Endlich hab ich dich wieder Marilyn Tracy Bianca 1051 11 2/1997
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Endlich hab ich dich wieder Marilyn Tracy Bianca 1051 11 2/1997
scanned by suzi_kay
PROLOG Caitlin Leigh, ich werde in jeder Sekunde meines Lebens an dich denken. Sie klammerten sich in ihrem fensterlosen Gefängnis aneinander, vom harten Boden nur durch ihre Kleidung und ein schäbiges Laken mit Farbklecksen getrennt. Alec konnte Caits Augen nicht sehen. Er hätte nach oben greifen und an der Schnur ziehen können, um die Zelle in grelles Licht zu tauchen. Doch so gern er ihr auch in die Augen schauen wollte, noch lieber hielt er sie in den Armen. "Ich habe dir meinen zweiten Vornamen gesagt", sagte Cait. "Wie lautet deiner?" "Hm?" "Du willst es mir nicht sagen, was?" "Sieht nicht so aus." Sie schmunzelte. Er hatte das Gefühl, die ersten vierundzwanzig Stunden mit ihr verschwendet zu haben. Jede wertvolle Minute war ungenutzt verstrichen, ohne daß er geahnt hatte, wie wichtig diese Frau ihm werden würde. Er wußte nicht, ob es Tag oder Nacht war, aber jetzt, da Cait ihm so nah war, spielte das Zeitgefühl keine Rolle mehr. Hin und wieder hatten sie etwas zu essen bekommen und auf Toilette gehen dürfen. Die Stunden waren endlos geworden, und die Gewißheit, daß alles bald enden würde, immer größer.
Alec wußte, daß auch Cait klar war, wie bald sie sterben würden. Er zwang sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen, um ihr keine Angst zu machen. Doch er konnte nicht vergessen, daß die Terroristen Cait töten wollten, wenn man ihre Forderungen nicht innerhalb von drei Tagen erfüllte. Bestimmt waren diese drei Tage schon vergangen. Jede Minute konnte die Tür sich öffnen, und sie würden ihm Caitlin entreißen, um sie hinzurichten. Und Alec wußte vielleicht besser als jeder andere, daß die Forderungen der Terroristen niemals erfüllt werden würden. Unwillkürlich legte Alec die Arme fester um Caits schlanken, anmutigen Körper, als könnte er sie schützen und retten. Doch im Herzen wußte er, daß er, vielleicht zum erstenmal in seinem Leben, nahezu machtlos war. Seltsamerweise verhinderte Caits Nähe, daß er wahrhaft verzweifelte. Dieses Gefühl würde sich erst in nicht so ferner Zukunft einstellen. Daß sie sterben würden, war gewiß, daß ihm noch ein paar Momente mit Cait blieben, ein unerwartetes Geschenk. Mit dem Daumen strich er an ihrem Kinn entlang und über die Wange. Sie ist eine unglaubliche Frau, dachte er. Obwohl sie in wenigen Minuten oder Stunden sterben würde, obwohl man sie mit einem wildfremden Mann in eine enge Besenkammer gesperrt hatte, war sie nicht aus der Fassung geraten. Sie hatte mit ihm geredet, seinen trockenen Humor geteilt und sich ihm bereitwillig angeschlossen, als er den Gedanken an den Tod durch wilde Leidenschaft vertrieb. Er erzählte ihr nicht, daß er sich schon in zahllosen gefährlichen Situationen befunden hatte. Was hätte es auch genützt? Außerdem war seine Lage noch nie so furchtbar gewesen wie jetzt. Denn bisher hatte er stets mit dem Verstand handeln können, ohne auf sein Herz hören zu müssen. Er wollte Cait erzählen, wer und was er war. Aber das wäre das Eingeständnis seiner Niederlage. Selbst so kurz vor ihrem
Tod klammerte Cait sich an eine winzige Hoffnung, und wenn er ihr verriet, woher er kam und wozu man ihn ausgebildet hatte, würde er ihr auch diese letzte Hoffnung rauben. Wann war die Leidenschaft, die zwischen ihnen entbrannt War, in Zärtlichkeit übergegangen? Als sie ihre Kindheitserinnerungen austauschten? Die gute alte Labradorhündin, die er gehabt hatte. Caits geliebte Tante Margaret, die ihre sieben Schützlinge aus dem Tierheim geholt hatte. Der Schmerz, unter dem Cait gelitten hatte, als ihre Eltern gestorben waren. Ein Schmerz, den er aus den dunklen Tagen kannte, in denen er seinen Bruder verloren hatte. Oder war es geschehen, als sie über Bücher, Musik und Filme sprachen? Oder war die Zärtlichkeit gekommen, als Cait sieh erstmals erschöpft an seinen nackten Körper schmiegte? Er hatte alles versucht, um zu entfliehen, aber die Terroristen waren Profis und ließen ihm keine Chance. Alec vermutete, daß er nicht alles gewagt hatte, um Cait nicht zu gefährden. Die Verhandlungen hätten auf wundersame Weise doch erfolgreich verlaufen können, und falls nicht, so war er da, um seine letzte Karte auszuspielen - sein Leben für ihres. Alec verfluchte das gnadenlose Schicksal. Daß er Cait ausgerechnet hier kennengelernt hatte, war unfair. Wahrscheinlich hatte er insgeheim geahnt, daß es ihn eines Tages erwischen würde; daß er einer Kugel oder einem Messer nicht würde ausweichen können. Cait hatte sich mit solchen Gedanken niemals quälen müssen. Sie war jung und hübsch, eine Software-Designerin, die nicht nur logisch argumentieren, sondern auch fröhlich scherzen konnte. Computer-Spezialistinnen starben im Bett oder am Bildschirm, aber nicht unter den Händen brutaler Killer. Er streichelte ihr Gesicht und empfand plötzlich eine tiefe Dankbarkeit. Hatte er den Verstand verloren? War es möglich, daß er den Terroristen dankbar war? Seine Ausbildung und die jahrelange
Erfahrung hatten ihn gelehrt, daß Geiseln oft so reagierten. Aber hätten die Verbrecher ihn nicht zusammen mit Cait in diese Zelle gesperrt, hätte er sie nie kennengelernt. Er preßte die Lippen auf ihre Stirn und wünschte, er müßte sie nie wieder von dort fortnehmen. "In was für einem Haus würdest du gern leben?" fragte sie und strich mit dem Finger über eine Narbe an seiner Brust, als wüßte sie, daß die Kugel, die sie hinterlassen hatte, ihn fast getötet hätte. In was für einem Haus? In einem mit dir, dachte er lächelnd. Sie hatte in den letzten Tagen viele solcher Fragen gestellt und ihm beigebracht, mit ihr zusammen zu träumen und der entsetzlichen Realität wenigstens zeitweilig zu entfliehen. "Ich würde auf dem Land leben", sagte er, und sie nickte zufrieden. In Gedanken baute er ein altes Farmhaus, das Cait gefallen würde. "Das Haus würde abseits der Straße stehen, zwischen hohen Bäumen verborgen." "Eichen und Ahorhbäume." "Ja. Bäume, deren Laub sich im Herbst rotgolden färbt." Sein Lächeln wurde breiter. "Zwei Stockwerke?" "Natürlich. Mit einem Dachboden, auf dem man gebückt stehen muß." Sie lachte, und es brach ihm fast das Herz, als er ihren warmen Atem an seiner Haut spürte. "Er würde kleine Fenster haben. Und viele Ecken und Winkel, in denen Kinder Piraten spielen können." "Oder Könige", sagte sie. "Oder Astronauten." "Erzähl mir von der Küche", bat sie. "Bestimmt ist sie warm." Er sah den Raum vor sich, roch den sauberen Duft des polierten Pinienbodens, den Knoblauch und die Petersilie, die über der Arbeitsplatte an Wäscheklammern hingen. "Sie ist so
groß, daß man darin zusammen mit vielen Freunden kochen kann. Über dem runden Tresen in der Mitte hängen Pfannen. Und an einer Wand..." "Ist ein großer Kamin." "Mit einem Sims." "Für die Kinderfotos." "Für die Kinderfotos", wiederholte er und sah die Bilder vor sich. Sie steckten in vielen verschieden alten Rahmen, die auf Flohmärkten und Versteigerungen zusammengekauft worden waren. Und sie zeigten einen kleinen Jungen, blond wie Cait, und ein kleines Mädchen, dunkelhaarig wie er. "Gibt es ein Fenster?" fragte sie, und ihre Stimme zitterte, während sie seine Schulter noch fester packte. Er mußte sich räuspern, um sprechen zu können. "Auf der linken Seite befindet sich eine große Glastür, hinter der man den Rasen sehen kann." "Er ist grün." "Und glänzt vom Nachmittagsregen." "Und draußen steht ein Picknicktisch." "Unter einer der riesigen Eichen." Auf dem Rundtresen stand schon der Korb mit den leckeren Sachen, zugedeckt mit einer rotweiß karierten Tischdecke. "Und wenn die Kinder im Bett liegen, gehen wir in den Garten, trinken Wein und wünschen uns etwas, sobald der erste Stern am Himmel erscheint." Sie küßte ihn so stürmisch, als wollte sie damit etwas besiegeln. Er erwiderte den Kuß ebenso leidenschaftlich, nicht aus Lust oder Verlangen, sondern als ob er glaubte, dadurch könnte ihr Traum Wirklichkeit werden. Langsam und wortlos zogen sie sich an. Alec sah Caits zerzaustes blondes Haar, die Schatten unter den grünen Augen, und er wünschte, er könnte ihr versprechen, daß alles wieder gut werden würde. "Mein zweiter Vorname ..."
In diesem Moment wurde die Tür ihres Gefängnisses aufgestoßen, und Alec zog Cait hinter sich. Einer der vier Terroristen richtete seine 9-mm-Halbautomatik auf ihn. Alec sah an den Gesichtern der Männer, daß etwas geschehen war. Irgend etwas mußte schiefgelaufen sein. Hatten sie bisher nur bedrohlich gewirkt, so funkelte in ihren Augen jetzt ein mörderischer Wahnsinn. Alec wehrte sich gegen die Hoffnungslosigkeit. "Laßt sie in Ruhe", sagte er. "Nehmt mich." "Die Frau", sagte der Mann mit dem Sturmgewehr. "Du verstehst nicht, Kumpel", erwiderte Alec. "Ich bin vom FBI..." Der Terrorist wirbelte herum und verpaßte Alec mit der Waffe einen Schlag. Er traf genau die Stelle am Kopf, die Vandever wenige Tage zuvor getroffen hatte. Der Hieb ließ Alec verstummen, bunte Farben schillerten vor seinen Augen, der Raum schien sich zu neigen, und dann sank er langsam zu Boden. Wie aus weiter Ferne hörte er Caits Aufschrei. Einer der Terroristen packte sie am Haar und am Arm und schleifte sie aus der Kammer. Der, der Alec niedergeschlagen hatte, richtete sein Gewehr auf ihn. Cait schrie noch lauter, rief seinen Namen, und ihre Stimme hallte von den Wänden wider. Dann fielen Schüsse. Alec fühlte die Einschläge und sah, wie Cait zuckte, als hätten die Kugeln aus der Halbautomatik sie getroffen. Sie versuchte sich zu befreien, doch der Geiselnehmer zerrte brutal an ihrem Haar und schleifte sie fort. Allein in der Kammer, mit dem brennenden Schmerz in der Brust, wußte Alec, daß er sterben würde. Er versuchte, die Wunden zu berühren, doch sein Arm gehorchte ihm nicht. Er spürte, wie das Blut aus seinem Körper sickerte, und hatte plötzlich einen metallischen Geschmack im Mund. Irgendwo auf dem Korridor schrie Cait.
Und wenn die Kinder im Bett liegen ... Alec fühlte, wie die Kälte sich in ihm ausbreitete. Die Welt verschwamm vor seinen Augen. Er wollte sie schließen und sich der Kälte ergeben, doch Caits Schreie hielten ihn im Leben fest. Er wollte ihr etwas sagen, konnte sich jedoch nicht daran erinnern, was es war. Gehen wir in den Garten ... Dann hörte Alec andere Stimmen, laut und durchdringend. Vielleicht konnten sie ihm helfen, sich daran zu erinnern, was er Cait sagen wollte. Etwas über seinen Namen. Wir trinken Wein ... Und plötzlich ... zwei Schüsse kurz hintereinander. Und Caits Schreie brachen ab. Und wünschen uns etwas, sobald der erste Stern am Himmel erscheint. Aber es gab keine Sterne mehr. Cait war fort. Alec schloß die Augen und ergab sich der Kälte.
1. KAPITEL Freitag, 9. November, 17.50 Uhr Zwei Jahre später Alec nahm die Brille ab und rieb sich den Nasenrücken. Sein Rücken schmerzte, sein Hals war steif, und er sehnte sich nach sanften Händen, die die Anspannung wegmassierten. Er wollte stöhnen und auf irgend etwas einschlagen, doch der Zorn vertrieb den Schmerz nicht. Er bewegte sich vorsichtig und verzog das Gesicht, als die Muskeln in Brust und Schultern protestierten. Der stechende Schmerz war die Folge der Schüsse, die ihn vor zwei Jahren getroffen hatten, und nur deshalb erträglich, weil er das Ende eines grauenhaften Tages bedeutete. Alec war als Undercoveragent allein hoch oben in den Rocky Mountains unterwegs und sprach nur mit denjenigen unter den Bewohnern der Pecos-Dörfer, die ihm Proviant oder Benzin verkauften. Seine wahre Identität hatte er unter einem Bart verborgen. Nur die Augen verrieten, was für ein hartes Leben er hinter sich hatte. Jeden Tag zwang er sich dazu, seinen Körper zu trainieren. Im ersten Jahr hatte er noch gezittert und geflucht, jetzt löste der Schmerz nur noch stumme Wut aus. Abends saß er am Computer, auf der unerlaubten und ganz persönlichen Suche nach der Antwort auf eine Frage, die er gerade erst zu verstehen begann. Er verzichtete auf Schlaf und trank und aß nur das Nötigste, während er in den beharrlich gesammelten, zum Teil sogar gestohlenen Informationen einen Hinweis zu finden versuchte.
Er wollte Vergeltung und war auf der Jagd nach demjenigen, der dafür verantwortlich war, daß brutale Terroristen ihn niedergeschossen und Caitlin Wilson ermordet hatten. Er schaute auf die Uhr, und da es kurz vor sechs war, ging er ins Wohnzimmer, um sich die Nachrichten anzusehen. Seine Blockhütte mochte spartanisch eingerichtet sein, sein Leben einsam wirken, aber er hielt Kontakt mit der Welt außerhalb des Canyons. Einen Computer, ein Telefon, eine Satellitenschüssel, eine Kaffeemaschine und ein Fernsehgerät - mehr brauchte er nicht. Alec schaltete den Fernseher ein und machte es sich auf dem Sofa bequem, das aus der Altmöbelsammlung der Heilsarmee stammte. Er ging die Programme durch, bis er einen der großen Privatsender erwischte. 'Eine Talk-Show ging gerade zu Ende, aber er nahm es gar nicht bewußt wahr, während er auf den Bildschirm starrte. Bei seinen Nachforschungen war Alec auf einen internen Untersuchungsbericht seiner alten Abteilung beim FBI gestoßen. Zwei Tage hatte er gebraucht, um ihn zu entschlüsseln, und danach erschien auf seinem Computermonitor ein geheimer Report. Das FBI hatte den Verdacht, daß die vor zwei Jahren bei der WHO, der Weltgesundheitsorganisation in Washington, mißlungene Geiselbefreiung vertuscht werden sollte. Ohne Bewußtsein und dem Tod nah, hatte Alec damals nicht widersprechen können, als das FBI der Welt verkündete, daß Agent Alec MacLaine beim Schußwechsel mit den Geiselnehmern ums Leben gekommen war. Und ehrlich gesagt, später war es ihm verdammt egal gewesen. Er hatte Cait nicht retten können und sah seinem "Tod" resigniert und verbittert ins Auge. Er hatte sogar zugesehen, als seine feierliche "Beisetzung" über den Bildschirm flimmerte. Doch der Bericht, den er in der vergangenen Woche entschlüsselt hatte, enthielt Informationen, auf die Alec niemals gekommen wäre. Der Verfasser, der neue Leiter von Alecs
ehemaliger Abteilung, hinterfragte die Aussagen des FBITeams, das an jenem schicksalhaften Morgen das Gebäude der WHO gestürmt hatte. Die meisten "Fakten", so der Bericht, stimmten nicht mit dem überein, was Alec MacLaine ausgesagt hatte. Während die Nachrichten für Werbespots unterbrochen wurden, ging Alec noch einmal durch, was er in dem geheimen Report gelesen hatte. Die Terroristen hatten nicht wahllos zugeschlagen, sondern gezielt Alec als Geisel genommen, vermutete der Autor. Was bedeutete, daß Cait Wilson ermordet worden war, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Diese Erkenntnis machte alles noch schlimmer. Zu wissen, daß Cait nicht mehr lebte, war hart gewesen, aber sich einzugestehen, daß sie seinetwegen sterben mußte, war unerträglich. Doch der Bericht enthielt etwas noch Schockierendes. Der Verfasser stellte die Theorie auf, daß jemand aus Alecs eigener FBI-Abteilung die Killer auf ihn angesetzt und das Vertuschungsmanöver eingeleitet hatte. Jetzt, Meilen von Washington entfernt, während im Fernsehen für Zahnpasta geworben wurde, hatte Alec Informationen in den Händen, die das gesamte FBI in Mißkredit bringen konnten. Fünfzehn Jahre lang hatte er für die Bundespolizei gearbeitet und niemals an der Anständigkeit seiner Kollegen gezweifelt. Irgend jemand im FBI, jemand, den er kannte, hatte ihn tot sehen wollen und statt seiner Cait umgebracht. Der Drahtzieher hatte einen besonders hinterhältigen Plan geschmiedet. Anstatt Alec einfach von einem Berufskiller ermorden zu lassen, sollte er ausgerechnet den Terroristen zum Opfer fallen, die er zur Strecke bringen wollte. Das Problem war nur, er lebte noch. Warum hatten die Terroristen nicht getan, was ihr Auftraggeber wollte? Was hatte
sie daran gehindert? Waren sie gierig auf noch mehr Geld und Waffen geworden? Und warum hatte der Drahtzieher ihn nicht einfach selbst erledigt, als er wehrlos im Krankenhaus gelegen hatte? Offenbar war es dem Unbekannten egal, ob Alec lebte oder nicht - Hauptsache, er war kaltgestellt. Und wer in den Bergen oberhalb von Pecos, New Mexico, betrügerische Machenschaften bei der Landvergabe untersucht, war so kaltgestellt, wie es nur ging. Auf dem Bildschirm stellte eine hübsche Moderatorin das Nachrichtenteam des Abends vor. Alec fragte sich, welchem seiner Kollegen, seiner sogenannten Freunde, es noch verdammt leid tun würde, daß Alec MacLaine vor zwei Jahren nicht gestorben war. Die Story des Tages war eine Geiselnahme in einem New Yorker Tagungszentrum. Gespannt sah Alec hin. "Kurz nach der Eröffnung der Konferenz, zu der sich linksgerichtete Aktivisten in New York versammelt haben, stürmten vier maskierte und schwerbewaffnete Männer in den Saal. Sie verbarrikadierten die Türen und nahmen etwa fünfzig Teilnehmer als Geiseln. Die Polizei teilt mit, daß noch keine Geisel freigelassen wurde. Soweit bekannt ist, wurde auch noch niemand getötet, obwohl die Terroristen damit drohen, ihre Gefangenen zu ermorden, falls ihre Forderungen nicht erfüllt werden." Alec biß die Zähne zusammen, und an seiner Wange zuckte ein Muskel. Er starrte auf den Bildschirm, sah jedoch nicht das gigantische Tagungszentrum im Herzen von New York, sondern die große Eingangshalle der WHO in Washington. Als stünde er hinter einer TV-Kamera, sah er den Mann, der er vor zwei Jahren gewesen war, und beobachtete, wie interessiert Alec MacLaine die hübsche Frau musterte, die durch die leere Halle ging. Er befand sich schon so früh, zwischen Dunkelheit und Morgengrauen, im Gebäude, weil er mit einem
Informanten verabredet war, der ihm etwas über die Aktivitäten der Arischen Nation, einer neofaschistischen Untergrundorganisation, verraten wollte. Die hübsche Frau bemerkte ihn und lächelte. "Es ist kalt draußen, nicht wahr?" Als er sich jetzt daran erinnerte, wunderte es ihn, daß er nicht sofort gespürt hatte, wie wichtig sie ihm werden würde. Er hätte es gleich wissen müssen. "Bei uns ist heute abend der Chef der New Yorker Polizei, Allen Jamison. Commissioner, wie genau lauten die Forderungen der Terroristen?" Wie immer, dachte Alec. Ein Transportmittel, Geld und die Freilassung einiger Gesinnungsgenossen. "Und besteht die Möglichkeit, die Geisel zu befreien, ohne ihr Leben zu gefährden?" fragte die Reporterin. So gut wie keine, dachte Alec, obwohl er damals als eine der beiden Geiseln gehofft hatte, daß jemand sein Bestes gab. "Die Sicherheit der Menschen, die im Gebäude festgehalten werden, steht für uns an erster Stelle. Ein voreiliger Befreiungsversuch könnte ihnen schaden. Wenn sie sich an die Geiselnahme vor zwei Jahren in Washington erinnern ..." Alec verzog das Gesicht. Er erinnerte sich nur zu gut. Eben gerade hatte er noch mit einer hübschen Frau geplaudert und gedacht, daß ihr Lächeln herrlicher war als ein Monat voller Sonnenschein, und dann wurde er plötzlich gegen die kühle Marmorwand gepreßt, und man hielt ihm die Mündung eines 9mm-Sturmgewehrs an den Hals. Und die hübsche Frau, deren Namen er noch nicht einmal kannte, wand sich in den Armen eines anderen Angreifers, und die Angst vor dessen tödlicher 357er-Magnum ließ ihre vollen Lippen zu einer Grimasse erstarren. Die Terroristen stellten weder Fragen noch Forderungen. Sie schoben ihre Gefangenen in eine Kammer und verriegelten die Tür. Aber Alec hatte genug gesehen, um zu wissen, daß es sich um Profis handelte. Er hatte den schrecklichen Verdacht, daß sie
hinter ihm her waren. Man hatte ihn in eine Falle gelockt. Später, im Krankenhaus, hatte man ihm gesagt, daß das nicht wahr sei, daß er einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Wie Cait. Er hätte es besser wissen müssen. Er hätte seinem Instinkt vertrauen sollen. Dann hätte er Caits viel zu frühen Tod längst rächen und den Mann zur Strecke bringen können, der der Welt Caits Lächeln geraubt hatte. "Und wie schätzen Sie angesichts ihrer Forderungen die Chance ein, daß alle Geiseln diese Belagerung überleben?" "Gleich null", sagte Alec laut. "Sie werden ein paar Unschuldige ermorden. Oder viele Unschuldige. Dann werden die bewaffneten Bastarde von einer Spezialeinheit erschossen." Wie vor zwei Jahren. Und tote Männer redeten nicht. "Natürlich wollen wir auch das Leben unserer Beamten nicht aufs Spiel setzen", sagte der Commissioner. "Wie es damals beim WHO-Einsatz geschehen ist", fügte die Reporterin hinzu und erinnerte an das Schicksal des FBIAgenten Alec MacLaine. Derselbe Alec MacLaine starrte jetzt in dumpfer Verbitterung auf den Bildschirm. Die Ärzte hatten ihm mehrfach gesagt, wie glücklich er sich schätzen könnte, noch am Leben zu sein. Aber er fühlte sich erschöpft, ausgebrannt und verraten. Irgendwann fand er das einzige Heilmittel, das den Schmerz lindern konnte - Rache. Sie trieb ihn an und gab ihm die Kraft, Nachforschungen anzustellen, bis er wußte, wer die Terroristen an jenem tragischen Morgen vor zwei Jahren in das Gebäude der WHO geschickt hatte. Und inzwischen wußte er auch, daß der Drahtzieher mit ihm in derselben Behörde arbeitete. Aus dem Geheimbericht hatte er gefolgert, daß es einer von drei Kollegen sein mußte. Die meisten der siebzehn Agenten in seiner Abteilung kamen nicht in Frage, weil sie mit seinen Fällen nichts zu tun gehabt hatten. Es gab nur drei Männer, die,
mit der Arischen Nation befaßt, in der Lage gewesen waren, seine Untersuchung genau zu verfolgen: Jack King, Fred Masters und Jörge Sifuentes. Alle drei hatte er für seine Freunde gehalten. Er hatte mit ihnen gegessen und nach dem erfolgreichen Abschluß eines Falls eine Flasche Scotch geleert. Er wußte, wie ihre Kinder hießen, und hatte geglaubt, die Männer zu kennen. Vor vierzehn Jahren hatte er zusammen mit Jack King beim FBI angefangen. Sie waren in derselben Klasse an der Akademie' gewesen, hatten dieselben Kurse besucht und die dieselben Prüfungen abgelegt. Bei mehreren Einsätzen hatten sie als Partner zusammengearbeitet, auch bei dem, der die Narbe hinterlassen hatte, die Cait zwei Jahre zuvor berührt hatte. Jack hatte eine ähnliche Narbe an der rechten Hüfte, die ihn immer an die Kugel erinnern würde, die eigentlich Alec gegolten hatte. Sie hatten sich nächtelang Verschwörungstheorien erzählt und mehr als ihren Anteil an Verrückten und Verbrechern zur Strecke gebracht. Hin und wieder hatten sie sogar eine Katze aus dem Baum geholt. Alec hatte Jacks Sohn über das Taufbecken gehalten, war sein Pate, und hatte zu Jack gehalten, als dessen Ehe gescheitert und seine Familie nach Kalifornien gezogen war. Und Jack hatte ihm geholfen, als er sich nach der schweren Schußverletzung einer qualvollen Physiotherapie unterzogen hatte. Jack hatte nicht zugelassen, daß er aufgab und sich mit seinem kaputten Körper abfand. Einen besseren Freund als Jack konnte ein Mann nicht besitzen. Jedenfalls hatte er das immer geglaubt. Bis jetzt. Auch Fred Masters war ein Mann, auf den man sich in gefährlichen Situationen verlassen konnte. Mehr als einmal hatte er Alec zur Seite gestanden, und außerdem konnte er aus den unmöglichsten Quellen die wichtigsten Informationen schöpfen.
Fred hatte in Princeton Ingenieurwesen und Jura studiert und war schon ein erfahrener Agent gewesen, als Jack und Alec frisch von der Universität gekommen waren. Er hatte die beiden unter seine Fittiche genommen und ihnen geholfen, die Karriereleiter des FBI zu erklimmen. Alec war oft im großen Landhaus der Masters in Virginia zu Gast gewesen. Jörge Sifuentes gehörte zu den großen Hoffnungen des FBI. Er sprach fünf Sprachen besser als mancher Amerikaner seine Muttersprache. Mit seinem schwarzen Haar und den blitzenden Augen hatte er nur ein Problem - die vielen schönen Frauen, die ihn beständig umlagerten. Er besaß einen großartigen Sinn für Humor und war der einzige, der es in den vergangenen zwei Jahren geschafft hatte, Alec zum Lächeln zu bringen. Aber all das änderte nichts an den Tatsachen. Auch diese drei Männer waren anfällig für die Versuchungen, die Bestechungsgelder oder die Arbeit als Doppelagent mit sich brachten. Und Alec wollte und durfte diese Vertuschung nicht dulden. Mit dieser Lüge konnte er nicht weiterleben. Eine Frau war gestorben. Cait war ermordet worden. Welcher seiner Freunde hatte sie auf dem Gewissen? Die Reporterin gab ins Nachrichtenstudio zurück, wo die Moderatorin einen Gast aus dem Kriseninterventionszentrum in Bethesda, Maryland, ankündigte, eine Überlebende der Geiselnahme, die vor zwei Jahren in Washington stattgefunden hatte. Alec war, als hätte man ihm einen Eimer Eiswasser ins Gesicht geschüttet. Eine Überlebende? Es gab keine. Offiziell gab es nicht einmal ihn selbst. Sein Herz klopfte heftiger als jemals zuvor. Der Bildschirm zeigte eine Nahaufnahme des Gastes. Alecs Mund wurde trocken, als er auf das Gesicht einer toten Frau starrte.
2. KAPITEL Freitag, 9. November, 18.15 Uhr Alec schloß die Augen. Es konnte nur eine Halluzination sein. Er riß sie wieder auf. Und sah noch immer ihr hübsches Gesicht. Cait! Es mußte ein bizarrer Zufall sein. Dasselbe Aussehen, dasselbe Arbeitsgebiet. Aber es mußte eine andere Frau sein, denn er hatte die Schüsse gehört, die sie getötet hatten. "Cait Wilson, Designerin eines Softwarepakets, das Experten für die wichtigste Erfindung auf dem Gebiet des Rettungswesens seit der fahrbaren Trage halten. Danke, daß Sie zu uns gekommen sind, Cait." Dasselbe Gesicht... dieselbe Frau. Cait lebte. Auf dem Bildschirm nickte Cait lächelnd. Sie war ruhig und wirkte äußerst gelassen, und doch lag in ihrem Blick so etwas wie Trauer. "Wir haben bei Opfern und Überlebenden krisenhafter Situationen zahllose psychologische Daten gesammelt", erklärte sie. "Und diese Daten haben wir zu einem Programm verarbeitet, das in Notfällen abgerufen und mit anderen Faktoren in Verbindung gebracht werden kann. Wir wissen zum Beispiel, was sich während eines Erdbebens in einem zwölfgeschossigen
Gebäude ereignet, das in den sechziger Jahren errichtet wurde und eine Glasfront aufweist." Ihr blondes Haar war kürzer als vor zwei Jahren. Damals war es so lang gewesen, daß der Terrorist es hatte packen können, um sie aus der Kammer zu schleifen. "Unsere Daten verraten uns, wie eine Mutter auf eine Notsituation reagiert, wenn sie ihre Kinder dabeihat, im Unterschied zu einer Mutter, die ihre Kinder sicher zu Hause weiß." Caits Gesicht verschwand, ihr Programm erschien, und sie erklärte es den Zuschauern. Figuren rannten durch schmale Korridore, drängten sich in den Türen und brachen zusammen, als beißender Rauch sie einhüllte. "Im Moment verwenden die Einsatzkräfte Ihr Programm, um die Lage der Geiseln in New York besser einschätzen zu können", sagte die Moderatorin. "Können Sie uns erzählen, wie das vor sich geht?" Alec hörte Caits Antwort nicht, sondern lauschte nur dem melodischen Klang ihrer Stimme. "Sie haben vor zwei Jahren in Washington eine Geiselnahme überlebt, nicht wahr, Cait?" Nein, dachte er. Sie hat nicht überlebt, sie wurde ermordet. Die Terroristen schleiften sie davon und richteten sie hin. Er wußte es. Seine Hände zitterten. "Was zum Teufel ..." flüsterte er. Cait wirkte nicht mehr ruhig und gelassen. Ihr Gesicht war wie erstarrt. Die Frage schien sie erschüttert zu haben. Sie zögerte, "Ja", erwiderte sie leise und betrachtete ihre Hände, bevor sie wieder in die Kamera schaute. "Ich hoffe, das Programm wird Menschen helfen, die in derartige Situationen geraten," "Die andere Geisel, ein FBI-Agent, und alle vier Terroristen kamen ums Leben, als die Polizei das Gebäude stürmte. Wie kam es, daß Sie als einzige überlebt haben?" fragte die
Moderatorin und beugte sich gespannt vor. Die Frage hing im Raum und klang fast wie ein Vorwurf. Alec saß da wie aus Stein gemeißelt. Die Journalistin irrte sich. Er war nicht getötet worden, als das FBI das Gebäude gestürmt hatte. Plötzlich ging ihm auf, wieviel der Report noch unbeantwortet ließ. Es war durchaus möglich, daß das FBIKommando damals genau die Männer erschossen hatte, die jemand aus der FBI-Zentrale angeheuert hatte. Tote Männer redeten mit Sicherheit nicht. "Wie haben Sie den Schußwechsel überlebt, Cait?" Auch Alec beugte sich jetzt vor. "Ich ... ich hatte einfach Glück, nehme ich an", stammelte Cait. Alecs Herz hämmerte. Wieso war sie am Leben? "Dies ist das erste Interview, das Sie seit jenem Morgen vor zwei Jahren geben", sagte die Moderatorin, und in ihrem Blick lag Sensationsgier. Cait lächelte. "Ich wollte mein neues Softwarepaket an die Öffentlichkeit bringen. Wie Sie sehen, bietet es ..." Die Moderatorin unterbrach sie einfach. "Stimmt es, daß Sie vor dem Tod des FBI-Agenten Alec MacLaine drei Tage zusammen mit ihm eingesperrt waren?" Caits volle Lippen wurden schmal, und Alec wußte, daß die Frage sie zornig machte. "Können Sie uns etwas über ihn erzählen? Hat er versucht, die Situation zu entschärfen?" "Natürlich hat er das", erwiderte Cait verärgert. "Er starb bei dem Versuch, mir das Leben zu retten. Ihm verdanke ich, daß ich damals nicht den Verstand verloren habe, sondern heute hier sitze." Alec erinnerte sich daran, als wäre es erst gestern geschehen. An den starken Ammoniakgeruch, an das Laken, mit dem sie sich zugedeckt hatten, und an das Toilettenpapier, mit dem Cait ihm das Blut von der Stirn gewischt hatte.
Er stand auf. Er wollte ihren Namen aussprechen, doch die Stimme versagte ihm den Dienst. Vor zwei Jahren hatten seine Beine ihn in der engen Kammer nicht tragen können, nachdem der Gewehrkolben eines Terroristen ihn am Kopf getroffen hatte. Cait hatte ihn, einen wildfremden Menschen, in den Armen gehalten, und ihm Mut gemacht. Sie war die tapferste Frau, der er jemals begegnet war. Jetzt strich er mit der Hand über den Bildschirm, als könnte er ihr Gesicht berühren. In Gedanken fühlte er die weiche Haut, das seidige Haar und die Tränen, die über ihre Wangen liefen. Tränen, die er noch jetzt auf der Zunge schmeckte. Sie lebt, und es geht ihr gut. Er hörte, wie sie die Moderatorin verbesserte und erzählte, daß sie damals nicht bei der WHO gearbeitet hatte. Sie hatte nur ein Softwarepaket persönlich abliefern wollen, anstatt es später per Fahrradkurier zu schicken. Sie war zu Fuß aus ihrem Büro an der Vierten Straße gekommen und ausgerechnet dann im Gebäude der WHO eingetroffen, als die Terroristen ihr eigentliches Opfer überfielen. Hätte sie an diesem Morgen nicht eine Abkürzung genommen, wäre sie den Geiselnehmern entgangen. Und Alec hätte sie niemals kennengelernt und hätte nicht zwei Jahre lang immer wieder die Schüsse hören müssen, die sie getötet hatten. Mit jedem Schritt, den er der Enttarnung des Drahtziehers näher gekommen war, waren Caits Schreie leiser geworden, auch wenn die Schüsse dafür lauter geworden zu sein schienen. Und jetzt sah er sie lebend vor sich. Die Schreie, die Schüsse, die schlagartig einsetzende Stille, all das war Beweis genug gewesen. Aber am meisten hatten ihn die mitfühlenden Blicke seiner Freunde überzeugt. Er hatte nichts über die genauen Umstände ihres Todes wissen wollen. In gewisser Weise war er mit ihr gestorben. Er hatte ihrer Tante Margaret keine Beileidskarte geschickt.
Er hatte Fotos seines vorgetäuschten Grabes gesehen, ihres aber, das nur zu real sein würde, nie besucht. Wozu auch? Um ihr Blumen zu bringen, wie bei einem Rendezvous, das sie niemals haben würden? Jetzt wünschte er, er hätte es getan. Hätte er doch nur Jack, Fred oder Jörge am Kragen gepackt und verlangt, jedes kleine Detail über Caits Ende zu erfahren. Dann hätte er gewußt, daß sie lebte. Dann hätte er selbst nicht nur überleben, sondern richtig leben können. Während er langsam aus dem Koma erwachte, war stets jemand bei ihm. Die Vorschriften verlangten, daß ein Agent, der mit Geheimmaterial befaßt gewesen war, im Krankenhaus nie allein sein durfte. Auf diese Weise sollte verhindert werden, daß er unter dem Einfluß von Medikamenten oder im Fieber unwissentlich etwas verriet. Jedesmal, wenn er die Augen öffnete, sah er einen seiner Freunde vor sich. Von denen einer vielleicht ein mörderischer Freund war. Einer von ihnen mußte doch gehört haben, wie er Caits Namen gemurmelt hatte. Manchmal war er sogar davon aufgewacht, daß er ihn im Traum gerufen hatte. Warum hatten sie ihm nicht die Wahrheit erzählt? Warum hatten sie ihm nicht gesagt, daß sie lebte? Warum hatte er sie nicht gefragt? Er konnte sich nicht erinnern, welcher von den Freunden bei ihm gewesen war, als er schließlich wieder zu Bewußtsein gekommen war. Die Untersuchung der Geiselnahme war bereits abgeschlossen, die Terroristen als unabhängige Einzeltäter eingeschätzt, das FBI von jeder Schuld freigesprochen worden. Und für die Welt war Alec MacLaine tot. Er bekam einen neuen Namen und eine neue Vergangenheit, damit seine Zukunft sicherer war. Alec war egal, was auf seinem Führerschein stand. Cait war tot. Da war es nur recht, daß auch Alec tot war. Er überlebte, erledigte mit seiner neuen Identität mehrere Undercovereinsätze und landete irgendwann in New Mexico,
wo er tagsüber betrügerische Landvergaben aufdeckte und nachts auf Rache sann. Und jetzt hatte, er herausgefunden, daß seine Freunde von Cait wußten. Cait Wilson lebt - mehr hätten sie nicht zu sagen brauchen. Drei kleine Worte. Statt dessen hatten sie ihn glauben lassen, daß er versagt hatte. Ahnten sie, daß in der Kammer etwas geschehen war, das mit dem Verstand nicht nachzuvollziehen war? Wußte der Mann, der ihn tot sehen wollte, daß Cait für ihn mehr war als nur eine Frau, die mit ihm zusammen gelitten hatte? Jemand hatte ihn töten wollen, aber er hatte überlebt. Dieser Jemand nahm ihm das, was seinem Leben einen Sinn gab, und damit war er so gut wie tot. Jemand würde dafür bezahlen. Alec stand vor dem Fernseher und starrte auf Caits Gesicht. "Cait", sagte die Moderatorin. "Haben Sie den Schußwechsel gesehen?" Caits Gesicht verfinsterte sich. "Alec." "Was haben Sie gesehen?" Die Kamera fuhr auf sie zu. "Als ich aus der Kammer geschleift wurde, sah ich, wie die Terroristen ihn erschossen." "Sie wissen, daß Sie laut FBI-Bericht bewußtlos waren, als Mr. MacLaine umkam." In Alec zog sich etwas zusammen. Wieso war Cait bewußtlos gewesen? Sie zuckte die Achseln. "Es fällt mir schwer, mich an alles zu erinnern, was an jenem Morgen geschah." Die Journalistin wußte ebensogut wie Alec, daß Cait log. "Warum wurden Sie nicht vom Untersuchungsausschuß des Senats befragt?" Cait lächelte. "Das wurde ich." "Ich habe Sie nicht gesehen."
"Natürlich nicht. Ich habe meine Aussage schriftlich gemacht." "Wurde Ihre Aussage verlesen?" "Das weiß ich nicht." "Als Augenzeugin hätten Sie doch eigentlich genau befragt werden müssen", beharrte die Moderatorin. "Vermutlich glaubte man, daß eine bewußtlose Frau nicht viel gesehen haben kann. Und als ich bei Bewußtsein war, befand ich mich in einer Besenkammer und sprach mit niemand anderem als Alec MacLaine." Alec schmunzelte. "Sie wollen offenbar von mir etwas Dramatischeres hören, doch das kann ich Ihnen nicht liefern. Ein Mann, den ich kaum kannte, redete mit mir, brachte mich zum Lachen und nahm mir zeitweilig die Angst vor dem Tod. Dann wurde er erschossen. Ich finde das ziemlich dramatisch", sagte Cait kühl. "Das klingt, als hätten Sie ihn geliebt." Alec hielt den Atem an, als sie antwortete. "Ja, das habe ich. Von ganzem Herzen und in jeder Minute dieser drei Tage. Und jetzt ist er fort." Caitlin Leigh Wilson. Man dankte Cait für ihren Besuch im Studio, und dann wurde ein Werbespot für Mundwasser gesendet. Alec dachte an die drei Tage ohne Zahnpasta, Pfefferminz oder andere Annehmlichkeiten und an eine Frau, die sich kein einziges Mal beklagt hatte. Und an die vergangenen zwei Jahre, in denen er mit ihrem Geist gelebt hatte. "Sie lebt", sagte er laut. Dann schaltete er den Fernseher aus, wirbelte herum und tat, als würde er einen Basketball mit einem Sprungwurf in den Korb befördern. Zum erstenmal seit seiner Befreiung taten ihm Rücken und Schultern kein bißchen weh. "Sie lebt!" wiederholte er, und es tat gut, die Kraft in seiner Stimme zu hören.
Plötzlich fiel die selbst auferlegte Leere und Einsamkeit von ihm ab. Er blieb stehen und runzelte die Stirn. In dem Bericht, den er gestohlen hatte, war von Cait Wilson nicht die Rede gewesen. Sie war nicht vor dem Untersuchungsausschuß des Senats aufgetreten. Dies war ihr erstes Interview über die Geiselhaft gewesen. Irgend etwas stimmte nicht. Offenbar hatte der Drahtzieher sie am Leben gelassen, weil sie nichts gesehen hatte, was ihm schaden konnte. Sie war vernünftig genug gewesen, sich nach der Befreiung im Hintergrund zu halten, und war daher keine Bedrohung. Aber warum sollte jemand, der ihn hatte ausschalten lassen, Cait auch weiterhin schonen, wenn es für ihn gefährlich wurde? Alec war es im Moment vollkommen egal, warum sie hatte überleben dürfen. Wichtig war nur, daß sie irgendwo in einem anderen Teil des Landes die gleiche Luft atmete wie er. Und er hatte vor, sie so bald wie möglich aufzusuchen.
3. KAPITEL Samstag, 10. November, 1.25 Uhr Das Telefon zerriß die nächtliche Stille. Jack King war sofort hellwach und bellte seinen Namen in den Hörer. "Der Erzengel ist ausgeflogen." Jack drückte auf einen Knopf des kleinen Kastens, der am Telefon befestigt war, und aktivierte den Verzerrer. "Die Leitung ist sicher", sagte er. "Jetzt erzähl." "MacLaine hat New Mexico verlassen." "Was?" fauchte Jack und wollte nicht glauben, was sein Mann vor Ort ihm berichtete. Er holte tief Luft. "Wann?" fragte er und schaltete eine Lampe ein. "Er hat gestern kurz nach neunzehn Uhr einen Flug nach Atlanta, Georgia, gebucht. Wir haben ihn bis zum Flughafen beschattet und gesehen, wie er den Zubringerbus zur Maschine bestieg. Die Ablösung in Atlanta sagt, daß er dort nicht ausgestiegen ist." "Mußte er irgendwo umsteigen?" "Nein, Sir. Direktflug ohne Zwischenlandung." Jack wurde bewußt, daß er sich seit zwei Jahren vor diesem Anruf fürchtete. "Ist gestern etwas Ungewöhnliches geschehen?"
"Nichts, Sir. Er geht kaum aus und hält sich meistens im Blockhaus auf. Hin und wieder plaudert er mit ein paar Einheimischen, gestern allerdings nicht." Jack starrte auf den Teppich. Er wußte, daß MacLaine nicht "plauderte" und die "Einheimischen" die Betrüger waren, auf die er es abgesehen hatte. Was immer Alec aus New Mexico fortgelockt hatte, mit der betrügerischen Landvergabe hatte es nichts zu tun. "Soweit wir wissen, hat er gestern mit niemandem gesprochen", berichtete der junge Agent. Jack fragte sich; Was Alec zu dem plötzlichen Aufbruch veranlaßt hatte. Hatte er Verdacht geschöpft? Falls ja, so war er vielleicht kurz davor, die ganze Sache aufzudecken? Jack spürte, wie sein Magengeschwür sich schmerzhaft meldete. "Weiter", befahl er. "Vor zwei Wochen hat er das Blockhaus lange genug verlassen, um einige Wanzen anzubringen." "Und?" fragte Jack ungeduldig. "Was haben Sie gehört?" "Nicht viel, Sir. Das Übliche." "Zum Beispiel?" "Wie er sein Essen zubereitet. Gegen siebzehn Uhr. Jedenfalls piepte da seine Mikrowelle." "Okay. Was noch?" "Er hat eine Weile am Computer gearbeitet. Offenbar hat er gelesen und nur ab und zu eine Taste betätigt. Danach hat er die Nachrichten gesehen und den Fernseher ausgeschaltet." Jack schloß die Augen. "Haben Sie etwas sehen können?" "Nein, Sir. Er hat Metalljalousien. Die Tastatur war nicht zu erkennen. Wir vermuten, daß er entweder neue Software geladen oder seine eigenen Dateien gespeichert hat." Jack stellte sich vor, wie Alec seine Dateien auf Disketten sicherte. Es wäre typisch für ihn, im Computer nichts zu hinterlassen. Du solltest nicht so berechenbar sein, Kumpel.
Andererseits war es gerade Alecs Berechenbarkeit, die Jack leichtsinnig gemacht hatte. Wo zum Teufel steckte er? "Und dann hat er den Flug nach Atlanta gebucht." Warum Atlanta? Hatte er auf dem Computer-Superhighway etwas gefunden? Jack riß die Augen auf. "Augenblick mal. Wie hat er den Flug gebucht? Telefonisch?" "Ja, Sir." Verärgert schüttelte Jack den Kopf. Seine Leute hätten ihn sofort informieren sollen. Alec MacLaine hätte den Flug niemals über eine offene Leitung gebucht, wenn er tatsächlich vorgehabt hätte, nach Atlanta zu fliegen. "Und Sie sind ihm zum Flughafen gefolgt?" "Ja, Sir, und wir haben gesehen, wie er in den Bus gestiegen ist." "Wie lange nach dem Abflug haben Sie gewartet?" "Sir?" Anfänger, dachte Jack. "Nun ja ... wir haben gar nicht gewartet, Sir." Waren er und Alec auch so unfähig gewesen, als sie beim FBI angefangen hatten? Vermutlich. Jack schob sich eine Magentablette in den Mund. "Sie sagen, er hat sich die Nachrichten angesehen und den Fernseher ausgeschaltet?" "Ja, Sir." "Bevor die Nachrichten vorüber waren?" Es gab eine lange Pause, während die beiden Agenten am anderen Ende miteinander sprachen. "Bevor sie vorüber waren, Sir." Sie kannten jede Facette von Alec MacLaines falschem Leben, und doch war es ihnen nicht aufgefallen, daß er früher ausgeschaltet hatte. Wenn ihm nicht gerade Kugeln um die Ohren pfiffen, schaute Alec sich Nachrichtensendungen stets bis zum Ende an.
"Durchsuchen Sie das Blockhaus", befahl er, obwohl er wußte, daß die beiden Anfänger keinen Hinweis finden würden. Alec hinterließ nie etwas anderes als falsche Spuren. Er legte auf, ohne noch etwas zu sagen, setzte sich auf die Bettkante und starrte vor sich hin. Er war sicher, daß bald alles auffliegen würde. Im Bademantel ging er durch das viel zu leere Haus in sein Arbeitszimmer, wo eine Reihe von Videorecordern blinkte. Ironischerweise war es Alec gewesen, der ihm den Tip gegeben hatte, die Nachrichtensendungen der drei großen Sender aufzuzeichnen. Mit der Fernbedienung spulte er das erste Band zurück, bis die Nachrichten begannen. Jack hörte sich die ersten Worte jedes Berichts an, warf einen Blick auf die Gäste und ließ das Band schnell weiterlaufen. Das gleiche tat er mit dem zweiten Videorecorder. Erst als er den dritten einschaltete, sah er, was Alec aus seinem zweijährigen Winterschlaf geholt hatte. "Verdammt", sagte er laut und drückte auf die Pausentaste. Auf dem Bildschirm verschwamm Cait Wilsons Gesicht. "Warum konntest du nicht in Deckung bleiben?" flüsterte er. Was war nur mit dieser Frau? Alec hatte nur drei Tage mit ihr verbracht, schlimme Tage, zugegeben, aber trotzdem war es eine kurze Zeit gewesen. Was hatte diese Frau an sich, daß ein Mann im Delirium ihren Namen rief, sie anflehte, nicht zu sterben, sondern zu ihm zurückzukehren? Daß er sie für tot hielt, hatte Alec das Leben gerettet, denn ihm war alles egal gewesen. Er hatte wie ein gebrochener Mann gewirkt, der keinerlei Fragen stellte. Jack hatte seinem alten Freund in die düster und kraftlos blickenden Augen geschaut und hätte ihm fast die Wahrheit erzählt. Aber er hatte es nicht getan. Er hatte es nicht tun können. Ebensowenig, wie er Alec hätte erschießen können. Und Jack wußte, daß ein Mann wie Alec MacLaine nicht lange untätig blieb. Ein Mann wie er ruhte sich eine Weile aus,
aber er gab nie auf. Alec war in vieler Hinsicht heute stärker als zuvor, denn vor der Geiselnahme hatte er ein heiles Herz besessen. Aber MacLaine besaß nicht nur neue Kräfte und eine neue innere Kälte, er verfügte auch über Informationen, die er bisher nicht gehabt hatte. Jack waren Alecs kleine Überfälle auf die Datenbank des FBI nicht entgangen. Er lächelte grimmig. Ein oder zwei Brocken hatte er selbst dort deponiert, damit Alec sie fand. Sein Lächeln verblaßte. Alec wußte noch eines. Nämlich, daß Jack die eiserne Regel der Freundschaft verletzt hatte: keine Lügen. Jack schleuderte die Fernbedienung so heftig gegen die Wand, daß sie zerbarst. Der Videorecorder streikte, und auf dem Bildschirm schien es zu schneien. Er wählte eine Telefonnummer und hob den Hörer ans Ohr. Beim zweiten Läuten meldete sich jemand. Leise gab Jack die Anweisung, auf beiden Washingtoner Flughäfen nach Alec Ausschau zu halten. Dann nannte er eine Anschrift in Chevy Chase, Maryland. Er brauchte nicht nachzusehen, seit zwei Jahren kannte er sie auswendig. Ein Mann wußte immer, woher ihm Unheil drohte. "Verstanden, Sir." "Falls er dort auftaucht, schnappt ihn euch. Es dürfte nicht schwierig werden. Er rechnet nicht damit, daß jemand weiß, wo er ist." "Sir?" Jack nahm den Blick von der zersplitterten Fernbedienung auf dem Boden. Sie erinnerte ihn zu sehr an das, was aus seiner Freundschaft mit Alec MacLaine geworden war. Er rieb sich die Augen. Er war zu alt für das hier und so verdammt müde. "Schnappt ihn euch einfach."
4. KAPITEL Samstag, 10. November, 3.30 Uhr Irgendein Geräusch oder vielleicht auch die Gewißheit, daß etwas nicht in Ordnung war, ließ Cait aus einem unruhigen Schlaf erwachen. Vollkommen reglos lag sie da und lauschte. Sie hörte nichts, doch das Gefühl, daß etwas nicht stimmte, blieb. Mehrere Sekunden vergingen, ohne daß etwas geschah, aber ihr Herz schlug immer schneller. Sie öffnete den Mund, um noch leiser zu atmen. Nervös blickte sie im Zimmer umher. Der dunkle Schatten an der Wand war nur die alte Kommode von ihrer Mutter, nicht zwei kauernde Einbrecher, der in der Ecke ein Sessel mit gestapelter Wäsche, kein Eindringling, der sie ermorden wollte. Dennoch verschwand die Angst nicht. Sie setzte sich auf und zog die Decke bis unter das Kinn. Vor zwei Jahren hatte Cait innerhalb von drei kurzen Tagen gelernt, ihrem Instinkt zu vertrauen. Sie vertraute ihm noch immer. Ohne zu wissen, warum sie es tat, schwang sie die Beine aus dem Bett und zog den grünen Morgenmantel an, der am Pfosten hing. Sie schlich auf den Flur und lauschte an der Tür des Nebenzimmers, bevor sie die Tür öffnete. Im Schein des Nachtlichts konnte Cait sehen, daß ihre Tochter auf die Seite
gerollt war. Leise ging sie hinüber und deckte Allie sorgfältig zu. "Es war das Interview", flüsterte sie. "Ich hätte es nicht geben dürfen. Siehst du, wie wenig Ruhm es einem einbringt? Nichts als Herzklopfen und Gänsehaut." Wäre ich nicht im Fernsehen erschienen, könnte ich jetzt ruhig im Bett liegen und fest schlafen, dachte sie, als sie das Kinderzimmer verließ. « "Sie haben versprochen, mich nicht danach zu fragen", murmelte sie und lächelte über ihre Naivität. Wozu hatten sie sie sonst eingeladen? Sicher, sie hatten einen Ausschnitt aus ihrem Softwarepaket gezeigt, aber nicht verstanden, wie wichtig das Programm für Polizisten, Feuerwehrleute oder Rettungssanitäter war. Es half, Menschen aus Notsituationen zu retten und Menschen darauf vorzubereiten, was sie in derartigen Fällen erwartete. Sie hätte ihnen ein Beispiel nennen können: zwei Menschen, die einander noch nie begegnet waren, ein Mann und eine Frau, zusammengeworfen in einer lebensbedrohlichen Lage. Nach Caits Programm würden die beiden sich entweder verstehen und zusammen nach einem Ausweg suchen oder sich streiten, bis sie kein Wort mehr miteinander sprachen. In Wirklichkeit... redeten sie über ihre Traumhäuser. Cait warf einen Blick in das zweite Schlafzimmer und schaltete kurz das Licht ein. Es stand leer? aber sie schaute trotzdem in jede Ecke. Alles war wie immer, und doch schien etwas nicht in Ordnung zu sein. Zögernd stieg sie die Treppe hinauf und tastete nach dem Lichtschalter. Auch hier oben war alles unverändert. Sie hätte erleichtert sein sollen, aber als sie durch das Geländer nach unten in das dunkle Wohnzimmer starrte, rechnete sie halb damit, jemanden zu entdecken.
"Das ist doch lächerlich", sagte sie, und der Klang ihrer Stimme ließ sie zusammenzucken. Entschlossen ging sie nach unten, schaltete auch dort das Licht ein und wirbelte herum, als könnte sich jemand von hinten auf sie stürzen. Sie wiederholte das Manöver im Eßzimmer. Jetzt fehlten nur noch die Küche und die Garage. Sie streckte gerade die Hand nach dem Schalter in der Küche aus, da nahm sie ein dumpfes Geräusch wahr. Wie erstarrt stand Cait da, bis ihr klar wurde, daß sie das Pochen ihres eigenen Herzens hörte. Sie betätigte den Schalter und tauchte den Raum in helles Licht. Und dann hörte sie etwas anderes. Ein leises schrilles Geräusch, noch höher als das, das eine Kreissäge von sich gab. Unnatürlich, metallisch. Bedrohlich. Mit aufgerissenen Augen sah sie zur Haustür hinüber. Das Geräusch war von draußen gekommen. Plötzlich brach das Kreischen ab, und es herrschte eine unheimliche Stille. Dann quietschten Reifen, und ein Motor heulte auf. Jemand war an der Tür gewesen. Und war wieder verschwunden. Die Erleichterung ließ ihre Knie weich werden, und sie mußte sich an der Arbeitsplatte festhalten. Vermutlich war es jemand von nebenan gewesen. Sean und Delia Dimwits, ihre Nachbarn, stritten sich vermutlich mal wieder. Das taten die beiden regelmäßig und viel zu oft. Also hatte tatsächlich etwas nicht gestimmt, wenn auch nicht bei ihr. Leise lachend goß Cait sich ein Glas Wasser ein und trank es mit zitternder Hand. Sie löschte das Licht in der Küche, ging ins Wohnzimmer und schaltete es auch dort aus. Ihre Hand war noch am Schalter, als es vor den Fenstern taghell wurde. Der Bewegungsmelder hatte die Scheinwerfer aktiviert. Die Veranda war in grelles Licht getaucht. Blinzelnd tastete Cait sich zur Haustür. Sie zitterte so heftig, daß sie sich mit beiden Händen abstützen mußte, bevor sie durch den Spion schauen konnte.
Sie sah die beiden Stufen, die von der Veranda auf den Bürgersteig führten. Ihr blieb fast das Herz stehen, als das Holz unter ihren Handflächen erbebte, und sie wich zurück, als stünde die Tür in Flammen. "Cait..?" Die Stimme, die ihren Namen rief, schien von hinten zu kommen, und Cait wirbelte herum und starrte durch das dunkle Eßzimmer in die pechschwarze Küche. "Cait..?" Nein. Wer immer vom Bewegungsmelder erfaßt worden war, hatte auch die Tür erzittern lassen. Und wer immer es war, er kannte ihren Namen. Der Türknauf bewegte sich nicht. Niemand rüttelte daran. Und es war still draußen. Aber sie wußte, daß dort jemand darauf wartete, daß sie die Gefahr ins Haus ließ. Cait schlich zur Haustür, nahm ihren ganzen Mut zusammen und schaute durch den Spion. Nichts war zu sehen, absolut nichts. Etwas ... Jemand ... blockierte die winzige Linse. Jemand lehnte an der Tür. Nur fünf Zentimeter Holz und Metall trennten sie von ihm. Mehr nicht. In diesem Moment machte die Gestalt vor der Tür einen Schritt nach hinten, und sie konnte das Gesicht erkennen. Cait erblaßte. Ihre eben noch weichen Beine wurden eiskalt und bleiern. "Nein", flüsterte sie. Es war unmöglich. Sie hatte immer an Gespenster geglaubt. Sie hatte nur noch keines gesehen. Das Gespenst starrte auf den Spion, als wüßte es, daß sie sich auf der anderen Seite befand. Alec MacLaine. Tot, begraben. Betrauert vom ganzen Land. Alec ... dunkles lockiges Haar, dichte schwarze Augenbrauen, Augen in der Farbe flüssigen Kobalts. Lippen, die jedes Frauenherz höher schlagen ließen. Aus dem Grab getreten und vor ihrer Türschwelle.
Ihr blieb fast das Herz stehen. Sie bekam keine Luft mehr. Das einzige Lebenszeichen war das Zittern der Hände. Sie wünschte, sie könnte in Ohnmacht fallen ... oder aus dem Alptraum erwachen, der ihr vertraut war, aber noch nie diese grausame Wendung genommen hatte. Alec. Ein leises Seufzen entrang sich ihr und schien aus tiefster Seele zu kommen. War sie von einem Einbrecher erschossen worden? War Alecs Geist hier, um sie zu holen? Als er läutete, machte Cait vor Schreck einen Satz. Er verzog das Gesicht und sah sich um, als fürchtete er, die Nachbarn geweckt zu haben. Sie biß sich auf die Lippe. Geister läuteten nicht an der Tür. Er starrte auf die leere Straße vor ihrem Haus. Er hatte keinen Wagen. Jedenfalls sah sie keinen. Alec war am Leben, das begriff sie jetzt. So unwahrscheinlich es war, er stand vor ihrer Tür. Die quietschenden Reifen hatten dem Taxi gehört, mit dem er gekommen war. "Cait?" rief er leise, und plötzlich erkannte sie seine Stimme wieder. Er läutete noch einmal. Diesmal reagierte sie. Sie entriegelte die Tür mit zitternden Fingern und öffnete. Es war kein Traum. Er war wirklich da. "Alec", hauchte sie. Er musterte sie, als hätte er vergessen, wie sie aussah, dann schob er sie ins Haus, folgte ihr und schloß die Tür. Als wäre er zu Hause, ließ er eine kleine Reisetasche fallen, verriegelte die Tür und ging mit zwei langen Schritten ans Fenster, um durch den Spalt zwischen den Vorhängen nach draußen zu schauen. Erst jetzt bemerkte Cait, daß er eine Waffe in der Hand hielt. Wie angewurzelt stand sie da und starrte ihn an. "Du bist... tot", wisperte sie.
Der Scheinwerfer an der Hauswand ging aus. Nur vom Ende der Treppe drang ein wenig Licht ins Wohnzimmer. "Ich bin sofort gekommen, als ich es wußte. Ich konnte nicht ahnen, daß man mir hierher folgen würde", sagte er. "Ich verstehe nicht..." "Cait, es tut mir so leid." Er drehte sich nicht zu ihr um, sondern sah noch immer aus dem Fenster. "Was?" Seine Worte waren für sie so unbegreiflich wie seine Anwesenheit. "Pack dir ein paar Sachen zusammen. Ich bringe dich an einen sicheren Ort." "An einen sicheren Ort", wiederholte Cait. Zwei Jahre, nachdem sie auf seiner Beisetzung gewesen war, stand er in ihrem Haus und sprach mit ihr, als hätte er beim Zigarettenholen ein wenig Ärger bekommen. Zwei Jahre lang hatte sie ihn nicht gesehen. Zwei Jahre voll harter Arbeit, vieler Probleme, zahlloser einsamer, schlafloser Nächte und einer Million unbeantworteter Fragen. Zuletzt hatte sie Alec blutüberströmt auf dem verdreckten Laken liegen sehen. Aber sie brachte kein Wort heraus, sondern starrte ihn nur an, sah das graue Haar an der Schläfe, die Locken am Kragen. Hatte er schon immer so imposant gewirkt? Waren die Schultern vor zwei Jahren auch so breit gewesen? Sie hatte geglaubt, sich an jede Einzelheit seines Aussehens zu erinnern, doch jetzt stellte sie fest, was sie alles vergessen hatte. Das kantige Kinn, die markante Nase. Die obere Gesichtshälfte war gebräunt, als würde er tagsüber eine Tuchmaske vor dem Mund tragen. Er sah härter, entschlossener aus, wie jemand, der aus dem stillen Zorn und der Verbitterung Energie schöpfte. Cait preßte die zitternden Lippen zusammen. Er sollte nicht merken, wie sehr sein Auftauchen sie erschüttert hatte. "Was..?" Er antwortete nicht.
"Was ... ist... los?" fragte sie lauter. Erst jetzt drehte er sich zu ihr um und ließ seinen Blick über ihren Körper wandern, als wäre nicht er, sondern sie von den Toten auferstanden. Und dann wurde der eben noch prüfende Blick zu einem, der nichts als Sehnsucht verriet. Eine Sehnsucht, die sie an ihm noch nie gesehen hatte. In das tiefe Verlangen mischten sich die Trauer über gebrochene Versprechungen und geplatzte Träume sowie eine unendlich scheinende Bitterkeit. Cait schloß die Augen. Bestimmt schlief sie, denn dies konnte nur ein Traum sein. So oft hatte sie geträumt, daß Alec zu ihr zurückkehrte, daß die Schüsse, die ihn getroffen hatten, die Berichte über seinen Tod nur ein schreckliches Mißverständnis gewesen waren. Nein, nein, es geht ihm gut, sagte eine freundliche Stimme, nur ein kleiner Kratzer. Alec tot? Um Himmels willen, nein. Und im Traum streichelte er zärtlich ihr Gesicht und strich mit den Daumen über ihre Wangen. O Cait... sagte er. "Cait...?" Sie öffnete die Augen. Er war nicht neben ihr und streichelte ihr Gesicht, er stand am Fenster und betrachtete sie fast ein wenig mißtrauisch, die Waffe auf ihren neuen Teppich gerichtet. "Ich ... habe doch gesehen, wie man ... dir in die Brust geschossen hat", sagte sie stockend. "Du wurdest von drei Kugeln getroffen." An seiner Wange zuckte ein Muskel, und sie erinnerte sich daran, wie sie genau diesen Muskel zwei Jahre zuvor an ihrer Hand gespürt hatte. Es geschah, wenn er wütend war. Oder wenn er den Gipfel der Leidenschaft erreichte. Sie fühlte, wie der Gedanke sie erregte. "Ich weiß, Cait. Es tut mir so leid." Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. War es Bedauern? Die Bitte um Verzeihung? Etwas anderes. Zorn?
Sie wollte das Unbegreifliche begreifen. "Ich habe dich auf dem Laken liegen sehen ... blutüberströmt." "Ich weiß. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr." "Nein?" fragte sie schockiert. Er ließ den Vorhang zurückfallen. Seine Schultern bewegten sich, und sie wußte, daß er auf sie zukommen würde. Sie streckte den Arm aus, um ihn aufzuhalten. Wenn er sie berührte, wäre ihre Verwirrung grenzenlos. So sehr sie auch versuchte, in ihm den "alten" Alec zu sehen, der ihr mit seinen Küssen die Angst genommen hatte, es ging nicht. Denn er war auch der Mann, der ihr verschwiegen hatte, daß er beim FBI war. Das hatte sie erst nach seinem "Tod" herausgefunden. Der "neue" Alec war ein Fremder. "O Cait..." murmelte er und hob die Hand. "Alec", flüsterte sie und machte unwillkürlich einen Schritt auf ihn zu. Er ist hier, dachte sie. Er ist zurück. Und er hat dich schon einmal verlassen, oder? Er hat zugelassen, daß du ihn für tot hieltest. "Du weißt nicht, wie gut es ist, dich zu sehen", sagte er leise und schob die Waffe unter die Jacke. Was sollte sie ihm antworten? Die innere Stimme, die sie nicht hören wollte, meldete sich erneut zu Wort: Er hat dich angelogen. Er hat dich im Stich gelassen. Du hast nicht um einen Mann getrauert, sondern um eine Illusion. Dieser Mann ist ein Fremder. Er war es immer. "Seit zwei Jahren denke ich jeden Tag an dich", sagte er. Sie fror. "Cait..?" Aus der Kälte würde eisiger Zorn. Sie machte eine abwehrende Handbewegung und beugte sich vor. "Ich war auf deiner Beisetzung. Ich habe um dich geweint. Ich habe sechs Monate lang geweint und dachte, ich könnte niemals damit aufhören."
Mit jedem Wort kam sie ihm näher, als würde der Zorn selbst sie vorwärtstragen. "Liebling..." "Nenn mich nicht so!" fauchte sie. "Du hast kein Recht dazu. Du hast mich zwei Jahre lang glauben lassen, daß du dein Leben geopfert hast, um meins zu retten! Weißt du eigentlich, was das in einem anrichtet?" "Ich weiß, Cait. Glaub mir, ich weiß es." "Du hast keine Ahnung, wie das ist! Sonst hättest du es mir nicht zugemutet!" "Cait, ich weiß es", sagte er heiser. "Ich habe noch immer Alpträume, Alec. Alpträume. Und Fragen. Immerzu habe ich mich gefragt, ob wir eine Zukunft gehabt hätten, wenn du nicht gestorben wärest..." Cait verlor die Beherrschung und begann zu weinen. Sie hob die Arme und ballte die Hände zu Fäusten. Bei jedem Wort schlug sie gegen seine Brust. "Du... hast... mich... glauben... lassen..., daß ...du ...tot bist!" Reglos stand er da, als würde er sich zu seiner Schuld bekennen, dann legte er die Arme um sie und zog sie an sich. Sie wehrte sich. "Verdammt, Cait, hör auf!" Mit einem Arm hielt er sie fest, während er ihren Kopf auf sein rasendes Herz drückte. "Cait, beruhige dich... Es ist nicht so, wie du denkst. Wirklich nicht." Seine Beteuerung ließ ihren Tränenstrom versiegen. "Es ist gut, Cait. Es wird alles wieder gut." Er streichelte sie, beruhigte sie, tröstete sie und half ihr, aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu finden. "Erzähl mir, was los ist, Alec", bat sie. "Erzähl mir, warum du hier bist. Warum ich glauben mußte, daß du tot bist." Er sah ihr in die Augen.
"Erzähl es mir, Alec. Ich habe ein Recht, es zu erfahren. Mehr Recht, als du ahnst." Alec runzelte die Stirn, fragte jedoch nicht nach. "Ich wollte dir niemals weh tun, Cait." Sie versuchte nicht, sich ganz aus seinen Armen zu befreien. Es war ein eigenartiges Gefühl, ihm so nah und doch so fern zu sein. "Was geht hier vor, Alec? Wo bist du gewesen?" Er holte tief Luft und legte eine Hand an ihre Wange. "Ich habe die ganze Zeit geglaubt, daß du tot bist."
5. KAPITEL Cait war froh, daß Alec sie festhielt. Sonst wäre sie vielleicht auf die Knie gesunken. "Was? Warum dachtest du, ich wäre tot?" Er schüttelte den Kopf und festigte den Griff um ihre Arme. "Das spielt jetzt keine Rolle mehr, Cait." Er zog sie an sich und küßte sie zärtlich auf die Stirn. "Wichtig ist nur, daß es nicht stimmte. O Gott, es stimmte nicht." "Ich verstehe gar nichts mehr", sagte sie und widerstand der Versuchung, den Mund auf seine Schulter zu pressen. Es war so herrlich, so richtig, ihn wieder an sich zu spüren. Sie strich über seinen Oberarm und fühlte, wie er zusammenzuckte, als sie eine feuchte Stelle am Ärmel erreichte. "Es ist nur ein Kratzer", sagte er. "Jemand hat mich erwischt, bevor ich es auf die Veranda schaffte. Ich habe ihn nicht erkannt. Er ist davongefahren." Blut. Er war angeschossen worden. Seit zwei Jahren hatte sie ihn nicht mehr gesehen, und dann tauchte er mitten in der Nacht mit einer Schußverletzung auf. "Erzählst du mir, was los ist?" fragte sie ruhiger, als sie sich fühlte. "Ich habe in der letzten Woche einen geheimen Bericht gelesen, aus dem hervorgeht, daß die Terroristen, die uns vor zwei Jahren als Geiseln genommen haben, angeheuert worden waren, um mich zu töten", sagte er mit ausdrucksloser Stimme.
"Ich verstehe", antwortete sie, und das war nicht gelogen. Trotz der Ergebnisse der Untersuchungskommission des Senats hatte sie sich immer wieder gefragt, ob Alec nicht das eigentliche Ziel der Terroristen gewesen war. Warum hatten sie sonst so kaltblütig auf ihn geschossen, sie selbst jedoch am Leben gelassen? Und sie hatte weiterleben wollen, daher hatte sie den Mund gehalten. Nichts, was sie hätte sagen können, hätte Alec zurückgebracht. Außerdem fand sie bald heraus, daß es noch andere gute Gründe gab, ihr Schweigen nicht zu brechen. Also war sie stets bei der Geschichte geblieben, daß sie bewußtlos gewesen sei, und erstaunlicherweise hatte niemand daran gezweifelt. "Verstehst du es wirklich, Cait?" "Ich glaube schon", antwortete sie und erklärte ihm, warum. Als sie fertig war, nickte er und strich ihr über das Haar. "In was sind wir da nur geraten?" "Sie sind noch hinter dir her?" "Es sieht ganz so aus." "Aber warum? Sie hätten dich doch während der letzten zwei Jahre jederzeit ermorden können. Warum haben sie bis jetzt gewartet?" fragte sie. "Ich war von der Bildfläche verschwunden. Das ist der einzige Grund, der mir einfällt, jedenfalls vorläufig." Cait spürte, daß er mehr wußte, als er verriet, aber sie beschloß, nicht über die Vergangenheit, sondern über die Gegenwart zu sprechen. "Und jetzt bist du nicht mehr von der Bildfläche verschwunden?" "Nicht, seit ich dich in den Abendnachrichten sah." "Du hast wirklich geglaubt, ich wäre tot?" "Und begraben", fügte er hinzu. "Hat jemand dir das gesagt?" "Man hat mir nicht gesagt, daß du am Leben bist," Cait lächelte traurig. "Wir sollten deinen Arm versorgen."
"Noch nicht. Laß mich dich noch eine Minute halten. O ... Cait." Als er ihre Stirn küßte, hätte sie am liebsten den Kopf in den Nacken gelegt, um ihm den Mund darzubieten. Doch sie tat es nicht, sondern wich der Intimität aus, nach der sie sich so lange gesehnt hatte. Sie hatte gelernt, sich auf ihren Instinkt zu. verlassen, und würde es auch heute tun. Erst mußte sein Arm verbunden werden, und dann mußte er ihr erklären, warum er ein ganzes Land über seinen Tod hatte trauern lassen. Er ließ sie los. "Komm mit in die Küche. Ich werde deine Wunde verbinden." "Cait..." "Ja?" Sekundenlang sagte er nichts, dann zuckte er mit den Schultern. "Hör zu, du mußt mir glauben, wenn ich sage, daß ich dir nicht schaden wollte. Das wäre das Letzte, was ich wollte. Ich dachte, ich hätte meine Spuren verwischt, und hätte nie damit gerechnet, daß sie mir hierher folgen. Aber vielleicht haben sie mich auf dem Flughafen erwartet. Ich weiß es nicht." "Schon gut, Alec", log sie. "Nein, es ist nicht gut. Eigentlich könnte es nicht schlimmer sein." Fragend sah sie ihn an. "Wer immer es war, er wird zurückkommen, Cait." "Laß mich deinen Arm versorgen, dann kannst du gehen." "Du verstehst nicht, Cait. Ich werde dich nicht hierlassen. Sie wissen, daß ich hier war. Sie werden glauben, daß du weißt, wohin ich will." "Ich kann das alles noch gar nicht glauben", flüsterte sie. "Ich weiß. Aber ich würde mich wohler fühlen, wenn wir von hier verschwinden." "Mitten in der Nacht?" "In ein paar Stunden ist es Morgen." ' "Aber..."
"Ich werde einen sicheren Ort für uns finden." Er begriff nicht. Sie war nicht mehr die Frau, die sie vor zwei Jahren gewesen war. Sie mußte jetzt an andere Dinge, an andere Menschen denken. "Ich kann mich irren, Cait. Hoffen wir es. Aber ich will verdammt sein, wenn ich dein Leben aufs Spiel setze. Nicht jetzt, da ich dich wiedergefunden habe." Ihr wurde klar, wie wenig er über sie wußte. Er hatte sie lediglich im Fernsehen gesehen. Nach Allie hatte er nicht gefragt. Offenbar wüßte er nichts von ihr und hatte keine Ahnung, daß oben ein Kind schlief. Sein Kind. Ihr gemeinsames Kind. In den unzähligen Träumen, in denen Alec zu ihr zurückgekehrt war, war es immer so einfach gewesen, ihm von Allie zu erzählen. Irgendwie hatte er gewußt, daß ein kleines Mädchen darauf wartete, ihn Daddy zu nennen. "Cait, es ist mein Ernst..." Was sollte sie tun? Allie nehmen und mit Alec in die unbekannte Dunkelheit fliehen und nicht einmal wissen, warum sie es tat? Entschieden schüttelte sie den Kopf. "Nein, Alec. Ich kann nicht." "Cait..." "Nein, ich werde keinen Schritt aus dem Haus tun, bevor ich weiß, was los ist", erklärte sie mit zitternder Stimme. Er nahm den Blick von ihr, als suchte er im Halbdunkel des Wohnzimmers nach einer Erklärung. Plötzlich sah sie ihm an, daß er tatsächlich nicht wußte, was vor sich ging. Das erschreckte sie mehr als alles andere. Und es ließ ihre nächsten Worte kälter klingen, als sie sie aussprechen wollte. "Beginn mit deinem angeblichen Tod." "Das FBI hat meinen Tod vorgetäuscht." "Ach ja?" erwiderte sie. "Das habe ich mir fast gedacht, Alec. Dein Auftauchen hat mich zwar verwirrt, aber es hat mir nicht
den Verstand geraubt. Was ich wissen will, ist, warum? Warum hat das FBI deinen Tod vorgetäuscht?" "Wie ich bereits sagte, mußte ich von der Bildfläche verschwinden." "Warum?" "Weil ich zuviel wußte?" "Fragst du mich das?" "Wie?" "Spielst du das Spiel, bei dem du eine Frage mit einer Gegenfrage beantwortest?" entgegnete sie scharf. "Cait, verdammt..." "Das war keine Gegenfrage. Du hast verloren." Ungläubig starrte er sie an. "Du hast dich verändert." "Natürlich habe ich mich verändert. Zwei Jahre sind eine lange Zeit, Alec. Ich dachte, du wärest tot. Ich mußte weiterleben. Ein Leben, mit dem du absolut nichts zu tun hattest. Und dann stehst du vor meiner Tür ... mit einer Kugel im Arm ..." "Es ist nur ein Kratzer. Ich habe keine Kugel in mir." "Na schön. Dann tauchst du mit einer Schußverletzung auf und drohst damit, daß irgendwelche Unbekannten mich mit Gewalt zum Reden zwingen werden, wenn ich nicht mit dir von hier verschwinde. Sehe ich das in etwa richtig?" Zu ihrem Erstaunen lächelte er. Es war ein entwaffnendes Lächeln, das die Vergangenheit wieder aufleben ließ. "Alec, ich kann das hier nicht", sagte sie ernst. Er zog die Augenbrauen zusammen. "Was kannst du nicht?" "Gefahren. Kugeln. Liebhaber, die von den Toten auferstehen. Das reicht doch wohl für den Anfang, oder?" Alec hob die Hand, als wollte er Cait berühren, ließ sie jedoch wieder sinken. Seine verwirrte Miene und seine verkrampfte Haltung signalisierten ihr, daß sie auf ihn hören und Allie in Sicherheit bringen sollte;
"Ich weiß nicht, wieviel Zeit wir haben, Cait", sagte er und sprach aus, was sie dachte. "Wir haben nie Zeit." "Wenn wir uns nicht beeilen, werden wir nie mehr Zeit haben." Blut sickerte aus seiner Armwunde und tropfte auf ihren Teppich. Das sagte mehr als alle Worte. "Wer ist hinter dir her, Alec?" "Wenn ich recht habe, ist es einer von drei Freunden." "Ziemlich miese Freunde." Er lächelte schief. "Einer davon." "Aber du weißt nicht, welcher es ist." "Richtig. Können wir, jetzt gehen?" drängte er. "Sind diese Freunde Kollegen beim FBI?" fragte sie und begann langsam zu begreifen. Überrascht sah er sie an. "Ja." "Aber warum sollten sie hinter dir her sein? Du bist doch einer von ihnen. Jedenfalls warst du das. Bist du es noch?" Nur die letzte Frage beantwortete er mit einem Nicken, während er die Hände auf ihre Schultern legte. Sie fühlte die Wärme durch ihr Nachthemd hindurch. Er strich ihr mit dem Daumen über die Wange. "Beeil dich, Cait." Sie rührte sich nicht. Sie mußte ihm von Allie erzählen, fand jedoch nicht die richtigen Worte. Er drückte ihre Schulter. "Cait. Wir Werden reden müssen." Langsam zog er sie an sich, und sie ließ es geschehen. "Es gibt viel, das ich nicht verstehe. Außerdem ..." Er sah ihr tief in die Augen, dann senkte er den Blick. "Aber wir müssen los. Jetzt." Sie glaubte ihm, doch er ließ sie nicht los. Sie schloß die Augen, und die Erinnerung an seine Zärtlichkeit verschmolz mit der Gegenwart. "Du bist so schön, Cait." Diesmal versuchte sie nicht, seinem Kuß auszuweichen. Seine Lippen waren erstaunlich weich. Cait stöhnte leise auf, als
sie seine Zunge an ihrer fühlte. Heftiges Verlangen durchströmte sie, bis ihre Knie nachzugeben drohten und sie sich Halt suchend an ihn schmiegte. Die Gefahr, das Baby, zwei Jahre voller Einsamkeit ... sie dachte nicht mehr daran, sondern nur daran, wie sehr sie ihn vermißt hatte. Er schob die Finger in ihr Haar und küßte sie noch leidenschaftlicher. Sie drängte sich an ihn, und er packte ihre Hüften, als wollte er sich nie wieder von ihr lösen. Sie schmeckte ihn, nahm sein heftiges Atmen wahr und wußte, daß auch ihr die Erregung anzuhören war. Er war doch kein Fremder. Zwei Jahre waren seitdem vergangen, doch an der Anziehung, die sie aufeinander ausübten, hatte sich nichts geändert. Sie hatte das Gefühl, über dem Boden zu schweben, und ihr Körper war so lebendig, wie er es noch nie gewesen war. In weiter Ferne, in einer anderen Welt, schrie ein Baby. Wie durch dichten Nebel drang der klagende Laut an Caits Ohr. Zögernd, zögernder, als Alec je ahnen würde, wich sie zurück und drehte das Gesicht zur Treppe, um den Weg in die Realität zu finden, zurück zu ihrer Tochter, die sie brauchte. Alec hielt sie fest, als sie gehen wollte. Stirnrunzelnd lauschte er. "Was ist das?" "Meine ... Tochter." "Deine was?" fragte er entgeistert. "Du wußtest es nicht." "Nein, ich wußte es nicht. Ich habe dich für tot gehalten. Woher sollte ich wissen, daß du ... eine Tochter hast?" Er klang nicht zornig, aber er sah aus, als wäre er geohrfeigt worden. "Cait?" Sie brachte es nicht fertig, ihm in die Augen zu schauen. "Du hast ein Baby?" fragte er ungläubig. "Ich ... Wie? Ich meine, wann?" Das Baby schrie noch lauter, und Cait löste sich aus seinen Armen und ging die Treppe hinauf.
Er eilte ihr nach und ergriff ihre Hand. "Bist du verheiratet?" fragte er heiser. "Ist sonst noch jemand hier?" "Ja ... nein. Ich bin nicht verheiratet." "Aber es ist noch jemand hier?" "Meine Tochter. Ich muß zu ihr", sagte Cait. "Ma ... ma!" rief das Baby, während seine Mutter sich zu befreien versuchte. "Mama?" wiederholte Alec. "Sie ist so alt, daß sie schon sprechen kann?" Er drehte Cait zu sich herum. Sein Blick bohrte sich in ihre Augen. "Wie alt ist dein Baby, Cait?" In ihren Träumen waren sie zu dritt in das große Haus auf dem Land gezogen, und er hatte alles miterlebt - die Geburt ihrer Tochter, den ersten Zahn, den ersten zaghaften Schritt. "Wie alt ist es?" fragte er noch einmal und schien nicht zu merken, wie schmerzhaft sein Griff um ihre Hand geworden war. "Sie", verbesserte Cait. "Wie alt ist sie, Cait?" Cait atmete tief durch und sagte ihm die Wahrheit. "Sie ist vierzehn Monate alt." Alec ließ Caits Hand los und versuchte nicht mehr, sie aufzuhalten, als sie die Treppe hinaufrannte. Das Baby, das oben weinte, Caits Baby, war vierzehn Monate alt. Man mußte kein Genie sein, um den möglichen Zeitpunkt der Empfängnis zu errechnen. Drei Tage vor zwei Jahren. Drei Tage, als sie sicher gewesen waren, bald zu sterben. Drei Tage, in denen sie keinen Gedanken an Verhütung verschwendet hatten, weil es für sie keine Zukunft gegeben hatte. Aber sie hatten überlebt. Und Cait hatte vor vierzehn Monaten ein Kind bekommen, während er noch die Qualen der Physiotherapie durchgemacht hatte. Hatte sie vor Schmerz geschrien? Hatte sie ihn verflucht? Wäre für jeden von ihnen der Schmerz erträglicher gewesen, wenn sie gewußt hätten, daß der andere lebte?
Das Baby verstummte, und das Haus kam Alec unnatürlich still vor. Caits blasses Gesicht, die zitternden Lippen, der entschuldigende Blick hatten ihm deutlicher als alle Worte gesagt, daß das Baby von ihm war. Ein kleines Mädchen. Eine Tochter. Seine Tochter. Die Erkenntnis ließ seine Knie schwach werden, und wie ein alter Mann stieg er mühsam die Stufen hinauf. Das milde Licht einer Lampe neben einer offenen Tür zog ihn an. Sein Herz klopfte wilder als in jeder lebensbedrohlichen Situation, in die ihn sein Beruf geführt hatte. Er hörte Cait etwas flüstern und trat gerade noch rechtzeitig ein, um zu sehen, wie sie die Lippen behutsam auf die dunklen Locken des Babys preßte. Der Anblick sprengte die Berge weg, unter denen er seine Gefühle begraben hatte. Cait hielt das Kind auf den Armen und wiegte es sanft hin und her. Das weiche Licht ließ ihr blondes Haar schimmern. Nie hatte sie schöner ausgesehen als jetzt. In ihrem Gesicht spiegelte sich eine unendliche Zärtlichkeit und eine unerschöpfliche Liebe. Alec wußte nicht, wie lange er schweigend in der Tür gestanden hatte. Wie lange er auch lebte, dieses Bild von Cait und ihrer gemeinsamen Tochter würde er niemals vergessen. Er mußte sich räuspern, bevor er einen Ton herausbrachte. "Wie heißt sie?" fragte er leise. Cait hob den Kopf, und das liebevolle Lächeln umspielte noch immer ihre geöffneten Lippen. "Allie", antwortete sie. "Wie?" "Ihr Name. Sie heißt Allie. Ich habe sie Allie Elaine Wilson genannt." Allie Elaine. Alec MacLaine. Alec mußte die Augen schließen. Dies war der Beweis, den er nicht mehr brauchte. Unwillkürlich mußte er an den
Kaminsims in ihrem Traumhaus denken. An die Fotos eines kleinen Mädchens. Dunkelhaarig wie er.
6. KAPITEL Samstag, 10. November, 4.10 Uhr "Sie sieht aus wie du", sagte Cait und sprach aus, was Alec dachte. Alec öffnete die Augen und sah die Tränen in ihren. Bevor sie erkennen konnte, daß auch seine feucht wurden, schaute er auf das Baby hinunter. "Allie", murmelte er und ließ zum erstenmal den Namen seiner Tochter auf der Zunge zergehen. Es war ein schöner Name, in ihm schwang ein Hauch von Nostalgie mit. Das kleine Mädchen richtete die großen blauen Augen auf ihn. Es spitzte die rosigen Lippen, die so sehr denen der Mutter glichen, und auf der Stirn zeigte sich eine winzige Falte. Alec hielt den Atem an. Seine Tochter schien ihn prüfend zu mustern, bis sie schließlich den leicht gespitzten Mund zu einem strahlenden Lächeln öffnete. Es ging Alec ans Herz, und plötzlich bekam er wieder Luft. Unwillkürlich lächelte er zurück. Es war ein eigenartiges Gefühl, die erstarrten Gesichtszüge zu entspannen. Es war, als hätten die Muskeln verlernt, ein Lächeln zustande zu bringen. Wie konnten seine Freunde ihn dieser wundervollen Empfindungen beraubt haben? Indem sie ihm verschwiegen hatten, daß Cait lebte, hatten sie ihm nicht nur sie, sondern auch ihr gemeinsames Kind vorenthalten.
Er dachte daran, was Cait in den letzten zwei Jahren durchgemacht haben mußte. Ohne finanzielle Unterstützung, ohne einen Mann, der ihr zur Seite stand. Noch heute nachmittag hatte er sich nur um sich selbst, einen erfahrenen FBI-Agenten, gesorgt. Jetzt mußte er nicht nur Cait, sondern auch Allie beschützen. Seine Familie. "Cait." Sie sah ihn an. "Wir müssen weg von hier. Ich halte das ... Allie, während du dich anziehst. Pack für sie auch ein paar Sachen ein." "Alec, wir können nicht einfach fort", widersprach sie. "Dir bleibt keine andere Wahl. Ich will euer Leben nicht aufs Spiel setzen. Es tut mir leid, daß du in diese Sache verwickelt wurdest. Aber das ändert nichts daran, daß du in großer Gefahr bist, wenn du hierbleibst." Er konnte ihr Mißtrauen verstehen, doch er durfte darauf keine Rücksicht nehmen. "Cait, wir müssen weg!" "Und wenn du dich irrst?" "Ich irre mich nicht." "Aber..." "Wenn ich mich irre, werde ich mich entschuldigen. Ich ... ich suche dir ein Kindermädchen, das hier einzieht, damit du dich einen Monat lang ausschlafen kannst. Bitte, Cait, laß uns jetzt gehen!" Er warf einen vielsagenden Blick auf Allie, bevor er Cait in das blasse Gesicht sah. Daß er ihre kleine Welt so erschütterte, bereitete ihm ein schlechtes Gewissen. Alec ging durchs Zimmer und streckte die Arme nach seiner Tochter aus. So eilig er es auch hatte, die Vorstellung, Cait Allie abzunehmen, machte ihn nervös. Wenn er sie nun fallen ließ? Wenn sie weinte? Wenn sie ihn nicht mochte? Cait zögerte eine Weile, bevor sie nachgab und Allie in seine Arme legte. Alec betrachtete das kleine Mädchen, und ihm wurde bewußt, daß er zum allerersten Mal seine Tochter in den
Armen hielt. Sie wiegt etwa soviel wie meine Sporttasche, dachte er staunend. Doch dann bewegte sie sich, um es sich so bequem wie möglich zu machen, und er wußte, daß sie einzigartig war. Cait stand reglos da. Er wollte ihr sagen, wie herrlich dieser Moment für ihn war. Aber manche Gefühle konnten nicht ausgedrückt werden, sie mußten gespürt werden. "Schnell, Cait. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit", drängte er. "Alec..." "Es ist mein Ernst, Cait. Tödlicher Ernst." Seine kleine Tochter verdankte ihm ihr Leben, und er war es ihr schuldig, sie zu beschützen. Das Baby legte eine winzige, perfekt geformte Hand um seinen Daumen und zog daran. Mit der anderen Hand krallte es sich in sein Hemd. Allie hob den Blick und sah ihn aus blauen Augen an. Er war Allies Vater. Das unglaubliche Wunder in seinen Armen war seine Tochter. Seine. "Hallo, Allie", sagte er mit unsicherer Stimme. Sie krähte etwas Unverständliches und wedelte mit der Hand. Was immer sie meinte, sie schien glücklich zu sein und lehnte sich vertrauensvoll in seinen Armen zurück. Alec lächelte stolz. "Weißt du, wer ich bin?" flüsterte er. Seine Tochter starrte ihn an, als würde sie auf eine Antwort warten. "Ich bin dein ..." Er verstummte, denn er konnte sich nicht zwischen Vater und Daddy entscheiden. Irgendwie kam es ihm vor, als hätte er noch nicht das Recht, sich so zu nennen. "Ich bin für dich da", sagte er schließlich. Cait hatte Mühe, die Knöpfe ihrer Bluse zu schließen, da ihre Finger so heftig zitterten. Sich anzuziehen und ein paar Sachen in die Reisetasche zu stopfen, hatte nur Sekunden gedauert. Aus Gewohnheit blieb sie vor dem Spiegel an der Schlafzimmertür stehen. Große, vor Angst geweitete Augen blickten ihr entgegen. Das Gesicht war blaß, das Haar zerzaust. Sie sah aus wie
jemand, der ein Wochenende auf dem Land dringend nötig hatte. Ein zweigeschossiges Haus auf dem Land. Sie nahm die Tasche und eilte nach unten. Auf der Treppe blieb sie wie angewurzelt stehen, fasziniert von dem Anblick, der sich ihr bot. Alec MacLaine hielt seine Tochter in den Armen, wie in dem Traum, den sie seit zwei Jahren träumte. Aber im Traum kitzelte Alec sein Baby und brachte es zum Lachen. In der Wirklichkeit lag es in seiner Armbeuge, den Po auf Alecs Hüfte gestützt, während sein Vater durch die Jalousie nach draußen schaute. Als Allie einen Laut von sich gab, drehte er sich um, und Cait sah die Verwirrung in seinem Blick. Seine Lippen waren schmal, als hätte er Schmerzen, und aus seiner Wunde war Blut auf Allies flauschigen Schlafanzug getropft. "Können wir aufbrechen?" fragte er. "Gleich. Ich brauche noch ein paar Sachen für Allie." "Ich ... Beeil dich, Cait. Und zieht euch warm an. Es ist kalt." Ihre Hände zitterten noch immer, als sie Wegwerfwindeln, Babykleidung, Tücher und etwas von Allies Lieblingsspielzeug in einer zweiten Tasche verstaute. Diesmal zitterten sie jedoch nicht vor Angst, sondern weil sie an den Kuß dachte, den Alec ihr am Fuß der Treppe gegeben hatte. "Oh, verdammt", hörte sie ihn fluchen. "Was ist?" Sie rannte mit der Tasche nach unten. Alecs Gesicht war ein Bild der Verzweiflung. Er starrte nach draußen, als wäre gerade sein bester Freund erschossen worden. "Es ist Jack", sagte er mit dumpfer Stimme. Wer immer Jack war, sein Eintreffen bedeutete mehr als nur Gefahr. Cait sah, daß es Alec einen Stich ins Herz versetzte. Sie wartete, während er vorsichtig die Finger aus der Jalousie zog. Sie verstand nicht, was los war, aber als er sich umdrehte, spürte sie, was er fühlte. Er war verraten worden. Sie kannte das Gefühl nur zu gut.
"Was tun wir jetzt?" "Wo steht dein Wagen?" fragte er zurück. "In der Garage." "Hat sie einen Zugang vom Haus?" "Ja, durch die Küche." "Hast du ein automatisches Garagentor?" "Ja." "Gut. Laß uns gehen." Mit entschlossenen Schritten steuerte er die Küche an. Cait griff sich Allies Decke, nahm die beiden Taschen und holte Alec im Eßzimmer ein. In diesem Moment ging der Scheinwerfer auf der Veranda an, und das grelle Licht fiel durch das Fenster neben der Haustür. Ängstlich hielt sie sich an Alec fest. Er zeigte mit dem Kopf zur Küche hinüber, und sie zwang sich vorzugehen. Geräuschlos eilten sie durch die Küche. Selbst Allie schien zu spüren, daß sie still sein mußte, und lutschte am Daumen, während sie sich neugierig umschaute. Cait riß ihren Mantel vom Haken, zog ihn aber nicht an. Kurz bevor er die Tür zur Garage öffnete, beugte Alec sich zu ihr hinab. "Geht das Garagenlicht von selbst an?" flüsterte er. "Nein, man muß es anschalten." "Gut. Laß es aus. Er könnte das Licht sehen. Es ist besser, wenn er denkt, daß du noch oben bist." Er hob eine Hand und umfaßte zärtlich ihr Kinn. Zu ihrem Entsetzen zitterten auch seine Finger. "Es wird alles gut", sagte er. "Wir werden es schaffen." "Alec ..." Sie wollte ihm sagen, wie groß ihre Angst war, ihn zu verlieren, noch bevor der Schock des Wiedersehens sich gelegt hatte. Und sie brauchte mehr Gewißheit, daß wirklich alles gut werden würde. Sie mußte an Allie denken, und die Vorstellung, daß ihrer Tochter etwas zustieß, war grauenhaft. "Es wird alles gut", wiederholte er, als wüßte er, was sie dachte. "Wir müssen uns im Dunkeln bewegen, bis die
Küchentür geschlossen ist und wir beim Wagen sind. Du nimmst das Baby. Ich fahre. Sei so leise wie möglich, bis wir im Wagen sitzen." "Die Schlüssel. Meine Handtasche. Sie liegt auf der Arbeitsplatte." Alec sagte nichts, aber Cait ahnte, daß er einen Fluch unterdrückte. Als sie die Tasche an sich riß, läutete es an der Haustür. Sie rannte zu Alec und nahm ihm Allie ab. Er schnappte sich die Taschen, und sie betraten die Garage. Das kann nicht wahr sein. Das kann nicht wahr sein. Immer gingen Cait diese Worte durch den Kopf, während sie sich durch das Halbdunkel tastete. Alec schloß die Tür zur Küche, und Cait sah gar nichts mehr. Sie unterdrückte einen Aufschrei, als sie stolperte und sich an der Motorhaube ihres Wagens festhalten mußte. Sekunden später riß sie die Hintertür auf. Alec öffnete die Fahrertür, und die Innenbeleuchtung erhellte die Garage. "O Gott", flüsterte Cait, und ihr Atem hing wie eine kleine Wolke in der kalten Luft. Sie schnallte Allie in den Kindersitz und bat sie stumm, keinen Laut von sich zu geben. "Ich habe die Küchentür geschlossen. Jack ist allein", verkündete Alec leise. "Er ist noch an der Haustür und kann nicht sehen, daß wir hier sind." Cait beruhigte sich ein wenig, und sie schaffte es, ihre Tochter mit ihrem Mantel zuzudecken, die Tür leise zu schließen und auf den Beifahrersitz zu schlüpfen. "Wo ist die Fernbedienung für das Garagentor?" fragte Alec. Sie nahm sie von der Sonnenblende und reichte sie ihm. "Okay. Jetzt leg die Decke über Allie. Sie darf nicht zu sehen sein, klar?" Die kühle Anweisung machte Cait noch mehr Angst. Sie befolgte sie stumm, denn sie wußte, was Alecs Worte zu bedeuten hatten. Er befürchtete, daß dieser Jack auf sie schießen und Glassplitter durch den Wagen fliegen würden. Als sie sich
wieder nach vorn drehte, hatte er bereits den Schlüssel ins Zündschloß gesteckt und beugte sich vor, um einen Blick auf die Pedale zu werfen. "Es ist ein Automatikwagen", sagte sie. Er nickte, startete den Motor jedoch noch immer nicht. Cait starrte auf die Küchentür. "Bist du angeschnallt?" fragte er. Cait legte den Gurt an und rutschte auf dem Sitz so tief wie möglich, um nicht von einem Schuß getroffen zu werden. Alec wußte, was er tat. Er war FBI-Agent, und auch wenn er zwei Jahre untergetaucht war, blieb er ein erfahrener Profi, auf den Cait und Allie sich verlassen konnten. "Okay", sagte er. "Ich werde jetzt den Motor starten und das Tor öffnen. Sobald es sich bewegt, kauerst du dich zusammen. Ich werde den Rückwärtsgang einlegen und Gas geben. Wahrscheinlich werden wir das Tor streifen, und du wirst dich wegen des Lackschadens am Wagen mit deiner Versicherung streiten müssen. Bist du bereit?" "Nein", murmelte sie. Wer war schon bereit für so etwas? "Auf geht's." "Ich ... ich", rief Allie von hinten. "Pst, Süße", sagte Cait. "Ich bin bei dir." "Halt dich fest, Allie." Alec drehte sich nach hinten und legte den Arm auf die Lehne des Fahrersitzes. Er drehte den Zündschlüssel, und der Motor heulte auf. Ohne den Blick vom Tor zu nehmen, betätigte er die Fernbedienung. Als das Tor nach oben zu gleiten begann, legte er den Rückwärtsgang ein und trat das Gaspedal durch. Der Wagen sauste auf das viel zu langsame Tor zu. Mit quietschenden Reifen prallte er dagegen. Cait schrie auf, als das Tor am Wagendach entlangschrammte. Dann schoß der Wagen aus der Garage und raste die Einfahrt hinunter.
"Halt dich fest", wiederholte Alec, als sie die Straße erreichten. Ruckartig zog er die Handbremse an, ohne den Fuß vom Gaspedal zu nehmen. Der Wagen schleuderte um die eigene Achse und vollzog eine 180-Grad-Wendung. Alec löste die Handbremse, die Reifen drehten kurz durch, dann sauste der Wagen die Straße entlang. Cait glaubte, jemanden schreien zu hören, aber vielleicht war sie es selbst gewesen. Auf dem Rücksitz krähte Allie fröhlich. "Was will sie?" rief Alec. "Sie will es noch einmal machen", erklärte Cait mit matter Stimme. Alec schwieg mehrere Sekunden lang, um sich aufs Fahren zu konzentrieren. Im Schein der Armaturen schimmerte sein Gesicht grünlich. Dann schmunzelte er plötzlich, und Cait sah ihn erstaunt an. "Ganz meine Tochter", sagte er stolz.
7. KAPITEL Samstag, 10. November, 4.25 Uhr Cait wurde in den Beifahrersitz ihres dahinrasenden Wagens gepreßt. Ihr Garagentor war demoliert, die Reparatur ihres lädierten Neuwagens würde Tausende von Dollar kosten, und ihr Baby und sie hatten ihr Leben einem Mann anvertraut, der zwei Jahre zuvor vor ihren Augen "erschossen" worden war. Sie fröstelte und wußte, daß das nur wenig mit der Temperatur zu tun hatte. Sie war auf der Flucht vor einem FBIVerräter, der sie umbringen wollte, und konnte nur an eins denken: Alec MacLaine war tatsächlich am Leben. Er fuhr ihren Wagen mit einer Geschwindigkeit durch die stillen Straßen von Bethesda, die sie sich selbst nie zugetraut hätte. Dennoch wirkte er ruhig und gelassen. Immer wieder schaute er in den Rückspiegel, während er sie über Seitenstraßen immer tiefer in ein schlafendes Wohnviertel brachte. Erst nach einer Weile merkte Cait, daß sie Takoma Park, Maryland, hinter sich gelassen und Washington erreicht hatten. Alec überholte einige langsame, von müden Frühaufstehern oder Nachtschwärmern gelenkte Wagen, und wenig später wären sie in Georgetown. Das sonst so belebte Viertel, das für seine Boutiquen, Restaurants, Krankenhäuser und Universitäten berühmt war, lag
schlafend im gelbgoldenen Schein der Straßenlaternen, und die gepflasterten Straßen glänzten, als hätte es geregnet. Alles wirkte friedlich, doch Cait wußte, daß jeden Moment ein anderer Wagen auftauchen und Schüsse die Nacht zerreißen konnten. Alec fuhr über die Key Bridge auf den George Washington Memorial Parkway. Der bei Tag so malerische Highway kam Cait jetzt unheimlich vor. Die kahlen Äste der hohen Bäume schienen sich über dem Wagen zu treffen und einen spinnennetzartigen Tunnel zu bilden. Alec drosselte das Tempo. Er fuhr zwar noch immer schneller als erlaubt, aber immerhin so langsam, daß Cait nach Allie sehen konnte, ohne befürchten zu müssen, auf ihr Baby geworfen zu werden. Als sie die Decke vom Kopf ihrer Tochter zog, drehte er die Heizung auf. Sie mußte lächeln. Allie schlief, den Zeigefinger zwischen den entspannten Lippen. "Ist sie okay?" fragte Alec. "Sie schläft." Cait drehte sich wieder nach vorn. "Sie schläft?" sagte er staunend und betrachtete seine Tochter im Rückspiegel. Auf der rasanten Fahrt durch die Stadt mit ihren vielen Kurven hatte Cait sich an den Sitz geklammert und an nichts anderes als Flucht gedacht. Jetzt, auf dem leeren Highway wurde ihr nur zu deutlich bewußt, wie nah Alec ihr war. So nah, daß sie die Knie kaum bewegen konnte, ohne seine zu streifen. Der Wagen war ihr so groß erschienen, als sie ihn gekauft hatte. Jedenfalls groß genug für Allie und sie. Jetzt kam er ihr plötzlich zu klein vor. Schweigend fuhren sie durch die Nacht. Aber es war ein angespanntes Schweigen. Die Distanz, die sich in zwei Jahren der Trennung aufgebaut hatte, ließ sich nicht in wenigen Stunden überwinden. In der Geiselhaft war Cait sicher gewesen, daß das, was Alec und sie füreinander empfanden, eine Ewigkeit lang halten
würde. Jetzt war ihr der Mann, der neben ihr saß, nicht mehr so vertraut. Er war ein FBI-Agent, der seinen eigenen Tod vorgetäuscht hatte. Ein rätselhafter Mensch. Ein Fremder. Am liebsten hätte sie ihn gebeten, anzuhalten und Allie und sie aus diesem Alptraum zu entlassen. Aber wohin konnte sie ihr Baby bringen? Zu ihrer Tante Margaret, sicher, aber wenn sie erst dort war, wem konnte sie trauen? Woher sollte sie wissen, daß nicht in einer Woche, in einem Monat, in einem Jahr jemand an die Tür klopfte ... mit einer Waffe, deren Kugeln für sie und ihre Tochter bestimmt waren? Nein, sie mußte bleiben, wo sie war. Auf dem Beifahrersitz ihres eigenen Wagens, an dessen Steuer ihr Exliebhaber saß. Ohne sie anzusehen, brach Alec das Schweigen. "Caitie..." Caitie? Niemand außer Alec hatte sie je so genannt, und das auch nur einmal, auf dem Gipfel einer verzweifelten Leidenschaft. Einer Leidenschaft, von der sie gehofft hatte, daß sie mit Alec zusammen begraben worden war. "Cait", verbesserte sie, obwohl die Erinnerung sie fast zum Erröten brachte. "Cait, ich kann mich gar nicht genug entschuldigen." "Du hast mir nicht gesagt, daß du beim FBI bist. Du hast mich glauben lassen, daß du tot bist. Du hast die ganze Welt das glauben lassen." Sie war den Tränen nah. "Ich will keine Entschuldigung, Alec. Ich will eine Erklärung. Ich bin Computerspezialistin, hast du das vergessen? Gib mir Informationen, mit denen ich etwas anfangen kann. Ich will verstehen, was hier abläuft." "Ich auch", murmelte er. "Ich habe ein Recht, alles zu erfahren. Keine Lügen mehr. Keine Halbwahrheiten. Auf dem Rücksitz sitzt mein Baby, und ich sterbe fast vor Angst." Er fuhr sich durchs Haar. "Cait, es tut mir ..."
"Entschuldige dich nicht, Alec. Klär mich auf", fauchte sie, während Alec die nach Virginia führende Ausfahrt ansteuerte. "Wohin fahren wir?" "Das weiß ich noch nicht. Wir müssen bald vom Highway herunter und den Wagen loswerden." Er sagte es so beiläufig - den Wagen loswerden. Er wußte nicht, wie lange sie gespart hatte, um ihn kaufen zu können "War der Mann, der vor meinem Haus auftauchte ... dieser Jack ... einer von deinen Freunden?" fragte sie. "Bis zur letzten Woche hätte ich gesagt, er ist einer der besten Männer, die ich kenne." "Aber jetzt nicht mehr?" "Nein." "Warum nicht?" Alec sah aus, als starrte er in die Vergangenheit, nicht auf den Highway vor ihnen. "Er wußte, daß ich bei dir war." "So?" "Er rief meinen Namen, als wir davonfuhren." "Als du meine Garage demoliert hast." Er lächelte, und sein Anblick ging ihr ans Herz. Warum rührte sein trauriges Lächeln sie ausgerechnet jetzt, da sie sich mit der Fremdheit zwischen ihnen abzufinden begann, fast zu Tränen? "Du sagtest, bis zur letzten Woche. Was ist da passiert? Ich meine, was hast du herausgefunden?" "Ich fand ein Dokument, das nicht für meine Augen bestimmt war. Ich las es und erfuhr, daß die Terroristen, die uns als Geiseln genommen haben, von jemandem aus meiner Abteilung beim FBI angeheuert worden waren." Cait stockte der Atem. "Um dich zu töten", flüsterte sie. "Ich glaube, ja. Jedenfalls stand das so in dem Bericht. Bis heute abend hatte ich drei Namen. Verdächtige, wenn du so willst. Jetzt weiß ich, daß es Jack war." "Dein guter Freund."
"Mein guter Freund", wiederholte er. "Alec..." Er sah sie an. Seine Miene war nahezu ausdruckslos, als wäre er mit seiner Kraft am Ende und würde nur noch wie ein Automat funktionieren. "Wer ist er? Jack, meine ich. Ich weiß, er ist beim FBI und war dein Freund, aber wer genau ist er., und warum will er dich töten lassen?" "Jack King", erwiderte er zögernd, als könnte er sich an dem Namen die Zunge verbrennen. Er betätigte den Blinker und lenkte den Wagen auf die nach Reston, Virginia, führende Spur. "Ich kenne ihn seit fünfzehn Jahren. Jeder von uns hat mindestens eine Kugel abgekommen, die für den anderen bestimmt war." "Du sagst das, als hättet ihr euch eine Pizza geteilt." Er warf ihr einen Blick zu. Sie hatte absichtlich versucht, ihn zum Lächeln zu bringen. Doch jetzt sah sie, wie sehr der Verrat seines Freundes ihn verletzte. Cait seufzte erleichtert, als Alec auf einen der großen MotelParkplätze an der Route 7 einbog. Aber dann forderte er sie auf, im Wagen zu bleiben und auf ihn zu warten. "Warum?" fragte sie nervös. "Was hast du vor?" "Nicht viel. Bleib einfach sitzen." "Warum?" wiederholte sie. Er grinste. "Wir stehlen einen Wagen."
8. KAPITEL Samstag, 10. November, 5.40 Uhr Entsetzt beobachtete Cait, wie Alec an den Wagen der ahnungslos schlafenden Motelgäste entlangschlich. An einem staubigen Zweitürer ging er in die Hocke, holte ein Werkzeug aus der Tasche und schraubte die Nummernschilder ab. Er klemmte sie sich unter den Arm und schlich weiter. Cait machte sich auf dem Beifahrersitz so klein wie möglich, während sie zwischen der Bewunderung für Alecs Entschlossenheit und der Angst schwankte, als Komplizin bei einem Autodiebstahl im Gefängnis zu landen. Alec schaute in mehrere Wagen, und Cait betete darum, daß kein Gast aufstand und nach draußen sah. Als er schließlich die Fahrertür einer mittelgroßen Limousine öffnete, hielt sie den Atem an. Was sollte sie tun, wenn jemand Alec auf frischer Tat ertappte? Gebannt sah sie zu, wie er die Nummernschilder abmontierte und durch die anderen ersetzte. "Was soll das?" flüsterte sie, als er wieder neben ihr saß. "Ich verschaffe uns einen Vorsprung", erklärte er ruhig. Irgendwie hatte sie geglaubt, in Sicherheit zu sein, wenn sie erst ihr Haus verlassen hatten. Das war offenbar ein Irrtum gewesen. Ihr Herz schlug wie wild, als Alec langsam auf einen freien Parkplatz fuhr und den Motor abstellte.
"Geh mit Allie zum anderen Wagen. Ich komme gleich nach." "Das werde ich nicht tun", sagte Cait. "Du willst den Wagen stehlen und ..." Alec packte ihren Arm, und sie erschrak. Der Mann, der so ansteckend lächeln und schmunzeln konnte, war verschwunden. An seiner Stelle saß ein zu allem entschlossener Profi. "Daß wir Autodiebe sind, ist im Moment unsere geringste Sorge", sagte er scharf. "Geh mit Allie zum Wagen und schnall sie auf dem Rücksitz an." Cait wollte protestieren, wollte die Angst und die Erinnerungen durch einen Zornesausbruch vertreiben, aber sie konnte es nicht, denn Alec hatte recht. Verglichen mit Mord war ein Diebstahl eine Bagatelle. Verglichen mit dem Mord an ihr. Sie öffnete den Mund, um sich zu entschuldigen, doch er war bereits ausgestiegen. Mit weichen Knien und zitternden Händen trug sie ihre schlafende Tochter im Kindersitz zu dem Wagen, den er ausgesucht hatte. Die schwarze Limousine war zwar schon älter, aber mit allem Komfort ausgestattet und sehr gepflegt; Cait gab seinen Besitzern das stumme Versprechen, gut auf den Wagen aufzupassen, während sie Allie anschnallte. Ihre Tochter gab einen zufriedenen Laut von sich, und Cait sah sich ängstlich um, bis sie sicher war, daß niemand es gehört hatte. Dann schlief Allie wieder ein. Sekunden später öffnete Alec die Fahrertür, und Cait hätte fast aufgeschrien, als die Innenbeleuchtung anging. Als er den Motor startete, wurde ihr klar, wonach er so lange gesucht hatte: nach einem Wagen, bei dem der Zündschlüssel steckte. Cait wartete darauf, daß die Wagenbesitzer aus ihrem Zimmer gerannt kamen, aber nirgendwo ging Licht an und niemand erschien schreiend in der Tür. Sie fuhren vom Parkplatz und auf den Lee Highway in Richtung der historischen
Orte Vienna, Reston und Sterling. In einer schwarzen Limousine mit Virginia-Kennzeichen waren sie vorläufig sicher. "Schläft sie noch?" fragte Alec, als sie nach hinten schaute. "Wie ein Stein", erwiderte sie. Einige Minuten lang schwiegen sie beide, bis Alec sich räusperte. "Bist du okay?" Zunächst antwortete sie nicht. Verfolgungsjagden, Waffen, Menschen, die aus dem Grab kamen, und Autodiebstähle vertrugen sich nicht mit Hypothekenzahlungen, Windeltaschen und Kinderkrankheiten, die in den letzten beiden Jahren ihr Leben bestimmt hatten. "Nein", antwortete sie. "Aber in diesem Wagen fühle ich mich schon etwas sicherer. Danke." Er lächelte zufrieden. "Ich glaube, wir haben unsere Verfolger abgeschüttelt. Vorläufig jedenfalls." "Was tun wir jetzt?" "Wir suchen uns eine Unterkunft." "Hast du einen Plan?" fragte sie. Er warf ihr einen Blick zu. "Ja. Vielleicht nicht den besten, aber immerhin einen Plan." "Und?" Seine Wangen röteten sich ein wenig. "Ich möchte irgendwann mit dem, was ich weiß, an die Öffentlichkeit gehen. Wenn die Medien sich dieser Sache annehmen, steigen unsere Chancen." "Warum gehen wir nicht zur Polizei?" "Weil die Polizei sofort das FBI verständigen würde. Und während ich noch erkläre, warum ich am Leben bin, führt Jack dich schon zu seinem Wagen. Kommt nicht in Frage." "Also wenden wir uns an die Zeitungen?" "Und das Fernsehen. Ich hätte nie gedacht, daß ich einmal freiwillig in die Nachrichten komme", sagte er schmunzelnd. "Wir rufen einfach an?"
"Und liefern ihnen einige Informationen aus dem Bericht, den ich gefunden habe." "Informationen, die Jack mit der Geiselnahme vor zwei Jahren in Verbindung bringen." "Genau." "Und was wird aus dir?" fragte sie. "Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen." Cait starrte ihn an. "Zerbrich dir nicht meinen Kopf, kleine Lady, so meinst du das, ja?" "Nein, so habe ich es nicht gemeint", antwortete er mit einem halb verlegenen, halb traurigen Lächeln. "Du weißt also nicht, wie es danach weitergeht. Du könntest noch immer in Gefahr sein", folgerte Cait. "Aber du und Allie werdet in Sicherheit sein." Daß er ganz selbstverständlich auch an seine Tochter dachte, rührte sie zu Tränen. "Cait..?" "Mm?" Er nahm eine Hand vom Lenkrad und legte sie auf ihren Arm. "Ich konnte nicht wissen, was du in den letzten zwei Jahren durchmachen mußtest. Ich wünschte, ich hätte dir beistehen können." "Ich auch." "Ist es zu spät für uns, Cait?" fragte er leise. Sie hätte weinen können. "Das kann ich dir nicht sagen, Alec. Vielleicht weil mir im Moment alles so unwirklich vorkommt. Und weil es noch zu früh ist." Sie drehte sich zu ihm. "Was ist passiert? Wie war es wirklich?" "Eine der Kugeln hat eine Hauptschlagader getroffen. Zum Glück blieb sie dort stecken und wirkte wie ein Korken." "Du bist dreimal getroffen worden." "Die zweite Kugel zertrümmerte das Schlüsselbein." Er tastete über seinen Halsansatz, und Cait ahnte, wie knapp er dem Tod entronnen war. "Die Ärzte erzählten mir, daß das dritte
Geschoß mir den rechten Schultermuskel zerfetzt hat. Außerdem hatte Vandevers Gewehrkolben einen Schädelbruch hinterlassen." Cait dachte an die einundzwanzig Salutschüsse bei seiner Beerdigung. Sie hatte neben den vielen Polizisten in Uniform gestanden und war bei jedem Schuß zusammengezuckt. Warum hatte sie nicht gespürt, daß Alec noch lebte? "So viele Lügen. So viele schmerzhafte Lügen. "Und du?" fragte er. "Ich habe überlebt." Sein Lächeln war kaum wahrnehmbar. "Das weiß ich jetzt. Aber ... ich hörte dich schreien, danach fielen zwei Schüsse ... dann war nichts mehr." Cait entnahm seiner grimmigen Miene und rauhen Stimme, daß er diesen grauenhaften Tag seitdem so oft durchlebt hatte wie sie. Irgendwie brachte es ihn ihr näher. Sie hatte niemandem erzählt, was sie wußte, sondern war hartnäckig dabei geblieben, daß sie bewußtlos gewesen sei. Aber Alec war kein gesichtsloser Unterausschuß des Senats. Und auch keine aufdringliche TV-Moderatorin. Er war der Vater ihres Kindes. "Nachdem sie auf dich geschossen hatten, schleiften sie mich hinaus. Ich schrie und trat um mich, ich versuchte, mich zu befreien und zu dir zurückzukehren", berichtete sie. An Alecs Wange zuckte ein Muskel. "Sie stritten miteinander, aber ich konnte nicht hören, worüber. Dann geschah etwas Seltsames. Der Mann, der mich festhielt, hob seine Waffe und gab zwei Schüsse ab. Dicht an meinem Ohr. Deshalb hörte ich auf zu schreien, Alec." Er schluckte schwer und nickte stumm. "Er sagte den anderen, daß das FBI draußen auf sie wartete. Wir sind hereingelegt worden! meinte der Mann, der auf dich geschossen hatte. Der Kleine - der, der uns ins Badezimmer
führte - legte seine Waffe auf den Boden und sagte: So war das nicht geplant. Für diesen Mist will ich nicht sterben. "Und der andere hielt dich noch immer fest?" fragte Alec. "Ja." "War er es, der dich bewußtlos geschlagen hat?" "Ich war nie bewußtlos, Alec." "Was?" "Er stieß mich an der Wand zu Boden und meinte, ich sollte mich totstellen. Und wenn ich überlebte, sollte ich so tun, als wüßte ich von nichts." "Aber du hast alles gesehen, nicht wahr, Cait?" "Ja. " "Erzähl es mir." Cait hatte die Hände so fest verschränkt, daß sie sie kaum noch spürte. "Die vier Geiselnehmer legten ihre Waffen hin, schoben sie mit dem Fuß außer Reichweite und hoben die Hände. Die Eingangstüren flogen auf, und das Sonderkommando stürmte herein. Ein Mann im Anzug folgte ihnen. Ich hielt meine Augen fast immer geschlossen und tat so, als wäre ich bewußtlos." Alec warf ihr einen bewundernden Blick zu, aber sein Gesicht war blaß und der Mund ein schmaler Strich. "Dann befahl der Mann im Anzug einem vom Sonderkommando, nach dir zu suchen. Ein anderer kam zu mir und tastete nach meinem Puls. Sie lebt, sagte er. Aber der Puls ist schwach. Ich hätte fast gekichert, und manchmal träume ich, daß ich mich nicht beherrschen konnte." "Sei froh, daß du es geschafft hast." "Ich weiß. Der Typ ließ mich liegen, und nach einer Weile riskierte ich einen vorsichtigen Blick. Und als der andere dich fand und etwas rief, rannten einige zu ihm. Ich dachte, sie würden deine Leiche hinaustragen, und mir wurde schlecht. Dann befahl der Mann im Anzug, die Terroristen zu erschießen."
"Einfach so? Und die Männer gehorchten ihm?" fragte Alec ungläubig. "Ja." "Verdammt." "Ja. Sie gaben ein paar Schüsse aus den Waffen der Geiselnehmer ab und legten sie in ihre Hände oder dicht neben die Körper. Dann trug jemand dich in einem Beutel nach draußen." "Cait, ist dir klar, was du da sagst?" "Ja, ich fürchte, das ist es." "Und du hast die ganze Zeit mit diesem Wissen gelebt." "Ich war da, Alec. Ich habe es gesehen." "Der Terrorist hat dir einen guten Rat gegeben." "Den besten, den ich je bekommen habe. Aber ich verstehe noch immer nicht, warum", gestand sie. "Du warst im Plan nicht vorgesehen. Vielleicht dachte der Terrorist, man würde ihn verschonen, wenn es eine Augenzeugin gab, die überlebte. Wer weiß? Vielleicht werden wir den Grund nie erfahren." Er schwieg ein paar Sekunden lang. "Es macht keinen Sinn." "Dies alles macht keinen Sinn!" Alec runzelte die Stirn. "Aber mit Logik ..." "Logik?" unterbrach sie ihn aufgebracht. Erst als Alec kurz nach hinten schaute, merkte Cait, wie laut sie geworden war. Besorgt drehte sie sich um. Allie schlief. "Cait..." sagte er nach einer Weile. "Ja?" Er zögerte. "Hätten wir es geschafft, wenn wir vor zwei Jahren nicht getrennt worden wären?" Für Cait gab es darauf im Moment nur eine Antwort. "Wir haben es überlebt, Alec. Wir sind am Leben. Wir fahren mit einem schlafenden Baby in einem gestohlenen Wagen über
Staatsgrenzen, aber wir sind beide lebend aus der Besenkammer herausgekommen." "Und wie machen wir jetzt weiter?" Cait tat so, als hätte sie die Frage falsch verstanden, "Du sitzt am Steuer, Alec. Das mußt du ganz allein entscheiden." "Du bist meine Komplizin." Sie versuchte, die gespannte Atmosphäre etwas aufzulockern. "Ich sehe schon die Schlagzeilen. Toter stiehlt Wagen eines Vertreters." Alec lachte. Cait ließ sich anstecken und wunderte sich, daß sie in einer solchen Situation lachen konnte. Mit Zorn allein ließ sich die Angst auf Dauer nicht unterdrücken, und der Humor erwies sich als Geschenk des Himmels. Auch vor zwei Jahren hatten sie mit manchmal makaberen Scherzen ihre Panik im Zaum gehalten. Und aus dem gemeinsamen" Lachen war irgendwann Leidenschaft geworden. Als könnte er ihre Gedanken lesen, schlug Alec vor, ein Zimmer in einem Motel in Sterling zu nehmen. Der kleine Ort lag nur wenige Meilen vor ihnen. Cait starrte auf die frostbedeckte Landschaft, ohne etwas wahrzunehmen. Alles, was sie sah, war eine mit Farbspritzern übersäte Decke auf einem Doppelbett in einem Motelzimmer. Sie kamen an einer alten Mühle und einer Siedlung mit eleganten Einfamilienhäusern vorbei, und Cait konnte sich vorstellen, wie verlockend diese sanft geschwungene Hügellandschaft auf die ersten Siedler gewirkt haben mußte. Sie wollte nicht an die Zukunft denken, die Gegenwart war schon schwierig genug. Alec musterte sie unauffällig. Sie vertraut mir, dachte er, sie glaubt daran, daß ich sie und Allie beschützen kann. Er war so müde, daß er kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte, und packte das Lenkrad fester. Er dachte an Jack King. Es war Jack gewesen, der vor Caits Haus gestanden hatte. Es war Jack gewesen, der ihm
verschwiegen hatte, daß sie noch lebte. Aber sein Instinkt sagte ihm, daß es nicht Jack gewesen war, der den Einsatz bei der WHO angeordnet hatte. Warum war Jack vorhin bei Cait aufgetaucht? Cait seufzte schwer, und Alec sah zu ihr hinüber. Ihre Augen waren von tiefen Schatten umgeben und blickten besorgt. Aber selbst so war sie eine wunderschöne Frau. Sie besaß kein Titelbildgesicht, sondern eine Stupsnase mit Sommersprossen und einen hinreißenden Mund, dessen Stimme jeden Frauenhasser vom Fernseher weglocken würde. Sie war schlank, aber ihre vollen Kurven paßten sich einem Männerkörper perfekt an. Alec merkte, wie sein Atem schneller ging. Es war dumm gewesen, Cait zu fragen, wie sie weitermachen sollten. Sie konnte es ebensowenig wissen wie er. Die Vergangenheit war tot, toter, als Cait es je gewesen war. Er begriff jetzt, daß das, was man ihnen gestohlen hatte - Träume, Hoffnungen, selbst Erinnerungen - für immer fort war. Sie hatten nur das Hier und Jetzt. Aber die Gegenwart war voller Gefahren, und die Verantwortung für Cait und Allie lag auf seinen Schultern. Er mußte die beiden in Sicherheit bringen.
9. KAPITEL Samstag, 10. November, 6.30 Uhr Das Motelzimmer sah nicht annähernd so schäbig aus, wie Cait es sich vorgestellt hatte. Es war ziemlich groß und enthielt zwei Doppelbetten, einen Tisch mit zwei Stühlen, einen Fernseher und eine Kommode. Vor dem angeschlossenen Badezimmer befand sich ein kleiner Ankleidebereich mit Waschtisch und Spiegel Meeresbilder, wie man sie in Millionen von Motelzimmern im ganzen Land fand, zierten die Wände. Keine mit Farbe und Blut verschmierte Decke lag auf den Betten, kein Geruch von Reinigungsmitteln hing in der Luft. Es war ein ganz normales Motelzimmer, nüchtern und sachlich eingerichtet, ein Ort zum Essen und Schlafen, wenn man auf den Highways der USA reiste. Die roten Leuchtziffern des Weckers zeigten 6.30 Uhr, als Cait zusah, wie Alec den Kindersitz mit der noch immer schlafenden Allie ins Zimmer trug und Cait fragend ansah. Sie zeigte auf den schmalen Gang zwischen den beiden Betten, und er stellte den Sitz dort ab. "Du wirst sie wecken", warnte Cait, als er nach Allie greifen wollte. "Aber sie sieht aus, als hätte sie es nicht sehr bequem", flüsterte er. "Du mußt nicht leise sein", erwiderte sie.
Er erhob sich, und obwohl er sie nicht ansah, spürte Cait seine Nervosität. "Ich muß jetzt schlafen", verkündete er und unterstrich seine Worte mit einem Gähnen. "Und wir müssen uns um deinen Arm kümmern." Er zog die Jacke aus, nahm das Schulterhalfter ab und legte es samt Waffe auf den Fernsehschrank. Sein Hemd war blutverschmiert, schien aber trocken zu sein. "Falls du Hunger hast, können wir den Zimmerservice anrufen", sagte er. Er nahm die Speisekarte vom Tisch und reichte sie ihr. "Soll ich deinen Arm verbinden?" fragte sie. Er schob den Ärmel hoch und betrachtete die Wunde. "Sieht schlimmer aus, als es ist." Langsam knöpfte er das Hemd auf, ohne den Blickkontakt mit Cait zu unterbrechen. Er zog das Hemd aus der Hose. Caits Mund wurde trocken. Dem Verlangen folgte Verärgerung. Warum versuchte er, sie zu erregen? Was sie vor zwei Jahren miteinander geteilt hatten, was das schlafende Baby hatte entstehen lassen, war gestorben. Alec sah ihr noch immer in die Augen. Herausfordernd? Hoffnungsvoll? Sie wußte es nicht. "Ich denke, ich werde etwas essen", sagte sie und ging zum Telefon. "Ich werde mir Frühstück bestellen." Sie orderte Spiegeleier, Schinken, Obst, Orangensaft, Brötchen und Kaffee mit viel Sahne. Wenn Allie aufwachte, würde sie sich die Reste schmecken lassen können. Als sie auflegte und sich umdrehte, stand Alec mit nacktem Oberkörper im milden Schein einer Lampe. Er sah aus wie in einem Werbespot für Aftershave: das klassische Profil mit markanten Zügen, dunkles Haar, das sich im Nacken kräuselte, muskulöse Schultern über einer breiten Brust und schmalen Taille. Doch als er sich nach seiner Reisetasche bückte, sah Cait die Narben und dachte daran, wie die Kugeln ihn gegen die
Rückwand der Besenkammer geschleudert hatten. Jeder helle Streifen auf seiner gebräunten Haut erinnerte sie daran, wie knapp er dem Tod entronnen war. Das Verlangen, die Narben zu berühren und die warme Haut mit zarten Fingern zu streicheln, wurde so groß, daß ihre Hände zitterten. Mit einem Waschlappen entfernte Alec das Blut von seinem Arm und zog ein frisches Sweatshirt an, bevor er sich zu Cait umdrehte. Erstaunt starrte er sie an. Noch nie hatte er eine Frau gekannt, deren Blick so leicht zu entschlüsseln war, die sich selbst und der Welt so ehrlich begegnete. Sein Herz schlug immer heftiger. Ihre Lippen waren geöffnet, die Augen schauten verwirrt. Die Wangen waren gerötet, und ihr Atem ging schneller als sonst. Dies war kein Ausflug in die Vergangenheit. Sie reagierte nicht auf eine Erinnerung, sondern auf ihn. Hier und jetzt. In der Gegenwart. Das Verlangen, das er in ihr glühen sah, ließ auch seins entflammen. Er wollte sie. Mehr, als er jemals jemanden gewollt hatte, abgesehen von ihr selbst vor zwei Jahren. War das das Geheimnis? Brauchten sie nur dieser magischen Anziehung nachzugeben, und dann folgte alles andere auf ganz natürliche Weise - Vertrauen, Respekt, Zuversicht? War das möglich? Ohne daß es ihm bewußt war, ging er auf sie zu. "Cait..." Sie riß den Blick von seiner Brust los und schaute ihm in die Augen. Er ertrug es nicht, ihre Verwirrung zu sehen, die Zweifel, die sich in das Verlangen mischten, die Ungewißheit, die mit der Erinnerung rang. Er legte die Hand an ihre seidige Wange, und auf der warmen Haut fühlten sich die Finger kalt an. Er wollte sie an sich ziehen und zum zweitenmal entdecken. Er wollte sie schmecken und den Geschmack für die nächsten tausend Jahre bewahren. Aber er tat nichts davon, sondern
begnügte sich damit, ihr Gesicht zu streicheln und ihren Namen zu flüstern. Sie schloß die Augen und legte die Stirn in Falten, als hätte sie Schmerzen. Er wußte, daß es dieselbe Qual war, die er durchlitt. So schloß auch er die Augen und erkundete mit dem Daumen ihre anmutigen Züge. Er hörte, wie sie den Atem anhielt, und fühlte unter den Fingerspitzen ihren Herzschlag. Er öffnete die Augen und schaute direkt in ihre. "Du bist müde", sagte sie heiser. "Ja", log er, ließ die Hand jedoch nicht sinken. "Du brauchst Schlaf", flüsterte sie. Erleichtert? Bedauernd? "Ja." Sie hob die Hände, um ihn an sich zu ziehen oder fortzuschieben, und ließ sie wieder sinken. "Zwei Jahre sind eine lange Zeit." Ihre traurige Stimme streute Salz in seine Wunden. "Ja." Er war ihr so nah, daß nur wenige Zentimeter seine Lippen von ihren trennten. Der Wunsch, sie zu schmecken, war so gewaltig, daß er am ganzen Körper zitterte. "Du willst mich küssen." Es war keine Frage, sondern die Anerkennung des Unvermeidlichen. "Ja." Alec kämpfte gegen das Verlangen. Sein Mund berührte ihren, und die Schlacht war verloren. Abgesehen von den Lippen und der Hand an ihrer Wange berührten sich ihre Körper nicht. Er zwang sich, nicht die andere Hand an ihre Schulter zu heben, um sie an sich zu pressen. Er fuhr nicht mit den Fingern durch ihr Haar und ließ sie auch nicht spüren, wie erregt er war. Er küßte sie nur. Zärtlich und ohne Hast. Der Kuß war zugleich ein Lebewohl an die Vergangenheit und ein Willkommen an die Gegenwart, das äußerst wirkliche Jetzt. Für Alec schrumpfte die Welt auf den winzigen Punkt zusammen,
an dem ihre Lippen sich berührten. Er schmeckte das Salz der Tränen, die Cait vor langer Zeit vergossen hatte, und ihr Atem verschmolz mit seinem, während sie voller Neugier die fremde Gegenwart erkundeten. Der Kuß war nicht nur das Versprechen einer möglichen Zukunft, sondern brach auch die Brücken ab, die sie in der Vergangenheit miteinander verbunden hatten. Er schmeckte nach Wiederfinden und einem traurigen Abschied von den zwei Jahren, die sie verloren hatten. Und er war ein dünnes Band, das sich über den Abgrund spannte, den die Zeit zwischen ihnen aufgerissen hatte. Der erste Hoffnungsschimmer auf eine feste Brücke in die Gegenwart. Als Cait sich von ihm löste, kostete es ihn alles an Beherrschung, sie nicht wieder an sich zu ziehen. Er wußte, wenn er sie jetzt berührte, oder sie ihn, dann gäbe es kein Halten mehr, dann fielen sämtliche Barrieren in sich zusammen. Ein Teil von ihm wollte genau das, ein anderer dachte an die Ungewisse Zukunft und die nebelhafte Gegenwart. Es klopfte an der Tür, und das Geräusch wirkte auf Alec wie eine eiskalte Dusche. Er wirbelte herum, riß die Waffe von der Kommode und schaute durch den Spion. Mit einem erleichterten Lächeln drehte, er sich zu Cait um. "Es ist das Kinderbett, das ich an der Rezeption bestellt habe." Cait war blaß geworden und hatte sich schützend über Allie gebeugt. Jetzt stand sie mit zittrigen Knien auf, und die Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück, während sie mit großen Augen auf die Waffe in Alecs Hand starrte. Er legte die 45er wieder auf die Kommode und öffnete dem Zimmermädchen die Tür. Nachdem er ihr ein Trinkgeld gegeben hatte, verschloß Cait die Tür, und er versuchte, das Bett aufzustellen. "Wie funktioniert das verdammte Ding?" knurrte er nach einer Weile. Cait nahm es ihm ab, drückte auf einige Knöpfe, um es aufzuklappen, stellte es auf und legte die Matratze hinein.
"Wo soll ich es hinstellen?" fragte er mit einem dankbaren Lächeln. "Ich weiß nicht... In die Nische?" Er verschwand um die Ecke und kam mit leeren Händen zurück. "Wird sie aufwachen, wenn du sie hineinlegst?" "Ja, aber sie wird sofort wieder einschlafen. Würdest du ihre Decke holen?" Sie wünschte, sie hätte es nicht gesagt. Es klang so, als wären sie ein glückliches Ehepaar. Und sie wollte nicht immerzu daran erinnert werden, daß sie genau das nicht waren. Sie nahm Allie aus dem Kindersitz und auf den Arm. Alec hielt zwei Kissenbezüge in der Hand, aber anstatt in die Nische zu gehen, stand er da und starrte sie und Allie an, als hätte er noch nie eine Mutter mit ihrem Kind gesehen. "Sie ist so wunderschön, Cait." Cait lächelte stolz. "Und du auch", sagte er. Sprachlos sah sie ihn an. Seine drei kleinen Worte machten ihr bewußt, daß das Gefühl, ein Paar zu sein, ihr gar nicht so unangenehm war, wie sie geglaubt hatte. Wie angewurzelt stand sie vor ihm und war froh, als er zum Kinderbett ging und die Kissenbezüge darin ausbreitete. Vorsichtig legte sie ihre Tochter hinein und sah zu, wie Alec sie sorgfältig zudeckte. Langsam richtete er sich auf und schaute Cait in die Augen. Erneut ging zwischen ihnen etwas vor, auch wenn sie noch immer nicht verstand, was es zu bedeuten hatte. Und dann, einen Herzschlag später, wußte sie, daß sie es gar nicht hatte verstehen wollen. Denn es war viel einfacher, die Wahrheit zu verdrängen, als .sie zu akzeptieren. Zwischen ihnen war etwas, und was immer sein mochte, es loderte in ihm genauso heftig wie in ihr.
Unwillkürlich wich sie zurück und verließ die Nische. Aber sie tat es nicht schnell genug, vielleicht weil sie wollte, daß er sie daran hinderte. In seinem Blick lag ein unübersehbares Verlangen, und je länger sie ihm in die Augen schaute, desto mehr überlagerten die Gefühle der Gegenwart die Erinnerungen an die Vergangenheit. So sehr sie es sich auch einzureden versuchte, Alec war kein Fremder. Er könnte es nie werden. Das Band zwischen ihnen war ebenso rätselhaft wie selbstverständlich. Als es ein zweites Mal an der Tür klopfte, eilte Alec an ihr vorbei und holte die Waffe, bevor er durch den Spion sah. Er schob die Waffe in den Hosenbund, öffnete die Tür und nahm dem Zimmerkellner das Frühstückstablett ab. "Vielleicht verschafft der Kaffee mir ja einen klaren Kopf", hörte Cait ihn murmeln. "Das bezweifle ich", sagte sie und dachte an den Kuß. "Du hast recht", erwiderte er. "Mir fällt nur eins ein, das helfen könnte." Ihr stockte der Atem. Es war zu schnell, zu verschwommen. Zu gefährlich. Er wandte sich ab. "Du mußt meine Gedanken gelesen haben, als du das hier bestellt hast", sagte er und nahm die Abdeckungen von den Tellern. Als er sie anstrahlte, rang sie sich ein Lächeln ab. Er zog ihr einen Stuhl hervor und wartete, bis sie Platz genommen hatte. Erst dann setzte er sich. "Okay, erst das Frühstück, dann überlegen wir, wie wir weitermachen." Sie war unfähig, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. "Ich glaube, wir werden es schaffen, diese ganze Sache ans Licht zu bringen, ohne dabei umzukommen." Cait strich Butter auf den Toast, Alec teilte den Schinken. Sie goß Milch in ihren Kaffee, er hielt ihr seine Tasse hin. "Seltsam", sagte er, als sie in ein Apfelstück biß. "Hier so zusammen zu sein, meine ich. Es ist, als wären wir nie getrennt
gewesen." Cait antwortete nicht, denn sie wußte, daß er log. Sie waren nie anders als leidenschaftlich zusammengewesen. Vor zwei Jahren hatten sie ein paar karge Mahlzeiten miteinander geteilt, aber immer befürchten müssen, daß es ihre Henkersmahlzeit war. Anstatt geniale Pläne zu schmieden, gähnte Alec immer wieder und sah dauernd zum Bett hinüber. Schließlich ertrug Cait es nicht länger. "Geh zu Bett, Alec", befahl sie. "Du hast selbst gesagt, daß wir hier vorläufig sicher sind. Gönn dir etwas Schlaf." Er schien protestieren zu wollen, doch sie ließ es nicht zu. "Wir brauchen dich hellwach und mit klarem Kopf." Wir brauchen dich lebend, dachte sie. "Seit wann hast du nicht mehr geschlafen? Seit gestern?" "Ich weiß es nicht", erwiderte er, bevor er sich gehorsam erhob und zum nächstgelegenen Bett ging. Ohne Cait anzusehen, zog er die Decke zurück und legte die Waffe auf den Nachttisch. Nachdem er die Hose ausgezogen hatte, setzte er sich auf die Bettkante, ließ das Sweatshirt folgen und warf beides auf den Stuhl. Danach schlug er die Beine übereinander und streifte erst die linke, dann die rechte Socke ab. Cait starrte ihn an, mit trockenem Mund und viel zu heftig klopfendem Herzen. Irgendwie kam ihr die Szene unglaublich intim vor. Zu sehen, wie er sich aufs Schlafengehen vorbereitete, trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie wünschte, sie hätte ihm schon tausendmal dabei zusehen können. Schon halb im Schlaf ließ er den Kopf aufs Kissen sinken und seufzte vor Schmerz oder Erleichterung. Sein fast nackter Körper war eine enorme Versuchung, aber sie blieb sitzen, die Finger um die hölzernen Armlehnen gekrallt, und beobachtete wie aus einer Million Meilen Entfernung, wie er die Augen schloß und sich zudeckte.
Sie seufzte, ohne es zu merken. "Willst du nicht schlafen?" fragte er mit schläfriger Stimme. "Ich bin okay", sagte sie und stand auf, um die Waffe vom Nachttisch zu nehmen. Sie hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger und sah Alec nicht an, während sie zum Fernsehschrank ging, sich auf die Zehenspitzen stellte und die Waffe dort ablegte. Sie haßte Waffen und fand es schrecklich, daß sie eine brauchten. Aber zugleich beruhigte es sie, wenn Alec sie in der Hand hätte. "Ich habe von dir geträumt", murmelte er. Sie zögerte einen Moment, bevor sie sich zu ihm umdrehte. Seine Augen waren geschlossen, der Mund entspannt. "Ich auch", hauchte sie. "Von dir." "Du bist in jeder Nacht bei mir, Cait. In jeder verdammten Nacht." Sie traute ihren Ohren nicht. "Wie?" "Wie?" Seine Lider zuckten, und er schlug die Augen auf. "Bin ich eingeschlafen? Tut mir leid." "Schon gut", flüsterte sie. "Schlaf weiter." "Meine Waffe liegt auf dem Nachttisch ..." "Ich habe sie auf den Fernseher gelegt." "Das ist gut. Dort wird Jack nicht nachsehen." "Nein", wisperte Cait lächelnd. Er sprach im Schlaf. "Bastard", sagte er. "Psst..." "Wie konntest du mich glauben lassen, daß sie tot ist?" "Psst..." "Aber sie schläft bei mir, Jack. Sie ist die ganze Zeit bei mir." Cait wußte, daß sie ein Eingeständnis hörte, das er im wachen Zustand niemals wiederholen würde. "Besser nicht", murmelte er und drehte den Kopf hin und her. "Ich werde nicht zulassen, daß dir etwas geschieht", sagte sie. "Gut." "Ich bin hier", sagte sie, während ihre Augen immer feuchter wurden.
"Hier..." "Gute Nacht, Alec." "Caitie ... Komm zurück zu mir, Caitie ..." Die Tränen liefen ihr über die Wangen.
10. KAPITEL Samstag, 10. November, 10.30 Uhr "Gib sie auf, Alec " "Niemals." "Es wäre mir lieber, wenn ich dich nicht töten lassen müßte..." "An Cait wirst du nur über meine Leiche herankommen." Jack hob das 9-mm-Sturmgewehr und richtete es auf seinen ehemaligen Partner. "Warum läßt du es nicht gut sein, Alec? Du schaffst nur Probleme, indem du sie schützt." "Warum hast du mich angelogen, Jack?" "Stell dich mir nicht in den Weg, Alec." Irgend etwas streifte sein Gesicht, aber er wagte nicht, den Blick von Jack zu nehmen. "Wußtest du von dem Baby?" fragte Alec. Jack lachte und hob das Gewehr noch weiter, bis Alec direkt in die Mündung schauen konnte. "Ich habe dich gewarnt, Alec. Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt." In genau dem Moment, in dem Jack abdrückte, holte Alec mit dem Arm aus. In dem Sekundenbruchteil, bevor sein Schlag Jack traf, fragte Alec sich, was sein Gesicht berührt hatte. Dann erstarrte er und begriff, daß er schlief und träumte, daß es keine Waffe, keinen
Jack gab. Er riß die Augen auf und erblickte ein Kind mit lockigen Haaren, das gerade bis zur Bettkante reichte und ihn aus großen Augen ansah. Allie starrte auf seine zum Schlag erhobene Hand. "Groß", sagte sie staunend. "O Gott", murmelte er und zwang sich, die Faust wieder sinken zu lassen. Allie sagte etwas, das wie "Mamäft" klang, und zeigte an ihm vorbei. Alec drehte sich um. Cait lag auf dem anderen Bett und schlief offenbar fest. Mamäft... Mama schläft. "Wie bist du aus deinem Bett gekommen?" fragte er. "Alessen." "Wie bitte?" Allie schien zu dem Ergebnis zu kommen, daß er taub war, und wiederholte das rätselhafte Wort ein wenig lauter. Als sie es zum drittenmal und noch lauter aussprach, setzte Alec sich auf. "Ich weiß nicht, was du meinst", gestand er verlegen. Sie war seine einzige Tochter, und eigentlich sollte er sie verstehen, ohne ein Studium der Babysprache absolviert zu haben. "Alessen! Alessen!" rief Allie. "Schon gut. Ich kann dich hören, mein Schatz. Ich verstehe es nur nicht." Er setzte sein schönstes Lächeln auf, aber die Wirkung auf Allie war gleich null. "Alessen!" "Gib mir einen Tip", flehte er. Sie trommelte mit ihren Babyfäusten auf das Bett, und Tränen traten in ihre großen blauen Augen. Alec ertrug es nicht, sein kleines Mädchen so leiden zu sehen, und hob es auf den Schoß. "Wein nicht, Honey. Ich wollte dich nicht zum Weinen bringen. Ich verstehe doch nur nicht, was du meinst."
Dicke Tränen hingen an den unglaublich langen Wimpern. Sein Herz zog sich zusammen. Schmerzhaft. "Bitte", flehte er. "Ich will dir helfen. Sag mir einfach, was du willst." Sie blinzelte ihn an. "Alessen", wiederholte sie langsam und deutlich und starrte ihn an, als wäre er nicht nur taub, sondern auch geistig beschränkt. Dann legte sie die Hände an seine Wangen, als könnte ihm das helfen, seine Begriffsstutzigkeit zu überwinden. "Alessen." Plötzlich hörte sie auf zu weinen, Er zog die Augenbrauen hoch, und sie hob die Hand und berührte eine. "Augen", sagte sie. "Augenbrauen", verbesserte er mit klopfendem Herzen. Seine Tochter sprach mit ihm. Er hob und senkte die Augenbrauen mehrmals, und ihr Babyfinger bewegte sich mit. "Augenbraue", sagte er. Allie kicherte und eroberte sein Herz. Für immer und unwiderruflich. "Traue", sagte sie und schob mit dem Finger eine hoch. "Sehr gut. Augen...braue", wiederholte er langsam. "Auge", rief sie und traf ihn mit der Fingerspitze ins linke. Er stieß einen Schmerzenslaut aus und brachte sie damit erneut zum Kichern. "Auge", wiederholte sie und drückte darauf. "Ja, Auge." Er verzog das Gesicht und entfernte behutsam ihren Finger. "Du hast recht. Das brauche ich nicht mehr. Schließlich habe ich noch eins." Er hörte ein. leises Schmunzeln. "Alles in Ordnung?" fragte Cait. "Sie wollte dir nur sagen, daß sie Hunger hat." "Hunger?" wiederholte er ungläubig und wagte es, das heftig tränende linke Auge zu öffnen. Als er sich umdrehte, sah er eine verschwommene Cait auf ihrem Bett sitzen. Er schloß das Auge wieder, konnte aber nicht aufhören, sie mit dem anderen anzusehen. Mit natürlicher Anmut schwang sie die Beine aus dem Bett.
"Allie ... essen", sagte sie lächelnd. Alec stöhnte auf. "Allie essen. Natürlich. Jetzt verstehe ich." "Alessen, Alessen", krähte Allie fröhlich und wand sich aus seinen Armen. "Natürlich willst du essen", sagte Alec und sah Cait bedauernd an. "Es wird eine Weile dauern." Cait erwiderte nichts, aber sie schaute ihm nicht in die Augen, und ihr Gesicht sprach Bände. Er wünschte, er könnte die Worte zurücknehmen, denn sie verrieten, daß er seine Tochter langsam Stück für Stück besser kennenlernen und immer mehr Verantwortung für sie übernehmen wollte. Doch Cait schien ihm diese Zeit nicht geben zu wollen. Vielleicht hatten sie beide diese Zeit gar nicht, denn wenn ihm nicht bald etwas einfiel, würden seine "Freunde" beim FBI sie finden. Cait nahm ihm Allie ab. Einerseits war er erleichtert, da er keine Ahnung hatte, wie er seine Tochter füttern sollte. Andererseits fiel es ihm schwer, sich von ihr zu trennen. "Sie muß eine frische Windel bekommen", erklärte Cait und ließ die kichernde Allie an den erhobenen Armen zappeln. Alec fragte sich, wie lange Cait wohl gebraucht hatte, um so ungezwungen mit Allie umzugehen. Er hatte höllische Angst gehabt, der Kleinen weh zu tun, aber Cait warf sie sogar in die Luft und fing sie lachend wieder auf. Während Cait sich um Allie kümmerte, griff er nach seinem Sweatshirt. Es lag ordentlich gefaltet auf der zusammengelegten Hose, und die Socken befanden sich auf den Schuhen. Ein Blick zum Fernsehgerät zeigte, daß die Waffe sich wieder an sicherem Ort befand. Alec wüßte genau, daß er das alles nicht getan hatte. Offenbar hatte er Cait einen regelrechten Striptease geboten, obwohl er sich nur noch daran erinnern konnte, daß er gefrühstückt hatte. Toll, MacLaine, dachte er. Erst verpaßt du der Frau deiner Träume fast einen Herzinfarkt, indem du als
"Toter" vor ihrer Haustür auftauchst, dann schleifst du sie und das Baby, von dem du nichts wußtest, mitten in der Nacht aus dem Haus, erklärst ihr, daß jemand sie umbringen will, und als Abschluß schläfst du einfach ein. Gut gelaufen, MacLaine. Er zog Sweatshirt und Hose an und wandte verlegen den Blick ab, als Cait mit der fröhlich brabbelnden Allie um die Ecke bog. "Wie ist sie aus ihrem Bett gekommen?" fragte er. "Ist sie herausgeklettert?" Cait schmunzelte. "Nein. Sie ist aufgewacht, und ich habe sie herausgenommen. Ich habe mich mit ihr hingelegt, damit sie ruhig bleibt." Alec wußte nicht, warum ihre Antwort ihm ans Herz ging. Und er wollte sich auch nicht ausmalen, wie es wäre, wenn er sich mit Cait hinlegte. "Da sind wir, mein Schatz", sagte Cait und setzte Allie auf einen Stuhl. . Unwillkürlich dachte Alec an ihr Traumhaus auf dem Land, an die große gemütliche Küche, und stellte insgeheim einen Kinderstuhl an die freie Wand neben dem Kamin. Während er zusah, wie Cait ihrer Tochter die Reste des Frühstücks in kleine Happen zerlegte, wurde ihm bewußt, daß nur die Illusion eines gemeinsamen Lebens ihn zwei Jahre lang aufrechterhalten hatte. Die einsamen Nächte, die stundenlange Physiotherapie, die scheinbar endlose Jagd auf ihre Mörder waren nur dadurch erträglich gewesen, daß er sich eingebildet hatte, Cait wäre nicht gestorben. Er träumte von dem Landhaus, in das er nach einem langen Arbeitstag zurückkehrte, in dem ihn Hundegebell und Kindergeschrei begrüßten. Von dem Garten, in dem sie unter den Eichen picknickten. Und von dem Kamin, in dem sie im Winter würzig riechendes Holz verbrannten und vor dem Cait und er sich erzählten, wie sie den Tag verbracht hatten. "Es gibt noch mehr", sagte Cait. "Du kannst dir Zeit lassen."
Obwohl er wußte, daß die Worte nicht ihm galten, trafen sie ihn. Es gab nicht mehr. Nicht für ihn. Das war die Illusion, dies die Realität. Und er mußte schnell handeln, sonst würde Cait oder Allie etwas zustoßen. Er war FBI-Agent. Die Gefahr drohte von seinen "Freunden". Er mußte etwas unternehmen, die Medien informieren, die Verschwörung an die Öffentlichkeit bringen. Er mußte Cait retten. Und Allie. Er mußte seine Familie schützen. Auch wenn es nicht wirklich seine war. Selbst aus einigen Metern Entfernung spürte Cait, wie angespannt Alec war. Er sah sie nicht an, und sie sagte nichts zu ihm, denn sie wußte nicht, wie sie den Abstand zwischen ihnen überbrücken sollte. Zugleich hatte sie Angst vor dem Verlangen, das jederzeit zwischen ihnen aufflackern konnte. Jedesmal, wenn Alec sich bewegte, fühlte sie, wie ihr Körper auf seinen Anblick reagierte. Aber dieses Verlangen verband sie mit jenen drei schicksalhaften Tagen vor zwei Jahren und ließ die Gegenwart noch unmöglicher, noch unwirklicher erscheinen. Cait war Alec dankbar, als er das TV-Gerät einschaltete. Die Musik und die einschmeichelnde Stimme eines Werbespots für Shampoo lenkten sie ab. Er ging die Kanäle durch, bis er eine Nachrichtensendung fand. Allie aß, während ihre Eltern den neuesten Meldungen aus Washington lauschten. Der Moderator kündigte einen aktuellen Bericht über die New Yorker Geiselnahme an, und Allie erzählte laut, wie ihr der Apfel und die Orange schmeckten. "Und in einem ruhigen Wohnviertel von Bethesda, Maryland, rätseln Nachbarn und Polizei wegen des Verschwindens einer Software-Designerin und ihrer Tochter." Das Bild wechselte zu einer Reporterin, die vor Caits Garage stand. Hinter ihr befragten Polizisten die Nachbarn, während
Kollegen das demolierte Tor maßen und die Einfahrt mit Absperrband sicherten. "Oh, mein Gott!" entfuhr es Cait. Bei Tag sah der Schaden an der Garage wesentlich schlimmer aus als bei Nacht. Das Tor hing schief, und die Einfahrt zierten häßliche Reifenspuren. "Die Polizei sucht noch immer nach Hinweisen, die die Suche nach Cait Wilson und ihrer kleinen Tochter erleichtern könnten", sagte die Reporterin. "Nachbarn verständigten die Polizei. Ein Streifenwagen traf kurz nach vier Uhr morgens hier ein und stellte rasch fest, daß Miss Wilson und ihre Tochter möglicherweise mit Gewalt aus ihrem Haus entfuhrt wurden." Ein Polizist beschrieb den Zustand des Garagentors. "Eine Nachbarin berichtete, sie hätte einen bewaffneten Mann vor Miss Wilsons Haustür stehen sehen, etwa eine halbe Stunde, bevor der Wagen das Garagentor durchbrach. Kurz zuvor soll ein zweiter Unbekannter eingetroffen sein." "Jack", sagte Alec. Die Reporterin erschien wieder im Bild. Neben ihr stand Caits Nachbarin Delia. "Cait und ich standen uns sehr nah", schluchzte sie. Cait stöhnte auf. "Sie war immer so ruhig. Und scheu. Irgendwie wußte ich gleich, daß etwas nicht stimmt. Ich meine, sie hatte nie nächtliche Besucher. Und plötzlich tauchen alle diese Leute auf. Als ich den ersten aus dem Taxi steigen sah, habe ich sofort zu Sam, meinem Mann, gesagt, er soll die Polizei rufen. Aber er meinte, es geht uns nichts an. Hätte ich bloß nicht auf ihn gehört, dann hätte ich sie vielleicht retten können. Aber als der Wagen aus der Garage kam, begriff selbst Sam, daß etwas nicht in Ordnung war. Was für ein Lärm das war. Oh, ich mache mir solche Sorgen um sie." Delia hielt sich einen Finger unter das Auge, als müßte sie weinen. "Ich hoffe nur, daß sie noch am Leben sind."
"Delia zieht eine ganz schöne Show ab", murmelte Cait verärgert. Sie fragte sich, ob ihre Tante Margaret etwas davon mitbekommen hatte, und ob die Polizisten mit schmutzigen Schuhen auf ihren neuen Teppichen herumtrampelten. "Cait Wilson trat erst gestern abend im Fernsehen auf", fuhr die Reporterin fort. "Sie beschrieb ein Softwarepaket, das bei Kriseninterventionen hilfreich sein kann. Miss Wilson ist eine Überlebende des Terrorangriffs auf die WHO vor zwei Jahren." Der Bildschirm wurde schwarz, dann war Caits Auftritt vom Vorabend zu sehen. Cait sah zu Alec hinüber. "Das habe ich gesehen", sagte er heiser. "Gestern abend. Als mir klar wurde, daß du nicht tot bist. Ich dachte, ich verliere den Verstand." Die Reporterin zeigte auf die Garage, die Kamera folgte ihrem ausgestreckten Arm und erfaßte einige Polizisten, die mit einem Mann mittlerer Größe in einem grauen Anzug sprachen. Er war etwa fünfzig, hatte silbergraues Haar, hielt in der einen Hand ein Notizbuch und preßte die andere auf seinen Bauch. "Cait!" rief Alec. "Das ist Jack King. Er ist dort!" Cait stand auf. Ihr lief es kalt den Rücken herunter. "Die Polizei berät sich mit dem FBI. Möglicherweise gibt es Verbindungen zwischen Miss Wilsons Verschwinden und der Geiselnahme vor zwei Jahren, bei der ein FBI-Agent ums Leben kam." Die Journalistin ging zum demolierten Garagentor und hielt Jack King das Mikrofon vors Gesicht. "Wir prüfen, ob dieser Vorfall und der Überfall auf die WHO etwas miteinander zu tun haben", sagte er in die Kamera. Alec bemerkte, daß Jack sich in den vergangenen zwei Jahren verändert hatte. Er war dicker geworden, sah aus, als hätte er in seinen Kleidern geschlafen, und runzelte die Stirn, als hätte er Schmerzen. Das silbergraue Haar ließ ihn zwanzig Jahre älter wirken, dabei war er nur fünf Jahre älter als Alec.
"Warum vermuten Sie, daß es Verbindungen gibt?" wurde er gefragt. Jack warf einen Blick nach hinten, bevor er antwortete. "Quellen innerhalb des FBI liefern uns Grund zu der Annahme, daß der damals angeblich erschossene Agent noch am Leben ist", erwiderte er umständlich. "Du mieser Kerl..." flüsterte Alec. Auch die Reporterin wirkte erschüttert. Das Mikrofon zitterte. "Am Leben? Wie konnte das FBI einen derartigen Fehler begehen?" "Manche Fehler werden absichtlich begangen", sagte Jack ohne jede Spur von Ironie: "Und Sie glauben, es gibt eine Verbindung zwischen dem Agenten und Cait Wilson?" Alec kam es vor, als würden Jacks Augen sich durch Kamera und Fernseher hindurch in seine bohren. Er fühlte, wie Cait fröstelte, und legte den Arm um ihre Taille. "Das FBI hat aus gut informierter Quelle erfahren, daß MacLaine möglicherweise lebt. Dieselbe Quelle vermutet, daß MacLaine selbst der Ingenieur hinter dem Überfall auf die WHO war", sagte Jack. Entsetzt packte Cait Alecs Schulter, und er legte die Hand auf ihre. "Wir gehen diesen Vorwürfen mit gewohnter Gründlichkeit nach und überprüfen die üblichen Quellen", verkündete Jack mit ernster Stimme. Alec murmelte etwas Unverständliches. "Sollen wir also annehmen, daß dieser Ex-Agent... Alec MacLaine ... Miss Wilson und ihr Baby entführt hat, weil sie die Geiselnahme überlebt hat und ihn identifizieren könnte?" fragte die Reporterin. Auf Jacks Gesicht zeigte sich keinerlei Gefühlsregung. "Zum jetzigen Zeitpunkt ist alles nur Spekulation."
Alec drückte Caits Hand so fest, daß es weh tat, aber sie entzog sie ihm nicht. Die Journalistin kam wieder ins Bild. "Polizei und Bundesbehörden werden die Suche nach den Verschwundenen fortsetzen", beendete sie den Bericht. Nach einer Weile schüttelte Cait Alecs Hand ab und schaltete den Fernseher aus. Sie legte die Fernbedienung hin und drehte sich zu Alec um. "Fang mit dem Tag vor der Geiselnahme an und erzähl mir alles, was seitdem passiert ist." Er lächelte verlegen. "Ich soll ganz von vorn anfangen?" "Ja", sagte sie mit Nachdruck. Sie hörte aufmerksam zu, während er alles erzählte, was er wußte. Er begann mit seinen Ermittlungen im rechtsextremistischen Untergrund, schilderte, was er über den WHO-Anschlag herausgefunden hatte, und beschrieb seine Suche nach den Drahtziehern. "Ich wußte also, das jemand im FBI hinter der Geiselnahme vor zwei Jahren steckte. Dann sah ich dich gestern abend im Fernsehen, fuhr sofort zu dir und brachte dich und Allie dadurch in Gefahr", schloß er. Cait nickte. "Es ist alles schrecklich. Aber ich verstehe noch immer nicht, warum jemand deinen Tod wollte." Alec schüttelte den Kopf. "Ich auch nicht. Bis zur letzten Woche hätte ich es keinem der drei Verdächtigen zugetraut. Ich glaubte wirklich, daß wir zusammenarbeiten, um die Neofaschisten im Zaum zu halten." Er ergriff Caits Hand. "Wenn wir auf das Motiv kommen, führt uns das vielleicht zu dem Schuldigen." "Wir wissen, daß es nicht Jack ist", sagte sie mit einem Blick auf den dunklen TV-Bildschirm. "Wir haben ihn gerade gesehen. Er ist nicht der Mann im Anzug, den ich damals sah." "Du hast recht, Cait. Er ist es mit Sicherheit nicht", erwiderte Alec. Plötzlich lächelte er erleichtert. "Es ist... nicht... Jack."
Cait legte die Stirn in Falten. "Aber er hat uns ganz schön was eingebrockt. Du hast ihn gehört. Er hat dich zu meinem Entführer und zum Drahtzieher des WHO-Überfalls gestempelt! Er hat schlimme Sachen gesagt..." "Und äußerst aufschlußreiche." "Wie?" "Cait", begann er, "Partner, die jahrelang zusammenarbeiten, arrangieren einen Code. Und ob dieser Code zwischen zwei Partnern funktioniert, ist oft eine Frage von Leben oder Tod." "Ich verstehe nicht, Alec." Das Glitzern in seinen Augen war ihr nicht entgangen, auch wenn sie den Grund nicht kannte. Zum erstenmal, seit er bei ihr aufgetaucht war, hatte sie das Gefühl, mit ihm in einem Boot zu sitzen. "Er hat mir übers Fernsehen eine Nachricht gesandt und dafür einen Code verwendet, den wir vor Jahren entwickelt haben. Er hat versucht, mich zu warnen", erklärte Alec. Er ließ die Hände an ihren Armen hinaufgleiten und schüttelte sie leicht. "Er hat den Code benutzt, Cait. Jack hat den verdammten Code benutzt." Alec strahlte, als schiene die Sonne zwischen zwei dunklen Wolken hindurch. Dann zog er Cait an sich und küßte sie stürmisch. Cait spürte die Reaktion ihres Körpers in jeder Pore. Alecs Kuß war kein zaghafter Versuch, die Gefühle zwischen ihnen zu testen, sondern der entschlossene Ausdruck von Vitalität, Kraft und triumphaler Männlichkeit. Er ließ sie so plötzlich los, wie er sie an sich gepreßt hatte, und klatschte in die Hände, bevor er nach der Fernbedienung griff. "Ha! Jack hat mir ein Signal geschickt", rief er. Cait stand nur Zentimeter von ihm entfernt, und die Nachwirkung des leidenschaftlichen Kusses durchlief sie noch. Sie strich sich über das Haar und wartete darauf, wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Schließlich holte sie tief Luft und versuchte, Alecs Begeisterung ein wenig zu dämpfen.
"Dieser Jack, der Mann, den du ... den wir beide eben vor meiner Garage gesehen haben ..." Er unterbrach sie. "Verdammt. Ich wußte, daß er es nicht sein konnte. Man arbeitet nicht fünfzehn Jahre mit jemandem zusammen, ohne ihn genau kennenzulernen." "Also ist es einer deiner anderen Freunde?" Verwirrt sah er sie an. "Ich war nur erstaunt, als er vor deinem Haus auftauchte. Er muß versucht haben, mich in Sicherheit zu bringen. Irgendwie wußte er es wohl. Er hat es die ganze Zeit gewußt. Ich frage mich ..." "Alec..." "Er hat das Signal geschickt." Seine Augen strahlten. "Aus dem Film Casablanca. Nehmen Sie die üblichen Verdächtigen fest. Das sagt Louis, damit Rick fliehen kann, um Ingrid Bergman und Frankreich zu retten. Siehst du? Es paßt perfekt. Die üblichen Quellen ..." Cait bekam eine Gänsehaut. "Alec, warum sollte er der Reporterin solche Sachen erzählen?" "Um mich wissen zu lassen, daß er Bescheid weiß. Er ist keine Bedrohung für uns, Cait. Jetzt wird uns jemand helfen." Alec warf die Fernbedienung aufs Bett. "Und was verrät der Code dir, Alec?" "Daß wir untergetaucht bleiben und abwarten sollen. Natürlich kann das alles auch ein Trick sein, aber mein Instinkt sagt mir, daß ich ihm trauen kann." Cait war heilfroh, daß Allie ausgerechnet in diesem Moment nach ihr verlangte. Sie befeuchtete einen Waschlappen und ging zu ihr. Nachdem sie ihrer Tochter Gesicht und Hände abgewischt hatte, hob sie sie vom Stuhl und stellte sie behutsam auf den Boden. Mit heftig klopfendem Herzen beobachtete sie, wie Allie mit langsamen, unsicheren Schritten zu Alec ging und an seinem Hosenbein zog. "Hoch", verlangte Allie. Daß er erst die Mutter mit einem fragenden Blick um Erlaubnis bat, ging Cait ans Herz. Man hatte ihnen so viel
gestohlen. Ein Vater sollte seine Tochter auf den Arm nehmen können, ohne irgend jemanden um Erlaubnis zu bitten. Was sollte sie Allie sagen, wie sie ihren Vater nennen sollte: Alec? Vater? Daddy? Er war ihr Vater, aber er war nicht ihr Daddy. Daddy war eine Anrede, die man sich erst verdienen mußte, die Liebe, Respekt und Vertrauen in sich barg. Sie Wartete, bis er Allie hochnahm und mit den Augenbrauen wackelte, als sie ihn dazu aufforderte. "Okay", begann Cait. "Nehmen wir an, dein Freund Jack ist nicht derjenige, der die Terroristen finanziert hat. Nehmen wir an, daß es einer der beiden anderen Männer war." Allie patschte gegen Alecs Wange. "Davon müssen wir wohl ausgehen", sagte er. "Ich muß mir eine Zeitung besorgen. Falls einer von uns Probleme bekommt und Hilfe außerhalb der üblichen Kanäle braucht, gibt er eine Kontaktanzeige auf." "Wie originell", meinte Cait lächelnd. "Nun ja, wenn etwas funktioniert, ändert man es nicht. Und wenn man keine Hilfe bekommt, hat man wenigstens eine nette Verabredung." "Ist es möglich, daß Jack bei einer so gigantischen Vertuschungsaktion mitmacht?" fragte sie. "Vielleicht hat er es erst jetzt herausgefunden, genau wie ich?" "Aber vielleicht ist er auch daran beteiligt", wandte sie ein und hielt eine Hand hoch. "Nicht unschuldig, nicht böse. Vielleicht hat er uns am Leben gelassen, weil er im Grunde ein guter Mensch ist. Und er will nicht, daß dir etwas zustößt. Deshalb hat er dir signalisiert, daß er dich laufen läßt. Selbst wenn er dazu deinen Namen in den Schmutz ziehen muß." Alec stand reglos da, was Allie gar nicht gefiel. Sie zupfte an seiner Augenbraue und rief immer wieder "Los!".
Cait verbarg ihr Lächeln vor ihm, als er den Wunsch seiner Tochter erfüllte. Plötzlich fiel ihr etwas ein. "Tante Margaret", sagte sie. "Wie?" "Wir müssen Tante Margaret anrufen." Bevor er sie aufhalten konnte, hielt sie den Telefonhörer in der Hand. Doch dann nahm er ihn ihr ab und legte wieder auf. "Du darfst sie nicht anrufen", sagte er leise. "Ich muß. Bestimmt hat sie von meinem Verschwinden gehört und ist krank vor Sorge." "Cait ... Wer immer hinter uns her ist, er wartet nur darauf, daß du dich bei ihr meldest. Es sind FBI-Leute. Ich weiß, wie die arbeiten. Sie liegen längst auf der Lauer, glaub mir." "Aber..." "Cait, wir haben es hier nicht mit Amateurganoven zu tun. Es sind ausgebildete FBI-Agenten", sagte Alec. Cait erblaßte. "Ist sie in Gefahr?" "Nein, ich denke nicht. Aber wir dürfen keine Kontaktaufnahme riskieren. Deinetwegen." "Wir müssen", beharrte sie. "Ich will nicht, daß sie sich sorgt. Außerdem brauchen wir sie." "Warum?" "Sie kann auf Allie aufpassen ..." "Aber wir..." "Falls mir etwas zustößt." Alec verstummte. Allie beugte sich zu ihrer Mutter, und Cait nahm sie auf den Arm. Alec hob Caits Hand an die Lippen, sah ihr in die Augen und küßte ihre Finger. "Ich werde nicht zulassen, daß dir etwas zustößt", schwor er, und sein Atem wärmte ihren Handrücken. Tränen brannten ihr in den Augen. Die Knie wurden ihr weich. "Das kannst du mir nicht versprechen", sagte sie mit unsicherer Stimme.
"Ich verspreche es dir gerade", entgegnete er mit Nachdruck. Eine Träne rann ihr über die Wange. "Mama aua?" fragte Allie und wischte die Träne ab. Cait sah Alec. an. "Ich dachte, du wärest vor zwei Jahren getötet worden. Und du dachtest, ich wäre es. Wenn so etwas nun wieder passiert? Was wird dann aus Allie?" Er ließ ihre Hand los. Sein Gesicht war blaß, sein Blick gehetzt. Er schloß kurz die Augen, öffnete sie und betrachtete Allie. Vorsichtig strich er über die dunklen Locken seiner Tochter, bevor er den Blick zu Cait zurückwandern ließ. "Ich kann niemanden um Hilfe bitten", sagte er leise. "Jack anzurufen kann ich nicht wagen, und es gibt niemanden mehr, dem ich trauen kann." Caits Lippen zitterten, als sie Luft holte. Alecs Worte brachen ihr das Herz.
11. KAPITEL Samstag, 10. November, 16.30 Uhr Alec kniete neben dem Kinderbett, streichelte Allies Rücken und murmelte beruhigende Worte. Er war froh, das tun zu können, denn auf diese Weise konnte er nicht nur die Beziehung zu seiner Tochter vertiefen, sondern auch der Spannung zwischen Cait und ihm für eine Weile entgehen. Er hatte zwei der größeren Zeitungen Washingtons angerufen und ihnen deutliche Hinweise auf die Machenschaften innerhalb des FBI geliefert. Außerdem hatte er die drei wichtigsten TVSender informiert. Die Reporter, mit denen er gesprochen hatte, waren nicht begeistert gewesen, und anders als ihre Kollegen im Film hatten sie sich von ihm fast die ganze Geschichte Wort für Wort diktieren lassen, anstatt selbst nachzuforschen. Trotzdem waren sie skeptisch geblieben. Er hätte wissen müssen, daß in einer Zeit, in der fast jede Woche irgendein Skandal aufgedeckt wurde, eine Vertuschungsaffäre keinen Journalisten vom Hocker riß. Zudem hatte er den Reportern die verlangten Beweise vorenthalten müssen, denn das hätte bedeutet, Cait ihren Verfolgern auszuliefern. Cait bestand noch immer darauf, Allie zu ihrer Tante Margaret zu bringen. Alec war sicher, daß Margarets Haus und
jeder ihrer Schritte rund um die Uhr von FBI-Agenten beobachtet wurden. Doch Cait kannte Margarets Gewohnheiten genau und schlug vor, unauffällig mit ihr Kontakt aufzunehmen. "Montags und freitags arbeitet sie im Tierheim. Wir können dort auf sie warten", sagte sie. Alec runzelte die Stirn. "Es wird klappen, Alec. Sie wird meine Stimme erkennen und kommen. Dauernd nimmt sie Tiere mit nach Hause, um sie zu pflegen. Sie kann Allie in einem Hundetransportkorb mitnehmen. Niemand wird etwas merken." Die Vorstellung, Allie von Cait zu trennen, behagte Alec gar nicht. Abo: er mußte zugeben, daß sie recht hatte. Wenn etwas schieflief und es tatsächlich brenzlig wurde, sollte Allie in Sicherheit sein. Und egal, was Cait oder ihm zustieß, seine "Freunde" hatten keinen Grund, auch Tante Margaret und Allie etwas anzutun. Alec spielte mit Allie, während Cait ihre Tante anrief, sich als gute Freundin ausgab und fragte, ob Margaret etwas über den Verbleib ihrer Nichte wüßte. Wie erwartet erkannte Margaret sie sofort an ihrer Stimme, und es gelang Cait, einen versteckten Hinweis auf ihren Plan zu übermitteln. Sie legte auf, und Alec warf ihr einen fragenden Blick zu. Lächelnd erklärte sie ihm, daß auch Tanten und Nichten Codes und Geheimsignale hatten. Dann nahm sie Allie auf den Arm und drückte sie zärtlich an sich. Alec kam es so vor, als würde sie sich bereits von ihrer Tochter verabschieden. Er kannte Allie erst seit wenigen Stunden, und die Trennung brach ihm fast das Herz. Wie schmerzhaft mußte es da für Cait sein. Erst am Montag würden sie Allie der Tante übergeben. Bis dahin blieben ihnen etwa eineinhalb Tage, in denen sie nichts anderes tun konnten, als zu warten und Zeit miteinander zu verbringen. Alec mußte an die Vergangenheit denken. Auch damals hatten sie nicht mehr als ein paar Tage gehabt.
Als Cait ihm schließlich Allie reichte, drückte er seine Tochter an sich, denn er wollte zwischen ihnen ein seelisches Band schaffen, das ihm helfen würde, die Zeit der Trennung zu überstehen. Allie wurden die Augen immer schwerer, und Alec legte sie behutsam in ihr Bettchen. Sie krümmte den linken Zeigefinger und steckte ihn in den Mund. Alec hielt den Atem an. Er erinnerte sich daran, daß seine Mutter ihm erzählt hatte, er selbst hätte das als Kind auch gemacht. Waren derartige Eigenheiten erblich? Waren Kinder, die am Zeigefinger lutschten, anders als die, die am Daumen nuckelten? Wie würde Allie als Teenager, als junge Frau, als Mutter sein? "Und wenn du zur Schule gehst und jemand dir etwas tut, sagst du es mir, und ich sorge dafür, daß es aufhört", flüsterte er. "Und wenn du jemals reden willst, dir Sorgen machst oder dich einfach nur einsam fühlst, werde ich für dich dasein." Seine gebräunte, mit zahlreichen Kratzern übersäte Hand wirkte auf dem kleinen Rücken riesig. Er hatte stundenlang mit ihr gespielt und wußte inzwischen, daß sie keineswegs so zerbrechlich war, wie sie aussah. Alecs Liebe zu seiner Tochter war so tief und unverbrüchlich, daß er nie wieder der Mann sein würde, der er einmal gewesen war. Dieses Gefühl würde ihn für immer prägen und an dieses kleine Mädchen binden. Cait wehrte sich gegen die Tränen, die ihr in den Augen brannten. Sie hatte jedes Wort gehört, das Alec zu seiner schlafenden Tochter gesagt hatte. In einer heileren Welt würde jedes seiner Versprechen in Erfüllung gehen, sie selbst würde sich an ihn schmiegen und alle Probleme würden sich von allein lösen. Sie würden das Leben führen, von dem sie geträumt hatten. Als Eltern, als Geliebte, als Mann und Frau, als Familie. Niemand würde ihn ermorden wollen. Er würde vergessen, daß er jemals eine Waffe getragen hatte, und alle Übeltäter würden vom Angesicht der Erde verschwinden. "Cait?"
Sie sah den Mann an, der eine Waffe trug, auch wenn er sie oben auf das Fernsehgerät legte, damit Allie sie nicht erreichen konnte. Sie hatte miterlebt, wie er einen Wagen stahl, mit Allie spielte, frühstückte, sie hatte sogar gesehen, wie er sich auszog, und hatte seinen Atem gehört, als er schlief. Aber jetzt fragte sie sich, ob sie ihn wirklich kannte, ob sie den Mann kannte, der er gewesen war, bevor das Schicksal sie zusammengeführt hatte. Vielleicht war es gut, daß sie einander noch so fremd waren. Fremde begegneten einander, lernten sich kennen und manchmal, wenn auch selten, verliebten sie sich sogar ineinander. Sie wußte nicht, was ihr Gesicht widerspiegelte, was ihn zur ihr lockte. Doch er kam langsam auf sie zu, einen festen Schritt nach dem anderen. Plötzlich war ihr klar, daß er sie gleich küssen würde, daß sie ihn wollte, so sehr sie auch fürchtete, nur die Vergangenheit zu wiederholen. Damals waren sie in Gefahr gewesen und hatten sich der Leidenschaft ergeben. Auch jetzt waren sie in Gefahr. Aber es gab Unterschiede. Feine, kleine Unterschiede, aber eben Unterschiede. Sie konnte ihm nicht ausweichen, konnte weder flirten noch schüchtern sein. Zuviel war vor zwei Jahren zwischen ihnen passiert, und zuviel lag jetzt zwischen ihnen, als daß sie sich hätte verstellen können. Er legte die Lippen auf ihre. Der Kuß schmeckte nach Ungewißheit, aber er war auf unbeholfene Weise ehrlich. Sie wußte nicht, welche Erkenntnisse ihm gekommen waren, als er Allie zu Bett gebracht hatte, doch sie begriff, was er vorhatte. Er wollte das dünne Band zwischen ihnen festigen und der Gegenwart ein solides Fundament verleihen. Behutsam zog er sie an sich, und sie erinnerte sich daran, wie perfekt ihre Körper aneinanderpaßten, ihr Kopf an seiner Schulter, sein Mund erreichbar, wenn sie nur die Lippen ein wenig hob, ihr Hals frei für seine Liebkosungen.
Er preßte den Mund dorthin, wo er mit der Zunge ihren rasenden Puls ertasten konnte. Sie erbebte und schaffte es nicht, sich loszureißen. Ihre Finger spreizten sich auf seinem Rücken, ihr Körper schmiegte sich an seinen, und Alec hielt sie fest. "Cait ..." sagte er, und das Verlangen ließ seine tiefe Stimme heiser klingen. "Ich weiß nicht, wie ich die Uhr zurückdrehen soll. Ich wünschte, ich könnte es." "Was geschehen ist, ist Vergangenheit, Alec", erwiderte sie und strich mit zitternden Fingern über sein Gesicht. "Es ist weder gut noch böse, sondern einfach nur vergangen." Er nickte. "Die beiden Jahre, in denen ich sie nicht gekannt habe, zerreißen mich. Haßt du mich, weil ich nicht da war?" "Nein", sagte sie. "Ich könnte dich nie hassen, Alec." "Irgendwie werden wir diese Sache durchstehen," "Die zwei Jahre sind verloren, und wir können nichts tun, um sie zurückzuholen." "Aber ich will dich noch immer, Cait. Das hat überlebt." Seine Hände legten sich fester um ihre Taille. Seine schlichte Offenheit war entwaffnend. Als sie die Lippen hob, war es Frage und Antwort zugleich. Er küßte sie fordernd, fast ein wenig rauh und verzweifelt, als wollte er die Vergangenheit endgültig zur Ruhe legen und diesen Moment zur alleinigen Gegenwart machen. Mit jeder Faser ihres Körpers erwiderte sie den Kuß. Sie fröstelte, als wäre ihr kalt, und zitterte, als hätte sie Angst, doch in Wahrheit war ihr heiß, und sie fühlte sich seltsam ruhig. Es war, als käme sie endlich nach Hause, nicht in das Traumhaus auf dem Land, sondern dorthin, wohin sie immer gehört hatte. In seine Arme, wo sie sein heftiges Atmen hörte, seinen Herzschlag spürte und den unverwechselbar männlichen Duft einsog. Cait wußte nicht, was sie für ihn empfand - dazu waren ihre Gefühle zu verwirrend, zu widersprüchlich. Doch in seinen Armen, die Lippen an seinen, brauchte sie nicht zu denken, nicht
zu analysieren, nicht zu verstehen. Sie ertrank in seinem Kuß, in dem Druck seiner Lippen und Hände, und ließ sich einfach gehen, während die Vergangenheit verblaßte und die Gegenwart feste Gestalt annahm. Mit einem leisen Stöhnen hob er sie auf die Arme und legte sie auf das Bett in der Ecke des Raums, auf das Bett, auf dem sein gleichmäßiges Atmen sie in den Schlaf begleitet hatte. Sie wollte etwas sagen, doch sein Kuß ließ es nicht zu. Worte waren überflüssig, während ihre Körper sich aneinander rieben und das Verlangen steigerten. Langsam, als fiele es ihm schwer, sich von ihrem Mund zu lösen, küßte er ihr Kinn und den Hals, bis er zu ihren zitternden Lippen zurückkehrte und dann ihre Schulter küßte, so daß sein heißer Atem die empfindliche Haut durch die Bluse hindurch erwärmte. Sie bog sich ihm entgegen und schloß die Augen. "O Cait ..." hauchte er zwischen ihre vor Erregung fast schmerzenden Brüste. Plötzlich hielt er inne und hob den Kopf. Sie schlug die Äugen auf und sah den gezügelten Hunger in seinem Blick. Ihn jetzt zu berühren hieß, ihm das Ausmaß ihres Verlangens zu zeigen. Nach ihm zu greifen bedeutete, ihn in dieser seltsamen Gegenwart zu empfangen, den Verlust der letzten zwei Jahre zu akzeptieren und zuzugeben, daß das, was sie damals gefunden hatten, unwiederbringlich begraben war. Ihn nicht zu berühren, würde sie zur ewigen Ungewißheit verdammen. Langsam hob sie die immer heftiger zitternden Finger an sein Gesicht, und sie ließ die Augen geöffnet. Sie sah, wie er seine schloß, als würden ihre Fingerspitzen ihn verbrennen. Sie spürte, wie an seinen Wangen Muskeln zuckten und sich spannten. "O Alec ..." flüsterte sie. Er lächelte mit geschlossenen Augen, und sein Gesicht bewegte sich unter ihren Fingern.
Sein Lächeln und die Tatsache, daß sie es zugleich sah und fühlte, ließen sie jede Vernunft vergessen. Alles, was sie in den beiden vergangenen Jahren an Einsamkeit erlebt hatte, hinderte sie daran, an seinem Sweatshirt zu zerren und die Hände in die intensive Hitze zu tauchen, die darunter herrschte. Aber nichts auf der Welt hätte sie jetzt noch aufhalten können. Reglos lag er neben ihr, mit ernstem Gesicht, den Blick auf ihres gerichtet und voller Fragen. Alec spürte sein Herz, wie er es noch nie gespürt hatte. Es schien gegen die Rippen zu hämmern, und seine sonst so sicheren Hände zitterten wie die eines Teenagers beim allerersten Kuß. Caits Augen hatten sich vor Verlangen verdunkelt. Ihre Lippen waren voll und feucht, eine Einladung und ein Befehl, dem er ohne Zögern gehorchte. Er war absolut sicher, daß alles, was in seinem Leben geschehen war, ihn zu genau diesem Moment geführt hatte. Was immer sie damals in der engen Besenkammer gefunden und wieder verloren hatten, es spielte keine Rolle mehr. Nur das Hier und Jetzt war von Bedeutung, der seidige Druck von Caits Finger an seinen bloßen Armen, der süße Geschmack ihrer taufrischen Lippen, die Leidenschaft, die sie nur mühsam zügelte. Dies alles ließ die Vergangenheit verblassen. Blinzelnd schloß sie die Augen und krallte die Finger in seine Haut, während er über ihr zu schweben schien. Ihr Körper bog sich seinem entgegen, berührte ihn und steigerte seine Erregung, bis er an nichts anderes mehr denken konnte. Er murmelte eine Verwünschung und legte den Arm um Caits Schultern, um sie festzuhalten. Sie flüsterte etwas, doch er verstand es nicht. Alec zögerte, wartete auf eine Erklärung, doch sie packte seine Schultern und preßte ihn an sich. Er war dankbar für das milde Licht, denn er wollte sie sehen, wollte mit ihr im Jetzt, in der Gegenwart leben.
Damals hatten sie ihrer Leidenschaft nur in der Dunkelheit freien Lauf gelassen. Er wollte ihr Gesicht betrachten, ihren wunderschönen Körper, wollte sehen, wie sie auf seine Küsse und Berührungen reagierte. Zwei Jahre zuvor hatten sie nie gewagt, einander bei Licht zu berühren. Die Dunkelheit hatte ihnen Sicherheit gegeben. Wenn sie einander nicht sehen konnten, konnte es auch kein anderer. Hier, im Licht, hinter verschlossener Tür, während das Baby fest schlief, konnte er sie mit seinen Zärtlichkeiten zum Seufzen, zum Stöhnen, zum Aufschreien bringen. Und sie konnte sehen, wie sehr er sie begehrte, wie lebendig sie ihn sich fühlen ließ. Alec ließ sie vorsichtig auf das Bett zurückgleiten. Sie starrte zu ihm hinauf, und ein halb verlegenes, halb erwartungsvolles Lächeln umspielte ihre glänzenden Lippen. Es war gut, nichts als die Gegenwart zu brauchen, doch die Vergangenheit ließ sich nicht ignorieren, war nicht auszuschalten wie das Licht, über das er jetzt froh war. "Cait, es tut mir so leid..." Ihre Finger schlössen sein Mund, und er begriff, daß sie ahnte, was er hatte sagen wollen. "Als wir vor zwei Jahren zusammen waren", flüsterte sie, "fanden wir eine Leidenschaft, die die Angst vertrieb. Sie war wie eine Droge ..." "Ein wundervolles Betäubungsmittel." "Ja, genau das. Wir wußten, daß wir sterben würden, und die Leidenschaft nahm uns die Todesangst." Alec wagte kaum zu fragen, zu hoffen. "Und jetzt?" "Und jetzt sind wir zusammen." Er wollte nachfragen, wie sie das meinte und was sie damit alles nicht sagte, doch sie ließ ihre Hand in seinen Nacken gleiten und zog ihn nach unten, bis seine Lippen ihre berührten. Ihre Finger schoben sich in sein Haar, und die Gänsehaut, die
das auslöste, verankerte ihn fester in der Gegenwart, als alle Worte es vermocht hätten. Cait wollte weder Logik noch Erklärungen. Instinktiv begriff sie, wie unsicher das Hier und Jetzt war, wie dünn das Band, das Alec und sie einte. Sie hatte schon viel zuviel verloren, sie verdiente ... sie beide verdienten diesen wertvollen Moment. Wenn Allie erwachte und Essen und Zuwendung benötigte, wenn sie Tante Margaret trafen, wenn Pläne geschmiedet werden mußten, dann würde Zeit genug sein, die Vergangenheit zu studieren und sich dem zu stellen, was sie an Fragen, Erinnerungen und Vorwürfen bereithielt. Jetzt wollte sie nur seinen Körper an ihrem und seine Hände, die sie bis zur Besinnungslosigkeit erregten. Wie er es immer gekonnt hatte, so las er auch jetzt ihre Gedanken und rollte sich über sie hinweg, so daß er neben ihr lag. Mit unsicheren Fingern öffnete er die Knöpfe an ihrer Bluse, ließ die Bluse selbst jedoch noch geschlossen, als wollte er den Augenblick hinauszögern, in dem er sie sah und berührte. Als er damit fertig war, zog er die Bluse aus der Hose und lächelte zufrieden. Er hob den Blick und schaute ihr in die Augen, während er das störende Kleidungsstück von den Schultern schob und an den Armen hinabgleiten ließ. Er sah sie auch dann noch nicht an, als er ihren BH öffnete, die zarten Träger zur Seite schob und die letzte Barriere zwischen ihnen beseitigte. Erst jetzt senkte Alec den Blick, doch wie zuvor, als er sie nur geküßt hatte, hob er auch jetzt nicht die Hände, um sie zu berühren. Sie verstand es, obwohl es sie frösteln ließ. Er wollte sie betrachten, sich ihren Anblick einprägen, um ihr Bild so in sich aufzunehmen, wie er es im Dunkeln mit ihrem Körper getan hatte. Ihre Knospen wurden fest, und ihre Brüste schienen anzuschwellen, und das Verlangen nach seiner Berührung wurde fast schmerzhaft. Alec legte die Hände auf ihre Schultern,
packte sie einen Moment lang und ließ sie los, um mit den Fingern an ihren Armen hinunter und wieder hinauf zu streichen, und dann weiter bis zum Hals und hinab zu den Brüsten. Er umfaßte sie zärtlich und rieb mit den Handflächen sanft über die Knospen. Cait erbebte und schloß die Augen, als Alec sie behutsam anhob, die Lippen um eine Knospe legte und sie mit heißer Zunge gekonnt liebkoste. Mit erfahrenen, aber zärtlichen Händen massierte er ihren Rücken und versetzte ihren Körper in einen sanften Rhythmus, dem sie sich ganz natürlich anpaßte. Er vertiefte seine Liebkosung und ließ Zunge und Lippen zwischen den festen Spitzen wandern. Mit einem Aufstöhnen glitt er schließlich über sie, und sein Blick erfaßte jeden Quadratzentimeter ihrer erhitzten Haut. "Du bist so unglaublich schön", sagte er. Sie glaubte es ihm und spürte die Macht, die seine Worte ihr verliehen. Das Verlangen durchströmte sie, und ihre Beine wurden weich, so sehr sehnte sie sich danach, ihn zu spüren. Vor zwei Jahren hatte ihre ungestüme Reaktion auf Alec sie entsetzt. Danach hatte sie sie auf eine Art Gefängniskoller und auf das Bedürfnis zurückgeführt, einem Mitgefangenen nahe sein zu wollen. Damals hatte sie nur zwei Möglichkeiten gehabt: vor Angst verrückt zu werden oder sich in einen Traum zu flüchten. Aber jetzt träumte sie nicht, und sie war auch keine Gefangene. Das Licht brannte, und sie konnte das Zimmer jederzeit verlassen. Nur die Leidenschaft, die sie gepackt hatte und nicht mehr freigab, war dieselbe. Alec war von Caits Sinnlichkeit so fasziniert wie von ihrer Leidenschaftlichkeit, und als er die bunte Palette von Gefühlen über ihr Gesicht huschen sah, wollte er alles an ihr sehen. Er wollte alles über sie wissen. Er zwang sich zur Geduld und hielt den Atem an, damit seine Hände nicht zitterten, als er ihre Hose öffnete. Sie erbebte unter seiner Fingern, und er hauchte ihren Namen.
Draußen lauerte die Gefahr wie ein Wolfsrudel, das zuschlagen würde, sobald sie unvorsichtig wurden. Doch als er Caits Finger an seinem Gürtel fühlte, kam es ihm vor, als wäre die Gefahr nicht mehr vor der Tür, sondern hier, im Zimmer. Eine andere Art von Gefahr, sicher, aber eine, die die Zukunft ebenso ungewiß machte. Sie konnten aufhören, diesen süßen Wahnsinn abbrechen und versuchen, zusammen eine Zukunft aufzubauen. Das wäre vernünftig. Verantwortungsvoll. Klug. Ihre Hand glitt in seine Shorts und umfaßte ihn. Er stöhnte auf und glitt von ihr herunter, um an ihrer Hose zu zerren. Sie saß locker, daher hatte er keine Mühe, sie ihr auszuziehen und auf das andere Bett zu werfen. Sekunden später folgte seine eigene. Es gab soviel, das er für sie tun wollte. Er wollte sie schmecken, sich beherrschen, sich die ersehnte Erfüllung versagen, um sie zu verwöhnen. Aber Cait spreizte die Beine und bat ihn mit heiserer Stimme, ganz zu ihr zu kommen und mit ihr alle Hemmungen abzulegen und sämtliche Ängste zu vergessen. Alec schaffte es nicht, ihrem Flehen zu widerstehen. Er stützte sich auf beide Arme, sah ihr in die Augen, brauchte sie, wollte sie und fürchtete plötzlich, die Vergangenheit zu verlieren, ohne eine sichere Zukunft zu haben. "Bitte", murmelte sie und legte die Hände an seine Hüften, um ihn nach unten zu ziehen. Er seufzte laut und noch während er vor Erregung zu zittern begann, fiel ihm etwas ein. Die Realität traf ihn wie eine eiskalte Dusche, und hastig richtete er sich auf. "Was ..?" Cait streckte die Arme nach ihm aus. "Allie", sagte er. "Die schläft." Er rieb sich die Stirn. "Nein. Das weiß ich. Aber das letzte Mal... haben wir nicht.,., und du bekamst Allie."
"Oh, ich verstehe", flüsterte Cait. Alec hätte schwören können, daß ihre Stimme einen belustigten Unterton aufwies. Erstaunt beobachtete er, wie sie über das Bett rutschte und in Allies Windeltasche wühlte. Dann hielt sie ein kleines Päckchen hoch und wartete. Er griff danach, und sie legte es ihm in die Hand. Er sah sie an. "Ich war Pfadfinderin", sagte sie. "Ich dachte, nur die männlichen Kameraden sollen allzeit bereit sein", erwiderte er lächelnd. "Meine Hände zittern so sehr, daß ich das verdammte Ding nicht aufbekomme." "Meine etwa nicht?" fragte sie. "Und wenn ich es öffne und du ... den Rest erledigst?" "Vertraust du mir?" Sämtliche Verlegenheit verflog schlagartig. "Ja", antwortete er, ohne hinzuzufügen, daß sein Vertrauen in sie sich auf alles erstreckte, was das Leben für sie beide bereithalten mochte. Rasch riß er die Hülle mit den Zähnen auf. Cait lächelte nicht mehr, als sie sie ihm abnahm, und Alec stöhnte auf, während sie die nüchterne Notwendigkeit zu einem sinnlichen Erlebnis werden ließ. Danach packte er sie und drückte sie aufs Bett. Sein leidenschaftlicher Kuß war ein vertrauensvolles und dankbares Bekenntnis zur Gegenwart. Er wollte Cait so sehr, daß es schmerzte, doch sie sollte dieses Begehren teilen, die Finger in seine Schultern krallen, ihn an sich ziehen, bis es kein Zurück mehr gab. "Alec ..." flüsterte sie ihm ins Ohr und bog sich ihm entgegen, um soviel wie möglich von seiner nackten Haut an ihrer zu spüren. Sie tastete über die Narben, die seine Wunden hinterlassen hatten, und sie erschreckten sie nicht mehr. Sie gehörten zu ihm wie alles andere. Dies war der Moment, dies war ihre Zeit. Die Nacht konnte etwas Grauenvolles bringen, der Morgen eine verzweifelte
Flucht, die Zukunft eine unbekannte Leere, doch jetzt schickten seine Küsse sie an Orte, von denen sie bisher nur geträumt hatte. Alec umfaßte ihre Brüste und liebkoste die festen Knospen mit der Zunge. Mit den Händen strich er über ihre Kurven, bis sie sich am Laken festhalten mußte. "Oh, bitte ..." flehte Cait noch einmal und packte seine Schultern. Ihre Blicke trafen sich. Wie sie, so war auch er verloren in einer Welt der Leidenschaft, in der es nur Spüren, Fühlen, Schmecken und Riechen gab. Er glitt in sie, und sie drängte sich ihm entgegen. Er drang tief in sie ein und verharrte dort, ohne sich zu bewegen. Alec sagte nichts, und Cait war ihm dankbar dafür. In diesem Moment, in diesem absolut perfekten Moment, waren Worte vollkommen überflüssig. Alec und sie verständigten sich auf eine Weise, die keiner Sprache bedurfte. Selbst Gesten und Blicke waren unnötig, denn es war, als wären ihre Gefühle verschmolzen. So begrenzt dieser Moment auch sein mochte, solange er dauerte, waren sie in jeder Hinsicht eins. Er preßte seine Lippen auf ihre und begann sich ganz langsam in ihr zu bewegen. Sie hob die Hüften, berührte seine und fand einen Rhythmus, der so natürlich war wie die Hitze im Sommer und der Schnee im Winter. Cait wollte nicht, daß dieser Moment endete. Sie wollte für immer seinen nackten Körper an ihrem fühlen, seinen Atem an ihrem Hals, den langsamen, unwiderstehlich erregenden Rhythmus. Sie schlang die Beine um ihn und umklammerte seine Schultern, als könnte sie ihn jeden Augenblick verlieren. Er steigerte das Tempo, bis ihr vor Leidenschaft schwindlig wurde. Sie wollte es hinauszögern, konnte es jedoch nicht mehr. Plötzlich stöhnte Alec auf, er drang noch tiefer in sie ein und rief ihren Namen. Dann erstarrte er, selbst sein Atem verstummte, und in die Stille hinein erklang ihr lustvolles Seufzen.
Über die Zukunft würde sie sich später Gedanken machen. Sie würden Tante Margaret treffen. Allie würde Nahrung und frische Windeln brauchen. Erst dann würde sie in die Welt mit all ihren Pflichten und Gefahren zurückkehren. Bis dahin würde sie sich an Alecs Schulter ausruhen, seinen Atem und seinen Herzschlag spüren. An ihn geschmiegt konnte sie die Vergangenheit und alles, was sie trennte, vergessen. Die Zukunft mit ihren vielfältigen Problemen würde früh genug einsetzen. Sie brauchte keine Träume und Phantasien über Alec mehr, dieser Moment war herrlich genug. "Alec?" "Hm?" "Wie lautet dein zweiter Vorname?" fragte sie. Er schmunzelte leise, dann hielt er den Atem an und legte die Arme fester um sie. "Woher weißt du das?" flüsterte er. "Woher weiß ich was?" "Daß ich eins am meisten bereue ... nämlich, daß ich dir damals nicht meinen zweiten Vornamen genannt habe." "Und? Wie lautet er?" "Francis", sagte er. "Alec Francis MacLaine." Cait lächelte und küßte ihn auf die Brust. "Kein Wunder, daß du ihn mir verschwiegen hast. Er ist schrecklich." Lachend glitt er über sie und drückte sie aufs Bett. "Schrecklich?" "Ja." "Und das hier?" fragte er, während er seine Hand an ihr hinabwandern ließ. "Herrlich."
12. KAPITEL Montag, 12. November, 9.45 Uhr In der Sicherheit ihres Motelzimmers in Sterling, Virginia, konnte Alec es sich erlauben, die Zukunft zu ignorieren und die Gegenwart zu genießen. Caits anmutiges Lächeln und das fröhliche Spiel mit seiner liebenswerten Tochter ließen ihn die draußen lauernde Gefahr vergessen. Immer wieder brachte er Allie zum Lachen, und der unbeschwerte Klang der hellen Kinderstimme half ihm, eine Weile nicht daran zu denken, daß er sie morgen für immer verlieren könnte. Während Alec Allie auf seinen Knien wippen öder an den ausgestreckten Armen baumeln ließ, ging Cait sämtliche Daten durch, die er auf seinem Laptop gespeichert hatte, und suchte nach einem Hinweis, der ihnen einen Grund für ihre gefährliche Lage liefern konnte. Alec und sie hatten stillschweigend vereinbart, nicht über das FBI, die Terroristen oder die nächste Woche zu reden. Er brauchte nur dem hastigen Klappern der PC-Tastatur zu lauschen, und sie spürte seine Anspannung jedesmal, wenn der Zimmerkellner an die Tür klopfte oder der Schatten eines anderen Motelgastes am Fenster vorbeihuschte. Sie sprachen auch nicht über die Vergangenheit, sondern unterhielten sich über Filme, die sie gesehen, Bücher, die sie
gelesen, und Orte, die sie besucht hatten oder noch besuchen wollten. Und in der Nacht, während Allie in ihrem Bettchen schlief, taten sie so, als hätten sie alle Zeit der Welt, und erkundeten voller Zärtlichkeit und Harmonie ihre Körper. Und wenn ein Lachen manchmal gezwungen klang oder sich ein Anflug von Angst auf einem Gesicht zeigte, so sagte der andere nichts dazu, denn dies waren gestohlene Momente, Zeiten ohne Anker. Keiner von ihnen schlief viel in den wenigen Stunden, die ihnen bis zum Montag morgen blieben. Aneinandergeschmiegt lagen sie da, als wollten sie sich niemals voneinander trennen. Während sie in der Abgeschiedenheit des Motelzimmers ein wenig Ruhe und Frieden genossen, ging draußen das Leben weiter, als wäre nichts geschehen. Die Tips, die Alec den Medien gegeben hatte, waren noch nicht zu Schlagzeilen in den Zeitungen oder Topmeldungen der Nachrichtensendungen geworden. Kein Polizist hatte den gestohlenen Wagen bemerkt. Und die Nachricht von Jack King war bisher nicht in den Kontaktanzeigen aufgetaucht. Doch der Montag morgen ließ sich nicht hinauszögern. Bald würde er seine kleine Tochter .an Caits Tante übergeben müssen. "Cait..." flüsterte er. Ihr warmer Rücken schmiegte sich an seine Brust, und er mußte seinem Körper befehlen, ruhig zu bleiben. "Bist du ganz sicher, daß du Allie bei deiner Tante lassen willst?" Sie schwieg einige Sekunden lang. "Wie kann ich mir über irgend etwas sicher sein, Alec?" entgegnete sie leise. "Ich weiß nur, daß ich sie nicht bei mir haben will, wenn jemand mich umzubringen versucht. Ich will nicht, daß ihr etwas zustößt." Er zog sie an sich und küßte ihre Schläfe. "Es tut mir alles so leid, Cait... Wenn wir das hier erst hinter uns haben ..." Sie löste sich aus seinen Armen und drehte sich zu ihm um. Eine Träne lief ihr über die Wange. "Sprich nicht von der
Zukunft, Alec. Bitte, mach keine Versprechungen." Mit zitternder Hand streichelte sie seine Wange, als wollte sie ihren Worten den Stachel nehmen. Manchmal ist ein Versprechen alles, was ein Mann geben kann, dachte Alec. "Ich liebe dich, Cait." Sie sagte nichts. Sie schloß nur die Augen, als bereitete sein Geständnis ihr nicht Freude, sondern Schmerz. "Ich will, daß wir zusammen eine Zukunft haben, Cait. Eine richtige Zukunft. Ein Zuhause ..." "Hör auf!" rief sie und schlug die Hände vors Gesicht. Hastig stützte er sich auf einen Arm und schob ihre Finger zur Seite. "Cait?" "Hör auf, Alec, hör einfach auf!" "Was ist denn?" Sie sah ihn an. "Cait..." "Du kannst nicht von der Zukunft reden. Wir haben ja nicht einmal eine Vergangenheit, verdammt. Du sagst, du liebst mich, aber du kennst mich gar nicht. Ich kenne dich nicht!. Vor zwei Tagen bist du deiner Tochter zum erstenmal begegnet. Tage, Alec. Mehr hatten wir damals nicht, mehr haben wir jetzt nicht. Eine Handvoll gestohlener Minuten, mehr nicht. Wie soll ich da von der Zukunft reden?" "O Cait..." "Minuten, Alec. Minuten voller Angst, daß gleich die Tür aufgebrochen wird und unsere Verfolger hereinstürmen. Minuten, von denen jede unsere letzte sein kann. Du magst das gewöhnt sein, du bist für so ein Leben ausgebildet und genießt es vielleicht sogar. Aber ich kann so nicht leben. Ich hasse es. Ich hasse es, begreifst du das? Heute übergebe ich Allie an Tante Margaret, weil ich Angst habe, eine entsetzliche Angst, weil sie in Gefahr ist, wenn sie bei dir und mir ist. Und du sagst, du liebst mich. Alec, Liebe ist im Moment ein Luxus, den wir
uns nicht erlauben können. Alles, woran ich denke, ist Überleben, damit ich Allie bald wieder in den Armen halten kann." Schluchzend versuchte sie, ihn von sich zu schieben. Er zog sie an sich, und ihre Tränen brachen ihm das Herz. Sie weinte nicht nur tun Allie, sie weinte auch, weil Alec gesagt hatte, daß er sie liebte. Wie oft hatte sie davon geträumt, genau diese Worte zu hören und sie zu erwidern? Sie glaubte es ihm. Aber es gab keine Zukunft für sie beide. Selbst wenn sie den Anschlag eines offenbar wahnsinnigen FBIAgenten überlebten, wie konnten sie und ihre Tochter mit einem Mann Zusammensein, dessen Alltag aus Gefahr, Angst, Kugeln und Waffen bestand? Er mußte verstehen, daß Windeln und Waffen sich nicht vertrugen. "Es wird alles gut, Cait", flüsterte er und tröstete sie mit zärtlichen Küssen auf Stirn und Wangen, als wäre sie ein kleines Kind, dem eine Katastrophe das unschuldige Vertrauen geraubt hatte. "Ich verspreche es dir, es wird alles gut", wiederholte Alec. Aber Cait wußte, daß er log. Die Fahrt durch die wunderschöne Landschaft Virginias verlief ruhig und ereignislos. Man hätte sie für ein glückliches Ehepaar halten können, das mit seiner Tochter einen Ausflug unternahm, wäre da nicht die spürbare Anspannung gewesen, die keine Sekunde nachließ. Obwohl Cait nicht glaubte, daß Alec ihr wirklich versprechen könnte, alles würde gut werden, klammerte sie sich an seine Worte. Und unbewußt auch an ihn. Die Meilen bis Kitty Hawk, North Carolina, schienen vorbeizufliegen, und bald konnte sie die salzige Luft des Ozeans riechen und die graublauen Gräser sehen, hinter denen die feinen weißen Sandstrände lagen. Obwohl zu dieser Jahreszeit kaum Touristen hier waren, flogen die Möwen die Highways ab,
um nachzusehen, was diese herbstlichen Besucher für Leckereien mitgebracht hatten. Nag's Head, das im Frühjahr und Sommer Tausende von Touristen anlockte, wirkte selbst an grauen und kalten Tagen malerisch und romantisch. Die Fensterläden der Strandhäuser waren geschlossen, und auch die eleganten Ferienwohnanlagen am Wasser sahen verlassen aus. "Selbst in Grau sieht es hier wunderschön aus", sagte Alec, und daß er ihre Gedanken lesen zu können schien, faszinierte Cait auch diesmal. Er lächelte, aber auch das vertrieb die Trauer nicht aus seinem Gesicht. Bevor sie die Grenze zu Virginia überquert hatten, hatten sie auf dem Parkplatz eines Shopping-Centers einen weiteren Wagen gestohlen. Dreißig Meilen später besorgte Alec Nummernschilder und brachte sie an. In einem Warenhaus kauften sie Perücken, ein paar Kleidungsstücke, einige Sachen für Allie, einen Tiertransportkorb und einen verblüffend echt aussehenden Spielzeughund, der sich bewegte, wenn man auf den Knopf an seinem Bauch drückte. Allie war sofort hingerissen. Alec fuhr mehrmals durch den Ort, um sicher zu sein, daß das FBI sie nicht bereits erwartete. Vorsichtshalber überließ er Cait drei Blocks vom Tierheim entfernt das Steuer. Er half ihr, die schlafende Allie in den Transportkorb zu legen, stieg aus und ging mit dem zappelnden Spielzeughund auf dem Arm die Straße entlang. Cait atmete tief durch und fuhr los. Es fiel ihr schwer, nicht zu bremsen, als sie Alec einholte, und noch schwerer, nicht in den Rückspiegel zu starren. Selbst sie, die seit zweieinhalb Tagen jede Minute mit ihm verbrachte, erkannte ihn kaum wieder. Sie konnte nur hoffen, daß ihre Tarnung so gut war wie seine. Die honigblonde Perücke reichte ihr bis zum Hals, außerdem trug sie eine schlichte Brille mit Drahtgestell und Fensterglas.
Cait hielt vor dem Tierheim, holte den Transportkorb mit ihrer schlafenden Tochter vom Rücksitz und steuerte den Eingang an. Alec hatte ihr klare Anweisungen erteilt. "Ein Beobachter wird darauf warten, daß jemand sich auffällig und ungewöhnlich benimmt. Wer wirklich nur ein Tier ins Heim bringt, wird sich nicht ängstlich umsehen, sondern so schnell wie möglich das Haus betreten. Wenn du erst drin bist, kannst du dich kurz umschauen, aber nur kurz. Geh einfach am Empfang vorbei, als wärest du dort zu Hause. Niemand darf dich aufhalten und ausfragen." Sie schaffte es ins Tierheim, ohne Allie zu wecken, und tat genau das, was Alec ihr geraten hatte. Am Empfang warteten zwei andere Besucher. Ob einer davon ein FBI-Agent war, konnte sie nicht wissen. "Wir holen sie zurück", hatte Alec gesagt. Cait dachte immer wieder an dieses Versprechen, während sie den unbesetzten Empfangstresen umrundete und nach hinten ging. Am liebsten wäre sie einfach durch das Tierheim marschiert und hätte es durch die Hintertür verlassen, ohne sich noch einmal umzuschauen. Sie widerstand dem Wunsch, Allie aus dem Korb zu nehmen und an sich zu drücken. Am Ende des Korridors bog sie nach links ab und betrat den Raum mit den Käfigen. Cait versuchte, die Ohren vor dem Lärm der etwa fünfzig Hunde und Katzen zu verschließen. Sie war innerlich so angespannt, daß sie fast an ihrer Tante Margaret vorbeigegangen wäre. "O Gott, Cait, ich bin vor Sorge fast gestorben!" Caits Tante Margaret sah ihrer Nichte so ähnlich, daß Alec sie sofort erkannte, als sie ihm den Zutritt zu den hinteren Räumen des Tierheims verwehrte. "Ich fürchte, Sie werden hier vorn warten müssen, Sir", sagte sie höflich, aber bestimmt. "Ich bin Alec MacLaine", erwiderte er.
Sie musterte ihn gründlich, bevor sie sich umdrehte und ihn in ein winziges Büro bat. Dort saß Cait auf einem Stuhl und wiegte Allie auf den Armen. Ihre Augen waren geschlossen, und sie weinte. Was habe ich getan? dachte Alec. Weil er sie unbedingt hatte wiedersehen wollen, hatte er sie in große Gefahr gebracht. "Sie sind sehr gründlich", sagte ihre Tante. "Sich mit einem Hund zu tarnen, war eine sehr gute Idee." "Es ist ein Spielzeug." Er reichte ihr das Stofftier. "Es sieht echt aus. Und vermutlich ist es auch intelligenter als seine lebenden Brüder. Lhasas sind zwar süß, aber entsetzlich dumm." Sie tätschelte das Spielzeug und stellte es auf den schäbigen Schreibtisch. Dann streckte sie die Hand aus. "Margaret McBride." "Danke, daß Sie uns helfen", sagte er und schüttelte ihre Hand. Tante Margaret schloß die Tür und stellte sich schützend neben ihre Nichte, ohne Alec aus den Augen zu lassen. "Für einen Toten sehen Sie bemerkenswert gesund aus", sagte sie kühl. Er wußte, worauf sie hinauswollte. "Ich dachte, Cait wäre tot, Miss McBride. Als ich erfuhr, daß sie noch lebt, kam ich sofort nach Washington. Leider scheinen einige Leute mich wirklich tot sehen zu wollen. Und sie folgten mir zu Cait." Ein FBI-Verhörspezialist hätte nicht mißtrauischer blicken können als Caits Tante. Sie betrachtete ihn ausgiebig und verzog dabei keine Miene. Als sie ihre Nichte ansah, hatte Alec das Gefühl, eine Prüfung bestanden zu haben. Nicht gerade mit den besten Noten, aber immerhin war er nicht durchgefallen. "Sie wollen sie bei mir in Sicherheit bringen?" fragte sie. "Nur Allie", antwortete Cait, bevor Alec es tun konnte. . Margaret McBride spitzte die Lippen und schüttelte den Kopf. "Nein. Ich lasse nicht zu, daß du mit ihm gehst, Cait."
Cait lächelte. "Ich muß, Tante Margaret." Ihr Gesicht glänzte feucht, doch die Augen waren wieder trocken. "Sie könnten über mich an Alec herankommen." "Es ist mehr als das", warf Alec ein. "Wenn man sie findet, wird man ihr nicht glauben, daß sie nicht weiß, wo ich bin." "Die Polizei?" "Das FBI, Tante Margaret." Cait setzte sich die langsam erwachende Allie auf den Schoß. "Aber sie werden nicht annehmen, daß Allie etwas weiß." "Kätzchen?" fragte Allie, die den selbst im Büro herrschenden Tiergeruch richtig deutete. "Kätzchen hier?" "Gleich, Liebling", sagte Tante Margaret. "Und was ist mit mir? Warum sollte das FBI nicht annehmen, daß ich weiß, wo ihr seid?" "Weil es nicht erfahren wird, daß wir hier waren", antwortete Alec. "Und es wird auch nicht erfahren, daß Allie bei Ihnen ist." "Ich bin eine recht intelligente Frau, Mr. MacLaine ..." "Alec." Sie nickte. "Ich sehe noch nicht recht, wie ich auf Dauer ein Baby verstecken kann." "Das brauchen Sie auch nicht. Wenn alles klappt, holen wir Allie in ein paar Tagen wieder ab", versprach er und skizzierte ihren Plan. Dann erklärte er ihr noch, wie sie Abhörgeräte aufspüren und unschädlich machen konnte. Sie sah von ihm zu Cait. "Die Vorhänge geschlossen lassen. Darauf achten, ob meine Lampen und Elektrogeräte plötzlich andere Knöpfe haben. Den Fernseher dauernd laufen lassen. Tiergeräusche vom Band. Na gut, das kann ich alles tun. Meine Nachbarn werden zwar denken, ich wäre komplett verrückt geworden, aber das ist nichts Neues. Ich verstehe bloß nicht, warum Cait Sie begleiten muß. Wir könnten bei ihr doch denselben Trick verwenden." "Ich passe nicht in einen Hundekorb", scherzte sie, aber niemand lachte.
Einen Moment lang herrschte Schweigen. "Wir müssen gehen, Cait", sagte Alec sanft. Er wünschte, er könnte mehr Zeit mit Allie verbringen, und er wußte, daß der Abschied von ihrer Tochter Cait das Herz brach. Aber es würde auffallen, wenn sie noch länger im Tierheim blieben. Cait stand auf und hob Allie an die Schulter. "Gib mir einen Abschiedskuß, Süße. Du wirst eine Weile bei Tante Margaret bleiben und ... kannst dir all die Hundebabys und Kätzchen ansehen." "Kätzchen!" rief Allie fröhlich. Alec spürte einen bis dahin unbekannten Schmerz. Er war Vater, und daß er nicht in der Lage war, seiner kleinen Tochter eine heile Welt zu schaffen, machte ihn trauriger als je zuvor. Als Cait aufschluchzte, legte er den Arm um sie und zog sie tröstend an sich. "Ich begleite euch hinaus", sagte Tante Margaret. "Nein!" riefen Alec und Cait gleichzeitig, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Er wußte, daß Cait gehen wollte, ohne sich noch einmal umzuschauen. Anders würde sie es nicht schaffen. Er dagegen befürchtete, daß vor der Tür des Tierheims bereits die tödliche Gefahr lauerte. "Geh du zuerst, Cait. Warte dort auf mich, wo du mich vorhin abgesetzt hast." Wortlos und mit tränenfeuchtem Gesicht nahm Cait den jetzt leeren Transportkorb und verließ mit schweren Schritten das Büro. "Passen Sie gut auf sie auf, Alec MacLaine", sagte Tante Margaret streng. "Ich würde mein Leben für sie opfern", erwiderte er. Es war ein Versprechen. Sie musterte ihn. "Das hoffe ich. Gehen Sie jetzt." "Auf Wiedersehen. Danke." Sie nickte nur. "Wiedersehen", rief Allie.
"So ist es gut", lobte Tante Margaret. "Sag deinem Daddy auf Wiedersehen." Allie streckte die Arme aus, schlang sie um Alecs Hals und gab ihm einen dicken, nassen Kuß auf die Wange. "Wiedersehen." Babyweiche Locken kitzelten ihn an der Nase. Tränen brannten in seinen Augen. "Auf Wiedersehen, meine Kleine", sagte er heiser.
13. KAPITEL Montag, 12. November, 15.30 Uhr Als Alec drei Blocks vom Tierheim entfernt an den wartenden Wagen trat, hatte Cait aufgehört zu weinen und sich die Tränen abgewischt. Doch der Trennungsschmerz war ihr noch genauso anzusehen wie ihm. Sie waren jetzt Eltern, und Allie war ihre gemeinsame Tochter. Cait rutschte auf den Beifahrersitz, damit Alec sich ans Steuer setzen konnte. Ohne sie anzusehen, legte er den Gang ein und fuhr los. "Hast du Hunger?" fragte er. "Nein. Ich könnte keinen Bissen herunterbekommen." "Ich auch nicht", gestand er. "Meinst du, es wird klappen? Und sie werden nicht auf die Idee kommen, daß Allie bei Tante Margaret ist?" Diese Frage hatte sie schon oft gestellt. Seine Antwort blieb gleich. "Es muß klappen." Er zog die blonde Perücke vom Kopf und warf sie nach hinten, bevor er sich mit der Hand durchs Haar fuhr. Cait tat es ihm gleich und spürte, wie mit der einengenden Perücke auch ein wenig von ihrer Anspannung, verschwand. Wortlos lenkte er den Wagen auf den Highway. Je weiter sie sich von Kitty Hawk entfernten, desto besser ging es Cait. Die
Trauer über die Trennung von Allie verwandelte sich zunehmend in die Erleichterung darüber, daß ihre Tochter jetzt in Sicherheit war. "Bist du okay?" fragte Alec nach einer Weile. "Ja", antwortete sie. "Und du?" Er warf ihr einen Blick zu. "Es geht mir gut." Sie hatte das deutliche Gefühl, daß sie sich beide hinter Lügen und Banalitäten versteckten. Sie konnte im Moment nicht offen mit ihm reden, weil sie gar nicht genau wußte, was sie empfand. Eine Sekunde lang wünschte sie, sie könnte ihm mit Lippen und Händen mitteilen, wie sehr sie Allie vermißte und wie groß ihre Angst vor der Zukunft war. "Wir müssen reden, Cait", sagte Alec. "Nein", erwiderte sie fast panisch. Er sah sie nicht an, sondern starrte auf die Straße. Seine Hände lagen schwer auf dem Lenkrad, und an der Wange zuckte ein Muskel. "Cait ..." Ihr Herz schlug immer heftiger. Sie wollte nicht hören, was er ihr sagen wollte, und schob die kalten, zitternden Hände zwischen die Beine. "Ich will nicht reden", erwiderte sie scharf. Erst jetzt schaute er sie an. Sein Blick war wie ein intimer Kontakt. Er hätte sie genausogut küssen oder streicheln können. "Wir müssen", sagte er. Als er wieder nach vorn sah, war Cait zugleich erleichtert und enttäuscht. Kalt war an ihr jetzt nichts mehr. "Wenn das hier vorüber ist, möchte ich in Allies Leben gehören. In deins und Allies. Sogar in das von deiner Tante Margaret. Hast du mich verstanden, Cait?" Sie verstand ihn nur zu gut, doch noch während sie den Adrenalinstoß spürte, schüttelte sie den Kopf. "Was meinst du mit das hier, Alec? Daß das FBI uns jagt? Oder daß du wieder in den Untergrund gehst, um die nächste Mission zu beginnen?" "Auftrag."
"Wie?" "Wir nennen es Auftrag." Cait wurde wütend. "Verdammt, Alec. Hörst du mir eigentlich zu? Ich will nicht jeden Tag aufwachen und mich fragen, ob es dein letzter sein wird. Ich will nicht, daß Allie mit Waffen aufwächst. Ich will nicht ..." Er riß das Steuer herum und bremste so scharf, daß der Chevrolet heftig schaukelte. Mehrere Sekunden lang starrte er reglos nach vorn, bevor er sich zu ihr umdrehte. Der Zorn in seinen Augen erschreckte sie zutiefst. "Mir gefällt nicht, was hier geschieht, Cait", sagte er. "Alles in mir findet es unerträglich. Ich bin FBI-Agent, dazu ausgebildet, mein Bestes zu geben. Ich trage eine Waffe, ich trage eine Marke, und ich habe fünfzig andere Namen, aber ich bin immer noch derselbe Mann, der dich heute morgen in den Armen gehalten und seiner Tochter vorhin einen Abschiedskuß gegeben hat." All dies sagte er mit einer leisen, vollkommen beherrschten Stimme, bevor er den Gang wieder einlegte und zurück auf den Highway fuhr. Hätte sie ihn nicht genau beobachtet, wäre ihr entgangen, wie weiß seine Fingerknöchel waren und wie sehr die Hände zitterten. "Ich weiß genau, was du willst, Cait", sprach er nach einer Weile weiter. "Du willst wissen, daß ich morgens aus dem Haus gehe und abends mit dem Aktenkoffer in der Hand nach Hause komme." "Ist das zuviel verlangt?" murmelte sie. "Ja, Cait. Verdammt, das ist es. Denn es geht dir nicht darum, daß ich einen normalen Job habe. Du willst mit absoluter Sicherheit wissen, daß ich dich nicht wieder verlasse." "Ich dachte, du wärest tot, Alec. Ich war mir absolut sicher, daß du das wärst. Jetzt weiß ich, daß du am Leben bist. Ich kann das alles nicht noch einmal durchmachen."
"Und ich kann dir keine Garantien geben, Cait. Es gibt keine. Ich könnte dich anlügen, aber das hast du nicht verdient." Er betrachtete seine Hände, und sie sah, wie er seine Finger zwang, ihren Griff um das Lenkrad zu lockern. "Ich will verdammt sein, wenn ich auch nur noch eine Meile mit einer Lüge auf den Lippen fahre." Er blinkte und bog in eine schmale, offenbar kaum befahrene Straße ein. Gras streifte den Wagenboden, und die Reifen versanken im Sand. "Wo sind wir?" "Vor zwei Jahren blieben zwischen uns zu viele Dinge ungesagt. Worte, Versprechen, Verpflichtungen. Diese Dinge brannten mir zwei Jahre lang auf der Seele, denn ich konnte nicht zurückkehren, um dir zu sagen, wie tief mich unsere Zeit zusammen bewegt hat." Der Wagen schleuderte hin und her, aber es dauerte nur einen Moment, bis Alec ihn wieder unter Kontrolle hatte. Er lenkte ihn durch den weichen Sand, bis der Ozean sich grau und weit vor ihnen erstreckte. Kein anderer Wagen, kein Strandhaus, kein Anzeichen von Zivilisation störte die Einsamkeit. Alec hielt auf einer Anhöhe, mit dem Blick aufs Wasser. "Ich weiß, du hast Angst vor der Zukunft, Cait", sagte er leise. "Die habe ich auch. Ich weiß nicht, was vor zwei Jahren zwischen uns geschehen ist. Aber was immer es war, es wurde nicht mit dir begraben, als ich dich für tot hielt." Das war mehr an Wahrheit, als Cait hatte hören wollen. "Alec..." "Ich nahm eine neue Identität an und verschwand von der Bildfläche. Ich versteckte mich in den Bergen von New Mexico. Gesellschaft leisteten mir nur ein Computer und eine Satellitenschüssel. Und ein Gedanke - nämlich der, denjenigen zu finden, der für deinen Tod verantwortlich war. Natürlich hatte ich irgendeinen fadenscheinigen Auftrag, aber in Wirklichkeit arbeitete ich acht bis zehn Stunden am Tag und
sieben verdammte Tage in der Woche einzig und allein daran, deinen Tod zu rächen. Jemand sollte dafür bezahlen, daß er dich mir weggenommen hatte." Sie schloß die Augen, ihr wurde Schwindlig, und ihr Herz klopfte so laut, daß sie Mühe hatte, seine nächsten Worte zu verstehen. Langsam drehte er sich zu ihr um und hob die Hände. "Diese Hände, Cait. Hast du eine Ahnung, wie oft ich dein seidiges Haar an ihnen gefühlt habe? Deine Lippen an meinen Fingern? Deine Hand, wie sie sich in meine schob?" Er ließ sie wieder sinken. "Und manchmal wachte ich mitten in der Nacht auf und spürte deinen Körper an meinem, dein Bein über meinen beiden, so daß ich mich nicht bewegen konnte. Und glaub mir, ich war so dankbar, daß wenigstens dein Geist bei mir war." Cait war schockiert, daß ihre achtlosen Worte diese Flut ausgelöst hatten, und streckte die Arme nach ihm aus. Doch er hob abwehrend eine Hand. "Ich habe dich nicht nur vermißt, Cait. Ich habe mich nach dir verzehrt. Ich haßte dich dafür, daß du gestorben warst. Und ich haßte mich selbst dafür, daß ich versagt hatte. Daß ich dich hatte sterben lassen. An jedem verdammten Tag gab ich mir die Schuld daran." Er hatte seinen Zorn im Griff, nur in seinem Blick tobte ein Gefühlssturm, als er sich ihr zuwandte. "Nun, ich werde mich nicht länger mit ungesagten Dingen quälen. Ich werde keine einzige Meile mehr auf dem verdammten Highway zurücklegen, ohne daß du weißt, was du in mir auslöst." Er packte ihre Schultern und hielt sie auf Armeslänge von sich entfernt. "Ich kann dir nichts versprechen, Cait. Ich kann dir keine Zukunft garantieren, nicht einmal ein Morgen. Aber um Himmels willen, laß mich wenigstens so tun. Was immer dieses Gefühl ist, Liebe, Leidenschaft, Verzweiflung ... was du willst, laß mich so tun, als hätte es eine Überlebenschance."
Er zog sie an sich, küßte sie wild und hob sie vom Sitz und auf seinen Schoß. "O Alec", hauchte sie. Er schaute sie an, und sie sah, daß seine Augen vor Ergriffenheit schimmerten. "Es tut mir so leid", sagte sie. Alec küßte ihre Entschuldigung fort. Behutsam öffnete seine Zunge ihren Mund und forderte sie auf, den Kuß zu erwidern. Sie strich mit heftig zitternden Fingern über sein Gesicht, während sie es tat. Sie hatte mehr gehört, als sie verarbeiten konnte, und es verwirrte sie mehr denn je. Ihre Gefühle waren zu widersprüchlich, als daß sie sie hätte verstehen können. "Cait ... verdammt, Cait", flüsterte er und wollte sich von ihr lösen. Sie ließ es nicht zu, sondern küßte ihn so stürmisch, wie er es getan hatte. Seufzend zog sie ihn an sich und ließ ihn wissen, daß sie so aufgewühlt und durcheinander war wie er. "Ah ... Cait", stöhnte er, bevor er sie sanft nach unten drückte, bis sie auf den Vordersitzen lag. Seine Lippen folgten den Händen, sein Mund war wie flüssiges Feuer, seine Hände stark und entschlossen. Hastig zerrten sie an ihrer Kleidung, bis Haut auf Haut lag. Er murmelte ihren Namen, und sie erbebte unter seinen Händen. Irgendwann war es nicht mehr genug für sie. Sie bog sich ihm entgegen, damit er alles an ihr berühren konnte. Mit Zunge und Lippen liebkoste er ihre Brüste, während er mit den Händen ihren Po umfaßte, um sie an sich zu pressen. Dann stieß er die Wagentüren auf, damit sie mehr Platz hatten. Kalte, feuchte Luft drang herein, und er legte die Arme um Cait. Dies war kein zaghaftes Wiederentdecken, kein behutsames Erforschen. Diese verzweifelte Vereinigung war ein Protest gegen die gestohlene Zeit, gegen den Abschied von ihrer kleinen Tochter, gegen die Ungewisse Zukunft, gegen all die Fragen, die niemals vollständig beantwortet werden würden.
Es war kein spielerischer Austausch von Zärtlichkeiten, keine geduldige Verführung. Ungeduldig holte er ein Päckchen aus der Tasche, riß es auf und streifte den Inhalt über, ohne Cait auch nur eine Sekunde loszulassen. Dann zog er sie über sich und hob sie an. Mit festem Griff half er ihr, ihre und seine Erregung zu steigern und ihn auf dem Weg zur Erfüllung zu begleiten. Als ihr Atem immer heftiger ging und ihre Beine so zu zittern begannen, daß sie kaum noch aufrecht bleiben konnte, rollte er sich mit ihr herum, bis sie auf dem Rücken lag. Er betrachtete sie einen Moment voller Verlangen, dann drang er so tief in sie ein wie noch nie zuvor und preßte sich an sie, als wären ihre Körper einzig und allein dazu geschaffen, miteinander zu verschmelzen. Es war ein dramatisches Zueinanderfinden, so natürlich und ungestüm wie der Ozean, der sich kalt und unnachgiebig vor ihnen erstreckte. Sie waren füreinander entflammt, und ihre Leidenschaft war das Öl, das das Feuer in ihnen immer höher auflodern ließ. Cait lag in seinen Armen und wußte, daß gerade die Gefahr, die auf sie lauerte, die Leidenschaft nur noch intensiver werden ließ. Die Tiefe ihrer Gefühle kräftigte das zerbrechliche Band zwischen ihnen, machte ihnen ihre Träume und Hoffnungen bewußter und riß einige der Barrieren ein, die sie voneinander trennten. Sie hob sich ihm immer wieder entgegen, damit sie ihn noch tiefer in sich fühlen konnte. Wenn er einhalten wollte, vielleicht um ihr Zusammensein zu verlängern, ließ sie es nicht zu, sondern grub die Finger in seinen Po und preßte ihn an sich. Sie wollte nicht, daß er nachdachte, sie rief seinen Namen, flehte ihn an, bei ihr zu bleiben und sie dorthin mitzunehmen, wo es nur noch sie beide und ihre Lust aneinander gab. Er rief ihren Namen, schien zu erstarren und erbebte plötzlich. Das Beben erfaßte sie, und während es auch ihren Körper durchlief, wußte sie, daß sie ihm noch nie näher gewesen
war, und daß nur er in ihr diese allesverschlingende Leidenschaft wecken konnte. Danach sprachen sie nicht, sondern hielten einander noch immer so fest wie auf dem Gipfel der Erregung. In diesem Moment, in dem sie selbst das langsame Abklingen der Leidenschaft genießen konnte, verstand Cait mehr als jemals zuvor. Bis jetzt waren sie beide noch nie wirklich allein gewesen. Vor zwei Jahren hatten Terroristen vor der Tür ihrer Zelle gestanden. Im Motel hatte Allie im Nebenzimmer geschlafen. Hier, nur wenige Meter vom Meer entfernt, die unberührte Natur und den novembergrauen Himmel im Blick, erlebten sie ein wenig von dem, was ihnen damals versagt, geblieben war. Keine Worte der Welt konnten ausdrücken, was sie jetzt fühlten. Doch noch nie waren Worte so wichtig gewesen wie in diesem Moment der Ruhe vor dem Sturm. Cait wünschte, sie könnte jenen wunderbar schlichten Satz aussprechen, der eine gemeinsame Zukunft begründen würde. Aber sie brachte es nicht fertig, "Ich liebe dich" zu sagen. Sie mußte an ein Baby denken ... an sein Baby. Und Waffen, Totenscheine und alles, was ihre Flucht mit sich brachte, paßte nicht zu dem, was sie für Allie wollte. Außerdem kannten Alec und sie einander nicht. Nicht richtig. Sie kannten die Leidenschaft, das Verlangen, aber was war mit all den anderen Dingen, den geteilten Hoffnungen, Träumen, Idealen, Werten ... Selbst wenn die Gefahr endgültig vorüber war, würden sie zu wenig über diese so unglaublich wichtigen Dinge wissen. Wie der kalte, unpersönliche Ozean über den Strand strömte, so hatten auch sie sich zusammengefunden, die perfekte Verschmelzung zweier verschiedener Elemente, Aber wie das Wasser sich immer wieder vom Land zurückzog, so blieb es
auch ihnen nicht erspart, sich immer wieder von dem Ziel, das sie endlos anstrebten, zu entfernen.
14. KAPITEL Montag, 12. November, 19.45 Uhr Alec nahm die Tasse Kaffee von Cait entgegen und konnte sie dabei nicht ansehen. Irgendwie konnte er hier, im matten Licht ihres Motelzimmers in Fairfax, Virginia, nicht glauben, daß er sie früher am Nachmittag wie ein Verrückter angefahren hatte. Er hatte geglaubt, daß der Zauber zwischen ihnen erloschen war, doch seit er wieder mit ihr geschlafen hatte, wußte er, daß dieser Zauber noch lebte und vielleicht sogar stärker geworden war. Es gab ihn, und der winzigste Funke genügte, um ihn zwischen ihnen auflodern zu lassen. Er ahnte instinktiv, daß er diesen Zauber nicht mit Lust oder Leidenschaft verwechseln durfte. Dieses wundersame Gefühl entsprach den rätselhaften Empfindungen, die er Cait gegenüber hatte. Und so sehr sie es auch bestreiten mochte, auch denen, die sie ihm gegenüber hegte. Leidenschaft, Verlangen, der Wunsch, sie zu beschützen, oder auch nur die Freude daran, wie sie die Tasse hielt, mit der Zunge über den Rand strich und einen Tropfen Sahne auffing, ihr Lächeln, ihr Zorn, selbst ihre Nervosität... all das verband sich zu einem namenlosen, unbegreiflichen Ganzen. Und da er dies bis ins Innerste seiner Seele spürte, warum rannte er nicht mir ihr so weit weg wie möglich? Warum änderte er nicht ihre Namen und ihr Leben und suchte für sie einen
stillen Winkel dieser Welt, in dem sie Allie aufziehen und füreinander dasein konnten? Aber wenn er das täte, würde nicht jedes Klopfen an der Tür ihn erblassen lassen? Könnte er jemals sicher sein, daß er diese Tür nicht den Mördern öffnete, die ihm Cait für immer rauben würden? Würde er weiterleben können, wenn ihr etwas zustieß? Ihr oder Allie? Nein, davon würde er sich nie erholen. Keine Ablenkung, kein Rachegedanke würde den Schmerz betäuben können. Aber es gab zu viele unbeantwortete Fragen zwischen Cait und ihm. Sie waren nur zusammengewesen, wenn Gefahr drohte. Tödliche Gefahr. Sie hatten ein Recht zu erfahren, ob sie auch in friedlichen Zeiten zusammenleben konnten. Cait verdiente mehr als ein Leben in Angst, und er verdiente mehr als ein Leben voller Zweifel. Wenn alles vorüber war, so versprach er sich und ihr, würden sie herausfinden können, ob es eine Zukunft für sie gab. Cait und er hatten in den Abendnachrichten gesehen, daß die Polizei Caits Verschwinden für verdächtig hielt. Sein Name war gefallen, und man vermutete, daß er damit zu tun hatte, .obwohl die Polizei bezweifelte, daß ein toter FBI-Agent eine junge Frau und ihr Kind gewaltsam entführen konnte. Als Alec ankündigte, eine Zeitung holen zu wollen, setzte Cait sich an seinen Computer, um die Informationen zu sichten, die er in den vergangenen Jahren gesammelt hatte. Als er sie fragte, warum sie das tat, murmelte sie etwas davon, daß es ein Motiv geben mußte. "Vielleicht werden wir es nie finden", erwiderte Alec. "Ich glaube noch immer, daß wir mehr Druck ausüben können, wenn wir wissen, warum man uns jagt." Er reichte ihr seinen Laptop und notierte auf ihre Bitte hin die Paßwörter der geheimen Dateien, die er aus der Datenbank des
FBI gestohlen hatte. Er hatte nicht daran gedacht, daß er dafür ihre Namen verwendet hatte. Cait. Caitlin. Leigh. Wilson. Sie warf ihm einen erstaunten Blick, bevor sie sich an den Computer setzte und die notwendigen Befehle eingab. An der Tür zögerte er. Er kannte die Worte, die er sagen wollte, die Sätze, die jetzt ausgesprochen werden mußten. Heute nachmittag habe ich gesagt, ich wüßte nicht, was zwischen uns ist, Cait. Ich weiß es noch immer nicht. Aber ich liebe dich. Das weiß ich mit absoluter Sicherheit. Und ich glaube an uns. Vor zwei Jahren hatten wir keine Chance. Aber jetzt haben wir eine. Und wenn alles gutgeht, möchte ich, daß du mit mir zusammen diese Chance ergreifst. Doch er konnte es nicht aussprechen. Wollte es nicht. Er schloß die Tür hinter sich und eilte an die frische Luft. Vielleicht würde die Kälte ihm helfen, einen klaren Gedanken zu fassen. Doch mit jedem Schritt über den mit glitzerndem Frost überzogenen Asphalt des Parkplatzes schien seine Verwirrung zu wachsen. Er wollte Cait in die Arme nehmen und hören, wie sie ihm versprach, ihn zu heiraten, seine Frau, seine Liebe, die Mutter seiner Kinder zu werden. Plötzlich schnappte er nach Luft wie ein Ertrinkender, als ihm bewußt wurde, daß er fast etwas Unverzeihliches getan hätte. Heute morgen, mit ihrem warmen Körper an seinem, hätte er .fast vergessen, in welcher Gefahr sie schwebten. Und beinahe hätte er sie gebeten, für immer bei ihm zu bleiben. Doch das durfte er nicht. Welcher Mann konnte von einer Frau ein solches Versprechen verlangen, wenn er ihr nicht einmal etwas so Einfaches wie den nächsten Tag versprechen konnte? Verdammt, er hatte ihr ja nicht einmal eine Vergangenheit geboten. Er hatte sie bitten müssen, ihm von ihrer gemeinsamen Tochter zu erzählen. Wie konnte er es wagen, sie um eine
Ungewisse Zukunft zu bitten, wenn ihre Vergangenheit aus nicht mehr als ein paar Stunden voller Todesangst bestand? Stunden, die ihn noch immer belasteten. Und sie belasteten, weil so viele Dinge zwischen ihnen ungesagt und ungetan geblieben waren. Und diese Dinge brauchten noch viel Zeit, um an die Oberfläche zu kommen. Er konnte ihr nichts versprechen, weil sie von einer Sekunde zur anderen alles verlieren konnte. Während ein Schalldämpfer leise zischte oder die Reifen eines um die Ecke rasenden Wagens quietschten. Alec kaufte sich am Empfang des Motels eine Zeitung und blätterte sie durch, bis er zu den Anzeigen kam. Er schlug sie auf und überflog sie auf der Suche nach Jacks verschlüsselter Nachricht. Etwa in der Mitte der dritten Spalte, zwischen einer Frau, die einen männlichen Steinbock kennenlernen wollte, und einem Mann, der eine an sadomasochistischen Praktiken interessierte Ehefrau suchte, fand er Jacks Botschaft. Er überflog sie zweimal, faltete die Zeitung zusammen und verließ die Motelhalle. Endlich kam die Sache ins Rollen. Cait sah ihm entgegen, als er zusammen mit einem Schwall eiskalter Luft durch die Tür kam. Er schloß sie hinter sich und verriegelte sie. "Steht die Nachricht in der Zeitung?" fragte sie ruhig. "Ja", erwiderte er und holte die Anzeigenseiten hervor. "Sie ist vermutlich verschlüsselt." Er lächelte. "Natürlich", sagte er und las sie laut vor. "J. K. sucht Partner für sichere, geschützte Beziehung, in der alles möglich ist. Sofortige Antwort bitte an Postfach 1792, Vienna, Virginia. Geschenke und Sicherheiten warten am Dienstag nach 22 Uhr auf Antwort." "Nun, dein Freund hat entweder einen seltsamen Humor, oder in der Nachricht steckt viel Verborgenes", sagte Cait und schaute über den PC-Bildschirm hinweg. "Übersetzung, bitte."
"Jack bietet mir ein sicheres Haus für dich an. Er teilt mir mit, daß noch mindestens einer der anderen Freunde auf der Jagd nach mir ist. Die Postfachnummer ist die Adresse, das Wort Fach die Hausnummer ... wie das Alphabet auf der Wählscheibe des Telefons ... und 1792 ist entweder Columbus Drive oder Ocean. Vielleicht auch Blue. Jedenfalls ist es in Vienna. Es dürfte nicht schwer zu finden zu sein." "Und die Geschenke und Sicherheiten?" fragte Cait, während sie auf ein paar Tasten drückte. Er zögerte. "Geschenke sind Waffen." "Und Sicherheiten?" "Sein Versprechen, mir Verstärkung zu geben." "Sein Versprechen", wiederholte sie. "Das ist alles, wonach man einen Mann beurteilen kann", sagte Alec. Sie hob den Kopf, und ihre Blicke trafen sich. "Sein Wort." Sie errötete ein wenig. "Ich verstehe." "Das hoffe ich", antwortete er und meinte die Dinge, die er ihr ohne Worte, mit seinen Küssen und Berührungen gesagt hatte. Cait nickte, schaute auf den Bildschirm und rief ein weiteres Dokument auf. "Dieser Jack hat dich angelogen", sagte sie und drückte eine Tastenkombination. Der Computer gab ein surrendes Geräusch von sich. "Er hat dir verschwiegen, daß ich lebe und daß du eine Tochter hast." "Ich muß glauben, daß er einen guten Grund dafür besaß", erwiderte er, obwohl ihm beim besten Willen keiner einfiel. "Na schön." Cait lehnte sich zurück, entspannte die verkrampften Finger und legte die Hände in den Nacken. "Ich bin ganz deiner Meinung, Alec." Sie strahlte ihn an. "Jack ist kein übler Kerl. Und ich kann es beweisen." "Wie bitte?" fragte er verblüfft. Wie schaffte Cait es nur, ihn immer wieder aus der Fassung zu bringen? "
"Heute nachmittag sagtest du etwas davon, daß es zählen muß, wenn man jemanden seit vielen Jahren kennt." "Richtig..." "Darauf hat er sich verlassen, als er dir vor ein paar Tagen in den Fernsehnachrichten und heute in der Zeitung eine Botschaft zukommen ließ, nicht wahr? Ich meine, er wußte, daß du dir die Nachrichten anschaust und ihm im Grunde noch immer traust." Alec nickte. Er wußte nicht, worauf sie hinauswollte, aber er ahnte instinktiv, daß das Warten sich lohnen würde. Ihm war klar, daß sie diese Nachforschung anstellte, um sein Vertrauen in Jack zu untermauern. "Also haben wir viel Zeit", sagte sie. "Wozu?" "Jack wird nicht vor zehn Uhr abends dort sein, richtig?" "Richtig. Aber was ..." Cait unterbrach ihn mit erhobener Hand. "Ich bin fast soweit." "Woran arbeitest du denn?" fragte er und stellte sich hinter sie. "Noch nicht." "Nur einen Tip", bat er. "Das Münchhausen-Syndrom", murmelte sie. "Stellvertretend." "Was ist das?" "Der Baron Münchhausen war ein Mann, der etwa zur Zeit der Französischen Revolution die unglaublichsten Geschichten erzählte. Er behauptete, ganz allein jede Schlacht von Frankreich bis Afrika gewonnen zu haben." Caits Finger flogen über die Tasten, und auf dem Bildschirm erschienen Befehle, die Alec noch nie gesehen hatte. "Und was hat das mit uns zu tun?" fragte er. "Sie haben eine seelische Störung nach ihm benannt. Das Münchhausen-Syndrom bedeutet, sehr laienhaft ausgedrückt, daß man Aufmerksamkeit zu erringen versucht, indem man sich
medizinisch interessant macht. Selbst wenn man sich dazu vergiften muß. Und dann gibt es noch die Stellvertretervariante." "Man lenkt die Aufmerksamkeit auf einen anderen?" fragte Alec. "Nicht ganz." Cait gab noch immer Befehle ein. "Aber fast." Sie lehnte sich wieder zurück und sah ihn an. "Ich bin auf die Idee gekommen, nachdem ich all deine Informationen durchgegangen war." "Wann?" Sie lächelte zufrieden, und er spürte die Wirkung irgendwo unterhalb der Gürtellinie. Dann drehte sie sich wieder zum Bildschirm um, und er fühlte sich verlassen. "Außerdem fiel mir etwas ein, das dein Freund Jack in seinem Interview vor meiner Garage gesagt hat. Versteckt zwischen all den Lügen und Codes, meine ich." "Was denn?" Er beugte sich vor. "Was hat er gesagt?" Cait drehte sich wieder zu ihm um. Wie konnte sie nur so fröhlich aussehen? Sie befand sich in der größten Gefahr, in die ein Mensch geraten konnte. "Er sagte, irgendeine Quelle hätte dem FBI erklärt, du seist möglicherweise für den tragischen Vorfall bei der WHO verantwortlich." Alec runzelte die Stirn. "Tut mir leid, Cait, ich sehe nicht..." Sie unterbrach ihn. "Dann sagte er, du seist vielleicht der Ingenieur hinter dem Überfall." Alec spürte, wie er eine Gänsehaut bekam. "Oh, mein Gott", flüsterte er. "Fred." Er starrte auf den PC-Bildschirm. Cait hatte Frederick Masters' Personalakte aufgerufen. "Wieso bin ich nicht selbst darauf gekommen?" Erst Cait hatte ihn darauf gebracht. "Fred Masters hat an der Universität von Princeton zwei Abschlüsse gemacht. Einen in Jura, wie die meisten beim FBI, und den anderen in Ingenieurwesen." "Okay", sagte Cait. "Also hat Jack dir signalisiert, daß Fred unser Mann ist. Jetzt schau dir das hier an." Sie gab einen Befehl ein, und auf dem Bildschirm erschien eine Tabelle.
"Was ist das?" fragte Alec, denn die hatte er noch nie gesehen. "Etwas, das ich zusammengestellt habe, nachdem ich herausgefunden hatte, daß Fred Ingenieurwesen studiert hat", erklärte Cait, während sie mit der Maus auf die erste grauweiße Spalte fuhr. "Dies sind die Daten von Vorfällen, bei denen das FBI und rechtsextremistische Gruppierungen aufeinandertrafen." "Und die hier?" Alec zeigte auf eine zweite Spalte, in der Kombinationen aus jeweils zwei Buchstaben alphabetisch aufgelistet waren. "Initialen." "Initialen", wiederholte er nachdenklich. Namenskürzel. Er sah Jacks, Freds, Jorges und sogar sein eigenes. Außerdem einige aus anderen FBI-Abteilungen. "Das sind die FBIAgenten, die die Einsätze geleitet haben?" fragte er. Als sie nickte, zeigte er auf die letzte Spalte. "Und das hier?" "Unser Ingenieur", verkündete Cait mit triumphierendem Lächeln. "Jedesmal, wenn ein derartiger Einsatz stattfand, wurden die finanziellen Mittel, die Fred Masters zur Verfügung standen, vorher verringert. Immer etwa einen Monat vor dem Einsatz." "Wie hast du das gemacht?" fragte er bewundernd. "Nun ja, ich scheine ein Talent für Daten zu haben." "Falls du jemals beim FBI anfangen willst..." Sie lächelte spöttisch. "Ich könnte mir vorstellen, daß sehr bald eine Stelle frei werden wird. Aber wenn du erst von den Toten zurückkehrst..." Er legte die Hände auf ihre Schultern und begriff plötzlich, was sie mit ihrer Bemerkung über die frei werdende Stelle gemeint hatte. Sie hatte von der Zukunft gesprochen. Genau wie er. Falls du jemals beim FBI anfangen willst... Die Gegenwart allein war zu wenig. Zu träumen, zu hoffen, sich eine Zukunft auszumalen lag in der menschlichen Natur. Er
festigte den Griff um ihre Schultern, beugte sich hinab und küßte sie auf die Schläfe. Lächelnd drückte sie den Kopf gegen seine Lippen und betätigte eine Taste. Die Tabelle verschwand vom Bildschirm. Das Programm bat sie, ein wenig zu warten. "Du solltest deinen Arbeitsspeicher erweitern", sagte sie. "Was hat das Münchhausen-Syndrom mit Fred Masters zu tun?" "Es ist das Motiv, Alec. Ich weiß, daß ich recht habe. Das Münchhausen-Syndrom in der Stellvertretervariante findet sich oft bei Frauen, die für Kinder sorgen, meistens bei Müttern. Häufig bei Müttern, die Krankenschwestern sind oder im medizinischen Bereich arbeiten. Die Mutter schädigt ihr Kind absichtlich und ganz bewußt, um über das Kind Aufmerksamkeit für sich selbst zu bekommen. Sie drückt ihm ein Kissen aufs Gesicht, bis es in Ohnmacht fällt, oder sie spritzt ihm eine Substanz, die Atemnot oder Krämpfe hervorruft." Alec schüttelte ungläubig den Kopf. Sie wußte, daß er an Allie dachte und sich so etwas nicht vorstellen konnte. "Ich weiß", sagte sie. "Aber leider gibt es das. Wenn das Kind mit dem Tod ringt, ruft die Mutter einen Krankenwagen oder schafft es auf ähnlich dramatische Weise in die Klinik. Dort sieht jeder, daß es dem Kind sehr schlecht geht, aber selbst die besten Ärzte finden keine Erklärung und können nicht helfen. Also wird die Mutter zur Heldin, deren Liebe, Hingabe und zärtliche Pflege das Kind schließlich retten. Irgendwann kann das Kind nach Hause entlassen werden, wo es natürlich wieder krank wird. Dann beginnt das grausame Spiel von vorn." Alec glaubte zu begreifen, worauf Cait hinaus wollte, und ihm wurde fast übel vor Entsetzen. Er dachte daran, wie oft er bei den Masters zu Abend gegessen hatte. An Freds unverbrüchliche Loyalität zum FBI. An Freds oft geäußerte
Überzeugung, daß man etwas unternehmen mußte, um dem Land klarzumachen, wie wichtig das FBI war. "Fred Masters ist wie die Mutter", sagte Cait. "Das FBI ist sein Kind. Ich glaube, er arrangiert Vorfälle, die das ganze Land schockieren. Überfälle und Anschläge, die Entsetzen und Empörung hervorrufen. Und dann kommt er, rettet die Opfer und bestraft die Schuldigen. Er ist wie ein kranker Feuerwehrmann, der selbst ein Feuer legt, um es löschen zu können." "Das Motiv", sagte Alec und wußte, daß sie recht hatte. Es paßte perfekt. "Darauf wäre ich selbst in einer Million Jahren nicht gekommen", gab er zu. "Natürlich nicht. Schließlich war er dein Freund. Und du vertraust deinen Freunden, Alec. Du suchst nicht nach dem Schlechten in ihnen." "Ich bin FBI-Agent. Unsere Arbeit besteht zu neunundneunzig Prozent aus der Suche nach dem Schlechten im Mitmenschen." "Aber nur bei der Verbrecherjagd. Hier geht es um jemanden, den du für einen Freund gehalten hast. Du bist im Grunde deines Wesens kein mißtrauischer Mensch, Alec", sagte sie leise. Was wollte sie ihm damit sagen? "Soll das ein Vorwurf ein?" fragte er und rang sich ein selbstsicheres Lächeln ab. "Nein", erwiderte sie ernst. "Im Gegenteil. Ich möchte, daß du Allie eines Tages beibringst, das Leben so zu sehen, wie du es tust." Es war das schönste Kompliment, das man ihm jemals gemacht hatte. Und erst nach Sekunden wurde ihm bewußt, welches Vertrauen und welche Hoffnung Cait damit in ihn setzte.
15. KAPITEL Dienstag, 13. November, 21.45 Uhr Die Anspannung im Wagen wurde immer unerträglicher. Diesmal entstammte sie nicht der Vergangenheit, sondern der Zukunft. Ihrer gemeinsamen Zukunft. Seit sie losgefahren waren, hatte Alec nicht mehr als drei Worte gesprochen. Und sein eisiges Schweigen hinderte Cait daran, von sich aus eine Unterhaltung zu beginnen. Nicht, daß Cait nichts zu sagen gehabt hätte. Im Motelzimmer in Sterling, bevor sie Allie zu Tante Margaret gebracht hatten, hatte sie nicht alles ausgesprochen, was ihr auf der Seele brannte. Und auch in all den tausend leeren Nächten davor hatte sie es nicht getan. Jetzt quälten sie sämtliche unausgesprochenen Worte und verheimlichten Gedanken, bis sie sich ihrer Feigheit zu schämen begann. Sie fühlte sich innerlich zerrissen und rastlos, so als wäre ein Teil von ihr im Motelzimmer zurückgeblieben. In einem Zimmer, das zum einzigen Zuhause geworden war, das Alec und sie je miteinander geteilt hatten. Bis auf die schreckliche Kammer, in die man sie beide vor zwei Jahren gesperrt hatte. Ein Motelzimmer und Wagen, die ihnen nicht gehörten. Eine Kammer in einem Gebäude, in dem keiner von ihnen auch nur gearbeitet hatte. Zwei Jahre des Trauerns. Abgesehen von der Leidenschaft gab es nur ein Gutes, das sie gemeinsam hatten,
und das hatten sie heimlich zu ihrer Tante in North Carolina bringen müssen. Alles an ihrem Zusammensein war falsch, unecht, aus der Gefahr entstanden. Und doch, wenn Alec sie berührte, spürte sie seine Ehrlichkeit. Und wenn er sie küßte, fühlte sie sich so ganz, als hätte ein Teil von ihr noch gar nicht gelebt. Sie dachte daran, was sie zu ihm gesagt hatte. Daß sie nicht über die Zukunft reden durften, weil es keine für sie gab. Jetzt wußte sie, daß sie der Wahrheit ausgewichen war. Jeder Mensch besaß eine Zukunft, es sei denn, er litt an einer tödlichen Krankheit, die nicht zu heilen war. Die Zukunft war nur einen Traum weit entfernt, einen Gedanken, ein Wort. In den vergangenen zwei Jahren hatte sie nur dann an die Zukunft gedacht, wenn es um Allie ging. Irgendwie war ihr klar gewesen, daß sie die Vergangenheit loslassen mußte, wenn sie an eine Zukunft zu glauben begann. Und die Vergangenheit loszulassen, hieß die Erinnerung an Alec loszulassen. Die Phantasien, die Illusionen, die Träume. Plötzlich legte Cait die Stirn in Falten. Sie glaubte nicht, daß die gespannte Atmosphäre im Wagen allein mit Alecs Schweigsamkeit zu tun hatte. Sie spürte etwas anderes. Es war das Unbehagen, das Gefühle auslösten, wenn sie einem noch nicht bewußt waren. Das eine hatte mit Alec zu tun, das andere warnte sie vor einer Gefahr, die auf sie lauerte. Alec hatte die Nachricht entschlüsselt. Das sichere Haus befand sich in der Ocean Street 269. Sie wußten genau, wohin sie wollten, doch je näher sie Vienna kamen, desto nervöser wurden sie. Vienna war weniger als fünfzehn Meilen von Fairfax entfernt, die Fahrt verging wie im Fluge, und das Gefühl der Sicherheit, das Cait noch im Motel empfunden hatte, nahm von Sekunde zu Sekunde ab. Am liebsten hätte sie Alec aufgefordert, den Wagen zu wenden, irgendwo unterzutauchen und das FBI, Fred Masters und Jack King für immer zu
vergessen. Mit jedem Meter, den sie sich dem sicheren Haus näherten, wuchs die Distanz zwischen Cait und Alec und schien die Chance auf eine gemeinsame Zukunft geringer zu werden. Schon als er ihr Gepäck in den Wagen geladen hatte, hatte et sorgfältig darauf geachtet, daß ihre Hände sich nicht streiften. Einmal hatte er fast eine Tasche fallen lassen, um eine Berührung zu vermeiden. Jetzt wurde das Schweigen immer quälender. Cait wollte nicht zulassen, daß es ihre Zukunft bestimmte. Sie würde in Sicherheit sein, während Alec den Kampf aufnahm. Für sie. Und wenn sie nichts sagte und er niemals zu ihr zurückkehrte? Wenn... "Verdammt", knurrte Alec und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, als hätte ihn ein Faustschlag getroffen. "Was ist?" fragte sie. "Ich liebe dich, Cait." Seine Worte trafen sie direkt ins Herz. "Es ist unfair. Ich kann dir nicht einmal versprechen, daß du unsere Beziehung überlebst, geschweige denn, daß du glücklich sein wirst." Sie antwortete nicht, denn irgendwie wußte sie, daß er noch nicht fertig war. "Aber ich mußte es dir erzählen. Ich will nicht weitermachen, ohne daß du es weißt", sagte er mit Nachdruck. Cait war heiß und kalt zugleich. Sie wollte ihm sagen, daß das Leben kein Märchen war, daß es ihr reichen würde, wenn sie beide lebend aus dieser Sache herauskamen. An ein Zusammenleben konnte sie jetzt noch nicht denken. "Hast du Angst, die Worte auszusprechen, Cait?" fragte er sanft. Ja, dachte sie, ich habe große Angst davor. Schreckliche Angst. Aber nicht davor, drei einfache Worte auszusprechen. Sie hatte Angst davor, diese Worte ernst zu meinen. Denn wenn sie
sie über die Lippen brachte und sie auch meinte, dann würde es sie umbringen, wenn sie Alec wieder verlor. Manche Dinge blieben besser ungesagt. Denn eines Tages, wenn nicht heute, dann morgen oder in der nächsten Woche würde ihm etwas zustoßen. Er war ein FBI-Profi, der sie in Sicherheit brachte, aber er war auch eine Zahl in einer ihrer vielen Computerstatistiken: Gesetzeshüter zeichneten sich nicht gerade durch eine sehr hohe Lebenserwartung aus. Und ein Agent der Bundespolizei, egal, ob er liebevoll, zärtlich, ein guter Vater, ein einfühlsamer Liebhaber war, mußte nun einmal sein Leben einsetzen, um andere Menschen vor Verbrechern zu schützen. "Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Alec", flüsterte sie schließlich und wußte, daß sie ihn enttäuschte, daß sie ihm gegenüber nicht ehrlich war. "Ich verspreche dir ..." begann er, doch sie legte ihm einen Finger auf den Mund. Alec zuckte zusammen, als hätte ihn ein Stromschlag getroffen, aber er sah sie nicht an und sagte kein Wort. "Bitte nicht, Alec. Du kannst mir nichts versprechen, und ich möchte nicht hören, wie du es trotzdem versuchst. Es würde uns beiden nur weh tun", sagte sie traurig und ließ die Hand wieder sinken. Ihr Herz schlug so heftig, daß sie kaum Luft bekam. "Du irrst dich, Cait", entgegnete er. "Und wenn ich mein ganzes Leben dazu brauche, ich werde es dir beweisen." Cait schaute aus dem Fenster. Er sprach von einem Leben, das vielleicht nur noch in Minuten zu messen war. In früheren Tagen band eine Frau ihrem Mann, bevor er in die Schlacht zog, als Beweis ihrer Liebe ein Tuch an die Rüstung. Das Tuch machte ihn stark und tapfer. Worte konnten das auch. Aber Cait brachte sie nicht heraus. Lag es daran, daß ihre Eltern so früh ums Leben gekommen waren? Empfand sie den Tod eines Menschen deshalb als Verlassenwerden? Oder tat sie das erst, seit sie geglaubt hatte, auch Alec für immer verloren zu haben?
"Wir sind da", verkündete er und nahm die Abfahrt nach Vienna. Der Puls dröhnte Cait in den Ohren, die Angst schnürte ihr die Kehle zu, und als Alec in die Ocean Street einbog, wußte sie, daß es zu spät war. Wieder hatte sie sich von ihren Zweifeln die Sprache rauben lassen und Alec die Worte vorenthalten, die er so dringend gebraucht hätte. Er fuhr langsamer, als zögerte er, sich dem sicheren Haus zu nähern. "Alec, ich..." "Dort ist es", unterbrach er sie. "Ich muß..." "Hier ist mein Plan", unterbrach er sie erneut. "Ich gehe allein zum Haus, und du folgst mir erst, wenn ich dir winke. Hast du verstanden?" Das sogenannte sichere Haus sah aus wie alle anderen in dem Viertel. Links und rechts säumten niedrige Pinienhecken das Grundstück, dahinter ragten hohe Eichen über das Dach. Der mit Frost überzogene Rasen erstreckte sich von den leeren Blumenbeeten bis zum Straßenrand. Weder dort noch in der Einfahrt standen Autos. "Das gefällt mir nicht", sagte Alec, als sie zum zweitenmal am Haus vorbeifuhren, und zeigte auf die dunkle Veranda. "Eigentlich müßte ein Licht brennen. Als Zeichen, daß alles in Ordnung ist." Cait hielt den Atem an, während Alec den Wagen auf der anderen Straßenseite ausrollen ließ. Sie konnte sehen, daß die Vorhänge halb aufgezogen waren, doch das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich in den Scheiben und ließ nicht erkennen, was sie innen erwartete. "Okay. Keine Widerrede, Cait. Ich lasse den Motor an, du setzt dich ans Steuer. Ich gehe zur Tür. Beim geringsten ... ich wiederhole, geringsten ... Anzeichen von Gefahr, gibst du Gas und verschwindest."
"Was ist ein Anzeichen von Gefahr?" fragte Cait, während sie auf den Fahrersitz rutschte und ihn nach vorn schob, um an die Pedale gelangen zu können. Alec zog die Augenbrauen hoch und beugte sich in den Wagen, um ihr zu helfen. "Alles, was dir verdächtig vorkommt. Jemand schießt auf mich, wenn ich läute, oder schlägt mich nieder. Oder das Haus fliegt in die Luft. So etwas." Sie war blaß geworden und sah ihm an, daß er seine Worte bereits jetzt bereute. "He, Cait... Ich habe nur Spaß gemacht." "Das war nicht komisch", sagte sie und rang sich ein Lächeln ab. Dankbar gab er ihr einen Kuß auf die Wange, bevor er sich umdrehte. Sie rief ihn zurück. "Alec!" Bei aller Sorge um sie war nicht zu übersehen, daß er mit den Gedanken bereits am Haus war. Cait wurde schlagartig bewußt, daß ein Teil von ihm diese Situation genoß. Er war bereit, der Gefahr zu begegnen. Dies war sein Job. Sein Beruf. Und er beherrschte ihn. Und sie, wie eine Million anderer Frauen an jedem Tag, in jeder Stadt im Land, würde ihn arbeiten lassen. Sie hatte ihn hergefahren, ihm einen Abschiedskuß gegeben, und jetzt würde sie darauf warten, daß er seinen Job erledigte und zu ihr zurückkehrte. Aber sie war nicht wie eine Million anderer Frauen, und Alec war nicht ihr Ehemann. Sie würde ihn nicht zu dem Haus gehen lassen, ohne daß er vorher gehört hatte, was sie ihm sagen wollte. "Was ist denn?" fragte er ungeduldig, den Blick auf die Veranda gerichtet. "Komm ... komm zurück zu mir, Alec", platzte sie heraus. Es war nicht das, was sie hatte sagen wollen, aber die Worte kamen von Herzen. Aus dem tiefsten Teil ihres Herzens.
Er lächelte, ein wenig schief, verlegen, erstaunt. Es brach ihr fast das Herz. Und versetzte sie in Panik. Wenn nun etwas schiefging? Wenn sie ihn nie wiedersah? "Ich verspreche es", antwortete er, und sie wußte, daß ihre unbeholfenen Worte genau die richtigen gewesen waren. Es waren Worte, die von der Zukunft sprachen und Zuversicht verrieten. Er sah ihr in die Augen, drehte sich um und überquerte die Straße. Bevor Cait noch etwas sagen konnte, war er bereits drüben, die Hand auf dem Rücken, unter der Jacke und zweifellos um den Griff seiner Waffe gelegt. Sie schaute ihm nach, als er sich für sie in eine große Gefahr begab, und wußte plötzlich, daß sie ihn niemals verlieren wollte. Alec läutete an der Tür und wartete. Nichts geschah. Er warf einen Blick auf die dunkle Verandalampe. Irgend etwas stimmte hier nicht, Er tat, als würde er nach dem Schlüssel suchen, bückte sich nach einem Blumenkübel, und erstarrte, als er hörte, wie die Haustür entriegelt wurde. Er schaute vom Wagen zur Tür, drehte sich halb danach um, schob die Waffe in den Gürtel und ließ die Hände an den Hüften, um vorzutäuschen, daß er unbewaffnet war. Von innen, aus dem Dunkel heraus, stieß Jack die Tür auf. "Großer Gott, Al", sagte er. "Gut, dich zu sehen! Verdammt gut. Also hast du meine Nachricht bekommen. Ich hatte schon Angst, du würdest es nicht schaffen." Jetzt war Alec sicher, daß etwas nicht stimmte. Im Normalfall hätte Jack sich draußen mit ihm getroffen, um in Ruhe zu reden. Niemals hätte er ihn an der Tür empfangen. Außerdem hatte Jack ihn noch nie Al genannt. Niemand tat das. "Was ist mit der Verandalampe, Jackie?" fragte Alec und ließ seinen alten Freund dadurch wissen, daß er begriffen hatte. "Irgend etwas stimmt damit nicht. Geht dauernd aus."
Übersetzung: Fred Masters war nicht mit Jack im Haus, sondern irgendwo in der Nähe. Vermutlich beobachtete er sie gerade. Das Adrenalin strömte durch Alecs Körper, als er an Cait dachte. Hatte Fred damit gerechnet, daß er sie allein im Wagen zurückließ? Jack sah über seine Schulter. "Du hast einen neuen Wagen, was?" Guter Gott. Fred war am Wagen. Fast hätte die panische Angst um Cait verhindert, daß Alec logisch und professionell reagierte. Er wollte über die Straße rennen und das ganze Magazin auf Fred abfeuern. Wenn der Kerl Cait auch nur ein Haar krümmte, würde er ihn umbringen und nicht an die Folgen denken. Doch er wagte nicht, sich zum Wagen umzudrehen oder Cait eine Warnung zuzurufen. Fred war unberechenbar. Dem Mann war zuzutrauen, daß er mitten in diesem friedlichen Wohnviertel schoß. Und das Ziel wäre Cait. Seine Cait. Alec dachte an sein Versprechen. Er dachte an seine Tochter. Und er dachte an all die Dinge, die er Cait nicht gesagt hatte. An die Dinge, die er für sie tun wollte, an die Versprechen, die er halten mußte. Fred würde sich Cait schnappen, sobald Alec und Jack sich verdächtig benahmen. Cait würde davonfahren, wenn sie Schüsse hörte. Was sollte er tun? Alec tastete vorsichtig nach seiner Waffe und legte sie an seinen Oberschenkel, die Mündung auf den Boden gerichtet. Dann krümmte er den Finger um den Abzug. Cait ließ den Fuß auf der Bremse. Was immer Alec Jack King über die Vergangenheit zu sagen hatte, es hätte doch gewiß warten können, bis beide im Haus und aus der Kälte waren. Irgend etwas stimmte nicht. Sie zitterte vor Nervosität, und am
liebsten wäre sie aus dem Wagen gesprungen und zu Alec gerannt. Trotz der Dunkelheit konnte sie Jack Kings blasses Gesicht sehen. Seine Augen glitzerten in der Tür des sicheren Hauses, das alles andere als sicher war. Er sah nicht Alec an, sondern sie, dann die Straße entlang und wieder zurück zu ihr, danach wieder auf die Straße. Alec stand da wie in Beton gegossen, und als er die Zähne zusammenbiß, konnte Cait erkennen, wie der Muskel an seiner Wange zuckte. Er straffte die Schultern, und sie sah die Mündung seiner Waffe unter der Jacke hervorragen. Sie wußte, daß nur sie und kein anderer die Waffe bemerken würde, denn sie konzentrierte sich ganz auf jede seiner Bewegungen, um kein Signal zu übersehen. Sie hatte das Gefühl, das ihr Leben davon abhing, daß ihr nicht die geringste Kleinigkeit entging. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um lange zu überlegen. Sie mußte sich auf ihren Instinkt verlassen und war sicher, daß er ihr die einzig sinnvolle Reaktion eingeben würde. Ohne den Blick von Alec zu nehmen und ohne an die Folgen zu denken, schob sie den Hebel der Automatik in die Parkstellung und drückte mit dem Handballen auf die Hupe. Wie eine Fanfare zerriß das Hupen die Nacht. Lang, laut und schrill hallte es durch die Dunkelheit. Wie Cait es vorhergesehen hatte, wirbelte Alec mit erhobener Waffe herum. Sie sah, wie sein Blick über den Wagen und die Büsche daneben wanderte. Dann hob er die Waffe ein wenig an und schoß in die Luft. Der Knall des Schusses übertönte die Hupe, und Cait nahm die Hand vom Lenkrad. Alec feuerte noch einmal, und diesmal verstand sie, was er wollte: Fahr los!
Aber sie konnte es nicht. Eines Tages, so hoffte sie, würde er es verstehen. Selbst wenn sie nichts tun konnte, um ihm zu helfen, sie brachte es nicht fertig, ihn im Stich lassen. Alec rannte auf die Straße, gefolgt von Jack King. Verfolgte King Alec oder half er ihm? Cait wußte es nicht. "Keine Bewegung, Fred!" rief Alec. "Es ist vorbei!" Plötzlich riß jemand die Beifahrertür auf, und die Innenbeleuchtung blendete Cait. Noch während sie sich umdrehte und in zwei wild funkelnde braune Augen blickte, traf sie etwas Kaltes und Hartes oberhalb der Schläfe. Das Licht schien zu flackern. Es gab etwas, das sie Alec unbedingt sagen mußte. Etwas über die Zukunft. Sie schloß die Augen, um nachzudenken. "O Gott", sagte eine Stimme direkt neben ihr. "Sie haben hier nichts zu suchen, Lady. Warum zum Teufel sind Sie immer am falschen Ort?" Cait konzentrierte sich auf die hektische Stimme. "Ich wollte Sie nicht umbringen, wissen Sie?" beteuerte er, und es klang, als würde er sie um Erlaubnis bitten. "Fred! Gib auf!" rief Alec von außen. "Du kommst damit nicht durch. Jack und ich sind hier, Fred. Wir werden dafür sorgen, daß man dir hilft. Laß sie frei." "Das kann ich nicht", antwortete Fred. "Nein", stimmte Cait ihm zu. "Es ist wirklich dunkel hier drin." Das war nicht das, was sie hatte sagen wollen, aber ihr fiel nicht ein, was sie tun sollte. Davonfahren und Alec zurücklassen? Wenn ihr Kopf doch nur nicht so weh täte. "Bitte, Fred", rief Alec. "Tu ihr nichts!" Cait blinzelte mehrmals, um das vor ihren Augen tanzende Licht loszuwerden. Sie mußte sich am Lenkrad festhalten, um nicht nach vorn zu kippen. "Keine Bewegung", zischte Fred. "Sie waren es", sagte Cait. "Sie haben die Männer ermordet."
"Sie habe ich nicht ermordet", erwiderte Fred hitzig. "Dafür sollten Sie mir dankbar sein. Ich bin FBI-Agent, um Himmels willen!" Wie eine Ertrinkende klammerte Cait sich an das Lenkrad. Sie schwankte und ließ den Kopf sinken, aber zum erstenmal seit Sekunden sah sie klar. Der Schalthebel befand sich nur wenige Zentimeter unter ihrer rechten Hand. Ihr Fuß lag schon auf dem Gaspedal. "Ich habe die Terroristen getötet. Das Ist mein Beruf. Außerdem hatten sie es nicht verdient weiterzuleben." Sie drehte den Kopf gerade weit genug, um Alec neben dem Wagen zu sehen. Seine Waffe kam ihr riesig vor, und sie war ungeheuer erleichtert, daß sie auf Fred gerichtet war. "Töte sie nicht, Fred", rief Alec verzweifelt. "Tu der Mutter meines Babys nichts an. Bitte, Fred." Fred zuckte zusammen, als hätte ihn eine Kugel getroffen. "Alecs Baby?" Er packte Caits Kinn und riß ihren Kopf herum. "Ist das wahr? O Gott, ist das wahr?" Cait wußte nicht, was sie in Fred Masters Augen zu sehen erwartete - Wahnsinn oder einen Zorn, der so tief war, daß er ihm den Verstand raubte? Doch was sie sah, verwirrte sie. In seinem Blick lagen Schmerz und Entsetzen. Vielleicht las er in ihren Augen die Wahrheit über Allie, über Alec, und begriff, daß sein ganzes Leben bedeutungslos geworden war. Daß alles, was er geglaubt und getan hatte, vergebens war. "Fred!" Wieder zuckte Fred zusammen, er legte die Hand fester um Caits Kinn und drehte ihr Gesicht zum Seitenfenster. "Halt den Mund, Alec! Halt einfach den Mund! Ich muß nachdenken! Und das kann ich nicht, wenn du dauernd schreist. Du solltest damals im WHO-Gebäude sterben. Als ich herausfand, daß du nicht gestorben warst, beschloß ich, dich leben zu lassen - solange du
dich verborgen hältst. Aber du mußtest ja unbedingt nach ihr suchen! Du verdammter Idiot!" Alec konnte sehen, daß Fred vor Wut zitterte. Es versetzte ihm einen Stich ins Herz, als sein ehemaliger Freund Caits Gesicht gegen das kalte Glas der Seitenscheibe preßte. Ihre Augen waren weit aufgerissen, die Lippen quetschten sich an die Scheibe. Verdammt, so wollte er sie nicht in Erinnerung behalten. "Es verstößt gegen die Regeln, mit einer Geisel eine persönliche Beziehung einzugehen, Alec! Du bist kein Anfänger mehr. Ich kann nicht dauernd hinter dir hersein und das Chaos beseitigen, das du angerichtet hast!" schrie Fred erbost. Cait hatte recht. Fred war tatsächlich geisteskrank. Ob es sich Münchhausen-Syndrom oder anders nannte, der Mann war verrückt. Alec versuchte, nicht daran zu denken, wie Cait sich fühlen mußte, sondern nur daran, wie er sie befreien konnte. Er wagte nicht, sich nach Jack umzusehen. Er wußte nur, daß sein langjähriger Partner aus Freds Blickfeld verschwunden war. "Ihr jungen Burschen kommt frisch vom Jurastudium ins FBI und denkt, ihr wüßtet genau Bescheid, wie ein Verbrecher denkt. Dabei wißt ihr gar nichts!" wütete Fred. Es waren nicht Freds Worte, die Alecs Knie weich werden ließen. Es war Caits schlanke Hand, die sich langsam dem Schalthebel näherte. "Ich weiß genug, um keinen Mord zu organisieren!" rief Alec, um Freds Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. "Jemand mußte etwas unternehmen!" schrie Fred. "Das Land hatte schon fast vergessen, daß es das FBI gibt. Daß es uns braucht, verdammt!" Caits Finger ertasteten den Schalthebel, und Fred drehte sich halb zu ihr um. Als er etwas schrie, gab Alec einen Schuß ab, der das Wagendach nur um Millimeter verfehlte.
Noch bevor der Knall verklungen war, wirbelte Fred wieder herum und preßte Caits Gesicht gegen die Scheibe, während er durch das Glas hindurch auf Alec feuerte. "Nein!" hörte er Cait aufschreien, als die Scheibe zersplitterte und Freds Kugel ihn in die Schulter traf. Obwohl er breitbeinig dastand, warf die Wucht des Treffers ihn herum und dann zu Boden. Er lag auf dem Rücken, der Arm schmerzte höllisch, und die Angst um Cait raubte ihm den Atem. Trotzdem rollte er sich auf die Seite und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Er hatte sich halb aufgerichtet, da sah er, wie die Beifahrertür aufgestoßen wurde und die Innenbeleuchtung anging. Auf der anderen Seite des Wagens stand Jack. Cait schrie auf. "Nein, Jack!" rief Alec, doch es war zu spät. Fred fuhr herum und schoß Jack in die Brust. Immer noch schreiend nutzte Cait ihre Chance und schob den Schalthebel nach hinten. Der Wagen ruckte nach hinten und schoß mit quietschenden Reifen nach vorn. Alec rief ihren Namen und rannte hinterher. Er hörte sie etwas schreien, und dann fiel im Wagen ein Schuß. "O Gott, nein!" Alec taumelte über die Straße. Als der Wagen vor ihm hielt, prallte er dagegen, rutschte über den Kofferraum und prallte gegen das Heckfenster. Er fiel auf den Asphalt und sprang sofort wieder auf, ohne auf den Schmerz zu achten, ohne an etwas anderes zu denken als an Cait. Er hatte schon einmal gehört, wie sie seinen Namen rief. Und dann war der Schuß gefallen, wie bei einer Hinrichtung, und sie war verstummt. Damals war sie doch nicht gestorben. Bitte, Gott, flehte Alec, laß es auch jetzt nicht wahr sein. Bitte, bitte ... Ihm war nicht bewußt, daß er diese Worte murmelte, als er die Fahrertür erreichte. "Oh, bitte, dir darf nichts passiert sein, Cait..."
Es war ihm egal, ob Fred ihn drinnen erwartete. Er zog die Tür des gestohlenen Wagens auf und sank auf die Knie, als er Caits über das Lenkrad gefallenen Körper erblickte. Fred Masters war halb innerhalb, halb außerhalb des Wagens. Blut strömte ihm über das Gesicht. Alec konnte nicht erkennen, ob er tot oder lebendig war, und es interessierte ihn kein bißchen. "Cait..?" flüsterte Alec mit angsterstickter Stimme. Als sie sich nicht bewegte, schrie er vor Trauer und Entsetzen auf. Und sie zuckte zusammen. Dann sah sie ihn ungläubig an. "Ich ... habe doch gesehen ..., wie er dich ... erschossen hat", stammelte sie. "Nur ein Kratzer", versicherte er ihr. Er wußte nicht, warum sie erst lachte und danach in Tränen ausbrach. Alec wollte sie in die Arme nehmen, aber er mußte nach Fred sehen. Und nach Jack. "Bist du verletzt?" fragte er und stand mühsam auf. Sie schüttelte den Kopf. "Ich glaube nicht." "Bleib hier", befahl er und ging um den Wagen herum, den Blick und die Waffe auf Fred gerichtet. Sekunden später kannte er die Wahrheit: Fred Masters würde nicht länger mit dem Leben von FBI-Agenten Gott spielen. Etwa fünf Meter hinter dem Wagen lag Jack King auf einem Vorgartenrasen. Entlang der Straße gingen Lichter an, und einige Männer standen vor ihrer Haustür. "Was ist los?" rief einer von ihnen. Alec ignorierte sie und kniete sich neben seinen Freund. "Jack?" "Ja", keuchte Jack. "Rufen Sie einen Krankenwagen", schrie Alec. "Kollege in Lebensgefahr!"
Er hörte, wie mindestens zwei Türen ins Schloß fielen. "Halt durch, Jack", sagte er und zog die Jacke aus, um sie ihm unter den Kopf zu schieben. "Es tut mir leid, Alec. Ich hätte es dir schon viel früher erzählen sollen." "Mach dir darüber jetzt keine Gedanken." "Ich wollte dich nur schützen", sagte Jack. "Ich weiß." "Ist sie okay?" "Es geht ihr gut." Alecs Knie begannen so heftig zu zittern, daß er sich auf den Rasen setzen mußte. Er tastete nach Jacks Schußverletzung. "Hier." Jemand drückte ihm etwas Weiches in die Hand. Er hob den Kopf. Cait hatte ihm eine saubere Wegwerfwindel gegeben. Er mußte schmunzeln, als er aus der Windel einen Verband machte und ihn auf Jacks Wunde preßte. "Vielleicht passen Waffen und Windeln ja doch zusammen", sagte er und wagte nicht, Cait anzusehen. "Ich liebe dich, Alec", erwiderte sie, bevor sie sich neben ihn setzte und den Kopf an seine gesunde Schulter lehnte. "Mitsamt deiner Schußwunde und allem anderen."
16. KAPITEL Dienstag, 20. November, 11.15 Uhr "Ich würde gern wissen, warum du gelacht hast, als ich dir sagte, es sei nur ein Kratzer?" fragte Alec Cait und zog sie an sich. "In diesem Bett ist nicht genug Platz", sagte sie. "Vor allem, wenn du das Kopf teil hochgestellt hast." "Mir gefällt es so. Es ist viel..." "Die Besuchszeit ist in fünfzehn Minuten zu Ende", verkündete eine Schwesternhelferin von der Tür her. "Danke", sagte Cait und stand vom Bett auf. Sie zupfte ihre Bluse zurecht und setzte eine strenge Miene auf. "Du mußt dich erholen." "Ich habe dir doch gesagt, daß ich nur einen... Warum lächelst du jedesmal, wenn ich es wiederhole?" Sie wurde ernst. "Als ich noch glaubte, daß du tot bist... malte ich mir immer aus, wie jemand mir erzählt, daß du gar nicht tot bist. Was? Alec tot? Um Himmels willen, nein. Nur ein Kratzer." "Nun, diesmal ist es wirklich nur ein Kratzer." "Wohl kaum", widersprach sie aufgebracht. "Fred Masters hat dich genau dort getroffen, wo du auch beim letzten Mal getroffen wurdest. Beim vorletzten Mal, meine ich."
Alec lächelte. Er mochte es, wie sie damit fertig zu werden versuchte, daß er in seinem Beruf eine wandelnde Zielscheibe darstellte. "Warst du jemals in New Mexico, Cait?" "Nein, warum?" "Ich habe dort ein Blockhaus, weißt du? Und ich habe dort noch etwas zu erledigen." "Einen neuen Auftrag? Jetzt schon?" "Keine Angst, Cait. Ich habe mein Abzeichen zurückgegeben." Sie senkte den Blick, und er verstand nicht, was das bedeutete. "Was ist?" fragte er. "Tust du das, weil ich dir ein paar Takte über Allie und Waffen gesagt habe?" Sie war nicht die Art von Frau, die ein Mann anlog. "Nicht nur deswegen", erwiderte er lächelnd. "Auch weil du sagtest, daß du mich liebst... mitsamt meinen Schußwunden. Wenn ich zu oft im Krankenhaus liege, verliere ich zuviel Zeit mit dir." Ihr prüfender Blick erinnerte ihn an den von Tante Margaret. Und an den von Allie. "Ist das dein Ernst?" fragte sie. "Ja." "Es wird dir fehlen", warnte sie. "Wird es nicht." "Du wirst dich langweilen und mißmutig werden und jeden Abend in den Billardsalon gehen wollen." Er schmunzelte. "Ich liebe dich, Cait." Er schaute ihr tief in die Augen, damit sie sah, daß er die Wahrheit sagte. "Alec, du liebst das FBI." "Du hast recht, Cait, das tue ich. Und ich weiß, ich könnte beim FBI bleiben und trotzdem mit dir und Allie Zusammensein. Aber das will ich nicht." "Weil ich das mit Allie und den Waffen gesagt habe", beharrte Cait.
"Weil ich alles über dich wissen will, Cait. Wie du morgens aussiehst. Welches Gesicht du machst, wenn du dir einen Film anschaust. Deine Stimmungsschwankungen, wenn du schwanger bist. Alles. Und das kann ich nicht, wenn ich dauernd unterwegs bin." "Aber..." "Ich habe bereits zwei Jahre versäumt, Cait. Das ganze bisherige Leben meiner Tochter. Ich will, daß wir die verlorene Zeit nachholen. Und ich will Allie kennenlernen. Eine Familie haben. Und ich glaube nicht, daß ich mich jemals wieder in Gefahr begeben könnte, ohne mir Sorgen um euch zwei zu machen." "Du wirst nicht unglücklich sein?" fragte sie. "Nur, wenn du und Allie nicht bei mir seid." Er winkte sie zu sich, und sie trat ans Bett. Er zog sie zu sich hinab, und sein Kuß war ein Versprechen. "Was ist mit Jack?" fragte sie ein wenig atemlos, als sie sich schließlich von ihm löste. "Was soll mit ihm sein?" "Ich wünschte, du würdest mit ihm reden", sagte sie. "Er hat uns das Leben gerettet." An jedem Tag der Woche, die er schon im Krankenhaus lag, hatte sie ihn gedrängt, Jack zu besuchen. Er hatte seinem alten Freund vertraut und ihr Leben in seine Hände gelegt. Mit der Präzision erfahrener Partner hatten sie versucht, Fred Masters auf friedliche Weise festzunehmen. Aber daß Jack ihm so viel Zeit gestohlen hatte, konnte Alec ihm nicht verzeihen. "Es geht ihm besser", sagte sie. "Es wird lange dauern, bis er gesund ist, aber er wird durchkommen." Das überraschte Alec nicht. Jack war ein zäher Bursche. "Dann kann er endlich etwas gegen sein Magengeschwür tun. Was ist mit Tante Margaret? Ist sie wieder zu Hause?" "Noch nicht", antwortete Cait leise. "Stimmt etwas nicht?"
"Nein." "Komm schon, Cait. Was ist?" "Ich bin mir noch nicht sicher." Cait setzte sich aufs Bett und sah ihm ins Gesicht. "Wenn das stimmt, was ich vermute, solltest du dich mit Jack versöhnen." Alec kniff die Augen zusammen. Plötzlich ging ihm ein Licht auf. "Tante Margaret?" "Für Jack ist sie Margaret." "Das soll wohl ein Scherz sein." Cait schüttelte den Kopf. Alec mußte lächeln. "Tante Margaret und Jack?" fragte er ungläubig. "Margaret und Jack." Auch Cait lächelte jetzt. "Also, wirst du mit ihm reden?" "Das muß ich wohl, was?" Sie stand auf und schob den Rollstuhl ans Bett. "He! Ich meinte nicht, jetzt sofort!" Sie streckte ihm die Hand entgegen. "Wie du selbst sagtest, je früher, desto besser." "Na schön, aber ich werde ihn ganz bestimmt nicht in dem Ding da besuchen." Einige Minuten und mindestens zwölf Korridormeilen später betrat Alec Jacks Zimmer. Margaret, die in einem Sessel neben Jacks Bett saß, zog die Augenbrauen hoch, als sie Alec sah. Sie ließ Jacks Hand los und erhob sich. "Ich glaube, ich gehe eine Tasse Tee holen", sagte sie und strahlte Alec an. Er ging zur Seite, um sie vorbeizulassen. "Mach es ihm nicht so schwer", flüsterte sie, bevor sie den Raum verließ. Daß jeder anzunehmen schien, er würde Jack den Kopf abreißen, ärgerte ihn. Natürlich würde er das gern tun, wenn sein Freund auf eigenen Beinen stehen könnte, aber wie die Dinge lagen... "Alec."
"Jack." "Wie geht es der Schulter?" "Gut. Und deiner Brust?" "Ist noch dran." "Und dem Magengeschwür?" "Besser." "Nun ja", begann Alec verlegen. Was er für seinen grauhaarigen Partner empfand, verunsicherte ihn. "Nun ja, Cait meinte, du würdest irgendwann kommen", sagte Jack. "Da bin ich." Jack sah sich um, als könnte er es kaum fassen: "Gut, daß du nicht bewaffnet bist." "Da könntest du recht haben." Alec mußte ein Lächeln unterdrücken. "Cait findet, ich soll ehrlich sein. Dir alles erzählen und nichts beschönigen." "Das wäre mal etwas Neues", entgegnete Alec. "Bei meinem letzten Auftrag in Nevada, bei dem direkt vor deiner Nummer bei der WHO, sprach ich mit ein paar von den Jungs, die in Michigan dabeigewesen waren. Du erinnerst dich?" "Sicher", antwortete Alec. Jack meinte einen Schußwechsel mit Rechtsextremisten, bei dem ein Agent verletzt und zwei Terroristen getötet worden waren. "Einer der Männer in meinem Team hat von einem überlebenden Terroristen erfahren, daß die Gruppe vom FBI dafür bezahlt worden war, Aufsehen zu erregen. Mein Mann schwor, daß das die exakten Worte des Kerls waren." "Und?" fragte Alec. Er ahnte, worauf Jack hinauswollte. "Als ich aus Nevada zurückkam, stellte ich ein paar Nachforschungen an. Ich nehme an, du hast in etwa dasselbe herausgefunden wie ich. Die Anweisungen an die Terroristen kamen direkt aus unserer Abteilung." "Du hast es früher herausbekommen als ich."
"Ich habe einen Hinweis erhalten", gestand Jack. "Und du wolltest niemanden einweihen?" fragte Alec. "Mich auch nicht?" "Das konnte ich nicht. Schließlich stammten die Befehle von jemandem in unserer Abteilung." "Soll heißen, du hattest auch mich im Verdacht", folgerte Alec. "Nein, verdammt." "Natürlich hattest du auch mich im Verdacht. Deshalb hast du mir befohlen, mich totzustellen und eine neue Identität anzunehmen. Deshalb sollte ich auch glauben, daß Cait tot ist. Du wolltest mich kaltstellen." "Als du angeschossen wurdest, wußte ich, daß du nichts damit zu tun hattest, verdammt. Und ich wußte auch, daß jemand dich tot sehen wollte. Damit blieben als Verdächtige nur noch Fred und Jörge übrig." "Jack, du konntest nicht wissen, ob ich sauber war. Ebensowenig, wie ich es von dir wußte. Wir waren nur vier. Aber ich wußte, daß ich es nicht war", sagte Alec. "Und als du erfuhrst, daß Cait Wilson noch am Leben war ..." "Ja." "Ich ließ dich beschatten, für den Fall, daß Fred oder Jörge es noch einmal versuchen. Und du bist meinen Leuten entwischt, als du nach Washington flogst. Hättest du an jenem Abend mit mir geredet, wäre uns beiden viel erspart geblieben." "Hättest du mich eingeweiht, wäre uns alles erspart geblieben", entgegnete Alec. Jack zuckte mit den Schultern. "Wer kann das wissen?" "Eine Frage. Wer hat an jenem Abend vor Caits Haus auf mich gewartet?" "Fred. Ich hatte befohlen, dich aus der Schußlinie zu nehmen. Aber wenn ich dich überwachen konnte, konnte auch jemand mich überwachen. Er hat mich überlistet." Jack schüttelte
betrübt den Kopf. "Fred war verrückt. Darauf bin ich nicht gekommen. Du etwa?" fragte er. "Nein. Erst, als Cait auf ein denkbares Motiv kam." "Ja. Ganz schön unheimlich, was?" "Schlechte Presse für das FBI", sagte Alec. "Du mußtest es tun. Vielleicht herrscht in unserem Geschäft einfach zuviel Geheimniskrämerei." Jack lächelte. "Bist du jetzt mit mir fertig?" "Ja." "Sag mal, wie viele Wagen hast du eigentlich gestohlen? Du hast die Verbrechensquote ganz allein in die Höhe getrieben, mein Freund." Alec erzählte es ihm, und sie brachen beide in ein befreiendes Gelächter aus.
EPILOG Donnerstag, 21. November, 15.30 Uhr Ein Jahr später "Kiefernzapfen", sagte Allie und hielt einen weiteren Fungi hoch. Es war der fünfzigste, den sie Alec auf ihrem kurzen Spaziergang um die Blockhütte gegeben hatte. Seine Taschen waren gefüllt, und er hatte beide Arme voll. Sie stolperte über eine Baumwurzel und fiel auf die Knie. Sämtliche Kiefernzapfen auf seinen Armen flogen durch die Luft, als Alec sich bückte, um seine Tochter aus dem Schnee zu heben. Verblüfft sah sie ihn an. "Hingefallen", sagte sie ganz sachlich und wischte Schnee und Schmutz von ihrem Schneeanzug. Er strich ihr über die Stirn, die einzige saubere Stelle in ihrem Gesicht, und stellte sie wieder auf die Beine. "Mama wartet auf uns. Wir sollten zurückgehen." Sie erwiderte etwas, das er nicht verstand, und rannte los. Lächelnd folgte er ihr. Plötzlich spürte er, daß er beobachtet wurde. Er blieb stehen und schaute zur Veranda hinüber. Cait stand vor der Tür, seine alte Jacke wie einen Poncho um die Schultern gelegt. Ihr Gesicht war gerötet. Sie hatte das Thanksgiving-Essen zubereitet, und ihr zerzaustes Haar faszinierte ihn wie beim ersten Mal. Sie fing Allie auf, als die Kleine die Treppe hinaufrannte, nahm sie in den Arm und lächelte Alec entgegen. Sie
schmunzelte über etwas, das Allie sagte, und strich ihr liebevoll über die dunklen Locken. Dann zeigte sie dorthin, wo Alec stand. Allie strahlte, als hätte sie ihn seit Stunden nicht mehr gesehen. Ihre blauen Augen leuchteten, und ihre Zähne blitzten. "Daddy!" rief sie. "Daddy!" In Alecs Brust zog sich etwas zusammen. Es war ein herrliches Gefühl. Cait schickte ihm einen Kuß und winkte. Ihr Ehering glitzerte im Licht der untergehenden Sonne. Alec stockte der Atem, und einen Moment lang glaubte er zu träumen, so schön war alles. Cait lachte. "Habt ihr noch ein paar Kiefernzapfen übriggelassen?" Sie zeigte auf seine ausgebeulten Taschen. Er rannte auf die Veranda und nahm sie »und Allie in die Arme. "Es ist kein Traum", sagte er ergriffen. "Du bist wirklich hier." Cait strich ihm mit ihrer warmen Hand über das eiskalte Gesicht. "Für immer", erwiderte sie leise. "Manche Träume werden tatsächlich wahr."
-ENDE-