Die Erkenntnis war bitter: Philip Hasard Killigrew hatte viele Feinde und Neider. Besonders niederträchtig war der Plan...
32 downloads
758 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Die Erkenntnis war bitter: Philip Hasard Killigrew hatte viele Feinde und Neider. Besonders niederträchtig war der Plan dieses Sir Thomas Doughty, den Seewolf aufs Kreuz zu legen. Und die beiden spanischen Agenten, die ihn mit tödlichem Haß verfolgten, warteten nur auf einen winzigen Fehler, um sich für die Kape rung der ›Isabella‹ zu rächen. Hasard merkte es auf Schritt und Tritt: In Plymouth war in dieser Nacht der Teufel los. Er hätte mit der ›Isabella‹ auslau fen können, und das wäre seine Rettung gewesen. Aber die Crew leistete sich gerade ein Riesenbesäufnis..
PHILIP HASARD KILLIGREW wurde ›Seewolf‹ genannt, denn er war der Härteste in der Seeräubersippe der Killigrews. Er machte nicht nur die Küste Cornwalls unsicher. Er segelte über alle alle M eere der Welt, als Seemann so perfekt wie als Pirat. Ihm folgten noch viele Generationen der Seewölfe. Sie alle waren Kaperfahrer, Eroberer und Entdecker. P. H. Killigrews große Seeabenteuer begannen 1576 an Bord der ›M arygold‹ - unter dem Kommando von Sir Francis Drake, dem größten Korsaren unter Königin Elisabeth I., der dazu beitrug, daß England zur größten Seemacht der Welt aufstieg.
Davis J. Harbord Feind im Dunkel
Seewölfe Band 17
DIE AUTH ENTIS CHEN ERLEBN ISS E,
KAPERFAHRTEN UND SEES CHLACHTEN
DES PHILIP HASARD KILLIGREW
1.
Die Glocke der Kirche St. Andrews läutete die zweite M or genstunde. Ihr eherner Klang wirkte irgendwie beruhigend und signalisierte dem einsamen M ann, daß zumindest der Glöckner zu dieser Stunde noch wach war. Jedenfalls in diesem Teil von Plymouth. Philip Hasard Killigrew tastete nach der Schnittwunde an sei nem linken Unterarm. Der Kerl im »Queen’s Hotel« hätte ihn um ein Haar mit dem M esser erwischt. Das der M ann jetzt vielleicht mit gebrochenem Genick unter dem Hotelfenster lag, sollte seine geringste Sorge sein - Hasard hatte ihn und seinen Kumpan schwungvoll durchs Fenster befördert. Und die schö ne Lady, die ihn auf dem Fest von Sir Thomas Doughty um garnt und ihm gesagt hatte, sie sei eine Lilie, die m an pflücken müsse, hatte kreischend zugesehen. Lilienhaft hatte die Dame sich nun wirklich nicht gebärdet. Philip Hasard Killigrew fluchte still vor sich hin und beschleunigte seine Schritte. Ir gend etwas war hier faul, verdammt faul. Hatte dieser geschniegelte Doughty seine Hände im Spiel? War die hübsche Lady ein Lockkätzchen gewesen? Hatte er, Hasard, ausgeschaltet werden sollen, damit man ungestört über die Ladung der ›Isabella von Kastilien‹ - seiner Silberprise herfallen konnte? Und wer waren die beiden M änner gewesen, die ihn fast in der Kutsche entführt hätten? Fragen über Fragen, die im Augenblick nicht zu lösen waren. Nur eins stand fest: Hier im Hafen von Plymouth, wohin er die ›Isabella‹ nach abenteuerlicher Fahrt gesegelt hatte, war sie gefährdeter als im Atlantik. Dort auf der freien See erkannte man einen Feind - hier lauerte er im Dunkel, unberechenbar, unerkannt, unheimlich. Kapitän John Thomas hätte die Prise übernehmen sollen. Das war die Order von Kapitän Francis Drake gewesen. Aber Kapi
tän Thomas, der bereits die Prise ›Santa Cruz‹ nach Plymouth gesegelt hatte, weilte bei seiner Familie in Exeter. »M ist«, sagte Philip Hasard Killigrew und bog in die Citadel Road ein. Vom Plymouth Sund drang salzige Luft zu ihm, durch die Straßen wehten Nebelschwaden. Unwillkürlich stoppte Hasard seinen Schritt, als auf einem Dach rechts von ihm der Kampfschrei eines Katers ertönte. Es klang, als greine ein Kind, aber doch war es wilder und erbitte terter. Ein zweiter Kater krakeelte dagegen an, und im Nu tob ten die beiden Tiere dort oben im Dunkel fauchend und krei schend umeinander. Krallen kratzten über Ziegel. Knarzen, Zischen und wieder wildes Fauchen, und dann raste die wilde Jagd über die Dächer. Es war wie ein Spuk. Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, schüttelte den Kopf und setzte sich wieder in Bewegung. Er mußte an die Katze denken, die ihn damals im Oktober in der ›Bloody Mary‹ vor dem Schlaftrunk Nathaniel Plymsons bewahrt hatte. Damals! Jetzt ging es auf den Dezember zu. Die zurückliegenden Wo chen waren wie Jahre, prall voller Ereignisse, voll Kampf und Tod und Stürmen. M it einer Galeone - der »Santa Barbara« hatte ihn Kapitän Drake zurück nach Plymouth geschickt. M it ihr hatte der Seewolf die »Barcelona« gekapert. Und beide Schiffe hatte er geopfert, um die ›Isabella von Kastilien‹, die dreißig Tonnen Silber geladen hatte, zu erobern. Und er hatte es geschafft. Die wilde Reise war zu Ende. Aber die Order Kapitän Drakes war immer noch nicht erfüllt. Und dann waren da noch die spanischen Seekarten der Neuen Welt - ein Schatz, noch kost barer als die dreißig Tonnen Silber. Hasard ging wieder schneller, ein großer, geschmeidiger M ann mit breiten Schultern, schmalen Hüften und einem har ten, verwegenen Gesicht, das älter wirkte, als er tatsächlich war. Einige nannten ihn einen schwarzhaarigen Teufel. Aber
war der Teufel blauäugig? Es waren eisblaue Augen, die aus dem braungebrannten scharfgeschnittenen Gesicht leuchteten blaufunkelnde Feuer, die jäh intensiv grell werden konnten, wenn der Seewolf kämpfte. Und kämpfen konnte er, dazu hatte ihn Sir John Killigrew, der alte Freibeuter, erzogen. So erzogen, daß er eines Tages seinem Alten und den drei Brüdern auf der Nase herumtanzte. Da hatte er selbst gemerkt, daß er auf Arwenack nichts mehr zu suchen hatte. Es war ihm zu eng geworden. M ochten sich die Brüder weiter von dem Alten tyrannisieren lassen oder sich gegenseitig belauern, wer was von Arwenack erbte - er hatte die Feste der Killigrews über Falmouth längst hinter sich gelas sen. Eigenartig war nur, wie leicht ihm das gefallen war … Er bog nach links in die Leigham Street ein, wandte sich zweihundert Schritte weiter nach rechts in die Hoe-Promenade, überquerte die West Hoe Road und gelangte zu den Pieranla gen und Kais der M ill Bay. Der Nebel war dichter geworden. Dicke Watteschwaden trie ben vom Plymouth Sund heran, kalt, naß, salzig. Der Seewolf brauchte keinen Kompaß, er hatte die Richtung im Kopf. Leichtfüßig ging er über die Western Road und stieß genau auf der Pier, an der die ›Santa Cruz‹ und neben ihr die ›Isabella‹ lagen. Ihre M asten ragten über die Nebelschwaden hinaus. Ihre Rümpfe mit den Aufbauten der Vor- und Achterkastelle waren nur undeutlich erkennbar. Nebel dämpfte jegliche Geräusche - das wußte der Seewolf. Oder er verzerrte sie, so daß man nie genau heraushören konn te, aus welcher Richtung sie ertönten. Aber die Stille bei den beiden Galeonen war absolut. Sie wirkten wie Geisterschiffe. Der Posten auf der ›Santa Cruz‹ hätte ihn längst anrufen müs sen. Entweder schlief er, oder er war unter Deck gegangen. Hasard schloß beide M öglichkeiten aus. Sein Instinkt sagte ihm, daß er mit etwas anderem rechnen müßte.
Hier war Gefahr im Verzug. Wenn nur der verdammte Nebel nicht wäre. Lautlos glitt er auf der Pier entlang, an der die ›Santa Cruz‹ mit ihrer Steuer bordseite längsseits vertäut lag. Den Festmachern - dicken Trossen aus Kokostauwerk -, die wie mächtige Fußfallen wir ken konnten, wich er geschickt aus. Am Laufsteg, der Pier und Schiff miteinander verband und schräg nach unten zur Kühl der Galeone führte, verharrte er und lauschte. Nichts. Nur das Plätschern und Glucksen des Wassers an den Bord wänden der beiden Galeonen. Dann teilte sich ein Nebelschwaden und gab den Blick zum Großmast mit den Nagelbänken frei. Hasard riß die Augen auf. Da lag ein M ann, lang ausgestreckt. Aus einer Kopfwunde war Blut auf die Planken gesickert und hatte eine dunkle Lache gebildet. Geduckt schlich Hasard über den Laufsteg. Unter seinem Gewicht knarrte das Holz. Leichtfüßig sprang er auf die Kuhl, federte ab und bewegte sich lautlos zu dem M ann. Einen kur zen M oment kniete er nieder und tastete dessen Puls. Der klopfte noch, wenn auch ziemlich schwach. Die Kopfhaut, wo den M ann ein ziemlicher Schlag erwischt haben mußte, war aufgeplatzt und geschwollen. Hasard stellte es innerhalb von Sekunden f est. Er würde sich später um den bewußtlosen M ann - anscheinend der Wachtposten der ›Santa Cruz‹ - kümmern. Wichtiger war sein eigenes Schiff. Leise huschte er zum Schanzkleid an der Backbordseite der ›Santa Cruz‹. Die brusthohen Holzplanken boten eine hervor ragende Deckung über die Länge des gesamten M itteldecks. Hinter den Backbordwanten zum Großmast richtete er sich vorsichtig auf und spähte zur ›Isabella‹ hinüber. Zweierlei sah er: Lichtschein, der aus der Frachtluke der Ga leone nach oben drang, und die hingestreckte Gestalt des Kut
schers. Er lag neben dem Süll zur Frachtluke. Hasard fluchte insgeheim. Und dann entdeckte er den M ann, der hinter der Luke stand und zum Vorkastell lauschte. Aus dem Vorkastell erklangen murmelnde Stimme, zwar gedämpft, aber unverkennbar wü tend. Auch ein Rumoren, als würde Holz herumgeschoben, war nicht zu überhören. Die Situation war ziemlich klar. Unbekannte hatten die Posten auf der ›Santa Cruz‹ und den Kutscher auf der ›Isabella‹ ausgeschaltet und waren in den Frachtraum der ›Isabella‹ eingedrungen. Und die M änner des Seewolfs war en im Vorkastell eingesperrt und schienen dabei zu sein, einen Ausbruch zu versuchen. Vielleicht montierten sie die massive Platte der Back ab - des Klapptisches, an dem die Backschaften ihre M ahlzeiten im Vordeck einnahmen. Immerhin etwas, dachte der Seewolf erbittert. M it so einer Platte konnte man vielleicht das Schott zum Vorkastell einren nen. Wenn kräftige Fäuste die Platte gegen das Schott donner ten, mußte es brechen. Hasards Blick glitt zu dem lauernden M ann zurück, der sich jetzt in Bewegung setzte und mit vorgehaltener Pistole vier Schritte vor dem Schott stehenblieb. Und dann feuerte er. Natürlich blieb die Kugel in dem massiven Eichenholz des Schotts stecken. Hasard hörte die fluchende Stimme Ben Brightons, seines Bootsmanns. Aus der Luke des Frachtraums tauchte ein Kopf auf. »Ist was?« fragte der M ann in der Luke. »Sie versuchen anscheinend, auszubrechen, diese Hurensöh ne«, sagte der M ann mit der Pistole. »M ir wird das hier zu mulmig. Könnt ihr euch nicht etwas beeilen?« »Halt’s M aul und paß auf!« fauchte der M ann in der Luke und verschwand wieder. Der Pistolenmann murmelte etwas Unverständliches - sehr
freundlich klang es nicht - und wandte sich wieder dem Schott zu, während er seine Pistole nachlud. Hasard schwang sich lautlos aufs Schanzkleid. Er sprang hin über aufs Schanzkleid der ›Isabella‹, balancierte auf ihm ent lang, bis er in die Nähe des M annes gelangt war, und landete lautlos auf allen vieren auf der Kuhl. Zwei ebenso lautlose Sätze, ein gewispertes »He!« Als der M ann herumfuhr, explodierte Hasards Faust an seiner Schläfe. Wo der Seewolf einmal hinschlug, da wuchs kein Gras mehr. Der M ann hatte nicht mehr die Kraft, zu ächzen. Und sein Seufzer war auch sehr müde. Zugleich knickte er in den Knien ein und kippte vornüber. Hasard packte ihn noch rechtzeitig am Genick und ließ ihn sachte auf die Planken nieder. Die Pistole steckte er in seinen Gürtel. Hastig durchsuchte er den M ann, fand noch ein M esser und warf es außenbords. M it einem Satz war er an der Frachtluke, wuchtete sie hoch, schob sie über die viereckige Öffnung und verkeilte sie. Von innen war sie nicht mehr zu knacken. Er grinste, als die Kerle im Frachtraum losbrüllten. Eine Faust donnerte innen gegen die Luke. »Bist du verrückt, M ac?« brüllte eine Stimme. »Was soll der Quatsch? Du kannst uns hier doch nicht einsperren, du Ochse! Los, mach auf!« »M ac hat sich schlafen gelegt!« rief Hasard zurück. »Ihr könnt jetzt auch pennen.« »Killigrew?« fragte die Stimme unter der Luke. »Wer denn sonst«, erwiderte der Seewolf. Die Flüche unter der Luke waren ziemlich ordinär. Hasard lauschte kopfschüttelnd. Wer die Kerle auch immer sein moch ten, als Gentlemen waren sie nicht anzusprechen. Aus der Gat tung der Galgenvögel, entschied er und kümmerte sich nicht weiter um sie, denn aus dem Vorkastell dröhnte die Stimme
Ben Brightons. »Das war der Seewolf, M änner! Ich hab seine Stimme ganz deutlich gehört!« Worauf du dich verlassen kannst, dachte Hasard. Er stieß den Pistolenmann mit dem Fuß an. Der rührte sich nicht. M it ein paar Schritten war er am Schott zum Vorkastell und entriegelte es.
Ben Brighton fiel ihm fast um den Hals. »Na, na«, sagte Hasard mißbilligend. »Ihr habt euch, scheint’s, ganz schön aufs Kreuz legen lassen.« Ben Brighton schnaufte. »Nach dem Branderangriff dachte ich, jetzt sei Ruhe …« »Branderangriff? Bist du verrückt?« fragte Hasard überrascht. Seine M änner umringten ihn und redeten durcheinander. »Nun mal langsam«, sagte Hasard, »eins nach dem anderen. Kümmert euch um den Kutscher und um den Posten drüben auf der ›Santa Cruz‹. Und fesselt diesen Kerl hier. Die anderen sitzen im Frachtraum fest. Schlagt noch Ketten über der Luke an, falls sie versuchen sollten, auszubrechen. So, Ben, was ist mit dem Branderangriff?« Der Bootsmann räusperte sich. »Ferris hat ihn im Alleingang abgewehrt - vor etwa drei Stunden. Das Ding trieb brennend auf uns zu, als er gerade m it dem Beiboot und ein paar Bootsgasten um die ›Isabella‹ her umpullte, um nachzusehen, ob alles klar sei. Dann entdeckten sie den Brander und pullten wie die Verrückten auf ihn zu. Ferris, dieser arme Irre, enterte alleine auf den brennenden Kasten, schlug mit der Axt die Bootsplanken zu Kleinholz und brachte den Brander zum Absaufen. Er sprang von dem bren nenden Schiff, und das Beiboot nahm ihn auf. Und dann soff er
sich hier die Hucke voll …« Hasard blickte sich um und unterbrach ihn: »Wo steckt der Höllenhund?« »In der ›Bloody Mary‹«, sagte Ben Brighton und schien etwas schuldbewußt. »Ich konnte ihn nicht zurückhalten. Schließlich hatte er sich den Landgang verdient - ich meine, nach allem, was er für die alte ›Isabella‹ bisher getan hat. Und dann dachte ich, daß für die Nacht eigentlich Ruhe sein müßte. Vor etwa einer Stunde wachte ich von einem Schrei des Kutschers auf. Ich hatte ihn als Posten aufziehen lassen. Bevor ich am Schott war, wurde es dichtgeram melt. Genauso verriegelten sie das Schott zum Galionsdeck. Wir saßen so richtig in der Falle - bis du kamst.« »Habt ihr feststellen können, wer den Branderangriff gefah ren hat?« Ben Brighton schüttelte den Kopf. »Als Ferris enterte, war niemand mehr an Bord des Bran ders.« Hasard zerbiß einen Fluch. Er blickte seinen Bootsmann viel sagend an. »Vor etwa einer Stunde versuchten zwei Kerle im Queen’s Hotel, mich ins Jenseits zu befördern. Ihr Lockvogel war eine prächtige Lady.« Er grinste auf seine Art, vor der es einem Teufel grausen konnte. »In ihrer Suite fielen sie über mich her …« »Und?« fragte Ben Brighton bestürzt. »Sie flogen durchs Fenster auf die Straße«, sagte Hasard. »Und die Lady?« »Die schrie, als hätte sie Feuer unter dem Rock, dieses Lu der.« »Doughty«, sagte Ben Brighton. »Dahinter steckt dieser ver dammte Doughty. Der hat die Lady auf dich gehetzt, klarer Fall …«
»Das ist irgendwie sinnlos«, unterbrach ihn Hasard und schüt telte den Kopf. »Der Branderangriff! Was ist mit dem Brande rangriff? Was hätte Doughty davon gehabt, wenn er gelungen wäre? Die ›Isabella‹ wäre mit der Silberladung verbrannt und auf Tiefe gegangen. Nein, Ben, da sind andere Zusammenhän ge. Doughty, so scheint mir, ist ausschließlich an der Ladung der ›Isabella‹ interessiert. Und irgend jemand anderes legt es darauf an, die ›Isabella‹ zu vernichten - und mich auch.« »Kapier ich nicht«, sagte Ben Brighton ratlos. Er nickte zur Frachtluke hin. »Und die Kerle dort?« Hasard zuckte mit den Schultern. »Wir lassen sie schmoren.« Er überlegte einen M oment. Dann sagte er: »Ferris ist in der ›Bloody Mary‹?« Ben Brighton nickte. »Als er loszog, hatte er schon ganz schön einen sitzen. Er sag te, er wolle beim dicken Plymson einen auf die Pauke hauen.« Hasard seufzte. »Auch das noch. Ist jemand von unseren M ännern bei ihm?« Er blickte sich um. »Wo steckt Dan O’Flynn?« Ben Brighton trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Der ist auch dabei - und Smoky sowie Lewis Pattern. Hätte ich sie zurückhalten sollen? Sie hatten Freiwache. Du hattest jeweils vier M ännern von der Besatzung den Landurlaub frei gegeben.« »Schon gut, Ben. Ich reiß dir ja nicht den Kopf ab. Aber in zwischen ist mir klar geworden, daß Plymouth für die ›Isabel la‹ und uns kein sehr friedlicher Hafen ist. Seit wir eingelaufen sind, passiert mir hier zuviel.« Er blickte zur Luke hinüber, wo sich Blacky um den Kutscher bemühte. »M oment, Ben, wir sprechen gleich weiter.« Blacky richtete den Koch der Crew auf und stützte ihm das Kreuz. Der Kutscher schielte ziemlich unglücklich zu Hasard hoch. Hasard grinste und kniete nieder. M it flinken Fingern unter
suchte er die Kopfwunde. Es war wie bei dem Posten drüben auf der ›Santa Cruz‹ - die Haut war geplatzt, die Schlagstelle verschwollen. Hasard grinste immer noch. »Soll ich dich zu Sir Freemont bringen lassen?« Bei Sir Freemont - einem Arzt in Plymouth - war der blessier te M ann angestellt gewesen, bevor er mit Gewalt auf Drakes ›Marygold‹ rekrutiert worden war. Hasard hatte ihn dann in seine Crew übernommen. Sie nannten ihn alle den »Kutscher«, weil er nie seinen Namen gesagt hatte. Zuerst hatte er die See fahrt verflucht, aber allmählich waren ihm Seebeine gewach sen, und er hatte eine Aufgabe, die von ihm hingebungsvoll wahrgenommen worden war. Über schlechten Fraß hatte sich jedenfalls noch keiner der M änner des Seewolfs beklagt. Jetzt blickte er fast entsetzt zu Hasard hoch und geriet ins Stottern. »Willst - willst du mich wegschicken, Sir?« Auch Blacky, der sich zu einer Art Beschützer für den Kut scher ernannt hatte, sah ziemlich betreten aus. Er war ein kräf tiger Kerl mit harten Fäusten. Wer seinen Kutscher attackierte, kriegte es mit ihm zu tun - wie Donegal Daniel O’Flynn, der ständige Raubzüge auf die Kombüse unternahm, um etwas gegen seinen unstillbaren Hunger zu tun. Hasard lächelte die beiden an. »Aber nein, wer spricht denn von wegschlicken? Ich meine nur, daß dich Sir Freemont vielleicht verarzten sollte.« Der Kutscher stützte sich auf Blacky und stand mit wackligen Knien auf. »M ach ich selbst«, sagte er und versuchte, sehr tapfer auszu sehen. »Ich regle das«, sagte Blacky sehr resolut. »Ich wasch ihm die Rübe und verbinde sie. Einen ordentlichen Verband kriegt er verpaßt, das verspreche ich dir, Sir.«
In Hasard stieg leise Wut hoch. Immer wieder dieses verdammte »Sir«. Er konnte das nicht mehr hören. Gut, sie hatten ihn als Kapitän anerkannt, aber auf »Sir« konnte er verzichten. Er funkelte den Kutscher an. Irgendein Ventil brauchte er. »Deine Wunde ist am Hinterkopf, Kutscher. Wo hast du ge standen, als du sie verpaßt kriegtest?« Der Kutscher schrumpfte wieder zusammen. M it einer schwachen Handbewegung deutete er zur Nagelbank des Großmastes. »Da.« »Hab ich mir gedacht«, sagte der Seewolf bissig. »Stell dich das nächstemal so hin, daß dich keiner von hinten anfallen kann. Diese Regel gilt für jeden Kampf, verdammt noch m al. Außerdem - hast du nicht gehört, wie sie den Posten auf der ›Santa Cruz‹ flachgelegt haben?« »Nein, da - da war es schon zu spät. Ich hörte zwar was, aber im selben M oment explodierte mein Kopf.« Batuti, der schwarze Herkules, rückte heran und zeigte sein weißes Gebiß. Seine rechte Pranke hielt den bewußtlosen Pis tolenmann am Genick gepackt. Der Kerl hing wie leblos in seiner Faust. Batuti schlenkerte ihn wie eine Stoffpuppe. »Wohin mit dem Bastard?« fragte er. »Sperr ihn in die Vorpiek und schnür ihn ordentlich zusam men, klar?« »Wie Paket?« »Wie Paket«, sagte Hasard. Batuti nickte, fletschte die Zahne und verschwand zum Vor deck. Den bewußtlosen M ann hielt er mühelos leicht von sich abgespreizt. Hasard blickte ihm nach und sah den geschmeidi gen Gang des Negers. Der wiegt zehn Bullen auf, dachte er. Dann nickte er Blacky zu. »Verarzte den Kutscher. Dann halte dich klar. Wir gehen noch einmal an Land. Du, Batuti und Pete.
Sag ihnen Bescheid.« »Aye aye.«
Blacky schleppte den Kutscher in die Kombüse. Kurz darauf flammte dort Licht auf. Ben Brighton trat auf Hasard zu. »Was hast du vor?« »Sofort auszulaufen«, erwiderte Hasard. »In diesem stinkigen Hafen bleibe ich keine M inute länger, als nötig ist. Gib an die M anner Waffen aus, Ben. Dann möchte ich, daß die ›Isabella‹ seeklar gemacht wird. Inzwischen hole ich Ferr is und die drei anderen aus der ›Bloody Mary‹. Batuti, Blacky und Pete werden mich begleiten. Sobald wir sie an Bord verfrachtet haben, verlassen wir Plymouth.« »Und wohin?« »Nach Falmouth.« Hasard räusperte sich. »M ein Alter ist zwar ein krummer Hund und meint, ich sei der Enkel von des Teufels Großmutter, aber wenn ich irgendwo Schutz finde, dann im Hafen der Killigrews. Wenn der Alte hört, daß mir eine Prise von Kapitän Drake untersteht, kriegt er sowieso ei nen Schlaganfall.« Hasard grinste. »Vor Francis Drake hat er einen unheimlichen Respekt. Ich kann dir nicht sagen, wie ich mich freue, sein dämliches Gesicht zu sehen, wenn wir einlau fen.« »Hm«, sagte Ben Brighton. »Und was ist mit Kapitän Tho mas? Sollten wir ihn nicht benachrichtigen, daß wir nach Fal mouth ausgelaufen sind?« »Nein«, entschied Hasard. »Wir brauchen jeden M ann hier an Bord, Ben. Außerdem will ich nicht, daß irgend jemand erfährt, wohin wir die ›Isabella‹ bringen. Unsere unbekannten Gegner
könnten einen Boten abfangen und ihn zu einer Aussage zwin gen. Soll ich ein solches Risiko eingehen? Niemals. Wir können Kapitän Thomas auch von Falmouth aus benach richtigen. Die Nachricht dauert dann eben etwas länger als von hier aus. Jedenfalls halte ich es für das Richtigste, aus Plym pouth so schnell wie möglich zu verschwinden - und zwar für alle m it unbekanntem Ziel. Nur so haben wir eine Chance, die Silberladung entweder Kapitän Thomas oder Kapitän Drake unbeschadet zu übergeben.« »In Ordnung«, sagte Ben Brighton. »Ich glaube, diese Ent scheidung ist richtig. Gut, ich werde inzwischen die alte Tante ›Isabella‹ seeklar machen zu lassen. An sich brauchten wir nur noch Proviant und Trinkwasser, aber das können wir auch noch in Falmouth erledigen.« »Das holen wir uns beim alten John«, sagte Hasard, und so wie er es sagte, klang es ganz danach, als habe der Seewolf vor, den Alten ordentlich zu rupfen, natürlich, ohne einen Pen ce dafür zu bezahlen. Ben Brighton grinste. »Du reibst dich wohl gern an dem alten Sir John, wie?« »Und ob. Lern ihn erst mal kennen, diesen alten Gauner. Er ist geizig, tyrannisch und mit hundert schmutzigen Wassern gewaschen.« »Hoffentlich probiert er diese schmutzigen Wasser nicht bei uns aus«, sagte Ben Brighton skeptisch. »Keine Sorge« - der Seewolf kniff ein Auge zu -, »ich habe bei ihm gelernt, Ben!« 2. Eine Viertelstunde später zogen die vier M änner los. Hasard schärfte Ben Brighton noch einmal ein, niemanden an Bord zu lassen, die ›Isabella‹ wie eine Festung zu bewachen und vor
allem auf die Kerle im Frachtraum aufzupassen. Die hatten anfangs noch Lärm geschlagen und gedroht, das verdammte Schiff anzubohren, aber da hatte ihnen der Seewolf seelenruhig erklärt, das sollten sie getrost tun - wenn sie Lust hätten, abzu saufen. Er jedenfalls würde keinen Finger krümmen, sie her auszuholen. Von da an war Ruhe im Frachtraum gewesen. Der riesige Batuti, den nur noch Philip Hasard Killigr ew ü berragte, der breitschultrige Blacky, der Draufgänger Pete Bal lie, Rudergänger an Bord der ›Isabella‹, der Fäuste so groß wie Ankerklüsen hatte, und schließlich der Seewolf. Diese vier M änner würden - wild genug waren sie - die Hölle mit einem Eimer Wasser angreifen. Das war keine leere Redensart. Sie alle konnten kämpfen, sie hatten es mehr als einmal bewiesen. Die See spuckte nur die Lauen aus und spülte sie wieder an Land - wenn überhaupt. Wen die See aber nicht zerschlagen hatte, den konnte überhaupt nichts zerschlagen. Die See war das M aß, M änner auf die Probe zu stellen. Jeder einzelne von ihnen war mehr als einmal auf die Probe gestellt worden - und hatte bestanden. Ihr Ziel, die Kneipe des feisten Nathaniel Plymson mit dem beziehungsreichen Namen ›Bloody Mary‹, war nicht allzuweit von dem Liegeplatz der beiden Galeonen entfernt. Die Kneipe lag genau an einer Ecke, an der M illbay Road und St.M ary Street zusammenstießen. Als sie am Hafenbecken entlang in die M illbay Road einbo gen, lösten sich hinter ihnen aus einem verfallenen Gemäuer, in dem einmal Frachtgut gestapelt worden war, zwei Gestalten und folgten ihnen lautlos und in einem sicheren Abstand. So, wie sie es taten, verrieten sie eine gewisse Routine - Dunkel männer, die genau wußten, wie man bei Nacht und Nebel eine Beute verfolgt. Keiner der vier M änner bemerkte sie. Hasard verhielt vor der ›Bloody Mary‹ und lauschte. In der Kneipe war es merkwürdig still, zu still für Nathaniel Plymsons
Giftbude, in der andalusischer Wein aus geschenkt wurde, der den Zecher nach spätestens einer M inute ins Reich der Träume beförderte - und meist dann an Bord eines Schiffes. Der feiste Plymson handelte mit menschlicher Ware wie ein Pferdehändler mit Gäulen. Daß Ferris Tucker, der riesige Schiffszimmermann, in der ›Bloody Mary‹ auf die Pauke haute, wie er verkündet hatte, davon konnte schon gar nicht die Rede sein. Der Seewolf winkte seinen M ännern, stieg die paar Stufen hinunter und stieß die massive Tür zürn Schankraum auf. Ruckartig wandten sich ihm alle Köpfe zu. Die Öllampen blakten, die Kerzen auf den Tischen flackerten. M it einem Blick übersah Hasard die Situation. Der dicke Lewis Pattern, Segelmacher auf der ›Isabella‹, lag, anscheinend bewußtlos, neben einem umgestürzten Tisch. Fer ris Tucker, Smoky und Donegal Daniel O’Flynn standen mit dem Rücken an der Wand. Sie hatten Stuhlbeine in den Fäus ten. Noch einer stand bei ihnen, als gehöre er dazu. Hasard kniff die Augen zusammen. Das war ja jener M ann, den er damals bei der Schlägerei vor der ›Bloody Mary‹ durch ein Fenster befördert hatte. Er hatte zur Preßgang der ›Marygold‹ gehört richtig, Tom Smith war der Name. Er war nach dem unfreiwil ligen Flug nicht wieder an Bord zurückgekehrt. Aber jetzt stand er bei den drei anderen, hatte ebenfalls ein Stuhlbein in der Faust und grinste glücklich, wieder bei der Crew zu sein. Auch Ferris, Dan O’Flynn und Smoky grinsten, dabei hatten sie weiß Gott keinen Anlaß, fröhlich zu sein. Aber sie grinsten wohl, weil sie ihren Seewolf sahen, der sie, das war sicher, aus dem Schlamassel herausholen würde, in dem sie steckten. Denn sie waren von fünf M ännern eingekreist, und zwei die ser M änner hatten Pistolen in den Fäusten. Zwei Pistolen gaben zumindest zwei Löcher, daran würden auch vier Stuhlbeine nichts ändern können.
Die übrigen Zecher in der ›Bloody Mary‹ saßen wie Salzsäu len auf ihren Stühlen oder hatten sich zur Seite gedrückt. Zu mindest verhielten sie sich neutral. Das Bild wechselte jäh, als die Sekunden der schweigenden Überraschung von einem Ächzen unterbrochen wurden. Hasards Blick wanderte mißbilligend zur Theke, an deren Platte sich Nathaniel Plymson, der Wirt der ›Bloody Mary‹, krampfhaft festzuhalten versuchte. Nathaniel Plymson hatte auf seiner Glatze keine schmierige, schwarzhaarige Perücke mehr - die war in der Straßenschlacht im Oktober vor der ›Bloody Mary‹ in Fetzen gegangen. Er trug jetzt eine rothaarige Kopfzierde, und wenn er damals mit der schwarzhaarigen Haarpracht wie die Großmutter einer Krake ausgesehen hatte, so ähnelte er jetzt einem mißlungenen Fuß abtreter. Nathaniel Plymson stammelte, die Augen weit aufgerissen: »Der - der Seewolf!« Die Zecher fuhren ruckartig von ihren Stühlen hoch, schieres Entsetzen auf den Gesichtern, und strebten im eiligen Gänse marsch zur Tür. Hasard wich höflich zur Seite und hielt ihnen die Tür auf. Als der letzte Zecher verschwunden war, knallte er sie dicht und schlenderte zur Theke. Der schwarze Herkules, Blacky und Pete Ballie folgten in seinem Kielwasser. Die fünf Kerle glotzten mit Kuhaugen. Sie standen plötzlich zwischen zwei Fronten - zwischen den vier grinsenden M ännern mit den Stuhlbeinen in den Fäusten und vier anderen M ännern, die anscheinend waffenlos waren, aber so freundlich wie hungrige Haie aussahen. Hasard blickte den feisten Wirt scharf an, lehnte sich an die Theke und sagte über die Schulter: »M eine drei M änner und ich erhalten einen Whisky, keinen andalusischen Schlaftrunk, wohlgemerkt.« Der feiste Plymson ächzte wieder. Dann schluckte er sehr laut
und sagte: »Sehr wohl, Sir.« Hasard musterte die fünf M änner und sagte: »Na?« Er sagte es sehr gemütlich, und dennoch klang es so, als klirre Stahl. Die beiden Kerle mit der Pistole schwenkten ihre Waffen auf ihn zu. »Gott o Gott«, flüsterte Nathaniel Plymson hinter Hasard. »Red nicht und schenk ein«, sagte Hasard ungerührt. Er lauschte, wie hinter ihm der feiste Plymson eine Flasche entkorkte, sie auf den Tresen stellte, mehrere Gläser daneben aufbaute und einzuschenken begann. Da plätscherte eine ganze M enge daneben. Die ganze Zeit hielt Hasard die beiden Pistolenmänner im Auge. Ferris Tucker schwenkte indessen sein Stuhlbein und warf einen fragenden Blick auf den Seewolf. »Noch nicht, Ferris«, sagte Hasard. Die beiden Pistolenmänner ruckten wieder herum. Zwischen zwei Fronten war es immer ungewiß, wohin man eigentlich m it der Waffe zielen sollte. Die drei anderen M änner kapierten überhaupt nichts mehr. Sie waren zwar auch Galgenvögel, aber bei ihrer Geburt hatte niemand für ihren Verstand gebürgt. Wie Puppen drehten sie einmal ihren Kopf zur Theke und dann wieder zu den vier Männern an der Wand. Und dabei glotzten sie wie Kälber in einer M ondnacht. Gefährlich waren nur die beiden Pistolenmänner, das erkann te Hasard. Er lächelte freundlich, langte hinter sich und nahm eins der Glaser, ohne hinzusehen. »Bedient euch«, sagte er zu seinen drei M annern, »M ister Plymson spendiert ihn uns - nicht wahr, M ister Plymson?« »Ja - jawohl, Sir.« Dicke Schweißperlen glänzten auf der Stirn Nathaniel Plymsons. Ihm war machtig warm. Er nahm die rothaarige Perücke ab und strich sich über die feuchte Glatze. »Zum Wohl, Männer«, sagte Hasard und kippte seinen Whis ky hinunter. Vorsichtig setzte er das Glas ab und blickte dann seinen Schiffszimmermann an. »Nun erzähl mal, Ferris. Woll
ten euch diese schrägen Vögel hier ärgern?« »Ha«, sagte der riesige Ferris Tucker, »Lewis hat mit den Gaunern ein bißchen gewürfelt. Plötzlich haben sie ihm eins über den Schädel gezogen und behauptet, er spiele falsch. Ist das vielleicht ‘ne Art? Und dann sind sie auf uns losgerückt. Erst dachte ich, sie waren genauso scharf auf eine ordentliche Keilerei wie wir, aber da zauberten diesen beiden bösen Buben da plötzlich ihre Pistolen hervor.« Er deutete mit dem Stuhl bein nach links zu dem einen Pistolenm ann, der Hasard gege nüberstand. »Dieser Kerl sagte, wir sollten unsere Zeche be zahlen und mitkommen.« »M itkommen?« fragte Hasard verblüfft. »Wohin denn?« »An Bord der ›Isabella‹, erwiderte Ferris Tucker. »Er be hauptete, unsere ganze Crew sei schon matt gesetzt. Stimmt das?« Hasard grinste seine drei M änner an, mit denen er in die Schankstube gezogen war. »Sind wir m att, Leute?« »Nicht die Bohne«, sagte Pete Ballie und grinste ebenfalls. »Vielleicht verwechselt uns dieser M ensch mit den Kerlen, die jetzt im Frachtraum matt sind.« »Glaub ich auch«, sagte der Seewolf und blickte den Kerl an, der wie ein Clown aussah, allerdings ein gefährlicher Clown. Seine Knollennase und der rote Kirschmund wirkten zwar recht gemütlich, aber die kalten, f ast leblosen F ischaugen warnten den Seewolf, diesen Kerl zu unterschätzen. »Ja, so ist das nun mal«, sagte er zu dem Clown sehr freund lich und höflich. »Die neugierigen Knaben, die auf unserer Galeone herumschnüffeln wollten, haben wir im Frachtraum eingesperrt. Gehören sie zu euch, mein Freund?« »Ich versteh immer Veilchen«, sagte der Kerl mit den Fisch augen. »Dann mußt du deine Ohren mal waschen, mein Freund«, sagte Hasard. »Von Veilchen war nicht die Rede.«
Ein maunzender Laut erklang. »Ah, mein Kätzchen«, sagte Hasard und schaute nach rechts. Um die Theke tigerte jene graue Katze - linkes Ohr zerfled dert und vernarbt, den Schwanz steil aufgerichtet -, die ihn im Oktober vor Nathaniel Plymsons andalusischem Schlaftrunk bewahrt hatte. Sie strich um seine Beine, rieb ihren Kopf an seiner Hose und schnurrte. Nathaniel Plymson beugte sich über den Tresen, sichtlich wü tend. »Laß das, Theodora«, sagte er. »Komm hierher!« Theodora hatte wie alle Katzen ihren eigenen Kopf. Sie straf te Nathaniel Plymson mit Nichtachtung, und das hätte Hasard an ihrer Stelle auch getan. Er bückte sich und nahm Theodora vorsichtig auf. Sie ku schelte sich an seine Brust, schloß die rätselhaften Augen, und als Hasard sie hinter den Ohren kraulte, schnurrte sie eine Ok tave tiefer, behaglich, satt und zufrieden. Es war ein friedliches Bild. »Zur Sache«, sagte Hasard und streichelte Theodora weiter. »Unser Freund, der immer Veilchen versteht, wollte euch also gewissermaßen auf die ›Isabella‹ verschleppen, Ferris, so war’s doch, nicht wahr?« »Genau«, sagte Ferris Tucker. »Und was sagst du dazu, mein Freund?« fragte Hasard den Fischäugigen. Der schien zu einem Entschluß gelangt zu sein. Er winkte mit der Pistole Hasards Männern zu. »Ihr könnt abhauen, wir tun euch nichts.« Dann blickte er mit seinen Fischaugen Hasard an. »Du bleibst hier. Du heißt doch Killigrew - wie?« Anscheinend dachte er, Hasards M änner wurden mit Freuden die Flucht ergreifen. Die aber blieben stehen und grinsten nur. »Haut ab!« zischte der Fischäugige wütend. »Du verkennst die Situation, mein Freund«, sagte Hasard.
»Nicht du gibst hier die Kommandos, sondern ich. Außerdem sitzt ihr ganz schön in der Klemme. Nach zwei Seiten kann man nämlich nicht kämpfen. Und dann habe ich etwas dage gen, daß einer meiner M änner so mir nichts dir nichts nieder geschlagen wird, weil er angeblich beim Spiel betrogen hat. Eher wart ihr wohl darauf aus, das Kräfteverhältnis ein wenig zu euren Gunsten zu verändern. Damit ist es aber nichts. Es steht jetzt acht zu fünf, mein Freund. Ich würde also an deiner Stelle davon absehen, hier das M aul aufzureißen oder gar ein Tänzchen zu wagen.« Der fischaugige Clown hob die Pistole. »Du vergißt was, Killigrew! Das hier! M it dem Ding schieße ich auf zwanzig Schritt Entfernung eine Kerzenflamme aus.« »Zeig’s mal«, sagte Hasard freundlich. »Ich bin doch nicht blöd«, sagte der Fischäugige. »Aber ich könnte dir zum Beispiel eine Kniescheibe zerschießen.« »Ein wirklicher M enschenfreund«, sagte Hasard und kraulte Theodora. Er blickte zu Dan O’Flynn hinüber. »Dan, weißt du, was ich vorhabe?« Der Junge grinste. »Ich kann’s mir denken.« »Wirst du schnell genug sein?« »Klar«, sagte Dan O’Flynn. »Was soll das?« fuhr der Fischäugige dazwischen und fuch telte wild mit der Pistole. »Klar Schiff zum Gefecht!« rief Hasard und warf Theodora mit einem blitzschnellen Schwung dem Fischaugigen ins Ge sicht. Sie flog mit gespreizten Krallen auf den Kerl zu, schlug sie in seine linke Wange und das rechte Ohr, schnellte im Schwung hoch auf seinen Kopf, furchte seine Kopfhaut mit den dolchspitzen Krallen - und dann war in der ›Bloody Mary‹ der Teufel los. Dan O’Flynns Stiefel krachte unter die Pistolenhand des an deren Pistolenmannes, und die Pistole flog in hohem Bogen durch den Schankraum.
Hasard schlug mit der Faust zu. Er hämmerte sie dem Fisch äugigen aufs Handgelenk, und die Pistole klirrte zu Boden. Hasard beförderte sie mit dem Stiefel unter irgendeinen Tisch. Zu dieser Zeit war der Fischäugige bereits drauf und dran, verrückt zu werden. Denn Theodora turnte auf seinem Kopf herum und versuchte, ihre Position zu halten, was nicht leicht war, weil er den Kopf hin und her warf, mit den Händen nach ihr griff und wie am Spieß dazu brüllte. Seine Haarbüschel flogen mitsamt daranhängenden Hautfetzen durch die Gegend. Theodora fauchte und biß und kratzte. Sie verteilte saftige Hie be auf die Hände, die nach ihr griffen, und war kräftig dabei, Kopf und Gesicht des Fischäugigen in rohes Hackfleisch zu verwandeln. Zur selben Zeit hatte sich Batuti einen der fünf Kerle gegrif fen, drehte ihn in der Luft um und rammte ihn mit dem Kopf voran einm al kurz und ruppig gegen den Tresen. Nathaniel Plymson stand dicht vor einem Ohnmachtsanfall. Batuti ließ los, und der Kerl klatschte wie ein M ehlsack zu Boden. Dan O’Flynns Pistolenmann rannte in eine krachende Rechte von Ferris Tucker, der ihn umeinandertrieb und zu Pete Ballie beförderte, der ihn mit einem Kopfstoß abfing, ihm die Anker klüse von Faust in den M agen jagte und mit diesem Hieb zu Smoky hinüberkatapultierte, der den zusammengekrümmten M ann mit einem wuchtigen Haken wieder aufrichtete - aber nur künstlich, denn zwei Sekunden später fiel er einfach um, weil er in den Beinmuskeln nur noch Sülze hatte. Zwei Kerle standen noch auf den Füßen, abgesehen von dem verrückt spielenden Fischäugigen, aber der war vollauf m it Theodora beschäftigt, die ihn Stück für Stück skalpierte. Hasard lehnte an der Theke, griff sich Nathaniel Plymsons Whiskyflasche, gurgelte mit dem Schnaps und schaute zufrie den zu, wie seine M änner mit den beiden letzten Kerlen Fang ball spielten.
Hinter dem Tresen ging Nathaniel Plymson mit nach oben gedrehten Pupillen ruckweise in die Knie, und als sich Hasard nach ihm umdrehte, saß der Dicke bereits in der Hocke, kippte seitwärts weg und enteilte ins Reich der Alpträume. Nathaniel Plymson war nicht sehr hart im Nehmen, dabei brauchte er nur zuzusehen. Aber vielleicht hatte ihn seine The odora entsetzt - und der Anblick des Fischäugigen. Blutüberströmt wankte er auf Hasard zu. »Zu Hilfe«, flüsterte er. »Ich versteh immer Veilchen«, sagte Hasard ungerührt, lockte aber dennoch Theodora, indem er einen Napf mit Whisky voll goß, Theodora vor die Nase hielt und dann den Napf auf den Boden stellte. Hasard kannte seine Theodora. M it einem eleganten Satz verließ sie ihre Kampfstätte, landete vor dem Napf, schnupperte und begann zu schlappern, als sei der Whisky reine Sahne. Der Clown wischte sich das Blut aus den Fischaugen, stierte auf die schlappernde Theodora, wurde unter der blutver schmierten und zerkratzten Gesichtshaut grün, gurgelte etwas Unverständliches und schlug lang hin. Theodora zuckte zusammen, fauchte, soff dann aber weiter. »Ja, ja«, sagte Hasard, »der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht.« Zwischenzeitlich gingen auch die Laternen für die beiden letzten Kerle aus. Der eine hing über einem Tisch und spuckte drei Schneidezähne aus. Der andere hatte gerade einen Schwinger von Ferris Tucker eingesteckt und umarmte einen der Pfeiler, die in bestimmten Abständen die Gewölbedecke des Schankraums abstützten. An ihm rutschte er hinunter wie ein müder Frosch, der sich zur Ruhe legt. »Sehr gut«, sagte Hasard und r eichte Ferris Tucker die Whis kyflasche. »Hier, stärk dich mal und laß sie ‘rumgehen.« Ferris Tucker nahm die Flasche in Empfang, grinste breit und
sagte: »Beim dicken Plymson ist immer was los, wie? Aber kapieren tu ich die Sache nicht. Ich denk, du bist bei dem stink feinen Doughty? Und was ist mit den Kerlen, die im Fracht raum der ›Isabella‹ eingesperrt sind? Gehören die zu dem Kerl hier?« »Wahrscheinlich. Sie hatten den Kutscher überrumpelt und Ben und die anderen im Vordeck eingeschlossen. Ich hab sie befreien und den Spieß umdrehen können. Und das auch nur, weil ich frühzeitig Doughtys Fest verlassen habe. Dort hatten mich zwei Halsabschneider in die M angel nehmen wollen, schafften es aber nicht. Wäre es ihnen gelungen, dann würden jetzt einige Leute damit beschäftigt sein, in aller Ruhe die Sil berbarren aus der ›Isabella‹ zu entladen. Ihr hättet dabei stören können, also mußtet ihr auch noch aus geschaltet werden. Und das sollten diese fünf Kerle hier besorgen.« Ferris Tucker pfiff durch die Zähne. »Jetzt kapier ich. Und Ben und ich dachten, mit dem mißlun genen Branderangriff heute nacht sei nun endlich Ruhe. Hat Ben dir schon davon erzählt?« »Hat er. Ich muß mich bei dir bedanken, Ferris.« Hasard lä chelte. »War wohl mächtig heiß auf dem Teufelskasten, wie?« »M ann, hatte ich einen Durst hinterher! He, Blacky, laß mir noch was in der Flasche drin.« »Hinter dem Tresen sind noch mehr Flaschen«, sagte Blacky und blickte Hasard hoffnungsvoll an. »Versorgt euch«, sagte Hasard. »Dem dicken Plymson scha det es gar nichts, wenn er ein bißchen gerupft wird. Smoky, kümmere dich um Lewis. Wir brechen gleich auf.« Ferris Tucker deutete auf Tom Smith. »Er möchte bei uns anheuern.« Die anderen M änner begannen zu grinsen. Tom Smith hatte ihnen bereits seine Geschichte erzählt. Seinen Flug durch ein Fenster an der St. M ary Street hatte er im Bett der Witwe Abi gail Adelaide Drummer beendet. Und in dem Bett war er dann
auch gleich geblieben - zusammen mit der gar nicht so prüden Abigail Adelaide. Und die ›Marygold‹ war ohne ihn ausgelau fen. Aber jetzt hatte er das süße Leben satt, zumal Abigail Ade laide ihn unter die Haube kriegen wollte. Tom Smith starrte Hasard erwartungsvoll an. Er war ein breitschultriger, kräftiger M ann, der mit seiner gebrochenen Sattelnase ziemlich verwegen aussah. Hasards Blick glitt hinunter zu den Schuhen von Tom Smith. Sie waren neu und aus hellem Rindleder. Tom Smith sah Hasards Blick und grinste verlegen. »Die hat mir Abigail anfertigen lassen«, sagte er. „Abigail?“ Tom Smith wand sich. »Ja - nun - ich meine … Also Abigail ist M rs. Drummer.« »Ach so«, sagte der Seewolf gedehnt. In seinen Augenwinkeln bildeten sich Lachfältchen. »Und war’s schön bei M rs. Drummer? Hatte ihr M ann nichts dagegen?« »Sie ist doch Witwe«, erwiderte Ton Smith und schnaufte. »Und jetzt will sie mich unter die Haube bringen.« »Aber die magst nicht?« »Das Weib macht mich schwach«, sagte Tom Smith erbittert. Hasards M änner brüllten vor Vergnügen. Hasard hatte M ühe, ernst zu bleiben. Das ganze war ja auch ein Witz. Da flog ein M ann bei einer Straßenkeilerei durch ein Fenster in das Bett einer liebestollen Witwe, versäumte das Auslaufen seines Schiffes, fand für ein paar Wochen die Um garnungen eines liebendes Weibes gar nicht einmal so übel, aber dann! Dann stank ihm das irgendwo, und irgend etwas zog ihn wieder hinaus auf die See, die er liebte, verfluchte, haßte, die ihn aber nie wieder losließ. So war das also. Und Tom Smith sah ihn mit bettelnden Au gen an und trampelte nervös von einem Fuß auf den anderen. Hasard langte nach der Whiskyflasche und hielt sie ihm hin.
»Auf eine gute Zeit auf der alten ›Isabella‹«, sagte er nur. Tom Smith griff wie ein Ertrinkender nach der Flasche, setzte sie an und soff wie ein Loch. »He, he«, sagte Hasard, »der Kapitän ist auch noch da.« Tom Smith verschluckte sich. »Verzeihung, Sir«, murmelte er und reichte Hasard die Fla sche. Viel war nicht mehr drin. Hasard trank die Flasche aus und knallte sie mit einem wüs ten Wurf gegen einen der Steinpfeiler, daß die Splitter nur so flogen. »Abmarsch«, befahl er. »Batuti, du nimmst Lewis auf deinen Buckel. Die neue Perü cke von Plymson nehmen wir auch mit …« »Und die Kerle?« fragte Ferris Tucker. »Sollen schwimmen lernen«, sagte Hasard, »und sich ein we nig abkühlen. Werft sie ins Hafenwasser. Vielleicht kapieren sie dann, daß die M änner der ›Isabella‹ für sie ein paar Num mern zu groß sind.« Zwei M inuten später klatschten fünf Leiber - schwungvoll angelüftet - in das Wasser der M ill Bay. Sie erwachten sofort zum Leben. Der Kerl, den Theodora skalpiert hatte, schrie am lautesten. Sie planschten, spuckten Wasser, brüllten und ge bärdeten sich wie eine Rotte von Delphinen. Aber die beweg ten sich weiß Gott eleganter, wenn sie schwammen oder tauch ten. Hasard hatte den Eindruck, daß sich die Kerle im Wasser ge genseitig verprügelten. Nun, dagegen war nichts einzuwenden. Nur der fürchterliche Krach stimmte ihn unruhig. Er dachte an die Oktoberschlacht vor der ›Bloody Mary‹. »Beeilt euch, M änner«, sagte er scharf, »sonst ist hier gleich der Teufel los.«
3.
Der Teufel war los. Nur fuhr er aus einer unerwarteten Rich tung aus der Kiste. Hasard warf sich herum, noch bevor der Schuß durch die M illbay Road peitschte. Er ging hinter seinen Männern und hatte nur ein leises Knacken gehört, von rechts aus einer dunk len Nebengasse, die sie gerade passiert hatten. Instinktiv hatte er sich geduckt. Er sah den roten M ündungsblitz, der auf ihn zuraste, etwas Glühendes strich an seiner Schulter vorbei, klatschte gegen eine Hauswand, und eine zweite rötliche Flamme zuckte brül lend auf ihn zu. Da lag Hasard bereits flach auf den gebuckelten Pflasterstei nen, und auch dieses Stück Blei klatschte wirkungslos gegen die Hauswand. Niemand war verletzt. Hasards M anner standen wie erstarrt. Auch sie waren herumgefahren, als die beiden Schüsse fielen zwei Schüsse, abgefeuert von zwei Kerlen, die jetzt wie Sche men davonhuschten. Bruchteile von Sekunden hatten die M ündungsfeuer die Sze nerie erhellt. Sie hatten für Hasard genügt, um die beiden He ckenschützen zu erkennen, die keine Skrupel hatten, einen M ann aus dem Hinterhalt abzuschießen. Die hagere Gestalt des einen m it dem Raubvogelgesicht und die stämmige Figur des anderen waren unverkennbar gewesen. Es waren die beiden M anner, die ihn in der Kutsche hatten entführen wollen. Entführen? Auf M ord waren sie aus, und nur sein feines Gehör hatte Ha sard davor bewahrt, jetzt zwei Bleiklumpen im Kreuz zu ha ben. Als er hochfederte, fegte bereits Donegal Daniel O’Flynn an ihm vorbei und stürmte in die Nebengasse.
»Zurück, Dan!« schrie der Seewolf. »Es hat keinen Zweck, die Gassen nach ihnen durchzustöbern. Es ist zu dunkel.« Dan O’Flynn stoppte und drehte sich um. »Diese Hunde!« Über ihnen wurde krachend eint Fensterlade aufgestoßen. Ein M ann mit einer Zipfelmütze beugte sich aus dem Fenster. Er hielt eine Laterne und leuchtete auf die Straße. »Ruhe!« brüllte er. »Lumpengesindel! Galgenstricke!« »Halt’s M aul!« schrie Smoky zu ihm hoch. »Kriech zu deiner Alten unter die Decke, du Warzenschwein!« Er bückte sich, hob einen noch frischen Roßapfel auf und schleuderte ihn zu dem M ann im Fenster hoch. Der M ann zog den Kopf ein. Das - zumindest nicht harte Wurfgeschoß flog über ihn hinweg ins Zimmer. Der M ann fiel fast aus dem Fenster, als eine schrille Frauenstimme irgendwo hinter ihm im Zimmer loszeterte. Offensichtlich hatte Smoky einen Treffer erzielt. Donegal Daniel O’Flynn kicherte. Hasard blickte Smoky tadelnd an und sagte: »M ußte das sein, Smoky? Und dann noch mit einem Roßapfel?« »Wir sind kein Lumpengesindel«, sagte Smoky empört. »Auf dich ist geschossen worden, und dafür quakt uns dieser Kerl da oben auch noch an. Was denkt der sich eigentlich?« »Spitzbuben!« brüllte der M ann. »Du kriegst gleich noch ‘ne Ladung«, drohte Smoky. Er und Dan O’Flynn bückten sich gleichzeitig nach neuer M unition. »Laßt das«, sagte Hasard. »Ihr seid wohl verrückt? Los, weiter, zurück an Bord, bevor die ganze M illbay Road rebellisch wird.«
Ohne weitere Zwischenfälle erreichten sie den Liegeplatz und bugsierten Lewis Pattern über die ›Santa Cruz‹ auf die ›Isabel la‹. »Gott sei Dank«, sagte Ben Brighton, als sie an Bord waren. »Ich hörte vorhin die beiden Schüsse und dachte schon, es hät te mit euch was zu tun.« »Hatte es auch«, sagte Hasard. »Die beiden Kerle, die mich in der Kutsche entführen wollten, waren allem Anschein nach auf einen zweiten Versuch scharf - diesmal hinterrücks. Sie haben aber nur die Luft durchlöchert.« »Wurde Lewis verletzt?« fragte der Bootsmann besorgt. Batuti trug Lewis Pattern, den Segelmacher, gerade unters Vordeck. Er hatte ihn wie einen Säugling in beiden Armen. Hasard lächelte. »In der ›Bloody Mary‹ hatten fünf Kerle unsere M änner in der Zange. Lewis hatten sie bereits einen Schlag auf den Schädel verpaßt. Wir kamen gerade rechtzeitig.« »Und?« Der Seewolf zuckte mit den Schultern. »Nichts, und! Jetzt schwimmen sie in der M ill Bay. Ich nehm e an, daß sie zu den Kerlen gehören, die wir im Frachtraum haben. Ferris erzählte, die Kerle in der ›Bloody Mary‹ hätten damit angegeben, euch hier matt gesetzt zu ha ben. Er und die anderen hätten ebenfalls im Schiff eingesperrt werden sollen. Wahrscheinlich wäre die Bande dann darange gangen, die Silberbarren auszuladen.« »Und die beiden vorhin, die geschossen haben? Wie passen die ins Spiel?« »Wenn ich das wüßte«, erwiderte der Seewolf. »Fast glaub ich, die arbeiten auf eigene Faust. Bisher hatten sie es im mer nur auf mich abgesehen.« Ben Brighton erstarrte und blickte über Hasards Schulter. Ha sard drehte sich um. »He!« sagte Ben Brighton verblüfft. »Da ist ja mein guter, al
ter Tom Smith, der Hundesohn. Wir dachten alle, du wärst damals heimlich abgehauen. Na warte, wenn dich erst mal Ed Carberry zwischen die Finger kriegt. Wo hast du gesteckt?« »Bei ‘ne aufregenden Witwe«, sagte Tom Smith und kicherte. Er war ganz schön voll mit Whisky. Und die Drohung mit dem Profos der ›Marygold‹, dem eisenharten Carberry, konnte ihn schon gar nicht erschüttern. Er grinste. »Die hat mich umgarnt, verstehst du?« »Aha«, sagte der Bootsmann erbittert, »du hast vielleicht Nerven! Treibst dich bei ‘ner Witwe ‘rum, während wir uns draußen auf See einen abschinden, wie? Ist das noch zu fas sen?« »Siebzehn M änner sind besser als sechzehn«, sagte der See wolf. .Außerdem war ich derjenige, der Tom zu der Witwe verholfen hat - damals, als eure Preßgang m ich kidnappte.« Ben Brighton riß die Augen auf, dann dämm erte es bei ihm. »Richtig - das erzählte ja Pat Evarts. Du hattest Tom aus den Stiefeln und durch ein Fenster katapultiert. M ann! Und da lan dete er bei ‘ner Witwe?« »Genau«, sagte Hasard und grinste seinen Bootsmann an. »Was hättest du denn an Toms Stelle getan? Vielleicht die Flucht ergriffen?« »Nein«, sagte Ben Brighton prompt. »Dann ist ja alles klar«, sagte Hasard. »Also, Tom bleibt bei uns an Bord, und wenn Ed Carberry wild wird, kriegt er es mit mir zu tun. Und nun Schluß der Debatte. Wir laufen sofort aus. Sag dem Posten drüben auf der ›Santa Cruz‹, wir hätten die Absicht, nach Afrika oder sonstwohin zu segeln, falls er frägt. M it Kapitän Thomas würden wir uns zu gegebener Zeit in Ver bindung setzen.« Er schnupperte in die diesige M orgenluft. »Wir gehen unter Fock und Besan ‘raus, Ben. Zuerst die Fock. Wenn die Vorleine los ist, schwingt die ›Isabella‹ herum. Dann laß die Achterleine loswerfen und hoch mit dem Besan, klar?« »Aye, aye.«
Und schon dröhnte Ben Brightons Stimme über das Deck. »Klar bei Vor- und Achterleine! Sonst alle Leinen los und ein! Beeilt euch, ihr Säcke! Gary, ‘ran an die Fock - Smoky, meinst du vielleicht, der Besan kommt von allein zu dir? Bewegt euch, M änner! Hurtig, hurtig!«
Die ›Isabella‹ zog bei leichtem Südostwind westwärts auf Falmouth zu. Sämtliche Segel waren gesetzt. Der Plymouth Sund lag hinter ihnen, an der Steuerbordseite erstreckte sich die Küste von Cornwall im Dunst des M orgens. Es war feuchtkalt, und der Kutscher, wieder einigermaßen wohlauf und mit einem weißen Verband um den Kopf, fachte mit einem Blasebalg das Holzkohlenfeuer im Kombüsenherd an, um eine kräftige Fleischbrühe zu kochen. Donegal Daniel O’Flynn strich wie ein hungriger Wolf um die Kombüse. Den Ausguck hatte der strohblonde Jim M aloney übernommen. Vorn auf der Back klarierte Smoky die Festma cherleinen. Blacky, Batuti, Al Conroy und Carter setzten die Kuhl unter Wasser und schrubbten die Decksplanken. Pete Ballie hatte das Ruder übernommen. Hasard starrte achteraus, wo der Hafen vom Plymouth all mählich von der diesigen Luft verschluckt wurde. Eine M öwe segelte über das Kielwasser, ließ sich fallen und stieg wieder hoch. Ob sie etwas geschnappt hatte, konnte Hasard nicht er kennen. Er schlug den Kragen seiner Segeltuchjacke hoch und wandte sich um. Sein Blick glitt gewohnheitsmäßig über die Segel. Sie standen gut. Hasard nickte zufrieden. Im Kombüsenschott leuchtete der weiße Kopfverband des Kutschers auf. Hasard sah, wie er mit dem Kopf vorruckte und Dan O’Flynn giftig anstarrte. Das Bürschchen hatte die Hände
in den Hosentaschen vergraben, pfiff unmelodisch und blickte angelegentlich in den Himmel. »Hier wird nicht gepfiffen!« fauchte der Kutscher los. »Das bringt Unglück. Hast du nichts Besseres zu tun, als hier herum zulungern? Verzieh dich!« Batuti schaute vom Deckschrubben auf und verspürte mal wieder Beschützerinstinkte. »Kleines O’Flynn pfeift wie Vogel auf Ast«, erklärte er, »kleines O’Flynn hat Freiwache und kann lungern, was er will. Du schlechte Laune, weil Kopf brummt.« »Ha!« sagte der Kutscher. »Pfeift wie Vogel auf Ast! Der pfeift eher wie ein zerlöcherter Dudelsack.« »Was Dudelsack?« fragte Batuti interessiert. »Ein Dudelsack macht Pfeifmusik«, erklärte der Kutscher. »Wenn du die hörst, rennst du weg, weil du denkst, ein Engel chen hätte gefurzt, klar?« »Aha«, sagte Batuti und rollte mit den Augen. »Deine Suppe brennt an«, sagte Donegal Daniel O’Flynn höhnisch. Der Kutscher fuhr herum und fluchte. Er verschwand in der Kombüse. Dan O’Flynn feixte und rief: »He, Kutscher! Der Bootsmann will dich sprechen. Er ist beim Vorratsschapp im Vordeck.« »M ich? Wieso?« Der Kutscher erschien wieder im Kombü senschott, eine Holzkette in der Rechten. »Hat er mir nicht gesagt«, erklärte Dan und fügte sehr sanft hinzu: »Ich kann mich ja solange um die Suppe kümmern und aufpassen, daß sie nicht anbrennt.« Dan O’Flynn konnte einen umwerfenden Charme entwickeln, wenn er etwas erreichen wollte. Er lächelte voller Unschuld, probierte einen züchtigen Augenaufschlag, seine Füße standen mit den Spitzen zueinander, seine Hände waren fromm gef altet. Er wirkte so harmlos wie ein Dorftrottel. Hasard hatte vom Achterdeck aus dem Dialog gelauscht. Dan
O’Flynns M anöver war ein derart fauler Zauber, daß man da von fast Zahnschmerzen kriegte. Aber der Kutscher fiel darauf herein. Er band hastig seine Schürze ab und reichte sie mit der Holzkelle dem Jungen. »Immer kräftig umrühren, verstanden?« sagte er. »Verstanden«, erwiderte Dan O’Flynn und band die Schürze um. Sie reichte ihm bis zum Boden, und er mußte sie anheben, um nicht draufzutrampeln Er schlurfte in die Kombüse, der Kutscher eilte ins Vordeck. Vom Achterdeck aus konnte Hasard in die Kombüse sehen. Sie befand sich an der Achterkante der Back auf der Back bordseite. Dan O’Flynn stand über dem Kombüsenherd ge beugt und schaufelte mit der Kelle die Suppe in sich hinein. Hasard lächelte vor sich hin. Wenn der Kutscher sich aufs Kreuz legen ließ, war das seine Sache. Allerdings fraß Dan O’Flynn den anderen die Suppe weg, und das war M undraub. »Dan O’Flynn!« donnerte Hasards Stimme über das Deck. Der Junge zuckte zusammen, trat einen halben Schritt zurück und rührte mit steifem Arm in dem Suppenkessel herum - sehr emsig, wie Hasard feststellte. Der Kutscher schoß aus dem Vordeck, hochrot im Gesicht. Batuti - wie immer am richtigen Ort zur rechten Zeit - goß ihm eine Putz Seewasser vor die Füße und stoppte so den Vor marsch. »Erzähl, wie Leute dudeln«, sagte er sehr freundlich, »wie furzt Sack mit Dudel?« »Was?« fragte der Kutscher irritiert. Hasard sah, wie Dan O’Flynn Wasser aus einer Kruke in den Suppenkessel goß, um den gesunkenen Pegelstand wieder aus zugleichen. Batuti hielt indessen den Kutscher mit seinem Pa laver auf. Die beiden sind ganz schon ausgekocht, dachte Hasard. Batuti sagte: »Wie sieht Sackdudel aus?« »Dudelsack, M ann!« sagte der Kutscher giftig. »Nicht Sack
dudel. Die verdammten Iren und Schotten …« »Soll ich noch Holzkohle nachlegen?« rief Dan aus der Kom büse. »Ich glaube, die Suppe braucht mehr Hitze.« »Kleines O’Flynn guter Koch«, sagte Batuti, »muß bestimmt noch Hitze unter Suppe.« »Versteh ich nicht«, murmelte der Kutscher. »Die Suppe war doch schon ganz in Ordnung, als ich zum Bootsmann …« Er brach ab und fuhr herum. »Der Bootsmann war gar nicht beim Vorratsschapp, du Lümmel!« Dan O’Flynn erschien im Kombüsenschott. »Nicht? Vielleicht hat ihm das Warten zu lange gedauert, o der er erledigt inzwischen was anderes, was wichtiger ist.« Dan O’Flynn hatte wieder sein Trottelgesicht auf gesetzt. »Und was ist nun mit der Holzkohle? Soll ich welche nachlegen oder nicht?« »Natürlich«, sagte der Kutscher, »was denn sonst, wenn die Suppe noch nicht heiß ist. Laß mal sehen.« Er trat in die Kombüse, äugte in den Suppenkessel - der war genauso voll wie vorher -, stocherte in der Holzkohlenglut und schüttelte den Kopf. »M erkwürdig. Ich glaub, die Holzkohle ist schlecht. Danke fürs Umrühren, Dan.« »Ich helf dir gern, wenn ich kann«, sagte Dan O’Flynn scheinheilig und verließ die Kombüse. »Du kannst dir nachher einen Nachschlag holen!« rief der Kutscher hinter ihm her. »Danke«, sagte Dan O’Flynn artig und blinzelte Batuti zu. Der grinste von einem Ohr zum anderen. »Dan!« rief Hasard vom Achterdeck. »Ja?« »Komm mal her.« »Aye, aye.« Dan O’Flynn stiefelte über die Kuhl und stieg den Backbordniedergang zum Achterdeck hoch. Er blickte den Seewolf erwartungsvoll an, gemischt mit schlechtem Gewis
sen. »Dan O’Flynn«, sagte der Seewolf streng, »das nimmt mit dir kein gutes Ende.« Dan O’Flynn seufzte abgrundtief. »Ich hab nichts dagegen, daß du einen Extraschlag erhältst«, fuhr Hasard fort, »aber dann tu auch was dafür und hör auf, den Kutscher zu betrügen. Außerdem beklaust du mit deiner Ver fressenheit die anderen, denen die gleiche Ration zusteht. Sollten wir einmal wegen Proviantmangel die Rationen be messen, und du klaust dann auch, dann garantiere ich dir, daß ich dir den Arsch versohle, wie es dein Alter mit seinem Holz bein nie geschafft hat. Ist das klar?« »Jawohl, Sir«, sagte das Burschen, »aber ich hab immer Hun ger. Ich versteh das auch nicht.« »Immer Hunger?« »Ja.« »Heißhunger?« Hasard hatte eine bestimmte Idee. »Und wie«, sagte Dan O’Flynn begeistert. »Hm. Und wird dir immer ganz schlecht vor Hunger - mit M agengrimmen und leichtem Übelsein?« »Haargenau.« Dan O’Flynn nickte wichtig, und Hasard merk te, daß da wohl auch Übertreibung mit im Spiel war. »Hm, hm. Und M agengrimmen und Übelsein sind weg, wenn du was gegessen hast?« »Jawohl, aber erst, wenn ich nudelvoll bin.« »Tja.« Hasard legte sein Gesicht in ernste Falten wie ein Dok tor, der eine Diagnose stellt und dem Patienten nun schonungs voll den Befund mitteilt. »Weißt du was, Dan?« »Na?« »Du hast einen Bandwurm!« Das war ein voller Treffer mittschiffs. Dan O’Flynn zuckte zurück, als habe ihn jemand in den Bauch gepiekt. »Ein - einen Bandwurm?«
»Klar. Alle Symptome deuten darauf hin.« »Ich hab aber keinen Bandwurm. Ich hab noch nie einen ge habt, wirklich.« »Erzähl mir nichts. Hast du vorm Essen M agengrimmen und Übelsein, oder hast du es nicht?« »Nein - oder doch, m anchmal vielleicht, aber nicht immer.« Hasard fixierte den Jungen, der sich da eine Ausrede zurecht stotterte, und sagte: »Da hilft nur eins.« Dan O’Flynn riß M und und Augen auf und sah jetzt tatsäch lich nach M agengrimmen und Übelsein aus. »Rizinus«, sagte Hasard mit satter Stimme. Er wandte den Kopf zur Kombüse. »Kutscher!« »Sir?« Der Kutscher hastete aus der Kombüse. Das Schiffsvolk begann sich allmählich zu amüsieren. Pete Ballie am Ruder, der den ganzen Dialog mitgekriegt hatte, prustete laut los. Der Seewolf blickte ihn tadelnd an. »Ich weiß gar nicht, was es da zu lachen gibt, Pete.« Er kniff blitzschnell ein Auge zu. »Hat Dan einen Bandwurm, oder hat er ihn nicht?« »Er hat einen«, sagte Pete mit dem Brustton der Überzeu gung, »wahrscheinlich einen ganz langen. Der arme Junge. Klar, daß er immer Kohldampf hat - der Bandwurm frißt ihm ja alles weg. Aber so ein Luder geht nur ab, wenn man ordentlich Rizinus säuft, da hast du recht, Hasard.« Donegal Daniel O’Flynn starb bereits an seinem Bandwurm, den er gar nicht hatte. Er war grün im Gesicht und zum ersten mal, seit er mit Hasard und den M ännern segelte, wußte er nicht mehr, was er sagen sollte. Der Kutscher meldete sich. »Hast du Rizinus in der Schiffsapotheke?« fragte Hasard. »Rizinus?« Der Kutscher zupfte sich am Ohrläppchen. »Ja, drei Flaschen.«
»Eine genügt«, sagte Hasard. »Dan hat nämlich einen Band wurm.« »Ts.« Der Kutscher nickte gewichtig. »Ich sag’s ja. Der Junge frißt alles in sich ‘rein, was er zu fressen kriegt. Das mußte ja so kommen. Aber Rizinus ist gut, das hat Sir Freemont auch immer verschrieben. Und wenn der Bandwurm dann abgeht, muß man vorsichtig an ihm ziehen, bis er ganz ‘raus ist. Bis zu acht Yards werden die Burschen lang. Das hört überhaupt nicht mehr auf, wenn man daran zieht. Den Kopf darf man nicht abreißen, sagt Sir Freemont, und der versteht was davon. Einen hat er mal in einem Glas in Alkohol eingemacht. Ich hab ihm dabei geholfen. Der stammte von einem M etzger, ich mein den Bandwurm. Das war der längste Bandwurm, den es jemals in Plymouth gegeben hat …« Der Kutscher redete und redete. Er beschrieb den Bandwurm des M etzgers von vorn bis hinten und von hinten bis vorn, so richtig genußvoll und plastisch, und als er schließlich breitbei nig in die Knie ging und demonstrierte, wie man Hand über Hand einen Bandwurm aus dem Hintern zieht, da war das M aß voll. Donegal Daniel O’Flynn, sonst unerschütterlich und mit der Schnauze immer vornweg, hing über der Achterdecksreling nach Lee, versteht sich - und opferte dem Gott der sieben M ee re. »Rizinus«, befahl Hasard mit harter Stimme. »Wenn der M a gen leer ist, wirkt das Zeug noch besser und lockt den Band wurm raus.« Der Kutscher flitzte los und kehrte nach drei M inuten mit der Rizinusflasche zurück. »Ich - ich hab keinen Bandwurm«, sagte das Bürschchen matt. »Wir werden sehen«, sagte Hasard, nahm die Flasche ent ge gen, entkorkte sie, roch daran und befahl: »M und auf, Augen zu!«
Und Donegal Daniel O’Flynn - würgend, hustend, spuckend, schluckend - kriegte den Inhalt einverleibt. Sekunden später sauste er wie ein Blitz vom Achterdeck, hinunter auf die Kuhl, durchs Vordeck aufs Galionsdeck hinter dem Bugspriet, wo man jene Geschäfte erledigte, zu denen selbst der König zu Fuß hingeht, und opferte dort auf dem umgekehrten Weg. Sei ne Hosen hatte er noch rechtzeitig heruntergekriegt. Dort verblieb er die nächste Stunde und versäumte sogar die morgenliche Essensausgabe. Die Fleischbrühe schmeckte ziemlich dünn, fand Hasard. Dafür hatte Dan O’Flynn den Schaden und den Spott noch dazu. Als er eine Stunde später mit weichen Knien zurück aufs Vordeck kletterte und wie ein kranker Affe auf die Kuhl turnte - mit eingezogenem Kopf und Leichenbittermiene -, fragte Hasard: »Na? Ist der Bandwurm abgegangen?« »Ich hab keinen Bandwurm«, sagte Dan beleidigt. »Hast du denn noch Hunger?« »Überhaupt nicht.« Und trotzig fügte Dan hinzu: »Das war gemein mit dem Rizinus.« »Ach? Und wie bezeichnet man das, wenn man seinen Deckskameraden die Suppe verwässert, mein Freundchen? Vielleicht sollten wir die Rizinuskur wiederholen. Zwei Fla schen sind noch da. Was meinst du?« Dan O’Flynn sah zu, im Vordeck zu verschwinden. Batuti knüpfte ihm die Hängematte auf. »Du sehr krank?« fragte er voller M itgefühl. »Leck mich am Arsch«, sagte Dan O’Flynn patzig und schmollte. 4. Gegen M ittag ließ Hasard Waffen an die Freiwachen vertei len, um die Frachtluke herum Aufstellung nehmen und die
Luke öffnen. Vorsichtshalber ließ er seine M änner zurücktre ten. Die Kerle, die im Frachtraum gefangen saßen, hatten wahr scheinlich die Geräusche über sich und an der Luke gehört. Als Ferris Tucker - er stand hinter der Luke - sie hochlüftete, krachte ein Schuß, dann noch einer. Die erste Kugel pfiff in den Himmel, die zweite schrammte eine Delle in den Süllrand der Luke und bohrte sich in den Großmast. »Ihr seid wohl scharf darauf, daß wir eure Hälse an der Rah langziehen?« rief Ferris Tucker erbost. Eine Stimme antwortete aus dem Frachtraum: »Fragt sich, wer wen an der Rah aufknüpft. Eine alte Regel sagt, daß man erst einen hängen kann, wenn man ihn hat. Uns habt ihr noch lange nicht. Holt uns doch, wenn ihr lebensmüde seid. Wir haben uns hier ganz gut zwischen den Silberbarren eingerich tet.« »Ist das noch zu fassen?« sagte Ferris Tucker. »Die sind vom vielen Silber übergeschnappt«, meinte Ben Brighton, und damit hatte er zweifellos recht. Das bewies die Äußerung, die als nächstes aus dem Frachtraum zu hören war. »Jetzt haben wir das Silber!« rief die Stimme höhnisch. »Wir sind gemachte Leute, ha-ha-ha! Und ihr seid die Geschmierten! Wer sich an der Luke zeigt, wird weggeputzt, ha-ha-ha!« Ferris Tucker knurrte vor Erbitterung und blickte Hasard an. »Die tanzen uns tatsachlich auf der Nase herum« sagte er. Hasard lächelte. »Wirf mir mal deine M uskete herüber, Ferris.« Er fing die Waffe auf, prüfte kurz, ging um die Luke herum, so daß er sich seiner Schätzung nach jetzt dem Sprecher der Kerle schräg gegenüber befand, hielt die M uskete blitzschnell über den Süllrand und feuerte in den Frachtraum. Ein fluchender Laut ertönte von unten. »Jetzt hört mir mal zu, Freunde!« rief Hasard. »Und wenn ihr euren Verstand noch beisammen habt, dann denkt darüber
nach, was ich jetzt sage. Es gibt für uns vier M öglichkeiten, euch fertigzumachen. Erstens: wir hungern euch aus. Zweitens: ihr sterbt einen qualvollen Dursttod. Drittens: wir schießen euch zusammen. Viertens: wir räuchern euch aus. Ich ziehe die beiden ersten M öglichkeiten vor. Das ist für uns das einfachste. Wenn ihr hungrig seid, könnt ihr ja die Silberbarren anknab bern. Ich schätze, in etwa vier Tagen seid ihr soweit, daß wir euch über Bord werfen können …« Ein mehrfaches Geheul und Fluchen drang von unten herauf. Als es abebbte, fuhr Hasard mit schneidender Stimme fort: »Ich gebe euch eine M inute Zeit, ohne Waffen an Deck zu steigen und zu kapitulieren. Nach einer M inute wird die Luke wieder geschlossen. Wenn ich sie das nachstemal öffnen lasse, dann nur, um eure Leichen herauszuholen.« »Und was passiert, wenn wir uns ergeben?« fragte eine Stimme - es war nicht die, die bisher das große Wort gefuhrt hatte. »Das wird sich herausstellen, wenn ihr mir einige Fragen be antwortet habt.« Unten setzte Stimmengemurmel ein, jemand beschimpfte ei nen anderen, der fluchend antwortete. Ein dritter erklärte ziem lich laut, er hatte keine Lust, in dem Frachtraum zu verrecken, von dem Silber hätte er dann auch nichts. »Noch eine halbe M inute«, sagte Hasard. Sie hörten, wie Waffen auf die Planken fielen. Einer rief: »Wir geben auf!« Hasard winkte Ben Brighton zu, eine Strickleiter über den Süllrand zu werfen. Die M änner mit den M usketen ließ er dich ter an die Luke heranrücken. »Paßt auf«, flüsterte er. »Falls sie irgendwelche M ätzchen versuchen, sofort schießen, klar?« Die M änner nickten. Die Strickleiter bewegte sich. Sekunden später tauchte eine struppiger Kopf am Süllrand auf und blickte sich um.
»Nicht schießen«, sagte der Kerl hastig, als er die auf sich ge richteten M usketenläufe sah. »Komm schon, Freundchen«, sagte Hasard. »Ferris, durch such ihn, ob er noch Waffen bei sich hat.« Ferris Tucker filzte den M ann - nicht gerade zärtlich - und schob ihn dann zum Schanzkleid an der Steuerbordseite. Der zweite und der dritte folgten, wurden durchsucht und zu dem ersten gestellt. Dann erschien der vierte, ein wüster Kerl mit einer Narbe quer über dem Gesicht. Er wäre eine Zierde für jeden Galgen gewesen, die drei anderen ebenso. Ferris Tucker untersuchte auch ihn und förderte ein langes M esser zutage. »Sieh mal an«, sagte er, »die drei anderen waren schön brav, aber du dreckiger Sack mußtest es wohl unbedingt versuchen, wie? Ein M esserchen -so ein Schelm!« Er klopfte ihn noch einmal von oben bis unten ab, gelangte an die Stiefel - etwas gebückt -, und da zuckte das rechte Knie des Narbenmannes hoch. Ferris Tucker blieb auf den Füßen. Sein Kopf flog zwar zu rück, aber der Schiffszimmermann verdaute ganz andere Rammen, bevor er umfiel. Er ließ das M esser fallen, zog sich den Narbenmann mit der Linken heran und donnerte ihm die rechte Pranke unter das Kinn. Die beiden nächsten Schläge waren M aulschellen, die wie Pistolenschüsse krachten und dem Kerl fast den Kopf vom Genick drehten. Als Ferris Tucker losließ, kreiselte der M ann um sich selbst, dann schoß er mit verrenktem Kopf wie ein Betrunkener quer über die Kuhl und wurde von M att Davies gestoppt, der ihm ein Bein stellte. Das brachte ihn endgültig an Deck. »Zieh ihm die Stiefel aus, M att«, sagte Ferris Tucker. M att Davies Rechte fehlte. Statt dessen trug er eine Ledermanschette mit einem zuge
spitzten Haken - eine fürchterliche Waffe. Ein Handikap war die fehlende Rechte keineswegs. M att Davies, dunkelblond und braunäugig, grinste über das ganze kantige Gesicht. M it einem kurzen Hieb schlug er den Haken in den rechten Stiefelabsatz. Ein Ruck, und schon war der Stiefel aus gezogen. Ein schmieriger Fußlappen erschien. Ein zweiter Hieb, und der andere Stiefel flog an Deck und mit ihm ein M esser. »Na bitte«, sagte Ferris Tucker befriedigt. »Der handelt mit M essern«, sagte M att Davies, »und bei uns will er Silber klauen, der Galgenstrick. Schaut euch mal seine Fußlappen an. Da hat er doch ne Armee von Flöhen versteckt, dieser M istbock. Der versaut uns das ganze Schiff!« Er fuhr auf den Narbenmann los und hielt ihm drohend den Haken vor die Nase. »Wickle diese stinkenden Flohlappen von deinen Latschen und schmeiß sie außenbords, oder ich reiß dir die Nase ab!« Der Kerl ächzte, richtete sich mühsam auf, grapschte im Sit zen nach den Lappen, nahm sie ab, stand auf und trug sie zum Schanzkleid auf der Backbordseite. Als sie ins Wasser flatterten, stieß eine M öwe zu, kurvte aber sofort wieder hoch. »Da kriegen selbst die M öwen das große Kotzen«, sagte M att Davies angewidert. Hasard sagte: »Er soll sich die Füße waschen.« Und Ferris Tucker sagte: »Die anderen sollten sich auch die Stiefel ausziehen.« Jetzt wollte er es genau wissen - nicht nur wegen der Flöhe. M att Davies knallte dem Narbenmann eine Segeltuchpütz vor die Füße. Indessen zogen zwei der Kerle auf der Steuerbordsei te schnell ihre Stiefel aus. Der dritte allerdings zögerte. Ferris Tucker schlich langsam auf ihn zu - die Rechte geballt und den Arm locker angewinkelt. Allein die Faust sah schon wie ein Schmiedehammer aus, aber die M iene des rothaarigen Riesen
war noch fürchterlicher. »Soll ich helfen?« fragte er leise und gefährlich. Er zog die Faust genußvoll nach unten, haargenau in der Kurve, deren Scheitelpunkt das Kinn des M annes bildete. Wenn dort die Faust explodierte, mußte der Unterkiefer ausrenken, das stand fest. Der M ann hatte ein ausgefranstes rechtes Ohrläppchen, an dem ein Ring baum elte. An diesem Ohrläppchen zupfte er jetzt nervös herum. »Bitte«, sagte er. »Zieh die Stiefel aus«, sagte Ferris Tucker, »und laß dein Ohrläppchen zufrieden, da sind keine Stiefel.« Der M ann knickte etwas zusammen, winkelte das rechte Bein an und zerrte, bis der Stiefel an Deck fiel. Ferris Tucker beäugte die Fußlappen und schnüffelte. Er ver zog das Gesicht und murmelte: »Was seid ihr bloß für Schwei ne.« Und jäh fuhr er den M ann an: »Los, den anderen Stiefel!« Der M ann verdrehte gottergeben die Augen und zog den Stie fel aus. Ein M esser fiel auf die Planken. Ferris Tuckers Schlag war wie ein zuckender Blitz, und ge nauso schnell packte er zu, denn der Kerl war bereits auf dem Weg außenbords. M it einem Ruck zerrte er ihn innenbords hinter das Schanzkleid und ließ ihn fallen. »Quapp-quapp«, quetschte der M ann heraus. Seine Kinnlade war gebrochen. Und dann zeigte er nur noch das Weiße seiner Augen und rutschte in sich zusammen. Bewußtlosigkeit war das Beste für einen M ann, den der Schmerz mit tausend Tü cken ansprang. Ferris Tucker streichelte seine rechten Handknöchel und sag te: »Dieser Bastard war fällig wie eine Jungfer in der Braut nacht.« Der Narbenmann badete seine Füße in der Segeltuchpütz, die beiden anderen lehnten bleich am Schanzkleid. Der Kerl m it dem Ohrring hatte zunächst das beste Los gezogen - trotz zer
schmetterter Kinnlade. Hasard trat auf den Narbenmann zu, der zu ihm hochstarrte. »Wußtet ihr, daß hier Silber an Bord ist?« fragte er. »Silber? Ich hör immer Silber.« Der Narbenmann hatte sicht lich Oberwasser. »Nein, wir wollten uns nur mal die Füße ver treten - und plötzlich standen wir auf diesem Kasten …« »Und vorher wurden zwei Posten zusammengeschlagen«, un terbrach ihn der Seewolf ironisch, »oder schlugen die sich selbst einen Knüppel über den Kopf?« »So was passiert«, sagte der Narbenmann. »Hier passiert noch mehr«, sagte Hasard. »Kannst du schwimmen?« Der Narbenmann blickte den Seewolf verblüfft an. »Schwimmen? Klar kann ich schwimmen.« »Sehr gut«, sagte Hasard. »Wenn du jetzt nach Plymouth zu rückschwimmst, kannst du ja mal darüber nachdenken, warum du plötzlich auf diesem Kasten standest. Und grüß auch schön die fünf Figuren, die heute nacht in der M ill Bay ein Bad ge nommen haben.« Hasard fackelte nicht lange. Er bückte sich, stemmte dem M ann mit beiden Armen hoch und warf ihn außenbords. Als der Kerl ins Wasser klatschte, sagte Hasard zu Ferris Tu cker: »Gib ihm einen Balken mit auf die Reise, Ferris. Bis Plymouth schafft er es sonst nicht.« »M ach ich«, sagte Ferris Tucker und lief aufs Achterdeck. Der Narbenmann schrie Zeter und M ordio und planschte im Wasser. Soviel wie Hasard verstand, schien er bereit zu sein, alles zu sagen. Die beiden anderen Kerle standen dicht vor einem Nervenzusammenbruch. Da zertrümmerte der eine, die ser rothaarige Riese mit einem Schlag eine Kinnlade, und der andere, noch größer und wilder als der Rothaarige, warf ihren Kumpan einfach so außenbords und empfahl ihm, nach Ply mouth zurückzuschwimmen. Und erst die Burschen, die grin send um sie herum auf der Kuhl standen - ein Schwarzer, riesig
und mit rollenden Augen, ein anderer mit einem Fleischerha ken statt der rechten Hand, und ein dritter - nämlich Smoky bullig wie ein wildgewordener Stier - sie sahen alle aus, als seien sie dem Teufel schon mehr als hundertmal ins M aul ge sprungen. Spätestens jetzt merkten diese beiden, daß sie keinen Spazier gang unternomm en hatten, sondern an eine Crew hartgesotte ner, salzdurchtränkter Piraten geraten waren, von denen dieser blauäugige, schwarzhaarige Riese, den sie Seewolf nannten, der wildeste war. Der Narbenmann warf sich indessen über den Balken im Kielwasser der ›Isabella‹ und jammerte zum Gotterbarmen. Hasard ließ beidrehen und die Segel aufgeien. Er stand auf dem Achterdeck und sah mit grimm igem Lächeln zu, wie der Narbenmann rittlings auf dem Balken sitzend heranpaddelte. »Zu Hilfe!« schrie der Narbenmann hoch. »Ich ertrinke!« »Das dauert noch eine Weile!« rief der Seewolf hinunter. »Können wir jetzt weiter verhandeln, oder möchtest du noch etwas baden?« »Holt mich ‘raus!« schrie der Narbenmann. »Ich will ja alles sagen!« Er paddelte wild drauf los, verlor die Balance und kippte wieder vom Balken herunter - natürlich mit dem ent sprechenden Gebrüll. Er veranstaltete da unten im Wasser ein ziemliches Theater. Hasard beugte sich über die Reling des Achterdecks und ließ eine Strickleiter ausbringen, eine sogenannte Jakobsleiter, die oben am Schanzkleid belegt wurde und frei nach unten hing. »Wenn du wieder an Bord willst«, rief er nach unten, »mußt du schon ein bißchen schwimmen. Bis hierher ist es nicht so weit wie bis Plymouth!« Der M ann gurgelte und fluchte und paddelte wie ein Hund heran. Abwechselnd schlug er die Arme ins Wasser und zog sie nach hinten durch. Nach einigen Schlägen erreichte er die Ja kobsleiter und hielt sich an einer Sprosse fest. Anscheinend
hatte er sich total verausgabt. Er atmete keuchend und pum pend, spuckte Wasser und hing wie ein nasser Sack an der Sprosse. »Bevor du aufenterst, steck den Kopf noch mal unter Was ser«, befahl Hasard, »damit du deine Tierchen loswirst. Das hier ist nämlich ein sauberes Schiff, verstanden?« Der Narbenmann ignorierte die Aufforderung. Er begann auf zuentern. »Zurück!« sagte Hasard scharf. »Erst wird der Kopf gewaschen. Falls dir das nicht paßt, laß ich die Jakobsleiter slippen, und du liegst wieder im Wasser.« Der Fluch des Narbenmanns hätte den Teufel erröten lassen, so hundsordinär war er. Aber er ließ sich wieder ins Wasser sinken und tauchte mit dem Kopf unter. Der Narbenmann schien allmählich zu kapieren, woher der Wind wehte. Dieser blauäugige Teufel da oben war ohne Erbarmen und setzte das durch, was er wollte. Hasard sah fachmännisch von oben zu und nickte. »Gut so, du lernst es, mein Freund. Jetzt darfst du aufentern, aber bring die Bürste mit.« Der M ann kroch wie ein müder Käfer die Sprossen hoch. Als er wieder an Deck stand, schlotterte er am ganzen Körper. Sei ne Kleidung triefte vor Nässe, das Haar hing ihm in Strähnen ins Gesicht. Er blickte Hasard trübe an. »Na? Nun schieß mal los«, sagte der Seewolf. »Ihr wart also scharf auf unsere Ladung. Wußtet ihr, was wir geladen ha ben?« »Nein.« Der M ann zitterte und schlug schnatternd die Zähne aufeinander. Er sah aus wie eine abgetakelte Vogelscheuche. »Wußten wir nicht.« »Weiter!« befahl Hasard. »Wir sollten das erst feststellen.« »Sollten? Also hattet ihr einen Auftraggeber. Und wer erteilte den Auftrag?«
Der Narbenmann zuckte hilflos mit den Schultern. Hasard beobachtete ihn scharf. Das Schulterzucken schien ihm echt zu sein. »Kenne den Kerl nicht«, sagte der Narbenmann. »Er saß in einer Kutsche mit verhängten Fenstern, als er mit mir verhandelte. Heute vormittag um zehn sollte ich ihn am Nordausgang von Plymouth wiedertreffen und ihm Bericht erstatten … Ich frier so …« »Smoky! Hol eine Decke für den M ister, bitte.« Smoky holte eine Decke, obwohl er der Ansicht war, der »M ister« könne ruhig etwas frieren. »Versau mir die ja nicht mit deinen Flöhen«, fuhr er den Nar benmann an und warf ihm die Decke zu. Der hüllte sich in die Decke, und sein Schnattern ließ allmäh lich nach. »Nun mal weiter«, sagte Hasard, »da ist noch einiges ziem lich unklar. Du solltest heute um zehn Bericht erstatten - und dann?« »Dann hätte ich den zweiten Teil der vereinbarten Summe er halten - zehn Pfund. Die ersten zehn Pfund hatte er mir gege ben, als er mir den Auftrag erteilte.« »Der große Unbekannte«, sagte Hasard nachdenklich. »Wie hat er sich ausgedrückt und gesprochen?« »Vornehm und gewählt - wie die hohen Herren eben so spre chen.« Hasard fixierte ihn scharf. »Wie ist dieser Unbekannte denn an dich herangekommen, mein Freund?« »Über zwei M ittelsmänner, von denen ich aber nur den ken ne, der mir den Auftrag angeboten hat.« »Hm. Kennst du einen hageren M ann mit einem Raubvogelgesicht, der stets mit einem anderen zusammen ist, der eine stämmige Figur hat?« Der Narbenmann schüttelte verwundert den Kopf. »Nein.«
»Gut. Dennoch stimmt etwas nicht. Euer Auftrag lautete, festzustellen, was für eine Ladung die ›Isabella‹ führt. Nachdem ihr zwei Posten niedergeschlagen hattet und das Vordeck verrammelt worden war, hättet ihr in knapp fünf M i nuten nachsehen und dann verschwinden können. Statt dessen tatet ihr aber etwas anderes. Fünf Kerle - einer von ihnen m it einer Knollennase und rotem Kirschmund - kreuzten in der ›Bloody Mary‹ auf, und zwar in der Absicht, vier meiner M än ner, die Landurlaub hatten, ›matt zu setzen‹, wie sie sich aus drückten. Diese vier M änner sollten zu meinen anderen M än nern ins Vordeck gesperrt werden. Und dann wäret ihr - zehn M ann hoch - darangegangen, den Silberschatz zu heben. Wie verträgt sich das mit dem Auftrag des Unbekannten, der ja anscheinend nur wissen wollte, was wir geladen haben?« Der Narbenmann grinste verlegen. »Na ja, ganz einfach. Als wir herauskriegten, daß hier Silber zu holen ist, pfiffen wir auf den Auftrag, für den wir lediglich lumpige zwanzig Pfund erhalten hätten. Wir sind doch nicht verrückt. Wir hatten beobachtet, daß vier M ann in die ›Bloody Mary‹ gezogen waren. Um uns von denen nicht überraschen zu lassen, schickte ich fünf von meinen Leuten los, die deine vier M ann aufhalten sollten. Dann hätten wir in aller Ruhe eure Silberfracht ausräumen können.« »Daß ich nicht an Bord war, wußtet ihr?« Der Narbenmann nickte. »Das hat mir der unbekannte M ister in der Kutsche gesagt.« »Pech für euch«, sagte Hasard. Er wandte sich zu Ben Brigh ton um. »Laß sie fesseln, Ben, und steckt sie zu dem anderen in die Vorpiek auf Nummer Sicher. Ein M ann zieht vor dem Schott als Posten. Sie erhalten die gleiche Verpflegung wie wir. Außerdem werden sie sich morgens und abends unter Be wachung waschen, klar?« »Aye, aye.« Ben Brighton gab die entsprechenden Befehle. Die drei Galgenvögel verschwanden im Vordeck. Den Ohr
ringmann zog M att Davies arn Haken hinter sich her. Der Kerl war immer noch bewußtlos. Ferris Tucker schüttelte mißbilligend den Kopf. »Ich hätte die Kerle mit einem Tritt in den Hintern außenbords befördert.« »Ich auch«, sagte der Seewolf, »aber nur in unmittelbarer Landnähe.« »Du hast was vergessen zu fragen.« »Was denn?« »Ob sie was mit dem verdammten Branderangriff zu tun ha ben«, sagte Ferris Tucker. Hasard schlug sich an den Kopf. »Natürlich. Holst du den Kerl mit der Narbe noch einmal her, Ferris?« Der Schiffszimmermann nickte und schob eine M inute spater den bereits gefesselten Narbenmann aufs Achterdeck. »Hier ist der Bursche«, sagte er. Der Narbenmann schlotterte immer noch - oder wieder, dies mal anscheinend aus Angst, es solle ihm an den Kragen gehen. Ferris Tucker sagte seelenruhig: »Ich hab ihm erklärt, es kön ne sein, daß jetzt sein letztes Stündchen geschlagen habe. Kerle wie der werden dann immer redselig.« Hasard grinste seinen Schiffszimmermann an, wurde aber so fort wieder ernst und fixierte den Narbenmann. »Hast du nicht vergessen, uns noch etwas zu erzählen, mein Freund?« sagte er. »Ich hab alles gesagt!« stieß der Narbenmann hervor. »Bestimmt. Was sollte ich denn vergessen haben?« »Na, zum Beispiel, daß ihr letzte Nacht versucht habt, die ›I sabella‹ durch einen Branderangriff zu vernichten.« Der Narbenmann fuhr zurück. »Vernichten? Das Silberschiff vernichten? Ich bin doch nicht verrückt. Nein, das waren wir nicht. Beobachtet haben wir den Angriff auch und uns gewun dert. Aber wer dahintersteckt, das weiß ich nicht, ehrlich.« Hasard blickte Ferris Tucker an. »Klingt einleuchtend, wie? Und dann überleg mal die Zeitfolge, Ferris. Wer ein Schiff
vernichten will, fängt nicht nach einem mißlungenen Anschlag an, dann das Schiff zu untersuchen - das wäre widersinnig. Unser Freund hier hat damit nichts zu tun, davon bin ich über zeugt.« »Du hast recht.« Ferris Tucker nickte. Er brachte den Narbenmann wieder in die Vorpiek. Dort war inzwischen der Ohrringmann ins Be wußtsein zurückgekehrt. Er hatte glasige Augen und sagte: »Quapp-quapp.« »Ja, ja«, sagte Ferris Tucker. »man hat’s nicht leicht.« Und ungerührt riegelte er das Schott dicht. 5. Sie hatten Pech. Am frühen Nachmittag verschlechterte sich das Wetter, der Wind drehte auf West und wurde knallhart. Hasard ließ die Blinde bergen und ebenfalls das Vormarsund Großmarssegel. Nur Großsegel, Fock und Besan ließ er stehen, und auch die waren fast zuviel. Die ›Isabella‹ lag hart am Wind schwer über, hatte aber den Vorteil der schweren Ladung. M ühsam knüppelten sie die Galeone mit langen Kreuzschlägen westwärts. Es war, wie Ben Brighton grimmig sagte, etwa so, als mar schiere man zwei Schritte vor und einen zurück, und dieser Ver gleich war gar nicht einmal so verkehrt, denn bei jeder Wende, wenn die ›Isabella‹ durch den Wind auf den neuen Bug ging, verloren sie einen Teil der so mühsam ersegelten Höhe -, jenes Raums, der so wichtig war, weil er sie Kreuz schlag für Kreuzschlag dem Ziel näher brachte. Dabei handhabte der Seewolf die Galeone virtuos. Er kämpfte um jeden Yard, jede M eile, brachte Pete Ballie am Ruder zum Schwitzen, scheuchte seine M änner an die Brassen und Scho ten und segelte auf Teufel komm ‘raus. Wäre eine andere Ga
leone gleicher Bauart und Besegelung mit ihnen gelaufen, er hätte ihr bereits nach den ersten drei M eilen das Heck gezeigt. Die See wurde ruppig, je weiter sie bei den Kreuzschlägen über Backbord in den Atlantik vorstießen. Dort fegt der Wind mit unverminderter, ungebrochener Kraft von Westen heran, schob massige Wellenberge vor sich her, die sich gischtend und schäumend mit wütender Urkraft gegen das dickbauchige Schiff warfen, und geigte mit schrillem Pfeifen durch die Wan ten und Verstagungen der drei M asten. Die Kreuzschläge auf dem Steuerbordbug brachten sie dann wieder mehr in den schützenden Bereich der Landmassen von Cornwall, deren südlichsten Zipfel Kap Lizard bildete. Hier verlor die See ihre Ruppigkeit, und der Wind benahm sich et was manierlicher. So holzten sie sich Schlag für Schlag auf Falmouth zu. Die Nacht verging, der neue Tag brach an. Stunde reihte sich an Stunde - und jede Stunde verlangte alles von jedem ab. Denn auch die Freiwache mußte mit heran. Der Kutscher vollbrachte in seiner engen Kombüse auf schwankendem Boden, der eine Zeitlang nach Backbord, eine Zeitlang nach Steuerbord geneigt war, nach voraus und achter aus kippte, artistische M eisterleistungen. Heißer, mit Wasser verdünnter Whisky ging reihum, Fleischbrühen, Speckbrote, Haferbrei, grüne heiße Bohnen. Donegal Daniel O’Flynns vom Rizinus gereinigter M agen feierte Orgien. Der Junge holte nach, was er versäumt hatte und brauchte nicht einmal zu klauen. Dan O’Flynn hatte seine Lektion gelernt. Die Schmollperiode hatte er hinter sich ge bracht. Zähneknirschend, mit sich selbst zerfressen und hadernd, aber auch kritisch - und hervor ging ein neuer Donegal Daniel O’Flynn, der ein Stückchen härter geworden war. Hasard beobachtete ihn. Wenn seine Befehle wie Trompeten stöße über das Deck gellten, war Dan O’Flynn zuerst »an der
Spitze«, unverdrossen, zäh mit aller Kraft, die in seinem jun gen, sehnigen Körper steckte. Hasard grinste vor sich hin. Die fünf Kerle in der Vorpiek indessen schrien Zeter und M ordio und schienen der M einung zu sein, daß der Weltunter gang nunmehr bevorstünde. Außerdem kotzten sie sich die Seele aus dem Leib, und Tom Smith, der sie bewachte, brachte fluchend und schimpfend eine Segeltuchpütz nach der anderen mit ihren Opfern zum Schanzkleid und kippte den stinkenden Inhalt außenbords. Smoky tröstete ihn: besser außenbords als eine versaute Vor piek. Und da er ein Spaßvogel war, fügte er noch hinzu, daß nach den stürmischen Nächten bei einer gewissen Witwe eine solche Nacht doch direkt erholsam sei. Worauf Tom Smith bissig erwiderte, er, Smoky, sei ja nur neidisch. Und als er dann begann, die Liebeskünste der Abigail Adelaide Drummer in höchst unzüchtiger Weise zu beschreiben, ergriff Smoky die Flucht, obwohl er gern mehr gehört hätte. Denn das »Klar zur Wende!« drang wie eine Fanfare in das Vordeck. Gegen M ittag umrundeten sie Pendennis Castle - jene zipflige Spitze, die in die Falmouth Bay ragt -, kreuzten mit kurzen, knappen Schlägen die schlauchartige Bucht hoch, die in OstWest-Richtung verlief, und steuerten den Hafen von Falmouth an, der Backbord voraus lag. M it traumwandlerischer Sicherheit führte Hasard die ›Isabel la‹ an Klippen und Untiefen vorbei. Diese Bucht hatte er als Junge mit einer Nußschale von Boot kreuz und quer durch streift, hier hatte er geangelt, geschwommen, sich herumgetrie ben bei Wind und Wetter, bis er älter und waghalsiger gewor den war und seine Erkundungsfahrten weiter aus gedehnt hatte um Kap Lizard herum bis Land’s End, die südwestlichste Spit ze Cornwalls. Hier kannte er jeden Winkel und jede Bucht. Als sie Pendennis Castle rundeten, das der alte Hurenbock Heinrich VIII., Elisabeths Vater, errichtet hatte, war es Hasard nicht entgangen, daß sie gesichtet worden waren. Er hatte ge
sehen, wie sich ein M ann auf ein Pferd schwang und im Ga lopp auf Falmouth zu jagte. Hasard grinste vor sich hin. Der Bote würde nach Arwenack reiten und den Alten benachrichtigen, daß eine unbekannte Galeone den Hafen von Falmouth anlaufe. Er spähte durch den Kieker voraus und sah, daß bereits aller lei Volk im Hafen zusammenlief. Wortlos reichte er den Kieker Ben Brighton, der neben ihm auf dem Achterdeck stand. Ben Brighton nahm ihn vors Auge und starrte hindurch. Der Bootsmann murmelte: »Großer Empfang, wie? Weniger Volk wäre besser - ich m eine, wenn die neugierig werden.« Er wiegte zweifelnd den Kopf. »Ich weiß nicht, ob Falmouth für uns gesünder als Plymouth ist.« Er spähte wieder durch den Kieker und erstarrte plötzlich. Und dann sagte er sehr laut und erbittert: »Scheiße, verfluch te!« Hasard fuhr zu ihm herum. »Wie bitte?« Vom Hauptmars tönte die helle, jetzt ziemlich schrille Stim me Dan O’Flynns herunter. »Deck!« Hasard blickte zu ihm hoch. »Was ist los, Dan?« Der Junge wies voraus zu der langgestreckten Pier, die quer in den Hafen ragte. »Ich sehe Sir John, und neben ihm steht noch einer. Und der hat verdammte Ähnlichkeit mit einem gewissen M ister Doughty!« Hasard zuckte zusammen. Ben Brighton räusperte sich. »Er hat nicht nur Ähnlichkeit mit ihm - er ist es, Hasard.« Er gab dem Seewolf den Kieker. Hasard blickte hindurch. Sein Gesicht wurde hart wie Granit, und schon peitschte seine Stimme über das Deck: »Ferris! Laß sofort Waffen verteilen - Pistolen und M usketen! Los, schnell!« »Aye, aye.« Ferris Tucker rief Smoky und Blacky zu sich und verschwand mit ihnen unter Deck.
Hatte der Alte irgendwo versteckte Schützen aufgestellt? Aufmerksam ließ Hasard den Kieker über das Hafengelande wandern. Nein. Auch die beiden Kanonen, die den Hafeneingang flankierend beschießen konnten, waren unbesetzt. »Dan! Siehst du irgend etwas Verdächtiges?« rief er zum Hauptmars hoch. »Nichts - bis auf M ister Doughty, den ich jetzt ganz deutlich erkenne. Der sieht wieder gelackt und geschniegelt wie immer aus.« Ferris Tucker, Smoky und Blacky verteilten M usketen und Pistolen. Hasard ließ aus seiner Kammer die sächsische Rad schloßpistole holen, die er einem bretonischen Freibeuter ab genommen hatte, und steckte sie in den Gürtel. Innerhalb von knapp sechs M inuten sahen die siebzehn Män ner des Seewolfs aus wie eine Bande zähnefletschender, wilder Freibeuter - und die waren sie ja auch. Hasard trat an die Holzbalustrade des Achterdecks. Sein grimmiger Blick wanderte über die M änner, die zu ihm hoch schauten. »Herhören!« sagte er leise und scharf. »Der einzige, den ihr an Bord lassen werdet, wird mein Alter sein. Das ist der rothaa rige Bulle mit der Knollennase, der neben Sir Doughty steht.« Dieses »Sir Doughty« spuckte er wie Galle heraus. »Sollte sonst jemand versuchen, die ›Isabella‹ zu betreten, wird das verhindert - notfalls mit Waffengewalt. Ist das klar?« Die M änner nickten und grinsten. »In Ordnung. Ben, laß Vor- und Achterleine klarlegen. Wenn wir längsseits der Pier liegen, fahren wir die Gangway aus. Wir gehen mit der Backbordseite an die Außenkante der Pier, so daß wir notfalls sofort wieder abhauen können, falls sich das ergeben sollte. Klar?« »Aye aye.«
Ganz Falmouth schien auf den Beinen zu sein. M änner, Frauen und Kinder drängten sich auf den Kais. Das letzte Drittel der Pier war allerdings abgeriegelt. Dort standen der alte Sir John und Sir Thomas Doughty - Respektpersonen, von denen die M enge ferngehalten wurde. Als Hasard die Segel aufgeien ließ, wandte Sir John den Kopf und rief etwas zur M enge hin. Zwei M änner eilten heran. »Ben!« rief Hasard seinem Bootsmann zu, der auf der Kuhl stand. »Die beiden sollen die Leinen wahrnehmen. Laß ihnen die Wurfleinen zuwerfen.« »Geht klar!« rief Ben Brighton zurück. Die beiden Wurfleinen wurden an die Festmachertrossen an gesteckt. Vorn auf der Back stand Smoky klar zum Wurf, ach tern Stenmark, der große, blonde Schwede. Hasard korrigierte den Kurs und gab noch einen kurzen Ru derbefehl an Pete Ballie - und dann glitt die ›Isabella‹ im sanf ten Auslauf entlang der Pier. Die beiden Wurfleinen flogen hinüber, die beiden M änner auf der Pier fingen sie auf und holten sie Hand über Hand durch. Die an die Leinen angesteck ten Trossen klatschten ins Wasser, wurden herangezogen und um die klotzigen Holzpolier belegt. Die ›Isabella‹, deren abenteuerliche Reise mit dem Durch bruch auf der Reede von Cadiz begonnen hatte, lag im Hafen von Falmouth fest - jenem Hafen, den die Sippe der Killigrews beherrschte. Und einer dieser Killigrews, Philip Hasard Kil ligrew, den sie den Seewolf nannten, brachte seine erste Prise ein - ein Schatzschiff, das dreißig Tonnen Silberbarren geladen hatte. Hasard warf einen kurzen Blick auf die Pier. Der Alte lief aufgeregt hin und her. Sir Doughty stand kühl und beherrscht dabei. Er stützte sich auf einen eleganten Spazierstock mit sil berner Krücke, den linken Fuß hatte er ein wenig vor gesetzt. Wie stets war er nach der letzten Mode gekleidet: hoher, schmalkrempiger Filzhut mit Straußenfeder, spitzenbesetzte
Halskrause, kurzes Cape, Wams, Kürbishosen, seidene Strumpfhose, breite Schuhe mit silbernen Schnallen. An seinen Fingern blitzten Ringe. »Drecksack«, murmelte Hasard vor sich hin. Als sich ihre Blicke kreuzten, zog Sir Doughty die linke Au genbraue etwas hoch. Vielleicht bildete er sich ein, das sei vor nehm oder sonst was, aber auf Hasard wirkte es wie das rote Tuch auf den Stier. Er zwang sich zu eiserner Beherrschung. Ben Brighton ließ die Gangway ausbringen und bezog mit Batuti und M att Davies Stellung auf der Pier. Er verbeugte sich leicht vor Sir John und sagte: »Bitte, Sir - Sie wollen sicherlich an Bord.« »Und ob, mein Sohn, und ob«, röhrte Sir John mit seinem Baß los. Er setzte sich in Bewegung, starrte zu Batuti hoch, der ihn angrinste, beäugte sich die Hakenprothese von M att Davies und stiefelte dann über die Gangway. Hasard sprang auf die Kuhl hinunter. Der Alte schoß auf ihn zu und drosch ihm die Hand auf die Schulter. Hasard drosch zurück, daß Sir John regelrecht in die Knie ging, aber unverdrossen weiterröhrte. »He, du Teufelsbraten, willkommen in Falmouth! Du stellst ja tolle Sachen an. Sir Doughty hat mir bereits erzählt …« Er unterbrach sich und drehte sich um. »Wo steckt er denn?« Sir Thomas Doughty stand vor den Pistolen Ben Brightons, Batutis und M att Davies, der seine Waffe in der Linken hielt. Die drei M änner versperrten ihm den Weg zur Gangway. Sir Doughty sah um die Nase herum ziemlich blaß aus. Seine Lip pen bildeten einen schmalen Strich. Der Alte fuhr zu Hasard herum, hochrot im Gesicht. Gleich platzt er, dachte Hasard. Und schon ging’s los. »Was soll das, du Lümmel?« Hasard reckte die breiten Schultern und stemmte die Hände in die Hüften. Eisig sagte er: »Nenn mich noch einmal ›Lümmel‹,
und du gehst in deinem eigenen Hafen baden, M ister Kil ligrew.« Der Alte prallte zurück. »Und nun zu deiner Frage«, fuhr Hasard fort. »Ich habe be fohlen, niemanden außer dir an Bord zu lassen. Das hier ist mein Schiff, bis ich es Kapitän Drake übergeben habe. Ist das klar?« Der Alte stampfte mit dem Fuß auf. »Du wirst sofort Sir Doughty an Bord lassen. Er ist mein Gast, verstanden?« »Aber meiner nicht«, sagte Hasard kühl. »Er hat an Bord meines Schiffes nichts zu suchen, verstanden?« »Unerhört!« röhrte der Alte. Die Adern auf seiner Stirn waren blaurot geschwollen. »Unerhört! Was sind das für M anieren? Und das einem M anne gegenüber, der der Sekretär von Sir Christopher Hatton ist, des Kapitäns der Ehrenwache Ihrer M ajestät!« »Na und?« erwiderte Hasard ungerührt. »Von mir aus kann er bei sonstwem Sekretär sein, es interessiert mich nicht.« »Du wirst dich sofort bei ihm entschuldigen, verstanden?« »Ich denke nicht daran.« Der Alte zitterte vor Wut am ganzen Körper. »Ich - ich sollte die Hunde auf dich hetzen!« stieß er heraus. »Und ich sollte dich dahin feuern, wo du schon mal gezappelt und geschrien hast - nämlich im Hirschgeweih der Halle von Arwenack. Vielleicht hast du die Güte, dich daran zu erinnern. Du hast mir nichts zu befehlen. Und laß deine lächerlichen Drohungen. Die Hunde auf mich hetzen! Ein Wort von mir, und sie fahren dir an die Gurgel. Du solltest wissen, daß sie mir immer besser gehorcht haben als dir. Kein Wunder, von dir erhielten sie ja nur Fußtritte, nicht wahr?« Er wandte den Kopf zu dem riesigen Schiffszimmermann, der rechts hinter ihm stand. »Laß die Drehbasse auf der Back be mannen und m it gehacktem Blei laden, Ferris.« »Aye, aye, Sir.« Ferris Tucker grinste, rief Smoky und Blacky
zu sich und holte aus der Pulverkammer das, was er brauchte. »Wozu das?« fuhr ihn der Alte an. »Kleine Vorsichtsmaßnahme, weil ich deine schmutzigen Tricks kenne. Aber keine Sorge, ich hab ja bei dir gelernt. Wie geht es M utter?« »Gut«, knurrte der Alte. Er schielte zur Frachtluke. »Und du hast also bei Kapitän Drake angeheuert, eh?« Plötzlich grinste er verschmitzt und sagte: »Habt ihr ein bißchen im Atlantik geräubert?« »Wie darf ich das verstehen?« Der Alte knuffte seinen Sohn. »Na, du weißt schon …« »Wir haben geangelt«, sagte Hasard todernst. »Ah, verstehe. Geheim, wie?« Er rückte näher und flüsterte hinter der vorgehaltenen Hand. »Was habt ihr denn geladen, eh?« »Eingepökelte Heringe«, sagte Hasard. Der Alte schielte zu ihm hoch. »M achst du Witze?« »Nein.« »Warum habt ihr denn dann Plymouth verlassen? Sir Dough ty sagte mir, ihr wäret Knall auf Fall abgehauen. Er war dar über sehr verwundert. Genauso verwundert war er, daß du es fertigbringst, einfach mir nichts dir nichts von einem Fest zu verschwinden, ohne dich vom Gastgeber zu verabschieden.« »So?« Hasard verschränkte die Arme über der Brust und wippte auf den Fußballen. »Jetzt will ich dir mal was sagen, verehrter M ister Killigrew« - dieses »M ister Killigrew« war eine glatte Unverschämtheit -, »und zwar was das Verwundern dieses Doughty betrifft. Es interessiert mich einen Dreck, über was oder wen sich dieser Gentleman verwundert. Und genauso geht es ihn einen Dreck an, ob die ›Isabella‹ einen Hafen ver läßt oder dortbleibt. Ich bin schließlich Kapitän Drake für die ses Schiff verantwortlich, niemandem sonst. Das war das. Nun zu dem Fest, von dem du sprachst. ›Fest‹ ist übrigens gut - eher sollte man es ein ›Schlachtfest‹ nennen. Nun, ich hatte nämlich
keine Lust mehr, an diesem Fest länger teilzunehmen, weil nämlich zwei Galgenvögel versuchten, mich abzumurksen. Eine sehr merkwürdige Geschichte, und zwar deswegen, weil zur selben Zeit zehn weitere Galgenvögel versuchten, die ›Isa bella‹ um ihre Ladung zu erleichtern. Sie waren mächtig scharf auf die eingepökelten Heringe.« Hasard schwieg einen M oment, wandte den Kopf und blickte zur Pier hinüber, wo Thomas Doughty stand. Dessen Gesicht war eine undurchdringliche M aske. »Sie hatten mächtiges Pech, diese zehn Galgenvögel, Sir. Genauso wie die beiden Kerle, die ich im ›Queen’s Hotel‹ in Plymouth aus dem Fenster warf.« Lässig sagte Sir Doughty: »M einen Sie, jemand glaubt Ihnen diese Räubergeschichten, mein lieber junger Freund?« »Ich bin weder Ihr lieber noch Ihr junger und schon gar nicht Ihr lieber junger Freund, M ister. Das vorweg.« Hasards Stim me war kalt. »Und was die Räubergeschichten betrifft, will ich Ihnen gern einen dieser Räuber vorstellen. Nach allem, was ich bisher in Erfahrung bringen konnte, liegt die Vermutung nahe, daß Sie ihn kennen.« Hasard winkte Gary Andrews zu. »Gary, führe uns doch bitte den Galgenvogel mit der Narbe vor.« »Aye, aye, Sir.« Gary verschwand im Vordeck. Eisiges Schweigen herrschte. Sir John sah aus, als stünde er dicht vor einem Schlaganfall. Sir Doughty hatte verächtlich den M und verzogen, aber das war ihm schnell vergangen, als Batuti ihn zähnefletschend anstarrte und M att Davies plötzlich seinen Haken in die Pier schlug und einen unterarmlangen Span herausriß. Er steckte die Pistole in den Gürtel, nahm den Span mit der Linken auf und begann sich mit dem Holz den Rücken zu kratzen. Dabei grinste er Sir Doughty unverschämt an. Gary Andrews, ein hellblonder, hagerer und zäher M ann, der mit unwandelbarer Treue an Hasard hing, weil der sich um ihn gekümmert hatte, als er schwer verwundet worden war, er
schien im Vordeckschott. Er stieß den gefesselten Narbenmann vor sich her und baute ihn bei der Gangway mit Front zu Sir Doughty auf. Sehr laut und deutlich sagte Hasard: »So, M ister, das ist der Räuber Nummer eins aus meiner Räubergeschichte. Die Nummer zwei, drei, vier, fünf habe ich ebenfalls unter Verschluß. Einer hat übrigens eine gebrochene Kinnlade. M ein Schiffszimmermann dort auf der Back bei der Drehbasse hat einen sehr harten Schlag, müssen Sie wissen. Ja, und die Nummer sechs bis zehn habe ich nicht an Bord, aber zuletzt nahmen sie ein kühles Bad im Hafenbecken der M ill Bay übrigens alle schwer angeschlagen, wie man so sagt. Dieser Gentleman hier mit der schönen Narbe versicherte mir, daß er mit einem sehr vornehmen Herrn verhandelt hätte. Leider saß dieser vornehme Herr in einer verhängten Kutsche, so daß er ihn nicht sehen konnte. Aber seine Stimme wird er sicherlich wiedererkennen. Sagen Sie doch mal was, Sir!« Sir Doughty preßte die Lippen zusammen und schwieg. Hasard nickte. »Daß Sie schweigen, ist fast ein besserer Beweis, als wenn Sie jetzt etwas gesagt hätten. Sie befürchteten, der Galgenvogel könnte tatsächlich Ihre Stimme wiedererkennen. M it an Si cherheit grenzender Wahrscheinlichkeit stecken Sie also hinter den Anschlägen auf die ›Isabella‹ und mich.« Hasards Stimme wurde schneidend. »Ich hasse M änner, die nicht offen, sondern feige aus dem Dunkel heraus kämpfen oder sich solchen Gelichters wie dieses Kerls hier bedienen. Sie sind ein Drecksack, Sir Doughty! Reicht diese Beleidigung für einen Waffengang, oder muß ich noch härteres Geschütz auffahren?« Sir Doughtys Gesicht war schneeweiß. Er drehte sich um und ging schweigend über die Pier davon. »So ein mieser Feigling«, sagte Ben Brighton hinter ihm her. »Schade«, sagte Hasard, »ich hätte ihn gern vor meiner Klin
ge gehabt.« Erst jetzt explodierte Sir John. »Du verdammter Bastard!« schrie er seinen Sohn an. »Du dreimal verdammter Bastard! Ich sollte dich und dein ver dammtes Schiff zusamm enschießen lassen. Vierteilen sollte man euch Bande, m an - man sollte euch …« »Verschluck dich nicht, Alter«, sagte Hasard. »Falls du die Gangway suchst, sie ist hinter dir. Pete - Sir Killigrew möchte gehen. Würdest du ihn bitte begleiten? Sonst fällt er mir noch ins Wasser, der alte Herr.« »Du - du …« Sir John verschluckte sich tatsächlich, schnappte hochrot nach Luft, röchelte, hustete und spuckte, und Hasard drosch ihm kräftig den Rücken. »Nun mal langsam, Alter, schön durchatmen, sonst erstickst du mir noch.« Der Alte, jetzt blaurot, rang nach Atem, die hellblauen Augen quollen beängstigend aus den Höhlen, er ruderte mit den Ar men, seine Knollennase nahm eine violette Farbe an. Hasard bearbeitete weiter seinen Rücken und fuhr seelenruhig fort: »Und wer spricht denn gleich von Zusammenschießen, du alter Angeber! Das schaffst du doch gar nicht. M ein Schiff ist gefechtsklar. Du hättest mal zusehen sollen, wie wir auf der Reede von Cadiz zwei Kriegsgaleonen der Dons zur Hölle geschickt haben. Also laß da lieber die Finger weg. Na? Geht’s besser?« »Was, verdammt, habt ihr geladen ?« »Eingepökelte Heringe.« »Eingepökelte Heringe!« Das alte Schlitzohr kniff listig ein Auge zu. »Silber, wie?« »Und wenn?« fragte Hasard. »M achen wir halbe-halbe.« Hasard seufzte und blickte den Alten tadelnd an. »Die Katze läßt das M ausen nicht. Was hab ich nur für einen Erzeuger!
Du willst die Krone von England beklauen? Schäm dich, Vi zeadmiral von Cornwall. Wenn unsere gute Lissy das erfährt, hängt sie dich eigenhändig auf dem Tyburn auf.« »Sie braucht’s ja nicht zu erfahren, Junge. Ich krieg das schon hin. Wieviel Silber hat denn die alte Tante ›Isabella‹ nun im Bauch?« »Eingepökelte Heringe.« Schon ging der Alte wieder in die Luft. Er drohte mit der Faust und schrie: »Ich werde …« »Nichts wirst du. Dort ist die Gangway. Pete - Sir Killigrew möchte gehen.« Er blinzelte Pete zu, und der verstand. Seine Fäuste, groß wie Ankerklüsen, packten Hosenboden und Kragen des Alten, lüfteten beides etwas an, und so wurde Sir John Killigrew von Bord der ›Isabella‹ bugsiert, obwohl er zeterte, fluchte, schrie und zappelte. Er war ein bulliger M ann, aber Pete Ballie hatte ihn so richtig im Griff, schob ihn über die Gangway und deponierte ihn auf der Pier. »Gangway ein!« befahl Hasard. »Ben, wir laufen wieder aus. Ferris! Bleib an der Kanone!« »Aye, aye!« tönte er zurück. Sir John führte auf der Pier einen Veitstanz auf. Und aus der M enge löste sich ein einzelner M ann, weißhaarig, verwittert wie ein alter Granitfelsen, und marschierte auf zwei Krücken, einem gesunden und einem Holzbein heran - der alte Donegal Daniel O’Flynn, der Vater Dans. Der Junge fiel vor Aufregung fast vom Hauptmars. »Huhu! Ich lach m ich tot!« schrie er. »Da rückt die Ersatzreserve an! Leute! Das ist der alte O’Flynn mit dem Holzbein, mit dem er auf meinem Rücken herumgedroschen hat. Ben – paß auf, wenn er das abschnallt. Hau ihm was vor die Kiemen, dem alten Hurensack - o M ann, ich wird verrückt …« »Komm sofort da runter!« brüllte der alte O’Flynn und drohte
mit der einen Krücke. Gleichzeitig brüllte Sir John, er würde seinen Sohn an der nächsten Kirchturmspitze aufknüpfen. Die beiden Väter don nerten ihre Söhne zusammen, daß es über den ganzen Hafen schallte. Das Volk lauschte hingerissen. Hasards M änner grinsten, während die Leinen los geworfen wurden. Die Segel fielen, und die ›Isabella‹ nahm langsam Fahrt auf. »Du mißratene, stinkige Kröte!« schrie der alte O’Flynn. »Du verdammter Bastard!« brüllte Sir John. Donegal Daniel O’Flynn lachte sich tatsächlich fast tot. Er turnte über die M arsverkleidung, zog die Hosen herunter und zeigte seinem Alten den nackten Hintern. Aus der M enge im Hafen stieg ein einziges Gelächter hoch. Und als es verebbte, geschah etwas M erkwürdiges. Eine helle Stimme, die Stimme eines M ädchens, ertönte wie eine Fanfare und trug ihren schm etternden Klang über den Hafen. »Drei Hurras für den Seewolf!« Hasard ruckte verblüfft herum und blickte zum Kai hinüber. Ein dreifaches Hurra donnerte über das Wasser, M enschen winkten und jubelten. Hasard nahm den Kieker hoch und rich tete ihn auf die Stelle, von wo die helle Stimme erklungen war. Im Okular tauchte unter den vielen Gesichtern ein M ädchenge sicht auf - rotblondes Haar, das im Wind flatterte, ebenmäßige Züge, eine kleine, gerade Nase, darunter ein sanft geschwun gener M und und ein festes Kinn. Teufel auch, dachte der See wolf und ließ den Kieker weiterwandern - ah, und die Figur erst! Schlank, großgewachsen, und was sich da unter dem M ie der spannte - Mann o Mann! Hasard winkte, und dann brüllte er mit seiner Stimme, die schon so manchen Sturm übertönt hatte: »Drei Hurras für die schönen Mädchen von Falmouth!« Das Hurra seiner M änner prallte wie eine krachende Breitsei
te gegen die Häuser am Hafen, wurde zurückgeworfen und rollte grollend über die Bucht.
Sir Thomas Doughty lehnte still und bleich an der Kutsche von Arwenack in einer Seitengasse. Und an der Ecke davor rauften sich Sir John und der alte O’Flynn die Haare und verfluchten wechselseitig ihre mißrate nen Söhne. Die M enge lachte, drängte auf die Pier, Tücher wurden ge schwenkt, M ützen und Kappen flogen wirbelnd in die Luft die Leute von Falmouth waren schier aus dem Häuschen. Was sich darin ausdrückte, war eindeutig dies: ihre Sympa thie für den Seewolf und seine M änner, denn längst hatte sich herumgesprochen, was diese Teufelskerle dort auf der spani schen Beutegaleone alles angestellt hatten. Und dem verdamm ten Philipp von Spanien hatten sie eine lange Nase gezeigt, zusammen mit dem großen Drake, der schon jetzt eine Legende war. Das M ädchen indessen hatte rotglühende Wangen, warf einen schnellen Blick zu den beiden schimpfenden M ännern an der Ecke, raffte ihre Röcke zusammen und hastete von niemandem bemerkt die Gassen und Stiegen zur Stammfeste der Killi grews, Arwenack, hoch. Die ›Isabella von Kastilien‹ segelte m it achterlichem Wind und prallen Segeln aus der Bucht von Falmouth.
6.
Wieder rundeten sie Pendennis Castle. Ben Brighton stieg ü ber den Niedergang zum Achterdeck hoch und trat zu Hasard, der an der Backbordreling lehnte und achteraus starrte. Jetzt wandte er sich zu seinem Bootsmann um und lächelte schief. »Falmouth - ein Traum«, sagte er. »Scheint so, als seien wir mit dieser elenden Silberladung zur ewigen Wanderschaft ver dammt.« Ben Brighton nickte. »Bleibt nur Irland, wie?« Hasards Gesicht hellte sich auf. »Genau das wird der Alte auch denken, wie ich ihn kenne. Und genau das werden wir nicht tun und ihm die Suppe versalzen.« »Willst du etwa wieder zurück nach Plymouth segeln?« fragte Ben Brighton entgeistert. Hasard grinste wie ein Faun, der hinter einer Nymphe her ist. »Ich denke gar nicht daran. Außerdem will ich meine M utter besuchen. Wir bleiben hier, Ben. Hinter Kap Lizard kenne ich eine schmale Bucht, die von der Seeseite her nicht einzusehen ist. Dort ankern wir. Ich verwette unsere Silberladung, daß der Alte binnen zwei Stunden hinter uns her tobt - in der Annahme, daß wir uns in eine der verschwiegenen Buchten an der iri schen Westküste verholen. Und dort kann er lange suchen Wenn er hinter der Kimm ist, gehen wir wieder ankerauf und segeln zurück nach Falmouth. Die Falmouther stehen auf unse rer Seite, und ich will dir auch sagen, warum. Weil sie den Alten nicht ausstehen können und sogar Hurra schreien, wenn der alte Tyrann einen übergebraten kriegt.« Ben Brighton begann zu schmunzeln. »Drei Hurras für den Seewolf, was? Kanntest du das M ädchen?« »Nie gesehen. Ein Weib, sag ich dir, da war alles dran und noch mehr …« »Ja, ja«, sagte Ben Brighton, »du hast ja auch am Kieker ge hängt, als gäb’s was Nacktes im Badehaus zu sehen.«
Hasard räusperte sich und wechselte schnell das Thema. »Ich möchte wissen, wie dieser verdammte Doughty dahin tergestiegen ist, daß wir Falmouth anlaufen würden.« »Ganz einfach. Aus den gleichen Überlegungen, die du auch angestellt hast. Du hattest gedacht, in Falmouth, im Hafen der Killigrews, sei die ›Isabella‹ sicher. Genau das wird sich Doughty auch überlegt haben. Er hat sich in seine Kalesche gesetzt und nach Falmouth fahren lassen. Und dann hat er Sir John aufgesucht und ihm die Hucke vollgelogen. Wer weiß, was er ihm alles aufgetischt hat. Sir John war jedenfalls auf unsere Ladung so scharf wie ein Fuchs auf die Gans. Übrigens …« Ben Brighton brach ab und schüttelte den Kopf. »Was?« Der Bootsmann wurde verlegen. »Ach, nichts.« »Heraus mit der Sprache, Ben. Wer einen Satz anfängt, muß ihn auch zu Ende sprechen.« »Na ja, ich hab mich gewundert.« »Über was?« »Über deinen Vater und dich.« »Ach so. Na, jetzt hast du ihn ja kennengelernt. Hab ich über trieben, als ich ihn dir beschrieb?« »Keineswegs. Aber das meine ich auch nicht. Ich hab mich über etwas anderes gewundert. Ich weiß nicht so recht, ob ich das sagen darf. Es steht mir nicht zu.« »Spuck’s aus, Ben. Was den Alten betrifft, da kann mich nichts mehr erschüttern.« Der Bootsmann lächelte verlegen. »M an sagt, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Wenn das stimmen sollte, dann bist du allerdings sehr weit vom Stamm entfernt heruntergefallen. Du und dein Vater, ihr unterscheidet euch voneinander wie Tag und Nacht.« Hasard bückte ihn überrascht an. Dann grinste er.
»Wer ist denn bei diesem Vergleich die Nacht?« »Dein Alter«, sagte Ben Brighton prompt und biß sich auf die Zunge. »Verzeihung«, fügte er hinzu. »Ach was, du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen, Ben. Sir John hat eine schwarze Seele, und meine drei Brüder haben sie auch. In ihren Augen bin ich allerdings das schwarze Schaf in der Sippe der Killigrews. Sie haben es mir oft genug zu ver stehen gegeben.« Und so erfuhr Ben Brighton die Geschichte. Bis zu seinem zwölften Lebensjahr war Philip Hasard Killigrew von seinen Brüdern, die dann stets zusammenhielten, in schöner Regelmä ßigkeit verdroschen worden, und meist hatte ihm dann Sir John abschließend den Hintern versohlt, denn einen der drei Brüder hatte er zumindest mit Blessuren versehen. Aber ab dem zwölf ten Lebensjahr hatte Hasard zurückgezahlt. Und als er fünfzehn Lenze zählte, da kannte er sämtliche schmutzigen Tricks, die seine Brüder anwandten, war selbst stark wie ein spanischer Kampfstier, geschmeidig wie eine Wildkatze, blitzschnell in seinen Reaktionen und von einer Härte, die sogar den alten ausgekochten Sir John ergruseln und vorsichtig werden ließ. Aber dann hatte sich der Alte doch noch einmal aus irgendei nem lächerlichen Grund hinreißen lassen und Hasard eine Ohr feige verpaßt. Da war Hasard inzwischen siebzehn gew esen. Es sollte die letzte Ohrfeige sein, die er gewillt war, von Sir John einzustecken. Er hatte gelächelt, den Alten mit der Rechten am Wams ge packt, mühelos hochgestemmt und in das Hirschgeweih ge hängt, das den klotzigen Kamin in der Halle von Schloß Arwe nack zierte. Dort hatte der Alte gezappelt und gebrüllt. Zuerst war John M alcolm, der älteste der Brüder, in die Halle gestürzt, um den Alten vom Geweih herunterzuholen. Vorm Kamin hatte Hasard dem heranstürmenden John ein Bein gestellt, ihn am Kragen wieder hochgehievt und eine M aulschelle verpaßt. M it dieser M aulschelle hatte sich John
M alcolm zufrieden gegeben. Zu mehr reichte es auch gar nicht, weil er das Gefühl hatte, keinen Kopf mehr zu haben. Er suchte ihn noch, als der tückische Simon Llewelyn und der plumpe Thomas Lionel auf dem Kampfplatz erschienen und zum Sturm auf den Kamin antraten. Die beiden waren glatt ins Kaminfeuer gerannt. Denn Hasard hatte sich mit einem Sprung an die Beine Sir Johns gehängt, seine eigenen Beine schnell hochgezogen, und so waren denn die beiden unter ihm durchgesaust - hinein in das prasselnde Feuerchen. Sie brüllten, als würden sie am Spieß gebraten, und dieser Ver gleich war durchaus richtig. Simon Llewelyns Kopf mit dem roten Killigrewhaar hatte sich mit einem vollglühenden Buchenscheit zu schmerzhafter Berührung vereint, während Thomas Lionel, den Sturz in den Kamin abbremsend, beide Hände in die Glut gestoßen hatte. Die Schlacht war entschieden, noch bevor sie richtig ange fangen hatte - zwei angesengte Brüder im Kaminf euer, einer in der Halle herumtorkelnd auf der Suche nach seinem Kopf, und der Erzeuger schließlich im Hirschgeweih. Hasard war sanft abspringend wieder am Boden gelandet, hat te Simon eine Felldecke über den glimmenden Kopf geworfen und dem greinenden Thomas Wasser aus einer Vase über die angesengten Hände gegossen. John M alcolm hatte er in einen Sessel gestoßen, wo er kopfwackelnd sitzen blieb und blöd stierte. Um den Alten hatte er sich einen Dreck gekümm ert, bis der klein wie eine M aus - sehr höflich gebeten hatte, ihn doch wie der auf den festen Boden der Schloßhalle zu stellen. Was Ha sard dann auch getan hatte. Seitdem hatte er seinen Frieden gehabt, aber er hatte immer höllisch aufpassen müssen, den Rücken frei zu haben. Bei seiner Warnung, jedem die Knochen zu zerbrechen, der es noch einmal wagen sollte, ihn anzufassen, hatten sie wie
Straßenköter gekuscht. Später hatten sie dann und wann ge knurrt, eben wie Straßenköter, aber zu mehr hatte es nie ge reicht - ein sanfter Hinweis auf die »Kaminstunde« genügte, sie verstummen zu lassen. Wahrscheinlich hatten sie aufgeatmet, als er Arwenack ver ließ, denn er war ihnen allen über den Kopf gewachsen.
Ben Brighton kratzte sich den Kopf, als Hasard schwieg. »Die müssen einen ganz schönen Tick auf dich haben«, sagte er. »Wem sehen denn deine Brüder ähnlich?« »Natürlich dem Alten«, erwiderte Hasard. Ben Brighton nickte und dachte sich seinen Teil. Wenn das so »natürlich« war, daß die drei Söhne dem Vater ähnelten, wa rum traf das dann nicht auch bei dem vierten Sohn zu? Das fragte er sich, und er fand, daß sein Vergleich, Vater und Sohn unterschieden sich wie Tag und Nacht, noch viel zu schwach war. So verschieden wie Feuer und Wasser paßte als Vergleich besser. Aber das sagte er nicht. »Kap Lizard steuerbord voraus!« schrie Donegal Daniel O’Flynn vom Hauptmars. »Danke, Dan!« rief Hasard hoch. »Paß vor allem nach achtern auf.« »Aye, aye!« tönte es zurück. Etwa zwei Stunden nach ihrem Auslaufen aus Falmouth pas sierten sie Kap Lizard, das wie eine Naturfestung mit granite nen Säulen, Türmen und Zinken ins M eer hinausragte. An ihrer Steuerbordseite öffnete sich im weiten Bogen nach Westen die M ount’s Bay. Hasard ging wieder höher an den Wind, der immer noch von Westen wehte und wendete nach etwa einer Viertelstunde auf
den Steuerbordbug. M it diesem Kreuzschlag segelte er genau auf sein Ziel zu - eine Felsmasse, höher noch als Kap Lizard, deren auffälligstes M erkmal fünf bizarr geformte Spitzen wa ren. Hasard und seine Brüder hatten dieses merkwürdige Ge bilde »Fünf Finger«, genannt, obwohl diese Finger ziemlich verkrüppelt waren. Der M ittelfinger hatte noch dazu quer auf seiner Spitze eine riesige Felsplatte, die wie ein Pilzdach wirk te. Von weitem sah es aus, als würde diese Platte jeden M o ment herunterkippen, aber sie saß unverrückbar fest. Unter ihr war es bei Regen herrlich trocken. Hasard hatte oft dort oben gehockt und auf die See hinaus geschaut - am liebsten bei Sturm, wenn die Wogen wie wilde Reiterscharen heran stürmten, gegen die Kliffe und Felsen anbr andeten und in wir belnder Gischt zusammenbrachen und verschäumten. Bei südlichen stürmischen Winden war die kleine, versteckte Bucht hinter den »Fünf Fingern« ein brodelnder Hexenkessel. Dann wurde die See durch die schmale Einfahrt gepreßt und schoß mit pfeilartiger Geschwindigkeit gleich einem waage rechten Wasserfall in die Bucht, bildete kochende Wirbel, hämmerte gegen die umgebenden Felswände, fraß sich gur gelnd in Schründe und Risse und jagte glitzernde Wasser schleier hoch, die dann wie feine Sprühnebel auf das felsige Gestein niederschwebten und es bestäubten. Bei Westwind lag man in der Bucht so sicher wie in Abra hams Schoß. Sie war dann wie ein Binnensee, über dem am Abend die M ücken tanzten, unverdrossen, ob Hunderte ihrer Art in den zuschnappenden M äulern gieriger M eerforellen landeten. Hasard ließ das Ankergeschirr klarmachen. Er peilte den lin ken Finger an, während er Pete Ballie die Kursanweisungen gab. Wenn der Wind nicht nördlicher drehte, konnte er den Eingang zur Bucht gut anliegen, ohne noch einen Zwischen schlag segeln zu müssen. Ben Brighton, der diese Ecke nicht kannte, starrte besorgt
voraus. »M ann, wo soll denn da nur eine Bucht sein?« murmelte er. »Ich hab den Eindruck, daß wir gleich die Steilküste auf die Hörner nehmen.« Hasard lächelte. »Hier, nimm mal den Kieker. Voraus siehst du doch so ein Gebilde - meine Brüder und ich tauften es »Fünf Finger«. Hast du’s?« »Ja.« »Jetzt geh von dem linken Finger etwa eine Daumenbreite nach links, da hebt sich deutlich in der Felswand von oben nach unten ein dunkler Einschnitt ab. Er ist mit bloßem Auge zu erkennen. Das ist die Einfahrt in die Bucht.« »Was? Da sollen wir durch?« »Klar. Die Einfahrt sieht von weitem so schmal aus. Sie öff net sich sofort nach innen. Die ›Isabella‹ paßt da zweimal durch. Pete, fall etwas ab, einen Viertelstrich nach Steuerbord.« »Aye, aye, einen Viertelstrich nach Steuerbord.« Der Bugspriet der ›Isabella‹ schwenkte etwas nach rechts. »Neuer Kurs liegt an«, meldete Pete Ballie. »Recht so?« »Recht so«, bestätigte Hasard. Ben Brighton räusperte sich. »Sag mal, wenn deine Brüder diese Bucht auch kennen, könn te es nicht sein, daß …« »Daß sie hier nachsehen, falls sie mit hinter uns her sind?« Hasard schüttelte den Kopf. »Die tun nur, was der Alte sagt. Und wenn er sagt, wir seien nach Irland abgehauen, dann beißt da keine M aus den Faden ab. Die werden sich hüten, das M aul aufzureißen, um darauf hinzuweisen, daß man die Bucht kon trollieren müsse. Und wenn« - der Seewolf lächelte grimmig -, »dann sitzen wir zwar in der Falle, aber wer auch immer in die Bucht segelt - er wird von unserer Breitseite zu Treibholz ver arbeitet. Insofern ist die Bucht wiederum ideal.« Ben Brighton bohrte weiter. »Und von oben? Wenn man von oben angegriffen wird?«
»Von Land her? Du hast Sorgen. Klar, da kann man uns Steinklamotten auf die Köpfe schmeißen …« »Und Feuertöpfe«, unterbrach ihn Ben Brighton. »Richtig, Feuertöpfe auch. Auch Nachttöpfe. Aber dagegen gibt’s ebenfalls ein M ittel. Das Gebiet oben rund um die Bucht ist bequem von vier, fünf M ännern zu halten. Nur ein Idiot würde versuchen, von da oben aus anzugreifen. Jetzt zufrie den?« »In Ordnung«, sagte Ben Brighton. »Du bist der Admiral.« Ein gellender Schrei Donegal Daniel O’Flynns ließ alle an Deck zusammenzucken. »Wal - ho!« schrie er. »Dort, er bläst, backbord achteraus!« Sämtliche Köpfe fuhren herum, scharfe Augen suchten in der bezeichneten Richtung - ja, dort stand wie ein silbernes, ausei nanderfallendes und ständig wieder aufsteigendes Ährenbündel die Dampfsäule eines Walspautes, jene so typische Fontäne, die den Standort des Riesen anzeigte. Sie bewegte sich auf die ›Isabella‹ zu, und zugleich mit Dan O’Flynns nächstem Schrei sahen sie noch etwas. »Killerwale!« Schwertwale, sechs bis acht Yards lange, gefräßige M örder mit hohen, schwertförmigen Rückenflossen. Wie die wilde Jagd brausten sie heran, massig, mit gewalti gem M aul, eine Rotte unbarmherziger Killer, die den Giganten umzingelt hatten und sich schaumumbrandet auf ihn warfen. Fast in unmittelbarer Nähe der ›Isabella‹ spielte sich das schaurige Drama ab - die See war die Bühne, die Galeone der Logenplatz, von dem aus die M änner atemlos und gebannt zuschauten. Schwärzliche, zuckende Leiber umdrängten den Riesen und verbissen sich in dem hilflos schnaubenden Tier, dessen gewal tige Schwanzflosse das Wasser peitschte und zum Kochen brachte. Zwei Killer hingen an den mächtigen Lippen des Wals wie wütende Bulldoggen an der Wampe einer Kuh. Drei, vier
andere fraßen sich regelrecht in den Leib und rissen große, blutende Fetzen heraus. Das riesige Tier brüllte vor Schmerz wie eine Herde Ochsen. Es war ein Schlachtfest, das sich mit rasender Geschwindig keit abwickelte, denn schon sank der zerrissene und zerfetzte Koloß mit den an ihm hängenden Killetn in die Tiefe, aus der es dunkelrot und dann fast purpur aufquoll - ein blutiger Tep pich auf dem M eer. Und schon schossen die M örder wieder hoch, einer nach dem anderen, im gefräßigen Rachen mächtige Blubberstücke, m it denen sie wie Diebe in der Nacht in der endlosen Weite süd wärts verschwanden, während aus allen Richtungen die nächs ten Fresser heranschwebten - Seevögel, die kreischend und flügelschlagend über der M ordstelle einfielen und reiche Nach ernte hielten. Eine halbe Stunde später würde die See wie immer sein, nichts würde mehr darauf hindeuten, daß hier einer der Großen der nördlichen M eere sein gräßliches Ende gefunden hatte lebendig geschlachtet. »Verdammte Biester«, murmelte der dicke Lewis Pattern. »Ach?« Der blonde Stenmark bohrte seinen Zeigefinger in Lewis Patterns Bauch. »Wie viele Fische hast du denn schon aufgefressen, Dicker?« »Aber keine lebendigen«, sagte Lewis Pattern. »Na und? Wo ist da der Unterschied? Bevor du sie gefressen hast, waren sie jedenfalls lebendig, oder?« Lewis Pattern fand keine passende Antwort. Wütend sagte er: »M ann, wie du die Sachen wieder verdrehst.« »Ich verdrehe gar nichts. Nur du siehst die Dinge schief. M enschen und Tiere, alle Lebewesen, müssen fressen, um zu leben. Dabei frißt der eine den anderen und wird selbst vom dritten gefressen. Das war schon immer so, und nichts wird sich daran ändern. Und da regst du dich auf, weil sich ein paar Schwertwale den Bauch vollgeschlagen haben. Schau dir mal
deine eigene Wampe an, Dicker.« »Ich hab keine Wampe«, sagte Lewis Pattern wild. Der Schiffszimm ermann fuhr dazwischen. »He! Ihr zwei da! Ist hier ‘n Plauderstündchen, oder was ist hier? Lewis - die Ankertrosse unter Deck muß noch kontrolliert werden. Und du, Stenmark, darfst schon die Zurrings vom Dinghi lösen, wir setzen es nach dem Ankern aus. Hopp, hopp, ihr beiden.« Die ›Isabella‹ stand jetzt etwa dreihundert Yards vor der Ein fahrt zu der Bucht. Der Schwarm Seevögel blieb zankend und kreischend achteraus zurück. Hasard ließ alle Segel bis auf Großmars und Fockmarssegel wegnehmen, um nicht mit zu hoher Geschwindigkeit in die Bucht zu rauschen. In der Bucht selbst würde es fast windstill sein. Das Ankermanöver dort bot keine Schwierigkeiten. Nur der Ankergrund bereitete ihm etwas Sorgen. Er war voller Ge röll, und es war immer riskant, dort vor Anker zu gehen. Unter Umständen faßte der Anker nicht, dann konnte er allerdings immer noch Vor- und Achterleine ausfahren und mit dem Dinghi an Land bugsieren, wo sie an irgendeiner Felsnase ver täut werden konnten. Nur unter Großmars- und Fockmarssegel lief die ›Isabella‹ jetzt wesentlich langsamer. Der Wind war konstant geblieben und hatte auch nicht nach Norden gedreht. Hasard steuerte mit einigen Ruderkomm andos die Einfahrt auf einem schrägen Kurs an. Es war fast eine Fahrrinne mit der nötigen Tiefe, wel che die heranrollenden Seen seit Jahrhunderten oder Jahrtau senden regelrecht ausgebaggert hatten. Nichts behinderte die Einfahrt, keine Klippen, keine Untiefen, keine Felsen. Die Bucht war ein idealer Schlupfwinkel, das erkannte jetzt auch Ben Brighton. Sanft glitt die ›Isabella‹ in die Einfahrt. Fast augenblicklich empfing sie eine Stille, die nach dem brausenden Wind drau ßen um so krasser war. Nur ein paar M öwen flatterten er schreckt hoch und beschimpften mit ihren quarrenden Schreien
die Eindringlinge. Großmars- und Fockmarssegel killten. Die Felswände, die ringsum bis zu vierzig und mehr Yards aufstiegen, hielten den Westwind ab. Hasard blickte nach vorn auf die Back, wo Ben Brighton stand und auf das Ankerkommando wartete. Noch hatte die ›Isabella‹ Fahrt. »Halte etwas nach Backbord, Pete«, befahl Hasard. »Ja, so ist es recht.« Die ›Isabella‹ geriet in gefährliche Nähe der Wände links der Einfahrt. »Jetzt nach Steuerbord, Pete. Wir fahren einen Halbkreis.« Pete legte wieder Ruder. Die dickbäuchige Galeone schwenk te wie eine träge Kuh ein, beschrieb in der Bucht eine sanfte Kurve und trieb unendlich langsam in die Nähe der gegenüber liegenden Felsen, die bizarr und schroff nach oben stiegen. Der Eingang der Bucht befand sich jetzt schräg steuerbord voraus. »Fallen Anker!« rief Hasard über das Deck. »Aye aye!« ertönte Ben Brightons Stimme zurück. Der Anker klatschte ins Wasser und versank blubbernd. Die Ankertrosse rauschte hinterher. Ben Brighton beugte sich vorn auf der Back über die Reling und starrte nach unten. »Stop!« rief er. Smoky stoppte die Trosse. »Trosse steht etwas achteraus!« rief Ben Brighton. Die ›Isabella‹ hatte den Anker überlaufen. Hasard spürte deutlich, wie die Trosse einruckte und die Fahrt der ›Isabella‹ endgültig stoppte. Sie schwoite etwas nach Land zu und sackte ganz allmählich achteraus. »Trosse zeigt voraus!« rief Ben Brighton. »In Ordnung, Ben! Gib noch etwas Lose in die Trosse, ich glaube, der Anker hat gefaßt.« »Aye.aye.« Smoky fierte die Trosse noch etwas weg. Der Anker hatte tat
sächlich gefaßt. Die Galeone lag wie ein Klotz auf dem Wasser und rührte sich nicht mehr. Hasard schaute zum Großmars hoch. »Na, Dan? Wie wär’s mit einem Stellungswechsel? Wir beide pullen an Land und steigen hoch zu den »Fünf Fingern«, um ein wenig Umschau zu halten.« Donegal Daniel O’Flynn sauste wie der Blitz an den Wanten hinunter - er sparte sich den Weg über die Webeleinen, die wie die Sprossen einer Strickleiter zwischen den Wanten nach oben zum M ars verliefen. Hasard lächelte und klemmte sich den Kieker unter den Arm. Er sprang hinunter auf die Kuhl, wo Ferris Tucker bereits mit Batuti, Blacky, Carter und Al Conroy das Dinghi klarmachten, um es über Bord zu hieven. Der starke Stenmark hing an einer Talje, die mit einem Stropp an der Rah des Großsegels ange schlagen war. Vom unteren Bügel der Talje verliefen zwei weitere Stroppen zum Bug und Heck des Dinghis. M ühelos hievte Stenmark das Dinghi hoch, während Ferris Tucker und seine M änner die Rah außenbords schwenkten. Als das Dinghi dicht querab der Backbordseite hing, fierte Stenmark. »Stop!« rief Ferris Tucker. »Smoky, schlag die Vorleine an! Beeil dich, Stenmark kann nicht so lange halten. Batuti, häng dich bei Stenmark mit an die Talje!« Hasard grinste. »Ihr hättet die Vorleine ja auch schon früher anschlagen können, ihr Holzköpfe - aber bitte, Ferris, du hast das Kommando.« Der Schiffszimmermann wurde tatsächlich rot. Er fluchte still vor sich hin, während Smoky mit der Vorleine am Bug des Dinghis herumfummelte, wobei er halb über dem Schanzkleid hing. »Wir sollten das wohl mal üben«, sagte Hasard in seiner sanf ten Art - und wenn er sanft wurde, dann zogen die M änner der ›Isabella‹ ihre Köpfe ein. Hasard drehte sich zu Ben Brighton um.
»Ben, laß sicherheitshalber die Drehbasse auf der Back beset zen.« Dann schaute er zu dem schwitzenden Ferris Tucker. »Ferris, laß die alte Tante gefechtsklar machen. Und bevor du das Dinghi wegfierst, gib uns noch einen Anker mit Trosse in den Kahn. Dan und ich werden ihn als Heckanker ausbringen. Dann zieht ihr die ›Isabella‹ mit dem Heck mehr zum Land hin bis die Backbordseite schräg zur Einfahrt der Bucht zeigt. Sämtliche Kanonen auf der Backbordseite werden klar zur Breitseite gem acht - ebenfalls die Steuerbordkanonen. Ist das klar?« »Klar«, röhrte Ferris Tucker. Er ließ einen zweiten Anker in das Dinghi verfrachten, dann fierten Stenmark und Batuti das Dinghi nach unten, bis es auf das Wasser aufsetzte. Blacky behielt die Vorleine in der Hand. Ferris Tucker ließ noch eine Jakobsleiter ausbringen. Hasard wandte sich noch einmal an Ben Brighton. »Dan und ich sind dort oben bei den »Fünf Fingern«. Wir können euch also rechtzeitig warnen, falls jemand von See her neugierig wird. Auch eine Annäherung von Land würde von uns bemerkt werden. Du kannst also unbesorgt sein. Allenfalls bin ich rechtzeitig wieder an Bord. Noch Fragen?« »Nein.« »Gut, Dan, du hast den Vortritt. Übernehme die Pinne. Ich werde pullen.« Dan O’Flynn kletterte die Jakobsleiter hinunter und setzte sich auf die achtere Ducht. Hasard folgte ihm und sprang in das Boot. »Vorleine los!« rief er zu Blacky hoch. »Ferris! Bringt die Ankertrosse nach achtern und gebt uns genügend Lose!« »Aye, aye.« Hasard stieß das Dinghi mit einem Riemen von der Bordwand ab, legte die Riemen in die Runzeln, pullte zum Heck und von dort querab auf das felsige Ufer zu. Der Anker lag zwischen
ihm und Dan in der Flicht, die Ankertrosse verlief an Dan vor bei über den Spiegel zum Heck der Galeone. Sie war schwer und sperrig, und je weiter sich das Boot von der Galeone ent fernte, desto schwieriger wurde für Hasard das Pullen. Er muß te sich ziemlich in die Riemen legen. Etwa drei Yards vom Felsufer entfernt warf er den Anker außenbords. Er wußte, daß an dieser Stelle sandiger Boden war, in dem der Anker ohne weiteres fassen würde. »Klar, Ferris!« rief er zur ›Isabella‹ hinüber. »Ihr könnt das Heck jetzt herumholen.« Ferris Tucker hob die Hand zum Zeichen, daß er verstanden hatte, und Hasard sah, wie der Schiffszimmermann mehrere M änner an die Trosse scheuchte. M it Hauruck begannen sie, sich ins Zeug zu legen. Die Trosse straffte sich, und das Heck der Galeone schob sich mehr und mehr zum Land hin. Hasard nickte zufrieden und trieb das Boot mit zwei Riemen schlägen zu einer Felsnase. Er schlang die Vorleine herum und stieg an Land. In Höhe des Wasserspiegels klebten M uscheln und Algen an den Felssteinen. Der Boden war zum Teil ziem lich schlüpfrig, oberhalb der Flutlinie aber dann trocken. »Los, Dan! Wer ist als erster oben?« Dan O’Flynn grinste von einem Ohr zum anderen, hatte rote Wangen und blitzende Augen. Das war ein Landgang nach seinem Geschmack. Er kletterte wie ein Affe an Hasard vorbei und arbeitete sich höher, wobei er geschickt Felsvorsprünge, Risse und Einschnitte ausnutzte. Er ließ Dan einen Vorsprung, dennoch langte er vor ihm oben bei den »Fünf Fingern« an, weil er einen Kletterpfad benutzte, den er von früher her kannte. Der Junge starrte ihn verdutzt an. »Du bist schon oben? Hast du gemogelt? Ich konnte dich nur eine kurze Zeit sehen, dann warst du plötzlich verschwunden.« Hasard lächelte. »Zwanzig Yards neben unserer Landestelle führt ein Kletterpfad hoch. Ich war als Junge viel hier. Also
gut, ich habe gemogelt. Dafür biete ich dir einen Ausblick auf die See, wie du ihn sicher noch nie gehabt hast.« Hasard ging vor und führte Dan O’Flynn unter das Pilzdach des M ittelfingers. Schweigend deutete er auf die unendliche See. Dan riß M und und Augen auf und starrte stumm. Links von ihnen ragte Kap Lizard ins M eer wie ein trotzige Burg. Rechts schwang die Küste in einem weiten Bogen westwärts. »Dort liegt Lands End«, sagte Hasard. »Du kannst die Spitze gerade noch erkennen. Bei ganz klarer Sicht sieht man sogar Wolf Rock, das winzige Eiland vor Lands End.« Dan O’Flynn staunte und sagte hingerissen: »M ann, ist das schön. Wie muß das erst sein, wenn bei Sturm die Brecher heranrollen.« Er beugte sich vor und schaute nach unten. »Wir hoch sind wir hier?« »Kanpp fünfzig Yards.« Hasard setzte sich auf einen Stein und deutete auf die Granit wand des M ittelfingers. Dort waren in Kopfhöhe Dans drei Buchstaben und eine Jahreszahl in den Fels gehämmert worden : P. H. K. - 1568. »Philip Hasard Killigrew«, sagte der Seewolf und lächelte. »Das war vor acht Jahren. Ich hab Stunden gebraucht, um mit Hammer und M eißel Zahlen und Buchstaben in den Granit zu schlagen. Hinterher hatte ich Blutblasen und zerhauene Finger. Dafür weiß ich, daß die Zeichen noch sichtbar sein werden, wenn ich längst zu Staub zerfallen bin. Stell dir vor, in drei hundert oder vierhundert Jahren steht jemand hier oben und liest die Initialen und die Jahreszahl. Und dann fängt er an, darüber nachzudenken, wer wohl dieser P. H. K. gewesen sein mochte.« »Toll«, sagte Dan O’Flynn begeistert. »Schade, daß wir nicht Hammer und M eißel dabei haben, dann würde ich meine Initia len und die Jahreszahl 1576 unter deinen Zeichen einhäm mern.«
»Das kannst du ja später mal nachholen. M an kann auch über Land auf einem schmalen Fußpfad hierher. Er ist allerdings ziemlich gefährlich, und man muß ein paarmal über Felsspalten springen, die nicht gerade schmal sind. Hat es dich nie gereizt, hier mal hochzuklettern? Die »Fünf Finger« hast du doch be stimmt schon gesehen, wenn du mit deinem Vater ‘raus zum Fischfang fuhrst.« Dan O’Flynn nickte. »Ich wollte, aber mein Alter hat’s mir verboten. Er hat gesagt, hier seien Wassermänner, die Jungens auffressen …« »Ach du lieber Gott«, unterbrach ihn Hasard. »Wassermänner?« Er grinste. »Hast du welche gesehen?« »Nein.« »Na also. Old O’Flynn hat dir einen ganz schönen Bären auf gebunden.« Dan schniefte. »Damals habe ich’s ihm geglaubt. Heute wür de ich ihn auslachen, den Hundesohn. Hast du gesehen, wie er auf der Pier herumgetobt ist? M ann, war der in Fahrt. Am liebsten hätte er seine Krücken vor Wut aufgefressen. Sir John war auch ziemlich in Fahrt, wie?« »Und ob.« Hasard zeigte seine Zähne. »Was meinst du, was erst los ist, wenn er rund um Irland nach uns sucht und nichts findet. Platzen wird er, der Alte. M ir tun nur die M änner an Bord leid, an denen er dann seine Wut ausläßt. Wenn ihm mal einer einen Belegnagel auf seinen verdammten Schädel hauen würde, sollte mich das gar nicht wundern. Hier, nimm den Kieker. Paß vor allem in Richtung Kap Lizard auf. Ich schau mal, wie die ›Isabella‹ da unten in der Bucht liegt.« »Aye, aye.« Dan O’Flynn setzte sich auf einen Stein vor dem mittleren Felsen und lehnte den Rücken an. Dann nahm er den Kieker vor das rechte Auge und richtete ihn auf Kap Lizard. Hasard kletterte über das Geröll bis an den Rand des Felsens
und spähte hinunter in die Bucht. Die ›Isabella‹ lag so, wie er es gewünscht hatte. Die M änner hatten die Kanonen ausgefah ren, die Ferris Tucker gerade eine nach der anderen kontrollier te. Al Conroy und Smoky standen bei der Drehbasse vorn auf der Back, die schußklar war. Ben Brighton marschierte mit den Händen auf dem Rücken auf dem Achterdeck hin und her. Dan O’Flynns Ruf ließ Hasard herumfahren. »Eine Karavelle!« Hasard kletterte über das Geröll zurück zum mittleren Felsen und blickte zum Kap Lizard hinüber. Und dann lächelte er grimmig. Es war die Karavelle seines Vaters. Dan O’Flynn hatte den Kieker arn Auge und begann plötzlich zu kichern. Er ließ den Kieker sinken und blickte zu Hasard hoch. »Sir John rennt auf dem Achterdeck ‘rum. Doughty ist eben falls an Bord und Thomas Killigrew, dein jüngster Bruder. Und weißt du wer noch?« »Sag bloß dein Alter.« »Genau.« »Was haben wir beide nur für Väter«, sagte Hasard. »Gib mir mal das Glas. Und dann komm hier hinter den Felsen, damit sie uns von da unten aus nicht sehen. Könnte sein, daß Lionel hier hochpeilt.« »Da! Noch eine Karavelle!« stieß Dan hervor und zeigte zum Kap. Eine zweite Karavelle folgte im Kielwasser der anderen, die jetzt an den Wind ging und über Backbord einen Schlag in Richtung Lands End segelte. Hasard spähte durch den Kieker zur Karavelle seines Vaters. Der Alte tobte auf dem Achterdeck herum und schrie seine M änner an, die Segel noch härter dichtzuholen, um höher an liegen zu können. Und dann sah er, daß auch Old O’Flynn kräftig mitmischte. Er schlug einem Seemann die eine Krücke
ins Kreuz, weil der wohl zu lahm an einer Schot zog. Hasard fluchte vor sich hin, obwohl bisher alles so lief, wie er es sich gedacht hatte. »Dein Alter und mein Alter sind bereits jetzt schon in voller Fahrt«, sagte er. »Sie spielen verrückt und rotzen die M änner an, daß es nur so raucht.« »Typisch«, sagte das Bürschchen weise. »M ein Alter kann gar nicht anders.« »Lebt deine M utter noch?« fragte Hasard unvermittelt. Dan O’Flynn schüttelte den Kopf. »Sie ist kurz nach meiner Geburt gestorben.« Verbittert fügte er hinzu: »Acht Kinder hat er ihr gemacht, der alte Huren bock.« Hasard ließ den Kieker sinken und blickte ihn erstaunt an. »Was denn, acht? Du sagtest doch, ihr seid sieben.« »Sieben Söhne, ja. Und noch ‘ne Tochter …« Dan biß sich plötzlich auf die Lippen und schwieg. »Eine Tochter?« fragte Hasard verblüfft. Dan nickte mürrisch. Plötzlich straffte sich sein Gesicht, und er hob den Arm. »Da! Noch ‘ne Karavelle! Sir John bietet ‘ne ganze Flotte auf, um uns zu jagen. M ann, ist das ein Aufwand und nur wegen dieses Scheißsilbers, nicht wahr?« »Das spielt wohl die größte Rolle«, erwiderte der Seewolf. »Zum anderen fuchst es den Alten aber auch, daß wir so eine prächtige Galeone gekapert haben. Na, und dann natürlich die Szene im Hafen. Daß ich nicht das tue, was er fordert, das bringt ihn zur Weißglut.« Hasard richtete den Kieker auf die dritte Karavelle. »Sieh an«, sagte er, »Bruder Simon als Kapitän. Und wo steckt der gute John M alcolm mit seinem Schweins gesicht?« Er suchte mit dem Kieker noch einmal das Achterdeck der zweiten Karavelle ab, konnte aber John M . nicht entdecken. »Dann hat der Alte ihn auf Arwenack zurückgelassen«, fügte er hinzu.
Er beobachtete weiter und hatte Simon mit seinem roten Ge sicht und den roten Haaren genau im Kieker. Simon plustete sich auf wie ein radschlagender Pfau. Hasard grinste. Was der sich fühlte, daß er mal ein Schiff führen konnte! Hasard erin nerte sich, daß Simon Llewelyn die Seefahrt nur kapiert hatte, weil Sir John sie ihm mit einem Tauende eingetrichtert hatte. John M . hatte etwas schneller begriffen, während Thomas Lio nel, der jüngste der Brüder, etwas plump und dümmlich war. Aber alle drei Brüder waren gewalttätig wie Sir John - und ständig hinter irgendwelchen Weiberröcken her, wobei weder Alter noch Schönheit irgendeine Rolle bei ihnen spielte. Weib war Weib, das hatte John M alcolm einmal großkotzig zum besten gegeben, worauf der Alte ihm eine gescheuert und dann dröhnend gelacht hatte. Und jäh wie ein einschlagender Blitz durchzuckten hier oben auf dem Felsen der »Fünf Finger« den Seewolf eine Erkenntnis und sofort eine Frage. Ich bin nicht so - aber warum bin ich anders? Donegal Daniel O’Flynn starrte ihn erschrocken an. »Sir! Habe ich etwas falsch gemacht? Was ist?« Hasard schüttelte den Kopf. Dan O’Flynn sah, wie das plötz lich granitharte Gesicht wieder weicher wurde und die Ver krampfung der Kiefermuskeln sich löste. »Es ist nichts«, sagte der Seewolf. Er sagte es etwas mühsam und leise. »Es ist gar nichts, mir ist nur eben etwas eingefallen - etwas, das mir schon längst hätte einfallen müssen.« Er erinnerte sich an das Verwundern Kapitän Drakes, als dieser erfahren hatte, daß er, der Seewolf, der Sohn Sir John Killigrews sei. Und was hatte Ben Brighton gesagt? »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Und wenn das stim men sollte, dann bist du allerdings sehr weit vom Stamm ent fernt heruntergefallen. Du und dein Vater, ihr unterscheidet euch voneinander wie Tag und Nacht.«
Plötzlich hatten diese Worte eine neue, völlig andere Bedeu tung. Ein Verdacht keimte in Hasard auf, und er wußte, daß er nicht eher ruhen würde, bis er auf eine Frage eine gültige Antwort erhalten hatte. Die Frage lautete: Wer bin ich?
M it zusammengekniffenen Augen, in denen Härte, Trotz und so etwas wie Neugier schimmerten, verfolgte er den Kurs der drei Karavellen, die über Backbordbug westwärts steuerten. M it bloßem Auge waren die M anner auf den Decks nicht mehr zu erkennen. Es war jetzt Nachmittag. Die Sonne stand ir gendwo nicht sichtbar auf ihrer westwärts geneigten Bahn, der verhangene Himmel verbarg sie. Hasard wartete noch eine Viertelstunde, bis er völlig sicher war, daß die drei Karavellen nicht mehr umkehren würden. Zu diesem Zeitpunkt waren die drei Schiffe mit ihren Segeln nur noch undeutlich zu erkennen - wie Geisterschiffe, die in ein Nichts fuhren. Der Seewolf nickte dem Jungen zu, der ihn mit großen Augen anblickte. »Wir segeln zurück nach Falmouth«, sagte er. M inuten später lagen die »Fünf Finger« einsam und verlassen wie imm er. Der Wind strich über ihn hin wie seit Jahrtausenden. Und wie seit Jahrtausenden wurden Hitze und Kälte, Eis und Schnee und Regen an den granitenen Felsen arbeiten, sie polieren oder zerfressen oder zersprengen. Vielleicht würde dann irgendwann einmal die Felsplatte über dem mittleren Finger bersten und ihn mit ihren Geröllmassen
bedecken. Dann würde es wiederum sehr, sehr lange dauern, bis der unbarmherzig nagende Zahn der Zeit auch den mittleren Pfeiler zum Einsturz brachte. Und vielleicht würden dann M enschen einer fernen Zukunft eines Tages rätselnd auf die Zeichen blicken, die eine Jungen hand in ein Stuck des Felsens gemeißelt hatte: P. H. K. 1568 Von dem blutvollen Leben des Seewolfs wurden diese M en schen nie etwas erfahren … 7. In der Abenddämmerung ging die ›Isabella‹ wieder an der Außenpier von Falmouth längsseits und wurde vertäut. Hasard ließ Wachen an Bord mit schußfertigen M usketen und Pistolen aufziehen, des gleichen ließ er zwei M änner die Pier bewachen. Einer von ihnen war Tom Smith. Und der rückte denn auch bereits nach zehn M inuten, als der Seewolf sich in seiner Kammer umzog, mit dem alten Hafenmeister an, der herumze terte und sich ziemlich aufblies. Tatsache war, daß die ›Isabella‹ dieses M al nicht von Pen dennis Castle gesichtet und nach Falmouth gemeldet worden war. Und in der Abenddämmerung hatte der Hafenmeister nicht erkannt, was da für ein Schiff an die Pier ging. Darum krakeelte er herum und verkündete lauthals, die Gale one habe hier an der Pier nichts zu suchen und überhaupt, da könne ja jeder aufkreuzen und mir nichts dir nichts unange meldet im Falmouther Hafen einlaufen. Er - M ac Sullivan - sei der Hafenmeister, und er weise den einlaufenden Schiffe ihren Liegeplatz im Hafen zu. Ordnung müsse sein, verstanden? »Ja, ja«, sagte Tom Smith, »nun halt mal die Luft an, Opa, darüber kannst du dich mit dem Kapitän unterhalten, und ich
schätze, der hat ein gutes Recht, sich gerade dieses Plätzchen hier an der Pier auszusuchen.« Und damit schob er den zeternden Hafenmeister einfach über die Gangway und bugsierte ihn unters Achterdeck zur Kammer des Seewolfes. »Herein!« rief Hasard, als Tom Smith angeklopft hatte. Tom Smith riß das Schott auf. Der Hafenmeister war so rich tig stinkwütend und schoß in die Kammer, prallte jedoch ge nauso schnell wieder zurück, als er Philip Hasard Killigrew erkannte. Der Seewolf grinste. »Hallo, der alte M ac! Wie geht’s denn so, M ister Sullivan? Immer noch Ärger mit dem Zipperlein. Wärme sag ich immer. Wärme tut gut.« Er streckte die Rechte aus, um den Hafenmeister zu begrüßen. M ac Sullivan nahm sie zögernd und wand sich verlegen. »Oh ich wollte - ich dachte - ja, mir geht’s gut, Sir, danke. Ich wuß te ja nicht, daß Sie …« Ihm schien etwas einzufallen, und er starrte den Seewolf entsetzt an. »Aber - aber Sir John ist doch hinter - hinter Ihnen hergesegelt. O Gott, das gibt Stunk, ganz bestimmt gibt das Stunk …« »Nun mal langsam, M ister Sullivan«, unterbrach ihn Hasard. Er ging zu einem Wandschränkchen, schloß es auf und holte eine Flasche schottischen Whisky heraus. Als er sich umdrehte, kniff er ein Auge zu. »Erst mal sollten wir beiden zusammen einen trinken, was?« Tom Smith schloß von draußen die Tür und grinste vor sich hin. Dieser verdammte Seewolf gefiel ihm immer besser. Jetzt kriegte der Opa einen eingeschenkt, dann noch einen und noch einen - bis der Alte einen in der Krone hatte und der Seewolf ihn um den Finger wickeln konnte. Er kehrte auf die Pier zu rück. M ac Sullivan saß auf Hasards Koje, das Glas in der Rechten, und schaute sich in der Kammer um. Er kannte Schiffe, denn vierzig Jahre seines Lebens war er selbst zur See gefahren, zum
Teil auf Schiffen Sir Johns. Diese ›Isabella von Kastilien‹ hier war ein feines Schiff, alle Achtung. »Prost, M ister Sullivan«, sagte Hasard und hob sein Glas, »das Zipperlein möge auf immer und ewig verschwinden.« »Danke, Sir.« Sie tranken sich zu. M ac Sullivan verwittertes Gesicht ver klärte sich, als der Whisky seine Reise in den M agen antrat. Und als er dort anlangte und eine angenehme Wärme verbreite te, schenkte ihm der Seewolf bereits nach. M ac Sullivan kratzte sich das Grauhaar. »Ich - ich weiß gar nicht, ob ich das annehmen darf, ich mei ne …« »Wegen Sir John? Aber M ister Sullivan. Wenn der Kapitän eines Schiffes Sie zu einem Schlückchen einlädt, dann geht das Sir John einen feuchten Staub an. Und ihr Leute von Falmouth solltet ruhig ein bißchen das Kreuz durchdrücken. Sir John ist nicht der liebe Herrgott und schon gar nicht der König von England. Zum Wohl, M ister Sullivan.« M ac Sullivan kriegte eine rote Nase und blanke Augen. Er sagte: »Wir dachten alle, Sie seien auf dem Weg nach Irland, Sir. Sie müssen Sir Johns Schiffen doch begegnet sein?« Über das scharfgeschnittene Gesicht des Seewolfs huschte ein Lächeln. »Nicht direkt. Sir John war zu versessen darauf, Kap Lizard hinter sich zu bringen und auf Irlandkurs zu gehen. Wir lagen hinter dem Kap vor Anker. Sehen Sie, M ister Sullivan, das ist auch so ein Punkt. Sir John denkt imm er, man müsse so handeln, wie er sich das vorstellt. Daß jemand aber etwas ande res tun könnte, das geht nicht in seinen Kopf. Also lassen wir ihn getrost nach Irland segeln, wenn er meint, daß ich dort sei. Er wird seine Lektion schon noch lernen. Zum Wohl, M ister Sullivan.« M ac Sullivan kicherte und trank. Seine wasserhellen Augen funkelten. »Hatten Sie sich versteckt, Sir?«
»Klar.« »In der Bucht der Wassermänner bei den fünf Felsen?« »Psst!« Hasard legte verschwörerisch den Zeigefinger auf die Lippen. M ac Sullivan machte ebenfalls »Psst!« und zwinkerte. Und dann trank er wieder. Nach einer Viertelstunde hatte er sieben Whisky vertilgt und erzählte Hasard den letzten Hafentratsch. Beim neunten Whisky - der Seewolf trank nur zum Schein mit und war erst bei seinem dritten Glas - steuerte Hasard sein Ziel an. »M ister Sullivan«, sagte er, »ich brauche Proviant und Trinkwasser. Um ganz ehrlich zu sein - dieses Schiff ist eine spanische Prise, die wir auf der Reede von Cadiz gekapert ha ben. In den Frachträumen habe ich eine sehr wertvolle Ladung, für die ich Kapitän Drake verantwortlich bin. In Plymouth wurden bereits mehrere Anschläge auf das Schiff und auf mich verübt. Darum verließen wir Plymouth und konnten unsere Vorräte nicht mehr ergänzen. Kapitän Drake selbst ist noch nicht von einem Unternehmen bei den Azoren zurück. Solange muß ich also warten und versuchen, Schiff, M annschaft und Ladung durchzubringen. Ich lief Falmouth an - in der Annahme, hier sicher zu sein. Leider irrte ich mich. Sir John war scharf auf die Ladung wie der Teufel auf eine arme Seele - wahrscheinlich beeinflußt von jenem M ann, den Sie sicherlich an seiner Seite gesehen haben, als wir hier anlegten. Dieser M ann ist zwar M iteigner des Schiffes, mit dem Kapitän Drake unterwegs ist, aber das gibt ihm noch lange nicht das Recht, die Ladung meines Schiffes zu beanspruchen. Diese Entscheidung hat Kapitän Drake zu treffen.« Er schwieg einen M oment und schenkte dem Hafenmeister wieder ein. Dann fuhr er fort: »Das ist in groben Zügen meine Situation. Und Sie, M ister Sullivan, täten mir einen großen Gefallen, wenn Sie mir die Lagerschuppen Sir Johns öffnen würden, um mir die M öglichkeit zu geben, meinen Proviant zu ergänzen.
Ich erinnere mich, daß Sie immer einen Schlüssel für die Schuppen hatten.« M ac Sullivan grinste, wobei sein Kopf beängstigend wackel te. Dann klopfte er auf seine Brust und sagte: »Hier ist das liebe Schlüsselchen, mein Junge!« »Oh, ein guter Platz«, sagte der Seewolf. »Hick!« sagte M ac Sullivan und legte erschrocken die Hand auf den M und. »Ich glaub, ich hab Schluckauf.« »Dagegen hilft nur eins«, sagte Hasard todernst. »Ein Gegenschluck!« Der Pegel in der Whiskyflasche stand auf Niedrigwasser. Ha sard holte eine neue Flasche, öffnete sie und schenkte erneut ein. M ac Sullivan sah sehr glücklich aus. Und Sir Hasard war in zwischen »mein Junge« geworden. »Ich - hick - helf dir, mein Junge.« Er langte in seinen Kragen und zog eine Kette heraus. An der Kette hing das »liebe Schlüsselchen« - ein M onstrum von Schlüssel, kunstvoll geschmiedet und bestimmt so schwer wie ein Belegnagel. M ac Sullivan streifte die Kette samt Schlüssel über den Kopf und reichte sie Hasard. »Hick!« sagte er. »Danke, M ac«, sagte der Seewolf. »Du bist doch ein feiner Kerl.« Er nahm den Schlüssel ent gegen. »Wenn Sir John später etwas merken sollte, sagst du schlicht und einfach, du wüßtest von nichts. Wenn wir uns versorgt haben, geb ich dir den Schlüssel zurück.« »Geht klar - hick!« Hasard verschloß die Flasche und reichte sie M ac Sullivan. Dann holte er noch eine aus dem Schränkchen, und auch sie verschwand unter M ac Sullivans Jacke. »O M ann o M ann«, sagte M ac Sullivan glücklich. Drei M inuten später schlingerte er schaukelnd über die Pier. Allerdings hatte er sich bei Tom Smith eingehakt. Er sang ein
Lied eindeutigen Inhalts, das von einem Seemann handelte, der in einem Hurenhaus am M orgen aufwacht und feststellt, daß er keinen Penny mehr in der Tasche hat. Tom Smith brachte den Hafenmeister in sein kleines Häu schen direkt am Hafen und bewahrte M ac Sullivan zweimal davor, glatt über die Kaimauer zu marschieren und ins Wasser zu fallen.
Indessen zog Hasard mit acht M ännern und Ferris Tucker los, um den Lagerschuppen Sir Johns einen Besuch abzustatten. Er wußte genau, wo der Schuppen mit den Proviantbeständen und Trinkwasserfässer lag. Dieser Schuppen stand auf steinernem Fundament und war unterkellert, so daß dort auch Speckseiten und Würste aufbewahrt werden konnten. Als Hasard das Schuppentor aufschloß, empfing sie jener un definierbare Duft, den er als Junge so gern geschnuppert hatte. Denn da mischten sich die Gerüche herrlicher Gewürze mit dem scharfen Geruch gepökelten Fleisches und dem herzhaften Duft der geräucherten Waren. Die Dunkelheit der Nacht lag bereits über dem Hafen. Da und dort schimmerte Licht aus den Häusern. Hasard leuchtete mit einer Öllampe in die weite Halle, in der Fässer, Regale, Truhen und Kisten standen. Eine Steintreppe linker Hand führte in den Kellerraum. »Zuerst die Trinkwasserfässer«, sagte Hasard und deutete nach rechts. »Sie befinden sich dort an der Wand. Wie viele brauchen wir, Kutscher?« »Zehn genügen.« »Gut, Ferris, laß sie an Bord bringen. Auch ein paar Fässer Bier. Sie stehen links von den Trinkwasserfässern. Dort hinten ist ein Karren, den ihr benutzen könnt. Beeilt euch.«
Hasard ging mit dem Kutscher die Regale ab, während die M änner aufzuladen begannen. Im Nu stapelten sich in der M itte der Halle: Zuckersäcke, M ehlsäcke, kleine Tonnen mit Sirup, gepökeltem Schweine und Rindfleisch, Salz, Säckchen mit Bohnen und Erbsen, ge trockneten Äpfeln und schließlich aus dem Kellerraum Speck seiten und Würste. Der Kutscher entdeckte sogar in Kisten verpackte Zitronen und wies Hasard darauf hin, daß Sir Freemont, der Arzt in Plymouth, gesagt habe, diese Früchte seien ein vorzügliches M ittel gegen Erkältungen und Zahnausfall. Außerdem sei der Saft auch durstlöschend. »Acht Kisten«, befahl der Seewolf. Sie mußten mit dem Karren dreimal hin- und herfahren, bis alles an Bord verstaut war. Zum Schluß ließ Hasard noch zwei riesige Weinfässer aufladen, aus deren eingebrannten Auf schriften hervorging, daß sie spanischen Wein enthielten. Hasard schloß sorgfältig wieder ab, und Tom Smith brachte den Schlüssel zurück zum Hafenmeister, der inzwischen auch die zweite Flasche geköpft hatte, jetzt einen Choral sang und zwischendurch Tom Smith erklärte, er fahre bei dem besten Kapitän, der jemals über die M eere gesegelt sei. Was Tom Smith ohnehin wußte und dazu veranlaßte, seiner seits seine Bekanntschaft mit Philip Hasard Killigrew zu schil dern, die ja zunächst ein vorzeitiges Ende im Witwenbett Abi gail Adelaine Drummers gefunden hatte. Das malte er in aller epischen Breite aus und sparte auch nicht mit pikanten Details. Und M ac Sullivan lachte sich halbtot. Als Tom Smith an Bord zurückkehrte, hatte er auch Schluck auf, was Hasard zu der Bemerkung veranlaßte, er habe den Whisky eigentlich M ac Sullivan zugedacht. Aber da er dabei mit den Augen zwinkerte, empfand das Tom Smith durchaus nicht als Tadel. Ben Brighton erhielt den Befehl, die ›Isabella‹ um M itternacht seeklar zu halten, da sei er, Hasard, wieder
zurück an Bord. Und dann machte sich der Seewolf auf, um seine M utter auf Arwenack zu besuchen. 8. Die Feste Arwenack lag über dem Hafen von Falmouth. Jede Generation der Killigrews hatte an dem uralten Raubsitz ge baut. Unverändert geblieben waren die trotzige Ringmauer aus roh behauenen Granitsteinen und das klitzige quadratische Haupthaus mit den Wehrtürmen an den vier Ecken sowie ein Turmkerker zwischen Haupthaus und Ringmauer. Im Wechsel der Generationen waren Stallungen, Schmiede und Waffen kammer hinzugekommen, und zur Zeit wälzte Sir John waffen technische Probleme, wie und wo er die Ringmauer mit Kano nen bestücken könne. Zur Hafenseite hin war die M auer mit Zinnen versehen. Ein Laufgang innen an der Ringmauer - zu dem an verschiedenen Stellen Treppen hochführten - ermöglichte es Bogenschützen, von jedem Punkt der M auer aus Angreifer unter einen Pfeilha gel zu nehmen. Tatsächlich war die Feste Arwenack bisher noch nie gestürmt oder eingenommen worden. Und sollte es passieren, daß die Ringmauer überrannt wurde, dann bildete das Haupthaus mit den vier Wehrtürmen letzte Zuflucht. Nach menschlichem Ermessen war dieser klotzige Bau uneinnehmbar. Dennoch hatte Sir John, das alte Schlitzohr, auch diese M ög lichkeit erwogen, und so war in einer Arbeitszeit von zwei Jahren ein unterirdischer Fluchtweg entstanden, der unter einer Steinplatte vor dem Kamin der Wohnhalle begann und durch Felsgänge knapp zweihundert Yards außerhalb der Ringmauer in einem Wacholdergestrüpp endete. Das also war Arwenack, der Familiensitz der Killigrews.
Der Seewolf hämmerte an die schmale Tür neben dem wuch tigen Tor im Eingang zur Feste. Abends wurde das Tor ge schlossen. Einziger Einlaß war dann nur durch die schmale Tür. »Wer da?« fragte eine grollende Stimme. »Rate mal«, sagte der Seewolf. Schweigen. Dann räusperte sich jemand hinter der Tür, eine Luke im Türflügel sprang auf, ein bärtiges Gesicht zeigte sich in der Luke. Der Seewolf grinste. »Du Lümmel!« sagte das bärtige Gesicht, und schon flog die Tür auf. Arme wie Stahlklammern umschlossen Hasard und versuchten, ihn anzulüften. Hasard stemmte sich dagegen, um klammerte einen urigen Leib und hob ihn an. Das bärtige Gesicht kratzte an seiner Wange, Beine zappel ten, und dann sagte die grollende Stimme fast zärtlich: »Daß du zurückgekehrt bist!« »Wie spricht der Schmied von Arwenack?« sagte Hasard. Und die grollende Stimme an seiner Wange antwortete: »Wer an die Wand pißt, kriegt nasse Hosen!« Ja, das war der Schmied auf Arwenack - ein Klotz von einem M annsbild, wild, verwegen, mit nackter Brust unter einer Le derschürze, wirrem Grauhaar und Graubart, grauen Augen, runenzerfurchtem Gesicht und eisenharten M uskeln. »Shane«, sagte Hasard, »Big Old Shane - mein großer Sha ne.« Er setzte den Schmied ab und boxte ihm die Rechte in die M agengrube - auch da war nur Eisen. Seine Faust prallte von der M agenwand ab, als sei da ein Katapult verborgen. Das Gelächter des Schmiedes klang, als habe ihn jemand ge kitzelt. »Noch mal. Junge, zeig Old Shane, was du in den Knochen hast, oder du kriegst den Arsch versohlt!« Hasard schlug blitzschnell und mit der Wucht eines Ramm
klotzes zu. Dieses M al schnappte Old Shane nach Luft. »Hui! Du bist noch besser geworden, Junge. Ich glaub, jetzt bist du dem alten Shane über. Darf ich mal?« »Klotz ‘ran, Shane.« Der Schmied schlug aus der Hüfte heraus, kurz, hart und schneller als ein Gedankenblitz. Ein solcher Schlag hätte zum Beispiel Sir Thomas Doughty zum M ond befördert - oder zu mindest auf die Zinnen der Ringmauer von Arwenack. Nur schlug Old Shane daneben, weil dort, wo sich eben noch der flache M agen des Seewolfes gezeigt hatte, nur Luft war. Hasard stand einen Schritt rechts. Und Old Shanes fürchterli cher Hieb zerteilte die Luft und landete im Nichts. Old Shane riß sich im Eigenschwung von den Füßen und landete in den Armen Hasards. »M ein alter Shane«, sagte Hasard leise. »Du bringst mir bei, wie man zuschlägt und vergißt, daß der Gegner noch schneller reagieren kann.« Shane fluchte. »Und wer hat mich hier jung gehalten? Du haust einfach ab, lachst dir einen, und ich soll deinen Alten ertragen - ganz abgesehen von deinen dämlichen Brüdern, die seit deinem Verschwinden so breit geworden sind, daß sie kaum noch durchs Tor passen.« »Wo steckt denn John M alcolm?« »Wieder hinter den Weibern her«, sagte Shane erbittert. »Der wird von Tag zu Tag übler, dieser Schweinefurz. Bleibst du hier, Junge?« »Nein.« »Verdammt. Warum nicht?« Hasards Antwort erfolgte blitzschnell: »Bin ich denn ein Kil ligrew?« Old Shane zuckte zurück und biß sich auf die Lippen. Aber jäh und fast wütend sagte er dann: »Du bist der beste Killigrew, den Arwenack je gesehen hat. Schlag den Alten und seine Brut zum Tempel ‘raus …«
»Und meine M utter?« »Die natürlich nicht. Sie hält ja auch zu dir.« Hasard schüttelte den Kopf. »Nein, Shane, ich habe einen anderen Weg gewählt und gehe ihn zu Ende. Ich gehöre nicht hierher. Kannst du mir sagen, wer ich bin?« Zischende Atemluft stieß aus Old Shanes mächtigem Brust kasten, und grollend erwiderte er: »Ein Idiot. Piß nur ordentlich gegen die Wand, aber ich besor g dir keine trockenen Hosen mehr. Wenn du nicht kapierst, daß hier dein Platz ist, dann ist dir nicht zu helfen.« »John M alcolm ist der Älteste von uns. Er wird Arwenack er ben. Wenn er nicht mehr ist, wird Simon sein Nachfolger sein. Wann? In dreißig oder vierzig Jahren. Nein, Shane. Ich werde meinen Platz woanders finden, vielleicht in der Neuen Welt, in der man freier atmen kann als hier in diesem Gemäuer. Hinter Westindien liegt diese Welt - noch jenseits des Landes, das die Spanier und Portugiesen entdeckt haben. Dahinter ist ein riesi ges M eer. Aber alle M eere haben Küsten. Dorthin möchte ich.« Old Shanes graue Augen waren zusammengekniffen, und sehr leise sagte er: »Vielleicht hast du recht.« Und noch leiser, mehr zu sich selbst, fügte er hinzu: »Eine Insel hinter der Wol ken …« Hasard blickte ihn verwundert an. Eine helle M ädchenstimme vom Eingang des Haupthauses ließ ihn zusammenzucken. »Shane? Wer ist der Fremde?« Zwei Öllampen links und rechts des torartigen Hauseingangs flammten auf. Shane drehte den mächtigen Kopf. »Gut Freund, Gwen. Ein Fremder ist er bestimmt nicht.« Er legte den Arm über Hasards Schulter. »Komm, Junge. Du wolltest sicherlich Lady Anne besuchen, nicht wahr?« »Genau das.«
Gemeinsam schritten sie quer über den Hof auf das Haupt haus zu - der Schmied von Arwenack, ein Riese wie aus grauer Vorzeit, und Philip Hasard Killigrew, ein ebensolcher Riese, aber jung und schmalhüftig und mit dem Gang einer Raubkat ze. Shane - das war für Hasard der Inbegriff von Arwenack. Wenn er überhaupt eine Bindung - außer seiner M utter - zu Arwenack hatte, dann verkörperte sie Shane, der sich um ihn gekümmert hatte, als sei er sein leiblicher Sohn. Sie näherten sich der breiten Steintreppe, die den wuchtigen Eingang umrandete. Auf der obersten Stufe stand ein großes, schlankes M ädchen und sah ihnen neugierig entgegen. Ihr Ge sicht lag im Schatten, weil sich die beiden Öllampen hinter ihr befanden. Dann trat sie zwei Schritte zurück, und ihr Gesicht wurde plötzlich sichtbar. Hasard blieb wie vom Donner gerührt stehen und starrte zu dem M ädchen hoch. Er packte Shanes Arm. »Wer ist das?« Shanes Augen funkelten, das Bartgestrüpp teilte sich und zeigte zwei Reihen weißer Zähne. Er grinste wie ein Wolf. »Das?« sagte er. »Das ist Gwendolyn Bernice O’Flynn, Tochter des alten O’Flynn, mein Junge.« Und leise fügte er hinzu: »Ein Prachtweib, was?« Hasard fand keine Antwort. Langsam ging er weiter. An der untersten Stufe blieb er wieder stehen. Die Hand des M ädchens fuhr zum M und, als wolle es einen Ausruf unterdrücken - und es wurde ziemlich rot. Hasards Gesicht überzog ein Lächeln. »Drei Hurras für den Seewolf, wie?« Er verbeugte sich leicht. »Meinen herzlichen Dank.« »Was denn?« fuhr Shane dazwischen. »Warst du das, Gwen? Laß das nur nicht Sir John erfahren. Du weißt, wie er getobt
hat, daß die Falmouther seinem mißratenen Sohn eine Ovation dargebracht haben.« »Ich verrate nichts«, sagte Hasard und starrte in die grünen, jetzt funkelnden Augen Gwen O’Flynns. »Phh«, sagte Gwen spitz. »Bilden Sie sich nur nichts ein, Sir. Sorgen Sie lieber dafür, daß mein Bruder Dan wieder an den Herd der O’Flynns zurückkehrt und ein ordentliches Handwerk lernt, statt sich auf See herumzutreiben.« Herumzutreiben! Hasard grinste sie an. »Wie bezeichnen Sie denn das, was der alte O’Flynn zur Zeit tut?« »Das ist etwas anderes!« fauchte sie. Hasard schüttelte den Kopf. »Nicht doch. Ich sehe da keinen Unterschied, höchstens den, daß wir - und Dan gehört dazu den Spaniern eine Prise abgejagt und hergebracht haben und nun unsererseits von anderen Herumtreibern wie unseren bei den Vätern und meinen beiden Brüdern samt Besatzung gejagt werden.« Shane kicherte. Gwen O’Flynn stampfte mit dem Fuß auf. »Da gibt’s gar nichts zu lachen, Shane. Der Bengel gehört nach Falmouth und in eine vernünftige Lehre, sonst wird er noch wilder.« Aha, dachte Hasard, darum also wurde das Bürschchen oben bei den »Fünf Fingern« plötzlich so mürrisch und maulfaul, als sie über die Schwester sprachen. Er sagte: »Sie sehen Ver schiedenes sehr falsch, M iß Gwendolyn. Erstens achte ich den freien Entschluß eines M enschen, auch eines Jungen, seinen eigenen Weg gehen zu wollen. Dan hat sich entschieden, zur See zu fahren. Und zweitens - was die ›vernünftige‹ Lehre betrifft. Was ver stehen Sie darunter? M einen Sie vielleicht, so ein Schiff segelt und steuert sich von allein? Und die M enschen, die sich auf ihm befinden, seien komplette Idioten, die nie etwas gelernt haben? Erzählen Sie das mal Kapitän Drake, zu dessen M ann
schaft Dan und ich gehören. Und noch etwas. Dan ist der gebo rene Seemann. Er ist aufgeweckt, reagiert blitzschnell, ist tap fer - manchmal bis zur Verwegenheit, er ist hart gegen sich selbst. Was soll ich Ihnen noch aufzählen? Ich habe an ihm nur Tugenden feststellen können - bis auf seine Verfressenheit, aber ich glaube, die haben wir ihm mit einer Rizinuskur ausge trieben. Seiner Veranlagung nach hat er das Zeug, dermal einst selbst als Kapitän zu fahren. Und England braucht gute Kapitä ne. Dazu zwingt uns unsere Insellage. Gute Kapitäne, die uns neue Welten erschließen, die unseren Handel mit fernen Län dern in Schwung halten und die schließlich auch befähigt sein müssen, auf See zu kämpfen.« »Sie sind wohl ein guter Kapitän, wie?« fragte sie etwas spöt tisch. »Ich weiß es nicht.« Hasard zuckte mit den Schultern. Er leg te den Kopf etwas schief und blinzelte sie an. »Ich nehm e an, die drei Hurras auf den Seewolf galten einem guten Kapitän. Oder irre ich mich da?« Shane kicherte wieder, und wenn Shane kicherte, klang es, als röhre ein Auerochse. »Prächtig, mein Junge, ganz prächtig! Gib’s ihr nur ordent lich, dieser Wildkatze. Seit sie auf Arwenack ist, hat sie uns M ännern einschließlich deiner Brüder nur die Zähne gezeigt.« »Was meine Brüder und den Alten betrifft, höre ich das gern«, sagte Hasard, »denen muß man auch die Zähne zeigen, sonst werden sie immer unverschämter …« »Wie alle M änner«, unterbrach ihn Gwen O’Flynn und blitzte ihn beziehungsreich an. »Oh«, sagte Hasard und tat erschrocken. »Ich bitte um Verzeihung, wenn Sie mich als unverschämt empfinden. Shane, mein guter alter Shane, kann bezeugen, daß Unverschämtheit nicht zu meinen Unarten gehört, nicht wahr, Shane?« »Er hat die Seele eines sanften Lammes«, sagte Shane zu
Gwen O’Flynn und sah dabei aus, als spreche er ein besonders frommes Gebet. Gwen O’Flynn betrachtete ihn mißtrauisch. Fromme Spruche hatte sie von Shane noch nie gehört - eher deftige Flüche. »Gwen! Wo steckst du denn?« rief eine Frauenstimme aus der Halle. »Haben wir Besuch?« »Ja«, sagte Hasard m it tiefer, verstellter Stimme und zwinker te Gwen O’Flynn zu, »ein müder Wandersmann bittet um eine milde Gabe, Mylady.« »Gwen! Wer ist der Kerl, verdammt?« Gwen O’Flynn verbiß sich ein Lachen. Hasard sagte mit seiner verstellten Stimme: »Ich komme von fernen Küsten, Mylady, und bitte um einen Teller Suppe und ein Stück Brot.« Wieder ein Fluch, dann Tack-tack-tack, dazwischen Schritte. Das Tack-tack rührte von einem Spazierstock mit eiserner Zwinge her. Es klang sehr energisch und resolut. Hasard kann te dieses Tack-tack. Jeder, der auf Arwenack wohnte, kannte es. Und wenn Leute aus dem Gesinde es nahen hörten, ergrif fen sie entweder die Flucht oder nahmen hastig eine Arbeit auf. Shane verzog sich. Er hatte noch eine Stunde Torwache, die er freiwillig immer um diese Zeit ging, bis einer der Pferde knechte die M itternachtswache übernahm. In der Eingangstür erschien eine stämmige, blonde Frau, stützte sich auf den Stock und öffnete bereits den energischen M und, um loszudonnern. Gwendolyn Bernice O’Flynn stand sehr gerade und uner schrocken seitlich neben Hasard. Sie lächelte sogar, wie Hasard mit einem schnellen Seitenblick feststellte. Jawohl, diese verdammt hübsche Gwen O’Flynn ging nicht wie alle anderen in die Knie, wenn die Herrin auf Arwenack mit ihrem soldatischen Tack-tack heranmarschierte. Der M und Lady Anne Killigrews klappte wieder zu, dafür riß sie die blauen Augen auf. Sie starrte zu dem jungen, breit
schultrigen Riesen hoch, ein glückliches Lächeln glitt über ihre Züge, ein kurzer scharfer Blick flog zu Gwen hinüber, den das Lächeln wieder milderte - und dann sagte sie nur ein Wort. »Junge!« Und Lady Anne Killigrew, geborene Wolverston, aus der alten Piratensippe der Wolverstons von Suffolk, schneuzte sich, hatte plötzlich feuchte Augen und fluchte, als sie merkte, wie sich zwei Tränen verselbständigten und ihren sichtbaren Weg die Wangen hinunter antraten. Gwen O’Flynn stahl sich leise zur Seite. Und Hasard war mit einem Satz bei seiner M utter, packte sie um die Hüften und schwenkte sie im weiten Kreis um sich herum. Und da kicherte und kickste die Lady, schlang ihre Arme um den Nacken des Sohnes und schmatzte ihn ab, daß es klang, als sei ein Wurf Ferkel am Werk. »Huch!« schrie sie. »Du Zuckersohn von einem Teufelsbraten! Was ich mich freue, du verdammter Lausejunge! Nicht doch, Hasard, mir wird ja ganz schwindlig - huch!« Der Seewolf setzte sie vorsichtig ab. Lady Anne kicherte wieder und wischte sich die Tränen aus den Augen, während sie zu ihm hochschaute. »Und wie du wieder aussiehst«, sagte sie und drohte m it dem Finger. »Hast du viele M ädchen verführt, mein kleiner Satan?« Hasard legte die Hand aufs Herz. »Nicht eine, M om, nicht ei ne einzige, und dabei hatte ich einen ganzen Harem an Bord.« Lady Anne zuckte zurück. »Einen - einen ganzen Harem?« Hasard grinste. »M eine M änner und ich kaperten eine spanische Galeone ein Sklavenschiff, aber das wußten wir nicht. ›Barcelona‹ hieß der verdammte Kasten. Als wir die Frachtluke öffneten und in den Frachtraum schauten, quoll der von Schwarzen über. Und dann stiegen aus der Frachtluke - zweiunddreißig Neger und
siebzehn schwarze Antilopen, jung und nur mit einem Lenden schurz bekleidet …« »Oh«, sagte Lady Anne erschüttert. »M einen M ännern fielen die Augen aus dem Kopf.« »Und dir?« »M ir auch, was dachtest du denn? Aber es kommt noch bes ser. Einer der Schwarzen - ein Prachtkerl, er heißt Batuti und gehört jetzt zu meiner M annschaft - bot mir doch prompt eine der schwarzen Ladys aus lauter Dankbarkeit an - na, du weißt schon.« »Na, und? Und du hast nicht mit ihr geschlafen?« »Aber M om. Verdammt! Was meinst du wohl, was sich dann abgespielt hätte? Zu der Zeit hatte ich fünfzehn M änner von Kapitän Drakes M annschaft als Prisenbesatzung. Fünfzehn M änner und siebzehn schwarze Antilopen, die ständig mit ih ren Brüsten und ihren Hintern wackelten, wenn sie über Deck gingen! O M om, es war die Hölle …« Ein Kichern erklang aus der Dunkelheit rechts von ihnen. »Gwen!« Lady Annes Stimme war sehr ener gisch. »Geh so fort in die Küche. Der faule Jack Jackson soll sofort von dem Braten, den wir heute mittag hatten, etwas zubereiten. Sofort, sagte ich, oder er kriegt was mit meinem Krückstock. Und Wein. Und Gemüse. Und kichere nicht so unverschämt, du dumme Gans!« Gwen kicherte unbekümmert weiter, als sie an den beiden vorbei und ins Haus ging. Und Hasard runzelte nachdenklich die Stirn, als er ihr nachschaute. »Das ist Gwen«, sagte Lady Anne. »Gwen O’Flynn - ein Prachtstück.« »Hab ich auch schon gemerkt«, sagte Hasard und lächelte. »Untersteh dich.« Wieder erschien der Zeigefinger. »Ich hab schon genug Ärger mit John M alcolm, der ihr ständig nach steigt. Ich weiß gar nicht, was ich für Söhne habe.« »Bis auf mich, nicht wahr?« Das klang fast erbittert.
In Lady Annes Gesicht bewegte sich kein M uskel. »Was meinst du damit, Junge?« fragte sie ruhig. »Wer bin ich?« »Philip Hasard Killigrew, wer sonst? Zweifelst du daran?« »M anchmal ja.« »Und warum?« »Weil ich anders bin als die Killigrews.« Hasard schwieg ei nen M oment. Dann sagte er: »Wollen wir nicht in die Halle gehen?« Lady Anne nickte. Hasard hakte sie unter und führte sie über einen kurzen Flur, an dessen Wänden rechts und links Waffen hingen, in die riesige Halle von Arwenack. In dem Kamin unter dem Hirschgeweih brannte das Feuer, Buchenscheite knackten, rote, warme Glut sprang ihnen entgegen. Es war wie im mer Nacht über Arwenack, dem Stammsitz der Killigrews. Nur der alte Sir John und zwei seiner Söhne fehlten, um wieder einmal zu räubern. Nur war dieses M al das Objekt ihrer Räuberei der eigene Sohn und der Bruder. Und John M alcolm räuberte unter den M ädchen. Eine namens Dorothy Monck hatte es ihm be sonders angetan. Hasard schüttelte den Kopf. Verrückt, dachte er und starrte zu dem Hirschgeweih hoch, in dem Sir John gezappelt hatte. Lady Anne saß sehr gerade in einem geschnitzten Eichenstuhl mit hoher Lehne. Ihr Spazierstock, gehalten von ihrer Rechten, lehnte genauso aufrecht neben ihr. Ihre blauen Augen fixierten den jungen Riesen, der zu dem Hirschgeweih hochblickte. »Und warum bist du anders als die Killigrews?« fragte sie. Hasard drehte sich um und schaute zu ihr hinunter. Sein Ge sicht hatte plötzlich ein Härte, die Lady Anne noch nie an ihm entdeckt hatte. »Dort unten«, sagte Hasard, liegt die ›Isabella von Kastilien‹, eine Galeone, die von Westindien nach Spanien gesegelt wur de. In ihrem Frachtraum befinden sich dreißig Tonnen Silber. Ich kaperte sie auf der Reede von Cadiz. Schiff und Ladung
gehören der Krone und zu gewissen Teilen Kapitän Drake und jenen Eignern, die sein Schiff, die ›Marygold‹, ausrüsteten. Dieses Schiff - die ›Isabella‹ - brachte ich nach England. In Plymouth begann der Ärger - merkwürdigerweise immer in Verbindung mit einem gewissen Sir Doughty, der allerdings M iteigner an der ›Marygold‹ ist. Anschläge wurden auf mein Schiff verübt. Und auf mich. Da ist vieles undurchsichtig, was diese Anschläge betrifft. Ich habe nämlich nicht nur die Silber ladung an Bord, sondern unter Umständen etwas viel Wertvol leres - Seekarten von der Neuen Welt.« »M ein Gott!« entfuhr es Lady Anne. Hasard nickte grimmig. »Und da schlägt mir mein eigener Vater vor, ich solle mit ihm teilen - das heißt, ich solle Kapitän Drake und damit die englische Krone betrügen. Ich habe abge lehnt und mußte Sir John mit Gewalt von Bord entfernen las sen. M eine Auffassung von Treue und Gehorsam einem M anne gegenüber, dem ich mich verpflichtet habe und der mir ver traut, scheint nicht mit Sir Johns Auffassung übereinzustim men, alle Welt bestehlen und begaunern zu müssen. Das ist es, was uns unterscheidet. Und wenn ich meine Brüder betrachte, so sind die um keinen Deut besser als ihr Erzeuger. Das wäre das eine. Das andere ist die Erkenntnis, daß ich wohl ein Ku ckucksei im Nest der Killigrews sein muß, jedenfalls unter scheide ich mich von euch wie ein Kuckuck vom Papagei. Das fällt selbst anderen auf. M ein Bootsmann meint, Sir John und ich unterschieden sich wie Tag und Nacht. Taktvollerweise sagte er, Sir John wäre bei diesem Vergleich die Nacht.« Lady Anne saß immer noch in ihrer kerzenger aden Haltung in dem Eichenstuhl. Ihr M und war fest zusammengepreßt, ihre Augen starrten in das Kaminfeuer, als versuche sie, aus den zuckenden Flammen etwas herauszulesen. Sie schien mit ihren Gedanken weit weg zu sein. »M om, hast du mir überhaupt zugehört?« Lady Anne wandte den Kopf und blickte den Sohn an.
»Wirst du in Falmouth bleiben?« fragte sie. »Nein«, erwiderte Hasard. »Um M itternacht laufen wir wie der aus.« Er lächelte. »Aber bestimmt nicht nach Irland, wie Sir John anzunehmen scheint.« Lady Anne seufzte erleichtert. Hasard hatte ein feines Gespür für die Empfindungen seiner M utter. Etwas bedrückte sie, aber sie würde sich eher die Zunge abbeißen, als darüber zu spre chen. Sie war nicht auf das eingegangen, was er wisse wollte. Also verbarg sie etwas. Unvermittelt fragte sie: »Bindet dich etwas an Arwenack?« Überrascht schaute er sie an. »Ob mich etwas an Arwenack bindet? Aber ja - du, zum Beispiel. Und mein alter Shane.« »Und sonst?« »Sonst nichts - höchstens die Erinnerung an eine Jugend, in der ich mich gegenüber Sir John und meinen Brüdern durch setzen mußte, um von ihnen nicht niedergetrampelt zu wer den.« »Ich weiß«, sagte Lady Anne. »Und heute bist du stärker und besser als sie, nur das zählt. Und so oft du nach Arwenack zu rückkehrst, immer wirst du zu Shane und mir zurückkehren, zählt das nicht auch?« »Ja, es zählt«, erwiderte Hasard leise. »Ihr beiden seid Arwe nack.« Er strich sacht über die Hand, die den Krückstock hielt. »Genug von m ir. Wie geht es dir, M om?« Lady Anne seufzte. »Wie einem alten Karrengaul. M an zieht und zieht, und mit der Zeit wird die Last schwerer und schwe rer. Na, und deine Brüder, diese verdammten Kerle … Seit du nicht mehr da bist, werden sie im mer ruppiger, lauter und rabi ater, als gehöre ihnen die Welt. Es ist schlimm mit ihnen.« »Nimmt sie Sir John nicht an die Zügel?« »Der ist genausso. Ich atme im mer auf, wenn die Kerle mal aus dem Haus sind und hier nicht ständig herumbrüllen. Gott sei Dank habe ich Gwen O’Flynn. Eine Tochter hat mir immer gefehlt, jetzt hab ich sie.«
»Eine sehr hübsche Tochter. Ich habe erst jetzt erfahren, daß der alte O’Flynn auch eine Tochter hat. Seit wann ist sie bei dir?« »Seit knapp einem M onat. Der alte O’Flynn mit seinen sieben Söhnen wußte nichts mit ihr anzufangen und gab sie noch als Kind in die Obhut einer verwitweten Tante. Sie geht mir zur Hand, hilft mir bei allem und soll hier eines Tages das Zepter in der Hauswirtschaft übernehmen, wenn ich nicht mehr so recht kann. Bei mir lernt sie, was dazu nötig ist.« »Und bei mir lernt der Jüngste der O’Flynns - Dan O’Flynn -, wie man zur See fährt.« Hasard lächelte. »M erkwürdig, wie? Zwei O’Flynns begegnen fast zur selben Zeit zwei Killigrews und schließen sich ihnen an. Wenn dir bereits Gwen ans Herz gewachsen ist, so geht mir das mit Dan genauso. Er ist ein blitzmunteres Bürschchen. Seine Schwester meint allerdings, er solle etwas Vernünftiges lernen. Wir hatten vor dem Eingang vorhin darüber einen kleinen Disput. Von der Seefahrt scheint sie nicht allzuviel zu halten.« »Vergiß nicht, daß ihr Vater dabei sein Bein verloren hat, mein Junge. Wo bleibt denn das gute Stück?« Sie klopfte meh rere M ale mit der Stockzwinge auf den Steinboden. »Gleich!« schrie Gwen O’Flynn aus einem Trakt hinter der Halle, wo sich die Küchenräume von Arwenack befanden. Dann marschierten sie auf: voran Gwen O’Flynn mit einem Weintablett, hinter ihr zwei Küchenmädchen und Jack Jackson, der Küchenchef, mit übervollen Tabletts, auf denen sich Schüs seln, Pfannen, Teller und Besteck befanden. »Und ich wollte nur eine Suppe und ein Stück Brot«, sagte Hasard entgeistert. Die Küchenmädchen knicksten und hatten verliebte Augen. Na ja, der Schwarm von Arwenack war wieder da, braunge brannt und noch männlicher als sonst. Und dem alten Ekel Sir John hatte er gezeigt, was ein richtiger M ann ist. Das Gesche hen unten im Hafen hatte schnell die Runde gemacht, und jeder
hatte noch etwas hinzugedichtet. Und vergessen war auch noch nicht jene Kunde vom Oktober aus Plymouth, wo die Legende von dem wilden Seewolf entstanden war, der es mit über hun dert M ännern aufgenommen haben sollte, die ihm ans Leder gewollt hatten. Hundert M änner! M an stelle sich das vor! Die braunhaarige Noreen kriegte das Zittern und glühende Wangen. Und die blonde Jenny hatte plötzlich merkwürdig weiche Knie und verspürte wohlige Schauer. Das Geschirr auf ihren Tabletts begann vernehmlich zu klirren und zu schep pern. »Was ist denn mit euch los?« fuhr Gwen O’Flynn die beiden erbost an. »Noreen! Paß doch auf, du hältst das Tablett ganz schief. Was ist denn in euch gefahren?« Lady Anne senkte den Kopf, und Hasard bemerkte, daß sie M ühe hatte, ihr Lachen nicht zu zeigen. »Willkommen auf Arwenack, Sir«, sagte Jack Jackson und verbeugte sich. »Sie mochten doch immer so gern Rehbraten, nicht wahr? Ich habe ihn extra zubereitet, als ich hörte, daß Sie hier sind.« Er wandte sich zu Lady Anne um. »Entschuldigung, Mylady, der Braten von heute mittag war mir nicht gut genug für Sir Hasard. Ich meine, schließlich soll er doch wirklich etwas Gutes serviert erhalten. Das sagte auch M iß Gwen, nicht wahr, M iß Gwen?« Jetzt kriegte Gwen O’Flynn einen roten Kopf und weiche Knie. »Vorsicht, die Flasche rutscht«, sagte Hasard und sprang schnell auf. Er nahm ihr das Tablett ab und stellte es vorsichtig auf den Tisch. »Oh«, sagte Gwen und war ziemlich verbiestert. Hasard strahlte den Küchenmeister an. »Vielen Dank, M ister Jackson - Rehbraten, mein Leibgericht. Das haben Sie also nicht vergessen. Erinnern Sie sich noch, wie Sie einmal eine Rehkeule suchten, die in meinem M agen verschwunden war? Sie hatten die Keulen genau gezählt, aber
eine fehlte. Ganz unglücklich waren Sie. Da gestand ich Ihnen, daß ich sie gemaust hätte -und was taten Sie? Sie gaben mir noch eine Keule, weil ich den M ut gehabt hätte, es zu sagen.« »Ja, M ut hatten Sie immer, Sir Hasard. Im Gegensatz zu Ihren drei Brüdern …« »Jackson«, sagte Lady Anne streng. »Verzeihung, Mylady. Also, dann wünsche ich auch guten Appetit, Sir Hasard.« Jack Jackson verbeugte sich. »M einen herzlichsten Dank, M ister Jackson. Sie sind ein En gel. Und Appetit habe ich ganz bestimmt. Herzlichen Dank, Jenny, herzlichen Dank, Noreen, und ganz herzlichen Dank auch, M iß Gwen.« Da war er wieder, dieser Charme, der alle bestrickte. Lady Anne blickte zu dem schwarzhaarigen, blauäugigen Riesen hoch, der dort so lässig und dennoch gespannt wie eine Feder stand, ein leises Lächeln im Gesicht, ein mutwilliges Blitzen in den scharfen Augen. M it ein paar Griffen war der Tisch vor dem Kamin gedeckt, und die drei M ädchen verließen mit Jack Jackson die Halle. »Sie lieben dich alle«, sagte Lady Anne. »Fast könnte ich ei fersüchtig werden.« »Na, na«, sagte Hasard. »Hast du eine gute Besatzung?« »Ich glaube die beste, die ein Kapitän je gehabt hat.« »Das kann ich mir denken. Setz dich und lang zu, mein Jun ge. Laß es dir schmecken.« »Danke, M om.« Hasard setzte sich. »Kriegst du nicht auch Appetit?« Lady Anne lachte. »Schau dir mal meine Figur an! Ich muß schleunigst abnehmen.« »Auch kein Gläschen Wein?« »Also, da sag ich nicht nein.« »Na, siehst du!« Hasard stand wieder auf, nahm die Weinflasche, schenkte
sich etwas ein, probierte, nickte anerkennend, schenkte ein zweites Glas voll und reichte es seiner M utter. Dann schenkte er sich nach. »Auf dein Wohl, mein Junge«, sagte Lady Anne. »Danke, M om, auf dein Wohl und deine Gesundheit.« Sie tranken sich zu, und dann fiel Hasard wie ein verhunger ter Wolf über den Braten und die Speisen her. Und zwischendurch erzählte er: vom andalusischen Schlaf trunk und dem Kätzchen Nathaniel Plymsons, von der Schlacht vor der ›Bloody Mary‹ in Plymouth, von Donegal Daniel O’Flynn, von Kapitän Drake und der ›Marygold‹, von der »Santa Barbara« und der »Barcelona«, von seinem »Harem«, von den Azoren, von dem tollkühnen Durchbruch auf der Ree de von Cadiz … Und Lady Anne lauschte hingerissen. 9. Zwanzig M inuten vor M itternacht stand der Seewolf vor der Seitentür der Ringmauer. Lady Anne war todmüde, aber glück lich und ein wenig beschwipst ins Bett gesunken. Auf Arwenack kroch man sonst um diese Zeit früh unter die Federn. Ein milchiger, flacher M ond warf bizarre Lichter und Schatten über den dunklen Hof. Verdutzt blickte sich Hasard um. Wo war der Wachtposten? Er rüttelte an der Seitentür. Sie war verschlossen. Hasard überlegte. Vielleicht sollte er noch zu Shane gehen. Auch, um sich von ihm zu verabschieden. Oder sollte er - wie früher so oft - über die M auer steigen? Hasard grinste vor sich hin, jungenhaft, fröhlich. Ja, das würde er tun. Der alte Shane brauchte seinen Schlaf.
Hasard pfiff vor sich hin und wandte sich nach links, wo eine der Treppen zum Wehrgang hochführte. Er passierte eine M auernische und blieb erstarrt stehen. Als er herumwirbelte, was es bereits zu spät. Er stoppte den Sprung und lauerte. Die Gestalt vor ihm hob die Pistole ein wenig an. »Na los, du Bastard«, sagte John M alcolm Killigrew, »spring nur, damit ich dir ein Loch in deinen verdammten Wanst schießen kann.« John M alcolms Stimme zitterte vor Wut und Haß, sein Ferkelgesicht mit den auf geworfenen Lippen war verzerrt, M ordlust glitzerte in seinen blaßblauen Augen. Aber die Pistole lag ruhig in seiner Hand. Hasard wußte seine Chancen genau einzuschätzen, dieses M al standen sie mehr als schlecht. Und er kannte seinen gewalttäti gen Bruder, der würde bei der geringsten Bewegung mit Genuß und Bedacht schießen. Und wohin er schießen würde, war Ha sard ebenso klar: in den Unterleib. Auf diese drei Schritte Dis tanz würde John M . sein Ziel treffen, das war mal so sicher wie das Amen in der Kirche. »Amen«, sagte Hasard laut. »Wie bitte?« »Ich sagte ›amen‹.« »Das nutzt dir auch nichts, zur Hölle fährst du so oder so. Und unser Alter wird dir dazu ein Präludium vorgeigen, daß dir Hören und Sehen ver geht.« »Nett von ihm«, sagte Hasard. »Und was soll das Ganze?« »Das will ich dir genau sagen, du stinkige Wanze von einem Kapitän - ha-ha-ha - Kapitän! Eine Witzfigur von Kapitän! Verläßt sein Schiff, um groß vor seiner M utter anzugeben und um sie herumzuscharwenzeln - ha-ha-ha …« »Zur Sache«, sagte Hasard kalt. John M alcolm stieß den bulligen Kopf vor. »Ich werde dein Schiff hoppnehmen, großer Kapitän. Und ich weiß auch schon, wie.
Eine todsichere M ethode. Du wirst sehen, wie hervorragend sie klappt.« »Spuck’s aus und red nicht soviel.« »M orgen bei Tag wirst du vor meiner Pistole durch Falmouth zum Hafen marschieren - natürlich mit einem Strick um den Hals. Und ich werde reiten und mit der Peitsche dafür sorgen, daß du auch schön in Trab bleibst. Vielleicht sollten wir dir auch ein Büßergewand anziehen …« »Oder nur ne Zipfelmütze«, schlug Hasard vor, »und sonst nackt.« Trotz des diffusen Lichtes sah Hasard, wie John M alcolms Gesicht dunkelrot anlief. »Dir werden die Sprüche schon noch vergehen, du M ist stück!« fauchte John. »Hör schön zu, damit du kapierst, wer hier den Ton angibt. Vor deinem Schiff werde ich diese Pistole an deine Schläfe halten und deine Kerle auffordern, waffenlos einer nach dem anderen das Schiff zu verlassen. Wenn nicht puff! Und du wirst ohne Köpfchen ‘rumrennen.« »Könnte klappen«, sagte Hasard ruhig. »Du bist genial, Bru derherz. Und wie kommst du dann mit der englischen Krone klar? Und mit Kapitän Drake?« »Leck m ich doch am Arsch.« »Ach, lieber nicht, denn du Drecksau warst noch nie sehr sauber. Aber im Ernst. Als großer Stratege solltest du doch bedenken, daß man heute nicht mehr wie früher mal so eben ein Schiff hoppnehmen kann, das der Königin von England gehört. Selbst ein Vizeadmiral von Cornwall kann da nicht mehr so schalten und walten, wie es ihm paßt. Er ist Untertan der englischen Krone und ihr auf seinen Eid verpflichtet. Ihr landet alle am Galgen, Bruderherz.« »Spar dir deine frommen Sprüche. Wir Leute von Cornwall pfeifen auf die Krone. Das Schiff gehört uns und damit basta.« »Paß nur auf, daß meine Männer deinen schönen Plan nicht durchkreuzen, mein Guter. So leicht sind die nicht zu leimen.«
Hasard wollte etwas erfahren, und er erhielt auch prompt die Antwort. »Deine M änner? Von denen kommt keiner mehr von Bord. Ich hab die Pier abgeriegelt.« »Oh, sehr aufmerksam. Hoffentlich mit einem starken Aufge bot, oder?« John M alcolm grinste verächtlich und überheblich. »Starkes Aufgebot? Für deine paar müden Schiffsknechte werden ja wohl zwei M änner genügen nicht wahr?« Hasard tat sehr erschüttert und sagte zustimmend: »Da muß ich dir leider beipflichten.« John M alcolm schmatzte mit seinen Ferkellippen und winkte mit der Pistole. »Vorwärts, großer Kapitän. Der Turmkerker wartet auf dich. Und, sei schön vorsichtig. Falls mir etwas an deinen Bewegungen nicht paßt, hast du ein Loch im Kreuz. Geh vor mir her, hebe deine Hände und falte sie hinter deinem Nacken.« Hasard tat es, drehte sich um und marschierte los. Hinter sich hörte er die Schritte seines Bruders. Er ging quer über den Hof auf den Turmkerker zu. Und da sah er aus den Augenwinkeln nur Bruchteile von Sekunden eine Bewegung neben dem vorderen Eckturm des Haupthauses. Er beherrschte sich, den Kopf weiter zu wenden, und trottetet scheinbar in sein Schicksal ergeben, auf die Eisentür des Turmkerkers zu. Hatte John M alcolm die Bewegung auch gesehen? Nein, dessen Schritte blieben unverändert. Wer oder was hat te diese Bewegung verursacht. Shane? Hasard atmete tief durch. Wenn es Shane war, und dieser Dreckskerl von John M alcolm schoß auf ihn, dann würde er den Bruder erwürgen, und wenn es das letzte war, was er in diesem Leben noch tun würde. »Halt!« sagte John M alcolm. »Gehe drei Schritte weiter und öffne die Eisentür. Sie ist unverschlossen. Aber sei sehr behut
sam. Ich habe meine Pistole angeschlagen und ziele genau dorthin, wo dein Kreuz zu Ende ist und deine Arschfalte an fängt. Was meinst du wohl, was das für ein Schuß wird, wenn ich da die Kugel hinsetze, he?« Hasard zuckte mit den breiten Schultern. »Ich möchte an der Stelle noch eine Weile heil bleiben, Bru derherz. Und wenn, dann habe ich lieber meine Wunden auf der Brust. Wenn man seinen Gegner sieht, ist das würdevol ler.« »Ha-ha-ha!« röhrte John M alcolm. »Immer der alte Hasard, wie?« »Genau. Immer der alte Hasard. Und vergiß nie die M aul schelle, die ich dir vorm Kamin verpaßte, als der Alte im Hirschgeweih hing. Das nächstemal wird’s nicht bei einer M aulschelle bleiben.« John M alcolm fluchte wild. Hasard tat die drei Schr itte und öffnete die Eisentür. M uffiger Geruch schlug ihm entgegen - und Grabeskälte. Und Licht schein! Verdammt, John M . mußte sich seiner Sache sehr si cher gewesen sein. Er hatte vorgesorgt. Rechts hinter dem Ein gang hing eine brennende Ölfunzel, die ein trübes Licht spendete. Links führte eine eiserne Wendeltreppe nach oben zu einer Plattform, von der aus der Turm verteidigt werden konn te. Da oben waren im Rund der M auer schmale, hochschlitzige Schießscharten angebracht worden. Als Jungen hatten sie oft genug ausprobiert, wie wirkungsvoll von dort oben ein Pfeil schuß auf den Hof war. Rechts, in Höhe der Ölfunzel, führten Steintreppen zu einem Keller gewölbe hinunter, das hinter einem riesigen Eisengitter lag. In dem Eisengitter befand sich eine Tür - ebenfalls aus Eisenstäben -, die bereits offenstand. »Vorwärts!« befahl John M alcolm. »Du weißt ja, wohin.« Hasard betrat den Turmkerker, wandte sich nach rechts und stieg die Stufen hinunter.
»Ich empfehle dir, bis nach ganz hinten durchzugehen«, sagte John höhnisch, »bis zur Wand.« Hasard trat durch die geöffnete Tür, durchquerte den Keller raum bis zur Außenmauer und blieb stehen. Hinter sich hörte er die hastigen Schritte John M alcolms, dann quietschten Angeln, rasselnd schlug die Gittertür zu. John M alcolm hakte das wuchtige Schloß in die Krampen und schloß ab. Sein widerliches Lachen dröhnte durch das Gemäuer. Hasard drehte sich langsam um und nahm die Hände herunter. Er lehn te sich gegen die kalte M auer und starrte seinen Bruder an. Der eisblaue Blick! Abrupt brach das Lachen ab. Und wieder glitzerte Haß in den blaßblauen Augen John M alcolms. »Wie fühlst du dich, Bastard?« »Gut. Ich habe vorhin einen vorzüglichen Rehbraten gegessen und einen ausgezeichneten Wein getrunken. Ich hätte nichts dagegen, jetzt ein paar Stunden zu schlafen.« Er gähnte. »Verschwinde, du rothaarige Laus.« John M . knurrte vor Wut. Daß dieser Bastard völlig uner schüttert tat und ihn auch noch verhöhnte, das reizte ihn bis zur Weißglut. Er deutete auf eine Bohlentür neben der Steintreppe zum Keller gewölbe. »Du hast wohl Sehnsucht nach der Folterkammer des Alten, wie? Nach der Streckbank zum Beispiel, wo wir dich noch ein bißchen in die Länge ziehen könnten. Die spanische Halskrau se mit den Nägeln wäre auch zu empfehlen, oder die Daumen presse, aus der das Blut so schön herausspritzt - ha-ha-ha!« Angewidert betrachtete Hasard seinen Bruder. John M alcolm hatte von jeher einen Hang zum Sadismus gehabt. Er quälte Tiere, er quälte M enschen - aber immer nur Wesen, die sich seiner nicht erwehren konnten, weil sie schwächer waren. Er war tückisch und boshaft und konnte Stunden damit zu bringen, immer neue Gemeinheiten auszuhecken.
Dabei war er selbstherrlich, pochte auf sein Recht des Erstge borenen und zukünftigen Erben von Arwenack und war alles in allem nur ein mieser Abklatsch seines Vaters. Sir John war ein Ekel, aber bei allen seinen schlechten Eigenschaften hatte er ein Format, das keiner seiner Söhne - mit Ausnahme Hasards je erreichen würde. Unter der äußeren Stabilität Arwenacks schlummerten Span nungen, die im Laufe der Jahre entstanden und nie abgebaut worden waren. Ein zu starker Druck würde sie reißen lassen, und dann würde die Hölle los sein. Hasard hatte unbewußt gespürt, daß er im Zentrum dieser Spannungen stand, und darum hatte er Arwenack verlassen. Nicht, daß er eine Auseinandersetzung scheute, aber sie er schien ihm sinnlos. Verächtlich sagte er: »Versuch’s doch mal. Aber vergiß nicht, daß ich dir nicht mehr den Rücken zuwende. Von hinten er wischst du mich nicht mehr.« Er bückte sich und zog ein M es ser aus dem Stiefelschaft. »Los, schließ auf und komm her! Du wolltest mich foltern? Los doch!« John junior wich von dem Gitter zurück. »Schmeiß sofort das M esser weg!« schrie er. »Nein.« »Ich schieße!« »Tu’s doch.« Hasard wog das M esser in der Hand. John M alcolm hob abwehrend die Hände und stolperte die Stufen hoch. Sekunden später sprang er nach draußen und knallte die Ei sentür zu. Hastig schloß er ab und steckte den Schlüssel in sei nen Wams. Nein, da konnte er herausfallen, zusammen m it dem Schlüssel für die Gittertür. Er zerrte beide Schlüssel wie der hervor, fluchte, weil sich einer im Stoff verhakte, riß an ihm, bis er sich samt einem Stoffetzen löste, fädelte seine Halskette durch die beiden oberen Ringe und stopfte die beiden Schlüssel in seinen Halsausschnitt.
Dabei keuchte er, als habe er einen steilen Ber g erstiegen.
Als er die leisen Schritte hinter sich hörte, fuhr er entsetzt herum. »Oh, Sir John! Habe ich Sie erschreckt? Entschuldigen Sie bitte.« Gwendolyn Bernice O’Flynns Stimme war zuckersüß. »Es ist eine so schöne Nacht« - die Nacht war alles andere als schön -, »und da wollte ich noch einmal etwas Luft schnap pen.« »Eh?« John M alcolm sah reichlich blöd aus. »Ja, und da entdeckte ich Sie, Sir John. Oh, erst dachte ich, Sie seien ein Geist.« Sie kicherte. »Aber Sie sind Fleisch und Blut. Sicherlich wollten Sie auch noch einmal an die reine, klare Nachtluft, nicht wahr? Nein, was für ein Zufall, daß wir uns hier beide treffen. Ich bin ganz verwirrt! Puh, ist mir warm!« Ungeniert knöpfte sie das Oberteil ihres Kleides auf und fä chelte sich mit den beiden Teilen Luft zu. Welch ein Anblick! John M ., das Ferkel, grunzte und schmatzte und starrte lüstern auf zwei paradiesische Rundungen, die zur Hälfte sichtbar wurden und prall gegen den Leinenstoff stießen. Nach dem Ausdruck seines Ferkelgesichts zu schließen, war er bereit, Gwen O’Flynn auf der Stelle zu ver gewaltigen. Er stöhnte brünstig und tappte auf Gwen zu. Sie kicherte und wich zurück. »Darf ich Ihnen noch ein Glä schen Wein kredenzen, Sir John? Von dem schweren spani schen? Er geht so ins Blut. Ich würde ja auch gern einmal da von nippen.« Er grunzte zustimmend und leckte sich über die Ferkellippen.
Ah, das versprach eine Nacht zu werden, die er bis zur Neige auskosten würde. Er zitterte vor Begierde und malte sich be reits aus, wie er es mit ihr treiben würde. Seit sie auf Arwenack weilte, war er verrückt nach ihr. Und jetzt schien sie endlich bereit zu sein. Vor seinen Augen wallten rote Nebel, das Blut jagte hämmernd durch seine Adern. Wer John M alcolm Killigrew jetzt sah, könnte meinen, er stünde dicht vor einem Schlaganf all, und tatsächlich war er gar nicht weit davon entfernt. Sein Herz pumpte das Blut in hek tisch pulsierenden Stößen durch seinen Körper, so daß er das Gefühl hatte, zu platzen. Der Schweiß lief ihm in Strömen vom Gesicht und am Körper hinunter. »Wohin?« keuchte er. Sie tanzte vor ihm her. »Wohin? In die Trinkstube natürlich.« »Und dann?« »Oh!« Sie girrte aufreizend. »Das müssen Sie doch wissen, Sir John. Ich kenne mich da nicht so aus.« »In dein Bett!« sagte er brutal. »In mein Bett! Aber niemand darf etwas merken. Oh, ist das aufregend!« Er stolperte hinter ihr her, keuchend, schnaufend, grunzend, schmatzend, ein verfetteter Bulle mit einem gierig verzerrten Ferkelgesicht. Gwendolyn Bernice O’Flynn spielte ein verdammt gefahrli ches Spiel mit fast zu hohem Einsatz. Sie hatte alles gehört und gesehen. Sie hatte ihn noch einmal sehen wollen, bevor er ging, und hinter dem Eckturm gewartet. Aber da war plötzlich dieser widerliche John M alcolm aufgetaucht, hatte den Wachtposten weggeschickt, die Seitentür geschlossen, war zum Turmkerker gehastet, hatte ihn aufgeschlossen, war in ihm verschwunden, hatte dort eine Lampe angezündet, die Tür wieder geschlossen und sich in der M auernische verborgen. Entsetzt hatte sie alles beobachtet, und dann war es zu spät
gewesen, Hasard noch zu warnen. Aber es war noch nicht zu spät, ihn wieder zu befreien, bevor der M orgen graute und John M alcolm seinen Plan in die Tat umsetzen konnte. Die Trinkstube lag seitlich der Halle von Arwenack in einem Keller gewölbe, zu dem eine Treppe hinunterführte. Gwen durchquerte die Halle und hüpfte leichtfüßig die Stufen hinun ter. Ohne daß er es merkte, knöpfte Gwen ihr Kleid wieder zu. Jetzt mußte sie vorsichtig sein und durfte ihn nicht zu sehr rei zen. Ihr war keineswegs entgangen, daß John M alcolms Zu stand bereits an Raserei grenzte. John M alcolm polterte wie eine Steinlawine die Stufen hinun ter. »Psst!« flüsterte Gwen. »Nicht so laut, Sir John. Die Lady hat sehr scharfe Ohren.« John M . grunzte etwas Unverstandliches und schlich auf Gwen zu. Sein Schweißgeruch war unerträglich. »Hinsetzen!« befahl Gwen scharf und wies herrisch auf einen geschnitzten Eichenstuhl. Seltsamerweise gehorchte John M alcolm. Fast erschöpft sank er in den Stuhl und wischte sich über die nasse Stirn. Von der Halle f iel Licht herunter. Gwen entzündete ein paar Kerzen, holte von einem Wandbord einen Zinnhumpen, ging zu einem großen Faß und zapfte öligen, dunkelroten Wein ab. John M alcolm trank wie ein Verdurstender, rülpste, trank und trank. Der Humpen war leer, als er ihn absetzte. »Uaaah!« M it dem rechten Handrücken fuhr er sich über die Ferkellippen. »Das tat gut. Schenk nach, du kleine Hure, schenk dir auch was ein, damit du schön geil wirst.« Er lachte meckernd und klopfte sich auf die dicken Schenkel. Was du mich anwiderst, du Scheusal, dachte Gwen und lä chelte süß, während sie einschenkte und ihm den Humpen reichte. Sauf dir die Hucke voll, je eher, desto besser. Das tat er wirklich. Unbeherrscht, wie er war, soff er drauflos, denn jetzt wollte er den Rausch, dessen Krönung dann das
Weib sein würde. Ah, dieses Weib mit den prallen Brüsten und den straffen Schenkeln! Sie drehte sich vor ihm in den Hüften, und er fing an zu schielen. »Ko-komm her, d-du s-süßes L-luder«, lallte er und wackelte mit dem Kopf. »W-will mal s-sehen, w-was du unterm Ro-rock hast.« »Hasch mich doch«, girrte Gwen und tanzte durch die Trink stube. »Hierher!« brüllte John M alcolm, stemmte sich ächzend hoch und sank wieder zurück. Seine Augen wurden glasig. Gwen beobachtete ihn. John M alcolm wedelte mit der Hand. »Will was saufen - hmmpps!« Er rülpste und schmatzte. »Verdammte Weiber - al-alles Hu-huren. Zieh-zieh d-dich aus, du-du Hexe …« Er ließ den Kopf sinken, bewegte ihn hin und her, riß ihn plötzlich wieder hoch und brüllte: »Saufen!« Gwen nahm den Humpem, schenkte ihn wieder voll ein und stellte ihn vor John M alcolm auf den Tisch. Sie hielt sich in vorsichtiger Distanz. Es grenzte an ein Wunder, daß er den Humpen nicht umstieß, als er nach ihm mit fahriger Hand angelte. Aber dann hatte er ihn und goß sich den schweren Wein in die Kehle. Als er ihn absetzte, quollen seine Augen hervor. Sie waren blutunterlau fen, stier und anscheinend nicht mehr unter seiner Kontrolle, weil er überkreuz starrte. »Wie-weiberpisse«, murmelte er. Der Humpen klirrte zu Bo den, ein Rest floß über die Fliesen - rot wie Blut. Er beugte sich vor und stierte auf den Humpen. Sein ganzer Körper wackelte. Nun kipp schon hinterher, dachte Gwen, denn viel fehlte nicht mehr. Aber er riß sich wieder zurück und murmelte: »Däm-däm licher Hu-humpen, la-la-la, gibt’s hier no-noch was zu sausau
fen, verda-dammte Scheiße, oder-oder wa-was ist los?« Er hieb die Faust auf den Tisch. Gwen biß die Zähne zusammen. Wenn der Wein ihn nicht schaffte, mußte es der Whisky tun. Sie goß einen Zinnbecher voll und stellte ihn vor seine rechte Hand. John M alcolm griff zu und stürzte das scharfe Zeug hinunter … 10. M itternacht war vorüber. Ben Brighton wurde immer unruhi ger. Die ›Isabella‹ war seeklar, die M änner warteten an Deck. Ferris Tucker enterte auf das Achterdeck und trat zu ihm. »Wir müssen etwas unternehmen, Ben«, sagte er. »Das ist nicht die Art des Seewolfes, unpünktlich zu sein. Da ist was passiert, bestimmt ist da was passiert, wetten?« »M ann, mach mich nicht verrückt. Ich denk doch schon dar über nach, was wir tun sollen!« fauchte Ben Brighton. »So? Dann denk nicht zu lange. Dan O’Flynn kennt doch si cherlich die Feste da oben. Ihn sollten wir hinaufschicken, ihn und Batuti.« »Wieso Batuti?« Ferris Tucker grinste. »Weil er ein schwarzer Hundesohn ist. Schwarz sieht man in der Nacht schlechter als weiß, begreifst du das, oder bist du dafür zu dämlich?« »Halt’s M aul!« sagte Ben Brighton gereizt. »Du machst mich ganz verrückt mit deinem Gesabbel.« »Das sagtest du bereits. Du bist nervös, Ben, und das ist nicht gut. Soll ich Dan und Batuti holen?« »Ja.« Sekunden spater standen die beiden auf dem Achterdeck - der riesige, dunkle M ann und der schlanke, sehnige Junge. Batuti überragte das Bürschchen um zweieinhalb Kopfe.
Ferris Tucker mußte ein Lächeln unterdrücken. Die beiden nebeneinander wirkten wie David und Goliath. »Der Seewolf ist noch nicht zurück …« begann Ben Brigh ton. »Weiß ich doch«, sagte Dan O’Flynn ungeduldig. »Wir war ten ja alle auf ihn. Soll ich ihn holen?« »Ja. Kennst du dich auf der Feste aus?« Das Bürschchen nickte. »Ich war zweimal oben und hab Fisch ‘raufgebracht. Da hab ich mich genau umgesehen.« »Vielleicht müßt ihr über die M auer steigen. Verdammt, Dan, ich will keinen Ärger mit den Killigrews. Also seht euch vor. verstanden?« »Ha!« Das Bürschchen deutete mit dem Daumen auf Batuti. »Soll der lange Lulatsch etwa mit?« »Das soll er«, sagte der Bootsmann wütend. »M einst du, ich laß dich allein da oben herumschleichen?« »Ich auf kleines O’Flynn aufpassen«, sagte Batuti und klopfte auf seine breite Brust. Dazu rollte er wild mit den Augen und fletschte die Zähne. »O Jesus«, sagte Dan O’Flynn und faltete die Hände. »Als wenn ich nicht allein auf mich aufpassen könnte.« »Batuti wird dich begleiten, basta. Nehmt ein Seil mit, M es ser und jeder eine Pistole. Falls ihr m it den Dingern schießt, wissen wir, daß da oben etwas schief gelaufen ist. Benutzt die Pistolen also nur im äußersten Notfall. Seid ihr innerhalb von zwei Stunden nicht zurück, müssen wir annehmen, daß ihr in eine Falle gelaufen seid, ohne uns noch warnen zu können.« »Und dann?« fragte Dan. »Hauen wir euch heraus«, sagte Ben Brighton. »Was denn sonst? Und wenn wir die M auer da oben sprengen mußten.« »Das hat noch keiner geschafft«, sagte Dan O’Flynn. »Dann wird’s höchste Zeit, daß es mal einer schafft«, sagte Ben Brighton grimmig. Fünf M inuten später zogen der große M ann und der Junge
los. Batuti hatte eine Seilrolle über der Schulter hängen. In ihren Gürteln steckten Pistolen. Sie gelangten nicht weit. Ben Brighton, Ferris Tucker und alle M änner der ›Isabella‹, die ihnen nachschauten, sahen es be stürzt. Aber sie brauchten nicht einzugreifen. Batuti und Dan hatten das Ende der Pier erreicht, da traten ih nen aus dem Dunkel heraus zwei M änner entgegen - unzwei felhaft Kriegsleute. Sie trugen Helm, Brustharnisch und M us kete. »Halt!« sagte der eine. »Zurück an Bord, oder ihr werdet mit Blei gefüttert.« »Nicht freundliches M ann«, sagte Batuti und trat näher. Dan folgte ihm. Der M ann, der gesprochen hatte, starrte zu Batuti hoch. »Ein Nigger!« ächzte er. »Hast du so was schon mal gesehen, M ick?« M ick schüttelte den Kopf. »Den hamse aus fernen Landen mitgebracht.« Jetzt trat er selbst heran, um das Exemplar aus Afrika näher zu betrachten. Der andere, ebenso neugierig, folgte ihm, und damit war ihr Sicherheitsabstand zum Teufel. Dan stieß Batuti an, ziemlich erregt. Er zeigte mit dem Arm hinter die beiden Kriegsleute. »He! Was fliegt denn da durch die Luft?« Die beiden M änner schauten sich an und fuhren herum. Batuti grinste und schlug einmal links und einmal rechts zu. Wo Batuti hinschlug, wuchs kein Gras mehr. Das waren Häm mer, diese beiden Schläge, und so wirkten sie auch. Denn Ba tuti hatte ihnen die Helme über die Ohren, Stirn und Augen getrieben und sogar über die Nase gerammt. So war denn Nacht für die beiden. Sie waren blind und halb betäubt von Batutis Hammerschlägen. Dan O’Flynn kicherte und sammelte die M usketen auf. Und Batuti schnappte sich die beiden Herumtorkelnden, packte sie
links und rechts am Genick über dem Harnisch, lüftete die Zappelnden an und trug sie über die Pier zurück zur ›Isabella‹. Dan O’Flynn fielen vor Lachen fast die M usketen aus den Armen. Batuti balancierte über die schwankende Gangway. Krach! flog der eine Kriegsmann auf die Kuhl. Krach! Der andere flog hinterher. Sie krochen wie verstörte Ameisen über die Planken und ver suchten, die Helme loszuwerden. Smoky, Blacky, Ferris Tucker und Stenmark sprangen hinzu. »Smoky und Blacky, ihr an die Beine!« befahl Ferris Tucker. »Stenmark und ich an ihre Blechhüte, klar?« »Aye, aye«, echoten die drei. »Hau ruck!« befahl Ferris Tucker und zog m it aller Kraft an dem Helm von M ick, während Blacky an dessen Beinen zerrte. M it dem anderen passierte das gleiche. Sie brauchten vier »Haurucks«, um die brüllenden Kerle von ihren Helmen zu befreien. Die ganze Besatzung stand im Kreis herum und amüsierte sich wie auf einem Rummelplatz, wo eine Artistengruppe einen halsbrecherischen Akt zeigt. Denn halsbrecherisch und verrückt sah das Ganze auch aus und ir gendwie komisch. Als die Helme auf die Decksplanken kollerten, blieben die beiden ächzend und stöhnend liegen. Wahrscheinlich hatten sie das Gefühl, um einen halben Fuß länger geworden zu sein. »Kommt hoch, ihr Säcke!« sagte Ferris Tucker grollend. »Tut bloß nicht so!« Ächzen, Stöhnen - die beiden blieben liegen. »Ein paar Pützen Wasser!« befahl Ferris Tucker. Segeltucheimer flogen an langen Tampen ins Wasser, wurden hochgeholt und über den beiden aus geschüttet. Sie fuhren hoch, als habe sie jemand mit der Nadel gepiekt. »Na also«, sagte Ferris Tucker zufrieden. »M it Wasser schafft man alles. Ben! Willst du sie verhören?« »Klar.« Ben Brighton stieg vom Achterdeck und trat hinzu.
Finster musterte er die beiden M änner, bei denen die Nasen zerschrammt waren und auf der Stirn blaurote Ringe aufquol len. »Warum habt ihr unsere beiden M änner aufgehalten?« fragte er. »Befehl«, sagte M ick. »Wessen Befehl?« »Sir John M alcolm Killigrews.« Ben Brighton und Ferris Tucker wechselten einen schnellen Blick. »Schau einer an«, sagte Ben Brighton, »Sir John M alcolm Killigrew. Und wie lautet der genaue Bef ehl von ihm?« M ick öffnete den Mund, da erhielt er von dem anderen einen Rippenstoß. »Halt’s M aul, du Idiot!« zischte der. Ferris Tucker trat vor und hielt ihm die riesige Faust unter die Nase. »Riech mal dran, Kumpel, bevor du sie zu kosten kriegst und dann deine Zähne aufsammelst. Riecht gut, wie?« Der M ann preßte die Lippen zusammen und schielte Ferris Tucker tückisch an. Allem Anschein nach war er härter gesot ten als sein Kumpan. »Schone deine Faust, Ferris«, sagte Ben Brighton. »Wir schlagen einen Tampen an seinem Blechkostüm an und f ieren ihn außenbords. Was meinst du, der geht ab wie ein Stein. Un ter Wasser fällt ihm vielleicht ein, ob er uns noch was zu sagen hat. Der andere begleitet ihn natürlich. Los, M änner, holt zwei Tampen!« Sie machten kurzen Prozeß, die M änner von der ›Isabella‹. Schließlich ging es um ihren Seewolf, und da konnten sie so wild und biestig werden wie gereizte Hornissen. Und wenn die beiden Kriegsleute gedacht hatten, an Bord der ›Isabella‹ sei man zu freundlichen Scherzen aufgelegt, dann sahen sie sich getäuscht. Im Handumdrehen waren Tampen hinten an ihren Brustharnischen befestigt, und bevor sie noch Luft holen oder
protestieren konnten, flogen sie von kräftigen Fäusten angelüf tet über das Schanzkleid und außenbords. Ben Brighton hatte recht gehabt. Sie gingen wie Steine auf Tiefe. Blubbernde Blasen stiegen hoch. »Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vier undzwanzig …« zählte Ferris Tucker in aller Gemütsruhe. Bei »dreißig« winkte er und fügte hinzu: »Holt auf die Säcke!« Hand über Hand mit je vier M ännern an einem Tampen wur den die beiden Kerle wieder hochgezogen. Gurgelnd, spuckend und hustend durchbrachen sie die Wasseroberfläche und hin gen wie ersäufte Katzen - alle viere von sich gestreckt - an ihren Tampen. »Tunkt sie noch mal kräftig ein«, befahl Ben Brighton. Die beiden klatschten wieder ins Wasser, dieses M al nicht ganz so tief, aber Wasser war Wasser und kalt war es oben drein. Dann wurden sie sinnig hochgeholt und zurück an Deck befördert. Sie kipppten um und wurden nur noch von ihren Brustharnischen zusammengehalten. Röchelnd rangen sie nach Luft mit schnappenden M äulern - wie Fische auf dem Trocke nen. »Wie lautete John M alcom Killigrews Befehl?« fragte Ben Brighton hart. »Heraus mit der Sprache, uns reicht’s nämlich jetzt.« »Kein - keinen an Land zu lassen«, stieß M ick hervor. »Das hat doch einen Grund«, sagte der Bootsmann. M ick nickte mühsam und spie Wasser aus. »Sir John M al colm wollte euren Kapitän oben auf Arwenack festsetzen und und …« »Was ›und‹?« fuhr ihn Ben Br ighton an. M ick stöhnte. »Und ihn morgen mit vorgehaltener Pistole zu eurem Schiff führen.« Der Bootsmann starrte ihn verblüfft an. »Wozu das denn?« »Als Geisel«, sagte M ick. »M it eurem Kapitän hat er ein
Druckmittel, euch zu zwingen, das Schiff zu verlassen. Tut ihr das nicht, erschießt er den Kapitän vor euren Augen.« Ferris Tucker knurrte vor Wut »Dieser Drecksack - seinen ei genen Bruder erschießen! Ist das noch zu fassen?« »Ein feiner Plan«, sagte Ben Brighton. »Nur sind wir auch noch da und werden ihm in die Suppe spucken.« Er wandte sich wieder M ick zu. »Wollte M alcolm Killigrew unseren Ka pitän da oben auf der Feste allein überwältigen, oder hat er noch ein paar von eurer Sorte dabei?« »Allein, soviel ich weiß.« »Da muß er sich aber verdammt anstrengen«, sagte Ferris Tu cker. »Wie ich meinen Hasard kenne, stößt er diesen John M al colm mit dem kleinen Finger aus dem Hemd.« »Er wollte ihn überraschen«, sagte M ick. »Von hinten.« »Das scheint er auch geschafft zu haben«, sagte Ben Brighton verbissen. »Natürlich von hinten. Aber eins versteh ich nicht. M einte John M alcolm Killigrew, ihr zwei Kerle würdet ausrei chen, uns hier auf dem Schiff festzuhalten? Oder sind da noch mehr irgendwo hinten bei der Pier aufgezogen?« »Nein. Die sollten erst morgen aufziehen. Wir beide waren allein. Sir John M alcolm Killigrew meinte, auf eurem Schiff seien nur müde Schiffsknechte.« Ferris Tucker hatte M ühe, sich zu beherrschen. »Müde Schiffsknechte! Dieser Hurensohn!« »Ruhe, Ferris«, mahnte Ben Brighton. »Noch eins. Falls un ser Kapitän überrumpelt wurde, wo würde er dann gefangen gehalten?« »Im Turmkerker natürlich«, erwiderte M ick. »Natürlich.« Ben Brighton nickte voller Grimm. »Zieht den beiden Kerlen ihr Blechkostüm aus, durchsucht sie nach Waf fen, fesselt sie und sperrt sie zu den anderen in die Vorpiek, vorwärts!« Innerhalb zwei M inuten waren die beiden verschwunden. Wütend warf Ferris Tucker die beiden Helme und Brustharni
sche über Bord. Ben Brighton nagte an seiner Unterlippe und dachte nach. Dan O’Flynn sagte: »Ich kenne den Turmkerker. Er hat »ne Eisentür. Die ist kaum zu knacken. Aber der Schmied von Ar wenack, der alte Shane, der hilft uns bestimmt, der liebt den Seewolf wie seinen eigenen Sohn. Wo die Schmiede ist, weiß ich auch.« Ben Brighton grinste. »Du weißt wohl alles, wie?« »Klar.« Dan O’Flynn drückte unternehmungslustig die Brust heraus. »Bitte, Ben. Ich hol jetzt den Seewolf da oben aus der Feste heraus. Zusammen mit meinem Freund Batuti. M ann, hat der einen Schlag. Habt ihr das vorhin gesehen? Boing! Boing!« Dan O’Flynn hieb seine Fäuste links und rechts nach unten. »So hat er denen auf die Hüte geklopft!« Er fuhr zu Ferris Tu cker herum. »Ferris! Ihr habt die Dinger doch kaum von deren Rüben ‘runtergekriegt, nicht wahr?« »War ziemlich schwer«, sagte Ferris Tucker und grinste. »Siehst du, Ben.« Das Bürschchen geriet so richtig in Fahrt. »Also, mein Freund Batuti und ich, wir ziehen jetzt los und lüften die da oben an. Und ihr paßt auf die alte Tante ›Isabella‹ auf. M ein Freund Batuti und ich, wir schaffen das allein. Und der alte Shane ist ja auch noch da. Der zwingt mit einer Hand zwei Ochsen in die Knie, so einer ist das.« »Darf ich auch mal was sagen?« fragte Ben Brighton ruhig. »Bitte«, sagte das Bürschchen. »Dann rede nicht soviel, wenn ihr beiden, Batuti und du, da ober herumschleicht. Es bleibt, wie vorhin besprochen. Und jetzt ab. Paßt auf! Wenn ihr euch erwischen laßt, das garantiere ich euch, dann laß ich euch kielholen …« »Verdammt und zugenäht«, sagte das Bürschchen. »Gottverdammich«, sagte Batuti. Und weg waren die beiden.
11.
John M alcolm Killigrew war voll wie tausend Landsknechte. Er schwitzte, dampfte, rülpste, schwankte - und soff. Whisky! Und irgendwo setzte sich ein Gedanke fest, der ihm manchmal entglitt, wiederkehrte, bohrte, wieder entschwand, aber sich doch irgendwie festkrallte. Daß er im Bett Gwendolyn Bernice O’Flynns Kunststücke hatte vollbringen wollen, war ihm längst entfallen. Daß immer wieder ein voller Becher vor ihm stand - wie von geheimnisvoller Hand hingezaubert -, hatte ihn zuerst verwun dert, aber dann hatten sich seine krausen Gedanken darüber auch verflüchtigt und dem einen einzigen Gedanken den Platz gelassen. »Bastard, du stinkiger, stinkender Bastard.« John M alcolm Killigrew brabbelte vor sich hin, volltrunken, aber zäh daran weiterspinnend, was er jetzt tun wollte. Qwen O’Flynn hütete sich, in sein Blickfeld zu geraten. Sie hatte begriffen, daß er ihre Anwesenheit vergessen hatte. Immer wenn sein Kopf auf die Brust sackte, stellte sie ihm rasch einen vollen Becher hin. Sonst hielt sie sich seitlich hin ter ihm. Irgendwann mußte er lang hinschlagen, und dann wür de sie sich die Schlüssel holen und Sir Hasard befreien. Aber er schlug nicht hin. Er soff, brabbelte unverständliches Zeug und wischte plötzlich den Becher mit einer einzigen Be wegung vom Tisch. Lange starrte er auf den Fleck, wo sich eben noch ein Becher befunden hatte. Gwen O’Flynn huschte hinter das Faß mit dem spanischen Wein. Es bot ihr einigermaßen Deckung. John M alcolm um klammerte mit beiden Händen die Tischkanten links und rechts und wuchtete sich schwankend aus dem Eichenstuhl hoch. Der Tisch kippte etwas an, aber nicht um. John M alcolm stand. Zwar wankend, aber er stand. Er glotzte zu Boden, und Gwen sah, wie er pumpte und schluckte An
scheinend stieg ihm der Alkohol die Kehle hoch. Aber dann entließ er nur einen donnernden Rülpser, dem eine ebenso laute Blähung folgte. Es war wider lich und abstoßend. Gwen wurde es fast schlecht. Der Gestank in der Trinkstube war unerträglich - Schweiß, die Ausdünstungen eines ungewaschenen Körpers, der Geruch abgestandenen Alkohols und der üble Duft seiner Blähungen, die jetzt eine nach der anderen folgten, es war zuviel. Gwen biß die Zähne in die Lippen, um nicht aufzuschreien. John M alcolm stieß gegen den Tisch, der krachend umkippte. Und schon schoß er quer zur gegenüberliegenden Wand, prallte dagegen und schüttelte benommen den Kopf. Und wieder Rülpser und Blähungen. Gwen duckte sich hinter dem Faß zusammen. Wenn er jetzt aufblickte, mußte er sie sehen. Sie hörte seinen keuchenden Atem und lauschte, ob er sich wieder in Bewegung setzte. Ja, etwas scharrte an der Wand entlang. Sie hörte das Tappen seiner Schritte. Der Stuhl, der ihm im Weg stand, flog durch die Trinkstube und landete splitternd in einer Ecke. »Ho-ho!« röhrte John M alcolm. »Ho-ho-ho!« Vorsichtig lugte Gwen hinter dem Faß hervor. John M alcolm schob sich, mit der linken Schulter an die Wand gestützt, be reits die Kellertreppe hoch. Er hielt ein mühsames Gleichge wicht und erklomm Stufe für Stufe. Wenn er jetzt die Balance verlor und zurückkippte, würde er sich todsicher das Genick brechen. O Gott, dachte Gwen erschüttert. Und sie würde an seinem Tod schuldig sein. Nein, nur das nicht. John M alcolm Killigrew krampfte sich mit der Verbissenheit des Betrunkenen die Kellertreppe hoch. Als er oben war, stol perte er, aber nach vorn. Er schlug hin, blieb eine Weile liegen, fluchte, und schaffte es dann tatsächlich, wieder auf die Füße zu kommen. Jetzt stand er schwankend in der Halle und schien sich auf
den Ausgang zum Flur zu konzentrieren. Er schaffte ihn in einem Anlauf, wobei er quer durch die Halle steuerte - wie ein Hund, der mit dem so typisch schiefen Hinterteil auf einen bestimmten Punkt losrennt. Gwen folgte ihm und schlich geduckt Stufe um Stufe hoch. Sie preßte sich flach an die Wand. Aber John M alcolm dachte gar nicht daran, noch einmal zurückzuschauen. Er dachte an etwas ganz anderes, das jetzt voll von ihm Besitz ergriffen hatte und wonach er fieberte wie nach einer Frau. Er würde es dem Bastard zeigen, jawohl, das würde er. »Ho-ho!« Er landete im Flur und blieb torkelnd stehen. Er hob den Kopf und suchte nach ihr. Ja, da war sie, lang, sehr sehr lang, schimmernder tödlicher Stahl, der Schaft mit dem Handschutz, die schmale Spitze! Die Lanze derer auf Arwenack. Die Lanze der Killigrews, drei- oder vierhundert Jahre alt, turniererprobt, die Waffe der Ritter, die Waffe der Killigrews, mit der sie so manchen Geg ner aus dem Sattel gestochen hatten. »Ho-ho-ho!« Jetzt würde er, John M alcolm Killigrew, stechen, immerzu stechen! Durch das Gitter hindurch würde er den Bastard auf spießen, an die Wand würde er ihn nageln, noch einmal und noch einmal, immer wieder - ah, das Blut würde fließen, und er würde um Gnade winseln, dieser schwarze Teufel … John M alcolm Killigrew tropfte der Speichel aus den M und winkeln und lief in Schlieren über sein Wams. Torkelnd stellte er sich auf die Fußspitzen und langte nach der Lanze, die über ihm auf zwei schmiedeeisernen Halterun gen entlang der Wand lag. Er hob sie heraus, schwankte und klemmte sie sich hastig unter den Arm - so, als säße er im Sat tel und ritte zum ritterlichen Zweikampf an. Er umklammerte den Schaft und preßte ihn an seine rechte Seite. Seine Hand rutschte etwas vor bis zu dem gewölbten,
tellerartigen Schutz. Fast erstaunt merkte er, wie ausgewogen die Waff e war. Und leicht, leichter, als er gedacht hatte. Nur einmal, als Junge, hatte er die Lanze von der Wand ge nommen, und da hatte ihn der Alte erwischt und ihm eine ge feuert, daß er erst an der Tür wieder zu sich gekommen war. »Du Arschloch«, sagte er laut. Dieses M al meinte er den Va ter. Gwen O’Flynn verbarg sich hinter einem wuchtigen Eichen schrank und schaute ihm zu. Fiel dieser furchtbare M ensch denn nicht endlich um ? Nein, er schwankte sogar weniger. Und jetzt hatte er sogar noch eine Lanze unter dem Arm, die ihn nach vorn abstützte, wenn er sie senkte. Was wollte er mit der Lanze? M it der Frage blitzte auch die Antwort in ihr auf. Nein, nein! John M alcolm war verrückt. Nur ein Verrückter konnte mit einer Lanze auf seinen eigenen Bruder losgehen. Aber hatte er ihn nicht auch erschießen wol len? Ihre Finger verkrampften sich zu Fäusten. Sie würde diesen Verrückten niederschlagen müssen! Dort unter der Hellebarde im Flur hing ein M orgenstern, den einer der Killigrews von den Kreuzzügen zurückgebracht hatte. Den würde sie ihm über den Schädel schlagen. John M alcolm Killigrew war indessen noch nicht zum Tur nier bereit. Jetzt angelte er sich einen Langschild von der Wand und fuhr mit dem linken Arm durch die beiden ledernen Schlaufen. Er stand da, wackelte ein bißchen - und rannte los. Rumms! Die Lanzenspitze steckte in der Eichentür, und John M alcolm rutschte über den Handschutz weg. Er fluchte und zerrte mit beiden Händen, nachdem er den Langschild abge streift hatte, an der Lanze. Sie glitt aus dem Holz, und John M alcolm setzte sich abrupt auf den Hintern. Wäre das Ganze nicht bitterer Ernst gewesen, Gwen hätte ge schrien vor Lachen. Dieser M ann dort mit der Lanze und dem
Langschild war eine Witzfigur, aber eine bitterböse Witzfigur, ein M ann, der morden wollte, ein Brudermörder, der nicht mehr seine fünf Sinne beisammen hatte. John M alcolm dachte wieder folgerichtig. Wenn man durch eine Tür wollte, mußte man sie erst mal öffnen. Also öffnete er sie. Und dann legte er seine Waffen wieder an - rechts die Lan ze unter dem Arm, links der Langschild, der seinen Körper fast bis zu den Schultern abschirmte. So raste er aus dem Haupthaus und die steinernen Treppen hinunter. Und hinter ihm huschte Gwen O’Flynn mit dem M orgenstern aus dem Haus. »He!« wisperte eine Stimme aus dem Gebüsch. Gwen bremste erschreckt und fuhr herum. Ein Arm erschien aus dem Gebüsch und zog sie heran, bis sie fast in das Gebüsch fiel. »Was ist denn mit dir los, du dumme Gans«, sagte Dan O’Flynn sachlich. »Bist du auf dem Kreuzzug? Das war doch eben John M alcolm, der hier wie ein Irrer mit Lanze und Schild vorbeitobte, oder?« »Ja, ja«, keuchte Gwen, »du mußt mir helfen, Dan, er will ihn ermorden, mit der Lanze ermorden …« »Quark, das schafft dieser Idiot nie. Er ist betrunken, wie?« »Ja, doch. Ich hab ihn betrunken gemacht, um Sir Hasard be freien zu können, aber es hat anscheinend nicht gereicht. Er hat die Schlüssel zum Turmkerker um seinen Hals hängen, bitte, bitte, Dan, hilf mir.« Dan O’Flynn äugte zum Turmkerker. »Langsam, Schwesterherz, noch fummelt er an den Schlüs seln ‘rum. Und bis er die im Schloß hat, vergeht noch ‘ne Wei le. Schleichen hier noch Kriegsleute durchs Gelände?« »Nein, um Gottes willen, Dan, so beeil dich doch!« »M ann, sei doch nicht so nervös. Batuti regelt das alles. Der klopft John M . ein bißchen auf den Kopf, und dann holen wir
den Seewolf heraus.« »Batuti? Wer ist das denn? Der mit dem Harem?« Batuti wuchs aus dem Gestrüpp hoch. »Ich Batuti, schönes M iß.« »Hu!« Gwen starrte entsetzt zu ihm auf. »Ein schwarzer M ann!« »M ein Freund«, sagte Dan großartig. »Stell dich nicht so an. Und jetzt verzupf dich, damit du nicht in Verdacht gerätst, H a sard befreit zu haben. Das ist unsere Sache, klar?« »Du - du … Hast du vorhin ›dumme Gans‹ zu mir gesagt?« »Hab ich.« Peng! Dan O’Flynn hielt sich die Wange und fluchte verhalten. Gwen O’Flynn huschte wie ein Schemen davon und ver schwand wieder im Haus. »Armes kleines O’Flynn«, sagte Batuti, »wird einfach von Schwester gehaut.« »Gehauen!« sagte Dan erbittert. »Gehauen, heißt das, ver dammt, diese Weiber, diese verdammten Weiber!« »Böser John M alcolm hat Tür offen«, sagte Batuti. Dan O’Flynn ruckte herum. »Los, Batuti, ‘ran an den Kerl«, sagte er energisch.
Die Ölfunzel brannte noch und warf ihren gelblichen Schein in das Kellergewölbe des Turmkerkers. Die Schatten des Git ters warfen vergrößerte Vierecke an die gegenüberliegende M auer - dorthin, wo Hasard aufrecht an der Wand lehnte. Er stand mitten in diesem M uster, das senkrecht und waagerecht über seinen ganzen Körper verlief. Seine Augen weiteten sich, als er den Bruder erkannte. Dann kniff er sie zusammen. Fast spöttisch sagte er: »Ritter John, angetreten zum Turnier,
na bitte. Paß auf, daß du nicht im Gitter hängen bleibst, du lächerlicher Furz!« John M alcolm brüllte auf vor Wut. M it eingelegter Lanze stürzte er die Stufen hinunter und stach die Lanze zwischen zwei Gitterstäben hindurch auf den verhaßten Bruder zu. Der Seewolf lachte und glitt elegant zur Seite. Dann packte er die Lanze m it einem Griff und hielt sie fest. John M alcolm knirschte mit den Zähnen. Er umklammerte den Schaft und zerrte. Der Langschild schlug scheppernd zu Boden. »Laß los, du verdammter Hund!« brüllte John M alcolm. »Bitte, wie’s beliebt.« Blitzschnell ließ Hasard los. John M alcolm krachte rücklings auf die Steinstufen und ver renkte sich das Kreuz. Und dann strahlte Hasard. Hinter John M alcolm beugte sich die riesige Gestalt Batutis hinunter und tippte ihm auf die Schulter. John M alcolms Kopf fuhr herum, er ruckte hoch. »Wa-was? Wa-was? Teu-teufel-Hiiilfe!« Batuti ließ seine Augen rollen, sein weißes Raubtiergebiß öffnete sich wie eine Falle mit stählernen Zacken. Ganz langsam langte er zu, ganz langsam zog er den zitternden John M . von den Stufen hoch und hielt ihn so eine Weile von sich ab - lange genug, daß der stinkende, zitternde M ann sein Bild in sich aufnehmen konnte, das Bild eines grinsenden, schwarzen Dämons. John M alcolms Pupillen kippten über. Und da schlug Batuti zu. Seine Faust landete mit einem tro ckenen Laut unter dem Kinn John M alcolms. Gleichzeitig ließ er los. John M alcolm Killigrew überschlug sich in der Luft und krachte oberhalb der Stufen auf die Steinplatten. Dan O’Flynn tauchte hinter Batuti auf und grinste von einem Ohr zum anderen.
»War das ein Schlag? Sag, Hasard, war das ein Schlag?« »Ihr Höllenhunde«, sagte Hasard und trat an das Gitter. »Ihr verdammten Höllenhunde.« Er schnüffelte. »Habt ihr getrunken?« »Das ist John M alcolm«, sagte Dan empört. »M eine Schwes ter hat ihn unter Alkohol gesetzt. Pfui Deibel, der stinkt wie zehn Whiskyfässer.« »Deine Schwester?« fragte Hasard verdutzt. ,.Die dumme Gans wollte dich auch befreien«, erklärte das Bürschchen. »Aber schließlich ist das ja M ännersache, nicht wahr?« »Jawohl.« Hasard lächelte. »Das ist M ännersache. Und wird ich nun befreit, oder wie ist das?« Batuti glitt die Stufen hoch und bückte sich über den bewußt losen John M alcolm. M it einem Griff zog er ihm die Kette über den Kopf, stieg die Stufen wieder hinunter und schloß die Git tertür auf. »Danke Batuti. Du hast einen prächtigen Schlag.« Hasard trat aus dem Gewölbe und klopfte ihm auf die Schulter. »Böses Bruder jetzt hinein?« fragte Batuti und strahlte. »Gute Idee. Und die Schlüssel nehm en wir mit.« Hasard hob die Lanze auf und betrachtete sie. Und in jäh aufflammendem Zorn zerschmetterte er die Lanze mit einem fürchterlichen Hieb auf dem Steinboden. Sie zerbrach in zwei Teile. Er warf sie samt Langschild in den Kellerraum. Batuti schleppte John M alcolm hinterher, grinste und deckte ihn mit dem Langschild zu. »Damit böses Bruder nicht friert«, sagte er. Hasards Zorn verebbte. Er wischte sich über die Stirn und schüttelte den Kopf. Da hatte er sich dazu hinreißen lassen, eine alte, wunderbare Waffe zu zerstören. Aber John M alcolm hatte viel, viel mehr zerstört. Er war betrunken gewesen, den noch, er hatte etwas ausführen wollen, was tief in ihm veran
kert war. Der Alkohol hatte seine Hemmungen beseitigt - er hatte seinen mörderischen Haß freigelegt. Er hatte morden wollen. Und das war der Bruch mit Arwenack. Hasards Gesicht wurde härter als jemals zuvor. Dan O’Flynn sah es und schwieg. Er konnte sich vorstellen, welche Gedan ken dem Seewolf jetzt durch den Kopf gingen. Ein grollenden Räuspern ließ die drei herumfahren. Shanes klotzige Gestalt füllte den Eingang zum Turmkerker aus. In seiner Rechten hing eine riesige, alte Streitaxt. Seine grauen Augen waren zusammengekniffen und wanderten von einem zum anderen. Zuletzt blieben sie auf dem M ann unter dem Langschild hängen. Er nickte befriedigt. »Gut, sehr gut.« Und ganz ruhig, ohne jede Gemütsbewegung, fügte er hinzu: »Er ist tot, wie?« »Nein, Shane. Nur bewußtlos und total betrunken«, erwiderte Hasard. »Schade.« Shane reckte sich. »Schätze, ich bin um ein paar M inuten zu spät gekommen. Ich hätte ihn erschlagen. Gwen hat mich alarmiert. Sie dachte, deine M änner schaffen es nicht allein.« Hasard konnte wieder lächeln. »Diese M änner wiegen hun dert Arwenacks auf.« »M ich ausgenommen«, sagte Shane grollend. »Dich ausgenommen«, sagte Hasard. »Am liebsten würde ich dich mitnehm en, alter Shane.« »Nein.« Shane schüttelte den mächtigen Kopf. »Ich bleibe hier. Ich muß hierbleiben. Eines Tages werde ich den dort wie einen tollen Hund erschlagen, damit Arwenack wieder sauber wird.« Hasard biß die Zähne zusammen. Er rammte die Gittertür zu und verschloß sie. Den Schlüssel steckte er ein. »Laß ihn seinen Rausch dort ausschlafen, Shane«, sagte er. »Wir schließen auch den Eingang ab. Irgendwann am Tag wird
er zu brüllen anfangen. Dann holt ihn ‘raus. Du und Gwen O’Flynn dürfen mit der ganzen Sache nichts zu tun haben. Hal tet euch da ‘raus. Ich wurde von meinen M ännern befreit, ist das klar, Shane?« Dieses »ist das klar?« sagte Hasard scharf und akzentuiert. Shane neigte den mächtigen Kopf. »Wie du meinst, mein Junge.« Als er den Kopf wieder hob, war sein runenzerfurchtes Gesicht ausdruckslos, aber versteckte Traurigkeit lag in seinen grauen Augen. »Lauft ihr jetzt aus?« »Ja, Shane.« Shane hob die Hand. »Leb« wohl, mein Junge. Ich werde immer auf dich warten. Eines Tages wirst du wieder vor mir stehen, dann werde ich dir sagen, wer du bist.« Hasard zuckte zusammen und wollte etwas sagen. Aber da wandte sich Shane schweigend um und ging davon. Zum ersten M ale sah Hasard, daß Shanes Rücken gebeugt war.
Drei Stunden nach M itternacht löste sich die ›Isabella von Kastilien‹ von der Außenpier im Hafen von Falmouth. Eine halbe Stunde zuvor hatte Hasard die fünf Galgenvögel, die er im Hafen von Plymouth an Bord erwischt hatte, vom Schiff gejagt Sie waren wie gehetzte Hasen davongestoben und in den Hafengassen verschwunden. Die beiden Kriegsmänner hingegen hatte Hasard als ver schnürte und geknebelte Bündel kurz vor dem Auslaufen mit ten auf der Pier zurückgelassen. Sie würden am Vormittag ge funden werden - Zeugen eines mißlungenen Anschlags »Welchen Kurs ?« hatte Ben Brighton knapp gefragt. »Exter, Kapitän Thomas«, hatte der Seewolf ebenso knapp erwidert. M it vollen Segeln glitt die ›Isabella‹ aus der Bucht von Fal
mouth und verschwand im Dunst. Auf dem einen Eckturm von Arwenack stand ein M ädchen und starrte dem Schiff nach. Es hatte brennende Augen. Der alte M ann neben ihr legte seine Rechte über ihre Schulter behutsam, als befürchte er, etwas zu zerbrechen. Vor kurzem hatte diese Rechte noch eine Streitaxt umklammert. Der alte M ann und das M ädchen mit den grünen Augen standen noch dort, als Nebelschwaden über die Bucht zogen. Gwendolyn O’Flynn würde noch oft dort oben stehen ...
In 14 Tagen erscheint SEEWOLFE Band 18
Küstenhaie von John Curtis Philip Hasard Killigrew hat das Geheimnis der spanischen Seekarten bisher noch keinem M ann seiner Crew erzählt, nicht einm al Ben Brighton, der sonst beinahe alles vom Seewolf weiß. Doch die beiden spanischen Agenten, die Hasard auf Schritt und T ritt verfolgen, kennen die B edeutung dieser Karten. Sie wollen sie für Spanien zurückholen - um jeden Preis. Und dann gelingt es ihnen, Dan O’Flynn in ihre Gewalt zu bringen. Unter grausamen Foltern soll er sein Wissen ausplaudern. O’Flynn weiß nichts, und für den Seewolf aus Arwenack läßt er sich notfalls in Stücke reißen. Als Hasard erfährt, was geschehen ist, läuft er Amok …