Narratologia Contributions to Narrative Theory/ Beiträge zur Erzählt�eorie
Edited by/Herausgegeben von Fotis Jannidis, John Pier, Wolf Schmid
Editorial Board/Wissenschaftlicher Beirat Catherine Emmott, Monika Fludernik
Jose
Angel
Garcia Landa, Peter Hühn, Manfred Jahn
. Andreas Kablitz, Uri Margolin, Matias Martinez Jan Christoph Meister, Ansgar Nünning Marie-Laure Ryan, Jean-Marie Schaeffer· Michael Scheffel, Sabine Schlickers, J örg Schönert
8
Walter de Gruyter . Berlin . New York
Wolf Schmid
Elemente der Narratologie
Walter de Gruyter . Berlin . New York
@ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ISSN 1612-8427 ISBN 3-11-018593-8
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abrufbar.
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S' chneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen Einbandgestaltung: Christopher
Vorwort Das vorliegende Buch geht auf meine in russischer Sprache erschienene
Narratologija
(Moskau
2003)
zurück. Aber es handelt sich nicht ledig
lich um eine Übersetzung, sondern um eine am deutschen Leser orien tierte Version, die nach den Reaktionen auf die russische Ausgabe über arbeitet und erweitert wurde. Dass das Buch zunächst auf Russisch und in Russland erschien, war damit begründet, dass die Kategorien der modernen Narratologie sich wesentlichen Anregungen russischer Theoretiker und Schulen verdan ken. Zu erwähnen sind hier insbesondere die Vertreter des russischen Formalismus (Viktor
Sklovskij, Boris Tomasevskij,
Jurij Tynjanov,
Roman Jakobson), Theoretiker wie Vladimir Propp, Michail Bachtin,
Valentin Volosinov
g
und die Mitglieder der sogenannten Moskau-Tartu
Schule wie Jurij Lotman und Boris Uspenskij. Die "Narratolo ija" soll te die russischen Leser mit rezenten Entwicklungen jener Theorie be kannt machen, die letztlich russische Ursprünge hatte, und sie sollte das im heimischen Bereich noch nicht hinreichend entfaltete theoretische Potential des russischen Beitrags erkennbar machen. Die Entscheidung, die russische "Narratologija" auch dem Westen zugänglich zu machen, beruht auf der Überlegung, dass der erzähltheoretische Beitrag Russ
lands (und anderer slavischer Länder), so sehr ihm in den sechziger und siebziger Jahren die Aufmerksamkeit der sich formierenden Narratolo gie gegolten hatte I , noch umfassenderer Würdigung bedare. Das vorliegende Buch verfolgt - auch in seiner deutschen Version jedoch weniger ein theoriegeschichtliches als ein systematisches Inter esse. Historische Abrisse zu einzelnen Schlüsselbegriffen dienen in ers ter Linie der Beschreibung der entsprechenden Phänomene. Anders als der russische Titel
Narratologija,
der im Mutterland von Formalismus
und Strukturalismus einen dort noch nicht etablierten Begriff einführen
2
Man vgl. Todorov 1966, 1971a,1971b. Wege und Resultate dieses Einflusses slavischer Schulen sind Gegenstand des vom Verfasser geleiteten Teilprojekts ,,Der Beitrag des slavischen Funktionalismus. zur internationalen Narratologie" im Rahmen der Hamburger ForschergruppeNarratolo gie (vgI. www.NarrPort.uni-hamburg.de).
6
Vorwort
und damit eine Disziplin präsentieren sollte, signalisiert der für den Westen und seinen elaborierten narratologischen Kontext gewählte Titel
Elemente der Narratologie
zugleich Fundamentalität und Partiali
tät des Zugangs. Nach einer Exposition der Merkmale des Erzählens im fiktionalen Werk konzentriert sich das Buch auf Elemente einerseits aus dem Be reich der ,Perspektivologie' (Kommunikationsstruktur und Instanzen des Erzählwerks, Erzählperspektive, Beziehung zwischen Erzählertext und Personentext) und anderseits der ,Sujetologie' (Narrativität und Ereignishaftigkeit,
narrative
Transformationen
eines
Geschehens).
Nicht oder allenfalls nur am Rande werden in diesem Buch Fragen nach den anthropologischen Bedingungen und der Pragmatik des Erzählens gestellt. Auch der Wissenschaftscharakter der Narratologie, die Rele vanz ihrer Werkzeuge für benachbarte Disziplinen und die Frage der sogenannten "new narratologies" bleiben ausgespare. Im Mittelpunkt der
Elemente der Narratologie
stehen konstitutive Strukturen fiktiona
ler Erzähltexte. Insofern kann man das Buch als eine Theorie des Er zählwerks betrachten, die in besonderer Weise am slavischen Ursprung der Erzählforschung orientiert ist.
*
Der größte Teil des Buches wurde in den Jahren
1 999/2000
während
zweier Forschungsfreisemester erstellt, die von der DFG und der Uni versität Hamburg gewährt wurden. Für Hilfe beim Lesen der Korrektur dankt der Autor Frau Maja Ne mere, M.A.
3
Für den ersten Problembereich vgl. den Sammelband des ersten Kolloquiums der Hamburger Forschergruppe What is Narratology? Questions and Allswers Regar
dillg the Stallts 01 a Theory (Kindt/Müller [Hgg,]
20(4);
auf die Frage nach der Nar
ratologie jenseits der Literaturwissenschaft sucht, der Sammelband des zweiten Kolloquiums Narratology beyolld Literary Criticis� (Meister [Hg.]
2005)
eine Ant
wort; zur Frage der multiplen Narratologien und der ..new narratologies" vgl. den Sammelband von David Herman (Hg. ersten Kolloquium (Nünning
2003).
1999)
und Ansgar Nünnings Beitrag zum
Inhalt
I.
Merkmale des Erzählens im fiktionalen Werk
1.
Narrativität und Ereignishaftigkeit......................................... ... .
11
a) Der klassische und der strukturalistische Narrativitätsbegriff (11) - b) Narration und Deskription (17) - c) Erzählende und mimetische narrative Texte (18) - d) Ereignis und Ereignishaftigkeit (20) - e) Zeitliche und unzeitliche Verknüpfung (27)
2.
Fiktionalität...................... .. . .. .. .... ........................................... ..
..
..
32
a) Fiktion und Mimesis (32) - b) Die Kontroverse um die Fiktiona lität (34) - c) Signale der Fiktion (37) - d) Darstellung fremder Innenwelt als Merkmal fiktionaler Texte (39) - e) Die fiktive Welt (41) 11. Die Instanzen des Erzählwerks
1.
Modell der Kommunikationsebenen ... .. .
2.
Der abstrakte Autor
. . .. . ... .. . .. .. .
.. .
47
.....................................................................
49
.
.. .... .
.
...
. ..
..
a) Konkrete und abstrakte Instanzen (49) - b) Vorgeschichte des abstrakten Autors (50) c) Kritik des Autors (54) - d) Für und wider den abstrakten Autor (56) - e) Zwei Versuche einer Aufspal tung des abstrakten Autors (58) - f) Skizze einer systematischen Definition (61) -
3.
Der abstrakte Leser. ... . .. .. .. ... ....... ·......................................... . .
.. .
.
.
.
65
a) Der abstrakte Leser als Attribut des abstrakten Autors (65) b) Vorgeschichte des abstrakten Lesers (66) - c) Definition des abstrakten Lesers (67) - d) Unterstellter Adressat und idealer Rezi pient (69) - e) Kritik des idealen Rezipienten (70)
4. Der fiktive Erzähler ..................................................................... a) Explizite und implizite Darstellung des Erzählers (72) - b) Indi vidualität und Anthropomorphismus des Erzählers (75) - c) Die Markiertheit des Erzählers (77) - d) Abstrakter Autor oder Erzäh ler? (81) - e) Typologien des Erzählers (82) - f) Primärer, sekundä rer und tertiärer Erzähler (83) - g) Diegetischer und nichtdiegeti-
72
8
Inhalt
scher Erzähler (85) - h) Exkurs: Dostoevskijs Schwanken zwischen diegetischem und nichtdiegetischem Erzähler im "Jüngling" (92) i) Typen des diegetischen Erzählers (94) j) Erzählendes und er zähltes Ich (97)
-
-
5.
Der fiktive Leser........ ................................................................. .
100
a) Fiktiver Adressat und fiktiver Rezipient (100) b) Fiktiver und abstrakter Leser (102) - c) Explizite und implizite Darstellung des fiktiven Lesers (103) - d) Erzählen mit dem Seitenblick auf den fiktiven Leser ("Der Jüngling") (107) e) Der dialogische Erzähl monolog (110) -
-
IH. Die Erzählperspektive 1.
Theorien des "point of view", der Fokalisierung und der Perspektive...................................................................................
1 13
a) F. K. Stanzel (114) - b) G. Genette und M. BaI (115) c) B. A. Uspenskij, J. Lintvelt und Sh. Rimmon (120)
2.
Modell der Erzählperspektive.....................................................
125
a) Geschehen als Objekt der Perspektive (125) b) Erfassen und Darstellen (126) - c) Parameter der Perspektive (127) - d) Narratoriale und personale Perspektive (132) e) Perspektivierung in der diegetischen Erzählung ( ..Der Schuss") (136) - f) Narratoriale und personale Gestaltung in den fünf Parametern der Perspektive (138) - g) Kompakte und distributive Perspektive (147) - h) Zur Methodik der Analyse: drei Leitfragen (149) -
-
IV. Erzählertext und Personentext 1.
Die beiden Elemente des Erzähltextes ... .... ... ......... .. ............. . .
. .
.
151
a) Erzählerrede und Personenreden (151) - b) Die Personenreden im Erzähltext (152) - c) Erzählerrede und Erzählertext, Personenreden und Personentext (154)
2.
Ornamentale Prosa und Skaz...................................................... a) Ornamentale Prosa (157) - b) Der Skaz: Definitionen (164) c) Der Skaz: Forschungsgeschichte (B. Ejchenbaum, Ju. Tynjanov, V. Vinogradov, M. Bachtin) (166) - d) ClJarakterisierender und ornamentaler Skaz (169) - e) Merkmale d S charakterisierenden Skaz (170) - f) Charakterisierender Skaz i russischer und deutscher Literatur (172) - g) Der ornamentale Skaz (174)
F p
156
9
Inhalt
3.
Die Interferenz von Erzählertext und Personentext .
.. .
.. ...... . . . ...
177
a) Die Struktur der Textinterferenz (177) - b) Die Opposition der Texte und ihre Merkmale (180) c) Die reinen Texte und die Neu tralisierung der Opposition (184) - d) Die Textinterferenz als Transformation des Personentextes (186) - e) Direkte Rede und direkter innerer Monolog (190) - f) Die direkte personale Benennung (195) - g) Die indirekte Darstellung von Reden, Gedanken und Wahrnehmungen (196) h) Die freie indirekte Rede (199) i) Erlebte Rede: Definition (200) j) Typen der erlebten Rede im Deutschen und Russischen (202) - k) Die erlebte Wahrnehmung (207) I) Der erlebte innere Monolog (208) - m) Die erlebte Rede im diegetischen Erzählen (210) n) Das uneigentliche Erzählen (211) 0) Funktionen der Textinterferenz (214) - p) Uneindeutigkeit und Bitextualität (217) -
-
-
-
-
-
-
V. Die narrativen Transformationen: Geschehen Geschichte - Erzählung - Präsentation der Erzählung
1.
"Fabel" und "Sujet" im russischen Formalismus ...
.. . . .. . . .
....
.
.
.. .
.
223
a) Modelle der narrativen Konstitution (223) - b) V. Sklov�kij (224) - c) M. Petrovskij (228) - d) L. Vygotskij (230) e) B. Tomasevskij (233)
2.
Die Überwindung des formalistischen Reduktionismus...........
236
a) "Histoire" und "discours" im französischen Strukturalismus (236) b. Drei-Ebenen-Modelle (239) -
3.
Die vier narrativen Ebenen ...
.
. . . .. .
..... ............. . . ...
. ..
... .... .
. ..
......... .
241
a) Das idealgenetische Modell (241) b) Der Ort der Perspektive (245) c) Vom Geschehen zur Geschichte (246) - d) Auswahl und Perspektive (249) e) Raffung und Dehnung (251) f) Das Nicht Gewählte (257) g) Von der Geschichte zur Erzählung (259) h) Die Komposition der Erzählung und die Perspektive (262) i) Von der Erzählung zu ihrer Präsentation (264) - j) Ein idealgene tisches Modell der Perspektive (266) - k) Erzählgeschehen und Erzählgeschichte (268) - I) Das semiotische Modell (269) m) Die Korrelation der Ebenen in der Wortkunst (271) -
-
-
-
-
-
SchI uss
................................................................................................
Literatur .
. .
. . . .. .... .
... . ..... ... ....... . . .. . ..
.
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. ......
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Glossar und Index narratologischer Begriffe Index der Namen und Werke
. . .. .
.....
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..
. .. .. . .
..... . ... .... .
...
..
..
..
. .
.. ..........
......
. ...
.
273 279
.
307
. . ... .. ... .. ... ...... . . .. .. . . . ....... .... .
3 13
..
.. .
.....
..
..... . . .
..... . .
I. Merkmale des Erzählens im fiktionalen Werk
1. Narrativität und Ereignishaftigkeit a) Der klassische und der strukturalistische Narrativitätsbegriff Zum Narrativen gibt es in der Literaturwissenschaft zwei verschiedene Konzeptionen. Die erste von ihnen hat sich in der klassischen Erzähltheo rie besonders deutscher Provenienz gebildet, die sich noch nicht
logie nanntel.
Narrato
In dieser Tradition galten als erzählend Texte, die bestimm
te Merkmale der Kommunikation enthielten. Erzählen, das der unmittel baren dramatischen Präsentation entgegengesetzt wurde, war an die Ge genwart einer vermittelnden Instanz, des "Erzählers", gebunden. Die Prä senz eines solchen Mittlers zwischen dem Autor und der erzählten Welt war für die klassische Erzähltheorie das Spezifikum des Narrativen. In der Brechung der erzählten Wirklichkeit durch das Prisma des Erzählers er blickte man das Wesen des Erzählens. So stellte Käte Friedemann, die Schülerin Oskar Walzeis und Begründerin der klassischen deutschen Er zähltheorie, in ihrem Buch
Die Rolle des Erzählers in der Epik ( 1 9 1 0),
der unmittelbaren dramatischen Wirklichkeitspräsentation die mittelbare erzählerische gegenüber: "Wirklich" im dramatischen Sinne ist ein Vorgang, der eben jetzt geschieht, von dem wir Zeuge sind und dessen Entwicklung in die Zukunft wir mitmachen. "Wirklich" im epischen Sinne aber ist zunächst überhaupt nicht der erzählte Vorgang, sondern das Erzählen selbst. (Friedemann
1 9 10, 25)
Damit widersprach Friedemann der Auffassung Friedrich Spielhagens
( 1 88 3 , 1 898),
der um der anzustrebenden "Objektivität" willen den völli
gen Verzicht des epischen Autors auf die Einschaltung einer subjektiven Erzählinstanz, d. h. aber - nach der Konjektur Käte Friedemanns - nichts anderes als "dramatische Illusion" gefordert hatte:
Der Begriff
Narratologie ist von Tzvetan Todorov (1 969, 1 0) geprägt worden: ;,Cet
ouvrage releve d'une science qui n'existe pas encore, disons la lIarratologie, la science du r6cit".
12
I. Merkmale des Erzählens im fiktionalen Werk
[Der Erzählerj symbolisiert die uns seit Kant geläufige erkenntnistheoretische Auffas sung, dass wir die Welt nicht ergreifen, wie sie an sich ist, sondern wie sie durch das Medium eines betrachtenden Geistes hindurchgegangen. (Friedemann 1 9 1 0 , 26) Noch in jüngerer Zeit wird die Spezifik des Erzählens hinsichtlich des Vennittlungsvorgangs definiert. So eröffnet Franz
rie des Erzählens (1979),
K.
Stanzel seine
in der er seine älteren Arbeiten
Theo ( 1 95 5 , 1 964)
resümiert und an die jüngere theoretische Diskussion anschließt, mit der Erneuerung der "Mittelbarkeit" als des bestimmenden Merkmals erzäh lender Texte, mit der Wiederaufnahme eines Merkmals also, das schon in der Einleitung der
Typischen Erzählsituationen
(Stanzel
1 95 5 , 4)
als fun
damentales Kriterium des Erzählens figurierte2• Ein zweites Konzept der Narrativität hat sich in der strukturalistischen Narratologie herausgebildet. Konstitutiv für das Erzählen ist nach diesem Konzept nicht ein Merkmal des Diskurses oder der Kommunikation, son dern des Erzählten selbst. Der. Begriff des Narrativen, der mit dem des Deskriptiven konkurriert, impliziert nicht mehr die Präsenz einer ver mittelnden Darstellungsinstanz, sondern vielmehr einen bestimmten Auf bau des darzustellenden Materials. Texte, die im strukturalistischen Sinne narrativ genannt werden, präsentieren, im Gegensatz zu deskriptiven Tex ten, eine temporale Struktur und stellen
Veränderungen dar.
Die klassische Konzeption beschränkt die Narrativität auf Verbalität, erfasst nur solche Werke, die eine vennittelnde Erzählinstanz enthalten, darunter auch rein beschreibende Reiseberichte und Skizzen, und schließt alle lyrischen, dramatischen und filmischen Texte aus dem Bereich des Narrativen aus. Die strukturalistische Konzeption schließt Repräsentatio nen jeglichen Mediums ein, sofern sie Veränderungen darstellen, schließt aber alle Darstellungen aus, deren Referent keine temporale Struktur be sitzt und deshalb keine Veränderung enthält. Narrativ sind demnach auch das Drama und die Lyrik, sofern in ihnen Veränderungen dargestellt .
sind3•
Beide Konzeptionen erweisen sich im Umgang mit Texten allerdings als unbefriedigend: Die traditionelle ist zu restriktiv, und die strukturalis-
2
3
an Stanzel wird noch in der neuesten russischen Einführung ill die Literaturwissellschaft (Cernec u. a. 1 999) als ausschl�ggebendes Merkmal des Erzählens
In Anlehnung
die "Mittelbarkeit" genannt (Tamarcenko 1 999b, 280). Zur Gemeinsamkeit der "Proto-Gattungen" Drama und. Erzählung als "geschehensdarstellender" vgl. jetzt Korthals 2003 , 75- 1 82.
I.
Narrativität und Ereignishaftigkeit
13
tische zu wenig diskriminatorisch4 • In der Praxis der Literaturanalyse hat sich auch längst eine Mischkonzeption durchgesetzt, die hier syste matisiert werden soll . Narrati v im weiteren Sinne sollen entsprechend der strukturalistischen Konzeption Repräsentationen genannt werden, die die Veränderung eines Zustands oder einer Situation darstellen. Ein Zustand (oder eine Situation) soll verstanden werden als eine Menge von Ei genschaften , die sich auf eine Fi gur oder die Welt in einer bestimmten Zeit der erzählten Geschich te beziehen . Je nachdem, ob sich die dargestel lten Eigenschaften auf das Innere der Figur beziehen oder auf Teile der Wel t, haben wir es mi t einem inneren oder äußeren Zustand zu tun. (Ein Zustand kann natürlich zugleich sowohl durch innere Eigenschaften der Figur als auch durch Ei genschaften der Welt definiert sein.) Wenn die Zustandsveränderung durch einen Agenten herbeigeführt wird, sprechen wir von einer Hand lung. Wenn sie einem Patienten zugefügt wird , handelt es sich um ein Vorkommnis (Chatman 1 978 , 32; Prince 1987,39). Die Minimalbedingung der Narrati vität ist, dass mindestens eine Ver änderung eines Zustands in einem gegebenen zeitlichen Moment dar gestellt wird. Die Veränderung des Zustands und ihre Bedingungen brau chen nicht explizit dargestellt zu werden. Für die Narrativität ist hin reichend , wenn die Veränderung impliziert wird, etwa durch die Dar stellung von zwei miteinander kontrastierenden Zuständen. Die Zustandsveränderung, die für Narrativität konstitutiv ist, hat drei Bedingungen: 1. Eine temporale Struktur mit mindestens zwei Zuständen, einem Ausgangs- und einem Endzustand. 2. Eine Äqui valenz von Ausgangs- und Endzustand , d. h. Similarität und Kontrast der Zustände, genauer: Identität und Differenz ihrer Ei genschaften. Volle Identität der Eigenschaften ergibt keine Zu standsveränderung. Aber auch die absol ute Differenz konstituiert
4
Bezeichnenderweise folgte Gerald Prince, der Narrativität zunächst im Sinne des strukturalistischen Modell definiert und Repräsentationsformen wie das Drama und den Film als genuin narra tiv betrachtet hatte (1 982, 8 1 ), in seinem DictiOllary of Narratolo gy (Prince 1 987, 5 8) der klassischen Konzeption und schloss folglich alle nicht durch eine Erzählinstanz vermittelten Ereignisse. also auch das Drama und den Film, aus dem Bereich des Narra tiven au s. Zu Motiven dieses Meinungsumschwungs vgl. lahn 1995,
32.
16
I.
Merkmale des Erzählens im fiktionalen Werk
hen. Narrativ ist ein Text schon dann, wenn er nur temporale Verbindun gen enthält l I. Narrative Texte in dem oben beschriebenen weiteren Sinne erzählen, darin stimmen v iele strukturalistische Definitionen überein, eine Ge schichte 1 2• "Geschichte" , ein in unterschiedlichen Bedeutungen gebrauch ter Begriff, für den Prince' s Dictionary 0/ Narratology ( 1 987, 9 1) fünf Intensionen unterschei det, soll hier den Inhalt einer Erzählung im Gegen satz zu dem sie darstellenden Diskurs bezeichnen. Wie ist das Verhältnis zwischen Geschichte und Zustandsveränderung zu denken? Wie viele Zustandsveränderungen erfordert eine Geschichte? Die Differenz zwi schen der Zustandsveränderung und der Geschichte ist kein quantitativer. Eine Geschichte kann aus einer einzigen Veränderung bestehen l3 • Der Unterschied besteht in der Extension. Die Zustandsveränderungen bilden eine Teilmenge der Geschichte. Neben den dargestellten Zustandsverän derungen, die dynamische Elemente sind, gehen in die Geschichte auch statische Elemente ein, nämlich die Zustände oder Situationen selbst und das "setting". Eine Geschichte vereinigt also dynamische und statische Komponenten, ihre Präsentation umfasst narrative und deskriptive Modi .
11
12
13
In der Hamburger Forschergruppe Narratologie wurde die Frage diskutiert: Ist für die Definition von Narrativität die Kategorie der Perspektive heranzuziehen? Ich glaube, dass das nicht der Fall ist. Perspektivität ist nicht spezifisch für die Narration, sondern die Eigenschaft aller Repräsentationen. Jegliche Darstellung von Wirklichkeit setzt die Auswahl, Benennung und Bewertung von Geschehensmomenten voraus und impliziert damit unausweichlich Perspektive, d. h. einen bestimmten perzeptiven, räumlichen , zeitlichen, axiologischen, sprachlichen S tandpunkt (vgl. dazu unten, III.2). Vgl. etwa Gerard Genette ( 1 972, 74): "Ie recit, le discours narratif ne peut etre tel qu'en tant qu 'il raconte une histoire, faute de quoi i! ne serait narratir'. Das klassische Merk mal des Erzählens, "qu'il est profere par quelqu 'un", bezieht Genette ( 1 972, 74) nur auf den Diskurs: "Comme narratif, il vit de son rapport a l'histoire qu 'il raconte; com me discours, il vit de son rapport a la narration qui le profere". Vgl. dazu Genette 1983, 14: "Pour moi, des qu ' i\ y a acte ou evenement, rot-i! unique, il y a histoire, car i! y a transformation, passage d'un,etat anttSrieur a un etat ulterieur et resultant". Genette unterbietet damit noch Forsters ( 1 927) Minimalgeschichte, die lau tete "Tbe king died and then the queen died": "Mon ,ecit minimal est sans doute encore plus pauvre, mais pauvrete n 'est pas vice, que l'his�oire selon Forster. Tout juste ,Tbe king died'" (Genette 1 983, 1 5). Forsters Definitidn der Minimalgeschichte und Ge nettes Unterbietung werden aus kognitivistischer iPerspektive diskutiert von Meister 2003 , 23 -26.
1. Narrativität und Ereignishaftigkeit
17
b ) Narration und Deskription Den narrativen Texten im weiteren Sinne stehen die deskriptiven gegen über. Deskriptive Texte repräsentieren statische Situationen, beschreiben Zustände, zeichnen Bilder oder Porträts, stellen soziale Milieus dar oder typologisieren natürliche wie soziale Phänomene. Sie stellen nur einen zeitlichen Moment und nur einen Zustand dar. Um Deskription handelt es sich allerdings auch dann, wenn mehrere Zustände dargestellt werden und diese nicht zugleich Similarität und Kontrast enthalten oder nicht auf ein und denselben Agenten oder auf ein und dasselbe Element des "setting" bezogen sind. Obwohl die Textmodi narrativ und deskriptiv eine klare Opposition bilden, sind die Grenzen zwischen narrati ven und deskriptiven Texten fließend und ist die Zuordnung von Texten zu den beiden Kategorien oft eine Frage der Interpretation. Jede Narration enthält, wie bereits erwähnt wurde, notwendigerweise deskriptive Elemente. Schon die Darstellung einer Ausgangs- oder Endsituation kommt nicht ohne ein Minimum von Beschreibung aus. Und umgekehrt kann eine Deskription durchaus narra tive Momente benutzen, um eine Situation zu veranschaulichen, um die es letztlich geht. Ausschlaggebend für den deskriptiven oder narrativen Cha rakter des Textes ist nicht die Menge statischer oder dynami scher Seg mente, sondern ihre Gesamtfunktion im Zusammenhang des Werks. Und diese Funktionalität kann durchaus hybrid sein. Bei den mei sten Texten wird man bestenfall s von einer Dominanz eines der bei den Modi sprechen können. Die Zuweisung dieser Dominanz ist natürlich interpretations abhängig. Wenn ein Text etwa nur die Beschreibung zweier Situationen enthält, kann man ihn genau so gut als deskriptiv wie als narrativ interpre tieren. (Letzteres setzt natürlich voraus, dass zwi schen den Situationen eine Äqui valenz besteht.) Wer diesen Text als Narration liest, wird das Unterschiedliche im Gemeinsamen fokussieren und dafür eine Verän derung konjizieren. Wer den Text hingegen als Deskription versteht, wird die Differenz der Situationen eher als Differenz von repräsentativen Fa cetten ein und desselben zu beschreibenden Phänomens betrachten und sich auf das Gemeinsame im Verschiedenen konzentrieren. Tomasevskij , der, wie wir gesehen haben, für die "Fabel" nicht nur ei ne zeitliche, sondern auch eine kausale Verknüpfung der Elemente for dert, rechnet zu den deskriptiven Texten auch die Reisebeschreibung, "wenn sie nur vom Gesehenen erzählt und nicht von den persönl ichen Abenteuern des Rei senden" (Tomasevskij 1 925 , 1 36). Aber auch ohne ex-
18
I. Merkmale des Erzählens im fiktionalen Werk
plizite Thematisierung der inneren Zustände des Rei senden kann die Ver änderung einer Situation dargestellt werden, kann also die Reisebeschrei bung narrativ werden, dann näml ich, wenn sich all ein in der Auswahl des Gesehenen eine innere Veränderung des Sehenden andeutet. Natürlich handelt es sich in solchen Fällen um eine i mplizite narrative Struktur, in der die unterschiedlichen Zustände und die für die Differenz zu konjizie rende Veränderung des sehenden Subjekts allein durch die Indizes oder Symptome des Beschrei bens angezei gt sind. Generell wird man annehmen dürfen , dass deskriptive Texte in dem Maße, wie sich in ihnen eine Deskri ptionsinstanz kundgibt, eine Tendenz zur Narrativität entwickeln. Das ist freilich eine Narrativität, die nicht auf das Beschriebene, sondern auf den Beschrei benden und seine Deskrip tionshandlung bezogen ist. Die Veränderungen , von denen hier erzähl t wird, beziehen sich nicht auf die beschriebene Welt, sondern auf den Dis kurs. Es handelt sich um Veränderungen im Bewusstsein der beschrei benden Instanz, die eine nicht auf der Ebene der Geschichte, sondern des Diskurses lokalisierte Geschichte, eine Diskurs- oder Erzählgeschichte konstituieren 1 4. c) Erzählende und mi metische narrative Texte Narrativ im engeren Sinne, so mein Vorschlag , sollen Texte genannt wer den, die eine Geschichte denotieren und eine die Geschichte vermittelnde Instanz (einen "Erzähler") entweder explizit oder impli zit mit darstellen. Aus der Menge der im weiteren Sinne narrativen Texte wird dabei die Untermenge "mimetische Texte" aus geschieden, also Texte, die die Ver änderung ohne "Vermittlung" durch einen "Erzähler" darstellen: das Drama, der Film, der Comic, das narrative Ballett, die Pantomime, das erzählende Bild etc. (Neben deskriptiven Texten gibt es natürlich noch weitere Texttypen, die nicht-narrati v sind, so z. B. argumentative Texte, erbauende Texte usw .) Für die terminologische Differenzierung sei ein möglichst unkompli zierter Vorschlag gemacht: "narrativ im weiteren Sinne" soll einfach "narrativ" heißen, für "narrativ im engeren Sinne" bietet sich der mit dem Erzähl erbegriff korrespondierende Terminus "erzählend" an. 14
Vgl. dazu den Begriff der Erzählgeschichte für die Zustandsveränderungen der fiktiven Erzählinstanz in erzäh lenden narrativen Texten (Schmid 1 982).
1.
19
Narrativität und Ereignishaftigkeit
Die i n diesem Buch vorgelegte Theorie bezieht sich auf erzählende narrative Werke, also jene Schnittmenge, in denen der klassische Begriff der Narrativität mit dem strukturalistischen zusammenfällt. Gegenstand werden also verbale Texte sein, die eine Geschichte präsentieren und dabei mehr oder weniger explizit die vermittelnde Instanz eines Erzählers . darstellen. Die Typologie der Texte soll in folgendem Schema illustriert werden (die Menge der erzählenden narrativen Texte, auf das sich die Theorie des vorliegenden Buches konzentriert, ist durch eine doppelte Rahmung her vorgehoben, die "übrigen" Texttypen sind nicht weiter differenziert):
I
Texte
NalT8tive
Deskriptive Texte
Übrige Texte
=
Texte
(im wei teren Sinne) stellen eine Ge schichte dar
stellen einen Zustand dar
=
Erzählende Texte
(= narrative Texte im engeren Sinne) Die Geschichte wird von einem Erzähler erzählt.
Mimetische Texte
Geschichte Die wird ohne vermit telnde Erzählin stanz dargestellt.
Dieses S chema ist eine Modifikation des bekannten Modells von. Sey mour Chatman ( 1 990, 1 1 5), in dem narrative Texte unterteilt werden in "diegetic texts, recounting an event with the mediation of a narrator", und "mimetic texts, enacting the event without a mediation" .15 15
"Diegetic" und "mimetic" werden von Chatman im Sinne Platons gebraucht. der im Staat (Res publica, III, 392d) "Diegesis" (= reine Erzählung des Dichters) und "Mime sis" (= Nachahmung der Rede der Personen) unterscheidet (vgl . dazu unten, IV.I). Die Dichotomie von Erzählung und Mimesis erscheint in der englischsprachigen Narrato logie in der Nachfolge von Henry James und Percy Lubbock ( 1 92 1 ) als Gegensatz von telling und showing.
20
I.
Merkmale des Erzählens im fiktionalen Werk
d) Ereignis und Ereignishaftigkeit Mit der bloßen Registrierung von Zustands veränderungen wird sich eine literaturwissenschaftliche Analyse von Texten nicht begnügen. Schon in der kleinsten Erzählung wird eine Unmenge von Veränderungen darge stellt, ganz zu schwei gen von Romanen wie Lev Tolstojs Krieg und Frie den. Auch mit der Unterscheidung von Typen der Veränderung, also etwa von natürlichen, aktionalen, interaktionalen und mentalen Veränderungen (um eine Differenzierung Lubomfr Dolezels 1 978 aufzugreifen) ist es nicht getan. Es werden Kategorien erforderlich, mit deren Hi lfe die zahl losen natürlichen, aktionalen und mentalen Veränderungen in einer er zählten Welt (vom Umschlag des Wetters über den Gewinn einer Schlacht bis zur inneren Umkehr eines Helden) hinsichtlich ihrer Aktionalität, Re levanz und Tragweite unterschieden werden können. Es wird hier deshalb auf den in der Literaturwissenschaft weithin ge brauchten Begriff des Ereignisses (englisch: event, russisch: sobytie) zu rückgegriffen. Im Sprach gebrauch aller drei Sprachen ist ein Ereignis ein besonderer, nicht alltäglicher Vorfall. Der Begriff des Ereignisses soll hier auch in einem emphatischen Sinne verwendet werden, im Sinne der "ereigneten unerhörten Begebenheit" , mit der Goethe den Inhalt der No velle definiert l 6, im Sinne der Lotmanschen "Versetzung einer Person über die Grenze ei nes semantischen Feldes", der "bedeutsamen Abwei chung von der Norm" (Lotman 1 970, 282 f. ; dt. 1 972, 332 f. ; dt. 1 973b , 3 5 0 f.) oder des ebenfalls Lotmanschen " Überschreitens einer Verbots grenze" (Lotman 1973a, 86; dt. 1 98 1 a, 206i7• Jedes Erei gnis impliziert eine Zustandsveränderung, aber nicht jede Zustandsveränderung bildet ein 16 17
Zu Eckennann 25 . 1 . 1 827. Diese Grenze kann eine topographische sein, aber auch eine pragmatische, ethische, psychologische oder kognitive. Das Ereignis besteht demnach in der Abweichung von dem in einer gegebenen narrativen Welt Gesetzmäßigen, Normativen, dessen Vollzug die Ordnung dieser Welt aufrechterhält. Den "Sujettexten", in denen sich eine Grenz überschrei tung ereignet, stellt Lotman die "sujetlosen" oder "mythologischen" Texte gegenüber, die nicht von Neuigkeiten einer sich wandelnden Welt erzählen, sondern die zyklischen Iterationen und die Isomorphien eines geschlossenen Kosmos darstellen, dessen Ordnungen grundsätzlich affirmiert werden. Der moderne Sujettext ist nach Lotman das Ergebnis der Wechselwirkung und Interferenz der beiden typologisch pri mären Texttypen (Lotman 1 973c; dt. 1 974; Lotman ; 1 98 1 b). Lotmans Ereignis- und Su jetkategorien werden aufgegriffen und im Sinne ei ner Fonnalisierung weiterentwickelt von Renner 1 983 und Titzmann 2003 . Kritisch zu; Lotmans hermeneutischem Modell und Renners Versuch seiner induktiven Anwendung: Meister 2003 , 9 1 -95.
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Narrativität und Ereignishaftigkeit
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Ereignis. Das Ereignis soll definiert werden als eine Zustandsverände rung, die besondere Bedingungen erfüllt1 8• Als erste Grundbedingung für ein Ereignis schlage ich die Faktizität oder Realität der Veränderung vor (Faktizität und Realität natürlich im Rahmen der fiktiven Welt). Gewünschte, imaginierte oder geträumte Ver änderungen bilden nach dieser Prämisse kein Erei gnis. Allenfalls der reale Akt des Wünschens , der Imagination oder des Träumens selbst kann ein Ereignis sein. Mit der Realität hängt eine zweite Bedingung zusammen: die Resulta tivität. Veränderungen, die ein Ereignis bilden, sind nicht inchoativ , d. h. 'werden nicht nur begonnen, sind nicht konativ , werden nicht nur versucht, sind auch nicht durati v , befinden sich nicht nur im Zustand des Vollzugs , sondern sind resultativ , d. h. gelangen in der jeweiligen narrativen Welt des Textes zu einem Abschlussl 9• Realität und Resultativi tät sollen notwendige Bedingungen des Ereig nisses im emphatischen Sinne sein; sie sind aber offensichtlich nicht aus reichend, um eine Zustands veränderung zu einem Ereignis zu machen. Denn auch Veränderungen, die in einer narrativen Welt als ganz trivial und selbstverständlich empfunden werden, können diese beid �n B edin gungen erfüllen. Im folgenden seien fünf Merkmale vorgeschlagen, die in eine r Zu stands veränderung realisiert sein müssen, damit diese ein Ereignis ge nannt werden kann. Diese Merkmale befinden sich in einer hierar chischen Ordnung, d. h. sie sind unterschiedlich wichtig, und sie sind gradationsfähig , d. h. sie können in unterschiedlichem Maße realisiert sein und deshalb ein Ereignis mehr oder weni ger ereignishajt machen. Damit eine Zustandsveränderung ein Ereignis genannt werden kann , müs sen die beiden in der Hierarchie höchsten Merkmale zumindest in einem bestimmten Grad realisiert sein. Die Antwort auf die Frage, bei wie viel 18
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Für einen radikal konstruktivistischen Versuch der ModelIierung von Zustandsverände rungen, der konsequenterweise auf die Einbeziehung von henneneutisch erfassbaren Ereignissen verzichten muß, vgl. Meister 2002. In einer brieflichen Mitteilung weist mich Vyacheslav Yevseyev (Astana, Kasachstan) darauf hin, dass unter linguistischen Gesichtspunkten zwischen inchoativen und konati ven Vorgängen einerseits und resultativen anderseits kein prinzipieller Unterschied be stehe. Auch die beiden ersten setzten eine Zustandsveränderung voraus. Dem sei vor behaltlos zugestimmt. Es geht in unsenn Zusammenhang freilich nicht darum, ob der Beginn oder der Versuch einer Zustandsveränderung selbst eine Zustandsveränd�rung impliziert oder nich t, sondern darum, ob die angestrebte Veränderung nur begonnen bzw. versucht wird oder tatsächlich vollzogen wird.
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1. Merkmale des Erzählens im fiktionalen Werk
den Traualtar führen zu können, erscheint ihm als ganz unwahr scheinliches Glück. Der Leser freilich kann aus Masas Verhalten un schwer erkennen , dass sie der Werbung keine allzu großen Widerstände entgegensetzen wird. Und als der Held dann den entscheidenden Schritt getan hat, muss auch er erkennen, dass seine vermeintliche Grenzüber schreitung eine durchaus gesetzmäßi ge, von allen erwartete Hand l ungsweise war . Relevanz und Imprädiktabilität sind die Hauptkriterien der gradationsfahi gen Ereignishaftigkeit. Beide müssen in einem Mindestmaß erfüllt sein, wenn eine Zustandsveränderung als Ereignis wahrgenommen werden soll . Als weitere, nachgeordnete Merkmale sind zu nennen: 3. Konsekutivität: Die Ereignishaftigkeit einer Zustandsveränderung steigt in dem Maße, wie die Veränderung im Rahmen der erzählten Welt Folgen für das Denken und Handeln des betroffenen Subjekts hat. In besonderem Maße erei gnishaft sind Zustandsveränderungen , die nicht nur die persön liche Befindlichkeit des Subjekts, sondern die Doxa und die Normen der jeweiligen erzählten Welt verändern22• Einen Mangel an Konsekuti vität zeigt Cechov in der soeben erwähnten Erzählung Der Literaturlehrer. Nachdem sich für Nikitin der Traum einer Verbindung mit der geliebten Masa S eiestova ganz gegen seine Erwar tung erfüllt hat und er nun das behagliche Leben eines Spießers führt, muss er erfahren, dass seine erfolgreiche Werbung überhaupt nicht das überraschende Ereignis war, für das er es bisher gehalten hat, sondern eine für alle übrigen Beteiligten selbstverständliche Konsequenz seiner regelmäßigen Besuche im Haus der S elestovs . Diese ernüchternde Ein sicht löst in ihm den Wunsch aus , die kleine Welt seines stillen Eheglücks zu verlassen und in eine andere Welt auszubrechen, "um selbst irgendwo in einer Fabrik oder in einer großen Werkstatt zu arbeiten, auf einem Ka theder zu stehen, Schriften zu verfassen, zu publizieren , Aufsehen zu erre gen, sich ganz auszugeben, zu leiden ..."23. Wenn er dann aber am Schluss der Geschichte seinem Tagebuch die Klage über die ihn umgebende Tri vialität anvertraut und die Aufforderung an sich selbst einträgt "Nur flie22
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Michael Titzmann (2003, 308 1 ), nennt solche Erei nisse, in denen sich nicht nur der Zustand des Agenten, sondern auch der der Welt .ändert, "Metaereignisse". Dass ein Ereignis solche weitreichende Folgen hat, ist ihm a11erdings zunächst in der Regel nich t anzusehen (und vom Agenten auch keineswegs immer intendiert). A. P. Cechov, Poln. sobr. soc. i p isem v 30 t. , Werke, Bd. 8, S. 330. Nach dieser Aus gabe die übrigen Z itate aus C echovs Werken mit Angabe von Band und Seite.
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hen von .hier, heute noch fliehen, sonst werde ich verrückt!" (VIII, 3 32), so scheint sich seine ganze mentale Veränderung in dieser Tagebuchein tragung zu erschöpfen. Es bleibt - wie in vielen Aufbruchsgeschichten Cechovs - ein erheblicher Zweifel an der Konsekutivität sowohl der Ein sicht als auch des Plans . Die mangelnde Konsekutivität wird bei Cechov häufig dadurch ver schleiert, dass das Erzählen abbricht, bevor der Held seine Ziele erreicht hat. Die nicht wenigen Interpreten, die aus dem Potentialis des offenen Endes einen Realis machen, geben der Zustands veränderung eine Resulta tivität und Konsekutivität, die die Geschichte selbst nicht gestaltet.
4. lrreversibilität. Die Erei gnishaftigkeit nimmt zu mit der Irreversibilität des aus der Veränderung resultierenden neuen Zustands, d. h. mit der Un wahrscheinlichkeit, dass der erreichte Zustand rückgängig gemacht wird. Im Fall des Umdenkens , also jenes mentalen Erei gnisses , das von den russischen Realisten gepflegt wurde, muss eine Einsicht erlangt sein, di e jeden Rückfall in frühere Denkweisen ausschließt. Beispiel für irreversi ble Ereignisse ist der Domino-Effekt der Konversionen, der Dostoevskijs Brüder Karamazov durchzieht. Bei keiner der konvertierten Personen ist eine Rückkehr zur gottlosen Aus gangsposition wahrscheinlich. ' C echovs Erzählen weckt allenthalben Zweifel an der Irreversibilität einmal erreichter Sinnpositionen und Handlungsentscheidungen. In kei nem Werk wird die Ungewissheit über die Endgülti gkeit der Grenzüber schreitung prekärer als in der Braut. Dass Aleksandr, der die Braut vom Heiraten abbringt und zum Studieren überredet, als der die Frauen ewig zum Aufbruch Mahnende nicht weni ger unter einem Wiederholungs zwang steht als der verschmähte Andrej Andreic , der ewig Geige spielen de Bräutigam, der, wie sein Name sagt, nichts anderes ist als der Sohn seines Vaters , wirft einen Schatten auf die Endgültigkeit des Aufbruchs der Braut. Kann sie tatsächlich den Bannkreis ihrer alten Existenz verlas sen, oder wird sie doch von jenem Wiederholungszwang eingeholt, der die von ihr verlassene Welt beherrscht? Das ist eine Frage, die in aller Virulenz mit dem berühmten Schluss-Satz aufbricht, dessen Sinn Cechov in der letzten Textvariante durch einen Einschub, die bloße Markierung subjektiver Meinung ("wie sie annahm"), fatal unentscheidbar gemacht hat: "Sie ging zu sich nach oben, um sich reisefertig zu machen , und am nächsten Morgen verabschiedete sie sich von den Ihren, und voller Le bensfreude verließ sie die Stadt - wie sie annahm - für immer" (X, 220).
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Merkmale des Erzählens im fiktional en Werk
5 . Non-Iterativität. Veränderungen, die sich wiederholen, konstituieren, selbst wenn sie relevant und i mprädiktabel sind, bestenfalls nur geringe Ereignishaftigkeit. Das demonstriert Cechov an den Eheschließungen und den mit ihnen jeweils verbundenen radikalen Zustands veränderungen von Olj a Plemjannikova, HeIdin der Erzählung Seelchen (Dusecka). Was bei der ersten Eheschließung noch als Ereignis erschien, die vollständige Umstellung der Lebenswerte auf die Welt des Ehemanns, erweist sich in der Wiederholung als die unveränderliche Leere einer Vampirexistenz. In der Braut wird die Erei gnishaftigkeit dadurch unterminiert, dass der Aufbruch der TitelheIdin in einem Kontext schlechter Iterationen ge schieht, denen sowohl der Bräutigam als auch der Mentor, aber nicht we ni ger die weiblichen Figuren, die Mutter und die Großmutter, unterworfen sind. Der Weg der Nicht-mehr-Braut nach Petersburg, die Rückkehr nach Hause und der - wie es ihr jetzt scheint - endgültige Aufbruch, "für im mer" , beschreibt vielleicht nur den Anfang eines neuen Zirkels24• Gegen diesen Katalog der Merkmale für gradationsfähi ge Ereignishafti g keit ist in den Diskussionen der Hamburger Forschergruppe Narratologie der Einwand erhoben worden, die für Erei gnishaftigkeit ins Feld geführ ten Merkmale seien stark interpretationsabhängig und hätten in der Narra tologie, die, wie auch die Metrik, nur objektiv beschreibe und nicht inter pretiere, nichts verloren. Die Interpretationsabhängi gkeit soll unumwun den eingestanden werden, jedoch sei zu bedenken gegeben, dass die Ge genüberstellung von objektiver Beschreibung und subjektiver Interpreta tion, die dieser Kritik zugrunde liegt, kaum Bestand haben kann und dass es auch mit der Objektivität der Metrik nicht so weit her ist, wie die Kriti ker vorgeben. Die Entscheidung z. B . , ob man einen Vers noch als sylla botonischen oder schon als rein tonischen beschreibt, ist weitgehend eine Frage der Interpretation. Die Narratologie kann sich nicht darin erschöp fen , analytische Instrumente für eine scheinbar "voraussetzungsfreie" , interpretationsunabhängi ge Deskription narrativer Texte bereitzustellen. Schon mit dieser bescheidenen Aufgabe käme sie übrigens nicht weit. Bereits die Konstruktion des "Erzählers" , sofern sie auf die Semantisie rung von Textsymptomen angewiesen bleibt, ist, um nur ein Beispiel zu nennen, stark interpretationsabhängig. Auch die seit den zehner Jahren des 20. Jahrhunderts währende Kontroverse um die erlebte Rede zei gt, I
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Die Darstellung der Iteration nähert die Narration: der Deskription. Deskriptive Texte haben nicht zufällig eine Affinität zu iterativen Vorgängen und Handlungen .
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wie "voraussetzungsreich" die erstellten Beschreibungsmodelle jeweils sind. Stark interpretationsabhängig ist oft schon die Feststellung einer Veränderung der Situation, entweder weil die explizierten Eigenschaften von Ausgangs- und Endzustand nicht äquivalent sind und der Konjektur bedürfen oder aber weil die Differenz der Zustände in einem relevanten Merkmal durchaus in Frage steht. In der späten Erzählung Cechovs Die Dame mit dem Hündchen (Dama s sobackoj) ist zwischen den Deutungs lagern höchst umstritten, ob die vom Helden selbst und mit ihm vom Er zähler diagnostizierte Veränderung, nämlich seine Wandlung vom Zyni ker zum aufrichtig liebenden Mann, überhaupt stattgefunden hat. Welchen Erkenntniswert hat der Katalog der Kriterien für die Ereig nishaftigkeit? Er soll die Heuresis fördern, insofern er zentrale Phänome ne des Narrativen zu erkennen und zu unterscheiden hilft. Und damit un terstützt er die Artikulation von Werkinterpretationen. Ereignishaftigkeit ist ein kulturell spezifisches und historisch veränderliches Phänomen nar rati ver Repräsentationen. Von besonderer B edeutung ist der Katalog des halb für kulturtypologische und literatur- wie mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen. Denn er impliziert Lei tfragen , die die historis!,::h ver änderlichen Möglichkeiten und Grenzen von Ereignisfahigkeit imd Ent wicklungen in den zeitgebundenen Konzepten von Ereignishaftigkeit zu explorieren helfen2s• e) Zeitliche und unzeitliche Verknüpfung Neben der zeitlichen Verknüpfung der Geschehensmomente, die der Nar rativität zugrunde liegt, gibt es eine ganz anders geartete, die unzeitliche Verknüpfung. Eine ihrer wesentlichen Formen ist die Äquivalenz. Äqui valenz heißt Gleichwertigkeit, d. h. Gleichheit von Elementen in B ezug auf einen bestimmten Wert. Dieser Wert, das tertium comparationis, ist ein im Werk enthaltenes Merkmal , eine Ei genschaft, die zwei oder mehr Geschehensmomente auf nicht-zeitliche Weise miteinander verbindet. In Prosatexten lassen sich nach den fundierenden Merkmalen zwei Grundtypen der Äqui valenzl unterscheiden. Der erste Typus wird durch ein aktualisiertes thematisches Merkmal begründet, eine Eigenschaft oder Handlungsfunktion, die Elemente der Geschichte (Si tuationen, Personen 25
Der Ereignishaftigkeit in der englischen und russischen Literatur aus kulturhistoris,cher Perspektive ist ein von Peter Hühn und mir geleitetes Teilprojekt der Forschergruppe Narratologie gewidmet.
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Merkmale des Erzählens im fiktionalen Werk
und Handlungen) verknüpft. Diese thematische Verklammerung ist in der Prosa die primäre Form der Äqui valenz. Sie stellt die Grundrelation im Bedeutungsautbau dar, die Kristallisationsachse, an der sich alle weiteren, nicht-thematischen Äqui valenzen- semantisch niederschlagen. Der zweite, in der Prosa sekundäre Typus ist die formale Äquivalenz. Sie wird nicht durch ein thematisches Merkmal begründet, sondern beruht auf der Identität bzw. Nicht-Identität zweier Erzählsegmente hinsichtlich eines der Verfahren, die das Erzählen konstituieren. Die Äquivalenz umfaßt zwei Relationstypen: Similarität und Opposi tion. Sie haben gemein, dass die durch sie verknüpften Elemente min destens in einem Merkmal identisch und in einem anderen Merkmal nicht-identisch sind. Die Similarität zweier Elemente A und B impliziert neben ihrer Identität in einem Merkmal x die Nicht-Identität in einem Merkmal y. Und die Opposition von A und B setzt die V ergleichbarkeit dieser Elemente voraus. Diese kann dadurch gegeben sein, dass A und B, die in einem Merkmal c nicht-identisch sind, durch ein gemeinsames Merkmal d verbunden werden. Die Vergleichbarkeit oppositioneller El e mente gründet aber auch immer in einer Identität dieser Elemente auf tieferer Ebene, insofern nämlich die Opposition (etwa von Mann vs. Frau oder Geburt vs. Tod) in einem abstrakteren, tiefer liegenden Gattungs merkmal (hier: Mensch bzw . Grenze des Lebens) neutralisiert i st. Simila rität und Opposition lassen sich also darstellen als Bündel von Identitäten und Nicht-Identitäten bezüglich jener Merkmale, die die Geschichte aktu alisiert. Ob eine Äquivalenz als Similarität oder Opposition erscheint, ent scheidet nicht die Menge der Identitäten und Nicht-Identitäten, sondern allein der Ort, den die entsprechenden Merkmale in der Hierarchie der Geschichte einnehmen. Die Hierarchisierung, die die Merkmale in der Geschichte erfahren , kann sehr dynamisch sein. Wenn die Geschichte ein Merkmal x hervorhebt, in dem zwei Elemente A und B iden tisch sind, erscheint die Äqui valenz von A und B als Similarität. In einer anderen Phase der Geschichte kann ein Merkmal y fokussiert sein. Wenn die Ele mente A und B in y nicht-identisch sind, erscheint die Äquivalenz al s Op position, gleichgültig in wie viel anderen, nicht aktualisierten Merkmalen A und B zusammenfallen. Sind die unzeitliehe Verknüpfung und insbesondere die Äqui valenz nicht konstitutiv für die Poesie oder die Versdichtung? - so wird man ver sucht sein zu fragen . Hat sie Roman JaRobson ( 1 960) nicht als das Grundprinzip der Dichtung erkannt? Und spi elen sie in narrativen Gattun-
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gen nicht bestenfalls eine ganz marginale Rolle? Äquivalenz als "kon stituti ves Verfahren der Sequenz" , das Prinzip der Äqui valenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination projiziert, das ist nach Jakobson das "empirische linguistische Kri terium" für jene Funkti on , die er die "poetische" nennt. Die poetische Funktion aber, definiert al s " the set (Einstellung) toward the message as such, focus on the message for its own sake" ( 1 960, 356) ist, wie Jakobson unterstreicht, nicht auf die Poesie beschränkt. Später, in den Dialogen mit Krystyna Pomorska hat Jakobson auf die Frage, ob sich in Bezug auf den Parallel ismus (unter den sich auch die Äquivalenz subsumieren lässt) eine strenge Grenze zwi schen versus und provorsa ziehen lasse, noch einmal klargestellt: "Die Rolle des Parallel ismus ist keineswegs auf das Gebiet der Verssprache be schränkt"26. Allerdings gebe es einen "beträchtlichen hierarchischen Un terschied zwischen dem Parallelismus im Vers und in der Prosa". Wäh rend in der Poesie bereits der Vers mit seinem Aufbau (prosodische Struktur des Verses , mel odische Einheit und Iterativität der Zeile und der sie konstituierenden metrischen Teile) eine "parallele Anordnung der Ele mente der grammatischen und lexikalischen Semantik" suggeriere und der Laut zwangsläufig "den S inn beherrsche" , gehöre in der Prosa der Primat bei der Organisation paralleler Strukturen "den semantischen Einheiten": " Hier zeigt sich der Parallelismus der durch Ähnl ichkeit, Kontrast oder Kontigui tät verknüpften Einheiten aktiv im Sujetaufbau, in der Charak terisierung der Subjekte und Objekte der Handlung sowie in der Fol ge der Moti ve des Erzählens. " Die "künstlerische Prosa" nehme, so fährt Jakob son fort, eine Stellung zwi schen der reinen Poesie und der gewöhnlichen praktisch-kommunikativen Sprache ein� selbst nicht homogen , bilde sie eine ganze Reihe von Abstufungen, die die Rede jeweil s einem der beiden Pole annähere und sie vom andern entferne, und ihre Analyse sei viel schwieri ger als die der "polaren Phänomene". Nahe am Pol der Poesie steht eine Prosa, für die unzeitliche Verknüp fungen nicht nur begleitend, sondern konsti tutiv sind. Das ist zum Bei spiel die in den Li teraturen der postrealistischen Modern� weit verbreitete "lyrische", "poetische" oder "rhythmisierte Prosa". In Russland hat diese Prosa, die dort die "ornamentale" genannt wird , zwischen 1 890 und 1 930 26
Jakobson & Pomorska 1 980, 523 (auf diese Seite beziehen sich auch die weiteren Zi tate aus den Dialogell). Ich übersetze und paraphrasiere nach dem russischen Original. Die publizierte deutsche Fassung, die als Vorlage die aus dem Russischen übersetzte französische Version (Dialogues, 1 980) hatte, ist im Terminologischen nicht immer adäquat.
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große Bedeutung erlangt (siehe dazu unten, IV.2.a). Der Ornamentalismus der russischen Moderne ist indes nicht ledi glich ein Stil-, sondern ein Strukturphänomen , das sich gleichermaßen im Erzähl text wie in der er zählten Geschichte manifestiert. Die Äquivalenzen überlagern sowohl das sprachliche Syntagma des Erzähltextes, wo sie zu Rhythmisierung und Klangwiederholung führen, als auch die thematische Sukzession der Ge schichte, auf deren temporale Folge sie ein Netz unzeitlicher Verklam merungen legen. In extremen Fällen ornamentaler Prosa ist die Narrativi tät so geschwächt, dass überhaupt keine Geschichte mehr erzählt wird. Die zeitlichen Verknüpfungen sind dann bestenfalls auf Ansätze redu ziert, die die Geschehensmomente nicht mehr zu einer kontinuierlichen Linie mit Geschichtencharakter zusammenschließen. Die Einheit des Werks wird statt dessen durch die gleichsam simultan gegebene Gestalt der Äqui valenzen gestiftet. Wie aber sieht die Koexistenz zeitlicher und unzeitlicher Verknüpfun gen in traditioneller oder nur l eicht ornamentalisierender narrativer Prosa aus? Die Äqui valenz stellt gegen die Sukzessivität der Geschichte eine Simultaneität von Elementen her, die nicht nur auf der syntagmatischen Achse des Textes , sondern auch auf der Zeitachse der Geschichte oft weit voneinander entfernt sind. Insofern konkurriert die Äquivalenz mit den zeitlichen Verknüpfungen wie Sukzession und Kausalität. Diese lassen sich nicht in Äquivalenz auflösen. Vorher- oder Nachher-Sein, Ursache oder Fol ge-Sein sind ontologische Bestimmungen ganz anderer Art als Äqui valent-Sein. Die kategoriale Differenz zwischen der zeitlichen und unzeitlichen Verknüpfung ist unaufhebbar. In weIchem hierarchischen Verhältnis befinden sich nun aber die bei den grundlegenden Formen der Verknüpfung? Der Leser wird sich bei jeder Geschichte zunächst auf die zeitlichen Verknüpfungen und ihre Logik einstellen. Sinngebung in der Lektüre narrativer Text� zielt darauf ab, die Veränderungen des Ausgangszustands und die ihnen zugrunde liegende Logik zu identifizieren. Nicht nur die sie bedingenden Ursachen, sondern sogar die Veränderungen selbst sind freilich nur selten explizit und zuverlässig beschrieben und müssen deshalb meist rekonstruiert wer den. Bei ihrer Rekonstruktion wird der Leser auf Äquivalenzen rekur rieren. Denn die unzeitliche Verklammerung bringt die zeitliche Verän derung und ihre Logik in vielen Fällen allererst zur Erscheinung. So wird das Ereignis in vielen Geschichten nicht im seinen einzelnen Schritten explizit entfal tet, sondern nur durch den Kontrast von Ausgangs- und Endzustand suggeriert, gleichsam in absentia gestaltet. Dann können sich
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die zeitlichen Verknüpfungen über das Durchspielen der unzeitlichen Verknüpfungen identifizieren lassen. Ein Beispiel dafür sind jene späten Erzählungen C echovs, die die Lebensgeschichte ihrer Titelhelden als Ket te äquivalenter Episoden modellieren: Springinsfeld (Poprygun 'ja), lonyc, Seelchen, Die Dame mit dem Hündchen, Die Braut. Ob es hier ein voll werti ges Erei gnis gibt, etwa eine tief greifende Veränderung der Lebens situation, oder ob sich nur Gleiches wi ederholt, lässt sich erst entscheiden, wenn man die verborgenen Similaritäten und Oppositionen zwi schen den Episoden registriert. Die zeitlichen Verknüpfungen bleiben im Erzähl werk also grundsätzlich dominant. Sie sind das Ziel der rekonstruierenden Sinngebung, erhalten nicht selten aber erst durch die unzeitlichen Ver knüpfungen eine Gestalt, die der Rekonstruktion zugänglich ist. Die kohärenzbildende Rolle unzeitlicher Verknüpfungen ist natürl ich nicht auf die Literatur der Modeme beschränkt. Man weiß, wel che Be deutung der Similarität und Opposition in den Werken Lev Tolstojs zu kommt, eines Erzrealisten, der omamentalistischen Experimenten äußerst fern stand. In diesem Zusammenhang sei an die oft zitierten Worte Tols tojs aus dem Jahr 1 875 über die Rolle der "Verkettungen" für den Sinn . des Romans Anna Karenina erinnert: Wenn ich mit Worten alles das sagen wollte, was ich mit dem Roman auszudrücken beabsich tigte, dann müsste ich denselben Roman, den ich geschrieben habe, noch einmal schreiben. Wenn die Kritiker schon jetzt verstehen, was ich sagen will, und das sogar in einem Feuilleton ausdrilcken können, dann kann ich ihnen nur gratulieren und freimütig v�rsichern qu 'ils eil savent plus lang que moi. Und wenn kurzsichtige Kriti ker glauben, ich hätte lediglich beschreiben wollen, was mir gefällt, wie Ob lonskij zu Mittag isst und was für Schultern die Karenina hat, so irren sie. In allem, fast in allem, was ich geschrieben habe, hat mich das Bedürfnis geleitet, Gedanken zu sammeln , die, um Ausdruck zu finden, miteinander verkettet waren. Aber jeder Gedanke, den man gesondert in Worten au sdrückt, verliert seinen Sinn, wird schrecklich trivial, wenn man ihn aus jener Verkettung herauslöst, in' der er sich befindet. Die Verkettung selbst wird (so glaube ich) nicht von einem Gedanken gebildet, sondern von etwas anderm, und die Grundlage dieser Verkettung unmittelbar mit Worten auszudrücken, ist ein fach unmöglich. Das gelingt nur mittelbar, indem man mit Worten Gestalten, Hand lungen und Situationen beschreibt. [ ) letzt brauchen wir in der Kunstkritik Leute, die zeigten, wie unsinnig es ist, aus einem Kunstwerk Gedanken herauszuklauben, und die statt dessen die Leser in jenem endlosen Labyrinth der Verkettungen leiteten , au f dem das Wesen der Kunst beruht, und die sie schließlich zu jenen Gesetzen hinführ ten, die die,Grundlage dieser Verkettungen bilden . (L. N. Tolstoj, Poln . sobr. soc. v 90 t., Bd. 62, S . 268 f. ) . . .
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I.
Merkmale d e s Erzähl ens im fiktionalen Werk
2. Fikti onal i tät
�.
a) Fiktion und Mimesis Wodurch unterscheidet sich das Erzählen im Kunstwerk vom lebenswelt lichen Erzählen, zum Beispiel von der Alltagserzählung, den Nachrichten in Zeitung, Funk und Fernsehen, vom Polizeiprotokoll oder dem Bericht eines Sportreporters? Eines der Grundmerkmale des künstlerischen Erzähltextes ist seine Fiktionalität, d. h. der Umstand, dass die in ihm dargestellte Welt fiktiv ist. Zur B egriffsverwendung sei ausgeführt: Der Begriff des Fiktionalen charakterisiert den Text, der Begriff des Fikti ven bezei chnet dagegen den Status des im fiktionalen Text Dargestellten 27• Ein Roman ist fi ktional , seine dargestellte Welt fikti v28• Fiktional e Texte sind in der Regel nicht fikti v, sondern real (es s�i denn, sie fi gurieren in der fikti ven Wel t eines fiktionalen Werks , eines andern Werks oder - was ein narrati ves Paradox, eine Metalepse darstellt - des ei genen). Während dem Fi kti ven das Real e gegenübersteht, ist der Gegenbegriff des Fi kti onalen das Faktuale (vgI . Genette 1 990)29. Der Begriff des Fikti ven, abgeleitet von lat. fingere (u. a. , bilden ' , ,formen ' , , gestal ten ' , ,künstl eri sch darstel len ' , , sich vorstellen ' , ,ersin nen ' , ,erdichten ' , ,fälschlich vorgeben ' ) bezeichnet Gegenstände, die aus gedacht sind, aber als wirkl ich vorgegeben werden. Damit enthäl t der Begriff der Fiktivität ein Moment des Trü gerischen, Betrügerischen , das im all täglichen Wortgebrauch in Wendungen wie fiktive Ehe oder fiktive Rechnung anklingt und auch in Wörtern wie fingiert (ein "fingierter Un fall ") und Finte (über itaI . La finta ebenfalls aus lat. fingere) aufscheint. Die li terarische Fiktion ist jedoch eine Simulation ohne negativen Cha rakter, ein Vorgeben, in dem das Moment der Lüge und des Trugs oder Betrugs getilgt ist. Deshalb sollte man das Fikti ve nicht so sehr mi t dem Begriff des Scheins verknüpfen , wozu Theoretiker tendieren, die die Fi k-
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Zu dieser Begriffsverwendung vgl. etw a Gabriel 1 99 1 , 1 36 ; Rühling 1 996, 29; Zipfel . 200 1 , 1 9. Dieser Unterschied wird nicht in allen Sprachen gemacht. Im Englischen z. B. dien t fictiollal der Bezeichnung sowohl des darstellenden Textes als auch der dargestellten Wel t. Die durchaus existierenden Begriffe .fictiolltt l und .!ictiti()us sind im Englischen wenig gebräuchlich. Bereits Egon Werlich ( 1 975 , 20) nannte die nicht-fiktionalen Texte "faktisch".
2. Fiktionali tät
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tion mit einer "Als-ob-Struktur" erklären3o• Die Fi ktion wäre viel mehr zu verstehen als die Darstellung einer ei genen , autonomen, innerliterarischen Wirklichkeit. Eine solche Konzeption steht der Theorie der Mimesis nahe, wie sie Ari stoteles in seiner Poetik, freilich nicht ganz explizit, ausgeführt hat. Man sollte den Aristotelischen Mi mesis-Begriff nicht auf imitatio von et was schon Existierendem reduzieren, wozu Renaissance, Klassizismus und Realismus tendierten. Neben dem semantischen Moment der Nach ahmung von etwas bereits Bestehendem, das sich ohne Zweifel noch in Aristoteles ' Verwendung des von Platon übernommenen Begriffs findet (vgl. Sörbom 1 966, 1 76), ist die Poetik insgesamt vom Geist einer Mime sis durchdrungen , die nicht Reproduktion bedeutet, sondern Darstellen, Darstellen von etwas nicht Vorgegebenem, das allererst in der Mimesi s konsti tuiert wird3 1 • In Aristotel es ' Abhandlung wird die "Darstellung der Handl ung" (!!t!!TJOLe; JtQa!;ewe;) mit dem "Mythos" (!!lieoe;) gleichge setzt, einem Begriff, der, am besten mi t (erzähl ter) "Geschichte" wieder zugeben , von Aristoteles definiert wird als die "Zusammenfügung der Geschehnisse" (OUVeTJ OLe; - oder OUO'tUOLe; - 'twv JtQuy!!a'tw'\! ; 1 450a, 5 , 1 5)32. Aristoteles ' Ausführungen lassen erkennen, dass er den Wert der 30
Fiktion als "Als-ob-S truktur" geht auf Han s Vaihingers Philosophie des "Als Ob" ( 1 9 1 1 ) zuIiic k und begegnet noch in rezenten Erklärungen der Fiktion wie z. B. John Searles Sprechakt-Theorie ( 1 975), wo die Kategorie des "Tuns als ob" (pretendillg) ei ne zentrale Rolle spielt (s. u.). 3 1 Zur Aristotelischen Mimesis als Begriff, der nicht nur und nicht in erster Linie Nachah mung bezeichnet, wie Platons Mimesis im 1 0 . Kapitel des Staats, sondern auch und vor allem Darstellung, vgl. Koller 1 954; Hamburger 1 957, 6- 1 0 ; Weidte 1 963 ; Kohl 1 977, 28-39. Einen Ü berblick über die semantischen Aspekte und pragmatischen Implikatio nen des in der Poetik nicht explizierten Verbs 1.t.LIlELOfuL im vorplatonischen , Platoni schen und Aristotelischen Gebrauch gibt Neschke 1 980, 76-89. Auf die Ä qui valenz zwischen Aristoteles ' Mimesis und dem heu tigen Fiktionsbegriff verweisen Hamburger 1 957; Genette 1 99 1 , 1 6- 1 8 ; Gebauer & Wulf 1 992, 8 1 -84. Dupont-Roc & Lallot 1 980 übersetzen Mimesis mit representution. Paul Ricreur ( 1 983, 55-84), der Mimesis, der Doppelbedeutu ng des Begriffs entsprechend, immer mit imitation Oll represelltat;oll wiedergibt, unterstreicht, dass die represelltution nicht den Charakter einer Kopie, ei ner Verdoppelung der presellce habe, sondern als activite mimetique zu verstehen sei . Die Korrelation der Ari stotelischen Begriffe mit denen der modemen Semiotik erörtert Garcia Landa ( 1 998, 22-32). 32 Manfred Fuhrmann (1 992, 25-26) erklärt Mythos als "Fabel", "Sujet", "Plot", "Hand lung" und die Pragmata als "Geschehnisse" oder "Ereignisse" (v gl. auch die historische Erklärung des Aristotelischen Mythos-Begriffs als "organisierte Handlungsstruktur" bei Kannich t 1 976). Ricreur ( 1 983) übersetzt Mythos und Pragmata als illtrigue (nach dem Vorbild von eng! . plot) bzw faits ,
.
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I. Merkmale des Erzählens im fiktionalen Werk
Mimesis nicht in der Ähnlichkeit mit einer außerliterarischen Wirklichkeit sieht, sondern in einer solchen "Zusammenfügung-der Geschehnisse", die geei gnet ist, beim Rezipienten die gewünschte Wirkung hervorzurufen. Im Fall der Tragödie, der würdigsten Form von Mimesis, besteht diese darin, "über das Mitleid und die Furcht zu einer Reinigung von derartigen Mfekten zu gelangen" ( 1449b, 27-28). Aristoteles, der die Platonische Lehre von der Drittrangi gkeit der künstlerischen Darstellung als Nachahmung einer Nachahmung überwin def3 , erkennt der Mimesis, die er als "Machen" (JtOLTJ OtC;) begreift (vgl . Hamburger 1 957, 7 f.) oder als Konstruktion (Zuckerkandl 1 958, 233), nicht nur Primarität (vgl. Else 1 957, 322) zu, sondern begründet auch ihre Erkenntnisfunktion (vgl . Boyd 1 968 , 24) und damit ihren Wert. Im Ge gensatz zum Historiker, der erzählt, was geschehen ist, was zum Beispiel Alkibiades gesagt und getan hat, ist es die Aufgabe des Dichters zu be richten, "was geschehen könnte und was nach Angemessenheit oder Not wendi gkeit möglich wäre" ( 145 1 a, 36-38). Gegenstand des Dichters ist also nicht das wirklich Geschehene (ta. YEv6JlEvo.), sondern das Mögliche (ta. ouvo.ta). Deshalb ist die Dichtung "philosophischer und bedeutender als die Geschichtsschreibung" ( l45 1 b, 5-6). Die Fiktion, im Aristotelischen Sinne als Mimesis verstanden, ist eine künstlerische Konstruktion einer möglichen Wirklichkeit. Insofern sie nicht nur bestimmte existierende oder frühere Handl ungen, Handelnde und Welten darstellt, sondern mögliche, hat diese Konstruktion den Cha rakter eines Denkmodells. b) Die Kontroverse um die Fiktionalität In den vergangenen Jahrzehnten war die Theorie der Fiktionalität Gegen stand hefti ger Diskussionen zwischen Ontologie, Semantik, Aussage theorie, Sprachhandlungstheorie, Sprechakttheorie, Pragmatik und ande ren Lehren 34• Ein Dissens bestand und besteht vor allem in der Frage, ob 33
Nach Platon ist das Kunstwerk, in sofern es Gegenstände der sichtbaren Welt nachahmt, die ihrerseits Nachahmungen der höheren Welt der Ideen sind, nur an der dritten S tel le von der Wahrheit" (LQLtov tL MO Lfi� aA�eELa�; Res publica, X 597e). Vgl. die Übersichten von der Warte der Sprachhap dlungstheorie bei Zipfel 200 1 , au s der Perspektive der Pragmatik bei Hoops 1 979 und! vom antimimetistischen Standpunkt der Theorie möglicher Welten bei Dole:rel 1 998, 11 -28 . Nicht ganz verständlich ist al lerdings, warum Dole:rel die gesamte "mimetic dectrine" seit Sokrates, Plato und Ari stoteles auf die Imitation von "actual prototypes" reduziert ( 1 998, 6-10). Aristoteies, ..
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2. Fiktionali tät
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der spezifische Status der Literatur hinsichtlich der Ontologie der dar gestellten Gegenstände oder der Pragmatik des darstellenden Diskurses zu bestimmen sei. Dieser Alternative entsprechen in der heutigen Diskussion zwei Argumentationsrichtungen (vgl. Rühling 1 996). In der Literatur wissenschaft und der philosophischen Ästhetik wird die Spezifik der Lite ratur zumeist als ontologisches Problem der Fiktivität der dargestellten Gegenstände behandelt. Unter dem Vorzeichen der "linguistischen Wen de" in den Geisteswissenschaften und unter der Vorherrschaft der analyti schen Philosophie verbreitet sich ein Ansatz, der anstelle des Seinscharak ters der Gegenstände die Ei genart des Diskurses in den Mittelpunkt rückt und nach der Semantik und Pragmatik der fiktionalen Rede frage s. Eine gewisse Zeit lang genoss die Theorie der "Sprechakte" (speech acts) des amerikanischen Philosophen John Searle ( 1 975) besonderes Ansehen. Danach trifft der Autor eines fiktionalen Textes Feststellungen, die nur die Form von Feststellungen haben, in Wirklichkeit aber, da sie die B e dingungen von Feststellungen nicht erfüllen, nur "vorgegebene" (pre tended) Feststellungen sind. Das Erwecken des Anscheins von "illokutio nären" Sprechakten3 6, die der Autor "ernsthaft" gar nicht vollzieht, . dieser Widerspruch ist nach Searle der Kern der Fiktionalität. Gegen Searles pretense-Theorie sind bald nach ihrer Formulierung gravierende Einwände erhoben worden 37• Einer von ihnen betrifft die in Searles Theorie unterstellte Absicht des Autors, etwas vorzugeben, was nicht ernst gemeint ist. Gewiss, Searle macht deutlich, dass er von den beiden Bedeutungen, die to pretend haben könne, nicht die mit einem Betrug, sondern die mit einem Verhalten as if verbundene meine, dass in dem pretending des Autors nicht die geringste Absicht eines Betruges dem Urvater der Richtung, der, wie wir gesehen haben, nicht die imitative, sondern die konstruktive Komponente der Mimesis, nicht das Wirkliche, sondern das Mögliche des Darzustellenden betonte (vgl. dazu auch Dole�l 1 990, 34), war der Reduktionismus des "one-world-frame" völlig fremd. In Wirklichkeit ist Dole�els Theorie der Fiktiona lität im Rahmen der Mögliche-Welten-Konzeption nicht allzu weit von Aristoteles ent fernt. 35 Einen Überblick über die Diskussion zur Fiktionalität der Literatur aus der S icht der analytischen Philosophie geben Lamarque & Olsen 1 994; Thürnau 1 994. 36 Die "Illokution" ist in John Austins ( 1 962) Sprechakttheorie die vom Sprecher mit Hil fe von Äußerungen in einem bestimmten Kontext vollzogene Handlung, z. B . des Ver sprechens, Verurteilens usw � Während der Gehalt des Sprechakts wahr oder falsch sein kann, ist die Illokution, abhängig von den außersprachlichen Umständen, erfolgreich oder erfolglos. 37 Vgl. Zipfel 200 1 , 1 85 - 1 95 .
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I.
Merkmale des Erzählens im fiktionalen Werk
vorli ege. Aber es ist wiederholt bezweifelt worden, ob mit der Als-ob Figur, die zwangsläufig etwas Unauthentisches suggeriere, die mimeti sche Täti gkeit des Autors angemessen beschrieben sei. So fragt Dorri t Cohn ( 1 989, 5 f.) in der Polemik mit Barbara Herrnstein Smith ( 1 978 , 30), ob Tolstoj in der Erzählung Der Tod des lvan ll 'ic (Smert' Ivana I1 ' ica) wirklich vorgebe, eine Biographie zu schreiben ("is pretending to be writing a biography"). In Wirklichkeit gebe Tol stoj überhaupt nichts vor, sondern vollziehe tatsächlich einen ernsthaft gemeinten Akt, über mittle nämlich seinem Leser eine fiktionale Erzählung über den Tod einer fiktiven Person3 8 • Ein andere Kritik der Theorie vorgegebener illokutiver Akte des Au tors richtet sich dagegen, dass, wie Searle behauptet, über die Fiktionalität eines Werks keine andere Instanz entscheide als der Autor: "what makes [a text] a work of fiction is, so to speak, the illocutionary stance that the author takes toward it, and that stance is a matter of the complex illo cutionary intentions that the author has when he writes" (Searle 1 975 , 325 )3 9. Worauf Genette ( 1 989, 63) erwidert, indem er Searles ei gene Wor te gegen ihn wendet: ,,[ . . . ] Car il arrive, fort heureusement, et contraire ment aux regles de l ' illocution, que ce soit ,aux lecteurs de decider si run texte] est ou non de la l itterature"' . Die Polemik zeigt, dass i n der Diskussion u m den Status der Literatur auch die Instanz umstritten ist, die für die Fiktionalität den Ausschlag gibt. Nach Käte Hamburger (1957, 21 -72; 1 968, 56-1 1 1 ) entscheidet über die Fiktionalität der Text. Fiktionalität ist für sie eine objektive Ei gen schaft, die sich in einzelnen "Symptomen" des Textes manifestiert. Nach Searle entscheidet, wie wir gesehen haben, ausschließlich die Absicht des Autors. Für eine dritte Gruppe von Theoretikern ist die Fiktionali tät eine relati ve und pragmatische Kategorie. Ob ein Text als fiktional gelesen wird, ist nach ihrer Auffassung das Ergebnis einer faktischen Funktions zuweisung durch die Rezipienten, einer Zuweisung, die vom historischen und sozialen Kontext der Leser und von den in diesem Kontext herr schenden Vorstellungen über das Wirkliche abhängt.
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"
Vgl. schon die Kritik Felix Martinez Bonatis ( 1 98 1 , 1 57-1 59) an der ähnlichen Theorie Richard Ohmanns ( 1 97 1 ) von Dichtung als ..Quasi-Sprechakten" und von der Tätigkeit des Autors als ..pretending". Kritische Überblicke ! über die neueren pretense theories geben Crittenden 1 99 1 , 45-52; Zipfel 200 1 , 1 87-1 90. Ein häufig gegen Searle vorgebrachtes Monitum ist die fehlende Differenzierung von Autor und Erzähler; vgl . etwa Martfnez Bonati 1 980 ; Hempfer 1 990.
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2. Fiktionalität
c) Signale der Fiktion Einen Dissens gibt es nicht zuletzt in der Frage, ob sich fiktionale Texte durch bestimmte distinktive Merkmale auszeichnen. Eröffnet hat die Dis kussion Käte Hamburger, die seit den fünfziger Jahren in einer Rei he von Arbeiten ( 1 95 1 ; 1 95 3 ; 1 955 ; 1 957) die Ei genart der ,,fiktionalen oder mi metischen Gattung" behauptete, zu der sie das Erzählen in der dritten Person, das Drama, den Film rechnete und aus der sie nicht nur die Lyrik, sondern auch das Erzählen in der ersten Person auss.chloss. Die fiktionale Gattung sollte sich vom zwei ten Grundtypus der Literatur, der "lyrischen oder existentiellen" Gattung40 , durch eine Reihe objektiver "Symptome" unterscheiden. Genannt wurden: 1. Der Verlust der Vergangenheitsbedeutung des epischen Präteri tums , der sich in der Möglichkeit der Verknüpfung des Vergangen heitstempus des Verbs mit einem deiktischem Zukunftsadverb (vom Typ Morgen war Weihnachten) zeigt, und in Verbindung damit die Detemporalisierung der grammatischen Zeiten überhaupt. 2. Der Bezug des Erzählten nicht auf eine reale "Ich-Origo'<4 t, d. h. auf ein reales Aussagesubjekt, sondern auf eine der fiktiven Origi nes , d. h. auf eine oder mehrere der dargestellten Personen. 3. Die Verwendung von Verben der inneren Bewegung für dritte Per sonen (vom Typ Napoleon dachte . . ) ohne Bezug auf eine In formationsquelle. .
Die Thesen Käte Hamburgers stießen sogleich auf vielfälti ge Kritik. Die Diskussion kreiste vor allem um die Frage des epischen Präteritums42 • 40
Diese zweite Hauptgattung und damit der ganze Binarismus des Gattungssystems ent fiel in der zweiten Auflage (Hamburger 1 968), wo die Ich-Erzählung nur noch als ..Sonderform" figuriert. 4 1 Der in Hamburgers Theorie zentrale Begriff der Ich-Origo oder - genauer - der Origo des letzt-hier-Ich-Systems, der auf einen von Karl Brugmann ( 1 904) und Karl Bühler ( 1 934) aus der Geometrie abgeleiteten Terminus zurückgeht, bezeichnet ..den durch das Ich (das Erlebnis- oder Aussage-Ich) besetzten Nullpunkt, die Origo des raumzeit lichen Koordinatensystems, der zusammenfällt oder identisch ist mit Jetzt und Hier" (Hamburger 1 968, 62). 42 Die w ichtigsten Positionen der Kontroverse bezeichnen: Seidler 1 952/5 3 ; Koziol 1 95 6 ; Stanzel 1 959; Rasch 1 96 1 ; Busch 1 962; Lockemann 1 965 ; Horalek 1 970 ; Bronzwaer 1 970, 42-46; Zimmermann 1 97 1 ; Anderegg 1 973, 48-52; Weimar 1 974; Petersen . 1 977. Besondere Beachtung verdient Genette, der schon in seinem Recit du discours ( 1 972 , 232) Hamburgers These von der Zeitlosigkeit des epischen Präteritums ("cette position
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I. Merkmale des Erzählens im fiktionalen Werk
Der Haupteinwand war, dass man die genannten Symptome und alle An zeichen für die Detemporalisierung des epischen Präteritums und die Zeit losi gkeit der Fiktion auf die spezifische grammatische Struktur der deut schen erlebten Rede zurückführen könne, in der die Perspektiven des Erzählers und der erzählten Person kontaminiert seien. So ist in Morgen war Weihnachten die Verwendung des Präteritums war auf den Stand punkt des Erzählers bezogen, der etwas Vergangenes erzählt, das deikti sche Zeitadverb morgen dagegen auf den Standpunkt der Person, für die zu diesem Punkt der Handlung Weihnachten am nächsten Tag sein wird. Nicht von ungefähr enthalten alle Bei spiele, die Hamburger anführt, die Struktur der erlebten Rede. Jedoch ist diese Schablone einer narratorialen Wiedergabe der inneren Rede der Person keineswegs auf das Erzählen in der dritten Person beschränkt, wie Hamburger noch in der zweiten , we sentlich veränderten Auflage ihrer ogik der Dichtung ( 1 968) postuliert, sondern begegnet regelmäßig, wenn auch nicht so auffällig, in der soge nannten "Ich-Erzählung" (siehe dazu unten, IV.3 .m). Mit der Widerlegung des Hauptarguments stürzte für viele Theoretiker das ganze Gebäude textueller Fiktionssymptome zusammen. Für Searle z. B. gilt: "there is no textual property that will identify a stretch of dis course as a work of fiction" ( 1 975 , 327). Theoretiker, die die Fiktionalität für eine grundsätzlich relative, pragmatische Kategorie halten, verweisen allerdings auf die Existenz bestimmter, nicht unbedingt kategorialer "Ori entierungssignale" (Weinrich 1 975 , 525) oder "metakommunikativer" wie "kontextueller Signale" der Fiktion (MartinezlScheffel 1 999, 1 5). Zu er steren zählt Weinrich das bewusste Vorenthalten bestimmter Umstände des Handlungsorts oder der Zeit und die negative Einleitung, wie sie z. B . im "desorientierenden" ersten Satz von Max Frischs Stiller begegnet: "Ich bin nicht Stiller". Als metakommunikative Signale fungieren "Paratexte" (Genette 1 987; v gl . auch Moenninghof 1 996) wie Titel und Untertitel , Vorwörter, Widmungen u. ä. , die mehr oder weni ger explizit die Fiktiona lität des Werks anzeigen. Ein kontextuelles Si gnal ist etwa die Veröffent lichung des Werks in einem bestimmten Verlag oder in einer bestimmten Reihe. Schließlich sind metafiktionale Signale in Betracht zu ziehen, wie sie Texte enthalten, die ihre Entstehung, ihren Status (evtl. auch ihre FikL
extr8me"et fort contestee") eine gewisse "verite hyperbolique" zuerkennt. In seiner Ge genüberstellung von Searle und Hamburger zollt Genette ( 1 990, 92 f.) letzterer, die er später ( 1 99 1 , 1 8) als "brillanteste Vertreterin der n�oaristotelischen Schule heute" wür digt, bei aller Kritik an ihren Einseitigkeiten nicht nur Respekt, sondern betrachtet auch ihre Extremismen und Fehler mit unverhohlener Sympathie.
2. Fiktionalität
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tionalität), die gewünschte Rezeption und Ähnliches thematisieren (Marti nez/ScheffeI 1 999, 1 6 f.). Eine umfassende Aufstellung von "si gns pointing to the fictionality of fiction" hat Michel Riffaterre ( 1 990, 29 f.) unternommen. Der ein wenig unsystematische und in manchen Punkten angreifbare Versuch wird von Frank Zipfel in seinen Ausführungen über Fiktionssignale auf der Ebene der Geschichte und der Erzählung (200 1 , 232-247) diskutiert, korrigiert und systematisiert. Von allen bei Zipfel aufgeführten direkten und indi rekten Fiktivitäts- und Fiktionalitätssignalen, die an unterschiedliche B e dingungen gebunden sind und unterschiedlich eindeutige Signalwirkung haben, scheint das relevanteste, am wenigsten an bestimmte Bedingungen gebundene und eindeuti gste jenes zu sein, das bei Käte Hamburger im Vordergrund stand. Obwohl ihr Versuch, die Fiktionalität auf den festen Boden objektiver textueller Symptome zu stellen, heute generell als ge scheitert gilt43 , bleibt die Logik der Dichtung eine scharfsinnige Einfüh rung in die Fiktion als Gestaltung fremder Subjekti vität. d) Darstellung fremder Innenwelt als Merkmal fiktionaler Texte Käte Hamburger ist in jedem Fall darin Recht zu geben, dass sich die Fiktion von allen andern Textsorten dadurch auszeichnet, dass sie uns unmittelbaren Zugang zu einer fremden Innenwelt gewährt: "Die epische Fiktion ist der einzige erkenntnistheoretische Ort, wo die Ich-Originität (oder Subjektivität) einer dritten Person als einer dritten dargestellt wer den kann" (Hamburger 1 968 , 73). Wenn dieses "Symptom" gelegentlich auch in nicht-fiktionalen Texten vorkommt, wie gegen Hamburger immer wieder vorgebracht wurde, so ist es doch für fiktionale Texte viel charak teristischer als für faktuale. Die unkommentierte, begründungslose Ver43
Es gibt jedoch Ausnahmen. Gegen Searle und mit Hamburger behauptet Dorrit eohn (1 990 ; 1 995) eine "absolute Differenz zwischen historischem und. fiktionalem Erzäh len" und die Existenz "objektiver Kriterien", "narratologischer Kennzeichen" für Fik tionalität: 1 . in der Fiktion gehe "Story" und "Diskurs" kein historisches Geschehen, keine "Referenzstufe" voraus, auf der der Historiker seine "S tory" aufbaue, 2. der all wissende oder frei erfindende Romanautor könne die Welt mit den Augen einer Person darstellen, die in dieser Welt lebt, ohne selbst zu erzählen, 3. in Romanwerken ist eine "Stimmspaltung [seil. zwischen Autor und Erzähler] erkennbar, durch die die Be deutung des Gesagten verunsichert wird". - Die Möglichkeit einer Differenzierung. von fiktionalen und faktualen Texten auf der Grundlage narratologischer Kriterien erörtern Genette 1 990 und Löschnigg 1999.
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I. Merkmale des Erzählens im fiktionalen Werk
wendung von Verben der inneren Bewegung (Napoleon dachte . . ) ist in faktualen Texten nur dann möglich, wenn eine bloße Vermutung von Seiten des Autors signalisiert ist oder eine Quelle dieses Wissens voraus gesetzt werden kann . Aber im faktualen Kontext ist sie viel sel tener, wei t weniger natürlich, nicht so selbstverständlich und naiv wie z. B . in Tols tojs Krieg und Frieden. Betrachten wir nur ein paar Absätze, in denen der all wissende Erzähler dieses Romans ohne jede Erklärung oder gar Be gründung die geheimsten Seelenregungen Napoleons während der Schlacht bei Borodino in _ der Form des erlebten inneren Monologs dar stellt: .
Napoleon war schwer zumute, ihn belastete ein Gefühl, wie es ein bisher immer er folgreicher Spieler empfindet, der sein Geld stets sinnlos gewagt und immer gewon nen hat und der nun, da er alle Eventualitäten des Spiels berechnet hat, mit einem Mal fühlt, dass er um so sicherer verliert, je gründlicher er sein Vorgehen bedacht hat. [ 1 In seinen früheren Schlachten hatte er nur die Eventualitäten des Erfolgs bedacht, jetzt aber tauchte in seiner Vorstellung eine unendliche Menge unglücklicher Eventualitä ten auf, und er erwartete sie alle. Ja, es war w ie im Traum, wenn dem Menschen ein ihn angreifender Mörder erscheint und der Mensch im Traum ausgeholt hat, um seinen Mörder mit schrecklicher Gewalt zu treffen, die ihn, wie er weiß , vernichten muss, und er fühlt, dass seine Hand kraftlos und schlapp wie ein Lappen herabfallt, und das Entsetzen vor dem unentrinnbaren Verderben den hilflosen Menschen erfasst. (L. N . Tolstoj, Poln. sobr. so<:. v 90 t. , Bd. 1 1 , S . 244-246) . . . .
In einem faktualen, historiographischen Text wäre eine solche Insze nierung des Innenlebens eines Staatsmannes undenkbar und nicht zu lässi g. Es sind nicht einmal Quellen vorstellbar, die dem Historiker er laubten, entsprechende Mutmaßungen anzustellen. Die All wissenheit des Autors ist ein Privileg und Anzeichen der Fiktion, denn sie ist ja in Wirk lichkeit kein Wissen, sondern freies Erfinden (Cohn 1 995 , 1 09)44. In der Fiktion können wir andere Menschen in ihrem Innenleben kennen lernen, uns ein zuverlässiges Bild von ihren geheimsten Seelenregungen machen, was uns i m Leben , wo wir auf Anzeichen und ihre unsichere Deutung angewiesen sind, sogar bei Freunden und Lebenspartnern letztlich ver wehrt bleibt. Die natürliche Inszenierung fremder Innenwelt ist gewiss einer der Gründe für die anthropologische und kulturelle B edeutung der 44
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Schon Genette hat in seiner Gegenüberstellung von ktionaler und faktualer Erzählung auf diesen Umstand hingewiesen: "on ne devine a , coup sOr que ce que l ' on invente" (Genette 1 990, 76). Neben dem direkten Zugang zn r Subjektivität der Personen rekla miert Genette als Merkmal fiktionaler Texte auch die entgegengesetzte Haltung, die er "focali sation externe" nennt und die im forciert objektiven Erzählen, im Fehlen jegli chen Ü bergriffs auf die Subjektivität der Personen besteht.
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2. Fiktionalität
Fiktion. Der Leser kann aus sich her�ustreten, nicht nur ein fremdes Le ben führen, sondern auch in eine fremde Subjektivität schlüpfen, fremde Weltwahrnehmungen und Lebensentwürfe tentativ durchspielen4s• Kein Gespräch und kein psychologisches Dokument kann soviel Alterität ge währen. Erst das Eintauchen in die Innenwelt des fiktiven Andern gibt dem Menschen die Möglichkeit, sich eine Vorstellung von seiner ei genen Identität zu machen46• Erkauft wird das Durchspielen fremder Subjektivi tät damit, dass alles ausgedacht ist und auf den fingierenden Autor, seine Wel tkenntnis und Imaginationskraft, sein Fiktionsspiel bezogen bleibt. Käte Hamburgers Nachdruck auf der Darstellung der Innenwelt der Helden als eines objektiven Symptoms der Fiktionalität entspricht durch aus der Aristotelischen Konzeption der Mimesis als des "Machens" (no t lJOL<;) handelnder Menschen . e) Die fiktive Welt Aus den erwähnten Diskussionen ist noch keine allgemein akzeptierte Theorie der Fiktion hervorgegangen , aber bei aller Divergenz der theoreti schen Ansätze und Modelle zeichnet sich letztlich gleichwohl ein gewis ser praktischer Konsens über die Grundzüge der literarischen Fiktionalität und Fiktivität ab. Im folgenden sei ein Grundmodell skizziert, das das Gemeinsame vieler verschiedener Positionen enthält und weitgehend konsensfähig sein dürfte. 45
Vgl. dazu E. M. Forsters ( 1 927, 46 f. , 6 1 ) Feststellungen: ,,[ . . ] people in a novel can be understood completely [ 1. And this is why they often seem more definite than characters in history, or even our own friends; we have been told a11 about them that can be told; even if they are imperfect or unreal they do not contain any secrets, whereas our friends do and must, mutual secrecy being one of the conditions of Iife upon this globe. [ ] We cannot understand each other, excep t in a rough and ready way ; we cannot reveal ourselves even when we want to; what we call intimacy is only a makeshift; perfect knowledge is an illusion. But in the novel we can know people per fectly , and, apart from the general pleasure of reading, we can find here a compensation for their dimness in life. In this direction fiction is truer than history, because it goes beyond the evidence, and each of us knows from his own experience that there is some thing beyond the evidence, and even if the novelist has not got it correctly, well - he has !ried". Zum kathartischen Effekt der Identifizierung des Lesers mit der fremden Innerlichkeit vgl. auch die Ausführungen von Aage Hansen-Löve (1 987, 1 1 ) über den " , Fiktions menschen ' , der sich , in fremden Kleidern ' von dem Totalitätsanspruch des eigenen Bewußtseins , erholt· ... .
. . .
. . .
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42
1.
Merkmale des Erzählens im fiktionalen Werk
Fikti � sein heißt: nur dargestellt sein. Die literarische Fiktion ist die Darstellung einer Welt, die keine direkte Beziehung des Dargestellten zu einer realen außerliterarischen Welt impliziert. Die Fiktion besteht im . Machen, in der Konstruktion einer ausgedachten, möglichen Welt47• Für die Mimesis kann der Schöpfer der dargestellten Welt Elemente aus un terschiedlichen Welten nehmen und zusammenfügen. Die thematischen Einheiten, die als Elemente in die fiktive Welt eingehen, können aus der real en Welt bekannt sein, in unterschiedlichen Diskursen der jeweiligen Kultur zu Hause sein, älteren oder fremden Kulturen entstammen oder nur in der Imagination existieren. Unabhängi g von ihrer Herkunft werden alle thematischen Einheiten beim Eingang in das fiktionale Werk zu fiktiven Elementen. Die referentiellen Si gnifikanten des fiktionalen Textes verwei sen nicht auf bestimmte außertextliche Referenten, sondern beziehen sich nur auf innertextliche Denotate der jeweiligen dargestellten Welt. Mit anderen Worten, die "Hinausversetzung" (Ingarden 1 93 1 ) der i nnertextlichen Re ferenten über die Grenzen des Textes, die für faktuale Texte charakteris tisch ist, findet in der fiktionalen Literatur nicht statt48• So ergibt sich die "paradoxe Funktion einer Pseudo-Referenz oder einer Denotation ohne Denotat" (Genette 1 99 1 , 36). Allerdings bedeutet die Unterbrechung einer direkten Beziehung zwischen Text und außertextlicher Welt keineswegs , dass die fiktive Welt für den Leser irrelevant oder auch nur weniger rele vant wäre als die reale. Im Gegenteil , die fiktive Welt kann für den Leser höchste Bedeutsamkeit erlangen. Mit den innertextlichen Referenten , z. B. den Personen und ihren Handlungen, kann der Leser wie mit realen, individuellen, konkreten Gegebenheiten umgehen49, auch wenn er sich ihrer Fikti vität bewusst ist. Welcher Leser nähme nicht Anteil am un glücklichen Ende Anna Kareninas und verfolgte nicht mit größtem Inte resse Levins Kampf um den Glauben?so 47 48
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Zur Überschneidung der Theorie der Fiktionalität und der Theorie möglicher Welten vgl. Pave1 1 986; Dolerel 1 998, 1 -28. Nach der phänomenologisch beeinflußten ontologischen Theorie des polnischen Philo sophen Roman Ingarden ( 1 93 1 ) unterscheidet sich die Literatur von der Nicht-Literatur durch einen besonderen Typus von Aussagen, den Ingarden "Quasi-Urteile" nennt. Die Differenz zu echten Urteilen besteht darin, dass ihre Gegenstände nur als "rein intenti onale" existieren und nicht in die Sphäre realen Seins ..hinausversetzt" werden. Zur Individualität fiktiver literarischer Figuren vgl.i Martfnez Bonati 1 98 1 , 24. Um das künstlerische Erzählen zu charakterisieren, ist es erforderlich, aber nicht aus reichend, auf das Merkmal der Fiktionalität zu rekurrieren. Fiktional sein und künstle risch sein ist nicht dasselbe. Es gibt fiktionale Erzähltexte, die nicht zum Bereich der
2. Fiktionali tät
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Was ist nun fiktiv im fiktionalen Werk? Die Antwort l autet: die ganze dargestellte Welt und alle ihre Teile: Situationen, Personen, Handlungen. Fiktive Gegenstände unterscheiden sich von realen nicht durch irgendwel che thematischen oder formalen Merkmale, sondern nur durch die an ihnen selbst nicht beobachtbare Eigenschaft, in der realen Welt nicht zu existieren51 • Die Nicht-Existenz in der realen Welt wird nicht fraglich sein, solange es sich um offen ausgedachte Personen handelt, wie Natasa Rostova und Pierre Bezuchov in Krieg und Frieden. Aber wie steht es mit den historischen Persönlichkeiten, die in dem Roman auftreten, etwa mi t Napoleon oder Kutuzov? Es handelt sich bei ihnen nur um quasi-histori sche Figuren. Tolstojs Napoleon ist keine Abbildung der realen histori schen Persönlichkei t, sondern eine Darstellung, eine Mimesis Napoleons , d. h. die Konstruktion eines möglichen Napoleon. Vieles, was über diesen Napoleon im Roman erzählt wird - man denke nur an die oben zitierten Überlegungen des Helden angesichts der drohenden Niederlage bei Boro dino -, kann j a · durch keine Quelle belegt werden, wird in keinem Ge schichtsbuch zu finden sein. In Krieg und Frieden sind Napoleon und Kutuzov nicht weniger fiktiv als Natasa Rostova und Pierre Bezuchov (für Fiktivität gibt es natürlich keine Gradation).
51
Literatur im engeren Sinne der schönen Literatur gehören, z. B. Geschichten, die als Beispiele in einer wissenschaftlichen oder didaktischen Arbeit dienen, Textaufgaben im Mathematikbuch, Reklamespots usw. Das künstlerische Erzählen zeichnet sich noch durch ein zweites Merkmal aus, die Ästhetizität, genauer: die ästhetische Funktion je nes Werks, in dem das Erzählen als Komponente der dargestellten Welt figuriert. Wel che Relevanz hat die Ästhetizität für die narrative Struktur und die Narratologie? Damit die ästhetische Funktion, für die die Kunst prädestiniert ist, tatsächlich wirksam werden kann, muss das Erzählen Qualitäten entwickeln, die beim Rezipienten die ästhetische Einstellung auslösen. Das heißt natürlich nicht, dass der Erzähler "schön" erzählen muss. Träger der ästhetischen Intention ist ja nicht der Erzähler, sondern der ihn und sein Erzählen darstellende Autor oder - wenn man will - der Text. Das Erzählen muss vielmehr so beschaffen sein, dass es nicht nur eine thematische Information trägt, son dern in seiner Form inhaltlich wird. Fiktionalität und Ästhetizität sind zwei selbständi ge, voneinander unabhängige Merkmale der Erzählkunst. Aber sie beeinflussen die Re zeption auf ähnliche Weise. Die Ästhetizität bedingt wie die Fiktionalität eine Iso lierung des Werks, die Aufuebung der äußeren Referenz, die Schwächung der unmittel baren Beziehung zur außerliterarischen Wirklichkeit. Zum Ausgleich für den Verlust an äußerer Referenz lenken beide Qualitäten die Aufmerksamkeit auf das Werk selbst, seine Struktur, seine innere Referenz. Da wir mit dem weiteren Merkmal in den Be reich der allgemeinen Ästhetik gelangen, der für die Narra tion nicht spezifisch ist, sei hier auf weitere Ausführungen zur Ästhetizität verzichtet. Diese Feststellung widerspricht keineswegs der oben ausgeführten Existenz besti�mter textueller, kontextueller, metatextueller usw . Anzeichen der Fiktionalität.
44
I. Merkmale des Erzählens im fiktionalen Werk
Der fiktive Status der Personen ist evident, wenn sie mi t Eigenschaften ausgestattet sind, die erfunden sein müssen und von keiner historischen Quelle bezeugt werden können. Aber selbst wenn sich der Autor eines historischen Romans streng an die belegten historischen Fakten hielte (was jegliche Darstellung psychischer Motive ausschlösse), wären alle seine Helden, wie sehr sie auch historischen Fi guren ähnelten, unaus weichlich fikti ve Fi guren. Allein die Tatsache, dass die quasi-historischen Figuren in dersel ben Welt wie die offen ausgedachten leben, macht sie fikti v. Jener Napoleon und jener Kutuzov , die mit Natasa Rostova und Pierre B ezuchov hätten zusammentreffen können, haben in der realen Wel t nicht existiert. Die Fiktivität der Personen macht auch die Situationen fiktiv , in denen sie sich befinden , und die Handlungen, an denen sie teilhaben. Fiktiv ist auch der Raum des fiktionalen Werks. Das ist offensichtli<;:h im Falle von Skotoprigonevsk, dem auf keiner Karte Russlands verzeich neten Handlungsort der Brüder Karamazov. Aber fiktiv sind auch die Orte , die in der Realität ein konkretes Äquivalent haben. Das Moskau, in dem die Helden von Krieg und Frieden leben, das Borodino, bei dem Andrej B olkonskij verwundet wird, kann man auf keiner historischen Karte Russlands finden. Weder Moskau noch Borodino noch irgendein anderer Handlungsort des Romans bezeichnet einen Punkt auf der räumli chen Achse des realen raum-zeitlichen Koordinatensystems. Auf der rea len Raumachse finden wir nur das Moskau und das Borodino, in denen niemals eine Natasa Rostova oder ein Andrej Bolkonskij geweilt haben. Fikti v sind schließlich auch die dargestellten Handlungszeiten der fik tion. Evident ist das in utopischen oder antiutopischen Werken. Als Bei spiel konnte lange George Orwells Nineteen Eighty-four dienen. Als aber das im Ti tel bezeichnete Jahr in der Reali tät anbrach, reichte es nicht mehr aus , zum einfachen Beweis der Fiktivität der Handlungszei t auf die reale Zeit zu verweisen. Obwohl die Fiktivität der Zeit weni ger offen sichtlich wurde , bestand sie natürlich weiterhin; Im fiktionalen Werk sind also alle thematischen Elemente der erzähl ten Welt fiktiv : Personen, Räume, Zeiten, Handlungen, Reden, Gedanken , Konflikte usw. Gegen die in der Fiktionali tätstheorie verbreitete Auffas sung, in der Fiktion könnten neben fiktiven ,Obj ekten auch reale Gegen ständlichkeiten (reale Personen , Orte oder Zeiten) erscheinen (miied-hag conception), soll hier davon ausgegangen � erden, dass die fikti ve Welt des Erzähl werks eine homogene Ontologie �at, dass alle in ihr dargestell-
2. Fiktionalität
45
ten Gegenständlichkeiten, gleichgültig wie eng sie mit real existierenden Objekten assoziiert werden können , grundsätzlich fiktiv sind52• Die erzählte Welt ist jene Welt, die vom Erzähler entworfen wird. Die vom Autor dargestellte Welt erschöpft sich freilich nicht in der erzählten Welt. In sie gehen auch der Erzähler, sein Adressat und das Erzählen selbst ein. Der Erzähler, der von ihm vorausgesetzte Hörer oder Leser und der Erzählakt sind im fiktionalen Werk dargestellte und folglich fiktive Einheiten. Somit wird im Erzählwerk nicht einfach erzählt, sondern ein Erzählakt dargestellt. Die Erzählkunst ist strukturell durch die Doppelung des Kommunikationssystems charakterisiert: Die Erzählkommunikation, in der die erzählte Welt entworfen wird, ist Teil der fiktiven dargestell ten Welt, die das Objekt der realen Autorkommunikation ist53 •
52
53
Ähnliche Positionen vertreten Rudolf Haller (1 986) und Lubomir Dolerel ( 1 989, 230 f.). Dass diese Positionen die Einheitlichkeit der Beschreibung zu teuer, nämlich um den Preis kontra-intuitiver Einebnung textanalytisch signifikanter Differenzen er kauften, führt Zipfel (200 1 , 95) ins Feld. Zipfel selbst unterscheidet für die ver meintlich realen Gegenständlichkeiten in der Fiktion zwischen "realen Objekten" (im migrant objects bei T. Parsons 1 980, 5 1 ) und "pseudo-realen Objekten" (surrogate ob jects bei T. Pavel 1 986, 29): Erstere wichen weniger "signifikant" von ihren Entspre chungen in der Realität ab und bildeten "Anbindungspunkte der fiktiven Geschichte an die reale Welt" (Zipfel 200 1 , 100). Der Vorteil und die Notwendigkeit dieser Differen zierung ist nicht zu erkennen. Weder ist die "Abweichung" etwa einer Figur von einem historischen Protoptyp ohne weiteres festzustellen, noch ist sie für das Leseerlebnis des Durchschnittslesers von Belang. Soll man Studien in russischer und französischer Ge schichte betreiben, bevor man Krieg ulld Frieden liest? Zipfel weckt den Verdacht, er wolle insgeheim eine Gradation des Fiktiven einführen, die er an anderer Stelle in sei nem Buch zu Rech t als problematisch bezeichnet (Zipfel 200 I , 294). Die Formel der "kommunizierten Kommunikation", mit der Janik ( 1 973, 1 2) das Er zählwerk charakterisiert, verkürzt den eigentlichen Sachverhalt ein wenig: Kom muniziert wird nicht unmittelbar die Erzählkommunikation, sondern die dargestellte Welt, in der diese enthalten ist (vgl. Schmid 1 974a).
46
I. Merkmale des Erzählens im fiktional en Werk Schema der Doppelstruktur der Kommunikation im literarischen Er zählwerk Autorkommunikation Autor
Darstellen
Adressat
Dargestellte Welt
Erzählkommunikation " I er äh E_r_ z_ __
�__
��I�
__
n l e_ Erz äh _ __
____
__
���
____
Erzählte Welt
A_d_re_s_ sa_t
__
�
__
11 . Die Instanzen des Erzähl werks 1. Modell der Kommunikationsebenen
Das Erzählwerk, das , wie wir festgestellt haben, nicht selbst erzählt, son dern ein Erzählen darstellt, umfasst zumindest zwei Ebenen der Kommu nikation: Autorkommunikation und Erzählkommunikation. Zu diesen bei den für das Erzähl werk konstitutiven Ebenen kann eine dritte, jakultative hinzutreten, die Personenkommunikation. Das ist dann der Fall, wenn eine der erzählten Personen ihrerseits als Sprech- oder Erzählinstanz auftritt. Auf jeder dieser drei Ebenen unterscheiden wir eine Sender- und Emp fängerseite. Für den Begriff des Empfängers ist allerdings eine nicht un wesentliche Zwiespältigkeit zu beachten, die von den einschlägigen Kom munikationsmodellen oft vernachlässi gt wird. Der Empfänger zerfällt nämlich in zwei Instanzen, die funktional oder intensional zu' scheiden sind, auch wenn sie material oder extensional zusammenfallen: in den Adressaten und den Rezipienten. Der Adressat ist der vom Sender unter stellte oder intendierte Empfänger, derjenige, an den der Sender seine Nachricht, schickt, den er beim Verfassen als vorausgesetzte oder ge wünschte Instanz im Auge hatte, der Rezipient ist der faktische Emp fänger, von dem der Sender möglicherweise - und im Fall der Literatur: in der Regel - nichts weiß. Die Notwendigkeit einer solchen Unterschei dung liegt auf der Hand: Wenn ein Brief nicht vom Adressaten gelesen wird , sondern von dem, in dessen Hände e r zufällig gerät, können Unannehm lichkeiten entstehen. Die Kommunikationsebenen und die Instanzen des Erzählwerks sind seit Anfang der siebziger Jahre in unterschiedlichen Modellen skizziert worden. Ich greife hier mein ei genes Modell auf (Schmid 1 973 , 20-30; 1 974a), das in der Fol ge zahlreichen Textanalysen zugrunde gelegt und in theoretischen Arbeiten besprochen, modifiziert und ausgebaut wurdel . Zeitgleich mit meinem Modell erschien das Modell von Dieter Janik Vgl. z. B. Link 1 976, 25 ; KahrrnannlReiß/Schluchter 1 977, 40 ; Hoek 1 98 1 , 2 5 7 f. ; Lintvelt 1 979; 1 98 1 ; Dfaz Arenas 1 986, 25, 44; Weststeijn 1 99 1 ; Paschen 1 99 1 , 1 4-22.
II. Die Instanzen des Erzählwerks
48
.
( 1 973), das ich damals nicht berücksichtigen konnte2• Als ich mein Modell konzipierte, waren mir auch wi chtige Arbeiten polnischer Erzähltheoreti ker noch nicht zugänglich, insbesondere Okopien-Slawinska 1 97 1 und Bartoszynski 1 97 13• Ich präsentiere mein Modell natürlich in modifizierter Form , in der die veröffentlichte Kritik berücksichtigt. wird (vgl . meine "Antwort an die Kritiker" : Schmid 1 986). Zunächst wird das Schema der Kommunikationsebenen vorgestellt, darauf folgt eine Erörterung der ein zelnen ebenenspezifischen Instanzen. Modell der Kommunikationsebenen
Literarisches Werk Dargestellte Welt
L�
Erzählte Welt kA:
aA(:)
tE :
P"
- P,
..... fL
{
UA iR
Legende: =
kA
=
aA tE
=
=
.....
P h P2
2 3
=
=
konkreter Autor schafft abstrakter Autor fiktiver Erzähler gerichtet an Personen
fL
aL uA iR kL
=
=
= =
=
'
fiktiver Leser (Narrataire) abstrakter Leser unterstellter Adressat idealer Rezipient konkreter Leser
Vgl. dann aber die Rezension Schmid 1 974a und diei Replik Janiks 1 985, 70-73. Vgl. die Systematisierung und Weiterentwicklung der polnischen Modelle bei Rolf Fieguth ( 1 973, 1 86; 1 975, 1 6; 1 996, 59) . •
2. Der abstrakte Autor
49
2. Der abstrakte Autor
a) Konkrete und abstrakte Instanzen Beginnen wir mit j ener Ebene und jenen Instanzen, die für das Erzähl werk zwar konstitutiv, aber nicht spezifisch sind, der Autorkommunikation zwi schen Autor und Leser. In jeder sprachlichen Mitteilung treten die beiden Instanzen in zwei Modi auf, als konkrete und als abstrakte Instanzen. Der konkrete Autor, die real e historische Persönlichkeit, der Urheber des Werks , gehört nicht zu diesem, sondern existiert unabhängig von ihm. Lev Tol stoj hätte existiert, auch wenn er keine Zeile geschrieben hätte. Der konkrete Leser, der Rezipient existiert ebenfalls außerhalb und unab hängig vom Werk. Genau genommen ist das nicht ein Leser, sondern die unendliche Menge aller Menschen, die an irgendeinem Ort zu irgendeiner Zeit Rezipienten des jeweiligen Werks gewesen sind oder noch werden (vgl . das Modell der äußeren Kommunikation in Schmid 1 973 , 22). Obwohl Autor und Leser in ihrem konkreten Modus nicht zum Be stand des Werks gehören, sind sie in i hm dennoch auf eine bestimmte Weise präsent. Jede beliebige sprachliche Äußerung enthält ein implizites Bild ihres Urhebers und auch ihres Adressaten. Machen wir dazu ein klei nes Gedankenexperiment. Wir stellen uns vor, wir säßen in einem Hörsaal der Universität und hörten vor der Tür einen uns unbekannten Menschen zu j emandem sprechen. Ohne dass wir Sprecher und Hörer sehen, werden wir uns auf der Grundlage des Gehörten unwillkürlich eine Vorstell ung vom Sprechenden machen, von seinem Geschlecht, seinem Al ter, seiner Stimmung, seiner Funktion in der Universität, vielleicht auch, wenn die Rede lang genug ist und entsprechende Themen berührt, von seiner Denk weise, seiner Philosophie. Und auch von seinem Gegenüber werden wir uns eine Vorstellung machen, selbst wenn es während der gesamten Rede stumm bleibt, genau genommen - nicht vom Gegenüber selbst, sondern von dem Bild, das sich der Sprecher von ihm macht, d. h. vom unterstell ten Adressaten. Aus der Rede des Sprechers versuchen wir herauszuhören, wen er vor sich hat, einen Mann oder eine Frau, einen Studenten oder einen Lehrenden, ei nen Bekannten oder Unbekannten, weIches Wis sen er bei ihm voraussetzt, weIche persönliche Beziehung er zu ihm hat oder auf zunehmen beabsichtigt. Das Bild des Senders, das in jeder Mitteilung enthalten ist, gründet auf jener Sprachfunktion, die Karl Bühler in seinem "Organonmodell" , der Sprache zunächst ( 1 9 1 8/20) Kundgabe, später ( 1 934) Ausdruck genannt
50
11.
Die Instanzen des Erzählwerks
hat". Damit ist der unwillkürliche, nicht-intendierte Selbstausdruck des Sprechenden gemeint, der in jedem Sprechakt stattfindet. Das Wort als Zeichen fungiert hier nicht als "Symbol" , das die "Darstellung" von Ge genständen und Sachverhalten vermittelt, sondern als "Symptom, Anzei chen, Indicium" (Bühler 1 934, 28). Im Weiteren werden wir den Termi nus "indiziales Zeichen" benutzen oder den auf Charles S. Peirce ( 1 93 1 1 958) zurückgehenden Begriff des "Index", um diesen indirekten Modus der Selbstausdrucks mit unwillkürlichen, nicht beabsichtigten, l'liclit arbiträren , natürlichen Zeichen zu benennen. Was für jede beliebige sprachliche Äußerung gilt, kann auch auf das li terarische Werk als ganzes bezogen werden. In ihm drückt sich mit Hilfe von Symptomen, indizialen Zeichen der Autor aus. Das Ergebnis dieses semiotischen Aktes ist allerdings nicht der konkrete Autor, sondern das Bild des Urhebers, wie er sich in seinen schöpferischen Akten zeigt. Die ses Bild, das eine zweifache, objektive und subjektive Grundlage hat, d. h. im Werk enthalten ist und durch den Leser rekonstruiert wird, nenne i ch den abstrakten Autor. b) Vorgeschichte des abstrakten Autors Bevor wir diese Instanz näher bestimmen; wollen wir einen kurzen Blick auf die Vorgeschichte des Konzepts werfen. Als erster hat den entspre chenden B egriff des "Autorbilds" (obraz avtora) systematisch Viktor Vi nogradov in seinem Buch zur künstlerischen Prosa ( 1 930) entwickelf. Im Jahr 1 927, als er den Begriff "Autorbild" , zunächst unter der Bezeichnung "Bild des Schriftstellers" (obraz pisatelja) konzipierte, schrieb Vinogradov an seine Frau: Ich bin in meinen Gedanken ganz vom Bild des Schriftstellers eingenommen. Er scheint im Kunstwerk immer durch. Im Gewebe der Wörter, in den Verfahren der Dar stellung spürt man seine Gestalt. Das ist nicht die Person des "realen", lebenswelt lichen Tolstoj, Dostoevskij, Gogol ' . Das ist eine eigentümliche Schauspielergestalt des Schriftstellers. In jeder markanten Individualität nimmt das Bild des Schriftstellers in dividuelle Züge an, und dennoch bestimmt sich seine Struktur nicht nach der psycho4 5
Bühlers bei Kainz 1 94 1 . Überblick über verschiedene Ansätze zur Theorie der Sprachfunktionen in Schmid 1 974b, 384-386. Zur Entstehung der Theorie des Autors im Westen und in Russland vgl. Rymar'/Skobelev 1 994, 1 1 -59. Über die Herausbildung des Begriffs "Autorbild" bei Vinogradov: Cu dakov 1 992, 237-243 . Über die verschiedenen Inhalte, die Vinogradov dem Begriff gibt: Lichacev 1 97 1 ; Ivancikova 1 985. Zu den slavischen Autorkonzepten vgl. jetzt auch Gölz 2006. Darstellung und Modifizierung der Theorie
2. Der abstrakte Autor
51
logischen Eigenart des Schriftstellers, sondern nach seinen ästhetisch-metaphysischen Anschauungen. Sie können durchaus unbewusst bleiben, wenn der Schriftsteller keine groBe intellektuelle und künstlerische Kultur hat, aber müssen unbedingt sein [ . . . ] Die ganze Frage besteht darin, wie man dieses Bild des Schriftstellers auf der Grundlage seiner Werke rekonstruieren soll. Die Hilfe aller biographischen Informationen schlage ich entschieden aus. (Zit. nach C udakov 1 992, 239)
In einer späten Arbeit, die erst postum erschien, definierte Vinogradov ( 1 97 1 , 1 1 8) das Autorbild auf folgende Weise: Das Autorbild ist nicht das einfache Subjekt der Rede. Meistens ist es in der S truktur des Kunstwerks gar nicht genannt. Es ist die konzentrierte Verkörperung des Wesens des Werks, die das ganze System der sprachlichen Strukturen der Personen in ihrer Korrelation mit dem Erzähler oder den Erzählern vereinigt und durch sie das ideell stilistische Zentrum, der Fokus des Ganzen ist.
Wenn Vinogradov dann hinzufügt, dass in den Formen des Skaz, der in der russischen Literatur weit verbreiteten, stark symptomhaltigen Erzähl weise einer vom Autor deutlich dissoziierten Instanz (vgl. dazu unten, IV.2), das "Autorbild gewöhnlich mit dem [persönlichen] Erzähler nicht zusammenfällt" , räumt er allerdings indirekt ein, dass mit einem neutralen Erzähler das Autorbild durchaus zusammenfallen könne. Die mangelnde Konsequenz in der Unterscheidung von abstraktem Autor und Erzähler ist . charakteristisch für das gesamte Werk Vinogradovs. Als sich am Ende der fünfziger Jahre die Literaturwissenschaft in Russland vom Druck marxistischer Forderungen zu befreien begann, wur de die Idee des textimmanenten Autors in den Arbeiten Boris Kormans aufgegriffen und weiterentwickelt (vgl. Rymar'/Skobelev 1 994, 60- 1 02). Im Rekurs auf Vinogradovs Konzept des "Autorbilds" und gestützt auf Bachtins Theorie der dialogischen Kollision unterschiedlicher "Sinnposi tionen" im Werk, entwickelte Korman eine von ihm "systemhaft-sub jektbezogen" genannte Methode, in deren Mittelpunkt die Erforschung des Autors als des "Bewusstseins des Werks" (soznanie proizvedenija) stand. Von der Theorie seiner Vorgänger unterscheidet sich dieser Ansatz in zwei wesentlichen Aspekten. Anders als Vinogradov , in dessen Arbei ten das "Autorbild" vor allem stilistisch spezifiziert wird und als Ergebnis der Korrelation der im Werk ins Spiel gebrachten Stile erscheint, interes siert sich Korman in erster Linie für das Wechselverhältnis der unter schiedlichen Bewusstseinszentren im Werk. Während Bachtin, dessen Präferenzen hier ihre Spuren hinterlassen, sich für das Problem des Autor bilds hauptsächlich in philosophisch-ästhetischer Hinsicht i nteressierte, dominiert bei Korman der Aspekt der Poetik (Rymar'/Skobelev 1 994, 62
52
11.
Die Instanzen des Erzählwerks
f. , 72 f.). Für Korman realisiert sich der weikimmanente Autor, den er "konzipierten Autor" nennt, "in der Korrelation aller das jeweilige Werk konstituierenden Textteile mit den Subjekten der Rede, d. h. jenen Subjek ten, denen der Text zugeschrieben wird, und den Subjekten des Bewusst seins, d. h. jenen Subjekten, deren Bewusstsein im Text ausgedrückt i st" (Korman 1 977, 1 20). In Kormans Experimentellem Wörterbuch finden w.ir dann folgende Definition des "Autors als Bewussteinssubjekt" (avtor sub " ekt soznanija): Der Autor ist das Subjekt (der Träger) des Bewusstseins, dessen Ausdruck das ganze Werk ist. Der so verstandene Autor ist vor allem gegen den biographischen Autor ab zugrenzen, den Menschen, der real existiert oder existiert hat. Die Korrelation des bio graphischen Autors und des Autors als Bewusstseinssubjekt, dessen Ausdruck das Werk ist, ist im Prinzip dieselbe wie die Korrelation des Lebensmaterials und des Kunstwerks im allgemeinen: von einer bestimmten Wirklichkeitsauffassung geleitet und von bestimmten normativen und kognitiven Einstellungen ausgehend, schafft der reale, biographische Autor (der Schriftsteller) mit Hilfe der Imagination, Auswahl und Bearbeitung von Lebensmaterial den künstlerischen (konzipierten) Autor. Der Alterität diese's Autors, seiner Vermittlung verdankt sich das ganze künstlerische Phänomen, das ganze literarische Werk. (Korman 1 98 1 , 1 74)
Wichti ge Ideen zur Theorie des werkimmanenten Autors trug der tschechische Strukturalismus bei . Jan Mukarovsky ( 1 937, 3 1 4) sprach von einem "abstrakten Subjekt, das , in der Struktur des Werks enthalten, nur ein Punkt ist, von dem aus man das ganze Werk mit einem B lick über schauen kann" . In jedem beliebigen Werk, fügt Mukarovsky hinzu, ließen sich Anzeichen finden, die auf die Präsenz dieses Subjekts hinwiesen, das niemals mit einer konkreten Person identifiziert werden dürfe, weder mit dem Autor noch mit dem Rezipienten: "In seiner Abstraktheit stellt [das Werksubjekt] nur die Möglichkeit für die Projektion dieser Persönlichkei ten in die innere Werkstruktur zur Verfü gung" (ebd.). Von der Konzeption seines Lehrers ausgehend, erklärt Miroslav Cer venka ( 1 969, 1 35 - 1 37), der tschechische Strukturalist der zweiten Ge neration, die "Persönl ichkeit" oder das "Werksubjekt" , d. h. jene Instanz, die Mukarovsky "abstraktes Subjekt" genannt hatte, zum "Signifie" , zum "ästhetischen Objekt" des im Sinne Peirces als Index aufgefassten li terari schen Werks . Die so verstandene "Persönlichkeit" verkörpert für Cerven ka das Prinzip der dynamischen Vereinigung aller semantischen Ebenen des Werks , ohne seinen inneren Reichtum u nd die auf den konkreten Au tor verwei sende persönliche Färbung zu unte drücken6. 6
r
Vgl. dazu Stempel 1 978, XLIX-LIII.
2. Der abstrakte Autor
53
A m Anfang der polnischen Forschung zum Werksubj ekt stehen die Ar beiten Janusz Slawiriskis ( 1 966, 1 967), in denen die Konzeptionen sowohl Vinogradovs als auch Mukafovskys vermittelt werden. Slawiriski selbst nennt Vinogradovs "Autorbild" das "Subjekt der Schaffensakte" oder den "Urheber der Sprechregeln". Edward Balcerzan ( 1 968) gebraucht für die se Instanz den Terminus "innerer Autor". Eine besondere B edeutung hat der Aufsatz Alexandra Okopien-Slawiriskas zu den "persönlichen Relati onen" ( 1 97 1 ), der über die Vermittlung Rolf Fieguths ( 1 975) einen nicht geringen Einfluss auf westliche Modelle der Erzählkommunikation hatte. In dem fünf Ebenen umfassenden S chema der Rollen in der literarischen Kommunikation fi gurieren bei Okopieri-Slawiriska zwei außertextliche Senderinstanzen: 1 . der "Autor" (in der ergänzenden Definition R. Fie guths [ 1 975 , 1 6]: "der Autor in allen seinen Lebensrollen"), 2. "der Sen der des Werks (der Disponent der Regeln, das Subjekt der schöpferischen Akte)" (bei Fieguth: "Disponent der literarischen Regeln, aus denen die Regeln dieses Einzel werks ausgewählt und kombiniert werden ; der Autor in der Rolle des Produzenten von Literatur")'. Diesen bei den außer textl ichen Hypostasen des Autors steht eine werkimmanente Instanz ge genüber, die Okopieri-Slawiriska "Subjekt des Werks" nennt un� die Fie guth definiert als "Subjekt der Regeln des Sprechens im Werkganzen ; Subjekt der Verwendung literarischer Regeln für dieses Werk". Die Un terscheidung zweier · außertextlicher Kommunikationsebenen ist jedoch unter systematischem Aspekt problematisch, insofern sich Komplikatio nen bei der Zuordnung der Rollen des konkreten Autors zu den Instanzen der Rezeptionsseite ergeben. Außerdem ist sie unter pragmatischem As pekt wenig hilfreich bei der Textanalyse. In der westlichen Narratologie ist das Konzept des implied author weit verbreitet, wie es der amerikanische Literaturwissenschaftler und Mitglied der Chicago School Wayne C. Booth ( 1 96 1 ) entwickelt hatB• Entgegen den seit Flaubert vorgetragenen Forderungen an den Autor, er solle objektiv sein, d. h. neutral , leidenschaftslos und impassible, unterstreicht Booth die unausweichliche Subj ektivität des Autors: As he writes, [the real author] creates not simply an ideal, impersonal "man in gene ral", but an implied version of "himself' that is different from the implied authors we meet in other men 's works. [ . . ] the picture the reader gets of his presence is one of the .
7
11
In einer späteren Arbeit unterscheidet Fieguth ( 1 996, 59) am Beispiel des Romans sogar drei werktranszendente Manifestationen des Senders: 1 . den Autor als historische Per son, 2. den Autor als Romancier, 3. den Autor als Verfasser eines konkreten Romans. Zum Kontext des Begriffs vgl. Kindt/MüIler 1 999.
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H. Die Instanzen des Erzählwerks
author' s most important effects. However impersonal he may try to be, his reader will inevitably construct a pieture of the fauthor] who writes in this manner [ . . . ] (Booth 1 96 1 , 70 f.)
c) Kritik des Autors In der westlichen Theoriediskussion sind die Begriffe "abstrakter" oder "impliziter" Autor, obwohl sie in der Analysepraxis weithin verwendet werden, nicht nur auf Zustimmung gestoßen. Die Ablehnung der Konzep tion einer im Werk enthaltenen Autorinstanz entwickelte sich unter dem Vorzeichen eines generellen Misstrauens gegenüber dem Autor, das sich in der westlichen Literaturwissenschaft seit den vierziger Jahren beobach ten lässt9• Ein einflussreicher Faktor dieser Entwicklung war die Kritik der soge nannten intentional fallacy, die von den New Critics William Wimsatt und Monroe Beardsley ( 1 946) formuliert wurde 1 o• Der "Trugschluss" besteht nach Ansicht der Kritiker im Glauben an die Relevanz von Absichts erklärungen des Autors und biographischen Informationen zur Werk geschichte für die Interpretation. Nicht die Autorintention solle Ge genstand der Interpretation sein, sondern der literarische Text ( "the poem itself'), der sich schon in seiner Entstehung vom Autor verselbständigt habe und ihm nicht mehr gehöre. Deshalb seien für die Interpretation kei nerlei außertextliche Fakten relevant; es gelte ausschließlich das Prinzip der intemal evidence. Booth, der damals offe�sichtlich die Kritik der in tentional fallacy im Grunde teilte, überwand mit Hilfe des Konzepts des implied author den rigiden Immanentismus und die autonomistische Dok trin des New Criticism, der - wie , Booth ( 1 968 , 84 f.) klagte - unter dem Vorzeichen des Kampfes gegen allerlei Trugschlüsse und Häresien nicht nur den Autor, sondern auch das Publikum, die ,;Welt der Ideen und Über zeugungen", ja das "narrative Interesse" überhaupt eliminierte. Der ver mittelnde Begriff der werkimmanenten Autorschaft bot die Möglichkeit, über den Sinn und die Absicht eines Werks zu sprechen, ohne der berüch tigten intentionalfallacy anheim zu fallen l I . 9
10 11
V gl. die Übersicht über die "Angriffe" auf den Auto r bei Jannidis u. a . 1 999, 1 1 -1 5. Einen Überblick über die Diskussionen zur intentionaljallacy geben DanneberglMüller i 1983; vgl. auch Danneberg 1 999. Gerade dieser Kompromisscharakter des implied °author-Konzepts, das den strengen Autonomismus des New Criticism mit der Akzeptanz einer auktorialen Gegenwart im
2. Der abstrakte Autor
55
Eine noch heute außerordentlich einflussreiche Kritik des Autors als Gegenstand der Literaturwissenschaft ist unter der Losung "Tod des Au tors" im französischen Poststrukturalismus formuliert wordenl2• Julia Kristeva ( 1 967), die auf Michail Bachtins Begriff der "Dialogizität" re kurrierte, den sie als "Intertextualität" interpretierte (womit sie den B egriff in die Literaturwissenschaft einführte), ersetzte den Autor als generieren des Prinzip des Werks durch die Vorstellung eines aktiven Textes, der sich in der Reaktion auf fremde Texte, die er absorbiert und transfonniert, selbst hervorbringt. Ein Jahr später verkündete Roland Barthes ( 1 968) "La mort de l ' auteur". Während der Autor bei Kristeva nur noch als das en chatnement der Diskurse fi guriert, reduziert Barthes seine Funktion auf die Mischung der Diskurse: "le texte est un tissu de citations, issues des mille foyers de la culture. [ . . ] l 'ecri vain ne peut qu 'imiter un geste tou jours anterieur, jamais originel ; son seul pouvoir est de meier les ecri tures" (Barthes 1 968 , 494). Nach Barthes spricht im Kunstwerk nicht der Autor, sondern die Sprache, der Text, der nach den Regeln der kulturellen Kodes einer Zeit organisiert ist. Die Idee der Autorschaft wurde schließlich in Michel Foucaults Auf satz Qu 'est-ce qu 'un auteur? ( 1 969) diskreditiert. Der Autor, so postuliert Foucault, ist ein historisches , in der Modeme überlebtes Konzept, das ledi glich der Regulierung und Disziplinierung des Umgangs mit der Lite ratur gedient hat. Die "Anti-Autor-P�ilippiken" (lI ' in 1 996b) der Poststrukturalisten fan den in Russland nur begrenzten Widerhall . Das mag damit zusammenhän gen, dass in der klassischen russischen Literatur, die immer noch die kul turelle Mentalität prägt, ein praktischer Ethizismus dominierte, der der Persönlichkeit und der Autorschaft höchsten Wert beimaß. Diese ethische Tendenz zeigt sich auch im ästhetischen Denken Michail B achtins. Nicht von ungefähr setzte der junge Philosoph in seiner ersten Veröffentlichung, einer verborgenen Polemik mit dem Formalismus , der Opojaz-Losung Kunst als Verfahren seine eigene Formel Kunst und Verantwortung ent gegen (Bachtin 1 9 1 9)13. .
12
Werk verband, wurde in der Folge zum Gegenstand der Kritik; vgl. Juhl 1 980, 203 ; Lanser 1 98 1 , 50; Polletta 1 984, 1 1 1 ; Nünning 1 993, 1 6 f. ; KindtIMüller 1 999, 279 f. Zur Kritik an der Ablehnung autorbezogener Kategorien vgl. die Sammelbände Autor und Text (MarkoviclSmid [Hgg.] 1 996) darin bes. Evdokimova 1 996 und Freise 1 996 - und Rückkehr des Autors (Jannidis u. a. [Hgg.] 1 999). . Vgl. Todorov 1 997. Zu Bachtins Konzeption von Autorschaft und Verantwortung vgl . Freise 1 993, 1 77-22Q. -
.13
56
11.
Die Instanzen des Erzählwerks
d) Für und wider den abstrakten Autor Gegen die Eingliederung des abstrakten oder i mpliziten Autors in ein Modell der Kommunikationsebenen ist eine Reihe von Argumenten vor gebracht worden: 1 . Im Gegensatz zum Erzähler ist der abstrakte oder implizite Autor keine pragmatische Instanz des Erzähl werks, sondern eine semantische Größe des Textes (Nünning 1 989, 3 3 ; 1 993 , 9).
2. Insofern er kein strukturelles , sondern ein semantisches Phänomen be: zeichnet, gehört der Begriff des abstrakten oder impliziten Autors nicht zur Poetik der Narration, sondern zur Poetik der Interpretation (Dien gott 1 993 , 1 89). 3. Der abstrakte oder implizite Autor ist nicht Teilnehmer einer Kommu nikation (Rimmon-Kenan 1 98 3 , 88), als den ihn, trotz aller Warnungen vor einem zu anthropomorphen Verständnis, Seymour Chatman ( 1 990, 1 5 1 ) modelliert (Nünning 1 993 , 7 f.). 4. Der abstrakte oder implizite Autor ist nichts anderes als ein vom Leser gebildetes Konstrukt (Toolan 1 988, 78), das nicht personifiziert werden sollte ( Nünning 1 989, 3 1 f. ).
Die genannten Argumente sind durchaus stichhaltig, liefern indes keine hinreichende Begründung für den Ausschluss des abstrakten Autors aus der Narratologie. Nicht von ungefähr bedienen sich viele Kri tiker dieses Konzepts trotz aller Einwände. Offensichtlich deshalb, weil kein Begriff gefunden werden kann, der die Eigenart der Präsenz des Autorelements im Werk besser ausdrückte. Einerseits bezeichnet der Begriff das semanti sche Zentrum des Werks, das unabhängig von allen Deklarationen des Autors existiert, jenen Punkt, in dem alle schöpferischen Linien des Werks zusammenlaufen. Anderseits weist der Begriff hinter dem abstrak ten Prinzip der semantischen Vereini gung aller Elemente auf eine kreative Instanz, deren - bewusste oder unbewusste - Intention sich im Werk ver wirklicht. Bezeichnend ist auch, dass jene Kritiker, die für einen Verzicht auf die Kategorie des abstrakten Autors plädieren, bislang nur wenig überzeu gende Al ternati ven angeboten haben. So sc�lägt Nünning vor, den "ter minologisch unpräzisen" , "theoretisch ina�äquaten" und in der Praxis unbrauchbaren Begriff durch das "Gesamt aller formalen und strukturalen Relationen eines Textes" zu ersetzen (Nünning 1 989, 36). Chatman ( 1 990,
2. Der abstrakte Autor
57
74-89) argumentiert (obwohl er fünf Schlüsseldefinitionen Booths aus der Warte des Anti-Intentionalismus kritisiert) entsprechend seiner Kapitel überschrift In Defense of the Implied Author und schlägt Lesern , die sich bei dem Begriff implied author unwohl fühlen, eine Reihe von Surrogaten zur Auswahl vor: "text implication", "text instance" , "text design" oder einfach "text intent" . Und Kindt/Müller ( 1 999, 28"5 f. ) kommen zu dem Schluss , dass es sinnvoll sei , den Begriff "impliziter Autor" einfach durch den B egriff "Autor" zu ersetzen, was allerdings die bekannten Einwände der Anti-Intentionalisten hervorrufe, oder, wenn an einer nicht-intentiona listischen Bedeutungskonzeption festgehalten werden solle, von "Text intention" zu sprechen. Das Problem des abstrakten Autors beleuchtet auf eine aufschluss reiche Weise Gerard Genette. Der Theoretiker, der im Discours du recit ( 1 972) ganz ohne den abstrakten Autor auszukommen glaubte, was be rechtigte Kri tik hervorrief l 4, widmet der übergangenen Instanz im Nou veau disco urs du recit ein ganzes Kapitel ( 1 983 , 93- 1 07). Die aufwendi ge Argumentation gegen das tableau " complet " der Instanzen 1s führt zu ei nem für den abstrakten Autor gar nicht ungünstigen Befund. Genette konstatiert zunächst, dass der auteur implique, da nicht spezifisc� für den recit, keinen Gegenstand der Narratologie bilde. Die Frage aber "I ' auteur implique est-iI une instance necessaire et (donc) valide entre le narrateur et I 'auteur reel ?" (96), beantwortet er immerhin ambivalent: Als instance effective sei der implizierte Autor offensichtlich nicht eine not wendige Instanz zwischen Erzähler und realem Autor, als instance ideale sei er denkbar. Genette akzeptiert den abstrakten Autor durchaus als die idee de l 'auteur, welchen Ausdruck er für angemessener hält als [ ' image de l 'auteur: "L' auteur implique, c'est tout ce que le texte nous donne a connaitre de I ' auteur" ( 1 02). Aber man sollte nicht, so die finale Warnung Genettes , aus der Vorstellung vom Autor eine instance narrative machen. Damit ist Genette gar nicht so weit von den Vertretern des ;,tableau com plet" entfernt, von denen keiner beabsichti gte, den abstrakten Autor in eine narrative Instanz zu verwandeln. -
14
Vgl. z. B. Rimmon 1 976, 58: "Without the implied author it is difficult to analyze the ,norms' of the text, especially when they differ from those of the narrator"; Bronzwaer 1 978, 3: "The scope of narrative theory excludes the writer but includes the implied author. [ ] It is therefore at the implied author that a theory of narrative can, and must, begin". Genette bezieht sich hier auf Chatman ( 1 978, 1 5 1 ), Bronzwaer ( 1 978, 10), S �h �id ( 1 973, 20-30), Hoek ( 1 98 1 , 257 f.) und Lintvelt ( 1 98 1 , 1 3-33). . . .
15
58
1 1 . D i e Instanzen
des Erzählwerks
e) Zwei Versuche einer Aufspaltung des abstrakten Autors Als erbitterte Gegnerin von Booths implied author und meines abstrakt�n Autors ist die niederländische Narratologin Mieke Bal aufgetreten. Diese "überflüssigen" Begriffe (Bal 1 98 1 a, 208 f.) seien nicht nur für die weit verbreitete "verschwommen psychologisierende" Behandlung des Per spekti vproblems verantwortlich ("Oe grote schuldige is volgens mij het concept , abstracte auteur' '' , Bal 1 978 , 1 23 ) , sondern auch für die falsche Isolierung des Autors von der Ideologie seines Werks: Der trügerische Begriff habe es möglich machen sollen (aber nicht können), einen Text zu verurteilen, ohne seinen Autor zu verdammen, und umgekehrt - "a very attractive proposition to the autonomists of the ' 60s" (Bal 1 98 1 b, 42). Angesichts dieser Schelte muss es verwundern, dass Bal in der niederlän dischen Fassung ihrer Narratologie ( 1 978, 1 25 ) sogar eine Aufspaltung dieser zwischen konkretem Autor und Erzähler zu lokalisierenden Instanz vorschlägt. Sie unterscheidet hier zwischen implicite auteur und abstracte auteur und separiert sie schematisch auf fol gende Weise: impliciete auteur
=>
TEKST
=>
abstracte auteur
Während die erste Hypostase des Autors - gemäß dem angeblich wei teren B egriff Bronzwaers 1 978 - als die "technische, überwölbende In stanz" verstanden wird, "die alle anderen Instanzen ins Leben ruft und für den Aufbau des gesamten narrativen Textes verantwortlich ist" , wird die zweite Autorinstanz entsprechend den Definitionen Booths und Schmids als Verkörperung der "totalen Bedeutungsstruktur" des Textes begriffen , allerdings nicht als "Produzent der Bedeutungen", sondern als "Resultat der semantischen Textanalyse" (BaI 1 978 , 1 24 f.). B eide Figuren bleiben für B al außerhalb des Terrains der Narratologie. Einer_ Aufspaltung unserer abstrakten Instanz redet auch der Amster damer Slavist Willem Weststeijn ( 1 984) das Wort. Nur geschieht das bei ihm etwas anders als bei Bal . Er unterscheidet zwischen implied author und author in the text. Ersterer wird als das den Text "regierende Be wusstsein" (governing consciousness) begriffen, als "something ,com plete' (a set of implicit norms, the technical instance responsible for the entire structure of the text)" . Letzterer ist etwas "Fragmentarisches" , das nur in einzelnen lexikalischen Merkmalen oger in den von Personen aus gesprochenen Ideen aufscheint. Während der "implizi te Autor" sich von
2. Der abstrakte Autor
59
Text zu Text ändert, bleibt der "Autor im Text" mehr oder weniger kon stant (Weststeijn 1 984, 562). Keine der bei den Aufspaltungen scheint sinnvoll zu sein. Die bei den Autorfi guren, die BaI unterscheidet, erweisen sich bei näherem Hinsehen nur als zwei Seiten ein und derselben Instanz. Die Begriffsintensionen "Produzent" und "Resultat" definieren diese Instanz, die extensional iden tisch bleibt, lediglich aus unterschiedlicher Perspektive. Als "Produzent" der Textbedeutungen (es müsste eigentlich heißen: als textimmanentes Bild des "Produzenten") erscheint der abstrakte Autor in produktionsäs thetischer Sicht, "Resultat" eben dieser Textbedeutungen ist er dagegen in rezeptionsästhetischer Perspektive. Mit anderen Worten: Der abstrakte Autor ist das B ild, das sich der konkrete Leser bei der Vereinigung aller Bedeutungen des Werks vom Autor macht. Das Bild selbst ist "Resultat" der semantischen Tätigkei t des Lesers , sein Inhalt aber, das , was es dar stellt, ist der "Produzent" sowohl im "technischen" als auch im "ideologi schen" Sinne Bals. Das Diagramm der Kritikerin, das dem Text den impliciete auteur als "Produzenten" vorschaltet und den abstracte auteur als "Resultat" nachordnet, modelliert also nicht zwei unterschiedliche Instanzen, sondern ledi glich einen Wechsel der Perspektive. Die unter schiedenen Instanzen sind Hypostasierungen der oben erwähnten zweifa chen, objekti ven und subjektiven Grundlage des abstrakten Autors. Weststeijns Dichotomie gibt insofern Probleme auf, als sein implied author nichts anderes ist als der - wohlverstandene - Autor im Text, d. h. der Autor im ganzen Text und nicht lediglich die an einzelnen Stellen, in einzelnen Sentenzen durchklingende Autorstimme. Was Weststeijn dage gen author in the text nennt, ist ein Konstrukt biographischer Spekulation. Zweifellos können literarische Werke lexikalische oder ideologische , Stel len' enthalten, in denen wir unmittelbar die Stimme des Autors zu hö ren vermei nen. Aber solche Zuschreibungen hängen wesentlich vom indi viduell en Stereotyp des Autors ab und von der jeweiligen Lektüre des Textes . Außerdem ist zu bedenken, dass die Worte, Ideen und Figuren, die den Autor zu repräsentieren scheinen , kraft ihrer Fi ktivität, ihres Dar gestelltseins unausweichlich einer Objektivierung und Relativierung aus gesetzt sind. Man denke nur an den Sprecher in Dostoevskijs Aufzeich nungen aus dem Kellerloch (Zapiski iz podol 'ja) oder an Pozdnysev , den erzählenden Helden in Tolstojs Kreutzersonate (Krejcerova sonata) zweifellos Sprachrohre ihres Autors, die ihre eigene Ideologie und die ihres Autors durch ihre Geschichten kompromittieren. Das sind gewiss zwei extreme Fälle, aber sie illustrieren das Prinzip: Der fragmentarische
11.
60
Die Instanzen des Erzählwerks
author in the text, wie ihn Weststeijn versteht, ist nichts anderes als eine fikti ve mit Zügen des Autors ausgestattete Figur, die der Konkurrenz mit anderen Figuren und ihren Sinnpositionen ausgesetzt wird16• In solchen Fällen gestaltet der Autor sich selbst oder - wohl eher - einen Teil seiner Persönlichkeit, seines Denkens in einer fiktiven Person und macht aus seinen ideologischen, charakterologischen oder psychischen Spannungen und Konflikten ein narrati ves Suj et. Die Objekti vierung des Autors in den fiktiven Fi guren seines Werks ist kein seltenes Phänomen. Lermontovs Pecvorin aus Ein Held unserer Zeit (Geroj nasVego vremeni) , dessen autobiographischer Zuschnitt so auf der Hand liegt, dass der fiktive Autor des Vorworts zum Roman es für erfor derlich hält, sich von ihm ironisch zu distanzieren, ist das offensichtlichste Beispiel einer Selbstobjektivierung des Autors. Die Verwicklung des zum Helden gewordenen Autors in ein Sujet, das, nach seiner eigenen strengen Logik ablaufend, den Helden objekti viert, ist natürlich nicht frei von le bensweltlicher Rückbezüglichkeit. Man denke etwa an Tolstojs späte Er zählungen Der Teufel (D'javol) oder Vater Sergius (Otec Sergij), deren Helden offensichtlich mit den Schwächen des Autors kämpfen. Autoren stellen zuweilen Experimente mit sich selbst an, indem sie ei ne fiktive Figur mit ihren eigenen Zügen ausstatten. In der russischen Li teratur gibt es eine Reihe von Helden, die ihren Autoren als Werkzeug der Selbsterkenntnis und auch als Mittel im Kampf mit sich selbst dienen. Alle diese Feststell ungen bleiben natürlich im Rahmen der biographischen Spekulation. Aber warum sollte diese untersagt sein , kann doch der Leser durchaus Interesse entwickeln am Kampf mancher Autoren mit sich selbst und in dieser Auseinandersetzung Anregungen für die Verständigung mit 16
Etwas anders verhält es sich, wenn der konkrete Autor in der erzählten Welt auftri tt, wie das bei Vladimir Nabokov vorkommt, zum erstenmal im Roman König, Dame, Bu be (Korol ' , dama, valet; Kap . 12 und 1 3): Der Held Franz beobachtet ein ausländisches Paar, das in einer ihm unbekannten Sprache spricht, über ihn spricht, wie ihm scheint, und sogar seinen Namen nennt. Bei Franz stellt sich das Gefühl ein, dass "dieser ver fluch te glückliche Ausländer, der mit seiner braungebrannten, hübschen Begleiterin zum Strand eilt, über ihn entschieden alles weiß, ihn vielleicht spöttisch bedauert, etwa mit den Worten, da hat diesen Jüngling eine alternde Frau bezirzt, an sich gebunden, wohl eine schöne Frau, aber trotzdem irgendwie �iner großen weißen Kröte ähnlich" (V. Nabokov, Collected Russian Language Works in 5 Volumes, Bd. 2, S ankt-Peter burg 1 999, S. 2 9 4) Diese Überschreitung der Grenzen zwischen der fiktiven und der realen Welt ist jenes klassische narrative Paradox, 'das Genette ( 1 972, 244) "metalepse" nennt. .
61
2. Der abstrakte Autor
sich selbst finden? Ein Gegenstand der Narratologie ist der Kampf des Autors mit sich selbst natürlich nicht. f) Skizze einer systematischen Definition Unternehmen wir nun den Versuch einer systematischen Definition unse res abstrakten Autors. Der abstrakte Autor ist das semantische Korrelat aller indizialen Zeichen des Textes , die auf den Sender verweisen. "Abs trakt" heißt nicht "fiktiv". Der abstrakte Autor ist keine dargestellte In stanz, keine intendierte Schöpfung des konkreten Autors (was in Kormans Definition anklang), und insofern unterscheidet er sich kategorial vom Erzähler, der, ob konkret oder abstrakt, immer fiktiv ist. Deshalb muss man die kri tische Frage, die Bachtin ( 1 992, 296) an Vinogradovs Konzept des "Autorbilds" stellt - "Wann und in welchem Maße gehört es zur In tention des Autors (zu seinem künstlerischen Willen), ein Autorbild zu schaffen ?" - als Versuch interpretieren, diesen Begriff, zu dem B achtin ein gespaltenes Verhältnis hatte, ad absurdum zu führen17• Insofern der abstrakte Autor keine dargestellte Instanz ist, kann man ihm kein einzelnes Wort im Erzähltext zuschreiben. Er ist nicht � dentisch mit dem Erzähler, sondern repräsentiert das Prinzip des Fingierens eines Erzählers (Chatman 1 978, 148) und der gesamten dargestellten Welt. Er hat keine ei gene Stimme, keinen Text. Sein Wort ist der ganze Text mit allen seinen Ebenen, das ganze Werk in seiner Gemachtheit. Der abstrakte Autor ist nur die anthropomorphe Hypostase aller schöpferischen Akte, die personifizierte Werkintentionl8• 17
Die grundsätzliche Annahme einer textimmanenten Autorinstanz durch Bachtin wird etwa in folgender Definition bezeugt: ,,Jede Äußerung [ . . ] hat ihren Autor, den wir in der Äußerung selbst als ihren Urheber hören. Über den realen Autor, wie er außerhalb der Äußerung existiert, brauchen wir absolut nichts wissen" (Bachtin 1 963, 3 1 4). Michail Bachtin scheint mein Konzept des abstrakten Autors nicht in diesem Sinne verstanden zu haben. In seinem im wesentlichen in deutscher Sprache gehaltenen Ex zerpt meiner Rezension zu B. A. U spenskijs Poetika kompozicii (Schmid 1 97 1 ), das, 1 97 1 angefertigt, jetzt veröffentlicht wurde (Bachtin 2002a), stellt er zu den unter schiedlichen Benennungen Dmitrij Karamazovs im Roman Dostoevskijs ("Dmitrij Ka ramazov", "Dmitrij Fedorovic", "Mitja", "Miten 'ka", "Bruder Dmitrij") die Frage: "Wie wird denn der Name in der Sprache des , abstrakten Autors' lauten (vielleicht ganz offiziell wie in der Geburtsurkunde "Dmitrij Fedorovic Karamazov"?). Hat der ,abstrakte Autor' eine eigene Sprache (einen Code)?" (Bachtin 2002a, 4 1 8). Der Kom mentator der Bachtinsehen Arbeitshefte L. A. Gogotisvili (2002, 66 1 ) weist darauf hin , dass Bachtin, auch wenn er hier die Existenz eines eigenen Worts des Autors "weich" problematisiere, in den weiteren Fragmenten der Arbeitshefte prinzipiell die These ver.
18
62
H. Die Instanzen des Erzähl werks
Der abstrakte Autor ist real , aber nicht konkret. Er existiert im Werk nur implizit, virtuell , angezeigt durch die Spuren, die die schöpferischen Akte im Werk hinterlassen haben, und bedarf der Konkretisation durch den Leser. Deshalb hat er eine zweifache Existenz: Einerseits ist er im Text objektiv gegeben, als virtuelles Schema der Symptome, anderseits hängt er in seiner Ausstattung von den ihn aktualisierenden subjektiven Akten des Lesens, Verstehens und Deutens ab. Mit anderen Worten: Der abstrakte Autor ist ein Konstrukt des Lesers auf der Grundlage seiner Lektüre des Werks. Die Betonung ist nicht allein auf "Konstrukt" zu le gen, wozu einige Vertreter der Rezeptionstheorie tendieren. Das Kon struieren muss sich ja, soll es sich nicht im bloßen Erfüllen von Sinnwün schen erschöpfen, auf die im Text enthaltenen Symptome richten, deren Obj ektivität die Freiheit des Interpreten grundsätzlich begrenzt. Deshalb sollte man statt von " Konstrukt" lieber von "Rekonstrukt" sprechen. Als Symptome kommen alle schöpferischen Akte in Frage , die das Werk hervorbringen: das Erfinden einer Geschichte mit Situationen, Hel den und Handlungen, das Ersinnen einer bestimmten Handlungslogik mit einer mehr oder weniger ausgeprägten Philosophie, die Transformation der Geschichte in eine Erzählung mit Hilfe bestimmter Verfahren wie der Linearisierung des Gleichzeitigen und der Umstellung der Teile gegen die chronologische Reihenfolge und schließlich die Präsentation der Erzäh lung in bestimmten sprachlichen Formen. Der abstrakte Autor ist unablösbar an das Werk gebunden, dessen indi ziales Signifikat er bildet. Jedes Werk hat seinen eigenen abstrakten Au tor. Natürlich fallen die abstrakten Autoren unterschiedlicher Werke eines konkreten Autors, z. B. Tolstojs, in bestimmten Zügen zusammen und bil den so etwas wie einen abstrakten ffiuvre-Autor, ein S tereotyp, in diesem Fall den "typischen Tolstoj", jenes Konstrukt, das Jurij Tynjanov ( 1 927b, 279) "literarische Persönlichkeit" nannte l 9 und Booth ( 1 979, 270) career autho,:z°. Es gibt auch allgemeinere Stereotypen des Autors, die sich nicht auf das Werk eines konkreten Autors beziehen , sondern auf l iterarische Schulen, Stilrichtungen, Epochen, Gattungen. Aber das hebt nicht die grundsätzliche Bindung des abstrakten Autors an das einzelne Werk auf. Insofern Konkretisationen bei verschiedenen Lesern unterschiedlich ausfallen und sogar bei ein und demselben Leser von einer Lektüre zur trete, dass der Autor kein eigenes Wort habe.
2. Der abstrakte Autor
63
anderen variieren können, entspricht nicht nur jedem Leser, sondern sogar jedem Leseakt ein eigener abstrakter Autor. Den abstrakten Autor kann man von zwei Seiten her bestimmen , vom Werk her und unter dem Aspekt des werktranszendenten konkreten Au tors. In der ersten Perspektive ist der abstrakte Autor die Hypostase des das Werk prägenden Konstruktionsprinzips. In der zweiten Sichtweise ist er die Spur des konkreten Autors im Werk, sein werkimmanenter Reprä sentant. Das Verhältnis von abstraktem und konkretem Autor sollte man aller dings nicht in Kategorien der Spiegelung oder Abbildung denken, wozu der Terminus "Autorbild" verrührt. Den werkimmanenten Repräsentanten kann man auch nicht als "Sprachrohr" des konkreten Autors modellieren, was der Terminus "impliziter Autor" nahe legt. Wie wir gesehen haben, führen Autoren in ihren Werken nicht selten Experimente mit ihren Idiosynkrasien durch und stellen ihre Überzeugun gen auf die Probe. So verwirklicht mancher Autor im Werk Möglich keiten, die im Lebenskontext unrealisiert bleiben müssen, und nimmt zu bestimmten Erscheinungen eine radikale Position ein, die er im �ben aus verschiedenen Gründen nicht vertreten wollte oder könnte. Dann, kann der abstrakte Autor in ideologischer Hinsicht radikaler und einseiti ger sein, als es der konkrete Autor in der Wirklichkeit je war oder - vorsichtiger formuliert - al s wir uns ihn nach den zur Verfügung " stehenden histori schen Zeugnissen vorstellen. Eine solche Radikalisierung des abstrakten Autors ist typisch für das Spätwerk Tolstojs. Wie uns aus " der Biographie bekannt ist, war der späte Tol stoj von manchen seiner Ideen viel weniger überzeugt, als es seine abs trakten Autoren waren, die nur eine Dimension des Tolstojschen Denkens verkörperten und sie ins Extrem trieben. Auch das umgekehrte Verhältnis kommt vor: Der abstrakte Autor kann in seinem geistigen Horizont den ideologisch mehr oder weniger begrenz ten konkreten Autor deutlich übersteigen. Ein Bei spiel dafür ist Dostoev skij , der in sei nen späten Romanen ein erstaunliches Verständnis für Ideo logien entwickelt, die er als Publizist auf das schäIfste bekämpfte. Hier nimmt Bachtins paradoxe These vom "polyphonen Roman" ihren Ur sprung, derzufolge die Stimme des Autors gleichberechtigt mit den Stim men der Helden erklingt. Dostoevskijs letzter Roman zeigt noch ein anderes Phänomen, die Spaltung des abstrakten Autors. Auf der ideologischen Ebene verfolgt der abstrakte Autor der Brüder Karamazov das Ziel der Theodizee. Zur glei-
64
H. Die Instanzen des Erzählwerks
chen Zei t v erwirklicht sich im Roman ein Gegensinn, der in der Theo di zee eine S el bstvergewalti gung des mit aller Gewalt glauben wol l enden Autors aufdeckt ( v gl . Schmid
1 996).
So spielt sich ein Kampf zwi schen
zwei ideologischen Posi tionen ab , ein Schwanken zwi sclten Pro l,lDd Con tra. Der abstrakte Autor erscheint in doppel ter Gestal t: als affirmierender (Dostoevskij I) und als zweifelnder (DostQev skij
11).
Der abstrakte Autor ist natürlich keine Senderinstanz. Deshal b ist in dem oben gegebenen Schema der Kommunikationsebenen der Doppel punkt, der den Schaffens akt symbol isiert, eingeklammert. Es stel l t sich nun freilich die Frage, warum man eine Instanz , die weder Teil neh mer der Kommuni kation noch ein spezifi sches Moment des Erzählwerks ist, über haupt in ein Modell der Kommunikationsebenen aufnehmen soll . Sollte man sich ni cht tatsächlich mit Autor und Erzähler begnügen , wozu , wie bereits erwähnt, einige Narratologen raten ? Die Exi stenz des abstrakten Autors , der nicht zur darges tellten Wel t , aber z u m Werk gehört, wirft einen Objektschatten auf den Erzähler, der oft als Herr der Lage auftritt und frei über den semantischen Haushalt des Werks zu verfügen scheint. Die Präsenz des abstrakten Autors im Modell der epi schen Kommunikation verdeutli cht das Dargestel l tsein des Erzäh lers , seines Textes und der in ihm ausgedrückten B edeu tungen. Diese Bedeutungen erhalten ihre für das Werk finale Sinnintention erst auf dem Ni v eau des abstrakten Autors . Die Bedeutungs verleihung durch den Autor entspri cht den im Schema der Kommuni kationsebenen angedeuteten hierarchischen Fundierun gsver hältnissen: In der Hervorbringung der Personenreden durch den Erzähler gehen die personalen Zeichen und B edeutungen in die komplexeren Zei chen des übergeordneten Erzählerkontextes als Si gnifikanten ein und hel fen der Bedeutungsi ntention des Erzählers sich zu verwirkli chen. Ein ver gleichbares Verhäl tnis herrscht zwischen Erzähler und Autor. Di e Zei chen , die sich im Erzählen - unter anderm auch durch die Integration der personalen Zeichen - aufbauen , werden wiederum vom Autor zum Aus druck sei ner Bedeu tungsintention benutzt. AUe Artikulationen der Perso nen und des Erzählers drücken personen- bzw. erzähl erbezogene Inhalte aus und tragen dadurch dazu bei , die Bedeutungsintentionen des Autors auszudrücken. Das der Schachtelstruktur der epischen Kommunikation analoge V erhäl tnis der bedeutungsschaffenden Akti vitäten von Personen, Erzähl er und Autor könnte man fol gendermaßen schematisch darstellen :
2. Der abstrakte A utor P: E: A:
65
S ap @ Sep '-y--J
S p E S aE @ SeE
"---r--'
S E E SaA @ SeA
signes), die in der In signifiants) und Si gnifikate (Se,
Das Schema ist wie fol gt zu lesen: Die Zeichen (S , terdependenz
signijiis)
(E)
(�)
der S i gnifikanten (Sa,
auf der Ebene der Personen ( P) gebil det werden (Sp) , gehören
zur Menge der Si gnifikanten auf der Ebene des Erzählers (SaE ) , die ihrerseits i n ei ner Interdependenz (�) mit den Si gnifikaten dieser Ebene (Se E> stehen . Entsprechendes gilt für die B eziehung zwischen der Ebene des Erzähl ers und der Ebene des Autors ( A ). Die Zeichen, die sich auf der Ebene des Erzählers konstituieren (S E) , unter anderm durch die Integra tion der Zeichen auf der Ebene der Personen , gehen in die Menge der Si gnifi kanten (SaA ) ein, die die Autorbedeutungen (Se A ) ausdrücken.
3. Der abstrakte Leser a) Der abstrakte Leser al s Attri but des abstrakten Autors Auf der Empfängersei te unseres S chemas der epischen Kommunikation ist gegenüber dem abstrakten Autor der abstrakte Leser ein gezei chnet. Es gibt natürl i ch keinerlei Kontakt zwi schen diesen abstrakten Größen, die ja nicht pragmati sche Instanzen , sondern semantische Rekonstrukte sind. Der abstrakte Leser ist die werkinhärente Hypostase der Vorstellung des konkreten Autors von seinem Leser. Es liegt hier eine verführerische Symmetrie nahe: Wenn der abstrakte Autor ein vom konkreten Leser gebil detes Rekonstrukt des konkreten Autors ist, dann ist, so könnte man versucht sein zu schließen , der abs trakte Leser das vom konkreten Autor vorgestell te Bild des konkreten Lesers . Diese Kon s tellation könnte man in fol gendem Schema darstellen, i n dem die Pfeil e die Rekonstruktionsakte und die Ovale die Rekonstrukte symboli s ieren:
11.
66
I
Die Instanzen des Erzählwerks
I
kL
Das Verhäl tnis der Bilder ist in Wirklichkei t freil i ch komplizierter. Nicht der konkrete Autor, über dessen Intentionen wir wenig wissen, son dern das v on ihm geschaffene Werk oder sein abstrakter Autor ist der Träger der Proj ektion des Leserbilds. Die Vorstel lung vom Gegenüber ist eine der Ei genschaften, die der rekonstruierende konkrete Leser dem abs trakten Autor zuschreibt. Fol glich hängt der abstrakte Leser von der indi v iduel l en Expli kation, d. h. von der Lektüre und dem Verständnis des Textes durch den konkreten Leser nicht weni ger ab als der abstrakte Au tor. Deshalb müssen wir das Schema auf folgende Wei se korri gieren:
kL
b) Vorgeschichte des abstrakten Lesers Zum abstrakten Leser gibt es eine ReIhe älterer Konzeptionen. Schon bei Booth
( 1 96 1 ) figurierte al s Pendant des implied author der implied reader. ( 1 972, 1 976) definierte den "impliziten Leser" dann al s
Wolfgang Iser
eine "den Tex ten eingezeichnete Struktur" :
[ . . . ] der implizite Leser [besitzt] keine reale Existenz; denn er verkörpert die Gesamt heit der Vororientierungen, die ein fiktionaler Text seinen möglichen Lesern als Re zeptionsbedingungen anbietet. Folglich ist der inlplizite Leser nicht in einem empiri ! schen Substrat verankert, sondern in der Struktur der Texte selbst fundiert. (lser 1 976,
60)
3.
Der
polnische
67
Der abstrakte Leser
Literaturwissenschaftler
Michal
Glowiriski
( 1 967)
schlug den Begriff des "virtuellen Rezipienten" vor und unterschied für ihn zwei Grundtypen, deren Differenzierung er mit der verschiedenarti gen Darbietung des Werksinns begründet: den "passiven Leser" , der den im Werk offensichtl ichen Sinn ledi glich aufzunehmen braucht, und den "ak tiven Leser" , der den in bestimmten Verfahren verschlüsselten Sinn re konstruieren muss. Miroslav
Cervenka ( 1 969, 1 38
f. ) charakterisiert die "Persönlichkei t
des Adressaten" , womit der abstrakte Leser gemeint ist, auf folgende Wei se:
Wenn das Subjekt des Werks das Korrelat der Gesamtheit der Akte der schöpferischen Wahl w ar, so ist die BedeutungstotaIität des Angesprochenen die Gesamtheit der ge forderten Verstehensfähigkeiten: der Fähigkeiten, dieselben Kodes zu benutzen und ih ren Bestand analog zum Schaffen des Sprechenden zu entwickeln, der Fähigkeit, die Potentialität des Werks in ein ästhetisches Objekt zu verwandeln. Nachdem Erwin Wolff
( 1 97 1 )
den Begriff des "intendierten Lesers" i n
die Di skussion eingeführt hatte, unterschied Gunter Grimm
( 1 977, 3 8
f. )
diese Instanz vom "imaginierten" und "konzeptionellen" (oder "konzipier ten") Leser. Umberto Eco schrieb in seinem B uch
Lector in fabula ( 1 979)
(lettore modello). In Russland verwandten ( 1 994, 1 1 9- 1 2 1 ) in der Nachfolge Boris Kormans den
vom "Modell - Leser"
Ry
mar'/Skobelev
B e
griff des "konzipi erten Lesers". Korman selbst hatte dem "Autor al s Trä ger der Werkkonzeption" die entsprechende Instanz des "Lesers als postu lierter Adres sat, ideales Rezeptionsprinzip" gegenübergestellt:
Die Andersheit [des Autors als Träger der Werkkonzeption) ist das gesamte künstleri sche Phänomen, das einen idealen, konzipierten Leser voraussetzt. Der Rezep tions vorgang ist der Prozess der Verwandlung des realen Lesers in den konzipierten Leser. (Korman 1 977, 1 27)
c) Defini tion des abstrakten Lesers Obwohl sich die genannten Begriffe auf das im Text enthaltene Bild des Lesers beziehen, aktiviert ihre praktische Anwendung durchaus unter schiedliche Facetten und Funktionen des abstrakten Lesers. In vielen Fäl len bleibt der ontologi sche und strukturelle Status der bezeichneten In stanz ziemlich unklar. Nicht selten schwankt der B egriff zwi schen der Be zeichnung des Adressaten des Autors bzw. des Werks und des Adressaten des Erzählers . Deshalb scheint es sinnvol l , den Inhal t des Begriffs · und seinen Verwendun gsbereich zu präzi sieren.
68
II. Die Instanzen des Erzählwerks Zunächst ist zu betonen, dass der abstrakte Leser grundsätzlich niemal s
mit dem fikti ven Leser, dem
narrataire,
d. h. dem Adressaten des Erzäh
( 1 972, narrataire extra
lers , zusammenfällt. Ein solcher Zusammenfall wird von Genette
266) und Ri mmon ( 1 976, 5 5 , 58) diegetique, d. h. den Adressaten ,
angenommen , die den
an den sich ein unpersönlicher allwis
lecteur virtuel oder Koinzidenz im Nouveau
sender und ubiqui tärer Erzähler wendet, mit dem
implique identifizieren . Genette begrüßt diese discours du redt ( 1 98 3 , 95) als eine kl eine Einsparungsmaßnahme ,
über die sich Ockham gefreut hätte. Aber die Ökonomie ist nur auf der Grund
l age des Genette-Systems möglich , wo der
narrateur extradiigetique
nicht als fiktive Instanz figuriert und den Ort des fehlenden abstrakten Autors einnimmt. Genette
( 1 98 3 , 92)
formuliert ja:
,, [ . . ] .
le narrateur
extradiegeti que se confond total ement avec l ' auteur - je ne dirai pas , comme on le fait trop, "implicite" , mais bel et bien expl ici te et procIame" . Natürlich , je näher der fikti ve Erzähl er dem abstrakten Autor steht, desto schwieri ger wird es , die ideologischen Posi tionen von fiktiv em und abstraktem Leser deutli ch zu scheiden. Gleichwohl bleibt ihre Differenz grundsätzli ch in Kraft. Di e Grenze zwischen der fikti ven Wel t, zu der jeder Erzähler gehört , wie neutral , objekti v oder "ol ympi sch" er auch kon sti tuiert sein mag , und der Wirklichkeit, zu der bei all seiner Virtual i tät der abstrakte Leser gehört, l ässt sich nicht überschreiten - es sei denn i n einer narrati ven Paradoxie. Unter dem abstrakten Leser soll hier der Inhal t jenes Bildes vom Emp fän ger verstanden werden , das der Autor bei m S chrei ben vor sich hatte oder - genauer - der Inhalt jener Vorstell ung des Autors vom Empfän ger, die im Text durch bestimmte indiziale Zeichen fi xiert ist. Ein i m Text nicht fi xierter "intendierter Leser" - n ach der Termi no l o gi e Links
( 1 976, 28)
oder Grimms
( 1 977, 38
f.) -, der ledi glich in der
Vorstellung des konkreten Autors existiert und den man ausschließli ch nach den Aussagen des letzteren oder nach außertextlichen Informationen rekonstruieren kann , ist ni cht Teil des Werks. Ein solcher Leser gehört ausschl ießlich zur Sphäre des konkreten Autors , in dessen Intention er existiert. Ein schönes Bei spiel für das Ni cht-Geli ngen der Autorintention vom Leser, d. h. für das Auseinanderfallen des vom Autor intendierten und des vom Text tatsächlich entworfenen Lesers nennt Hannelore Link
( 1 976, 28):
V i ele flugblätter, die marxisti sch gestimmte S tudenten Ende
der sechzi ger Jahre verfassten , waren an den Fabrikarbeiter gerichtet und soll ten ihm seine wahren Interessen bewuss t machen. Die Kodierung die ser B otschaften orientierte sich indes nich t am intendierten Leser, dem
3.
69
Der abstrakte Leser
Arbei ter, sondern entsprach in Wortwahl und Ideologie eher dem Horizont der Sender, der marxistisch gestimmten Studenten.
d) Unterstel l ter Adressat und ideal er Rezipient Nach den Funktionen, in denen sich der abstrakte Autor sein Gegenüber vorstellt, muss man zwei Hypostasen dieser unterstel lten Instanz unter schei den2 1 • Zum einen erscheint der abstrakte Leser als
Adressat,
unterstellter, postulierter
an den das Werk gerichtet ist und dessen sprachliche Kodes ,
ideol ogische Normen und ästheti sche Vorstell ungen so berücksichti gt werden, dass das Werk v erstehbar wird. In di eser Funktion i s t der abstrak te Leser Träger der bei m Publi kum vermuteten Kodes und Normen. Zum andern fungiert der abstrakte Leser als Bild des
ten,
idealen Rezipien
der das Werk auf eine der Faktur optimal entsprechende Weise ver
steht und j ene Rezeptionshaltung und Sinnposi tion einnimmt , die das Werk ihm nahe legt. Das Verhalten des ideal en Lesers , sein Verhältnis zu den Normen und Werten der fikti ven Instanzen ist al so völli g durch das Werk v orgegeben , wohl gemerkt ni cht durch die Intentionsakte ' des kon kreten Autors , sondern durch die im Werk objektivierten Schaffensakte. Wenn in einem Werk einander widerstreitende Sinnpositionen sich in einer Hierarchie befinden , so i dentifiziert s i ch der ideale Rezi pient mi t jener Instanz, die in dieser Hi erarchie die höchste Stel le einnimmt. Wenn die Positi on der die Hi erarchie anführenden Instanz unter dem Aspekt des abstrakten Autors rel ati v iert wird , iden tifiziert sich der ideale Leser mit ihr nur insoweit, wie das vom Gesamtsinn des Werks zugelassen wird . D i e Position des i dealen Rezipienten ist also durch das Werk völ l i g präde terminiert; der Grad der ideologischen Konkretheit dieser Prädetermi nati on vari i ert aber von Autor zu Autor. Während Werke von Autoren mit einer Botschaft eine ganz bestimmte Sinnantwort fordern, wird bei expe rimentierenden und fragenden Autoren die B andbreite der v om Werk zu gel assenen Lektüren eher groß sei n . Bei Tol stoj ist das Spektrum der vom Werk zugel assenen Positionen zweifellos enger al s z. B. bei C echov . Der Unterschied zwi schen den bei den Hypostasen des abstrakten Le sers , dem unterstel l ten Adressaten und dem idealen Rezipienten , ist um so relev anter, je spezifi scher die Ideologie des Werks ist, je mehr es zu einem Denken auffordert, das nicht der Doxa entspricht. Im S pätwerk Tol s toj � ist 21
Vgl. schon Schmid ( 1 974a, 497) und danach Lintvelt ( 1 98 1 ,
1 8) ;
I1 ' in
( 1 996c) .
H.
70
Die Instanzen des Erzählwerks
der ideale Leser ganz offensichtlich weit vom voraus gesetzten Adressaten entfernt. Während letzterer nur mit ganz allgemeinen Zügen entworfen wird wie der Beherrschung der russischen Sprache, der Kenntnis der ge sellschaftlichen Normen des späten 1 9. Jahrhunderts und der Fähigkeit, ein literarisches Werk zu lesen, so zeichnet sich ersterer durch eine Reihe von spezifischen Idiosynkrasien und die Sinnpositionen des Tolstojaner turns aus. e) Kritik des idealen Rezipienten Die hier dargelegte Konzeption des abstrakten Lesers (wie sie in Schmid 1 973 ; 1 974 vorgetragen wurde) ist in der Forschung auf Einwände ge stoßen. Kritik hat jedoch nicht die Aufspaltung der Instanz in unterstellten Adressaten und idealen Rezipienten hervorgerufen, sondern die vermeint liche Verpflichtung des konkreten Lesers auf die im abstrakten Leser - als dem Vollstrecker der intendierten Rezeption - vorgezeichnete Lektüre. So häl t mir Jaap Lintvelt ( 1 98 1 , 1 8) vor, mei ne Definitionen entmündi gten den konkreten Leser: Ces definitions de Schmid impliquent qu'un "texte est ceose programmer sa propre lecture". Dans une teIle conception, la lecture se Iimiterait a "une operation (sub jective) d 'enregistrement d 'une organisation de sens qui preexiste a la lecture elle meme [ . ]" Schmid neglige donc de signaler que le lecteur concret [ . . . ] peut pratiquer aussi d ' autres lectures qui oe correspoodent pas forcement avec la reception, suppose ' ideale, par le lecteur abstrai t. . .
Auch Jan van der Eng ( 1 984, 1 26 f.) plädiert dafür, dem konkreten Le ser mehr Freiheit und schöpferische Teilhabe an der Bedeutungsbildung zuzugestehen, als es mein Konzept des abstrakten Lesers vorsehe. Der einzelne Rezi pient habe - so argumentiert van der Eng - nicht nur die Freiheit, die sinnlichen, emotionalen und kognitiven Inhalte des Werks auf je eigene Wiese zu konkretisieren und zu vertiefen, er bringe durch die Proj ektion dieser Inhalte auf jeweils neue Wirklichkeiten , auf philosophi sche, reli giöse und psychologische Ansichten auch Bedeutungsaspekte ans Licht, die im Werk weder manifest noch gar intendiert waren. In seinen Arbei tsheften der sechzi ger und siebziger Jahre hat sich schon Michail Bachtin kritisch zu dem in der Literaturwissenschaft dieser Zeit geprägten Konzept des idealen Rezipienten geäußert: Das ist natürlich nicht der empirische Zuhörer uq'd nicht die psychologische Vorstel lung, das Bild des Zuhörers in der Seele des Autors. Das ist vielmehr eine abstrakte i deale Bildung. Ihr steht der genauso abstrakte ideale Autor gegenüber. Bei einem sol-
3.
Der abstrakte Leser
71
chen Verständnis ist der ideale Zuhörer eine spiegelbildliche Entsprechung des Autors, die diesen verdoppelt. (Bachtin 2002b, 427)
In diesen Worten vermutet der Kommentator der Arbeitshefte Bachtins L. A. Gogotisvili (2002, 674) eine kritische Allusion auf meine Rezension zu B. A. Uspenkijs Poetik der Komposition (Schmid 1 97 1 ), die Bachtin kurz nach ihrem Erscheinen exzerpiert hat (Bachtin 2002a). In der Rezen sion war davon die Rede gewesen, dass der abstrakte Leser als idealer Rezipient eine Dynamik der Autorposition durchaus mit vollziehe und nicht, wie Uspenskij für den Leser generell postuliert hatte, in einer Inertia verharre (Schmid 1 97 1 , 1 32). Bachtin führt gegen das Konzept ins Feld, dass der so konzipierte ideale Rezipient nichts Eigenes, nichts Neues in das ideal verstandene Werk einführe und dass es ihm an der "Alteri tät" (drugost' ) mangele, die Voraussetzung für den " Ü berschuss" (izbytok) des Autors sei (Bachtin 2002b, 427 f.). Die Konzeption des abstrakten Lesers als idealer Rezipient postuliert natürlich nicht die Obli gatorik eines im Werk vorgegebenen idealen Sinns, den der konkrete Leser nur noch richtig zu erfassen hat. Es soll keineswegs bezweifelt werden, dass die mitschöpferische Tätigkeit des Rezipienten ein Maß annehmen und eine Richtung einschlagen -kann, die im Werk nicht angelegt sind, ja dass Lektüren, die eine im Werk ein gezeichnete Rezeption verfehlen oder gar bewusst verweigern, durchaus den Sinngehalt des Werks steigern können. Es sollte aber darauf aufmerk sam gemacht werden, dass sich in jedem Werk in mehr oder weniger ein deutiger Form Hinweise auf seine ideale Lektüre finden. Diese ideale Lektüre besteht nur in seltenen Fällen in einer inhaltlich konkreten Sinn gebung. In der Regel bildet die ideale Rezeption ein mehr oder weniger breites Spektrum funktionaler Einstellungen, individueller Konkretisatio nen und subjekti ver Sinnzuweisungen. Im Extremfall kann die ideale Lek türe gerade im Widerspruch gegen eine bereitgehaltene Einstellung und einen exponierten Sinn bestehen. Für die so zu verstehende ideale Rezeption ist ein Subjekt zu hyposta sieren, eben der abstrakte Leser als idealer Rezipient. Ihn als ein im Werk mehr oder weniger deutlich impliziertes Bild zu postulieren, heißt noch nicht, die Freiheit des konkreten Lesers einzuschränken oder irgend welche Vorentscheidungen über die Legitimität seiner tatsächlichen Sinn zuweisungen zu treffen.
11.
72
Die Instanzen des Erzählwerks
4. Der fikti ve Erzähler Di e erzähl enden Narrati ve unterscheiden sich von den mimeti schen da durch, dass die reale Kommunikation, die Autor, dargestellte Welt und Adressat umfasst, in der darges tellten Welt gleichsam wiederhol t wird , als Konstellation von fikti vem Erzähler, erzähl ter Welt und fikti vem Adres saten. Betrachten wir zunächst die Senderi nstanz der dargestell ten Erzähl kommunikation, den fikti ven Erzähler.
a) Explizite und i mplizi te Darstel lung des Erzählers Mit wel chen Mitteln bewirkt der Autor die Vorstellung von der Präsenz einer v enni ttelnden Instanz? Mit anderen Worten: Wie kann der Erzähler dargestell t werden ? Wir wollen zwei Modi der Darstell ung unterscheiden , den
expliziten und den impliziten.
Die explizite Darstellung beruht auf der Selbstpräsentation des Erzäh lers . Der Erzähler kann seinen Namen nennen, sich selbst als erzählendes Ich beschreiben , die Geschichte seines Lebens erzähl en , seine Weitsicht darl egen. Die explizite Darstellung ist freilich nicht auf eine ausführliche Selbs tbeschrei bung an gewi esen. Bereits die Verwendung der ersten Per son ist eine - wenn auch reduzierte - Fonn der Selbstdarstel l ung. Während die expl izite Darstellung fakultativ ist, hat die implizi te Dar obligatorischen Charakter. Die explizite Darstellung baut auf der
stellung
i mplizi ten auf, die implizite Darstellung kommt aber durchaus auch ohne expl izi ten Ü berbau aus. Die implizite Darstellung beruht auf den Symptomen oder indizialen Zei chen des Erzähltextes . Diese Zeichen gründen, wie wir gesehen haben , auf der Ausdrucks- oder Kundgabefunktion der S prache (Bühler
1 920; 1 934).
1 9 1 8/
An der indizialen Darstellung des Erzählers haben alle das
Erzählen konstituierenden Verfahren tei l . Es handelt sich i nsbesondere um:
1.
Aus wahl von Momenten (Personen , Situationen , Handl ungen , auch Rede-, Gedanken- und B ewusstseinshandlungen) aus dem "Gesche hen" al s dem narrati ven Material zur Bildung einer Geschichte (sie he dazu unten ,
2.
V).
Konkretisierung und Detaillierung der aus gewählten Geschehens momente durch bestimmte Ei genschaften.
4. Der fiktive Erzähler
73
3 . Komposition des Erzähltextes , d. h. Zusammenstellung und Anord nung der ausgewählten Momente in einer bestimmten Ordnung. 4. Sprachliche (lexikalische wie syntaktische) Präsentation der ausge wählten Momente. 5 . Bewertung der ausgewählten Momente (diese kann in den vier oben angeführten Verfahren implizit enthalten sein, aber auch explizit gegeben werden). 6. Jegliche Art von " Einmischungen" des Erzählers , d. h. Reflexionen, Kommentare , Generalisierungen, die auf die erzählte Geschichte, das Erzählen oder die eigene Person bezogen sind. Das implizite Bild des Erzählers ist das Resultat der Wechsel wirkung der genannten sechs Symptome. Die Relevanz dieser Verfahren ist nicht in jedem Werk gleich. Während in einem Werk der Erzähler haupt sächlich durch die Verfahren der Auswahl , der Konkretisierung und der Komposition der Geschehensmomente angezeigt wird, kann er in einem anderen vor allem durch stilistische Mittel angezei gt sein, und in einem dritten kann sein Bild auf expliziten und impliziten Wertungen, Kom mentaren, Reflexionen und dergleichen beruhen. Die i m Erzählen enthaltenen Indizes können am Erzähler Züge von un terschiedlicher Art und Dimension anzeigen: 1 . Modus und Form des Erzählens (Mündlichkeit oder Schriftlichkeit, Spontaneität oder von langer Hand vorbereitetes Erzählen, Um gangssprachlichkeit oder Rhetorik). 2. Narrative Kompetenz (All wissenheit, Fähigkeit zur Introspektion in das Bewusstsein der Figuren , Ubiquität oder Fehlen solcher Kom petenzen). 3 . Sozialer Status und sozial e Herkunft. 4. Geographische Herkunft (Anwesenheit oder Abwesenheit von regionalen und dialektalen Sprachmerkmalen). 5. Bildung und geistiger Horizont. 6. Weltanschauung. Der implizit dargestellte Erzähler ist ein Konstrukt, das aus den Symp tomen des Erzähltextes gebildet wird. Streng genommen ist er nichts an deres als der Träger der von den Symptomen angezeigten Eigenschaften. Um jedem Anthropomorphi smus und Psychologismus vorzubeugen, nannte Roland Barthes ( 1 966, 1 9) den Erzähler ein "Papierwesen" . Mit
74
II. Die Instanzen des Erzählwerks
derselben Absicht ersetzte Käte Hamburger ( 1 968 , 1 1 1 - 1 54) den "Erzäh ler" (eine "metaphorische Scheindeskription") durch den Begriff der ,,fluktuierenden Erzählfunktion", die sich in unterschiedlichen Formen manifestieren könne, als erzählende Rede, als Monolog oder Dialog der Figuren oder als erlebte Rede. Aber solche Depersonalisierung des Erzäh lerbegriffs entspricht in den meisten Fällen nicht unserer Wahrnehmung des Erzähltextes und der hinter ihm rekonstruierten Instanz22 • Der Erzähler wird vom Leser in der Regel nicht als abstrakte Funktion wahrgenommen , sondern als Subjekt, das unausweichlich mit bestimmten anthropomor phen Zügen des Denkens und Sprechens ausgestattet ist. Gerade der wahrgenommene Subjektstatus des Erzählers ist wohl für die Resistenz des Begriffs gegen jeglichen Versuch einer Ersetzung oder Liquidierung verantwortlich. In der Verwendungsgeschichte des Erzählerbegriffs wurde von Anfang an die prismati sche Funktion betont, die die Welt nach der oben zitierten Formulierung Käte Friedemanns ( 1 9 10, 26) nicht so erfas sen lässt, "wie sie an sich ist, sondern wie sie durch das Medium eines betrachtenden Geistes hindurchgegangen" ist. Diesen "betrachtenden Geist" sollte man freilich nicht mit einer leben di gen Person identi fizieren, die mit den bei einem Menschen zu erwar tenden Kompetenzen ausgestattet ist. Der Erzähler kann als eine über menschliche, allwissende und all gegenwärtige Instanz konstituiert, aber auch auf sehr bescheidene Kompetenzen reduziert sein. Wie er auch aus gestattet sein mag, wird der Erzähler als ein Subjekt wahrgenommen , das durch einen bestimmten Blick auf die Welt charakterisiert ist, durch eine Perspektive, die sich zumindest in der Auswahl bestimmter Geschehens momente und der Nicht-Auswahl anderer Geschehensmomente manifestim ! Der Erzähler kann auch inkonsequent, schwankend konstituiert sein. Das beobachten wir etwa an Dostoevskijs Brüdern Karamazov. Große Teile dieses Romans werden v on einer allgegenwärtigen, allwissenden, in die tiefsten Geheimnisse des Bewusstseins der Figuren blickenden unper sönlichen Instanz erzählt. Aber an bestimmten Stellen , oft gerade an be sonders wichtigen (z. B. im "Vorwort des Autors") verwandelt sich dieser Erzähler in einen in seinem Wissen begrenzten Chronisten, der, wie es zunächst scheinen mag, naiv und ungeschickt erzählt und allerlei Ü ber flüssi ges ' berichtet. Mit diesem Schwanken des Erzählerbildes korreliert 22
i
Das ist wohl auch der Grund dafür, dass Polemikert gegen die Narratologie, die Narra tologen und den Erzählerbegriff (vgl. etwa Weimar 1 994), so amüsant sie manchmal auch zu lesen sind, letztlich nicht zu überzeugen vermögen.
4. Der fiktive Erzähler
75
auch der Grad der Markiertheit des Erzählers, dessen Anwesenheit in dem Roman mal stark wahrgenommen, mal völlig vergessen wird23 • b) Individualität und Anthropomorphismus des Erzählers Der Erzähler kann deutlich ausgeprägte Merkmale einer indiv iduellen Person haben, aber er kann auch unpersönlicher Träger einer (z. B. ironi schen) Wertungshaltung sein, ohne irgendwelche individuelle Züge zu besitzen. Beide Extreme können wir in der russischen Prosa der zwanzi gerJahre des zwanzigsten Jahrhunderts beobachten, die sich einerseits durch eine starke persönliche Färbung der Erzählerrede auszeichnet und anderseits durch eine entpersönlichende Poetisierung. Die erste Tendenz manifestiert sich im sogenannten Skaz, der ideologisch und stilistisch subjektiven Er zähl weise eines persönlichen Erzählers, die zweite ist charakteristisch für die so genannte "ornamentale" Prosa, die sich durch Bildung auffälli ger phonischer Äquivalenzen , durch Rhythmisierung und Metaphorisierung auszeichnet (zu beiden Stilen vgl. unten, IV.2). Während der Skaz das Bild eines stark profilierten persönlichen Erzählers entwirft, schließt die ornamentale Prosa die Vorstellung eines persönlichen Erzählers weitge hend aus. Das Problem der Individualität des Erzählers fällt nicht mit dem seiner menschlichen Natur zusammen. Die Erzählinstanz kann persönliche Züge haben, ohne ein Mensch zu sein. Dieser Fall tritt dann ein, wenn der Er zähler eine allgegenwärtige und allwissende Instanz ist und sich somit der räumlichen und zeitlichen Detenniniertheit der menschlichen Perspektive entzieht. Der all gegenwärti ge und allwissende Erzähler ist eine gottähnli che Instanz mit einer Perspektive, die traditionell als "olympisch" be zeichnet wird (Shipley [Hg.] 1 943 , 439 f.). Anderseits kann der Erzähler weni ger als ein Mensch sein, ein Tier, eine Pflanze , ein Gegenstand. Das klassische Beispiel eines erzählenden Tieres ist der Asinus aureus des Ludus Apuleius, ein Roman, der, wie auch der griechische Paralleltext Lukians (Lukios, der Esel) auf die griechischen Metamorphosen des Luki os von Patrai zurückgeht. In allen diesen Texten hat der Erzähler die Ge stalt eines Esels, in die er wegen seiner Neugier verwandelt wurde. In der jüngeren europäischen Literatur gibt es zahllose Beispiele für erzählende 23
Zum schwankenden Erzählerbild in den Brüdern Karamazov vgl. Matlaw 1 957; Busch 1 962; Meijer 1 97 1 ; Schmid 1 98 1 .
76
H. Die Instanzen des Erzählwerks
Tiere. Diese Tradition entwickelte sich unter dem Einfluss der Märchen und Fabel-Literatur. Eines der Muster aus dem Bereich der Hochliteratur ist das Coloquio de los perros (aus dem Zyklus der Novelas ejemplares des Cervantes), in dem der Hund Berganza seinem Freund, dem Hund Cipion, die Geschichte seines Lebens erzähl t. Dieses Gespräch wurde wieder aufgenommen in der Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza E. T. A. Hoffmanns (der in den Lebensansichten des Katers Murr ein anderes klassisches Beispiel für erzählende Tiere gab). Diese Unie könnte man bis zu Kafkas Forschungen eines Hundes und dem Bericht für eine Akademie fortsetzen . In letzterem Werk berichtet ein vermenschlichter Affe über seine "Affenvergangenheit". Alle diese tierischen Erzähler sind nur auf den ersten Blick unreliable (d. h. hier: die menschliche Wirklichkeit inadäquat wahrnehmend) 24 . In Wirklichkeit sind die erzählenden Tiere schatfe Beobachter der Men schenwelt, die den Autoren als Medien der Vetfremdung dienen. Ein schönes Beispiel dafür ist Der Leinwandmesser (Cholstomer) von Lev Tolstoj , wo ein alter Wallach , der den jüngeren Pferden seine Etfahrungen mit den Menschen vermittelt, als Sprachrohr des gegenüber den Konven tionen kritischen Autors auftritt: Die Worte "mein Pferd" bezogen sich auf mich, ein lebendiges Pferd, und sie schienen mir so seltsam wie die Worte "meine Erde", "mein Wasser". Aber diese Worte mach ten auf mich einen großen Eindruck. Ich dachte unablässig daran, und erst lange nach den verschiedensten Erfahrungen mit den Menschen verstand ich endlich die Bedeu tung, die die Menschen mit diesen seltsamen Wörtern verbinden. Ihre Bedeutung ist folgende: Die Menschen lassen sich im Leben nicht von Taten leiten, sondern von Worten. Sie lieben nicht so sehr die Möglichkeit, etwas zu tun, als vielmehr die Mög lichkeit über verschiedene Gegenstände Wort zu sprechen, die zwischen ihnen verein bart sind. Wörter wie mein und dein sagen sie zu verschiedenen Dinge, Wesen und Gegenständen ; sogar über die Erde, über die Menschen und über die Pferde. Sie haben vereinbart, dass über ein und dieselbe S ache nur einer mein sagen kann. Und wer nach dem zwi schen ihnen vereinbarten Spiel zu der größten Zahl von Dingen mein sagt, der gilt als der glücklichste von ihnen. (L. N. Tolstoj, Poln. sobr. soc. v 90 t., Bd. 26, S . 1 9 f.)
�
2
4
" Der nicht ganz klare Begriff des "unzuverlässigen" Erzählers wurde von W. C. Booth ( 1 96 1 ) geprägt. Gemäß seiner Definition hat man e,s dann mit einem unreliable narra tor zu tun, wenn die Normen des Erzählers und des implied author nicht zusammen fallen. Nach neueren Definitionen, im Lichte der kbgnitiven Theorie, kann als Maßstab der Unzuverlässigkeit nicht der implizite Autor, sondern nur der konkrete Leser dienen (vgl. Nünning 1 998; Nünning [Hg.] 1 998a; Nünning 1 999).
4.
Der fiktive Enähler
77
Als Erzähler figurieren manchmal sogar Gegenstände. In Thomas Pyn chons Roman Gravity 's Rainbow wird z. B. ein" langer Abschnitt von der Glühbirne Billy the Bulb erzählt. Ein interessanter Fall des erzählenden Nicht-Menschen ist Flatland. A Romance 01 Many Dimensions ( 1 884) von Edwin A. Abbotfs. Als Erzähler tritt hier eine geometrische Fi gur auf: Herr Quadrat, Bewohner des Aachlandes , erzählt nicht nur vom normalen Leben unter den B edingungen der zweidimensionalen Welt, sondern auch von drei Ausflügen in fremde Welten. In einer Art Vision besucht er zu nächst das Linienland, dessen König die längste Linie ist und wo jede Linie ein für allemal dazu verurteilt ist, auf die Nachbarlinie zu schauen , und danach reist er in das Punktland, eine Welt ohne Dimensionen, dessen Bewohner sich für das einzige existierende Wesen, für den all mächtigen Gott hält. Noch interessanter ist jedoch die Reise in eine Welt mit drei Dimensionen, in die ein überirdisches Wesen Herrn Quadrat bringt. Von dort in das Flachland zurückgekehrt, versucht Herr Quadrat seine Lands leute von der Existenz einer räumlichen Welt zu überzeugen. Vergeblich die Kreise, Herren im Flachland, erklären ihn für wahnsinnig und sperren ihn ein. c) Die Markiertheit des Erzählers Existiert in jedem Erzählwerk ein Erzähler? Ist es sinnvoll , auch dann von einem Erzähler zu sprechen, wenn der Erzähltext keine individuellen Züge eines fiktiven Sprechers oder Schreibers aufweist außer der Fähi gkeit, eine Geschichte zu erzählen? Auf diese Fragen wurden unterschiedliche Antworten gegeben, die man mit Marie-Laure Ryan ( 1 98 1) auf drei Grundpositionen bringen kann. Die Anhänger der ersten Position sehen keinen grundsätzlichen Unter schied zwischen einem stark markierten und einem extrem unpersönli chen, objektiven Erzähler. Diese Position ist charakteristisch für franko phone Narratologen, die davon ausgehen, dass es eine absolut erzähler. freie Narration nicht gibt (vgl. Il 'in 1 996a). Die zweite Posi tion, die in der Nachfolge von Lubbock ( 1 92 1 ) und Friedman ( 1 955) steht und eher in der angelsächsischen Narratologie ver breitet ist, betont dagegen den Unterschied zwischen dem "persönlichen" und dem "unpersönlichen" Erzählen. Letzteres liegt etwa vor im "all wis25
Für die Hinweise auf Pynchon und Abbott danke ich den Mi tgliedern der Hamburger Forschergruppe Narratologie Martin Klepper und Wilhelm Schernus.
78
11. Die Instanzen des Erzähl werks
senden Erzählen" des klassischen Romans des 19. Jahrhunderts und in der "anonymen Erzählstimme" einiger Narrative des 20. Jahrhunderts, z. B. aus der Feder Henry James ' und Ernest Hemingways. Einer der Anhänger der These, dass im Erzählwerk kein Erzähler präsent zu sein braucht, Seymour Chatman ( 1 978 , 34, 254), betrachtet das unpersönliche Erzählen in den Werken Hemingways, wo der Erzähl text auf die nicht-kommentie rende Darbietung von Fakten reduziert ist, als nonnarration, in der para doxerweise ein nonnarrator erzählt. Zwischen dem nonnarrator und dem overt narrator steht nach Chatman der covert narrator. Viele Vertreter dieser Position orientieren sich an Texten mit konsequent personaler Per spektivierung. Nach ihrer Auffassung fehlt etwa in der erlebten Rede, einer der deutlichsten Manifestationen personaler Perspektive, das Erzäh lerelement v öllig. In solchen Narrativen ohne Erzähler sehen diese Vertre ter die Aufgabe des Erzählens durch die Personen oder eine abstrakte "Er zählfunktion" erfüllt (Hamburger 1 957; 1 968 ; Banfield 1 973 ; 1 978a; 1 978b ; 1 983). Die dritte Position, die M.-L. Ryan selbst vertritt, ist eine schwache In terpretation des Konzepts der erzählerlosen Narration, d. h. sie besteht in einem Kompromiss zwischen der ersten und der zweiten Position: "In this perspective the concept of narrator i s a logical necessity of all fictions, but it has no psychological foundation in the impersonal case" (Ryan 1 98 1 , 5 1 9). Während die erste Position den unpersönlichen Erzähler als indivi duelles, aber unbekanntes Wesen betrachtet und die zweite Position seine logische Notwendigkeit bezweifelt, ist er gemäß der dritten Position "an abstract construct depri ved of a human dimension" (ebd.). . Mir scheint die erste Position am plau�ibelsten zu sein . Den von Ryan vorgeschlagenen Kompromiss kann ich aus drei Gründen nicht annehmen. 1 . Ryan vermischt das Problem der Persönlichkeit und Individualität des Erzählers mit dem seiner Markiertheit. Ein Erzähler kann stark markiert sein, ohne eine persönliche Identität zu besitzen. Die Markiertheit des Erzählers gründet auf den im Text anwesenden indizialen Zeichen, seine Individualität setzt das Zusammenlaufen aller symptomatischen Linien in einem homogenen, psychologisch plausiblen Bild voraus. In der ornamen talen Prosa z. B. stoßen wir nicht selten auf eine stark markierte Erzählin stanz, die gleichwohl ganz abstrakt, unindividuell bleibt, da die Symptome des Erzähltextes kein schlüssiges Bild einer Rersönlichkeit ergeben. 2. Kaum akzeptabel ist die dichotomische B ehandlung der Markiertheit. ' Diese Eigenschaft lässt sich nicht auf zwei Grenzwerte wie "Indi viduali-
4. Der fiktive Erzähler
79
tät" und "Abstraktheit" oder " Objektivität" reduzieren , sondern bildet ein Kontinuum, das sich zwischen der maximalen und minimalen Anwesen heit indizialer Zeichen erstreckt. Die minimale Präsenz wird freilich nie mals gleich null . Letztlich kommt auch der Hemingway-Typ (Chatmans nonnarration) nicht ganz ohne bestimmte Symptome für eine Vermitt lungsinstanz aus , die sich bereits in der Auswahl, Konkretisierung und Anordnung der erzählten Elemente (und sei es auch nur der Personenre den) kundtut. Und was die Sprache betrifft, so ist zu fragen, ob die forcier te Trockenheit der Hemingway-Narration nicht auch ein spezifisches Merkmal bildet, das einen bestimmten Erzählertyp anzeigt. 3. Ryan ( 1 98 1 , 523) vertritt die von Searles Sprechaktheorie inspirierte These, dass im unpersönlichen Erzählen die Beziehung zwischen dem "substitute speaker" (d. h. dem Erzähler) und dem "actual speaker" (dem Autor) so eng sei , dass der Leser den Erzähler als ein autonomes , zwi schen Autor und Person stehendes Bewusstsein nicht zu rekonstruieren brauche. Diese Position scheint mir den wirklichen Sachverhalt zu stark zu vereinfachen. Minimal markierte, scheinbar obj ektive Erzähler, die konsequent personal , d. h. aus der Perspektive einer der Fi guren erzählen, hinterlassen bei der Wiedergabe der inneren Personenrede nicht selten Spuren einer Umakzentuierung, einer axiologischen Überdetenninierung, d. h. Zeichen ihrer zusätzlichen Wertung, die der der Figur widerstreitet. Si gnifikanten dieser Wertungsposition sind die Auswahl , Konkretisierung, Kombination und sprachliche Realisierung einzelner Worte und Aussagen des Personentextes. Eine Umakzentuierung der Worte der Person durch den sonst ganz ob jektiven Erzähler kann man gut an Dostoevskijs Ewigem Ehemann (Vec nyj muz) beobachten. Der Beginn dieser Erzählung ist fast ausschli eßlich aus Fragmenten des Personen textes zusammengesetzt, die teils in ver schleierter Form , mit Hilfe der erlebten Rede oder des unei gentlichen Erzählens (siehe dazu unten, IV.3), teils in direkter personaler Benennung präsentiert werden: Der Sommer war gekommen, und Vel 'caninov war wider Erwarten in Petersburg ge blieben. Aus seiner Reise in den Süden war nichts geworden, und das Ende der Ange legenheit war noch gar nicht abzusehen. Diese Angelegenheit - ein Vermögensstreit hatte eine schlimme Wendung angenommen. Noch vor drei Monaten hatte sie ganz unkompliziert, fast entschieden ausgesehen; aber irgendwie hatte sich plötzlich alles gewendet. "Ja, und überhaupt wendet sich jetzt alles zum Schlechteren ''', diesen S atz pflegte Vel 'caninov jetzt häufig und mit einer gewissen Schadenfreude im S tillen vor sich hin zu sprechen. [ ] Seine Wohnung war irgendwo beim Großen Theater; er hat. . .
80
11 . Die Instanzen des Erzählwerks te sie erst kürzlich gemietet, und auch mit ihr hatte es nicht geklappt; "nichts hat ge klappt ! " Seine Hypochondrie wuchs mit jedem Tag; aber zur Hypochondrie hatte er schon hinge eine Neigung. (F. M. Dostoevskij, Poln. sobr. so�. v 30 t. , Bd. 9, S. 5)
Viele der Erklärungen, die vom scheinbar objekti ven Erzähler vorgebracht werden ("Aus seiner Reise in den Süden war nichts geworden" ; "irgend wie hatte sich plötzlich alles gewendet" ; "auch mit [der Wohnung] hatte es nicht geklappt" ; "Seine Hypochondrie wuchs mit jedem Tag; aber zur Hypochondrie hatte er schon lange eine Neigung") erweisen sich im Kontext nicht nur als aus dem Personenbewusstsein genommen, sondern auch als wenig begründet. Den angeführten Motivierungen widerspricht j eweils die wirkliche kausale Verbindung der Motive, die im Verlauf des Erzählens zunehmend deutlicher wird (vgl. Schmid 1 968). Die dem Be wusstsein des Helden entstammenden "pseudoobjektiven" Erklärungen26 akzentuiert der Erzähler ironisch, und er weist damit auf seine eigene Wertungsposition, die im Text nicht expliziert ist. Im Weiteren zeigt sich die ironische Akzentuierung in der häufigen Verwendung von direkter personaler Benennung, die einerseits den fremden Ursprung der Worte und andererseits die Distanz des Erzählers markiert: ' [Vel ' �aninov] war ein Mensch, der immer auf großem Fuß gelebt hatte, längst nicht mehr jung, etwa achtunddreißig oder sogar schon neununddreißig Jahre, und dieses ganze "Alter" - wie er selbst sich häufig ausdrückte - war "fast ganz unerwartet" ge kommen. [ . . ] Im wesentlichen waren das manche Ereignisse [ . . ], die "ganz plötzlich und weiß Gott warum" immer öfter in seinem Gedächtnis aufstiegen . . . Beispielsweise stieg plötzlich in seinem Gedäci!tnis "mir nichts, dir nichts" die von ihm längst verges sene, ja im höchsten Maße vergessene Gestalt eines braven alten Beamten auf [ . . . ] . Und als Vel '�aninov sich jetzt "mir nichts, dir n ichts" daran erinnerte, wie der Alte aufgeschluchzt hatte [ . . . ] (Ebd., S . 5-8) .
.
Die Sinnposition des Erzählers realisiert sich fast ausschließlich im Material des fremden Bewusstseins und der fremden Rede . Dennoch exi stiert sie als die implizit dargestellte Position eines in der fiktiven Welt autonomen Subjekts27• Den (konkreten oder abstrakten) Autor selbst mit 26
Vgl. in diesem Zusammenhang Leo Spitzers ( 1 923a) Begiffe "pseudoobjektive Moti vierung" und "pseudoobjektive Rede". Spitzer zeigt, wie in Charles-Louis Philippes Dirnen- und Zuhälterroman Bubu de Montpamasse zahlreiche Begründungen, obwohl sie in der Rede des Erzählers erscheinen, in Wirklichkeit die Position der erzählten Fi guren wiedergeben. 27 Radikaler noch als Ryan bestreitet den autonomen Status des Erzählers Jürgen Petersen ( 1 977, 1 76 f.), der annimmt, dass jeglicher Er-Ehähler im Unterschied zum Ich-Er zähler, wie subjektiv er auch sein mag, grundsätzlich keine "Personalität" besitzt: "das erzählende Medium [tritt] nicht als Person in das Bewusstsein des Lesers". Im Falle ei-
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dem Träger dieser Position zu identifizieren, gibt es keinen Anlass. Ironie ist ja keineswegs Anzeichen der höchsten Position in der Wertungshierar chie. Um eine Antwort auf die zu Anfang des Abschnitts aufgeworfenen Fragen zu geben: Der Erzähltext muss immer irgendwe1che Symptome enthalten , so schwach sie auch sein mögen. Deshalb gehen wir davon aus , dass in jedem Erzähl werk ein mehr oder weni ger deutlich markierter Er zähler mit dargestellt wird2 8• d) Abstrakter Autor oder Erzähler? Wenn die im Erzähl text enthaltenen indizialen Zeichen sowohl den Autor als auch den Erzähler kundgeben können, stellt sich in jedem konkreten Fall die Frage, auf welche der beiden Instanzen man die gefundenen Indi zien beziehen soll. Es handel t sich hier um ein hermeneutisches Problem , für dessen Lösung nur sehr all gemeine Hinweise gegeben werden können. Das Fingieren einer Geschichte und eines sie präsentierenden Erzählers ist Sache des Autors . In diesen Akten verweisen alle Indizes auf den Au tor als die letzte verantwortliche Instanz. Die Auswahl der erzähl ten Ge schehensmomente, ihre Verknüpfung zu einer Geschichte, ihre B ewertung und Benennung sind Operationen, die in die Kompetenz des Erzählers fallen, der sich in ihnen kundgibt. Im Personentext drückt sich zunächst die sprechende, denkende oder wahrnehmende Person aus. Jedoch ist in allen Manifestationen des Perso nentextes ein narratorialer Anteil enthalten. Der Erzähler ist ja als jene In stanz fingiert, die die Worte, Gedanken und Wahrnehmungen der Perso nen auswähl t und - zumindest im Fall der indirekten oder erlebten Rede mehr oder weniger narratorial wiedergibt. Alle Akte , die den Erzähler kundgeben, fungieren letztlich natürlich auch als Indizes für den Autor, dessen Schöpfung der Erzähler ist. Aber die Erzähl v erfahren erlangen eine indiziale Funktion für den Aut�r nicht ner ironischen Akzentuierung betrifft die Ironie, so Petersens These, nur das Erzählte, "sie schlägt nicht auf den Erzählenden zuriick [ . J, weil dieser, ohne Personalität, keine Charaktereigenschaften besi tzen kann". Bewegt sich solche Argumentation nicht im Kreise ? 28 In meinem Dostoevskij-Buch (Schmid 1 973 , 26) habe ich noch die Möglichkeit völ ligen Fehlens von Symptomen und folglich eines erzählerlosen Erzählens eingeräumt, was auf berechtigte Kritik gestoßen ist (vgl. de Haard 1 979, 98; Harweg 1 979, 1 1 2 f. ; Lintvelt 1 98 1 , 26; Penzkofer 1 984, 29). . .
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direkt und unmittelbar, sondern mit einer gewissen Brechung oder Ver schiebung, die wir oben (S . 65) in dem Modell der semantischen Hierar chie berücksichtigt haben. Dem Ausdruck der Autorposition dient nicht allein die Erzählerposition selbst, sondern auch die Wechselbeziehung zwischen Ausdrucks- und Inhaltsseite im Erzählertext. Die narratoriale Ausdrucksebene gründet ihrerseits unter anderem auch auf der Wechsel beziehung zwischen Ausdrucks- und Inhaltsseite im Personentext. Schließlich gilt es noch einen wesentlichen Unterschied zwischen abs traktem Autor und Erzähler in der Intendiertheit ihrer indizialen Präsenz festzustellen. Die indizialen Zeichen, die auf den Erzähler verwei sen, sind intendiert. Mit ihrer Hilfe stellt der Autor einen Erzähler dar. Die indizia len Zeichen aber, die auf den Autor verweisen, sind in der Regel nicht intendiert, sondern entstehen unwillkürlich im Schaffe nsprozess. Gewöhn lich beabsichtigt der Autor nicht, sich selbst darzustellen. Die Kundgabe des Autors ist in der Regel ebenso unwillkürlich wie der Selbstausdruck eines beliebigen Sprechers. Wie sich aber jeder Sprecher in seinen Rede akten bewusst stilisieren kann, ist es auch möglich, dass ein Autor in sei nem Werk ein bestimmtes "Image" seiner selbst vermitteln will . Dann kann allerdings diese Absicht selbst zum nicht-intendierten Ergebni.s der Kundgabe werden. e) Typologien des Erzählers Im Zentrum des Interesses der Narratologie stand am Anfang die Typo logie des Erzählers und seiner Perspektive. Die Typologien konkurrierten miteinander um das höchste Maß der Differenzierung. Während Percy Lubbock ( 192 1 ) noch vier Typen des Erzählers oder der Perspektive un terschied und Norman Friedman ( 1 955) es schon auf acht brachte, gelangt Wilhelm Füger ( 1 972) zu zwölf Typen (vgl . die Ü bersicht bei Lintvelt 1 98 1 , 1 1 1 - 1 76). Indes ist die Systematik solcher hoch differenzierten Ty pologien nicht immer überzeugend und der Nutzen keineswegs evident. Häufig vermischen sie den Typ des Erzählers und den Typ der Perspekti ve und definieren die zugrunde liegenden Kriterien ungenau. Zudem sind nicht alle Typen, die aufgrund der Kombination von Kri terien gewonnen werden, in der Literatur auch belegt. Alle drei genannten Mängel beob achten wir in der Typologie Fügers, die jedo�h am mei sten unter der Am bivalenz der Grundopposition "Außenposi Ü on" vs. "Innenposition" des Erzählers leidet. Wie schon Erwin Leibfried ( 1 970, 245-248), von dem
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diese Dichotomie entlehnt wurde, vermischt Füger zwei Kriterien: 1 . die Präsenz des Erzählers in der erzählten Geschichte, 2. die Perspektive des Erzählers. Diese Ambivalenz ist dadurch bedingt, dass Leibfried wie Fü ger den Begriff Erzähler in einem sehr weiten Sinne verwenden , nämlich als Bezeichnung des "Orientierungszentrums" , das sowohl der Erzähler als auch die wahrnehmende Figur, der "Reflektor" (ein Begriff Henry James' ), sein kann. Es versteht sich , dass ein solch weites Konzept des Schlüsselbegriffs die Klarheit der auf ihm gegründeten Typologie min dert. Als ein Schema, das ledi glich heuristische Bedeutung haben kann, muss eine Typologie des Erzählers einfach sein und darf nur elementare Kriterien zugrunde legen, ohne ein erschöpfendes Bild des zu model lierenden Phänomens anzustreben. Als Grundlage einer solchen Typologie des Erzählers (die Kategorie der Perspektive bleibt hier unberücksichtigt) können etwa folgende Kriterien und Typen dienen: Kriterien
Typen des Erzählers
DarsteIlungsmodus
explizit - implizit
diegetischer Status
diegetisch - nichtdiegetisch
Hierarchie
primär - sekundär - tertiär
Grad der Markiertheit
stark - schwach markiert
Personalität
persönlich - unpersönlich
Homogenität der Symptome
kompakt - diffus
Wertungshaltung
objektiv - subjektiv
Kompetenz
allwissend - im Wissen begrenzt
räumliche Bindung
allgegenwärtig - an einen bestimmten Ort gebunden
Introspektion
mit Introspektion - ohne Introspektion
Zuverlässigkeit
unzuverlässig - zuverlässig
f) Primärer, sekundärer und tertiärer Erzähler Nach d�r Ebene, der der Erzähler im Falle von Rahmenerzählungen zu zuordnen ist, unterscheiden wir den primären Erzähler (den Erzähler der Rahmengeschichte), den sekundären Erzähler (den Erzähler der Binnen geschichte, der in der Rahmengeschichte als Fi gur auftritt), den tertiären
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Erzähler (den Erzähler einer Binnengeschichte zweiten Grades, der in der ersten Binnengeschichte als Person figuriert) usw. 29 Beispiele für alle drei Typen finden wir in Pu§kins Stationsaufseher (Stancionnyj smotritel '). Primärer Erzähler ist der sentimentale Reisende, der von seinen drei Begegnungen auf einer russischen Poststation berich tet. Sekundäre Erzähler sind zum einen der Stationsaufseher Samson Vy rin , der dem Reisenden die Geschichte von der Entführung seiner Tochter Dunja erzählt, zum andem der einäugige Sohn der Bierbrauersfrau, der dem Reisenden von Dunjas Besuch am Grab des Vaters berichtet. Als ter tiäre Erzähler treten in Vyrins Binnengeschichte ebenfalls zwei Fi guren auf, der deutsche Arzt, der dem betrogenen Vater seine geheime Ab machung mit Minskij gesteht, und der Kutscher, der sowohl von Dunjas Tränen als auch von der offensichtlichen Frei willigkeit ihrer Fahrt nach Petersburg berichtet. Die Attribute primär, sekundär und tertiär sind natürlich nur im tech nischen Sinne der Stufe der Einbettung, des Grades der Rahmung zu ver stehen, keinesfalls aber im Sinne einer axiologischen Hierarchie . Die sekundäre Erzählerin der Märchen aus Tausend und einer Nacht Schehezerade zieht wie auch der erzählende Wallach in Tolstojs , Lein wandmesser wesentlich mehr Interesse auf sich als der primäre Erzähler. Ü berhaupt reduziert- sich die Funktion des primären Erzählers häufig dar auf, eine Binnengeschichte lediglich zu motivieren. Das in der sekundären Narration (d. h. von einer Fi gur der Rahmen geschichte) Erzählte bildet eine Welt, die ich zitierte Welt zu nennen vor schlage, da die Rede einer Figur als Zitat in der Rede des primären Erzäh lers fungiert. Der Zitatcharakter der Binnenerzählungen kann auf unter schiedliche Weise aktualisiert sein: durch stilistische Angleichung der sekundären Rede an die Rede des primären Erzählers , durch Kommentare des letzteren und vor allem dadurch, dass er die sekundäre Erzählung zu seinen ei genen Zwecken nutzt. (Zum Problem der stilistischen Einbettung 29
Diese Tennini sind in englischer Gestalt (primary, secolldary, tertiary narrator) von Bertil Romberg ( 1 962, 63) eingeführt worden. S ie scheinen mir plausibler als die kom plizierte und nicht plausible Terminologie Genettes ( 1 972, 237-24 1), der "extra. diegetisches", "diegetisches" oder "intradiegetisches" und "metadiegetisches" Erzählen unterscheidet. Letzteres bezeichnet bei Genette nicht etwa ein Erzählen über ein Er zählen, sondern die dritte Stufe der Rahmung, die Narration eines Erzählers, der als Fi gur in einer Binnengeschichte auftritt und al s Erzähler eine Binnengeschichte zweiten Grades hervorbringt. Das nicht motivierte meta- v erteidigt Genette später ( 1 983, 6 1 ) gegen durchaus berechtigte Kritik (BaI 1 977a, 24, 35 ; 1 9 8 1 b; Rimmon 1 983, 92, 140). Zum Vorteil der traditionellen Terminologie vgl. auch JahnlNünning 1 994, 286 f.
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der Personenrede, die die Rede des sekundären Erzählers gegenüber der des primären Erzählers - funktional betrachtet - ist, vgl. unten, IV. 1 .b). Oft löst sich eine sekundäre Erzählung von der Rahmensituation und sprengt die Motivierung. Einen solchen Fall beobachten wir etwa in Dos toevskijs Roman Der Jüngling (Podrostok). Die mehr als elf Seiten um fassende Erzählung des sekundären Erzählers Makar Dol gorukij vom Kaufmann Skotobojnikov geht entschieden über die Grenzen dessen hin aus, was man dem primären Erzähler, dem jungen Arkadij Dolgorukij , an Fähigkeit, fremde Sprach welten wiederzugeben, zutrauen kann. Sie ist in einem stark stilisierten archaisch-volkstümlichen Skaz gehalten, der den religiösen Denkbereich Makars wi derspiegelt. Die Motivierung wird auch dadurch nicht überzeugend , dass sich Arkadij als begabter Sprachimitator profiliert und Makars Erzählung mit den Worten einleitet: Wer will, kann die Geschichte übergehen, zumal ich sie in seinem [Makars] Stil erzäh le. (F. M. Dostoevskij, Poln. sobr. soc. v 30 t., Bd. 1 3 , S. 428)
g) Diegetischer und nichtdiegetischer Erzähler Eine wichtige, wenngleich in ihrer Tragweite manchmal (z. B. von Käte Hamburger) überschätzte Unterscheidung ist die zwischen diegetischem und nichtdiegetischem Erzähler. Mit diesen Begriffen soll die traditionel le, terminologisch problematische Dichotomie von Ich- und Er-Erzähler ersetzt werden. Die neue Opposition bezeichnet die Präsenz des Erzählers auf den beiden Ebenen der dargestellten Welt, der Ebene der erzählten Welt oder Diegesis30 und der Ebene des Erzählens oder Exegesi�l . 30
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Unter Diegesis (von griech . OtTrylJOt!; ,Erzählung ' ) wird die erzählte Welt verstanden. Das Adjektiv diegetisch bedeutet "zur erzählten Welt gehörend". In der Narratologie hat Diegesis eine andere Bedeutung als in der antiken Rhetorik (vgl . Weimar 1 997). Bei Platon bezeichnet der Begriff das "eigentliche Erzählen" im Gegensatz zur "Nachah mung" (Mimesis) der Rede des Helden. Der neue Diegesis-Begriff wurde durch Etienne Souriau ( 1 95 1 ; 1 990, 5 8 1 ) eingeftihrt, einen Theoretiker der Filmnarration, der diegese als die im Kunstwerk dargestellte Welt versteht. Genette ( 1 972, 280) definiert diegese als "l 'univers spatio-temporel designe par 1e recit" und das entsprechende Adjektiv die getique in allgemeiner. Verwendung als "qui se rapporte ou appartient a l ' histoire". Der Begriff der Exegesis (von griech. E!;�YTIat!; ,Auseinandersetzung', ,Erklärung ' ), der in der Ars des lateinischen Grammatikers Diomedes (4. Jahrhundert n. ehr.) als Sy nonym für &.7taYYEA.La und narratio erscheint, bezieht sich auf die Ebene des Erzählens und der das Erzählen einer Geschichte beglei tenden Kommentare, Erläuterungen, Re flexionen und metanarra tiven Bemerkungen des Erzählers.
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Die Instanzen des Erzähl werks
Diegetisch soll ein Erzähler heißen, der zur Diegesis gehört, der folg lich über sich selbst - genauer sein früheres Ich - als Figur der erzählten Geschichte erzählt. Der diegetische Erzähler figuriert auf zwei Ebenen: sowohl im Erzählen als auch in der erzählten Geschichte. Der nicht diegetische Erzähler gehört dagegen nur zur Exegesis und erzählt nicht über sich selbst als eine Figur der Diegesis, sondern ausschließlich über andere Personen 32 • Diegetische Erzähler zerfallen in zwei nach Ebenen und Funktionen differenzierbare Instanzen, das erzählende und das erzählte Ich33, während exegetische Erzähler sich auf eine Ebene und eine Funktion beschränken. diegetischer Erzähler Exegesis
+
(erzählendes Ich)
Diegesis
+
(erzähltes Ich)
nichtdiegetischer Erzähler + -
Davon zu sprechen , dass der diegetische Erzähler "in die innere Wel t des Textes eintritt" , wie es E. Paduceva ( 1 966, 203) tut, ist nur mit Vor behalt zulässig. Der Erzähler bleibt als erzählende Instanz außerhal·b der "inne�en" (besser: der erzählten) Welt. In die erzählte Welt geht nur das "frühe re" erzählte Ich des Erzählers ein. Korrekturbedürfti g ist auch die Bemerkung Lubomir Dolezels ( 1 973a, 7), dass der Erzähler manchmal "identisch" mit einer der handelnden Per sonen sei . Mit der Fi gur ist der Erzähler nicht als Erzähler, d. h. als erzäh lendes Ich, sondern nur als erzähltes Ich identisch. Nicht zustimmen kann man auch Dolezels Schlussfol gerung, dass mit der Verwandlung des Er zählers in einen an der erzählten Handlung Beteiligten die Figur die für den Erzähler charakteristischen Funktionen übernehme, nämlich "repre32
Vom antiken Wortgebrauch ausgehend, nennt Elena Padu(!eva ( 1 996, 203) den nicht diegetischen Erzähler "exegetisch" . Aber die von ihr eingeführte Opposition exegeti scher vs. diegetischer Erzähler modelliert die Asymmetrie der beiden Typen nicht gan z adäquat. Den diegetischen Erzähler müßte man eigentlich "exegetisch-diegetischen" Erzähler nennen , insofern er auf beiden Ebenen präsent ist. Da die Zugehörigkeit zur Exegesis kein distinktives Merkmal, sondern merkmallos ist, wird hier die Opposition der binären Merkmale diegetisch vs. nichtdiegetisch bevorzugt. 33 In der deutschsprachigen Theorie wird das erzählte Ich oft als erlebendes Ich bezeich net (vgl. Spitzer 1 928a, 47 1 , und unabhängig von ihm Stanzei 1 955, 61 f.). In engli scher Ü bersetzung figurieren diese Termini als nanrating bzw. experiencing self (vgl. Cohn 1 98 1 , 1 80). Dem psychologischen Attribut erlebend ist jedoch das funktionale Attribut erzählt vorzuziehen.
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sentation" und "control" , wobei die Opposition zwischen Erzähler und Figur neutralisiert werde. Dolezel vermischt hier funktionale und materia le Gesichtspunkte. Der Erzähler als Träger der Erzählfunktion wird zur Fi gur (oder: zu einem Aktor) nur dann, wenn von ihm ein Erzähler hähe ren Grades erzählt, und eine Figur (ein Aktor) kann nur dann zum Erzäh ler werden, wenn sie als sekundärer Erzähler fungiert. Die Dichotomie diegetisch vs. nichtdiegetisch entspricht im Wesentlichen der von Genette eingeführten und nun weit verbreiteten Opposition "ho modiegetisch" vs. "heterodiegetisch" (Genette 1 872, 253). Aber Genettes Terminologie, die einen aufmerksamen Leser und disziplinierten Benutzer verlangt, ist problematisch in Systematik und Wortbildung. Was eigent l ich ist "gleich" und "anders" im homo-diegetischen und hetero-diegeti sehen Erzähler? Außerdem sind die Präfixe homo- und hetero- leicht mit extra-, intra- und meta- zu verwechseln, die den Grad der Rahmung, d. h. die Primarität, Sekundarität und Tertiarität des Erzählers bezeichnen34 • Für Genettisten sei die fol gende Tabelle eingefügt, die Aufschluss über die Korrelationen der Begriffe gibt: Terminologie Genettes
Vorgeschlagene Terminologie
extradiegetisch-heterodiegetischer Erzähler
primärer nichtdiegetischer Erzähler
extradiegetisch-homodiegetischer Erzähler
primärer diegetischer Erzähler
intradiegetisch-heterodiegetischer Erzähler
sekundärer nichtdiegetischer Erzähler
intradiegetisch-homodiegetischer Erzähler
sekundärer diegetischer Erzähler
metadiegetisch-heterodiegetischer Erzähler
tertiärer nichtdiegetischer Erzähler
metadiegetisch-homodiegetischer Erzähler
tertiärer diegetischer Erzähler
Unsere Opposition diegetisch vs. nichtdiegetisch soll, wie bereits er wähnt, die traditionelle, aber problematische Dichotomie Ich-Erzähler vs. Er-Erzähler ersetzen. Es ist wenig sinnvoll, einer Typologie des Erzählers die Personalpronomina zugrunde zu legen , da jegliche Erzählung im Grunde von einem Ich ausgeht, selbst wenn die grammatische Person 34
Den diegetischen Erzähler könnte man "intradiegetisch" nennen, insofern er als erzähl tes Ich in der Diegesis vorkommt, und den nichtdiegetischen "extradiegetisch", da er auBerhalb der Diegesi s bleibt . Aber solche Benennung würde ein vollständiges Durch einander mit Genettes Terminologie verursachen, in der intra· und extra· andere S ach verhalte bezeichnen .
H.
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Die Instanzen des Erzählwerks
nicht ausgedrückt ist. Nicht die Personalform selbst, sondern ihre Refe renz ist das Entscheidende: Wenn sich das Ich nur auf den Erzähl akt be zieht, ist der Erzähler nichtdiegetisch, wenn sich das Ich mal auf den Er zähl akt und mal auf die erzählte Welt bezieht, ist er diegetisch: Typ des Erzählers
Bezug der ersten Person
nichtdiegetisch
Ich = Exegesis
diegetisch
Ich = Exegesis + Diegesis
Im nichtdiegetischen Erzählen können Formen der ersten Person durchaus fehlen . Das heißt nicht, dass der Erzähler völlig abwesend wäre. Er kann das Erzählte bewerten, kommentieren usw. , ohne sich selbst zu bezeichnen . Auch im diegetischen Erzählen kann die erste Person fehlen. Der diegeti sche Erzähler kann über sich selbst als eine dritte Person be richten und sich bei seinem Namen nennen, wie das Caesar im Bellum gallicum tut. In der russischen Literatur finden wir eine Reihe von Bei spielen für die "ichlose" diegetische Erzählung, die, wie im Falle v on Ivan Bunins Erzählung Am Ausgang der Tage (U istoka dnej), damit motiv iert ist, dass der Erzähler sein früheres Ich wie eine fremde Person betrachtet. In der autobiographischen Trilogie Chlynovsk. Meine Erzählung (Chly novsk. Moja povest' ) von Kuz'ma Petrov-Vodkin beschreibt der Erzähler sogar die ei gene Geburt (zu beiden Fällen vgl. N. Kozevnikova 1 994, 1 8). In Viktor Astaf' evs Ode auf den russischen Gemüsegarten (Oda russkomu ogorodu) wird das erzählende Ich mit der ersten Person, das erzähl te aber mit "der Junge" bezeichnet: Mein Gedächtnis, wirk noch einmal das Wunder, nimm mir von der Seele die Unruhe, die stumpfe Last der Müdigkeit, die die mürrische Stimmung und die giftige Süße der Einsamkeit erweckt hat. Und lass w iedererstehen - hörst du? - lass in mir den Jungen wiedererstehen, lass mich neben ihm zur Ruhe kommen und rein werden . [ . . . ] . . . in meine große Hand nehme ich das Händchen . des Jungen und quälend lange schaue ich auf ihn, den kurz geschorenen, sommersprossigen. War er wirklich ich und ich er? (V. P. Astaf' ev, Sobr. so� . v 4 t., Bd. 1 , M. 1 979, S. 442 f.)
Hier beginnt dann die autobiographische Erzählung des diegetischen Erzählers , die in der "Er-Form" gehalten ist: ;,Das Haus des Jungen stand mit dem Gesicht zum Auss [ . . . ]" (ebd.). . Ein besonderer Fall liegt vor, wenn der E�ähler, der anfangs nichtdie getisch zu sein schien, sich mit einem Mal als ein diegetischer erweist. In Vladimir Nabokovs Erzählung Schwerer Rauch (Tjazelyj dym), die zu-
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nächst von einem nichtdiegetischen Erzähler präsentiert zu werden scheint, verraten einzelne unmoti vierte, wie zufälli g vorkommende For men der ersten Person, dass der beschriebene "Jüngling mit dem Kneifer" niemand anderes ist als der Erzähler selbst: Als er aus dem Esszimmer trat, bemerkte er noch, wie sich der Vater mit dem ganzen Körper auf dem Stuhl der Wanduhr zuwandte mit einem Ausdruck, als hätte sie etwas gesagt, und wie er sich dann zurückzuwenden begann, aber hier schloss sich die Tür, und ich konnte es nicht zu Ende beobachten. (V. V. Nabokov , Izbr. proza, M. 1 996, S . 346)
Die umgekehrte Erscheinung kann man in Nabokovs Roman Das Auge (Sogljadataj) beobachten: Nach seinem "Selbstmord" bezeichnet der Er zähler mit der ersten Person ausschließlich das erzählende Ich, während das erzählte Ich, das überlebt hat , im weiteren nur noch als "Smurov" figuriert, dessen Identität mit dem Erzähler der Leser nicht sogleich erra ten wird. Den Extremfall eines diegetischen Erzählers , auf den es weder in der Diegesis noch in der Exegesis direkte Verweise gibt, bildet die Erzähl instanz in Alain Robbe-Grillets La Jalousie. Trotz radikaler Aussparung des erzählten Ich und vollständiger Abwesenheit jeglicher Selbstthemati sierung des erzählenden Ich entsteht der Eindruck, dass in diesem nou veau roman ein Eifersüchtiger von der möglichen Untreue seiner Ehefrau , ihrer möglichen Verbindung mit dem gemeinsamen Freund der Eheleute berichtet. Die Präsenz des erzählten Ich in der Diegesis wird ledi glich durch die Konstellation der scharf beobachteten Gegenstände angedeutet: Um den Tisch stehen drei Stühle, auf dem Tisch liegen drei Gedecke usw. Das erzählte Ich figuriert hier lediglich als derjenige, der den dri tten Platz am Tisch einnehmen kann. Und das erzählende Ich ist indiziert in dem extrem objektiven, technischen Blick auf die Gegenstände, deren übertrie ben und unfunktional genaue Erfassung von der unterdrückten Eifersucht des Beobachtenden zeugt. Ein solcher Erzähler, der seine Identität mit der erzählten Figur ka schiert, begegnet manchmal in Detekti verzählungen, in denen das erzäh lende Ich der Detektiv und das erzählte Ich der gesuchte Täter ist. In der Postmoderne dient die verschleierte diegetische Erzählung nicht selten dazu, die all gemeine Frage nach der Identität des Menschen aufzuwerfen. Eines der Muster ist Jorge Luis Borges ' Erzählung La forma de la espada, deren Erzähler eingesteht, dass er in Wirkl ichkeit selbst jener widerliche Denunziant ist, über den er sich bisher nur in der dritten Person und niit Verachtung geäußert hat (Genette 1 972, 255).
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Wenn die Personalfonnen als Kriterium für eine Typologie des Erzäh lers ausfallen, wohin gehört dann die Erzählung in der zweiten Person35, die in vielen Typologien als Variante der Ich-Erzählung erscheint (z. B . Füger 1 972, 27 1 )? Je nachdem, o b der Erzähler nur i n der Exegesis er scheint oder auch in der Di egesis, ist er ein nichtdiegetischer oder ein diegetischer. Betrachten wir ein bekanntes Bei spiel der Du-Erzählung, Lev Tolstojs Skizze Sevastopol ' im Dezember (Sevastopol ' v dekabre me sjace): Sie treten in den großen S aal der Versammlung. Kaum haben S ie die Tür geöffnet, be täubt Sie der Anblick und der Geruch von vierzig oder fünfzig Amputierten und Schwerstverwundeten, von denen die einen in Kojen, die meisten aber auf dem Boden liegen. Glauben Sie nicht dem Gefühl, das Sie auf der Schwelle des Saals aufhält, es ist ein schlechtes Gefühl, gehen S ie weiter, schämen Sie sich nicht, näher heranzutreten und mit ihnen zu sprechen. (L. N. Tol stoj, Poln . sobr. soi! . v 90 t., Bd. 4, S. 75)
Diesen Erzähler kann man sowohl als diegetisch als auch al s nichtdiegetisch auffassen. Wenn man das gegenwärtige "Sie" des fiktiven Lesers mit dem früheren Ich des Erzählers identifiziert, der unter der Maske der zweiten Person seine ei genen Eindrücke wiedergibt, wird man von einem diegetischen Erzähler ausgehen. Wenn man solche Identifizierung nicht vornimmt, wird man den Erzähler als nichtdiegetisch auffassen. Die Opposition diegetisch vs. nichtdiegetisch fällt nicht mit drei Dicho tomien zusammen, die ähnlich erscheinen und nicht selten mit ihr ver mengt werden: I . Die Opposition diegetisch vs. nichtdiegetisch unterscheidet sich kate gorial von der Dichotomie explizit vs. implizit. Den nichtdiegetischen Er zähler sollte man nicht mit dem i mpliziten identifizieren, wie das Padu ceva ( 1 996, 203) tut, die davon ausgeht, dass der nichtdiegetische (in ihrer Terminologie: "exegetische") Erzähler "ein Erzähler ist, der sich nicht selbst nennt" . Der nichtdiegetische Erzähler kann ausschließlich implizit dargestellt sein, und das ist sehr oft der Fall, aber er kann auch explizit fi gurieren, das heißt sich selbst als das erzählende Ich nennen und be schreiben. Zu Beginn des neuzeitlichen Erzählens dominierte in der rus sischen wie in der westeuropäischen Literatur der Typus des expliziten nichtdiegetischen Erzählers, der ausführlich über sich selbst sprach und sich an seine "verehrten" Leser wandte. Zu diesem Typ gehören fast alle ! ;
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Unterschiedliche Varianten der Erzählung in der zweiten Person mustern Korte 1 987 und Fludernik 1 993b; 1 994.
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Erzähler des Sentimentalisten Nikolaj Karamzin. Auf folgende Weise be ginnt die Erzählung Natal 'ja, die Bojarentochter (Natal 'ja, bojarskaja doc ' ): Wer von u n s liebt nicht jene Zeiten, als die Russen noch Russen waren, als sie sich i n i h r eigenes Gewand kleideten, ihren eigenen Gang gingen, nach ihrem eigenen Brauch lebten, ihre eigene Sprache und nach ihrem Herzen sprachen, das heißt: sprachen, wie sie dachten? Zumindest ich liebe diese Zeiten [ . ] (N. M. Karamzin, Izbr. proizv ., M. 1 966, S . 55) .
.
Der diegetische Erzähler ist anderseits nicht notwendigerweise expli zit, wie die oben angeführten Fälle diegetischer Erzählung in dritter Per son belegen. 2. Die Dichotomie diegetisch vs. nichtdiegetisch fällt nicht mit der Oppo sition persönlich vs. unpersönlich zusammen. Letztere wurde in die Dis kussion von Jürgen Petersen ( 1 977 , 176) eingebracht, der davon ausgeht, dass der "Er-Erzähler" sich vom "Ich-Erzähler" durch das prinzipielle Fehlen von "Personalität" unterscheidet (vgl . oben, S. 80). Ähnlich schreibt Stanzel ( 1 979, 1 1 9- 1 24) sowohl dem erzählenden als auch dem erzählten Ich im Ich-Roman eine besondere "Leiblichkeit" zu. Z� eifellos tendiert die- nichtdiegetische Erzählung seit dem Realismus zur Minimali sierung der Personalität des Erzählers, zu seiner Reduktion auf eine bloße Bewertungsposition, die sich nur durch ironische Akzente kundtut. Im v orrealistischen Erzählen dagegen ist der nichtdiegetische Erzähler in der Regel mit persönlichen Zügen ausgestattet. B ei spiele dafür finden wir wieder in den Erzählungen Karamzins. Betrachten wir den Beginn der Armen Liza (Bednaja Liza), wo ein Erzähler auftritt, der sich als empfind samen Wanderer und Naturliebhaber charakterisiert: Vielleicht kennt keiner der Bewohner Moskaus die Umgebung dieser Stadt so gut wie ich, weil niemand häufiger als ich auf den Feldern weilt, niemand mehr als ich zu Fuß wandelt, ohne Plan, ohne Ziel , wohin die Augen schauen, über die Auen und Haine, über die Hügel und Fluren. Jeden Sommer finde ich neue und angenehme Orte oder in alten neue S chönheiten. [ . . . ] Aber am angenehmsten ist für mich jener Ort, auf dem sich die düsteren gotischen Türme des S . . . -Klosters erheben . (N. M. Karamzin , Soi!. v 2 t., Bd. I , L. 1 984, S. 506)
Auf der anderen Seite ist der diegetische Erzähler als erzählendes Ich nicht notwendig persönlicher, subjekti ver als der nichtdiegetische. Auch der diegetische Erzähler kann auf eine unpersönliche Stimme reduziert sein, wenn der Schwerpunkt auf dem erzählten Ich liegt.
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11. Die Instanzen des Erzähl werks
3. Die vorgeschlagenen Differenzierungen berühren nicht das Problem der Perspekti ve. Die Vermengung zweier Kategorien , der Teilhabe des Er zählers an der Diegesis und der Perspektive, ist ein in den geläufigen Ty pologien häufi g begegnender Fehler. Das bekannteste Beispiel ist Stanzeis ( 1 964; 1 979) "Typenkreis der Erzählsituationen", in dem der "auk tori alen" und "personalen" "Erzähl situation" als dritte die "Ich-Erzählsi tuation" beigesell t wird. Während sich die beiden ersten Erzählsituationen durch die Perspektive unterscheiden, ist die dritte ausschließlich durch die Präsenz des Erzählers in der erzählten Geschichte definiert. Ungeachtet der zahlreichen Einwände gegen seine Systematik (z. B . Leibfried 1 970, 246; Schmid 1 973 , 28 ; Cohn 1 98 1 ; Petersen 1 98 1 ; Breuer 1 998) hat Stan zel nie das Argument akzeptiert, dass er zwei Kriterien vermische und dass auch für die "Ich-Erzählsituation" zwei Perspekti ven zu unterschei den seien, eine "auktoriale" und eine "personale". h) Exkurs: Dostoevskijs Schwanken zwischen diegetischem und nichtdiegetischem Erzähler im "Jüngling" Während Käte Hamburger die Opposi tion diegetisch vs. nichtdiegetisch zur Grundlage ihrer eigenwilJigen Gattungstheorie macht, zweifeln man che Narratologen an ihrer Relevanz. Wayne Booth ( 1 96 1 , 1 50) etwa hält diese Dichotomie für überstrapaziert. Dem widerspricht allerdings die lite rarische Praxis. Stanzel ( 1 979, 1 14- 1 1 6) führt Beispiele an, in denen Au toren aufgrund bestimmter künstlerischer Ü berlegungen einen schon be gonnenen Roman von der einen Form in die andere umschrieben , von der nichtdiegeii schen in die diegetische (Gottfried Kellers Grüner Heinrich) und umgekehrt, von der diegetischen in die nichtdiegetische (Franz Kaf kas Schloss). In diesem Zusammenhang sind die Notizbücher Dostoevskijs zu sei nem Roman Der Jüngling aufschlussreich. Ursprünglich hatte Dostoevskij den Roman mit einem nichtdiegetischen Erzähler und mit "IHM" (d . i. Versilov , dem natürlichen Vater des Jünglings) als Haupthelden konzi piert. Jedoch notiert der Autor am 1 1 .7. 1 874: Der HELD ist nicht ER. sondern der JUNGE. Die Geschichte des Jungen : wie er angekommen ist, auf wen er gestoßen ist, für wel che Tätigkeit man ihn bestimmt hat. Er hat sich angewöhnt, zum Professor zu gehen, phantasiert von der Universität; die Idee schwerreich zu werden. (P. M. Dostoev skij, Poln. sobr. so� . v 30 t., Bd . 1 6, S . 24)
4. Der fiktive Erzähler
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In der Aufzeichnung vom 1 2.8. findet Dostoevskij eine "WICHTIGE LÖS UNG DER AUFGABE" : "In der ersten Person schreiben. Mit dem Wort , Ich' beginnen" (ebd., S. 47) und skizziert den Titel des Romans: DER J()NGLING . BEICHTE EINES GROSSEN S Ü NDERS, GESCHRIEBEN NUR F ÜR SICH SELBST. (Ebd., S. 48)
In diesem Zusammenhang macht der Autor eine Bemerkung zur notwendigerweise begrenzten Kompetenz des jugendlichen Erzählers: Dem Jüngling sind als Grii nschnabel die Ereignisse, die Fakten, die die Fabel des Ro mans bilden , nicht zugänglich (sie eröffnen sich ihm nicht und werden ihm nicht eröff net). So dass er über er sie seine Mutmaßungen anstellt und sie selbst erschließt. Was sich in seiner ganzen Erzählweise äußert (zur Überraschung des Lesers). (Ebd., S . 4 8 f. )
Nach einer Woche bekräftigt Dostoevskij : "Die Hauptsache. NB. Der Jüngling erzählt in der ersten Person. Ich. Ich" (S. 56). Die Frage ist jedoch noch nicht endgültig entschieden. An diesem sel ben Tag ( 15 .8 . ) erwägt der Autor noch einmal die Möglichkeit, trotzdem in der dritten Person zu schreiben: Wenn ich nicht in der ersten Person des Jünglings schreibe (Ich) , so muss ich eine sol che Erzählweise schaffen, dass ich mich ganz eng an den Jüngling als den Helden hal te . . . so dass . . . alle Personen nur in dem Maße beschrieben werden, wie sie allmählich den Jünglillg betreffen . Schön lauin das ausfallen . (S . 60)
Erneut zur Idee eines Romans "in der ersten Person" zurückkehrend, zählt Dostoevskij am 26.8. die Vorteil e dieser Technik auf: Eine Erzählung in der ersten Person überdenken. Viele Vorteile; viel Frische. Die Per son des Jünglings tritt typischer hervor. Netter. Ich komme besser mit der Person, mit der Persönlichkeit, mit dem Wesen der Persönlichkeit zurecht. [ . . . ] Und man kann schneller und gedrängter erzählen. Naivitäten. Den Leser dazu bringen, den Jüngling lieb zu gewinnen. Man wird ihn lieb gewinnen und den Roman dann lesen . Gelingt der Jüngling nicht als Person, gelingt der ganze Roman nicht. Aufgabe: alle Pros und Contras abwägen. AUFGABE. (S . 86)
Diese Notizen belegen, welche Bedeutung der Autor der zentralen Per sönlichkeit als dem den ganzen Roman organisierenden Prinzip beimaß. In diesem Zusammenhang spricht Johannes Holthusen ( 1 969, 1 3 ) von der "personalistischen Konzeption" des Romanhelden bei Dostoevskij. Am 2.9. resümiert Dostoevskij die Pros und Contras. Wie um sich selbst zu überzeugen, zählt er alle Vorteile der ersten Person auf, macht sich aber auch die Risiken dieser Technik bewusst:
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11.
Die Instanzen des Erzählwerks
In der ersten Person ist es origineller, und es ist mehr Liebe, mehr Kunst erforderlich, und es ist schrecklich kühn, und es ist kürzer, und die Komposition ist leichter, und der Charakter des Jünglings als der Hauptperson wird klarer, und der S inn der Idee, der dem Roman zugrunde liegt, ist offensichtlicher. Aber wird diese Originalität dem Le ser nicht lästig werden ? Wird dieses Ich den Leser 35 Druckbögen hindurch tragen ? Und das Wichtigste, die Hauptideen des Romans, können sie natürlich und vollständig durch einen zwanzigjährigen Schriftsteller zum Ausdruck gebracht werden? (S . 98)
Die zuletzt genannten Zweifel implizieren aber auch, dass der diegetische Erzähler eine gewisse philosophische Entlastung bedeutete: Wenn in der Ich-Form, braucht man sich nicht so sehr auf die Entwicklung der Ideen einzulassen, die der junge Mann natürlich nicht so wiedergeben kann, wie sie geäußert wurden. Er gibt vielmehr nur den Kern der Sache wieder. (S . 98)
Die Entscheidung Dostoevskijs zugunsten des diegetischen Erzählers war also das Ergebnis langer Ü berlegungen. Dabei stand im Vorde�grund die Frage , wie die beiden Darbietungsweisen , die zur Wahl standen, so wohl die Lebendigkeit des Erzählens förderten als auch die Vermittlung von Ideen ermöglichten. i) Typen des diegetischen Erzählers Das erzählte Ich kann in der Diegesis in unterschiedlichem Maße präsent sein und an der Geschichte in unterschiedlicher Funktion teilhaben. Ge nette ( 1 972, 253 f.) unterscheidet zwei Stufen der Präsenz und Funktion, wobei er voraussetzt, dass der "Erzähler" (eigentlich: das erzählte Ich) nicht ein gewöhnlicher Statist sein könne. Die Figur der erzählten Welt kann nach Genette entweder Hauptheld sein (dann handelt es sich um einen "autodiegetischen" Erzähler, Beispiel ist Gil Blas von Lesage) oder Beobachter und Zeuge (Doctor Watson bei Conan-Doyle). Susan Lanser ( 1 98 1 , 1 60), die Genettes Terminologie folgt, hat ein detaillierteres Sche ma vorgelegt, das fünf Stufen der Partizipation an der Diegesis und der Entfernung vom "heterodiegetischen" (d. h. nichtdiegetischen) Erzähler vorsieht. Dieses Schema ist nicht nur theoretisch akzeptabel , sondern er weist seine Tauglichkeit auch in der Analysepraxis. Bei Übersetzung der Genetteschen Termini erhalten wir folgendes Schema (vgl. auch Jahn/Nünning 1 994, 293 , MartinezlScheffel 1 999, 82):
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4. Der fiktive Erzähler
diegetischer Erzähler
nichtdiegetischer Erzähler
2 I:
Erzähler, der nicht an der erzählten Geschichte teilhat 2: An der Geschichte unbeteiligter Beob achter 3 : Beobachter, der an der Geschichte teilhat
•
•
•
•
3
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5
6
4: Nebenfigur 5: Eine der Hauptfiguren 6: Hauptfigur
Typ 2: Ein Beispiel für den unbeteiligten Beobachter ist das erzählte Ich des Erzählers der Brüder Karamazov. Der anonyme Chronist, der von Ereignissen berichtet, die sich vor dreizehn Jahren in "unserm" Landkreis zugetragen haben, besitzt, obwohl er damals in der erzählten Welt präsent war, keinerlei diegetische Bedeutung. Wenn "der Autor direkte Introspek tion in das Bewusstsein der Personen benötigt - und das ist nicht selten der Fall, man denke nur an Ivan Karamazovs Halluzinationen - s<;> ersetzt er den in seinem Horizont begrenzten Chronisten durch einen allwissen den und ubiquitären nichtdiegetischen Erzähler (siehe oben, II.4.a). Typ 3: Ein Beispiel ist der Erzähler der Dämonen (Besy), der Chronist Anton Lavrent'evic G-v , der sich anschickt, "die merkwürdigen Ereignis se zu beschreiben, die sich unlängst in unserer bislang durch nichts aufge fallenen Stadt zugetragen haben". Dieses Vorhaben setzt die Rekon struktion der eigenen Wahrnehmungen und die Sammlung a11 jener "har ten" Fakten voraus, die er allgemein verbreiteten Gerüchten und den wi dersprüchlichen Aussagen von Augenzeugen entnehmen konnte. Dabei liegt der Akzent eher auf dem erzählenden als auf dem erzählten Ich. Di e diegetische Existenz dieses Chronisten dient in erster Linie der Motivie rung der schwierigen Rekonstruktion des Vorgefallenen. Typ 4: Eine Nebenfigur, die als diegetischer Erzähler auftritt, ist im Kapi tel "Be ' la" des Romans Ein Held unserer Zeit von Michail Lermontov auf zweifache Weise realisiert. Sowohl in der primären Erzählung des ano nymen Reisenden als auch in der sekundären Erzählung Maksim Maksi mycs steht im Mittelpunkt nicht das jeweilige erzählte Ich, sondern der rätselhafte Pecorin, der in diesem ersten Kapitel des Romans durch ein zweifaches Prisma wahrgenommen wird.
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H.
Die Instanzen des Erzählwerks
Typ 5: Ein erzähltes Ich als eine der Hauptfi guren begegnet in Puskins Er zählungen Der Stationsaujseher und Der Schuss (Vystrel). Der Rei sende der ersten Erzählung spielt im Leben der bei den Helden , Samson Vyrins und seiner Tochter Dunja, eine etwas zweifelhafte Rolle, insofern er zwei mal der "erste" ist. Aus seiner Hand empfängt Vyrin , der sich später zu Tode trinken wird, das erste Glas Punsch (das erste Glas - versteht sich im Rahmen der Geschichte), und bei der zweiten B egegnung löst der Rei sende dem wortkargen Vater die Zunge mit Hilfe des Rums . Außerdem tritt das erzählte Ich des Reisenden (wiederum in der Diegesis) als erster Verführer auf, der Dunja einen Kuss gibt (oder als erster Mann, der in ihr die Verführerin weckt). Auch im Schuss spielt das erzählte Ich eine wich tige diegetische Rolle: Es ist der Gesprächspartner der beiden Duellanten und erliegt in unterschiedlichen Lebenssituationen der Bewunderung für sie. Während der unerfahrene junge Mann im ersten Kapitel von der Ro mantizität Sil ' vios tief beeindruckt ist, verspürt er fünf Jahre später, er wachsen geworden und als Erbe eines heruntergekommenen Gutes ein bescheidenes, einsames Leben führend, Ä ngstlichkeit vor dem Reichtum des Grafen und Schüchternheit angesichts der Schönheit seiner Frau . Typ 6: Das erzähl te Ich als Hauptfigur liegt in Dostoevskijs Jüngling vor, wo Arkadij Dolgorukij die zentrale Figur der Diegesis ist. Diese Typologie kann natürlich nicht alle denkbaren und belegbaren Rea lisierungen eines erzählten Ich erfassen. Welchem Typ soll man etwa Karamzin:Arme Liza zuordnen? Lizas Geschichte wird erzählt von einem stark markierten, subjektiven, persönlichen, aber dabei allwissenden , in die geheimsten Gedanken und Gefühle seiner Helden eindringenden Nar rator, der in der Diegesis , die sich vor dreißig Jahren abgespielt hat, nicht präsent gewesen ist. Am Ende seiner Erzählung aber, wenn er die Nach geschichte nach dem Tode Lizas präsentiert, teilt er mit, dass ihm Erast ein Jahr vor seinem Tode "diese Geschichte" erzählt habe. Der Erzähler geht also in die Diegesis an ihrer äußersten Peripherie, nur im Rahmen der Nachgeschichte ein. All ein die späte Begegnung mit Erast, die lediglich das Wissen des Erzählers motivieren soll (was sie schwerlich leisten kann), macht den Erzähler allerdings noch nicht zu einem diegetischen in Bezug auf Lizas Geschichte.
4. Der fiktive Erzähler
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j) Erzählendes und erzähltes Ich Von allen Typen des erzählten Ich begegnet der Typ 6 wohl am häufig sten. Das klassische autobiographische Erzählen gestaltet einen großen zeitlichen Abstand zwischen erzählendem und erzähltem Ich. Dabei sind diese Instanzen als funktionale Manifestationen einer psychophysisch identischen Person fingiert. Die Muster des autobiographischen Romans, die Confessiones des Augustinus, der Simplicissimus Gri mmelshausens und , aus der neueren Literatur, Thomas Manns Bekenntnisse des Hoch staplers Felix Krull setzen nicht nur eine zeitliche, sondern auch eine ethi sche und psychologische Distanz zwischen einem irrenden, sündigen jun gen Menschen und einem stark veränderten, reumütigen Erzähler voraus, der seine Jugendsünden als frommer Mensch, weltflüchti ger Einsiedler oder Gefängnisinsasse beschreibt. "Recordari volo transactas foeditates meas et carnales corruptiones animae meae, non quod eas amem, sed ut amem te, deus meus" 36, mit diesen Worten eröffnet Augustinus seine Kon fessionen. Eine bemerkenswerte Variante des autobiographischen Romans liegt in Dostoevskijs Jüngling vor. Der zwanzi gjähri ge Arkadij Dol gorl!kij be richtet im Mai eines nicht genannten Jahres von den Abenteuern , die er vom 1 9. September bis Mitte Dezember des vorhergehenden Jahres erlebt hat. Die vielen Jahre, die gewöhnlich das erzählende vom erzählten Ich trennen, sind hier auf weni ge Monate reduzie� , in denen sich das Ich ent wickel t. Der Erzähler unterscheidet sich in vielem von seinem früheren Ich, jedoch übertreibt er ein wenig die Reifung , die stattgefunden hat, offensichtlich in dem Wunsch, mi t den Naivitäten des vergangenen Jahres nicht mehr identifiziert zu werden. Auch das neunzehnjährige erzählte und das zwanzigjährige erzählende Ich machen eine unverkennbare Entwick lung durch, wofür der Text in Diegesis und Exegesis unübersehbare An zeichen enthält: Nach dem 1 9. September gibt der Jüngling den Plan , ein Rothschild zu werden, allmählich auf (Entwicklung in der Diegesis) , und der zu Anfang des Romans gerei zte Ton des Erzählers weicht einer gelas seneren Erzählweise; nach amänglicher Polemik mit dem Leser versöhnt sich Arkadij mit ihm (Entwicklung in der Exegesis). Solche Dynamisie rung des Ich auf der Ebene der Diegesis (vom 1 9. September bis Mitte Dezember), der Exegesis (Mitte Mai) und in der Zwischenzeit (Dezember bis Mai) ist dadurch motiviert, dass der Autor ein Al ter gewählt hat, in 36
"Ins Gedächtnis will ich mir rufen meine abstoßenden Taten und die fleischliche Ver derbnis meiner Seele, nicht weil ich sie liebte, sondern um Dich zu lieben, mein Gott."
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11.
Die Instanzen des Erzählwerks
dem der Mensch gewöhnlich seine Ansichten schnell ändert. Bezeichnen derweise verwarf Dostoevskij den ursprünglichen Plan, zwischen Erleben und Erzählen einen Abstand von v ier Jahren zu legen . Das autobiographische Erzählen zeichnet sich durch die Tendenz zu einer gewissen Stilisierung des "früheren" Ich aus. Solche Stilisierung äußert sich gar nicht so sehr in einer Beschönigung des früheren Ver haltens als vielmehr in einer verschlimmernden Präsentation. Die psy chologische Logik der pejorativen Selbststilisierung hat Dostoevskij bloß gelegt. Am Ende des ersten Kapitels der Aufzeichnungen aus dem Keller loch gesteht der Erzähler seinem Gegenüber: [ ] jetzt will ich gerade ausprobieren, ob man wenigstens sich selbst gegenüber ganz aufrichtig sein kann, ohne vor der vollen Wahrheit zurückzuschrecken. A propos: Hei ne behauptet, dass wahrheitsgetreue Autobiographien fast unmöglich sei en , weil der Mensch über sich selbst die Unwahrheit sagen werde. Nach seiner Auffassung hat Rousseau, zum Beispiel , in seiner Beichte unbedingt über sich gelogen, bewusst gelo gen, aus Eitelkeit. Ich bin davon überzeugt, dass Heine recht hat; ich verstehe sehr gut, wie man sich manchmal einzig und allein aus Eitelkeit ganzer Verbrechen anschwär zen kann, und ich begreife auch sehr gut, welcher Art diese Eitelkeit sein kann. (F. M. Dostoevskij, Poln. sobr. so�. v 30 t. , Bd. 5, S . 1 22) . . .
Obwohl wir als Leser im (quasi-)autobiographischen Erzählwerk na türlich ständig die Einheit eines erzählenden Ich mit seinem "früheren" Selbst konstruieren , wird die psychophysische Identität von erzählendem und erzähltem Ich manchmal durchaus problematisch. So konstatiert Wolfgang Kayser ( 1 956, 233 ; 1 958, 209): "Der Ich-Erzähler eines Ro mans ist nicht die geradlinige Fortsetzung der erzählten Figur". Anlässlich von Thomas Manns Schelmenroman warnt er den Leser vor einer vor behaltlosen Identifizierung des jungen Krull mit dem alten Erzähler. An Herman Melvilles Moby Dick demonstriert er die unüberwindbare Kluft zwi schen dem einfachen Matrosen, als der das erzählte Ich fi guriert, und dem gebildeten erzählenden Ich, das im übrigen die geheimen Gespräche und Gedanken dritter Personen wiedergibt, die dem Matrosen absolut unzugänglich waren. Kayser bezweifelt zu recht die Selbstverständlich keit, mit der die psychophysische Einheit von erzählendem und erzähltem Ich postuliert wird. Mit der Veränderung der Sicht auf die Welt setzt sich das als kompakt und einheitlich fingierte Ich einer gewissen Diffusion aus. Das erzählende Ich kann sich dann zum erzählten Ich wie zu einem fremden Menschen verhaltenJ7• 37
i
Gegen Kaysers Bemerkung hat übrigens seine ganze Karriere hindurch Stanzei polemi siert (zuletzt 1 979, 1 1 1 f.). Er spricht sich vehement für die Einheit des Ich aus, mit gu-
5 . Der fi kti v e Leser
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Die Einheit von erzähltem und erzählendem Ich wird häufi g durch die Kompetenz des letzteren in Frage gestellt. In vielen diegetischen Erzäh lungen beobachten wir, dass das erzählende Ich über den Hori zont und die Kompetenz des erzählten Ich weit hinausgeht, ja manchmal sogar über die Grenzen dessen , was einem Menschen überhaupt möglich ist, deutlich überschreitet. Eine extreme Überstrapazierung der diegetischen Motivie rung mutet uns der Roman des tschechischen Prosaautors BohumiI Hrabal Scharf bewachte Züge (Ostre sledovane vlaky) zu. Der diegetische Erzäh ler berichtet hier von Erei gnissen, in deren Verlauf er selbst, d. h. sein früheres erzähltes Ich, umgekommen ist. Solche Grenzüberschrei tungen zeigen die al lgemeine Tendenz der diegetischen Erzählung , gewisse Li zenzen der nichtdiegetischen Erzählung zu übernehmen . Die Narratologie sollte sich dem Problem des diegetischen Erzählers unter funktionalem Aspekt nähern. Erzählendes und erzähltes Ich sollten als zwei funktional zu unterscheidende Instanzen betrachten werden, als Narrator (Träger der Narratio) und Aktor (d. h. Träger der Actio), zwi schen denen eine mehr oder weni ger konventionelle psychophysische Verbindung fingiert ist. Unter funktionalem Aspekt verhält sich das erzäh lende Ich zum erzählten so wie im nichtdiegetischen Werk der ,Erzähler zur Person. Diese Korrelation wird in fol gendem Schema illustriert:
ErzählinstallZ
=
Narrator
halldelllde InstallZ
=
Aktor
nichtdiegetische Erzählullg
diegetische Erzählullg
Erzähler
erzählendes Ich
Person
erzähltes Ich
tem Grund, denn sonst müßte er auch die "Ich-Erzählsituation" in "auktorial" und "per sonal" aufspalten, womit er um seinen triadischen ,Rosenkranz' gebracht wäre. In der selben Publikation aber verweist er an anderer Stelle ( 1 979, 27 1 ) selbst auf die "Ent fremdung" zwischen den Instanzen. So konstatiert er, dass in Moll Flanders der Ein druck entstehe, als hätte Daniel Defoe "das erlebende Ich der Moll F1anders zusammen mit den Reflexionen eines fremden auktorialen Ich in das Joch einer einzigen Person gespannt".
1 00
11.
Die
Instanzen des Erzähl werks
5. Der fikti ve Leser
Der fikti ve Leser (narrataire, narratee, narratator8) ist der Adressat des fiktiven Erzählers, jene Instanz, an die er seine Erzählung richtet. Die Bezeichnung fiktiver Leser ist nicht ganz zutreffend, nicht aber etwa aus dem Grund, dass diese Instanz häufig eher als Hörer denn als Leser vorge stellt wird , sondern weil sie nur das unterstell te Bild des Adressaten ist. Richtiger wäre es deshalb, vom fiktiven Adressaten zu sprechen. a) Fiktiver Adressat und fiktiver Rezipient Der fikti ve Leser als Adressat einer sekundären Erzählung (d.' h. einer Binnengeschichte) fällt, wie es scheint, mit einer der Figuren der primären Erzählung (der Rahmengeschichte) zusammen. So scheint in Pusvkins Stationsaufseher der sentimentale Reisende, dem der verlassene Titelheld die Geschichte seiner entführten Dunja erzählt, der somit als sekundärer fiktiver Adressat fungiert, mit dem erzählten Ich, also mit dem Aktor der primären Erzählung zusammenzufallen. Aber die Gleichung fiktiver Ad ressat der sekundären Erzählung = Fi gur in der primären Erzählung, eine Gleichung, die vielen Abhandlungen zu dieser Instanz zugrunde liegt (vgl . Genette 1 972 ; 1 983), vereinfacht den Sachverhalt auf unzulässige Weise. Der fiktive Adressat ist nichts anderes als das Schema der Erwartungen und Vorannahmen des Erzählers und kann deshalb funktional nicht mit jener Figur zusammenfallen , die in der primären Geschichte als Rezipient figuriert und durch den primären Erzähler in bestimmten Merkmalen kon kretisiert wird. Das Bild des Adressaten, an den sich der die Geschichte seiner Tochter erzählende Samson Vyrin wendet, fällt nicht mit dem Bild des fi kti ven Rezipienten, d. h. des empfindsamen Rei senden, zusammen, der als erzähltes Ich die Geschichte hört und viele Jahre später, als erzäh lendes Ich, von den drei Begegnungen auf der russischen Poststation be richten wird. Der Stationsaufseher kann von der Nei gung seines Zuhörers zu sentimentalen Schablonen nichts wissen, von der Literatur des Senti mentalismus wird er nicht einmal eine Ahnung haben, und wenn er das 38
Zum englischen Begriff des narratee vgl. Jlrince 1 97 1 ; 1 98 5 ; zum französischen lIarra ta ire Genette ( 1 972, 226) und Prince 1 973a. Zum e rstenmal hat die Dichotomie 7larra teur - lIarrataire (in A nalogie zu destinateur - dest inataire) Roland Barthes ( 1 966, 1 0) gebraucht. Im Russischen ist rur diese Instanz der Begriff narratator geprägt worden (lI ' in 1 996d).
5.
101
Der fiktive Leser
traurige Los seiner "armen Dunja" beweint, so erscheint die Allusion auf Karamzins Arme Liza lediglich im Horizont des sentimentalen Reisenden. M it fiktiver Leser (narrataire, narratee oder narratator) ist also der fikti ve Adressat gemeint, nicht aber der fiktive Rezipient. Der fiktive Adressat ist als solcher immer nur eine Projektion des jeweili gen Erzählers39• Von einem fiktiven Rezipienten zu sprechen, ist nur dann sinnvoll , wenn ein sekundärer Erzähler sich an einen Leser oder Hörer wendet, der als lesen de oder hörende Figur in einer primären Geschichte vorkommt. Mit die sem fiktiven Rezipienten (der Fi gur in der primären Geschichte) fäl lt der sekundäre fiktive Adressat nur material, nicht aber funktional zusammen , weil Adressat-Sein und Rezipient-Sein unterschiedliche Funktionen sind. Diese Verhältnisse seien am Beispiel des Stationsaufsehers in folgen dem Schema dargestellt: Ebene
Narrator
Aktor
primäre Reiseschri ftstelErzählung ler als erzählendes Ich
1 . Sentimentaler Reisender als erzähltes Ich 2. Vyrin 3. Dunja u.a.
sekundäre Vyrin als erzähErzählung lendes Ich
l.
Vyrin als erzähltes Ich 2. Dunja u.a.
Rezipient
Adressat außerdiegetischer Adressat des Reiseschriftstellers
0
Reisender in der Vorstellung Vyrins
Sentimentaler Reisender als erzähltes Ich der primären Erzählung
Wenn ein sekundärer Erzähler einen Dialog mit seinem Gegenüber führt, ist es wichti g zu unterscheiden, ob der Gesprächspartner lediglich imaginiert ist oder als unabhängige, autonome Person i n der primären Ge schichte existiert. Nur im zweiten Fall, wenn das Gegenüber über Autono mie und Alterität v erfügt, handelt es sich um einen echten Dialog. Im ersten Fall haben wir es dagegen mit einem inszenierten dialogischen Mo nolog zu tun (siehe dazu unten , II.5.e).
39
Deshalb kann ich auch nicht der von Alice Jedli�kova ( 1 993) getroffenen Unter dung zwischen "fiktivem" und "projiziertem" Adressaten zustimmen.
��ei
1 02
H. Die Instanzen des Erzählwerks
b) Fiktiver und abstrakter Leser Der fiktive Leser ist vor dem französischen Strukturalismus schon in der polnischen Narratologie beschrieben worden. So hat Maria l a siriska ( 1 965 , 2 1 5 -25 1 ) zwischen "realem" und "epischem" Leser unterschieden, wobei die erste Instanz dem realen Leser und die zweite dem fiktiven Leser entspricht. Di e Unterscheidung zwischen abstraktem und fiktivem Leser ist von M ichal Glowiriski ( 1 967) vorweggenommen worden, wenn er einem "Rezipienten im weiteren Sinne" einen "Rezipienten im engeren Sinne" gegenüberstellt. In ihrem Fünf-Ebenen-Modell der Rollen in der li terarischen Kommunikation ordnet Alexandra Okopieri-Slawiriska ( 1 97 1 , , 1 25 ; s. o., S . 53) dem "Autor" den "konkreten Leser" zu, dem "Sender des Werks" den mit dem "idealen Leser" identifizierten "Rezipienten des Werks" und dem Erzähler den "Adressaten der Erzählung". Selbst in theoretischen Arbeiten beobachten wir nicht nur eine Vermi schung des fiktiven und des abstrakten Lesers, sondern auch den pro grammatischen Verzicht auf diese Unterscheidung. Wie schon oben (S. 68) angemerkt, identifizieren Genette ( 1 972, 267) und mit ihm auch Shlo mit Rimmon ( 1 976, 5 5 , 58) den narrataire extradiegetique mit dem lec teur virtuel oder implique, was Genette sogar für eine willkommene Spar maßnahme hält. Mieke BaI ( 1 977a, 1 7) nennt die von Schmid ( 1 973 , 2325 , 3 3 -36) vorgenommene Unterscheidung zwischen abstraktem und fik ti vem Leser "semiotisch insignifikant". Unter Berufung auf Michael Too lan ( 1 988), erklärt Elena Paduceva ( 1 996, 2 1 6), dass es an solcher Doppe lung keinen Bedarf gebe: "Der Adressat des Erzählers ist in der kommu nikativen Situation der Erzählung nicht ein Stellvertreter des Lesers, son dern der Leser selbst". Indes sollte man, wie wir oben bereits festgestellt haben, den fiktiven Leser konsequent vom abstrakten scheiden. Der abstrakte Leser ist der unterstellte Adressat (oder der ideale Rezipient) des Autors, der fiktive Leser der Adressat des Erzählers. Die intratextuellen Leser werden oft mit "Rollen" verglichen, in die der konkrete Leser schlüpfen könne oder solle. Aber der abstrakte Leser ist als unterstellter Adressat oder gewünschter Rezipient in den mei sten Fällen nicht al s Schauspieler entwOlfen , sondern als Zuschauer oder Hörer der zwischen den fiktiven Instanzen Erzähler und Adressat (bzw. Rezi pient) ablaufenden Kommunikation. Betracbten wir z. B . die Abschieds worte Rudyj Pan' kos, des Erzählers der Vorwörter zu Nikolaj Gogol ' s
5 . Der fiktive Leser
1 03
Abenden auf dem Vorwerk bei Dikan 'ka (Vecera na chutore bliz Di kan' ki): Ich habe Ihnen, erinnere ich mich, versprochen, dass i n diesem Büchlein auch mein Märchen sein wird. Und ich wollte das auch wirklich machen, dann sah ich aber, dass für mein Märchen mindestens drei solche Büchlein nötig sind. Ich wollte es zuerst ge sondert drucken, habe es mir dann aber anders überlegt. Ich kenne Sie doch: Sie wer den über den Alten lachen. Nein, ich will nicht! Leben Sie wohl! Wir werden uns lan ge nicht mehr sehen, vielleicht überhaupt nicht mehr. Und was macht das aus ? Ihnen ist es doch sowieso gleichgültig, selbst wenn es mich auf der Welt gar nicht gäbe. Es vergeht ein Jahr, ein zweites, und von Ihnen wird sich niemand mehr an den alten Ru dyj Pan 'ko erinnern und ihm nachtrauern. (N. V. Gogol ' , Sobr. soi!. v 7 t., Bd. I , M. 1 966, S. 108)
Die Rolle dieses hochnäsigen, gefühllosen Menschen , der über den al ten Erzähler lacht und ohne Bedauern von ihm scheidet, wird der konkrete Leser nicht übernehmen wollen, und sie ist auch für den abstrakten Leser weder unterstell t noch vorgesehen. Wie man weiß, schrieb Gogol ' für ein Publikum, das auf den "kleinrussischen" Geschmack gekommen war und Volkserzählungen wie die mit ihnen verbundene Skaz-Manier höchst gou tierte. Problematisch ist auch die sprachhandlungstheoretische Beschreibung, die Frank Zipfel (200 1 , 277) dem für die Fiktion als konstitutiv angenom menen "make-believe-Spiels" gibt: "Der empirische Leser versetzt sich in die Position des fiktiven Adressaten und nimmt den Erzähl-Text innerhalb der fiktiven internen Sprachhandlungssituation sozusagen als faktualen Text auf." Zipfel konzediert zwar, dass der "empirische Leser" sich der Positionsverschiebung bewusst sein könne und dass die "Spannung zwi schen Mitspielen und Beobachten des Spiels" "integraler Bestandteil der Fiktions-Rezeption und Teil des fiktionsspezifischen Vergnügens an der Rezeption fiktionaler Texte" sei (278) , vernachlässigt aber das Darge stelltsein des fiktiven Lesers , der nicht mehr ein Identifikationsangebot verkörpert als die übri gen Instanzen und den es genauso wie diese zu nächst zu beobachten gilt. c) Explizite und i mplizite Darstellung des fiktiven Lesers Der fiktive Leser kann, wie auch der fiktive Erzähler, auf zwei Weisen dargestellt sein, explizit und implizit. Die explizite Darstellung geschieht mit Hilfe der Pronomina und gram matischen Formen der zwei ten Person oder der bekannten Anredeformeln
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11. Die Instanzen des Erzählwerks
wie "der geneigte Leser" usw . 40 Das auf diese Weise geschaffene Leser bild kann mit mehr oder weni ger konkreten Zügen ausgestattet sein. Be trachten wir dazu Puskins Versroman Evgenij Onegin. Wenn der Erzähler, der unterschiedliche Identitäten annimmt, als Autor auftritt, so wird sein Adressat zum Kenner der zeitgenössischen russischen Literatur und zum Anhänger Puskins: Ihr Freunde von Ruslans Geschichten Könnt auf Prologe wohl verzichten; Gestattet, dass ich euch schon hier Mit meinem Helden konfrontier (I, 2)4 1
Held, Erzähler und fiktiver Leser sind durch den Topos Petersburg ver bunden: Mein Freund Onegin war geboren An den Gestaden der Neva, Mein Leser stammt wohl auch von da Oder erwarb sich dort die Sporen; Dort hab auch ich geliebt, gezecht: Doch mir bekommt der Norden schlecht. (I,
2).
Gel egentlich verwendet der Erzähler die erste Person Plural , um zu un terstreichen, dass er mit dem Adressaten Milieu und Erfahrung teilt: Ein bisschen lernten wir ja alle Wohl irgendwas und ungefähr, So ist, gottlob, in unserm Falle Mit Bildung glänzen gar nicht schwer. (1, 5)
Die Gegenwart des fiktiven Lesers wird durch antizipierte Fragen akti viert: Na und Onegin ? Ja, natürlich ! Nur, Brüder, habt Geduld mit mir: Sogleich beschreib ich euch ausführlich Den Ablauf seines Tages hier. (IV, 36 f.)
Die implizite Darstellung des fiktiven Lesers operiert mit denselben in dizialen Zeichen wie die Darstellung des Erzählers und stützt sich eben falls auf die Kundgabefunktion. Ü berhaupt kann man sagen, dass die Dar stellung des fiktiven Lesers auf der Darstellung des Erzählers aufbaut, insofern der erstere ein Attribut des letzteren ist (ähnlich wie das Bild des abstrakten Lesers zu den Ei genschaften des abstrakten Autors gehört; vgl. I i
40 Verschiedene Varianten des so angesprochenen Le �ers erörtert Paul Goetsch ( 1 983). 4 1 Angebenen sind Kapitel und S trophe. Zitiert wird nach der übersetzung von Rolf-Die trich Keil: Alexander Puschkin, Jewgenij Onegin, Gießen 1 980 .
5. Der fiktive Leser
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dazu oben, S. 66)42. Die Markiertheit des fiktiven Lesers hängt in ent scheidendem Maße von der Markiertheit des Erzählers ab: Je stärker der Erzähler markiert ist, desto eher wird er eine bestimmte Vorstellung von dem von ihm angesprochen Gegenüber evozieren. Jedoch impliziert die Präsenz eines markierten Erzählers noch nicht automatisch die Gegenwart eines Adressaten , der in demselben Grad manifest ist wie er selbst. Im Prinzip entwirft jede Erzählung einen fiktiver Leser (wie jeder Text einen abstrakten Leser als unterstellten Adressaten oder idealen Rezipien ten entwirft), da die indizialen Zeichen, die auf seine Existenz verweisen, wie schwach sie auch sein mögen , niemals ganz verschwinden können43 • Zu den vom Text reflektierten Eigenschaften des Erzählers gehört, wie schon angedeutet, auch seine Beziehung zum Adressaten. Für die Dar stellung des fiktiven Lesers sind zwei Operationen relevant, die diese Beziehung charakterisieren, Appell und Orientierung. Der Appell ist die meistens implizit ausgedrückte Aufforderung an den Adressaten, eine bestimmte Position zum Erzähler, zu seiner Erzählung, zur erzählten Welt oder zu einzelnen ihrer Figuren einzunehmen. Der Appell ist schon an sich ein Modus, die Präsenz eines Adressaten auszu drücken. Aus seinem Inhalt geht hervor, welche Haltungen und Posi tionen der Erzähler beim Adressaten voraussetzt und welche er für möglich hält. Die Appellfunktion wird im Prinzip niemals gleich null ; sie ist auch in Aussagen mit überwiegend referentieller Funktion gegenwärtig, und sei es in der Minimalform "Wisse, dass . . . " oder "Ich will , dass du weißt, dass . . . " Einer der Typen des Appells ist die Impression. Mit ihrer Hilfe ver sucht der Erzähler sein Gegenüber zu beeindrucken , eine Reaktion zu bewirken, die entweder eine positive Fonn annehmen kann , als Bewun derung, oder eine negative, als Verachtung. (Die Absicht der negativen Impression ist charakteristi sch für Dostoevskijs paradoxe Monologisten.) .
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In seiner einflußreichen Arbeit erörtert Gerald Prince ( 1 973a) die "signaux du narra taire", insofern sie über den "degre zero du narrataire" hinausgehen. Dieser Nullstatus war Gegenstand so ernsthafter Kritik (vgl Prince 1 985), dass Prince 1 982 auf ihn schließlich verzichtete. Ein anderes berechtigtes Argument, dass die vermeintlichen "signaux du narrataire" gen au so gut auch al s "characteristics of the narrator" (Prau 1 982, 2 1 2) angesehen werden können, tut Prince ( 1 985, 300) als "trivial" ab . Damit korrigiere ich meine frühere These (Schmid 1 973, 29; 1 986, 308), die besagte, dass im Erzähltext ein fiktiver Leser auch völlig fehlen könne, eine These, die auf Kri tik gestoßen ist, z. B. bei Roland Harweg ( 1 979, 1 1 3). .
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11. Die Instanzen des Erzählwerks
Unter Orientierung verstehe ich die Ausrichtung des Erzählers am Ad ressaten, ohne die keine verständliche Mitteilung auskommen kann. Die Orientierung am Adressaten lässt sich natürlich nur in dem Maße rekon struieren , wie sie die DarsteUungsweise beeinflusst. Die Orientierung bezieht sich erstens auf die beim Adressaten vermu teten Kodes und Normen, die sprachlicher, epistemischer, ethi scher und sozialer Art sein können. Die dem Adressaten unterstellten Normen braucht der Erzähler nicht zu teilen, aber er kann nicht umhin, eine für den Adressaten verständliche Sprache zu verwenden und den vermuteten Um fang seines Wissens zu berücksichtigen. Insofern enthäl t jede Erzählung eine implizite Information darüber, welche Vorstellung der Erzähler von der Kompetenz und den Nonnen seines Adressaten hat. Zweitens kann die Orientierung in der Antizipation des Verhaltens des vorgestellten Adressaten bestehen. Der Enähler kann sich den Adressaten als passiven Hörer und gehorsamen Vollstrecker seiner Appelle vorstel len , aber auch als aktiven Gesprächspartner, der das Erzähl te selbständig bewertet, Fragen stellt, Zweifel äußert und Einwände erhebt. B ei keinem zwei ten Autor der russischen Literatur (und vielleicht der Weltliteratur) spielt der fiktive Leser eine solch aktive Rolle wie bei Dos toevskij . In den Aufzeichnungen aus dem Kellerloch und der Sanften (Krotkaja) spricht der Erzähler buchstäblich jedes Wort mit dem "Sei tenblick auf ein fremdes Wort" (Bachtin 1 929, 96) , d. h. mit der Aus richtung auf den fiktiven Hörer. Der Erzähler, der von seinem Hörer An erkennung zu gewinnen sucht, hinterlässt im Text unübersehbare Spuren des Appells (insbesondere der Impression) und der Orientierung: Er möchte auf den Leser oder Hörer einen positiven oder negativen Eindruck machen (impressive Funktion), achtet auf die Reaktionen des Gegenübers (Orientierung), errät seine kritischen Repliken (Orientierung), nimmt sie vorweg (impressive Funktion), versucht sie zu widerlegen (impressi ve Funktion) und erkennt deutlich (Orientierung), dass i hm das nicht gelingt. Ein solches Enählen , dessen Adressat als aktiver Interlokutor vorgestellt wird, rechnet Bachtin in seiner "metalinguistischen" Typologie des Pro saworts zum "akti ven Typus" des "zweistimmigen Worts" (oder des "Worts mit der Ausrichtung auf ein fremdes Wort") , d. h. eines Worts , in dem zugleich zwei widerstreitende Sinnpositionen "hörbar" sind, die des Sprechenden und die vorweggenommene des Hörenden. Im Gegensatz zum "passiven" Typus des "zwei stimmigen i Worts" , in dem das fremde Wort wehrloses Objekt in den Händen des miit ihm operierenden Erzählers bleibt, wirkt das fremde Wort im aktiven Typus auf die Rede des Erzäh-
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Der fiktive Leser
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lers ein und "zwingt sie, sich unter seinem Einfluss und seiner Einwirkung entsprechend zu ändern" (Bachtin 1 929, 94; dt. 1 97 1 , 220; Übersetzung revidiert). d) Erzählen mit dem Seitenblick auf den fiktiven Leser ("Der Jüngling") Für den starken Einfl uss eines fiktiven Lesers auf das Erzählen ist auch Dostoevskijs Jüngling ein Beispiel. Der zwanzigjähri ge Arkadij Dol go rukij , der von seinen Abenteuern des letzten Jahres berichtet, wendet sich an einen Leser, der weder als individuelle Person noch als Träger einer Ideologie entworfen i st. Das Merkmal dieser imaginierten Instanz, die für den j ugendlichen Erzähler zum Repräsentanten der Welt der Erwachsenen wird, ist Spott über die unreifen Ansichten des jungen Mannes. Die Ausrichtung der Narration auf den Leser zeigt sich in der impres siven Funktion, die vor allem dort bemerkbar wird, wo Arkadij von sich selbst schrei bt, von seinen Ideen und Handlungen. Merkmal der im pressiven Funktion ist der Übergang von der neutralen, auf ihr Objekt gerichteten Darstellung zu einer mehr oder weni ger erregten Autothe matisierung, die begleitet wird von einer gewissen Affektiertheit der Le xik und der Syntax sowie von rhetorischen Gesten. Arkadij will Eindruck machen, anerkannt werden. In der impressiven Funktion drückt sich der Appell an den erwachsenen Leser aus, ihn, den Jüngling, ernst zu nehmen . Der Appell zur Anerkennung manifestiert sich sowohl i n verbalen Gesten , die die Wirklichkeit beschönigen, als auch in solchen, die die wahren Umstände zum Schlechteren stilisieren. In der Pejorisierung entdecken wir neben dem Wunsch, durch den Mut zur negativen Selbststilisierung Eindruck zu machen, auch das diametral entgegengesetzte Bestreben, das jener Struktur zugrunde liegt, die Bachtin das "Wort mit einem Schlupf loch" genannt hat: Die Beichte mit einem Schlupfloch [ . ] ist ihrem Sinn nach letztes Wort über sich selbst, endgültige Selbstbestimmung, aber in Wirklichkeit rechnet sie innerlich auf ei ne entgegengesetzte Bewertung ihrer selbst durch den andem. Der Beichtende und sich Verurteilende möchte in Wirklichkeit nur das Lob und die Annahme durch den andern provozieren. (Bachtin 1 929, 1 33 ; dt . 1 97 1 , 262; Übersetzung revidiert) .
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Das Bestreben, auf den Leser einzuwirken, stößt in der Vorstellung des Erzählers beim Angesprochenen auf eine Gegenreaktion. Denn der Erzäh ler stellt sich sein Gegenüber als jemanden vor, der seine Selbststili sierung nicht akzeptiert, der seine Absicht durchschaut und auf seine Be-
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11 . Die Instanzen des Erzählwerks
kenntnisse mit spöttischen, nüchternen Einwänden reagiert. Deshalb ist in dieser Narration neben der Appellfunktion die ständige Orientierung an der Reaktion des Gegenübers wirksam. Nach der Weise, wie die vorgestellten kritischen Repliken des Lesers in Arkadijs Erzählen Niederschlag finden, können wir verschiedene Aus prägungen der Orientierung unterscheiden. Die Orientierung gibt sich schon ganz all gemein in den Metamorphosen des Stils und der Erzähl weise kund. Wo Arkadij pubertärer schreibt, als es von einem intelligen ten , gebildeten und im Schreiben nicht ganz ungeübten Zwanzigjährigen zu erwarten wäre , wo er in den schnoddrig-jargonhaften Ton des Halb wüchsi gen mit stereotypen, oft hyperbolischen Ausdrücken fällt oder wo er mit trotzig apodiktischen Behauptungen auftrumpft, hat er sich gleich sam nach seinem Leser umgesehen und sucht mit vorgetäuschter Selbstsi cherheit alle möglichen Einwände im Keime zu ersticken. Solcher Art Orientierung macht sich etwa in den einleitenden B emerkungen Arkadijs zu seinem Erzählen geltend: Da ich es nicht mehr aushalten konnte, habe ich mich hingesetzt, um diese Geschichte meiner ersten Schritte auf dem Schauplatz des Lebens aufzuschreiben, obwohl ich auch ohne das auskäme. Eins weiß ich ganz sicher: nie wieder setze ich mich hin, um meine Autobiographie zu schreiben, selbst wenn ich hundert Jahre alt werde. Man muss schon zu schlimm in sich verliebt sein, um ohne Scham über sich selbst schrei ben zu können. Ich entschuldige mich nur damit, dass ich nicht dafür schreibe, wofür aUe schreiben, nämlich um vom Leser gelobt zu werden. [ . ] Ich bin kein Literat, ein Literat will ich auch gar nicht sein, und das Innere meiner S eele und eine schöne Be schreibung meiner Gefühle auf ihren literarischen Markt zu zerren, hielte ich für eine Unanständigkeit und Gemeinheit. (F. M. Dostoevskij, Poln. sobr. sol!. v 30 t., Bd. 1 3, S . 5) . .
Die Orientierung am Leser prägt die Argumentation, die Sprechhal tung, die Metamorphosen des Stils. Daneben stehen Fälle, in denen Arka dij sein imaginäres Gegenüber direkt anspricht., Das Aufbegehren gegen die ei gene Unreife schlägt oft um in den gereizten Angriff auf den imagi nären Leser, den sich Arkadij als unnachsichti gen Spötter vorstellt: Meine Idee besteht darin, ein Rothschild zu werden . Ich fordere den Leser auf, Ruhe und Ernst zu bewahren. (Ebd., S. 66)
Sich der endgültigen Darlegung dieser "Idee" nähernd, deren Angreif barkeit er nur zu gut selbst erkennt, "blickt sich" Arkadij zum Leser um, und ruft gereizt aus: ; i
Meine Herrschaften, soUte Ihnen denn schon die gpringste S elbständigkeit im Denken so schwer fallen? (Ebd., S. 77)
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5. Der fiktive Leser
Bei der Darlegung seiner "Idee" nimmt Arkadij die beim Leser erwar teten Erklärungen für ihr Entstehen vorweg, um sie entschieden zu wider legen. Vor dem verständnisvollen und für ihn erniedri genden Lächeln des Lesers über seine pubertären Pläne glaubt er sich mit düsterer Selbststili sierung zu schützen , die er allerdings unter dem Einfluss möglicher Ein wände wiederum abzumildern gezwungen ist: Nein, nicht meine uneheliche Geburt [ . . ], nicht die traurigen Jahre der Kindheit, nicht Rache und Recht auf Protest waren der Grund für meine "Idee"; schuld an allem ist einzig mein Charakter. Schon mit zwölf Jahren, so glaube ich, das heißt mit dem Er wachen eines eigentlichen Bewusstseins, begann ich, die Menschen nich t zu lieben. Nicht gerade, nich t zu lieben, aber irgendwie habe ich sie schwer ertragen. Es tat mir manchmal selbst sehr weh, [ . ] dass ich misstrauisch bin, finster und verschlossen . [ . . ] Ja, ich bin ein düsterer Mensch, ich verschließe mich ständig. Oft möchte ich die menschliche Gesellschaft ganz verlassen . (Ebd. , S. 72) .
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Je expliziter der Jüngling die erwarteten Reaktionen des Lesers formu liert, desto mehr nähert sich das Erzählen einem offenen, angespannten Dialog: Ich habe mir gerade vorgestellt, dass, wenn ich auch nur einen einzigen Leser hätte, dieser sich sicherlich über mich totlachen würde wie über den lächerlicqsten Halb wüchsigen, der sich seine dumme Unschuld bewahrt hat und sich unterfangt, über Din ge zu urteilen und zu entscheiden, von denen er keine Ahnung hat. Ja, ich habe wirk lich noch keine Ahnung, doch gebe ich das durchaus nicht au s S tolz zu, denn ich weiß, wie dumm eine solche Unerfahrenheit an einem zwanzigjährigen Tölpel ist; nur will ich diesem Herrn sagen, dass er selbst keine Ahnung hat, und das werde ich ihm be weisen. (Ebd., S. 1 0)
An einigen Stellen setzen sich die vorweggenommenen Repliken des Lesers in selbständi ger direkter Rede durch (deren Urheber natürlich Ar kadij bleibt). Dann zerfallt der Erzählmonolog gleichsam in autonome Reden , die aufeinander dialogisch reagieren: "Haben wir alles schon gehört", wird man mir sagen, "das ist nichts Neues. Jeder Va ter in Deutschland predigt das seinen Kindern, aber Ihr Rothschild [ ] war nur ein Einzelner, und deutsche Väter gibt es Millionen." Ich würde darauf antworten: "Sie be teuern , S ie hätten d as schon gehört, aber in Wirklichkeit haben Sie gar nichts gehört" . (Ebd., S. 66) . . .
Ist Arkadij bei schamhaften Eingeständnissen an einem Punkt ange langt, der ihm keinen ehrenvollen Rückzug vor den entblößenden Erwi derungen des Gegners mehr offen lässt, so greift er zu einem bei Dostoev skijs beichtenden Erzählern beliebten Kunstgriff, zur paradoxen Leugn,ung der Existenz jenes Lesers, an den diese Leugnung gerichtet ist:
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11. Die Instanzen des Erzähl werks
Ich will hier eine Vorbemerkung .machen: der Leser wird über die Aufrichtigkeit mei ner Beichte vielleicht entsetzt sein und sich naiv fragen : wie kann der Verfasser das al les schreiben, ohne zu erröten? Darauf möchte ich antworten : ich schreibe nicht für ei ne Veröffentlichung; einen Leser wefde ich wahrscheinlich erst nach zehn Jahren ha ben, wenn alles mit der Zeit so offenkundig geworden und geklärt sein wird, dass es keinen Grund mehr zum Erröten geben wird. Wenn ich mich in meinen Aufzeich nungen dennoch manchmal an einen Leser wende, so i st das ein bloßer Kunstgriff. Mein Leser ist eine Phantasiegestalt. (Ebd., S . 72)
e) Der dialogische Erzählmonolog In den Aufzeichnungen aus dem Kellerloch und der Sanften hat Dostoev skij eine mündliche Variante des dialogisierten Erzählens geschaffen , das Sprechen mit dem Seitenblick auf den Hörer. Im ersten, philosophischen Teil der Aufzeichnungen (der mit "Kellerloch" überschrieben ist) nimmt dieser Erzähltypus eine Fonn an, die der polnische Literaturwissen schaftler MichaJ: GlowiIiski ( 1 963) "Erzählung als gesprochener Mono log" nennt. Diese Form, die GlowiIiski in der polnischen Literatur unter sucht, hat sich in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts in der europäi schen Prosa unter dem Vorzeichen des Existentialismus und der Philoso phie des Absurden entwickelt. In Westeuropa bildete das Muster dieser Erzählkonstruktion (ideologisch gefärbte Auseinandersetzung eines sich selbst und die Welt anklagenden Sprechers mit einem die Weltordnung v erteidigenden Hörers) Albert Camus' La Chute. Dieses Werk, das stark auf die pol nische Nachkriegsliteratur gewirkt hat, ist selbst wiederum Dostoev skijs Aufzeichnungen verpflichtet und spielt auch unüberhörbar auf sein Vorbild an. Der "gesprochene Monolog" ist nach GlowiIiskis Definition ein münd licher Erzähl monolog, der sich vom klassischen Typus des Erzählens durch fol gende Merkmale unterscheidet: 1 ) dialogische Sprechsituation, in der das angesprochene Gegenüber auf das Erzählen zurückwirkt; 2) Ver bindung von Skaz-Elementen mit Rhetorik; 3)' Verlagerung des themati schen Schwerpunkts vom Erzählten zum Erzählvorgang. Vom Skaz Erzählen unterscheidet sich dieser Typus durch 1 ) die weltanschauliche Thematik, 2) die Intellektualität der Argumentation, 3) das Eindringen von rhetorischen Elementen. Die Sanfte und der zweite Teil der Aufzeichnungen entsprechen diesem Typus nicht ganz, da ihnen die weltanschaul (che Thematik und die intel lektuelle Argumentation fehlt. Ausgehend von den beiden Werken Dosto evskijs wollen wir hier einen weniger thematisch als strukturell definier-
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ten Erzähltypus vorstellen, der dialogischer Erzählmonolog genannt wer den soll . Der Typus ist durch die drei Merkmale definiert, die in seiner Bezeichnungen verbunden sind: 1 . Dialogisch: Der Erzähler wendet sich an einen Hörer, den er sich als aktiv reagierend vorstellt. Das Erzählen entfaltet sich in einer Spannung zwischen den entgegengesetzten Sinnpositionen des Erzählers und des Adressaten; die gelegentlich die Form eines offenen Dialogs annimmt.
Die Dialogizität ist nur inszeniert und geht nicht über die Grenzen des Erzählerbewusstseins hinaus. Es gibt hier keinen realen Ge : sprächspartner, der sich mit unvorsehbaren Repliken einschalten könnte. ' Dem i maginierten Gegenüber, das ja aus dem eigenen Ich genommen ist, fehlen Autonomie und Alterität. Deshalb handelt es sich lediglich um einen Quasi-Dialog, eine dialogisch inszenierte Variante des Monologs.
2. Monolog:
3. Narrativität: Dieser diillogisierte Monolog hat eine narrative Funktion. Wie sehr der sich umsehende Erzähler auch mit der Apologie (oder der Anklage) seiner selbst und den Ausfällen gegen den Hörer beschäftigt sein mag, er erzählt gleichwohl eine Geschichte und verfolgt ungeachtet aller dialogischer Digressionen ein narratives Ziel . In der Sanften und in den Aufzeichnungen werden Geschichten des Schei tems erzählt. Aber das offene und letztlich wahrheitsgemäße Erzählen ist hier wiederum mit den dialogischen Funktionen verbunden, und zwar mit dem Appell und besonders mit der Impression. Die Logik ist folgende: Wenn der Erzähler sich schon nicht durch edle Taten hervortun konnte, so bemüht er sich doch, zumindest mit der Aufrichtigkeit und Gnadenlosig keit seiner Selbstanalyse, mit der furchtlosen Antizipation des entlarven den fremden Wortes Eindruck zu machen. Der Versuch der Impression durch die Vorwegnahme fremder Repliken erreicht in den Aufzeichnungen einen Höhepunkt, wo der Erzähler seinem Gegenüber folgende Anklage in den Mund legt: Sie reden dummes Zeug und sind damit zufrieden; Sie sagen Frechheiten, fürchten sich aber deswegen ständig und bitten um Entschuldigung. Sie beteuern, dass Sie nichts fürchten, und schmeicheln sich gleichzeitig bei uns ein. [ . ] Sie haben vielleicht w irk lich leiden müssen, aber Sie haben vor Ihrem Leiden nicht die geringste Achtung. In Ihnen ist auch Wahrheit, aber kein Schamgefühl ; aus bloßer Eitelkeit tragen Sie Ihre Wahrheit zur S chau, zur Schande auf den Markt. . . S ie wollen tatsächlich etw as sagen, doch aus Furcht halten S ie Ihr letztes Wort zurück, denn Sie haben., nicht die Entschlos senheit, es auszusprechen, sondern nur feige Dreistigkeit. [ . . . ] Ulld wie viel Zudring lichkeit in Ihnen ist, wie S ie sich aufdrängen, welche Grimassen Sie schneiden ! Alles .
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Die Instanzen des Erzählwerks
Lüge, Lüge und nochmals Lüge ! (F. M. Dostoevskij, Poln. sobr. soi:. v 30 t., Bd. 5 , S . 1 2 1 f.)
Dostoevskijs dialogische Monologe sind voller Paradoxien. Einen Hö rer gibt es nicht, aber der ganze Monolog ist an ihn gerichtet. Der ima ginierte Gesprächspartner ist nicht ein anderer Mensch, aber der Sprecher streitet mit ihm und legt ihm die vemichtendsten Einwände in den Mund, worauf er seine Präsenz gleichzeiti g leugnet und bestätigt: Selbstverständlich habe ich alle diese Worte von Ihnen jetzt selbst erdichtet. Das ist auch aus dem Kellerloch. Ich habe dort vierzig Jahre auf diese Worte von Ihnen durch eine kleine Spalte gelauscht. Ich habe sie selbst ausgedacht, das ist doch das Einzige, was beim Ausdenken zustande gekommen ist. Kein Wunder, dass ich sie auswendig kann und dass sie eine literarische Form angenommen haben . . . Aber sollten Sie, soll ten S ie denn tatsächlich so leichtgläubig sein, sich einzubilden, dass ich das alles dru cken lassen und Ihnen dann noch zu lesen geben werde? (Ebd., S. 1 22)
In den dialogischen Erzählmonologen Dostoevskijs gibt es noch einen weiteren paradoxen Zug: Die fehlende Alterität des Angesprochenen, der eine Projektion des Sprechers bleibt, wird gleichsam durch die Alterität des erzählenden Ich sich selbst gegenüber ersetzt. Das Paradox besteht in der Alterität der Identität, in der Fremdheit des Subjekts sich selbst ge genüber. Das Ich ist sich so fremd , dass es vor den ei genen Möglichkeiten und Abgründen tiefer erschrecken kann , aIs es je vor Fremdem er schrecken würde. Die solipsistische Dimension der Dialogizität, die Ver legung der Alterität von außen nach innen ist eine �esentliche Eigenart der Dostoevskijschen Dialog- und Subjektkonzeption. Die Alterität des Subjekts, die Fremdheit des Ich für sich selbst verleiht den Erzählmono logen Dostoevskijs jene echte Dialogizität, die ihnen der nur imaginierte Status des angesprochenen Gegenübers vorenthält.
111. Die Erzählperspektive 1 . Theorien des "point of view", der Fokalisierung und der Perspektive
Eine zentrale Kategorie der Narratologie ist die Perspektive oder - in der englischsprachigen Theorie - der point 0/ view (franz. point de vue; russ. toeka zrenija). Der englische Begriff, der von Henry James im Essay The Art 0/ Fiction ( 1 884) eingeführt und von Percy Lubbock in den Vorwör tern zu James ' Romanen präzisiert und systematisiert wurde, bezeichnet "die Beziehung des Erzählers zur erzählten Geschichte" (Lubbock 1 92 1 ). In der deutschsprachi gen Theorie wurden zwar auch die entsprechenden Termini Standpunkt oder Blickpunkt verwendet, aber es hat sich eindeuti g der Begriff der Perspektive oder Erzählperspektive durchgesetzt. Seit den achtzi ger Jahren hat in der internationalen Narratologie der vo� Gerard Genette ( 1 972) geprägte Begriff der Fokalisierung weite V erbreitung gefunden. Die Vielfalt der in der Literaturwissenschaft existierenden Konzepte von Perspektive I beruht nicht so sehr auf einer Differenz in der Termino logie oder auf unterschied lichen Prinzipien der Typologie, sondern vor allem auf der Divergenz der Inhalte, die mit dem Begriff verbunden wer den. Ein Hauptunterschied besteht in der Dimensionierung des Phä nomens, i n der Frage, welche Relationen des Werks betroffen sind und wie tief die Modellierung reichen soll. Während in weiten Teilen der Lite raturwissenschaft der Eindruck vermittelt wird, die Phänomene der Per spektive seien hinreichend erforscht und bei den bestehenden Differenzen zwischen den Modellierungen gehe es weitgehend nur um einen Streit um Namen , ist das Konzept in Wirklichkeit nicht hinreichend geklärt2 • Bevor eine Definition der Perspektive und eine Analyse ihrer Struktur versucht wird, sollen die einflussreichsten Modellierungen betrachtet werden. Vgl. die Ü bersichten: Lintvelt 1 98 1 , 1 1 1 - 1 76; Markus 1 985, 1 7-39; Bonheim 1 990; Nünning 1 990 ; Jahn 1 995, 3 8-48; Tolmacev 1 996; Tamarcenko 1 999a. 2 Noch heute gilt Susan Lansers ( 1 98 1 , 1 3 ) Urteil, dass die Implikationen des point of view entgegen dem allgemeinen Eindruck "underestimated" und "underexplored" seien.
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III . Die Erzählperspektive
a) F. K. Stanzel Eine der wichti gsten Modellierungen der Perspekti ve enthält die Typolo gie der "Erzählsituationen", die der Grazer Anglist Franz K. Stanzel seit annähernd fünfzig Jahren vertritt. StanzeIs Trias der "auktorialen", "per sonalen" und "Ich-Erzählsituation" genießt bis heute große Popularität, und das nicht nur in deutschsprachigen Ländern3 • Die Typologie wurde zur Grundlage zahl loser Werkanalysen , und wer immer eine neue Theorie der Perspektive entwarf, setzte sich in der Regel mit StanzeIs Typenkreis auseinander4• Die Systematik von Stanzeis Typologie geriet freilich (wie bereits in Abschnitt 11.4 erwähnt) schon früh in die Kriti Ir . Der problema tischste Teil dieser Theorie ist durch alle ihre Formulierungen hindurch der zentrale Begriff der "Erzählsituation"6. In dieser Kategorie sind unter schiedliche Dichotomien zusammengebracht. In der Variante von 1 979, der jüngsten Version, model liert Stanzel die Kategorie der Erzählsituation auf der Grundlage von drei Oppositionen: 1 . Opposition der Person: "Identität - Nichtidentität der Seinsbereiche der Charaktere und des Erzählers ",
2. Opposition der Perspektive: "Innenperspektive - Außenperspek tive", 3. Opposition des Modus: "Erzähler - Reflektor" . Die drei "Erzählsituationen" definiert Stanzel (in der Version von 1 979) mit der Dominanz jeweils eines Gliedes der drei Oppositionen: In der lch -Erzäh lsituation dominiert die "Identität der Seinsbereiche", die auktoriale Erzählsituation zeichnet sich durch die "Außenperspektive" aus, und in der personalen Erzählsituation dominiert der Modus des Re flektors. Die drei Oppositionen haben also an der Trias der Erzählsi tuationen nur je einmal und nur mit je einem ihrer beiden Glieder teil. Die 3
V gl. die in Russland 1 999 erschienene Einleitung in die Literaturwissenschaft, deren Artikel Erzählen (Tamarl!enko 1 999b) Stanzeis Ansatz besonders hervorhebt. 4 Vgl. ausführlich auch Genette 1 983, 77-89. 5 Vgl . als einen der schärfsten Kritiker Petersen 1 98 1 , dem S tanzel 2002 nicht ganz zu unrecht "kri tischen Vampirismus" vorwirft. 6 Von der Einbettung in den Kontext aktueller Diskurse und von der Totalisierung des triadischen Aufbaus, wie sie S tanzeI in der Variante von 1 979 vorgenommen hat, konn te seine Theorie letztlich nicht profitieren. Die vermeintliche Modemisierung und Sys tematisierung hat den zugrunde liegenden Ansatz n ur verunklart. Die weite Verbreitung der S tanzeischen Begriffe verdankt sich eher den frühen Varianten der Theorie ( 1 95 5 ; 1 964).
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Theorien des "point of view", der Fokalisierung und der Perspektive
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Kombination von drei binären Oppositionen müsste indes sechs Typen ergeben. Hier ist anzumerken , dass Stanzel ( 1 979, 1 89) die Kategorien "Perspektive" und "Modus" nicht hinreichend voneinander abgrenzt. So konstatiert er, dass zwischen der "Außenperspektive" und dem "durch eine Erzählerfigur dominierten Darstellungsmodus" eine "enge Korres pondenz" bestehe. Gleichwohl hält er beharrlich, offensichtlich im Bann der Idee vom triadischen Aufbau der narrativen und narratologischen Welt, an der Dreizahl der Oppositionen und Erzähl situationen fest, die er seinem labyrinthischen "Typenkreis", einer "mirifique rosace" (Genette 1983, 79), zugrunde legt. Es war offensichtlich die schwache Begründung der Trias , die Cohn ( 1 98 1 , 176) und Genette ( 1 983 , 78 f.) dazu veranlass te, Stanzeis Differenzierung von "Perspektive" und "Modus" als überflüs sig zu verwerfen, wobei Cohn auf die erstere, die Perspektive, und Ge nette auf den letzteren , den Modus verzichten wollte (welcher Begriff bei Stanzel eine andere Kategorie als im System Genettes bezeichnet). Fallen "Perspektive" und "Modus" zusammen, so reduziert sich das ganze Sys tem auf j ene zwei Oppositionen, die schon Stanzeis Arbeiten von 1 955 und 1 964 zugrunde lagen: "Identität - Nichtidentität der Seinsbereiche" und "Auktorialität - Personalität". Wenn man eine Typologie .aber auf zwei binären Oppositionen aufbaut, erhält man nicht drei vergleichbare ,.Erzählsituationen", sondern vier deutlich definierte Typen' . Dann zerfällt das "Ich-Erzählen" genau wie das Erzählen in der dritten Person in zwei Varianten, die "auktoriale" und die "personale", wobei die Opposition von "auktorial" und "personal" nicht irgendwel che komplexen "Erzählsituati onen" beschreibt, sondern die beiden Möglichkeiten der Perspektive. In diesem Sinne werden die Stanzeischen Begriffe "auktorial" und "perso nal" seit langem in der Erzähltextanalyse gebraucht. b) G. Genette und M. BaI Genette zufolge ( 1 972 , 203 -2 1 1 ) liegt der Typologie StanzeIs wie fast allen Arbeiten zur Erzählperspektive der Fehler zugrunde, dass nicht zwi schen mode (der "regulation de I 'information narrative" ; 1 972, 1 84) und voix unterschieden wird , d. h. es werden die Fragen vennengt: "Wer sieht?" (genauer: "Quel est le personnage dont le point de vue oriente la perspective narrative?") und "Wer spricht?" ("Qui est le narrateur)?" Un ter mode unterscheidet Genette als die bei den wesentlichen Faktoren der 7
Vgl. Schmid 1 973 , 27 f. ; Cohn 1 98 1 , 1 79; Genette 1 983, 8 1 .
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III. Die Erzählperspektive
Regulierung der Infonnation 1 ) distanee (worunter die platonische Oppo sition von Diegesis und Mimesis und ihr modemes Äquivalent telling vs. showing abgehandelt wird) und 2) perspeetive. Die Perspektive ist für Genette jene Regulierung der Infonnation, die aus der Wahl (oder Nicht Wahl) eines einschränkenden point de vue hervorgeht ( 1 972, 203). Mit diesem reduktionistischen Verständnis von Perspektive geht Genette zu rück auf die Typologie der visions, die Jean Pouillon ( 1 946) aufgestellt hat und die dann von Tzvetan Todorov ( 1 966, 1 4 1 f.) unter dem Terminus as peets du reelt erneuert wurde. Um die visuellen Konnotationen zu ver meiden, die den Termini vision, ehamp und point de vue anhaften, zieht Genette für das von Pouillon und Todorov beschriebene Phänomen die Bezeichnung joealisation vo � . Für diesen Begriff (der nicht geringere vi suelle Assoziationen weckt als die verworfenen Termini) beruft er sich auf die von Brooks und Warren ( 1 943) eingeführte Kategorie joeus oj nar ration. Foealisation wird von ihm ( 1 983 , 49) mit einem von Georges Blin ( 1 954) übernommenen Begriff als "Einschränkung des Gesichtsfelds" (re striction de champ) definiert, wobei als Vergleichsmaßstab die "Allwis senheit" des Autors, d. h. die "infonnation complete" dienen soll. Den triadischen Typologien seiner Vorgänger folgend, unterscheidet Genette ( 1 972, 206-2 1 1 ) drei Stufen der Fokalisierung9 : Pouillon vision par derriere
Todorov narrateur
>
personnage
Genette focalisation zero:
"der Erzähler weiß mehr als die Person, oder, genauer, er sagt mehr, al s irgendeine der Personen weiß" ; "was die angelsächsische Kritik die Erzählung eines allwissenden Enählers nennt" vision avec
na"ateur
=
personnage
focalisation interne:
"der Erzähler sagt nur das, was die betreffende Person weiß" ; "nach Lubbock das Enählen von einem bestimmten point of view " 8
Zur Fokalisierung vgl. die Übersichten: Rimmon 1 976; BaI 1 977b; Angelet und Herman 1 987, 1 83-193; Kablitz 1988: lI ' in 1 996e. 9 Der Rekurs auf traditionelle Typologien , die ledigli ch umformuliert werden, bedingt, dass Genettes Theorie im Bereich der Perspektivik wenig Innovatives zu bieten hat. Gleichwohl ist sie, vielleicht im Sog der produktiveren Teile des Discours du rlcit, au ßerordentlich populär geworden.
1 . Theorien des "point of view", der Fokalisierung und der Perspektive vision du dehors
narrateur < personnage
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focalisation externe:
"der Erzähler sagt weniger, al s die Person weiß"; "objektive oder behavioristische Erzählung"
Bei allem Streben Genettes nach Klarheit der Definitionen vermischen sich in seiner Trias drei Merkmale des Erzählers: 1 ) sein "Wissen" , 2) seine Fähigkeit zur Introspektion, 3) seine Perspektive. Hinsichtlich des dritten Merkmals, das uns hier interessiert, entsprechen den drei Stufen der Fokalisierung folgende Formen der Perspektive: 1. "Nullfokalisierung" : es herrscht die Perspektive eines allwissenden Erzählers vor. 2. "Interne Fokalisierung" : das Erzählen orientiert sich an der Per spektive einer erzählten Figur. 3. "Externe Fokalisierung" : im Erzählen dominiert die Perspektive ei nes Erzählers , der keine Introspektion besitzt (oder diese nicht ver mittelt). Genettes Triade der Fokalisierungen ist bereits mehrfach kritisiert' worden. Neben der Vermengung unterschiedlicher Qualifikationen des Erzählers erweisen sich folgende Aspekte als problematisch:
1 . Genette reduziert das komplexe, sich in unterschiedlichen Facetten manifestierende Phänomen der Perspektive auf ein einziges Merkmal , die bloße Einschränkung des Wissens. Der vermeintliche Gewinn an Eindeu tigkeit des Begriffs wird mit einer wenig hilfreichen Verengung seiner Extension erkauft. 2. Es bleibt unklar, was unter "Wissen" verstanden wird, das allgemeine Weltwissen, das Wissen um die Handlung, ihre Umstände und Vor geschichte oder das Wissen um das, was in einem gegebenen Moment der Geschichte im Helden vorgeht. 3. Die Perspektivierung ist mit Hilfe des wie auch immer definierten "Wissens" allein nicht zu beschreiben, denn von diesem führt kein direk ter Weg zur Wahrnehmung, die ja die Voraussetzung von Perspektive bildet (Kablitz 1 988, 243 ; v gl. schon Jost 1 983 , 1 96). Oder ist mit "Wis sen" nichts anderes als das "Sehen" gemeint? Bedeutet mehr oder weni ger "Wissen" lediglich geringere oder stärkere "Einschränkung des Gesichts felds"? Wenn das zuträfe, wäre der Begriff "Wissen" zumindest miss v er-
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III . Die Erzählperspektive
ständlich. Aber mit Hilfe des "Sehens" lässt sich Perspektive auch noch nicht hinreichend beschreiben. 4. Genettes Begriff der "Nullfokalisierung" lässt die Möglichkei t eines Erzählens ohne Perspektive zu. Ein solches Konstrukt erscheint wenig sinnvol l , ist Perspekti ve doch in jeglichem Erzählen i mpliziert l O • Auch ein all wissender Erzähler, dessen "Gesichtsfeld" im Sinne Genettes nicht im geringsten eingeschränkt ist, erzählt mit einer bestimmten Perspekti ve.
5. Mieke B ai ( 1 977a, 28) merkt zu Recht an, dass die Trias nur insofern homogen sei , als in der Folge der drei Typen das Wissen des Erzählers ab nehme l l . Der Begriff der Fokalisierung werde aber in unterschiedlichem Sinn gebraucht, und Genettes mangelnde oder inexplizite Definition die ses Begriffs sorge für Verwirrung. Die "externe Fokalisierung" unter scheide sich von den beiden übrigen nicht durch die Perspektive, sondern durch eine Umkehrung der Funktionen. In Typus 2 sei die Person Subjekt der Fokalisierung, und Objekt sei das , was die Person wahrnehme, i n Typ 3 dagegen sei die wahrnehmende Person selbst Objekt der Fokalisierung, welcher Begriff hier seine ursprüngliche B edeutung verliere: "Dans le deuxieme type , le personnage ,focalise' voit, dans le troisieme il ne voit pas , iI est vu". Ce n' est pas cette fois une difference entre les instances , voyantes ' mais entre les objets de la vision,, 1 2. Eine bedeutende Rolle bei der Verbreitung von Genettes Theorie spielte Mieke Bai sel bst, die sie in niederländischer, französischer und englischer Sprache darlegte, kritisierte und modifizierte. Aus der Modifikation wurde im Grunde eine neue Theorie, die die Genettesche Tenninologie - nicht 10
Marjet Berendsen ( 1 984. 1 4 1 ) bemerkt zu Recht, dass der Begriff der ..Nullfokalisie. rung" innerlich widersprüchlich sei und dass man auf ihn verzichten' müsse. 1I Zur Kri tik an der Inkonsistenz von Genettes Trias der Fokalisierungen vgl. auch Nün ning 1 990, 257 f. 12 Die hier aufscheinende Differenz von Subjekt- und Objektstatus der Person hat Pierre Vitoux ( 1 982) einer Typologie zugrunde gelegt. in der der Unterschied zwischen einer .. objektiven" und einer .. subjektiven" Fokalisierung gemacht wird (vgl. auch Angelet und Herman 1 987, 1 82- 1 93). Auf Bals berechtigten Vorwurf der Doppeldeutigkeit seines Fokalisierungsbegriffs. der einerseits die Konzentration auf eine Person. ander seits das Erzählen aus ihrer Perspektive bedeute. re�giert Genette im Nouveau recit du discours ( 1 983. 48-52) mit einem Gegenangriff: Die von Bai verwendeten Ableitungen wie z. B. persollnage jocalise seien nicht mit seiner iAuffassung der S ache zu vereinba ren. Obwohl Genettes Kritik an Bals Begriffen RecIi t zu geben ist (s. dazu auch unten). entlastet ihn der Gegenangriff keineswegs von den von Bal angemerkten Inkonsistenzen seiner Theorie. -
I . Theorien des "point of view", der Fokalisierung und der Perspektive
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selten mit veränderten Inhalten - weiterentwickelte und zu der sich Ge nette ( 1 983) insgesamt ablehnend verhielt. BaI ( 1 985 , 1 04) definiert "focalization" (welchen Begriff sie ganz pragmatisch beibehält, wegen der sprachlichen Ableitungen, die er er laubt, wie z. B . jocalizer, 10 jocalize) als "the relationship between the , vision ' , the agent that sees, and that which is seen". Zur großen Unzufrie denheit Genettes ( 1 983 , 46-52) postuliert BaI ( 1 977a) für die Foka lisierung ein eigenes Subjekt, den Fokalisator, den sie zwischen dem Er zähler und der Person platziert und dem sie eine eigene Aktivität zu schreibt: Chaque instanee [Ie narrateur, le foealisateur et I 'aeteur] realise le passage d'un plan a un autre: I ' aeteur, utilisant l ' aetion eomme materiau, en faH I 'histoire; le foealisateur, qui selectionne les aetions et ehoisi t I ' angle sous lequel H les presente, en fait le reeit, tandis que le narrateur met le reeit en parole: iI en fait le texte narratif. (BaI 1 977a, 32 f.)
Dem Fokalisator stellt Bai sogar einen Adressaten gegenüber, den " spectateur " implicite ( 1 977a, 3 3 ; 1 977b, 1 1 6), ja sie setzt für die beiden Instanzen eine eigene Kommunikationsebene an. Neben dem Subjekt und dem Adressaten der Fokalisierung führt sie auch ein ei genes Objekt ein, le jocalise ( 1 977a, 33) , als das eine erzählte Person oder die sie umgebende Welt fungieren können. Gegen eine solche "Emanzipation" des "Fokalisa tors" und die Ausstattung der Fokalisierung mit einer kommunikativen Funktion hat sich überzeugend W. J. M. Bronzwaer ( 1 98 1 ) gewandt. Nach Genette ( 1 983 , 48) kann ,,fokalisiert" nur eine Erzählung sein, und "foka" lisieren" kann nur der Erzähler. Die Verselbständigung der Fokalisierung zu einem eigenen kommunikativen Akt mit einem Subjekt, einem Objekt und einem Adressaten ist gewiss eine problematische Seite in Mieke B als früher, in französischer Sprache publizierter Theorie. Die Idee einer besonderen Aktivität des "Fokalisators" ist ebenso wie die eines ei genen Adressaten der Fokalisierung glücklicherweise in Nar ratology ( B ai 1 985) aufgegeben. Hier begegnet der Begriff des jocalizer zwar i mmer noch , aber er wird wesentlich vorsichtiger und als "the point from which the elements are viewed" ( 1 985 , 1 04) nicht instanzen- oder kommunikationsbezogen definiert. Dieser Punkt befindet sich entweder in einer der handelnden Personen (internal jocalization) oder in einem "ano nymous agent, situated outside the fabula" (external jocalization). Die Fokalisierung bezeichnet damit eine Dichotomie von Perspektivmöglich keiten, die sich nicht mehr wesentlich von der traditionellen Dichotomie Innensicht - Außensicht unterscheidet.
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III . Die Erzählperspektive
c) B. A. Uspenskij , J. Lintvelt und Sh. Rimmon Einen entscheidenden B eitrag zur Modellierung der Perspektive hat der russische Philologe und Semiotiker Boris Uspenskij in seinem Buch Poe tik der Komposition ( 1 970) geleistet. Bald ins Französische ( 1 972), Engli sche ( 1 973) und Deutsche ( 1 975) übersetzt und vielfach besprochen, so wohl in Russland 1 3 als auch im Westen l4, hatte Uspenskijs Buch eine star ke Wirkung auf die internationale Narratologie 1 s• B eeinflusst vom Russi schen Formalismus und gestützt auf die Arbeiten Viktor Vinogradovs, Grigorij Gukovskijs, aber auch Michail Bachtins und Valentin Volo sinovs, förderte Uspenskij die Erforschung der Perspektive durch ein Mo dell, das neben der Literatur auch andere darstellende Künste, z. B. die Malerei und den Film, erschließt. Damit schloss Uspenskij nicht nur eine Lücke in der russischen Erzählforschung, in der Probleme des Stand- oder Blickpunkts auffallend wenig beachtet worden waren , sondern gab auch der westlichen Theorie, die seit jeher den Phänomenen der Perspektivie rung besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatte, einen entscheidenden Impuls. Die Innovation der Poetik der Komposition besteht vor allem darin, dass für die Perspektive ein Stratifikationsmodell entworfen wird , d. h. ein Modell , das für die Perspektive mehrere Ebenen der Manifestati on vorsieht. Im Gegensatz zur traditionellen ModelIierung, die die Per spektive in der Regel nur auf einer Ebene betrachtet, unterscheidet Uspen skij vier Ebenen, auf denen sich Perspektive manifestiert l 6: 1 . Die Ebene der "Wertung" oder der "Ideologie" , auf der der "Wertungsstandpunkt" oder die "ideologische Perspektive" figuriert. 2. Die Ebene der "Phraseologie". 3 . Die Ebene der "raum-zeitlichen Charakteristik". 4. Die Ebene der "Psychologie" . \3
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Die offizielle Aufnahme dieses ersten Bandes der Reihe Semiotische Untersuchungen zur Theorie der Kunst war in der Sowjetunion erwartungsgemäß recht kühl (man muss
sich wundem, dass er überhaupt erscheinen konnte). Lesenwert sind allerdings die Be sprechungen von : Segal 1 970; Gurvic 1 97 1 ; Chanpira 1 97 1 . Vgl. bes. : Drozda 1 97 1 ; Schmid 1 97 1 ; Z61kiewski 1 97 1 ; 1 972; de Valk 1 972; Mathau serova 1 972; Todorov 1 972; Foster 1 972; Shukman 1 972; Steiner 1 976; Lintvelt 1 98 1 , 1 67 - 1 76 .
V gl. etwa die Arbeiten von Lintvelt 1 98 1 ; Rimmon 1983 . Uspenskij ( 1 970, 1 2) beruft sich hierbei auf das ami Ende der vierziger Jahre geschrie bene Buch G. Gukovskijs Der Realismus Gogol's ( 1 959, 200), wo sich ein ,,Hinweis auf die Möglichkeit einer Differenzierung von psychologischer, ideologischer und geo graphischer Perspektive" finde.
1.
Theorien des "point of view", der Fokalisierung und der Perspektive
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Auf jeder dieser Ebenen kann, s o Uspenskij , der "Autor" die Gescheh nisse von zwei verschiedenen "Standpunkten" aus darbieten 1 7, von seinem eigenen, den Geschehnissen gegenüber "äußeren" Standpunkt oder von einem "inneren" Standpunkt, d. h. aus der Position einer oder mehrerer der dargestellten Figuren . Die Differenzierung der beiden Standpunkte bildet eine fundamentale Opposition, die Uspenskij auf allen vier Ebenen der Perspektive ansetzt. Bei der Anwendung der Opposition Innen vs. Außen auf die vier Ebe nen gelangt Uspenskij allerdings zu einigen bestreitbaren B efunden, da er die Intensionen der beiden Begriffe verschiebt. So betrachtet er auf der Ebene der Phraseologie eine "naturalistische Reproduktion ausländischer oder inkorrekter Rede" als Einnahme eines "gegenüber der beschriebenen Person bewusst äußeren Standpunkts" , und eine "Annäherung an den in neren Standpunkt" sieht er dort, wo "sich der Schriftsteller nicht auf die äußerlichen Besonderheiten der Rede konzentriert, sondern auf ihren In halt [ . . ] , i ndem er [ . . . ] spezifische Phänomene der Rede auf die Ebene einer neutralen Phraseologie überführt" ( 1 970, 7 1 ; dt. 1 975 , 63 18). Hier fi ndet eine Verschiebung der Intensionen von Innen und Außen statt oder ein Austausch der Opposition der Standpunkte durch die OpposWon von Fremd- oder Außenwahrnehmung und Selbst- oder Innenwahrnehmung. Auf der Ebene der Phraseologie ist die genaue Reproduktion der Rede der Person sinnvollerweise nicht dem Außenstandpunkt, sondern dem Innen standpunkt zuzuordnen. Auf der psychologischen Ebene tritt das auch aus anderen Typologien bekannte Problem der Ambivalenz der Außen-Innen-Opposition auf. In Uspenskijs Definitionen und Beispielen hat der Ausdruck "Innenstand punkt auf der Ebene der Psychologie" zwei unterschiedliche (aber nicht explizierte) Bedeutungen: 1 ) die Darstellung der Welt mit den Augen oder durch das Prisma einer oder mehrerer der dargestellten Personen (das Bewusstsein ist hier Subjekt der Wahrnehmung), 2) die Darstellung des Bewusstseins einer Person vom Standpunkt des Erzählers , der die Fähig keit zur Introspektion besi tzt (das Bewusstsein ist hier Objekt der Wahr nehmung). .
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Unter "Autor" versteht Uspenskij meistens den Erzähler. Wie allgemein im russischen Kontext üblich, spricht Uspenskij von "Erzähler" nur im Fall einer als Person deutlich profilierten Erzählinstanz. Wo im weiteren mit "Autor" der Erzähler gemeint ist, wird stillschweigend korrigiert. . Auch wo auf die deutsche Ausgabe verwiesen wird, ist der Text von mir neu übersetzt worden. ;
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III .
Die Erzählperspektive
Die Stratifikation des Standpunkts wird , wie Uspenskij ausdrücklich anmerkt, dadurch erschwert, dass die Ebenen nicht völlig unabhängi g voneinander existieren, sondern sich manchmal überschneiden. S o kann die Wertung durch phraseologische Mittel , aber auch durch die zeitliche Position des Erzählers ausgedrückt werden , ähnlich wie durch die Phra seologie auch der psychologische Standpunkt realisiert werden kann. Besonders interessant sind Uspenskijs Beobachtungen zu den "Wech selbeziehungen" zwischen den Standpunkten auf unterschiedlichen Ebe nen. Die Standpunkte fallen auf den unterschiedenen Ebenen in der Regel zusammen, d. h. auf den vier Ebenen orientiert sich das Erzählen entweder nur am äu ß eren oder nur am inneren Standpunkt. Aber ein solcher Zu sammenfall ist nicht notwendig. Der Standpunkt kann durchaus auf be stimmten Ebenen ein äußerer und auf den anderen ein innerer sein. Es ist gerade diese Inkongruenz, die eine Stratifizierung der Manifestationsebe nen des Standpunkts rechtfertigt, ja erforderlich macht. Die an Werken der russischen Klassiker vorgenommene Demonstra tion der Inkongruenzen der ideologischen und raum-zeitlichen Ebene ei nerseits und der psychologischen und phraseologischen anderseits ist das Herzstück in Uspenskijs Buch, und viele Rezensenten sehen in dieser Analyse sein größtes Verdienst. Jedoch lässt die mangelnde intensionale Klärung und inkonsequente Behandlung der Außen-Innen-Dichotomie manche Schlussfolgerung fragwürdig werden. So handelt es sich zum Beispiel bei der ironischen Zitierung einer Personenrede durch den Erzäh ler nicht einfach um eine Inkongruenz von innerem phraseologischem Standpunkt und äußerem ideologischem Standpunkt, wie Uspenskij ( 1 970, 1 37; dt. 1 975 , 1 1 8 ff.) postuliert. Insofern sich in der zi tierten Rede die Position der Person kundtut, ist die wörtliche Wiedergabe mit einer Orientierung am inneren Standpunkt auf der Ebene der Ideologie verbun den. Insofern aber diese Rede auf einer höheren Kommunikationsebene, d. h. im Text des Erzählers, zusätzliche, für die sprechende Figur fremde Akzente enthält, kann man von einer äußeren ideologischen Position spre chen. Auf diese Weise erhalten wir einen doppelten Wertungsstandpunkt, einen primären inneren und einen sekundären äußeren, der auf dem pri mären als seinem Substrat aufbaut. Der Erzähler nimmt, indem er die Rede der Person nicht paraphrasiert, sondern wörtlich, mit allen Ei gen tümlichkeiten wiedergibt, zu ihr einen inneren Standpunkt ein, und zugleich signalisiert er durch den Kontext, dass er selbst, der Erzähler, die reproduzierte Rede anders bewertet als die s rechende Person, d. h. einen gegensätzlichen ideologischen Standpunkt einnimmt. Somit beruht die
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I . Theorien des "point of view", der Fokalisierung und der Perspektive
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Ironie nicht einfach auf einem äu�eren Standpunkt auf der Ebene der Wertung, sondern auf der gleichzeitigen Präsenz und Interferenz zweier Wertungspositionen, einer inneren und einer äußeren. Uspenskijs Analyse der Beispiele für die Inkongruenz von ideologi schem und psychologischem oder von raum-zeitlichem und psychologi schem Standpunkt leidet unter der oben beschriebenen Ambivalenz des Begriffs "psychologischer Innenstandpunkt". Wenn der Erzähler der Brü der Karamazov den alten Fedor Karamazov "von innen" beschreibt, nimmt er nicht notwendigerweise einen inneren psychologischen Stand punkt ein. Der Erzähler kann durchaus volle Introspektion in den inneren Zustand eines Helden haben und ihn gleichwohl von einem äußeren Standpunkt aus beschreiben. Auch hier verwechselt Uspenskij Introspek tion und Perspekti ve. Eine Innensicht im Sinne der Perspektive' setzte voraus , dass die Welt mit den Augen Fedor Karamazovs wahrgenommen würde. Von einer Innenperspekti ve bei der Darstellung des inneren Zu stands eines Helden könnte also nur dann die Rede sein, wenn der Erzäh ler die Selbstwahrnehmung dieser Person, also die Wahrnehmung der innersten Seelenregungen durch den Helden selbst gestaltete. Gerade die ses Verfahren aber wird auf Fedor Karamazov , der nie ReflektQr wird, nicht angewandt. Eine tatsächliche Inkongruenz der Standpunkte begegnet allerdings dort, wo der Erzähler die Welt vom raum-zeitlichen Standpunkt der Per son (innerer Standpunkt) beschreibt, nicht aber ihre Wahrnehmung in szeniert, sondern auf der Ebene der Psychologie einen äußeren Standpunkt einnimmt. Als Bei spiel dafür führt Uspenskij ( 1 970, 1 42 f. ; dt. 1 975 , 1 23 f.) die B eschreibung des Zimmers des Hauptmanns Lebjadkin in Dostoev skijs Dämonen an. Das Zimmer wird, wie Uspenskij konstatiert, vom räumlichen Standpunkt Stavrogins beschrieben, dem der Erzähler schon vorher gefolgt ist, aber es wird nicht "mit den Augen" Stavrogins gesehen (d. h. mit seiner Selektion der Momente des "setting" dargeboten), son dern so, wie es ein aufmerksamer Beobachter aus dem raum-zeitlichen Standpunkt Stavrogins wahrgenommen hätte. Ungeachtet einiger Inkonsistenzen und problematischer Interpretatio nen, v or allem der Opposition von Außen und Innenl9, bedeutete Uspen19
Höchst problematisch ist z. B. die l11ustration der erlebten Rede (die - etwas reduktio nistisch - als "Verschmelzung unterschiedlicher Standpunkte auf der Ebene der Phra seologie" definiert wird) durch den bekannten Ausspruch des Dieners Osip in Nikolaj Gogol ' s Komödie Der Revisor (Revizor) : "Der Wirt sagte, dass ich euch nichts zu es sen gebe, bis ihr das Frühere bezahlt" (TpaKTHp�HK CKa3aJI , 'ITO He AaM BaM eCTb , no-
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III . Die Erzählperspektive
skijs Modell einen entscheidenden Fortschritt, insofern es die Perspektive als ein Phänomen mehrer Ebenen darstellte. Seine Theorie gab den An stoß zur Ausarbeitung weiterer Mehrschichtenmodelle. Der niederländische Romanist Jaap Lintvelt ( 1 98 1 , 39) hat ein Modell vorgeschlagen, das ebenfalls vier Ebenen umfasst, diese aber etwas anders als Uspenskij definiert. Lintvelt unterscheidet: 1 ) eine "perzeptiv-psychi sche" Ebene (plan perceptij-psychique), 2) eine "zeitliche" Ebene (plan temporel), 3) eine "räumliche" Ebene (plan spatial) und 4) eine "verbale" Ebene (plan verbal). Das Phänomen der Erzählperspektive (perspective narrative) verortet Lintvelt allerdings nur in der ersten, der "perzeptiv psychischen" Ebene. Die drei anderen Ebenen sind für ihn nicht mehr solche der Perspektive, sondern all gemeiner catigories narratives. Inso fern modifiziert er Uspenskijs Stratifikationsmodell. Wie schon Genette, der von mode und voix nur die erste Kategorie als Phänomen der Perspek tive anerkennt, scheidet Lintvelt die Ebene der sprachlichen Realisierung des Diskurses aus den perspektivischen Fakten aus. Und wo bleibt bei ihm Uspenskij s "Wertung" oder "Ideologie"? Sie scheint ihm, wie er ausführt, nicht isolierbar zu sein, sondern aus den genannten vier Ebenen zu resul tieren. Shlomit Rimmon-Kenan ( 1 98 3 , 77-85) unterscheidet drei "Facetten der Fokalisierung": 1 ) die "perzeptive" Facette (perceptual Jacet), die durch die Koordinaten Raum und Zeit definiert ist, 2) die "psychologi sche" Facette (psychological Jacet), für die die "kognitive und emotionale Einstellung des Fokalisators zum Fokalisierten" maßgebend ist, 3) die "ideologische" Facette (ideological Jacet). Uspenskij folgend, betrachtet Rimmon-Kenan die "Wechselbeziehungen zwischen den unterschiedenen Facetten" und konzediert die Möglichkeit, dass die Facetten unterschiedli chen Fokalisatoren zugeordnet sind20• Wo aber bleibt bei ihr Uspenskijs
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Ka He 3annaTH1'e 3a npeX
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"Ebene der Phraseologie"? Offensichtlich in der Absicht, nicht mit Ge nettes Unterscheidung von "Stimme" ("Wer spri cht?") und "Modus" ("Wer sieht?") in Konflikt zu geraten, klammert Rimmon-Kenan die Sprache aus dem B ereich der Perspektive aus und gesteht ihr nicht den Status einer eigenen Facette zu, sondern nur den eines begleitenden "ver bal indicator of focalization" ( 1 983 , 82). 2. Model l der Erzähl perspektive
Was könnte und soll te "Erzählperspektive" im narratologischen Sinne be deuten? Perspektive sei hier definiert als der von inneren und äußeren Faktoren gebildete Komplex von Bedingungen für das Erfassen und Dar stellen eines Geschehens. Diese Definition wird im Folgenden in drei Schritten erläutert. a) Geschehen als Objekt der Perspektive Beginnen wir mit dem letzten B egriff der Definition, dem Geschehen. Im Gegensatz zu den meisten Modellen narrativer Operationen, die die Exis tenz einer Geschichte ohne Perspektive vorsehen , wird hier davon aus ge gangen, dass die Perspektive nicht auf eine schon konstituierte Geschichte angewendet wird, sondern auf das ihr zugrunde liegende Geschehen. Oh ne Perspektive gibt es keine Geschichte. Eine Geschichte konstituiert sich überhaupt erst dadurch, dass das amorphe, kontinuierliche Geschehen einer selektierenden und hierarchisierenden Hinsicht unterworfen wird 21 • Wie schon oben (1. 1 ) ausgeführt, ist eine der Prämissen der vorliegenden Arbeit , dass j egliche Darstellung von Wirklichkeit in den Akten der Aus wahl , Benennung und Bewertung der Geschehensmomente Perspektive impliziert. Die für eine Geschichte konsti tutive Rolle der Perspektive gilt auch für faktuales Erzählen. Man kann nicht von einer realen Begebenheit er zählen, ohne aus der prinzipiell unendlichen Menge von Momenten und Eigenschaften, die der Begebenheit zugesprochen werden können, eine begrenzte Anzahl auszuwählen. Die Auswahl aber ist immer von einer
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läuft Rimmon-Kenan dieselbe Verwechslung von subjektivem und objektivem Aspekt . der Psychologie wie Uspenskij. Zur Opposition von Geschehen und Geschichte und zum Ort der Perspektive im Modell der narra tiven Transformationen siehe unten, Kap. V.
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III. Die Erzählperspektive
Perspektive geleitet. Der Unterschied zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen besteht darin, dass das Geschehen im ersteren real ist und im zweiten nur als Implikat der fiktiven Geschichte existiert. b) Erfassen und Darstellen In der oben vorgeschlagenen Definition der Perspektive werden zwei Akte unterschieden: das Erfassen und das Darstellen von Geschehen. Diese Unterscheidung ist deshalb erforderlich, weil ein Erzähler ein Geschehen anders darstellen kann, als er es erfasst oder erfasst hat. Wo eine solche Inkongruenz von Erfassen und Darstellen vorliegt, gibt der Erzähler nicht wieder, was und wie er selbst wahrgenommen hat, sondern reproduziert, scheinbar eigene Wahrnehmungen darstellend, in Wirklichkeit die subjek tive Wahrnehmung einer oder mehrerer der erzählten Personen. Solche In kongruenz, die charakteristisch ist für- fiktionales Erzählen und im faktua len nur ausnahmsweise begegnet, wird zum Merkmal des personalen Er zählens , das in der europäischen Literatur seit der Empfindsamkeit zu einem der Hauptmodi der Wirklichkeitsdarstell ung geworden ist. Erfassen und Darstellen sind unterschiedliche Akte des Erzählens. In den verbreiteten Modellen der Perspektive wird diese Unterscheidung in der Regel nicht gemacht oder nicht gebührend berücksichtig f2• Die von Genette eingeführte Unterscheidung von mode oder vision (Wer sieht?) und voix (Wer spricht?) hat Berührungspunkte mit d�r Dichotomie von Erfassen und Darstellen, ist jedoch mit ihr nicht identisch und wird im Ü bri gen bei Genette nicht konsequent durchgeführt. Daran hindert Ge nette schon die Identifizierung des "extradiegetischen" Erzählers mit dem Autor (s . o.), was für einen solchen Erzähler die Möglichkeit eines eige nen Erfassens (in der fiktiven, dargestellten Welt) v on vornherein aus schließt. Vision ist bei Genette das Privileg der Person. Deshalb kann er auch die Existenz von etwas derartigem wie einer "Nullfokalisierung" postuli eren.
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Allerdings hat schon Kristin Morrison ( 1 96 1 ) darauf aufmerksam gemacht, dass bei H. James und P. Lubbock die Perspektive auf zwei hnterschiedliche Instanzen bezogen ist, und hat zwischen dem point 0/ view des E�zählers ( ..speaker of the narrative words") und der wahrnehmenden Person, des Reflektors (..knower of the narrative .sto ry") unterschieden (vgl. dazu Stanzel 1 979, 22; MartinezlScheffel 1 999, 63).
2. Modell der Erzählperspektive
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c) Parameter der Perspektive Oben wurde unterstellt, dass Erfassen und Darstellen durch äußere und innere Faktoren bedingt sind. Diese Faktoren sind unterschiedlichen Para metern , Aspekten oder Facetten zugeordnet, in denen sich das Phänomen der Perspektive auf je ei gene Weise manifestieren kann. Um die Parame ter der Perspekti ve zu differenzieren, in denen eigene Faktoren des Erfas sens und Darstellens auftreten können, führen wir ein Gedankenexperi ment durch. Stellen wir uns Zeugen eines Autounfalls vor, die vor Gericht Aussagen über das von ihnen erfasste Geschehen machen sollen. Jeder der Zeugen wird möglicherweise eine eigene V ersion des Geschehenen vor tragen, d. h. eine eigene Geschichte des Unfalls erzählen. Selbst bei äu ßerstem Streben der Zeugen nach Objektivität können ihre Aussagen ein ander widersprechen, und zwar nicht nur deshalb, weil die Zeugen das Geschehene unterschiedlich deutlich erinnern oder ein und dieselbe Ge schichte unterschiedlich darstellen. Die Abweichung der Aussagen grün det bereits in der je spezifischen Wahrnehmung des Geschehens, d. h. in einer unterschiedlichen Auswahl der Fakten und in einer ei genen Gewich tung der Umstände. 1 . Räumliche Perspektive
Wenn die Zeugen das Geschehen unterschiedlich wahrgenommen haben, kann das zunächst durch ihren räumlichen Standpunkt bedingt gewesen sein. Je nach der räumlichen Position zum Unfall geschehen und abhängig vom Blickwinkel werden die Zeugen unterschiedliche Momente der Wirk lichkeit wahrgenommen und zu Bestandteilen ihrer Geschichte gemacht haben. Ein Zeuge mag gesehen haben, dass ein Beteiligter vor dem Unfall ein Blinksignal gegeben hat, was einem anderen aufgrund seines Standorts entgehen musste. Die räumliche Perspektive wird konstituiert durch den Ort, von dem aus das Geschehen wahrgenommen wird, mit den Restrikti onen des Gesichtsfelds, die sich aus diesem Standpunkt ergeben. Der Beg riff der räumlichen Perspektive erfüllt als einziger der Termini, die einen Bezug des Erfassens und Darstellens auf ein Subjekt ausdrücken, die In tension von Perspektive oder point 0/ view im eigentlichen, ursprüngli chen Sinne des Wortes. Alle anderen Verwendungen des Perspektiv be griffs sind mehr oder weniger metaphorisch. 2. /deologische Perspektive
Die Wahrnehmungen der Zeugen können auch dann divergieren, weim diese ein und denselben räumlichen Standpunkt einnehmen und ein und
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III . Die Erzählperspektive
dasselbe Gesichtsfeld haben. Der Unterschied im Erfassen des Gesche hens kann nämli ch auf unterschiedliche ideologische Perspektiven zurück gehen. Die ideologische Perspektive umfasst verschiedene Faktoren, die das subjektive Verhältnis des Beobachters zu einer Erscheinung bestim men: das Wissen, die Denkweise, die Wertungshaltung, den geistigen Ho rizont23 • Abhängig von diesen Faktoren werden Beobachter je andere Mo mente des Geschehens fokussieren und infolgedessen unterschiedliche Geschichten bilden. So ist das Erfassen geprägt vom Wissen. Ein junger Mann, der sich mit Automobilen und Verkehrsregeln bestens auskennt, wird in einem Verkehrsunfall andere Details und Umstände erfassen als eine ältere Dame, die nie -ein Automobil gelenkt hat. Das Erfassen ist na türlich auch von der Wertungshaltung beeinflusst. Zwei junge Leute, die gleiches Wissen um Automobile und Verkehrsregeln haben, aber unter schiedlicher verkehrspolitischer Ansichten sind, werden aufgrund ihrer unterschiedlichen Wertungshaltungen unterschiedliche Facetten desselben Unfall geschehens erfassen und die Beteiligung von Fußgängern, Radfah rern und Autofahrern am Unfall geschehen unterschiedlich wahrnehmen. Die unterschiedliche Wahrnehmung eines und desselben Geschehens durch verschiedene Zeugen aufgrund der Differenz ihrer Wertungshaltung und Lebensinteressen wird anschaulich in Karel C apeks Erzählung Der Dichter (Basnik) aus dem Zyklus Erzählungen aus der einen Tasche (Po vidky z jedne kapsy) illustriert. Ein Autofahrer überfahrt im �nächtlichen Prag eine Straßenpassantin und begeht Fahrerflucht. B ei der B efragung der Zeugen ergibt sich, dass sie am Unfallgeschehen durchaus Unter schiedliches wahrgenommen haben , dass aber keiner von ihnen das Kenn zeichen des Fahrzeugs angeben kann. Der Polizist, der der Verletzten zu Hilfe geeilt ist, hat nicht auf das Automobil geachtet. Der Student der In genieurwissenschaften hat, ganz auf das Motorgeräusch konzentriert, sogleich bemerkt, dass es sich um einen Viertakter Verbrennungsmotor handelte, hat aber das Kennzeichen nicht angesehen und kann nicht ein mal Angaben zur Farbe und Form des Wagens machen. Mit Automarken kennt er sich im Übri gen auch nicht aus. Und sein Freund, der Poet, der ebenfalls Zeuge war, kann nur Aussagen über die "Stimmung" der nächt23
In den internetgestützten Diskussionen der Forschergruppe Narratologie hat Fotis Jan nidis (www.NarrPort.uni-hamburg.de/80256A59003C90A9. 5.3.2004) angemerkt, mei ne "ideologische" Perspektive umfasse zu viele Aspekte, die differenziert werden müss ten in "Wissen, Denkweise, Wertungshaltung, gei litigen Horizont" . Das ist bei Bedarf, d. h. wenn ein Werk solche Differenzierung tatsächlich erfordert, durChaus möglich. Ich sehe aber keine Notwendigkeit, diese Differenzierung generell vorzunehmen.
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Model l der Erzählperspektive
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lichen Straße mit dem auf dem Asphalt liegenden Unfallopfer machen. Aus den Bildern des von ihm unmittelbar nach dem Unfall verfassten Gedichts , "Schwanenhals, weibliche Brust, Trommel mit Schellen" , ge lingt es ihm jedoch, das unbewusst registrierte Autokennzeichen zu rekon struieren: Es enthält die Ziffern 235. Die Ausgliederung einer eigenen ideologischen Perspektive könnte auf Ein wände stoßen. Nicht dass die Ideologie perspektivisch irrelevant wäre, nein, Probleme bereitet die Tatsache, dass sie auch an anderen Facetten der Perspektive teilhat. Deshalb hat Lintvelt ( 1 98 1 , 1 68) gegen Uspenskij zu bedenken gegeben, dass seine Ebene der "Wertung" von den übrigen nicht zu isolieren sei. In seinem eigenen Modell versucht er, ohne . die ideologische Ebene auszukommen, da sie, wie er argumentiert, in den übrigen Ebenen teilweise schon enthalten sei . Tatsächlich kann in den anderen Aspekten der Perspektive Wertung oder Ideologie impliziert sein. Aber sie kann auch unabhängig von anderen Facetten auftreten, in der Form direkter, expliziter Wertung. Deshalb erscheint die Ausgliederung einer selbständigen ideologischen Perspektive sinnvoll und notwendi g. 3. Zeitliche Perspektive Wenn die Zeugen in unserem Gedankenexperiment ihre Aussagen zu un terschiedlichen Zeitpunkten machen , kommt die zeitliche Perspektive ins Spiel . Die zeitliche Perspektive bezeichnet den Abstand zwischen dem ursprünglichen Erfassen und späteren Erfassens- und Darstellungsakten. Unter "Erfassen" wird hier nicht nur der erste Eindruck verstanden, son dern auch seine spätere Verarbeitung und Interpretation24• Welche Folgen hat eine Verschiebung des Standpunkts auf der Zeit achse? Während eine räumliche Verschiebung mit der Veränderung des Wahrnehmungsfeldes verbunden sein kann, tritt mit der zeitlichen V er schiebung möglicherweise eine Veränderung im Wissen und Bewerten ein. Mit zeitlichem Abstand vom Geschehen kann das Wissen um die Gründe und Fol gen zunehmen, und das kann zu einer veränderten Bewer tung des Geschehens führen. Ein Zeuge, der bei seiner ersten Aussage mit Automobilen und Verkehrsregeln nicht vertraut war, aber inzwischen seine Kenntnis erweitert hat, kann frühere Eindrücke revidieren und be stimmten Details des Geschehens, die er zwar wahrgenommen hat, aber nicht richtig deuten konnte, eine neue Bedeutung geben. Mit wachsender 24
Für die zeitliche Perspektive ist also nicht nur die Distanz iwischen (erstem) Erfassen und Darstellen relevant, sondern auch der Abstand zwischen den unterschiedlichen Phasen der Verarbeitung.
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III. Die Erzählperspektive
zeitlicher Distanz zwischen dem ersten Erfassen (oder einer späteren In terpretation des ersten Eindrucks) und der Wiedergabe kann sich das Wis sen des Zeugen indes auch vermindern , wenn der Zeuge im Laufe der Zeit einzelne Fakten vergisst (wie das in der Regel mit jenen Momenten ge schieht, die in die wahrgenommene Geschichte nicht fest integriert sind). Auch für die zeitliche Perspektive stellt sich die Frage, wie sehr die Ausgliederung eines eigenen Parameters gerechtfertigt ist. Denn für die Perspektive ist nicht die Zeit als solche relevant, sondern nur als Träger von Veränderungen im Wissen und Bewerten. Gerade aber hinsichtlich dieser Rolle kann man die Frage, ob die zeitliche Distanz ein Faktor ist, der das Erfassen und Darstellen beei � usst, nur positiv beantworten. 4. Sprachliche Perspektive Ein Zeuge kann in seinen Aussagen unterschiedliche sprachliche Register verwenden. Er kann bei der Erzählung vom Geschehen Ausdrücke und Intonationen gebrauchen, die seinem damaligen Wissen und Bewerten, seinem inneren Zustand während des Geschehens entsprechen, oder aber Ausdrucksformen, in denen sich ein veränderter innerer Zustand oder ein verändertes Wissen und Bewerten kundtun. In dieser Wahl manifestiert sich die sprachliche Perspektive. Der Terminus sprachliche Perspektive ist natürlich hochmetaphorisch. Hier erreicht die in den Perspekti vtheorien waltende Tendenz zu übertragener Wortverwendung ihren Höhepunkt. Das ist gleichwohl kein Grund, die Sprache aus den perspektivischen Fak ten auszuscheiden, wie das in mancher Theorie geschieht (explizit z. B. bei Ri mmon-Kenan 1 98 3 , 82). Perspekti visch relevant sind in der Sprache vor allem die Teilbereiche Lexik, Syntax und Sprachfunktion, weniger die Morphologie2s • Eine besondere Bedeutung erlangt die sprachliche Perspektive bei nichtdiegetischen Erzählern. Sie stehen vor der Wahl , ein Geschehen in ihrer eigenen Sprache wiederzugeben oder in der Sprache einer der erzähl ten Personen oder eines Milieus. Der Unterschied zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen spielt hier keine wesentliche Rolle. In jeder all täglichen nichtdiegetischen Erzählsituation muss der Erzähler entschei den , ob er in eigener Sprache erzählt oder in den Begriffen und im Duktus betroffener dritter Personen. Die Abgrenzung der sprachlichen Perspektive von der ideologischen ist manchmal problematisch. Die unterschiedlichen Benennungen Napo 2S
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Wenn man von dem Fall falscher Grammatik als / eines bewusst eingesetzten Merkmals zur Charakterisierung von Erzähler- oder Personenrede absieht.
2. Modell der Erzählperspektive
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leons in Krieg und Frieden ("Buonaparte" - "Bonaparte" - "Napoleon" "l ' empereur Napoleon"), die Uspenskij ( 1 970, 40-46; dt. 1 975 , 37-4 1 ) als Beispiel für den "Standpunkt auf der Ebene der Phraseologie" anführt, differieren nicht nur sprachlich, sondern auch in der Bewertung. Es gibt jedoch auch lexi kalische und syntaktische Mittel , in denen die Wer tungsposition weit weniger stark ausgedrückt wird, als das oft bei Be nennungen der Fall ist. Schon das ist ein Grund dafür, die ideologische und die sprachliche Perspektive zu unterscheiden. In unserm Gedankenexperiment haben wir die sprachliche Perspektive nicht auf das Erfassen eines Geschehens bezogen, sondern auf die Darstel lung (die Aussage vor Gericht). Der Parameter der Sprache hat jedoch auch für die Wahrnehmungen Relevanz, denn wir nehmen die Wirklich kei t in Kategorien und Begriffen aus dem semantischen System einer be stimmten Sprache wahr. Die fiktionale Literatur geht zumindest davon aus, dass der Held, der ein Geschehen wahrnimmt, seinen Eindruck in einer Rede artikuliert, und sei es auch nur in einer inneren. Darauf gründet die Wiedergabe der Wahrnehmung einer Person in direkter innerer Rede. Die Sprache wird durch den die Wahrnehmung wiedergebenden Erzähler nicht hinzugefügt, sondern existiert schon im Wahrnehmungsakt selbst, vor seiner Wiedergabe. Insofern ist die sprachliche Perspektive auch für das Erfassen eines Geschehens relevant. 5. Perzeptive Perspektive Der wichti gste Faktor, der die Wahrnehmung des Geschehens bestimmt . und oft mit der Erzählperspektive überhaupt identifiziert wird, ist das Pris ma, durch das das Geschehen wahrgenommen wird. Auf die perzeptive Perspekti ve zielen Fragen wie "Mit wessen Augen blickt der Erzähler auf die Welt?" oder "Wer ist für die Auswahl dieser und nicht anderer Mo mente des Geschehens für die Geschichte verantwortlich?" In faktualen Texten (zu denen auch Aussagen vor Gericht gehören) wird der Erzähler ledi glich seine eigene Wahrnehmun g wiedergeben , wo bei er immer noch zwischen der Wahrnehmung seines früheren erzähl ten Ich und seines jetzi gen erzählenden Ich wählen kann. Im Unterschied dazu kann der Erzähler eines fiktionalen Textes eine fremde perzeptive Perspektive übernehmen , d. h. die Welt durch das Prisma einer dritten Person darstell en. Die Darstellung der Welt, wie sie von einer Person wahrgenommen wird, setzt die Introspektion des Erzählers in das Bewusstsein der Person voraus. Die Umkehrung ist freilich nicht zulässi g: Die Introspektion in das
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III . Die Erzählperspekti ve
Bewusstsein der Person ist durchaus auch dort möglich, wo der Erzähler nicht durch das Prisma der Person erzählt. Der Erzähler kann das Be wusstsein einer Person beschreiben, ohne ihre perzeptive Perspektive zu übernehmen. Fedor Karamazov z. B. wird "innerlich" beschrieben, aber keineswegs durch das Prisma seiner ei genen Wahrnehmung. Introspektion in das Innere einer Person und die Übernahme der perzeptiven Perspektive der Person sind, wie oft sie in Perspektivtheorien auch vennengt werden mögen (worauf oben mehrfach hingewiesen wurde) , zwei durchaus ver schiedene Dinge. Im ersten Fall ist die Person, genauer ihr B ewusstsein, das Objekt der Wahrnehmung des Erzählers, im zweiten Fall ist sie das Subjekt oder das Prisma der Wahrnehmung, durch die der Erzähler die erzählte Welt entwirft. Die perzeptive Perspektive fällt häufi g mit der räumlichen zusammen, aber das ist nicht zwangsläufi g. Der Erzähler kann die räumliche Position einer Person einnehmen, ohne die Welt mit den Augen dieser Person wahrzunehmen. Als Beispiel dafür kann noch einmal die Beschrei bung des Zimmers des Hauptmanns Lebjadkin in Dostoevskijs Dämonen die nen, auf das Uspenskij ( 1 970, 1 42 f. ; dt. 1 975 , 1 23 f. ; vgl. oben, S. 1 23) verweist. Es wird hier beschrieben , was Stavrogin hätte wahrnehmen kön nen, aber es wird nicht durch sein Prisma beschrieben. Die Auswahl der Details entspricht nicht seiner Perzeption. Die Beschreibung aus der perzeptiven Perspektive einer Person ist häu fi g durch die Wertung und den Stil dieser Person markiert. Aber auch diese Koinzidenz ist nicht obligatorisch: In den Parametern der Perzep tion, der Wertung und d�r Sprache braucht die Perspektive nicht auf ein . und dieselbe Instanz bezogen zu sein. Das Gedankenexperiment mit den Aussagen von Zeugen zu einem Ver kehrsunfall hat fünf Parameter der Perspektive ergeben. Wenn man diese Parameter in eine Reihenfolge nicht nach ihrer Bedeutung für das Expe riment, sondern nach ihrer Relevanz für die Konstitution der Perspektive im literarischen Werk bringt, so ergibt sich folgende Reihung: 1) Perzep tion, 2) Ideologie, 3) Raum, 4) Zeit, 5 ) Sprache. d) Narratoriale und personale Perspektive Der Erzähler hat zwei Möglichkei ten, eilil Geschehen darzustellen: Er kann aus seiner eigenen , der narratorialerl Perspektive erzählen oder ei nen personalen Standpunkt übernehmen , d. h. aus der Perspektive einer
2. Modell der Erzählperspektive
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oder mehrerer der erzählten Figuren erzählen26• So ergibt sich eine einfa che binäre Opposition der Perspektiven. Die Binarität resultiert daraus , dass das Erzähl werk in ein und demsel ben Textsegment zwei wahrneh mende, wertende, sprechende und handelnde Instanzen darstellen kann, zwei bedeutungserzeugende Zentren: den Erzähler und die Person. Terti um non datur. Deshalb ist in dem hier vorgestellten Modell kein Platz für eine "neutrale" Perspektive, die in einer Reihe von Theorien (Stanzel 1 95527 ; Petersen 1 977, 1 87- 1 92; Lintvelt 1 98 1 , 38 f.28 ; Broich 1 9832� vor gesehen ist, ebenso wenig für eine "Nullfokalisierung" , deren Existenz Genette postuliert (siehe oben, S. 1 1 7) 30.
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Die Bezeichnungen lIarratorial und personal sind abgeleitet von den Instanzen, auf die sich die Perspektive jeweils bezieht. Den Tenninus narratorial hat meines Wissens Roy Pascal (1 977) eingeführt; der Tenninus personal begegnet schon bei Stanzel ( 1 955). Da er gut eingeführt ist und mir eindeutig zu sein scheint, ziehe ich ihn dem Tenninus figural vor. Lintvelt ( 1 98 1 , 38) unterscheidet zwischen auctoriel und actoriel. Dorrit Cohn (1 978, 1 45-1 6 1 ; 1 98 1 , 179 f.) nennt die beiden Perspektiven, sofern sie in der "Er-Erzählung" vorkommen, nach Stanzel authorial undfigural, für die "Ich-Erzäh lung", für die Stanzei bis zuletzt ( 1 979, 270-272) die Existenz zweier Perspektivmö g lichkeiten nicht anerkennt, dagegen dissonant und consonallt. Der Begriff auktorial be zieht sich in diesem Buch nicht auf den Erzähler, sondern auf den Autor. Es wir hier al so, der Differenzierung der Instanzen entsprechend, zwischen auktorial, narratorial und personal unterschieden. Zur Vermeidung von Missverständnissen sei noch betont, dass Stanzeis Dichotomie auktorial vs. personal nicht oder nicht nur Möglichkeiten der Perspektive bezeichnet, sondern auch Typen des Romans und "Erzähl situationen". In letzterem Begriff sind mehrere Merkmale miteinander verbunden. So hat der Begriff auktorial bei Stanzel unterschiedliche Bedeutungsfacetten: 1 ) der Erzähler ist stark pro filiert und tritt mit Wertungen und Kommentaren hervor, 2) es handelt sich um einen Erzähler in der "dritten Person" und nicht in der "ersten", d. h. der Erzähler teilt mit den erzählten Personen nicht den Seinsbereich, 3) die Perspektive ist die des Erzählers und nicht der Person . In späteren Arbeiten hat Stanzel (1 964; 1 979) auf den Begriff der "neutralen Erzählsitu ation" verzichtet. Lintvelt akzeptiert einen type narratif neutre allerdings nur für die "heterodiegetische" Erzählung. Um die Notwendigkeit eines dritten, "neutralen" Perspektiv typus zu erhärten, beruft sich Ulrich Broich ( 1 983, 1 36 ) auf Texte in erlebter Rede, "die gleichzeitig sowohl durch einen Erzähler als auch durch einen Reflektor vennittelt werden". Aber die Per spektive ist hier nicht "neutral", sondern hybrid, gemischt, zugleich narratorial und per sonal. Mit der Struktur der erlebten Rede lässt sich die Notwendigkeit oder Zulässigkeit . einer Kategorie der neutralen Perspektive deshalb nicht begründen. Die Opposition von narratorialer und personaler Perspektive kann in bestimmten Seg menten eines Textes hinsichtlich bestimmter Merkmale neutralisiert sein. Die NeutraJi-
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III . Die Erzählperspektive
In der Opposition narratoriale vs. personale Perspektive ist das zweite Glied markiert. Das heißt: wenn die Perspektive nicht personal ist (und die Opposition der Perspektiven nicht völlig neutralisiert ist), wird sie als narratorial betrachtet. Narratorial ist die Perspektive also nicht nur dann, wenn das Erzählen deutliche Spuren des Erfassens und Darstellens durch einen individuellen Erzähler trägt, sondern auch dann, wenn das Erzählen "objekti v" zu sein scheint oder nur geringe Spuren einer Brechung der Wirklichkei t durch ein irgendwie geartetes Prisma enthält. Denn der Er zähler ist im Erzähl werk immer präsent, und sei es nur durch die Auswahl . der Geschehensm omente. Von der Mehrzahl der Point-of- v iew-Typologien unterscheidet sich das hier vorgeschlagene Modell dadurch, dass die Präsenz des Erzählers in der Geschichte (wie auch seine Kompetenz, Introspektion, Markiertheit und Subj ektivi tät) nicht als Probleme der Perspektive, sondern der Typo logi e des Erzählers betrachtet werden . Die narratoriale und . personale Perspekti ve treten sowohl im nichtdie getischen als auch im diegetischen Erzählen auf. Wenn man die beiden binären Oppositionen narratorial vs. personal und nichtdiegetisch vs. diegetisch mitei nander koppelt, ergeben sich vier Typen, die in der Wirk lichkeit der Texte auch tatsächlich vorkommen3 1 : nichtdiegetisch
diegetisch
n arratorial
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personal
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Typ des Erzähl ers Perspektive
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sierung der Opposition schafft jedoch keinen dritten, ..neutralen" Typus der Per. spektive. Diese Typen lassen sich nicht ohne weiteres mit bestimmten Werken in Verbindung bringen , da die Perspektive ein sehr veränderliches Phänomen ist Von einem ..perso nalen Roman" zu sprechen, wie das Stanzel tut, i�t nur unter dem Vorbehalt möglich, dass das Vorkommen oder die Dominanz der pbrsonalen Perspektive in bestimmten Segmenten nicht das Auftreten der narratorialen Perspektive in anderen Segmenten aus schließt.
2. Modell der Erzählperspektive
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1 ) Ein nichtdiegetischer Erzähler erzählt aus seiner ei genen Perspektive. Ein Beispiel dafür ist Anna Karenina, wo der Erzähler, der nicht in der erzählten Geschichte figuriert, die Geschehnisse mit Ausnahme weniger Stellen narratorial darbietet. 2) Ein Erzähler, der als erzähltes Ich in der Geschichte auftritt, erzählt aus der Perspektive des ,jetzigen" , d. h. des erzählenden Ich. Ein solcher Ty pus liegt etwa in Dostoevskijs Erzählung Die Sanfte v or, wo auf den dia logischen Erzählmonolog32 des Pfandleihers das unbestreitbare Faktum einwirkt, dass auf dem Zimmertisch der Leichnam seiner Frau liegt, die sich vor weni gen Minuten aus dem Fenster gestürzt hat. Dieses Faktum erlaubt es dem Erzähler nicht, sich in die Vergangenheit zu versenken und die Gegenwart zu vergessen. Sobald der Erzähler, der sich bemüht, "seine Gedanken auf einen Punkt zu konzentrieren" , "jedes kleine Detail , jede Einzelheit zu erinnern" , sich in diesen "Einzelheiten" verliert, verweist ihn eine strenge Geste des imaginären Hörers , seines alter ego und Rich ters, auf die schreckliche Gegenwart. Die Präsenz dieses vorgestellten Gegenübers zwingt den Erzähler, der sich allzu gerne in der Vergangen heit verlieren würde und deshalb zur personalen Perspektive tendiert, im . mer wieder dazu, einen narratorialen Standpunkt einzunehmen.
3) Ein nichtdiegetischer Erzähler nimmt den Standpunkt einer Person ein , die als Reflektor fungiert. Ein Beispiel dafür ist Dostoevskijs Ewiger Ehe mann (siehe oben, II.4.c). An diesem Werk aber haben wir auch beobach tet, wie die personalen Wertungen von narratorialer Ironie überlagert wer den. 4) Ein diegetischer Erzähler berichtet von seinen Erlebnissen aus der Per spektive des "früheren" , erzählten Ich. Das ist die Perspektive, die in Dostoevskijs Jüngling dominiert. Arkadij Dolgorukij beschreibt sein Le ben des vergangenen Jahres "mit der damali gen Charakteristik" ; er teilt nur mit, was ihm als erzähltem Ich im entsprechenden Moment der Ge schichte bekannt war und bewertet Menschen wie Ereignisse nach dem Standpunkt seines früheren Ich. Sein erklärtes Ziel ist es, "den damali gen Eindruck wiederherzustellen" . Am Ende des Romans legt der Erzähler seine Methode offen dar: [ ] es tut mir furchtbar leid, dass ich mir in diesen Aufzeichnungen oft erlaubt habe, über diesen Menschen [d. i. Tat'jana Pavlovna] respektlos und von oben herab zu ur teilen. Aber im Schreiben habe ich mir mich selbst allzu sehr immer so vorgestellt, wie . . .
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Zu dem Begriff siehe oben, Abschnitt n.5 .e.
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III. Die Erzählperspektive
ich in jeder der von mir beschriebenen Minuten jeweils gewesen bin. (F. M. Dostoev skij, Poln. sobr. soi':. v 30 t. , Bd. 1 3, S. 447)
Kommen dem erzählenden Ich seine Handlungs- und Denkweise des ver gangenen Jahres zu naiv vor, streicht es den inneren Abstand heraus, den es zu seinem früheren Ich in dem halben Jahr gewonnen hat: Natürlich besteht zwischen dem damaligen und dem heutigen Ich ein ungeheurer Un terschied. (Ebd., S. 5 1 )
e ) Perspektivierung i n der diegetischen Erzählung ("Der Schuss") ' Wenn der Erzähler in den Worten, die die Wertung der Person aus drücken, seine eigenen Akzente setzt, wird die Aussage "zweistimmig". Für den nichtdiegetischen Erzähler wurde die zweistimmige Wiedergabe personaler Wertung bereits am Beispiel des Ewigen Ehemanns demon striert (IIA.c). In diesem Abschnitt sei die Zwei stimmigkeit des persona len Erzählens in der diegetischen Variante betrachtet, und zwar am Bei spiel von Puskins Schuss. Dieses Beispiel wird ein weiteres Mal belegen , dass es sinnvoll und erforderlich ist, auch für das diegetische Erzählen zwischen narratorialer und personaler Perspekti ve zu unterscheiden. Der primäre Erzähler des Schusses berichtet von zwei Begegnungen mit je einem der Duellanten und gibt dabei die Erzählung Sil ' vios vom ersten Teil des Duells und die Erzählung des Grafen vom zweiten Teil wieder. Die Geschichte der bei den Begegnungen wird zweistimmi g er zählt, sowohl mit der personalen Wertung des erzählten Ich als auch mit narratorialen Akzenten des erzählenden Ich. Die simultane Wirksamkeit von personaler und narratorialer Perspektive gewinnt noch dadurch an Komplexität, dass das die bei den Instanzen umfassende Ich als dynami sche Fi gur dargestellt ist. Im Gegensatz zu Sil ' vio, dem statischen roman tischen Helden , entwickelt sich das Ich des Erzählers. Der junge Mann quittiert den Militärdienst und tauscht das geräuschvolle, sorglose Leben in der Garnison gegen das einsame Leben des Besitzers eines herunterge kommenen Guts. Die Veränderung der Lebensumstände wird von der Ernüchterung und Reifung des jungen Mannes beglei tet. Während er sich im ersten Kapitel unter dem Eindruck des romantischen Sil 'vio befand, äußert er sich im zweiten Kapitel , dessen Handlung fünf Jahre später spielt, über diesen romantischen Helden w9sentlich kühler. Bezeichnen derweise kommt ihm Sil ' vio erst im Salong �spräch mit dem Grafen in de� Sinn und ledi glich als prosaisches Beispiel, eines übungsfleißigen Schüt zen. Die romantische Aura, mit der der junge Offizier Sil 'vio im ersten
2. Modell der Erzählperspektive
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Kapitel umgeben hat, ist für den Gutsbesitzer verflogen. Das erzählte Ich des zweiten Kapitels hat die Romantik überwunden, die ihn im ersten Kapitel fasziniert hat. Uns interessiert in diesem Zusammenhang, wie die Perspektivierung und die Korrelation des erzählten und des erzählenden Ich im ersten Teil der Erzähl ung gestaltet sind. Es dominiert hier die Perspekti ve des er zählten Ich , d. h. der Leser nimmt Sil ' vio und sein seltsames Verhalten entsprechend der Sichtweise und Bewertung des jugendlichen Erzählers wahr, der von Sil ' vio zunächst fasziniert, dann enttäuscht und schließlich durch das Vertrauen des älteren Freundes geehrt ist. Aber im Text sind Akzente spürbar, die den nüchternen Standpunkt des erzählenden Ich zur Geltung bringen. So interferieren hier zwei Stimmen, zwei Wertungshal tungen. Die Sichtweise und Wertung des naiven Jünglings, der der Faszi nation romantischer Stereotypen erliegt, werden konterdeterminiert durch die Sicht des gereiften Erzählers. Dabei werden die Akzente des er zählenden Ich lediglich durch Zeichen eines gewissen Vorbehalts , einer Relativierung, einer Distanzierung markiert. Es seien ein paar B eispiele dafür angeführt, wie die Wertung des ro mantisch gestimmten erzählten Ich (markiert durch einfache Unterstrei chung) durch Si gnale relati viert wird, die das erzählende Ich setzt (pJ!nkH�n� Unterstreichung): Y5m N.I!WI. mit.c
Das erzählende Ich hätte kaum über seine "romanh afte Phantasie" ge sprochen, hätte die "geheimnisvolle Erzählung" nicht mit dem etwas her absetzenden Indefinitpronomen "irgendein" verbunden und auf keinen Fall das Verb ,,(er)scheinen" gebraucht, das die Subjektivität der damali gen Wahrnehmung unterstreicht. WiL'{�.i.mll.l�tcm, dass auf seinem Gewissen irg«
schrecklichen Kunst lastete. (Ebd. , S. 66)
Im Ausdruck "unglückliches Opfer seiner schrecklichen Kunst" (des sen Formelhafti gkeit im russischen Original durch rhythmische und pho nische Wiederholungen unterstrichen wird: nescdstnaja zertva - uzdsnogo iskusstva) hört man die outrierende Intonation des nüchtern gewordegen erzählenden Ich. Eine unverkennbare Distanzierung drückt auch "wir vermuteten" aus.
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III. Die Erzählperspektive
�§.KI.!ffi J! P.� .i!P"Dg�J1§j�I..>!<J;:I!!. } I!p.LI!i9hU.I!.�I.t
vermuten. Es gibt Menschen. deren Äußeres allein einen solchen Verdacht ausschließt. (Ebd.)
Diese Bemerkung gibt zu verstehen , dass der Gedanke, der dem Erzäh ler damals nicht in den Sinn gekommen war, ihm nun durchaus nicht fern l iegt Und das Wort vom "Äußeren", das jeden Verdacht der Furchtsam keit ausschließt, kann nun verstanden werden als Hinweis auf die romanti schen Reden und Posen Sil ' vios. Die Beschreibung des romantischen Dämonismus Sil ' vios enthält ein modales Signal , das einen Zweifel im der Sichtweise und Bewertung des jungen erzählten Ich weckt: Die düstere Blässe, die funkelnden Augen und der dichte Rauch, 5!<;L.li.t
Das erzählende Ich setzt den Akzent auf das "Aussehen" . Das "Ausse hen" korrespondiert mit dem "Äußeren" , das den Verdacht auf Furcht samkeit ausschließt Es war hier zu zeigen, dass auch in der diegetischen Erzählung zwi schen narratorialer und personaler Perspektive unterschieden werden muss. An Puskins Schuss wurde darüber hinaus untersucht, wie die vor waltende personale Perspektive, d. h. die Wertung des erzählten Ich, durch die Akzente des erzählenden Ich überlagert wird. Damit wurde auch für die diegetische Variante die Möglichkeit der zweistimmi gen Wertung dargeleg f3 •
t) Narratoriale und personale Gestaltung in den fünf Parametern der Perspekti ve Wie manifestieren sich narratoriale und personale Gestaltung in den fünf Parametern, die wir für die Perspekti ve unterschieden haben? 1 . Perzeptive Perspektive Wenn die erzählte Wel t nach den Symptomen des Textes mit den Augen einer Person wahrgenommen wird, liegt personale perzeptive Perspektive vor. Wenn sich aber keine Anzeichen für eine Brechung der Welt durch das Prisma einer oder mehrerer Personen finden, ist die perzeptive Per33
Perspektive manifestiert sich im Schuss hauptsächlich als ideologische Perspektive. S'ti· listisch ist die Opposition der Standpunkte nur gering ausgedrückt. Zu den Verfahren der Perspektivierung im Schuss vgl. Schmid 2000; 200 1 .
2. Model l der Erzählperspekti ve
1 39
spektive narratorial , gleichgültig, wie markiert und subjekti v der Erzähler ist. Ein B eispiel für eine manifest personale Perspektive im Parameter der Perzeption ist in Krieg und Frieden die Darbietung des unerwarteten Wie dersehens von Pierre Bezuchov mit Natasa Rostova in Moskau bei Fürstin Mar'ja Bolkonskaja nach dem Ende der Besetzung der Stadt durch Napo leon: In dem n iedrigen, nur von einer Kerze erleuch teten Zimmerchen saß die Fürstin und bei ihr noch jemand, in einem schwarzen Kleid. Pierre erinnerte sich, dass die Fürstin immer Gesellschafterinnen bei sich hatte . Aber wer sie und wie sie waren , diese Ge sellsch afterinnen , das wu sste er nicht, und er erinnerte sich auch nicht. "Das ist eine der Gesellschafterinnen", dachte er, als er die Dame in dem schwarzen Kleid erblickte. (L.
N. Tolstoj,
Poln . sobr. SOC. v
90 t. , Bd. 1 2, S. 214)
Die Auswahl der thematischen Einheiten verweist auf die Perspektive Pierres . In seiner Wahrnehmung gibt es drei Einhei ten: 1 ) "das niedrige, nur von einer Kerze erleuchtete Zi mmerehen" , 2) "die Fürstin" , 3) "je mand in einem schwarzen Kl eid" . Da Pierre diese Dame nicht erkennt, wird sie mit einer einzigen Ei genschaft eingeführt: "in einem schwarzen Kleid" . Erst bei einem zweiten , genaueren Blick auf die noch , nicht er kannte Natas a nimmt Pierre eine weitere Ei genschaft wahr, ihre aufmerk samen und freundlichen Augen. Die personale Perspekti ve in der Perzeption wird i n der Regel von der Personalität in den anderen Parametern begleitet, vor allem in der Wer tung und der Sprache. Das heißt: die personale Wahrnehmung wird auch ideologisch und sprachlich vom Standpunkt der Person dargeboten. So wird in Dostoevskijs Doppelgänger (Dvojnik) die Erzählung von den üblen Taten des raffinierten "Zwillings" (der nur in der Wahrnehmung des Helden exi stiert) mei stens im Stil der Reden Goljadkins und mit den für ihn typischen Wertungen präsentiert: Kaum h atte der Freund von Herrn Goljadkin-senior bemerkt, dass sein G egner sich
zu
[
.
. .]
einem förmlichen Überfall entschließen konnte, als er ihm seinerseits au f aller
unverschämteste Weise zuv orkam. Goljadkin-junior klopfte Herrn Goljadkin -senior noch zweimal auf die Wange, kitzelte ihn noch zweimal, trieb noch ein paar S ekunden sein Spiel mit ihm, der unbeweglich dastand, sprachlos vor Wut, alles zum nich t gerin gen Ergötzen der u m sie herumstehenden Jugend, und gab ihm schließ lich mit einer . die Seele empörenden Schamlosigkeit einen Klaps auf das gewölbte Bäuchlein (F.
M.
Dostoevskij , Poln . sobr. soc. v
30 t. , Bd. 1 . S. 1 66 f.)
[ . . l. .
Aber in dieser Erzählung, in der die PersonaIisierung der Perzeption extrem durchgeführt wird (man bedenke, dass die Untaten des Doppelgän-
1 40
III. Die Erzählperspektive
gers möglicherweise nichts anderes sind als eine Schimäre des Helden), ist die Koppelung der Parameter für Perspektive keineswegs obligatorisch. Die personale Wahrnehmung braucht durchaus nicht mit personaler Spra che und Wertung einherzugehen. Eine Inkongruenz der Perspekt,iven ent hält etwa die Beschreibung des ersten Erscheinens des Doppel gängers: Der Passant [d. i. der Doppelgänger, W. Sch .J verschwand schnell im Schneetreiben. Er ging auch sehr eilig, war auch, genauso wie Herr Goljadkin, von Kopf bis Fuß ver mummt, und trippelte, gen au wie er, mit kleinen schnellen Schritten, ein wenig im Trab über das Trottoir der Fontanka. (Ebd., S. 1 40)
Die perzeptive Perspektive ist hier offensichtlich personal (der Doppel gänger erscheint ja nur in der Wahrneh mung Goljadkins), aber Sprache und Wertung sind narratorial 3 4• Es finden sich hier weder Goljadkins Wer tungen noch die für den Stil des Helden charakteristischen lexikalischen und syntaktischen Merkmale. Solche Stellen, in denen Goljadkins Hallu zinationen scheinbar objektiv , in narratorialer Wertung und Sprache dar geboten werden, haben wesentlich zu der "Unklarheit" der Erzählung bei getragen , über die sich manche der zeitgenössischen Kritiker Dostoevskijs beklagt haben 3s• Je weni ger die personale Perzeption von personaler Sprache und Wer tung begleitet wird, desto schwerer wird sie für den Leser identifizierbar. Die Frage, ob die perzeptive Perspektive auf den Erzähler oder auf eine der Personen zu beziehen ist, kann dann zu einem Rätsel werden. Be trachten wir dazu eine zentrale Szene aus Anna Karenina, in der nicht ohne weiteres erkennbar ist, wer hier als sehende, denkende, fühlende Instanz fi guriert. Es geht um die Situation nach der Erfüllung dessen, was Vronskij glühend gewünscht hatte und was Anna wie ein nicht zu ver wirklichender Glückstraum erschienen war. Sie fühlte sich so verbrecherisch und schuldig, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als sich zu demütigen und um Verzeihung zu bitten; und in ihrem Leben gab es jetzt außer ihm niemanden, so dass sie auch an ihn ihre Bitte um Verzeihung richtete. Während sie ihn anschaute, empfand sie ihre Erniedrigung geradezu körperlich und konnte nichts mehr sagen. Er aber empfand das, was ein MiJrder empfinden muss, wenn er den Kör
per sieht, den er um das Leben gebracht hat. Dieser KiJrper, den er um das Leben ge3
4
3S
Der weiter unten (S . 1 42) angeführte Anfang von C �chovs Erzählung Der Student (Stu dent) bietet einen anderen Fall der Inkongruenz dr::r Perspektive hinsichtlich der ver schiedenen Parameter: Der personalen Wertung steht dort die narratoriale Perspektive in den Parametern Perzeption und Sprache gegenüber. SO etwa der Literaturpapst der Zeit Visarion Belinskij in seinen Ansichten über die rus sische Literatur des Jahres 1 846.
2. Model l der Erzählperspekti ve
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bracht hat, war ihre Liebe, die erste Phase ihrer Liebe. Es lag etwas Entsetzliches und Abstoßendes in der Erinnerun g daran, was zu diesem schrecklichen Preis der Scham erkauft worden war. Die Scham über ihre seelische Nacktheit erdrückte sie und teil te sich ihm mit. Aber' ungeachtet des g anzen Entsetzens, das der Mörder vor dem Körper des Ermordeten empfindet, muss er diesen Körper auch noch in Stücke schneiden, ver bergen, muss der Mörder das nutzen, was er mit dem Mord g ewonnen hat. Und mit Erbitterung wie mit Leidenschaft wirft sich der Mörder auf dieseIl Körper ulld zieht und zerschneidet ihn; so bedeckte auch er ihr Gesicht und ihre Schultern mit Küssen. Sie hielt seine Hand und rührte sich nicht. CL. N. Tolstoj, Poln . sobr. soc. v 90 t., Bd. 1 8, S. 1 77 f. Kursiv von mir, W. Sch .)
Wer vergleicht hier den Liebhaber mit einem Mörder? Zunächst könn te es scheinen , dass Vronskij so empfindet. Es heißt ja ausdrücklich: "Er aber empfand das , was ein Mörder empfinden muss" . Aber sollte der Ri tt meister die Erfüllung dessen, was "fast ein ganzes Jahr lang der einzige Wunsch seines Lebens war" (ebd.) , als Mord empfinden? Auch die nar ratoriale Wiedergabe der Gefühle Vronskijs scheidet hier aus. Vronskij muss anderes empfinden. In Betracht käme natürlich ein Vergleich, den der Erzähler im ei genen Namen , sozusagen hinter dem Rücken der Perso nen , anstellt, also eine rein narratoriale Bemerkung oder gar eine auktoria le, auf den Autor zurückgehende. Bei Tol stoj begegnen solche n,arratoria len - und letztl ich auktorialen - Kommentare nicht sel ten. Gleichwohl legt die Perspekti v gestaltung dieser Passage eine andere Leseweise nahe. Wenn man bedenkt, dass um die kursiv gesetzten Segmente herum die Empfindungen und die innere Rede Annas wiedergegeben werden , kann man durchaus den Schluss ziehen, dass den Vergleich des wütenden Lieb habers mit dem Mörder niemand anders als Anna selbst zieht. In ihrem Bewusstsein ist eine solche Vorstellung höchst motiviert, sowohl psycho logisch als auch kompositionell . Denn das Bild des zerschnittenen Kör pers lässt sich deuten als ein Reflex des "entsetzlichen Tods" , den der Eisenbahnwärter bei ihrer ersten Begegnung mit Vronskij erl itten hat. Die Worte, die sie damals von zwei Vorübergehenden gehört hat, müssen sich tief in ihr Bewusstsein eingegraben haben : "Das ist ein entsetzlicher Tod ! [ . ] Er soll in zwei Stücke zerschnitten sein" - "Ich meine, im Gegen teil, das ist der leichteste, der schnellste Tod". CEbd.) .
.
Anna ist erschüttert und deutet das Unglück als "schlechtes Vorzei chen" (ebd.). Die HeIdin wird von diesem Moment an zur Trägeri n des fatalen Bildes vom zerschni ttenen Körper, sie unterlegt dieses Bild ihrer Liebesbegegnung mit Vronskij , und sie wird es in sich tragen , bis sich ,ihr Schicksal unter den sie zerschneidenden Rädern der Eisenbahn erfüllt hat.
1 42
III.
Die Erzählperspektive
Kurz vor ihrem Selbstmord erinnert sie sich an den überfahrenen Bahn wärter, und sie weiß, was sie zu tun hat. Bei solcher Verkettung der Mo ti ve erscheint ihr Tod unter den Rädern des Zuges als Erfüllung des Sche mas ihrer fatalen Erwartungen, das sich bereits in der ersten Begegnung mi t Vron�kij gebildet hat. Insofern die betrachtete Schlüsselszene nach dem Liebesakt in personaler, auf Anna bezogener Perspekti ve dargeboten wird, verweist uns der Autor auf die HeIdin als Konstrukteurin ihres Schicksals. 2. Ideologische Perspektive
Der Erzähltext kann in der Ideologie Qder Wertung die Sinnposition ent weder des Erzählers oder der Person gestalten. Als Beispiel für personale ideologische Perspekti ve betrachten wir den Anfang von Cechovs Erzäh lung Der Student. Di e ersten Sätze, in denen der Erzähler "sieht" und spricht, sind gleichwohl mit deutl ich personalen Wertungen durchsetzt (hier durch Kursive hervorgehoben): Das Wetter war anfangs schön, ruhig. Es riefen die Drosseln, und in der Nähe, in den Sümpfen tönte etwas Lebendiges klagend, als ob man in eine leere Flasche bliese. Es flog eine Waldschnepfe vorbei , und der Schuss auf sie ertönte in der Früh lingsluft fröhlich schallend. Aber als es im Wald dunkelte, blies ungelegenerweise vom .-Osten ein kalter, durchdringender Wind, und alles verstummte. Auf den Pfützen bildeten sich lang gezogene Eisnadeln , und im Wald wurde es ungemütlich . dumpf und abweisend. Es roch nach Winter. (A. P. C echov, Poln. sobr. 80i: . i pisem v 30 t. , Werke, Bd. 8 , S . 306)
B evor er seinen Helden einführt, beschreibt der Erzähler di e Welt be reits aus dessen ideologischer Perspekti ve, ohne al lerdings lexikalische oder syntaktische Merkmale zu verwenden , die auf ihn verwiesen. Dagegen sei der Anfang aus Thomas Manns Roman Königliche Hoheit ' gestellt, in dem ebenfalls das Wetter themati siert wird, aber mit einer Wertung, die sich im wei teren Kontext als narratorial erwei st (hier kursiv gesetzt): Es ist au f der Albrechtstraße, jener Verkehrsader der Residenz, die den Albrechtplatz und das Alte Schloss mit der Kaserne der Garde-Füsiliere verbindet. - um Mittag, wo chentags, zu einer gleichgültigen Jahreszei t. Das Wetter ist mäßig gut, indifferent. Es regnet nicht, aber der Himmel ist auch nicht klar; er ist gleichmäßig weißgrau , ge wöhnlich, unfestlich, und die S traße liegt in einer stumpfen und nüchternen Beleuch tung, die alles Geheimnisvolle. jede Absonderlichkeit der Stimmung ausschließt. (Th . Mann, Ges. Werke in 1 3 Bden, Frankfurt a. M. 1 9�O, Bd. 2 , S. 9)
1 43
2. Modell der Erzählperspektive
3 . Räumliche Perspektive Die personale Perspektive im Parameter des Raums ist durch den Bezug des Erzählens auf eine bestimmte von einer der erzählten Personen einge nommene räumliche Position gekennzeichnet. Diese Position definiert das Gesichtsfeld der Person und erlaubt ihr nur bestimmte Aspekte des Ge schehens wahrzunehmen. Deutlichstes Signal für die personale räumliche Perspektive ist der Gebrauch der auf das Hier der Person bezogenen deik tischen Ortsadverbien wie hier, dort, rechts, links usw. Zur Veranschauli chung sei aus Lion Feuchtwangers Roman Der jüdische Krieg zitiert. Josef Ben Matthias (der später Flavius Josephus heißen wird) ist zum er sten Mal in Rom, kann sich aber schon grob orientieren: So viel weiB er: hier vor ihm ist der Rindennarkt. und rechts dort ist die GroBe Renn bahn, und dort irgendwo, auf dem Palatin und dahinter, wo die vielen kribbelnden Menschen sind, baut der Kaiser sein neues Haus, und links hier durch die TuskerstraBe geht es zum Forum, und Palatin und Forum sind das Herz der Wel t (L. Feuchtwanger, Ges. Werke in Einzelbänden, Berlin 1 998, Bd. 2, S. 7) .
Die narratoriale räumliche Perspektive ist, je nach der räumlichen Kompetenz der Erzählinstanz, entweder mit einer eng definierten Position eines Menschen oder mit olympischer Allgegenwärtigkeit verbunden. Wenn die räumliche Position nicht markiert und der Blick auf die Räume des Geschehens nicht eingeschränkt ist, liegt in jedem Fall narratoriale räumliche Perspektive vor. 4. Zeitliche Perspektive Im Parameter der Zei t manifestiert sich die personale Perspektive in der Bindung des Erzählens an das Jetzt einer der Personen. Der Bezug auf die zeitliche Position der Person zeigt sich am deutlichsten in deiktischen Zeitadverbien wie jetzt, heute , gestern, morgen usw. , die eine Referenz nur durch den Bezug auf einen bestimmten zeitlichen Nullpunkt, das Jetzt der Person, erhalten. Die deiktischen Adverbien der Gegenwart und Zu kunft können durchaus mit Verben in einem Vergangenheitstempus ver bunden werden. In der westlichen, vor allem deutschen Diskussion über das "epische Präteritum" und die Aufhebung seines Zeitwerts3 6 spielen Zitate eine große Rolle, in denen die deiktischen Adverbien (in den fol genden Beispielen punktiert unterstrichen) mit Verben im Präteritum (doppel t unterstrichen) verbunden sind. 36
S lehe ' oben K ap o I, Anm. 42.
144
III . Die Erzählperspektive
1) Adverbien der Zukunft: Aber l\IJLYRIJ..IJ!!tlJ& � sie den Baum zu pu tzen MQrg,«P. � Weihnachten. 31 . (Alice Berend: Die Bräutigame der Babette Bomberling) . . . and of course he was coming to her party �Q:p.ig\:lJ. (Virginia Woolf: Mrs . Dalloway)
2) Adverbien der Gegenwart: Unter ihren Lidern &Ih sie noch tt..�1}.J� die Miene vor sich . . . (Thomas Mann : Lotte in Weimar)
Solche Verbindungen sind durchaus auch im Russischen üblich: . . . p..i.� _IDQn�.«!\ IDII es noch weit . . . (llq_�l!!;I.!P..l! fibLn.o e�e AaneKO ; F. M. Dostoevskij : Der Jüngling. In : F. M. D . , Poln. sobr. soc . v 30 t. , Bd. 1 3 , S . 24 1 )
Die Pistole, der Dolch und der Bauernkittel lagen bereit. Napoleon � IDQUt«lJ. ein. (BJ.eJ)!(an ;tl!!!TP..l! ; L. N. Tolstoj: Krieg und Frieden . In : L. N. T., Poln . sobr. soc. v 90 t., Bd. 1 1 , S. 372)
Die narratoriale Perspektive im Parameter der Zeit ist mi t dem zeitli chen Stand des Erzählaktes korrel iert. Zur Bezeichnung eines Zeitpunkts der Geschichte werden in narratorialer Angabe anstatt deiktischer Adver bien anaphorische gebraucht, d . h. Wendungen wie in diesem Moment, an diesem Tage, am vorausgegangenen Tage usw. , die sich auf einen im Text bereits fi xierten Zeitpunkt beziehen und nicht die Defi nition des Jetzt einer Person voraussetzen. Einen ideologisch aufschlussreichen Wechsel personaler und narrato rial er zeitlicher Pers.pekti vierung ins zeni ert der Sprecher in Dostoevskijs Erzählung Die Sanfte. Es sind hier deiktische und anaphorische Verwen dung umgekehrt mit narratorialer bzw. personaler Perspektivierung ver bunden: Das war gestern Abend, und am nächsten Morgen . . . Am nächsten Morgen ?! Wahnsinniger, dieser näch ste Morgen war ja heute, noch vor kurzem, gerade vorhin ! Hören Sie und versuchen Sie zu verstehen [ . . ] (F. M . Dostoevskij , Poln. sobr. soc. v 30 t., Bd. 24, S . 32) .
Anfangs berichtet der diegetische Sprecher aus narratorialer Perspekti ve, d. h. vom zeitlichen Standpunkt des Erzählakts (das deiktische gestern Abend bezieht sich auf das Jetzt des Erzählens). Innerhalb desselben Sat37
Die deutschen und englischen Beispiele werden h ier nach K äte Hamburger ( 1 957, 33) zitiert, die Urheberin der These vom Verlust der Vergangenheitsbedeu tung des epi schen Präteritums und von der Zeitlosigkeit der Fiktion ist.
2. Modell der Erzähl perspektive
1 45
zes zum Bericht über den folgenden Tag übergehend, versetzt sich der Sprecher in die zeitliche Position des erzählten Ich, benutzt aber nicht eine deiktische, sondern eine anaphorische Angabe: am nächsten Morgen. Wa rum nimmt der Sprecher diese� Perspektivwechsel vor? Warum sieht er sein Heute als den nächsten Morgen des erzählten Ich? Er scheut offen sichtlich die Besinnung auf die entsetzliche Gegenwart, in der die Ehefrau aufgebahrt auf dem Tisch liegt, und zieht es vor, in der Vergangenheit vor der Katastrophe zu verweilen. Die Einnahme der personalen Position soll eine Einsicht verdrängen, die unausweichlich wird, wenn die Vergangen heit in die Gegenwart mündet, das erzählte mit dem erzählenden Ich ver schmilzt. Die Identität des erzähl ten Moments (am nächsten Morgen) mit dem Moment des Erzählens begreifend und seine Gegenwartsvergessen heit verurteilend ( Wahnsinniger), kommt der Sprecher jedoch noch nicht zum Schuldbekenntnis, sondern sucht den Hörer, den imaginären Richter, in seine Apologie hineinzuziehen (Hören Sie und versuchen Sie zu verste lzen). Ein und dasselbe Ereignis kann von einer Person in unterschiedlichen Momenten der erzählten Geschichte erfasst werden , z. B. wenn die Person das von ihr Erlebte erinnert und zu begreifen sucht. Der Erzähler kann ein und dasselbe Ereignis in unterschiedlichen Momenten des Erzählakts er wähnen. In beiden Fällen wird die Verschiebung auf der Zeitachse der Geschichte oder des Erzählens mit einer Veränderung des Erfassens ver bunden sein, die bedingt ist durch eine Veränderung im Wissen und - als ihre Folge - in den jeweils akzeptierten Normen. Personale zeitliche Perspektive manifestiert sich, wie oben ausgeführt wurde, in der engen Bindung des Erzählens an das Jetzt der Person. Cha rakteristisch ist aber auch die Koppelung des Erzählens an die Wahrneh mung und das Erleben dieser Person. Diese letztere Verbindung äußert sich etwa in einer starken Detaillierung des Erzählten (d. h. in der Domi nanz der "Dehnung" über die "Raffung" , die eher für die narratoriale Ges taltung spezifisch is f8) und in der chronologischen Darbietung der Erei g nisse. Eine konsequent personale Perspektive bedeutet die vollständige Abbildung der Ereignisse oder, genauer, ihrer Wahrnehmung durch die Person in der jeweiligen von der Geschichte vorgegebenen Chronologie. Permutationen der Geschehensmomente gegen die chronologische Folge (eine "Anachronie" nach Genette 1 972, 7 1 ) sind in personaler Perspektive im Grunde nur möglich, i nsofern sie durch Bewusstseinsakte der Person 38
Zu beiden Phänomenen siehe unten, Kap . V.
146
111. Die Erzählperspektive
(die Erinnerung an Vergangenes oder die Vorwegnahme von Zukünfti gem) motiviert sind. Eine authentische und nicht nur hypothetische Anti zipation späterer Geschehensmomente (eine "Prolepsis" nach Genette 1 972, 1 00) ist personal nicht begründbar. Dagegen erlaubt die narratoriale zeitliche Perspektive einen freien Umgang mit der Zeit. Der Erzähler kann beliebi g die Zeitebenen wechseln und auch spätere Entwicklungen vor wegnehmen, ohne in Konflikt mit realistischen Motivierungsregeln zu geraten. 5 . Sprachliche Perspektive Der Erzähler kann die Ereignisse sowohl in seiner eigenen Sprache (mit narratorialer sprachlicher Perspektive) als auch in der Sprache einer der erzählten Personen (mit personaler sprachlicher Perspekti ve) wiederge ben. Diese Alternative gilt auch für diegetische Erzähler. Sie haben die Wahl zwischen ihrer damali gen und jetzigen Sprache. Der Unterschied zwi schen den bei den Sprachen eines Ich in verschiedenen zeitlichen Si tuationen (und natürlich auch Funktionen) kann durchaus beträchtlich sein, und zwar sowohl in der Lexik als auch in der Syntax und Sprach funktion. Dostoevskijs Jüngling, in dem die Distanz zwi schen Erleben und Erzählen nur wenige Monate beträgt, zeigt gleichwohl deutliche Dif ferenzen zwischen der Benennungsweise, der Syntax und der Expressivi tät von erzähl tem und erzählendem Ich. An Dostoevskijs Doppelgänger sei die personale sprachliche Perspek tive demonstriert. Der Erzähler übernimmt in diesem Werk fast durch gängig die Sprache seines Helden, des Herrn Goljadkin, auch dort, wo die perzeptive Perspekti ve gar nicht die der Person ist, wi e im folgenden Zi tat. Der Erzähler reproduziert dann die Sprache sei nes Helden, nicht nur in der Lexik, in den feierlichen, pathetischen, manchmal archaischen Benen nungen, sondern auch in der Syntax, die einerseits durchsetzt ist mit kanz l eisprachlichen Wendungen, geschraubten Phrasen und pseudopoetischen Figuren, anderseits aber Sprachnot zeigt, die stereotype Wiederholung von Ausdrücken und einen umgangssprachlich-defekten Satzbau, der sich in seinen Ellipsen und Aposiopesen der Aphasie nähert. In dem Zitat be schreibt der Erzähler, der zunächst in hochpathetischer und von rhetori schen Figuren durchsetzter Rede den Ball bei Staatsrat Berendeev geprie sen hat, die Si tuation Herrn Goljadkins: ,
Wenden wir uns lieber Herrn Goljadkin zu, dem �inzigen und wahren Helden unserer � durchaus wahrheitsgetreuen Erzählung. Die Sache ist die, dass er sich jetzt in einer sehr seltsamen Lage, um nicht mehr zu
1 47
2. Modell der Erzählperspektive
sagen, befindet. Er ist, meine Herrschaften, auch hier, das heißt: nicht direkt auf dem Ball, aber doch so gut wie auf dem Ball; er ist, meine Herrschaften, ganz in Ordnung; er befindet sich, wenngleich er ein Mensch für sich ist, in dieser Minute auf einem nicht ganz geraden Weg; er steht jetzt - es ist sogar seltsam, das zu sagen -, er steht jetzt im Flur, auf der Hintertreppe zur Wohnung Olsufij Ivanovics. Das macht nichts, dass er hier steht; er ist ein Mensch für sich. Er steht, meine Herrschaften, in einem Winkel, hat sich an einem Plätzchen verkrochen, das zwar nicht wärmer ist, dafür aber dunkler, steht, teilweise verdeckt durch einen riesigen Schrank und alte Wandschirme, zwischen allerlei Gerumpel, Plunder und Kram, verbirgt sich vorläufig und beobachtet vorerst den Verlauf des Ganzen in der Eigenschaft eines außenstehenden Zuschauers. Er beobachtet, meine Herrschaften, jetzt nur; er kann, meine Herrschaften, auch eintre ten . . . warum auch nicht? Er braucht nur einen Schritt zu tun, und er tritt ein, tritt 39 höchst geschickt ein. (F. M. Dostoevskij, Poln. sobr. soc. v 30 t., Bd . I , S. 1 3 1 )
g) Kompakte und distributive Perspektive Die Entscheidung des Erzählers für die narratoriale oder personale Per spektiv e fällt häufi g hinsichtlich aller Parameter gleich aus, d. h. ist ein heitlich narratorial oder personal. Eine Perspektive, die in allen Para metern auf der gleichen Entscheidung für eine der bei den Möglichkeiten beruht, sei kompakte Perspektive genannt. Den Zusammenfall .der Ent scheidungen hinsichtlich der fünf Parameter zu einer kompakten Perspek tive stellen fol gende Schemata dar: Kompakte narratoriale Perspektive
Narratorial
Perzeption
Ideologie
Raum
Zeit
Sprache
x
x
x
x
x
Personal
39
Der Autor hat sich sogar selb st an der Redeweise seines Helden angesteckt. Während der Arbeit am Doppelgänger schreibt Dostoevskij dem Bruder: ..Jakov Petrovic Goljad kin behauptet seinen Charakter voll und ganz. Ein schrecklicher Schuft, es gibt keinen Zugang zu ihm ; er will partout nicht vorwärtsgehen, behauptet, dass er doch noch nicht bereit ist, sondern dass er jetzt vorerst ein Mensch für sich ist, dass er in Ordnung ist, völlig normal und dass er, wenn es darum geht, das auch kann, warum denn nicht, inwiefern denn nicht? Er ist doch einer wie alle, er ist doch nur für sich, sonst ist er einer wie alle. Ihm ist es gleich ! Ein Schuft, ein schrecklicher Schuft! Vor Mitte November wird er nicht bereit sein, seine Karriere zu beenden. Er hat sich jetzt schon mit seiner Exzellenz" ausgesprochen und ist bereit (warum denn auch nicht), seinen Abschied zu nehmen". (Ebd., S. 483)
1 48
III. Die Erzählperspektive Kompakte personale Perspektive Perzeption
Ideologi e
Raum
Zeit
Sprache
x
x
x
x
x
Narratorial Personal
Durchaus häufig aber ist die Perspektive distributiv. Das ist dann der Fal l , wenn die Entscheidungen für die Perspektive hinsichtlich der Para meter unterschiedlich ausfallen. In oben angeführten Beispielen war be reits eine Distribution der Perspektive auf die beiden Instanzen zu be obachten. In dem Ausschnitt aus dem Studenten (S. 1 42) bezog sich ledig lich die ideologische Perspektive auf die Person. In den übrigen Parame tern war die Perspektive dagegen narratorial . Diese Distribution der Per spektiventscheidungen wird in folgendem Schema illustriert: Distributive Perspektive
(am Beispiel des Ausschnitts aus dem Studenten) Perzeption Narratorial
Ideologie
x
Personal
Raum
Zeit
Sprache
x
x
x
x
Dieses Bild kann Modifikationen erfordern, wenn die Opposition von narratorialer und personaler Gestaltung in einem Parameter (oder in meh reren zugleich) neutralisiert ist, entweder weil Merkmale völli g fehlen oder weil sie auf beide Instanzen beziehbar sind. Wenn in einem Werk etwa die Opposition der Sprachen neutralisiert ist, ergibt sich folgendes Schema (in dem die übrigen Parameter unbezeichnet bleiben): Neutralisierung der Opposition der Sprachen Perzeption
Ideologie
Raum
Zeit
Sprache
Narratorial
x
Personal
x
1 49
2. Modell der Erzählperspektive
Solche Neutralisierung der Oppositionen zwischen den Instanzen kann sich auch auf die übrigen Parameter beziehen, im Extremfall sogar auf alle Parameter zugleich. In diesem letzteren Fall sieht das Schema wie folgt aus: Völlige NeutraIisierung der Opposition Perzeption
Ideologie
Raum
Zeit
Sprache
NarratoriaI
x
x
x
x
x
PetsonaI
x
x
x
x
x
h) Zur Methodik der Analyse: drei Leitfragen In der Textanalyse ist der Durchgang durch alle fünf Parameter der Per spektive aufwendig und nicht immer ergiebig, weil nicht selten Merkmale fehlen (also Parameter gar nicht vertreten sind) oder eine Neutralisierung der Opposition vorliegt. In kurzen Textabschnitten gibt es oft keine Hin weise auf die räumliche und zeitliche Position. Für die Analyse kleinerer Texteinheiten empfiehlt sich deshalb ein vereinfachtes Verfahren, das im Bedarfsfall erweitert werden kann. Diese Methode sieht drei Leitfragen vor, die die fundamentalen Akte des Erzählens betreffen: 1 ) die Auswahl, 2) die Bewertung, 3) die Benennung der Geschehensmomente. Das sind die Akte, die den Parametern 1 ) Perzeption, 2) Ideologie und 3) Sprache entsprechen: 1. Wer ist in dem jeweiligen Textabschnitt für die Auswahl der Gesche hensmomente verantwortlich? Welcher Instanz überantwortet der Autor den Akt der Auswahl der in der erzählten Geschichte enthaltenen Gesche hensmomente, dem Erzähler oder der Person? Wenn die Auswahl der narrativen Einheiten dem Horizont der Person entspricht, ist die Frage zu stellen, ob diese Einheiten aktueller Inhalt des Bewusstseins der Person sind oder ob der Erzähler ·sie nach der personalen Erfassens- und Denk weise lediglich reproduziert. 2. Wer ist in dem jeweiligen Abschnitt die bewertende Instanz?
3. Wessen Sprache (Lexik, Syntax , Sprachfunktion) prägt den Ausschnitt?
IV. Erzählertext und Personentext 1 . Die heiden Elemente des Erzähltextes
a) Erzählerrede und Personenreden Schon Platon hat darauf hingewiesen, dass sich der Text des erzählenden literarischen Werks aus zwei Elementen zusammensetzt. Im Staat (392394) bezeichnet er das Epos als "Mischgattung" (Ö L ' aJA.qJo'tEQOYV) , die sowohl das eigentliche "Erzählen" (Diegesis) als auch die "Nachahmung" (Mimesis) der Personenreden umfasst ' . Während der Dichter in den Dithyramben "in einfacher Erzählung" (a.:n:Afj ÖLTlyTtOEL, Res publica 392d) spreche und im Drama durch die "Nachahmung [ÖLa JA.LI.I.TtOEWC;, 392d] der Reden der Figuren", so mische er im Epos di e bei den Darbie tungsweisen: Wenn er die Reden der Helden wiedergebe, spreche er wie im Drama, und "zwischen den Reden" (1.I.E'ta1;u 'twv QTtOEWV, 393b) spre che er wie in den Dithyramben, d. h. in eigener Person (ÖL' a:n:aYYEA Lac; a'Üto'Ü to'Ü :n:OL Tl'to'Ü , 3 94 c) . Im Mittelalter wurde die Unterscheidung der Gattungen nach dem An teil der sprechenden Instanzen in der Typologie der poematos genera auf genommen, die der einflussreiche lateinische Grammatiker Diomedes (4. Jh. n. Chr.) vorlegte. In seiner Ars grammatica unterscheidet Diomedes 1 ) eine mimetische Gattung (genus activum vel imitativum [dramaticon vel mimeticon]), in der nur die dramatischen Figuren "ohne Einmischung des Dichters" (sine poetae interlocutione) sprechen, 2) eine erzählende Gattung (genus enarrativum [exegeticon vel apangelticon]), in der allein der Dichter spricht, und 3) eine Mischgattung (genus commune [koinon vel mikton]), in der sowohl der Dichter als auch die Personen sprechen 2 • Wir gehen also davon aus , dass sich der Erzähltext aus zwei Kompo nenten zusammensetzt, der Erzählerrede und den Reden der Personen
2
Wie schon oben (Abschnitt 1.2.a) angemerkt wurde, bedeutet der Platonische Begriff der Mimesis (im Gegensatz zum Aristotelischen) ,Nachahmung'. Es sei auch darauf hingewiesen, dass Diegesis bei Platon nicht die dargestellte Welt bezeichnet, wie in der gegenwärtigen Narratologie, sondern das Erzählen. Zitiert nach Curtius 1 948, 437 f.
1 52
IV .
Erzählertex t und Personentext
(die in neuzeitlichen Texten in der Regel durch besondere Markierun g wie Anführungszeichen , Kursivsatz und dergleichen von ersterer abgegrenzt sind). Während sich die Erzählerrede erst im Erzählakt herstellt, werden die Reden der Personen fingiert als vor dem Erzählakt existierend und in dessen Verlauf lediglich wiedergegeben. b) Die Personenreden im Erzähltext Zum Erzähltext werden Erzählerrede und Reden der Personen durch den Erzähler vereini gt. Die Reden der Person fi gurieren als Zitat in der Rede des sie auswählenden Erzählers , als "Rede innerhalb einer Rede, Aussage innerhalb einer Aussage" (Vo1osinov 1 929, 1 25 ; dt. 1 975 , 1 78). Auf die grundsätzliche Unterordnung der Personenrede wies schon Platon: In der Ilias mache Homer bei der Wiedergabe der Reden der Helden keinen Ver such, uns vorzutäuschen, dass ein anderer und nicht er selbst spräche (oo� l:iU o� tL� 6 'AEyoov t\ a"'t6�, 393a). Die Selbständi gkeit der Personenre den ist nach Platon nur scheinbar, in Wirklichkeit bleibt in der Rede der Person die sprechende Instanz der Dichter (wir würden sagen: der Erzäh l er). Die Inklusion der Personenrede in den Erzähltext bedingt, dass sie nicht unbedingt authentisch wiedergegeben ise . Der Erzähler, der Urheber des Erzähltextes, kann die Personenrede auf eine bestimmte Weise mo difizieren, was dann offensichtlich wird , wenn er, wie das gelegentlich in Dostoevskijs Werken zu beobachten ist, ein und dieselbe Rede zweimal wiedergibt, aber in unterschiedlichen Ausdrücken oder mit differierenden Akzenten der Person. Die Personenreden können in einer perspektivisch streng durchgehaltenen Erzählung eines subjektiven und sprachlich profi lierten Erzählers eine stilistische Umfärbung erfahren , die sie an seinen Sprachhorizont annähern 4 • Solche Assimilation ist charakteristisch für jene Erzähl weise, die im Russischen als Skaz bezeichnet wird (mit einem Begriff, der über die Schriften der Russischen Formalisten auch in die Literaturwissenschaft westlicher Länder Einzug gehalten hati . Im Skaz ist ..
3
Hier widerspreche ich Dieter Janik ( 1 973, 36), der davon ausgeht, dass in der direkten Rede "die Personenreden vollmimetisch wiedergegeben werden, das heißt: so ausfii hrlieh sind, wie sie sind, und das sagen, was sie sagen" (vgl. auch Schmid 1 974a). 4 Wie Gtowinski 1 968 zeigt, erlangt eine solche As $i milation der Personenreden an den Sprachhorizont der Erzählinstanz grundsätzliche 'Bedeutung im Erzählen eines die getischen Erzählers. 5 Zum Skaz vgl . unten, Abschnitte IV.2.b-d.
I. Di e heiden Elemente des Erzähltextes
153
die Kompetenz des unprofessionellen Erzählers, eines in der Regel nicht gebildeten Menschen aus dem Volke, zur authentischen Wiedergabe fremder Rede, insbesondere einer Rede aus einer anderen sozialen Welt, deutlich unzureichend. Das äußert sich etwa in inadäquater Wiedergabe elaborierter oder offi zieller Rede, wenn der unbeholfene Erzähler ver sucht, die für ihn fremde Sprache zu imitieren (worauf die Komik vieler Skaz-Werke beruht). Auch wenn ein zu authentischer Wiedergabe fremder Rede befähi gter Erzähler die Personenreden inhaltlich zuverlässig wiedergibt und nach strenger "Imitation" sowohl der axiologischen als auch der sprachfunk tionalen und stilistischen Merkmale der Rede strebt, wird allein schon die Auswahl einzelner Abschnitte aus dem Kontinuum der Reden und Gedan ken der Person und die Nicht-Auswahl anderer der Wiedergabe eine ge wisse Narratorialität verleihen. Auf jeden Fall erfahren die Segmente einer Personenrede im Erzähltext eine funkti9nale Überdeterminierung, insofern sie einerseits personale Inhalte ausdrücken, anderseits aber die doppelte Aufgabe erfüllen, die Person zu charakterisieren und zugleich die Narration zu befördern. Das heißt: Worte, die von der sprechenden Person als Mitteilung intendiert sind, dienen in der Wiedergabe durch den Erzähler zusätzlich als Mittel sowohl der Charakterisierung der Person als auch der Darstellung der Ge schichte. Ein B eispiel dafür sind die ersten Kapitel von Krieg und Frie den , die die Szene im Salon des Hoffräuleins Scherer darstellen: Jede der sprechenden Personen wird durch das Thema, die Wertungshaltung und den Stil ihrer Rede charakterisiert, und in den Dialogen zeichnen sich bereits die künfti gen narrativen Bewegungen des Romans ab. Generell kann man sagen, dass der Erzähler, indem er Worte (oder Ge danken) der Person zitiert, den "fremden" Text für seine - ei genen nar rativen Zwecke nutzt. Die Personenrede übernimmt damit eine narrative Rolle und ersetzt die Erzählerrede. In Abschnitt 1I.2.f wurde dargelegt, dass der Erzähler, wenn er Personenreden wiedergibt, die personalen Zei chen und Signifikate und ihre Interdependenz als Si gnifikanten benutzt, die zusammen mit anderen Signifikanten seine eigenen narratorialen Sig nifikate ausdrücken. Deshalb sind alle Versuche verfehlt, die "direkten" Reden und Dialoge aus dem Erzähltext und aus dem Objektfeld der Narra tologie auszuschließen. Auf Platons Unterscheidung von "Diegesis" als Erzählung und "Mimesis" als Nachahmung der Personenrede können sich die Anhänger dieser Auffassung nicht berufen , stellt Platon doch die rhe torische Frage: "Sind denn die Reden, die [Homer] jeweils anführt, und
154
IV . Erzählertext und Personentext
das, was zwischen den Reden steht, nicht gleichermaßen Erzählung [Die gesis]?" (ovxoiJv ÖL�YT]OL� f,lEV Eonv xaL ötav tU� Q�OEL� ExaOtotE AEYll xat ötav tU f,lEtas,) twv Q�OEc.oV, 393c). c) Erzählerrede und Erzählertext, Personenreden und Personentext Seit B eginn des modemen Erzählens im 1 8 . Jahrhundert beobachten wir, dass die Erzählerrede nicht dem reinen, unvermischten Text des Erzählers entspricht, sondern mit Merkmalen durchsetzt ist, die für die Reden der Personen charakteristisch sind. Wir müssen deshalb eine weitere Diffe renzierung einführen , nämlich die zwischen den beiden Elementen, die sich in der Erzählerrede moderner Prosa auf eine oft kaum entwirrbare Weise vermischen. Wir nennen die beiden Elemente in ihrer unvermisch ten Reinform Erzählertext und Personentext. Der Personentext ist in der Regel fingiert als in den Personenreden vollmimetisch repräsentiert. Zumindest die Regeln der Fiktion wollen, dass der Leser die Reden der Person als authentische Wiedergabe des un vermi schten Personentextes auffasst. Wir haben indes gesehen, dass die Personenrede den Personentext keineswegs vollmimetisch wiederzugeben braucht. Der Erzähler kann dem reinen Personentext eine narratoriale Beimischung geben, entweder unbewusst, aus mangelnder Kompetenz zur authentischen Wiedergabe fremder Rede, oder bewusst, mit bestimmten Intentionen. In den Notizbüchern zum Jüngling hat sich Dostoevskij wie derholt in dem Sinne geäußert, dass der jugendliche Erzähler die konkrete Gestalt der Reden der Erwachsenen nicht in allen Zügen authentisch wie dergeben könne. Und der Erzähler selbst bekennt dann auch mehrfach, dass er fremde Reden nur soweit wiedergebe, wie er sie verstanden habe und wie er sich an sie erinnere (vgl. oben, Abschnitt H.4.h). Die Differenz zwischen Erzählerrede und Erzählertext ist seit dem B e ginn der modemen Prosa tendenziell größer als die zwischen Personen rede und Personentext. Die Erzählerrede resultiert in moderner Prosa aus einer komplexen Mischung der Merkmale für Erzählertext und Personen text6 • Mit zunehmender Personalisierung des Erzählens, d. h. zunehmen der Orientierung des Erzählens an der Perspektive der Person, treten die Anteile des Erzählertextes zurück. In der Extremform der Personalisie rung ist der Erzählertext in der Erzählerrede nur noch in bestimmten grammatischen Merkmalen präsent, während in allen anderen Zügen von 6
Zu dieser für die modeme Prosa charakteristischen Mischung vgl. grundlegend die Arbeiten Lubomfr Dole�els 1 95 8 ; 1 960 ; 1 973a; 1 993.
1 . Die beiden Elemente des Erzähltextes
155
der Auswahl der Themen b i s zur sprachlichen Gestaltung der Personen text realisiert wird. Man könnte hier fragen, warum die bei den Elemente des Erzähl textes als Texte bezeichnet und von den Reden unterschieden werden. In unserer Begriffsverwendung unterscheidet sich Text von Rede dadurch, dass er die Subjektsphäre der jeweili gen Instanz, ihre perzeptive, ideologische und sprachliche Perspektive in reiner, unvermischter Form enthält. Diese reine genotypische Form, in der der Erzählertext und der Personentext gedacht werden müssen, ist natürlich eine Abstraktion von der phänotypischen Gestalt, in der die der direkten Beobachtung zugängliche Rede vorliegt. Eine zweite Differenz betrifft die Extension des Begriffs Text in den bei den Komposita. Unter Text wird hier der Komplex aller äußeren und inne ren Reden, Gedanken und Wahrnehmungen der beiden Instanzen, des Er zählers oder der erzählten Person, verstanden . Die Interferenz der beiden Texte, um die es in diesem Kapitel im Wesentlichen gehen wird, be schränkt sich nicht auf Worte oder Aussagen, sondern betrifft die gesam ten Komplexe der Wahrnehmungs- und Sinngebungstätigkeiten der bei den Instanzen mit den ihnen eigenen Ideologien oder WertungshaItungen. Deshalb umfasst der hier verwendete Begriff des Textes neben den schon sprachlich manifestierten Reden, äußeren wie inneren, auch die Tätig keiten, die im Status von Gedanken, Wahrnehmungen oder nur der Wer tung verbleiben'. Die Beziehungen zwischen den hier eingeführten Begriffen seien in folgendem Schema verdeutlicht:
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In der Präferenz des Begriffs Text folge ich Do1e�el ( 1 958), der zwischen dem "Text des Erzählers" und dem "Text der Personen" unterscheidet. In seiner Monographie zum S til der modemen tschechischen Prosa geht Dole�el ( 1 960) davon aus, dass der Text aufbau der Prosa seine "primäre Differenzierung" in der Opposition des "Redeplans des Erzählers" und des "Redep1ans der Personen" findet. Hinter der mit Do1e�e1 1 9 5 8 ge meinsamen Bezeichnung der beiden Elemente verbirgt sich allerdings ein wesen tlicher Unterschied bei der Bestimmung der Texte; siehe dazu unten .
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IV. Erzählertext und Personentext Erzähltext
Personenrede
Erzählerrede
..._----A---......, '\ r
r�-------�,---...."
Erzählertext + Personen text
[Erzählertext +] Personentext
Legende Der Erzähltext konstituiert sich (symbolisiert durch durchgehende Linien) aus der Erzählerrede und der Personenrede. In der Erzählerrede manifestieren sich (ge strichel te Linie) in moderner Prosa in unterschiedlichem Mi schun gsverhältnis Er zählertext und Personentext. Die Personenrede ist al s unvermischte Manifestation des Personentextes fingiert, kann aber durchaus Merkmale des Erzählertextes ent halten. (Dem vergleichsweise selteneren Auftreten narratorialer Überarbeitung der Personenrede wird durch die Einklammerung von Erzählertext Rechnung getra gen).
2. Ornamentale Prosa und S kaz
Bevor wir die Interferenz von Erzählertext und Personen text näher be trachten, seien zwei spezifische Stilisierungen des Erzähltextes behandelt, die in der russischen Literatur des 1 9. und 20. Jahrhunderts, besonders aber i n der experimentierfreudi gen Prosa der russischen Modeme und Avantgarde zwischen 1 890 und 1 930 kultiviert wurden: die ornamentale Prosa und der Skaz. Auch in anderen Literaturen , slavischen wie westli chen, finden sich im Ansatz vergleichbare Erscheinungen, aber in keiner anderen europäischen Literatur scheinen sie eine so große Rolle zu spielen wie in der russischen. Mit Natal 'ja Kozevnikova ( 1 97 1 , 1 1 5 - 1 17) kann man davon sprechen , dass sich die russische Erzählkunst zwischen 1 890 und 1 930 durch die Dominanz zweier in entgegengesetzte Ri�htungen strebender "Hyper trophien" aus zeichnet, einer "Hypertrophie d.es Literarischen", die sich in der ornamentalen Prosa manifestiert, und ei ner "Hypertrophie der Charak-
2. Ornamentale Prosa und Skaz
1 57
terisierung" , auf der der Skaz beruht8• Während die erste "Hypertrophie" auf die Poetisierung des Erzähltextes (in/ seinen beiden Elementen, in Er zählerrede und Personenrede) hinausläuft und mit einer Schwächung der Kundgabefunktion sowohl der Erzählerrede als auch der Personenrede verbunden ist, äußert sich die zweite Hypertrophie in einer Stilisierung des Erzähl textes nach den unliterarischen Fonnen umgangssprachlicher Rede, in der Inszenierung der Mündlichkei t und in der Stärkung der Ex pressivität des Erzähltextes , der einen unprofessionellen Erzähler kund gibt, dessen Denken, Werten und Sprechen wichtiger werden kann als die Geschichte, die er im Begriff ist zu erzählen. a) Ornamentale Prosa Der problematische, aber konventionell gewordene und nun all gemein ak zeptierte Terminus ornamentale Prosa9 bezeichnet das Ergebnis einer Überdeterminierung des Erzähltextes durch das "Sprachdenken" der Poe sie 10 und durch spezifisch poetische VeIfahren wie Paradigmatisierung, Rhythmisierung, Bildung themati�cher und formaler Äquivalenz, d. h. durch die Dominanz der unzeitlichen Verknüpfungen über die zeitlichen (vgl . oben, Abschnitt I. 1 .e). Der Realismus und sein von den empirischen Wissenschaften gepräg tes Weltbild finden ihren Ausdruck in der Hegemonie des Fiktional-Nar rativen , der "Erzählkunst". Die postrealistische Moderne tendiert dagegen 8
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Der russische Begriff charaktemost ' bedeutet in diesem Kontext die Bezogenheit des Erzähltextes auf das Erzählsubjekt, also jene Funktion, die Karl Bühler Kundgabe ( 1 9 1 8/20) oder Ausdruck ( 1 934) nannte. Alternative adäquatere Tennini haben sich nicht durchsetzen können. Hier wären etwa zu nennen : "poetische Prosa" oder ,,rein ästhetische Prosa" (Zinnunskij 1 92 1 ), "poeti sierte Prosa" (Tynjanov 1 922, 1 32), "lyrische Prosa" (N. KOZevnikova 1 97 1 , 97), "dy namische Prosa" (Struve 1 95 1 ; Oulanoff 1 966, 53) oder "nicht-klassische Prosa" (N. KOZevnikova 1 976). Zur systematischen und historischen Beschreibung der orna mentalen Prosa vgl.: Sklovskij 1 924, Oulanoff 1 966, 53-7 1 ; earden 1 976; Browning 1 979; Levin 1 98 1 . Die überzeugendsten Beschreibungen geben: N. KOZevnikova 1 97 1 ; 1 976; Jensen 1 984; Szilärd 1 986. Zum or,lIamentalen Erzählen, einer narrativierten Va riante ornamentaler Prosa, vgl. Schmid 1 992. Zum symbolistischen (Veselovskij, Potebnja, Belyj) und formalistischen (Sklovskij) Konzept des "Sprachdenkens" vgl. Hansen-Löve 1 978, 45-49, 1 69 f. Den symbo listischen Theoretikern galt das poetische Sprachdenken als ein Residuum archaischer, ursprünglicher und eigentlicher Welterfassung, die - so dachte zumindest Andrej Belyj - auch in der neuzeitlichen Gegenwart durch eine Remythisierung der Dichtung zu res tituieren war (vgl. auch dazu Hansen-Löve 1 978, 45-47). -
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158
IV. Enählertext und Personentext
zur Generalisierung des für die Versdichtung konstitutiven Prinzips, des Imaginativ-Poetischen, das sich in der "Wortkunst" realisiertl I . Und wie sich im Realismus die Gesetze narrativer, ereignishafter Prosa auf die Poesie und auch auf ihre nicht-narrativen Gattungen ausbreiten, so expan dieren in der Modeme die konstruktiven Verfahren der Poesie auf das Feld der narrativen Prosa. An sich in allen Zeiten vorfindbar, verdichten sich die Spuren der or namentalen Prosa in Epochen, in deren Gattungssystem das Poetische und das ihm zugrunde liegende (neo-)mythische Denken dominieren. Während sich die Prosa des russischen Realismus am Ideal der Erzählkunst orien tiert, realisiert die Prosa sowohl der symbolistischen als auch der avant gardistischen Modeme den Typus der Wortkunst. Auch in der deutschen Literatur fällt die hohe Zeit jener Prosa, die man in der Germanistik die "lyrische" , "poetische" oder "rhythmi sche" nennt, mit der Epoche des Symbolismus zusammen, in der das GattJ,lngssystem vom poetischen Pol dominiert wird. Ornamentale Spuren tragen vor allem die Prosadichtungen der Lyriker wie Stefan George, Hugo von Hofmanns thal , Rainer Maria Rilke. Ein Mustertext deutscher ornamentaler Prosa ist Rilkes Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke: Ein Tag durch den Tross. Flüche, Farben, Lachen - : davon blendet das Land. Kom men bunte Buben gelaufen. Raufen und Rufen. Kommen Dirnen mit purpurnen Hüten im flutenden Haar. Winken. Kommen Knechte, schwarzeisern wie wandernde Nacht. Packen die Dirnen heiß, dass ihnen die Kleider zerreißen. Drücken sie an den Trom-
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Dem symbolistischen und dann formalistischen Begriff der "Wortkunst" setzt Hansen Löve ( 1 982, bes. 23 1 f. , Anm. 24; 1 983, bes. 302; 1 984, bes. 1 6- 1 9) das aus dem Den ken der Formalisten rekonstruierte Antonym "Enählkunst" entgegen, und er entwickelt so eine fruchtbare Dichotomie, die als fundamentale Opposition zutreffender als die tra ditionellen Oberflächenpaare wie Vers vs. Prosa oder Lyrik vs. Epik die beiden Hemi sphären der literarischen Welt bezeichnet. Die Wortkunst ist keineswegs an den Vers oder gar an die Lyrik gebunden, sondern tritt durchaus auch in Prosagattungen auf, wie sich umgekehrt die Erzählkunst auch in verssprachlichen Gattungen realisieren kann. Insofern ist die Dichotomie Wortkunst vs. Erziihlkunst nicht nur vom Inhalt, sondern auch vom Umfang der Begriffe her nicht deckungsgleich mit Poesie vs. Prosa . Mit Wortkunst haben wir überall dort zu tun, wo - gemäß Roman Jakobsons berühmter De finition der "poetischen Funktion" ( 1 960) das Prinzip des Paradigmas, nämlich die Ä quivalenz, sich auch im Syntagma geltend macht und dessen kausal-temporale Suk zessivität überlagert. Während sich in der aperspektivischen Wortkunst die archaische, mythisch-unbewußte Imagination entfaltet, ist deni perspektivierten und stilistisch auf gefächerten Diskurs der Enählkunst die neuzeitliche Fiktion zugeordnet, die das be wußte Denken eines reflektierenden Ich voraussetzt. -
2. Ornamentale Prosa und Skaz
1 59
melrand. Und von der wilderen Gegenwehr hastiger Hände werden die. Trommeln wach, wie im Traum poltern sie, poltern -. [ ] Rast! Gast sein einmal. N icht immer selbst seine Wünsche bewirten mit kärglicher Kost. Nicht immer feindlich nach allem fassen; einmal sich alles geschehen lassen und wissen : was geschieht, ist gut. (R. M. Rilke, Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, Frankfurt a. M. und Leipzig 1 996, Band I, S. 144- 1 47) . . .
Dieser Text in "vers-infizierter Prosa", wie Rilke sie später abschätzig nannte, ist mit seiner dichten Klanginstrumentierung, an der Rhythmisie rung, Alliterationen, Klangwiederholungen, Paronomasien besonderen Anteil haben, i m Deutschen ein Extremfall poetischer Stilisierung des Er zähltextes , ein Fall, der an der Grenze zum Preziösen , zum stiJisti sch Be denklichen liegend wahrgenommen wird. Solch intensiver Ornamen talismus prägt jedoch in der russischen Dichtung, die sich durch größere Sprachsinnlichkeit auszeichnet, einen breiten Strom von Texten zwischen 1 890 und 1 930. Auch viele der späteren "sozialistischen Realisten" haben in ihrem Frühwerk der zwanziger Jahre dem Ornamentalismus gehuldigt1 2• An Rilkes Text kann man auch den Aperspektivismus ornamentaler Prosa und die Schwächung der Kundgabefunktion beobachten. Obwohl der Erzähltext in großen Teilen die Form des bewusstseinsunmittelbaren erlebten Monologs hat, in der die Erzählerrede die Wahrnehmungen und Wertungen des personalen Reflektors wiedergibt, ist die perspektivische Zuordnung der Segmente zum narratorialen oder personalen Pol von ge ringer Relevanz. Denn die Opposition von Erzählertext und Personentext ist, wenn überhaupt vorhanden, nur schwach ausgeprägt, da in beiden Texten die überdeterminierende Ornamentalisierung die Funktion ideolo gischer und sprachlicher Kundgabe von Erzähl- und Sprechsubjekten weitgehend ausschaltet. Der Erzähltext lenkt die Aufmerksamkeit ganz auf die poetische Faktur, die seine beiden Elemente gleichermaßen orga nisiert. Und diese Faktur ist nicht Ausdruck des realistischen Sachden kens, sondern realisiert das poetische Sprachdenken. Sie verleiht dem Text jene Suggestivität, die für das mythischen Sprechen charakteristisch ist. Kraft ihrer Poetizität ist die ornamentale Faktur ein künstlerisches Ikon des Mythos , wobei eine Isomorphie von poetischem und mythischem Denken unterstellt sei . Grundlegendes Merkmal , das die ornamentale Pro sa mit dem mythischen Denken homolog macht, ist die Tendenz zum Ab12
Auf Beispiele aus der russischen Literatur muss hier verzichtet werden, denn in der Übersetzung ist die ornamentale Faktur nicht w iederzugeben .
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IV . Erzählertext und Personentext
bau der für den Realismus gülti gen Nicht-Motiviertheit des Zeichens. Das Wort, das in der realistischen Sprachauffassung ein nur durch Konvention festgelegtes , grundsätzlich arbiträres Symbol war, wird im Ornamentalis mus wie im mythischen Denken tendenziell zum Ikon, zum Abbild seiner Bedeutung. Die Ikonizität, die die Poesie der von ihr transformierten Pro sa vermittelt, korrespondiert mit dem Gesetz des magischen Sprechens im Mythos. Dort tritt zwischen Namen und Ding keinerlei vermittelnde Kon vention, im Grunde nicht einmal ein Verweisungs- oder Repräsentations verhältnis. Der Name bedeutet das Ding nicht, er ist das Ding. Die "Tren nung des Ideellen vom Reellen" , die "Scheidung zwischen einer Welt des unmittelbaren Seins und einer Welt der mittelbaren B edeutung" , der " Ge gensatz von , Bild' und ,Sache '" ist dem mythischen Denken - wie Ernst Cassirer ( 1 925 , 5 1 ) ausführt - zutiefst fremd: "Wo wir ein Verhältnis der bloßen , Repräsentation' sehen, da besteht für den Mythos [ . . . ] vielmehr ein Verhältnis realer Identität" . Die präsemiotische Sprachauffassung des Mythos und die mythische Identifizierung von Wort und Ding werden von der ornamentalen Prosa sowohl in der tendenziellen lkonizität des Erzähl textes abgebildet als auch in der Neigung zum Realisieren von tropischen Ausdrücken, zum Wörtlichnehmen der Bilder und zur Entfaltung der buchstäblich verstandenen Sach bedeutungen 1 3. Der Iterativität des mythischen Weltbildes entspricht in der ornamenta len Prosa die Wiederholung sowohl klanglicher als auch thematischer Mo tive. Als Wiederholung ganzer Motive zeitigt sie die Leitmotivik, als Wie derholung einzelner Merkmale die Äqu ivalenzl4• Leitmotivik und Äquiva lenz überlagern sowohl das sprachliche Syntagma des Diskurses, wo sie zu Rhythmi sierung und Klangwiederholung führen, als auch die themati sche Sukzession der Geschichte, auf deren temporale Folge sie ein Netz unzeitlicher Verklammerungen legen. Wo keine Geschichte mehr erzählt wird, wie im Typus der rein ornamentalen Prosa (z. B. Andrej Belyjs Symphonien), bleiben die Iterationsverfahren " die einzigen Garanten der
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Grundlegend zum wortkünstlerischen Verfahren der Realisierung und Entfaltung von Tropen, semantischen Figuren und Parömien zu Texten vgl. Hansen-Löve 1 982. Cha rakteristisch ist dieses Verfahren schon für Pu skins wortkünstlerische Erzählungen Bel kins (vgl. Schmid 1 99 1 , 96-99 et passim). 1 4 Zur Rolle der thematischen und formalen Ä quiv �lenz in der Erzählprosa und zum Zu sammenwirken von zeitlicher und unzeitlicher i Verknüpfung siehe oben, Abschnitt l. l .e. Ausführlicher dazu: Schmid 1 992, 29-7 1 . Zur semantischen Funktion der Äqui va lenz auch Schmid 1 977.
2. Ornamentale Prosa und Skaz
161
Textkohäsion, die entscheidenden Träger des thematischen Zusammen hangs und die ausschlaggebenden semantischen Operatoren 1 5; Die für die ornamentale Prosa charakteristische Ikonizität besteht in einer tendenziellen Kookkurrenz oder Isotopie zwischen den Ordnungen von Diskurs und Geschichte. Für die ornamentale Prosa gilt deshalb die Annahme einer thematischen Relevanz sämtlicher formaler Beziehungen. Das heißt: Jede Äquivalenz der signantia suggeriert eine analoge oder kontrastierende Äquivalenz der signata. Jeder formalen Ordnung auf der Ebene des Diskurses ist der Tendenz nach eine thematische Ordnung in der Geschichte zugeordnet. Zur Grundfigur wird die Paronomasie, eine Klangwiederholung , die eine okkasionelle Bedeutungsbeziehung zwi schen Wörtern herstellt, die an sich weder eine genetische, etymologische noch eine semantische Verbindung haben. In der Paronomasie kommt das von Cassirer ( 1 925 , 87) formulierte Gesetz des mythischen Denkens zur Geltung, demzufolge jede "wahrnehmbare Ähnlichkeit" der "unmittelbare Ausdruck einer Identität des Wesens" ist. Die Tendenz zur Ikonizität, ja zur Verdinglichung aller Zeichen führt letztlich zur Lockerung der in der Erzählkunst streng gezogenen Grenze zwi schen Wörtern und Sachen, zwischen Diskurs und Geschichte. Zwi schen den beiden Ebenen, deren Oppositionen (Ausdruck und Inhalt, Äu ßerliches und Innerliches, Arbiträres und Wesentliches) aufgehoben wer den und die als gleich relevant erscheinen, bildet die ornamentale Prosa Übergänge: Metamorphosen von reinen Lautgebilden zu Personen und Gegenständen (die besten Beispiele hierfür bietet die Sujetprosa Andrej Belyjs, insbesondere der Roman Petersburg) und die narrative Realisie rung verbaler Figuren zu Sujetmotiven (dafür enthalten die Erzählungen Belkins von Puskin reiches Anschauungsmaterial). Die Poetisierung, Ornamentalisierung der Prosa führt unausweichlich zu einer Schwächung ihrer Narrativität. Diese Schwächung kann so weit gehen , dass sich - wie etwa in Belyjs Symphonien - eine ereignishafte Geschichte gar nicht mehr bildet und der Text lediglich Fragmente einer Handlung denotiert, deren Zusammenhang nicht mehr narrativ-syntagma-
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Vgl. N. KOZevnikova ( 1 976, 57): "Bei hinreichend ausgearbeitetem Sujet existieren die Leitmotive gleichsam parallel zum Sujet, bei geschwächtem Sujet ersetzt die Leitmoti vik das Sujet, kompensiert sie sein Fehlen". Dem ist freilich hinzuzufügen, dass die He rationsverfahren (zu denen neben der Leitmotivik auch die fonnale und thematische Ä quivalenz gehört), nicht nur "parallel" zum entfalteten Sujet existieren, sondern die zeitlichen Verknüpfungen fokussieren, profilieren und modulieren können.
1 62
IV.
Erzählertext und Personentext
tisch, sondern nur noch poetisch-paradigmatisch, nach den Prinzipien von Ähnlichkeit und Kontrast hergestellt wird. Größte semantische Komplexität erreicht die poetische Prosa freilich nicht in der völli gen Auflösung ihres narrativen Substrats, sondern dort, wo die Paradigmatisierung auf den erfol greichen Widerstand eines Ereig niszusammenhangs stößt. Die Interferenz von Wortkunst und Erzählkunst führt zu einer Potenzierung des Sinns. Wenn poetische Verfahren die Nar ration konstruktiv überfonnen, dann reichem sich die Bedeutungsmög lichkeiten der beiden Hemisphären an ihrer wechselseiti gen Detenni nierung und Relativierung an. Einerseits machen die poetischen Verknüp fungen, die das narrative Substrat gleichsam mit einem Netz überziehen, an den erzählten Situationen, Personen und Handlungen neue Aspekte und Beziehungen sichtbar, anderseits wird das archaische, imaginative Denken der Wortkunst, wo es sich einem fiktional-narrativen Zusammenhang integriert, einer perspektivischen Brechung und psychologischen Motivie rung unterworfen. Beispiele für die hochkomplexe Interferenz poetischer und narrativer Zusammenhangbildung sind in der russischen Literatur vor der Schwelle zur modernistischen Hypertrophie der Poetisierung die Erzählungen Ce chovs, nach Überschreiten dieser Schwelle die Werke Isaak B abel 's und Evgenij Zamjatins 16• Cechovs ornamentalisierendes Erzählen, in dem das narrative Substrat durch Poetisierung überformt wird, erweckt gelegentlich sogar den Ein druck, als sei der Zusammenhang der thematischen Einheiten nicht allein durch das zu erzählende Geschehen bestimmt, sondern auch von phoni schen Ordnungen des Diskurses gesteuert. Dieses spezifisch wortkünstle rische Verfahren sei an einer Stelle aus Rothschilds Geige (Skripka Rot sil'da) betrachtet, die ausnahmsweise auch auf Russisch (und für den Nachvollzug der phonischen Verbindungen in Transliteration) angeführt sei . Der russische Sargmacher Jakov Ivanov , genannt Bronze, ein grober Mensch , dessen Gedanken ausschließlich um die Verluste seines Gewer bes kreisen (weil in seinem "miesen" Städtchen "fast nur alte Leute leb ten, die so selten starben , dass es richtig ärgerlich war"), anderseits ein exzellenter Gei genspieler, den nur sein Hass auf die Juden davon abhält, seine Einnahmen durch das Spiel im jüdischen Orchester aufzubessern, sitzt, sterbend , auf der Türschwelle seiner I;I ütte und spielt in Gedanken an 16
,
Vgl. meine Analysen von einer Reihe von ErzÖhlungen Cechovs, von Babel's Ober gang über deli Zbruc (Perechod cerez Zbruc) und Zamjatins Oberschwemmung (Na vodnenie): Schmid 1 992, 1 35-177.
1 63
2. Ornamental e Prosa und Skaz
das "verlorene, verlustreiche" Leben auf seiner Gei ge eine ganz neue, "klagende und rührende" Weise, die ihm, dem rohen Sargmacher, Tränen entlockt: I 9<m krepl!e on dumal. tem �ar 'nee �la skripka. Skripnula �I!ekolda raz-drug6j. i v kalitke pokazalsja Roßil 'd. (A. P. C echov. Poln. sobr. sol! . i pisem v 30 t Werke. Bd. 8. S . 304 f.) .•
Und je stärker er nachdachte. desto trauriger sang die Geige. Es knarrte der Türriegel ein-. zweimal. und in der Pforte erschien Rothschild.
Der erste Satz bringt das traurige Singen der Geige nicht nur thema tisch, sondern auch phonisch in eine Abhängi gkeit von Jakovs tiefem Nachdenken: krepce ["stärker"] erscheint in skripka ["Geige"] und pecal 'nee ["trauriger"] in seine lautlichen Bestandteile zerlegt. Durch diese Isotopie thematischer und phonischer Beziehungen sensibilisiert, wird der Leser auch den zweiten Satz und seine Anknüpfung an den ersten aufmerksam wahrnehmen. Die Wörter an der Nahtstelle der Sätze, skripka ("Geige") und skripnula ("knarrte"), die - grundsätzli ch kombinierbar hier gleichwohl Agens und Actio zweier ganz unterschiedlicher Handlun gen bezeichnen, bilden eine Paronomasie. Diese wiederum suggeriert einen mehr als nur zufälli gen Zusammenhang der Handlungen. Die phoni sche Ordnung des Diskurses stiftet also einen . Handlungsnexus , der in der Geschichte selbst nicht ausgeführt ist. Voraussetzung dafür ist freilich, dass der Leser das Prinzip der Äquivalenz von der Klang- auf die Hand lungsebene projiziert. Das aber fordert die tendenzielle Ikonizität des or namentalen Erzählens. Wenn im Diskurs skripnula wie ein verbales Echo auf skripka kling t, so erscheint in der Geschichte das mehrmalige Knarren des Türriegels, das den ängstlich zögernden Rothschild ankündigt, als Folge, als Handlungsecho der singenden Gei ge. Man wird noch weiter gehen können: Rothschilds Auftreten ist sowohl durch die Geschichte als auch durch den Diskurs motiviert. Und in der Geschichte ist es auf dop pelte Weise begründet: Rothschild soll den Auftrag des Orchesterleiters erfüllen, nämlich Jakov zum Spiel bei einer Hochzeit einladen, aber er scheint auch dem Klang der Geige zu folgen. Und das phonische Orna ment des Diskurses suggeriert: Rothschild, den metonymisch die knarren de (skripnula) Türklinke vertritt, ist auch vom Klang jenes Wortes (skrip ka - Geige) herbeigerufen, das metonymisch die neuen Gedanken des auf der Schwelle des Todes Geige spielenden Jakov Ivanov bezeichnet. Vor und nach der Blüte der hypertrophen Ornamentalisierung bringt die hybride, ornamental-narrative Prosa Strukturen hervor, die die aper-
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IV . Erzählertext und Personentext
spektivische und apsychologische WeItsicht des Mythos narrativieren, einer perspektivischen Verkürzung und psychologischen Motivierung un terwerfen. Nicht selten macht sich die Modeme die Isomorphie zwischen dem mytho-poetischen Denken und der ontogenetischen wie phylogene tischen Vorzeit mit der Tätigkeit des Unbewussten zunutze, die zu ihrem Kulturverständnis gehört. Di e assoziative Bereicherung erzählkünstleri scher Sinngebung und die fiktionale Einbettung des Wortkünstlerischen bieten hochkomplexe Möglichkeiten indirekter Darstellung des Menschen und seiner Innenwelt. Diese Möglichkeiten nutzt vor allem die russische Prosa der Moderne, die die Hybridisierung von Wortkunst und Er zählkunst zur Modellierung eines komplexen, zugleich archaischen und rezenten Menschenbildes nutzt. Ein Mustertext ist etwa Ev genij Zamj atins Höhle (Pescera). In dieser ornamental-anti utopischen Erzählung aus dem Hunger- und Kältejahr 1 920 wird eine Siedlung dargestellt, die an der Stelle liegt, wo "vor Jahrhunderten" Petersburg war: Gletscher, Mammute, Wüsteneien. Nächtliche schwarze Klippen, irgendwie H äu sern gleich ; in den Klippen Höhlen . Und es ist ungewiss, wer des Nachts auf dem Stein pfade zwischen den Klippen trompetet und, den Weg erschnuppemd, den weißen Schneestaub aufbläst: Vielleicht ein Mammut mit grauem Rüssel ; vielleicht der Wind; vielleicht jedoch ist eben der Wind das eisige Gebrüll irgendeines mammutigsten Mammuts. Eines ist klar, es ist Winter. Und man muss fester die Zähne zusam menbeißen, auf dass sie nicht klappern ; und man muss jede Nacht seine Feuerstelle aus Höhle in Höhle immer tiefer hineintragen ; und man muss immer mehr zottige Tierfelle über sich selbst stülpen. (Russland erzählt, Frankfurt a. M. 1 959, S. 99. Ü bersetzung: Johannes von Guenther)
b) Der Skaz: Definitionen Obwohl der Skaz seit den Arbeiten der Russischen Formalisten (die ihn als eine Form der Verfremdung betrachteten 1 7) sich des besonderen Inter esses der russischen Literaturwissenschaft erfreute, gibt es bis heute noch keine V ereinbarung darüber, was unter dem B egriff zu verstehen ist und welche Phänomene man ihm sinnvollerweise zuordnen sollte. In der russi schen Erzähltheorie findet sich kaum ein zweiter B egriff mit einem so uneindeuti gen Inhalt und einem so unklaren Umfang. Nicht selten wird der Skaz als eine der ornamentalen Prosa verwandte oder ihr subsumierbare Form betrachtet. D�s ist insofern gerechtfertigt, als beide Sti lisierungen, obwohl sie in entgeg �, ngesetzte Richtungen vom re17
Vgl. dazu Hansen-Löve 1 97 8 , 274-303.
2. Ornamental e Prosa und Skaz
1 65
ferenzorientierten Erzählen abweichen, gleichermaßen zu einer gestei gerten Wahrnehmbarkeit des Erzähltextes (in seinen beiden Elementen) führen 1 8. Die sich aus dieser Auffassung ergebende übergroße Extension des Begriffs der ornamentalen Prosa hat den Bedarf an spezifischeren Definitionen entstehen lassen. So definieren dann in der maßgebenden neunbändigen Kurzen literarischen Enzyklopädie Aleksandr Cudakov und Marit�tta Cudakova ( 1 97 1 ) den Skaz auf folgende Weise: [Skaz] ist ein besonderer Typ des Erzählens, der sich als Erzählung einer vom Autor entfernten (konkret genannten oder impliziten) Figur konstituiert, die sich durch eine eigenartige Redeweise au szeichnet.
Nach dieser noch recht breiten Definition fällt der Skaz mit der Erzähl weise einer jeglichen vom Autor hinreichend dissoziierten Instanz zu sammen. Diese Bestimmung deckt sogar Erzähltexte wie den der Brüder Karamazov ab, dessen Erzähler zwar phasenweise als etwas schwatzhafter Chronist auftritt und sich allerlei stilistische Ungeschicklichkei ten, logi sche Inkonsistenzen und überflüssige Abschweifungen zuschulden kom men lässt, aber in anderen Teilen kompetent und sogar mit Introspektion in die geheimsten Seelenregungen z. B. Ivan Karamazovs erzählt. Kaum jemand wird diese Erzähl weise als Skaz bezeichnen wollen. Dem steht nicht nur das Schwanken der Erzählinstanz, die mangelnde Konsequenz in der Durchführung der subjektiven Erzählweise entgegen, sondern auch der geistige Horizont und die narrative Kompetenz, di e man dem persön lichen Erzähler bei all seinen Schwächen nicht absprechen kann. Auf die zu all gemeine Definition folgt in der Kurzen Literarischen En-zyklopädie eine gewisse Einengung der Merkmale: . . .
[ ] im Skaz tritt die ständige Empfindung einer "nichtprofessionellen" Erzählweise in den Vordergrund, die auf einem "fremden" und für den Autor oft unannehmbaren Wort aufbaut. Die Orientierung an Verfahren des mündlichen Erzählens dient nur als ein Mittel, die Rede des Erzählers sowohl dem "Autoc" -Wort als auch allgemein den in der jeweiligen Zeit gültigen literarischen Systemen entgegenzusetzen. 18
Die Subsumierung sowohl des Skaz als auch der poetischen Stilisierung unter den Be griff der "ornamentalen Prosa" findet sich schon bei Gofman ( 1 926, 232), der diese mit "Stilprosa" gleichsetzt, d. i. einer Prosa, die die "Spürbarkeit des Erzählens al s solchen in den Vordergrund rückt", einer Erzählweise "mit einer stilistischen Dominante" ("der Stil überwuchert das Sujet, ordnet sich seine Dynamik unter und erlangt sozusagen selbstwertige Bedeutung"). Ganz ähnlich definiert Stepanov ( 1 928, 1 3 f.) die ornamen tale Prosa als "Prosa mit Orientierung auf komplexe stilistische Arbeit" und nennt als ihre beiden Haupttendenzen zum einen die Einführung von Prinzipien des Verses und zum anderen die lexikalische und syntaktische Stilisierung des Skaz.
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IV . Erzählertex t u nd Personentext
Neben der ei genarti gen Redeweise und der Dissoziierung des Erzäh lers vom Autor heben Cudakov und C udakova ein drittes Merkmal hervor, die Dialogizität: Die S truktur des Skaz ist an einem als Gesprächspartner vorgestellten Leser ausgerich tet, an den sich der Erzähler mit seinem von lebendiger Intonation durchdrungenen ' Wort gleichsam unmittelbar wendet.
Auch dieses Merkmal erweist sich., für sich genommen, als nicht hin reichend diskriminatorisch. Die aktive Ausrichtung am fiktiven Leser charakteri siert etwa den dialogischen Erzählmonolog in Dostoevskijs Aufzeichnungen aus dem Kellerloch. Aber die in diesem Monolog domi nierende Intellektualität und Rhetorik und seine wel tanschauliche und psychologische Thematik sind mit der allgemein verbrei teten Vorstellung von Skaz weni g kompati bel . Zu weni g spezifisch ist auch die Definition, die Boris Korman ( 1 972 , 34) gibt: Eine Erzählweise, die stark auf den Sprecher zugeschni tten ist, die Lex·ik und Syntax des Trägers der Rede reproduziert und an einen Zuhörer gerichtet ist, heißt Skaz.
Wesentlich spezifischer wird die in Frage stehende Erzähl weise im B uch Poetik des Skaz (Muscenko, Skobelev , Krojcik 1 978 , 34) definiert: Skaz ist ein zwei stimmiges Erzählen, da..� den Autor und den Erzähler in eine bestimm te Korrelation bringt, im mündlich vorgetragenen und theatralisch improvisierten Mo nolog eines ein sympathetisch gestimmtes Auditorium voraussetzenden Menschen sti lisiert ist, der, unmittelbar mit dem demokratischen Milieu verbunden oder auf dieses Milieu ausgerichtet ist.
In dieser Definition sind verschiedene Merkmale miteinander verbun den, die einzeln oder gebündelt seit dem Beginn der Skaz-Forschung fa vorisiert wurden. c) Der Skaz: Forschungsgeschichte (B. Ejchenbau m, Ju. Tynjanov , V. Vinogradov , M. Bachtin) Die Diskussion wurde eröffnet durch Boris Ejchenbaums Skizze Illusion des Skaz ( 1 9 1 8), einen der Schl üssel aufsätze des frühen Formal ismus. Der Skaz wird hier vor allem betrachtet al s Mittel zur Befrei ung der Wort kunst von der "Schriftlichkeit, die für den Künstler des Wortes nicht im mer ein Gut ist" , als Mittel , in die Literat� r das Wort als "lebendi ge, be wegliche Tätigkeit einzuführen , die von Stimme, Artikulation, Intonation gebildet wird, zu denen sich noch Gestik und Mimik hinzugesellen"
2. Ornamentale Prosa und Skaz
1 67
(Ejchenbaum 1 9 1 8 , 1 66 f. ). In dem darauf folgenden Aufsatz Wie Gogol 's Mantel gemacht ist unterstreicht Ejchenbaum ( 1 9 19, 1 22 f.) die Verlage rung des Schwerpunkts vom Sujet (im Sinne der nacherzähl baren Hand lung), das in Gogol 's Skaz auf ein Minimum reduziert ist, auf die Verfah ren, die die Sprache als solche "spürbar" machen. In diesem Aufsatz un terscheidet Ejchenbaum zwei Arten des Skaz: 1 . den "erzählenden" und 2. den "reproduzierenden" Skaz. Mit dem ersten Typus ist ein durch die Fi gur des Erzählers , seine Sprache und Ideologie motivierter, ihn charak terisierender Skaz gemeint. Der zweite Typus besteht in einem nicht mehr durch den Charakter der Erzählerfigur motivierten Spiel mit unterschiedli chen Sprachgesten, in dem der Erzähler nur noch als Schauspieler, als Träger sprachlicher Masken figuriertl 9• In der Arbeit über den Mantel mit seiner Montage-Faktur und der ornamentalen Stilisierung interessiert sich Ejchenbaum nur für den zweiten' Typus. In der späteren Arbeit über Les kov ( 1 925 , 218 f.) dagegen definiert e r den Skaz als "eine Form der Er zählprosa" , "die in ihrer Lexik, Syntax und in der Wahl der Intonationen eine Ausrichtung auf die mündliche Rede eines Erzählers zeigt" , und er schließt hier ausdrücklich alle Erzählformen aus dem Skaz aus, "die de klamatorischen Charakter oder den Charakter poetischer Prosa haben und sich dami t nicht am Erzählen orientieren , sondern an der oratorischen Rede oder dem lyrischen Monolog" . Mit dieser Definition engt er den Skaz auf den ersten, charakterisierenden, perspektivierten Typus ein. Gleichwohl konzediert er die Existenz von paradoxen Formen wie der des "ornamentalen Skaz" , die " zwar noch Spuren einer folkloristischen Grundlage und der Skaz-Intonation bewahrt, aber keinen Erzähler als solchen mehr enthält" (ebd. , S. 236 f. ). Der Skaz interessiert Ejchenbaum aber im Grunde nicht als spezifisch narratives und erzählerisches Phäno men, sondern als "Demonstration" des allgemeineren Prinzips der "Wort kunst" : 19
In seiner Darstellung des Russischen Formalismus rekonstruiert Hansen-Löve ( 1 97 8 , 1 57 - 1 72, 274-303) fü r die formalistische Erzähltheorie die Unterscheidung zwischen 1 . dem "charakterisierenden" Typus des Skaz ("Skaz 11"), in dem der Erzähltext ein be stimmtes Subjekt in einem bestimmten sozialen Milieu kundgibt, und 2. dem Montage Typus oder dem "transrnentalen" Typus des Skaz ("Skaz IU), in dem ein diffuses Sub jekt auftritt und das Wort sich zum Ding verwandelt. Diese Dichotomie koppelt Han sen-Löve an die Opposition zwischen dem (typologisch späteren) "syntagmatischen Funktionsmodell" des Russischen Formalismus ("F 11") und dem (typologisch früheren) "paradigmatischen Reduktionsmodell" ("F I"), wobei "Skaz 11" der typologischen Pha se "F 11" entspricht und "Skaz I" dem Modell "F IU.
1 68
IV.
Erzählertext und Personentext
Nicht der Skaz als solcher ist wichtig, sondern die Ausrichtung auf das Wort, auf die Intonation, auf die Stimme, und sei es auch in schriftlicher Transfonnation. Das ist die natürliche und unabdingbare Grundlage der Erzählprosa. [ . ] Wir beginnen vieles wie von neuem, und darin liegt die hi storische Kraft unserer Zeit. Vieles empfinden wir anders - darunter auch das Wort. Unser Verhältnis zum Wort ist konkreter geworden, sinnlicher, physiologischer. [ ] Wir wollen es hören, es wie eine Sache anfassen . So kehrt die "Literatur" zur "Wortkunst" [slovesllost '] zurück, die Erzählliteratur zum mündlichen Erzählen. (Ejchenbaum 1 925, 240-243; Hervorhebung im Original. Über setzung leicht modifiziert)
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Jurij Tynjanov ( l 924b, 1 60 f.) unterscheidet in der Literatur seiner Ge genwart ebenfalls zwei Varianten des Skaz: 1 . den älteren humoristischen Skaz, der auf Nikolaj Leskov zurückgeht und von MichaiI Zoscenko kul tiviert wurde, 2. den "Remizov-Skaz" , eine "lyrische, fast verssprachli che" Variante. Ebenso wie Ejchenbaum sieht Tynjanov die Funktion des Skaz der einen wie der anderen Variante im Spürbarmachen des Wortes, aber er setzt die Akzente ein wenig anders , insofern er die Rolle des Le sers betont: Der Skaz macht das Wort physiologi sch spürbar. Die ganze Erzählung wird zum Mo nolog, und der Leser geht in die Erzählung ein, beginnt zu intonieren, zu gestikulieren , zu lächeln. Er liest den Skaz nicht, sondern spielt ihn. Der Skaz führt in die Prosa nicht den Helden, sondern den Leser ein. (Tynjanov 1 924b, 1 60)
In seinem die Diskussion bilanzierenden Aufsatz Das Problem des Skaz in der Stilistik bezeichnet Viktor Vinogradov ( 1 925) die Definition des Verfahrens mit der Orientierung an mündlicher Rede oder Umgangs sprache als unzureichend, da der Skaz auch ohne jede sprachliche Orien tierung an der lebendi gen Umgangssprache möglich sei : Skaz ist die spezifische künstlerische Orientierung am mündlichen Monolog des erzäh lenden Typus, er ist die künstlerische Imitation monologischer Rede, die, indem sie die Erzählfabel hervorbringt, sich gleichsam als ihr unmittelbares Sprechen konstituiert. (Vinogradov 1 925, 1 90/1 9 1 )
Ähnlich wi e Ejchenbaum und Tynjanov unterscheidet Vinogradov ( 1 925) zwei Typen des Skaz, 1 . den Skaz, der an eine Person gebunden ist, und 2. den "Autor-Skaz". Während in ersterem die "Illusion einer Le benssituation" erzeugt werde, die "Amplitude der lexikalischen Schwan kungen" sich verenge und "die stilistische Bewegung" durch ein bestimm tes sprachliches Bewusstsein begrenzt bl ei,be , sei der Skaz des zweiten Typs , der Autor-Skaz, "frei" , zusammenges,btzt aus Konstruktionen unter schiedlicher Buchgenres und Dialekte. ,,]}as Autor-Ich ist kein Name, sondern ein Pronomen" (Vinogradov 1 925 ; 202 f.). Der Autor schlüpft in
2. Ornamentale Prosa und Skaz
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unterschiedliche Gestalten und kann frei die stilistischen Masken wech seln. "Eine ganzheitliche Psychologie ist für den Autor ebenfalls eine überflüssige Belastung" (ebd.)20 . Ejchenbaums Konzeption des Skaz als einer Erzähl weise mit der Ori entierung an der mündlichen Rede widerspricht auch Michail Bachtin, der allerdings neue Akzente setzt und dabei nur den "erzählenden" Typ (in Ejchenbaums Terminologie) im Auge hat: [ Ejchenbaum] berücksichtigt überhaupt nicht, dass der Skaz in den meisten Fällen vor allem die Ausrichtung auf die fremde Rede ist und erst dann, als Folge, auf die mündli che Rede . [ . . ] Es scheint uns, dass der Skaz in den meisten Fällen gerade um der fremden Stimme willen eingeführt wird, einer sozial definierten Stimme, die eine Reihe von Standpunkten und Wertungen mit sich bringt, die der Autor auch benötigt. (Bach tin 1 929, 88; dt. 1 97 1 , 2 1 3 f. ; Übersetzung modifiziert; Hervorhebung im Original) .
Die fremde Rede ist für Bachtin vor allem der Träger einer fremden Sinnposition, einer fremden ideologischen Perspektive. Wenn aber die Ausrichtung auf die fremde Rede zum Grundmerkmal des Skaz erhoben wird , werden dem Skaz Phänomene zugeordnet, die nach traditionellem Verständnis mit ihm nicht vereinbar sind. Zu ihnen gehört die intellektuel le, oratorische Rede, die stark auf die Sinnposition des Hörers eingeht, wie sie etwa in Dostoevskijs Aufzeichnungen aus dem Kellerloch vorliegt. Zu Recht konstatiert Natal 'ja Kozevnikova ( 1 97 1 , 1 00), dass in Bachtins Konzeption "der Skaz als selbständige Erzählform verschwindet" . d) Charakterisierender und ornamentaler Skaz Im Weiteren soll auf der Grundlage der besprochenen Positionen eine neue Definition des Skaz und eine Systematisierung seiner Varianten an gestrebt werden. Natürlich kann diese Definition nur operationalen Cha rakter haben. Es sollen also nicht Fragen des Typus gestellt werden: Was ist Skaz? Statt dessen wird pragmatisch gefragt: Welche Erzählformen und semantisch-stilistischen Phänomene sind sinnvollerweise unter diesen Begriff zu subsumieren, damit er einerseits seine differenzierende Funkti on für die Textanalyse behält und anderseits nicht dem allgemeinen Ver20
Die Bewegung vom ersten, "gebundenen" Typ des Skaz zum zweiten, freien, zum "sprachlichen Mosaik" zeigt Vinogradov am Werk Gogol 's: Gogol' begann mit dem Skaz des "närrischen Alten" Rudyj Pan 'ko, dem erzählenden Imker im Zyklus Abende auf dem Vorwerk bei Dikan 'ka, und gelangte dann zu den komplexen Stilkombinatio nen des Mantels und der Toten Seelell (Mertvye dusi).
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IV. Erzählertext und Personentext
ständnis eklatant widerspricht. Das Ziel der Definition besteht darin, einen Katalog differenzierender Merkmale zusammenzustellen, die in ihrer Ge samtheit eine allgemeine Identifizierbarkeit des Phänomens sichern. Es scheint sinnvoll, entsprechend der Tradition zwei Grundtypen des Skaz zu unterscheiden: 1 . den charakterisierenden Skaz, der durch den Erzähler motiviert ist und seine sprachlich-ideologische Perspektive realisiert, 2. den ornamentalen Skaz, der nicht einen bestimmten persönlichen Erzähler kundgibt, sondern auf ein ganzes Spektrum heterogener Stimmen und Masken zu beziehen ist und Spuren auktorialer (nicht narratori al er !) Ornamentalisierung zeigt. Eine genaue Beschreibung nach Merkmalen ist ledi glich beim ersten, klassischen Typus möglich. Der ornamentale Skaz lässt sich nur vor dem Hintergrund des charakterisierenden Skaz beschreiben, und zwar mit Hilfe ' der Abweichungen , die sich aus der poetischen Überformung des Er zähl textes ergeben. e) Merkmale des charakterisierenden Skaz Von charakterisierendem Skaz zu sprechen scheint sinnvoll, wenn fol gen de Merkmale vorliegen: 1 . Narratorialität Skaz soll hier als ein ausschließlich narratoriales Phänomen verstanden werden. Er tri tt auf im Text der erzählenden Instanz (gleichgültig, ob es sich um einen primären , sekundären oder tertiären Erzähler handelt) und nicht der erzählten. Diese Grunddefinition schließt aus dem Bereich des Skaz alle semantisch-stilistischen Phänomene aus , die ihren Ursprung im Text einer erzählten Figur haben und auf einer "Ansteckung" des Er zählers am Stil seines Helden (oder des erzählten Milieus) oder auf einer bewussten Reproduktion einzelner Züge der Personenrede beruhen21 • 2 . Begrenztheit des geistigen Horizonts Ein obligatorisches Merkmal des klassischen Skaz ist auch die spürbare intellektuelle Di stanz des Erzählers vom Autor, die Begrenztheit seines i
21
Damit wird die Interpretation des Skaz als einer / Manifestation von erlebter Rede und verw andter Verfahren. wie sie etwa I. R. Titunik in seinen Arbeiten ( 1 963; 1 977) vor schlägt. grundSätzlich abgelehnt.
2. Ornamentale Prosa und Skaz
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geistigen Horizonts. Der Narrator des charakterisierenden Skaz i s t ein nicht-professioneller Erzähler aus dem Volk, dessen Erzählweise sich durch eine gewisse Naivität und Ungeschicklichkeit auszeichnet. Dieser unerfahrene Erzähler kontrolliert seine Rede nicht in allen Schattierungen. So entsteht die für den Skaz charakteristische Spannung zwischen dem, was der Erzähler sagen möchte, und der sich faktisch, über die Intention des Sprechenden hinaus herstellenden Mitteilung: Der Erzähler sagt un willkürlich mehr, als er eigentlich sagen möchte22• Ohne das Merkmal der Zugehörigkeit des Erzählers zum Volk (zum "demokratischen" Milieu, wie der sowjetische Euphemismus lautete) verliert der charakterisierende Skaz seine Konturen . 3 . Zweistimmigkeit
Die Distanz des Erzählers vom Autor bedingt eine narratorial-auktoriale Zweistimmigkeit der Erzählerrede. In ihr drücken sich zugleich der naive Erzähler und der seine Rede mit einer besonderen semantischen Geste präsentierende Autor aus. Die Zweistimmi:gkeit bedeutet auch eine Bi funktionalität der Erzählerrede, die zugleich als darstellendes Medium und dargestellte Rede fungiert. 4. Mündlichkeit Die mündliche Präsentation des Erzähltextes galt von Anfang an als grundlegendes Merkmal des Skaz. Tatsächlich ist es kaum sinnvoll, von charakterisierendem Skaz zu sprechen, wenn die Erzählerrede nicht al s mündlich vorgetragen fingiert ist. Natürlich schließt die mündliche Rede die Imitation schriftlicher Rede nicht aus. Manche Skaz-Erzähler Michail Zoscenkos zum B eispiel gebrauchen gerne Ausdrucksformen der schriftli chen Rede. Aber sie trägt dann Zeichen ihrer mündlichen Reproduktion. 5. Spontaneität Skaz soll hier als spontane mündliche Rede und nicht als vorbereitete Rede (wie es die Ansprache eines Redners oder das Plädoyer eines Advo katen sind) betrachtet werden. Die Spontaneität bedeutet die Darstellung der Rede als eines sich entwickelnden, aber nicht unbedingt geradlini gen, konsequenten und zu einem Ziel führenden Prozesses 23 • 22
23
Vgl. dazu die Beobachtung Viktor S klovskijs ( 1 928, 1 7): "Der Skaz motiviert eine zweite Wahrnehmung einer Sache. [ . . . ] Es ergeben sich zwei Ebenen : 1 . das, was der Mensch erzählt, 2. das, was gleichsam zufällig in seiner Erzählung durchbricht" . Ausführli�h z u den Merkmalen spontaner Rede vgl. Kveta Kowvnikova 1 970.
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IV . Erzähl ertex t und Personentext
6. Umgangssprachlichkeit Die spontane mündliche Rede eines Erzählers aus dem Volke trägt in lite rarischer Darstellung in aller Regel Züge der Umgangssprache und kann durchaus Merkmale vulgärer, agrammatischer oder defekter Rede anneh men. Anderseits schließt die Umgangssprachlichkeit die gelegentliche Verwendung des Buchstils keineswegs aus. Der kleine Mann bei Zoscen ko greift gern zu sprachlichen Sowjetismen, die er aus der Zei tung und der Propaganda kennt. Aber der Gebrauch buchsprachlicher oder offiziöser Wendungen ist in seinem "Munde" unwillkürlich verfremdet und erhält ironische auktoriale Akzente. 7. Dialogizität
Für den Skaz ist die Orientierung des Sprechers an seinem Zuhörer und dessen Reaktionen charakteristisch. Solange der Erzähler einen ihm wohl gesonnenen Hörer aus seinen Kreisen voraussetzt, ist die Dialogizität in der Regel nicht besonders spannungsreich. Der Sprecher wird allenfalls Erläuterungen geben , Fragen antizipieren und auf sie antworten. Sobald der Skaz-Sprecher dem Publikum kritische Wertungen zuschreibt, wird sich eine Spannung zwischen ihm und seinem Adressaten aufbauen. (Ein B eispiel für ein gespanntes Verhältnis des Narrators zum angesprochenen Gegenüber waren die oben, in Abschnitt II.5.b zitierten Abschiedsworte des ukrainischen Imkers Rudyj Pan ' ko in Nikolaj Gogol ' s Abenden auf dem Vorwerk bei Dikan 'ka.) Die genannten Merkmale haben nicht die gleiche Relevanz. Mündlichkei t, Spontaneität, Umgangssprachlichkeit und Dialogizität sind in den Wer ken, die traditionell dem Skaz zugerechnet werden, mehr oder weni ger stark ausgeprägt. Eine schwache Ausprägung hebt die Identität des Skaz noch nicht auf. Als obligatorisch sollte man aber die ersten drei Merkmale betrachten: Narratorialität, Begrenztheit des geistigen Hori zonts und Zwei stimmigkeit. Ohne sie verliert der Begriff des (charakterisierenden) Skaz seine Bezeichnungskraft.
f) Charakterisierender Skaz in russischer und deutscher Literatur Der Skaz ist nicht selten auf einen sekundären Erzähler bezogen. Dann beschränkt sich die Rahmengeschichte in d�r Regel auf wenige Worte, die der Einleitung in die Situation einer lebendiigen Erzählung dienen, wie das zum B eispiel in Zoscenkos Aristokratin (Aristokratka) der Fall ist (für den
2 . Ornamental e Prosa und Skaz
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konventionellen Charakter des Rahmens ist bezeichnend, dass er in einigen Ausgaben dieser Erzählung fehlt ): Grigorij Ivanovic seufzte laut, wischte sich das Kinn mit dem Ärmel ab und begann zu erzählen : Also ich für meinen Teil, meine Brüder, liebe Weiber nicht, die in Hüten herum laufen. Wenn ein Weib einen Hut trägt, wenn sie durchsichtige Strümpfchen au s Sei denbaumwolle anhat oder wenn sie einen Mops auf dem Arm oder einen goldenen Zahn hat, dann ist eine solche Aristokratin für mich überhaupt kein Weib , sondern ein leerer Fleck. Zu meiner Zeit habe ich mich natürlich mal für eine Aristokratin erwärm t. Ging mit ihr aus und führte sie ins Theater. Im Theater kam dann aber alles heraus. Im Thea ter entfaltete sie ihre Ideologie im ganzen Umfang. (M. Zo§cenko Izbr. proizv. v 2 t., Bd. I , L. 1 968, S. 86)
Auch in der jüngsten russischen Literatur finden wir Erzählungen , die im charakterisierenden Skaz stilisiert sind. Ein bemerkenswertes B eispiel ist Zeiteinander (Raznovrazie; 1998) von Irina Povolockaja, eine Samm lung bunter Kapitel (Sobranie pestrych glav), wie das Werk im Untertitel heißt. Wir haben hier ein Beispiel für weiblichen Skaz. Es erzählt Na tal 'ja, Köchin bei einem Geistlichen, von ihrem an Schicksalschlägen reichen Leben. Zitiert sei aus dem Beginn des Kapitels Alafransä (AI jafranse) , in dem die HeIdin von ihrer ersten Liebe berichtet: Als der Erste Weltkrieg zu Ende war, da hatten wir große Hungersnot. Die Pol en , die sind bei uns damals alle umgekommen . Aber ich mit meiner Kollegin Marussj a, wir beide haben uns über Wasser gehalten, weil wir die polni schen Pferde geschlachtet ha ben. Erst haut die Maru ssja einem Pferd mit der Axt auf den Kopf, und dann schlitz ich dem mit nem langen Dolch den Hals auf: Zack ! Als die jüdischen Jungs das spitzge kriegt haben, da haben die gleich aufgehört, uns den Hof �u machen. Und einmal , als die Musik angefangen hat zu spielen, da ist al s einzi ger Pjotr Iwanowitsch direkt auf mich zu gekommen. Es war beim Dorffest, und ich hatte mein festl ichstes Kleid an , so eins mit betonter Taille und die B rust hochgeschnürt, ich stand so da mitten unter mei nen Freundinnen. " "Gestatten Sie, Fräulein, Sie zum Tanz zu bitten. "Ich tanz nicht" , sag ich . "Warum denn nicht?", fragt er mich. "Ich hinke", sag ich. Aber sein Blick saugt mich ganz auf. "Ach so, sie sind die Tochter von der Malanja, sie sind die Natalja?" Und in dieser Sekunde hab ich mich mit Leib und Seele in ihn verliebt, und bis heut tut ' s mir noch weh, weim ich nur an ihn denke. (I. Povolockaja, Raznovrazie, St. Pe tersburg 1 998, S . 1 36. Übersetzung: lrina Burgmann-Schmid)
In der jüngsten deutschen Prosa erfreut sich ein Erzählwerk besonderer Popularität, das in seinem Diskurs dem charakterisierenden Skaz ent-
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IV . Erzählertext und Personentext
spricht. Das ist der Roman Faserland ( 1 995) des 1 966 geborenen Chris tian Krache4• Der spontane, in der Umgangssprache gesprochene und an einen gleichgesinnten Hörer adressierte Erzählmonolog eines Vertreters der bundesrepublikanischen Jeunesse doree, der von Sylt bis zum Boden see durch das ,Vaterland ' reist und seine oberflächlichen B eobachtungen zum besten gibt, erfüllt die wesentlichen Merkmale des charakterisieren den Skaz. Lediglich der geistige Horizont der Erzählerfigur scheint auf den ersten Blick nicht so begrenzt zu sein, wie man es von den russischen Skaz-Erzählern kennt, denn der Erzähler ist durchaus nicht ohne Bildung, hat er doch, wie er mehrfach erwähnt, die Internatsschule im Schloß Sa lern besucht. Aber in seinem seichten , Gefasel ' von Partys und Bars, in dem Markennamen und Zelebritäten eine große Rolle spielen, zeigt er eine erhebliche geistige Reduziertheit. Der deutsche Partygänger und Dis colöwe erweist sich tatsächlich al s geistiges Äquivalent des russischen ,demokratischen ' Helden. Mündlichkeit, Spontaneität und Umgangs sprachlichkeit charakterisieren bereits den Romanbeginn, der im Folgen den zitiert wird. Auch die Dissoziierung der Erzählinstanz vom Autor und die Zweistimmigkeit der Erzählerrede sind an diesem Zitat gut zu beob achten: Also, es fängt damit an, daß ich bei Fisch-Gosch in List auf S ylt stehe und ein Jever aus der Flasche trinke. Fisch-Gosch , das ist eine Fischbude, die deswegen so berühmt ist, weil sie die nördlichste Fischbude Deutschlands ist. Am obersten Zipfel von Sylt steht sie, direkt am Meer, und man denkt, da käme jetzt eine Grenze, aber in Wirklich keit ist da bloß eine Fischbude. Also, ich stehe da bei Gosch und trinke ein Jever. Weil es ein bißehen kalt ist und Westwind weht, trage ich eine Barbourjacke mit Innenfutter. Ich esse inzwischen die zweite Portion Scampis mit Knoblauchsoße, obwohl mir nach der ersten schon schlecht war. Der Himmel ist blau. Ab und zu schiebt sich eine dicke Wolke vor die Sonne. Vorhin hab ich Karin wiedergetroffen. Wir kennen uns noch aus Salem, ob wohl wir damals nicht miteinander geredet haben, und ich hab sie ein paar Mal im Traxx in Hamburg gesehen und im PI in München. (Ch. Kracht, Faserland. Roman, Taschenbuchausgabe im Goldmann Verlag, 1 997, S. 9)
g) Der ornamentale Skaz Der ornamentale Skaz ist ein hybrides Phänomen, das auf einer para doxalen Vermischung der einander eigentlich ausschließenden Prinzipien 24
I
Den Hinweis auf Kracht verdanke ich dem Mitilied der Hamburger Forschergruppe Narratologie Olaf Grabienski, von dem auch eine ' Arbeit zu Kracht im Internet zu lesen ist: www .olafski.de! arbeiten! kracht.pdf
2. Ornamental e Prosa und Skaz .
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der Charakterisierung und der Poetisierung beruhes. Anders als der cha rakterisierende Skaz verweist der ornamentale Skaz nicht auf einen per sönlichen, mit den Zügen der Unprofessionalität ausgestatteten Erzähler, sondern ruft, sofern überhaupt eine Kundgabefunktion wirksam bleibt, die Vorstellung einer unpersönlichen Erzählinstanz hervor, die in verschiede nen Rollen und Masken auftritt. Vom charakterisierenden Skaz können im ornamentalen Skaz ein mündlicher Grundton, Spuren von Umgangs sprachlichkeit und die narr�tiven Gesten eines persönlichen Erzählers er halten bleiben, aber diese Züge geben nicht mehr die einheitliche Figur eines Narrators kund, schließen sich nicht mehr zur Einheit einer Persön lichkeit und einer Psychologie zusammen, sondern sind auf ein ganzes Spektrum heterogener Stimmen bezogen. Der ornamentale Skaz ist viel gesichtig und polystilistisch, schwankt zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Umgangssprachlichkeit und Poetizität, Buchsprache und Folklore. Der ornamentale Skaz verbindet Narrativität mit Poetizität; in dem Maße aber, wie die Poetizität mit den sie konstituierenden unzeitl ichen Verknüpfungen die zeitlichen Verknüpfungen der Geschichte verdrängt, rückt der ornamentale Skaz, der in der erzählenden Literatur ohnehin eine Position an der Grenze einnimmt, aus dem Bereich der Erzählkunst in den der Wortkunst. Der unpersönliche Narrator figuriert dann nur noch als der Schnittpunkt heterogener verbaler Gesten, als Punkt, in dem unterschied liche stilistische Linien zusammenlaufen. Im ornamentalen Skaz ist nicht nur die Kundgabefunktion des Textes in Bezug auf den Erzähler v ermin dert, sondern die Rolle der Perspektive ist generell abgeschwächt. Sofern hier überhaupt Personenreden dargestellt werden, bleiben sie stilistisch tendenziell der homogenisierenden Poetisierung unterworfen und entfalten keine sprachliche Individualität. Die Opposition von Erzählertext und Personentext wird durch die poetisch-ornamentale Überformung w eitge hend neutralisiert. Auch im konsequent durchgehaltenen charakterisieren den Skaz ist die Differenz von Erzählerrede und Personenrede oft abge schwächt. Aber das ist hier nicht durch die grundsätzliche Reduzierung der Perspektivität bedingt, sondern dadurch, dass der in seiner Kompetenz beschränkte Erzähler fremde Stile kaum zu ihrem Eigenleben kommen lassen kann und deshalb den Personen text notgedrungen narratorial über formt. Während der charakterisierende Skaz schlüssig durch die ideologi25
Ausführlich ist diese Mischung in den Arbeiten N. A . Ko�evnikovas beschrieben (ins besondere 1 964, 64-74) .
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IV.
Erzählertext und Personentext
sche und sprachliche Physiognomie eines konkreten Sprechers motiviert ist, zeichnet sich der ornamentale Skaz durch reduzierte, diffuse Perspek tivik, charakterologische Unmotiviertheit und poetische Selbstwertigkeit des Erzähltextes aus. Den Typus des ornamentalen Shz vertritt Gogol ' s Erzählung Der Mantel ( S inel ' ) , die durch die berühmte Analys � Boris Ejchenbaums ( 1 9 1 9) auch unter Narratologen weite Bekanntheit erlangt hat. In der Urfassung begann die Erzählung mit einem klanglichen Calem bourg: -
Im Departement der Einnahmen und Gebühren, das übrigens bisweilen Departement des Infamen und der Allüren genannt wird [ . ] (Ejchenbaum 1 9 1 9, S. 1 32 f.) .
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Lange schwankte Gogol ' zwischen verschiedenen Familiennamen für seinen Helden. Schließlich entschied er sich für Basmackin (im Deutschen etwa , Halbschuhlich '), einen Namen, der nach Ejchenbaum vor den Kon kurrenten den Vorteil größerer "artikulatorischer Ausdruckskraft, mi misch-pronuntiativer Stärke" (ebd. ) hatte. Dieser im Russischen höchst seltsam klingende Name wird vom Erzähler auf ostentativ absurde Weise motiviert: Allein schon am Namen sieht man, daß er irgendwann einmal von Halbschuh abgelei tet worden ist; aber wann, zu welcher Zeit und auf welche Weise man ihn von Halb schuh abgeleitet hat, darüber ist nichts bekannt. Sowohl der Vater als auch der Großva ter und sogar der Schwager sowie ausnahmslos alle Ba�mackins gingen in Stiefeln, die sie nur ungefähr dreimal jährlich besohlen ließen . (Ejchenbaum 1 9 19, 1 34 f.)
Der Alogismus dieses Erzählens charakterisiert nicht den Erzähler. Seine Naivität ist nicht authentisch, sondern vorgespiegelt. Die sehr ab strakte und diffuse Erzählinstanz, die sich in mannigfachen rhetorischen Gesten manifestiert, spielt verschiedene sprachliche und damit auch ideo logische Rollen durch. Die Distanz zwischen dem mit der Sprache iro nisch-spielerisch umgehenden Subjekt dieses aus heterogenen Sprechwei sen montierten ornamentalen Skaz und dem Autor ist nicht wahrnehmbar. Deshalb nennt Vinogradov ( 1 925) diesen Typus auch "Autor-Skaz" (siehe oben, S. 1 68). Von der auktorial-narratorialen Zweistimmigkeit, wie sie den Skaz in Gogol ' s Vorworten zu den Abenden' auf dem Vorwerk bei Dikan 'ka auszeichnet (vgl . oben, II.5 .b), gibt " es hier keine Spur. In der russischen Version des vorliegend�n Buches (Schmid 2003 , 1 94 f.) wird der ornamentale Skaz an drei Beispielen aus der Literatur der Moderne und Avantgarde illustriert, an And'rej Belyjs Roman Die silberne Taube (Serebrj anyj golub' ) und Leonid Leönovs Erzählungen Egoruskas
2. Ornamentale Prosa und Skaz
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Untergang (Gibel ' Egoruski) und Tuatamur. In der Übersetzung ist die ornamentale Faktur dieser Texte mit ihrer poetischen Rhythmisierung und dichten Klanginstrumentierung nicht annähernd wiederzugeben. In Leo novs Tuatamur verbindet sich die Poetisierung mit den Mitteln asiatisch folkloristischer Stilisierung. Jurij Tynjanov ( 1 924b, 1 6 1 ) sieht in der "tata rischen transmentalen Sprache" dieses Textes , der in seiner exotischen Faktur einem persischen Teppich gleiche, die Grenzen der Prosa erreicht: "Noch ein bissehen , und die Prosa wird zum Vers".
3. Die Interferenz von Erzählertext und Personentext
a) Die Struktur der Textinterferenz Die Subjektivität der Erzählerrede, die mit dem Skaz verbunden ist, ver dankt sich der Subjektivität des Erzählers. Aber es gibt auch Phänomene der Subjektivität der Erzählerrede, die eine grundsätzlich andere Herkunft haben, nämlich nicht auf den Erzähler, sondern auf die Person zurückge hen. Die personale Subjektivität dringt in die Erzählerrede durch jene Struktur ein, die Interferenz von Erzählertext und Personentext oder, kür zer, Textinterferenz genannt werden soll (Schmid 1 973 , 39-79). Die Textinterferenz ist ein hybrides Phänomen, in dem sich Mimesis und Diegesis (im Platonischen Sinne) mischen , eine Struktur, die zwei Funktionen vereinigt: die Wiedergabe des Personentextes (Mimesis) und das eigentliche Erzählen (Diegesis). Die Textinterferenz, die für die erzäh lende Prosa charakteristisch ist (nicht aber für die Lyrik oder das Drama), tritt in verschiedenen Formen auf, von denen am häufigsten die sogenann te erlebte Rede 26 Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung wurde. Die Interferenz resultiert in diesen Formen daraus, dass in ein und demselben Segment der Erzählerrede gewisse Merkmale auf den Erzäh lertext, andere dagegen auf den Personentext als Ursprung .v erwei sen. Durch die Distribution der Merkmale auf die beiden Texte, durch die in 26
Es wird hier dieser von Etienne Lorck ( 1 92 1 ) im Geiste der "Sprachseelenforschung" geprägte und in manchem missleitende Begriff deshalb verwendet, weil er sich im Deutschen eindeutig durchgesetzt hat. Zu anderen deutschen Bezeichnungen für diese Erscheinung (die allerdings nicht immer dasselbe meinen) und zu ihren französischen, englischen, niederländischen und skandinavischen Äquiv alenten vgl. Neubert 1 957, 71 1 ; Steinberg 1 97 1 , 1 1 1 - 1 1 8 .
1 78
IV . Erzählertext und Personentext
zwei Richtungen zielende Kundgabe werden diese Texte als ganze in ein und demselben Segment der Erzählerrede gleichzeiti g vergegenwärti gt. Die si multane Vergegenwärti gung von Erzählertext und Personentext in einem Segment der Erzählerrede durch die einmal auf den Erzähler, ein anderes Mal auf die Person gerichtete Kundgabe soll in fol gendem Sche ma dargestellt werden: ET
======================================
i
i
TI
PT
======================================
Legende ET = Erzählertex t. TI = Textinterferenz. PT = Personentext. Gestrichel te Linie ( ) = Segment der Erzählerrede, das in einzelnen Merkmalen auf ET und in anderen auf PT verwei st. Punkti erte Linien ( . . . . . ) = die im ge gebenen S egment enthaltenen Merkmale. Doppel te gestrichel te Linien (====) = der durch die Merkmale v ergegenwärtigte ET bzw . PT . --
.
Auf die Doppelstruktur der Textinterferenz, eine Form , die er "hybride Konstruktion" nennt, hat bereits Michail Bachtin ( 1 934/ 1 93 5 , 1 1 8) ver wiesen: I
Wir nennen hybride Konstruktion eine Aussage, die nach ihren grammatischen (syntaktischen) und kompositionellen Merkmalen einem einzigen Sprecher gehört, in der in Wirklichkeit aber zwei Aussagen vermischt sind, zwei Redeweisen , zwei Stile, zwei "Sprachen", zwei Sinn- und Wertungshorizonte.
Der Begriff der Textinterferenz geht zurück auf Valentin Volosinovs ( 1 929, 1 48 ; dt. 1 975 , 206) Terminus "Redeinterferenz"27 , fällt aber inhalt lich nicht mit ihm zusammen. Als Musterb � ispiel für Redeinterferenz zi 27
j
In der deutschen Ü bersetzung erscheint dieser Begriff nicht ganz adäquat als "sprach li che Interferen z".
3 . Die Interferenz von Erzählertext und Personentext
1 79
tiert Volosinov einen Ausschnitt aus Dostoevskijs Erzählung Eine dumme Geschichte (Skvemyj anekdot): [ . . ] an einem klaren frostigen Winterabend, es ging übrigens schon auf zwölf zu, sa ßen drei außerordentlich ehrenwerte Herren in einem komfortablen, ja sogar prächtig ausgestatteten Raum in einem schöllen zweistöckigen Haus auf der Petersburger Seite und waren in ein solides und vortreffliches Gespräch über ein ungemein i1lteressantes Thema vertieft. Alle drei Herren hatten es schon zum Generalsrang gebracht. Sie saßen um einen kleinen Tisch, jeder in einem schönen Polstersessel, und schlürften während des Gesprächs ruhig und komfortabel ihren Champagner. (F. M. Dostoevskij. Poln . sobr. sol! . v 30 t., Bd. 5, S. 5 ) .
Volosinov ( 1 929, 1 47; dt. 1975 , 205) bemerkt dazu, dass die "banalen und blassen, nichtssagenden Epitheta", die in seinem Zitat kursiv gesetzt sind, aus dem Bewusstsein der Generäle stammten und im Kontext des Er zählens ironische und spöttische Akzente erhielten. Jedes dieser banalen, blassen, nichtssagenden Epitheta ist eine Arena für die Begeg nung und den Kampf zweier Intonationen, zweier Perspektiven, zweier Reden ! [ . . . ] fast jedes Wort dieser Erzählung gehört hinsichtlich seiner Expression, seines emo tionalen Tons, seiner Akzentposition gleichzeitig zu zwei sich überschneidenden Kon texten, zu zwei Reden, zur Rede des Erzählers (die ironisch, spöttisch ist) und zur Re de des Helden (dem der Sinn nicht nach Ironie steht). [ . . ] Wir haben es hier mit dem klassischen Fall eines fast überhaupt nicht untersuchten linguistischen Phänomens zu tun, der Redeimerjerenz. (Volosinov 1 929, 1 47 f. ; dt. 1 975, 205 f. ; Kursive im Origi nal; Übersetzung revidiert) .
Volosinovs Begriff der "Redeinterferenz" unterstellt eine "intonations mäßi ge" (d. h. ideologische) Doppelakzentigkeit der beiden Reden. Unse re Textinterferenz liegt dagegen schon vor, wenn die Merkmale eines Seg ments mal auf die eine, mal auf die andere Instanz verweisen. Eine be stimmte Differenz der Wertungshaltungen der beiden vergegenwärtigten Texte ist für die Textinterferenz nicht erforderlich. Als Grenzfall ist auch die völlige ideologische Übereinstimmung der beiden Texte möglich. Der hier verwendete Begriff der Textinterferenz ist also weiter gefasst als Vo losinovs "Redeinterferenz" und impliziert nicht automatisch jene agonalen S trukturen, die Bachtin und Volosinov "zweistimmi gen" Strukturen wie Interferenz und Dialogizität unterlegen28 •
28
Zur Differenz von Volosinovs Redeinterferenz und meiner Textinterferenz und zur Konzentration Bachtins und Volosinovs auf agonale Textstrukturen vgl. Schmid 1 989b.
1 80
IV . Erzählertext und Personen text
b) Die Opposition der Texte und ihre Merkmale Die Anal yse der TextinteIferenz mit Hilfe eines Katalogs von Merkmalen, in denen Erzählertext und Personentext differieren können , geht auf die Arbeiten Lubomfr Dolezels ( 1 95 8 ; 1 960; 1 965 ; 1 967; 1 973a; 1 993) zu rück. Aber Prämissen und Methoden der Analyse, die hier vorgeschlagen werden sollen, unterscheiden sich wesentlich von Dolezels Ansatz. Do lezel geht von einer festen Opposition zwischen dem "objektiven" Text des Erzählers und dem "subjektiven" Text der Person aus. Der Erzähler text übt nach Dolezel ( 1 993 , 1 2) eine ausschließlich "darstellende Funkti on" (im Sinne der Sprachfunktionen Bühlers 1 934) aus und ist durch die ausschließliche Ausrichtung auf den dargestellten Gegenstand gekenn zeichnet. Die Ausdrucks- und Appellfunktion, d. h. die Aktivierung der Relation zwischen Text und Sprecher bzw. Hörer, ist nach Dolezel im Erzählertext annulliert29 • Jegliche Subjektivi tät, d. h. jede Aktualisierung der Beziehung des Textes zum Sprecher oder Hörer, wird von Dolezel ( 1 960) als ein "Stilmittel" betrachtet, das dem Erzählertext seine Grundei genschaft nimmt, nämlich die Objektivität. Es liegt auf der Hand, dass eine solch rigide und zirkulär begründete Idealisierung weder methodisch hilfreich noch historisch begründbar ist. Bühler hatte in seinem Orga nonmodell der Sprache, auf das sich Doleze1 beruft, die ausschließliche Wirksamkeit eines "Sinnbezugs" , also etwa der "Darstellung" , und die Annullierung der beiden anderen, "Ausdruck" und "Appell", wohlweis lich nicht vorgesehen3 0• Das von Dolezel postulierte objektive Erzählen ist ein konstruierter Idealtyp, der nur in bestimmten Epochen realisie� wird, in denen man auf eine vorhergehende hypertrophe Subjektivierung rea giert (vgl. Holy 2000). Einen historischen Grenzfall zur Grundform zu erheben, gibt es aber keinen Anlass. Anstatt eine absolute Gegenüberstellung idealisierter Texte zu konstru ieren, wollen wir davon ausgehen, dass beide Texte in der Empirie in glei chem Maße mit Zügen objektiver Gegenstandsorientierung und subjekti v er Hörerorientierung ausgestattet sein und in gleichem Maße die Kund29
30
Eine ähnliche Idealisierung finden wir bei Elena Padul!eva ( 1 996, 336 f.), die die "tradi tionelle Erzählung" als eine "Erzählung in der dritten Person" definiert, die keine Dei xis, "Expressivität" (im S inne der Kundgabe des Sprechers) und "Dialogizität" enthalte. Auch der Personentext wird von Dole:lel idealisiert, wenn ihm eine unbedingte Subjektivität, d. h. starke Aktivierung der Beziehungen des Textes zum Sprecher und Hörer, ' zugeprochen wird. Es kann aber ein überaus subjektiver Erzähler eine objektiv, ganz sachgerichtet sprechende Person darstellen.
_
3 . Die Interferenz von Erzählertext und Personentext
181
gabefunktion ausüben können. Dass der Erzählertext nicht unbedingt we niger subjektiv zu sein braucht als der Personentext, wird in allen europäi schen Literaturen von der Empfindsamkeit bis zum Realismus hinreichend bezeugt. In der russischen Literatur hat die extreme Subjektivierung des Erzählertextes eine starke Tradition. Man denke nur an den soeben be trachteten Skaz. Warum aber geht Dolezel von einer fixen Opposition der Texte aus, und warum postuliert er als Grundtypus einen absolut objektiven Erzäh lertext, der in der Wirklichkeit der Literatur kaum begegnet? Es liegt hier vermutlich das Bedürfnis nach methodischer Vereinfachung zugrunde, das Bestreben , das in der Phonologie angewandte System distinktiver Merk male auf Phänomene des Textes zu übertragen. Dieses System soll es erleichtern, die Segmente der Erzählerrede als entweder auf den Pol des Erzählers oder der Person bezogen zu identifizieren. Wenn Subjektivität als distinkti ves Merkmal des Personen textes betrachtet werden kann, dann erlaubt jedes Vorkommen subjektiver Züge in der Erzählerrede den Schluss, dass das gegebene Segment auf den Personentext zu beziehen ist. Konzediert man aber, dass Subjektivität oder die Erscheinungen der Aus drucks- und Appellfunktion an sich noch nicht distinktiv sind, insofern sie sowohl im Erzählertext als auch im Personentext auftreten können, dann erweist sich Dolezels binaristische Methode als für die Analyse der Text interferenz nicht geeignet. Im Weiteren sei ein Katalog von Merkmalen aufgestellt, in denen sich Erzählertext (ET) und Personen text (PT) unterscheiden können. Dieser Katalog unterstellt nicht einen bestimmten Typus der Texte oder ihre ab solute Opposition, sondern geht von dem empirischen Faktum aus , dass die Texte in unterschiedlichen Werken sehr verschiedene Profile haben können. Deshalb ist er als Katalog möglicher differenzierender Merkmale auf jedes konkrete Werk anwendbar. Natürlicherweise entspricht dieser Merkmalkatalog dem Katalog der Parameter, die wir für die Perspektive unterschieden haben: Parameter der Perspektive
Mögliche Merkmale für die Differenzierung von ET und PT
Perzeption
thematische
Ideologie
ideologische
Raum
grammatische
Zeit
grammatische
Sprache
stilistische
1 82
IV .
Erzählertext und Personentext
Die grammatischen und stilistischen Merkmale be�ürfen einer wei te ren Differenzierung. Somit erhalten wir folgenden Merkmalkatalog: 1 . Thematische Merkmale ET und PT können sich in der Auswahl der thematisierten Einheiten und durch charakteristische Themen unterscheiden. 2. Ideologische Merkmale ET und PT können sich in der Bewertung einzelner thematischer Einhei ten und in ihrer all gemeinen Sinnposition unterscheiden. 3 . Grammatische Merkmale der Personalform
ET und PT können sich durch die Verwendung der grammatischen Person der Pronomina und Verbformen unterscheiden. Zur Bezeichnung der Per sonen der erzählten Welt verwendet der nichtdiegeti sche Erzähler aus schließlich die Pronomina und Verbformen der 3 . Person. Im PT wird das System der drei Personen verwendet: Die sprechende Instanz wird mit der 1. Person, die angesprochene Figur mit der 2. Person und die besprochene Figur mit der 3 . Person bezeichnet. 4. Grammatische Merkmale des Tempus ET und PT können sich durch die Verwendung der Tempora unterschei den. Im PT werden in der Regel drei Zeitstufen ausgedrückt (Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft) und die drei präsentischen Tempora (Präsens , Perfekt, Futur) verwendet. Im ET wird für die Bezeichnung der Handlun gen der erzählten Welt in der Regel das epische Präteritum bzw. das als Äqui valent fungierende historische Präsens verwendet. (In Aussagen, die sich nicht auf die Diegesis, sondern auf die Exegesis beziehen, also in Kommentaren , Autothematisierungen, Leserapostrophen und dergleichen kann der Erzähler natürlich Tempora aller drei Zeitstufen verwenden.) 5. Grammatische Merkmale des Zeigsystems Zur Bezeichnung des Raums und der Zeit der erzählten Handlung können ET und PT unterschiedliche Zeigsysteme v erwenden. Für den PT ist die Verwendung chronotopischer Deiktika charakteristisch, die sich auf die "Ich-letzt-Hier-Ori go" der Person (s. o., I .2.b) beziehen, wie heute, ges tern, morgen, hier, dort, rechts, links. Im I;:T werden die Deiktika durch anaphorische Zeigwörter (Bühler 1 934) wie / an diesem Tag, an demselben Morgen, ein Tag zuvor, am Tag nach der beschriebenen Begebenheit,
3 . Die Interferenz von Erzählertext und Personentext
183
ebenda, a n demselben Ort, rechts von dem Helden ersetzt, also durch sol che Ausdrücke, die sich auf bereits im Text gemachte Angaben zurückbe ziehen, nicht aber ein Wissen um die Origo der Person voraussetzen 3 1 •
6. Merkmale der Sprachfunktion ET und PT können durch unterschiedliche Sprachfunktionen (Darstellung, Ausdruck und Appell) charakterisiert sein. 7. Stilistische Merkmale der Lexik ET und PT können durch unterschiedliche Benennungen ein und dessel ben Objektes ("Aleksandr Ivanovic" vs. "Sasa" , "Gaul" vs: "Ross") und überhaupt durch unterschiedliche lexikalische Repertoires charakterisiert sein, wobei der Text des Erzählers nicht notwendigerweise buchsprachlich oder stilistisch neutral ist und der Text der Person nicht unbedingt um gangssprachlich. 8. Stilistische Merkmale der Syntax und PT können durch unterschiedliche syntaktische Muster charak terisiert sein.
ET
Dolezel ( 1 960) unterscheidet fünf primäre distinktive Merkmale und geht von folgender konstanter Opposition des "Erzählerplans" und "Personen plans" aus : 1 . " Fonnale" Merkmale: PT enthält alle drei grammatischen Personen und alle drei Zeiten ; ET enthält nur eine (die dritte) grammatische Person und nur eine Zeit (das Präteritum). 2. "Funktional-situative" Merkmale: PT kennt sowohl a) die expressive und die appellative Sprachfunktion als auch b) die Deixis auf die außersprachliche Si tuation; keines der Merkma le kommt in ET vor. 3. "Semantische" Merkmale: Während in PT be stimmte Mittel den subjektiven semantischen Aspekt ausdrücken, wird der semantische Aspekt in ET nicht ausgedrückt. 4. "Stilistische" Merkmale: Die stilistische Spezifizierung von PT auf der Grundlage des umgangs sprachlichen Stils steht dem stilistisch unspezifischen ET gegenüber. 5. "Graphische" Merkmale: Die Aussagen des PT sind graphisch markiert, die Aussagen des ET sind nicht markiert. Bei Dolezel fehlen die themati schen Merkmale, die sich in der Textanalyse als höchst relevant, nicht 31
Eine ausführliche Erörterung deiktischer und anaphorischer Verweisung in der Rede und Gedankendarstellung, vor allem in der erlebten Rede findet sich bei Fludemik 1 993a, 1 10- 1 46 .
1 84
IV.
Erzähl ertext und Personentext
selten ausschlaggebend für die Zuordnung eines Segments erweisen . Die graphischen Merkmale gehören nicht in diese Reihe: Sie sind nicht Merkmale der Aussagen von PT selbst, sondern Merkmale ihrer Präsenta tion im Erzähltext. Im Gegensatz zu Dolezel gehe ich nicht davon aus , dass ET in den "formalen" , "funktional-situativen" , "semantischen" und "stilistischen" Merkmalen immer neutral und PT in diesen Merkmalen im mer subjektiv markiert ist. c) Die reinen Texte und die Neutralisierung der Opposition Wenn in einem Segment des Erzähltextes alle erwähnten Merkmale ver treten und die möglichen Opposi tionen von ET und PT realisiert sind, ergibt sich für die reinen, unvermischten Texte folgendes Schema der Verteilung der Merkmale: Erzählertext
Er
I.
2.
3.
5.
6.
7.
8.
Thema
Wertung
Person
Zeit
Zei gsyst.
Sprachf.
Lexik
Syntax
x
x
x
x
x
x
x
x
4. .
PI'
Personen text
.
I.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
Thema
Wertun g
Person
Zeit
Zeigsyst.
Sprachf.
Lexik
Syntax
x
x
x
x
x
x
x
x
Er PI'
Die reinen Texte sind in der Wirklichkeit der Literatur jedoch oft nicht so realisiert, da die Opposition der Texte teilweise neutralisiert sein kannn. (Diese Neutralisierung wird im Schema durch ei n x sowohl für ET als auch für PT markiert.) Die Neutralisierung der Opposition von ET und PT findet in zwei Fällen statt: I
32
Zur Venneidung von Missverständnissen sei ang�merkt, dass der hier verwendete Be griff der Neutralisierung eine andere S truktur bezeichnet als bei Dolezel ( 1 965), wo der Begriff unsere Textinterferenz bedeutet.
3 . Die Interferenz von Erzählertex t und Personen text
1 85
1 . wenn in dem gegebenen Segment bestimmte Merkmale überhaupt nicht vertreten sind (was am häufigsten die Merkmale der Person und des Zeigsystems betrifft), 2. wenn ET und PT in einem Merkmal zusammenfallen. Der Zusammenfall von ET und PT in einem Merkmal findet dann statt, wenn die beiden Texte hinsichtlich des jeweiligen Merkmals identisch sind. So kann die Vergangenheitsform des PT mit dem epischen Präteri tum des ET zusammenfallen. Die Opposition der Texte ist dann hinsicht lich des Merkmals Zeit in allen Präteritalformen neutralisiert, die die Ver gangenheit der Person bezeichnen. Das Erzählen kann sich natürlich des historischen Präsens bedienen. Dann gilt die Neutralisierung für alle Seg mente, die die Gegenwart einer Person bezeichnen33 • Im nichtdiegetischen Erzählen ist die Opposition von ET und PT in allen Segmenten neutrali siert, in denen über eine dritte Person der erzählten Welt berichtet wird (d. h. nicht über die sprechende oder angesprochene Figur): Sowohl i m ET al s auch i m PT fi guriert die besprochene Fi gur i n der dritten gramma tischen Person. In den soeben betrachteten Fällen ist die Neutralisierung lokal, d. h. sie bezieht sich nur auf einzelne Segmente des Erzähltextes. Solche lokale Neutralisierung ist auch hinsichtlich der Merkmale 1 , 2, 5 , 6, 7, 8 möglich. So kann es etwa sein, dass die Lexik in bestimmten Aussagen der Erzäh lerrede- sowohl auf ET als auch PT bezogen werden kann, in anderen da gegen nur auf einen der beiden Texte. Hinsichtlich der Merkmale 1 , 2, 6 , 7, 8 kann die Opposition von ET und PT i m gesamten Erzähltext neutralisiert sein. Dann haben wir es mit einer globalen Neutralisierung zu tun. Sie betrifft am häufigsten die Merkmale der Lexik und Syntax. Wenn der Erzähler und die Person zum Beispiel mit demselben Stil ausgestattet sind, was in vorrealistischer Lite ratur oder im Skaz die Regel ist, hat im gesamten Werk das Merkmal Le xik keine zwischen ET und PT differenzierende Funktion. Die Merkmale 3 , 4, 5 , 6 unterliegen einem Vorbehalt. Sie differenzie ren ET und PT ledi glich in Aussagen, die sich auf die Diegesis, die er zählte Welt beziehen. In den Kommentaren des Erzählers, d. h. in allen Aussagen , die sich auf die Exegesis beziehen, treffen wir dieselben Züge an wie in den Aussagen der Personen: 1 . Person, Präsens, deiktische Ad verbien, Ausdrucks- und Appellfunktion. So klingt zum Bei spiel der be33
Neutralisiert ist die Opposition der Texte natürlich im Merkmal 4 (Zeit) in allen allge meingültigen Aussagen mit dem gnomischen Präsens.
1 86
IV. Erzähl ertext und Personentext
kannte Ausruf des Erzählers in Karamzins Armer Liza in den Merkmalen 3 , 4, 5 , 6 ganz wie die Aussage einer Person. Nur das Thema ( 1 ) und die Wertung (2) verweisen auf den Erzähler: Ach ! Ich liebe jene Gegenstände, die mein Herz ruhren und mich Tränen süßer Trauer vergießen lassen ! (N . M. Karamzin, Izbr. proizv ., M. 1 966, S. 37)
Die Verteilung der Merkmale sieht in diesem Fall wie folgt aus :
ET Pr
I.
2.
3.
4.
S.
6.
7.
8.
Thema
Wertung
Person
Zeit
Zeigsyst.
Sprachf.
Lexik
Syn tax
x
x
x
x
x
x
x
x
x
x
x
x
x
x
Im diegetischen Erzählen bestehen für die Differenzierung von ET und PT und für die Neutralisierung ihrer Opposition andere Bedingungen. Insofern die erzählte Person mit dem früheren Ich des Erzählers zusam menfällt, unterscheiden sich ET und PT geringer als im nichtdiegetischen Erzählen. (Die nichtdiegetische Situation gilt im diegetischen Erzählen natürlich für alle Personen außer dem erzählten Ich.) Merkmal 3 (Person) fällt im diegetischen Erzählen, wenn vom erzählten Ich berichtet wird (das nicht wie bei Caesar mit der dritten Person bezeichnet ist), für die Diffe renzierung von ET und PT völlig aus. In Lexik und Syntax wird sich ET vom Text des erzählten Ich nicht kategorial unterscheiden. Eine gewisse Differenz ist aber, abhängig von der veränderten äußeren und inneren Situation, durchaus möglich. Die Opposition der Texte wird vor allem in den thematischen und ideologischen Merkmalen bestehen. Ihre differen zierende Kraft hängt davon ab, wie sich die Sinnposition vom erzählten zum erzählenden Ich geändert hat. Der zeitliche Abstand ist dabei nicht einmal ausschlaggebend. In Dostoevskijs Jüngling, wo das Erzählen vom Erleben nur durch wenige Monate getrennt ist, verhält sich das erzählende Ich überaus distanziert zur Sinnposition des erzählten Ich. d) Die Textinterferenz als Transformation des Personentextes Die Textinterferenz gründet in der Distribution der Merkmale eines Seg ments der Erzählerrede auf die beiden Texte. Textinterferenz liegt bereits dann vor, wenn eines der Merkmale auf ei hen anderen Text verweist al s die übri gen Merkmale. So sieht der Grundtypus der erlebten Rede i m Rus-
1 87
3 . Die Interferenz von Enählertext und Personentext
sischen bei voller Präsenz aller relevanten Merkmale in unserem Schema fol gendermaßen aus: 1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
Thema
Wertung
Person
Zeit
Zeigsyst.
Sprach!.
Lexik
Syntax
x
x
x
x
x
Er PT
x x
x
Fälle von Textinterferenz sind schon in der antiken Literatur und in der Literatur des Mittelalters beobachtet worden. Spuren finden sich etwa in altfranzösischen Texten, im mittelhochdeutschen Nibelungenlied und in der altrussischen Nestorchronik. Es handelt sich dort aber i mmer nur um vereinzelte grammatische Verkürzungen bei der Rede- und Gedankenwie dergabe ohne besondere Wirkungsintention. Als bewusst und systematisch eingesetztes Verfahren verbreitet sich die Textinterferenz, vor allem die erlebte Rede, in den europäischen Literaturen erst seit dem Beginn des 1 9 . lahrhunderts34• Für die deutsche Literatur sind Goethes Wahlverwandt schaften ( 1 809) ein frühes B eispiel (Pascal 1 977, 1 1 ) , für die englische Literatur wird die erste systematische Verwendung der Textinterferenz oft für Jane Austens Emmo. ( 1 8 1 6) postuliert35• In der russischen Literatur wurde die Textinterferenz als bewusst gehandhabtes Verfahren von Alek sandr Puskin eingeführt (vgl . z. B. Volosinov 1 929; Bachtin 1 934/ 1 935) und von Michail Lermontov , NikolaJ Gogol ' und Ivan Goncarov weiter entwickelt. Aber erst in den Erzählungen des jungen Dostoevskij figuriert die Textinterferenz als dominantes und mit deutlicher Wirkintention ein gesetztes Verfahren des Textaufbaus 36 • Der Doppelgänger ( 1 846) provo zierte in der Kritik Irritation und Ablehnung, weil das zugrunde liegende Verfahren nicht identifiziert wurde (vgl. Schmid 1 973 , 92- 1 00). In der französischen Literatur spielte eine analoge Rolle Gustave Raubert, des sen Madame Bovary ( 1 857) durch die zu jener Zeit noch ungewohnte nar ratorial-personal gemischte Darbietung der sündigen Gedanken der Ehe34
Zur Entwicklung der erlebten Rede in der französischen Literatur: G . Lerch 1 922 ; Lips 1 926; Verschoor 1 959; in der deutschen Literatur: Neuse 1 980 ; 1 990 ; in der englischen Literatur: W. Bühler 1 937; Glauser 1 948; Neubert 1 957. 35 M. Klepper (2004, 73) verweist in seiner Habilitationsschrift allerdings auf englische Enählwerke der neunziger Jahre des 1 8. Jahrhunderts, die sich bereits der Textinterferenz bedienten. 36 Zur Geschichte der erlebten Rede in der russischen Literatur vgl. Schmid 1 973, 39-79, 1 7 1 - 1 86; Hode1 200 1 .
_
1 88
IV. Erzähl ertext und Personentext
I
brecherin die moralische Empörung der Zeitgenossen gegen den vermeint lich im eigenen Namen sprechenden Autor lenkte (vgl . lauB 1 967, 67-70). Die Verbreitung der Textinterferenz ist Folge der zunehmenden Perso nalisierung des Erzählens , d. h. der Verlagerung der Perspektive vom narratorialen zum personalen Pol. Solche Personalisierung ruft manchmal den Eindruck hervor, als träte der Erzähler die Erzählfunktion an die Per son ab und ginge , von der Bühne ' . Die Vorstellung vom Verschwinden des Erzählers liegt zahlreichen Modellen der erlebten Rede zugrunde, von Charles Bally ( 1 9 1 2 ; 1 9 14; 1 930) bis zu Ann Banfield ( 1 973 ; 1 978a; 1 978b; 1 98 3 ) und Elena Paduceva ( 1 996). Auf die Ersetzung des Erzäh lers durch die Person läuft auch die oben (H.4.g) besprochene Modellie rung Dolezels ( 1 973a, 7) hinaus , die die Übertragung der für den Erzähler charakteristischen Funktionen representation und control auf die Person vorsieht. Im Gegensatz aber zu allen Theorien, die das Verschwinden des Erzählers und seine Ersetzung durch die Person postulieren, geht das hier vorgeschl agene Modell der Textinterferenz davon aUS , dass der Erzähler auch in der "objekti vsten" erlebten Rede grundsätzlich ,auf der Bühne' bleibt, d. h. dass sein Text, den zumindest das Merkmal 3 (Person) verge genwärti gt, gleichzeitig mit dem Text der Person präsent ist. Der Begriff der Textinterferenz impliziert, dass der als vorgefunden fingierte Text der Person im wiedergebenden Erzähltext auf eine be stimmte und sei es auch noch so geringe Weise bearbeitet, narratorial transformiert wird. Zwischen PT und ET erstreckt sich ein breites Spek trum von Mischformen, von mehr oder weni ger aus geprägten narratoria len Transformationen mit unterschiedlicher Di stribution der Merkmale auf PT und ET. B estimmte Stufen dieser Transformation sind vorgegeben durch die nationalsprachlich spezifischen Schablonen der Wiedergabe von PT, die im Deutschen (und vergleichbar in anderen indoeuropäischen Sprachen) als direkte, indirekte und erlebte Rede kategorisiert sind. Im weiteren sollen die indirekte und die erlebte Rede als narratoriale Transformation der direkten Rede betrachtet werden, wobei für den Ver gleich der drei Schablonen unterstellt wird , dass die direkte Rede den Personentext authentisch wiedergibt (was in literarischen Texten, wie wir gesehen haben, keineswegs der Fall zu sein braucht). Bei der Ent scheidung über den Bezug der Merkmale auf ET oder PT gehen wir in den angeführten Beispielsätzen von einem neutralen ET aus. Ohne einen sol chen Hintergrund, den im konkreten Werk das gesamte Profil der bei den Texte bildet, ist eine merkmalbezogene Analyse nicht durchführbar.
3.
Die In terferenz
von
1 89
Erzäh lertex t und Personentex t
1 . Direkte Rede Sie fragte sich ; "Ach ! Warum muss ich heute zu dieser blöden Weihnachtsfeier antanzen ? Weihnachten ist doch erst morgen !" I.
2.
3.
4.
S.
6.
7.
8.
Thema
Wertung
Person
Zei t
Zei gsyst.
Sprachf.
Lexik
Syntax
x
x
x
x
x
x
x
x
Er Pr
2. Indirekte Rede Sie fragte sich , warum sie heute zu dieser blöden Weihnachtsfeier antan zen müsse, Weih nachten sei doch erst morgen . I.
2.
3.
4.
S.
6.
7.
8.
Thema
Wertung
Person
Zei t
Zeigsyst.
Sprachf.
Lexi k
Syntax
x
x
Er Pr
x
x
x
x x
x
x
Die Verwendung der dri tten Person zur Bezeichnung der sprechenden Fi gur und die Syntax verweisen auf ET. Hinsichtlich der übri gen Merk male ist entweder PT repräsentiert oder die Textopposition neutral isiert. 3. Erlebte Rede Ach ! Warum musste sie heute zu dieser blöden Weih n achtsfei er antanzen? Weihnachten war doch erst morgen ! I.
2.
3.
4.
S.
6.
7.
8.
Thema
Wertung
Person
Zeit
Zei gsyst.
Sprachf.
Le xik
Syntax
x
x x
x
x
x
Er Pr
x
x
In diesem Beispiel unterscheidet sich die erlebte Rede von der indirek ten Rede durch das epische Präteritum (Merkmal 4 für ET) , die Sprach funktion (Merkmal 6 für PT) und die Syntax (Merkmal 8 für PT) . In der Gestalt der Textinterferenz werden folgende Inhalte des Perso nentextes wiedergegeben: 1 . Aussagen, 2. Gedanken , 3 . Wahrnehmungen
1 90
IV . Erzählertex t und Personentext
und Gefühle und 4. die Sinnposition. In folgendem Schema ist die Korrelation zwischen 1 . dem Inhalt des wiedergegebenen PT, 2. den Formen des wiedergegebenen PT und 3. den bevorzugten Wiedergabeschablonen dargestell t: Inhalt
Formen
Schablonen
Aussagen
Gedanken
, Sinn-
Wahrnehmungen Gefühl e
position
�
�
�
�
äußere Rede
innere Rede innerer Monolog
Fragment aus dem B ewusstseins-strom
Wertungen
direkte Rede
indirekte Rede
erlebte Rede
Die erlebte Rede dient in der deutschen und russischen Literatur selten der Wiedergabe äußerer Rede. In der Fachliteratur zu der Schablone gibt es zwar Hinweise auf Fälle, in denen sie gesprochene Rede gestaltet (vgl . Sokolova 1 968 , 29-3 1 ), es handelt sich dabei aber fast durchweg nicht um die Wiedergabe der gesprochenen Rede selbst, sondern um die Gestaltung der äußeren Rede in der Wahrnehmung einer der Figuren (vgl. Kovtunova 1 95 5 , 1 38). e) Direkte Rede und direkter innerer Monolog In der Schablone der direkten Rede werden, wie aus dem S chema ersicht lich ist, sowohl äußere als auch innere Reden der Person dargestellt. Die Schablone signalisiert authentische Wiedergabe von PT. Von der vollen Repräsentation des PT in der direkten Rede gibt es freilich einige Abwei chungen, die wir im Folgenden betrachten w ollen. ' Wenn ET und PT im gesamten Werk iq den lexikalischen und syntak tischen Merkmalen nicht differieren, die Opposition der Texte also in
191
3. Die InteIferenz von Erzählertext und Personentext
diesen Merkmalen neutralisiert ist, haben wir es mit einer Variante des Grundtyps der direkten Rede zu tun, die Volosinov ( 1 929) "entpersön lichte direkte Rede" nennt. Ihr typisches Merkmalschema sieht wI e folgt aus: 1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
Thema
Wertung
. Person
Zeit
Zeigsyst.
Sprachf.
Lexik
Syntax
x
x
x
x
Er PT
x
x
x
x
x
x
Diese Variante begegnet in den europäischen Literaturen vor dem 19. Jahrhundert, wo sie allerdings nicht bewusst als V erfahren eingesetzt wird. Wo sie in neuerer Literatur, wie zum Beispiel in der ornamentalen Prosa der Modeme auftritt, kann sie besonderen ästhetischen Zielen die nen. Aber mit Textinterferenz hat sie so wenig gemein wie der Grundtyp der direkten Rede, in dem alle Merkmale für PT sprechen37 • Eine längere innere Rede bezeichnen wir als inneren Monolog. Der in nere Monolog, der nicht selten mit der erlebten Rede identifiziert wird, kann sowohl in der Schablone der direkten als auch der erlebten Rede dargestellt werden. Im ersten Fall sprechen wir vom direkten inneren Mo nolog , im zweiten vom erlebten inneren Monolog . . Der direkte innere Monolog ist in der Regel als wörtliche, authenti sche Wiedergabe der inneren Rede einer Figur ausgegeben, eine Wieder gabe, die nicht nur den Inhalt des PT, sondern auch alle grammatischen, lexikalischen, syntaktischen und sprachfunktionalen Besonderheiten be wahrt. Aber keineswegs immer reproduzieren innere Monologe das stilis tische Profil des PT. Nicht selten stoßen wir auf eine "entpersönlichte" Variante des direkten inneren Monologs, in der die Gedanken und Refle xionen des Helden syntaktisch narratorial überarbeitet sind. Als Beispiel dafür dient einer der Monologe Pierre Bezuchovs aus Tolstojs Krieg und Frieden: "Elena Vasil ' evna, die nie etwas außer ihrem Körper geliebt hat und eine der dümm sten Frauen auf der Welt ist", dachte Pierre, "scheint den Menschen der Gipfel der Klugheit und der Verfeinerung zu sein, und sie verneigen sich vor ihr. Napoleon Bona37
Doldel ( 1 960, 1 89) gliedert eine Abart der direkten Rede aus, die er "nicht-markierte direkte Rede" nennt. In ihr fehlt jegliche Hervorhebung der Personenrede aus dem Er zähltext. Insofern aber die Markierung nicht als ein Merkmal von PT betrachtet werden kann (s. o., S. 1 84), ist die nicht-markierte direkte Rede kein Fall der Textinterferenz.
1 92
IV. Erzählertext und Personentext
parte wurde von allen verachtet, bis er groß war, und seitdem er zu einem jäm merlichen Komödianten geworden ist, versucht ihm Kai ser Franz mit allen Mitteln seine Tochter als illegi time Ehefrau anzudienen. [ . . ] Meine Freimaurerbrüder schwö ren heilige Eide, dass sie bereit seien, alles für den Nächsten zu opfern, zahlen aber nicht mal einen Rubc,:l, wenn f1ir die Armen gesammelt wird [ . ] Wir alle bekennen uns zu dem christlichen Gebot, Beleidigungen zu verzeihen und den Nächsten zu lie ben, ein Gebot, demzufolge wir in Moskau unzählige Kirchen errichtet haben ; gestern aber hat man einen Deserteur zu Tode gepeitscht, und der Diener dieses selben Gebots der Liebe und Verzeihung, der Priester, hat dem Soldaten das Kreuz ,"ior der Hinrich tung zum Kuss gereich t." So dachte Pierre, und diese ganze allgemeine, von allen zu gegebene Lüge, setzte ihn, wie sehr er sich auch an sie gewöhnt hatte, jedes Mal in Er staunen, als ob sie etwas Neues wäre. (L. N. Tolstoj, PoIn. sobr. so
. .
Pierre Bezuchov dient hier offensichtlich als Sprachrohr des Autors (von dem der Erzähler wenig dissoziiert ist) lind spricht eine auktoriale Wahrheit aus. Seine innere Rede hat der Erzähler bearbeitet, geglättet und an den Stil seiner Erzählerrede angepasst. Die charakterisierende Funktion des inneren Monologs wird in solchen Fällen von der auktorial-ideo logi schen dominiert. Es fehlen in diesem Beispiel Züge einer assoziativen Entwicklung des Gedankens und Merkmale spontaner Hervorbringung. B ezeichnenderweise erfährt der Stil beim Ü bergang vom direkten inneren Monolog zur Erzählerrede keine Veränderung. Der Autor von Krieg und Frieden gibt den Monologen seiner Helden in der Regel geringen personalen Freiraum. Aber wir finden in diesem Ro man auch innere Monologe, in denen die Prozesse der Wahrnehmung, Erinnerung und Reflexion unmittelbar inszeniert werden. Von solcher Art ist etwa der zweistimmige Monolog, in dem sich Andrej Bolkonskij seine Ruhmsucht eingesteht: ,,Ja und dann?", sagt wieder die andere Stimme, "und dann, wenn du nicht schon vor her zehnmal verwundet, " getötet oder verraten bist, nun, und was dann?" - ,.Nun, und dann", gibt si�h Fürst Andrej selbst zu r Antwort, "Ich weiß nicht, was dann sein wird, ich will und kann es nicht wissen, aber wenn ich danach strebe, wenn ich nach Ruhm strebe, wenn ich unter den Menschen bekannt sein will, von ihnen geliebt werden will, ist es doch nicht meine Schuld, dass ich das will, dass ich nur das eine will, nur fur das eine lebe. Ja, nur f1ir dieses eine ! Ich werde niemals jemandem etw as davon sagen, aber, mein Gott, w as soll ich denn tun, wenn ich nichts anderes liebe als nur den Ruhm, nur die Liebe der Menschen. (L. N. Tolstoj, Poln. sobr. so
Wenn Tolstoj , der Psychologe des Alltagsbewusstseins, besondere mentale Situationen beschreibt, den Halbschlaf, einen Fieberzustand , star ke Erregung, verwendet er einen personal en, rein mi metischen Typus des
3 . Die Interferenz von Erzählertex t und Personentext
1 93
inneren Monologs, dessen Assoziationen nicht nur auf thematischer Kohä renz und Kontiguität beruhen, sondern auch auf phonischen Äquivalen zen, wie das im fol genden Monolog Nikolaj Rostovs der FaII ist: "Das muss Schnee sein , dieser Fleck; ein Fleck - une tache", dachte Rostov, nein, doch keine tache". Natascha, Schwester, schwarze Augen . Na . . . taschka . . . (Da w ird sie sich aber wun dern, wenn ich ihr erzähle, wie ich den Kaiser gesehen habe !) Nataschka . . . nimm die Tasche". [ . ] "Woran hab ich bloß gedacht? Das darf ich nicht vergessen. Wie ich mit dem Kaiser sprechen werde? Nein, das war's nicht, das ist morgen. Ach ja, das w ar ' s, die Tasche angreifen . . . uns greifen - wen? Die Husaren. Die Husaren und Schnurr bärte . . . Ü ber die Tverskaja ritt dieser Husar mit dem Schnurrbart, ich habe noch an ihn gedacht, er ritt gerade am Hau s der Gur'ev s vorbei . . . Der alte Gur'ev . . . Was für ein toller Kerl, der Denisov ! Ach, das ist alles unwichtig. Die Hauptsache ist jetzt: der Kaiser ist hier. Wie er mich anschaute, und er wollte mir etwas sagen, aber er hat sich nicht getraut. Nein, ich war es, der sich nicht getraut hat. Aber das ist unwichtig, die Hauptsache ist - nicht vergessen, dass ich an etwas Notwendiges gedacht habe, ja. Na taschka, die Tasche greifen, ja, ja, ja. Das ist gut. (Ebd., S. 325 f.) . .
In der Fachliteratur wird die Priorität in der Verwendung des bewusst seinsunmittelbaren inneren Monologs häufig Edouard Dujardin und seiner NoveIIe Les lauriers sont coupes ( 1 888) oder Arthur Schnitzlers Lieute nant Gusti ( 1 900) zugeschrieben38• Schon Gleb Struve ( 1 954) hat aller dings bezweifelt, dass der innere Monolog mit Dujardin beginne, wie dieser behauptet hatte: "le premier emploi voulu, systc5matique et conti nu du monologue interieur date des Lauriers sont coupes" (Dujardin 1 93 1 , 3 1 ) , und er verweist auf ein früheres Vorkommen bei Lev Tolstoj : In sei ner Abhandlung zu Tolstojs frühen Erzählungen macht der russische Lite raturkritiker Nikolaj C ernysevskir (der später in seinem Roman Was soll man tun [e to delat ', 1 863] selbst Muster dieses Vetfahrens gegeben hat) auf den "inneren Monolog" in Tolstojs Sevastopoler Skizzen ( 1 855) auf merksam. Tolstoj war, so Struve, der erste europäische SchriftsteIler, der bewusst und extensiv jene Technik verwendet hat, die Dujardin ( 1 93 1 , 59) auf fol gende Weise definiert: Le monologue interieur est, dans I 'ordre de la poesie, le discours sans auditeur et non prononce par lequel un personnage exprime sa pensee la plus intime, la plus proche de l ' inconscient anterieurement a toute organisation logique, c ' est a dire en son etat nais sant, de facron a donner I ' impression "tout venant". 38 39
Vgl. zuletzt noch das Metzler Lexikoll Literatur- und Kulturtheorie (Nünning [Hg.] 1 998), s. v . "Innerer Monolog". In dem Aufsatz Kindheit und Knabenalter. Die Kriegserzählullgell Graf L. N. Tolstojs (Detstvo i otrocestvo. Voennye rasskazy grafa L. N . Tolstogo; 1 856).
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IV . Erzählertext und Personentext
Aber auch Tolstoj kann die Priorität in der Verwendung des inneren Monologs nicht zugesprochen werden. Schon neun Jahre vor dem Er scheinen der Sevastopoler Skizzen hat Dostoevskij im Doppelgänger ei nen extrem personalen und assoziativen Typus des inneren Monologs verwendet, der ganz der Dujardinschen Definition entspricht. Betrachten wir einen Ausschnitt aus einem solchen Monolog: "Gut, wir werden sehen", dachte er bei sich, "wir werden sehen, wir werden das alles rechtzeitig gewahr werden: Oh, mein Gott", stöhnte er zum Abschluss mit ganz verän derter Stimme, "und warum habe ich ihn überhaupt eing�laden, zu welchem Zweck habe ich das Ganze getan? Ich stecke doch tatsächlich meinen Kopf in die Schlinge dieser Gauner, drehe mir diese Schlinge noch selbst. Ach du Dummkopf, du Dumm kopf! Hast du 's nicht ausgehalten und musstest damit herausplatzen wie irgendein Jün gelchen, wie so ein Kanzleimensch, wie ein dahergelaufener Lump ohne jeden Rang, wie ein Waschlappen, ein stinkiger Putzlumpen, du Schwatzmaul du, du Wasch weib ! . . . Ihr meine Heiligen ! Verslein hat der Schuft gedichtet und mir seine Liebe be kannt! Wie konnte das so weit kommen . . . Wie kann ich diesem Schuft auf anständige Weise die Tür weisen, wenn er wiederkommt? Es gibt natürlich viele Wendungen und Weisen. So und so, kann ich sagen, bei meinem begrenzten Gehalt. . . Oder ich kann ihm auf irgendeine Art Furcht einjagen, kann sagen, dass ich in Erwägung dieses und jenes Umstandes genötigt bin zu erklären . . . kann sagen, dass er die Hälfte für Logis und Kost aufbringen und das Geld im voraus zahlen muss. Hm ! Nein, zum Teufel, nein! Das würde meine Reputation beschmutzen. Das ist nicht ganz delikat ! [ . . ] Aber wenn er nun gar nicht kommt? Ist das auch schlecht? Musste ich gestern damit heraus platzen ! .. Oh, das ist schlimm, wirklich schlimm ! Oh, was haben wir da für eine schlimme Geschichte ! Ach, ich Dummkopf, verfluchter Dummkopf! Kriegst du das nicht in deinen Schädel hinein , wie man sich benimmt, kannst du nicht ein bisschen Verstand hineinkriegen ! Nun, wenn er kommt und absagt? Gebe Gott, dass er kommt ! Ich wäre sehr froh, wenn er käme; viel würde ich dafür geben, wenn er käme . . . " (F. M. Dostoevskij, Poln. sobr. sol!. v 30 t., Bd. I , S . 1 60 f. ) .
Von den Assoziationen Nikolaj Rostovs in Krieg und Frieden und vom Zwiegespräch des Herrn Goljadkin mit sich selbst i st es nur noch ein Schritt zum Bewusstseinsstrom, d. h. zu jener Technik, in der die Diegesis nicht mehr als eine vom Erzähler berichtete Geschichte dargeboten wird , sondern als Sequenz flüchtiger Eindrücke, freier Assoziationen, momen taner Erinnerungen und fragmentarischer Reflexionen der Fi guren40•
40
Der Begriff stream of consciousness wurde �om amerikanischen Philosophen und Psychologen W . James eingeführt, um erratische Bewußtseinsinhalte zu charakterisie ren. Ein Muster dieser Technik ist das K apitel Pellelope aus James Joyce' Ulysses.
3. Die Interferenz von Erzählertext und Personentext
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f) Die direkte personale Benennung Die direkte Rede tritt gelegentlich in einer reduzierten Variante auf, in der lediglich einzelne Wörter des Erzähltextes durch graphische Zeichen dem PT zugewiesen werden. Diese Variante wollen wir direkte personale Be nennung nennen. In Dostoevskijs Romanen, in denen, wie Bachtin gezeigt hat, ein Kampf der ideologisch definierten "Stimmen" geführt wird, fin den wir zahllose Beispiele für dieses Verfahren. Schon Leo Spitzer ( 1 928b, 330) hat die "Nachahmung einzelner Worte im Berichttext" , wie er das V erfahren nennt, an einem Beispiel aus den Brüdern Karamazov illustriert: "Starr blickte er [d. i. Dmitrij Karamazov] dem , Milchbart' in die Augen" . Spitzer kommentiert: "Man sieht gleichsam einen Strahl von Subjektivität, den Ton der Stimme Mitjas, aus dem sachlichen Bericht emporschießen" (Spitzer 1 928b, 330). In den oben (II.4.c) zitierten Sätzen aus Dostoevskijs Ewigem Ehe mann war eine Reihe von Beispielen für die direkte personale Benennung enthalten. Es handelte sich dort um symptomatische Wendungen aus dem PT wie "mir nichts, dir nichts" , die der Erzähler ironisch akzentuierte. Die direkte personale Benennung wird auch von diegetischen Erzählern ver wendet. Eine Fülle von Beispielen finden wir in Dostoevskijs Jüngling, wo der Erzähler das Denken dritter Personen nicht selten in charakteristi schen Benennungen kondensiert: Wo die Versilovs auch sein mochten [ . . . ], Makar Ivanovic gab der "Familie" un bedingt Nachricht von sich. (F. M. Dostoevskij, Poln. sobr. soc. v 30 t. , Bd. 1 3 , S. 13) Es handelte sich um einen ganzen Haufen von "Gedanken" des Fürsten [Sokol ' skij] , die er dem Aktionärsausschuss vorlegen wollte. (Ebd., S. 22)
Der Erzähler distanziert sich auf diese Weise auch von Benennungen, die die Sinnposition seines früheren, erzählten Ich kennzeichnen: An diesem Neunzehnten unternahm ich noch einen "S chritt". (Ebd., S . 36) [ . . . ] und obwohl mein jetziger "Schritt" nur ein Versuch sein sollte, so hatte ich doch beschlossen, auch diesen Schritt erst dann zu unternehmen, wenn ich [ . . . ] mit allen ge brochen und mich in mein Schneckenhaus verkrochen hätte und völlig unabhängig wä re. Freilich war ich noch längst nicht in meinem "Schneckenhaus" [ . . . ] (Ebd.)
Die direkten personalen B enennungen können von Hinweisen auf den Ursprungstext begleitet sein: [Versilov] war damals "weiß Gott warum" in das Dorf gekommen, zumindest hat er sich später mir gegenüber so ausgedrückt..'(Ebd., S. 7)
IV . Erzählertext und Personentext
1 96
Makar lebte "ehrerbietig" - nach seinem eigenen merkwürdigen Ausdruck. (Ebd., S . 9)
Mit der direkten personalen Benennung ist, wie sie auch realisiert sein mag - mit oder ohne Hinweis auf die Quelle -, immer eine Textinterfe renz verbunden. In dem Segment der Erzählerrede sind simultan ET und PT gegenwärtig, der zitierende und der zitierte Text. Das offensichtliche Bestreben des Erzählers, die fremden Worte möglichst authentisch zu reproduzieren, geht in der Regel mit einer gewissen Di stanzierung sowohl vom Ausdruck als auch von der Sinnposition der zitierten Instanz einher. Insofern ist die Zweistimmigkeit in der direkten personalen Benennung der Tendenz nach viel ausgeprägter als in der direkten Rede, wo sie mög lich, aber seltener realisiert ist. Im Gegensatz zu Ljudmila Sokolova ( 1 968 , 69-72), die das VeIfahren der "graphischen Hervorhebung seman tisch gesätti gter Wörter" der Kategorie der "uneigentlichen Autorrede" (d. i. der erlebten Rede) zurechnet, schließe ich die direkte personale B e nennung aus dem Kreis der Varianten der erlebten Rede aus, gerade weil die graphische Markierung einen Grundzug der erlebte � Rede aufhebt, die Verschleierung des Ursprungstextes. g) Die indirekte Darstellung von Reden, Gedanken und Wahrnehmungen Die Schablone der indirekten Rede, die nicht nur der Wiedergabe von Aussagen , sondern auch von Gedanken, Wahrnehmungen und Gefühlen dient, besteht aus zwei Teilen, 1 . dem Einleitungssatz der wiedergebenden Instanz mit dem verbum dicendi , sentiendi etc. und 2. dem wiederzuge benden Text. B ei der Transformation einer direkten Rede in eine indirekte sind na tionalsprachlich spezifische grammatische Regeln zu beachten . Für die indoeuropäischen Sprachen können folgende Transformationsregeln al s allgemein gelten : 1 . Personalformen der 1 . und 2. Person , die sich auf das Subjekt oder den Adressaten der wiederzugebenden Rede beziehen, werden in der Regel durch Formen der 3 . Person ersetzt. 2. In manchen Sprachen wird eine V eränderung des Tempus und/oder Modus v orgenommen. Er sagte: "Ich bin krank".
>
Er �agte, dass er krank sei .
He said: "I am ilI".
>
He ;Said (that) he was ilI.
II
>
I! disait qu 'il etait malade.
disait: "Je suis malade"
3 . Die In terferenz von Erzählertext und Personentext
1 97
In Russischen dagegen stehen im Wiedergabeteil die Tempora des PT. OH
CKa3aJI : .sI 6oJIelO" . ..
(Er sagte: ..Ich bin krank"
>
ÖH CKa3aJI , 'ITO OH 6oJIeeT.
>
Er sagte, dass er krank ist.)
3 . Die expressiven und appellativen Elemente der direkten Rede müs sen durch andere Mittel ersetzt werden, etwa durch zusätzliche Qualifikationen des verbum dicendi (Er sagte in starker Erregung, dass . . . ; Siejragte sich aufgewühlt, warum . . . ) . 4. Interjektionen und syntaktische Irregularitäten der direkten Rede wie Elli psen , Anakoluthe usw. müssen in der indirekten Rede ge glättet werden.
5 . In einigen Sprachen, z. B . im Deutschen , fordern unterordnende Konjunktionen eine syntaktische Umformung der wiederzuge benden Rede: Er sagte: "Ich bin krank". Ohne Konjunktion:
>
Er sagte, dass er krank sei . Er sagte, er sei krank.
Im Russischen ist die indirekte Rede durch das Fehlen des Tempus und Moduswechsels und der syntaktischen Inversion grammatisch we sentlich geringer von der direkten Rede unterschieden als etwa im Deut schen. Das hat den russischen Syntaktiker Aleksandr Peskov skij ( 1 920, 466) zu dem Schluss veranlasst, dass die indirekte Wiedergabe der rus sischen Sprache nicht eigen sei , einem Schluss, dem dann Valentin Volo sinov ( 1 929, 1 38 ; dt. 1 975 , 1 93) entschieden widersprach. Im Russischen wie auch in anderen Sprachen könne (und müsse) die indirekte Rede so wohl mit dem Inhalt als auch mit den Formen des wiederzugebenden Per sonentextes freier umgehen als die direkte Rede. Volosinov spricht des hal b vom analytischen Charakter dieser Wiedergabeschablone ("Die Ana lyse ist die Seele der i ndirekten Rede") und unterscheidet zwischen zwei - Spielarten, der sachanalytischen und der sprachanalytischen Modifi kati on. In der ersten Spielart werde bei Glättung und Neutralisierung der sub jektiv-emotionalen Ausdrucksweise der thematische Gehalt und die Sinn position der wiederzugebenden Rede akzentuiert4 1 , in der zweiten gehe es hauptsächlich um die Profilierung der "subjektiven und stilistischen Phy41
Im Russischen ist diese Spielart nach Volosinov schwach entwickelt, und zwar, wie er argumentiert, aufgrund des Fehlens einer cartesianischen, rationalistischen Mentalitäts epoche in der russischen Kultur.
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IV . Erzählertex t und Personentext
siognomie der fremden Aussage" (Volosinov 1 929, 140- 1 44; dt. 1 975 , 1 96-20 1 ). Es sei hier eine etwas andere Typologie der Spielarten der indirekten Rede vorgeschlagen. Sie beruht nicht auf dem Objekt der in der Wie dergabe vorgenommenen Analyse, sondern auf der Nähe oder Ferne der wiederzugebenden Rede zu ET oder PT. In der narratorialen indirekten Rede erfährt die Rede der Person eine deutliche Überarbeitung, die sich in der analy tischen Akzentuierung des thematischen Kerns und in der stilistischen Assimilation an ET äußert. Dabei verweisen alle Merkmal e außer 1 (Thema) und 2 (Wertung) in der Regel auf ET. Das oben (S. 1 89) gegebene Muster für indirekte Rede ent sprach der personalen Modifikation. In narratorialer Vari ante könnte der Satz etwa lauten: Sie fragte sich, waru m sie an diesem Tage z u der von ihr nicht geschätzten Weih nachtsfeier erscheinen müsse, Weihnachten sei doch erst am näch sten Tag .
In den Merkmalen 5 (Zei gsystem), 6 (Sprachfunktion) und 7 (Lexik) ist in der narratorialen Variante nicht PT, sondern ET repräsentiert. Die narratoriale indirekte Rede dominiert im Werk Lev Tolstojs. Als Beispiel kann die Wiedergabe der Wahrnehmung und der Gefühle Boris Drubeckojs aus Krieg und Frieden dienen : Der Sohn bemerkte, wie sich mit einem Mal tiefer Kummer in den Augen seiner Mut ter ausdruckte, und er lächelte leicht. (L. N. Tolstoj, Poln . sobr. soc. v 90 1., Bd. 9, S . 60) Boris fühlte, dass Pierre ihn nicht erkannte, aber er hielt es nicht für notwendig, seinen Namen zu nennen, und schaute ihm ohne jede Verlegenheit direkt in die Augen . (Ebd ., S . 65)
In der personalen indirekte Rede präsentiert der Erzähler die Rede der Person in allen ihren Besonderhei ten , in ihrem authentischen stilistischen Gepräge und in der ihr ei genen syntaktischen Struktur. Diese Modifikati on ist im Werk Dostoevskijs weit verbrei tet. Wir betrachten zwei Beispie le aus dem Doppelgänger: [Goljadkin] wollte gerade irgendwie in den Sinn kommen, sich einfach so unter der Hand, seitwärts, mucksmäuschenstill vom Schandort zu verdrucken, einfach mir nichts, dir nichts zu verduften, das heißt, so zu tun, als ob er gar nicht da wäre, als ob es sich gar nicht um ihn handelte. (F. M. Dostoevskij, Poln . sobr. soc. v 30 1., Bd. 1 , I S . 1 35) f
PT ist hier in folgenden Merkmalen repräsentiert: 6 (Sprachfunktion: expressive Färbung mit Klimax) , 7 (Lexik: Nebeneinander von hoch-
3. Die Interferenz von Erzählertext und Personentext
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sprachlichen und umgangssprachlichen Benennungen und Wendungen), 8 (Syntax: Reihungen, Anaphern). Nachdem er im Nu erkannt hatte, dass er zugrunde gerichtet, in einem gewissen Sin ne vernichtet worden war, dass er sich selbst besudel t und seine Reputation beschmutzt hatte, dass er in Gegenwart Unbeteiligter verspottet und bespuckt worden war, dass er von jenem heimtückisch beschimpft worden war, den er noch gestern für seinen her vorragendsten und zuverlässigsten Freund gehalten hatte, dass er schließlich entsetz lich durchgefallen war [ 0 0 . ] . (Ebd. , S. 1 67)
Merkmale für PT: 5 (Zeigsystem: gestern), 8 (Sprachfunktion: Expres sion), 7 (Lexik: hyperboli sche umgangssprachliche Benennungen, redens artliche Wendungen , hyperbol ische hochsprachliche, gespreizte Benen nungen), 8 (Syntax: rhetorische Reihung von Synonymen). h) Die freie indirekte Rede Die Personalisierung kann so weit gehen, dass die grammatischen und syntaktischen Normen der indirekten Rede verletzt werden. Dann bildet sich ein hybrider Typus, den ich freie indirekte Rede nenne42• Er entsteht insbesondere dann, wenn in einer personalen indirekten Rede die Ex pressivität und die Syntax von PT die syntaktischen Restriktionen der Schablone sprengen oder wenn die indirekte Rede die konstitutiven Merkmale der direkten Rede (graphische Markierun g, Gebrauch der 1 . und 2. Person) übernimmt. Für den ersten Fall, die Übernahme von Interjektionen aus dem PT, ist folgendes Zitat aus dem Doppelgänger ein Beispiel : [Goljadkin] schien es, dass gerade, soeben jemand hier gestanden hatte, dicht bei ihm, neben ihm, auch auf das Ufergelände gestützt, und - wie seltsam ! - zu ihm sogar et was gesagt hatte [ ' 0 0 ] (Ebd. , S. 1 39)
Der zweite Fall wird durch folgendes Zitat aus Dostoevskijs Herrn Procharcin ( Gospodin Procharcin) belegt: Die Personalformen wechseln hier vom Er-System der i ndirekten Rede zum Ich-Du-Er-System der di rekten Rede , und dieser Wechsel wird durch Anführungszeichen markiert:
42 Einige Theoretiker benutzen diesen Terminus als Ü bersetzung von "discours indirect
Iibre" oder "style indirect Iibre" (v gl. Holthusen 1 968, 226), d. h. zur Bezeichnung der erlebten Rede. So etwa Bulachovskij 1 954, 443-446, und in jüngster Zeit noch Pa duceva 1 996 (svobodnyj kosvennyj diskurs) . Die freie indirekte Rede unterscheidet von der erlebten Rede der explizi te Verweis auf die Wiedergabe des PT.
200
IV. Erzählertext und Personentext
[ . . . ] dann begri ffen sie, dass Semen Ivanovic prophezeite, dass Zinovij Prokof'evic um keinen Preis in die höhere Gesellschaft gelangen werde und dass ihn der Schneider, dem er noch einen Anzug schulde, verprügeln werde, unbedingt verprügeln, weil der dumme Junge so lange nich t zahle und dass "du [ sie ! ] , du dummer Junge" , fügte Se men Ivanovil! hinzu , "schließlich, siehst du, zu den Husaren gehen willst, dass man dich dummen Jungen, wenn die Obrigkei t von allem erfahrt, sofort zu den Schrei bern steckt; so ist es , hörst du, du dummer Junge?" (F. M. Dostoevskij , Poln . sobr. sol! . v 30 t. , Bd. I , S . 243)
Die freie indirekte Rede entsteht oft aus dem Wunsch des Erzählers , die Rede der Person in all en ihren Ei gentümlichkei ten möglichst authen tisch wiederzugeben, ohne auf seine narratoriale Präsenz zu verzichten. Die Verletzungen der grammatischen Norm sollen dann in der Regel dem PT zugeschrieben werden. Die Entwicklung der frei en indirekten Rede aus einer personalisierten indirekten Rede und das Streben des ironischen Erzählers nach voller Reproduktion des PT im Rahmen der indirekten Rede wird an fol gendem Beispiel aus Krieg und Frieden deutlich (der Ü bergang zur Schablone der direkten Rede wird von mir durch Kursive markiert)43 : Die Fürstin [Li za Bolkonskaja] teilte mit, dass sie aUe ihre Kleider in Petersburg gelas sen habe und hier Gott weiß in was herumlaufen werde und dass sich Andrej völlig verändert habe und dass Kitty Odyncova einen alten Mann geheiratet habe und dass sich für Fürstin Mar'ja ein Bräutigam pour tout de bon gefunden habe, aber dass wir darüber später noch sprechen werdell . (L. N. Tolstoj, Poln . sobr. soC. v 90 t., Bd . 9, S. 1 20)
i) Die erlebte Rede: Definition Die am weni gsten leicht zu identifizierende Erscheinungsform der Text interferenz ist die erlebte Rede44• Von den anderen Manifestationen der Textinterferenz unterscheidet sie sich durch folgende Ei genschaften : 43 44
Zahlreiche weitere Beispiele aus der ru ssischen Literatur finden sich in Schmid 2003, 2 1 8-220. Die erlebte Rede beschränkt sich keineswegs auf die schöne oder fiktionale Literatur, wie einige ihrer Theoretiker postu lieren (vgl. bes. Banfield 1 973), sondern kommt auch außerhalb der Fiktion und gerade auch in der umgangssprachlichen Kommunikation vor. Man vgl. etwa folgende outrierende Wiedergabe einer fremden Rede: "Er konnte das nicht auch noch erledigen . Er hatte doch wir� lich wichtigere Dinge zu tun '" Das Entstehen der erlebten Rede im A lltagskontext betonen schon Spitzer 1 928b und Eugen Lerch 1 928. Über die Rolle der erlebten Rede in der All tagskommunikation, in der par lamentarischen Rede und im journalistischen G c:ibrauch (im mündli chen wie schriftli chen) vgl. Pascal 1 977, 18 f., 34, 57; McH ale 1 978, 282.
3 . Die Interferenz von Erzählertext und Personentext
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1 . Im Gegensatz zur direkten personalen Benennung und bestimmten Formen der freien indirekten Rede ist die erlebte Rede weder gra phisch noch thematisch markiert. 2. Im Gegensatz zu jenen Formen der freien indirekten Rede, die die der direkten Rede entsprechenden Personalformen (ich, du er/sie) enthalten, werden in der erlebten Rede sprechende, angesprochene und besprochene Person mit den grammatischen Formen der 3 . Per son bezeichnet. 3 . Im Gegensatz zur direkten und indirekten Rede wird die erlebte Re de nicht durch verba dicendi , sentiendi usw. und den entsprechen den Konjunktionen eingeleitet. Die Zugehörigkeit der wiedergege benen Aussagen , Gedanken , Wahrnehmungen usw. zum PT wird auf keine Weise markiert4s • 4. Nach den vorhergehenden Definitionen ist die erlebte Rede iden tisch mit dem ET. Von diesem unterscheidet sie, dass sie die Aus sagen, Gedanken, Wahrnehmungen usw. nicht des Erzählers, son dern einer Fi gur ausdrückt. Bei nicht vollständiger Opposition der beiden Texte v erweisen zumindest die Merkmale 1 (Thema) und 2 (Wertung) auf den PT. Wir können das Verfahren also auf folgende Weise definieren: Die er lebte Rede ist ein Segment der Erzählerrede, das Worte, Gedanken, Ge fühle, Wahrnehmungen oder die Sinnposition einer der erzählten Per sonen wiedergibt, wobei die Wiedergabe des PT weder graphisch noch durch irgendwelche explizite Hinweise markiert ist. In der erlebten Rede weist das Merkmal 3 (Personalform) immer auf den ET. Von den übri gen Merkmalen sind bei nicht vollständiger Neutra lisierung der Opposition der Texte zumindest die Merkmale 1 (Thema) und 2 (Wertung) auf PT bezogen. Nicht selten wird PT noch durch andere Merkmale vergegenwärti gt: 5 (Zei gsystem), 6 (Sprachfunktion), 7 (Le xik), 8 (Syntax). Je mehr Merkmale auf PT verweisen, desto deutlicher 4S
Die erlebte Rede kann aber durch den Übergang aus direkter oder indirekter Rede oder durch entsprechende Darstellung von Rede-, Gedanken- und Wahrnehmungsakten der Reflektorfigur vorbereitet oder nachträglich signalisiert sein. Vgl. dazu die differenzier te Darstellung von Steinberg 1 97 1 , 88-106. Die Signalisierung durch den Kontext hebt freilich die der erlebten Rede grundsätzlich inhärente Ambivalenz nicht völlig auf. Auch wo solche Signale vorliegen , bedarf es einer Interpretation der Erzählerrede als Wiedergabe von PT.
202
IV. Erzählertext und Personentext
hebt sich die erlebte Rede von der sie umgebenden Erzählerrede ab. Aber wenn die Opposition der Texte in allen Merkmalen neutralisiert ist, ver liert die erlebte Rede ihre Identifizierbarkeit. Sie unterscheidet sich dann nicht mehr von der sie umgebenden Erzählerrede. j ) Typen der erlebten Rede im Deutschen und Russischen Unsere Definition deckt ein breites Spektrum von Formen der Mischung von ET und PT ab. Nach der Präsenz der Merkmale und der Repräsenta tion der beiden Texte könnte man eine differenzierte Typologie der erleb ten Rede erstellen. Dabei wäre natürlich die einzel sprachliche Realisie rung zu berücksichtigen. Wir wollen uns hier auf die klassischen Typen der erlebten Rede im Deutschen und Russischen konzentrieren (dabei einen Seitenblick auf das Englische und Französische werfen) und die Typologie allein auf die Behandlung des Tempus (Merkmal 4) gründen. 1 . Erlebte Rede im Deutschen a. Grundtypus: Tempus von ET Der Grundtypus der erlebten Rede im Deutschen zeichnet sich durch eine Tempusverschiebung gegenüber den im PT gebrauchten Tempora aus (Merkmal 4 => ET). Das personale Präsens wird zum narratorialen epi schen Präteritum verschoben , das personale Präteritum zum Plusquamper fekt. Als Beleg für die erste Verschiebung führen wir noch einmal das oft zitierte Beispiel von Alice Berend aus Die Bräutigame der Babette Bom berling an: Aber am Vormittag hatte sie den Baum zu putzen. Morgen � Weihnachten.
Aus Sätzen diesen Typus schließt Käte Hamburger, wie bereits oben dargelegt wurde, auf die Detemporalisation des epischen Präteritums und die Zeitlosigkeit der Fiktion. Adäquater scheint dagegen die Interpreta tion, dass wir es hier mit einer Kontamination der Perspektiven oder einer Interferez der Texte zu tun haben: Das epische Präteritum weist auf den Erzähler (Zeit => ET), das deiktische Zukunftsadverb auf die Person (Zeigsystem => PT)46. Die Vergangenheit der Person wird im Grundtypus der deutschen er lebten Rede im Plusquamperfekt ausgedrüc�t: ,
46
Die hier und im weiteren verwandten Pfeile symbolisieren das Verweisungsverhältnis .
203
3. Die Interferenz von Erzählertext und Personentext
Das Manöver gestern hatte acht S tunden gedauert. (Bruno Frank, Tage des Königs; zit. nach Hamburger 1 957, 33)
Der Grundtypus der deutschen erlebten Rede hat in seiner Idealfonn (bei Präsenz aller Merkmale und nicht neutralisierter Opposition) folgende Merkmalverteilung47: I.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
Thema
Wertung
Person
Zeit
Zeigsyst.
Sprachf.
Lexik
Syntax
x
x x
x
x
x
Er Pr
x
x
Die Grundform der deutschen erlebten Rede ist also grammatisch re lativ gering markiert: Merkmale 3 (Person) und 4 (Zeit) => ET. Das macht sie schwer identifizierbar. Ganz ähnlich sind die Verhältnisse im Engli schen und Französischen48• In bei den Sprachen findet eine Verschiebung vom Tempus des PT zum epischen Präteritum des ET statt. Die Tempusverschiebung im Englischen sei durch die beiden fol gen den Zitate demonstriert49: And Father Conmee smiled and saluted. How did she do? A fine carriage she had. SlI (1. loyce, Uly sses, 7 th impr., London 1 955, 208) 47
Eine besondere Behandlung erfährt im Deutschen das explizite Futur mit der Umschrei bung durch werden. Während das futurisch gebrauchte Präsens (Morgen ist Weih nachten) in der erlebten Rede der Tempusverschiebung ins Präteritum unterzogen wird (Morgen war Weihnachten), findet beim expliziten Futur (Wieviel wird sie verstehen ? ) ein Wechsel zur Form würde + Infinitiv statt (Wieviel würde sie verstehen ?), die wie ein Konjunktiv aussieht, indes indikativische Funktion hat (Herdin 1 905). Ähnliches gilt für englisch would + Infinitiv und den französischen Conditionnel (Stein berg 1 97 1 , 1 72-22 1 ). Vgl. das von Hamburger ( 1 957, 42) angeführte Beispiel aus Edzard Schapers Letztem Advent: "Das konnte einfach nicht wahr sein - wenn er nur allein an sie dachte ! Aber wieviel würde sie verstehen? Würde er sie nicht schon nach den ersten drei Minu ten verlieren? Und das sollte er wagen? Wer verlangte das von ihm, wer konnte es ver langen?" 48 Grundlegend zu den temporalen Eigenschaften der erlebten Rede im Deutschen, Engli schen und Französischen: Steinberg 1 97 1 , Fludernik 1 993a. Zur Übersetzung erlebter Rede in englischer, französischer und russischer Sprache ins Deutsche vgl. Kullmann (Hg.) 1 995. Darin zu deutschen Ü bersetzungen erlebter Rede aus dem Französischen Kullmann 1 995, aus dem Russischen lekutsch 1 995, Vykoupil 1 995. 49 Zit. nach Steinberg 1 97 1 , 1 66 . so Es handelt sich in diesem Fall nicht etwa um die Wiedergabe äußerer Rede, sondern um die Darstellung ihrer Wahrnehmung im Bewusstsein der Hörenden.
204
IV. Erzählertext und Personentext
But instantly she was annoyed with herself for saying that. Who had said it? not she; she had been traoped into saying something she did not mean . (V. Woolf, To the Lighthouse, 9 1h i mpr. , London 1 95 1 , S. 1 0 1 )
Für das Französische seien zwei Stellen aus Gustave Flauberts Ma dame Bovary angeführt. In der ersten sind die Gedanken Leons wiederge geben, der in der Kathedrale von Rouen auf Emma wartet: Elle allait venir tout a l 'heure, charmante, agitee, epiant derriere elle les regards qui la suivaient [ . . ] (G . Flaubert, Madame Bovary, Paris 1 972, S. 285) .
Das zweite Zitat inszeniert die verzweifelten Überlegungen Emma Bo varys bei ihren vergeblichen Versuchen, Geld aufzutrei ben: Elle s ' etonnait, a present, de n ' avoir pas songe a lui tout d ' abord; h ier, il avait donne sa 5 parole, il n 'y manquerait pas [ . . . ] (Ebd., S . 362) I
b. Variante: Tempus von PT
Im Deutschen begegnen wir auch einer erlebten Rede in jenen Tempus formen , die dem PT entsprechen. Die oben (1II.2.f) zitierte Stelle aus Lion Feuchtwangers Jüdischem Krieg war ein B eispiel dafür. An die zitierte Stelle schließt ein Abschnitt an, der ebenfalls ganz im Präsens (bzw. Per fekt und Futur) gehalten ist und auf irritierende Weise zwischen ET und PT oszilliert: Er hat viel über Rom gelesen, aber es nützt ihm wenig. Der Brand vor drei Monaten hat die S tadt sehr verändert. Er hat gerade die vier Bezirke im Zentrum zerstört, über dreihundert öffentliche Gebäude, an die sechshundert Paläste und Einfamilienhäuser, mehrere tausend Mietshäuser. Es ist ein Wunder, wie viel diese Römer in der kurzen Zeit schon neu gebaut haben. Er mag sie nicht, die Römer, er hasst sie geradezu, aber das muss er ihnen lassen : Organisationstalent haben sie, sie haben ihre Technik. Tech nik, er denkt das fremde Wort, denkt es mehrmals, in der fremden Sprache. Er ist nicht dumm, er wird diesen Römern von ihrer Technik etwas abluchsen. (L. Feuchtwanger, Ges . Werke in Einzelbänden, Berlin 1 998, Bd. 2, S . 7 f.)
An anderen Stellen des Romans entspricht die erlebte Rede dem Grundtypus, steht also im epischen Präteritum. Das Tempus der erlebten Rede entspricht jeweils dem der Erzählerrede, die zwischen epischem Prä teri tum und inszenierendem Präsens wechselt. In jedem' Fall ist die erlebte Rede von der sie umgebenden Erzählerrede nur gering dissoziiert. Bei erlebter Rede in den Tempora des P;f sind, abhängi g vom jeweili gen narrativen Tempus, zwei Fälle zu unterscheiden. Wo das Grundtem pus das epische Präteritum bildet und wo erIebte Rede auch im Präteritum 51
Den Hinweis auf die beiden Stellen verdanke ich Dorothea Kullmann 1 992, 1 1 6 f.
205
3 . Die Interferenz von Erzählertext und Personentext
erscheint, ist die erlebte Rede im Präsens besonders markiert. Wo aber die ganze Geschichte im Präsens erzählt wird, gibt es für die präsentische er lebte Rede keine Alternative. Dies ist etwa der Fall im Roman des südaf rikanischen Literaturnobelpreisträgers J . M. Coetzee The Master 0/ Pe tersburg, der durchweg im Präsens erzählt wird. Erlebter Rede im Präsens fehlt hier jegliche temporale Markiertheit. Der ganze Roman liest sich wie eine narrative Ausfaltung der Innenwelt seines Helden, Fedor Michajlovic Dostoevskijs: H e [Dostoevskij] emerges into a crowded ante-room. How long has h e been closeted with Maximov? An hour? Longer? The bench is full, there are people lounging against the walls, people in the corridors too, where the smell of fresh paint is stifling. Als talk ceases; eyes turn on hirn without sympathy . So many seeking justice, each with a story to tell ! (J. M. Coetzee, The Master of Petersburg, London 1 999, S. 48)
Unabhängig vom Tempus der Erzählerrede gilt: Wenn die erlebte Rede dem Tempus von PT folgt, ist die Opposition der Texte im Merkmal Zeit in allen all gemeingültigen und gnomischen Aussagen neutralisiert. Es ist in solchen Fällen zumindest nach dem Tempus nicht mehr zu unterschei den, ob der Erzähler oder die Person der Urheber der Aussage ist52• 1 . Erlebte Rede im Russischen a. Grundtypus: Tempus von PT Im Russischen zeichnet sich der Grundtypus der erlebten Rede durch den Gebrauch der Tempora von PT (Merkmal 4 => PT) aus . Dadurch steht die erlebte Rede dem reinen PT näher. Im Kontext einer Erzählerrede im epi schen Präteritum wirkt das Tempus von PT, sofern es sich nicht um per sonales Präteritum handelt, relativ deutlich markierend. Hier ist das ideale Schema des Grundtypus der erlebten Rede im Russischen: 1.
2.
3.
4.
5.
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8.
Thema
Wertung
Person
Zeit
Zeigsyst.
Sprachf.
Lexik
Syntax
x
x
x
x
x
Er Pr
52
x x
x
Leo Spitzer ( 1 923a) setzt für personale Aussagen im gnomischen Präsens einen eigenen Typus an, den er "pseudoobjektive Rede" nennt (vg! . dazu auch Bachtin 1 934-3 5 , 1 1 8). Vgl. sein Beispiel aus Alice Berends JWJgfrau Binehen und die Junggesellen: "Obwohl niemand für seine Träume verantwortlich gemacht werden konnte [er! . R.] . Die kamen red. R.] aus dem Magen . Nur Böswillige könne1l behaupten [pseudoobj. R.] [ . . . ]U (Spit zer 1 923a, 205).
206
IV. Erzählertext und Personentext
Die beiden folgenden Beispiele aus Dostoevskijs Doppelgänger ent halten unterschiedliche Zeitreferenzen des PT: Gegenwart des PT 31'0 He KpecTbHH HBaHOBH'I! KTO 3T0? HnH 3T0 OH? OH! 31'0 KpeCTbHH HBaHOBH'I, HO TonbKO He npe}l{HHÜ , aTO APyroü KpeCTbHH HBaHOBH'I! 31'0 y}l{aCHblü KpeCTbHH HBaHoBH'I! .. Das ist nicht Krest'jan Ivanovii:! ! Wer ist das? Oder ist er es doch? Tatsächlich, das ist er ! Das ist Krest'jan Ivanovii:!, aber nicht der frühere Krest'jan Iv anovii:!, das ist ein an derer Krest'jan Ivanovic ! Das ist ein entsetzlicher Krest'jan Ivanovii:! ! . . (F. M. Dosto evskij. Poln. sobr. soi:!. v 30 t. Bd. 1 . S. 229)
Vergangenheit des PT YBbI ! OH aTO AaBHO Y}I{e npeA'IYBcTBoBan ! Oh weh, das hat er schon lange vorausgeahnt! (Ebd.)
Während das Deutsche die Vergangenheit des PT hier mit dem Perfekt wiedergeben kann, steht im Russischen das Präteritum, das mit dem Er zähltempus zusammenfällt. In solchen Fällen ist im Russischen die Oppo sition der Texte im Merkmal 4 (Zeit) neutralisiert. Neutralisierung ist natürlich auch bei Wiedergabe der Gegenwart des PT möglich: Wenn der Erzähler gelegentlich im hiStorischen oder gnomischen Präsens erzählt, fällt mit diesem Tempus das Präsens der Person zusammen. b. Variante i m Tempus des ET Eine im Russischen weit verbreitete Variante enthält nicht das Tempus von PT, sondern das epische Präteritum (Merkmal 4 => ET). In ihr rückt die erlebte Rede näher zum ET. Das Idealschema dieser Variante sieht wie fol gt aus: __
1.
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Thema
Wertung
Person
Zeit
Zeigsyst.
Sprachf.
Lexik
Syntax
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x
x
x
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Er Pr
x
x
Diese Variante wird wieder durch ein Beispiel aus dem Doppelgänger illustriert:
�
Bce 6bIß0 TaK HaTypanbHo ! H 6bIß0 CYr'lero cOK ywaTbCH. 6HTb TaKYK> TpeBory! Alles w ar doch so natürlich ! Und gab es denn einen Grund, sich so zu grämen, einen solchen Alann zu schlagen ! (Ebd. , S. 1 56)
3. Die In terferenz von Erzählertext und Personentext
207
Das Präteritum bezeichnet in diesem Fall nicht die V ergangenheit der Person, sondern ist episches Präteritum, das die Gegenwart der Person bezeichnet. Nicht selten wechseln beide Typen der russischen erlebten Rede inner halb eines Textes. Im folgenden Zitat aus dem Doppelgänger sind der Grundtypus mit dem Tempus von PT durch doppelte und die Variante mit dem Tempus von ET durch punktierte Unterstreichung markiert: !S.Q!i.�"�Q,Ji". IlQ9.P�.Jf9Jm.1.!Q .�f.�QrQ JJ9..C;T.QP.QJiIl.IJ2C. ,J!!QJI�!
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NÄtijr!ic;h.j.!l>J�l:.Q�IJ. HQf.gjnltc;,lJ.xt�lC;:.fr�.IJlQ.I2.L.c;:p.�,y.Qrr�t�l:L K�t!is;.tt�l:��.�lJ.!if.ttJpÄcm !1,Qs:.i}. s.!iC;: .wllg�,1}rii.q�.I:.�n4..�c;hIJÄ�htC;:!l.. 4j�.P.f�rQ.�.l!�y{: ;.p.nC;:J.Jr..Q t�.qc;:m .Y{�x:.§�jn .P.IQt�" gi}n§!ig : ob man ihn bemerkt oder nicht. jedenfalls ist der Vorteil der. dass die Ge· •
schichte in gewisser Weise im Schatten vor sich geht und dass Herrn Goljadkin nie· mand sehen kann ; !,1it�9..l}nt� .Qp..c;:r.c;:nt§c;hi�Rc;:n ,l:!l1.��.��hc;:.n. (Ebd., S. 2 1 9)
k) Die erlebte Wahrnehmung Wenn der Erzähler die Wahrnehmung der Person wiedergibt, ohne die Wiedergabe in die Ausdrucksformen der Person zu kleiden, haben wir eine Variante, die man nach W. Bühler 1937 ( 1 3 1 , 1 5 3 ff.) erlebte Wahr nehmung nennen kann53 • Diese Form ist als das "Schaffen von Bildern un mittelbarer Wahrnehmung" (Slykova 1 962) beschrieben worden und als "Darstellung von Momenten und Ausschnitten der Wirklichkeit, des Seins der stummen Natur, beliebiger Phänomene der objektiven Außenwelt aus der Position einer erlebenden Person, wobei die Reaktivität des Menschen sich nicht immer notwendigerweise in einem Redeeakt, nicht einmal in einem inneren Redakt niederschlägt" (Andrievskaja 1 967, 9). Erlebte Wahrnehmung liegt bereits dann vor, wenn nur die Merkmale 1 (Thema) und 2 (Wertung) auf PT verweisen und alle übrigen auf ET (oder neutralisiert sind). Diese Form kommt häufig im Doppelgänger vor, wo sie für die Pseu doobjektivität des Erzählens verantwortlich ist. S"ie tritt überall dort auf, wo der" Erzähler die halluzinatorische Wahrnehmung des Doppelgängers 53
W. Bühlers Opposition von erlebter Rede und erlebter Wahrnehmung nimmt Bemhard Fehr ( 1 93 8) als substitiollary speech und substitionary perceptioll auf.
208
IV. Erzählertext und Personentext
durch Goljadkin wiedergibt, ohne das Erzählen mit den Ausdrucksmitteln des Helden so zu färben, dass der Leser schon dadurch auf die Person als wahrnehmende Instanz verwiesen würde: Der Passant verschwand schnell im Schneesturm. [ . . . ] Das war derselbe, ihm schon bekannte Passant, der vor etwa zehn Minuten an ihm vorbeigegangen war und der jetzt plötzlich , völlig unerwartet wieder vor ihm auftauchte . . . Der Unbekannte blieb wirk lich stehen, etwa zehn Schritte von Herrn Goljadkin entfernt, und so, dass der Schein der in der Nähe stehenden Laterne ganz auf seine Gestalt fiel, blieb stehen, wandte sich zu Herrn Goljadkin um und wartete mit ungeduldigem Gesichtsausdruck darauf, w as jener sagen würde. (F. M. Dostoevskij, Poln . sobr. soe. v 30 t., Bd. 1 , S. 1 40 f.)
Ohne stili stische Anzeichen für die personale Wahrnehmung stellt der Erzähler den Doppelgänger so dar, wie er vom pathologisch gestörten Helden wahrgenommen oder konstruiert wird. Die scheinbare Objektivität der erlebten Wahrnehmung bewirkt, dass der Leser erst allmählich die wahre Natur des Doppelgängers errät und die psychologische Motivierung der Handlung dieser Petersburger Erzählung erkennt, die er zunächst unter dem Vorzeichen romantischer Phantastik wahrnehmen wird.
1) Der erlebte innere Monolog Der innere Monolog kann auch in der Schablone der erlebten Rede wie dergegeben sein. Dann erhalten wir einen erlebten inneren Monolog. Er kann im Deutschen wie i m Russischen entweder im Tempus von PT, also in den präsentischen Tempora Präsens , Perfekt, Futur gehalten sein (Merkmal 4 => PT) S4 oder im epischen Präteritum (Merkmal 4 => ET). Die Tempora von PT prägen fol genden Ausschnitt, der aus einem für die Handlung zentralen inneren Monolog Andrej Bolkonskijs in Krieg und Frieden genommen ist. Dieser ausgedehnte innere Monolog wird zunächst in der direkten Schablone geführt, geht dann zur erlebten über und kehrt wieder zum direkten Modus zurück. Ein Teil der in direkter Rede gehalteS4
I m Russischen, das kein Perfekt kennt, fällt freilich das Präteritum von PT mit dem epischen Präteritum zusammen . In der wörtlichen deutschen Übersetzung muss das rus sische Präteritum des PT durch das Perfekt wiedergegeben werden. Das i st etwa der Fall in folgendem erlebten inneren Monolog mit den selbstkritischen Überlegungen Pierre Bezuchovs: "Hat er nicht mit ganzem Herzen gewünscht, mal die Republik in Russland einzuführen, mal selbst Napoleon zu .�ein, mal ein Philosoph zu sein, mal ein Taktiker, der Napoleon besiegt? [ . . . ] Und statt' des Ganzen, was ist er nun? Der reiche ' Mann einer untreuen Ehefrau , Kammerherr im Ruhestand, der gerne gut isst und trinkt und, wenn er die Weste aufgeknöpft hat, gern die Regierung ein wenig kritisiert [ . . . 1 (Ebd ., Bd. 1 0 , S. 294 f.)
3 . Die Interferenz v'on Erzählertex t und Personen text
209
nen Passagen wurde oben (S . 1 92) als Bei spiel für den bewusstseinsun mittelbaren zwei stimmigen Monolog zitiert. Der erlebte innere Teil dieses Monologs wird durch eine narratoriale Gedankendarstellung eingeleitet und geht allmählich in personale perzeptive Perspektive über: Und er sah in Gedanken die Schlacht vor sich, die Niederlage, die Konzentration des Kampfes auf einen Punkt und die Verwirrung aller Kommandeure. Und da sieht er schließlich jene glückliche Minute, jenes Toulon, das er so lange ersehnt hat. Fest und klar sagt er Kutuzov und Weyrother und beiden Kaisern seine Meinung. Alle sind von der Richtigkeit seiner Ü berlegung betroffen, aber niemand macht sich daran , sie auszu führen, und da nimmt er sich ein Regiment, eine Division, macht zur Bedingung, dass sich niemand mehr in seine Anordnungen einmischt und führt seine Division zum ent scheidenden Punkt und erringt allein den S ieg [ . . ]. Die Disposition der nächsten Schlacht w ird von ihm allein ausgearbeitet. Er trägt zwar noch den Titel des dienstha benden Offiziers bei Kutuzov, macht aber alles allein. Die nächste Schlacht wird von ihm allein gewonnen . Kutuzov wird abgesetzt, ernannt wird er (L. N. Tolstoj, Poln. sobr. soc. 90 t. Bd. 9, S. 323 f.) .
...
Als Beispiel für einen erlebten inneren Monolog im epischen Präteri tum sei eines der Selbstgespräche Goljadkins aus dem Doppelgänger angeführt: Aber er hatte ja wirklich allen Grund, in eine solche Verwirrung zu geraten. Die S ache war die, dass dieser Unbekannte ihm jetzt irgendwie bekannt vorkam. Das hatte alles noch nichts zu sagen. Aber er hatte diesen Menschen erkannt, er hatte ihn fast völlig erkannt. Er hatte ihn schon oft gesehen, diesen Menschen , irgendwann einmal gesehen, vor sehr kurzer Zeit sogar. Aber wo? War es nicht erst gestern gewesen ? (F. M. Dostoev skij , Poln. sobr. so<:. V 30 t. Bd. 1, S. 1 4 1 )
Nicht selten schwanken erlebte innere Monologe zwischen den Tem pora von PT und ET, wie das in folgendem Ausschnitt aus Nikolaj Go gol ' s Erzählung Der Mantel der Fall ist (doppelt unterstrichen: Tempus von PT; punktiert: Tempus von ET): Aber wie eigentlich . womit. mit welchem Geld soll man ihn [den Mantel] machen? Natürlich. man könnte sich teilweise auf die künftige Feiertagszuwendung verlassen. aber dieses Geld ist schon längst eingeplant und im voraus aufgeteilt. MilJLroJ.!!!!:Its:_n�J.!�. HQ§s:n_i1n!:l!!-'JpJ.IC;:!l-, __qpm _S_�b..q!:l�I.: _�iRc;:_ !lJts:__�s;,bJÜ9_J:2PhlJb..1.c;:R L._J_roj�_pjn�m_w.Qn.,_�I}!:I. gI}R�_JJ�!9_ _Yt!i_I.:9� _Y.Qn�tM9jg JIJ.!!:Igc;:gc;:P.C;:R _YtPl.Qpn ; und selbst wenn der Direktor so
gnädig ist und statt vierzig Rubel eine Zuwendung von fünfundvierzig oder fünfzig Rubel festsetzt. so bleibt doch nur ein lächerlicher Rest übrig. der im Mantelkapital wie ein Tropfen im Meer ist. (N. V. Gogol ' , Poln. sobr. so<:. v 1 4 t., Bd. 3 , M. 1 938, S . 1 5 3)
210
IV. Erzähl ertext und Personentext
m) Die erlebte Rede im diegetischen Erzählen Die funktionale Scheidung zwi schen dem erzählende-n Ich als Narrator und dem erzählten Ich als Aktor und die psychologische und ideologische Dissoziierung der bei den Ichs (vgl. oben, lI.4.j) macht Textinterferenz auch im diegetischen Erzählen möglich. Insofern die Erzähl gegenwart deutlich von der Handlungsgegenwart abgesetzt ist, können ET und PT auch im diegetischen Erzählen unterschiedliche Aspekte ausdrü(:k�n, ja sogar konkurrierende Bedeutungspositionen vertreten. Verbinden sich in einer Aussage Merkmale für ET mit Merkmalen für PT, so kommt es zu ähnlichen Textinterferenzen wie im nichtdiegetischen Erzählen. Nur ver ändern sich die Bedingungen für die Neutralisierung der Opposition der Texte. Entgegen der Behauptung Käte Hamburgers ( 1 957; 1 968) und anderer Autoren (W. Bühler 1 937 , 66 ; K. R. Meyer 1 957, 25 , 30) kann im diegeti schen Erzählen auch die erlebte Rede vorkommen55• Dorrit Cohn ( 1 969) hat dafür überzeugende Beispiele aus der deutschen Li teratur angeführt: die Urfassung von Kafkas Schloss, Hesses Steppenwolj, Schnitzlers Er zählung Der Sekundant und Thomas Manns Felix Krull Fragment Dabei gibt die erlebte Rede nicht die Texte dritter Personen wieder, sondern die Gedanken und Wahrnehmungen des früheren, erzählten Ich. Auch in der russischen Literatur finden wir, beginnend mit Aleksandr Puskins Roman Die Hauptmannstochter (Kapitanskaja docka) zahlreiche Werke, in denen die erlebte Rede das frühere Ich des Erzählers inszeniert56• Die Typologie der erlebten Rede gilt grundsätzlich auch für das die getische Erzählen. Nur ist hier die Opposition von PT und ET häufiger als im nichtdiegetischen Erzählen neutralisiert. Merkmal 3 (Person) entfällt für die Differenzierung der Texte in der Regel völlig, und die Opposition von ET und PT ist im Merkmal 6 (Lexik) selten stark ausgeprägt. Sprach funktion (Merkmal 6) und Syntax (Merkmal 8) werden nur dann eine Opposition bilden, wenn das erzählte Ich sich in einem besonderen psy chischen Zustand befindet. Häufiger als im nichtdiegetischen Erzählen bleibt die Identifizierung der erlebten Rede auf die Merkmale 1 (Thema) und 2 (Wertung) angewiesen. -
55 56
.
Vgl. schon ausdrücklich F. Todemann 1 930, 1 54 f. Vgl. auch die Diskussion der Mög lichkeit der erlebten Rede im diegetischen Erzählen bei Gersbach-Bäschlin 1 970, 2 1 f. L. A. Sokolova 1 968, 36-3 8 u. ö. führt Beispiele aus Werken Vladimir Korolenkos, An ton Cechovs, Lev Kassil' s, Arkadij Gajdars und auch Dostoevskijs Netocka Ne?,Vanova an .
21 1
3. Die Interferenz von Erzählertext und Personentext
Betrachten wir ein Beispiel aus Ivan Turgenevs Erzählung Asja: "Ich habe nach meinem Gewissen gehandelt", versicherte ich mir . Nein! Habe ich delln einen solchell Ausgang gewollt? Bin ich denn imstande , mich von ihr zu trennen ? Kalln ich sie denn elltbehren? "Wahnsinniger! Wahnsinniger!" wiederholte ich mit Er bitterung . . . (I. S. Turgenev, Sobr. sol:' v 10 t., M. 1 96 1 -1 962, Bd. 6, S . 1 95) . .
Das kursiv markierte Segment ist offensichtlich erlebte Rede des rus ' sischen Grundtypus (Merkmal 4 � PT). Diese Feststellung setzt aller dings voraus, dass man auf die thematischen und wertungsmäßigen Symp tome rekurriert. Die expressive Sprachfunktion, häufi g ein Anzei ger für PT, kann hier diese Rolle nicht spielen, da auch das erzählende Ich durch expressive Selbstfragen hervortritt. Ein diegetischer Roman, in dem die erlebte Rede eine prominente Rol le spielt, ist Dostoevskijs Jüngling. Arkadij Dolgorukij vergegenwärtigt mit diesem Verfahren innere Situationen , in denen er sich vor einem hal ben Jahr befunden hat. Die erlebte Rede inszeniert in ihrer offenkundig sten Gestalt (Merkmal 4 � PT) zumeist gefühlserregte Ausrufe und Fra gen des innerlich aufgewühlten erzählten Ich: Ich war maßlos überrascht, diese Neuigkeit war von allen die beunruhigendste: es ist etwas gescheherz, es ist etwa vorgefa llen, es ist unbedingt etwas passiert, wo VOll ich noch lIichts weiß! (F. M. Dostoevskij, Poln. sobr. soc. v 30 t. Bd. 1 3 , S. 254. Kursiv von mir W. Sch .) -
Die Präsenz von PT ist kaum wahrnehmbar, wenn die erlebte Rede im alternativen Typus (Merkmal 4 � ET) wiedergegeben wird: Aber Gott sei Dank befand sich das Dokument immer noch bei mir, war immer noch in meiner Seitentasche eingenäht; ich tastete mit der Hand nach ihm - da! Also brauchte man jetzt nur aufzuspringen und davonzulaufen, und vor Lambert brauchte man sich danach nicht zu schämen; Lambert war dessen nicht wert. (Ebd., S. 420)
n) Das uneigentliehe Erzählen Von der erlebten Rede ist ein Typus der Textinterferenz zu unterscheiden , der in der europäischen und amerikanischen Erzählkunst seit dem Aus gang des 1 9. Jahrhunderts weit verbreitet ist. Im Russischen, wo dieser Typus seit der Literatur des Postrealismus eine große Rolle spielt, wird er "uneigentliches Autorerzählen" (nesobstvenno-avtorskoe povestvovanie) genannt (vgl. N. A. Ko:levnikova 1 97 1 ; 1 994, 206-248)57. Johannes Holt57
Der Begriff ist in Analogie zur russischen Bezeichnung der erlebten Rede "uneigent lich-direkte Rede" (nesobstvenno-prjamaja ree' ) gebildet.
212
IV. Erzählertext und Personentext
husen ( 1 968) hat für das Phänomen die deutschen Begriffe des "erlebten Erzählens" oder des "unei gentlichen Erzählens" vorgeschlagen. Es sei hier der zweite Terminus aufgegriffen. Wodurch unterscheidet sich das uneigentliche Erzählen von der erleb ten Rede? Die erlebte Rede gibt den Text der Person in der Gestalt der Erzählerrede mit geringerer oder größerer narratorialer Transformation wieder. Das unei gentliche Erzählen ist dagegen authentische Rede des Er zählers, die in variabler Dichte Wertungen und Benennungen aus dem Personentext übernimmt. In der erlebten Rede weist das Merkmal 1 (Thema) auf PT, im uneigentlichen Erzählen dagegen auf ET. Für die Übernahme von Wertungen und B enennungen aus dem PT kann man zwei Modi unterscheiden. Im ersten Modus reflektieren die per sonal gefärbten Elemente der Erzählerrede aktuelle Bewusstseinsinhalte der Fi gur, an denen sich der Erzähler gleichsam ansteckt. Wir wol len die ses Verfahren nach Leo Spitzer ( 1923b) Ansteckung der Erzählerrede am PT nennen. Ein Beispiel bietet der oben (III.2.f) zitierte Beginn von Ce chovs Erzählung Der Student. Wenn die personal gefärbten Elemente der Erzählerrede nicht den im jeweiligen Moment aktuellen inneren Zustand der Figur reflektieren, son dern für den PT typische Wertungen und Benennungen präsentieren, spre chen wir von einer Reproduktion des PT. Dieses Verfahren liegt im oben (S. 1 79) zitierten Eingang zu Dostoevskijs Erzählung Eine dumme Ge schichte vor. Die im Zitat kursiv gesetzten Wörter bezeichnen Bewertun gen, die der Axiologie und Denkweise der versammelten Generäle ent stammen, ohne dass sie als aktueller Inhalt des Bewusstseins der Helden aufgefasst werden könnten. Beide Formen, sowohl die Ansteckung als auch die Reproduktion, sind von der direkten personalen Benennung zu unterscheiden, die durch graphische Zeichen aus der Erzählerrede ausge gliedert wird. Am Beispiel von Cechovs Novelle Der Stu dent kann man auch ein für das unei gentliche Erzählen typisches Phänomen beobachten: Vor dem ex pliziten Auftreten einer Reflektorfi gur ist das Erzählen in Wertung und Benennung bereits mit Zügen ihres Textes gefärbt. So kann das uneigent liche Erzählen das Auftreten des späteren Trägers der Perspektive vorbe reitenS8•
58
In Abschnitt V.3.d wird dafür ein Beispiel aus Cechovs Erzählung Rothschilds Geige betrachtet.
3 . Die Interferenz von Erzählertext und Personentext
213
In der russischen Literatur findet das uneigentliche Erzählen einen Hö hepunkt in der späten Prosa Anton Cechovs. Bis zur ersten Hälfte der 90er Jahre dominierte in C echovs Prosa noch die erlebte Rede. Ab de r Mitte der 90er Jahre vertieft sich die Einwirkung des PT auf das Erzählen. Das Ergebnis dieser Entwicklung beschreibt Aleksandr C udakov ( 1 97 1 , 98) . am Beipiel der Dame mit dem Hündchen: Die Beschreibung wird voIlständig in der Sprache des Erzählers gegeben und geht nir gends in erlebte Rede über. Aber auf der objektiven Rekonstruktion des Geschehens liegt gleichsam der Schatten des emotionalen Zustands des Helden.
Das uneigentliche Erzählen beim späten Cechov ruft den Eindruck her vor, als wäre die Narration ganz in die Sphäre der Personen getaucht, ohne dass dabei eine Darstellung aktueller Si tuationen des Bewusstseins statt findet. Eine besondere Rolle spielt das unei gentliche Erzählen in der russi schen Prosa der Vor-Perestrojka-Periode, also in den Jahren 1 960- 1 98059• Ein Schlüssel werk für die Renaissance des uneigentlichen Erzählens, das i n der Literatur der vierziger und fünfziger Jahre vermieden wurde, war Aleksandr SolZenicyns Erzählung Ein Tag im Leben des Ivan Denisovic (Odin den ' Ivana Denisovica; geschri eben 1 959, gedruckt 1 962): E s hatte überhaupt keinen Sinn, sich schon morgens die Filzstiefel nass z u machen. E s gab nichts, w a s man dann hätte anziehen können, selbst wenn man i n die Baracke ge laufen wäre. Verschiedene Anordnungen für das Schuhwerk hatte S uchov in den acht Lagerjahren erlebt: mal waren sie den ganzen Winter ganz ohne Stiefel herumgelaufen, mal hatte man diese Schuhe nicht zu Gesicht bekommen, sondern nur Bastschuhe und (:12 (Schuhzeug aus Gummi, aus Autoreifen). Jetzt hatte es sich mit dem Schuhzeug einigermaßen eingerenkt . . . (A. I. Sol�nicyn, Maloe sobr. so!!. , Bd. 3, M. 1 99 1 , S . 10)
Dieser Abschnitt ist offensichtlich nicht in erlebter Rede dargeboten. Hier wird nicht eine aktuelle innere Rede oder die Erinnerung des Helden präsentiert, sondern es erklingt die Stimme des Erzählers, der sich bei seinem narratorialen Ü berblick über die Geschichte der Beschuhung im Straflager (Merkmal 1 � ET) dem wertungsmäßigen und sprachlichen Horizont des Helden maximal annähert und einzelne stilistischen Züge von PT reproduziert (Merkmale 2, 7, 8 � PT).
59
Als Autoren sind hier zu nennen: Jurij Trifonov, Vasilij S uk�in, Sergej Zalygin, Fedor Abrarnov, Vasilij Tendrjakov, Vera Panova. Zum uneigentlichen Erzählen dieser Perio de vgl. N. Ko�evnikova 1 977; Schmid 1 979. Zum uneigentlichen Erzählen der fünfzi ger und sechziger Jahre: Holthusen 1 968.
214
IV . EIZähIertext und Personentext
Obwohl unei gentliches Erzählen und erlebte Rede unterschiedliche Strukturen aufweisen, ist es in Solzenicyns Text nicht überall möglich, sie voneinander zu scheiden. Ihre Identifizierung ist vor allem dort erschwert, wo sich personale Elemente verdichten, die dem aktuellen Zustand des Helden entsprechen. So kann man die Schlusssätze der Erzählung sowohl als Wiedergabe eines aktuellen B ewusstseinsprozesses des einschlafenden Helden v erstehen , der die Erei gnisse des Tages für sich resümiert, d. h. als erlebte Rede, wie auch als Worte des Erzählers, der unabhängig von der aktuellen Bewusstseinssituation des Helden die , Erfolge' dieses Tages bilanziert, d. h. als uneigentliches Erzählen: S uchov schlief ein, völlig zufrieden . An dem Tag hatte er heute viele Erfolge einge heimst: in den Karzer hatte man ihn nicht gesteckt, zur Sozkolonie hatte man die Bri gade nicht hinausgejagt, beim Mittagessen hatte er einen Extrabrei organisiert, der Bri gadeleiter hatte Bericht über Normübererfüllung gegeben, die Wand hatte S uchov fröhlich gemauert, beim Filzen war er nicht mit dem S ägeblatt aufgeflogen, am Abend hatte er sich bei Zesar etwas dazuverdient und Tabak gekauft. Und er war nicht krank geworden, hatte das überwunden. Der Tag war vergangen, durch nichts getrübt, fast glücklich. (Ebd., S. 1 1 1 )
0) Funktionen der Textinterferenz An den Anfängen der funktionalen Untersuchung der Textinterferenz steht die Diskussion über den style indirect lihre, die in den zehner und zwan zi ger Jahren des 20. Jahrhunderts auf den Seiten der Germanisch-ro manischen Monatsschrift zwischen dem Genfer Linguisten Charles Bally und seiner Schülerin Marguerite Lips einerseits und den Anhängern der Münchner Vossler-Schule andererseits geführt wurde 60• Bally ( 1 9 1 2 ; 1 9 14; 1 930) sieht im style indirect lihre lediglich ein "procede grammatical de reproduction pure". Von der direkten Rede un terscheidet sich nach B ally diese "forme li,nguistique" ausschließlich durch ihre grammatischen Merkmale (Pronomina und Tempora der oratio obliqua). Sobald der Berichterstatter in der reproduzierten Rede eine eige ne Wertung, etwa eine ironische Akzentuierung erkennen lässt, handelt es sich für Bally nicht um den "style indirect libre" , sondern um eine "re production appreciee, die als "figure de pensee" streng von den ,,formes linguistiques" zu trennen und mit dem per definitionem objektiven "style indirect libre" unvereinbar ist. Von diesem scheidet Bally alle Formen, in ,
60
i
Ausführliche Darstellung dieser Diskussion bei 'Voloäinov 1 929, 1 5 3 - 1 74; dt. 1 975 , 2 1 1 -37; vgl. auch Dolezel 1 958.
215
3. Die Interferenz von Erzählertext und Personentext
denen die Präsenz des PT verschleiert ist. Der "style indirect libre" dient nach Bally ausschließlich der reinen, objektiven und offenkundigen Rede und Gedankenwiedergabe. Die objektivistische Konzeption Ballys musste den Widerspruch der Vosslerianer herausfordern, die die erlebte Rede als ein spezifisch literarisches Phänomen betrachteten. Dabei nei gten be stimmte Vertreter dieser Schule zu dem anderen Extrem. Ihr Interesse galt vornehmlich der psychologischen Leistung der erlebten Rede, die sie in der Empathie erblickten. Das Wesen der erlebten Rede bestand für diese Schule der "Sprachseelenforschung" in der "Einfühlung des Dichters in die Geschöpfe seiner Phantasie" (E. Lerch 1 9 1 4; G. Lerch 1 922), im un mittelbaren "Erleben" der Vorgänge eines fremden Bewusstseins (von da her rührt der von Etienne Lorck 1 92 1 geprägte Begriff der "erlebten" Re de). Dabei wollten die Vosslerianer nicht die Möglichkeit einer dop pelakzentigen Wiedergabe psychischer Prozesse einräumen , die in der Zeit diskutiert wurde. In der Polemik mit Werner Günther ( 1 928 , 83-9 1 ), der die erlebte Rede als synthetische Form beschrieben hatte, die zwei Perspektiven des Erzählers miteinander verschmel ze, die sich in die Per son versenkende "Innensicht" und die distanzierte "Außensicht" , die also "Einfühlung" und "Kritik" in einem Akt vereinige, konstatiert Eugen Lerch ( 1 928, 469-47 1 ): [ ] die Erlebte Rede bedeutet an sich nur Einfühlung, nicht auch Kritik [ . ] . Durch die Erlebte Rede kann der Autor sich sogar mit Personen , die ihm keineswegs sympa thisch sind oder deren Meinungen er keineswegs teilt, wenigstens für den Augenblick identifizieren [ ]. Die Erlebte Rede bedeutet keine Kritik des Gedachten oder Ge sagten, sondern im Gegenteil einen Verzicht auf S tellungnahme. . . .
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Die Vorliebe der modemen europäischen und amerikanischen Litera turen für die Textinterferenz wurde im Sinne der Vossler-Schule oft damit begründet, dass die entsprechenden Erzählverfahren unmittelbaren Ein blick in die psychischen Prozesse der Fi guren gewährten (Stanzel 1 95 5 ; Neubert 1 957). Aber warum, s o ist z u fragen, bezieht sich diese Vorliebe gerade auf hybride Formen, bei denen Unklarheit über die verantwortliche Instanz besteht? Warum gilt sie viel weniger den Formen in der direkten Schablone, die durch die Eindeutigkeit ihrer Zuordnung, wie es scheinen könnte, eher für eine authentische Wiedergabe prädestiniert sind? Die Vorliebe für die Textinterferenz kann nicht ohne Berücksichtigung ihres hybriden Charakters erklärt werden , nicht ohne die Tatsache, dass in ihr zwei Texte simultan präsent sind, deren Anteil an jeder einzelnen Stel le zu rekonstruieren ist, und dass der Erzähler die Worte, Gedanken und Wahrnehmungen der Person narratorial akzentuieren und bewerten kann.
216
IV . Erzähl ertext und Personentext
Einen Schritt in diese Richtung hat bereits Ljudmila Sokolova ( 1 968) mit ihrer bislang wenig beachteten Arbeit zur "uneigentlichen Autorrede" (nesobstvenno-avtorskaja ree' ) unternommen (mit welchem B egriff sie die Verfahren der Textinterferenz bezeichnet)6 1 . Nach gründlicher Analy se der Mittel , die die "uneigentliche Autorrede" markieren, führt sie aus, welche "stilistischen" Möglichkeiten mit dieser neben der "Autorrede" und der "Personenrede" "dritten Darbietungsform" zur Verfügung stehen und welche Vorzüge sie vor den beiden anderen hat. Ausgehend von der Feststellung, dass die stilistischen Funktionen der "uneigentlichen Autor rede" aus der Kontamination oder Konfrontation der Subjektebenen von Autor und Held resultieren, führt Sokolova die Funktionen dieser Darbie tungsform auf drei Möglichkeiten zurück: 1 . Die "uneigentliche Autor rede" kann, indem sie den Standpunkt der Person wiedergibt und dabei die Autorwertung beibehält, die geistige Entwicklung des Helden demonstrie ren und das Wesen seines Charakters enthüllen. 2. Die "uneigentliehe Autorrede" kann, indem sie die Wertung des Autors akzentuiert, als kom positionelles Mittel zur Hervorhebung der Hauptideen des Werks benutzt werden. 3. Die "uneigentliehe Autorrede" kann durch die Konfrontation der Perspektiven von Autor und Held besondere semantische oder stilisti sche Effekte erzielen: die Gestaltung a) eines umgangssprachlichen Stils, b) eines lebendigen, leichten Erzähltons i n der Kinderliteratur, c) eines hu moristischen oder satirischen Erzählens, d) einer historischen oder literar historischen Stilisierung. Bei der Erfüllung dieser Aufgaben ist die "unei gentliehe Autorrede" der "Autorrede" und der "Personenrede" darin über legen , dass sie es dem Autor ermöglicht, 1 . den all gemeinen Inhalt des Gedankens und der Rede des Helden wiederzugeben, den dieser aus ir gendwelchen Gründen nicht selbst artikulieren kann, 2. einen Inhalt wie derzugeben , der nicht mit dem üblichen Inhalt und den Normen der direk ten Rede des Helden vereinbar ist (Rede eines Kol lektivs, Verwischung der Grenzen zwi schen äußerer und innerer Rede u.ä.),. 3. eine stilistische Vielfalt zu erzielen , 4. B esonderheiten im Verlauf eines Dialogs zu profi lieren, 5 . bestimmte Teile der Rede zu akzentuieren , 6. unwichtige Mo mente der Sujetentwicklung zur psychologischen Charakteristik des Hel den zu benutzen (die "uneigentliehe Autorrede" fällt weni ger auf und ist "ökonomischer" als die "Personenrede") und 7. die Grenzen zwischen monologischer und dialogischer Rede der t,{elden zu verwischen. 61
Leider unterlässt es Sokolova, das nur global b dnannte Phänomen in seinen einzelnen Erscheinungsfonnen wie indirekte Rede, erlebte Rede. uneigentIiches Erzählen u sw . gesondert zu betrachten.
3. Die Interferenz von Erzählertext und Personentext
217
S o umfassend diese Liste der Funktionen auch ist, s o werden zwei Grundfunktionen, die durch den hybriden Charakter der erlebten Rede und des uneigentlichen Erzählens ermöglicht werden, von Sokolova nicht einmal erwähnt. Es handelt sich um die Uneindeutigkeit und die Bitextua lität. p) Uneindeutigkeit und Bitextualität Schon als man damit begann , das Phänomen der erlebten Rede zu be schreiben , wurde als ihr Hauptmerkmal die Uneindeutigkeit konstatiert. Theodor Kalepky nannte das Verfahren (das sein , Entdecker' Adolf Tob ler [ 1 887] als "ei gentümliche Mischung direkter und indirekter Rede" be schrieben hatte) "verschleierte Rede" (Kalepky 1 899; 1 9 1 3) oder "verklei de te Rede" (Kalepky 1 928) und definierte es als Darstellungsweise, bei welcher der Erzähler die Gedanken und Reden seiner Personen nicht in irgendeiner sie als solche kennzeichnenden Weise, weder in "indirekter" noch "direkter" Rede wiedergibt, sondern sie in diejenige Fonn kleidet, die er eigenen Ge danken, Worten [ ] geben würde und es seinem Leser überlässt, ja ohne weiteres von ihm erwartet, dass er sie trotzdem als Gedanken, Worte der inszenierten Personen auf fassen, erkennen und dass er die Umdeutung - w ie bei einem Chiffriersystem - richtig vornehmen werde. (Kalepky 1 9 1 3 , 6 1 3) . . .
Indem Kalepky das so verstandene Verfahren als "Verschleierung der Tatsachen" , als fonnellen "Täuschungsversuch gegenüber dem Leser" auslegt, zielt er - wie nach ihin Spitzer ( 1 923 a) und Oskar Walzel ("Ver steckspiel , das der Erzähler treibt" ; 1 924, 22 1 ) - auf die aus der Unein deuti gkeit resultierende Wirkung auf den Leser62• Die Folgen für die Re zeption hat bereits Emil Uftman in seiner Arbeit zur "stellvertretenden Darstellung" (d. h. zur erlebten Rede) formuliert: 62
Voloäinov, der dem Gegenspiel des "abstraktem Objektiv ismus" Bally s und des "hypo stasierenden Subjektivismus" der Vosslerianer besondere Aufmerksamkei t schenkt und auch die Position Kalepkys ausführlich darstellt, lobt letzteren dafür, dass er die "Dop peigesichtigkeit" der erlebten Rede richtig erkannt habe, tadelt ihn aber wegen seiner Deutung: Es könne keine Rede davon sein, dass die Rede der Person "verschleiert" werde und dass der Sinn des Verfahrens darin bestehe, den Leser erraten zu lassen, wer jeweils spreche. Jedem Leser sei von Anfang an klar, dass "dem Sinne nach" der Held spreche. Das Spezifikum des Verfahrens bestehe darin, dass sowohl der Autor als auch der Held spreche, dass in einer sprachlichen Konstruktion die "Akzente zweier gegen einander gerichteter Stimmen" ausgedrückt würden (Volosinov 1 929, 1 56; dt. 1 97 5 , 2 1 5). Hier zeigt sich wieder die oben (S . 1 79) bereits angemerkte Präferenz Bachtins und Volosinovs für die agonalen Manifestationen der "Zweistimmigkeit".
218
IV . Erzählertext und Personentext
Oft kann der Leser nur aus dem Zusammenhang ersehen, ob der Schriftsteller in sei nem eigenen Namen oder im Namen seiner Personen spricht. [ . . . ] Es handelt sich dann um etwas, das die Folgerungskunst des Lesers in Anspruch nimmt. (Läftman 1 929, 1 65)
Die Uneindeutigkeit der Zuordnung der erlebten Rede aktiviert den Leser und lässt ihn auf den Kontext rekurrieren. Die Formen der Textinterferenz sind von dieser Uneindeuti gkeit in un terschiedlichem Maße betroffen. In der direkten personalen Benennung und allen Formen der indirekten Rede wird die Präsenz der fremden Rede graphisch oder durch verba dicendi signalisiert. Eine "Verschleierung" der Präsenz des PT liegt hier natürlich nicht vor. In den Formen der indirekten Rede kann der konkrete Anteil des PT fraglich erscheinen. Der Leser muss hier entscheiden, welche Ei genschaften dem PT zuzuordnen sind. In den Typen der erlebten Rede, in denen das Merkmal 4 (Zeit) auf PT weist, wird die Identifzierung des PT durch die Differenz zum Tempus der Er zählerrede erleichtert. Wenn aber Merkmal 4 auf ET verweist, kann es sowohl im präsentischen als auch im präteritalen Kontext recht schwierig werden, die Präsenz des PT zu identifizieren. Eine Erschwerung der Wahrnehmung entsteht in beiden Typen der erlebten Rede, wenn die Op position von Er und PT neben der Zeit noch in weiteren Merkmalen neu tralisiert ist. Dann kann die erlebte Rede vom ET ununterscheidbar wer den. Am wenigsten eindeuti g zu identifizieren ist das uneigentliehe Erzäh len. In vielen Texten , die dieses Verfahren enthalten, erweist es sich, al s außerordentlich schwieri g , wenn nicht unmöglich, in den Interferenzen die , Anteile von PT und ET auseinander zu halten. Ihre Verschmel zung er leichtert indes die Aufgabe, innere Prozesse der Helden wiederzugeben. Die Uneindeuti gkeit des sich ständig ändernden Textaufbaus entspricht der Uneindeutigkeit des darzubietenden Seelenlebens. Wo direkte und indirekte Rede die schwer zu bestimmenden, noch nicht artikulierten See-: lenbewegungen unangemessen eindeuti g fixieren 63, bildet die Uneindeu ti gkeit der Präsenz des PT in der perspektivisch fluktuierenden Erzähler rede ein ideales Medium zur Darstellung der latenten Bewegungen des Bewusstseins, einer Darstellung, die auf die Mitarbeit des Lesers rechnet. 63
In seiner Abhandlung zum Wort im Roman bezeichnet Bachtin ( 1 934/1 935, 1 33) die erlebte Rede als am meisten geeignet zur Wiedergabe der inneren Reden der Figuren , da sie die "expressive Struktur der inneren Rede des Helden und die ihr eigene Un ausdrücklichkeit und Verschwommenheit bewahrt, was bei einer Wiedergabe in der tro ckenen und logischen Form der indirekten Rede unmöglich ist".
3 . Die Interl'erenz von Erzählertext und Personentext
219
Die oben erwähnte Auseinandersetzung darüber, ob die erlebte Rede · eher der Einfühlung oder der Kritik diene, ist heute noch nicht zu einem Abschluss gekommen. Noch Elena Paduceva ( 1 996, 360) ergreift in dieser Kontroverse eine eindeuti ge Position: Sie scheidet die "Zitierung" (womi t s i e die Ansteckung und Reproduktion meint und das damit verbundene uneigentliehe Erzählen) , die sich durch "Zweistimmigkeit" auszeichne, von der nach ihrer Auffassung "monologischen" erlebten Rede, in der die Stimme der Person "die Tendenz habe, die Stimme des Erzählers völlig zu verdrängen". (Diese Position entspricht der Betrachtung der erlebten Rede als eines grundsätzlich univokalen Phänomens bei Bally und Banfi eld. ) Dagegen sei eingewandt, dass erstens die Merkmale für ET den Erzähler und seine Bewertung vergegenwärtigen64 und zweitens, dass das Phäno men der simultanen Präsenz zweier Texte in ein und derselben Aussage, das auch der erlebten Rede zugrunde liegt, unausweichlich zur Bitextuali tät führt. Mi t der Entwicklung einer Distanz zwischen den Sinnpositionen von Erzähler und Person wird diese Bitextualität den Charakter einer ideo logischen Zweistimmigkeit, einer Doppelakzentigkeit annehmen. Ein B ei spiel für eine scharfe Kollision der Wertungs standpunkte war Eine dumme Geschichte, in der nach Volosinovs ( 1 929, 1 47; dt. 1 975 , 204) Beobach tung "jedes Epitheton eine Arena der Begegnung und des Kampfes zweier Intonationen, zweier Standpunkte, zweier Reden" bildet. Die Zwei stimmigkeit macht die Erzählerrede axiologisch doppel wer tig. Jeder Wertung der Person ist eine narratoriale Sinnposition entgegen zusetzen. Die implizite Kritik des Erzählers kann in der zweistimmi gen erlebten Rede sowohl auf die Ideologie als auch auf den sprachlichen Ausdruck von Pr gerichtet sein. In Mieke B als ( 1 977a, 1 1 ) Interpretation der erlebten Rede, die Ge nettes Unterscheidung von "mode" und "voix" aufgreift (s. o . , III. l .b), macht sich ein dieser Dichotomie inhärenter Reduktionismus geltend. Nach B als Auffassung liegt in dem Verfahren nicht eine Interferenz der Texte von Erzähler und Person vor (wie Schmid 1 973 , 39-79 behauptet), sondern lediglich eine Interferenz von "parole" (des Erzählers) und "visi on" (der Person). Auf diese Weise bringt Bai die Struktur der erlebten Rede de facto auf die Formel "Sicht der Person + Stimme des Erzählers" . Damit wird aber der Umstand vereinfacht, dass einerseits die erlebte Rede in der Regel in Lexik und Syntax (d . h. in der "Stimme") der Person reali64
Die Präsenz des Erzählers i n den auf ihn verweisenden Merkmalen wie Personalform und Tempus wird von den Kritikern der Bitextualität geleugnet (vgl. Fludernik 1 993a, 355).
220
IV . Erzählertext und Personen text i
siert wird und anderseits der Erzähler auf den Wahrnehmungen, den Ge- ' danken und Worten der Person Spuren seiner eigenen Bewertung (seiner "vision") hinterlässt. Fol glich sind in der erlebten Rede zwei Sichtweisen und zwei Stimmen, also zwei Texte vereinigt65• Die B itextualität nimmt, wie schon oben (S . 1 79), bei der Abgrenzung unserer Textinterferenz von Volosinovs "Redeinterferenz" ausgeführt wurde, nicht zwangsläufig einen zweistimmigen, doppelakzentigen Cha rakter an. In der erlebten Rede der russischen romantischen Prosa be obachten wir z. B. keinerlei Konkurrenz der Wertungen. Auch in den spä ten Erzählungen C echovs sind in der erlebten Rede keine adversativen oder relativierenden Akzente des Erzählers wahrzunehmen. Nach den Beobachtungen A. P. Cudakovs ( 1 97 1 , 1 03) nähern sich die erlebten inne ren Monologe in der Erzählung Die Bauern (Muziki) jener einakzentigen Form aus Puskins Gefangenem im Kaukasus (Kavkazskij plennik), die Volosinov ( 1 929, 1 5 1 ; dt. 1 975 , 2 1 1 ) aus dem Bereich der - für ihn immer zwei stimmi gen - erlebten Rede verbannt66• Nicht zufällig haben Bachtin und Volosinov in ihrer Konzentration auf die agonalen Manifestationen der Textinterferenz C echov, den Meister der uni vokalen erlebten Rede, konsequent umgangen. Zwischen der einakzenti gen Textinterferenz und der den Inhalt und den Ausdruck des Helden satirisch vorführenden zweistimmigen Darbie tung erstreckt sich ein breites Spektrum möglicher Formen mit unter schiedlichen Wertungsrelationen, die von der Empathie über die humo ristische Akzentuierung, die kritische Ironie bis zur vernichtenden Ver höhnung reichen67• Natürlich ist die Realisierung der Wertungsrelation durch den Erzähltext nicht eindeutig prädeterminiert, sondern als prag matisches Phänomen von der jeweiligen Interpretation der Interrelation von Textinterferenz und Kontext abhängig. Aber wir können bestimmte Dispositionen der Formen zu bestimmten Wirkungen konstatieren. So tendieren zur Zweistimmigkeit vor allem j ene Formen , in denen die Prä65
Die unbegründete Kritik meiner Theorie in BaI ( 1 977a) wird durch Bronzwaer ( 1 98 1 , 1 97-200) analy siert und zurückgewiesen . 66 Volosinov nennt eine Darstellung, in der der Autor für seinen Helden spricht und kei nen eigenen Akzent setzt, "vertretene direkte Rede" (zamescennaja prjamaja ree '). 6 7 Darstellung der sogenannten "dual-voice-hypothe�is" (die schon in der Diskussion der zwanziger Jahre auftaucht: in Deutschland bei Spitzer 1 922 und Günther 1 928, in Russ land bei Bachtin 1 929 und Volosinov 1 929), Zusammenfassung der Argumente ihrer Gegner (v. a. Ann Banfield) und eigene Kritik bei Fludemik 1 993a, 33 8-359.
3 . Die Interferenz von Erzählertext und Personentext
22 1
senz des PT explizit signalisiert wird, wie die direkte personale Benen nung und bestimmte Spielarten der freien indirekten Rede. Aber auch in der erlebten Rede und im unei gentlichen Erzählen ist die Zweistimmi gkeit weit verbreitet, wie die zahlreichen Beispiele zei gen, die Bachtin und Volosinov für den Kampf der Stimmen aus unterschiedlichen Literaturen anführen. Die Zweistimmi gkeit der erlebten Rede und des uneigentlichen Erzäh lens veI:stärkt die aus ihrer Uneindeutigkeit resultierende Erschwerung der Wahrnehmung. Der Leser hat nicht nur die Aufgabe, aus der Erzählerrede den latenten PT herauszuhören, er ist auch aufgerufen, zu entscheiden, welchen Wertungsstandpunkt der Erzähler gegenüber dem Inhalt und dem Ausdruck des PT einnimmt.
V . Die narrativen Transformationen: Geschehen - Geschichte - Erzählung - Präsentation der Er zählung 1 . "Fabel" und "Sujet" im russischen Formalismus
a) Modelle der narrativen Konstitution Modelle der narrativen Konstitution stellen das Erzählwerk als Resultat einer Reihe von Transformationen dar. Das Werk wird in einzelne Ebe nen, die Stufen sei ner Konstitution, zerlegt, und den Transformationen werden bestimmte narrative Verfahren zugeordnet. Die Fol ge der Trans formationen darf man keinesfalls im zeitlichen Sinne verstehen, sondern nur als unzeitliche Ausfaltung der das Werk simultan hervorbringenden Verfahren. Insofern stellen die Modelle der narrativen Konstitution nicht den Prozess der Entstehung des Werks dar und auch nicht den Prozess seiner Rezeption, sondern bilden mit Hilfe zeitlicher Metaphern die idea le, unzeitliehe Genesis des Erzählwerks ab. In Analogie zu den Transfor mationsmodellen der Linguistik könnte man sie "generativ" nennen, sach lich adäquater ist freilich die Bezeichnung "ideal genetisch" . Warum beschäftigt sich die Narratologie überhaupt mit solchen Abs traktionen? In den idealgenetischen Modellen geht es weniger um die Un terscheidung der Ebenen (die ohnehin der Beobachtung nicht zugänglich sind) als um die Identifizierung der Operationen, die den Übergang von einer Ebene zur anderen bedingen. Die Aufgabe der ideal genetischen Modelle besteht also darin, jene narrativen Operationen zu unterscheiden, die das im Erzählwerk enthaltene Ausgangsmaterial in einen der Beob achtung zugänglichen Erzähltext transformieren. Somit dient die Diffe renzierung von Ebenen vor allem als Hilfsmi ttel zur Analyse der grundle genden narrati ven Verfahren. Das Modell der narrativen Konstitution , das den größten Einfluss auf die internationale Literaturwissenschaft hatte, war die von den russischen Formalisten geprägte Dichotomie " Fabel " vs. "Sujet·�. Dieses binäre Mo dell hat in der Literaturwi sssp.m:r.hllft VPl'�f'h; ..rI ..n .... T li n ,i o.. " ' '''; 'n " n_1.. ! __
224
V. Die narrativen Transfonnationen
tung gefunden und ist zum Ausgangspunkt zahlloser narratologischer Modelle geworden J . Im Rahmen des Formalismus ist die Dichotomie allerdings auf unterschiedliche Weise definiert worden. Im Folgenden seien die wichti gsten Ansätze betrachtee. b) V. Sklovskij Viktor Sklovskij beabsichtigte nicht, eine narratologische Theorie zu ent
werfen öder auch nur eine Differenzierung narrativer Ebenen vorzuneh men. Sein Interesse galt ausschließlich dem Sujet, wobei dieser Begriff für ihn in den meisten Fällen nicht ein fertiges Produkt, etwa das Resultat von Transformationen bedeutete, sondern eine Energie, den Prozess der künstlerischen Konstruktion, ein Moment der " Form" : . .
[ . ] das Sujet und die Sujethaftigkeit sind eine ebensolche Fonn wie der Reim. (S klovskij 1 9 1 9, 1 08) Das Sujet ist ein Phänomen des S tils, der kompositionelle Aufbau des Werks. (S klov skij 1 928, 220) Die Methoden und Verfahren der Sujetfügung sind analog und im Prinzip identisch mit den Verfahren etwa der Lautinstrumentierung. Wortkunstwerke stellen ein Ge-
Die wichtigsten metatheoretischen Arbeiten sind : Volek 1 977; 1985; Hansen-Löve 1 978, 238-263; Garcia Landa 1 998, 22-60 . In der russischsprachigen Wissenschaft sind der systematischen und literarhistorischen Erforschung der Fabel-Sujet-Dichotomie be sonders die Sammelbände der in Daugavpils (Lettland) herausgegebenen Reihe Vopro sy sjuzetoslozenija ("Fragen des Sujetbaus") gewidmet. Vgl. bes. Cilevi(! 1 972; Egorov u .a. 1 978. 2 In der Sujettheorie können einen gewissen Einfluss auf den Russischen Fonnalismu s die Arbeiten deutscher Philologen zur Komposition literarischer Texte gehabt haben. In erster Linie sind hier zu nennen: Otmar Schissei von Fleschenberg, Bemhard Seuffert und Wilhelm Dibelius. In W . Dibelius' ( 1 9 10) Englischer Romankunst findet sich der Ansatz eines systematischen Modells der narrativen Struktur, der aus heutiger Warte ein frühes idealgenetisches Modell darstellt (DoleZeI 1 973b). Zu den Beziehungen zwi schen der deutschen und der russischen Komposi ti,onstheorie vgl. DoleZeI 1 973b; Han sen-Löve 1 978, 264-267; Dolezel 1 990, 1 24- 1 46. In den zwanziger Jahren haben be reits Viktor Z innunskij ( 1 927) und besonders Rozalija S or (1 927) auf die deutsche Kompositionstheorie hingewiesen. Letztere, auf die sich DoleZeI stark stützt, tendiert in ihrem Bericht über die "deutschen Formalisten"i freilich dazu, das Verdienst der sehr kritisch betrachteten russischen Formalen Schule zu schmälern . Vgl. dazu jetzt Aumül ler 2005, der den Einfluss der deutschen Theoretiker deutlich relativiert.
1 . "Fabel" und "Sujet" im russischen Formalismus
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ilecht von Lauten, von Artikulationsbewegungen und Gedanken dar. (S klovskij 1 9 1 9, 3 106; Hervorhebung im Origina!)
Die klassische Definition des Verhältnisses von Fabel und Sujet gibt Sklovskij wie beiläufi g im Aufsatz zu Sternes Tristram Shandl: Den Begriff Sujet verwechselt man allzu häufig mit der Beschreibung von Ereignissen, also mit dem, wofür ich den Begriff Fabel vorschlage. In Wirklichkeit ist die Fabel nur Material für die Sujetformung. Somit ist das Sujet von Eugen Onegin nicht die Romanze des Helden mit Tat'jana, sondern die sujetmäßige Verarbeitung dieser Fabel, erreicht durch die Einschaltung von unterbrechenden Abschweifungen. (S klovskij 1 9 2 1 a, 296-298; Hervorhebung im Original)
Sklovskij suchte die Ästhetizität ausschließlich in den Akten der For mung und schätzte die ästhetische Relevanz des zu fonnenden Materials äußerst gering ein. Das Sujet als Fonnungsakt bedeutete für Sklovskij eine verfremdende Deformation der Fabel . Kunst war, wie der program matische Titel von Sklovskijs bekanntem Essay ( 1 9 17) postulierte, "Ver fahren" , und die Verfahren des Sujetbaus bestanden vor allem in jenen Techniken des Parallelismus, der Wiederholung, des "Stufenaufbaus" , der "Zerkleinerung" oder der "Bremsung", die eine "Verfremdung der Dinge" und eine "erschwerte Form" bewirkten (Sklovskij 1 9 17, 14). Gegenstand der Wahrnehmung, die erschwert und - als "Selbstzweck in der Kunst" verlängert werden sollte, waren die erschwerenden Fonnungsakte selbst, das - wie Sklovskij in einem schönen Bild fonnulierte - "Tänzeln hinter dem Pflug"S oder das "Machen einer Sache"6. Die in der Formung bear beitete Substanz, etwa "die Welt der Emotionen, der seelischen Erleb nisse" (Jakobson 1 92 1 , 32) oder Eugen Onegins "Romanze mit Tat'jana" (Sklovskij 1 92 1 a, 299), wurde zur bloßen "Motivierung" der Verfahren, zum "Mittel der Rechtfertigung" (Jakobson 1 92 1 , 32) degradiert und das 3
Die deutsche Fassung der Zitate aus S klovskijs Essays folgt, soweit letztere dort abge druckt sind, den Texten der russischen Fonnalisten, Bd. 1 (Striedter [Hg .] 1 969). In einzelnen Fällen wird jedoch von der dort angebotenen Übersetzung abgewichen . 4 Mit seiner Dichotomie hat S klovskij zwei Begriffe, die ursprünglich gleichermaßen den erzählten Stoff, die erzählte Handlung bezeichneten, in eine Opposition gebracht (v gl. Volek 1 977, 1 42). 5 "Auch der Tanz ist ein Gehen, das man empfindet; noch genauer, ein Gehen, das so an gelegt ist, dass man es empfindet. Und so tänzeln wir hinter dem Pflug; das geschieht, weil wir pflügen, aber den gepflügten Acker brauchen wir nicht" ( S klovskij 1 9 19, 36). "Weil wir pflügen" heißt hier: "weil wir das Empfinden des Pflügens genießen". 6 ,,[ . . . ] die Kunst ist ein Mittel, das Machen einer Sache zu erleben; das Gemachte hingegen ist in der Kunst unwichtig" (S klovskij 1 9 17, 1 4).
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V . Die narrativen Transformationen
aus der Formung hervorgehende Produkt, das "Gemachte" , "der gepflügte Acker" , lapidar als "nicht wichtig" abgetan. Sklovskij gab immer wieder zu verstehen, dass er das Sujet nicht als Substanz dachte, etwa als ge formten Inhalt oder als das Produkt der Anwendung von Verfahren auf die Fabel, ja, er unterstrich sogar die Irrelevanz der Inhaltskategorie für das Sujet: Für den Begriff "Inhalt" findet sich bei der sujetbezogenen Analyse eines Kunstwerks keinen Bedarf. Die Form muss man hierbei als Konstruktionsgesetz des Gegenstands 1 begreifen. (S klovskij 1 9 1 9, 1 08)
Dieses "Konstruktionsgesetz des Gegenstands" nimmt bei Sklovskij den Charakter einer autonomen abstrakten Kraft an. Das Sujet bearbeitet nicht einfach ein bestehendes, fertiges, vorgegebenes Material , dessen Direktiven es folgt. "Auf der Grundlage von besonderen, noch unbekann ten Gesetzen der Sujetfügung" (ebd. , S. 43) sucht es sich vielmehr aktiv aus dem Repertoire der ewig bestehenden Motive einzelne aus und ver bindet sieB. Sklovskijs Vorstellung von der Ei gentäti gkeit des Sujets , die nirgendwo expliziert ist, wird deutlich am Beispiel der Einführung von thematischem Material in die Volksdichtung aufgrund des künstlerischen Erfordernisses von Verfahren wie "Stufenbildung" und "Bremsung" : Hier können wir eine in der Kunst übliche Erscheinung beobachten: eine bestimmte Form sucht eine Ausfüllung, ähnlich wie in lyrischen Gedichten Klangflecken durch Wörter ausgefüllt werden . (S klovskij 1 9 1 9 , 60)
In Sklovskijs radikaler Konzeption werden Handlungsmomente in ein Werk nicht aufgrund ihres lebensweltlichen, ethischen, philosophischen Gehalts eingeführt, sondern weil die Sujetkonstruktion sie erfordert: "Die 1
Den letzten Satz hat der Autor erst in der Version hinzugefügt, die in der Theorie der Prosa ( S klovskij 1 929, 60) abgedruckt wurde. Abweichend von der deutschen Version in S triedter (Hg.) 1 969 übersetze ich russ. predmet mit "Gegenstand" und nicht mit "Thema". 8 Wie sehr kompositionelle Bedürfnisse sogar die Einführung von Figuren leiten können, illustriert S klovskij mit Hilfe eines Briefes von Lev Tolstoj (vom 3 . 5 . 1 865) an eine Dame, die den Romancier gefragt hatte, wer Andrej Bolkonskij sei . Bolkonskij sei niemand, antwortete ihr Tolstoj. Zu Beginn des .Romans habe er den Tod eines glän zenden jungen Mannes gebraucht. Aus Gründen :der Ökonomie ("weil es unangebracht ist, eine mit dem Roman nicht verbundene FigJlr zu beschreiben") habe er den glän zenden jungen Mann zum Sohn des alten Bolkbnskij gemach t, und es habe sich eine weitere Rolle für ihn im Roman gefunden . Deshalb habe er ihn begnadigt, indem er ihn nicht sterben , sondern nur schwer verwundet sein ließ . (Sklovskij 1 9 1 9 , 97-99)
1 . "Fabel" und "Sujet" im russischen Formalismus
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Sujetkonstruktionen wählen Fabelsituationen aus, die zu ihnen passen, und deformieren damit das Material" (Sklovskij 1 928, 220): Bestimmte Fabelsituationen können nach Sujetprinzipien ausgewählt werden, d. h . in ihnen selbst kann eine bestimmte Sujetkonstruktion angelegt sein, ein Stufenaufbau, eine Inversion, eine Ringkonstruktion. So haben gewisse S teinsorten einen Schichten aufbau und sind deshalb besonders geeignet für bestimmte Plattenmuster. (Sklovskij 1 928, 220)
Die Gesetze der Sujetkonstruktion, auf die, wie Sklovskij konstatiert, die Menschen üblicherweise nicht achten, da ihre Aufmerksamkeit ganz von der Suche nach " Lebenswelt, Seele und Philosophie" (Sklovskij 1 9 1 9, 65) eingenommen wird, zielen auf die "Herstellung wahrnehmbarer Werke" (ebd. , 97). Die Wahrnehmbarkeit aber wird durch die Neuheit der Fonn garantiert: Eine neue Form entsteht nicht, um einen neuen Inhalt auszudrucken, sondern um eine alte Form abzulösen, die ihren Charakter als künstlerische Form bereits verloren hat. (Ebd., 5 1 )
Insofern Sklovskij dazu tendierte, den Begriff der Form mit dem Be griff des ästhetisch Wirksamen gleichzusetzen, vernachlässigte er nicht nur die Substanz der "Fabel , sondern auch ihre eigene Gefonntheit. Die Fonn der Fabel wurde als vorgegebene Eigenschaft des Materials betrach tet. Sie erschien nicht als Resultat künstlerischer Tätigkeit. Unsere Rekonstruktion der am ehesten formalistisch zu nennenden Version der Fabel-Sujet-Dichotomie soll nicht vergessen machen , dass Sklovskij schon in seiner frühen Phase seine Schlüsselbegriffe keines wegs konsequent verwendet. Insbesondere der Sujetbegriff wird von ihm nicht selten im konventionellen Sinn gebraucht, als Synonym für Fabel oder als Bezeichnung des Resultats der Anwendung der Verfahren. Der Überblick über Sklovskijs Fabel-Sujet-Konzept macht deutlich, warum sich die formalistische Dichotomie in der Praxis der Werkanalyse als schwer anwendbar erweist: Der Grund ist nicht nur die Uneindeu tigkeit der Begriffe, sondern auch der Antisubstantialismus des fonna listischen Denkens. Wie "Fabel" auch aufgefasst wurde, immer bedeutete der Begriff etwas Untergeordnetes, dessen raison d'etre sich darin er schöpfte, einem verfremdenden Sujet afs Grundlage zu dienen. Die Fabel war für die Fonnalisten nur wichtig als das zu Überwindende, als eine Ordnung, die der deformierenden Neuordnung Widerstand entgegensetzte und damit letztlich nur die "Wahrnehmbarkeit" der diesen Wi derstand überwindenden Verfahren, d. h. des Sujets, steigerte, aber sie wurde nicht
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V . Die narrativen Transfonnationen
als eigene phänomenale Gegebenheit betrachtet. Sobald die Verfahren wahrgenommen werden, kann der Leser nach der Konzeption der Forma listen jenes Material vergessen, das ihrer Manifestation diente. Der radikale Antisubstantialismus ihres Denkens verstellte den Forma listen den Blick auf den künstlerischen Eigenwert, die "Gemachtheit" und den semantischen Gehalt der zu transformierenden Fabel. Er hinderte sie auch daran , Fabel und Sujet als unterschiedlich geformte Substanzen zu betrachten, deren Inkongruenz - verbunden mit der aus ihr resultierenden Spannung - sich über den bloßen Verfremdungseffekt hinaus in neuen thematischen Sinnpotentialen niederschlägt9• c) M. Petrovskij Michail Petrovskij lO kehrt in seinen Arbeiten zur Komposition der Novel le ( 1 925 ; 1 927) die Bedeutung der von Boris Ejchenbaum ( 1 92 1 ) über nommenen Begriffe "Fabel" und "Sujet" völlig um. Was Ejchenbaum im Gefolge Sklovskijs "Fabel" nennt, heißt bei Petrovskij "Sujet" , und was Ejchenbaum als "Sujet" bezeichnet, figuriert bei Petrovskij als "Fabel" : Ich möchte das Wort SI/jet im Sinne des Stoffs des Kunstwerks gebrauchen. I? as Sujet ist gewissennaßen das System der Ereignisse, der Handlungen (oder ein einzelnes ein faches oder komplexes Ereignis), das dem Dichter in einer bestimmten Formung vor lag, die allerdings noch nicht das Resultat seiner eigenen individuellen schöpferischen Arbeit ist. Das poetisch bearbeitete Sujet möchte ich mit dem Terminus Fabel be zeichnen . (Petrovskij 1 925, 1 97 ; Hervorhebung im Original)
Wichtig ist hier freilich nicht so sehr, dass bei Petrovskij "Fabel" und "Sujet" ihre Plätze tauschen. Entscheidend ist vielmehr, dass in Pe9
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Unter den Fonnalisten im engeren Sinne hat Jurij Tynjanov ( 1 927a, 548-55 1 ) eine eigene Konzeption von Fabel und S ujet entworfen. Er verwirft verbreitete Definitionen der Fabel ("statisches Schema der Beziehungen"" "Schema der Handlungen") und schlägt eine Dichotomie vor, die er in Analogie zum Verhältnis von Metrum und Rhythmus setzt: Die Fabel i st danach der ..gesamte semantische (bedeutungsmäßige) Grundriss der Handlung", das Sujet seine ..Dynamik, wie sie aus der Wechselwirkung aller Verknüpfungen des Materials (unter andenn auch der Fabel als der Handlungsver knüpfung) resultiert - der stilistischen Verknüpfung, der Handlungsverknüpfung usw ." Diese Definition löst freilich die Zuordnung der beiden Begriffe auf. Die Fabel steht für die dargestellte Welt, das Sujet für die Struktur des Werks. Es handelt sich nicht mehr ' um eine Opposition, sondern um eine Inklusion:, Die Fabel wird zu einer Komponente k des S ujets (vgl. auch Todorov 1 97 1 a, 16 f. ; Vole 1 977, 1 45 f.). M. Petrovskij gehörte nicht zum inneren Kreis !der russischen Formalisten, sondern wie auch Boris Toma§evskij, Viktor Zinnunskij und Aleksandr Refonnatskij - zur Pe ripherie, zu den Vertretern der sogenannten Kompositionstheorie.
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1 . .Fabel" und ,.sujet" im russischen Formali smus
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trovskijs Definition eine auf den ersten Blick unbedeutende, in Wirklich keit aber höchst charakteristische Verschiebung der Intensionen statt gefunden hat. Während Sklovskij seinen Sujetbegriff meistens in Ka tegorien der Form oder Formung ("Bearbeitung", "Formgebung") defi niert, bezeichnet Petrovskij mit seinem äquivalenten Fabelbegriff eine Substanz, den "poetisch bearbeiteten Stoff". Und noch eine zweite Ver schiebung der Begriffsinhalte ist zu registrieren: Das "Sujet" (in Petrov skijs Begriffsverwendung) liegt, auch wenn es das Ausgangsmaterial für den individuellen kreativen Akt bildet, dem Dichter nicht als amorphes Material vor, sondern als etwas, das schon auf eine bestimmte Weise ge formt ist, als "System der Erei gnisse". In seinem Aufsatz zur Morphologie der Novelle ( 1 927) setzt Petrov skij die Fabel-Sujet-Dichotomie (mit der ihm eigenen Umkehrung der Inhalte) in Relation zu der aus der Rhetorik stammenden Differenzierung von Disposition und Komposition. Im Erzählen ist, so fordert Petrovskij, die "Reihenfolge der Bewegung des Sujets und die Reihenfolge seiner Darbietung" zu unterscheiden. Die erstere werde als Disposition, die letz tere als Komposition bezeichnet 1 I. Das Sujet könne aus seiner Darbietung abstrahiert werden, indem man die kausal-temporale Folge des Lebens wiederherstelle. Deshalb sei seine Struktur (die Disposition) nicht von besonderem Interesse: Es ist klar, dass die künstlerische Struktur der Novelle organisch mit ihrer Komposi tion verbunden ist, mit der Technik der Darbietung, d. h. mit der Entfaltung ihres Su jets. (Petrovskij 1 927, 73)
Obwohl Petrovskij der Komposition die künstlerische Priorität zu spricht, erkennt er, anders als Sklovskij , dem Material der Darbietung (in seiner Begrifflichkeit: dem Sujet) immerhin eine eigene Strukturiertheit zu. Das "Sujet" ist das "Leben", aber nicht das Leben in seiner ganzen Fülle, sondern das "umgestaltete Leben": 11
Mit der Dichotomie Disposition vs. Komposition arbeitete die deutsche Kompositions theorie der zehner Jahre. Rozalija S or verweist auf eine Arbeit von Otmar Schissei von Fleschenberg ( 1 9 1 0), in der der Kompositionsanalytiker die Komposition als ästheti sche Anordnung des Inhalts der Disposition als der logischen Entwicklung der Ereig nisse gegenüberstellt. In einer späteren Arbeit betrachtet Schissei als Disposition auch die kanonisierte Komposition, die Merkmal einer bestimmten Gattung geworden ist (S or 1 927, 1 33). Von hier ergibt sich eine Verbindung zum formalistischen Theorem , demzufolge das automatisierte Sujet eines Werks oder einer Gattung zur Fabel eines neuen, verfremdenden Sujets werden kann .
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V. Die narrat iven Transfonnationen . .
Das Sujet ist immer eine Umgestaltung des Lebens, das sein Rohmaterial bildet. [ . ] Vor allen Dingen ist das Sujet eine Auswahl. (Petrovskij 1 927, 72)
d) L. Vygotskij Der Reduktionismus, der der formalistischen Fabel-Sujet-Dichotomie in härent ist, tritt besonders deutlich in den quasiformalistischen Werkana lysen zutage, in denen die Kategorien der Formalisten adaptiert werden, ohne von einem - alle Reduktionen letztlich kompensierenden - genuin formalistischen Erkenntnisinteresse geleitet zu sein. Ein aufschlussreicher Katalysator, der den Reduktionismus der forma listischen Fabel-Sujet-Dichotomie bloßlegt, ist Lev Vygotskijs exemplari sche Analyse von Ivan Bunins Novelle Leichter Atem (Legkoe dychanie) (Vygotskij 1 925 ; dt. 1 976) . In seinen theoretischen Ausführungen, die in der Psychologie der Kunst der Analyse von Bunins Novelle vorausgehen ( 1 965 , 69-9 1 ) , kritisiert und korrigiert Vygotskij die Prämissen des For malismus l2• In unserem Zusammenhang ist besonders interessant, dass er die Extension des Formbegriffs und der künstlerischen Tätigkeit auf die Konstitution der Fabel erweitert und den Eigenwert des Materials für die ästhetische Wirkung des Kunstwerks unterstreicht: .
[ . . ] das Thema oder Material der Konstruktion erweisen sich als keineswegs gleich gültig für die psychologische Wirkung des gesamten I
Wie Petrovskij so betont auch Vygotskij , dass die Fabel oder Disposi tion nicht mit dem Leben zusammenfalle, sondern bereits Resultat einer künstlerischen Bearbeitung sei . Wie der Kompositionstheoretiker hebt auch der Psychologe das Moment der Auswahl hervor und unterstreicht die künstlerische Relevanz dieses Aktes: Der bequemen Gedankenführung halber sind wir davon ausgegangen, dass wir die Disposition als das natürliche Moment der Komposition als dem künstlichen Moment gegenübergestellt haben, wobei wir vergaBen, dass die Disposition selbst, das heißt die Auswahl der zu gestaltenden Fakten, bereits ein schöpferischer Akt ist. [ . ] Genauso wie der Maler, der einen Baum malt, durchaus nicht jedes einzelne Blatt malt [ . ] , ge nauso bearbeitet auch der Schriftsteller, der nur das von den Ereignissen auswählt, was . .
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Das Verhältnis von Vygotskijs Psychologie der Kunst (deren Teile zwischen 1 9 1 5 und 1 922 entstanden sind) zum russischen Fonnalismu s ist nicht ganz eindeutig. Trotz sei ner expliziten Kritik des Fonnalismus modelliert N'ygotskij die Psychologie der ästheti schen Reaktion ganz in der Nomenklatur des Fonnalismus. Inwieweit den gleichen Tennini gleiche Konzepte zugrundeliegen, müsste im einzelnen geplÜft werden.
1 . "Fabel" und "Sujet" im russischen Formalismus
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er benötigt, das aus dem Leben stammende Material sehr stark und stellt es um. (Vy gotskij 1 925, 206; dt. 1 976, 1 86 f.)
Gleichwohl bleibt Vygotskijs werkanalytischer Zugriff - offensicht lich im Bann des formalistischen Modells - auf charakteristische Weise insuffizient!3. Vygotskij führt die ästhetische Wirkung der Novelle auf den "dialektischen Widerspruch" , den "Kampf' zwischen "Inhalt" und "Form" , auf die (Schillersche) "Vernichtung des Inhalts durch die Form" zurück. Als "Inhalt" oder "Material" betrachtet er die "Fabel" , d. i. das vorliterarische Geschehen, "alles das, was der Dichter fertig übernommen hat: die Alltagsverhältnisse, die Geschichten, die konkreten Fälle, die Lebensumstände, die Charaktere, also alles, was vor der Erzählung exis tierte". "Form" ist für Vygotskij das "Sujet" , d. i. die "Überarbeitung" und " Überwindung" des Materials durch seine "Anordnung nach den Ge setzen einer künstlerischen Konstruktion ( 1 925 , 1 87; dt. 1 976, 1 68). Die ästhetische Wirkung der Novelle Bunins beruht nach Vygotskij auf der Spannung zwischen den divergierenden "Strukturen" des "Materials" und der "Erzählung" . Während die "Struktur des Materials" (die mit der "Dis position" , der "Anatomie" und dem "statischen Schema der Konstrukti on" identifiziert wird) die Ereignisse in ihrer "natürlichen Anordnung" (dem ordo naturalis der Rhetorik) enthält, bringt sie die "Struktur der Er zählung" (oder die "Komposition", die "Physiologie", das "dynamische Schema der Komposition") in eine "künstliche Ordnung" (ordo artificia lis). Die Umstellung der Teile des "Materials" ändert - und das ist Vy gotskijs entscheidendes Argument - den "Sinn" und die "emotionale Be deutung" , die dem Material an sich zukommen. (Auch wenn Vygotskij noch auf weitere Verfahren verweist, insbesondere den Benennungsakt und die Perspektivierung, reduziert er die Leistungen des "Sujets" prak tisch auf die Umstellung.) In Bunins Novelle ruft das erzählte Geschehen nach Vygotskijs Auffassung an sich einen düsteren, äußerst abstoßenden Eindruck hervor; das " Material" verkörpert für sich genommen den Sinn "Bodensatz des Lebens" , und diesen affektiven Grundton verstärkt der Autor (sie !) in seiner Darbietung durch "grobe und harte Ausdrücke" , die die ungeschminkte Wahrheit des Lebens bloßlegen". (Vygotskij nennt mit diesen Qualitäten der erzählerischen Präsentation - methodisch inkonse quent - bereits Verfahren des Sujets ! ) Als ganze vermittelt die Erzählung 13
Vgl. die interessanten Arbeiten von Alexander Zholkovsky ( 1 992; 1 994), in denen Vy gotskijs "glänzende" Abhandlung als " Überintelpretation einer unvollständigen S truk turanalyse" kritisiert wird.
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V . Die narrativen Transfonnationen
in Vygotskijs Deutung den genau entgegengesetzten Eindruck: "das Ge fühl der Befreiung, der Leichtigkeit, der Unbeschwertheit und völligen Durchsichti gkeit des Lebens, das man ganz unmöglich aus den Ereignis sen ableiten kann, die ihr zugrunde liegen" ( 1 925 , 1 99; dt. 1 976, 1 80). Seine radikale Umtönung verdankt das Material , das substantiell dasselbe bleibt, in der Interpretation Vygotskijs ausschließlich der Permutation seiner Teile: "Die Ereignisse sind so verbunden und verkettet, dass sie ihre Lebensschwere und undurchsichtige Trübe verlieren" ( 1 925 , 200 ; dt. 1 976, 20 1 ). Offensichtlich angeregt durch Jurij Tynjanovs ( 1 924a) Hinweis auf die semantische Funktion der poetischen Konstruktion, entwickelt Vygotskij in der ihm eigenen metaphemreichen Darlegungsweise den Ansatz zu einer Analyse jener semantischen "Doppelung" , die aus der simultanen Gegebenheit von Fabel und Sujet resultiert, einen Ansatz, den er im Wei teren allerdings nicht konsequent verfolgt: Die Wörter der Erzählung oder des Verses tragen ihren eigenen einfachen Sinn, ihr Wasser; die Komposition schafft über diesen Wörtern einen neuen Sinn, situiert dies alles auf einer anderen Ebene und verwandelt es in Wein. So ist hier die Alltagsge schichte von einer leichtsinnigen Gymnasiastin in den leichten Atem der Buninschen Novelle verw andelt. ( 1 925 , 20 1 )
In Vygotskijs Analyse beobachten wir zwei gravierende Reduktionen, die von der formalistischen Fabel-Sujet-Konzeption vorgegeben sind: 1 . Die "Materialernotion" wird funktional der "Formernotion" unterge ordnet. Die Qualitäten des Materials und ihre affektive Wirkung fungieren nur als mediales Substrat der sich auf ihnen aufbauenden finalen Form qualitäten. Damit führt Vygotskij sein theoretisches Bekenntnis zur Ei genwertigkeit des Materials in der Analyse ad absurdum. Der Finalein druck der Novelle ist für ihn doch nur das statische Resultat der Formung des Materials, jene "Leichtigkeit" , auf die der Titel der Novelle anspielt, nicht aber - wie es die dialektischen Prämissen erwarten lassen - die si- · multane Präsenz von Fabel und Sujet, die Dissonanz von "Lebensschwe re" des "Inhalts" und "Durchsichtigkeit" der Form, die komplexe Einheit einander widerstrei tender Wahrnehmungseindrücke. Vygotskij würdigt letztlich auch nicht das "Empfinden des Verlaufs [ . . ] der Wechselbezie hungen des unterordnenden, konstruktiven Faktors und der untergeordne ten Faktoren" , das von ihm in einem später�n Teil des Buchs ( 1 965 , 279) im Rekurs auf Jurij Tynjanov ( 1 924a, 40) PQstuliert wird. .
I . ,,Fabel" und "S ujet" im russischen Formalismus
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2. Vygotskij überschätzt eklatant die Sinnrelevanz der Komposition. Die kathartische Befreiung von der niederdrückenden Wirkung der erzählten existentiellen Momente resultiert in Bunins Novelle weniger aus der Um stellung der Teile im Sujet als aus der künstlerischen Organisation der Fabel selbst. Bereits die Fabel weist eine Organisation auf, die das exis tentiell "Entsetzliche" (Verführung, Verworfenhei t, Totschlag , Trauer usw. ) aus seinem unmittelbaren Bezug zur Lebenspraxis des wahrneh menden Subjekts herausreißt, die direkte Lebensrelevanz der Existentialia gleichsam einklammert und dem traurigen Geschehen eine leichtere Tö nung gibt, freilich ohne dass der tragische Grundton aufgehoben würde. Zu den Verfahren der Fabelorganisation, die einen solchen Effekt bewir ken, gehören in diesem Werk die komisch-zufallige Konstellation der Situationen, Protagonisten und Handlungen, vor allem die überraschenden Äquivalenzen zwischen den Personen: 1 . die thematischen Äquivalenzen , die von den verwandtschaftlichen Beziehungen der Personen, ihrer glei chen oder entgegengesetzten gesellschaftlichen Stellung und Sphäre, ihrer Ideologie und ihrem Verhalten gebildet werden, 2. die positionellen Äqui valenzen, die durch das Auftreten der Protagonisten an vergleichbarer Stelle in der Geschichte gegeben sind, 3 . die verbalen Äquivalenzen, die auf Wiederholungen in und zwischen den Personenreden zurückgehen (die ja Teile der Fabel sind und nicht erst im Sujet hinzutreten). Auch ohne Bunins Novelle hier im Einzelnen zu analysieren, können wir feststellen, dass die Dialektik von Tragik und Komik, von Schwere und Leichtigkeit bereits im "Material" fundiert ist. Die Sujetformung, in die neben der Permutation der Teile auch die Verbalisierung eingeht, profiliert lediglich die in der Fabel angelegte Simultaneität entgegenge setzter Emotionen. Wie bei den Formalisten geht bei Vygotskij die Unter schätzung der Sinnrelevanz der Fabel einher mit einer eklatanten Über schätzung der Leistungskraft des Sujets. e) B . Tomasevskij Boris Tomasevskij ist mit seiner Theorie der Literatur ( 1 925 ; 1 928a) der in der westlichen Literaturwissenschaft bei weitem am intensivsten rezi pierte russische Theoretiker der Fabel-Sujet-Dichotomie. Es stellt sich freilich die Frage, ob Tomasevskijs Position, die Todorov ( l97 1 a, 15) als "wesentlich kohärenter als Sklovskijs" qualifiziert und die oft als das letz te, "kanonische" (Volek 1 977, 142) Wort des russischen Formalismus zum Fabel-Sujet-Problem betrachtet wird, tatsächlich noch genuin forma-
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V . Die narrativ en Transformationen
listisches Denken repräsentiertl4• Immerhin aber attestiert Sklovskij in sei nem Buch Material und Stil in Tolstojs " Krieg und Frieden " ( 1 928, 220), dass Tomasevskij "ziemlich genau" seine, Sklovkijs, Definition des Un terschieds von Fabel und Sujet angeführt und nur wegen des Lehrbuch charakters der Theorie der Literatur in beiden Auflagen nicht den Urhe ber der Definition genannt habe. Tomasevskij entwickelt seine Defini tion in zwei Ansätzen. Der erste Ansatz wird ab der vierten Auflage von 1 928 (Tomasevskij 1 928a; dt. 1 985) etwas anders formuliert als in der ersten Auflage von 1 925 . Wir betrachten zunächst den ersten Ansatz. Die Fabel wird in der Ausgabe 1 925 auf folgende Weise definiert: Fabel heißt die Gesamtheit der miteinander verknüpften Ereignisse, von denen im Werk berichtet wird. Die Fabel kann pragmatisch dargestellt werden, in der natür lichen chronologischen und logischen Ordnung der Ereignisse, unabhängig davon, in welcher Ordnung und wie sie im Werk eingeführt worden sind. (Tomakvskij 1 925, 1 37)
Das Sujet wird hier noch vage als eine Umorganisation von "Ord nung" und " Verknüpfung" definiert: Der Fabel steht das Sujet gegenüber: dieselben Ereignisse, aber in ihrer künstlerischen Darbietung , in jener Ordnung, in der sie im Werk mitgeteilt werden, in jener Ver knüpfung, in der im Werk Mitteilungen über sie gemacht werden. (Tomasevskij 1 925, 1 37 ; Hervorhebung im Original)
In der Auflage von 1 928 wird für die Fabel der Aspekt der Reihenfol ge durch den der Verknüpfung ersetzt: Das Thema eines Werks mit Fabel steHt ein mehr oder weniger einheitliches System von Ereignissen dar, die auseinander hervorgehen und miteinander verknüpft sind. Die Gesamtheit der Ereignisse in ihrer wechselseitigen inneren Verknüpfung nennen wir Fabel. (Tomakvskij 1 928a, 1 34)
Die Fabel wird in dieser Aufl age also nicht mit dem vor-literarischen Stoff identifiziert, sondern sie bildet bereits eine gewisse Abstraktion vom Kontinuum der Ereignisse mit dem Merkmal der Verknüpfung. In der Auflage von 1 928 bleibt auch die Definiti()n des Sujets zunächst noch recht unbestimmt: 14
Hansen-Löve ( 1 978, 268) sieht TomaSevskijs O rientierung am Thema als dem vereini genden Prinzip der Konstruktion zu Recht "in sdharfem Widerspruch" stehend sowohl zum Immanentismu s des frühen "paradigmatischen" ModeHs des Formalismus als auch zu seinen späteren syntagmatischen und pragmatischen ModeHen.
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1 . Fabel" und .. Sujet" im russischen Formalismus
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Es reicht nicht, eine unterhaltsame Kette von Ereignissen zu erfinden und sie durch Anfang und Ende zu begrenzen. Man muss diese Ereignisse verteilen, sie in eine be stimmte Ordnung bringen, sie darstellen , indem man aus dem Fabelmaterial eine lite rarische Kombination macht. Die künstlerisch organisierte Verteilung der Ereignisse in einem Werk heißt Sujet. (Tomaäev skij 1 928a, 1 36; Hervorhebung im Original)
Der zweite Ansatz zur Definition von Fabel und Sujet bedient sich in heiden Auflagen der Theorie der Literatur des Motivbegriffs. Motive werden die kleinsten nicht weiter zerlegbaren Teile des thematischen Ma terials genannt (Tomasevskij 1 925 , 1 37). Die Fabel ist die Gesamtheit der Motive in ihrer logisch-kausalen Verknüpfung, das Sujet die Gesamtheit derselben Motive in jener Reihenfolge und Verknüpfung, in der sie im Werk präsentiert werden. Für die Fabel ist es nicht wichtig, in welchem Teil des Werks der Leser von einem Ereignis erfährt und ob es ihm in unmittelbarer Mitteilung des Autors präsentiert wird oder in der Erzählung einer Person oder durch ein System von Anspielungen. Im Sujet dagegen spielt gerade die Einführung der Motive in das Wahrnehmungsfeld des Lesers eine Rolle. (Tomaäevskij 1 925, 1 3 8 ; dt. 1 985, 2 1 8)
Die bei Petrovskij zu beobachtende Tendenz, die Fabel als etwas bereits Gestaltetes zu betrachten , finden wir auch bei Tomasevskij . Das Her stellen einer logisch-kausalen Verknüpfung, die ja nicht in der Wirk lichkeit selbst vorgefunden wird, ist bereits ein künstlerischer Akt. Die Grenze zwischen Vor-Literarlzität und Literarizität wird auch bei Toma sevskij anders gezogen als bei Sklovskip. Während letzterer die Fabel meistens mit dem ästhetisch indifferenten, vorliterarischen Geschehen gleichsetzt, erkennt Tomasevskij der Fabel, zumindest implizit, einen künstlerischen Charakter zu. Das Sujet wird von Tomasevskij in zweierlei Hinsicht der Fabel gegenübergestellt: Es ist einerseits das Resultat der Umstellung und der künstlerischen Verknüpfung der von der Fabel vor gegebenen Motive, anderseits aber präsentiert es die künstlerisch organi sierte Folge der Motive aus einer bestimmten Perspektive. Im Kurzen Kurs der Poetik, einer weniger bekannten Abhandlung für den Schulgebrauch, nennt Tomasevskij ( 1928b, 87) die Fabel "alle Ereig nisse, die mit dem Grundgeschehen verbunden sind, das gesamte Verhal ten und alle Handl ungen der Personen, die an der Handlung teilhaben". Damit geht er im Grunde wieder hinter die Definitionen aus der Theorie der Literatur zurück, die mit der V erknüpfung der Moti ve operierten. Für das Sujet, das zunächst unter dem Aspekt der "Anordnung der Episoden" definiert wird , stellt er, konkreter als in der Theorie, einen Katalog von 6 15
V gl. die Typologie der formalistischen Fabel-Sujet-Definitionen hinsichtlich der Di chotomie Literarizität vs. Vor-Literarizität bei Todorov 1 97 1 a, 1 7 .
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V. Die narrativen Transfonnationen
Operationen auf, die der Autor vorzunehmen habe. Der Autor habe zu entscheiden: 1 . welche Fabelereignisse ausführlicher, "in Szenen" , und welche "abstrakt" dargestellt werden sollen, 2. in welche Reihenfolge diese Szenen und Mitteilungen gebracht werden sollen, 3 . in welchem Maße die Hintergründe der Ereignisse aufgeklärt wer den sollen, 4. wie die Beschreibungen und alles, was keinen direkten Bezug zur Bewegung der Fabel hat, angeordnet werden sollen, 5. welche Stellen herauszuheben sind und in welchem Ton die Er zählung gehalten werden soll, 6. wessen Perspektive die Erzählung zu folgen hat. Somit wird das Sujet zum "ausgearbeiteten Schema des Werks, im Ge gensatz zur Fa�el, die das "Schema des Ereignisses" (89) bildet. Dieser Katalog ist die am stärksten ausdifferenzierte Aufzählung der Sujetverfah ren, die die russische formalistische und quasiformalistische Theorie der zwanziger Jahre hervorgebracht hat. 2. Die Ü berwindung des fonnalistischen Reduktionismus
a) " Histoire" und "discours" im französischen Strukturalismus Auch die Ersetzung von Fabel und Sujet durch die Dichotomie recit vs. narration (Barthes 1 966) oder histoire vs. disco urs (Todorov 1 966) 1 6 löst das Problem der narrativen Konstitution nur zum Teil. Bei der Definition i hrer Kategorien rekurrierten die französischen Strukturalisten auf die didaktisch geglättete (indes um wesentliche, genuin formalistische Di mensionen verarmte) Konzeption Tomasevskijs17 und beriefen sich vor16
Die Dichotomie histoire vs. discours hat Todorov bei Emile Benveniste ( 1 959) ent lehnt, wo die Begriffe allerdings eine andere BedeQwng hatten. 17 Aus Toma�evskijs Theorie der Literatur ist auBerh alb Russlands v or allem das Kapitel Thematik mit den Ausführungen zu Fabel und S ujet rezipiert worden. Eine französische und eine englische Übersetzung bzw. TeilübersetZung des Kapitels sind 1 965 in Antho logien der russischen Fonnalisten erschienen (Toma�evskij 1 965a; 1 965b; vgl. auch Seemann 1 985). I
2. Die Ü berwindung des fonnali stischen Reduktionismus
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zugsweise auf seine bewusst vereinfachende Explikation in der' berühmten Fußnote der ersten Auflage der Theorie der Literatur, eine didaktische Erklärung , auf die Tomasevskij in den späteren Auflagen verzichtet hat: Kurz gesagt, die Fabel ist das, "was tatsächlich gewesen ist", das Sujet das, "wie der Leser davon erfahren hat" . (Tomasevskij 1 925, 1 37)
In offensichtlicher Anlehnung an Tomasevskij formuliert Tzvetan To dorov: Au niveau le plus general, l'a:uvre litteraire a deux aspects: elle est en meme temps une histoire et un discours. Elle est histoire, dans ce sens qu'elle evoque une certaine realite [ . . ]. Mais l ' a:uvre est en meme temps discours [ . . ]. A ce niveau, ce ne son t pas les evenements rapportes qui comptent, mais la fayon dont le narrateur nous "les a fait connaitre. (Todorov 1 966, 1 26) .
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Noch Seymour Chatman, der in seinem Buch Story and Discourse die prominentesten Ansätze der russischen Formalisten und französischen Strukturalisten zu "synthetisieren" sucht, reformuliert in seiner Basis definition Tomasevskijs Fußnote: In simple tenns, the st9ry is the what in a narrative that is depicted, discourse the how. 18 (Chatman 1 978, 1 9 ; Kursive im Original)
Trotz der Abhängi gkeit vom formalistischen Archi-Konzept und trotz der scheinbaren Homologie mit Fabel vs. Sujet impliziert die Dichotomie histoire vs. discours drei wesentliche Akzentverschiebungen, die zu einer adäquateren und analysetauglicheren Modellierung der narrativen Konsti tution beitragen: 1 . Die histoire wird vom Makel , bloßes Material zu sein, befreit, und ihr wird ein ei gener künstlerischer Wert zugestanden: "l ' histoire et le dis cours sont tous deux egalement litteraires" (Todorov 1 966, 1 27)19. 18
19
Ähnlich schon Meir Sternberg 1 974, 8 f.: "To put it as simply as possible, the fabula involves what happens in the work as (re)arranged in the ,objective' order of oc curence, while the sujet involves what happens in the order, angle, and patterns of pre sentation actually encountered by the reader" . Während Chatmans Dichotomie auf die Opposition von Inhalt und Fonn hinausläuft, werden in Sternbergs Interpretation von Fabel und Sujet zwei kookkurrente Ordnungen miteinander konfrontiert. In der Rehabili tierung der histoire tendieren einige Vertreter des französischen S truk turalismus freilich zu dem der einseitigen Favorisierung des Sujets entgegengesetzten Extrem: zum ausschließlichen Interesse für die Regeln, die die Konstitution der histoire leiten. Auch dafür gibt es ein Vorbild in der russischen Theorie der zwanziger Jahre: Vladimir Propps ( 1 928) Modell der Aktanten und Funktionen. Am augenfälligsten ist
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V. Die narrativen Transfonnationen
2. Während Sklovskij besonders auf den Parallelismus und den Stufen bau hinwies, schrieben Petrovskij , Vygotskij und Tomasevskij der Permuta tion der Fabelelemente die stärkste Wirkung unter den Sujetverfahren zu. Demgegenüber betonen die französischen Theoretiker die Verfahren der Amplifikation, Perspektivierung und Verbalisierung20• 3 . Während der Sujetbegriff bei den russischen Formalisten und den ihnen nahe stehenden Theoretikern in Kategorien der Form oder Formung ge dacht wurde, ist der Terminus discours mit einer substanzbezogenen Be trachtungsweise verbunden. Der Begriff bezeichnet nicht die Summe der angewandten Verfahren (wie Sujet bei Sklovskij), sondern das Resultat von künstlerischen Operationen. Dabei überschneiden sich im Begriff Diskurs zwei Aspekte: a. Der Diskurs enthält die Geschichte in transformierter Gestalt. b. Der Diskurs hat eine kategorial andere Substanz als die Geschichte: Er ist Rede, Erzählung, Text, der die Geschichte nicht einfach enthält und sie auch nicht lediglich umformt, sondern sie allererst als sein Signifikat be zeichnet, darstellt.
Somit ist der Begriff des Diskurses mit zwei ganz unterschiedlichen Ope rationen verbunden: 1 . der Transformation der Geschichte durch Um stellung der Teile oder andere Verfahren, 2. der Materialisierung der Ge schichte in einem sie bezeichnenden Text. Die beiden Operationen wer den im folgenden Schema dargestellt: _
Handlung (SignijikJJ t) Text (SignijikJJnt)
Transformation x
Geschichte
Diskurs
� MateriaIisierung im Signifikanten
Das Schema ist wie folgt zu lesen: Die vorsprachliche Geschichte wird in ein vorsprachliches x transformiert, das bei den französischen Theore tikern unbezeichnet bleibt. Die transformierte Geschichte wird dann ver bal (oder bildlich, filmisch usw . ) materialisiert. Das Resultat der Materia lisierung ist im Fall der Literatur der Disku�s. diese Tendenz i n den Arbeiten zur "narrativett Grammatik" (z. B. Bremond 1 964; Greimas 1 967 ; Todorov 1 969). 20 Zu den Punkten 1 und 2 vgl. auch Rimmon 1 976, 36. J
2. Die Ü berwindung des fonnalistischen Reduktioni smus
239
b) Drei-Ebenen-Modelle In der textanalytischen Arbeit erweist sich, dass jede zweistufige Model lierung entweder mit doppeldeutigen Ebenenbegriffen operiert oder die narrative Konstitution um ganze Dimensionen verkürzt. So wurde mit Fabel sowohl das gesamte im Erzählwerk implizierte Geschehensmaterial als auch die daraus ausgewählte Geschichte bezeichnet (selbst bei dem verhältnismäßig begriffsstrengen und konsequenten Tornasevskij scheint neben der dominierenden zweiten Bedeutung immer wieder auch die erste auf). Und im Sujet-Begriff fallen - wie dann auch im discours der Fran zosen, wie wir gesehen haben - zwei verschiedenartige Operationen zu sammen, Permutation und Verbalisierung. Wo aber die Ambivalenz der Begriffe beseitigt wird, wie etwa in Todorovs histoire-Begriff, der im Sinne der zweiten Bedeutung von Fabel definiert ist, verkürzt man die narrative Konstitution um die sie allererst begründende Operation, näm lich die Bildung der gestalthaften und sinnhaitigen Geschichte. Die mangelnde Eindeutigkeit und Erschließungskraft der dichotomi schen Konzepte21 war Anlass zur Ausarbeitung von Modellen mit mehr als zwei Ebenen22• Eines der am weitesten verbreiteten Drei-Ebenen-Modelle ist von Ge rard Genette in seinem Discours du ricit (1972) vorgeschlagen worden. Genette unterscheidet drei Bedeutungen von ricit: 1 . ,,1 ' enonce narratif, le discours oral ou ecrit qui assume la relation d'un evenement ou d' une serie d' evenements"; 2. "la succesion d' evenements, reels ou fictifs, qui font l 'objet de ce discours", 3. "l ' acte de narrer pris en lui-mame" ( 1972, 7 1 ). Den drei Bedeutungen weist er drei Termini zu: 1 . ricit, 2. histoire, 3 . narration (wobei ricit als Signifikant und histoire als Signifikat figu riert)23. Mieke BaI ( 1 977a, 6) merkt an, dass sich Genettes dritter Begriff auf einer anderen Ebene als die ersten bei den befinde. Während narration den Prozess der Aussage bezeichne, bedeuteten ricit und histoire das Produkt einer Aktivität. Narration gehöre in eine andere Reihe, nämlich in die der "activites productrices", die gebildet werde von narration , dis2
1
Die im angelsächsischen Bereich verbreitete Dichotomie von story und plot, w ie sie auf Forster 1 927 zurückgeht, ist nicht kongruent mit Fabel vs. Sujet oder histoire vs. dis cours, sondern komplementär zu diesen Oppositionen, vgl. Sternberg 1 974, 8-14. 22 Vgl. die Ü bersichten über die Modelle der narrativen Konstitution 'bei Garcia Landa 1 998, 1 9-60, Martinez/Scheffel 1 999, 22-26 und Pier 2003 . 2 3 Shlomit Rimmon-Kenan ( 1 983, 3) übernimmt diese Triade ins Englische: text - story narration.
240
V. Die narrativen Transformationen
position und invention. Damit unterscheide Genette i m Grunde nur zwei
Ebenen, nämlich die des russischen Formalismus24• Bal selbst schlägt eine etwas andere Triade vor: texte - reeit - histoire ( 1 977a, 4) oder, in der englischen Version: text - story - fabula ( 1 985, 56). Der Text ist in ihrem Verständnis der Signifikant der Erzählung (reeit, story) ; die Erzählung ist ihrerseits der Si gnifikant der Geschichte (his toire, fabula).
Auf ähnliche Weise unterscheidet Jose Angel Garcia Landa ( 1 998 , 1 9 f.) drei Ebenen für die Analyse des Erzähltextes: 1 . den "narrativen Diskurs" (discurso narrativo), 2. die "Geschichte" (relato), 3 . die "Hand lung" (acci6n). Unter " Handlung" versteht er die "Folge der erzählten Erei gnisse" . Die "Geschichte" ist die "Darstellung [representaci6n] der Handlung, sofern sie narrativ vermittelt wird" . Und der "Diskurs" ist die Darstellung der Geschichte. Ein wichtiger Schritt in der Entwicklung der narrativen Konsti tution war die von Karlheinz Stierle ( 1 97 1 ; 1 977) vorgeschlagene Triade Ge schehen - Geschichte - Text der Geschichte, die in der internationalen Diskussion allerdings weitgehend unbemerkt blieb. In dieser Triade ent sprechen die beiden ersten Ebenen dem formalistischen Fabelbegriff. Das "Geschehen" ist das in der " Geschichte" i mplizierte narrative Material , das , indem es zu einer Geschichte transformiert wird, einen bestimmten Sinn ausdrückt. (Eine ähnliche Differenzierung von Geschehen und Ge schichte liegt auch dem im fol genden vorgeschlagenen Vier-Ebenen Modell vor.) Durch die Unterscheidung von sinnhafter Geschichte und dem von ihr implizierten und interpretierten Geschehen weist Stierles Triade jene Ebene, die Sklovskij als ästhetisch indifferentes, vorgegebe nes Material erschien, als Resultat sinnbiIdender künstlerischer Operatio nen aus. Problematisch ist allerdings die Definition des "Textes der Ge schichte". Wie der präformierende Begriff des discours vereinigt "Text der Geschichte" zwei heterogene Aspekte: 1 . die Umstellung der Teile zu einer künstlerischen Gestalt, 2. die Manifestation der "Geschichte" im Medium der Sprache. Stierle sieht selbst, dass die bei den Operationen auf unterschiedlichen Konstitutionsebenen liegen, und trägt dem Rechnung durch die "behelfsmäßige" Differenzierung zwischen dem "translinguisti schen" "discours I (Tiefendiskurs)" und dein "discours 11 (Oberflächen diskurs)" , der die "zweifache Intentionalität von Geschehen und ,disI 24 Die Temarität des Genettesehen Modell wird dagegen verteidigt v on Fludemik 1 996,
334; Pier 2003 , 82.
24 1
2. Die Ü berwindung des fonnalistischen Reduktionismus
cours I ' durch ihre Materialisierung nach den Möglichkeiten einer gege benen Sprache einlöst" (Stierle 1 97 1 , 54). An Stierles zweifacher Be setzung des "Textes der Geschichte" hätte eine Korrektur anzusetzen, und sie müsste so verlaufen, dass sie die "behelfsmäßige" Unterscheidung von "Tiefendiskurs" und "Oberflächendiskurs" in eine systematische Diffe renzierung von zwei Ebenen überführt. Das folgende Schema gibt eine Übersicht über die besprochenen Zwei und Drei -Ebenen-Modelle. Die Spalten enthalten analoge, aber nicht not wendigerweise in jeder Hinsicht identische Begriffe. Tomasevskij 1 925
fabula
sjuzet
Todorov 1 966
histoire
discours
Genette 1 972
histoire
r6cit
story
text
Rimmon-Kenan 1 983 Bai 1 977
histoire
recit
texte
Ba1 1 985
fabula
story
text
Garcia Landa 1 998
acci6n
relato
discurso
Stierle 1 97 1
Geschehen
1
Geschichte
Text der Geschichte
3 . Die vier narrativen Ebenen
a) Das ideal genetische Modell Der Vergleich der Modelle führt zu dem Schluss, dass die Dichotomi e oder Triade der Begriffe durch ein Modell mit vier Ebenen ersetzt werden sollte. Ein solches Modell muss der je zwei wertigen Extension der Be griffe Fabel und Sujet oder histoire und discours Rechnung tragen. Im folgenden sei ein solches Konstitutionsmodell vorgestellt, das die Ebenen Geschehen, Gesch ichte, Erzählung und Präsentation der Erzählung um fasst: 1 . das Geschehen
Das Geschehen ist die amorphe Gesamtheit der Situationen, Personen und Handlungen, die im Erzählwerk explizit oder implizit dargestellt oder
242
V. Die narrativen Transfonnationen
logisch impliziert sind. Das so verstandene Geschehen bildet ein räumlich grundsätzlich unbegrenzbares, zeitlich unendlich in die Vergangenheit verlängerbares, nach innen unendlich zerkleinerbares und in unendlich vielen Eigenschaften konkretisierbares Kontinuum2s• Das Geschehen ent spricht dem formalistischen Fabelbegriff im Sinne Sklovskijs, aber es wird hier nicht gedacht als ästhetisch indifferentes Material , sondern als bereits ästhetisch relevantes Resultat der Erfindung, jenes Aktes , den die antike Rhetorik inventio oder E'ÜQEOLC; nannte. 2. die Geschichte Die Geschichte ist das Resultat einer Auswahl aus dem Geschehen. Sie konstituiert sich durch zwei Selektionsoperationen, die die Überfülle an materieller Komplexität und Sinnmöglichkeiten reduzieren und die Un endlichkeit des Geschehens in eine begrenzte, sinnhafte Gestalt über führen: 1 . Auswahl von bestimmten Geschehensmomenten (Situationen, Per sonen und Handlungen), 2. Auswahl von bestimmten Qualitäten aus der unendlichen Menge der den gewählten Momenten im Geschehen zuschreibbaren Ei genschaften. Die Geschichte umfasst also nichts anderes als die i m Text explizit dargestellten und mit bestimmten Eigenschaften versehenen Sachverhalte, die denotierten und qualifizierten Situationen, Personen und Handlungen. Die dargestellten Sachverhalte sind nur in jenen Eigenschaften Teil der Geschichte, die durch die im Text gegebenen expliziten Qualifizierungen konkretisiert werden. Alle äußeren und inneren Situationen, Handlungen 25 Das Geschehen eines jeden Werks ist theoretisch bei immer weiter in die Vergangen
heit zuruckreichenden inferierten Vorgeschichten bis zur Erschaffung der Welt verlän gerbar. Indes nimmt mit der Entfernung von den im Text explizit dargestellten Gesche hensmomenten die Relevanz des nur implizierten Geschehens ab. Die im Roman Anna Karenilla erzählte Geschichte impliziert zum Beispiel, dass die Titelheldin Bildung und Erziehung genossen hat, obwohl von ihrem Schulbesuch und der elterlichen Erziehung, ja überhaupt von den Eltern explizit nicht die Rede ist. Gleichwohl können bestimmte explizite Motive der erzählten Geschichte (die moralischen Reaktionen, das gesell schaftliche Verhalten, die literarische Lektüre der HeIdin) die Konkretisation des nur Implizierten sinnvoll machen (zu diesem Problem siehe weiter unten) . Aber die nach der logischen Implikation vorauszusetzenden Letiensgeschichten der Eltern und Groß eltern sind ohne jede Relevanz für den Roman und gehören deshalb praktisch nicht zu seinem Geschehen.
3 . Die vier narrativen Ebenen
243
und Qualitäten, die wir zu den dargestellten Sachverhalten hinzudenken können und oft auch müssen, also alles mehr oder weniger eindeutig Im plizierte verbleibt entweder endgülti g oder - in bestimmten Fällen, die weiter unter betrachtet werden - vorläufig in der Unendlichkeit der nicht gewählten Geschehensmomente und ihrer Qualitäten. Die so definierte Geschichte entspricht dem Fabelbegriff Tomasevskijs und der histoire Todorovs. In den Begriffen der antiken Rhetorik ist die Geschichte das Resultat der Disposition (dispositio, 't�LC;). Sie enthält die ausgewählten Geschehensmomente im ordo naturalis. 3 . die Erzählung Die Erzählung ist das Resultat der Komposition26, die die Geschehensmo mente in einen ordo artificialis bringt. Die wesentlichen Verfahren der Komposition sind: 1.
die Linearisierung des in der Geschichte simultan Geschehenden in einer Darbietungssequenz,
2. die Permutation der Segmente der Geschichte. Während das erste Verfahren in den verbalen Kunstformen obligatorisch ist, hat das zweite einen fakultativen Status. 4. die Präsentation der Erzählung Die Präsentation der Erzählung bildet die Phäno-Ebene (während die drei vorausgehenden Ebenen nur durch Abstraktion zu gewinnende Geno Ebenen sind), d. h. sie ist als einzige der Ebenen der empirischen Be obachtung zugänglich. In den Begriffen der Rhetorik ist sie das Resultat der elocutio oder der A.E;LC;. Das sie konstituierende Verfahren ist im Fall der literarischen Narration die Verbalisierung, d. h. die Wiedergabe der medial noch nicht manifestierten Erzählung im verbalen - und nicht etwa im filmischen, mimischen, tänzerischen, musikalischen oder figuralen Medium. Im folgenden Schema sind die vier Ebenen und ihre Beziehungen zu den Dichotomien Fabel vs. Sujet und histoire vs. discours dargestellt (das Symbol 0 bezeichnet die Geschehensmomente). 26
Die Lehre vom künstlerischen Aufbau der erzählten Geschichte fehlt im System der antiken Rhetorik. Der Begriff der compositio (ow8Ttx1J) figuriert in der Antike nicht als Lehre vom Aufbau der Handlung, sondern bezeichnet die Lehre von der Zusammenfü gung der Wörter im Satz nach den Gesetzen des Wohlklangs und flillt in den Bereic h der elocutio (Ä.E!;L�), vgl. Curtius 1 948, 80.
244
V. Die narrativen Transfonnationen
Präsentation der Erzählung
S ujet! discours
�
Verbalisierung
Erzählung Komposition: I. Linearisierung 2. Permutation Geschichte
Fabel! histoire
Auswahl von 1. Geschehens momenten 2. Eigenschaften
Geschehen
0 0 0 0
0,
0 0 0 0 0
0
0 0 0 0
0 0 0 0 0 0
0
0
� Zeit
0 0 0 0 0 0 0 0 10 I 0 1 0
0 Ort
3. Die vier narrativen Ebenen
245
b) Der Ort der Perspektive Unter den in der Abbildung aufgeführten Operationen wird man die Per spektivierung vermissen. Welchen Ort nimmt die Perspektive in der nar rativen Konstitution ein? Betrachten wir zunächst einmal den Ort der Perspekti ve in einigen bekannten Modellen. In den Zwei-Ebenen-Modellen, auch in jenen, deren erste Ebene sich mit unserer "Geschichte" identifizieren lässt, wird die Perspektivierung als eine der Operationen betrachtet, die die Transformation Fabel > Sujet oder histoire > discours bewerkstelligen. So weist Tomasevskij ( 1 925 , 1 38), wie wir bereits gesehen haben', "die Einführung der Motive in das Wahrnehmungsfeld des Lesers" und damit implizit die Perspektivierung dem Sujet zu. Im Kurzen Kurs der Poetik nennt Tomasevskij ( 1 928b, 87) die Entscheidung über die Perspektive unter den sechs Operationen, die von der Fabel zum Sujet führen. In ihrer Theory of Literature geben Wel lek und Warren ( 1 949, 2 1 8) folgende Definition: ",Sujet' is plot as media ted through ,point of view' , ,focus of narration'''. Auch Todorov ( 1 966, 1 26) rechnet dem "discours" die Leistung der Perspektivierung zu. Eben so zählt Sh. Rimmon-Kenan ( 1 976, 35) das "handling of point of view" zu den Verfahren, die den "recit" in einen "discours" transformieren. Und Jonathan Culler ( 1 980, 28) postuliert für die Analyse des "point of view" die Existenz einer vorgängi gen, noch nicht der Perspektivierung un terworfenen Geschichte, die er sich als "invariant core" vorstellt, als eine Handlungssequenz, die auf verschiedene Weise dargestellt werden kann. Im Drei-Ebenen-Modell Stierles ( 1 97 1 ; 1 977) erscheint die Perspek tivierung neben dem Arrangement der zeitlichen Folge und der Ak zentuierung durch Raffung und Dehnung als eines der Verfahren, die die "Geschichte" in den "Text der Geschichte" transformieren: "Indem die Geschichte Text wird, wird sie zunächst also gebunden an die Perspektive eines Erzählers und seiner je spezifischen Erzählsituation" ( 1 977, 224). Ganz ähnlich ist in Mieke Bals ( 1 977a, 32 f. ), Drei-Ebenen-Modell die focalisation eine der Operationen, denen die histoire unterworfen wird , bevor sie recit wird. Die hier referierten Konzepte stimmen in zwei wesentlichen Punkten überein: 1. Die Perspektivierung wird als eine Operation unter anderen betrachtet und auch in Modellen, die mehr als zwei Ebenen vorsehen, einer einzigen Transformation zugeordnet.
246
V. Die narrativen Transfonnalionen
2. Indem man die Perspektivierung als Transformation der Geschichte auffasst, unterstellt man , dass es eine objektive, noch nicht perspektivier te, eine "Geschichte an sich" gibt. Gegen diese weit verbreitete Auffassung seien hier zwei Einwände vor gebracht: 1 . Eine "Geschichte an sich", d. h. eine Geschichte ohne Perspektive kann es nicht geben. Es ist auch nicht sinnvoll, in einem Konstitutionsmodell eine solche zu postulieren. Frei von erzählerischer Perspektivierung ist lediglich das unbegrenzte, amorphe Geschehen. Jegliche Auswahl von Geschehensmomenten und ihren Eigenschaften, die ja allererst eine Ge schichte konstituiert, setzt immer schon eine Perspektive voraus27• 2. Die Perspektivierung ist nicht eine einzelne Operation unter anderen, sondern das Implikat aller Operationen, die in dem oben skizzierten Schema den drei Transformationen zugeordnet wurden. Somit bildet sich die Perspektive im Durchgang des Geschehensmaterials durch die drei Transformationen. Im Weiteren wollen wir die drei Transformationen näher betrachten und die Rolle bestimmen, die die entsprechenden Operationen bei der Bildung der Perspektive spielen. c) Vom Geschehen zur Geschichte Das Erzählen einer Geschichte setzt die Auswahl einzelner Geschehens momente (Situationen, Personen, Handlungen) und ihrer Eigenschaften voraus. Im Gegensatz zum Geschehen, das in die Vergangenheit unend lich verlängerbar, in die Zukunft offen und nach innen unendlich genau detaillierbar ist, hat die Geschichte Anfang und Ende und einen bestimm ten Konkretisierungsgrad. Die Auswahl der Geschehensmomente und ihrer Eigenschaften nimmt im fiktionalen Werk - nach den Gesetzen der Fiktion - der Erzähler vor. Der Autor überantwortet ihm gleichsam das narrative Material in Form 27
Auch die in der Forschung zum "Erzählen im Alltag" gelegentlich postulierte "reale Geschichte", die "Geschichte im eigentlichen Sinn des Wortes: Vorfälle, die sich zu ei ner bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort abgespielt haben" (Rehbein 1 980, 66), ist ein wenig hilfreiches Konstrukt. Die außennbntale Wirklichkeit kennt keine Ge schichten, sondern nur das unbegrenzte und auf unendlich viele Weisen fokussierbare, selektierbare und segmentierbare Kontinuum des Geschehens.
3 . Die vier narrativen Ebenen
247
von Geschehnissen, die das Produkt seiner auktorialen Erfindung sind, aber der Autor selbst erscheint in der dargestellten Welt nicht als auswäh lende Instanz. Indem der Erzähler die Elemente seiner Geschichte aus wählt, legt er eine Sinn linie durch das Geschehen, die bestimmte Gesche hensmomente verbindet und andere beiseite lässt. Dabei orientiert er sich am Kriterium der Relev anz der Elemente für die Geschichte, die er i m Begriff ist zu erzählen. Der Begriff der Sinnlinie geht wie auch die Dichotomie von Gesche hen und Geschichte auf Georg Simmels Abhandlung zum Problem der historischen Zeit ( 1 9 1 6) zurück. Nach Simmel muss der Historiograph eine "ideelle Linie" durch die unendlich zerkleinerbaren Elemente " eines Ausschnitts aus dem Weltgeschehen "hindurchlegen", um zu einer histo riographischen "Einheit" wie etwa dem "Siebenjährigen Krieg" oder der "Schlacht von Zorndorf" zu gelangen (Simmel 1 9 1 6 , 1 65). Dem Hin durchlegen der ideellen Linie geht ein "abstraktes Konzept" der jeweili gen Einheit voraus, das darüber entscheidet, welche "Geschehensatome" zu ihr gehören und welche nicht. Während sich das Geschehen durch "Stetigkeit" und "Kontinuierlichkeit" auszeichnet, ist die " Geschichte" , die darüber geschrieben wird, mit Notwendigkeit "diskontinuierlich". Diese Erkenntnisse des Philosophen gelten auch für die fiktionale Lite ratur. Wie der Geschichtsschreiber seine eigene Geschichte über ein be stimmtes Geschehen schreibt, indem er einzelne Momente eines Aus schni tts der kontinuierlichen Wirklichkeit unter einem allgemein Begriff ("Siebenjähriger Krieg") zusammenfasst, so bildet auch der Erzähler sei ne eigene, individuelle, unter einen Titel gebrachte Geschichte des von ihm zu erzählenden Geschehens28• An dieser Stelle ist der Einwand denkbar, dass es im fi ktionalen Werk eigentlich kein Geschehen gebe. Diesen Standpunkt hat z. B. Dorrit Cohn ( 1 995 , 1 08) vertreten, die zwischen historischem und fiktionalem Erzäh len eine "absolute Differenz" konstatiert, die darauf beruhe, dass die Fik tion im Gegensatz zur Geschichtsschreibung keine "Referenzstufe" ken28
Einen Vergleich des literarischen Erzählers mit dem Historiographen unternimmt auch Hayden White ( 1 973), der die Tätigkeit des Geschichtsschreibers als emplotment be zeichnet. Bei der Bildung dieses Begriffs beruft sich White auf die von den russischen Formalisten vorgenommene Unterscheidung von Fabel und Sujet (letzteres im Engli schen von ihm als plot wiedergegeben). Insofern das emplotment auf narrativen Ver fahren beruht (vgl. z. B. White 1 978), hebt White die Opposition faktualer und fiktio naler Texte auf, was in der europäischen Narratologie skeptisch betrachtet wurde (vgl. Nünning 1 995, 1 29-144).
248
v. Die narrativen Transfonnationen
neo Whites Begriff des "emplotment" und Paul Ricceurs "mise en intri gue" aufgreifend, argumentiert sie, dass ein Roman nicht "em-plotted" , sondern ganz einfach "plotted" sei und er sich nicht auf etwas beziehe, was in eine "intrigue" umgesetzt worden sei . Dagegen ist vorzubringen, dass es in der Fiktion durchaus eine "Referenzstufe" gibt, allerdings nicht in der Form einer vorgegebenen realen Wirklichkeit, sondern im Modus einer implizierten fiktiven Wirklichkeit. Das Geschehen eines Romans ist dem Leser ja nicht als solches zugänglich, sondern nur als Konstrukt, genauer: als Re-Konstrukt, das von ihm auf der Grundlage der erzählten Geschichte gebildet wird. Vom genetischen Standpunkt aus hat eohn völlig Recht. In idealgenetischer Perspektive jedoch, die hier eingenom men werden soll, bildet das fiktive in der Geschichte implizierte Gesche hen jene "Referenzstufe" , die logisch allen Akten der Auswahl voraus geht. Das Geschehen eines fiktionalen Werks ist, wie eingeräumt werden musste, nicht im gleichen Status gegeben wie das Geschehen, das der vom Historiographen geschriebenen Geschichte zugrunde liegt. Mag his torisches Geschehen der Vergangenheit auch nur über Geschichten zu gänglich sein, also über sinnbildende Reduktionen der kontinuierlichen und unendlich detaillierbaren Wirklichkeit, wie es jede "Geschichte des Siebenjährigen Kriegs" ist, so hat es sich doch an sich ereignet. Diese Faktizität und Seinsautonomie fehlen dem literarischen Geschehen, auch dort übrigens , wo - wie im "historischen" Roman - das "Material" der literarischen Geschichte reale Begebenheiten zu bilden scheinen. Das private, aber auch das öffentliche, politische Geschehen, das den Hinter grund für die in Lev Tolstojs Krieg und Frieden erzählte Geschichte ab gibt, ist nicht mit dem realen historischen Geschehen der Napoleonzeit gleichzusetzen. Es ist vielmehr genauso fiktiv wie die aus ihm .. herausge schnittene" Geschichte. Obwohl nun in der Fiktion dem Schaffen des Autors nicht nur kein reales Geschehen zugrunde liegt, sondern auch das fiktive Geschehen erst mit der Geschichte entworfen wird, muss dieses Geschehen als eine eigene Strukturebene des Werks betrachtet werden , eine Strukturebene freilich in absentia. Das Geschehen bildet jenes Mate rial , auf das sich die Selektionen beziehen, die die Geschichte hervorge bracht haben. Die Ausgewähltheit der Momente aber ist auf Schritt und Tritt spürbar, vor allem in der Lückenhaftigkeit der Wirklichkeitsabbil dung (über den Status der für die Geschidhte nicht gewählten Gesche hensmomente siehe unten , V . 3 .f). Wenn wi r davon sprechen , dass die Ge schichte durch Auswahl von Momenten .. h� rvorgebracht" oder aus einem
3 . Die vier narrativen Ebenen
249
ihr vorausJiegenden Geschehen "ausgeschnitten" wird, haben wir natür lich weder den realen Schaffensakt des Autors noch die reale Chronologie der Werkgenese noch auch die sukzessive Konkretisation des Werks durch den Rezipienten im Auge. Wie schon oben ausgeführt, gebrauchen wir diese Ausdrücke wie auch die zeitlichen Bestimmungen vorher und nachher im idealgenetischen Sinne, d. h. im Sinne eines idealgenetischen Konstitutionsmodells, das die Simul taneität der Ebenen mit temporalen Metaphern in logisch-konsekutive Operationen zerlegt, um die Faktur des Werks, die in ihm angewandten "Verfahren" der Analyse zugänglich zu machen. Insofern das Geschehen nichts anderes ist als das implizierte Aus gangsmaterial für Selektionen, deren Ergebnis die Geschichte bildet, kann es nicht hinsichtlich der realen Welt, sondern nur in Abhängigkeit von der es implizierenden Geschichte definiert werden. Das Geschehen kann nur jenen ontologischen Status und jene pragmatischen Möglichkeiten haben, mit denen die Geschichte selbst ausgestattet ist. Eine Antwort auf die Fragen , welche ontologische Ordnung in der gegebenen narrativen Welt herrscht, welche Instanzen als handelnde auftreten können, welche Hand lungen im Prinzip möglich sind und dergleichen, gibt · nicht das Gesche hen, sondern die Geschichte. Insofern ist das Geschehen kategorial voll ständig durch die es implizierende Geschichte prädeterminiert. d) Auswahl und Perspektive Die Auswahl der Geschehensmomente und ihrer Eigenschaften konsti tuiert nicht nur eine Geschichte, sondern auch die ihr inhärente perzep� tive, räumliche, zeitliche, ideologische und sprachliche Perspektive. In rein narratorialer Wiedergabe ist die implizi te Perspektivität der Ge schichte mehr oder weniger deutlich spürbar. Betrachten wir deshalb zum Kontrast einen Textabschnitt mit jener komplexen Perspektive, wie sie für die postrealistische Prosa charakteristi sch ist. Es handelt sich hier um den Anfang von Cechovs Erzählung Rothschilds Geige. Das Städtchen war klein, mieser als ein Dorf, und es lebten in ihm fast nur alte Leute, die so selten starben, dass es richtig ärgerlich war. Vom Krankenhaus aber und von der Gefängnisburg wurden sehr wenige Särge bestellt. Mit einem Wort, die Geschäfte liefen miserabel. (A . P. C echov, Poln . sobr. sol! . i pisem v 30 t., Werke, Bd. 8, S. 297)
Der Abschnitt präsentiert die Ausgangssituation der Geschichte. Die Auswahl der Elemente (Städtchen, alte Leute, Krankenhaus, Gefängnis burg , Särge, Geschäfte) und ihre Bewertung (das Städtchen ist klein, mie-
250
V. Die narrativen Transfonnationen
ser als ein Dorf, die alten Leute sterben so selten, dass es richtig ärger lich ist; sehr wenige Särge werden bestellt) und auch die Verknüpfung der
heterogenen Momente zu einer Situation, die eine bestimmte Stimmungs qualität ausdrückt, Selektion und Kombination also folgen dem räumli chen und ideologischen Standpunkt des Helden, des Sargmachers Jakov Ivanov , der vom Sterben der Menschen sein Leben fristet. Auch der zeit liche Standpunkt, von dem aus die· Situation in dieser Weise beschreibbar wird, ist der des Helden: Er ist lokalisierbar an der Schwelle zwischen der (später in den Erinnerungen gestalteten) Vorgeschichte und der eigentli chen Geschichte, unmittelbar vor dem Eintreten jener Ereignisse (Tod der Ehefrau Marfa, Erkrankung Ivanovs), die das mentale Hauptereignis der Novelle, die Erinnerung und die innere Umkehr des groben Sargmachers , auslösen werden. In der räumlichen, zeitlichen und ideologischen Per spekti ve ist die Darstellung also personal. Es wird hier aber nicht etwa eine von den Geschehensmomenten selbst gebildete Situation ledi glich personal dargeboten. Das Geschehen, das ja absolut kontinuierlich ist und keine Einschnitte kennt, enthält keine Situationen. Eine Situation konsti tuiert sich immer erst im Bewusstsein eines die Wirklichkeit erlebenden, ihre Komplexität auf wenige Momente reduzierenden29, latent geschich tenbildenden Subjekts. Wer ist hier dieses Subjekt? Es scheint zunächst, als wäre es Jakov, der die Stadt, die alten Menschen und die miesen Ge schäfte zu einer Situation zusammengeschlossen hätte. Aber in seinem Bewusstsein gibt es diese Situation nicht, denn die gewählten Momente sind nicht Gegenstand einer aktuellen Wahrnehmung oder Erinnerung Ivanovs, der die Bühne der Erzählung auch noch gar nicht betreten hat. Wir haben hier keine erlebte Rede , also die mehr oder weniger narratorial überformte Wiedergabe des aktuellen Inhalts eines Personenbewusstseins, sondern die uneigentliehe Narration des Erzählers, der in der Auswahl und Bewertung der thematisierten Geschehensmomente den Text der Person reproduziert, ohne dass diese zu dem gegebenen Zeitpunkt der Geschichte das Thematisierte wahrnähme oder dächte30• Die gewählten Momente bestimmen zwar die Seelenlage des Sarg machers , und ihrer Qualifizierung haftet auch etwas von der inneren Befindlichkeit Ivanovs an, sie können auch grundsätzlich in seinem Bewusstsein aufscheinen, 29 Man denke an die Theorie Niklas Luhmanns ( 1 97 1 , 3 1 -39), derzufolge die Reduktion
30
von Komplexität durch die Selektion von Elem�nten eine elementare Bedingung für das sinnhafte Erleben der Welt bildet Vgl. dazu auch Schmid 1 984b, 79, 1 1 0. In Abschnitt IV.3.n wurde diese DarbietungsfOlin als eine Manifestation der Textin terferenz, und zw ar als uneigentliches Erzählen bezeichnet.
3. Die vier narrativen Ebenen
25 1
aber ihre Wahl aus der Mannigfaltigkeit seiner möglichen Bewusstseins i nhalte und die Verknüpfung zu einer Situation hat der Erzähler vorge nommen . Indem er gerade diese und nicht andere Momente wählt, legt er eine Sinnlinie durch die im Geschehen vorliegenden unzähli gen Bewusst seinsfakten. Insofern ist in dem Textausschnitt auch sein eigener ideologi scher Standpunkt mit repräsentiert, und zwar in dem Sinn, den die ge wählten Momente in seiner Geschichte erhalten. Dieser Sinn realisiert sich zunächst im Aufzei gen der merkantilen Kategorien, die das Denken und Fühlen des Sargmachers bestimmen. Konkreter fassbar wird er erst, wenn die Geschichte abgeschlossen ist und die Transformationen zur Er zählung und ihrer Präsentation durchlaufen hat. Man kann aber nicht sa gen, dass die Geschichte Jakov Ivanovs erst auf einer logisch späteren Ebene an seine Perspektive gebunden oder der Sinnintention eines hinzu geschalteten Erzählers unterworfen würde. Vor der personalen Perspekti vierung und der narratorialen Sinngebung gibt es überhaupt keine Ge schichte. Diese konstituiert sich allererst aus jenen Momenten, die der Er zähler, der Perspektive des Helden folgend , ausgewählt und zusammenge schlossen hat, um einen Sinn auszudrücken. Natürlich hätte der Autor den Erzähler auch narratorial erzählen oder ihn sich am Standpunkt einer an deren Person orientieren lassen können, er hätte auch etwa Rothschild zum Reflektor oder gar Erzähler machen können. Nur wäre das Gesche hen in jedem dieser Fälle anders gefiltert und geordnet worden. Die in den zitierten Sätzen dargestellten Sachverhalte wären dann gar nicht oder in ganz anderer sinnhafter Verknüpfung zur Erscheinung gekommen. Kurz, wir hätten jedes Mal eine andere Geschichte erhalten. Es trifft eben nicht zu, dass die Entscheidung für eine bestimmte Perspektive die Geschichte nicht berührt, wie Tomasevskij ( 1 925 , 145 ) zu postulieren scheint, wenn er feststellt, dass in Hauffs Märchen Kalif Storch beim Austausch von pri märem und sekundärem Erzähler (Kalif bzw: Prinzessin) "die Fabel die selbe geblieben wäre" (wenn "Fabel" so etwas wie unsere Geschichte bezeichnen soll). e) Raffung und Dehnung Die Geschichte, die das Geschehen aufgrund seiner unendlichen Zerklei nerbarkeit prinzipiell nicht im Verhältnis eins zu eins abbilden kann, muss sich notgedrungen auf eine bestimmte Menge von Geschehensmomenten beschränken und diese im Status einer mehr oder weniger großen Unbe stimmtheit belassen. Während die Momente im Geschehen in allen denk-
252
V . Die narrativen Transformationen
baren (und das heißt: unendlich vielen) Hinsichten bestimmt sind, werden sie in der Geschichte immer nur in wenigen Eigenschaften konkretisiert. Über Anna Karenina z. B. erfahren wir mehrmals, welche Farbe das Kleid und die Schuhe haben, die sie jeweils trägt, und der Erzähler nennt wie derholt ihre körperlichen Eigenschaften, die Anzeichen ihrer "beherrsch ten Lebendigkeit" , die glänzenden Augen, den gedrechselten Hals, die vollen Schultern, die energischen kleinen Hände (Merkmale, die sie übri gens mit Vronskijs Pferd Frou-Frou teilt, das, ebenfalls eine nicht ganz makell ose Schönheit, sich durch glänzende Augen, gedrechselte Beine und einen zugleich energischen und zarten Ausdruck auszeichnet). Aber ganz abgesehen davon, dass selbst diese Eigenschaften das Bild der HeI din nur wenig konkretisieren, bleiben viele wesentliche Züge ihres Cha rakters und ihres Äußeren völlig unbestimmt. So wird zum Beispiel nichts über ihre Bildung, ihre Jugend oder ihr Elternhaus mitgeteilt. Wie Roman Ingarden ( 1 93 1 , 26 1 -270; 1 937, 49-55) gezeigt hat, ent hält die "gegenständliche Schicht" des literarischen Werks zwangsläufig zahllose "Unbestimmtheitsstellen" . Denn es ist, wie Ingarden ( 1 937, 50) ausführt, nicht . möglich, "mit Hilfe einer endlichen Zahl Wörter bzw. Sätze auf eindeutige und erschöpfende Weise die unendliche Mannigfal tigkeit der Bestimmtheiten der individuellen, im Werk dargestellten Ge genstände festzulegen". Die " Unbestimmtheit" als unvollständige Kon kretheit der Gegenstände ist somit noch kein künstlerisches Verfahren (zu dem sie erst in der Ingarden-Rezeption ernannt wurde), sondern notwen dige Begleiterscheinung jeder sprachlichen Repräsentation von Wirklich keit. Die Relation von " Erzählzeit" und "erzählter Zeit" , die seit Günther Müllers bekanntem Aufsatz ( 1 948) ganze Generationen germanistischer Erzählanalytiker bewegt hat und die Gerard Genette ( 1 972) als Phänomen der mouvements narratifs' 1 behandelt, reduziert sich letztlich auf die Fra ge der Selektivität der Gesch ichte h insichtlich des Geschehens. Wenn für eine Episode der Geschichte relativ viele Momente gewählt und die Mo mente in vielen Eigenschaften konkretisiert sind, erscheint die Darstel lung gedehnt und das Erzählen langsam. Wenn aber relativ wenige Mo31 Das Phänomen des mouvement na rrat if w ird von ,Genette als Problem von "Isochronie"
und "Anisochronie" entwickelt, d. h. der Kon gruen z oder Inkongruenz des temps d 'histoire und des (pseudo)temps de reeit. Während diese Zei ten in der scene zusam menfallen, ist im reeit sommaire und in der ellipse die Zeit des Erzählens kürzer und in der pause länger als die der Geschichte.
3 . Die vier narrativen Ebenen
253
mente und Eigenschaften gewählt sind, erscheint die Darstellung gerafft und das Erzählen schnell. Raffu ng und Dehnung werden üblicherweise als "späte" Operationen in der narrativen Konstitution angesehen32• In Wirklichkeit sind sie nichts anderes als Implikate der Auswahl der Geschehensmomente und ihrer Ei genschaften und sind deshalb "schon" der Transformation Geschehen > Geschichte zuzuordnen. Im Prozess der Konkretisierung von Geschehensmomenten und Eigen schaften, der ganz in das Belieben des Erzählers gestellt ist und keine Grenze im Geschehen selbst hat, kann man vier Verfahren unterscheiden: 1 . Die Zerlegung der Zustandsveränderung in immer kleinere Schritte.
2. Die innere "Zerkleinerung" einer Situation oder Figur in immer wei tere Teile. 3. Die Bestimmung .eines Geschehensmoments (einer Situation, einer Figur, einer Handlung) durch eine immer größere Menge von Ei genschaften. 4. Die äußere Kontextualisierung eines Geschehensmoments durch Erwähnung des zeitlichen, räumlichen oder logischen Umfelds (z. B. der Vorgeschichte einer Person, der Umgebung oder der kau salen Beziehungen). "Sobald" (in zeitlicher Metaphorik gesprochen) die Auswahl der Gesche hensmomente und ihrer Eigenschaften, d. h. die Bildung der Geschichte, abgeschlossen ist, kann keine zusätzliche Raffu ng oder Dehnung mehr stattfinden, es sei denn durch das wiederholte Nennen ein und derselben Momente und Eigenschaften in der Präsentation der Erzählung. Aber das ist ein ganz anderes Verfahren als die Auswahl einer großen oder kleinen Menge von Momenten und Eigenschaften aus dem Geschehen. Raffu ng und Dehnung sind natürlich relative Begriffe, für die es kei nen objektiven Maßstab gibt. Jegliche quantitative Bestimmung wäre hier verfehlt. Es gilt nur zu bedenken, dass die Detaillierung und Konkretisie rung der Geschehensmomente in der Geschichte grundsätzlich nicht die allseiti ge Bestimmtheit erreichen kann, die den Momenten im Geschehen eignet. Deshalb ist auch allen Versuchen zu widersprechen, ein "zeitde ckendes Erzählen" (Lämmert 1 955, 83 f.) oder einen Zusammenfall von 32 Ich selbst habe sie seineneit (Schmid 1 982) fälschlichelWeise der Transformation der
Geschichte zur Enählung zugeordnet.
254
V. Die narrativen Transfonnationen
temps d'histoire und temps de recit (Genette 1 972) zu konstruieren33• Im
Fall gedehnter Darstellung, d. h. "langsamen" Erzählens, wird die Ge schichte auch bei extremer Deskriptivität niemals soviel Momente und Eigenschaften enthalten wie das nach innen unbegrenzte, d. h. unendlich fei n gliederbare und qualifizierbare Geschehen. Wenn einem relativ kur zen Abschnitt aus dem Geschehen ein verhältnismäßig langes Segment des Textes entspricht, handelt es sich nicht unbedingt um eine pause de scriptive, die Genettes (pseudo-)mathematische Formel TR 00> TH erfüllt (Genette 1 972, 1 29; TR = temps de recit, TH = temps d 'histoire), sondern es kann sich um die Einschaltung von Kommentaren handeln, die sich nicht auf die Diegesis, sondern die Exegesis beziehen. Den relativen Unterschied zwischen Raffu ng und Dehnung kann man mit folgendem Schema darstellen:
Raffung
Dehnung
Geschichte
Geschehen
I
Die Dehnung ist in der Regel mit hoher Deskriptivität verbunden. Die detaillierte Beschreibung bedeutet die Akkumulation vieler Facetten und Eigenschaften von Geschehensmomenten. (Die Narration schließt die Deskription, wie wir oben in Abschnitt I. l .b. gesehen haben, nicht aus, sondern erfordert sie für die Exposition der .situationen, Figuren und Handlungen.) Die Dehnung kann aber auch durch die Zerlegung einer Zustandsveränderung in ' ihre Teile und Phasen zustande kommen. Ein Beispiel für eine extreme Dehnung der Narration ist Prousts A La re cherche du temps perdu, wo eine einzige Bewegung des Barons de Char lus auf mehreren Seiten dargestellt, in unzählige Teile und Facetten zer legt wird. Beispiele gerafften Erzählens liefert A. ;S. Puskins Erzählzyklus Die Erzählungen Belkins. Die Selektivität ist hi �r von besonderer Art. Einer33
V gl. dazu referierend und leicht kritisch MartinezlScheffel 1 999, 39 f.
3. Die vier narrativen Ebenen
, 255
seits ist sie außergewöhnlich hoch. Die nicht erzählte Zeit der Geschichte, die zwischen den ausgeführten Episoden verstrichen ist, wird im besten Fall ledi glich durch knappe Verweise wie: "Es vergingen einige Jahre" gestaltet. Und auch in den relativ ausführlich erzählten Episoden werden nur wenige Geschehensmomente und Eigenschaften expliziert. Die hoch dynamische Narration gibt einer retardierenden Deskription kaum Raum. Dank dieser Punktiertechnik kann Puskin auf wenigen Seiten ganze Le bensgeschichten erzählen. Nicht von ungefahr sind die Erzählungen Bel kins mit "extrem verdichteten Romanen" (Unbegaun 1 947, XV) vergli chen worden. Zum anderen aber ist die Selektivität durchaus fluktuierend, und ihr Schwanken scheint mit der Relevanz der Motive nicht im Ein klang zu stehen. Während wichtige Geschehensmomente unbezeichnet bleiben, werden Details, die man zunächst für nebensächlich halten muss, konkret ausgestaltet. So sind zum Beispiel die vier Bilder zum Gleichnis vom verlorenen Sohn, die die Stube des Stations aufsehers schmücken, ausführlich beschrieben, die inneren Motive des Titelhelden dagegen in aller Unbestimmtheit belassen. Solch unmotiviert wirkender Wechsel zwischen Raffu ng und Dehnung irritierte im 1 9. Jahrhundert viele Kritiker, wie z. B. Michail Katkov , der sich darüber beklagte, dass die Erzählweise in Puskins Prosa mal "über mäßi g detailliert", mal "übermäßig summarisch" sei34• Am sensibelsten freilich reagierte die Epoche der entstehenden Bewusstseinskunst auf die mangelnde Konkretisierung des Seelenlebens. Symptomatisch ist die Ab lehnung dieser Erzählweise durch den jungen Tolstoj , 'der die Erzählun gen Belkins als "irgendwie nackt" bezeichnete3s• Tatsächlich sind in den fünf Novellen des Zyklus sogar die zentralen Handlungsmotivationen der Helden unbestimmt. Warum schießt Sil ' vio in der Erzählung Der Schuss nicht auf den Grafen? Und warum hat der Graf, ein geübter Schütze, auf wenige Schritt Entfernung zwei Mal sein Ziel verfehlt? Warum verliert die sittenstrenge HeIdin des Schneesturms (Metel ' ) Mar'ja Gavrilovna, die jungfräuliche Witwe, die so lange Vladimir, dem unromantischen Ent führer, nachzutrauern scheint, ihre ganze Kälte, sobald Burmin, der uner kannte Angetraute, auftaucht? Ist es nur Zufall oder Fügung der Vorse hung, dass sich die ineinander verlieben, die, ohne es zu wissen, bereits miteinander verheiratet sind? Warum lädt der Sargmacher in der gleich34
35
Zit. nach V. Zelinskij (Hg.), Russkaja kriticeskaja literatura 0 proizvedenijach A. S . Puskilla: Chronologiceskij sbomik kritiko-bibliograficeskich statej, Moskau 1 888, Bd. VII, S. 1 57 . L. N. Tolstoj, PollI . sobr. soc. v 9 0 t ., Bd. 46, S . 1 87 f.
256
V. Die narrativen Transfonnationen
namigen Erzählung (Grobovscik) zu seinem Einzugsfest die "orthodoxen Toten" ein, und warum lässt er, aus dem Cauchemar erwacht, "erfreut" die Töchter zum gemeinsamen Teetrinken rufen? Warum schließlich macht Aleksej in Fräulein Bäuerin (Barysnja krest'janka) der gelehrigen Akulina einen Heiratsantrag , obwohl er doch um die Unüberwindbarkeit der sozialen Barriere zwischen ihm, dem Gutsbesitzersohn, und dem ar men B auernmädchen wissen muss? Zu solchen Warum-Fragen provoziert auch die auf den ersten Blick am wenigsten rätselhafte der fünf Erzählun gen , Der Stationsaufseher. Warum hat Dunja auf der ganzen Fahrt von der Poststation in die Stadt geweint, obwohl sie, wie der Kutscher be zeugt, allem Anschein nach aus freien Stücken mitgefahren ist? Warum fol gt Samson Vyrin nicht seinem biblischen Vorbild und bleibt nicht, wie der Vater des Gleichnisses vom verlorenen Sohn, zu Hause, auf die Rück kehr der ,verlorenen Tochter' vertrauend? Und warum gibt er nach dem Wiedersehen in Petersburg mit einem Mal alle Versuche auf, sein "verirr tes Schäfchen" nach Hause zurückzuführen? Und schließlich - warum trinkt er sich zu Tode? (Vgl . ausführlich Schmid 1 99 1 , 1 03-170.) In Raffung und Dehnung realisiert sich auch die Perspektive, und zwar der ideologische Standpunkt, die Wertungsperspektive. Der Gebrauch der Verfahren hängt von der Bedeutsamkeit ab, die der Erzähler (und hinter ihm natürlich der Autor) bestimmten Episoden beimisst: Gedehnte Episo den sind, das ist die Logik des Erzählens, wichtiger als geraffte. Die nar rative Relevanz von Handlungen und Episoden entspricht jedoch nicht irgendwelchen außerliterarischen Maßstäben , sondern bemisst sich da nach, wie sie die zu erzählende Geschichte zur Erscheinung bringen. Das kann einen starken Konflikt mit den Lebensnormen des Lesers mit sich bringen. Ein Beispiel dafür, wie Raffung und Dehnung eine ideologische Perspektive realisieren , die den Alltagsnormen, zuwiderläuft, ist Cechovs Erzählung Seelchen (Dusecka). In den Episoden , die die Ehen der HeIdin mit Kukin und Pustovalov darstellen, wird das Geschehen auf eine Weise gerafft und gedehnt, die unseren lebens weltlichen Relevanzvorstellungen eklatant widerspricht. Während das Kennenlernen der Partner verhältnismäßig ausführlich dar gestellt ist, werden die für ein Menschenleben immerhin entscheidenden Ereignisse der Werbung und Trauung ganz lapidar, jeweils in einem ein zi gen Satz mitgeteilt: "Er [Kukin] machte einen Antrag, und sie ließen sich trauen" ; "Bald versprach man sie ihm [Pustovalov] , dann war die Hochzeit" (Cechov, Poln. sobr. so<:. i pisem v 30 t. , Werke , Bd. 1 0 ,
i
3 . Die vier narrativen Ebenen
257
S. 1 03 , 1 06). Aus der Zeit der Ehe, die in beiden Fällen sehr summarisch abgehandelt wird, vorwiegend im iterativen Modus, wählt der Erzähler einzelne, dem Leser zunächst unbedeutend erscheinende Mikrodialoge aus, in denen das zentrale Thema der Erzählung zur Anschauung kommt: die vorbehaltlose Anpassung der buchstäblich selbst-los liebenden Frau an die Welt des jeweiligen Ehemanns . Der Tod der Ehemänner wird wie der in lakonischer Kürze mitgeteilt. Das Telegramm des Regisseurs der Operettentruppe, das in allerknappstem - und verballhorntem - Wortlaut die Nachricht von Kukins Tod übermittelt, nennt nicht einmal eine Ur sache - wir erfahren sie auch später nicht. Und Pustovalovs Krankheit und Tod werden mit extremer Raffung, in einem einzi gen trockenen Satz mitgeteilt: "Ihn behandelten die besten Ärzte, aber die Krankheit nahm sich das ihre, und er starb nach viermonatiger Krankheit" (Ebd . , S . 1 08), Der Erzähler gibt also, wenn er rafft und dehnt, dem Geschehen, von dem er erzählt, seine Akzentuierung. Der Wechsel von Raffung und Dehnung oder von hoher und niedriger Selektivität ist eines der Mittel , den Sinn der Erzählung, so wie er im Horizont des Erzählers aufscheint, zur Anschau ung zu bringen. f) Das Nicht-Gewählte Der Leser, der die für eine Geschichte konstitutive Sinnlinie nachzu zeichnen sucht, ist aufgefordert, die Selektion in ihren beiden Seiten zu erfassen, nicht nur als Position (als Auswahl bestimmter Momente), son dern auch als Negation: als Abweisung anderer Möglichkeiten der Wahl . Erst vor dem Hintergrund des Nicht-Gewählten erhält das Gewählte seine Identität und seine Sinnfunktion. Eine Geschichte als sinnhaftes Ganzes zu erfahren heißt: die Logik ihrer Selektivität zu erschließen. Aber noch ein weiteres. Der Leser muss sich bewusst machen, welchen Charakter die Negativität der im Werk getroffenen Selektion hat, d.h. in weIchem Mo dus das Nicht-Gewählte abgewiesen worden ist. Bei der Selektion sind nämlich mindestens drei Modi der sie begleitenden Negation zu unter scheiden. Der erste Modus der Negation ist die Nicht-Auswahl von Geschehens momenten und Eigenschaften, die für die Geschichte irrelevant sind. Die nicht-gewählten Geschehensmomente liegen hierbei nicht nur nicht auf den durchgezogenen, sondern nicht einmal auf den punktierten (d. h. zu rekonstruierenden) Abschnitten der Sinnlinie. Dieser erste Modus der Negation hinterlässt irrelevante "Unbestimmtheitsstellen" (In garden
258
V . Die narrativen Transformationen
deren Konkretisierung von der Geschichte weder gefordert noch unterstützt wird. Wer das irrelevante Nicht-Gewählte dennoch konkreti siert, erbringt eine Rezeptionsleistung, die nicht nur überflüssig i st, son dern auch am Aufspüren der Sinnlinie, an der Rekonstruktion der Wahl entscheidungen hinderf6• Der zweite Modus der Negation liegt vor, wenn die Geschichte Ansät ze für traditionelle Sinnlinien enthält, denen jedoch nicht zu fol gen ist, da sich der Sinn der Geschichte nicht in diesen angedeuteten Linien er schließt. Solche Fallen für den Leser, die die Abweisung suggerierter fremder Motive für die Ausfüllung der Leerstellen erfordern, finden wir in den Erzählungen Belkins. Der Leser, der z. B. die expliziten Motive im Stationsaufseher zu einer schlüssigen, alle Details verbindenden Sinnlinie zusammenzubringen sucht, ist aufgerufen , den vorn Helden oder Erzähler suggerierten Sinnangeboten nicht zu folgen und die Linien nicht auszu ziehen, die in den biblischen, klassischen, sentimentalen oder roman tischen Prätexten ihren Ursprung haben. Dunja ist eben nicht als verführte unschuldige HeIdin sentimentaler Genese aufzufassen, und ihr Vater er weist sich weder als der weise Vater des Gleichnisses vorn verlorenen Sohn noch als der gute Hirte des Johannesevangeliums. Die Geschichte des Stationsaufsehers konstituiert sich in der Negation der im Bewusst sein des Vaters und auch des Erzählers aufscheinenden literarischen Mus ter. Die nicht-gewählten Momente, die Motiven konventioneller Sujets entsprechen und sich für die Ausfüllung der Leerstellen anbieten, sind ab zuweisen. Dieser zweite Fall erfordert für die sinnhafte Erschließung der Geschichte grundsätzlich durchaus die Aktualisierung von Nicht-Gewähl tem, nur eben nicht die Aktivierung solcher Momente, die durch trügeri sche Anspielungen auf konventionelle Handlungsmuster nahe gelegt wer den. Den dritten Modus könnte man die aufzuhebende Negation nennen. Er betrifft nicht-gewählte Momente, die paradoxerweise in absentia zur Ge schichte gehören, insofern sie eine Lücke auf ihrer Sinnlinie schließen. Der Leser muss hierbei die vorn Autor vorgenommene Negation aufheben und nach den im Text mehr oder weniger latent enthaltenen Anweisungen Nicht-Gewähltes für die Geschichte "reaktivieren" . Im Lesen erbringen 1 93 1 ) ,
36 Welche nicht-gewählten Momente für eine Geschichte irrelevant sind, entscheidet sich
allerdings erst im Verlauf der Rezeption, und zwar nicht nur eines einzigen Lesers, sondern in der Geschichte der Sinnzuweisungen. I Es können im Text jederzeit Motiv konstellationen und Anspielungen entdeckt werden, die aus einem zunächst irrelevant scheinenden nicht-gewählten Moment ein höchst bedeutsames machen.
3. Die vier narrativen Ebenen
259
wir diese Leistung sehr häufig, und zwar zumeist unwillkürlich, im Au tomatismus des Implizierens . Bewusst vollziehen wir solches Ausfüllen von Lücken in der Regel erst dann, wenn das Ausgesparte an wesentli chen Momenten auftritt oder gar die Richtung der Sinnlinie bestimmt. Ein solches zentrales Moment ist oft die Handlungsmotivation des Helden. Als Beispiel kann man wieder den Stationsaufseher anführen. In dieser Novelle werden die Motivationen des Helden nicht expliziert. Der Leser soll die Nicht-Auswahl sozusagen rückgängig machen, indem er Momen te wiederherstellt, die nicht ausgewählt wurden, aber zur Geschichte ge hören. Die aufzuhebende Nicht-Wahl ist zu einem Merkmal der neueren Erzählprosa geworden. In dem Maße, wie die Erzählprosa ihre Helden mit einer komplexen, mehrschichtigen Psyche ausstattet und die Geschichte vom Standpunkt der erzählten Person darbietet, werden die Bewusstseins handlungen, die die Tat- und auch die Sprech-Handlungen motivieren, zum Problem. Die Momente des Bewusstseins , die der Erzähler explizit beschreibt, sind oft nicht mehr imstande, die Tat und das Wort schlüssig zu motivieren. Der Leser muss die Handlungsmotivation dann erschlie ßen, indem er über die explizierte Geschichte hinaus auf bestimmte nicht gewählte Momente des - psychischen - Geschehens zurückfragt, die der Erzähler vorenthält oder die ihm gar nicht zugänglich sind. Zur Vermeidung von Missverständnissen seien die Überlegungen zum Verhältnis von Geschehen und Geschichte durch zwei Hinweise ab geschlossen: 1 . Dem Leser wird hier nicht so sehr die Aufgabe zugewie sen, aus der Geschichte das implizierte Geschehen zu extrapolieren, als vielmehr die Logik der Selektivität der Geschichte zu verstehen. 2. Das Geschehen wird in der narrativen Konstitution nicht einfach durch die Ge schichte ersetzt, sondern bleibt spürbar als Vorrat anderer Möglichkeiten der Wahl . g) Von der Geschichte zur Erzählung In der Geschichte können Episoden zugleich stattfinden. Einige Kunst gattungen wie z. B . das narrative Ballett verfügen über die Möglichkeit, synchrones Geschehen simultan darzustellen. Wie andere lineare Reprä sentationen muss die Literatur das gleichzeitig Stattfindende in einer tem poralen Sequenz darbieten. Insofern ist die Linearisierung des Simultanen ein notwendiges Verfahren, das die Transformation der Geschichte zur Erzählung bedingt.
260
V. Die narrativen Transfonnationen
Die Linearisierung simultan verlaufender Geschehensstränge kann mit besonderen semantischen Effekten verbunden sein. Betrachten wir dazu ein Beispiel : In Anna Karenina wird das fatale Pferderennen zwei Mal erzählt, einmal aus der Perspektive Vronskijs (Teil 11 . , Kap. 25), ein zwei tes Mal aus der Perspektive Karenins, der allerdings nicht das Pferderen nen selbst beobachtet, sondern auf die Reaktionen seiner Ehefrau achtet (Teil 11, Kap. 28-29). Vronskijs Unfall und Karenins Schlussfolgerung aus Annas Reaktion auf den Unfall finden in ein und demselben Augen blick statt, aber berichtet wird davon in unterschiedlichen Teilen der Er zählung. Das zweite Verfahren, das die Transformation der Geschichte in die Erzählung bedingt, ist die Permutation der Episoden gegen die natürliche, chronologische Folge, die Ersetzung des ordo naturalis durch einen ordo artificialis.
Eine solche Umstellung finden wir etwa im Stationsaufseher, wo die zweite B egegnung des Erzählers mit dem Titelhelden vor der - von Sam son Vyrin erzählten - Entführung Dunjas gestaltet wird , die drei Jahre vorher stattgefunden hat. Der Schuss enthält dasselbe Verfahren in entblößter Form: Die vier Episoden der Geschichte werden in der Erzählung, die in zwei Kapiteln je zwei Episoden umfasst, in zweimaliger, symmetrischer Permutation dar geboten: Kapitel JI
Kapitel J Episode J (im B ericht des primären Erzählers) : langweiliges Mili tärleben des Erzählers, Freundschaft mit S iI 'vio, Sil'vios Erzählung von Episode 2.
Episode 3 (im B ericht des primären Erzählers) : langweiliges Landleben des Erzählers , Begegnung mit dem Grafen, Erzählung des Grafen von Episode 4.
Episode 2 (im Bericht Sil 'vios): SiI 'vios glückliches Militärleben, Erscheinen des Grafen, erste Phase des Duells, zeitw eiliger Verzicht SiI 'vios auf seinen Schuss.
Episode 4 (im B ericht des Grafen): glückliches Landleben des Grafen , Erscheinen SiI 'vios, zweite,Phase des Duells, endgültiger Verzicht SiI 'vios auf den todbri�genden Schuss. !
3. Die
vier
narrativen Ebenen
26 1
In der realen Chronologie der Geschichte ist die Fol ge der Epi soden: 2 1 4 3 . Die kompositionelle Symmetrie der vier Episoden schwächt oder kaschiert die Permutation nicht, sondern macht sie eher wahrnehmbar. In bei den Novellen ist die Permutation natürlich motiviert, d. h. da durch bedingt, dass die Binnengeschichten retrospektiv , in der sekundären Erzählung ihrer Teilnehmer, berichtet werden. In Pique Dame finden wir Permutationen, die nicht auf diese Weise, d. h. durch die Einbettung, be gründet sind und das Verstehen der Geschichte erschweren. Betrachten wir das zweite Kapitel . Nach dem Darbietungsmodus und der temporalen Struktur können wir es in sechs Teile gliedern: -
-
-
1 . Szene i m Ankleidezimmer der Gräfin: Ein junger Offizier tritt ein, der Enkel der Alten, und bittet um die Erlaubnis, ihr einen seiner Freunde vorzustellen. Dem Leser wird nicht sofort klar sein, dass dieser Enkel jener Tomskij ist, der im ersten Kapitel die Anekdote vom Geheimnis seiner Großmutter erzählt hat. Lizaveta Ivanovna, die Pflegetochter der Gräfin, fragt Tomskij leise, wen er vorstellen wolle, ob sein Freund Ingenieur sei. Der Leser kann hier noch nicht wissen, warum das Mädchen diese Fragen stellt. Er kann nur vermuten, dass der In genieur, den Lizaveta Ivanovna im Auge hat, derselbe junge Mann ist, der im ersten Kapitel als Beobachter des Kartenspiels eingeführt wur de, der sel bst grundsätzlich nicht spielte. Lizaveta Ivanovna erblickt durch das Fenster einen jungen Offizier und errötet. Der Leser kann wiederum nur vermuten, dass es sich um jenen jungen Mann handelt, nach dem sie gefragt hat.
2. Allgemeine Charakteristik der launischen Gräfin und der unglück lichen Pflegetochter. 3 . Retrospektive Erzählung von Vorkommnissen, die sich eine Woche vor der geschilderten Szene und zwei Tage nach dem im ersten Kapi tel beschriebenen Kartenspiel ereignet haben: der erste Blickwechsel zwischen Lizaveta Ivanovna und dem jungen Offizier, der seitdem re gelmäßig unter ihrem Fenster erscheint. 4. Die Erzählung kehrt zurück zu der Frage, die Lizaveta Ivanovna Tomskij gestellt hat. 5. Beschreibung von Charakter und Lebensgewohnhei ten Germanns, über dessen Identität mit dem jungen Offi z ier, der unter dem Fenster der Pflegetochter erscheint, der Leser nur Mutmaßungen anstellen kann.
262
V. Die narrativen Transfonnationen
6. Rückkehr der Erzählung zum Ende des ersten Kapitels : Wirkung von Tomskijs Anekdote auf Germanns Phantasie. Dieser Teil endet damit, dass sich Gennann unter seinen Überlegungen unversehens vor dem ihm unbekannten Haus der Gräfin befindet und in einem Fenster ein frisches Gesicht mit schwarzen Augen erblickt, was, wie es im Text heißt, sein Schicksal entscheidet. Die mehrfache Umstellung der Episoden der Geschichte und der Glieder der kausalen Folge bewirkt, dass für das Verstehen der Handlung un erlässliche Informationen vorenthalten werden. Es wird zunächst über die Folgen des Entschlusses, mit der Gräfin Kontakt aufzunehmen, erzählt, und erst danach mitgeteilt, wie und warum Germann diesen Entschluss gefasst hat. Diese Permutation , die das Verstehen der zeitlichen Folge und der kausalen Beziehungen der Ereignisse erschwert, ist natürlich eines der Mittel , im Leser Interesse und Neugier zu wecken und an seine Findigkeit zu appellieren. Die Uneindeutigkeit der diegetischen Beziehungen, die durch die Fülle genauer Zeitangaben kaschiert wird, veranlasst den Leser , sich in diese narrative Welt zu vertiefen und sich ein Bild von der in ihr herrschenden Ordnung zu machen. Die inexplizite Exposition der Figuren bereitet zudem die Unklarheit der Identitäten und B eziehungen in dieser Novelle vor, deren Motivierung zwi schen Psychologie und Phantastik schwankt und sich endgültiger Auflösung zugunsten einer der beiden Er klärungsweisen entzieht (vgl. Schmid 1 997). Ähnlich wie in der Geschichte das Geschehen, aus dem es "ausge schnitten" wurde, spürbar bleibt, so wird auch die Geschichte in der Er zählung nicht ausgelöscht. Die Ordnung der Geschichte bleibt noch in ihrer Überwindung durch die Erzählung präsent. Im Erzählwerk nehmen wir nicht nur die Erzählung oder die Geschichte wahr, sondern auch ihre simultane Präsenz, die voller Spannungen und Widersprüche sein kann. h) Die Komposition der Erzählung und die Perspektive Die Linearisierung der in der Geschichte gleichzeitig verlaufenden Hand lungen zu einer Erzählsequenz, die in der Literatur ein obligatorisches Verfahren ist, und die Pennutation der in chronologischer Ordnung auf einander folgenden Sequenzen , die fakultativ ist, bringen die Teile der Geschichte in eine sinnkonstituierende Fo� ge. In der Komposition der Erzählung bildet sich ein Sinn, der das in der Geschichte angelegte Sinn potential aktualisiert und modifiziert. In den Verfahren der Komposition
3 . Die vier narrativen Ebenen
263
wird also die Sinn position des Erzählers, sein ideologischer Standpunkt mitkonstituiert. Die Perspektivik ist aber an der Komposition noch auf andere Weise beteiligt. Die Linearisierung impliziert immer einen Wechsel der zeitlichen Per spektive. Der Erzähler kehrt von dem erreichten Punkt auf der Zeitachse zu einem früheren Punkt zurück, um die Ereignisse zu erzählen, die sich in derselben Zeit wie das soeben Erzählte zugetragen haben. Diese Um schaltung ist häufig auch mit einem Wechsel des räumlichen Standpunkts verbunden. So wechselt der Erzähler in Anna Karenina zusammen mit der zeitlichen Perspektive auch die räumliche und perzeptive, wenn er in der Darstellung des Pferderennens vom Standpunkt Vronskijs zu dem Kare nins umschaltet. Auch die Permutation bedeutet die Einnahme eines anderen Stand punkts im raum-zeitlichen Koordinatensystem der fiktiven Welt. Nur geht damit nicht unbedingt ein Wechsel der Reflektorflgur einher. Die Per mutation ist vielmehr häufig mit der Retrospektive eben jener Person ver bunden, die schon zuvor Reflektor war. Wenn der Erzähler in Rothschilds Geige sich zunächst jeden Hinweises auf die Vergangenheit des Sargma chers enthält und die Vorgeschichte erst gegen Ende der Erzählung be richtet, so deshalb, weil Jakov Ivanov, dessen räumliche, zeitliche und ideologische Perspektive er übernimmt, sich erst kurz vor dem Tod an sein früheres, glückliches Leben erinnert. Hätte der Erzähler Ivanovs Ge schichte narratorial dargeboten, wären wir über die für den Helden wich tigen Ereignisse und Situationen der Vergangenheit zu Beginn der Erzäh lung unterrichtet worden. Die Retrospektive aber wird möglich, weil der Sargmacher, der seine Vergangenheit völlig vergessen hat, von seiner sterbenden Frau daran erinnert wird, dass sie einmal ein Kind hatten. Erst jetzt kann (oder will) Ivanov das vergegenwärtigen, was er vergessen oder verdrängt hat. Die Erinnerung wird somit zum Anzeichen einer veränder ten Haltung des Helden gegenüber der Wirklichkeit. Wir erfahren von der Vorgeschichte an eben jener Stelle der Erzählung, an der Ivanov der Erin nerung fähig wird. Insofern entspringt die Permutation nicht irgendwel chen abstrakten Kompositionsüberlegungen, sondern folgt der Logik der Bewusstseinshandlungen des Helden.
264
V. Die narrativen Transfonnationen
i) Von der Erzählung zu ihrer Präsentation In der Präsentation der Erzählung wird die medial noch nicht manifestier te Erzählung in der spezifischen Sprache einer Kunstgattung ausgedrückt. Im literarischen Werk geschieht die Präsentation der Erzählung durch die Verbalisierung. Auf dieser Ebene kann die präsentierte Erzählung mit nichtdiegetischen, rein exegetischen Texteinheiten (Wertungen, Generali sierungen , Kommentaren , Reflexionen, metanarrativen Bemerkungen des Erzählers) verknüpft werden. In der Verbalisierung kommt die sprachliche Perspekti ve zur Geltung. Wenn der Erzähler die Erzählung präsentiert, hat er die Wahl zwischen verschiedenen Stilen. Er kann lexikalische Einheiten und syntaktische Strukturen verwenden , die seinem eigenen Stil entsprechen, (d. h. einen narratorialen Standpunkt einnehmen) oder sich - nach Maßgabe seiner sprachlichen Kompetenz - an die stilistische Welt des Geschehens anpas sen und die Erzählung in der Sprache einer oder mehrerer der Personen präsentieren (d. h. personal perspektivieren). Zum Geschehen gehören natürlich auch die (äußeren und inneren) Re den und Erzählungen der Figuren. Die Konstitution der Fi gurenreden und der Erzählungen sekundärer Erzähler durchläuft denselben Transforma tionsprozess wie die Erzählung des pri mären Erzählers. Nur sind diese Reden und sekundären Erzählungen "schon" fertig, "bevor" (wieder in temporaler Metaphorik ausgedrückt) der Erzähler sie mit der in ihnen rea lisierten Perspektive der Person aus dem Geschehen "ausschneidet" , um seine Geschichte zu erzählen. (Das bedeutet, dass es ein Geschehen , das von sprachlicher Realisierung frei wäre, nicht gibt, denn in das Geschehen gehen auch die Sprechhandlungen der Personen ein.) Dabei braucht die auf der Ebene des Geschehens "vorgefundene" Sprache der Personen nicht mit jener Sprache identisch zu sein, in der die Erzählung präsentiert wird. Erst auf dieser vierten Ebene erhalten die Äußerungen der Figuren ihr endgülti ges sprachliches Profil. Die Verbalisierung kann mit einer we sentlichen Umgestaltung der Figurenreden verbunden sein bis zu ihrer Übersetzung in eine fremde Sprache. So sprechen z. B. in Epen die Hel den in Versen, und in Romanen wird fremdsprachige Rede in der Regel in der Sprache des Erzähltextes wiedergegeben. Tolstojs Roman Krieg und Frieden, der die französische Rede der Helden vollmimetisch wiedergibt (mit der für Russen typischen stilistischen Kolorierung), ist in dieser Hin' sicht eher eine Ausnahme.
3 . Die vier narrativen Ebenen
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Während in der Literatur die Überarbeitung der im Geschehen gespro chenen (oder gedachten) Reden weitgehend unbemerkt bleibt, wird man im Ballett oder in der Pantomime, die den Inhalt der Texte der Personen in der Sprache der Gesten und Bewegungen ausdrücken, eher aufmerksam auf die in ihnen stattfindende Umkodierung. Die Perspekti vität der Verbalisierung ist freilich in den literarischen Epochen unterschiedlich stark ausgeprägt. Volle Entfaltung findet sie nur in realistischen Schreibweisen, die das Prinzip des Mimetismus auch auf Personen- und Erzählerstil anwenden. Im vorrealistischen Erzählen ist die Verbalisierung dagegen Gattungsgesetzen und literarischen Normen un terworfen, die die Möglichkeit ihrer Perspektivität stark einschränken. So zeigt das Sprechen der Figuren und des Erzählers in den narrativen Vers gattungen nur schwache Spuren einer stilistischen Individualisierung. Und auch im vorrealistischen Prosaroman verbleibt der Stil des Erzählers und seiner Personen noch ganz in den engen Grenzen, die von der litera tursprachlichen Norm gesetzt sind. Weder belässt der Erzähler seinen Personen ihr sprachliches Eigenleben - man denke nur daran, wie emp findsam Karamzins Erzähler seine Bäuerin sprechen lässt -, noch erhält er selbst eine individuelle stilistische Physiognomie. Noch in der romanti schen Narration Lermontovs pflegen Helden und Erzähler dieselbe rheto risch zugespitzte, sentenzenreiche Rede. Auch aus der Moderne kennen wir Poetiken , die der sprachlichen Perspektivierung Restriktionen aufer legen. Man denke an die "ornamentale" Prosa der russischen Literatur im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts (siehe dazu oben , IV.2.a). Sie unter wirft das Erzählen mit Verfahren wie Rhythmisierung, Lautinstrumentie rung, Klangwi ederholung und Paronomasie einer poetischen Organisa tion, die weder auf den Erzähler noch auf die Personen bezogen werden kann. Wo aber die Perspektivität reduziert ist, wird man von Erzählkunst, die sich ja durch konsequenten Perspektivismus in allen narrativen Opera tionen auszeichnet, nur mit Vorbehalten sprechen können. Sofern die Texte des Erzählers und der Personen sprachlich individua lisiert sind, entwerfen sie nicht nur ein Bild ihrer Sprecher, mit den Cha rakteristika der Herkunft, des Status, der Bildung und der Ideologie, sie können darüber hinaus auch die aktuelle Bewertung der benannten Ge schehensmomente durch die sprechende Instanz anzei gen. Besonders rele vant ist hier die Namensgebung. Betrachten wir dazu ein Beispiel aus Cechovs Seelchen. 01 ' ga Semenovna Plemjannikova, die Heidin dieser Erzählung, wird in den Perioden ihres Eheglücks von den Leuten "Seel chen" genannt. Darin drückt sich Sympathie mit der selbstlos liebenden
266
v. Die narra tiven Transfonnationen
Frau aus. Auch Kukin, ihr erster Ehemann, nennt sie in der Hochzeits nacht, als er ihrer körperlichen Reize ansichti g wird, "Seelchen" (was na türlich eine - auktoriale - Allusion auf die in Apuleius ' Metamorphoses oder Der goldene Esel erzählte Geschichte von Eros und Psyche ist und uns den ironischen Autor zeigt). Der Erzähler nennt sie dagegen " Olen ' ka". Es ist am Leser, zu entscheiden, ob er dieses Hypokoristikon als au thentische narratoriale Namensgebung oder als Anpassung an die Per spektive des Milieus auffassen will. Von dieser Entscheidung hängt ab, weIche subjektive Haltung er dem Erzähler zuschreibt, warme Sympathie oder leise Ironie: Neben jener Wertung, die in der Benennung impliziert ist, begegnen wir auf der Ebene der Präsentation natürlich auch der expliziten narrato rialen Bewertung von Momenten der Geschichte. Beide Wertungsakte, die implizite wie die explizite Wertung, können sich auf die Diegesis beziehen, gehören aber selbst zur Exegesis. j) Ein ideal genetisches Modell der Perspektive Folgendes Schema stellt dar, mit welchen Transformationen die Perspek tive auf den verschiedenen Ebenen der Konstitution korreliert:
267
3. Die vier narrativen Ebenen
Präsentation der Erzählung
j�
l
Verbalisierung
J
1 . sprachliche P. 2. ideologische P.
Erzählung
j�
l
..
Komposition
J
J . ideologi sche P. 2. zei tl iche P. 3 . räuml iche P.
Geschichte
I . perzeptive P.
!.................................................
Geschehen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. 3. 4. 5.
ideologi sche P . räumliche P . zei tliche P . (sprachl iche P.)
268
V. Die n arrativen Transfonnationen
k) Erzählgeschehen und Erzählgeschichte Der Erzähltext enthält nicht nur die Präsentation der Erzählung, sondern auch die Gesamtheit der expliziten Wertungen, Kommentare, Generali sierungen, Reflexionen und Autothematisierungen des Erzählers. Solche Texteinheiten konstituieren nicht die Diegesis (die erzählte Welt), son dern die Exegesis (den Akt des Erzählens). Sie sind nicht einfach Ampli fikationen der Erzählung, sondern denotieren oder implizieren die Er zäh /geschichte, d. h. die Geschichte des Erzählakts, in deren Verlauf die Präsentation der Erzählung hervorgebracht wird. Die dargestellte Welt des Erzähl werks vereinigt also zwei ganz unterschiedliche Geschichten: 1.
Die präsentierte Erzählung mit der in ihr enthaltenen erzählten Ge schichte.
2. Die Präsentation selbst, d. h. die sie fundierende Erzählgeschich te. Die Erzählgeschichte ist in den meisten Erzähl werken nur in Fragmen ten gegeben , aber es gibt Werke, in denen sie voll ausgestaltet ist, ja sogar im Vordergrund steht. Das ist etwa der Fall in Laurence Sternes Life and Opinions 0/ Tristram Shandy Gentleman, wo die opinions der Exegesis das life der Diegesis überwuchern und fast v erdrängen. Fehlen explizite Erzählerkommentare und Autothematisierungen des Erzählers , so haben wir keine Erzählgeschichte, müssen aber grundsätz lich ein (natürlich auch fiktives) Erzäh lgeschehen ansetzen, ohne das es keine Erzähl geschichte gäbe. Aus dem Erzähl geschehen ist dann kein Ele ment für die Gestaltung einer Erzählgeschichte aus gewählt worden. Der Leser muss in diesen Fällen das Erzähl geschehen aus den Indizes , die in den narrativen Verfahren enthalten sind, rekonstruieren. Wenn die Ver fahren hinreichend deutliche Symptome enthalten, können auch in schein bar absolut erzählerlosen Werken die das Erzählen leitenden Bewusst seinshandlungen extrapoliert werden. Ein extremes Beispiel dafür ist Alain Robbe-Grillets La Jalousie , wo bei radikaler Aussparung des er zählten Ich und bei fehlender Autothematisierung des erzählenden Ich nur die vom Erzähler beobachtete Ehefrau, der Freund der Eheleute und die aufs genaueste beschriebenen Gegenstände der äußeren Welt figurieren (siehe dazu oben, I1.4.g). Die Auswahl der Gegenstände und ihre auffällig wiederholte Nennung dienen jedoch als Indizien für das nicht-thema tisierte Erzählgeschehen. Die scheinbar un persönliche, extrem objektiv wirkende, quasi-wissenschaftliche Beschre1bung mit den übergenauen Angaben der geometrischen Konstellationen , Maße und Winkel lässt zu-
3 . Die vier narrativen Ebenen
269
mindest einige Schlussfolgerungen zu über das, was im Erzähler während des Erzählens vorgehen mag. 1) Das semiotische Modell Idealgenetische Modelle bilden , wie bereits erwähnt, nicht den realen Schaffens- oder Rezeptionsakt ab, sondern simulieren mit Hilfe zeitlicher Metaphern die ideale, nicht-zeitliche Genesis des Erzählwerks mit dem Ziel , die das Erzählen leitenden Verfahren zu isolieren und in ihren Be ziehungen zu beleuchten. Zum Schluss betrachten wir das Modell der narrativen Ebenen von der anderen Sei te, d. h. wir gehen vom Erzähltext aus und fragen nach der Konstruktion der erzählten Geschichte und der Erzählgeschichte durch den Leser. Eine solche Perspektive führt zu einem semiotischen Modell , das die Korrelationen zwischen Signifikanten und Signifikaten im Prozess der Rezeption abbildet. Die einzige der Beobachtung zugängliche Ebene ist der Text des Er zählwerks. Alle anderen Ebenen sind Abstraktionen und Konstrukte. Der Text des Erzähl werks vereinigt, wie oben schon erwähnt, einerseits die Präsentation der Erzählung, anderseits die expliziten Wertungen, Kom mentare, Generalisierungen, Reflexionen und Autothematisierungen des Erzählers , d. h. der Text des Werks spaltet sich in einen diegetischen und einen exegetischen Teil. Die folgenden Ebenen fungieren jeweils als Sig nifikanten für die tieferen, d. h. dem Geschehen näheren Ebenen. Die se miotischen Prozesse, die hier stattfinden, sind Denotation und Indikation , hinzu tritt die logische Operation der Implikation. Folgendes Schema, in dem zwischen dem diegetischen und dem exe getischen Zwei g der narrativen Konstitution unterschieden wird, stellt die semiotischen Beziehungen zwi schen den Ebenen dar und modelliert die Konstruktion der Geschichte und des Geschehens sowie der Erzählge schichte und des Erzähl geschehens aus dem Erzähltext:
270
V. Die narrativen Transfonnationen
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27 1
3. Die vier narrativen Ebenen
m) Die Korrelation der Ebenen in der Wortkunst Bei der Unterscheidung von Ebenen, seien sie idealgenetischer oder se,.. miotischer Art, darf nicht übersehen werden, dass sie im Werk wie in der Rezeption gleichzeitig existieren. Oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass von einer endgültigen Überwindung des Geschehens durch die Ge schichte oder der Geschichte durch die Erzählung nicht die Rede sein könne. Im Erzähl werk existieren die narrativen Ebenen vielmehr simultan und bilden dabei eine dynamische Korrelation. Diese Korrelation sieht in verschiedenen Poetiken unterschiedlich aus . In der "ornamentalen" Prosa z. B . , die - wie ausgeführt wurde - nicht ein rein stilistisches , sondern ein strukturelles Phänomen ist, beschränkt sich die Ornamentalisierung nicht auf die Präsentation der Erzählung, sondern manifestiert sich auch auf den anderen Ebenen. Für eine ornamentale, wortkünstlerische Geschichte werden die Geschehensmomente nach et was anderen Gesichtspunkten ausgewählt als für eine erzählkünstlerische Geschichte. In der Erzählkunst besteht zwischen den ausgewählten Mo menten vor allem eine temporale Beziehung, und leitend für die Wahl ist die Relevanz der Momente für die zu erzählende Geschichte. In der Wortkunst dagegen spielen auch die nicht-zeitlichen Verknüpfungen wie Wiederholung, Leitmotivik und Äquivalenz eine führende Rolle. Ein Ge schehensmoment B wird dann nicht nur deshalb ausgewählt, weil es tem poral oder kausal auf das Moment A folgt (im Schema: -+) , sondern auch weil es mit einern späteren , Moment E eine thematische Äquivalenz ( 55 ) bilden soll. Die Kookkurrenz der zeitlichen und nicht-zeitlichen Verknüp fungen sei in folgendem Schema dargestellt A
-
B B
-
c
-
D -
E -
F -
G
E
Die durch die nicht-zeitlichen Verknüpfungen konstituierten Relatio nen unterwerfen die Ordnungen der drei Transformationsebenen ( 1 . das sprachliche Syntagma der Präsentation der Erzählung, 2. die Komposition der Erzählung, 3. das thematische Syntagma der Geschichte) einer poe tisch-ornamentalen Überdeterrninierung. In der Präsentation der Erzäh lung führt diese Überdeterrninierung zu Rhythmisierung und Klangwie derholungen, die auktorialen Status haben und in den Regel nicht auf die Erzählinstanz bezogen sind. In der Erzählung lenkt sie die Linearisierung
272
V. Die narrativen Transfonnationen
und Permutation, und auf das Syntagma der Geschichte legt sie ein Netz unzeitlicher Verknüpfungen nach dem Prinzip von Ähnlichkeit und Kon trast (vgl. dazu oben , l. 1 .e). Das bedeutet also: Die Omamentalität schlägt auf die Operation der Auswahl der Geschehensmomente und ihrer Eigen schaften durch. Vergleichbare Modifikationen des Modells der narrativen Konstitution sind überall dort erforderlich, wo die perspektivierende Er zählkunst mit Verfahren aperspektivischer Wortkunst überzogen wird.
Schluss Aufgabe dieses Buches war es , konstitutive Strukturen fiktionaler Erzähl texte zu betrachten. Dabei galt ein besonderes Augenmerk jenen Katego rien, mit denen der slavische (russische, tschechische, polnische) Forma lismus und Strukturalismus die internationale Narratologie bereichert hat. Die Konzentration auf das literarische Erzählwerk ist damit begründet, dass die genuin narratologische Theoriebildung im Wesentlichen immer noch im Rahmen der Literaturwissenschaft geschieht. Erzählt wird zwar in verschiedenen Medien und in vielen Lebens- und Kulturbereichen, und die Untersuchung von verbalen und nicht-verbalen Narrativen erfolgt auch außerhalb der Literaturwissenschaft (Schönert 2004), ja der Begriff Nar ratologie wird in jüngerer Zeit programmatisch im Plural gebraucht (Nün ning 2003), aber man operiert in den diversen Narratologien doch mit Kategorien, die der Literaturwissenschaft entstammen. Eine eigene narra tologische Kategorienbildung findet jenseits der Literaturwissenschaft i m Grunde kaum statt (vielleicht mit Ausnahme der Filmwissenschaft, i n der eigene Entwicklungen, vor allem zur Kategorie der Perspektive, beobach tet werden können). Nach wie vor ist die Mutterdisziplin der Narratologie die Literaturwissenschaft l • Und die Literatur scheint immer noch der Be reich zu sein, der die manni gfachen Möglichkeiten des Erzählens in exem plarischer Weise erprobt und exponiert. Damit der Ort der hier vorgelegten Narratologie im Kontext der ak tuellen Theoriebildung hinreichend deutlich werde, seien noch einmal die für das Buch charakteristischen Positionen zusammengefasst. 1. 1 . Als konstitutives Merkmal des Erzählens wird die Narrativität be trachtet. Angesichts der Konkurrenz der klassischen Position, die die Nar rativi tät an die Präsenz einer Vermittlungsinstanz bindet, und der struktu ralistischen Auffassung von Erzählen als jeglichem Darstellen von Zu standsveränderungen wird ein Kompromissvorscblag gemacht, der für den Begriff "narrativ" zwei unterschiedliche weite Bedeutungen vorsieht. NarDiesen Eindruck hat auch das Kolloquium Narratology beyond Literary Criticism be stätigt, das die Hamburger Forschergruppe Narratologie im Jahr 2003 veranstaltet hat (vgl. oben, S. 1 0 , Anm. 3).
274
Schluss
rati v im weiteren Sinne sollen Texte genannt werden, die eine Zustands veränderung darstellen und somit eine Geschichte (in der Minimalform "The king died") erzählen, als narrativ im engeren Sinne werden Texte be zeichnet, die eine Geschichte mit Vermittlung durch einen Erzähler prä sentieren. 1.2. Unter den Zustandsveränderungen, von denen es in literarischen Tex ten unübersehbar viele gibt, wird eine Klasse ausgegliedert, die besondere Bedingungen erfüllt, die Ereignisse. Im kritischen Ausgang von Jurij Lotman, der als Bedingung für das Ereignis oder - wie er sagt - das Sujet das Überschreiten einer Grenze, das Verlassen eines semantischen Feldes oder die Verletzung einer Norm vorsieht, wird folgende Definition vorge schlagen: Ein Ereignis ist eine Zustandsveränderung , die Realität und Resultativi tät voraussetzt und die Bedingungen der Relevanz, der Imprä diktabilität, der Konsekutivität, der Irreversibilität und der Non-Iterativität erfüllt. 1.3 . Die durch das Maß der Erfüllung dieser Kriterien bestimmte Ereignis haftigkeit ist eine gradationsfähige Ei genschaft von Ereignissen. Ereignis se können also mehr oder weniger ereignishaft sein. Während die Zu standsveränderung objektiv im Text erscheint, beruht die Erei gnishaftig keit auf einer von der Interpretation abhängigen Zuschreibung. Für die In stanzen, die mit einer Zustandsveränderung konfrontiert sind - den Hel den, den Erzähler und den fiktiven Leser, den Autor und den abstrakten Leser und natürlich den konkreten Leser - kann die Ereignishaftigkeit einer Zustandsveränderung in durchaus unterschiedlichem Licht erschei nen. 1.4. Neben den zeitlichen Verknüpfungen wie temporaler und kausaler Fol ge (von denen in eine Minimaldefinition der Narrativität lediglich die erste einzugehen braucht), beobachtet man in narrativen Texten, vor allem in solchen mit "ornamentaler" Faktur, auch unzeitliche Verknüpfungen nach dem Prinzip der - formalen und thematischen - Äquivalenz von Mo tiven auf den Ebenen der Geschichte und des Diskurses . 1.5 . Als zweites distinktives Merkmal der literarischen Narration wird die
Fiktionalität betrachtet. Der in dem Buch zugrunde gelegte Fiktionsbe
griff folgt dem Aristotelischen Begriff der Mimesis als Darstellung nicht des Gewesenen , sondern des Möglichen, als Machen handelnder MenI schen.
Schluss
275
1.6. In der Kontroverse um die Frage, ob der spezifische Status der Litera tur hinsichtlich der Ontologie der dargestellten Gegenstände oder der Pragmatik des darstellenden Diskurses zu bestimmen sei, hat die philoso phische Ästhetik deutlich an Terrain verloren. Den ,mainstream' markiert heute die auf die Sprechakt-Theorie gegründete pretense�Konzeption John Searles . Danach trifft der Autor eines fiktionalen Textes Feststellungen, die lediglich die Form von Feststellungen haben, in Wirklichkeit aber nur "vorgegebene" Feststellungen sind. Diese Auffassung wird in dem vorlie genden Buch nicht geteilt. Entgegen der heute dominierenden Meinung, wonach die Fiktionalität nicht durch Eigenschaften des Textes vorgegeben ist, folge ich der Konzeption K Hamburgers, nach der es durchaus ein Merkmal fiktionaler Texte gibt, nämlich die unmotivierte Darstellung fremder Innenwelt. Wie schon E. M. Forster ( 1 927) ausgeführt hat, ist das Eindringen in eine fremde Innenwelt ein Spezifikum fiktionaler Literatur. 1.7. Für die Fiktivität der dargestellten Welt wird nur eine Ja-Nein-Ent scheidung für sinnvoll gehalten. Jegliche mixed bag-Konzeption, nach der Personen, Räume oder Zeiten teilweise real und teilweise fiktiv oder ein Text teilweise fiktional und teilweise faktual sein können, wird verworfen . Napoleon ist in Krieg und Frieden ebenso fiktiv wie Natasa Rostova. Fik ti v- und Fiktional-Sein sind keine gradierbaren Eigenschaften. 11. 1 . Grundlage des Modells der Kommunikationsebenen ist die These, dass das Erzählwerk nicht erzählt, sondern ein Erzählen darstellt, somit zumindest zwei Ebenen der Kommunikation umfasst: Autorkommunikati on und Erzählkommunikation. Die realen, abstrakten und fiktiven Instan zen dieser Kommunikationen werden im Rekurs auf tschechische und pol nische Theorien in einem Modell der Kommunikationsebenen präsentiert. 11.2. Gegen die in den siebziger und achtziger Jahren weit verbreitete Kri tik am Autor wird an der Notwendigkeit der Kategorie des abstrakten Autors festgehalten. Im Gegensatz zum Erzähler ist der abstrakte Autor allerdings nicht spezifisch für die Narration und auch nicht eine darge stellte pragmatische Instanz des Erzählwerks. Rein semantische Größe, ist er vielmehr nur ein Rekonstrukt des Lesers aus den schöpferischen Akten , die das Werk hervorgebracht haben. Die Kategorie des abstrakten Autors ist insofern sinnvoll und erforderlich, als sie einen ObjektschaUen auf den Erzähler und sein Erzählen wirft. 11. 3 . Der abstrakte Leser, der nichts anderes ist als die Vorstellung vom Gegenüber, die der konkrete Leser dem abstrakten Autor zuschreibt, er-
276
Schluss
scheint einerseits als unterstellter Adressat und anderseits als idealer Re zipient. 114. Für den fiktiven Erzähler wird zwischen expliziter und impliziter Darstellung unterschieden. Letztere, die auf der Kundgabefunktion grün det, ist der basale Modus, der grundsätzlich immer mehr oder weniger aktiv ist, aber nie vollständig verschwindet. Insofern wird das Postulat eines erzählerlosen Werks oder der Existenz eines nonnarrator (Chatman) abgelehnt. Gegen die weit verbreitete Auffassung, dass der Erzähler im "objektiven" Erzählen von der Bühne gehe oder mit dem Autor ver schmelze, wird die These vertreten, dass der Erzähler präsent bleibt, und sei es auch nur in der Auswahl der Personenreden. 11.5 . Gerard Genettes komplizierter und semantisch in mancher Hinsicht problematischer Typologie des Erzählers wird eine vereinfachte Unter scheidung entgegengesetzt: die Triade der Einbettungen extradiegetisch, intradiegetisch, metadiegetisch wird durch primär, sekundär und tertiär ersetzt, die Dichotomie von homodiegetischem und heterodiegetischem Erzähler durch die Opposition von diegetischem (zur erzählten Welt gehö renden) und nichtdiegetischem (nicht in der erzählten Welt figurierenden) Erzähler ersetzt, eine Opposition, die weder mit explizit vs. implizit noch mit persönlich vs. unpersönlich noch auch mit irgendwelchen Dichoto mien der Perspektive identisch ist. 11.6. Der fiktive Leser, für den die Funktionen fikti ver Adressat und fiktiver Rezipient zu unterscheiden sind, wird im Wesentlichen implizit dargestellt, und zwar durch die Operationen des Appells und der Orientierung.
m. l . Die Kategorie der Erzählperspektive wird in einem weiten Sinne verstanden als der von inneren wie äußeren Faktoren gebildete Komplex von Bedingungen für das Erfassen und Darstellen eines Geschehens. Per spektivierung ist ein basales Verfahren, das niCht erst auf eine schon be stehende Geschichte angewendet wird, wie zahlreiche Modelle postu lieren, sondern sich bereits in der Konstitution der Geschichte durch die Auswahl von Geschehensmomenten bildet. Ohne Perspektive gibt es kei ne Geschichte. m.2. Für die Perspektive werden in der kriti,schen Nachfolge von Uspen skijs Ebenenmodell und in der Auseinandersetzung mit ihren Derivaten (Lintvelt, Rimmon-Kenan) fünf Paramete,'r unterschieden: Perzeption, Ideologie, Raum, Zeit, Sprache. In jedem dieser Parameter kann die Per spektive narratorial (auf den Erzähler bezogen) oder personal (auf die
Schluss
277
Person bezogen) sein. Die beiden Perspektivmöglichkeiten (neben denen eine dritte, "neutrale" nicht angenommen wird) gelten sowohl für diegeti .sche als auch für nichtdiegetische Erzähler. 111.3 . Die Perspektive kann kompakt, d.h. in allen fünf Parametern auf ein und dieselbe Instanz bezogen , aber auch distributiv, d. h. in einigen Para metern narratorial, in andern personal sein. Gerade die Distribution von narratorialen und personalen Merkmalen. erschwert die Lektüre moderner Prosa, deren oft unentscheidbarer Textaufbau zum Abbild der Unent schiedenheit des Seelenlebens wird.
IV . l . Das Phänomen der Perspektive wird in dem Buch verbunden mit der Korrelation von Erzählertext und Personentext, den bei den Elementen des Erzähltextes, die an der Textoberfläche oft in vermischter Gestalt als Er zählerrede und Personenrede auftreten. IV .2. Auf die Betrachtung zweier Abweichungen vom neutralen Erzähl text, der Poetisierung in der "ornamentalen" Prosa und der charakterisie renden Stilisierung im "Skaz" , zu deren Beschreibung und Typologisie rung Positionen russischer Theorie herangezogen werden, folgt eine diffe renzierte Analyse jenes Grundveifahrens moderner Prosa, das ich Interfe renz von Erzählertext und Personentext nenne und dessen bekannteste Manifestation die so genannte erlebte Rede ist. In der Auseinandersetzung einerseits mit den russischen Theoretikern Bachtin und Volosinov, die die erlebte Rede als agonales Phänomen modellieren, in dem der Erzähler die Bedeutungsposition des Helden bestreitet, anderseits mit dem tschechi schen Strukturalisten Dolezel, der das Phänomen rein stilistisch interpre tiert und um der Einfachheit der Analyse willen von Idealtypen der beiden Texte ausgeht, wird ein Modell vorgeschlagen, das den fünf unter schiedenen Parametern der Perspektive mögliche Merkmale für die Diffe renzierung von Erzählertext und Personentext zuordnet. Das Merkmal profil , das noch keine Vorentscheidung über die inhaltlichen Relationen der Texte enthält, fungiert als Instrument für die Analyse des jeweiligen Anteils der beiden Texte, der Neutralisierung ihrer Opposition und der Interferenz ihrer Intentionen. IV .3. Die wichtigsten Manifestationen der Textinterferenz, wie indirekte Darstellung von Reden, Gedanken und Wahrnehmungen, freie , indirekte Rede, erlebte Rede in ihren Grundtypen und Varianten, erlebte Wahrneh mung, erlebter innerer Monolog, uneigentliches Erzählen werden auf ihre
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Schluss
Funktionen befragt, von denen das Schaffen von Uneindeutigkeit und Bitextualität die unter dem Wirkaspekt grundlegende ist. V. 1 . In der Auseinandersetzung mit der Dichotomie Fabel vs. Sujet, mit deren Hilfe die russischen Formalisten (Sklovskij, Tynjanov) und ihnen nahe stehende Analytiker (Petrovskij , Tomasevskij , Vygotskij) den Kunst charakter der erzählenden Prosa zu erklären suchten, sowie der französi schen Dichotomie histoire vs. disco urs (Todorov) und den sich daran an schließenden Drei-Ebenen-Modellen (Genette, Bai , Garcia Landa, Stierle) wird ein ideal genetisches Vier-Ebenen-Modell der narrativen Konstitution vorgeschlagen. Den je zweiwertigen Begriffen Fabel und Sujet entspre chen die Ebenen Geschehen, Geschichte, Erzählung und Präsentation der Erzählung. Als Transformationsoperationen fungieren 1 ) die Auswahl von Geschehensrrwmenten und ihrer Eigenschaften (mit den Implikationen Raffung und Dehnung), 2) die Komposition (mit den Verfahren der Line arisierung und Permutation) und 3) die Materialisierung der Erzählung in einer medienspezifischen Sprache (in der Literatur die Verbalisierung). V .2. Die Perspektivierung ist nicht ein Verfahren unter andern und lässt sich auch nicht nur einer der Transformationen zuordnen, sondern figu riert in ihren unterschiedlichen Facetten als Implikat aller drei Transfor mationen. Dieser Sachverhalt wird an einem ideal genetischen Modell der Perspektive illustriert. V . 3 . Eine besondere Rolle spielt in der Rezeption das für eine Geschichte Nicht-Gewählte, denn eine Geschichte als sinnhaftes Ganzes zu erfahren heißt: die Logik ihrer Selektivität zu erschließen und den Charakter der Negativität der Selektion zu erfahren. V A. Für den Umgang des Lesers mit dem Nicht-Gewählten werden drei Modi unterschieden : 1 ) die Nicht-Aktivierung von irrelevant scheinenden nicht-gewählten Geschehensmomenten und Eigenschaften, 2) die Abwei sung nicht-gewählter Momente, die sich für die Ausfüllung von Unbe stimmtheitstellen anbieten, 3) die Aufhebung der Negation. V . 5 . Das Buch wird beschlossen durch ein semiotisches Modell , das von dem der Erfahrung zugänglichen Text des Erzählwerks ausgeht und das für den diegetischen (die Geschichte betreffenden) und den exegetischen (die Präsentation betreffenden) Zweig des Werks die semiotischen Opera tionen der Denotation, Indikation und Impl�kation skizziert und somit die Wahrnehmung des Erzählwerks , der in ihm erzählten Geschichte und Er zählgeschichte durch den Leser nachzeichnet.
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Literatur
Zipfel, Frank 200 1 Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität: Analysell zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktiollsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin 200 1 . Zirmunskij, Viktor 1921 Zadal!i poetiki I Die Aufgaben der Poetik. Russ.-dt. in: S tempel (Hg.) 1 972, 1 36- 1 6 1 . 1 927 Novejsie rel!enija istoriko-literatumoj mysli v Germanii . In: Poetilal, Bd. 2, Leningrad 1 927, S . 5-28. Z6tkiew ski, S tefan 1 97 1 Rez. zu Uspenskij 1 970 . In : Pami�tnik literacki, Bd. 62 ( 1 97 1 ), S . 354-363. 1 972 Poetique de la composition [= Rez. zu Uspenskij 1 970]. In: Semiotica, Bd. 5 ( 1 972), S. 206-224. Zuckerkandl, Viktor 1 958 Mimesis. In : Merkur, Jg. 1 958, H. 1 2, S. 224-240.
Glossar und Index narratologischer Begriffe
I n diesem Verzeichnis sind narratologische Begriffe aufgeführt, die in dem vorliegenden Buch in einem spezifischen Sinne gebraucht werden. Zusammengesetzte B egriffe (wie "er lebte Rede") erscheinen unter dem Substantiv ("Rede, erlebte"). Die Ziffern verweisen auf die Seiten , auf denen die Begriffe eingeführt oder definiert werden. Kursiv gesetzte Seiten zahlen beziehen sich auf Fußnoten. Bei mehrseitigen Fußnoten ist jene Seite angegeben , auf der die Fußnote beginnt. =
Adressat die vom Sender als Empfänger unterstellte oder intendierte Instanz 47 - unterstellter eine der beiden Hy postasen des abstrakten Lesers 69 =
Ansteckung der Erzählerrede am Perso nentext 2 1 2 Aperspektivismus (der ornamentalen Prosa) 1 59 Appell = Aufforderung an den Adressa ten, eine bestimmte Position einzu nehmen 105 Äquivalenz (Similarität und Opposition) 28 - formale = Verklammerung zweier Erzählsegmente aufgrund eines formalen Merkmals 28 - thematische = Verklammerung zweier Erzählsegmente aufgrund eines thematischen Merkmals 2728 auktorial
=
auf den Autor bezogen J 33
Auswahl von Geschehensmomenten als Indiz für den Erzähler 72 - als konstitutive Operation der Bil dung einer Geschichte 249 Auswahl von Qualitäten der Geschehens momente - als konstitutive Operation für die Bildung einer Geschichte 249 Autor =
abstrakter 1 . Signifie aller indizialen Zeichen
-
des Textes, die auf den Sender be zogen sind 50 2. anthropomorphe Hypostase al ler schöpferischen Akte 6 1 3 . (Re)-Konstrukt des Lesers auf der Grundlage seiner Semantisie rung des Werks 62 konkreter = historische Figur des Autors 48-49
Autorkommunikation (reale> Kommunika tion zwischen Autor und AdressatlRe zipient) 46 Benennung - direkte personale 1 95 Bewertung der ausgewählten Geschehens momente (als Indiz für den Erzähler) 73 Binnengeschichte 83 Bitextualität (als Eigenschaft der Textin terferenz) 2 1 9 Darstellung - explizite und implizite (des Erzäh lers) 72 - explizite und implizite (des fikti ven Lesers) 103 Dehnung 25 1 Detaillierung der ausgewählten Gesche hensmomente (als Indiz für den Er zähler) 73 Diegesis = erzählte Welt 85
308
Glossar und Index narratologischer B egriffe
Diegesis im Sinne Platons = das eigen tli che Erzählen im Gegensatz zur Mime sis als Nachahmung der Personenrede 85, 1 5 1 , 1 77 diegetisch 85
=
zur erzählten Welt gehörend
Erzählmonolog - dialogischer 1 1 1 Erzählperspektive = der von inneren und äußeren Faktoren gebildete Komplex von Bedingungen für das Erfassen und Darstellen eines Geschehens 1 25
Diskursgeschichte = Erzählgeschichte
Erzähltext 1 5 1
Disposition (dispositio,
Erzählung (als Ebene der narra t iven Kon stitution) 243
L
Distribution (der Merkmale auf Erzählertext und Personentext) 1 77 Doxa = das in der jeweiligen narrativen Welt allgemein Erwartete 23 elocutio
(Ml;L<;) 243 =
Ereignis Zustandsveränderung, die Rea lität und Resultativität voraussetzt und weitere Bedingungen erfüllen muss 20-22 Erfassen eines Geschehens 1 26 Erzählen - uneigentliches 2 1 2 Erzähler - fiktiver 48, 72 -. diegetischer = Erzähler, dessen früheres Ich als Figur der erzähl ten Geschichte auftritt ("Ich Erzähler") 86 - nichtdiegetischer = Erzähler, der nicht an der erzählten Geschichte teilhatte ("Er-Erzähler") 86 - primärer, sekundärer, tertiärer = Erzähler einer Rahmengeschichte, Binnengeschichte bzw . Binnenge schichte zweiten Grades 83 Erzählerrede 1 54- 1 56 Erzählertext = �nvermischter, von Antei len des Persontextes freier Text des Erzählers 1 54- 1 56 Erzählgeschehen 268 Erzählgeschichte 1 8 , 268 Erzählkommunikation = dargestellte Kommunikation zwischen fiktivem Erzähler und fiktivem Leser 46 Erzählkunst 1 57 - 1 5 8
Erzählung in der zweiten Person 90 Exegesis = Ebene des Erzählens und der das Erzählen begleitenden Kommen tare 85-86 Faktizität einer Zustandsveränderung als Bedingung für das Vorliegen eines Ereignisses 2 1 faktual (als Gegenbegriff zujiktiv) 32 Fiktion = künstlerische Konstruktion einer möglichen Wirklichkeit 34 fiktional = Eigenschaft von Repräsentati onen fiktiver Welten 3 2 fiktiv = Eigenschaft der in fiktionalen Repräsentationen dargestellten Welt: dargestellt ohne Referenz auf eine au ßertextliche Realität 32-34, 43-45 Fiktivität der Personen, Situationen, Handlungen, Räume und Zeiten in fik tionalen Repräsentationen 43-44 Geschehen = die amorphe Gesamtheit der in einer Geschichte implizierten Situa tionen, Personen und H andlungen 1 25, 24 1 , 242, 248 Geschehensmomente = die für eine Ge schichte ausgewählten Situationen, Personen und Handlungen 242 Geschichte 1 . als Inhalt einer Erzählung im , Gegensatz zum Diskurs 1 6 , 2 . als Ergebnis der Auswahl der Geschehensmomente und ihrer Qualitäten 242
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Glossar und Index narratologischer B egriffe Handlung = Zustandsveränderung, die durch einen Agenten herbeigeführt wird 1 3 Ich - erzählendes 86 - erzähltes 86 Imprädiktabilität (als Bedingung hoher Ereignishaftigkeit) 23-24 Impression = Versuch der Beeindruckung; ein Typus des Appells, der implizit den flktiven Lesers entwirft 1 05 Inklusion der Personenrede in den Erzähl text 152 Interferenz von Erzählertext und Perso nentext 1 77-1 79 Introspektion des Erzählers in das Be wusstsein einer Person 1 3 1 inventio
(eügeOLC;) 242
Irreversibilität (als Bedingung hoher Ereignishaftigkeit) 23-24 Komposition der Erzählung (als Operation in der narrativen Konstitution) 262 Komposition des Erzähltextes (als Indiz ' für den Erzähler) 73 Konkretisierung der ausgewählten Ge schehensmomente (als Indiz für den Erzähler) 73 Konsekutivität (als Bedingung hoher Ereignishaftigkeit) 24-25 Konstitution - narrative 223 Kookkurrenz zwischen den Ordnungen von Diskurs und Geschichte 1 6 1 Kundgabefunktion 72 Leser -
-
abstrakter = Inhalt jener Vorstel lung des Au tors vom Empfänger, die im Text durch indiziale Zei chen flxiert ist 68 flktiver (narrataire, narratee, nar ratator) = Adressat des flktiven
-
Erzählers 100 konkreter 48
Linearisierung des in der Geschichte simultan Geschehenden in einer Dar bietungssequenz 243, 259 Markiertheit des Erzählers 77-78 Merkmale (für die Differenzierung von Erzählertext und Personentext) - grammatische (der Personalform, des Tempus, des Zeigsystems) 1 82 - ideologische 1 82 - der Sprachfunktion 1 83 - stilistische (der Lexik, der S yntax) 1 83 - thematische 1 82 Mimesis (im Sinne Aristoteles') 34-35, 151 Mimesis (im Sinne Platons) 34, 1 5 1 , 1 77 Modus - narrativer 1 6- 1 8 - deskriptiver 1 6- 1 8 Monolog - direkter innerer 1 9 1 - erlebter innerer 1 9 1 , 20 8 narrativ (im engeren S inne Zustandsverän derungen mit Vermittlung einer Erzählinstanz darstellend) 1 8- 1 9 (im weiteren S inne Zustandsverän derungen darstellend) 1 9 =
=
Narratorialität 170 Negation der Wahl von Geschehensmo menten - aufzuhebende 258 Nicht-Auswahl von Geschehensmomen ten und Eigenschaften für die Ge schichte 257 Neutralisierung (der Opposition von Er zählertext und Personentex t) 1 84- 1 85 Non-Iterativität (als Bedingung hoher Er eignishaftigkeit) 26
3 10
Glossar und Index narratologischer B egriffe
Orientierung = Ausrich tung des Erzählers am Adressaten; ein Mittel der implizi ten Darstellung des Erzählers 1 06 Ornamentalismus ( Überwiegen von un zeitlichen Verknüpfungen) 29-30 Parameter der Perspektive 1 27 Permutation der Segmente der Geschichte gegen die natürliche chronologische Folge 243, 260 Personalisierung des Erzählens 1 54 Personenrede 1 54- 1 56 Personentext = reiner, unvermischter Text der Person 1 54- 1 56 Perspektive - distributive 148 ideologische 1 27 - 1 29 kompakte 1 47 narratoriale 1 32 personale 1 32 perzeptive 1 3 1 räumliche 1 27 sprachliche 1 30- 1 3 1 zeitliche 1 29-1 30 Perspektivierung als Implikat aller Trans formationsoperationen 246 Präsentation der ausgewählten Gesche hensmomente als Indiz für den Erzäh ler 73 Präsentation der Erzählung 243 , 264 Prosa - ornamentale 1 70 Raffung 25 1 Rahmengeschichte 83 Realität einer Zustandsveränderung (als Bedingung für das Vorliegen eines Ereignisses) 2 1 Rede - direkte 1 89 - entpersönlichte direkte 1 9 1 - erlebte 1 89, 200, 2 1 2 - freie indirekte 1 99
- indirekte ( = indirekte Darstellung der Rede, Gedanken und Wahr nehmungen) 1 89, 1 96 - narratoriale indirekte 1 98 - personale indirekte 198 Relevanz der Zustandsveränderung (als Bedingung hoher Ereignishaftigkeit) 22-23 Reproduktion (des Personentextes im Er zähltext) 2 1 2 Resultativität einer Zustandsveränderung (als Bedingung ffir das Vorliegen ei nes Ereignisses) 2 1 Rezipient = i m Gegensatz zum Adressaten der faktische Empfänger 47 - fiktiver = Figur einer primären Geschichte, die die Erzählung ei nes sekundären Erzählers wahr nimmt 1 0 1 idealer = eine der beiden Hyposta sen des abstrakten Lesers 69 Selektivität der Geschichte hinsichtlich des Oeschehens 252 Simultaneität (der durch unzeitliche Ver knüpfungen verbundenen Gesche hensmomente) 30 =
Sinnlinie ideelle Linie, die der Erzähler durch die auszuwählenden Momente des Geschehens hindurchlegt 247 Situation s. Zustand Skaz - charakterisierender 1 70 - ornamentaler 1 70 , 1 74 Sukzessivität (der Geschehensmomente in , der Geschichte) 30 . Text - erzählender narrativer Text, der . Zustandsveränderungen mit Ver I mittlung durch eine Erzählinstanz . darstellt 1 7 - 1 9 - �imetischer narrativer = Text, der Zustandsveränderungen ohne ver=
I
Glossar und Index narratologischer B egriffe mittelnde Erzählinstanz darstellt 17-19 - narrativer Text, der Zustands veränderungen darstellt 1 7- 1 9 - deskriptiver Text, der Zustände darstellt 1 7 - 1 9 Textinterferenz s. Interferenz v o n Erzäh lertext und Personen text Transformationen (in der narrativen Kon stitution) 223 ==
==
Uneindeutigkeit (als Wirkung der Textin terferenz) 2 1 7 Verbalisierung als konstitutive Operation der Präsentation der Erzählung (in der Literatur) 264 Verknüpfung - zeitliche 27 - unzeitliche Verknüpfung nicht aufgrund temporaler oder kausaler Folge, sondern aufgrund von Ä quivalenz 27 Vorkommnis == Zustandsverändef!.lng, die einem Patienten zugef'ligt wird 1 3 ==
311
Wahrnehmung - erlebte 207 Welt - dargestellte == Produkt der Tätigkeit des Au tors 46 - erzählte == Produkt der Tätigkeit des fiktiven Erzählers 46 ==
- zitierte Produkt der erzählenden Tätigkeit der Person 46 Wertungshaltung 1 28 Wissen 1 2 8 Wortkunst 1 5 8 , 27 1 Zeichen - indiziale 50
==
Symptome, Anzeichen
==
Zustand Menge von Eigenschaften , die sich auf eine Figur oder die Welt in einer bestimmten Zeit beziehen 1 3 Zustandsveränderung 1 3 Zweistimmigkeit (als Wirkung der Textin terferenz) 1 7 1
Index der Namen und Werke
Kursiv gesetzte Seitenzahlen v erweisen auf Fußnoten. Bei mehrseitigen Fußnoten ist jene Seite angegeben, auf der die Fußnote beginnt. Sei ten, die unter dem Werk eines Autors aufgeführt sind, erscheinen nicht unter seinem Namen.
Abramov, Fedor 2 1 3 Abbott, Edwin A . Flatland. A Romance of Many Dimen sions 77 Anderegg, Johannes 3 7, 279 Andriev skaja, A. A. 207, 279 Angelet, Christian 1 1 6, 1 1 8, 279 Apuleius Luciu s Asinus aureus (Metamorphoseon libri) 75, 266 Aristoteles 23, 3 3 , 34, 42 De arte rhetorica 23 Astaf'ev, Viktor P . . Ode auf den russischen Gemüsegarten (Oda russkomu ogorodu) 88 Augustinus Aurelius Confessiones 97 Aumüller, Matthias 224, 279 Austen , Jane Emma 1 87 Austin, John Langshaw 35, 279 Babel ' , Isaak E. 1 62 Der Obergang über den Zbrui! (Pere chod cerez Zbruc) 1 62 Bachtin, Michail 9, 5 1 , 55 , 6 1 , 63, 70-7 1 , 106- 107, 1 20 , 1 66, 1 69, 1 78- 1 79, 1 87, 1 95 , 205, 2 1 7, 2 1 8, 220-22 1 , 277, 279 Bai, Mieke 5 8-59, 84, 102, 1 1 5 , 1 1 6, 1 1 81 1 9, 2 1 9, 220, 239-24 1 , 245 , 278-279 Balcerzan, Edward 5 3 , 280 Bally , CharIes 1 88 , 2 1 4, 2 1 7, 2 1 9, 280 Banfield, Ann 78, 1 88, 200, 2 1 9, 220, 280 Barthes, Roland 15, 55, 7 3 , J OD, 236, 280
Bartoszynski, Kazimierz 48, 280 Beardsley, Monroe C. 54, 305 Belinskij, Vissarion 1 40 Belyj, Andrej 157 Petersburg (Peterburg) 1 6 1 Die silbe rn e Taube (S erebrjanyj go lub ') 1 76 Die Symphonien (Simfonii) 1 60- 1 6 1 Benveniste, Emile 236, 280 Berend, Alice Die Bräutigame der Babette Bomber ling 1 44, 202 Jungfrau Binchen und die Junggesel len 205 Berendsen, Marjet 1 / 8, 2 8 1 Blin , Georges 1 1 6 , 28 1 Bonheim, Helmu t / 1 3, 28 1 Booth, Wayne C. 53-54, 57-58, 62, 66, 76, 92, 2 8 1 Borges, Jorge Luis La forma de La espada 89 Boyd, John D. 34, 28 1 Bremond, Claude 238, 28 1 Breuer, Horst 92, 28 1 Broich, Ulrich 1 33 , 28 1 Bronzwaer, W. 1. M. 37, 57, 58, 1 1 9, 220, 28 1 Brooks, Cleanth 1 1 6, 28 1 Browning, Gary L. /57, 28 1 Brugmann, Karl 3 7, 28 1 Bühler, Karl 37, 49, 50, 72, / 57, 1 80, 1 82, 28 1 Bühler, WiIIi 187, 207 , 2 1 0, 282 Bulachovskij, L. A. 1 99, 282
3 14
Index der Namen und Werke
Bunin, Ivan A . A m Ausgang der Tage ( U istoka dnej) 88 Leichter A tem (Legkoe dychanie) 23()233 Burgmann-Schmid, Irina 1 73 Busch, Ulrich 37, 75, 282 Caesar Gaius Iulius Commentarii de Bello Gallico 88, 1 86 Camus, Albert La Chute 1 1 0 C apek, Karel Der Dichter (Basnik) 1 28- 1 29 Erzählungen au�· der einen Tasche (Povidky z jedne kapsy) 1 28 Carden, Patricia 1 57, 282 Cassi rer, Ernst 1 60- 1 6 1 , 282 Cechov, Anton Pavlovie 69, 210 Die Bauem(Muziki) 220 Die Braut (Nevesta) 23, 25-26, 3 1 Die Dame mit dem Hündchen (Dama s sobaekoj) 27, 3 1 , 2 1 3 Ein Ereignis (Sobytie) 22-23 10nyc 31 Der Literaturlehrer (Ueitel ' sloves nosti) 23-25 Rothschilds Geig e (Skripka Rotsil 'da) 1 62-163, 2 1 2, 249-25 1 , 263 Seelchen (Dusecka), 26, 3 1 , 256-257 Springinsfeld (Poprygun 'ja), 3 1 Der Student (Student) 1 40, 1 42, 1 48, 212 Cernysevskij, Nikolaj G . Was soll ma,i tun (e to delat') 1 93 Cervantes Saavedra Miguel de Coloquio de los perros 76 Novelas ejemplares 76 Cervenka, Miroslav 52, 67, 282 Chanpira, E. 1 20, 282 Chatman , Seymour 1 3 , 1 9 , 56, 57, 6 1 , 62, 78-79, 237, 276, 282 Cilevie, Leonid M. 224, 282 Coetzee, 1. M. The Master of Petersburg 205
Cohn , Dornt 36, 39, 40 , 86, 92, 1 1 5 , 1 33, 2 1 0, 247, 282 Conan-Doyle, Arthur 94 Crittenden, Charles 36, 283 CUdakov , Aleksandr P. 50-5 1 , 1 65- 1 66, 2 1 3 , 220, 283 C udakova, Marietta 0 . 1 65- 1 66, 283 Culler, Jonathan 245 , 283 Curtius , Ernst Robert 1 5 1 , 243 , 283 Danneberg, Lutz 54, 283 Diaz Arenas, 47, 283 Dibelius, Wilhelm 224, 283 Diengott, NilIi 56, 283 Diomedes, 85, 1 5 1 DoleZel, Lubomir 20, 34, 3 5 , 42, 45, 8687, 1 54, 1 55, 1 80- 1 8 1 , 1 83- 1 84, 1 88, 1 91 , 2/4, 224, 277, 283 Dostoev skij , Pedor M. 23 , 64, 1 52 Aufzeichnungen aus dem Kel lerloch (Zapiski iz podpol 'ja) 59, 98, 106, 1 1 01 1 2, 1 66, 1 69 Die Brüder Karamazov (Brat 'ja Kara mazovy), 25, 44, 61 , 63, 74, 75, 95, 1 23, 1 24, 1 3 2, 1 65 , 1 95 Die Dämonen (Besy) 95, 1 23 , 1 32 Der Doppelgänger (Dvojnik) 1 39- 1 40, 1 46- 1 47 , 1 87 , 1 94 , 1 98- 1 99 , 206-209 Eine dumme Geschichte (Skvernyj anekdot) 1 79, 2 1 2, 2 1 9 Der ewige Ehemann (Veenyj mu z) 798 1 , 1 35 - 1 36, 1 95 Herr Procharcin (Gospodin Prochar ein) 1 99-200 Der Jüngling (Podrostok) 85, 92-94, 96-98, 107-1 1 0 , 1 35-1 36, 1 44, 1 46 , 1 54, 1 86, 1 95, 1 96, 2 1 1 Nettchen Nezvallova (Netoeka Nezva nova) 2 1 0 Die Sanfte (Krotkaja) 1 0 6 , 1 10 - 1 1 1 . 1 35 , 1 44- 1 45 Drozda, Miroslav 1 20, 284 Duja�din, Edouard 1 94, 284 l4s laurier.� sollt coupes 1 93 Duppnt-Roc, Roselyne 33, 284
Index der Namen und Werke Eckermann, ]ohann Peter 20 Eco, Umberto 67, 284 Ejchenbaum, Boris M. 1 66- 1 69, 1 7 6 , 228 , 284 Else, Gerald F. 34, 284 Eng, ]an van der 70, 284 Evdokimova, Svetlana 55, 284 Fehr, Bernhard 207, 284 Feuchtwanger, Lion Der jüdische Krieg 1 43 , 204 Fieguth, Rolf 48, 53, 285 Flaubert, Gustave 53 Madame Bovary 1 87 , 204 Fludernik, Monika 90 , 1 83, 203, 2/9, 220, 240, 285 Forster, Edward M . / 4 , 4 / , 239, 275, 285 Foster, Ludmila A. / 20, 285 Foucault, Michel 55, 285 Frank, Bruno Tage des Königs 203 Frei se, Matthias 55, 285 Friedemann, Käte 1 1 - 1 2, 74, 285 Friedman, Norman 77, 82, 285 Frisch, Max Stiller 3 8 Füger, Wilhelm 82-83 , 90 , 285 Fuhrmann , Manfred 33, 285 Gabriel, Gottfried 32, 285 Gajdar, Arkadij 2 / 0 Garcia Landa, lose A ngel 3 3 , 224, 239, 240-24 1 , 278, 285 Gebauer, Gunter 33, 286 Genette, Gerard / 6, 32, 36, 37, 38, 39, 40, 42, 57, 60, 68, 84, 85, 87, 89-90, 94, 1 00, 102, 1 1 3 , 1 1 4, 1 1 5 - 1 1 9, 1 24- 1 26, 1 33 , 1 45- 1 46, 2 1 9, 224, 239, 240-24 1 , 276, 278, 286 George, S tefan 1 5 8 Gersbach-Bäschlin, Annette 2 / 0, 286 Glauser, Lisa / 87, 286 Glowinski , Michat 67, 1 02, 1 10, / 52, 286 Gofman, Viktor 1 65, 286 Gogol ' , Ni kolaj V. 1 87 Abende auf dem Vorwerk bei Dikan ' ka
315
(Vel!era na chutore bliz Dikan 'ki) 103, 1 69, 1 72, 1 76 Der Malltel (S inel ' ) 1 67 , 176 , 200 , 209 Der Revi�'or (Revizor) 1 23 Die Toten Seelen (Mertvye du�i) 1 69 Gogotisvili, L. A . 61 , 7 1 , 286 Gölz, Christine 50, 286 Goncarov, Ivan A. 1 87 Goethe, ]ohann Wolfgang 20 Die Wahlverwandtschaften 1 87 Goetsch, Paul / 04, 286 Grabienski, Olaf / 74 Greimas, Algirdas ]ulien 238, 286 Grimm, Gunter 67-6 8 , 286 Grimmelshausen, Hans ]acob Christoffel von Simplicissimus 97 Gukovskij, Grigorij A. 1 20, 286 Günther, Wemer 2 1 5 , 220, 287 Gurvil!, Isaak A. 1 20, 287 Haard, Eric A . de 8/ � 287 Haller, Rudolf 45, 287 Hamburger, Käte 33, 34, 36-39, 4 1 , 74, 78, 85, 92, /44, 202-203, 2 1 0, 275, 287 Hansen-Löve, Aage 4/, / 5 7, / 58, / 60, 1 64, / 67, 224, 234, 287 Harweg, Roland 8/, / 05, 287 Heine, Hein rich 98 Hemingway, Ernest 78-79 Hempfer, Klaus 36, 287 Herdin, Elis 203, 288 Herman, David /0, 288 Herman, ]an 279 Hesse, Hermann Der Steppenwolj 2 1 0 Hodel, Robert / 87, 288 Hoek, Leo H. 47, 57, 288 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 76 Lebensansichten des Katers Murr 70 Nachricht von den neuesten Schicksa lell des Hundes Berganza 70 HofmannsthaI , Hugo von 1 5 8 . Holthusen , ]ohannes 9 3 , / 99, 2 1 2, 2/3, 288
316
Index der Namen un d Werke
Holy, Jii'{ 1 80, 288 Homer Ilias 152- 1 53 Hoops, Wiklef 34, 288 HonUek, Karel 37, 288 Hrabal, Bohumil Scharf bewachte Züge (Osti'e sledova ne vlaky) 99 Hühn, Peter 27 II ' in, I. P. 55, 69, 77, I OD, 1 1 6, 288 Ingarden, Roman 42, 252, 258, 288 Iser, Wolfgang 66, 288 Ivancikova, E. A. 50, 288 Jahn, Manfred 1 3 , 84, 94, 1 1 3, 289 Jakobson, Roman 9, 28-29, 1 58, 225, 289 James, Henry 1 9, 78, 83, 1 1 3 , / 26 James, William 1 94 Janik, Dieter 45, 47 , 48, 152, 289 Jannidis, Fotis 54, 55, / 28, 289 Jashi ska, Maria 102,' 289 JauB, Hans Robert 1 88 , 289 Jedlickova, A lice 1 0 1 , 289 Jekutsch , Ulrike 203, 289 Jensen, Peter Alberg 1 57, 290 Jost, Franc;:ois 1 1 7, 290 Joyce, James Ulysses 1 94, 203 Juhl, Peter D. 55, 290 Kabli tz, Andreas 1 1 6, 1 1 7, 290 Kafka, Franz Ein Bericht für eine Akademie 76 Forschullgen eilles HUlldes 76 Das Schloss 92, 2 1 0 Kainz, Friedrich 50, 290 Kalepky, Theodor 2 1 7 , 290 Kannicht, Richard 33, 290 Karamzin, Nikolaj M. Die Arme Liza (Bednaja Liza) 9 1 , 96, 10 1 , 1 86, 265 Natal'ja , die Bojarelltochter (Natal 'ja, bojarskaja doc ' ) 9 1 Kassil, Lev A. 2 1 0 Katkov, Michail N . 255
Kayser, Wolfgang 98, 290 Keil, Rolf-Dietrich / 04 Keller, Gottfried Der grüne HeilIrich 92 Kindt, Tom 1 0, 53, 55, 57, 290 Klepper, Martin 77, 187, 290 Kohl, Stephan 33, 29 1 Koller, Hennann 33, 29 1 Konnan , Boris O . 5 1 -52, 6 1 , 67, 1 66, 29 1 Korte, Barbara 90, 29 1 Korthals, Holger /2, 14, 15, 29 1 Kovtunova, l. 1. 1 90, 29 1 Korevnikova, Kveta 1 71 , 29 1 Korevnikova, Natal 'ja A. 88, 1 56 , 1 57, 161, 1 69, 1 75, 2 1 1 , 2 1 3 , 29 1 Koziol, H. 37, 29 1 Kracht, Christian Faserlalld 1 74 Kristeva, Julia 55, 29 1 Krojcik, L. E. 1 66, 294 Kullmann, Dorothea 203, 204, 29 1 -292 Uftman , Emil 2 1 7 -2 1 8 , 292 Lallot, lean 33, 284 Lamarque, Peter 35, 292 Lanser, Susan S. 55, 94, 1 1 3, 292 Lauer, Gerhard 289 Leibfried, Erwin 82-83, 92, 292 Leonov , Leonid M. Egoruskas Ulltergallg (Gibe i ' Ego rusk i) 1 77 Tuatamur 1 77 Lerch, Eugen 200, 2 1 5 , 292 Lerch, Gertraud 1 87, 2 1 5 , 292 Lennontov, Mi chai l Ju. 1 87, 265 Ei1l Held ullserer Zeit (Geroj naliego vremeni) 60, 95 Lesage, Alain-Rene Histoire de Gil Blas de Salltillalle 94 Leskov, Nikolaj S . 1 67- 1 68 Levin, V . D. 1 57, 292 Lichaöev, Dimi trij S. 50, 292 Link, lIannelore 47, 68, 292 Lintv�l t, Jaap 47, 57, 69, 70, 8 1 , 82, 1 / 3, I �O, 1 24, 1 29, 1 33 , 276, 292 Lips, Marguerite 1 87, 2 1 4 , 292
Index der Namen und Werke Lockemann, Wolfgang 37, 292 Lorck, Etienne 1 77, 2 1 5 , 293 Löschnigg, Martin 39, 293 Lotman, Jurij M. 9 , 20, 23, 274, 293 Lubbock, Percy 1 9, 77, 82, 1 1 3 , 1 26, 293 Luhmann, Niklas 250, 293 Lukian Lukios, der Esel (Aolnuoc; � ÖVOC;) 75 Lukios von Patrai Metamorphosen (MEtUI.I.0QcpWOEWV A.6ym) 75 Mann, Thomas Bekenntllisse des Hochstaplers Felix Krull 97-98, 2 1 0 KÖlligliche Hoheit 1 42 Lotte in Weimar 1 44 Der Tod in Velledig 1 5 Märchell aus Tausend ulld einer Nacht 84 Markovic, Vladimir M. 55. 293 Markus. Manfred 1 1 3, 293 Martinez. Matias 1 5 . 3 8-39. 53. 94. / 26. 239. 254. 289. 293 Martinez Bonati. Felix 36, 42. 293 Mathauserova. S vetla / 20. 294 Matlaw. Ralph E. 75. 294 McHale Brian 200. 294 Meijer, Jan M. 75. 294 Meister. Jan Christoph /0, 16, 20, 2 1 . 294 Melville. Herman Moby Dick 98 Moll Flanders 99 Meyer. Kurt Robert 2 1 0. 294 Moenninghof. Burkhard 3 8 . 294 Morrison . Sister Kristin / 26. 294 Mukarovsky, Jan 52, 294 Müller, Günther 252. 294 Müller. Hans-Harald / 0, 53 . 54, 55. 57, 283, 290 Muscenko E. G. 1 66. 294 ,
Nabokov. Vladimir V. Das Auge (Sogljadataj) 89 König , Dame, Bube (Korol dama, va let) 60 Schwerer Rauch (Tjdelyj dym) 88 ' ,
3 17
Neschke, Ada B. 33 . 294 Nestorchrollik 1 87 Neubert. Albrecht / 77, / 87, 2 1 5 , 295 Neuse, Wemer 1 87, 295 NibelulIgenlied 1 87 Nünning, Ansgar 1 0. 55, 56, 76, 84, 94, 1 1 3, / 1 8, 247, 273 , 289, 295 Ohmann, Richard 36, 295 OkopieIi-StawiIiska, Alexandra 48, 5 3 , 1 02, 295 Olsen , Stein Haugom 35. 292 Orwell, George Nilleteell Eighty-four 44 Oulanoff, Hongor /57. 295 Paduceva, Elena V. 86. 90 , 102, 1 80, 1 88 . / 99, 2 1 9, 296 Panova, Vera 213 Parsons, Terence 45, 296 Paschen. Hans 47, 296 Pascal, Roy /33, 1 87, 200, 296 Pavel , Thomas G. 42, 45, 296 Peirce, Charles S anders 50, 52, 296 Penzkofer, Gerhard 8/ , 296 Peskovskij , A. M. 1 97, 296 Petersen, Jürgen H. 3 7, 80, 9 1 -92, / / 4 , 1 33 . 296 Petrov-Vodkin, K. S . Chlynovsk. Meine ErzählulIg (Chly novsk. Moja povest') 88 Petrovskij. Michail A. 228-230 , 235. 238, 278, 296 Philippe, Charles Louis Bubu de MOlltpamasse 80 Pier, John 239, 240. 296 Platon Der Staat (Res publica) / 9, 33-34, 1 5 1 - 1 53 Polleua. Gregory T. 55. 296 Pomorska. Kry styna 29. 289 Potebnja. Aleksandr A. /57 Pouillon. Jean 1 1 6. 297 Povolockaja. lrina Zeiteillander (Raznovrazie) 1 73 Pratt. Mary Louise / 05. 297
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Index der Namen und Werke
Prince, Gerald 1 3 , 14, 1 6 , 1 00, 105, 297 Propp, Vladimir Ja. 9, 237, 297 Proust, Marcel A la recherche du temps perdu 254 Pu§kin, Aleksandr S. 1 87 Die Erzählungen Belkins (Povesti Bel kina) 15, 1 60, 1 6 1 , 254-256, 258 Evgenij Onegin 104, 225 Fräulein Bäuerin (Bary�nja krest'jan ka) 256 Der Gefangene im Kaukasus (Kavkaz skij plennik) 220 Die Hauptmannstochter (Kapitanskaja docka) 2 1 0 Pique Dame (Pikovaja dama) 26 1 -262 Der Sargmacher (Grobovscik) 256 Der Schneesturm (Mete! ' ) 255 Der Stationsaufseher (Stancionnyj smotritel ' ) 84, 96, 1 00- 1 0 1 , 256, 258260 Der Schuss (Vystrel) 96, 1 36- 1 3 8, 255 , 260-26 1 Pynchon, Thomas Gravity 's Rainbow 77 Rasch, Wolfdietrich 3 7, 297 Reformatskij, Aleksandr 228 Rehbein, Jochen 246, 297 Remizov , Alek sej M. 1 68 Renner, Kar! Nikolaus 20 Ricreur, Paul 33, 248, 297 Riffaterre, Michel 39, 297 Rilke, Rainer Maria Die Weise VOll Liebe und Tod des Cor nets Christoph Rilke 1 5 8- 1 5 9 Rimmon-Kenan, S hlomit 5 6 , 57, 6 8 , 84, 1 02, 238, 239, 24 1 , 245 , 276, 297 Robbe Grillet, Alain La Jalousie 89, 268 Romberg, Berti l 84, 297 Rühling, Lutz 32, 35, 297 Ryan, Marie-Laure 77-79, 80, 297 Rymar', Nikolaj 50, 51 , 62, 67, 298 -
Schaper, Edzard Der letzte Advellt 203
Scheffel, Michael 1 5 , 38-39, 53, 94, 1 26, 239, 254, 293 Schemus, Wilhelm 77 SchisseI von FIeschenberg, Otmar 224, 229, 298 Schmid, Wolf 9, 15, 1 8, 45, 47-49, 50, 55 . 57, 58, 61 , 64, 69, 70-7 1 , 75, 80, 81 , 92, 1 02, 1 05, 1 52, 1 57, 1 60, 1 62 , 1 761 77, 1 79, 1 87 , 200, 2 1 3 , 2 1 9, 250, 253, 256, 262, 293 , 298 Schnitzler, Arthur Lieutenallt Gustl 1 93 Der Sekundant 2 1 0 Schönert, Jörg 273, 299 Searle, John R. 33, 35-36, 3 8 , 39, 79, 275 , 299 Seemann, Klaus-Dieter 236, 299 Segal , Dimitrij M. 1 20, 299 Seidler, Herbert 3 7, 299 Seuffert, Bemhard 224 Shipley, Joseph T. 75, 299 Shukman, Ann 1 20, 299 Simmel, Georg 247, 299 S klovskij, Viktor B. 9 , 157, 1 71 , 224, 225, 226-229, 234-235 , 23 8 , 240, 242, 278, 299 Skobelev , Vladislav 50, 5 1 , 62, 67, 1 66, 294, 298 Slawinski, Janusz 53, 300 S lykova, M. A. 207, 300 Smith, Barabara Hermstein 36, 300 S okolova, Ljudmila A. 1 90 , 1 96, 2 1 0, 2 1 6-2 1 7 , 300 Sokrates 34 Solzenicyn, Aleksandr I . Ein Tag im Leben des Ivan Den;sovic (Odin den ' Iv ana Denisovica) 2 1 3-2 1 4 S or, Rozalija 224, 229, 300 Sörbom, Göran 33, 300 Souriau . Etienne 85, 300 Spielhagen, Friedrich 1 1 , 300 Spitzer, Leo 80, 86, 1 95 , 200, 205, 2 1 2, 2 1 7, 220, 300 Stan�el, Franz K . 1 2, 37, 86, 9 1 , 92, 98, 1,1 4- 1 1 5 , 1 26, 1 3 3 , 1 34 , 2 1 5, 300 S teinberg, Günter 1 77, 201 , 203, 30 1
Index der Namen und Werke Steiner, Wendy 1 20, 30 1 Stempel, Wolf-Dieter 14, 52, 30 1 Stepanov, Nikolaj 1 65, 30 1 Sternberg, Meir 237, 239, 30 1 Sterne, Laurence The Life and Opiniolls of Tristram Shandy Gentleman 225 , 268 Stierle, Karlheinz 240, 24 1 , 245 , 278 , 301 Striedter, Jurij 240-24 1 , 245 , 30 1 Struve, Gleb 157, 1 93 , 30 1 Sturgess, Philip 1 . M. 30 1 S uksin, Vasilij M. 231 Szilard, Lena 157, 302 Tamarcenko, Natan 0 . 1 2 , 1 1 3, 1 1 4, 302 Tendrjakov , Vasilij F. 2 1 3 Thürnau, Oonatus 35, 302 Titunik, Irwin R. 1 70, 302 Titzmann, Michael 1 4 , 20, 24, 302 Tobler, Adolf 2 1 7 , 302 Todemann, F. 2 1 0, 302 Todorov, Tzvetan 9, 1 1 , 14, 15, 55, 1 1 6, 1 20, 228, 233, 235, 236-237, 238, 24 1 , 243 , 245 , 278, 302 Tolmacev , V . M. 1 1 3, 303 Tolstoj, Lev N. 22, 49-50 , 62-63, 69, 76, 226, 255 Anna Karellina 3 1 -32, 42, 1 35 , 1 40 , 1 42, 242, 252, 260 , 263 Die Kreut'{,ersonate (Krejcerova sona ta) 59 Krieg ulld Frieden (Vojna i mir) 20 , 40 , 43-44, 45, 1 3 1 , 1 39, 144, 1 53 , 1 9 1 1 94 , 1 98, 200, 20 8 , 248, 264, 275 Der Leillwandmesser (Cholstomer) 76, 84 Sevastopol ' im Dezember (Sevastopol ' v dekabre mesjace) 90 Sevastopoler Skizzen 1 93- 1 94 Der Teufel (O 'javol) 60 Der Tod des lvan Il 'ie (Smert' Ivana Il' ica) 36 Vater Sergius (O tec Sergij) 60 Tomasevskij, Boris V. 9 , 1 4- 1 5 , 1 7 , 228, 233-239, 24 1 , 243 , 245 , 27 8 , 303 Toolan, Michael 1 . 56, 1 02, 303
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Trifonov , Jurij V . 2 1 3 Turgenev, Ivan S . Asja 2 1 1 Tynjanov , Jurij N. 9, 62, 1 57, 1 6 8 , 1 77, 228, 232, 27 8 , 303 Un begaun, Boris 255, 303 Uspenskij, Bori s A. 9, 7 1 , 1 20- 1 24, 1 25, 1 29, 1 3 1 -1 32, 276, 303 Vaihinger, Han s 33, 304 Valk, Frans de 1 20, 304 Verschoor, Jan Adriaan 1 87, 304 Veselovskij, Aleksandr N. 1 57 Vinogradov , Viktor V. 50-5 1 , 53, 6 1 , 1 20, 168, 1 69, 1 76, 304 Vitoux, Pierre 1 1 8, 304 Volek, Emil 224, 225, 228, 23 3 , 304 Volo§inov , Valentin N. 9, 1 20, 1 52, 1 781 79, 1 87, 1 9 1 , 1 97-198, 214, 21 7, 2 1 922 1 , 277, 304 Vygotskij, Lev S . 230-23 8 , 27 8 , 304 Vykoupil, Susanna 203, 304 Walzei , Oskar 1 1 , 2 1 7 , 305 Warren, Robert Penn 1 1 6, 245 , 305 Weber Dietrich, /4, 305 Weidle. Wladimir 33, 305 Weimar, Klaus 37, 74, 85, 305 Weinrich, Harald 3 8 , 305 Wellek, Rene 245 , 305 Werlieh , Egon 32, 305 Weststeijn, Willem 47, 58-60, 305 White, H ayden 247, 248, 305 Wimsatt, William K. 54, 305 Wolff, Erwin 67, 305 Woolf, Virginia Mrs. Dalloway 1 44 To the Lighthouse 204 Wulf, Christoph 33, 286 Yevseyev , Vyachselav 2 1 Zalygin, Sergej P. 2 1 3 Zamjatin, Evgenij 1 . Die Höhle (Pescera) 1 64
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Index der Namen und Werke
Die Oberschwemmung (Navodnenie) 1 62 Zholkovsky, Alexander 231 , 305 Zimmermann, Friedrich Wilhelm 37, 305 Zipfel, Frank 32, 34, 35, 36, 39, 45, 1 03 , 306
Z irmunskij, Viktor M. 157. 224, 228, 306 Z6tkiewski , S tefan / 20, 306 Zo§cen ko. Michail M. 1 68, 1 7 1 - 1 72 Die Aristokratin (Aristokratka) 172 Zuckerkandl, Viktor 34, 306