Band 106 der Fernseh-Serie Raumpatrouille H. G. Ewers
Feind aus dem Dunkel
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Band 106 der Fernseh-Serie Raumpatrouille H. G. Ewers
Feind aus dem Dunkel
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
Die Raumfahrer der ORION waren aufgebrochen, um Hilfe für die aus ferner Vergangenheit bedrohte Menschheit zu suchen. Ihre erste Station hieß STERNENSTADT. Aber diese gigantische Bastion des Friedens und der Völkerverständigung konnte ihnen keine Hilfe gewähren. Deshalb flog die ORION-Crew weiter zur Heimstatt des Goldenen Eies, ohne zu wissen, was dieser Name überhaupt bedeutete. Sie geriet in die Galaxis Sommernachtstraum und erlebte dort eine alptraumhafte Odyssee, bevor sie mit Hilfe des Kyrrhans, den der Hylathier ihnen mitgegeben hatte, endlich den Schlüssel zur Heimstatt des Goldenen Eies fand. Doch der Kyrrhan entpuppte sich als Werkzeug des Rudraja, dessen einzige Bestimmung es war, die Machtmittel der Heimstatt des Goldenen Eies zu mißbrauchen, um das Rudraja aus dem Überraum, in den es verbannt war, zurückzuholen. In einer Umgebung, die das Vorstellungsvermögen der Menschen überstieg, entbrannte ein erbitterter Kampf zwischen dem Kyrrhan und der ORION-Crew. Dabei stellte sich heraus, daß das in der Vergangenheit verschollene STERNENKIND die Raumfahrer bei ihrem Abenteuer am »Kreuzweg der Dimensionen« für diesen Kampf präpariert hatte, so daß sie Impulsträger wurden. Nur deshalb gelang es ihnen, dem Kyrrhan die Stirn zu bieten und vom Goldenen Ei als autorisiert anerkannt zu werden. Sie wurden vor die Entscheidung gestellt, entweder beide Urmächte zu aktivieren und dadurch unter anderem den Fortschritt der Zivilisationen des Universums zu beschleunigen – was aber auch zu einer Neuauflage des Kosmischen Infernos geführt hätte – oder das Goldene Ei zur Auflösung zu veranlassen und dadurch die beiden Urmächte für immer in ihre Überräume zu verbannen. Sie entschieden sich für die Auflösung des Goldenen Eies und damit für den Frieden. Nachdem die Heimstatt des Goldenen Eies und der Kyrrhan vergangen waren, kehrten die Raumfahrer der ORION auf abenteuerlichen Wegen zur Erde zurück. Sie fanden die Menschheit in stabilen Verhältnissen vor und glaubten, sich ausgiebig von ihren Strapazen erholen zu können. Doch dann geschieht etwas, das ihre Hoffnungen jäh zunichte macht, und sie stehen vor dem FEIND AUS DEM DUNKEL ...
Die Hauptpersonen des Romans: Leandra de Ruyter – Die Admiralin ist verschollen. Cliff McLane, Mario, Hasso, Atan, Helga und Arlene – Die ORION-Crew auf der Suche nach Leandra de Ruyter. Han Tsu-Gol – Der Verteidigungsminister bringt einen Toast auf die ORION-Crew aus. Thomas C. Kanter – Ein Verräter wird entlarvt. Argus – Der Datenroboter erweist sich wieder einmal als Lebensretter.
Prolog »Cliff! Sieh doch, Cliff!« Ich höre, wie Arlene nach mir ruft, doch ich bin nicht fähig, darauf zu antworten. Mein Bewußtsein konzentriert sich völlig auf den grellen Punkt, der aus der Zentralen Bildplatte aufleuchtet und sich rasend schnell ausdehnt. Das ist der erste Anhaltspunkt, daß wir das Wahnsinnsunternehmen vielleicht doch überleben werden – und nicht nur das, wir kommen wahrscheinlich sogar wieder nach Hause. Wenige Minuten zuvor hatte es noch so ausgesehen, als würden wir unwiderstehlich ins Verderben gezogen. Die ORION X war von Schwerkraftwellen gepackt worden, während auf der Zentralen Bildplatte von einem Augenblick zum anderen eine schwach
leuchtende Masse blaßblauen Lichtes aufgetaucht war. Wir alle erkannten sofort, daß es sich nicht um einen Stern handelte, denn keine Sonne konnte so riesig, fleckig und trüb sein. Es war ein Schlund, ein Schwarzes Loch, das uns in seinen Bann gezogen hatte und mit großer Wahrscheinlichkeit nie wieder freigeben würde ... Dabei hatte alles so vielversprechend angefangen. Nach Überwindung aller Gefahren, die uns in der Galaxis Sommernachtstraum bedroht hatten, und nach beinahe unglaublichen Abenteuern mit noch unglaublicheren Intelligenzen hatten wir, die Crew der ORION X Harlan Gustavsson, das an den Bordcomputer angeschlossene »Gehirn« des kleinen Datenroboters Argus und die Nervensäge Brian Hackler, das erreicht, was wir den »Baum des Lebens« nannten. Es handelte sich um einen doppelpyramidenförmigen Aufbau sechsdimensionaler Strukturen in der »Heimstatt des Goldenen Eies«, die im Normalraum leuchtende Gebilde erzeugten, von denen die Hälfte im Boden der Unendlichen Ebene verschwand, während sich die andere Hälfte gleich dem Stamm, den Ästen und den Zweigen eines uralten, riesigen Baumes in den »Himmel« reckte. Ohne das »Gehirn« von Argus, das wieder einmal
ein Computerspiel inszenierte, hätten wir allerdings nicht viel erreicht. So aber stabilisierte sich die uralte Programmierung des »Lebensbaums« wieder – und er wurde zu einem Kraftfeld, dessen psionische Ausstrahlung in unseren Gehirnen die Wahrnehmung eines riesigen Goldenen Eies erzeugte. Das »Goldene Ei« nahm uns in sich auf und bewahrte uns dadurch vor den Nachstellungen des Kyrrhans, der noch immer versuchte, uns zur Reaktivierung des Rudraja zu bewegen. Wir wären dazu in der Lage gewesen – und auch dazu, das Varunja ebenfalls zu reaktivieren, so daß beide Urmächte aus den Überräumen in die sie von den Schwingen der Nacht vor undenklichen Zeiten verbannt worden waren, ins normale Raum-ZeitKontinuum hätten zurückkehren können. Den Grund dafür erfuhren wir innerhalb des »Goldenen Eies«. Er bestand darin, daß die heutige Menschheit von den gemeinsamen Nachkommen von Kämpfern des Varunja und Kämpfern des Rudraja abstammte, die während der Schwingen der Nacht auf die Erde verschlagen worden waren und sich später miteinander vermischten. Im Geist ausgeglichener Menschen gab es daher eine harmonische Übereinstimmung zwischen Rudraja und Varunja, was die Voraussetzung für die Reaktivierung der beiden Urmächte war. Aber diese Voraussetzung basierte auf einem Trug-
schluß, nämlich dem, daß auch zwischen den beiden Urmächten eine harmonische Übereinstimmung bestand. Genau das aber war nicht der Fall. Die Reaktivierten und in den Normalraum des Universums zurückgekehrten Urmächte hätten ihren erbitterten Kampf genau da wieder aufgenommen, wo er durch die Schwingen der Nacht ein grauenhaftes Ende gefunden hatte. Es wäre zu einer Zweitauflage des Kosmischen Infernos gekommen. Weil wir das wußten, entschieden wir uns gegen die Reaktivierung von Varunja und Rudraja. Das »Goldene Ei« – was immer es tatsächlich war, denn das lag außerhalb unseres Begriffsvermögens – akzeptierte unsere Entscheidung. Es löste sich auf und zerstörte damit ein- für allemal den Schlüssel zur Reaktivierung der beiden Urmächte. Der Kyrrhan aber, dieses unheimliche Werkzeug des Rudraja, wurde von den psionischen Kräften, die sich bei der Auflösung des »Goldenen Eies« entfalteten, getötet. Sein auf geistiger Ebene wahrnehmbarer Todesschrei klingt mir immer noch »in den Ohren«. Ich werde ihn wohl nie vergessen, und ich vermute, daß die psionische Komponente dieses Todesschreies im entferntesten Winkel des Universums vernommen wurde. Die Erinnerungen, die an meinem geistigen Auge
vorüberziehen und mich bannen, verblassen ein wenig, und ich kann sehen, wie auf der Zentrale Bildplatte der zu einem riesigen Kreis angeschwollene grelleuchtende Punkt ein gigantisches, schimmerndes Tor bildet – das »Tor der Götter«, aber auf der anderen Seite jenes Möbiusschen Bandes aus Hyperenergie, das wir vor langer Zeit bei Alpha-CanumVenaticorum-2 durch ein ebensolches »Tor« betreten hatten, rund 45 000 Lichtjahre von dem Tor entfernt, in das die ORION soeben eintaucht ... Die Erinnerungen kehren mit überwältigender Kraft zurück. Es gelang uns und unseren achtzehn Begleitschiffen, auf dem gleichen Wege, auf dem wir von M 3 aus nach Sommernachtstraum gekommen waren, nämlich durch zwei Transit-Bahnhöfe der ehemaligen Föderation der Inselstaaten, wieder nach M 3 und zum Planeten des Hylathiers zu gelangen. Wir alle, mit Ausnahme von Major Hackler, hatten uns auf das Wiedersehen mit dem Wächter der »Sieben Siegel« (sieben Schwarze Löcher, von denen eines als Transitbahnhof funktionierte) gefreut, denn der Hylathier war trotz seiner absonderlichen Erscheinungsform und seines skurrillen Humors unser Freund geworden. Doch der Hylathier meldete sich nicht mehr. Wir waren nach einigem Zögern auf dem Planeten, den er
seine Burg nannte, gelandet und hatten nach einem der Zugänge gesucht, durch die wir schon zweimal in die Unterwelt gelang waren, in der er hauste. Schließlich hätte nur er uns verraten können, wie wir zu der uralten verlassenen Kampfstation des Varunja kommen konnten, auf der noch immer die OPHIUCHUS mit Hanna Todajewa und Vittorio Pisani stehen mußte. Aber diesmal gab es einfach keinen Zugang mehr zur Burg. Es schien, als hätte der Hylathier seine Welt mit unbekanntem Ziel verlassen. Damit schwand naturgemäß auch unsere Hoffnung, jemals wieder nach Hause zu kommen, denn die »Sieben Siegel« waren vom anderen Universum durch eine unsichtbare Barriere getrennt, die ohne Hilfe des Hylathiers von keinem Schiff durchflogen werden konnte. In unserer Verzweiflung entschlossen wir uns dennoch dazu, das Risiko eines Durchbruchsversuchs einzugehen – und stellten fest, daß die unsichtbare Barriere nicht mehr existierte. Damit konnten wir uns verhältnismäßig frei innerhalb des Kugelsternhaufens M 3 bewegen. Aber die Rückkehr zur Erde war keineswegs gesichert, denn der Aktionsradius der ORION X lag weit unter den 45 000 Lichtjahren, die M 3 von der Erde entfernt war. Und das hyperenergetische »Nadelöhr« zu finden, durch das wir uns vielleicht abermals und in umge-
kehrter Richtung in das Möbiussche Band einfädeln konnten, wäre nach Argus' Aussage ungefähr so leicht gewesen, wie in einem stockdunklen Kuppelsaal einen Faden in eine unsichtbar irgendwo in der Luft schwebende Nähnadel einzufädeln. Wir beschlossen deshalb, noch einmal nach STERNENSTADT zu fliegen – den »Weg« dorthin kannten wir ja – und Prinzessin Llalyma um Hilfe zu bitten. Meine Erinnerungen lassen mich frei, als die ORION X mit einem heftigen Ruck durch das »Tor der Götter« auf das Möbiussche Band gezogen und dicht über ihm beschleunigt wird. Diesmal verliere ich nicht das Bewußtsein wie beim »Durchgang« von der anderen Seite nach M 3. Ich vermag alles mit unheimlicher Klarheit zu sehen. Aber die emotionale Verbindung zu den Erinnerungen ist so stark, daß sie mich abermals in ihren Bann ziehen. Wir fanden Llalyma in dem erhalten gebliebenen Drittel von STERNENSTADT, in dem die Dogger fieberhaft daran arbeiteten, es wieder funktionsfähig zu machen. Llalyma begrüßte uns herzlich. Wenn wir nicht gewußt hätten, daß sie ein bioplastisch verkleideter Roboter war, hätten wir sie nicht im Traum mit einem Roboter verglichen. Wir berichteten vom Ausgang unserer Mission und wurden dazu beglückwünscht.
Allerdings trauerte Llalyma um ihre Tochter, die weiterhin verschollen war. Zum Abschied erklärte uns die Prinzessin, daß STERNENSTADT eines Tages seine alte Funktion wiederaufnehmen könne, sobald die Menschen und andere Intelligenzen reif genug geworden seien, dieses wunderbare Gebilde zweckentsprechend zu benutzen. Erst nach dem Abflug von STERNENSTADT fiel uns auf, wie weit die Überholungsarbeiten schon vorangeschritten waren. So weit hätten die Dogger niemals sein können, jedenfalls nicht innerhalb der Zeitspanne, die für uns während unserer Abenteuer im Sommernachtstraum und in der Heimstatt des Goldenen Eies verstrichen war. Eine unheilvolle Ahnung beschlich uns. Wir fragten uns, ob in den elf Tagen, die für uns während des Aufenthalts in der Heimstatt des Goldenen Eies vergangen waren, außerhalb der Heimstatt viel mehr Zeit verstrichen sein könnte. Und wir fragten uns, welche Verhältnisse wir nach der Rückkehr auf die Erde vorfinden würden. Aber wenigstens konnte Prinzessin Llalyma uns exakt die Koordinaten eines magnetischen Sternes innerhalb von M 3 nennen, der die gleiche Funktion erfüllte wie Alpha CVn. 2 im Sternbild der Jagdhunde. Er würde bei entsprechender Annäherung eines
Raumschiffs ein hyperenergetisches Tor aufbauen und uns auf die Rückreise schicken. Wir kehrten nach M 3 zurück, programmierten den Bordcomputer mit dem Koordinaten des Zielsterns und gingen in den Hyperspace. Eine Zehntel AE vor dem bewußten Stern kehrten wir in den Normalraum zurück und hofften darauf, daß sich das Tor zur Rückkehr aufbauen würde. Statt dessen geriet die ORION X in den Sog der Schwerkraftwellen eines Schwarzen Loches. Der magnetische Stern mußte sich während der unermeßlichen Zeiträume, die seit dem Ende des Kosmischen Infernos vergangen waren, über alle anderen Entwicklungsstadien hinweg nach dem letzten Kollaps in ein Schwarzes Loch verwandelt haben. Ich kann nicht beschreiben, was wir empfanden, als wir die als Schatten über die Oberfläche der unermeßlich großen düsteren Kugel rasenden Phaseneffekte sahen und den Würgegriff der Gravitationswellen an unseren Eingeweiden zerren spürten. Angst ist ein viel zu schwacher Ausdruck dafür. Wir befanden uns beinahe schon innerhalb des Ereignishorizonts, von dem aus es in alle Ewigkeit keine Rückkehr mehr gibt, weil dort die Zeit relativ zum normalen Universum stillsteht. Natürlich wußten wir ziemlich viel über Schwarze Löcher, aber nicht so viel, wie unsere Instrumente
damals erfaßten und festhielten, denn noch kein Schiff, das so dicht an ein Schwarzes Loch herangekommen war, war jemals zurückgekehrt. Auch wir hielten uns für verloren, bis uns einfiel, daß uns noch eine winzige Chance geblieben war, solange wir nicht hinter den Ereignishorizont gefallen waren. Wir konnten in eine LANCET umsteigen, LANCET und Schiff gegeneinander drehen und unter schlagartiger Freisetzung aller Antriebsenergien gegeneinander beschleunigen, so daß die ORION tiefer in den Schwerkraftschacht gestoßen würde und die LANCET mit uns – hoffentlich – hinauf und hinaus. Vielleicht hätte das funktioniert, vielleicht wäre die LANCET nicht durch den ungeheuren Energiestoß der ORION zerfetzt worden und vielleicht hätten die Andruck-Neutralisatoren der LANCET uns davor bewahrt, über die Innenwände des Beiboots verschmiert zu werden. Zum Glück blieb es uns erspart, einen solch verzweifelten Versuch zu riskieren. Wir wären auch bei einem Gelingen nicht viel besser dran gewesen, denn eine LANCET ist nicht für interstellare Flüge konstruiert. Aber der alte »Mechanismus« des Sternentors funktionierte wider Erwarten noch, was nur bedeuten kann, daß das Tor selbst nicht von der betreffenden Sonne aufgebaut wird, denn ein Schwarzes Loch ist
dazu nach dem Stand unseres Wissens nicht fähig. Unsere schnelle Annäherung an die Zielsternposition muß »schlafende« hyperenergetische Strukturen aktiviert haben. Wir schrien vor Freude, als der grelle Punkt auf der Zentralen Bildplatte aufleuchtete. Das heißt, ich hörte Arlene schreien und noch einige andere Stimmen, aber ich weiß nicht, ob ich ebenfalls geschrien habe. Ein Beben geht durch die Schiffszelle. Die Zentrale Bildplatte scheint in einem grellen Blitz zu vergehen. Die Wände des Leitstands und jedes Instrument leuchten bläulich von innen heraus. Ein feines Knistern ertönt, als würden überall im Schiff elektrische Entladungen stattfinden. Wir sehen uns erwartungsvoll an, denn wir wissen aus Erfahrung, daß diese Phänomene das Bevorstehen des Austritts auf der anderen Seite des Möbiusschen Bandes bedeuten. Aber in der Freude darüber, daß wir in absehbarer Zeit wieder zu Hause sein werden, mischt sich die Furcht davor, wieder einmal einen Zeitsprung vollführt zu haben, denn es besteht nicht nur die Möglichkeit, daß der Zeitablauf in der Heimstatt des Goldenen Eies langsamer war als außerhalb. Es ist so gut wie gewiß, daß wir während des Falles durch den Schwerkraftschacht des Schwarzen Loches eine rapide zunehmende Verlangsamung des Zeitablaufs erfuhren.
Laßt uns nicht schon wieder in einer fremd gewordenen Heimat von vorn anfangen ...!
1. Genauso schlagartig, wie die vertrauten Phänomene verschwanden, befand sich die ORION X wieder zwischen den Sternen des Normalraums. »Wir haben es geschafft!« sagte Hasso Sigbjörnson nach einer Weile fast andächtig. »Wir leben!« sagte Arlene. Atan Shubashi, der die ganze Zeit über mit voller Konzentration die letzten Aufzeichnungen der Ortungsinstrumente studiert hatte, hob den Kopf. »Wir würden wahrscheinlich auch noch leben, wenn wir unter den Ereignishorizont gefallen wären.« »Aber in einem Schwarzen Loch hätte es das Schiff und uns zerrissen!« widersprach Brian Hackler. »Offenbar doch nicht«, erklärte der kleine Astrogator mit schüchternem Lächeln. »Die Aufzeichnungen der Messungen, die während des Sturzes in den Schwerkraftschacht automatisch vorgenommen wurden, scheinen zu beweisen, daß für uns innerhalb der Diskontinuität unterhalb des Ereignishorizonts die Zeit für uns stillstehen würde – bis in alle Ewigkeit.« »Dann würden wir dort ewig leben?« warf Harlan Gustavsson ein. Mario de Monti lachte trocken.
»Es wäre kein Leben in unserem Sinne, Harlan. Natürlich könnten wir nicht sterben, wenn die Zeit für uns stillstünde, denn auch das Sterben ist ein Ereignis. Aber auch das Leben, wie wir es kennen, ist ein Ereignis und nur durch ständige Bewegung der Atome und Moleküle möglich. In der Diskontinuität aber gäbe es für uns soviel Bewegung wie für eine Fliege, die vor zehntausend Jahren von einem erstarrenden Bernsteinklumpen eingeschlossen wurde.« »Dann wären wir weder lebendig noch tot«, flüsterte Cliff McLane. »Wir wären Untote.« »Schlimm«, sagte Hasso. »Etwas anderes ist noch schlimmer«, sagte Helga Legrelle bedeutungsvoll und musterte die Kontrollen ihres Funkpults. »Was kann noch schlimmer sein?« entgegnete Hackler. »Wir haben nur an uns selbst gedacht, aber nicht an die Besatzungen unserer Begleitschiffe«, erklärte Helga. »Nicht einen Moment lang haben wir uns gefragt, ob sie es auch schaffen würden. Wir haben ihnen auch nicht verraten, daß es beim Fall auf ein Schwarzes Loch eine winzige Chance gibt – die des gegenseitigen Abstoßes zweier Körper. Das, finde ich, ist noch schlimmer.« »Wir waren Gefangene des Grauens«, wandte Cliff ein. »Das ist alles, was wir zu unserer Entschuldigung
sagen können. Ob es genügt, um vor uns selbst zu bestehen, ist eine andere Frage. Was sagen die Funkkontrollen, Helga?« »Wir werden von allen achtzehn Begleitschiffen gleichzeitig angefunkt«, antwortete die Funkerin. Cliff atmete auf. »Also haben es alle geschafft! Lege mir die Sprüche auf das Simultansystem um, Helga, bitte!« Helga nickte. Sekunden später leuchteten im Feld des Simultansystems rechts über den Anzeigen und Kontrollen für die Schiffsaggregate achtzehn kleine Monitore auf, und auf jedem war das Gesicht einer Frau oder eines Mannes zu sehen. Cliff war sicher, daß die Funklautsprecher in allen Leitständen der Begleitschiffe so laut eingestellt waren, daß alle Crews ihn verstehen würden, deshalb sagte er: »McLane an alle Crews! Ich bin sehr froh, daß wir alle es geschafft haben und keiner zurückbleiben mußte. Wir hatten nach dem Verlassen von STERNENSTADT darüber diskutiert, daß es eine Zeitverschiebung gegeben haben muß, aber keiner von uns kann erraten, wieviel Zeit wir verloren haben. Deshalb wissen wir leider auch nicht, welche Verhältnisse wir im Sonnensystem und auf der Erde vorfinden werden. Um unliebsamen Überraschungen vor-
zubeugen, fliegen wir von hier aus nicht mitten ins Sonnensystem hinein, sondern stoppen fünf Astronomische Einheiten vor der Bahn des Transpluto. Dort können unsere Astrogatoren Messungen vornehmen, an denen wir Erkenntnisse über die verlorene Zeit gewinnen werden. Sollte es sich um eine erhebliche Zeitspanne handeln, wird die ORION allein ins Sonnensystem schleichen und durch Abhören von Televisions- und Funksendungen versuchen, sich ein Bild über die Verhältnisse zu machen. Danach kehren wir zurück und beraten untereinander über die Art und Weise unseres Vorgehens. Der Astrogator der ORION wird zusammen mit dem Kybernetiker ein Simultanflugprogramm erarbeiten und an alle Schiffe durchgeben. Unterdessen bitte ich die Kommandanten aller Schiffe, mir nacheinander über den Gesundheitszustand der Crewmitglieder und den Funktionszustand der Schiffe zu berichten. McLane, Ende!« * Dreieinhalb Stunden später ... Der Schiffsverband kehrte nach einem Hyperspaceflug über 31,7 Lichtjahre fünf AE vor der Transplutobahn in den Normalraum zurück. Transpluto selbst war nicht zu sehen. Die behutsamen Ortungen erga-
ben, daß er sich einen Drittelumlauf entfernt befand. Die Raumfahrer der ORION blickten sehnsüchtig in Richtung der Sonne, die allerdings aus rund 12 Milliarden Kilometern beziehungsweise 77,2 AE nur als heller, punktförmiger Stern zu sehen war. Es wäre ein aussichtsloses Unterfangen gewesen, die Erde sehen zu wollen – und nach ihr mit den Ortungsinstrumenten zu suchen, verbot sich von selbst, da man vorerst unbemerkt bleiben wollte. Cliff Allistair McLane wußte genau, was in den Köpfen seiner Freunde vorging. Schließlich dachte auch er fortwährend daran, wie die Verhältnisse sich während ihrer Abwesenheit dort entwickelt hatten. Er räusperte sich. »Atan!« Atan Shubashi blickte hinter den Astrogationskontrollen seines Pultes hoch. »Was meinst du, warum ich zögere, Cliff?« »Ich weiß, aber einmal müssen wir der Wahrheit ins Gesicht sehen«, erwiderte der Commander. »Eigentlich hätten wir die Pflicht, uns ohne Verzögerung über Funk zu melden«, warf Brian Hackler ein. Aber seiner Stimme fehlte die Überzeugungskraft. Er war genauso verunsichert wie die Crew. »Und wenn dort Helfer des Rudraja die Macht an sich gerissen haben?« sagte das, »Gehirn« von Argus über die KOM-Anlage des Bordcomputers.
Atan Shubashi seufzte. »Also, fangen wir an. Mario, ich überspiele deiner Rechenorgel alle Werte, die ich mit dem Teleskop ermittle. Übernimm du die Astrotemporale Auswertung, ja!« Mario de Monti stand bereits vor dem Eingabepult des Bordcomputers. Er grinste. »Astrotemporale Auswertung! Du wirst noch einmal Erster Wortschöpfer der Erde werden. Wirf nur dein E-Teleskop an, dann werde ich die kümmerlichen Werte schon umrechnen!« Atan schaltete. Das halbkugelförmige Elektronenteleskop fuhr aus der oberen Polkuppel der ORION X, richtete sein Aufnahmesystem nacheinander auf die Sterne der Sonnenumgebung sowie auf markante Sternhaufen wie die Plejaden. Da alle Sterne, Sternsysteme und Materiewolken sich mit genau bekannten Geschwindigkeiten relativ zueinander, relativ auf die Erde zu oder relativ von der Erde weg bewegten, stellte die Kontrolle der Entfernungen eine zuverlässige Methode dar, temporale Grobwerte zu ermitteln. Mit Hilfe eines hochleistungsfähigen Schiffscomputers ließen sich Zeitdifferenzen sogar bis auf Sekunden errechnen. Die Ergebnisse der Messungen wurden nach einem entsprechenden Tastendruck automatisch dem Bord-
computer eingegeben, und nach einer Viertelstunde spuckte der Computer bereits eine Folie mit der Grobauswertung aus. Gleichzeitig erschien die gleiche Angabe auf einem Computerbildschirm. »Neun Jahre, vier Monate und zwei Tage!« las Mario bedeutungsvoll ab. »Da wir annähernd drei Monate normaler Zeit unterwegs waren, haben wir rund neun Jahre und einen Monat verloren.« »Oh, verdammt!« entfuhr es Hasso. »Das ist betrüblich«, sagte Brian Hackler steif. »Ich hoffte, nach unserer Rückkehr – und ich rechnete mit einem Vierteljahr – zum Oberst befördert zu werden und ein Jahr später zum Vizeadmiral und Stellvertreter der Frau Admiralin de Ruyter. Und jetzt sind fast neuneinhalb Jahre vergangen, und ich bin immer noch nur Major.« Die Crew und auch Gustavsson blickten Hackler fassungslos an, und er starrte ausdruckslos zurück. Schließlich sagte Hasso Sigbjörnson empört: »Er ist immer noch nur Major, dieser Kerl! Und alles andere interessiert ihn nicht. Es ist ihm völlig egal, ob die Menschen der Erde in den vergangenen neun Jahren von Erben des Rudraja ausgerottet, von Seuchen dezimiert oder unter ein diktatorisches Regime gezwungen wurden. Ihn interessiert nur, daß ihm zwei Beförderungen entgangen sind.« Hacklers Gesicht lief knallrot an.
»Ich verbitte mir beleidigende Äußerungen, Herr Sigbjörnson!« sagte er gekränkt. »Sie unterstellen mir das Schlimmste, was mir unterstellt werden kann, nämlich Pflichtvergessenheit. Dabei wollte ich durch meine Bemerkung die Gemüter nur ein wenig aufheitern, damit es nicht zu Depressionen kommt.« »Er wollte unsere Gemüter aufheitern!« rief Helga Legrelle. »Ich erkenne den alten Hackler nicht wieder!« »Den Paragraphenreiter!« warf Atan ein. »Genau!« erwiderte Brian Hackler verweisend. »Ich habe nur entsprechend den Dienstvorschriften für das Offizierskorps der Raumflotte gehandelt, in denen steht, daß ein Offizier in einer Situation, die den Einsatzwillen lähmen und die Einsatzmoral schädigen könnte, durch psychologisch geschickte Einstreuung humorvoller Bemerkungen für psychische Auflockerung und Entspannung zu sorgen habe.« Für den Bruchteil einer Sekunde wirkten die Gesichter der Crewmitglieder perplex, dann brach schallendes Gelächter los. Als es verstummte, wischte Cliff McLane sich die Lachtränen aus dem Gesicht und erklärte atemlos: »Sie haben Ihr Ziel tatsächlich erreicht, Hickhackler! Wir haben sogar gelacht, Herr Major! Aber nicht, weil Ihre Einstreuung humorvoll gewesen wäre. Wir haben über Ihre Dummheit gelacht.«
Er wurde wieder ernst. »Es ist allerdings auch äußerst arrogant, wenn ausgerechnet Sie glauben, die Einsatzmoral einer ORION-Crew anheben zu können. – Helga, stellst du bitte wieder eine Simultanverbindung her!« Als die achtzehn Monitore im rechten Feld des Funksystems aufleuchteten, sagte er: »Welche Crew hat ihre Messungen ebenfalls schon abgeschlossen?« Zwei Frauen und ein Mann bejahten. »Es ist wirklich eine ernste Sache«, meinte Cliff. »Wir haben etwas über neun Jahre verloren. Das ist viel, aber nicht so viel, daß wir auf der Erde keine bekannten Gesichter erwarten dürfen. Es besteht also kein Grund zur Verzweiflung. Dennoch erwarte ich, daß alle Frauen und Männer auf unseren Schiffen die Lage ernstnehmen. Wahrscheinlich hat sich während unserer Abwesenheit nicht viel auf der Erde verändert, aber wir müssen auch mit dem weniger Wahrscheinlichen rechnen.« »Aber auch mit Erfreulichem«, warf eine Frau ein; es handelte sich um Anna Grusinski, die Kommandantin der SEXTANT. »Meine Frau ist nicht älter als ich selbst, Kommandantin SEX«, warf Abel Makarow, der Kommandant der DELPHINUS ein. Ein paar Raumfahrer, die den Gag verstanden hat-
ten, lachten, auch Anna Grusinski lachte, dann sagte sie: »Man sollte dich in ›Makaber‹ umtaufen, Abel. Ich meine nicht das Ableben unserer Lieben, sondern die Tatsache, daß die Flotte uns für über neun Jahre Gehalt nachzuzahlen hat – und das auf einen Schlag.« »McLane soll dem Starlight-Casino ausrichten, daß es sich hundertprozentig mit Alkoholika bevorraten muß!« rief Kaliko Drummer, Kommandant der OMICRON! Cliff schmunzelte, aber er hob die Hand und sagte: »Ich freue mich darüber, daß ihr euren Humor nicht verloren habt, aber bevor wir im StarlightCasino feiern, müssen wir uns erst einmal vergewissern, wie die Verhältnisse auf der Erde und im Sonnensystem aussehen. Die ORION startet zu diesem Zweck zur Aktion ›Großes Ohr‹. Wir kommen so bald wie möglich zurück. Aber sollten wir uns bis in zehn Tagen nicht wieder gemeldet haben, müßt ihr davon ausgehen, daß es im Sonnensystem etwas gibt, was auch euch gefährlich werden kann.« »Viel Glück McLane! Viel Glück für die Orioniks!« riefen die Kommandanten der achtzehn Begleitschiffe durcheinander. »Auf Wiedersehen!« erwiderte Cliff, dann bedeutete er Helga mit einem Kopfnicken, die Simultanverbindung zu unterbrechen.
Danach erklärte er: »Ich schlage vor, wir gehen im Hyperspace bis dicht an Jupiter heran und lauschen von dort aus mit Richtantennen auf die Televisionssendungen der Erde und den Funkverkehr mit Erdmond, Mars und im Raum befindlichen Schiffen. Einverstanden?« Niemand hatte etwas einzuwenden, nicht einmal Brian Hackler. * Hinter der ORION X drehte sich der Jupiter mit seinen wirbelnden Gas- und Kristallmassen. Da das Schiff nur eine Million Kilometer von seiner Oberfläche entfernt war, wirkte er riesig. Soeben kroch der Große Rote Fleck über den westlichen Horizont. »Wendy!« rief Arlene mit einem Blick auf die rotleuchtende Kohlenwasserstoff-Polymer-Wolke. »Ob sie spürt, daß wir hier sind?« Nachdenklich schaute Cliff zu dem gigantischen »Fleck« hinüber, der sich als lebende, intelligente Materie offenbart hatte, als die Menschheit von einem uralten Werkzeug des Rudraja bedroht worden war. Damals hatte er sogar helfend eingegriffen. Aber es war trotz zahlreicher Bemühungen niemals gelungen – jedenfalls nicht bis zum Aufbruch der Heimstatt des Goldenen Eies –, eine Kommunikation zwischen
Wendy, wie die ORION-Crew den GRF genannt hatte, und der Menschheit zustande zu bringen. Wendy dachte eben aufgrund ihrer Entwicklung, die ganz anders verlaufen war als die der Menschheit, nicht in mathematischen Bahnen. Sie wiederholte die Signale, die terrestrische Raumschiffe ihr zufunkten, indem sie sie mit Hilfe organischer Prozesse seines rätselhaften Organismus imitierte, aber das war natürlich kein Informationsaustausch. Dennoch konnten die Menschen davon ausgehen, daß der Nachbar im All ihnen wohlgesinnt war. »Ich denke schon«, erwiderte der Commander. »Funke sie kurz an. Es wäre unhöflich, es nicht zu tun.« »Unhöflich!« entrüstete sich Brian Hackler. »Tun Sie doch nicht so, als wäre der GRF eine liebe alte Dame mit menschlichen Manieren! Nur, weil Sie den Organklumpen Wendy nennen!« Cliff grinste, während Helga bereits eine Hyperfunkantenne auf den GRF richtete und eine kurze Folge von Impulsgruppen abstrahlte. »Wendy ist jedenfalls netter als Sie. Ich hoffe nur, sie lernt Sie niemals kennen, sonst erlitte sie einen Schock fürs Leben.« »Die Antwort geht ein!« jubelte Helga Legrelle. »Wendy wiederholt unsere Impulsgruppen exakt!« »Achtung, ich habe ein TV-Programm der Erde
aufgefangen!« rief Arlene. »Ich übertrage auf den großen Schirm und drehe die Verstärker auf.« Der große Bildschirm links vom Simultansystem wurde hell. Das Bild flackerte etwas, aber es war einwandfrei das Bild einer jüngeren Frau. Sie war zwar leicht, aber geschmackvoll gekleidet, trug einen Ponyschnitt und einen goldfarbenen Tupfer auf jeder Wange. »... kehrte heute von einer Besichtigung der Großbaustelle zwischen Erde und Mars auf die Erde zurück«, sagte die Dame auf Unilingua. Die Stimme klang leicht verzerrt. Das Bild wurde ausgeblendet, ein anderes eingeblendet. »Miriam!« rief Arlene. »Das ist doch Miriam Anami!« »Tatsächlich!« sagte Cliff. Auch die anderen Crewmitglieder sowie Hackler und Gustavsson erkannten jetzt die kleine, etwas füllige Japanerin, zuletzt, vor gut neun Jahren, Professorin für hyperdimensionale Phänomene und Antimaterieforschung und Autorin berühmter Werke über ökologische Probleme, außerdem Administratorin für Wissenschaft und Forschung. »Sie ist überhaupt nicht älter geworden«, sagte Mario de Monti. »Ein paar Fältchen mehr um die Augen wird sie
schon haben – aber sie hat etwas abgenommen«, meinte Atan Shubashi. Miriam Anami schritt an der Spitze einer Gruppe Raumfahrer über den Boden eines Starthangars der Basis. Sie trug eine leichte Bordkombination. Schräg hinter ihr gingen zwei Männer, die an ihren wachsamen Blicken als Assistenten des GSD zu erkennen waren – Miriam Anamis Leibwächter. Die Stimme der Ansagerin kommentierte: »Miriam Anami überzeugte sich an Ort und Stelle vom Fortschreiten der Arbeiten auf der größten Baustelle, die es jemals im Sonnensystem gegeben hat. Vor sechs Jahren wurde mit dem Bau des Weltraumbahnhofs begonnen. Wenn er in etwa fünfzig Jahren seine Funktion aufnehmen soll, wird er täglich an die dreihundert Großraumfrachter abfertigen können.« Abermals wurde das Bild ausgeblendet, und die Ansagerin erschien wieder. »Auf Aureola haben sich die Verhältnisse offenbar wieder stabilisiert, nachdem der Putschversuch eines Admirals der Aureola-Flotte von der Wachdivision des Shoguns niedergeschlagen werden konnte. Wailing-Khan hatte den Umsturzversuch wahrscheinlich vorausgesehen und entsprechende vorsorgliche Gegenmaßnahmen getroffen.« »Wailing regiert also noch«, sagte Cliff. »Dann besteht keine Kriegsgefahr zwischen der Erde und Au-
reola. Aber die alten Erzaktionäre scheinen keine Ruhe geben zu wollen.« Abermals blendete das Bild um. Ein langer Trauerzug war zu sehen, der sich durch die Straßen einer Großstadt bewegte. Auf der Lafette eines Overkillprojektors wurde eine reichverzierte Urne »gefahren«. Raumfahrer in Gala-Uniformen begleiteten die Urne. »In seiner Heimatstadt London wurde heute Vizeadmiral Allan Churchill zu Grabe getragen«, erklärte die Ansagerin. »Er hatte sich in früheren Zeiten als Geschwaderchef der Flotte ausgezeichnet und zuletzt als Stellvertreter von Admiralin de Ruyter von den T.R.A.V. fungiert. Seine Familie blickt auf eine uralte Tradition zurück und hat zahlreiche Persönlichkeiten hervorgebracht. Es steht noch nicht fest, wer die Nachfolger des Vizeadmirals antritt«, fuhr die Ansagerin fort. »Zur Wahl stehen ...« »Ortung!« rief Atan Shubashi. »Wir werden von zwei Punkten im Raum mit Ortungsimpulsen beschickt!« »Anruf!« sagte Helga. »Commander Triggen von der VENUS fordert uns auf, uns zu identifizieren.« »Da haben wir den Salat!« sagte Mario de Monti. »Anscheinend kennt man bei der Flotte inzwischen bessere Ortungsgeräte, sonst hätten wir die beiden Schiffe ebenfalls schon orten müssen.«
»Das Versteckspiel ist vorbei«, meinte Cliff. »Helga, reiche mir den Commander Triggen!« Er machte ein freundlich-fotogenes Gesicht, als Helga das Gespräch auf Cliffs Pult umlegte und McLane damit auch für Commander Triggen sichtbar wurde. »Hallo!« sagte Cliff. »Sie sind nicht angemeldet«, erklärte Triggen. »Was haben Sie mit Ihrem Schiff hier zu suchen – und woher kommen Sie?« Cliff Allistair McLane war erschüttert. »Neun Jahre sind doch keine halbe Ewigkeit«, sagte er verstört. »Und vor neun Jahren waren wir so populär wie ...« Er suchte vergeblich nach den richtigen Worten. »Identifizieren Sie sich, bevor ich zu harten Maßnahmen greife!« sagte Commander Triggen unerbittlich. »Er kennt uns nicht!« sagte Mario de Monti. Cliff schluckte, dann sagte er mühsam: »Commander Cliff McLane meldet sich mit der ORION X nach erfolgreich abgeschlossener Mission zurück.« Doch auch diesmal wartete er vergeblich auf einen Funken der Erkenntnis. »Name unbekannt«, erwiderte Triggen. »Ich muß Ihr Schiff in Schlepp nehmen und, ein Kommando zu Ihnen schicken.«
Da trat Hackler in den Bilderfassungsbereich des Funkgeräts. »Fragen Sie gefälligst auf der Erde an, Basis 104!« schnarrte er. »Das ist Vorschrift, wenn sich ein Schiff vom Einsatz zurückmeldet, an das sich der Commander einer Patrouille nicht erinnert. Meine unmittelbare Vorgesetzte ist Admiralin Leandra de Ruyter – und ich bin Major Brian Hackler, der heute eigentlich schon Vizeadmiral sein sollte und es vielleicht demnächst wird. Wahrscheinlich bin ich dann Ihr Vorgesetzter, Commander Triggen, und dann werde ich mit Ihnen die Dienstvorschriften pauken, daß Sie an nichts anderes mehr denken!« Diesmal nahm Commander Triggen Haltung an. Schließlich wollte er seine Karriere nicht aufs Spiel setzen. »Die Anfrage wird sofort durchgeführt, Major Hackler. Aber wer sind diese anderen Leute?« Brian Hackler grinste Cliff höhnisch an. »Das sind Leute wie Sie, die ebenfalls die Dienstvorschriften ungenügend kennen, eine renitente Bande – aber tausendmal besser als Sie! Und nun fragen Sie an, oder das Wasser soll Ihnen ...!« »Das steht nicht in den Dienstvorschriften«, flüsterte Helga. Hackler verstummte. »Danke!« sagte Cliff, und der Dank war an Brian
Hackler gerichtet – und der Commander meinte es diesmal ernst. »Bei Admiralin von T.R.A.V. anfragen!« brüllte Triggen seine Leute an. »Dieser Schwachkopf!« sagte Hackler verächtlich. »Kennt nicht einmal die elementarsten Regeln des Reglements und droht den verdientesten Raumfahrern der Erde!« »Na, so etwas!« sagte Hasso Sigbjörnson. Der Bildschirm vor Cliff wurde vorübergehend dunkel. Als er wieder hell wurde, zeigte er das rot angelaufene Gesicht von Commander Triggen. Auf der Stirn des Commanders perlte Schweiß. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Commander McLane. Ich dachte, ich wollte, ich könnte ...« Er riß sich zusammen. »Ihr habt freien Durchflug zur Erde, Commander McLane. Admiralin de Ruyter wird euch selbst anrufen. Es tut mir wirklich leid, aber ...« »Geschenkt!« unterbrach Cliff ihn. »Helga, schalte die Verbindung aus, damit Leandra uns erreichen kann!«
2. Kaum hatte Helga die Verbindung unterbrochen, da zirpte in kurzen Intervallen der Hyperfunkmelder. »Alpha-Gespräch!« rief Helga Legrelle und schaltete. Auf ihrem Schirm und auf dem vor Cliff erschien das Abbild von Leandra de Ruyter. »Cliff!« rief die Admiralin. Ihr Gesicht strahlte, aber die Mundwinkel zuckten, als wollte sie weinen. »Du bist es wirklich! Was ist mit den anderen ...?« Sie brauchte nicht länger zu fragen, denn die gesamte Crew baute sich hinter Cliff McLane auf. Auch Harlan Gustavsson eilte herbei. Hasso Sigbjörnson strahlte wie ein Honigkuchenpferd, aber seine Augen schwammen in Tränen. Vergeblich versuchte er, etwas zu sagen. Cliff ging es ähnlich, aber beim dritten Anlauf klappte es doch. »Commander McLane meldet sich mit der ORION X, der gesamten Crew, Herrn Gustavsson und Major Hackler zurück! An Bord alles wohlauf.« Brian Hackler schluchzte plötzlich laut auf, dann errötete er, nahm stramme Haltung an und salutierte. Sagen konnte er nichts. Leandra de Ruyter suchte nach etwas, dann zog sie ein Papiertaschentuch aus einer Tasche ihrer Uniformkombination und trocknete ihre Augen.
»Mir ist doch tatsächlich ein Staubkorn ins Gesicht geflogen«, sagte sie mit schwankender Stimme. »Cliff! Hasso, Mario, Helga, Arlene, Atan! Major Hackler und Harlan Gustavsson! Aber wo steckt eigentlich Argus?« »Es wurde auch Zeit, daß du mich vermißtest, Admiralin!« zeterte die Stimme von Argus aus der KOM-Anlage des Bordcomputers. »Dabei wäre ohne mich das Wiedersehen ins Wasser gefallen. Leider bin ich zur Zeit nicht beweglich. Die Stümper der ORION hatten uns so in die Tinte geritten, daß ich meinen Körper hergeben mußte, um sie und die Besatzungen der Begleitschiffe freizukaufen.« »Er übertreibt wieder einmal«, sagte Mario. »Ja, richtig, die Begleitschiffe!« rief Leandra. »Wo sind sie?« »Sie warten außerhalb des Systems«, antwortete Cliff. »Nachdem wir festgestellt hatten, daß uns mehr als neun Jahre verlorengegangen waren, ließen wir sie draußen warten. Wir wollten erst einmal herausbekommen, wie es auf der Erde aussieht.« »Gut«, sagte die Admiralin. »Ihr braucht keine Bedenken zu haben. Übrigens hat es sich allgemein eingebürgert, daß alle Menschen sich duzen. Eine Ausnahme wird bei den Menschen der Kolonien gemacht – vorläufig. Deshalb hatte Triggen euch zuerst gesiezt, wie er mir gestand.« Sie zwinkerte. »Auch Brian
darf mich deshalb Leandra nennen. Die Dienstvorschriften, die dem entgegenstanden, sind aufgehoben.« »Ich soll Sie duzen, Admiralin?« fragte Hackler entsetzt. »Aber wo bliebe denn da der Respekt?« »Ich hoffe, er bleibt trotzdem erhalten, Brian«, sagte Leandra. Sie wurde ernst. »Übrigens ist Vizeadmiral Churchill vor drei Tagen gestorben.« »Das haben wir mitbekommen«, warf Mario ein. »Hackler, ich meine Brian, hechelt natürlich, weil er sich auf den freien Stuhl setzen möchte.« Leandra de Ruyter lächelte. »Das kann ich verstehen, denn er war ursprünglich als Nachfolger Churchills vorgesehen. Da er aber nicht verfügbar war, setzten Flottenkommando und Regierung auf andere Anwärter. Aber die Entscheidung ist noch nicht gefallen, Brian. Ich werde sofort zu deinen Gunsten intervenieren, weiß aber nicht, ob ich damit noch durchkomme.« »Das wollen Sie, äh, das willst du wirklich tun, Admi..., äh, Leandra!« rief Hackler und errötete schon wieder. »Man wird ihn künftig wohl Brian, den Stotterer, nennen«, warf Hasso ein. »Ich dachte, in neun Jahren hättet ihr euch zusammengerauft«, meinte die Admiralin. »Aber was reden wir noch lange! Ich freue mich, euch bald direkt wie-
dersehen zu können. Heute ist der schönste Tag meines Lebens. Sag den Begleitschiffen Bescheid, und dann kommt zur Erde zurück. Ich werde den Empfang vorbereiten.« »Kein zu großer Bahnhof, bitte«, erwiderte Cliff grinsend. »Und bringe dem alten weisen Elefanten bei, daß er eine erkleckliche Gehaltsnachzahlung einplanen soll«, sagte Hasso. »Tsu-Gol ist nicht mehr Oberbefehlshaber der Flotte, sondern nur noch Verteidigungsminister«, meinte Leandra de Ruyter. »Aber auch in dieser Funktion hat er mit euren Finanzen zu tun. Da kommt tatsächlich einiges zusammen. Also, bis bald!« »Bis bald!« rief Hasso Sigbjörnson. * Sie ließen es sich nicht nehmen, den Überlichtflug in der Nähe der Großbaustelle zwischen Erde und Mars für kurze Zeit zu unterbrechen und das Metallplastikgerippe zu mustern, das einmal ein Weltraumbahnhof werden sollte. »Ein Monstrum«, bemerkte Hasso Sigbjörnson dazu. »Aber wahrscheinlich sehr praktisch, wenn der Handel zwischen Erde und Kolonien forciert werden soll.«
Sie warteten, bis die Begleitschiffe sie eingeholt hatten, dann gingen sie wieder zum Hyperspace über und setzten ihren Flug zur Erde fort. Dabei hing jeder seinen Gedanken nach. So war es unvermeidlich, daß Helga an Basil Astiriakos dachte, mit dem sie so gut wie verlobt war und den sie über neun Jahre nicht gesehen hatte. Das gleiche traf auf Atan Shubashi zu, der sich fragte, ob Amadia Oriano wirklich mehr als neun Jahre lang auf ihn gewartet hatte oder ob sie inzwischen verheiratet war und vielleicht Kinder hatte – mit einem anderen Mann. Und Brian Hackler hockte mit geschlossenen Augen in seinem Sessel und führte Selbstgespräche. Mario de Monti, der einmal dicht an ihm vorbeiging, hörte erstaunt, daß der Major sich im Duzen Leandras übte. Aber er sagte nichts dazu, denn er war vollauf damit beschäftigt, sich das Wiedersehen mit Norma Russell auszumalen. Dann war es endlich soweit. Alle neunzehn Schiffe waren in der Basis gelandet. Die Besatzungsmitglieder hatten ihre Ausgehuniformen angezogen und sich von Angehörigen des Bodenpersonals zum Eingang einer Halle führen lassen, die, wie sie erfuhren, erst vor ein paar Jahren eingeweiht worden war und dem Empfang von Ehrengästen diente. Die Raumfahrer staunten nicht schlecht, als die Big
Band der Raumstreitkräfte zu ihrem Empfang aufspielten. Aber vor allem die ORION-Crew interessierte sich nicht so sehr dafür, sondern schielte zu dem Empfangskomitee hinüber, das in der Nähe eines riesigen Büfetts auf sie wartete. Neben Leandra de Ruyter und Han Tsu-Gol war Georg J. Mattewson zu sehen, weiterhin waren anwesend Amadia Oriano, Marcka Daleonard, Miriam Anami, Tunaka Katsuro sowie ein Mann in der Galauniform eines Admirals, an den sich die Crew aber nicht erinnerte. Helga und Mario sahen sich enttäuscht an, denn weder Basil Astiriakos noch Norma Russell befanden sich beim Empfangskomitee. Als die Musik verstummte, trat Han Tsu-Gol drei Schritte vor. Er war merklich gealtert, bewegte sich aber noch immer elastisch. Eine Weile musterte der Asiate die Raumfahrer, besonders aber die Crew der ORION, dann sagte er mit bewegter Stimme: »Ich wollte eigentlich eine formelle Begrüßung zelebrieren, mit langer Rede uns so, aber ich freue mich viel zu sehr über eure Heimkehr, um mich lange mit Formalitäten aufzuhalten.« Er breitete die Arme aus. »Willkommen, ihr heimgekehrten Töchter und Söhne der Erde!«
Helga war die erste, die vorstürzte, sich in Han Tsu-Gols Arme warf und sich ausweinte. Als nächste lief Arlene auf ihn zu. Als Anna Grusinski dem Beispiel der ORION-Frauen folgte und damit den weiblichen Crewmitgliedern der anderen Schiffe ein Beispiel gab, befanden sich auch die männlichen Mitglieder der ORION-Crew bereits im Gewühl. Atan Shubashi umarmte seine Amadia, dann hob er sie hoch und lief mit ihr davon, um die anderen Männer der ORION und auch der Begleitschiffe daran zu hindern, ebenfalls sein Mädchen zu küssen. Leandra de Ruyter, Marcka Daleonard und Miriam Anami dagegen mußten sich die übermütigen Umarmungen der Männer gefallen lassen, obwohl Hasso Sigbjörnson versuchte, wenigstens die Admiralin zu beschützen, indem er freizügig Püffe verteilte. Nur Brian Hackler beteiligte sich nicht an der herzlichen Begrüßung. Er trat in tödlicher Verlegenheit von einem Bein aufs andere und rollte jedesmal mit den Augen, wenn ein Raumfahrer seine Admiralin besonders laut küßte. Georg J. Mattewson riß sich schließlich aus den Armen von sieben Raumfahrerinnen los, stürzte zum Büfett, griff sich eine Sektflasche und schlug mit der flachen Hand so wuchtig gegen den Flaschenboden, daß der Pfropfen mit lautem Knall herausflog. Sofort trat Ruhe ein.
»Alle einmal herhören!« rief Mattewson. »Trotz der großen Freude, die auch ich über unser Wiedersehen empfinde, bin ich dafür, daß wir es nicht übertreiben. Hier gibt es zu essen und zu trinken, und ich lade die heimgekehrten Töchter und Söhne der Erde ein, kräftig zuzugreifen! Ihr müßt doch seit vielen Jahren von fremdartiger Kost gelebt haben!« »Das haben wir nicht, lieber Georg!« rief Cliff McLane. »Für uns alle sind nämlich nur rund drei Monate vergangen. Die übrige Zeit verloren wir teils in der Heimstatt des Goldenen Eies und teils im Schwerkraftschacht eines Schwarzen Loches. Dennoch nehmen wir die Einladung freudig an. Aber, Freunde, geht sparsam mit den alkoholischen Getränken um, denn ich wette, daß wir anschließend noch einige bürokratische Hürden überspringen müssen, bevor man uns wieder frei auf der Erde herumlaufen läßt.« Han Tsu-Gol sagte: »Ein wahres Wort, fürwahr! Du bist anscheinend nicht gealtert, Cliff, aber offenbar weiser geworden. Komm her, laß dir die Hand schütteln! Auch die anderen Orioner bitte ich, sich um mich und Leandra zu versammeln.« Erst jetzt kamen die männlichen Mitglieder der ORION-Crew dazu, ihren ehemaligen Oberbefehlshaber und jetzigen Verteidigungsminister zu begrüßen. Danach stellte Han ihnen Ray M. Preston vor,
der zum Admiral der Raumkampfflotten befördert worden war, als Mattewson den Oberbefehl über die Raumstreitkräfte übernommen hatte. Preston sah wie eine Mischung von Wissenschaftler und Manager aus und nicht wie ein kampferprobter Raumadmiral. Die ORION-Crew erfuhr, daß er zwölf Jahre lang Professor für Raumkampfstrategie und Logistik an der Raumakademie der Erde gewesen war. Im Verlauf der Feier kam noch ein Neuer dazu. Leandra de Ruyter stellte ihn als Oberst Thomas C. Kanter, ihren neuen Stabschef, vor. Daraufhin musterte Hackler den Mann feindselig, obwohl Kanter ja nichts dafür konnte, daß die Admiralin sich Ersatz für den Major hatte suchen müssen. Thomas C. Kanter war achtundvierzig Jahre alt, mittelgroß, breitschultrig, hatte hellbraune Haut, mittelbraunes, leicht gewelltes, mittellanges Haar und braune Augen. Er begrüßte die ORION-Crew mit nichtssagender Freundlichkeit und musterte ab und zu Hackler, wenn er sicher war, daß Hackler nicht zu ihm sah. »Wetten, daß Kanter für den Posten des Vizeadmirals vorgesehen ist«, sagte Helga Legrelle, als die Crew sich mit gefüllten Tabletten vom automatischen Büfett zurückgezogen hatte, um unter sich zu sein. »Und er gefällt mir nicht besser als Hackler«, meinte Arlene.
»Nicht so voreilig mit Werturteilen!« mahnte Cliff und biß in einen knusprig gebratenen Hühnerschenkel. »Richtig!« sagte Mario. »Schließlich ist Kanter bisher nicht unangenehm aufgefallen.« »Er wirkt ein bißchen fade«, meinte Atan. »Die neue Generation«, sagte Hasso. Cliff schüttelte den Kopf. »Ich denke, daß eher Preston typisch für die neue Generation des Offizierskorps der Flotte ist: intelligent, wissenschaftlich überaus gebildet, kurzum, ein Manager des Raumkriegs.« »Der hoffentlich nie stattfinden wird«, sagte Han Tsu-Gol, der sich mit einem Glas Sekt zur ORIONCrew gesellte. »Preston ist schon in Ordnung. Er war aktiver Offizier in der Raumflotte von Saphira, bevor er einem Ruf der Akademie der Erde folgte.« »Und ist Kanter auch in Ordnung?« fragte Helga. Der Asiate wiegte den Kopf. »Kanter war Kommandant eines Kampfschiffs von Hirla und wurde von uns übernommen, als Hirla seine Raumflotte um fünfzig Prozent verringerte und entsprechend viel qualifiziertes Personal einsparte. Als Commander der THUBAN fing er an, wurde schob bald wegen hervorragender Leistungen Kommandeur eines Aufklärerverbands und nahm vor einem halben Jahr Leandras Angebot an, ihr Stabschef
zu werden. Vorher hatte Captain Arco Vitus Brian vertreten, aber ihm war dieser Posten zu eintönig gewesen.« »Und Kanter soll Vizeadmiral werden«, warf Arlene ein. »Er ist einer der vier Kandidaten, aber seit Hackler zurück ist, dürfte es nur noch darum gehen, ob Kanter oder Hackler den Posten erhält.« Er seufzte. »Ehrlich gesagt, ich würde am liebsten Hackler nehmen, aber er war zu lange fort und kennt sich mit den Verhältnissen nicht mehr aus. Die Flotte hat technisch verbesserte Schiffe, aber vor allem eine neue Verteidigungskonzeption. Ich kann nicht einen Mann als Vizeadmiral akzeptieren, der von all dem keine Ahnung hat.« »Technisch verbesserte Schiffe?« fragte Hasso Sigbjörnson. »Dann ist die ORION wohl hoffnungslos veraltet?« »Nein, keineswegs«, erwiderte Tsu-Gol. »In erster Linie sind die Ortungsgeräte verbessert worden. Alles andere sind nur Kleinigkeiten. In zwei Wochen ist die ORION auf dem neuesten Stand.« »Das interessiert mich im Moment nicht so sehr wie die Frage, wo sich Norma Russell befindet«, sagte Mario. »Niemand hat es bisher für nötig gehalten, mir eine entsprechende Erklärung zu geben.« »Und was ist mit Basil?« fiel Helga ein. »Langsam, langsam!« sagte Han Tsu-Gol mit güti-
gem Lächeln. »Verzeiht einem alten Manne, daß er nicht sofort an die Sehnsucht liebender Herzen dachte! Basil und Norma befinden sich an Bord des Führungsschiffs einer Forschungsexpedition, die versuchen soll, die uralte Kampfstation des Varunja zu erreichen und die OPHIUCHUS zu bergen, mit der Hanna Todajewa und Vittorio Pisani dort zurückblieben.« »Was?« rief Mario entsetzt. »Ohne die Hilfe des Hylathiers kommen sie niemals dorthin – und der Hylathier ist verschwunden!« »Außerdem kennen sie die Koordinaten des ›Nadelöhrs‹ nicht, in das man sich einfädeln muß, um über das Möbiussche Band aus Hyperenergie von M 3 und durch das Tor der Götter nach Alpha-(2)-CVn. zurückzukehren«, sagte Helga. »Und wenn sie sie kennen würden, verlören sie wahrscheinlich Jahre, weil dann auch sie in den Schwerkraftschacht des Schwarzen Loches fielen, in den sich der Zielstern verwandelt hat.« Betrübt senkte Tsu-Gol den Kopf. »Ich konnte sie nicht zurückhalten, Freunde. Sie brachen ja nicht nur wegen Hanna und Vittorio auf, sondern auch deshalb, weil sie sich um euch sorgten und hofften, euch zu finden oder etwas über euer Schicksal zu erfahren.« »Aber Norma!« warf Mario ein. »Hat sie uns nicht ›gesehen‹?«
Han Tsu-Gol schüttelte den Kopf. »Sie ›sah‹ euch zuletzt vor rund neun Jahren. Da konnte sie uns über eure wahrhaft unheimlichen Abenteuer mit den Gipharis und den Khultas berichten und von dem Kyrrhan erzählen, in dem Kräfte schlummern sollen, die sich sowohl zum Guten wie auch zum Bösen für eure Mission auswirken könnten. Seitdem war die Verbindung zu euch abgeschnitten.« »Der Kyrrhan!« stieß Hasso hervor. »Das war so etwas wie der Leibhaftige selbst, ein Werkzeug des Rudraja, das es beinahe erreicht hätte, die Urmächte aus ihrer Verbannung in Überräume zurückzuholen!« »Sie suchen uns also«, sagte Helga mit blassem Gesicht. »Tsu-Gol, schicke uns ihnen nach! Ohne unsere Hilfe sind sie verloren!« »Nein, das werde ich nicht tun«, erklärte der Verteidigungsminister. »Vielleicht befinden sie sich schon in diesem Schwerkraftschacht und kommen in wenigen Tagen hier an, denn die Expedition ist vor fünf Jahren aufgebrochen. Wenn ich euch weglasse, dann geratet ihr auf dem Rückweg ebenfalls wieder in den Schwerkraftschacht und verliert Jahre – und wer weiß, ob sich Basil und Norma so lange zurückhalten lassen, wenn sie erst wieder hier sind. Dann würdet ihr euch bis ans Ende eures Lebens suchen und dabei ständig im Kreise herumfliegen.« »Vor fünf Jahren sind sie aufgebrochen«, sagte Ma-
rio. »Helga, dann besteht Hoffnung, daß sie in absehbarer Zeit zurückkehren.« Er legte einen Arm um ihre Schultern. »Basil ist ein tüchtiger und erfahrener Raumfahrer – und Tsu-Gol hat ihm bestimmt nur die tüchtigsten Leute mitgegeben.« »Das war selbstverständlich«, erklärte Han TsuGol. »Kommt, wir müssen euch noch heute die üblichen medizinischen und psychologischen Untersuchungen schleusen! Ich habe zwar dafür gesorgt, daß euch eine Quarantäne und die sonst obligatorischen Verhöre durch den GSD erspart bleiben, aber um ein Minimum kommt ihr nicht herum. Morgen könnt ihr mir dann offiziell Bericht erstatten.« »Inoffiziell werden wir hoffentlich heute noch berichten dürfen – im Starlight-Casino, in dem du unser Gast sein sollst«, erklärte Cliff McLane. Han Tsu-Gol schmunzelte. »Ich freue mich schon darauf, Kinder. Niemand sehnt sich mehr nach Berichten von Abenteuern als ein alter Mann, der zu weise ist, um noch selbst Abenteuer bestehen zu wollen.«
3. »Es tut mir leid, Oberst Hackler, aber die Beförderungskommission ist nach Prüfung aller objektiven Gründe zu der Überzeugung gekommen, daß Oberst Kanter aus Gründen, die aus deiner langen Abwesenheit resultieren, besser für den Posten des Stellvertreters von Leandra geeignet ist«, sagte Han Tsu-Gol. »Meine Beförderung zum Oberst soll mir die Enttäuschung darüber versüßen, nehme ich an, Herr Vertei... äh, Tsu-Gol«, erwiderte Brian Hackler steif. »So etwas solltest du Tsu-Gol nicht unterstellen, Brian«, sagte Leandra de Ruyter streng. »Deine Beförderung war fällig – und zwar seit Jahren. Deshalb bist du auch rückwirkend seit vier Jahren als Oberst eingestuft worden. Außerdem habe ich dafür gesorgt, daß das Amt des Stabschefs weniger langweilig ist. Du wirst mehr Außendienst als bisher absolvieren.« Hacklers vergrämtes Gesicht hellte sich ein wenig auf. »Danke, Leandra. Ich bitte um Verzeihung, TsuGol.« Er neigte den Kopf leicht in Richtung Thomas C. Kanters. »Meinen Glückwunsch, Vizeadmiral Kanter!« »Danke, Oberst Hackler«, erwiderte Kanter. »Ich
hoffe auf eine gute Zusammenarbeit zwischen uns.« Nach allgemeinem Händeschütteln verließen die vier Personen Leandras Büro und begaben sich ins Starlight-Casino, in dem sie bereits von der ORIONCrew erwartet wurden. Cliff Allistair McLane bestellte zwei Flaschen Archer's tears und die entsprechenden stilvollen Gläser. »Bitte, bedient euch, Freunde!« sagte er. »Wir feiern heute unsere glückliche Rückkehr und das Wiedersehen mit alten Freunden und Vorgesetzten und werden darauf trinken, daß auch Basil und Norma bald wieder zu Hause sein können.« Jeder goß sich seinem »Durst« entsprechend den goldgelben Malzwhisky ein. Nur Kanter schüttelte den Kopf und sagte bedauernd: »Entschuldigt bitte, aber ich bin Abstinenzler.« Er holte sich eine Flasche Limonade von der Bar. »Abstinenzler?« fragte Mario de Monti. »Ich wußte gar nicht, daß es so etwas in der Flotte überhaupt gibt. Bist du sicher, Vizeadmiral, daß du unser Traditionsgetränk nicht doch einmal versuchen möchtest?« »Thomas trinkt niemals Alkohol«, sagte Leandra de Ruyter. »Weder außer Dienst noch im Dienst.« »Im Dienst trinkt ja wohl niemand Alkohol«, meinte Admiral Ray M. Preston und gesellte sich zwanglos zu der feiernden Gruppe, goß sich ein Glas halbvoll und hob es vor die Brust.
»Es gibt Ausnahmen«, warf Hackler ein und schielte dabei zu Cliff. »Es gibt Anlässe, bei denen Alkohol zur Erzielung therapeutischer Wirkungen angebracht erscheint«, erklärte Hasso Sigbjörnson. »Und auch darauf trinken wir!« rief Cliff und hob sein Glas. Nachdem alle getrunken hatten, Kanter seine Limonade, entwickelte sich eine Unterhaltung, in der jedes Mitglied der ORION-Crew und auch Brian Hackler zwanglos über die Erlebnisse in der Galaxis Sommernachtstraum berichtete. Han, Leandra und Preston stellten Zwischenfragen, und auch Thomas C. Kanter zeigte sich sehr an Details interessiert. Harlan Gustavsson erschien eine Stunde später und berichtete, daß er einen neuen Körper für Argus' Gehirn in Auftrag gegeben hätte. Als die Crew die wesentlichen Fakten ihrer Mission vorgetragen hatte, herrschte eine Weile Schweigen. Han Tsu-Gol sah sehr nachdenklich aus, als er das Schweigen als erster brach und erklärte: »Die Menschheit wird wohl ihre Dankesschuld niemals ganz an die Teilnehmer an dieser Mission abtragen können, meine Freunde. Aber meine Gedanken und mein Dank gelten in diesem Augenblick auch Llalyhan, ohne deren Vorarbeit in der Vergangenheit es selbst für die ORION-Crew kaum möglich
gewesen wäre, eine Wiedererweckung der beiden Urmächte und damit eine Neuauflage des Kosmischen Infernos zu verhindern.« »Womit wir uns veranlaßt sehen, dem Mitschöpfer dieses zauberhaften und klugen Wesens zu danken, denn ohne ihn hätte es Llalyhan nicht gegeben«, sagte Cliff McLane und prostete dem Verteidigungsminister zu. Han Tsu-Gol errötete flüchtig, denn die Erinnerung an die Zeit, in der er so in Prinzessin Llalyma verliebt gewesen war, daß man von Hörigkeit sprechen konnte, war ihm etwas peinlich. Thomas C. Kanter blickte von Cliff zu Tsu-Gol, wölbte die Brauen und sagte: »Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, was Cliff gemeint hat, Tsu-Gol.« »Warst du noch nie verliebt, Thomas?« fragte Helga Legrelle. Diese Frage schien Kanter einen Schock zu versetzen. Er starrte Helga verständnislos an und wurde bleich. Danach trank er mit zitternden Händen ein zweites Glas Limonade. Er schien erleichtert zu sein, als er über Lautsprecher aufgefordert wurde, in die Hyperfunkzentrale der Basis zu kommen. »Soll ich mitkommen?« fragte Brian Hackler. Kanter wehrte ab und stand auf.
»Es handelt sich wahrscheinlich um einen Anruf der Konusnebel-Expedition«, erklärte er. »Davon weißt du noch nichts, Brian. Ich werde dich später darüber informieren.« Hastig verließ er das Starlight-Casino. »Er war direkt froh über die Durchsage«, meinte Helga. »Habt ihr gesehen, wie er auf meine Frage reagierte, ob er noch nie verliebt war?« »Ach, was!« sagte Leandra de Ruyter. »Thomas ist mit seinem Beruf verheiratet. Er geht völlig in ihm auf. Da ist ihm wohl niemals Zeit für die Liebe geblieben.« »Und wir?« fragte Cliff. »Gehen wir etwa nicht in unserem Beruf auf? Leandra, allmählich kommt mir dein Stellvertreter unheimlich vor. Was ist das für ein Mensch, der unfähig ist, einen anderen Menschen zu lieben?« »Thomas ist jedenfalls außergewöhnlich tüchtig«, verteidigte Leandra ihren Stellvertreter. »Was hat es eigentlich mit dieser KonusnebelExpedition auf sich, von der Thomas sprach?« wandte sich Hackler an die Admiralin. Froh, das Thema wechseln zu können, sagte Leandra: »Vor einem Dreivierteljahr erhielt Thomas eine Nachricht, die ihn ans Sterbebett eines alten Raumscouts rief. Der Scout berichtete ihm, innerhalb des
Konus-Nebels ein antriebslos treibendes kleines Raumschiff gefunden zu haben. Die Inneneinrichtung war so beschaffen, daß er nicht daran zweifelte, daß das Schiff nicht von Humanoiden erbaut worden war. Er versuchte, sich mit seinen Kontrollen vertraut zu machen, erreichte aber nichts. Doch als er einmal in sein Schiff zurückkehrte, um Werkzeuge zu holen, verschwand es einfach. Er nahm an, daß es per Fernsteuerung zu seiner Basis zurückgeholt wurde. Thomas war von dem Bericht so fasziniert, daß er mit wahrer Besessenheit darauf hin arbeitete, eine Expedition in den Konus-Nebel zu schicken und nach der fremden Rasse suchen zu lassen, die solche Schiffe baute.« »Das klingt phantastisch!« rief Cliff. »Nicht für mich«, erklärte Mario de Monti. »Ich gehe nicht eher wieder von der Erde weg, bis Norma und Basil wieder hier sind!« »Ich würde euch sowieso nicht schon wieder in ein Abenteuer schicken«, sagte Leandra. »Ihr seid für mindestens ein Vierteljahr vom Dienst befreit. In dieser Zeit könnt ihr euch umschauen, beispielsweise einen Rundflug durchs Sonnensystem unternehmen und euch die Veränderungen ansehen, die es seit eurem Abflug gegeben hat.« »Keine schlechte Idee«, meinte Arlene. »Ich habe eine bessere«, sagte Cliff. »Unsere alten
Freunde Glanskis und MacCloudeen werden seit langem darauf warten, daß wir sie wieder einmal besuchen.« »Die Zeitfestung auf Titan existiert nicht mehr«, sagte Han Tsu-Gol, und er berichtete in Stichworten, was mit der Zeitfestung geschehen war und was Norma darüber berichtet hatte. »Es steht nicht fest, ob die Temporalbrücke darunter gelitten hat, über die man nach Thalata kommt.« »Das werden wir herausfinden«, sagte Cliff. * Das Gespräch darüber wurde unterbrochen, als Amadia Oriano, die bisher Dienst in der Hyperfunkzentrale gehabt hatte, das Starlight-Casino betrat. »Thomas läßt sich entschuldigen«, erklärte sie. »Er spricht noch mit dem Leiter der Konusnebel-Expedition. Man hat etwas gefunden, das die uralte Raumstation einer ausgestorbenen Rasse sein könnte.« »Derselben Rasse, die das von dem Scout erwähnte Schiff baute?« fragte Leandra de Ruyter. Amadia nickte. »Es scheint so. Jedenfalls sollen dort viele solcher Schiffe herumstehen.« Sie setzte sich neben Atan, der ihr ein Glas vollschenkte und erst jetzt mit dem Abend zufrieden war.
Wenige Minuten später kehrte Thomas C. Kanter zurück, nahm neben der Admiralin Platz und sagte: »Die Expedition hat einen ausgebauten Asteroiden entdeckt, der zirka zwölf Kilometer durchmißt und anscheinend einer ausgestorbenen Zivilisation als Raumstützpunkt diente.« »Und das sagt er, als ob man nur eine uralte Abfalltüte gefunden hätte!« entrüstete sich Hasso Sigbjörnson. Kanter ließ sich dadurch nicht beirren und sprach im gleichen sachlich-nüchternen Ton weiter. »Bei ersten Erkundungsgängen fanden Expeditionsmitglieder zahlreiche Raumboote mit fremdartiger Technik. Ich habe selbstverständlich angeordnet, daß die Durchsuchung des Stützpunkts sofort abgebrochen wird.« »Aber warum denn?« fragte Leandra de Ruyter. Kanter schaute sie mit leichter Verwunderung an. »Ich nehme an, du willst persönlich dabei sein, wenn das Innere des Stützpunkts erforscht wird, Leandra. Wer weiß, welche wissenschaftlichtechnischen Schätze dort warten! Sie müssen vorsichtshalber geheimgehalten werden. Wenn du einverstanden bist, lasse ich die OPHIUCHUS startklar machen, so daß wir morgen abfliegen können. Ich meine natürlich die OPHIUCHUS II.« »Warum so eifrig, junger Mann?« warf Han Tsu-
Gol mit rätselhaftem Lächeln ein. »Der erfahrene Tiger stürzt sich nicht kopfüber in das Dickicht. Es könnten Giftschlangen darin lauern.« Kanter wirkte irritiert. »Tsu-Gol meint, wir sollten vorsichtig sein«, erklärte Leandra de Ruyter lächelnd. »Das werden wir ganz bestimmt«, sagte Kanter. »Deshalb will ich ja ebenfalls mitfliegen, obwohl es normalerweise nicht üblich ist, daß die Befehlshaberin von T.R.A.V. und ihr Stellvertreter für längere Zeit von der Erde abwesend sind.« »Das ist richtig«, warf Hackler ein. »Deshalb schlage ich vor, daß ich Leandra begleite.« »Bis jetzt habe ich mich noch nicht dazu geäußert, ob ich überhaupt hinfliege«, erklärte Leandra. »Meine Leute scheinen neuerdings über meinen Kopf hinweg Entscheidungen zutreffen, die mir zustehen.« »Diesen Eindruck habe ich auch«, sagte Cliff. »Ich bitte um Verzeihung«, sagte Kanter. »Ich war wohl übereifrig. Selbstverständlich sind meine Äußerungen nur als Vorschläge aufzufassen.« »Meine selbstverständlich auch«, erklärte Brian Hackler. »Die Kompetenzen sind ja durch entsprechende Vorschriften genau geregelt. So ist beispielsweise der Stabschef von T.R.A.V. allein für die Vorbereitung von Missionen verantwortlich. Admiralin, äh, Leandra, wenn du es wünscht, sorge ich dafür, daß
die OPHIUCHUS II für einen Start vorbereitet wird, dessen Zeitpunkt zu bestimmen ganz in deinem Ermessen liegt.« Die Admiralin lachte erheitert. »Er hat sich nicht geändert, der alte Hackler, äh, Brian. Aber er hat recht. Thomas, wir beide starten übermorgen mit der OPHIUCHUS II, denn vor einer so langen Abwesenheit gibt es für mich noch allerlei zu erledigen.« »Das denke ich auch«, pflichtete Hasso Sigbjörnson ihr bei und bedachte Kanter mit einem giftigen Blick. Mario de Monti bemühte unterdessen sein Vielzweck-Armbandgerät, um sich vom Hauptcomputer der Basis die Entfernung von der Erde zum Konus-Nebel durchgeben zu lassen. Anschließend bemühte er den Minicomputer seines VielzweckGeräts. »Der uns zugewandte Rand des Konus-Nebels ist 3349 Lichtjahre von der Erde entfernt«, erklärte er danach. »Bei einer Geschwindigkeit von rund vierhundertzehn Lichtjahren in vierundzwanzig Stunden braucht ein Schiff also gut acht Tage bis dorthin. Rechnen wir einen Aufenthalt von ebenfalls acht Tagen, dann könnte Leandra in frühestens vierundzwanzig Tagen zurück sein.« Leandra de Ruyter nickte. »Brian, du wirst hier gemeinsam mit Amadia die
Stellung halten, bis Thomas und ich zurück sind! Wir vereinbaren noch eine feste Zeit, zu der ich täglich anrufen werde, damit ich über wichtige Dinge informiert werden kann.« »Wieso ist überhaupt eine Hyperfunkverbindung möglich?« warf Helga Legrelle ein. »Überbrücken unsere Schiffssender jetzt mehr als neunhundertachtundsiebzig Lichtjahre?« »Ich habe selbstverständlich drei Großrelaisstationen zwischen der Erde und dem Konus-Nebel stationieren lassen«, erklärte Kanter. »Sehr tüchtig, unser Vizeadmiral!« sagte Mario ironisch. Leandra erhob sich. »Es tut mir leid, aber ich muß morgen soviel erledigen, daß ich nicht länger mitfeiern kann. Ich wünsche euch allen noch einen schönen Abend.« Thomas C. Kanter stand ebenfalls auf und verließ hinter der Admiralin das Starlight-Casino. »Ein schöner Abend ist das!« schimpfte Cliff McLane erbittert. »Ich wollte, Brian wäre statt Kanter Vizeadmiral geworden. Ein Paragraphenhengst hätte nicht soviel irren Wirbel veranstaltet wie dieser Ehrgeizling.« Wieder lächelte Han Tsu-Gol geheimnisvoll. »Das Gebrüll des Tigers läßt nicht einmal ein Blatt vom Baume fallen, Freunde. Genießt diesen Abend
wie der Weise die wärmenden Strahlen der Sonne!« Ray M. Preston lachte. »Ich habe viel von der ORION-Crew gehört«, erklärte er. »Vor allem aber von ihrer Trinkfestigkeit. Wollt ihr mich vielleicht enttäuschen?« »Nein, Admiral!« sagte Hasso zornig und goß sein Glas randvoll. »Trinken wir um die Wette! Der Whisky schmeckt mir zwar nicht mehr, aber ich will auch nicht mehr klar denken!« * Der nächste Tag sah die Raumfahrer der ORION verkatert und lustlos ihre versiegelten Wohnungen aufräumen und Einkäufe erledigen sowie ihren Bericht über die letzte Mission auf Computerspeicher sprechen. Am Morgen des übernächsten Tages standen sie im Starthangar der OPHIUCHUS II und verabschiedeten sich von Leandra de Ruyter und Thomas C. Kanter sowie der OPHIUCHUS-Crew, mit der sie – mit Ausnahme von Jerome Trude – befreundet waren. Den Start des Flaggschiffs der Admiralin beobachteten sie mit gemischten Gefühlen auf Monitoren. Cliff, Arlene und Hasso wären am liebsten mitgeflogen. Mario und Helga dagegen wollten auf der Erde warten, bis Norma und Basil zurückgekehrt waren –
und Atan war froh, daß sowohl er als auch Amadia Oriano auf der Erde blieben, zumindest aber im Sonnensystem. Am dritten bis siebten Tag nach ihrer Rückkehr besprach die ORION-Crew mit Miriam Anami die Einzelheiten ihres Informationsrundflugs durch das Sonnensystem. Miriam wollte sie auf dem Flug mit dem Forschungsschiff HERMANN OBERTH begleiten. Die ORION X sollte während dieser Zeit generalüberholt und nachgerüstet werden. Am achten Tag nach Leandras Aufbruch fand sich die Crew vollzählig in der Hyperfunkzentrale der Basis ein, um von Leandra zu hören, wie es ihr ging und was sie am Ziel vorgefunden hatte. Was sie erfuhren, klang verheißungsvoll. Wenn es gelang, hinter die Geheimnisse der fremden Raumflugtechnik zu kommen, würde der Gewinn für die Menschheit unschätzbar sein. Vor allem aber handelte es sich weder um Varunjanoch Rudrajatechnik, so daß die Aussichten, sie zu verstehen, gut waren. Am neunten Tag nach Leandras Aufbruch starteten die Raumfahrer der ORION als Passagiere an Bord der HERMANN OBERTH, begleitet von Miriam Anami als »Fremdenführerin«. Ebenfalls an Bord der HERMANN OBERTH ging Harlan Gustavsson mit dem neuen Argus. Neu war allerdings nur der Kör-
per. Das »Gehirn« war dasselbe, das die Crew in der Galaxis Sommernachtstraum begleitet hatte. Erste Station des Rundflugs war der Erdmond. Die Crew staunte, welche Fortschritte die Besiedlung und Ausbeutung des Erdmonds während der letzten neun Jahre gemacht hatte. In den Kuppelstädten gab es inzwischen sogar Parks mit blühenden Sträuchern und großen Rasenflächen. Hasso Sigbjörnson sah auf seinen Chronographen, als die HERMANN OBERTH gelandet war und seine Freunde sich anschickten, das Schiff zu verlassen. »Ich bleibe noch eine halbe Stunde hier«, erklärte er. »Warum denn das?« wollte Cliff wissen. »In zwanzig Minuten ruft Leandra die Basis an«, sagte Helga Legrelle und blinzelte Cliff zu. »Es ist doch klar, daß Hasso kurz danach bei Hackler anfragt, wie es Leandra geht.« »Warum auch nicht!« rief Hasso erbost. »Ich mache mir Sorgen um sie, seit sie mit Kanter losgeflogen ist! Wenn ich an diesen Mann denke, habe ich so ein komisches Gefühl.« Somit blieb Hasso Sigbjörnson an Bord, bis er mit Hackler gesprochen und erfahren hatte, daß es Leandra gutging. Am nächsten Tag startete die HERMANN OBERTH zur Großbaustelle Weltraumbahnhof – und
wieder schaute Hasso ständig auf seinen Chronographen, als die Zeit heranrückte, zu der Leandra de Ruyter Hyperfunkverbindung mit der Erde aufnehmen würde. Pünktlich zehn Minuten nach diesem Zeitpunkt, die Großbaustelle kam gerade in Sicht, setzte er sich vor das Hyperfunkgerät und rief die Basis an. »Ich komme nicht durch!« schimpfte er nach einer Weile. »Alle Kanäle der Basis sind blockiert!« »Das gibt es doch gar nicht«, erklärte Cliff. »Es sind rund tausend Kanäle.« »Ah!« rief Hasso. »Endlich!« Auf dem Bildschirm des Hyperfunkgeräts war ein Ausschnitt der Hyperfunkzentrale der Basis zu sehen, davor das Bild einer aufgeregt wirkenden Funkerin. »Basis 104!« sagte sie außer Atem. »Was ist los?« »Das möchte ich wissen!« erwiderte Hasso, von der Aufregung der Funkerin angesteckt. »Hat die Admiralin schon mit Hackler gesprochen?« »Nein, Hasso. Das war nicht möglich. Einen Augenblick, hier kommt Oberst Hackler. Brian, Hasso fragt nach Leandra!« Kurz darauf zeigte der Schirm Hacklers Abbild. Der Oberst wirkte verstört. »Was ist mit Leandra passiert?« schrie Hasso ahnungsvoll. »Das weiß ich eben nicht!« stieß Hackler hervor.
»Sie wird vermißt: Ich habe keine Zeit, Hasso! Ich muß alles alarmieren ...« »Du wirst mir jetzt sofort sagen, was mit Leandra los ist«, rief Hasso mit kalter Wut und zugleich voller Furcht. Brian Hackler nickte verständnisvoll, holte ein zusammengeknülltes Hypergramm aus der Brusttasche seiner Dienstmontur und verlas den Text. »Vizeadmiral Thomas C. Kanter an Basis 104 Erde, Stabschef Oberst Brian Hackler. Admiralin Leandra de Ruyter testete heute ohne mein Wissen ein Raumboot, das in einem Hangar des alten Stützpunkts stand. Ich versuchte, sie zurückzuhalten, als ich davon erfuhr. Leandra hörte jedoch nicht auf meine Warnungen. Daraufhin brach ich mit Oberst Omar Shadem und Funkerin Joanna Tahuakoa von der OPHIUCHUS-Crew zum Stützpunkt auf. Wir kamen jedoch zu spät. Sowohl von unserer LANCET als auch von Bord der OPHIUCHUS II aus wurde der Start des Raumboots beobachtet. Die Admiralin beantwortete unsere Funkanrufe nicht. Nach neun Minuten elf Sekunden verschwand das Raumboot aus der Ortung. Wahrscheinlich war es zum Hyperspace übergegangen. Das liegt zweieinhalb Stunden zurück, und in dieser Zeit gelang es uns nicht, Kontakt mit der Admiralin aufzunehmen oder das Raumboot ortungstechnisch zu finden.
Es muß befürchtet werden, daß Leandra eine kurzen Probeflug durchführen wollte und dabei versehentlich eine Schaltung aktivierte, die einen Hyperspace-Flug mit unbekanntem Ziel einleitete. Wir werden intensiv nach der Verschollenen suchen. Außerdem verfüge ich als Stellvertreter der Admiralin die Entsendung von drei Geschwadern der Aufklärungsverbände, die ich zur systematischen Durchkämmung des Konus-Nebels einsetzen werde!« Hackler hob den Kopf. »Das ist alles, was ich bisher weiß, Hasso. Selbstverständlich habe ich alles in die Wege geleitet, um die angeforderten Geschwader schnellstens in Marsch zu setzen.« Hasso Sigbjörnson war totenbleich geworden. Seine Hände zitterten, aber seine Stimme klang fest, als er sagte: »Dieser Schweinehund! Ich habe gleich geahnt, daß wir ihm nicht trauen dürfen! Brian, ich ... Nein, warte!« Er blickte sich nach seinen Freunden um, aber die standen inzwischen hinter ihm und waren genauso erschüttert wie er selbst. »Brian!« sagte Cliff McLane. »Die ORION-Crew kehrt sofort zur Erde zurück. Sorge dafür, daß die ORION startklar gemacht wird – oder ein anderes Schiff, falls die ORION noch nicht fertig sein sollte! Wir
fliegen zum Konus-Nebel und beteiligen uns an der Suche nach Leandra!« Damit unterbrach er die Verbindung, stellte eine Verbindung zur Regierung her und verlangte den Verteidigungsminister zu sprechen. Es dauerte einige Minuten, bis das Abbild Han Tsu-Gol auf dem Schirm zu sehen war. Sein Gesicht glich dem einer traurigen Bulldogge, und er wirkte älter, als er war. »Ich habe davon gehört, Cliff«, sagte er, bevor Cliff reden konnte. »Was Kanter in seinem Hypergramm über Leandra mitgeteilt hat, paßt gar nicht zu ihr.« »Ganz richtig!« rief Hasso Sigbjörnson. »Leandra handelt niemals leichtfertig. Ich weiß noch nicht, wie Kanter sie dazu gebracht hat, daß sie mit einem nicht erprobten fremden Raumschiff startete, aber ganz bestimmt hat der Bursche seine Finger im Spiel!« »Ich glaubte, weise zu sein, aber ich bin wohl in Wirklichkeit nur senil«, erklärte Tsu-Gol. »Sonst hätte ich das Spiel nicht mitgespielt.« »Wie meinst du das?« fragte Arlene. »Um was für ein Spiel handelt es sich?« Betrübt schüttelte der Asiate den Kopf. »Das weiß ich leider selbst noch nicht, Mädchen. Ich glaubte nur, es zu wissen, aber ich täuschte mich. Fliegt hin und seht zu, daß ihr Leandra retten könnt.« »Das wollen wir!« versprach Cliff. »Nur Brian und seine Vorschriften ...«
»Die überlaßt mir!« sagte Han Tsu-Gol grimmig. »Wenn ihr in der Basis landet, wird die ORION X startbereit dastehen, und Brian wird euch den Marschbefehl persönlich in die Hand drücken.« »Danke, Tsu-Gol!« sagte Hasso. »Das werden wir dir nie vergessen!« Han blinzelte, dann lächelte er plötzlich. »Sobald ihr die nächste Eigenmächtigkeit vorhabt, werdet ihr es vergessen, denn auch der Tiger vergißt, daß er Vegetarier werden will, sobald der Hunger in seinen Eingeweiden wühlt.« Der Bildschirm wurde dunkel. »Er ist wie ein Vater zu uns«, sagte Hasso. »Eher wie eine Glucke zu ihren Küken«, meinte Mario de Monti. »Aber ein Prachtkerl ist er doch.«
4. Nach dem fünften Orientierungsaustritt aus dem Hyperspace sahen die Raumfahrer auf der Zentralen Bildplatte einen diffusen leuchtenden Gasnebel, in den eine relativ kleine konusförmige Dunkelwolke ragte. »Der Konus-Nebel!« sagte Atan Shubashi. »Und von ihm eingehüllt die zwanzig Sonnen des offenen Sternhaufens NGC 2264!« fügte Mario de Monti hinzu. »Ihr Menschen seid komische Wesen«, nörgelte Argus und watschelte quer durch den Leitstand der ORION X, dabei ständig mit den Datenfenstern seines Kuppelkopfes blinkend. »Ihr nennt Fakten, die ihr alle kennt und die deshalb nicht genannt werden müssen, weil das keinen Informationswert besitzt.« »Noch so eine dumme Bemerkung, und ich breche dir deine sämtlichen Antennen ab!« drohte Mario de Monti. Argus zirpte und summte entrüstet. »Roh und ungebildet; das paßt zusammen.« »Sei still!« befahl Harlan Gustavsson. »Alle haben sich gegen mich verschworen«, klagte der Datenroboter. Cliff lächelte flüchtig, dann sagte er: »Du hast die Koordinaten des alten Stützpunkts,
Atan. Kannst du mit ihrer Hilfe bestimmen, an welcher Position im Nebel sich der Asteroid befindet?« »Ich habe eine Grobbestimmung durchgeführt, Cliff«, antwortete der Astrogator. »Danach muß der Asteroid am konusförmigen Ende der Dunkelwolke liegen, die in den Nebel ragt. Komisch, es ist, als zeigte die Dunkelwolke auf ihn, als wäre sie ein Wegweiser der Unbekannten gewesen.« »Vielleicht war sie das«, erwiderte Cliff und griff nach den Hebeln des Hauptkontrollpults. »Uns interessiert es vorläufig nicht. Jeder geht an seinen Platz. Ich leite Anlaufphase mit Maximalwerten ein. Atan und Mario, ihr kooperiert wie gewohnt, damit der Autopilot seine Aufgabe kennt, wenn ich ihm in zehn Minuten die Kontrolle übergebe!« »Und wo ist mein Platz?« piepste Argus. »Im Abfallschacht«, erklärte Cliff. Aber er meinte es nicht so, denn er, wie auch die anderen Mitglieder der Crew, wußten, was sie an dem Datenroboter hatten. Grundlos hatten sie das Team Hargus & Argus schließlich nicht mitgenommen. Die ORION X beschleunigte, erreichte nach rund zehn Minuten die für den Übergang zum Hyperspace erforderliche Geschwindigkeit – und Cliff schaltete alle Kontrollen auf den Autopiloten. Dreieinhalb Stunden später fiel das Schiff abermals aus dem Hyperraum in den Normalraum zurück.
Diesmal befand es sich mitten im Konus-Nebel, achtundneunzig AE von einem heißen O-Klassen-Stern und nur einunddreißig AE von der stumpfen »Spitze« der konusförmigen Dunkelwolke entfernt. Und genau vor dieser »Spitze«, aber in nur anderthalb AE Entfernung, ortete Atan einen annähernd kugelförmigen Körper von zwölf Kilometern Durchmesser. »Das ist der Asteroid!« rief Hasso erregt. »Ihr habt gut gezielt, Atan und Mario!« »Ich habe auch ein Schiff in der Ortung!« rief Atan Shubashi. Er war nicht weniger erregt als Hasso. »Es könnte die OPHIUCHUS II sein!« »Die übrigen Schiffen sind wahrscheinlich im Nebel verstreut«, meinte Arlene. Die drei Geschwader waren noch vor der ORION X von der Erde gestartet – und die fünf Expeditionsschiffe beteiligten sich ebenfalls an der Suche. »Anfunken und identifizieren!« sagte Cliff. Helga nickte und schaltete das Hyperfunkgerät ein. Nach wenigen Sekunden erhellte sich der Bildschirm links über ihrem Funkpult. Das Abbild eines »pferdegesichtigen« Mannes erschien darauf. »OPHIUCHUS II Funker Trude!« meldete er sich mit einer Stimme, die fast immer klang, als litte er an Verdauungsbeschwerden. »Ach, das ist ja Helga von der ORION! Was sucht ihr denn hier?«
»Leandra, wen denn sonst?« fauchte Helga ihren Kollegen an, der in der Vergangenheit mehrfach versucht hatte, bei Leandra de Ruyter gegen Cliff McLane zu intrigieren. »Wir stehen mit der ORION anderthalb AE vor euch und werden jetzt den Asteroiden anfliegen.« Jerome Trudes Bild verschwand vom Schirm; dafür tauchte das von Thomas C. Kanter auf. »Hallo, Helga!« sagte Kanter. »Ich möchte Cliff sprechen.« Helga Legrelle sah fragend zu Cliff, und als der nickte, schaltete sie die Verbindung auf sein Pult um. »Hallo, Cliff!« sagte Kanter. »Ich hörte, die ORION X sei ohne meine Erlaubnis zum Konus-Nebel geflogen.« »Von wem hörtest du das, Thomas?« fragte Cliff. »Eben, von eurer Funkerin«, antwortete Kanter. Er sprach wie immer in ganz normalem Tonfall. »Diese Eigenmächtigkeit war die letzte, die die ORIONCrew begangen hat, Cliff. Ihr kehrt sofort um, fliegt zur Erde zurück und mustert ab! Vorläufig seid ihr nur vom Dienst suspendiert, aber ich werde dafür sorgen, daß ihr in endgültig quittieren müßt!« »Wer letzten Endes den Dienst quittieren muß, werden wir sehen«, entgegnete Cliff hart. »Wir sind jedenfalls nicht eigenmächtig hierhergeflogen, sondern auf ausdrücklichen Befehl des Verteidigungsministers.
Wir haben weiter den Befehl, alles zu untersuchen, was mit dem Verschwinden Leandras zu tun hat und werden uns von keinem dreinreden lassen. Ich hoffe, das hast du verstanden, Vizeadmiral!« Das Gesicht Kanters blieb auch diesmal ausdruckslos, aber in die Augen trat sekundenlang ein bösartiges Glitzern. »Tsu-Gol hat mich also übergangen«, stellte er fest. »Im Augenblick muß ich seine Entscheidung respektieren, aber ich werde nach der Rückkehr zur Erde Anklage vor dem Raumverteidigungsausschuß gegen ihn erheben. Die ORION X darf sich neben der OPHIUCHUS II am Asteroiden verankern, aber niemand aus der ORION X darf den Stützpunkt ohne Begleitung von Crewmitgliedern der OPHIUCHUS betreten. Ist das klar, Cliff?« »Mir ist noch mehr klar geworden, Kanter«, erwiderte Cliff McLane und unterbrach die Verbindung. »Du hast ihn provoziert, Cliff«, sagte Mario. »Wieso?« fragte Cliff. »In dem du das ›Vize‹ in seinem Titel besonders betontest.« »Nicht grundlos«, erklärte der Commander. »Falls Leandra nicht gerettet werden kann, hätte Kanter nämlich einen Karrieresprung gemacht, da er in frühestens zwanzig Jahren auf ihren Posten nachrücken könnte – normalerweise.« »Du meinst, er hätte es absichtlich so gedreht, daß
Leandra allein mit unbekanntem Ziel abgeflogen ist?« fragte Hasso erregt. »Ich bringe den Kerl um!« »Ich fühle es, aber ich kann es nicht beweisen«, sagte Cliff. * Oberst Omar Shadem – er war inzwischen auch befördert worden, und die Mitglieder der ORION-Crew wären es auch, wenn sie es nicht abgelehnt und sich mit einer höheren finanziellen Einstufung begnügt hätten – schüttelte den Kopf, nachdem Cliff ihm seinen Verdacht vorgetragen hatte. Die ORION-Crew, Hargus & Argus sowie Shadem und Maschineningenieur Mateus Quipapa befanden sich in einem der vielen Tunnels, die sich durch den Asteroiden zogen, wobei Shadem und Quipapa als Aufpasser fungierten, was jedoch wegen ihrer Freundschaft mit der ORION-Crew eine Farce war. »Ich kann Kanter auch nicht leiden«, sagte Shadem. »Aber dein Verdacht ist aus der Luft gegriffen, Cliff. Kanter hat schon an Bord der OPHIUCHUS Leandra ständig vor einem Startversuch mit einem der Raumboote gewarnt.« »Hat sie tatsächlich die Absicht geäußert, mit einem Raumboot starten zu wollen?« fragte Hasso Sigbjörnson.
»Nicht direkt«, antwortete Shadem. »Eigentlich sprach sie nur von der Notwendigkeit, die Kontrollen der Boote zu untersuchen. Kanter muß sie ein wenig mißverstanden haben. Aber es steht fest, daß er ihr niemals geraten hat, sich einem dieser fremden Boote anzuvertrauen.« »Wie kam es dazu, daß sie allein an eines der Boote herankam?« fragte Mario de Monti. »Kanter und Leandra waren mit Mitgliedern der Expedition im Stützpunkt gewesen, hatten deren Arbeiten kontrolliert und kehrten dann in die OPHIUCHUS zurück. Leandra kam allerdings nicht gleich mit in den Leitstand, sondern ging erst in ihre Kabine.« »Wer hat das gesehen?« fragte Hasso Sigbjörnson. »Und die Schleusenkontrollen?« wollte Mario wissen. »Die Schleusen waren auf Direktbetrieb geschaltet, weil ständig jemand aus- und einging«, erklärte Mateus Quipapa. »Phantastisch!« sagte Arlene. »Und wie ging es weiter?« »Nach einiger Zeit rief Kanter Leandra über Bordfunk, aber sie antwortete nicht«, berichtete Shadem. »Da versuchte es Kanter mit dem Armbandfunk. Diesmal erreichte er sie, aber da befand sie sich schon wieder im Asteroiden. Kanter beschwor sie, die Fin-
ger von den Raumbooten zu lassen. Anscheinend wies sie das als Bevormundungsversuche zurück, denn Kanter stieg sofort mit mir und Joanna in eine LANCET, um Leandra vor Unbesonnenheiten zu bewahren.« »Moment einmal!« rief Helga Legrelle. »Hat denn niemand von eurer Crew mitgehört, was Leandra erwiderte?« »Kanter sprach doch über das Armbandgerät mit ihr«, sagte Shadem verwundert. »Da kann man den anderen Gesprächspartner nur hören, wenn man direkt daneben steht. Selbstverständlich wollte ich mich einschalten. Ich kenne Leandra ja viel länger als Kanter und hoffte, daß sie auf mich hören würde. Aber da hatte sie die Verbindung schon unterbrochen.« »Und wenn diese Verbindung überhaupt nur von Kanter simuliert war?« rief Cliff. »Dein Mißtrauen ist krankhaft, Cliff«, erklärte Omar Shadem. »Wir haben schließlich den Start Leandras beobachtet und auch ortungstechnisch verfolgt. Sie ist wirklich mit einem dieser Raumboote gestartet, mit einem Einer, um genau zu sein.« »Mit einem Einer?« fragte Atan Shubashi. Shadem nickte unter seinem kugelförmigen Klarsichthelm. »Soviel bisher festgestellt wurde, gibt es im Asteroiden fünf Schiffstypen: Einer, Zweier, Dreier, Sech-
ser und Zehner. Sie wurden so genannt, weil in ihnen eine entsprechende Anzahl von Menschen plus einer großzügig bemessenen Fracht Platz finden würde. Das traf sicher auch auf die Humps zu, denn die Anzahl der Sitze ist entsprechend.« »Die Humps?« warf Arlene ein. »Die Wesen, die mit diesen Boote flogen«, erklärte Mateus Quipapa. »Sie hießen sicher nicht so, aber in den schmalen Sitzlehnen ihrer Boote befinden sich tiefe Einbuchtungen, die darauf schließen lassen, daß ihre Rücken buckelartige Aufwölbungen besaßen. Deshalb nennen wir sie Humps.« »Und sie sind ausgestorben?« fragte Helga Legrelle. »Das wissen wir nicht«, sagte Shadem. »Wir wissen nur, daß sie den Stützpunkt verlassen haben. Aufzeichnungen wurden bisher nicht gefunden, auch keine weiteren Hinweise auf das Aussehen der Humps. Sie waren etwa so groß wie wir, aber schmaler und besaßen so etwas wie Finger, was sich an den Kontrollen ihrer Boote erkennen läßt. Woher sie kamen und wohin sie gingen ...« Er zuckte die Schultern. »Omar, wir möchten uns einen Einer ansehen«, sagte Cliff. »Wir müssen herausfinden, ob es Aufzeichnungen über mögliche Ziele gibt, die früher von den Booten angesteuert wurden. An einem dieser Ziele könnte Le-
andra angekommen sein, und sie weiß vielleicht nicht, wie sie die Rückkehr programmieren muß.« »Sie werden nicht programmiert, sondern manuell gesteuert«, erklärte Shadem. »Kanter hat es gesagt«, meinte Mario. »Er weiß es von den Spezialisten der Expedition«, erwiderte Omar Shadem. »Die wir natürlich nicht fragen können, weil er sie auf die Suche nach Leandra geschickt hat«, sagte Cliff. »Er hat alles teuflisch geschickt eingefädelt. Omar, kannst du uns zu einem Einer-Hangar führen, in dem ein Boot steht?« »Ich kenne drei Hangars mit Einern«, erwiderte Shadem. »Aber ich warne euch! Obwohl ich mir die. Kontrollen tagelang angesehen habe, traue ich mir nicht zu, an ihnen herumzuschalten.« Er grinste. »Natürlich hat Kanter mir außerdem befohlen, euch von den Booten fernzuhalten, aber ich habe das eben nicht mitbekommen, wenn er merkt, was gespielt wird.« »Danke, Omar!« sagte Cliff. »Das ist doch selbstverständlich!« stieß Mateus Quipapa erregt hervor. »Für unsere Leandra würden wir uns in Stücke reißen lassen, also werden wir doch die Crew der ORION nicht behindern, die ihr helfen will!« »Kommt!« sagte Omar Shadem. *
Nach achteinhalb Stunden zeigte sich der erste Erfolg einer ebenso vorsichtigen wie anstrengenden Untersuchung der Kontrollen eines Hump-Schiffes. »Kanter hat gelogen, dieser Mensch!« zeterte Argus und blinkte wie verrückt mit seinen Datenfenstern. »Der Einer kann nur im Unterlichtflug manuell gesteuert werden. Für eine Steuerung im Überlichtflug gibt es keine Kontrollen. Das bedeutet, daß ÜberlichtZielkurse mit Hilfe eines speziellen Eingabegeräts vorprogrammiert werden und danach vom Piloten nicht mehr zu beeinflussen sind.« »Das ist ungeheuerlich!« tobte Hasso Sigbjörnson. »Ich kann mir denken, wie er es gemacht hat! Kommt, wir knöpfen ihn uns vor!« »Halt!« sagte Omar Shadem. »Hasso, das wäre Meuterei. Ich fürchte ebenfalls, daß Kanter Leandra gegen ihren Willen auf eine Reise mit unbekanntem Ziel geschickt hat, aber wie soll er das Ziel programmiert haben! Er kennt sich doch mit den HumpSchiffen nicht besser aus als meine Leute und ich.« »Vielleicht doch«, erwiderte Hasso, der sich wieder etwas beruhigt hatte. »Vielleicht hat ihm der Scout, der ihn auf die Spur des Stützpunkts brachte, doch erklärt, wie der Überlicht-Zielkurs eines HumpSchiffes programmiert wird.« »Dann wüßte er, wohin er Leandra geschickt hat – und wir könnten es aus ihm herausprügeln!« sagte
Mateus Quipapa. »Kanter würde niemals etwas zugeben, was wir ihm nicht beweisen können«, erwiderte Cliff McLane. »Wie ich ihn einschätze, läßt er sich auch nicht einschüchtern. Nein, wir dürfen es nicht auf die harte Tour versuchen, sondern müssen ihn überlisten. Dazu brauchen wir mehr Wissen.« Er wandte sich an Harlan Gustavsson. »Harlan, wenn wir das Eingabegerät finden, mit dem der Überlicht-Zielkurs von Leandras Einer programmiert wurde, ließe sich dann diese Programmierung rekonstruieren, auch wenn die betreffenden Daten gelöscht sein sollten?« Der Programmierungspezialist dachte angestrengt nach, dann erklärte er: »Das kommt darauf an, wie das Eingabegerät konstruiert ist.« »Richtig, Partner«, warf Argus ein. »Warum suchen wir nicht sofort danach!« Omar Shadem drehte sich wortlos um und eilte in den Tunnel zurück, durch den sie zum Hangar gekommen waren. Nach zehn Minuten betraten sie einen zweiten Hangar, aber er war im Unterschied zum ersten leer. Shadem deutete durch die Startröhre, durch die ein Ausschnitt des Weltraums zu sehen war. »Hier ist Leandras Einer hinausgeschossen.«
»Und hier gibt es so etwas wie eine Kontrollkabine«, erklärte Argus und deutete auf die mit Metallplastik verkleidete Rückwand des Hangars, an der nichts zu sehen war, was auf eine Kontrollkabine hätte schließen lassen. Argus' halbkugelförmiger Kopfteil drehte sich; die Antennen wurden ausgefahren. Ein Zwitschern und Zirpen ertönte, dann glitt ein Teil der Rückwand beiseite. Zum Vorschein kam ein kleiner Raum mit rechtekkigem Grundriß und einem Computerpult mit zwei Sesseln davor, deren schmale Rückenlehnen die für Hump-Sitzmöbel typischen tiefen Einbuchtungen aufwiesen. »Das könnte das Eingabegerät sein«, sagte Harlan und deutete auf das Computerpult. »Wir werden ...« Er schwieg, als Omar Shadem eine warnende Handbewegung machte und dann auf die kurze Antenne seines Klarsichthelms deutete. Die Raumfahrer der ORION und Harlan schalteten auf die Fernfunkfrequenz um, die der Kommunikation zwischen der OPHIUCHUS II und den von Bord gegangenen Raumfahrern diente. Sofort hörten sie Kanters Stimme sagen: »... können wir nicht länger warten. Wo befindet ihr euch, Omar?« »Am Ende eines gewundenen Tunnels«, erklärte
Omar Shadem. »Wir haben so etwas wie einen leeren Materiallagerraum entdeckt.« »Die Untersuchung dieses Raumes kann warten«, erwiderte Kanter. »Du bringst die ORION-Crew sofort zu ihrem Schiff zurück und sorgst dafür, daß sie vollzählig an Bord geht. Danach starten unsere beiden Schiffe und beteiligen sich an der Durchsuchung des Konus-Nebels. Cliff soll sich gleich nach seiner Rückkehr auf die ORION X über Funk bei mir melden!« »Ja, Thomas«, erwiderte Shadem mit ausdruckslosem Gesicht. »Beeilt euch!« sagte Kanter und unterbrach die Verbindung. »Da haben wir den Salat!« sagte Helga Legrelle. »Kanter befürchtet also trotz Bewachung, wir könnten ihm auf die Schliche kommen. Was machen wir jetzt?« »Wir könnten einfach meutern«, meinte Mario de Monti. »Aber das würde es ihm ermöglichen, gewaltsam gegen uns vorzugehen. Ich schlage deshalb vor, wir teilen uns. Cliff und Helga müssen unbedingt auf die ORION zurück, denn beide sind bei der Herstellung von Funkkontakten zur OPHIUCHUS beteiligt. Hasso wird ebenfalls gebraucht, und Arlene sollte auch an Bord gehen und, wenn Cliff mit Kanter spricht, Hintergrundgespräche mit der Restcrew vortäuschen. Atan und ich sollten mit Hargus & Argus
hierbleiben und nach dem Ziel suchen, an das Leandra geschickt wurde.« »Aber was würde euch es nützen, wenn ihr das Ziel herausfändet?« wandte Cliff ein. »Funkkontakte zwischen uns verbieten sich von selbst, so daß die ORION nicht zum Ziel fliegen könnte.« »Da sieht man wieder einmal die Beschränktheit menschlichen Denkens«, quengelte Argus. »Wenn wir die Zielkursprogrammierung herausfinden, wissen wir auch, wie sie eingegeben wird. Folglich können wir dann mit einem beliebigen, entsprechend großen Hump-Schiff starten.« »Das stimmt«, sagte Harlan Gustavsson. »Diesmal sehe ich davon ab, dir die Antennen zu verbiegen, du Giftmülltonne«, sagte Cliff zu Argus. »Es dürfte zwar ein Risiko sein, sich einem HumpSchiff anzuvertrauen, aber wir dürfen nicht vor ihm zurückschrecken, wenn wir Leandra helfen wollen. Ich bin einverstanden.« Nachdem auch die anderen Crewmitglieder der ORION X zugestimmt hatten, sagte Omar Shadem: »Kanter weiß nichts von unserer Freundschaft. Er wird Mateus und mir glauben, wenn wir ihm versichern, ihr wäret vollzählig an Bord gegangen. Mario, Atan, Harlan, ich wünsche euch Glück und Erfolg!« »Und mir nicht?« quengelte Argus. »Dabei bin ich der entscheidende Faktor.«
Omar zögerte, dann klopfte er auf den Kuppelkopf des Datenroboters und sagte: »Entschuldige, Datenklau. Selbstverständlich wünsche ich auch dir Glück und Erfolg.« Nachdem Omar Shadem mit Mateus Quipapa und der vier ORION-Raumfahrern, die an Bord gehen sollten, gegangen war, erklärte Argus: »Omar ist in Ordnung. Er hat wenigstens Manieren, im Gegensatz zu dir, Kybernetiker de Monti. Aber wenigstens solltest du Herrn Gustavsson und mir helfen, die Zielkursdaten zu rekonstruieren.« »Ich hoffe, wir finden sie«, erwiderte Mario ernst. »Sonst bist du nämlich das Geld nicht wert, das man für deinen neuen Körper ausgegeben hat.«
5. »Der Speicher enthält keine Zielkursdaten«, sagte Argus, nachdem er mit Hilfe von Harlan und Mario herausgefunden hatte, wie der Speicher angezapft wurde. »Vielleicht ist Kanter doch unschuldig«, meinte Harlan Gustavsson. »Ist er nicht«, erwiderte der kleine Datenroboter. »Die Prozessoren und Operatoren strahlen nämlich noch Restenergie aus, was beweist, daß der Zielkursprogrammierer vor wenigen Wochen benutzt wurde.« »Also doch!« sagte Harlan. »Ist die Restenergiestrahlung stark genug, um daraus die Programmberechnungen zu rekonstruieren, die mit dem Gerät durchgeführt wurden, Argus?« »Ich weiß nicht recht«, meinte Argus. »Eigentlich seid ihr Menschen mir doch überlegen, denn ich bin ja nur ein Roboter.« »Du bist der beste Roboter, den ich je kennengelernt habe«, erklärte Mario de Monti. »Das sagst ausgerechnet du!« erwiderte Argus. »Du wirst mir doch meine kleinen Neckereien nicht nachtragen wollen!« sagte Mario. »So etwas ist doch unter Freunden üblich.«
»Herr Gustavsson, spricht dieser Mensch die Wahrheit?« fragte der Datenroboter. »Die reine Wahrheit, Argus«, versicherte Harlan. »Ich denke, ich kann es schaffen«, meinte Argus. »Aber dazu müssen alle Energiequellen in meiner Nähe desaktiviert werden, auch die Überlebensaggregate eurer Raumanzüge.« »Hoffentlich nicht zu lange, sonst ersticken und erfrieren wir«, sagte Mario. »Ihr könnt nicht beides gleichzeitig haben«, erwiderte Argus. »Das Ersticken kommt früher als das Erfrieren.« »Wie nett von dir, uns das zu sagen«, erklärte Atan Shubashi und schaltete seine Überlebensaggregate ab. Mario und Harlan taten es ihm gleich. »Ich beeile mich«, versprach Argus und schloß sich mit seinem Spezialstecker an das Computerpult an. Als Mario de Monti nach gut fünf Minuten das Bewußtsein verlor, hatte der Datenroboter es geschafft. »Ihr könnt die Aggregate wieder aktivieren!« erklärte er. Dann erst sah er Mario auf dem Boden liegen. Er eilte zu ihm und aktivierte für ihn die Überlebensaggregate. Alles andere übernahm die computergesteuerte Automatik der Raumanzüge. Sie sorgte für schnellere Bindung des Kohlendioxids, pumpte für kurze Zeit reinen Sauerstoff in die Anzüge und beschleunigte die Luftumwälzung.
Nach zwei Minuten hatten sich Mario und seine Gefährten – die ebenfalls nur knapp dem Tode entronnen waren – soweit erholt, daß sie ihre Umgebung wieder bewußt wahrnahmen. »Wo ist dein Roboter?« fragte Atan mit schwacher Stimme, nachdem er seinen Oberkörper aufgerichtet und sich umgesehen hatte. »Wahrscheinlich sucht er etwas«, erwiderte Harlan. In dem Moment kehrte Argus wieder in den Hangar zurück. »Erhebt euch und folgt mir! Ich habe einen Sechser gefunden und mit den Zielkursdaten programmiert«, sagte er. Mühsam kamen Mario, Harlan und Atan auf die Beine. »Mit welchen Zielkursdaten?« fragte Mario. »Ich kann überhaupt noch nicht wieder denken.« »Das konntest du nie«, behauptete der Datenroboter. »Die Frau Admiralin wurde zu einem Koordinatenpunkt geschickt, der im keilförmigen Nebel NGC 2261 liegt.« »Gehört habe ich schon davon«, sagte Atan. »Aber soviel ich weiß, liegt Hubble's Nebel, wie man ihn auch nennt, außerhalb der erforschten Raumkugel.« »Weit außerhalb sogar«, erklärte Argus. »NGC 2261 ist 6584 Lichtjahre von der Erde entfernt und 3235 Lichtjahre von STARGATE.« »Was bedeutet STARGATE nun wieder?« fragte Mario.
Argus deutete auf den Boden. »Das ist STARGATE, das Tor zu den Sternen! Oder ist das so schwer zu begreifen?« »Reden wir über Wichtiges«, warf Atan ein. »3235 Lichtjahre sind eine lange Strecke. Mit der ORION benötigen wir fast acht Tage bis dorthin. Wie lange braucht der Sechser, den du programmiert hast?« »Woher soll ich das wissen!« entgegnete Argus. »Ich bin doch kein Hellseher! Vielleicht braucht er nur einen Tag, vielleicht aber auch zehn Tage.« »Wenn er länger als eine Woche braucht, kommen wir nur als Leichen am Ziel an«, sagte Harlan Gustavsson. »Die Notwasservorräte in unseren Raumanzügen reichen nämlich bei größter Streckung höchstens sechs oder sieben Tage. Von der Notverpflegung wollen wir gar nicht reden, denn der Mensch kann zirka vierzehn Tage hungern.« »Haben Sie die Wassertabletten mit in die Rechnung einbezogen, Partner?« fragte Argus. »Selbstverständlich«, erwiderte Harlan. »Ohne sie reichte das Wasser nur drei Tage.« »Dann muß ich davon abraten, den Sechser zu benutzen«, sagte Argus. »Das Risiko wäre zu groß. Ich könnte allerdings allein fliegen ...« »Nein!« sagte Mario nach kurzem Überlegen. »Wer weiß, was dich am Ziel erwartet und ob du damit allein fertig würdest. Ich begleite dich. Und wir starten
sofort, denn wenn der Flug zu lange dauert, schwebt Leandra wahrscheinlich in akuter Lebensgefahr. Selbst wenn sie einen Planeten findet und darauf landet, ist noch lange nicht gesagt, daß sie dort trinkbares Wasser oder eßbare Nahrungsmittel findet.« »Wenn nicht, dann kämen wir nicht wieder zurück«, erklärte Argus. »Ich fliege auch mit«, erklärte Atan. »Und ich auch«, sagte Harlan. »Wir dürfen nichts unterlassen, was vielleicht notwendig ist, um die Admiralin retten zu können.« »Menschen!« sagte Argus verächtlich. »Kommt schon, ihr Dummköpfe! Wenn ihr mitfliegen wollt, dann starten wir sofort.« Nach kaum einer Minute führte Argus sie in den Hangar, in dem der Sechser lag. Er sah von der Form her dem Einer, den sie gesehen hatten, sehr ähnlich. Man stellte sich die Hälfte eines längs halbierten Hühnereies vor, aber von elf Metern Länge, 3,7 Metern Höhe und einer größten Breite von 3,7 Metern! Die flache Seite war der Boden, das spitze Ende der Bug. Die Hülle bestand aus einer undefinierbaren Legierung und war dunkelgrau mit großen helleren Flecken. Es gab keine Erhebungen oder Einbuchtungen. Ein schmales Schott stand offen. Argus rollte darauf zu und hob die »Füße« nacheinander an, um in
die Öffnung zu kommen. Die drei Raumfahrer folgten ihm. Es war ziemlich eng in dem Raumboot. Hellgrünes Licht fiel aus schmalen Leuchtfeldern an der Decke und beleuchtete eine sehr fremdartige technische Ausrüstung. Im vorderen Drittel des Schiffes standen paarweise hintereinander sechs schmale, hochlehnige Sitzgelegenheiten. Argus hängte sich zwischen einen der vorderen Sitze und ein Instrumentenpaneel, aus dem Rollen mit drehbaren Scheibensegmenten ragten. Dazwischen gab es kreisförmige Öffnungen, hinter denen sich handtellergroße Spiralen aus einer undefinierbaren Faser befanden. An der Oberfläche des Paneels, genau vor Argus, ragte so etwas wie ein Kinderkreisel heraus, einer der kleinen Plastikkreisel, die mit Hilfe einer Peitsche in Drehung versetzt wurden. Aber es handelte sich bestimmt nicht um einen Kinderkreisel, denn das Gebilde bestand aus einer transparenten Substanz – und in ihm leuchtete eine schwebende, kirschgroße gelbe Kugel. Über dem Paneel gab es endlich etwas, das an Menschentechnik erinnerte: ein Mosaik daumennagelgroßer Bildschirme, etwa hundert Stück, die zusammen ein Abbild des Hangarsektors zeichneten, der sich vor dem Bug des Hump-Schiffes befand. »Es erscheint logisch, daß das der Auslöser des
Hyperspace-Programms ist«, erklärte Argus und deutete mit einer Greifhand auf den »Kreisel«, der mit der Spitze nach oben aus dem Paneel ragte. »Bitte, setzt euch auf die Sessel, bevor ich den Auslöser berühre, denn ich weiß nicht, ob die AndruckNeutralisatoren total wirken oder ob Beschleunigungskräfte durchkommen.« »Woher willst du überhaupt wissen, ob das Schiff über Andruck-Neutralisatoren verfügt?« fragte Harlan Gustavsson. »Weil es, gäbe es sie nicht, sinnlos wäre, Schiffe zu bauen, die innerhalb von neun Minuten und elf Sekunden so dicht an die Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden, daß sie zum Überlichtflug übergehen können, Herr Gustavsson«, erklärte der Datenroboter mit schnarrender Stimme. »Setzt euch schon!« sagte Mario und nahm in dem freien Sessel neben Argus Platz. »Verflixt, der kneift aber am Gesäß!« Er erhob sich wieder und starrte die drei schmalen Wülste an, die etwa zehn Zentimeter aus der sonst ebenen Sitzfläche ragten. Er nahm seinen Gürtel ab und legte ihn so über die Sitzfläche zusammen, daß er vor den Wülsten einigermaßen schütze, dann setzte er sich abermals. Atan und Harlan machten es genauso. »Start!« sagte Argus und drückte auf den Auslöser. Mario preßte die Lippen zusammen und wartete
darauf, was kommen würde – und auch, daß das Schott sich wieder schloß. Aber es geschah überhaupt nichts. »Wärme«, sagte der Datenroboter. »Körperwärme. Versuche du es, Kybernetiker de Monti!« Mario begriff. Anscheinend gab es am Auslöser einen Sensor, der nur bei direkter Einwirkung von Körperwärme eine Reaktion des Auslösers zuließ. Aber welche Körpertemperatur war für die Humps normal gewesen? Mario zögerte dennoch nicht. Er beugte sich hinüber und preßte den Daumen auf die Spitze des Auslösers. Sekundenlang geschah wiederum nichts, dann gab die Spitze nach. Marios Daumen sank abrupt auf die kirschgroße, gelbe Kugel hinab. Im ersten Schreck darüber schrie der Kybernetiker leise auf und zog die Hand zurück. Doch die Wirkung war bereits eingetreten. Die gelbe Kugel leuchtete plötzlich in einem tiefen Blau. Überall im Schiff summte es, dann schloß sich das Schott – und im nächsten Augenblick sahen die Raumfahrer auf dem Bildschirmmosaik, daß das Schiff sich um einen halben Meter hob und dann schneller und schneller vorwärts bewegte, auf das Ende des Hangars und die kreisförmige Öffnung zu, hinter der ein heller Stern leuchtete.
Sekunden später war das Schiff im Weltraum. Über den Sitzen leuchtete ein zweites Bildschirmmosaik auf. Anfangs wirkte das, was die Schirme zeigten, verwirrend, bis die Raumfahrer erkannten, daß jeder Bildschirm jeweils das Ortungsergebnis eines bestimmten Raumsektors im stilisierten Bildern zeigte: Sterne als mehr oder weniger helle Punkte, STARGATE als schnell schrumpfenden, pockennarbigen Ball und zwei heftig pulsierende Diskusse – mit Draufsicht auf die schmale Kante –, von denen der eine sich näherte, während der andere auf der Stelle kurvte. »Die ORION und die OPHIUCHUS!« rief Atan. »Das Pulsieren ist wahrscheinlich eine Markierung für fremde Schiffe, also keine Hump-Schiffe!« »Und eines scheint uns anzufliegen«, meinte Harlan. »Die OPHIUCHUS!« stieß Mario de Monti hervor. »Kanter hat unseren Schwindel durchschaut und wahrscheinlich den Angriff befohlen.« »Niemand von der OPHIUCHUS-Crew wird auf die Feuerknöpfe drücken«, erklärte Atan. »Sie wissen von uns, wie man Vorgesetzte durch Verrücktspielen von Ortungs- und Waffenleitsysteme täuschen kann.« »Tatsächlich!« rief Harlan, als sie sahen, wie das Schiff, in dem sie die OPHIUCHUS II vermuteten, nach Steuerbord wegglitt und ziellos taumelte. Das
andere Schiff dagegen schien seinen Kurs dem Hump-Schiff anpassen zu wollen und beschleunigte ebenfalls. Dann setzte die Ortung aus. Der Sechser war zu schnell für eine sinnvolle Tätigkeit von Ortungssystemen geworden. Und eine halbe Minute später schien sich alles rasend zu drehen, bevor das Schiff in das graue Wallen des Hyperraums vorstieß und wieder ganz ruhig lag. Sie waren unterwegs – zu einem genau bestimmbaren Ziel und in eine unbestimmbare Zukunft ... * Fünfeinhalb Tage später ... Mario erwachte aus einer Mischung von Alptraum und Ohnmacht, stierte in das Grau auf den Bildschirmen, erinnerte sich daran, wo er war und wollte etwas sagen. Aber der bleischwere, trockene Klumpen, der seine Zunge war, bewegte sich nicht. Nur die trockenen, aufgesprungenen Lippen schmerzten. Etwas piepste kläglich, dann sagte eine helle Stimme: »Ich kann nichts für euch tun, Herr de Monti. Wahrscheinlich werdet ihr sterben. Wir sind fünfeinhalb Tage unterwegs, ununterbrochen im Hyper-
raum, haben weder Wasser noch Wassertabletten noch Nahrung.« Mario versuchte, Details des Instrumentenpaneels zu erkennen, aber vor seinen Augen flimmerten lediglich grelleuchtende Lichtpunkte. Wir haben wenigstens versucht, Leandra zu erreichen und ihr zu helfen! dachte er. Ich bin froh darüber, denn hätten wir es nicht getan, würden wir vielleicht nie erfahren, daß wir es nicht schaffen würden und könnten uns nicht mehr in die Augen sehen! Er fühlte, wie eine neue Ohnmacht ihn in ihre Dunkelheit ziehen wollte und hoffte, daß er mitten in ihr sterben würde. Argus' kreischende Stimme riß ihn noch einmal zurück. »Der Auslöser!« schrie der Datenroboter mit überschnappender Stimme. »Er glüht rot – und jetzt ist die Kugel wieder gelb! Und die mittlere Spirale leuchtet weiß!« Auf die Ortung achten! wollte Mario schreien, aber er brachte keinen Ton heraus. Doch er konnte nicht untätig herumsitzen – oder herumliegen (was von beiden zutraf, wußte er nicht) –, wenn der Flug sich offensichtlich einer entscheidenden Phase näherte. Das war für ein Mitglied der ORION-Crew einfach undenkbar. Er konzentrierte sich darauf, alle ihm noch verblie-
benen Energien zu mobilisieren, obwohl er eben noch gewußt hatte, daß seine letzten Reserven verbraucht waren. Und es geschah etwas, das an ein Wunder grenzte. Mario beugte sich vor. Er sah es an seiner Umgebung, denn er konnte wieder sehen, wenn auch nur schemenhaft. Er sah, daß die mittlere Faserspirale glühte, dann die linke und dann die rechte – und dann leuchtete in einem Feld des oberen Bildschirmmosaiks eine grelle blaue Scheibe auf (Symbol für eine ortungstechnisch erfaßte nahe Sonne). Auf dem vorderen Bildschirmmosaik waren durch glimmende Nebelschwaden zahllose leuchtende Punkte zu sehen (die Symbole für ortungstechnisch erfaßte, weit entfernte Sonnen). Ohne lange nachzudenken, sondern mit dem durch unzählige Erfahrungen geprägten Instinkt oder spezifischem Verhaltensmuster des Raumfahrers, streckte Mario die Hand nach den Rollen mit den drehbaren Scheibensegmenten aus, die aus dem Paneel ragten. »Herr de Monti! Herr Shubashi!« zeterte Argus. »Das geht aber nicht!« Von rechts kam eine Hand in Marios Blickfeld, die er zuerst für seine eigene hielt, bis er seine beiden Hände und die andere Hand sah. Sie tat genau dasselbe wie seine beiden Hände. Sie bewegte wahllos – oder scheinbar wahllos – zwei Scheibensegmente.
Über das obere Bildschirmmosaik jagte ein greller, grüner Lichtstrahl. Gleichzeitig pulsierte ein blauweißer Punkt am Rande des blauen Sonnensysmbols – und ein gellendes Pfeifen erfüllte das Schiff. An dem Pulsieren erkannte Mario, daß der Lichtstrahl und das Pfeifen nicht auf Schaltfehler zurückzuführen waren, sondern auf gegnerischen Beschuß und auf die Auslösung einer Alarmanlage, denn das Pulsieren bedeutete ja die Markierung eines Fremden. Gleichzeitig wußte Mario de Monti, daß das Schiff wahrscheinlich nur deshalb nicht von einem Energiestrahl getroffen worden war, weil zwei Raumfahrer gleichzeitig und ohne Übereinstimmung die Unterlichtflugkontrollen bedient hatten. Die Folge mußten entsprechend disharmonische Flugmanöver gewesen sein, so disharmonisch, daß kein Zielerfassungs-, Verfolgungs- und Feuerauslösungscomputer in der Lage gewesen wäre, nach dem Prinzip »Schießen und Vergessen« den Punkt im Raum zu bestimmen, an dem sich das Ziel zu einem bestimmten Zeitpunkt befinden mußte. »Weiter so, Herr de Monti und Herr Shubashi!« rief Argus. »Wir wurden offenbar von einem Satelliten der großen blauen Sonne beschossen, der innerhalb der Chromosphäre kreist. Nur unsinnige Flugmanöver können uns vor einem Treffer bewahren.« Mario drehte wahllos Scheibensegmente und spürte
mit Entsetzen, wie seine letzten Kraftreserven schwanden. Dabei mußten sie dort herausgekommen sein, wo Kanter Leandra hingeschickt hatte. Sie waren ihr wahrscheinlich sehr nahe, ohne ihr helfen zu können. Wenn sie nicht vom gleichen Gegner abgeschossen wurde, der uns beschossen hat! »Da ist ein Planet«, sagte der Datenroboter. »Der einzige dieser Sonne, etwa marsgroß und nur 1,4 AE von unserer Position entfernt. Überlaßt die Steuerung mir, Mario und Atan! Wenn die Admiralin hier angekommen ist und den Beschuß überlebt hat, wird sie diesen Planeten angesteuert haben.« Mario zog seine Hände von den Kontrollen zurück und lehnte sich nach hinten. Da er zur Untätigkeit verdammt war, verfiel er in einen Dämmerzustand. Und wieder riß Argus' Stimme ihn ins Leben zurück. »Da ist ein Objekt im Orbit um den Planeten!« kreischte der Datenroboter. »Ein kleines Raumschiff! Ein Einer! Ich steuere ihn an. Komisch, daß wir nicht wieder beschossen worden sind. Anscheinend waren diejenigen, die den Sonnensatelliten programmierten, fest davon überzeugt, daß ein Schuß für jedes Schiff ausreichen würde.« Was interessiert das mich! dachte Mario. Sage uns lieber, ob du eine Möglichkeit siehst, Funkkontakt zu Leandra zu bekommen, falls sie noch lebt!
»Oh, Leandra!« jammerte Argus. »Der Einer ist schwer beschädigt. Ein Streifschuß hat das Heck aufgerissen. Demnach hat die Admiralin so ähnlich irr reagiert wie ihr, aber nicht irr genug, weil sie allein war. Ich docke an. Vielleicht konnte sie mit ihrer Landekapsel ausbooten und auf dem Planeten landen.« Landekapsel! dachte Mario de Monti. Was, zum Teufel, meinst du? Es schien fast, als hätte Argus seine Gedanken erraten, denn er sagte nörgelnd: »Ihr hattet natürlich nichts Besseres zu tun, als euch während des Fluges auszuruhen und Gesichtspflege zu betreiben, sonst wärt ihr ein wenig im Schiff herumspaziert und wüßtest, daß sich weiter hinten ein Hangar für eine kreisförmige Landekapsel befindet. Die Einer haben ebenfalls Landekapseln, nur eben entsprechend kleiner.« Es gab einen harten Stoß, dann merkte Mario, wie jemand seinen Druckhelm nach vorn klappte und verschloß. »Eine Schleuse gibt es nur für die Landekapsel«, erklärte Argus. »Deshalb muß ich eure Nasenschoner zuklappen, denn ich steige durch das normale Schott aus und spaziere zum Einer hinüber. Seid schön brav einstweilen.« Mario hätte gelacht, wenn er die Kraft dazu besessen hätte.
Er sank wieder in den Dämmerzustand zurück und tauchte erst wieder aus dem Schattenreich auf, als Argus über die Helmfunkanlage sagte: »Aufwachen, ihr Faulpelze! Ich habe die Landekapsel geortet, mit der die Admiralin ausgebootet hat. Ihr habt einen halben Tag verschlafen, und ich habe drei Umkreisungen des Planeten hinter mir. Aber es könnte Komplikationen geben, denn die Landekapsel liegt neben dem Wrack eines Raumschiffs, das weder ein Hump-Schiff noch ein irdisches Schiff ist, beziehungsweise war. Ich werde euch dennoch sofort mit nach unten nehmen, denn ihr braucht innerhalb der nächsten Stunde Flüssigkeitszufuhr, oder ihr könnt den Schirm zumachen. Meckert nicht, wenn ihr ein paar Stöße aushalten müßt! Die Landekapsel ist sehr eng!« Als ob uns das jetzt noch interessieren könnte! dachte Mario. Er spürte es kaum, als Argus ihn unter den Armen ergriff und fortschleifte. Er hatte nicht einmal mehr die Kraft, die Augen zu öffnen. Nach einer Weile empfand er große Enge, dann gab es einen hallenden Klang und einen Ruck. Etwas später hörte Mario de Monti ein Rascheln und Rauschen, das allmählich zu einem schrillen Pfeifen wurde. Dann wurde es heiß in der Landekapsel – und kurz darauf verlor er die Besinnung.
Er kam erst wieder zu sich, als etwas Kaltes, Nasses über seinen Kopf und sein Gesicht lief, dann über seine ausgetrockneten Lippen. Begierig öffnete er den Mund und spürte belebende Flüssigkeit. Als er schluckte, hatte er das Gefühl, als würde sein Kehlkopf explodieren. Dennoch schluckte er weiter, denn er wußte, daß er sonst nicht überleben würde. »Das genügt fürs erste«, hörte er Argus' Stimme überdeutlich. »Ihr müßt noch mindestens eine Stunde ruhen und danach noch einmal trinken, bevor ihr aufstehen könnt!« »Leandra?« lallte Mario. »Die Admiralin lebt«, verkündete Argus so stolz, als hätte er allein sie gerettet. »Sie fiebert ein wenig. Wahrscheinlich hat sie sich eine Erkältung geholt. Ich habe ihr Antibiotika aus ihrer Medobox injiziert. Sonst ist sie in Ordnung.« Jemand lallte etwas Unverständliches. Mario konnte nicht erkennen, ob es Atan oder Harlan gewesen war. Doch das erschien ihm unwichtig angesichts der Tatsache, daß Leandra noch lebte und es auf dem Planeten Wasser gab, so daß sie auf dem Rückflug einen ausreichenden Vorrat mitnehmen konnte. Selig lächelnd schlief er ein ...
6. Als Mario de Monti abermals erwachte, fühlte er sich fast wie neugeboren. Dennoch beunruhigte ihn etwas, ohne daß er hätte sagen können, was. Aber dann fiel es ihm wieder ein. Argus hat gesagt, er hätte Leandra Antibiotika aus ihrer Medobox injiziert! Aber wenn sie nur ein wenig gefiebert hätte, wäre sie längst selber dazu in der Lage gewesen. Folglich muß sie viel schwerer krank sein, als Argus uns erzählt hat. »Argus!« Diesmal wußte Mario, daß er tatsächlich »Argus« gesagt hatte, wenn ihm auch dabei ein schmerzhaftes Stechen durch die Kehle gefahren war. »Ich bin ja schon da, Herr de Monti!« rief der Datenroboter. Erst jetzt öffnete Mario die Augen. Es war hell; dennoch konnte er nichts sehen außer etwas silbrig Blinkendem, das sich dicht vor seinen Augen befand. Dann bewegte sich das silbrig Blinkende und drückte ihm einen Ellenbogen ins Gesicht. »Halt!« sagte Mario. »Das ist mein Gesicht!« »Wer steht denn da auf meinem linken Fuß?« krächzte jemand. »Wartet!« rief Argus' Stimme. Sie kam von oben. Mario hob mühsam den Kopf, mühsam deshalb,
weil sich auch hinter ihm jemand bewegte und er dadurch fast völlig eingeklemmt wurde. Er sah über sich den Rand eines Fahrzeugs, das die Landekapsel sein mußte – und über dem Rand Kopf und Greifarme des Datenroboters. »Es ist ein wenig eng«, meinte Argus. »Kommt erst einmal heraus! Aber vorsichtig! Die Kapsel steht auf Landebeinen, so daß ihr oberer Rand dreieinhalb Meter über dem Boden ist. Ihr müßt über eine schmale, dünne Leiter absteigen. Ich helfe euch.« Argus griff nach Mario, packte ihn unter den Armen und zog ihn bis zum Rand der Landekapsel. Von da an half Mario mit – und nach zwei Minuten betrat er den Boden eines fremden Planeten. »Neben dir steht Wasser, Herr de Monti!« rief Argus ihm nach, dann setzte er seine Bergungsaktion fort. Mario sah sich um, schaute über von den Landedrüsen verbranntes Gras und weiter entferntes hellrotes Gras auf eine schwach gewellte Landschaft, die nach einigen hundert Metern in eine Sandwüste überging. Dann entdeckte er drei Wasserflaschen, die dicht neben ihm auf dem Boden standen. Es waren flache Plastikflaschen, wie sie zur Ausrüstung jedes irdischen Raumfahrers gehörten – und eine davon erkannte er an einigen Schrammen als seine eigene. Er
ging hinüber, schätzte dabei die Schwerkraft des Planeten auf ungefähr 0,4 g, hob seine Flasche auf, öffnete sie und trank. Es war herrlich frisch schmeckendes Wasser. Mario leerte die Flasche zur Hälfte, dann drehte er sich langsam um. Und da sah er es! Eine Landekapsel, viel kleiner als die des Sechser, ungefähr zweihundert Meter weit weg – und dicht dahinter einen Haufen verbogenen, zerfetzten und teilweise geschmolzenen Metalls, der einmal ein Raumschiff gewesen sein mußte. Aber das, wonach er Ausschau hielt, sah er nicht. Er wandte sich an Argus, der soeben seinem Partner die Leiter hinab half. »Wo ist Leandra?« Argus deutete zu dem Wrack. »Sie liegt in einem Raum dieses Wracks, der einigermaßen erhalten ist. Geh' ruhig hinüber! Sie müßte eigentlich bald zu sich kommen.« »Wieso zu sich kommen?« schrie Mario de Monti. »Ich dachte, sie fieberte lediglich ein bißchen.« »Das habe ich nur gesagt, um euch von Anstrengungen abzuhalten, die vor einer guten Stunde noch tödlich für euch gewesen wären«, erwiderte der Roboter. »Aber inzwischen hat sich ihr Zustand wirklich gebessert.«
Mario erwiderte nichts darauf. Voller Sorge um Leandra eilte er zu dem Wrack hinüber. Aber schon nach wenigen Metern mußte er sein Tempo drosseln, als sich die Umgebung zu drehen begann und es in seinen Ohren dröhnte. Als er das Wrack erreicht hatte, fühlte er sich, als wäre er zehn Kilometer ohne Pause gelaufen – mit einem zentnerschweren Aggregattornister auf dem Rücken. Er wäre gestürzt, wenn er sich nicht mit beiden Händen an einem glatten Wrackteil abgestützt hätte. Seine Erschöpfung allein beunruhigte ihn nicht sehr, denn sie war die logische Folge eines langen Wasserund Nahrungsentzugs. Was ihm Sorge bereitete, war das Dröhnen in seinem Schädel. Ich scheine zu fiebern! Enthält die Luft dieses Planeten Erreger, die Menschen krank machen? Wir konnten ja keine Analysen durchführen. Nach einer Weile fühlte er sich wieder stark genug, weiter zu gehen. Er suchte nach einer Öffnung im Wrack, dann kroch er durch schmale, teilweise halb eingedrückte Gänge und gelangte schließlich in einen Vorratsraum, dessen linke Wand geborsten war und in dem ein unbeschreibliches Chaos aus fremdartigen Behältern herrschte. Und auf der einzigen freien Stelle lag Leandra de Ruyter!
Ihre Augen waren geöffnet. Sie schien Mario zu erkennen, war aber offenbar zu schwach, um sich aufzurichten. Ihr Gesicht war eingefallen und blaß. Mario wankte zu ihr und sank neben ihr vor Schwäche auf die Knie. »Leandra!« flüsterte er. »Ich freue mich, daß es dir besser geht.« Leandras Augen leuchteten auf; ihre Lippen bewegten sich. »Mario!« flüsterte sie und lächelte. »Die Teufelskerle der ORION holen mich wohl sogar aus der Hölle!« Sie schloß die Augen und hustete, dann flüsterte sie: »Trink kein Wasser dieses Planeten!« Das Wasser ist es also, das Menschen krank macht! dachte Mario. Und Argus hat uns davon zu trinken gegeben! »Wir haben ja unsere Antibiotika«, erwiderte er mit schwacher Stimme. Erschrocken erkannte er, daß er stark fieberte und bald handlungsunfähig sein würde. Er nestelte an seiner Medobox herum, bekam sie aber nicht auf. »Warte!« sagte jemand neben ihm. Atan. »Wir haben uns mit den gleichen Erregern infiziert wie Leandra. Ich habe schon Harlan Antibiotika injiziert, dann werde ich es bei dir auch noch schaffen.« Wenig später spürte Mario das typische Kribbeln eines Injektionspflasters im Genick.
»Der gute, zähe Atan!« flüsterte er, dann schwanden ihm die Sinne. * »Herr de Monti kommt auch wieder zu sich«, war das erste, was er hörte, als er aus tiefer Ohnmacht auftauchte. »Gegen die von Robotern gemixten Antibiotika ist eben kein Erreger gewachsen.« Mario öffnete die Augen und sah über sich das Gesicht Leandras. »Was ich lange weg?« fragte er mit schwacher Stimme. »Gut zwei Tage«, antwortete die Admiralin. »Aber jetzt bist du über den Berg. Atan und Harlan übrigens auch. Den Symptomen nach zu urteilen, muß die Erkrankung durch winzige Einzeller hervorgerufen worden sein, die sich im Wasser des Planeten befinden. Ich habe ihn übrigens Ugly Water getauft.« »Kanter hat dich auf diese Reise geschickt, nicht wahr?« fragte Mario. »Ja«, sagte Leandra de Ruyter. »Er hat mich mit seiner HM 4 betäubt, als wir die Kontrollen eines Einers anschauten. Ich kam erst wieder zu mir, als sich das Schiff im Hyperraum befand. Seltsamerweise hatte Kanter mir seine volle Wasserflasche und seine Packung Wassertabletten dagelassen. Er rechnete
wohl nicht damit, daß ich nach dem Rücksturz in den Normalraum an den scheibenförmigen Kontrollen spielen und damit der Bahn eines Strahlschusses soweit entgehen würde, daß er den Einer nur streifte.« »Du meinst, er wußte über den Sonnensatelliten Bescheid?« ertönte die Stimme Atans. Mario richtete sich auf und sah Atan in seiner Nähe sitzen. Neben ihm lag Harlan. Auch er war wieder bei Bewußtsein. »Es kann nicht anders gewesen sein«, meinte die Admiralin. »Wenn der Scout noch lebte, der sich ihm anvertraute, würden wir wahrscheinlich die Antwort erfahren, aber so ...« »Wir werden Kanter ausquetschen wie eine Zitrone!« erklärte Mario wütend. »Das Wrack ist offenbar ebenfalls ein Opfer des Sonnensatelliten«, warf Harlan Gustavsson ein. »Was war es für ein Schiff?« »Das ist kaum noch zu erkennen, Partner«, antwortete Argus. »Wahrscheinlich hatte es Diskusform, aber ohne Auswüchse wie die terrestrischen Raumschiffe. Es muß auch kleiner als die ORION gewesen sein.« »Und die Besatzung?« fragte Atan. »Sie hatte weniger Glück als wir – beziehungsweise hatte sie keinen hilfreichen Roboter wie mich«, sagte Argus. »Sie sind beim Absturz getötet worden. Das
muß vor ungefähr einem halben Jahr geschehen sein.« »Sind sie noch zu erkennen?« fragte Mario. »Als was, Herr de Monti?« fragte der Datenroboter zurück. »Menschen waren es jedenfalls nicht, auch keine Humps.« »Keine Humps!« sagte Mario nachdenklich. »Dann könnte es sein, daß Ugly Water früher den Humps gehörte und daß sie den Sonnensatelliten als Wächter installierten, der jedes Schiff, das den Kennungskode nicht abstrahlte, vernichten sollte. Möglicherweise wurden unsere Schiffe nur jeweils einmal beschossen, weil die Energiespeicher des Geschützes halbverrottet sind und von einem nur noch lahm arbeitenden Kraftwerk erst nach Stunden wieder aufgeladen werden können.« »Daran dachte ich auch schon«, sagte Leandra. »Dennoch geht Kanters Plan auf, wenn es uns nicht gelingt, euren Sechser auf Rückkehr zu programmieren.« »Hatte ich noch nicht gesagt, daß die RTVs nur so programmiert werden können, daß sie zum Ausgangspunkt zurückkehren?« fragte Argus. »Hast du nicht«, sagte Atan. »Und was meinst du mit RTVs?« »Ein RTV ist ein Round-trip-vehicle«, erklärte der Datenroboter. »So habe ich die Hump-Schiffe ge-
nannt, als ich herausfand, daß sie stets zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehren, wenn man den Auslöser zum zweitenmal aktiviert.« »Ich möchte mir einen halbwegs erhaltenen Fremden ansehen«, sagte Mario. »Sie sehen nicht gut aus, obwohl die trockene Luft von Ugly Water nur eine trockene Zersetzung und keine Verwesung zuläßt«, meinte der Datenroboter. Mario de Monti stemmte sich mühsam hoch. »Ich möchte jetzt gleich einen Fremden sehen, Argus«, erklärte er. »Wir müssen nämlich so bald wie möglich zum Rückflug starten, damit wir in STARGATE noch ein Schiff vorfinden. Sonst verhungern wir womöglich noch nach all dem, was wir geschafft haben.« »Also STARGATE wurde der Asteroid getauft«, meinte die Admiralin. »Ein hoffnungsvoller Name, denn STARGATE wird der Menschheit sicher zahllose neue Erkenntnisse bescheren. Ich denke, daß wir darauf rechnen dürfen, daß wir bei STARGATE ständig terrestrische Schiffe antreffen. Dennoch bin auch ich dafür, daß wir bald den Rückflug antreten. Kanter muß daran gehindert werden, größeres Unheil anzurichten, denn er hat mich bestimmt ausschalten wollen, weil er mehr Macht haben wollte – und als Admiral von T.R.A.V. hat er seine Endstation noch nicht erreicht.« »Du meinst, er will die Macht über die Mensch-
heit?« fragte Harlan Gustavsson erschrocken und richtete sich auf. »Aber warum?« »Er ist maßlos ehrgeizig«, sagte Mario. »Argus, führe uns zu einem der Fremden!« * Einige Minuten später standen sie in dem, was einmal ein Maschinenraum gewesen war. Vor dem Gewirr aus zerfetzten Blechen und zertrümmerten Aggregaten lag der nackte Leichnam eines fremdartigen Wesens. Er war regelrecht verdorrt. »Ich habe ihn entkleidet, weil ich damit rechnete, daß ihr seinen Körperbau sehen wollt«, sagte Argus. »Aber nicht berühren!« warnte er. »Er zerfällt sonst zu Staub.« Mario musterte das seltsame Geschöpf, dessen Rumpf etwa so lang wie der Rumpf eines Menschen war, aber keinerlei Ähnlichkeit mit dem eines Menschen aufwies. Er glich dem braunen, gefalteten Hut einer Spitzmorchel. Allerdings konnten die Runzeln und Schrunden auf den Verdorrungsprozeß zurückzuführen sein. Argus deutete auf eine der zahlreichen warzenartigen Erhebungen an der Körperoberfläche. »Das sind offenbar Sinneszellen. Außerdem hat das Wesen neun kleine, gleichmäßig über den Rumpf verteilte Augen mit Schlitzpupillen.«
Einen Kopf besaß das Wesen nicht. An jeder Körperseite sowie vorn und hinten ragte je ein dünnes, blasses Armtentakelpaar heraus. Die Beine waren kurz und dünn. Mindestens hundert ragten aus der Rumpfunterseite. Mario bedauerte, daß er keinen Bildaufzeichner dabei hatte. Er zog einen Folienblock heraus und fertigte eine Skizze des fremden Wesens an. Danach stutzte er, blickte seine Gefährten an und sagte: »Ich erinnere mich nicht daran, seit der Landung auf Ugly Water etwas gegessen zu haben. Warum kann ich mich dann überhaupt auf den Beinen halten?« Leandra de Ruyter lächelte. »Ich hatte mich schon gefragt, ob ihr von selbst darauf kommen würdet. Ihr erinnert euch an den Raum, in dem ich während meiner Erkrankung lag?« »Den mit den vielen Behältern«, sagte Atan. »Ja, und in den Behältern befinden sich Lebensmittel. Es handelt sich offenbar um synthetische Konzentratnahrung, wahrscheinlich besonders hochwertige Proteine. Nach meiner Landung habe ich zuerst aus dem nahen Bach Wasser getrunken, dann untersuchte ich das Wrack. Ich öffnete einen der Vorratsbehälter, entdeckte die geleeartige Masse und stellte fest, daß sie appetitlich roch, etwa so wie Fleischbrühe. Da ich
halbverhungert war und kaum darauf hoffen durfte, auf einem fremden Planeten genießbare Früchte zu finden, hatte ich nichts mehr zu verlieren. Ich aß also davon, und zwar eine ganze Menge. Das hat mich wahrscheinlich davor bewahrt, während der Fieberdelirien an Entkräftung zu sterben. Als ihr ebenfalls fiebernd und bewußtlos dalagt, habe ich euch damit gefüttert – und es hält anscheinend sehr lange an.« »Wir wollen Ugly Water jetzt verlassen«, meinte Mario. »Die große blaue Sonne in Hubble's Nebel kann nur R-Monoceros sein, so daß andere Schiffe von uns oder Menschen in RTVs jederzeit wieder hierherkommen und ihn erforschen können. Der Sonnensatellit dürfte sich zerstören lassen, damit er niemandem mehr schaden kann.« »Wenigstens werden wir auf dem Rückflug nach STARGATE nicht hungern müssen«, meinte Harlan Gustavsson. »Bleibt die Frage der Wasserversorgung.« »Wir müssen schon mit dem Wasser vorliebnehmen, daß Ugly Water uns bietet«, erklärte Atan. »In den Trümmern des Wracks finden wir sicher genug Teile, aus denen wir eine primitive Destillationsanlage basteln können. Das saubere Wasser füllen wir dann in leere Vorratsbehälter der Fremden.« »Fangen wir an!« sagte Leandra.
Argus ließ die Datenfenster seines Kopfteiles abwechselnd aufleuchten, piepste durchdringend und sagte dann: »Wenn ihr mich nicht hättet, dürftet ihr stundenlang in den Trümmern herumwühlen. Außerdem würdet ihr immer noch stinken.« »Hast du etwa die Anlage schon gebaut?« fragte Leandra. »Das nicht, Frau Admiralin, aber ich habe schon die Teile zusammengesucht und gerichtet«, antwortete der Datenroboter. »Und du hast uns gewaschen und die Raumanzüge gereinigt«, stellte Harlan fest. »Du bist wirklich tüchtig, Argus.« »Ich bin nicht nur ein nützlicher Idiot, Partner?« fragte Argus. »Aber, nein!« rief Harlan. »Wer behauptet denn so etwas?« »Der Kybernetiker Mario de Monti«, schrillte Argus. Mario lächelte verlegen. »Jeder Mensch kann sich irren, Argus. Ich nehme meine Behauptung zurück und behaupte das Gegenteil.« »Danke, Herr de Monti!« zirpte Argus.
7. Mario de Monti warf noch einen Blick auf die fremdartige Welt, dann zwängte er sich in die Landekapsel des Sechsers, in dem seine Gefährten bereits warteten. Argus verriegelte den hermetisch schließenden Dekkel der Landekapsel, dann zündete er die Triebwerke. Mario atmete tief aus und dann vorsichtig und schubweise wieder ein. Neben ihm ächzte Harlan Gustavsson. Als die Kapsel schließlich in ihrem Hangar andockte, fühlten sich die Raumfahrer mehr tot als lebendig. Dennoch verließen sie die Kapsel mit unwahrscheinlicher Schnelligkeit. Der Innenraum des Sechsers kam ihnen jetzt fast riesig vor. Sie ließen die Vorräte in der Landekapsel und nahmen auf den Hump-Sesseln Platz. Dann startete Mario. Die Menschen standen einige Minuten Angst durch, aber der Sonnensatellit verhielt sich passiv. Dann kam abermals das Gefühl, als würde sich alles rasend schnell drehen, bevor das Schiff in den Hyperspace ging. Genau fünfeinhalb Tage später glühte die Kugel im Auslöser rot auf, dann wurde sie wieder gelb. Kurz darauf leuchtete die mittlere Spirale des Kontrollpa-
neels weiß auf. Wenig später leuchtete zuerst die linke und dann die rechte Spirale auf. »Wie bei unserer Ankunft in Hubble's Nebel«, sagte Atan. »Gleich müssen die Bildschirme hell werden.« Und so war es auch. Das Bildschirmmosaik über den Sitzen wurde hell und zeigte das vom Konus-Nebel leicht verschleierte Licht ferner Sonnen, STARGATE als anschwellenden, pockennarbigen Ball – und zwei heftig pulsierende Diskusse, die am Asteroiden angelegt hatten. »Vielleicht trifft Kanter der Schlag, wenn er merkt, daß wir zurückgekehrt sind«, sagte Mario grimmig. »Die beiden Schiffssymbole sind sicher die OPHIUCHUS und die ORION. Unsere Freunde werden schon verzweifelt nach einer Möglichkeit gesucht haben, uns zu folgen.« »Schalten wir die Helmgeräte auf unsere Fernfunkfrequenz um!« sagte Leandra. »Ich bin gespannt, ob Kanter auf eure Geschichte hereinfällt.« »Wenn du nicht versehentlich dazwischenredest, wahrscheinlich«, sagte Harlan Gustavsson. »Es sollte ihm logisch erscheinen, daß dein Einer vom Sonnensatelliten vernichtet wurde. Wir müssen diesen Burschen nur davon überzeugen, daß wir dem Beschuß entkamen.« Sie schalteten ihre Helmgeräte auf Fernfunkfrequenz und hörten im nächsten Augenblick Helga Le-
grelle mit sich überschlagender Stimme rufen: »ORION an Hump-Schiff! He, Cliff, das Schiff ist eben wieder aufgetaucht! Hier ORION Helga spricht! Mario, Atan, Harlan, seid ihr in dem Schiff? Hört ihr mich? Geht es euch gut?« »Hallo, Helga!« sagte Mario mit absichtlich schwach klingender Stimme, denn er war sicher, daß Kanter sich bereits auf die Frequenz geschaltet hatte, auf der sie sprachen. »Wir leben noch. Aber es geht uns nicht besonders gut. Das Trinkwasser, das wir von einem Planeten mitnahmen, ist durch Protozoen verseucht. Wir fieberten drei Tage lang, bevor die Antibiotika mit der Infektion fertigwurden.« »Habt ihr die Admiralin gefunden?« fragte Omar Shadem. Mario schwieg eine Weile, dann sagte er leise: »Leider nicht, Freunde. Aber da wir am Ziel überraschend beschossen wurden, nehmen wir an, daß Leandra das gleiche widerfuhr und daß sie weniger Glück hatte als wir.« »Hier spricht Vizeadmiral Kanter!« schaltete Kanter sich ein. »Angesichts der außergewöhnlichen Umstände will ich die Frage nach den Motiven eurer unverantwortlichen Handlungsweise zurückstellen. Es gibt wichtigere Dinge zu klären. Mario, kannst du, während ihr den Asteroiden ansteuert und wir euch mit einem Traktorstrahl hereinholen, mir ein paar
Fragen beantworten? Aber nur, wenn du nicht zu schwach dazu bist!« Mario lächelte grimmig über das scheinheilige Verhalten Kanters, dann sagte er: »Ich werde es versuchen, Thomas. Übrigens nehme ich an, daß der Sechser automatisch in seinen Hangar zurückkehrt. Erwartet uns also bitte dort und laßt die Finger von den Schaltern der Traktorstrahler! Es könnte ein Unglück geben, wenn die Rückkehrprogrammierung gestört würde.« »Verstanden«, sagten Cliff McLane und Omar Shadem, bevor Kanter etwas erwidern konnte. »Ich teile deine Befürchtung zwar nicht, Mario«, erklärte Kanter. »Aber ich möchte selbstverständlich nicht riskieren, was euch schaden könnte. Wir erwarten euch also im Hangar eures Sechsers.« Ausgetrickst! dachte Mario. Bestimmt wollte der raffinierte Kerl uns im letzten Moment doch noch ins Jenseits schicken. Wahrscheinlich weiß er, im Gegensatz zu uns, daß die Beeinflussung eines automatisch zurückkehrenden Hump-Schiffes eine Katastrophe auslöst. Vielleicht gibt es in jedem RTV eine Selbstzerstörungsanlage. »In Ordnung, Thomas!« erwiderte er. »Wohin seid ihr geflogen?« fragte Kanter. »Ich meine, da wir inzwischen etwas mehr über die Hump-Schiffe wissen, wohin hat die Automatik euch gebracht?«
»Oh, wir sind nicht zu einem beliebigen Ziel geflogen, Thomas«, antwortete Mario, denn er hielt es für besser, soweit wie möglich bei der Wahrheit zu bleiben. »Es gelang uns, die feststehende Programmierung zu ermitteln, die bei dem Einer ausgelöst wurde, als die Admiralin – wahrscheinlich ohne es zu wollen und nur der Enge des Schiffes wegen – auf den Auslöser drückte.« »Solche feststehenden Programmierungen haben unsere Wissenschaftler inzwischen auch bei einigen Hump-Schiffen festgestellt«, meinte Kanter. »Aber wie konntet ihr sie ermitteln, da der Einer doch verschwunden war?« »Hinter jedem Hangar befindet sich ein getarnter Raum mit einem Programmierungscomputer, der gleichzeitig als Eingabegerät für die Computer der Schiffe dient«, erklärte Mario. »Natürlich war der Speicher des Geräts, mit dem Leandras Einer programmiert wurde, inzwischen aus Energiemangel oder aus anderen Gründen leer, aber mit Argus' Hilfe konnten wir winzige Spuren von Restenergie in den Prozessoren und Operatoren finden, die uns eine Rekonstruktion der Programmierung ermöglichten.« »Eine phantastische Leistung!« lobte Kanter. »Und neue Erkenntnisse! Ich denke, daß das die Strafe für euer Vergehen mildern wird.« »Danke, Vizeadmiral!« erwiderte Mario, wobei er
sich zusammenreißen mußte, um nicht ironisch zu werden. »Wir ermittelten also die Zielkursprogrammierung von Leandras Einer, gaben sie einem Sechser ein und starteten. Rate mal, wo wir ankamen, Thomas!« »Irgendwo im Konus-Nebel, nehme ich an«, sagte Kanter. »In einem Nebel schon, aber in Hubble's Nebel«, erklärte Mario. »Aber der muß doch mindestens dreitausend Lichtjahre von hier entfernt sein!« erwiderte Kanter. »Und ihr hattet keine Vorräte bei euch!« »Es war schon hart«, sagte Mario de Monti. »Als wir nach fünfeinhalb Tagen in den Normalraum zurückfielen, befanden wir uns in einem Dämmerzustand. Aber das rettete uns wahrscheinlich, denn kaum waren wir aus dem Hyperspace ausgetreten, wurde der Sechser von einem Satelliten der Sonne R-Monoceros beschossen. Doch da hatten Atan und ich gleichzeitig, und ohne voneinander zu wissen, an den Unterlichtflugkontrollen geschaltet. Dadurch wurde der Kurs des Sechsers unberechenbar – und einen zweiten Schuß gab der Satellit seltsamerweise nicht ab.« »Das war wirklich Glück«, sagte Kanter – und Mario wußte, daß er genau das Gegenteil dachte. »Und ihr seid absolut sicher, daß die Admiralin von diesem Satelliten abgeschossen wurde?«
»Sicher sind wir nicht«, erklärte Mario. »Vielleicht ist sie doch entkommen. Wir konnten sie nur trotz intensiver Suche im Raumsektor um die Sonne RMonoceros nicht finden. Auch auf dem einzigen Planeten dieser Sonne fanden wir keine Spur. Dagegen entdeckten wir das Wrack eines fremden Raumschiffs, das anscheinend vor längerer Zeit vom Sonnensatelliten beschossen und schwer beschädigt worden war. Die Besatzung muß eine Notlandung auf Ugly Water versucht haben, wie wir den Planeten nannten. Dabei zerschellte das Schiff.« »Ihr habt wirklich sehr großes Glück gehabt«, stellte Kanter fest. »Was mache ich nur mit euch? Ich habe mir überlegt, daß es vielleicht unverantwortlich wäre, einen Kontakt zwischen euch und anderen Menschen zuzulassen, solange nicht einwandfrei feststeht, daß ihr die Ugly-Water-Seuche nicht auf andere Menschen übertragen könnt. Eine Quarantäne erscheint mir angemessen.« Wir wissen ihm zuviel! dachte Mario. Er sucht verzweifelt nach einer Möglichkeit, uns doch noch umzubringen. Bis er eine solche Möglichkeit gefunden hat, will er uns isolieren. »Eine Quarantäne ist nicht erforderlich«, mischte sich Argus ein. »Die Erkrankung wurde durch Protozoen verursacht, die nicht direkt von Mensch zu Mensch übertragbar sind. Außerdem werden die Pro-
tozoen durch Antibiotika aus der ganz normalen Raumfahrerausrüstung innerhalb von zwei Tagen abgetötet. Sie sind demnach nicht gefährlicher als Schnupfenviren.« »Eine Beurteilung ihrer Gefährlichkeit sollte wohl doch einem Fachmann überlassen bleiben!« wandte Kanter ein. »Ich bin Fachmann«, sagte Harlan Gustavsson. »Bevor ich meine Begabung für das Gebiet der Kybernetik entdeckte, war ich ein erfolgreicher Kosmobiologe. Du brauchst nur bei der Personalabteilung der Basis nachzufragen, Thomas.« Kanter schluckte die Lüge, weil sie mit solcher Frechheit vorgetragen wurde. Und er konnte es sich nicht leisten, das Urteil eines Fachmanns zu ignorieren, denn das hätte die Frage nach seinem Motiv aufgeworfen. »Eine Rückfrage erübrigt sich, Harlan«, erklärte Kanter. »Ich glaube dir auch so. Es besteht also keine Seuchengefahr?« »Nicht die geringste«, versicherte Harlan. »Dann verzichte ich selbstverständlich darauf, eine Quarantäne zu verhängen«, sagte Kanter. »Ich erwarte euch persönlich im Hangar eures Sechsers.« »Bis bald!« sagte Mario. Er und seine Gefährten schalteten ihre Helmfunkgeräte wieder auf Nahkontaktfrequenz.
»Puh!« machte Leandra. »Ich hätte nie gedacht, daß mein Stellvertreter moralisch derartig verkommen ist!« * Als der Sechser durch die Start- und Landeröhre des Hangars glitt, spürten die Raumfahrer, daß er von Energiefeldern abgebremst wurde, deren Projektoren sich in der Röhrenwandung befinden mußten. »Auch darüber wußte Kanter Bescheid«, sagte Atan und deutete auf das vordere Bildschirmmosaik. Da der Sechser mit dem Bug voran durch die Röhre glitt, zeigten die Bildschirme den gesamten Hangar – und Kanter, der mit Joanna Tahuakoa und Jerome Trude von der OPHIUCHUS im Hangar wartete. »Tatsächlich!« flüsterte Mario. »Wäre er nicht über die Bremsfeldprojektoren informiert, mußte er annehmen, daß die Bugtriebwerke beim Abbremsen jeden töten würden, der sich im Hangar befindet. Ich kann mir nicht helfen, aber Kanter muß über STARGATE, die RTVs und ihre Programmierungsmöglichkeiten Bescheid gewußt haben, bevor er die Expedition in den Konus-Nebel schickte. Und zwar muß er das alles aus eigener Anschauung gekannt haben. Der Mensch wird mir langsam unheimlich.« »Still jetzt!« flüsterte Atan, denn da auch Kanter seinen Druckhelm geschlossen hatte (denn die Hangars
der Hump-Schiffe waren nicht gegen das Vakuum des Raumes abgesichert), konnte er ab fünfzehn Metern Entfernung verstehen, was bei geringster Sendeleistung in andere Helmsender gesprochen wurde. Langsam schwebte der Sechser in den Hangar und hielt vor der hinteren Wand an, dann wendete er um hundertachtzig Grad und sank langsam zu Boden. Der obere Bildschirm und die drei Spiralen erloschen. Das Schott glitt auf. Mario nickte Leandra zu, dann ging er hinter Atan, der die Spitze bildete, zur Öffnung. Hinter ihm kamen Harlan und Argus. Die Admiralin wartete noch. Als Mario ausstieg, blickte er in das verhalten lächelnde Gesicht der OPHIUCHUS-Astrogatorin Joanna Tahuakoa. Zweifellos freute sie sich über die Rückkehr der Freunde, aber ihre Freude wurde von den Gedanken an Leandras wahrscheinliches Schicksal getrübt. Auch der Funker Jerome Trude lächelte nur matt. Thomas C. Kanter dagegen lächelte überhaupt nicht. Mit ausdruckslosem Gesicht sah er den aussteigenden Raumfahrern entgegen. Als Mario, Atan, Harlan und Argus ausgestiegen waren, sagte Kanter mit ausdrucksloser Stimme: »Ich gratuliere euch, daß ihr ein gefährliches Abenteuer überstanden habt!« Mario grinste ihn kalt an.
»Nicht so voreilig, Kanter!« erwiderte er hart. »Wir sind ja noch nicht vollzählig angetreten!« Kanter schien in diesem Augenblick zu begreifen, daß er hereingelegt worden war, denn sein Kopf ruckte herum, und seine Augen starrten zur Öffnung im vorderen Drittel des Hump-Schiffes. Als Leandra im nächsten Augenblick in der Öffnung erschien, fuhr Marios Hand zum Griffstück seiner HM 4, die er vorsorglich auf Betäuben geschaltet hatte, denn er erwartete eine gewalttätige Reaktion des ertappten Verbrechers. Deshalb war er völlig überrascht, als Kanter statt dessen herumwirbelte, Joanna und Jerome zur Seite stieß und in der Schleusenkammer des Hangars verschwand. Mario und Atan reagierten zu spät. Als sie losstürmten, schloß sich das Außenschott. Da Kanter bereits die Öffnungsautomatik des Innenschotts betätigt hatte, ließ sich das Außenschott natürlich nicht mehr öffnen. Das würde erst möglich sein, wenn Kanter verschwunden war und das Innenschott sich wieder geschlossen hatte. Leandra de Ruyter schaltete ihr Helmfunkgerät auf Fernfunkfrequenz und sagte: »Hier spricht Admiralin de Ruyter! An die Raumfahrer der OPHIUCHUS und der ORION! Kanter wurde als Verbrecher entlarvt, der mich beseitigen wollte.
Leider konnte er vor seiner Festnahme flüchten. Er befindet sich im Innern des Asteroiden. Falls er versucht, an Bord der ORION oder der OPHIUCHUS zu gehen, muß er sofort verhaftet werden. Es besteht auch die Möglichkeit, daß er mit einem Hump-Schiff zu entkommen versucht. Deshalb sollen die OPHIUCHUS und die ORION ihre LANCETS ausschleusen und den Asteroiden umkreisen lassen. Jedes startende HumpSchiff ist sofort durch massiven Beschuß zu vernichten! Leandra, Ende!« Eine Weile herrschte atemlose Stille, dann brach ein unbeschreiblicher Jubel aus. Gleich darauf war Cliffs energische Stimme zu hören. »Ruhe! Ruhe, Freunde! Leandra, wir freuen uns! Jubeln wollen wir später; zuerst müssen Leandras Anweisungen befolgt werden! Verlaß dich auf uns, Leandra! Wir bringen den Kerl schon zur Strecke!« Inzwischen hatte sich das Außenschott geöffnet. Eigentlich war der ganze Vorgang sinnlos gewesen, denn in allen bisher bekannten Sektionen von STARGATE herrschte ein Vakuum. Aber zur Zeit der Humps mußte das anders gewesen sein. Mario und Atan stürmten in die Schleusenkammer und warteten ungeduldig auf Harlan, Argus und die Admiralin. Dann betätigte Mario die Öffnungsautomatik des Innenschotts. Das Außenschott schloß sich,
und gleich darauf glitten die Schotthälften des Innenschotts auseinander. Mario und Atan stürzten in den angrenzenden Tunnel und ließen die Lichtkegel ihrer Helmscheinwerfer kreisen. »Es ist so gut wie aussichtslos, ihn in STARGATE zu finden«, meinte Harlan Gustavsson. »Wir brauchten mindestens fünfhundert Mann, um das Tunnellabyrinth zu durchkämmen, ohne daß Kanter uns durch die Maschen des Netzes schlüpft.« »Wir werden nicht untätig herumstehen«, erklärte Mario. »Atan, Harlan und Argus, ihr geht nach rechts; Leandra, wenn du nichts dagegen hast, gehen wir nach links.« Wortlos wandte Leandra sich nach links. Mario überholte sie und lief an immer neuen Hangarschleusen vorbei. Er wußte, wie gering die Aussichten waren, Kanter rein zufällig zu entdecken. Er konnte sich hinter einem der Hangartore befinden, an denen er, Mario, bereits vorbeigelaufen war. Aber im Grunde genommen besaß Kanter keine Chance mehr, von STARGATE zu entkommen. Er konnte sich nur eine bestimmte Zeit im Asteroiden aufhalten, nämlich, bis sein Wasser und seine Notverpflegung verbraucht waren – und wenn er mit einem Hump-Schiff startete, würde er abgeschossen werden.
Und das wußte er alles, denn er hatte zweifellos Leandras Durchsage mitgehört. Und plötzlich wußte Mario, daß Kanter trotz allem noch eine Chance besaß und intelligent genug war, sie zu erkennen, und kaltblütig genug, um sie zu nutzen. Er blieb stehen, und beinahe wäre Leandra gegen ihn geprallt. »Was ist in dich gefahren, Mario?« fragte die Admiralin. »Kanter kann entkommen, wenn er Geiseln nimmt und alle anderen Beteiligten damit erpreßt!« stieß Mario hervor. »Vielleicht hat er schon zugeschlagen!« »Bei uns nicht«, sagte Leandra. »Er ist teuflisch schlau«, erklärte Mario de Monti. »Deshalb hat er garantiert von einem Versteck aus – und er scheint sich ja in STARGATE auszukennen – beobachtet, welche Gruppe sich in welche Richtung wandte. Leandra, er wird sich an die schwächere Gruppe heranmachen – und die ist die andere, da sich bei ihr nur ein kampferprobter Raumfahrer befindet!« »Ich verstehe«, erwiderte die Admiralin. »Also, los!« *
Sie waren ungefähr tausend Meter gelaufen, als sie weit vor sich das charakteristische matte Leuchten einer auf Betäuben geschalteten HM 4 sahen. »Scheinwerfer aus!« flüsterte Mario. Sie schalteten ihre Helmscheinwerfer aus und liefen im Dunkeln weiter. Nach kurzer Zeit sahen sie vor sich einen schwachen Lichtschein. Wenig später vernahmen sie das wehleidige Piepsen von Argus in ihrem Helmempfängern. »Immer diese Menschen mit ihren Machtkämpfen!« nörgelte der kleine Datenroboter. »Ruhe!« befahl die Stimme Kanters. »Jetzt ist er dran!« flüsterte Mario und wollte losspurten. Aber Leandra packte seinen Arm und sagte leise: »So bekommst du einen Kanter niemals, Mario! Wir machen es anders! Passen wir erst einmal auf, in welchen Hangar sie gehen! Sie können nur mit einem Hump-Schiff fliehen, weil Kanter sonst mit Überrumpelungsversuchen rechnen müßte.« »In Ordnung«, flüsterte Mario. So leise wie möglich schlichen sie weiter, wobei sie nicht auf Trittgeräusche achten mußten, sondern darauf, nicht hörbar zu atmen. Die Funkgeräte wollten sie nicht abschalten, weil sie eine Durchsage Kanters erwarteten. Aber vorher sahen sie an der aufflammenden
Kammerbeleuchtung, wie das Innenschott einer Schleuse sich öffnete. Als es sich schloß, schalteten sie ihre Helmscheinwerfer wieder ein und liefen schneller. »Hier muß es sein!« sagte Leandra, als sie atemlos vor einem Innenschott stehenblieb. »Entweder das oder das nächste«, flüsterte Mario. »Achtung!« schallte die Stimme Kanters überlaut in ihren Ohren. »Hier spricht Vizeadmiral Kanter!« »Warum er wohl jetzt noch Wert auf den Titel legt?« flüsterte Mario. »Atan Shubashi, Harlan Gustavsson und Argus befinden sich in meiner Gewalt«, fuhr Kanter fort. »Ich gehe mit ihnen an Bord eines Hump-Schiffes und starte. Wenn ihr das Schiff abschießt, verliert die Menschheit einen genialen Programmierungsspezialisten und die in Argus gespeicherten Daten – und natürlich auch Atan Shubashi, aber der ist leichter zu ersetzen. Laßt ihr das Schiff dagegen unbehindert passieren, werde ich dafür sorgen, daß meine Geiseln in absehbarer Zeit auf einem Planeten freigelassen werden, von dem aus eine Rückkehr zur Erde möglich ist. Haben wir uns verstanden, Raumfahrer der OPHIUCHUS und der ORION und Admiralin de Ruyter?« »Pst!« hauchte Mario, der fürchtete, Leandra könnte laut sprechen und vielleicht angepeilt werden. »Ich habe einen Plan. Komm mit!«
Während er sie hinter sich her zog, den Weg zurück, den sie gekommen waren, aber nur bis zum nächsten Schleusenschott eines Hangars, hörten sie die Stimme Cliffs aus ihren Helmfunkgeräten. »Hallo, Kanter, hier spricht Cliff McLane! Wir können Ihre Bedingungen so nicht akzeptieren.« »Ich habe keine Bedingungen gestellt, sondern lasse euch die Wahl«, erklärte Kanter. »Sie duzen uns gefälligst nicht mehr, Kanter!« brauste Cliff auf. »Sie sind ein gemeiner, hinterhältiger Verbrecher. Hatten Sie gedacht, Sie könnten die Admiralin in den Tod schicken und damit auf die Dauer durchkommen?« Kanter antwortete nicht. »Er ist tatsächlich eiskalt«, flüsterte Mario und betätigte die Schottenautomatik. Das Innenschott glitt auf, er und Leandra gingen in die Kammer, das Innenschott schloß sich, und das Außenschott öffnete sich. Im Hangarraum stand ein Dreier. »Wenn du ihn verfolgen willst – das klappt nicht«, flüsterte die Admiralin. Mario schüttelte den Kopf und zog Leandra weiter hinter sich her, durch den Hangar, in die Start- und Landeröhre hinein und bis an die Oberfläche des Asteroiden. Hoch über ihnen huschte ein schwacher Lichtfleck
vorüber, wahrscheinlich eine der LANCETS, die STARGATE umkreisten. »Wir schießen auf jedes startende Hump-Schiff, Kanter«, hörten sie wieder Cliffs Stimme. »Ich bezweifle, daß Sie in den Hyperraum entkommen, wenn Ihr Schiff lahmgeschossen ist.« Kanter antwortete auch darauf nicht. Mario de Monti zog Leandra weiter hinter sich her. In der Nähe der nächsten Start- und Landeöffnung blieb er stehen. »Ich steige hinein!« flüsterte er. »Damit rechnet Kanter nicht. Sollte das Schiff dennoch starten, schießt du mit der HM 4 in die Heckregion. Das beschädigt wahrscheinlich wichtige Triebwerksteile, ohne das Schiff zu zerstören.« »Du gehst nicht, Mario!« erwiderte Leandra. »Das wäre Selbstmord! Wenn das Schiff startet, wirst du in der engen Röhre zerquetscht und außerdem gebraten!« »Deshalb muß ich mich beeilen«, erklärte Mario und lief los. An der nächsten Öffnung angekommen, beugte er sich vor und spähte in die Röhre. Da Kanter erst das Eingabegerät programmieren mußte, bevor er mit seinen Geiseln in ein Hump-Schiff stieg, sollten eigentlich die Helmlampen als helle Flecken zu sehen sein.
Aber in diesem Hangar sah Mario nicht einen Schimmer von Licht. Ohne lange zu überlegen, lief er zur nächsten Öffnung und spähte auch dort hinein. Und da sah er es! Vier Lichtpunkte! Sie bewegten sich, also befand sich Kanter mit seinen Geiseln auf dem Weg zum Schiff. Die Zeit wurde knapp. Mario aktivierte sein Flugaggregat und schoß förmlich in die Start- und Landeröhre hinein. Es genügte nicht, wenn er mit dem Leben davonkam; er mußte im Hangar sein, bevor Kanter ins Schiff gegangen war. »Kanter, wir bieten Ihnen mildernde Umstände, wenn Sie sich ergeben und über Ihre Beweggründe freimütig reden!« rief Cliff. Kanter antwortete nicht. Eine Lichtquelle weniger! Dennoch gab es noch eine Chance, da Kanter als letzter ins Schiff steigen mußte. Zwei Lichtquellen weniger! »Kanter, antworten Sie!« rief Cliff. »Wir müssen sonst annehmen, daß Sie Ihre Geiseln umgebracht haben!« Aber auch diesmal reagierte Kanter nicht. Drei Lichtquellen weniger! »Kanter!« schrie Mario in den Helmfunk und schaltete gleichzeitig seinen Helmscheinwerfer wieder ein.
Er sah aus zirka zehn Metern Entfernung, wie Kanter, der soeben einsteigen wollte, herumfuhr und dann erstarrte. Mario schoß mit der auf Betäubung geschalteten HM 4, wich nach rechts aus, weil seine Geschwindigkeit zu groß war, bremste ab und flog zurück. Drei Meter vor dem getroffenen und haltlos schwankenden Kanter hielt Mario an. Seine Augen weiteren sich in maßlosem Entsetzen, als er hinter Kanters Helmscheibe statt eines menschlichen Gesichts eine dunkle Masse sah, die vor seinen Augen zu Staub zu zerfallen schien. Im nächsten Moment wurde sein Gegenüber in ein grünlich flimmerndes Desintegrationsfeld gehüllt und wurde zu einem Nebel von Molekülen, die ihrer Bindungsenergie beraubt waren. Als Harlan Gustavsson in der Öffnung des Sechsers, mit dem Kanter hatte flüchten wollen, erschien und erschrocken aufschrie, blickte Mario fassungslos hoch. »Meine Waffe war nur auf Betäuben geschaltet!« stammelte er.
8. Nach Kanters Tod hatte Leandra de Ruyter von der OPHIUCHUS aus über die Hyperfunk-Relaiskette einen umfassenden Bericht über die Machenschaften ihres ehemaligen Stellvertreters, über ihre Rettung durch Mitglieder der ORION-Crew und über das Ende Kanters an Han Tsu-Gol direkt erstattet. Sie hatte auch Mario de Montis Beobachtung, kurz vor Kanters Selbstmord mit Hilfe einer Desintegrationsbombe, erwähnt, aber gewisse Zweifel an der Richtigkeit geäußert, da Mario selbst nicht mehr sicher war, ob er nicht das Opfer eines Lichtreflexes oder einer durch psychische Überlastung hervorgerufenen Halluzination geworden war. Der Verteidigungsminister hatte sich den Bericht mit unbewegtem Gesicht angehört. Anschließend hatte er die Admiralin aufgefordert, mit der OPHIUCHUS II und der ORION X zur Erde zurückzufliegen – und er hatte hinzugefügt, zwei Mitglieder der ORION-Crew müßten besonderes Interesse daran haben, schnell nach Hause zu kommen, denn Norma Russell und Basil Astiriakos seien zurückgekehrt. Die Expedition war kein voller Erfolg gewesen, denn ihr Zweck wurde nicht erreicht. Auch sie hatten
den Hylathier nicht angetroffen, der allein ihnen verraten konnte, wie sie die alte Kampfstation des Varunja erreichten. Dafür waren sie wenigstens nach STERNENSTADT gekommen, hatten mit Prinzessin Llalyma gesprochen und erfahren, daß die ORION X mit achtzehn Begleitschiffen wenige Wochen zuvor von der Heimstatt des Goldenen Eies zurückgekehrt war und sich auf dem Heimweg zur Erde befunden hatte. Das war Grund genug für Norma und Basil gewesen, ebenfalls umzukehren und nach Hause zu fliegen. Logischerweise waren sie am Ziel in den gleichen Schwerkraftschacht des Schwarzen Loches gestürzt wie die ORION und ihre Begleitschiffe. Sie hatten demnach auch innerhalb des Schwerkraftschachts die gleiche Verlangsamung des eigenen Zeitablaufs erfahren wie die ORION-Crew und die Besatzungen der Begleitschiffe. Andernfalls wären sie knapp fünf Jahre vor der ORION zur Erde zurückgekehrt. Bei Mario de Monti und Helga Legrelle war die Freude über die glückliche Heimkehr von Basil und Norma natürlich groß gewesen – und ihre Freunde hatten sich mit ihnen gefreut. Beide Schiffe hatten STARGATE verlassen – während die Expeditionsschiffe sowie ein Geschwader von Raumaufklärern dort geblieben waren – und hat-
ten mit voll belasteten Hyperantrieben den Rückflug zur Erde angetreten. Dennoch brauchten sie knapp acht Tage dafür. Mehr schafften die Hyperantriebe terrestrischer Raumschiffe noch nicht. Aber der Einer Leandras und der Sechser waren um annähernd dreißig Prozent schneller geflogen, so daß zu hoffen war, daß die Untersuchung der Hyperantriebe der Hump-Schiffe die terrestrische Technik weiterbringen würde. Doch auch acht Tage gehen vorüber. Endlich schwebten die Schiffe in den Landehangar des Basis 104 – und wenige Minuten später lagen sich Helga und Basil sowie Mario und Norma in den Armen. Aber noch war ihnen nicht viel private Zeit vergönnt. Zuerst mußten Leandra und die beiden Crews sowie natürlich auch Harlan und Argus Georg J. Mattewson, dem Oberbefehlshaber der Raumstreitkräfte, Bericht erstatten – im Beisein von Han Tsu-Gol, dann kamen Befragungen durch Tunaka Katsuro und Marcka Daleonard an die Reihe, anschließend Untersuchungen und Tests durch Psychologen des GSD, danach durch Psychologen der Flotte. Zum Abschluß all dieser Prozeduren – und nachdem auch die medizinischen Untersuchungen abgeschlossen waren – wurden die Akteure, die sich inzwischen fast wie Delinquenten fühlten, zur Regie-
rungshauptstadt Mount Isa transportiert, um sich im unterirdischen KOM-Saal von TECOM die Auswertung ihrer Aussagen und Fakten anzuhören. TECOM erklärte, die Nachforschungen hinsichtlich Kanters Herkunft hätten keinen positiven Hinweis darauf erbracht, daß eine Pseudovergangenheit konstruiert worden wäre. Es gäbe allerdings auch keine Beweise mehr für die Richtigkeit von Kanters Herkunft und Identität, da alle Verwandten unauffindbar oder inzwischen verstorben wären. TECOM hielt es zwar für möglich, daß Mario de Monti durch Lichtreflexe getäuscht worden sei, als er geglaubt hatte, hinter Kanters Helmscheibe eine dunkle, zu Staub zerfallende Maske zu sehen. Eine Halluzination infolge psychischer Überlastung schied jedoch aus, da die Untersuchungen eine unverändert stabile psychische Konstitution ergeben hätten. Aus zahllosen anderen Fakten, wie den Beobachtungen von Kanters Verhalten, seiner offensichtlichen Gefühlskälte, seiner monotonen Sprechweise und dem völligen Fehlen zwischenmenschlicher Bindungen, seinen erheblichen Kenntnissen über STARGATE die RTVs und über den Sonnensatelliten in Hubble's Nebel, schloß TECOM allerdings im Zusammenhang mit Marios »Beobachtung«, daß Thomas C. Kanter kein menschliches Wesen gewesen sei, sondern ein Außerirdischer, der mit einiger Wahrschein-
lichkeit genetisch so gezüchtet worden war, daß ein echter Doppelgänger des tatsächlich existierenden Menschen Thomas C. Kanter entstand. Allerdings mit gewissen inneren Unterschieden, durch die beim Beschuß mit Betäubungsenergie eine Auflösung des Körpers hervorgerufen wurde. Natürlich hatte sich Kanter niemals allein genetisch heranzüchten können. Er hätte auch niemals alle Recherchen und Planungen anstellen können, die zur Verwirklichung seiner Ziele gehörten. Hinter ihm mußten andere Außerirdische stecken, die versucht hatten, ihn durch eine steile Karriere in absehbarer Zeit zum mächtigsten Manne der Erde zu machen. Es war klar, daß sie dann indirekt über die irdische Menschheit beziehungsweise über die Menschheit des Sonnensystems geherrscht hätten. TECOM empfahl, deswegen nicht in Panik zu verfallen, denn obwohl Kanter sehr gerissen vorgegangen sei, hätte er sein Ziel nicht erreicht. Er hatte viel zu übereilt gehandelt und in rund zehn Jahren an die Spitze gelangen wollen, wo dreißig Jahre angemessen gewesen wären. Han Tsu-Gol hätte deshalb schon vor einiger Zeit mit TECOM konferiert und ihm seine Bedenken gegen den allzu ehrgeizigen und allzu perfekten Thomas C. Kanter vorgetragen. Allerdings waren TECOM und Han damals übereinstimmend zu der An-
sicht gelangt, Kanter sei der Erde von den Hirlanern als Langzeit-Agent untergeschoben worden, weil sie befürchteten, sie schmiedeten Pläne zur Besetzung ihres Planeten. Han Tsu-Gol einigte sich darum mit TECOM darauf, daß er die Karriere Kanters forcieren wollte, um ihn zu übereiltem Handeln zu verleiten und dabei zu ertappen. Deshalb wurde er statt Brian Hackler trotz Leandras Intervention Vizeadmiral und Leandras Stellvertreter. Was wirklich hinter Kanter steckte, konnte natürlich auch ein Fuchs wie Han nicht ahnen. Immerhin veranlaßte TECOM den GSD zu einer intensiven Suche nach eventuellen Helfern Kanters auf der Erde. Aber wenn es welche gab, dann hatten sie sich so hervorragend wie Kanter getarnt. * Am Abend nach dieser Auswertung bei TECOM trafen sich die Raumfahrer der ORION, der OPHIUCHUS II sowie Basil, Norma, Harlan und Argus, Leandra de Ruyter, Amadia Oriano und auch Brian Hackler im Starlight-Casino. Han Tsu-Gol war selbstverständlich auch dabei. Sie hatten sich verabredet, um die Rettung der Admiralin und die glückliche Heimkehr von Norma
und Basil zu feiern – und um überhaupt wieder beisammen zu sein und miteinander zu reden, denn das brauchten sie genauso wie Essen und Trinken. Nachdem sie alle an einem großen runden Tisch Platz genommen hatten und mit Getränken versorgt worden waren, stand Han Tsu-Gol auf, erhob sein Glas und sagte feierlich: »Liebe Leandra, ich spreche nicht nur für mich, sondern für alle, die an unserem Tisch sind, wenn ich sage, daß ich erfreut und zutiefst erleichtert darüber bin, daß du gesund zu uns zurückkehren konntest. Darauf trinke ich mit euch!« Er leerte sein Glas Archer's tears, blinzelte mit nassen Augen, machte eine Bemerkung über die Schärfe des Getränks und goß sich nach, dann erklärte er: »Im Namen der Regierung der Erde und des Sonnensystems danke ich den Raumfahrern der ORION X und der OPHIUCHUS II für ihren vorbildlichen Einsatz und ihre couragierte Auflehnung gegen die Befehle eines Vorgesetzten, die als falsch beziehungsweise schädlich erkannt worden waren.« »Verflixt!« entfuhr es Mario de Monti. »Ich muß mir auf Ugly Water einen Hörfehler geholt haben!« »Wie kommst du darauf?« fragte Cliff McLane scheinheilig. »Mir kam es eben so vor, als lobte unser weiser Verteidigungsminister uns wegen befehlswidrigen
Verhaltens«, meinte Mario. »Dabei wollte er uns einmal wegen genau des gleichen Delikts mit Schande aus der Flotte verstoßen.« »Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Mario«, sagte Han Tsu-Gol mit verschmitztem Lächeln. »Aber vielleicht leide ich nur an Altersschwerhörigkeit oder Gedächtnisschwund. Brian, wie lauten doch die Vorschriften über das Verhalten subalterner Dienstgrade, wenn ein hochstehender Vorgesetzter eine Ansprache hält?« »In lockerer Haltung stehen oder sitzen«, antwortete Hackler, wie aus der Pistole geschossen. »Die Augen auf den Sprecher richten und sich völlig ruhig verhalten.« »Auch außerhalb des Dienstes, Brian?« fragte Han. »Selbstverständlich nicht!« entfuhr es Hackler. Als er merkte, daß er in eine Falle gegangen war, fügte er rasch hinzu: »Aber ich fühle mich immer im Dienst.« »Deshalb bist du auch immer so ernst, Hackerlinchen«, stichelte Helga Legrelle. »Kein Wunder, bei seinem Ehrgeiz«, fügte Hasso hinzu. »Hat er es sich doch in den Kopf gesetzt, so schnell wie möglich Admiral zu werden.« »Vizeadmiral«, korrigierte Hackler und errötete, als er sich zum zweiten Mal hereingelegt sah. »Na, ja, vorerst einmal Vizeadmiral, aber dann möglich bald Admiral; Flottenchef, Oberbefehlshaber
aller terrestrischen Raumflotten, Verteidigungsminister, Regierungschef ...«, sagte Mario. »Kurzum, die typische Verhaltensweise und das glatte Karrieredenken wie bei dem Außerirdischen, der sich Kanter nannte. Sogar die Namen ähneln sich. Sowohl bei Kanter als auch bei Hackler gibt es ein a, ein k, ein e, ein r. Ja, es ist fast derselbe Name!« Er wandte sich an Leandra de Ruyter. »Admiralin, du hast vielleicht ein Pech bei der Wahl deiner Stabsoffiziere beziehungsweise Stellvertreter. Gleich zwei Außerirdische!« Hackler sprang zornbebend auf. »Das lasse ich mir nicht gefallen!« brüllte er. »Das geht zu weit! Tsu-Gol, unternehmen Sie etwas gegen die Verleumdung der ORION-Bande, oder ich werde ...« »Was wirst du, Brian?« fragte Han väterlich. Brian Hackler riß seine HM 4 aus dem Beinholster und richtete sie gegen sich selbst. »Auf mich selbst schießen, um zu beweisen, daß ich mich nicht in eine staubige Masse verwandle!« schrie er. »Unterstehe dich, Brian!« sagte Leandra de Ruyter streng. »Und überhaupt: Auf was ist die Waffe geschaltet?« Hackler stand stramm. Dann untersuchte er das Griffstück seiner Waffe, wurde totenblaß und mußte sich setzen.
»Auf ... auf ... auf Zerstörung, Admiralin«, antwortete er tonlos. Leandra preßte die Lippen zusammen, dann sah sie Cliff vorwurfsvoll an. »Beinahe hättet ihr Brian in den Tod getrieben, Cliff. Ich finde, so weit hättet ihr nicht gehen dürfen.« »So weit wäre es nicht gekommen, Leandra«, erwiderte Cliff. »Wir hatten den Spaß nämlich vorher geplant und deshalb Brians HM 4 vorsorglich gegen eine Übungswaffe vertauscht, aus der bekanntlich beim Auslösen ein einfacher Lichtstrahl kommt, der zwar sehr hell ist, aber keine Maus verletzen könnte. Selbstverständlich wissen wir genau, daß Brian kein Außerirdischer ist. Schließlich haben wir in der Galaxis Sommernachtstraum die haarsträubendsten Abenteuer mit ihm bestanden. Da lernt man einen Menschen kennen.« Hackler überprüfte seine Waffe, schüttelte den Kopf und steckte sie wieder ein. »Nur gut, daß du eure Beschuldigungen wieder zurückgenommen hast, Cliff«, sagte er ernst. »Dennoch sehe ich mich gezwungen, dich zum Duell zu fordern.« »Das ist verboten!« warf Leandra ein. Hackler lächelte kalt. »Wenn ich etwas mit jemandem austragen will, dann tue ich das auch!«
Cliff erhob sich langsam. »Ein Duell, also! Gut, mit welchen Waffen?« »Zwei Gläser – und zwei Flaschen!« erklärte Brian Hackler. Demonstrativ stellte er je eine volle Flasche Archer's tears vor sich und vor Cliff. »Nimmst du die Forderung an, Cliff?« »Angenommen!« erwiderte Cliff McLane. »Sekundanten sollen alle sein, die an unserem Tisch sitzen. Einverstanden, Freunde?« »Einverstanden«, erklärte Ha Tsu-Gol kategorisch für alle. »Aber ich bestimmte, wann das Duell beendet ist. Schließlich sollen meine besten Leute nicht so viel trinken, daß sie verblöden.« »Ihre, äh, deine besten Leute?« fragte Hackler strahlend. Han nickte bekräftigend. »Jawohl, denn soeben hast du bewiesen, daß du auf deine Art die gleiche Klasse besitzt wie die Saubande der ORION.« Er blinzelte Leandra verschwörerisch zu, dann rief er: »Duellanten, fangt an!« ENDE