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Burt Frederick 1.
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Burt Frederick 1.
Renke Eggens stieß einen Pfiff aus. Die Kisten waren bestens gestaut, gut verschlossen und seefest verzurrt. Sie füllten etwa drei Viertel des Laderaums aus. „Was, in aller Welt, haben die Polen so sorgfältig durch die Gegend gefahren?“ fragte Eggens mehr zu sich selbst. Hein Ropers näherte sich mit der Laterne, die einen blakenden Lichtkreis ausstreute. Ihm folgten zwei Männer aus der Crew. „Hast du jetzt endlich gefunden, was du suchst?“ Ropers hob die Laterne in Kopfhöhe. „Wir werden gleich wissen, was es ist.“ Renke Eggens gab den beiden Decksleuten einen Wink. „Brecht eine von den Kisten auf. Beeilt euch.“ Sie gingen ans Werk, schweigend und umsichtig, wie es ihre Art war. Eine der oberen Kisten lösten sie: aus den Verzurrungen und setzten den Kuhfuß an. Das Werkzeug hatten sie von Anfang an dabei gehabt, denn die Absicht des Ersten Offiziers war es, die in Reval gekaperte Galeone von vorn bis achtern zu inspizieren. Knarrend lösten sich die Bretter des Kistendeckels. Es war feines nordisches Nadelholz, sauber verarbeitet. Renke Eggens winkte den Bootsmann mit der Laterne näher heran. Die Decksleute wichen beiseite. Glattes Öltuch war jetzt zu sehen. Eggens zupfte es aus der Kiste. Samtweicher, heller Stoff befand sich unter dem Öltuch, zu kleinen Bündeln gerollt. Der Erste hob eins davon auf und rollte es auseinander. Strahlen brachen sich sternförmig im Laternenlicht. Das Stück Bernstein hatte die Größe eines Hühnereies, war oval geformt und wies nur wenige Unregelmäßigkeiten auf. In der mattgoldenen Durchsichtigkeit des Steins schwebte ein Insekt, ein schwarz und bläulich schimmernder Käfer. „Mann, o Mann!“ sagte Hein Ropers staunend. Die beiden Decksleute starrten ihm mit kreisrunden Augen über die
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Schultern. „Das ist ein Jonny! Was kann der wert sein?“ Renke Eggens überwand seine Verblüffung. Er drehte sich zu dem Bootsmann um. „Genau weiß ich es nicht, Hein. Aber eins kann ich dir sagen: Deine Heuer für ein ganzes Jahr würde nicht reichen, um das Ding zu bezahlen.“ „Laß mich mal anfassen!“ „Nur mit dem Stoff drumherum.“ Hein Ropers nahm Bernstein und Tuch auf seine rechte Handfläche und hielt mit der Linken die Laterne ganz nah heran. Kaskaden von gleißendem Licht strahlten aus dem Stein, der darin eingeschlossene Käfer war von einem Strahlenkranz umgeben. „Sieht wirklich aus wie Gold, wie durchsichtiges Gold“, sagte Ropers begeistert. „Das Gold der Ostsee. Unter der Bezeichnung ist es auch bekannt geworden.“ Renke Eggens nickte. „Und was ist nun eigentlich das Wertvolle, der Käfer oder der Bernstein?“ „Beides zusammen, Hein. Dieses schwarze Vieh hat bestimmt ein paar hunderttausend Jahre auf dem Buckel, wenn nicht noch mehr. Natürlich hat auch der Bernstein allein seinen Wert, aber wenn so ein Insekt darin ist, dann steigert das eben den Preis.“ „Verstehe“, sagte der Bootsmann brummend. Er hob den Kopf und sah den Ersten Offizier an. „Nehmen wir mal an, alle diese Kisten sind voll von dem Zeug. Dann haben wir uns ja einen hübschen kleinen Schatz unter den Nagel gerissen, was?“ „Nicht ganz.“ Eine harte Furche kerbte sich um Renke Eggens' Mundwinkel. „Du vergißt, daß die Polen die ,Wappen von Kolberg` versenkt haben. Wir haben uns nur wiedergeholt, was sie uns weggenommen haben.“ „Klar.“ Hein Ropers grinste. „Die ‚Wappen' war mit keinem Bernstein der Welt zu bezahlen.“ Auf Befehl des Ersten Offiziers untersuchten die Männer den gesamten Inhalt der geöffneten Kiste. Dann wurden
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zwei weitere Kisten aufgebrochen. Alle drei enthielten nichts als Bernstein, ein Stück schöner und wertvoller als das andere. Renke Eggens konnte das einigermaßen beurteilen, denn wie sein Kapitän hatte auch er ausreichende Kenntnisse auf diesem Gebiet. „Jetzt möchte ich nur wissen“, der Bootsmann schüttelte ungläubig den Kopf, „wem die Polen diesen Schatz geklaut haben.“ Eggens nickte schweigend und nachdenklich. Die Kisten, die etwa zwei mal zwei Fuß in der Fläche und eineinhalb Fuß in der Höhe maßen, hatten keine deutlich lesbare Markierung, keine auf den ersten Blick erkennbare Angabe des Eigentümers oder des Empfängers. Eggens nahm dem Bootsmann die Laterne aus der Hand und sah sich eine der aufgebrochenen Kisten genauer an. Das aufgebrochene Deckelholz war glatt, ohne jede Kennzeichnung. Und die Seitenwände? Renke Eggens stutzte. Seine Augen wurden schmal. Da gab es einen Brandstempel, rechts oben an der einen Wandung. Eggens hastete zu der zweiten Kiste, dann zu der dritten. Bei allen war es das gleiche. Das Zeichen stellte zwei Pfeilspitzen dar. Gedankenverloren richtete Eggens sich auf. „He, was ist los?“ fragte Hein Ropers stirnrunzelnd. Es dauerte eine Weile, bis der Erste Offizier in die Wirklichkeit zurückfand. „Wir müssen alle Kisten untersuchen“, sagte er gepreßt, „ich muß wissen, ob sie alle dieses Zeichen tragen.“ * Was das Wetter betraf, zeigte sich dieser frühe Morgen des 29. März 1593 von einer passablen Seite. Der Wind hatte schon während der Nachtstunden von Südwesten nach Nordwesten gedreht und verhalf den beiden Galeonen zu rauschender Fahrt über Backbordbug.
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Über der Kimm lag ein Dunstschleier, der sich mehr und mehr lichtete. Blaßblau spannte sich der Himmel über dem beginnenden Tageslicht und ließ vermuten, daß die Sonne mit einer schon beträchtlichen Kraft aufwarten würde. Der einsetzende Frühling ließ sich auch hier, im hohen Norden, nicht mehr leugnen. Arne von Manteuffel beobachtete die „Isabella IX.“, die auf Rufweite im Kielwasser der ehemals polnischen Galeone segelte. Es war ein beeindruckendes Schiff, das sein Vetter führte. Eine dreimastige Galeone von so unkonventioneller Bauweise, wie man sie hier im gesamten Ostseeraum noch nicht kannte. Nun, die Engländer waren im Schiffbau in letzter Zeit mit Siebenmeilenstiefeln nach vorn geeilt. Arne sah seinen Vetter auf dem Achterdeck der „Isabella“, und unwillkürlich wurde er an jenen denkwürdigen Tag in Wisby auf Gotland erinnert, als sie sich zum ersten Male gegenübergestanden hatten. In der Tat ähnelten sie sich so sehr, als seien sie Brüder. Nur durch sein blondes Haar unterschied sich Arne von Manteuffel von Sir Philip Hasard Killigrew, den alle Welt auf den sieben Meeren als den Seewolf kannte. Im übrigen, was die eisblauen Augen, das scharfgeschnittene Gesicht und die breitschultrige und schmalhüftige Statur betraf, gab es kaum Unterschiede zwischen den beiden Vettern. Arne von Manteuffels Aufmerksamkeit wurde abgelenkt. Eilige Schritte waren auf dem Hauptdeck der gekaperten Galeone zu hören. Renke Eggens, drahtig und flink, tauchte auf dem Niedergang zum Achterdeck auf. „Arne!“ Eggens verharrte keuchend. „Schnell, das mußt du dir ansehen!“ Arne von Manteuffel kniff verwundert die Augen zusammen. Selten hatte er seinen Ersten Offizier so aufgeregt erlebt. Aber er zögerte nicht, auf den Niedergang zuzueilen. Wenn Renke Eggens in Alarmstimmung geriet, dann mußte es einen handfesten Grund dafür geben.
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Eggens ging voraus, und sein Kapitän folgte ihm auf die offene Luke zu, die in die unteren Decksräume führte. Kurz darauf, als sie vor den Bernsteinkisten standen, brauchte Eggens nur auf das Zeichen zu zeigen, das an jeder Kiste an der gleichen Stelle eingebrannt war. „Das Runenzeichen der Tyndalls“, sagte Arne von Manteuffel betroffen. „Ist dir klar, was das bedeutet, Renke?“ „Eine Riesenschweinerei, soviel steht fest. Weiter habe ich mir die Sache noch nicht durch den Kopf gehen lassen. Es hängt wohl einiges daran, vermute ich.“ Arne nickte. Prüfend betrachtete er ein paar der Bernsteinstücke, die obenauf in den geöffneten Kisten lagen. „Ich weiß eine Menge über Bernstein“, sagte er leise und gedehnt, „aber ich maße mir nicht an, den Wert dieser Ladung zu beurteilen.“ „Dann sind die Polen wohl doppelt sauer auf uns“, sagte Hein Ropers grinsend, „wenn diese Kisten mehr wert sind als das ganze Schiff, das sie verloren haben.“ „Darauf kannst du Gift nehmen.“ „Und wer sind diese Tyndalls?“ fragte der Bootsmann. „Das Runenzeichen der Pfeilspitze steht für ein ,T` „, erklärte Arne von Manteuffel, „in diesem Fall also ein doppeltes ,T` für ,Thorsten Tyndall`.“ „Klingt dänisch.“ „Ist es auch. Ich habe von Tyndall etliche Male Bernstein und auch Achat und Jaspis bezogen. Außer mir wußte nur Renke darüber Bescheid, denn wir hatten ja guten Grund, diese Geschäfte so geheim wie nur möglich zu halten.“ „Dann muß dieser Tyndall so etwas wie ein Zwischenhändler in Dänemark sein.“ „Nein, nicht in Dänemark. Thor Tyndall, Thorstens Vater, hat sich 1559 als dänischer Kaufherr in Hapsal an der estnischen Westküste niedergelassen. Damals wurden Ösel, Dagö und Küstenteile am Rigaer Meerbusen an Dänemark verkauft. Das Handelshaus Tyndall ist seither in Hapsal ansässig.
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„Kenne ich. Dieses Hapsal liegt ziemlich genau gegenüber von Dagö und nordöstlich von Ösel. Zwischen den beiden Inseln und der Küste ist der Moon-Sund, und der verbindet den Finnenbusen und den Rigaer Busen. Eine günstige Lage für so ein Handelskontor.“ „Nicht nur wegen des Seewegs“, sagte Renke Eggens, „außer Bernstein wird an den Küsten von Ösel nämlich Achat und Jaspis gefunden. Das sind beides Halbedelsteine.“ „Mhm.“ Hein Ropers kratzte sich am Hinterkopf. „Und diese Pfeilspitzen sind das Firmenzeichen von Herrn Tyndall?“ „So kann man es nennen“, erwiderte Arne von Manteuffel, „es war eine Marotte von Thorstens Vater, und dabei ist es dann nach dem Tod des alten Thor Tyndall geblieben.“ „Wie auch immer“, sagte Renke Eggens mit sorgenvoller Miene, „wir stehen jedenfalls vor einem Berg von Problemen.“ Arne von Manteuffel nickte nachdenklich. Der Fund der Tyndallschen Bernsteinkisten an Bord des ehemaligen polnischen Flaggschiffs änderte die gesamte Situation. An erster Stelle stand die Folgerung, daß Generalkapitän Witold Woyda keineswegs stillhalten würde. Er mußte ganz einfach alles daran setzen, seine Galeone mitsamt Ladung zurückzuerobern. Arne teilte dem Ersten Offizier und dem Bootsmann seine Überlegungen mit. „Außerdem gibt es da noch eine entscheidende Frage“, fügte er hinzu, „nämlich: Wie ist unser gemeinsamer Freund, der ehrenwerte Generalkapitän, in den Besitz der Kisten gelangt?“ „Ich weiß, an was du denkst“, sagte Renke Eggens grimmig. - „Was mit Jens Johansen in Wisby passiert ist, werden wir alle so bald nicht vergessen. Vielleicht gibt es mit diesen Tyndall-Kisten ähnliche Zusammenhänge.“ „Möglich.“ Arne von Manteuffel preßte die Lippen zusammen. Seine Ahnungen waren düster. Das Handelshaus Jens Johansen in Wisby auf Gotland war ein alteingesessenes und
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renommiertes Kontor gewesen - wie das Haus Tyndall in Hapsal. Doch wie Thorsten Thyndall, so hatte auch Jens Johansen illegal mit Bernstein gehandelt. Beide mißachteten den Anspruch jedweder Obrigkeit auf das Bernsteinmonopol, und beide vertraten den Grundsatz, daß das Gold der Ostsee logischerweise dem gehören mußte, der es fand. Und gefunden wurde der Bernstein meist im Wasser oder unmittelbar am Strand, von den Wellen angespült. Also mußte ein solcher Fund auch der Lohn für denjenigen sein, der danach gesucht hatte. Irgendwelche Landesherren, die weit entfernt auf ihrem Schloß oder ihrer Burg saßen, trachteten nur danach, noch mehr an sich zu raffen. Da war es ihnen nur recht und billig, kurzerhand durch einen Erlaß sämtliche Bernsteinfunde für sich zu beanspruchen. Etwa wie derzeit der schwedisch-polnische König Sigismund III. im fernen Warschau oder Krakau. Ein weltfremder Mensch mußte er sein - nicht nur, was seine sonderbare Bernsteingesetzgebung betraf. Von ihm wurde auch erzählt, daß man nur Zutritt zu ihm habe, wenn es der Kreis jener Jesuiten gestattete, mit denen er sich zu umgeben pflegte. Für Arne von Manteuffel stand seit langem fest, daß Jens Johansen in Wisby ein Opfer der Machtansprüche König Sigismunds geworden war. Agenten mußten Johansen beobachtet und schließlich ausgekundschaftet haben, daß er unerlaubterweise mit Bernstein handelte. Sigismunds Schergen hatten den Mord an Johansen ausgeführt, in diesem Fall der verbrecherische spanische Kapitän Juan de Gravina, mit dem insbesondere der Seewolf in Wisby aneinandergeraten war. Arne riß sich von den unangenehmen Gedanken los. Er winkte den Bootsmann und die beiden Decksleute zu sich heran. „Ich muß genau wissen, was sich in den Kisten befindet. Öffnet sie alle und fertigt mir eine Liste an.“ Hein Ropers und die beiden Männer begannen sofort mit der Arbeit.
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„Eins scheint mir ausgeschlossen“, sagte Renke Eggens. „Und das wäre?“ Arne von Manteuffel zog die Augenbrauen hoch. „Daß der saubere Generalkapitän oder einer seiner Leute diese Kisten bei Tyndall gekauft hat.“ „Der Meinung bin ich auch. Entweder haben die Polen die Kisten heimlich gestohlen. Oder“, Arne atmete tief durch, „sie haben die Ladung mit Gewalt an sich gebracht. Daß würde aber bedeuten, daß Thorsten Tyndall wahrscheinlich nicht mehr lebt.“ „Man sollte nicht gleich das Schlimmste annehmen.“ „Nein. Deshalb ist es auch unsere Pflicht, ihm die Kisten zurückzubringen. Thorsten Tyndall ist ein anständiger, ehrbarer Kaufmann und ein guter Mensch, kein Schlitzohr von der Sorte dieses Witold Woyda.“ Hein Ropers hatte sich einen ersten Überblick verschafft. „Wir haben hier insgesamt vierzehn Kisten“, meldete er, „in zwölf davon ist ausschließlich Bernstein, nur in zweien befindet sich dieses andere Zeug.“ „Achat und Jaspis“, sagte Arne von Manteuffel und nickte. „Dann fangen wir jetzt mit der Liste an.“ Arne und sein Erster Offizier ließen den Bootsmann und die Decksleute im Laderaum allein. Die geänderte Lage erforderte neue Entscheidungen. 2. „Da wird doch der Hering in der Pfanne verrückt!“ Edwin Carberrys dröhnendes Organ war bis in den letzten Deckswinkel der „Isabella“ zu hören. Die Männer auf der Kuhl und auf der Back wandten die Köpfe und erblickten ihren Profos in völliger Fassungslosigkeit. Auch Hasard und Ben Brighton spähten vom Achterdeck herüber. Ed Carberry hatte sich vorgebeugt, stemmte die Fäuste in die Hüften und betrachtete ungläubig blinzelnd die Szene,
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die sich unmittelbar von dem offenen Kombüsenschott abspielte. Plymmie, die Bordhündin, stand mit hängenden Ohren vor der Muck, die ihr der Kutscher als Freßnapf zur Verfügung gestellt hatte. Lustlos schnupperte Plymmie an dem Inhalt der Muck, einem stattlichen Haufen Fleischbrocken, vermengt mit Resten der Bohnensuppe vom Vortag. Im nächsten Moment wandte sich die Wolfshündin demonstrativ ab und ließ sich vor den Zwillingen auf den Planken nieder. Nach einem herzhaften Gähnen legte sie den Kopf zwischen die Vorderbeine, schloß das linke Auge und linste mit dem rechten zu Ed Carberry hoch. „Das schlägt dem Faß den Boden aus.“ Der Profos schüttelte entnervt den Kopf, hielt aber sofort inne. Denn er besann sich der Pelzmütze, die er trotz der schon annehmbaren Temperaturen auf dem Kopf trug. Bei allzu heftiger Bewegung eben dieses Körperteils konnte es passieren, daß die Mütze herunterfiel und eine Blöße preisgab. Seit der verlorenen Wette um Luke Morgans Pelzkenntnisse in Wiborg lief Ed mit einer feinen Glatze herum. Damit nur keiner auf seine vorsichtige Kopfhaltung anspielen konnte, fuhr er grollend fort: „Erst ist sich das Vieh zu fein für das gute Fressen, und dann grinst es mich auch noch an!“ „Verzeihung, Sir“, sagte Hasard junior vorsichtig, „Plymmie grinst ganz bestimmt nicht.“ „Ein Hund kann überhaupt nicht grinsen“, fügte sein Bruder Philip hinzu. Ed Carberrys Rammkinn klappte nach unten. Sein Blick heftete sich auf die Jungen - zornfunkelnd. „Besten Dank für die Belehrung, ihr Rübenschweine. Wenn ich sage, das Vieh grinst mich an, dann grinst es mich an. Ist das klar?“ Die beiden Jungen schluckten trocken hinunter. Äußerlich ähnelten sie sich wie ein Ei dem anderen. Schlank und schwarzhaarig, hatten sie den unverwechselbar gleichen Gesichtsschnitt
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wie der Seewolf. In ihren Bewegungen waren sie geschmeidig wie Katzen, und schon jetzt, in ihren jugendlichen Jahren, ließen sie erkennen, daß sie als erwachsene Männer einmal alle überragenden Eigenschaften und Fähigkeiten ihres Vaters haben würden. Daß sie in diesem Augenblick aussahen, als seien sie zutiefst beleidigt worden, beeindruckte den Profos nicht. Die gesamte Crew wußte, welche verteufelte Portion Temperament und Starrsinn die beiden im Nacken hatten. Welche Scherereien sie ihrem Vater und seinen Männern schon bereitet hatten - nun, daran mochten sie nicht unbedingt erinnert werden. Schließlich fühlten sie sich auch nicht mehr als kleine Kinder, denn bei den Aufgaben, die sie an Bord zu erledigen hatten, standen sie ihren Mann. So manches Mal hatte man die Junioren aus verzwickten Situationen herauspauken müssen. Immer dann nämlich, wenn sie sich wieder einmal einen unerlaubten Alleingang geleistet hatten. Indes mußte auch Ed Carberry ihnen zugute halten, daß sie mittlerweile gewitzt genug waren, um sich auch einmal allein zu helfen. Hasard junior hatte das zuletzt in Abo bewiesen, wo er sich aus der Gewalt von Entführern befreit hatte. In Abo hatten die Zwillinge auch Plymmie an Bord gebracht, das erbarmungswürdige halbverhungerte Etwas, das sie aus der Hand von jugendlichen Tierquälern befreit hatten. „Vielleicht darf ich auch mal was zu dem Fall sagen“, meldete sich der Kutscher zu Wort, der gemeinsam mit Mac Pellew aus dem offenen Kombüsenschott blickte. „Was dabei herauskommt, kann ich mir schon denken“, entgegnete Ed Carberry knurrend, „die lieben Kleinen und ihr liebes Tierchen muß man natürlich in Schutz nehmen.“ „Mister Carberry“, sagte Mac Pellew grämlich, „ich weiß nicht, was du immer noch an Plymmie herumzumäkeln hast. Wenn sie nun mal keinen Hunger hat, dann läßt man sie eben in Frieden.“
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„Das ist es nicht, du Suppenschwenker. Das Vieh frißt sonst jeden Tag um diese Zeit. Aber langsam wird die Lady zu vornehm. Und das geht zu weit. Punktum. Hier wird gefressen, was man vorgesetzt kriegt. Wohin führt denn das, was, wie? Demnächst verlangt der Köter einen goldenen Teller - nur noch mit den besten Leckerbissen, versteht sich!“ Der Kutscher räusperte sich. „Ich möchte dazu nur eins bemerken“, sagte er in seiner etwas geschraubten Art, „es handelt sich in diesem Fall um Pökelfleisch. Eine sehr salzige Angelegenheit also. Nun ist in der Medizin bekannt, daß Gewürze, wie sie Menschen genießen, nicht unbedingt auch für Tiere geeignet sind. Wenn Plymmie das Pökelfleisch verweigert, dürfte es sich um eine völlig natürliche Abwehrreaktion handeln.“ „Himmel!“ Ed Carberry verdrehte die Augen. „Jetzt erzähl mir bloß noch, daß dein Lehrmeister Doc Freemont auch Hundeviecher behandelt hat!“ „Keineswegs“, entgegnete der Kutscher spitz, „solche Dinge gehören für einen Humanmediziner gewissermaßen zur Allgemeinbildung.“ Die wilde Narbenlandschaft im Gesicht des Profos verzog sich zu einem breiten Grinsen. „Meine Allgemeinbildung sagt mir nur eins, mein lieber Freund und Kombüsenkutscher: Ein guter Hund frißt alles, und damit basta.“ „Aber Pökelfleisch haben wir ihr doch heute zum ersten Mal vorgesetzt!“ rief Hasard junior protestierend. „Da kann man doch nicht verlangen ...“ setzte sein Bruder an. Ein langgezogener Ruf aus dem Großmars brach den Disput um Plymmies Freßgewohnheiten ab. „Deck!“ brüllte Luke Morgan, der den Posten des Ausgucks übernommen hatte. „Signal von der Galeone voraus!“ Ben Brighton reagierte sofort. „Nils!“ Nils Larsen, der neben Englisch und seiner dänischen Muttersprache auch Schwedisch
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und Deutsch beherrschte, kreiselte auf der Kuhl herum. „Sir?“ „Auf die Back! Sieht so aus, als ob wir angepreit werden.“ „Aye, aye, Sir.“ Nils lief los, grinste, als er Plymmie und den verschmähten Freßnapf passierte und enterte, mit zwei federnden Sätzen über den Steuerbordniedergang zur Back auf. Arne von Manteuffel und Renke Eggens standen an der reichverzierten Heckbalustrade der ehemals polnischen Galeone. „Ich bitte meinen Vetter zu einer dringenden Besprechung an Bord!“ rief von Manteuffel. „Verstanden, Sir!“ Nils Larsen gab ein Handzeichen, wandte sich ab und eilte zum Quarterdeck, um die Nachricht für Hasard und Ben Brighton zu übersetzen. Arne von Manteuffels Galeone drehte bereits bei, und jede Hand an Bord wurde gebraucht, um die Segel ins Gei zu hängen. Nach der Versenkung der „Wappen von Kolberg“ bestand die Crew noch aus dreizehn Mann. Der Seewolf gab Order, dem Beispiel seines deutschen Vetters zu folgen und die kleine Jolle abzufieren -Gelegenheit für Ed Carberry, seinem Ärger über das vermaledeite Hundevieh Luft zu verschaffen. Obwohl die Männer selbstverständlich bereits im Höllentempo in den Wanten aufenterten, ließ er seine Stentorstimme donnern. „Bewegt euch gefälligst, ihr lahmen Säcke! Hat einer was gesagt, daß ihr jetzt schon einschlafen sollt, was, wie? Ein bißchen hurtiger, ihr Schnecken, oder ich stopf euch 'ne Ladung Pfeffer ins Achterteil! Was meint ihr, was ihr dann am Wetzen seid?“ Den Männern war es eine vertraute Begleitmusik, wie das Salz in der Suppe ihrer tausendfach geübten Handgriffe. Keiner mochte das Gedröhn des Profos missen. Jedem an Bord der „Isabella“ hätte etwas gefehlt, wenn Edwin Carberry plötzlich auf den Gedanken verfallen wäre,
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seinen Dienst ohne die gewohnte Lautstärke zu versehen. Hasard übergab das Kommando an Ben Brighton, seinen Ersten Offizier. Gemeinsam mit Nils Larsen enterte er in die Jolle ab. Mit kräftigen Schlägen pullten sie zu der kleineren Galeone hinüber. Sorgfältig vertäute Nils das Boot, ehe er dem Seewolf über die Jakobsleiter an Bord folgte. Arne von Manteuffel empfing seinen Vetter auf dem Achterdeck. Nils Larsen, seit Wisby als Dolmetscher bewährt, begrüßte er mit einem freundlichen Händedruck. Wie sie es nun schon von zahlreichen Gelegenheiten gewohnt waren, übersetzte Nils so fließend, daß kaum Gesprächspausen entstanden. In dieser Beziehung stand er Stenmark, der für Übersetzungen in den schwedischsprachigen Ostseegebieten zuständig war, in nichts nach. „Es sieht so aus, als ob wir unser Vorhaben ändern müssen“, sagte Arne von Manteuffel. In knappen Worten begann er seinen Bericht. Hasard hörte aufmerksam zu. Einige der Worte aus der deutschen Sprache verstand er bereits, doch um die Muttersprache seines Vetters selbst zu beherrschen, hätte es doch noch einiger Übung bedurft. Sie hatten geplant, zunächst Rügenwalde, die Heimatstadt der Freiin von Lankwitz anzulaufen. Arne wollte seine Verlobte so schnell wie möglich zu ihren Eltern bringen, die in höchstem Maße um ihre Tochter besorgt waren. Zweite Station hatte dann Kolberg sein sollen, Arne von Manteuffels Heimathafen. „Deshalb meine ich“, schloß er seinen Bericht, „wir sollten zunächst Hapsal ansteuern. Vorausgesetzt natürlich, du bist einverstanden.“ Der Seewolf überlegte nicht lange. „Selbstverständlich. Ich glaube, in einem Punkt sind wir einer Meinung: Die Methoden, mit denen der sehr ehrenwerte schwedisch-polnische König das Bernsteinregal an sich zu reißen versucht, sind verabscheuungswürdig.“ Arne von Manteuffel lächelte.
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„Ich weiß, daß ich dir diese Meinung nicht eingeredet habe.“ „Nein, das war auch nicht nötig. Wenn ich mir die Halunken ansehe, die im Auftrag von König Sigismund handeln, dann läuft mir die Galle über. Angefangen mit unserem speziellen Freund Juan de Gravina, kann man sie praktisch alle in eine Reihe stellen. Dieser von Saxingen, der deine Verlobte entführte, folgt gleich an zweiter Stelle. Und der Generalkapitän Witold Woyda ist auch nicht viel besser.“ „Galgenstricke aus der Oberklasse“, sagte Arne mit einem grimmigen Nicken, „hätten sie nicht Rang und Namen, hätte man ihnen längst das Handwerk gelegt.“ „Was Woyda betrifft, so wird er nicht nur wegen der Bernsteinladung und seines verlorenen Flaggschiffs in Rage geraten sein. Auf die ‚Isabella' dürfte er immer noch scharf sein. Ich kann mir vorstellen, wie liebend gern er unsere stolze Lady nach Reval eingebracht hätte, wenn er nur eine Handhabe gehabt hätte.“ „Du meinst also, er könnte eventuell versuchen, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen? Sich die Bernsteinkisten und die Galeone zurückholen und außerdem noch die ‚Isabella' kapern?“ „Warum nicht?“ Hasard zog die Schultern noch. „Er wird sich seine Chancen ausrechnen, und er hat Zeit genug, einiges auf die Beine zu stellen.“ „In Hapsal? Da bin ich nicht ganz sicher. Woyda kann ja nicht genau wissen, ob ich das Runenzeichen der Tyndalls kenne.“ „Trotzdem müssen wir alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.“ Hasard sah seinen Vetter einen Moment nachdenklich an. „Etwas anderes geht mir durch den Kopf: Unser gemeinsamer Freund von Saxingen hat zwar behauptet, die Freiin von Lankwitz heiraten zu wollen. Aber könnte es nicht sein, daß er sie eher für eine Erpressung benutzen wollte?“ Arne von Manteuffel furchte die Stirn. „Ich kann mir nicht recht vorstellen, wie so etwas hätte ablaufen sollen.“ „Ganz einfach. Du hast das von König Sigismund beanspruchte Bernsteinregal mit Mißachtung gestraft. Vor diesem
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Hintergrund wäre doch die Freiin ein hervorragendes Pfandobjekt gewesen, um dich unter Druck zu setzen.“ Arne blies die Luft durch die Nase. „Ich denke, von Saxingen hat mich noch nicht richtig kennengelernt. Sonst wäre er gar nicht auf so eine Idee verfallen. Vorausgesetzt, daß er die Idee überhaupt hatte.“ „Ich würde das nicht von der Hand weisen, Arne. Er hätte dich nicht nur zwingen können, den geheimen Bernsteinhandel aufzugeben. Er hätte dich außerdem dazu bringen können, der polnischen Krone deine Geschäftsbeziehungen und deine Bernsteinquellen preiszugeben. Der feine Graf hätte sich dadurch bei König Sigismund in ein hervorragendes Licht rücken können.“ Arne verzog das Gesicht. „Wenn ich darüber nachdenke, fange ich an zu kochen, obwohl es so schlimm gottlob nicht geworden ist.“ „Wie auch immer.“ Hasard schnitt mit der flachen Hand durch die Luft. „Ich halte es für richtig, daß wir den Kerl erst einmal gründlich aushorchen. Da wir sowieso beigedreht haben, könnten wir die Gelegenheit gleich jetzt nutzen. Vielleicht ließe sich sogar in Erfahrung bringen, welche Maßnahmen von der polnischen Krone noch zu erwarten sind.“ Arne von Manteuffel schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Himmel! Wir hätten längst daran denken sollen, von Saxingen zu verhören. Aber wahrscheinlich liegt es an der Entdeckung der Bernsteinkisten, daß ich den Knilch vorübergehend aus meinem Bewußtsein gestrichen habe.“ * Graf Hugo von Saxingen hatte die erste Phase, wie er sie für sich bezeichnete, überstanden. Diese erste Phase war grenzenlose Wut gewesen - Wut in all ihren Erscheinungsformen. Er hatte getobt, gebrüllt, mit den Fäusten gegen das Schott der Vorpiek gehämmert. Und er war in die Ecke gekrochen, hatte gezittert vor Zorn
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und fortwährend versucht, seine vibrierenden Nerven zur Ruhe zu bringen. Als ihm dies endlich gelungen war, stand für ihn fest, daß die zweite Phase begonnen hatte. Letztere wurde bestimmt von kühler, sachlicher Überlegung. Ja, er empfand sogar Stolz darüber, dazu fähig zu sein. Wichtig war vor allem, daß er sich von den äußeren Umständen nicht länger unterkriegen ließ. Was bedeutete es schon, in dieser verdammten Vorpiek eingesperrt zu sein? Was bedeutete es, in einem finsteren, muffig riechenden Loch ohne einen einzigen Lichtstrahl zu hocken? Von Saxingen lachte in die Stille hinein. Es bedeutete vor allem eins: Daß er noch am Leben war und seine fünf Sinne funktionierten. Solange das der Fall war, mußte er imstande sein, eine Lage in den Griff zu kriegen, mochte sie auch noch so hoffnungslos aussehen. Immerhin war er ein Mann von Rang und Namen, kein tumber Nirgendwer. Vor sich selbst hatte er die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, das unter Beweis zu stellen. Und er durfte sich nicht mehr in Selbstvorwürfen darüber ergehen, daß es ausgerechnet dem elenden von Manteuffel gelungen war, ihn zu überrumpeln. Da gab es trotz alledem einige Pluspunkte, die er, Graf Hugo von Saxingen, auf sein Konto verbuchen konnte. Erstens hatte er keine Verletzungen davongetragen, abgesehen von ein paar Schrammen und Beulen. Zweitens hatte man ihm die Fesseln abgenommen, nachdem er in die Vorpiek von Witold Woydas Flaggschiff gesperrt worden war. Ganz und gar hilflos war er also nicht. Aber allein gegen eine Übermacht. Von Saxingen grinste. Dieser Nachteil war nicht zu hoch zu bewerten. Er hatte die Fähigkeit, sich gegen ganze Heerscharen von einfältigen Untertanen durchzusetzen. Man mußte nur die richtigen Tricks kennen, um sie im Griff zu behalten. Das größere Problem war in diesem Fall schon eher das verriegelte Schott. Er hatte keine Chance, sich aus eigener Kraft zu befreien. Das war der ganze Haken der Geschichte.
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Also konnte es nur mit einer List funktionieren. Er horchte auf, als eine plötzliche Veränderung in den Geräuschen des Schiffes vor sich ging. Das gleichmäßige Rauschen der Fluten um den Bug ließ nach, und das Knarren und Ächzen der Verbände verfiel in einen langsameren und unregelmäßigen Rhythmus. Angestrengt versuchte von Saxingen, sein Zeitgefühl wachzurufen. War es möglich, daß sie bereits einen Hafen anliefen? Schritte waren von den Decksplanken zu hören, das Geräusch pflanzte sich fort, da der Bauch des Schiffes wie ein Resonanzkörper wirkte. Dann vernahm von Saxingen das Dröhnen einer Trosse, die gelöst wurde. Ein Anker rauschte in die Tiefe, unverkennbar. Also kein Hafen. Nein, natürlich nicht. Es fehlten die üblichen Laute -Stimmengewirr von den Kaianlagen, rollende Fuhrwerke, Hämmern und Sägen von den Werften und Docks. Graf Hugo von Saxingen gelangte zu dem Schluß, daß zumindest die polnische Galeone unter dem Kommando des dreimal verfluchten Arne von Manteuffel auf See beigedreht hatte. Warum, zum Teufel? Der Graf konnte sich des bedrückenden Gefühls nicht erwehren, daß er von dieser neuen Situation betroffen sein würde. Er zwang sich mit aller Willensstärke, dieses Gefühl zu unterdrücken. Wenigstens in seinen Gedanken mußte er überlegen sein und einen klaren Kopf bewahren. Neue Geräusche waren zu hören. Das Getrappel der Füße an Deck hatte nachgelassen. Jetzt schlug etwas dumpf gegen die Bordwand der Galeone. Ein Boot? Graf Hugo von Saxingen begann, seine Ahnungen zusammenzureimen. Er würde gerüstet sein für das, was ihm drohte. Nach einer kurzen Weile, es mochten nur Minuten gewesen sein, wurden erneut Schritte laut. Angestrengt horchte von Saxingen am feuchten Holz des Schotts. Wenig später hatte er Gewißheit. Die Schritte hallten durch die unteren
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Decksräume und näherten sich ihm, dem Gefangenen in der Vorpiek. Sein Herz vollführte einen Hüpfer, als er heraushörte, daß es sich nur um einen einzelnen Mann handelte. Doch im nächsten Moment verwarf er seine überschwenglichen Gedanken. Dies waren nicht die Zeit und die Gelegenheit, voreilig zu sein. Was nützte es ihm, wenn er den Kerl jetzt überwältigte? Dann stand ihm anschließend eine fast zwanzigfache Übermacht gegenüber, gegen die er praktisch nichts in der Hand hatte. Von Manteuffel, dieser Lumpenhund, wußte das nur zu gut. Deshalb demütigte er ihn, Graf Hugo von Saxingen, damit, nur einen Burschen als Abholkommando zu schicken. Denn um nichts anderes konnte es sich handeln. Während die Schritte bereits unmittelbar draußen vor dem Schott waren, zog von Saxingen sich lautlos in den gegenüberliegenden Winkel der Vorpiek zurück. Dort kauerte er sich auf den Boden. scheinbar niedergeschmettert und dumpf vor sich hin brütend. Es gab ein knirschendes Geräusch, als der Riegel zurückgeschoben wurde. Knarrend schwang das Schott auf. Das hereinflutende Licht einer Öllampe war blakend und matt. Doch für von Saxingen war es gleißende Helligkeit, die ihn blendete. Er kniff die Augen zusammen und öffnete sie nur langsam wieder. Was er sah, war die reine Freude. Mattschimmernder Waffenstahl. Die großkalibrige Mündung eines achtkantigen Pistolenlaufs. Der Mann, der die Waffe auf ihn richtete, war stämmig und strohblond, einer der Decksleute von Manteuffels. „Aufstehen, von Saxingen“, sagte der Mann ruhig, „der Kapitän will mit dir reden. Eine falsche Bewegung, und ich blase dir eine Kugel durch den Wanst. Verstanden?“ Graf Hugo von Saxingen tat erschrocken. „Muß ich mir das bieten lassen? Welch ein Ton! Auch als Gefangener habe ich Anspruch darauf, meinem Stand entsprechend behandelt zu werden.“ Der Decksmann lachte.
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„Du kannst einen deinem Stand entsprechenden Tritt in den Hintern kriegen, Freundchen. Beweg dich!“ Von Saxingen rappelte sich seufzend auf und Schüttelte mißbilligend den Kopf. „Ich werde mich bei deinem Kapitän beschweren. Er ist von Adel und wird wissen, wovon ich rede.“ „Beschwere dich nur“, sagte der Decksmann, „Kapitän von Manteuffel hört solche Töne besonders gern.“ 3. Es war nicht die Art des Seewolfs, nach äußeren Eindrücken zu urteilen. Und er wußte, daß sein Vetter ebenso dachte. Aber im Fall dieses Grafen von Saxingen stimmte das Äußere mit dem inneren Wert oder Unwert frappierend überein. Was dort vor dem Pistolenlauf des Decksmannes den Niedergang hinaufschnaufte, war ein Klotz von einem Kerl. Ein rotgesichtiger Brocken mit blaßblauen Augen, vollen Lippen und einer regelrechten Schweinsnase. Dabei hatte er einen Nacken wie ein Ochse. Diese Vergleiche drängten sich ganz einfach auf, ob man wollte oder nicht. Hasard mußte Dan O'Flynn recht geben, der beim Anblick von Saxingens an Sir John Killigrew erinnert worden war. Es gab in der Tat Ähnlichkeiten, nur war dieser hochwohlgeborene Graf wesentlich jünger, etwa um die dreißig Jahre alt. Jetzt, da von Saxingens sonst elegante Kleidung verdreckt und abgerissen war, verstärkte sich das Unangenehme seines Aussehens noch. Er schien außer Atem, als er das Achterdeck erreichte. Seine Augen, rotgerändert, hefteten sich haßerfüllt auf die beiden hochgewachsenen Männer, die soviel Ähnlichkeit miteinander hatten. Der Decksmann folgte dem schwergewichtigen Grafen mit zwei Schritten Abstand. „Es ist gut, Jan“, sagte Arne von Manteuffel, „du kannst ihn jetzt uns überlas ...“ Die letzte Silbe blieb ihm im Hals stecken.
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Es geschah blitzschnell und völlig überraschend. Für jede Reaktion war es zu spät. Von Saxingen ließ sich plötzlich fallen. Doch noch bevor er die Decksplanken erreichte, wirbelte er aus der Bewegung heraus herum. Dabei legte er eine Behendigkeit an den Tag, die in krassem Widerspruch zu seinem klotzigen Äußeren stand. Der Decksmann zuckte zusammen. Viel zu spät überwand er den Schreck. Der Graf schmetterte ihm einen Hieb auf den Unterarm und entriß ihm im selben Atemzug die Pistole. Das Gesicht des Decksmannes verzerrte sich vor Schmerzen. Dennoch wollte er sich auf den Schweinsnasigen stürzen. „Zurück!“ rief von Saxingen schneidend. Er ruckte herum und richtete die Waffe auf die beiden Vettern. „Eine falsche Bewegung, und dein Kapitän muß als erster dran glauben.“ Der Mann gehorchte und wich zurück. Arne von Manteuffel und auch der Seewolf standen wie erstarrt. Hasard nahm die Rechte vom Griffstück des Radschloßdrehlings. „Das wollte ich dir auch geraten haben“, sagte von Saxingen grinsend. Nils Larsen übersetzte es zähneknirschend. Auch ihm juckte es in den Fäusten, dem blasierten Kerl eine Tracht Prügel zu verabreichen. Aber verdammt noch mal, der hatte im Augenblick alle Trümpfe in der Hand. Daran, daß er die Pistole abfeuern würde, bestand nicht der geringste Zweifel. Es war zum Verrücktwerden. Hasard mußte sich eingestehen, daß er diesen schweinsnasigen Klotz mit den aufgeworfenen Lippen glatt unterschätzt hatte. Ein so entschlossenes Handeln hätte er diesem Kerl, dessen Leben hauptsächlich aus wilden Ausschweifungen bestand, nicht zugetraut. Dabei war es eine irrwitzige Situation. Von Saxingen mußte vom Mut der Verzweiflung befallen sein, wenn er glaubte, das hier heil durchstehen zu können.
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Unauffällig sah der Seewolf sich um. Arnes Crew bestand nach der Versenkung der „Wappen von Kolberg“ noch aus dreizehn Mann. Allesamt waren sie verteufelt harte Burschen, und auf der Kuhl und auf der Back lauerten sie jetzt wie sprungbereite Tiger. Sechs von ihnen waren verletzt und trugen noch Verbände. Doch das änderte nichts an ihrer Entschlossenheit. Drüben, auf der „Isabella“ herrschte gleichfalls Alarmstimmung. Sie hatten dort schneller reagiert. Nicht weniger als acht Musketen ruhten auf der Balustrade der Back im Anschlag, und alle acht Mündungen waren auf Graf Hugo von Saxingen gerichtet. Doch das nützte im Augenblick überhaupt nichts. Mehr als eine Drohung konnte es nicht sein. Hasard versuchte es trotzdem. Mit einer Kopfbewegung deutete er zur „Isabella“ und sah, wie von Saxingens Blick in die angegebene Richtung wanderte, dann aber sofort wieder zurückkehrte. „Sie haben keine Chance, von Saxingen“, sagte der Seewolf rauh, „wenn Sie Ihren Schuß abfeuern, werden Sie noch im selben Augenblick acht Musketenkugeln einfangen.“ Nils Larsen übersetzte es Wort für Wort und voller Grimm. Der Schweinsnasige prustete los. Sein Oberkörper bebte vor höhnischer Heiterkeit. Doch keinen Augenblick beging er den Fehler, dabei versehentlich den Pistolenlauf aus der Visierlinie zu nehmen. „So leicht legt man einen von Saxingen nicht aufs Kreuz“, sagte er von oben herab, nachdem er sich beruhigt hatte. „Wir machen jetzt Nägel mit Köpfen, meine Herren. Bringt mir die liebliche Gisela von Lankwitz, dieses entzückende Geschöpf, das mir und meinen Freunden so viele Nachtstunden verschönt hat.“ Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte Hasard, wie sein Vetter kreidebleich vor Wut wurde. Einen Moment sah es aus, als würde Arne explodieren und sich auf den
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Grafen stürzen - trotz der angeschlagenen Pistole. „Bringt sie her!“ brüllte von Saxingen. „Sofort!“ Die Laufmündung ruckte ein winziges Stück höher und zielte jetzt auf Arne von Manteuffels Stirn. Hasard nickte seinem Vetter zu. „Es hat keinen Sinn, Arne. Wir müssen tun, was er verlangt.“ Nils Larsen übersetzte mit tonloser Stimme. „Sehr vernünftig!” rief von Saxingen voller Spott. „Wenn die Herren nur weiter so vernünftig sind, werden wir prächtig miteinander auskommen.“ Arne von Manteuffel hatte das Gefühl, die schlimmste Niederlage seines Lebens zu erleiden. Seine Worte bebten, als er dem Decksmann Order erteilte, die Freiin zu holen. * „Dieser elende Bastard!“ sagte Edwin Carberry gepreßt. „Wenn ich den jetzt zwischen die Finger kriegen könnte!“ Der Profos gehörte zu den acht Männern, die ihre Musketen auf der Back der „Isabella“ angeschlagen hatten. Und sie brauchten sich wahrhaft keine Mühe zu geben, um den Groll Ed Carberrys nachzuempfinden. „Ruhe!“ sagte Ben Brighton leise und warnend. „Der Kerl ist wahrscheinlich bis in die Fingerspitzen nervös. Ein falscher Ton kann genügen, und er dreht durch.“ Die Männer schwiegen. Ben hatte sich gleichfalls auf die Back begeben, da er von hier aus einen besseren Überblick hatte. Der größte Teil der Crew befand sich auf der Kuhl, in Deckung hinter dem Schanzkleid. Weitere Musketen waren schußbereit, und Al Conroy hatte vorsorglich auch die beiden Drehbassen auf der Back geladen. Ob man sie einsetzen konnte, war mehr als fraglich. Aber es verschaffte das beruhigende Gefühl, wenigstens für alle Fälle gerüstet zu sein. Ben Brighton setzte das Spektiv nicht mehr ab. Das Bild war so nahe, so klar und
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deutlich, als stünde er selbst neben Hasard und Arne von Manteuffel auf dem Achterdeck der polnischen Galeone. Nur die Worte, die gewechselt wurden, waren naturgemäß nicht zu verstehen. Mit einem höhnischen Grinsen zwang von Saxingen den Seewolf und Nils Larsen, die Waffen abzulegen. Arne von Manteuffel trug allem Anschein nach nur seinen Säbel, und der konnte dem Schweinsnasigen im Augenblick kaum gefährlich werden. Federnd wich er einen Schritt beiseite und baute sich so auf, daß er Arne weiterhin vor dem Lauf hatte. Hasard und Nils setzte sich in Bewegung. Ben Brighton ahnte, welchen Befehl sie erhalten hatten. Es war leicht, zwei und zwei zusammenzuzählen. In der Tat erschienen sie Sekunden später in der Pforte des Schanzkleids und enterten in die Jolle ab. Auf der Kuhl des ehemaligen polnischen Flaggschiffs entstand Bewegung. Die Männer aus der Crew wichen zurück. Der Graf stand oben am Achterdecksniedergang und hätte sie offenbar angeschrien. Nicht ohne Grund, wie sich im nächsten Moment zeigte. Mit stolz erhobenem Haupt trat Gisela Freiin von Lankwitz auf die Kuhl hinaus. Ihr langes blondes Haar schimmerte seidig im frühen Sonnenlicht. Nicht die winzigste Regung in ihrem feingeschnittenen Gesicht zeigte, daß sie Angst oder gar Unbehagen empfand. Graf Hugo von Saxingen winkte sie mit einer herrischen Geste zum Niedergang. Dann, als sie dieser Aufforderung gefolgt war, war er mit einem Satz neben ihr. Ben Brighton verspürte einen Stich in der Magengegend, als er sah, wie der Schweinsnasige der jungen Frau den Pistolenlauf gegen die Schläfe preßte. Und der Erste Offizier der „Isabella“ wußte, daß alle Männer, die diese Demütigung der Freiin miterlebten, haargenau so empfanden wie er. Wie schlimm mußte es aber für Arne von Manteuffel sein, ihren Verlobten? Zumal die Erinnerung an die gemeine Entführung
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Giselas noch frisch in seinem Bewußtsein stand. Von Saxingen hatte sich Hasards Radschloßdrehling und Nils Larsens Flintlock-Pistole in den Hosenbund gestopft. Mit einer Feuerkraft von insgesamt acht Schuß war er zu einem wandelnden Arsenal geworden, das man noch ernster nehmen mußte. Der Schweinsnasige erteilte weitere Befehle. Und in ohnmächtigem Zorn waren die Männer Arne von Manteuffels gezwungen, diese Befehle auszuführen. Eine Talje mit einem Bootsmannsstuhl wurde an der Großrah angeschlagen. Dann war es Hein Ropers, der den Tampen halten mußte, während von Saxingen die anderen Männer zurückscheuchte. Mit der freien Hand hielt er Gisela von Lankwitz umklammert, als er sich auf den neben dem Schanzkleid pendelnden Bootsmannsstuhl zubewegte. Mühelos überbrückte er auch die Schwierigkeit des Moments, in dem er sich in das trapezförmige Segeltuch zwängte und sich den Hüftgurt umlegte. Ständig behielt er die Pistolenhand frei und die Waffe auf die junge Frau angelegt. Dann zwang er sie, sich auf seinen Schoß zu setzen. Unterdrückte Flüche waren auf der Back der „Isabella“ zu hören. Ben Brighton fühlte ein Kribbeln in den Haarwurzeln. Es war ein elendes, niederschmetterndes Gefühl, nichts, aber auch gar nichts unternehmen zu können. Denn solange der verdammte Graf den Pistolenlauf gegen die Schläfe der Freiin drückte, waren sie allesamt zur Untätigkeit verurteilt. Arne von Manteuffel stand wie vom Donner gerührt auf dem Achterdeck, als sich von Saxingen mit seiner Gefangenen in die Jolle abfieren ließ. Fieberhaft überlegte Ben Brighton, ob es nicht doch etwas gab, was man tun konnte. Dabei hoffte er inständig, daß Arne nicht die Nerven verlor. Jede kleinste Unbedachtsamkeit konnte die junge Frau das Leben kosten.
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Und eben das war jetzt der entscheidende Punkt. Es gab keine Lösung. Kein noch so gut gezielter Schuß konnte Abhilfe schaffen. Grinsend hockte von Saxingen auf der Achterducht der Jolle, die Freiin immer noch auf seinem Schoß, die Pistolenmündung immer noch an ihrer Schläfe. Hasard und Nils Larsen erhielten Order, zu pullen. Langsam nahm die Jolle Fahrt auf. Der Graf wandte den beiden Schiffen den Rücken zu. Einen Atemzug lang spielte Ben Brighton mit dem Gedanken, ihm jetzt eine Kugel nachzujagen. Aber er verwarf den Gedanken sofort wieder. Noch im Reflex konnte Von Saxingen abdrücken. Es gab keine Möglichkeit, das Leben der Freiin zu schützen. * Kurz nachdem sie abgelegt hatten; tauchte Nils Larsen das Riemenblatt einen Deut zu ungeschickt ein. Ergebnis war eine aufstiebende Gischtfahne, die dem Grafen ins Gesicht wehte. Von Saxingen stieß einen Fluch aus, den auch Nils nicht verstand, obwohl er die deutsche Sprache hervorragend beherrschte. „Das war Absicht, du Hund!“ keifte der Schweinsnasige. „Tu das noch einmal, und du kriegst von mir eine Kugel verpaßt.“ Mit der freien Hand wischte er sich die Wasserspritzer aus dem Gesicht. „Es war keine Absicht“, entgegnete Nils Larsen, während er sich neben Hasard auf der mittleren Ducht zurechtrückte, um eine bessere Sitzposition zu finden. „Tut mir leid.“ „Reiß dich zusammen, Nils“, sagte der Seewolf, „denk an die Lady. Es kann sein, daß der Kerl durch die kleinste Kleinigkeit total überschnappt.“ „Aye, aye, Sir“, erwiderte Nils gepreßt, „aber es war tatsächlich keine Absicht.“ Von Saxingen verzog das Gesicht zu einer wütenden Grimasse. „He! Was habt ihr zu quatschen?“
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Nils Larsen räusperte sich trocken. Es kostete ihn immer noch Mühe, seinen Zorn hinunterzuschlucken und dem Mistbock nicht an die Gurgel zu springen. „Mein Kapitän hat gesagt, ich soll mich zusammenreißen und beim Pullen besser aufpassen.“ „Das hat er fein gesagt, dein Kapitän.“ Graf Hugo von Saxingen grinste breit. „Ich sehe schon, ihre beide werdet folgsame Ruderknechte sein. Im übrigen behalten wir den jetzigen Kurs bei. Immer schön nach Süden, damit wir so schnell wie möglich an Land sind. Und gequatscht wird nur noch, wenn ich die Erlaubnis erteile. Verstanden?“ Nils nickte nur. „Dann übersetze es für deinen Kapitän!“ fauchte von Saxingen. Nils gehorchte. „Sag ihm“, entgegnete Hasard, „daß wir jede seiner Anweisungen strikt befolgen werden. Wir tun alles, damit das Leben der Freiin nicht gefährdet wird. Es ist wichtig, daß er das weiß, Nils.“ Von Saxingen zog die Augenbrauen hoch, als Larsen übersetzte. „Sehr schön, wirklich ausgezeichnet“, sagte er ölig. „Es sieht ganz danach aus, als ob wir uns immer besser verstehen.“ Hasard und Nils pullten zügig. Hatten sie einen Augenblick die Illusion gehabt, der Schweinsnasige würde die Pistolenmündung wenigstens von der Schläfe der jungen Frau wegnehmen, so mußten sie erkennen, daß sie einem Irrtum unterlegen waren. Aber trotz aller Demütigung und trotz aller Angst ertrug Gisela von Lankwitz ihre Lage mit ungebrochener Würde. Ihr schmales Gesicht, vom seidigen blonden Haar umrahmt, war wie gemeißelt. Kein noch so winziges Muskelzucken verriet, was sie wirklich empfand. Diese Genugtuung gönnte sie von Saxingen nicht, jetzt nicht mehr, nach allem, was geschehen war. Hasard erkannte, daß diese tapfere junge Frau in jeder Beziehung zu Arne von Manteuffel paßte. Sie war die ideale Partnerin für ihn, es konnte keine bessere
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geben. Der Gedanke erfüllte den Seewolf mit Freude. Gleichzeitig wuchs in ihm die Entschlossenheit, die Freiin aus dieser teuflischen Gefahr zu befreien. Kein Haar durfte ihr gekrümmt werden. Nicht noch einmal sollte sie so entwürdigend behandelt werden, wie es in der Gewalt von Saxingens und seiner wüsten Kumpane geschehen war. Hasard, der an der Steuerbordseite pullte, beobachtete unauffällig und dennoch aufmerksam, was sich hinter dem Rücken des schweinsnasigen Grafen abspielte. Auf beiden Galeonen waren die Segel aus dem Gei gehängt worden, sie folgten der Jolle jetzt mit einem Abstand von vier bis fünf Kabellängen. Zweifellos konnte von Saxingen dies nicht entgangen sein. Er mußte die Kommandos an Bord der „Isabella“ und der Galeone Arne von Manteuffels gehört haben. Doch es schien ihn nicht sonderlich zu stören. Er fühlte sich seiner Sache absolut sicher, solange er Gisela von Lankwitz in seiner Gewalt hatte. Etwa eine halbe Stunde war vergangen, seit sie mit dem Pullen begonnen hatten. Das Wetter stellte seine Unberechenbarkeit unter Beweis. Jener Dunstschleier über der Kimm, der sich während des Sonnenaufgangs noch leicht gelichtet hatte, war nicht verschwunden, er verstärkte sich vielmehr zu einer rasch heraufziehenden blassen Wolkendecke. Das strahlende Licht war einem fahlen Grau gewichen. Eine plötzlich aufkeimende Idee nahm in Hasards Gedanken Form an. Unmerklich begann er, stärker zu pullen. Dabei gab er sich rein äußerlich den Anschein, weiterhin unveränderte Kraft anzuwenden. „Nils“, sagte der Seewolf scheinbar beiläufig, „wir werden unseren Kurs ändern. Und zwar so, daß unser Freund nichts davon merkt. Langsam, ganz langsam, gehen wir auf Nordkurs, und dabei lassen wir uns Zeit.“ „He, was soll das?“ sagte von Saxingen giftig. „Was hast du zu dem anderen Ruderknecht gesagt, Killigrew? Hatte ich
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nicht Order gegeben, den Mund zu halten?“ Der Seewolf zog bedauernd die Schultern hoch. Nils Larsen zeigte indessen Reaktionsvermögen. „Mein Kapitän hat mir lediglich befohlen, nicht so lahm zu pullen. Wir wollen diese Sache so schnell wie möglich hinter uns bringen.“ „Das will ich euch auch geraten haben“, sagte von Saxingen höhnisch, „je besser ihr mitspielt, desto weniger Schwierigkeiten gibt es.“ Wieder kehrte Schweigen ein. Nils Larsen hatte sofort begriffen, was Hasard beabsichtigte. Die Sonne hatte sich mittlerweile hinter dem grauen Himmel versteckt. Einzige Navigationshilfe war jetzt noch der stetig aus Nordwesten wehende Wind. Es blieb also nur die Frage, ob der sehr ehrenwerte Graf Hugo von Saxingen genügend Feingefühl hatte, um spitzzukriegen, daß er den Wind bald nicht mehr schräg von Steuerbord achteraus hatte. Nils wechselte einen verstohlenen Seitenblick mit dem Seewolf und nickte kaum merklich. Der Sinn des allmählichen Kurswechsels war leicht erkennbar. Stunden um Stunden würden sie pullen, ohne daß auch nur ein Hauch von Land in Sicht kam. Es mußte mit dem Teufel zugehen, wenn der Schweinsnasige dann nicht irgendwann weich wurde. Außerdem war es ohnehin sicherer, der Küste fernzubleiben. Gekonnt spielte Nils Larsen jetzt die Rolle, die er in diesem Spiele zu übernehmen hatte. Während er so tat, als setzte er noch mehr Druck hinter seinen Riemen, strengte er sich in Wahrheit kaum noch an. Hasard holte unterdessen zunehmend kraftvoller durch. Für von Saxingen blieb der Eindruck, daß die Jolle unverändert geradeaus lief. Daß sich langsam, doch stetig der Winkel änderte, in dem die Wellenrichtung zum Boot stand, registrierte er nicht. Für Feinheiten dieser Art mußte man die See und den Wind kennen, brauchte man
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standfeste Seebeine und die entsprechende Nase. Die Schweinsnase des Grafen reichte jedenfalls nicht aus. Soviel stand nun fest. Eine kleine Ewigkeit schien vergangen zu sein, als Hasard spürte, daß ihm der Wind rechts von hinten in den Nacken wehte. Und von Saxingen war weiterhin angestrengt damit beschäftigt, die Freiin nicht aus der Kontrolle zu verlieren. 4. Dan O'Flynn enterte mit einem Affenzahn aus dem Großmars ab. Auch wegen etwaiger polnischer Verfolger hatte er den Ausgucksposten bezogen. Vornean stand allerdings die Sorge um das Schicksal der Freiin. Mit wenigen Sätzen erreichte er das Quarterdeck. Ben Brighton stand bereits an der Nagelbank beim Besan. Dan hatte ausdrücklich Anweisung erhalten, keine lautstarke Meldung aus dem Mars abzugeben. Die Gefahr, daß von Saxingens Ohren zu gut waren, konnte man nicht ausschließen. „Ben! Die Jolle schwenkt vom Südkurs ab. Ganz langsam nur, und zuerst war es auch kaum zu merken. Inzwischen ist mir aber klar, was Hasard und Nils im Sinn haben.“ Ben Brighton runzelte die Stirn. „Du meinst, sie wollen ihn gar nicht an Land bringen?“ „Genau das!“ Dem Ersten Offizier der „Isabella“ fiel es wie Schuppen von den Augen. Natürlich! Das war es! Hasard hatte die einzig denkbare Möglichkeit in die Tat umgesetzt. „Behalte sie weiter im Auge“, sagte Ben hastig. Während Dan O'Flynn erneut in den Großmars aufenterte, hob Ben Brighton das Spektiv und beobachtete die Jolle eine Weile aufmerksam. Auf den ersten Blick schien es, als pullten Hasard und Nils absolut gleichmäßig. Doch wenn man lange genug hinsah, wurde deutlich, daß das Boot mit der Stetigkeit eines Uhrwerks einen weiten Bogen nach Osten und dann nach Norden beschrieb.
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Ben gab die erforderlichen Kommandos zur Kursänderung. Pete Ballie bewegte das Steuerruder mit der gewohnten Gelassenheit. Die Männer blieben an den Brassen, und Edwin Carberry verzichtete ausnahmsweise auf seine gebrüllte Begleitmusik. Für die nächsten Stunden war entscheidend, daß sich die „Isabella“ und die Galeone Arne von Manteuffels unauffällig dem Kurs der Jolle anpaßten. Denn jederzeit konnte Graf Hugo von Saxingen einfallen, einen Blick zurückzuwerfen. Wenn er in einem solchen Fall die beiden Galeonen nicht in der gewohnten Position achteraus sah, konnte der ganze Plan des Seewolfs in die Binsen gehen. Arne von Manteuffel hatte das Manöver der kleinen Jolle ebenfalls längst bemerkt. Auch drüben auf dem ehemaligen polnischen Flaggschiff standen die Männer an den Brassen, um die Segelstellung laufend zu korrigieren. Zum erstenmal, seit der schweinsnasige Graf seinem Bewacher die Pistole entrissen hatte, gab es für Ben Brighton Grund zum Aufatmen. Der Plan, den Hasard und Nils Larsen in die Tat umsetzten, war hervorragend. Schließlich war es ein Unterschied, ob man nach einer knappen Stunde Land erreichte und die beiden Rudergasten dann zum Teufel schickte, oder ob man Stunde um Stunde höllisch aufpassen mußte - immer in der Gewißheit, daß eben jene Ruderer bei der kleinsten Unachtsamkeit zuschlagen würden. Ja, es war eigentlich nur eine Frage der Zeit, wann von Saxingens Aufmerksamkeit erlahmte. Ohnehin konnte kein Mensch eine Pistole, die immerhin eineinhalb Kilo wog, stundenlang in derselben Position halten. Zwischen Ben Brighton und Arne von Manteuffel war keine Verständigung mehr erforderlich. Daran, wie sehr Arne seinen Vetter jetzt bewunderte, gab es für Ben keinen Zweifel. Es stand wohl fest, daß Arne nur deshalb nicht durchgedreht war, weil Hasard eine so unerschütterliche Gelassenheit an den Tag gelegt hatte.
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Jetzt gab es guten Grund, Hoffnung zu schöpfen. * Graf Hugo von Saxingen mußte den Hals recken, um über die beiden hochgewachsenen Männer auf der mittleren Ducht der Jolle hinwegspähen zu können. Hasard hatte den Eindruck, daß der Hals des Schweinsnasigen vom vielen Recken schon ein Stück länger geworden war. „Immer noch kein Land in Sicht?“ fragte Nils Larsen scheinheilig. Er keuchte und spielte Erschöpfung. „Langsam kriege ich lange Arme, und meinem Kapitän geht's nicht besser. Wir sind so was nicht gewohnt, wir fahren auf einem Segelschiff, und nicht auf einer Galeere.“ „Halt's Maul!“ bellte von Saxingen. „Hier wird weitergepullt, verstanden? Eine Pause gibt's erst, wenn ich das anordne.“ „Also kein Land in Sicht.“ Nils seufzte. „Himmel noch mal, wie lange soll das noch weitergehen?“ „Ruhe!“ brüllte der Graf so unbeherrscht, daß die junge Frau neben ihm zusammenzuckte. Längst waren sein Grinsen und seine Überlegenheit geschwunden. Verkniffenheit stand in seiner Miene, statt sich aufdringlich an die Freiin zu drängen, rutschte er jetzt ungeduldig auf der Achterducht hin und her. Hasard schätzte, daß es etwa Mittagszeit war. Die Gefährten auf der „Isabella“ und der anderen Galeone spielten prächtig mit. Der Schweinsnasige hatte sich zwei oder drei Male umgesehen, ohne Verdacht zu schöpfen. Daß sich Segelstellung und Krängung der Galeonen laufend verändert hatten, war ihm nicht aufgefallen. Er hatte in der Tat nicht den leisesten Schimmer von der Seefahrt. Der Seewolf mußte sich zwingen, sich nicht zu einem Grinsen hinreißen zu lassen, obwohl ihm sehr danach zumute war. Welch ein Gesicht würde der hochwohlgeborene Graf ziehen, wenn man ihm jetzt sagte, daß sie sich mit jedem
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Riemenschlag weiter von der Küste entfernten? Hasard und Nils pullten ihre Schläge mittlerweile gleichmäßig und ohne sich dabei zu verausgaben. Die Jolle lag jetzt haargenau auf Nordkurs. Mindestens eine Stunde mochte bereits vergangen sein, seit von Saxingen die Pistole hatte sinken lassen. Viel änderte das jedoch nicht, denn sie ruhte jetzt auf seinem Knie, und die Laufmündung zeigte auf den Seewolf. Gisela von Lankwitz hatte wenigstens etwas Platz zum Atemholen erhalten. Der Schweinsnasige zwang sie nicht länger, auf seinem Schoß zu sitzen, und er hatte sie auch aus seiner Umklammerung entlassen. In ihren Augen lag ein gefährliches Glimmen. Wenn es nur eine Gelegenheit dazu gab, würde sie bereit sein, diesem Kerl mit bloßen Händen an die Kehle zu gehen. Bislang hatte sie sich tapfer gehalten und weder Panik noch Angst gezeigt - bestenfalls eisige Verachtung für den ungehobelten Klotz. Innerlich zollte Hasard ihr immer mehr Hochachtung. Dies war wirklich die Frau, die an die Seite eines Mannes wie Arne von Manteuffel paßte. Mit ihr gemeinsam würde er allen Anfeindungen dieses Lebens gewachsen sein. Von Saxingen reckte den Hals immer häufiger in die Länge. Sein Gesicht war rot angelaufen, trotz des Windes, der, so dicht über der Wasseroberfläche, erfrischend war. Seine aufgeworfenen Lippen bewegten sich unkontrolliert, fortwährend zuckten seine Mundwinkel. „Ich glaube, ihr Lumpenhunde haltet mich zum Narren“, knurrte er plötzlich. Seine blaßblauen Augen wurden schmal. „Was sagt er?“ fragte Hasard, da Nils Larsen nicht sofort reagierte. Nils übersetzte und fügte hinzu: „Sieht fast so aus, als ob der Bastard etwas gewittert hat.“ Der Seewolf wechselte einen kaum merklichen Blick mit der Freiin. Auch in ihren Augen stand deutliche Besorgnis. Hasard folgerte daraus, daß sie begriffen hatte, welchen Plan Nils und er verfolgten.
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„Nun?“ Von Saxingens Stimme klang wie das Zuschnappen einer Hundeschnauze. „Warum gebt ihr es nicht zu? Ihr wißt doch genau, wie weit wir noch von der Küste entfernt sind. Ihr wollt mich nur im Ungewissen lassen und denkt, ich würde deshalb kribbelig. Aber da habt ihr euch getäuscht! Ihr werdet pullen und nochmals pullen, bis ihr Blut und Wasser schwitzt.“ Nils Larsen übersetzte abermals und bemühte sich, sein Aufatmen nicht heraushören zu lassen. Hasard zuckte betont gleichgültig mit den Schultern. „Uns ist das völlig egal, ob und wann wir Land erreichen. Außerdem sitzen Sie doch am Ruder, von Saxingen. Also sind Sie auch für den Kurs verantwortlich. Wenn Sie dazu nicht in der Lage sind, dann hätten Sie sich eben nicht auf diese Spazierfahrt einlassen dürfen.“ Nils Larsen übersetzte es voller Genuß, und ihn ritt der Teufel, als er seinen eigenen Kommentar hinzugab. „Im übrigen, sehr verehrter Graf, können Sie ja meinen Kapitän ans Ruder lassen. Der weiß nämlich immer, wo's langgeht auch dann, wenn geradewegs in die Hölle gesteuert wird.“ Von Saxingens Hals- und Schläfenadern schwollen an. „Halt den Mund, unverschämter Hurensohn!“ brüllte er. „Noch ein solcher Ton, und du kriegst von mir die Bezahlung, die du verdient hast!“ „Und Sie haben einen Ruderknecht weniger“, entgegnete Nils sarkastisch und völlig unbeeindruckt. Für einen Moment sah es aus, als würde von Saxingen explodieren. Den Mund hatte er bereits weit aufgerissen, und seine Hand krampfte sich fester um den Pistolengriff. Doch dann schienen die Worte des Mannes von der „Isabella“ in seinem Kopf nachzuhallen, und er -klappte seine Wulstlippen zu. Die nächsten Minuten verrannen in zähem Schweigen. Da waren keine anderen Geräusche als das monotone Knarren der Riemen in den Rundsegeln, das Eintauchen
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der Ruderblätter und das Plätschern des Wellengangs gegen den Bug der Jolle. Von Saxingens Gesichtsmuskeln zuckten heftiger. Die Finger seiner freien Hand krümmten und entspannten sich unablässig auf dem Knie, und der Pistolenlauf lag längst nicht mehr so ruhig wie noch vor einer Stunde. Wieder blickte sich von Saxingen nach allen Seiten um. Doch zu sehen war nichts als die scheinbar endlose Weite der See und die beiden Dreimaster, die der Jolle beharrlich und mit großem Abstand folgten. Dennoch konnte man die offenen Stückpforten und die ausgerannten Geschütze erkennen. Der Graf empfand es so, wie es beabsichtigt war: Als unverhohlene Drohung. Seine Überlegungen gingen nicht weit genug, um zu begreifen, daß die Männer auf den beiden Galeonen die Geschütze keinesfalls einsetzen würden, um die Jolle in den Grund zu bohren. Der Seewolf war unterdessen endgültig sicher, daß der Schweinsnasige nicht die leiseste Ahnung hatte, welcher Kurs anlag, geschweige denn, daß er überhaupt eine Vorstellung davon hatte, wonach man sich bei der Bestimmung des Kurses richten konnte. Auf die Idee, daß direkt unter seinem Hintern, im Schapp unter der Achterducht, der kleine Bootskompaß lag, würde von Saxingen nicht einmal im Traum gelangen. Hasard bemühte sich, nicht daran zu denken, denn diese Tatsache hätte immerhin zum Lachen gereizt, wenn die Lage nicht so ernst gewesen wäre. Doch mit ihrer Nerven-ZermürbungsTaktik waren sie noch lange nicht am Ende. Irgendwann, Minuten später, als der Graf wieder einmal den Hals reckte, stieß der Seewolf seinen Nebenmann unauffällig mit dem Ellenbogen an. Und plötzlich setzten sie wie auf Kommando schlagartig mit dem Pullen aus. Von Saxingens Haltung versteifte sich, als hätte er ein Brett verschluckt. Seine Augen drohten aus den Höhlen zu quellen, seine
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Gesichtsfarbe wechselte von Hellrot in Puterrot. „Wollt ihr wohl weiterpullen!“ Hasard schüttelte seelenruhig den Kopf. Und er ließ unverhohlenen Hohn herausklingen, als er antwortete. „Tut mir leid, euer Hochwohlgeboren. Wir müssen mal eine Pause einlegen. Im übrigen haben wir keine Lust, für nichts und wieder nichts das Wasser umzurühren.“ „Weiterpullen!“ schrie der Graf in schrillem Diskant. „Weiter, habe ich gesagt.“ Beinahe hatte es den Anschein, als würde er in entnervtes Geheul ausbrechen. Nils Larsen besorgte seine Übersetzertätigkeit mit breitem Grinsen. „Wenn Sie schneller an Land wollen“, sagte er genüßlich, „können Sie ja mal einen von uns ablösen.“ „Wissen Sie denn überhaupt, wo das Land liegt?“ erkundigte sich der Seewolf mit gespielter Höflichkeit. „Im Süden!“ fauchte von Saxingen. „Aha. Und wo liegt Süden?“ Graf Hugo von Saxingen schluckte krampfhaft wie eine Scholle auf dem Trockenen. Sein Adamsapfel bewegte sich ruckend auf und ab. Abwechselnd starrte er seine beiden „Ruderknechte“ an, öffnete den Mund, schloß ihn wieder, fand offenbar keine Worte. Hasard und Nils legten die Unterarme auf die gekreuzten Riemen, falteten die Hände und begannen, demonstrativ Däumchen zu drehen. „Das hat man nun davon“, maulte Nils auf Deutsch, „wenn so ein Kerl an der Pinne sitzt, der keine Ahnung von den Himmelsrichtungen oder überhaupt von richtiger Navigation hat.“ Anschließend übersetzte er es betont ausführlich für den Seewolf. „Vielleicht sind wir längst in irgendeine Strömung geraten“, sagte Hasard mit ernster Miene. „Vielleicht können wir uns noch so sehr anstrengen, und wir treiben doch vom Land weg. Und dann gnade uns Gott. Alles nur wegen dem da!“ Er deutete mit einer Kopfbewegung auf von
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Saxingen. „Und nur, weil er keinen blassen Schimmer hat.“ Von Saxingen starrte den Seewolf an, als könne er von seinen Lippen ablesen. In seinen Augen lag ein unstetes Flimmern. „Was hat er gesagt?“ keuchte er. „Übersetz schon, du Hund!“ „Ungern“, erwiderte Nils, „ich will Sie ja nicht noch mehr in Sorge stürzen, verehrter Graf.“ „Übersetze!“ kreischte der Schweinsnasige. Nils Larsen tat ihm den Gefallen, Wort für Wort. Danach zeigte von Saxingens Gesichtshaut eine erstaunliche Blässe. Das Zucken um seine Mundwinkel hatte sich verstärkt. Aus einem jähen Entschluß heraus sprang er auf, als könne er dadurch besser sehen. Hasard und Nils reagierten schlagartig, packten die Riemen, tauchten die Blätter mit einem Ruck ein und zogen mit aller Kraft durch. Von Saxingen stieß einen erschrockenen Laut aus. Verzweifelt riß er die Arme hoch, um sein Gleichgewicht zu wahren. Doch er schaffte es nicht. geriet ins Wanken und kippte nach hinten. Mit der Schnelligkeit einer Raubkatze sprang die Freiin auf. Im selben Moment, in dem sie den Pistolenarm des Grafen nach unten schlug, hatte der Seewolf bereits den Riemen losgelassen und warf sich auf den Grafen. Der Schuß donnerte ohrenbetäubend. Hasard prallte gegen von Saxingen. Der Graf schrie. Doch im nächsten Atemzug war sein Schrei wie abgeschnitten, als er mit dem Hinterkopf auf das achtere Dollbord knallte. Hasard rappelte sich auf, sah die verdrehten Augen des Schweinsnasigen und wußte, daß dieser ins Traumland abgetreten war. Die Freiin seufzte erleichtert und bedachte den Seewolf mit einem dankbaren Blick. Hasard nahm dem Bewußtlosen die Waffen ab. Den Radschloßdrehling verstaute er an seinem angestammten Platz am eigenen Gurt.
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„Ich denke, es ist besser, wenn wir ihn fesseln. Hilf mir mal, Nils.“ „Tut mir leid, Sir. Geht nicht. Aus zwingenden Gründen.“ Hasard drehte sich erstaunt um. Dann mußte er grinsen. Nils hatte seinen Daumen in ein Loch in der Bilge gesteckt. „Wir können froh sein, daß die Kugel nicht mehr Schaden angerichtet hat“, sagte er und grinste. „Aber vorläufig sitze ich hier fest.“ Auch Gisela von Lankwitz stimmte in das Lachen ein. Aus ihrer hellen Stimme klang die grenzenlose Erleichterung, die Befreiung von einer fast untragbaren Last. „Ein Glück, daß du so einen breiten Daumen hast“, sagte der Seewolf, „bei nächster Gelegenheit werden wir auf diese Methode der Leckabdichtung zurückgreifen.“ Nils feixte. „Ich schätze, der Daumen von unserem Profos ist für so was noch besser geeignet. Der paßt auch in ein Loch von 'ner Culverine.“ Hasard benutzte von Saxingens Gürtel, um ihm damit die Handgelenke zu fesseln. Dann half er der Freiin auf die vordere Ducht und verfrachtete den Bewußtlosen auf die Bodenbretter. Jetzt war keine Zeit mehr zu verlieren. Hasard schnappte sich einen der Riemen, legte ihn in die Heckrundsel und begann zu wriggen. Nach einer Wende trieb er die Jolle auf die beiden Galeonen zu. Sowohl die „Isabella“ als auch Arne von Manteuffels Schiff hatten beigedreht. Die Segel waren ins Gei gehängt worden. Jubelgebrüll empfing die Jolle. Auf beiden Galeonen waren die Männer am Schanzkleid versammelt und bereiteten dem Seewolf, Nils Larsen und der Freiin einen lautstarken Empfang. Arne enterte selbst über die Jakobsleiter ab, um seine Verlobte in die Arme zu schließen und sie dann an Bord der Galeone zu bringen. Anschließend fierten die Männer jenen Bootsmannsstuhl ab, in dem Graf Hugo von Saxingen seine niederträchtige Bootspartie so hoffnungsvoll begonnen
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hatte. Gemeinsam mit Hein Ropers, der inzwischen ebenfalls abgeentert war, verfrachtete Hasard den Bewußtlosen in das trapezförmige Segeltuch. Mit zusätzlichen Tampen gesichert, wurde das Schwergewicht an Bord gehievt. Hein Ropers befreite Nils Larsen unterdessen aus seiner unbequemen Lage. Ein passender Rundkeil, den er mitgebracht hatte, wurde mit wenigen Hammerschlägen in das Schußloch getrieben. Als provisorische Abdichtung reichte das aus. 5. Die Kapitänskammer vermittelte jene Behaglichkeit und Geborgenheit, die Gisela von Lankwitz nun über alle Maßen verdient hatte. Und sie genoß es, wieder in der Nähe ihres Verlobten zu sein, nachdem sie zum zweiten Male den gierigen Fingern des Grafen von Saxingen entronnen war. Gisela streckte die Arme aus und legte die Hände um Arnes Nacken. Ihr Gesicht war noch immer ein wenig blaß, doch in ihren Augen stand schon wieder jene Ruhe und Ausgeglichenheit, die er an ihr so sehr schätzte und bewunderte. „Ist es nicht besser“, sagte sie leise, „wenn du wieder an Deck zurückgehst? Sicher warten die anderen auf dich. Es gibt doch bestimmt eine Menge zu tun. Gerade jetzt ...“ Er legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen und schüttelte kaum merklich den Kopf. Bewundernd sah er sie an. In fließenden Linien umgab das blonde Haar ihre Schultern. In dem matten Tageslicht, das durch die bleiverglasten Fenster hereinfiel, hatte es einen zauberhaften seidigen Glanz. Er küßte sie, und sie schmiegte sich an ihn. „Diesen kleinen Moment dürfen wir für uns haben“, sagte er schließlich. „Ich muß ohnehin etwas mit dir besprechen. Du sollst nicht denken, daß meine Männer und ich nur noch gewalttätige Auseinandersetzungen im Sinn haben und dich völlig links liegen lassen.“ „Arne! Glaubst du wirklich, daß ich einen solchen Eindruck habe?“
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„Ich weiß es nicht. Aber ich habe zumindest das Gefühl, daß ich eine vordringliche Pflicht nicht erfülle. Immerhin hatte ich es mir zum ersten Ziel gesetzt, dich zu deinen Eltern zurückzubringen.“ „Wenn du keine schlimmeren Sorgen hast, dann solltest du sie schnell beiseiteschieben.“ „Nimm es nicht auf die leichte Schulter. Versetz dich in die Lage deiner Eltern, und du wirst verstehen, wovon ich spreche. Sie wissen nicht, wie es dir ergangen ist. Und sie haben ein Recht darauf, daß ihre Ungewißheit so bald wie möglich vorbei ist. Genaugenommen stehen ihre Rechte immer noch an erster Stelle, solange wir verlobt sind.“ „Ich weiß, Arne. Ich weiß auch zu schätzen, wie sehr du dir den Kopf über diese Dinge zerbrichst. Aber: Erstens wissen meine Eltern, daß sie sich auf ihren zukünftigen Schwiegersohn verlassen können. Und zweitens muß ein Mann wissen, welchen Weg er geht. Ich würde dich nicht verstehen, wenn du dich nicht zuallererst um das Schicksal deines Geschäftsfreundes Thorsten Tyndall kümmern würdest.“ „Es freut mich, daß du das sagst. Ich habe auch erwartet, daß du so denkst. Aber ich hatte dir versprochen, daß wir so schnell wie möglich Rügenwalde anlaufen würden. Ich mußte dir zumindest sagen, daß es wohl noch eine Weile dauern wird, bis wir in Rügenwalde sind.“ „Du und dein Vetter, ihr habt euch eine Aufgabe gestellt. Hasard hat mich zweimal aus der Gewalt von Saxingens befreit. Es wäre ungeheuerlich von mir, wenn ich jetzt verlangen würde, meine Angelegenheiten in den Vordergrund zu stellen.“ Arne sah sie nur an, und seine Augen leuchteten. Dann, als er sie alleinließ, waren seine Schritte voller neuer Energie. * Eiseskälte traf ihn wie ein Schock.
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Graf Hugo von Saxingen wurde aus den Tiefen seines schlummernden Bewußtseins zurückgeholt. Der zweite eisige Schwall ergoß sich über ihn, als er schon halb in der Wirklichkeit war. Und sie war rauh, diese Wirklichkeit. So rauh, wie es ihm in seinen schlimmsten Träumen niemals geschehen war. Er prustete, schüttelte sich wie ein Hund und war schlagartig hellwach. Dann spürte er die harten Decksplanken unter sich, gleichzeitig setzte ein Dröhnen in seinem Schädel ein. Es war, als ob er unter einer riesigen Glocke lag, gegen die ein boshafter Peiniger fortwährend mit einem Vorschlaghammer schlug. Auch konnte er die Hände nicht bewegen, fest verschnürt lagen sie auf seinem Bauch. Von Saxingen war versucht, sein Elend hinauszuschreien. In einem Anflug von Aberwitz schloß er die Augen, entspannte sich und meinte, so der schlimmen Wirklichkeit wenigstens noch eine Weile entrinnen zu können. Was blieb, war das furchtbare Schädelbrummen. Stimmen erreichten ihn, wie durch einen Wattebausch gefiltert. Harte Männerstimmen. Einige lachten. Er brauchte eine Weile, bis er begriff, daß diese Stimmen und dieses Gelächter ihm gewidmet waren. Schritte näherten sich, sie dröhnten ebenso wie jene Riesenglocke in seinem Schädel. Es klatschte. Eher war es ein Schmettern. Erst im nächsten Moment spürte von Saxingen den brennenden Schmerz, der ihn von der linken Wange her durchzuckte. Er schrie und riß die Augen weit auf. Jener, der ihm die schallende Ohrfeige verpaßt hatte, beugte sich grinsend über ihn - Hein Ropers, Bootsmann aus der Crew Arne von Manteuffels. „Reise, reise, aufstehen, Durchlaucht! Das Mittagsschläfchen ist vorbei.“ Die anderen brachen in donnerndes Gelächter aus. Ropers trat einen Schritt zurück. Von Saxingen keuchte. Seine Wange brannte wie Feuer. Aber er schloß die Augen nicht wieder. Kein zweites Mal wollte er eine
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solche Maulschelle einfangen. Er bemerkte einen wischenden Schatten, der sich über sein Gesicht bewegte. Vor und zurück, vor und zurück, ein rhythmisches Pendeln. Er riß die Augen weit auf und erschrak bis ins Mark. Eine Schlinge baumelte da über ihm, eine verdammte, sorgfältig geknüpfte Schlinge! Ein Zittern durchlief den massigen Körper von Saxingens. Er spürte, wie sich etwas Eiskaltes um sein Herz krallte. Schweißperlen brachen jäh aus seiner Stirn. Seine Zähne begannen zu klappern, und er konnte nichts dagegen tun. Hein Ropers beugte sich wieder vor. „Damit du Bescheid weißt, du Schweinehund von einem Grafen. Das da über dir ist ein laufender Pahlstek. Der zieht sich zu, sowie was dranhängt. Und den Tampen haben wir hübsch an der Großrah, angeschlagen. Damit hieven wir sogar Tonnenlasten an Bord, wenn's sein muß. Für deinen Wanst reicht's also allemal.“ Graf Hugo von Saxingen erschauerte. Im nächsten Moment, als der Bootsmann ihn packte und mit spielerischer Leichtigkeit auf die Beine stellte, traf ihn neues Entsetzen wie ein Peitschenhieb. Sie standen im Halbkreis. Grimmige Kerle, in deren Mienen alles Mögliche zu lesen war, nur nichts Gutes. Arne von Manteuffel war dabei und auch dieser Killigrew, dieser dreimal verfluchte Engländer. Trotz und gerade wegen seiner Leibesfülle fühlte sich von Saxingen klein und häßlich, wenn er die beiden nur ansah. Breitschultrig und schmalhüftig und mit scharfgeschnittenen Gesichtern verkörperten sie den Inbegriff der Männlichkeit. Wenn ihre unterschiedliche Haarfarbe nicht gewesen wäre, hätten sie Zwillinge sein können. Von Saxingen schluckte krampfhaft. Dann atmete er tief durch. Es hatte keinen Zweck. Nur die Flucht nach vorn konnte ihn vielleicht noch retten. Diesem Pöbel mußte man nur die Augen öffnen. Er gab sich einen innerlichen Ruck. Er stand über ihnen allen, er, Graf Hugo von Saxingen!
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„Ihr wollt mich also hängen?“ schrie er. Dabei wippte er auf den Zehenspitzen auf und ab, und die Fülle seines Oberkörpers bebte. „Ja, seid ihr denn überhaupt bei Sinnen? Ich bin Graf von Saxingen! Wie könnt ihr euch erdreisten, euch an mir zu vergreifen! Man wird euch vierteilen, sobald ihr auch nur einen Fuß an Land gesetzt habt.“ Hein Ropers beugte sich vor, legte die Hände in die Hüften und grinste ihn an. „Mein lieber Saxingen von und zu, du hast vielleicht Ideen! Schade, daß wir keine Pferde an Bord haben. Das mit dem Vierteilen ist gar kein schlechter Gedanke.“ Von Saxingen wurde kalkweiß, und ein erneutes Zittern durchlief seinen Körper. Sein Mund öffnete und schloß sich fortwährend, ohne daß er auch nur einen Ton hervorbrachte. Sie schienen tatsächlich fest entschlossen zu sein, voller Dreistigkeit, voller Mißachtung seiner gräflichen Autorität. „Mach kurzen Prozeß, Hein!“ rief Arne von Manteuffel energisch. „Wir wollen uns nicht die Beine in den Bauch stehen.“ Der Bootsmann gab den beiden Männern einen Wink, die das freie Ende des Tampens hielten. Langsam schwebte die Schlinge nieder, bis sie dicht über von Saxingens Kopf pendelte. Hein Ropers reckte den linken Arm hoch und griff nach der Schlinge. Von Saxingen stand wie vom Donner gerührt. Jäh drang ein markerschütternder Schrei tief aus seinem Brustkasten, schrill und voller Todesangst, ein Schrei, der nicht enden wollte. Hein Ropers versetzte ihm die zweite Ohrfeige. Das Geschrei des Grafen ging in ein klägliches Wimmern über. „Um Himmels willen, nein! Das könnt ihr doch nicht tun! Habt Erbarmen! Wie könnt ihr euch an einem Wehrlosen vergreifen! Ihr seid doch auch Menschen!“ „Was für eine gnädige Feststellung“, sagte Arne von Manteuffel spöttisch, „unsere Menschwerdung von gräflichen Gnaden ist damit also vollzogen. Wir wissen gar nicht,
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wie wir dir danken sollen, von Saxingen.“ Nils Larsen, der neben Hasard stand, übersetzte jedes Wort. Der Seewolf nickte grimmig. Arne hatte jedes Recht, dieses Spiel auszukosten. Was der Schweinsnasige der Freiin Gisela von Lankwitz angetan hatte, konnte ohnehin nicht gesühnt werden. „Also bitte!“ rief von Saxingen, und es klang wie ein Winseln. Er begriff den Spott von Manteuffels nicht. „Dann seid endlich vernünftig! Ihr wollt doch nicht für den Rest eures Lebens zu Gejagten werden? Ich flehe euch an, nehmt Vernunft an.“ „Nein!“ entgegnete Arne von Manteuffel. Das eine Wort traf den Grafen wie ein Peitschenhieb. Er zuckte zusammen, bebte in panischer Angst, und ein krampfhaftes Schluchzen entrang sich seiner Kehle. „Jetzt?“ fragte Hein Ropers, scheinbar ungeduldig. Er schwenkte die Schlinge in der Hand. „Ich gebe ihm noch eine Chance“, sagte Arne nach gespieltem Zögern. Von Saxingens Kopf ruckte hoch. Ein Flackern aufkeimender Hoffnung entstand in seinen blassen Augen. „Was soll ich tun? Was verlangst du von mir, von Manteuffel?“ Arne fühlte sich angewidert. Am liebsten hätte er dem Kerl einen Tritt in den Hintern versetzt. Aber er mußte den Faden weiterspinnen, ehe von Saxingen seine alte Überheblichkeit zurück gewann. „Sage uns alles, was du weißt“, forderte er deshalb, „alles über die polnischen Maßnahmen bezüglich des Bernsteinhandels.“ Der Graf überlegte nicht lange. Seine Worte flossen wie aus einem sprudelnden Quell. „König Sigismund hat alles in Bewegung gesetzt, was er an Schiffen aufbieten kann. Bis hin nach Hela sind sie an der Küste verteilt, aber auch weiter seewärts. Jedes Schiff, aber auch wirklich jedes, wird gestoppt und nach geschmuggeltem Bernstein durchsucht.“ „Und weiter?“ drängte Arne. „Was passiert weiter?“
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„Ein etwaiger Fund wird natürlich sofort beschlagnahmt. Handelt es sich um brauchbare Schiffe, die man aufgebracht hat, werden sie in den nächsten Hafen überführt. Die Besatzungen werden dort gefangen gesetzt.“ „Und bei Widerstand wird nicht lange gefackelt, stimmt's? Da werden die wehrlosen Handelsfahrer eben kurzerhand versenkt.“ „Ja, so ist es. Wer Bernstein schmuggelt, hat nichts anderes verdient. Genauso geht es auch den Bernsteinhändlern an Land an den Kragen. Ihre Lagerbestände werden samt und sonders beschlagnahmt. Künftige Bernsteinverkäufe erfolgen nur noch über den König. Ist ein Händler zur Zusammenarbeit bereit, kann ihm die Gnade einer Provisionszahlung gewährt werden. Bei Weigerung gilt die Order, einen solchen Kaufmann vom Leben zum Tode zu befördern.“ Arne von Manteuffel wechselte einen Blick mit dem Seewolf, nachdem Nils Larsen mit seiner Übersetzung fertig war. „Mit Jens Johansen in Wisby hat es also begonnen“, sagte Hasard leise, „es ist unglaublich, was sich diese Menschenverächter herausnehmen. Frag ihn, was er mit der Entführung deiner Verlobten beabsichtigte.“ „Ich fürchte, mir kocht die Galle über.” „Trotzdem. Eine bessere Gelegenheit, Gewißheit zu erhalten, gibt es nicht.“ Arne wandte sich wieder dem angstschlotternden Grafen zu. „Stimmt es, daß du die Freiin von Lankwitz geraubt hast, um mich unter Druck zu setzen?“ Von Saxingen zuckte zusammen, dabei sah er aus wie ein Halbwüchsiger, den man beim Kirschenstehlen ertappt hat. Für eine Sekunde schien es, als würde er in verbissenes Schweigen verfallen. Aber da war ein eisiger Ausdruck in der Miene Arne von Manteuffels, der seine Worte rasch wieder in Fluß brachte. „Ja“, gestand er kleinlaut, „so war es. Aber ich habe auf höchste Order gehandelt.“ Arne mußte sich beherrschen.
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„Und? Wie sah diese Order im einzelnen aus?“ Er preßte die Lippen aufeinander. „Du solltest dadurch gefügig gemacht werden und deine Bezugsquellen verraten. Und ...“ Er stockte. Doch der harte Glanz in den Augen seines Gegenübers ließ ihn weitersprechen. „Und meine Heirat mit der Freiin hätte dich ins Unrecht gesetzt für den Fall, daß du versuchen solltest, sie zu befreien. Dabei hätten wir dann auch die Gelegenheit gehabt, dich ein für allemal auszuschalten.“ Arne von Manteuffel knirschte mit den Zähnen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, daß die Knöchel weiß hervortraten. „So lautete meine Order“, fügte von Saxingen eilig hinzu, „ich war doch gezwungen, es auszuführen. Wenn ich mich geweigert hätte, wäre es mir selbst schlecht ergangen!“ „Halt den Mund!“ brüllte Arne. „Dieser miese, dreckige Plan war einzig und allein auf deinem Mist gewachsen!“ Hasard ergriff den Oberarm seines Vetters. „Hör auf damit, Arne. Es hat keinen Sinn. Ich kann dich verstehen. Aber es bringt uns nicht weiter, wenn wir jetzt unsere Wut an ihm auslassen.“ Arne atmete schwer. Schließlich nickte er. „Was ist mit dem Kaufmann Thorsten Tyndall in Hapsal?“ herrschte er von Saxingen an. „Was weißt du über ihn?“ „Den Namen kenne ich nicht“, erwiderte der Graf mit bebender Stimme, „wirklich nicht. Es ist die Wahrheit. Ich habe diesen Namen noch nie gehört.“ „Damit du es weißt“, sagte Arne zornig, „Tyndall gehört auch zu den Händlern, die angeblich illegale Geschäfte mit Bernstein betreiben.“ Von Saxingen zog die schlotternden Schultern hoch. „Ich habe nur von Generalkapitän Woyda erfahren, daß seine Jagd auf Bernstein bislang ziemlich erfolgreich war. Sogar an Land ist er durch einen glücklichen Zufall auf einen bedeutenden Fund gestoßen.“ „Ein glücklicher Zufall!“ wiederholte Arne erbittert. „Es ist nicht zu fassen, wie diese Schweinehunde darüber denken. Wo war
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das? Wo hat Woyda seinen großen Fang erbeutet?“ „Ich weiß es nicht“, sagte von Saxingen angsterfüllt, „ich habe ihn danach gefragt, aber er wollte es mir nicht verraten.“ „Du wirst lachen“, knurrte Arne, „das glaube ich dir sogar. Dir würde ich auch nicht alles auf die Nase binden.“ Er wandte sich an Hein Ropers. „Schaff ihn weg. Legt ihn in Ketten, und dann ab in die Vorpiek.“ Es gab nichts mehr zu besprechen. Für den Seewolf und seinen Vetter stand unumstößlich fest, daß sie Kurs auf Hapsal nehmen mußten. Immerhin wußten sie jetzt, daß äußerste Vorsicht geboten war. Die beiden Galeonen mußten ständig gefechtsbereit bleiben. Arne hielt Hasard zurück, als dieser schon die Pforte im Schanzkleid erreicht hatte. „In dem ganzen Durcheinander“, sagte Arne, „habe ich an das Wichtigste nicht gedacht: Ich bin dir zu mehr als Dank verpflichtet. Du hast die Freiin nun schon zweimal aus den Dreckpfoten dieses Kerls befreit.“ Hasard schüttelte lächelnd den Kopf. „Es gibt Dinge, für die ich keinen Dank annehmen kann. Außerdem weiß ich, daß du an meiner Stelle nicht anders gehandelt hättest. Und jetzt sollten wir uns auf das konzentrieren, was vor uns liegt.“ Arne ergriff stumm seine Hand. Da war etwas, das seine Kehle versiegelte. 6. Wie ein samtschwarzes Tuch senkte sich die Dunkelheit über die Küstengewässer. Unter Führung von Arne von Manteuffel hatten die beiden Galeonen eine versteckte Bucht an der Nordküste der Insel Worms angelaufen. Ein wenig fühlte sich der Seewolf an die Geschehnisse auf Kotka erinnert, wo sich der russische Generalkapitän Semion Marinesko mit seinen Soldatenhorden in einer ähnlichen Position verschanzt hatte. Auch hier war der Eingang der Bucht hervorragend geschützt -durch eine hochaufragende Felszunge, die von Nordwesten landeinwärts verlief und den
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beiden ankernden Galeonen seewärts absoluten Sichtschutz bot. Noch bei Dämmerung hatten sie diesen Ankerplatz erreicht, Zeichen von menschlichen Ansiedlungen waren an Land nirgendwo zu erkennen gewesen. Auf der „Isabella“ hatte sich der größte Teil der Crew auf der Kuhl versammelt. Aus dem offenen Kombüsenschott drangen Klappergeräusche. Nach der Abendmahlzeit halfen die Zwillinge dem Kutscher und Mac Pellew, für klar Schiff zu sorgen. Arwenack, der Schimpanse, und Sir John, der karmesinrote Aracanga-Papagei, hatten Erlaubnis erhalten, sich an Deck auszutoben. Arwenack turnte keckernd in den Großmastwanten, während Sir John einen flatterhaften Pendelverkehr zwischen Großmars und Fockmars eingerichtet hatte - offenbar in der Hoffnung, daß Arwenack endlich die übliche aussichtslose Verfolgung aufnehmen würde. Plymmie, die dritte im Bunde des bordeigenen Viehzeugs, wie Ed Carberry das ausdrückte, hockte mit griesgrämiger Miene vor der Kombüse. Immer dann, wenn Arwenack und Sir John himmelhoch jauchzende Höhenflüge vorexerzierten, schien die Wolfshündin die große Sehnsucht der Menschen nachzuempfinden. Die Sehnsucht, sich wie ein Vogel in die Luft zu erheben und die grenzenlose Freiheit dort oben zu genießen. Der Himmel war bedeckt, Mond und Sterne ließen sich nicht einmal ahnen. Bei dem ehemaligen polnischen Flaggschiff war die Jolle abgefiert worden. Die Hecklaternen der beiden Galeonen streuten matte Helligkeit aus. „Gefällt mir nicht“, sagte Ed Carberry dumpf, „warum müssen wir hier herumhängen und Däumchen drehen?“ „Weil wir nicht mit der Tür ins Haus fallen wollen“, entgegnete der Seewolf. „Vor allem wissen wir nicht, was die Polen inzwischen auf die Beine gestellt haben“, fügte Ben Brighton hinzu, „es ist auf jeden Fall richtiger, wenn eine Vorhut zunächst die Lage sondiert.“
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Der Profos hob die Hand, um sich in gewohnter Weise am Hinterkopf zu kratzen. Erst im letzten Moment brach er die Bewegung ab, als ihm einfiel, daß sich dort anstelle des Haarschopfes eine Pelzmütze befand, die allzu leicht verrutschte. „Trotzdem“, brummte er, „ist es kein schönes Gefühl, hier in der Dunkelheit zu hocken und nichts zu sehen und zu hören. Können wir nicht wenigstens vor Hapsal in Stellung gehen? Ich meine, dann könnten wir notfalls den ganzen Polenhaufen zu Klump schießen.“ „Warten wir ab, was Arne vorschlägt“, sagte Hasard, „er kennt sich in Hapsal aus.“ Der alte O'Flynn drängte sich humpelnd in den Vordergrund. „Wenn ihr mal meinen Kommentar hören wollt“, sagte er, „dann gebe ich euch den guten Rat: Laßt es sein!“ Die Köpfe der Männer ruckten herum. Einige begannen zu grinsen. „Du lieber Himmel, nein!“ rief Ed Carberry in gespieltem Stöhnen. „Unser Prophet sieht mal wieder ein böses Omen.“ „Halt du dich raus, Profos!“ fauchte Old Donegal Daniel O'Flynn giftig. „Es gibt Sachen, über die du dir nun mal kein Urteil erlauben kannst. Aber bitte! Wenn niemand auf mich hören will ...“ Beleidigt klappte er die Kinnlade hoch. Hasard klopfte ihm auf die Schulter. „Was ist es, Old Donegal? Reg dich nicht über die Ahnungslosen auf.“ Er blinzelte dem Profos zu, ohne daß der alte Knochen es bemerkte. Bei der Galeone der deutschen Mannschaft hatte die Jolle inzwischen abgelegt. Old O'Flynn räusperte sich bedeutungsvoll. „Ja, das verhält sich so“, sagte er gedehnt, „ich meine, für Leute, die etwas von Tieren verstehen, erzähle ich sowieso nichts Neues: Wenn eine Hündin nach Einbruch der Dunkelheit die Augen halb geschlossen hat, ohne richtig zu schlafen, dann bedeutet das Unheil. Die Menschen in der Umgebung eines solchen Tieres sollten das, was sie gerade vorhaben, am besten sein lassen.“
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Den Männern verschlug es samt und sonders die Sprache. „Mhm“, murmelte Ed Carberry nach einer Weile. „Du willst also damit sagen, daß die liebe kleine Plymmie ihre Gucklöcher halb dichtgeschottet hat.“ „Hat sie das etwa nicht? Seht sie euch doch an! Sie sitzt jetzt schon die ganze Zeit so herum.“ „Ich denke, sie ist einfach traurig“, sagte Big Old Shane. „Traurig?“ rief der alte O'Flynn empört. „Warum denn das wohl? Dazu hat sie überhaupt keinen Grund.“ „Shane hat recht“, entgegnete Matt Davies grinsend. Mit seiner Hakenprothese deutete er zum Großmast. „Unser Bordvieh würde was drum geben, da oben mit Arwenack und Sir John herumturnen zu können.“ „Dummes Zeug.“ Old O'Flynn schüttelte ärgerlich den Kopf. „Das ist der Fehler, den die meisten Menschen begehen. Sie wollen die Zeichen, die ihnen gegeben werden, nicht verstehen. Dabei wäre es so einfach.“ Von Steuerbord war ein dumpfer Laut zu hören. Die Jolle hatte angelegt. Der Seewolf klopfte dem alten O'Flynn abermals auf die Schulter. Es war geboten, ein salomonisches Urteil zu fällen, eine Entscheidung, die beiden Seiten gerecht wurde. Wenn Old O'Flynn zufrieden war, dann waren es auch die anderen. Denn dann bleiben sie von endlosen Schauermärchen verschont, die er stundenlang erzählen konnte. Dabei war ihm sogar egal, ob einer zuhörte oder nicht. „Ich glaube doch, daß wir das Zeichen richtig verstehen“, sagte Hasard. „So?“ Der alte O'Flynn drehte sich mit leuchtenden Augen zu ihm um. „Ja, und zwar folgendermaßen: Wir neigen doch alle dazu, Ed Carberrys Vorschlag in die Tat umzusetzen, nichts wie hin nach Hapsal und die Polen kurz und klein hauen. Stimmt's?“ „So ist es.“ Old O'Flynn nickte. „Nun, das, was wir also alle vorhaben, werden wir sein lassen. Damit wären wir dann Plymmies Augenzeichen gerecht geworden.“
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„Allerdings“, sagte Old O'Flynn begeistert. „Und ich?“ rief Ed Carberry grollend. „Ich ziehe dabei natürlich den kürzeren.“ Ärgerlich griff er nach der Pelzmütze und schleuderte sie mit einem Ruck auf die Planken. Ein blanker Profos-Schädel schimmerte im Licht der Hecklaterne. Brüllendes Gelächter wehte über die Decks der „Isabella“. Plymmie erschrak und beendete ihr Zeichen, indem sie die Augen weit aufriß und die Ohren spitzte. „Statt dessen“, fuhr der Seewolf fort, nachdem sich die Männer beruhigt hatten, „werden wir so vorgehen, wie Arne von Manteuffel es vorschlägt. Er wird jeden Moment hier bei uns an Deck sein.“ Old Donegal Daniel O'Flynn rieb sich das Kinn. „Hm. Du hast dich doch nicht etwa mit ihm abgesprochen?“ „Nein. Nicht darüber, wie wir unseren Besuch in Hapsal abwickeln.“ „Gut.“ Der alte O'Flynn nickte gnädig. „Dann wird es wohl keine Schwierigkeiten geben. Man muß nur die Zeichen verstehen, sage ich euch! Ich erinnere mich da an einen Zwischenfall ...“ Die Männer atmeten auf, als just in diesem Moment Hasards Vetter durch die Pforte im Schanzkleid trat. Sie begrüßten ihn mit großem Hallo, und so wurde Old Donegal daran gehindert, weit ausholend in seiner Mottenkiste voller alter Spukgeschichten zu kramen. * Natürlich kannte Hasard seinen Vetter inzwischen gut genug, um zu wissen, wie dieser daranging, knifflige Aufgaben zu bewältigen. Überdies fußte ihr weiteres Vorgehen ohnehin auf der Vorsichtsmaßnahme, in der versteckten Bucht an der Nordseite von Worms zu ankern. Die Jolle Arne von Manteuffels war bereits mit Hein Ropers und drei Männern aus der deutschen Crew besetzt. Hasard nahm lediglich Nils Larsen und Dan O'Flynn mit. Nachdem er Ben Brighton das Kommando
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auf der „Isabella“ übergeben hatte, verloren sie keine Zeit mehr. Die Insel Worms lag zwischen Dagö und der Halbinsel Nukö, also nordwestlich von der Hafenstadt Hapsal. Die Windverhältnisse waren günstig genug, um das Segel der Jolle zu setzen. Hart an der Küste von Nukö entlang segelten sie zunächst tief in die Bucht, an der Hapsal lag. Auf diese Weise näherten sie sich schließlich dem Hafen von Osten her, also entgegen dem direkten Kurs, den normalerweise jedes Schiff nahm, das Hapsal anlief. Noch etwa fünf bis sechs Kabellängen waren sie vom Eingang des Hafens entfernt. Eine mattgelbe Lichtglocke lag über der Stadt. Das abendliche Leben hatte gerade erst begonnen. Die hochaufragenden Heckpartien von Handelsschiffen zeichneten sich als Schattenrisse vor dem helleren Hintergrund ab. Die Masten und Rahen der an den Piers und Kaianlagen vertäut liegenden Segler erschienen als ein feingliedriges Gitterwerk. Hein Ropers und die anderen hatten das Segel geborgen und pullten jetzt mit verhaltenen Schlägen. Das helle Tuch hätte sich in der Dunkelheit zu verräterisch abgezeichnet. Minuten später erwies sich sowohl diese Vorsichtsmaßnahme als auch der Ausweichkurs als richtig. Dan O'Flynn richtete sich von seiner Ducht auf und spähte noch einmal aufmerksam durch eine der Gassen, die die im Hafen liegenden Schiffe bildeten. Dann wandte er sich mit einem Nicken zu Hasard und Arne um. „Erst dachte ich, ich hätte mich getäuscht. Aber es ist tatsächlich so: Da patrouillieren Uniformierte im Hafen. In mehreren kleinen Trupps, wenn ich mich nicht täusche.“ Hasard, Arne und auch Hein Ropers und die anderen spähten in die von Dan angegebene Richtung. „Kein Zweifel“, sagte Arne von Manteuffel, „das sind polnische Soldaten.
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Die Stadtgarde sieht jedenfalls anders aus, das weiß ich genau.“ „Ab nach Nordosten“, entschied der Seewolf kurzerhand und schwenkte die Ruderpinne herum. „Soldaten in Hapsal“, sagte Arne kopfschüttelnd, „das ist schon reichlich ungewöhnlich.“ „Es gibt nur eine Erklärung“, entgegnete Hasard, „Witold Woyda muß bestimmte Schlüsse gezogen haben. Zum Beispiel den, daß du das Brandzeichen der Tyndalls kennst, diese beiden Pfeilrunen.“ Arne von Manteuffel nickte nachdenklich. „Du meinst, er rechnet also damit, daß wir in Hapsal aufkreuzen werden, weil wir uns Gewißheit über Thorsten Tyndall verschaffen wollen.“ „Nicht nur das“, sagte Hasard lächelnd, „Wenn es so ist, wird er versuchen wollen, dich bei der Gelegenheit zu schnappen, damit er sein Schiff und die Bernsteinladung zurückkriegt.“ „Klingt logisch. Aber den Strich durch seine Rechnung haben wir Gott sei Dank schon vorbereitet.“ Eine knappe Meile oberhalb des Hafens gingen sie an Land. Das Ufer war hier flach und mit dichtem Buschwerk bewachsen. Die Männer. zogen das Boot ins Gebüsch und begannen unter Führung Arne von Manteuffels ihren stummen Marsch in Richtung Hapsal. Östlich des Hafens erstreckte sich eine weite Fläche, die mit Lagerschuppen bebaut war. Die Wohnhäuser der Stadt befanden sich weiter landeinwärts. Die unmittelbare Umgebung des Hafens wurde von Kontoren, Lagereien, Schiffsausrüstern, verschiedenen kleinen Handwerksbetrieben und einigen Schenken bestimmt, in denen ausschließlich Seeleute verkehrten. Am Rand eines Ackers, der von Büschen begrenzt wurde, näherten sie sich geräuschlos den schwarzen Umrissen eines der Lagerschuppen. Arne von Manteuffel spähte um die Gebäudeecke, ehe er den anderen mit einem Zischlaut zu verstehen gab, daß keine Menschenseele zu sehen war.
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Unbehelligt pirschten sie durch das Gewirr der Ladegassen zwischen den Schuppen voran. Arne bewies, daß er praktisch jeden Stein in diesem Bereich von Hapsal kannte. Dann, als sie eine rechtwinklige Abzweigung erreichten, prallten sie zurück. Hasard schob sich neben seinen Vetter. Arne deutete auf ein Kontorhaus schräg gegenüber, das von einer Sturmlaterne schwach erhellt wurde. Zwei Uniformierte standen vor dem Eingang und stützten sich auf ihre Musketen, in ein Gespräch vertieft. „Polen“, flüsterte Arne kaum hörbar, „da gibt es gar keinen Zweifel.“ Deutlich konnte Hasard das Runenzeichen erkennen, das über der Tür des Kontorhauses in Stein gehauen war. Neben dem Haus befand sich ein Speicher, der ebenfalls die beiden Pfeilspitzen als Firmenzeichen trug. So lautlos, wie die Männer sich genähert hatten, zogen sie sich zurück. Über Schlußfolgerungen und weitere Absichten des Generalkapitäns Witold Woyda bestand jetzt endgültige Klarheit. Hasard, Arne und ihre Begleiter verbargen sich im Schutz eines der abseits gelegenen Lagerschuppen. Eine lange Besprechung war überflüssig. Arne erklärte seinem Vetter mit knappen Worten, was er beabsichtigte. Dann ließ er den Seewolf und die übrigen Männer allein. Diesmal nahm er einen anderen Weg durch das Schuppengewirr und erreichte kurz darauf eine Gasse, die - schon am Rand des eigentlichen Hafengebiets - stadteinwärts führte. Arne schlüpfte in einen Torweg und spähte nach beiden Seiten. Es gab einige Laternen vor den Häusern, und die Gasse war gut zu überblicken. Die Menschen hatten sich in ihre Wohnungen zurückgezogen, hinter den Fenstern schimmerte warmes, gemütliches Licht. Erst nach mehreren Minuten, als er keine Soldaten entdecken konnte, die womöglich durch die Gasse patrouillierten, setzte Arne seinen Weg fort.
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Sein Ziel, eine Schenke, war nur etwa zweihundert Yards von dem Torweg entfernt. Das Gasthaus gehörte nicht zu jener Kategorie, die überwiegend für Seeleute gedacht war. Hier kehrten Kaufleute ein, aber auch Kapitäne und Offiziere, wenn sie einen ruhigen Winkel für ihre Besprechungen suchten. Arne von Manteuffel vergewisserte sich noch einmal, daß niemand ihn beobachtete. Dann betrat er die Schenke durch den Vordereingang. Hier hatte er keine Hinterhältigkeiten zu befürchten. Als er sah, daß im Gastraum weder polnische Uniformen zu sehen noch Gespräche in polnischer Sprache zu hören waren, atmete er endgültig auf. Nur etwa zwei Dutzend Gäste saßen an den Tischen. Öllampen blakten unter der weißgekalkten Decke, die Unterhaltungen wurden gedämpft geführt. Es handelte sich zumeist um elegant gekleidete Männer, einige schon mit ergrauten Haaren. Nur wenige blickten überhaupt auf, als Arne durch die Tischreihen ging und auf die Theke zusteuerte. Der Wirt war ein breitschultriger Mann mit kurzgeschnittenem blondem Haar. Seine Miene erhellte sich, als er den Besucher erkannte. Bei fast jedem Besuch in Hapsal hatte sich Arne hier mit Thorsten Tyndall getroffen. Der Name des Wirts war Lasse Svensson, ein Schwede, den es vor eineinhalb Jahrzehnten nach Hapsal verschlagen hatte. Ein absolut zuverlässiger Mann, das wußte Arne von Thorsten Tyndall, der bei Lasse Stammgast war. „Fein, Sie wieder einmal zu sehen, Arne!“ rief der Wirt erfreut. Dann verdunkelte sich sein Gesicht. „Ich nehme an, Sie werden die schlechten Nachrichten als erster vernommen haben.“ Arne von Manteuffel schob seine Unterarme auf den Tresen. Alle anderen Gäste saßen an den Tischen, er konnte also ungestört mit Svensson reden. „Ich habe noch gar nichts gehört, Lasse. Ich habe mich heimlich in die Stadt schleichen müssen. Was ist passiert?“
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„Nun, ich dachte, Sie wußten es, weil Sie ohne Herrn Tyndall erscheinen. Der arme Thorsten ist ermordet worden. Es ist unglaublich! Ganz Hapsal ist erschüttert. Die Schreckensnachricht hat sich natürlich wie ein Lauffeuer verbreitet.“ Arne zwang sich, seine Betroffenheit zu überwinden. „Ich habe damit gerechnet“, sagte er tonlos. „Eigentlich war es zu erwarten.“ Svensson sah ihn mit gefurchter Stirn an. „Wie? Sie wußten ...?“ Arne unterbrach ihn mit einer knappen Handbewegung. „Davon später. Sagen Sie mir zuerst, wie es geschehen ist.“ „Nun, das war am Morgen des 19. März. Niemand, der Thorsten Tyndall gekannt hat, wird diesen Tag vergessen. Sein Sekretär fand ihn an dem fraglichen Morgen im Kontor. Als ob dieser schändliche Mord noch nicht gereicht hätte, wurde dann festgestellt, daß vierzehn Kisten aus dem Tyndallschen Lager fehlten. Zwölf Kisten mit Bernstein und zwei mit Halbedelsteinen. Natürlich gab es anschließend jede Menge Gerüchte ...“ Svensson zögerte. „Reden Sie weiter, Lasse“, drängte Arne, „auch Gerüchte haben meist einen Wahrheitsgehalt.“ „Nun“, Svensson schob einen gefüllten Bierkrug herüber, den sein deutscher Gast dankend annahm, „es wurde darüber geredet, daß an demselben Morgen drei polnische Galeonen von Hapsal ausliefen. Diese drei Schiffe waren merkwürdig schnell verschwunden, zumal sie erst am Tag vorher hier eingetroffen waren.“ Arne von Manteuffel nickte grimmig. „König Sigismund versucht mit aller Gewalt, den freien Bernsteinhandel zu unterdrücken. Thorsten Tyndall ist nicht das erste Opfer.“ In kurzen Zügen schilderte er die Geschehnisse um Jens Johansen in Wisby und fügte hinzu: „Das ist der Grund, warum ich damit rechnen mußte, daß Thorsten etwas zustoßen würde.“ Der schwedische Schankwirt schüttelte fassungslos den Kopf. „Dann ist also doch
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etwas Wahres daran, was man vermutete. Aber niemand darf natürlich in aller Öffentlichkeit behaupten, der Mord und der Raub hätten etwas mit den drei Galeonen zu tun. Kein Mensch könnte doch ungestraft daherreden, daß solche furchtbaren Verbrechen im Auftrag der schwedisch-polnischen Krone geschehen.“ „Eben drum. Darauf spekulieren Sigismunds Schergen natürlich. Was wissen Sie noch über den Mord, Lasse? Jede Einzelheit ist für mich wichtig.“ Lasse Svensson verschränkte die Arme vor der Brust. „Wenn König Sigismund tatsächlich solche gemeinen Machenschaften betreibt, dann wird er hoffentlich seine Strafe von einem höheren Richter erhalten. Nun, ich hatte Gelegenheit, ein paar Worte mit dem Sekretär Tyndalls zu wechseln. Ein aufrichtiger Mann übrigens, kein falscher Ton würde jemals über seine Zunge gehen. Er sagte mir, daß Thorsten Tyndall am 18. März Besuch von drei Männern erhalten hat. Dabei handelt es sich um den Generalkapitän der polnischen Galeonen, einen gewissen Witold Woyda, und zwei weitere Herren.“ Arne von Manteuffel horchte auf. „Das war der Tag vor dem Mord oder, besser gesagt, vor dem Auffinden des Toten. Über was hat Woyda mit Tyndall gesprochen?“ „Das weiß ich nicht. Der Sekretär sagte nur, es habe sich um eine geschäftliche Besprechung gehandelt. Auseinandersetzungen hat es dabei jedenfalls nicht gegeben.“ Arne nickte. Alles paßte zusammen. Hier, in Hapsal, war nach dem gleichen Muster vorgegangen worden wie in Wisby auf Gotland. Eine neue, hinterhältigere Taktik hatte König Sigismund noch nicht ersonnen. Doch es reichte. Seine Gier nach dem Bernsteinmonopol hatte nun schon zwei ehrbaren Kaufleuten das Leben gekostet. „Wurde Woyda nach dieser sogenannten geschäftlichen Besprechung noch einmal gesehen?“ fragte Arne.
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„Nicht am 18. und nicht am 19. März. Aber Sie werden sich wundern - dieser Generalkapitän ist heute vormittag wieder in Hapsal eingetroffen. Auf einem Pferd, und zwar ziemlich abgehetzt. Anschließend sind Soldaten im ganzen Hafengebiet ausgeschwärmt und haben verborgene Posten bezogen.“ „Ist irgendetwas darüber durchgesickert, ich meine, über Sinn und Zweck dieser Aktion?“ „Nur Gerüchte. Es wird gemunkelt, die Polen hielten nach einer Galeone Ausschau. Oder auch nach zwei Galeonen. Auf jeden Fall sollen die Besatzungen dieser Schiffe gefürchtete Seeräuber sein.“ Arne von Manteuffel konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Und Woyda? Wo steckt der jetzt?“ „Noch in Hapsal. Sie kennen die Herberge am Marktplatz?“ „Natürlich.“ „Dort soll er wohnen.“ Arne hatte genug gehört. Er leerte seinen Bierkrug und bedankte sich bei Lasse Svensson mit einem freundschaftlichen Schulterklopfen. Er ließ ihn mit dem Versprechen allein, bei nächster Gelegenheit wieder einmal bei ihm einzukehren und dann über alles zu berichten, was zur Zeit noch unausgegoren war. 7. Schweigend und mit wachsendem Zorn hörten Hasard und die anderen zu, als Arne in der Dunkelheit beim Lagerschuppen seinen Bericht erstattete. „Das Maß dieses sauberen Generalkapitäns ist übervoll“, sagte der Seewolf grimmig, nachdem sein Vetter geendet hatte. „Es gibt jetzt nur eins: Wir müssen ihn uns schnappen.“ Arne sah seinen Vetter forschend an. „Als Faustpfand? Ehrlich gesagt, ich hatte diesen Gedanken auch schon. Aber ist das nicht eine verdammt grobe Methode?“ „Nein, keineswegs. Zwei brutale Morde stehen dagegen. Außerdem setzen wir Woyda nur für den Fall als Geisel ein, daß
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uns noch einmal polnische Schiffe begegnen sollten.“ Arne nickte. „Einverstanden. Wenn wir uns beeilen, müßten wir den Generalkapitän noch erwischen. Ich denke, er wird mindestens einmal pro Abend seine Soldaten am Hafen inspizieren.“ „Wenn nicht, wäre er ein fauler Hund.“ Hasard richtete sich auf. „Ich schlage vor, daß wir in Zweiergruppen vorgehen. Das fällt weniger auf. Und wie der Generalkapitän aussieht, weiß jeder von uns.“ Sie vergeudeten keine Minute mehr. Da Arne von Manteuffels Männer sich in der Stadt auskannten, wurden die Gruppen entsprechend eingeteilt. Arne und Hasard gingen zusammen, dann Hein Ropers und Nils Larsen, Dan O'Flynn und einer der Decksleute sowie die beiden übrigen Männer aus der von-Manteuffel-Crew. Auf Sichtweite voneinander getrennt, pirschten sie durch das Gebiet der Lagerschuppen und der Hafengassen dem Stadtkern entgegen. Arne und Hasard hatten die Führung übernommen. An jeder Gassenecke verharrten sie und sicherten sorgfältig, bevor sie ihren Weg fortsetzten. Polnische Soldaten begegneten ihnen nicht. Witold Woyda hatte seine Überwachungsaktion auf die unmittelbare Umgebung des Hafens konzentriert. Daß diejenigen, auf die er scharf war, einen anderen Weg eingeschlagen hatten, war in seiner Kalkulation offenbar nicht enthalten. Woyda war ein Mensch, der Fehler beging wie jeder andere. Unbehelligt erreichten sie den Marktplatz. Nur noch wenige Spaziergänger waren unterwegs, eilig dem heimischen Ofenfeuer entgegen. Für abendliche Plauderstunden war es doch noch zu kühl. Arne und seine Männer kannten die Herberge, von der der Schankwirt gesprochen hatte, ein schmalbrüstiges, dreigeschossiges Haus, das im Stil der landesüblichen Kontorgebäude errichtet worden war. Die Nachbarhäuser gehörten Händlern und Handwerkern, die Kirche am nördlichen Ende des Platzes war nur einen Steinwurf weit entfernt. In der Mitte gab es
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einen Brunnen und etliche Bäume, die ein unauffälliges Vordringen ermöglichten. In benachbarten Torwegen und Hauseingängen bezogen die Männer Stellung. Die Minuten verrannen langsam und dehnten sich mehr und mehr zu kleinen Ewigkeiten. Keine Menschenseele verließ oder betrat die Herberge. Doch hinter den beiden kleinen Fenstern neben der Eingangstür brannte noch Licht. „Da muß noch jemand auf sein“, sagte Hein Ropers halblaut. Er stand mit Nils Larsen in einem stockfinsteren Torweg, der zum Nachbargebäude der Herberge gehörte. „Wenn nicht, würden sie doch das Licht auspusten und den Laden schließen.“ „Sicher“, flüsterte Nils, „wahrscheinlich sind ein paar Herbergsgäste noch unterwegs, um das Nachtleben von Hapsal zu genießen.“ „Da gibt's nicht viel zu genießen.“ Hein Ropers lachte leise. „Ein ödes Nest, sage ich dir. Das beste ist noch das Bier, das sie brauen. Sonst ist hier der Hund begraben.“ „Ein richtig ehrbares Kaufmannsstädtchen.“ Nils nickte nachdenklich. „Vielleicht gehört unser Freund Woyda auch zu den Nachtwandlern. Kann ja sein, daß er gar nicht in der Herberge ist, sondern irgendwo mit seinen Leuten zecht.“ „Schnaps im Dienst? Da wäre er aber ein schlechtes Beispiel für seine Schergen.“ „Ein schlechtes Beispiel ist er sowieso. Für mich gehören solche Strolche zum Übelsten, was die Menschheit hervorbringt. Hölle und Teufel, niemand kann tiefer sinken als ein bezahlter Mörder.“ Hein Ropers brummte zustimmend. Das Gespräch der beiden Männer versiegte. Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Dann war irgendwo in den Gassen nahe beim Marktplatz der Nachtwächter zu hören, der seine Runde zog und die letzte Stunde vor Mitternacht ausrief. Wenige Minuten später wurden Schritte laut, die sich dem Marktplatz näherten.
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Schlagartig wurden die ausharrenden Männer hellwach. Sehr bald war herauszuhören, daß es sich um einen einzelnen Mann handelte, der es offenbar eilig hatte, zur Nachtruhe zu gelangen. Hein Ropers und Nils Larsen sahen ihn zuerst. Sie hatten die günstigste Position, denn der späte Marschierer tauchte aus einer Gasse auf, die nur drei Häuser entfernt in den Marktplatz mündete. Sekundenlang war er im Schein einer Laterne zu sehen, die dort an einer Hausecke baumelte. Am auffälligsten war die Perücke, die der Mann trug, dazu passend die elegante Kleidung. „Das ist er!“ zischte Hein Ropers. „Ein richtiger Gockel“, sagte Nils Larsen kaum hörbar, „den kann man gar nicht verwechseln.“ Sie wichen zwei Schritte auseinander und brauchten sich nicht weiter zu verständigen. Denn beide hatten jene Erfahrung, wie sie nur Männer haben konnten, die ihre meisten Jahre auf See und in Hafenstädten verbracht hatten. Mitten in einem weitausgreifenden Schritt wurde Witold Woyda jäh gestoppt. Eine eisenharte Faust packte ihn aus der Dunkelheit des Torwegs heraus. Der Generalkapitän erstarrte vor Schreck. Doch er schaffte es nicht einmal mehr, einen Schrei auszustoßen. Während Nils Larsen ihn in den Torweg zog, klopfte Hein Ropers ihm mit seiner mächtigen Faust kurz und trocken auf den Schädel. Witold Woyda versank ins Traumland, ehe er begriff, was mit ihm geschah. Während seine Bezwinger ihn tiefer in die schützende Dunkelheit des Torwegs schleiften, glitt ein Schatten lautlos heran. „Gute Arbeit“, sagte der Seewolf gedämpft. „Arne und die anderen sind schon unterwegs zum Boot. Seid ihr sicher, daß es Woyda ist?“ „Völlig sicher“, entgegnete Nils Larsen und übersetzte es für den Bootsmann der von-Manteuffel-Crew. „Den kann man gar nicht verwechseln“, sagte Hein Ropers grimmig, _diesen
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herausgeputzten Geck würde ich unter Tausenden erkennen.“ Sorgfältig fesselten sie die Hand- und Fußgelenke des polnischen Generalkapitäns und stopften ihm ein Tuch als Knebel in den Mund. Das Risiko, daß er durch plötzliches Geschrei die ganze Stadt alarmierte, konnten sie nicht eingehen. Hein Ropers warf sich den Gefangenen mit spielerischer Leichtigkeit über die Schulter. Hasard und Nils Larsen folgten dem Bootsmann mit kurzem Abstand, wobei sie die Sicherung übernahmen. Doch auch diesmal gab es keine Begegnungen mit polnischen Soldatentrupps. Hein Ropers kannte sich in den Gassen von Hapsal bestens aus und wählte einen Weg, der weit genug vom Hafengebiet entfernt war. Arne von Manteuffel, Dan O'Flynn und die Decksleute hatten die Jolle bereits zu Wasser gebracht, als sie. den Uferstreifen östlich des Hafens erreichten. Witold Woyda war noch immer bewußtlos. Sie betteten 'ihn unter die Duchten und bugsierten das Boot mit kräftigen Riemenschlägen ins freie Wasser hinaus. Wiederum verzichteten sie auf das Segel, während sie den Hafen von Hapsal passierten. Dan, der noch immer die schärfsten Augen von allen hatte, meldete, daß an den Piers und in den angrenzenden Hafengassen nach wie vor Uniformierte patrouillierten. „Vor morgen früh werden sie ihren feinen Generalkapitän nicht vermissen“, sagte Hasard grinsend. „Und weiter auf die gefährlichen Seeräuber warten“, fügte Arne schmunzelnd hinzu. Erst als sie außer Sichtweite des Hafens waren, setzten sie das Segel und nahmen mit rascherer Fahrt Kurs auf die Insel Worms. Witold Woyda war in einen ausgedehnten Zwangsschlaf verfallen. Er rührte sich noch immer nicht, als sie an der „Isabella“ längsseits gingen. Alle Männer waren noch an Deck. Während sie den Gefangenen in die Vorpiek verfrachteten, kehrten Arne von Manteuffel und seine Männer auf das
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gekaperte Flaggschiff zurück. Anschließend gingen beide Galeonen sofort ankerauf. Den zeitlichen Vorsprung, den sie gewonnen hatten, galt es zu nutzen. Hasard und Arne hatten sich indessen geeinigt, nicht durch den Moon-Sund zu segeln. Stattdessen gingen sie auf Westkurs und ließen Dagö an Backbord hinter sich. * Big Old Shane trug eine Laterne, als sie aus dem Tageslicht in die unteren Decksräume abenterten. Ihm folgten Hasard junior und Philip junior, die den Auftrag erhalten hatten, den Gefangenen mit Essen zu versorgen. Plymmie schloß sich schwanzwedelnd an, denn sie hatte sich angewöhnt, den Söhnen des Seewolfs auf Schritt und Tritt zu folgen. Die Jungen trugen eine Kanne mit frischem Trinkwasser, das während des Aufenthalts vor der Insel Worms an Bord gemannt worden war, außerdem eine Schüssel mit Fleischeintopf, wie ihn auch die übrigen Crewmitglieder jetzt, zur Mittagsstunde, erhielten. Big Old Shane öffnete das Schott zur Vorpiek und hielt die Laterne in den engen Raum, der immer noch nach frischem Holz und Kalfaterpech roch. Eine Erinnerung daran, daß die Vollendung der „Isabella IX.“ auf der Werft des alten Hesekiel Ramsgate in Plymouth immerhin erst wenige Wochen zurücklag. Witold Woyda kauerte zusammengekrümmt in der Ecke. Seine vornehme Perücke war verrutscht und ließ das darunter befindliche kurzgeschorene Haar erkennen. Das Gesicht des Generalkapitäns war blaßgrau, die aufgerissenen Augen voller Entsetzen auf den Mann mit der Laterne gerichtet. Der hünenhafte Schmied von Arwenack war in der Tat ein furchterregender Anblick, wozu letztlich auch sein mächtiger grauer Bart beitrug. Das Entermesser an seinem Gurt war als zusätzliches bedrohliches Äußeres beinahe überflüssig.
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Woyda zuckte zusammen, als Shane den Cutlass zog. Daß es nur um das Lösen der Fesseln ging, begriff der Pole nicht auf Anhieb. Doch unvermittelt ertönte ein heiseres, wildes Knurren. Shane runzelte die Stirn und wandte sich um. Wie ein grauer Schatten fegte Plymmie zwischen seinen Beinen hindurch und war mit einem Satz bei dem Gefangenen. „Plymmie, zurück!“ schrien die Zwillinge. Doch die Bordhündin der „Isabella“ nahm keine Notiz von ihnen. Der Generalkapitän schrie auf, als die Wolfshündin ihre Vorderpfoten gegen seine Brust stemmte. Ihre Reißzähne schimmerten gefährlich nahe, und ihre Nackenhaare sträubten sich zu einem Kamm. Und fortwährend drang dieses rauhe Knurren tief aus ihrer Kehle. „Plymmie!“ rief Hasard junior jetzt. „Bei Fuß! Willst du wohl gehorchen!“ Doch Plymmie sah ganz danach aus, als wolle sie den zitternden Generalkapitän jeden Moment mit Haut und Haaren verschlingen. „Sieht so aus“, sagte Big Old Shane kopfschüttelnd, „als braucht sie einen Tritt in den Hintern.“ „O Mann!“ stöhnte Philip junior. „Wenn das Mister Carberry sehen würde!“ Shane grinste, schob den Cutlass zurück in die Scheide und packte die wütende Bordhündin im Nackenfell. Mit Leichtigkeit hob er sie hoch, zappelnd schwebte sie in der Luft. Doch sie dachte nicht daran, ihr Knurren aufzugeben. „Ich denke, du mußt sie wegbringen.“ Shane wandte sich zu Philip um und ließ Plymmie hinunter. „Unser bedauernswerter Gefangener kriegt sonst keinen Bissen runter.“ „Aye, aye, Sir“, sagte Philip junior folgsam, nahm die Hündin am Halsband und mußte alle Kraft aufbieten, um sie fortzuzerren. Hasard junior atmete tief durch und trug die Essenration in die Vorpiek.
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Shane löste die Fesselknoten des Polen mit der Spitze des Entermessers. Den Knebel hatten sie ihm schon vorher abgenommen. „Möchte wissen, was unsere Plymmie gegen ihn hat.“ Hasard junior sah ihn erstaunt an. „Das ist doch klar! Hunde haben einen feinen Instinkt. Sie hat eben gemerkt, daß dieser werte Gentleman ein durch und durch schlechter Mensch ist.“ „Meinst du wirklich, Junge?“ Shane kratzte sich am Hinterkopf. Hasard junior schob dem Generalkapitän das Essen hin. Woyda verfolgte das Gespräch mit großen Augen, ohne auch nur ein Wort zu verstehen. „Aber ja“, sagte der Sohn des Seewolfs überzeugt, „das stimmt nun wirklich, Sir. Es ist keine Geschichte, die der alte Mister O'Flynn erfunden hat.“ „Nun ja“, Shane zuckte mit den Schultern. „In diesem Fall klingt es allerdings sehr wahrscheinlich. Muß ja wohl so sein, daß diese Vierbeiner einen besonderen Riecher haben.“ Mit einer Handbewegung forderte er den Polen auf, Mit dem Löffeln zu beginnen. Witold Woyda erwachte aus seiner Erstarrung und gehorchte. Gierig schlang er die Portion hinunter und spülte mit Wasser nach. Shane legte ihm anschließend wieder Handfesseln an, ließ Hasard junior das Geschirr wegräumen und stellte den Generalkapitän mit einem harten Griff auf die Beine. Woyda zog den Kopf zwischen die Schultern und vermied es, seinen riesenhaften Bewacher anzusehen. „Vorwärts“, sagte Shane schroff, „unser Kapitän möchte ein paar freundliche Worte mit dir wechseln.“ Obwohl der Pole kein Wort Englisch beherrschte, begriff er doch auf Anhieb, was gemeint war. Willig trabte er hinter Hasard junior her, wohl wissend, daß der bärtige Riese ständig einen Schritt hinter ihm war. Auf der Kuhl löschte Shane die Laterne und dirigierte den Generalkapitän in Richtung Achterdeck. Stenmark setzte sich ebenfalls in Bewegung, denn er hatte
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bereits Order erhalten, wieder als Übersetzer zu fungieren. Da es niemanden an Bord gab, der das Polnische beherrschte, mußte das Verhör auf Schwedisch geführt werden. Als er dem Seewolf und seinem Ersten Offizier gegenüberstand, war deutlich zu sehen, daß sich Witold Woyda krampfhaft bemühte, eine gerade Haltung einzunehmen. Doch es gelang ihm nicht einmal halbwegs, jene Art von Stolz auszustrahlen, die einem Mann seines Ranges entsprochen hätte. Stenmark begann mit der Dolmetscherarbeit, nachdem der Gefangene einen Schwall von Worten von sich gegeben hatte. „Er sagt, er protestiere gegen die Art, wie er von uns behandelt worden sei. Und er verlangt seine sofortige Freilassung. Andernfalls müßten wir damit rechnen, von seinen polnischen Verbänden gnadenlos zusammengeschossen zu werden.“ Hasard grinste. „Da kriegt man direkt weiche Knie, Mister Generalkapitän.“ Er wurde ernst, sein Tonfall rauh. „Sie werden nicht freigelassen, Woyda. Ihren Protest betrachte ich als lächerlich und eines Mannes nicht würdig.“ Woydas Gesicht wurde lang, als Stenmark übersetzte. „Sie müssen wissen, was Sie tun, Kapitän Killigrew“, sagte der Pole gepreßt, „aber die Konsequenzen werden schlimm für Sie sein. Selbst wenn ich unversehrt zu meinen Landsleuten zurückkehren sollte, werden Sie sich dennoch wegen eines gemeinen Überfalls und Menschenraubs verantworten müssen. Wie solche Verbrechen von unseren Gerichten geahndet werden, brauche ich wohl nicht erst zu erklären.“ Woyda warf trotzig den Kopf in den Nacken Wie von einem Peitschenhieb getroffen, zuckte er im nächsten Moment zusammen, als ihn zwei eisenharte Fäuste jäh am Wams packten. Hasard zog den Generalkapitän zu sich heran. Das Gesicht des Seewolfs spiegelte unverhohlenen Zorn. Woyda hatte der
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Muskelkraft des hochgewachsenen Engländers nichts entgegenzusetzen. Wie ein hilfloses Bündel hing er in dem unerbittlichen Griff. „Verraten Sie mir eines, Witold Woyda“, zischte der Seewolf, „welche Strafe steht in Ihrem Land auf Mord?“ Stenmark übersetzte so zügig und im selben zornigen Tonfall, daß die Wirkung der Worte voll und ganz erhalten blieb. „Ich - ich verstehe nicht“, stammelte Woyda, „na - natürlich wird Mord mit mit dem Tode be ...“ „Richtig!“ hieb die Stimme des Seewolfs dazwischen. „Ich sehe, wir verstehen uns allmählich, Generalkapitän.“ Er verstärkte seinen Griff und zog das Wams des Polen enger zusammen, was dazu führte, daß Woyda heftiger atmete und eine noch kalkigere Gesichtsfarbe annahm. „Ich - ich verbitte mir - diese Behandlung“, keuchte er. Hasard lachte. Es klang hart und metallisch. „Vorher kommen wir zur Sache, Freundchen. Wir reden nämlich von einem ganz bestimmten Mord. Von dem bezahlten Mord an dem Kaufmann Thorsten Tyndall in Hapsal.“ Es schien, als würden Woydas Augen aus den Höhlen quellen. „D - damit habe ich - nichts zu tun.“ „Nichts?“ brüllte der Seewolf so plötzlich, daß der Pole in seinem Griff zu einer zuckenden Gliederpuppe wurde. Mit einer Kopfbewegung deutete Hasard zu dem ehemaligen Flaggschiff. „Verraten Sie mir eins, werter Generalkapitän: Wie haben Sie zwölf Kisten mit Bernstein und zwei Kisten mit Halbedelsteinen in den Laderaum gezaubert? Und warum haben Sie das Firmenzeichen der Tyndalls auf die Kisten gebrannt?“ Woydas Gesichtsmuskeln begannen zu flattern. Er sah ganz danach aus, als wünschte er sich ein Loch in den Planken, in das er für immer und ewig versinken konnte. „Das war ein korrektes Geschäft“, stieß er hervor. Hasard lachte abermals.
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„Korrekt – nach den Maßstäben Ihres Königs Sigismund, wie? Danach wäre dann auch ein bezahlter Mord korrekt, stimmt's?“ Er schüttelte energisch den Kopf. „Woyda, ich will keine langen Umstände mehr. Ich weiß, daß Sie Tyndall umgebracht haben. Geben Sie es zu. Nur dann können Sie hoffen, daß wir milder mit Ihnen umspringen.“ Die Gesichtsfarbe des Generalkapitäns wechselte von kalkweiß in aschgrau. „Nein!“ rief er mit bebender Stimme. „Ich war es nicht. Sie können doch nicht einfach behaupten ...“ Er brach ab. Denn Ben Brighton, der die ganze Zeit schweigend daneben gestanden hatte, zog plötzlich seinen Säbel. Wie er es tat, wirkte es fast beiläufig, doch das Funkeln der blanken Klinge strafte diesen Eindruck Lügen. Hasard mußte sein Erstaunen unterdrücken. Es gehörte schon eine Menge dazu, bis Ben sich zu solchen unverhohlenen Drohungen hinreißen ließ. Ruhe und Besonnenheit standen für den Ersten Offizier der „Isabella“ stets im Vordergrund. Daß er sich in diesem Fall von seinem Zorn mitreißen ließ, zeigte, wie sehr auch er den Polen verabscheute. Die Spitze der Säbelklinge bohrte sich in Woydas Wams, über dem Oberarm, wo der Stoff wattig gebauscht war. „Wir bringen Sie zum Reden“, sagte Ben Brighton eisig, „verlassen Sie sich drauf.“ Der Generalkapitän erschauerte. Für einen Augenblick schien es, als würden seine geplagten Nerven all dies nicht mehr durchstehen. Aber die Ohnmacht, die ihn von den Qualen erlöst hätte, wollte sich nicht einstellen. Hasard hieb in die Kerbe, die Ben vorgezeichnet hatte. „Woyda“, sagte er leise, doch umso drohender, „ich lasse Sie teeren und federn und kielholen. Und anschließend hängen wir Sie an der Großrah zum Trocknen auf. Glauben Sie mir, Sie werden reden. Aber Sie können sich all das ersparen, wenn Sie jetzt gleich den Mund auftun.“ „Ich hatte einen Befehl“, heulte der Generalkapitän, „es war eine Order des
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Königs. Dagegen konnte ich mich doch nicht widersetzen. Sonst hätte man mich selbst ...“ Hasard stieß ihn angewidert von sich. Witold Woyda landete auf den Planken. Er wimmerte und bebte am ganzen Körper. Ben Brighton wandte sich mit verächtlicher Miene ab und stieß den Säbel zurück in die Scheide. „Schaff ihn weg, Shane“, sagte der Seewolf, „in die Vorpiek. Man fühlte sich besser, wenn man einen solchen Kerl nicht sieht.“ „Aye, aye, Sir.“ Big Old Shane nickte grimmig. Er packte den Generalkapitän und warf ihn sich über die Schulter, als handele es sich um ein federleichtes Bündel. 8. Am frühen Nachmittag des 30. März 1593 standen die „Isabella“ und Arne von Manteuffels Schiff querab des SölaSundes, der zwischen den Inseln Ösel und Dagö eine Verbindung zum Rigaer Busen darstellte. Nach wie vor blies ein handiger Nordwest, der weite Formationen von Schönwetterwolken vor sich hertrieb. Die schlanke 550-TonnenGaleone des Seewolfs lief rauschende Fahrt, bei halbem Wind über Backbordbug segelnd. Das Tuch stand prall, und in Wanten und Pardunen sang der Wind seine steten Töne. Feine Schaumkronen zierten die Wellen, und über der östlichen Kimm erhoben sich dunstig die Küstenlinien von Ösel und Dagö. Bill, der jüngste Mann in der Crew, hatte den Ausguckposten übernommen. Unvermittelt ertönte sein alarmierender Ruf aus dem Großmars. „Deck! Mastspitzen in Sicht! Querab an Backbord!“ Schlagartig war es mit der Ruhe an Bord vorbei. Ben Brighton bestätigte mit einem knappen Ruf, daß die Meldung des Ausgucks auf dem Achterdeck verstanden worden war. Auf der Kuhl gerieten die Männer in Bewegung und spähten nach
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Backbord. Einige enterten zur Back auf, um besser sehen zu können. Auch auf Arne von Manteuffels Galeone erklangen rauhe Stimmen. Die Mastspitzen waren dort ebenfalls bemerkt worden, und vom Achterdeck aus signalisierte Arne dies seinem Vetter mit einem Handzeichen. Das Flaggschiff des sehr ehrenwerten polnischen Generalkapitäns, der nun in der Vorpiek der „Isabella“ schmorte, segelte in Rufweite achteraus an Steuerbord, etwa um eine halbe Kabellänge versetzt. Hasard und Ben Brighton hatten sofort die Spektive ans Auge gehoben. Dank der passablen Sichtverhältnisse waren die Mastspitzen leicht zu erkennen. Die Flagge des polnisch-schwedischen Königreichs wehte an den Toppen. „Vier Schiffe“, stellte der Seewolf fest, „in gestaffelter Formation.“ Ben Brighton nickte nur, legte das Spektiv weg und griff nach dem Jakobsstab, um die erste Peilung vorzunehmen. Wenige Minuten später waren bereits die Marssegel zu erkennen, denn nur um solche konnte es sich handeln. Hasard und seine Männer hatten im gesamten Ostseeraum noch keine Galeone gesehen, die Bramsegel fuhr wie die „Isabella“. „Peilung wandert nicht aus“, sagte Ben Brighton, nachdem er den Jakobsstab zum zweiten Male abgesetzt hatte. „Also steuern sie Kollisionskurs“, entgegnete Hasard und nickte. Es erstaunte ihn nicht weiter. Seit Hapsal wußten sie, daß die Polen im gesamten Küstenbereich auf zwei bestimmte Galeonen lauerten. Und jener Viererverband, der aus dem Söla-Sund heranrauschte, hatte sein Ziel zweifellos erkannt. Während Ben Brighton weiter beobachtete, rief der Seewolf Nils Larsen zu sich. „Wir müssen unsere deutschen Freunde anpreien. Frag meinen Vetter, ob er einverstanden ist, daß wir vor den Polen nicht auskneifen. Kämpfen werden wir allerdings nur, wenn es nötig ist.“ „Aye, aye, Sir“, antwortete Nils Larsen und wiederholte die Order in Stichworten. Dann trat er ans Steuerbordschanzkleid
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und brüllte Hasards Mitteilung auf Deutsch hinüber. Auf der von-Manteuffels-Galeone wurde klar gezeigt, und Arne antwortete mit einem einzigen Wort. „Einverstanden!“ Hasard bedankte sich, indem er den rechten Arm hochreckte und hin und her schwenkte. Er schickte Nils Larsen zurück aufs Hauptdeck und begab sich zu seinem Ersten Offizier. „Wie ist es, Ben?“ „Auch nach der dritten Peilung unverändert. Sie haben uns im Visier.“ Hasard hob den Kieker. Die vier polnischen Galeonen zeigten sich jetzt bereits in voller Größe. Nahezu beim Wind über Backbordbug segelnd, hatten sie Vollzeug gesetzt, und ihre Bugwellen waren prächtige weiße Schnurrbärte. Wenn es aufs Ganze ging, waren die Polen jedoch mit Sicherheit erheblich langsamer. Das ehemalige Woyda-Flaggschiff war vom technischen Standard her eindeutig über dem Durchschnitt, und mit der „Isabella“ konnte es ohnehin kaum ein anderes Schiff aufnehmen. Es wäre folglich ein Leichtes gewesen, den Schwanz einzuziehen und ihnen davonzulaufen. Doch das hätte die Probleme nur aufgeschoben. So behielten die „Isabella“ und die Galeone der deutschen Crew ihren Kurs und ihre Fahrt bei. Die Zeit, die ihnen bis zum Herannahen des Viererverbandes blieb, nutzten die Männer, um ihre Schiffe in Gefechtsbereitschaft zu versetzen. Wie bei Arne von Manteuffel verlief dies auch unter dem Kommando von Philip Hasard Killigrew nach tausendfach geübtem Reglement. Da saß jeder Handgriff, und keine überflüssigen Kommandos waren erforderlich. Nur einem Außenstehenden mochte die Wuhling auf den Decks als Durcheinander erscheinen. Die Männer waren aufeinander eingespielt wie eine perfekte Maschinerie. Al Conroy, der schwarzhaarige Stückmeister, teilte seine Geschützmannschaften ein und ließ die 25pfünder und die 17pfünder klarieren.
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Auch die Drehbassen, zwei an jeder Seite auf dem Achterdeck und auf der Back, wurden geladen. In der Kombüse waren unterdessen der Kutscher und Mac Pellew schon dabei, das Feuer kräftig anzuheizen und die Kohlebecken bereitzustellen. Auch die Söhne des Seewolfs trugen ihren Teil zur Arbeit bei. Wieselflink halfen sie, Sand auf den Decksplanken auszustreuen, und sie schleppten Pützen mit Wasser heran, die nach einem genauen Plan auf den Decks verteilt wurden. Wenn nötig, konnten dadurch Brandherde während eines Gefechts schnell gelöscht werden. Anschließend trugen Philip und Hasard junior die Eisenbecken mit der glimmenden Holzkohle aus der Kombüse und platzierten sie nach Al Conroys Anweisung zum Zünden der Geschützlunten. Bill war unterdessen aus dem Großmars abgeentert, und Big Old Shane nahm seinen Platz ein, ausgerüstet mit seinem riesigen englischen Langbogen und einem ganzen Arsenal von verschiedenen Pfeilen. Batuti, ebenfalls mit Langbogen und Pfeilen ausgestattet, enterte in den Fockmars auf. Beide Bogenschützen waren imstande, dem Gegner ein wahres Höllenfeuer unter dem Hintern zu bereiten, und das selbst auf größere Entfernung. Auf der Back war Ferris Tucker, der rothaarige Schiffszimmermann, damit beschäftigt, seine Höllenflaschenabschußapparatur aufzubauen. Alle Vorbereitungen für einen glutheißen Empfang des Gegners waren getroffen. Sowohl auf der „Isabella“ als auch auf der deutschen Galeone standen alle Männer auf ihren Posten, warteten ab und sahen dem herannahenden polnischen Verband seelenruhig entgegen. Jeder von ihnen - die Seewölfe und auch Arne von Manteuffels Männer - war so manches Mal mitten in die Hölle gesegelt, um nichts anderes zu tun, als dem Gehörnten einmal gehörig in den Schwanz zu kneifen. Und sie hatten selbst dann noch rauhes Gelächter
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angestimmt, wenn sich der Teufel mit einem Eisengewitter bedankte. Die vier Galeonen mit der polnischen Flagge in den Toppen segelten bis auf Rufweite heran, fielen dann ab und nahmen in Lee Parallelkurs auf. Auf den Achterdecks standen Offiziere und Kapitäne in farbenprächtigen Uniformen, steif und würdevoll, mit weißen Perücken. Das Glas ihrer Spektive blitzte im Sonnenlicht, und so war sicher, daß ihnen keine Einzelheit von dem entging, was sich auf den Schiffen des Seewolfs und Arne von Manteuffels abspielte. Die polnischen Mannschaften sahen dagegen erbärmlich aus, zerlumpt und abgerissen harrten sie an den Geschützen aus. „Siebzehnpfünder“, stellte der Seewolf fest. „Also nichts, was uns in Panik bringt“, sagte Ben Brighton grinsend. „Gut.“ Hasard ließ das Spektiv sinken. „Dann wollen wir mal unseren Joker aus dem Ärmel ziehen. Die polnischen Gentlemen sind so schön nahe dran, daß ihnen nichts von dem Schauspiel entgehen wird.“ Er gab Ed Carberry und Stenmark ein Handzeichen. Beide waren instruiert und beeilten sich jetzt, den gefangenen Generalkapitän aus der Vorpiek zu holen. Währenddessen standen Al Conroy und seine Geschützmannschaften an den Backbordstücken. Die Luntenstöcke waren bereit, die Rohrmündungen auf das an der Spitze des Verbandes segelnde Flaggschiff gerichtet. Darüber, was ihnen im Ernstfall blühte, durfte bei den Polen zumindest in Bezug auf die Geschütze der englischen Galeone kein Zweifel bestehen. Wozu allerdings Big Old Shane, Batuti und Ferris Tucker noch imstande waren, davon hatten sie fraglos keinen Schimmer. Witold Woyda hatte weichere Knie als zuvor, als ihn der Profos und Stenmark ans Tageslicht beförderten. Sie mußten ihn an den Oberarmen halten, damit er auch zügig mitmarschierte. Hasard und Ben Brighton sahen, wie sich drüben auf dem polnischen Flaggschiff und
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auch auf den anderen drei Galeonen die Spektive auf das Hauptdeck der „Isabella“ richteten. Ed Carberry und Stenmark bauten Woyda am Backbordschanzkleid auf, gut sichtbar zwischen dem achtersten 25pfünder und dem Nieder- gang zum Quarterdeck. Edwin Carberry grinste sein freundlichstes Grinsen, womit er nach Ansicht der gesamten Crew jeden Durchschnittsmenschen in Angst und Schrecken versetzte. Er packte den an den Handgelenken gefesselten Woyda am Kragen und hob ihn ein Stück an, so daß er nur noch mit den Zehenspitzen die Planken berührte. „Jetzt hör gut zu, du verlauster Hurensohn von einem sogenannten Generalkapitän. Du wirst zu deinen Kumpanen hinüberbrüllten, so laut du kannst. Und zwar jedes Wort, das mein Freund Stenmark dir ins Ohr flüstert. Kapiert?“ Stenmark übersetzte wortgetreu, und Witold Woyda nickte krampfhaft. Seine Augen flackerten, und er war froh, die wüste Narbenlandschaft des kantigen Profos-Gesichts nicht mehr so nahe vor sich zu haben. Hasard und Ben Brighton beschränkten sich darauf, die Reaktion an Bord des polnischen Flaggschiffs zu beobachten. Denn Stenmark kannte den Text, den Witold Woyda seinen Landsleuten vorzubeten hatte. „Sag ihnen“, begann der blonde Schwede, „daß du dich in der Gewalt des englischen Kapitäns Philip Hasard Killigrew befindest und dieser nicht zögern wird, dich an den Großmast zu binden, falls sie das Gefecht eröffnen.“ Ed Carberry setzte von neuem sein furchterregendes Grinsen auf, und Woyda beeilte sich, die vorgegebenen Worte in seiner Muttersprache hinauszuschreien. Daß er sich auch wirklich an den Text hielt, beobachteten Hasard und Ben Brighton an der Unruhe, die drüben auf dem Achterdeck entstand. Die polnischen Gentlemen wechselten konsternierte Blicke und setzten die Spektive wieder an, als wollten sie sich noch einmal vergewissern,
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daß es Wirklichkeit war, was sie sahen und hörten. „Wenn die ‚Isabella' untergeht“, schrie Woyda auf Geheiß Stenmarks weiter, „dann werde ich, Generalkapitän Witold Woyda, die Ehre haben, dieses Schiff auf seiner letzten Reise zu begleiten! Natürlich kann ich auch von Splittern oder Kugeln verletzt werden. Jedenfalls ist mein Leben keinen Pfifferling mehr wert. Außerdem sind die Engländer und die Deutschen zum Kampf bereit, denn sie wissen, daß sie gegen Mörder, Erpresser und Räuber kämpfen, und das ist ein gerechter Kampf. Und darauf, daß diese beiden Mannschaften zu kämpfen verstehen, könnt ihr euch verlassen.“ Woyda keuchte vor Anstrengung, als er innehielt. Vom Achterdeck des polnischen Flaggschiffs ertönte wüstes Gebrüll, Flüche und Verwünschungen. Doch es gab keinen Feuerbefehl. Die Geschützcrews drüben verharrten unbewegt. Die Seewölfe antworteten mit einem dröhnenden „Ar - we - nack“. Der alte Kampfruf aus Cornwall übertönte das Geschrei der Polen. Hasard gab Ed Carberry einen Wink. Der Profos klopfte dem gefesselten Generalkapitän auf die Schulter. „Nun stirb mal schön, mein Freund.“ Stenmark verzichtete auf eine Übersetzung, denn Witold Woyda verstand auch so. Er war weiß wie eine frisch gekalkte Wand, und Ed Carberry mußte ihn auf dem Weg zum Großmast stützen. Nahezu bei jedem Schritt drohte Woyda in den Knien einzuknicken, und das Zittern packte ihn so sehr, daß es seinen Körper buchstäblich durchschüttelte. Luke Morgan und Gary Andrews hielten ein Tau bereit. Ed Carberry schaute den Generalkapitän väterlich-wohlwollend an, während sie ihn an den Großmast banden, mit Blickrichtung zu dem polnischen Verband. „Große Stücke scheint er von seinen Landsleuten nicht zu halten“, brummte der Profos und rückte die Pelzmütze zurecht.
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„Garantiert weiß er, daß sie nicht besser sind als er selbst“, entgegnete Stenmark grinsend. Luke Morgan und Gary Andres hatten das Tau verknotet und begaben sich zurück an die Geschütze, Die Tauwindungen hinderten Witold Woyda daran, zum Häufchen Elend in sich zusammenzusinken. Denn aus eigener Kraft wäre er nicht mehr imstande gewesen, sich auf den Beinen zu halten. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er zu dem polnischen Flaggschiff hinüber. Hasard und Ben Brighton beobachteten grinsend, daß auf dem Achterdeck des Flaggschiffs ein erregtes Palaver eingesetzt hatte. Immerhin - Woyda verfehlte seine Wirkung als Geisel nicht. Es war im Grunde eine höllisch grobe Maßnahme, und unter anderen Umständen hätte Hasard zu diesem Mittel kaum gegriffen. Aber wie die Dinge hier lagen, konnte Woyda von Glück reden, daß ihm noch nichts Schlimmeres zugestoßen war. Unvermittelt wurde es bei den Polen auf dem Achterdeck ruhiger. Signale wurden an die drei anderen Galeonen gegeben, und auf den Decks gerieten die Mannschaften in Bewegung. Der Viererverband fiel ab. Ben Brighton sah den Seewolf erstaunt an. „Die werden doch nicht etwa klein beigeben?“ „Das glaube ich nicht.“ Daß er mit seiner Vermutung richtig lag, zeigte sich wenig später. In gut vier Kabellängen Entfernung nahmen die polnischen Galeonen erneut Parallelkurs auf. Dabei bildeten sie eine zurückgestaffelte Formation. „Jetzt haben wir ständige Begleiter, Sir!“ brüllte Ed Carberry von der Kuhl. Hasard winkte ab. „Woyda bleibt am Mast!“ rief er zurück. „Alle Mann weiterhin auf Gefechtsstation!“ Die Männer an den Geschützen grinsten in grimmiger Entschlossenheit. Wenn die Polen glaubten, eine Art Nervenkrieg mit ihnen führen zu können, dann gaben sie sich falschen Hoffnungen hin. An Philip Hasard Killigrew und seiner Crew hatten
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sich schon ganz andere die Zähne ausgebissen. „Sie haben Mühe, dranzubleiben“, sagte Ben Brighton nach einer Weile, „wenn wir jetzt Vollzeug setzen würden, könnten wir ihnen mühelos davonlaufen.“ Hasard wiegte den Kopf. Gewiß, die „Isabella“ fuhr ohne Bramsegel, und auch Blinde und Oberblinde hatte er wegnehmen lassen. Was die Blindesegel betraf, grübelte er ohnehin seit Jahren darüber nach, ob man nicht überhaupt ganz auf sie verzichten sollte. Nur bei achterlichem Wind zogen die verdammten Dinger richtig, und außerdem waren sie schlecht zu bedienen. Bei Arnes Schiff hatte Hasard beobachtet, daß sie die Segel des öfteren killen ließen, was darauf hindeutete, daß sie Fahrt wegnehmen mußten, um der „Isabella“ nicht aufzulaufen. Arne hatte außer der Blinde sämtliches Tuch gesetzt. Alles in allem waren die Galeonen der beiden Vettern eindeutig schneller. In der Tat konnten sie dem polnischen Verband kurzerhand davonsegeln, und bei Dunkelheit war es dann sogar möglich, auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Doch es gab einen entscheidenden Nachteil: Arne von Manteuffel segelte die gekaperte Galeone mit ganzen dreizehn Mann, von denen einige noch unter erheblichen Blessuren litten. Letztere hatten sie davongetragen, als sie sich mit ihrer alten „Wappen von Kolberg“ gegen die drei Galeonen des polnischen Generalkapitäns Witold Woyda zur Wehr gesetzt hatten. Der Seewolf war also gezwungen, praktisch für zwei zu denken. Denn der „Isabella“ fiel die Aufgabe zu, die vonManteuffel-Crew und ihr Schiff abzuschirmen. Hasard schilderte seinem Ersten Offizier diese Überlegungen und fügte hinzu: „Wir müssen alle Möglichkeiten einkalkulieren. Das heißt, alles, was sich aus der jetzigen Lage ergeben könnte.“ Ben Brighton nickte nachdenklich. „Gut. Da wäre zunächst die Frage, warum die Polen so hartnäckig an uns dranbleiben.
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Sie merken doch, daß sie es nur mühsam mit uns aufnehmen können.“ „Richtig. Folglich spielen sie Fühlungshalter. Und das würde bedeuten, daß irgendwo voraus ein anderer Verband lauert, mit dem gemeinsam sie uns dann zusammenschießen könnten.“ „Hm. Klingt logisch. Aber was ist mit dem Generalkapitän? Wenn sie jetzt Rücksicht auf sein Leben genommen haben, dann müßten sie es doch auch weiterhin tun.“ „Anzunehmen, Ben. Aber vielleicht ändern sie ihre Meinung. Ich glaube, Woyda hat uns zur Genüge gezeigt, wie unberechenbar seinesgleichen ist. Ich bin mir sowieso nicht ganz im klaren darüber, welchen Rang ein Generalkapitän in der polnischen Marine einnimmt.“ „Wenn es so ist“, entgegnete Ben Brighton, „dann müssen sie von vornherein nur vorgehabt haben, uns zu drohen und dann als Fühlungshalter abzufallen. Dann waren sie durch unseren Gefangenen nur überrascht, aber nicht sonderlich beeindruckt.“ „Zutrauen würde ich es ihnen.“ Während der Nachmittagsstunden änderte sich nichts. Der polnische Verband folgte den beiden Galeonen unbeirrbar. Der Seewolf und Arne von Manteuffel trafen ihren Entschluß kurz vor Dunkelwerden. Angriff ! Vier Gegner reichten ihnen. Mit einem zweiten Kampfverband wollten sie nicht konfrontiert werden. Dieses Argument hatte auch Arne sofort für das Entscheidende gehalten. 9. Blutrot sank der Feuerball der Sonne der westlichen Kimm entgegen. In dieser Stunde zwischen Tag und Abend glaubten die Polen plötzlich, ihren Augen nicht zu trauen. Die „Isabella“ und jene zweite Galeone, die sie als Flaggschiff Witold Woydas kannten, leiteten unvermittelt eine Halse nach Steuerbord ein und gingen auf Gegenkurs. Damit war eindeutig, daß sie
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die Luvposition behalten wollten. Doch welche Absicht dahintersteckte, konnten die Polen in ihrer Verblüffung nicht sofort erkennen. Denn eben jene Absicht War scheinbar völlig widersinnig und gegen jede Regel der Kriegskunst zur See. Das Eisengewitter brach über die Polen herein, bevor sie sich von ihrer Überraschung erholt hatten. Entscheidende Minuten verstrichen daher ungenutzt, und die Kommandos an Bord des Flaggschiffs und der drei anderen Galeonen erfolgten viel zu spät. Aus dem glühenden Rot der untergehenden Sonne rauschte die „Isabella“ wie ein todbringender Schatten heran - auf Parallelkurs an Backbord die Galeone Arne von Manteuffels, jetzt um eine knappe Schiffslänge voraus. Verzweifelt kämpften die polnischen Geschützmannschaften ihren aussichtslosen Kampf gegen die Zeit und suchten die quälenden Sekunden aufzuholen, die ihnen nun fehlten. Die „Isabella“ und die Galeone der Deutschen segelten beim Wind über Steuerbordbug. Al Conroy hatte seine Arbeit mit dem Richthebel beendet. Die insgesamt sechs 17pfünder und sieben 25pfünder waren der Krängung entsprechend ausgerichtet. Ben Brighton wartete den entscheidenden Moment ab. Dann ertönte sein Kommando, die Segel killen zu lassen. Augenblicklich verlor die „Isabella“ an Fahrt, und die von-Manteuffel-Galeone gewann Distanz. Sekundenbruchteile später ertönte Al Conroys gellender Befehl. Dreizehn Luntenstöcke senkten sich gleichzeitig auf die Zündlöcher. Zischend fraßen sich die Funken in das schwarze Kraut. Die Männer sprangen behende zurück und spähten atemlos zum polnischen Flaggschiff hinüber, das jetzt auf gleicher Höhe war. Es gab kein Entrinnen mehr, kein Segelmanöver hätte den Polen genutzt, um ihre Position noch zu ändern.
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Die Geschütze der „Isabella“ entluden sich mit urgewaltigem Brüllen. Weit stießen die Mündungsblitze durch die Stückpforten, Pulverrauch wölkte in schwarzen Schwaden auf und verwehrte sekundenlang die Sicht. Ein Ruck lief durch die Decksplanken. Der Rückstoß ließ die schlanke Galeone weit nach Backbord krängen. Die mächtigen Blockräderlafetten mit ihren tonnenschweren Rohren aus Gußbronze rumpelten zurück, und die Brooktaue schienen zu ächzen, als sie der jähen Belastung standhielten. Das Orgeln der 17- und 25-PfünderKugeln endete in einem berstenden Stakkato von Einschlägen. Eine Serie von Löchern, groß wie Bierfaßdeckel, klaffte plötzlich in der Bordwand des polnischen Flaggschiffs. Vier oder fünf Einschüsse lagen knapp oberhalb der Wasserlinie, die meisten anderen darunter. Die Breitseite der Polen donnerte mit grellen Blitzen. Doch längst waren die Geschützrohre aus der Visierung geraten. Und so rissen die Kugeln lediglich Wasserfontänen hoch, für die „Isabella“ weit außerhalb des Gefahrenbereichs. Die Männer unter Al Conroys Kommando ließen sich keine Zeit für Triumphgebrüll, denn beim Nachladen der Geschütze ging es um Sekunden. Rohrwischer und Ladeschaufeln wirbelten in scheinbarem Durcheinander, doch in Wahrheit saß jeder Handgriff der Männer mit traumhafter Sicherheit. In den Marsen richteten sich Big Old Shane und Batuti auf. Brandpfeile und Pulverpfeile zischten in rascher Folge von den Sehnen ihrer mächtigen Langbögen. Gleichzeitig begann Ferris Tucker mit der Flaschenbombenabschußapparatur. Das Gerät, das einem altertümlichen Katapult nachkonstruiert war,. schickte in Sekundenabständen eine geballte Ladung nach der anderen auf die Reise. Während das Flaggschiff bereits über den Bug abzusacken begann, blieb die Wirkung auf der in zweiter Position segelnden polnischen Galeone nicht aus. Wuhling entstand, als ein Hagel von
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Brandpfeilen einschlug und überall kleine Flammenherde hervorrief. Gleichzeitig detonierten die Pulverpfeile, und dann sorgten die krachenden Einschläge der Flaschenbomben endgültig für Chaos. Eine von Ferris Tuckers geballten Ladungen traf die Jolle, die in einem weißfaserigen Splitterregen auseinanderflog. Hals über Kopf brachten sich die Geschützmannschaften in Sicherheit und warfen sich panikartig in Deckung. Diese Kampfweise hatten sie noch nicht erlebt. Daß das Eisengewitter über sie hereinbrach, noch bevor sie mit der gegnerischen Breitseite rechnen mußten, war eine neue und schmerzliche Erfahrung für die Polen. Rechtzeitig waren die Stücke der „Isabella“ nachgeladen, und abermals kannten die Seewölfe kein Pardon mit dem Gegner, einem Gegner, dessen oberster Befehlshaber, König Sigismund, unschuldige Menschen brutal ermorden ließ. Wieder erfolgte Al Conroys Kommando präzise im richtigen Moment, und die Luntenstücke zischten in die Zündlöcher. Sekundenbruchteile später donnerte den Polen die volle Breitseite der Engländer entgegen. Erneut vollzog sich das tödliche Schauspiel mit der Genauigkeit eines Uhrwerks. Im aufwallenden Pulverrauch orgelten die Eisenkugeln auf die zweite Galeone zu. Sehr schnell trug der Wind die schwarzen Wolken weg - rechtzeitig genug für die Seewölfe, um den Erfolg ihrer Salve zu sehen. Entsetzensschreie gellten auf der polnischen Galeone, als diese unter dem Bersten und Krachen der Einschläge erzitterte. Reihenweise sprangen Decksleute und Offiziere an Lee über Bord. Ein Blitz, der bis zur Spitze des Großmastes reichte, zuckte aus dem Bauch des waidwund geschossenen Schiffes. Im nächsten Atemzug erfolgte die Detonation. Was die Polen in ihrer Pulverkammer hatten, reichte aus, um die Galeone
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regelrecht zu zerfetzen. Weit hallte der Donner der Explosion über die See. Splitter und Planken wirbelten hoch, regneten in weitem Umkreis nieder, auf das sinkende Flaggschiff und sogar fast bis zur „Isabella“. Der triumphierende Kampfruf der Arwenacks dröhnte in den Nachhall der Detonation. Doch im nächsten Moment wurden die Männer an Bord der „Isabella“ selbst von erneutem Donnern übertönt. Die Galeone der Deutschen feuerte ihre erste Breitseite auf das dritte polnische Schiff ab. Big Old Shane und Batuti unterstützten ihre deutschen Verbündeten mit Brandund Pulverpfeilen, die sie abwechselnd auf die dritte und die vierte polnische Galeone abfeuerten. Bei der dritten Galeone brachten Arne und seine Männer eine stattliche Reihe von Treffern an. Doch es ließ sich nun nicht mehr verhindern, daß auf der vierten polnischen Galeone die Stücke rechtzeitig geladen und gerichtet wurden. Hasard hatte die Bramsegel bereits setzen lassen, und die „Isabella“ gewann rasch an Fahrt, um den in Bedrängnis geratenden Deutschen zu Hilfe zu eilen. Ed Carberry und Stenmark nutzten die kurze Verschnaufpause, um sich grinsend dem Zitternden am Großmast zuzuwenden. Witold Woyda war einer Ohnmacht nahe. Bei jedem Pfeilzischen aus den Marsen zuckte er zusammen, und jedesmal, wenn die Flaschenbombenabschußapparatur klapperte, zog er den Kopf zwischen die Schultern, als rechne er damit, daß eins der mörderischen Geschosse ihm gelte. „Jetzt kriegen wir Zunder von deinen sauberen Kumpanen!“ brüllte der Profos in den Gefechtslärm, und Stenmark übersetzte es in der gleichen Lautstärke. Woyda begriff nicht sofort. Doch dann, als Ed Carberry mit wildem Lachen zu der vierten polnischen Galeone zeigte, zuckte der Generalkapitän wie unter einem Peitschenhieb zusammen. „Nein, um Himmels willen, nein!“ schrie er auf Schwedisch. Seine Stimme steigerte
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sich zu einem schrillen Diskant und überschlug sich. „Das könnt ihr mir nicht antun! Wenn wir getroffen werden, habe ich doch als erster darunter zu leiden! Ich bitte euch, bindet mich los! Ihr könnt doch nicht solche Unmenschen sein ...“ Sein Geschrei ging in ein Wimmern über. „Halt's Maul“, knurrte Ed Carberry, nachdem Stenmark das Gejammer übersetzt hatte. „Mein lieber Freund und Generalkapitän, du wirst jetzt lernen. was es heißt, unschuldige Menschen umzubringen.“ „Dabei bist du nicht einmal schuldlos an deinem Schicksal“, fügte Stenmark grinsend hinzu. „Von uns aus kannst du ruhig weiterwinseln. Wir hören überhaupt nicht hin.“ Demonstrativ wandten sich die beiden Männer ab und ließen den Gefesselten in seiner Seelenpein. Woyda schrie von neuem gellend los, diesmal in seiner Muttersprache. Doch weder Ed Carberry und Stenmark noch sonst jemand an Bord der „Isabella“ ließen sich davon beeindrucken. Sie hatten ohnehin alle Hände voll zu tun. Und der Lumpenhund, der Thorsten Tyndall auf dem Gewissen hatte, interessierte sie in diesen Minuten am allerwenigsten. Die schlanke, englische Galeone näherte sich dem dritten polnischen Schiff, das nach den Treffern der deutschen Geschützmannschaften aus dem Ruder gelaufen war. Ferris Tucker schätzte die Entfernung und nahm den Beschuß mit den Höllenflaschen wieder auf. Orgelnd ging die erste geballte Ladung auf die Reise, der polnischen Galeone Nummer vier entgegen. Big Old Shane und Batuti konzentrierten ihre Pfeilschüsse gleichfalls auf dieses Schiff, das eine ernsthafte Gefahr für Arne von Manteuffel und seine Männer werden konnte. Al Conroy und seine Geschützcrews standen in gespannter Bereitschaft. Nur noch wenige Yards trennten sie von dem Moment, in dem der Fangschuß für die manövrierunfähige Polen-Galeone fällig
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wurde. Drüben wurde bereits eine Jolle zu Wasser gelassen, das Durchhaltevermögen von Offizieren und Mannschaften schien nicht überragend zu sein. Nachdem sie den dritten Flaschenbombeneinschlag kassiert hatte und etliche krachende Pulverpfeile Verwirrung gestiftet hatten, ließ die vierte polnische Galeone ihre Steuerbordbreitseite donnern. Al Conroy brüllte seinen Feuerbefehl. Im nächsten Atemzug, als sich die Luntenstücke senkten, zündeten Arne von Manteuffels Männer ihre Geschütze. Das ohrenbetäubende Wummern der Breitseite vereinte sich mit dem Donnerhall der gegnerischen Geschütze. Hasard und Ben Brighton, die das Geschehen mit dem Spektiv verfolgten, hielten den Atem an. Pulverrauch umwaberte die deutsche und auch die polnische Galeone wie ein Nebelfeld, und vorerst war nicht zu erkennen, welche Wirkung die Breitseiten erzielt hatten. Im selben Moment brüllten die Geschütze der „Isabella“ abermals auf. Wieder krängte das Schiff der Seewölfe unter der Urgewalt des Rückstoßes nach Backbord, und wieder zählten die Männer die Sekunden, während sie darauf harrten, das Ergebnis ihrer schweißtreibenden Arbeit erkennen zu können. Noch bevor der Pulverrauch verflog, gab es eine erneute Explosion. Die Druckwelle konnten selbst Hasard und Ben Brighton auf dem Achterdeck der „Isabella“ noch spüren. Dann, endlich, gab es klare Sicht nach allen Seiten. Auf der dritten Galeone der Polen war ebenfalls die Pulverkammer getroffen worden. Dieser neuerliche Treffer ließ sich nur dadurch erklären, daß die Sicherheitsvorkehrungen an Bord der polnischen Schiffe unzureichend waren. Ein Trümmerregen begleitete die Jolle mit den Schiffbrüchigen auf ihrem Weg. Auch was Arne von Manteuffel und seine Männer betraf, entstand jetzt Klarheit.
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Ferris Tucker vollführte auf der Back einen Luftsprung und stieß einen Jubelschrei dazu aus. Hasard und Ben Brighton erkannten im selben Moment, was den rothaarigen Schiffszimmermann zu solchem Freudentaumel hinriß. Die Einschläge seiner Flaschenbomben hatten ausgereicht, um die Visierung der polnischen Geschütze in Unordnung zu bringen. Und vor dem Abfeuern der Breitseite hatten sie es nicht mehr geschafft, nachzurichten. So war das Schiff der Deutschen unversehrt geblieben. Indessen hatten die Polen empfindliche Treffer kassiert. Der Fockmast war in Höhe des Vorspills zerschmettert und abgeknickt und wurde von der Galeone jetzt außenbords mitgeschleppt. Sie drohte ebenfalls aus dem Ruder zu laufen. Der Seewolf gab das Kommando zur Halse, während Arne das gleiche Manöver bereits eingeleitet hatte. Hasard mußte voller Anerkennung feststellen, wie hervorragend sein Vetter und er bereits aufeinander eingespielt waren, obwohl sie sich doch erst seit kurzer Zeit kannten. Al Conroy brauchte keine Fragen zu stellen. Noch während der Rest der Crew an die Brassen stürmte, waren seine Geschützmannschaften bereits wieder mit dem Nachladen beschäftigt. Allen stand jetzt der Sinn nach einem raschen Ende. Den verbliebenen Polen durfte keine Zeit mehr gewährt werden, zur Besinnung zu gelangen. Während Arne von Manteuffel und Philip Hasard Killigrew die Halse nach Südwesten mit Bravour hinter sich brachten, zeigte sich, wie sehr beide Schiffe den Polen überlegen waren. Von der Kuhl signalisierte Al Conroy, daß die Steuerbordstücke erneut feuerbereit seien. Die Gesichter der Männer waren vom Pulverrauch geschwärzt, doch ihre Augen blitzten vor Kampfeifer. An Bord des Polen wurde fieberhaft gearbeitet. In wilder Hast versuchten die Decksleute, ihre Backbordstücke rechtzeitig zu lasen. Doch angesichts der
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rauschenden Fahrt des ehemaligen WoydaFlaggschiffs und der englischen Galeone schmolz diese Hoffnung sehr schnell dahin. Hasard erkannte unterdessen im Kieker, daß außer der Jolle von der dritten Galeone zwei weitere mit Schiffbrüchigen voll bemannt waren, die offenbar vom Flaggschiff stammten. Wenigstens hatten die Polen alle Überlebenden gerettet. Im Passieren versetzten Arne und Hasard der letzten gegnerischen Galeone den Fangschuß. Beide Breitseiten donnerten in kurzem Abstand, und es war von vornherein offensichtlich, daß die Polen es nicht mehr geschafft hatten, ihre Backbordgeschütze zu laden. Eine ganze Serie von Treffern in der Wasserlinie brachte die Entscheidung. Die Galeone begann, ihren Bug emporzurecken und über das Heck zu sinken. Der Seewolf vergewisserte sich, daß es den Überlebenden an Bord gelang, die beiden intakten Jollen abzufieren und alles aufzunehmen, was sich noch über Wasser halten konnte. Bis zur Westküste der Insel Ösel hatten die Polen es nicht weit, sie konnten das rettende Land innerhalb von zwei oder drei Stunden erreichen.
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Bei raumem Wind über Backbordbug segelnd, nahmen die beiden Galeonen ihren ursprünglichen Kurs nach Südwesten wieder auf. Rasch blieb der Schauplatz des kurzen und für die Polen doch umso schmerzhafteren Gefechts hinter ihnen zurück. Die Kunde von dem mörderischen Eisengewitter würde auch König Sigismunds Ohr erreichen. Und wenn er erfuhr, daß der Mörder Thorsten Tyndalls dabei eine besondere Rolle gespielt hatte, so war das dem Seewolf und auch Arne von Manteuffel nur recht. Auf Zuruf einigten sich die beiden Vettern, in- der Nähe der Küste zu bleiben. Wann und wo sie auf Polen stoßen würden, war reine Glückssache. Größer war aber die Wahrscheinlichkeit, daß sich die polnischen Verbände weiter draußen auf See befanden. Witold Woyda hatte die letzte Phase des Gefechts nicht mehr miterlebt. Eine Ohnmacht, zuvor schon so lange von ihm ersehnt, hatte ihn erlöst. Hasard ließ ihn losbinden und wieder in die Vorpiek verfrachten. Die Arwenacks waren froh darüber. Keiner mochte sich jetzt noch die gute Stimmung durch den Anblick des Mörders verderben lassen...
ENDE