leise Lachen einer Nachtschwalbe und die raschelnde Bewegung eines kriechenden Tieres im Stoppelfeld. Nach einer Weile stand er auf und bog langsam rechts von der Straße ab ins Feld, er ging gebeugt, fast so tief wie die Heuhaufen, und blieb gelegentlich stehen und lauschte. Schließlich kam er an den Drahtzaun, der aus fünf Reihen von straff gespanntem Stacheldraht bestand. Er legte sich neben den Zaun auf den Rücken, schob langsam seinen Kopf unter dem untersten Draht hindurch, hielt 670
den Draht mit den Händen hoch und schob sich, indem er sich mit den Hacken in die Erde stemmte, weiter. Er wollte grade aufstehen, als eine Gruppe von Männern am Rande der großen Straße vorbeikam. Tom wartete, bis sie verschwunden waren, dann stand er auf und folgte ihnen. Er hielt rechts und links von der Straße nach Zelten Ausschau. Ein paar Autos fegten vorbei. Ein Fluß zog sich durch die Felder, und die Straße überquerte ihn auf einer schmalen Betonbrücke. Tom blickte über den Brückenrand hinunter. Unten am Flußufer sah er ein Zelt, in dem eine Laterne brannte. Er beobachtete es eine Weile und sah Schatten von Menschen an den Zeltwänden. Tom kletterte über einen Zaun und stolperte durch Gebüsch und Zwergweiden nach unten und fand am Ufer des kleinen, schmalen Flusses einen Weg. Ein Mann saß auf einer Kiste vor dem Zelt. »’n Abend«, sagte Tom. »Wer bist du?« »Ja, ich … Ach, ich komme grade vorbei.« »Kennst du jemand hier?« »Nee. Ich sage ja, ich komme grade vorbei.« Ein Kopf erschien im Zelteingang. Eine Stimme sagte: »Was ist denn los?« »Casy!« rief Tom. »Casy! Um Gottes willen, was machst du denn hier?« »Mein Gott, das ist doch Tom Joad! Komm rein, Tommy. Komm rein.« »Du kennst ihn?« fragte der Mann vor dem Zelt. »Und ob ich ihn kenne! Seit Jahren kenne ich ihn. Ich bin mit ihm in den Westen gekommen. Komm 671
rein, Tommy.« Er ergriff Toms Ellbogen und zog ihn ins Zelt. Es saßen noch drei Männer auf dem Boden, und in der Mitte des Zeltes brannte eine Lampe. Die Männer blickten mißtrauisch auf. Ein dunkler Mann mit finsterem Gesicht streckte die Hand aus. »Freut mich«, sagte er. »Ich habe gehört, was Casy gesagt hat. Ist das der, von dem du erzählt hast?« »Ja, das ist er. Sag mal – wo sind denn deine Leute? Was machst du hier?« »Tja«, sagte Tom. »Wir haben gehört, es gibt hier Arbeit. Und wie wir gekommen sind, haben uns ’n paar Staatsbullen reingejagt, und dann haben wir den ganzen Nachmittag Pfirsiche gepflückt. Ich habe draußen welche schreien gehört. Aber keiner hat mir gesagt, was los ist, deshalb bin ich rausgekommen. Wie, zum Teufel, kommst du denn hierher, Casy?« Der Prediger beugte sich nach vorn, und das gelbe Lampenlicht fiel auf seine blasse Stirn. »Das Kittchen ist ’n komischer Ort«, sagte er. »Da bin ich nun wie Jesus in die Wildnis gegangen und habe versucht, daß ich was rausfinde. Manchmal habe ich’s auch schon beinahe gehabt. Aber erst im Kittchen habe ich’s richtig rausgefunden.« Seine Augen waren scharf und belustigt. »’ne große alte Zelle und die ganze Zeit voll. Neue Leute kommen, und andre gehn. Und natürlich habe ich mit allen geredet.« »Natürlich«, sagte Tom. »Du redest immer. Wenn du auf den Galgen müßtest, würdest du noch den ganzen Tag mit dem Henker quatschen. Ich habe noch nie einen so viel reden gesehn.« 672
Die Männer im Zelt lachten. Ein verhutzelter kleiner Mann mit faltigem Gesicht schlug sich auf die Knie. »Ja, er redet die ganze Zeit«, sagte er. »Die Leute hören ihm aber auch gerne zu.« »Ist früher Prediger gewesen«, sagte Tom. »Hat er das erzählt?« »Natürlich hat er das erzählt.« Casy grinste. »Na ja«, fuhr er fort, »und da habe ich’s langsam begriffen. Manche von den Kerlen im Knast waren Säufer, aber die meisten waren da, weil sie was gestohlen hatten. Und das meiste, was sie gestohlen hatten, war Zeug, was sie gebraucht haben und wo sie anders nicht rankonnten. Verstehst du?« fragte er. »Nee«, sagte Tom. »Ich meine, da waren nette Burschen dabei, meine ich. Und sie haben nur geklaut, weil sie was gebraucht haben. Da hab’ ich’s allmählich begriffen. Es ist nur die Not, die den ganzen Unfrieden macht. Ich hab’ es noch nicht ganz zu Ende gedacht. Na, eines Tages haben sie uns Bohnen gegeben, und die waren sauer. Einer hat angefangen zu schreien, aber nichts ist passiert. Er hat sich die Lunge aus dem Leibe geschrien. Schließlich ist ’n Wärter gekommen und hat zu ihm reingeguckt und ist weitergelaufen. Dann hat ’n anderer geschrien. Und schließlich haben wir alle angefangen zu schreien. Und wir haben alle im selben Ton geschrien, und ich sage euch, das war, als wenn der ganze Laden sich aufbläht und in die Luft fliegt. Mein Gott! Und dann ist was passiert! Sie sind angerannt gekommen und haben uns was andres zu essen gegeben. Jawohl, was andres! Verstehst du?« 673
»Nee«, sagte Tom. Casy stützte das Kinn in die Hände. »Vielleicht kann ich dir’s nicht erklären«, sagte er. »Vielleicht mußt du’s selber rausfinden. Wo ist denn deine Mütze?« »Ich bin ohne gekommen.« »Wie geht’s deiner Schwester?« »Ach, die wird dick wie ’ne Kuh. Ich wette, sie kriegt Zwillinge. Wird noch Räder brauchen unter ihren Bauch. Sie muß ihn jetzt schon mit den Händen halten. Du hast mir aber noch nicht erzählt, was eigentlich los ist.« Der verhutzelte Mann sagte: »Wir streiken.« »Na, fünf Cents die Kiste ist nicht viel, aber man kriegt wenigstens was zu essen dafür.« »Fünf Cents?« rief der verhutzelte Mann. »Fünf Cents! Sie zahlen euch fünf Cents?« »Ja. Wir haben anderthalb Dollars verdient.« Ein schweres Schweigen herrschte im Zelt. Casy starrte aus dem Eingang hinaus ins Dunkel. »Hör zu, Tom«, sagte er schließlich. »Wir sind auch zum Arbeiten hierhergekommen. Sie haben uns gesagt, der Lohn ist fünf Cents. Wir waren ’n Haufen Leute. Also, wir kommen her, und da sagen sie uns, sie zahlen nur zweieinhalb Cents. Davon kann man noch nicht mal essen, und wenn man Kinder hat … Also haben wir gesagt, wir machen’s nicht. Da haben sie uns rausgejagt und sämtliche Bullen der Welt auf uns losgelassen. Jetzt zahlen sie euch fünf. Wenn sie den Streik hier zerschlagen – glaubst du, sie zahlen dann auch noch fünf?« »Ich weiß nicht«, sagte Tom. »Jetzt zahlen sie’s jedenfalls.« 674
»Hör zu«, sagte Casy. »Wir haben versucht, zusammen zu kampieren, und sie haben uns wie die Schweine auseinandergetrieben. Haben auf die Leute losgeschlagen. Haben uns wie die Schweine auseinandergejagt. Sie sind auch gerannt wie die Schweine. Wir können uns nicht länger halten. Es gibt welche, die wo seit zwei Tagen nichts gegessen haben. Gehst du heute abend zurück?« »Ja, ich möchte«, sagte Tom. »Also – dann sag den Leuten drinnen, wie’s ist, Tom. Sag ihnen, daß sie uns aushungern und daß sie sich selber in den Rücken stechen. Denn es ist doch klar, daß sie wieder auf zweieinhalb runtergehen, sowie sie uns losgeworden sind.« »Ich will’s sagen«, erwiderte Tom. »Ich weiß zwar nicht, wie. Ich habe noch so viele Kerle mit Gewehren gesehn. Vielleicht lassen sie einen überhaupt nicht reden. Die Leute sagen noch nicht mal guten Tag. Sie lassen die Köpfe hängen und tun so, als wenn sie einen gar nicht sehn.« »Versuch’s, ihnen zu sagen, Tom. In dem Augenblick, wo wir weg sind, gibt’s nur noch zweieinhalb. Du weißt, was zweieinhalb ist – das ist eine Tonne Pfirsiche gepflückt und geschleppt für ’n Dollar.« Er ließ den Kopf sinken. »Nein, das kannst du nicht. Dafür kannst du nicht dein Fressen kriegen. Unmöglich.« »Ich will versuchen, es den Leuten zu sagen.« »Wie geht’s deiner Mutter?« »Ganz gut. In dem staatlichen Camp hat’s ihr gefallen. Bad und heißes Wasser.« »Ja – ich habe gehört.« 675
»Es war sehr hübsch da. Haben aber keine Arbeit gefunden. Drum sind wir weg.« »Ich möchte gerne mal in so ’n Camp«, sagte Casy. »Ich möcht’ es mir gerne ansehn. Es soll dort keine Bullen geben?« »Nee, die Leute sind ihre eigne Polizei.« Casy blickte erregt auf. »Und hat’s keine Geschichten gegeben? Keine Keilerei, kein Stehlen, kein Saufen?« »Nein«, sagte Tom. »Na, und wenn einer frech geworden ist – was dann? Was haben sie dann gemacht?« »Ihn weggeschickt aus dem Camp.« »Aber hat’s nicht viele gegeben?« »Nee, weiß Gott nicht«, sagte Tom. »Den ganzen Monat, wo wir da waren, nur einen.« Casys Augen leuchteten vor Aufregung. Er wandte sich an die anderen Männer. »Da seht ihr’s!« rief er. »Ich hab’ es euch ja gesagt. Die Bullen stiften mehr Unfrieden, wie sie verhindern. Paß auf, Tom. Sieh zu, daß die Leute da drinnen rauskommen. Sie können’s in zwei Tagen machen. Die Pfirsiche sind reif. Sag’s ihnen.« »Sie machen’s sicher nicht«, sagte Tom. »Sie kriegen fünf, und alles andre ist ihnen egal.« »Aber in dem Augenblick, wo sie nicht mehr den Streik brechen, kriegen sie keine fünf mehr.« »Ich glaube nicht, daß sie das kapieren. Jetzt kriegen sie fünf. Und um was andres kümmern sie sich nicht.« »Na, sag’s ihnen jedenfalls.« »Vater wird es auch nicht machen«, sagte Tom. »Ich kenne ihn doch. Er würde sagen, es ist nicht seine Sache.« 676
»Ja«, sagte Casy betrübt. »Ich glaube, da hast du recht. Er muß erst eins über den Kopf kriegen, eh’ er’s weiß.« »Wir haben nichts zu essen gehabt«, sagte Tom. »Heute abend hat’s Fleisch gegeben. Nicht viel, aber Fleisch. Glaubst du, Vater gibt wegen andern Leuten sein Fleisch auf? Und Rosasharn braucht Milch. Glaubst du, Mutter läßt das Kleine verhungern, nur weil hier vor dem Tor ’n paar Leute schreien?« Casy sagte traurig: »Ich wollte, sie würden’s verstehn. Ich wollte, sie würden verstehn, daß die einzige Möglichkeit, sich ihr Fleisch zu sichern … Ach, zum Teufel! Manchmal hat man’s satt. Ganz verdammt satt. Ich habe einen gekannt, den haben sie grade gebracht, wie ich im Kittchen war. Der hat ’ne Gewerkschaft machen wollen. Hat auch schon angefangen. Und dann haben die Angsthasen sie auffliegen lassen. Und weißt du, was? Dieselben Leute, denen er helfen gewollt hat, die haben ihn fortgejagt. Wollten nichts mit ihm zu tun haben. Haben Angst gehabt, sich in seiner Gesellschaft sehen zu lassen. ›Geh fort‹, haben sie gesagt. ›Du bist ’ne Gefahr für uns.‹ Na, das hat den Mann doch verdammt mitgenommen. Aber dann hat er gesagt: ›Es ist nicht so schlimm, wenn man’s weiß. Bei der Französischen Revolution‹, hat er gesagt, ›haben sie den Kerlen, die, wo sie gemacht haben, auch die Köpfe abgehauen. Das ist immer so‹, hat er gesagt. ›So natürlich wie Regen. Man macht’s ja auch nicht aus Spaß. Man macht’s, weil man’s muß. Sieh dir doch Washington an‹, hat er gesagt. ›Der hat die Revolution gemacht, und nachher sind die Schweine auf ihn losgegangen. Und bei Lincoln 677
dasselbe. Dieselben Leute haben ihn killen gewollt. So natürlich wie Regen.‹« »Das klingt ja nicht grade spaßig«, sagte Tom. »Ist’s auch nicht. Der Kerl da im Gefängnis sagt: ›Jedenfalls tut man, was man kann, und‹, sagt er, ›das einzige ist, jedesmal, wenn’s ’n Schritt vorwärtsgeht, geht’s auch wieder ’n Stückchen zurück, aber nie ganz. Das kann man beweisen‹, sagt er, ›und dann lohnt sich die ganze Sache. Und das heißt, nichts ist umsonst, wenn’s auch so aussieht.‹« »Reden«, sagte Tom. »Immer reden. Nimm meinen Bruder Al. Der sucht sich ’n Mädchen und kümmert sich um nichts anderes. Und in ’n paar Tagen hat er ’n Mädchen. Der kümmert sich ’n Dreck um Schritte vorwärts und rückwärts und seitwärts.« »Sicher«, sagte Casy. »Sicher. Er macht auch nur, was er machen muß. Wie wir alle.« Der Mann, der vor dem Zelt saß, steckte den Kopf herein. »Verdammt noch mal, mir gefällt das nicht«, sagte er. Casy blickte ihn an. »Was ist los?« »Ich weiß nicht. Mich juckt’s überall. Bin unruhig wie ’ne Katze.« »Na, was ist denn los?« »Ich weiß nicht. Mir kommt’s vor, als höre ich was, und wenn ich hinhöre, dann höre ich nichts.« »Du bist einfach nervös«, sagte der verhutzelte Mann. Er stand auf und ging hinaus. Eine Sekunde später blickte er wieder ins Zelt. »Da ist ’ne große schwarze Wolke am Himmel. Ich möchte wetten, das ist ’n Gewitter. Und das juckt ihn, die Elektrizität.« Er 678
verschwand wieder. Die beiden andern Männer standen auf und gingen gleichfalls hinaus. Casy sagte leise: »Es juckt sie alle. Die Bullen haben gesagt, wie sie uns verdreschen und aus dem Land jagen werden. Sie denken, ich bin ’n Anführer, weil ich so viel rede.« Das verhutzelte Gesicht erschien wieder im Zelteingang. »Casy, dreh die Lampe aus und komm raus. Da ist was.« Casy drehte an der Schraube. Die Flamme verschwand im Schlitz und puffte und ging aus. Casy tastete sich nach draußen, und Tom folgte ihm. »Was ist denn?« fragte Casy leise. »Ich weiß nicht. Hör doch!« Das Quaken der Frösche und das hohe, schrille Zirpen der Grillen mischte sich mit der Stille. Aber durch diesen Vorhang von Geräuschen drangen andere Laute – gedämpfte Schritte auf der Straße, ein Knirschen am Ufer und ein leises Rascheln im Gebüsch am Fluß. »Man kann gar nicht sagen, ob man was hört. Das täuscht auch. Wir sind nervös«, beruhigte Casy sie. »Wir sind alle nervös. Man kann’s wirklich nicht sagen. Hörst du was, Tom?« »Ich hör’ es«, sagte Tom. »Ja, ich höre ’s. Ich glaube, die Kerle kommen von allen Seiten. Wir hauen lieber ab.« Der verhutzelte Mann flüsterte.: »Unter den Brükkenbogen – da drüben. Das Zelt laß ich nicht gerne da.« »Kommt!« sagte Casy. Sie gingen leise am Fluß entlang. Der Brückenbogen lag wie eine Höhle vor ihnen. Casy bückte sich, und 679
Tom folgte. Ihre Füße rutschten ins Wasser. Sie gingen dreißig Meter weiter, und ihr Atem hallte von der gewölbten Decke wider. Dann kamen sie auf der anderen Seite heraus und richteten sich auf. Ein scharfer Ruf: »Das sind sie!« Die Strahlen zweier Blendlaternen fielen auf die Männer, fingen sie, blendeten sie. »Bleibt stehn!« Die Stimmen kamen aus der Dunkelheit. »Das ist er. Der glänzende Bursche. Das ist er.« Casy starrte blind in das Licht. Er atmete schwer. »Hört zu«, sagte er. »Ihr wißt ja nicht, was ihr tut. Die Leute lassen Kinder verhungern, und ihr helft dabei.« »Halt die Schnauze, du rotes Schwein.« Ein kleiner stämmiger Mann trat in das Licht. Er hatte einen neuen Totschläger in der Hand. Casy fuhr fort: »Ihr wißt ja nicht, was ihr tut.« Der stämmige Mann schwang seinen Totschläger. Casy duckte sich. Der schwere Knüppel traf ihn mit einem dumpfen splitternden Krach seitwärts am Kopf, und Casy fiel. »Mensch, George! Ich glaube, du hast ihn erschlagen.« »Leuchte mal!« sagte George. »Geschieht dem Schwein ganz recht.« Der Strahl der Blendlaterne senkte sich, suchte und fand Casys zersplitterten Kopf. Tom blickte hinunter auf den Prediger. Das Licht fiel auf die Beine des stämmigen Mannes und auf den neuen weißen Totschläger. Tom sprang lautlos auf ihn zu und entwand ihm den Knüppel. Das erstemal schlug er fehl und traf eine Schulter, aber das zweitemal krachte der Schlag auf den Kopf nieder, und als der schwere Mann zu Boden sank, trafen noch drei weitere Schläge seinen 680
Kopf. Die Lichter tanzten umher. Es kamen Schreie, das Geräusch rennender Füße, das Knistern von Gebüsch. Tom stand über dem hingestreckten Mann. Und dann traf mit einem Streifschlag ein Knüppel seinen Kopf. Er spürte es wie einen elektrischen Schlag. Und dann rannte er tief gebückt am Fluß entlang. Er hörte, daß ihm Schritte folgten. Plötzlich bog er ab und kroch hinauf in das Gebüsch und blieb dort still liegen. Die Schritte kamen näher, und die Lichtstrahlen suchten das Ufer ab. Tom kroch durch das Dickicht der Böschung hinauf. Er kam in einem Obstgarten heraus. Noch immer hörte er die Rufe und die Verfolgung am Fluß. Er bückte sich und rannte geduckt über die umgegrabene Erde, die Klumpen rutschten und gaben unter seinen Füßen nach. Vor sich sah er die Büsche, die das Feld abgrenzten, Büsche am Rande eines Bewässerungsgrabens. Er schlüpfte durch den Zaun und schlängelte sich zwischen Weinstöcken und Brombeersträuchern hindurch. Und dann lag er still und keuchte heiser. Er befühlte sein taubes Gesicht und die Nase. Die Nase war zerquetscht, und vom Kinn tropfte ihm Blut. Er lag still auf dem Bauch, bis er wieder zu Bewußtsein kam. Dann kroch er langsam zum Rande des Grabens. Er badete sein Gesicht in dem kalten Wasser, riß ein Stück von seinem blauen Hemd ab, tauchte es ein und hielt es gegen seine zerfetzte Backe und die Nase. Das Wasser brannte. Die schwarze Wolke war über den Himmel gewandert, ein Stück Dunkelheit inmitten der klaren Sterne. Die Nacht war wieder unendlich still. 681
Tom trat ins Wasser und fühlte, wie der Boden unter seinen Füßen wich. Mit zwei Zügen durchquerte er den Graben und zog sich am anderen Ufer hoch. Die Kleider klebten am Leibe. Beim Gehen quietschte das Wasser in seinen Schuhen. Er setzte sich hin, zog die Schuhe aus und entleerte sie. Er drückte seine Hosenumschläge aus, zog seine Jacke aus und wrang das Wasser heraus. An der Straße sah er die tanzenden Strahlen der Blendlaternen, die die Gräben absuchten. Er zog seine Schuhe wieder an und ging vorsichtig über das Stoppelfeld. Das Quietschen in den Schuhen hatte aufgehört. Er ging, von seinem Instinkt geführt, auf die andere Seite des Stoppelfeldes zu und kam schließlich auf die Straße. Sehr behutsam näherte er sich dem Barackenblock. Einmal rief ein Wächter, der ihn wohl gehört hatte: »Wer ist da?« Tom ließ sich fallen, und der Strahl der Blendlaterne ging über ihn hinweg. Er kroch lautlos zur Tür des Joadschen Hauses weiter. Die Tür kreischte in den Angeln. Und Mutters Stimme, ruhig, unbeirrt und sehr schwach, fragte: »Was ist los?« »Ich, Tom.« »Geh schnell schlafen. Al ist noch nicht da.« »Der wird wohl ’n Mädchen gefunden haben.« »Geh, leg dich schlafen«, sagte sie leise. »Da drüben, unter dem Fenster.« Er fand seinen Platz und zog sich die nassen Kleider vom Körper. Er lag schauernd unter der Decke. Und sein zerfetztes Gesicht erwachte aus der Taubheit, und sein ganzer Kopf begann zu klopfen. 682
Eine Stunde später kam Al. Er tastete sich vorsichtig näher und trat auf Toms nasse Kleider. »Schscht!« sagte Tom. Al flüsterte: »Du bist noch wach? Wovon bist du so naß?« »Schscht!« machte Tom. »Ich erzähle dir’s morgen früh.« Vater drehte sich auf den Rücken, und sein Pusten und Schnarchen erfüllte den Raum. »Du bist ja ganz kalt«, sagte Al. »Schscht. Jetzt schlaf.« Das kleine Quadrat des Fensters war grau gegen die Schwärze im Zimmer. Tom konnte nicht schlafen. Die Nerven seines verwundeten Gesichts erwachten zum Leben und klopften, seine Backenknochen schmerzten ihn, und die zerschlagene Nase schwoll an, und der Schmerz pulsierte so in ihr, daß es ihn herumzuwerfen und zu schütteln schien. Er betrachtete das kleine Quadrat des Fensters, sah die Sterne vorbeigleiten und verschwinden. In Abständen hörte er die Schritte der Wächter. Schließlich krähten von fern die Hähne, und das Fenster wurde allmählich hell. Tom berührte sein geschwollenes Gesicht mit den Fingerspitzen, und bei dieser Bewegung grunzte Al und murmelte im Schlaf. Endlich kam der Morgen. Aus den dicht beieinanderliegenden Häusern drangen Geräusche, ein Splittern von Holz, ein Klappern von Töpfen. In der grauen Dämmerung setzte Mutter sich plötzlich auf. Tom sah ihr vom Schlaf verschwollenes Gesicht. Sie blickte zum Fenster, eine lange Weile, dann warf sie die Decke ab und suchte ihr Kleid. Noch im Sitzen zog sie es sich über den Kopf, 683
hielt die Arme hoch und ließ das Kleid heruntergleiten. Sie stand auf und zog es sich vollständig herab. Dann trat sie mit nackten Füßen behutsam zum Fenster und blickte hinaus, und während sie den grauenden Morgen betrachtete, flocht sie sich mit schnellen Fingern das Haar auf, glättete die Strähnen und flocht es von neuem. Dann rieb sie sich die Hände und stand eine Weile still. Ihr Gesicht hob sich gegen das helle Fenster scharf ab. Sie drehte sich um, ging behutsam zwischen den Matratzen hindurch und nahm die Lampe. Die Haube kreischte, und Mutter zündete den Docht an. Vater rollte sich herum und blinzelte zu ihr auf. Sie fragte: »Vater, hast du noch Geld?« »Häh? Ja. ’n Zettel für sechzig Cents.« »Gut, dann steh auf und geh Mehl und Schmalz kaufen. Mach schnell.« Vater gähnte verschlafen. »Vielleicht ist der Laden noch nicht offen.« »Dann sollen sie ihn aufmachen. Ihr müßt was in den Bauch kriegen, weil ihr dann auf die Arbeit müßt.« Vater zog umständlich Overall und Jacke an. Er schlurfte gähnend und sich reckend aus der Tür. Die Kinder wurden wach und blickten wie Mäuse unter ihren Decken hervor. Blasses Licht füllte jetzt den Raum, das farblose Licht vor Sonnenaufgang. Mutter warf einen Blick auf die Matratzen. Onkel John war wach. Al lag in tiefem Schlaf. Ihre Augen wanderten zu Tom. Einen Moment lang sah sie ihn an, dann lief sie schnell zu ihm hinüber. Sein Gesicht war aufgedunsen und blau, und auf den Lippen und am Kinn hatte sich 684
das Blut verkrustet. Die Wundränder der zerfetzten Backe hatten sich geschlossen und spannten. »Tom«, flüsterte sie, »was ist denn los?« »Schscht!« machte er. »Sprich nicht so laut. Ich bin in ’ne Schlägerei geraten.« »Tom!« »Ich konnt’ es nicht ändern, Mutter.« Sie kniete sich neben ihn. »Haben sie dich in Verdacht?« Es dauerte lange, bis er antwortete. »Ja«, sagte er. »Ich kann nicht arbeiten gehn. Ich muß mich verstecken.« Die Kinder krochen auf Händen und Füßen näher und machten neugierige Augen. »Was ist denn mit Tom, Mutter?« »Still!« sagte Mutter. »Geht euch waschen.« »Wir haben keine Seife.« »Dann wascht euch mit Wasser.« »Was ist denn mit Tom?« »Jetzt lauft aber! Und sagt niemand was.« Sie zogen sich zurück und quetschten sich an die gegenüberliegende Wand, wo sie wußten, daß sie nicht bemerkt würden. Mutter fragte: »Ist es schlimm?« »Die Nase eingeschlagen.« »Ich meine die Geschichte, die’s gegeben hat.« »Ja. Schlimm!« Al öffnete die Augen und blickte zu Tom. »Mensch, um Gottes willen! Was hast du denn gemacht?« »Was ist denn los?« fragte Onkel John. Vater kam hereingepoltert. »Die haben doch schon 685
offen gehabt.« Er legte eine kleine Tüte Mehl und ein Paket Schmalz auf den Boden neben den Ofen. »Ist was passiert?« fragte er. Tom richtete sich, auf einen Ellbogen gestützt, auf, legte sich aber gleich wieder zurück. »Kinder, bin ich schwach. Ich erzähl’ es euch gleich. Aber was machen wir mit den Kindern?« Mutter blickte hinüber zu den beiden, die an der Wand hockten. »Geht und wascht euch die Gesichter.« »Nein«, sagte Tom. »Sie müssen’s hören. Sonst plappern sie’s womöglich aus, wenn sie’s nicht wissen.« »Also, was zum Teufel ist denn los?« fragte Vater. »Ich erzähle ja schon. Gestern abend bin ich losgegangen, weil ich sehn wollte, was das für ’n Geschrei da draußen war. Und da habe ich Casy getroffen.« »Den Prediger?« »Ja, Vater. Den Prediger, aber er hat ’n Streik angeführt. Und sie haben ihn gesucht.« Vater fragte: »Wer hat ihn gesucht?« »Ich weiß nicht. Genau solche Kerle, die wo uns damals auf der Straße zurückgeschickt haben – an dem Abend. Haben Totschläger gehabt.« Er machte eine Pause. »Sie haben ihn umgebracht. Den Kopf eingeschlagen. Ich habe dabeigestanden, und ich bin verrückt geworden. Habe den Totschläger genommen.« Seine Augen blickten verzweifelt zurück in den Abend, die Dunkelheit, die Strahlen der Blendlaterne, und er sagte: »Ich … ich habe einen von den Kerlen geschlagen.« Mutter hielt den Atem an. Vaters Gesicht wurde hart. »Tot?« fragte er leise. 686
»Ich … weiß nicht. Ich war verrückt. Wollte ihn umbringen.« Mutter fragte: »Bist du gesehn worden?« »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht. Wahrscheinlich. Die haben uns angeleuchtet.« Einen Moment lang blickte Mutter ihm in die Augen. »Vater«, sagte sie. »Du mußt ’n paar Kisten zerhacken. Wir müssen frühstücken. Ihr müßt ja auf die Arbeit. Ruthie, Winfield! Wenn euch jemand fragt – Tom ist krank. Verstanden? Wenn ihr was sagt, dann … dann muß er ins Gefängnis. Habt ihr das verstanden?« »Jawohl, Ma’am.« »Paß ein bißchen auf sie auf, John. Laß sie mit niemand sprechen.« Sie machte Feuer an, als Vater begonnen hatte, die Kisten zu zerhacken, in denen sie sonst ihre Sachen hatten. Sie rührte den Teig und setzte den Kaffeetopf auf. Das dürre Holz brannte schnell an, und das Feuer dröhnte im Schornstein. Vater war mit Holzhacken fertig. Er trat wieder zu Tom. »Casy – das war doch ein guter Mann. Warum hat er sich auf so ’ne Sache eingelassen?« Tom sagte töricht: »Sie sind arbeiten gekommen für fünf Cents die Kiste.« »Das kriegen wir doch auch.« »Ja. Was wir gemacht haben, war Streikbrechen. Sie wollten den Leuten nur zweieinhalb Cents geben.« »Aber davon kann man doch nicht essen.« »Ich weiß«, sagte Tom müde. »Deshalb haben sie ja auch gestreikt. Na, ich glaube, sie haben den Streik 687
zersprengt letzte Nacht. Vielleicht kriegen wir heute auch nur zweieinhalb Cents.« »Aber diese Schweine …« »Ja. Verstehst du jetzt, Vater? Casy war immer noch ein – guter Mann. Verdammt, ich kann das Bild nicht aus dem Kopf kriegen, wie er dagelegen hat … den Kopf ganz breit gequetscht. Und dann das Blut. Lieber Gott!« Er bedeckte sich die Augen mit der Hand. »Na, und was machen wir nun?« fragte Onkel John. Al stand auf. »Ich weiß, was ich mache. Ich haue ab.« »Nein, das machst du nicht, Al«, sagte Tom. »Wir brauchen dich jetzt. Ich bin derjenige, wo abhaut. Ich bin jetzt ’ne Gefahr für euch. Sowie ich auf den Beinen bin, haue ich ab.« Mutter arbeitete am Ofen. Ihr Kopf war ihnen halb zugewandt. Sie tat Fett in die Bratpfanne und löffelte den Teig hinein. Tom fuhr fort: »Du mußt bleiben, Al. Du mußt dich ja um den Wagen kümmern.« »Verdammt ungern.«. »Ich kann’s nicht ändern, Al. Aber du mußt doch unseren Leuten helfen. Ich bin jetzt nur ’ne Gefahr für sie.« Al murrte: »Ich weiß nicht, warum man mich nicht endlich in ’ner Garage arbeiten läßt.« »Vielleicht später.« Tom blickte an ihm vorbei und sah Rose von Sharon auf der Matratze liegen. Ihre Augen waren groß – weit geöffnet. »Sorg dich nicht«, rief er ihr zu. »Sorg dich nicht. Heute kriegst du Milch.« Er blinzelte ihr zu, aber sie schwieg. 688
Vater sagte: »Wir müssen das wissen, Tom. Glaubst du, du hast den Kerl erschlagen?« »Ich weiß nicht. Es war dunkel. Und jemand hat mir eins über den Kopf gehauen. Ich weiß nicht. Aber ich hoff es. Ich hoffe, ich habe das Schwein erschlagen.« »Tom!« rief Mutter. »Sag nicht so was!« Von der Straße her kam das Geräusch vieler Wagen, die langsam vorbeifuhren. Vater trat an das Fenster und blickte hinaus. »Da kommt ein ganzer Schub von neuen Leuten«, sagte er. »Da haben sie bestimmt den Streik zerschlagen«, sagte Tom. »Und ihr fangt heute mit zweieinhalb Cents an.« »Aber da kann man sich ja die Finger wund pflücken und hat trotzdem sein Essen noch nicht verdient.« »Ich weiß«, sagte Tom. »Da müßt ihr Fallobst essen. Das vertreibt euch den Hunger.« Mutter wendete den Teig und rührte den Kaffee um. »Hört mal zu«, sagte sie. »Ich kaufe heute Maismehl. Da machen wir Maisbrei. Und sowie wir genug haben für Benzin, fahren wir weg. Das hier ist nichts. Und ich lasse Tom nicht alleine gehn. Nein.« »Das kannst du nicht machen, Mutter. Ich sage dir doch, ich bin ’ne Gefahr für euch.« Ihr Gesicht war entschlossen. »So machen wir’s und nicht anders. Jetzt kommt essen, und dann geht arbeiten. Wenn ich abgewaschen habe, komme ich auch. Wir müssen Geld verdienen.« Sie aßen die Schmalzkuchen so heiß, daß sie in ihren Mündern leise zischten. Und sie gossen den Kaffee hinunter und füllten ihre Tassen von neuem und tranken. 689
Onkel John schüttelte den Kopf. »Jaja, das sieht böse aus. Ich sage euch, ich bin dran schuld mit meinen Sünden.« »Ach, halt deine Klappe«, rief Vater. »Wir haben jetzt keine Zeit für deine Sünden. Komm, wir gehn arbeiten. Und ihr Kinder kommt mit. Mutter hat recht. Wir müssen hier fort.« Als sie gegangen waren, brachte Mutter einen Teller und eine Tasse zu Tom. »Hier, iß lieber ’n bißchen was.« »Ich kann nicht, Mutter. Es tut mir alles so weh, daß ich nicht kauen kann.« »Versuch’s.« »Nein, ich kann nicht, Mutter.« Sie setzte sich auf die Kante seiner Matratze. »Jetzt mußt du mir mal erzählen«, sagte sie. »Ich muß wissen, wie’s war. Ganz genau. Was hat Casy gemacht? Warum haben sie ihn erschlagen?« »Er hat einfach dagestanden, und sie haben ihn angeleuchtet.« »Was hat er denn gesagt? Weißt du nicht mehr, was er gesagt hat?« »Natürlich. Casy hat gesagt: ›Ihr habt kein Recht, die Leute auszuhungern.‹ Und dann hat dieser stämmige Kerl ihn rotes Schwein geschimpft. Und Casy hat gesagt: ›Ihr wißt ja nicht, was ihr tut.‹ Und dann hat der Kerl zugeschlagen.« Mutter blickte zu Boden. Sie schlang ihre Hände ineinander. »Das hat er gesagt – ›Ihr wißt ja nicht, was ihr tut‹?« 690
»Ja.« Mutter sagte: »Ich wollte, das hätte Großmutter hören können.« »Mutter – ich habe auch nicht gewußt, was ich gemacht habe. Ich hab’ es noch nicht mal gewußt, wie ich’s gemacht habe.« »Schon gut, Tom. Ich wollte, du hättest es nicht gemacht, du wärest überhaupt nicht dabeigewesen. Aber du hast’s wohl machen müssen. Ich sehe da keine Schuld drin.« Sie ging zum Ofen und tauchte einen Lappen in das Wasser, das sie sich zum Spülen aufgesetzt hatte. »Hier«, sagte sie. »Leg das auf dein Gesicht.« Er breitete sich den heißen Lappen über Nase und Backe. »Mutter, ich gehe heute abend weg. Ich kann euch das nicht zumuten.« Mutter sagte aufgebracht: »Tom! Es gibt ’ne ganze Menge, was ich nicht verstehe. Aber mit dem Weggehen erleichterst du’s uns nicht. Du machst es nur schlimmer.« Sie fuhr fort: »Damals, wie wir auf dem Land waren, da haben wir Grenzen um uns gehabt. Die Alten sind gestorben, und die Kleinen sind gekommen, und wir waren immer eines – eine Familie –, ganz und gar. Und jetzt sind wir nicht mehr ganz. Uns hält nichts mehr zusammen. Al – der jault und mault, daß er fort will. Und Onkel John schleppt sich nur noch weiter. Vater hat seinen Platz verloren. Er ist nicht mehr der Kopf der Familie. Wir zerfallen, Tom. Wir sind keine Familie mehr. Und Rosasharn …«, sie drehte sich um und begegnete den großen Augen des Mädchens, »Rosasharn kriegt ihr Kleines und hat keine Familie. Ich weiß 691
nicht. Ich habe versucht, alles zusammenzuhalten. Winfield – was soll denn aus Winfield werden? Und aus Ruthie? Die sind wie die wilden Tiere. Haben nichts, auf was sie sich verlassen können. Geh nicht, Tom. Bleib da und hilf.« »Gut«, sagte er müde. »Gut. Ich sollt’ es zwar nicht. Ich weiß es.« Mutter ging zu ihrer Aufwaschschüssel, spülte die Blechteller und trocknete sie ab. »Du hast nicht geschlafen.« »Nein.« »Also, dann schlaf jetzt. Dein Anzug war naß, habe ich gesehn. Ich hänge ihn über den Ofen zum Trocknen.« Sie beendete ihre Arbeit. »Ich gehe jetzt pflücken. Rosasharn, wenn jemand kommt, dann ist Tom krank, verstanden? Laß niemand rein. Verstanden?« Rose von Sharon nickte. »Wir kommen Mittag zurück. Jetzt schlaf, Tom. Vielleicht können wir heute abend hier weg.« Sie trat leise zu ihm. »Tom, daß du mir nicht ausrückst!« »Nein, Mutter.« »Bestimmt nicht? Du bleibst hier?« »Bestimmt, Mutter. Ich bleibe hier.« »Gut. Und vergiß nicht, was ich dir gesagt habe, Rosasharn.« Sie ging hinaus und schloß die Tür hinter sich. Tom lag still – und dann hob ihn eine Welle von Schlaf an den Rand der Bewußtlosigkeit, ließ ihn langsam zurückfallen und trug ihn wieder davon. »Du … Tom!« »Ja. Was?« Er wurde wach und blickte hinüber zu Rose von Sharon. Ihre Augen blitzten unwillig. »Was willst du?« 692
»Du hast einen umgebracht!« »Ja. Nicht so laut! Sonst kommen die Leute!« »Das ist mir doch egal!« rief sie. »Die Frau hat mir’s gesagt. Sie hat mir gesagt, was Sünde anrichtet. Wie soll ich denn ein hübsches Kind kriegen? Connie ist fort, und ich kriege nichts Richtiges zu essen. Ich kriege keine Milch.« Ihre Stimme hob sich zu einem hysterischen Schreien. »Und jetzt bringst du einen Mann um. Wie soll ich denn ein vernünftiges Kind zur Welt bringen? Ich weiß … Es wird ’ne Mißgeburt … Jawohl, ’ne Mißgeburt! Und ich habe doch nie so getanzt.« Tom stand auf. »Schscht!« machte er. »Man kann’s ja in der ganzen Nachbarschaft hören.« »Ist mir egal. Es wird ’ne Mißgeburt! Und ich habe doch nicht so getanzt.« Tom trat zu ihr. »Sei still.« »Rühr mich nicht an. Es ist auch nicht der erste, den wo du erschlagen hast.« Ihr Gesicht wurde rot vor hysterischer Empörung. Sie sprudelte ihre Worte hervor. »Ich will dich nicht sehen.« Sie zog sich die Decke über den Kopf. Tom hörte das erstickte, gedämpfte Weinen. Er biß sich auf die Unterlippe und betrachtete den Fußboden. Und dann ging er zu Vaters Bett. Unter der Kante der Matratze lag das Gewehr, ein langes, schweres 38er Winchester-Gewehr. Tom nahm es hoch und sah nach, ob noch eine Patrone in der Kammer war. Er sicherte den Abzugshahn. Dann ging er zurück zu seiner Matratze und legte das Gewehr neben sich auf die Erde, den Schaft nach oben und den Lauf nach unten. Rose von 693
Sharon wimmerte leise unter der Decke. Tom legte sich wieder hin und deckte sich zu, er zog die Decke über seine geschwollene Backe und machte sich einen kleinen Tunnel, durch den er atmete. Er seufzte: »Lieber Gott, ach du lieber Gott!« Draußen kamen Wagen vorbei, und Stimmen waren zu hören. »Wieviel Männer?« »Na, wir – drei. Was zahlt ihr?« »Fahr zum Haus fünfundzwanzig. Die Nummer steht an der Tür.« »Okay, Mister. Und was zahlt ihr?« »Zweieinhalb Cents.« »Mensch, da kann man ja nicht mal sein Essen verdienen!« »Ja, aber mehr zahlen wir nicht. Es kommen noch zweihundert Leute aus dem Süden rauf. Die freuen sich, wenn sie zweieinhalb Cents kriegen.« »Aber guter Gott, Mister!« »Los – weiter. Entweder nehmt ihr ’s an oder haut wieder ab. Ich habe keine Zeit, mich mit euch um den Lohn zu streiten.« »Aber …« »Jetzt hört mal zu. Ich mache ja die Löhne nicht. Ich trage auch nur ein. Wenn ihr arbeiten wollt, dann los. Wenn nicht, dann könnt ihr umdrehn und gleich wieder abhauen.« »Fünfundzwanzig, haben Sie gesagt?« »Ja, fünfundzwanzig.«
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Tom lag im Halbschlaf auf seiner Matratze. Ein leises Geräusch im Zimmer weckte ihn. Seine Hand griff nach dem Gewehr und umspannte es. Er zog sich die Decke vom Gesicht. Rose von Sharon stand neben seiner Matratze. »Was willst du?« fragte Tom. »Schlaf nur«, sagte sie. »Schlaf nur weiter. Ich passe auf die Tür auf. Es kommt niemand rein.« Er sah ihr forschend ins Gesicht. »Okay«, sagte er und zog sich die Decke wieder über den Kopf. Als es zu dämmern begann, kam Mutter zurück. Sie blieb auf der Türschwelle stehen und klopfte und sagte: »Ich bin’s«, damit Tom sich nicht aufregte. Sie öffnete die Tür und trat mit einer Tüte in der Hand ein. Tom erwachte und setzte sich auf. Die Wunde hatte sich geschlossen und spannte, so daß die gesunde Haut stramm war und glänzte. Sein linkes Auge war fast geschlossen. »War jemand da inzwischen?« fragte Mutter. »Nein«, sagte er. »Niemand. Sie haben den Lohn gesenkt, was?« »Woher weißt du das?« »Ich habe draußen Leute sprechen hören.« Rose von Sharon blickte teilnahmslos zur Mutter auf. Tom zeigte mit dem Daumen auf sie. »Die hat Krach geschlagen, Mutter. Sie denkt, die ganze Geschichte geht nur gegen sie. Wenn sie das so aufregt, muß ich eben doch gehn.« Mutter wandte sich zu Rose von Sharon. »Was hast du gemacht?« 695
Das Mädchen sagte bitter: »Wie kann ich denn bei all den Geschichten ’n anständiges Kind kriegen?« Mutter sagte: »Sei still! Ich weiß, wie dir ist, aber ich kann’s nicht ändern. Also halt den Mund.« Sie wandte sich wieder zu Tom. »Mach dir nichts draus, Tom. Es ist verdammt schwer, und ich weiß, wie’s ist. Man hat das Gefühl, alles ist gegen einen gerichtet, wenn man was Kleines kriegt, und alles, was die Leute sagen, ist ’ne Beleidigung. Hör einfach nicht drauf. Sie kann nichts dafür. Sie fühlt halt so.« »Ich will ihr ja auch nicht weh tun.« »Sei still. Und red nicht so viel!« Sie stellte die Tüte auf den kalten Ofen. »Wir haben kaum was verdient«, sagte sie. »Ich sage ja, wir müssen hier fort. Tom, vielleicht kannst du mir ’n bißchen Holz machen. Nein – du kannst nicht. Hier, wir haben noch die eine Kiste. Zerhack sie mir. Ich habe den andern gesagt, sie sollen mir auf dem Rückweg ’n paar Stöcke mitbringen. Ich mache Maisbrei mit Zucker drauf.« Tom stand auf und zerhackte die letzte Kiste. Mutter machte Feuer an, sorgsam und kunstvoll, so daß die Flamme sich nicht allzusehr verteilte. Sie füllte einen Kessel mit Wasser und stellte ihn über die Flamme. Der Kessel rasselte über dem direkten Feuer, rasselte und puffte. »Wie ging denn das Pflücken heute?« fragte Tom. Mutter tauchte eine Tasse in die Maismehltüte. »Ich möchte gar nichts darüber reden. Ich habe heute grade gedacht, wie die Leute früher Witze gemacht haben. Es gefällt mir nicht, Tom. Wir machen keine Witze mehr. 696
Wenn ein Witz gemacht wird, dann ist’s ein gemeiner, bitterer Witz und gar nichts zu lachen dran. Einer hat heute gesagt: ›Die Krise ist vorbei. Ich habe ’n Kaninchen gesehn, und keiner hat’s gejagt.‹ Und ’n andrer sagt: ›Das ist nicht deshalb. Wir können’s uns nicht mehr leisten, Kaninchen zu schlachten. Die werden jetzt gefangen und gemolken und wieder laufengelassen. Und das, wo du gesehn hast, war wahrscheinlich trocken.‹ Siehst du, so meine ich’s. Das ist doch nicht spaßig, nicht so wie damals, wie Onkel John ’n Indianer mit nach Hause gebracht hat und der Indianer sich durch den Bohnentopf durchgefressen hat und nachher mit Onkel Johns Whisky ausgerückt ist. Tom, leg dir ’n Lappen mit kaltem Wasser aufs Gesicht.« Die Dunkelheit kam. Mutter brannte die Lampe an und hängte sie an einen Nagel. Sie legte Holz aufs Feuer und schüttete langsam Maismehl in das heiße Wasser. »Rosasharn«, sagte sie, »kannst du den Brei rühren?« Von draußen kam das Klappern rennender Füße. Die Tür wurde aufgerissen und schlug krachend gegen die Wand. Ruthie stürzte aufgeregt herein. »Mutter!« rief sie. »Mutter! Winfield ist umgefallen!« »Was ist denn los? Wo denn?« Ruthie keuchte: »Ist ganz weiß geworden und umgefallen. Er hat so viele Pfirsiche gegessen und mußte den ganzen Tag laufen. Und nun ist er einfach umgefallen. Ganz weiß!« »Ich komme mit!« sagte Mutter. »Rosasharn, paß auf den Maisbrei auf.« Sie ging mit Ruthie hinaus. Sie rannte hinter dem 697
kleinen Mädchen her, schwer atmend, die Straße hinauf. Drei Männer kamen im Halbdunkel auf sie zu, und der Mittlere trug Winfield in den Armen. »Es ist meiner«, rief sie. »Gebt ihn mir.« »Ich trage ihn Ihnen nach Hause, Ma’am.« »Nein, geben Sie ihn mir.« Sie nahm den kleinen Jungen an sich, drehte sich um, und dann erinnerte sie sich. »Ich danke Ihnen auch sehr«, sagte sie zu den Männern. »Gern geschehn, Ma’am. Der kleine Kerl ist ziemlich schwach. Sieht aus, wie wenn er Würmer hätte.« Mutter eilte zurück, trug ihn ins Haus, kniete nieder und legte ihn auf eine Matratze. »Nun erzähl mal. Was ist denn los?« Er öffnete betäubt die Augen und schüttelte den Kopf und schloß die Augen wieder. Ruthie sagte: »Ich hab’ dir’s doch erzählt, Mutter. Er hat den ganzen Tag dünn gemacht. Alle Augenblicke. Er hat zu viele Pfirsiche gegessen.« Mutter befühlte seinen Kopf. »Kein Fieber. Er ist aber ganz weiß und eingefallen.« Tom kam näher und leuchtete mit der Lampe. »Ich weiß«, sagte er, »er ist ausgehungert. Er hat keine Kräfte. Kauf ihm ’ne Büchse Milch und gib sie ihm zu trinken. Oder mach ihm Milch in seinen Brei.« »Winfield, sag mir, wie dir ist.« »Schwindlig«, sagte Winfield, »nur schlecht und schwindlig.« »Solchen Durchfall hast du noch nicht gesehn«, sagte Ruthie gewichtig. Vater und Onkel John und Al kamen nach Hause. Sie hatten die Arme voll Holz und trockener 698
Zweige, die sie neben dem Ofen auf den Boden fallen ließen. »Was ist los?« fragte Vater. »Es ist Winfield. Er braucht ’n bißchen Milch.« »Guter Gott! Wir brauchen alle was!« Mutter fragte: »Wieviel haben wir denn heute verdient?« »’n Dollar zweiundvierzig.« »Also, lauf gleich rüber und kauf ’ne Büchse Milch für Winfield.« »Warum muß er denn ausgerechnet jetzt krank werden?« »Ich weiß auch nicht, warum. Aber er ist krank. Nun geh Milch holen!« Vater ging brummend aus der Tür. »Hast du den Brei gerührt?« »Ja.« Und Rose von Sharon rührte schneller, um es zu beweisen. Al legte los: »Großer Gott, Mutter! Ist Maisbrei alles, was wir nach so ’nem Arbeitstag kriegen?« »Al, du weißt, wir müssen hier fort. Wir brauchen das Geld für Benzin. Das weißt du doch.« »Aber lieber Gott, Mutter! Ein Mann braucht doch Fleisch, wenn er arbeiten soll.« »Jetzt sei still und setz dich hin«, sagte sie. »Wir haben noch ’ne andre Geschichte, die wir erst klarkriegen müssen. Und du weißt, was das für ’ne Geschichte ist.« Tom fragte: »Das mit mir?« »Wir reden drüber, wenn wir gegessen haben«, sagte Mutter. »Al, wir haben doch genug Benzin zum Losfahren, was?« »Viertel vom Tank voll«, sagte Al. 699
»Willst du mir nicht sagen, was draußen los ist?« fragte Tom. »Nachher. Warte nur.« »Rühr den Maisbrei um, du. Komm, laß mich den Kaffee aufstellen. Ihr könnt Zucker auf den Brei oder in den Kaffee haben. Beides geht nicht.« Vater kam mit einer hohen Büchse Milch zurück. »Elf Cents«, sagte er empört. »Hier!« Mutter nahm die Büchse und bohrte sie auf. Sie ließ einen dicken Strahl in eine Tasse laufen und reichte sie Tom. »Gib das Winfield.« Tom kniete sich neben die Matratze. »Hier, trink das.« »Ich kann nicht, mir ist ganz übel. Laß mich.« Tom stand auf. »Er kann’s jetzt nicht trinken, Mutter. Warte ein bißchen.« Mutter nahm die Tasse und stellte sie auf das Fensterbrett. »Daß mir keiner das anrührt!« warnte sie. »Das ist für Winfield.« »Ich habe keine Milch gehabt«, sagte Rose von Sharon weinerlich. »Und ich brauche doch welche.« »Ich weiß, aber du bist noch auf den Beinen. Der kleine Kerl ist krank. Ist der Maisbrei schön dick?« »Ja. Ich kann ihn kaum noch rühren.« »Gut, dann können wir essen. Hier ist der Zucker. Für jeden einen Löffel. Ihr könnt ihn auf den Brei oder in den Kaffee nehmen.« Tom sagte: »Ich möchte lieber Pfeffer und Salz auf den Brei.« »Mach Salz drauf«, sagte Mutter. »Der Pfeffer ist alle.« Die Kisten waren verbrannt. Die Familie saß auf den 700
Matratzen und aß ihren Brei. Sie nahmen sich wieder und immer wieder, bis der Topf fast leer war. »Laßt noch was für Winfield übrig«, sagte Mutter. Winfield setzte sich auf und trank seine Milch, und sofort bekam er einen Wolfshunger. Er stellte sich den Breitopf zwischen die Beine und aß, was übriggeblieben war, und kratzte die Kruste von den Seiten ab. Mutter goß den Rest der Milch in eine Tasse und schob sie heimlich Rose von Sharon zu, die damit in eine dunkle Ecke verschwand. Dann schenkte Mutter den heißen schwarzen Kaffee ein und reichte die Tassen herum. »Wollt ihr nun mal erzählen, was los ist?« fragte Tom. »Ich muß das wissen.« Vater sagte unbehaglich: »Ich wollte, Ruthie und Winfield brauchten das nicht zu hören. Können sie nicht rausgehen?« »Nein«, sagte Mutter. »Sie müssen sich wie Erwachsene benehmen, wenn sie’s auch noch nicht sind. Das ist nicht zu ändern. Ruthie – du und Winfield, ihr dürft niemand erzählen, was wir jetzt sprechen, sonst passiert uns allen was.« »Nein, nein«, sagte Ruthie. »Wir sind ja erwachsen.« »Also, dann seid schön still.« Die Kaffeetassen standen auf der Erde. Die kurze dicke Flamme in der Lampe, die einem gestutzten Schmetterlingsflügel glich, warf einen dämmrigen, gelben Schein an die Wände. »Nun erzählt«, sagte Tom. Mutter sagte: »Vater – du.« Onkel John schlürfte seinen Kaffee. Vater sagte: »Also, sie haben den Lohn gesenkt, wie du gesagt hast. Und ’n 701
Schub neuer Pflücker ist gekommen, die solchen Hunger gehabt haben, daß sie sogar für ’n Stück Brot gepflückt hätten. Wenn du nach ’nem Pfirsich gegriffen hast, hat ihn dir jemand schon vor der Nase weggepflückt. Die ganze Ernte ist schon bald runter. Da sind sie auf ’nen neuen Baum zugerannt und haben sich gestritten – der eine sagt, es sei sein Baum, und der andre will mitpflücken. Sie holen sich die Leute sogar von El Centro. Arme hungrige Teufel. Arbeiten den ganzen Tag für ’n Stück Brot. Ich sage zu dem Aufschreiber: ›Aber wir können nicht für zweieinhalb Cents die Kiste arbeiten‹, und er sagt, ›Dann laßt’s doch bleiben. Die andern können’s.‹ Ich sage: ›Wenn die einmal satt sind, machen sie’s auch nicht mehr.‹ Und er sagt: ›Eh’ die satt sind, haben wir die Pfirsiche längst drin.‹« Vater schwieg. »Gemeiner Kerl«, sagte Onkel John. »Heute nacht sollen noch zweihundert kommen.« »Na, und die andre Sache?« fragte Tom. Vater zögerte einen Augenblick. »Ja«, sagte er dann, »es sieht so aus, wie wenn du’s geschafft hast.« »Das habe ich mir gedacht. Ich habe nichts gesehn. Aber gefühlt habe ich’s.« »Die Leute haben über nicht viel andres geredet«, sagte Onkel John. »Sie haben Bullen draußen in rauhen Mengen, und da waren welche, die haben was von Lynchen gesagt – wenn sie den Kerl kriegen.« Tora blickte hinüber zu den Kindern, die mit großen Augen dasaßen. Sie blinzelten kaum. Es war, als fürchteten sie, in dem winzigen Moment der Dunkelheit könnte etwas geschehen. Tom sagte: »Ja – der Kerl, der’s 702
gemacht hat, hat’s auch nur gemacht, weil sie Casy erschlagen haben.« Vater unterbrach ihn: »Aber sie stellen’s jetzt ganz anders hin. Sie sagen, er hat’s erst gemacht.« Tom seufzte. »Aha!« »Sie hetzen jetzt gegen uns auf. So habe ich’s wenigstens gehört. Alle die Bullen und Milizen und das ganze Zeug. Sie sagen, sie werden den Kerl schon kriegen.« »Wissen sie denn, wie er aussieht?« fragte Tom. »Nee … nicht genau. Aber was ich gehört habe, glauben sie, er hat was abgekriegt. Sie sagen … er kriegt …« Tom hob langsam die Hand und fuhr sich über die geschwollene Backe. Mutter rief: »Das ist nicht so, wie die sagen!« »Sei ruhig, Mutter«, sagte Tom. »Stimmt ja alles nicht. Aber was die Bullen sagen, ist alles recht, wenn’s gegen uns geht.« Mutter blinzelte durch das trübe Licht und beobachtete Toms Gesicht, besonders aber seine Lippen. »Du hast mir’s versprochen«, sagte sie. »Mutter, ich … vielleicht sollte der Kerl sich aus dem Staub machen. Wenn … der Kerl was Unrechtes getan hat, würde er vielleicht denken: ›Gut, jetzt muß ich’s ausbaden.‹ Aber der Kerl hat nichts Unrechtes getan. Er bereut’s nicht mehr, wie wenn er ’n Skunk erschlagen hätte.« Ruthie warf ein: »Mutter, ich und Winfield – wir wissen’s doch. Ihr braucht gar nicht so zu reden, mit Kerl und so.« Tom lachte. »Also, der Kerl will’s aber nicht ausbaden, weil er’s ruhig noch mal machen würde. Andrer703
seits will er aber auch seinen Leuten keine Geschichten machen. Mutter – ich muß fort.« Mutter hielt sich die Hand vor den Mund und räusperte sich hustend: »Du kannst nicht«, sagte sie. »Wo willst du dich denn verstecken? Kannst ja niemand trauen außer uns. Wir können dich verstecken und können sehn, daß du zu essen kriegst, bis dein Gesicht wieder gut ist.« »Aber Mutter …« Sie stand auf. »Du gehst nicht. Wir nehmen dich mit. Al, du fährst den Wagen rückwärts gegen die Tür. Ja, jetzt weiß ich, wie wir’s machen. Wir legen eine Matratze auf den Boden, und dann kriecht Tom schnell rein, und die andre Matratze legen wir so drauf, daß es ’ne Höhle gibt, und Tom ist drin in der Höhle, und wir bauen dann noch was davor. Am einen Ende kannst du dann Luft kriegen. Widersprich mir nicht. So wird’s gemacht!« Vater beklagte sich: »Scheint so, daß der Mann überhaupt nichts mehr zu sagen hat. Mutter ist ’n tolles Stück. Na, wenn wir erst mal irgendwo zur Ruhe gekommen sind, dann kriegt sie’s ja von mir.« »Ja, dann gerne«, sagte Mutter. »Los, Al! Es ist jetzt dunkel genug.« Al ging hinaus zum Wagen. Er überlegte und betrachtete die Sache eine Weile, dann fuhr er den Wagen rückwärts an die Treppe. Mutter sagte: »Jetzt schnell. Leg die Matratze rein!« Vater und Onkel warfen sie über die Rückwand hinein. »Jetzt die andre.« Sie hängten die zweite Matratze darüber. »Los, Tom – jetzt klettere rauf und kriech drunter. Mach schnell.« 704
Tom kletterte an der Rückwand hinauf und sprang hinunter. Er legte die eine Matratze lang und zog die zweite über sich. Vater stellte sie an beiden Seiten auf, so daß sie über Tom einen Bogen bildete. Er konnte zwischen den Seitenwänden des Wagens hindurchsehen. Vater und Al und Onkel John luden hastig weiter auf, häuften die Decken auf Toms Höhle, stellten die Eimer an die Seiten und breiteten die letzte Matratze dahinter aus. Töpfe und Pfannen und Kleider wurden einzeln aufgeladen, weil die Kisten verbrannt waren. Sie waren fast fertig, als ein Wächter mit dem Gewehr über der Schulter erschien. »Was macht ihr denn hier?« fragte er. »Wir fahren weg«, sagte Vater. »Warum?« »Ja – wir haben Arbeit gekriegt – gute Arbeit.« »So? Wo denn?« »Och – da unten bei Weedpatch.« »Laßt euch mal ansehn.« Er richtete seine Blendlaterne in Vaters, in Onkel Johns und in Als Gesicht. »Habt ihr nicht noch ’n andern mitgehabt?« Al sagte: »Sie meinen den Kerl, wo wir mitgenommen haben? So ’n kleiner Bursche mit ’nem blassen Gesicht?« »Ja. Ich glaube, so hat er ausgesehn.« »Den haben wir auf der Straße mitgenommen. Heute früh ist er weggegangen, wie sie die Löhne gesenkt haben.« »Wie hat er ausgesehn, sagen Sie?« »Klein. Blasses Gesicht.« »Hat er heute früh Schrammen und ’n blaues Auge gehabt?« 705
»Ich habe nichts gesehn«, sagte Al. »Ist die Tankstelle noch offen?« »Ja, bis acht.« »Los, steigt ein«, rief Al. »Wenn wir bis morgen früh in Weedpatch sein wollen, müssen wir uns verdammt beeilen. Gehst du nach vorne, Mutter?« »Nee, ich sitze lieber hinten«, sagte sie. »Vater, du setzt dich auch mit nach hinten. Laß Rosasharn nach vorn zu Al und Onkel John.« »Gib mir unsern Zettel, Vater«, sagte Al. »Ich will sehn, daß der an der Tankstelle ihn in Zahlung nimmt.« Der Wächter sah ihnen nach, wie sie die Straße entlangfuhren und links zur Tankstelle abbogen. »Zwei Gallonen«, sagte Al. »Da fahrt ihr aber nicht weit.« »Nee, nicht weit. Nehmen Sie den Zettel hier in Zahlung?« »Tja – ich darf s nicht.« »Hören Sie zu, Mister«, sagte Al. »Wir kriegen ’ne gute Arbeit, wenn wir heute abend noch hinkommen. Wenn nicht, dann ist’s Essig. Also seien Sie mal nett.« »Gut, Sie müssen aber unterschreiben.« Al stieg aus und ging um den Kühler herum. »Aber sicher«, sagte er. Er schraubte den Kühler auf und füllte ihn mit Wasser. »Zwei, sagten Sie?« »Ja, zwei.« »Welche Richtung fahren Sie denn?« »Südlich. Wir haben Arbeit.« »So? Arbeit gibt’s jetzt selten – regelmäßige Arbeit.« 706
»Wir haben ’n Freund«, sagte Al. »Der wartet direkt mit der Arbeit auf uns. Also, Wiedersehn.« Der Wagen fuhr herum auf die Straße. Das schwache Scheinwerferlicht hüpfte über den Weg, und der rechte Scheinwerfer flackerte, ging an und aus, weil der Kontakt schlecht war. Bei jedem Höcker klapperten und klirrten die Töpfe und Pfannen im Lastwagen hin und her. Rose von Sharon stöhnte leise. »Ist dir schlecht?« fragte Onkel John. »Ja. Mir ist die ganze Zeit schlecht. Ich wollte, ich könnte irgendwo ruhig sitzen. Wenn wir doch zu Hause wären! Dann wäre Connie nicht weggegangen. Dann hätte er studiert und wäre was geworden.« Weder Al noch John antworteten. Sie waren verlegen wegen Connie. An dem weißgestrichenen Tor der Ranch kam ein Wächter an den Wagen heran. »Fahrt ihr ab?« »Ja«, sagte Al. »Wir fahren nach Norden. Haben Arbeit.« Der Wächter richtete seine Blendlaterne auf den Wagen und hinauf zur Plane. Mutter und Vater blickten versteinert herunter. »Okay.« Der Wächter öffnete das Tor. Der Wagen bog nach links und fuhr auf die Route 101 zu, die große Nord-Süd-Straße. »Weißt du, wo wir hinfahren?« fragte Onkel John. »Nee«, sagte Al. »Wir fahren einfach, bis wir’s satt haben.« »Dauert nicht mehr lange, bis mein Kleines kommt«, sagte Rose von Sharon drohend. »Also sucht mir lieber bald ’n hübschen Platz.« Die Nachtluft war kalt vom ersten Frost. An der Straße 707
fielen die Blätter von den Obstbäumen. Oben auf dem Wagen saß Mutter mit dem Rücken gegen die Seitenwand gelehnt, und Vater saß ihr gegenüber auf der anderen Seite. Mutter rief: »Alles in Ordnung, Tom?« Eine gedämpfte Stimme kam zurück: »Bißchen eng hier. Sind wir draußen?« »Sei nur vorsichtig«, sagte Mutter. »Womöglich werden wir angehalten.« Tom hob die eine Seite seiner Höhle hoch. In der Dunkelheit klirrten die Töpfe. »Ich kann’s schnell wieder runterlassen«, sagte er. »Ich will nicht gerne hier erdrückt werden.« Er stützte sich auf den Ellbogen. »Gott, wird schon mächtig kalt, was?« »Ja, ’s hat Wolken«, sagte Vater. »Es wird ’n früher Winter.« »Bauen die Eichhörnchen hoch oder schießt das Gras in die Samen?« fragte Tom. »Kannst doch an jedem Dreck das Wetter voraussagen. Ich wette, es gibt sogar welche, die erzählen dir an ’nem Paar alten Unterhosen, was für Wetter wird.« »Ich weiß nicht«, sagte Vater. »Mir kommt’s vor, als würd’ es Winter. Es muß einer schon sehr lange hier leben, um’s zu wissen.« »Wo fahren wir eigentlich hin?« fragte Tom. »Ich weiß nicht. Al ist links abgebogen. Scheint, daß er denselben Weg zurückfährt, wo wir hergekommen sind.« Tom sagte: »Ich weiß nicht, wie’s am besten ist. Ich glaube, wenn wir auf der Hauptstraße fahren, da gibt’s 708
mehr Bullen. Mit meinem Gesicht nehmen sie mich gleich hoch. Vielleicht bleiben wir lieber auf den Nebenstraßen.« Mutter sagte: »Hau doch mal an die Wand, damit Al anhält.« Tom klopfte mit der Faust an die Vorderwand, und der Wagen hielt am Straßenrand an. Al stieg aus und kam nach hinten. Ruthie und Winfield blinzelten unter ihrer Decke hervor. »Was wollt ihr denn?« fragte Al. Mutter sagte: »Wir müssen überlegen, wo wir hinfahren. Wir bleiben besser auf den Nebenstraßen. Tom sagt so.« »Wegen meinem Gesicht«, fügte Tom hinzu. »Da weiß jeder gleich, was los ist, und jeder Bulle nimmt mich hoch.« »Also, wo wollt ihr denn hin? Ich habe gedacht, nördlich. Im Süden sind wir ja gewesen.« »Ja«, sagte Tom, »aber halt dich auf den Nebenstraßen.« Al fragte: »Und wie wär’ es, wenn wir anhalten und schlafen und morgen früh weiterfahren würden?« Mutter sagte: »Noch nicht. Erst müssen wir weiter weg sein.« »Okay.« Al setzte sich wieder ans Steuer und fuhr weiter. Ruthie und Winfield zogen sich die Decke über die Köpfe. Mutter rief: »Geht’s Winfield besser?« »Jaja, geht ihm besser«, sagte Ruthie. »Er hat geschlafen.« 709
Mutter lehnte sich zurück an die Wagenwand. »Komisches Gefühl, wenn sie einen so jagen. Das macht mich ganz wild.« »Alle macht das wild«, sagte Vater. »Alle. Du hast doch die Keilerei heute gesehn. Der Mensch ändert sich. Im Camp in Weedpatch waren wir noch nicht so.« Al bog rechts ab auf eine Kiesstraße, und die gelben Lichter zitterten über den Boden. Die Obstbäume waren jetzt verschwunden, auf den Feldern wuchs Baumwolle. Sie fuhren etwa zwanzig Meilen kreuz und quer auf Seitenstraßen durch Baumwollfelder. Der Weg lief parallel zu einem von Gebüschen umwucherten Bach, führte über eine Betonbrücke und folgte dem Bach auf der anderen Seite. Und dann sahen sie vor sich Lichter und eine lange Reihe von roten Güterwagen ohne Räder. Am Rande der Straße stand ein großes Schild: »Baumwollpflücker gesucht.« Al bremste. Tom blickte zwischen den Seitenwänden des Wagens hindurch. Eine Viertelmeile hinter den Güterwagen schlug Tom wieder an die Vorderwand. Wieder hielt Al an und stieg aus. »Was ist denn nun los?« »Stell den Motor ab und komm hier rauf«, sagte Tom. Al ging wieder nach vorn, fuhr hinunter in den Graben, stellte die Lichter und den Motor ab. Dann kletterte er über die Rückwand hinauf. »Also?« fragte er. Tom kroch über die Töpfe hinweg und hockte sich vor Mutter hin. »Hört zu«, sagte er. »Da steht, daß sie Baumwollpflücker brauchen. Ich habe das Schild gesehn. Jetzt habe ich mir überlegt, wie ich bei euch bleiben kann, ohne daß es Geschichten gibt. Wenn mein Gesicht wieder gut 710
ist, geht’s vielleicht, aber jetzt nicht. Seht ihr die Wagen da hinten. Da leben die Baumwollpflücker drin. Vielleicht gibt’s noch Arbeit für euch. Wie wär’s, wenn ihr arbeiten und in so ’nem Wagen wohnen würdet?« »Und du?« fragte Mutter. »Ja, da unten am Bach ist alles voller Gebüsch. Da könnte ich mich verstecken. Und abends könnt ihr mir was zu essen bringen. Ich habe da ’n Stück weiter hinten einen Brückenbogen gesehn. Da kann ich vielleicht drunter schlafen.« Vater sagte: »Weiß Gott, ich möchte gerne mal wieder Baumwolle in die Finger kriegen. Das ist Arbeit, die ich kann.« »In dem Wagen wohnt sich’s hübsch«, sagte Mutter. »Und schön trocken ist’s auch. Glaubst du, da ist genug Gebüsch, wo du dich verstecken kannst, Tom?« »Sicher. Ich hab’ es doch gesehn. Ich würde mir da schon ein Plätzchen einrichten, zum Verstecken. Und sowie mein Gesicht gut ist, komme ich raus.« »Du wirst aber böse Narben haben«, sagte Mutter. »Unsinn! Jeder hat Narben.« »Ich habe mal vierhundert Pfund gepflückt«, sagte Vater. »Natürlich war das ’ne gute schwere Ernte. Wenn wir alle pflücken, kriegen wir vielleicht ’n bißchen Geld zusammen.« »Dann können wir auch Fleisch essen«, sagte Al. »Und wie machen wir’s jetzt?« »Wir fahren zurück und schlafen bis morgen früh im Wagen«, sagte Vater. »Und morgen früh gehn wir arbeiten.« 711
»Und Tom?« fragte Mutter. »Jetzt denk mal nicht mehr an mich, Mutter. Ich nehme mir ’ne Decke mit. Paß jetzt auf dem Rückweg mal auf. Da hinten ist ’n Brückenbogen. Du kannst mir Brot oder Kartoffeln oder Maisbrot bringen und einfach da stehen lassen. Ich hol’ es mir dann schon.« »Gut!« »Mir scheint das vernünftig«, sagte Vater. »Ist auch vernünftig«, beharrte Tom. »Sowie mein Gesicht ’n bißchen besser ist, komme ich raus und pflücke auch.« »Alles gut«, stimmte Mutter zu. »Aber nimm dich in acht. Laß dich ’ne Weile lang von niemand sehn.« Tom kletterte über die Rückwand hinunter. »Ich nehme mir die Decke hier mit. Und paß auf dem Rückweg auf den Brückenbogen auf, Mutter.« »Sei vorsichtig«, flehte sie. »Bitte, sei vorsichtig.« »Jaja«, sagte Tom. »Ich bin schon vorsichtig. Gute Nacht.« Mutter sah, wie das Dunkel ihn aufnahm und wie er in den Büschen am Bach verschwand. »Lieber Gott, ich hoffe, es geht gut«, sagte sie. Al fragte: »Also jetzt soll ich zurückfahren?« »Ja«, sagte Vater. »Fahr langsam«, sagte Mutter. »Ich will den Brückenbogen sehn, wo er von gesprochen hat. Das muß ich.« Al fuhr rückwärts aus dem Graben heraus und wendete. Dann steuerte er langsam auf die Güterwagenreihe zu. Im schwachen Scheinwerferlicht waren die Bretterstege zu sehen, die zu den breiten Türen der Wagen 712
hinaufführten. Die Türen waren dunkel. Nichts bewegte sich in der Nacht. Al drehte die Lichter ab. »Ihr klettert nach hinten, du und Onkel John«, sagte er zu Rose von Sharon. »Ich schlafe hier vorn.« Onkel John half dem schwerfälligen Mädchen nach oben. Mutter schob die Töpfe und Pfannen auf einen kleinen Fleck zusammen. Die Familie lag dicht gedrängt oben auf dem Lastwagen. In einem der Güterwagen schrie ein Kind. Ein Hund kam schnaufend und keuchend angetrottet und lief langsam um den Wagen der Joads herum. In der Ferne plätscherte leise der Bach.
27 Baumwollpflücker gesucht – Tafeln an der Straße, Handzettel verteilt, orangefarbene Handzettel – Baumwollpflücker gesucht. Hier, die Straße ist es. Die dunkelgrünen Pflanzen, faserig jetzt, und die schweren Bällchen, von der Kapsel umkrallt. Weiße Baumwolle, die herausquillt wie Puffmais. Wir möchten gerne mal wieder Baumwolle unter die Hände kriegen. Sanft, mit den Fingerspitzen. Ich bin ein guter Pflücker. Hier ist der Mann, hier. Ich möchte gerne Baumwolle pflücken. Hast du ’n Sack? 713
Nee, keinen Sack. Kostet ’n Dollar, der Sack. Wir ziehen’s dir von deinen ersten hundertfünfzig ab. Achtzig Cents für hundert, das erstemal übers Feld. Neunzig Cents das zweitemal. Da könnt ihr euch euren Sack holen. Einen Dollar. Wenn du keinen Dollar hast, ziehn wir dir’s von deinen ersten hundertfünfzig ab. Das ist nur anständig, und das weißt du auch. Sicher ist’s anständig, ’n guter Baumwollsack hält die ganze Saison. Und wenn er kaputt ist, durchgewetzt, dann drehst du ihn um und nimmst ihn am anderen Ende. Nähst das offene Ende zu. Machst das kaputte Ende auf. Und wenn er an beiden Enden hin ist, ist’s immer noch ein guter Stoff. Gibt ’n paar hübsche Sommerhosen. Oder Nachthemden. Und, verdammt noch eins – ein Baumwollsack ist ’ne gute Sache. Häng dir ihn um den Gürtel. Spreiz ihn auf. Zieh ihn zwischen den Beinen mit. Erst zieht er sich leicht. Und deine Fingerspitzen pflücken den Flaum, und die Hände schieben die Baumwolle in den Sack zwischen deinen Beinen. Die Kinder kommen hinterher. Säcke für Kinder gibt’s nicht – nehmt ’n alten Jutesack oder steckt’s in Vater seinen. Jetzt ist er schon schwer. Beug dich vor, zieh ihn hinten nach. Ich verstehe was von Baumwolle. Fingerweise, bällchenweise. Kannst reden beim Pflükken, kannst singen, bis der Sack schwer wird. Die Finger machen’s richtig. Die Finger kennen sich aus. Die Augen sehn die Arbeit und sehn sie auch wieder nicht. Und sie reden beim Pflücken … Da war ’ne Dame bei uns daheim, ich will keinen 714
Namen nennen – und die hat ganz plötzlich ’n Negerkind gekriegt. Keiner hat vorher was gewußt. Ist auch nie ’n Neger dagewesen. Die Frau hat niemand mehr in die Augen sehn können. Aber was ich sagen wollte … Die war ’ne gute Pflückerin. Jetzt ist der Sack schwer, zieh ihn hinter dir her. Zieh ihn mit den Hüften, wie ’n Ackergaul. Und die Kinder pflücken in Vaters Sack. Gute Baumwolle hier. Bißchen dünn, wo das Land sich senkt, dünn und faserig. Habe noch nie solche Baumwolle gesehn wie hier in Kalifornien. Die beste Baumwolle, wo ich kenne. Das Land ist bald hin. Ich sage, wenn einer Baumwolland kaufen will: »Kaufs nicht«, sage ich, »pacht es nur. Wenn das Land hin ist, kannst du immer weiter.« Ganze Reihen von Leuten, langsam ziehen sie über das Feld. Fingerweise. Suchende Finger greifen zu und reißen die Bällchen aus. Brauchen gar nicht hinzusehn. Ich könnte auch Baumwolle pflücken, wenn ich blind wäre. Man kriegt’s ins Gefühl. Sauber pflücken, sauber. Jetzt ist der Sack voll. Trag ihn zur Waage. Streit. Der Mann an der Waage sagt, du hast Steine drin, damit’s schwerer wird. Und er? Seine Waage ist festgestellt. Manchmal hat er recht, und du hast Steine im Sack. Manchmal hast du recht, und seine Waage geht nach. Manchmal habt ihr beide recht, Steine im Sack, und die Waage geht nach. Immer Streit, immer Geschrei. Bleib nur fest. Er bleibt’s auch. Was sind schon ’n paar Steine? Einer vielleicht, ’n Viertelpfund? Immer Streit. Zurück mit dem leeren Sack. Muß selber Buch führen. Schreib das Gewicht ein. Mußt du. Wenn sie wissen, 715
du führst Buch, betrügen sie nicht. Aber gnade Gott, wenn du dich nicht an dein Gewicht hältst. Das ist gute Arbeit. Kinder laufen umher. Hast du schon mal von der Baumwollpflückmaschine gehört? Ja, habe davon gehört. Glaubst du, die wird’s mal geben? Na, wenn’s sie gibt, dann ist’s mit dem Handpflücken aus, hat mir einer gesagt. Der Abend kommt. Alle sind müde. Aber das Pflükken ist gut. Haben drei Dollars verdient, ich und die Alte und die Kinder. Wagen kommen zu den Baumwollfeldern. Die Baumwollcamps wachsen auf. Die überdeckten hohen Lastwagen und Anhänger sind gehäuft voll von weißem Flaum. Baumwolle hängt an den Zaundrähten, Baumwolle rollt in kleinen Bällchen über die Straße, wenn der Wind weht. Und saubere weiße Baumwolle geht in die Spinnerei. Und die großen dicken Ballen gehen in die Kompresse. Und die Baumwolle hängt dir in den Kleidern und im Bart. Putz dir die Nase, und es ist Baumwolle drin. Mach weiter jetzt, damit der Sack voll wird, eh’s Abend ist. Kluge Finger suchen die Bällchen. Die Hüften ziehen den Sack nach. Die Kinder sind müde jetzt am Abend. Stolpern über ihre eignen Füße. Und die Sonne geht unter. Wenn’s doch nur ’ne Weile dauerte. Gibt ja weiß Gott nicht viel Geld, aber wenn’s doch nur dauerte. Auf der Straße drängen sich die Wagen, von den Handzetteln herbeigelockt. 716
Hast du ’n Baumwollsack? Nee. Kostet ’n Dollar. Wenn wir nur fünfzig wären, könnten wir ’ne Weile bleiben, aber wir sind fünfhundert. Wird nicht lange dauern. Ich habe einen gekannt, der hat seinen Sack nie abbezahlt. Auf jeder Stelle hat er ’n neuen gekriegt, und immer war’s fertig, eh’ er sein Gewicht hatte. Spar dir um Gottes willen ’n bißchen Geld. Der Winter kommt schnell. In Kalifornien gibt’s im Winter überhaupt keine Arbeit. Mach schnell, eh’s dunkel wird. Da drüben, der hat zwei Steine mit reingepackt. Mensch, verdammt! Wo doch die Waage nachgeht. Hier ist mein Buch. Dreihundertzwölf Pfund. Richtig! Mensch, der streitet nie! Seine Waage muß falsch gehn. War jedenfalls ’n guter Tag. Tausend Leute sollen hier unterwegs sein. Morgen werden wir uns schon um ’ne Reihe hauen. Werden uns die Baumwolle aus den Fingern reißen. Baumwollpflücker gesucht. Je mehr Leute pflücken, je eher kriegen wir’s rein. Jetzt ins Baumwollcamp. Gott, und heute abend Fleisch! Wir haben Geld für Fleisch! Nimm den Kleinen bei der Hand, er ist müde. Lauf und hol uns vier Pfund Fleisch. Die Alte macht uns Pfannkuchen heute abend, wenn sie nicht zu müde ist.
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28 Die zwölf Güterwagen standen einer hinter dem anderen auf einem flachen Platz neben dem Bach. Sie standen in zwei Reihen zu je sechs. Die Räder waren abmontiert. Zu den großen Schiebetüren führten Bretterstege hinauf. Es waren gute Häuser, wasserdicht und ohne Ritzen, Platz für vierundzwanzig Familien, in beiden Enden eines jeden Wagens je eine Familie. Keine Fenster, aber die breiten Türen standen offen. In manchen Wagen hing in der Mitte eine Zeltplane herab, während in anderen einzig die Türen die Grenze bildeten. Die Joads bewohnten ein Ende in einem Schlußwagen. Die vorherigen Bewohner hatten einen Benzinkanister aufgestellt, ihn mit einem Ofenrohr versehen und für das Ofenrohr ein Loch in die Wand geschnitten. Selbst wenn die breite Tür offenstand, war es in den Wagenenden dunkel. Mutter hängte die Zeltplane in der Mitte des Wagens auf. »Es ist hübsch«, sagte sie. »Beinahe hübscher wie alles andre, was wir gehabt haben – außer Weedpatch natürlich.« Jede Nacht breitete sie die Matratzen auf dem Boden aus, und jeden Morgen rollte sie sie wieder zusammen. Und jeden Tag gingen sie hinaus ins Feld und pflückten Baumwolle, und jeden Abend aßen sie Fleisch. An einem Samstag fuhren sie nach Tulare und kauften einen Blechherd und neue Overalls für Al und Vater und Winfield und Onkel John und kauften ein Kleid für Mutter, und Rose von Sharon bekam Mutters gutes Kleid. 718
»Sie ist so dick«, sagte Mutter. »Wäre nur Geldverschwendung, ihr jetzt ’n neues Kleid zu kaufen.« Die Joads hatten Glück gehabt. Sie waren zeitig genug gekommen, um in den Güterwagen Platz zu finden. Jetzt schossen die Zelte der später Kommenden auf dem kleinen Grundstück auf, und die Bewohner der Güterwagen waren Alteingesessene, waren in ihrer Weise Aristokraten. Der kleine Bach floß vorbei, aus den Weiden heraus und wieder in die Weiden hinein. Von jedem Wagen führte ein getretener Weg hinunter zum Bach. Zwischen den Wagen hingen Wäscheleinen, und jeden Tag waren die Leinen voll von trocknender Wäsche. Am Abend kamen sie vom Feld zurück und trugen die zusammengefalteten Baumwollsäcke unter den Armen. Sie gingen in den Laden, der an der Straßenkreuzung stand, und es waren stets viele Baumwollpflücker im Laden, die sich Vorräte kauften. »Wieviel habt ihr heute gemacht?« »Dreieinhalb. Ist gut gegangen heute. Wenn’s nur so weiterginge. Die Kinder werden richtig gute Pflücker. Mutter hat ihnen jedem ’n kleinen Sack gemacht. Den großen konnten sie nicht schleppen. Haben immer mit in unsre gepflückt. Mutter hat ihnen aus zwei alten Hemden Säcke genäht. Das geht sehr gut.« Und Mutter trat an den Fleischstand, den Zeigefinger in tiefem Nachdenken gegen die Lippen gepreßt. »Vielleicht nehme ich Schweinekoteletts«, sagte sie. »Was kosten die?« »Dreißig Cents das Pfund, Ma’am.« 719
»Gut, geben Sie mir drei Pfund. Und ’n hübsches Stück Kochfleisch. Das kann meine Tochter morgen machen. Und ’ne Flasche Milch für meine Tochter. Die ist ganz verrückt nach Milch. Kriegt nämlich was Kleines. Und die Krankenschwester hat ihr gesagt, sie soll viel Milch trinken. Also – nun wollen wir mal sehn. Kartoffeln haben wir.« Vater trat zu ihr mit einer Büchse Sirup in der Hand. »Das könnten wir noch mitnehmen«, sagte er. »Dann kannst du schöne Pfannkuchen machen.« Mutter runzelte die Stirn. »Na – gut. Schön, das nehmen wir mit. Also – Schmalz haben wir genug.« Ruthie kam mit zwei großen Schachteln Cracker-Jack an. In ihren Augen stand eine sehnsüchtige Frage, aus der durch ein Nicken oder ein Schütteln von Mutters Kopf Tragödie oder freudige Erregung werden konnte. »Mutter?« Sie hielt die Schachteln hoch und schüttelte sie, damit sie auch für Mutter noch an Anziehungskraft gewannen. »Das stell mal jetzt gleich wieder hin …« In Ruthies Augen begann die Tragödie. Vater sagte: »Sie kosten ja nur ’n Nickel das Stück. Und die kleinen Kerle haben heute gut gearbeitet.« »Na …« In Ruthies Augen begann die Aufregung zu leuchten. »Also gut.« Ruthie drehte sich um und rannte davon. Auf halbem Wege nahm sie Winfield mit und lief mit ihm aus der Tür in den Abend hinaus. Onkel John hatte es auf ein Paar Segeltuchhandschuhe mit gelbledernen Handflächen 720
abgesehen. Er probierte sie an, zog sie wieder aus und legte sie hin. Er trat langsam an die Regale mit den Flaschen und studierte nachdenklich die Etiketten. Mutter sah ihn. »Vater«, sagte sie und machte mit dem Kopf eine Bewegung zu Onkel John hin. Vater ging zu ihm hinüber. »Hast wohl Durst, John?« »Nee.« »Warte nur, bis die Baumwolle fertig ist«, sagte Vater. »Dann kannst du dich besaufen, wie du willst.« »Will aber gar nicht«, sagte Onkel John. »Ich arbeite schwer und schlafe gut. Keine Träume und nichts.« »Du hast nur die Flaschen so komisch angesehn.« »Ich habe gar nicht richtig hingeguckt. Komische Sache. Ich möchte was kaufen. So Sachen, die wo ich gar nicht brauche. Zum Beispiel den Rasierapparat da. Und vielleicht die Handschuhe dort drüben, habe ich gedacht. Sind schrecklich billig.« »Mit Handschuhen kannst du aber keine Baumwolle pflücken«, sagte Vater. »Das weiß ich. Und ’n Rasierapparat brauche ich auch nicht. Aber das Zeug liegt hier so, und man möchte es kaufen, ob man’s nun braucht oder nicht.« Mutter rief: »Kommt. Wir haben alles.« Sie hatte eine Tüte im Arm. Onkel John und Vater trugen jeder ein Paket. Draußen warteten Ruthie und Winfield mit leuchtenden Augen und vollen Backen. »Nachher habt ihr keinen Hunger«, sagte Mutter. Die Leute strömten zu den Wagen. In den Zelten war Licht. Rauch drang aus den Ofenrohren. Die Joads kletterten den Katzensteg hinauf zu ihrem Wagen721
ende. Rose von Sharon saß auf einer Kiste neben dem Herd. Sie hatte Feuer gemacht, und der Blechherd glühte vor Hitze. »Hast du mir Milch mitgebracht?« fragte sie. »Ja. Hier.« »Gib sie mir. Ich habe seit Mittag keine getrunken.« »Sie trinkt das wie Medizin.« »Die Krankenschwester hat’s gesagt.« »Hast du die Kartoffeln fertig?« »Ja, hier – schon gepellt.« »Wir braten sie«, sagte Mutter. »Ich habe Schweinekoteletts mitgebracht. Schneid die Kartoffeln in die neue Bratpfanne. Und tu ’ne Zwiebel rein. Ihr Männer geht euch waschen und bringt mir ’n Eimer Wasser mit. Wo sind denn Ruthie und Winfield? Die müssen sich auch waschen. Sie haben Cracker-Jack gekriegt«, erzählte sie Rose von Sharon. »Jeder ’ne ganze Schachtel.« Die Männer gingen hinaus, um sich am Bach zu waschen. Rose von Sharon schnitt die Kartoffeln in die Bratpfanne und rührte sie mit der Messerspitze um. Plötzlich wurde die Zeltplane beiseite geschoben. Ein breites schwitzendes Gesicht blickte herein. »Wieviel haben Sie denn heute gemacht, Missis Joad?« Mutter fuhr herum. »Ach, ’n Abend, Missis Wainwright. War ’n guter Tag. Dreieinhalb haben wir gemacht. Drei siebenundfünfzig genau.« »Und wir vier Dollars.« »Na ja«, sagte Mutter, »ihr seid auch mehr.« »Ja, und Jonas wird groß. Sie machen Schweinekoteletts, wie ich sehe.« 722
Winfield kam zur Tür hereingekrochen. »Mutter!« »Schscht! Sei still. Ja, meine Männer essen Schweinekoteletts so gerne.« »Ich koche Speck«, sagte Mrs. Wainwright. »Können Sie’s nicht riechen?« »Nein – bei den Zwiebeln hier in den Bratkartoffeln kann ich nichts riechen.« »Es brennt mir an!« rief Mrs. Wainwright und zog schnell ihren Kopf zurück. »Mutter«, sagte Winfield. »Was denn? Ist dir schlecht von deinem CrackerJack?« »Mutter – Ruthie hat’s erzählt.« »Was hat sie erzählt?« »Das mit Tom.« Mutter starrte ihn an. »Sie hat’s erzählt?« Dann kniete sie sich vor ihm hin. »Winfield, wem hat sie’s erzählt?« Winfield wurde verlegen. Er trat zurück. »Ach, sie hat ja nur ein kleines bißchen erzählt.« »Winfield! Jetzt sag mir, wie alles gewesen ist.« »Ruthie … Ruthie hat ihren Cracker-Jack nicht aufgegessen. Sie hat sich welchen aufgehoben und immer nur ein Stück auf einmal gegessen, ganz langsam, wie immer, und dann sagt sie: ›Jetzt möchtest du wohl, du hättest auch noch welchen.‹« »Winfield!« bat Mutter. »Jetzt erzähl aber mal.« Sie blickte sich nervös zum Vorhang um. »Rosasharn, geh rüber und sprich mit Missis Wainwright, damit sie nicht zuhört.« »Und die Kartoffeln?« 723
»Ich passe schon auf. Jetzt geh. Ich will nicht, daß sie hinter dem Vorhang zuhört.« Das Mädchen schlurfte schwer durch den Wagen und verschwand hinter der aufgehängten Plane. Mutter sagte: »Also, Winfield, jetzt erzähl.« »Ich habe ja schon erzählt. Ruthie hat immer nur ’n kleines Stück gegessen, und dann hat sie eins auseinandergebrochen, damit’s länger hält.« »Und weiter? Schnell!« »Ja, und dann sind andre Kinder gekommen und wollten was abhaben, aber Ruthie hat gegessen und gegessen und ihnen nichts gegeben. Und da sind sie wütend geworden, und dann hat ein Kind ihr die Schachtel weggenommen.« »Ja, Winfield. Und das andre? Schnell!« »Und dann ist Ruthie wütend geworden und hinter den Kindern hergerannt und hat gehauen, und dann ist ein großes Mädchen gekommen und hat ihr eins gegeben. Aber richtig. Und Ruthie hat zu heulen angefangen und hat gesagt, sie holt ihren großen Bruder, und der erschlägt das Mädchen. Und das Mädchen hat gesagt: ›So?‹ Und sie hat auch ’n großen Bruder.« Winfield erzählte atemlos. »Und dann haben sie sich gehauen, und das große Mädchen immer feste auf Ruthie, und Ruthie hat gesagt, ihr großer Bruder wird dem Mädchen seinen großen Bruder erschlagen. Und das Mädchen hat gesagt, wenn nun ihr großer Bruder unsern Bruder erschlägt. Und dann … und dann hat Ruthie gesagt, daß unser Bruder schon zweimal welche erschlagen hat. Und … und das Mädchen hat gesagt: ›Ach, wirklich? Du lügst 724
ja!‹ Und Ruthie hat gesagt: ›So, denkste!‹ Und sie hat gesagt, unser Bruder muß sich verstecken, weil er einen erschlagen hat, und er kann dem Mädchen seinen Bruder auch erschlagen. Und dann haben sie sich geschimpft, und Ruthie hat ’n Stein geworfen, und das große Mädchen ist hinter ihr hergerannt, und ich bin nach Hause gekommen.« »Ach Gott!« sagte Mutter leise. »Ach Gott! Ach, du lieber Herr Jesus in der Krippe! Was machen wir nun?« Sie stützte den Kopf in die Hand und rieb sich die Augen. »Was machen wir nun?« Vom Herd her kam der Geruch von angebrannten Kartoffeln. Automatisch stand Mutter auf und rührte sie um. »Rosasharn!« rief Mutter. Das Mädchen schob den Vorhang zur Seite und trat wieder ein. »Komm, paß auf das Essen auf. Winfield, lauf und hol mir Ruthie.« »Kriegt Ruthie Haue?« fragte er hoffnungsvoll. »Nein. Da kann man doch nichts mehr machen. Gott, warum hat sie’s denn sagen müssen? Nein. Es hat keinen Zweck, daß ich sie haue. Jetzt lauf und hol sie mir.« Winfield rannte zur Wagentür und begegnete den drei Männern, die den Katzensteg heraufkamen, und er trat zur Seite, um sie vorbeizulassen. Mutter sagte leise: »Vater, ich muß mit dir sprechen. Ruthie hat ein paar andern Kindern erzählt, daß Tom sich versteckt.« »Was?« »Ja, sie hat’s erzählt. Sie haben sich geprügelt, und da hat sie’s erzählt.« »Diese elende kleine Kröte!« »Nein, sie kann ja nichts dafür. Hör zu, Vater. Du 725
bleibst jetzt hier. Ich gehe und suche Tom und sag’ es ihm. Er muß ja wissen, daß er vorsichtig sein soll. Bleib hier, Vater, und paß ein bißchen auf. Ich nehme ihm was zu essen mit.« »Gut«, stimmte Vater zu. »Und sag zu Ruthie nichts. Ich spreche schon mit ihr.« In diesem Augenblick kam Ruthie, gefolgt von Winfield, herein. Das kleine Mädchen war schmutzig. Ihr Mund war verschmiert, und ihre Nase blutete noch ein wenig von der Prügelei her. Sie sah beschämt und verängstigt aus. Winfield folgte ihr triumphierend. Ruthie blickte sich herausfordernd um, dann stellte sie sich mit dem Rücken in eine Ecke. »Ich habe ihr gesagt, was du gemacht hast«, sagte Winfield. Mutter legte zwei Koteletts und ein paar Bratkartoffeln auf einen Teller. »Still, Winfield«, sagte sie. »Du brauchst ihr nicht noch mehr weh zu tun.« Ruthie kam durch den Wagen gerannt, sie umspannte Mutters Hüften und vergrub ihren Kopf in Mutters Schoß. Ein unterdrücktes Schluchzen schüttelte den ganzen kleinen Körper. Mutter versuchte sich zu befreien, aber die kleinen Hände hatten sich sehr festgeklammert. Mutter strich ihr sanft über das Haar und klopfte ihr auf die Schultern. »Still«, sagte sie. »Du hast’s ja nicht gewußt.« Ruthie hob ihr schmutziges, tränenverschmiertes, blutiges Gesicht. »Sie haben mir meinen Cracker-Jack weggenommen!« weinte sie. »Und das große Schweinemädchen hat mich gehauen …« Sie schluchzte weiter. 726
»Still!« sagte Mutter. »Und sprich nicht so. Jaja – ist ja schon gut. Komm, ich muß jetzt gehn.« »Warum haust du sie denn nicht, Mutter? Wenn sie nicht so knauserig gewesen wäre mit ihrem CrackerJack, wär’ es gar nicht so gekommen. Gib’s ihr doch! Aber richtig!« »Paß du nur auf, Mister«, sagte Mutter ärgerlich. »Sonst kriegst du selber noch was. Nun ist’s gut, Ruthie.« Winfield zog sich auf eine der zusammengerollten Matratzen zurück und betrachtete die anderen zynisch und enttäuscht. Und er begab sich in Verteidigungsstellung, denn Ruthie würde bei der ersten Gelegenheit auf ihn losgehen, und das wußte er. Ruthie ging still und bekümmert zur anderen Seite des Wagens. Mutter deckte ein Zeitungspapier über den Blechteller. »Ich gehe jetzt«, sagte sie. »Willst du nicht essen?« fragte Onkel John. »Später, wenn ich zurückkomme. Ich könnte jetzt gar nicht.« Mutter ging zur offenen Tür und kletterte vorsichtig den steilen, mit Querleisten beschlagenen Katzensteg hinunter. An der Bachseite neben den Güterwagen standen die Zelte dicht beieinander, so daß die Stricke sich kreuzten und die Pflöcke des einen sich vor dem Eingang des anderen befanden. Der Schein der Lampen drang durch die Zeltwände, und die kleinen Schornsteine spien Rauch aus. Männer und Frauen standen schwatzend herum. Kinder rannten fieberhaft zwischen Zelten und 727
Wagen einher. Mutter schritt majestätisch an der Zeltreihe entlang. Hier und da erkannte man sie. »’n Abend, Missis Joad.« »’n Abend.« »Sie bringen wohl jemand was, Missis Joad?« »Ja, ’n Freund. Ich bringe ihm was zu essen.« Schließlich kam sie zum Ende der Zeltreihe. Sie blieb stehen und blickte zurück. Ein Lichtschein lag über dem Camp und das leise Summen vieler Stimmen. Dann und wann drang eine lautere Stimme hindurch. Der Geruch von Rauch erfüllte die Luft. Jemand spielte leise Harmonika, ein und dieselbe Melodie immer wieder. Mutter trat in das Weidendickicht am Bach. Sie bog vom Wege ab und wartete und lauschte, ob jemand ihr folgte. Ein Mann ging den Weg hinunter dem Camp zu, er zog sich die Hosenträger hoch und knöpfte im Gehen seine Hose zu. Mutter saß ganz still, und er ging vorbei, ohne sie zu sehen. Sie wartete noch fünf Minuten, dann stand sie auf und schlich weiter über den Weg am Bach entlang. Sie ging leise, so leise, daß sie durch das Rascheln ihrer Füße in den Weidenblättern doch den Bach plätschern hörte. Weg und Bach bogen nach links ab, dann wieder nach rechts, bis sie sich der großen Straße näherten. In der grauen Dunkelheit konnte sie die Böschung und das schwarze runde Loch der Unterführung sehen, wo sie immer das Essen für Tom hinterließ. Sie ging vorsichtig weiter, legte ihr Paket in das Loch und nahm den leeren Blechteller mit, der dort stand. Sie schlich sich an den Weiden entlang zurück, drang an einer Stelle in das Dickicht ein, setzte sich hin und 728
wartete. Durch das Gewirr von Zweigen konnte sie das schwarze Loch der Unterführung sehen. Sie umklammerte ihre Knie und saß ganz still da. Einen Augenblick später begann im Dickicht das Leben wieder. Die Feldmäuse huschten über das Laub. Ein Skunk trottete schwer und unvorsichtig über den Weg und schleppte einen schwachen Geruch hinter sich her. Dann kam ein Wind und bewegte die Weiden leise, als prüfe er sie, und ein Schauer goldener Blätter fiel zu Boden. Plötzlich fuhr ein Windstoß durch die Büsche und Bäume, rüttelte an ihnen, und ein Blätterregen ergoß sich auf die Erde. Mutter fühlte die Blätter auf dem Haar und auf den Schultern. Über den Himmel zog eine dicke Wolke und löschte die Sterne aus. Große Regentropfen prasselten hernieder, zerplatzten laut auf den gefallenen Blättern, und die Wolke zog weiter und gab die Sterne wieder frei. Mutter schauerte. Der Wind ließ nach, im Gebüsch wurde es wieder ruhig, aber weiter unten am Bach rauschten die Bäume. Vom Camp her kam der durchdringende Ton einer Geige, die nach einer Melodie suchte. Mutter hörte einen leisen Schritt zu ihrer Linken weit hinten im Laub, und alles in ihr spannte sich. Sie ließ ihre Knie los und reckte den Kopf, um besser hören zu können. Die Schritte waren verstummt, und nach einem langen Augenblick kamen sie wieder. Eine Ranke schlug hart auf die trockenen Blätter. Mutter sah eine dunkle Gestalt ins Freie kommen und auf die Unterführung zuschleichen. Das schwarze runde Loch war für einen Augenblick verdeckt, dann trat die Gestalt zurück. 729
Mutter rief leise: »Tom!« Die Gestalt stand still, so still und so tief zu Boden gehockt, daß sie ein Baumstumpf hätte sein können. Mutter rief noch einmal: »Tom! Tom!« Und da bewegte sich die Gestalt. »Bist du das, Mutter?« »Ja – hier!« Sie stand auf und ging ihm entgegen. »Du hättest nicht kommen dürfen«, sagte er. »Ich mußte dich sehn, Tom. Ich muß unbedingt mit dir sprechen.« »Hier sind wir zu nahe am Weg«, sagte er. »Hast du denn kein Versteck, Tom?« »Ja … aber wenn … ja, wenn dich nun jemand mit mir sieht. Dann sitzt die ganze Familie drin.« »Ich muß mit dir reden, Tom.« »Also, dann komm. Aber leise.« Er überquerte den kleinen Bach, watete sorglos durch das Wasser, und Mutter folgte ihm. Er ging durch das Gebüsch, kam auf der anderen Seite an einem Feld heraus und ging am Rande des Feldes entlang. Die schwarzen Stiele der Baumwollpflanzen hoben sich gegen den Boden scharf hervor, und hier und da hing noch ein bißchen Flaum an den Stielen. Sie gingen etwa eine Viertelmeile an dem Feld entlang, dann bog er wieder ins Gebüsch ab. Er kam an einen großen Wall von Brombeersträuchern, beugte sich nach vorn und zog einen Vorhang von Ranken auseinander. »Du mußt kriechen«, sagte er. Mutter ließ sich auf Hände und Knie nieder. Sie fühlte den Sand unter sich, und dann berührte das Brombeerdickicht sie nicht mehr, und sie spürte Toms Decke auf der Erde. Er zog den Rankenvorhang wieder 730
zu. Es war vollständig dunkel in der Höhle. »Wo bist du, Mutter?« »Hier. Hier drüben. Sprich leise, Tom.« »Ich weiß. Schließlich habe ich ja jetzt ’ne ganze Zeit wie ’n Kaninchen gelebt.« Sie hörte, wie er seinen Teller auspackte. »Schweinekoteletts«, sagte sie. »Und Bratkartoffeln.« Mutter konnte in der Dunkelheit nichts von ihm sehen, doch sie hörte ihn kauen und schlucken. »Das ist ’n gutes Versteck«, sagte er. »Tom – Ruthie hat das mit dir erzählt.« »Ruthie? Warum denn?« »Ach, sie kann nichts dafür. Es hat ’ne Prügelei gegeben, und da hat sie gesagt, ihr Bruder wird den Bruder von dem anderen Mädchen verhauen. Du weißt ja, wie sie’s machen. Und dann hat sie gesagt, ihr Bruder hat einen erschlagen und versteckt sich.« Tom lachte. »An deiner Stelle hätte ich Onkel John auf sie aufpassen lassen, aber er hätt’ es wahrscheinlich nicht gemacht. Das ist doch nur Kindergerede, Mutter. Das ist nicht schlimm.« »Doch, Tom«, sagte Mutter. »Die Kinder erzählen’s herum, und dann hören’s die Erwachsenen, und die erzählen’s auch herum, und dann gehn die Männer los und suchen dich, nur weil sie sehn wollen, ob’s stimmt. Tom, du mußt fort.« »Das habe ich ja schon lange gesagt. Ich habe immer Angst gehabt, daß jemand sieht, wie du das Essen hinstellst, und dann hätten sie aufgepaßt.« »Ich weiß. Aber ich wollte dich in der Nähe haben. 731
Ich habe Angst gehabt um dich. Ich habe dich nicht gesehn. Kann dich auch jetzt nicht sehn. Was macht dein Gesicht?« »Wird schon besser.« »Komm näher, Tom. Laß mich’s fühlen. Komm näher.« Er kroch zu ihr heran. Ihre Hand fand in der Dunkelheit seinen Kopf, und ihre Finger tasteten sich hinunter zur Nase und zur linken Wange. »Du hast ’ne böse Schramme, Tom. Und deine Nase ist ganz schief.« »Das ist vielleicht gar nicht schlecht. Dann kennt mich vielleicht niemand mehr. Wenn sie meine Fingerabdrücke nicht hätten, wäre ich froh.« Er kroch wieder zu seinem Essen zurück. »Still!« sagte sie. »Hör doch!« »Das ist der Wind, Mutter. Nur der Wind.« Unten am Bach rauschten die Bäume. Sie tastete sich zu ihm heran, zu seiner Stimme. »Ich will dich noch mal anfassen, Tom. Es ist, wie wenn ich blind wäre. So dunkel. Ich möchte mich erinnern, und wenn’s auch nur meine Finger sind, die sich erinnern. Du mußt fort, Tom.« »Ja! Ich hab’ es von Anfang an gewußt.« »Uns geht’s sehr gut, Tom«, sagte sie. »Ich habe ’n bißchen Geld weggesteckt. Ich habe sieben Dollars für dich.« »Ich nehme doch dein Geld nicht«, sagte er. »Ich schlage mich schon durch.« »Gib mir deine Hand, Tom. Ich kann nicht ruhig schlafen, wenn du kein Geld hast. Vielleicht mußt du mal mit ’nem Autobus fahren oder so. Ich will, daß du weit fortgehst, drei- bis vierhundert Meilen.« 732
»Ich nehm’ es nicht.« »Tom«, sagte sie streng, »du nimmst das Geld! Hörst du? Du darfst mir’s nicht noch schwerer machen.« »Das ist nicht anständig vor den andern«, sagte er. »Ich dachte, du kannst vielleicht in ’ne große Stadt gehn. Los Angeles oder so. Da suchen sie dich bestimmt nicht.« »Hm-m«, sagte er. »Hör zu, Mutter. Ich bin Tag und Nacht hier alleine gewesen. Rate mal, an was ich gedacht habe? An Casy! Der hat furchtbar viel geredet. Hat mich verrückt gemacht. Aber jetzt habe ich mir überlegt, was er gesagt hat, und ich weiß noch alles. Er hat gesagt, mal ist er in die Wildnis gegangen, um seine Seele zu finden, und er hat nur gefunden, daß er für sich alleine gar keine Seele hat. Er hat gesagt, er hat gefunden, daß er einfach ein kleines Stück von ’ner großen Seele hat. Die Wildnis ist nicht gut gewesen, hat er gesagt, weil sein kleines Stückchen Seele nichts war ohne das andre große Stück. Komisch, wie ich das noch weiß. Ich habe gedacht, ich habe nie richtig zugehört. Aber jetzt weiß ich, daß einer alleine nichts ist.« »Er war ein guter Mann«, sagte Mutter. Tom fuhr fort: »Er hat mal was aus der Schrift gesagt. Das hat nicht geklungen wie die Schrift. Zweimal hat er’s gesagt, und ich weiß es noch.« »Wie geht’s denn, Tom?« »Es geht: ›Zwei sind besser als einer, denn sie finden guten Lohn für ihre Mühen. Wenn sie fallen, so hebt der eine den anderen auf, aber wehe dem, der alleine ist, 733
wenn er fällt, denn er hat keinen, der ihn aufhebt.‹ Das ist ’n Teil davon.« »Und weiter?« fragte Mutter. »Sag’s doch weiter, Tom.« »Nur noch ’n Stückchen. ›Und wenn zwei beieinanderliegen, so haben sie es warm. Aber wie kann einer alleine es warm haben? Und wenn einer ihn beherrschet, so sollen zwei sich widersetzen, ein dreifaches Seil ist nicht schnell zu zerbrechen.‹« »Und das ist aus der Schrift?« »Ja, Casy hat’s gesagt. Aus dem ›Prediger‹, hat er gesagt.« »Schscht – hör doch!« »Nur der Wind, Mutter. Ich kenne den Wind. Und ich habe mir viel überlegt, Mutter – das meiste, was die Leute predigen, ist über die Armen, die wir immer zu uns nehmen sollen, und wenn wir nichts haben, dann falten wir einfach die Hände, und Eiscreme und goldene Teller kriegen wir schon, wenn wir tot sind. Und in der Schrift steht aber, zwei kriegen besseren Lohn für ihre Mühen.« »Tom«, sagte sie. »Was willst du eigentlich sagen?« Eine lange Weile war es still. »Ich habe mir überlegt, wie’s in dem staatlichen Camp war, wie alle Leute für sich selber gesorgt haben, und wenn’s Streit gegeben hat, wie sie den selber geschlichtet haben. Und keine Bullen haben mit ihren Pistolen gewinkt, aber es war bessere Ordnung, wie die Bullen jemals schaffen können. Ich habe mir überlegt, warum wir das nicht überall machen können. Die Bullen rausschmeißen, die nicht zu uns 734
gehören. Alle nur für unsre eigne Sache arbeiten – alle unser eignes Land bebauen.« »Tom«, sagte Mutter, »was willst du denn machen?« »Was Casy gemacht hat.« »Aber sie haben ihn doch erschlagen.« »Ja«, sagte Tom. »Er hat sich nicht schnell genug geduckt. Er hat nichts gegen das Gesetz gemacht, Mutter. Ich habe verdammt viel nachgedacht, über unsre Leute, wo wie die Schweine leben, und das gute Land, wo brachliegt. Und über die Großen mit ’ner Million Hektar und die tausend kleinen Farmer, die verhungern. Und ich habe mir gedacht, wenn alle unsre Leute sich zusammentun und schreien, wie sie draußen vor der Hooper-Ranch geschrien haben …« Mutter sagte: »Tom, dann jagen sie dich und machen dich kaputt, wie den kleinen Floyd.« »Sie jagen mich sowieso. Sie jagen uns alle.« »Aber du willst doch keinen umbringen, Tom?« »Nein. Ich habe gedacht, wo ich doch sowieso ’n Verbrecher bin, könnte ich vielleicht … Ach, ich hab’ es noch nicht zu Ende gedacht, Mutter. Laß mich nur machen.« Sie saßen still in ihrer schwarzen Höhle. Mutter sagte: »Aber wie soll ich denn wissen, wo du bist? Vielleicht machen sie dich tot, und ich weiß es nicht. Vielleicht schlagen sie dich. Wie soll ich das denn dann wissen?« Tom lachte verlegen: »Ich denke mir, wie Casy sagt, keiner hat ’ne eigne Seele und ist nur ’n Stück von der großen – und dann.« »Und dann was, Tom?« »Dann ist’s egal. Dann bin ich überall – überall, wo 735
du hinsiehst. Wo’s ’ne Prügelei gibt, damit die Hungrigen was zu essen kriegen, bin ich dabei. Wenn einer von ’nem Bullen geschlagen wird, bin ich dabei. Wenn Casy das wüßte. Ich bin dabei, wenn welche schreien, weil sie wild und wütend werden – und ich bin dabei, wenn Kinder lachen, wenn sie Hunger haben und wissen, es gibt gleich was zu essen. Und wenn unsre Leute das essen, was sie selber gebaut haben, und in Häusern leben, die sie selber gebaut haben – dann bin ich dabei. Verstehst du? Gott, ich rede schon wie Casy. Das kommt, weil ich so viel an ihn gedacht habe. Manchmal ist es, wie wenn ich ihn sehe.« »Ich versteh’ es nicht«, sagte Mutter. »Und ich weiß nicht, was du willst.« »Ich auch nicht«, sagte Tom. »Ich habe mir das einfach so ausgedacht. Man überlegt sich viel, wenn man so still liegt. Du mußt jetzt zurück, Mutter.« »Also, nun nimm das Geld.« Er schwieg einen Augenblick. »Gut«, sagte er dann. »Und, Tom, später – wenn alles vorbei ist, dann kommst du zurück. Du wirst uns schon finden.« »Natürlich«, sagte er. »Aber jetzt geh lieber. Hier, gib mir deine Hand.« Er führte sie zum Ausgang. Ihre Finger umklammerten sein Handgelenk. Er schob die Ranken beiseite und folgte ihr hinaus. »Du gehst am Feld entlang, bis du zu ’nem Maulbeerbaum kommst, und dann über den Bach. Wiedersehn.« »Wiedersehn«, sagte sie und ging schnell davon. Ihre Augen waren feucht und brannten, aber sie weinte nicht. Ihre Schritte waren laut und unbedacht, als sie 736
durch das raschelnde Laub im Gebüsch ging. Vom trüben Himmel herab fiel Regen, ein paar große Tropfen, die auf die trockenen Blätter klatschten. Mutter verhielt ihren Schritt und blieb im Regen stehen. Sie drehte sich um – ging drei Schritte auf die Rankenhecke zu, und dann kehrte sie schnell um und setzte ihren Weg fort. Sie ging geradewegs zu der Unterführung und kletterte hinauf auf die Straße. Der Regen war vorbei, aber der Himmel war verhüllt. Hinter sich auf der Straße hörte sie Schritte und drehte sich beunruhigt um. Das Blinken einer trüben Taschenlampe spielte auf der Straße. Mutter ging entschlossen weiter. Einen Augenblick später holte ein Mann sie ein. Er hielt den Lichtstrahl höflich zu Boden gesenkt und leuchtete ihr nicht ins Gesicht. »’n Abend«, sagte er. »’n Abend«, antwortete Mutter. »Scheint, daß wir ’n bißchen Regen kriegen.« »Ich hoffe nicht. Dann hört das Pflücken auf. Und wir brauchen’s.« »Ich brauch’ es auch. Leben Sie in dem Camp da?« »Ja.« Ihre Schritte klangen laut auf der Straße. »Ich habe zwanzig Hektar Baumwolle. Kommt ’n bißchen spät, aber sie ist jetzt grade gut. Ich habe gedacht, ich will mal sehn, ob ich ’n paar Pflücker kriege.« »Kriegen Sie bestimmt. Hier ist’s beinahe vorbei.« »Ja, ich hoff es. Meine Farm ist nur ’ne Meile von hier.« »Wir sind sechs«, sagte Mutter. »Drei Männer und ich und zwei Kinder.« »Ich hänge ’n Schild raus. Zwei Meilen, auf dieser Straße.« 737
»Wir sind morgen früh da.« »Ich hoffe, es regnet nicht.« »Ich auch«, sagte Mutter. »Zwanzig Hektar – das dauert lange.« »Je schneller ’s geht, desto besser. Meine Baumwolle ist eh zu spät. Habe sie erst spät reingekriegt.« »Was zahlen Sie denn, Mister?« »Neunzig Cents.« »Ja, wir kommen. Die Leute sagen, nächstes Jahr gibt’s nur fünfundsiebzig oder sogar nur sechzig.« »Das habe ich auch gehört.« »Dann gibt’s aber Unfrieden«, sagte Mutter. »Sicher. Ich weiß. Aber ’n kleiner Farmer wie ich kann nichts machen. Der Verband setzt die Löhne fest, und wir müssen uns danach richten. Wenn wir’s nicht machen, behalten wir unsre Farm nicht lange, ’n kleiner Farmer wird von allen Seiten gedrängt.« Sie kamen zum Camp. »Wir sind morgen früh da«, sagte Mutter. »Hier gibt’s nicht mehr viel zu pflücken.« Sie kletterte den Katzensteg zu ihrem Wagen hinauf. Das düstere Lampenlicht warf im Wagen trübe Schatten. Vater und Onkel John und ein älterer Mann hockten gegen die Wagenwand gelehnt. »’n Abend«, sagte Mutter. »’n Abend, Mister Wainwright.« Er hob sein feingeschnittenes Gesicht. Seine Augen lagen tief unter hohen Brauen. Sein Haar war blauweiß und dünn. Eine Patina eines silbernen Bartes bedeckte Backen und Kinn. »’n Abend, Ma’am«, sagte er. 738
»Wir haben neue Arbeit für morgen«, bemerkte Mutter. »Eine Meile weiter nördlich. Zwanzig Hektar.« »Da nehmen wir lieber den Wagen, glaube ich«, sagte Vater. »Dann sind wir schneller da.« Wainwright hob interessiert den Kopf. »Glauben Sie, wir können mitkommen?« »Aber sicher. Ich bin ’n Stück mit dem Mann gegangen. Er wollte sich hier Pflücker holen.« »Hier ist die Baumwolle fast fertig. Schon sehr dünn, die zweiten. Ist kaum was zu verdienen, bei den zweiten. Schon beim erstenmal haben sie ziemlich sauber gepflückt.« »Ihr könnt vielleicht mit uns fahren«, sagte Mutter. »Dann teilen wir uns das Benzin.« »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Ma’am.« »Na, da sparen wir doch beide«, sagte Mutter. Vater sagte: »Mister Wainwright macht sich Sorgen, und deshalb ist er gekommen. Wir haben grade darüber gesprochen.« »Was ist’s denn?« Wainwright blickte zu Boden. »Unsre Aggie«, sagte er. »Sie ist ’n großes Mädchen, beinahe sechzehn – schon erwachsen.« »Aggie ist ’n hübsches Mädchen«, sagte Mutter. »Laß ihn doch ausreden«, sagte Vater. »Ja, und Aggie und euer Al, die gehn jeden Abend zusammen fort. Und Aggie ist ’n strammes, gesundes Mädchen und müßte eigentlich heiraten, sonst macht sie Geschichten. Wir haben nie Geschichten in unsrer Familie gehabt. Aber wo wir nun so arm sind, Missis 739
Wainwright und ich, da machen wir uns Sorgen. Denken Sie doch nur, wenn das Mädchen uns Schande macht.« Mutter rollte eine Matratze auseinander und setzte sich darauf. »Sind sie jetzt wieder fort?« fragte sie. »Ja, immer«, sagte Wainwright. »Jede Nacht.« »Hm. Unser Al ist ’n guter Junge. Manchmal denkt er jetzt, er ist der Hahn im Korbe, aber er ist ’n guter, anständiger Junge. Ich könnte mir keinen bessren wünschen.« »Wir wollen ja auch nichts gegen Al sagen. Nein, im Gegenteil! Wir haben ihn gerne. Aber worüber Missis Wainwright und ich uns Sorgen machen – na ja, sie ist doch ’n erwachsenes Mädchen. Und wenn wir nun weiterfahren oder ihr weiterfahrt und merken dann plötzlich, daß Aggie was hat? Wir haben noch nie Schande in unsrer Familie gehabt.« Mutter sagte leise: »Wir wollen auch sehn, daß wir Ihnen keine Schande bringen.« Er stand hastig auf. »Ich danke Ihnen, Ma’am. Aggie ist ’n erwachsenes Mädchen, schon ’ne Frau. Und sie ist ’n gutes Mädchen – genauso gut wie hübsch. Und wir danken Ihnen, Ma’am, daß Sie sagen, es bringt uns keine Schande. Ist ja nicht Aggies Schuld. Sie ist eben nun erwachsen.« »Vater wird mit Al sprechen«, sagte Mutter. »Oder wenn Vater ’s nicht will, mache ich’s.« Wainwright sagte: »Also, dann gute Nacht und vielen Dank.« Er verschwand hinter dem Vorhang. Sie konnten ihn im anderen Ende des Wagens leise sprechen hören. 740
Mutter lauschte einen Augenblick, dann sagte sie: »Setzt euch mal her zu mir, ihr Männer.« Vater und Onkel John standen umständlich auf und setzten sich neben Mutter auf die Matratze. »Wo sind denn die Kinder?« Vater deutete auf eine Matratze in der Ecke. »Ruthie ist auf Winfield losgegangen und hat ihn gebissen. Ich habe sie beide hingelegt. Ich glaube, sie schlafen. Und Rosasharn ist zu ’ner Dame gegangen, die sie kennt.« Mutter seufzte. »Ich habe mit Tom gesprochen«, sagte sie leise. »Und ich … ich habe ihn weggeschickt. Weit weg.« Vater nickte langsam. Onkel John senkte den Kopf. »Ja, er hätte nichts andres machen können«, sagte Vater. »Denkst du nicht auch, John?« Onkel John blickte auf. »Ich denke gar nichts mehr«, sagte er. »Kommt mir fast vor, als wäre ich überhaupt kaum noch wach.« »Tom ist ein guter Junge«, sagte Mutter. Und dann entschuldigte sie sich: »Ich hab’ es nicht böse gemeint, wie ich gesagt habe, ich will mit Al sprechen.« »Ich weiß«, sagte Vater ruhig. »Ich tauge nichts mehr. Ich habe die ganze Zeit nur immer gedacht, wie’s früher gewesen ist. Die ganze Zeit habe ich an daheim gedacht, wo wir doch nie mehr hinkommen.« »Hier ist’s schöner – und das Land ist besser«, sagte Mutter. »Ich weiß. Aber ich seh’ es noch nicht mal. Ich denke nur immer, wie die Weiden daheim jetzt die Blätter verlieren. Und manchmal überlege ich mir, ich müßte das 741
alte Loch im Zaun flicken. Komisch. Die Frau sorgt für die Familie. Die Frau sagt, wir machen dies und das und wir fahren da und dort hin. Und mich kümmert’s noch nicht mal.« »Frauen können sich besser umstellen wie Männer«, sagte Mutter beschwichtigend. »’ne Frau hat das ganze Leben in ihren Armen. Der Mann hat alles im Kopf. Mach dir nichts draus. Vielleicht … vielleicht haben wir nächstes Jahr wieder ’ne Farm.« »Aber jetzt haben wir nichts«, sagte Vater. »Und es kommt ’ne lange Zeit – keine Arbeit, keine Ernte. Was machen wir dann? Wo sollen wir was zu essen herkriegen? Und ich sage dir, Rosasharn ist bald soweit. Ist schon so weit gekommen, daß ich überhaupt nicht mehr denken möchte. Da vergrabe ich mich in die alte Zeit, damit ich nur nicht denken muß. Mir kommt’s so vor, wie wenn unser Leben fertig ist und vorbei.« »Nein«, sagte Mutter lächelnd. »Nein, Vater. Und das ist noch ’ne Sache, die eine Frau weiß. Ich habe das gemerkt. Ein Mann – der lebt ruckweise. Was Kleines wird geboren und jemand stirbt – und das ist ein Ruck. Er kriegt seine Farm und verliert seine Farm – und das ist wieder ein Ruck. Eine Frau – da ist alles in Fluß, wie bei einem Bach, kleine Strudel, kleine Wasserfälle, aber der Bach fließt immer weiter. So sieht ’ne Frau das an. Wir sterben nicht aus. Wir leben weiter, ändern uns ’n bißchen vielleicht, aber leben weiter.« »Wie kannst du das wissen?« fragte Onkel John. »Wovon soll’s denn weitergehen, wenn alle müde werden und sich hinlegen?« 742
Mutter überlegte. Sie rieb sich den Handrücken mit der anderen Hand, schob die Finger der Rechten zwischen die der Linken. »Schwer zu sagen«, meinte sie. »Alles, was wir machen – alles zielt aufs Weiterleben hin. So kommt’s mir vor. Sogar Hunger haben und krank sein. Manche sterben, aber die andern werden zäher. Ihr müßt versuchen, nur für den Tag zu leben, nur für einen Tag.« Onkel John sagte: »Wenn sie bloß damals nicht gestorben wäre …« »Nur für den Tag leben«, sagte Mutter. »Sich nicht den Kopf schwer machen.« »Nächstes Jahr ist vielleicht daheim ’n gutes Jahr«, sagte Vater. »Hört mal!« rief Mutter. Schleichende Schritte kamen den Katzensteg herauf, und dann erschien Al am Vorhang. »Hallo«, sagte er. »Ich dachte, ihr würdet schon schlafen.« »Al«, sagte Mutter. »Wir sprechen grade. Setz dich her.« »Ja. Ich muß euch auch was sagen. Ich muß bald fort.« »Das kannst du nicht. Wir brauchen dich hier. Warum mußt du denn fort?« »Tja – ich und Aggie Wainwright, wir haben gedacht, wir wollen heiraten, und ich suche mir Arbeit in ’ner Garage, und dann mieten wir uns ’n Haus und …« Er blickte erregt auf. »Jawohl, das machen wir, und nichts kann uns dran hindern!« Sie starrten ihn an. »Al«, sagte Mutter schließlich, »wir freuen uns. Wir freuen uns schrecklich.« »Ihr freut euch?« 743
»Ja, natürlich freuen wir uns. Du bist ’n erwachsener Mann, und du brauchst ’ne Frau. Aber geh noch nicht gleich fort, Al.« »Ich hab’ es Aggie versprochen«, sagte er. »Wir müssen fort. Wir können das hier nicht mehr aushalten.« »Bleib nur noch bis zum Frühling«, bat Mutter. »Nur noch bis zum Frühling. Willst du nicht? Wer soll denn den Wagen fahren?« »Tja …« Mrs. Wainwright steckte den Kopf durch den Vorhang. »Haben Sie’s schon gehört?« fragte sie. »Ja! Grade eben.« »Guter Gott! Ich wollte … ich wollte, wir hätten Kuchen. Ich wollte, wir hätten – ’n Kuchen oder so was.« »Ich setze ’n bißchen Kaffee auf und mache Pfannkuchen«, sagte Mutter. »Wir haben Sirup.« »Guter Gott, ja!« sagte Mrs. Wainwright. »Ja – fein. Warten Sie, ich bringe Zucker. Wir tun Zucker an den Pfannkuchen.« Mutter zerbrach ein paar Zweige und schob sie in den Herd, und die glimmenden Kohlen entzündeten sich sofort. Ruthie und Winfield kamen aus ihrem Bett wie Krebse aus ihrer Schale. Einen Augenblick lang noch waren sie unsicher und sahen sich um, weil sie nicht wußten, ob sie noch Verbrecher waren. Als aber niemand sie bemerkte, wurden sie kühn. Ruthie hüpfte den ganzen Weg zur Tür und wieder zurück auf einem Fuß. Mutter schüttete gerade Mehl in eine Schüssel, als Rose von Sharon den Katzensteg heraufkam. Sie ging 744
sehr langsam und hielt sich fest. »Was ist denn los?« fragte sie. »Eine große Neuigkeit!« rief Mutter. »Wir geben ’ne kleine Gesellschaft, weil Al und Aggie Wainwright sich heiraten wollen.« Rose von Sharon stand ganz still. Sie blickte langsam hinüber zu Al, der verwirrt und verlegen war. Mrs. Wainwright rief vom anderen Ende des Wagens herüber: »Ich ziehe nur Aggie ’n frisches Kleid an. Wir kommen gleich.« Rose von Sharon drehte sich um, sie ging zurück zu der breiten Tür und tastete sich langsam den Katzensteg hinunter. Sie ging hinab zum Bach und auf den Weg, der neben dem Bach herlief. Wie Mutter vorher bog sie vom Wege ab ins Weidengebüsch. Der Wind wehte jetzt gleichmäßiger, und die Büsche rauschten. Rose von Sharon ließ sich auf die Knie nieder und kroch tief ins Gebüsch hinein. Die Beerenranken schlugen ihr ins Gesicht und zogen an ihrem Haar, aber sie achtete nicht darauf. Erst als sie das Gebüsch fest um sich fühlte, hielt sie inne. Streckte sich auf dem Rücken aus und spürte das Kind in ihrem Innern. In dem dunklen Wagen bewegte sich Mutter. Nach einer Weile schob sie ihre Decke zurück und stand auf. Durch die offene Wagentür drang ein wenig graues Licht. Mutter ging zur Tür und blickte hinaus. Die Sterne verblaßten im Osten. Der Wind blies leise durch das Weidendickicht, und vom Bach her kam das ruhige, gleichmäßige Flüstern des Wassers. Fast das ganze Camp 745
lag noch im Schlaf, nur vor einem der Zelte brannte ein kleines Feuer, und Leute standen herum und wärmten sich. Mutter sah sie im Schein der tanzenden Flammen, wie sie mit den Gesichtern zum Feuer standen und ihre Hände rieben. Dann drehten sie sich herum und hielten ihre Hände auf dem Rücken. Eine lange Weile blickte Mutter hinaus, die Hände über dem Bauch zusammengepreßt. Der ungleichmäßige Wind fegte heran und verzog sich, und ein wenig Frost war in der Luft. Mutter schauerte und rieb sich die Hände. Sie ging wieder in den Wagen und suchte mit tastenden Fingern Streichhölzer. Die Lampenhaube kreischte. Sie zündete den Docht an, beobachtete, wie er blau brannte und dann seinen gelben, feingeschwungenen Lichtring aufsetzte. Sie trug die Lampe zum Herd, stellte sie hin und legte dürre Weidenzweige auf den Feuerungsrost, und einen Augenblick später dröhnte das Feuer im Ofenrohr. Rose von Sharon rollte sich schwer herum und setzte sich auf. »Ich stehe jetzt auf«, sagte sie. »Willst du nicht warten, bis es warm ist?« fragte Mutter. »Nein, ich stehe auf.« Mutter goß Wasser aus dem Eimer in den Kaffeetopf und setzte ihn auf den Herd und stellte die Bratpfanne auf, um das Fett heiß werden zu lassen für die Maiskuchen. »Was hast du denn?« fragte sie leise. »Ich gehe mit«, sagte Rose von Sharon. »Wohin mit?« »Baumwolle pflücken.« 746
»Das kannst du nicht«, sagte Mutter. »Das ist zu weit für dich.« »Nein. Ich komme mit.« Mutter löffelte Kaffee in das Wasser. »Rosasharn, du warst gestern abend gar nicht mit dabei.« Das Mädchen antwortete nicht. »Warum willst du denn Baumwolle pflücken?« Noch immer keine Antwort. »Ist es wegen Al und Aggie?« Diesmal sah Mutter ihre Tochter fragend an. »Ach so. Nein, du brauchst nicht zu pflücken.« »Ich komme mit.« »Gut, aber streng dich nicht so sehr an. Steh auf, Vater! Los, steh auf!« Vater blinzelte und gähnte. »Ich habe aber nicht ausgeschlafen«, stöhnte er. »Muß mindestens elf gewesen sein, wie wir uns hingelegt haben.« »Kommt, steht auf, alle – und wascht euch.« Die Bewohner des Wagens erwachten langsam zum Leben, schlängelten sich aus ihren Decken heraus und krochen in ihre Kleider. Mutter schnitt Salzfleisch in die zweite Bratpfanne. »Geht euch waschen«, befahl sie. Im anderen Ende des Wagens flammte ein Licht auf, das Knacken von Zweigen und Geräusche am Herd waren zu hören. »Missis Joad«, rief Mrs. Wainwright, »wir machen uns fertig.« Al brummte: »Warum müssen wir eigentlich so früh aufstehn?« »Sind doch nur zwanzig Hektar«, sagte Mutter. »Wir 747
müssen zeitig da sein, sonst ist alles schon gepflückt.« Mutter trieb sie zum Anziehn, trieb sie zum Frühstück. »Macht schnell, trinkt euern Kaffee«, sagte sie. »Wir müssen los.« »Wir können doch im Dunkeln keine Baumwolle pflücken.« »’s wird schon hell sein, wenn wir hinkommen.« »Vielleicht ist alles naß.« »So viel hat’s nicht geregnet. Los, macht – trinkt euern Kaffee. Al, sowie du fertig bist, läßt du schon den Motor laufen.« Sie rief: »Sind Sie bald fertig, Missis Wainwright?« »Wir essen grade. Sind in ’ner Minute fertig.« Draußen war jetzt das Camp erwacht. Feuer brannten vor den Zelten. Die Ofenrohre der Güterwagen spien Rauch aus. Al trank seine Tasse leer und bekam den ganzen Satz in den Mund. Er lief spuckend den Katzensteg hinunter. »Wir sind fertig, Missis Wainwright«, rief Mutter. Sie wandte sich an Rose von Sharon. Sie sagte: »Du mußt hierbleiben.« Das Mädchen machte ein trotziges Gesicht. »Ich komme mit«, sagte sie. »Mutter, ich muß mitkommen.« »Gut, aber du hast keinen Sack. Könntest ihn auch gar nicht schleppen.« »Ich pflücke in euren Sack.« »Ich wollte, du würdest hierbleiben.« »Ich komme mit.« Mutter seufzte. »Na, ich passe auf dich auf. Wenn wir doch nur ’n Doktor hätten.« Rose von Sharon ging 748
nervös im Wagen hin und her. Sie zog einen leichten Mantel an und zog ihn wieder aus. »Nimm ’ne Decke mit«, sagte Mutter. »Wenn du dich ausruhn willst, hast du’s dann wenigstens warm.« Sie hörten den Motor aufheulen. »Wir sind sicher die ersten, die wegfahren«, sagte Mutter triumphierend. »Schön, nehmt eure Säcke mit. Hört ihr, Ruthie und Winfield?« Die Joads und die Wainwrights kletterten in der Dunkelheit in den Wagen. Langsam graute der Morgen. »Bieg links ab«, sagte Mutter zu Al. »Der Mann wollte ’n Schild raushängen.« Sie fuhren über die dunkle Straße. Andere Wagen folgten ihnen, und hinten im Camp wurden Wagen gestartet, die Familien kletterten hinein, und die Wagen fuhren auf die große Straße und bogen alle links ab. Ein Stückchen Pappe war auf der rechten Seite der Straße an einen Briefkasten gebunden, und darauf stand mit Blaustift geschrieben: »Baumwollpflücker gesucht.« Al bog in die Einfahrt ein und fuhr weiter bis in den Hof. Und der Hof war schon voller Wagen. Eine elektrische Birne am Ende des weißen Schuppens beleuchtete eine Gruppe von Männern und Frauen, die mit ihren Säcken unter den Armen neben der Waage standen. Manche Frauen hatten sich die Säcke vorn gekreuzt über die Schultern gehängt. »Wir sind gar nicht so früh, wie wir gedacht haben«, sagte Al. Er fuhr den Wagen an den Zaun und hielt an. Die beiden Familien kletterten herunter und stellten sich in die wartende Gruppe, und andere Wagen kamen von der Straße herein und hielten an, und andere Fami749
lien stellten sich zu der Gruppe. Unter dem Licht am Ende des Schuppens schrieb der Besitzer sie auf. »Hawley?« sagte er. »H-a-w-l-e-y? Wie viele?« »Vier. Können wir …« »Ja.« »Benton …« »Benton.« »Amelia …« »Amelia.« »Claire …« »Claire. Der Nächste? Carpentier? Wie viele?« »Sechs.« Er trug sie in das Buch ein und ließ hinter den Namen Platz frei für das Gewicht. »Habt ihr Säcke? Ich habe ’n paar. Kostet ’n Dollar.« Und Wagen strömten in den Hof. Der Besitzer knöpfte sich seine mit Schafsfell gefütterte Lederjacke am Halse zu. Er blickte hinüber zur Einfahrt. »Na, die zwanzig sind schnell gepflückt bei den vielen Leuten«, sagte er. Kinder kletterten in den großen Baumwollanhänger und steckten ihre Zehen durch das Drahtgitter der Seitenwände. »Geht da runter«, rief der Besitzer. »Aber schnell. Ihr macht mir ja den ganzen Draht locker.« Schweigend und verlegen kletterten die Kinder wieder herunter. Der graue Morgen kam. »Gut«, sagte der Besitzer, »jetzt geht aufs Feld, wenn ihr wollt. Ist schon hell genug.« Die Leute eilten hinaus ins Feld und suchten sich ihre Reihen aus. Sie banden sich die Säcke an den Gürtel und rieben sich die Hände, um die steifen Finger zu wärmen, die flink und gewandt sein mußten. Die 750
Dämmerung färbte die Berge im Osten. Die Leute begannen zu arbeiten. Von der Straße her kamen noch immer Wagen in den Hof gefahren, und als der Hof voll war, hielten sie zu beiden Seiten der Straße an. Der Wind fegte über das Feld. »Ich weiß nicht, wo ihr das alle erfahren habt«, sagte der Besitzer. »Scheint sich verdammt schnell rumgesprochen zu haben. Die zwanzig Hektar sind Mittag fertig. Name. Hume? Wie viele?« Die Leute zogen hinaus durchs Feld, und der scharfe, gleichmäßige Westwind fing sich in ihren Kleidern. Ihre Finger flogen zu den weißen Bällchen und flogen zurück zu den langen Säcken, die allmählich schwer wurden. Vater sprach mit dem Mann in der Reihe rechts neben ihm. »Daheim gibt’s Regen bei so ’nem Wind. Ist vielleicht ’n bißchen zu kalt für Regen. Wie lange bist du denn schon hier?« Er hob die Augen nicht von der Arbeit, während er sprach. Auch sein Nachbar blickte nicht auf. »Ich bin beinahe ’n Jahr hier.« »Meinst du, daß es Regen gibt?« »Kann’s nicht sagen. Und da ist auch weiter nichts bei. Es gibt Leute, die wo ihr ganzes Leben lang hier sind und ’s nicht sagen können. Wenn der Regen grade wie ’ne Getreideähre kommt, dann regnet’s weiter, so sagen die Leute hier.« Vater blickte schnell hinüber zu den Bergen im Westen. Große graue Wolken kamen darüber hinweggezogen, vom Wind schnell getrieben. »Die sehn aus wie Regenköpfe«, sagte er. 751
Sein Nachbar schielte hinüber. »Ich kann’s nicht sagen«, wiederholte er. In ihren Reihen blickten sich die Leute alle nach den Wolken um. Und dann beugten sie sich tiefer über ihre Arbeit, und ihre Hände flogen. Es war ein Wettrennen der Arbeit, Wettrennen um Zeit und Baumwollgewicht, Wettrennen vor dem Regen, Wettrennen miteinander – nur noch so viel Baumwolle zu pflücken, nur noch so viel Geld zu verdienen. Sie kamen ans Ende des Feldes und rannten, um eine neue Reihe zu finden. Jetzt gingen sie gegen den Wind und konnten sehen, wie die hohen grauen Wolken über den Himmel zogen, der aufgehenden Sonne zu. Und immer noch hielten Wagen am Straßenrand an, und Pflücker kamen, um sich eintragen zu lassen. Die Leute arbeiteten sich rasend durch das Feld hindurch, wogen ihre Baumwolle, trugen sie in ihre eigenen Bücher ein und rannten nach einer neuen Reihe. Um elf Uhr war das Feld leer gepflückt, und die Arbeit war getan. Die Anhänger mit ihren Drahtwänden wurden hinten an Lastwagen gehakt, fuhren hinaus auf die große Straße und zur Spinnerei. Die Baumwolle schäumte durch die Drahtgitter hindurch, und kleine Wolken von Baumwolle flogen durch die Luft und setzten sich in Fetzen fest und blieben auf dem Unkraut am Rande der Straße liegen. Die Pflücker gingen unzufrieden zurück zum Schuppen und stellten sich in einer Reihe an, um sich auszahlen zu lassen. »Hume, James. Zweiundzwanzig Cents. Ralph, dreißig Cents. Joad, Thomas, neunzig Cents. Winfield, fünfzehn Cents.« Das Geld lag in Rollen bereit, Silber und 752
Nickel und Pennies. Und jeder blickte in sein Buch, als er ausbezahlt wurde. »Wainwright, Agnes, vierunddreißig Cents. Tobin, dreiundsechzig Cents.« Die Reihe zog langsam vorbei. Die Familien gingen schweigend zu ihren Wagen zurück. Und sie fuhren langsam davon. Die Joads und die Wainwrights warteten im Wagen, bis der Hof sich ein wenig geleert hatte. Und während sie warteten, fielen die ersten Tropfen. Al streckte die Hand hinaus, um sie zu spüren. Rose von Sharon saß in der Mitte und Mutter an der Außenseite. Die Augen des Mädchens waren wieder verhängt. »Du hättest nicht mitkommen sollen«, sagte Mutter. »Du hast nicht mehr gepflückt wie zehn bis fünfzehn Pfund.« Rose von Sharon blickte herab auf ihren großen gewölbten Leib und antwortete nicht. Sie schauerte plötzlich und hielt den Kopf hoch. Mutter, die sie beobachtete, rollte ihren Baumwollsack auf, breitete ihn über die Schultern des Mädchens und zog sie zu sich heran. Schließlich war der Weg frei. Al startete den Motor und fuhr hinaus auf die Straße. Die großen ungleichmäßigen Regentropfen schossen hernieder und klatschten auf die Straße, und wie der Wagen weiterfuhr, wurden die Tropfen kleiner und dichter. Der Regen trommelte so laut auf das Wagendach, daß er sogar über dem Lärm des alten Motors zu hören war. Oben im Lastwagenaufsatz zogen sich die anderen ihre Baumwollsäcke über Köpfe und Schultern. Rose von Sharon schauerte heftig in Mutters Arm, und Mutter rief: »Fahr schneller, Al! Rosasharn hat sich erkältet. Sie muß gleich ’n heißes Fußbad kriegen.« 753
Al beschleunigte den klopfenden Motor, und als sie zu ihrem Camp kamen, fuhr er dicht an die roten Güterwagen heran. Mutter sprudelte Befehle hervor, noch ehe sie angehalten hatten. »Al«, befahl sie, »du und Vater und John – ihr geht in die Weiden und sammelt so viel Holz, wie ihr findet. Wir müssen’s warm haben.« »Hoffentlich regnet’s nicht durchs Dach.« »Nein, ich glaube nicht. Wird hübsch trocken sein, aber wir brauchen Holz. Wir müssen’s warm haben. Nehmt Ruthie und Winfield mit. Sie können Zweige sammeln. Dem Mädchen hier geht’s nicht gut.« Mutter stieg aus, und Rose von Sharon versuchte, ihr zu folgen, aber sie knickte in den Knien ein und ließ sich schwer auf das Trittbrett fallen. Die dicke Mrs. Wainwright sah sie. »Was hat sie denn? Ist es schon soweit?« »Nein, ich glaube nicht«, sagte Mutter. »Hat sich erkältet. Kommen Sie, helfen Sie mir ’n bißchen, ja?« Die beiden Frauen stützten Rose von Sharon. Nach ein paar Schritten kehrten ihre Kräfte zurück, ihre Beine trugen das Gewicht wieder. »Ist schon gut, Mutter«, sagte sie. »Es war nur so ’n Augenblick.« Die beiden Frauen hielten sie bei den Ellbogen. »Füße in heißes Wasser«, sagte Mutter weise. Sie halfen ihr den Katzensteg hinauf und in den Wagen. »Sie müssen sie abreiben«, sagte Mrs. Wainwright. »Ich mache Feuer.« Sie legte die letzten Holzstücke in den Herd und entfachte ein dröhnendes Feuer. Jetzt goß es in Strömen auf das Wagendach. Mutter blickte hinauf. »Gott sei Dank haben wir ’n dichtes Dach«, sagte sie. »Durch die Zelte regnet’s durch, da können sie noch 754
so gut sein. Stellen Sie doch ’n bißchen Wasser auf, Missis Wainwright.« Rose von Sharon lag still auf einer Matratze. Sie ließ sich die Schuhe ausziehen und die Füße abreiben. Mrs. Wainwright beugte sich über sie. »Tut was weh?« fragte sie. »Nein. Mir ist einfach nicht gut. Mir ist schlecht.« »Ich habe Pillen da und Salz«, sagte Mrs. Wainwright. »Ich gebe sie euch gern, wenn ihr wollt. Sehr gerne.« Wieder schauerte das Mädchen heftig. »Deck mich zu, Mutter. Mir ist kalt.« Mutter holte sämtliche Decken herbei und breitete sie über sie. Jetzt kamen die Holzsammler zurück, die Arme voller Zweige und Stücke und die Hüte und Jacken tropfnaß. »Guter Gott, das regnet!« sagte Vater. »In ’ner Minute bist du durch.« Mutter sagte: »Ihr geht lieber noch mal und holt mehr. Das Zeug verbrennt furchtbar schnell. Wird bald dunkel sein.« Ruthie und Winfield kamen tropfend herein und warfen ihre Zweige auf den Haufen. Sie machten kehrt und wollten sogleich wieder hinaus. »Ihr bleibt hier«, befahl die Mutter. »Stellt euch ans Feuer, damit ihr trocken werdet.« Draußen war alles silbern von Regen, und die Straßen glänzten. Mit jeder Stunde schienen die Baumwollpflanzen schwärzer zu werden und zu schrumpfen. Vater und Al und Onkel John trotteten zwischen dem Dickicht und dem Wagen hin und her und brachten ganze Ladungen von Holz heim. Sie stapelten es in der Nähe der 755
Tür auf, bis der Haufen fast zur Decke reichte, und schließlich hörten sie auf und gingen zum Herd. Ströme von Wasser rannen von ihren Hüten herab auf die Schultern. Ihre Rocksäume tropften, ihre Schuhe quietschten beim Gehen. »Schön«, sagte Mutter, »und jetzt zieht euch aus. Ich habe ’nen guten Kaffee für euch Männer. Zieht eure trockenen Overalls an. Steht nicht so rum.« Der Abend kam zeitig. In ihren Wagen drängten sich die Familien zusammen und hörten zu, wie der Regen auf die Dächer trommelte.
29 Über die hohen Berge an der Küste und über die Täler zogen vom Ozean her die grauen Wolken ins Land. Der Wind blies heftig und schweigend, hoch in der Luft, und er rauschte in den Büschen und dröhnte in den Wäldern. Die Wolken kamen zerfetzt, kamen in Ballen, in Herden, in grauen Bänken, und sie strömten herein und hängten sich tief über den ganzen Westen. Und dann hörte der Wind auf, und die Wolken blieben, tief und dick. Der Regen kam in Schauern und Güssen, von Pausen unterbrochen und wurde allmählich zu einer Flut, kleine Tropfen und ein gleichmäßiges Prasseln, ein Regen, durch den alles grau war, ein Regen, der den Mittag zum Abend machte. Und zuerst sog die trockene Erde die Feuchtigkeit auf und wurde 756
schwarz. Zwei Tage lang trank die Erde den Regen, bis sie satt war. Dann bildeten sich Pfützen, und in den Niederungen gab es Seen auf den Feldern. Die schlammigen Seen wuchsen, und der gleichmäßige Regen peitschte das glitzernde Wasser. Schließlich waren auch die Berge satt, die Hänge spuckten Bäche aus und sandten sie dröhnend über die Canyons hinunter in die Täler. Und es goß weiter. Die Bäche und kleinen Flüsse schwollen bis zu den Ufern an und rissen an den Weiden und Baumwurzeln, bogen die Weiden tief hinunter in die Strömung, rissen die Wurzeln der Baumwollstauden aus und legten sie um. Das schlammige Wasser schoß an den Ufern entlang und kroch an den Ufern hoch, bis es überlief, in die Felder, in die Obstgärten, in die Baumwollreihen hinein, wo noch die schwarzen Stengel standen. Die Felder in den Niederungen wurden Seen, breite graue Seen, und der Regen peitschte ihre Oberfläche. Dann ergoß sich das Wasser über die Straßen, und die Wagen fuhren langsam, durchschnitten das Wasser und hinterließen eine wirbelnde, schlammige Kielspur. Die Erde flüsterte unter dem Schlag des Regens, und die Flüsse und Bäche donnerten mit den Strudeln ihrer Wasser. Als der erste Regen begann, rückten die Leute in ihren Zelten zusammen und sagten: Es wird bald vorbei sein, und fragten: Was meint ihr, wie lange wird’s dauern? Und als die Pfützen sich bildeten, gingen die Männer mit Schaufeln hinaus in den Regen und bauten kleine Deiche um die Zelte herum. Der Regen schlug auf die Segeltuchwände, bis er durchdrang und in kleinen Bächen 757
hineinlief. Und dann wurden die Deiche fortgespült, und das Wasser kam herein und durchnäßte die Betten und Decken. Die Leute saßen in nassen Kleidern da. Sie stellten Kisten auf und legten Bretter darüber. Und dann saßen sie Tag und Nacht auf den Brettern. Neben den Zelten standen die alten Wagen, und das Wasser zerfraß die Zündungsdrähte und drang in die Vergaser ein. Die kleinen grauen Zelte standen in Seen. Und schließlich mußten die Leute weiterziehen. Dann wollten die Wagen nicht anspringen, weil die Drähte Kurzschluß gaben, und wenn die Motoren liefen, steckten die Räder tief im Schlamm. Und die Leute wateten davon und trugen ihre nassen Decken in den Armen. Sie liefen mit spritzenden Schritten davon, sie trugen die Kinder oder die Alten in ihren Armen. Und wenn irgendwo eine Scheune hochgelegen stand, so war sie voll von zitternden und hoffnungslosen Menschen. Dann gingen manche zu den Wohlfahrtsämtern und kamen niedergeschlagen zurück. Da sind Bestimmungen – man muß ein Jahr hier sein, eh’ man Wohlfahrt kriegen kann. Aber sie sagen, die Regierung wird helfen. Sie wissen aber nicht, wann. Und allmählich kam das allerschlimmste Grauen. Jetzt gibt’s drei Monate lang keine Arbeit. In den Scheunen hockten die Leute dicht beieinander, und das Grauen kam über sie, und ihre Gesichter waren grau vor Entsetzen. Die Kinder weinten vor Hunger, und es war kein Essen da. Dann kam die Krankheit, Lungenentzündung und Ausschlag, der an die Augen und an die Brust ging. 758
Und der Regen strömte hernieder, und das Wasser floß über die Straßen, denn die Kanäle konnten es nicht mehr fassen. Dann gingen von den Zelten, von den überfüllten Scheunen Gruppen durchnäßter Männer aus, ihre Anzüge klatschnasse Lumpen, ihre Schuhe schlammiger Brei. Sie gingen spritzend hinaus durch das Wasser, gingen in die Städte, in die Dorfläden, in die Wohlfahrtsämter und bettelten um Essen, krochen und bettelten um Essen, bettelten um Wohlfahrt und stahlen und logen. Und bei all dem Betteln und Kriechen begann eine hoffnungslose Wut zu glimmen. In den kleinen Städten wurde das Mitleid mit den durchnäßten Männern zur Wut, und die Wut auf die hungrigen Leute wurde zur Angst vor ihnen. Dann vereidigten die Sheriffs in Scharen neue Polizisten, und Eilbestellungen auf Gewehre, auf Tränengas und auf Munition gingen hinaus. Dann säumten die hungrigen Männer die Straßen hinter den Läden und bettelten um Brot, bettelten um verfaultes Gemüse und stahlen. Tollwütige Männer klopften an die Türen der Ärzte, und die Ärzte hatten keine Zeit. Und verzweifelte Männer bestellten in den Dorfläden den Leichenbeschauer mit seinem Wagen. Und die Leichenbeschauer hatten Zeit. Sie kamen mit ihren Wagen durch den Schlamm gefahren und holten die Toten aus Zelten und Scheunen. Und der Regen strömte unablässig hernieder, und die Flüsse traten über ihre Ufer und überschwemmten das Land. In den Schuppen und Scheunen, im nassen Heu wurde aus Hunger und Angst die Wut gezeugt. Dann zogen die Burschen aus, nicht um zu betteln, sondern 759
um zu stehlen, und müde zogen auch die Männer aus, um es gleichfalls zu versuchen. Die Sheriffs vereidigten neue Polizisten und bestellten neue Gewehre, und die wohlhabenden Leute in ihren trockenen Häusern verspürten zuerst Mitleid, dann Abscheu und schließlich Haß für das wandernde Volk. Im nassen Heu der undichten Scheunen wurden Kinder geboren von Frauen, die vor Lungenentzündung keuchten. Und alte Leute rollten sich in den Ecken zusammen und starben so, und die Leichenbeschauer konnten sie nicht wieder strecken. Nachts gingen die tollwütigen Männer kühn in die Hühnerställe und trugen die schreienden Hühner davon. Wenn auf sie geschossen wurde, rannten sie nicht, sondern liefen verdrossen weiter, und wenn sie getroffen waren, so sanken sie müde in den Schlamm. Der Regen hörte auf. Auf den Feldern stand das Wasser, und der graue Himmel spiegelte sich darin, und die Erde flüsterte vor Nässe. Und die Männer kamen aus Schuppen und Scheunen. Sie hockten sich hin und blickten hinaus auf das überschwemmte Land. Und sie waren still, und manchmal sprachen sie ganz leise. Keine Arbeit bis zum Frühling. Keine Arbeit. Und wenn keine Arbeit – kein Geld, kein Essen. Einer hat zwei Pferde gehabt, mit denen hat er geakkert und gemäht, aber er hätte doch nicht daran gedacht, sie verhungern zu lassen, wenn sie nicht arbeiten. Das sind Pferde – wir sind Menschen. Die Frauen beobachteten ihre Männer, sie beobachteten sie, um zu sehen, ob jetzt der Zusammenbruch 760
käme. Schweigend standen die Frauen da und beobachteten ihre Männer. Und wo eine Anzahl von Männern zusammensaß, wich die Angst aus ihren Gesichtern, und Wut kam an Stelle der Angst. Und die Frauen seufzten erleichtert auf, denn sie wußten, jetzt war alles gut – der Zusammenbruch war nicht gekommen, und der Zusammenbruch würde niemals kommen, solange aus Angst noch Zorn werden konnte. Winzige Grasspitzen drangen durch die Erde, und in ein paar Tagen waren die Hügel blaßgrün, und das neue Jahr begann.
30 Zwischen den Güterwagen stand das Wasser in Pfützen, und der Regen klatschte auf den Schlamm. Langsam kroch der kleine Bach am Ufer hoch, auf die niedriggelegene Wiese zu, wo die Wagen standen. Am zweiten Regentag nahm Al die Zeltplane ab, die in der Mitte des Wagens hing. Er ging damit hinaus und breitete sie über die Motorhaube des Lastwagens und kam wieder zurück und setzte sich auf seine Matratze. Jetzt, ohne die Trennwand, waren die beiden Familien in dem Wagen eine. Die Männer setzten sich zusammen und waren mutlos und gedrückt. Mutter hielt ein kleines Feuer im Herd, verbrannte hin und wieder ein paar Äste und sparte sehr mit ihrem Holz. Der Regen trommelte auf das fast flache Dach des Güterwagens. 761
Am dritten Tage wurden die Wainwrights unruhig. »Vielleicht sollten wir lieber fort«, sagte Mrs. Wainwright. Und Mutter versuchte sie zu halten. »Wo wollt ihr denn hin? Hier habt ihr doch ’n trockenes Dach über dem Kopf.« »Ich weiß nicht, aber ich habe das Gefühl, wir müssen fort.« Sie besprachen es miteinander, und Mutter beobachtete Al. Ruthie und Winfield versuchten eine Weile zu spielen, und dann verfielen auch sie in trostlose Untätigkeit, und der Regen trommelte auf das Dach. Am dritten Tag war das Rauschen des Baches schon durch den trommelnden Regen hindurch zu hören. Vater und Onkel John standen in der offenen Tür und blickten hinaus auf den schwellenden Bach. An beiden Enden des Camps floß das Wasser nahe an der Straße entlang, aber am Camp bog das Wasser ab, so daß die Straßenböschung das Camp hinten abgrenzte und der Bach es vorn einschloß. Und Vater sagte: »Was meinst du, wie sieht’s aus, John? Ich glaube, wenn’s dort hochkommt, dann haben wir das Wasser bald hier.« Onkel John öffnete den Mund und rieb sich sein Stoppelkinn. »Tja«, sagte er. »Mag schon sein.« Rose von Sharon hatte eine schwere Erkältung, ihr Gesicht war gerötet, und ihre Augen glänzten von Fieber. Mutter setzte sich neben sie mit einer Tasse heißer Milch. »Hier«, sagte sie. »Trink das, ist Schinkenfett drin zur Stärkung. Komm, trink’s!« Rose von Sharon schüttelte schwach den Kopf. »Ich habe keinen Hunger.« 762
Vater beschrieb mit den Fingern einen Bogen in der Luft. »Wenn wir alle unsre Schaufeln holen und ’n Damm aufwerfen würden, dann könnten wir’s uns vom Leibe halten. Brauchte nur von da oben bis da hinten hin zu gehn.« »Ja«, pflichtete Onkel John ihm bei. »Könnte man machen. Ich weiß nicht, ob die andern wollen. Vielleicht gehn sie lieber woanders hin.« »Aber die Wagen hier sind doch trocken«, beharrte Vater. »Könnten gar nichts finden, wo’s so trocken ist wie hier. Warte nur.« Von dem Holzhaufen im Wagen holte er sich einen Zweig. Er lief den Katzensteg hinunter, rannte spritzend durch den Schlamm zum Bach und stellte den Ast am Rande des wirbelnden Wassers auf. Einen Augenblick später war er wieder im Wagen. »Gott, da wird man ja bis auf die Knochen naß«, sagte er. Die beiden Männer beobachteten den kleinen Ast am Rande des Wassers. Sie sahen das Wasser um ihn herum langsam steigen. Vater hockte sich in die Tür. »Geht schnell«, sagte er. »Ich finde, wir sollten mit den andern sprechen, ob sie uns helfen wollen, ’nen Damm aufzuwerfen. Wenn sie nicht wollen, dann sollen sie sich fortscheren.« Vater blickte durch den langen Wagen hinunter zum Ende der Wainwrights. Al war bei ihnen, er saß neben Aggie. Vater ging zu ihnen hinüber. »Das Wasser steigt!« sagte er. »Wie wär’s, wenn wir ’n Damm bauen würden? Wir könnten’s machen, wenn alle helfen.« Wainwright sagte: »Wir haben grade gesprochen. Scheint mir, daß wir hier fort müssen.« 763
Vater sagte: »Sie haben sich doch umgesehn. Sie wissen, daß es kaum ein trockenes Fleckchen gibt, wo wir bleiben können.« »Ich weiß. Aber trotzdem …« Al sagte: »Vater, wenn sie gehn, gehe ich auch.« Vater war bestürzt. »Das kannst du nicht, Al. Der Wagen … Wir können doch den Wagen nicht fahren.« »Ist mir egal. Ich und Aggie müssen zusammenbleiben.« »Jetzt wartet mal«, sagte Vater. »Kommt mal hier rüber.« Wainwright und Al standen auf und traten an die Tür. »Seht ihr?« sagte Vater und streckte die Hand aus. »Ein Damm von dort oben bis da runter.« Er blickte zu seinem aufgestellten Stöckchen. Das Wasser wirbelte um das Stöckchen herum und kroch am Ufer hinauf. »Ist ’ne mächtige Arbeit – und dann kommt’s vielleicht trotzdem«, widersprach Wainwright. »Gut, aber wir arbeiten doch eh nichts. Da können wir ebensogut ’n Damm bauen. So ’n hübschen Platz wie hier finden wir bestimmt nicht wieder. Nun kommt schon. Wir wollen mal mit den andern reden. Wenn alle helfen, können wir’s schaffen.« Al sagte: »Wenn Aggie geht, gehe ich auch.« »Hör zu, Al«, sagte Vater. »Wenn die andern nicht mitmachen wollen, müssen wir alle gehn. Komm, reden wir mal mit ihnen.« Sie machten die Rücken krumm, zogen die Köpfe ein und liefen mit schnellen Schritten den schmalen Katzensteg hinunter und zum nächsten Wagen.
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Mutter stand am Herd und legte ein paar Äste auf das schwache Feuer. Ruthie drängte sich an sie heran. »Ich habe Hunger«, jammerte Ruthie. »Nein«, sagte Mutter. »Du hast doch Maisbrei gegessen.« »Ich wollte, ich hätte ’ne Schachtel Cracker-Jack. Es ist so langweilig hier. Überhaupt kein Spaß.« »Wirst schon bald wieder Spaß haben«, sagte Mutter. »Warte nur. Wirst schon bald wieder Spaß haben. Bald haben wir ’n Haus und ’n hübschen Garten.« »Und ’n Hund möchte ich haben«, sagte Ruthie. »Ja, ’n Hund und ’ne Katze auch.« »’ne gelbe Katze?« »Komm, quäl mich nicht«, bat Mutter. »Mußt jetzt ’n artiges Mädchen sein, Ruthie, Rosasharn ist krank. Du wirst schon bald wieder Spaß haben.« Ruthie trottete jammernd davon. Von der Matratze her, wo Rose von Sharon zugedeckt lag, kam ein schriller, scharfer Schrei, der in der Mitte abbrach. Mutter fuhr herum und ging zu ihr. Rose von Sharon hielt den Atem an, und in ihren Augen stand der Schmerz. »Was ist denn?« rief Mutter. Das Mädchen atmete aus und atmete wieder ein. Plötzlich schob Mutter ihre Hand unter die Decke. Dann stand sie auf. »Missis Wainwright!« rief sie. »Missis Wainwright!« Die dicke kleine Frau kam herbeigelaufen. »Was ist?« »Sehn Sie doch!« Mutter zeigte auf Rose von Sharons Gesicht. Ihre Zähne hatten sich in die Unterlippe verbissen, die Stirn war feucht von Schweiß, und Schmerz und Entsetzen stand in ihren Augen. 765
»Ich glaube, es kommt«, sagte Mutter. »Aber es ist zu früh.« Das Mädchen seufzte tief und entspannte sich. Die Zähne ließen die Lippe los, und ihre Augen schlossen sich. Mrs. Wainwright beugte sich über sie. »Hat’s dich plötzlich so gepackt – so im ganzen Körper? Komm, antworte mir.« Rose von Sharon nickte schwach. Mrs. Wainwright drehte sich zu Mutter um. »Ja«, sagte sie. »Es kommt. Zu früh, meinen Sie?« »Vielleicht bringt’s das Fieber raus.« »Ja, jedenfalls müßte sie aufstehn. Müßte ’n bißchen rumlaufen.« »Sie kann nicht«, sagte Mutter. »Sie ist nicht kräftig genug.« »Sie müßte aber.« Mrs. Wainwright wurde streng und ruhig. »Ich habe bei vielen geholfen«, sagte sie. »Kommen Sie, wir machen die Tür zu. Damit’s nicht zieht.« Die beiden Frauen stießen gegen die schwere Schiebetür, stießen sie zu, bis nur noch ein kleiner Spalt offen war. »Ich hole noch unsre Lampe«, sagte Mrs. Wainwright. Ihr Gesicht war rot vor Aufregung. »Aggie«, rief sie. »Paß du mal auf die Kinder auf.« Mutter nickte. »Ja, richtig. Ruthie! Ihr beiden geht runter zu Aggie. Schnell, lauft!« »Warum denn?« fragten sie. »Weil ihr müßt. Rosasharn kriegt ihr Kleines.« »Ich will aber zugucken, Mutter. Bitte, laß mich doch.« »Ruthie! Jetzt geht. Aber schnell!« Gegen einen solchen Ton waren keine Einwendungen mehr möglich. 766
Ruthie und Winfield begaben sich widerstrebend zum anderen Ende des Wagens. Mutter brannte die Lampe an. Mrs. Wainwright brachte ihre Rochester-Lampe herüber und stellte sie auf den Boden, und die große runde Flamme füllte den Wagen mit Helligkeit. Ruthie und Winfield standen hinter dem Holzstoß und spähten hinüber. »Sie kriegt was Kleines, und wir gucken zu«, sagte Ruthie leise. »Jetzt mach keinen Lärm. Mutter will uns nicht zugucken lassen. Wenn sie herschaut, mußt du dich nur ducken. Dann sieht sie uns nicht.« »Das haben noch nicht viele Kinder gesehn«, sagte Winfield. Die flüsternde Stimme klang aufgeregt. »Überhaupt keine Kinder haben’s gesehn«, erklärte Ruthie stolz. »Nur wir.« Unten neben der Matratze, im hellen Licht der Lampe, hielten Mutter und Mrs. Wainwright Konferenz ab. Ihre Stimmen waren ein wenig lauter als sonst, denn der Regen schlug unablässig aufs Dach. Mrs. Wainwright zog ein Schälmesser aus ihrer Schürzentasche und schob es unter die Matratze. »Vielleicht hilft’s nicht«, sagte sie entschuldigend. »Aber bei uns haben sie’s immer gemacht. Jedenfalls schadet’s nicht.« Mutter nickte. »Wir haben’s mit ’ner Pflugschar gemacht. Ich glaube, alles Scharfe ist gut, weil’s die Wehen durchschneidet. Ich hoffe, es wird keine lange Geburt. Fühlst du dich besser?« Rose von Sharon nickte unruhig. »Kommt’s denn?« »Jaja«, sagte Mutter. »Paß auf, du wirst ’n hübsches Kind kriegen. Mußt uns nur helfen. Glaubst du, du kannst aufstehn und ’n Stückchen gehn?« 767
»Ich kann’s versuchen.« »Das ist ’n gutes Mädchen«, sagte Mrs. Wainwright. »Ja, das ist ’n gutes Mädchen. Komm, wir helfen dir, mein Herz. Wir helfen dir laufen.« Sie halfen ihr aufstehen und hängten ihr eine Decke über die Schultern. Dann hielt Mutter sie am einen und Mrs. Wainwright am anderen Arm. Sie gingen mit ihr zum Holzstoß, kehrten langsam um und gingen wieder zurück, hin und her, immer wieder, und der Regen trommelte dröhnend aufs Dach. Ruthie und Winfield sahen interessiert zu. »Wann kriegt sie’s denn?« fragte er. »Schscht! Sie dürfen nichts merken, sonst lassen sie uns nicht zugucken.« Aggie trat zu ihnen hinter den Holzstoß. Aggies mageres Gesicht und ihr blondes Haar wurden vom Lampenlicht beleuchtet, und im Schatten hinter ihr an der Wand war ihre Nase lang und scharf. Ruthie flüsterte: »Hast du schon mal gesehen, wie eins gebort worden ist?« »Natürlich«, sagte Aggie. »Na, und wann kriegt sie’s denn?« »Ach, das dauert noch lange.« »Wie lange denn?« »Vielleicht erst morgen früh.« »So ein Quatsch!« sagte Ruthie. »Da brauchen wir ja jetzt noch nicht zu gucken. Da! Sieh doch!« Die Frauen waren stehengeblieben. Rose von Sharon hatte ihre Muskeln angespannt und winselte vor Schmerz. Sie legten sie auf die Matratze und wischten ihr die Stirn ab, während sie leise stöhnte und die Fäuste ballte. Und 768
Mutter sprach sanft mit ihr. »Ja, mein Herz«, sagte Mutter. »Es geht schon vorbei. Ja, mach nur Fäuste, ganz fest. Und beiß dich auf die Lippe. So ist’s gut, ja, so ist’s gut.« Die Wehe verging. Sie ließen das Mädchen eine Weile ausruhen, dann halfen sie ihr wieder hoch und gingen in den Pausen zwischen den Wehen im Wagen hin und her. Vater steckte den Kopf durch den Türspalt. Von seinem Hut tropfte das Wasser herunter. »Warum habt ihr denn die Tür zugemacht?« fragte er. Und dann sah er die hin und her wandernden Frauen. Mutter sagte: »Mit Rosasharn ist’s soweit.« »Dann … dann könnten wir ja gar nicht reinkommen, auch wenn wir wollten.« »Nein.« »Dann bauen wir also jetzt den Damm.« »Ja, das müßt ihr wohl.« Vater watete durch den Schlamm hinunter zum Bach. Sein Stöckchen stand jetzt zehn Zentimeter im Wasser. Zwanzig Männer kamen heraus in den Regen. Vater rief: »Wir müssen den Damm schaufeln. Meine Tochter liegt in den Wehen.« Die Männer versammelten sich um ihn. »Was Kleines?« »Ja. Wir können nicht fort.« Ein hochgewachsener Mann sagte: »Ist ja nicht unser Kind. Wir können fort.« »Sicher«, sagte Vater. »Natürlich könnt ihr fort. Geht nur. Es hält euch ja niemand. Wir haben eh’ nur acht Schaufeln.« Er eilte hinunter zum tiefsten Teil des Ufers und trieb seine Schaufel in den Schlamm. Als er sie hob, 769
gab es einen schmatzenden Laut. Er grub weiter und warf die schlammige Erde auf die tiefe Stelle des Bachufers. Und neben ihm begannen die anderen Männer zu arbeiten. Sie häuften den Schlamm zu einer hohen Böschung auf, und jene, die keine Schaufeln hatten, schnitten Weidenzweige ab und flochten sie zu einer Matte und stießen sie in den Damm hinein. Die Männer überkam eine wahre Kampfeswut. Wenn einer seine Schaufel sinken ließ, nahm schon ein anderer sie ihm ab. Sie hatten ihre Hüte und Jacken abgeworfen. Ihre Hemden und Hosen klebten ihnen an den Leibern, ihre Schuhe waren formlose Schlammklumpen. Ein Schrei drang aus dem Wagen der Joads zu ihnen herüber. Die Männer hielten inne, lauschten beunruhigt und stürzten sich dann wieder in ihre Arbeit. Und der Erdwall wuchs, bis er an beiden Enden auf die Straßenböschung traf. Die Männer waren jetzt müde und schaufelten langsamer. Und der Bach schwoll weiter an. Er überschwemmte bereits die Stelle, wo sie zuerst die Erde aufgeworfen hatten. Vater lachte triumphierend. »Jetzt wär’s soweit, wenn wir den Damm nicht gebaut hätten!« rief er. Der Bach stieg langsam gegen den aufgeworfenen Wall an und riß an der Weidenmatte. »Höher!« rief Vater. »Wir müssen ihn noch höher machen!« Der Abend kam, und die Arbeit ging weiter. Die Männer waren erschöpft. Ihre Gesichter waren todmüde und abgespannt. Sie arbeiteten ruckweise, wie Maschinen. Als es dunkel war, stellten die Frauen Lampen in die Wagentüren und hielten Kaffee bereit. Und die 770
Frauen liefen eine nach der anderen zum Wagen der Joads und zwängten sich hinein. Die Wehen folgten jetzt rasch aufeinander, in Abständen von zwanzig Minuten. Und Rose von Sharon hatte alle Beherrschung verloren. Sie schrie furchtbar unter den wilden Schmerzen. Und die Nachbarfrauen sahen sie an und tätschelten sie zärtlich und gingen zurück in ihre Wagen. Mutter ließ ein starkes Feuer im Herd brennen, und all ihre Töpfe standen mit Wasser gefüllt auf der Platte. Alle paar Minuten steckte Vater den Kopf herein. »Geht alles gut?« fragte er. »Ja. Ich glaube schon«, beruhigte Mutter ihn. Als es dunkel wurde, brachte jemand eine Blendlaterne, in deren Schein die Männer weiterarbeiteten. Onkel John schaufelte ohne Pause und warf neue Erde auf den Damm. »Sachte«, sagte Vater. »Du machst dich ja kaputt.« »Ich kann’s nicht ändern. Aber dieses Schreien kann ich nicht aushalten. Das ist wie … das ist wie damals …« »Ich weiß«, sagte Vater. »Aber nimm’s nicht so schwer.« Onkel John sprudelte hervor. »Ich renne weg. Jawohl, ich muß arbeiten, oder ich renne weg.« Vater wandte sich ab. »Wie steht denn das Wasser da beim letzten Zeichen?« Der Mann mit der Blendlaterne richtete den Lichtstrahl auf den Stock. Der Regen schoß in weißen Streifen durch das Licht. »Steigt!« 771
»Na, jetzt wird’s langsamer gehn«, sagte Vater. »Auf der andern Seite hat’s noch viel Platz.« »Steigt aber trotzdem.« Die Frauen füllten die Kaffeekannen und stellten sie vor die Türen. Und wie der Abend vorrückte, arbeiteten die Männer langsamer und langsamer und hoben wie Zugpferde ihre schweren Füße. Noch mehr schlammige Erde auf den Damm, noch mehr Weiden hineingesteckt. Es regnete gleichmäßig und ohne Unterlaß. Wenn das Licht der Blendlaterne auf die Gesichter fiel, waren starre Augen und hervorstehende Backenmuskeln zu sehen. Noch lange kamen die Schreie aus dem Wagen der Joads, und dann war es still. Vater sagte: »Mutter hätte mich ja gerufen, wenn’s geboren wäre.« Und er schaufelte verdrossen weiter. Der Bach wirbelte und strömte gegen den Damm an. Plötzlich war ein reißendes Krachen zu hören. Im Strahl der Blendlaterne sahen die Männer einen großen Weidenbaum umstürzen. Die Zweige sanken ins Wasser und trieben in der Strömung, während der Bach an den Wurzeln grub. Langsam wurde der Baum aus der Erde gelöst, und langsam schwamm er den Bach herab. Die erschöpften Männer sahen zu, und ihre Münder standen offen. Der Baum schwamm langsam weiter. Dann blieb ein Zweig an einem Hindernis hängen, und sehr langsam schwenkten die Wurzeln herum und hakten sich in dem Damm fest. Hinter dem Baum sammelte sich Wasser an. Und dann bewegte sich der Baum und riß ein Loch in den Damm. Ein kleiner Bach schoß hindurch. Vater eilte zu der Stelle und warf Erde in das Loch. Das Wasser 772
preßte gegen den Baum. Der Damm riß ein, wurde fortgespült, und das Wasser sprudelte den Männern erst um die Knöchel, dann um die Knie. Die Männer gaben es auf und rannten. Und die Strömung überschwemmte die Wiese, drang unter die Wagen, drang unter die Autos. Onkel John sah das Wasser durchbrechen. Selbst in der Dunkelheit konnte er es sehen. Und plötzlich versagten seine Muskeln, er sank in die Knie, und das reißende Wasser schoß ihm gegen die Brust. Vater sah ihn niedersinken. »He! Was ist denn los?« Er hob ihn hoch. »Bist du krank? Komm, bis an die Wagen geht’s noch nicht.« Onkel John nahm seine Kräfte zusammen. »Ich weiß nicht«, sagte er entschuldigend. »Die Beine sind mir weggesackt. Einfach weggesackt.« Vater half ihm weiter zu den Wagen. Als der Deich weggeschwemmt wurde, drehte Al sich um und rannte los. Seine Füße waren schwer. Das Wasser stand ihm schon bis zu den Waden, als er den Lastwagen erreichte. Er zog die Zeltplane von der Motorhaube und sprang in den Wagen. Er trat auf den Starter. Der Motor drehte sich und drehte sich, aber er sprang nicht an. Al drosselte das Gas ab. Die Batterie drehte den durchnäßten Motor langsamer und langsamer. Und noch immer sprang er nicht an. Al stellte Frühzündung ein. Er holte die Kurbel unter dem Sitz hervor und sprang hinaus. Das Wasser stand jetzt schon höher als das Trittbrett. Er lief nach vorn. Das Kurbelgehäuse war unter Wasser. Er schob hastig die Kurbel hinein und drehte, und seine Hand an der Kurbel klatschte bei jeder Drehung ins Wasser. Und schließlich gab er es auf. Der 773
Motor war jetzt voller Wasser, die Batterie durchnäßt. An einer etwas höher gelegenen Stelle des Camps wurden zwei Wagen gestartet, und die Scheinwerfer gingen an. Die Räder drehten sich im Schlamm und gruben sich fest, und schließlich stellten die Fahrer ihre Motoren wieder ab und saßen still und blickten hinaus in die Strahlen der Scheinwerfer. Und der Regen peitschte in weißen Streifen durch das Licht. Al ging langsam um seinen Wagen herum, fuhr mit der Hand hinein und stellte die Zündung ab. Als Vater den Katzensteg erreichte, sah er, daß das untere Ende bereits im Wasser schwamm. Er trat es fest in den Schlamm hinein. »Glaubst du, du kannst es schaffen, John?« fragte er. »Ist schon wieder gut. Geh nur weiter.« Vater kletterte vorsichtig hinauf und quetschte sich durch den schmalen Türspalt. Die beiden Lampen waren herabgeschraubt. Mutter saß neben Rose von Sharon auf der Matratze und fächelte dem stillen Gesicht des Mädchens mit einem Stück Pappe Luft zu. Mrs. Wainwright schob trockene Zweige in den Herd, und ein feuchter Rauch drang aus den Herdöffnungen und füllte den Wagen mit einem Geruch von brennendem Stoff. Mutter blickte auf, als Vater eintrat, und sah dann schnell wieder zu Boden. »Wie – wie geht’s ihr denn?« fragte Vater. Mutter blickte nicht wieder auf. »Gut, denke ich. Sie schläft.« Die Luft im Wagen war schwül von dem Geruch der Geburt. Onkel John kam herein und hielt sich, gegen 774
die Wagenwand gestützt, aufrecht. Mrs. Wainwright ließ ihre Arbeit liegen und trat zu Vater. Sie zog ihn am Ellbogen in eine Ecke des Wagens. Sie hob eine Lampe auf und hielt sie über eine Apfelkiste, die in der Ecke stand. Auf einem Zeitungspapier lag eine blaue, verschrumpfte kleine Mumie. »Hat überhaupt nicht geatmet«, sagte Mrs. Wainwright leise, »hat gar nicht gelebt.« Onkel John drehte sich um und schlurfte müde zum dunklen Ende des Wagens. Der Regen fegte leise gegen das Dach, so leise, daß Onkel Johns erschöpftes Schnüffeln aus der Dunkelheit zu hören war. Vater blickte zu Mrs. Wainwright auf. Er nahm ihr die Lampe aus der Hand und stellte sie auf den Boden. Ruthie und Winfield schliefen auf ihren Matratzen, die Arme über den Augen, um das Licht abzublenden. Vater ging langsam hinüber zu Rose von Sharons Matratze. Er versuchte sich hinzuhocken, aber seine Beine waren zu müde. So kniete er statt dessen. Mutter fächelte unablässig mit ihrer Pappe. Sie sah Vater einen Moment lang an, und ihre Augen waren weit und starr, wie die Augen einer Schlafwandlerin. Vater sagte: »Wir – wir haben getan, was wir konnten.« »Ich weiß.« »Wir haben den ganzen Abend gearbeitet. Und dann hat ein Baum den Damm zerschlagen.« »Ich weiß.« »Jetzt kannst du’s schon unter dem Wagen hören.« »Ich weiß. Ich hab’ es gehört.« »Glaubst du, es wird wieder gut mit ihr?« »Ich weiß nicht.« 775
»Ich meine … hätten wir denn … nichts machen können?« Mutters Lippen waren steif und weiß. »Nein. Da war nur eine Sache zu machen – und die haben wir gemacht.« »Wir haben bis zum Umfallen gearbeitet, und ein Baum … Der Regen läßt jetzt ’n bißchen nach.« Mutter blickte hinauf zur Decke und senkte den Kopf dann wieder. Vater fuhr fort, er mußte sprechen. »Keine Ahnung, wie weit es steigen wird. Vielleicht kommt’s in den Wagen.« »Ich weiß.« »Du weißt alles.« Sie schwieg und fächelte mit ihrer Pappe. »Haben wir denn was Falsches gemacht?« beharrte er. »Hätten wir denn was andres tun können?« Mutter sah ihn mit einem seltsamen Blick an. Ihre Lippen lächelten träumerisch. »Wir haben keine Schuld. Sei nur still! Es wird schon gut werden. Es ist was im Gange – überall.« »Das Wasser … vielleicht müssen wir fort.« »Wenn’s soweit ist, gehn wir. Wir tun alles, was wir tun müssen. Nun sei still. Du weckst sie nur auf.« Mrs. Wainwright zerbrach Zweige und schob sie ins Feuer. Von draußen kam eine wütende Stimme. »Jetzt gehe ich und rede selber mit diesem Kerl.« Und dann, unmittelbar vor der Tür, Als Stimme: »Wo wollen Sie denn hin?« »Diesem Kerl, dem Joad, will ich meine Meinung sagen.« 776
»Gibt’s nicht. Was ist denn los?« »Wenn der nicht die blöde Idee mit dem Damm gehabt hätte, wären wir längst weg. Jetzt ist unser Wagen hin.« »Na, Mensch, glaubst du denn, unsrer fegt über die Straße?« »Ich will rein zu Joad.« Als Stimme war kalt. »Dann kriegst du’s erst mit mir zu tun.« Vater stand langsam auf und ging zur Tür. »Laß nur, Al, ich komme schon raus. Laß nur.« Vater rutschte den Katzensteg hinunter. Mutter hörte ihn sagen: »Bei uns ist jemand krank, komm mit hier runter.« Der Regen trommelte jetzt leise auf das Dach, und ein frisch aufgekommener Wind trieb ihn in Stößen vor sich her. Mrs. Wainwright kam vom Ofen her und blickte hinunter auf Rose von Sharon. »Es wird bald Morgen, Ma’am. Wollen Sie nicht ’n bißchen schlafen? Ich setze mich schon zu ihr.« »Nein«, sagte Mutter. »Ich bin nicht müde.« »Ich seh’ es doch«, sagte Mrs. Wainwright. »Kommen Sie, legen Sie sich ein Weilchen hin.« Mutter fächelte langsam mit ihrer Pappe. »Sie sind sehr freundlich gewesen«, sagte sie. »Wir danken Ihnen sehr.« Die dicke Frau lächelte. »Nichts zu danken. Wir sitzen alle im selben Kahn. Wenn’s uns nun schlecht ginge? Dann würden Sie uns doch auch helfen, was?« »Ja«, sagte Mutter, »das würden wir.« »Oder jeder andre.« 777
»Ja, oder jeder andre. Früher war’s immer zuerst die Familie. Jetzt ist’s anders. Jetzt sind’s alle. Je schlechter ’s uns geht, je mehr haben wir zu tun.« »Wir hätten’s nicht retten können.« »Ich weiß«, sagte Mutter. Ruthie seufzte tief und nahm den Arm von den Augen. Sie blickte einen Moment lang geblendet in die Lampe, dann drehte sie den Kopf um und sah Mutter an. »Hat sie’s gebort?« fragte sie. »Ist das Kleine draußen?« Mrs. Wainwright nahm einen Sack und breitete ihn über die Apfelkiste in der Ecke. »Wo ist denn das Kleine?« fragte Ruthie. Mutter feuchtete sich die Lippen an. »Ist kein Kleines da. Ist nie eins dagewesen. Wir haben uns geirrt.« »So was!« gähnte Ruthie. »Wäre doch hübsch gewesen, so ’n Kleines.« Mrs. Wainwright setzte sich neben Mutter und nahm ihr die Lampe aus der Hand und fächelte weiter. Mutter faltete die Hände im Schoß, und ihre müden Augen wandten sich nicht von dem Gesicht der Tochter ab, die erschöpft schlief. »Kommen Sie«, sagte Mrs. Wainwright. »Legen Sie sich hin. Sie sind ja ganz dicht bei ihr. Wenn sie mal ganz tief Luft holt, wachen Sie auf.« »Gut.« Mutter streckte sich neben dem schlafenden Mädchen auf der Matratze aus. Und Mrs. Wainwright hockte am Boden und wachte. Vater und Al und Onkel John saßen in der Tür und sahen das stählerne Morgengrauen kommen. Der Regen hatte aufgehört, aber der Himmel war tief und von Wolken verhangen. Als das Licht kam, spiegelte es sich im Wasser. Die Männer sahen 778
die Strömung des Baches, der schwarze Äste, Kisten und Bretter mit sich trug. Das Wasser sprudelte über die Wiese, wo die Wagen standen. Von dem Damm war nichts mehr zu sehen. Auf der Wiese hörte die Strömung auf. Der Wasserstrom hatte an den Rändern gelben Schlamm. Vater beugte sich aus der Tür und stellte ein Stöckchen auf den Katzensteg, unmittelbar über dem Wasserspiegel. Die Männer sahen zu, wie das Wasser langsam stieg, wie es das Stöckchen hob und fortschwemmte. Vater stellte ein zweites Stöckchen auf und lehnte sich zurück und beobachtete das steigende Wasser. »Glaubst du, es wird in den Wagen kommen?« fragte Al. »Keine Ahnung. Es kommt noch ’ne verdammte Menge Wasser von den Bergen runter. Man kann’s nicht sagen. Vielleicht fängt’s auch wieder an zu regnen.« Al sagte: »Ich habe mir was überlegt. Wenn’s reinkommt, wird doch alles naß.« »Ja.« »Aber es wird doch nicht mehr wie drei bis vier Fuß hoch in den Wagen kommen, weil’s nämlich erst auf die Straße fließt und sich da ausbreitet.« »Woher weißt du das?« fragte Vater. »Ich habe mir’s angesehn, dort hinter dem Wagen.« Er streckte die Hand aus. »Ungefähr so hoch wird’s kommen.« »Schön«, sagte Vater. »Dann sind wir aber nicht mehr da.« »Wir müssen bleiben. Das Auto ist ja hier. Dauert mindestens ’ne Woche, bis wir das Wasser wieder draußen haben, wenn die Flut zurückgegangen ist.« 779
»Gut – und was hast du dir ausgedacht?« »Wir können die Seitenwände vom Lastwagen abreißen und so ’ne Art Podium bauen, wo wir unser ganzes Zeug drauftun.« »Meinst du? Und wie wollen wir denn kochen – und essen?« »Na, jedenfalls bleibt dann unser Zeug trocken.« Das Licht wurde allmählich stärker, ein graues, metallisches Licht. Der zweite kleine Stock schwamm davon. Vater stellte einen neuen, etwas höheren auf. »Steigt ganz hübsch«, sagte er. »Ich glaube, wir machen das lieber.« Mutter wälzte sich ruhelos im Schlaf. Ihre Augen öffneten sich weit. Sie rief laut und warnend: »Tom! Oh, Tom!« Mrs. Wainwright sprach beruhigende Worte. Die Augen schlossen sich wieder, und Mutter krümmte sich im Schlaf. Mrs. Wainwright stand auf und trat in die Tür. »He!« sagte sie leise. »Wir können nicht so bald fort.« Sie zeigte in die Ecke des Wagens, wo die Apfelkiste stand. »Das kann nicht hier stehen bleiben. Das bringt nur Gram und Leid. Könnt ihr Männer es nicht – wegbringen und vergraben?« Die Männer schwiegen. Schließlich sagte Vater: »Sie haben schon recht. Bringt nur Gram und Leid. Aber es vergraben ist gegen das Gesetz.« »Viele Sachen sind gegen das Gesetz, und wir müssen’s trotzdem machen.« »Ja.« Al sagte: »Wir müssen aber die Wagenwände runterreißen, eh’ das Wasser noch mehr steigt.« 780
Vater wandte sich an Onkel John. »Willst du’s vergraben? Dann können Al und ich inzwischen die Bretter reinbringen.« Onkel John sagte mißmutig: »Warum muß ich’s denn machen? Warum nicht einer von euch? Ich mach’ es nicht gerne.« Und dann: »Natürlich. Ich mach’ es. Natürlich mache ich’s. Kommt, gebt’s mir.« Seine Stimme wurde lauter. »Schnell! Gebt’s mir!« »Still, Sie wecken sie ja auf«, sagte Mrs. Wainwright. Sie brachte die Apfelkiste zur Tür und spannte den Sack fest darüber. »Die Schaufel steht hinter dir«, sagte Vater. Onkel John nahm die Schaufel und ließ sich langsam von der Tür hinab ins Wasser. Es ging fast bis zum Gürtel, als er auf dem Boden stand. Er drehte sich um und klemmte sich die Apfelkiste unter den anderen Arm. Vater sagte: »Komm, Al. Wir wollen die Bretter holen.« Im grauen Morgenlicht watete Onkel John um den Güterwagen herum, an dem Auto vorbei und kletterte die schlüpfrige Böschung zur Straße hinauf. Er ging ein Stück die Straße entlang, an der Wiese vorbei, wo die Güterwagen standen, bis er an eine Stelle kam, wo das strudelnde Wasser dicht an der Straße entlangfloß und wo Weiden am Straßenrand wuchsen. Er stellte seine Schaufel hin und ging mit der Apfelkiste durch das Gebüsch, bis er an den Rand des Wasserstrudels kam. Eine Weile stand er da und sah zu, wie es vorbeifloß und seinen gelben Schaum zwischen den Weidenstämmen zurückließ. Er hielt die Apfelkiste gegen die Brust gepreßt. 781
Und dann bückte er sich und setzte die Kiste in die Strömung und richtete sie mit der Hand aus. Er sagte laut: »Nun schwimm mit und sag’s ihnen. Schwimm in die Straße und verfaul und sag’s ihnen so. Nur so kannst du reden. Ich weiß noch nicht mal, ob du ein Junge oder ein Mädchen warst. Ich will’s auch nicht wissen. Nun schwimm nur und bleib auf der Straße liegen. Vielleicht begreifen sie’s dann.« Er leitete die Kiste sanft hinaus in die Strömung und ließ sie schwimmen. Sie sank tief ins Wasser, neigte sich zur Seite, wirbelte herum und kippte um. Der Sack schwamm davon, und die Kiste wurde von der schnellen Strömung rasch davongetragen und verschwand hinter dem Gebüsch. Onkel John nahm die Schaufel und ging eilig zurück. Er sank spritzend wieder ins Wasser ein und watete zu dem Auto, an dem Vater und Al die Bretter der Seitenwände abrissen. Vater blickte zu ihm hinüber. »Hast du’s gemacht?« »Ja.« »Also, paß auf«, sagte Vater, »wenn du jetzt Al hilfst, gehe ich runter zum Laden und kaufe uns was zu essen.« »Bring ’n bißchen Speck mit« sagte Al. »Ich brauche Fleisch.« »Jaja«, sagte Vater. Er sprang vom Wagen herunter, und Onkel John nahm seinen Platz ein. Als sie die Bretter zur Wagentür hineinschoben, wachte Mutter auf. »Was macht ihr denn?« »Wir bauen was, wo das Wasser nicht hinkommt.« »Warum denn?« fragte Mutter. »Ist doch ganz trocken hier drin.« »Bleibt aber nicht so. Das Wasser steigt.« 782
Mutter stand mühsam auf und ging zur Tür. »Wir müssen hier fort.« »Geht nicht«, sagte Al. »Unser ganzes Zeug ist hier und das Auto. Alles, was wir haben.« »Wo ist denn Vater?« »Holt was zum Frühstück.« Mutter blickte hinunter ins Wasser. Es war nur noch fünfzehn Zentimeter vom Boden entfernt. Sie ging zu der Matratze, um nach Rose von Sharon zu sehn. Das Mädchen starrte sie an. »Wie fühlst du dich denn?« fragte Mutter. »Müde, einfach müde.« »Du mußt ein bißchen Frühstück in den Magen kriegen.« »Ich habe keinen Hunger.« Mrs. Wainwright trat neben Mutter. »Sie sieht nicht schlecht aus. Hat’s gut überstanden.« Rose von Sharons Augen ruhten fragend auf Mutter, und Mutter versuchte, der Frage auszuweichen. Mrs. Wainwright ging zum Herd. »Mutter?« »Ja? Was willst du?« »Ist … ist alles gutgegangen?« Mutter gab den Versuch auf. Sie kniete auf die Matratze nieder. »Du kannst noch andre haben«, sagte sie. »Wir haben alles gemacht, was wir wußten.« Rose von Sharon richtete sich mühsam auf. »Mutter!« »Wir haben’s nicht ändern können.« Das Mädchen sank wieder zurück und bedeckte sich die Augen mit den Armen. Ruthie kroch näher und sah 783
sie ehrfürchtig an. Sie flüsterte: »Ist sie krank, Mutter? Stirbt sie?« »Aber nein. Sie wird schon wieder gesund. Ganz gesund.« Vater kam mit einem Arm voll Paketen zurück. »Wie geht’s ihr?« »Ganz gut«, sagte Mutter. »Bald ist sie wieder ganz in Ordnung.« Ruthie erstattete Winfield Bericht. »Sie stirbt nicht. Mutter hat’s gesagt.« Und Winfield, der sich mit einem Holzsplitter sehr erwachsen in den Zähnen stocherte, sagte: »Ich hab’ es die ganze Zeit gewußt.« »Woher hast du’s denn gewußt?« »Das sage ich nicht«, erklärte Winfield und spuckte ein Stückchen von dem Splitter aus. Mutter fachte mit den letzten Zweigen das Feuer wieder an und kochte den Speck und machte Soße. Vater hatte ein Brot mitgebracht. Mutters Gesicht verfinsterte sich, als sie es sah. »Haben wir denn noch Geld?« »Nee«, sagte Vater. »Aber wir haben solchen Hunger gehabt.« »Und du hast Brot mitgebracht«, sagte Mutter vorwurfsvoll. »Ja, wir haben schrecklichen Hunger gehabt. Wir haben die ganze Nacht gearbeitet.« Mutter seufzte. »Was machen wir nun?« Während sie aßen, stieg das Wasser immer höher. Al schlang sein Essen hinunter, und dann bauten er und Vater das Podium. Fünf Fuß breit, sechs Fuß lang und 784
vier Fuß hoch über dem Boden. Und das Wasser stieg bis zur Tür, schien dort eine Weile zu zögern, und dann ergoß es sich langsam über den Boden des Wagens. Und draußen begann es wieder zu regnen, wie zuvor, große schwere Tropfen, die ins Wasser klatschten und hohl auf das Dach trommelten. Al sagte: »So, und jetzt schnell die Matratzen rauf. Und die Decken, damit sie nicht naß werden.« Sie häuften ihre Habseligkeiten auf das Podium, und das Wasser kroch über den Boden. Vater und Mutter, Al und Onkel John hoben, jeder an einer Ecke, Rose von Sharons Matratze mitsamt dem Mädchen hoch und legten sie zuoberst auf den Turmbau. Und das Mädchen protestierte: »Ich kann doch laufen. Mir geht’s ganz gut.« Und das Wasser breitete sich auf dem Boden aus, zunächst noch als dünner Überzug. Rose von Sharon flüsterte mit Mutter, und Mutter streckte ihre Hand unter die Decke und befühlte die Brust des Mädchens und nickte. Am anderen Ende des Wagens klopften und hämmerten die Wainwrights und bauten sich gleichfalls ein Podium. Der Regen wurde stärker und hörte dann auf. Mutter blickte hinab zu ihren Füßen. Das Wasser stand jetzt einen Zentimeter hoch im Wagen. »Ruthie – Winfield!« rief sie bestürzt. »Geht schleunigst da rauf. Ihr erkältet euch ja!« Sie half ihnen hinauf und setzte sich neben Rose von Sharon auf die Matratze. Und dann sagte sie plötzlich: »Wir müssen hier fort.« »Können wir nicht«, sagte Vater. »Wir haben unser 785
ganzes Zeug hier, wie Al schon gesagt hat. Wir reißen die Wagentür ab und bauen noch einen Platz, wo wir dann drauf sitzen können.« Die Familie saß schweigend zusammengedrängt auf ihren Bretterpodien, schweigend und verbissen. Das Wasser stand fünfzehn Zentimeter hoch im Wagen, ehe die Flut sich gleichmäßig über die Böschung ergoß und auf der anderen Seite in das Baumwollfeld strömte. Während dieses Tages und der Nacht schliefen die Männer durchnäßt Seite an Seite auf der Wagentür. Und Mutter lag dicht bei Rose von Sharon. Manchmal flüsterte Mutter mit ihr, und manchmal richtete sie sich auf, ruhig und mit nachdenklichem Gesicht. Unter der Decke hütete sie die Reste des Brotes, das Vater im Laden gekauft hatte. Der Regen setzte wieder zeitweise aus und kam in plötzlichen Güssen wieder. Am Morgen des zweiten Tages watete Vater durch das Camp und kam mit zehn Kartoffeln in den Taschen zurück. Mutter sah ihm stumm und verdrossen zu, wie er aus der Innenwand des Wagens einen Teil heraushackte, Feuer machte und Wasser in einen Topf goß. Später aßen sie mit den Fingern die dampfenden gekochten Kartoffeln. Und als dieses letzte bißchen Essen verzehrt war, starrten sie in das graue Wasser, und in der Nacht legten sie sich nicht lange hin. Als der Morgen kam, erwachten sie voller Unruhe. Rose von Sharon flüsterte mit der Mutter. Mutter nickte. »Ja«, sagte sie. »Es wird Zeit.« Und dann wandte sie sich zur Wagentür, wo die Männer lagen. »Wir müssen fort«, sagte sie wild und ungestüm, 786
»zu ’nem höhergelegenen Platz. Ob ihr nun mitkommt oder nicht – ich bringe Rosasharn und die Kinder weg von hier.« »Wir können nicht fort!« sagte Vater schwach. »Also gut. Vielleicht trägst du wenigstens Rosasharn bis zur Straße und gehst dann zurück. Es regnet jetzt nicht, und wir müssen uns beeilen.« »Gut, gehn wir«, sagte Vater. Al sagte: »Mutter, ich komme nicht mit.« »Warum nicht?« »Du weißt doch – Aggie und ich …« Mutter lächelte. »Natürlich«, sagte sie. »Bleib du nur hier, Al. Paß auf unsre Sachen auf. Wenn das Wasser wieder runtergeht – na, dann kommen wir zurück. Mach schnell, eh’s wieder zu regnen anfängt«, sagte sie zu Vater. »Komm, Rosasharn. Wir gehn wohin, wo’s trocken ist.« »Ich kann laufen.« »Vielleicht nachher ’n Stückchen auf der Straße. Mach, Vater.« Vater ließ sich hinunter ins Wasser gleiten und stand wartend da. Mutter half Rose von Sharon vom Podium herunter und stützte sie, während sie durch den Wagen gingen. Vater nahm sie in seine Arme, hielt sie so hoch, wie er konnte, und bahnte sich langsam seinen Weg durch das tiefe Wasser, um den Wagen herum zur Straße. Er stellte sie auf die Füße und stützte sie. Onkel John trug Ruthie und folgte ihm. Mutter glitt hinunter ins Wasser, und im ersten Augenblick schwammen ihre Kleider um sie herum. 787
»Winfield, setz dich auf meine Schultern. Al – wir kommen wieder, wenn das Wasser zurückgegangen ist. Und, Al …« Sie machte eine Pause. »Wenn … wenn Tom kommt, sag ihm, wir kommen zurück. Sag’s ihm ganz genau. Winfield! Komm – auf meine Schultern! So – nun halt aber deine Füße still.« Sie stapfte davon durch das Wasser, das ihr bis zur Brust reichte. An der Straßenböschung halfen die anderen ihr hoch und hoben Winfield von ihren Schultern. Sie standen auf der Straße und blickten zurück über die Wasserfläche, die dunkelroten Wagenhäuser, die Autos, die tief im strömenden Wasser standen. Und während sie noch dort standen, begann es von neuem nieselnd zu regnen. »Wir müssen weiter«, sagte Mutter. »Rosasharn, glaubst du, du kannst laufen?« »Mir ist ’n bißchen schwindlig«, sagte das Mädchen. »Wie wenn ich eins auf den Kopf gekriegt hätte.« »Wenn wir schon gehn, wo gehn wir eigentlich hin?« fragte Vater. »Ich weiß nicht. Komm, gib Rosasharn die Hand.« Mutter nahm das Mädchen beim rechten Arm und stützte sie, und Vater nahm sie beim linken. »Wir müssen wohin, wo’s trocken ist. Ihr seid ja seit zwei Tagen nicht aus eurem nassen Zeug rausgekommen.« Sie gingen langsam über die Straße. Sie hörten das Rauschen des Wassers im Bach neben der Straße. Ruthie und Winfield marschierten zusammen los und platschten bei jedem Schritt in die Pfützen auf der Straße. Der Him788
mel wurde dunkler und der Regen dichter. Auf der großen Straße war kein Verkehr. »Wir müssen uns beeilen«, sagte Mutter. »Wenn das Mädchen hier auch noch naß wird, weiß ich nicht, was ihr passiert.« »Du sagst, wir sollen uns beeilen, aber du sagst nicht, wohin«, warf der Vater ihr vor. Die Straße wand sich am Bach entlang. Mutter suchte mit den Augen das Land und die überschwemmten Felder ab. Weitab von der Straße, auf der linken Seite, stand auf einer sanften Anhöhe eine regengeschwärzte Scheune. »Da!« sagte Mutter. »Da! In der Scheune ist es bestimmt trocken. Da gehn wir jetzt hin, bis der Regen aufgehört hat.« Vater seufzte. »Wahrscheinlich schmeißt uns der Kerl raus, dem sie gehört.« Vor sich neben der Straße sah Ruthie einen roten Punkt. Sie lief darauf zu. Es war eine zottige Geranie, die noch eine verregnete Blüte hatte. Ruthie pflückte die Blume. Sie riß vorsichtig ein Blütenblatt ab und klebte es sich auf die Nase. Winfield kam auf sie zugerannt. »Gib mir auch eins«, sagte er. »Nee! Gehört mir. Ich hab es gefunden.« Sie klebte sich ein anderes Blatt auf die Stirn, ein kleines leuchtendrotes Herz. »Mach doch, Ruthie! Gib mir eins. Mach doch.« Er griff nach der Blume in ihrer Hand, verfehlte sie aber, und Ruthie schlug ihm ins Gesicht. Er stand einen Augenblick verblüfft da, dann zitterten seine Lippen, und seine Augen liefen über. 789
Die anderen holten sie ein. »Was hast du denn gemacht?« fragte Mutter. »Los, sag mir, was du gemacht hast.« »Er hat mir meine Blume wegnehmen wollen.« Winfield schluchzte: »Ich … ich habe mir ja nur eine … eine auf die Nase kleben gewollt.« »Gib ihm eine, Ruthie.« »Er soll sich eine suchen. Das hier ist meine.« »Ruthie! Sofort gibst du ihm eine!« Ruthie hörte die Drohung in Mutters Stimme und änderte ihre Taktik. »Hier«, sagte sie mit vollendeter Freundlichkeit. »Ich klebe dir eine auf.« Die älteren Leute gingen weiter. Winfield hielt ihr seine Nase hin. Sie leckte ein Blütenblatt mit der Zunge an und knallte es ihm auf die Nase. »Du gemeiner Kerl«, sagte sie leise. Winfield befühlte das Blütenblatt mit den Fingern und preßte es sich fester auf die Nase. Sie gingen schnell hinter den anderen her. Doch Ruthie war der Spaß verdorben. »Hier hast du noch ’n paar«, sagte sie. »Kleb sie dir auf die Stirn.« Von der rechten Seite der Straße kam ein lautes Rauschen. Mutter rief: »Macht schnell. Da kommt wieder Regen. Am besten klettern wir hier durch den Zaun. Da kürzen wir ab. Kommt schnell! Beeil dich, Rosasharn.« Sie zogen das Mädchen über den Graben und halfen ihr durch den Zaun. Und dann kam ein Stoßwind, und der Regen peitschte sie. Sie stapften über den aufgeweichten Boden die kleine Anhöhe hinauf. Die schwarze Scheune war fast ganz verdunkelt vom Regen. Und der Regen fegte und klatschte, und der stärker werdende Wind 790
trieb ihn vor sich her. Rose von Sharon glitt aus und klammerte sich an Vater und Mutter, die sie stützten. »Vater! Kannst du sie tragen?« Vater bückte sich und nahm sie in seine Arme. »Wir sind eh schon naß bis auf die Knochen«, sagte er. »Macht schnell. Winfield – Ruthie! Lauft voraus.« Sie kamen keuchend bei der Scheune an und strauchelten am offenen Ende hinein. Die Scheune hatte an dieser Seite keine Tür. Ein paar rostige Werkzeuge lagen herum, ein Scheibenpflug, eine zerbrochene Hacke, ein eisernes Rad. Der Regen trommelte auf das Dach und verhängte den Eingang. Vater setzte Rose von Sharon sanft auf eine ölige Kiste. »Allmächtiger Gott«, sagte er. »Vielleicht hat’s drinnen Heu«, meinte Mutter. »Da ist ’ne Tür.« Sie stieß die Tür in ihren rostigen Angeln auf. »Es hat Heu«, rief sie. »Kommt doch rein.« Es war dunkel drinnen. Ein wenig Licht kam durch die Risse zwischen den Brettern hindurch. »Leg dich hin, Rosasharn«, sagte Mutter. »Leg dich hin und ruh dich aus. Ich will mir überlegen, wie wir dich trocken kriegen.« Winfield sagte: »Mutter!«, und seine Stimme ging im Trommeln des Regens unter. »Mutter!« »Was ist denn? Was willst du?« »Da – in der Ecke!« Mutter sah in der Dunkelheit zwei Gestalten, einen Mann, der auf dem Rücken lag, und einen Jungen, der neben ihm saß und die Neuankömmlinge mit großen Augen anstarrte. Während sie noch hinüberblickte, 791
stand der Junge langsam auf und kam auf sie zu. Seine Stimme krächzte: »Gehört euch das hier?« »Nein«, sagte Mutter. »Wir sind nur wegen dem Regen hergekommen. Wir haben ’n krankes Mädchen. Habt ihr vielleicht ’ne trockene Decke, damit sie sich ihr nasses Zeug ausziehn kann?« Der Junge ging zurück in die Ecke und kam mit einer schmutzigen Decke wieder, die er Mutter reichte. »Danke«, sagte sie. »Was ist denn mit dem Mann da los?« Der Junge sprach mit krächzender Eintönigkeit: »Erst ist er krank gewesen – aber jetzt verhungert er.« »Was?« »Er verhungert. Er ist beim Baumwollpflücken krank geworden. Jetzt hat er seit sechs Tagen nichts gegessen.« Mutter ging hinüber in die Ecke und sah den Mann an. Er war etwa fünfzig Jahre alt, hatte ein hageres bärtiges Gesicht, und seine offenen Augen waren starr und ungewiß. Der Junge stand neben ihr. »Dein Vater?« fragte Mutter. »Ja. Er hat gesagt, er hat keinen Hunger gehabt oder hat grade gegessen. Hat alles mir gegeben. Und jetzt ist er zu schwach, kann sich kaum noch rühren.« Das Trommeln des Regens wurde zu einem sanften Fegen auf dem Dach. Der hagere Mann bewegte die Lippen. Mutter kniete sich neben ihn und hielt ihr Ohr dicht an seinen Mund. Seine Lippen bewegten sich wieder. »Natürlich«, sagte Mutter. »Seien Sie nur ruhig. Ihm geht’s schon gut. Warten Sie nur, bis ich meinem Mädchen die nassen Kleider ausgezogen habe.« 792
Mutter ging zurück zu Rose von Sharon. »Nun zieh dich aus«, sagte sie. Sie hielt die Decke hoch, damit man sie nicht sah. Und als sie nackt war, wickelte Mutter sie in die Decke. Der Junge stand wieder neben ihr und erklärte: »Ich hab’ es nicht gewußt. Er hat immer gesagt, er hat schon gegessen oder er hat keinen Hunger. Letzte Nacht habe ich ’n Fenster eingeschmissen und Brot geklaut. Das hab’ ich ihm zu essen gegeben. Aber er hat alles wieder gebrochen, und dann ist er nur noch schwächer gewesen. Er müßte Suppe kriegen oder Milch. Habt ihr vielleicht Geld für Milch?« Mutter sagte: »Still! Sei nur ruhig. Wir denken uns was aus.« Plötzlich rief der Junge. »Er stirbt doch, sage ich Ihnen! Er verhungert! Er stirbt!« »Still«, sagte Mutter. Sie sah Vater und Onkel John an, die hilflos dastanden und den kranken Mann betrachteten. Sie sah Rose von Sharon an, ihre Augen wichen den Augen des Mädchens aus und begegneten ihnen dann wieder. Und die beiden Frauen blickten tief ineinander hinein. Der Atem des Mädchens kam kurz und stoßweise. Sie sagte: »Ja.« Mutter lächelte. »Ich hab’ es gewußt. Ich habe gewußt, du wirst es machen!« Sie blickte hinab auf ihre Hände, die sie fest ineinander verschlungen im Schoße hielt. Rose von Sharon flüsterte: »Wollt ihr … wollt ihr dann bitte alle rausgehn?« Der Regen fegte leise über das Dach. 793
Mutter beugte sich zu ihr und strich ihr das verwirrte Haar aus der Stirn, und dann küßte sie die Stirn. Mutter stand auf. »Kommt!« rief sie. »Wir gehn jetzt mal alle nach vorn in den Schuppen.« Ruthie öffnete den Mund und wollte etwas sagen. »Still,« sagte Mutter. »Komm.« Sie schob die Kinder und die Männer vor sich her durch die Tür, zog auch den Jungen mit und machte die quietschende Tür hinter sich zu. Eine Minute lang saß Rose von Sharon still in der Scheune, auf deren Dach leise der Regen flüsterte. Sie ging langsam hinüber in die Ecke und blickte hinab in das verwüstete Gesicht, in die großen angstvollen Augen. Und dann legte sie sich neben ihn. Er schüttelte müde den Kopf. Rose von Sharon lockerte ihre Decke an einer Seite und entblößte ihre Brust. »Du mußt«, sagte sie. Sie drängte sich dichter an ihn und zog seinen Kopf zu sich heran. »Komm, hier!« sagte sie. »So.« Sie schob ihre Hand hinter seinen Kopf und stützte ihn. Ihre Finger fuhren sanft durch sein Haar. Sie blickte auf und durch die Scheune, und ihre Lippen schlossen sich und lächelten geheimnisvoll.
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