Flucht nach Avalon
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 134 von Jason Dark, erschienen am 26.05.1992, Titelbild: Maren (...
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Flucht nach Avalon
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 134 von Jason Dark, erschienen am 26.05.1992, Titelbild: Maren (Clemente)
Mythen und Legenden umranken die geheimnisvolle Nebelinsel Avalon. Sie alle haben in Glastonbury ihren Ursprung, dem englischen Jerusalem. Der Gral, die alten Mönche, die Artus - Sage, das Tor der Erinnerung und das Rätsel Avalon / Atlantis. Zum erstenmal wurde ich damit konfrontiert. Man hatte mich nach Glastonbury bestellt, um einem schrecklichen Geheimnis auf die Spur zu kommen. Was im Weißen Haus in Washington seinen Anfang genommen hatte, spannte sich in einem weiten Bogen bis nach Avalon hinein, und zu einer Person, die dort ihr neues Zuhause gefunden hatte. Nadine Berger!
Washington D.C. Weißes Haus. In einem der Nebentrakte, wo die Kommunikationszentrale lag. Abgeschirmt, bombensicher gebaut, aber mit Menschen besetzt. Aufpasser, Überwacher, Männer, die sich auf die sensiblen Alarmsysteme konzentrierten und sie über ihre Computer bewachten. Auch in der Nacht. Da allerdings mit einer reduzierten Besetzung. Dafür stieg der Umsatz an Kaffee und Säften. Computer > sprechen < leise, summen nur. Sie sind leicht zu übertönen, besonders von einem Mann mit starker Stimme, wie Colonel Olmos sie hatte. »Tadlock, ich möchte, daß Sie kommen!« Der Angesprochene war ein Computer-Freak. »Sir, was ist?« Der Colonel fuhr mit seinem Stuhl zurück. »Schauen Sie sich das an, Tadlock.« Er deutete auf den Bildschirm. »Fällt Ihnen da nichts auf?« Tadlock kannte seinen Chef. Wenn der so sprach, hatte er etwas entdeckt und wartete darauf, daß es ihm seine Mitarbeiter – er sah sie noch als Untergebene an – bestätigten. »Augenblick, Sir.« Tadlock setzte seine Brille auf. Sie ließ ihn durch das schwere Gestell älter aussehen, als er tatsächlich war. Mit der Hand fuhr er durch das Gestrüpp auf dem Kopf, das er Haare nannte. Dann schaute er auf den Schirm. Die Fläche war rechteckig, glatt und besaß einen dunkelgrauen Hintergrund, vor dem sich die Schrift heller und augenfreundlicher abheben konnte. Im Moment war nichts zu sehen, keine Buchstaben, keine Zahlen, auch keine Grafiken. »Sir, es tut mir leid, aber ich kann nichts feststellen.« »Ach – wirklich nicht?« »Nein. Wo liegt das Problem?« »Zunächst an der Fläche.« Tadlock räusperte sich. Er wußte, was sein Chef gemeint hatte, den Bildschirm nämlich. »Der ist leer, Sir.« »Nein, er ist verändert. Zumindest der Hintergrund. Das bereitet mir Sorgen.« »Ich sehe das Problem nicht.« »Er ist heller geworden, Tadlock. Verdammt noch mal, sehen Sie das denn nicht?« »Nein.« Der Colonel holte tief Luft. »Da läuft etwas aus der Bahn, das sage ich Ihnen. Irgend etwas ist mit dem Gerät nicht in Ordnung, ich weiß es nicht nur, ich spüre es.« Tadlock schwieg. Er wollte seinem Chef nicht widersprechen, aber feststellen konnte er nichts. Vielleicht ein leichtes Flimmern, die Fläche
war nicht so glatt, das stimmte schon, doch mehr war es nicht und vor allen Dingen kein Grund zur Besorgnis. Er hob die Schultern. »Das Flimmern möglicherweise, Sir. Da könnten Sie recht haben.« »Danke, Tadlock, aber es ist noch mehr.« »Und was?« »Ich schiebe jetzt eine Diskette hinein.« »Bitte!« Olmos bewegte sich langsam. Er ließ sich Zeit, als wollte er alles genießen. Die flache Diskette verschwand in der Eingabe, jetzt hätte der Beginn des Programms ablaufen müssen, was aber nicht geschah. Auf dem Bildschirm erschien Schnee wie auf dem eines TV-Apparats, und das >Rieseln< wurde von einem sanft klingenden Rauschen begleitet. »Was sagen Sie nun, Tadlock?« Es sah so einfach aus, aber das war es bestimmt nicht, und Tadlock räusperte sich sicherheitshalber. »Ich würde meinen, daß es an der Diskette liegt.« »Richtig, könnte man. Deswegen habe ich Sie nicht kommen lassen. Die Diskette ist in Ordnung, das habe ich an anderen Apparaten schon geprüft. Nur hier funktioniert sie nicht. Hier gibt es Schnee.« »Dann liegt es am Computer.« »Dachte ich auch, Tadlock.« »Aber?« »Sie werden sehen, gleich erscheint etwas. Es ist aber nicht das Programm, es ist überhaupt kein Programm. Es sind eigentlich nur bestimmte Botschaften oder Signale.« »Von wem denn, Sir?« »Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung. Es ist mir ein absolutes Rätsel.« »Und wie lange…?« »Keine Sorge, nur noch wenige Sekunden, schätze ich. Falls es uns nicht im Stich läßt.« »Wer oder was?« »Die Botschaft.« Tadlock schwieg. Ein Spinner war der Colonel nicht. Wenn der ihn rief, dann hatte er seine Gründe, denn allein kam er nicht weiter. Und für normale Vorgänge hätte er Tadlock nicht erst zu warnen brauchen. Olmos rückte wieder vor. Er schaute dabei auf seine Uhr und sprach wie ein Countdowner, der die letzten Sekunden vor dem Start der Rakete abzählt. »Noch vier Sekunden, noch drei, zwei, eine – jetzt!« Er hatte nicht gelogen. Auf dem Schirm erschienen die ersten Buchstaben. Sie bildeten aber keine waagerechte Reihe, sie tauchten auch ni cht in senkrechter Richtung auf, um ein Wort zu bilden, nein, sie fielen und zirkelten
durcheinander, purzelten wie die Stücke eines Puzzles über den Bildschirm, führten dabei auch kreisförmige Bewegungen durch und fanden sich schließlich zu einem Satz zusammen. DAS TOR IST OFFEN. Hinter den Brillengläsern bewegte Tadlock, der Experte, heftig seine Augen. Er wiederholte das Geschriebene mit leiser Stimme. Dann hörte er Olmos lachen. »Ja, Tadlock, was Sie taten, habe auch ich getan.« »Sir, ich bin überfragt. Das heißt, ich bin es nicht, aber ich denke an etwas Bestimmtes.« »Kann ich mir vorstellen. An einen Hacker!« »Genau, Sir!« Tadlock richtete sich auf. Seine Stirn glänzte. Er hatte längst eine Stufe weitergedacht. »Wissen Sie, was das bedeutet, Sir, wenn jemand es geschafft hat, in unsere Computer einzudringen?« Er schluckte. »Das ist… das ist…« »Fatal, Tadlock.« »Mehr als das.« »Ein Hacker im Computer des Weißen Hauses. Himmel, dann bewahrheiten sich böse Zukunftsvisionen. Man hat doch Filme gedreht, man hat Geschichten über diese Vorgänge geschrieben. Es ist auch schon passiert, daß falsche Alarme gegeben wurden, daß die Bomber beinahe gestartet worden wären, um ihre tödliche Fracht auf Städte im Osten abzuwerfen. Die Rechner haben da nicht richtig funktioniert oder die Menschen, die sie bedienten.« Er deutete auf den Bildschirm. »Das ist natürlich Wahnsinn.« »Und noch nicht das Ende, Tadlock!« »Was meinen Sie, Sir?« »Es geht noch weiter.« Der Colonel lachte freundlos, dann räusperte er sich. »Diese Botschaft bleibt zunächst einmal auf dem Schirm, um dann von einer anderen abgelöst zu werden, die mir ebenfalls ein Rätsel ist. Sie sollten sich einen Stuhl holen, Tadlock.« »Danke, Sir!« Er schob einen heran. Diese Ecke, wo sich die beiden Männer befanden, war kaum einsehbar. Eine veränderbare Faltwand schützte sie vor neugierigen Blicken. Tadlock setzte sich, schaute wieder hin und fand den Bildschirm leer. Nur das Flimmern auf der Fläche, dieses leichte Rieseln, das wie Schnee aussah. »Wie lange dauert es, Sir?« Der Colonel knetete seine Nase. »Ich habe die Sekunden nicht gezählt. Es wird bald erscheinen.« »Gut.«
Beide Männer warteten. Tadlock hätte gern den Inhalt der zweiten Botschaft erfahren, beherrschte sich aber und lauerte voller Spannung darauf. »Eigentlich müßte es gleich geschehen, wenn mich mein Zeitgefühl nicht trügt.« Tadlock nickte. Er wollte trotzdem etwas fragen. Die nächste Botschaft war schneller. Ein Flimmern, Buchstaben erschienen, kollerten durcheinander, kippten ab, drehten sich wieder, es dauerte eine Weile, bis der Satz endlich stand. WIR SIND UNTERWEGS Olmos und Tadlock schwiegen. Sie schauten sich nur an. Beide schwitzten jetzt stärker. Der Colonel hatte sich gespannt nach vorn gebeugt. Er nickte einige Male. »Darauf habe ich gewartet, Tadlock, genau auf diesen einen Satz. Was sagen Sie dazu?« Tadlock hatte schon überlegt. Durch seinen Kopf waren verrückte Gedanken gezuckt. Er schluckte einige Male, räusperte sich und flüsterte dann: »Sir, wollen Sie wirklich wissen, was mir vorhin durch den Kopf gezuckt ist, als ich die zweite Botschaft las?« »Ja, möglicherweise stimmen unsere Vermutungen überein.« »Ich… ich dachte da an eine Nachricht, die nicht von Hackern stammt. Nicht unbedingt, meine ich.« »Außerirdische?« Tadlock schrak zusammen. Er duckte sich dabei, als wäre er geschlagen worden. »Sie nehmen mir das Wort aus dem Mund, Sir. Ich… ich habe tatsächlich daran gedacht.« »Fein, ich ebenfalls.« »Danke.« »Wofür?« »Daß Sie mich nicht auslachen.« Olmos lachte trotzdem. Es klang wiederum bitter. »Nein, Tadlock, mir ist das Lachen vergangen. Was wir hier erleben, das kratzt an unser System der Sicherheit, verstehen Sie? Das können wir einfach nicht hinnehmen. Das ist zu… verdammt, mir fehlen die Worte. Das ist einfach nicht erklärbar.« »Wie oft hat es diesen Vorfall denn schon gegeben, Sir?« Olmos fuhr über sein glattes, kurz geschnittenes, schwarzes Haar. »Es ist die zweite Nacht. Ich erlebte es gestern zum erstenmal. Da hielt ich es noch für einen unwichtigen Defekt. Heute sehe ich es anders.« »Das meine ich auch.« Tadlock deutete auf den Schirm. »Ist das die letzte Botschaft gewesen?« »Überhaupt nicht.« »Wie viele erscheinen noch?« »Eine, Tadlock. Eine Botschaft und ein Name. Ob Sie es glauben oder nicht, es erscheint ein Name.«
»Dann hätten wir ja eine Spur.« »Warten Sie erst einmal ab. Sicher bin ich mir da nicht.« Der Colonel winkte mit beiden Händen ab. »Ich habe nämlich mit dem Namen nichts anfangen können und bin natürlich gespannt darauf, wie es Ihnen ergeht. Sie kennen sich ja auch aus.« »Natürlich.« Tadlock hatte es nur so gesagt, überzeugt davon war er jedenfalls nicht. Wieder begann das Warten. Der letzte Satz blieb noch auf dem Monitor, als wollte er die beiden Männer ärgern und sie gleichzeitig noch stärker verunsichern. WIR SIND UNTERWEGS Tadlock ließ die drei Worte auf sich einwirken. Er fragte sich natürlich, wer unterwegs war, und darin unterschied er sich nicht von seinem Vorgesetzten, der die Frage sogar leise aussprach, als hätte er Furcht davor, von einem dritten gehört zu werden. Das kalte Licht ließ die Gesichter der hier arbeitenden Personen noch blasser erscheinen. Hinzu kam die Instrumentenbeleuchtung, so daß manche Haut wirkte wie die von alten Wasserleichen. Gesund war dieses Licht nicht. Da freute man sich sogar auf einen grauen Regentag, nur um diesen Keller verlassen zu können. Plötzlich löste sich die Nachricht auf. Das ging blitzartig, und zwei Augenpaare schauten auf den leeren Schirm. »Jetzt bin ich auf die dritte Nachricht gespannt, Sir!« »Ich auch, Tadlock, ich auch. Obwohl ich ja weiß, was da erscheinen wird. Es ist ein Name.« »Nur? Oder…« »Vor- und Nachname.« Tadlock nieste. »Das wird eine Sache. Wäre doch irre, wenn uns die geheimnisvollen Botschaftsender erklären würden, wer sie wirklich sind. Meinen Sie nicht?« »Ich glaube kaum, daß dieser Name damit etwas zu tun hat. Er ist einfach zu irdisch.« »Tatsächlich?« »Sie werden es sehen, und Sie werden sich bestimmt wundern, mein lieber Tadlock. Vielleicht haben wir ja Glück, und Sie kennen die Person. Sie sind ja sehr kommunikativ.« »Aber nicht auf diese Art und Weise.« Der Colonel hob die Schultern. »Abwarten und keinen Tee in diesem Fall trinken.« »Soll ich uns einen Kaffee holen? Haben wir soviel Zeit?« »Nein, nicht mehr. Wenn wir später etwas trinken, wird es wohl ein Whisky sein.«
Tadlock sagte nichts. Er schaute den Colonel nur von der Seite her an. Das hatte er noch nie erlebt, nicht bei ihm, der stets auf Zucht und Ordnung hielt. Da schien er doch einige Vorsätze über Bord geworfen zu haben. Noch blieb der Schirm dunkel, aber nicht sehr lange. Plötzlich erschienen wieder die Buchstaben und führten vor den angespannten Blicken der Männer ihren Tanz auf. Sie formierten sich, sie bildeten wieder eine lesbare Botschaft. Diesmal nur einen Namen. NADINE BERGER *** Keiner von ihnen bewegte sich. Stumm schauten sie auf den Namen, und es war der Colonel, der den Kopf schüttelte, bevor er sich zur Seite drehte und seinen Untergebenen anschaute. Tadlock schwieg, ohne dabei den Bildschirm aus den Augen zu lassen. »Nun?« »Ich kenne den Namen nicht, ich kenne die Person nicht. Ich lese nur, daß es eine Frau ist.« »Sehr gut.« Tadlock sagte etwas, um sich aus der Verantwortung zu stehlen. »Unter Umständen liegt es doch an der Diskette, Sir.« »Nein, die ist in Ordnung. Ich habe sie längst durchchecken lassen. Tut mir leid.« »Das ist natürlich schlecht.« »Würde ich sagen. Aber ich kann mit dem Namen ebenfalls nichts anfangen, Tadlock.« »Das glaube ich Ihnen.« Tadlock lächelte. »Aber ich glaube Ihnen nicht, daß Sie nicht längst Nachforschungen angestellt haben, was eben diesen Namen betrifft.« »Das habe ich.« »Was ist dabei herausgekommen?« »Zunächst einmal nichts, gar nichts. Alle Versuche endeten negativ. Es war vergebens.« »Wo haben Sie nachgeforscht?« »Also nicht beim FBI. Mehr in unseren Regionen, wenn Sie verstehen. CIA, Einwanderungsbehörde, also da, wo ich Zugang habe.« Tadlock versuchte es mit einem Witz, über den der Colonel nicht einmal grinsen konnte. »Die Dienste sind zwar gut, aber die Namen von Außerirdischen sind nicht dabei.« »Nein!« knurrte Olmos. Tadlock schwieg. Er sah, daß sich sein Vorgesetzter Gedanken machte. Was hier geschehen war, durfte einfach nicht sein. Ein offenes Tor, dann welche, die unterwegs waren, also Unbekannte, das ging bis dicht an die Grenze. Das überschritt sie sogar,
denn hier stand, es war nicht übertrieben, die Sicherheit der Nation auf dem Spiel. »Sollen wir eine höhere Behörde einschalten, Sir?« erkundigte sich Tadlock. »Nein, noch nicht.« Der Colonel stieß den Atem aus. »Wir müssen erst allein versuchen, das Problem zu lösen. Die Nacht ist noch lang. Da können wir arbeiten.« »Und eine vierte Nachricht gibt es nicht?« »Bisher erschien keine. Sie werden sehen, daß auch der Name gleich verschwindet. Dann bleibt der Schirm leer. Es tut sich überhaupt nichts mehr. Wir abgeschnitten.« »Das begreife ich nicht, Sir.« »Haben Sie denn überhaupt eine Erklärung für dieses Phänomen, Tadlock?« »Ja und nein.« »Lassen Sie trotzdem hören.« »Ich habe den Eindruck, daß wir manipuliert worden sind. Wer auch immer daran mitarbeitet, er hat es verstanden, unser Programm zu stören. Er hat es verändert. Ich sehe schon die Konsequenzen vor mir. Sie werden sich ausdehnen. Ich wiederhole mich nicht gern, aber in diesem Fall steht möglicherweise die nationale Sicherheit auf dem Spiel. Egal, was noch geschieht, wir werden morgen wohl Meldung erstatten und eine höhere Instanz einschalten müssen.« »O Gott, das gibt Ärger!« »Zumindest wieder Untersuchungen.« »Und jetzt ist die Botschaft weg.« Olmos hob die Schultern. »So war es immer.« Er nahm die Diskette aus dem Apparat und steckte sie ein. »Ich werde sie später in den Panzerschrank legen.« »Was ist es denn für eine Diskette?« »Es ist die TC 17.« Tadlock nickte. »Ja, ich weiß schon. Berechnungen und Vorgabe um das äußere Sicherheitssystem.« »Genau.« Tadlock preßte seine Finger gegen die Stirn. »Wie wir es auch drehen und wenden, so kommen wir nicht weiter. Ich habe schon Hacker aufgespürt, aber so etwas wie hier ist mir noch nie passiert. Da kann man fast an einen Computerteufel glauben.« Der Colonel schob den Stuhl zurück und stand auf. Er warf noch einen letzten Blick auf die Stirn. Die dünne Haut um seinen Mund herum zitterte. Er wußte nicht, was er mit diesen für ihn schon unheimlichen und unerklärlichen Botschaften anfangen sollte. »Gehen wir in mein Büro, Tadlock!« »Gut, Sir.«
Sie nahmen den Weg links um die künstliche Abtrennung herum. Vor ihnen lag der große Raum, der mit zwei breiten Computerkonsolen gefüllt war. An den Wänden standen die Schreibtische der Mitarbeiter und auch die Telefondesks. Niemand schaute offiziell hin, als Olmos und Tadlock den Raum verließen. Im Gang blieben die beiden Männer stehen und atmeten zunächst tief durch. »Bleibt es bei dem Whisky, Sir?« »Ja, den können wir wohl vertragen. Den haben wir uns redlich verdient, finde ich.« Tadlock widersprach nicht. Der Gang war wie ein kahler Tunnel mit Türen an den Seiten, die wie Fluchtwege oder Notausstiege erschienen. Irgendwo unter der Decke flackerte eine Lampe, die ausgewechselt wurde. Das Zucken irritierte, deshalb schaute auch keiner hin. Olmos’ Büro lag auf der linken Seite. Nur die höheren Offiziere besaßen eigene Räume, und der Colonel gehörte zu diesen Priviligierten. Er ging vor und schloß die Tür auf. Tadlock folgte ihm. Auch hier sah er einen Rechner, einen Schreibtisch, dahinter einen Schrank, der abgeschlossen werden konnte und aus mit Kunststoff überzogenem Stahlblech bestand. »Nehmen Sie sich einen Stuhl«, sagte Olmos, als er die Tür schloß. Er selbst nahm seinen Platz hinter dem Schreibtisch ein, seufzte schwer, beugte sich dann zur Seite und holte aus einer Schublade eine volle Flasche Bourbon hervor. Gläser waren ebenfalls vorhanden. Olmos schenkte ein, reichte Tadlock eines der Gläser. »Nun?« »Sir, ich weiß es nicht.« Olmos drehte sein Glas. Er lachte, als wollte er sich amüsieren. »Ich suche gerade nach einem Trinkspruch, aber mir fällt keiner ein, zum Henker! Ihnen denn?« »Ja und nein.« »Kommen Sie.« »Vielleicht sollten wir wirklich auf die Außerirdischen trinken, auf die Begegnung der Dritten Art, die möglicherweise bald stattfinden wird. Finden Sie nicht auch?« Olmos verzog das Gesicht. »Ehrlich gesagt, ich finde den Trinkspruch etwas unpassend. Er bereitet mir Unbehagen. Bisher war die Sache mit den Außerirdischen Theorie. Wir haben oft Möglichkeiten durchgespielt, wie wir uns verhalten, wenn es uns gelingt, den einen oder anderen zu sehen, nun aber finde ich das gar nicht so lustig.«
»Ich auch nicht, Sir, wenn ich ehrlich sein soll. Ich habe sogar leichte Beklemmungen.« »Da können wir uns ja die Hand reichen.« Das taten sie nicht, dafür stießen sie an und lauschten dem Klang der Gläser. Tadlock gehörte nicht unbedingt zu den Whiskytrinkern, aber in diesem Fall wollte er sich nicht drücken. Leer stellte der Colonel das Glas auf den Schreibtisch. Bei Tadlock war es noch zur Hälfte gefüllt. Aber auch er hatte es wieder abgestellt und starrte ins Leere. »Worüber denken Sie nach?« »Mir gehen die Botschaften nicht aus dem Kopf. Sie haben etwas zu sagen, sie wollen uns darauf aufmerksam machen, daß bald etwas eintritt. Sie sind anders als wir, und wir kennen sie nicht. Aber sie sind da, auch wenn wir sie nicht sehen, und das bedrückt mich.« »Und jemand von ihnen hat einen Namen, der sich verdammt menschlich anhört«, sagte der Colonel. »Nadine Berger. Ich werde es noch einmal versuchen und mich dann mit dem FBI in Verbindung setzen. Zum Glück kenne ich einen der Chefs, da wird es kaum Ärger geben.« »Das wäre nicht schlecht.« »Aber nicht in dieser Nacht. Wir warten bis zum nächsten Morgen.« »Sir«, sagte Tadlock und schaute gegen sein Glas. »Ich will nicht unken oder den Teufel an die Wand malen, aber können Sie sich vorstellen, daß bis Sonnenaufgang noch etwas geschieht? Daß all diese Voraussagungen eintreffen werden?« »Wollen Sie meine ehrliche Meinung hören, Tadlock?« »Ja,Sir!« Colonel Olmos nickte sehr langsam. »Ja, ich kann mir vorstellen, daß noch etwas passiert. Ich will nicht sagen, daß ich fest daran glaube, aber ich möchte es auch nicht zur Seite schieben. Da könnte einiges auf uns zukommen.« »Dann wird es gefährlich.« »Damit rechne ich auch.« Tadlock lächelte schmal. »Wenn diese Person namens Nadine Berger in der Lage ist, sich über unseren Computer zu melden, müßte es ihr eigentlich nicht schwerfallen, trotz der Sicherheitsbestimmungen, hierbei uns einzudringen.« »Da haben Sie recht.« »Und dann riecht es nach Gewalt.« »Könnte auch sein.« »Wollen Sie die Wachtposten schon vorsorglich in Alarmbereitschaft versetzen lassen?«
Olmos wiegte den Kopf. »Daran habe ich gedacht. Ich habe es mir sogar vorgenommen, aber ich möchte keine Pferde scheu machen. Ich will erst abwarten und hoffe noch immer auf einen Irrtum von unserer Seite her.« »Das wäre wünschenswert, Sir. Erscheint mir in diesem Fall nicht sehr realistisch zu sein.« »Leider.« Der Colonel griff zur Flasche. Er wollte sich einen zweiten Drink gönnen. Tadlock legte sicherheitshalber seine Hand auf das Glas. Er hatte es nicht einmal leergetrunken. Auch der Colonel kam nicht dazu, den Drink zu nehmen. Etwas anderes passierte völlig unvorbereitet und wie aus der Luft gegriffen. Erst flackerte das Licht kurz auf, dann stärker, und einen Moment später erlosch es völlig. Die beiden Männer saßen im Finstern! *** Es war so dunkel, daß sie sich nicht einmal sehen konnten. Sie hörten nur, wie sie atmeten, und Tadlock vernahm, daß sein Vorgesetzter die Flasche mit einem dumpfen Laut auf den Schreibtisch zurückstellte. Danach war es wieder still. Sie warteten ab. Die Dunkelheit und die Stille wirkten ätzend auf sie. Bleiern lag sie über ihnen. Sie spürten beide das Unbehagen, daß sich mit jeder Sekunde, die verstrich, bei ihnen verstärkte und dafür sorgte, daß es zu einem Gefühl der beklemmenden Furchtkam. Niemand sprach. Sie konnten sich aber auch nicht mit den Gegebenheiten abfinden, und es war Tadlock, der die Stille schließlich mit einer leise gestellten Frage unterbrach. »Ich erwarte zwar keine Antwort, Sir, aber verstehen Sie, was hier vorgeht?« »Fast. Das Licht ist ausgefallen.« »Überall?« »Stehen Sie auf und schauen Sie nach.« »Im Gang draußen schon. Ich sehe keinen Lichtstreifen unter der Tür herfallen.« »Schließt sie nicht fugendicht?« »Nein, Sir.« Olmos bewegte sich. »Okay, Sie bleiben hier. Ich werde aufstehen und nachschauen.« Tadlock hatte noch einen Einwand. »Das Licht scheint nicht überall ausgefallen zu sein. Nur lokal, sehr begrenzt und…« »Seien Sie ruhig.«
Im Dunkeini war der Colonel auf die Tür zugeschritten, aber einige Schritte davor stehengeblieben. Er hatte seinen Kopf schräg gelegt und lauschte. Auch Tadlock spitzte die Ohren. Er konnte sich vorstellen, daß der Colonel etwas in Erfahrung gebracht hatte und wollte ebenfalls nicht hockenbleiben. Er hatte sich schon halb erhoben, ließ sich dann wieder nieder, denn nun hörte er es auch. Schritte! Nicht im Büro, sondern auf dem Gang, und auch nicht normal, denn sie klangen komisch, seltsam, als würde derjenige, der dort herging, das Laufen erst noch üben. Dazwischen klangen andere Geräusche durch. Sie besaßen einen metallenen Klang, da streifte oder schepperte Blech über Blech. Die Schritte näherten sich zudem der Tür. Olmos hatte sein Feuerzeug hervorgeholt und entzündete die Flamme. Sie warf einen bläulichen Lichtschimmer in die Dunkelheit, der nicht einmal die Tür erreichte. »Gehen Sie lieber zurück, Sir!« flüsterte Tadlock, der ebenso wie der Colonel gehört hatte, daß die Schritte genau vor der Bürotür verstummt waren. »Noch nicht.« Dann mußte Olmos zurück. Etwas prallte dumpf gegen die Tür, im nächsten Augenblick bewegte sich der Knauf, noch ein wuchtiger Stoß, und die Tür stand offen. Im Gang brannte wieder das Licht. Es verschaffte sich auch seine freie Bahn in das Büro, indem es an der Gestalt vorbeiglitt, die sich auf der Schwelle abzeichnete. Beide Männer bekamen vor Staunen den Mund nicht mehr zu. Es konnte auch da Entsetzen sein, das sie lähmte. Im Licht stand kein Mitarbeiter, sondern eine andere Gestalt, die nicht wie ein Außerirdischer aus dem Weltraum gekommen war, sondern eher die Vergangenheit verlassen haben mußte. Es war ein Ritter in glänzender Rüstung! *** Überall waren Moore mit ihren Weidenbäumen und den kleinen Wasserrinnen, die wie Arme in das braune Grün hineingriffen, als wollten sie dafür sorgen, daß die Menschen hier immer genug zu trinken hatten. Torfrauch lag über dem Land. Ich war hier, und ich hatte gewußt, daß es irgendwann einmal dazu kommen würde.
Ich befand mich in Glastonbury, einem kleinen Ort in der Provinz Somerset, der es allerdings in sich hatte und einen Namen besaß, den viele kannten, es aber kaum wagten, ihn auszusprechen. Glastonbury, das englische Jerusalem. Hier hatten die berühmten Mythen und Legenden ihren Ursprung. Hier entstand die weltberühmte Sage von König Artus, hier wurde die Legende um die Insel Avalon erschaffen, das Avalon des Grals, der Kelch, denn hier hatte Parzival mit seiner Suche nach dem Heiligen Gral begonnen. Ein immergrünes Land, das schon zu Cornwall gehörte, das meist schicksalsschwer dalag, wie erdrückt von der Last einer gewaltigen mythischen Vergangenheit. Und ich war hier. Endlich, hätte man meinen können. Das mußte ja einmal so kommen, daß ich den Sprung nach >drüben< wagte. Hinein in die Vergangenheit, wo sich das Christentum mit den alten Bräuchen der Druiden und Kelten vor mehr als tausend Jahren getroffen hatte und schon damals von einer Vergangenheit berichtete. Ich konnte nicht sagen, daß ich mich in Glastonbury sehr wohl fühlte, dazu war der Ort einfach zu düster, bedrückend und melancholisch, zumindest zu dieser spätherbstlichen Jahreszeit. Mir kamen auch die Bewohner fremd vor. Zwar gingen sie ihrem Tagewerk nach, aber sie schienen ebenfalls unter dem Wissen ihre legendenhaften Vergangenheit zu leiden, und sie wußten auch, daß das geheimnisvolle Stonehenge nicht weit entfernt lag. Hier erlebte ich den Ursprung. Hier gab es einfach nichts Modernes, hier wurde der Torf noch so gestochen wie in alter Zeit, hier lebte man in der Gegenwart, war aber viel stärker mit der schwerlastigen Vergangenheit verbunden. Ich wartete auf Kilian Versy. Den Namen kannte ich erst seit einem Tag. Der Mann hatte mich angerufen, er wollte mich sprechen. Ich hatte ihn in mein Büro locken wollen, doch davon hatte er Abstand genommen. Das wollte er auf keinen Fall. Er hatte mich allerdings gebeten, den Gral mitzubringen, den Dunklen Gral, das goldene Gefäß mit der roten Kugel der verstorbenen Wahrsagerin Tanith. Erst nach dieser Bitte war ich richtig aufmerksam geworden, da hatte ich meine Ohren gespitzt und diesen Kilian Versy nach weiteren Gründen gefragt. Er hatte vom englischen Jerusalem gesprochen, von der Insel Avalon und schließlich einen Namen gesagt, der mich natürlich elektrisiert hatte. Nadine Berger. Ich hatte nachhaken wollen, aber keinen Erfolg errungen. Versy war nur darauf aus gewesen, daß ich mich so rasch wie möglich auf den Weg nach Glastonbury machte und mich in einem Gasthaus mit dem Namen AVALON einquartierte.
Den Gefallen hatte ich ihm getan, und jetzt wartete ich noch immer auf ihn. Der Mittag war bereits vorbei. Die fahle Sonne war höher gestiegen und hatte es auch geschafft, einen Teil des Dunstes zu verdampfen, aber der Torfrauch lag nach wie vor über dem Ort, und aus den Kaminen der Häuser krochen die Schwaden so langsam, als würden sie sich nicht trauen, die Öffnungen zu verlassen. In den Mooren wurde gearbeitet. Man stach den Torf, man füllte ihn auf Fließbänder, die ihn zu den bereitstehenden Kipploren transportierten. Ich hatte mir das angesehen und versucht, mit den Arbeitern Kontakt aufzunehmen. Es war unmöglich gewesen. Niemand hatte für einen Fremden etwas übrig. Man war sehr einsilbig oder gab keine Antwort, deshalb war ich auch wieder in den Ort zurückgegangen, in der Hoffnung, diesen geheimnisvollen Kilian Versy anzutreffen. Ich hatte die alte, legendenumwobene Abtei von Glastonbury ebenso gesehen wie den Hügel und das Glastonbury Tor, das auf seiner Kuppe wie ein schauriges Denkmal stand, als wollte es zwei Welten voneinander trennen. Ich hatte mich einige Zeit dort aufgehalten und inder Tat etwas von dieser anderen Atmosphäre gespürt. Wenn ich ehrlich sein sollte, hatte ich keine Erklärung dafür gefunden, es war nur dieses Prickeln über mich gekommen, das sich dann zu einem Wissen verstärkt hatte, wobei ich nicht wußte, um was es letztendlich ging. Etwas war im Gange, das stand für mich fest, und ich dachte mehr als einmal an die Insel der Äpfel, wie Avalon auch genannt wurde, und natürlich an Nadine Berger. Mein Gott, welch ein Schicksal lag hinter ihr. Als Filmschauspielerin hatte sie begonnen, dann war sie verflucht worden, so daß ihr Geist in die Gestalt einer Wölfin eindrang. Sie hatte sehr lange bei meinen Freunden, den Conollys gewohnt, denen ich von diesem Ausflug nichts erzählt hatte, denn ich wollte zunächst einmal schauen, ob es denn überhaupt etwas aufzuklären gab. Schließlich war die Wölfin erlöst worden. Durch den Riesen Brän, und auch der alte und gleichzeitig magische, heilige und verwunschene Kessel hatte eine Rolle gespielt. Sie hatte ihn durchwandern müssen und war schließlich erlöst worden. Als Mensch stand sie wieder vor uns, und als Mensch war sie trotzdem nicht mehr dieselbe wie zuvor. Sie war anders geworden, nachdenklicher und stand dem Leben viel sensibler gegenüber. Dabei war sie ehrlich, sich und uns gegenüber. Sie hatte eingesehen, daß unsere Welt nicht mehr die ihrige war, und deshalb hatte sie uns auch verlassen.
Aus einem Kurort hatte sie uns mal eine Ansichtskarte geschickt. Es waren auch Pläne entstanden, wieder ins Filmgeschäft einzusteigen, doch daraus schien nichts geworden zu sein, jedenfalls hatte ich keine Nachricht mehr darüber bekommen. Nadine Berger war und blieb verschwunden. Nicht daß ich sie aus meinem Gedächtnis oder der Erinnerung gestrichen hätte, aber andere Fälle nahmen mich doch zu stark in Anspruch, so daß die Gedanken an Nadine Berger etwas ins Hintertreffen gerieten. Nun nicht mehr. Kilian Versy hatte ihren Namen erwähnt, und damit bei mir ein Alarmsignal ausgelöst und natürlich dafür gesorgt, daß ich mich auf den Weg nach Glastonbury machte. Sir James, mein Chef, war skeptisch gewesen, hatte aber nichts gegen diesen Auflug gehabt. Eine Stadt, sehr klein, überschaubar, eine schwere Geschichte, ein altes zerstörtes Kloster, eine neuere Kathedrale und viele Reste alter Bauwerke in ihrem Umkreis. Der Ort lag in einem weiten Tal. Die Häuser sahen allesamt schmutzig aus, weil sie aus grauen Steinen errichtet waren. Aber sie besaßen rote Ziegeldächer, über die der Torfrauch eine braungraue Spur gelegt hatte. Gerade im Herbst war er besonders deutlich zu riechen, wie ich längst selbst bemerkt hatte. Ich stand vor einem kleinen Geschäft in der Hauptstraße. Es war ein richtiger Kramladen. Hier konnte noch alles gekauft werden. Vom Zucker bis zum Reisigbesen. Einige von ihnen standen neben der Ladentür und waren mit einer Schnur aus Hanf umwickelt worden, die sie zusammenhielten. Vereinzelte Lichter leuchteten auch am Tag. Autos fuhren nur wenige, und wer hier als Fremder mit einem fremden Wagen erschien, der fiel sofort auf, wie es auch mir passiert war. Da ich mich nicht verkriechen konnte, ließ ich mich halt anstarren. Der Gasthof mit dem Namen AVALON stand nahe einer Gruppe von Erlen, die ihn überragten und zu bewachen schienen. Von der Hauptstraße brauchte ich nicht weit zu gehen. Nach wenigen Schritten schon öffnete sich die Gasse zu einem kleinen Platz, wo auch das Haus stand. Graue Steine, kleine Fenster, ein braunrot schimmerndes Dach, darüber das Filigran der Erlenzweige, in denen es sich schwarze Vögel bequem gemacht hatten und aus luftiger Höhe niederschauten, als wollten sie die Menschen beobachten. Manchmal krächzten die Tiere auf. Es hörte sich an wie das Lachen eines Erkälteten.
Auch tagsüber brannte die Leuchte über dem Eingang. Sie verstreute ihr Licht gegen die kantige Männergestalt, die nach vorn schaute und mich sehen mußte. Ich hatte den Eindruck, daß es genau der Mann war, den ich hier treffen wollte. Ich ging schneller. Und mit jedem Schritt nahm ich ein weiteres Detail seiner Erscheinung wahr. Auf mich wirkte er wie ein Waldläufer. Er war passend für diese Gegend angezogen. Er trug Stiefel, eine voluminöse Parkajacke und hatte seinen Rucksack neben sich gestellt. Um den Hals war der breite rote Schal gewickelt. Sein Gesicht verschwand beinahe in der Fülle des mächtigen Bartes, der übergangslos mit seinem braunen Haar zusammenwuchs und ihm das Aussehen eines Berggeistes gab. Ich hörte ihn lachen, als ich nahe genug an ihn herangekommen war. »Erschrecken Sie nicht, John Sinclair. Ich bin es tatsächlich. Ich heiße Kilian Versy. Du kannst ruhig du zu mir sagen. Ist das alles olcay? Auch bei dir?« Ich nahm es mit Humor. »Da wir ja seit Adam und Evas Zeiten alle miteinander verwandt sind, geht das schon in Ordnung.« Er schüttelte meine Hand. »Toll, daß du kein Beton-Pinkel bist.« »Was bin ich nicht, bitte?« Versy lachte. »So nenne ich die Großstadttypen, die geschniegelten und gelackten Besserwisser.« »Ja, die gibt es.« Er nahm seinen Rucksack hoch, hängte ihn aber nicht über. »Ich habe etwas Hunger und Durst.« »Dann laß uns hineingehen.« »Gut, da können wir auch reden.« Beide mußten wir den Kopf einziehen, um das Gasthaus betreten zu können. Es quoll uns die Wärme eines alten Ofens entgegen, der in der Gaststube stand und neue Nahrung bekam, denn der Wirt schob einige präparierte Torfballen hinein. Er ließ sich in seiner Arbeit nicht stören und schaute nicht einmal hin, als wir uns an einen klobigen runden Tisch setzten. Jetzt hatte er wenigstens zwei Gäste. Er rief nach seiner Frau, die hinter der Theke erschien. Sie war aus einer schmalen Tür gekommen. »Was ist denn?« »Kannst du mal bedienen, Alva? Ich muß mir erst die Hände reinigen.« »Ja, geht in Ordnung.« Alva kam. Sie hatte flachsblondes Haar, wie übrigens viele Bewohner dieses Ortes. Auf ihrem breiten, etwas knochigen Gesicht verteilten sich Sommersprossen. Die Augen schimmerten in einem hellen Blau, besaßen auch einen Stich ins Grüne.
»Was kann ich tun?« »Trinken und essen!« »Gut. Was?« »Erst einmal Bier. Du auch, John?« »Gern.« »Und dann?« fragte sie. »Was können Sie denn anbieten?« »Hochlandhammel mit Kartoffeln und Gemüse. Gekocht in einer Boullion als Eintopf. Mehr habe ich nicht. Das ist noch vom Mittag übrig. Ich muß es nur aufwärmen.« Versy hatte zugehört und sich dabei eine Pfeife gestopft. »Ja, das ist richtig.« »Einmal oder zweimal?« »Zwei Portionen«, sagte ich. »Gut.« Sie ging wieder. Ich schaute ihr nach und bemerkte: »Sehr einsilbig sind die Menschen hier.« Versy hob seine Schultern. »Ja, das stimmt, aber du kannst ihnen keinen Vorwurf machen. Sie wohnen, wie ich i mmer sage, an einem Schnittpunkt der Legenden.« »Gut ausgedrückt«, lächelte ich, setzte sofort eine Frage nach. »Was hat dich eigentlich auf mich gebracht. Und wer bist du überhaupt?« Er schaute mich an. Seine braunen Augen blitzten. Der Pfeifenstiel war zwischen dem Bart verschwunden und mußte dort stecken, wo sich auch sein Mund befand. Zu sehen war kaum etwas davon. Er paffte zwei drei Wolken und schickte mir den würzigen Geruch des Tabaks entgegen. »Kannst du dir vorstellen, daß ich ein Professor bin?« »Im Moment nicht.« Er lachte laut. »Stimmt aber. Das glauben die meisten nicht. Ich habe in Oxford gelehrt und mir für zwei Jahre freigenommen. Ich bin Historiker und Mythensammler. Ich will das englische Jerusalem durchforsten, ich will es nicht entmythologisieren, aber ich möchte es der Welt gegenüber durchsichtiger machen, damit die Menschen doch mehr Respekt vor der Vergangenheit zeigen.« »Ein schweres Unterfangen«, bemerkte ich. »Ja, das ist wahr. Zum Glück habe ich Rückendeckung von meiner Fakultät bekommen, sie ist es auch, die mich finanziert. Ein Leben ohne Geld kann man auch hier nicht führen.« Wir bekamen unser Bier und legten eine Sprechpause ein, die wir erst nach dem ersten Schluck wieder unterbrachen. »Wenn man sich mit den Dingen beschäftigt, John, dann ist es fast eine zwangsläufige Folge, daß man über gewisse Personen stolpert.« »Wie über mich.« »Genau.« »Und weiter?«
Er verzog den Mund, das heißt, es bewegte sich eigentlich nur sein Bart. »Dein Name tauchte einige Male auf. Ich habe zudem schon einige Artikel von einem gewissen Bill Conolly gelesen – sehr gute, muß ich zugeben, und von ihm zu dir war es eigentlich kein weiter Weg mehr. Nur habe ich ihn nicht eingeweiht, obwohl ihn eine gewisse Person schon etwas angeht.« »Du meinst Nadine Berger?« »Ja.« »Kennst du sie?« Ihm war warm geworden. Er zog seine dicke Jacke aus und hängte sie über einen Stuhl. Jetzt trug er als Oberteil nur den dicken Pullover und darunter noch ein helles Hemd. Ich hatte meine Lederjacke längst neben mir auf einen freien Stuhl gelegt, und die Kleidung des Professors fand ebenfalls darauf ihren Platz. »Was ist mit Nadine Berger?« erinnerte ich ihn. »Es gibt sie, aber ich kenne sie nicht gut. Ich weiß nur, daß sie nicht tot ist.« »Damit hatte ich auch gerechnet.« »Sie ist geflüchtet.« »Nach Avalon?« Versy nickte. »Gut mitgedacht, John. Nadine Berger befindet sich in Avalon.« Ich versuchte es mit einem Scherz. »Auch wir sitzen hier in Avalon. Es wäre ja toll, wenn sie hier plötzlich durch die Tür käme, um uns zu begrüßen.« Er stimmte mir lachend zu. »Das wäre natürlich ideal. Aber so leicht ist es nicht. Vor dem Erreichen eines Zieles haben die Götter noch immer den Schweiß und das Blut gesetzt.« »Deutet letzteres auf eine Gefahr hin?« Er überlegte einen Moment. »Nicht unbedingt, aber einfach wird es für uns nicht sein.« »Damit habe ich auch nicht gerechnet, wenn ich ehrlich sein soll. Ich möchte nur Nadine Berger finden. Ich will sie nicht einmal zurückholen. Wahrscheinlich möchte sie das auch nicht. Aber ich muß wissen, wie es ihr geht und was sie erlebt hat. Nur das zählt für mich. Ich hoffe, daß du diese Dinge nachvollziehen kannst.« »Aus deiner Sicht bestimmt.« »Und wie sieht deine aus?« Er blies die Wangen auf und pustete die Luft anschließend aus dem rechten Mundwinkel ins Freie. »Ich bin ja eigentlich nur Forscher. Aber wie ich dich einschätze, würde es dir nichts ausmachen, in die Geschicke der Legenden weit einzugreifen.«
»Das kann man so nicht sagen. Ich würde meinen, daß es auf die Geschicke selbst ankommt und in welch einem Zusammenhang sie zu meinem Schicksal stehen.« Kilian nickte sehr langsam. »Du denkst dabei an das Kreuz, an den Sohn des Lichts, an den Dunklen Gral, den du mitgebracht hast, hoffe ich, und an den Sohn des Lichts.« »Das ist zuviel auf einmal. Ich kann dich beruhigen, den Gral habe ich tatsächlich dabei.« »Das ist sehr gut.« Ich wollte ihn nach dem Grund fragen, doch die Schritte der Wirtin störten uns. Sie trug das Tablett wie ein Diener die Krone der Queen. Sehr bedächtig setzte sie es ab. Die beiden großen Teller waren mit dem Eintopf bis zum Rand gefüllt. Er dampfte noch und roch verdammt gut, so daß vier Männeraugen anfingen zu strahlen. »Ich glaube, da nehme ich noch einen Nachschlag«, meinte der OxfordProfessor und rieb seine Hände. »Das waren die letzten Portionen.« »Schade.« Wir bekamen die Löffel dazu und fingen an. Es schmeckte hervorragend, die Frau konnte wirklich kochen. Das Essen nahm uns dermaßen in Anspruch, daß wir sogar unser Gespräch darüber vergaßen. Erst nach einer Viertelstunde nahmen wir es wieder auf. Da saßen wir vor unseren leeren Tellern, und Kilian bestellte zwei Schnäpse. »Was soll es denn sein?« »Torfwasser.« »Flammend?« »Und wie!« Ich schaute ziemlich dumm aus der Wäsche. Versy erklärte mir, um was es sich bei der Bestellung handelte. »Es ist ein süßlicher Wacholderschnaps. Du weißt ja, daß es hier viele Wacholderbüsche gibt. Sie nennen das Getränk hier Torfwasser, und es wird beim Servieren angezündet. Gib jetzt acht.« Alva stellte die Gläser ab. Sie riß ein Zündholz an. Zuerst fing mein Schnaps Feuer. Blaßblau und kaum erkennbar tanzte die Flamme auf der Oberfläche. Bei Kilians Schnaps geschah das gleiche. Die Wirtin trat zurück und wünschte einen guten Schluck. »Den werden wir haben, danke.« Versy faßte das Glas an, blies die Flamme aus und kippte den scharfen Schnaps in seine Kehle. Ich war vorsichtiger und hatte recht damit. Das Zeug brannte, es schmeckte trotzdem. Ich trank noch einen Schluck Bier dazwischen und kümmerte mich anschließend um den Rest im Schnapsglas. »War es gut, John?« »Super.«
»Das meine ich doch.« Er zündete die Pfeife wieder an und schaute mir ins Gesicht. »Dir brennt was auf der Seele. Es geht dir um den Dunklen Gral, nicht wahr?« »So ist es. Was hat er damit zu tun?« Kilian Versy legte die Stirn in Falten. »Es ist sehr wichtig«, sagte er mit leiser Stimme. »Sogar mehr als das. Er ist der Schlüssel, um das Tor zu öffnen.« »Verstanden, aber nicht begriffen. Von welch einem Tor sprichst du? Was meinst du damit?« Er wirbelte mit einigen Handbewegungen den Qualm von seinem Gesicht weg. »Das Tor ist nicht ganz geschlossen. Es läßt hin und wieder etwas durch. Du aber sollst es direkt aufreißen, um es dann wieder im Notfall schließen zu können. Aber du weißt dann, daß du derjenige bist, der es immer öffnen kann.« »Ich habe noch immer nicht alles begriffen – sorry.« »Gut, gut, Moment. Hast du dich schon einmal hier in der Gegend umgesehen?« »Meinst du hier in Glastonbury?« »Nicht nur, auch in seiner näheren Umgebung.« Ich nickte. »Ja, davon kannst du ausgehen. Ich habe bereits einen Spaziergang oder eine Wanderung hinter mich gebracht. Und ich war auch beeindruckt.« »Wunderbar. Du hast also die alten Ruinen der Abtei gesehen?« »Richtig.« »Was noch?« Ich überlegte kurz. »Willst du etwa auf das ungewöhnliche Tor hinaus, das auf der flachen Hügelkuppe seinen Platz gefunden hat?« Kilian Versy strahlte mich an. »Volltreffer, John, das genau meine ich. Genau das Tor.« »Ich sah es aus der Ferne. Weshalb ist es so wichtig? Daß es wichtig ist, kann ich mir vorstellen, aber…« »Weißt du da nicht?« flüsterte er. »Nein.« »Es ist das Tor nach Avalon!« Ich schwieg und wußte auch nicht, ob ich jetzt lachen oder ihm widersprechen sollte. Ich kam einfach nicht mehr mit, ich konnte ihm nicht glauben, was er meinem Gesicht ansah. »Ich habe dir hier keine Märchen aufgetischt, John.« »Das glaube ich auch«, murmelte ich, wobei sich mein Blick an der Decke verfing, unter der dunkle Balken herliefen. »Ich glaube dir vieles, nur mußt du mich auch verstehen. Ich bin zwar nicht durch das Tor geschritten, ich habe aber aus einer gewissen Entfernung hindurchschauen können und erkannt, daß sich der Grasteppich vor dem
Tor auch dahinter fortsetzt. Nach Avalon habe ich nicht hineinschauen können.« »Das war auch nicht möglich.« Ich schaltete schnell. »Weil ich den Dunklen Gral nicht bei mir hatte, nehme ich an.« »Stimmt haargenau.« »Und wenn ich mit ihm zusammen durch das Tor schreite, wird sich alles ändern, nehme ich an. Da öffnen sich mir dann gewisse Welten, die zu Avalon gehören.« »So sehe ich es.« »Phantastisch.« »Aber glaubhaft.« »Du hast es erlebt?« Sein Blick wurde betrübt. »Nein, John, das habe ich nicht. Noch ist alles Theorie, aber durch dich soll sich die Theorie in die Praxis umwandeln. Ich habe Teile erlebt.« Er legte den Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand zusammen, um sofort danach voneinander zu lösen und einen kleinen Zwischenraum anzuzeigen. »So weit nur ist das unsichtbare Tor offen. Man kann nur hinaus und nicht hinein. Das aber soll sich durch dich eben ändern.« »Hast du Nadine Berger dann hinausgehen sehen?« »Ja, sie muß es gewesen sein. Wie ich schon sagte, ich kenne Bill Conolly gut. Ich habe mal mit ihm über Nadine Berger gesprochen, und er hat sie mir ziemlich genau beschrieben. Es muß sie einfach gewesen sein, da gibt es keine andere Möglichkeit. Hat sie rötliches oder rotes Haar?« »Mehr rötlich.« »Dann war sie es auch.« Bei mir begann das leichte Fieber. Es kündigte eine gewisse Spannung in mir an. »Was hat sie denn gesagt? Du wirst hoffentlich mit ihr gesprochen haben?« »Nein, es war nur mehr ein Huschen, und sie war auch nicht allein, muß ich gestehen.« »Wer war noch bei ihr?« Er beugte sich vor und senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ein Fabeltier, John. So etwas gibt es auf dieser Welt nicht mehr. Nur in vielen Legenden.« »Bitte…« drängte ich. »Es war ein Einhorn.« Ich lachte ihn nicht aus. Für einen Moment blieb ich regungslos sitzen, um dann zu nicken. »Ein Einhorn also.« Aus meinem Mund löste sich ein leises Lachen. »Das kann ich sogar verstehen, ich glaube dir auch, denn mit Einhörnern habe auch ich meine Erfahrungen sammeln können, aber das hatte nichts mit Avalon zu tun.«
»Es gibt überall Verbindungen und Punkte, wo verschiedene Linien zusammenlaufen.« »Da magst du recht haben, aber mit der griechischen Mythologie hat Avalon wohl nicht zu tun.« »Das ist allerdings wahr.« Auch ich zündete mir eine Zigarette an. »Wir haben bisher nur von dem geredet, was geschehen list. Ich möchte aber wissen, ob du dir schon einen Plan zurechtgelegt hast.« Er lächelte breit. »Und ob ich den habe, John. Mein Plan steht längst fest.« »Dann raus damit!« »Es ist so simpel, daß man darüber nur lachen kann. Wir beide gehen zum Hügel und damit zum Tor hin. Diesmal nimmst du den Dunklen Gral mit. Wir werden sehen, was dann geschieht.« »Du willst also das Tor öffnen?« »Richtig.« Der Gedanke faszinierte und erschreckte mich. Ich mußte wohl sehr nachdenklich ausgesehen haben, denn Kilian beugte sich vor, starrte mich an und fragte: »Geht es dir nicht gut?« »Keine Sorge, ist alles okay. Ich denke nur darüber nach, was uns wohl in Avalon begegnen würde, falls es denn dazu kommt, daß wir die Insel der Äpfel überhaupt betreten können.« »Daran glaube ich fest.« »Und weiter?« »Avalon ist hier, John. Wir können es nur nicht sehen. Es umschwebt uns, es liegt noch im Unsichtbaren, aber wir werden das ändern. Wir beide haben die Macht dazu, John. Du mußt mir glauben. Jetzt noch Skepsis zu zeigen, hat keinen Sinn. Zudem hast du eine Verbündete in Avalon. Nadine Berger ist in dieses Reich geflohen, aber glaube bitte nicht, daß sie deswegen alles aus ihrem vorherigen Leben vergessen hat. Sie wird sich an vieles erinnern und auch an dich.« »Das hoffe ich doch.« »Was hält dich dann ab?« »Ich muß noch den Gral holen«, sagte ich und stand auf. Den Stuhl schob ich dabei zurück. In dieses Geräusch mischte sich Kilians Lachen, und es klang sehr beruhigend. Wenn ich über die nähere Zukunft nachdachte, so konnte ich ebenfalls beruhigt sein. Nach Avalon zu gehen, erhöhte bei mir die Spannung, es war wie ein Prickeln auf der Haut. So ähnlich mußte es einer Person ergehen, die in Champagner badete. Auch der Professor hatte sich erhoben und war dabei, seine gefütterte Parkajacke überzustreifen. »Fühlst du dich gut, John?« »Ja.« »Man sieht es dir an.«
Die Wirtin kam. Ich bat sie, das Essen auf die Rechnung zu schreiben und vergaß auch nicht, ihren Eintopf zu loben. Darüber freute sie sich. Es war alles so normal. Es schien wirklich nur eben diese eine Welt zu geben. Avalon, der Gral, die zahlreichen Geschichten und Mythen, die sich darum rankten, das lag so fern, es war kaum zu glauben. Ich kam mir eher vor wie jemand, der hier Urlaub machte, um die Natur zu genießen. Das aber änderte sich, als wir in den Flur traten und Kilian die Außentür öffnete. »Ich warte hier auf dich. Du kommst ja mit dem Gral zurück, nehme ich an.« »Klar, es dauerte nicht lange.« Ich wollte mich schon abwenden, als wir beide das Geräusch hörten. Es war fremd, es paßte auch nicht in den Ort. Es zerstörte dessen Ruhe. Es war ein Donnern! Bestimmt kein Gewitter, daran konnte ich nicht glauben. Und ein Gewitter hörte sich auch anders an. Dies hier klang mehr nach einem sehr rasanten Hufschlag. Als ich mich nach links drehte, hatte Kilian Versy das Haus bereits verlassen. Die Tür stand noch offen, so daß ich hindurchhuschen konnte. »Da!« rief Versy. »Da ist es!« Er stand gebückt da, hatte seinen rechten Arm vorgestreckt und deutete direkt nach vorn. Wir hörten nicht nur das Donnern der Hufe, sondern auch einige schrille Schreie. Darum kümmerten wir uns nicht. Etwas anderes war viel wichtiger. Mit mächtigem Schwung stürmte ein steingraues Pferd heran, das nur beim ersten Hinsehen Ähnlichkeit damit aufwies. Tatsächlich aber wuchs aus seinem Kopf ein helles und sehr spitzes Horn, das an seinem oberen Ende ein eine dunkle Blutspur aufwies… *** Die beiden Männer trauten ihren Augen nicht. Sie hielten es für einen Spuk, eine Halluzination, denn das konnte einfach nicht wahr sein. Ein Ritter hier in der Zentrale, ausgerechnet im Weißen Haus, dem Zentrum und Herz der amerikanischen Regierung und ausgerechnet in einer der Sicherheitsabteilungen, wo die Rechner standen, die immens viele Daten verarbeiteten. Wo kam er her? Vor allen Dingen, wie war dieser Gestalt überhaupt in das Innere des Weißen Hauses hineingekommen? Niemand konnte diesen Riegel überwinden. Wenn es doch geschah, dann stand die Sicherheit auf tönernen Füßen.
Beiden Männern schössen die gleichen Gedanken durch den Kopf. Sie konnten gar nicht anders, da reagierten sie selbst wie vorprogrammierte Rechner. Aber niemand sprach es aus. Nur ihr heftiges Atmen durchbrach die Stille. Es hatte keinen Alarm gegeben, es kamen keine Bewaffneten, die den Gang stürmten, es blieb so verflucht still, und es sah auch so aus, als hätte es dieser Ritter nur auf Olmos und Tadlock abgesehen. Noch bewegte er sich nicht. Er stand in der Tür wie ein dreidimensionales Gemälde, umspielt vom Lichtschein, der die blanke Rüstung an der Außenseite hell wie ein Spiegel erscheinen ließ. Einige Lichter waren wie Sterne, sie huschten darüber hinweg, als würden sie sich dabei bewegen. Vom Gesicht sahen die beiden Männer nichts, da der andere das Visier zugeklappt hatte. Es sah aus wie ein Dreieck, und nur der Schlitz für die Augen lag frei. Sehen konnten sie keine. Dieses Gesicht dahinter schien konturenlos zu sein. Der Colonel fühlte sich bemüßigt, als erster die Sprache zu erheben. Er atmete scharf durch die Nase. Seine Gänsehaut ignorierte er ebenso, wie den Druck im Magen. Dann sagte er nur ein Wort: »Scheiße!« Tadlock nickte. Er wollte keinem widersprechen, aber er dachte nicht anders. Sein Blick glitt zur Seite. An der rechten Hüfte trug die Gestalt ein Schwert. Es war eine mächtige und lange Klinge, deren Spitze beinahe über den Boden schleifte. Wer mit diesem Schwert umgehen konnte, mußte schon Kraft besitzen. Seine Hände waren ebenfalls in metallenen Schützern verborgen, die Finger leicht gekrümmt, so daß sie ohne Schwierigkeiten nach dem Waffengriff fassen und das Schwert aus der Scheide zerren konnten. Er bewegte den rechten Arm. Das Metall der Rüstung schepperte nicht, es knarrte nur, als würde jemand mit einer Feile über das Metall kratzen. Mit einer doch glatten Bewegung zog der unheimliche Ritter die Klinge hervor und handhabte sie sehr geschickt, wenn auch nicht besonders schnell. »Der will uns einen Kopf kürzer machen!« hauchte Tadlock. »Soll er es versuchen. Ich alarmiere mittlerweile die Wachen.« »Werden die schießen?« »Bestimmt.« »Sir, ich will nichts sagen, aber…« Tadlock schaute seinem Chef nach, der auf dem Weg zum Schreibtisch war, wo sich auch der Alarmknopf unter der Platte befand. »Reden Sie nur weiter.«
»Die Rüstung hält auch Kugeln aus, schätze ich.« »Das werden wir sehen.« Der Colonel hatte sich gebückt und seine Hand unter die Platte geschoben. Als er den Knopf drückte, da wußte er, daß er einen stillen Alarm auslöste. Diei Posten würden sehr schnell hier erscheinen, denn auf einer entsprechenden Tafel in ihrer Wachstube war genau zu erkennen, in welchem Raum der Alarm ausgelöst wurde. Da strahlte dann eine entsprechende Lampe auf. Es wurde gleichzeitig ein akustisches Signal abgegeben. Er kam wieder hoch, dachte auch an seine eigene Waffe, aber die lag in dem verschlossenen Sicherheitsschrank. Bis er dort war, hätte er zweimal tot sein können. Der Ritter hielt es nicht länger an seinem Platz aus. Er hatte bereits den ersten Schritt hinter sich, ging schwerfällig und breitbeinig und konzentrierte sich auf Tadlock. »Verdammt, gehen Sie in Deckung!« »Wo denn, Sir?« Tadlock wich zurück, behielt die Klinge im Auge, die plötzlich nach unten sauste. Er hatte den Eindruck, sie würde immer länger werden, deshalb wuchtete er sich nach links. An den Schreibtisch des Colonels hatte er nicht mehr gedacht. Er prallte mit dem Rücken darauf, riß die Telefonanlage von der Platte, die Unterlage gleich mit, hörte das Pfeifen der Klinge und sah sogar den Schatten des Schwertes über sich. Sie traf. Zum Gück nicht ihn, sondern den Schreibtisch. Er bestand nicht aus Holz, so hackte sie ihn nicht durch, aber die Kraft reichte aus, um in der >Mischung< aus Stahl und Kunststoff eine tiefe Kerbe zu hinterlassen. Olmos fluchte wieder. Er kroch auf Händen und Füßen über den Boden, bis er einen Stuhl erreichte, den er mit beiden Händen umklammerte. Tadlock hatte sich in eine Ecke zurückgezogen. Er sah aus wie ein Hund, der immer Prügel bezogen hatte und nun auf neue Schläge wartete. »Scheiße, wo bleiben denn die Posten?« brüllte Olmos. Endlich gelang es ihm, den Stuhl in die Höhe zu stemmen. Das Möbel war ziemlich schwer, hätte er auch nicht gedacht. Der Ritter hatte sich von seiner ersten Attacke wieder erholt. Mit beiden Händen hielt er das Schwert fest und holte weit aus. Er schwang die Klinge sogar über den Kopf. Olmos lachte scharf und wütend. So wie damals wurde heute nicht gekämpft. Er schleuderte den Stuhl. Krachend flog das Ding gegen den Schädel des Ritters. Es war genau der richtige Augenblick gewesen, weil er sich noch nicht nach vorn gebeugt hatte. Die Wucht schleuderte ihn nicht nur zurück, sondern auch nach hinten. Er krachte auf den Rücken, lag da wie ein mächtiger Käfer und würde es kaum schaffen, sich schnell zu erheben. Olmos lachte. Tadlock stand wieder auf. Er rückte seine Brille zurecht, die ihm verrutscht war.
Da endlich kamen die Wachtposten. Ihre Schritte hallten an den Wänden des Flurs wider. Zu viert strömten sie in das Büro. »Da ist er!« Der Colonel deutete auf den Ritter, der sich mühsam zur Seite wälzte. Die Soldaten taten nichts. Ihre hellen Helme glänzten in der Farbe der Koppel. Auf ihren Gesichtern saß das Staunen wie eingemeißelt. »Schießt, verflucht!« »Aber Sir, wir…« »Schießt endlich!« Die Männer waren mit kurzläufigen Maschinenpistolen ausgerüstet. Leichte Waffen, aber mit einem starken Kaliber versehen. Die Kugeln besaßen eine immense Durchschlagskraft. Sie drückten ab. Im Zimmer brach eine wahre Lärmorgie aus. Zum Glück jagten keine Querschläger durch die Gegend, weil das Material doch so dünn war, daß die Geschosse es leicht eindrückten. Die Garben bestrichen die Rüstung. Sie trafen auch dort, wo der Helm und der übrige Körper zusammenwuchsen. Sie hämmerten gegen das Visier, schleuderten die Klappe hoch und schlugen letztendlich den Helm vom Kopf weg. »Aus! Feuer einstellen!« Olmos war verstanden worden. Die Waffen schwiegen. Eine tiefe unnatürliche Ruhe kehrte ein. Und es breitete sich eine Kälte aus, die für jeden spürbar war. Doch auf dem Gang waren Stimmen und Schritten zu hören. Olmos wußte genau, was er zu tun hatte. Er befahl den vier Soldaten, vor der Tür Posten zu beziehen und keinen Menschen in das Büro zu lassen. Er selbst trat auf den seltsamen Ritter zu, um ihn sich aus der Nähe anzuschauen. Der Helm war zur Seite geschleudert worden. Er lag vielleicht einen Yard von der Rüstung entfernt. Erst jetzt fiel dem Colonel auf, daß hier etwas nicht stimmen konnte. Das ging nicht mit rechten Dingen zu. Er hätte Blut sehen müssen, Muskeln, Fleisch, Adern, denn die Kugelgarben hatten den Kopf buchstäblich vom Körper gerissen. Wie in Trance bückte er sich, nahm den Helm hoch, drehte ihn um und schaute hinein. »Nichts«, flüsterte er und wandte sich Tadlock zu. »Verdammt noch mal, nichts!« Tadlock hob die Schultern. Auf dem Gang stellten sich die Gaffer auf die Zehenspitzen, um wenigstens etwas sehen zu können. Tadlock machte einen Vorschlag. »Schauen Sie doch mal in der Rüstung nach, Sir!«
Dem Colonel quollen beinahe die Augen aus dem Kopf. Erließ den Helm fallen und wandte sich der übrigen Rüstung zu. Er stemmte sie halbhoch, um besser durch die Öffnung schauen zu können. Als er sie wieder fallen ließ, schepperte sie zu Boden. Für einen Moment schloß er die Augen. Dabei lief er im Gesicht rot an, ballte die Hände zu Fäusten und wandte sich Tadlock zu. »Nichts!« brüllte er den Mann an. »Nichts, Tadlock, verstehen Sie das? Die Rüstung war, und die Rüstung ist leer!« Tadlock schüttelte nur den Kopf. *** Sicherheitsstufe Rot! Der gesamte Bereich war abgesperrt worden. Es blieben nur die Männer da, die wirklich zu tun hatten. So war die Besatzung auf zwei Drittel ihrer ursprünglichen Stärke geschrumpft. Aber es war noch jemand hinzugekommen. Ein Mann namens Harriman. Er stand im Range eines Generals und war der Sicherheitschef, dem auch Colonel Olmos unterstand. Harriman gehörte zu den Bullbeißer-Typen. Und so sah er auch aus. Klein, gedrungen, irgendwie eckig, mit einem kantigen Soldatengesicht versehen, dessen Augen stets nach einem immerwährenden Feind zu suchen schienen. Er hatte dunkle Augen, und man hätte seinen Blick durchaus als böse bezeichnen können. Begleitet wurde er von einem Assistenten, der immer einen bis zwei Schritte hinter ihm blieb, ihn aber im abhörsicheren Besprechungsraum überholte, um dem Chef einen Stuhl zurechtzurücken. Erst als Harriman saß, nahmen auch Olmos und Tadlock Platz. Sie saßen an einem Tisch, der lang genug war, um der Rüstung Platz zu lassen. Zwei Soldaten hatten sie in den Besprechungsraum getragen und sie auf den Tisch gelegt, zusammen mit dem Helm. Er und die Rüstung zeigten Spuren von Kugeleinschlägen. Das kalte Licht fiel von der Decke herab und ließ sie schimmern wie dünnes Eis auf einem zugefrorenen Tümpel. Der General glotzte die Rüstung an, als könne er sich nicht damit anfreunden, daß ausgerechnet sie es gewesen war, die in den Trakt des Weißen Hauses eingedrungen war. Ungefähr eine Minute verging. Der General hatte seine Hände aufeinandergelegt. Dann wandte er sich an den Colonel. »Was wir hier besprechen, bleibt unter uns.« »Selbstverständlich, Sir.« »Waren Sie betrunken?« Olmos schluckte. Mit jeder Frage hätte er gerechnet, nur damit nicht. Fr wußte im ersten Augenblick nicht, was er sagen sollte, weil es ihm die Sprache verschlagen hatte.
»Ich wiederholte meine Frage noch einmal. Waren Sie betrunken, Colonel?« »Nein, Sir!« »Gut. Und Sie, Tadlock?« »Ich bin ebenfalls nüchtern, Sir.« »Schön!« Der General schien zufrieden zu sein. Jedenfalls klang seine Stimme nicht mehr so scharf. »Dann warte ich nur noch auf eine Erklärung, Gentlemen.« Er lehnte sich zurück und machte einen äußerst zufriedenen Eindruck. Die Augen hielt er halb geschlossen. Nur durfte niemand denken, daß er weniger aufmerksam war. Dieser Harriman gehörte zur alten Garde. Er war ein Eisenbeißer und Eisenfresser, ein durchtriebener Fuchs. Trotz seiner geringen Größe strahlte er Respekt aus, was man von seinem hageren Assistenten nicht sagen konnte. Er stand im Range eines Colonels und besaß die ungesunde Haut eines Magenkranken. Um seinen Mund herum zogen sich scharfe Falten. »Es gibt keine Erklärung, Sir!« Harriman sagte zunächst nichts. Aber die Spannung stieg. Er fixierte Olmos. »Es muß eine geben, Colonel, verstehen Sie das? Es muß einfach eine Erklärung geben. Das hier wird sich herumsprechen. Jeder wird es erfahren. Das dringt vor bis zum Präsidenten. Soll ich ihm oder seinem Sicherheitsberater vielleicht sagen, daß Typen hier im Weißen Haus ein und aus gehen, die sich Rüstungen anziehen und aussehen, als kämen sie aus der Vergangenheit?« Olmos blieb bei seiner Behauptung. »Es steckte niemand in der Rüstung, Sir.« »Dann ging sie von allein, Colonel?« fragte der Assistent. »Ja und nein.« »Was heißt das?« »Sie ging nicht nur, sie kämpfte auch. Es kann sein, daß sie von einem Geist erfüllt war, zum Teufel. Ich weiß es nicht. Es tut mir leid, ich habe keine Erklärung, warum das gerade hier im Weißen Haus und in dieser Abteilung geschah. Wir haben dieses verdammte Ding untersucht, wir haben das Oberste nach unten gedreht und umgekehrt, doch herausgekommen ist nichts, gar nichts. Es gibt keine Fernsteuerung. Es gibt keinen Motor, es existiert keine Elektronik, es ist alles sauber, so schrecklich normal.« Olmos legte eine Pause ein. Harriman forderte ihn auf, weiterzureden. »Sorry, Sir, mehr habe ich dazu nicht zu sagen.« »Ja, Colonel, und ich glaube nicht an Geister.« »Ich bisher auch nicht. Aber Tadlock und ich sind froh, mit dem Leben davongekommen zu sein.« Der General stierte ins Leere. Er leckte seine Lippen. Dann fragte er: »Was wird eigentlich hier noch alles passieren, Colonel?« »Keine Ahnung, Sir.«
»Oder handelt es sich hierbei um ein Komplott? War das alles abgesprochen zwischen Ihnen?« Harriman bekam zunächst keine Antwort, weil Tadlock seinem Boß etwas zugeflüstert hatte. »Sie können ruhig lauter reden, Tadlock!« »Nein, Sir, ich habe alles gesagt.« Der General nickte. Es galt mehr dem Colonel. »Und was hat Ihnen Tadlock berichtet.« »Er hat mich an etwas erinnert, was diesem seltsamen Erscheinen des Ritters vorausging.« »Gehört es direkt zum Fall?« »Wir sind davon überzeugt.« »Dann reden Sie!« »Es ging da um gewisse Botschaften, Sir, die uns erreichten, denen wir aber zunächst keierlei Bedeutung beimaßen, weil sie über einen Monitor zu uns gelangten und wir dabei an einen Fehler im Computersystem dachten.« »Was waren das für Botschaften?« Harrimans Stimme klang ungeduldig. Olmos unterteilte sie in erstens, zweitens und drittens. Er wiederholte die beiden Sätze und auch den Namen Nadine Berger. »War das alles?« »Ja, Sir!« Der General überlegte. Jetzt hatte er die Augen nicht mehr halb geschlossen. Seine Unterlippe stand vor. Ein Zeichen, daß er mehr als ärgerlich war. Mit leiser Stimme hakte er noch einmal nach, sprach die Botschaften ebenfalls und wollte von dem Colonel wissen, was sie zu bedeuten hatten. »Das kann ich Ihnen nicht genau sagen, Sir. Wir haben auch nur spekuliert.« »Dann teilen Sie mir wenigstens das mit.« »Das Tor ist geöffnet worden, um jemand herschicken zu können. Eben diesen Ritter.« »Der vielleicht Nadine Berger heißt? Das soll ich glauben?« »Ich habe keine andere Lösung.« »Dann hätte in dieser Rüstung eine Frau stecken müssen. Ein verdammtes Weib, das mit seinem Schwert die Hälfte Ihres Büros zertrümmert hat, Colonel.« »So könnte es gewesen sein, Sir, vorausgesetzt, es hätte sich jemand in der Rüstung befunden. Als die Wachen sie aber zusammenschössen, war niemand darin. Wir haben es also mit einem Gegner zu tun gehabt, der eigentlich keiner war und auch nicht durch eine Elektronik ferngesteuert wurde. Es gab weder innen noch außen Anzeichen dafür. So leid es mir tut, Sir, ich muß passen. Ich kenne die Lösung nicht, obgleich ich mir den Kopf darüber zerbrochen habe. Wir stehen hier,
lassen Sie es mich deutlich sagen, vor einem parapsychologischen Phänomen.« »Das darf es aber nicht geben!« flüsterte Harriman. Er senkte den Kopf. »Obwohl wir… nein, lassen wir den Fall Mark Baxter aus dem Spiel. Das paßt nicht hierher.« Olmos ging nicht darauf ein. »Aber es gibt dieses Phänomene, Sir, das wissen Sie auch. Es liegt einiges in den Panzerschränken der CIA verborgen, an das wir beide nicht herankommen. Nicht erklärte Vorgänge, Phänome, die Rätsel aufgeben, Spekulationen über das Jenseits, Rückkehr von Toten, Zombies, auch Ufos. Das Verschwinden von Menschen aus allen Schichten. Ich jedenfalls bin hier überfragt.« »Das habe ich erlebt.« »Sir, ich will nicht anmaßend sein, aber es ist Ihre Sache, jetzt einen Entschluß zu fassen. Sie kennen die Fakten, und ich werde Ihnen helfen, so gut ich kann.« »Das ist selbstverständlich, Colonel!« Olmos und Tadlock wußten genau, daß auch der General mit seinem Latein am Ende war. Was blieb, war die Rüstung. Beinahe harmlos lag sie auf dem Tisch zwischen ihnen. Helm und Oberkörper waren dabei voneinander getrennt. Um sich noch einmal zu überzeugen, stand der General auf und steckte seine Hand in das Loch am Hals. Olmos und Tadlock schauten ihm dabei zu. Zumindest Tadlock, der Computer-Freak und kein Freund des Militärs, hatte Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken. Der General blieb todernst. Er bewegte nur seine Hand, das Gesicht blieb ausdruckslos. Auch sein Assistent schaute finster aus der Wäsche. Als er seine Hand wieder zurückzog, nickte er. »Und, Sir?« erkundigte sich Olmos. Seine Stimme klang scheinheilig. »Haben Sie etwas gefunden?« »Nein, habe ich nicht.« »Das tut mir leid.« Harriman fühlte sich auf den Arm genommen. »Sparen Siel sich Ihre Bemerkungen, Colonel. Sie und Mr. Tadlock sind noch längst nicht aus dem Schneider. Sie können sich vorstellen, daß diese Tatsachen noch einige Untersuchungen nach sich ziehen werden.« »Das ist mir klar, Sir!« Harriman nickte. Bei ihm ein Zeichen, daß er einen Entschluß gefaßt hatte. »Wir werden die Rüstung sowie den Helm noch einmal genau untersuchen lassen. Wir werden die modernsten Methoden anwenden müssen. Ich bin sicher, daß wir etwas dabei herausfinden. Es muß einfach eine Lösung geben. Ich glaube an keinen Spuk.« Wahrscheinlich mußte er so reden, um sich selbst zu überzeugen.
Sein Assistent nickte pflichtschuldig, aber die beiden anderen Männer blieben hektisch. Das sah auch der General. »Sie sind davon nicht überzeugt?« »So ist es, Sir.« »Und weshalb nicht, Colonel? Glauben Sie neuerdings an Spuk und böse Geister?« »Ich will ehrlich sein, General. Ich glaube nur das, was ich mit den eigenen Augen sehe. Und wenn ich keine Erklärung für gewisse Vorfälle habe, dann glaube ich meinetwegen auch an Spuk und böse Geister, und zwar so lange, bis ich eine Erklärung habe.« »Gut, das ist eine Meinung.« Harriman schaute seinen Assistenten an. »Gehen wir.« Und zu den zwei anderen Männern gewandt: »Die Nacht ist noch lang, meine Herren. Ich bin fest davon überzeugt, daß wir in den folgenden Stunden eine Erklärung und auch eine Entscheidung finden werden. Ich werde jetzt den Sicherheitsberater des Präsidenten ins Vertrauen ziehen, wobei ich davon Abstand nehmen möchte, daß er den Präsidenten schon jetzt informiert.« »Das ist die beste Lösung, Sir.« Harriman und sein Assistent verließen den Raum. Olmos und Tadlock salutierten, sie blieben noch und schauten auf die so harmlos daliegende Rüstung. Tadlock bekam einen Schauer. »Wenn ich mir vorstelle, daß wir sie auch anders erlebt haben, wird mir schon sehr komisch.« »Da haben Sie recht.« »Eine Frage, Sir. Haben Sie sich schon eine persönliche Meinung über das Geschehen gebildet?« »Sie?« »Kaum.« »Ich auch nicht, Tadlock. Aber wir werden unseren Spaß noch bekommen, verlassen Sie sich darauf…« *** Das Einhorn war böse, wild und mordsüchtig. Für mich sah es aus, als würde es sich auf der Trennlinie zwischen zwei Welten bewegen, um sich dann mit einem gewaltigen Sprung nach vorn zu katapultieren, damit es uns aufs Horn neben konnte. Durch seine helle Farbe stach es sehr deutlich vom übrigen Grau des Körpers ab. Es hatte sein Maul aufgerissen und zeigte ein scharfes Gebiß. Es erinnerte mich auch an ein Pferd, obwohl das Einhorn einen größeren Körper besaß und auch schlanker sowie muskulöser wirkte als ein normales Pferd. Der Kopf sah verfremdet aus, noch stärker in die Länge gezogen, und weit stand das Horn vor. Ich schaute auf Versy.
Der stand neben mir und schüttelte den Kopf. Dann sagte er: »Daß es schon so weit gekommen ist, kann ich nicht begreifen!« »Hauen Sie ab, Mann!« »Aber…« »Ins Haus!« Ich wollte nicht, daß er in tödliche Gefahr geriet. Noch stand nicht fest, wen das Einhorn sich für seinen Angriff ausgesucht hatte. Es raste weiter, jetzt senkte es seinen Schädel, so daß die Spitze des Horns auf mich wies. Ich zog meine Beretta. Dann schoß ich. Im Haus zuckte Versy zusammen, als er die Schüsse hörte. Er hatte die Tür nicht ganz geschlossen, starrte durch den Spalt nach draußen und bekam mit, wie die geweihten Silbergeschosse in den Körper des Fabeltieres hieben. Zweimal hatte ich abgedrückt, und genau zweimal blitzte es an den getroffenen Stellen auf. Das Fabeltier geriet aus dem Tritt. Es stolperte über seine eigenen, langen Knochenbeine und sah so aus, als wollte es sich vor uns verbeugen. Dann aber riß es seinen Schädel wieder hoch. Aus dem Maul drang ein heftiges Schnauben, und es wühlte sich noch einmal in die Höhe, um seinen Weg fortzusetzen. Unmöglich. Die Kraft des geweihten Silbers wühlte in seinem Körper. Sie nahm dem Tier die Energie. Mit den Hufen um sich schlagend, kippte es zur Seite und rutschte mit der Flanke auf mich zu. Dicht vor meinen Beinen kam die Hornspitze zur Ruhe. Ich schaute nach unten. Zwangsläufig traf mein Blick dabei die Augen des Einhorns. Sie waren kalt, ohne Gefühl, aber sie waren auch gebrochen. Flinter mir hörte ich das Knarren der Tür. Versy hatte gesehen, daß keine Gefahr mehr bestand. Er verließ das Haus und hatte erst einen Schritt hinter sich, als er denselben unheimlichen Vorgang erlebte wie ich. Das Tier löste sich auf… Es war kaum zu fassen, aber es verschwand vor unseren Augen, begleitet von einem seltsamen Schimmer, der aussah wie Mondlicht in einer klaren Winternacht. Dann war die Stelle leer. Es stellte sich die Frage, ob wir alles nur geträumt hatten. Die Antwort lautete nein, dazu war das Erlebnis zu intensiv gewesen, und auch Kilian Versy hatte alles mitbekommen und war ein Zeuge. Ich nickte ihm zu, ging dorthin, wo das Einhorn einmal gelegen hatte, un spürte nichts mehr. Es war auch keine Restmagie mehr vorhanden, auf die mein Kreuz hätte reagieren können.
Dann drehte ich mich um. Kilian Versy hob die Schultern. »Du möchtest eine Erklärung haben, John.« »Wenn es geht.« »Es ist schwer. Ich kann dir nur eine allgemeine geben. Mit der müssen wir zufrieden sein.« »Dann bitte.« »Für mich war es ein Gruß aus dem unsichtbaren Reich, das es einmal hier gegeben hat, als dies noch nicht alles Land gewesen ist, sondern viel Wasser.« »Avalon, meinst du.« »Ja, die Insel der Äpfel, die verschwunden ist. Die sich zurückgezogen hat in eine andere Sphäre«, flüsterte er. »Das Tor ist für einen Moment geöffnet worden, nur einen Spalt, John, aber es hat ausgereicht, um uns einen Gruß zu schicken.« »Einen verdammt gefährlichen sogar.« »Avalon ist nicht nur schön.« »Wie Aibon?« Kilian Versy schaute mich an. Er überlegte sich seine Worte. »Es gibt nur wenige Menschen, die diesen Namen aussprechen. Du gehörst dazu. Kennst du Aibon?« »Ja.« »Ein Paradies der Druiden!« »Richtig.« »Aber nicht hier, John. Hier ist Avalon. Ich sehe Aibon mit einem anderen Land verwachsen, obwohl ich zugestehen möchte, daß es da Verbindungen gibt und sich irgendwo alles trifft.« »Wo siehst du denn Aibon? Oder wo siedelst du es an?« Er hob die Schultern und schaute für einen Moment in den bedeckten Himmel, der sich aus schmutzigweißen Farben und einem dunklen Grau zusammenfügte. »Ich sehe Aibon mehr der französischen Mythologie zugewandt, aber das muß nicht sein. Wie ich schon sagte, es gibt viele Verbindungen, es gab Kontinente, und sie haben sich getroffen wie Strömungen, denn es existiert natürlich auch eine Verbindung zwischen Atlantis und Avalon. Darauf wirst du immer treffen.« »Jetzt hast du mich neugierig gemacht.« Er winkte ab. »Später, John, nicht alles auf einmal. Wir werden bestimmt noch darüber reden, wenn es denn soweit ist.« »Und wie weit muß es noch kommen?« Er deutete in westliche Richtung. »Du hast das Tor gesehen, dieser gewaltige rätselhafte Eingang in eine für Menschen doch sehr fremde Welt. Wir werden hingehen, und es ist dabei sehr wichtig, daß du den Gral mitnimmst. Nur durch ihn wirst du die Veränderung erleben, ansonsten ist es sinnlos. Er allein besitzt die Kraft, die Lücke aufzureißen, die wir beide brauchen.«
»Aber es geht auch von der anderen Seite, wie uns das Einhorn bewiesen hat.« »Ja, nur sind diese Kräfte mächtiger.« Ich sah auf die Stelle, wo das Tier gelegen hatte. »Weißt du, Kilian, ich frage mich immer wieder, warum es versucht hat, uns zu töten. Hätte ich es nicht gestoppt, wäre es auf dich oder mich losgegangen, und ich sehe dafür kein Motiv.« »Frage in Avalon nach.« »Das ist mir eigentlich zuwenig.« Er legte mir eine Hand auf die Schulter. »Du bist viel zu voreilig, John Sinclair. Das solltest du nicht sein. Du mußt einfach abwarten. Rätsel, die vor oder in Jahrhunderten entstanden sind, können nicht in Minuten gelöst werden. Damit müssen wir uns abfinden. Wir brauchen einen Teil der Geduld, die die Zeit hat. Erst dann geht es uns besser.« »Ja, da magst du recht haben.« »Und jetzt tu uns beiden den Gefallen und hole deinen Gral. Danach sehen wir weiter.« So geheimnisvoll der Kelch mit der Kugel auch sein mochte, ich war ehrlich mir selbst gegenüber, denn in diesem Fall bedeutete er allein von der Größe her für mich ein Hindernis. Es war vielleicht gut, wenn ich eine Tasche fand, in die ich den Dunklen Gral hineinlegen konnte. Dann war die Behinderung nicht zu groß. Wie oft hatte ich schon in Gasthäusern übernachtet wie diesem hier. Sie waren irgendwo alle gleich, fast so wie die modernen Kettenhotels. Ich lief über enge Stiegen nach oben und hielt mich am Geländer fest, das sich unter meinem Druck leicht bog und ein häßliches Knarrgeräusch von sich gab. Mein Zimmer lag oben im Gang. Die Tür hatte ich verschlossen. In der Tasche suchte ich nach dem Schlüssel, fand ihn und schloß auf. Der Raum war klein, die Decke niedrig. Ich fand alles so vor, wie ich es verlassen hatte. Den Dunklen Gral hatte ich nicht offen stehen lassen wollen und ihn deshalb in den schmalen Schrank gestellt. Ich zog die Tür auf, wollte in den Schrank hineingreifen, wo er auf einem Regal hätte stehen müssen. Er stand nicht mehr da. Ich sah ihn überhaupt nicht mehr. Der Dunkle Gral war und blieb verschwunden. Man hatte ihn gestohlen! *** Ich saß auf dem Bett wie eine Figur. In den ersten Augenblicken war ich nicht einmal fähig, etwas zu denken, geschweige denn, mich zu bewegen. Das Fenster war geschlossen, die Tür hatte ich erst
aufschließen müssen, dennoch war jemand gekommen und hatte mir den Gral genommen. Wer? Von draußen hörte ich schwache Stimmen. Wahrscheinlich waren einige Dorfbewohner zusammengelaufen, um über das Gesehene zu diskutieren. Die Stimme des Professors hörte ich ebenso hervor wie die der Wirtin Alva, und meine Gedanken beschäftigten sich automatisch mit ihr. Sie hätte Zugang zu meinem Zimmer gehabt und hätte den Gral auch stehlen können. Nur – was hätte das für einen Sinn ergeben? Keinen, das war mir klar. Ich wollte nicht daran glauben, es ging mir einfach gegen den Strich. Zwar kannte ich die Frau nicht sehr gut, aber daß sie etwas mit dem Gefäß hätte anfangen können, erschien mir doch mehr als unwahrscheinlich. Nach einer Weile stand ich auf und untersuchte das kleine Zimmer noch einmal. Natürlich ohne Erfolg. Weder der Kelch noch die Kugel waren zu sehen. Also mußte ich ohne ihn den Weg antreten, dann aber würde mir der Pfad nach Avalon verschlossen bleiben. Dann würden wir nie durch das Tor in die andere Welt schreiten können. Ich war gespannt darauf, wie Kilian Versy reagieren würde und ob er trotz allem noch eine Chance sah, die geheimnisvolle Insel der Äpfel zu erreichen. Mit einem letzten wütenden Blick auf das Zimmer verließ ich den Ort und ging nach unten. Diesmal langsamer und gedankenschwer. Als ich die Haustür öffnete, standen die Wirtin und der Professor beisammen. Beide drehten mir ihre Köpfe zu. Kilian sah sofort, daß etwas nicht stimmte. Er mußte es einfach an meinem Gesicht ablesen. »Wo ist der Gral, John?« »Nicht da.« Er schüttelte den Kopf. »Wie bitte? Was sagst du? Er ist nicht mehr da. Wo denn, zum Henker?« »Ich weiß es nicht.« »Hast du überall nachgeschaut…?« Ich unterbrach ihn. »Er wurde mir gestohlen, Kilian. Jemand muß in mein Zimmer eingedrungen sein und ihn weggenommen haben. Es gibt keine andere Möglichkeit.« Er strich über sein Gesicht. »Das ist ja schrecklich, John. Dann sind wir von…« »Ich war es nicht!« meldete sich Alva und winkte heftig mit beiden Händen ab. »Ich glaube Ihnen.« Sie schien erleichtert zu sein. Dann hörte sie Versys Frage. »Wer könnte es denn dann gewesen sein?«
»Frag mich nicht. Ich kenne mich hier nicht aus. Gibt es Verbündete in Glastonbury?« »Du meinst wegen Avalon?« »Sicher.« »Nein, John, das glaube ich nicht. Hier ist alles in der Reihe. Jeder steht an seinem Platz. Alle wissen Bescheid, aber die Menschen behalten es für sich. Sie sprechen mimt keinem Fremden darüber. Du kannst sie fragen, und sie werden dich nur anschauen, aber keine Antworten geben. Es ist ein geheimnisvoller Ort, und der soll es auch immer bleiben.« »Alles klar, Kilian, kein Widerspruch. Und trotzdem muß es jemand gegeben haben, der in mein Zimmer eindrang und meinen Gral stahl.« Der Professor nickte. »Ja, da hast du recht.« »Aber wer war es denn?« »Ich weiß es nicht.« Auch Alva schüttelte den Kopf. Damit wollte ich mich nicht zufriedengeben und sprach sie scharf an. Über uns spielte der Wind mit dem letzten vertrockneten Laub, das noch an den Zweigen der Bäume hing. Er ließ die braunen Blätter rascheln. »Wer hat denn eine besondere Beziehung zu Avalon oder zu dieser Vergangenheit?« »Wir alle«, flüsterte Alva. »Moment mal. Soll das heißen, daß jeder, der es will, in das Land hineingehen kann?« »Niemand schafft es.« »Das müssen Sie mir näher erklären.« »Es ist da, obwohl wir es nicht sehen. Wir wissen, wo wir wohnen. Vielleicht sind wir selbst ein Mythos oder eine Legende, wer kann das schon sagen? Die Insel der Äpfel existiert, aber sie befindet sich nicht im sichtbaren Bereich, sondern in unseren Köpfen. Davon müssen wir hier ausgehen, das wissen auch alle, und wir können damit leben, ob Sie es glauben oder nicht. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.« Die Frau nickte uns zu, drehte sich um und verschwand im Haus. »Mist«, ärgerte ich mich. »Was willst du, John? Du kannst dieses Gitter nicht durchbrechen. Es ist einfach unmöglich.« »Ja, das scheint mir auch so zu sein. Mich würde nur interessieren, was sie überhaupt wissen.« »Alles und nichts, John. Sie können jeder auf das Tor zugehen, ohne daß etwas geschieht. Sie können hindurchschreiten, und es wird wieder nichts geschehen. Aber sie wissen sehr genau, daß hier in Glastonbury die Wiege der britischen Mythologie gestanden hat. Das ist ihnen klar, damit haben sie sich abgefunden. Sie wissen vieles, ohne überhaupt etwas zu wissen. Es
ist, wie man sagt, in ihren Köpfen. Und das ist tatsächlich keine Übertreibung, John.« »Allmählich glaube ich es auch.« »Du mußt es hinnehmen. Dies ist das englisch^ Jerusalem, die mythische Stätte.« »Klar, Kilian, und wir werden den Weg nach Avalon auch jetzt gehen, nur eben ohne den Dunklen Gral.« »So ist es.« »Und damit bleibt das Tor geschlossen.« Er hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Den Rucksack trug er bereits. Über seinen Inhalt wußte ich nicht Bescheid. Ich dachte daran, daß er auch den Gral beherbergen könnte, aber das war ein unsinniger Gedanke. »Gehen wir?« »Ja.« Wir schauten uns nicht mehr um. Das alte Gasthaus verschwand wie ein Spuk im Dunst. Einen Teil des Ortes mußten wir durchqueren. Ich nahm den Torfrauch wahr, und er erinnerte mich wieder an die Realität, in der wir uns bewegten. Über den Dächern lag ein klarer, leicht baulich schimmernder Rauch, von der Farbe etwas heller als der düstere Spätherbsthimmel. Es war Tag, aber ich hatte den Eindruck, durch die Dämmerung des hereinbrechenden Abends zu schreiten. Im Sommer sah es hier sicherlich wunderschön aus. Oder auch im Frühling zur Zeit der Apfelblüte. Nun jedoch duckte sich der Ort unter der Last der Jahreszeit. Das Einhorn mußte auch von anderen Menschen gesehen worden sein. Es gab keinen, der uns darauf ansprach. Wenn wir den zumeist dunkel gekleideten Menschen begegneten und sie für einen Moment in unsere Gesichter schauten, dann drehten sie die Köpfe so schnell wie möglich wieder zur Seite. Keiner wollte sich offenbaren, niemand wollte mit uns einige Worte wechseln. Wir waren fremd, ausgestoßen innerhalb der schmalen Straßen oder Gassen. Graue Fassaden, einige von ihnen durch Efeu oder andere Pflanzen bewachsen. Rauch quoll aus den Kaminen. Wie ein Teppich legte er sich schließlich über den Ort. Wir gingen nach Westen, denn dort erhob sich der Hügel, und auf seiner Kuppe stand das Tor. Aus der Ferne hatte das Tor wie der Turm der Dorfkirche ausgesehen. Aber nur der Turm, ohne ein zweites oder drittes Gebäude darum, das ihm Schutz gab. Die Häuser verschwanden. Vor uns breitete sich die glatte, baumlose, beinahe schon steppenartige Landschaft aus, die von einem dichten Grasteppich bewachsen war.
Diesmal sah er nicht satt und grün aus. Die winterlichen Brauntöne überwogen. An einigen Stellen hatte der Wind auch Laub zusammengeweht und es wie breite Inseln liegen lassen. Mächtig war der Himmel über dem Tor. Ein Gebilde wie ein gewaltiges Gemälde. Durchzogen von düsteren Farben, von schweren Wolken, die einer seichten Bläue kaum Platz ließen. Eine schwermütige, bedrückende Landschaft, gefüllt mit düsteren Geheimnissen. Wind wehte uns entgegen. Er hatte seine eigene Sprache. Er war nicht sehr kalt, jedenfalls kam es uns so vor. Er umsäuselte uns, als wollte er uns bestimmte Botschaften bringen. Vor uns lag kein Haus mehr, keine Hütte, nur eben die Weite des Landes und auch kein Weg, der zum Hügel hinführte. Wir gingen über die weite Fläche mit dem dunkel gewordenen Wintergras, und wir stiegen dabei leicht bergan. Ich schaute nach vorn. Natürlich behielt ich das Tor im Blick. Für mich auch jetzt noch mehr ein Turm mit einigen zugemauerten Fenstern. Drei Zinnen waren deutlich zu erkennen. Aber auch die Öffnung am unteren Ende des Turms. Das also war das richtige Tor. Schon jetzt sah es mir ziemlich breit aus, als wäre es von einer Riesenfaust in das Mauerwerk geschlagen worden. Noch etwas sah ich. Ein graues Band, das sich von einer bestimmten Stelle aus bis zum Tor hinzog und dort endete. Für mich war es ein Weg, und ich sprach meinen Begleiter darauf an. »Nicht direkt, John. Du siehst es zwar als Weg. Tatsächlich aber ist es eine Treppe mit sehr breiten Stufen, die auch entsprechend flach sind. Sie führen dich ans Ziel.« Damit gab ich mich zufrieden. Es dauerte nur einmal drei Minuten, bis wir die erste Stufe erreicht hatten. Hier hielten wir an. Kilian atmete die klare Luft tief ein. Der Torfgeruch hatte sich hier mehr verflüchtigt. Er war nur mehr schwach zu riechen. Ich schaute zurück. Das Dorf duckte sich in die Ebene hinein. Nur die Kathedrale von Glastonbury überragte die kleinen Häuser. Sie sah aus wie ein Schutzengel aus Stein. Ein wunderbares Bild, wild und gleichzeitig romantisch, aber auch rätselhaft. Bäume streckten ihre Zweige gegen das Himmelsgrau. Der Wind bewegte sie und ließ sie zittern. Vögel hockten wie schwarze Klumpen im kahlen Geäst. »Gehen wir weiter, John?« »Sicher.«
Die Stufen waren sehr breit. Ich bin nicht gerade klein. Hier brauchte ich fast drei Schritte, um eine Stufe hinter mich zu bringen. Danach begann jeweils ein schmaler grüner Rasenstreifen, dann konnte ich die folgende steingraue Stufe betreten. »Wer hat den Weg angelegt?« Versy hob die Schultern. »Ich kann es dir nicht sagen, John. Ich weiß es leider nicht. Vorfahren, Ahnherren, irgend jemand trägt dafür die Verantwortung.« »Aber er ist sehr alt, nehme ich an.« »Das muß er. Schau dir die Steine an. Sie zeigen Spuren von Verwitterung.« Es ging nicht nur bergauf. Manchmal blieben wir auch auf einer Höhe, dann liefen die Stufen normal weiter. Das Tor rückte näher und näher. Wir erkannten dessen Größe. Es war wuchtig, ich verglich es mit einem Monument. Wie verloren, aber gleichzeitig bedeutungsschwer stand es in dieser leeren Landschaft. Als hätten es frühgeschichtliche Eroberer einfach vergessen, aufzunehmen. Unsere Schuhe schleiften über das rauhe Gestein. Der Wind frischte hier ein wenig auf. Er wühlte in meinen Haaren, er strich über die Kleidung hinweg, aber er veränderte nichts. Das Bild blieb. Selbst für mich, der ich viel erlebt hatte, war es kaum vorstellbar, daß hinter diesem Tor die geheimnisvolle Insel Avalon liegen sollte, auch wenn sie im Unsichtbaren verschwunden war. Wegen des Windes hatte ich die Augen etwas verengt. Ich wollte nicht, daß sich Tränen bildeten und meinen Blick verschleierten. Kurz vor dem Endpunkt, also der Hügelkuppe, führten die letzten Stufen waagerecht weiter. Es ging nicht mehr höher. Unwillkürlich verlangsamte ich meine Schritte. Nein, ich hatte keine Angst vor dem gewaltigen Torturm, aber sein Anblick aus der Nähe flößte mir doch einen gewissen Respekt ein. Das war schon etwas. Ein Zeugnis der Vergangenheit, etwas, das zwei Welten voneinander trennen sollte, wobei die eine Welt, die hinter dem Tor liegende, nicht sichtbar war. Das sehr breite Tor ließ natürlich einen Blick auf die Gegend dahinter zu. Sie sah nicht anders aus als die davor. Mit einem Unterschied allerdings. Die grauen Stufen setzten sich nicht mehr weiter fort. Dahinter lag die völlig normale Rasenfläche. Ich hob die Schultern. »Ratlos, John?« fragte Kilian leise. »Ein wenig.« »Ich nicht.«
»Und warum nicht?« »Dahinter liegt Avalon.« Meine Antwort klang etwas zynisch. »Besteht Avalon nur aus einer glatten Grasfläche?« »John, ich bitte dich. Du weißt selbst, daß es andere Welten gibt, für die man einen Schlüssel haben muß.« »Den man mir stahl.« »Leider.« »Ich frage mich natürlich weiter, was ich hier noch soll? Es ist interessant, das gebe ich zu, aber das wird mich kaum weiterbringen, auch nicht zu Nadine Berger, schätze ich.« »Könnte sein.« Ich lächelte knapp. »Trotzdem werde ich das Tor durchschreiten und möchte dich bitten, hier auf mich zu warten.« »Warum?« Kilian wunderte sich. »Damit einer Bescheid sagen kann, wenn ich verschwunden bin. Das ist der Grund.« »Den ich dir nicht abnehme.« »Nicht mein Problem.« Ich fummelte nach der Kette, weil ich das Kreuz nicht mehr verdeckt tragen wollte. Mein Begleiter schaute wissend und lächelnd zu, als ich das Kreuz vor der Brust zurechtrückte. »Hast du was?« »Das ist es also«, sagte er. »Bill Conolly erzählte mir davon. Ich sehe es wunderbar.« »Danke, Kilian.« Bei den letzten beiden Worten hatte ich den Blick gesenkt, um das Kreuz beobachten zu können. Wenn wir tatsächlich an der Grenze standen, dann mußte es von ihm einfach gespürt und gemerkt werden. Es mußte reagieren, es mußte leuchten, strahlen, Kräfte entwickeln, aber es tat sich nichts. Neutralität war angesagt. »Bist du enttäuscht, John?« »Worüber?« »Daß dir dein Kreuz keinen Hinweis gibt.« Ich hielt mein Gesicht gegen den Wind, um ihn wie Atem auf der Haut zu spüren. »Nein, ich bin nicht enttäuscht. Ich weiß ja, daß es einen Weg nach Avalon gibt.« Er nickte. »Dann geh hin.« »Bleibst du?« »Ja.« Ich lächelte ihm zu, drehte mich herum, holte noch einmal tief Luft und schritt auf das Tor zu. So stark wie möglich konzentrierte ich mich auf diesen Durchgang. Er lockte mich, er lag so herrlich frei und offen vor mir. Ich brauchte nur
hindurchzuschreiten. Es war alles so normal, abgesehen davon, daß sich das Bauwerk so allein aus der Landschaft hervorhob. Sicherlich hatte es eine Vergangenheit, eine Geschichte, die aber würde ich sicherlich noch erfahren. Und so bewegte ich mich weiter, geriet schon sehr bald in den Windschatten der Mauern und hatte das Gefühl, das alte Gestein riechen zu können. Es war wohl mehr eine Täuschung. Die nächsten beiden Schritte brachten mich in den Tordurchgang hinein, wo ich stehenblieb. Veränderte sich etwas? Hörte ich Stimmen? Umwehten mich Botschaften aus einer fremden Welt? Es war nichts zu spüren. In jeder Burg der Welt hätte ich ebenso durch den Eingang schreiten können, und nichts anderes wäre dabei geschehen. Ich schaute mir die Innenseite der Wände an. Auch deshalb, um irgendwelche Zeichen oder Spuren zu entdcken, die möglicherweise auf Avalon hinwiesen. Es war nichts zu sehen, nur witterungsbedingte Spuren. Und dahinter sollte das geheimnisvolle Avalon liegen? Ich schaute hin und konnte es nicht glauben. Eine flache Landschaft breitete sich vor meinen Augen aus, die erst später überging in ein grünes Hügelland. Nein, das war nicht Avalon, nicht so. Ich mußte einem Irrtum unterliegen. Und doch ging ich weiter. Fünf Schritte reichten aus, um das Tor zu durchqueren. An der anderen Seite stand ich. Nichts passierte. Der gleiche Wind, der gleiche Geruch, das gleiche leicht angebräunte und traurig aussehende Gras. Nicht einmal ein Stein wies auf die Insel der Äpfel hin. Es war schon seltsam… Beinahe schmerzlich merkte ich, wie sehr mir jetzt der Dunkle Gral fehlte. Aber war es richtig, sich allein auf ihn nur zu verlassen? Hätte dann alles anders ausgesehen? Eine Hypothese, mehr nicht. Eine Theorie, die im Grau der Gedanken verschwamm. Nein, so ging es nicht. Kilian Versy und ich mußten uns einfach etwas anderes einfallen lassen. Es konnte einen Zauber geben, eine Beschwörung, die uns den Weg freimachte. Ich war auch davon überzeugt, daß er mehr wußte, als er mir gegenüber zugegeben hatte. Er hatte sich mit dem englischen Jerusalem und seiner Umgebung beschäftigt. Hier existierte eine sehr komplizierte Mythologie, auch wenn man sie als zentral ansehen mußte, weil von diesem Ort aus Legende geschrieben wurde. Ich drehte mich wieder um.
Und dann kam ich mir vor wie Lots Weib, das wegen seiner Neugierde zur Salzsäule erstarrt war. Kilian Versy sah ich nicht mehr. Er hatte seinen Platz mit einer anderen Person getauscht. Mit einer Frau. Nadine Berger hieß sie. Aber das war nicht einmal die große Überraschung. Nadine hielt etwas in der Hand, das mir gehörte. Es war der Dunkle Gral! So weit wie möglich hatten die Helfer das Büro des Colonels wieder aufgeräumt. Man konnte sich dort wieder aufhalten, leider ohne Verbindung nach draußen, denn die komplizierte Telefonanlage hatte den Kampf nicht überstanden. Olmos stand da und starrte gegen die Wand. Seine Hände hatte er auf den Rücken gelegt. Tadlock hockte auf der Schreibtischkante und besah seine Fingernägel. Zwischen den beiden Männern hatte sich das Verhältnis etwas gelockert. Es war nicht mehr so förmlich wie zwischen Vorgesetzten und Untergebenem. Der Colonel drehte sich um. Tadlock schaute hoch. Auf dem Gesicht des Offiziers lag ein gequältes Grinsen. Tadlock ahnte, worüber er nachdachte und kam auf das Thema zu sprechen. »Wissen Sie, Sir, wie ich mir vorkomme?« »Ja, wahrscheinlich so wie ich. Ich habe das Gefühl, ein Gefangener zu sein.« »Stimmt. Sowohl äußerlich als auch im Innern.« Olmos dachte über die Worte nach. »Wieso auch im Innern, Tadlock?« »Das ist ganz einfach bei den Verhältnissen. Uns ist etwas passiert, das man nicht erklären kann. Etwas Unheilvolles, Geheimnisvolles, Irrationales. Wir können es uns mit dem Verstand nicht erklären. Das ist gerade für Techniker oder Soldaten schlimm, die ja eine Lösung haben müssen, finde ich.« »Sie haben mir das aus dem Herzen gesprochen, Tadlock.« Der Colonel nickte einige Male. »Glauben Sie denn, daß es vorbei ist, Sir?« Diese Frage hatte Olmos erwartet und sich beinahe schon davor gefürchtet. »Sie bringen mich in eine Zwickmühle, Tadlock.« »Pardon, das hatte ich nicht vor. Ich überlege natürlich auch, was noch geschehen könnte und ob dies erst der Anfang gewesen ist.« »Wovon? Vom Ende?« »Das will ich nicht hoffen. Jedenfalls haben wir es hier mit Kräften zu tun, die uns überlegen sind. Haben Sie schon über Zeitreisen nachgedacht, Sir?« »Nicht bewußt.« »Aber immerhin.«
»Ja, immerhin!« gab er zu. »Ich habe mich mit Zeitreisen beschäftigt, aber auf eine andere Art und Weise, als wir beide es erlebt haben. Ich versuchte, dies mit der Mathematik zu erklären, ws mir leider nicht gelang.« »Ich bin der Ansicht, Sir, daß wir hier ein Zeitreise-Phänomen erlebt haben.« Olmos nickte. »Sehr gut. Was heißt das im einzelnen?« Tadlock blieb auf der Schreibtischkante sitzen. »Was es genau bedeutet, kann ich Ihnen nicht sagen. Ich glaube eher daran, daß dieser Ritter aus der Vergangenheit gekommen ist. Das wird die Analyse der Rüstung ergeben, verlassen Sie sich darauf.« »Okay, ich stimme mit Ihnen überein, Tadlock. Aber da gibt es einen Denkfehler.« »Sie machen mich neugierig, Sir.« »In der Rüstung steckte niemand. Und wir haben noch immer nicht herausgefunden, wer sich hinter dem Namen Nadine Berger verbirgt. Diese Frau muß unmittelbar damit zu tun haben.« Tadlock hob die Arme und ließ sie wieder fallen. »Korrekt, Sir, Sie haben gewonnen.« »Darauf kommt es mir nicht an. Ich will eine Lösung haben.« Olmos verschärfte seine Stimme. »Ich habe gelernt, daß es für jedes Problem eine Lösung gibt.« »Stimmt, Sir. Nur müssen wir hierbei umdenken. Sie wissen selbst, daß ich ein Computer-Freak bin, mittlerweile jedoch überkommt mich das Gefühl, daß mir der Computer auch nicht helfen kann. Nicht bei diesen brennenden Problemen. Dafür gibt es kein Programm. Da sind wir einfach gezwungen, umzudenken, vielleicht alles Rationale vergessen uncT uns um Dinge kümmern, die bisher im Verborgenen gelegenen haben. Etwas anderes kann ich dazu nicht sagen.« »Ein wenig zuviel Theorie, Tadlock. Finden Sie nicht auch?« »Klar, Sir, klar. Aber durchbrechen Sie mal die Theorie. Ich will Ihnen sagen, was ich meine. Dieser Ritter oder besser gesagt, diese Rüstung waren erst der Beginn. Ich bin der Meinung, daß noch etwas auf uns zukommt. Diese Nacht hat es in sich.« Colonel Olmos hatte seinen Kopf gesenkt. Jetzt hob er ihn wieder an, weil er Tadlock ins Gesicht sehen wollte. »Dann frage ich mich, was wir dagegen unternehmen können? Wir sind dazu verpflichtet, denn wir haben einen Eid geschworen.« »Wo fangen wir an? Wo holen wir Hilfe? Wo können wir welche erwarten? Bei General Harriman?« »Nein.« »Das sehe ich auch so.« »Aber wir können auch keinen Alleingang wagen. Wir müssen davon ausgehen, daß man uns auf die Finger schauen wird. Vor allen Dingen
dann, wenn der Sicherheitsberater des Präsidenten informiert worden ist. Deshalb bleibt uns nichts anderes übrig, als Harriman ins Vertrauen zu ziehen. Er muß mit uns auf einem Gleis laufen.« »Das wird schwer werden.« »Weiß ich. Haben Sie einen besseren Vorschlag?« »Sir, was ist hier gut, was ist hier besser? Das wissen wir beide nicht. Natürlich habe ich mir meine Gedanken gemacht und bin auch zu einem Ergebnis gekommen. Ich denke an diese drei Botschaften. Sie wollen mir nicht aus dem Kopf. Und man hat sie uns über den Computer geschickt. Wir lasen sie schlicht und einfach vom Bildschirm ab. Ich könnte mir vorstellen, daß wir genau dort wieder ansetzen. Beim Computer, beim Bildschirm. Da geht es dann weiter.« »Toll.« Er sagte es so, daß zu hören war, wie wenig ernst der Colonel es meinte. »Haben Sie als der große Fachmann denn auch das entsprechende Programm, das Sie eingeben können?« »Nein.« »Wollen Sie dann vor dem Monitor warten, bis wieder eine neue Botschaft übermittelt wird?« »Das hatte ich vor.« »Vergessen Sie es.« Olmos winkte fast wütend ab. »Darf ich Ihnen trotzdem noch meinen anderen Gedanken darlegen, Sir?« »Aber schnell. Ich will mit Harriman reden.« »Es dauerte auch nicht lange.« Tadlock legte einen Finger gegen seine Stirn. »Ich frage mich schon die ganze Zeit über, warum das ausgerechnet hier bei uns passiert ist! Was ist der Grund? Weshalb hat man sich keine andere Behörde oder eine andere Institution ausgesucht? Haben Sie darüber schon einmal nachgedacht?« »Noch nicht.« »Ich schon.« »Dann lassen Sie hören.« »Langsam, ich würde nicht von einem Ergebnis sprechen, noch nicht. Ich finde nur, daß wir oder das Weiße Haus etwas haben muß, was andere nicht besitzen.« »Was wäre das?« »Einen Empfänger!« Olmos bekam große Augen. »Hä? Was haben Sie da gesagt? Einen Empfänger? Hörte ich richtig?« »Ja, Sie haben sich nicht getäuscht.« Der Colonel pfiff durch seine strichdünnen Lippen. »Das muß ich mir erst einmal durch den Kopf gehen lassen. Da komme ich nicht mit. Wieso sind wir ein Empfänger und für wen?« »Für die andere Kraft, die uns aus einer anderen Dimension angepeilt hat, Sir.«
»Wie schön. Das ist Science Fiction, das ist…« »Eine Vermutung, Sir.« Olmos schüttelte den Kopf. »So geht es nicht weiter. Möglicherweise haben Sie recht. Es kann ja ein Geheimnis im Weißen Haus geben. Wenn ja, dann wird man es uns kaum sagen. Es wäre ja auch unglaublich, wenn sich hier Dinge auftäten, die das gesamte Gefüge der Welt auf denKopf stellen würden.« »Unsere Erde steckt voller Überraschungen, Sir. Warum nicht auch das?« »Lassen wir das Philosophieren. Wir werden uns den realen Dingen zuwenden.« »Also Harriman?« »Wir gehen hin.« »Okay, Sir.« Es war Tadlock anzusehen, daß er sich mit diesem Gedanken nicht anfreunden konnte. Er wollte seinem Vorgesetzten auch nicht widersprechen. Zudem brauchte Olmos bestimmt Unterstützung, und die sollte ihm auf keinen Fall verwehrt werden. Der Colonel verließ sein Büro als erster. Er hob nur kurz die Augenbrauen, als er die beiden Wachtposten rechts und links der Tür sah, die dort standen wie Zinnsoldaten. Der General traute ihnen nicht über den Weg und ließ sie bewachen. »Sie wollen gehen, Sir?« wurde Olmos angesprochen. »Ja.« »Darf ich fragen, wohin?« »Zu General Harriman.« Olmos gab zähneknirschend Antwort. Er kannte die Regeln und wußte, daß er dazu verpflichtet war. Die Kompetenzen dieser Männer reichten sehr weit. »Genehmigt.« Der Colonel knirschte mit den Zähnen, beherrschte sich ansonsten und wollte nur noch wissen, ob sich der General in sein Büro zurückgezogen hatte. »Dort werden Sie ihn finden, Colonel.« »Danke.« Die beiden Männer gingen weiter, und Tadlock sah es Olmos an, wie es in ihm kochte. Um das Büro zu erreichen, brauchten sie den Trakt nicht zu verlassen. Sie mußten nur mit dem Lift eine Etage höher fahren. »Wenn das hier vorbei ist, Tadlock«, sagte Olmos, als er in die Kabine stieg, »quittiere ich meinen Dienst. Das ist einfach zuviel Es zerrt an meinen Nerven.« »Da sagen Sie was, Sir.« Die Tür glitt zu. Lautlos schaffte sie die Kabine eine Etage höher, wo sie sich in dem gleichen Gang wiederfanden. Nur daß hier keine Posten standen. Die brauchte Harriman nicht. Er konnte sich selbst schützen,
und so etwas wie Furcht kannte er auch nicht, jedenfalls behauptete er das immer wieder. Am meisten regte es ihn wohl auf, daß er in zwei Jahren pensioniert wurde. Man munkelte, daß er sich schon jetzt um einen neuen Job kümmerte, denn einfach nur untätig herumzusitzen, das war nichts für ihn. Für Olmos war es wichtig, daß Harriman aus seinem unmittelbaren Dunstkreis verschwand, dann konnte er sich besser entwickeln. Daß die Männer einander nicht mochten, war allgemein bekannt. Vor der Tür des Büros blieben die beiden stehen. »Tadlock, ich hoffe nur, daß wir recht behalten.« »Und weshalb?« »Sonst macht uns der Eisenfresser fertig. Dann verschlingt er uns mit Haut und Haaren.« »Das traue ich ihm sogar zu.« Der Colonel lachte leise. Schlagartig nahm sein Gesicht einen ernsten Ausdruck an, als er gegen die Tür klopfte. Er wirkte sogar verbissen und wartete auf die Nachricht. Die erfolgte nicht. »Dann noch einmal«, murmelte er und klopfte erneut. Auch jetzt ließ General Harriman nichts von sich hören. Tadlock und Olmos schauten sich an. »Zwei Möglichkeiten gibt es, Sir. Entweder ist Harriman eingeschlafen, oder er hat sein Büro verlassen.« »Der und schlafen? Nein.« »Versuchen wir es so.« Olmos bewegte den Knauf. Für ihn fühlte sich das Metall so kalt an wie die Haut eines Toten. Für einen Moment schauderte er zusammen, dann preßte er sein Knie gegen die Tür und drückte sie nach innen. Das Büro war hell erleuchtet. Es gehörte zu den größeren Räumen in diesem Komplex. Es war auch entsprechend besser eingerichtet. Dazu gehörte auch der Barschrank und die Sitzgruppe für Besucher. Nie hatte Olmos das Licht so grausam und schmerzlich empfunden wie in diesem Augenblick. Hinter sich hörte er Tadlock würgen, denn auch er sah das schaurige Bild. Der General lag über seinem Schreibtisch. Oder vielmehr das, was von ihm übriggeblieben war. Um ihn herum und auch auf dem Boden breiteten sich die Blutlachen aus. Selbst über die Schreibtischkante liefen noch die Tropfen und klatschten in die Lache hinein. Wer immer ihn getötet hatte, er hatte auf ganz besonders grausige Art und Weise ganze Arbeit geleistet… ***
»Schließen Sie die Tür, Tadlock!« Olmos wunderte sich über sich selbst, daß er noch in der Lage war, überhaupt sprechen zu können. Seine Kehle kam ihm wie zugeklebt vor. Er selbst ging zwei Schritte vor. Tadlock folgte ihm auf dem Fuß und trat zur Seite. Sein Gesicht sah käsig aus wie das eines Schwerkranken. In den Brillengläsern spiegelte sich ein Teil des Deckenlichts. Sie ließen die dick und grünlich aussehen, als wären sie aus einer Flasche herausgeschnitten worden. Der Körper des Generals wies tiefe Wunden auf. Sogar im Nacken war er getroffen worden, und es kam nur eine Waffe in Frage. »Er war es«, flüsterte Tadlock. »Er war es, Sir, und er hat sein Schwert genommen.« »Ja, verdammt, das weiß ich selbst!« Seine Antwort bestand aus einer Mischung zwischen Schreien und Keuchen. Dabei schüttelte er den Kopf. Er umrundete den Schreibtisch, gab dabei acht, nicht in die Lachen zu treten und schluckte immer wieder den dicken Schleim herunter, der wie alter Käse in seinem Mund lag. Tadlock war neben der Tür stehengeblieben. Er wirkte wie jemand, der darauf wartete, so schnell wie möglich verschwinden zu können, wenn es die Lage erforderte. Die Klimaanlage hatte den Blutgeruch nicht übertünchen können. Er hing wie ein unsichtbares Gespinst im Büro, als wollte er die Männer daran hindern, tief durchzuatmen. Schließlich blieb Olmos stehen. »Der Ritter!« flüsterte er. »Der Ritter hat ihn getötet.« Tadlock schüttelte seinen bleichen Kopf. »Nein, Sir, es war nicht der Ritter. Es war die leere Rüstung, wenn Sie verstehen. Nur sie hat es getan, kein anderer sonst.« »Leere Rüstung…?« »Ja, Sir! Wir haben sie doch erlebt. Aber fragen Sie mich nicht nach einer Erklärung.« Tadlock schlug so heftig vor seine Stirn, daß die Brille tanzte. Olmos nickte. Er konnte einfach nicht zur Seite blicken. Der Tote zog ihn wie magnetisch an. Er fühlte sich selbst dabei wie in einer Zwischenwelt stehend, auf der einen Seite die Lebenden, auf der anderen die Tote. Hier hatte sich das Reich des Unbegreiflichen, der Geister, geöffnet und sich offenbart. Warum gerade hier? Tadlock hatte sich die Frage ebenfalls gestellt. Wollte jemand das Weiße Haus unter Kontrolle bekommen, und nahm dieser Unsichtbare den Weg über die Sicherheitsabteilung, um zu dokumentieren, daß er nicht aufzuhalten war?
Harriman konnte noch nicht lange tot sein. Olmos dachte daran, daß er den Tod melden mußte, aber welch einen Sinn würde das haben? Vielleicht war es besser, wenn er und Tadlock sich heimlich zurückzogen und alles so ließen. »Sir, ich würde vorschlagen, daß wir uns zurückziehen.« Tadlock hatte sich mit demselben Gedanken beschäftigt. »Ja, das wäre besser.« Olmos nickte dem Mann zu. »Wischen Sie den Knauf ab. Ich will nicht, daß man bei einer Untersuchung unsere Prints dort findet.« »Sehr gut, Sir.« Tadlock öffnete die Tür spaltbreit. Dann wischte er mit seinem Taschentuch den Knauf blank. Der Colonel kam auf ihn zu. Sein Gesicht war erstarrt. Er hatte den Kopf leicht eingezogen. So bewegte sich nur jemand, der unter einer starken Furcht litt. Beide Männer wußten, daß nicht nur sie in Lebensgefahr schwebten, auch alle anderen Beschäftigten mußten mit dem Tod rechnen. Sie fragten sich auch, wie es dem Ritter gelungen war, sich zusammenzufügen? Kopf und Körper waren schließlich getrennt gewesen. »Alles klar?« »Yes, Sir!« Tadlock nickte. Mit dem Fuß schob er die Tür behutsam auf und gab dem Colonel den Weg frei. Danach legte er das Tuch wieder um den Knauf und zerrte die Tür zu. »Das wäre geschafft.« »Wie geht es weiter? Haben Sie eine Idee?« »Nein, Sir.« »Aber ich. Wir müssen den Killer finden. Wir müssen versuchen, ihn auszuschalten.« Er sah den skeptischen Blick des anderen und schlug vor, sich Waffen zu besorgen. »Kommen wir damit gegen ihn tatsächlich an?« »Wissen Sie eine bessere Lösung?« Tadlock hob die Schultern. »Keine, Sir. Man kann auch auf keine Einsicht hoffen. Zudem bin ich nach wie vor davon überzeugt, daß es Hintergründe geben muß. Mir gehen die Warnungen auf dem Bildschirm einfach nicht aus dem Kopf.« »Kann ich mir denken.« Olmos bewegte sich auf den Lift zu. »Wir werden zunächst hoch in mein Büro fahren und uns kurz besprechen, wie es weitergehen soll.« »Ja, da sind wir sicher.« Olmos grinste schief. »Sie tun gerade so, als wären wir Verbrecher oder Saboteure.« »Darauf würde es letztendlich hinauslaufen, wenn uns die richtigen Typen erwischen.« »Das müssen wir verhindern.« Olmos hatte schon gedrückt. Die Tür schwang auf, sie gab den Blick in die Kabine frei – und auf die Gestalt
des Ritters, dessen blutbefleckte Schwertklinge gegen die beiden Männer wies… *** Die Zeit fror ein. Sie erstickte fast in diesem Grauen, was beide erlebten. Der Helm saß wieder so normal auf dem Körper, als wäre er nie zuvor abgerissen worden. Das Visier war nach unten geklappt. Frei lag das schmale Sichtrechteck, aber darin zeichnete sich kein Augenpaar ab. Die Rüstung war mit Luft oder mit einem Geist gefüllt, aber nicht einem Körper, der eigentlich hineingehört hätte. Dann ging er vor. Wieder knarrte es bei jeder Bewegung. Ein schwerfälliger Gang. Dann der Vorstoß der Klinge. Diesmal war Tadlock schneller. Bevor sich die blutbefleckte Klinge noch in den Körper des Colonels hineinbohren konnte, riß der Computer-Freak seinen Vorgesetzten zu sich heran. Olmos prallte gegen ihn, brachte auch Tadlock aus dem Gleichgewicht, aber die Klinge huschte vorbei. Was den unheimlichen Ritter nicht von seiner Tat abhielt, denn sofort schwang er sein Schwert herum, weil er zu einem seitlichen Schlag ansetzen wollte. Die Klinge senkte sich nach unten. Zum Glück so langsam, daß beide Männer ausweichen konnten. Dabei stolperte Tadlock über ein Bein des Colonels, er fiel hin, und auch Olmos konnte sich nicht mehr halten, so daß schließlich beide am Boden lagen. Es war genau der kurze Zeitpunkt, der über Leben und Tod entschied. Der Ritter brauchte nur einmal mit einer Klinge schräg zuzuschlagen, um beide zu erwischen. Sie hörten ihn. Jeder seiner Schritte war wie ein Gongschlag bei einer Totenuhr, die allmählich ablief. Bevor sich die Männer noch aufraffen konnten, schlug er zu. Diesmal war die Klinge schneller, auch wenn sie nicht tödlich traf. Der Colonel hatte das Pech, oben zu liegen. Auch wenn er versuchte, sich klein zu machen. Das Schwert war schneller, und es war verdammt scharf. Die Klinge sauste durch die Uniform und zog eine blutige Spur. Olmos spürte den Schmerz nicht. Er stand unter einem Schock. Aber er wußte, daß ein zweiter Schlag gezielter geführt werden würde, und dann gab es kein Entkommen mehr. »Tadlock…« ächzte er. Der Angesprochene tat sein Bestes. Verzweifelt bemühte er sich, seinen Chef aus der unmittelbaren Gefahrenzone zu ziehen. Er hielt ihn an den
Schultern fest und zerrte ihn nach hinten, aber der Ritter würde schneller sein. Er stand vor ihnen. Wieder bewegte er sich relativ langsam, und wieder wuchtete er sein Schwert hoch. Dabei ging er noch einen Schritt nach vorn, um die genaue Position zu erreichen. Beide Männer sahen ihn. Ihre Gesichter waren verzerrt, die Angst hatte ihre Zeichen darin geschrieben. Der kalte, endgültige Tod schwebte unmittelbar vor und über ihnen. Da geschah das Wunder! Keiner wußte zu sagen, ob sich die Klinge schon auf dem Weg nach unten zu ihnen befand, doch für den Bruchteil einer Sekunde umzuckten Blitze die Gestalt des Ritters, die sich wie eine Aura um die Rüstung legten und dafür sorgten, daß er verschwand. Er war plötzlich weg. Einfach so… Tadlock atmete saugend die Luft ein. Er schüttelte den Kopf und flüsterte: »Das gibt es nicht. Das kann nicht wahr sein. Das ist… das ist nicht möglich…« Dann sah er das Blut auf der Uniformjacke des Colonels. Und dies wiederum machte ihm klar, daß die killende Rüstung keine Halluzination gewesen war… *** Nadine Berger also! Mein Gott, wie oft hatte ich mir die Begegnung gewünscht, sie herbeigesehnt, um endlich Fragen stellen zu können. Doch, wo es soweit war, da stand ich da wie ein Schuljunge in der Prüfung, der keinen Ton hervorbringen konnte. Ich war geschockt! Ich konnte es nicht fassen. Sie hatte den Dunklen Gral. Sie war wohl durch das Tor geschritten und hatte ihn geholt, obwohl er mir gehörte. Daß sie ihn stehlen wollte, kam mir nicht in den Sinn. Sie mußte etwas anderes damit vorhaben. Noch immer verließ kein Laut meine Kehle. Ich merkte nicht einmal den frischen Wind, ich sah auch nicht mehr den Turm, alles verschwamm vor meinen Augen zu einer einzigen braungrünen Soße, aus der sich nur die Gestalt der Nadine Berger abhob. Sie sah eigentlich aus wie immer. Das lange Haar leuchtete in einem rötlichen Ton. Wenn die Sonne darauf schien, warf es sogar Reflexe. Sie war normal angezogen, trug Jeans, Stiefel, eine braune Winterjacke mit einem Kragen aus künstlichem Fell. Es erinnerte auch nichts mehr an ihr an die Wölfin, die
sie einmal gewesen war, da stand ein normaler Mensch vor mir, der eine Hölle hatte hinter sich lassen müssen, um wieder die Erlösung zu finden. Die Erlösung als Mensch. Leider als ein Mensch, dem unsere Welt nicht mehr paßte, der sich zurückgezogen hatte. In Avalon hielt sie sich auf. Aber sie konnte auch durch das Tor wieder in die normale Welt treten. Ein magisches Wunder… »John«, hörte ich ihre Stimme. Auch sie hatte sich nicht verändert. Sie klang so völlig normal, wie sie eigentlich immer geklungen hatte. Es war einfach wunderbar. »Was stehst du da herum? Komm zu mir. Oder willst du dir deinen Gral nicht zurückholen?« Natürlich wollte ich das. Ich wollte es ihr auch deutlich sagen, aber das schaffte ich nicht mehr. Meine Kehle war zu, regelrecht ausgedörrt und wund. Deshalb nickte ich nur. Dann ging ich los. Sehr langsam und zögernd. Vor meiner Brust bewegte sich das Kreuz bei jedem Schritt. Vor mir lag das Tor. Es kam mir kleiner vor als beim Hinweg. Die Stützen schienen zusammengewachsen zu sein, und ein kalter Schauer lag auf meinem Rücken. Ich durchschritt das Tor. Für einen Moment wehte mir etwas entgegen. War es der Wind oder ein eisiger Atem? Ich war irritiert, stoppte, ging dann schneller weiter – und ließ das Tor hinter mir. Ich stand ihr fast in Reichweite gegenüber. Sie hielt die Arme leicht vorgestreckt und den Dunklen Gral mit beiden Händen umklammert. Das Gold des Kelches schimmerte geheimnisvoll. Die außen angebrachten Zeichen kamen mir vor, als würden sie sich bewegen, ineinanderlaufen und einen nicht abreißenden Kreis bilden. Aus der Öffnung ragte die Hälfte der Kugel. Es war alles so perfekt, es hatte sich nichts verändert. Schräg neben mir vernahm ich die Atemstöße meines Begleiters. Ich drehte den Kopf und sah ihn mit dem Rücken am Mauerwerk gelehnt stehen. Daß er nicht entsetzt war, las ich an seinem Gesicht ab. Es zeigte eine regelrechte Freude, denn diese Entwicklung gefiel ihm. »Ich habe es dir gesagt, John«, flüsterte er, »es wird sich alles wieder richten lassen. Du mußt nur Vertrauen haben.« »Sicher.« Ab jetzt war er für mich nicht mehr wichtig. Da zählte eigentlich nur noch Nadine. Wir schauten uns an, und sie sah dabei über den Rand des Kelchs hinweg in meine Augen.
»Du bist also hier«, sagte ich mit leiser Stimme. »Ich habe es nicht gewußt, doch ich ahnte es. Eigentlich blieb dir nur dieser eine Weg, denn es war Avalon, das dich erlöste.« »Genau, John, es war Avalon. Ich habe die Liebe zu diesem Land verspürt und auch meine tiefe Sehnsucht, die mich hergetrieben hat. Avalon ist für mich das verlorene Paradies, nach dem sich wohl alle Menschen sehnen, ob sie es nun zugeben oder nicht.« »Das kann sein. Nur habe ich auch damit gerechnet, daß du es noch einmal in deinem Beruf versuchst.« Sie lächelte schmal. »Als Schauspielerin oder als Filmstar? Nein, das kann ich mir nicht antun. Wenn jemand Avalon erlebt hat, dann muß er das andere Leben einfach vergessen. Das ist ihm dann zu oberflächlich, da sind die Gefühle nicht echt. Dort ist alles nur gespielt worden. Nicht so in Avalon. Aber muß ich dir das noch alles erklären, John? Ich glaube nicht. Oder bist du anderer Meinung?« »Nein. Eine neue Aufgabe liegt vor dir. Kannst du mir sagen, welche es ist?« »Ja«, erwiderte sie immer noch lächelnd. »Ich sehe mich als ein Bindeglied zwischen diesen beiden Reichen oder Welten. Es ist einfach wunderbar, dies zu erleben. Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll. Man muß es einfach mitgemacht haben, John. In der Theorie kann ich dir diese Blüte gar nicht schildern. Es ist phantastisch.« »Das glaube ich dir sogar«, erwiderte ich und ließ einen Wermutstropfen in das Glas fallen. »Glaubst du nicht daran, daß es Menschen gibt, die Sehnsucht nach dir haben, Nadine?« Sie zögerte. Ihre Augendeckel bewegten sich. Das Lächeln auf ihrem Mund erlosch. »Du sprichst nicht von dir?« vergewisserte sie sich noch einmal. »Stimmt.« »Dann könntest du die Conollys gemeint haben.« Ich nickte ihr zu. »Sie sind es, Nadine. Sie haben oft von dir gesprochen. Nicht nur Bill und Sheila, vor allen Dingen der kleine Johnny, zu dem du als Wölfin ja ein besonderes Verhältnis gehabt hast, wenn ich mich nicht irre.« »Ja, John, das habe ich gehabt.« Sie senkte den Bick. »Und glaube nicht, daß ich es je vergessen werde. Ich bin sicher, daß wir irgendwann einmal Kontakt bekommen, wir werden zueinander finden, das Schicksal ist nicht ungerecht, aber nicht jetzt, auch nicht morgen oder übermorgen. Ich habe eine andere Aufgabe übernommen. Ich bin die Mittlerin zwischen den Welten, ich stelle die Verbindung her.« »Warum ist mir das nicht möglich?« »Du kennst die Antwort.« »Vielleicht. Doch ich möchte sie von dir hören, Nadine. Ist das so schlimm?«
»Nein, nein, ich werde sie dir auch gern geben. Ich bin durch den Kessel geschritten, ich habe das tiefste Avalon erlebt, und ich bin zu einer anderen Person geworden, obwohl dies nicht so aussieht. Aber die innerliche Wandlung hat sich bei mir vollzogen. Ich bin deshalb gezeichnet und halb auf dieser Welt zu Hause sowie zur anderen Hälfte in Avalon. Das ist meine neue Bestimmung, und damit hast du in mir eine Mittlerin zwischen den beiden Reichen. Ich habe längst nicht alle Geheimnisse enträtselt. Es gibt noch soviel zu tun, aber ich sehe gewisse Dinge sehr klar, und dazu zählen auch die Gefahren.« »Meinst du damit das Einhorn?« »Auch.« »Dann reagiert es ebenso wie du und ist auch in zwei Welten beheimatet.« Sie schüttelte heftig den Kopf, so daß ihre rotbraunen Haare flogen. »Nein, John Sinclair, nein. Daß dies passierte, glich einem Versehen. Es war nicht geplant. Ein böser, nicht voraussehbarer Zufall hat das Tor zwischen den Welten geöffnet, und so konnte es geschehen, daß dieses Einhorn entwischte.« »Ich habe es getötet.« »Ja, ich weiß.« »Woher?« »Man spürt es. Der Wind teilte es mir mit. Aber deshalb habe ich dich nicht hergebeten, obwohl es um diese kurzzeitige Öffnung ging. Es sind noch andere Dinge passiert.« »Welche?« »Es gelang noch einer Gestalt, Avalon zu verlassen. Und sie ist gefähärlicher als das Einhorn. Sehr gefährlich sogar. Es bedarf schon eines gewissen Mutes, um diese Person zu stellen. Es muß jemand sein, der auch kämpfen kann.« »Laß nur, ich weiß schon, daß du mich dabei ins Auge gefaßt hast. Was allerdings noch immer nicht erklärt, daß du mir den Gral entwendet hast.« »Um ihn zu schützen.« »Vor wem?« »Genau vor der Gestalt, der es gelang, aus Avalon zu entwischen, John. Sie hätte ihn an sich gerissen und unvorstellbares Unheil damit anrichten können.« »Wer ist sie?« Hätte Nadine den Gral nicht gehalten, sie hätte bestimmt ihre Arme ausgebreitet. »Ich kann es nicht genau sagen. Sie ist gefährlich, sie ist auch in Avalon nicht nur beliebt. Sie ist ein gefährlicher Geist, der es schafft, sich andere Gestalten zu suchen.« »Gut, und dieser Geist ist euch entwischt.« »Leider.«
»Weißt du denn wo ich ihn finden kann? Was sein Ziel nach dieser Flucht war?« »Ja, ich weiß es«, murmelte sie und machte auf mich den Eindruck, als wäre es ihr gar nicht recht, mir dies zu sagen. Verlegen bewegte sie die Füße. »Komm, so schlimm wird es nicht sein.« Nadine kam nicht sofort zur Sache. »Er… er ist aber nicht mehr in England.« »Das spielt keine Rolle.« »Doch«, flüsterte sie, »sehr sogar. Dieser Geist schaffte es, in einen anderen Teil der Welt zu gelangen.« »Sag es bitte!« »Amerika.« »Himmel, Nadine. Amerika ist groß. Nord oder Süd?« »Nord – in der Stadt Washington. Willst du es noch genauer wissen, John?« »Bitte.« »Er ist im Weißen Haus!« *** Da war es wieder! Dieses Prickeln, dieses Gefühl, in einen tiefen Keller hineinzurutschen, in dem sich ein Loch ohne Ende auftat, um mich, den Fallenden, zu verschlingen. Tatsächlich aber stand ich auf dem weichen Grasboden. Ich hatte nur die Augen für wenige Sekunden geschlossen, um mir die Nachricht durch den Kopf gehen zu lassen. Im Weißen Haus also! Ich schaute Nadine an. Es war ihr verflucht ernst, denn diesmal sah ich kein Lächeln auf ihren Lippen. Und es war von Vorteil, daß sie sich in dieser Welt auskannte und genau darüber informiert war, wo sich die Zentren der Macht befanden. Ich strich über mein Haar, ich ballte die Hände zu Fäusten, ich räusperte mir die Kehle frei. »Warum gerade dort, Nadine? Wie kommt es, daß dieser Geist ins Weiße Haus gelang? Das ist doch kein Zufall oder?« »Nein, das ist es nicht.« »Dann sag mir, womit es zusammenhängt. Oder existiert eine Verbindung zwischen dem Weißen Haus und Avalon? Allmählich halte ich nichts mehr für unmöglich.« Sie widersprach. »Es existiert keine Verbindung zwischen Avalon und dem Weißen Haus. Als damals die Stadt Washington wuchs und auch das Weiße Haus als Amtssitz der Macht errichtet wurde, bescshlossen die Präsidenten Washington und Jefferson gewisse Veränderungen an
dem Gebäude vorzunehmen. Das Weiße Haus und das Capitol sind durch Achtecke besonders hervorgehoben worden. Und das ist der Grundriß eines Tempels für eine bestimmte Loge.« »Ja, die Freimauerer und die Templer«, sagte ich, wobei ich meine eigene Stimme kaum verstand. »Das ist es, John.« Himmel, plötzlich wurde mir ganz anders zumute. Auf diese Verbindung wäre ich von allein nie gekommen. Demnach mußten die Gebäude auf eine gewisse Art und Weise magische Orte oder Zentren sein. Dann gab es also doch eine Verbindung zwischen Avalon und dem Weißen Haus. Ich sprach Nadine darauf an. Sie lächelte etwas verlegen. »Ich kann das nicht bejahen, John. Möglicherweise ist es ein Zufall gewesen, daß dieser Gast im Weißen Haus landete. Er hätte ebenso an einem anderen Platz der Welt in Erscheinung treten können, der eine Verbindung zu Avalon besitzt. So und nicht anders muß man das sehen.« Ich hatte da meine Zweifel. Nadine lächelte. Sie schaute auch gegen den Gral. In ihren Augen lag ein geheimnisvolles Funkeln, als wäre sie längst ein Teil dieses geheimnisvollen Reiches. Ich fragte sie nicht, wie sie in mein Zimmer gekommen war und den Gral an sich genommen hatte. Das erschien mir zweitrangig zu sein. Für mich gab es andere Dinge. »Lassen wir Avalon mal beiseite, Nadine. Du hast doch etwas mit mir vor?« »Ja, ich möchte dich benutzen.« »Okay, versuche es.« »Es geht eben um das Weiße Haus. Es ist furchtbar, John, daß es diesem Wesen gelang, Avalon zu verlassen. Deshalb möchte ich, daß du es vernichtest oder zurückholst, wie auch immer. Es ist mörderisch, es kennt kein Pardon. Was es sich vorgenommen hat, setzt es durch. Bitte, du mußt mir helfen.« »Gibt es denn keinen aus eurem Land, der in der Lage wäre, den Geist zu stoppen?« »Ich wüßte niemand.« »Er ist also ein Ritter?« »Ja.« »Gehört er zum Artus-Clan? Ist er einer der Ritter aus der Tafelrunde des Königs?« »Bestimmt nicht, John. Es ist ganz anders und schwer zu erklären. Am besten, du schaust ihn dir einmal an.« »Jetzt und sofort?« Sie hielt den Dunklen Gral hoch. »Ja, das wäre am besten, John. Außerdem wirst du es allein durch ihn schaffen. Es ist ungemein wichtig, sag’ ich dir.«
Ich hätte mir am liebsten selbst gegen die Stirn geschlagen, weil ich eben alles so unwirklich und phantastisch fand. Hier wurde völlig normal über Angelegenheiten gesprochen, die als märchenhaft angesehen werden mußten. »Willst du mir nicht glauben, John?« Ich schaute zurück auf den Turm und das Tor. Es war schwer, das Land Avalon dahinter zu sehen. Nicht eben unmöglich, doch man mußte schon Phantasie besitzen. Kilian Versy fiel mir wieder ein. In den letzten Minuten hatte er sich nicht gerührt. Er schaute Nadine und mich an, aber auf seinen Lippen lag ein glückliches Lächeln, als wäre er der lachende Dritte oder der große Sieger. »Was sagst du?« fragte ich ihn. Er beugte sich leicht vor. »Ich habe dich gesucht, John. Ich habe dich gefunden, und ich habe dich an diesen mythischen Ort gebracht. Das alles tat ich nicht ohne Grund. Ich hoffe, daß du den Weg gehen wirst, der vorbestimmt ist.« »Durch Nadine.« »Und den Dunklen Gral, John. Du bist der Besitzer dieses wertvollen Gefäßes. Gleichzeitig bist du mehr, denn durch den Besitz hast du auch eine große Verantwortung übernommen. Es ist nicht der Gral von Avalon, der Kelch der Mönche, den Parzival schon suchte und andere mehr…« »Du meinst, die Schale, in der das Blut des Gekreuzigten aufgefangen wurde?« »Ja, genau die.« Ich nickte. »Das stimmt.« Ich wollte nicht mehr über die andere Sache nachdenken. Das brachte mich nur von meinen eigenen Gedanken ab. Doch es gab die großen Verbindungen zwischen Avalon und dem anderen, dem geheimnisvollen Gral. Ich hatte den Dunklen Gral gefunden, obwohl das Wort dunkel nicht das richtige war. Es assoziierte zu schlimme Eigenschaften, als würde er auf der Seite der Schattenwesen und der Nacht stehen. Bisher hatte ich ihn nur wenig eingesetzt, ich hatte ihn einfach nicht gebraucht, das schien sich nun zu ändern. Wahrscheinlich hatte ich ihn nur deshalb bekommen, damit er mir die Verbindung zur geheimnisvollen Insel der Äpfel herstellte. Das war schon außergewöhnlich. Der Professor aus Oxford lächelte mir zu, bevor er sich in Bewegungen setzte und auf mich zukam. Er legte mir beide Hände auf die Schultern. Der Wind zerzauste sein Haar, auf seinem Gesicht lag Vertrauen, gemischt mit einem Lächeln. Zahlreiche Stimmen aus dem Unsichtbaren schienen mich zu umwehen, herangetragen vom Wind, der aus Westen wehte und diese Botschaften brachte.
»Ich wünsche dir viel Glück, John. Du bist derjenige, der den Weg einfach gehen muß. Ich kann dir nur die Daumen drücken, und ich weiß, daß der Richtige ausgesucht wurde.« Mit einem Blick voller Skepsis schaute ich ihn an. »Wenn ich über deine Worte nachdenke, die mir wie ein Abschied vorkommen, habe ich den Eindruck, daß du mehr weißt, als du zugeben willst, Kilian.« »Möglich…« »Bist du nur dieser Professor?« »Reicht das nicht?« »Ich bin manchmal komisch, Kilian.« »Keine Sorge, du kannst mir vertrauen. Ich will dir nichts Böses. Ich möchte nur, daß eine gewisse Ordnung eingehalten wird. Die Zeiten sind stürmisch, John. Nichts bleibt stehen. Alles befindet sich in Bewegung. Mal langsamer, mal schneller. Ein Jahr neigt sich wieder einmal dem Ende zu, es stirbt. Das neue steht bereit und holt schon tief Luft. Es wird voller Überraschungen für dich und deine Freunde sein, das zeichnet sich jetzt bereits ab.« »Dann bist du ein Wahrsager, Kilian?« Er wollte das nicht unterschreiben. »Nein, das bin ich auch nicht. Ich bin nur eine Person, die nachdenkt oder intensiv nachgedacht hat. Das ist alles.« »Gut«, sagte ich und zeigte ein krampfhaftes Lächeln. »Wenn das so ist, dann…« »Laß uns jetzt gehen.« Nadines Stimme klang weich und trotzdem entschlossen. Kilian Versy trat einen Schritt zurück. Ernst schaute er mich an. Mein Blick verfing sich in dem seinen. Ich bekam den Eindruck, als würde er noch immer schauspielern und tatsächlich eine Menge über Dinge wissen, die für mich noch in einem tiefen Dunkel lagen. »Ja«, sagte ich dann, »wir werden sicherlich noch miteinander reden.« Ich streckte meine Arme vor, um den Gral an mich zu nehmen. Nadine Berger gab ihn mir und lächelte dabei. Für einen Moment berührten sich unsere Hände. Dieser Kontakt ließ mich leicht zusammenzucken. Ich fragte mich automatisch, ob das noch dieselbe Nadine Berger war, die ich einmal intim kennengelernt hatte. Nein, das war sie nicht mehr. Nicht, daß sie mir fremd vorgekommen wäre, aber sie war, das Gefühl hatte ich, irgendwie anders. Nachdenklicher, seltsamer, auch nicht ätherischer, aber trotz der Nähe doch weit entfernt. Ich hob die Schultern. »Gut, ich habe eingesehen, daß es keinen anderen Weg gibt.« »Irrtum, John«, sagte sie, »du kannst noch zurück!« »Will ich das denn?«
Sie lächelte. »Nein, das glaube ich nicht. Ich müßte dich nicht kennen, und ich müßte dich völlig anders eingeschätzt haben. Der Gral gehört zu dir. Er ist Aufgabe und Verpflichtung zugleich. Deshalb mußt du es tun.« »Sicher.« Sie ging vor und nickte Kilian zu. Dann richtete sie ihren Blick allein auf das Tor. Auch ich schaute hin. Wieder ging ich den Weg wie schon einmal. Nur hielt ich jetzt den Dunklen Gral fest, und er sollte alles ändern, sollte die Brücke zwischen zwei Reichen und Welten sein, die sich aufgetan hatte. Ich spürte nichts. Der Wind war normal, die Steine unter meinen Füßen besaßen die gleiche Härte. Aber der geheimnisvolle Durchgang rückte immer näher. Ich schaute auf die andere Seite, weil ich damit rechnete, daß sich dort etwas verändert hatte. Es war nicht der Fall. Auch dort wehte der Wind, bewegte sich das Gras wie unter einem nie abreißenden Atemstoß. Der Himmel sah auch dort aus wie ein gewaltiges Gemälde. Die Wolken trieben als graue Zungen in das fahle Weiß hinein und veränderten sich immer wieder. Nadine schritt an meiner Seite. Nicht so dicht, als daß sie mich hätte berühren können, aber sie blieb, und ihre Lippen zeigten ein weiches Lächeln. Spielte sie falsch? Ich glaubte es einfach nicht, ging weiter, bis ich den Schatten über mir sah. Es war die Decke des Eingangs, die, zusammen mit den beiden Wänden, die Düsternis hervorrief. Innerlich fieberte ich, wartete auf die Veränderung, denn es mußte meiner Meinung nach etwas passieren. Und wenn es der Sog war, der mich packte und mich zwischen die Grenzen der verschiedenen Welten hineinzerrte. Ähnliches war mir bekannt. Es blieb alles beim alten. Ich wollte Nadine fragen, unterließ es, als ich ihr fast ätherisches Lächeln sah. Sie war ein Mensch, aber sie sah aus wie eine Person, die einfach neben mir herschwebte. Ihr Haar bewegte sich im Wind, der durch die Einfahrt weht. Sie hatte die Funktion eines Luftschachtes bekommen. Mehr als die Hälfte des Tors lag hinter uns. Jetzt nur noch wenige Schritte, dann hatten wir es geschafft. Ich ging den zweitletzten, den letzten, erreichte den Rand zugleich mit Nadine und hörte ihre Stimme. »Willkommen in Avalon, John Sinclair…« Von nun an war alles anders! ***
Tadlock half dem Colonel auf die Beine, dessen Mund weit offen stand. Sein Atem pfiff, die Augen brannten, er lehnte sich gegen die Flurwand und war zunächst unfähig, auch nur ein Wort hervorzubringen. Dafür schüttelte er den Kopf, fuhr mit der linken Hand über den Riß in seiner Kleidung und schaute auf die Handfläche, die sich blutverschmiert zeigte. »Wie geht es Ihnen, Sir?« Tadlocks Stimme klang besorgt. Immer wieder schaute er sich um, ob der verfluchte Ritter nicht doch noch erschien, um seine grauenvolle Tat zu beenden. »Es… es läßt sich aushalten.« »Haben Sie starke Schmerzen?« »Hören Sie auf, das packe ich schon. Ich hatte nur für einen Moment gedacht, daß ich geträumt hätte«, preßte er hervor. »Sie brauchen einen Arzt, und ich werde…« »Nichts tun. Tadlock. Sie werden gar nichts tun oder nur das, was ich Ihnen sage.« Der Angesprochene holte tief Luft. »Ja, Sir, okay, ich halte mich daran.« Er rückte wieder seine Brille zurecht. Im Prinzip war er froh darüber, keinen Arzt holen zu müssen, denn dies wiederum hätte Fragen bedeutet, und denen wollte er nach Möglichkeit aus dem Weg gehen. Keine Fragen, auch keine Antworten, das allein zählte. Er und Tadlock mußten mit den Problemen allein fertig werden. Seltsamerweise beschränkten sie sich auf diese beiden Personen. »Können Sie denn gehen!« »Ja, wenn Sie mich stützen.« Das versuchte Tadlock. Nach den ersten Schritten wollte Olmos nicht mehr. Er bewegte sich allein weiter, hatte es eilig und fluchte nur über das Blut, das auf dem Gangboden zurückgeblieben war und zu Spekulationen Anlaß gab, wenn es entdeckt wurde. Sie hatten es nicht weit, der Lift brachte sie wieder in die entsprechende Etage. »Und die Posten, Sir?« »Wir werden uns beeilen. Holen Sie den Schlüssel aus meiner rechten Jackentasche. Schließen Sie auf. Ich werde versuchen, dann so schnell wie möglich an ihnen vorbeizuhuschen.« »Okay.« Die Soldaten standen rechts und links der Tür wie eingefroren. Olmos fragte sich, was geschehen würde, wenn man die Leiche des Generals entdeckte. Dann würde man ihn und Tadlock zur Verantwortung ziehen. Sie hatten das Büro verlassen, und einer von ihnen war als Verletzter zurückgekehrt. Fragen über Fragen, aber die Gefahr war nicht kleiner geworden. Er rechnete damit, daß es nicht das letzte Erscheinen des unheimlichen Ritters gewesen war.
Die Posten schauten nur kurz hin, als sie die Schritte hörten. Dann nahmen sie wieder die vorgeschriebene Haltung ein. Auch der Colonel hielt sich tapfer. Er hatte sich aufgerichtet, trotz der Schmerzen, die seinen Oberkörper durchzuckten. Tadlock schloß bereits die Tür auf. Er ging etwas langsamer, schaute auch nach unten, ob er kein Blut verlor und war zufrieden, daß er keine rote Spur hinter sich herzog. Tadlock stieß die Tür auf. »Bitte, Sir!« Olmos ging schneller. Ihn schwindelte. Die Posten grüßten. Daß er es schaffte, an ihnen vorbeizukommen, glich einem Wunder. Er war schnell in seinem Office, und ebenso schnell schloß Tadlock die Tür hinter dem Colonel. Olmos wankte. Er hatte sich zu lange zusammenreißen müssen. Jetzt war er froh, sich auf den schmalen Besuchersessel fallen lassen zu können, um sich dort auszuruhen. Er zitterte, atmete keuchend und wurde von Tadlock besorgt angeschaut. »Soll ich Ihnen etwas zu trinken bringen?« »Ja, einen Whisky.« »Sofort, Sir.« Olmos trank ihn aus der Flasche. Sein Gesicht verzog sich dabei und zuckte auch. Die Augen wirkten wie leblose Kugeln, und über seine Brust schienen kleine Flammen zu tanzen. Tadlock nahm ihm die Flasche aus der Hand. »Ich möchte mir Ihre Wunde anschauen, Sir.« »Nicht schlimm – sie… sie brennt nur.« »Trotzdem.« Er beugte sich über Olmos und zog den eingerissenen Stoff auseinander. Zum Glück war der Colonel nur von der Schwertspitze berührt worden. Sie war zwar durch die Kleidung gedrungen, aber nicht tief in seinen Körper hinein. In der Haut hatte sie einen Spalt hinterlassen und glücklicherweise den Knochen nicht verletzt. »Das hätte ins Auge gehen können, Sir. Sie haben…« »Ja, schon gut.« »Verbandsmull, Pflaster und so weiter?« »Im Nebenraum.« »Ich hole es, Sir.« Der kleine Nebenraum war vom Office aus zu erreichen. Einem Colonel stand er zu. Sogar eine schmale Dusche enthielt er. Tadlock schaute sich um. Er fand Pflaster, ein Desinfizierungsmittel, auch Verbandsmull. Das alles schleppte er herbei und stellte es auf den Schreibtisch. Auch eine Schere hatte er gefunden. Dann fing er damit an, Olmos zu verarzten. Er schnitt den Uniformstoff entlang der Wunde weg. Danach half er Olmos dabei, die Jacke auszuziehen. Der Colonel verspürte Schmerzen, doch er wollte es nicht wahrhaben und kämpfte dagegen an.
Er verwickelte Tadlock in ein Gespräch, denn zuviel ging ihm durch den Kopf. »Wie konnte es geschehen, daß dieser Ritter sich plötzlich vor unseren Augen auflöste?« »Ich weiß es nicht.« »Es muß eine Erklärung geben!« stöhnte Olmos und zuckte zusammen, weil der scharfe Schmerz, verursacht durch das antiseptische Mittel, durch seine Brust schoß. »Er kam auch so herbei, Sir.« »Ja, ich weiß.« »Magie, Sir.« »Die sogar den Computer beeinflußte.« »So sieht es aus, Sir.« Der Colonel lachte. Es klang scharf und bitter. Er konnte es nicht fassen und kam wieder auf den Namen Nadine Berger zu sprechen. »Sie wird das Problem sein, und sie wird es gleichzeitig schaffen, uns eine Aufklärung zu geben.« »Falls wir sie finden, Sir. Ich habe ebenfalls sehr lange über den Namen nachgedacht und muß Ihnen gestehen, daß er mir unbekannt ist. Ich bin zu keinem Ergebnis gekommen. Ich kenne keine Person namens Nadine Berger, die hier möglicherweise arbeitet. Wie ist es denn mit Ihnen?« »Da bin ich ebenfalls überfragt.« »Und doch ist sie die Lösung.« Tadlock richtete sich auf. »Soll ich Ihren Oberkörper mit einem Verband umwickeln, oder reicht Ihnen ein großes Pflaster?« »Keinen Verband, bitte.« »Dann dürfen Sie sich aber nicht zu schnell bewegen, Sir. Sonst bricht alles wieder auf. Ich habe die Wunde so gut wie möglich gereinigt und werde nun…« »Hören Sie auf, Tadlock. Ich bin doch kein quengelnder Teenager, der kurz vor dem Durchdrehen steht.« »Man soll die Verletzung trotzdem nicht unterschätzen.« »Bitte.« Tadlock griff zum Pflaster. Er versorgte seinen Vorgesetzten so gut wie möglich, und der Colonel atmete zischend und auch erleichtert aus. Dann wollte er wissen, wieviel Zeit seit der Entdeckung der Leiche bis jetzt vergangen war. »Das kann ich nur schätzen.« »Tun Sie es.« »Eine halbe Stunde. Vielleicht auch mehr.« Olmos lachte. »Verdammt, dann müssen wir uns darauf einrichten, daß man den Toten entdeckt.«
»Es kommt darauf an. Wenn Harriman nicfct gestört werden wollte, wird man sich daran halten. Er wollte sich doch mit den noch höheren Stellen in Verbindung setzen, was ihm nicht gelungen zu sein scheint. Ich gehe davon aus, daß es ihn schon vorher erwischt hat.« »Ja, da hatten wir Glück.« Tadlock griff zur Whiskyflasche. Auch er konnte jetzt einen Schluck gebrauchen. Danach räumte er die blutigen Stoffetzen weg und stellte auch die Medizin wieder in die kleine Naßzelle. Er schloß die Tür und schaute auf den Colonel. Der hockte steif an seinem Schreibtisch. Sein Gesicht war grau. Die Augen zeigten sich blutunterlaufen. Hin und wieder schüttelte er den Kopf. »Tadlock, ich sage Ihnen, hier sitzen wir fest. Aus dieser Lage kommen wir nicht mehr heraus. Man wird uns die Köpfe abreißen. Es wird ein irrsinniges Theater geben. Harriman ist tot, er wurde regelrecht vernichtet. Denken Sie mal darüber nach, was das zu bedeuten hat. Da kann man sich dann nur an den Kopf fassen.« »Stimmt, Sir. Man wird uns für die Mörder halten, und es wird uns verdammt schwerfallen, das Gegenteil zu beweisen.« »Auf so etwas wartete die Presse.« »Und keiner wird uns glauben. Geister oder Magie im Weißen Haus. Das darf einfach nicht sein. Es ist eine Trutzburg. Hier kann Amerika stolz sein. Und diese… diese unerklärlichen Dinge, womöglich noch Geister oder Magie, das nimmt man nicht hin. Es könnte sogar sein, daß man uns in eine geschlossene Anstalt sperrt.« »Ja, Tadlock, im Vertuschen sind die Meister. Denken Sie an den Kennedy-Mord. Die Auflösung oder die ganze Wahrheit werden sie ebensowenig erleben wie ich.« »Kein Einspruch, Sir.« Tadlock schaute gegen die Wand. »Wir stecken in der Klemme, Sir, und ich frage mich, ob es nicht besser wäre, wenn wir uns stellen.« »Nein, Tadlock nicht jetzt!« Der Computer-Freak war nicht zufrieden. »Darf ich nach den Gründen fragen, Sir?« »Sicher. Ich will Ihnen auch eine Antwort geben.« Olmos wischte mit einem Tuch über seine Stirn und bewegte sich dabei sehr vorsichtig. »Ich habe das Gefühl«, murmelte er und ließ die Hand mit dem Tuch sinken, »daß es noch nicht vorbei ist. Es wird noch etwas geschehen. Diese Nacht ist lang, sie kann explodieren! Das ist Schicksal.« »Da kann ich nicht widersprechen, Sir.« »Deshalb warten wir.« Tadlock schob die Brille hoch. »Aber was könnte denn geschehen? Womit rechnen Sie?« Der Colonel überlegte einige Sekunden. »Ganz einfach. Daß der Ritter wieder erscheint.«
»Und weitermordet?« »Ja, das ist zu befürchten. Der General war möglicherweise erst der Beginn.« »Aber was hat er vor? Was sind seine Pläne? Und wer steht da hinter und lenkt ihn?« »Muß das denn so sein?« »Ja, Sir. Davon gehe ich aus. Ich glaube, daß er nicht aus eigenem Antrieb handelt. Dafür ist er einfach zu kalt, zu grausam und auch zu leer. Komisch, nicht?« »In der Tat. Können Sie sich nicht etwas genauer ausdrücken?« »Nun ja, das sind Vermutungen.« »Bitte!« Tadlock wiegte den Kopf. »Es kann durchaus sein, daß hinter diesem Ritter eine andere Macht steckt, die ihn antreibt.« »Bestimmt keine weltliche.« »Wir sind auf demselben Weg.« »Also doch die andere Rasse.« Olmos hustete. »Ein geheimnisvolles Sternenvolk vielleicht?« »Klingt abwegig, Sir, muß aber nicht sein.« Tadlock begann mit einer Wanderung durch das Büro. »Wenn ich zu einer fremden Macht gehören würde, die auf dieser Erde etwas erreichen will, wo würde ich dann wohl anfangen. Bei denjenigen, die am stärksten sind, und zwar genau dort, wo sich ihr Zentrum der Macht befindet, nämlich hier im Weißen Haus. Wer es unter Kontrolle hat, der kann nach den neuesten Entwicklungen im Osten die ganze Welt kontrollieren.« Harte Worte, die den Colonel getroffen hatten. Sein Gesicht nahm einen harten und gleichzeitig deprimierten Ausdruck an. »Klingt utopisch, muß es aber nicht sein. Ich will Ihnen gegenüber ehrlich sein, Tadlock. Das hat mir schon Angst eingejagt.« »Das glaube ich Ihnen, Sir. Ich denke ebenso. So hart es auch klingen mag, für mich ist dieser Ritter erst der Beginn. Es wird weitergehen, davon bin ich überzeugt. Es werden noch andere kommen und zuschlagen. Man hat ihn vorausgeschickt. Er hat sich an Harriman herangemacht. Ebensogut könnten sich andere an den Präsidenten und…« »Hören Sie auf, Tadlock!« »Selbstverständlich, Sir.« Die Zukunft sah wirklich zu schlimm aus, wenn man den Faden weitersponn. Es war nicht übertrieben, aber das Schicksal der Welt stand auf dem Spiel. Olmos atmete schnaufend aus. Er wollte noch etwas sagen, doch Geräusche auf dem Flur draußen ließen ihn verstummen. Auch Tadlock hatte sich gedreht und schaute zur Tür. »Das sind sie«, sagte er leise.
Colonel Olmos saß unbeweglich hinter seinem Schreibtisch und schaute starr nach vorn. Er wirkte wie ein Mann, der genau wußte, was auf ihn zukam und sich damit abgefunden hatte. Er spürte auch die Schmerzen nicht mehr. Die Unterarme hatte er auf den Schreibtisch gelegt, die Hände wie zum Gebet gefaltet, und in seinem Gesicht zuckte nicht ein Muskel, als er darauf wartete, daß die Tür aufgestoßen wurde. Das geschah mit einer harten Bewegung. Die Posten aus dem Gang drangen in das Büro. Sie waren beide mit Maschinenpistolen bewaffnet und richteten die Mündungen auf Olmos und Tadlock. Vom Gang her betrat Captain Norman Drake das Büro. Er war hier der Chef der Militärpolizei. Als Captain stand er rangmäßig zwar unter dem Colonel, doch in bestimmten Ausnahmefällen hatte er wesentlich mehr zu sagen als die oberen Chargen. Und ein solcher Ausnahmefall war eingetreten. Hinter ihm standen zwei weitere Männer, die blieben aber noch im Flur. Der Captain trug einen Helm und ein weißes Koppel. Er blieb einen Schritt vor der Türschwelle stehen, wo er Haltung annahm. Dann schnarrte seine Stimme. »Colonel Olmos?« »Ja!« »Sie und Lieutenant Tadlock sind verhaftet. Ich muß Sie bitten, mit uns zu kommen.« Olmos nickte. Dann stellte er eine Frage, obwohl er die Antwort schon wußte. »Was wirft man uns vor, Captain?« »Mord. Mord an General Harriman!« *** Es war sicher, das folgende zu beschreiben. Ich hatte das Tor zusammen mit Nadine hinter mir gelassen und sah nicht mehr die Welt, die ich bisher gekannt hatte. Der Kelch zwischen meinen Händen hatte sich für einen winzigen Moment erwärmt, das war auch die einzige Reaktion beim Übertritt nach Avalon. Kein Grün mehr, kein Wind, auch keine Kühle, dafür ein wundersames und wunderbares Land, das in Pastellfarben eingetaucht war, als würde es von einer weichen warmen Sonne beschienen. Ein schönes Land… Berge in der Ferne, die im milchigblauen Dunst verschwammen und wie von Nebeln umspielt wirkten. Blühende Wiesen, sanfte Hügel, dazwischen sah ich klare Gewässer, und ich mußte einfach mit den Augen zwinkern, denn ich kam mit diesem Eindruck nicht zurecht. Eigentlich hätte ich viel weniger sehen müssen, statt dessen gelang mir ein Rundblick wie durch eine Spezialkamera und nicht aus normalen Augen.
Es präsentierte sich, es lag vor mir wie auf einem Tablett. Ich drehte den Kopf. Für einen Moment rechnete ich damit, hinter mir das Tor und den Turm zu sehen. Beides war verschwunden. Ich schluckte meinen Speichel herunter und dachte auch an den Rückweg. War er mir versperrt, oder würde ich… »Wie fühlst du dich, John?« Nadine fragte es mit weicher Stimme. Sie war nahe an mich herangetreten und hatte mir ihre Hände auf die Schultern gelegt. »Ich fühle mich gar nicht, wenn ich ehrlich sein soll.« Dabei verdrehte ich die Augen und schaute gegen den Himmel, der leicht blau und glasklar über mir lag. »Das ist meine neue Heimat. Ich habe mich noch nie so gut gefühlt. Es ist ein kleines Paradies.« Mein Lächeln fiel gequält aus. »Ich weiß nicht viel über Avalon, kann mir aber gut vorstellen, daß auch ein Paradies seine Fehler hat.« Dabei schaute ich auf den Gral und natürlich direkt gegen die Kugel, die sich nicht verändert hatte, wobei sie im Innern jedoch viel intensiver leuchtete. Der Kelch selbst strahlte ebenfalls. Es waren seine an den Außenrändern angebrachten Zeichen, die wohl eine Botschaft in dieses Land hineinschickten. »Es ist nicht perfekt. Es ist ein Land der Legenden, der Mythen. Hierher zog man sich zurück, wenn man von der Welt und dessen Menschen die Nase voll hatte.« »Aber nicht nur gute Menschen.« »Das stimmt.« »Ich will nicht wissen, wer sich hier aufhält. Es würde mich wohl zu sehr durcheinanderbringen, aber sag mir bitte noch einmal, weshalb du mich hergeführt hast.« »Ich will, daß du den Ritter stellst, der die Öffnung zwischen den Welten genutzt hat.« »Hier – oder…?« Sie ließ mich nicht ausreden. »Das weiß ich nicht, John. Es kann sein, daß du ihm in seine Welt folgen mußt.« »Ins Weiße Haus?« Nadine nickte. John, sagte ich mir, du bist ein gutmütiger Trottel, kein Idiot, aber auch nicht weit davon entfernt. Du läßt dich manipulieren, du läßt mit dir einiges machen und… »Wir gehen.« »Wohin?« »Zu einem meiner Lieblingsplätze.« Nadine kannte sich hier aus, so mußte ich ihr folgen. Der Geruch von frischen Blüten durchwehte die Luft. Ich sah die Insekten, wie sie sich tummelten, aber ich erkannte auch die ewigen Dunstschleier, die über
dem Land lagen, so daß ich mich an den zweiten Namen erinnerte, der Avalon gegeben worden war. Nebelinsel… Es schien genau zu passen. Es war die Insel im Nebel, das Eiland der verschwommenen Konturen, angefüllt mit den Geistern der Weisen und der Toten. Das Gras war hoch. Blumen leuchteten. Die linde Luft empfand ich als zu warm. Möglicherweise lag es auch an meiner winterlichen Kleidung, denn in Glastonbury war es kalt gewesen. Ich dachte wieder einmal darüber nach, wo ich mich befand und konnte es nicht fassen, einfach unmöglich. Wenn ich an die Menschen von Glastonbury dachte und an deren Schicksal, das eng mit den alten Mythen und Legenden verwoben war, dann war ich ihnen zahlreiche Schritte voraus. Nadine Berger führte mich auf einen kleinen See zu, einen ihrer Lieblingsplätze, wie sie mir sagte. »Was sollen wir dort?« Sie lächelte. »Einfach hinsetzen, uns ausruhen, die Gedanken schweifen lassen und uns damit abfinden, daß wir uns nicht mehr auf der normalen Welt befinden, sondern in einem geheimnisvollen Reich, über das immens viel geschrieben wurde und doch niemand die Wahrheit richtig erfaßt hat. Auch Parzival suchte Avalon und damit den Gral…« »Wie stand es mit Merlin?« »Er lebt hier.« Ja, das wußte ich. Ich hatte es selbst erlebt, als wir um Nadines Rückkehr kämpften. Wir erreichten den See. Das Ufer war weich, es war wunderbar, und das Wasser lag vor uns wie ein geheimnisvoller Spiegel. Schon einmal war aus einem See jemand erschienen. Würde sich dies wiederholen? Oft sind Seen oder Teiche in diesen geheimnisvollen Welten verborgene Zugänge in andere Zeiten, so daß ich mich darauf einrichtete, alles zu erleben. Ich schaute gegen die Oberfläche. Sie kräuselte sich kaum. Nur in der Mitte bewegten sich einige Wellen, die es nicht einmal schafften, bis zum Ufer zu gelangen, denn hier lag das Wasser glatt und klar, auch wenn es von der schwachen Nebelschicht überweht würde. Wir sahen uns selbst in der Oberfläche. Ein schwacher Spiegel gab das Bild zurück. Ich hielt den Gral fest und strich mit meinen Handflächen über das kostbare Metall. Sehr deutlich spürte ich die Zeichen an den Seiten. Sie standen jetzt weiter vor als sonst, was mich wunderte und mich gleichzeitig neugierig machte. Natürlich hatte ich mich oft genug mit den Zeichen befaßt, um herauszufinden, was sie zu bedeuten hatte. Ich war zu keinem Ergebnis gekommen und konnte nur raten.
Für mich wäre sie eine alte Schrift, die sich nicht aus Buchstaben zusammensetzte, sondern mehr Symbolen glich. Plötzlich verflog meine Gelassenheit. Starr und angespannt blieb ich sitzen. Ich hatte etwas gefühlt und gespürt. Aber das konnte nicht sein – oder? Vorsichtig bewegte ich meine Hände und ließ dabei die Fingerkuppen auf den Symbolen liegen. Ein neuer Versuch. Tatsächlich, es stimmte. Die Symbole an der Außenseite des Kelchs ließen sich bewegen. Und das war für mich nicht nur neu, in diesem Moment des Erkennens sogar unfaßbar. Gleichzeitig schoß mir durch den Kopf, daß der Dunkle Gral mehr Geheimnisse verbarg, als ich bisher nur hatte annehmen können. Aber würde das Bewegen der Symbole auch etwas bewirken? Ich war so aufgeregt wie lange nicht mehr und kannte nur ein Ziel. Alles herauszufinden, denn das war mir in meiner Welt leider oder Gott sei Dank nicht möglich. Hatte Nadine etwas bemerkt? Sie saß an meiner linken Seite, hatte die Beine ausgestreckt und die Arme zurückgedrückt, so daß sie sich hinter ihrem Rücken mit beiden Händen abstützen konnte. Sie sah mit dem nach hinten gelegten Kopf aus, als wollte sie über den See und gleichzeitig auch gegen den blauen Himmel schauen. Dieses alte, geheimnisvolle Land hielt sie voll und ganz in seinem Besitz. Mich hatte sie für eine Weile vergessen, was ich auch als gut ansah. Ich war wahrhaftig aufgeregt. Die Spannung in mir verdichtete sich. Mein Herz schlug schneller. Ich hatte noch nichts getan, aber ich wußte, daß mir etwas Neues widerfahren würde, was auch für die Zukunft entscheidend war. Es fiel mir mehr als schwer, ruhig sitzen zu bleiben und nur die Symbole zu bewegen. Ich drehte und drückte die ersten nach rechts. Nichts geschah. Ich faßte unterschiedliche an und schob sie in entgegengesetzte Richtungen. Da geschah es. Auf einmal veränderte sich die Welt vor meinen Augen. Sie wirkte plötzlich wie ein Mosaik, das sich aus verschiedenen Glasplatten zusammensetzte und die einzelnen Perspektiven vollkommen verzerrte. Zwar schaute ich nach vorn, konnte den See aber nicht mehr sehen, denn über ihn hatte sich eine düstere Fläche gelegt. Es war ein wilder, mächtig aussehender Wald, sturmgepeitscht, durch den mehrere Männer auf Pferden hockend galoppierten. Sie trugen Kettenhemden und Helme, schienen es eilig zu haben, denn sie spornten ihre Pferde hart an. Sie ritten, aber sie kamen nicht von der Stelle. Für mich sah es aus, als wäre ein Film angehalten worden, wobei sich die Akteure noch bewegten, aber nicht vorankamen.
Hing es mit den Zeichen zusammen? Ich wollte sehen, was geschah und bewegte sie weiter. Eine Idee reichte aus. Eine Burg erschien. Ein dunkles, mächtiges Gemäuer. Davor sah ich einen uralten Mann, der einen langen Umhang trug und die Kapuze dabei über seinen Kopf gestreift hatte, so daß nur sein Gesicht zu sehen war und der mächtige blondgraue Bart. In den Händen hielt der Mann eine Schriftrolle, auf die er aber nicht schaute, sondern über sie hinweg und nach vorn, so daß es aussah, als würde er mir direkt ins Gesicht starren. Hinter ihm jagte plötzlich ein Wesen in die Höhe, das ich bereits aus Glastonbury kannte. Es war das Einhorn. Nur lebte es in dieser Szene noch. Möglicherweise war es auch ein anderes, obwohl der Körper dieselbe Farbe aufwies wie das mir bekannte Einhorn. Es jagte in die Luft und verschwand dabei in einer dichten Nebelwolke. Ich wollte jetzt mehr wissen und andere Szenen heranholen, deshalb bewegte ich meine Finger weiter, um die Zeichen zu verschieben. Da erreichte mich der Ruf. Nein, mehr ein Schrei. Nadine hatte ihn ausgestoßen. Ich spürte ihre Hände; sie schüttelte mich durch. »Nicht John! Zurück, alles zurück…« Ich gehorchte automatisch. Das Bild verschwand. Ich sah den See, das glatte Wasser, die Dunstschwaden darüber und kam mir vor, wie aus einem tiefen Traum erwacht. Nadine hielt mich fest. Ihre Hände wanderten. Sie legte sich um meine Wangen, drehte den Kopf, so daß sie mich aus kürzester Entfernung anschauen konnte. Ihr Gesicht zeigte keine direkte Angst oder Panik, aber die Furcht war nicht zu übersehen. »Was hast du getan, John?« Ich wollte lächeln, es wurde nur ein Zucken. »Nun ja, eigentlich nicht viel. Ich habe die Symbole gespürt und festgestellt, daß sie sich bewegen ließen.« »Das war dir neu, wie?« »Ja, es war mir neu.« Sie löste die Hände von meinem Gesicht und lehnte sich zurück. »Dann hast du jetzt das Geheimnis des Dunklen Grals erfahren, das sich nur dann offenbart, wenn du dich in Avalon befindest. Es mußte soweit kommen, er gehört dir ja, du bist der Sohn des Lichts, und du hast lange darum gekämpft.«
Ich nickte, ohne zu verstehen. Zuviel wirbelte durch meinen Kopf, doch ich hoffte, daß mir Nadine die entsprechenden Erklärungen geben würde. »Sony, Nadine, auch wenn ich dich enttäuschen muß, aber noch weiß ich nichts.« »Das kann ich mir sehr gut vorstellen, John. Es wäre auch für mich eine Überraschung gewesen.« »Da sie es nicht war, kann ich davon ausgehen, daß du mehr weißt.« »Richtig.« »Willst du mich nicht aufklären?« Sie senkte den Kopf. »John, ich hätte es getan, glaube mir. Es ist ungemein wichtig für uns, aber ich wollte mir den Zeitpunkt selbst aussuchen können.« »Bitte, ich höre.« Noch immer stand ich unter dem Eindruck des Erlebten. Daß der Dunkle Gral diese Funktion besaß, das war mir noch immer unbegreiflich. Es eröffnete auch neue Perspektiven. »Du befindest dich hier in Avalon, John, auf der Nebelinsel, wie du ja selbst weißt.« »Davon gehe ich aus.« »Hier ist vieles anders.« »Ja, das weiß ich. Bitte, keine unwichtigen Einzelheiten. Ich will auf den Gral vertrauen, ich bin überrascht über das, was er mir plötzlich zeigte.« »Bilder, nicht wahr?« »Nicht nur das, Nadine. Szenen, die sich bewegten, aber nicht fortliefen, verstehst du?« Sie nickte. »Es ist mir klar.« »Aber mir nicht.« »Ich will es dir gern sagen, du mußt es ja wissen. Avalon ist ein Rätsel. Viele haben versucht, es zu lösen, das Land der Äpfel zu begreifen, aber es ist nur wenigen gelungen. Auch ich blicke nicht voll durch, doch ich habe gelernt und erfahren, daß Avalon aus sehr vielen, mir von der Zahl her unbekannten Schichten besteht. Es gibt diese Schichten, sie sind dem menschlichen Auge nur verborgen. Aber man kann sie herholen, man kann sie manipulieren, so wie du es eben getan hast, als du die Symbole verschobst. Da hast du auch die Schichten bewegt, und jede von ihnen enthielt ein Stück Geschichte dieses Landes, ein Stück Vergangenheit, das wie auf einen Computerchip aufgedampft ist. Du kannst es durch den Dunklen Gral abrufen. Du erhältst dann den Einblick, aber nur hier in Avalon, nicht in deiner Welt. Da wirst du die Symbole auch nicht durch Gewalt von der Stelle bewegen können. Da bleiben sie starr und in das Gold des Kelches eingraviert.« »Das habe ich begriffen.« »Auch verstanden?«
»Ich nehme es hin, Nadine, und ich muß dir ehrlich sagen, daß ich froh darüber bin. Ich habe also andere Welten gesehen und erleben können, was sich damals abspielte.« »Ja, denn nichts vergeht, alles ist gespeichert, eben auf diesen Schichten, diesen Dimensionen. Das gesamte Weltall ist ein Kreislauf, in dem nichts verlorengeht. Alles, was war, was ist und was noch werden wird, das bleibt gespeichert.« »Gut gedacht. Ich kenne Wissenschaftler, die sich ähnliche Gedanken darüber machen und schon Milliarden Jahre im voraus denken, denn dann wird, Ihren Berechnungen nach, alles zusammenstürzen.« »Da mögen sie wohl recht haben. Hier hast du einen Teilausschnitt gesehen.« »Ritter«, sagte ich. Nadine nickte. »Die der Tafelrunde.« Ich bekam eine Gänsehaut. Mit leiserer Stimme fragte ich: »War der andere Mann denn Artus?« »Ja.« Der Schauer verstärkte sich. »Ich hätte gern sein Schwert Excalibur gesehen.« »Das kann dir bestimmt noch begegnen. Aber das ist heute nicht unser Thema, John.« »Ich weiß, die Gefahr im Weißen Haus.« »Korrekt.« »Hängt sie auch mit den Schichten zusammen?« »Es ist eine Folge.« Nadines Hand strich über die Spitzen der Grashalme hinweg und kämmte sie. »Die Schichten sind eingebrochen. Vielmehr eine ist es. Und so haben gewisse Dinge ihren freien Lauf bekommen, die besser dort geblieben wären.« »Eine Gefahr also?« »Ja, ein Wesen, das es schafft, zwischen zwei Welten hin und her zu springen. Es ist einmal hier, dann im Weißen Haus. Es ist machtbesessen, und es zeigt sich in der Rüstung eines Ritters.« Ich fürchte die Stirn. »Wie sieht es aus?« »Es kann nicht aussehen.« »Moment, da komme ich nicht mit. Es legt sich eine Ritterrüstung an.« »Ja, aber es zieht sie nicht an, es dringt in sie hinein, denn es ist ein Geist.« Ich schloß für einen Moment die Augen. Das wurde ja immer schöner. Wie sollte ich einen Geist stellen? Nadine ahnte meine Gedanken. »Es ist nicht einfach, aber du kannst es. Durch den Gral wird es dir hier gelingen, das Wesen zu verfolgen. Du mußt nur die Symbole verändern.« »Das habe ich schon gemacht.« »Aber nicht in der richtigen Reihenfolge, John. Nicht so, wie du es hättest tun müssen.«
Ich dachte nach und sprach mehr zu mir selbst. »Ich muß also durch Veränderung der Symbole die Brücke schaffen, die mich aus Avalon heraus- und in eine andere Welt, in meine, wieder hineinbringt. Habe ich das korrekt erfaßt?« »Genau.« »Und du bist diejenige Person, die mir sagen kann, wie ich die Zeichen führen soll.« »Ja.« »Dann bitte.« Nadine schüttelte den Kopf. Sie schaute dabei auf das Wasser. »Noch nicht, John, ich möchte warten.« »Weshalb?« »Es ist ein Gefühl. Ich will ihn erst zu einer bestimmten Zeit zurückholen. Wenn die Brücke steht, bestimmt. Er wird in den Sog hineingeraten und nicht anders können.« »Gut, dann warte ich!« Es war einfach verdammt viel, was ich in den letzten Minuten erlebt hatte. Es eröffnete mir neue Perspektiven. Ich kam mir vor wie jemand, der zwischen den Zeiten schwebt und dabei versucht, sie zu beherrschen. Avalon gab es, Avalon existierte, Avalon war eine Welt voller Wunder, Legenden und magischen Zaubereien. Und Avalon konnte hineinreichen bis in unsere, in meine Zeit. Ob man es nun begriff oder nicht, das spielte keine Rolle. Wichtig war allein, daß man sich mit den Tatsachen abfand. Das würde ich tun müssen, es blieb mir nichts anderes übrig. Ich zog die Beine an und veränderte meine Sitzhaltung. Dabei schielte ich auf den Dunklen Gral. Ich hatte ihn neben mich gestellt, aber von allein bewegten sich die Zeichen nicht. Woher wollte Nadine dann wissen, wann diese Brücke stand? Ich fragte sie. »Das spüre ich, John. Ich merke genau, wenn sich etwas tut und sich der Geist wieder auf die Reise macht.« »Was geschieht, wenn er es nicht tut?« »Er wird es tun müssen!« »Weshalb?« »Weil ich gespürt habe, daß jemand da ist, der die Schichten durcheinanderbringen kann. Das darf er auf keinen Fall akzeptieren. Es könnte für ihn einen Machtverlust bedeuten. Er muß also die Person finden, die sich dafür verantwortlich zeigt.« »Dann erwarte ich ihn.« Ich räusperte mich. »Du bist dir sicher, daß er sich im Weißen Haus aufhält?« »Sehr sicher.« »Was tut er dort?« »Unheil anrichten. Er will mitmischen, er will manipulieren. Er ist ein Böser, er will das Chaos in deiner Zeit, und er ist in die Zentrale der
Macht vorgedrungen. Ich habe vergeblich versucht, die Menschen dort zu warnen. Es war einfach zu spät.« Jetzt war ich baff. »Du hast was versucht? Die Menschen zu warnen? Bist du aus Avalon wieder…?« Ihr helles Lachen unterbrach mich. »Nein, John Sinclair, das ist nicht der Fall. Ich habe es durch den Computer versucht. Ich konnte ihn manipulieren. Ich habe ihnen Nachrichten zukommen lassen, unter anderem auch meinen Namen.« Das wollte mir nicht in den Kopf, deshalb schüttelte ich ihn auch. »Wie toll, einen Computer manipulieren! Und das von hier aus, von Avalon, dem unsichtbaren Land im Nebel. Das schlägt den Faß dem Boden aus. Da komme ich nicht mit.« »Es klappte schon.« »Wie denn, zum Henker?« »Ich hatte einen Verbündeten im Weißen Haus. Er arbeitete dort, er hat dafür gesorgt, daß die Nachricht durchkam. Er ist ein Computer-Freak, aber auch ein sehr sensibler Mensch, der seine Rolle hoffentlich gut spielt. Er hat diese Warnung einprogrammiert.« »Wie heißt er denn?« »Gerry Tadlock!« »Sony, aber den kenne ich nicht.« »Ich kannte ihn.« »Vor deiner Zeit?« »Nein, zwischendurch. Wie dir bekannt sein sollte, bin ich in Kur gewesen. Dort habe ich ihn kennengerlernt. Ich bin sicher, daß er mich nicht verraten wird. Er ist gewissen Dingen sehr zugetan, sehr sensibel, obgleich er im Range eines Lieutenants steht. Ich hatte mit ihm lange Gespräche, ich habe ihm viel über mich erzählt, letztendlich die ganze Wahrheit…« »Hat er dir geglaubt?« »Hundertprozentig, John.« Ich verzog den Mund. »Bist du dir sicher?« »Du kannst dich darauf verlassen.« »Okay«, stöhnte ich, »Das ist deine Sache. Aber von Avalon weiß er nichts, nehme ich an. Oder hast du ihn auch in dieses vergessene Land geholt?« »Nein. Er weiß nur, daß ich mich von seiner Welt verabschiedet habe. Ich erklärte ihm, daß wir in Kontakt bleiben werden. Das habe ich gehalten. Ich sandte ihm die Nachricht zu.« »Wenn ich mir deine Worte überdenke, dann hast du den Entschluß, nach Avalon zu reisen, schon während deiner Kur gefaßt.« »Das stimmt.« »Du hättest uns etwas sagen können. Hast du nie dabei an die Conollys gedacht?«
»Auch, sehr sogar. Es tut mir auch manchmal leid. Aber ich habe mich nun einmal entschlossen, und ich bin fest davon überzeugt, daß ihr versucht hättet, mich davon abzuhalten, in dieses wunderschöne Land zu gehen.« »Stimmt.« »Deshalb habe ich den Entschluß für mich allein getroffen.« Was sollte ich dazu noch sagen? Ich konnte mir die Lippen fransig reden; sie davon zu überzeugen, wieder zurückzukehren, das würde ich nicht schaffen. Es war schon seltsam, wie das Schicksal spielte und seine Karten verteilte. Hätte Nadine nicht in ihrer Kur diesen Gerry Tadlock kennengelernt, wäre es zu einem Chaos gekommen. Andererseits konnte ich nicht behaupten, daß es nicht eintrat. Alles hing in der Schwebe… Ich lächelte Nadine schief an und legte meinen Arm um sie. »Es ist schön, daß du zufrieden bist. Auf der anderen Seite hätten wir dich gern in unserer Nähe gehabt.« Sie wartete mit der Antwort. Dann meinte sie: »Nein, John, so ist es besser. Eine Frau kann bei anderen Frauen eine zu große Unruhe auslösen, wenn sie…« »Nein, Nadine!« »Doch, John, das weiß ich. Und du weißt auch, wen ich mit den anderen Frauen gemeint habe.« »Sicher, aber das hätte sich regeln lassen.« »Nicht für mich. Ich finde, daß es so besser ist. Ich werde mich auch nicht umstimmen lassen.« Ich spürte die Wärme ihres Körpers. Mich überkam ein Gefühl wie damals, noch vor ihrer Verwandlung zur Wölfin. Da waren wir uns einige Male sehr nahe gewesen. Der Zauber des Augenblicks zerbrach. Ich spürte, daß sich etwas tat, auch Nadine rückte von mir ab und sprang geschmeidig auf die Füße. Ein seltsames Siegen oder Klirren erfüllte die Luft, als würden Glassplitter zusammengeschlagen oder sich die gläsernen Tropfen eines Lüsters aufeinander zubewegen. »Kommt er?« Nadine nickte nur. Ansonsten starrte sie auf das klare Wasser, obwohl sich dort nichts tat. Dafür aber über der Oberfläche! Das Licht bewegte sich, es zuckte. Das Klirren hörte auf, etwas Glänzendes erschien. Es war der Ritter. Nein, war nur die Rüstung, aber die war bewaffnet, denn die Finger des rechten eisernen Handschuhs umklammerten den Griff eines Schwerts mit blutbefleckter Klinge. Ein Zeichen dafür, daß es bereits Opfer gegeben hatte!
*** Beide Männer sagte nichts, als sie den Spruch des Captains gehört hatten. Der Colonel blieb starr hinter seinem Schreibtisch sitzen, und Gerry Tadlock lehnte wie ein Pfahl an der Wand, ohne auch nur mit einer Wimper zu zucken. Drakes Gesicht war ausdruckslos. Eine militärische Maske mit etwas wulstigen Lippen, einer zu klein geratenen Nase und buschigen, bleichen Brauen. Darunter zeichneten sich die Augen ohne einen Funken von Gefühl ab. Auch die vier Soldaten regten sich nicht. Sie schienen die Worte überhaupt nicht gehört zu haben. Beinahe teilnahmslos blickten sie die beiden Offiziere an. »Colonel, was haben Sie zu diesem Vorwurf zu sagen?« Auch wenn es ihm schwerfiel und schmerzte, Olmos hob die Schultern. »Ich kann Ihnen sagen, daß weder Lieutenant Tadlock noch ich den General getötet haben.« »Nicht nur getötet, Colonel. General Harriman wurde viehisch umgebracht! Man hat ihn beinahe zerstückelt.« »Ich weiß!« »Sie geben zu, daß Sie…?« Olmos schüttelte den Kopf. »Ich gebe gar nichts zu«, erklärte er, »und Ihnen gegenüber schon gar nicht. Sie sind nicht kompetent, um mich zu verhören, das müsen Sie anderen überlassen. Sie dürfen mich nur festnehmen. Ich kenne die Regeln. Aber ich will es Ihnen trotzdem zu erklären versuchen. General Harriman ist von einer Gestalt umgebracht worden, die man durchaus als Ritter bezeichnen kann. Sie kennen sicherlich die Geschichten aus der Alten Welt, aus Europa, wo Ritter und Burgfräuleins noch gewisse Verhältnisse…« »Sir!« unterbrach ihn Drake scharf. »Was soll das? Wollen Sie mir das tatsächlich weismachen?« »Nein, ich will Ihnen nur die Tatsachen darlegen. Harriman starb durch diesen Ritter. Er wurde durch dessen Schwert umgebracht. Sein Mörder schlug mehrere Male zu, deshalb auch diese schrecklichen Verletzungen. Oder trauen Sie uns zu, daß wir hier im Sicherheitsbereich mit einem Schwert durch die Gegend laufen?« »Nein!« »Dann bitte ich Sie…« »Ich traue es auch keinem Ritter zu. Keinem Kerl, der hier eindringt, sich in einer Rüstung versteckt und mordend durch die Gänge irrt. Wir hätten ihn längst gefaßt. Tatsache bleibt, daß der General ermordet wurde, Colonel.« »Ja, aber nicht von uns!«
»Es kann diesen Ritter nicht geben. Sie spinnen sich da etwas zusammen, mit Verlaub.« Gerry Tadlock meldete sich. »Irrtum, Captain. Ich kann es bezeugen und beschwören.« »Sie?« Verächtlich sprach er das Wort. »Ja, ich. Und wenn Sie nicht vernünftig sind und Ihr Denken umstellen, kann hier das große Chaos beginnen.« »Wollen Sie mir drohen, Lieutenant?« Die Stimme des ranghöheren Offiziers klang eisig. »Nein«, erwiderte Tadlock lachend. »Auf keinen Fall. Wir aber haben den Durchblick, Sie nicht. Die Nachricht hat uns erreicht, der Killer ist da, und es ist ein Irrtum Ihrerseits zu glauben, daß die Sicherheitsanlagen perfekt sind. Das sind sie nicht. Es gibt Wesen, die sie einfach ignorieren.« »Sie sprechen von Wesen, Tadlock?« »In der Tat.« »Was meinen Sie genau damit?« »Können Sie etwas mit dem Begriff Zeitreise oder Geister anfangen, Captain?« Drake war sprachlos. Eine schon zurechtgelegte Antwort zerschmolz ihm förmlich auf der Zunge. Er mußte schlucken, verlor etwas von seiner Selbstsicherheit, bekam aber einen tückischen Blick. Tief holte er Luft. »Lieutenant Tadlock. Ich befrage Sie jetzt und hier vor diesen Zeugen, ob Sie bei Ihrer erstens ungeheuerlichen und zweitens geistesverwirrt klingenden Aussage bleiben.« »Sie ist nicht ungeheuerlich, Captain und auch nicht geistesverwirrt. Im übrigen bleibe ich dabei. General Harriman wurde von einer mordenden Rüstung umgebracht.« Drake schluckte. Er war überfordert und dachte nur daran, die beiden Männer so schnell wie möglich in Sicherheitsgewahrsam zu bringen. Seinen Leuten nickte er zu. »Sperrt sie ein, verdammt! Ich kann mir dieses Gerede nicht länger mehr anhören.« »Captain, Sie machen einen Fehler!« rief der Colonel und fetzte gleichzeitig sein Hemd so hart auf, das die Knöpfe absprangen und über den Schreibtisch huschten. »Was soll das, Colonel? Drehen Sie jetzt vollends durch?« »Nein. Wenn jemand durchdreht, dann sind Sie es, Drake. Schauen Sie sich das an.« Er deutete auf seine Pflaster. »Das sind frische Verletzungen, und sie wurden mir von einer Schwertklinge zugefügt. Ich hatte unwahrscheinliches Glück, der Waffe zu entgehen. Sonst wäre es mir nicht anders ergangen als dem General. Es gibt diesen Killer, der mit seinem Schwert zuschlägt. Glauben Sie mir endlich. Er befindet sich hier im Haus!« »Quatsch!«
»Drake, ich…« »Festnehmen!« brüllte der Captain. Die beiden am nächsten stehenden Soldaten reagierten. Einer ging quer durch den Raum auf Tadlock zu, der andere kümmerte sich um Colonel Olmos. Beide leisteten keine Gegenwehr. In Anbetracht der Waffen war das auch besser. Nur Olmos schüttelte den Kopf. Er murmelte dabei etwas von einer wahnsinnigen Ignoranz und Dummheit, gegen die selbst Götter vergeblich ankämpften. Drakte sagte nichts. Er hörte es sich nur an. Sie führten Tadlock als ersten ab. Vor Drake blieb er stehen. »Jetzt haben Sie den Fehler Ihres Lebens gemacht, Captain. Den werden Sie nicht mehr ausbügeln können.« »Lassen Sie das nur meine Sache sein!« »Noch in dieser Nacht kann es zu einer irren Katastrophe kommen, und Sie tragen einen Großteil der Schuld daran!« »Gehen Sie mir aus den Augen!« Der Bewacher stieß Gerry Tadlock den Lauf in den Rücken. Der Lieutenant stolperte vor, dem Ausgang entgegen, wo die beiden anderen Soldaten wachten. Olmos folgte ihm langsamer, auch er schüttelte den Kopf. Andererseits konnte er Drake nicht einmal verübeln, so gehandelt zu haben. Die Geschichte, auch wenn sie die Wahrheit gewesen war, hatte einfach zu unwahrscheinlich geklungen. Einer der Soldaten meldlete sich von der Tür her. Er war einen Schritt zurückgegangen und stand halb im Gang. »Sir… Captain… ahm… da… da…« »Was haben Sie?« »Da ist jemand im Gang!« »Wer?« »Kommen Sie schauen.« Der Soldat zitterte plötzlich, und sein Gesicht war schweißnaß. Tadlock und Olmos waren stehengeblieben. Sie warfen sich einen bezeichnenden Blick zu. Drake aber ging mit staksigen und doch schnellen Schritten auf die Tür. Der Soldat machte ihm Platz. Und Drake schaute nach vorn, hinein in den Flur, wobei er glaubte, sich in einem irren Film zu befinden, der selbst den großen Lacherfolg >Hot Shot< noch übertraf. Nur drehte man im Weißen Haus keinen Film. Also mußte der Ritter mit seiner blutbesudelten Waffe echt sein, der sich ihm mit knarrenden, aber zielstrebigen Schritten näherte… ***
Die Spannung lastete wie ein Bleigewicht auf mir! Nadine Berger hatte nicht gelogen. Es gab diesen unheimlichen und ungewöhnlichen Ritter tatsächlich, obwohl er mir in dieser Welt gar nicht mal so fremd vorkam und ich eher den Eindruck hatte, er würde einfach dazugehören. Er schwebte über dem Wasser. Er stand in der Luft. Er hatte sein Visier vor das Gesicht geklappt und befand sich so nahe, daß ich durch den waagerechten Schlitz im Blech schauen konnte, aber keine Augen sah. »Das ist er, John! Das ist die Gestalt, die den Weg gefunden hat. Sie ist in diese Welt, in dieses Land für einen Moment zurückgekehrt, weil sie spürte, daß hier etwas nicht stimmte. Aber sie will wieder zurück, und deshalb mußt du mit.« Sie hatte die Worte hastig ausgesprochen und trotzdem flüsternd. »Okay. Ins Weiße Haus?« »Ja.« »Wie fange ich das an?« »Baue die Brücke, John! Bilde sie selbst, dann hat sie Bestand. Himmel, dir gehört der Gral. Du mußt ihn nehmen und die vorderen Symbole verändern. Genau die, auf die du schaust, wenn du ihn hochgehoben hast und in den Händen hältst.« »Ich werde es versuchen!« »Mach es!« drängte sie. »Es hängt irrsinnig viel davon ab. Es ist die letzte Chance!« Ich hob das Gefäß hoch. »Sehen wir uns wieder, Nadine?« »Bestimmt – irgendwann.« Sie sprach mit mir, ohne den Ritter aus den Augen zu lassen. »Aber tu jetzt etwas. Ich bitte dich inständig und von ganzem Herzen.« Ich beugte mich schnell nach unten und hob den Dunklen Gral ebenso schnell an. Mein Blick glitt über die äußere Wand. Es mußten die ersten beiden Zeichen sein. Zwei Vierecke wurden von einem verschlungenen Muster aus filigranen Linien bedeckt. Ich wußte nicht, was ich von den beiden Dingen bewegen mußte. Ich ließ es darauf ankommen, und meine Daumenkuppen wanderten über die beiden leicht vorstehenden Symbole hinweg. Ja, sie ließen sich verschieben. Ich drückte sie aufeinander zu und nicht voneinander weg. Die Chancen standen dabei fünfzig zu fünfzig. Glück oder Pech – ich hoffte auf mein Glück. Und ich hatte es.
Nadine Berger hatte immer von einer Brücke gesprochen. Es war natürlich keine normale, die über einen Fluß oder einen Bach führt, es war die Brücke, die Zeiten überwinden konnte. Zwischen mir und dem Ritter existierte plötzlich eine Verbindung. Ich sah, daß er zuckte, von einer Aura umtanzt wurde, und dann spürte auch ich, wie mich eine gewaltige Kraft heranzog und mich nicht mehr loslassen wollte. Auf magische Art und Weise war ich nach Avalon gelangt. Auf ebenso magische Art verließ ich die geheimnisvolle Nebelinsel wieder… *** Drake war zur Salzsäule erstarrt. Er hatte den rechten Arm angewinkelt und die Hand auf seine Pistolentasche gelegt, aber er war nicht in der Lage, die Waffe auch zu ziehen und zu schießen. Zu unwahrscheinlich war dieser Eindringling, zu unglaublich, wie in einem Irrenhaus. Auch Olmos und Tadlock hörten ihn. Sie konnten ihn nicht sehen, doch seine Schritte fielen auf. Die waren ihnen bekannt. Das Schleifen und das Knirschen des schweren Metalls, und beide wußten, daß es zu einem weiteren Blutbad kommen würde, denn die Waffen der Soldaten richteten gegen den Ritter nichts aus. Der Colonel versuchte zu retten, was noch zu retten war. »Drake, kommen Sie zurück oder fliehen Sie! Es gibt keine Chance mehr. Verdammt, glauben Sie mir!« Norman Drake hob den Kopf. Er schaute Olmos für einen kurzen Moment an und erkannte dessen beschwörenden Blick. Damit aber war Drake nicht umzustimmen, er dachte eben nur auf der Schiene wie viele Militärs. »Halten Sie den Mann ruhig!« fuhr er seine Soldaten an und schaffte es endlich, die Waffe aus der Pistolentasche zu ziehen. Die Rüstung aber bewegte sich weiter. Noch zeigte die Spitze nach unten und schleifte über den Boden, wo sie eine schmale Kratzspur hinterließ. Angst zeigte die Gestalt nicht. Und Drake nahm die für ihn günstigste Position ein. Er ging in die Combatstellung, streckte die Arme vor, hielt seine Waffe mit beiden Händen fest und zielte auf den Schädel der Gestalt. Dann drückte er ab. Rasend schnell hintereinander. Kugel auf Kugel jagte aus dem Lauf und traf auch das Ziel. Die Geschosse hämmerten gegen den Helm. Wäre das Krachen nicht so laut gewesen, hätte Drake auch das singende Aufprallgeräusch der Kugeln hören können.
So sah er sie nur als deformierte Querschläger, die zwar Beulen im Blech hinterlassen hatten, es aber nicht durchstoßen konnten. Die Waffe sank nach unten. Der Ritter ging weiter. Wer immer sich dahinter verborgen hält, dachte Drake, er ist ein Teufel! Die Rüstung bewegte ihren rechten Arm nach oben und damit auch das Schwert mit der langen Klinge. Drake wischte zurück. Er fühlte sich nicht mehr sicher. Seine eigene Waffe kam ihm dabei wie ein Spielzeug vor. Sein Befehl galt dem ebenfalls im Flur stehenden Soldaten. »Halten Sie drauf, Mann!« »Okay, Sir!« Durch die offene Tür huschte Drake in Olmos’ Büro, und er ließ sie auch offen. Der Soldat mit seiner schußbereiten MPi zeichnete sich an der rechten Seite des Ausschnitts ab. Er hatte den Finger längst am Drücker und zog ihn nach hinten. Die Waffe spie Tod und Verderben. Ratternde Feuerstöße zerrissen die Stille. Kugel auf Kugel jagte dem Ritter entgegen. Jetzt hörten sie sogar die Aufschläge, aber ihre Konzentration galt mehr dem schießenden Soldaten, der in den Knien eingeknickt war und den Oberkörper nach vorn gebeugt hatte, als wollte er sich gegen einen Sturmwind anstemmen. Er feuerte und schrie. Dann zuckte er zusammen. Blut quoll aus seiner linken Wange, die von einem unglücklich abgefälschten Querschläger erwischt worden war. Der Mann verlor etwas die Übersicht. Drake wollte einen anderen schicken, als links im Türrechteck die Rüstung erschien. Zuerst sahen sie das Schwert mit der roten Klingenspitze, dann den Arm, zuletzt ihn in seiner vollen Größe. Der Soldat tat seine Pflicht. Er schoß noch einmal und ging dabei einen Schritt vor. Genau den einen Schritt zu weit! Das Schwert war zu nah, und die Rüstung bewegte sich dabei einfach zu schnell. Sie schlug zu. Die sechs Zeugen erlebten das Grauen. Sie mußten mit ansehen, wie der Soldat getötet wurde. Zweimal drosch der Ritter seine Waffe nach unten. Der erste Schlag traf den Helm. Er spaltete ihn beinahe und wischte ihn vom Kopf. Der Mann war benommen, verlor die Waffe, taumelte in den Knien und konnte nicht mehr ausweichen, auch wenn zwei seiner Kameraden aus dem Büro hervorschossen und auf den Ritter hielten. Die Kugeln hatten eine
immense Wucht. Sie brachten die lebende Rüstung aus dem Konzept. Stießen sie zurück bis an die Flurwand, wo auch der Soldat als blutendes Bündel zusammengebrochen war. »Scheiße!« schrie Drake. Dann fuhr er herum und sah den Colonel an. »Wer ist das, verdammt! Sagen Sie es!« »Niemand!« »Sie sind…« »Es steckt keiner in der Rüstung, Sie Idiot!« brüllte Gerry Tadlock. »So glauben Sie uns doch endlich! Das ist Magie, das ist Zauberei! Das sind andere Kräfte.« Drake glotzte nur. Der Ritter aber hatte sich von den Garben wieder erholt. In Intervallen und dabei zuckend richtete er sich wieder auf. Dabei schleifte er mit dem Rücken über die Wand. Sein Helm saß schief. Die Kugeln hatten ihn nach links gefegt, und wieder schössen die Soldaten. Sie feuerten auf den Helm. »Ja!« brüllte Drake dazwischen, als er sah, wie die Wucht der Kugeln ihn abriß und er dann mit einem lauten Geräusch auf den Flurboden prallte, wo er liegenblieb. »Jetzt haben wir ihn!« brüllte Drake. »Wen denn?« kreischte Tadlock zurück. »Einen Geist, Captain? Oder sehen Sie so etwas wie einen Kopf, einen Hals…?« »Nein, Sie haben recht!« »Der kommt wieder, Drake. Der steht wieder auf und killt erneut. Wir müssen hier weg, wir müssen verschwinden!« Norman Drake schüttelte den Kopf. Er wollte es noch immer nicht glauben. Geduckt und mit einer kalten Gänsehaut auf dem Gesicht schlich er der Gestalt entgegen. Krumm lag die Rüstung am Boden. Nur zur Hälfte liegend, ansonsten gegen die Wand gestützt. Der Helm lag vielleicht zwei Kinderschritte weit vom Körper entfernt. Auf ihn konzentrierte sich Drake. Er bückte sich und hob ihn vorsichtig an. »Der wird nicht gescheit«, flüsterte Tadlock. »Nadine hat recht gehabt. Sie sagte…« »Was ist los?« fuhr Olmos ihm in die Parade. »Sie kennen Nadine Berger? Diese Nadine?« »Ja.« »Woher denn?« »Später, Sir. Erst müssen wir hier mit heiler Haut davonkommen. Hoffentlich hat sie es geschafft und Hilfe holen können. Versprochen hatte sie es mir.« »Ich verstehe nur noch Bahnhof.« »Das wird sich ändern.«
Drake hielt noch immer den Helm fest. Er hatte seinen eigenen zurückgeschoben. Das Gesicht war hochrot angelaufen. Den anderen Helm drehte er zwischen den Händen und glotzte ihn von allen Seiten an. Er schaute auch in die Öffnung hinein, um dort im Innern etwas erkennen zu können. Aber da gab es nichts zu sehen. »Leer!« ächzte er mit einer für alle Zuschauer fremd klingenden Stimme. »Verdammt, er ist leer. Das… das gibt es doch nicht. Das kann ich nicht glauben.« »Drake, das stimmt alles, verdammt! Wir haben es hier mit einem überirdischen oder parapsychologischen Phänomen zu tun. Akzeptieren Sie das doch endlich!« »Olmos!« keuchte der Captain den Colonel an. »Du redest Bockmist! Du redest verfluchten Bockmist, geistigen Dünnschiß! Hast du mich verstanden, Colonel?« »Vorsicht, Captain!« Einer der Soldaten stand in einem besonders günstigen Winkel zur Rüstung. Er hatte gesehen, daß sich das verdammte Ding bewgte und dabei seinen linken Arm ausstreckte. Der Handschuh war mit der Greifklaue eines ferngelenkten Roboters zu vergleichen. Er packte zu. Drake konnte nicht mehr verschwinden. Er hatte nicht auf den Ruf geachtet und zu lange gewartet. Die Klaue erwischte Drakes Fußknöchel, drückte ihn so fest, daß die Finger durch die Kleidung drangen, die Haut eindrückten und das Blut hervorquoll. Es gab einen Ruck. Drake brüllte noch auf. Er fiel zu Boden. Noch während er sich im freien Fall befand, hob die Rüstung den rechten Arm. Noch immer hielt sie das Schwert fest, und sie kantete es schräg in die Höhe, so daß Drake genau in die Spitze hineinfiel. Sein Schreien brach ab. Die Männer konnten nicht mehr hinabschauen. Das Unbeschreibliche hatte sie gelähmt. Erst als sie andere Geräusche hörten, drehten sie sich wieder um. Die Rüstung bewegte sich. Sie würde aufstehen. »Raus hier!« schrie Olmos. Das einzige, was ihnen noch blieb, war die schnelle Flucht. Sich in den Gang drängen und rennen, was die Beine hergaben. Aber die Rüstung war schnell, sehr schnell sogar. Sie wirkte so, als hätten sie die Worte angetrieben. Sie schwang ihr Schwert herum. Fast wäre Tadlock in die blutige Klinge gelaufen. Im letzten Augenblick warf er sich zur Seite.
»Wir packen es nicht!« schrie er. »Doch, wir müssen!« »Nein, Sie bleiben!« Eine fremde Stimme hatte vom Flur her gesprochen, aber der Mann war nicht zu sehen… Der Sprecher war ich! Nur drei, vier Schritte war ich vom realen Grauen entfernt. Ich sah die beiden Toten, ich sah das Blut, aber auch die offene Zimmertür, aus der die Stimmen gedrungen waren, und ich fühlt mich so verdammt elend. Ich hatte gedacht, dem Ritter auf den Fersen bleiben zu können. Das war mir auch irgendwo gelungen, die Brücke hatte auch weiterhin Bestand gehabt, nur war ich dabei gewissermaßen abgetrieben worden. Ich war einige Gänge entfernt gelandet, hatte die Schüsse gehört und mich erst durchkämpfen müssen, denn aus zahlreichen Büros waren Menschen gestürmt. Verstört, verwundert, manche ängstlich, einige sogar bewaffnet. Ihnen war ich entwischt. Und jetzt stand ich hier. Da waren die unsichtbaren Hände, die sich um meine Kehle gelegt hatten und einen starken Druck ausübten. Mir fiel das Luftholen schwer, in meinem Kopf hämmerte es, die Hände hielt ich zu Fäusten geballt, aber ich schaffte es, mich von dem Anblick des Todes zu lösen. Es hatte ja keinen Sinn, darüber nachzudenken und sich Vorwürfe zu machen. Ich konnte das Geschehen nicht wegwischen. Es kam darauf an, weitere Taten zu verhüten. Zwar stand die Bürotür offen, in den dahinterliegenden Raum konnte ich nicht schauen. Dazu mußte ich weiter vorgehen. Meine Antwort hatte die sich im Raum befindlichen Personen überrascht und sie zum Schweigen gebracht. Ich rechnete damit, von diesem Ritter erwartet zu werden. Als ich vorschlich, da sah ich den Helm auf dem Boden liegen. War die Gestalt doch erledigt worden? Der Anblick irritierte mich, ich wurde sicherer, dann schneller und sprang vor. Genau vor der offenen Tür drehte ich mich, so daß ich in das Büro blicken konnte. Ich sah den kopflosen Ritter! Ich sah aber noch mehr. Drei Soldaten und zwei Offiziere. Sie hatten sich, so weit es möglich war, gegen die hintere Bürowand gedrängt, denn vor ihnen stand der Tod. Ohne Helm und mit blutbeschmierter Waffe bot der Ritter einen schrecklichen Anblick. Irgendwo heulten plötzlich Alarmsirenen los. Von den Menschen sprach niemand. Auch ich dachte nicht darüber nach, daß ich mich im Weißen Haus befand, alles war so fremd, so anders, aber das Heulen der Sirenen brachte Bewegung in den Ritter. Er drehte sich um.
Die anderen interessierten ihn nicht mehr. Er hatte mich als neuen Feind ausgemacht. Waffenlos stand ich vor ihm. Den Gral hielt ich fest, mein Kreuz hing noch leider verdeckt. Ich wußte auch nicht, ob ich ihn damit hätte stoppen können. Er hob seine Klinge. Niemand sprach, alle schauten zu. Ich blieb stehen, denn ich sah, daß sich innerhalb der Kugel etwas tat. Plötzlich entwickelte der Gral Gegenkräfte, die auch auf mich übergingen. Ich fühlte mich riesig, so unwahrscheinlich sicher, den Kampf gewinnen zu können. Und der Ritter bekam es knüppeldick. Aus dem Kelch, möglicherweise auch aus der Kugel, schoß plötzlich eine gezackte und auch gekrümmte Blitzlinie hervor, die den Ritter ohne Kopf und Helm voll traf. Zitternd zeichnete sie seine Gestalt nach. Die Rüstung schien aus kleinen Spiegeln zu bestehen, alles flirrte um die Gestalt herum. Es war ein Ausbruch der magischen Kraft des Dunklen Grals, die dieses Wesen nicht nur stoppte. Sie schleuderte es auch zurück. Die anderen beobachteten es staunend, ich aber wußte Bescheid. Der Ritter verschwand. Er war plötzlich weg, einfach so. Ich spürte noch den leisen Sog, wie er in den Strom der Zeiten hineingerissen wurde, um wahrscheinlich in einer anderen Welt wieder zu erscheinen. Als Kopfloser… Ich stellte den Gral ab, drehte mich, ging und holte den Helm. Menschen eilten über den Flur, man schrie mich an. Das hörte auch der Colonel. Er huschte an mir vorbei und scheuchte die Leute zurück, die fassungslos und entsetzt waren, als sie die Toten in ihrem Blut liegend entdeckten. Der Colonel schloß die Tür. Er hatte sich wieder in der Gewalt, schaute mich an und fragte: »Jetzt möchte ich wissen, wer Sie sind und woher Sie kommen, Mister.« »Ich heiße John Sinclair, und woher ich komme – nun ja, das ist eine lange Geschichte.« Mir war nicht entgangen, daß der Lieutenant bei der Nennung meines Namens zusammengezuckt war. Ich konnte mir schon denken, wie dieser junge Mann hieß. »Die Zeit haben wir.« »Nein, die haben wir nicht.« »Ich bin Colonel Olmos und in diese Geschichte hineingeraten wie jemand, der…«
»Pardon, Sir, aber ich möchte den Gentleman etwas fragen«, flüsterte der Lieutenant. Er stand noch immer unter dem Eindruck des Geschehenen, und seine Hände zuckten ebenso wie die Augen. »Bitte.« »Kommen Sie von Nadine Berger?« »Ja, von ihr.« »Danke, Mr. Sinclair, dann stehen Sie auf unserer Seite. Dann hat es noch geklappt mit der Warnung.« Olmos schnappte nach Luft. Er wollte reden, schaffte es aber nicht so schnell. »Jetzt… jetzt verstehe ich gar nichts mehr«, sagte er krächzend. »Verdammt noch mal, Sie kennen sich!« »Nein, Colonel«, sagte ich. »Aber wieso wissen Sie…?« »Sir, wir haben eine gemeinsame Bekannte. Eine gewisse Nadine Berger. Sie erzählte mir einmal von einem außergewöhnlichen Mann mit dem Namen John Sinclair. Ich freue mich, ihn endlich zu sehen, auch wenn ich mir hätte bessere Umstände vorstellen können.« »Ich begreife nichts«, ächzte Olmos. Sein Blick wechselte zwischen Tadlock und mir. Auf Tadlock blieb er schließlich hängen. »Nadine Berger, haben Sie gesagt, Tadlock. Und wie sie das gesagt haben, läßt mich erkennen, daß Sie diese Person kennen, was Sie auch bestätigt haben. Das bringt mich wieder auf die Botschaften, die uns über den Bildschirm mitgeteilt wurden. Wissen Sie mehr darüber?« »Ja, Sir. Ich habe sie einprogrammiert.« »S… Sie?« »Ich wollte warnen, mehr nicht. Ich mußte es einfach tun. Ich wußte, daß sich etwas Schlimmes anbahnte, nun, es ist auch eingetreten. Leider, Sir. Aber über Einzelheiten können wir später reden. Jetzt geht es um den Ritter.« »Der hier nicht mehr morden wird!« versprach ich. »Wie kommen Sie darauf?« »Ich werde ihn mir vornehmen, Mr. Tadlock.« Der Colonel hatte sich gesetzt. Er war verletzt. Ich sah die Pflaster auf seiner Brust. »Jetzt verstehe ich nichts mehr!« flüsterte er. »Hören Sie, Sinclair, wissen Sie eigentlich, wo Sie sich hier befinden? Ist Ihnen das bekannt?« »Ja, im Weißen Haus.« Beinahe blieb ihm vor Staunen der Mund offen stehen. Auch die Soldaten sagten nichts. Sie standen nur da und waren froh, das Grauen hinter sich zu haben. »Und das… das sagen Sie so einfach?« »Warum nicht?« Der Colonel winkte ab. »Ja, warum nicht?« murmelte er. Dann riß er sich wieder zusammen. »Warum gerade hier, Sinclair? Wer immer unsere
Gegner sind, weshalb haben Sie sich das Weiße Haus ausgesucht und nicht irgendein Regierungsgebäude in London?« »Nun ja, ich will Sie nicht mit langen Erklärungen langweilen. Sagen wir so, das Weiße Haus ist auf irgendeine Art und Weise gefährdet, und gleichzeitig wirkt es wie ein Magnet.« »Toll, jetzt weiß ich gar nichts mehr. Wir haben alles getan, was die Sicherheit angeht und…« »So meine ich es nicht.« Olmos schaltete schnell. »Denken Sie etwa an PSI? An übersinnliche Kräfte? An außergewöhnliche Wahrnehmungen? An Geister? An Begegnungen der Dritten Art oder was weiß ich?« »Von jedem etwas!« Er streckte mir den Zeigefinger entgegen. »Sie kommen aber nicht aus einer anderen Welt?« »Nein, Colonel. Ich kann Ihnen versichern, daß ich Engländer bin und bei Scotland Yard arbeite.« »Auch das noch.« »Mögen Sie den Yard nicht?« »Nein, das war nur so dahergesagt. Ich komme hier ins Schwimmen. Ich weiß bald gar nichts mehr.« »Wie gesagt, Colonel, es sind Dinge geschehen, die Sie hinnehmen müssen. Versuchen Sie hier, die Sache ins reine zu bringen. Ich werde nicht mehr bleiben.« »Aber man wird Sie festhalten, Sinclair.« Ich nahm den Helm an mich und klemmte ihn unter den Arm. »Man wird mich nicht festhalten können, Colonel. Ich werde so wieder verschwinden, wie ich gekommen bin.« Er schüttelte den Kopf. Gerry Tadlock aber verstand. Er nickte mir zu. Ich merkte, daß er noch etwas sagen wollte. »Bitte, Gerry.« »Grüßen Sie Nadine Berger, wenn Sie wieder zu ihr gehen.« »Das werde ich machen.« »Soll ich fragen, wo sie jetzt ist?« »Ich würde Ihnen keine Antwort geben. Aber denken Sie immer daran. Das Weiße Haus besitzt einen magischen Kern. Es liegt an seiner Bauweise, denn einige Präsidenten damals waren den Logen sehr zugetan.« Während meiner Worte schon hatten sich meine Finger über die außen am Kelch angebrachten Symbole bewegt. Zum Glück standen sie noch vor. Ich konnte sie schieben, mußte sie allerdings auf die richtige Position bringen, um die Zeiten überbrücken zu können. Die Gesichter der Anwesenden schauten mich an. Sie alle sahen aus wie künstlich oder erstarrt. Jeder wollte noch etwas sagen, aber keiner traute sich. Den Helm nahm ich mit.
Ich wollte ihn der Person zurückgeben, der er gehörte, und hoffte, daß ich ihn letztendlich noch besiegen konnte. Nadine Berger und Avalon warteten auf mich. Noch immer tat sich nichts, dann aber hatte ich die Zeichen richtig gesetzt und merkte das feine Kribbeln in mir. Etwas floß in meinem Körper hoch… Die Gesichter der Menschen verschwammen ebenso wie die Umrisse des Büros. Diesmal erlebte ich die Reise sehr bewußt mit. Alle waren mir noch sehr nah, dennoch kamen sie mir bereits meilenweit entfernt vor. Es gab keine Distanzen mehr, alles rann und lief zusammen. Ich fühlte mich plötzlich leicht und sicher. Dann war ich weg! Meine Gefühle schalteten sich aus. Ich war kein Mensch mehr, der aus eigenem Antrieb handeln konnte. Ich mußte mich voll und ganz den Kräften des Dunklen Grals überlassen. Und er führte mich richtig. Mein Bewußtsein kehrte zurück, ich >erwachte< wieder, sah eine andere Umgebung, spürte den warmen Wind, nahm den Geruch der Blüten auf – und sah Nadine Berger. Wie tot lag sie am Boden. Der Schreck durchfuhr mich heiß. Ich dachte sofort an den Ritter und seine blutigen Taten. Da richtete sich Nadine auf, rieb ihre Augen, lächelte mich an und begrüßte mich. »Herzlich willkommen, John…« Mir fiel ein Stein vom Herzen! Ich war wieder in Avalon und schüttelte den Kopf, weil es mir nicht in den Sinn wollte, daß Nadine geschlafen hatte. Während sie noch etwas benommen war, schaute ich mich um, denn ich hatte den verdammten Ritter nicht vergessen. Sein Helm lag neben mir im weichen Gras, den Gral hielt ich fest. Ich sah ihn nicht. Ich spürte auch seine Nähe nicht. Er hielt sich bewußt zurück. Oder hatte ich ihn endgültig vertrieben? War er ohne Helm nur die Hälfte wert? Ich hätte auch seinen Kopf sehen müssen, der aber befand sich nicht darin. Nadine erhob sich. »Ich habe geträumt«, berichtete sie mir, »aber es war kein guter Traum, John.« »Tatsächlich nicht?« »Nein. Ich sah viel Blut…« »Ich ebenfalls.« »Aber du hast es geschafft.« »Sagte dir das dein Traum?« Sie nickte lächelnd. »Als die Sonne die Dunkelheit vertrieb, wußte ich, daß wir gewonnen haben.«
»Leider hat es trotzdem Opfer gegeben. Dieser verfluchte Ritter ist ein Killer.« »Das weiß ich leider.« »Aber ich weiß nicht, wer er ist. Ich weiß nicht einmal, wieso sich die Rüstung bewegen konnte, wenn nichts in ihr steckte. Das, Nadine, ist mein Problem.« Sie strich mit einer weichen Bewegung ihre Haare zurück. »Problem?« wiederholte sie. »Natürlich.« »Mag sein, für mich ist es das nicht.« »Dann bitte gib mir eine Erklärung.« Sie schaute mich lange an. Ich hatte den Eindruck, als wollte sie nicht so recht oder würde es ihr schwerfallen, die richtigen Worte zu finden. »Die Erklärung ist nicht einfach, John, das mußt du mir glauben. Ich könnte jetzt sehr weit ausholen und dir mehr von den Geheimnissen dieses Kontinents erzählen. Ich könnte davon sprechen, daß es Verbindungen gibt zwischen Avalon, der Artus-Saga und dem ebensosagenumwobenen Atlantis. Das alles existiert. Ich sage dir auch gleichzeitig, daß die Zeit noch nicht reif für derartige Dinge ist. Du wirst dieses Puzzle schon zusammensetzen, da brauchst du keine Sorgen zu haben. Wichtig im Moment ist dieser Ritter, nein, die Rüstung.« »Moment mal, Nadine. Wie war das mit Atlantis?« »Nicht jetzt, bitte. Denke daran, daß Glastonbury das englische Jerusalem genannt wird. Im echten Jerusalem haben sich drei Kulturen getroffen, und hier ist es ähnlich. Wichtig ist jetzt der Ritter, der seine Schicht verlassen hat.« »Lieber die Rüstung. Das kommt der Sache näher.« »Gut, auch das. Ich möchte dir sagen, daß sie nicht leer ist, wie du gemeint hast.« »Ach ja?« »Sein Geist steckt darin.« »Der Geist eines Ritters. Ich dachte an die Szene, die ich gesehen hatte, als ich die Symbole bewegte.« »Nein, es ist kein Ritter. Es ist ein Mönch gewesen. In sehr alter Zeit lebten hier Mönche.« »In Avalon?« »Nein, in Glastonbury. Sie waren es, die diese Gegend kultivierten, doch vor ihnen hat es noch andere Völker gegeben, und davon wieder welche, bis hin zu den Riesen, wie die Legenden erzählen. Aber kommen wir auf die Mönche zurück. Sie spürten etwas von den Hinterlassenschaften der alten Völker, sie wußten Bescheid, sie forschten nach, und sie erkannten, daß alles noch vorhanden war. Wenn auch in anderer Form. Aber die Gedanken, die Richtlinien, die existierten. Und es existierte das Gute sowie das Böse.«
»Dann haben sich die Mönche auf die andere Seite gestellt?« »Nur ein Abt. Er diente den keltischen Götzen, und er hat immer versucht, die Insel Avalon zu finden, die schon längst verschwunden war. Er ging davon aus, daß sie im Meer lag, daß die Nebel sie verbargen und sie nur preisgaben, wenn sie hin und wieder aufrissen. Er suchte den Weg über die Macht der finsteren Keltengötter. Sie nahmen ihm den Körper, sie ließen ihn als Geist zurück, und er durfte sich etwas aussuchen, in dem er sich wohl fühlte.« »Die Rüstung, nehme ich an.« »Genau sie war es. Sie wurde durch seinen Geist gefüllt. Er ist es gewesen, der sie bewegte, und sein Geist hat die Zeiten überdauert.« »Wo lebt er?« Nadine Berger hob die Schultern und lächelte etwas verlegen. »Ich könnte dir weiterhin von den Schichten erzählen. Du würdest ihn dort finden.« »Dazu müßte ich erst einmal hingelangen.« »Das wäre durch den Dunklen Gral möglich. Aber es ist gefährlich. Du könntest abirren, und deshalb habe ich einen anderen Plan gefaßt, um ihn zu stellen. Er ist mir auch in den letzten Minuten eingefallen und nur, weil ich das da sah.« Sie streckte den Arm aus und deutete auf den verbeulten Helm. »Wirklich?« »Ja, dieser Abt will ihn zurückhaben, davon gehe ich aus. Er braucht ihn, und deshalb brauchst du ihn nicht zu suchen. Er wird dich suchen und dich finden.« Eine steile Falte bildete sich auf meiner Stirn. Bei mir ein Zeichen des Mißtrauens. »Bist du dir da ganz sicher?« »Völlig.« »Schön, dann ist alles klar. Ich werde eben hier auf unseren Freund warten.« »Nein, um Himmels willen, nicht hier. Nicht auf dieser wunderschönen Insel.« Ich verdrehte die Augen. »Jetzt machst du mich halb verrückt. Wo soll ich denn hin?« »Zurück in deine Welt.« »Nach Glastonbury oder nach London?« »Nein, nein, John, nach Glastonbury. Daher kommt er, den Weg kennt er. Du hast ja das Einhorn erlebt, das er euch geschickt hat. Er ist bereits über dich informiert gewesen. Wenn er den Helm unbedingt zurückhaben will, wird er wissen, wo er dich finden kann. Davon bin ich voll und ganz überzeugt.« »Das wäre mir sogar lieb.« »Dann müssen wir uns jetzt verabschieden.«
In diesem Augenblick gab es mir einen Stich. Es war kein Herzschmerz, aber so etwas Ähnliches schon. Ich starrte Nadine an. Sie hob die Schultern und lächelte. »Was ist?« Als Antwort bekam sie von mir ein Kopf schütteln. Mir war jetzt klargeworden, daß wir uns doch nicht in einer normalen Welt befanden, obwohl wir uns so normal unterhalten hatten. Ich stellte fest, daß uns beide Welten trennten. Sie würde nicht mehr mit mir zurück nach London gehen. Ihre Aufgabe hatte sie hier gefunden. Sie würde diese Welt durchwandern, sie würde sie erleben mit allen ihren Schönheiten und Geheimnissen. Sie würde zu einer Wissenden werden. Ein Schauer kroch über meinen Rücken. Ich merkte, wie mein Gesicht zuckte, denn gedanklich beschäftigte ich mich mit Erinnerungen, mit schrecklichen Fällen, die wir gemeinsam durchgestanden hatten. Nadine die meiste Zeit als Wölfin. Das alles war vorbei, es lag plötzlich so weit zurück, daß die Erinnerung von Schatten gelöscht werden sollte. Nadine merkte, daß mit mir etwas nicht stimmte. »Geht es dir nicht gut, John?« »Doch, doch, schon, aber ich…« »Du denkst an den Abschied?« Ich schaute zu Boden. Irgendwo fühlte ich mich verlegen. »Was heißt Abschied?« Dann nickte ich heftig. »Ja, verdammt, ich habe an ihn gedacht, und ich habe auch daran gedacht, daß es mir noch gelingen könnte, dich wieder zurückzuholen, Nadine.« »Nein, John, auf keinen Fall. Das ist vorbei. Wenn es etwas Endgültiges gibt, dann ist es mein Bleiben hier, verstehst du das?« »Sicher.« Sie umarmte mich. »Mach es uns beiden nicht zu schwer, John, wir sehen uns bestimmt wieder.« Ich wollte etwas sagen. Sie aber war schneller und umarmte mich. Wie ein Liebespaar standen wir da. Ich spürte ihren Körper, der eng an den meinen gepreßt war, wollte den Gral abstellen, aber sie hielt ihn mit einer Hand fest. Sie hatte die Fläche nach außen gelegt, die Finger bewegten sich über die Symbole hinweg und schafften es auch, sie in eine andere Stellung zu bringen. Mein Protest erstickte. Die Welt um mich herum verschwamm. Aus einer kaum meßbaren Ferne hörte ich Nadines Stimme wie den Klang einer Glocke. »Wir sehen uns wieder, John… oft noch. Die Zeit der großen Rätsel beginnt. Sie ist reif. Du wirst mithelfen, sie zu lösen, und du wirst erkennen, daß die alten Mythen Wahrheit sind. Du bist der Sohn des Lichts, du hast das Kreuz und den Gral…« Ihre Stimme verwehte. Es war vorbei.
Ich konnte nicht mehr denken, aber ich merkte dann den Wind, der mir diesmal kalt vorkam. Meine Welt hatte mich wieder. Diesmal war es nicht das Weiße Haus, in dem ich stand, vor mir sah ich den Turm auf dem Hügel und das Tor. Ich stand auf der Avalon-Seite, und es hatte sich seit meiner Reise auf die Insel der Äpfel nichts verändert. Nur die Gefühle waren andere geworden. Ich kam mir so allein vor, so zurückgelassen und konzentrierte mich auf den Druck am rechten Innenarm. Damit hielt ich den Helm fest. Er war also noch vorhanden, und er war auch der Beweis dafür, daß dieser Fall noch nicht gelöst war. Ich mußte den Geist finden, der sich dem Bösen zugewandt hatte. Okay, ich würde es tun! Mein Blick glitt zurück. Weich wellte sich die Landschaft vor meinen Augen. Ein grünbraun erstarrtes Hügelmeer, das im Süden und Westen irgendwann gegen die Küste stoßen würde, wo die Sagen und Legenden den alten Zeiten ebenso intensiv waren wie hier. Avalon, Merlin, König Artus – die Gestalten durchwehten die Kapitel der Geschichte. Ich drehte mich um, riß mich zusammen. Es hatte keinen Sinn, die Gedanken zurück in die tiefe Vergangenheit wandern zu lassen. Ich würde wieder mit ihr konfrontiert werden und dabei sicherlich mehr herausfinden. Ich mußte nach vorn blicken und vor allen Dingen den Ritter stellen, damit er nicht noch mehr mordete. Der Weg war vorgezeichnet. Ich konnte um das Tor herumgehen, aber ich ging trotzdem hindurch. Obwohl es davor und auch dahinter gleich aussah, hatte ich dennoch den Eindruck, von einer Welt in die andere zu gehen. Dabei hatte sich nichts verändert, selbst der leichte Torfgeruch wehte mir noch ins Gesicht. Mir fiel Kilian Versy ein, der Mann, der mich überhaupt nach Glastonbury bestellt hatte. Er hatte versprochen, auf mich zu warten. Ich drehte mich um, ich suchte ihn. Er war nicht da. Hatte er nicht warten wollen? War er schon vorgegangen? Nein, das war er nicht. Ich sah seinen Umriß dicht neben der alten Wand des Gemäuers. Auf den ersten Blick sah er so aus, als hätte er sich in das alte Gestein festgekrallt. Aber nur auf den ersten Blick. Beim zweiten Hinschauen erfaßte mich das Entsetzen. Da sah ich das Blut, das ihn wie ein rotschwarzer Teppich umgab und schon teilweise in den Boden eingesickert war. Ich wußte Bescheid. Der Ritter oder die Geisterrüstung hatten furchtbare und ganze Arbeit geleistet…
*** Ja, Kilian Versy war tot. Und sein Mörder hatte ihn nicht nur mit einem Schlag umgebrach t, sondern mehrmals zugestochen. Voll irrsinniger und unglaublicher Wut. Ich schaute auf ihn. In seinem blutüberströmten Gesicht lagen die Augen wie zwei starre Kugeln. In mir kochte ein irrsinniger Zorn hoch, der sich zum Haß auf dieses verfluchte Monstrum verdichtete. Hatte ich einen Fehler begangen? Hätte ich ihn mit nach Avalon nehmen sollen? Möglich, doch er war nicht derjenige gewesen, um den es ging. Er hätte nichts erreichen können. Er war nur der Führer gewesen und hatte mich auf den richtigen Weg gebracht. Es tat mir so verdammt leid. Nicht nur um sein Wissen, das er mir noch hätte mitteilen können. Versy hatte zu den Menschen gehört, die sich mit der Geschichte und der Mythologie beschäftigten, der mir hätte Tips geben können. Das alles war nun vorbei. Brutal ausgelöscht durch mehrere Schwerthiebe. Das wiederum zeigte mir, daß es für den Mörder keine Grenzen gab. Die lebende Rüstung mordete grenzenlos. Ich senkte den Kopf und drehte mich um. Unter dem Arm spürte ich den Druck des Helms. Der wiederum erinnerte mich daran, daß dieser mordende Geist ihn zurückholen würde. Da ich nicht vorhatte, ihn aus der Hand zu geben, mußte er zu mir kommen. Ich dachte darüber nach, wo ich ihn erwarten sollte. Einfach hier stehenbleiben und auf ihn warten oder zurück nach Glastonbury gehen, wie ich es vorhatte. Glastonbury besaß gewisse Nachteile. Nicht für mich, sondern für die Menschen, die dort lebten. Wenn die killende Rüstung dort erschien, würde sie auch Menschen in große Gefahr bringen. Es konnte Verletzte und sogar Tote geben. Das wiederum machte mir angst. Ich schluckte und räusperte mich danach. Im Mund spürte ich einen fahlen Geschmack, und ich fragte mich, ob so der sich drohend nähernde Tod schmeckte. Meinen Entschluß hatte ich nach wenigen Minuten gefaßt. Ich wollte ihn locken, er sollte sich auf meine Fersen setzen, und ich wollte ihn nicht hier am Tor erwarten. Mir blieb nur noch die. Pflicht, Kilian Versy die Augen zu schließen. Dann machte ich mich auf den Weg. Es war noch nicht dunkel geworden. Der Himmel zeigte nach wie vor sein gleiches Bild. Intensive Farben aus Grau und Weiß hatten sich ineinandergeschoben und sich zu einem wilden Muster vereinigt. Es kam
mir vor, als würden sich unheimliche Schattenwesen selbst auffressen wollen. Eine traurige düstere Landschaft umgab mich. Ich konnte gegen das weite Moor schauen, wo der Torf abgebaut wurde. Praktisch daneben lag Glastonbury. Aus den Kaminen quoll der blaßblaue Rauch und verteilte sich in der ansonsten klaren Luft. Im Moor wurde nicht mehr gearbeitet. Die Maschinen und Transportbänder standen ebenso still wie die Loren, in denen das Material abtransportiert wurde. Der Wind wehte kühl in die große Mulde hinein. Ich hatte den Eindruck, als wollte er mir von zahlreichen Sagen und Legenden erzählen, die sich in dieser Gegend gehalten hatten. Ich ging nicht ganz bis in den Ort. Am Rande, wo die ersten Häuser standen – es waren bessere Hütten – blieb ich stehen und schaute zurück. Nichts bewegte sich auf der glatten Fläche. Das Tor war kleiner geworden, der Turm wirkte nicht größer als ein in die Höhe gestreckter Arm, dessen Hand zur Faust geballt war. Noch hatte sich die mordende Rüstung nicht blicken lassen! Ich war aber davon überzeugt, daß er mich unter Kontrolle hielt. In Glastonbury war es still. Es existierte kaum Leben, der Ort atmete aus. In Sichtweite schob ein Mann eine Schubkarre über die Straße. Er schaute kurz zu mir hin, dann ging er weiter. Ich ebenfalls. Mein Ziel stand jetzt fest. Ich wollte zum Gasthof Avalon. Dort parkte mein Wagen. Es war die beste Möglichkeit, aus dem Ort zu entkommen. Hineinsetzen und wegzufahren, nicht zu fliehen, sondern den Geistkiller von den Menschen weglocken. Mein Rover stand dort wie ein einsamer Geselle. Über der Tür brannte die Lampe, auch die beiden Laternen an der Außenseite neben den Fenstern gaben ihr Licht ab. Die Tür stand offen, ich ging hinein, traf keinen an und holte aus dem Zimmer meinen Koffer. Nichts hatte sich dort getan. Es sah so aus, wie ich es verlassen hatte. Ich schaute durch das Fenster. Über dem Moor hatte sich der Dunst verstärkt. In der Nacht würde er sicher zu einem Nebel werden, dann aber wollte ich nicht mehr in Glastonbury sein. Ich nahm den Zimmerschlüssel mit und ging nach unten. Auf den Treppenstufen hallten meine Tritte als Echos wider. Der Koffer, den Gral und den Helm packte ich in den Wagen. Helm und Gral fanden ihre Plätze auf dem Beifahrersitz. Den Koffer legte ich in den Fond. Ich würde auch die Polizei herschicken, denn Versys Leiche mußte geborgen werden.
Jetzt fehlte mir nur noch die Wirtin, damit ich zahlen konnte. Ich ging noch einmal zurück, betrat aber diesmal die Gaststube, weil ich sie dort erwartete. Sie war auch da. Als ich sie sah, fiel mir auch ihr Name wieder ein. Sie hieß Alva. Das alles aber war zweitrangig. Nie hätte ich gedacht, daß das absolute Grauen noch eine Steigerung erfahren konnte. Hier war es so. Alva hockte unbeweglich auf einem Stuhl. Sie war tot, durchbohrt von einem lanzenartigen Gegenstand. Und auf ihrem Schoß lag Kilian Versys Kopf! *** Ich wußte nicht, was ich in diesen Augenblicken fühlte. Ich war einfach nicht mehr fähig für Gefühle. In mir fror etwas ein; auch mein Blut schien aus Eispartikeln zu bestehen. Durch meinen Kopf tobte ein irrer Vergleich. Ich sah den herrlichen Garten Avalon und die zahlreichen Menschenköpfe darin, die sich allesamt nicht bewegten. Bis auf einen. Der gehörte Nadine Berger. »Mein Gott…« Jemand hatte gesprochen. Erst Sekunden später kam ich darauf, daß ich es gewesen war. Ich hatte meine eigene Stimme nicht wiedererkannt, so fremd war sie mir geworden. Wäre dieses verfluchte Wesen jetzt erschienen, ich hätte mich ihm mit bloßen Händen entgegengestellt. Reiß dich zusammen, John! Pack es. Denk nicht dran. Versuche, wie ein Polizist zu reagieren. Laß die Gefühle aus dem Spiel. Das hämmerte ich mir ein, ohne allerdings überzeugend zu sein. Ich war ein Mensch und keine kalte Maschine. Langsam zog ich mich zurück. Draußen atmete ich tief durch. Mir war übel geworden. Ich stützte mich gegen meinen Wagen und schaffte es nur mühsam, mich nicht zu übergeben. Die Zeit der Erholung brauchte ich, um die Gedanken wieder sammeln zu können. Der Geist des Abts war also vor mir zurückgekehrt und hatte Versys Kopf mitgebracht. Dies wiederum sagte mir, daß er genau über meine Schritte informiert gewesen sein mußte. Hielt er mich aus dem Unsichtbaren heraus unter Kontrolle, oder konnte er in die Zukunft schauen, um über meine Handlungen informiert zu sein. Hier war alles möglich… Wo sollte ich hin? Ich mußte ihn weglocken, einfach weg von den Menschen. Raus aus Glastonbury. Vielleicht doch ins Moor fahren. Ja, das war die beste Idee.
Dort arbeitete niemand mehr. Da waren wir beide unter uns, falls wir uns denn trafen. Ich hatte die Fahrertür schon offen, als ich die Gestalt sah, die auf das Haus zukam. Es war ein normaler Mensch, kein kopfloser Ritter mit blutverschmiertem Schwert. Der Mann war schon älter. Wind fuhr in seine grauen Haarsträhnen und wirbelte sie in die Höhe. Er kam direkt auf mich zu, blieb in Sprechweite stehen und nickte. »Bitte sehr?« fragte ich leise. »Mein Name ist Ingles. Ich bin hier der Pfarrer.« »John Sinclair.« »Ich weiß.« »Woher?« »Kilian Versy hat mich eingeweiht. Ich sollte wissen, daß jemand kommt, um den Zipfel eines Geheimnisses zu lüften.« »Ja, das bin ich.« Der Geistliche nickte. Er hatte ein rundes Gesicht mit müden Augen und einer bleich wirkenden Haut. Seine Finger sahen aus wie eine Kralle. »Ich möchte Sie bitten, Mr. Sinclair, unseren Ort zu verlassen. Wir alle hier wissen, welche Bürde uns aufgelastet wurde. Wir kennen die Geschichte, die Mythologie. Wir möchten wirklich nicht, daß Fremde darin herumstochern. Bisher haben wir die Probleme allein bewältigen können, auch wenn wir uns unter dem Druck der Mythologie beugen.« »Ja, Hochwürden, das ist mir alles bekannt. Nur ist es mit der Ruhe leider vorbei.« »Inwiefern?« Meine rechte Hand lag auf dem oberen Türrahmen. »Kennen Sie die ganz alten Geschichten?« Er legte seine Hände zusammen. »Es kommt darauf an, wie weit Sie zurückgehen und welche Geschichten Sie meinen?« »Die um einen Abt, der einmal Herr über das alte, nicht mehr vorhandene Kloster gewesen ist?« »Ich hörte davon. Er wandte sich den alten Göttern zu, denen der Kelten, der Urzeitgötzen.« »Stimmt.« »Was ist mit ihm?« »Gehen Sie davon aus, daß sein Körper starb, sein Geist aber zurückkehrte.« Ich erwartete, ihn sehr erstaunt zu sehen, aber er reagierte ungewöhnlich kühl. »Dann wird es Tote geben.« »Es hat sie schon gegeben.« In seinen blauen Augen blitzte es auf. »Wer starb?«
»Alva und Kilian Versy.« Ich erklärte ihm, welch ein Anblick ihn in der Gaststube erwartete und sah, daß er schwankte. Ich stützte ihn. Erschnappte nach Luft. Nach einer gewissen Zeit hatte er sich wieder gefangen. Er stützte sich mit dem Rücken an meinem Wagen ab. »Warum denn?« keuchte er. »Warum ist das geschehen?« »Ich kann es Ihnen nicht sagen, Hochwürden.« »Die anderen Kräfte melden sich zurück. Sie wollen wieder in das Geschehen eingreifen. Über Jahrtausende hinweg hat diese Gegend den Fluch getragen. Es gab gute und schlechte Zeiten. Jetzt sind die schlechten wieder angebrochen.« »Der Geist des Abts ist da. Er hat sich in einer Rüstung verborgen. Er trägt ein Schwert, das zu einer furchtbaren Mordklinge geworden ist. Das alles sind keine Märchen, sondern Tatsachen, Hochwürden. Aber es hat keinen Sinn, Ihnen jetzt die Zusammenhänge erklären zu wollen. Bei mir drängt die Zeit.« Wieder holte der Pfarrer Luft. »Können Sie mir denn sagen, was Sie vorhaben?« »Ich will den Geist vernichten.« »Und wie?« »Das schaffe ich schon.« Er nickte. »Sie sind ein Mensch, und Menschen kommen gegen die anderen Mächte nicht an.« »Es gibt Ausnahmen.« Als er mich so sprechen hörte, schaute er mich an und versuchte, in meinem Gesicht zu forschen. Ich blieb gelassen, hielt dem Blick stand, und der Pfarrer nickte. »Ja, versuchen Sie es.« »Danke.« »Und wo wollen Sie hin?« »Ich will vor allen Dingen, daß es keine Toten mehr gibt. Es sind zu viele Menschen gestorben. Er will mich, weil ich etwas von ihm habe. Ich werde aus Glastonbury heraus und ins Moor fahren.« »Eine gute Idee.« »Ich hoffe, daß wir uns später noch einmal sehen. Hochwürden.« Nach diesen Worten stieg ich in meinen Rover. Der Pfarrer trat zurück. Ich zog die Tür zu. Schnallte mich an. Startete den Motor, rollte langsam an. Der Pfarrer schaute mir nach. Ich sah, wie er ein Kreuzzeichen schlug… *** Der Weg hatte mich in eine dunstige, unheimliche Welt geführt. Sie war real, sie war nicht Avalon, obgleich sie mir hier unrealistisch vorkam.
Unzählige Geister schienen sich um mich versammelt zu haben, um ihren lautlosen Reigen zu tanzen. Ich hatte die Wege verlassen müssen und war durch das normale Gelände bis zu meinem Ziel gerollt. Es war genau die Stelle, wo die Gleise vor einem alten Prellbock endeten und die hintereinander stehenden Loren eine lange Schlange bildeten. Ich hockte auf dem Rand der ersten Lore und hatte den Helm sowie den Dunklen Gral vor mir auf den Boden gestellt, denn beide waren für mich ungemein wichtig. Damit wollte ich den Ritter locken. Schon einmal hatte er versucht, mich zu töten. Der Gral hatte es verhindert, und auf seine Gegenkraft hoffte ich auch jetzt. Da konnte kommen, was wollte, dieser irrsinnige Geist war einfach gezwungen, sich den Helm zurückzuholen. Wenn das eintrat, hoffte ich, daß ich stärker war als er und ihn endgültig besiegen konnte. Ich wartete also. Vor mir bewegte sich der Dunst. Wie lange, graue Kleider kroch er über die Loren hinweg. Manchmal, wenn ein stärkerer Windstoß gegen ihn fuhr, wurden einige kompakte Teile zerrissen wie alte, zu dünn gewordene Laken. Die nächsten sechs, sieben Loren konnte ich noch erkennen. Danach verschwamm sie im Dunst, bei dem ich das Gefühl hatte, als würde er die Zeit von mir wegtransportieren und sie durchlässig machen, damit ich die Bilder einer längst vergangenen Zeit wieder hatte. Manchmal stellte ich mir Gesichter vor, wie sie aus den Schwaden hervortauchten. Ich sah meine Freunde, auch Nadine. Sie als Mensch und als Wölfin, und ich sah wieder ihre neue Welt, ihre jetzige Heimat vor mir, ein Meer aus Gerüchen und Blüten. Ich wischte über meine Augen. Die Bilder verschwanden. Sie waren nur Einbildung gewesen, die ich wiederum als gefährlich ansah, weil ich mich nicht ablenken lassen durfte. Er würde bald kommen! Sehr bald schon. Und dann war er plötzlich da, ohne eine Vorwarnung abzugeben. Ich mußte bereit sein… Es war nicht still um mich herum. Alle Geräusche waren verfremdet und klangen geheimnisvoll. Mal ein Scharren, dann ein Kratzen oder ein leises, aber dumpf klingendes Blubbern aus einem der nicht weit entfernt liegenden kleinen Tümpel. Hin und wieder bewegten sich Zweige, dann sang der Wind mit ihnen zusammen seine Melodie. Ich wartete.
Torfballen lagen aufeinander gestapelt in der Nähe. Sie wirkten wie abweisende, finstere Mauern. Auf den Loren lag die Feuchtigkeit wie ein nie abreißender Film. Hier war die Welt anders, hier war sie zu Ende, hier gab es nur das reine Überleben. Rechts von mir befand sich das Transportband. Über die graue Fläche hinweg bewegte sich ebenfalls der Dunst wie ein langsam fließendes Waser. Wann kam er? Oder war er schon da? Immer dann, wenn ich auf meinem Rücken ein Prickeln spürte, drehte ich mich behutsam um. Nichts war zu sehen. Nur der Dunst, der lautlos über den Boden strich, als wäre er mit den Botschaften geheimer Welten gefüllt. Ich rutschte vor und stellte mich in die Lore. Der Helm der Rüstung glänzte matt. Wieder dachte ich daran, mich verrechnet zu haben. Hoffentlich wollte er ihn auch holen und ließ ihn nicht im Stich. Ich hatte mein Kreuz offen vor die Brust gehängt. Es rührte sich nicht. Kein Flimmern, kein Blitzen. Das war nicht seine Welt. Plötzlich kippte ich zur Seite. Es war eine kantige Bewegung. Ich konnte mich soeben noch am Rand festhalten. Ich war nicht von selbst so umhergeturnt. Durch den Zug war ein heftiger Ruck gegangen, als hätte ihn jemand angestoßen. Wenn ja, dann konnte dies nur die lebende Rüstung gewesen sein, ein Mensch hätte die Kraft nicht besessen. Ich drehte mich um. Hinter mir war er nicht zu sehen. Er mußte sich am anderen Ende der Lorenreihe aufhalten und dort gezogen haben. Obwohl ich wußte, wie gefährlich er war, durchströmte mich doch ein Gefühl der Erleichterung. Endlich war er in meiner Nähe, endlich konnte ich ihn stellen. Der Zug rollte an. Ich überlegte, ob ich in der Lore stehenblieb oder abspringen sollte, da er nicht zu schnell rollte, blieb ich stehen und wartete darauf, was geschah. Zunächst tat sich nichts. Wir fuhren tiefer hinein in das Moor und bewegten uns dabei auf einem kleinen Damm, denn rechts und links öffneten sich die Gruben, aus denen die Arbeiter den Torf entnommen hatten. Wie Fahnen wischten die dünnen Dunstschilder vorbei. Sie rissen auf, sie zerfetzten, als würden Fäuste oder Hände in sie hineinstoßen, um Lücken zu reißen.
Es war eine Reise, von der ich nicht wußte, wohin sie endete. Aber das Tempo blieb. Breitbeinig stand ich da, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Die killende Rüstung war raffiniert, sie konnte von einem Moment auf den anderen erscheinen. Ich hatte diesen Gedanken noch nicht ganz über die Runden gebracht, als ich sie sah. Damit überraschte sie mich tatsächlich. Sie schwebte, sie ging über die Ränder der Loren hinweg. Sie schälte sich aus dem dünnen Nebel und war für mich nichts anderes als ein kopfloses Gespenst. LJnd – was für mich am wichtigsten war – sie wollte den Kampf, denn das Schwert hielt sie noch immer fest… *** Es war der Augenblick der Entscheidung. Ich wurde eiskalt. Ich dachte an die Opfer, die auf das Konto dieser Mordgestalt kamen, und wußte dabei, daß ich mich auf keinen Fall von meinen Gefühlen überwältigen lassen durfte. Ruhe und Nerven bewahren. Ich hörte nichts, die Rüstung bewegte sich beinahe lautlos. Sie war zum Glück noch so weit von mir entfernt, daß ich mich bücken und den Helm an mich nehmen konnte. Mit beiden Händen hob ich ihn an. Sie war wieder näher an mich herangekommen und nur zwei Loren von mir entfernt. Die Distanz reichte. Ich hob den Helm an und schleuderte ihn auf die Rüstung zu. Mit einem scheppernden Geräusch prallte er gegen die Brust, tickte von ihr weg, und bevor dieses Wesen noch nachfassen konnte, war er über den Rand der Lore hinweg auf den weichen Boden neben dem Damm gerollt. Gut so. Der Ritter wollte seinen Helm. Ich war plötzlich uninteressant für ihn geworden. Mit einer Drehung und einem anschließenden Sprung setzte er über den Rand hinweg. Er fiel in die Tiefe, war aus meinen Blicken verschwunden. Ich beeilte mich, nahm den Dunklen Gral hoch, kletterte auf den Rand des Wagens und sprang ebenfalls nach draußen. Verdammt, der Graben! Ich fiel tief und hatte das Gefühl, von diesem Moor verschluckt zu werden. Dunkelheit umgab mich. Ich hörte das Rollen der Räder, das Rattern der kleinen Wagen, prallte auf einer mir weich vorkommenden
Unterlage auf und wurde trotzdem nach vorn gestoßen, wobei ich mich noch gut fangen konnte. Dann stand ich wieder. Ich drehte mich um. Der Zug war verschwunden. Irgendwo würde er anhalten, doch darum brauchte ich mich nicht mehr zu kümmern. Wichtig war der Geist des Abts, der in dieser Rüstung steckte und wieder töten wollte. Als ich zurückschaute, sah ich ihn nicht. Entweder war er schon aus dem Graben herausgeklettert oder hielt sich so dicht am Boden verborgen, daß ich ihn nicht sehen konnte. Dafür schaute ich an der Wand des Grabens hoch. Sie bildete eine Schräge, zwar sehr steil, aber trotzdem zu erklettern. Hier unten fühlte ich mich nicht wohl. Ich war einfach zu sehr eingeengt, wenn es zum Kampf kam. Das Rattern des Zuges war in der Ferne verschluckt worden. Stille umgab mich. Keine Schritte? Nein, nicht zu hören, nur meine Geräusche, die ich produzierte. Es war nicht einfach, die Böschung hochzuklettern, weil ich zusätzlich noch den Gral festhielt. Zwar behinderte er mich jetzt, aber ich würde einen Teufel tun und ihn wegstellen. Ich krabbelte hoch. Mir fiel ein, daß ich im Augenblick wehrlos war. Egal, wo der andere erschien, er würde mich mit einem schnellen Schwerthieb erwischen. Auf halber Höhe hörte ich das Geräusch. Dieses Knarren, so verdammt häßlich, als würden eine rostige und eine glatte Platte übereinanderreiben. Er kam… Er war nah! Ich schaute hoch. Da stand er. Den Helm hatte er sich wieder aufgesetzt. Den rechten Arm mit dem langen Schwert erhoben, und mit ihm schlug er gnadenlos zu. Ich war schneller. Katapultierte mich zurück. Ich merkte, wie ich rutschte, hörte auch noch das leise Pfeifen der Klinge, die allerdings nur die Dunstfetzen zerteilte und dann mit einem wuchtigen dumpfen Hieb in die steile Böschung rammte. Er hatte es nicht geschafft! Nicht beim ersten Versuch. Und dies wiederum durchschoß mich wie ein Triumph. Ich war diesmal der Stärkere gewesen, aber der Kampf auf Leben und Tod stand erst am Beginn. Einige Male hatte ich mich überschlagen, bevor ich am Rand der Grube zur Ruhe kam und dort für einen Moment liegenblieb. Geprellt oder gestoßen hatte ich mir nichts. Dafür war der Boden einfach zu weich. Ich stand wieder auf.
Der Gral war bei mir. Selbst die Kugel klemmte in seiner Öffnung fest. Und sie leuchtete plötzlich wie ein großes düsteres Auge. Sie spürte die fremde Magie, sie stemmte sich dagegen an wie mein Kreuz, wenn es mit den Mächten des Bösen in Kontakt kam. Ich schaute an der Böschung hoch. Etwas blitzte in der Luft. Es war die lange Schwertklinge, die mein Feind wieder zurückzog. Dann blieb er stehen. Ich zog die Beretta! Die Gestalt konnte ich nicht verfehlen. Riesig sah sie aus, wie ein altertümlicher Roboter und nicht wie eine mit einem bösen Geist gefüllte Rüstung. Ich schoß und wollte es mit einer geweihten Silberkugel versuchen. Sie traf, sie wurde deformiert und jagte als Querschläger davon. Das also half nichts. Es war auch nur ein Versuch gewesen. »Komm her, du Killer!« schrie ich zu der Rüstung hoch. »Verdammt noch mal, bringen wir es endlich hinter uns!« Ich wurde von der Wut regelrecht überschwemmt. Sie war wie eine mächtige Woge. Schließlich hatte ich noch immer die schrecklichen Bilder seiner Bluttaten vor Augen. Er tat nichts. »Komm schon!« brüllte ich. Er hob sein Schwert, winkelte den Arm dann an, und es sah so aus, als wollte er mir die Waffe entgegenrammen. Ich packte den Dunklen Gral mit beiden Händen. Schon einmal hatte er mich gerettet, er würde mich auch jetzt nicht im Stich lassen. Während ich ihn nahm, spürte ich, wie sich die Symbole wieder aus der goldenen Masse hervor nach vorn bewegten, als wollten sie mir bekanntgeben, daß ich sie endlich bewegen sollte. Er warf das Schwert nicht. Der Ritter kam selbst! Er wuchtete sich nach unten, als sollte mich die schwere Rüstung tief in den weichen Boden pressen… *** Es waren genau die Sekunden, die über Leben und Tod entschieden. Ich wußte nicht, wie ich die Symbole bewegen mußte, welche Richtung eingeschlagen werden sollte, ich tat einfach etwas und hoffte darauf, das Richtige zu machen. Dabei hatte ich das Gefühl, nicht mehr allein zu reagieren. Andere Kräfte führten meine Finger. Und der Gral strahlte auf. Nein, nicht nur er. Auch die Kugel sandte ihr rotes Licht ab, in das sich ein goldener Schein mischte, wobei sich beide Farben zu einer großen
Decke vereinigten, die über mir schwebte, als wollte siei mich schützen. Licht gegen das Böse. Der Ritter fiel zusammen mit seiner mörderischen Waffe genau in diese Decke hinein. Ich hörte ihn nicht schreien, aber ich sah, wie mächtig diese Decke war, denn sie schaffte es, den Unhold in seiner Rüstung zu zerreißen. Sie verbrannte sie lautlos, sie zerstörte den Geist, die Symbole hatten sich genau richtig verschoben, denn sie sorgten dafür, daß dieser mörderische Fluch aus alter Zeit vernichtet wurde. Es war ein fast irrsinniges Bild. Eigentlich hätten die Reste auf mich niederfallen müssen. Statt dessen blieben sie innerhalb der Lichtglocke, wo sich auch andere Kräfte ausbreiteten und damit begannen, sie zu packen. Sie schleuderten sie herum, sie gerieten in einen kreisenden Wirbel, ich hörte ein Heulen und stellte mir vor, daß es ein böser Geist war, der seine Angst vor der endgültigen Vernichtung herausschrie. Ich war einen kleinen Schritt zurückgegangen, stützte mich mit dem Rücken ab und schaute dem Vorgang zu. Die Kräfte des Grals waren stark, zu stark für einen Geist aus alter Zeit. Das Ältere besiegte das Jüngere, und plötzlich war der Teppich aus Licht verschwunden. Ich stand allein in der Grube. Ich strich über die goldene Außenhaut des Kelchs. Keine erhabenen Symbole oder Zeichen mehr. Die äußere Wandlung war beinahe glatt. Geschafft. Tief atmete ich durch. Und ich dachte dabei an die Frau, die mir den Weg gewiesen hatte, an Nadine Berger… Müde und erschöpft kletterte ich aus dem Graben. Ich hatte Hände und Füße zu Hilfe nehmen müssen, war verdreckt, aber es ging mir besser, wenn auch nicht gut. Zu grausam war dieser Fall gewesen. Er hatte einfach zu viele Opfer gekostet, und er hatte einen Bogen gespannt, der vom Weißen Haus in Washington bis nach Avalon reichte. Ein kaum zu fassendes Phänomen. Mit müden Schritten ging ich den Weg zurück. Es würde bald dunkel werden, dann aber wollte ich Glastonbury verlassen haben. Ich mußte noch die Kollegen verständigen. Sie würden von Bradford oder Bath kommen und die Untersuchungen aufnehmen. Der Rover brachte mich wieder zurück in die einsame Stadt. Als ich vor dem Gasthof hielt und ausstieg, läuteten plötzlich die Glocken der Kathedrale. Ein Schauer wehte mir über den Rücken. Ich warf die Wagentür zu, betrat das Gasthaus und machte mich auf den schrecklichen Anblick gefaßt.
Ich sah weder die tote Alva noch den Schädel des Kilian Versy auf ihren Beinen liegen. Dafür saß der Pfarrer mutterseelenallein an einem Tisch und schaute mich an. »Sie haben es geschafft, nicht?« Ich nickte, war überrascht und verwirrt. »Danke«, sagte er. »Was ist mit den Toten?« Er hob die Schultern. »Ich möchte Ihnen eine Antwort geben, die sich wie ein Gleichnis anhört, jedoch Realität ist. Die Wege des Herrn sind oft rätselhaft. In diesem Fall schickte er einen Engel, der die Spuren verwischte. Niemand wird hier in Glastonbury etwas zu reden haben. Man wird Alva vermissen, es aber hinnehmen.« »Engel, sagen Sie?« »Oder seinen Boten.« »Wie sah er denn aus?« Er beschrieb ihn mir. Ich wußte schon nach den ersten Worten Bescheid. Nadine hatte die Nebelinsel verlassen und die Leichen geholt. Sie würden in Avalon ihre Gräberfinden, wahrscheinlich auch Kilian Versy. »Werden Sie als Polizist jetzt etwas unternehmen?« fragte der Pfarrer mit besorgt klingender Stimme. Ich dachte kurz nach. »Nein, Hochwürden, es ist schon gut so. Ich regle es so.« »Es wird am besten sein.« »Eine Frage habe ich noch. Weshalb läuten um diese ungewöhnliche Zeit die Glocken?« »Ich habe dem Küster gesagt, daß das Gute über das Böse gesiegt hat. Ist das nicht Grund genug?« »Ja, das ist es.« Wenig später saß ich wieder in meinem Rover. Gedankenschwer, melancholisch. Ich würde Glastonbury verlassen, aber ich wußte, daß mich dieser Ort auch weiterhin in seinen Bann ziehen würde. Hier war das Tor zu Avalon, zu den Rätseln der Geschichte und der Durchlaß zu den uralten Mythen. Wenig hatte ich erfahren, zu viele Rätsel standen noch offen. Merlin, die Artus-Sage, die Verbindung Avalon zu Atlantis, die Zeit der Riesen… Das alles lag in der Zukunft, es würde mich unmittelbar berühren, und bestimmt war die Zeit nicht mehr fern. Mit diesem Gedanken startete ich und verließ das englische Jerusalem…
ENDE