Burt Frederick
Flucht nach vorn
Nach Mitternacht.
Das Feuer am Strand der Inselbucht war längst erloschen. Es war w...
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Burt Frederick
Flucht nach vorn
Nach Mitternacht.
Das Feuer am Strand der Inselbucht war längst erloschen. Es war wohl
die Bodenkälte, die einen der Kerle weckte. Moleta hieß er, Bootsmann der
„Bonifacio". Er zuckte zusammen, als er den Kopf hob. Es waren die
Schnapsteufel, die in seinem Schädel ihren höllischen Reigen aufführten.
Oder wer tanzte da?
Ach so, Zardo war das, dieser Bastard, der immer noch am Strick hing,
etwas pendelnd vom Nachtwind. Moleta fluchte. Sie hatten alle zuviel gesoffen.
Der Kapitän war großzügig gewesen, seine letzten Schnapsreserven hatte er
verteilt. Moleta starrte hinüber zur „Bonifacio". Dort brannte Licht hinter
den Heckfenstern.
Aber sonst rührte sich nichts auf der Galeone. Auch der Ankerposten war nicht
zu sehen. Und jetzt zuckte Moleta ein zweites Mal zusammen - die
Zweimastschaluppe war verschwunden!
Die Bucht war leer, bis auf die „Bonifacio"...
Die Hauptpersonen des Romans: Della Rocca - Der Korse betrügt seine Mannschaft, aber dann ist er selbst der Betrogene. Moleta - Der Bootsmann der „Bonifacio" wird schnell nüchtern, als er bemerkt, daß die Schaluppe verschwunden ist. Philip Hasard Killigrew - Mit seinen Arwenacks nimmt der Seewolf das zweite Perlenversteck aus. Malvina - Die schwarzhaarige Schöne ist entschlossen, mit zwei Gefährtinnen zu fliehen, aber sie geraten vom Regen in die Traufe. Theodoro - Der ungeschlachte Kerl mit dem Mückengehirn will etwas verhindern und beißt dafür ins Gras.
1. Noch immer lag Brandgeruch über der Insel Cozumel. Malvina setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Bei jedem Schritt prüfte sie mit den Zehenspitzen, ob da irgendwo ein trockener Ast lag, der sie mit lautem Knacken verraten hätte. Sie entfernte sich nach Südwesten hin aus dem Hüttenlager, noch im Schutz der Dunkelheit. Erschauernd wurde ihr bewußt, welchem Grauen sie alle entronnen waren. Nach wie vor war nicht geklärt, wodurch jenes verheerende Busch feuer entstanden war, das della Roc cas Stützpunkt um ein Haar vernich tet hätte. Jetzt, zwei Stunden vor Be ginn des Morgengrauens, lastete der Geruch der verkohlten Bäume und Pflanzen schwer und beklemmend über dem Erdboden. Er wurde vom Nebel offenbar nach unten gedrückt und drang sogar bis in die unver sehrte Pflanzenwelt des südwestli chen Dickichts vor. Malvina hatte sich in ein dunkles Tuch gehüllt. Mit ihrer braunen Haut und dem langen schwarzen Haar war
sie nicht mehr als ein Schatten in der Nacht. Dennoch war sie von Angst erfüllt. Wenn es der Zufall wollte, daß jemand aufwachte und ihr Verschwinden entdeckte, war es aus mit ihr. Der Korse verstand keinen Spaß. Das hatte er zuletzt bei Zardo ge zeigt, dem er die Hölle bereitet hatte. Und Dubuque, der Kreole, war aus einem nicht minder lächerlichen Grund hingerichtet worden. Nein, Malvina gab sich keinen Illu sionen hin, während sie lautlos in das Dickicht vordrang. Wenn della Rocca sie erwischte, würde er sie als Ver schwörerin zum Tode verurteilen. Welche Exekutionsart mochte er diesmal anwenden? Nachdem Dubu que erschossen und Zardo gehängt worden war, würde er sie womöglich köpfen. Damit mußte sie rechnen. Immerhin war sie im Begriff, zwei Freundinnen zu unerlaubtem Tun anzustiften. Ein wenig von ihrer Angst verlor sie, als sie endlich den Treffpunkt er reichte. Eine kleine Lichtung, die von einem blassen Streifen Mondlicht er hellt wurde. Malvina war die erste, die an Ort und Stelle eintraf.
Sie lehnte sich gegen die knorrigen Luftwurzeln einer Mangrove und horchte auf ihren Herzschlag, der hämmernd ging und sich kaum be ruhigte. Sie wußte, in Sicherheit war sie erst wieder im Lager, wenn sie neben dem verfluchten Kerl lag, der hoffentlich noch recht lange im Traumland blieb. Malvina lächelte. Eine gewisse Macht über die Män ner hatte sie allerdings. Wenn sie ih re weiblichen Waffen gezielt genug einsetzte, konnte sie so ziemlich jeden Kerl um den Finger wickeln. Au ßer della Rocca, vielleicht. Der Korse war ein höllisch harter Hundesohn. Weibsbilder bedeuteten für ihn eben nicht mehr als Weibsbilder - eine niedere Sorte Mensch, mit der man beliebig umsprang, fast wie mit Sklaven. Gewiß, er hatte seine Favoritinnen im Stützpunkt. Aber dennoch hatte es keine der Frauen auch nur im Ansatz geschafft, ihn ein bißchen zu be einflussen. Ein kaum hörbares Rascheln drang durch die nächtliche Stille. Ungewollt zuckte Malvina zusammen. Die Befürchtung, etwa doch verfolgt worden zu sein, schnürte ihr für Sekunden die Kehle zu. Dann aber atmete sie auf. Consuela, die Andalusierin, trat als erste auf die Lichtung, dichtauf ge folgt von Laurinda, der Portugiesin. Sie hatten es nur gemeinsam gewagt, sich vom Lager zu entfernen. „Seid ihr verfolgt worden?" fragte Malvina hastig. „Bestimmt nicht", antwortete Con suela und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Wir sind mindestens zwanzigmal stehengeblieben und haben gehorcht. Aber da hat sich nichts gerührt hinter uns."
„Vielleicht hätten wir uns besser irgendwo beim Lager getroffen", sagte Laurinda leise, „hinter einer Hütte oder so." „Damit die Mistkerle nur die Ohren zu spitzen brauchen, um uns be lauschen zu können?" entgegnete Malvina scharf. „Ich will euch nicht vorschreiben, was ihr zu tun habt. Und ich will euch auch nicht mit Ge walt auf meine Seite ziehen. Ihr müßt frei entscheiden. Nur macht euch um Himmels willen nichts vor, was die Gefahr betrifft. Della Rocca ist wie eine Viper, wenn er Unrat wittert. Muß ich euch das erst noch erklären?" „Mir nicht", entgegnete Consuela sofort. „Ich bin lange genug bei dem wilden Haufen." „Ich auch!" sagte Laurinda mit ge dämpfter Empörung. „So einfältig, wie ihr beide meint, bin ich nun auch wieder nicht: Ich hatte nur gemeint, ob wir es mit der Vorsicht nicht übertreiben." Die Andalusierin legte ihr die Hand auf die Schulter. „Laß dir gesagt sein, Amiga, in della Roccas Nähe kann man nicht vor sichtig genug sein. Und damit meine ich - Schluß der Debatte. Laß uns an hören, was Malvina zu sagen hat. Bevor wir hier Wurzeln schlagen, wollen wir lieber entscheiden, was wir tun." Die Portugiesin nickte nur. „Danke, Consuela", sagte Malvina. „Ihr könnt euch vorstellen, daß mich bei diesen verfluchten Kerlen nichts mehr hält. Ich meine, gegen Dubu que als Gefährten hätte ich nicht un bedingt etwas einzuwenden gehabt. Aber Quebracho war mir doch zehn mal lieber. Und jetzt habe ich nie manden mehr, seit es ihn in Campe che erwischt hat."
„Niemanden?" entgegnete Laurin da grinsend. „Du hast Theodoro, ist das nichts?" „Der springende Punkt", erwiderte Malvina wütend. „Der Kerl hat ja bei mir das Faß zum Überlaufen ge bracht!" „Dabei ist er so ein reizender Bur sche", sagte Consuela in freund schaftlichen Spott. „Laß die dummen Witze", sagte Laurinda, „dafür ist jetzt wirklich keine Zeit. Ich kann Malvina verstehen. Dieser Theodoro ist das reinste Brechmittel. Sonst hat er nie eine ab gekriegt, und jetzt auf einmal mußte ihn della Rocca Malvina zuteilen. Ich frage mich bloß, warum?" Malvina schnaubte verächtlich. „Das kann ich dir leicht beantwor ten. Irgendwie hat er es mir natürlich doch krumm genommen, daß er wegen mir Dubuque hinrichten mußte. Hätte ich Dubuque den ver dammten Perlenbeutel zurückgege ben, wäre alles nicht passiert! Aber ich mußte ja so starrköpfig sein, den Beutel zu behalten. Einerseits war es dem Korsen natürlich ganz recht, im Falle Dubuque mal wieder zeigen zu können, wer hier das Kommando hat. Andererseits ist ihm wohl klar geworden, daß er einen guten Mann verloren hat - vor allem nach dem Fiasko in Campeche. Also erhält das Miststück, das für alles verantwortlich war - ich nämlich -, was es verdient." „Siehst du das nicht ein bißchen übertrieben?" fragte Consuela. „Es spielt keine Rolle. Es ändert nichts daran, daß ich meine Ent scheidung getroffen habe. Erstens bin ich hier nur noch der Fußabtreter. Zweitens habe ich im Gefühl, daß sich irgend etwas tun wird. Ich könnte mir vorstellen, daß della Rocca mit
seiner gesamten Mannschaft abhaut und uns einfach sitzenläßt." Die beiden Europäerinnen starrten die braunhäutige junge Frau un gläubig an. „Wie kommst du denn darauf?" fragte Consuela kopfschüttelnd. „Zähl doch mal zwei und zwei zu sammen", entgegnete Malvina. „In Campeche haben sie ihm zum ersten Male die Jacke vollgehauen. Was das bedeutet, ist doch wohl klar. Die Dons sind es langsam leid, sich dau ernd die Perlenvorräte abnehmen zu lassen. Also tun sie was und fahren schwere Geschütze auf. In Campeche hat es so richtig schön gewirkt. Della Rocca ist kein Dummkopf. Er weiß, womit er in den anderen Perlenfischerorten zu rechnen hat. Was müßte er also vernünftigerweise tun?" „Verstehe", sagte Laurinda ge dehnt. „Er nimmt sein Schiff, klaubt alles zusammen, was er an Schätzen versteckt hat, und haut ab nach Kor sika." „Wo er hingehört", fügte Consuela grimmig hinzu. „Das kann uns egal sein", sagte Malvina wegwerfend. „Wenn er uns in Ruhe läßt, kann er meinetwegen hingehen, wo der Pfeffer wächst. Hauptsache, wir unternehmen etwas, bevor es zu spät ist." „Du meinst", entgegnete Laurinda, „er würde uns alle umbringen lassen, bevor er verschwindet?" „Bei della Rocca muß man mit al lem rechnen." Die Braunhäutige zog die Schultern hoch. „Aber so schlimm muß es gar nicht mal kommen. Es genügt, wenn er uns ohne Essen und Trinken hier sitzenläßt. Etwas Wasser könnten wir uns vielleicht noch beschaffen. Aber Eßbares? Man kann sich nicht ständig von
Kokosnüssen und Grünfutter ernähren." Consuela blickte sie eindringlich an. „Du willst damit sagen, wir sollten uns einen Vorrat beiseite schaffen und dann bei passender Gelegenheit verschwinden?" „Erst mal", erwiderte Malvina, „muß ich euch fragen, ob ihr überhaupt mitmachen wollt. Ich möchte euch zu nichts überreden, wovon ihr nicht überzeugt seid." Beide Frauen schüttelten sofort den Kopf. „Du weißt schon, warum du uns angesprochen hast", sagte Consuela. „Laurinda und ich haben die Nase genauso voll wie du, das steht fest. Die Kerle behandeln uns wie den letzten Dreck. Aber wir sind eben nicht solche dummen Hühner wie die anderen, die sich alles gefallen las sen. Ich, für meinen Teil, bin dabei. Darüber brauchen wir uns nicht mehr lange zu unterhalten." „Das gleiche gilt für mich", sagte Laurinda mit eifrigem Nicken. „Also gut", entgegnete Malvina lä chelnd. „Ich habe natürlich gewußt, daß ich mich in euch nicht täusche. Ihr müßt euch darüber im klaren sein, was für ein Risiko wir eingehen." Die drei Frauen wechselten einen Blick. „Ich sehe da überhaupt keinen Un terschied", sagte Consuela. „Egal, was wir tun - unser Kopf steckt so oder so in der Schlinge. Also können wir ebensogut versuchen, ihn recht zeitig herauszuziehen." Malvina nickte. „Klar. Bleibt also noch die Marsch route. Ich schlage vor, daß wir versuchen, auf direktem Weg die Ostküste weiter südlich zu erreichen. Dazu brauchen wir vor allem Pro
viant, einen Trinkwasservorrat und Waffen." „Damit fangen wir am besten sofort an, wenn wir zurück im Lager sind." Laurinda stemmte unterneh mungslustig die Fäuste in die Hüften. „Schaffen wir möglichst schnell möglichst viel auf die Seite. Um so eher können wir verschwinden." Das wichtigste war besprochen. Die drei Frauen vereinbarten eine Stelle abseits vom Lager, wo sie ihre Vorräte verstecken würden. Dann verließen sie den Ort ihres geheimen Treffens getrennt, um so unauffällig wie nur möglich zu den Hütten zu rückzukehren. Es gelang ihnen. Eine Stunde nach dem verschwörerischen Gespräch im Dickicht hatten sie wieder ihre Plätze auf den Nachtlagern eingenommen, wo ihre Gefährten nach wie vor schnarchten, was das Zeug hielt. Der Abend und die Nacht waren alkohol reich genug gewesen, um die Kerle wieder einmal in einen Dauerschlaf bis in die Mittagsstunden zu versen ken.
* Der neue Tag war der 20. Juli im Jahre des Herrn 1595. Ein Tag, den der Satan höchstpersönlich an sich gerissen haben mußte. Denn er eröffnete ihn mit einem höllischen Konzert von Pauken und Trompeten. Das dröhnte, schmetterte und hämmerte, als ob alle FegefeuerHeizer dienstfrei hätten, um sich am Lärmorchester zu beteiligen. Della Rocca verfluchte den Ge hörnten für diesen nervtötenden Höllenlärm, wünschte ihm die Pest an den Hals und schwor ihm, daß er ihm einen Tritt in den Hintern ver
passen werde, wenn er ihn nur zu fassen kriegte. Es dauerte eine Weile, bis der Kor se begriff, daß sich der ganze Teu felstanz innerhalb seines Schädels abspielte. Mit der Wiederkehr seiner Sinne gelang es ihm, die komplette Höllencrew zum Teufel zu schicken. Was aber blieb, war dieses verfluchte Dröhnen und Hämmern. Es war drauf und dran, seinen Kopf von innen her zu sprengen. Und immer noch schien der Höl lenfürst seine Hand im Spiel zu ha ben. Della Rocca fühlte sich fallenge lassen wie ein heißes Exemplar jener Frucht, die man in der Neuen Welt entdeckt, in die Alte Welt verfrachtet hatte und dort Pomme de Terre nannte - Erdapfel, Kartoffel. Ja, ver dammt, dieser gehörnte Hurensohn ließ ihn hohnlachend in die Wirk lichkeit fallen. Und die war schlimmer als alle Pauken und Trompeten zusammen. Denn nach und nach fielen ihm die jüngsten Geschehnisse ein. Er stieß einen Wutschrei aus und fuhr in seiner Koje hoch. Im nächsten Moment sank er mit einem äch zenden Schmerzenslaut wieder zu rück. Es war, als hätte er versucht, seinen eigenen Schädel in die Luft zu jagen. Ein Wunder, daß sein dröh nender Kopf nicht auseinanderge flogen war wie ein soeben gezünde tes Pulverfaß. Er zwang sich, bewegungslos lie genzubleiben. Doch die Wut brodelte und kochte in ihm. Das Logbuch der Perlen war ver schwunden. Zardo, der Hundesohn, hatte es ge klaut. Aber selbst angesichts des Zappeltodes am Strick hatte der Mistkerl nicht verraten, wo er den Folianten versteckt hatte.
Bis zum Dunkelwerden hatte della Rocca am Vortag nach dem Buch ge sucht. Ohne Erfolg. Aus lauter Ver zweiflung hatte er in der Kapitäns kammer der „Bonifacio" einen mächtigen Schluck zur Brust ge nommen. Rückblickend gesehen, hatte es wenig genutzt. Er hatte sei nen Zorn vorübergehend vergessen. Aber das war auch alles. Jetzt, an diesem Morgen, da die Sonne so widerwärtig durch die Bleiglasfenster blinzelte, sah alles noch schlimmer aus als vorher. Ohne das Perlenbuch war er ein Nichts. Die eine Truhe, die er in der Bucht nahe Havanna geborgen hatte, war zwar ein sanftes Ruhekissen. Ein gutes finanzielles Polster, mit dem sich auskommen ließ. Aber der Inhalt an Perlen reichte nicht, um damit das königliche Leben zu führen, das er sich für den Rest seiner Tage vorgestellt hatte. Er mußte etwas unternehmen. Daran führte kein Weg vorbei. Endlose Minuten, wie Ewigkeiten, waren vergangen, als er es wagte, sich langsam aus der Koje zu wälzen. Noch behutsamer richtete er sich auf, um den Dröhnschädel zu überlisten. Er schaffte es, seinen wichtigsten Körperteil in einem Stück zu behal ten. Mit dem Rücken lehnte er sich an das Schapp neben der Koje und hielt den Kopf mit beiden Händen. Langsam und vorsichtig nahm er die Hände herunter. Es erstaunte ihn, daß die teuflischen Paukenschläger und die satanischen Trompeter nicht von neuem ihr mißtönendes Konzert begannen. Nichtsdestoweniger schwankte die Welt um ihn herum beträchtlich. Das Nachspiel seines Saufabends war noch lange nicht durchgestanden.
Die Welt! Er stieß einen verächtlichen Knurrlaut aus. Wovon, zum Teufel, redete er? Diese Kapitänskammer war nichts als eine erdrückende hölzerne Enge, da gab es nichts mehr, was noch irgendeine weitreichende Bedeutung gehabt hätte. Ja, früher, bis vor kurzem, war er der gerissenste Bursche unter der Sonne gewesen. Da hatte er seinen Kopf noch zum Denken benutzt, und niemand hatte ihm das Wasser rei chen können. Und von dieser Kapi tänskammer aus hatte er begonnen, einen Teil der Welt zu regieren. Sein Einfluß war gewachsen und ge wachsen. Eines Tages hätte sein Vermögen ausgereicht, um ihn aus der Abgeschiedenheit seiner Kammer ausbrechen und an das Licht der Öffentlichkeit treten zu lassen. Mit seinem unermeßlichen Reich tum hätte er sich zum König von Korsika aufschwingen können. Ein verdammter Bastard hatte ihm den Weg verbaut. Ein hirnloser Narr hatte das Ergebnis seiner Gedanken arbeit zerstört - mit einem lächerlich simplen Schachzug zerstört. Die Er kenntnis schmeckte gallig bitter. Was nutzte alle Geistesarbeit, wenn sie durch rohe Gewalt oder Diebstahl zerstört werden konnte! Della Rocca legte die Handflächen auf das Schapp und schob sich behutsam davon weg. Es gelang ihm, sich auf beiden Beinen zu halten, doch das Dröhnen in seinem Schädel nahm wieder zu. Im Rhythmus seiner tapsigen Schritte schwoll es an und ab. Er zwang sich, durchzuhalten. Er mußte diesen hinterhältigen Bastar den beweisen, daß er cleverer war als alle zusammen.
Die Worte hallten in ihm nach, und er verharrte jäh, als er das Schott eben geöffnet hatte. ... als alle zusammen! Hölle und Teufel, daran hatte er überhaupt noch nicht gedacht! Zar do, dieser Mistkerl, hatte womöglich Komplicen gehabt. Das konnte be deuten, daß sie sich ins Fäustchen lachten, weil sie inzwischen das Wei te gesucht hatten - mit seinem Log buch der Perlen! Von plötzlich aufwallender Panik getrieben, stürmte della Rocca an Deck. Er kümmerte sich nicht um sein Kopfdröhnen, das jetzt einer un ablässigen Folge von tosend heran rauschenden Flutwellen glich. Mit langen Sätzen rannte er über die Kühl, beugte sich über die Backbord verschanzung und verspürte unend liche Erleichterung. Die Zweimastschaluppe lag noch da. Möglich also, daß Zardo doch kei nen Komplicen gehabt hatte. Der Kerl hätte gut daran getan, noch in dieser Nacht mit der Schaluppe zu verschwinden. Andererseits ging es nicht von heute auf morgen, genü gend brauchbare Kumpane zu fin den, mit denen man eine Crew bilden konnte, die etwas taugte. Das Wasser in der Bucht war noch einigermaßen kühl. Della Rocca hievte mehrere Pützen davon hoch und goß es sich über den Kopf, indem er sich weit nach außenbords beugte. Es war eine Wohltat. Das Dröhnen ließ nach. Angenehme Kühle durchdrang seine Gedanken, und er konnte wieder logische Überlegungen anstellen. Alles in allem durfte er unbesorgt sein. Immerhin war zu bezweifeln, daß es unter all den Kerlen auch nur ei
nen gab, der ausreichend Grips hatte. Denn den brauchte man schon, wenn man mit dem Logbuch der Perlen etwas anfangen wollte. Die Ortsangaben, durch Ziffernkom binationen verschlüsselt, machten das Logbuch zum Buch mit sieben Siegeln. Die Zeichnungen allein waren für einen unwissenden Betrachter wertlos, denn er hatte ja keine Ahnung, welcher Küstenabschnitt auf der jeweiligen Buchseite abgebildet war. Oder? Möglich allerdings, daß einer der Kerle ein gutes Vorstellungsvermö gen hatte und in der Lage war, sich anhand der Ortsskizzen zu erinnern, um welchen Platz an einer karibi schen Küste es sich handelte. Eine solche Möglichkeit war jedoch in höchstem Maße unwahrscheinlich. Im Verlauf seiner Jahre als See fahrer hatte della Rocca immer wie der festgestellt, daß einfache Gemü ter nicht fähig waren, sich in die kar tographische Vogelperspektive hin einzudenken. Nach seinem Ermessen gab es in der gesamten Mannschaft keinen einzigen Kerl, der eine solche Denkfähigkeit hatte. Zum hundertsten Male überdachte der Korse seine Sicherheitsmaßnah men hinsichtlich der Perlenverstecke und gelangte zu dem Schluß, daß seine Kerle viel zu blöde und stur waren, um ihn zu übertölpeln. Noch viel weniger würden sie es fertig bringen, die Geheimzahlen zu ent schlüsseln. Lesen, Schreiben und Rechnen waren Künste, die sie nicht gelernt hatten. Eine Ausnahme bildeten lediglich Moleta, der Bootsmann, und Manoel Ribas, der Lotse auf der „Bonifacio". Auf Ribas konnte er sich verlassen, ihn würde er auch mitnehmen, wenn
er von hier für immer verschwand. Am besten sollte das noch in der nächsten Nacht geschehen, und zwar mit der Zweimastschaluppe. Auf Moleta konnte er getrost ver zichten, dem durchtriebenen Kerl traute er sowieso nicht über den Weg. Steckte der Bursche vielleicht sogar mit Zardo unter einer Decke? Zwar hatte er ihn mit aufgehängt, aber das konnte ebensogut Tarnung gewesen sein. Klar, auf diese Art und Weise hatte Moleta seinen Mitwisser leicht und elegant beseitigt. Der Korse begriff nicht, wie absurd seine Gedankengänge waren. Noch viel weniger erkannte er, wie unendlich weit er davon entfernt war, das Verschwinden des Logbuchs auf andere Weise zu erklären. Beinahe starrsinnig war er darauf fixiert, den oder die Schuldigen innerhalb seiner Mannschaft zu suchen. Nur in den eigenen Reihen, davon war er überzeugt, konnte überhaupt jemand wissen, daß er an verschie denen Stellen ein Vermögen an Per len gehortet hatte. Um so mehr war er jetzt entschlossen, reinen Tisch zu machen, bevor ein Mitwisser heimlich mit der Schaluppe verschwand. Verdächtig war da in erster Linie Moleta, der Hundesohn, der wahr scheinlich wie kein anderer wild darauf war, die Perlenverstecke zu plündern. Della Rocca kippte sich einen letz ten Eimer Wasser über den Kopf, wandte sich um und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Verschan zung. Es galt, einen geeigneten Weg zu finden, um rasch und ohne Kom plikationen die eigenen Zelte hier abzubrechen. Nun, da sein Kopf wieder schmerzund dröhnfrei war, brauchte der Korse nicht einmal lange zu überle
gen. Im Handumdrehen hatte er die richtige Idee gefunden. In Gedanken beleuchtete er den Einfall noch ein mal von allen Seiten und war dann sicher: Es würde reibungslos funktio nieren. Ein breites Grinsen malte sich in die Züge della Roccas.
2. Consuela hatte sich zwei Leder schläuche über die Schultern gewor fen und sie mit Wasser aus den Vor ratsfässern gefüllt. Sorgsam rückte sie die nun schwerere Last auf ihren Schultern zurecht. Ungewollt glitt ihr Blick zum Strand, und sie erschauerte. Der Leichnam Zardos wurde dort vom Wind sanft hin und her bewegt. Ein schauriger Anblick, nach Consuelas Empfinden. Es war beileibe nicht das erste Mal, daß sie einen Gehenkten oder sonstwie Hingerichteten sah. In verschiedenen Hafenstädten hatte sie miterlebt, wie die Obrigkeit exe kutierte Schnapphähne zur Ab schreckung zur Schau stellen ließ. Aber das hier war etwas anderes. Der Tote befand sich mitten in ihrer Gemeinschaft, so daß man sich sei ner Anwesenheit kaum entziehen konnte. Nur mit Mühe zwang sich Consuela, ihre Gedanken dem Nahe liegenden zu widmen. Nur die Frauen waren bereits wach. Die heraufziehende Morgensonne hatte sie an ihre Pflichten erinnert. Wenn es wärmer wurde und der Stützpunkt zum Leben erwachte, wünschten die Herren der Schöpfung in gewohnter Weise verwöhnt zu werden - zunächst mit einer handfesten spätmorgendlichen Mahlzeit.
Die Frauen begannen damit, die lange Tischplatte wie üblich am Strand zu reinigen. Gearbeitet und gesprochen wurde so leise wie mög lich, damit die schnarchenden Seno res in den Hütten nicht vorzeitig ge weckt wurden. Laurinda arbeitete mit den anderen Frauen zusammen. Es fiel weniger auf, wenn sie einzeln und nicht gleichzeitig verschwanden. Consuela vergewisserte sich, daß keine der Gefährtinnen auf sie achtete. Das Wasserreservoir befand sich ohnehin abseits der Hütten. Sie setzte sich in Bewegung und umrundete den nordwestlichen Bereich des Lagers. Mehrmals verharrte sie und horchte. Doch aus den Hütten war nichts Verdächtiges zu vernehmen. Die Schnarchtöne klangen gleich mäßig. Keiner der Kerle würde so schnell von seiner Gewohnheit ab weichen, sich erst gegen Mittag wi derstrebend vom Nachtlager zu wäl zen. Nach Südwesten hin gab es ver schiedene Trampelpfade. Der Geruch, den die kalte Asche des Buschbrandes ausströmte, war übelkeitserregend. Consuela wandte sich dem Gebiet zu, in dem die Vegetation keinen Schaden genommen hatte. Vogelstimmen waren bereits zu hören, die ersten Takte des sehr bald lärmenden Konzerts hatten eingesetzt. Die Spanierin strebte auf jene Lichtung zu, die sie gemeinsam mit Malvina als Zwischenlager für die bevorstehende Flucht ausgesucht hatte. Schling- und Blattpflanzen, die zwischen turmhohen Mangro venstämmen üppig wucherten, bil deten beiderseits des Pfades eine undurchdringlich scheinende grüne Wand. Consuela wehrte sich inner
lich gegen das Unbehagen, das sie mit jedem Schritt mehr befiel. Ihr war, als lauerten hinterhältige Wesen in dem Dickicht, menschlicher oder tierischer Art, die nur auf einen geeigneten Moment warteten, über sie herzufallen. Mehr als zwanzig, dreißig Yards konnten es nicht mehr sein bis zur Lichtung. Es kostete Consuela unsägliche Mühe, abermals stehenzubleiben und zu horchen. In ihren Schrek kensvisionen malte sie sich eine Rie senschlange aus, die nur auf diese Gelegenheit gewartet hatte, sich aus dem Dickicht heraus um ihren Körper zu winden und sie zu zerquetschen. Doch es waren Schrittgeräusche, die in ihr Bewußtsein drangen. Con suela erstarrte vor Schreck. Die gan ze Zeit hatte sie nichts gehört, und jetzt, auf einmal, sollte es einen Ver folger geben? Aber kein Zweifel, da walzte jemand ziemlich laut über den mit fauligen Pflanzen übersäten Boden. Himmel, vielleicht war der Kerl nur noch ein paar Schritte entfernt! Oder war es ein Tier? Eine blutrün stige Bestie? Consuela setzte ihren Weg fort, ha stig jetzt. Panik wallte in ihr auf. Ei gentlich hätte sie eine andere Route einschlagen müssen, um den Verfol ger von dem Vorratslager abzulenken - falls es sich um einen menschlichen Verfolger handelte. Doch sie wußte, daß Malvina auf sie wartete, und diese Tatsache war gleichbedeutend mit Schutz. Es war einfach das Gefühl, daß man sich zu zweit besser wehren konnte als allein. Keuchend erreichte die Spanierin die Lichtung. Malvina, die einen Leinenbeutel mit Dörrfrüchten zuschnürte, wirbelte erstaunt herum, als sie die gehetzten
Schritte und den heftigen Atem der Gefährtin hörte. „Mir folgt jemand!" stieß Consuela flüsternd hervor. Aus der Bewegung heraus bückte sie sich und ließ die Wasserschläuche zu Boden gleiten. Malvina schnellte im selben Mo ment hoch. Aus einer Falte ihres Kleides holte sie ein Messer hervor. Die breite, doppelt handspannenlan ge Klinge schimmerte matt im trüben Licht. Mit einer raschen Bewegung der freien Hand forderte die Braunhäutige ihre Gefährtin auf, sich hinter ihren Rücken zu begeben. „Eine Ahnung, wer oder was es ist?" fragte Malvina leise. „Wenn ich es wüßte, wäre ich Wahrscheinlich nicht weggerannt", flüsterte Consuela. Malvina hob die messerlose Hand, um damit anzuzeigen, daß jetzt Ruhe geboten war. In der Tat waren die Schritte schon ziemlich nahe. Zum Glück wußten die beiden Mädchen, daß es keine riesigen Tiere auf den karibischen Inseln gab, sonst hätten sie das We sen tatsächlich für einen dieser furchterregenden Braunbären halten können, die in nördlicheren Breiten lebten. Die beiden Frauen verharrten re gungslos. Malvinas Muskeln spann ten sich. Sie war sich darüber klar, daß ihr gesamter Plan zum Scheitern verurteilt war, wenn sie jetzt entdeckt wurden. Jäh erschien das tapsende Wesen nach Verlassen des Pfades auf der Lichtung. Malvina und Consuela sperrten den Mund auf. „Theodoro!" entfuhr es der Braun häutigen. Sie war ebenso entgeistert wie ihre Gefährtin, die mit schlim merem gerechnet hatte.
Groß und kantig stand er da, zu rückgeprallt von einem Anblick, den er nicht erwartet hatte. So unge schlacht wie sein ganzer Körper, so abstoßend waren seine Gesichtszüge. Unter den blaßblauen, blutunter laufenen Augen hingen schwammige Tränensäcke. Die eingedrückte Knollennase stand schräg dazwi schen, die wulstigen Lippen entblöß ten zwei lückenhafte Zahnreihen. Das braune Haar hing ihm in wirren, fettigen Strähnen über die eckige Stirn, darunter dominierte ein ausla dendes Kinn, dessen Spitze unver hältnismäßig weit vorstand. Obwohl Theodoro gut und gerne dreißig Jahre alt war, hatte er den Bartflaum eines Jünglings. Er nannte sich selbst einen Ba stard, wie man es ihm gesagt hatte. Denn er fand nichts Böses an diesem Wort, dessen Bedeutung er nicht kannte. Er stammte von einem spa nischen Kaufherrn und einer Hafen dirne in Havanna. Seine Mutter war vermutlich froh, daß er schon als Junge das Weite gesucht und sich auf eigene Faust durchgeschlagen hatte. Seine Augen verengten sich, als er das Messer in Malvinas Hand ent deckte. Er sah die Wasserschläuche und die anderen Vorräte, die von zwei oder drei Personen gerade eben getragen werden konnten. Ein Ruck ging durch den kantigen Körper des Mannes. Er griff zum Entersäbel. Das harte, schabende Geräusch, mit dem die Klinge aus der Scheide rasselte, ließ die Frauen zusammenzucken. „Was treibt ihr hier?" herrschte er sie an. Seine Stimme hörte sich an wie die eines Jungen, der den Stimmbruch noch nicht erreicht hat.
„Nichts, was dich etwas angeht", erwiderte Malvina scharf. Sie wurde mit der Angst fertig. „Verschwinde, Theodoro. Sei ein braver Bursche und kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten." Aus den Augen winkeln heraus spürte sie den be sorgten Blick Consuelas. Vielleicht hatte sie nicht unrecht. Wenn dieses Schreckensbild von einem Mann tat sächlich gehorchte, hatte man ihn nicht unter Kontrolle. Dann wußte man nicht, was er im Lager erzählen würde. Doch die Frage erübrigte sich. Theodoro ließ ein meckerndes La chen hören. „Rede nicht solchen Quatsch", sag te er kichernd und wedelte mit der Säbelklinge. „Deine Angelegenheiten sind auch meine, süße kleine Malvina. Oder etwa nicht?" Consuela stieß sie kaum merklich mit dem Ellenbogen an. Malvina be griff, daß sie einlenken mußte. Dieser Klotz von einem Kerl war unbe rechenbar. Von seinem lächerlichen Äußeren durfte man sich nicht täu schen lassen. „Aber ja. Theodoro", entgegnete sie sanft. Das Messer ließ sie indessen keinen Fingerbreit sinken. „Nur manchmal möchten Frauen eben auch unter sich sein. Das wirst du doch verstehen." „Ah! Und dazu schleppt ihr Wasser und Proviant hierher? Damit ihr in aller Ruhe mal unter euch sein könnt?" „Aber ja." Malvina nickte bekräfti gend. „Wenn man über Gott und die Welt spricht, braucht man zwischen durch auch etwas, was Leib und See le zusammenhält." Theodoro bewegte energisch den unförmigen Schädel hin und her.
„Mir könnt ihr nichts vorerzählen, ihr beiden kleinen Miststücke." Abermals wedelte er mit dem Säbel und beugte sich dabei vor. Seine blaßblauen Augen begannen tückisch zu funkeln. „Ihr wollt abhauen, stimmt's?" „Aber Theodoro!" rief Malvina entrüstet. „Wie kommst du denn auf so etwas?" „Ganz einfach", erwiderte er grin send. „Bin ja nicht blöd! Euch beide beobachte ich schon eine ganze Zeit. Ihr steckt dauernd die Köpfe zusam men. Und da habe ich mich heute morgen ein bißchen schlafend ge stellt. Es hat sich gelohnt, wie ich se he. Ich an eurer Stelle wäre ganz klein und häßlich. Wenn ich will, melde ich euch della Rocca." „Aber das willst du doch gar nicht", sagte Malvina säuselnd. „Da hast du zum erstenmal eine richtige Partne rin, und dann willst du sie dir gleich wieder vom Hals schaffen?" Theodoro schnaubte verächtlich. „Ihr wollt abhauen. Ganz klar. Ich verhindere das. Hiermit!" Er stieß den Säbel senkrecht in die Luft. „Dann kriege ich so viele Weibsbilder, wie ich haben will. Als Belohnung. Von della Rocca. Einfach abhauen - das gibt's hier nämlich nicht." Malvina wechselte einen heimlichen Blick mit Consuela, die noch keinen Ton hervorgebracht hatte, seit Theodoro aufgetaucht war. Das Gesicht der Spanierin war kreide bleich, ihre Angst unübersehbar. Sie mußten ihre Taktik ändern. Darüber gewann Malvina in diesem Moment Gewißheit. Der grob schlächtige Einfaltspinsel wurde zur tödlichen Gefahr, wenn man ihn falsch anfaßte. Dieser hirnlose Riese brachte es tatsächlich fertig, Consue la und sie zu verraten - nur, um in der
Gunst des Korsen ein bißchen zu steigen. Malvina atmete tief durch und gab sich einen Ruck. Consuela würde verstehen, was sie vorhatte. Sie brauchte es nicht zu erklären, konnte es auch nicht, da Theodoro immerhin nicht einfältig genug war, um nicht auch Unterschwelliges zu begreifen. Ankündigungslos verstaute Malvina das Messer unter ihrem Kleid. „Wir wollen uns doch nicht streiten, Theodoro", sagte sie in der richtigen Mischung aus Nachgiebigkeit und ungebrochenem Stolz. „Das Leben ist viel zu kurz, als daß man es sich unnötig erschweren sollte." Falten entstanden auf seiner ecki gen Stirn. „Jetzt kriegt ihr doch Angst, was?" Malvina stieß die Luft durch die Nase. „Unsinn, mein Großer. Wir sind zu zweit, und ein bißchen kämpfen kön nen wir auch. Bilde dir also keine Schwachheiten ein. Nein, ich meine, was ich gesagt habe. Wir brauchen uns wahrhaftig nicht zu streiten. Wir lügen dich nicht an, denn wir wollen wirklich nicht abhauen. Du hast uns also nichts vorzuwerfen. Deshalb ..." Sie dehnte die letzte Silbe, sprach nicht weiter und setzte ein verführerisches Lächeln auf. „Was - deshalb?" entgegnete er wie ein zuschnappender Hund. Consuela hatte unterdessen bereits verstanden, was ihre braunhäutige Gefährtin beabsichtigte. Hochaufge richtet und mit tiefem Augenauf schlag schob sich die Spanierin ne ben Malvina. „Ist das so schwer zu verstehen?" sagte Consuela sanft. Wie unbeab sichtigt nestelte sie mit den Fingern der Linken an den Schnüren, die ihre Leinenbluse verschlossen.
Theodoros Augen wurden starr. Es entstand der Eindruck, als gäbe es innerhalb seines Schädels eine plötz lich auftretende Macht, die seine Au gen von innen nach außen zu drük ken versuchte. Sein Adamsapfel be wegte sich ruckend auf und ab, lang sam senkte sich die eben noch dro hende Klinge seines Säbels. Malvinas Rechnung ging auf. In der wilden Meute des Korsen hatte der einfältige Theodoro immer ein Schattendasein geführt. Die Frauen waren ihm stets von den an deren weggeschnappt worden, und die Frauen selbst hatten sowieso nur über ihn gelacht. So war ihm meist nichts anderes geblieben, als Trost und Zuflucht im Alkohol zu suchen. Um so mehr wurde er aber regelmä ßig verhöhnt, wenn er volltrunken wie ein tapsiger Bär durch die Gegend schwankte. Auf einmal erschlossen sich ihm paradiesische Wonnen, von denen er Zeit seines Lebens immer nur ge träumt hatte. Nicht allein, daß ihm della Rocca die rassige Braunhäutige zugewiesen hatte. Jetzt schien sich auch deren Freundin für ihn zu in teressieren. Ein brennendes Glücksgefühl stieg in Theodoro auf. Denn plötzlich war er sicher, die Erklärung zu haben. Natürlich! Malvina hatte ihrer Freundin berichtet, welche Qualitäten als Liebhaber er hatte. Und nun war auch diese dralle Spanierin ganz verrückt nach ihm. Welch ein Wun der! „Ihr wollt also wirklich nicht ab hauen?" sagte er heiser. Malvina mußte sich beherrschen, um nicht spöttisch zu grinsen. „Was wir wirklich wollen", sagte sie gurrend, „beweisen wir dir, wenn du
deinen dämlichen Säbel eingesteckt hast." „So ein Kerl wie du", fügte Consue la hinzu, „hat doch ganz andere Waffen, mit denen er eine Frau kleinkriegt." Während sie es sagte, trat sie langsam vor und öffnete ihre Bluse weiter. Theodoros Mundwinkel begannen unkontrolliert zu zucken. Er schluckte heftiger. Den Säbel stieß er mit einem heftigen Ruck zurück in die Scheide. Seine Schritte waren seltsam ungelenk, als er auf die Spa nierin zuging und sie an sich riß. „Endlich hast du verstanden", hauchte Malvina, die sich nun eben falls näher schob. „Wir drei können doch so viel Spaß zusammen haben!" „Verdammt, ja", keuchte Theodoro und konnte sich nicht mehr zurück halten. Den beiden Frauen, die lange ge nug als Dirnen in verschiedenen Hä fen ihre Erfahrungen gesammelt hatten, bedeutete es keine große Überwindung, den abstoßenden Kerl nach allen Regeln der Kunst zu ver führen. Später nahmen sie ihn in die Mitte, und er stützte sich schwer auf sie. Al le im Lager konnten sehen, was sich ohne Zweifel abgespielt hatte. Theo doro trug die Zeichen seiner totalen Erschöpfung wie eine Siegestrophäe. Die ersten Kerle, die schon aufge wacht waren, grinsten sich eins. Die Frauen steckten die Köpfe zusam men und tuschelten und kicherten. Für Theodoro war all das ein Beweis dafür, wie sehr sie ihn beneideten. Die einzige im gesamten Lager, die den wahren Sachverhalt begriff, war Laurinda, die Portugiesin.
3. Am späten Vormittag ließ sich del la Rocca zum Strand übersetzen. Er hatte sich endgültig von den Folgen seines einsamen abendlichen Gela ges erholt. Mit gravitätischen Schrit ten stolzierte er auf den Lagerplatz zu. Erfreut stellte er fest, daß er rechtzeitig zur Morgenmahlzeit zur Stelle war. Eben dies bestätigte sein knurrender Magen. Er gab den Kerlen, die sich am Tisch versammelt hatten, ein gnädiges Handzeichen. Sofort schaufelten sie drauflos und stopften sich mit gebratenem Speck und Eiern voll. Die Hühner hatten in den letzten Tagen recht gut gelegt. Trotzdem wußte jeder im Stütz punkt, daß die Vorräte zur Neige gingen. Es konnte nicht mehr lange dauern, dann würde man sich von Kokosnüssen ernähren müssen. Be stenfalls konnte man versuchen, ein paar Gürteltiere zu erlegen. Wenn alles nichts half, mußte man schließ lich die Ratten aus dem Bauch der „Bonifacio" braten. Dem Korsen entging nicht, daß sei ne Kerle durchweg verschlafen und mürrisch aussahen. Ihre Laune war nicht die beste. Die Geschehnisse von Campeche steckten ihnen noch immer in den Knochen. Seitdem hatten sie keinen Grund mehr zu ausgelassener Freude gehabt. Das Wissen, daß es mit dem hemmungslosen Fressen und Saufen bald auch noch vorbei sein sollte, trug zur Verschlechterung der Stimmung bei. Della Rocca ließ sie seine strahlen de Miene sehen, er aß voller Appetit, und er scherzte mit den beiden Frauen, die neben ihm saßen. Er wußte, daß die heitere Stimmung eines An
führers stets auch die gute Laune der Untergebenen förderte. Schließlich legte er sein Messer weg, wischte sich die Mundwinkel mit einem weißen Tuch ab und klatschte in die Hände. „Herhören, Freunde!" rief er. Dabei richtete er sich am Kopfende des Tisches auf und nahm die Pose eines Feldherrn ein, der zur angetretenen Truppe spricht. „Ich habe über die Lage nachgedacht. Was wir jetzt al lesamt tun müssen, ist, uns auf die Zukunft besinnen. Campeche ist das traurigste Kapitel in unserer ge meinsamen Geschichte. Irgendwann mußten wir aber damit rechnen. Ha be ich das nicht immer gesagt?" Er blickte in die Runde, nach Bestäti gung suchend. Die ersten nickenden Köpfe waren zu sehen. Niemand der Kerle war im stande, sich genau an alles zu erinnern, was der Korse in all den Jahren von sich gegeben hatte. Und keiner hätte auch nur andeutungsweise gewagt, seine Feststellung anzuzweifeln. Man wußte schließlich, wie della Rocca reagierte, wenn ihn die Wut übermannte. Der pendelnde Leich nam Zardos war ein augenfälliges Beispiel dafür. „Ihr seht also", fuhr della Rocca in dröhnender Selbstsicherheit fort, „eine erfolgreiche Sache läßt sich nicht bis in alle Ewigkeit aufrechter halten. Irgendwann hat alles ein En de. Unser einziges Pech war, daß wir von den Ereignissen in Campeche ziemlich überrascht wurden. Nun -es hilft alles nichts, wir müssen in die Zukunft blicken. Wie ein Waschweib über die Vergangenheit zu lamentie ren, bringt niemanden weiter." Er straffte seine Haltung und ver schränkte die Arme vor der Brust.
„Deshalb,, meine Freunde, müssen wir einen neuen Anfang setzen. Un ser Betriebskapital ist nicht verloren, wenn auch das Buch der Perlen verschwunden ist. Niemandem wird es gelingen, die Verstecke zu finden. Dafür habe ich gesorgt. Wir haben also Zeit, uns für neue Taten zu rü sten. Deshalb wollen wir die Zukunft feiern, die vor uns liegt. Für heute abend ordne ich ein Fest an!" Er un terbrach sich wohlbeabsichtigt und registrierte mit Genugtuung, daß der Erfolg seiner Worte wie gewünscht ausfiel. Donnernder Beifall und Freuden gebrüll brandeten auf. Della Rocca ließ sie eine Weile ge währen. Dann hob er die Arme und bewegte die Handflächen ein paar mal dämpfend auf und ab. Nach und nach beruhigten sich die Kerle. Ihre Blicke hingen jetzt wie gebannt an den Lippen ihres Anführers. Was er da für den Abend verkündet hatte, war die erste gute Nachricht seit Campeche. „Ihr braucht euch nicht zurückzu halten!" rief er. „Sämtliche Reserven an Wein und Rum stelle ich hiermit zur Verfügung!" Erneut brüllten sie Beifall, und die Frauen kreischten, da sie nun ver mehrt in die wohlgerundeten Kör perteile gekniffen wurden. „Natürlich wollen wir es nicht bei der flüssigen Nahrung belassen", setzte della Rocca seine Ansprache fort. „Wir werden getrost das letzte Schwein und ein paar von den Hüh nern schlachten, denn morgen geht es mit der ,Bonifacio' nach Batabano. Damit wäre ich denn auch bei dem ersten Schritt, der unsere gemeinsa me Zukunft betrifft. Morgen werden wir in Batabano unsere Vorräte auf frischen. Natürlich besorgen wir auch
Wein und Rum - genug, daß es für die nächsten drei, vier Wochen reicht. Überlegt mal, Freunde: Was haben wir denn wirklich verloren? Gut, ein paar unserer Leute sind über die Klinge gesprungen. Bedauerlich, aber nicht zu ändern. Unseren Stützpunkt aber haben wir noch im mer. Kein verdammter Don hat uns bislang hier aufgespürt, und das wird auch in Zukunft so bleiben. Haben wir erst mal genug Proviant und Trinkbares, können wir in aller Ruhe überlegen, welche Taktik wir dann anwenden. Denn ich meine, wir sollten noch nicht damit aufhören, den hochverehrten Spaniern ein biß chen von ihrem Reichtum abzu zwacken. Sie klauen's den Urein wohnern, und wir klauen's den Klauern. Was soll daran falsch sein?" Erneut umjubelten sie den Korsen, und er sonnte sich in dem Gefühl, die ganze Meute im Griff zu haben. Er konnte sie lenken, wie er wollte. Da zu genügten die Klarheit seiner Überlegungen, die Gewalt seiner Worte und die Macht seiner Stimme. „Zwei Stunden haben wir noch bis zum Mittagessen und zur Siesta", sagte della Rocca. „Die Zeit sollten wir nutzen, Freunde, um schon mal die ersten Vorbereitungen zu treffen. Danach hauen wir uns alle Mann aufs Ohr, damit wir heute abend und heute nacht gut ausgeruht sind. Hat einer was einzuwenden?" Das Jubelgebrüll wollte diesmal kein Ende nehmen. Schon Minuten später setzte hekti sche Betriebsamkeit ein. Sogar Theodoro war wieder hellwach ge worden. Die anderen überließen es ihm grinsend, das Schwein zu holen und es in der Mitte des Platzes abzu stechen. Stolz richtete er sich mit blutigem Messer auf, als das schrille
Angstquieken des Tiers verstummt war. Zwei Kumpane halfen ihm, das Schwein an ein Holzgestell zu hän gen, und Aufgabe der Frauen war es, das Blut in großen Eimern aufzufan gen. Hühner flatterten und schrien in Panik in ihrem Gehege. Für ein Dut zend von ihnen hatte die letzte Stun de geschlagen. Mit Säbelhieben wur den sie reihenweise auf einem Holz bock geköpft. Die Frauen hatten alle Hände voll damit zu tun, das Feder vieh zu rupfen. Die Kerle begannen unterdessen, della Roccas letzten Getränkevorrat aus dem Lager in einer der Hütten ans Tageslicht zu schaffen - ein noch volles Faß Rum und mehr als hun dert Flaschen Wein. Es reichte, um die komplette Mannschaft in einen Zustand weltentrückter Glückseligkeit zu versetzen. Eben diesen Umstand registrierte della Rocca mit besonderer Zufrie denheit. In dem geschäftigen Eifer, der all gemein herrschte, fiel keinem der Kerle auf, daß sich della Rocca mit Manoel Ribas, dem Lotsen, zum Strand hin absonderte. Der Korse pflegte Ribas bei wichtigen Ent scheidungen oftmals hinzuzuziehen. Die Tragweite des Vorhabens für den morgigen Tag rechtfertigte zweifellos eine Erörterung navigatorischer Einzelheiten.
* „Manoel", sagte della Rocca grin send und tippte dem Lotsen mit spit zem Zeigefinger auf die Brust. „Wie fandest du meine kleine Ansprache?" Der Lotse grinste zurück.
„Gar nicht schlecht. Und wenn wir beide jetzt nicht einsam und allein am Strand stehen würden, hätte ich dir wahrscheinlich auch jedes Wort abgekauft." Der Korse spielte den eitlen Her ausforderer. „He, he! Soll das eine Unver schämtheit sein? Willst du mich etwa zum Lügner stempeln?" Manoel Ribas lachte. „Das würde mir nicht im Traum einfallen, Senor della Rocca. Sagen wir es so: Ich halte dich für den be sten Schauspieler, der mir jemals über den Weg gelaufen ist." Della Rocca nickte zufrieden. Er lächelte dazu. „Das ist es, was ich immer an dir geschätzt habe, Manoel. Bei dir weiß man, woran man ist. Du bist kein Einfaltspinsel, dem man alles drei mal erklären muß, bis er es kapiert. Und du bist kein Bastard wie Moleta, dem ich nicht von hier bis an die nächste Mangrove traue. Kurzum, ich denke, ich begehe keinen Fehler, wenn ich dich ins Vertrauen ziehe." „Du willst verschwinden", sagte Ribas trocken. „Erraten." „Nein. Mit Raten hat das nichts zu tun. Eine logische Folgerung. Die Dons heizen dir zuviel ein, dir geht das Perlenlogbuch verloren, und du spendierst ausgerechnet die aller letzten Reserven für ein großes Fest. Das kann nur bedeuten, daß du dich noch in dieser Nacht absetzen willst." Della Rocca nickte und grinste. „Bis dahin richtig. Natürlich kann ich nicht allein abhauen. Ich brauche ein paar Helfer. Vorläufig bist du der einzige, den ich eingeweiht habe. Was würdest du sagen?" „Nehmen wir die Schaluppe?" „Klar doch."
„Gut. Wir müssen für Reinschiff sorgen und aufklaren und dann Aus rüstung und Vorräte an Bord schaf fen. Das Ganze sollte nach Möglich keit so aussehen, als ob wir die ,Bonifacio' für morgen vorbereiten." Della Rocca klopfte ihm auf die Schulter. „Prächtig! Ans Tarnen und Täu schen habe ich noch gar nicht mal gedacht. Also, wieviel Mann?" „Vier, außer mir. Ich wüßte dann, daß ich vier Leute habe, auf die ich mich verlassen kann. Allerdings meine ich, wir müßten ihnen schon irgendwie zu verstehen geben, daß sie später ihren Anteil erhalten." „Versteht sich von selbst", sagte della Rocca großspurig, obwohl er nicht im Traum daran dachte. Manoel Ribas verschränkte die Arme vor der Brust. „Hast du schon genaue Pläne? Ich meine, was passiert, wenn wir den Stützpunkt verlassen haben?" „Die Perlenverstecke suchen, auch ohne Buch. Einsacken, was wir ein sacken können, und dann ab über den Atlantik!" „Deine Ideen sind immer noch die besten", sagte Ribas feixend. „Fan gen wir gleich an?" „Natürlich. Zieh unauffällig deine Leute ab - und dann los! Auf die Siesta sollten wir nämlich auch nicht verzichten." Der Lotse marschierte los. Della Rocca legte unterdessen die Hände auf den Rücken und begann, am Strand auf und ab zu spazieren. Für die Kerle, die voller Vorfreude das Fest vorbereiteten, hatte es den An schein, als sei der Korse in tiefschür fende Gedanken versunken, die sich einzig und allein um die gemeinsame Zukunft drehten.
Bereits nach einer Viertelstunde tauchte Ribas mit vier Kumpanen auf. Im Vorbeigehen grinste der Lotse und hob siegesgewiß den ausge streckten Daumen der Rechten in die Luft. Della Rocca blieb ein Stück ab seits stehen und beobachtete, wie sie die Jolle zu Wasser brachten und auf die Bucht hinauspullten. Manoel Ribas setzte zwei Kerle auf der Schaluppe ab. Die beiden hatten dort aufzuklaren und die Sachen in Empfang zu nehmen, die Ribas von der „Bonifacio" herüberholte. Mit den beiden Kerlen in der Jolle richtete er einen Pendelverkehr von der Galeone zur Schaluppe und zurück ein. Kiste um Kiste wurde zu dem zweimastigen Segler gebracht. Es befanden sich darin Waffen, Muni tion, Kartenmaterial, unverderbliche Proviantvorräte und andere Ausrüstungsgegenstände. Zufrieden wandte sich der Korse ab und ging zu dem Platz zwischen den Hütten. Immer noch herrschte hektisches Treiben. Die Kerle waren bestrebt, bis zur Mittagsruhe das meiste geschafft zu haben, damit sie sich am frühen Abend schon ganz dem Vergnügen widmen konnten. Was es dann noch an Restarbeiten gab, konnte man getrost den Weibern überlassen. Della Rocca zeigte sich väterlich interessiert, klopfte hier und da einem der Kerle auf die Schulter, wechselte ein paar freundliche Worte und bemerkte wie beiläufig, daß am nächsten Morgen natürlich wieder Dienst auf dem Plan stehe - auf nach Batabano, mit der „Bonifacio", neue Vorräte fassen! Die Kerle nickten zustimmend und grinsten dabei doch respektlos, denn sie meinten, sich in der Gewißheit wiegen zu können, daß della Rocca
nach einem solchen Abend meist selbst nicht aus seiner Koje fand. Der Korse notierte mit Genugtuung in seinen Gedankengängen, daß außer Ribas und den vier anderen keine Menschenseele im Stützpunkt ahnte, was er wirklich vorhatte. Die Hundesöhne lechzten nur nach ihrem Vergnügen. Dabei störte sie nicht einmal der tote Zardo, der noch immer an sei nem Strick hing - sanft in der Brise schwingend.
* Die Sonne stand hoch im Südwe sten, und es war stickig heiß unter dem Blätterdach der Mangroven. Im Lager der Della-Rocca-Meute herrschte Stille, die nur von den Schnarchtönen aus den Hütten und von den Vogelstimmen aus dem Dik kicht durchbrochen wurde. Die Portugiesin schlich als erste davon. Lautlos verließ sie die Hütte, in der ihr Gefährte wie ein Bär im Winterschlaf hingestreckt lag. Eine Minute später erreichte Laurinda das Trinkwasserreservoir außerhalb des Lagers. Sie verspürte eine innerliche Unruhe und konnte ihre Angst kaum unterdrücken. Eilends verbarg sie sich hinter den Fässern, und ein böser Zufall verstärkte ihre Furcht. Wenn sie den Kopf nach rechts wandte, hatte sie ausgerechnet den Gehenkten im Blickfeld. Es war, als höre sie della Roccas Stimme, der ihr höhnisch grinsend versicherte, er werde sie schon noch zu fassen kriegen und ihr die Kehle durchschneiden. Ausgerechnet in diesem Moment raschelte es im Gebüsch bei den Fässern.
Laurinda zuckte zusammen wie von einem Peitschenhieb getroffen. Jäh hämmerte ihr das Herz bis zum Hals. Ihre Nerven rebellierten. Einen Atemzug lang war sie versucht, auf zuspringen und in panischer Hast ins Dickicht zu fliehen. Doch ihre Beine versagten den Dienst. Sie fühlte sich hilflos wie das Kaninchen, das der Schlange ins Auge sieht und den Tod erwartet. Dann erst stellte sie fest, daß ihre Angst unbegründet war. Malvina schlüpfte aus dem Ge büsch und war mit zwei raschen Schritten bei der Portugiesin. Miß billigend schüttelte die Braunhäutige den Kopf. „Du bist ziemlich weiß um die Na senspitze, Amiga. Was willst du tun, wenn wir erst richtig in Gefahr ge raten? So ein Marsch durch den Ver hau ist kein vergnügliches Lustwan deln." Laurinda holte tief Luft und schnaufte erleichtert. „Himmel!" flüsterte sie. „Wenn ich erst einmal weiß, daß ich nicht mehr in della Roccas Nähe bin, wird es mir schon sehr viel besser gehen." Malvina lächelte und legte ihr die Hand auf die Schulter. „In dem Punkt brauchst du dir keine großen Sorgen zu machen. Der Korse und wir werden bald sehr weit voneinander entfernt sein. Und dazu leistet er den größeren Beitrag als wir." Laurinda zog die Stirn kraus. „Wie soll ich das nun wieder ver stehen? Tu mir einen Gefallen und sprich mit mir nicht in Rätseln." „Della Rocca hat etwas Ähnliches vor wie wir." Laurinda sperrte ungläubig den Mund auf. Consuela erschien im sel ben Moment, und so brauchte Malvi
na ihre Vermutung nicht zweimal zu schildern. „Ist euch denn nichts aufgefallen?" fragte sie. Und als die beiden den Kopf schüttelten, fuhr sie in wissendem Tonfall fort: „Dieser Hurensohn von einem Korsen ist dreimal geris sener als ein Fuchs. Der denkt über haupt nicht daran, nach Batabano zu segeln." „Aber was bleibt ihm denn anderes übrig?" entgegnete Consuela mit Einfaltsmiene. „Wenn doch alle Vor räte verbraucht sind..." „Nun stell dich nicht dümmer, als du bist", fiel Malvina ihr ins Wort. „Della Rocca erlaubt, daß sämtliche Reste an Wein und Schnaps ausgetrunken werden. Was könnte dabei wohl herauskommen, ihr beiden Hübschen?" Consuela zog die Schultern hoch. Laurinda lachte unsicher. „Na ja, das führt so weit, daß sie ir gendwann heute abend randvoll sind." „Richtig", sagte Malvina mit ernstem Nicken. „Nehmen wir mal an, das wäre genau das, was der verdammte Hurensohn will. Und fragen wir uns mal, ob er jemals vorher zugelassen hat, daß alles bis auf den letzten Tropfen aufgebraucht wird. Erinnert euch an seinen Leitspruch: Reserven sind dazu da, daß sie niemals erschöpft werden. Und jetzt verstößt ausgerechnet er selbst dagegen." „Willst du damit sagen", entgegnete Consuela gedehnt, „daß er sich heimlich absetzen will, wenn alle ih ren Rausch ausschlafen?" „Aber dann kann er ja selbst nicht mitfeiern", wandte Laurinda ein. „Das fällt doch auf." „Muß es nicht", widersprach Mal vina. „Er kann so tun als ob. Außer dem: Je voller die anderen, desto we
niger kriegen sie mit. Ich habe gese hen, wie er heute vormittag mit Ri bas verhandelt hat. Und dann, wie sie die Schaluppe aufgeklart haben. Das sollte zwar so aussehen, als ob sie sich um die ,Bonifacio' gekümmert hätten. Aber man brauchte nur ein bißchen aufzupassen, um zu sehen, was sich da abspielte." „Langsam verstehe ich", sagte Consuela gedehnt. „Und was heißt das für uns? Wollen wir unseren Plan aufgeben? Wenn della Rocca nicht mehr da ist, wird sich ja einiges ändern. Vielleicht brauchen wir dann gar nicht mehr abzuhauen." Malvina schüttelte unwillig den Kopf. „Rede kein dummes Zeug! Was glaubst du denn, wie es hier aussieht, wenn der Korsenbastard weg ist? Dann gibt es das totale Durcheinander. Die Kerle sind zu blöd, um sich irgendwie zu einigen. Die brauchen immer einen, der ihnen den Kurs angibt. Ich für meinen Teil möchte jedenfalls dann erst recht nicht mehr hier sein. Da genügt es schon, daß einem deine Nase nicht mehr paßt, und er läßt dich über die Klinge springen. Sehen wir zu, daß wir verschwinden, Amigas. Wenn ihr unbedingt wollt, könnt ihr ja bleiben. Ich gehe notfalls auch allein." Laurinda wehrte energisch ab. „Ich bin dabei, Malvina. Ohne della Rocca bricht hier die Hölle aus, da hast du recht." Sie stieß die Spanierin an. „Hast du im Ernst vor, hierzubleiben?" „Aber nein", erwiderte Consuela. „Ich habe nur nicht richtig darüber nachgedacht. Natürlich bleibe ich bei euch." „Dann verlieren wir keine Zeit mehr", sagte Malvina energisch. „Ei
nen besseren Zeitpunkt als jetzt er wischen wir nicht. Bis die Siesta beendet ist, haben wir noch zwei Stunden. Das gibt uns einen hüb schen Vorsprung." Sie umrundeten das Lager auf lei sen Sohlen und erreichten wenig später die Lichtung, auf der sie ihre Marschverpflegung und die Waffen versteckt hatten. Theodoro hatte in seiner Glückseligkeit nicht mehr daran gedacht, das Geheimnis seiner vermeintlichen beiden Liebhaberin nen preiszugeben. Malvina sorgte dafür, daß die La sten etwa gleichmäßig verteilt wur den. Dann übernahm sie die Führung und entschied sich zunächst für einen Trampelpfad, der in östlicher Richtung ins Inselinnere führte. Schon nach einer halben Stunde gab es keinen Pfad mehr. Die Braunhäu tige war gezwungen, ein Entermes ser als Machete einzusetzen. Eine kräftezehrende Arbeit. Sie gelangten wesentlich langsamer voran. Was Malvina am allerwenigsten behagte, war die Tatsache, daß man ihre Spuren leicht verfolgen konnte, wenn man erst einmal die Stelle ent deckt hatte, an der sie begonnen hat te, sich den Weg durch das Dickicht freizuschlagen. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, daß keiner der Kerle vorzeitig aus der Siesta erwachte. Und daß es keinem auf ein paar Gefährtinnen mehr oder weniger ankam. Außer dem: Was würde ihnen lieber sein? Das versprochene große Fest oder eine lange Verfolgungsjagd nur wegen dreier Weiber, die es sich in den Kopf gesetzt hatten, im Dschungel unterzutauchen? Denn niemand würde ihnen ernst haft eine Chance geben, die mörderi sche Wildnis zu durchqueren. Man
konnte sie ganz einfach sich selbst überlassen. Die menschenfeindliche Natur würde ihnen schon den Garaus bereiten. Malvina war sich darüber im klaren, daß ihre Überlegungen gewisse Unwägbarkeiten in sich bargen. Aber sie wollte einfach nicht zu schwarz sehen. Sie wollte diese Aufgabe bewältigen, die sie sich gestellt hatte. Und sie fühlte sich dabei auch für ihre beiden Gefährtinnen ver antwortlich.
4. Della Rocca konnte keine Ruhe finden. Am Nachmittag, als im Lager noch völlige Ruhe herrschte, pullte er noch einmal zur „Bonifacio" hinüber. Ein Teil des Kartenmaterials befand sich noch in der Kapitänskammer. Der Korse schloß das Kammerschott, legte den Innenriegel vor und zog eine Übersichtskarte der Karibik aus dem Schapp. Er rollte die Karte sorgsam auf dem Tisch auseinander und beschwerte die Ecken mit klei nen Bleistücken, die er für diesen Zweck hatte gießen lassen. Nachdem er Tintenfaß und Feder kiel bereitgestellt hatte, setzte er sich auf einen Stuhl, lehnte sich zurück und ließ seinem Gedächtnis freien Lauf. Achtundzwanzig verschiedene Stellen waren es, an denen er seine Perlenbeute versteckt hatte. Soviel stand fest. Er tunkte den Federkiel ins Faß und begann damit, die Orte, die ihm auf Anhieb einfielen, mit einem kleinen schwarzen Punkt auf der Karte zu markieren. Diesen Überblick brauchte er allein deshalb, weil er
sich darüber klarwerden mußte, wie er am besten seine Route anlegte. Della Rocca arbeitete zügig, und er war stolz auf sein gutes Gedächtnis, das ihn einen schwarzen Punkt nach dem anderen malen ließ. Schließlich stand fest, daß sein er stes Ziel das nächstgelegene Ver steck sein würde - die Bucht am Ca bo San Antonio nämlich, der west lichsten Spitze Kubas. Danach würde er Punta Frances ansteuern, den südwestlichen fingerförmigen Aus läufer der Isla de Pinos am südlichen Golf von Batabano. Nächstes Ziel war dann Cayo Largo, die langge streckte Insel östlich der Isla de Pi nos, von letzterer an die 65 Meilen entfernt. Von dort aus, so sagte sich der Kor se, war es angeraten, genau nach Süden zu segeln - nach Gran Cayman nämlich. Weiter würde es dann schließlich nach Jamaika gehen. Della Rocca steckte den Federkiel ins Faß und lehnte sich zurück. Das waren also die ersten fünf Punkte, die er ansteuern würde. Sollte er zunächst einen Zeitplan entwerfen, um dann die Planung der weiteren Route in Angriff zu neh men? Ruckartig beugte er sich wie der vor. Fünf Punkte. Wieviel hatte er eigentlich insgesamt? Ihm war eingefallen, daß er das noch nicht zu sammengezählt hatte. Eilends tippte er mit dem Zeigefin ger auf die kleinen schwarzen Punkte auf der Karte und zählte. Dreiundzwanzig. Ungläubig schüttelte er den Kopf und zählte noch einmal. An dem Er gebnis änderte sich nichts. Es waren nicht mehr und nicht weniger als dreiundzwanzig Perlenverstecke, die er aus dem Gedächtnis eingetragen
hatte. Zum Henker, das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen! Wie war es möglich, daß ihm fünf Punkte fehlten? Sage und schreibe fünf Punkte! Falsch! Das Versteck westlich von Havan na, das er bereits ausgeräumt hatte, durfte er natürlich nicht mitrechnen. Aber immerhin. Es blieb bei vier Perlenverstecken, an die er sich beim besten Willen nicht mehr erinnern konnte. Oder? Hölle und Teufel, er durfte doch nicht della Rocca heißen, wenn es ihm nicht gelingen sollte, seinen Grips ein wenig anzustrengen! Er zwang sich zur Ruhe, lehnte sich abermals zurück, faltete die Hände über dem Bauch und schloß die Augen. In Gedanken segelte er den Kurs, den er für die ersten fünf Verstecke festgelegt hatte. Danach war es wie abgeschnitten. Er sah sich mit der Zweimastschaluppe in der Weite der Karibischen See, und ihm fiel nichts mehr ein. Nein, so funktionierte es nicht. Er mußte es anders versuchen. Am be sten erinnerte er sich an die einzel nen Raids und rekonstruierte dann die anschließenden Verstecke der Perlenbeute. Campeche beispiels weise, das erste Mal, als noch alles glattgegangen war. Della Rocca ließ sich von seinen abschweifenden Ge danken davontragen. Immer war es glattgegangen. Im mer. Und dann dieses Fiasko in Campeche, beim zweitenmal. Beinahe sehnsüchtig dachte er an die nahezu problemlosen Überfälle, die ihm zu unermeßlichem Reichtum verholfen hatten. Verluste in seinen eigenen Reihen hatte es so gut wie
nie gegeben, denn seine Taktik, stets vom Landesinneren her anzugreifen, hatte sich hervorragend bewährt. Im mer hatte er vorher die betreffenden Objekte sorgfältig auskundschaften lassen, und das hatte sich ausgezahlt. Stimmte seine Vermutung wirklich, daß die Dons in Campeche mit einem neuerlichen Überfall gerechnet hatten? Elf Monate nach dem ersten Überfall? Vielleicht steckte in seinen Überlegungen ein Fehler. Konnte es nicht sein, daß irgendein anderer in der Zwischenzeit das Perlenlager von Campeche überfallen hatte? Immerhin war er nicht der einzige in der Karibik, der danach trachtete, den Dons ein bißchen von ihrem unrechtmäßig erworbenen Reichtum abzuzwacken. Möglich, daß irgendein anderer Hundesohn erst kurz vor seinem zweiten Besuch in Campeche ganz groß abgeräumt hatte. Das erklärte dann auch die verschärften Sicher heitsmaßnahmen der Spanier. Si cher, so konnte es gewesen sein. Nach elf Monaten Ruhe - auch diese Zeitspanne entsprach seiner bewährten Taktik - wiegten sie sich normalerweise längst wieder in Sicherheit. Bedeutete das dann nicht, daß sei ne ganze Aufbruchstimmung über flüssig war? War es unter diesen Umständen nicht ratsam, doch noch zu bleiben, die Taktik zu verfeinern und das Werk fortzusetzen? Die gewonnene Zeit würde es dann auch ermöglichen, gründlicher nach dem verschwundenen Perlenlogbuch zu forschen. Er konnte ermitteln, wer ihn hereingelegt hatte, und er gewann die Zeit, die er jetzt damit verschwenden würde, nach den ver grabenen Perlen zu suchen.
Denn es war ja nicht damit getan, die Verstecke als solche zu lokalisie ren. Wenn er erst einmal an Ort und Stelle war, begann eine zeitraubende Buddelei, bis man den richtigen Punkt gefunden hatte. Gewiß, er konnte andere für sich graben las sen, aber das verringerte nicht den Zeitaufwand. Die Taktik verfeinern, bedeutete, daß er in den einzelnen Perlenfi scherorten Vertrauensleute brauchte. Spione, die in seinem Auftrag aus kundschafteten, wie sich die Dinge bei den Perlenlagern entwickelten. Natürlich, das war es! Er mußte darüber auf dem laufenden sein, was sich in der Zeit nach seinem letzten „Besuch" in dem betreffenden Ort abgespielt hatte. Er durfte nicht mehr auf gut Glück darauf bauen, daß eine gewisse Zeitspanne reichte, um genügend Gras über eine Sache wachsen zu lassen. Die Möglichkeit, daß er in der Ka ribik Nachahmer gefunden hatte, war nicht mehr auszuschließen. Wenn es sich in Campeche so verhalten haben sollte, würde es einen solchen Reinfall kein zweites Mal geben. Aber andererseits... Schreck durchzuckte den Korsen. Wenn er selbst Zeit gewann und versuchte, noch einmal von vorn an-. zufangen, dann gewannen auch sei ne Gegenspieler Zeit. Jene nämlich, die sich das Logbuch der Perlen un ter den Nagel gerissen hatten. Sie konnten eben diese Zeit nutzen, den Zahlencode zu knacken und ein Per lenversteck nach dem anderen aus zuräubern. Und dann konnten sie die Beute in aller Ruhe auf die Seite schaffen. Nein. Schon wieder falsch. Della Rocca spürte, wie Schweiß perlen auf seine Stirn traten. Ver
dammt, war er denn nicht mehr in der Lage, klare Überlegungen anzu stellen? Taugte seine Gedankenar beit nichts mehr? Hatte er sich in den Jahren etwas verausgabt? Zweifel nagten an seinem sonst unerschüt terlichen Selbstbewußtsein. Diejenigen, die das Perlenbuch ge stohlen hatten, befanden sich noch hier, im Stützpunkt. Wenn er keinen einzigen von ihnen aus den Augen ließ, hatten sie auch keine Chance, die Perlenverstecke aufzuspüren und sich an dem Reichtum gütlich zu tun. Zardos Komplicen - wer immer sie sein mochten - würden sich über kurz oder lang selber verraten. Denn sie würden nervös werden, sie hatten nicht genug Grips, um die Ruhe zu bewahren, die sie brauchten. Die Gier nach den Perlenschätzen würde sie unvorsichtig werden lassen. Es hing also alles davon ab, ob es gelang, die Lage in den Perlenfi scherorten besser zu sondieren. Grö ßere Vorsicht und höhere Schlagkraft bei den einzelnen Aktionen konnten ihm zu unvermindertem Erfolg verhelfen. Das würde bedeuten, daß er am nächsten Tag tatsächlich nach Bata bano segelte und die Vorräte auf frischte. Das große Fest konnte er nicht mehr abblasen. Dadurch würde er in der Gunst der einfältigen Kerle zu sehr sinken. Doch was brachte es ihm letzten Endes alles ein? Sein Reichtum war schon jetzt unermeßlich groß. Im Gegensatz zu den Gierigen und Un ersättlichen hatte er immer genau gewußt, wann der Zeitpunkt erreicht sein würde, an dem er aufzuhören hatte. Sein Reichtum reichte bereits aus, um als König nach Korsika zu rückzukehren. Das hatte er sich im
mer gesagt, und das war sein Ziel. Nichts hatte sich daran geändert. Mit erschreckender Deutlichkeit wurde ihm plötzlich bewußt, daß er sich in gedankliche Traumtänzerei abgleiten ließ. Seine Gedanken wa ren vor der Hürde zurückgewichen, die noch fehlenden vier Verstecke herauszufinden. Genau das war der Punkt. Er schaffte es nicht, sich die siebenundzwanzig Verstecke zu ver gegenwärtigen. Die Schweißperlen auf seiner Stirn verdichteten sich. Er knurrte Flüche und war voller Wut auf sich selbst. Sein System, das er für so genial ge halten hatte, taugte nichts. Die Er kenntnis war niederschmetternd. Die großräumige Verteilung der Perlenschatzbeute war für ihn die beste Sicherheitsgarantie gewesen. Jetzt erwies sie sich als ein Schuß in den Ofen. Besser wäre gewesen, nur wenige und dafür größere Verstecke anzulegen. Hätte, hätte! Er hatte es eben nicht getan. Und so sehr er sich abermals den Kopf zermarterte, fand er doch nicht heraus, wo die fehlenden vier Verstecke waren. Es blieb nichts an deres übrig, er mußte später mit Ma noel Ribas darüber beraten. Der Lotse hatte ein gutes Gedächt nis und kannte die einzelnen Kü stenabschnitte der Karibik besonders gut. Bestimmt erinnerte er sich an jene einzelne Position, wo er, della Rocca, mit einem Kerl aus der Crew oder mit einem Eingeborenen an Land gepullt war, um wieder ein Versteck anzulegen. Der Korse kehrte zu seinem ur sprünglichen Entschluß zurück. Er würde mit Manoel Ribas und den vier Kerlen noch in dieser Nacht verschwinden.
* Während die Sonne im Westen ih ren Abwärtsweg begann, wurde es im Stützpunkt des Korsen auf Cozu mel nach und nach wieder lebendig. Ribas schickte einen seiner Kerle an den Strand, um della Rocca zu ver ständigen, daß alles für das große Fest gerichtet sei. Della Rocca pullte mit der Jolle von der „Bonifacio" herüber und sah ganz so aus, als ob er blendende Laune hätte. Die Kerle bemerkten es und waren froh darüber. Sie kannten den Korsen nun schon etliche Jahre. Wenn er in Stimmung war, lief alles prächtig, dann wurde jedes Fest ein gelunge nes Fest. Und es hatte nicht wenige davon gegeben, seit sie den Stütz punkt auf Cozumel bezogen hatten. Della Rocca suchte sich einen schattigen Platz vor einer der Hütten, wo er sich auf einem leeren Faß niederließ. Mit wohlwollendem Grinsen beobachtete er das Treiben. Verlockende Düfte breiteten sich unter dem Blätterdach der Bäume aus. Das Schwein garte an einem gro ßen Spieß über lodernder Glut, die Hühner waren von den Frauen zer kleinert worden. In zwei großen Kesseln, die an Dreibeinen hingen, brodelte Suppe, die mit Gemüse und Gewürzen angereichert worden war. Eine üppige Blondine brachte dem Korsen einen Krug mit Wein. Er be dankte sich mit einem Nicken und nutzte die Gelegenheit, ihr in das stattliche Hinterteil zu kneifen. Sie quiekte und rannte kichernd davon. Für den Rest der Meute war das die endgültige Gewißheit, daß della Rocca tatsächlich die beste nur denkbare Laune hatte.
Zwei Mann drehten den Spieß. Das Schwein hatte bereits eine glänzende bräunliche Farbe angenommen, und allen in der Nähe ließ der würzige Duft das Wasser im Mund zusam menlaufen. „Es will mir einfach nicht in den Kopf", murmelte Theodoro, der auf der einen Seite des Spießes stand und drehte. „Verdammt, es will mir nicht in den Kopf." Sein Mitstreiter auf der anderen Seite des Spießes war ein Genuese namens Fiorini, ein schwarzhaariges Kerlchen mit listigen Knopfaugen. „Daß in deinen Quadratschädel nicht alles 'reinpaßt, ist mir schon lange klar", sagte er grinsend. „Aber wenn du schon vor dich hinbrabbelst, solltest du wenigstens nicht in Rätseln sprechen. Verdruß ist dazu da, daß man ihn aus der Welt schafft. Am besten legen wir eine Pause ein und genehmigen uns erst mal einen kräftigen Schluck. Della Rocca hat schon angefangen. Das bedeutet, wir dürfen auch." Mit der freien Hand winkte Theo doro unwillig ab. „Blöde Sauferei! Das nützt auch nichts." Fiorini zog Schultern und Augen brauen gleichzeitig hoch. „Dann kann ich dir auch nicht hel fen, Amigo. Wenn du dich nicht aus sprechen willst..." Theodoro warf ihm einen flüchtigen Seitenblick zu. „Mir kann keiner helfen." Es klang fast wie ein Schluchzen. Der Genuese schüttelte mitfühlend den Kopf. „Was diese Weiber doch anrichten können! Selbst den härtesten Kerl machen sie zum hilflosen Jammer lappen. Weißt du was, Theodoro, mein Freund? Du hättest die süße
kleine Malvina zur Vorwarnung erst mal übers Knie legen und ihr den hübschen Achtersteven versohlen sollen. So was wirkt immer gut, gleich zu Anfang. Dann kennen sie den Kurs, die Weiber. Ich sage dir, damit erleidest du nie Schiffbruch. Sie brauchen immer Wind von vorn, die Süßen. Auch wenn es widersinnig klingt - aber dann halten sie ihren Kurs am besten." Theodoro nickte grimmig. „Recht hast du", sagte er grimmig. „Aber wo kein Hintern ist, kann man ihn auch nicht versohlen." Fiorini lachte leise. „Du meinst, sie hat sich verdrückt, deine Kleine? Und jetzt überlegst du die ganze Zeit, mit welchem von den Kerlen sie wohl in den Büschen liegt?" Ruckartig ließ Theodoro den Spieß los und wandte sich seinem Gefähr ten zu, der seinem Beispiel notge drungen folgte. Denn allein konnte er das schwere Schwein nicht in Be wegung halten. Mit dem Rücken nach unten schaukelte es jetzt über den Flammen. „So etwas tut sie nicht!" sagte Theodoro fauchend. Fiorini zog den Kopf zwischen die Schultern. „He, he, reg dich ab, Amigo! Hier war es bislang immer so, daß jeder alles tun konnte. Ich greife nichts aus der Luft. Klar? Glaubst du, daß für dich andere Gesetze gelten - nur, weil dir der Capitan zufällig ein Weib zugeteilt hat? Sie ist nicht deine Leibeigene, das laß dir gesagt sein." „Du faselst dummes Zeug", sagte Theodoro wütend. „Wir reden von verschiedenen Sachen. Ich rede da von, daß Malvina heimlich ver schwunden ist."
„Was?" Fiorini sperrte die Knopf augen weit auf. „Was meinst du mit verschwinden'? Abgehauen? Wohin denn?" Für einen Moment war Theodoros Blick aus blaßblauen Augen beinahe flehentlich. Dann gab er sich einen Ruck. „Würdest du mir helfen, Fiorini?" Der Genuese zögerte nicht mit der Antwort. „Wir sind immer gute Kumpels ge wesen, Theodoro. Wenn's nicht zu schwierig ist, tue ich, was ich kann." Unter dem Vorwand, etwas für ihre trockenen Kehlen tun zu müssen, ließen sich die beiden von Kumpanen ablösen. Im allgemeinen Gewühl fiel es nicht auf, daß sie sich außer Sichtweite hinter eine der Hütten zurückzogen. Theodoro senkte seine Stimme zum Flüsterton, obwohl er sich um gesehen und festgestellt hatte, daß niemand in der Nähe war, der sie be lauschen konnte. „Weißt du, Fiorini, es ist nicht nur so eine Ahnung, die ich habe. Und es ist auch nicht Malvina allein. Consuela und Laurinda gehören auch dazu." „Zu was?" fragte der Genuese be griffstutzig. „Zu der - hm - sagen wir, kleinen Verschwörung. Ich habe nämlich Malvina und Consuela erwischt, als sie gerade bei ihren ersten Vorberei tungen waren." Mit hastigen Worten berichtete Theodoro über das, was er auf der kleinen Lichtung erlebt hatte. „Da wollten sie dich um den Finger wickeln", sagte Fiorini überzeugt. „Das haben sie auch geschafft", ge stand Theodore „Aber jetzt ist mir klar, daß sie mir nur was vorgespielt haben. Alle drei sind verschwunden, und es ist noch nicht mal irgend je mandem aufgefallen."
„Mir auch nicht", entgegnete Fiorini. „Erst jetzt wird mir das klar. Ist aber kein Wunder. Jeder denkt doch nur an heute abend." „Genau das haben diese drei Mist stücke ausgenutzt." Theodoro ergriff die Schultern seines Kumpans mit beiden Händen und sah ihn an. „Sag es mir ehrlich, Fiorini: Würdest du mir helfen, die drei zurückzuholen?" „Natürlich", erwiderte der Genuese sofort. „Du hättest auch dein Vergnügen dabei, das weißt du." „Klar. Aber warum bist du so scharf auf Malvina? Es gibt doch noch genug andere Weiber hier." Theodoros Haltung versteifte sich. „Malvina gehört mir. Ich lasse mir nichts wegnehmen, was mir gehört. Die anderen interessieren mich nicht." „Hab' schon verstanden", sagte Fio rini brummend. „Dann sollten wir Feier Feier sein lassen und losmar schieren, solange es nicht auffällt." Theodoro strahlte. Der Genuese war immer der einzige gewesen, der für ihn ein bißchen Verständnis auf gebracht hatte.
5. Der Lärm der Tierwelt umgab sie. Ein ständiges Kreischen, Pfeifen, Meckern, Schrillen und manchmal auch Lachen oder Grunzlaute wie von menschlichen Stimmen. Eine unsichtbare Tierwelt war es, die da im Schutz des Dickichts lebte und die Eindringlinge mit ihrem Mantel aus Lärm umhüllte, als wollte sie sie er sticken. Nur gelegentlich waren buntgefiederte Vögel hoch oben un ter dem Blätterdach zu sehen, wenn
sie sich von einer Mangrove zur an deren schwangen. Für die drei Frauen hatte die Szenerie etwas Widersprüchliches, das sie nicht in Worte zu fassen vermochten. Da war einerseits eine geradezu erhabene Ruhe, die der Dschungel in sich barg. Die Geräuschkulisse der Tierstimmen tat dem andererseits keinen Abbruch. Und dennoch war irgendwo etwas Unfaßbares, Unbestimmbares, das den Frauen Furcht einjagte. Sie hatten es sich weniger unheim lich vorgestellt. Ja, sie hatten längst zugegeben jede für sich selbst -, daß sie nie zu vor in ihrem Leben in einer ähnlichen Situation gewesen waren. Niemals zuvor hatten sie sich in eine Wildnis von so unbändiger Kraft gewagt. Die höhere Macht, die sie geleugnet und höhnisch verlacht hatten, wurde ihnen bewußt - mit einer solchen Eindringlichkeit, daß ihnen ein Schauer nach dem anderen über den Rücken lief. Malvina schaffte es als einzige, ihre zunehmende Unsicherheit zu ver bergen. Es war eine Flucht nach vorn, die sie in Gedanken antrat. Niemals durfte sie zugeben, daß sie sich zuviel vorgenommen hatte. Ein Zurück gab es nicht, denn die Rück kehr zu della Rocca bedeutete den sicheren Tod. Vielleicht bedeutete das immer tiefere Eindringen in die Wildnis auch den Tod, aber es gab wenigstens eine Chance. Innerlich lehnte sich Malvina gegen die Einsicht auf, daß es das kleinere Übel gewesen wäre, bei dem wilden Haufen des Korsen zu bleiben. Dies durfte sie unter keinen Umständen eingestehen, nicht sich selbst und erst recht nicht den beiden Gefährtinnen gegenüber.
Ihre Arme waren mittlerweile wie Blei. Das Entermesser, das sie ab wechselnd mit der Linken und mit der Rechten führte, wog zentnerschwer. Doch sie hielt noch immer nicht inne, und sie ließ sich auch nicht ablösen. Sie wußte, sie wolle sich selbst beweisen, daß sie allen widrigen Umständen gewachsen war. Vielleicht noch wichtiger war, daß Consuela und Laurinda jemanden brauchten, der die Persönlichkeit des Anführers für sie darstellte. Keine von beiden würden imstande sein, die Führungsrolle zu übernehmen, wenn Malvina dazu nicht mehr imstande sein sollte. Folglich war es klar: Das gesamte Unternehmen stand und fiel mit ihrem Durchhaltevermögen. Mit mühsamem, doch gleichblei bendem Rhythmus hieb Malvina die scharfe Klinge in die grüne Wand aus Schlingpflanzen und Blattwerk. Zermürbend wurde es, wenn sich ei ne Pflanze nicht mit einem einzigen Hieb durchtrennen ließ. Der zweite Hieb geriet dann zur fast unerträgli chen Qual. Jäh prallte Malvina zurück. Stocksteif verharrte sie, und es ge lang ihr, den linken Arm nach hinten auszustrecken, um nicht von Consuela und Laurinda umgestoßen zu werden. Die beiden Frauen begriffen trotz aller Erschöpftheit, daß Gefahr drohte. Tödliche Gefahr. So verhiel ten sie sich ruhig und rührten sich nicht vom Fleck. Doch vergeblich versuchten sie zu erkennen, was Malvina erspäht hatte. Neue Kräfte waren plötzlich in der Braunhäutigen erwacht. Der Über lebenswille rüttelte ihre Reserven wach. Langsam, unendlich langsam, hatte sie die Klinge gehoben.
Und so blitzartig ließ sie sie herab sausen, daß die Spanierin und die Portugiesin erschrocken zusammen zuckten. Malvina trat einen Schritt zur Seite. „Es ist schon vorbei", sagte sie lä chelnd, holte tief Luft und bemühte sich, ihr Herzklopfen zu überwinden. Mit der Klingenspitze drehte sie den abgetrennten Schlangenkopf um, so daß die hellere Unterseite zu sehen war. Die Giftzähne in dem of fenstehenden Maul waren dünn und nadelspitz. Erschaudernd blickten Consuela und Laurinda auf. In Kopfhöhe, nur einen Yard vor Malvina, rankte sich der blutende Schlangenkörper um einen Ast. Ein schuppiger Leib, so grün wie seine Umgebung. „Mein Gott", hauchte Consuela. „Wie hast du das Vieh nur entdeckt?" Malvina lachte leise. „Wir haben einen Schutzengel. Eine andere Erklärung gibt es nicht." „Dann ist es ein gutes Zeichen", sagte Laurinda überzeugt. „Wir wer den es also schaffen." Sie fühlten sich erleichtert und fast beschwingt, als sie ihren Weg fort setzen. Malvina hatte neue Kräfte gewonnen, mit dem Entermesser ei ne Schneise durch den Pflanzen wuchs zu schlagen. Consuela und Laurinda trugen ihre Lasten beinahe wieder mühelos, als hätten sie ihren Marsch eben erst begonnen. Alle drei wurden beseelt von der Gewißheit, ein erstes lebensbedrohendes Hin dernis überwunden zu haben. Es war das gute Zeichen, von dem Laurinda gesprochen hatte. Es gab ihnen Zu versicht. Sollten sie weiteren tödlichen Ge fahren begegnen, würden sie sie leichter überwinden. Davon waren sie jetzt überzeugt.
Nach einer guten Stunde stießen sie auf eine winzige Lichtung, kaum mehr als zehn Quadratyards groß. Aber es war eine Gelegenheit, sich auszustrecken und sich mit Wasser, Brot und Schinkenspeck zu stärken. Das Dschungelgras wucherte knie hoch und bot eine weiche Unterlage. Consuela verzehrte ihren letzten Bissen Brot, spülte mit einem Schluck Wasser nach und reckte sich wohlig. „Jetzt eine Stunde schlafen", sagte sie, „dann marschieren wir hinterher zehnmal so gut." „Falsch", sagte Malvina energisch. „Aus der einen Stunde werden leicht zehn Stunden Schlaf, ohne daß wir es bemerken. Außerdem ist dies noch nicht der geeignete Platz für ein Nachtlager." „Warum nicht?" fragte die Spanierin mit großen Augen. „Weil wir keinen Abstand von ir gendwelchen Angreifern oder Ver folgern haben. Die Lichtung ist zu klein. Hier kann sich jeder heran schleichen, und er steht schon neben uns, bevor wir reagieren können." „Hier gibt es keine Menschen", sag te Laurinda im Brustton der Über zeugung. „In dieser Wildnis!" Kopfschüttelnd packte Malvina ihr restliches Brot wieder ein. „Tu nicht einfältiger, als du bist, Amiga. Weißt du denn, was wir auf der nächsten halben Meile alles ent decken? Glaubst du im Ernst, diese Insel besteht nur aus Dschungel? Und im übrigen - woher will einer von euch wissen, daß nicht della Rocca auf die Idee verfällt, uns jagen zu lassen?" Consuela und Laurinda wechselten einen verstörten Blick und sahen dann die Braunhäutige an.
„Hör mal", sagte Consuela, „wir waren uns darüber einig, daß wir es am besten jetzt riskieren. Durch die Siesta haben wir den Vorsprung, den wir brauchen, und wenn sie erst mal anfangen zu feiern, dann haben sie sowieso nichts anderes mehr im Sinn." Malvina bewegte zweifelnd den Kopf. „Das ist auch meine Meinung, das wißt ihr. Aber man sollte sich nie zu sicher fühlen. Ein bißchen Vorsicht ist immer angebracht. Und ich verrate euch nichts Neues, wenn ich sage, daß ich den Korsen für einen un berechenbaren Hurensohn halte." Consuela sprang auf. „Also weiter", sagte sie, während sie ihre Ausrüstung schulterte. „Jetzt, nachdem du das gesagt hast, könnte ich sowieso nicht mehr schlafen." Auch Laurinda hielt es nicht mehr im Gras, und Malvina erhob sich ebenfalls - mit einem Lächeln. Für sie war es bemerkenswert, welche Furcht der Korse auslöste, obwohl er bereits meilenweit entfernt war. Malvina rechnete nicht mit einer Verfolgung. Aber es war gut, wenn ihren beiden Gefährtinnen ein wenig die Angst im Nacken saß. Das gab ihnen das nötige Durchhalte vermögen beim Marschieren.
* Eine der Frauen, eine kleine Brü nette, hatte eine Laute geholt. Sie verstand es, ein paar Akkorde auf dem verstimmten Instrument zu schlagen. Kichernd und tuschelnd scharten sich die Frauen in der Mitte des Platzes zusammen und lauschten dem Ton, den ihnen die Lautenspielerin vorgab.
Dann stimmten sie eins der Spott lieder an, die in jedem Hafen der alten und der neuen Welt gesungen wurden. „Der Seemann mit den krummen Beinen..." Grölendes Gelächter und Beifall brandeten auf. Die Kerle, die sich bei den Feuern niedergelassen hatten, stopften Fleisch in sich hinein und ließen den Rum aus großen Bechern in ihre Kehlen rinnen. „... der konnte selten gerade ste hen ..." Die Heiterkeit der Kerle steigerte sich noch. Es lag an der Wirkung des Alkohols, die bereits eingesetzt hatte. Über das im Grunde alberne Lied wollten sie sich buchstäblich aus schütten. „... bei Wind von vorn, bei Wind von achtern ..." In die letzte Zeile der Strophe fielen die Kerle heiser grölend mit ein. ..... und alle Chicas, die mußten weinen." Mit Gejohl spendeten sie sich ge genseitig Beifall. Dann stimmte die brünette Lautenspielerin die zweite Strophe an. Manoel Ribas hatte sich mit einem Stück Spießbraten und einem Becher Wein zu della Rocca gesellt. Der Korse kaute, grinste und deu tete auf Ribas' Becher. „Ich hoffe, du genehmigst dir nicht zuviel davon." Ribas schüttelte den Kopf. „Das ist nur Vortäuschung falscher Tatsachen. Ich nippe an dem Zeug, wenn es denn mal sein muß." „Täuschen und tarnen", sagte della Rocca, am letzten Bissen kauend, „das gehört zu den wichtigsten Fä higkeiten, die ein Mann haben muß. Einer, der immer nur auf Direktkurs
denkt und redet, bringt es nicht weit in dieser schnöden Welt." Der Lotse lachte. „Das hört sich an, als ob du den Wein getrunken hättest, den ich bloß mit mir spazierentrage." „Jetzt hast du's mir aber gegeben", nuschelte der Korse, schluckte hin unter und feixte. „Ich weiß, mein lie ber Ribas, ich weiß. Du kannst dich dein ganzes Leben lang für den Größten halten - eines Tages kreuzt doch einer auf, der besser ist als du. Habe ich recht?" Ich kann nicht widersprechen", entgegnete Ribas diplomatisch. „Du spielst auf das Buch der Perlen an. Es geht dir nicht aus dem Kopf." Della Roccas Heiterkeit schwand. „Gibt es etwas anderes, was ich im Kopf haben müßte?" rief er aufbrau send. Außer Ribas hörte ihn nie mand, denn die anderen sangen, grölten und johlten nach wie vor die Lieder mit, die die Lautenspielerin an stimmte. „Ich will nicht sagen, daß du dich damit abfinden mußt", entgegnete der Lotse vorsichtig. „Aber es hat keinen Sinn, sich selbst verrückt zu machen." „Tue ich das etwa?" Es sah aus, als nähere sich der Korse einem Wut ausbruch. Manoel Ribas wußte, was es in Wirklichkeit war. Die Tatsache, daß das Perlenbuch verschwunden war, hätte della Rocca vielleicht noch ver schmerzen können. Verbunden mit dieser Tatsache war aber nun einmal die Gewißheit, hereingelegt worden zu sein. Genau das nagte an seinem Selbstbewußtsein. Es brachte ihn fast um, daß ein anderer gerissener gewesen war als er. Genauso schlimm war, daß er nicht herausfand, wer dieser andere war.
Ribas versuchte, ihn auf andere Gedanken zu bringen. „Du hast die Dinge im Griff", sagte er, ohne sich dabei einen unterwür fig-schmeichelnden Ton zu geben. „Stelle also dein Licht nicht unter den Scheffel. Du hast die richtigen Schlußfolgerungen gezogen und tust das Notwendige, um am Ende doch der Sieger zu sein. Kein Grund also, dich selbst irgendwie zu bemitleiden." Die Miene des Korsen glättete sich. „Sicher", sagte er in gelassenem Brummton und nickte dabei. „Ich habe eine Sache noch immer auf den passenden Kurs dirigiert. Das ändert aber nichts an dem einen Punkt, Ri bas: Wenn ich den Schweinehund er wische, der das Buch geklaut hat, dann lasse ich ihn rädern und vier teilen. Oder ich brate ihn auf einem hübschen kleinen Scheiterhaufen. Mir fällt schon das Richtige ein, dar auf kannst du dich verlassen." „Aber es bleibt doch bei unserer Abmachung?" sagte Ribas, dem nun doch leise Zweifel aufstiegen. „Ich habe nämlich unseren vier Mitstrei tern eingehämmert, daß sie nur so tun dürfen als ob." Della Rocca warf einen Blick in die Runde. Dann nickte er anerkennend. In der Tat hatten sich die vier Ver trauten des Lotsen gewissermaßen unter das Volk gemischt. Und dort heulten sie mit den Wölfen, daß es eine wahre Pracht war. Keiner schöpfte Verdacht - weder die Weiber noch die übrigen Kerle, die sich hemmungslos dem Alkohol hingaben. Das Freßgelage näherte sich mittlerweile dem Ende. Die Suppentöpfe waren geleert, und bei dem Schwein am Spieß lugten bereits die blanken Knochen durch. „Natürlich bleibt es dabei", sagte della Rocca und sah den Lotsen mit
vorwurfsvollem Kopfschütteln an, obwohl er noch vor kurzer Zeit selbst daran gezweifelt hatte. „Ich gebe dir das Zeichen, sobald der Zeitpunkt gekommen ist. Wichtig ist, daß keiner etwas bemerkt. Keiner!" „Das leuchtet mir ein, Capitan", entgegnete Ribas grinsend. „Da ist noch eine andere Sache, vielleicht nicht wichtig, aber..." Das Zögern des Lotsen veranlaßte della Rocca, unwillig die Stirn zu runzeln. Wenn ihm etwas nicht in den Kram paßte, dann waren das zu sätzliche Schwierigkeiten - ausge rechnet jetzt. „Was, zum Teufel?" drängte er barsch. „Drei von den Weibsbildern sind verschwunden. Und zwei Kerle auch." „Na und? Was ist daran unge wöhnlich, wenn sich ein paar Weiber und ein paar Kerle in die Büsche schlagen? Höchstens, daß sich die beiden Kerle eine Menge zutrauen, wenn sie sich drei Weiber vorknöp fen." Der Korse winkte ab. „Zerbrich dir nicht den Kopf über so was." Ribas blinzelte verdutzt. „Aber ich dachte, es könnte mit dem verschwundenen Perlenbuch zu tun haben." „Weiber!" rief della Rocca empört. „Bist du noch bei Trost? Ausgerech net Weiber sollen mich überlistet ha ben? Blöde, einfältige Weibsbilder? Billige Huren, die nichts anderes zu bieten haben als..." Er unterbrach sich. „Und welche Kerle sind ver schwunden?" „Theodoro und Fiorini." Della Rocca war augenblicklich erleichtert. „Ausgerechnet", sagte er mit einem Nicken, als hätte er das sofort ge ahnt. „Die beiden dämlichsten Bur
schen, die hier überhaupt herumlau fen. Denen traust du so was zu? Mein lieber Ribas, ich muß sagen, du fängst an, Gespenster zu sehen." Der Lotse zog die Schultern hoch. „Wahrscheinlich. War nur so eine Überlegung von mir. Auf jeden Fall wollte ich es dir nicht verschweigen." „Schon gut", erwiderte della Rocca besänftigt. „Du hast dich absolut richtig verhalten. Aber wir werden natürlich unsere Pläne nicht ändern wegen zweier Einfaltspinsel, die hinter drei noch einfältigeren Weibern her sind. Vielleicht liegen sie längst irgendwo in den Büschen und haben ihre besondere Art von Vergnügen." Er gönnte sich eine Schluck Rotwein und schüttelte energisch den Kopf. „Nein, mein Lieber, man muß im Leben unterscheiden können zwischen wirklichen Gefahrenmo menten und solchen, die nur so aus sehen, als ob es welche wären. Ich gebe zu, dafür braucht man viel Erfahrung und noch mehr Feingefühl. Du bist auf dem besten Weg, das zu erreichen. Eines Tages wirst du auch so weit sein, Ribas. Mißtrauen ist gut - wo es angebracht ist. In diesem Fall brauchen wir uns aber nicht unnötig aufzuregen." „Um so besser", sagte der Lotse er leichtert. „Was meinst du, soll ich mich wieder ein bißchen unters Volk mischen?" „Gute Idee." Della Rocca blickte zur Mitte des Platzes. „Und schick mir Corazon herüber. Scheint so, als ob sich die Schlampe mit dem Schnaps zu sehr zurückhält." Ribas erhob sich mit breitem Grin sen. „Die Süße will eben einen klaren Kopf haben, für die besseren Sachen, die später dran sind." Della Rocca lachte dröhnend.
„Das werde ich ihr schon austrei ben. Verlaß dich drauf!" Minuten später, nachdem Manoel Ribas mit seinem Weinbecher durch die grölende und wiehernde Meute schlenderte und hier und da freund liche Worte wechselte, näherte sich die dralle Blondine namens Corazon hüftenschwingend ihrem obersten Herrn und Gebieter. Della Rocca verschwand mit ihr ohne viel Federlesens in seiner Hüt te, und es zeigte sich, daß es genau das war, auf das sie gewartet hatte. Willig ließ sie sich von ihm Rum eintrichtern. Er begriff, daß sie das Tete-a-tete mit ihm auch deshalb gewollt hatte, damit sie sich den an deren gegenüber brüsten konnte. Ei ne Liebesnacht mit dem Korsen war in den Augen der Weiber so etwas wie eine besondere Auszeichnung. Im Fall der blonden Corazon wurde nicht mehr als eine gute Stunde daraus. Als della Rocca sie in der Hütte allein ließ, lag sie lang ausge streckt und tief schlummernd auf dem Nachtlager. Kein Lärm der Welt wäre jetzt noch geeignet gewesen, sie zu wecken. Die Rumfahne, die die Hütte ausfüllte, stammte ausschließlich von ihr. Della Rocca zog anerkennend die Augenbrauen hoch, als er ins Freie trat. Die Feuer brannten noch mäßig. Es war still geworden. Jetzt, um elf Uhr abends, hatte der Alkohol die er wünschte Wirkung bereits gezeitigt. Sämtliche Kerle und die Weiber la gen volltrunken im Tiefschlaf, einige in den Hütten, die anderen hier im Sand. Die meisten schnarchten, und keiner sah so aus, als ob er in den nächsten Stunden wieder aufwachen würde. Manoel Ribas und die vier Mit streiter hatten sich still zum Strand zurückgezogen.
Della Rocca wollte nichts dem Zu fall überlassen. Er unternahm eine Runde über den Platz zwischen den Hütten und versetzte mehreren Schlafenden Fußtritte. Keiner wachte auf. Gut so. Der Korse begab sich zum Strand. Ribas und die anderen hatten Reste des gebratenen Fleisches gesichert und in die Jolle gepackt, desgleichen Fässer mit Trinkwasser. Sie begaben sich ins Boot, und der Korse nahm den Platz auf der Achterducht ein.
6. Es war bereits dunkel geworden, als Malvina und ihre beiden Gefähr tinnen endlich eine größere Lichtung erreichten, die für ein Nachtlager ge eignet war. Ihre Augen hatten sich an die Dun kelheit gewöhnt. Ein wenig Mondlicht sickerte durch das hohe Blätterdach, das in der Finsternis etwas von der Ehrwürdigkeit einer Kathedrale hatte. Mittlerweile waren auch die meisten Tierstimmen verstummt. Nur noch ein dumpfes Schnattern und Gurren war gelegentlich zu hören. Es wurde von Minute zu Minute leiser - gerade so, als ob sich der Dschungel zur Ruhe bettete und noch ein wenig räkelte, um die richtige Schlafposition zu finden. Malvina wies die beiden anderen an, stehenzubleiben, während sie ei nen Rundgang unternahm, um die Lichtung auszukundschaften. Consuela und Laurinda murrten. Doch sie fügten sich, als die Braun häutige sie energisch zurechtwies. Schlafen und dabei nicht wissen, wie die Umgebung aussah, das erschien ihnen denn doch nicht ganz geheuer. Und so waren sie froh, daß Malvina
ihnen die Arbeit abnahm, sich umzu schauen. Überhaupt hatte die Braunhäutige in den Stunden seit dem Abmarsch vom Stützpunkt be wiesen, daß in ihr doch ein wenig mehr von der Beziehung zur Natur schlummerte als in den beiden Euro päerinnen. So harrten sie gähnend in der Mitte der Lichtung aus, lehnten sich anein ander und bewahrten sich gegensei tig davor, einfach hinzusinken und zu schlafen. Malvina hatte unterdessen ihre Schritte gezählt und festgestellt, daß der Platz ungefähr dreißig mal drei ßig Yards maß. Nach allen Seiten hin war die Lichtung von schwer zu durchdringendem Dickicht umgeben. Einziger Zugang, auf dem man verhältnismäßig gut herannahen konnte, war die schmale Schneise, die Malvina mit dem Entermesser freigehauen hatte. „In Ordnung", sagte die Braunhäu tige. „Hier sind wir ziemlich sicher. Ihr schlaft da, wo ihr jetzt steht. Und wenn ihr aufwachen solltet, bewegt ihr euch nicht vom Fleck, ohne mich vorher zu verständigen." „Keine Sorge", entgegnete Laurinda gähnend. „Ich glaube, ich könnte zwanzig Stunden in einem Stück schlafen. Nicht mal ein Erdbeben könnte mich wecken." „Bleibst du nicht bei uns, Malvina?" erkundigte sich Consuela besorgt. Die Braunhäutige ging zu ihnen hinüber und legte beiden die Hände auf die Schultern. „Ich versuche, ein bißchen aufzu passen", sagte sie leise. „Ihr braucht keine Angst zu haben. Schlaft euch aus. Morgen übernehmt ihr abwech selnd die Arbeit mit dem Entermes ser."
„Aber du brauchst doch auch dei nen Schlaf", entgegnete die Spanie rin. „Sicher", sagte Malvina und lächel te. „Nur habe ich den leichtesten Schlaf von uns dreien, vermute ich. Und die bessere Kondition habe ich sowieso. Ich bin da drüben, zehn Schritte von euch entfernt." Sie deu tete in die Richtung, aus der sie ge kommen waren. „Legt euch jetzt hin. Im Morgengrauen geht es weiter. So wie im Stützpunkt geht es bei uns nicht. Wir können uns nicht leisten, bis in den Mittag hinein zu dösen." Consuela und Laurinda wider sprachen nicht. Beide waren froh, wenigstens ein paar Stunden die mü den Knochen ausstrecken zu können. Und sie fragten auch nicht danach, warum Malvina immer noch mit Verfolgern rechnete. Die Müdigkeit war stärker als alle Ungewißheit. Während sich Malvina einen gün stigen Platz im hohen Gras aussuch te, waren die Spanierin und die Por tugiesin bereits eingeschlafen. Keine Minute hatte es gedauert. Bis sie größeren Strapazen gewachsen wa ren, würden noch Tage vergehen. Malvina wußte aber auch, daß sie ih re eigene Leistungskraft nicht über schätzen durfte. Sie hatte sich gut gehalten, doch mit ihren Reserven konnte es schon morgen vorbei sein. Schließlich hatte auch sie im Stütz punkt des Korsen nichts weiter getan, als der liederlichen Lebensweise zu frönen. Sie entschied sich für eine Stelle, die etwa fünf Yards abseits jener Stelle war, wo die freigehauene Schneise in die Lichtung mündete. Neben ihrem Nachtlager öffnete sie das Stück Persenning, das sie zusammengeknotet und als Trage
behälter für ihre Ausrüstung und den Proviant verwendet hatte. Sie löste das Entermesser von ih rem Gurt und legte es neben die ein schüssige Pistole, die sie aus dem kleinen Arsenal della Roccas gestoh len hatte. Die Waffe war geladen. Ob und wie lange sie funktionierte, hing davon ab, wie schnell die Luftfeuch tigkeit des Dschungels zu der Pul verladung im Bodenstück des Laufs vordrang. Malvina streckte sich neben ihren Sachen aus und verschränkte die Ar me unter dem Kopf. Die Erschöpfung griff nach ihr wie ein übermächtiges Tier. Doch sie hatte die Willenskraft, nicht sofort einschlafen. Sie kon zentrierte sich auf die ersterbenden Geräusche des Dschungels und lern te innerhalb weniger Minuten, diese Geräusche einzustufen. Es war kein Laut darunter, der von Menschen verursacht worden wäre. Die Lebewesen, die den Dschungel bevölkerten, begaben sich mehr und mehr zur Ruhe. Eine Weile noch gab sich Malvina der Faszination hin, dieses Geschehen zu verfolgen. Dann wurde auch bei ihr die Müdigkeit stärker, und sie mühte sich nicht mehr, gegen den Schlaf anzukämpfen. Sie wußte, daß sie rechtzeitig alarmiert sein würde, wenn Gefahr drohen sollte. Später, als sie jäh erwachte, glaub te sie im ersten Moment, daß das Morgengrauen schon angebrochen wäre. Doch sie irrte sich. Es war lediglich der Mond, der eine andere Position eingenommen hatte, jetzt sein Licht in flacherem Winkel durch das Blätterdach schickte und dadurch für mehr Helligkeit sorgte.
Im nächsten Atemzug begriff Mal vina, daß es etwas anderes war, das sie geweckt haben mußte. Die Geräusche waren eindeutig. Ein Rascheln und Schaben, immer wiederkehrend, in regelrecht rhyth mischen Abständen. Schritte. Das waren keine Tiere, die diese Geräusche verursachten. Nein, das hörte sich eindeutig nach Menschen an, die sich verhältnismäßig zügig durch den Dschungel bewegten. Und das wiederum konnte nur ei nes bedeuten: Sie benutzten die schmale Schneise, die Malvina ge schlagen hatte. Die Braunhäutige reagierte inner halb von Sekunden. Wer auch immer dort herannahte, er war noch weit genug entfernt, daß man sich gegen ihn rüsten konnte. Malvina rüttelte zuerst Consuela wach und legte ihr rechtzeitig die Hand auf den Mund, damit sie nicht gleich losschrie oder sonstigen Lärm veranstaltete. „Jemand marschiert auf die Lich tung zu", flüsterte Malvina der Spa nierin ins Ohr. „Jemand ist hinter uns her! Verstehst du? Also sei ganz still und steh auf. Wir müssen uns wehren. Hast du das kapiert?" Consuela nickte unter der Hand ihrer Gefährtin. Malvina nahm die Hand weg und wiederholte die Prozedur bei der Portugiesin. Laurinda hatte ebenfalls eine Pistole bei sich wie auch Consuela. Zu dritt schlichen sie auf das Dik kicht seitlich der Schneisenöffnung zu. Consuela und Laurinda bezogen auf der einen Seite Stellung, Malvina auf der anderen, nachdem sie die beiden instruiert hatte, was zu tun sei.
Mittlerweile brauchten sie ihr Gehör nicht mehr anzustrengen, um die Schritte zu vernehmen, die da heran nahten. Reichlich tapsige Schritte waren es. Jedenfalls handelte es sich um niemanden, der sich mit größerer Vorsicht bewegte. Trotzdem beging Malvina nicht den Fehler, die Gefahr zu unterschätzen. Sie hielt die Pistole in der Rechten und ließ sie am langen Arm hängen, denn die Waffe hatte ein beträchtli ches Gewicht. In der Scheide, am Gürtel steckte wieder das Entermes ser. Consuela und Laurinda waren lediglich mit Pistolen bewaffnet, doch beide wußten, daß man eine solche Waffe keineswegs nur zum Schießen zu verwenden pflegte. Die Schritte nahten jetzt. Malvina spannte die Muskeln an. Sie konnte die großen, angsterfüllten Augen ihrer beiden Gefährtinnen sehen. Aber es gab keine Möglich keit, ihnen Mut zuzusprechen. Es waren zwei Personen. Malvina konnte bereits ihren keuchenden Atem hören. Männer, ohne Frage. Frauen hätten nicht solche schweren Schritte gehabt. Zehn Yards. Weiter konnten sie nicht mehr entfernt sein. Malvina hob die Pistole ein Stück, damit sie den Hahn spannen konnte. Sie tat es behutsam und äußerst langsam, wodurch das verräterische Knacken nicht zu weit zu hören war. Auf der anderen Seite der Schnei senmündung folgen Consuela und Laurinda ihrem Beispiel. Malvina konnte sich vorstellen, wie die beiden zitterten. Auf zehn Schritte Distanz würden sie mit den breitstreuenden Waffen nicht einmal ein Großsegel treffen. Aber es war auch nicht ihre Aufgabe, gezielt zu feuern.
Die Schritte waren jetzt unmittelbar vor dem Schneisenausgang. Noch bewegten sich die Kerle unver mindert zügig. Sie mußten fast blind sein in der Dunkelheit, denn offenbar hatten sie noch nicht erkannt, daß sie auf eine Lichtung zutrampelten. Und sie begriffen es erst, als es zu spät war. Malvina hatte die Pistole bereits hochgebracht, als die schattenhaften Gestalten vor ihr auftauchten. Sie zielte über die Köpfe der ah nungslosen Kerle hinweg und zog ab. Nichts. Nur ein metallisches Klicken war zu hören. Nicht einmal das Zündkraut puffte in der Pfanne. Die Kerle zuckten zusammen und erstarrten. Sie schafften es nicht mehr, zu ih ren Waffen zu greifen. Denn im nächsten Atemzug donnerte es auf der anderen Seite. Eine grellrote Mündungsflamme zuckte dem Blät terdach des Dschungels entgegen, und das Krachen des Schusses traf schmerzhaft auf die Trommelfelle wie in einem geschlossenen Raum. Nur eine von insgesamt drei Pisto len hatte funktioniert. Malvina plagte sich mit dieser Er kenntnis nicht lange ab. Blitzschnell drehte sie die Kurzwaffe in der Hand, packte sie am Lauf und schnellte auf die erste der beiden Gestalten zu. Ein Riesenkerl. Aber gegen den niedersausenden Pistolenknauf war sein Schädel nicht gewappnet. Der Hieb traf ihn und er brach zu sammen, wie vom Blitz gefällt. Laurinda war es, die den zweiten Kerl auf die gleiche Weise überwäl tigte. Aufatmend richteten die Frauen sich auf. „Himmel", sagte Consuela. „Wie
haben wir das bloß geschafft? Ich dachte, mir reißt es den Arm ab, als die Pistole losging. Das war, als ob mir einer das Ding aus der Hand schlagen wollte." „Der Rückstoß", entgegnete Malvi na trocken. „Für die Zukunft weißt du Bescheid. Eine Pistole mußt du fest im Griff halten, und bei einer Muskete mußt du den Kolben fest an die Schulter ziehen." „Woher weißt du nur solche Sa chen?" sagte Laurinda. Malvina lachte leise. „Ich habe eben manchmal zuge hört, wenn die Kerle von ihren Hel dentaten erzählten. Ihr müßt bei sol chen Gelegenheiten wohl immer was anderes im Kopf gehabt haben." Consuela und Laurinda stimmten in ihr Lachen ein. Dann jedoch verloren sie keine Zeit mehr. Sie kümmerten sich um die Bewußtlosen. Es überraschte sie nicht sonderlich, daß es sich um Theodoro und Fiorini handelte. Fast war es eine Erleichterung. Denn man konnte davon ausgehen, daß es der Kantige gewesen war, der seinen Freund und Kupferstecher auf eigene Faust zu dieser Verfolgung überredet hatte. Della Rocca hätte auf keinen Fall ausgerechnet die kleinsten Lichter aus seiner Meute losgeschickt, wenn er eine Verfol gung angeordnet hätte. Die drei Frauen fesselten die Be wußtlosen mit deren eigenen Gürteln. Besonders dauerhaft waren diese Fesseln nicht, das wußten sie. Aber sie verschafften sich mindestens einen Vorsprung von ein paar Stunden. An Nachtruhe war jetzt nicht mehr zu denken. Sogar Consuela und Laurinda waren hellwach. Die Auf regung war groß genug gewesen, um
in ihnen den größtmöglichen Drang zur Eile wachzukitzeln. Ohne Zeit zu verschwenden, setz ten sie ihren Weg fort. Malvina gab die Richtung an, nachdem sie sich am Stand des Mondes orientiert hatte. Noch einmal übernahm sie es, den Weg freizuschlagen. Die beiden Gefährtinnen würde sie damit erst nach Tagesanbruch betrauen.
* Über die Jakobsleiter enterte della Rocca zur Jolle ab. Ribas und die anderen beobachte ten ihn, wie er die Truhe mit den Perlen dabei mühelos auf der Schul ter balancierte. Der Korse hatte Bä renkräfte, und er war stets ein her vorragender Kämpfer gewesen. Manch einer aus dem Haufen, dem das entfallen war, hatte es mit einer fürchterlichen Tracht Prügel oder gar mit dem Leben bezahlt. Della Rocca ließ die Truhe in die Plicht vor der Achterducht sinken. Dann, nachdem er sich gesetzt hatte, pullten die Kerle auf sein Kommando hin los. Minuten später erreichten sie die Schaluppe, und bereits eine halbe Stunde später gingen sie ankerauf und segelten aus der Bucht. Kurs auf Cabo San Antonio. Della Rocca hatte den Kerlen an Bord reinen Wein eingeschenkt und ihnen verklart, was er plante. Jetzt, da er seinen Platz auf dem Achter deck eingenommen hatte, sah er noch ihre leuchtenden Augen. Die Gier hatte darin geglitzert, als er ih nen versprach, sie an der gesamten Perlenbeute zu beteiligen. Besten falls Manoel Ribas ahnte, daß er der
einzige sein würde, der wirklich einen Anteil erhalten sollte. Was die auf Cozumel zurückblei benden Kumpane betraf, hatte della Rocca nicht die geringsten Gewis sensbisse. Und die vier Kerle, die Ri bas herausgezogen hatte, bereiteten sich in dieser Beziehung noch weni ger Gedanken. Eigennutz geht vor Gemeinnutz, das war ihr Grundsatz, den der Korse wohlbedacht einkal kuliert hatte. In ihren gedanklichen Höhenflügen fühlten sie sich schon jetzt stein reich. Und die anderen, die auf der Insel ihren Rausch ausschliefen, wa ren in ihren Augen blöde Hunde. Sie zu prellen und um ihre Anteile zu be trügen, konnte bestenfalls hämische Schadenfreude erwecken. Della Rocca weidete sich daran, die menschlichen Neigungen wieder einmal richtig eingeschätzt zu haben. Beim Sicherstellen der Perlentruhe hatte er für einen Moment daran gedacht, die „Bonifacio" anbohren zu lassen und in der Bucht zu versen ken. Doch das hätte zu lange gedau ert. Er mußte schnell Distanz gewin nen. Nicht etwa aus Angst vor Verfol gung. Eine solche Vorstellung war geradezu lachhaft, Er konnte Cozumel und die Gegen wart der Kerle nicht mehr ertragen. Die Ahnung, daß ein anderer über seine Perlenverstecke herfiel, verur sachte ihm ein unerträgliches Krib beln. Und das konnte er nur dadurch beseitigen, daß er sich möglichst rasch Gewißheit verschaffte. Nein, Verfolger brauchte er nicht zu fürchten. Im Vergleich mit der Schaluppe war die „Bonifacio" eine lahme Ente. Überdies konnte der Zweimaster mit seinem geringeren Tiefgang noch Gewässer befahren,
die für die Galeone unerreichbar waren. In der Kapitänskammer hatte della Rocca die Öllampen brennen lassen. Tarnen und täuschen... Er grinste bei dem Gedanken. Was auch immer die Kerle dachten, so bald sie wieder bei klarem Verstand waren: sie würden zunächst einmal das Falsche vermuten. Von ihrem Kapitän wußten sie, daß er sich oft genug in seine Kammer an Bord der Galeone zurückzog, um seine Ruhe zu haben und jene tiefschürfenden Überlegungen an zustellen, ohne die seine erfolgrei chen Aktionen in den vergangenen Jahren kaum möglich gewesen wä ren. Ebensogut konnte er es in seiner Kammer aber auch mit einem der Weibsbilder treiben. Bis die Einfaltspinsel den wahren Sachverhalt herausfanden, würde eine Menge Zeit vergehen. Della Rocca ahnte nicht, daß er in diesem Punkt einen gelinden Denk fehler beging.
7. Der Dschungel endete überra schend abrupt. Nur eine gute halbe Stunde waren sie seit ihrem erneuten Aufbruch unterwegs. Malvina gab ihren Ge fährtinnen das Handzeichen, am Rand des Dickichts stehenzubleiben. Es war gleichzeitig die Aufforderung, Schweigen zu bewahren. Vor ihnen lag eine felsige Ebene. Lavagestein vermutlich, das als Glutstrom vor langer Zeit jegliche Vegetation unter sich ausgelöscht hatte. Im Mondlicht schimmerte die Ebene wie flüssiges Blei, das mit der
typischen stumpfen Haut überzogen war. In weiter Ferne, jenseits der vege tationslosen Zone, erstreckte sich be waldetes. Hügelland, das infolge des Mondscheins aussah wie .eine An sammlung wahllos hingestreuter dunkler Polsterkissen. Malvina entschied, die Ebene in südlicher Richtung zu überqueren. „Ich habe Angst", gestand Laurinda. Die Braunhäutige drehte sich zu ihr um. „Bist du verrückt? Bis eben, im Dschungel, hattest du Grund dazu. Was soll der Unsinn ausgerechnet jetzt?" Die Portugiesin zog die Schultern hoch. „Ich weiß es nicht. Diese Land schaft - sie sieht so unheimlich aus." „Ich kann mir denken, was Laurinda meint", sagte Consuela und legte fürsorglich ihren Arm um die Schul tern der Portugiesin. „Man fühlt sich schutzlos und verwundbar da drau ßen." „Ein falsches Gefühl", sagte Malvi na, „ihr werdet sehen. Und jetzt reißt euch zusammen. Dank unserer hoch verehrten Freunde Theodoro und Fiorini haben wir eine Menge Zeit ge wonnen. Wer weiß, vielleicht errei chen wir schon morgen die Küste." Consuela und Laurinda sahen sich voller Hoffnung an, schwiegen aber. Es hatte keinen Sinn, sich über das Ende der Strapaze zu freuen, bevor man es greifbar nahe sah. Doch die Hoffnung auf ein baldiges Ende aller Mühen beflügelte. Das wußte Malvi na. Und sie wußte es besser als alles andere. Die Vermutung, daß sie morgen die Küste erreichen würden, war ein Griff ins Blaue. Ebensogut konnten sie erst in zehn Tagen auf der Süd
ostseite der Insel sein. Malvina hatte nicht die leiseste Ahnung, wie weit sich Cozumel auf ihrer Höhe zwi schen der nordwestlichen und der südöstlichen Küste ausdehnte. Erneut übernahm sie die Führung. Es war eine Wohltat, sich mit unge hinderten Schritten fortbewegen zu können und sich nicht jeden Schritt mit mühsamen Messerhieben er kämpfen zu müssen. Das Gestein strahlte noch die Hitze des Tages aus und trug dazu bei, daß sich die Stimmung der Frauen wesentlich besserte. Malvina spürte erst jetzt, wie bleischwer ihre Arme waren. Die Arbeit mit dem Entermesser war eine mörderische Tortur gewesen. Schon nach einer weiteren halben Stunde erkannten sie, daß sie die Entfernung falsch eingeschätzt hat ten. Die Ebene dehnte sich weiter, als man es vom Rand des Dschungels aus hatte feststellen können. Der Boden wurde nun auch welliger. Es herrschte völlige Stille, die nur vom Geräusch der eigenen Schritte durchbrochen wurde. Ein Impuls war es, der plötzlich Malvinas hellwache Sinne traf. Etwas Unerklärliches, dessen Herkunft sie nicht ergründen konnte. Ein fremdes Geräusch? Sie gab das Zeichen zum Halten, wies die Gefährtinnen erneut zum Schweigen an. Angestrengt horchte sie, aber da war nichts zu hören. Möglich, daß ihr die Sinne einen Streich gespielt hatten. Dazu mochte auch die Müdigkeit beitragen, unter der sie im Grunde alle drei zu leiden hatten. Ihre Wachheit war unnatür lich. Da konnte es leicht geschehen, daß man sich selbst etwas vorgau kelte.
Malvina wandte sich um und blickte zurück zum Dschungel, der nun schon mehrere Meilen weit entfernt war. Sie kniff die Augen zusammen, um vor dem dunklen Hintergrund besser sehen zu können. Doch da gab es nicht die winzigste Bewegung. Theorodo und Fiorini konnten es auch unmöglich schon geschafft haben, sich zu befreien. Die Braunhäutige wandte sich wieder nach vorn. Sie empfand Er leichterung darüber, daß sie sich ge täuscht hatte. Consuela und Laurinda blickten sie nur verständnislos an. Ihnen war ohnehin nicht klar, was Malvinas Mißtrauen erweckt hatte. Sie gab das Zeichen, den Weg fortzusetzen. Im selben Atemzug traf der Schreck sie bis ins Mark. Consuela und Laurinda prallten gegen ihren Rücken, als sie noch im ersten Schritt erstarrte. Nicht sofort begriffen die beiden Gefährtinnen, was ihre Führerin so in Angst stürzte. Doch es dauerte keine Sekunde. Dann packte alle drei Frauen das kalte Entsetzen. Die Gestalten waren bewegungslos und von der gleichen stumpfen Blei farbe wie das Lavagestein. Wahllos verteilt standen sie da, mit größeren Abständen voneinander. Stumm richteten sie ihre Blicke aus glühenden Augen auf die drei Frauen. Dabei hatte es den Anschein, als ob die Gestalten buchstäblich aus dem stei nigen Boden gewachsen wären. Laurinda bekreuzigte sich hastig etwas, was sie seit vielen Jahren nicht mehr getan hatte. Reflexartig folgte Consuela ihrem Beispiel. Die sonderbaren Bleifiguren be wegten sich noch immer nicht. Sie standen einfach nur da - stumm und mit unausgesprochener Drohung.
Malvina konnte nichts gegen das eisige Gefühl des Grauens tun, das ihren Rücken heraufkroch. Dabei wußte sie, daß es eine logische Erklärung für diese Erscheinung geben mußte. Es handelte sich um menschliche Wesen, kein Zweifel. Was, zum Teufel, veranlaßte sie, einen so in Furcht zu versetzen? Überlebenswille erwachte in der Braunhäutigen. Mit Waffengewalt konnte man sich nicht zur Wehr set zen. Es waren mehr als zwanzig die ser reglosen Bleifiguren. Überdies hatten sie nur die Entermesser, denn die Pistolen hatten sie in der Feuch tigkeit des Dschungels, noch dazu bei Nacht, natürlich nicht reinigen, trocknen und neu laden können. Nein, Gewalt nutzte in diesem Fall nichts. Da es sich um Menschenwe sen handelte, mußte man sich mit ih nen einigen können. Irgendwie. Malvina brachte nur ein trockenes Krächzen heraus. Ihre Kehle war wie ausgedörrt. Mühsam räusperte sie sich. „Wir sind nicht eure Feinde", brachte sie schließlich heraus. Dabei hoffte sie, daß die Wesen Spanisch verstanden. „Wir fürchten uns vor euch, und wir bitten euch, uns nichts anzutun. Wir werden euch alles er klären - warum wir hier auftauchen, und warum wir auf der Flucht sind." Minutenlang blieb es still. Malvina verspürte bereits unsägli che Enttäuschung darüber, daß ihr Versuch nutzlos gewesen war. Doch unvermittelt ertönte eine gutturale Stimme, die sich nicht loka lisieren ließ. Man konnte beim besten Willen nicht feststellen, welcher der Bleimänner es war, der da sprach. Er beherrschte die spanische Sprache nur in Brocken.
„Ihr Fremde - Nachfahren von Conquistadores - unsere Völker von euch ausgerottet, uns gezwungen, in Elend und Unwürde zu leben! Inter essiert uns nicht, wer seid ihr. Von den Göttern ihr geschickt! Anfang der Rache für uns. Ihr werdet leiden, wie gelitten haben unsere Völker seit Generationen - unter euren Vorvä tern!" Malvina hörte sich verzweifelt aufschreien. „Nein, um Himmels willen, nein! Wir hassen die Spanier wie ihr! Wir sind auf eurer Seite, können euch verstehen!" Die gutturale Stimme übersetzte es in die Sprache der bleifarbenen Männer. Rauhes Gelächter erklang. Malvina hatte das Gefühl, daß ihr der Boden unter den Füßen wegge zogen wurde. Unendliche Hoff nungslosigkeit packte sie. „Aus euch spricht weißer Mann!" rief die Stimme anklagend. „Weißer Mann ist feige, spricht so, wie seinem Feind gefällt." Nach einer sekunden langen Pause gab die Stimme einen schroffen Befehl in der indianischen Sprache. Die drei Frauen brachten nicht einmal mehr einen Ansatz zur Flucht zustande. Innerhalb von Augenblik ken waren sie von den Gestalten um ringt und wurden von eisenharten Griffen gepackt. Sie hatten nicht die geringste Chance, sich zur Wehr zu setzen. Mit geradezu spielerischer Leichtigkeit schleiften die bleifarbe nen Männer sie davon. Und schon Minuten später war die Lösung des unheimlichen Rätsels of fenkundig. Wie von einem Meißel gehauen, führte ein Einschnitt sanft abfallend in eine Schlucht, die sich in Nord-SüdRichtung durch die steinige Ebene
zog. Die Schlucht weitete sich zu einem Talkessel, in dem Lichter brannten. Üppiges Gras und Busch werk bedeckten den Boden, irgendwo, unsichtbar, plätscherte ein Bach. Das Licht war von oben nicht zu sehen gewesen, da die Schlucht mehr als dreißig Fuß tief war. Doch für Malvina und ihre Ge fährtinnen erübrigten sich solche Überlegungen. Denn die so friedliche Szenerie mit halbkugelförmigen Hütten und weidenden Haustieren hatte für sie, die drei Gefangenen, nicht einmal einen Hauch von Frie den. Die Gestalten, die sich offenbar mit einer gemahlenen Substanz aus dem Lavagestein bleifarben angemalt hatten, fesselten sie an Pfähle, die mehr als mannshoch aus dem Boden aufragten. Ein Dutzend Pfähle waren in der Mitte der kleinen Ansiedlung aneinandergereiht. Offenbar lauerte man ständig auf Gelegenheit, Rache zu üben. Dumpfer Trommelklang ertönte. Sämtliche Dorfbewohner waren in zwischen wach. Frauen, Kinder, alte Leute. Nur die Krieger, so zeigte sich, trugen die bleifarbene Bemalung. Kaum mehr als hundert Menschen waren es, die sich stumm im Halb kreis um die Trommelschläger grup pierten. Der Anführer oder Häuptling ließ zunächst die Ausrüstung der Gefan genen in der Mitte des Halbkreises ausbreiten. Nach einem für Malvina unergründlichen System wurden der Proviant an die Frauen und die Waf fen an die Männer verteilt. Sie schalt sich eine Närrin. Wes halb interessierte sie sich überhaupt noch für solche nebensächlichen Fragen? Nichts war mehr wichtig, nichts lohnte sich mehr, daß man
darüber nachdachte - jetzt, ange sichts des Todes. *
Heiser fluchend rappelte sich der Bootsmann am kalten Strand auf. Standfestigkeit hatte er beileibe noch nicht. In seinem Kopf summte und dröhnte es, und er konnte sich nur schwankend auf den Beinen halten. Fassungslos stierte er auf die Bucht hinaus. Er rieb sich die Augen und blinzelte. Doch das änderte nichts. Die Zweimastschaluppe war ver schwunden. Auch die größere Jolle lag nicht mehr am Steg. Moleta begriff trotz seines noch nicht ausgeschlafenen Rum-Rau sches, daß da etwas nicht stimmte. Hölle und Teufel, hatte denn der Korse nichts gemerkt? Schließlich mußte er sich an Bord der „Bonifacio" befinden, denn in der Kapitäns kammer brannte noch immer Licht. Manchmal hatte della Rocca ja diese merkwürdigen Anwandlungen, sich an Bord der Galeone zu rückzuziehen - entweder mit einer Hure oder allein. In dieser Nacht mußte ihn der Alkohol zur Einsam oder Zweisamkeit an Bord getrieben haben. Moleta war unschlüssig. Sollte er della Rocca alarmieren oder nicht? Jeder wußte, wie rabiat der Korse werden konnte, wenn man ihn störte oder irgendwie belästigte. Die Beispiele Dubuque und Zardo hatten das gezeigt wie viele andere zuvor. Vielleicht war es besser, erst einmal mit Ribas zu sprechen. Moleta begann, sich umzusehen. Sein Gang wurde zunehmend siche rer, und in gleichem Maß wurde er
auch nüchterner. Ribas war nir gendwo zu entdecken, auch in den Hütten nicht, in denen Moleta syste matisch nachschaute. Da waren nichts als schnarchende und grun zende Figuren, die der Rausch fest im Griff hatte. Es gab noch die eine Möglichkeit, daß sich Ribas bei della Rocca auf der „Bonifacio" befand. Folglich half alles nichts, man konnte die Lage nur an Bord der Ga leone klären. Einem der Kerle, der in der Nähe des Strandes lag, versetzte Moleta Fußtritte. Doch der Bursche unter brach sein Schnarchen lediglich mit unwilligem Knurren, krümmte sich zusammen und fiel in noch tieferen Schlaf. Wut packte den Bootsmann. Was er anfing, das mußte auch ge lingen. Er schnappte sich einen Ei mer, holte Wasser vom Strand und leerte es über dem Kopf des eisernen Schläfers aus. Diesmal klappte es. Der Kerl prustete und schüttelte sich und fuhr erschrocken hoch. Ma leta packte ihn, rüttelte ihn durch und herrschte ihn an: „Beweg dich, du bist Rudergast! Los, los, Tempo! Übersetzen zur ,Bo nifacio'!" Mit ein paar Tritten in den Hintern trieb er den völlig Verdatterten auf dem Weg in Richtung Bootssteg an. Moleta hatte eine Laterne entfacht, die er nun in der Linken hielt, wäh rend er aufrecht im Boot stand. Der Kerl mit dem nassen Kopf pullte mühsam und schläfrig. Schon wäh rend sie sich der Galeone näherten, wurde die völlige Stille deutlich. Als Moleta gemeinsam mit dem Kerl aufenterte, wuchs das Gefühl, daß sie es mit einem Geisterschiff zu tun hatten. Eilends begannen sie mit
der Durchsuchung. . Das Ergebnis war niederschmetternd. Die Lotsenkammer war leer. Auf leisen Sohlen drangen Moleta und sein Begleiter zur Kapitänskammer vor und lauschten. Nichts rührte sich. Kein Weiber-Kichern oder auch nur ein Schnarchton waren zu hören. Dennoch öffnete Moleta das Schott leise und vorsichtig. Wenn della Roc ca trotz allem da drinnen war, konnte man immer noch schnell wieder schließen und ordnungsgemäß klop fen. Eine unnötige Überlegung, wie sich im nächsten Moment zeigte. In der gesamten Kammer befand sich kein Kapitän. Die Koje war un berührt, das ließ sich mit einem ein zigen Blick feststellen. Mehrere Schapps standen indessen offen. Die größeren, in denen Kleidung gehan gen hatte, waren leer. Der Bootsmann blinzelte ungläubig. Er sah seinen Begleiter an, doch dessen stumpfe Triefaugen ließen le diglich erkennen, daß er überhaupt nichts begriff. Bei Moleta begann indessen ein Verdacht zu keimen.
* Weitere Feuer waren entfacht worden, und der Trommelklang hatte einen schnelleren Rhythmus an genommen. Im Halbkreis wurde gelacht und gescherzt wie bei einem Freudenfest. Die verteilten Gegenstände machten die Runde unter den Frauen, Kindern und alten Leuten, wurden betastet und bestaunt, aber immer wieder den vom Häuptling bestimmten neuen Eigentümern zurückgegeben. Niemand schien
etwas dabei zu finden, zu dieser späten Stunde eine solche Zusammenkunft zu veranstalten. Und niemand schien sich wegen des Bevorstehenden zu grausen. Es war offenbar ein Anlaß zu unbändiger Heiterkeit. Malvina wandte den Kopf ein Stück nach rechts. Consuela und Laurinda standen kreidebleich in ihren Fesseln. Beide schienen zu keinem klaren Gedanken mehr fähig und waren eher einer Ohnmacht nahe. Die bleifarbenen Gestalten waren von der Bildfläche verschwunden. Das mochte eine halbe Stunde her sein. Jetzt tauchten sie plötzlich wie der auf - bronzehäutig und mit grell farbenen Streifen in den Gesichtern. Ihr Erscheinen rief bei den Zuschau ern im Halbkreis sofortige Stille her vor. Die Mehrzahl der Bronzehäuti gen schleppte bündelweise Holz her bei, trockene Äste, die sie vermutlich im Dschungel sammelten und dann in der Schlucht lagerten. Der Häuptling trat auf Malvina zu, während die Krieger begannen, das Holz bei ihren Gefährtinnen zu klei nen Scheiterhaufen aufzuschichten. Consuela und Laurinda zitterten und wimmerten. Malvina erkannte den Häuptling mittlerweile an seinen breiten Schultern und dem eckigen Kinn. „Wir jetzt tun", sagte er, „was wir von euren Conquistadores-Vorfah ren gelernt." Mit einer knappen Handbewegung deutete er auf die anwachsenden Scheiterhaufen. „Aber wir nicht nur brennen euch." Ein eisiges Grinsen kerbte sich in das grellbemalte Gesicht des Mannes, als er einen halben Schritt zur Seite trat. Zwei Krieger schleppten einen gut hüfthohen Holzblock herbei, aus ei nem Baumstamm gehauen und oben
mit einer muldenartigen Vertiefung versehen. Der Verwendungszweck wurde Malvina klar, als sie das Hen kersbeil sah, das ein weiterer Krieger trug. „Auch das gelernt", sagte der Häuptling. „Conquistadores haben rotem Mann Hände und Arme abge schlagen. Haare vom Kopf geschnit ten! Mit Pferden in vier Teile zerris sen. Und vieles noch." Er ließ sich das Beil geben. „Wir dies erbeutet. Mann, der auf festem Land damit getötet hat, damit von uns getötet." Malvina konnte ihr Zittern nicht unterdrücken. Der Häuptling bemerkte es, und es schien ihm irgendwie Genugtuung zu verschaffen. Seine Redseligkeit wuchs. In seinem holprigen Spanisch schilderte er, wie die letzten Überle benden seines Stammes hier Zu flucht gefunden hatten, nachdem sie mit knapper Mühe vor Unterdrückung und Zwangsarbeit auf dem Festland geflohen waren. Hier, in der unwirtlichen Einöde, hatten sie sich verkrochen. Und sie nutzten jede seltene Gelegenheit, sich an den Weißen zu rächen. Malvina versuchte vergeblich, den Häuptling davon zu überzeugen, daß sie und ihre Gefährtinnen ebenso empfanden wie die bedauernswerten Angehörigen seines Stammes. Er ließ sich in seinem Redefluß kaum unterbrechen. Nichts bedauerte Malvina in dieser Stunde so sehr wie die Tatsache, daß sie Theodoro und Fiorini niedergeschlagen und gefesselt und geknebelt zurückgelassen hatten. Die Rückkehr ins Lager des Korsen war auf einmal ersehnenswert, doch unerreichbar.
8. Im Stützpunkt des Korsen auf Co zumel war wieder Lärm eingekehrt eine halbe Stunde, nachdem sich herausgestellt hatte, daß die „Boni facio" alles andere als ein Geister schiff war. Mit Fußtritten, Knüppelhieben und Wassergüssen hatte Moleta mittlerweile die gesamte Horde wachgeprügelt. Nur die Weiber dö sten noch in ihren Hütten. Während sich die ächzenden und murrenden Kerle am Strand versammelten, stellte der Bootsmann sehr rasch fest, woran er war. Außer Theodoro und Fiorini, die sich sozusagen auf „Brautschau" ab gemeldet hatten, fehlten della Rocca, Ribas und vier Mann, die man als en ge Vertraute des Lotsen einstufen konnte. Kein Wunder also. Mit der Schaluppe hatten sie sich in dieser Nacht heimlich verdrückt, und die in der Bucht Zurückgebliebenen waren die Geprellten. „Herhören!" brüllte Moleta, und die wankenden und taumelnden Kerle wurden ein wenig wacher. „Della Rocca, dieser Schweinehund, ist mit Ribas und den vier anderen abgehauen! Was er vorhat, dürfte jedem klar sein: Seine Perlen aus den Verstecken will er so schnell wie möglich zusammenraffen. Weil ihm nämlich das verdammte Buch geklaut worden ist!" Einer der Kerle meldete sich heiser zu Wort. „Wer hat denn nun das verdammte Buch geklaut? Unser Hängemann? Oder wer?" Alles starrte einen Atemzug lang zu dem pendelnden Zardo. Dann zog Moleta die Aufmerksamkeit wieder auf sich.
„Egal!" schrie er, und seine Stimme steigerte sich zum Schrillen, je mehr ihm selbst bewußt wurde, wie höl lisch der Korse ihn und die anderen hereingelegt hatte. „Dieser elende Drecksack hat uns alle angeschmiert! Er hat uns mit Schnaps betäubt, damit er mit der Schaluppe verschwinden konnte!" Moleta rang nach Atem, so sehr packte ihn die Wut. Auch die Kerle waren nüchtern geworden. Ihr aufgebrachtes Ge murmel zeigte es. Lautere Stimmen forderten Rache. Sie würden della Rocca zerreißen, wenn sie ihn jetzt in die Finger kriegten, das erkannte Moleta, ohne zweimal hinsehen zu müssen. Schließlich hatte jeder der Kerle sei ne Haut mit zu Markte getragen, wenn sie Perlensiedlungen plünder ten - wie zuletzt in Campeche. Dort war das Risiko besonders deutlich geworden. Immerhin waren dort zehn Mann über die Klinge gesprungen. Und dies war nun della Roccas Dank für den gemeinsamen Einsatz. Jeder hatte sein Äußerstes gegeben, das konnte man ohne Übertreibung sagen. Und dieser betrügerische Schuft von einem, Korsen hatte sie alle verraten und verkauft. Moleta zwang sich zur Ruhe. Er mußte wieder klare Gedanken fas sen, und es gelang ihm nach und nach. Das nächste Perlenversteck befand sich am Cabo San Antonio, daran konnte er sich genau erinnern. Moleta faßte einen schnellen Ent schluß, und die Kerle waren wildent schlossen, als er sie auf die „Bonifa cio" scheuchte. Um die Frauen küm merte sich niemand mehr. Moleta verschwendete kaum einen Gedan ken an sie. Wenn es nach ihm ging,
konnten sie auf Cozumel Wurzeln schlagen. Um fünf Uhr morgens, am 21. Juli 1595, ging die „Bonifacio" ankerauf und verließ die Bucht mit Kurs auf Cabo San Antonio. Moleta hatte die Führung an sich gerissen und fest in den Händen. Er hatte das Zeug dazu.
* Sie schritten auf die bleigraue Ge steinsebene hinaus, und ihr vor dringliches Interesse galt den schwellenden Beulen, die sie fort während betasteten. „Wenn ich das gewußt hätte", sagte Fiorini ächzend, „hättest du deine Weibsbilder allein verfolgen können. Mann, die haben ja Haare auf den Zähnen!" Entnervt stellte er fest, daß die Beule in der Mitte seines Schädel steil und rund zwischen den Haaren hervorwuchs. „Kehr doch um!" fauchte Theodoro. Ihn hatte es nicht minder schlimm erwischt. „Allein? Ich bin doch nicht verrückt." „Dann halte endlich das Maul. Wir erwischen sie, verlaß dich drauf." Fiorini gehorchte und preßte die Lippen aufeinander. Er kannte Theodoro. Die Schläge auf den Kopf hatten seine Verbissenheit nur noch gesteigert. Nach der Bewußtlosigkeit hatten sie sich ohne große Mühe von den Fesseln befreien können, denn in diesem Punkt verstanden die Weiber nun wahrhaftig nichts vom Handwerk. Theodoro hatte die bisherige Marschrichtung Malvinas und ihrer Gefährtinnen zugrunde gelegt und war zu dem Ergebnis gelangt, daß
sie sich in südöstlicher Richtung bewegten. „He, bleib mal stehen!" zischte der Genuese unvermittelt. Theodoro knurrte unwillig, folgte aber dem Wunsch seines drahtigen Begleiters. „Was ist los, zum Teufel?" „Wenn du keine Bohnen in den Oh ren hast, müßtest du es hören. Trom meln!" Theodoro reckte den kantigen Schädel, und im nächsten Moment vernahm er tatsächlich die dumpfen Laute, die aus dem Nichts zu kom men schienen. Vorsichtig drangen sie weiter vor. Nach wenigen Minuten sahen sie den Flammenschein, der gleichfalls aus dem Nichts zu züngeln schien. Und wiederum Minuten später mußten sie erschrocken feststellen, daß sie um ein Haar über den Rand des Abgrunds in die Schlucht gestolpert wären. Doch der Schreck währte nur einen Moment. Viel schlimmer war der Anblick, bei dem sich ihnen die Haare sträubten. Malvina und die beiden anderen, an Pfähle gefesselt! Tanzende bron zehäutige Gestalten, fertig aufge schichtete Scheiterhaufen und ein Hauklotz mit einem verdammten Henkersbeil. „Malvina", sagte Theodoro, und es klang wie ein Keuchen. „Himmel, du gehörst mir und nicht diesen elenden Wilden!" „Ich kehre um", flüsterte Fiorini. „Jetzt habe ich genug." Theodoro packte ihn an der Schul ter. „Rede kein dummes Zeug. Consuela und Laurinda gehören dir. Was willst du mehr, verdammt noch mal?"
„Mein Leben ist mir eigentlich wichtiger", entgegnete der Genuese vorsichtig. „Blödsinn. Diese Rothäute sind viel zu einfältig. Die überlisten wir kurz und schmerzlos. Also los jetzt, bevor sie da unten ihre dummen Ideen in die Tat umsetzen." Fiorini brachte es nicht mehr fertig, zu widersprechen, und so folgte er dem Kantigen auf dem sanft abwärts führenden Weg in die Schlucht. Offenbar fühlten sich die Indianer völlig sicher, denn es waren nirgends Posten aufgestellt. Weit außerhalb des Feuerscheins, im dunklen westlichen Randbereich der Schlucht drangen Theodoro und Fiorini bis in Höhe der Ansiedlung und des Folterplatzes vor. Etwa hundert Yards hinter den aufgereihten Pfäh len kauerten sie sich in das kniehohe Gras. Theodoro zog sein Messer, und Fi orini folgte seinem Beispiel. Im nächsten Moment stieß der Kantige seinen Nebenmann an. „Sieh dir das an! Jetzt veranstalten sie ein Palaver oder so was!" Fiorini konnte nur zustimmend brummen, denn die Furcht schnürte seine Kehle zu. Aber Theodoro hatte offenbar recht. Die Trommeln wurden gedämpfter und langsamer ge schlagen, und vor dem Halbkreis der Zuschauer kauerten sich die bronze häutigen Tänzer in einem Ring zu sammen, geduckt und zur Ringmitte hin murmelnd. „Schnell!" zischte Theodoro und kroch bereits los. Eine bessere Gele genheit würden sie nicht erhalten, das stand fest. Fiorini folgte ihm wieder notgedrungen. Tatsächlich schafften sie es unbe helligt bis unmittelbar hinter die Pfähle. Das Gemurmel und der
dumpfe Trommelklang waren ner venzerfetzend. Viel schlimmer war jedoch der Anblick der Scheiterhau fen, die jeden Moment entfacht wer den konnten. Theodoro zögerte nicht. Für Malvi na war ihm kein Risiko zu groß. Daß della Rocca sie ihm anvertraut hatte, bedeutete für ihn auch, daß er für ihren Schutz zuständig war. Kein lau siger Indianer hatte das Recht, sie ihm wegzunehmen. Lautlos und flach auf dem Boden schoben sich Theodoro und sein Ge fährte an die Pfähle heran. Theodoro durchtrennte zuerst Malvinas Fesseln und glitt dann zu Consuela hinüber, während Fiorini bereits Laurinda befreit hatte. „Nach hinten weg!" zischte der Kantige. „In der Dunkelheit!" Nur die Frauen konnten es hören, und sie reagierten sofort. Sie ließen die Fesseln von sich abfallen, wan den sich um die Pfähle herum und liefen los - mit langen Sätzen, auf nackten Sohlen. Das Gemurmel und die dumpfen Trommeln übertönten alles andere. Theodoro und Fiorini hielten es für ihre Pflicht, den Rückzug der ihnen Anvertrauten zu sichern. So harrten sie minutenlang mit geringem Ab stand hinter den Pfählen aus, wäh rend Malvina und die beiden anderen bereits von der Dunkelheit ver schluckt waren. Sie würden das Fol gerichtige tun und zum Ausgang der Schlucht fliehen. Theodoro gab das Zeichen. Er rich tete sich nur halb auf. Fiorini tat es ihm nach. Beide wollten sich umdre hen und losrennen. Sie schafften die Bewegung nur noch im Ansatz.
Ein gellender Warnschrei unter brach das Gemurmel der Indianer. Wildes Stimmengewirr entstand. Das letzte, was Theodoro und Fio rini hörten, waren seltsam schwir rende Geräusche. Dann wurden sie von dumpfen Schlägen getroffen. Den Schmerz spürten sie nicht mehr. Die Lanzen, von denen sie durch bohrt wurden, töteten sie auf der Stelle. Malvina und ihre Gefährtinnen hatten unterdessen die Ebene er reicht. Die Todesangst verlieh ihnen Kraft. Sie liefen weiter, nach Südosten, ohne sich umzuwenden. Keuchend, unbehelligt, was ihnen wie ein Wunder erschien, erreichten sie das bewaldete Hügelland. Im Sichtschutz von dichtem Buschwerk verharrten sie und spähten auf die Ebene hinaus. Hinter ihnen, im Osten, kroch das Grau der beginnen den Morgendämmerung herauf. Erst jetzt erschienen Krieger. Mit Lanzen bewaffnet stürmten sie aus dem Schluchteingang hervor. Im nächsten Moment verharrten sie un schlüssig. Natürlich, sie mußten sich in Gruppen aufteilen, um die ver schiedenen Fluchtrichtungen abzu suchen. Rasch wurde es heller. Malvina, Consuela und Laurinda glaubten ihren Augen nicht zu trauen, als der Häuptling plötzlich mit einem herrischen Zeichen den Rückzug anordnete. Doch es war klar: Bei Helligkeit wagte sie sich nicht aus ihrem Schlupfwinkel heraus. „Der neue Tag hat unser Leben ge rettet", sagte Malvina tonlos. Dann verbesserte sie sich. „Nein, wir haben alles, aber auch alles, Theodoro und Fiorini zu verdanken, diesen beiden elenden Kerlen ..." Ihre Stimme ver siegte.
Consuela und Laurinda konnten nur nicken. Ihre Kehlen waren wie zugeschnürt. Es half nichts, an das Schicksal der beiden Männer zu denken. Sie mußten ihre Flucht fortsetzen. Nach Südosten. So schnell wie möglich.
* Quer über die Yucatan-Straße hatte della Rocca bei Wind aus Osten aufkreuzen müssen, und dabei zeig ten die hervorragenden Segeleigen schaften die Zweimasters. Am Vormittag des 22. Juli erreich ten der Korse und seine fünf Kum pane die Bucht am Cabo San Antonio und ankerten dicht unter Land. Mit Manoel Ribas und zweien der Kerle setzte della Rocca über. Vor der Achterducht stehend, er starrte er zur Salzsäule, noch bevor der Kiel des Bootes auf den Ufersand knirschte. „Fußspuren!" flüsterte Ribas fas sungslos und sprach das aus, was den Korsen zur Reglosigkeit veranlaßt hatte. Aber es gab keinen Zweifel. Es wa ren sehr scharfe und sehr deutliche Spuren dort im hellen Ufersand - eine absolute Seltenheit bei den unbe rührten Stränden der Karibikküsten. Den Korsen beschlich unterdessen eine unheimliche Ahnung, und er wurde dabei fast grün im Gesicht. Noch bevor die anderen das Boot verlassen konnten, stürzte er an ih nen vorbei, über die Duchten nach vorn. Als er den Strand hinauf stürmte, hatten sie Mühe, ihm zu fol gen. Bei diesem Versteck konnte er auf jegliche Peilung verzichten.
Für einen Atemzug stand er wie versteinert da, denn es war wie ein mörderischer Tiefschlag, den er verspürte. Deutlich hob sich der frisch umge grabene Sand von der Umgebung ab. „Spaten her!" brüllte della Rocca. Seine Stimme überschlug sich dabei. Ribas, der geistesgegenwärtig ei nen Spaten mitgenommen hatte, reichte ihn hastig dem Korsen. Wie besessen begann der Korse zu gra ben. In hohem Bogen flog der Sand nach allen Seiten davon, und bald darauf waren häßliche trockene Ge räusche zu hören. Das Eisenblatt stieß auf Knochen. Mit dem Sand flo gen sie heraus - der Totenschädel und die teilweise zertrümmerten Ge beine. Doch della Rocca kümmerte es nicht, daß er es mit den sterblichen Überresten eines von ihm ermorde ten Menschen zu tun hatte. Ohne Pause grub und schaufelte er, bis er eine tiefe Grube ausgehoben hatte. Es störte ihn in seiner Besessenheit nicht einmal, daß die anderen taten los daneben standen. Gähnende Leere. Die Perlentruhe hatte ein anderer ausgegraben. Mit einem schrillen Schrei warf sich der Korse zu Boden und trommelte mit den Fäusten in den Sand. Er glaubte, den Verstand zu verlieren. Minuten später als er nur noch äch zen konnte, wich sein Zorn einer dumpfen Geistesabwesenheit. Zu stark war der Schmerz, nun selber der Betrogene zu sein. Er stieg aus der Grube und nickte nur stumpfsinnig, als Ribas vor schlug, zum nächsten Versteck zu segeln - zur Punta Frances an der
südwestlichen Landzunge der Isla de Pinos.
* Es war am frühen Morgen des 22. Juli 1595, als Malvina und ihre beiden Gefährtinnen in völliger Erschöpfung zum erstenmal die See vor der Südostküste von Cozumel erblickten. Von einer Hügelkuppe aus genos sen sie diesen Anblick, der für sie die Hoffnung auf das endgültig Überle ben bedeutete. Doch sie gönnten sich keine länge re Pause. Immer noch voller Furcht vor möglichen Verfolgern, setzten sie ihren Weg fort, obwohl zwischen dem Beginn ihrer Flucht und dem jetzigen Zeitpunkt bereits sechsunddreißig Stunden lagen. Aber die Angst bewahrte sie noch immer davor, sich endgültig von der Erschöpfung überwältigen zu lassen. Rasch näherten sie sich der Küste, und bald konnten sie schon den ver trauten Geruch des Meerwassers aufnehmen. Eine gütige Fügung wollte es, daß sie auf eine menschli che Ansiedlung zusteuerten. Was sich hinter dieser Fügung verbarg, sollten sie erst später begreifen. Sie sahen die Hütten wie durch ei nen Schleier. Bis in die Mitte des Dorfplatzes schafften sie es noch. Dann brachen sie zusammen. Weder Malvina noch die anderen wußten, wie viele Stunden vergangen waren, als sie endlich erwachten. Sie lagen auf Strohmatten, und viele neugierige Gesichter beugten sich im Kreis über sie. Wüste Visagen von Kerlen und verlebte Frauengesichter. Die Frauen
kicherten, und die Kerle grölten begeistert. „Hier seid ihr richtig, ihr Süßen!" brüllte einer der Kerle. „Endlich Entlastung für uns!" schrie eine der Frauen und lachte schrill. Die anderen stimmten ein, und es wurde ein Chor greller Dissonanzen. Malvina und ihre Gefährtinnen richteten sich halb auf und begriffen. Sie waren vom Regen in die Traufe geraten. Dies war ein anderes von den vielen Piratennestern in der Karibik. Es unterschied sich von della Roccas Stützpunkt nur dadurch, daß die Anwesenden andere Gesichter hatten. Aber es bedeutete Leben. Nach dem Grauen, das hinter ihnen lag, erschien es Malvina und den beiden anderen nicht einmal mehr als so schlecht.
* Eben jene Punta Frances steuerten Philip Hasard Killigrew und seine Mannen mit der „Isabella" und der „Empress" an, nachdem sie am Mor gen des 20. Juli die Perlentruhe am Cabo San Antonio ausgehoben hat ten. Gegen zehn Uhr vormittags kam die Isla de Pinos in Sicht. An die hun dert Seemeilen hatten die Männer vom Bund der Korsaren gegen den Ostwind aufkreuzen müssen. Rechtzeitig erteilte der Seewolf Order, zu loten. Bob Grey übernahm diese Aufgabe auf der Galion, und Smoky gab die ausgesungenen Er gebnisse von der Back aus nach ach tern weiter. Rasch wurde klar, daß der Meeres boden rapide anstieg. Kurzent schlossen ließ Hasard die „Isabella"
noch vor der Punta Frances ankern und setzte mit vier Mann zur „Em press" über. Die Karavelle des alten O'Flynn schob sich nun lotend an jenem In selchen vorbei, das einen der Mar kierungspunkte darstellte, die sie auf der zweiten Seite des Perlenlog buchs entdeckt hatten. Dicht unter Land warf auch die „Empress" Anker. Gemeinsam mit Ed Carberry und dem Kutscher pullten Hasard und Old Donegal an Land. Der Kutscher übernahm es, die drei Peilungen auf zunehmen - Orientierungspunkte laut Perlenbuch della Roccas waren das Inselchen, eine Kerbe zwischen zwei Felsen und eine Kokospalme. Im Handumdrehen hatte der Kutscher den Schnittpunkt der drei Peillinien markiert. Der Seewolf und seine Gefährten begannen zu graben. Bereits nach Minuten flog mit dem hochwirbelnden Sand der erste Kno chen durch die Luft. Dann ein Toten schädel, wie beim ersten Perlenver steck. Der alte O'Flynn sah es und zuckte zusammen. „O Himmel!" rief er und setzte zu einem atemlos hervorgestoßenen Bannspruch an: „Liegt tief im Sand die tote Leiche, schnell zur Sonne hin entweiche!" Er beherzigte den Spruch als erster und humpelte ha stig rückwärts, den Rücken der Son ne zugedreht. Dabei bemerkte er we der den Rand des Palmenhains noch die Bodenwurzeln, denen er sich nä herte. An einer davon blieb er mit dem Haken hängen. Mit dumpfen Laut landete er auf dem Hintern. Blaß um die Nase starrte er die an deren an.
„Das war der Geist des Toten", flü sterte er tonlos. „Jetzt hat er mich zu Fall gebracht!" Der Seewolf konnte nur sanft und mildem Lächeln den Kopf schütteln. Bevor Ed Carberry loslegen konnte, hielt es indessen der Kutscher für angebracht, laut und vernehmlich zu deklamieren: „Es ist der Zweck von Bodenwurzeln, daß Rückwärtsgeher drüber purzeln!" Der Profos prustete los, und auch der Seewolf konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Ich darf nochmals darauf hinwei sen", rief Carberry dröhnend, „daß eine tote Leiche ein weißer Schimmel ist!" „Sehr richtig", sagte der Kutscher mit ernstem Nicken, „ein sogenannter Pleonasmus, eine überflüssige Anhäufung sinngleicher Ausdrücke." Old Donegal schüttelte nur den Kopf, brummte etwas vor sich hin und rappelte sich auf. Ohne die an deren noch eines Blickes zu würdi gen, wandte er sich ab und stapfte zurück zur Jolle. Dort verharrte er und starrte auf die See hinaus, als gäbe es dort etwas höchst Interes santes zu erspähen. Der Kutscher war manchmal ein fach unerträglich, obwohl sonst ein
patenter Kerl. Aber wenn er mit sei nen fremden Ausdrücken anfing, die er bei Doc Freemont gelernt hatte, dann ging einfach alles mit ihm durch. Dann konnte er sich nicht mehr zurückhalten, den überschlauen Besserwisser zu spielen. Schon eine halbe Stunde später waren Hasard und die anderen mit der Grabearbeit fertig. Sie hatten die zweite Perlenkiste zutage gefördert und ebneten die Fundstelle wieder ein. Mit der Jolle wurde auch diese Truhe an Bord der „Isabella" ge bracht. Dan O'Flynn hatte sämtliche Zah lenreihen auf den 28 Seiten des Per lenlogbuchs entziffert. Nach einer kurzen Lagebespre chung entschied sich der Seewolf für Cayo Largo östlich der Isla de Pinos als nächstes Ziel. Ohne Zeitverlust gingen die „Isa bella" und die „Empress" ankerauf. Alle an Bord der beiden Schiffe ver suchten sich vorzustellen, welche Art von Tobsuchtsanfall della Rocca wohl erleiden mochte, wenn er seine wohlgehüteten Verstecke ohne ihren wesentlichsten Bestandteil - die Per lentruhen - vorfand ...
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 526
Tod um Mitternacht
von Roy Palmer Die „Isabella" und die „Empress of Sea" segelten Kurs Süden, Richtung Grand Cayman. Knapp hundertfünfzig Meilen lagen vor ihnen, etwas mehr als ein Et-mal. Zunächst verlief die Fahrt zügig und ohne Zwischenfälle. Den ganzen Tag über wurde kein anderes Schiff an der Kimm gesichtet. Die „Isabella" und die „Empress" waren, so schien es, weit und breit die einzigen Segler. Nichts deutete auf unangenehme Begegnungen hin. Das mochte daran liegen, daß sie abseits der Route segelten, die üblicherweise von den Dons benutzt wurde. Aber in der Nacht vom 23. auf den 24. Juli war gewissermaßen „Ende der Fahnenstange". Das war etwa auf der Hälfte der Distanz zu ihrem Ziel auf Grand Cayman. Und es war Old O'Flynn, der auf der „Empress" Alarm schlug ... Diesen Roman mit einem neuen spannenden Abenteuer des Seewolfs und seiner Crew erhalten Sie bereits in der nächsten Woche bei Ihrem Zeitschriftenhändler sowie in allen Bahnhofsbuchhandlungen. Wenn nicht, dann wenden Sie sich bitte an die Vertriebsabteilung des Erich Pabel Verlags GmbH, Postfach 1780, 7550 Rastatt.