Anstatt sich nach der Hochzeit in die wohlverdienten Flitterwochen zu begeben, fahren Mary Minor »Harry« und Fair Haris...
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Anstatt sich nach der Hochzeit in die wohlverdienten Flitterwochen zu begeben, fahren Mary Minor »Harry« und Fair Haristeen zusammen mit ihren Vierbeinern zur berühmten Pferdeschau nach Shelbyville in Kentucky. Doch die Freude währt nicht lang: Erst wird ihrer Freundin Joan die mit wertvollen Steinen besetzte Hufeisen-Brosche gestohlen, kurz darauf verschwindet das edle Pferd eines alternden Leinwandstars spurlos. Und als ob dies nicht schon genug Rätsel wären, kommt auch noch ein Stallbursche auf mysteriöse Weise ums Leben. Wahrlich ein gefundenes Fressen für die Tigerkatze Mrs. Murphy, ihre Gefährtin Pewter und die Corgihündin TeeTucker: Sie wittern Böses und begeben sich umgehend auf die Spur der Übeltäter. Rita Mae Brown, geboren in Hanover, Pennsylvania, wuchs in Florida auf. Sie studierte in New York Filmwissenschaft und Anglistik und war in der Frauenbewegung aktiv. Berühmt wurde sie mit dem Roman Rubinroter Dschungel. Seit vielen Jahren steht sie mit ihren Kriminalromanen, die sie zusammen mit der Tigerkatze Sneaky Pie Brown als Koautorin schreibt, weltweit auf allen Bestsellerlisten.
Rita Mae Brown & Sneaky Pie Brown
EINE MAUS KOMMT SELTEN ALLEIN Ein Fall für Mrs. Murphy Roman Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel »Puss 'n Cahoots« bei Bantam Books, New York. Paul und Frances Hamilton liebendem Gedenken gewidmet
Personen der Handlung Mary Minor Haristeen (Harry) ist wenige Tage vor ihrem vierzigsten Geburtstag gut in Form, blickt der Zukunft froh entgegen und liebt ihren Mann, den sie einige Zeit nach der Scheidung wieder geheiratet hat. Pharamond Haristeen (Fair) ist ein Jahr älter als seine Frau, die er jubelnd zurückerobert hat; er ist ein Pferdearzt und Gentleman. Joan Hamilton ist die Besitzerin des Gestüts Kalarama. Sie hat sich einen Ruf als hervorragende Züchterin von Saddlebred-Pferden erworben und ist eine alte Freundin von Harry.
Larry Hodge ist Joans Ehemann und als Trainer so bekannt wie sie als Züchterin. Larry hat Humor und versteht es, besorgniserregende Situationen zu entschärfen. Booty Pollard, einundvierzig Jahre alt, ist ein scharfer Rivale von Larry Hodge. Er hält sich einen Affen namens Miss Nasty und Schlangen. Die Schlangen hält er zu Hause. Er ist sehr eitel und gibt Unmengen Geld für Kleidung aus. Charly Trackwell ist ebenfalls Anfang vierzig, und sein Ehrgeiz wächst mit jedem Jahr. Er ist ein Trainer mit einer exklusiven Schüler-Liste. Manche glauben, er hat auch eine exklusive Geliebten-Liste. Ward Findley ist jünger als die anderen Trainer, die »großen Drei«, und beweist Talent. Mit neunundzwanzig strebt er ins Rampenlicht, wird aber gegenwärtig aus Geldmangel 3
daran gehindert. Wenn er einen großen Sieg erringen kann, wird er Reitschüler mit dicken Scheckbüchern anziehen. Renata DeCarlo ist ein Filmstar, der das Vorrücken des mittleren Alters fühlt. Sie hat etliche Schlappen erlitten. Sie ist selbstverständlich schön, hat aber zurzeit kein Engagement und weiß nicht recht, welchen Weg sie einschlagen soll. Sie ist eine gute Reiterin, beteiligt sich an Saddlebred-Turnieren, und Charly Trackwell ist ihr Trainer. Renata ist das Juwel in Charlys Krone; sie wäre das Juwel in jeden Trainers Krone. Paul und Frames Hamilton, Joans Eltern, sind über achtzig und sehr lange verheiratet. Paul hat schon als Junge auf dem Gestüt Saddlebred-Pferde geliebt. Frances liebt die Menschen im Allgemeinen und die Leute auf den Saddlebred-Turnieren im Besonderen. Sie haben acht Kinder. Joan herrscht über die Welt der Saddlebreds. Ihre Geschwister herrschen über andere Ressorts. Manuel Almador ist der erste Pferdepfleger auf dem Gestüt Kalarama. Er kann mit Pferden umgehen, ist gut organisiert und genießt großes Vertrauen. Manuel ist Ende vierzig. Jorge Gravina ist Manuels Stellvertreter. Er ist Anfang dreißig, äußerst verantwortungsbewusst, sehr beliebt und führt ein ruhiges Leben. Benny ist Ward Findleys Mann für alles. Er war viel zu oft verheiratet. Carlos, Charly Trackwells erster Pferdepfleger; er weiß, wann er wegschauen muss. 3
Die wirklich bedeutenden Figuren Mrs. Murphy, Harrys getigerte Katze, verfügt über hohe Intelligenz und erstaunliche sportliche Fähigkeiten.
Pewter, Mrs. Murphys rundliche graue Freundin, ist längst nicht so sportlich wie die Tigerkatze, gleicht es aber durch ihre Neigung zum Nörgeln aus. Dennoch ist Pewter in der Lage zu sehen, was Menschen nicht sehen können. Tee Tucker, die tapferste Corgihündin, die je gelebt hat, liebt Harry und auch Fair, und sie liebt die Katzen, selbst wenn sie ihr den letzten Nerv rauben. Miss Nasty, das Affenmädchen, macht seinem Namen -Miss Garstig - alle Ehre und ist genau so ein wandelnder Kleiderständer wie ihr Besitzer Booty Pollard. Sie fasst auf Anhieb eine Abneigung gegen Pewter, was auf Gegenseitigkeit beruht. Das kann zu nichts Gutem führen. Queen Esther, Renatas Dreigänger-Stute, ist talentiert, kostspielig und schön. Sie ist jedoch keine große Leuchte. Shortro, Renatas junger Dreigänger-Wallach, ist ungemein intelligent, gutmütig und ein guter Kumpel. Voodoo, Renatas flotter älterer Wallach, hat ihr eine Menge beigebracht. Er war das erste teure Pferd, das sie gekauft hat, als sie anfing, in Hollywood Geld zu verdienen. Er wird ganz sicher nicht das letzte sein; denn Renata will siegen, siegen, nichts als siegen. 4
Spike, ein rotbrauner Kater voller Kampfnarben, lebt in Shelbyville in einem Stall neben der Trainingshalle. Dummköpfe kann er kaum ertragen. Friedrich der Große, ein Fünfgänger-Hengst, den Charly Trackwell vorführt. Pferd und Ausbilder befinden sich auf dem Gipfel ihrer Kräfte. Callaway's Senator ist Friedrichs scharfer Konkurrent. Der FünfgängerHengst wurde auf dem Gestüt Callaway gezüchtet und von einem von Bootys reichen Reitschülern erworben. Booty glaubt, dies ist das Jahr, in dem er mit Senator auf allen großen Turnieren siegen wird. 4
1
L
ange goldene Strahlen lagen über dem sanft geschwungenen Hügelland
um Shelbyville, Kentucky. Am Mittwoch, dem 2. August, strömten die Besucher ab sechs Uhr morgens unablässig auf den grasbewachsenen Parkplatz des berühmten Veranstaltungsgeländes. Gegen sieben Uhr würde der Platz überfüllt sein und ein starker Rückstau einsetzen. Ein leichter Wind trug einen Hauch Feuchtigkeit vom Ohio heran, der ungefähr dreißig Kilometer westlich vorbeifloss und die Grenze zwischen den Staaten Kentucky und Indiana bildete. Rauchschwalben flogen tief und machten Jagd auf überreichlich vorhandene Insekten; Krähen, die auf Oberleitungen hockten, betrachteten und bekakelten alles. Auf den Weiden drängten sich
Rinder. Schmetterlinge umschwärmten die Pferdeäpfel auf dem Gelände. Schmetterlinge lieben nicht nur Blumen und blühende Sträucher, sie hegen auch eine starke Vorliebe für Dung. Jedes Mal, wenn ein Pfleger pflichtgemäß den Dung einsammelte, wirbelte ein Schwärm von gelben und schwarzen Schwalbenschwänzen, von milchweißen und kleinen leuchtend blauen Faltern auf und ließ von seiner Beute ab. So primitiv ihre Fressgewohnheiten auch sein mochten, es war ein schöner Anblick. »Wenn ich das blöde Geschirr nicht umhätte, würde ich mir einen schnappen«, prahlte Pewter. »Vielleicht auch zwei.« »Sie sind appetitlich«, pflichtete Mrs. Murphy der dicken grauen Katze bei. Mrs. Murphy, eine geschmeidige Tigerkatze, wurde von Harry Haristeen getragen. Pewter wurde von Fair Haristeen getragen, Doktor der Veterinärmedizin. Die Katzen warteten ungeduldig auf den Beginn der ersten Abendveranstaltung. Shelbyville, das zweite strahlende Juwel in der Welt der Saddlebreds, war ein Anziehungspunkt für die besten Pferde des Landes. Das Turnier begann zwei Wochen vor dem Kentucky State Fair, dem Nonplusultra aller Saddlebred-Turniere. Die vier Juwelen in der Krone waren die Lexington Junior League, Shelbyville, das Kentucky State Fair in Louisville und das Kansas City Royal, das einzige große Turnier, das im Spätherbst stattfand, im November. Alle übrigen waren Sommerturniere. In ganz Amerika, vor allem aber in Kentucky, Indiana und Missouri, brachten die Saddlebred-Turniere Glanz in die Saison und Geld in die Kassen. Jede Stadt, die ein wenig größer war, veranstaltete ein eigenes Turnier, und war es noch so bescheiden. Von Bescheidenheit konnte beim Shelbyville-Tur-nier allerdings keine Rede sein. Eine Haupttribüne umgab die gepflegte ovale Reitbahn. Der Sitzbereich war größtenteils überdacht. Die Südseite der beleuchteten Bahn wurde von einer imposanten zweistöckigen Tribüne beherrscht, wo Speisen serviert wurden, sofern man eine Eintrittskarte für diesen Hochgenuss besaß. Der Duft von Rippchen war eine Tortur für Tucker, die Corgihündin, die zwischen ihren zwei Menschen ging. Sie sabberte vor Erwartung. »Wie lange dauert es noch, bis wir was zu essen kriegen?« »Ich weiß nicht, aber ich werd bald ohnmächtig vor Hunger«, seufzte Pewter. »Oh lä lä!« Mrs. Murphy hätte gern noch mehr gesagt, doch ihr war klar, wenn sie Streit anfing, würde sie unsanft in ihre Suite im Best Western Hotel befördert werden. Harry und Fair blieben stehen, um bei der Ausbildung der Pferde auf der Trainingsbahn an der Ostseite des Geländes zuzusehen. Booty Pollard, ein berühmter Trainer von einundvierzig Jahren mit einem bekleideten Affen auf der Schulter, ging neben einem jungen Mädchen, das ein dreigängiges
Country Pleasure Horse ritt. Das Pferd, das Schritt, Trab und Galopp beherrschte, gehörte zu jenen wunderbaren Geschöpfen, die Rücksicht auf ihre jungen Reiter nehmen. Zum Glück für das Mädchen waren die drei Gangarten der Stute ausgeglichen. Sie verließen die Trainingsbahn. Booty wandte den Kopf, als er einen anderen Trainer hörte. Charles »Charly« Trackwell, ein Trainer für Leute mit viel Geld und ein eitler Pfau, rief einer umwerfenden jungen Frau auf einer ebenso umwerfenden dreigängigen Fuchsstute namens Queen Esther etwas zu. Queen Esther war viel anmutiger als das Country Pleasure Horse, das Bootys Schülerin ritt. Queen Esthers Trab hatte Renata DeCarlo schlicht vom Hocker geworfen. Die schöne Frau hatte zweihundertfünfzigtau-send Dollar für die Stute bezahlt. Renata wollte siegen. Sie musste härter arbeiten als andere Wettbewerbsteilnehmer, um von den Richtern ernst genommen zu werden, aber sie liebte harte Arbeit so sehr wie das Siegen. Die Achtunddreißig-jährige - wiewohl ihre »offizielle« Biographie sechs Jahre von diesem Alter abstrich - war ein Filmstar, und Lincoln County, Kentucky, brachte nicht viele Stars hervor. Weil alle sie sehen wollten, konnten Zuschauer und Richter schon mal voreingenommen sein. Und der Neid der anderen fand seltsame Wege, um sich zum Ausdruck zu bringen. Renata erhielt oft eine Schleife von geringerem Wert, als sie verdient hätte. Ihre herrliche Stute verdiente es in den allermeisten Fällen, mit dem ersten Preis, der blauen Schleife, ausgezeichnet zu werden. Shortro, ihr junger kräftiger dreigängiger Schimmel-Wallach, musste sich ebenfalls mit geringeren Auszeichnungen begnügen, als ihm gerechterweise zugestanden hätten. Doch anders als Queen Esther freute es Shortro, wenn er eine blaue, rote, gelbe, grüne, weiße oder rosa Schleife errang. Queen Esther wollte immer die Schleife für die Klassenbeste, genau wie Renata. 6
Pferde wie Menschen sind ausgeprägte Persönlichkeiten. »Schultern runter, Renata«, brummte Charly. »Schön«, bemerkte Harry. »Herrliche Stute.« Fair konzentrierte sich wohlweislich auf die Fuchsstute, was Harry zum Lachen brachte. Sie kamen an dem weißgestrichenen Stall in nächster Nähe der Trainingsbahn vorbei; das silbrige Blechdach war etwas heruntergekommen. Die alten Stallungen mochten wohl im Gegensatz zur Tribüne einen neuen Anstrich nötig haben, aber sie waren luftig und recht großzügig. Die Anzahl der Wettbewerbsteilnehmer war so groß, dass Zelt-Ställe aufgestellt werden mussten, um den Ansturm zu bewältigen. Jeden Tag traten Hunderte von Pferden miteinander in Konkurrenz; einige wurden nur für diesen einen Tag hierher transportiert. Es erwies sich zuweilen als beschwerlich, im Auge zu behalten, was für Pferde sich auf dem Gelände befanden, weil nicht alle
Pferde Wettbewerbsteilnehmer waren. Manche waren Begleitpferde, die dem Star-Pferd Gesellschaft leisteten. Die durch zwei Zwischengassen voneinander getrennten Behelfsboxen waren ebenfalls komplett besetzt. In den großen Ställen hatte man eine oder gar zwei Boxen mit Leinwandverkleidung und Vorhängen in den Stallfarben versehen und als Gästeunterkünfte eingerichtet. Bei vielen hatte man die Decke im Inneren mit Zeltleinwand verkleidet, um die einladende Atmosphäre zu vervollkommnen. Eine Bar sowie Erfrischungen trugen das Ihre zu der Festtagsstimmung bei. Regiestühle - wiederum in den Stallfarben -, Satteltruhen, Zaumzeugkisten, an die »Wände« gehängte Schleifen sowie hübsche Fotografien von Reitern und Pferden vervollständigten die Ausstattung. Die Mühe, die es erforderte, um diese Wohlfühl-Oasen zu schaffen, und eine weitere Box, oft gleich neben der Gästeunterkunft, als Garderobe für die Reiter einzurichten, setzte Harry jedes Mal in Erstaunen, wenn sie einmal jährlich eines der großen Saddlebred-Turniere besuchte. Obwohl eine leidenschaftliche Anhängerin von Vollblütern, liebte sie Sadd 7
lebreds. Sie hatte etliche vom Gestüt Kalarama zu Jagdpferden ausgebildet. Saddlebreds konnten springen, richtig springen, was Harry entzückte. Das Vollblutpferd mit seiner schräg angesetzten Schulter und tieferen Kopfhaltung hat idealerweise ausgreifende, fließende Bewegungen. Die Energie des Saddlebred-Pferdes ist aufwärts ausgerichtet, mit raumgreifenden, nach oben ausholenden Tritten, und es trägt den Kopf hoch. Geht man hundertfünfzig Jahre zurück, stößt man auf gemeinsame Vorfahren der zwei verschiedenen Züchtungen. Joan Hamilton, eine von Harrys besten Freundinnen, war die treibende Kraft hinter dem Zuchtprogramm vom Gestüt Kalarama. Larry Hodge, ihr Ehemann, trainierte und ritt viele von den Pferden. Wie so oft in der Welt der Pferde, wenn die richtigen zwei Menschen sich finden, fällt ein magischer Glanz auf alles, was sie anpacken. Auf dem Weg zu der Kabine des Kalarama-Gestüts, die der Reitbahn zugewendet war, schlenderten Harry und Fair die Budengasse entlang, die vollgestopft war mit einer Menge Zeug, das man gerne kaufen würde, und einer Menge Zeug, das man lieber nicht kaufen würde. Der Schmuckstand lockte Harry an. Sie blieb stehen und bewunderte einen Ring mit Rubinen und Diamanten in Karreeschliff, in Hufeisenform gefasst. Es war der schönste Hufeisenring, den sie je gesehen hatte. Das allgegenwärtige Spritzgebäck verbreitete seinen Duft über dem ganzen Gelände, ebenso wie Hot Dogs, Rippchen, Steaks und delikate Hähnchen, die sich am Spieß drehten. Zwischen den Imbissbuden, dem Schmuckstand und den Kleiderständen hatten sich Leute vom örtlichen Gestütsbüro eingerichtet sowie diverse Bürgerinitiativen, die eigene Stände betrieben, und
alle ließen es sich gut gehen. Ein glänzender Mercedes SL55 verlockte die Leute, Tombolalose zu hundert Dollar das Stück zu kaufen, deren Erlös für einen wohltätigen Zweck bestimmt war. Sich das Geld aus der Tasche ziehen zu lassen erwies sich als überaus einfach, wenn man durch diese kleine, verführerische Budengasse bummelte. 8
Die nicht überdachte Westtribüne überragte eine Seite der Budengasse, und auch darunter befanden sich Stände. Wo man hinsah, rechts, links oder die kurze Gasse entlang, war ein Stand. Direkt vor der Westtribüne, unmittelbar an der Bande, befanden sich schachtelartige Kabinen mit jeweils sechs oder acht Klappstühlen. Diese wurden von den großen Ställen gemietet und waren Publikumsmagneten. Reiter, Züchter und Pferdebesitzer zogen sich gern in ihre Kabinen zurück, die, anders als die gemieteten Boxen, nicht die Stallfarben trugen, sondern ein schlichtes weißes rechteckiges Schild mit dem Namen des Kabinen-Eigentümers in einfacher schwarzer Antiquaschrift. Joan beugte sich vor, um sich mit ihrer Mutter, der zierlichen, lebhaften Frances, und ihrem Vater Paul zu unterhalten, während sie das Programm studierten. Paul gehörte zu den Menschen, die Charisma haben und die Leute zu sich hin ziehen. Bei den älteren Hamiltons fühlte man sich nie als Fremder. Harry trat mit Mrs. Murphy auf dem Arm in die Kabine. Fair, Pewter und Tucker folgten ihr auf dem Fuße. Nach einer Runde Umarmungen und Küsse nahmen alle auf ihren Stühlen Platz. Joans braunweiße Jack-Russell-Dame namens Cookie quetschte sich mit Tucker auf einen Stuhl. Als Harry und Fair gestern angekommen waren, hatten sie Joans Jährlinge, Stut- und Hengstfohlen, besichtigt und zugesehen, wie Larry mit den Pferden arbeitete. Harry hatte beim Zuschauen von Larry gelernt, der genau wusste, wann er den Unterricht abbrechen musste. Viele Trainer überforderten die Tiere, mit dem Resultat, dass das Pferd lustlos oder total erledigt war. Weil ein Saddlebred beim Turnier Schwung zeigen musste, erwies sich Überbeanspruchung beim Training als kostspieliger Fehler. Frances, die ein pfirsichfarbenes Kleid aus Leinen-Seide-Gemisch mit einem eng anliegenden Oberteil trug, wandte sich ihrer Tochter zu und sagte: »Joan, hast du den Neuvermählten Harlem's Dreamgirl gezeigt?« 8
»Ja.« Paul drehte sich mit blitzenden Augen auf seinem Stuhl herum und zwinkerte Fair zu: »Sie haben das Dreamgirl, Ihre Traumfrau.«
Fair klopfte dem älteren, aber noch kräftigen Paul, Marine-Veteran des Zweiten Weltkriegs, auf die Schulter. »Ich denke, wir haben beide unsere Traumfrau geheiratet.« »Paul und ich haben vor undenklichen Zeiten geheiratet.« Frances lachte. »Immer noch in den Flitterwochen«, sagte Paul galant. Weil die Hitze drückend wurde, zog Joan ihre beigefarbene Seidenjacke aus. Eine herrliche Brosche in Gestalt eines mit Rubinen und Saphiren durchsetzten Hufeisens zierte das linke Revers. »Joan, hast du den Verschluss der Brosche reparieren lassen?«, fragte Frances. »Ja, und sie sitzt jetzt bombenfest.« »Gut. Du weißt ja, für mich ist es das schönste Stück vom Schmuck meiner Mutter.« Joan, die wusste, dass ihre Mutter erst zufrieden sein würde, wenn sie die Brosche überprüft hatte, nahm die Jacke vom Stuhl und reichte sie ihrer Mutter. Frances befühlte den Verschluss der Brosche auf der Rückseite des Revers. »Ja, so dürfte sie halten.« Ehe sie Joan die Jacke zurückgab, machte sie eine Bemerkung über die sorgfältige Arbeit des Juweliers. »Das ist unsere Glücksbrosche. Man trägt sie, wenn es drauf ankommt, aber auf jeden Fall am letzten Abend des Turniers.« Alle studierten das Programm. »In der dritten Prüfung reitet ein Filmstar mit.« Paul las die Liste vor. Die dritte Prüfung war eine offene Dreigänger-Schauklasse für Erwachsene. »Sie wird es schwer haben, Melinda Falwell zu schlagen.« Joan faltete das Programm zusammen. 9 »Eine Schülerin von Booty.« Booty, Melindas Trainer, war ein geselliger Mann, der sich noch von seiner folgenschweren Scheidung im letzten Jahr erholte. Bei der Erholung ging es sowohl um finanzielle als auch um emotionale Belange. Es war Booty, den Harry und Fair gesehen hatten, als er die Trainingsbahn verließ. Vor fünf Jahren hatte ein starker Konkurrenzkampf einen gehörigen Wirbel in der Saddlebred-Welt ausgelöst, als die alte Garde sich zurückzog oder wegstarb und die jüngeren oder mittelaltrigen Männer und ein paar Frauen groß herauskommen konnten. Larry Hodge, Booty Pollard und Charly Trackwell lösten Tom Moore, Earl Teater und die unterdessen verstorbenen Brüder Bradshaw ab. Hinter Larry, Booty und Charly drängten mehr Männer und Frauen Ende zwanzig und Anfang dreißig heran als in vorangegangenen Generationen, von denen einer, Ward Findley, sich als besonderes Talent erwies. Saddlebred-Ausbilder ritten die schwierigen Pferde oder die Pferde in den hohen Schauklassen, was den Wert des Pferdes, wenn es gut abschnitt, um
Tausende von Dollars steigerte. In der Welt der Vollblüter ritten die Ausbilder bei den Rennen nicht mit. Hier war das anders, was den Turnieren eine zusätzliche Dimension verlieh. Die Amateur-Reiter, die von den Trainern betreut wurden, ritten nicht unbedingt einfache Pferde, aber gewöhnlich waren diese Pferde fügsamer, und es stand weniger auf dem Spiel. Ein Sieg bei einem der großen Turniere konnte den Wert eines Pferdes aber in die Höhe schnellen lassen. Nur wenige Menschen sind immun gegen diese Verlockung, daher die unablässige Anziehungskraft von Trainern und Reitern. Ward Findley, neunundzwanzig Jahre alt, mit kurz geschnittenen pechschwarzen Haaren und funkelnden blauen Augen, trat rasch an die Kalarama-Kabine und flüsterte Joan zu: »Sie sollten mal in den Stall gehen.« Unmittelbar hinter Ward kam Booty Pollard mit seinem Affen auf der Schulter. »Es gibt Arger«, fuhr Ward fort. Miss Nasty, die Affendame, 10
beäugte schnatternd die Menschen in der Kabine. Miss Nasty liebte Booty, aber sie hasste seine Sammlung von Schlangen, die er zu Hause hielt. Nasty durfte wenigstens mit auf Reisen. Das durften die Schlangen zum Glück nicht. Booty hatte einen eigenartigen Geschmack, was Haustiere anbelangte. Paul, der das gehört hatte, stand auf. »Daddy, bleib du hier. Die Leute müssen dich und Mom sehen.« Joan war schon aus der Kabine. Fair, Pferdearzt von Beruf, folgte ihr. Das Gestüt Kalarama hatte einen Hausarzt für die Tiere, aber der kam nicht mit zu den Turnieren. Die Organisatoren sorgten dafür, dass ein Tierarzt auf dem Gelände anwesend war, sodass nicht jeder Wettbewerbsteilnehmer oder Züchter für die vier Turnierabende den eigenen Tierarzt mitbringen musste. Um nicht zurückzubleiben, hob Harry die zwei Katzen auf. Sie zappelten unbehaglich in ihren Armen, was ihr Fortkommen erheblich erschwerte. »Wenn du mich runterlässt, könnte ich dir ganz brav folgen«, klagte Mrs. Murphy. »Sie glaubt, du würdest weglaufen«, bemerkte Tucker, die sich von der Aufgeregtheit der Menschen hatte anstecken lassen. »Du bist mir wahrlich eine große Hilfe«, grummelte Mrs. Murphy. »Ich bin ein Hund. Ich gehorche. Du bist eine Katze. Du gehorchst nicht.« Tucker freute sich am Unbehagen ihrer zwei Freundinnen, die sich ihr gegenüber oft aufspielten. Die Unterhaltung brach abrupt ab, als sie Stall Fünf erreichten. Drei Pferde wurden hereingeführt, Charly Trackwell trottete mit grimmiger Miene hinterdrein. Es waren nicht Joans Pferde. »Ist das nicht die Fuchsstute von der Trainingsbahn?« Pewter musterte das schimmernde Tier mit dem anmutigen langen Hals.
»Ja.« Mrs. Murphy war froh, als Harry Pewters und ihre Leinen löste und sie rasch im Erfrischungsraum absetzte. Pew 11
ter benutzte die Gelegenheit, um auf den Tisch zu springen und sich eine saftige Scheibe Schinken zu schnappen. »Du bist eine blöde überkandidelte Diva!«, schrie Charly Renata DeCarlo an, die vor Charly heranstürmte. Der Verlust der Einstell- und Trainingsgebühren für drei Pferde würde Charly ein wenig schmerzen, aber der Verlust seiner Filmstarschülerin, das war ein richtiger Schlag. Joan blieb wohlweislich bei einer Box stehen, weil Charly sich jetzt vor Larry aufbaute, an dessen Seite Renata stand. Fair stellte sich hinter Larry. »Ich hab's satt, mich von dir anschreien zu lassen, Charly.« Renata, das Gesicht gerötet, war erstaunlich ruhig. Charly wandte sich an Larry. »Du steckst dahinter, Hodge. Du hast versucht, mir Renata wegzuschnappen, seit sie in meinen Stall gekommen ist.« »Das ist nicht wahr.« Larrys Stimme blieb ruhig. »Du liebst den Glamour. Und verdienst dabei einen Haufen Kohle. Tust du ja immer.« Zitternd vor Wut, trat Charly auf Larry zu. Renata packte Charly am Arm, doch er machte sich sofort wieder los. »Du hast einmal zu oft an mir rumgemäkelt. Du bist ein egoistischer Mistkerl, und ich hab's satt.« So gern er ihr und auch Larry eine geklebt hätte, es gelang Charly, sich zu beherrschen. Er hielt kurz den Atem an, dann schnappte er nach Luft. »Renata, du gibst dem Wort >Ego< einen neuen Sinn.« »Wir können das morgen zu Ende besprechen, wenn alle sich beruhigt haben«, schlug Larry vernünftigerweise vor. »Scher dich zum Teufel.« Hiermit wandte Charly sich Renata zu und zeigte mit dem Finger auf sie. »Ich weiß was von dir.« Dann machte er auf dem Stiefelabsatz kehrt und ging. Manuel Almador, Larrys Stallmanager, beobachtete dies zusammen mit Jorge Gravina, der nach Manuel an zweiter Stelle kam. Die Abneigung gegen Charly stand beiden ins Gesicht geschrieben. 11
Renata, deren Schleusentore jetzt barsten, ließ sich widerstandslos von Joan in den Erfrischungsraum schieben. Die Leute, die sich am Stalltor versammelt hatten, zerstreuten sich, einige wenige folgten Charly. Sie mussten sich beeilen, weil er mit seinen langen Beinen schnell vorankam. Als Renatas Schluchzen nachließ, berieten sich Larry, Fair, Manuel und Jorge in der Stallgasse.
»Manuel, du und die Jungs werdet die ganze Woche hier schlafen müssen. Wechselt euch in Vierstundenschichten ab. Charly wird sich rächen, und ich möchte nicht, dass er es an Renatas oder unseren Pferden auslässt.« Manuel nickte; Charlys Ruf war ihm bekannt. Der gut aussehende Charly, Sprengstoffexperte und Hauptmann im ersten Irakkrieg, war selbst der reinste Sprengstoff. »Ich kann auch aufpassen. Wir sind nicht weit von hier«, erbot sich Fair. »Danke. Die Jungs schaffen das schon.« Larry sah auf die Uhr. »Olive.« Er sprach von einer Reitschülerin, die in der nächsten Klasse antrat. Larry musste sie zur Reitbahn begleiten und dann an der Bande stehen bleiben, damit sie ihn sehen konnte. Er lächelte. »Für die extra Unterhaltung wird nichts berechnet.« Im Erfrischungsraum lauschten die Tiere, während Renata Charlys Mängelliste aufzählte, wobei sie besonders betonte, dass er arrogant sei, nicht auf sie höre und ein Mann sei, was Renata bei ihm offenbar auf die Erbsünde zurückführte. »Dramatisch«, bemerkte Tucker lakonisch. »Menschen brauchen eine Weile, um große Gefühle zu verarbeiten.« Mrs. Murphy setzte sich auf die braune, schwarz und weiß umrandete Satteltruhe. »Manche tun es nie. Sie reden immer noch von Sachen, die ihnen vor dreißig Jahren passiert sind.« »Ein schlechtes Gedächtnis ist der Schlüssel zum Glück.« Pewters dunkelgraue Schnurrhaare zuckten nach vorn. Der erbeutete Schinken trug sehr zu ihrem Hochgefühl bei. Mit ihren grünen Augen betrachtete Mrs. Murphy Renatas vollkommenes Gesicht. »Ein bisschen zu dramatisch für meinen Geschmack.« Cookie und die drei Tiere aus Virginia mussten niesen. Renatas Parfüm war zu stark für ihre empfindlichen Nasen, aber Joan schien es nichts auszumachen. Die Tiere wunderten sich über das Versagen der Menschennasen, selbst einer so empfindsamen und hübschen wie der von Joan. Schließlich hatte Joan Renata beruhigt, und sie erinnerte sie daran, dass sie in der dritten Prüfung ritt. Sie begleitete Renata in die Garderobe. Renata betrachtete die dritte Prüfung als Aufwärmübung für den Rest der Woche. Sie brauchte das Flair des Wettbewerbs mehr als der Wallach, den sie reiten würde, ein temperamentvoller schwarzweißer Schecke namens Voodoo. Sie hätte die Klasse auslassen können, aber sie wollte Charly die eine oder andere Lektion erteilen. Sie wollte sich die Reiterei nicht von ihm verleiden lassen. Renata, die im Begriff war wieder loszuheulen, weil ihr einfiel, dass ihre Satteltruhe und Anziehsachen in Charlys Gästeunterkunft waren, neigte zu Kurzschlusshandlungen. In diesem Augenblick erschienen Carlos, Charlys erster Pferdepfleger, und Jorge, der Pfleger von Kalarama, mit Renatas Truhe, Anziehsachen und
Sattelzeug. Nicht ein Schmutzfleck verunzierte irgendein Teil. Sie konnte Carlos gut leiden und wollte ihm ein Trinkgeld geben, aber er lehnte ab. Jorge ebenso. Während Renata sich umzog, sattelte Jorge Voodoo; Shortro und Queen Esther sahen zu. Voodoo, das erste gute Saddlebred-Pferd, das Renata gekauft hatte, nahm einen besonderen Platz in ihrem Herzen ein. Voodoo lehrte sie eine Menge und verzieh ihr ihre Fehler. Joan, Harry, Fair und die Tiere gingen zurück in ihre Kalarama-Kabine, während die Menschenmenge den Teilnehmern der ersten Schauklasse applaudierte. Paul und Frances sahen jetzt vom oberen Rang der Haupttribüne aus zu. Der Essensgeruch hatte sie aus der Kabine gelockt. Joan ließ sich auf ihrem Platz nieder. Die dritte Prüfung mit sage und schreibe fünfundzwanzig Teilnehmern schien kein Ende zu nehmen; schließlich siegte eine junge Dame auf einem Pferd, das einer Züchtung vom Gestüt Callaway unweit der Stadt Fulton in Missouri entstammte. Joan griff nach ihrer Jacke, um sie sich um die Schultern zu legen. Sie stöhnte. »Meine Brosche.« Harry sah auf die Jacke, dann ließ sie sich auf Hände und Knie nieder, um den Boden abzusuchen. »O Joan, sie ist nicht da.« Fair stand auf und sah am Kabineneingang nach. »Soll ich mal zum Fundbüro gehen, falls sie runtergefallen ist und jemand sie aufgehoben hat?« »Sie ist nicht runtergefallen. Die Schließe war dreifach gesichert.« Joan blickte bekümmert. »Jemand hat sie abgemacht.« »Vielleicht deine Mutter, als sie aus der Kabine gegangen ist.« Harry war zuversichtlich. Ein Hoffnungsschimmer erhellte Joans schönes Gesicht. »Hm, kann sein.« Sie senkte die Stimme. »Aber ich glaub's eigentlich nicht. All die Jahre, seit ich hierherkomme, habe ich mir nie Sorgen gemacht, dass etwas gestohlen werden könnte. Es ist unglaublich.« Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Mom wird bestimmt böse deswegen.« Sie machte eine Pause. »Ich bin ganz durcheinander.« »Ich will ja nicht neugierig sein, aber was meinst du, was die Brosche wert ist?« Harry legte ihre Hand auf Joans Schulter. »Ich weiß nicht. Fünfundzwanzig-, dreißigtausend?« »O Gott!« Harry, die jeden Penny zweimal umdrehte, wurde jetzt bleicher als Joan. »Vielleicht finden wir sie ja noch«, meinte Fair tröstend. Joan straffte die Schultern. »Vielleicht. Aber ich weiß nicht, ob uns gefallen wird, was wir mit ihr finden.«
»Das ist eine eigenartige Formulierung.« Harry hob fragend die Augenbrauen. »Ich habe so ein schreckliches Gefühl ...«Joans Stimme verlor sich. Die melancholische Vorahnung schwand, als Miss Nasty, 14
Bootys Begleiterin, endlich befreit, an der Reitbahn auf dem obersten Brett der Bande herumturnte. Wie lange sie ihren Fesseln schon entkommen war, ließ sich schwer sagen; denn sie konnte verschwiegen sein, wenn sie wollte. Jetzt ging der Wunsch, im Mittelpunkt zu stehen, mit ihr durch. Glücklicherweise bekamen die Pferde der vierten Schauklasse einen fünfminütigen Aufschub, während zwei Traktoren mit Rechen den Boden der Bahn auflockerten. Pewter musterte den jungen Affen. »Hässlich wie ein Fußabtreter.« »Sie muss ihre Kette abgestreift haben.« Tucker fand es lustig, dass Miss Nasty mit ihrem Hütchen der Menge zuwinkte. Cookie, die den Affen nur zu gut kannte, erwiderte: »So was Gewöhnliches wie eine Kette hat Miss Nasty nicht. Sie wird mit einer Seidenschnur angebunden, die ein goldenes Schloss hat. Sie kann es knacken. Sie kann auch das Schloss von ihrem Käfig knacken. Booty sollte sie die ganze Zeit im Käfig halten, aber er hat sie gerne bei sich. Sie kommt an alles ran. Einmal ist sie in ein Auto gestiegen und hat es angelassen. Wie ich gehört habe, hat sie mal seine Schlangen losgelassen, und einige davon sind giftig. Niemand wollte sein Haus betreten, bis alle eingefangen waren.« »Schließen die Leute bei Turnieren ihre Autos nicht ab?« Mrs. Murphy war erstaunt. »Nöö, wozu auch?« »Wenn Miss Nasty das Schloss von ihrer Seidenschnur knackt, warum nimmt Booty dann nicht was Stabileres?«, fragte Pewter verwundert. »Oh, er beschuldigt die Leute, sie zu befreien. Er will es einfach nicht wahrhaben, wie ungezogen sie ist. Nur gut, dass er nicht verstehen kann, was sie sagt. Man sollte ihr das dreckige Mundwerk stopfen.« Cookie legte die Ohren an, als Miss Nasty herankam, innehielt, um sich aufzurichten und zu klatschen, dann den Hut schwenkte und wieder aufsetzte. Sie ließ sich auf alle viere nieder und hopste wieder auf dem oberen Bandenbrett entlang. 14
»Ihr Kleid ist niedlich.« Fair lachte über das rosa Sommerkleid, das zu ihrem Strohhut passte, dessen blassgrünes Band eine künstliche Pfingstrose zierte. »Sie besitzt eine umfangreiche Garderobe.« Joan lächelte trotz der verschwundenen Brosche. »Als Annie sich von Booty scheiden ließ, hat er sich den Affen zugelegt und zu Ehren seiner Exfrau Miss Nasty genannt, Miss Garstig.« »Hinterhältig.« Harry kicherte.
»Das ist noch nicht alles.« Joans Grinsen wurde noch breiter. »Ihre Kleider und Ensembles sind Kopien von Annies Garderobe. Annie hat viel bei Glasscock's gekauft, einem teuren Geschäft in Louisville, also gibt Booty bestimmt viel Geld für Miss Nastys Kleidung aus.« »Nein!« Harry fand das herrlich dekadent. »Wie konnte er sich erinnern, wie Annie sich anzog?« Fair stand vor einem Rätsel; denn er konnte sich solche Einzelheiten nicht gut einprägen. »Booty ist in puncto Kleidung genauso eitel wie Charly. Er erinnert sich sogar an Sachen, die ich vor Jahren getragen habe«, antwortete Joan. Fair zuckte die Achseln. »Vielleicht ist er schwul.« »So ein Klischee.« Harry knuffte ihn. »Booty ist nicht schwul, er legt bloß großen Wert auf Kleidung, auf Mode. Er hat eine ästhetische Ader. Stellt euch mal vor, er trägt Gürtel und Stiefel aus Krokodilleder. So ein Gürtel allein dürfte dreihundertfünfzig Dollar kosten.« »Hat seine Exfrau Miss Nasty mal gesehen?« Fair stellte sich vor, dass das einen Mordskrach provozieren würde. »Ja, hat sie.« Joans Augen blitzten. »Es war kein erfolgreiches Zusammentreffen.« »Sind sie im selben Kleid auf derselben Party aufgekreuzt?« Harry lachte. »Ja, tatsächlich. Booty muss Annies sämtliche Freundinnen angerufen haben, um rauszukriegen, was sie anziehen würde. Sie waren in Lexington, und man hat die Schreie bestimmt bis 15
Louisville gehört, wenn nicht gar bis Memphis. Annie hat Rache geschworen, aber erst nachdem sie Booty mit allen bekannten Schimpfwörtern beworfen hat und obendrein mit einigen, die unsereins noch nie gehört hat.« Joan hielt kurz inne. »Das war die beste Party, auf der ich je war.« Das Gelächter machte Miss Nasty auf die Kalarama-Kabine aufmerksam. Sie pulte mit den Fingern in ihren diversen Öffnungen. »Ungehörig.« Pewter rümpfte die schwarze Nase. »Fett.« Miss Nasty schlug einen Purzelbaum. Booty erschien an dem Einlasstor, das sich von der Kalarama-Kabine aus gesehen am anderen Ende der Reitbahn befand. Als er sein herumturnendes Schätzchen erblickte, eilte er zu ihr. Sie richtete sich so hoch auf, wie sie konnte, und rieb sich das Kinn. »Miss Nasty, da kommt Daddy«, redete Joan ihr zu. »Daddy hat ein rosa Hemd angezogen, damit es zu deinem hübschen Kleid passt.« »Er versohlt dir den roten Hintern, bis du Nasenbluten kriegst«, prophezeite Pewter, wütend, weil sie als fett bezeichnet worden war. Miss Nasty popelte etwas Fieses aus der Nase und warf es nach Pewter.
Die Katze machte einen Satz auf das unverschämte Wesen zu, doch Miss Nasty sprang von der Bande und huschte zu einem Traktor. Ihren Sprung geschickt berechnend, landete sie auf der hinteren Stoßstange, griff dann nach der Rückenlehne des Sitzes und schwang sich auf die Schulter des Fahrers. Der scherte aus, fing sich aber. Er kannte Miss Nasty und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Booty ging auf die Reitbahn und lockte mit einem Stückchen Apfelsine. Als der Traktor das erste Mal vorbeifuhr, geriet Miss Nasty in Versuchung. Beim zweiten Mal drehte Booty ihr den Rücken zu, um die Bahn zu verlassen. Sie kapitulierte. Booty nahm sie unter Hochrufen auf den Arm. 16
»Er trägt tatsächlich einen Gürtel und Stiefel aus Krokodil-leder.« Harry stockte der Atem. »So was kannst du mir zum Geburtstag kaufen«, meinte Fair. »Da kauf ich wohl besser zuerst ein Lotterielos.« Harry rechnete sich aus, was Stiefel und Gürtel kosten würden. Dann sagte sie frech: »Ich hab in fünf Tagen Geburtstag, aber das mit den Stiefeln geb ich weiter. Das mit dem Affen auch.« »Ich töte den Affen«, wütete Pewter. »Das sagst du immer«, zog die Tigerkatze sie auf. »Ich tu's!« »Dann kriegst du 's aber mit Popeln zu tun«, warnte Mrs. Murphy. »Oder mit Schlimmerem.« Tucker wirkte todernst. »Wartet's nur ab.« Pewter ging nicht auf die Frotzeleien ein. Harry ließ sich wieder auf Hände und Knie nieder und suchte den Holzboden der Kabine ab. »Ich schwöre, ich finde deine Brosche, Joan. Du weißt ja, wie ich sein kann. Nur nicht verzagen.«
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as Surren der Klimaanlage weckte Harry, die es gewöhnt war, zu Hause
bei offenem Fenster zu schlafen, wo nur die Geräusche der Nacht zu hören waren. Fair lag auf dem Rücken, einen Arm auf seinem kräftigen Brustkasten, den anderen an der Seite. Er schlief fest, aber wie die meisten Arzte würde er beim ersten Klingeln des Telefons hellwach sein. Pewter hatte sich neben Mrs. Murphy zusammengerollt und schnarchte leise. Tucker, die neben dem Bett auf der Seite lag, hob den Kopf nicht, als Harry aufstand. Als ihre menschliche Freundin jedoch Jeans, T-Shirt, So
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cken und Turnschuhe anzog, schlugen Airs. Murphy und Tucker die Augen auf. Pewter schlief weiter tief und fest.
Harry ging ins Bad, schloss die Tür und machte erst dann Licht, um ihren Mann nicht zu wecken. Sie hinterließ ihm einen Zettel: Schatz, kann nicht schlafen. Nehme den Transporter. Fahre zum Stall Fünf. Bin wahrscheinlich zurück, bevor Du aufwachst. In Liebe, Miss Wonderful Dann strich sie »Miss« durch und schrieb »Mrs.« darüber. Sie lehnte den Zettel an den Spiegel und legte ihr Kosmetiktäschchen davor, damit er nicht umfiel. Sie knipste das Licht im Bad aus und tastete sich zur Tür des Hotelzimmers. Tucker und Mrs. Murphy, die im Dunkeln besser sahen als Harry, gingen mit ihr hinaus. »Wenn du gehst, gehen wir mit.« Tucker blinzelte, noch ganz verschlafen. »Pewter kriegt die Krise.« Mrs. Murphy kicherte; denn die graue Katze konnte es nicht ausstehen, etwas zu verpassen, aber ebenso wenig konnte sie es ausstehen, ihren Schönheitsschlaf vorzeitig abzubrechen. Harry schloss die Tür von Fairs F-250 auf. In einem eigens angefertigten, an die Ladefläche geschraubten Aluminiumkasten waren Medikamente, Nadeln und Verbandszeug verstaut. Die meisten Pferdeärzte nutzten ein ähnliches System, da sie ihre Patienten häufiger aufsuchten als diese sie. Oftmals breitete Fair eine große Plastikplane auf einer ebenen Weidefläche aus und operierte an Ort und Stelle. Diese Fähigkeit, unverzüglich zu handeln, war lebensrettend. Harry hatte gemurrt, sie würden ein Vermögen für Benzin ausgeben für die achtstündige Fahrt, zuerst nach Springfield, wo das Gestüt Kalarama beheimatet war, dann weiter nach Shelbyville. Das taten sie auch, aber Fair wollte in der Lage 17
sein, in einem eventuellen Notfall zu helfen. Jeder Aufenthalt an einer Tanksäule kostete achtzig Dollar. Harry bekam jedes Mal einen Ohnmachtsanfall und fing sich wieder. Fair bezahlte achselzuckend und sagte, die ganze Welt leide unter der Abhängigkeit vom Öl. Weil keiner von beiden eine Patentlösung für diese große globale Krise parat hatte, fuhren sie auf der Interstate 64 weiter. Als der große Wagen ansprang, zeigte die Uhr am Armaturenbrett 1:45. Harry stellte sich den Sitz richtig ein. Die Luxussitze des Wagens ließen sich nach oben und unten, nach vorn und hinten verstellen, und sogar die Position der Rückenlehne ließ sich verändern. Die Fußpedale konnte man je nach Beinlänge höher und tiefer stellen. Der Wagen piepte, wenn man beim Rückwärtsfahren einem Gegenstand zu nahe kam. Trotz der Benzinfresserei war Harry von dem Fahrzeug begeistert. Sie selbst fuhr einen 1978er Ford Transporter, und vor ein paar Jahren hatte Fair in der Hoffnung, sie zurückzuerobern, ihr geholfen, einen Kombi zu kaufen, der ihren Pferdeanhänger
zog. Ihr Alltagsgefährt war jedoch der Halbtonner-Transporter, der von diesem mit allen Schikanen versehenen Metalltrumm himmelweit entfernt war. Aber sie liebte ihr altes Vehikel. Harry verabscheute es, sich von irgendwas zu trennen, das sich noch als nützlich erwies. Ihre Sockenschublade gab Zeugnis davon. Sie ließ den Motor warmlaufen, fuhr dann vom Parkplatz des Best Western Hotels, vorbei am noch nicht geöffneten Wendy's und an der Traktorenhandlung, die sie immer gerne aufsuchte, und bog rechts in die alte Hauptstraße ein, die Route 60, die Louisville mit Lexington verband. Dann bog sie an der Kreuzung links ab und fuhr zirka vierhundert Meter zum Hauptparkplatz an der Trainingsbahn. Hier, in dem niedriger gelegenen Stall, vermietete Charly Trackwell Boxen. Alles war still, und Harry fahr auf den verlassenen Wegen weiter bis zum Stall Fünf. Sie stellte den Motor ab und öffnete die 18
Tür, um Mrs. Murphy heraussprengen zu lassen, Tucker wurde heruntergehoben. Schleiereulen flogen in den diversen Ställen ein und aus. Ein Ziegenmelker schrie im Gebüsch. Ein Pferd wieherte, als Harry in den Stall trat. Jorge, hellwach, kam in die Stallgasse und grüßte sie. »Senora Haristeen.« »Jorge, ich hoffe, ich störe Sie nicht. Ich konnte nicht schlafen, da dachte ich, ich seh mal nach den Pferden, zusammen mit dem, der gerade Wache hat.« Jorge, Ende dreißig, mit schon grau melierten Haaren, nickte, ein Lächeln in dem faltigen, markanten Gesicht. Wortlos folgte sie ihm, und sie inspizierten jede Box. »Jorge, wie viel ist Point Guard wert?« Sie blieb stehen, um den fünfgängigen jungen Hengst zu bewundern, der in dieser Saison in die Turnierwelt eingeführt werden sollte. Zusätzlich zu den normalen drei Gangarten Schritt, Trab und Galopp beherrschte Point Guard den langsamen und schnellen Tölt, bei dem das Pferd die Beine hoch hebt. Ein Pferd muss dafür begabt sein und zusätzlich ausgebildet werden. Aber wenn es ihn beherrschte, war es, als ob man einer großartigen Ballett-Tänzerin zusieht, wie sie springt und ohne Mühe endlos in der Luft zu schweben scheint. Der Tölt brachte Rhythmus, Balance und Kraft zur Geltung. »Hmm, im Augenblick vielleicht dreihunderttausend.« Jorge bewunderte das Tier. Shelbyville würde ein bedeutender Schritt in Point Guards Karriere sein. Joan und Larry hofften, dass er eines Tages überragend sein würde; denn er besaß das Exterieur, den Bewegungsdrang, das Verhalten und zudem den Willen zu siegen.
Harry bewunderte es, wie konzentriert die Pferde bleiben konnten, wenn Tausende aufgeregte Menschen ihnen so nahe waren, dass diejenigen, die sich vorn an der Bande befanden, die Pferde berühren konnten. Freilich, würde einer jemals et 3i
was so Dummes tun, er würde auf Nimmerwiedersehen aus der SaddlebredWelt verbannt werden. Dennoch, die Nähe der Zuschauer zu den Wettbewerbsteilnehmern war außergewöhnlich und hatte in anderen Sportarten nicht ihresgleichen. Bei Football, Baseball und Hockey, ja sogar bei Basketball wurden die Fans auf Distanz zu den Sportlern gehalten. Golf und Radfahren waren zwei von den wenigen Sportarten, wo die Menschen nahe am Geschehen sein konnten. Auch bei Jagd- und Springturnieren musste man die Menschen ein Stück weit von der Reitbahn entfernt halten, ausgenommen bei kleinen regionalen Turnieren, wo Nähe, Geselligkeit und persönliche Bekanntschaft mit Ross und Reiter noch zählten. Geld veränderte den Sport. Zwar steigerte es das Spektakuläre und den Wettbewerb, doch die Fans wurden mehr und mehr als notwendiges Übel betrachtet. Auch in der Saddlebred-Welt gab es Geld genug für den, der gut war, doch die Fans gehörten hier zur erweiterten Familie. Waren die Turniere auch noch so groß, sie bewahrten sich stets das Flair des Heimischen. Dies alles schwirrte Harry durch den Kopf, während sie das große schwarze Pferd betrachtete, das in seiner Box döste. »Ah.« Jorge lächelte. »Große Zukunft.« Harry fiel es schwer, darüber zu spekulieren, wie schnell der Wert eines Pferdes sich nach nur einem Turnier, einem einzigen großen Turnier, verändern konnte. »Wenn er in Louisville siegt, schnellt sein Wert in unermessliche Höhen.« »Nicht in diesem Jahr. Friedrich der Große und Callaway's Senator.« Mehr sagte er nicht, denn diese zwei Pferde, im besten Alter und turniererprobt, würden Samstagabend bei der letzten Schauklasse, die das Turnier beschloss, um den ersten und zweiten Platz konkurrieren. Charly und Booty ritten je einen der beiden Hengste. »Und wenn er Dritter wird, jung wie er ist, dann ist das ein großer Sieg.« 19
»St.« Er nickte. »Si.« Das Knattern eines starken Dieselmotors rüttelte Harry auf. Sie trat aus dem Stall. Der Motor wurde abgestellt, doch Harry konnte das neben der Trainingsbahn parkende Transportfahrzeug nicht sehen. Sie trat wieder in den Stall und sah Jorge an. »Futter«, meinte Jorge achselzuckend.
Nachdem Tucker und Mrs. Murphy sich vergewissert hatten, dass es keine Mäuse oder anderes Ungeziefer anzugreifen gab, lauschten sie ebenfalls, als der Motor abgestellt wurde. »Los, gehen wir«, rief Tucker Mrs. Murphy zu, nachdem Harry wieder zu Jorge in den Stall gegangen war. Tucker, nahe am Boden, war flink und behände. Mrs. Murphy lief gerne mit dem Corgi. Beide Tiere waren neugierig und ausdauernd. Pewter gab gewöhnlich einen unendlichen Strom von Klagen von sich, und so waren sie froh, dass sie im Best Western schnarchte. Im nassen Gras waren ihre Pfotenabdrücke zu sehen. An der unüberdachten Tribüne an der Ostseite der Trainingsbahn blieben sie stehen. Vielen Menschen gab das Beobachten der Pferde bei der Arbeit einen Hinweis darauf, wie sie in ihrer Klasse abschneiden würden. »Wer sind die Männer, die hinten aus dem Wagen springen'«Tucker, die im Dunkeln gut sehen konnte, beobachtete das Heck eines weißen Pferdetransporters mit grüner Verzierung. Mrs. Murphy ging näher heran. Tucker folgte ihr. »Sie sind jung.« Mit gespitzten Ohren strengte sie sich an, etwas zu hören, doch das einzige Geräusch kam von den Stiefeln der Männer, die auf Zehenspitzen in den ältesten Stall schlichen. »Es sind Mexikaner.« »Was machen sie da? Vielleicht wollen sie ein Pferd stehlen.« Tucker wusste, dass Menschen gewöhnlich laut waren; wenn also das Tier namens Mensch, zumal in mehrfacher Ausführung, still war, bedeutete das nichts Gutes. »Es braucht nicht so viele Menschen, um ein Pferd zu stehlen.« 20
Auch Mrs. Murphy fragte sich, was hier vorging. »Los, komm.« Sie spurtete zum Stall. Tucker, die größer war als die Katze, befürchtete, dass man sie bemerken könnte. Sie folgte Murphy, sah sich aber nach Stellen um, wo sie sich wegducken konnte. Mrs. Murphy schlenderte in den Stall, als wäre sie dort zu Hause. Sie inspizierte die Boxen, und da die aus Holz waren, konnte sie notfalls daran hochklettern und verschwinden. Doch hier gab es Stallkatzen, und die stürmten ihr sogleich hinterher. Sie rannte, denn vier Katzen gegen eine, das ist keine erfreuliche Aussicht. »Abschaum!«, kreischte die größte Katze, eine rotbraune. Mrs. Murphy flitzte an Tucker vorbei, worauf die Corgihündin kehrtmachte, um mit ihrer Freundin Schritt zu halten. Die Stallkatzen plusterten sich auf, blieben stehen und schrien ihren Triumph hinaus. »Hast du was gesehen?« »Die Männer haben sich an der Wand aufgestellt. Charly Trackwell hat Ward Findley einen Batzen Bares gegeben. Booty Pollard ist auch dabei, mit Miss Nasty.«
»Das hat vermutlich nichts mit Kalarama oder mit uns zu tun«, sagte Tucker. »Vermutlich nicht. Trotzdem, eigenartig.« »Zwanzig Mann in einem Pferdetransporter?'«Tucker war erstaunt. »Sie sahen müde und hungrig aus.« Mrs. Murphy wünschte, die Stallkatzen wären nicht aufgetaucht. Dann hätte sie hören können, was die Männer sprachen. Harry war froh, als Katze und Hund wieder in Stall Fünf auftauchten. »Wo seid ihr gewesen?« »Nachforschen«, antwortete Tucker. Harry warf Mrs. Murphy einen strengen Blick zu. »Das muss ich mir noch gut überlegen, ob ich dich noch mal von der Leine lasse.« »Puuh«, sagte Mrs. Murphy, dachte aber was Schlimmeres. 21
Sobald Harry und die Tiere abgefahren waren, sprintete Jorge zu dem alten Stall, just als der starke Dieselmotor aufheulte und der Wagen zurücksetzte, um loszufahren.
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H
eißer Schlitten«, sagte Harry lachend. Sie und Joan führen in Joans
neuem Jaguar-Cabrio durch die Vorstadtstraßen von Shelbyville. Wie Harry war auch Joan ständig in Geldnot. Einen Sportwagen zu besitzen war ausgesprochen leichtsinnig, doch eines Tages war Joan nach Louisville gefahren, um Besorgungen zu machen, und hatte die Stadt in dem luxuriös ausgestatteten Jaguar verlassen. Das war eine der wenigen impulsiven Handlungen, die sie je begangen hatte. Freilich erlitt sie tags darauf einen Anfall von Reue über ihren Spontankauf, der jedoch sofort vorbei war, als sie sich ans Steuer setzte, den Ledergeruch einatmete und den Motor anließ. »Ich habe den Verstand verloren.« Joan kicherte. »Ich muss bei dir in die Schule gehen.« Harry konnte praktisches Denken und Handeln ins Extreme steigern. »Weißt du was, wenn es sein muss, schlägt man zu. Du hast schließlich dieses Frühjahr Fair wiedergeheiratet.« »Und denk bloß, wie viele Jahre ich dazu gebraucht habe.« Harry drehte sich um, als sie an den hinteren Weiden einer Farm vorbeifuhren; die Tabakscheunen waren so ausgerichtet, dass sie den Wind einfingen. »Es wundert mich, dass er gewartet hat.« »Er liebt dich.« Sie wandte sich Joan zu. »Ich hab keine Ahnung, warum.« »Du bist liebenswert.« Joan lächelte. »Und Männer suchen die Herausforderung.«
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»Die hab ich ihm geliefert.« Harry atmete den schweren Geißblattduft ein. Die langen, schrägen Strahlen des Frühmorgenlichts wurden vom
Bodennebel eingefangen, der sich über Bäche und Teiche senkte. Sie wechselte das Thema. »Warst du wegen deiner Brosche beim Sheriff?« »Ja.« »Weiß deine Mom es schon?« »Nein.« Joan fuhr eine Kurve aus und bewunderte die gute Straßenlage des Wagens. »Sie wird es vorerst nicht merken, weil ich die Brosche nicht jeden Abend trage.« »Gott, hoffentlich taucht sie wieder auf.« Schon ganz benommen von dem Duft, atmete Harry wieder ein. »Meinst du, deine Mom kriegt einen Anfall?« »Nein. Sie wird mit den Tränen kämpfen und einen Schmollmund machen. Das ist schlimmer, als wenn sie schimpft. Dieses Schuldgefühl.« »Du hattest Schuldgefühle als Lernstoff, die vielen Jahre auf der katholischen Schule.« Harry zog die Mundwinkel hoch. »Ich weiß! Und ich bin immer noch nicht ganz frei davon. Das macht mich richtig wütend. Wie bei diesem Wagen. Den hab ich mir verdient. Ich schufte schwer, das weißt du. Ich fahre diese Kiste furchtbar gern, aber ab und zu denke ich an das Leid auf der Welt, und dann überkommen mich Schuldgefühle. Nun gut, ich werde deswegen nicht zur Beichte gehen. Bestimmt nicht.« Ihre Stimme klang entschlossen. »Ich denke auch an das Leid, aber sollen wir etwa alle leiden? Versteht man das unter Gleichheit? Dass wir alle miteinander heruntergezogen werden?« Harry kuschelte sich in ihren Sitz, setzte sich dann aufrechter. »All die leidenden Menschen auf der Welt, wenn sie die Mittel hätten, würden sie auch dieses Auto kaufen. Warum das Glück zurückweisen? Gott hat dir die Chance gegeben. Du hast sie ergriffen.« »Haristeen-Theologie.« Joan lächelte. Sie konnte stets auf ein gutes Gespräch mit ihrer Freundin zählen. »Logik, nicht Theologie. Es gibt herzlich wenig Glück auf 22
dieser Welt. Schnapp dir, was du kannst. Ich meine nicht, nimm einem anderen etwas weg, aber schnapp dir, was dir über den Weg läuft.« »Aber gerade darum geht es doch, nicht? Wenn ich dieses Auto kaufe, verschmutze ich die Umwelt. Ich könnte das Geld nach Uganda schicken und jemandem helfen.« »Aber Joan, das ist doch Unsinn. Durch die Industrie wird die Luft stärker verschmutzt als durch Autos. Und wenn du einen Hybrid-Wagen kaufen würdest, dann stößt du vielleicht nicht so viel Kohlenwasserstoff aus, weil du weniger Benzin und Öl verbrauchst, aber es würde trotzdem zur Erderwärmung beitragen. Abgase sind heiß, egal, was du tankst. Du musst Auto fahren. Oder hast du auf dem Land schon mal eine Bushaltestelle gesehen? Na?« »Du hast ja recht.«
»Okay. Außerdem, wenn du Geld nach Uganda schickst, landet es in der Tasche von einem korrupten Beamten. Du brauchst es gar nicht nach Uganda zu schicken; denk bloß mal an die verschwundenen Millionen, die für die Katrina-Opfer bestimmt waren. Spende nur für Wohlfahrtsorganisationen, die du auch selbst kontrollieren kannst.« »Hast schon wieder recht.« Joan nickte. »Immer, wenn Geld in andere Hände übergeht, bleibt etwas kleben. Je mehr Leute zwischen deinem Dollar und dem Empfänger stecken, desto weniger kommt beim Empfänger an. Wohltätigkeit beginnt zu Hause.« Ein breites Lächeln ließ Joans Gesicht erstrahlen. »Ich bin ja sooo froh, dass ich das Auto gekauft habe.« »Und in Britisch-Renngrün. Damals, als es die ersten Autorennen gab, die großen Rennen über Land und durch Städte, hatte jedes Land seine eigene Farbe. Echt heiß. Die deutschen Wagen waren silbern oder weiß oder beides. Die Franzosen hatten blaue. Die Italiener hatten rote. Aber BritischRenngrün ist am heißesten.« »Hast du deinen 1978er Ford F-150 noch?« 23
»Mein Baby.« Harry kicherte. »Hey, du weißt doch, dass ich die PetitManseng-Trauben gepflanzt habe?« Harry hatte sprunghaft das Thema gewechselt, aber daran war Joan gewöhnt. »Du hast mir Fotos geschickt, als du die Reihen angelegt hattest.« »Also, ich werde vor dem dritten Jahr nichts davon haben, ich meine, keine gute Ernte, aber die Reben sind schon hoch und haben Blätter. Jetzt ist die einzige Zeit, wo Fair und ich mal weg können. Hab ich dir erzählt, dass ich heute Morgen ganz früh rausgeschlichen bin?« »Harry, wie viel Kaffee hast du getrunken?« Joan schüttelte belustigt den Kopf. »Lauf ich mal wieder auf Hochtouren?« »Wie dieser Wagen.« »'tschuldige. Zu viel Koffein, aber ich hab einen guten Grund. Mehr oder wenigen« »Ich bin gespannt.« »Ich konnte nicht schlafen. Bin rausgeschlichen, hab Fairs Wagen genommen und bin zum Veranstaltungsgelände gefahren. Ich dachte, ich schleich mich rein und guck mal nach, ob der Wächter wirklich wach ist. War er. Jorge. Wir haben zusammen die Boxen kontrolliert, Mrs. Murphy und Tucker sind abgehauen und wiedergekommen, danach bin ich zum Best Western zurückgefahren. Ich hab den Zettel, den ich Fair dagelassen hatte, wohlweislich zerrissen, und er weiß von nichts.« »Er ist so fürsorglich.« »Einerseits find ich's schön. Andererseits wieder nicht.« »Harry, du hast nicht immer ein gutes Gespür für Gefahr.«
»Schon aus dem Bett aufstehen ist gefährlich.« Harry nahm Joan die Bemerkung nicht krumm, weil sie wahr war, aber sie drückte sich vor einer uneingeschränkten Zustimmung. »Du kannst einem Geheimnis nicht widerstehen, ob gefährlich oder nicht, und ich hoffe, dass du meine Brosche findest.« 24
»Ist das ein Auftrag?« »Hm - ja.« »Dann sollte ich wohl mal anfangen, bei Pfandhäusern anzufragen.« Sie hielt inne. »Weißt du, was ich vergessen habe, dir zu erzählen? Ich suche ein junges Vollblutpferd - gute alte Steherzucht, stabiler Knochenbau - für Alicia Palmer. Sie bezahlt mich dafür, dass ich es für sie als Jagdpferd ausbilde. Wenn du auf was Passendes stößt, sag mir Bescheid.« Harry sprach von der alten Steherzucht, die großartige Ausdauer hervorbrachte und ein kräftiges Sprungbein, das ist der oberhalb des Hufs befindliche Knochen im Vorderbein eines Pferdes. Ein kräftiger Knochen deutete meistens darauf hin, dass ein Pferd nicht zu Knochenfissuren oder Überbeinen neigte. Vielseitigkeitspferde, Militarypferde und Jagdpferde mussten rennen. Die dabei auf das Vorderbein ausgeübte Kraft war gewaltig. Ein kräftiges Sprungbein war eine Art Versicherung. »Mit oder ohne Rennerfahrung?« »Egal. Wenn ein Tier Rennen gelaufen ist, muss ich ihm gewöhnlich mehr Zeit lassen, bis die Medikamente aus seinem Blutkreislauf gespült sind, vor allem wenn es auf Steroide gesetzt war.« »So viel zu Drogentests.« »Bei menschlichen Sportlern ist es genauso. Die Elitesportler können sich bessere Chemiker leisten. Unterbinden können wir's nicht, sollen sie doch das Zeug legalisieren. Weißt du noch, die Olympiade 2006? Langweilig bis zum Abwinken. Sie haben zu viele Leute ausgesiebt. Die Zuschauer wollen die Besten, und die Besten kriegt man nur mit Drogen. So einfach ist das.« »Die Leute können der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen.« »Genau, drum stempeln sie jeden zum Lügner. Ich sage nicht, dass Drogen, die den Körper wirklich kaputtmachen, legalisiert werden sollen, und man sollte diese Verfahren - zum Beispiel EPO, womit die Anzahl der roten Blutkörperchen erhöht wird - nicht ohne ärztliche Aufsicht anwenden. Und das 24
ist ein weiterer Grund, Doping zu legalisieren. Schon Kinder von der Highschool kaufen das Zeug auf dem Schwarzmarkt; sie wissen aber nicht, wie weit ihr Körper tatsächlich schon entwickelt ist. Die Arzte können nicht behandeln oder beobachten, wenn die Leute nicht zu ihnen kommen, und das werden sie nicht, solange leistungssteigernde Drogen illegal sind.«
»Harry, wir leben mit entsetzlichen Widersprüchen, ich glaube einfach, die Menschen können der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen - in keiner Beziehung.« »Wenn wir die Widersprüche aufzählen und dabei immer geradeaus fahren würden, wären wir in Nashville, bevor uns der Gesprächsstoff" ausginge.« »Glaubst du, es war immer so? Ich meine, ob es im sechzehnten Jahrhundert auch schon so war?«, fragte Joan. »Ja und nein. Erst einmal gab es weniger Menschen. Überleg mal. England hatte ungefähr zweieinhalb Millionen Einwohner. Die Umwelt war nicht so stark belastet. Und ob es Widersprüche gab? Sicher. Wenn etwa der König der Gesalbte Gottes ist, ansonsten aber ein kompletter Idiot? Er räumt die Schatzkammer leer, zerstört das Land durch unbesonnene Kriege, steckt sich mit Syphilis an, weil er rumvögelt, und enthauptet diejenigen, die seiner Autorität gefährlich werden können. Das scheint mir ein großer Widerspruch zu sein. Oder Kardinäle, die Reichtum und irdische Macht anhäufen. Ein weiterer Widerspruch. >Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist< und so weiter.« »Abgesehen davon, dass es keine anständige medizinische Versorgung gab, beneide ich diese Menschen irgendwie. Kein Fernsehen. Keine aufdringliche Werbung. Keine Kreditkarten.« »Die Kreditkarte hat der Teufel erfunden.« Harry lachte. Jetzt wechselte Joan das Thema. »Du hast gar nichts davon gesagt, dass du vierzig wirst.« »Ich hab noch vier Tage. Warum die Zeit hetzen? Wir haben erst den dritten August.« 25
»Harry.« Joan senkte die Stimme, ihre Fassungslosigkeit war unüberhörbar. »Was willst du denn von mir hören? Kein großes Getue. Ist doch bloß eine Zahl.« »Alle machen ein großes Getue darum. Es ist ein Wendepunkt.« »Ich ignoriere die ganze Sache.« »Harry, das nehm ich dir nicht ab.« »Glaub mir, ich lasse mich nicht in so einen Wirbel reinziehen.« »Umso besser«, sagte Joan ohne Überzeugung. Harry wechselte das Thema. »Als ich heute Morgen gegen zwei im Stall war, war es stockdunkel. Am 27. war Neumond, du weißt ja, wie finster es da sein kann. Also, ich ging mit Jorge die Stallgasse entlang, und da hab ich einen starken Motor gehört, dann wurde er abgestellt. Aber ich hab nicht gehört, dass Pferde abgeladen wurden, denn für gewöhnlich wiehert doch das eine oder andere.« »Manchmal bringen die Leute die Pferde nachts. Ist nicht so stressig.« Joan überlegte kurz. »Hast du überhaupt was gehört?«
»Nein. Ich hab den Wagen kommen gehört, ein starker Dieselmotor. Vielleicht zehn Minuten später wurde er wieder angelassen, und der Wagen ist weggefahren, aber gesehen hab ich ihn nicht. Meinst du, jemand könnte Futter oder eine Fuhre Heu gebracht haben?« »Nein.« »Da hast du wohl recht. Ich nehme an, sie wären dann noch beim Ausladen gewesen, als ich weggefahren bin.« »Die Laster mit Heu kommen frühmorgens, aber nicht so früh.« Sie machte eine lange Pause. »Hat Jorge was gesagt?« »>Futter<, mehr nicht.« »Aber er hat den Wagen gehört?« »Ganz bestimmt. Die Nacht war still, und diese Motoren dröhnen.« 26
Joan bog links ab, brauste in östlicher Richtung, und nach fünfzehn Minuten fuhr sie durch die Hauptstraße von Shelbyville, die jetzt Einbahnstraße war, was Joan ärgerte. »Ich weiß, du liebst Kriminalfälle.« An der Kreuzung Sixth Street und Main Street fuhr sie langsamer. »Einer der berühmtesten Morde von Kentucky ist genau da geschehen.« Sie zeigte auf eine Stelle. »Früher stand da das Hotel Armstrong. Auf General Henry H. Denhardt, der zu seinen Lebzeiten ein berühmter Mann in Kentucky war, wurden von den drei Brüdern Garr drei Schüsse abgegeben. Zwei trafen ihn im Rücken, einer im Hinterkopf. Das war am 20. September 1937.« Sie fuhr an den Straßenrand, ließ aber den Motor laufen. »Er ist am Eingang des Hotels zusammengebrochen. Ein unrühmliches Ende für einen Offizier im Ersten Weltkrieg.« »Ein Rachemord?« Als Virginierin kannte Harry den Süden gut. »Man hat ihn beschuldigt, Verna Garr Taylor ermordet zu haben. Sie war eine richtige Schönheit, sagt Dad, der damals ein Teenager war. Sie war verwitwet, und der General - er war ungefähr zwanzig Jahre älter - hat sich heftig in sie verliebt. Dad sagt, dass sie am 6. November 1936 in Henry County ermordet wurde. Er und seine Kumpel seien sogar zu der Stelle am Highway 22 gefahren. Es war eine echt große Sache. Stand in allen Zeitungen.« »Hat er sie ermordet?« »Er hat es abgestritten, aber alle Anzeichen wiesen auf ihn. Er wurde vor Gericht gestellt, aber freigesprochen, weil die Geschworenen zu keinem Ergebnis kamen. Vernas Brüder haben fast ein Jahr gewartet, dann haben sie ihre Schwester gerächt.« »Klingt sehr dramatisch.« »Die Leute sprechen heute noch davon. Die Brüder wurden angeklagt. Einer, E. S., erschien nicht im Gerichtssaal, weil er in einer Heilanstalt
untergebracht war. Dad sagt, der Mord an Verna habe ihren Bruder um den Verstand gebracht. Ich glaube, er ist dort nach ein paar Jahren gestorben.« 27
»Die anderen Jungs wurden freigesprochen?« »Jack, weil man ihm nicht beweisen konnte, dass er einen Schuss abgegeben hatte. Es war Freispruch aufgrund von Notwehr, obwohl der General nicht bewaffnet war.« »Raue Gerechtigkeit.« Joan zog die Stirn kraus. »Lieber raue Gerechtigkeit als gar keine.« »Da stimm ich dir zu.« Harry nickte. Joan legte einen Gang ein, und sie fuhren zum Veranstaltungsgelände. Bei Stall Fünf angekommen, traf Joan Jorge beim Striegeln eines dreigängigen Pferdes an, das einem Logiergast von Kalarama gehörte. Jorge lächelte, als er Joan sah. »Sieht gut aus.« Er zeigte auf die Stute. »Ja. Jorge, als Harry heute früh hier war, hast du da einen Laster kommen gehört?« »Nein, Senora.« Sie sagte nichts darauf, lächelte dann, ging durch die Stallgasse und kontrollierte jede Box. Harry begleitete sie. Sie sprachen nicht, bis sie an der Südseite des Stalles herauskamen. »Vielleicht ist er schwerhörig.« Harry konnte es sich nicht anders erklären. »Ist er nicht«, erwiderte Joan.
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er mit Pferden zu tun hat, sieht zu, dass er die meiste Arbeit getan
hat, ehe es heiß wird. Bauschige Wolken zogen träge von West nach Ost, schon war ein Schimmern zu erkennen, und gegen neun flirrte die Luft vor Hitze. Es würde ein glühend heißer Tag werden. Der lang belassene Huf des Saddlebred, der dafür sorgen
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sollte, dass die Pferde eine hohe Aktion mit langen Tritten zeigten, Heß jedoch die Hufeisen leicht verloren gehen. In jedem Stall bückten sich wegen ihres Geschicks geschätzte Hufschmiede, einen Huf auf den Knien. Hitze oder nicht, Pferde brauchten Hufeisen. Futterhändler unterhielten sich mit Besitzern, drängten ihnen Gratisproben und Nahrungsmittelzusätze auf. Delores von Le Cheval, einem eleganten Schneideratelier, traf mit einem eleganten marineblauen Reitrock für Renata ein. Sie gab ihn in der Garderobe ab, da sie ihn dort in der sicheren Obhut des Personals von Kalarama wusste. Pferdepfleger, Dresseure, Tierärzte und Trainer tummelten sich in den Ställen, und auf dem Gelände ging es zu wie auf der Gegengerade der Rennbahn.
Harry, Fair, Mrs. Murphy, Pewter und Tucker saßen auf einer alten karierten Wachstuchdecke im Schatten eines Hickorybaumes. Fair hatte Frühstücksmuffins, Marmelade und Honig mitgebracht und auf der Decke ausgebreitet. »Ich beiß dein Halsband durch, wenn du meins durchbeißt«, bot Mrs. Murphy Pewter an. »Aber die Farbe von meinem passt gut zu meinem Fell.« Die eitle graue Katze trug ein türkisfarbenes Halsband mit farblich abgestimmter Leine. »Ihr habt ja 'nen Knall.« Tucker sah zu, wie ein Stechfliegenschwarm hochschwirrte und weiterzog. Renata DeCarlo kam mit einem neuen Dodge-Halbtonnner angefahren, parkte und nahm ihre Ersatzmelone und ihren Kosmetikkoffer heraus. Sie blieb bei der Gruppe stehen, um Tucker zu streicheln. »Delores hat Ihren neuen Reitrock in der Garderobe abgeliefert«, sagte Harry zu ihr. »Gratuliere zum dritten Platz gestern Abend.« »Danke.« Renata lächelte. »Ich brauchte Bewegung, und Voodoo hat sie mir verschafft.« »Du bist so hübsch.« Mit ihren sanften braunen Augen musterte die Corgihündin das Gesicht der jungen Frau. 28
»Ich glaube, Tiere haben ihre eigene Sprache«, meinte Renata gutmütig. »Setzen Sie sich«, forderte Harry sie auf. »Wir haben Kaffee, Limonade oder Eistee, und wenn Sie es gespritzt möchten, sind in den Ställen bestimmt jede Menge Leute, die Ihnen helfen können.« »Danke. Eine Limonade nehme ich gern.« Renata lächelte über den Vorschlag, ihr Morgengetränk mit Alkohol zu versetzen, und ließ sich auf der Wachstuchdecke nieder. »Ich trinke keinen Alkohol.« »Ich auch nicht.« Harry konnte Renata gut leiden, und sie fragte sich, ob jemand in ihrer Position jemals auf ein erfülltes Leben hoffen konnte. Es lag nicht so sehr an der Schauspielerin selbst als vielmehr daran, dass alle etwas von ihr wollten: ihren Körper, ihre Zeit, ihr Geld, ihren Einsatz für einen guten Zweck. Die Realität, die am Ende jedem mit Ruhm gestraften intelligenten Menschen den Garaus machte, war die, dass nur wenige Leute die Person wollten. Sie wollten lediglich das, was diese für sie tun konnte. Die Katzen starrten sie an. Sie starrte zurück, dann lachte sie. »We heißt denn die Kanonenkugel?« Fair lachte. »Pewter.« »Ich bin nicht dick. Ich hab schwere Knochen.« Dies war seit Jahren der ständige Refrain der grauen Katze. »Und die mit den unglaublich grünen Augen?« »Mrs. Murphy. Die zwei Mädels haben früher bei der Bundesbehörde gearbeitet.« Harry kitzelte Mrs. Murphy an den Ohren, während Pewter
Renata unentwegt anstarrte und sich überlegte, ob sie sich für die Kanonenkugel-Bemerkung mit einer Gemeinheit rächen sollte. »Im Postamt«, ergänzte Fair. »Sie haben beim Sortieren der Post geholfen, haben die Postkarren herumgeschoben und kannten die Postfächer von allen Leuten.« »Ist das hier ihr Urlaub?«, fragte Renata. 29
»Nein. Wir haben gekündigt, als ein großes neues Postamt mit jeder Menge Vorschriften gebaut wurde. Vorher war die Post ein kleiner Bau mit einem Tresen und Postfächern aus Messing.« Harry seufzte. »Es war so gemütlich. Aber ich schweife ab. 'tschuldigung. Jedenfalls, neues Postamt, neue Vorschriften, keine Katzen oder Hunde im Gebäude.« »Da hätte ich auch gekündigt.« »Meine Frau war die Posthalterin.« Fair sagte gerne »meine Frau«. »Sind Sie nicht ein bisschen jung dafür?« Renata lächelte ein strahlendes Megawatt-Lächeln. »Äh«, stammelte Harry, »ich bin vierzig. Fast«, fügte sie eilig hinzu. »Für eine Schauspielerin ist vierzig schlimm. Es gibt kaum noch Rollen. Die Illustrierten bringen Artikel, wie der Star sich fit hält. Es ist unerträglich. Ich meine nicht, dass man vierzig wird, ich meine die Art, wie die Leute reagieren.« »Miss DeCarlo, in Ihrem Fall werden die Leute unabhängig von Ihrem Alter reagieren. Dass man Sie hier in Ruhe lässt, liegt einzig daran, dass dies eine Pferdeveranstaltung ist, und Pferdekenner sind anders«, erwiderte Harry. »Gott sei Dank«, sagte Renata. Sie lehnte sich an den Baumstamm. »Die Limonade schmeckt köstlich.« »Mutters Rezept, und sie sagte, es war das Rezept ihrer Mutter, und so weiter.« Harry lächelte und schenkte Renata noch einmal Limonade in ihren Wachspapierbecher. »Wo haben Sie reiten gelernt?« »In Kentucky. Lincoln County. Ich habe mein erstes Saddlebred-Pferd gesehen, bevor ich laufen konnte, und ich schwöre, da war's um mich geschehen.« »Der Sitz ist anders.« Harry meinte die Art des Reitens. »Wir sind Fuchsjäger; auf der Reitbahn bekommt man nicht direkt den Jagdsitz zu sehen, aber einen ganz ähnlichen.« »Hab ich nie versucht.« »Ist schrecklich aufregend, aber spannend ist ja alles, was 29
man liebt. Saddlebreds sind wie Ballerinas; ich verstehe, warum Sie sich verliebt haben.« Booty Pollard schlenderte heran, bohrte die Stiefelabsätze in die Erde und blieb stehen. »Du passt perfekt zur Kalarama-Familie, Renata.«
Miss Nasty zeigte Pewter den Stinkefinger. Der Affe trug ein hellgrünes Oberteil mit Nackenband und einen dazu passenden kurzen Rock; es war dasselbe Mintgrün wie das von Bootys Polohemd. Fair versteifte sich. »Booty, ich denke mir, Sie hätten sicher nichts gegen eine Kundin wie Renata in Ihrem Stall, oder?« Booty war ehrlich. »Ich würde morden, um eine Pferdebesitzerin wie Renata zu kriegen. Ich würde für Renata morden.« Er grinste. »Das würdest du auch müssen«, schoss sie zurück, worauf alle lachten, denn Booty konnte einen Scherz auf seine Kosten wegstecken. »Und wo bleibe ich?« Miss Nasty straffte das Kinn. »Ach, leck mich«, antwortete Pewter dem Affen, worauf der erst recht losschnatterte. »Kaffee? Eistee? Limonade?« Harry hielt sich die Hand über die Augen, als sie zu Booty hochsah; er sah nett aus. »Nein danke.« Er bemerkte Ward Findley, der eine edle schwarze Stute an der Trainingsbahn vorbeiführte. Er war auf dem Weg zu seinem grünweißen Pferdetransporter. Die Stute trug eine grüne, weiß eingefasste Decke in Wards Farben. »Schönes Pferd. Muss eins von denen sein, die Ward zu einem Gestüt bringt. Er macht ein ganz gutes Geschäft mit dem Transport von Pferden. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass Ward die Peitsche immer in seine Gesäßtasche oder seinen Stiefel steckt? Er ist wie einer, der kein guter Polospieler ist und deshalb seine weißen Sachen zwei Stunden vor dem Spiel trägt und zwei Stunden danach.« Er lachte schallend. »Hey, er ist nicht auf Sozialhilfe angewiesen, also leistet Ward seinen Beitrag zur Wirtschaft.« Er zuckte die Achseln. 30
»Sehr richtig«, stimmte Fair kurz und knapp zu. Mrs. Murphy sah die schöne Stute in den Transporter treten und sagte beiläufig: »Die ist bestimmt teuer. Und aus derselben Zuchtlinie wie Queen Esther. Derselbe Kopfbau.« Wenige Schritte hinter Ward ging Charly, der sich nicht viel um Ward scherte. Man würde in Charly den Trainer nicht erkennen, bis es Zeit war zu reiten. Er trug Segelschuhe, eine Khakihose, ein weißes T-Shirt aus hochwertiger Baumwolle. Ein dunkelblauer Stoffgürtel mit einem roten Nadelstreifen verlieh dem Ganzen einen Farbtupfer. »Mr. Schnieke.« Booty deutete auf Charly. »Es wird mir ein großes Vergnügen sein, ihn Samstagabend in den Sack zu stecken. Zugegeben, Friedrich der Große ist ein super Pferd, und Charly wird alles aus ihm rausholen, aber Callaway's Senator ist in Höchstform. Ich werde Charly in Grund und Boden reiten.« »Was ist mit Larry?«, fragte Harry.
»Nächstes Jahr - und wer weiß wie viele Jahre danach - wird Point Guard das Feld beherrschen. Aber dieses Jahr noch nicht. Dies ist Senators Jahr. Samstagabend, letzte Schauklasse, und ich rate Ihnen, setzen Sie auf mich, denn ich werde ihn weit hinter mir lassen. Hey, nach dem Turnier verpass ich ihm vielleicht auch noch einen Denkzettel, der sich gewaschen hat. Ich kann den Scheißkerl nicht riechen. Entschuldigen Sie den Ausdruck, meine Damen.« Er hielt inne, lächelte dann. »Aber Sie haben bestimmt schon schummere gehört.« Er wollte sehen, wie Renata reagierte, weil er annahm, dass sie und Charly mal ein Liebespaar waren. Es waren zu viele Emotionen hochgekocht, als Renata sich von ihm trennte, und als Charly sich berappelt hatte, hatte er sich allzu nonchalant gegeben. »Charly wird Samstagabend kein leicht zu besiegender Gegner sein.« Renata ließ sich wenig anmerken. »Ich lass ihn zu Kreuze kriechen«, verhieß Booty. Mrs. Murphy betrachtete den impulsiven Mann. »Wenn er Charly so sehr hasst, hat er sich heute früh aber nicht so benommen.« »Scheinheilig«, bemerkte Tucker. 31
»Oder ein guter Schauspieler.« Mrs. Murphy hob die seidigen Augenbrauen; Miss Nasty, die auf einmal still war, hörte aufmerksam zu. »Es war gemein von euch, dass ihr ohne mich weggegangen seid.« Pewter war eingeschnappt. »Dich mitten in der Nacht wecken? Würde mir nicht im Traum einfallen«, antwortete Tucker. »Gleichfalls.« Mrs. Murphy schmiegte sich an den Hund. »Ich kann wach werden.« Pewter hob das Kinn. »Ja, kannst du, und bist dann eklig wie Schlangenschiss.« Mrs. Murphy lachte. »Gott, bist du primitiv.« Pewter hatte beschlossen, Renata doch zu mögen, und setzte sich auf ihren Schoß. Alle wandten die Köpfe, als sie aus Stall Fünf Tumult vernahmen. »Ich geh lieber mal nachsehen, was los ist. Entschuldigen Sie mich, meine Damen. Fair.« Booty trabte dem Lärm entgegen, den Affen auf der Schulter. Sekunden später kam Larry aus Stall Fünf. Booty machte kehrt, um mit ihm Schritt zu halten. Pewter sprang von Renatas Schoß, als Larry und Booty anmarschiert kamen. »Renata.« Mit aschfahlem Gesicht hielt Larry inne, um Atem zu holen. »Waren Sie mit Queen Esther draußen?« Joan trat mit großen Augen hinter Larry heran. »Nein«, antwortete Renata. »Sie ist verschwunden.«
»Wie ist das möglich? Hier wimmelt es überall von Menschen. Wie kann mein Pferd verschwunden sein?« Renata war am Rande eines Wutanfalls. Joan, die rasch einzuschätzen vermochte, ob eventuell ein heftiger Zusammenbruch bevorstand, sagte: »Renata, zuallererst müssen wir bei Charly Trackwell nachsehen. Das wird Ihnen unangenehm sein, aber ich traue ihm ohne weiteres zu, dass er die Stute in seinen Stall zurückgebracht hat.« 32°
»Wie konnte er das tun? Wie konnte er das tun, ohne dass ihn jemand dabei gesehen hat?« Sie zitterte. »Das ist es ja eben. Man hat ihn vermutlich gesehen. Es ist helllichter Tag. Die Leute werden angenommen haben, dass Sie den Streit beigelegt haben und Sie wieder bei ihm sind.« Joan überlegte schnell und nahm Renatas Arm. »Kommen Sie, gehen wir nachsehen.« Die kleine Truppe lief in Stall Drei. Charly, der mit Carlos sprach, seinem ersten Pferdepfleger, drehte sich nach ihnen um. »Bist du zur Vernunft gekommen, Renata?« »Hast du Queen Esther?«, fragte Renata mit fester Stimme. »Guck doch selbst.« »Er ist zu gelassen«, murmelte Tucker. »Ja, nicht wahr?«, stimmte Pewter zu. Die Gruppe sah in jede Box. Keine Queen Esther. Charly meinte mit Blick auf Booty sarkastisch: »Wollt ihr nicht Bootys Stall durchsuchen? Vielleicht findet ihr ja ein Haarfärbemittel. Der Mann kann es nicht ertragen, grau zu werden.« »Das wirst du büßen«, brummte Booty. »Nicht so sehr wie du. Samstagabend, mein Lieber, mach ich Hackfleisch aus dir. Bis dahin, raus aus meinem Stall. Alle miteinander!« Tucker zögerte, dann folgte sie den anderen. »Er genießt das.« »Manche Menschen brauchen einen Konkurrenten, einen Rivalen, einen Gegner, um ihrem heben einen Sinn zu geben.« Die Tigerkatze war eine genaue Menschenbeobachterin. »Und manche Menschen sehen gern, wenn andere sich winden«, rief Pewter von Harrys Arm zu dem Hund hinunter. Larry klappte sein Handy auf, um den Sheriff anzurufen, der am Drive-inSchalter der Bank gegenüber der Trainingsbahn an der Route 60 war. Binnen vier Minuten traf er sich mit ihnen am Stall Fünf. Cody Howlett, jung für einen Sheriff, fasste alles scharf ins Auge. Seine Leute durchsuchten sämtliche Ställe, während er 32
sich die Aussagen von Larry, Renata, Manuel, Jorge, Booty, Carlos sowie die der anderen Pferdepfleger und Ausbilder notierte.
Er hielt kurz inne, als er Joan befragte. »Einige von Ihnen haben hier ausgesprochenes Pech, was den Verlust von Dingen angeht.« Larry, die Arme verschränkt, fragte: »Joan, was meint der Sheriff?« »Ich hab Großmamas Brosche verloren.« »Weiß deine Mutter das?« Larry sagte, was ihm als Erstes in den Sinn kam. »Hm, nein. Ich hoffe, dass es sich bald aufklärt.« Während die Menschen mit Sheriff Howlett sprachen, untersuchten Mrs. Murphy, Pewter und Tucker die leere Box, deren Tür offen stand. Alle drei niesten. »Schuhwichse.« Tuckers Augen tränten. »Oder Haarfärbemittel.« Auch Pewters Augen tränten, und sie musste wieder niesen. »Die Menschen können es nicht riechen. Die Box ist sauber. Sie haben nichts in der Hand«, bemerkte Mrs. Murphy. »Selbst wenn sie es riechen könnten, wird der Geruch schnell verblassen, wenn es heiß wird.« Tucker atmete ein, und sie nieste so heftig, dass kleine Stückchen der Bodenstreu aus Zedernholz-spänen umherflogen. »Jemand hat die Stute vor aller Augen hier rausgebracht.« Pewter bewunderte die Kühnheit des Unterfangens. »Ja, und die- oder derjenige kennt die Zeitabläufe von Kalarama.« Tucker war bass erstaunt. Mrs. Murphy machte die Augen zu, als der Zedernstaub hochflog. Als sie sie wieder öffnete, sagte sie: »Er kennt die Abläufe, ja. Aber er stand hier drin und tat so, als würde er Queen Esther striegeln, dabei hat er sie in Wirklichkeit gefärbt. So muss er es hingekriegt haben.« »Unmöglich«, widersprach Pewter. »Das hätte doch jemand auffallen müssen, wenn ein ganzes Pferd die Farbe wechselt.« »Nicht das ganze Pferd. Manche Pferde haben leichte Decken 33
übergelegt. Er hätte nur Hals und Beine färben müssen«, erwiderte Mrs. Murphy. Alle drei sagten gleichzeitig: »Das schwarze Pferd, das auf den Transporter geladen wurde.« »Vor aller Augen.« Tucker nieste wieder.
5
W
er den von Westen heranziehenden Wind beobachtet, kann sehen,
wie die Bäume sich in der Ferne biegen, und er kann sich ausrechnen, wie lange es dauert, bis der Wind da ist. Mrs. Murphy, Pewter und Tucker beobachteten, wie die Nachricht von Queen Esthers Entführung mit Windeseile von Stall zu Stall fegte. Die Menschen zogen rasch von einem Stall zum anderen. Der Lärmpegel stieg. Pferdebesitzer, Ausbilder, Pfleger, Hufschmiede und Tierärzte traten aus den Ställen, standen im Sonnenlicht
und sahen zu Stall Fünf hinüber. Einige gingen hin, um Renata, Joan und Larry ihre Hilfe anzubieten und ihre Anteilnahme zukommen zu lassen. »Das Gute an Queen Esthers Entführung ist, dass wir die lästigen Leinen los sind.« Mrs. Murphy setzte sich auf eine Kalarama-Satteltruhe. Paul Hamilton fuhr in seinem cremefarbenen Mercedes E vor. Er stieg aus, anscheinend gefasst, und ging in den Stall. Joan, die in der Stallgasse mit Manuel und Jorge sprach, war erleichtert, als ihr Vater den Stall betrat. »Jungs.« Er nickte den zwei Männern zu. »Wir haben zwanzig Minuten, ehe die Reporter aus Louisville über uns herfallen. Fünfundvierzig, ehe die aus Lexington hier sind.« Er schob die eckige Brille hoch. »Und ich rechne damit, dass auch ein paar Klatschreporter auftauchen.« Joan, die als Tochter ihres Vaters ein Gesamtbild sehen 34
konnte, bevor andere auch nur einen verschwommenen Umriss wahrnahmen, antwortete: »Daddy, das haben wir gerade besprochen. Ich schlage vor, wir zeigen ihnen die leere Box, lassen sie Aufnahmen machen und bringen sie dann in den Erfrischungsraum, wo sie Fragen stellen können. Es wird nicht schaden, wenn sie die Schleifen und Fotos sehen, die dort hängen.« »Wo ist Larry?« »Er arbeitet mit den Pferden. Wenn wir uns diese Sache entgleiten lassen, verlieren wir mehr als Queen Esther.« Er nickte zuversichtlich. »Tja, das ist zwar ein mordsmäßiger Schlamassel, aber wir müssen den Namen Kalarama unbedingt sauber halten. Bloß keine schlechte Publicity.« Joan merkte immer, wenn ihr Vater versuchte, sie aufzumuntern. »Hoffentlich hast du recht.« »Wo ist Renata?« Paul rechnete damit, dass sie heftig reagieren würde. »Sie geht von einem Stall zum anderen und inspiziert alle Boxen.« In diesem Moment kam Harry auf allen vieren um die letzte Box gekrochen. »Was machen Sie denn da, Kleines?« Paul amüsierte sich trotz allem über den Anblick. »Ich wollte die Boxen und Gänge untersuchen, bevor noch mehr Leute durchkommen. Man weiß ja nie, der Dieb könnte was verloren haben.« Sie stand auf und wischte sich die Knie ab. »Wie ich sehe, halten Sie in Satteltruhen und auf Simsen Taschenlampen vorrätig.« »Shelbyville wäre nicht Shelbyville, wenn wir nicht wenigstens ein Mal mit einem starken Gewitter und Stromausfall beglückt würden.« Paul schob seine Brille wieder auf den Nasenrücken. Mrs. Murphy sprang graziös von der Satteltruhe und kehrte in Queen Esthers Box zurück. Tucker, die sich vor die Truhe
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gelegt hatte, und Pewter, die auf einem Regiestuhl neben der Truhe döste, erhoben sich und folgten ihr. Manuel, der das Sattelzeug in der Hand und die Baseballkappe nach hinten geschoben hatte, schlug vor: »Zeigen Sie denen, wie Larry mit den Pferden arbeitet.« Er meinte die Reporter. »Gute Idee.« Joan lächelte, und Manuel ging weiter zu einer Box, Jorge gleich dahinter. »Jorge, sieh zu, dass alle Pferde in diesem Stall glänzen wie lackiert.« Paul schob die Hände in die Hosentaschen. »Si.« Jorge ging und rief den anderen Männern Anweisungen zu. »Tun sie doch immer.« Joan liebte ihren Vater, aber manchmal strapazierte er ihre Nerven, wenn er sich überall einmischte. »Regt Mama sich auf?« »Sie hat mit ihren Schwestern telefoniert.« Das bedeutete, sie regte sich auf. Joan biss sich auf die Zunge; Frances würde sich erst recht aufregen, wenn sie von dem Verlust der Brosche erfuhr. Während die Menschen sich in der Stallgasse unterhielten, scharrte Tucker hier und da, um zu sehen, ob sich etwas unter den Zedernspänen verbarg. »Der Geruch verblasst.« Pewter zog die Oberlippe zur Nase, was ihr half, aufzunehmen, was an Geruch noch da war. »Die Zedernspäne überdecken alles.« Tucker setzte sich. »Daran hätte ich denken sollen.« »Das tun Zedernspäne immer. Was ist daran Besonderes?« Pewter zuckte mit dem Schwanz. »Das Besondere ist«, sagte Tucker verärgert, »dass wir Minuten nach der Tat da waren. Der Farbgeruch schlug noch durch.« Tucker teilte mit, was für sie offensichtlich war. »Du hast recht. Aber wer hat Queen Esther gefärbt, wer hat sie aus Stall Fünf geführt und Ward übergeben ? Wir wissen, dass er das Pferd übernommen hat.« Mrs. Murphys Schnurrhaare zuckten nach vorn. 35
»Ob er wusste, dass er gestohlenes Gut übernahm?«, wollte Pewter wissen. »Ich nehme es an, aber gehen wir zuerst in Charlys Stall«, schlug Tucker vor, und noch ehe sie die letzte Silbe ausgesprochen hatte, stürmten die Katzen aus der Box, und Zedernholz-schnipsel flogen der Corgihündin ins Gesicht. »Hey!«, rief Tucker ihnen nach, sauste aus der Box und holte die beiden flugs ein. Die drei Tiere flitzten zwischen den Ställen um Trainer, Reiter und Pferdepfleger herum und verlangsamten ihr Tempo nur, wenn die Menschen ein Pferd ritten oder führten. Schon um Viertel nach zehn machte der August seinem schwülen Ruf alle Ehre.
Als sie zum Stall Drei an der Trainingsbahn kamen, hing Tu-ckers rosa Zunge heraus. Sie steckte den Kopf in einen Wassereimer für Hunde, der in einer Ecke des Stalls stand; schließlich gibt es keinen Pferdeliebhaber ohne Hund. Die Katzen stellten sich auf die Hinterbeine und tranken auch. »Hier ist es heißer als in Virginia.« Pewter keuchte. »Allerdings. Zu Hause sind wir nahe an den Bergen, und das Meer ist nicht so weit weg«, erwiderte Tucker nachdenklich. »Da geht meistens ein kühler Wind.« » Von unserer Farm sind es knapp zweihundertfünfzig Kilometer -zuerst käme man in die Chesapeake Bay, wenn man eine gerade Linie zöge, aber immerhin zu einem großen Gewässer«, stellte Mrs. Murphy fest. Für sie war der Atlantik ein großes Gewässer. »Woher weißt du das?«, fragte Pewter die Tigerkatze zweifelnd. »Weil ich mit Mom die Karte gelesen habe. Wenn man von Crozet eine gerade Linie nach Osten zieht, kommt man direkt unterhalb von Point Lookout raus, wo der Potomac in die Chesapeake Bay fließt. Würde man das Wasser überqueren, landete man bei Assateague Island, und das ist am Atlantik. Okay, damit sind es mehr als zweihundertfünfzig Kilometer bis zum Atlantik, aber es ist nicht ganz so weit bis dort, wo der Fluss in die Bucht fließt. Auch wenn 36
wir hier fast auf demselben Breitengrad sind, ist das Wetter bei uns anders. Das sagt Mom jedenfalls, und ihr ist das Wetter wichtig.« »Seid jetzt mal still, ihr zwei. An die Arbeit«, befahl Tucker. Keine Katze ließ sich gern von einem Hund etwas befehlen, doch Tucker hatte recht, und deshalb schwärmten sie aus, auf alle Eventualitäten gefasst. Mrs. Murphy, mit Krallen wie winzige Dolche, kletterte an der Seitenwand einer Box hoch und spazierte oben auf den Balken entlang. Aus der entgegengesetzten Richtung kam der große rotbraune Kater, der für den Stall verantwortlich war, blieb stehen, schlug heftig mit dem Schwanz, die Augen groß und rund. »Was tut ihr in meinem Stall!« Unten hörte Pewter die Kampfansage just in dem Moment, als der Rest der Stallkatzenmannschaft aus dem Erfrischungsraum kam. Tucker, die groß genug war, um ihnen Angst einzujagen, entblößte die Reißzähne, worauf die Katzen auseinanderstieben und Pewter umkreisten. Was Tucker nicht entging. Oben antwortete Mrs. Murphy dem rotbraunen Kater laut und vernehmlich: »Wir suchen nach Hinweisen zu dem gestohlenen Pferd. Wir vermuten, dass Charly das stärkste Motiv hatte.« »Die Stute war nicht in meinem Stall.« Der Rotbraune entsträubte sein Fell, doch seine Schwanzspitze schnippte hin und her. »Nein, aber wir haben gesehen, wie sie auf Wards Transporter geladen wurde. Arbeitest du für Charly?« »Nein, ich arbeite für das Veranstaltungsgelände«, antwortete der Kater.
Mrs. Murphy sah sich nach einer Boxenecke um, an der sie hinunterklettern konnte, falls er auf einen Kampf aus war. Er schien sich aber zu beruhigen, darum entspannte sie sich etwas. »Wieso liegt euch an dem Pferd?« »Kalarama. Ich bin«, log sie unverblümt, »eine Kalaramakatze. Wenn was Ungewöhnliches passiert, sag mir bitte Bescheid. Ich bin 37
in Stall Fünf. Muss nichts mit einem Pferd zu tun haben. Kann alles sein, verstehst du, alles, was irgendwie seltsam ist.« Tucker ging neben Pewter, die anderen Stallkatzen beäugten sie misstrauisch von weitem. Die Corgihündin steckte den Kopf in einen Abfalleimer vor einer Box. Nichts. Sie wiederholte die Prozedur, indem sie den Kopf in einen roten Eimer mit Utensilien zum Putzen der Pferde steckte. »Tucker, du suchst doch nach Hühnchen und tust nur so, als würdest du nach Hinweisen suchen«, hänselte Pewter den Hund. »Im ersten Eimer hab ich Yerba Matetee, Müsliriegelpapierchen, Apfelsinenschalen und Injektionsnadeln gerochen, wo Banamin drin war.« Banamin war ein schmerzstillendes Mittel für Pferde. »In diesem Eimer mit Putzzeug rieche ich Kokain in dem kleinen grünen Döschen, auf dem Bag Balm steht.« Das ließ Pewter verstummen, und sie wurde wachsamer. Sie kletterte sogar an den Boxenseiten hoch, um hineinzuspähen, und rutschte dann wieder hinunter. Der letzte Abfalleimer enthielt tatsächlich Hühnerknochen, aber Tucker beherrschte sich. »Hier ist nichts«, rief Tucker zu Mrs. Murphy hinauf. »Versucht's im Erfrischungsraum«, rief Mrs. Murphy hinunter. »Die Menschen benutzen ihn während einer Vorführung nicht.« Wenige Minuten später traten Tucker und Pewter aus dem prächtigen in Marineblau und Rot gehaltenen Raum. »Dickes fettes Nichts«, rief Pewter nach oben. »Sprich nicht so von dir.« Tuckers Stimme triefte von gespielter Besorgnis. »Fettsteiß. Schwanzloses Ungeheuer«, schoss Pewter zurück, aber sie war froh, dass Tucker sie begleitete und die anderen Katzen in Schach hielt. »Danke, dass wir deinen Stall besuchen durften. Ich bin übrigens Mrs. Murphy.« Die Tigerkatze beobachtete ihre zwei Freundinnen unten. »Gern geschehen.« Der Kater lächelte, dabei zeigte sich, dass ihm der linke vordere Reißzahn fehlte. 5»
Mrs. Murphy kletterte flink an einer Boxenecke herunter und ließ sich vor die Katze und den Hund fallen. »Kommt weiter.«
Pewter hob erschrocken die Stimme. »Wir gehen doch um Himmels willen nicht alle Ställe durch? Es ist schon furchtbar heiß.« »Doch.« Mrs. Murphy kümmerte sich nicht um ihren Protest, und sie marschierten zu Wards Stall. Sein grün-weißer Erfrischungsraum war bescheidener. Auch hier inspizierten sie sämtliche Putzbehälter, Abfalleimer und offenen Truhen. Wieder nichts. Sie gingen weiter zu Stall Eins, dessen eine Hälfte Booty Pollard gemietet hatte. Seine Farben, Rotbraun und Weiß, waren in der Pferdewelt ungewöhnlich, aber er hatte an der Universität von Texas Examen gemacht und benutzte stolz die Farben des Texas-Longhorn-Stiers, des Maskottchens der Universität. Miss Nastys leerer Käfig voller Spielzeug wartete mit einem schlaffen rötlich braunen Wimpel mit einem weißen »T« auf. Der Käfig stand vor dem Eingang zur Unterkunft, weil er gut gelüftet sein musste, denn Miss Nasty war keine besonders reinliche Hausfrau. Mrs. Murphy strich oberhalb der Pferde umher, Pewter und Tucker machten sich unten ans Werk. Obwohl es heiß war, ging Pewter ihrer Arbeit nach. Sie war interessiert, weil es um ein anderes Tier ging. Gewöhnlich begleiteten sie und ihre Freundinnen Harry, wenn diese einem anderen Menschen helfen wollte. Pewter liebte Pferde, darum ertrug sie die Hitze tapfer. Sie schlenderte in das Verpflegungszelt, wo blaue Schleifen an wuchtigen Longhorns vom Zeltdach hingen. Die gesamte Decke war mit blauen Schleifen behängt. In der zweiten Reihe, unterhalb der Fotos von Pferden und Reitschülern, waren rote Schleifen präsentiert, und unmittelbar darunter befanden sich die gelben Schleifen für den dritten Platz. 38
Manche Ausbilder ordneten die Schleifen nach Pferden, doch Booty ordnete sie nach den Plätzen, ein weiterer Beweis für seinen Blick für Gestaltung und Farben. Pewter ließ den Haken einer Satteltruhe aufschnappen, aber sie konnte den Deckel nicht heben. Sie ging zu einer kleinen Zaumzeugkiste neben der schweren Truhe, und die ließ sich unschwer öffnen. »Bingo.« Sie sauste nach draußen. »Habs gefunden.« Mrs. Murphy kletterte hinunter, als Tucker ins Zelt lief. In der Zaumzeugkiste waren vier Flaschen mit Haarfärbemittel ordentlich verstaut. »Das ist Bootys Haarfarbe.« Mrs. Murphy wunderte sich, wieso die Leute dachten, andere würden es nicht merken. »Vier Flaschen.« Pewter war aufgeregt. »Zwei leer.«
»Da steckt was dahinter.« Mrs. Murphys Interesse war geweckt. »Booty und Charly, die sich angeblich hassen, sind um zwei Uhr morgens die besten Freunde. Ward lädt Renatas Pferd auf. Booty hat die Farbe besorgt.« »Wir wissen nicht, ob es Renatas Pferd war.«Tucker sah zu, wie Pewter die Zaumzeugkiste zumachte. »Nein, aber das Pferd, das Ward aufgeladen hat, hätte Queen Esthers Double sein können, abgesehen von der Farbe«, erwiderte Mrs. Murphy. »Das Pferd hat sich bewegt wie Queen Esther.« »Charly hat Queen Esther trainiert. Hätte er denn nicht an der Art, wie es sich bewegte, erkennen müssen, dass das Pferd, das wir gesehen haben, Queen Esther war? Er war nicht so weit hinter Ward zurück.« Mrs. Murphy stellte die Ohren nach vorn. »Ich bin froh, dass wir nichts damit zu tun haben. Sind ja nicht unsere Pferde.« Tucker konnte sich Harrys Verzweiflung ausmalen, falls eins von ihren geliebten Pferden gestohlen würde. »Wir werden aber damit zu tun kriegen.« Die Tigerkatze hörte Schritte nahen. »Mutter wird keine Ruhe geben, solange Joan und Larry in Schwierigkeiten stecken.« »Fair wird sie bremsen.« Tucker dachte zurück an die vielen 39
Male, als Fair vor ihrer Wiederverheiratung versucht hatte, Harrys Neugierde zu zügeln. »Sie kriegt ihn öfter zu was rum als er sie, merk dir das«, erklärte Pewter. Tucker seufzte, den Blick auf die Tür geheftet, doch der Mensch ging vorbei. »Zwei Menschen hüten. Sie können nicht schnell rennen, sie können verdammt schlecht riechen, und sie bilden sich immer ein, sie wüssten mehr, als sie wissen.« »Unwissenheit ist ein Geschenk des Himmels«, warf Pewter rotzig ein, als sie zu Stall Fünf zurückgingen. »Oder der Tod«, fügte Mrs. Murphy düster hinzu. Tadellos, wenn auch salopp ausstaffiert mit ihrer Reitmontur, die sie bei der Arbeit zu tragen pflegte, beantwortete Renata DeCarlo die Fragen der Reporter, während sie Shortro, ihren Schimmel-Wallach, striegelte. Voodoo stand in der Box nebenan und beobachtete alles. Renata striegelte ihre Pferde beileibe nicht regelmäßig selbst, aber es machte sich gut für die Presse. Renata verstand etwas von guter Presse. So schrecklich dieser Diebstahl war, sie gedachte ihn für sich zu nutzen. Shortro war zunächst vor der Kamera zurückgescheut, hatte sich aber bald daran gewöhnt. Er war ein gutmütiges Pferd. Joan lotste die Leute, denn Stall Fünf war von Medienmenschen überfüllt. Auch sie beantwortete Fragen. Wenn der Andrang zu groß wurde, führte sie einige Leute zur Trainingsbahn. Andere machten Aufnahmen von der Tribüne, schwenkten zur Reitbahn, wo die Mannschaft des Veranstaltungsgeländes die vielen Blumen in dem erhöhten Mittelteil wässerte. Hier hatten Funktionäre und Jurymitglieder ihre
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Plätze. Die Orgel, ein wichtiges Instrument bei großen SaddlebredTurnieren, war zugedeckt. Die Pferdepflegetätigkeiten zur Mittagszeit lieferten abwechslungsreiches Filmmaterial. Wie so viele Menschen der Mittelschicht, ungeachtet Herkunft und Rasse, »übersahen« die Reporter die Arbeiter, mit dem Ergebnis, dass ihnen Informationen entgingen, weil sie dem Stallpersonal, das hauptsächlich aus Mexikanern bestand, keine Fragen stellten. Fair, der in Stall Zwei einem anderen Tierarzt zur Hand ging, weil dieser heute zu wenig Leute hatte, sah über den Menschenstrom hinweg, der mit Notizbüchern oder Kleinbildkameras bewaffnet durch die Stallgasse zog. Worüber niemand hinwegsehen konnte, war, dass keiner von diesen Leuten eine Ahnung hatte, wie man sich in der Nähe von Pferden verhielt. Die Nervosität von Pflegern und Ausbildern wurde von den Medientypen als Besorgnis über den Diebstahl Queen Esthers gedeutet. Es kam ihnen nicht in den Sinn, dass ihre Anwesenheit Unruhe auslöste. Sosehr mancher schwitzende, schwer geplagte Pfleger sich insgeheim wünschen mochte, ein Pferd möge einen von diesen zudringlichen Trotteln aus dem Stall kicken das nachfolgende Gerichtsverfahren hätte der Freude ein kurzes Leben beschieden. Ein kleines Zwicken an einem Arm oder einer Schulter allerdings würde wohl kein Gerichtsverfahren nach sich ziehen und Pferd und Pfleger gleichermaßen erfreuen. Renata verließ Shortro. Die Reporter folgten ihr wie Entenküken der Entenmama. »Sie müssen jetzt Ihre letzten Fragen stellen. Die nächste Gruppe kommt gleich herein«, meinte Joan lächelnd. Sie war gerade vom Geländerundgang mit der ersten Gruppe zurück. Freilich hätte sie am liebsten gesagt, »macht, dass ihr hier rauskommt, ihr ignoranten Idioten. Ihr regt meine Pferde auf und macht mich fix und fertig.« Doch sie lächelte nur. Eine hübsche Frau von der ABC-Außenstelle in Louisville trat hinaus ins Licht, wo Renata in dem sehr breiten Stalltor 40
stand. Die Schauspielerin sah aus wie eingerahmt, denn sie wusste genau, worauf es vor der Kamera ankam. Die Reporterin war sich wie ihr Kameramann im Klaren, diese Aufnahme würde im ganzen Land verbreitet werden. »Miss DeCarlo, möchten Sie eines Tages einen Film über ein SaddlebredPferd machen, einen Seabiscuit der Saddlebreds?« »Wäre doch großartig, nicht? Ja, würde ich gern.« Renata strahlte in die Kamera. »Drehbuchautoren, ihr habt es gehört.« Die Reporterin mit den rabenschwarzen Haaren fragte sodann: »Waren Sie glücklich mit Ihren jüngsten Rollen?«
Renatas Miene erstarrte einen Sekundenbruchteil, weil ihre zwei letzten Filme sündteure Flops gewesen waren, und entspannte sich dann. »Nein«, antwortete sie aufrichtig. »Schlechte Drehbücher?« Die Reporterin ließ nicht locker. Renata sah auf ihre Stiefel hinunter, die von Dehner für sie maßgefertigt worden waren, in einem hellen Erdnusston, den man heutzutage selten sieht. Dann blickte sie mit nachdenklichem Gesicht auf. »Man kann immer einen Grund finden, weshalb etwas nicht funktioniert. Man kann immer mit dem Finger auf andere zeigen. Der wahre Grund, weshalb meine zwei letzten Filme keine Kassenschlager waren«, sie machte eine effektvolle Pause, »ist der, dass ich mich entfernt habe von dem, was wirklich wichtig ist.« Die Reporterin ging sofort darauf ein, ließ Renata Raum für das Thema, das ihr am Herzen lag. »Verraten Sie uns, was das ist?« »Ich möchte Filme über wirkliche Menschen mit wirklichen Problemen machen. Sie würden staunen, wie schwierig das ist. Niemand will solche Filme drehen.« Sie hielt wieder inne, dann lobte sie die Reporterin: »Deswegen ist Ihre Idee für einen Film über Saddlebreds ein Schuss ins Schwarze.« Renata trat wieder in den Stall, in den Schatten, und Joan trat ins Licht. »Ich danke Ihnen.« Sie winkte die nächste Gruppe herein und ordnete an, dass dies die letzte sei. Unruhe fordert 41
ihren Tribut von Pferden, von denen viele heute Abend am Wettbewerb teilnehmen würden. Joan war eine Frau mit Pferdeverstand: Pferde kamen an erster, Menschen an zweiter Stelle. Harry hatte sich in die letzte von Kalarama gemietete Box zurückgezogen. Wenn Joan sie brauchte, würde sie ihr Bescheid sagen, darum hielt sie sich abseits. Sie bewunderte, wie Renata mit den Medien umgegangen, wie geschliffen und gelassen sie angesichts bohrender Fragen gewesen war, und daran erkannte sie Renatas Scharfsichtigkeit. Sie dankte dem Herrgott dafür, dass sie selbst nicht im Licht der Öffentlichkeit stand. Mrs. Murphy, Pewter und Tucker hatten sie begleitet. Als Harry gerade an der Südseite von Stall Fünf nach draußen gehen wollte, hörte sie, dass die gesamte Besatzung von Kalarama in eine hitzige Debatte mit den mexikanischen Pferdepflegern von Stall Vier vertieft war. Sie standen dicht beisammen zwischen den zwei Ställen. Harry konnte nur das bisschen Spanisch, das von der Highschool hängengeblieben war, aber das Spanisch der Pferdepfleger war ihr vertraut. Sie lauschte aufmerksam.
Manuel, die Arme verschränkt, schüttelte den Kopf; Jorge, ein Handtuch über die Schulter geworfen, pflichtete dem Stallmanager bei. Harry konnte nicht alles aufschnappen, doch sie hörte einen schlanken jungen Mann von Stall Vier wiederholt beteuern, er habe nichts gesehen. Dann erinnerte Jorge Manuel daran, dass die Wachen um neun Uhr morgens beendet waren. Niemand hatte Wachdienst, als das Pferd gestohlen wurde. Manuel wollte von den anderen wissen, wer Queen Esther aus der Box geführt hatte. Das Pferd habe die Tür schließlich nicht selbst aufgemacht, um hinauszugehen. Die Stimmen nahmen hellere Tonlagen an, die Männer redeten schneller. Alles, was Harry ausmachen konnte, war, dass Beschuldigungen vorgebracht wurden, doch sie konnte einen 42
älteren, grauhaarigen Mann laut und deutlich zu Manuel sagen hören, wer immer Queen Esther fortgebracht habe, sei für Kalarama tätig. Keine weitere Erklärung. Manuel hob die Hände und stolzierte zur Trainingsbahn. Harry atmete tief durch. Sie sah auf die Uhr. Halb zwei; bis zur Abendveranstaltung waren es noch fünfeinhalb Stunden. Wenn die Leute die Fünf-Uhr-Nachrichten sahen, ehe sie nach Shelbyville fuhren, würden sie Renata, die leere Box, Joan, Larry, Charly Trackwell, Booty Pollard, Ward Findley, weitere Trainer, Pferdebesitzer und Reiter sehen, und hier würde die Hölle los sein. »Die Hölle, das Pandämonium«, flüsterte sie, und ihre Tiere blickten auf. »Ihr wisst, wer Pan ist.« »Ich nicht.« Pewter wollte in den Schatten. »Der Satyr - halb Gott, halb Ziegenbock. Erspielt die Panflöte.« Mrs. Murphy las gewöhnlich bei Harry mit, indem sie sich um ihren Hals oder hinter sie aufs Kissen legte. Als hätte sie sie verstanden, kniete Harry sich hin, um ihre Freundinnen zu streicheln. »Wenn Pan auf seiner Flöte spielt, vergessen alle Geschöpfe ihr Tun; sie spielen und tollen und machen Luftsprünge wie die Ziegen. So weit, so gut, aber manchmal schlägt Pan andere Töne an, und alle Geschöpfe fürchten sich, Gerüchte nehmen ihren Lauf, die Geschöpfe rennen herum und rempeln sich an, und dabei kommt nichts Gutes heraus. Das ist das Pandämonium.« Harry konnte vorausblicken, doch selbst Harry hätte sich die Ereignisse dieses Donnerstagabends nicht ausmalen können. 42
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egen sechs Uhr abends türmten sich dicke Kumuluswolken am
westlichen Himmel. So weiß die Wolken waren, die drückende Hitze und die eigenartig stille Luft kündigten ein Gewitter an. Der Schwann von Reportern und Kameraleuten hatte sich in eine lange Mittagspause begeben. Einige beschlossen, bis zum abendlichen Turnier dazubleiben, weil sie möglicherweise aufregende Aufnahmen schießen und die Story auf zwei Tage strecken konnten. Die Fans besetzten nach und nach die grasbewachsenen Parkplätze; junge Reiterinnen, die sich auf ihren ersten Auftritt vorbereiteten, legten eine Kombination aus Nervosität, Arroganz und schlechtem Make-up an den Tag. Obwohl Springfield dank verbesserter Straßenverhältnisse nur fünfundvierzig Minuten von Shelbyville entfernt war, hielten Joan und Larry ein Zimmer im Best Western reserviert für den Fall, dass sie nicht rechtzeitig zum Gestüt zurückkehren konnten, um sich für den Abend umzuziehen. Die Menschen machten sich abends fein und krönten den Samstagabend mit ihrem schicksten Outfit. Wegen der Hitze trugen die Damen Leinenkleider oder sogar Shorts, aber auf die Farbzusammenstellung kam es an, ebenso auf Frisur, Nägel und Schmuck. Von den Herren trugen einige Sakko und Krawatte, andere suchten der Hitze mit Ralph-Lauren-Polohemden, leichten Hosen und Slippern ohne Socken zu trotzen. Wenn ein Mann am Abend Jeans trug, handelte es sich in der Regel um einen Pferdepfleger. Die Trainer machten sich fein, was Erfolg signalisieren sollte. Renata wusste das, und sie wusste auch, dass weniger mehr ist. Ihr Make-up, so perfekt, dass es so gut wie unsichtbar war, insbesondere für das männliche Auge, betonte ihre Wangenknochen, ihren hellen Teint. Man überhäufte sie mit Auf
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merksamkeit, bekundete Anteilnahme und Besorgnis. Das kam ihr trotz aller Unbilden nicht ungelegen. Wie Ameisen bei einem Picknick zog ein Strom von wohlmeinenden Menschen zu Stall Fünf. Einige Aufdringliche baten um ein Autogramm, aber die meisten waren Pferdeleute, und ein Autogramm von einem anderen Pferdekenner zu erbitten würde Zweifel an seiner Seriosität als Pferdemensch aufkommen lassen. Dennoch brachten Pferdeleute Familienangehörige, Freunde und Beinahe-Freunde im Schlepptau mit, die alle begierig auf eine Begegnung mit dem schönen Filmstar waren. Vor die Wahl gestellt, Renatas Geduld zu strapazieren oder sich bei Verwandten und Menschen, die man täglich sieht, unbeliebt zu machen, entschieden sich die meisten dafür, ihren Freunden einen Gefallen zu tun.
Renata war die Liebenswürdigkeit in Person. Joan bewunderte das, während sie nach den Pferden sah und sich mit Larry, Manuel und Jorge beriet. Es gab dies und das zu besprechen. Was, wenn ein Pferd sich beim Training lustlos gezeigt hatte? Sattelzeug wurde auf makellosen Glanz überprüft. Kalarama-Pferde mussten vollkommen sein. Jedes beliebige Pferd konnte einen fabelhaften Abend oder einen weniger guten Abend haben, aber ein Kalarama-Pferd sah unglaublich aus, egal, welches Ergebnis es im Turnier erzielte. Die Pferde waren ausgeprägte Persönlichkeiten, oftmals lebhafter als die Menschen auf ihrem Rücken. Sie wussten, dass es ein bedeutendes Turnier war. Sie wollten perfekt aussehen. Die Katzen und Hunde - Cookie war für einen geselligen Abend zurückgekommen - gingen allen aus dem Weg. Tucker teilte Cookie mit, was sie in den anderen Ställen erfahren und in Queen Esthers Box gerochen hatten. »Wenn Joan es bloß wüsste.« Cookie legte den Kopf schief und beobachtete, wie Joan mit einem Gaffer umging. »Sie kann nichts riechen, die Ärmste.« Cookie seufzte. »Schön, sie könnte ein Stinktier riechen, aber nicht die Haarfarbe. Und ihr habt die Haarfarbe gefunden!« 44
»Ich hab sie gefunden.« Pewter blähte die Brust. » Wir wissen nicht mit Sicherheit, dass Booty Pollard mit drin-steckt.« Mrs. Murphy vermied es, voreilige Schlüsse zu ziehen. Schließlich könnte jemand sich von Bootys Haarfärbemittelvorrat bedient haben. Jemand, der ihn sehr gut kannte. Oder er hätte das Zeug für seine eigenen Haare verwendet haben können. Der Pferdedieb hätte ein Haarfärbemittel so leicht kaufen können wie jeder andere. »Quatsch.« Verstimmt schloss Pewter die glänzenden hellgrünen Augen. Das Gedränge trieb die Tiere nach draußen zwischen die Ställe. Pferde gingen zur Trainingsbahn, Reiter rannten in die Garderobe, aber das war gar nichts gegen die Massen, die durch Stall Fünf zogen. Joan und Larry konnten nichts dagegen tun. Renata hatte ihre Pferde bei ihnen eingestellt wenn auch nur für vierundzwanzig Stunden. Ihr Pferd war gestohlen worden, was bei jedem Turnier ein Nachrichtenknüller gewesen wäre. Mit dem Anbruch der halben Stunde vor Beginn der ersten Schauklasse um sieben Uhr trafen die Leute grüppchenweise ein, um sich gute Plätze zu sichern. In der Fünfgängerklasse für Damen lieferten sich die Teilnehmerinnen gewöhnlich einen heißen Wettkampf. Das wollte niemand versäumen, zumal die Beherrschung von Tölt und langsamem Tölt noch mehr Geschick verlangte als Schritt, Trab und Galopp. Die Pferde seufzten erleichtert in der relativen Stille. Sie würden noch genug angefeuert werden, wenn sie auf die Bahn gingen; denn angesichts einer Menschenmenge erwachten Siegernaturen, wie alle Darsteller, zum Leben.
»Gott.« Joan verdrehte die Augen, als sich die letzten Besucher auf den Weg machten. »Hoffentlich wacht Er über Shelbyville«, bemerkte Harry beim Hinausgehen trocken. Fair blickte nach Westen in die Richtung, in die Harry sah. »Finster.« 45
Auch Joan blickte gen Westen. »O je. Wenn's losgeht, kommt ganz schön was runter. Uns wird Hören und Sehen vergehen.« Während sie sich am Ende des Stalls unterhielten, führte Manuel Zip hinaus, das Pferd, dessen Künstlername Flight Instructor war. Der Wallach war etwas gurtscheu; Manuel konnte den Sattelgurt nicht auf einmal festziehen. Er ging ein paar Schritte, blieb dann stehen und zog ihn ein Loch enger. Er übergab Zip an Larry, der den Wallach hielt, als Daria Finestein, eine Reitschülerin, sich auf das Pferd schwang. Ein roter Putzlappen hing flatternd aus der Hüfttasche von Jorges Jeans, als er zwischen die Ställe schlüpfte und der Trainingsbahn zustrebte, während andere in Scharen zum Reitplatz zogen. »Gehen wir.« Tucker folgte Jorge. »Zu viele Leute. Ich verzieh mich in den Erfrischungsraum«, verkündete Pewter. Cookie blieb bei Tucker. Mrs. Murphy sah Pewter im Stalleingang verschwinden, dann eilte sie den Hunden nach. Jorge hörte die Orgel spielen und den Ansager mit der Verkündung der abendlichen Ereignisse beginnen. Er duckte sich hinter Stall Drei, ging jetzt schneller, trat auf den Parkplatz und sprang in den grünweißen Pferdetransporter, der in nächster Nähe der Trainingsbahn abgestellt war. Die Tiere sausten unter den Transporter. Die Stimme von Ward Findley war zu hören: »Gute Arbeit.« »Gracias«, erwiderte Jorge, dann sprang er leichtfüßig aus der offenen Ladeklappe des Transporters, ohne die Rampe zu benutzen. Er ging rasch davon, und Mrs. Murphy, die als Erste unter dem Wagen hervorkam, sah, wie Jorge den Putzlappen aus seiner Hüfttasche zog und einen weißen Umschlag in die Tasche stopfte. Den Lappen warf er sich über die Schulter. Die zwei Hunde kamen hervor, als Ward nonchalant die Rampe hinunterging. 45
»Als ginge er über eine Gangway«, sagte Cookie; ihre Jack-Russell-Stimme war eine Spur zu laut. Ward hörte Cookie beim Verlassen der Rampe. »Was machst du hier?« Er bemerkte Tucker. »Und du auch, mir fällt dein Name nicht ein.« Dann meinte er lachend: »Spioniert ihr mir nach?« Mrs. Murphy heftete sich an Jorges Fersen. Sie drehte sich um und sah, wie Ward sich bückte und die zwei Hunde tätschelte. Da sie sich auf dem
Gelände auskannten, kehrte sie nicht um, sondern blieb Jorge auf der Spur, der lieb zu Tieren war. Sie konnte ihn gut leiden. Seine Hüfttasche war ein bisschen ausgebeult von dem, was er hineingestopft hatte. Er ging auf die Südseite von Stall Fünf und schlenderte die Stallgasse entlang. Er öffnete eine Boxentür, trat hinein und begann, ein dunkelbraunes Pferd für die zweite Prüfung vorzubereiten: eine offene Schauklasse. Bei der Arbeit pfiff er vor sich hin. Bis die Hunde im Stall Fünf anlangten, hatten Pewter und Mrs. Murphy ihre Halsbänder wieder um und wurden in die Kalarama-Box getragen. Keine Katze wirkte begeistert. Als Joan die Hunde rief, folgten sie ihr. In der Box angekommen, erklärte Cookie: »Ward ist nett. Er hat uns an den Ohren gekrault und gesagt, wir sollen nach Hause gehen.« »Er mag ja nett sein, aber er führt nichts Gutes im Schilde.« Mrs. Murphy setzte sich auf Harrys Schoß, als das erste Pferd, ein Hellfuchs, die Bahn betrat. Die mittelaltrige Dame, die es ritt, guckte verbissen, bis Charly, ihr Trainer, rief: »Lächeln.« Paul und Frances schoben sich in die Box. »Genau zur rechten Zeit.« Lachend rückte Paul den Stuhl für Frances zurecht. Fair, der in Stall Eins einen Schnitt bei einem Pferd genäht hatte, betrat die Box. Der Ausbilder hatte Fair aufgesucht, weil er seinen Tierarzt nicht rechtzeitig erreichen konnte. Das Pferd hatte stark geblutet, obgleich die Verletzung nicht 46
schlimm war, aber immerhin schlimm genug, dass der Kohlfuchs, eine herrliche Farbe, diese Woche nicht antreten würde. »Sie sind ja ganz voll Blut. Ihnen fehlt doch nichts?« Frances entnahm ihrer Handtasche ein Taschentuch und reichte es Fair. Frances' Handtasche enthielt eine Unmenge Pillen, Taschentücher sowie einen kleinen Flakon mit ihrem Parfüm. »Danke, Mrs. Hamilton. Eddie Falcos Wallach hat sich ein tiefes >V< direkt in den Vorderhuf geschnitten. Dieses Kunststück ist ihm irgendwie zwischen Trainingsbahn und Stall gelungen.« Fair lächelte matt. Paul verschränkte die Arme. »Man kann nie wissen, nicht?« »Sicher nicht bei Pferden.« Fair legte den Arm um seine Frau. »Sicher nicht bei Menschen.« Joan lachte. »Wir wollen nur hoffen, dass Renatas Pferd gefunden wird, damit hier wieder Ruhe einkehrt.« Frances steckte sich ein Pfefferminz in den Mund. »Und dass dem Pferd nichts passiert ist.« »Mich wundert, dass sie keine Lösegeldforderung erhalten hat«, sagte Harry.
Die anderen sahen sie erstaunt an, dann meinte Paul: »Ein interessanter Gedanke.« Danach sprachen sie nicht mehr viel, weil das Turnier sie in Atem hielt. Einer nach dem anderen trabten die Teilnehmer durch das Einlasstor und umrundeten das Oval im flotten Trab. Die Teilnehmer der Prüfung waren vollzählig anwesend bis auf eine, Renata DeCarlo. Aus dem Augenwinkel sah Joan Larry auf der einen, Manuel auf der anderen Seite neben Renata herlaufen, die ihren neuen marineblauen Reitrock von Le Cheval trug. Sie saß auf Shortro, um am Wettbewerb des Dreijährigenturniers für Dreigängerpferde teilzunehmen. Es war auf dreihundert Dollar dotiert, aber eigentlich ging es darum, dass ein junges Pferd sich gut präsentierte. 47
Als die zwei die Bahn betraten, erhob sich ein Getöse, das das Dach der Tribüne erschütterte. Shortro dachte, es gelte ihm, und lieferte die Vorstellung seines jungen Lebens. Frances, die von der Begeisterung der Menge ebenso gefesselt war wie von den dramatischen Ereignissen, verschränkte die Hände. Sie drehte sich kurz um und sah Joan eindringlich an. »Wo ist Großmutters Glücksbrosche? Du trägst sie gewöhnlich bei diesem Anlass.« Joan zuckte zusammen. Neuerliches Getöse der Menge lenkte ihre Mutter ab. Ein Grollen lenkte sie alle einen Augenblick ab. Jeder Trainer an der Bande, der einen Schüler oder eine Schülerin in dieser Klasse hatte, wandte sich westwärts. Charly und Booty hatten keinen Reiter dabei, aber von Ward ritt einer mit - und der war sehr nervös. Pewter jammerte: »Ich hasse Gewitter.« »Bangebux.« Mrs. Murphy sah die Pferde vorbeistürmen Füchse in allen Schattierungen, Sealbraune, Lacklederschwarze, Unifarbene, den Schimmel Shortro mit Renata - die Schweife flogen, Mähnen und Schöpfe wehten. Ein Blitz veranlasste Paul, sich umzudrehen und nach oben zu blicken. »Ist bald hier.« Zum Glück wollte der Richter nicht vom Blitz getroffen werden, weshalb er anfing, die Auszeichnungen für die Prüfung zu vergeben. Zwei Pferde blieben übrig. Die rote Schleife flatterte in der Hand des Assistenten des Richters. Als der Ansager das Pferd ausgerufen hatte, das den zweiten Platz errungen hatte, erkannte der Richter Renata den ersten Platz zu, und die Menge tobte. Shortro trabte zum Richter, und der Sponsor hielt einen imposanten Silberteller in die Höhe. Manuel lief hastig auf die Bahn, um den Teller an sich zu nehmen, und der Sponsor heftete die Schleife an Shortros Zügel. Shortro stand dazu ganz still, was selten genug vorkam.
Dann drehte der muskulöse Bursche eine Ehrenrunde, und 48
seine Freude übertraf dabei die von Renata. Er hatte in Shelbyville gesiegt. Als sie die Bahn verließen, ertönte ein gewaltiger Donnerschlag, und Pferde wie Menschen stoben davon. Shortro behielt die Nerven und ging ruhig in Stall Fünf. Harry fiel Shortros unerschütterliche Ruhe auf, und sie dachte, »der hat das Zeug zum Jagen.« Renata saß ab und umarmte ihren standhaften Wallach. Tränen liefen ihr übers Gesicht, als die Fotografen drauflosknipsten. Die Feier fing gerade an. Manuel brachte Shortro in seine Box. Renata folgte. In der Sekunde, als sein Zaumzeug entfernt war, gab sie ihm die kleinen süßen Karotten, die er so liebte. Nachdem sie mit leuchtenden Augen Fragen beantwortet hatte, darunter die von einem weiteren Fernsehreporter, verließ Renata die Box. Sie fand, Shortro hatte es verdient, in Ruhe gelassen zu werden. Als Renata in die Garderobe ging, kam Pewter, aufgebläht wie ein Kugelfisch, ihr entgegengesaust. »Angst vor Donner?« Renata lachte. »Es ist schrecklich. Murphy, wo bist du?« Pewter rief nach ihrer Freundin, die um die Ecke gebogen war und sich in eine Box begeben hatte, um einem natürlichen Bedürfnis nachzugehen. »Was ist los mit dir?«, fragte Mrs. Murphy. Ehe die wild dreinblickende graue Katze antworten konnte, ertönte ein stallerschütternder Donnerschlag; der Blitz war so hell, dass die Augen schmerzten, und der Regen fiel so heftig, dass man nicht hindurchsehen konnte. Doch selbst der gewaltige Donnerschlag und der Wolkenbruch konnten den grauenhaften Schrei nicht übertönen, der aus der Garderobe kam. 48
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em blendenden Blitz folgte ein weiterer, der in einen nahe gelegenen
Transformator einschlug. Die Leute, die sich auf der Flucht vor dem peitschenden Regen in die Ställe drängten, hörten das Zischen, dann den Knall, gefolgt von dem nächsten gewaltigen Donnerschlag. Rosa und gelbe Funken stoben von dem Transformator in die Dunkelheit. Wieder hallte ein durchdringender Schrei durch Stall Fünf. Mrs. Murphy, die ganz gut sehen konnte, rief Pewter zu: »Komm mit.« »Nein.« » Was hast du gesehen?« »Guck doch selbst. In der Garderobe.« Pewter kletterte außen an der Box hoch und ließ sich auf der anderen Seite herunter, um sich zu einem der
herrlichen Traberpferde von Kalarama zu gesellen. Sie hatten die gegenseitige Gesellschaft nötig. Tucker und Cookie, die am anderen Ende von Stall Fünf gewesen waren, rannten wie die Irren, als sie den ersten Schrei hörten. Sie gelangten in den überfüllten Erfrischungsraum, und schon beim Eintritt rochen sie frisches Blut. Sie schlängelten sich zwischen den vielen Füßen hindurch. Zu allem Überfluss konnten die Menschen nichts sehen. Sie rempelten sich gegenseitig an und fürchteten sich. Joan rief: »Wir haben gleich Licht, Leute. Bewahren Sie Ruhe.« Harry hatte eine Miniaturtaschenlampe an ihrem Autoschlüsselbund. Sie schaltete sie ein. Ein kurzer und schmaler blauer Strahl führte Joan zu den Kalarama-Satteltruhen vor dem Erfrischungsraum. Harry klappte einen schweren Deckel hoch, und Joan nahm eine große gelbe Neunvoldampe heraus. Larry rief im Dunkeln: »Joan, alles in Ordnung?« »Ja. Ich hole eine Taschenlampe.« 49
Fair, der bei Larry war, rief: »Harry?« »Ich bin bei Joan. Wo bist du?« »In Shortros Box, ihn untersuchen«, antwortete Fair. »Was ist da drüben los?« »Wissen wir nicht.« Draußen pladderte der Regen. Man konnte kaum die Scheinwerfer erkennen, als die Autos vom Parkplatz fuhren, ehe es zu schlammig wurde. Niemand wollte steckenbleiben. In der Ferne wurden die flackernden Lichter unheimlich, sie glichen weißen Stielaugen, die dann zu schmuddeligroten Pünktchen wurden. Die Sirene eines Feuerwehrautos, das den abfahrenden Autos entgegenkam, zerriss die Luft. Mrs. Murphy schob sich zwischen den Menschen hindurch. »Tucker, kannst du dich durchschlängeln?« Cookie, die kleiner war, arbeitete sich zu der Tigerkatze vor. »Ich komme!« Mrs. Murphy dachte »Jack Russells«, sagte aber nichts. Tucker, die versucht war, hier und da in eine Ferse zu zwicken, weil sie doch so ein wunderbarer Hütehund war, beherrschte sich, weil das noch mehr Schreie ausgelöst hätte. Tucker konnte im Dunkeln besser sehen als die Menschen, doch die beste Nachtsicht hatte Mrs. Murphy. Die drei kamen zur Garderobe, just als Renata den schweren Vorhang zur Seite riss und sich durch die Menschenmenge schob, wobei sie blindlings Leute umstieß. Die Tiere schössen hinein, als sie schreiend hinausstürmte, das Gesicht überflutet von Tränen, die allerdings niemand sehen konnte. »Oh«, war alles, was Mrs. Murphy sagte. Tucker ging zu dem Toten, der aufrecht auf dem Boden saß. Der schwere, leicht metallische Blutgeruch stieg ihr in die Nase. Blut war vorn auf das
karierte Baumwollhemd des Mannes gespritzt. »Kehle aufgeschlitzt, saubere Arbeit.« Cookie setzte ihren Geruchssinn ein, während Mrs. Murphy alles im Raum in Augenschein nahm, nicht nur den Leichnam. 50
Eine Satteltruhe war auf die Seite gekippt, einige Kleidungsstücke waren von den Bügeln gerissen. Zwei leichte Vertiefungen, Bremsspuren ähnlich, befanden sich auf dem Sisalteppich, der über den Lehmboden gebreitet war. »Er hatte keine Zeit, sich groß zu wehren, aber er hat's versucht«, bemerkte Mrs. Murphy. »Sein Mörder hat ihn rückwärts geschleppt, wie ihr seht.« Tucker trat zu Mrs. Murphy. »Seine Stiefelabsätze haben sich eingegraben.« Die Garderobe hatte die Größe einer nicht zu knapp bemessenen Box, gut dreieinhalb mal dreieinhalb Meter. Mrs. Murphy, die Pupillen bis zum Gehtnichtmehr geweitet, bemerkte die umgekippte Satteltruhe. »Dahinter könnte sich ein Mensch verstecken. Die Satteltruhe ist sehr groß.« »Vielleicht musste ersieh gar nicht verstecken«, mutmaßte Cookie. »Kann gut sein«, stimmte Tucker zu, die jetzt sämtliche Flächen beschnupperte. Abgesehen von ihrer kolossalen Katzenneugierde besaß Mrs. Murphy Kaltblütigkeit. Sie spazierte auf den Schoß des Toten, stellte sich auf die Hinterbeine und betrachtete die Wunde, aus der noch etwas Blut sickerte; die Mengen, die aus der frisch aufgeschlitzten Kehle geschossen waren, waren auf den Sisalteppich gespritzt. Mit Verlangsamung des Herzschlags war das Blut über Hemdbrust und Jeans gelaufen. Mrs. Murphy wollte kein klebriges Blut an ihren Pfoten haben, aber es gab keine Zeit zu verlieren. Wer wusste, wann ein Mensch hereinplatzen und alles vermasseln würde? Sie schnupperte an der Wunde, besah sich die Ränder. » Wer das getan hat, hat eine rasierscharfe Klinge benutzt oder ein Rasiermesser, wie es Friseure benutzen. Eine saubere Wunde. Nicht schartig.« »War hier ein Profi am Werk?«, fragte Tucker. »Oder jemand, der den Umgang mit scharfem Werkzeug gewöhnt ist«, antwortete Mrs. Murphy. 50
»Ein Arzt, ein Tierarzt, ein Metzger, ein Friseur.« Cookie war fasziniert, da dies ihre erste Begegnung mit menschlichem Morden war. »Der Schnitt wurde von links nach rechts geführt«, erklärte die scharf beobachtende Tigerkatze den anderen. »Wenn der Mann ihn von hinten gepackt, ihm die Hand auf den Mund gelegt und den Kopf zurückgezogen hätte, um seinen Hals zu entblößen, dann hätte er von links nach rechts geschnitten, sofern er Rechtshänder war.«
Während die Katze die Wunde gründlich untersuchte, senkte Tucker die Nase auf die offene rechte Hand des Toten. Die Körpertemperatur war nicht gesunken; das Blut war noch nicht getrocknet oder geronnen. Dieser Mord war erst wenige Minuten alt. »Hey.« Tucker trat blinzelnd zurück. Cookie, die ihre Nase auf die linke Hand des Toten gesenkt hatte, ging zu Tucker. »Sehr sonderbar.« Mrs. Murphy begab sich wieder auf alle viere, verließ den Schoß des Toten und setzte sich dann auf sein Bein. Von diesem Aussichtspunkt aus betrachtete sie seine offene Hand. »Zwei Kreuze.« »Zwei?«, wunderte sich Tucker. »Vielleicht war er überfromm.« »Sie sind in seinen Handteller geschnitten, aber eher oberflächlich geritzt als richtig tief geschlitzt.« Cookie drehte den Kopf, um die Hand aus einem anderen Winkel zu betrachten. In diesem Augenblick wurde der Vorhang aufgerissen, Harry und Joan traten mit Taschenlampen bewaffnet ein und zogen den Vorhang rasch hinter sich zu. »O Gottogott«, keuchte Joan, aber sie blieb ruhig. »Jorge!«, rief Harry. Larry, der sich eine von den vielen vorhandenen Taschenlampen geschnappt hatte, bahnte sich einen Weg in die Garderobe. Fair war unmittelbar hinter ihm und bewachte den Eingang, sobald er drinnen war. Unterdessen war Renata im Gang direkt vor dem Erfrischungsraum zusammengebrochen. Frances, Mutter von acht 51
Kindern, war Krisen jeder Art gewachsen. Sie setzte die schöne Schauspielerin auf und rief nach einer Flasche Wasser. Die Leute tasteten im Dunkeln umher; etliche schlichen hinaus, weil sie wussten, dass die Polizei früher oder später auftauchen und sie verhören und wer weiß wie lange festhalten würde. Manuel, ebenfalls mit einer Taschenlampe in der Hand, holte Wasser und kniete sich neben Renata. Als Renatas Lider sich bewegten, fächelte Frances ihr mit einem Spitzentaschentuch Luft zu. »Renata, Sie müssen Wasser trinken.« Sobald Renata die Augen aufschlug, stieß sie wieder einen markerschütternden Schrei aus, so laut, dass Frances die Wasserflasche fallen ließ, die sie Manuel soeben abgenommen hatte. Wasser spritzte heraus, doch Frances hob die Flasche schnell auf und wischte das obere Ende ab. Manuel versuchte Renata zu beruhigen, weil sie im Begriff war, wieder loszuschreien. Schließlich bekamen die zwei sie einigermaßen unter Kontrolle.
Paul Hamilton, bis auf die Haut durchnässt, eilte von der Haupttribüne herbei. Trotz Donner und Regen war der durchdringende Schrei bei den Hunderten von Menschen angekommen, die sich dort untergestellt hatten. Als Paul die Schreie hörte, dachte er nur an die Sicherheit seiner Frau und seiner Tochter. Er merkte zunächst nicht, dass der Schrecken aus Stall Fünf kam. Joan, stets eine Schnelldenkerin, rief ihren Vater auf dem Handy an, als er durch den strömenden Regen hastete. Larry hatte die Garderobe wieder verlassen, um zu sehen, ob er einen Schirm für Paul auftreiben konnte. Er fand keinen. Er trat in dem Moment in das Unwetter hinaus, als Paul ihm entgegengerannt kam, ohne auf die sich biegenden Bäume oder den seitwärts peitschenden Regen zu achten. Dank Joans Anruf hatte Paul ein paar Minuten gehabt, um sich zu fassen. Larry führte Paul zwischen den Menschen im Erfrischungsraum hindurch. Als er den Vorhang zur Garderobe zurückzog, 52
versuchten die Leute etwas zu erspähen, aber das Licht reichte nicht aus. Paul trat hinein. Leichen wühlten ihn nicht auf - er hatte im Krieg genügend gesehen -, aber Mord machte ihn fassungslos. Ihn fröstelte plötzlich, während ihm das Wasser vom Gesicht tropfte, das Hemd am Leib klebte. »Dad«, sagte Joan nur. Fair kniete sich hin, befühlte Jorges Handgelenk und bestätigte, dass der Mord erst wenige Minuten her war. Er stand wieder auf. »Mr. Hamilton, das ist vor unserer Nase passiert. Er ist höchstens zehn Minuten tot.« Paul sah die sauber durchtrennte Kehle. »Da wusste jemand genau, was er tat.« »Und er hatte das entsprechende Werkzeug«, ergänzte Fair. Manuel, der sich noch auf der anderen Seite des Vorhangs aufhielt, wusste noch nicht, dass sein Stellvertreter und Freund von einem Ohr zum anderen aufgeschlitzt worden war. Die Arme verschränkt, erteilte Paul in leisem, ruhigem Ton Anweisungen. »Larry, geh raus und sieh zu, dass alle hierbleiben. Wenn du eine größere Taschenlampe oder so was finden kannst, stell sie auf, damit die Leute nicht im Dunkeln herumstehen. Joan, fehlt irgendwas?« »Ich weiß nicht.« »Zähl alles Zaumzeug, alle Röcke und Westen.« Seine Stimme vermittelte Autorität. »Fair, sehen Sie eine Möglichkeit, wie Sie den Toten besser untersuchen können, ohne dass dabei Beweismaterial verloren geht? Das wäre gut zu wissen, bevor Sheriff Howlett hier ist. Unter den gegebenen Umständen könnten die Leute von der Spurensicherung leicht etwas übersehen.«
»Fair, wenn du rausgehst, die Kiste mit dem Tierarztmaterial ist in der Stallgasse. Es ist diejenige, die aufrecht steht wie ein Schrank. Da sind Gummihandschuhe drin«, sagte Joan. Fair borgte sich Joans Taschenlampe, ging hinaus und tastete sich unbeholfen durch die schwatzenden Menschen. 53
Er kehrte kurz darauf mit einer Taschenlampe wieder, die sich in der Tierarztkiste von Kalarama befunden hatte, und gab Joan ihre zurück. Während er Jorge sorgfältig untersuchte, inspizierte Joan sämtliche Kleidungsstücke. Larry, der Pauls Anweisungen befolgte, kam jetzt mit einer weiteren Taschenlampe zurück, die er mit Hilfe von Heuballenschnur seitlich am Eingang festband. Joan hielt den Atem an. Sie würde es Manuel sagen müssen, aber nicht jetzt gleich. Sie rief zu ihm hinaus, nachdem Harry ihr gesagt hatte, dass er noch im Erfrischungsraum war: »Manuel, kannst du bitte die Sattel und Zügel in der Sattelkammer zählen, dann hierherkommen und nach mir rufen?« »St.«
Die zwei Katzen, die nicht mal mit den Schnurrhaaren zuckten, hockten auf einer Satteltruhe und sahen Fair zu. Pewter hatte es nicht mehr ausgehalten und war in die Garderobe gekommen. Tucker und Cookie saßen in der Ecke und sahen ebenfalls zu. Das Gewitter draußen zog gen Osten. Zwar prasselte der Regen noch, doch Blitze und Donner ließen gottlob nach. Eine Sirene in der Ferne ließ hoffen, dass der Sheriff auf dem Weg hierher war. Fair drehte Jorges rechte Hand um und entdeckte die zwei Kreuze. »Seht euch das an.« Joan richtete die Taschenlampe auf Jorges Hand. »Zwei Kreuze.« Harry, die sich auf ein Knie niederließ, flüsterte: »Ein Doppelkreuz, das Symbol für falsches, doppeltes Spiel, Doppelspiel.« 53
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s war noch stockfinster, aber der Regen hatte sich zu einem Nieseln
abgeschwächt. Obwohl es erst abends halb neun war, kam es Harry wie ein Uhr nachts vor. Die schwülheißen Tage hatten sie ermüdet, und der Aufenthalt im Halbdunkel weckte in ihr den Wunsch, schlafen zu gehen. Sie musste sich anstrengen, um wach zu bleiben. »Hat jemand was dagegen, wenn ich nach draußen gehe? Ich hab das Gefühl, ich schlaf gleich ein«, fragte Harry die kleine Gruppe in der Garderobe.
»Geh nur, Schatz. Du hörst ja, wenn der Sheriff kommt. Wenn er dich braucht, hol ich dich.« Dann fügte Fair schnell hinzu: »Geh nicht zu weit weg. Da draußen treibt sich ein Mörder herum.« »Ach Fair, der interessiert sich nicht für mich.« Harry, ein logisch denkender Mensch, wusste, dass das Doppelkreuz für denjenigen, der es in Jorges Hand geritzt hatte, von besonderer Bedeutung war. Sie fühlte sich vollkommen sicher. Mrs. Murphy, Pewter und Tucker waren anderer Ansicht. Harry mochte nicht unmittelbar in Gefahr sein, doch ihre Neugierde, gepaart mit sachlicher Intelligenz, hatte sie schon zu oft in brenzlige Situationen gebracht, und deshalb wollten die Tiere bei ihr bleiben. Als Harry den Vorhang aufschob und sich einen Weg durch die jetzt verstummte Menge bahnte, folgten ihr Mrs. Murphy und Tucker. Pewter meinte, eine von ihnen sollte in der Garderobe bleiben für den Fall, dass sich etwas Neues ergab. Das nahm ihr niemand ab. Die graue Katze wollte sich bloß die Pfoten nicht nass machen. Cookie blieb auch da, um Joan zu beschützen. Vor dem Stall unter dem Dachvorsprung lehnte Renata an der Wand und rauchte eine Zigarette. Im Dunkeln konnte man sie nicht sehen, wenn man nicht direkt vor ihr stand. Sie 54
war froh darüber, da ihre Hände zitterten. Harry stellte sich zu ihr. »Geht's Ihnen besser?« »Ein bisschen. Möchten Sie auch eine?« Renata bot Harry eine Zigarette an. »Ich rauche nicht, aber ich denke, unter diesen Umständen mache ich eine Ausnahme.« Renata zog eine Zigarette aus dem grünen Päckchen und gab sie Harry, die sie an Renatas Zigarette ansteckte. »Der Trick ist, keinen Regentropfen auf die Glut fallen zu lassen.« Renata inhalierte tief. Tucker guckte blinzelnd hoch. »Stinkt grässlich.« Mrs. Murphy, die dicht neben ihrer Freundin stand, damit sie keinen nassen Hintern bekam, erwiderte: »Manche stört der Rauch, andere nicht, aber mir brennt er in der Nase.« »Beruhigt angeblich die Nerven.« Tucker überlegte einen Moment. »Muss so sein wie Knochen kauen. Das beruhigt meine Nerven.« »Vom Knochenkauen kriegst du keinen Lungenkrebs.« Mrs. Murphy kaute selbst nicht gern Knochen, konnte sich allerdings dazu verleiten lassen, wenn sie ganz frisch waren. »Murphy, an irgendwas muss man schließlich sterben«, erklärte die Corgihündin. »Wohl wahr. Was sagt Harry immer?« »Wenn der Herrgott deinen Stöpsel rauszieht, trittst du ab.«
»Jemand hat Jorges Stöpsel rausgezogen. Mit einem sauberen Schnitt.« Mrs. Murphy schauderte. »Scheint ein netter Mensch gewesen zu sein. Ich hab nie Angst an ihm gerochen, oder Drogen. Himmel, Drogen kann ich immer riechen, du nicht?« »Doch, sie schwitzen sie aus, ob vom Arzt verschrieben oder auf der Straße gekauft. Schwer zu glauben, dass Menschen diese chemischen Gerüche nicht wahrnehmen können. Aber du hast recht, Jorge hat durchaus sauber gerochen.« Während die zwei Tiere plauderten, rauchten die Frauen schweigend. 55
Schließlich sagte Renata: »Die vielen Filme, die ich gedreht habe, die vielen Morde und Totschläge und das Blut an den Leichen - das ist ganz anders, wenn es echt ist. Ich kann's nicht fassen, dass ich durchgedreht bin. Tut mir leid. Ich war überhaupt keine Hilfe.« »Renata, ein zwei Meter großer Basketballspieler würde auch schreien, wenn er zum ersten Mal jemanden mit aufgeschlitzter Kehle sähe.« »Sie haben nicht geschrien.« »Ich lebe auf einer Farm. Ich habe eine Menge gesehen.« »Leichen? Menschliche, meine ich?« »Etliche.« Ein dicker Tropfen fiel auf Harrys Kopf. »Gott sei Dank, der Wind hat nachgelassen. Ist etwas kühler geworden, nicht?« »Ja.« Renata blickte in die Dunkelheit. Ihre Augen hatten sich daran gewöhnt, und sie konnte Bewegung in den näher gelegenen Ställen erkennen. »Waren Sie wirklich Posthalterin?« »Ja. Aber ich war immer Farmerin. Was haben Sie gemacht, bevor Sie Filmstar wurden?« Renata zuckte die Achseln. »Das Übliche - gekellnert. In New York habe ich sogar als Fahrradkurier gearbeitet. Das war todesverachtend.« Sie lächelte. »Wenn einen die Busse und Taxis nicht umfuhren, dann haben einen die Schlaglöcher fertiggemacht.« »Sie müssen ein schnelles Reaktionsvermögen haben.« »Ja.« »Die meisten Stars haben ihre eigene Produktionsfirma. Sie auch?« »Nein. Ich kann keine Firma leiten.« »Sie könnten jemanden dafür einstellen.« Harry hielt es für klug, vom Thema Mord wegzukommen. Sie wollte, dass Renata ruhig blieb. Renata fuchtelte mit ihrer Zigarette herum und bereute es sogleich; denn ein Regentropfen landete auf der Glut. Zischen 55
und Rauch kündeten vom Hinscheiden der Zigarette. »Verdammt.« Harry sagte: »Das würden Sie bestimmt nicht noch mal hinkriegen, selbst wenn Sie es versuchen würden.« »Da haben Sie recht.« Renata schnippte den erloschenen Glimmstängel in eine Pfütze. »Sayonara, mein kleiner Tranquilizer.« Sie hielt inne. »Leute
einstellen, gut und schön. Dann zahle ich ihren Lohn, und sie müssen ihn rechtfertigen, das bedeutet Sitzungen, Drehbücher, die ich ihrer Meinung nach lesen muss, neben denen, die mein Agent mir in den Rachen schiebt. Und dann muss ich ein passables Büro mieten, vielleicht in Twentieth Century City oder am Wilshire Boulevard in der Innenstadt. Das summiert sich. Solange ich nicht glaube, dass ich das richtig managen kann, werde ich mein Geld nicht vergeuden, und wie gesagt, ich glaube nicht, dass ich es richtig managen könnte.« »Sie sind nicht wohlhabend geboren, oder?«, fragte Harry. Mrs. Murphy und Tucker beobachteten, wie Renata sich versteifte und dann rasch entspannte. »Nein.« »Das habe ich gleich erkannt. Gleich und gleich gesellt sich gern.« »Was haben Sie sonst noch erkannt?« Renata warf das lässig hin, aber ein spitzer Ton hatte sich in ihre Stimme geschlichen. »Nichts.« Das stimmte nicht ganz, denn Harry hatte erkannt, dass Renata kein glücklicher Mensch war. Sie hatte sich gedacht, dass der Bruch mit ihrem Trainer, auf den sie angewiesen war, um besser zu werden, Ursache ihres Unbehagens war. Sie fragte sich, ob diese Beziehung vielleicht tiefer gegangen war. Doch hinter alledem spürte Harry Traurigkeit. Sie wusste nicht warum; aber weiß überhaupt jemand, warum jemand anders unglücklich ist? »Ich habe den Spruch nicht mehr gehört, seit ich klein war, >gleich und gleich gesellt sich gern<. Komisch.« 56
»In Virginia benutzen wir viele alte Sprichwörter, die man sonst kaum noch hört. Virginia ist eine Welt für sich.« »Kentucky auch.« »Hat früher zu Virginia gehört.« Harry konnte sich diese kleine Prahlerei nicht verkneifen. »Ich weiß.« Renata nahm sich noch eine Zigarette aus ihrer dünnen Jacke. »Habe ich in der Schule gelernt. Als Teenager wollte ich unbedingt raus aus Kentucky, ich wäre dafür gestorben. Wäre ich dann auch fast - wie gesagt, als Fahrradkurier war ich nahe dran.« »Haben Sie >Näher mein Gott, zu Dir< gesungen?« Renata lachte. »Nein.« Sie zündete die Zigarette an, tat einen Zug, sagte dann: »Danke, Harry.« »Wofür?« »Dass Sie mich abgelenkt haben.« »Seine Zeit war gekommen.« »Glauben Sie das?« »O ja.« »Aber er wurde ermordet.« »Trotzdem, seine Zeit war gekommen. Was nicht heißt, dass wir nicht versuchen, den Mörder zu finden, dass wir keine Gerechtigkeit verlangen, aber ich glaube an die drei Parzen, die da spinnen und schnippeln.«
Renata schauderte. »Das ist ein starkes Bild.« »Die Mythen sind mächtig.« »Ich habe Joan und Larry mehr Schaden als Nutzen gebracht, aber bei der Schauspielerei lernt man einiges. Ich erinnere mich an die drei Parzen; ich denke, die drei Hexen in Macbeth sind so was wie ihre Renaissance.« »Ich bin überzeugt, Sie wissen noch viel mehr.« Harry machte eine Pause. »Der Sheriff braucht lange, um hierherzukommen. Es müssen Bäume und Stromleitungen auf die Straße gestürzt sein, und es hat bestimmt Autounfälle gegeben. Eine schlimme Nacht.« »Ja.« Renata schloss für eine Sekunde die Augen. »Und wenn »7
er dann herkommt, mit den Leuten von der Spurensicherung und Gott weiß noch wem in offizieller Eigenschaft, und sei sie noch so unbedeutend, ist Queen Esther längst vergessen. Wie soll ich denn da mein Pferd finden?« Sie brach abrupt ab. »Sie halten mich bestimmt für herzlos. Ein Mann ist tot, und ich will mein Pferd wiederhaben.« »Das ist doch ganz natürlich. Sie können nichts für Jorge tun. Immerhin ist es Ihr Pferd und äußerst wertvoll. Wer könnte es gestohlen haben?« »Der Einzige, den ich mir denken kann, ist Charly Trackwell, der schleimige Dreckskerl. Aber Charly ist zu schlau, um so etwas zu tun. Gott, wie ich ihn hasse.« Harry ging nicht auf die persönliche Beziehung ein, damit Renata nicht noch einen weiteren Schwall Schmähungen von sich gab. »Hat Charly schon mal Pferde gestohlen?« »Nicht dass ich wüsste. Er hat sich auf Geld beschränkt.« »Im Ernst?« »Hm, nein, er hat keine Bank ausgeraubt, aber er hat erhöhte Rechnungen ausgestellt. Er hat mir Nahrungsergänzungsmittel berechnet, die nicht verabreicht wurden, Sattelzeug, das ich nicht gekauft habe. Solche Sachen. Nicht Tausende auf einer Monatsrechnung. Kleinigkeiten hier und da. Das summiert sich.« »Haben Sie ihn zur Rede gestellt?« »Ja. Er hat es natürlich abgestritten, aber ich habe ihm alle Rechnungen vorgelegt, dazu ein Inventar meines Sattelzeugs. Ich habe auch - und das hat er nicht gewusst - Blut abnehmen lassen, um zu erfahren, ob meine Pferde Nahrungsergänzungsmittel im Blut hatten. Wenn er ihnen was verabreicht hätte, auch Glukosamine und dergleichen, hätte man es feststellen können. Die Tests haben ergeben, dass sie das eine oder andere Ergänzungsmittel bekommen hatten, aber nicht alles, was er behauptete.« Sie hielt inne. »Es ist schwierig, ihm das anzuhängen.« »Wie haben Sie Blut abnehmen lassen?« 57
»Ich habe einen Pferdepfleger bezahlt. Bei Charly sind die Mexikaner gekommen und gegangen. Carlos ist da anders. Das ist seine rechte Hand. Allerdings, ich habe das auch hinter Carlos' Rücken gemacht.« »Aha.« Harrys Gespür für Renatas Intelligenz, ja Gerissenheit, verstärkte sich. »Wir hatten eine heftige, langwierige Auseinandersetzung. Er hat geschworen, er wüsste von nichts. Jemand in seinem Stall mache seine Arbeit nicht anständig.« Sie hielt wieder inne, um an ihrer Zigarette zu ziehen. »Der ganze Quatsch, den man zu hören kriegt, wenn jemand versucht, sich reinzuwaschen. Nehmen Sie den Enron-Skandal. Hey, nehmen Sie, was Sie wollen. Es ist immer dasselbe. Aber er ist in sich gegangen, und wir haben es beigelegt, und er hat mir sogar zurückgegeben, worum er mich betrogen hatte.« »Gut so.« »Dachte ich auch. Doch im Grunde habe ich ihm nicht getraut. Ich hatte immer das Gefühl, er wollte durch mich eine andere reiche Pferdebesitzerin ködern, verstehen Sie, oder eine stinkreiche Ehefrau.« Sie wedelte mit der rechten Hand - die Zigarette glühte vor ihrem Gesicht -, eine Geste, die zu verstehen gab, es sei vorbei. »Ich bin drüber weg.« War sie aber nicht. »Meinen Sie, er wird sich rächen?« »Hat er schon. Er hat mein Pferd, oder er weiß, wo Queen Esther ist.« »Er würde sie doch nicht töten? Wie Shergar?« Harry sprach von dem berühmten Rennpferd, das im zwanzigsten Jahrhundert verschwunden war; vermutlich war es gekidnappt worden, um Geld zu erpressen. Von dem Pferd hatte man nie eine Spur gefunden. »Nein. Charly liebt Pferde, auch wenn er manchmal zu barsch ist für meinen Geschmack. Aber dann sagt er doch glatt zu mir: >Ein von einer Frau ausgebildetes Pferd taugt nichts.< Da ist mir die Galle hochgekommen.« »Tatsächlich, Renata, steckt da ein Körnchen Wahrheit drin, 58
ob es nun um Pferde geht oder um Hunde. Frauen neigen dazu, zu nachgiebig zu sein - nicht alle Frauen, aber die meisten. Ein Tier braucht konsequente Disziplin, gute Ernährung und Liebe, und man darf in der Disziplin nicht nachlassen.« »Sie trainieren Ihre Pferde?« »Ja. Falls Sie können, kommen Sie uns mal besuchen, bitte. Wenn Sie im Herbst kommen, können Sie Füchse jagen.« »Gott, liebend gern.« Sie lebte sichtlich auf. »Meinen Sie, ich könnte das? Eigentlich kann ich nur den Reitsitz.« »Dann reiten Sie im dritten Feld mit. Da wird nicht gesprungen, und wenn ich eins vom Reitsitz verstehe, dann das, dass Sie in erster Linie eine gute Hand brauchen. Tomahawk, das Pferd, auf das ich Sie setzen würde, wäre äußerst dankbar.«
»Ich komme darauf zurück. Sie denken, ich spucke bloß große Töne, aber ich mach's.« »Shortro hat die richtigen Anlagen fürs Jagdfeld.« »Drei Jahre und ein paar Monate, und er hat wirklich ein sonniges Gemüt, nicht?« Renata lächelte. »Ich stelle Sie Alicia Palmer vor.« Da richtete Renata sich kerzengerade auf. »Alicia Palmer, der Filmstar?« »Renata, Sie sind ein Filmstar.« Renata lachte. »Harry, Alicia ist ein richtiger Filmstar. Solche gibt's heute nicht mehr.« »Sie ist ein wunderbarer Mensch und hat auch reichlich Pferdeverstand. Dies ist übrigens mit ein Grund, weshalb Fair und ich hier sind ist. Wir sollen ein Pferd für Alicia finden, das ich zum Jagdpferd ausbilden kann. Sie hat eine Menge Jungpferde, aber viele davon laufen Hindernisrennen oder werden in Keeneland verkauft.« »Sie ist bestimmt immer noch schön.« »Unglaublich.« Harry hatte ihre Zigarette zu Ende geraucht. Sie warf sie auf den nassen Boden und zertrat sie zu Krümeln. »Als Sie mit Charly gearbeitet haben, haben Sie da 59
was von Drogen mitgekriegt? Ich meine, Drogen für Menschen?« Renata zuckte die Achseln. »Die Pferdewelt ist voll davon. Jede andere Branche auch, aber ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass Hollywood und das Pferdegeschäft als Sündenböcke für alle anderen dienen?« »Aber die großen Unternehmen machen Drogentests. Müssen die Angestellten bei der Einstellung nicht unterschreiben, dass sie stichprobenartige Drogentests zulassen?« »Das weiß ich nicht, aber ich weiß, dass es nicht viel besagt. Jeder Test kann manipuliert werden. Aber das ist mir egal. Nicht die Drogen ärgern mich, sondern die Scheinheiligkeit drumherum. Ob Charly Drogen nimmt? Ich nehme an, wenn er feiert, trinkt er vielleicht ein bisschen Champagner und inhaliert verbotenen Stoff. Ob er süchtig ist? Nein.« »Könnte er ein Kurier sein?« »Nein. Ich kann ihn nicht ausstehen, aber ich werde ihn nicht beschuldigen, ein Dealer zu sein.« »Jemand im Stall?« Sie zögerte. »Kann ich nicht sagen.« Tucker bemerkte: »Sie kann es sehr wohl sagen. Sie will bloß nicht.« Harry, die entweder von einer göttlichen Eingebung heimgesucht wurde oder einen verrückten Moment hatte, platzte heraus: »Wenn ich Ihr Pferd finde, würden Sie dann etwas für mich tun?« »Ja«, antwortete Renata, ohne zu zögern. »Würden Sie für meinen Wein werben? Sagen, dass er gut ist?«
»Wenn er einsame Spitze ist. Ist er nicht einsame Spitze, machen Sie mich zum Gespött. Hören Sie, wenn er miserabel ist, gebe ich Ihnen einen Scheck über zwanzigtausend Dollar.« Harry schluckte schwer. »Renata, ich will Ihr Geld nicht dafür, dass ich etwas tue, das richtig ist. Das Pferd steht an erster Stelle.« 9i
»Nimm die Kohle und verdufte.« Tucker stieß ein kleines Jaulen aus. »Nein, Tucker, als Werbetante ist Renata viel mehr wert als zwanzigtausend Dollar.« »Ich denke, Sie sind Farmerin.« Angeregt von diesem Gespräch, antwortete Harry: »Ich habe einen Viertelmorgen Reben angebaut, Petit Manseng. Ich werde drei Jahre lang keine vollwertige Ernte haben, deshalb sind Sie bis dahin aus dem Schneider. Ich wünschte, ich könnte mehr anbauen, aber es kostet ungefähr vierzehntausend Dollar pro Morgen, um ein Weingut anzulegen.« »Vierzehntausend Dollar«, wiederholte Renata erstaunt. Harry streckte die Hand aus. »Abgemacht? Sie werben für meinen Wein, sofern er einsame Spitze ist.« Sie lächelte. Renata gab ihr die Hand. »Wenn Sie Queen Esther finden, halte ich mich an die Abmachung - sofern Sie mich als Zugabe Alicia Palmer vorstellen.« »Abgemacht.« Harry grinste. »Abgemacht.« Renata war auf einmal glücklich, so absurd es unter den gegebenen Umständen auch scheinen mochte. Sie lehnten sich an Stall Fünf. »Manchmal frag ich mich, ob unsere geliebte Harry noch alle Tassen im Schrank hat.« Tucker fand die Abmachung lustig. »Tucker, manchmal denk ich das Gleiche von dir«, zog die Tigerkatze sie auf. Renata sagte beinahe träge: »Wenn Sie Queen Esther finden, dann finden Sie vielleicht auch den, der den armen Kerl da drin ermordet hat.« »Möchte sein.« Harry verwendete einen alten Ausdruck, gegen den Schullehrer mehrerer Generationen angekämpft hatten. Was immer Harry finden würde, war so umwölkt wie der Nachthimmel. Das einzig Gewisse war, dass Gerüchte sich in dem feuchten, dunklen Nährboden der Angst vermehren würden wie Pilze. 60
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M
rs. Murphy und Pewter hatten sich im Bett auf die Kissen gekuschelt.
Fair hatte Tuckers Pfoten abgewischt, am Fußende eine alte Decke ausgebreitet und Tucker darauf gelegt. Die Tiere lauschten, während die Menschen duschten. Sie wuschen sich sowohl der Wärme als auch der Sauberkeit wegen, denn beiden war feucht-
fröstelig von der Nachtluft, da die Temperatur nach dem gewaltigen Unwetter gesunken war. Die drei Freundinnen hörten, wie Harry und Fair sich unterhielten, während sie sich gegenseitig den Rücken schrubbten. Tucker hob den Kopf von den blitzsauberen Pfoten. »Ist euch schon mal aufgefallen, wie gerne Tiere sich gegenseitig putzen?« »Dabei werden die Stellen sauber, an die man selbst schwer drankommt«, erwiderte Pewter, die großen Wert auf ihre Toilette legte. »Und wir fühlen uns einander näher.«-Mrs. Murphy war schläfrig. »Da hast du recht«, stimmte Pewter ihr zu. »Ich würde mich nicht von jemand putzen lassen, den ich nicht leiden kann.« Sie rümpfte die Nase. »Kannst du dir vorstellen, Miss Nasty zu putzen? Die würde nicht mal ein anderer Affe lausen.« »Booty badet sie. Ich hab gehört, wie Joan zu Mutter gesagt hat, dass er sie mit Zuwendung überschüttet. Joan sagt, Nasty ist ein Ersatzkind, oder er sieht sie vielleicht als Bestrafung für jemand. Weiß zwar nicht weswegen, aber Joan hat darüber gelacht.« Tucker drehte sich auf die Seite und streckte die Vorder- und Hinterbeine. »Booty stammt vom Affen ab«, erklärte Pewter mit Nachdruck. »Er hegt und pflegt also so was wie ein Familienmitglied.« »Stammen nur die Männer vom Affen ab? Wovon stammen dann die Frauen ab?« Tucker lächelte verschmitzt. »Von Engeln«, antwortete Mrs. Murphy mit halb geschlossenen Augen. 61
Darüber lachten sie alle drei, dann meinte Tucker nachdenklich: »Benehmen sich die Menschen deshalb so - ihr wisst schon, die Wirklichkeit nicht wahrhaben wollen, jede Menge Träume -, weil sie unvollkommene Affen sind?« »Gorillas«, korrigierte Pewter sie. »Kommt aufs selbe raus. Die Größe ...« Tucker sprach nicht zu Ende, weil Mrs. Murphy sie unterbrach. »Sie sind eine Fehlkonstruktion, weil ihre Sinne nicht gut ausgebildet sind, und sie sind noch stärker lädiert durch die Umweltverschmutzung - und durch Lärmbelästigung.« »Sind wir doch auch.« Tucker war weniger streitlustig als vielmehr neugierig. »Schon, aber unsere Nasen und Ohren sind so viel feiner, dass wir - sogar leicht lädiert dem Tier namens Mensch weit überlegen sind.« Dies sagte Mrs. Murphy ohne Selbstgefälligkeit. »Guter Gedanke.« Die Aufregungen des Tages holten Pewter ein. Sie fühlte sich plötzlich schlapp. »Furchtbare Vorstellung, dass Harry und Fair mit Miss Nasty verwandt sein sollen.« Mit dieser Äußerung schloss sie die Augen, stieß ein Luftwölkchen aus und war schon eingeschlafen. »Ich bin hundemüde, wenn du mir den Ausdruck verzeihst«, sagte Mrs. Murphy zu dem Hund. »Ich auch. Wer hätte gedacht, dass unser Besuch in Kentucky so« - Tucker suchte nach dem richtigen Wort - »aufreibend sein würde.«
Mrs. Murphy erwiderte: »Ein Mord, eine gestohlene Brosche und ein grässlicher Affe, alles innerhalb von zwei Tagen. O ja, und ein gestohlenes Pferd obendrein.« Harry und Fair kamen aus der Dusche, flitzten zum Bett und hopsten unter die Decke. Sie kuschelten sich aneinander, um sich gegenseitig zu wärmen. Das Hopsen störte die Katzen auf den Kissen, aber nur für eine Sekunde, dann rollten sie sich neben den Köpfen der Menschen zusammen. Pewter schlief sofort wieder ein. »Ich friere wie ein Schneider. Wer kommt schon auf den 62
Gedanken, dass man im August frieren könnte.« Harry zog sich die Decke bis unters Kinn. »Ich hab's gut, dass du so groß bist. Du wärmst mich schneller als ich dich.« »Das würde ich so nicht sagen.« Er seufzte zufrieden, als sie ihren Kopf an seine Schulter lehnte. Er sah auf den Wecker. »Es ist zwei Uhr nachts.« »Ich hab jedes Zeitgefühl verloren«, murmelte Harry. »Mir ist, als stecke ich in einer Waschmaschine beim Schleudergang.« »Mein Kopf fühlt sich genauso an.« »Was? Ich meine, was geht dir durch den Kopf?« »Jorges Körpertemperatur.« Er atmete aus. »In Anbetracht dessen, dass seine Temperatur bei etwa siebenunddreißig Grad lag - ich hatte kein Thermometer, aber er hat sich normal angefühlt -, geht mir dauernd die Frage durch den Kopf, war es eine vorsätzliche Hinrichtung oder ein Gelegenheitsverbrechen?« »Der Sturm und der Stromausfall kamen sicher gelegen«, sagte Harry. »Sag mal, wo waren die Leute eigentlich alle. Joan und ihre Familie waren mit uns zusammen. Larry, Manuel und Jorge haben die Pferde vorbereitet, nehme ich an.« »Larry und Manuel waren an der Bande, als Renata Shortro ritt.« »Stimmt. Wo waren die anderen Trainer?« »Ich weiß nicht. Ward war an der Bande. Er hatte jemanden in dieser Schauklasse. Charly war nicht da. Vermutlich wollte er Renata reiten sehen, oder er hatte vielleicht jemanden in der nächsten Prüfung, JuniorSchauklasse für Dreigänger. Ich weiß, Booty hatte ein Mädchen in dieser Prüfung, denn wir haben ihn auf der Trainingsbahn mit ihr gesehen, als wir gestern auf dem Gelände angekommen sind. Falls er da war, haben wir ihn übersehen, aber Fair, da waren so viele Menschen wie Ameisen bei einem Picknick.« Sie hörte sich schläfrig an. »Ich lese aber morgen das Pro 62
gramm noch mal durch, um zu sehen, wer alles teilgenommen hat. Mir scheint, dass das Doppelkreuz eine Rolle spielt. Ich hab gesehen, dass Sheriff Howlett die mexikanischen Arbeiter vernommen hat.«
»Sind 'ne Menge von ihnen hier«, bemerkte Fair gelassen. »Scheinen doppelt so viele zu sein wie am ersten Tag.« »Große Veranstaltung. Alle Mann an Deck.« »Große Veranstaltung. Arbeiter rangekarrt.« Mrs. Murphy machte ein Auge auf. »Großer Profit auch, ganz bestimmt.« »Was bist du so aufgeregt, Miezekatze?« Harry, der unterdessen warm geworden war, zog den Arm unter der Decke hervor, um den seidigen Kopf der Katze zu streicheln. »Tut nichts zur Sache.« Mrs. Murphy machte die Augen wieder zu. »So gut wie alle waren an der Bande, außer den Pflegern und Trainern, die Pferde und Teilnehmer für die nächste Prüfung vorbereitet haben.« Harry kam teils deswegen darauf zurück, wer wo gewesen war, weil sie allmählich abschaltete und den Gesprächsfaden verlor. »Ich hab Renata und Shortro beobachtet. Toller Bursche, dieser Shortro.« »Wer immer Jorge umgebracht hat, hatte Eiswasser in den Adern. Der hat kein Risiko gescheut.« »Hmm.« »Schläfst du ein?« »Meine Augen ruhen sich aus«, flunkerte sie. Fair betrachtete die Tiere und seine Frau. »Ich bin hellwach.« »Trink Milch.« Mrs. Murphy hatte die Augen wieder aufgeschlagen, um diesen guten Rat zu erteilen. Er lächelte die Katze an. »Du hörst mir zu.« »Ich geb mir Mühe, aber ich bin auch ganz schön müde.« »Ich sehe das so: Wenn Queen Esther in aller Öffentlichkeit gestohlen wurde und Joans Brosche auch, und wenn Jorge in Sekundenschnelle getötet wurde - wenn das alles offen geschah, was ist dann verborgen?« Mrs. Murphy seufzte. »Fair, du denkst schon genau wie Harry.« 63
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Über Zuchtlinien wird doch Buch geführt, oder?« »Ja.« Joan kochte eine Kanne Kaffee und eine Kanne Tee, und Harry schnitt einen großen Streuselkuchen an. Sie saßen in Joans Küche. »Bestimmte Tiere pflanzen sich in Reinzucht fort. Man erkennt ihre Nachzucht sofort. In früheren Zeiten wurde das Verdienst gewöhnlich dem Hengst zugeschrieben, aber die Stute ist genauso wichtig, wenn nicht noch wichtiger.« »Tatsächlich konzentrieren sich die neuesten Forschungen mehr auf die Stute, aber wer weiß? Ich habe mein Leben lang Pferde gezüchtet, und wenn es allein eine Frage des Verstandes wäre«, Joan tippte sich an den Kopf, »dann hätte ich es jedes Mal hundertprozentig richtig gemacht.«
»Ich weiß, was du meinst. Denkst du, Denmark, dein 1839 geborener Stammhengst, hat Erscheinungsbild und Bewegungen der Saddlebreds geprägt?« Harry freute sich an dem weichen Licht, das durchs Küchenfenster flutete. »Harrison Chief auch; er wurde 1872 geboren.« Joan lauschte dem Blubbern des Wasserkessels. »Aber wie bei den Vollblütern gibt es so vieles, was wir nie wissen werden. Pferde sind vermutlich irgendwann nach 1607 herübergekommen. Nicht jeder hat genau Buch geführt.« »Nicht jeder konnte lesen und schreiben.« Harry machte eine kurze Pause. »Dabei habe ich irgendwo gelesen, dass unser Bildungsniveau zur Zeit des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges höher war als heute. Menschenskind, das ist ein Schlag ins Gesicht.« »Wundert mich gar nicht.« Joan zuckte die Achseln. »Aber eins wissen wir, in den Saddlebreds steckt das Blut von Vollblütern, Morganblut und OldNarragansett-Blut.« Narragansetts sind Passgänger, eine Rennpferdart, die Sulkys zieht. Die Beine des Passgängers bewegen sich, anders als 64
die des Trabers, parallel, also die Beine auf der rechten Seite -vorn und hinten - bewegen sich gleichzeitig, ebenso die auf der linken. Die Beinbewegung bei einem Traber - ja bei allen Pferden, wenn sie traben - ist diagonal. »Wer waren die großen Stammstuten?«, fragte Harry, während sie eine Wanderdrossel beobachtete, die auf einen sich windenden Wurm hinabstieß. »Ah, Stevenson Mare, Saltram Mare, Betsey Harrison, Pekina, Lute Boyd, Lucy Mack, Daisy die Zweite, Queen forty-eight und Annie C.« »Du könntest Unterricht geben.« Joan lächelte, als sie Harry Tee und sich Kaffee einschenkte. »Du kennst deine Vollblüterzucht, ich kenne die Saddlebreds. ASHA, der amerikanische Saddlebred-Verband, gegründet 1891, hat mit dafür gesorgt, dass Zuchtberichte gesammelt wurden.« Sie hielt einen Moment inne. »Aber wenn man die Zuchtbücher schließt, fangen die Probleme an.« »Du meinst, es kommt kein frisches Blut mehr rein?« »Genau. Bei Pferden, Hunden und allen möglichen anderen Tieren kann man es mit Inzuchtproblemen zu tun kriegen. Ich betreibe Linienzucht. Ich sage nicht, dass man es nicht tun sollte, aber man sollte nicht mal im Traum daran denken, wenn man nicht eine Menge Pferde studiert hat - eine Menge Pferde.« Bei der Linienzucht legt man sich auf eine bestimmte Zuchtlinie fest, was laut Theorie die guten Merkmale dieser Linie verstärkt. Wenn man dabei zu enge Grenzen setzt, können schwache Tiere herauskommen.
»Genau.« Harry trank den wohltuenden Tee, sobald Joan sich gesetzt hatte. »Ich scheue davor zurück; mir fehlt deine Begabung.« Joan tat das Kompliment mit einer Handbewegung ab, und sie rückten dem Kuchen zu Leibe. »Ich hätte dir ein richtiges Frühstück machen sollen, aber du kennst mich ja.« Joan lächelte matt; sie hatte nie Zeit und auch selten große Lust zum Kochen. 65
»Ich bin genauso. Fair bringt meistens nach der Arbeit was mit nach Hause, und er grillt gerne.« »Wie alle Männer. Hast du schon mal irgendwas gesehen, das Männern an Grillgeräten gleichkommt? Sie wetteifern sogar um die Soßen, und wenn sie das Fleisch marinieren ...« Sie verdrehte die Augen gen Himmel. »Hast du nicht mal gesagt, in Australien und sogar in Südafrika hast du sie genauso erlebt?« »Schätzchen, vermutlich attackieren sie sich in China mit Grillzangen. Zeig einem Mann einen Grill und ein Steak, und er verliert den Verstand.« »Schon, aber wir kriegen es zu essen«, sagte Harry augenzwinkernd. »Ist dir schon mal aufgefallen, dass wir Köchinnen sind und sie Küchenchefs?« Darüber lachten sie beide. »Du hast etliche Vollblüter.« Harry genoss die saftigen Streusel auf dem Kuchen. »Ja, aber ich züchte sie nicht. Paula Cline und ich halten ein paar. Mein älterer Bruder Jimmy hat meistens auch einige auf der Rennbahn laufen.« »Wenn du von einem guten Jungpferd hörst, gutmütig, etwas zu langsam, das die Besitzer abgeben wollen, sag mir Bescheid.« »Mach ich. Für dich?« »Ich werde es für Alicia Palmer zum Jagdpferd ausbilden.« Weil Joan Harrys Freundinnen kannte, brauchte sie keinen Lebenslauf von Alicia. »Immer noch heiß und innig mit BoomBoom?« »Und wie.« »Ich hätte das nie von BoomBoom gedacht, nicht, dass es mich kümmert. Sie hat die Männer sensenmäßig niedergemäht.« »Haben sie beide. Vielleicht haben sie sich deswegen gefunden. Sie hatten die Männer satt.« Harry lachte. 65
»Oder es ist vielleicht wahre Liebe.« Joan hoffte es, weil sie im Grunde ihres Herzens romantisch veranlagt war. »Komisch, nicht? Jahrelang hab ich BoomBoom gehasst. Himmel, wir haben uns schon in der Grundschule gestritten, und als ich von Fair geschieden war, konnte ich meinen eigenen Gefühlen aus dem Weg gehen, indem ich wütend auf sie war.«
Fair hatte eine Affäre mit BoomBoom gehabt. »Die Wege des Herrn sind wunderbar, und er führet alles herrlich hinaus.« »Das sagt Miranda auch immer.« Miranda hatte im Postamt von Crozet jahrelang mit Harry zusammengearbeitet. Joan blickte auf die runde Küchenuhr an der Wand. »Wie spät hast du's?« Harry sah auf ihre Armbanduhr, die einst ihrem Vater gehört hatte. »Neun.« »Ich hab vergessen, dass der Strom ausgefallen war.« Sie zog ihren Stuhl unter die Uhr, stieg drauf und stellte die Zeiger vor. »So ein Unwetter. Erstaunlich, dass es keine größeren Schäden gab. Bei uns muss alles in Ordnung sein, sonst hätte Larry mich längst von seinem Handy aus angerufen.« Larry und Fair, beide mit Geländewagen unterwegs, inspizierten das gesamte Gestüt. Zwar hätte Manuel jemanden mit dieser Aufgabe betrauen können, aber die zwei Männer fuhren so gern mit Geländewagen herum, außerdem war Fair dann gleich zur Hand, sollte ein Pferd eine Verletzung erlitten haben. Der arme Manuel war wegen des Mordes an Jorge am Boden zerstört. Heute Morgen war er als Erstes zur Messe gegangen und hatte ein Gebet für Jorges Seele gesprochen. »Das ist mal eine gute Nachricht.« Joan zog den Stuhl wieder an den Tisch und ließ sich mit einem Plumps darauf fallen, was Cookie veranlasste zu bellen. Die Tiere hatten es sich im Wohnzimmer auf der Couch bequem gemacht. »Ach Cookie, ich bin's doch nur.« »Man kann nie wissen«, rief die Jack-Russell-Dame zurück. ioo
»Weißt du, mal bin ich völlig klar im Kopf, und dann ist schlagartig alles wieder da, mein Herz schlägt schneller, ich gehe jede Kleinigkeit noch mal durch, und ich werde nicht schlau daraus. Dann kriege ich einen regelrechten Koller, ich gehe immer wieder durch, wo wir gewesen sind, was wir gemacht haben, wir und alle anderen, und wer auf wen wütend ist, und mir wird ganz schwindlig.« »Heute Nacht um zwei Uhr haben Fair und ich uns zu erinnern versucht, wer bei Renatas Prüfung an der Bande war und wer nicht. Darüber bin ich schließlich eingeschlafen.« Harry legte beide Hände um ihre Teetasse. »Heute Morgen habe ich das Programm durchgelesen, um zu sehen, wer Pferde bei der Prüfung hatte und wer nicht. Ich dachte, jeder, der nicht an der Bande war, könnte ein potentieller Mörder sein, aber das Gewitter hat dieser Theorie ein Ende gemacht. Beim ersten Donnerschlag sind die Leute in alle Himmelsrichtungen getürmt.« Ein Auto kam in die Einfahrt gefahren. Das Tor zur Tiefgarage unter dem Haus war offen. »Großmama ist da«, meldete Cookie. »Juhuuh«, rief Frances.
Paul und Frances wohnten an der Ecke des Kalarama-Gestüts in einem reizenden, schlichten zweistöckigen Backsteinhaus aus der Zeit des großartigen Hengstes Kalarama Rex, der 1922 geboren worden war. Harry flüsterte: »Weiß sie es?« »Noch nicht.« Joan stand auf, als ihre Mutter die Küchentür öffnete. »Guten Morgen.« Frances küsste zuerst Joan, dann Harry auf die Wange. »Na ihr Mädels, wie geht's euch heute Morgen?« »So gut, wie's uns in Anbetracht der Dinge gehen kann«, antwortete Joan. Wie die meisten Mutter-Tochter-Beziehungen war diese durchweg gut, es gab nur ab und zu ein wenig Stress. ioi
»Hoffentlich kriegen sie den, der die schreckliche Tat begangen hat.« Frances setzte sich nicht, als Joan ihr einen Stuhl anbot. »Aber er wurde nicht hier umgebracht, das ist ein Glück.« Joan starrte ihre Mutter an, die kein gefühlloser Mensch war. »Mutter.« »Nein, nein, so hab ich das nicht gemeint, aber ich denke, wenn Jorge etwas getan hat oder sich mit jemand angelegt hat, warum hat man ihn dann nicht hier umgebracht? Darum glaube ich, was passiert ist, ist wegen dem Turnier passiert.« Harry folgte Frances' Gedankengang: »Oder vielleicht hat sich dort alles zusammengefügt.« »Na ja, ich bin kein Polizist.« Frances presste einen Moment die Lippen zusammen und runzelte die Stirn. »Der Kaffee riecht gut.« Sie nahm auf dem angebotenen Stuhl Platz. Joan ging zum Herd, und Cookie kam hereingesaust und setzte sich neben die ältere Dame. »Streuselkuchen?« Harry hielt das Messer über dem Kuchen bereit. »Nein danke. Ich esse während der Turniere immer zu viel Süßes. Ich habe mir fest vorgenommen, brav zu sein.« »Sie haben Ihre Figur gehalten«, schmeichelte Harry ihr. »Oh, danke schön.« Frances strahlte, dann wandte sie sich an Joan, die ihr Kaffee einschenkte. »Joan, ich will mich ja nicht ins Geschäft einmischen, schließlich verstehe ich nicht so viel von Pferden wie du, Larry und Paul, aber«, sie nahm den silbernen Löffel zur Hand, während Joan die Kanne wieder auf die Warmhalteplatte stellte, »wegen Renata wird es Arger geben.« »Hat es schon.« Joan setzte sich wieder. »Ärger mit Männern.« »Oh.« Joan und Harry sahen Frances an; Joan blinzelte dabei. »Frauen wie sie erregen die Männer. Charlys Benehmen beweist es. Ich habe gehört, wie er sich aufgeführt hat, als Renata ihre Pferde aus seinem Stall genommen hat.« I02
»War Charly früher schon rachsüchtig?«, fragte Harry. »Einmal ist er mit Booty über Kreuz geraten. Booty hatte Charly beschuldigt, sich an seine Frau heranzumachen.« Frances hob die linke Schulter und ließ sie wieder sinken. »Also ich weiß nicht. Sicher, wir sehen Frauen mit anderen Augen als die Männer, aber Charly hat geschworen, er hätte es nicht getan, was Annie Pollard gekränkt hat, die sich für ungemein attraktiv hält. Booty nahm den Mund zu voll, Charly hat das nicht gepasst, und dann sah es so aus, als hätten sie es beigelegt. Beim nächsten großen Turnier hat Charly dann die Schweife von Bootys Pferden mit Ingwer eingerieben, als Booty nicht im Stall war.« Joan lachte. »Du hättest sehen sollen, wie Booty versucht hat, die Pferde vorzuführen. Freilich hatte Charly den Ingwer mit Terpentin getränkt. Davon sind sie wild geworden.« Frances nickte. »Er war im ersten Irakkrieg Explosivmann.« »Explosionsmann, Mom.« »Und explosiv.« Sie plauderten noch ein bisschen, dann trank Frances ihren Kaffee aus und stellte die Tasse ab. »Joan, glaubst du, wir sind in Gefahr?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Joan aufrichtig. »Dein Vater macht sich Sorgen, obwohl er meint, das Doppelkreuz hat etwas zu bedeuten, und das hat nichts mit uns zu tun, sonst würden wir wissen, was es bedeutet. Jorge war so ein netter Mensch, ich kann mir nicht vorstellen, was er getan haben könnte, um - du weißt schon.« »Wenn wir das wüssten, hätten wir den Mörder schon fast.« Harry nahm einen braunen Zuckerwürfel aus der Schale und legte ihn auf ihre Zungenspitze. Frances faltete die Hände im Schoß. »Er hat nicht um Geld gespielt, hat am Wochenende mal ein Bierchen getrunken, war nicht hinter Weibern her. Er sagte immer, er bringt sein Geld auf die Bank, damit er sich ein eigenes Gestüt kaufen kann. Er hat seinen Wohnwagen sehr sauber gehalten.« Sie erwähnte 68
das, weil Jorge auf dem Gestüt wohnte. Damit die Arbeiter für sich sein konnten, war ihr Wohnbereich von einem Zaun abgetrennt. Einige waren verheiratet. Gelegentlich statteten Frances, Paul, Joan oder Larry den Unterkünften einen Besuch ab, aber sie respektierten das Bedürfnis der Leute, abseits von den Bossen zu sein. »Er hatte eine Zeitlang eine Freundin.« »Und dann?« »Sie hat ein Stipendium für einen Pferdekurs der William-WoodsUniversität in Fulton, Missouri bekommen. Ich kenne die Einzelheiten
nicht, aber jedenfalls ist sie aus Kentucky weggegangen, und ich denke, die Romanze hat sich einfach verflüchtigt«, erzählte Joan Harry. »Kein böses Blut?«, fragte Harry. »Glaub ich nicht«, erwiderte Joan. »So viele unbedeutende Menschen auf der Welt, und ausgerechnet Jorge wird ermordet.« Aufgebracht stützte Joan den Ellenbogen auf den Tisch und das Kinn auf die Faust. »So, Mädels, ich habe noch einiges zu erledigen. Ich war heute Morgen in der Messe und habe eine Kerze für Jorge angezündet, dann bin ich hierhergekommen, und jetzt muss ich zur Reinigung, zum Supermarkt und wer weiß, was mir unterwegs noch alles einfällt.« Frances wandte sich an Joan: »Wenn du mir deine beige Leinenjacke gibst, nehme ich sie mit in die Reinigung. Vergiss nicht, vorher die Brosche meiner Mutter abzumachen. Und Joan, hab ich dich nicht so erzogen, dass du die Ellenbogen nicht auf den Tisch stützt?« Joan schluckte. »Bin gleich wieder da.« Harry plauderte mit Frances. Joan kam mit der Jacke zurück. Frances stand auf und legte sich die Jacke über den Arm. »Denk dran, heute Abend brauchen wir Glück, Fahrklasse der Dreijährigen. Heute ist Broschenabend.« Sie lächelte. »Ich wollte sie heute Abend schonen und für die Fünfgängerprüfung aufbewahren.« Joan war eigentlich eine schlechte Lügnerin, aber in diesem Moment merkte Frances nichts. 69
»Das Glück vergeht nicht, solange die Spitzen des Hufeisens nach oben zeigen.« Frances öffnete die Tür zum Keller und ging hinunter, wobei die Holzstufen vibrierten. Harry und Joan sprachen erst, als sie den Motor starten hörten. »Ich bin fix und fertig. Gott, bin ich ein Feigling. Ich kann's ihr nicht sagen.« »Du hast noch Zeit. Für mich bist du kein Feigling. Wir können die Brosche noch finden.« »Ich mach mich wegen einer Brosche verrückt, wo Jorge tot ist und Renatas Pferd weg ist.« Sie schüttelte den Kopf. »Manchmal versteh ich mich selbst nicht mehr.« »Joan, das ist menschlich. Weil wir die großen Probleme nicht lösen können, konzentrieren wir uns auf die kleinen.« »Ich hab wahrhaftig ein paar fette Probleme am Hals.« »Würdest du Queen Esther erkennen, wenn du sie sehen würdest?«, fragte Harry. »Ja.« »Ich auch, glaube ich, obwohl ich sie nicht so oft gesehen habe wie du. Aber sie ist majestätisch, eine wahre Queen. Sollen Fair und ich mal rumfahren
und uns auf, sagen wir, Charlys hinteren Weiden umsehen? Du bist überlastet. Wir könnten auf irgendwas stoßen.« »Ich zeichne dir eine kleine Karte, wo die diversen Trainer ihre Gestüte haben.« Sie griff nach Block und Stift, die immer auf der Anrichte lagen. »Aber ich sage dir, ihr werdet Queen Esther nicht bei Charly finden.« »Warum nicht?« »Er weiß, die Leute denken, er steckt dahinter, weil er wütend auf Renata ist. Wenn er das Pferd geholt hätte, würde er es bei jemand anders untergebracht haben.« »Außerhalb von Kentucky?« »Vielleicht, aber ich bin überzeugt, wenn sich die Aufregung gelegt hat, kriegt Renata einen Anruf oder eine E-Mail. Ich kann mich irren, aber ich denke, er treibt sein Spielchen mit 70
ihr. Wäre das Pferd wirklich gestohlen worden, hätte sie eine Lösegeldforderung erhalten, wie du gesagt hast.« »Dann treibt er also sein Spiel mit ihr.« »In jeder Hinsicht.« Harry beugte sich vor, als Joan Bezirksgrenzen zeichnete und Pfeile malte, wo die Gestüte lagen. »Sex im Spiel?« »Charly ist ein Snob - er verbirgt es zwar, aber er will das Gute, das Beste, und wenn er Renata heiraten könnte, wäre er dann nicht ganz oben? Er wäre nicht der erste Mann mit Pferdeverstand, der eine reiche Frau heiratet.« »Ah, und sie?« Harry hob fragend die Augenbrauen. »Ich weiß nicht. Ich vermute, sie hegt stärkere Gefühle für ihn, als sie zugibt. Ob sie ihn heiraten würde? Wer weiß? Guck dir doch all die Schauspielerinnen an, die einen Mann heiraten, der dann ihr Manager wird, oder sie heiraten ihren Regisseur. Es ist nicht so weit hergeholt, dass eine ihren Trainer heiratet. Eine Schauspielerin bekommt doch immer gesagt, was sie tun muss. Sie will geleitet werden.« »Darauf bin ich nie gekommen.« »Weil du nicht so bist. Vielleicht suchen nicht alle Schauspielerinnen oder Schauspieler nach jemand, der die Zügel in die Hand nimmt, aber viele. Renatas Karriere hängt durch. Sie sieht sich nach etwas um.« »Wäre ein gutes Drehbuch nicht vernünftiger?« Joan lachte. »Wann haben die Menschen schon Vernunft bewiesen?« »Da ist was dran. Und Booty? Vielleicht wechselt sie zu ihm.« »Einerseits hätte ich sie gerne hier. Die Publicity tut uns gut, und Larry könnte eine bessere Reiterin aus ihr machen. Sie ist nicht schlecht. Aber sie braucht sehr viel Zuwendung. Larry kann sie ihr nicht geben und ich auch nicht, wobei ich bezweifle, dass sie sie von mir so nötig hätte wie von ihm.«
Sie lächelte verschmitzt. »Booty ist gut. Hat einen ausgezeichneten Ruf, aber sie kann ihn nicht leiden, das sehe ich, und daran ist Miss Nasty nicht unschuldig.« 71
»Der Affe ist ziemlich schrecklich.« »Stimmt, aber es ist der Beleidigungsaspekt: Er sagt der Welt, dass seine Exfrau ein Affe ist. Die exakt kopierte Garderobe ist zum Schreien komisch. Ich kann nicht anders, ich muss darüber lachen, aber Renata hat's genau erfasst. Sie wird nie auf Booty fliegen.« »Eher auf einen Schauspieler?« »Kann sein, aber sie liebt die Pferdewelt. Sie wird am Ende hier landen, so oder so. Und wer weiß, Charly wird vielleicht ein guter Ehemann, auch wenn das im Augenblick schwer vorstellbar ist.« »Affentheater.« Harry lächelte.
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ie sattgrünen Weiden im mittleren Kentucky erinnerten Harry an
Virginia. Es fehlten allerdings die dichten Eichen- und Hickorywälder der Appalachen-Staaten sowie der Zauber der Blue Ridge Mountains. Die pittoresken Städte jedoch gaben Zeugnis davon, dass Kentucky mit wenigen Ausnahmen relativ unbeschadet aus dem Bürgerkrieg hervorgegangen war. Ob Paris, Versailles oder Harrodsburg, diese Städte strahlten Sauberkeit und Heimeligkeit aus, was selbst die hochnäsigsten Virginier entzücken konnte. Harry und Fair waren nicht besonders überheblich, was ihre Herkunft betraf, die sich bis ins erste Viertel des siebzehnten Jahrhunderts zurückverfolgen ließ, und so waren sie von Kentucky bezaubert, ohne auf die zahlreichen Tugenden Virginias zurückgreifen zu müssen. Im Augenblick hatten sie allerdings etwas durchaus Untugendhaftes im Sinn. Nachdem Fair von Harrys Vorhaben, auf
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Ward Findleys Besitz herumzuschleichen, erfahren hatte, hielt er es für geboten, sie zu begleiten. Man wusste nie, in was für ein Wespennest sie stechen würde. Das sagte er aber nicht. Er sagte vielmehr, dass es ihm großen Spaß machen würde, ziellos und ohne Zeitplan in der Gegend herumzugondeln. Als die zwei Katzen, der Hund und die zwei Menschen vom Hauptstall von Kalarama abfuhren, kam Sheriff Cody Howlett mit zwei Beamten an, um Jorges persönliche Habe zu sichten. Fair sah im Rückspiegel, wie Larry die Gesetzeshüter zu Jorges Wohnwagen führte.
Kaum waren Fair und Harry in die Route 55 eingebogen, als ihnen der Sheriff von Washington County entgegenkam, dem Bezirk, in dem Springfield lag, zwei Bezirke südlich von Shelby. »Revierkampf«, bemerkte Fair. »Meinst du?« Harry betrachtete den Streifenwagen. »Jemand von Washington County wird die Einsatzleitung übernehmen müssen. Die Zeitungen werden von abteilungs-übergreifender Kooperation sprechen.« »Der Mord ist in Shelby County geschehen. Was gibt es da zu wetteifern?« »Publicity.« Harry lächelte. »Ah.« »Die Menschen lassen sich gerne fotografieren.« Pewter dachte sich, der Sheriff von Washington County wollte auch gerne ins Fernsehen kommen. »Sofern es nicht fürs Verbrecheralbum ist.« Tucker machte es sich auf Harrys Schoß bequem. Fair bog nach einer halben Stunde von der Schnellstraße ab, und bald fuhren sie auf zweispurigen Asphaltstraßen. Sie kamen durch Versailles, dessen imposante öffentliche Gebäude Bewunderung hervorriefen. Fünfzehn Minuten später kamen sie an der neuen Pension für ausgediente Vollblutpferde vorbei. 72
»Hat eine Menge Kohle gekostet«, bemerkte Fair lakonisch. »Allerdings.« Harry nahm im Vorbeifahren in sich auf, was sie konnte. »Rose Häven, Paula Clines Gestüt, gefällt mir wirklich gut - die richtige Balance zwischen Hightech und einem richtigen Gestüt.« Zuchtbetriebe wie das ehrbare und erfolgreiche Gestüt Lane's End schickten zuweilen Pferde zu Paula, wo sie sich ausruhen, erholen und entspannen konnten. Paula war eine langjährige Freundin von Joan, und die zwei trieben sich gegenseitig an; jede suchte die andere in ihrem Wissen über die neuesten medizinischen Fortschritte zu übertreffen. Joan, die Harrys regen Geist und Fairs Beruf kannte, hatte sie Vorjahren mit Paula bekannt gemacht. Irgendwie fanden gute Pferdekenner immer zusammen, und der Gesprächsstoff ging ihnen nie aus. »Das muss das Hallenbad sein.« Fair fuhr langsamer. »Meine Güte, und ein Freibad haben sie auch.« »Fair, alle Pferdeleute in Nordamerika, vielleicht sogar auf der ganzen Welt, haben dem Vollblüterbetrieb und Kentucky sehr viel zu verdanken.« »Wir bestimmt.« Er verlangsamte das Tempo wieder, weil ein mit Heu beladener Laster auf seinen Transporter zu schwankte. »Schatz, da vorne kommt eine Kreuzung. Links, rechts, geradeaus?«
Sie blickte auf die Karte, die Joan gezeichnet hatte. »Geradeaus. Dann die Nächste links.« Die Abbiegung kam bald, scharf wie ein Knick. Fair bremste. Pewter, die aus ihrem Schläfchen aufgewacht war, streckte sich. »Sind wir schon da?« »Fast.« Mrs. Murphy hatte die Ohren aufgestellt; ihre Hinterpfoten lagen auf Harrys Knien, die Vorderpfoten auf dem Armaturenbrett. »Huh«, grunzte Fair. »Lauter Vierbretterzäune. Ward mag ja nicht so dicke Kohle 73
haben wie Larry, Charly und Booty, aber er lebt auch nicht von Sozialhilfe.« »Beileibe nicht.« Fair stieß einen Pfiff aus. Vierbretterzäune waren teurer als Dreibretterzäune. Ein Feldweg schlängelte sich zwischen zwei Weiden hindurch. Fair bog ein und stellte den Motor ab. »Ob uns jemand sehen kann?« »Wenn wir niemanden sehen und auch kein Gebäude, dann wird man uns wohl auch nicht sehen.« Harry hatte die Autotür schon aufgemacht. Mrs. Murphy und Pewter stürmten aus dem Wagen. »Hey, ihr zwei.« Fair hob Tucker hinunter. »Tucker, hüte die Katzen, ja?« »Das könnte dir so passen.« Pewter, die schnell rannte für ein übergewichtiges Mädchen, raste auf eine grüne Weide. »Wenn jemand kommt, können wir sagen, die Katzen mussten mal aufs Töpfchen, und da sind sie getürmt.« Harry stellte einen Stiefel auf das unterste Brett des Zauns und schwang das andere Bein oben drüber. >»Aufs Töpfchen< sag ich bestimmt nicht«, brummte Fair. »Zu unmännlich?«, zog sie ihn auf. Er lächelte. »Ich muss meine maskuline Glaubwürdigkeit aufrechterhalten.« Die kleine Familie ging auf drei Stuten zu. Die Süße des Klees und das Summen der Bienen belebte ihre Sinne. Mrs. Murphy kam als Erste bei den drei Stuten an. »Hallo, Mädels.« »Hallo, Miezekatze. Wer bist du?«, fragte eine ältere braune Stute mit schönen sanften Augen. »Mrs. Murphy aus Crozet, Virginia.« Die anderen zwei Stuten sahen sich an und blickten dann zu der hübschen Tigerkatze hinunter. Pewter, deren Fell Kleeblüten streifte, trat hinzu. »Hi.« »Hi«, antworteten die Stuten. Tucker kam als Nächste. »Ich hoffe, wir stören nicht.« iio
»Überhaupt nicht. Wir haben gern Gesellschaft«, erwiderte die ältere Stute. »Ich bin Brown Bess, das hier sind Amanda und Lucy Lu. Das sind unsere Rufnamen. Wir sind im Ruhestand, wir nehmen nicht mehr an Turnieren teil.« »Vermisst ihr es?«, fragte Pewter.
»Manchmal«, antwortete Lucy Lu, die eine erfolgreiche Karriere hinter sich hatte. »Ich nicht.« Amanda fand ihr jetziges Leben ideal. »Mädels, sind in den letzten zwei Tagen neue Pferde bei euch angekommen?«, fragte Tucker. »Oh, während der Turniersaison fahren die Transporter täglich an und ab«, sagte Brown Bess. »Es geht um eine elegante Stute, die Wards grünweiße Sommer-Fliegendecke trägt. Sie ist schwarz, wo ihr Fell zu sehen ist, aber eigentlich ist sie eine Fuchsstute«, klärte Mrs. Murphy sie auf. Harry und Fair kamen zu den Stuten. »Die gehören zu uns«, berichtete Pewter. »Das ist das erste Mal, dass ich dich so was sagen höre.« Tucker hob erstaunt die Nase, um die gesenkte Nase von Brown Bess zu berühren. »Sie gehören wirklich zu uns. Ohne uns können sie nichts richtig machen.« Pewter blähte die graue, flaumige Brust. Lucy Lu lachte. Fair klopfte ihr den Hals. »Glückliche Pferde.« »Jedenfalls wissen wir, dass Ward gut für sie sorgt.« Harry kraulte Amandas Ohren, dann die von Brown Bess. »Das tut er«, bestätigte Lucy Lu. »Jetzt fällt es mir ein, gestern Nacht ist eine Stute mit Wards Farben gekommen. Eine richtige Schönheit. Schwarz. Aber ich hab sie nicht mehr gesehen, seit sie aus dem Transporter gestiegen ist. Sie wird am anderen Ende des Gestüts sein, wenn nicht in einer Box«, sagte Brown Bess. »Wo wart ihr, als ihr sie gesehen habt?«, fragte Mrs. Murphy. »Bei den Ställen. Es sind zwei Ställe. Diese Weide ist fast fünf iii
zehn Morgen groß. Sie reicht direkt bis an die Ställe heran«, klärte Brown Bess die Katze auf. »Sind jetzt viele Leute da?« Tucker wollte sich gerne gründlich umschauen, ohne Verdacht zu erregen. »Schwer zu sagen. Während der Shelbyville-Turniere ist immer viel Betrieb«, erklärte Amanda. »Aber jetzt ist Mittagspause.« »War sehr nett, euch kennenzulernen.« Airs. Murphy bedankte sich bei den Stuten, dann sauste sie über die Anhöhe, von wo sie die zwei Ställe sehen konnte. »Murphy, hierher«, rief Harry und ging auf die Katze zu. Sich ein paar Schritte vor Harry haltend, bog Mrs. Murphy zu den Ställen ab. »Das lass ich mir nicht entgehen.« Pewter eilte zu Mrs. Murphy. »Verdammt!« Harry behagte die Vorstellung gar nicht, beim unbefugten Betreten erwischt zu werden.
»Wenn wir uns umdrehen und gehen, kommen sie hinterher«, prophezeite Fair. »Nee, ich nicht!« Mrs. Murphy lief entschlossen weiter. Bei seiner Größe von einsneunzig konnte Fair mit einem Schritt eine größere Distanz zurücklegen als Harry. Er trabte los. »Miss Miezekatze, bleib stehen.« »Ich denk nicht dran.« Mrs. Murphy lief vorneweg, um ihn zu triezen. Er fing an zu rennen, und sie sauste ab wie der Blitz, Pewter in kurzem Abstand hinterher. Tucker blieb vernünftigerweise bei den Menschen. »Ihr kriegt Arger.« »Wo hast du deinen Mumm gelassen?«, rief Mrs. Murphy über die Schulter. Fair blieb stehen. »Verdammt noch mal, ich werd doch einer Katze nicht nachjagen.« »Sie hat was Bestimmtes im Sinn.« Harry sah die Tigerkatze und ihre graue Gefährtin, Schwänze in die Höh', zu den grünen Ställen mit der weißen Umrandung stürmen. »Und was jetzt?« 75
»Lass uns kurz hier stehen bleiben und sehen, was sie machen. Bislang rührt sich da hinten bei den Ställen nichts.« Fair sah die zwei Katzen die Ställe umrunden und auf die angrenzende Weide flitzen. »Was ist bloß in die beiden gefahren?« »Sie sind im Einsatz.« Harry konnte nicht anders als lachen, obwohl sie gleichzeitig überlegte, was sie sagen sollten, wenn sie erwischt würden. »Das sind wir auch, nehme ich an.« Fair schob die Hände in seine Jeanstaschen. »Ich weiß nicht, wie's mit dir aussieht, aber ich gehe ihnen nach. Bloß rennen werde ich nicht.« »Zu heiß.« Harry ging neben Fair her. Tucker lief nicht ganz bis zu den Ställen. Sie sauste über die Zufahrt, dann unter dem Zaun hindurch auf die Weide, wo Mrs. Murphy und Pewter unterwegs waren. »Gute Idee.« Harry folgte ihr. Eine Minute später waren alle auf der großen Weide, die der Weide der pensionierten Stuten spiegelbildlich glich. Sollte jemand aus dem Stall kommen und zu ihnen hinschauen, würde man sie sehen, aber wenn derjenige auf der anderen Seite hinausging, würde ihm die kleine Versammlung entgehen. »Da ist sie.'«, jubelte Mrs. Murphy, als sie Queen Esther sah, deren Hals und Beine, wiewohl abgewaschen, noch eine Spur dunkler waren als ihr fuchsroter Leib. Pewter sauste zu der eleganten Stute. Queen Esther plauderte mit fünf anderen Damen, die sich auf dem Höhepunkt ihres Turnierjahres befanden. »Queen Esther.«
Amüsiert lachte die Fuchsstute die rundliche Katze an. »Die bin ich.« »Wir haben dich gesucht«, teilte Mrs. Murphy ihr mit. »Und hier bin ich. Das Essen ist gut. Ich bin froh, dass ich nicht auf dem Veranstaltungsgelände bin. Wo ist Renata?« »Esther, du bist gestohlen worden!«, platzte Pewter heraus. Tucker, die unterdessen bei ihnen angekommen war, fragte: »Geht's dir wirklich gut?« "76
»Natürlich. Die Färberei fand ich zwar schrecklich, aber Ward hat das Zeug abgewaschen, sobald ich hier ankam. Ich bin nicht gestohlen worden.« »Fandest du es nicht komisch, dass du gefärbt wurdest?« Mrs. Murphy bemerkte Queen Esthers feste, kräftige Hufe. »Natürlich nicht. Die schmieren uns Haarglanz in die Mähnen und Schweife, wenn wir in den Boxen sind, sie färben uns eventuelle kleine weiße Flecken oder Narben an den Vorderbeinen. Nein, ich hab mir überhaupt nichts dabei gedacht. Mir schien es bloß eine weitere menschliche Macke zu sein.« Hierauflachte sie, und die anderen Pferde lachten mit. » Wer hat dich aus der Kalarama-Box geführt?« Tucker lächelte Queen Esther an. »Jorge. Fr hat mir auch Beine, Gesicht und Hals gefärbt.« »Und du hattest keine Angst? Hat keiner dich schlecht behandelt?« Pewter fand, dass außer dem Diebstahl noch einiges seltsam war. »Man hat mich behandelt wie eine Queen!« Die anderen Pferde lachten wieder. Schließlich kamen Harry und Fair bei der herrlichen Stute an. »Das ist sie! Ich schwöre, das ist sie.« Harry war aufgeregt. »Das glaube ich auch.« Fair blickte sich um. »Wards Gestüt liegt zwar weit vom Schuss, aber sie ist draußen auf einer Weide.« »Wenn sie da drüben über die Anhöhe ginge, würde sie niemand sehen.« Harry war verwirrt. »Waghalsig ist es trotzdem.« »Ein Versteck vor aller Augen.« Fair schlug sich auf den Schenkel, »'türlich, wir könnten uns irren. Niemand kennt diese Pferde besser als Joan und Larry oder die anderen Ausbilder, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass dies die Stute ist.« »Ich bin Queen Esther«, bekräftigte sie. »Jawohl«, ertönte ein dreistimmiger Chor. »Wie seid ihr bloß dahintergekommen?« Harry kniete sich zu ihren »Kindern« hinunter. "76 Fair hatte sein Handy aufgeklappt. »Larry, ich glaube, wir haben Queen Esther gefunden.« Er schilderte Einzelheiten, dann bat er Larry, den Sheriff von Woodford County und Renata anzurufen. »Wir warten hier.« Sie warteten nicht lange. Der Sheriff war binnen zehn Minuten da. Eigenartigerweise kam niemand aus den Ställen, als der Sheriff erschien.
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W
ährend ein Beamter von Woodford County die Ställe durchsuchte,
blieben Harry, Fair, Mrs. Murphy, Pewter und Tucker auf der Weide. Die Tiere plauderten mit den Pferden. Sheriff Ayscough, ein untersetzter Mann um die fünfzig, wusste es zu würdigen, dass Fair Tierarzt war. »Ist sie in gutem Zustand?« »Sheriff, sie ist in ausgezeichnetem Zustand. Ihre Beine sind intakt, die Hufe nicht beschädigt. Ich glaube nicht, dass sie Fieber hat, aber wenn Sie absolut sichergehen wollen, kann ich ein Thermometer aus meinem Wagen holen.« »Nicht nötig«, erwiderte Sheriff Ayscough. Tucker läutete die Alarmglocke: »Da kommt jemand.« Zwei Jemands. Ward bog mit tuckerndem Motor in die Hauptzufahrt ein. Unmittelbar hinter ihm war Renata in ihrem neuen Dogde. Beide parkten hinter dem Streifenwagen des Sheriffs. Ward eilte die Anhöhe hinauf. Renata folgte mit forschen Schritten. »Sheriff Ayscough, wo haben Sie sie gefunden?«, fragte Ward atemlos. »Das war ich nicht. Diese Leute haben sie gefunden.«
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Ward strahlte Harry und Fair an. In diesem Moment trat Renata hinzu. Sie sah Queen Esther. »Esther.« Sie legte der Stute die Arme um den Hals. » Was haben die bloß alle?« Esther blies Luft aus ihren geblähten Nüstern. Auf der anderen Seite der Zufahrt streckten Brown Bess, Amanda und Lucy Lu die Köpfe über den Zaun. Von dort konnten sie die Versammlung nicht sehen, aber die Neugierde ging mit ihnen durch. Ward trat zu Queen Esther und tastete ihre Beine ab. Er hob jeden Huf an. Fair sah zu. »Ihr fehlt nichts.« »We ist sie hierhergekommen?«, fragte Ward. »Das möchte ich auch gerne wissen.« Sheriff Ayscough hob die dichten Augenbrauen. »Ich habe keine Ahnung«, sagte Ward. »Er lügt wie gedruckt.« Pewter setzte sich. »Und ob. Er hat mich hergebracht«, verriet Queen Esther, aber die Menschen konnten es natürlich nicht verstehen. Harry fragte: »Sie sehen sie jetzt zum ersten Mal?« »So ist es«, antwortete Ward. »Mr. Findley, wo sind die Leute alle?« Sheriff Ayscough fand ein menschenleeres Gestüt reichlich sonderbar. Ward sah auf die Uhr. »Beim Mittagessen, aber Benny sollte hier sein.«
»Wer ist Benny?« Der Sheriff hatte es kaum ausgesprochen, als ein Beamter mit einem grauhaarigen, unrasierten älteren Mann aus dem Stall trat. »Das ist er.« Ward nickte, als die zwei Männer näher kamen. »Boss, ich bin in der Futterkammer eingeschlafen, ich schwör's. Ich hab keinen Tropfen angerührt.« Benny schaltete verbal direkt vom Leerlauf in den dritten Gang, die Worte purzelten nur so aus seinem Mund. Ward kniff die Augen zusammen. »Benny, ich hoffe, dass du die Wahrheit sagst.« 78
»Die reine Wahrheit, ich schwör's. Shelbyville macht mich fix und fertig. Ich bin in der Futterkammer auf einem Stuhl eingeschlafen.« »Du hast keinen Transporter oder Anhänger die Straße entlangkommen gehört?«, wollte Ward wissen, und alle beobachteten die beiden. »Nein.« »Wie ist die Stute auf diese Weide gekommen?« »Weiß nicht«, antwortete Benny betreten. Renata, die Tränen in den Augen hatte, weil sie ihr Glück kaum fassen konnte, tätschelte die wunderbare Stute in einem fort. »Gott sei Dank ist sie unversehrt.« Sheriff Ayscough nahm seinen Hut ab, unter dem schütteres aschblondes Haar zum Vorschein kam. Der leise rauschende Wind kühlte ihm den Kopf. »Ma'am, möchten Sie Anzeige gegen Mr. Findley erstatten?« Renata, die einen Augenblick verblüfft war, sah Ward an, dann Harry und Fair. »Keine Anzeige.« »Wollen Sie denn nicht wissen, wie sie hierhergekommen ist?«, entfuhr es Harry. »Natürlich, aber was zählt, ist nur, dass ihr nichts fehlt. Und ich möchte keine vorschnellen Schlüsse ziehen.« »Es wird alles bestens«, prophezeite Ward, der sichtlich froh war, dass ihm ein Gerichtsverfahren erspart blieb. »Nun, wenn Sie mich nicht mehr brauchen, Leute, dann mache ich mich wieder auf den Weg.« Der Sheriff winkte seine Beamten heran, und sie gingen zum Streifenwagen. »Benny«, fragte Renata mit leicht rot geränderten Augen, »glauben Sie, sie könnte von einem anderen Gestüt über den Zaun gesprungen sein?« »Etwa vom Reha-Zentrum«, warf Ward ein. »Das grenzt an mein Land. Sie hätte ohne weiteres über einen Zaun setzen können.« »Saddlebreds können springen.« Benny zuckte die Achseln. n78
»Ward, würden Sie Esther nach Kalarama bringen?«, bat Renata. »Wollen Sie sie nicht in Shelbyville haben?« »Nein«, sagte Renata entschieden.
»Mach ich gerne.« Ward lächelte und tätschelte Queen Esther. Renata wandte sich endlich Harry zu und strahlte dabei übers ganze Gesicht. »Wir beide haben das Rennen gemacht.« Sie hielt inne. »Wie haben Sie sie gefunden?« »Ich hab sie gefunden.« Mrs. Murphy warf Renata einen feindseligen Blick zu. »Mrs. Murphy hat sie gefunden«, antwortete Harry ehrlich. »Ich war dabei! Ich war direkt hinter ihr.« Pewter strich unverblümt ihren Anteil am Erfolg heraus. »Fangt bloß keinen Streit an«, warnte Tucker die Katzen. »Die Katzen sind weggelaufen und haben Queen Esther entdeckt.« »Aber warum sind Sie hierhergekommen?«, fragte Renata, während Wards Blicke von Renata zu Harry und von Harry zu Fair schössen. Ehe Fair auch nur ein Wort äußerte, sagte Harry schlagfertig: »Fair wollte an dem neuen Reha-Zentrum vorbeifahren. Er hatte so viel darüber gehört. Joan hat mir erzählt, dass Ihr Anwesen dahinter liegt, Ward, darum haben wir einen Abstecher hierher gemacht. Tucker musste mal, und als wir wieder losfuhren, sind die Katzen aus dem Wagen gesprungen und weggelaufen.« Sie hielt inne. »Warum sind Sie hierhergekommen?« Renata antwortete, ohne zu zögern: »Ward wollte mir ein Pferd zeigen, das zu verkaufen ist.« Ward kniete sich hin, nicht ganz auf Augenhöhe mit den Katzen und Tucker. »Danke.« »Gern geschehen«, erwiderte Tucker. »Jawohl, du Lügner.« Pewter kicherte. Er stand auf. »Benny, hol mir einen Führstrick, ja?« 79
Benny schlenderte los. Queen Esther und Mrs. Murphy tauschten Nasenküsse. »Warum lügt er?« »Ich weiß nicht, aber das verheißt nichts Gutes.« Die Tigerkatze schnurrte; denn sie liebte Pferde. »Brauchen Sie Hilfe?«, fragte Fair. »Nein danke«, antwortete Ward. »Es tut uns leid, dass wir einfach so hier eingedrungen sind«, bemerkte Harry. »Jetzt lügt sie!«, entfuhr es Pewter. »Sei kein Esel, Pewter. Mutter weiß, dass was im Busch ist. Sie will uns alle beschützen«, tadelte Mrs. Murphy ihre Freundin scharf. »Da ist was dran.« Tucker zog die Stirn kraus. »Dann machen wir uns auf den Weg«, sagte Harry und ging auf den Zaun zu. »Harry, ich bin restlos begeistert.« Renata lief hinter ihr her, umarmte sie innig und umarmte dann Fair. »Wir sehen uns auf Kalarama.«
Wortlos kletterten Harry und Fair über den Zaun, überquerten die Zufahrt zum Gestüt und stiegen über den anderen Zaun. Brown Bess ging hinter den Menschen her, dann fanden auch Amanda und Lucy Lu, das sei eine gute Idee. Das hätte ein hübsches Foto ergeben, zwei Menschen, drei pensionierte Stuten, zwei Katzen und ein gut gelaunter Corgi, die über grüne Sommerweiden stapften. »Was geht hier vor?« Bess schnippte mit ihrem üppigen Schweif eine Fliege von ihrer Kruppe. »Ja«, sangen Amanda und Lucy Lu im Chor, »der Sheriff war hier.« »Die tolle Fuchsstute, die angekommen ist - sie wurde gestohlen.« Pewter liebte es, wichtige Informationen preiszugeben. »Sie sah aber nicht gestohlen aus. Freilich konnten wir sie erst heute Morgen richtig in Augenschein nehmen.« Lucy Lu fand Queen Esthers Farbe etwas ausgefallen, weil Kopf, Hals und Beine dunkler waren als ihr fuchsrotes Fell. I80
Die »Mädels« konnten freilich nicht wissen, wie oft Queen Esther hatte schamponiert werden müssen, bis das Schlimmste von der Farbe ausgespült war. »Schön, dann hat sich ja alles zum Guten gewendet.« Doch Tucker glaubte es selbst nicht so recht. Als sie sich unter dem Zaun durchduckten, während Fair und Harry darüberstiegen, verabschiedeten sich Mrs. Murphy, Pewter und Tucker von den netten Stuten. »Warum glaubt Renata Ward? Ich würde ihm kein Wort glauben.« Tucker wartete, dass Fair sie in die Fahrerkabine des Transporters hob. »Vielleicht glaubt sie ihm ja nicht. Vielleicht wollte sie bloß ihr Pferd wiederhaben.« Pewter ließ sich von Harry hinaufheben. »War schließlich genug Tamtam.« Mrs. Murphy sprang in den Fußraum, dann auf den Sitz. »Gut, dass Fair die Fenster offen gelassen hat.« »Ja.« Tucker quetschte sich zwischen Harry und Fair. »Wir wissen, dass Ward lügt. Queen Esther weiß, dass erlügt. Ich glaube, Renata weiß, dass er lügt.« Pewter klang entschieden. Mrs. Murphys Schnurrhaare zuckten vor und wieder zurück, dann fragte sie: »Woher weißt du, dass Renata nicht lügt?«
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Was ist denn da los?« Harry blinzelte. »Die reinste Heuschreckenplage.« Der weiß gestrichene Hauptstall begrüßte einen, sobald man am Grab des großartigen Kalarama Rex vorbeigefahren war und nach Kalarama einbog. An den alten Hauptstall schloss sich ein weiterer Stall an, der die am Wettbewerb teilnehmenden Pferde beherbergte. Die mit den Namen der Fernsehsender beschrifteten weißen Autos parkten rechts in der Zufahrt neben der Trainingsbahn.
Die kleinen mobilen Fernsehteams machten Aufnahmen vom Stall, vom gesamten Anwesen, von Pauls und Frances' Backsteinhaus, den gestutzten Sträuchern und den gejäteten Blumenbeeten. Die Sharonrosen und Kreppmyrthe standen in voller Blütenpracht. Fair parkte bei der runden Koppel. Als die kleine Gruppe aus dem Auto stieg, blieben sie allesamt still stehen. »Ich will da nicht mitten hineingeraten.« Fair verschränkte die muskulösen Arme vor seinem breiten Brustkasten. Er hatte etwa neun Prozent Körperfett und somit gut definierte Muskeln. »Schatz, kann sein, dass Joan und Larry uns brauchen.« Er atmete durch die Nase aus. »Du hast recht.« Sie stapften in flirrender Hitze hügelan und betraten den Stall von der Nordseite. Erfreulicherweise wehte ein leichter Wind durch die lange Gasse, und die Türen an beiden Enden standen weit offen. Im Büro und im Besprechungszimmer, beide edel ausgestattet, drängten sich Pferde- und Presseleute. Die blonde, tüchtige Krista hatte alle Hände voll zu tun, um Fragen zu beantworten und Anweisungen zu geben. Büromanagerin von Kalarama zu sein, wo es ständig hektisch zuging, war in diesem Moment schier erdrückend. Doch Krista hatte ein sonniges Wesen, weshalb sie mit dem Stress besser zurechtkam als die meisten anderen. Joan organisierte Besichtigungen der anderen Ställe, ließ aber niemanden in die betonierte Reithalle hinein. Mit oder ohne Reporter, Larry und Manuel mussten mit den Pferden arbeiten. Im Moment ritt Larry Point Guard. Ein fünfgängiges Pferd lernt zwei kunstvolle Gangarten, den langsamen Tölt und den schnellen Tölt. Die Gangarten mit hoher Aktion - wobei das Pferd Figuren geht, nicht ganz wie beim Dressurreiten, aber dennoch Figuren - erforderten vom Pferd wie vom Reiter Konzentration und Kondition. Larry versuchte mit ausgesprochen leichter Hand Point Guard zum langsamen Tölt zu bewegen. Es war nicht sinnvoll, ein junges Pferd mit kräftigen Zügelbewegungen hart ranzunehmen und seine Zukunft aufs Spiel zu setzen. Die Verfassung des Pferdes war vermutlich wichtiger als sein Exterieur. Point Guard war in guter Verfassung. Larrys Tagesplan war Fair bekannt, weil sie am Morgen darüber gesprochen hatten. Als er die Glastür vom Gang in den überfüllten Raum aufstieß, sah er aus dem Augenwinkel Manuel zur Halle gehen. »Gut«, dachte Fair. »Sie können Point Guard rausbringen, bevor die Reporter merken, wer hier trainiert hat.«
Fair vermutete nämlich, dass die Reporter den vielversprechenden Ruf des jungen Pferdes kannten und wussten, dass die letzte Prüfung am Samstagabend knapp zwischen Larry, Charly und Booty entschieden werden würde. Er vermutete zu viel. Sie wollten Aufnahmen von Queen Esther, wenn sie den Transporter verließ, und von der überglücklichen Renata. Es ging Fair durch den Kopf, dass vermutlich Renata die Medienleute hergerufen hatte. Wer sonst würde auf die Idee kommen? Als hätte sie seine Gedanken gelesen, flüsterte Harry: »Das wird Renatas Karriere nicht schaden.« Joan schob sich durch die Menschen, umarmte Harry und Fair, zwinkerte ihnen zu und wandte sich dann an die Reporter. »Dies sind die Leute, die Queen Esther gefunden haben.« Wie Neunaugen saugten die Reporter sich an allem fest, das einen saftigen Stoff versprach, die Kameras klickten, und eine Kamerafrau stellte sich aufs Sofa, um eine Aufnahme aus einem anderen Blickwinkel zu machen. Bevor alle dieselbe Frage stellen konnten - »Wie haben Sie das Pferd gefunden?« -, lächelte Harry listig. »Wir würden uns die Entdeckung ja gerne zuschreiben lassen, aber«, sie hob I82 Mrs. Murphy, Fair hob Pewter hoch, »die Katzen sind die wahren Detektive.« Mrs. Murphy sah den nächststehenden Reporter mit großen Augen an. » Wir haben sie sofort erkannt.« »Wir sind unseren Menschen weggelaufen. Wir wussten Bescheid, weil die Stuten es uns erzählt haben!«, ergänzte Pewter. Die Kameras liefen. Tucker, ein Ausbund an Gehorsam, setzte sich vor Harry. »Meine Corgmündin war auch direkt dabei.« Harry lächelte, und die Kameras schwenkten zu Tucker hinunter. Die Fragen flogen flink und beflissen. Pewter antwortete auf jede einzelne, ungeachtet dessen, dass Mrs. Murphy und Tucker ihr rieten, sich ihre Worte zu sparen. Harry und Fair erzählten dasselbe, was sie Sheriff Ayscough erzählt hatten: dass sie angehalten hatten, um den Hund Gassi gehen zu lassen. Die Reporter schluckten es. Sie waren kaum fertig, als Ward angefahren kam. Er musste seinen weißgrünen Transporter am Eingang parken, weil die Übertragungswagen sowohl die Zufahrt als auch die große Fläche hinter dem Hauptstall mit Beschlag belegt hatten, wo ein provisorischer Stall für die am Wettbewerb teilnehmenden Pferde errichtet worden war.
Die tiefer gelegenen Ställe beherbergten Stuten und Jährlinge, außerdem gab es etwas abseits einen gut gesicherten Hengststall. Diese Ställe lagen unten am Hügel, wo Fair geparkt hatte. Die Reporter und Kameraleute rannten aus dem Büro und aus dem Besprechungszimmer. Die Hände in die Hüften gestemmt, drehte Joan sich zu Harry und Fair um. »Ist das zu glauben?« »Es ist ihr Lebensunterhalt«, antwortete Fair gelassen. Joan runzelte die Stirn, dann lachte sie plötzlich. »Heute ist es wohl auch meiner. Schön, dann wollen wir uns jetzt der Queen zu Hufen werfen.« 83
Als Manuel, der seit dem Verlust von Jorge sichtlich bedrückt war, das Tor öffnete, kam Cookie aus der Halle. So schnell ihre kurzen Beine sie trugen, bog sie in der Hauptgasse rechts ab und stürmte hinaus in die Sonne. Als sie die anderen Tiere sah, war sie wie der Blitz bei ihnen. »Wauwauwau.« »Cookie, wärst du nur dabei gewesen.« Tucker berichtete der Jack-RussellHündin alles. In diesem Moment schob Ward die Rampe herunter, und wer kam heraus, das Pferd an der Hand? Renata, der die Tränen über die Wangen liefen, als sie die Stute aus dem Transporter führte. »Sie hat ihren Wagen wohl bei Ward gelassen.« Harry neigte dazu, praktische Details zu erfassen und sich einzuprägen. »So macht sich der Auftritt besser«, sagte Joan aus dem Mundwinkel, und dann hatte sie eine pfiffige Eingebung und stellte sich auf der anderen Seite neben Queen Esther. Gemeinsam führten die zwei Frauen die Stute zu der eigens für sie hergerichteten Box. Reporter und Kameraleute folgten. Einige gingen rückwärts. Renata, das Gesicht tränennass, wiederholte immerzu: »Ich bin so glücklich, ich bin ja so glücklich.« »Wie wir hören, haben Sie das zwei Katzen zu verdanken«, sagte die Reporterin aus Louisville mit den rabenschwarzen Haaren in belustigtem Ton. »Mrs. Murphy und Pewter sind die wahren Helden.« Renata ließ den Führstrick los, und Manuel, der unterdessen an ihrer Seite war, führte die Stute in die Box. Wie aufs Stichwort setzten sich Mrs. Murphy, Pewter und Tucker am Eingang zum Stall in die Sonne. Cookie wollte erst hinein, doch dann leistete sie ihren Freundinnen Gesellschaft. Das ergab eine grandiose Aufnahme. So ging es eine Stunde lang, bis Renata sich entschuldigte und mit Ward, der ebenfalls mit Fragen bombardiert worden
«84 war, wieder in den Transporter - diesmal in die Fahrerkabine -stieg. Sobald sie abgefahren waren, zogen sich die Reporter zurück wie das Wasser bei Ebbe. Joan ging hinüber zur Halle. Larry stand in der Mitte und beobachtete eine Pferdebesitzerin, die ihr Sulkypferd antrieb, einen eleganten Wallach mit hoher Knieaktion. Die Räder des Trainingssulkys warfen den Lehm vom Boden der Halle auf. »Die letzten sind weg.« »Herrgott.« Larry stieß einen leisen Pfiff aus. »Heute Abend werden es noch mehr.« »Wird hoffentlich nicht so schlimm.« »Wo sind Mom und Dad?«, fragte Larry. »In Lexington. Dad hat geschäftlich zu tun. Mom macht Einkäufe. Ich hab sie angerufen, hab sie über die Neuigkeiten informiert und ihnen gesagt, sie sollen sich mit dem Nachhausekommen Zeit lassen.« Sie wechselten noch ein paar Worte, dann ging Joan wieder zu Harry und Fair. Sie berichteten ihr alles, was sie wussten. »Eine seltsame Situation.« Joan setzte sich auf die Ledercouch. »Das Pferd taucht wieder auf. Renata glaubt nicht, dass Ward die Stute gestohlen hat, und Jorge ist ermordet worden.« »Zumindest für heute wird diese Story den Mord in den Schatten stellen«, sagte Harry. Joan ließ den Kopf auf der Couch nach hinten fallen. »Und wenn genau das der springende Punkt ist?« Harry senkte die Stimme. »Gott, Joan.« »Wir waren mit dem Pferd befasst, mit Renatas Reaktion, mit Wards Unschuldsbeteuerungen.« Fair strich sich über die Wange. »Richtig. Jorge gerät in den Hintergrund, und vielleicht auch die Beweise gegen irgendjemand.« Joan setzte sich aufrecht hin. »Wenn ich nur wüsste, was hier gespielt wird.« »Wenn du das wüsstest, könntest du das nächste Opfer sein.« Mrs. Murphy strich um Joans Beine. 84
»Sag das nicht!«, jaulte Cookie. »Ist aber wahr. Cookie, wir müssen rauskriegen, was eigentlich los ist, bevor sie es rauskriegen.« Tucker deutete auf die Menschen. Cookie entblößte die langen Reißzähne. »Niemand wird Joan etwas tun. Mein Biss ist schlimmer als mein Bellen.«
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K
aum war Joan wieder in dem kleinen Büro, als das Telefon klingelte.
»Kalarama.« Kristas feminine Stimme sprach den Namen klangvoll aus. Sie lauschte, legte die Hand über die Sprechmuschel und flüsterte Joan zu: »Renata.« Harry beobachtete amüsiert, wie Joan laut seufzte und Krista dann den Hörer abnahm. Harry wusste genau, wie Joan zumute war, da das Telefon, so nützlich es sein mochte, auch teuflisch stören konnte. »Renata, Queen Esther ist wohlauf und munter.« Joan klang, als sei sie so munter wie das Pferd. Am anderen Ende der Leitung sagte Renata: »Bringen Sie sie nicht nach Shelbyville. Ich weiß, morgen Abend ist unsere Prüfung, aber ich möchte sie in Ihrer Halle reiten. Offen gesagt, ich möchte sie nicht in Shelbyville in ihrer Box haben. Ich trau der Sache nicht.« Joan meinte nach einer Pause: »Queen Esther ist sehr empfindsam, ich frage mich, ob der Transport zu einem großen Turnier unmittelbar vor ihrem Auftritt sie nicht negativ beeinflussen könnte.« »Also ich denke, sie fühlt sich - und das muss ich Ward zugute halten - in einem Anhänger oder Transporter sehr wohl. Das hat er festgestellt, als er sie nach Kalarama gefahren hat. 85
Fragen Sie mich nicht warum, aber sie ist da ganz entspannt. Können wir sie nicht im Anhänger zum Turnier bringen und dann im Anhänger lassen? Sie hat ihren Heusack, wir können ihr einen großen Eimer Wasser hinstellen, und die Leute wissen nicht, wo sie ist.« »Wir können es versuchen, aber ich lasse nicht zu, dass sie allein reist und dort allein ist. Wir werden ihr noch ein anderes Pferd in den Anhänger mitgeben, und Renata, nach allem, was passiert ist, muss auch einer von meinen Leuten mit im Anhänger bleiben. Ich gehe kein Risiko ein.« »Ich bezahle die Extratour für das Pferd und den Wächter. Ich weiß, die Rechnungen summieren sich.« »Das ist nicht nötig, Renata. Ich verlange nur, dass Sie besser reiten denn je.« Joan war von Renatas Angebot beeindruckt, da die wenigsten Pferdebesitzer derartige Extrakosten berücksichtigen. »Mach ich, obwohl ich gestehe, dass ich erwäge, Samstagabend nicht zu reiten. Queen Esther hat viel durchgemacht, und ich auch.« »Haben wir alle«, erklärte Joan. Joan achtete sehr aufs Geld. Andernfalls wäre sie im Nu aus dem Geschäft. Aber sie besaß eine gute Menschenkenntnis und wusste, wenn sie Renata nicht jeden Penny berechnete, würde dies dazu beitragen, die Beziehung zu festigen. Renata konnte und würde mit der Zeit viele Pferde kaufen. Joan hoffte inständig, dass einige davon aus der Kalaramazucht stammen würden. Renata würde vielleicht auch Joans Hilfe in Anspruch nehmen, um
passende Pferde von anderen Gestüten zu finden. Joan hatte, ebenso wie Larry, einen unglaublichen Blick für Pferde. Ihre Sorge war, dass Renata begehrlich werden könnte. Erstaunlich, wie viele Reitschülerinnen begehrlich wurden, je länger sie mit dem gut aussehenden Larry arbeiteten. Joan sah das ganz pragmatisch, aber es konnte aufreibend sein. Glücklicherweise hatte Renata in dieser Hinsicht keinen 86
schlechten Ruf, auch litt sie nicht an der Springkraut-Krankheit - sie sprang nicht von einem Stall zum anderen und von einem Trainer zum anderen. Was sich zwischen Renata und Charly abgespielt hatte, war nach einer relativ langen Beziehung geschehen. Joan reichte Krista den Hörer zurück, informierte Harry und Fair, dann fragte sie Harry: »Meinst du, Renata wird Ärger machen?« Joan unterzog ihre Eindrücke gerne einer genauen Prüfung. »Wie meinst du das, abgesehen davon, dass ihr Pferd gestohlen wurde?«, entgegnete Harry. Tucker ging hinter den Schreibtisch, um Krista zu besuchen. »Begehrlichkeit.« »Nein, das Gefühl habe ich nicht bei ihr, aber«, Harry hielt inne, »ich glaube ihr nicht, obwohl ich sie mag.« Joan und Krista sahen die schlanke Frau aus Virginia scharf an. »Ich glaube ihr nicht, was ihren Bruch mit Charly angeht, und ich habe noch stärkere Zweifel, was Ward Findley angeht. Er hätte Bescheid wissen müssen, und sie hat ihm aus der Patsche geholfen. Hat sie dich vom Transporter aus angerufen?« Joan nickte bekräftigend. »Joan, die stecken unter einer Decke.« »Ward und Renata?« Joans Miene zeigte Verwunderung. Sogar Krista platzte heraus: »Er ist so ein unbedeutendes Würstchen. Warum?« »Vielleicht weil er ein unbedeutendes Würstchen ist.« »Himmel, was kann sie dabei zu gewinnen haben? Und es ist ein verdammtes Risiko für die Stute.« Joan überlegte eine Minute. »Vielleicht auch nicht. Sie hat gesagt, Queen Esther fährt gerne im Transporter.« Krista, die Ward seit ihrer Kindheit kannte, meinte: »Er ist nicht direkt ein Lügner, und er ist nicht direkt ein Betrüger, aber wenn man zweihundert Dollar auf einen Tisch legen und weggehen würde, dann würde er das Geld wohl glatt einstecken und behaupten, der Hund hat's gefressen.« 86
»Das ist ja eine nette Einschätzung.« Joan lachte und verschränkte die Arme. »Harry, komm zur Sache.«
Sie waren gute Freundinnen, und Harry nahm Joan ihre Direktheit nicht übel. Überdies stand Joan unter einem enormen Druck. »Und wenn Renata ihr Pferd selbst gestohlen hat?« »Was!«, riefen Joan und Krista. »Wenn sie gewusst hat, dass Queen Esther in guten Händen sein würde? Ward betreibt einen ordentlichen kleinen Stall, aber er braucht Geld, er braucht großartige Pferde. Er ist jung, auf dem Weg nach oben. Sie trifft eine Abmachung mit ihm, und die Queen verschwindet. Meine Katzen und Tucker haben ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht.« »Publicity. Ihre Karriere braucht neuen Auftrieb.« Joan zählte zwei und zwei zusammen. »Vielleicht kommt ja eine lukrative Rolle dabei heraus. Irgendwer in Hollywood schickt ihrem Agenten ein besseres Drehbuch als alles, was ihr früher angeboten wurde. Oder ...?« Harry hob, Unwissenheit andeutend, die Hände, aber sie spürte, dass sie auf der richtigen Spur war. »Vielleicht sollte Ward Queen Esther finden. Dann wäre er dagestanden wie ein Held. Nun, man kann es drehen und wenden, wie man will, aber Harry, du könntest da auf was gestoßen sein. Ich möchte wissen, ob sie Ward versprochen hat, ihr Pferd am Ende bei ihm einzustellen.« »Die Zeit wird's zeigen«, meinte Krista lakonisch. »Mit Sicherheit.« Harry teilte Kristas Einschätzung. »Nur, das ist vielleicht zu auffällig. Aber vielleicht hat sie ihm reiche Klientel versprochen, Freunde aus der Branche, die ins Saddlebred-Geschäft einsteigen wollen. Wenn sie selbst zu Ward wechselt, ist das ein bisschen auffällig.« »Wie William Shatner.« Krista nannte den Star aus Raumschiff Enterprise, der auch etliche sehr lustige Werbespots gemacht hat. »Ward berühmte Pferdebesitzer wie Mr. Shatner zuschustern?« 87
»Der kann wirklich reiten.« Harry hatte ihn oft auf Turnieren gesehen, der Mann war wahrlich keine Flasche. »Ideal für Ward wäre ein Schüler, der jung und reich ist und außerdem ein Hochleistungstraining braucht.« Joans Kopf schwirrte. »Verdammt.« »Es ist bloß eine Theorie.« »Und zwar eine gute, aber«, Joan löste die verschränkten Arme und hob den rechten Zeigefinger, »Jorge.« »Sein Tod hat vielleicht nichts mit alledem zu tun.« Harry spürte, dass eine schwere Katze über ihre Turnschuhe lief -Pewter, die aus dem Besprechungszimmer gesaust kam. Harry sah hinunter und erspähte im Maul der Katze ein köstliches, dünn geschnittenes Hühnerteil. »Ah-oh.« Joan sah es auch. »Da geht jemandes Mittagessen flöten.« »Ich kann dir dabei helfen«, erbot sich Tucker. Pewter fauchte grimmig, dann verzehrte sie die Beute.
»Wenn jemand hier hereinstürmt und auf eine Katze flucht, dann wissen wir, woher es kam.« Joan kicherte. Harry kam wieder auf Jorge zu sprechen. »Aber wir wissen es nicht. Joan, hat der Sheriff was aus Jorges Wohnwagen mitgenommen?« »Nein.« »Wir sollten mal nachsehen. Er muss sowieso ausgeräumt werden.« »Ich mag gar nicht daran denken.« Joan hatte sich an den Verlust Jorges noch nicht gewöhnen können, aber was sie von tief empfundener Trauer abhielt, war das nagende Gefühl, dass sie nicht aufrichtig trauern würde, bis sie erfahren hatte, warum er ermordet wurde. Hatte er etwas Unrechtes getan? Hatte sie unabsichtlich etwas getan, das sein Ende herbeigeführt hatte? »Soll ich Trudy anrufen, ob sie Montag kommen kann?«, schlug Krista vor. Trudy betrieb eine renommierte Reinigungsfirma. »In Ordnung. Harry, gehen wir.« 88
Die zwei gingen zum Vordereingang des Hauptstalls hinaus, dann zweimal nach rechts und anschließend zwischen dem Hauptstall und der Reithalle hangabwärts. Nach wenigen Minuten kamen sie hinter einem Zaun zu einem schmucken Wohnwagen, der zwischen Nebengebäuden und weiteren Wohnwagen stand. Man konnte an dem Zaun, einer Palisade, vorbeigehen, ohne zu ahnen, dass dahinter Menschen lebten. Die meisten verheirateten Männer wohnten mit ihren Familien in Mietwohnungen, die Joan ihnen besorgte, weil sie es für unklug hielt, kleine Kinder zwischen den Pferden herumlaufen zu lassen. Familien blieben vielleicht ein paar Monate im Wohnwagen, doch schließlich fand sie eine andere Unterkunft für sie. Keine Mutter kann ihre Kinder vierundzwanzig Stunden am Tag beaufsichtigen, und eine schrille Kinderstimme konnte einen Jährling dazu bringen, dass er durchging. Im Augenblick wohnte niemand da hinten. Manuel hatte ein schmuckes Haus in Springfield gemietet. Joan öffnete die Tür, die Klimaanlage blies ihr einen Luftschwall entgegen. Mrs. Murphy, Pewter, Tucker und Cookie folgten ihr. »Ich hab nicht mal dran gedacht, die Klimaanlage abzustellen.« »Joan, irgendwie ist es noch nicht ins Bewusstsein gedrungen.« »Ich weiß. So, wo fangen wir an?« Die zwei Frauen blickten sich in der spartanischen Behausung um. Harry meinte: »Ich nehm mir den Kühlschrank vor, du machst die Schränke auf.« Das dauerte fünf Minuten. Der Kühlschrank enthielt eine halbe Packung Milch, drei Cola, ein Bier, eine Scheibe Pizza. Die Schränke spiegelten Jorges Junggesellenstand wider, gepaart mit einem rechtschaffenen Mangel an kulinarischen Vorlieben. Harry schüttete die Milch weg.
»Trudy wird in der Küche wahrhaftig nicht viel zu tun haben«, meinte Harry achselzuckend. Der Wohnraum enthielt hübsche robuste Möbel, die in 89
gutem Zustand waren, obwohl Joan sie schon Vorjahren gekauft hatte, und einen Fernsehapparat. Auf dem Couchtisch lagen keine Bücher oder Illustrierte herum. Im Schlafraum fanden sie Zeitschriften mit nackten oder spärlich bekleideten Mädchen. Der Kleiderschrank enthielt ein paar Hemden, einen guten Mantel für die Kirche und ein paar Krawatten. In einer Schublade befanden sich Socken, Boxershorts und T-Shirts, in einer anderen Jeans, und die untere Schublade enthielt lediglich zwei Pullover und ein Sweatshirt. Das Bad - erstaunlich sauber, dabei hatten die Frauen damit gerechnet, dass Dusche und Waschbecken verschmutzt sein würden - hatte auch nichts zu bieten, was zur Erklärung von Jorges Ableben hätte beitragen können. »Nichts.« Joan schlug sich auf die Hüften. »Nichts. Eine Packung Motrin.« Sie hielt inne. »Gibt es einen Reiter, der nicht Motrin oder Advil nimmt? Übrigens, er hat gut verdient. Wir zahlen besser als die meisten Gestüte.« »Er hat's nicht ausgegeben.« »Er hat's nicht für sich ausgegeben«, bemerkte Joan scharfsinnig.
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F
reitag, der 4. August, erschien Harry als der längste Freitag ihres Lebens.
Gegen halb fünf kehrte sie ins Best Western zurück und ging unter die Dusche, um wieder munter zu werden. Als sie aus der Dusche kam, reichte ihr Fair, der schon geduscht hatte, eine Tasse dampfenden Tee. Sie hatten einen Reise-Wasserkocher gekauft, weil man nicht einmal in den besten Hotels Amerikas eine Tasse richtig heißen Tee bekommen konnte. Eine noch größere Sünde war eine Kaffeemaschine im
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Zimmer, dazu Teebeutel in einer Schale. Tee aus einer Kanne trinken, in der Kaffee gekocht wurde? Grässlich. »Schatz, ich liebe dich.« Sie trank dankbar einen Schluck, während Fair ihr den Rücken abtrocknete. Harry hatte ihm auf der Fahrt von Kalarama zum Hotel von Jorges Wohnwagen erzählt. Fair war über Jorges blitzblanken Wohnwagen ebenso verwundert wie Harry und Joan; außerdem fand sich niemand, der ein abschätziges Wort über den fleißig arbeitenden Mann äußerte. Abgetrocknet, die Haare verwuschelt, lehnte sich Harry ans Kopfbrett des Bettes und streckte die Beine aus.
Fair legte sich zu ihr. Auch er hatte einen anstrengenden Tag gehabt. Nach dem Drama mit Queen Esther hatte er in einem kleinen Quarter-HorseZuchtbetrieb ein Fohlen auf die Welt geholt, eine lange, schwierige Geburt. In Panik hatten die Besitzer, die neu in Springfield waren, Larry angerufen, ohne zu wissen, dass Shelbyville-Woche war. Ihr Tierarzt war in der Stadt nicht zu erreichen, und sie dachten, dass die Leute von Kalarama ihnen einen guten Pferdearzt empfehlen konnten. Fair war hingefahren und hatte ihnen dadurch viel Zeit erspart. Wie die meisten Tierärzte und auch Humanmediziner scheute er vor keiner Krise zurück, egal, wann sie auftrat. Die Eheleute im mittleren Alter wollten ihn überreichlich bezahlen, so dankbar waren sie. Er lehnte ab, aber als er in seinen Wagen stieg, fand er dort einen Umschlag mit vierhundert Dollar in bar, was wirklich übertrieben war. Zurückgeben war zwecklos, sie würden es nicht nehmen, daher beschloss er, das Geld in den schönen Hufeisenring mit Diamanten und Rubinen zu stecken, den Harry am Schmuckstand bewundert hatte. Als Tierarzt achtete Fair ganz besonders auf Pferdehufe. Bei Pferden erforderte jede Gangart Spezial-Hufeisen. Renneisen aus Aluminium ohne Griffe und Stollen kosteten ein Vermögen und hielten ganze drei Wochen. Titaneisen jeder Art waren J90
noch teurer, aber sie konnten umgeschlagen werden, zuweilen zweimal, was die Kosten wieder wettmachte. Fair achtete sorgfältig auf Hufe, Hufeisen, die richtige Eisengröße, denn ein guter Hufschmied - und es gab gar nicht so viele - konnte dem Besitzer Tausende von Dollars an Tierarztrechnungen ersparen. Wenn ein Pferd lahmte, lag das Problem meistens an Hufen und Füßen. Bei einem guten Hufschmied traten Probleme erst gar nicht auf, denn er beschlug das Pferd richtig, indem er die Balance, den Winkel und die Hufgröße beachtete. Das Hufeisen, das man auf Broschen, Bildern und Glücksbringern sah, war meistens ein gewöhnliches Hufeisen, so gewöhnlich wie Turnschuhe für Menschen. Der Ring, den Harry immer wieder bewunderte, war ein gewöhnliches Hufeisen in Miniaturformat. »Noch Tee?« »Nein, ich komme langsam wieder zu mir.« Sie hatte Fair auf der Fahrt zum Hotel wegen der schwierigen Geburt bedauert. »Fragst du dich nicht, warum manche Fohlen oder Babys nicht mit dem Kopf voran herauswollen? Man dreht sie herum, und sie drehen sich wieder zurück.« Er lächelte. »Ich habe den kleinen Kerl dreimal gedreht. Beim letzten Mal bin ich drangeblieben und habe ihn rausgezogen. Es hätte die Stute zerreißen können, wenn er mit den Füßen voran gekommen wäre. Er war
stur. Und bunt.« Damit meinte Fair, das Fohlen war mehrfarbig. »Die Leute bezahlen für die Farbgebung.« »Fand ich immer schon blöd.« »Ich auch. Ein richtiges Pferd hat auch die richtige Farbe, aber ich habe eine Schwäche für Ochsenblutrot.« »Zeig's mir, wenn du eins siehst.« Harry wusste, dass diese spektakuläre Farbgebung, auch Mahagoni genannt, selten vorkam. Mähne, Schweif und oft auch der untere Teil der Beine waren dagegen schwarz. »Ich mag die Flammendroten.« Sie sah zu ihren drei Tieren, die am Fußende des Bettes auf der Seite lagen und fest schlie 91
fen. »Sie sind völlig erschöpft von den Femsehinterviews. Deine Schultern müssen ganz schön wehtun.« »Meine Hände auch.« »Komm, ich massiere dir die Schultern.« »Ah«, war alles, was Fair sagen konnte, während Harrys kräftige Finger seine verspannten Muskeln kneteten. »Ich habe über Drogen nachgedacht - ob Jorge vielleicht mit Drogen gehandelt hat. Schließlich haben die meisten nichtorganisierten Verbrechen in Amerika irgendwie mit Drogen zu tun. Aber er hat so was nicht gemacht. Und auch sein kleines Heim war blitzeblank.« »Hätte er was mit Drogen zu tun gehabt, dann hätten Larry und Joan es gemerkt. Ich glaube, wer Drogen nimmt, wird oft zum Dealer.« »Ja.« Sie fügte rasch hinzu: »Aber nicht, wenn er klug ist.« »Man sollte meinen, er hätte ein bisschen mit dem Geld angegeben, falls er etwas Gesetzwidriges getan hätte, um Geld zu verdienen.« »Ja.« Harry drückte die Daumen in seine Rhomboidmuskeln und fuhr dann seine Wirbelsäule hinunter bis zur Taille. »Ich komme immer wieder aufs Dealen zurück, obwohl ich weiß, darum geht es nicht, weil es kein Mord aus Leidenschaft war. Es war ein schneller und brutaler Mord, gekonnt, aber nicht aus Leidenschaft. Es ging nicht um eine Frau. Und er würde sich kein Doppelkreuz in die Hand geritzt haben, nicht wahr?« »Wohl eher nicht.« Fair stöhnte, als sie den dicken Knoten unter seinem rechten Schulterblatt massierte. »'tschuldige.« »Nein, mach nur, der Knoten wird sich lockern, wenn du dranbleibst.« »Wie viel hat das Fohlen gewogen?« »Quarter Horses sind ja sonst eher klein«, erwiderte Fair aufgekratzt, »aber dieser Bursche nicht, der war bestimmt drei Zentner schwer. Ich übertreibe, aber er war kräftig gebaut. Wenn ich Lassowerfer wäre, würde ich ihn glatt einfangen. Du 91
solltest die Mama sehen. Gebaut wie ein Güterzug. Sie müsste sich nur auf ihr Hinterteil setzen und losrutschen.« »Und du meinst, du bist derjenige, der das Kalb auf die Seite wirft und festhält, während ihm das Brandzeichen aufgedrückt wird?« Sie lächelte, weil Fair sich als Westernreiter sah, eine merkwürdige Vorstellung für einen Jagdreiter, der dank des kleinen, leichten Sattels engen Kontakt mit dem Pferd gewohnt ist. Der massive Westernsattel nahm einem Reiter das Gefühl, und die längeren Steigbügel ließen denken, man stünde fast auf dem Pferd. Andersherum war es genauso: Ein Westernreiter, der zu einem englischen Sattel wechselte, würde denken, er könnte genauso gut ohne Sattel reiten. Fair schloss die Augen, weil der verflixte Knoten schmerzte. »Im Hinblick darauf, dass Jorge Mexikaner war, was hätte er tun oder woran hätte er beteiligt sein können, das ihm einen Vorteil brachte?« »Silber.« »Was?« »Silberschmuck. Die Mexikaner machen tolle Sachen, und ich glaube, viel billiger als wir oder sonst wer.« »Das wusste ich gar nicht.« »Schatz, du bist ein Mann. Ihr Männer macht euch nichts aus Schmuck.« Er lächelte in sich hinein, weil er sich immerhin etwas aus dem Schmuck seiner Frau machte. »Wir machen uns was aus Uhren. Und jeder Mann braucht einen Ring außer seinem Trauring.« »Manschettenknöpfe.« »Nee. Zu viel Aufwand. Doch ja, man braucht sie für die Abende im Affenanzug.« »Du bist schrecklich.« »Ich mag mich nicht aufdonnern.« »Du siehst im Smoking besser aus als alle anderen, und im Frack oder Cutaway, mein Herz, könntest du jede Frau auf der Welt erobern.« 92
»Ich will nur dich.« Er atmete tief, weil sie den Knoten endlich gelockert hatte. »Du bist sehr, sehr heb zu mir. Was steckt dahinter?« »Nichts.« »Schatz.« »Ehrlich.« Sie war eine miserable Lügnerin; ihre Stimme oder ihre Augen verrieten sie immer. Fair konnte ihre Augen nicht sehen, aber hören konnte er sehr gut. Da er ein hochintelligenter Mensch war, ließ er es auf sich beruhen. Früher oder später würde sie mit ihrem Wunsch herausrücken. Als kluger Mann wusste er auch, dass es einer Virginierin keinen Spaß machte, ihren Mann direkt um etwas zu bitten. Nein, es musste als Sport betrieben werden, wie Angeln. Die Frau wählte ihren Standort, setzte sich unter einen Baum, vielleicht auch in ein hübsches kleines Boot. Sie versah den Haken mit einem Köder, je nach Größe und Art der Fische, vielleicht mit einem kleinen Crank Bait,
dann warf sie die Angel mit langsamem Schwung aus und ließ den Köder treiben. Für Virginier und Südstaatler im Allgemeinen war das Ergebnis sicher wichtig, doch die Mittel, um es zu erreichen, sollten des Resultats würdig sein. Das Tänzeln auf dem Fluss machte ebenso viel Spaß wie der Fang. Für Virginier war das Drumherum alles, auch wenn man nur zwei Minuten mit ihnen zusammen war. Nun, Fair steckte sein Leben lang drin. »Du hast es geschafft.« Er rollte die Schultern. »Gut. Ich massiere weiter, weil ich nicht mit einer Seite aufhören will. Ich muss die Muskeln ausbalancieren.« »An dir ist eine Masseuse verloren gegangen.« »Ich hätte es scheußlich gefunden. Ich berühre Menschen nicht gerne, aber dich fass ich gerne an.« »Puh!« Er atmete aus. »Hast du mir jetzt aber einen Schrecken eingejagt.« Das Telefon klingelte. Fair langte hinüber, weil er längere Arme hatte als Harry. »Hallo.« 93
»Fair, wie geht's? Ich bin's, Paula Cline.« »Paula, schön, deine Stimme zu hören. Kommst du heute Abend zum Turnier?« »Überlastet«, sagte sie anstelle einer Erklärung. »Du möchtest sicher meine Frau sprechen.« »Ja.« »Schatz.« Fair drehte sich um, reichte Harry den Hörer und seufzte wohlig, weil seine obere Rückenpartie dabei nicht schmerzte. »Paula, ich hoffe, du warst nicht zu enthaltsam.« »Ach Harry, wenn's nur so wäre. Ich arbeite so hart, dass ich gar keine Zeit habe, mir Arger einzuhandeln. Es ist deprimierend.« »Das tut mir leid.« »Danke. Das ist freilich nichts, verglichen mit dem, was Joan und Larry passiert ist. Und Jorge. Und dann habe ich die Mittagsnachrichten erwischt, und da wart ihr mit den Katzen und dem Hund. Ihr seid Stars, weil ihr Queen Esther gefunden habt.« Harry lachte. »Es ist Pewter zu Kopf gestiegen. Sie verlangt nach einem Agenten.« »Hey, Lassie hatte auch einen.« Paula lachte ebenfalls. »Renata sah göttlich aus; vielleicht braucht sie einen neuen Agenten. Den könnte sie sich mit Pewter teilen.« »Von Filmstars wird erwartet, dass sie göttlich aussehen. Wie alt ist sie, einunddreißig?« »Sie ist einen Wimpernschlag von vierzig entfernt. Das Mädchen ist achtunddreißig. Eine Freundin von mir war mit ihr auf der Highschool.« »Dann sieht sie wirklich göttlich aus.« Harry war beeindruckt. »Stars müssen so aussehen. Es ist ihr Job. Wenn du die Gesichtsbehandlungen, die Maniküre und den Dreihundert-Dollar-Haarschnitt
hättest, ganz zu schweigen vom Färben, den Massagen, dem Personal, dem Trainer und den eigens für dich 94
entworfenen Kleidern, Himmel, dann sähst du besser aus als Renata.« Hieraufbrach Harry in aufrichtiges Gelächter aus. »Lügnerin.« »Nein, ehrlich. Hey, warum ich anrufe, abgesehen davon, dir zu Mrs. Murphys und Pewters Tatendrang zu gratulieren, ich glaube, ich habe das richtige Pferd für Alicia gefunden.« »Wirklich?« Harry war gespannt. »Es ist ein grandioser Wallach von Sir Cherokee, und er ist wegen einer Sehnenentzündung im Röhrbein bei uns. Er ist seit sechs Monaten hier und ausgeheilt, aber das kann Fair besser beurteilen. Wenn man ihnen Zeit zum Heilen lässt, macht eine Sehnenentzündung in Zukunft keine Probleme. Aber du weißt, wie manche Leute sind, sie wollen kein gezeichnetes Pferd reiten.« Paula benutzte den Ausdruck für ein Pferd, das Narben an den Beinen, Lymphschwellungen am Fesselgelenk oder Sehnenentzündungen im Röhrbein oder am Vorderbein hatte oder andere Schönheitsfehler, die beim Reiten oder durch Tollen auf der Koppel entstanden waren. »Gutmütig?« »Großartig. Der Bursche hat die beste Veranlagung, und er ist klug. Richtig klug. Sechzehnkommaein Stockmaß. Herrlicher Kopf. Das typische Vollblüter-Braun mit Farbe an den Beinen«, damit meinte sie einen oder mehrere weiße »Strümpfe«, also im unteren Bereich weiße Beine, »und einer Blesse.« Stockmaß war das Standardmaß für die Größe eines Pferdes; sechzehnkommaein Stockmaß waren 165,10 Meter. »Wie viel verlangen die Besitzer?« »Das ist es ja eben. Wirtschaftlich rentiert es sich nicht mehr, und du weißt ja, was mit Rennpferden geschieht, die nicht siegen oder nicht mehr antreten. Die Leute wollen die Unterhaltskosten nicht mehr tragen.« Harry verzog das Gesicht. »Gott allein weiß, wie viele beim Schlächter landen wie Ferdinand.« Sie sprach von einem Ken 94
tucky-Derby-Sieger, der nach Japan verfrachtet worden war; da er sich als Zuchthengst nicht bewährt hatte, war er von den Besitzern als Schlachtfleisch verkauft worden. Weil Ferdinand Sieger beim Kentucky Derby gewesen war, hatte seine Tötung alle Welt schockiert; dabei wurden Tag für Tag viele brave, nützliche Pferde getötet. »Er ist ein braves Pferd. Machst du morgen mal einen Abstecher hierher? Ich bin den ganzen Tag auf dem Gestüt.« »Wir kommen vorbei, ja, Fair?«
Obwohl er Paulas Teil des Gesprächs nicht gehört hatte, an-wortete er mit »Ja«. »Ich habe eine Bitte. Die Besitzer geben es zwar umsonst her, aber ich arbeite mit der Stiftung für Vollblutpensionäre zusammen und hätte gern eine Spende von zweitausend Dollar. Als Jährling ist er auf einer Auktion für dreihundertsiebenundfünfzigtausend Dollar verkauft worden.« »Wird gemacht, wenn wir ihn nehmen.« »Und wenn Alicia ihn nicht mag?« »Dann kümmere ich mich drum.« Harry meinte es ernst; denn sie kam gewöhnlich mit jedem Pferd zurecht, solange es nicht bösartig war. Nachdem sie sich verabschiedet hatten, teilte sie Fair Paulas Teil des Gesprächs mit. »Angucken schadet nicht.« »Ich dachte mir, die erste Prüfung beginnt heute Abend um sieben. Wenn wir uns anziehen, uns im Gehen ein Sandwich schnappen, könnten wir einen Abstecher zu Charly Trackwells Stall machen; er wird beim Turnier sein. Er weiß etwas. Ich spür's einfach.« »Nein.« »Warum nicht?« Sie hatte nicht mit einem so kategorischen Nein gerechnet. »Zunächst einmal, weil dort Wächter sein werden, mein Schatz. Was würden wir dort wollen, während Charly in Shelbyville ist? Rumschnüffeln.« Sie wollte widersprechen. Er hob 95
die Hand. »Lass uns morgen hingehen, nachdem wir bei Paula waren. Sie ist in Lexington, er ist hier, wir könnten also, sagen wir, gegen zwölf bei ihm sein. Wir sollten ihn fragen, ob wir vorbeikommen können.« »Aber Fair, dann hat er Zeit genug zu verstecken, was immer er zu verstecken hat.« »Glaub ich nicht. Er weiß, wir sind eng mit Joan und Larry befreundet. Sein erster Gedanke könnte sein, dass wir kommen, um Friedrich den Großen zu sehen und was über das Pferd rauszukriegen. Ist er in gutem Zustand? Lahmt er? Sind Beruhigungsmittel in seiner Box? Was ich bezweifle. Charly ist zu klug, um Banamin oder sonst was herumliegen zu lassen. Aber ich muss ehrlich sagen, ich würde mir seinen Betrieb gerne ansehen, und wenn es auf dem Gelände einen Tierarzt oder eine Tierärztin gibt, würde ich ihn oder sie gerne sprechen.« »Er wird trotzdem davon ausgehen, dass wir uns umsehen werden.« »Schon, aber das ist nicht so hinterlistig, als wenn wir kämen, während er Pferde vorführt. Überleg doch mal, würdest du nicht wütend, wenn jemand durch deinen Stall stromert, während du auf der Jagd oder bei einem Turnier bist?« »Und ob.«
»Und außerdem, meine Schöne, wenn wir jetzt hingehen, machen wir uns jemanden zum Feind. Wenn wir offen und ehrlich sind, gewinnen wir vermutlich keinen Freund, aber wir brechen auch keine Brücken hinter uns ab. Und man weiß nie, wann man mal Beistand von jemand braucht.« »Daran habe ich nicht gedacht.« Sie seufzte. »Du und Miranda, ihr belehrt mich immer eines Besseren.« »Deswegen brauchen wir andere Menschen. Wir alle zusammen sind klüger als einer allein.« Er schmiegte sich an sie, und sie umarmte ihn. »Komm, wir ziehen uns an und essen auf der Tribüne.« Sie war einverstanden. »Das Essen dort ist ausgezeichnet.« 96
»Allerdings. Wenn wir zeitig hinkommen, finden wir einen schönen Platz, können das Essen genießen und anschließend zu den Ställen oder in die Kabine gehen. Aber erst mal brauche ich ein bisschen Ruhe und Entspannung.« »Ich auch. Wir müssen die Mädels in den Erfrischungsraum bringen, weil sie nicht auf die Tribüne dürfen.« Als Mrs. Murphy, Pewter und Tucker in den Erfrischungsraum kamen, erleichterte ihnen Cookies Anblick das Ärgernis, nicht auf die Tribüne zu dürfen. Pewter fand natürlich, sie müsse die Speisen kosten und den Menschen ihre Expertenmeinung unterbreiten. Als absolute Fleischfresserin wusste sie, dass sie Fleisch und Fisch intensiver schmecken konnte als irgendein Mensch. »Ich könnte sie vor einer Quecksilbervergiftung bewahren«, erklärte Pewter, als sie in dem in Burgunder, Weiß und Schwarz gehaltenen Raum abgesetzt wurde. Harry spürte einen Stich, weil sie das schlechte Gewissen plagte, aber das legte sich rasch. Harry und Fair genossen ein leckeres Mahl, während sie sich die ersten drei Schauklassen ansahen: Hackney-Pony-Pleasure-Fahrprüfung, fünfgängige Ponys und Dreigängerprüfung für Junioren. Als sie fertig waren, begleitete Fair Harry in die Kabine. Paul und Frances saßen vorn an der Bande. Sie kamen sofort ins Gespräch. »Joan wird gleich hier sein. Sie ist unten in der Trainingshalle. Sie versucht, Looky Lous aus Stall Fünf zu kriegen«, teilte Paul ihnen mit. »Leute, ich bin gleich wieder da.« Fair lächelte. »Passen Sie derweil auf mein Mädel auf.« Er nickte Paul zu. »Mit Vergnügen.« Manche Frauen mochten dies als kränkend empfunden haben. Immerhin hatten Frauen über Tausende von Jahren auf sich und andere aufgepasst, ohne dass es ihnen hoch angerech J96
net wurde - politisch zumindest. Doch bei diesen Menschen hier hielten sich Förmlichkeit und Zuneigung die Waage. Nur ein gleichgültiger Ehemann unterließ es, auf irgendeine Art darauf aufmerksam zu machen, wie sehr er seine Frau liebte. Fair lief flugs um die Westtribüne herum, die sich unter freiem Himmel befand und jetzt von den zarten Rosa- und Blautönen des Zwielichts überflutet war. Er wartete geduldig in der Schlange der Kunden an dem Schmuckstand gegenüber der Rückseite der Tribüne. Schließlich lächelte er die Dame hinter der Theke an und zeigte auf den gewünschten Ring. »Größe sieben.« »Sie wissen ja genau, was Sie wollen.« Sie schloss die Glasvitrine auf, ihre grauen Haare schimmerten bläulich im Licht. »Soll ich ihn als Geschenk verpacken?« »Gerne.« »Benötigen Sie eine Karte?« »Ja bitte.« Dieser Kauf erleichterte seine Brieftasche um dreitausend Dollar, aber er wollte es so. Die Trennung vom Geld war schmerzlos, weil er wusste, wie glücklich es Harry machen würde. Er wollte ihr den Ring am 7. August schenken, dem Montag, wenn sie wieder zu Hause in Crozet sein würden. Harry, die sehr sparsam war, gab selbst für notwendige Dinge nur zögernd Geld aus. Sie würde sich nie Schmuck kaufen. Sie kaufte Fair wohl etwas Besonderes zu Weihnachten, zum Geburtstag oder zum Hochzeitstag, aber sie war keine Konsumentin im typisch amerikanischen Sinn. Fair, wiewohl kein Verschwender, verwöhnte sich und Harry gern. Seine Philosophie lautete: »Man kann es nicht mit ins Grab nehmen.« Er schob die dunkelgrüne Schachtel mit der schmalen weißen Schleife in die Innentasche seines blauweißen Seersucker-Jacketts. Just als er wieder zu seiner Frau kam, trat Joan in die Kabine. Sie war ausgelaugt und erschöpft, nachdem sie sich mit noch 97
mehr Reportern herumgeschlagen hatte und zudem mit Charly, der auf dem Kriegspfad war und sie beschuldigte, das Pferd gestohlen zu haben, um Kalarama zu Publicity zu verhelfen. Das war eine unvorhergesehene Wendung. Sie setzte sich hin, lächelte matt und beugte sich vor, um ihren Vater und dann ihre Mutter auf die Wange zu küssen. Frances strahlte. Sie liebte Zuwendung von jedermann, besonders aber von ihren Kindern. Sie sah ins Programm. »Amateur Traber-Schauklasse, deine Lieblingskategorie.« Sie drehte sich um. »Wo ist Mutters Brosche? Du trägst sie doch immer bei dieser Prüfung.« Joan, der schrecklich miserabel zumute war, beichtete: »Mutter, sie wurde am ersten Turnierabend gestohlen.«
Frances brach in Tränen aus, erhob sich und verließ die Kabine. Paul stand auf und legte seiner Tochter die Hand auf die Schulter. Er sagte nichts, sondern eilte seiner Frau nach. Tränen stiegen in Joans Augen auf. »Und was jetzt?«
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ie Antwort auf Joans gequälte Frage ließ nicht lange auf sich warten,
doch zuvor sah sie sich die Traber-Prüfung an, gefolgt von einer JuniorSchauklasse. Danach standen Joan und alle anderen in Shelbyville gespannt an der Bande, da sich ihnen ein grandioses Schauspiel bot, das SchauKutschfahren der Dreijährigen. Alle guten Ausbilder fuhren die leichten vierrädrigen Buggys. Die verchromten Speichenräder blitzten, als die verdecklosen Gefährte vorbeifuhren. Die zurückhaltend schicke Kleidung der Herren lenkte den Blick nicht von den eleganten, edlen Pferden ab. Sogar beim mittelscharfen Trab flogen die Mähnen und Schweife. Die Fahrerinnen trugen Kleidung, die auf die Farben der Pferde abgestimmt war. Der optische Eindruck dieser Schauklasse war überwältigend. Die fünfzehn Teilnehmer - viel für diese Klasse - füllten das weitläufige Oval. Der Himmel dunkelte, das Flutlicht tanzte auf den Speichenrädern. Die Hitze ließ endlich nach, die Temperatur sank. Die Herren schlüpften in ihre Sakkos, die Damen warfen sich Jacken oder Pullover über die Schultern. Die Fahrer schwitzten in ihrer schicken Aufmachung. Schweißbäche liefen Charly unter seinem Dreihundertdollar-Borsalino hervor übers Gesicht. Booty bevorzugte einen zweifarbigen flachen Strohhut. Ward hatte sich einen teuren taubengrauen Filzhut keck über das linke Auge gezogen. Nach einem langen Blick auf die Teilnehmer nahmen die Richter drei Gespanne in die engere Auswahl, Charly, Ward und Larry. Charly schnitt Larry, der zu klug war, um seine Wut rauszulassen. Larry wich ihm einfach aus, ohne aus dem Takt zu kommen, und begab sich dann an die Bande, wo der Umriss des Pferdes sich gut abzeichnete. Charly schnitt sich mit seinem Manöver praktisch ins eigene Fleisch, weil Panchetta, die Stute, die er lenkte, aus dem Takt kam, was die Richter bemerkten. Ward sah es auch, und er zog glatt an den Richtern vorbei; er lenkte eine gedrungene, aber sehr hübsche sealbraune Stute. Ihre Knieaktion war nicht sonderlich hoch, noch griff sie besonders weit aus, aber ihre Bewegungen waren fließend, und sie zeigte die Ausstrahlung, die die Richter sehen wollten. Zweifelsohne rangierte Ward nach Einschätzung der Richter und des kenntnisreichen Publikums vor Charly. Die lautstark jubelnde Menge feuerte Wards Stute
Om Setty an. Booty fuhr klug, aber seine Stute war heute Abend einfach nicht in Form. Die Richter sprachen mit dem Ansager, der die Wettbewerbsteilnehmer bat, sich hintereinander aufzureihen. Sie fuhren im Uhrzeigersinn. Als die Richter vorbeigingen und die Kalarama-Stute einge 99
hend betrachteten, hob Golden Parachute den Kopf, spitzte die Ohren und warf sich in Positur. Die Menge jubelte. Die Richter gingen die Reihe entlang. Jedes Pferd hatte seinen Pfleger als Begleiter, der zwei Schritte von seinem Kopf entfernt stand, weil der Fahrer im Buggy blieb. Ward hatte sich wohlweislich ans Ende der Reihe gestellt, mit Abstand von den größeren Pferden. Die Amerikaner glaubten dummerweise, größer sei besser. Om Setty, die nur 156,21 Zentimeter maß, strahlte. Sie glaubte, alle seien nur hier, um sie zu sehen. Ihr Exterieur war einzigartig. Ihr tiefer Rumpf ließ dem Herzen viel Platz. Ihre Nüstern hatten die zierliche Form, die bei Saddlebred-Züchtern so begehrt war, waren aber nicht so klein, dass sie die Aufnahme von Sauerstoff behinderten, den alle Sportler, ob Mensch oder Tier, reichlich benötigten, um zur Höchstform aufzulaufen. Der lange Hals lenkte den Blick zu dem vollendeten Kopf, einem so klassischen Saddlebred-Kopf, wie man ihn sich nur wünschen konnte. Der einzige minimale Makel war, dass sie hinten ein winziges bisschen breiter war als bei den meisten Menschen erwünscht, aber sie war nicht kuhhessig oder Obeinig oder dergleichen. Die Richter verließen jetzt die Reihe, um ohne großes Zeremoniell ihre Punkte zu vergeben. Die gespannte Menge bemerkte den erbsengrün umlackierten Schulbus nicht, der, gefolgt von zwei schwarzen Autos, auf den Parkplatz der Trainingshalle rumpelte. Der Polizist, der an dieser Einfahrt den Verkehr regelte, sprang geschwind zur Seite. Frances Hamilton hätte es beobachten können, doch sie weinte immer noch, nachdem sie sich auf ihren Platz in der zweiten Etage der Haupttribüne begeben hatte. Paul hatte ihr einen leichten Drink gebracht, den sie aber nicht anrührte, weshalb Paul nun bei ihr saß, den Arm um sie gelegt, und sie weinen ließ. Nach den vielen Ehejahren hatte er begriffen, dass es Dinge gab, die ein Ehemann nicht ausbügeln konnte, und dass es das Beste war, seine Frau sich ausweinen zu lassen. 99
Aus dieser Höhe und diesem Blickwinkel konnte man ein Stück des Parkplatzes einsehen. Paul bemerkte den kleinen Konvoi, erkannte aber nicht, dass etwas im Gang war, etwas Unerhörtes, das außerhalb der Zuständigkeit des diensttuenden Polizisten lag.
Der Ansager rief die Platzierten von hinten auf, von acht an. Charly wurde Fünfter, was ihn fuchste, doch er ließ es sich nicht anmerken. Booty war Vierter. Ein Neuling wurde Dritter, was gut für den Sport war, weshalb die Menge ihm zujubelte. Dann musste die Entscheidung zwischen Om Setty und Kalaramas Golden Parachute fallen, und alles hielt den Atem an. Als Golden Parachute der zweite Platz zugesprochen wurde, explodierte die Menge, denn so hervorragend die große hellbraune Stute war, dies war Om Settys Abend. Die kleine Stute strahlte Aktion, Energie und jene schwer bestimmbare Qualität aus, die einen Star ausmachte. Als Ward mit noch schweißtriefender Stirn die dreifarbige Schleife an Om Settys Stirnband befestigt hatte, flatterte sie ein bisschen, und die Menge jubelte entzückt. Benny spurtete herbei, um die schöne, kostbare Silberschale in Empfang zu nehmen. Traditionsgemäß hätte Om Setty jetzt eine Ehrenrunde drehen müssen, doch ein Tumult im Stall machte dem ein abruptes Ende. Ein junger mexikanischer Pferdepfleger stürmte mitten über die Turnierbahn, setzte über den Westzaun und verschwand in der Nacht. Om Setty scheute nicht, aber Ward hielt es für klug, die Bahn zu verlassen. Benny lief nebenher, und Ward verlangsamte Om zum Schritt. Weder Pferde noch Menschen konnten das Chaos fassen. Pfleger liefen in alle Richtungen. Männer und Frauen in dunklen Anzügen oder Kostümen sowie bewaffnete Männer durchsuchten die Ställe. Als Joan den Tumult hörte, verließ sie ihren Platz und eilte zu den Ställen. Fair lief seiner Frau und Joan voraus, falls Larry jemanden benötigte, der seine Fäuste so gut gebrauchen konnte 100
wie seinen Verstand. Er sah Larry vor dem Eingang zu Stall Fünf aus dem Buggy klettern. Kaum hatte Larry einen Fuß auf den Boden gesetzt, als ein Mann im dunklen Anzug auf ihn zutrat. Der INS, die Einwanderungsbehörde, wünschte Papiere zu sehen, die belegten, dass diese nicht als Amerikaner geborenen Männer legal beschäftigt waren. Alle eingewanderten Arbeiter ohne Papiere wurden ausgewiesen. Im Laufe der Jahre hatten die INS-Leute Turniere für diverse Pferdetypen überfallen - Tennessee Walkers, Reitjagdspringer, Rennpferde und so weiter. Offensichtlich verschaffte es ihnen große Befriedigung, mitten in ein Turnier hereinzuplatzen und es zu unterbrechen. Der Tag war lang, der Wettkampf hart gewesen, und Charly Trackwells Aufschneiderei hatte Larrys Geduld auf die Probe gestellt. Sich in Geduld üben war alles, was er tun konnte, um nicht aus der Haut zu fahren. Er übergab Golden Parachute an Manuel. »Hat er seine Green Card?«
»Ja.« Larry sagte ruhig zu dem Mann: »Aber lassen Sie uns eine Minute Zeit, wir müssen das Pferd ausschirren und abreiben. Es war lange auf der Bahn.« »Woher soll ich wissen, dass Ihre Arbeiter nicht türmen?« So aggressiv diese Reaktion war, Larry hatte den Trupp Männer gesehen, als er zum Stall Fünf zurückfuhr. Es war eine berechtigte Frage. Glücklicherweise sah er auch Fair. »Fair, kannst du mir mal helfen?« »Natürlich.« »Kannst du Golden Parachute abreiben?« Dann wandte Larry sich an Manuel: »Bring die Jungs ins Verpflegungszelt.« »In Ordnung.« Fair trat an die rechte Seite von Golden Parachute. »Wer ist das?« Der INS-Mann fühlte sich offensichtlich berechtigt, alle und jeden zu verhören und zu verdächtigen. »Mein Tierarzt.« Larry ging in das Verpflegungszelt und zog den Vorhang zur 101
Garderobe auf. Im Hintergrund stand ein langer Kleiderständer, es gab mehrere Satteltruhen und einen hohen Spiegel, daneben waren Stiefel ordentlich aufgereiht. Ein Zaumzeugkasten an der Wand diente provisorisch zur Aufbewahrung für Papiere wie Anmeldeformulare, Informationen über Coggins-Tests und so weiter. Larry schloss ihn gerade auf, als Joan und Harry hereinkamen. Er war versucht, dem humorlosen Beamten sämtliche Coggins-Papiere auszuhändigen, die bestätigten, dass das Ergebnis der Blutuntersuchungen auf diese Pferdekrankheit negativ ausgefallen war. Aus ihrer Unterkunft freigelassen, liefen Mrs. Murphy, Pewter und Tucker durch das Verpflegungszelt. Pewter blieb abrupt stehen und bemerkte: »Da drüben gibt's wieder Schinken.« »Dickerchen«, bellte Tucker, die gerade im Gang angekommen war. »Komm weiter, Pewts, den holen wir uns später.« Neugierig wie immer, wollte Mrs. Murphy sehen, was los war. Als die drei Tiere hinaustraten, gesellte Cookie sich zu ihnen. »Die rennen wie die Mäuse in alle Richtungen«, sagte Pewter. »Die Kerle, die ihnen nachlaufen, sind dafür nicht richtig angezogen.« Cookie kicherte. »Undguckt euch bloß die Frau da an: In dem Rock kann sie unmöglich rennen.« Sechs Arbeiter hatten sich in ein Auto gequetscht, aber kaum waren sie beim Ausgang angekommen, zwang eine Polizeibarrikade sie zur Umkehr. Geschnappt. Die sich zu Fuß vom Veranstaltungsgelände auf den Weg machten, würden es schaffen, wenn sie geduldig waren und sich die ganze Nacht still verhielten. Dichtes Gebüsch und Laubwerk am westlichen Rand des Geländes boten ihnen genug Deckung, um hinauszuschlüpfen und hinter
Wohnhäusern vorbeizuschleichen, wenn sie nach Norden wollten, oder hinter - jetzt geschlossenen - Geschäften, wenn sie nach Westen wollten. 102
Larry zeigte dem Beamten Kopien der Originalpapiere, die sich in einem Aktenschrank auf der Farm befanden. Harry sagte zu Joan: »Ich gehe zu Fair und helfe ihm bei der Arbeit, dann kann Manuel alle Leute sich für den INS-Mann aufstellen lassen.« »Danke.« Joans Verärgerung überdeckte ihre Erschöpfung. Mist, dass die diese Nummer ausgerechnet bei einem der KronjuwelenTurniere abziehen mussten. Und Mist, dass sie vor der DreigängerPonyklasse aufkreuzten und den reitenden Kindern den Spaß verdarben. Manuel brachte drei Männer in das Verpflegungszelt, der Beamte sah sich ihre Green Cards ganz genau an. Da alles in Ordnung war, verließ er den Raum mit leicht enttäuschter Miene, schritt durch die Stallgasse und sah Fair über die Boxentür hinweg an. »Kann ich Ihren Ausweis sehen?« Man hatte ihm bereits gesagt, dass Fair Tierarzt war, und er tat dies nur aus Schikane -schließlich waren illegale Arbeiter selten Tierärzte. Fair zog seine Brieftasche heraus, klappte sie auf und zeigte sein Foto. »Schatz, hast du deinen?«, fragte er Harry, die jetzt in der Box war und half, Golden Parachute abzureiben. »In meiner Tasche im Auto.« Der Beamte gab Fair seine Brieftasche zurück, dann sagte er zu Harry: »Nicht nötig.« Er wandte sich zum Gehen, dann sah er noch einmal in seiner Liste nach und ging wieder zu Larry. Larry hatte seine Jacke aufgehängt und sich an der Bar ein Tonicwasser geholt, als der Mann zu ihm trat. »Möchten Sie was trinken?« »Nein danke. Ich habe einen Jorge Gravina auf meiner Liste. Zweiunddreißig.« Larry zog ein Notizbuch aus seiner Gesäßtasche, beugte sich über den Tisch und schrieb den Namen des Bestattungsunternehmers in Springfield auf. »Er ist gestern plötzlich verstorben. Sie können den Leichnam besichtigen, wenn Sie wollen. Ich habe eine Kopie seiner Green Card.« 102
»Oh, äh, das tut mir leid. Schicken Sie mir eine Kopie seiner Sterbeurkunde?« Der Beamte gab Larry seine Karte. Offenbar hatte er keine Zeitung gelesen und war ein engstirniger Mensch. Er war hier, um illegale Arbeiter zu schnappen. War einer tot, kratzte ihn das nicht. Es machte ihm tatsächlich Spaß, die Reiterturniere zu stürmen, und Menschen, die er für reich hielt, in Aufregung zu versetzen. Der kleine Mann machte das meiste aus seiner minimalen Macht.
»In Ordnung.« Larry presste die Lippen zusammen, damit ihm nicht die falschen Worte entschlüpften. Der Mann verließ Stall Fünf, um einem anderen INS-Menschen zur Hand zu gehen. Mrs. Murphy, Pewter, Tucker und Cookie sprangen zwischen Menschenbeinen hindurch zu Charlys Stall, weil der meiste Lärm von dort kam. Vier unglückliche junge Männer, mit Jeans und gebügelten Hemden ordentlich angezogen, hatten sich mit dem Rücken zu den Boxen nebeneinander aufgestellt. Die Tiere gingen leise hinein. Mrs. Murphy kletterte auf einen Boxenbalken. Pewter folgte schwerfällig, als Spike gleich einem WolkenkratzerStahlarbeiter aus der anderen Richtung zu ihnen geschlendert kam. »So ein Theater«, begrüßte Mrs. Murphy den robusten Stallkater. »Ihr habt ein Mordsspektakel verpasst.« Spike grinste, seine verbliebenen drei Reißzähne waren etwas gelblich. Die zwei Besuchskatzen sahen hinunter und bemerkten einen pummeligen INS-Beamten mit Sägemehl am Rücken und am Gesäß. »Hat Charly das getan?« Pewter genoss das Schauspiel, das sich ihnen bot. »Nein, der Kerl ist direkt in eine Box marschiert und hat einen von den Jungs nach seiner Green Card gefragt. Der Mexikaner hat dem Dicken eine vor den Latz geknallt, der Dicke ist platt hinten 103
rüber geplumpst, und der Mexikaner ist gerannt wie wild. Dann ist Charly aufgetaucht, geladen bis obenhin; schätze, er hat im Turnier nicht erreicht, was er wollte. Er ist direkt auf Dickerchen zugefahren, der jetzt vor der Box war, und hat kurz vor ihm gebremst wie eine Eins. Das gab den Jungs hinten im Stall Zeit, sich aus dem Staub zu machen, denn der Beamte hatte jetzt Charly im Visier und dann Carlos, der gleich hinter ihm war.« »Hat der INS-Mann ...« »Was ist INS?«, fragte Spike. Murphy antwortete: »Immigration and Naturalization Service, die Einwanderungsbehörde.« »Oh.« Spike setzte sich. »Die Menschen haben Jagdreviere, ganz so wie wir. Diese Burschen sind in unserem Revier.« »Wer, die von INS?«, fragte Pewter. »Nein, die Mexikaner. Ich höre nämlich zu, wenn das Radio im Stall läuft. Illegale Einwanderer, die Nachrichten sind voll davon.« Er machte den Mund weiter auf; der fehlende Reißzahn verlieh ihm etwas Unheimliches, doch im Grunde war Spike ein netter Kater. Unten saßen die zwei Hunde, während Charly sich mit dem INS-Beamten anlegte. Carlos übernahm Panchetta. »Ich möchte seine Papiere sehen.«
»Selbstverständlich, aber ich kann die Stute nicht angeschirrt stehen lassen. Wenn Sie wollen, dass es schneller geht, helfen Sie uns.« Das brachte den Mann in Verlegenheit. Der INS-Mann wich zurück. »Ich habe Angst vor Pferden.« »Dann warten Sie, denn ich werde das Wohl meiner Stute nicht wegen Ihnen oder sonst wem aufs Spiel setzen. Es wäre mir auch scheißegal, wenn der Präsident der Vereinigten Staaten hier reinkäme.« Übersprudelnd vor Feindseligkeit fügte Charly hinzu: »Wenn er's täte, könnte er sehen, was für Idioten ihr seid.« »Politik ist nicht mein Ressort.« Charly und sein Pferdepfleger schirrten Panchetta flugs aus und führten sie in ihre Box, um sie abzureiben. »Quatsch. Po 104
litik ist jedermanns Ressort«, rief Charly aus der Box. »Stehen Sie nicht da rum wie ein Klotz und sagen Sie bloß nicht, Sie machen nur Ihren Job.« Der Beamte, von Charly eingeschüchtert, rechtfertigte sich jetzt: »Ich mache nur meinen Job.« »Natürlich. Sie überfallen uns auf einem der größten Turniere des Jahres. Sie wollen mir weismachen, das ist keine Politik?« Ehe der Mann antworten konnte, sagte Charly zu seinem Pferdepfleger: »Carlos, zeig ihm deine Green Card, ja?« »Klar.« Der schlanke, gut aussehende Mann kramte eine abgegriffene lederne Brieftasche, deren Prägemuster kaum noch zu erkennen war, aus seiner Gesäßtasche. Er trat aus der Box. Der pummelige Mann hielt sich die Green Card dicht vor die Augen. »Hmmm, in Ordnung.« Er gab sie Carlos zurück; jetzt trat auch Charly aus der Box. »Ich hätte Sie verhaften können«, erklärte der Beamte, aber nicht aggressiv. »Sie haben illegale Arbeiter beschäftigt.« »Beweisen Sie's.« Charly beruhigte sich langsam. »Los, beweisen Sie es. Ich kenne diese Männer nicht.« Er deutete auf die vier unglücklichen Arbeiter. Der LNS-Beamte wusste, die Tatsache, dass ein Mann ihn niedergeschlagen hatte, bewies noch nicht, dass dieser von Charly eingestellt worden war. Es war ein Indizienbeweis, und der Illegale war getürmt. Aber ein Indizienbeweis war besser als nichts. »Ich muss Sie vorladen.« »Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Und wenn Sie wieder in Ihrem schäbigen kleinen Büro an Ihrem schäbigen kleinen Schreibtisch sitzen, denken Sie dran: Ich werde Sie bekämpfen, ich werde den INS bis aufs Messer bekämpfen. Sie müssen beweisen, dass ich illegale Arbeiter beschäftigt habe. Mein Angestellter hat Ihnen seine Green Card gezeigt. Er ist der einzige Nichtamerikaner, der bei mir arbeitet.« Das war glatt gelogen.
»Und außerdem, finden Sie mir mal Weiße, die Scheiße schaufeln und Wassereimer ausleeren. Amerikaner J105 wollen sich die Hände nicht schmutzig machen. Die sitzen lieber auf ihrem Jammerarsch und kassieren Sozialhilfe.« »Jetzt wird er fies«, sagte Tucker lakonisch. »Und wissen Sie was«, Charly hob die Stimme wieder, »finden Sie mir mal Schwarze, die Scheiße schaufeln, oder Koreaner oder Chinesen oder hey, was Sie wollen. Und selbst wenn sie schaufeln, verstehen sie nichts von Pferden, Freundchen.« »Das ist nicht mein Problem.« »Mag sein. Wenn wir dieses Problem lösen, sind Sie Ihren Job los, stimmt's?« Der Beamte schob sein Mehrfachkinn nach oben und fragte: »Wer sind diese Männer?« »Die hab ich nie im Leben gesehen.« »Er ist gut.« Spike kicherte. »Lügt, ohne rot zu werden«, pflichtete Pewter ihm bei. »Ich habe sie draußen am Ende von Ihrem Stall gefunden. Einer hat eine Schubkarre geschoben.« »So?« »Die arbeiten nicht für Sie?« Sein Ton drückte Zweifel aus. »Die arbeiten nicht für mich. Aber Sie arbeiten für mich. Ihr Gehalt wird von meinen Steuern bezahlt. Wenn Sie hier noch länger rumstehen wollen«, er reichte ihm eine Mistgabel, die der INS-Mann verächtlich zurückwies, »dann arbeiten Sie.« Auf diese Bemerkung hin ging der pummelige Mann hinaus, froh, dem Stall unversehrt entkommen zu sein. Die Hunde rückten näher an die Box heran, während die Katzen geschickt oben entlang gingen, genau rechtzeitig, um mit ihren unglaublich guten Ohren zu hören, wie Charly Carlos zuraunte: »Doppeltes Spiel.« 105
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egen der Unterbrechung durch die INS-Beamten verzögerten sich
die nachfolgenden Prüfungen, darunter zahlreiche Juniorklassen, was viele Leute erzürnte, nicht nur Joan. Die Beamten hätten tagsüber oder nach der letzten Prüfung kommen können. Einige junge Wettkampfteimehmerinnen weinten. Larry verschränkte die Arme und sagte: »Ich geh rüber zu Ward, ihm gratulieren. An dem ganzen Schlamassel kann ich eh nichts ändern.«
»Ich bleibe hier.« Joan ließ sich auf einen Regiestuhl fallen. »Ich hab das Gefühl, heute ist der längste Tag meines Lebens.« Sie hielt kurz inne. »Ich habe Mom das mit der Brosche erzählt und, nun, es war ein langer Tag.« Larry küsste sie auf die Wange. »Mal ist man oben, mal ist man unten, so ist das Leben.« Harry sagte: »Joan, hast du was dagegen, wenn ich Larry begleite?« »Nein, geh nur.« »In diesem Fall werde ich dieser schönen Frau hier Gesellschaft leisten.« Lächelnd ging Fair an die Bar, um Joan einen Gin Rickey zu mixen. Harry und Larry verließen den Stall. Joan sah Fair an. »Willst du mich mit Alkohol abfüllen?« »Ist nur ganz wenig drin. Ich weiß, dass du keinen Alkohol trinkst, aber Joan, ein bisschen Entspannung tut dir im Moment gut.« Er reichte ihr das hohe Glas; die aufsteigenden Bläschen verhießen auf ihrer Zunge zu zerplatzen. »Ich mach dir ein Sandwich und mir auch. Wie wär's mit Putenfleisch? Viel Protein, wenig Fett, kein Anlass zur Sorge wegen deiner Linie.« Sie trank einen Schluck und fühlte sich augenblicklich besser, was zum Teil psychologisch bedingt war. »Bei mir nützt 106
Kaloriensparen gar nichts, weil ich auf alles Majo drauf-klatsche.« Er strahlte. »Du wirst immer schön sein, also wenn du Majo willst, dann muss es Majo sein.« »Fair, du bist so süß. Ich bin froh, dass Harry sich besonnen hat.« »Ich musste mich zuerst besinnen.« Er legte ein knackiges Salatblatt auf das Vollkornbrot. »Als ich mich aus der Box geschlichen habe, bin ich zu dem Schmuckstand gegangen, ohne dass Harry was gemerkt hat, und habe den Hufeisenring gekauft, der ihr so gut gefällt. Sie wird in ein paar Tagen vierzig. Sie soll ein großes Geschenk kriegen.« Er grinste. »Der Ring ist wunderschön. Weißt du, als ich vierzig wurde, ging's mir kurze Zeit beschissen, aber das war schnell vorbei. Es ist mir wirklich egal, und dir?« »Jein.« Er hielt das Messer einen Moment über dem großen Mayonnaiseglas in der Luft. »Ich habe Angst davor, ein Fohlen nicht mehr herausziehen zu können, wenn es sein muss, oder nicht imstande zu sein, sechzig Pfund schwere Luzerneballen zu hieven. Davor habe ich Angst. Aber man tut, was man kann, und wenn ich nicht mehr körperlich arbeiten kann, werde ich mich hoffentlich anderweitig noch nützlich machen können. Solange das Gehirn funktioniert.« »Meins hat sich abgeschaltet.« Sie lachte.
»Die letzten Tage waren die Hölle.« Er reichte ihr einen Teller und setzte sich dann neben sie. »Wenigstens ist es jetzt ruhig. Niemand ist hier, sie sind an der Bande oder laufen vor den INS-Leuten weg.« Joan biss in ihr saftiges Putensandwich, dann legte sie es auf den Teller. »Hram.« Sie schluckte. »Hey, wo sind Cookie und die Truppe?« »Ich weiß nicht, aber wenn sie nicht zurück sind, bis wir unsere Brote aufgegessen haben, gehe ich nachsehen. Sie sind Amerikaner. Sie brauchen keine Green Card.« Er zwinkerte ihr zu. 107
»Cookie springt immer in offene Autos. Sie lässt sich so gerne chauffieren. Einmal kam ein Pferdebesitzer in den Stall, und eine halbe Stunde nachdem er gegangen war, rief er an. Cookie hatte auf dem Rücksitz seines Wagens geschlafen, und er hatte es erst mitgekriegt, nachdem sie aufgewacht war. Ich musste zum Flughafen von Louisville, um sie bei Hertz abzuholen, weil er einen Mietwagen gefahren hatte.« Beide lachten. Während sie das bisschen Ruhe genossen, das ihnen vergönnt war, gingen Harry und Larry in Wards Stall, wo sich eine Versammlung eingefunden hatte, um ihm zu gratulieren. Ward erspähte Larry sogleich, denn Larry war groß. »Hey, auf der Satteltruhe steht was zu trinken.« »Tolle Fahrt, Ward. Om wollte es heute Abend wissen. Sie ist eine Prachtstute. Ich hoffe, du lässt sie eines Tages decken.« Larry drängte sich durch und schüttelte Ward die Hand. Harry, die ihm auf dem Fuße folgte, sprach ebenfalls ihre Glückwünsche aus. »Der ganze Aufruhr hat mich ein bisschen an die Seite gedrängt.« Ward lächelte. »Gut, dass ich nur Benny habe, und er ist Amerikaner, rotweißblau.« Ward legte großen Wert darauf, zu betonen, dass er keine Mexikaner beschäftigte. Niemand dachte sich etwas dabei. Benny, der an einer Box lehnte, hielt sein Bier hoch. »Manchmal bin ich Konföderierten-Grau.« Sie lachten, denn Benny zückte immer sein Sturmfeuerzeug mit der Konföderiertenflagge darauf, wenn er fand, dass jemand empfindlich, sprich, ein Yankee, war. Charly Trackwell kam in den Stall. Mrs. Murphy, Pewter, Tucker und Cookie folgten ihm. Nach alledem, was sie beobachtet hatten, gedachten sie Charly zu beschatten. Er war so mit seinen Angelegenheiten beschäftigt, dass er den Trupp hinter sich gar nicht bemerkte. Harry rief: »Woher so plötzlich?« J107
Charly dachte, sie meinte ihn. »Ich komme aus dem Stall, ich musste mich mit so 'nem blöden INS-Typ rumschlagen.« Harry lächelte ihn an. »Wie bedauerlich.« Sie hielt es für besser, ihm nicht zu sagen, dass sie die Tiere gemeint hatte, die zu ihr gelaufen waren. »Ich bin müde. Heb mich auf«, quengelte Pewter. »Pewter.« Harry seufzte, aber sie bückte sich und hob die beleibte Katze hoch. Pewter hatte Übergewicht, aber sie hatte auch viel Muskeln. »Oh, ich gucke so gern aus dieser Höhe«, schnurrte Pewter. Mrs. Murphy kletterte auf einen Boxenpfosten. »Ich hab einen besseren Blickwinkel.« »Na wennschon.« Pewter schlang die Pfoten um Harrys Hals. Die Hunde beschlossen, sich rauszuhalten. »Sehen wir mal, ob Ward Bag Balm hat«, flüsterte Tucker Cookie zu. »Scheint das Standardmittel zum Einreiben von kleinen Verletzungen und Hautreizungen zu sein.« Sie hatten eine junge Reiterin beobachtet, die wiederholt ihr grünes BagBalm-Döschen aufmachte. Das Döschen war ein gutes Versteck für allerlei, nachdem man die Balsamreste ausgewaschen hatte. Zum Glück hielten sich die meisten Leute mit alkoholischen Getränken und anderen Genüssen zurück - zumindest bis nach der letzten Prüfung des Abends. Cookie, die alles über dieses Zeug gehört hatte, sauste zu dem Eimer mit den Putzutensilien. Doch die Hunde konnten die Nasen nicht reinstecken, weil Benny sie fortscheuchte. Charly gratulierte Ward, dann rückte er von der kleinen Gruppe ab. Auch Larry wandte sich zum Gehen. »Larry, du Schuft, du hast beim INS angerufen, stimmt's?« Larry erschrak über diese unsinnige Anschuldigung, tat sie aber lachend ab. »Nimm dir noch was zu trinken, Charly.« Harry hielt ein paar Schritte Abstand. Sie traute Charlys Temperament nicht über den Weg. 108
»Kommt dir ja verdammt gelegen, Hodge«, knurrte Charly wütend. »Deine Leute haben schließlich ihre Green Card. Und wo ist übrigens Renata? Hast du sie hier rausgehalten, damit sie keine schlechte Publicity kriegt?« »Charly, du spinnst. Sie ist heute Abend nicht dran.« »Ach Quatsch. Bei ihrem gigantischen Ego, glaubst du, bloß weil Queen Esther aufgetaucht ist, lässt sie es sich entgehen, dass alle um sie rumscharwenzeln? Du wusstest, dass Queen Esther auftaucht. Du hast sie schließlich weggeschafft.« Larrys puterrotes Gesicht verriet seine aufsteigende Wut. »Weißt du was, Trackwell? Du erträgst es nicht zu verlieren. Du hast mich heute Abend geschnitten, damit Golden Parachute aus dem Takt gerät. Hat aber nicht
geklappt. Und du wirst das Fünfgänger-Rennen auch nicht gewinnen, wem willst du dann Samstagabend die Schuld geben? Du weißt aber jetzt schon, dass es an wem anders liegen wird.« »Ich werde gewinnen, und zwar haushoch. Panchetta war nicht in Form. Kann passieren.« Er steckte ein bisschen zurück, weil er an die Pferde dachte, und auch, weil er wusste, dass Larry eine harte Rechte austeilen konnte. »Abwarten.« Dann höhnte Larry: »Wie viele Mexikaner sind hinten aus deinem Stall getürmt? Denkst du, ich habe Klein-Tijuana vor deinem Stall nicht gesehen? Komm schon, Charly. Du hast es nicht anders verdient.« Charly beugte sich vor und zischte mit zusammengebissenen Zähnen: »Und du hast einen Toten. Warum das? Was verheimlichst du?« Larry, der über Jorges Tod zutiefst bestürzt war, was er sich aber nicht hatte anmerken lassen, hielt sich nun nicht mehr zurück. »Schade, dass du's nicht warst, du mieser ...« »Du stirbst vor mir.« Charly trat zurück, bohrte seine Absätze in den Lehm. »Vielleicht sind sie deinetwegen gekommen und haben versehentlich Jorge erwischt.« »Ist das eine Drohung?« »Nimm's, wie du willst, aber ich werde dich tot sehen.« 109
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ach der letzten Schauklasse des Abends schlossen die Organisatoren
des Turniers die Verkaufsstände und forderten die Zuschauer zum Verlassen des Geländes auf. Sie schlossen das Tor, als die Menschenmenge sich auflöste, ließen aber zwei Mann dort für die Trainer, Reiter und die wenigen restlichen Zuschauer, die später weggingen. Wenn die Reporter aus Louisville und Lexington herauskamen, weil sie von der INS-Razzia gehört hatten, würden sie vor verschlossenen Toren stehen. Das gab dem Pferdevolk Zeit, sich auf die morgige Ausquetscherei vorzubereiten. Zwar hatte keiner von ihnen mit den illegalen Arbeitern oder dem Debakel am heutigen Abend zu tun, aber sie mussten eine klare Verlautbarung formulieren. Das Turnier war zu einem gefundenen Fressen für die Medien geworden. Die Ausbilder, Pferdepfleger und -besitzer gingen nach und nach hinaus. Einige, die noch zu tun hatten, blieben. Die Männer am Tor kannten sie. Einer ging zu jedem Trainer und fragte, wie lange er meinte, noch bleiben zu müssen. Booty Pollard, dessen Schülerin bei der letzten Prüfung des Abends, dem Junior-Fünfgänger-Rennen, gesiegt hatte, ging zu Wards Stall hinüber. Die
Deckenlampen in der Stallgasse schienen auf Ward und Benny, als diese Abschwitzdecken über die zwei Pferde legten, die zum Gestüt zurückgebracht wurden. Sonst war niemand im Stall. »Gratuliere, Ward. Ich hatte einen Schüler in der nächsten Klasse, darum hatte ich keine Gelegenheit, dir zu sagen, was du für eine tolle Fahrt hingelegt hast.« »Danke.« Ward beugte sich über den Rücken von Om Setty, deren grünweiße Decke frisch und sauber war. »Hab gehört, du hast bei der letzten Klasse gewonnen.« »Ja.« »Gratuliere.« 110
Booty rückte näher heran, dann fragte er ungeniert in Bennys Gegenwart: »Hast du eine Ahnung, wer beim INS angerufen hat?« »Charly hat Larry Hodge beschuldigt.« Booty schnaubte. »Jesses.« »Er hat auch gedroht, ihn umzubringen.« Om Setty, ein braves Mädchen, zuckte nicht mal zusammen, als Booty seine Arme auf ihren Rücken legte. »Wird Zeit, Charly mal die Zügel anzuziehen.« »Scheiße, Booty, der ist zügellos. Man weiß nie, was er als Nächstes tun oder sagen wird.« Der gut aussehende jüngere Mann wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn; die Luftfeuchtigkeit war nach wie vor drückend. »Was denkt er eigentlich, wen er für dumm verkauft?« Booty feixte. »Es fing an, als Renata von ihm weggegangen ist. Ich hab mir immer gedacht, da ist mehr zwischen ihnen, als Charly zugab.« Wards Augenbrauen zuckten aufwärts. »Wenn Charly Trackwell einen Filmstar flachgelegt hätte, würde er im Lexington Herald-Leader eine ganzseitige Anzeige aufgegeben haben.« Booty dachte darüber nach. »Da ist was dran.« Dann fragte er: »Worum geht's? Geld? Sie ist ein Traum von einer Pferdebesitzerin.« »Allerdings«, stimmte Ward zu, ein schiefes Lächeln in seinem jungenhaften Gesicht. »Aber Frauen wie Renata sind nicht billig zu halten.« Er verglich sie mit einem Pferd, das Zusatzfutter benötigte, was seine Haltung für den Besitzer verteuerte. »Das war ja ein starkes Stück, Queen Esther auf deiner Weide.« Lachend versuchte Booty ihm eine belastende Reaktion zu entlocken. »Hat dir irgendwer geglaubt?« Ward lächelte, zuckte die Achseln, gab aber nichts zu. »Mach bloß nicht denselben Fehler wie Charly, Ward. Denk nicht, weil Renata schön ist, ist sie dumm. Überleg mal, Larry ist ein harter Rivale, er setzt alles daran, um zu siegen, aber es 110
ist nicht seine Art, so etwas durchzuziehen. Das passt einfach nicht zu ihm.«
Ward dachte darüber nach. »Schon möglich.« »Und es nützt Kalarama so wenig wie uns, dass dieses Turnier auf den Kopf gestellt wurde. Es ärgert die Organisatoren, lässt die Fans zweifeln, und die Bundesregierung stiehlt allen die Zeit. Aber deswegen bleiben die Fans nicht weg, Gott sei Dank.« Die Hände hinter dem Gesäß, lehnte Benny an der Box und hörte genau zu. Mit seinem Zweitagebart - er hatte keine Zeit gehabt, sich zu rasieren - glich er einem Desperado. »Schon, aber wer hat denn nun angerufen? Ich wüsste nicht, was irgendjemand dabei zu gewinnen hätte.« Ward wusste, dass irgendwas faul war, aber er konnte es nicht ergründen. »Also, wenn einer Publicity will, wenn er während des ganzen Turniers Kameras dabeihaben will, dann sieht das doch ganz nach Renata aus.« Booty trat von Om Setty zurück und verschränkte die Arme. »Ah, Booty, du meinst also, sie ist rumgelaufen und hat Mexikaner aufgescheucht?« »Jawohl. Dieses Turnier dreht sich nur um Renata DeCarlo. Es wird ihr auch nicht das Herz brechen, wenn Charly auf die Schnauze fällt.« »Wir müssen was wegen Charly unternehmen«, mahnte Ward erneut. »Ward, wenn dich seine Ausfälligkeiten beunruhigen, dann rede mit ihm.« »Wir müssen beide mit ihm reden.« Ward ging aus dem Stall, um einen Blick auf die Trainingsbahn und den Parkplatz zu werfen. »Er ist anscheinend weg.« »Hör mal, treffen wir uns doch morgen mit ihm zum Frühstück. Im Nook gleich außerhalb der Stadt. Wenn er keine Zeit hat hinzukommen, gehen wir zu ihm. Ich denke, morgen wird er sich etwas abgekühlt haben. Ich ruf ihn an. Ich sag dir morgen früh Bescheid.« 111
»In Ordnung. Wo ist Miss Nasty?« »Sich umziehen.« Booty lächelte. »Ich muss los.« Während Ward und Benny die zwei Pferde zu dem Transporter auf dem Parkplatz führten, fragte Ward: »Was meinst du?« »Ich trau keinem von denen.« »Magst du sie nicht, oder traust du ihnen nicht?« »Beides.« Ward hielt den Mund, weil Bootys Bemerkung über Queen Esther bedeutete, dass Booty ihm so wenig traute wie er Booty. Er nahm den Führstab des Wallachs, den Benny führte, und Benny legte die stabile Rampe an der Rückseite des Transporters an, ging die mit Gummi belegte Rampe hinauf und ließ die schweren Türriegel aufschnappen. Er riss die Tür auf, hinter der fünfzehn illegale Arbeiter sichtbar wurden. Wortlos bedeutete er ihnen, sich flach an die Seitenwand des Transporters zu drücken. Er ging hinunter und nahm den Wallach. »Boss, wir haben kostbare Fracht.« »Inchworm.« Ward sprach einen Mann an, von dem er wusste, dass er hochintelligent war.
Inchworm hatte vermutlich so viele Leute, wie er konnte, durchs Gebüsch geführt und dann gewartet, bis sie zum Parkplatz schleichen und sich in den Transporter quetschen konnten. Benny führte den Wallach zu den Männern. Das Pferd verweigerte eine Sekunde, doch Benny lockte es an seinen Platz und band es neben dem Futtersack an. Inchworm, der sich bei der Arbeit mit einem Pferd mächtig ins Zeug legte, gab einigen Männern stumm zu verstehen, sich hinter dem Wallach flach an die Wand zu drücken. Om Setty ging hinauf, blickte sich um und machte sich über den Futtersack her. Die Männer stellten oder setzten sich um die Pferde herum. Benny und Ward rutschten in die Fahrerkabine des alten Vehikels und ließen es an. Es stotterte und verstummte. 112
»Nicht jetzt, Baby, nicht jetzt.« Ward schwitzte. »Du brauchst einen Austauschmotor.« Benny drückte die Daumen. »Das geht erst, wenn ich noch ein paar Prüfungen gewinne.« Er zog den Choke, schob ihn etwas herein und ließ den Motor wieder an. Das Vehikel spuckte öligen Rauch aus dem Auspuff, stotterte wieder, rumpelte ein bisschen und fing an zu surren. »Heiliger Jesus, ich bete dich an.« Ward ließ die Bremse los, schob den Choke ganz rein und rollte vom Parkplatz. Sie mussten nur an dem Mann am Tor vorbei. Er winkte ihnen zu, als er es aufsperrte. Er sah durch die offenen Fenster zwei makellos gepflegte Pferde, die mit ihren Futtersäcken beschäftigt waren. Sie bogen links ab auf die Route 60, weil Ward es für besser hielt, die 1-64 zu meiden, die Verbindung von Virginia dorthin, wo der Mississippi die Grenze zwischen Illinois und Missouri bildete. »Was ist, wenn die LNS-Leute zum Gestüt kommen?« »Tun die nicht. Nur du und ich. Wir haben Glück.« »Wo willst du die Jungs unterbringen?« »Sie schlafen in den Nebengebäuden. Im Stall ist es mir dann doch zu riskant. Nehme an, sie haben Hunger.« Er überlegte. »Dann gibt es heute Abend eben Müsli. Es ist nichts im Kühlschrank.« »Ich geh morgen früh einkaufen«, sagte Benny. »Danach können wir die Leute anrufen, sie sollen ihre Pferdepfleger abholen.« Er atmete aus. »Puh. Werd' ne Menge zu tun haben.« Er hielt kurz inne. »Schlau von dir, dass du keine mexikanischen Pferdepfleger in deinem Stall hast, 'türlich, mit mir ich arbeite für zwei.« Benny lachte gackernd. »Klar, Laurel und Hardy.« Ward lächelte, dann fragte er: »Glaubst du, Renata hat beim INS angerufen?« Benny zuckte die Achseln. »Booty hat recht von wegen Publicity.«
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»Würde sie nicht wollen, dass die Publicity sich um sie dreht?« Ward konzentrierte sich auf die Straße. »Schon, aber der Tumult lockt die Reporter an und hält sie am Ort. Dann sind sie da, wenn Renata dran ist.« »Genau das meine ich. Sie hat das mit Queen Esther eingefädelt, und wenn sie morgen Abend reitet, ist es egal, ob sie siegt oder verliert - gewinnen tut sie auf alle Fälle.« »Ja. Sie dürfte das offene Dreigänger-Rennen gewinnen. Die Stute ist die Wucht.« »Sie wird aber nicht antreten wegen dem, was heute Abend passiert ist. Ich seh's einfach nicht.« Ward runzelte die Stirn. »Stehst du auf sie?« »Nein.« Es folgte eine sehr, sehr lange Pause. »Hätte aber nichts dagegen, mit ihr ins Bett zu gehen.« »Da fängt der Arger erst richtig an«, sagte der Mann, der drei Exfrauen nebst Kindern hatte.
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ferdeleuten sagt man nach, dass sie eine robuste Spezies sind. Sie
verrichten schwere körperliche Arbeit, sind bei Turnieren abends lange auf, bekommen wenig Schlaf. Die unbezwingbare, an Besessenheit grenzende Leidenschaft für Pferde treibt sie unablässig an, zum Erstaunen derer, die sich lieber mit Golf oder Tennis die Zeit vertreiben. Segeln erzeugt eine ebensolche Leidenschaft, doch Pferdeleute sind wirklich ein Menschenschlag für sich. Sie finden es total normal, ihren Stall zu bauen, bevor sie ihr Haus bauen; auf dieses zu verzichten, wenn das Geld knapp ist, solange die Pferde gut gefüttert und gut beschlagen sind; in einen brennenden Stall zu rennen, um die Pferde zu retten, ohne an die Gefahr für das eigene Leben zu denken. 113
So verschieden Charly Trackwell, Booty Pollard und Ward Findley waren, dieses eiserne Band schmiedete sie zusammen. Überdies schmiedete sie eine ausgemachte Profitgier zusammen: Dass sie Pferdeleute waren, hinderte sie nicht daran, die eine oder andere Unredlichkeit zu begehen. Sie saßen in einer abgetrennten Nische in einem weißen Schindelhaus westlich von Shelbyville, wo es das beste Frühstück und Mittagessen zwischen den Flüssen Kentucky und Ohio gab. Morgens um sieben war es hier gerammelt voll. Booty wollte, dass sie von anderen gesehen, aber nicht gehört wurden. Die Leute sollten sich ruhig fragen, warum sie hier waren.
Ward machte sich gierig über seine drei Spiegeleier her. Gegen elf würde er die Kalorien seines reichhaltigen Frühstücks verbrannt haben. Charly und Booty hielten sich ebenfalls fit; obwohl etwas älter als Ward, hatten auch sie gelernt, auf sich zu achten. Jedes Mal, wenn Miss Lou, die Kellnerin, mit frisch aufgetragenem rotem Lippenstift herbeischwebte, um Kaffee nachzuschenken oder Gewürze und Beilagen für den unersättlichen Appetit zu bringen, sprachen sie über Pferde, Schauklassen, Wettbewerbsteilnehmer. »Jungs, der Streuselkuchen ist unbeschreiblich.« Charlys Gesicht nahm einen sehnsüchtigen Ausdruck an, doch er winkte ab. »Ich probiere ihn.« Ward lächelte. »Bis du am Tresen bist, hab ich meine Eier und Würstchen aufgegessen.« »Wenn du deine Eier nur brav bei dir behältst.« Miss Lou zwinkerte ihm zu. »Booty, der Kuchen wird dir schmecken. Aber ich hab auch sagenhafte Zimtteilchen, die triefen nur so von Vanilleglasur. Ich weiß doch, wie gern ihr Jungs unsere knackigen Teilchen mögt.« Sie seufzte. Booty erlag der Versuchung. »Ach, was soll's. Her mit den Teilchen!« Mit einem triumphierenden Lächeln drehte sie sich herum, wobei sich ihre gestärkte Schürze ein bisschen bauschte. 114
Booty lachte. »Ich schwöre, wenn Miss Lou uns ein Stück Streuselkuchen und ein Zimtteilchen verkauft, freut sie sich genauso wie wir, wenn wir ein edles Traberpferd für dreihunderttausend Dollar verkaufen.« »Ist alles relativ, mein Freund, alles relativ.« Charly griff nach fettfreiem Kaffeeweißer. Die Leckereien wurden gebracht, aber Miss Lou wartete mit der Rechnung, für den Fall, dass sie noch etwas bestellen wollten. Als sie zur nächsten Nische ging, schwiegen die Männer einen Moment. Der Lärmpegel im Restaurant stieg an; eine Schlange bildete sich bis auf die Straße. »Wer hat Jorge umgebracht?«, fragte Charly leise. »Ich nicht«, witzelte Booty. »Booty, sei mal ernst. Jorges Ermordung könnte mit ein Grund sein, weshalb die vom INS über uns hergefallen sind wie die Aasgeier.« Charly bediente sich gern einer drastischen Ausdrucksweise. »Das Doppelkreuz auf seiner Handfläche deutet auf jemand oder etwas hin. Ich komm nicht dahinter.« »Der Gedanke, dass Larry dort angerufen hat, ist aber wenig plausibel.« Ward sprach vorsichtig, weil er mehr oder weniger der Juniorpartner dieser Dreieinigkeit war. »Jorge war sein Angestellter. Warum noch mehr Augen herholen?« Mit »Augen« meinte er alle Arten von Ordnungsmächten und
Gesetzeshütern, die seiner Meinung nach einen ziemlich frustrierenden Job hatten. »Wer sagt euch denn, dass er das bedacht hat?«, fauchte Charly, der einen Moment verärgert war, was zum Teil damit zu tun hatte, dass er eigentlich auch gern ein Stück Streuselkuchen gegessen hätte. »Er will, dass ich Samstagabend bei der Fünfgänger-Klasse ausscheide. Der Mann ist ein gnadenloser Rivale.« »Das könnte man auch von dir behaupten, Charly«, sagte Booty gleichmütig. »Larry ist nicht das Problem. Das Problem ist, wenn jemand von den, hm - der korrekte Ausdruck 115
ist heutzutage >nicht registrierter Arbeiter< -, wenn einer von denen die Klappe aufmacht.« »Machen sie nicht«, sagte Charly zuversichtlich. »Bist du sicher?« Booty klopfte mit dem Zeigefinger an seine Kaffeetasse. »Sicher bin ich sicher.« Charly lehnte sich zurück und reckte das Kinn. »Sie setzen sie hinter der Grenze ab. Nichts dabei.« Er hob die Hände. »Die Jungs warten ein paar Tage und kommen wieder her. Wir brauchen Arbeiter, und wir brauchen Leute, die mit Pferden arbeiten können. Wenn wir dieselbe Truppe nicht wieder herholen, gehen sie zu anderen Pferdezüchtern. Die Jungs sind ja nicht blöd. Sie wollen die Jobs hier. Sie werden den Mund halten.« Booty zerdrückte die Kuchenkrümel mit seiner Gabel. »Vielleicht.« »Und denkt dran«, Charly beugte sich vor und sprach leise, »der INS kann nicht beweisen, dass wir welche von diesen Männern beschäftigt haben. Sie sind aus den Ställen gerannt wie die Ratten von einem sinkenden Schiff.« »Das bekümmert mich nicht.« Booty lächelte, als Miss Lou vorbeikam, und hob den Zeigefinger. Sie warteten stumm, während sie ihnen Kaffee nachschenkte. »Hoffentlich habt ihr Jungs es heute nicht weit zum Klo.« Sie lachte, dann fügte sie hinzu: »'türlich, ihr habt da einen klaren Vorteil, nicht?« Alle lachten, und sie tänzelte davon. »Was mir Sorgen macht, ist Jorges Ermordung. Wir wollen nicht, dass das auf uns zurückfällt«, beendete Booty seinen Gedankengang. »Warum sollte es?« Charly zuckte die Achseln. »Niemand soll spitzkriegen, dass wir die Mexikaner importieren.« Ward hatte gemerkt, in welche Richtung Bootys Bemerkung zielte. »Jorge ist tot. Der sagt nichts mehr.« Charly wirkte gleichgültig. 115
»Solange wir nicht wissen, wer ihn umgebracht hat und warum, sollten wir lieber unsere Antennen ausfahren.« Ward stürzte seinen Kaffee hinunter. »Jorge muss jemanden verpfiffen haben.«
»Es könnte auch ein Weiberproblem gewesen sein«, sagte Charly. »Er macht einer ein Kind, und ihre Brüder machen ihn kalt. Wer weiß? Diese Leute regeln das immer noch auf diese Art.« »Ich weiß nicht. Er könnte alles Mögliche getan haben, aber ich habe jetzt einen leichten Schlaf.« Booty verschränkte die Arme. »Was können wir machen?«, fragte Ward. »Nichts. Nur Ohren und Augen aufhalten«, antwortete Booty. »Und gewinnen. Natürlich siege ich in den Klassen, die wir zusammen absolvieren.« Charly warf sich in die Brust. Sie lachten, dann lächelte Booty. »Zuerst musst du mich schlagen.« »Ich werde mich tapfer schlagen«, fügte Ward hinzu. »Es ist ein Kreuz mit dir, das mit dem Geldverdienen.« Charly schüttelte den Kopf. »Kauf bessere Pferde, krieg bessere Schüler. Halt dich von Renata fern.« »Sie ist bei Kalarama«, erwiderte Ward und tupfte sich den Mund mit der Papierserviette ab. »Nach einer geziemenden Pause wird sie zu dir kommen.« Booty hob die Augenbrauen, sagte aber nichts. Weil es sinnlos war, es zu dementieren, hielt Ward den Mund. Sie hatten ihm eine Lektion erteilt - mehrere. Wenn Charly und Booty spitzgekriegt hatten, dass er Queen Esther auf Renatas Geheiß »entfernt« hatte, vermutlich gut entgolten mit Versprechungen für eine Zukunft mit einer Berühmtheit oder anderen gut betuchten Schülern, dann waren sie ausgesprochen schlau. Aber das hieß, dass auch jeder von ihnen dazu fähig gewesen wäre. Er traute seinen zwei Seniorpartnern nicht über den Weg. 116
»Ich kreide es keinem an, wenn er vorwärtskommen will. Dem Pferd ist nichts passiert. Renata hatte ihre Portion Publicity.« Booty sah Ward an. »Ich werde groß rauskommen.« »Ich weiß, ihr glaubt nicht, dass Larry im Mist rumstochert«, sagte Charly, »aber wieso sind diese Freunde von den Hodges, die Haristeens, bei Ward aufgekreuzt? Das ist mir nicht geheuer.« »Keine Ahnung. Aber soviel wir wissen, Charly, war es für die Leute aus Virginia ein reiner Glückstreffer.« »Virginier sind verdammt hochnäsig.« Ward rümpfte die Nase. »Aber die zwei scheinen ganz in Ordnung zu sein.« »Tja, na ja, die zwei stecken ihre Nase in anderer Leute Angelegenheiten. Die Frau - sieht gar nicht übel aus - hat mich gefragt, ob ich Joans Brosche gesehen habe.« Booty war fassungslos. »Verdammt, was hab ich mit Joans Brosche zu tun? Die Frau ist neugierig.«
»Neugierig ginge ja noch«, Charly senkte die Stimme wieder, »aber auch ein blindes Huhn findet manchmal ein Korn. Wir wollen nicht, dass sie rumschnüffelt.« »Was schlägst du vor, sollen wir sie fesseln und knebeln?« Ward konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. »Nein.« Charly fand das nicht lustig. »Ich schlage vor, wir behalten die Frau im Auge und halten den Mund.« Das war leichter gesagt als getan. »Übrigens, ich hab fünfzehn nicht registrierte Arbeiter bei mir auf dem Gestüt«, flüsterte Ward. »Sie waren im Transporter, als Benny und ich rausgefahren sind.« »Ist Inchworm dort?«, fragte Charly; seine Stimme war noch leiser als Wards. »Ja. Sind auch ein paar von deinen Männern dabei.« »Behalt sie da bis nach dem Turnier.« Charly setzte sich aufrechter. »Na großartig. Wenn die Kontrolleure kommen, muss ich es ausbaden.« Wards Blick verhärtete sich für einen Moment. Booty sagte beschwichtigend: »Wird nicht passieren. Du ba117
dest allenfalls in einer Wanne voll Geld.« Er lehnte sich zurück, die Hände auf dem Bauch. »Hey, ich hab gestern eine Korallenschlange gekauft. Ihr müsst vorbeikommen und sie euch angucken. Sie ist eine Schönheit.« Charly zuckte zusammen. »Ich hab einmal gesehen, wie du eine Klapperschlange gemolken hast. Das hat mir gereicht.« »Feigling.« Booty lachte. »Schlangengift findet in der Medizin vielfach Verwendung. Deswegen hab ich das gemacht.« »Und wie?«, fragte Ward. »Hab die Schlangen mit einer dünnen Stange gefangen, die sieht so ähnlich aus wie ein altmodischer Stiefelknöpfer. Dann packt man sie am Hals, damit sie sich nicht drehen können. Die Giftzähne der Klapperschlange lassen sich vor- und zurückklappen. Sie ist jetzt wütend und klappt deshalb ihre Zähne vor; man hält sie über einen kleinen Becher mit einer Plastikabdeckung, stößt ihre Zähne rein, und schon tropft das Gift raus. Ganz einfach.« Die anderen zwei hörten kommentarlos zu. »Das Interessante an der Korallenschlange ist, dass sie die Giftzähne nicht zurückklappen kann. Ihr müsst sie unbedingt mal sehen.« »Ich seh Miss Nasty, das reicht mir«, sagte Charly.
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och ehe Ward die Auffahrt zur 1-64 Richtung Osten erreichte, klingelte
sein Handy. Am anderen Ende der Leitung brummte Charly: »Ward, weißt du, wo Renata gestern Abend war?« »Nein.« »Sie ist doch mit dir im Transporter zurückgefahren.« Ward erwiderte: »Sie hatte ihren Wagen bei mir stehen gelassen. Als wir ankamen, ist sie weggefahren.« »Hat sie dir gesagt, wohin?« »Nein. Warum sollte sie?« »Du kannst mir viel erzählen.« Pikiert brach Charly das Gespräch ab. Der Anruf überzeugte Ward, dass die Beziehung zwischen Charly und Renata tiefer ging als zwischen Trainer und Schülerin üblich. Ward hätte sich in den Hintern beißen können, weil er so blind gewesen war, oder vielleicht passte es ihm einfach nicht, dass Renata mit jemandem wie Charly eine Affäre gehabt hatte. Knapp zehn Minuten später bog Charly in die lange, gewundene, von Bäumen gesäumte Zufahrt zu seinem makellos gepflegten Anwesen ein. Mit den weißen ionischen Säulen, die sich von dem verwitterten roten Backstein abhoben, den Buchsbäumen und Magnolien, den frisch gestrichenen Ställen und akkuraten Zäunen sah sein Haus aus wie David Selznicks filmische Umsetzung von Tara. Als einer, der betuchte Käufer bediente, wusste Charly, dass reiche Leute nicht unbedingt viel von Pferden verstanden, aber den Traum als solchen wollten, den schönen Schein. Manche dollarschweren Leute verstanden wohl etwas von Pferden, aber auch sie ließen sich gerne in Charlys weitläufigem Empfangsraum im Hauptstall hofieren. Sofas, Sessel, ein Kamin, eine Küche und ein großer Plasmafernsehschirm an der Wand schrien Geld, Geld und nochmals Geld. Die Reithalle, die größer war als die von Kalarama, hatte zwei Zuschauerbereiche; einer war verglast für Leute, die den Staub nicht einatmen wollten. Die Zuschauerbereiche waren mit kleinen Kühlschränken ausgestattet für den Fall, dass jemand Durst bekam, aber die paar Schritte bis zu der luxuriösen Lounge nicht gehen mochte. Charly, der in puncto Kleidung sehr eitel war, war ebenso eitel in Bezug auf seine Umgebung. Da war es kein Wunder, dass die Frauen in seinem Leben perfekt in das Bild passten. 118
Die Affären waren schmückendes Beiwerk. Er hatte seine Ex-frau geliebt, aber auch sie musste einem Schönheitsideal entsprechen, wie es in Modezeitschriften, Film und Fernsehen vorgegeben wurde. Eines Tages hatte sie es satt, nur Augenweide zu sein; sie ging fort, immatrikulierte sich an der Universität von Kentucky, um Physiotherapeutik zu studieren, und
blickte nie mehr zurück. Sie plauderte nicht aus der Schule, was Charly ihr hoch anrechnete, insbesondere, nachdem er Bootys bitterböse Scheidung miterlebt hatte. Charly war Affären und Spontansex leid. Sie kosteten ihn zu viel Energie. Frauen nachzustellen lenkte ihn von seinem primären Vorhaben ab: einzigartige Saddlebreds zu züchten und zu verkaufen. Er wollte und brauchte eine Frau, die gern einzigartig sein, aber auch reiten konnte. Seine erste Frau, die er geheiratet hatte, als er aus dem ersten Golfkrieg heimkehrte -als Oberleutnant, der froh war, wieder zu Hause zu sein -, besaß alle notwendigen positiven Eigenschaften, verstand aber nichts von Pferden. Das mag Leuten, die mit Pferden nichts am Hut haben, oberflächlich vorkommen, entspannen sich doch viele Eheleute getrennt bei verschiedenen Sportarten und Ablenkungen, doch beim Pferdevolk funktioniert das nicht so gut. Charly verdiente Geld. Er verdiente noch mehr, indem er nicht registrierte Arbeiter hereinholte. Der Profit betrug für jeden Arbeiter zweitausend Dollar in bar, keine Schecks. Trotzdem rackerte er sich unablässig ab. Eine reiche Frau wäre nützlich. Müsste er zwischen Geld und Schönheit wählen, würde das Geld siegen. Schönheit konnte ein Mann auch nebenbei finden. Vor seinem Hauptstall stand, die Hände in die Hüften gestemmt, eine Frau, die sowohl Schönheit als auch Geld verkörperte. Renata DeCarlo, um halb zehn am Morgen frisch und ausgeruht, trug weiße Bermudashorts mit einem magentaroten Gürtel; weiße Espadrilles an ihren Füßen vervollständigten das Ensemble. *119 Eigenartig, wie zuweilen Freunde, Geliebte, Ehemänner und Ehefrauen am gleichen Tag dieselben Farben für ihre Kleidung wählen, ohne sich abzusprechen. Charly trug weiße Jeans und ein grünblaues Hemd. Er parkte vor seinem Haus und ging die zweihundert Meter zum Stall. »Wo bist du gewesen?«, fragte sie und lächelte unwiderstehlich. »Mit den Jungs frühstücken. Dasselbe könnte ich dich fragen. Warum warst du gestern Abend nicht beim Turnier?« »Ich bin nicht geritten, und ich musste ein Drehbuch lesen.« »Renata, so ein Zufall.« Er stand jetzt vor ihr. »Ich habe von der Geschichte gehört. Bin ich froh, dass ich nicht dabei war.« »Wenn ich rauskriege, wer da angerufen hat, dem dreh ich den Hals um.« Er bremste sich, weil außer seinen zwei Partnern niemand von seinem lukrativen Nebenerwerb, Gestüte mit Arbeitern zu versorgen, wusste. »Dadurch wurde das Turnier unterbrochen. Ich war sowieso nicht besonders gut, aber das«, er zuckte die Achseln, »war ein Blitz aus heiterem Himmel.«
»Unglaublich, du gibst zu, dass du einen schlechten Abend hattest.« »Einmal in zehn Jahren.« Er lächelte sie an, berauscht von ihrer Schönheit, ihrer Nähe, ihrem Duft - Green Irish Tweed von Creed, den auch Cary Grant und Marlene Dietrich einst bevorzugt hatten. »Magst du mit ins Haus kommen?«, fragte er höflich. »Bring mich auf die hinteren Weiden zu den Jährlingen.« »Gerne.« Sie gingen zum Haus, stiegen in seinen Wagen und rumpelten über die privaten Farmstraßen dorthin, wo die Jährlinge grasten. Die meisten Pferdezüchter halten die Jährlinge abseits von den Hauptstallungen, weil sie ein linkisches, hässliches Stadium durchlaufen, ganz so wie Teenager bei den Men 120
sehen. Mit zwei Jahren fangen Saddlebreds gewöhnlich an, wie richtige Pferde auszusehen. Charly hielt neben einem weißen Zaun, der alle zwei Jahre frisch gestrichen wurde, was monströse Kosten verursachte. Er stellte den Motor ab, und Renata stieg aus. Charly war gleich neben ihr und sah auf ihre Espadrilles hinunter. »Du ruinierst dir deine Schuhe.« »Ich hab vier Paar gekauft. Eins hab ich im Auto. Sie sind so luftig im Sommer und geben trotzdem Halt. Schade, dass Männer sie nicht tragen.« »Vielleicht tun's die, die auch Handtäschchen tragen.« Sie zuckte die Achseln. »Jedem der Seine.« Sie blickte auf seine Füße. »Mokassins.« »Sommer.« Er nickte. »Ich liebe den Sommer.« »Ich auch. Aber wenn ich in Kalifornien bin, vermisse ich den Herbst, den Winter und den richtigen Frühling. Wenn ich nicht in Kalifornien bin, vermisse ich das alles nicht, abgesehen vom Duft der Eukalyptusbäume in Montecito.« »Den liebe ich auch.« Charly war oft in Kalifornien auf Turnieren gewesen, außerdem hatte er Renata dort besucht. »Ich pfeif die Pferde lieber hier rüber. Es ist noch viel Tau auf dem Gras; du hast zwar noch drei Paar Espadrilles, aber die hier werden sonst grün und du kriegst nasse Füße.« Er steckte die Finger in den Mund und stieß einen gellenden Pfiff aus. Die Jährlinge - Hengstfohlen auf der einen Weide an der Straße, Stutfohlen auf der anderen - hoben die Köpfe. Sie schauten herüber und trabten dann langsam auf die Gestalten am Zaun zu. Auf halbem Weg beschlossen sie aus lauter jugendlichem Übermut, sich ein Wettrennen zu liefern. Am Gatter kamen sie zum Stehen. Charly holte eine große Tüte Karotten, die er immer rnitführte, aus seinem Wagen. Er gab Renata ein paar, und sie fütterte die Jungs. Charly ging über den Feldweg, um die Mädels zu füttern,
was reichlich Ohrenanlegen und missgünstige Blicke untereinander hervorrief, weil jede mehr als nur eine Karotte haben wollte. Die 121
in der Rangordnung niedrigeren Fohlen sprangen davon, und Charly warf ihnen Karotten hin; die dominanteren fütterte er mit der Hand. Jedes Mal, wenn er die Jährlinge aufsuchte, machte er sich Notizen zur Hackordnung. Das machte die tägliche Arbeit mit ihnen um vieles leichter, wenn erst das richtige Training begann. Tiere, die in der Herde keinen dominierenden Status einnahmen, konnten auf der Bahn überragend sein. Das merkte man erst, wenn man mit ihnen arbeitete. Auch darüber führte er Buch. Renata fütterte die Jungs einen nach dem anderen und scheuchte die Drängler weg, nachdem sie ihre Karotte bekommen hatten. »Wer ist der fast schwarze Bursche mit dem Stern auf der Stirn, aus dem ein schmaler weißer Streifen rauswächst? Das sieht fast wie ein Zauberstab aus.« »Captain Hook.« Er nannte den Burschen mit seinem Rufnamen. »Es könnte auch ein Sternenstab sein.« »Ja schon, aber ich konnte ihn nicht Sternenfee nennen.« »Ich habe mich Hals über Kopf in ihn verliebt, als er ein Fohlen war. Er ist enorm gewachsen. Er wird bestimmt sechzehn Stockmaß groß.« Sie betrachtete ihn. »Er ist hinreißend. Was willst du für ihn haben?« »Hab ich mir noch nicht überlegt.« »Lügner.« »Nein, wirklich.« »Dann überleg's dir jetzt.« Sie wandte sich den Stutfohlen zu. »Die Fuchsstute hat Klasse.« »Ein guter Fohlenjahrgang, aber sie sticht heraus, nicht wahr?« Renata sagte nichts; sie stieg wieder in den Wagen, und sie fuhren zum Haus. Obwohl Charly schon reichlich mit Kaffee abgefüllt war, kochte er noch eine Kanne. Sie setzten sich mit ihren Tassen auf die Veranda hinter dem Haus. »We viel?« 121
»Nicht unter hunderttausend.« »Für einen Jährling? Hier ist schließlich nicht von Vollblütern die Rede.« »Ich meinte hunderttausend für das Hengstfohlen und das Stütchen.« Er grinste, Pferdehändler durch und durch. »Hmm.« Sie trank ihren Kaffee. »Ward hofft, dass du von Kalarama weggehst und zu ihm wechselst«, tastete Charly sich vor. »Das habe ich nie gesagt.« »Was hast du denn gesagt?«
»Genau, was du und ich besprochen haben. Ich würde ihm ein paar zahlungskräftige Leute verschaffen, und das werde ich. Er ist ein anständiger Kerl.« »Er ist ein guter Trainer, und er wird immer besser.« Das gemähte Gras glänzte vom Tau; die weiße Kreppmyrte am Wesenzaun blühte. Bald würden auch die Zinnien voll in Blüte stehen. »Glaubst du, er ahnt was?« »Er weiß, dass ich es für die Publicity getan habe. Er weiß nicht, dass wir zusammen sind.« »Und Joan und Larry?« »Sie sagen nichts, aber sie sind nicht dumm. Sie wissen vielleicht nicht, dass wir dahinterstecken, aber ich glaube nicht, dass es sie schockiert, wenn ich wieder zu dir wechsle, mit der Begründung, wir sind ins Reine gekommen, und so weiter und so fort.« Sie lächelte matt. »Es hat funktioniert. Gott, das hat mir eine fabelhafte Publicity eingebracht. Binnen vierundzwanzig Stunden war ich mit Drehbüchern überschüttet. Mein Agent hat ein paar mit FedEx geschickt, und er sagt, die anderen warten auf mich.« »Wonach hat er sie ausgesucht?« »Nach Bekanntheitsgrad. Was nicht heißt, dass sie gut sind. Ab und zu landet ein Anfänger mal einen Volltreffer. Ist aber schwierig. Drehbücher schreiben ist ein schwieriges Geschäft. Gehört einem nie - die eigene Arbeit, meine ich.« »Nein, aber der Scheck.« 122
»Ja, sicher.« Sie lachte. »Und der Autor wird als Erster bezahlt. Ich muss warten, aber nicht zu lange. Und man gewährt mir Vergünstigungen, von denen ein Autor nicht mal träumen kann - Schmuck, Sonderkonditionen, Wohnwagen mit allem Komfort, wo ich mich in den Drehpausen aufhalten kann. Insofern ist es ein schönes Leben.« Sie senkte die Stimme. »Der ganze Rest ist beschissen.« »Man soll das Eisen schmieden, solange es heiß ist.« »Charly, das krieg ich ungefähr jeden zweiten Tag zu hören.« Sie trank noch einen Schluck Kaffee. »Das weiß ich ja, aber ich weiß auch, der Tag wird kommen, sonnig oder nicht, an dem ich es nicht mehr aushalte. Die Schauspielerei ist nicht meine Leidenschaft. Ich kann's, das ja. Ich bin gut. Ich bin keine Meryl Streep. Aber ich bin gut. Trotzdem, ich will nicht mehr allzu viel Zeit verplempern mit Dingen, die ich nicht gern mache. Ich will nicht mit achtzig denken, dass ich mein Leben lang nichts anderes getan habe als in eine Kamera gucken.« »Pferde.« »Sie sind alles, woran mir wirklich liegt, seit ich auf der Welt bin.« »Geht mir genauso.« Er runzelte kurz die Stirn. »Aber auf diesem Niveau verschlingt es Millionen.« »Die verdienst du.«
»In meinem bislang besten Jahr waren es drei Millionen. Im Durchschnitt liege ich bei etwa anderthalb Millionen, wie du weißt. Ich war ehrlich zu dir.« Was stimmte, abgesehen von seinem Nebenverdienst. »Dieses Gestüt, das Kaufen und Züchten von neuen Beständen, verschlingt Geld. Nicht zu vergessen der Unterhalt des Gestüts. Man braucht Geld, um Geld zu verdienen.« »Stimmt. Deswegen wohne ich in einem kleinen, aber bezaubernden Haus im Valley.« Sie meinte, sie wohnte auf der anderen Seite der Hügel, die Los Angeles vom Valley trennten, auf der Ostseite vom Mulholland Drive. »Ich halte die 123
Kosten niedrig. Ich wohne oben hinter Ventura, wie du weißt, aber ich achte auf jeden Penny und ich bringe mein Geld auf die Bank oder lege es an. Ich will, dass mein Geld Geld verdient, während ich herumlaufe.« »Schlau, aber ich hab ja immer gesagt, dass du schlau bist.« Er hatte es nicht immer gesagt, aber er lernte allmählich, dass er mehr auf ihre Denkweise achten musste, so blendend ihre körperlichen Reize auch waren. »Freilich war mir nie klar, wie kreativ du bist, bis du mit der Idee ankamst, dass wir zwei einen großen Auftritt hinlegen sollten.« »Du hast eine gewisse Begabung dafür, Charly.« Sie lachte ihn an. »Hab ich dir abgeguckt«, schmeichelte er ihr. »Eins lässt mir keine Ruhe.« »Was?« »Ich frage mich, ob Ward Jorge umgebracht hat.« »Wie bitte?« Charly setzte sich aufrecht. »Also, Ward hat Queen Esthers Beine und Hals von Jorge färben lassen. Das hat er mir erzählt, als ich ihn gefragt habe, wie er Queen Esther vor aller Augen weggeschafft hat. Er hat Jorge fünfhundert Dollar bar auf die Hand gegeben, das war eine Menge Geld für Jorge, und ich glaube, dann hat er ihm noch etwas gegeben für dies oder jenes. Abgesehen von dir und mir und, na ja, Benny, aber der sagt nichts, war Jorge der Einzige, der Bescheid wusste.« »Von dem Geld für Jorge hast du mir gar nichts erzählt.« »Charly, ich hab dich ja kaum zu sehen gekriegt. Es war keine Zeit dafür.« »Du hättest mich auf dem Handy anrufen können.« »Auf keinen Fall. Hast du eine Ahnung, wie leicht es ist, ein Gespräch aus dem Äther zu fischen? Im Ernst. Ich sage nie was am Handy, wenn ich nicht will, dass die ganze verdammte Welt es hört, und das rate ich dir auch.« »Hör mal, Renata, fang bloß nicht mit der Verschwörungstheorie an.« 123
»Charly, ich kenne mich da aus, und die Technik im Filmgeschäft ist immer auf dem neuesten Stand und ändert sich schnell. Früher hatte ich davon
keine Ahnung, aber am Set gibt es so viele Ausfallzeiten, da habe ich viel über Kameras, Schnitt-Technik, iPods, Runterladen und Mobiltelefone gelernt. Ich habe mir alles über Elektronik und Computer beigebracht. Nichts, was elektronisch oder in deinem Computer ist, ist sicher. Gar nichts.« »Nicht mal das Material von CIA und Pentagon?« Bei dieser Vorstellung fühlte er ein merkwürdiges Flattern. »Ein genialer Hacker kommt in alles von denen rein. Wir haben uns in eine ausweglose Lage manövriert. Du und ich sind wohl die letzte Generation, die noch eine Privatsphäre kennt.« Es ängstigte Charly, dass sie so viel Macht besaß, körperliche, finanzielle und geistige Macht. »Ich hoffe, du irrst dich.« Er meinte es ernst. »Ich wünschte, es wäre so.« Sie ließ das Thema fallen, weil es immer deprimierender wurde, je länger sie darüber nachdachte. »Ich habe mir überlegt, ich gehe von Kalarama weg, wenn das Turnier zu Ende ist. Ich werde ihnen was draufzahlen für die Zeit und den Arger, den ganzen Medienrummel, aber ich werde ihnen die Wahrheit sagen. Dass ich zu dir zurückgehe. Ich sage nur nicht, warum ich weggegangen bin.« »Joan wird die Extrabezahlung nicht annehmen.« »Dann spende ich es im Namen von Kalarama für eine wohltätige Einrichtung, die sie nennen. Ich habe ihnen reichlich Scherereien gemacht, und sie müssen zudem mit Jorges Ermordung fertig werden.« Sie schauderte. »Der Anblick wird mich ewig verfolgen.« »Ward hat ihn nicht umgebracht.« »Wie kannst du da so sicher sein?« Das war ihre Reaktion auf seinen überzeugten Ton. »Er ist nicht der Typ dafür.« »Das sagen Nachbarn immer über Serienmörder, wenn sie gefasst werden.« 124
»Ward ist kein Psychopath, der die Nachbarn täuschen kann. Er hätte Jorge nie ermordet. Allein schon, weil nicht genug dabei rauskommt. Er ist bereit, Queen Esther zu verstecken. Er macht bei einer harmlosen Täuschung mit. Keinem passiert was. Niemand verliert Geld dabei, nur ich anscheinend. Sicher, Joan und Larry haben den ganzen Medienrummel zu bewältigen, aber hey, das rückt Kalarama ins Rampenlicht, und das ist gut für sie und für Saddlebreds. Sie führen einen guten Stall. Sie stehen an der Spitze der Nahrungskette. Nein, Ward hätte so was nie getan.« »Vermutlich.« Ihre Stimme wurde leiser. »Aber es ist beunruhigend.« »Es ist eine Art persönliche Blutrache. Hat nichts mit unserer Welt zu tun.« Charly war davon überzeugt, vor allem nach dem Frühstück mit den Jungs. Vier Stare landeten auf dem üppigen Gras und watschelten darüber. Eine Vogeltränke hatte sie angelockt, aber sie waren ein bisschen weiter weg
gelandet, nur für den Fall, dass sich ihnen im smaragdgrünen Gras etwas Delikates bot. Nach langem Schweigen fragte Renata: »Wie viel?« »Wofür?« »Für Captain Hook und das Stutfohlen. Ehrlich, was willst du dafür haben?« Er drehte sich zu ihr und stellte seine Kaffeetasse auf dem Rattantisch ab. »Gar nichts. Wenn du mich heiratest, kriegst du sie als Hochzeitsgeschenk.« »Charly, mach dich nicht lustig über mich.« Sie verdrehte die Augen. Er erhob sich von seinem Stuhl und kniete vor ihr nieder. »Heirate mich. Gib mir die Ehre, meine Frau zu werden. Es ist mir todernst.« 125
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F
roh über einen ruhigen Vormittag, las Fair Equine Disease Quarterly, eine
Zeitschrift, die vom Veterinärinstitut der Universität von Kentucky herausgegeben wurde und sich mit Pferdekrankheiten befasste. Die am Maxwell H. Gluck Equine Research Center durchgeführten Forschungen kamen Pferdekennern in aller Welt zugute. Weil Fair sich auf Pferdefortpflanzung spezialisiert hatte, stapelten sich in seiner Praxis Berichte und Fachblätter sowie allgemeiner gehaltene Publikationen, die sich ans Pferdevolk richteten. Equine Disease Quarterly las er jedoch wegen der präzisen Projektbeschreibungen besonders gern. Zum selben Zeitpunkt, als Charly niederkniete, setzte Fair die Lesebrille ab, sein erstes Zugeständnis daran, dass mit einundvierzig Jahren die Beeinträchtigungen des mittleren Alters einsetzten. Das Zugeständnis ärgerte ihn. Harry kam von der Toilette. »Fertig.« »Ich auch.« Sie waren nach Lexington zum Frühstück gefahren, das Alicia Palmer dort im Country Club arrangiert hatte. Sie kannte alle Welt und alle Welt kannte sie, dank ihrer göttlichen Filmkarriere. Als sie abends zuvor anrief, hatten sie sich über die Farm ausgetauscht - über Alicias und ihre eigene, denn Boom-Boom, Susan Tucker und Alicia sahen dort bis zu Harrys und Fairs Rückkehr abwechselnd nach dem Rechten. Weder im Auto, wo sie von den Tieren freudig begrüßt wurden, fuhr Fair Richtung Iron Works Pike. Weil viele der gut dreihundert Vollblüter-Gestüte von der Kleinstadt Paris in Bourbon County bis Versailles in Woodford County in einem Halbkreis angeordnet waren, gedachten sie in Paris nordwestlich von Lexington anzufangen und sich bis Versailles im Westen vorzuarbeiten. Harry hatte sich die Gestüte notiert, die sie besuchen wollte,
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angefangen mit Claibome. Zwar kannte sie dort niemanden, aber sie wollte einen Blick auf die hinteren Weiden werfen. Jedes Gestüt entfaltete seinen ganz eigenen Charakter. Manche, wie Calumet, waren jahrzehntelang höchst erfolgreich gewesen und dann in Ungnade gefallen. Andere, wie Dixiana, einst ein herausragender Saddlebred-Zuchtbetrieb, der jetzt Vollblüter züchtete, hatten zehn Jahre ein Auf und Ab erlebt und sich nach jedem Ab erhoben wie Phönix aus der Asche. »Ich bin so froh, dass die Reben gedeihen. Alicia sagt, wenn wir nach Hause kommen, werde ich staunen, wie hoch sie gewachsen sind.« »Ich bin gespannt, ob die Ernte profitabel wird.« »Die ersten drei Jahre nicht«, antwortete sie schnell. »Ich weiß, Schatz. Vergiss nicht, ich habe alles mitgekriegt -was den Ausschlag dafür gab, dann den Kauf der Rebstöcke, und jetzt bin ich vermutlich genauso aufgeregt wie du.« Er atmete den frischen Morgenduft von Tau, Gras und Pferden auf den opulenten Weideflächen ein. »Du hast recht. Ich bin ganz nervös wegen meiner Reben. Ich frage mich allmählich, ob ich nicht mehr hätte anbauen sollen, aber ich konnte mir ja nur einen Viertelmorgen leisten. Ein ganzer Morgen hätte vierzehntausend Dollar gekostet. Bei den jetzigen horrenden Benzinpreisen hätte er sogar fünfzehntausend gekostet. Alles, was mit Lastwagen transportiert werden muss, steigt im Preis. Das macht mir Angst.« »Ich hab dir gesagt, pflanz einen ganzen Morgen. Du bist zu vorsichtig«, erklärte Pewter, die tatsächlich versucht hatte, mit ihrem Menschen zu kommunizieren, als Harry den Boden für die Rebstöcke bereitete. »Sie ist in manchen Dingen mutig und in anderen feige.« Auch Mrs. Murphy atmete die herrlichen Sommerdüfte ein. »Sie gerät wegen Geld in Panik, das wird sich nie ändern.« »Aber sie hat Fair, und er verdient gut.« Pewter war sehr froh, dass sie keine Konten ausgleichen musste. 126
»Sie musste jahrelang von ihrem Posthalterinnengehalt leben.« Tucker ließ es dabei bewenden. »Die Sonnenblumen sehen gut aus, alles sieht gut aus. Ich bin so froh, dass die Mädels dort sind. Alicia sagt, Miranda war die allergrößte Hilfe.« Harry strahlte bei der Erwähnung der älteren Frau, die für sie so etwas wie eine Ersatzmutter war. »Aber Miranda hat ja auch einen grünen Daumen.« Fair lachte. »O ja, den hat sie, und das raubt Big Mim den letzten Nerv. Da gibt sie Tausende von Dollars für Garten und Gärtner aus, doch Miranda stellt sie alle Jahre in den Schatten.«
Big Mim, auch als Queen von Crozet bekannt, war mit Miranda aufgewachsen. Sie mochten sich gern, aber wenn es ums Gärtnern ging, waren sie heiße Konkurrentinnen. Fair und Harry kamen nach Paris und fuhren an dem großen Gerichtsgebäude vorbei. In Kentucky konnte man den Wohlstand eines Bezirks an der Größe seines Gerichtsgebäudes messen. In Virginia maß man ihn an der Größe des Denkmals für die gefallenen Helden der Konföderation. Claiborne, das ein paar Minuten entfernt lag, ließ Harrys Herz einen Schlag aussetzen. Fair fuhr um das Gelände herum. »Und?« Pewter hatte schon genug von der Besichtigungstour und fand, es sei Zeit für einen knusprigen Leckerbissen, heute mit Fischgeschmack. »Was, und?« Mrs. Murphy dagegen liebte Besichtigungsfahrten. »Hat sie ein Pferd für Alicia gefunden?« Pewter drehte sich auf Harrys Schoß im Kreis. »Nein. Ansehnliche Pferde auf den Weiden. Ansehnliche Preise.« Mrs. Murphy, die die Pfoten auf dem Armaturenbrett hatte, bemerkte einen Sumpfhordenvogel, als sie an einem Bachbett vorbeifuhren. Sie erspähte sogar einen Tangara in einem Busch an diesem Bachbett. »Warum fahren wir dann hier rum, wenn die Pferde so teuer sind? Warum kann sie keins in Virginia suchen?« 127
»Oh, sie sieht sich halt gerne um.« Das tat Tucker auch gerne. »Und man kann nie wissen.« Mrs. Murphy klang zuversichtlich. »Ich hatte diesen Auftrag ein bisschen aus dem Auge verloren.« Harry streichelte Pewter mit der rechten Hand; ihre linke ruhte auf dem seidigen Kopf von Tucker, die sich zwischen sie und Fair gequetscht hatte. Die Hinterpfoten auf Harrys Knien, beobachtete Mrs. Murphy alles aufmerksam. »Ungewöhnliche Ereignisse.« Fair verließ Paris in westlicher Richtung. »Das kann man wohl sagen, aber vage fügt es sich zusammen - ich betone vage.« »Was?« Er wendete sich seiner Frau kurz zu und sah sie erstaunt an. »Renata hat ihr Ziel erreicht. Publicity noch und noch, und wenn sie heute Abend reitet, wird in Nachrichtensendungen, Unterhaltungssendungen und so weiter darüber berichtet werden. Sie ist nicht dumm. Aber daran denke ich nicht so sehr, sondern vielmehr an Jorge.« »Ah.« Auch er hatte sich Gedanken über den Mord gemacht. »Ich glaube, er hängt mit der Razzia zusammen, aber ich weiß nicht, warum.« »Wie kommst du darauf?«
»Bislang hat sich nichts ergeben - die üblichen Gründe für einen Mord, verschmähte Liebe, Habgier. Ich kann mir nur denken, dass Jorge irgendeine Verbindung zu den illegalen Arbeitern hatte.« Sie biss sich auf die Zunge; beinahe hätte sie ihm von dem Dieselmotor erzählt, den sie mitten in der Nacht gehört hatte, als sie sich vom Ausstellungsgelände stahl. Als Joan Jorge am nächsten Tag fragte, hatte er gesagt, er hätte nichts gehört. Jedenfalls wusste Fair noch nichts von ihrem Ausflug, und sie hielt es für besser, das für sich zu behalten. Das Problem war, dass sie noch nicht wusste, welche Fracht der Wagen geladen hatte. Sie konnte es nur vermuten. 128
»Was sonst noch? Keine Frauen, kein Alkohol, keine Drogen. Sicher, er könnte zu Prostituierten gegangen sein, aber deswegen wäre er nicht ermordet worden. Was könnte er getan haben, das ihn in eine derartige Gefahr brachte?« »Das ist ein gewagter Schluss, Harry.« »Ich weiß, aber ich glaube, sein Tod hängt damit zusammen. Ich kann es nur nicht beweisen.« Fair bog in eine der Nord-Süd-Straßen ein, die nach Lexington zurückführten, das jetzt etwa vierzig Minuten entfernt war. »Schauen wir noch bei Payson Stud vorbei. Das sind echte Pferdekenner. Sie verstehen sich auf Abstammungen und haben etliche Hengste im Stall, die nach vielen Jahren auf der Rennbahn gesund im Ruhestand sind. Danach können wir zu Paula fahren.« »Komisch, nicht, wie sich das Geschäft verändert hat.« »Wohl wahr. Saddlebreds haben sich verändert; die Hälse werden anscheinend immer länger. Vollblüter - darüber haben wir ad infinitum gesprochen - werden nur noch für kurze Distanzen über 1000 bis 1500 Meter gezüchtet. Ich finde das unerträglich.« In seiner Stimme klangen mehr Emotionen mit als sonst. »Sogar die Black and Tan Coonhounds werden verändert. Der American Kennel Club erkennt sie zwar nicht an, aber sie werden rassiger gezüchtet. Na ja, viele Leute mögen das schön finden, aber mit Schönheit allein ist es nicht getan. Immer wenn Amerikaner an Rassen herumpfuschen, machen sie sie leichter, vor allem den Knochenbau. Vergleiche nur mal einen echten Schäferhund aus Deutschland mit einem deutschen Schäferhund von hier.« »Irgendwie erschütternd.« Sie stimmte ihrem Mann aus vollem Herzen zu. »Die Züchter ruinieren eine Rasse, und dreißig, vierzig Jahre später versucht dann einer, sie auf die ursprüngliche Linie zurückzuzüchten. Das Schlimmste, das einem Hund passieren kann, ist, ein Modehund zu werden, und ich sag dir, für Pferde ist das auch nicht gut. Aber Gott sei Dank ist es viel teu
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rer, Pferde zu züchten, als Hunde, deshalb wird bei Pferden nicht so viel herumgepfuscht. Man soll ein Pferd nie seiner Bestimmung entziehen. Niemals.« Weil er für gewöhnlich so zugeknöpft war, sagte sie, erfreut über seinen Ausbruch: »Schatz, du solltest im Fernsehen auftreten. Du kannst komplizierte Zusammenhänge verständlich machen.« »Tatsächlich?« Er war geschmeichelt. »Ja, wirklich.« Sie hielt inne. »Das ist es, was mir bei Ned ein bisschen Sorgen macht. Er tut genau das Gegenteil.« »Er ist Anwalt.« Ned, Susan Tuckers Ehemann, war als Abgeordneter ins Unterhaus von Virginia gewählt worden. Dies war sein erstes Jahr, und das bedeutete eine große Umstellung für ihn und für Susan, Harrys Freundin von der Wege an. »Gut, dass Alicia dir diesen Auftrag gegeben hat.« »Sie will mir sogar eine Provision dafür zahlen, dass ich ein Pferd für sie finde und ausbilde.« Harry strahlte. »Es gefällt mir, selbst Geld zu verdienen.« »Ich weiß. Hey, die Weide da drüben ist wohl die größte, die ich je gesehen habe.« Er zeigte auf eine Weide neben einem alten Brunnenhaus, durch das ein Bach floss. »Da drunter sind vermutlich Leichen verscharrt.« »Harry.« Fair schüttelte den Kopf. »Na ja ...« Sie konnte nicht erklären, warum sie von Verbrechen so gefesselt war. »Joan hat mir von dem Mord an Verna Garr Taylor erzählt; es soll General Denhardt gewesen sein, und als er ungeschoren davonkam, haben ihre drei Brüder ihn abgeknallt.« »Bloß keine weiteren Morde in Shelbyville.« Er seufzte. »Jorge hat gereicht.« »Man weiß ja nie.« Harry klang tatsächlich hoffnungsvoll. »Harry.« Er schlug auf ihre linke Schulter. »Ich verbitte mir die Störung.« Pewter schlug die Augen auf, als Harry sich leicht bewegte. 129
»Ich habe nicht gesagt, dass ich auf einen weiteren Mord hoffe. Ich hoffe, Joans Brosche zu finden. Ich hoffe, dass jemand Jorges Mörder findet. Ich sage nur«, sie sprach langsamer, »man weiß ja nie.« Sie hatte recht.
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eil Boxenmieten ein Loch in Wards schmales Budget rissen, wurde
ein Pferd nach Absolvierung seiner Prüfung am Abend zum Gestüt
zurückgefahren, sofern das Tier nicht am nächsten Abend geritten wurde. In diesem Fall setzte Ward sich hin und rechnete aus, ob die zusätzlichen Fahrten in Anbetracht der horrend gestiegenen Benzinpreise mehr kosteten als die Boxenmiete für einen Tag. Er löste das Problem, indem er Pferde anderer Leute zu den verschiedenen Ställen transportierte, wenn er seine eigenen Pferde zum Gestüt zurückbrachte. Sein Transporter fasste sechs Pferde. Weil die Pferdebesitzer pro Meile bezahlten, betrug die Einsparung etwa dreizehn Dollar pro Tag - ein Taschengeld, aber ein Taschengeld war besser als gar kein Geld. Ward verwahrte das Bargeld für das Einschleusen der illegalen Arbeiter wohlweislich in einem mittelgroßen feuersicheren Tresor. Er verbuchte diese Gelder nach jeder Transaktion als Gewinne aus der Beförderung von Mulch zu Parkanlagen. Zwar rechnete er nicht damit, dass jemand seinen Tresor aufbrechen oder Behörden seine Aufzeichnungen filzen würden, aber er dachte voraus. Sein Wahlspruch hätte lauten können: »Rechne mit dem Schlimmsten, hoffe auf das Beste.« Ward hatte vor, einen jungen Hengst und vielleicht drei ausgezeichnete Zuchtstuten zu kaufen, sobald der angesammelte Betrag sich auf vierhunderttausend Dollar belaufen würde. Er wollte auf Nummer sicher gehen, weswegen er nach genau 130
dem richtigen Hengst aus der Rex Denmark Linie Ausschau hielt. Da Supreme Sultan, 1966 geboren, die Liste der Zuchthengste der in die Ruhmeshalle der Pferde aufgenommenen Zuchtstuten anführte, wollte er Stuten aus dieser Linie. Ob er das Zeug zum Züchten hatte, würde sich in ein paar Jahren zeigen. Dem einen Hengst würden weitere folgen, wenn Ward einigermaßen erfolgreich war, und die Decktaxen würden sein Trainergehalt und seine Einstelleinnahmen erheblich aufbessern. Er hatte die Kosten für die Errichtung eines Sechsbretterzauns um die Koppel des ersten Hengstes, die Kosten für einen sauberen, wenn auch kleinen Deckstall und die Kosten für den Samentransport errechnet. Ward überließ nichts dem Zufall, abgesehen von dem russischen Roulette des Züchtens. Das war nicht so einfach wie mit Mendels Erbsen. Er beneidete Joan Hamilton um ihren außerordentlichen Erfolg. Manche Leute besaßen diese Begabung, so wie Donna Moore aus Versailles die Begabung besaß, unglaubliche Eigenschaften zu erkennen und zu verbessern. Er und Benny hatten morgens um halb elf vor der Trainingshalle geparkt, um einen Wallach für einen Besitzer von Stall Drei nach Hause und das Pferd einer Besitzerin zu seinem eigenen Gestüt zu bringen. Er war nach dem Frühstück schon einmal zu seinem Gestüt zurückgekehrt, hatte überall nach dem Rechten gesehen, alle Pferde ins Freie gebracht und war dann mit Benny, der ihn mit Geschichten über eine verpatzte Verabredung am
Vorabend unterhielt, in den Transporter gestiegen. Klar, die Frau konnte sich mit Brüsten brüsten, aber der Rest von ihr war durch und durch neurotisch. Benny konnte Ward zum Lachen bringen, und die zwei hatten den ganzen Weg bis zu Wards gemietenen Boxen in Shelbyville gelacht. Ward hatte heute Abend zwei Pferde im Einsatz. Es dürfte ein entspannter Tag werden, mehr oder weniger. 131
Harry und Fair fuhren auf den an der Route 60 gelegenen Parkplatz. Sie waren in Hochstimmung, nachdem der Wallach auf Paulas Gestüt Rose Häven sie schwer beeindruckt hatte. Fair hatte eine gründliche Untersuchung vorgenommen und Paula nahegelegt, das Pferd von ihrem Tierarzt röntgen zu lassen. Fair hatte sein tragbares Röntgengerät nicht dabei. Mrs. Murphy, Pewter und Tucker streiften umher, um Spike zu besuchen. Cookie, die noch auf dem Kalarama-Gestüt war, würde erst zu den Abendveranstaltungen herüberkommen. Tucker freute sich darauf, weil sie der hübschen kleinen Jack-Russell-Dame allerlei Klatsch zu berichten hatte. »Hoffentlich hat Spike ein paar deftige Geschichten auf Lager.« Tucker schnappte nach einem tief fliegenden Chrysippusfalter. »Wären dir deftige Knochen nicht lieber?«, meinte Pewter, deren Gedanken meistens ums Futter kreisten. »Ich hätte nichts dagegen, aber du würdest keinen abkriegen.« Tucker grinste diabolisch. »Hundeknochen schmecken wie Pappe.« Pewter, die etliche Kauknochen angenagt hatte, übertrieb ein bisschen. »Prima, dann muss ich nichts abgeben.« »Aber ein Fleischknochen, ein echter Knochen, hm, das ist ganz was anderes.« Pewter kniff in Erinnerung an herrliche Genüsse die Augen halb zu. »Ihr hattet ein opulentes Frühstück. Wie könnt ihr schon wieder ans Essen denken?« Mrs. Murphy liebte Thunfisch, Hähnchen und Rindfleisch, aber sie war nicht aufs Fressen versessen. »Du musst dich mehr den Ritualen des Pläsiers hingeben«, erklärte Pewter. Mrs. Murphy und Tucker sahen sich erstaunt an. Wo hatte Pewter das nur aufgeschnappt? Die große graue Mieze hüpfte davon, und ihr Bauch schwabbelte hin und her. Sie frönte gewiss den Ritualen des Pläsiers. Die zwei Freundinnen hoben die seidigen Augenbrauen, dann folgten sie Pewter, die so gut gelaunt war, wie man sie kaum je gesehen hatte. Charly Trackwell war noch nicht im Stall. Carlos hatte die 131
Pferde getränkt und hatte noch einmal nach ihnen gesehen, nachdem sie gefressen hatten; jetzt ging er von einer Box zur anderen und hob Hufe an. Die Stallkatzen ruhten auf den Satteltruhen; ein Vormittagsschläfchen war
genau das Richtige an einem Tag, der bei hoher Luftfeuchtigkeit über dreißig Grad heiß zu werden verhieß. Spike lag auf einer alten blauroten Satteldecke auf der Seite und schnarchte. Seine Pfoten zuckten. »Lassen wir ihn schlafen«, flüsterte Mrs. Murphy. Ein erschrecktes Pferd veranlasste den rotbraunen Kater, ein Auge aufzumachen, und dann Heß ein gellender Schrei ihn und die anderen Stallkatzen hochfahren. Mrs. Murphy, Pewter und Tucker reckten die Hälse und erblickten Miss Nasty, die sich in einem orangeroten Tupfenkleid von einem Dachbalken schwang. Das Pferd beäugte sie mit größtem Misstrauen. Carlos hörte das Pferd scheuen und schaute schnell in die Box, sah aber Miss Nasty zunächst nicht. Die schwang sich hinunter und schnappte sich Carlos' schmutzige Baseballkappe. Dann huschte sie mit der Kappe in der Hand über die Balken. »Meins, meins, meins!«, triumphierte das braune Geschöpf. Carlos lief erbost unter den Balken. »Diablo!« »Haha.« »Ich hasse dieses abscheuliche Stück.« Pewter schürzte verächtlich die Lippen. »So was Gemeines.« Spike hielt sich nicht mit Worten auf, sondern kletterte am Boxenpfosten hoch und lief über den breiten Balken zu dem Affen. »Du bist in meinem Revier, Untier. Mach bloß, dass du aus meinem Stall kommst.« Benny, der gerade am Stall vorbeiging, hörte die Schreie des Affen. Er steckte den Kopf herein. »Ich erschieße sie«, drohte Carlos. »Tu das nicht, Carlos.« Benny lächelte. »Sonst erschießt Booty dich. Wenn du ihr den Rücken zukehrst, ist sie enttäuscht und lässt deine Kappe fallen.« *132 »Nein, tu ich nicht. Ich reiß sie in Fetzen«, prahlte Miss Nasty; gleichzeitig behielt sie Spike, der sich ihr aufgeplustert näherte, feindselig im Blick. »Du wirst drauf pissen, Miss Nasty.« Mrs. Murphy hoffte sie abzulenken, sodass Spike ihr eine knallen konnte. »Wir wissen, dass du auf Sachen pisst.« »Ihr etwa nicht?« Miss Nasty drehte die Kappe in den Händen, setzte sie sich dann auf den Kopf, doch sie rutschte ihr über die Augen. Sie zog sie rasch ab und winkte damit Spike zu. Carlos ging mit Benny ans Ende des Stalls Richtung Parkplatz. »Funktioniert nicht.« »Nur Geduld.« Benny setzte seine grüne Baseballkappe mit dem weißen Logo ab. »Hier, nimm meine. Ich mag deine kahle Stelle nicht sehen.« »Ich hab keine kahle Stelle.«
»Wenn du dir wegen dem verdammten Affen die Haare raufst, wirst du bald eine haben.« Lachend ging Benny zum Wagen. Der alte Transporter brummte, spuckte, sprang an und erstarb. Benny wusste nicht, ob es der Anlasser war oder die Batterie, und er wollte sich später darum kümmern. Doch jetzt wollte er den Motor starten und ein paar Minuten laufen lassen, ehe er die Pferde auflud. Da Carlos sich wieder an die Arbeit machte, winkte Miss Nasty, ihres menschlichen Publikums beraubt, Spike mit der Kappe zu. »Katzen sind dumm. Die Menschen stammen von mir ab. Darum bin ich klug.« »Dann musst du für eine Menge geradestehen«, sagte Mrs. Murphy sarkastisch, während sie an der gegenüberliegenden Box hochkletterte, damit sie und Spike den Affen zwischen sich nehmen konnten. Als Spike das sah, näherte er sich langsam. »Ich stamme von einem Säbelzahntiger ab. Ich verspeis dich zum Mittagessen.« » Vergiß nicht, ihr vorher das lächerliche Kleid auszuziehen«, ermahnte Mrs. Murphy ihn. 133
Miss Nasty stellte sich auf die Hinterbeine und machte sich so groß, wie sie konnte. »Orange steht mir gut.« »Einbildung ist auch 'ne Bildung.« Pewter lachte von unten hoch; Tucker setzte sich direkt unter den schnatternden Affen. »Oje, du müsstest Übergrößen kaufen«, rief Miss Nasty hinunter, just als Spike auf sie zustürmte. Die Affendame stieß einen Schrei aus, sprang über den rotbraunen Kater hinweg und ließ dabei die Kappe fallen. Sie rannte auf Teufel komm raus zum anderen Ende des Stalls. Spike nahm die Verfolgung auf. Tucker hob die Kappe auf und wartete auf Carlos, der aus der Box kam, weil der Affe ein Chaos anrichtete. »Dauernd läuft sie Booty weg.« Pewter sprach aus, was offensichtlich war. »Und sie klaut. Charly hat sich gestern einen abgeflucht, weil sie in seinem Stall war und mit den bunten Stirnbändern weggelaufen ist, die er an die Genickstücke am Zaum macht.« Mrs. Murphy, die parallel zu dem Affen auf dem gegenüberliegenden Balken lief, rief nach unten: »Mich laust der Affe, ich hab's!« »Was?«, fragte Pewter, die den Vorgang von unten verfolgte. »Sie hat Joans Brosche geklaut!«, brüllte Mrs. Murphy. Tucker, die nicht sprechen konnte, weil sie Carlos' Kappe in der Schnauze hatte, ließ sie fallen. »Miss Nasty, wo hast du die Brosche?« »Sag ich nicht!« Miss Nasty rutschte am Pfosten der letzten Box herunter und lief mit gestrecktem Schwanz, so schnell sie konnte, aus dem Stall. Spike flitzte hinunter und jagte sie bis ans Ende der Trainingshalle, dann kehrte er um, just als Benny in den Stall kam. Der alte Transporter lief ratternd auf dem Parkplatz warm. Benny hob Carlos' Kappe auf, und der
erste Pferdepfleger trat aus der Box, allerdings zu langsam, um dem Affen mit einem Besen eins überzubraten. Die zwei Männer tauschten die Kappen aus, und Spike kam 134
aufgeplustert wie ein siegreicher Held in den Stall zurück. »Sie hat's zugegeben! Sie hat die Brosche.« Mrs. Murphy war außer sich. »Wir müssen sie zurückholen.« Eine ungeheure Explosion erschütterte die Dachbalken des Stalls. Staub flog auf und sank dann herab. Die Tiere warfen sich flach auf den Bauch. Die Pferde wieherten ängstlich. Carlos und Benny taumelten seitwärts, fanden aber das Gleichgewicht wieder. Die Tiere krochen an das Ende des Stalls, das auf den Parkplatz hinausging. Wards grünweißer Transporter brannte: Die Vorderseite war weggerissen, Motorteile waren über den Parkplatz verstreut, und dicke schwarze Wolken stiegen hoch. »O Gott, o Gott.« Benny legte die rechte Hand aufs Herz. »Gott hat nichts damit zu tun.« Mehr als alles andere wünschte Mrs. Murphy, dass ihre Menschen schleunigst nach Crozet in Virginia zurückkehrten. als Harry, Fair, Booty und noch andere Leute auf dem ViLParkplatz ankamen, hatten die Flammen die Reste des Transporters verzehrt. Zum Glück betraf der einzige weitere Schaden die Windschutzscheibe eines Wagens, der fünfzig Meter von dem Transporter entfernt parkte. Ein Trümmerstück hatte sie durchschlagen. Während die Leute hilflos zusahen, lief Benny zu Ward, der, als er die Explosion hörte, das zu transportierende Pferd in eine Box zurückgebracht hatte. Er wusste nicht, was passiert war, dachte sich jedoch, der Tumult würde das Pferd in Panik versetzen, sodass es womöglich durchging. Die zwei Männer liefen jetzt zum Parkplatz. »Der hab ich 's gezeigt. 134
Carlos, der so nah am Geschehen gewesen war wie Benny, erklärte den anderen, was er gehört und gesehen hatte. Charly war wenige Minuten, bevor der Transporter explodierte, auf den Parkplatz an der Route 60 gefahren. Auch er kam jetzt herbeigelaufen. Booty rannte Ward und Benny entgegen. »Mann, tut mir leid. So ein verdammtes Pech.« Charly, der das hörte, sagte unverblümt: »Pech? Benny könnte tot sein.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Ich garantiere euch, wenn die Polizei das, was noch übrig ist, untersucht hat, wird man feststellen, dass es eine Bombe war.« »Wir sind hier nicht in Bagdad.« Booty runzelte die Stirn.
Ward legte Benny wortlos den Arm um die Schultern. Benny flüsterte leise: »Jemand will uns tot sehen.« »Nur mich, glaube ich.« Wards Stimme war noch leiser als Bennys. Renata war auf den Parkplatz gefahren. Sie hatte den schwarzen Rauch aufsteigen gesehen, aber die Ursache nicht ausmachen können. Als sie sah, dass es kein Buschfeuer war, wollte sie umkehren, aber sie hörte die Feuerwehr und wusste, dass sie nicht fortkonnte, weil sie das offene Tor des Geländes fast gleichzeitig erreichten. Deswegen wendete sie und fuhr vorsichtig hinter den langgestreckten Stall, wo Charly seine Pferde hielt. Sie stieg aus und lief zum Schauplatz des Geschehens. Sie erreichte die kleine Menschengruppe, als die Feuerwehrautos und der Streifenwagen des Sheriffs auf den Parkplatz rasten. »Was ist passiert?«, fragte Renata. Charly sagte unumwunden: »In Wards Transporter ist eine Bombe explodiert.« »O Gott.« Sie ging rasch zu Ward, wusste aber nicht recht, was sie sagen sollte, weshalb sie ihn und dann Benny umarmte. Renata fragte sich, ob dieses Turnier mit einem Fluch belegt war, aber sie behielt ihre Befürchtungen für sich. Sie konnte 135
emotional sein, aber sie konnte ihre Gefühle hinter denen anderer zurückstellen. Im Moment hatte Ward Trost nötig. Booty murrte: »Charly, sag nicht dauernd, dass in dem Transporter eine Bombe explodiert ist. Es könnte alles Mögliche gewesen sein. Kommt ja vor, Kabel schmoren durch, der Brand kommt mit Fett oder Benzin in Berührung. Wumm!« »Booty, ich war Sprengstoffexperte.« Charly sprach von seinem Kriegsdienst. »Ich sag euch, jemand hat eine Bombe in Wards Wagen gelegt. Eine, die fünf Minuten nach dem Anlassen hochgeht.« Harry stellte die Frage, die auch anderen durch den Kopf ging: »Warum?« »Verdammt, woher soll ich das wissen?«, brummte Charly grimmig. Renata sagte ruhig, aber bestimmt: »Wir sind alle erschüttert, Charly, lass es nicht an Harry aus.« »Du hast recht. Harry, ich entschuldige mich.« »Ist schon gut.« Harrys Augen tränten, weil der Wind den Qualm zu ihnen hinüberwehte. »Komm, wir gehen«, schlug Fair vernünftigerweise vor. »Sheriff Howlett weiß, wo er uns finden kann. Hier stören wir nur.« Benny, der jetzt zitterte, weil der Schock über das Geschehene eingesetzt hatte, sagte: »Mein Lieblingstaschenmesser war in dem Wagen.«
Ward versuchte sich zu erinnern, ob er etwas Wertvolles im Fahrerhaus oder in der Pferdebox des Transporters gelassen hatte. Bis auf zwei Lederhalfter und Führstäbe fiel ihm nichts ein. Auf dem Rückweg zu Stall Fünf fasste Harry Fair am Arm. »Wo sind die Kinder?« »Ich denke, die Explosion hat ihnen eine Heidenangst eingejagt. Sie werden im Stall sein.« Sie waren dabei, Miss Nasty durch Bootys Stall zu jagen. Der Affe kreischte, was das Zeug hielt. Angesichts des Tumults auf dem Parkplatz achtete kein Mensch auf den erzürnten Affen. 136
Mrs. Murphy hielt mit Miss Nasty Schritt, als diese Dachsparren erklomm und sich auf Balken fallen ließ, während Pewter und Tucker sie unten vom Gang aus beschatteten. Miss Nasty quetschte sich unter einer Dachtraufe durch und kletterte auf eine große Lampe über dem Haupteingang des Stalls. Dort blieb sie sitzen und kreischte Unflätiges und Schmähungen. Obendrein versuchte sie auf Pewter und Tucker zu pinkeln, die gerade aus dem Stall aufgetaucht waren, aber sie duckten sich schleunigst wieder hinein. Mrs. Murphy kletterte rückwärts an einem Boxenpfosten hinunter und lief zum Haupteingang. Sie rief zu dem Affen hinauf: »Sag mir, wo die Brosche ist, und ich lass dich in Ruhe.« »Nie! Nie!« »Warum hast du sie geklaut?«, fragte Tucker und flitzte dann schnell zur Seite. Da Miss Nasty sich vollständig entleert hatte, war Tucker außer Gefahr. Als dies den zwei Katzen klar wurde, liefen sie auch hinaus und beäugten den Affen, der sich auf die Lampe schwang, was er bestimmt nicht getan hätte, wenn es Abend und die Lampe eingeschaltet gewesen wäre. »Gestehe, Miss Nasty.« Pewter fand den Affen noch schlimmer als den Blauhäher, der bei ihr zu Hause immer auf sie herabstieß. »Hübsche Mädels brauchen hübsche Sachen.« Miss Nasty warf sich in Positur. »Meine Güte, sind wir aber von uns eingenommen«, schnurrte Pewter boshaft. Mrs. Murphy änderte ihre Taktik. »Wie schaffst du's, Booty wegzulaufen?« »Kinderspiel.« Sie warf sich in die Brust, drehte sich wieder um. »Zeig's mir«, stachelte Tucker sie an. Zu schlau, um darauf hereinzufallen, trällerte Miss Nasty nur: »Ich hab da so meine Methoden.« »Ich dachte, erschließt dich in dem großen goldenen Käfig ein.« 136
Pewter rückte listig etwas näher an die Holzseite des Stalls heran. »Von wegen golden. Der ist weiß gestrichen.« Miss Nasty betrachtete jetzt ihre Nägel. »Aber erschließt ihn ab}«, rief Pewter hinauf.
»Ja.« Sie grinste von einem Ohr zum anderen. »Ich komm überall rein oder raus.« »Du bist nicht in den Wagen reingekommen, der eben explodiert ist?« Mrs. Murphy hatte gemerkt, dass Miss Nasty viel mehr wusste, als sie sagte. »Nein.« Die Affendame sah hinunter und grinste wieder, aus Freude über ihre überlegene Stellung. »Du kannst mich nicht austricksen. Ich bin zu schlau.« »Du begleitest Booty überallhin, nicht?« Mrs. Murphy blieb am Ball. »Außer zu Verabredungen mit Frauen.« »Wenn du dabei wärst, würde die Verabredung eine Katastrophe.« Pewter lachte. Miss Nasty zeigte ihr den Vogel, eine Geste, die sie Booty abgeguckt hatte. »Fette Schlampe.« »Du kannst mich mal«, schoss Pewter zurück. »Hätte große Lust dazu.« Miss Nasty entblößte die Zähne. »Igitt.« Pewters Pupillen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Mrs. Murphy zischte leise: »Pewter, sei still. Lass mich das machen.« Pewter funkelte ihre getigerte Freundin böse an, hielt aber den Mund. »Du weißt, dass Booty die Mexikaner hierherbringt«, erklärte Mrs. Murphy. »Woher weißt du das?« »Ich hab dich am Donnerstag mitten in der Nacht in Charlys Stall gesehen.« »Was hast du da gemacht}« Miss Nasty war neugierig geworden. 137
»Harry konnte nicht schlafen, deswegen ist sie in den Stall gegangen, um nach den Pferden zu sehen. Das war der Abend, nachdem Charly und Renata den großen Krach hatten. Sie hat Queen Esther, Voodoo und Shortro aus seinem Stall genommen.« Tucker sah lächelnd nach oben. »Gutes Geschäft.« »Ja, bis diese Saftsäcke aufgekreuzt sind.« Miss Nasty war verwöhnt und wollte, dass Booty viel Geld verdiente, damit sie noch mehr Spielsachen, Süßigkeiten und Kleider bekam. »Hast du Jorge gekannt?«, fragte Mrs. Murphy. »Nicht richtig. Er hatte was mit diesen Geschäften zu tun, ich weiß aber nicht, was. Booty arbeitet mit Leuten in Texas zusammen. Charly hat mit Jorge zusammengearbeitet. Alle drei haben die Leute bei ihren Arbeitgebern abgeliefert.« »Wer hat Bootys Haarfarbe genommen?« Tucker war überzeugt, dass die Flaschen benutzt worden waren, um Queen Esthers Hals und Beine schwarz zu färben. Der Affe riss die Augen weit auf. »Sprich nie wieder davon. Booty würde sterben.« »Weil er das Pferd gefärbt hat?« Pewter konnte nicht mehr an sich halten. »Mit dir rede ich nicht.« Miss Nasty schnitt eine Grimasse. Tucker wiederholte Pewters Frage: »Ist es, weil er Queen Esther gefärbt hat?« »Nein. Er will nicht, dass irgendwer merkt, dass er grau ist. Er würde sterben.« Miss Nasty war Booty gegenüber sehr loyal. »Er fürchtet sich vor dem Altwerden.«
»Wer hat Queen Esther gefärbt?« Tucker wusste es, aber sie stellte den Affen auf die Probe. »Booty war's nicht. Aber ich bin ja nicht überall.« Sie drehte sich wieder um. »Ich mag nicht mehr darüber sprechen. Ich will über mich sprechen. Wisst ihr, dass ich ein Himbeereishörnchen schneller essen kann als Booty? Kann ich wirklich. Und ich kann auch mit dem Büchsenöffner umgehen, ich krieg jede Dose in der Küche auf, wenn ich Hunger habe. Wetten, das könnt ihr nicht.« Ein boshafter Schalk blitzte in ihren Augen auf. »Pewter vielleicht.« 138
»Fahr zur Hölle!«, knurrte Pewter und entblößte die Reißzähne. Just als Harry und Fair zu Stall Fünf kamen, klatschte Miss Nasty in die Hände. Die Menschen erspähten die Tiere an Stall Eins. »Kommt, Kinder«, rief Harry. Zögernd wendeten sich die drei Freundinnen von dem Affen ab. Miss Nasty rief ihnen nach: »Ich weiß dies und das.« »Wir wollen nur Joans Brosche«, rief Mrs. Murphy zurück. »Ich töte sie«, drohte Pewter. »Das käme mir nicht ungelegen«, stimmte Tucker zu. »Nicht bevor wir die Brosche finden«, Mrs. Murphy hielt inne, »und den Rest.« »Welchen Rest}« Pewter fand, der Affe war ein Angeber. »Was sie weiß.« Mrs. Murphy blickte über die Schulter auf Miss Nasty, die mit einer Hand an der Lampe hing und mit der anderen eine obszöne Geste machte.
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D
er beißende Rauch machte vielen Pferden Angst. Trainer und Pfleger
taten ihr Bestes, um die Tiere zu beruhigen. Das alles verhieß nichts Gutes für diejenigen, die an diesem letzten Abend ihren Auftritt hatten. Die schwarzen Rauchschwaden schwanden langsam, als die Feuerwehrmänner den Wasserschlauch auf den Transporter und die zischenden Trümmer richteten. Die Flammen erstarben, aber der Geruch nach verbranntem Gummi und verbrannten Polstern hielt sich. Fair rief Larry an, der in Kalarama mit einem Pferd an einem Jogger arbeitete, einem leichten Sulky, mit dessen Hilfe die
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Ausdauer eines Pferdes trainiert wurde. Die Ausbildung eines Saddlebreds erforderte wie jedes Pferdetraining Geduld, Sachkenntnis und diverse Methoden. Harry brauchte keinen Jogger; sie konnte ihr Bein über ein Pferd schwingen und kilometerweit über Land traben. Saddlebred-Ausbilder arbeiteten auf ihren Gestüten auf Reitbahnen und in Reithallen. Sie ritten selten über Land. Fair versicherte Larry, dass in Stall Fünf alles in Ordnung
war und dass er, Harry und Manuel sowie die anderen Pfleger alles Notwendige taten, um die Pferde zu beruhigen. »Müssen sie medikamentös beruhigt werden?«, fragte Harry, als Fair sein Handy ausschaltete. »Erst mal sehen, ob wir es ohne hinkriegen«, sagte Fair zu Harry und Manuel. »Vor dem Turnier gebe ich ihnen ungern Tranquilizer, auch wenn es Stunden vorher ist.« Begleitet von Mrs. Murphy, Pewter und Tucker suchten die Menschen die einzelnen Boxen auf. Bevor Charly und Booty wieder in ihre Ställe gingen, zog Ward sie beiseite. »Ich trage das große Risiko.« Er nieste heftig, und sie entfernten sich ein Stück weit von dem Qualm. »Es war mein Transporter, nicht eurer, also hat wer was spitzgekriegt.« »Zieh bloß keine falschen Schlüsse«, riet Booty ihm. »Du hast leicht reden. War ja nicht dein Transporter.« »Wir besorgen dir einen neuen«, bot Charly an und klopfte Ward auf die Schulter. »Ein heimlicher Segen. Du kassierst die Versicherungssumme. Wir kaufen dir einen nagelneuen, zuverlässigen Transporter. Dann sind alle zufrieden.« Wards Mund zuckte leicht. »Es muss eine gerechte Dreiteilung geben. Ich bin derjenige, der die Last trägt, nicht ihr zwei. Ich habe deine Arbeiter noch auf meinem Gestüt, Charly.« »Wir treffen die Vereinbarungen.« Booty fuhr sich mit der Hand übers Haar. Auf seiner Handfläche erschien ein dünner, dunkler Film, den er an seiner Jeans abwischte. 139
»Ruß«, sagte Charly wissend und befühlte die eigenen Haare. »Ward, ich verstehe deinen Standpunkt. Aber Booty und ich haben die Verbindungen. Wir leisten die Zahlungen an unseren Mann in Texas.« Ward hob die Augenbrauen. »Euren Mann oder einen unabhängigen Vermittler?« »Vermittler.« »Ich finde nicht, dass es so laufen sollte.« Ward war erregt, immerhin hätte es ihn oder Benny oder beide böse erwischen können. »Ich dachte immer, Jorge war der Mittelsmann.« Es entstand eine kurze Pause, dann sagte Booty: »Er war durchaus hilfreich, aber es gibt da jemand in Texas. Als wir uns aufs Geschäft geeinigt hatten, haben wir dir gesagt, dass wir«, er nickte zu Charly hin, »für die Rekrutierung und Vermittlung zuständig sind. Du besorgst die Lieferung.« »Ich fahre mit meinem Transporter nach Memphis oder Louisville. Herrje, einmal musste ich bis nach St. Louis. Ich weiß sehr wohl, dass der Grenzübertritt auf den Flüssen leichter ist als auf den Straßen, und ich
mache die Fahrt, um die Jungs am Fluss aufzulesen. Ich werde angehalten, nicht ihr. Und ich sage euch, jemand hat was spitzgekriegt.« »Trotzdem, dass dein Wagen explodiert und verbrannt ist, könnte an schadhaften Kabeln gelegen haben.« Booty redete um das Hauptproblem herum. Charly sagte: »Booty, es war eine Bombe. Darauf verwette ich mein Leben.« Mürrisch, weil ihm widersprochen wurde, fauchte Booty: »Hoffen wir, dass es nicht dazu kommen muss.« »Nein, hier wird mein Leben verwettet. Wenn ich dieses Risiko auf mich nehme, will ich ein Drittel Anteil. Wenn nicht, steig ich aus.« »Ach ja?« Booty verschränkte die Arme. »Mitgegangen, mitgefangen«, sagte Charly unbekümmert. »Woher weiß ich, dass du nicht zu den Bullen rennst, um deine Haut zu retten?« Booty verengte die Augen zu Schlitzen. 140
Ward, dessen Emotionen kurz vorm Überkochen waren, hob die Stimme. »Red keinen Stuss, Booty.« »Schsch, schsch.« Charly hob beschwichtigend die Hände. »Verdammt!« Booty sprach immerhin leise. »Wenn ich mit euch allen ein falsches Spiel getrieben hätte, säße ich jetzt im Knast. Die würden mich nicht frei rumlaufen lassen. Geständnis gegen mildere Strafe, das ist doch ein schwachsinniger Kuhhandel. Ich würde trotzdem eingebuchtet.« Wards Stimme klang drängend und ängstlich. »Aber du würdest nicht so viele Jahre kriegen«, erwiderte Booty. »Ich will gar keine Jahre kriegen. Ich sehe das als notwendiges Geschäft, Angebot und Nachfrage.« »Sehr richtig«, stimmte Charly Ward zu und hoffte, damit die Lage zu entschärfen. »Dass es illegal ist, ist doch lächerlich. Die werden die Gesetze ändern müssen.« Auch Ward senkte die Stimme. »Weiße sind für diese Arbeit nicht zu haben.« Er lächelte matt. »Doch bis dahin verstoßen wir gegen das Gesetz. Ich werde dafür büßen. Ihr zwei seid in Sicherheit. Freilich, während ich im Knast sitze, findet der Kongress vielleicht einen Weg, um die Jungs zu legalisieren. Dann habt ihr zwei einen Vorsprung in einem redlichen Geschäft, während ich Tüten klebe.« »Wenn der, der deinen Transporter in die Luft gejagt hat, derselbe ist, der Jorge umgebracht hat«, Charly hakte seinen Daumen in seine Gürtelschlaufe, »dann sind Booty und ich nicht in Sicherheit. Ich hab mir darüber Gedanken gemacht.« »Du denkst zu viel.« Booty hob aufgebracht die Hände. »Für mich sieht der bedauerliche Mord an Jorge nach einem Verbrechen aus Leidenschaft aus.«
»Du meinst, eine Frau hat ihm die Kehle aufgeschlitzt?« Ward war skeptisch. »Nein, ein Bruder, ein anderer Liebhaber. Zu brutal.« Booty präzisierte: »Zu brutal, um rein geschäftlich zu sein.« »Die Mafia hat das nie aufgehalten.« Charly sprach das Of 141
fensichtliche aus, was Booty nur noch mehr erzürnte. Charly, der das merkte, fügte hinzu: »Aber es könnte was dran sein an dem, was du sagst.« Booty sah zu den Feuerwehrleuten und dem Sheriff hinüber. »Wir müssen dieses Treffen abbrechen. Ich muss zu meinen Pferden. Ich rate euch, und besonders dir, Charly, sag um Gottes willen nichts von einer Bombe. Die sollen das selbst rauskriegen. Wenn's so weit ist, überlegen wir uns was anderes und versuchen dahinterzukommen, was los ist. Vielleicht hat Ward recht, vielleicht hat wer was spitzgekriegt.« »Was ich nicht verstehe - warum will man uns Angst einjagen? So was tun Drogenbarone. Passt irgendwie nicht zusammen.« Charly unterdrückte seine Besorgnis und hoffte, dass sie seinem Gesicht nicht anzusehen war. »Ob's passt oder nicht, ein Mann ist tot, mein Transporter ist verkohlt.« »Wir kaufen dir einen neuen«, wiederholte Charly, als spräche er zu einem Kind. »Ein Drittel Anteil und einen Transporter.« Ward sah den zwei Männern direkt in die Augen, dann schaute er wieder auf seinen Transporter. »Charly und ich müssen darüber reden.« Booty versuchte Zeit zu gewinnen. »Jetzt oder nie, Booty. Ich bin nicht der Blödmann, für den ihr mich haltet.« »Ich schlage vor, wir nehmen ihn als gleichberechtigten Partner auf. Er hat sich die letzten zwei Jahre bewährt, und er riskiert - vorerst - mehr als wir.« Booty war fuchsteufelswild, weil Charly, wie er es sah, nachgegeben hatte, aber er stimmte zähneknirschend zu. »In Ordnung.« »Und wir fangen am besten gleich an, rumzuschnüffeln.« Ward ließ die Schultern sinken; er war so angespannt gewesen. »Du könntest der Nächste sein.« »Ach Quatsch.« Booty spuckte auf den Boden. 141
»Booty, sei dir nicht so sicher, dass du nicht mit durchschnittener Kehle endest. Wir stehen alle auf der Liste, ich schwör's.« Wards Stimme zitterte leicht. »Himmel nein, Booty wird von seiner Exfrau ermordet. Sie fängt ganz unten mit dem Messer an und arbeitet sich bis zu seiner Kehle rauf.« Charly konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. »Miss Nasty bringt sie auch um«, fügte Ward hinzu, der sich an Bootys plötzlichem Unbehagen weidete.
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A
ls der Rauch abgezogen war, beruhigten sich auch die Pferde wieder.
Egal was passiert, selbst im Krieg, Pferde müssen versorgt werden. Manuel hielt alles in Gang, nachdem das Schlimmste vorbei war, sodass Fair und Harry sich um andere Dinge kümmern konnten. Kaum hatte Fair Stall Fünf verlassen, als Booty ihn zu seinem Stall hinüberwinkte. Miss Nasty auf seiner Schulter winkte ebenfalls. »Eine Stute liegt fest.« Fair machte sich auf den Weg zu dem Stall. Das Tageslicht war so hell, dass er blinzeln musste. »Harry, dürfte nicht lange dauern«, rief er über die Schlüter. Ein Pferd, das festliegt, hat sich in seiner Box hingelegt und kann nicht mehr aufstehen. Manchmal ist es Dummheit; das Pferd ist buchstäblich in einer Ecke festgeklemmt und bekommt Panik. Oder aber ein Pferd hat sich niedergelegt und es sieht aus, als würde es festliegen, ist aber krank, obwohl es vorher keinerlei Anzeichen für eine Krankheit gab. Man merkt es erst, wenn man zu dem Pferd in die Box geht. Booty, der kein Risiko einging - der Tag war aus seiner Sicht eh schon schlecht gelaufen -, war froh, dass Fair da war.
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Wenn die Stute nur festlag, konnten die Männer ihr aufhelfen. Aber auch dann wollte Booty sie von Fair untersuchen lassen. Vermutlich hatte sie wegen des Qualms, des Feuers und des Tumults einen Anfall bekommen und sich niedergelegt. Harry, die sich selbst überlassen war, ging zur Trainingsbahn und fand sie verlassen vor. Was angesichts des in nächster Nähe verbrannten Pferdetransporters verständlich war. Mit Erlaubnis der Veranstaltungsleitung arbeiteten die Leute mit ihren Pferden auf der Reitbahn. Auf einer improvisierten Versammlung beratschlagten die Funktionäre, teils über Konferenztelefon, ob sie die Samstagsveranstaltungen ausfallen lassen und alle nach Hause schicken sollten. Nach Betrachtung sämtlicher Aspekte beschlossen sie jedoch weiterzumachen. Sie hatten noch mehr zu beratschlagen, weil der nächste Schritt teuer werden würde; aber sie kamen schließlich überein, zusätzliche Sicherheitskräfte anzuheuern. Unter anderen Umständen hätte dies eine Beleidigung für das Sheriffbüro bedeuten können. Aber Sheriff Howlett war überlastet, darum war er erleichtert. Diese Woche war für seine Abteilung die Hölle gewesen. Harry sah den Bahndirektor zum Parkplatz gehen und begab sich zur Reitbahn. Mrs. Murphy, Pewter und Tucker zockelten mit. Wegen der hoch
stehenden Sonne duckte sie sich unter die überdachte Tribüne an der Ostseite der Bahn. Ganz vorn saß Renata. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?«, fragte Harry. Obwohl Harry sich ziemlich sicher war, dass Renata ihr eigenes Pferd »gestohlen« hatte, konnte sie sie mit jedem Tag besser leiden. Renata war nicht dumm, sie liebte Pferde und blieb trotz allem, was abgesehen von Queen Esther noch passiert war, mit beiden Füßen auf dem Boden. »Bitte.« Die zwei Frauen sahen drei Pferden, an deren langen Hufen kleine Ketten hingen wie Armbänder, beim Traben zu. 2IO
»Heiß. Hoffentlich sind die Männer so vernünftig, das Training abzukürzen.« Harry verabscheute es, wenn ein Pferd schlecht behandelt oder zu hart rangenommen wurde. »Ich denke doch.« Renata beugte sich vor, die Ellenbogen auf den Knien. »Vor allem aber denke ich, dass sie dadurch abgelenkt werden sollen, damit sie die Explosion vergessen.« Sie hielt inne. »Charly schwört, es war eine Bombe.« »Er sollte sich auskennen.« Harry beugte sich ebenfalls vor, da die Tribünenbänke keine Rückenlehnen hatten. Mrs. Murphy und Pewter kletterten auf die oberste Bank, weil Vögel ihre Nester unter den Balken gebaut hatten. Sie konnten nicht an sie heran, aber sie konnten ihnen zuhören und sich nette Gedanken machen. Tucker blieb bei Harry. »Sprechen Sie und Charly wieder miteinander?« »Mehr oder weniger.« Renata zupfte an den Zipfeln des Cowboy-Halstuchs, das sie sich umgebunden hatte. So ein Halstuch erwies sich als nützlich, wenn Staub aufgewirbelt wurde. Man schob es über die Nase und konnte besser atmen als ohne. »Ich bin überrascht, dass Sie mit Queen Esther nicht in Kalarama sind. Reiten Sie heute Abend nicht?« Sie wandte Harry ihr schönes Gesicht zu. »Ich bin feige.« »Weil Sie nicht viel mit ihr gearbeitet haben?« »Nein. Hier ist zu viel Schreckliches passiert. Ich will nicht, dass meine Stute verletzt wird.« Sie atmete tief durch. »Und ich will auch nicht verletzt werden. Publicity ist ja gut und schön, aber Queen Esther ist mir wichtiger.« Renata bereute es jetzt, diese Publicity verursacht zu haben, mochte es jedoch nicht offen zugeben. »Das verstehe ich.« Harry atmete ein, die stickige Luft drückte ihr auf die Kehle. »Aber Sie sind die Hauptattraktion.« »Nein.« Renata lächelte entwaffnend. »Die Hauptattraktion ist das Fünfgänger-Rennen, Charly und Booty Kopf an Kopf.«
»Larry nicht zu vergessen.« »Point Guard dürfte gut abschneiden, aber das Rennen wird zwischen Friedrich dem Großen und Senator entschieden. Point Guard ist jung. Er hat noch viel Zeit.« Charly kam mit Carlos auf die Bahn; Carlos führte einen hellbraunen Wallach mit hoher Kopfhaltung. Das Pferd besaß die gewünschten Saddlebred-Eigenschaften: langer Hals, gute Kopfhaltung, langer, starker Rücken, kräftige Kruppe. Er warf das rechte Vorderbein etwas zur Seite. Dieser kleine Makel würde seine Leistung in keiner Weise beeinträchtigen, aber wenn er in einer Prüfung mit einem Pferd ritt, das ihm in der Ausführung ebenbürtig war, würde er in der Bewertung hinter diesem Pferd zurückstehen. Eine Schleife wäre ihm trotzdem sicher. »Das Pferd habe ich noch nie gesehen.« Harry konnte sich an Pferde, Hunde und Katzen erinnern wie die meisten Leute an Menschengesichter. »Charly hat ihn aus Indiana geholt. Er ist am Beginn seiner Karriere. Nach diesem Training kommt er gleich wieder zum Gestüt. Aber wir sind hier verabredet, damit ich ihn beobachten kann - ist für uns beide heute leichter so, und, hm, wer weiß?« Sie hob die Hände. Charly tippte vor den Damen an seinen Panamahut, während er den Wallach langsam herumführte, dem Tier Zeit ließ, sich zu entspannen, die Beine zu strecken. Sogar im Schritt hatte das Pferd einen ausgreifenden, fließenden Gang. »Schöne Bewegungen.« Harry sah aufmerksam zu. »Charly sagt, er reitet sich leicht.« »Wie teuer?« »Heute vierzigtausend. Wenn er in größere Turniere einsteigt und sich bewährt, wird sich der Preis rasch verdoppeln.« Sie stützte das Kinn auf die Faust. »Ich brauche mehr Pferde; Pferde, die ich reiten kann. Ich bezahle das viele Geld doch nicht, um zuzusehen, wie jemand anders meine Pferde reitet.« Harry lachte. »Man fängt mit einem oder zweien an; zwei sind besser, weil Pferde nicht allein sein sollten, sie brauchen einen Freund. Ehe man sich's versieht, hat man eine Herde.« 144
»Die kann ich hüten.« Das konnte Tucker wirklich. »Ich kann sie ganz allein in den Stall treiben und wieder raus. Oja, schaff dir eine Herde an.« »Der Hund sagt, er mag das Pferd.« Harry lächelte Tucker zu. Das junge Pferd fing an zu traben, außerordentliche Knieaktion, die Knie berührten fast das Kinn. Harry setzte sich aufrecht. »Unglaublich.« »Ich weiß. Deswegen muss ich ihn jetzt kaufen.«
»Renata, wenn Sie das Geld haben, warum nicht?« Harry konnte sich nicht vorstellen, einen so hohen Scheck auszustellen. »Ich nehme an, Sie haben sich mit Charly versöhnt?« Seufzend hob Renata das Kinn von ihrer Faust und atmete laut aus. »Ich weiß nicht, was ich mit mir anfangen soll. Oder mit ihm. Mir ist die Szene peinlich, die ich Mittwoch gemacht habe, aber er hat mich dazu getrieben. Er macht mich fertig; er geht mir auf die Nerven.« »So geht es einem nun mal mit manchen Menschen.« »Aber ich kann nicht von ihm lassen, er ist so begabt, und wenn ich mit ihm allein bin, ist er lustig und lieb. Wenn andere Männer dabei sind, zieht er eine Schau ab.« »Das habe ich gemerkt.« »Booty ist genauso schlimm.« Renata lachte leise. »Wenn die zwei zusammen sind, sind sie wie Elefanten im Porzellanladen. Rivalität ohne Ende.« »Zwei Supermänner mit Superego, hey.« Harry zuckte die Achseln. Renata errötete leicht, als Charly ihr zuzwinkerte. Inzwischen war er aufgesessen und ließ den Wallach direkt vor ihr hergehen, dann ritt er weiter zur anderen Seite der Bahn, wo man die Umrisse des Pferdes vor der Bande gut erkennen konnte. »Booty hat ihn mal heruntergeputzt.« Renata lächelte. »Charly spricht immer noch davon, wie Booty eine Klapperschlange gemolken hat. Booty hat Charly einen Feigling ge 2I145 nannt, weil er die Schlange nicht anfassen wollte.« Sie verzog angewidert den Mund. »Joan hat mir erzählt, dass er Schlangen hält.« »Abartig.« »Aber nützlich, nehme ich an. Fair sagt, Schlangengift kann Pferde mittels Produktion von Antiveninen immunisieren.« »Was ist das?« »Hab ich zu fragen vergessen.« Harry lächelte. »Aber was immer es ist, es ist gut. Er hat gesagt, wenn das Gift trocknet, bildet es gelbe Kristalle und kann dann noch sehr lange giftig bleiben.« »Trotzdem kann ich Schlangen nicht leiden, und ich finde Booty abartig. Miss Nasty ist der Beweis.« »Der Name passt zu ihr.« Renata kam wieder auf die Männer und ihr Ego zu sprechen. »Fair scheint sein Ego im Griff zu haben.« »Er ist ein erstaunlicher Mensch. Er liebt seine Arbeit, er denkt an die Pferde, nicht an sich. Es kümmert ihn kein bisschen, ob er beachtet wird oder nicht, aber ich denke, weil er so groß und kräftig gebaut ist, muss es ihn auch nicht kümmern. Wer soll ihn schon herausfordern?«
»Da ist was dran. Können Sie sich vorstellen, dass wir Frauen uns darüber Gedanken machen, wie groß wir sind? Uns nebeneinander stellen und runtergucken?« Renata musste beinahe lachen. »Wir konkurrieren anders, nehme ich an.« Unerwartet heftig sagte Renata: »Da bin ich drüber weg. Ich hab die Promipartys satt. Ich hab das PR-Büro satt, das ich engagieren musste, damit ich in den Nachrichten immer in einem positiven Licht erscheine. Harry, das ist so ein absoluter, kompletter Blödsinn. Ich bin kein Mensch, ich bin ein Markenartikel, eine Handelsware. Es mag Sie überraschen, ich schauspielere wirklich gern, aber alles Übrige hasse ich. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch machen kann.« »Alicia sagt fast dasselbe.« 146
»Sie könnte heute in ein Studio kommen und sofort eine große Rolle kriegen.« Renata überlegte kurz. »Es gibt nicht viele gute Hauptrollen für ältere Frauen, aber in einer Nebenrolle könnte sie alles kriegen, was sie wollte. Schauen Sie sich nur die Rollen an, die Julie Christie kriegt, wenn sie will.« »Alicia legt keinen Wert mehr darauf. Sie hat viel Geld verdient und auch viel geerbt, von ihrer ersten großen Liebe«, sagte Harry. »War sie nicht dreimal verheiratet?« »Das auch. Aber ihre erste Liebe, Mary Pat Reines, hat ihr alles vermacht. Ich glaube, sie hat Alicia viel beigebracht in puncto Damenhaftigkeit und über das Leben. Aber davon ist in Hollywood nichts zum Vorschein gekommen.« »Heute ist es schick, homosexuell zu sein.« »Glaub ich nicht«, entgegnete Harry. »Einige kommen damit durch, aber ...« Sie sah zu, wie der Wallach ins Kantern überging. »Fließend. Also, was ich sagen wollte, unser Land ist seltsam. Wir durchlaufen ökonomische Zyklen, Modezyklen und, wie soll man das nennen, Toleranzzyklen? Im Augenblick befinden wir uns in einem Toleranzzyklus.« »Ich denke, das ist in allen Ländern so. Es gibt zwei gegensätzliche Standpunkte, und die lassen sich nie in Einklang bringen.« »Und die wären?« Harry drehte sich zu Renata hin und sah ihr direkt ins Gesicht; sie genoss es, mit jemandem ein richtiges Gespräch zu führen, nicht so ein nichtssagendes geselliges Geschwätz. »Der erste lautet, man soll die Menschen nehmen, wie sie sind. Sicher, es gibt Gesetze, um die schlimmsten Exzesse zu zügeln, aber man macht seine Sachen, und die anderen machen ihre. Der andere Standpunkt ist, der Mensch ist böse und muss kontrolliert, beobachtet und geformt werden. Das eigentliche Problem ist, die Definition von böse wechselt, je nachdem, wer an der Macht ist. Die Mächtigen aber behaup
2I147 ten immer, dass sie alte Gesetze oder Gottes Wort oder die Gebote des Anstands befolgen.« »Die zwei werden nie zusammenkommen«, erwiderte Harry. »Nie. Hier nicht. Im Iran nicht. In China nicht. Wo immer Menschen sind, bleiben diese zwei Standpunkte konträr.« »Bin ich froh, dass ich ein Corgi bin«, sagte Tucker, und damit hatte sie vollkommen recht. Harry legte ihre Hand auf Tuckers Kopf und streichelte das Tier. »Ich verstehe, warum Sie Hollywood satt haben, Renata.« »Noch zwei Jahre. Harry, noch zwei Jahre, und wenn ich Glück habe, zwei gute Filme, dann kann ich abtreten und nach Hause kommen. Ich gehöre nach Kentucky.« »Das kann ich gut verstehen.« Das konnte sie wirklich. »Glauben Sie, Sie gehören zu Charly?« So neu Harry in ihrem Leben war, Renata vertraute ihr instinktiv. Sie wusste, dass sie nicht tratschen würde. Besser noch, Harry behandelte sie als Pferdekennerin, nicht als Filmstar. »Er hat mir einen Heiratsantrag gemacht.« »Ah.« Harry zeigte sich im Hinblick auf diese Antwort nicht neugierig. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich habe gesagt, ich werde drüber nachdenken und ihm am Ende des Turniers meine Antwort geben. Heute Abend.« »Sie würden sich nie langweilen.« »Nein, aber manchmal würde ich ihn vielleicht umbringen mögen.« Harry lachte. »Renata, solche Anwandlungen hat jede Frau mal bei dem Mann, den sie liebt.« Renata runzelte die Stirn, dann lächelte sie. »Wird wohl so sein.« »Sie werden sich richtig entscheiden.« »Danke, Harry. Was mir sehr unangenehm ist, Joan und Larry sagen zu müssen, dass ich mit Queen Esther wieder zu Charly wechsle. Sie waren sehr gut zu mir, und sie mussten 147
sich mit der Presse und obendrein mit meinem Benehmen herumschlagen.« »Renata, Sie waren großartig.« »Ich bin emotional wohl etwas überdreht gewesen, vor allem, als ich Jorge gefunden habe.« »Das ist menschlich, Renata. Joan und Larry haben bestimmt Verständnis dafür. Die zwei sind einfach klug.« »Ja, das glaube ich auch, und wenn man sich Joans Eltern ansieht, dann fügt sich alles zusammen, nicht?«
»Man kann sich seine Eltern nicht aussuchen, und wenn man gute erwischt, hat man großes Glück.« Harry lächelte. »Und wie waren Ihre?« »Oh, gut. Mutter konnte hart sein, sehr intellektuell und streng. >Intellektuell< ist vielleicht das falsche Wort. Sie hatte einen sehr sachlichen Verstand. Sie hat immerzu gelesen. Als ich am Smith-College mein Examen in Kunstgeschichte gemacht habe, hat sie fast einen Tobsuchtsanfall gekriegt. Sie wollte, dass ich ein Fach studiere, mit dem ich gut verdienen konnte. Dad nahm das Leben, wie es kam. Er hat mir gesagt, Hauptsache, man ist zufrieden.« »Da haben Sie Glück gehabt. Meine Eltern ließen viel zu wünschen übrig.« Ein Anflug von Schmerz huschte über ihr Gesicht. »Ich habe gelernt zu vergeben. Sie haben getan, was sie konnten. Sie hätten nicht heiraten sollen, und sie hätten keine Kinder haben sollen. Beide hätten einen Fluss leerschlürfen können, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich glaube, deswegen habe ich einen Bogen ums Heiraten gemacht. Ich habe Angst. Deswegen trinke ich auch keinen Alkohol.« »Wie gesagt, Sie werden das Richtige tun.« »Harry, Sie wissen gar nicht, was für ein gutes Gefühl Sie mir gegeben haben.« Sie stand auf und winkte Charly an die Bande. »Ich kaufe ihn. Das Stutfohlen und das Hengstfohlen kaufe ich auch. Na, ist das was?« Charly tippte wieder an seinen Hut und strahlte. »Madam, 148
ich mach mich an die Arbeit.« Er nickte Harry zu und ging zu Carlos am Gatter. Er rief zurück: »Denk an mein Angebot, dass du die zwei Fohlen umsonst bekommen kannst.« Sie nickte. »Ja, ich sag's dir heute Abend.« »Wollen Sie Shortro trotzdem präsentieren?« Harry bewunderte den kräftigen jungen Wallach. Er war durch und durch gutmütig. »Shelbyville war eine gute Zeit für ihn. Er ist ein gutes Dreigängerpferd; er wird vermutlich sogar noch besser. Ich hatte daran gedacht, ihn nach dem Turnier zu verkaufen. Ich habe Anfragen bekommen, aber er hat so ein sanftes Gemüt, nimmt Rücksicht auf seine Reiterin ...« Sie nahm Harrys Hand. »Aber ich brauche das Geld nicht. Ich liebe das Pferd. Ich möchte, dass er es gut hat. Ich schenke ihn Ihnen.« Verblüfft konnte Harry nur sagen: »Renata.« »Ich weiß, Sie reiten keine Saddlebred-Turniere, aber ich glaube, Shortro wird sich auf dem Land wohlfühlen. Er wird bestimmt ein gutes Jagdpferd. Er ist das willigste Pferd, das ich je besessen habe, und ich möchte, dass er irgendwo hinkommt, wo er geliebt wird und wo er einfach Pferd sein darf. Ich bin impulsiv, ich weiß, aber Sie haben mir so ein gutes Gefühl gegeben und ja, ich liebe Shortro. Er wird es gut haben bei Ihnen.«
Harry umarmte Renata. »Ich verspreche, dass ich monatlich einen Bericht schicke.« »Und ich komme zur Fuchsjagd.« Als die zwei Frauen zur Treppe gingen, polterten die Katzen so laut von oben herunter, dass die Bankreihen ins Wackeln gerieten. Harry strahlte. »Das Leben ist komisch, nicht?« »Und wenn's das Leben nicht ist, sind wir's.« Renata lachte; sie fühlte sich allem zum Trotz ganz leicht und unbeschwert. 149
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ch ruf Horsin' Around an.« Fair nannte eine Firma für Pferdetransporte,
die er »Patienten« und ihren Besitzern gerne empfahl. »Die können Shortro und Indian Summer abholen.« Er war erstaunt, dass Renata Harry den herrlichen Wallach geschenkt hatte. Indian Summer war das Vollblutpferd auf Paula Clines Gestüt Rose Häven. Alicia hatte sich bereit erklärt, dem Thoroughbred Redrement Fund, einer Stiftung für pensionierte Vollblüter, eine Spende zukommen zu lassen, nachdem sie mit Harry über das Pferd gesprochen hatte. Ihre Spende würde den von Paula gewünschten Betrag übersteigen. Booty, nur in T-Shirt und Jeans und verschwitzt, hatte die Unterhaltung der zwei mitgehört, da sie vor seinem Stall standen. Er trat ins Sonnenlicht, mit Miss Nasty auf der Schulter. Sein T-Shirt saß ganz schön knapp. Miss Nasty, in einem limonengrünen kurzen Rock mit passendem TrägerOberteil und ihrem Strohhütchen, um die Sonnenstrahlen abzuhalten, sah auf Pewter hinunter und zog die Lefzen hoch. Dann drehte sie sich auf Bootys Schulter herum und lüpfte hinten ihren Rock. »Wenn ich so einen hässlichen Hintern hätte, würde ich ihn keinem zeigen«, frotzelte Pewter. »Du bist so hässlich, dass du dir eine Papiertüte über den Kopf stülpen solltest. Katzen lieben doch Papiertüten, oder?« Miss Nasty drehte sich herum. »Nasty, halt still.« Booty tätschelte ihren Kopf. »Die widerliche graue Katze hat mich beleidigt.« »Affen-Hamburger, hmm, lecker.« Pewter leckte sich mit ihrer dunkelrosa Zunge die grauen Lippen, die Schnurrhaare nach vorn gerichtet. »Ich hab einen bösen Biss. Dass du dich mal nicht täuschst. Du kannst mir nichts tun.«
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»Sie könnte es versuchen.« Mrs. Murphy schlug einen versöhnlichen Ton an: »Miss Nasty, hast du dir das mit der Brosche überlegt? Ich kann dafür sorgen, dass es sich für dich lohnt.« Sie warf Pewter einen bösen Blick zu, um die Beleidigung zurückzuhalten, die der Katze aus dem Mund purzeln wollte. »Die Brosche hat Gefühlswert. Sie hat Joans Großmutter gehört.«
»Na und?« Der Affe hob die Hände. »Bananen — wir könnten dir eine Karre voll besorgen.« Tucker hatte keine Ahnung, wie sie an Bananen kommen könnte, aber es hörte sich gut an. »Wofür hältst du mich? Für einen Affen?« Miss Nasty lachte. »Und überhaupt, ich kann Bananen essen, wann ich will.« »Und wenn wir eine noch hübschere Brosche für dich finden?« Die Tigerkatze dachte sich, je länger sie Miss Nasty plaudern ließ, desto eher könnte sie ergründen, was der Affe zum Tausch annehmen würde. »Wie hübsch?« »Jede Menge Diamanten, um deine Fellfarbe zu betonen.« Mrs. Murphy lächelte. »Ja, dieses aparte Kackbraun«, sagte Pewter gehässig. Miss Nasty stürmte von Bootys Schulter in den Stall. »Verdammt, Pewter, du hast sie verstimmt. Jetzt ist sie weggelaufen.« Genau wie Mrs. Murphy wollte Tucker die Brosche unbedingt finden. »Wenn sie so empfindlich ist, sollte sie im Käfig bleiben. Außerdem hat sie angefangen.« »Pewter, du hast angefangen«, wies Tucker sie zurecht. »Als wir uns am ersten Turnierabend an der Bande zum ersten Mal begegnet sind, da hat sie angefangen.« Pewter war unnachgiebig. Miss Nasty kam zurück, zuerst lief sie, dann hopste sie auf den Hinterbeinen. In jeder Hand hielt sie vorsichtig einen dicken Pferdeapfel. Sie holte aus und bewarf Pewter; die Apfel zerkrümelten beim Auftreffen. »Wer ist hier kackbraun?« Sie hüpfte auf und ab und klatschte in die Hände, als Pewter sich stinkwütend aufplusterte. »Was ist bloß in die Mädels gefahren?« Harry packte Pewter und wischte den Pferdedung ab, der - Gott sei Dank - trocken war. Miss Nasty lief wieder in den Stall, um neue Munition zu holen. Als sie herauskam, hatte sie dieses Mal Harry im Visier. »Nasty!« Booty ging auf den Affen zu, aber Nasty entzog sich dem Zugriff, indem sie in den Stall zurückwich. Fair wischte seine Frau sauber und auch Pewter, weil die Katze schon wieder einen Pferdeapfel abbekommen hatte. »Töten! Ich will töten«, kreischte Pewter. Miss Nasty erklomm den hohen Pfosten gleich neben dem Eingang, katapultierte sich aufwärts, erwischte den schmalen Rand des Torpfostens und schwang sich auf die überstehende Lampe. Die Sonne hatte das Metall erhitzt, und es war heißer als beim letzten Mal. Miss Nasty versengte sich die Pfoten und ließ sich schnurstracks auf die Erde plumpsen. Pewter befreite sich blitzschnell aus Harrys Armen und wäre um ein Haar auf dem Affen gelandet. Miss Nasty schoss aufbrennenden Pfoten in den Stall, Pewter war ihr dicht auf den Fersen. »Vielleicht sollten wir sie trennen.« Booty wandte sich der Stallgasse zu.
Fair erwiderte: »Wir können ihnen folgen, aber ich bin sicher, Miss Nasty kann sich von Pewter fernhalten.« Mrs. Murphy und Tucker waren so vernünftig, sich nicht an der Jagd zu beteiligen. Der Affe hockte sich auf einen Dachbalken, und Pewter, auf einem Boxenbalken unter ihr, schleuderte eine Beleidigung nach der anderen hinauf. Booty wiederholte ein Angebot, das er Harry gemacht hatte, als die Tiere außer Rand und Band waren. »Weil Shortro Renatas Pferd ist, kann ich mehr Geld für ihn kriegen, wenn Sie ihn verkaufen wollen. Er ist ein braves Pferd, guter Charakter. Fünfzigtausend für Sie.« Und zehntausend für ihn, was er aber für sich behielt. Seine Provision hätte fünftausend betragen dürfen. Harry und Fair wussten, wie so was funktionierte, und das 151
war mit ein Grund, weshalb sie jeden Verkauf oder Kauf schriftlich festhielten. »Danke, Booty. Ich weiß, man sollte das Geld nehmen und nichts wie weg, aber Renata hat ausdrücklich gesagt, sie will, dass Shortro nicht mehr bei Turnieren antritt, obwohl er so jung ist. Sie möchte, dass er bei mir ist. Ich freue mich wirklich sehr darauf, mit ihm zu arbeiten.« »Schön, aber wenn Sie es sich anders überlegen ...« Booty lächelte, nicht wissend, dass Harry Renata ihr Wort gegeben hatte. Er wandte sich an Fair. »Miss Nasty ist nicht sehr nett, und das, nachdem Sie mir mit der festliegenden Stute geholfen haben. Sie leidet unter Wutanfällen.« »Die kann Pewter bei jedem provozieren«, sagte Tucker. »Du bist mir ja eine feine Freundin.« Pewter sah wieder zu dem Affen hoch, der sich die Pfoten leckte. »Ich hoffe, du kriegst Hämorrhoiden. Ich hoffe, sie platzen auf. Ich hoffe, du setzt dich in Terpentin!« »Nächstes Mal schmeiß ich 'nen Kuhfladen.« »Noch nicht weggehen«, bat Pewter. »Warum?«, fragte Mrs. Murphy. » Wenn ich lange genug warte, werden Hunger und Durst sie runtertreiben, die kleine Zicke.« »Dich treiben sie zuerst runter, Dicke.« Miss Nasty wurde es langweilig da oben, und sie wollte Bag Balm auf ihren Pfoten haben. Sie genoss auch gern eine Prise von dem anderen Stoff; Booty verwahrte nämlich ein bisschen Kokain in seinem Bag-Balm-Döschen. Miss Nasty nahm gelegentlich auch gern ein Schnäpschen zu sich. »Komm, Pewter, damit ist doch nichts gewonnen«, sagte die vernünftige Tucker. Ein Anflug von Entrüstung flammte in Mrs. Murphys gefasster Miene auf. »Miss Nasty, du gibst bloß an. Du hast die Brosche gar nicht. Du kannst sie nicht mal beschreiben.«
»Kann ich wohl. Es ist ein funkelndes Diamant-Hufeisen, mit einer Reitgerte aus Rubinen und Saphiren.« 152
Tucker, die oft mit ihrer Freundin übereinstimmte, rief nach oben: »Du hast sie vermutlich gesehen, als du in der Kalarama-Kabine auf der Bande warst. Du bist direkt vor Joan gesessen.« »Ich hab sie!« Mrs. Murphy zuckte mit den Schultern und wandte sich zum Gehen. »Du hättest uns fast reingelegt, Miss Nasty.« »Ihr werdet schon sehen«, verkündete der Affe gereizt. Pewter, die einsah, dass es besser war, ihren Freundinnen zu folgen, kletterte rückwärts den Boxenpfosten hinunter. Die drei gelangten ans Ende der Stallgasse. Miss Nasty folgte ihnen hoch oben auf dem Dachbalken und schrie: »Ihr werdet schon sehen!«
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er feuchtschwüle Tag brachte jedermann ins Schwitzen. Harry konnte
das Salz auf ihrem Körper wie auch bei den anderen Menschen und bei den Tieren riechen. Sie wollte nach Lexington zu Fennells fahren, einem ausgezeichneten Geschäft für Sattel- und Zaumzeug an der Red Mile, der Sulkyrennbahn mitten in der Stadt. Immer wenn sie etwas Geld übrig hatte, bestellte sie dort Sattel- und Zaumzeug. Bei guter Pflege hielten das Leder und die Verarbeitung Jahrzehnte. Harry wollte einen Gegenwert für ihr Geld, und da war Fennell's einfach unschlagbar. Die Fahrt dorthin würde eine Stunde dauern; von der Hitze und der Aufregung wegen Shortro war Harry schon ziemlich erschöpft. Die Explosion des Pferdetransporters hatte sie zudem stärker mitgenommen, als ihr zunächst klar gewesen war. Sie stand einen Augenblick in der behelfsmäßigen Sattelkammer von Kalarama, betrachtete die Gebisse und anderes Zubehör, das sich großenteils sehr von den Sachen unterschied,
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die sie benutzte. Bei Saddlebreds war eine elegante Schweifhaltung erwünscht, bei der die Spitze des dichten Schweifes mittels einer Art Schweifmanschette die runde Kruppe überragte. Bei diesem leichten Geschirr wurde ein gepolsterter Schweifriemen verwendet, der unter dem Schweif durchgeführt wurde, um ihn aufzurichten. Zuweilen durchtrennte der Tierarzt die Muskeln an der Unterseite der Schweifrübe, ein einfacher Eingriff, der dem Schweif mehr Bewegung Heß, ohne ihn zu verletzen. Vollblütern und Jagdpferden blieben diese Verfeinerungen erspart, weil sie
sie nicht brauchten. Aufgrund der Schweifhaltung nannten amerikanische Jagdspringer die Saddlebreds gerne »shaky tails« - Schüttelschweife. Jede Pferdesportart hat ihr eigenes Zubehör entwickelt, wiewohl die wichtigsten Prinzipien gleich geblieben sind. Bei Saddlebreds wurden im Allgemeinen Gebisse mit längeren Anzügen verwendet als bei Jagdpferden, die oft mit einem einfachen Trensen-Gebiss oder einem Pelham-Gebiss mit kurzen Anzügen ritten. Die Wahl des richtigen Gebisses war eine Wissenschaft für sich und erforderte Klugheit. So manche schlechte Ausbilder glichen ihre Unzulänglichkeiten durch Verwendung zu scharfer Gebisse aus - sie versuchten es mit immer schärferen Gebissen, weil sie nicht wussten, wie man mit geduldigem Training zum Ziel kam. Das war eine sichere Methode, ein Pferd maultot zu bekommen, aber kurzfristig konnte es durchaus sein, dass das Pferd sich gut präsentierte und der Ausbilder seine Gebühr einstrich, wenn das Pferd verkauft wurde. Doch der neue Besitzer würde bald dahinterkommen, dass nicht alles so war, wie es schien. Harry, die dies verabscheute, ebenso wie sie dagegen war, Vollblüter zu früh ins Rennen zu schicken, wusste im Grunde, dass es vermutlich noch schlimmer werden würde. Die Steuergesetze zwangen die meisten Leute, die berufsmäßig mit Pferden zu tun hatten, so früh wie möglich Profit aus jungen Pferden herauszuschlagen. "153 Die Gesetze reflektierten die Bedürfnisse der Stadtbewohner zum Nachteil der Landbewohner, womit nicht gesagt ist, dass den Stadtbewohnern adäquate Mittel für ihre Bedürfnisse zur Verfügung gestellt wurden. Ein Gesetz, das für jemanden mitten in Houston absolut plausibel sein mochte, konnte Pferdezüchtern schaden. Etwas so Simples wie der Fortfall der Durchschnittsbesteuerung für Farmer und Züchter zwang alle in die Knie, wenn es zur Anwendung kam. Die Leute verloren ihre Farmen oder Gestüte; die durchhielten, kämpften mit der willkürlich festgelegten Regel, alle vier Jahre einen Gewinn vorweisen zu müssen. Hört sich ganz einfach an, außer für Pferdezüchter. Ein Quarter Horse mag mental reifen, sein Training erfolgreich absolvieren und mit drei oder vier Jahren verkauft werden. Ein Warmblüter braucht sechs, sieben Jahre, um ganz auszureifen. Die Tiere, die sich langsamer entwickeln, lassen sich innerhalb des unrealistischen Zeitraumes nicht verkaufen. Wenn der Pferdezüchter seine Produktpalette erweiterte und Mais anbaute, erforderte dies Geld und Zeit zusätzlich zum Pferdebetrieb. Harry seufzte tief. »Das soll man mal jemandem erzählen, der gerade sein Jurastudium beendet hat und sich schon mal darin übt, alle möglichen Tatsachenverdrehungen kurz und knackig plausibel zu formulieren.« Sie sagte dies sehr leise, doch ihre Tiere hörten es trotzdem.
»Sie führt mal wieder Selbstgespräche.« Pewter, noch wutschnaubend von ihrer feindlichen Begegnung mit Miss Nasty, rümpfte die Nase. »Ihr Verstand rattert wie ein Maschinengewehr.« Mrs. Murphy verstand Harry und fand es wunderbar, dass ihr Mensch oft wusste, was ihre Katze wollte, obwohl Harry kaum verstand, was Mrs. Murphy sagte. Harry atmete den berauschenden Duft von Leder und Ol ein; sogar die Stahlgebisse gaben einen leichten Geruch von sich. Sie konnte das Heu in den Raufen in den Boxen riechen, gepaart mit dem süßesten aller Gerüche dem von Pferden. 154
Sie sah ihre Freundinnen an. »Manchmal überkommt mich diese Welle, und dann hab ich das Gefühl, dass ich mit ansehen werde, wie unsere Lebensweise schwindet.« Tränen traten ihr in die Augen. »Keine Sorge, Moni. So dumm können Menschen nicht sein.« Tucker lächelte und ließ die rosa Zunge heraushängen. »Machst du Witze?«, entgegnete Pewter, die immer noch sauer war. »Denk nur an die Revolutionen. Alles geht hops. Millionen Menschen sterben, und auch Katzen, Hunde und Pferde. Die Menschen sind nicht vernünftiger als dieser grässliche stinkende Affe.« Sie blähte die Brust. »Ist doch klar.« »Wenn ein Maiskolben fünfzig Dollar kostet und der Preis von Mulch und Dünger für die Vorstadtgärten auf dreißig Dollar pro Sack klettert, werden sie ganz schnell aufwachen«, prophezeite Mrs. Murphy. »Genau das ist es doch, nicht wahr? Die Erzeugung von Agrarprodukten hält die Kosten niedrig.« Tucker folgte Harry überallhin und hörte ihre Gespräche mit anderen Menschen, die Landwirtschaft betrieben. Mrs. Murphy sagte, wobei sie sich hypnotisch hin- und herwiegte: »Bis ein Virus eine Getreideart befällt. Heute gibt's nur noch Monokulturen; die genetische Vielfalt ist geschwunden. Es muss so kommen, Tucker. Und weil die Ölvorräte zu Ende gehen, kann man die Preise nicht niedrig halten, weil man Benzin braucht, um das geerntete Getreide zu transportieren, ja? Früher oder später wird es auf einen Laster geladen.« »Man muss wieder Pferde in großem Stil einsetzen. Dann werden die Menschen die Tiere vielleicht wieder schätzen.« Tucker lachte entzückt bei diesem Gedanken, ohne an die möglichen Misshandlungen durch jene Menschen zu denken, die kein Gefühl für Tiere hatten. Point Guard, der alles mit angehört hatte, wieherte: »Als Automobile erschwinglich wurden, schwand die Pferdepopulation bis an einen Punkt, wo wir fürchteten, wir würden aussterben. Gott sei Dank gab es noch Menschen, die uns liebten. Meine Mutter hat mir 154
erzählt, was ihre Mutter ihr erzählt hatte und immer weiter zurück. Wisst ihr, dass es heute mehr Pferde gibt als vor dem Ersten Weltkrieg?«
»Trotzdem sollte man lieber Zugpferde benutzen, um geschlagenes Holz zu transportieren und um auf steilen Hügeln zu pflügen.« Pewter hatte sich endlich beruhigt. »Ist sicherer.« »Und verbraucht keinen Sprit«, rief Point Guard über seine Box hinweg. Vom Wiehern des Pferdes aufgerüttelt, sagte Harry zu ihren Freundinnen: »Entschuldigt, Mädels. Hab mich der Verzagtheit hingegeben. Es ist einfach zu viel passiert. Ich hab noch nichts rausgekriegt. Das macht mir Angst. Und komisch, aber dass ich ein so großes Geschenk bekommen habe, das macht mich auch fertig. Ich werd mich schon wieder einkriegen.« Sie ging in den Erfrischungsraum, nahm eine Dose Limonade aus dem Kühlschrank, leerte sie, während sie Katzen und Hund zusah, die aus dem Wassernapf tranken. »Okay, geht schon besser.« Sie ging wieder hinaus und durch die Gasse zu Shortro. Er wandte den schönen grauen Kopf, als sie in die Box trat. »Na, Kumpel, wir zwei werden sehr gute Freunde.« Seine freundlichen großen Augen verhießen Liebenswürdigkeit und Spaß. »Was muss ich machen?« Mrs. Murphy kletterte an der hölzernen Seitenwand hoch und stieg auf seinen Rücken, da er an der Boxenwand stand. »Shortro, du kommst mit uns nach Virginia.« »Gibt's da Saddlebred-Turniere?« »Oja«, antwortete Tucker. »Ein großes in Lexington, Virginia, das sich Bonnie Bell nennt, aber du kommst mit auf die Fuchsjagd. Das wird dir gefallen.« »Ich will aber nicht töten«, erwiderte Shortro ängstlich. Harry streichelte seinen langen glänzenden Hals. »Du tötest die Füchse nicht, du jagst sie bloß.« Pewter sah bei der Jagd lieber nur zu. Sie dachte gar nicht daran, Füchsen hinterherzulaufen. Tatsächlich dachte sie nicht daran, überhaupt irgendetwas hinterherzulaufen, wenn es sich vermeiden ließ. 155
»Wird Renata auch auf die Jagd gehen?«, wollte der Wallach wissen. »Sie sagt ja, aber dich hat sie Harry geschenkt, weil Harry dich liebhaben wird und du auch viel auf den Weiden spielen kannst«, sagte Tucker. »Da sind noch andere nette Pferde. Du wirst Freunde gewinnen.« »Renata wird mir fehlen.« Shortro Heß den Kopf hängen, dann hob er ihn und sah Harry ins Gesicht. »Aber du siehst lieb aus.« Harry kraulte seine Ohren. »Wir werden viel Freude miteinander haben, du Schöner.« Sie sah sich seinen Schweif an. Er würde das einzige Pferd im Jagdfeld sein, das den Schweif so hoch trug, aber hey, wenn Leute da draußen Maultiere und Zugpferde reiten konnten, dann konnte sie auch auf einem Pferd mit Schüttelschweif an der Jagd teilnehmen. Je mehr sie Shortro berührte und zu ihm sprach, desto glücklicher wurde sie. Er auch.
Oft, wenn sie betrübt war, richteten Worte sie nicht auf, aber das Berühren ihrer Pferde, der Katzen und des Hundes brachte sie wieder ins Gleichgewicht. Sie fand, dass die Menschen sich zu wenig berührten. Taten sie es doch, dann war es sex- oder gewaltbestimmt. Kein Wunder, dass so viele Menschen nicht in sich ruhten. Ihr Handy klingelte. Sie zog es aus der Hüfttasche. »Hi.« »Harry.« Joan klang aufgeregt. Ehe Joan noch etwas sagen konnte, erklärte Harry: »Ich hab dich wegen Wards Transporter nicht angerufen, weil ich mir dachte, dass es alle anderen tun.« »Stimmt. Ich ruf dich an, weil ich rausgekriegt habe - ich musste den Sheriff von Shelby County ein bisschen umgarnen, aber ich hab rausgekriegt, dass Jorge an dem Tag, als er ermordet wurde, das Geld von seinem Sparkonto abgehoben hat. Er hat es seiner Mutter in Mexiko telegrafisch angewiesen.« »Jesses.« Harry spürte, dass das Netz sich zuzog. »Fünfundsiebzigtausend Dollar.« Joan machte eine Pause. »Das ist ein Haufen Geld. Das ist ein Riesenhaufen Geld für einen Pferdepfleger.« 156
»Du hast gesagt, er hat nicht viel ausgegeben.« »Nein, aber so viel hätte er in zwei Jahren trotzdem nicht sparen können. Auf keinen Fall.« »Er war immerhin so klug, es zu verbergen.« Harry hatte die Stimme gesenkt. Alle, die im Stall zu tun hatten, waren bei einem späten Mittagessen oder hatten sich zur Ruhe gelegt, bevor der Wahnsinn des Finales am Abend einsetzte, trotzdem sprach sie leise. Joans Stimme war fest. »Ich frage mich, was Jorge tun konnte, was jemand anders nicht konnte.« »Und?« »Er konnte nach Mexiko ein- und ausreisen. Er hatte seine Green Card. Er konnte mit Leuten in Mexiko oder Arizona oder sonstwo telefonieren. Er hat eine Menge bei Manuel gelernt, er war auf dem besten Weg, ein guter Pferdepfleger zu werden, aber das ist alles nicht speziell genug. Diese Geschichte hängt mit seiner Herkunft zusammen.« »Du hast recht.« Harry ging ein Licht auf, auch wenn die Wattleistung noch kümmerlich niedrig war. »INS.« »Oder dagegen.« »Wie meinst du das, Joan?« »Ich meine, was ist, wenn er Leute hierhergebracht hat?« »Daran hatte ich auch schon gedacht, aber wäre er dann nicht öfter weg gewesen vom Gestüt? Wie hätte er das hingekriegt? War er oft in Mexiko?«
»Weihnachten, aber er hätte mitten in der Nacht weggehen können. Larry und ich hätten es nicht gemerkt. Wir wohnen am Ende der Straße, und Mom und Dad hätten auch nichts gemerkt. Ihr Schlafzimmer liegt nicht an der Farmstraße. Es wäre möglich.« »Hatte er ein Handy?« »Man hat es nicht gefunden. Er hatte eins. Ich habe es oft genug gesehen.« »Ah. Und was jetzt?« Harry kraulte Mrs. Murphys Ohren. »Ich weiß nicht.« 157
»Tritt Larry heute Abend trotzdem an?« »Ja. Ich bin nervös, aber er sagt, wir müssen weitermachen. Das sind wir Shelbyville schuldig. Die haben alle Saddlebred-Leute gut behandelt.« »Joan, du glaubst doch nicht, das Ganze ist ein Versuch, das Turnier zu ruinieren?« »Nein. Jeder Bezirk hat seinen Termin. Wenn einer Shelbyville schadet, schadet er sich selbst. Die Leute nehmen dort an den Turnieren teil, um sich auf dieses und auf Louisville vorzubereiten.« »Und wenn ein Bezirk so angesehen werden will wie Shelbyville?« »Das bringt natürlich das Geld der Pferdeleute, und es zieht Touristen an. Nichts wird die Bezirkskommissionen davon abhalten, ein Turnier auf die Beine zu stellen und dafür ein Veranstaltungsgelände anzulegen. Der Trick ist, die Anwohner dazu zu kriegen, es über Steuergelder zu finanzieren, aber hey, auf dem Gelände hier findet fast jede Woche eine Veranstaltung statt. Das bringt Einnahmen, und es trägt sich selbst. Das Fazit dieser sehr weitschweifigen Antwort ist, es bringt niemandem was, diesem Turnier zu schaden.« »Was ist mit den Spinnern vom Tierschutz? Die wirbeln gerne Staub auf und verdrehen ungeniert Tatsachen.« »Die würden unverhohlen gegen uns vorgehen. Nicht so indirekt. Sie würden öffentliche Anerkennung für die Störung einheimsen wollen.« Joan, die immer drei Schritte voraus war, hatte dies bedacht. »Wir treiben keinen Missbrauch.« Sie hielt inne. »Bloß spielt das keine Rolle.« »Abartig, nicht? Niemand liebt Tiere mehr als du und ich, und jetzt sagen diese Leute tatsächlich, wir dürfen sie nicht domestizieren. Verdammt, sie haben uns domestiziert. Entschuldige, ich bin ein bisschen neben der Spur. Es war ziemlich heftig hier.« »Hast du die Explosion gesehen?« »Ich hab sie gehört und bin gleich rausgerannt. Wenn Ward, 23J Benny oder Pferde dort gewesen wären, dann wären sie in Fetzen über den Parkplatz verstreut worden. Durch Gottes Gnade hat Benny sich von dem Wagen entfernt, nachdem er ihn angelassen hatte, um ihn warmlaufen zu lassen. Er ist in Charlys Stall gegangen, um mit Carlos zu sprechen.«
»Wer das getan hat, wollte, dass sie so tot sind wie Jorge.« »Gibt's da einen Zusammenhang?« Harry nahm es an. »Ich denke, ja, aber ich weiß nicht, warum. Es hat mit den illegalen Arbeitern zu tun. Das ist das einzig Plausible.« »Ich denke auch an illegale Arbeiter, aber Ward schuftet wie ein Sklave. Er hat nur Benny. Wäre er an einem Schleuserring beteiligt, hätte er dann keine Hilfen im eigenen Stall? Er könnte sich Pferdepfleger leisten. Vielleicht ist er demjenigen auf der Spur, der Jorge umgebracht hat.« »Der Gedanke ist mir auch schon gekommen, aber ...« Sie ließ sich eine Weile Zeit. »Ich weiß nicht. Ich werde wohl nicht zur Ruhe kommen, ehe die Fünfgänger-Prüfung vorbei ist und Larry, Manuel, die Jungs und die Pferde wieder in Kalarama sind. Harry, ich weiß nicht recht, ob ich es wissen will.« »Doch, willst du.« »Aber dann will ich nicht, dass es noch jemand weiß, den ich kenne, außer dir natürlich.« »Da wäre noch was.« Harry plauderte wohlweislich nicht aus, dass Renata von Kalarama weggehen würde, sagte aber: »Renata hat mir Shortro geschenkt.« »Ist das wahr?« »Sie ist dankbar, weil ich Queen Esther gefunden habe. Sie hat versprochen, für meinen Wein zu werben, wenn er sich als trinkbar erweist. Bis dahin sind es freilich noch drei Jahre. Ich denke, sie wollte jetzt gleich etwas für mich tun.« »Wie lieb von ihr. Er ist ein tolles Pferd. Die Shortros dieser Welt müssten vergoldet werden. Dieses wunderbare Naturell.« »Du verlierst einen Einstellgast. Tut mir leid.« 158 Joan lachte. »Er wäre eh nicht lange geblieben. Sie wird wieder bei Charly landen. Da sind zu viele Gefühle im Spiel. Man muss eine Frau sein, um eine Frau zu verstehen.« »Ja.« Harry biss sich auf die Lippen. »Ich rechne damit, dass sie Queen Esther nach dem Turnier abzieht. Sie hat angerufen und gesagt, dass sie die Stute heute Abend nicht reitet. Ich wollte Gewissheit - schließlich ist dies ihr letzter Auftritt vor Louisville. Sie sagt, sie ist misstrauisch nach allem, was passiert ist, deswegen will sie Esther nicht reiten. Ich hatte gedacht, sie würde es wegen der Publicity tun.« »Kann man ihr nicht verdenken.« »Nein.« Joans Stimme nahm einen heiteren Ton an: »Und, wirst du jetzt ein Saddlebred auf Turnieren präsentieren?« »Ich lasse ihn gesattelt im Schritt gehen, Joan, und dann sehe ich, ob er zu mehr gewillt ist.«
»Ich hab's gewusst. Ich hab gewusst, dass du ein Jagdpferd aus ihm machen wirst.« Harry lachte. »Er wird mir sagen, was er machen will.« »So spricht eine echte Pferdekennerin.« »Ich will alles machen«, versprach Shortro. Als Harry und Joan ihr Gespräch beendeten, stand Fair in der Gasse von Charlys Stall. Der Geruch nach verbranntem Öl und Metall hing noch über dem Platz. »Es nimmt kein Ende.« Charly ging mit Fair durch die Gasse, wobei sie zu jedem Pferd hineinschauten. »Die Turniere. Der Druck. Und wenn man Besitzer eines Vierhunderttausend-Dollar-Pferdes als Kunden hat und sie sagen, man soll es nicht auf die Weide rausbringen, weil sie eine Verletzung befürchten, was soll man da machen?« »Ich weiß, man braucht Geduld, aber man muss ihnen zeigen, was Magengeschwüre sind und wie die einem Pferd zusetzen. Hält man Pferde in einer Box mit eingeschränktem Auslauf, stopft sie mit hoch angereichertem Futter voll, unterwirft sie großem Stress, dann kriegt man es mit Magenge 159 schwüren zu tun. Die Turnierleistungen sinken. Sind die Magengeschwüre diagnostiziert, muss man achtundzwanzig Tage lang täglich eine ganze Ampulle Ulcergard geben. Und danach täglich eine viertel Ampulle. Man darf die Dosis nicht reduzieren, sonst kommen die Geschwüre wieder. Die Leute müssen lernen, dass Pferde lebende, atmende, fühlende Geschöpfe sind und keine Autos.« »Ich weiß, ich weiß. Ich hatte in meinem Stall fünf Pferde mit Magengeschwüren.« »Wie viele Pferde sind auf dem Gestüt?« »Plusminus sechzig.« »Wie viele in Ausbildung?« »Pferde kommen und gehen. Manche sind natürlich zu einem Spezialtraining da und sind nach etwa einem Monat wieder weg, aber im Durchschnitt sind es fünfundzwanzig.« »Wenn Sie nur fünf mit Magengeschwüren haben, dann liegen Sie im grünen Bereich. Manche Leute geben übrigens kein Ulcergard. Sie nehmen Papayasaft. Ich bevorzuge Ulcergard. Mit Magengeschwüren ist nicht zu spaßen.« »Wenn ich meine Pferde nur beruhigen könnte.« Charly lächelte wehmütig. »In diesem Geschäft heißt es: Friss oder stirb!« »Die letzte Woche wird es nicht besser gemacht haben.« »So was habe ich noch nie durchgemacht.« Charly verschränkte die Arme. »Sicher, der erste Golfkrieg war schlimm, aber wir wussten, worum es ging.
Das hier«, er streckte einen Arm aus, »ich weiß nicht. Ich habe das Gefühl, dass hinter jedem Busch jemand lauert. Seit der verdammten Razzia und Jorges Ermordung guckt jeder über die Schulter. Und jetzt das hier.« Er schüttelte den Kopf und stellte sich dann aufrechter. »Darüber werde ich mir nach dem Turnier Gedanken machen. Ich werde Booty schlagen, und wenn es mich umbringt.« »Oder ihn.« »Nach allem, was passiert ist, sollte ich es vielleicht nicht sagen, aber ich möchte ihm wirklich die Schnauze in den Dreck 160 drücken. Friedrich der Große wird in Shelbyville siegen, und in Louisville auch. Er ist ein Welt-Champion.« »Ich meinerseits hoffe, dass es heute Abend ein guter Wettkampf wird.« Fair lächelte ihn an und führ fort: »Ein kampfloser Sieger ist nicht ruhmreich.« Charly lächelte ebenfalls. »Die werden es mir schwer machen. Sie werden einen verdammt aufregenden Wettkampf erleben.«
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A
ls hätten die Vorkommnisse seit dem 2. August die Menschen nicht
schon genug verstört und geängstigt, vermittelte das gelbe Absperrband um die Trümmer des Transporters zusätzlich die Ahnung drohender Gefahr. Die Veranstalter wollten die Trümmer abschleppen lassen, doch der Sheriff verfügte, dass sie dablieben. Außerdem waren sie noch warm. Die Bombenexperten, die man aus Louisville hatte kommen lassen, brauchten Zeit, um Schlüsse aus dem Schutt ziehen zu können. Diese kluge Entscheidung des jungen Sheriffs Howlett löste bei den Veranstaltern Bestürzung aus. Da der halbe Hauptparkplatz abgesperrt war, ersuchten sie den Sheriff und den Bürgermeister um die Genehmigung, das Bankett auf der Westseite der Route 60 sowie die Nebenstraßen, die dem Veranstaltungsgelände am nächsten lagen, als Parkplätze auszuweisen. Bezüglich der Route 60 beklagten die Anwohner sich nicht, aber dass ihre Straßen verstopft wurden, erwies sich als starkes Ärgernis. Die Gewitzteren parkten ihre Autos vor ihrer Einfahrt, damit diese nicht blockiert werden konnte. Außerdem musste der von Osten und Westen zum Turnier strömende Verkehr zu den Parkmöglichkeiten in den Straßen der Stadt umgeleitet werden. 160 Viele Verantwortliche befürchteten, die Zuschauer würden nach der Wahnsinnswoche zu Hause bleiben; wie viele Saddlebred-Turniere hatten einen Mord, einen explodierten Pferdetransporter und ein gestohlenes Pferd
erlebt und sich davon erholt? Das Gegenteil trat ein. Was ist es bloß, das Gefahr und dramatische Ereignisse für die Menschen so anziehend macht? Sei es ein Verkehrsunfall, ein brennendes Haus, ein Brückeneinsturz - die Leute fahren meilenweit, um die Katastrophe zu besichtigen. Der letzte Abend des Turniers bildete keine Ausnahme. Zwei Stunden vor der ersten Prüfung begannen die Leute herbeizuströmen. Die Pferdepfleger arbeiteten fieberhaft, um Pferde und Reiter vorzubereiten; sie brachten sich extra viel Wasser mit, weil die Hitze nicht nachließ; die Ausbilder wichen dem unglaublichen Menschengedränge aus. Schon um fünf Uhr nachmittags, zwei Stunden vor der ersten Schauklasse, waren alle vorhergehenden Besucherrekorde übertroffen. Trotz der Ausgaben für zusätzliche Sicherheitskräfte und der voraussichtlichen Kosten für die extra Reinigung des Geländes würden die Kassen überquellen. Ward hörte die Autos, die Menschen, die Füße und bemerkte zu Benny, der einen Zügel über der Schulter hängen hatte: »Das ist der Beweis, dass so was wie schlechte Publicity nicht existiert.« Kaum hatte Ward die Worte ausgesprochen, als Booty in Begleitung von Miss Nasty erschien. »Benny, zieh Leine«, befahl Booty. »Leine, Leine, Leine«, äffte Miss Nasty ihn nach, was sie aus einem unerfindlichen Grund in besonders gute Laune versetzte. Benny warf sich den Zügel über die andere Schulter und sah Ward an. »Er bleibt hier, Booty. Verdammt, was soll das? Ich hab heute so viel durchgemacht, mehr ertrag ich nicht.« Booty lächelte matt. »Ich werde nicht so weitschweifig re 161
den wie ein Versicherungsvertreter.« Er warf einen Blick auf Benny und beschloss weiterzusprechen. »Ich mach dir einen Vorschlag: Ich weiß, dass du Renata zu Diensten warst, sozusagen. Du hast die Stute zu deinem Gestüt transportiert.« Ward verzog keine Miene, und Booty fuhr fort: »Das stört mich nicht. Sie hat damit erreicht, was sie wollte. Ich will nicht mal wissen, was sie dir dafür gezahlt hat. Aber zweierlei will ich wissen: Hat Jorge Queen Esther zu dir gebracht?« »Hab ich dir doch gesagt.« Ward sah nicht, dass Miss Nasty von Bootys Schulter geklettert war und jetzt am Saum seiner Jeans zerrte. »Ich erinnere mich nicht, dass du's mir gesagt hast.« »Alzheimer«, witzelte Ward, aber Booty lachte nicht. »Und die nächste Frage?« »Hat Charly dir auch was gezahlt?« »Was hat Charly damit zu tun?« »Ach komm, Ward, behandel mich nicht wie einen Blödmann. Du weißt es besser und ich auch. Renata tut ohne Charly keinen Atemzug.«
»Wovon redest du?« Ward hob die Stimme. »Ich weiß nicht, was Renata und Charly tun, aber ich weiß, dass ich nicht mit ihm gesprochen habe. Der einzige Mensch, mit dem ich gesprochen habe, war Renata.« »Er steckt da mit drin.« »Dann geh und rede mit ihm. Ich weiß nichts davon.« Booty schnalzte Miss Nasty zu. »Ich will noch nicht weg.« Der Affe Heß Wards Hosensaum los, um im Erfrischungsraum herumzuschnüffeln. Vielleicht gab es da ja was Leckeres zu stibitzen. Booty sah auf die Uhr und hob die Augenbrauen. »Verdammt, die Zeit rennt mir davon.« Mit zwei langen Schritten trat er in den Erfrischungsraum, just als Miss Nasty ein gekühltes Erdnussbuttertörtchen auswickelte. Sie hatte die Tür des kleinen Kühlschrankes offen gelassen; Booty machte sie zu. »Miss Nasty, nichts Süßes.« 162 Sie stopfte es sich in den Mund und versuchte, es im Ganzen zu schlucken. Mit ungeheurer Anstrengung und mehrmaligem Kauen bekam sie es hinunter, während sie gleichzeitig Bootys Zugriff auszuweichen suchte. Booty kam heraus, Miss Nasty im Schlepptau. Ward trat nahe an Booty heran. »Ich weiß nicht, wieso du dir wegen Charly Sorgen machst. Ich hab wohl mehr Gründe, mir Sorgen zu machen als du. Benny und ich hätten ins Jenseits gebombt werden können, und Charly weiß immerhin alles über Sprengstoffe.« Booty, der Miss Nastys Pfote hielt, als sie neben ihm ging -ihr tränten die Augen, weil sie so einen dicken Brocken Süßes geschluckt hatte -, sagte: »Mach bloß keine Geschäfte hinter meinem Rücken.« »Ich finde, Geschäfte mit Renata sind keine Geschäfte hinter deinem Rücken. Was dich betrifft, habe ich meinen Teil der Abmachung eingehalten.« Bootys Stimme triefte von Sarkasmus. »Mich betrifft alles. Wenn Charly den sogenannten Pferdediebstahl mit dir gedeichselt hat, wie soll ich dann wissen, dass du nicht anderswo Geld scheffelst? Vielleicht führst du ja heimlich Ladungen voll Ware ein.« »Würde ich nie tun. Ich war offen und ehrlich.« Ward schob das Kinn vor. »Gut.« Bootys Ton wurde fester. »Wenn ich eins hasse, dann doppeltes Spiel.« Ward und Benny sahen ihm nach, als er zu seinem Stall stolzierte, wobei er nach allen Seiten nickte und lächelte und Miss Nasty winkte. »Sonderbarer Typ«, fand Benny. »Kann man wohl sagen, aber er ist Spitze im Organisieren. Das hab ich gemerkt, wenn ich die Arbeiter aufgelesen habe.«
»Ja, Booty gelingt alles, was er anpackt.« Mehr sagte Benny nicht. Er behielt seine Empfindungen für sich, eine Gewohnheit, die er sich auf die harte Tour zu eigen gemacht hatte. 163
»Immer wenn deine Stimme diesen ausdruckslosen Ton hat, weiß ich, dass du nicht sagst, was du denkst.« »Ich denke darüber nach, weswegen er sich Sorgen macht, verdammt! Niemand hat versucht, ihn umzubringen.« »Vielleicht denkt er, er ist der Nächste.« Ward sah Booty in der Menschenmenge verschwinden. »War ein Segen.« Benny konnte nicht anders, es rutschte ihm heraus. »Das denke ich manchmal auch.« Ward griff sich eine Dose Hufpflege und trat in eine Box. Booty ging in Charlys Stall und fand Charly in dem kleinen Umkleideraum. Carlos war in einer Box. Booty zog den Vorhang zur Seite, und Spike schrie den anderen Katzen zu: »Der verdammte Affe ist hier.« »Halts Maul«, rief Miss Nasty zurück, dann rannte sie in die Stallgasse, um die Katzen zu ärgern, wobei sie überaus erfolgreich war. »Ich hab nachgedacht.« Booty setzte sich auf eine blau-rote Satteltruhe. »Du hast Ward viel zu leicht nachgegeben.« »Was blieb uns anderes übrig?« »Wir hätten ihn ausbooten können.« Charly schüttelte den Kopf. »Zu riskant. Außerdem leistet er gute Arbeit, und er ist derjenige, der zuerst eingebuchtet wird.« »Hm, ich bin nicht scharf drauf, meinen Gewinn zu schmälern.« »Etwas ist besser als nichts. Ward ist verschwiegen, er tut, was man ihm sagt, und er ist ziemlich ausgeschlafen. Er kann mehr über das Geschäft lernen und hoffentlich mehr Gewinn reinbringen, was den kleinen Verlust ausgleicht, der uns entsteht, wenn er gleichberechtigter Partner ist. Außerdem müssen wir Jorge nicht mehr bezahlen. Das erspart uns einiges.« »Gut so.« Booty beugte sich zu ihm vor. »Ich denke mir, du und Renata seid an ihn herangetreten, damit er Queen Esther stiehlt.« 163
»Verdammt, ich doch nicht.« Charlys Gesicht wurde knallrot. »Das war ihre Idee.« »Ich glaub dir kein Wort. Sie ist Schauspielerin. Mit dir eine öffentliche Szene spielen, das ist ihr Lebenselixier. Warum soll ich dir glauben? Es springt für euch beide was dabei raus.« »Was springt für mich dabei raus?« »Renata.« Booty lauschte einen Augenblick auf das Kreischen von Miss Nasty und befand, dass es nicht bedenklich war, da sie auf Katzen fluchte.
»In Renatas und meiner Beziehung hat's oft gewackelt, aber Beziehungen zwischen Trainern und Reitschülerinnen sind oft so. Renata hat ihren eigenen Kopf.« »Dann sag ich dir nur eins: Wenn du und Ward hinter meinem Rücken ein kleines Nebengeschäft betreibt, dann werd ich richtig sauer.« »Würde ich auch.« Charly legte verärgert die Hand auf die metallene Querstange des mobilen Kleiderständers. »Hör mal, ich muss mich fertig machen. Ich hab an diesem letzten Abend einen Haufen Schüler am Start, und dann kommt das Fünfgänger-Rennen, das ich gewinnen werde.« Booty sagte eiskalt: »Ich habe sehr viel darüber nachgedacht. Ich werde dieses Rennen gewinnen, Charly, denn wenn du Friedrich den Großen nicht so weit zügelst, dass er Zweiter wird, erzähl ich der Presse, dass Renata ihr Pferd selbst gestohlen hat. Vielleicht erzähl ich sogar, dass du da mit dringesteckt hast.« Charly rührte sich für eine Sekunde nicht. »Du Arschloch.« »Ich hab was gegen falsches Spiel. Soviel ich weiß, hast du den Mexikaner umgebracht.« »Du bist ja übergeschnappt. Übergeschnappt! Ich hätte Jorge niemals umgebracht.« »Aber du hast verdammt noch mal Wards Transporter in die Luft gejagt. Du bist der Einzige, der das konnte. Jemand beseitigen, der zu viel wusste, nicht nur über unser Geschäft, auch über Renata. Es steigert außerdem deinen Gewinn.« 164
»Ach komm, jeder kann im Internet Anleitungen finden, wie man eine Autobombe baut und deponiert.« »Kann sein, aber ich weiß, dass du dank unserer Armee ein Fachmann dafür bist. Du hast sogar die Medaillen zum Beweis, und«, er zog es in die Länge, »ich weiß, dass du in Renata verliebt bist.« »Um Himmels willen, Booty, Ward ist keine Bedrohung für Renata.« »Nein?« Booty zog die Augenbrauen hoch. »Er hat uns ein Drittel Anteil abgeluchst. Renata zu erpressen könnte sehr lukrativ sein. Sie schwimmt in Geld.« »Du bist verrückt.« Charlys Lippen färbten sich weiß vor Wut. »Du hast einen Fehler gemacht, Kumpel, einen winzig kleinen Fehler, aber ich bin draufgekommen.« »Ach, und der wäre?« Charly zitterte stark, am liebsten hätte er Booty geohrfeigt. »Als du und Renata euch im Kalarama-Stall angebrüllt habt, hast du mit dem Finger auf sie gezeigt und gesagt: >Ich weiß was von dir.«< Charlys Miene war ausdruckslos. Booty führ fort: »So eine Bemerkung bleibt bei den Leuten hängen. Die meisten von denen, die es gehört haben, werden
sich gedacht haben, du hättest gemeint, dass sie mit dir schlief. Ich bin da ein bisschen anders. Ich hab mich umgehört. Ich hab mehr Freunde, als du denkst.« »Wenn du ihnen genug zahlst«, zischte Charly mit zusammengebissenen Zähnen. Booty beugte sich nahe zu ihm hin und log, was das Zeug hielt, um Charly aufzurütteln. »Sie hat als Call Girl gearbeitet, bevor sie groß rauskam. Sie hat in New York City und Los Angeles gearbeitet.« Charly verpasste Booty einen tückischen linken Haken, der ihn traf wie ein Donnerschlag. Weder auf den Beinen, duckte Booty sich und sprang Charly ins Gesicht. Er traf ihn am Mund, ein Zahn lockerte sich. 165
Charly, dem Blut aus dem Mund tropfte, wehrte einen zweiten Hieb des leichteren Mannes ab, dann traf er ihn mit einer harten geraden Rechten direkt in den Bauch, gefolgt von einem linken Aufwärtshaken. Booty flog auf die Erde und unternahm keinen weiteren Versuch, sich zu wehren. Charly stellte sich breitbeinig über ihn und forderte ihn auf: »Steh auf, du schmieriges Schwein.« »Bevor du mich wieder schlägst, lass deinem überhitzten Hirn Folgendes gesagt sein: Wenn du deinen Gaul heute Abend nicht eine Spur, eine winzige Spur zurücknimmst, Charly, dann gehe ich mit Renatas Vergangenheit an die Presse und erzähl denen auch, dass sie wegen der Publicity ihr eigenes Pferd gestohlen hat.« »Vorher bring ich dich um.« Booty, noch am Boden, sah auf seine teure Armbanduhr. »Du hast dafür ungefähr zwei Stunden. Danach schicken wir unsere Schüler auf die Bahn.« Charly trat zurück, Booty stand auf, rieb sich das Kinn und schlenderte davon. Miss Nasty zockelte hinter ihm her, während Spike herunterrief: »Deine Tage sind gezählt, Miss. Alle Katzen auf diesem Gelände hassen dich wie die Pest.« »Ach ja?« Sie zog unbekümmert die Schultern hoch und zottelte weiter. Carlos, der das Krachen von Faust auf Kinn gehört hatte, wartete, bis Booty aus dem Stall gegangen war, dann ging er in den Umkleideraum, wo Charly sich die Hand massierte. Charly sah ihn an. »Ich bring ihn um, dieses wandelnde Stück Scheiße.« 165
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oan hatte das Gefühl, an einem Drehkreuz zu stehen, so viele Menschen
kamen durch Stall Fünf, zumeist Reitschüler, Freunde von Reitschülern, potentielle Reitschüler. Gegen halb sechs, noch vor dem größten Ansturm, war sie leicht ermattet. »Ich mach für zwanzig Minuten den Grußaugust«, erbot sich Harry. »Du ziehst dich zurück und trinkst einen schönen großen Eistee mit einem Minzezweig drin. Das erfrischt deine Lebensgeister.« Joan lächelte gequält. »Du hörst dich an wie meine Mutter.« »Wie geht's deiner Mutter?« »Sie hat nicht mehr mit mir gesprochen, seit sie das mit der Brosche weiß.« Joan setzte ein strahlendes Lächeln auf, als der nächste Pferdebesitzer auf sie zutrat. »Wie schön, Mr. Thompson ...« »Nennen Sie mich John, bitte.« »Das ist Mrs. Haristeen. Im Erfrischungsraum gibt es Getränke und Sandwiches. Dad wird bald hier sein.« Der vierschrötige Mann im mittleren Alter lächelte zurück. »Danke.« Er ging in den Erfrischungsraum, und Joan flüsterte: »Auf der Suche nach einem Traber. Dad hat mir am Telefon gesagt, Mr. Thompson würde voraussichtlich früher als Mom und Dad hier sein. Ich habe ja nicht viele Traber. Die sind Dads Sache.« Von Zeit zu Zeit warf Paul sich gerne in den Seidendress und trabte um die Turnierbahn; allerdings hatte er sich vorgenommen, in Shelbyville kürzerzutreten, was sich als weitblickender Entschluss erwies. Wie aufs Stichwort schauten die zwei Frauen zu Charlys Stall am Trainingsplatz hinüber. Sie sahen Charly, die Hand mit einer Bandage umwickelt, unter der ein himmelblaues 166 Kühlkissen zu sehen war. Er stand mit Renata draußen vor dem Stall. »Hmmm.« Joan blinzelte. »Sieht heftig aus.« Harry bemerkte die hochgezogenen Schultern und geröteten Gesichter. »Stimmt.« Spike, der hinter ihnen im Gras saß, um frische Luft zu schnappen, hörte alles mit. »Willst du sie nicht lieber in einen Eiseimer stecken?« »Ich brauche meine Hand, Renata. Ich hab ja nur Carlos. Die anderen sind geflitzt wie die Kaninchen, als der INS hier eingefallen ist.« »Wäre ich wohl auch.« Sie nahm seine Hand und betrachtete sie fürsorglich. »Gut, dass du das Kühlkissen draufgemacht hast, das hält die Schwellung klein. Charly, kannst du so überhaupt reiten?«
»Ich muss. Ich muss gewinnen.« Sein Brustkorb dehnte sich, er atmete schwer, denn es tat schon weh, wenn er nur ihre Hand hielt. »Hör mal, ich muss was wissen, und das hat keine Zeit. Hast du in New York und Los Angeles als Call Girl gearbeitet?« Verblüfft stammelte sie: »N-nein. Ich war Kurier. Mit dem Fahrrad. Wer hat dich bloß auf die Idee gebracht?« »Booty. Nachdem ich dir am Mittwoch gedroht und gesagt habe, >ich weiß was von dir<, hat er ausgepackt. Er hat gesagt, du hast bei einem erstklassigen Begleitdienst gearbeitet.« »Charly, wenn das wahr wäre, meinst du nicht, die Klatschpresse hätte das irgendwann spitzgekriegt? So was Lächerliches.« »Du hättest denen Schweigegeld zahlen können.« »Der Klatschpresse doch nicht.« Sie Heß seine Hand sinken. »Wie konntest du dir diesen Mist auch nur anhören?« »Du arbeitest in einem harten Geschäft, und Tausende schöne Frauen meinen, sie können erreichen, was du erreicht hast, Renata. Die meisten von ihnen kommen nicht aus ordentlichen Verhältnissen, falls du verstehst, was ich meine.« 167
Ihre Augen blitzten. »Du meinst, sie sind arm, sie kommen aus einem kaputten Elternhaus - wie ich. Armes Gesindel. Du denkst, wer das Leben im Elend begann, hat keine Moral?« »Ich denke, der narzisstische Ehrgeiz, den eine Frau braucht, um Schauspielerin zu werden, kann jede Frau zu allem verleiten.« »Herrgott, das sagst ausgerechnet du, du Narziss!« »Ach komm, das ist doch was ganz anderes. Ich würde meinen Körper nie vermieten müssen, um in dieser Welt voranzukommen.« »Schön, Charly Trackwell, ich habe das auch nie getan, und ich komme aus dem Elend. Ich habe gejobbt, um studieren zu können, aber ich habe nie meinen Körper verkauft und würde es nie tun. Ich kann's nicht fassen. Ich kann nicht fassen, dass du auch nur erwägen konntest, eine solche Verleumdung zu glauben.« Sie sprach die Wahrheit. Er wurde unsicher. »Ich habe eine harte Woche hinter mir. Vielleicht ist meine Urteilsfähigkeit ins Wanken geraten. Aber er hat so überzeugend gewirkt.« »Dann sag ihm, er soll dir Namen und Telefonnummern nennen. Ich ruf sie selber an. Nein, tu ich nicht. Ich lasse sie von meiner Anwältin anrufen, und ich werde die jämmerlichen Arsche verklagen, dass ihnen Hören und Sehen vergeht. Es macht mir auch nichts aus, Booty zu verklagen, aber erst muss er es mir mitten ins Gesicht sagen.« Ihr knallrotes Gesicht verriet, wie aufgewühlt sie war. Spike kam näher, bis er einen Meter hinter Charly war.
»Du würdest klagen?« »Worauf du dich verlassen kannst.« Charly atmete tief durch. »Es tut mir leid.« Die Tatsache, dass sie vor Gericht gehen würde, überzeugte ihn davon, dass Booty das Ganze erfunden hatte. »Hast du daran gedacht, dass er versuchen wird, dich heute Abend abzuschütteln? Er will diesen Sieg.« »Er hat auch gedroht, es allen zu erzählen, inklusive den 168
Medien, und auch, dass du wegen der Publicity dein eigenes Pferd gestohlen hast.« Es entstand eine lange Pause. »Das hat er getan?« »Er hat gesagt, er wird dich, mich und Ward zusammen aus dem Verkehr ziehen. Deine Karriere ruinieren.« »Er kann's ja mal versuchen.« Renata war stahlhart. »Er muss es beweisen. Wenn nicht, landet er vor Gericht. Brauchst du meine Hilfe, weil du die rechte Hand nicht benutzen kannst?« Charly blinzelte, erstaunt über diesen Themenwechsel, dann schüttelte er den Kopf. »Es geht schon.« »Gut. Ich werde Booty Pollard einen Besuch abstatten, und danach wird er so von Sinnen sein, dass er das Fünfgänger-Rennen vergisst.« Charly lächelte lahm. »Renata, bei dir ist doch jeder Mann von Sinnen.« »Nur, wenn er Mumm im Gelege hat«, erwiderte Renata scharf und fragte dann: »Würdest du mich mit deinem Antrag beehrt haben, wenn ich ein Call Girl gewesen wäre?« Er senkte den Blick, dann sah er sie an. »Nein. Ich kann keine Hure zur Frau haben.« Er vergaß dabei, dass er ein Dieb war. »Es gibt alle möglichen Huren, Charly. Du könntest gut und gerne selbst als eine durchgehen. Ich würde dich nicht heiraten, und wenn du der letzte Mann auf Erden wärst.« Jetzt war es an ihm, rot zu werden. »Weil ich dachte, du warst eine? Komm schon, ist doch gar nicht so weit vom Schuss.« »Nein, das regt mich nicht so auf wie die Tatsache, dass du mich nicht heiraten würdest, wenn ich einen solchen Fehler gemacht hätte.« Sie sah zu Spike hinunter, der hingerissen zuhörte, dann sah sie Charly an. »Lieben heißt verzeihen, akzeptieren. Du liebst mich nicht aufrichtig. Du liebst nur dich selbst. Ich habe was Besseres verdient.« Sie ließ ihn stehen und ging schnell zu Bootys Stall. Charlys Hand pochte heftiger als zuvor. Joan sagte zu Harry, als sie Renata nachsahen: »Ärger im Paradies.« 168
»Ich würde sagen, Charly hat sich's mit ihr verdorben.« Harry war froh, dass sie noch nichts von Renatas Absicht erwähnt hatte, wieder zu Charlys Stall zu wechseln. »Sieht ganz nach einer Abreibung für Booty aus.« Joan wurde vom Teufel geritten. »Das halt ich nicht aus. Ich muss unbedingt an Bootys Stall vorbeispazieren.« In diesem Moment kamen Mrs. Murphy und Pewter herausgestürmt, dicht gefolgt von Tucker und Cookie. »Die Neugierde brachte die Katze um«, erklärte Cookie, den kleinen Schwanzstummel nach oben gerichtet. »Mom und Joan, die sind neugierig. Ich bin nur wachsam«, flunkerte Pewter. Die kleine Truppe, die zwanzig Meter von Bootys Stall entfernt war, hörte Renata die Stimme heben. Bootys Antworten waren leiser. Die zwei Frauen sahen sich an und zogen die Mundwinkel hoch. Dies war zumindest eine kleine Erholung von den Ereignissen der Woche, ein amüsantes Zwischenspiel, dachten sie. »Ach komm. Ich wollte ihn bloß aufrütteln«, sagte Booty beschwichtigend. »Indem du mich mit Dreck bewirfst?« Renata war so wütend, dass Miss Nasty sich auf Bootys Schulter zusammenkauerte. »Er liebt dich. Gibt es was Besseres, um ihn zu verletzen?« Booty lächelte nicht, als er das sagte. »Erstens, du fiese Kröte, er Hebt mich nicht. Er liebt nur sich selbst. Zweitens, du hast mich verleumdet, und wenn du so was noch einmal sagst, verklage ich dich. Ich zwinge dich in die Knie, denn ich gebe nicht nach. Ich halte eine angesehene Anwaltskanzlei allein für solche Gemeinheiten beschäftigt. Also, Booty, entweder nennst du mir deine Quellen, oder du gehst in die Knie.« Unterdessen standen Joan und Harry in der Tür. Sie konnten einfach nicht anders. 169
Booty, der mit dem Gesicht zum Eingang stand, sah sie, und seine Miene zeigte einen hilflosen Ausdruck. Miss Nasty war so verängstigt, dass sie sich ihren Rock übers Gesicht zog. »Eine Papiertüte mit Löchern drin für die Augen war besser für dich«, höhnte Pewter. Der Affe zog den Rock herunter und funkelte die graue Katze böse an. Ihr Zorn gewann die Oberhand über die Angst. »Ich hoffe, du frisst vergiftete Mäuse.« »Wen kümmert s, was du denkst oder sagst? Lügnerin. Du lügst wie gedruckt. Du hast Joans Brosche nicht. Du hast überhaupt keine Klunker. Du hast bloß einen Haufen blöde Kleider und Hüte.«
Ehe Miss Nasty mit einer passenden Obszönität antworten konnte, zog Renata ihr versilbertes Handy heraus. »Wen rufst du an?« »Meine Anwältin. Du hast Zeit, bis es dreimal geklingelt hat und sie drangeht. Also raus damit oder du kommst vor Gericht, und ich schwöre, Booty, ich ziehe es durch, bis ich den letzten Penny aus dir herausgequetscht habe. Vergiss nicht, ich habe die Mittel und den Willen dazu.« Zu spät erkannte Booty, dass er Renata unterschätzt hatte. Er sank zusammen wie ein nasser Sack. »Es tut mir leid. Es war falsch von mir. Ich habe alles erfunden. Ich habe keine Kontakte. Ich werde so etwas nie wieder sagen.« Sie beugte sich zu ihm hinunter, legte ihren Zeigefinger auf seinen Adamsapfel und drückte zu, bis er würgen musste. »Halt bloß Wort, Blödmann.« Vor Schmerzen traten ihm Tränen in die Augen. Er hustete, und Miss Nasty schlang ihre Arme um seinen Hals. Renata drehte sich auf dem Absatz um und erblickte Harry, Joan, Mrs. Murphy, Pewter, Tucker und Cookie. »Ich habe Zeugen. Er hat mich verleumdet. Er hat sich entschuldigt. Wenn er nicht Wort hält, mach ich ihn fertig.« Sie ging so energiegeladen an ihnen vorbei, dass die kleine Gruppe einen Luftzug spürte. 170
Die Hand an der Kehle, stand Booty auf. Harry bemerkte ein bläuliches Mal an seinem Hals. »Sie sind unten durch.« In diesem Moment erreichte ihre Bewunderung für Renata stratosphärische Höhen. Bootys Augen tränten noch - er hatte keine Ahnung gehabt, dass ein einziger Finger solche Schmerzen zufügen konnte; er schüttelte den Kopf und krächzte: »Es war ein Scherz.« »Booty, Sie stehen heute nicht oben auf der Beliebtheitsskala.« Joan stemmte die Hände in die Hüften. »Hab's vermasselt.« Er wischte die Tränen fort. »Komplett.« Joan und die Übrigen gingen hinaus. Pewter rief über die Schulter: »Lügnerin, Lügnerin.« Miss Nasty, die Booty noch umschlungen hielt, antwortete nicht. Es dauerte zwei Minuten, um zum Stall Fünf zu gelangen, wo Harry und Joan Renata antrafen, die seelenruhig eine Chinintablette mit einem Tonic hinunterspülte. Sie ließ die Flasche sinken. »Ich bin froh, dass Sie das gesehen haben.« »Ich auch.« Joan lachte. »Ich wünschte, ich hätte ein Foto davon gemacht.«
»Er hat mich vor Charly verleumdet und behauptet, ich war ein Call Girl, bevor es mit mir aufwärtsging. Und wissen Sie was?« Sie lachte höhnisch. »Charly hat ihm geglaubt. Er hat ihm geglaubt!« Ihre betörenden haselnussbraunen Augen wirkten wie von innen erleuchtet, so stark waren die zurückgehaltenen Emotionen. »Wie bedauerlich.« Harry fiel nichts anderes ein. Joan schon. »Er ist ein Scheißkerl, gut, dass Sie ihn los sind.« Da Joan sich selten unflätig ausdrückte, waren die Frauen und die Tiere hingerissen von diesem Ausrutscher. Paul, der es gehört hatte, steckte den Kopf aus dem Erfrischungsraum. »Joan.« »Verzeihung, Daddy. Ich bin froh, dass du hier bist.« Er nickte den anderen zu und wandte sich dann wieder an 171
Joan. »So etwas haben wir dir nicht beigebracht, Mädel.« Darauf ging er wieder hinein zu Mr. Thompson. Joan stieß einen leisen Pfiff aus und begab sich ans hintere Ende des Stalls, die Übrigen im Schlepptau. »Bin ich froh, dass Mutter nicht dabei war. Dann müsste ich ihr jetzt Riechsalz unter die Nase halten.« »Eine Südstaatenlady braucht massenhaft Disziplin.« Harry lachte, denn auch sie war streng erzogen worden. Renata dagegen hatte täglich Unflätigkeiten zu hören bekommen und später lernen müssen, sich wie eine Dame auszudrücken und zu benehmen. Sie machte eine aufschlussreiche Bemerkung: »Wenigstens hat jemand Sie genug geliebt, um Ihnen alles beizubringen.« »Ich bin eine Vielgeliebte!« Harry lachte und heiterte damit die Stimmung auf. »Renata, Sie wissen, was bei diesem Turnier auf dem Spiel steht. Booty und Charly streiten bei jedem Turnier. Sie schlagen sich vielleicht nicht, aber sie gehen sich gegenseitig auf die Nerven, jeder will, dass der andere schlecht abschneidet. Das ist albern, sorgt aber andererseits in den Ställen, auf der Trainingsbahn und auf der Turnierbahn für Unterhaltung.« »Wohl wahr, aber ich lasse es mir nicht bieten, dass Booty dafür meinen Namen in den Schmutz zieht.« »Würden Sie ihn verklagen?« Harry war misstrauisch gegenüber Rechtsanwälten und Gerichtssälen. Sie hielt es mit dem spanischen Sprichwort: »Lieber dem Teufel in die Hände fallen als Rechtsanwälten.« »Bis zu meinem letzten Atemzug, und außerdem würde ich ihm auf diese oder jene Art sämtliche Pferdebesitzer aus seinem Stall wegholen. Seine Einnahmen würden bald nur noch tröpfeln und dann versiegen.« Sie hielt einen Augenblick inne. »Ich bitte um Verzeihung. Ich bitte in vieler
Hinsicht um Verzeihung. Ich habe Sie Zeit gekostet und Ihnen Schwierigkeiten gemacht. Ich bin nicht immer so. Die letzten Jahre bin ich 172
gerutscht und geschlittert. Nicht nur in meiner Karriere. Ich muss zu meinem wahren Ich zurückfinden.« »Ihr wahres Ich ist sehr beeindruckend«, bemerkte Joan trocken. Renata warf den Kopf zurück, und ihre Haare flogen über die Schultern nach hinten. »Ich komme aus anderen Verhältnissen als Sie. Das hat mich etliche Dinge gelehrt, die Sie vielleicht wissen, vielleicht auch nicht. Aber ich sage Ihnen, wenn Sie zulassen, dass ein Mensch Sie herumschubst, werden es früher oder später alle versuchen. Eine Frau hat es schwerer. Sie muss sehr bissig zu einem Mann sein, dann merkt er, dass sie Zähne hat, und er weicht zurück. Wir sind nur eine Horde Tiere. Wer schwach wirkt, der stirbt. So sehe ich das.« »Da ist was Wahres dran.« Mrs. Murphy betrachtete die große Schöne intensiv. »Die meisten Menschen wollen sich nicht damit abfinden. Sie meinen, sie können die Dinge deichseln.« Tucker war nachdenklich geworden. »Ich nehme an, bei den meisten Amerikanern funktioniert das auch. Wir führen ein gutes, angenehmes Leben.« Auch Cookie war nachdenklich geworden. »Ja, aber wenn die Annehmlichkeiten der Zivilisation weggefallen sind, dann heißt es töten oder getötet werden.« Pewter war unnachgiebig. »Und ich töte Miss Nasty.« Mrs. Murphy, Tucker und Cookie zogen es vor, nichts über Miss Nasty zu sagen. Es hatte eh schon genug Arger gegeben. Joan zog ihr Taschentuch aus ihrer Leinenjacke, um sich Luft zuzufächeln. »Deswegen brauchen wir gute Freunde. Freunde beschützen sich gegenseitig. Die Regierung tut einen Dreck.« Sie zuckte die Achseln. »Es sind die Freunde, die einen retten. Und wenn man eine gute Familie hat, rettet die einen auch. Wenn die Leute über die großen Dinge reden, kann ich Anteil nehmen, aber ich sehe nicht, dass ich viel tun kann.« Sie sah Renata an. »Aber für Sie, für Larry, für Harry kann ich was 172
tun, und Ihnen, Renata, sage ich, reiten Sie weiter. Drehen Sie Filme, bis Sie es satt haben, aber lassen Sie die Menschen nicht wissen, was Sie wirklich denken. Die Menschen leben in einer Blase. Sie sehen die Welt, wie sie sie sehen wollen, nicht, wie sie ist.« »Das weiß ich.« Renata nickte. »Das weiß ich genau.« »Und wer Unruhe in die Blase bringt, wird als schlechter Mensch angesehen. Weil die Öffentlichkeit auf Sie schaut, müssen Sie ein guter Mensch sein.« Joan fächelte Renata, dann Harry Luft zu. »Glaubst du nicht, dass wir alle an einem Strang ziehen können? Ich meine, als Nation?«, fragte Harry zweifelnd.
»Daddys Generation hat es getan. Sein Vater und seine Mutter haben es getan. Der Erste und der Zweite Weltkrieg haben die Menschen zusammengeschweißt, aber seitdem hat uns nichts mehr richtig zusammengeschweißt. Nicht einmal der 11. September.« Sie hielt inne. »Vielleicht doch, vielleicht liegt es verborgen unter all den hässlichen Geschehnissen in Frankfurt«, sie nannte die Stadt, in der die Staatsregierung von Kentucky ihren Sitz hat, »und Washington liegt an der Oberfläche. Vielleicht tun wir, was wir tun müssen, wenn die Zeit kommt. Ich weiß es nicht, und es schert sowieso keinen, was ich denke.« »Mich schon«, sagte Harry. Joan schlang ihren Arm um Harrys Schulter. »Harry, du kannst so süß sein.« Renata erklärte: »Ich arbeite in einem Beruf, der Illusionen verkauft. Und wissen Sie was, wir sind vorsichtig in Hollywood. Können Washington nicht das Wasser reichen.« Sie stieß einen langen Seufzer aus. »Gott, war das ein Tag. Was wird der Abend bringen?« »Ein gutes Ende des Turniers«, antwortete Joan. »Dann können wir alle nach Hause gehen und ausschlafen.« »Du wirst morgen einen Stall voll Kunden haben.« Harry wusste, wie nach einem großen Turnier der Hase lief. 173 »Gut.« Joan strahlte. »Aber zuerst muss ich ausschlafen.« »Ich werde keinen Aufruhr mehr verursachen«, gelobte Renata. Harry überlegte einen Moment. »Wollen Sie das Pferd, das Charly Ihnen gezeigt hat, immer noch kaufen?« »Ich werde nicht nur den Wallach kaufen, sondern auch zwei Jährlinge, die er gezüchtet hat. Ich werde den Scheck nach dem Turnier ausstellen, und ich lasse die Pferde nach Kalarama bringen.« Sie wandte sich an Joan. »Mit Ihrer Erlaubnis. Ich werde den Widerling schlagen mit Pferden, die er gezüchtet hat. Er ist so ein Dummkopf. Das Geld wird ihn glücklich machen, aber wenn ich ihn Jahr für Jahr in seinem eigenen Spiel schlage, wird ihm das Lächeln vergehen.« »Er ist gut«, warnte Joan. »Joan, ich habe es nicht vom Wohnwagenpark in Lincoln County nach Hollywood geschafft, ohne was zu können. Ich werde ihn schlagen. Es ist mir egal, wie hart ich daran arbeiten muss. Ich kriege es hin, und dann werden Sie an der Bande sein und jubeln.« »Umso besser.« Joan lächelte, und die drei Frauen gingen Arm in Arm zum Erfrischungsraum. Sie brauchten etwas zu trinken, um sich abzukühlen. Renata sagte. »Ich bin fertig mit den Männern.« Harry und Joan antworteten nicht, gab es doch keine Frau auf der Welt, die das nicht wenigstens ein Mal in ihrem Leben gesagt hatte.
31
D
ie Orgel spielte »New York, New York«, und die Melodie schwebte
über das gesamte Gelände. Die erste Prüfung begann, eine Schauklasse, in der das Können der Reiter beurteilt wurde. Ward trabte neben seinem Schüler her, einem 174
Herrn im mittleren Alter, der spät zu reiten begonnen und darin einen neuen Lebensinhalt gefunden hatte. Ward blieb am Einlasstor stehen, und der Herr trabte auf die Turnierbahn. Ward keuchte ein bisschen. Benny bereitete im Stall das nächste Pferd für die Amateurpüfung der Dreigänger vor, die auf fünfhundert Dollar dotiert war. Trotz allem, was passiert war, lief das Turnier exakt wie ein Uhrwerk. Ward war froh über den routinemäßigen Ablauf, weil der ihn wieder zu Atem kommen ließ, als er hinter den westlichen Kabinen entlang bis an deren Ende ging. Dort blieb er stehen, damit sein Schüler ihn deutlich sehen konnte. Direkt hinter ihm befand sich die zweistöckige Tribüne, auf deren oberer Ebene die Leute bereits an Tischen speisten. Die feuchte Hitze hüllte Zentral-Kentucky ein wie ein nasser Schal. Die Sonne würde nicht vor Viertel vor neun untergehen. Eine große Anzahl Prüfungen war vor Sonnenuntergang angesetzt, aber vielleicht würde das Barometer etwas fallen, sodass die Leute besser atmen konnten, denn es war sehr schwül. Ward blickte nach Westen, weil er das Gefühl hatte, dass sich ein Gewitter zusammenbraute, doch Wolken, die Erleichterung verhießen, waren nicht in Sicht. In Anbetracht der grausigen Entdeckung während des letzten Gewitters fand Ward es dann doch besser, einfach zu schwitzen. Die Kabinen waren voll besetzt. Die Tribünen auch. Die Zuschauer, die Freunde bei der ersten Prüfung hatten, jubelten jedes Mal ausgelassen, wenn einer vorbeijagte; die Nummer, schwarz auf weißem Quadrat, war mittels eines dünnen, nahezu unsichtbaren Drahtes am Kragen des Reitrocks befestigt. Hunderte von hungrigen Zuschauern hatten die frühen Prüfungen gewählt, um sich auf die Haupttribüne zu drängen und sich dort über die verlockenden Speisen herzumachen. Diejenigen, die sich keine Eintrittskarte für dieses exklusive Ambiente kaufen konnten, stopften sich mit den Köstlichkeiten voll, die auf der Mittelstraße hinter den westlichen Tribünen angeboten wurden, wo die Kunden an den Ständen lange 2 54 Schlangen bildeten. Es war schließlich der letzte Abend des Turniers, und ein jeder hoffte, mit dem Standbesitzer einen günstigen Preis aushandeln zu können. Pferdehändler sind und bleiben Pferdehändler, ganz egal, was sie
kaufen. Der unglaubliche Duft von Gegrilltem - Rippchen, Schweinefleisch, Rindfleisch und Hähnchen - waberte über den Ständen, ebenso der unverkennbare Geruch von Spritzgebäck, das so mancher Diät den Garaus machte. Ward atmete tief ein, um sich zu beruhigen. Hin und wieder kam ihm der morgendliche Beinahe-Zusammenstoß mit dem Tod zu Bewusstsein, und dann überfiel ihn das große Zittern. Sosehr er sich anstrengte, er konnte sich nicht vorstellen, warum jemand ihn umbringen wollte. Wohl war er auf dem aufsteigenden Ast, aber er hatte noch nicht genug Reichtum angehäuft, für den es sich lohnen würde, ihn zu ermorden. Er war unverheiratet, es gab weder Frau noch Kinder, die sich um seine irdischen Güter stritten, und viele von seinen Blutsverwandten waren einer Herzkrankheit erlegen. Auch das machte ihm Angst. Jedes Mal, wenn sein Herz infolge der heutigen Ereignisse zu rasen anfing, sorgte er sich, dass dieser Familienfluch auch über ihn gekommen war. Harry, die mit Tucker an der Leine auf dem Weg zur Kalarama-Kabine war, blieb bei Ward stehen - warum, wusste sie selbst nicht. Als er seinen Schüler, der ein guter Reiter war, aufmunterte, lächelte Harry, und als der Schüler mit der Nummer 303 vorbeipreschte, legte Harry sachte die Hand auf Wards Schulter. Er drehte sich um, sie lächelte ihn an, und er fühlte förmlich, wie seine Sorgen verflogen. Berührung verfügt über große Macht, vor allem, wenn die Berührung von einer mitfühlenden, hübschen Frau kommt. »Viel Glück heute Abend, Ward.« »Danke.« Sie setzte ihren Weg zur Kabine fort. Fair, der aus der Gegenrichtung des Einlasstors kam, trug einen kleinen Deckelkorb für Frances, die - zum Teufel mit der Hitze - festlich an 175
gezogen war. Frances sah immer gut aus, doch am letzten Abend erschien sie in einem kühlenden rosa Organdykleid und einem hübschen rosa Strohhut, den sie abnehmen würde, wenn sie sich setzte. Ihr Schmuck zeugte von ihrem Status, wenn auch nur dezent. Alles andere wäre nicht Frances' Stil. Sie lächelte, plauderte und sonnte sich darin, am Arm eines großen, muskulösen blonden Mannes zu gehen. Die Ehe ist eine Sache, die Aufmerksamkeit eines Mannes ist etwas ganz anderes, und Fair war die Liebenswürdigkeit in Person. Harry strahlte, als sie die beiden sah, und dachte: »Er sieht wirklich phantastisch aus.« Vor dem Eingang zur Haupttribüne stand Paul Hamilton mit Mr. Thompson, der an ihm klebte wie eine Klette. Ein Heer von Kameraden hatte sich dort eingefunden, Männer, die im Zweiten Weltkrieg und in
Korea gekämpft, Männer, die sich ihr Leben lang gekannt hatten. Paul besaß eine Anziehungskraft, die mit den Jahren nicht verblasst war. Wenn er mitten auf einer leeren Weide stand, fanden sich alsbald Leute dort ein und unterhielten sich mit ihm. Er verströmte Zuversicht, Unerschütterlichkeit und gute Laune, und dies tat er heute Abend im Überfluß, weil die Leute glauben mussten, dass alles gut würde. Die Männer lachten, die meisten hatten eine Zigarre im Mund, Paul indes nicht. Er sah sich um, wo Frances war, und schnorrte dann einen kräftigen Zug von einem Freund. Ein Ausdruck erhabener Zufriedenheit trat in sein Gesicht. Er gab die Zigarre zurück und sagte etwas, worauf alle Männer lachten. Mr. Thompson wagte die Frage: »Gibt's eine Voraussage für die Fünfgänger?« Paul klopfte ihn auf den Rücken. »Wenn Point Guard diesmal nicht gewinnt, dann gewinnt er alle folgenden Jahre.« Die erste Prüfung war beendet, Wards Schüler ergatterte den dritten Platz. Er hatte die dicke gelbe Schleife in der Hand und ein breites Lächeln im Gesicht. Ein dritter Platz in Shelbyville, das war schon etwas. 176
Ward lief zum Tor, als der Herr hinausritt, und sagte: »Gut gemacht, Mr. Carter, gut gemacht. Wenn Sie so weiterreiten, werden Sie in Nullkommanichts die blaue Schleife erringen.« Mr. Carter, der vor zwei Jahren Witwer geworden war, war zu glücklich, um zu sprechen. Ohne dass es ihm recht bewusst wurde, verflog in diesem Augenblick, was von seinem Kummer übrig war. Das Leben geht nun mal weiter. Sie kamen an Booty vorbei, der einen Schüler aus seinem Stall führte. Ward winkte. Booty winkte zurück, wiewohl er sichtlich aufgewühlt war. Miss Nasty saß in ihrem Käfig, aber nicht lange. In dem Augenblick, als sie Bootys Rücken sah, öffnete sie das kleine Schloss mit einer für diesen Zweck zurechtgebogenen Haarnadel einer Pferdebesitzerin. Die Menschen in ihrer Arroganz halten sich für die einzigen Wirbeltiere, die Werkzeug herstellen und benutzen. Sie haben sich offenbar wenig mit ihren Affenvettern befasst, auch haben sie Raben und Amseln nicht beobachtet, die ähnliche Fähigkeiten zeigen. Miss Nasty stieß die Käfigtür auf, hob ihr wollweiß-schwarz gestreiftes Röckchen und trat hinaus. Sie hüpfte zur Sattelkammer, schwang sich auf einen Sattelständer, hockte sich auf den Sattel und machte sich an einem kaputten Brett zu schaffen, das sie aufschob. Dahinter befand sich eine kleine Höhlung, die zweifellos ursprünglich von vorwitzigen Mäusen angelegt worden war. Spike und Konsorten auf dem Veranstaltungsgelände von Shelbyville schlachteten sie gnadenlos ab, sofern sie sie erwischten. Miss Nasty griff hinein, tastete herum und brachte Joans Brosche zum
Vorschein. Nasty sprang hinunter, rieb das Schmuckstück an einem Pflegetuch ab und steckte es dann säuberlich an ihr Oberteil, das wollweiß ohne schwarze Streifen war. Sie ging in den Umkleideraum, schnappte sich ihren Strohhut, an dem Bänder flatterten, und stülpte ihn sich auf den Kopf. Miss Nasty war bereit fürs Leben. 177 Charly ging neben einer Schülerin, die an der zweiten Prüfung teilnahm. Er hatte einen weiteren Weg, weil er von unterhalb des Einlasstors kam, was mit ein Grund dafür war, dass er sich jedes Jahr diesen Stall reservierte. Er dachte, der lange Weg half Reiter und Pferd, sich zu konzentrieren. Die junge Dame im Sattel trug einen kirschroten Reitrock und eine fesche schwarze Melone; ihre Hände, die in schönen Glacehandschuhen steckten, waren korrekt positioniert. Charlys Hand, immer noch in der Bandage mit dem himmelblauen Kühlkissen, hing seitlich herab. Er ging rechts von dem Pferd, damit er die linke Hand benutzen konnte. Er musste unbedingt die Schwellung unter Kontrolle behalten, sonst würde es ihm nicht möglich sein, den rechten Handschuh für die letzte Prüfung anzuziehen. Die Kabinen quollen über von Menschen und Farben. Rosatöne, Gelb von Zitrone bis Kadmium, alle möglichen Rot-, Lila-, Fliedertöne, Himmelblau, Grüntöne von knalligem Limettengrün bis zu sanften Schattierungen - alle Regenbogenfarben waren vertreten. Die Menge war in Hochstimmung. Vielleicht wurde alles gut. Frances sagte zu den Anwesenden in ihrer Kabine, aller schlimmen Dinge seien drei, deswegen werde es ihnen Wohlergehen. Renata, die, wie angekündigt, nicht ritt, hatte sich in der Garderobe umgezogen und trug jetzt ein Kleid. Sie saß zwischen Frances und Joan in der ersten Reihe. Sie trug Weiß, was ihren braunen Teint, ihre blitzenden Zähne und ihre strahlenden Augen betonte. Schlichtheit - schöne Ohrringe aus Smaragden und Diamanten, ein göttlicher Marquise-Diamantring an der Hand - lenkte die Aufmerksamkeit auf ihre hervorstechenden körperlichen Vorzüge. Kein Wunder, dass diese Frau ein Filmstar war. Harry, die nicht schön, aber attraktiv war, hatte nichts dagegen, mit schönen Frauen zusammen zu sein. Ihre unerschütterliche Selbstachtung kam ihr da sehr zugute. 177
Paul, der Mr. Thompson endlich losgeworden war, schlenderte herein und setzte sich hinter Fair und Harry an die Rückseite der Kabine. »Mr. Hamilton, bitte setzen Sie sich auf meinen Platz«, bot Fair ihm an. »Nein, nein, Sie sind einen weiten Weg gefahren, und ich stehe sowieso bald wieder auf und laufe herum.« Er lächelte liebenswürdig. »Die erste Prüfung war gut, und die hier lässt sich gut an.«
Joan drehte sich um. »Daddy, sag mir nach der Prüfung, was du von dem Schimmel hältst.« »Das Pferd von Donna Moore?« Paul nannte eine Dame, die eine berühmte Züchterin war - und eine schillernde Persönlichkeit. »Ja.« Die Leute in der Kalarama-Kabine konzentrierten sich auf den SchimmelWallach, als er vorbeijagte. Im Erfrischungsraum warteten Mrs. Murphy, Pewter und Cookie auf die Rückkehr der Menschen, wenn die Bahn nach der Prüfung saubergefegt und glattgerecht sein würde. Die zwei Katzen glühten vor Wut. Man hatte sie in eine große Hundekiste gesperrt. Sicher, sie hatten extra Leckerchen, frisches Wasser und ein kleines Katzenklo bekommen, aber das machte die Kränkung kaum wett. Cookie dagegen schnarchte in dem kleinen Schafsfellbett neben der Kiste. »Wie kann sie zu so einer Zeit schlafen?«, nörgelte Mrs. Murphy. »Jack Russells tun, was ihnen passt. Ich versteh nichts, was sie tun«, sagte Pewter. Während die Katzen noch murrten, wurden sie von Ward überrascht, der in den Erfrischungsraum geschlichen kam. Er sah sich um, dann ging er wieder. Sie hörten, wie er durch die Stallgasse ging, Manuel grüßte und dann den Stall verließ. Fünf Minuten später kamen Harry, Fair und Joan in der kurzen Pause zwischen den Prüfungen zurück. 178
Renata, die von Fans verfolgt wurde, flüchtete kurz darauf hinein. Harry Heß die Katzen aus der Kiste. Cookie machte ein Auge auf und schlief wieder ein. »Haben wir was verpasst?«, erkundigten sich die zwei Katzen bei Tucker. »Gute Prüfungen.« »Wo ist der widerliche Affe?«, fragte Pewter gereizt. »Miss Nasty hab ich nicht gesehen. Wenn sie aufkreuzt, dürfte das den Abend beleben«, antwortete Tucker. »Dann wird sich zeigen, ob sie eine Angeberin ist oder nicht.« Genau in diesem Moment kam Booty in den Stall. »Hat jemand Miss Nasty gesehen?« »Nein«, antworteten alle auf einmal. Ohne ein weiteres Wort ging Booty hinaus. Harry sagte beiläufig zu Fair: »Ich bin an dem Schmuckstand stehen geblieben, bevor ich in die Kabine kam. Der Ring, der mir so gut gefiel, ist verkauft. Gut so. Jetzt gerate ich nicht in Versuchung.« »So kann man es auch sehen.« Fair hatte den Ring gestern Abend im Handschuhfach seines Wagens eingeschlossen. Joan ging hinaus zu Larry und sie halfen einer Schülerin, die als Nächste reiten würde. Joan begutachtete ihre Reitkleidung, Larry überprüfte noch
einmal ihr Sattelzeug. Die besondere Zuwendung vor dem Auftritt freute sie; so etwas wirkt sich immer günstig auf die Leistung aus. Während die Gruppe sich Luft zufächelte und kalte Getränke genoss, platzte Booty in Charlys Stall. »Hast du Miss Nasty gesehen?« Er hatte eine gekühlte Flasche 1988er Jacquart La Cuvée Nominée Champagner und zwei Sektflöten dabei. »Raus hier«, brummte Charly leise. »Hey, ich hab einen Fehler gemacht. Es tut mir echt leid.« Booty hörte sich halbwegs ernst an. »Raus.« Booty wandte sich zum Gehen und stieß beinahe mit Ward zusammen, der gerade Charlys Stall betreten wollte. »Er hat schlechte Laune.« »So wirkst du eben auf Menschen.« Ward huschte an ihm vorbei. Booty sagte laut, sodass Ward es hören konnte: »Du wirst mir langsam zu selbstgefällig, Ward.« »Halt's Maul, Booty«, rief Ward über die Schulter in der Annahme, dass Booty ihm nicht nach drinnen folgen würde. Charly sah Ward an; er und Carlos striegelten gerade einen muskulösen Wallach, der an der vierten Prüfung teilnehmen würde, der JuniorSchauklasse für Fünfgänger. Charly zuckte zusammen, als er versuchte, seine Hand zu benutzen. »Dieser verdammte INS. Ich brauch 'ne rechte Hand, im doppelten Sinne des Wortes.« »Das sehe ich.« Ward befestigte den Kehlriemen am Zügel, weil Charly seine Finger für eine so kleine Schnalle nicht benutzen konnte. »Mir ist da was eingefallen.« »Das ist beängstigend.« Charly fand seinen Humor wieder. »Kann man im Internet wirklich Anleitungen zum Bau einer Autobombe finden?« »Ja, und ich kann's dir zeigen. Nach dem Turnier.« »Ich brauch's im Augenblick nicht, aber du kennst dich da aus und«, er klang nicht anklagend, lediglich sachlich, »du hattest ein Motiv.« Beide sahen gleichzeitig zum Eingang, denn Booty war wieder hereingekommen. Er hielt eine Hand in die Höhe, zwischen den Fingern zwei Gläser, die Flasche Edelchampagner in der anderen Hand. »Warte, Charly, bevor du explodierst.« Charly, Ward und Carlos rührten sich nicht. »Ich habe einen Fehler gemacht. Renata hat mich zur Rede gestellt. Es war ein Fehler von mir, so was über sie zu erfinden. Ich will diese Prüfung gewinnen, und da bin ich irgendwie durchgedreht.« »Ist das alles?« Charly hatte angenommen, Booty würde sich entschuldigen, was allerdings nichts daran geändert hätte, dass 179
er wegen Bootys klugscheißerischem Mundwerk vermutlich einen oder zwei gebrochene Knochen in seiner Hand hatte. »Was willst du von mir? Dass ich zu Kreuze krieche?« »Ich weiß nicht, was ich von dir will, und im Moment kommt's mir nicht drauf an. Ich weiß aber, dass ich mit dir keine Geschäfte mehr mache, Booty.« Er sah Ward an. »Wenn du glaubst, ich habe deinen Transporter in die Luft gejagt, dann bin ich ja wohl aus dem Spiel. Ich war's aber nicht. Ich habe keinen Grund, dich zu töten.« Als Carlos »töten« hörte, begab er sich wohlweislich hinaus in die Sattelkammer. Er wusste zwar, dass seine Landsleute hergekarrt wurden, aber mehr wollte er nicht wissen. Unwissenheit, in gewissen Fällen ein Segen, war in diesem Fall Sicherheit. »Kann sein. Aber den Profit auf zwei statt auf drei aufzuteilen wäre für manchen Anreiz genug. Ihr könnt Leute finden, die die Arbeiter auflesen und abladen. Aber könnt ihr ihnen trauen?« Ward forderte sie beide heraus. »Woher weiß ich, dass ich dir trauen kann? Du hast mich wegen Geld über den Tisch gezogen«, sagte Booty. »Und das wird ein anderer Fahrer mit der Zeit auch tun. Ich bin bereit, mehr zu tun. Ich hab doch gesagt, ich will lernen«, verteidigte Ward sich. »Und Booty, niemand hat versucht, dich umzubringen.« »Renata würde es tun, wenn sie könnte.« Er runzelte die Stirn. »Sie ist nicht die Einzige.« Charly legte seinen Arm über den Hals des Pferdes. Booty nahm es leicht: »Ist Annie hier?« »Lasst uns das ein andermal klären.« Charly wandte sich wieder dem Pferd zu. »Ich habe ein Pferd in der fünften Prüfung und, Booty, ich werde die Fünfgänger-Prüfung gewinnen. Es ist mir egal, was du der Presse erzählst.« Er und Booty machten zwar zusammen Geschäfte, aber wenn es ums Reiten in der großen Schauklasse ging, hatten sie nur einen Wunsch: zu siegen. 180
Ward erstarrte. »Was erzählen?« Booty zuckte die Achseln. »Dass Charly, Renata und du Queen Esther getohlen habt.« »Booty, setz mich auf die Liste der Leute, die dich umbringen wollen.« Ward überprüfte für Charly die Zügelschnallen. »Wenn du das tust, gehst du heute Abend nicht hier raus.« »Wie Jorge?«, fragte Booty herausfordernd. »Du musst es ja wissen«, schoss Ward zurück. »Ich hab ihn nicht angerührt.«
Booty schob die Unterlippe vor. »Mir scheint, dass einer von uns ihn umgebracht hat. Er war schon ein bisschen wie du geworden, Ward - gierig. Er wollte einen größeren Anteil aus Charly und mir rausquetschen.« »Keiner ist gieriger als du.« Wut stieg in Charly auf, aber er wollte Booty nicht mit der linken Hand schlagen. Dann würde er die Zügel mit den Zähnen halten müssen. »Einer von euch lügt, oder ihr beide, drum lasst mich eins sagen: Ich bin hierhergekommen, um mich zu entschuldigen, Charly. Ich habe einen Fehler gemacht. Es tut mir leid. Wenn einer von euch Miss Nasty gesehen hat, sagt mir Bescheid. Das ist alles, worum ich bitte.« Booty stellte den Champagner ab. »Den wollte ich eigentlich trinken, wenn ich die Fünfgänger-Prüfung gewonnen habe, aber jetzt hab ich ihn als Friedensangebot mitgebracht. Vielleicht bist du ja verzeihlicher gestimmt, sobald er seine magische Wirkung entfaltet hat.« Booty verließ den Stall, ein Glas nahm er mit. Er rief über die Schulter: »Schätze, du wirst alleine trinken, weil du nicht siegen wirst.« Ward wartete, bis Booty weit genug voraus war, bevor auch er ging. Carlos kam zurück, um dem Pferd den allerletzten Schliff zu geben. »Wenn deine Hand noch schlimmer wird, kannst du in der letzten Prüfung nicht reiten.« »Es wird schon gehen«, antwortete Charly, »aber du musst mir mit Rock und Krawatte helfen. Ich hoffe nur, dass ich den 181
verflixten Handschuh ankriege.« Er nahm die Champagnerflasche und brachte sie in den Kühlschrank im Erfrischungsraum. Er las das Etikett. »Einen guten Geschmack hat er ja, der Schuft.« Abgesehen davon, dass sie ein Affe war, wäre Miss Nasty durch ihr Ensemble aufgefallen, das gekrönt wurde von der äußerst wertvollen Brosche, die sie sich ans Oberteil gesteckt hatte. Da sie Bootys Gewohnheiten kannte, hatte sie sich auf dem obersten Ast eines der großen Bäume an der Mittelstraße versteckt. Die weite Sicht ermöglichte es ihr, Bootys Bewegungen genau im Blick zu behalten. Sobald er aufsaß und auf die Reitbahn ritt, konnte er sie nicht von den Tollereien abhalten, auf die sie ihrer Ansicht nach ein Anrecht hatte. Wenn sie ihr Versteck vorher verließe, würde er sie schnappen, und der Spaß hätte ein Ende. Vor allem aber wollte sie vor den schnöseligen Katzen mit ihrem Schatz protzen. Dafür lohnte sich das Warten, das sie sich mit Zuschauen bei den Prüfungen und Lauschen auf den Jubel vertrieb. Gelegentlich spürte jemand, der unter dem Baum vorbeiging, den leichten Aufschlag einer Pistazienschale auf seinem Kopf. Miss Nasty hatte vorsorglich eine große Tüte Pistazien aus Bootys Erfrischungsraum mitgehen lassen. Die dünne Schale gefährdete jedoch niemanden, weshalb auch niemand hochsah und
in dem dichten Laubwerk den gut gekleideten Affen auf dem obersten Ast erblickte. Nachdem sie die ganze Tüte verdrückt hatte, bekam Miss Nasty schrecklichen Durst, der über ihre Vorsicht siegte, besser gesagt, über das bisschen, das davon noch übrig war. Sie kletterte den Baum hinunter und huschte hinter den Ständen entlang auf die Mittelstraße, bis sie im hinteren Bereich einer 182
Imbissbude auf einen Stapel Erfrischungsgetränke stieß. Sie schnappte sich eins und ließ den Verschluss aufschnappen. Die zwei Damen, die als Mitglieder des Shelbyville Farm Clubs Hot Dogs, Hamburger und Pommes anboten, merkten nicht, dass der Affe hinter ihnen rumorte. Als sie ausgetrunken hatte, fühlte Miss Nasty sich viel besser. Der Zucker und das Koffein in der Limonade machten sie munter. Aber wenn Booty sie sähe? Dann würde sie auf einen anderen Baum klettern. Er müsste ja weiterarbeiten. Sie wollte ihren großen Auftritt haben, darum tollte sie unter dem Gejohle von Kindern und Erwachsenen herum. Anscheinend hatten sich sämtliche Bewohner des knapp 1000 Quadratkilometer umfassenden Shelby County auf dem Veranstaltungsgelände eingefunden. Das Pferdevolk kannte Miss Nasty. Die zum ersten Mal dabei waren, kannten sie nicht, und für die war sie zu ihrem großen Entzücken eine Sensation. Sie stellte sich sogar auf die Hinterbeine und schwenkte vor einigen Leuten ihren hübschen Strohhut. Kamen sie näher, stürmte sie davon. Man konnte nicht vorsichtig genug sein. Jeder Mensch hätte Bootys Späher sein können. Sie wollte vor Pewter und Mrs. Murphy herumstolzieren. Von den beiden war es Pewter, die ihren Blutdruck in stratosphärische Höhen jagte. Sie kletterte die westliche Rückseite der Haupttribüne hoch. Sie hockte sich auf die hohe Rückenlehne, die so konstruiert war, dass niemand nach hinten kippte, und linste über die Köpfe hinweg hinunter zur Kalarama-Kabine, die sich nach neuerlichem Harken der Bahn wieder füllte. Die Sonne war gesunken, und die starken Scheinwerfer rings um die Reitbahn strahlten so hell, dass Miss Nasty die winzigen schwebenden Staubpartikel sehen konnte. Nachtvögel rührten sich und riefen sich gegenseitig zu. Nachtfalter umtanzten die sanfteren Stalllichter, einige wurden Opfer der ReitbahnScheinwerfer. Miss Nasty kletterte wieder hinunter, weil sie den Menschen auffiel. Sie wusste, dass sie nur hoch oben in Sicherheit war, 182
weshalb sie einen anderen Baum erklomm, der ihr gute Aussicht bot. Sobald sie die Katzen erblickte, wollte sie vor ihnen herumtoben.
Von der jetzt makellosen Bahn stieg Lehmgeruch auf, und der letzte Hauch Traktorenbenzin verflüchtigte sich. Die durch das Bewässern der Bahn entstaubten Blumen wirkten besonders schön. Der Bahndirektor schritt in die Mitte, der Organist griff in die Tasten, und die zwei Richter - ein silberhaariger Herr im Frack und eine Dame in einem wallenden Kleid - begaben sich auf das Podest, um jedes Fünfgängerpferd, das die Bahn betrat, einzeln zu begutachten. Die Richterin, die eindeutig Verständnis für die Pferdeseele hatte, trug wohlweislich keine Stoffe, die das Licht reflektierten, weil dies manche Pferde scheuen ließ. Häufig trugen Damen, die die Preise überreichten, glänzende Jacken oder glitzernde Abendkleider, und dann wollte das Pferd nicht stillstehen, um sich die Schleife anstecken oder den Silberpokal über den Kopf heben zu lassen. Die Menge hielt den Atem an, denn dies war der Höhepunkt. Die ganze Woche gipfelte in dem offenen Fünfgänger-Rennen. Der Sieger würde der Favorit für die Weltmeisterschaften in Louisville sein, die in zwei Wochen stattfanden. Wetten sind bei Saddlebred-Turnieren offiziell verboten. Keine Wettscheine auf Sieg, Platz oder Einlauf liegen nach einer Prüfung auf dem Boden herum. Dennoch wird gewettet. Gibt es irgendwo auf der Welt einen Pferdenarren, der einer Wette widerstehen könnte? Geld und Wettscheine wechselten die Besitzer. Die zusätzlich angeheuerten Sicherheitskräfte patroullierten, um die Ordnung zu bewahren, nicht um Wetten zu verhindern. Das war auch gut so, denn sonst hätten sie so viele Menschen festnehmen müssen, dass sie auf dem Football-Feld der Highschool hätten untergebracht werden müssen. Kein Gefängnis wäre groß genug, um die Massen zu fassen. 183
Ward war als Erster auf der Bahn; er ritt Shaq Attack, einen großen, etwas grobknochigen Braunen, der aber großartige Gänge hatte. Er lächelte über den Jubel. Der Frack, den er trug, stand ihm sehr gut. Charly, der aufgehalten worden war, weil er seinen rechten Handschuh hatte aufschneiden müssen, um ihn anziehen zu können, machte sich keine Sorgen wegen der Zeit. Er würde in zwei Minuten oben sitzen. Bevor er aufsaß, ließ er Carlos den 1988er Jacquart La Cuvée Nominée entkorken. Carlos schenkte die Flöte aus Baccaratglas voll und reichte sie Charly. »Ich feiere, bevor ich reite, und danach feiere ich weiter.« Er kippte den Champagner hinunter und reichte Carlos das Glas. Die Bläschen beruhigten sein verletztes Zahnfleisch und den lockeren Zahn. »Das bringt mich hoch und lindert die Schmerzen.« Er schwang sein langes Bein über Friedrich den Großen. »Mein Gott, ist der Champagner gut.« Er fühlte sich schon besser.
Harry, Fair, Joan und Renata traten nacheinander in die Kabine. Paul und Frances waren schon da, ebenso die meisten von Joans Geschwistern, und somit war die Kabine richtig voll. Die Herren standen, damit die Damen sitzen konnten. Miss Nasty erspähte die Katzen, Mrs. Murphy auf Harrys und Pewter auf Joans Schoß. Cookie saß bei Frances, und Tucker saß zu Fairs Füßen, bis er die Hundedame aufhob, damit sie etwas sehen konnte. Miss Nasty kletterte geschwind vom Baum, gerade als Booty auf Callaway's Senator, dem herrlichen Fuchs, auf die Bahn geritten kam. Larry folgte auf Point Guard, der glänzte wie schwarzes Lackleder und kundtat, dass die zwei favorisierten Pferde sich nicht auf ihren Lorbeeren würden ausruhen können. Die Bahn füllte sich; als Letzter stürmte Charly mit dem Gespür eines Schauspielers für den richtigen Zeitpunkt des Auftritts herein, die Hände erhoben, aber ruhig, ein strahlendes Lächeln unter dem makellosen marineblauen Homburg, 184
in dessen geripptem Hutband kleine rote Federn steckten. Friedrich der Große, ein Hellbrauner, perfekt gestriegelt, mit schimmernden Hufen und zwei flatternden roten geflochtenen Bändern, eines am Schopf, das andere am Nacken, verkündete, dass er Senator Tritt für Tritt gewachsen sein werde. Noch bevor die Teilnehmer auf der Bahn eine Runde vollendet hatten, kreischte die Menge wie verrückt. Sowenig Renata Charly momentan ausstehen konnte, sie musste zugeben, wenn er ein Pferd vorführte, sah er göttlich aus. Der Ansager ließ noch eine Runde im Trab laufen und rief dann: »Schritt, bitte, Schritt.« Larry ritt näher an die Bande heran, wo Point Guard, wiewohl weiter von den Richtern entfernt, sich vorteilhaft von den weißen Brettern abhob. Während er sich wieder entfernte, rangelten Charly und Booty auf der Bahn vor den Richtern um ihre Position, indem jeder versuchte, den anderen auszustechen. Ward blieb zurück, ließ Shaq Attack langsamer und dann im Schritt gehen. Der große Bursche nahm die Strecke mühelos. Den Mangel an Feingliedrigkeit glich er durch seine Bewegungen aus. Shaq dürfte gut abschneiden, und mit etwas Glück konnte er nach dem Rückzug von Wettkämpfen als Zuchthengst dienen. Ward hoffte, dass die Besitzer das Pferd bei ihm lassen würden. Er glaubte, wenn der Hengst mit feingliedrigen Stuten gekreuzt würde, käme Gutes dabei heraus, und er beabsichtigte dieses Pferd von seiner besten Seite zu zeigen. Und Shaq wollte sich präsentieren. »Wenden, bitte, wenden.«
Die Teilnehmer wechselten in die Gegenrichtung, gingen ein wenig im Schritt, und der Ansager rief: »Trab, bitte, Trab.« In der Kurve zog Charly lachend an Booty vorbei. Booty wäre beinahe aus dem Tritt gekommen, was er gerade noch rechtzeitig verhindern konnte, indem er Senator festen Schen 185
keldruck gab, was den robusten Kerl veranlasste, vorwärts zu drängen. Als der Ansager zum Galopp aufrief, sprang Miss Nasty durch die unterdessen verlassene Mittelstraße, umrundete den Weg vor der Westtribüne, katapultierte sich in der Kalarama-Kabine auf eine Stuhllehne und hüpfte auf das oberste Bandenbrett. Renata zuckte zusammen, als der Affe an ihr vorbeistürmte. Miss Nasty höhnte zu Pewter und Mrs. Murphy hinunter: »Seht her, ihr unnützen Katzen, ihr Fischstinkerl« Sie zeigte auf Joans Brosche an ihrem wollweißen Oberteil. Weil sie von Harry festgehalten wurde, konnte Mrs. Murphy wenig mehr tun als mit dem Schwanz schlagen. Pewter entwischte Joan, sprang auf den Affen zu, der ihr mühelos entwich. Worauf die Katze sich zurückzog und mit einer Bewegung, die des Affen würdig gewesen wäre, ihr türkisfarbenes Halsband abstreifte. Nunmehr befreit, nahm Pewter die Verfolgung des Affen auf. Darauf sprang Miss Nasty auf Joans Schoß. Begeistert von dem Tumult, den sie veranstaltete, hüpfte sie von einem Schoß zum anderen. Fair ließ Tucker herunter, um sich Pewter zu schnappen, ein vergebliches Unterfangen. »Meine Brosche!« Joan konnte sich eine Sekunde lang auf Miss Nasty konzentrieren, während Katze und Affe sich gegenseitig mit Schimpfwörtern bewarfen. Frances, die sich die Hände ans Gesicht hielt, bat: »Miss Nasty, sei ein braves Mädchen. Gib uns die Brosche.« »Ich töte sie«, verhieß Pewter mit ausgefahrenen Krallen. Während dieser Ereignisse rief der Ansager den langsamen Tölt aus, eine schöne, gemessene Gangart. Booty rammte Charly, als die zwei Richter nicht hinsahen. Larry, der drei Schritte hinter ihnen war, reagierte fix und wich aus. Er konzentrierte sich umso angestrengter. Nichts sollte ihn davon abhalten, Point Guard ein denkwürdiges Debüt zu verschaffen. Das sollte es aus vielen Gründen werden, nicht zuletzt, weil Miss Nasty auf die Bahn sprang, Pewter hinterher. 185
Joans Blick huschte zu dem Drama auf der Bahn und dann zurück zu dem Affen. Sie wusste, dass Booty und Charly nach der Prüfung von Larry was zu hören kriegen würden. Er war ein starker Konkurrent, aber zu derlei
Faxen wie die, die sie sich erlaubten, würde er sich nie herablassen. Sie meinte zu sehen, dass ihrem Mann vor Wut die Ohren rauchten, aber sie lächelte, als sie sah, wie willig Point Guard reagierte, wie fließend seine Bewegungen waren. Er scheute nicht einmal, als er Miss Nasty und Pewter überholte, die, von der Menge begafft, wohlweislich in die Kalarama-Kabine zurückkehrten. »Das ist meine Brosche« Miss Nasty hockte sich auf die Bande und berührte das Schmuckstück. Pewter schlich sich unter der Bande durch. »Gib Joan die Brosche.« Von Harry festgehalten, plusterte Mrs. Murphy sich auf. »Und wenn nicht? Was willst du machen? Haha!« Miss Nasty schlug auf der Bande einen Purzelbaum, ließ sich hinunterfallen und schwang sich wieder hinauf. Pewter bekam Miss Nastys Schwanz zu fassen, doch der Affe riss sich los. Darauf hüpfte die Katze auf Joans Schoß, um Auge in Auge mit ihrer Feindin zu sein. Paul schnalzte dem Affen zu, der zurückschnalzte, aber seinem Griff auswich. »Vielleicht sollten wir sie nicht beachten«, schlug Joan vor. »Ich töte sie!« Pewter wiederholte sich. »Tölt, meine Herrschaften, Tölt.« Der Ansager rief die anstrengendste Gangart auf, den Tölt. Das Tempo des Tölt ist viel schneller, als jemand, der keine Saddlebreds gewohnt ist, sich vorstellen kann, bis er oder sie oben sitzt. Es ist, als würde man einen Ferrari mit langer Kühlerhaube fahren und dennoch spüren, wie die Hinterräder auf der Straße greifen. Point Guard hob leichtfüßig die Vorderbeine und holte den Schub aus der Hinterhand. Seine Hinterhand war nicht so kräftig wie die von Shaq. Ward nutzte das weidlich aus und 186
holte aus Shaqs Muskeln Schub, dass das Pferd zu fliegen schien. Der Tölt war Shaqs beste Gangart. Point Guard würde sich weiterentwickeln. Seine Bewegungen waren makellos, wenngleich der Tölt nicht seine beste Gangart war. Momentan war Trab seine beste Gangart, seine Balance war tadellos, aber sein Tölt war durchaus bemerkenswert. Senator und Friedrich der Große, die an Wettkämpfe gewöhnt waren, legten sich mächtig ins Zeug. Jedes Pferd hat eine Gangart, in der es sich hervortut, und selten ist ein Pferd in allen Gangarten gleich exzellent. We Shaq war auch Senator herausragend beim Tölt.
Charly und Booty wollten, dass diese Pferde auf dem Höhepunkt ihrer Karriere siegten. Dann konnten die Tiere zu einem hohen Preis verkauft werden oder als Zuchthengste dienen, sofern die gegenwärtigen Besitzer das wünschten. Jedes Mal, wenn ein Pferd verkauft wurde, floss die Provision in die Tasche des Verkäufers. Ward dagegen wollte nicht, dass Shaqs Besitzer das Pferd verkaufte, doch er hatte es satt, vor Booty und Charly zu Kreuze zu kriechen, weshalb er von heißem Wettbewerbseifer gepackt war. Für einen Sekundenbruchteil war Booty abgelenkt, als er an der KalaramaKabine vorbeiritt und die sich despektierlich aufführende Miss Nasty erblickte. Er konzentrierte sich sogleich wieder, da Charly ihn überholte und ihn genau in dem Moment verdeckte, als er von seinem geliebten Affen abgelenkt war. Booty fluchte leise und brachte Abstand zwischen sich und Charly, um den Richtern eine klare Sicht auf Senator zu bieten. Die Menschen, von denen viele sich erhoben hatten, grölten, was das Zeug hielt. »Schritt, bitte, Schritt.« Der Ansager war so besonnen, nicht lange im Tölt reiten zu lassen, weil diese Gangart ungeheuer anstrengend war. 187
Nach kurzem Schritt rief der Ansager: »Trab, bitte, Trab.« Die Pächter, die ganz genau hinschauten, konnten trotzdem aus dem Augenwinkel Miss Nasty ihr Unwesen treiben sehen. Nicht einmal die Orgel vermochte ihre Frechheiten zu übertönen. Die zwei Richter berieten sich kurz. Sie kamen überein, die Pferde für die Bewertung des Exterieurs antreten zu lassen. Bei den Fünfgänger-Meisterschaften entfielen bei jedem Pferd fünfundsiebzig Prozent der Gesamtnote auf Leistung, Präsenz, Klasse und Verhalten; fünfundzwanzig Prozent entfielen auf das Exterieur. Sie dachten sich, dass jemand Miss Nasty einfangen könnte, während die Pferde abgesattelt und in einer Reihe aufgestellt wurden. Der männliche Richter blieb auf der Westseite des in der Mitte befindlichen Podestes; die Dame ging auf die Ostseite hinüber, und die Pferde trabten nun gegen den Uhrzeigersinn. Charly, der sich vor der Kalarama-Kabine befand und die hinreißende Renata geflissentlich ignorierte, fühlte seine Halsmuskeln taub werden, just als Miss Nasty auf Friedrichs Kruppe sprang, was den äußerst nervösen Hengst veranlasste, zu steigen. Pewter zog es vor, in der Kabine zu bleiben; denn sosehr sie auch geschworen hatte, Miss Nasty zu töten, sie wollte nicht zertrampelt werden. Beim Anblick von Charlys zusammengepressten, leicht blau angelaufenen Lippen glaubten die Zuschauer nur, seine Konzentration sei in diesem unwägbaren Moment übermäßig angespannt. Er zog den linken Zügel nach
unten, weil er die rechte Hand nicht gebrauchen konnte. Friedrich senkte brav den Kopf, doch als Charly den linken Zügel locker ließ, schwenkte das durch den Affen irritierte Pferd den Kopf nach rechts. Charly sah, dass Renata ihn erstaunt anstarrte, und in ihm blitzte die Erkenntnis auf, dass es ein kompletter Blödsinn von ihm gewesen war, sie nicht zu beachten. Er fühlte einen stechenden Schmerz und rang keuchend nach Luft, doch seine 188 kräftigen, trainierten Beine gaben dem Pferd den richtigen Schenkeldruck. Er bekam keine Luft in die Lungen. Er konnte überhaupt nicht atmen. Charly starb in dem Moment, als der Ansager rief: »Aufstellen, bitte, nach Osten ausrichten.« Charlys Beine schlossen sich um das Pferd, er setzte sich aufrecht, Miss Nasty saß noch auf Friedrichs Kruppe. Dann kippte Charly um, zum Entsetzen aller, die zusahen, und fiel vor der Haupttribüne, zehn Schritte von der Kalarama-Kabine entfernt, vom Pferd. Die Menge schrie auf, und Renata stand schweigend da. Niemand wusste, dass er tot war. Sie wussten nur, er war vom Pferd gerutscht, was ungewöhnlich war für einen so erfahrenen Reiter. Der Ansager sah es nicht, aber der männliche Richter. Er rief der Richterin etwas zu, die darauf ruhig anordnete, die Pferde in einer Reihe aufzustellen und dazubehalten. Der Ansager wiederholte es: »Bringen Sie Ihre Pferde in die Mitte, Herrschaften. In die Mitte, bitte.« Eine Hand auf dem obersten Bandenbrett, schwang Carlos sich hinüber und war als Erster bei Charly. Benny, der sich am anderen Ende der Bahn befand, fing Friedrich ein, der sich bockend der Reihe näherte, um Miss Nasty abzuwerfen. Der Affe erwies sich als ein rechter kleiner Jockey und rückte auf den Sattel vor. Charly lag auf dem Rücken, die Augen gen Himmel gerichtet, wo sich Schäfchenwolken in Rosa und Lavendel mit einem Hauch Gold wälzten. Sein Gesicht war blau angelaufen. Ein Arzt eilte von der Haupttribüne herbei, kniete sich hin, fühlte Charlys Puls, ließ sich aber nichts anmerken. Es war nicht ratsam, die angespannte Stimmung noch aufzuheizen. Der Bahndirektor, der ein bisschen zu schwer war, um zu rennen, kam keuchend herbei. Der Arzt blickte auf. »Rufen Sie den Krankenwagen.« Niemand rührte sich. Niemand sprach. Dann ging ein leises Murmeln um die Bahn. Die Teilnehmer saßen ab, blickten 188
nach links. Keiner wusste so recht, was zu tun war. Die Reiter, die am Kopf ihrer Pferde standen, konnten Charly deutlich sehen. Benny übergab Friedrich einem anderen Pfleger, weil er bei Ward und Shaq sein musste. Der Bahndirektor klappte sein Handy auf und rief die Rettungsmannschaft an, die hinter der Haupttribüne parkte. »Keine Sirene.«
Die Sanitäter hatten den Vorgang beobachtet und liefen nun zum Wagen, um eine fahrbare Krankentrage zu holen. In weniger als zwei Minuten waren sie bei Charly und luden ihn vorsichtig auf die Trage. Der Form halber stülpte ein Rettungsassistent Charly eine Sauerstoffmaske übers Gesicht. Carlos ging neben Charly her, sprach zu ihm, obwohl er fürchtete, dass sein Boss tot war. Der Bahndirektor ging zum Podest. Er beriet sich mit den zwei Richtern und dem Ansager. Der Organist, der ein schnelles Reaktionsvermögen besaß, spielte getragene Melodien. Der Ansager verkündete mit einer den Umständen angemessenen Stimme: »Wir werden Sie über Mr. Trackwells Zustand auf dem Laufenden halten.« Bemüht, den grimmigen Ausdruck von ihren Gesichtern zu wischen, begannen die Richter am nördlichen Ende der Reihe mit der ExterieurBewertung. Miss Nasty, die noch im Sattel saß, hatte Hochrufe erwartet, keine Laute des Erschreckens. Sie ließ in ihrer Achtsamkeit nach. Der zweite Pfleger, der herbeikam, um dem ersten zu helfen, wollte sie packen. Sie sprang von Friedrich und hüpfte von der Bahn. Larry, der neben Ward stand, sagte nichts, aber sie sahen sich an; beide hatten es im Gefühl, dass Charly tot war. Booty, der ein Stück von ihnen entfernt stand, noch wütend über das Nachlassen seiner Konzentration, hob die Hand mit den Zügeln, als die Richter sich näherten. Senator stellte die Vorderbeine nach vorn heraus und die Hinterbeine nach hinten und 189
zeigte damit die gestreckte Stellung. Nach der Exterieur-Bewertung sattelten die Pfleger die Pferde wieder und gaben denjenigen Reitern, die nicht allein aufsitzen konnten, mit den Händen Steighilfe. Die Pferde führten noch einige Gangarten vor, aber niemand war mit dem Herzen dabei. Als Senator den ersten Preis errang, gab es höflichen Applaus. Als Point Guard der zweite Preis zugesprochen wurde, kam etwas mehr Begeisterung auf, die sich steigerte, als Shaq den verdienten dritten Preis bekam. Senator drehte eine Ehrenrunde, und die Orgel spielte eine flotte Melodie, während die anderen Pferde nacheinander die Bahn verließen. Harry, Fair, Joan, Renata und die Tiere waren schon in Stall Fünf. Renata, deren Gesicht aschfahl geworden war, sagte außerhalb jedermanns Hörweite zu Harry: »Er sah furchtbar aus.« »Allerdings.« Harry legte ihre Hand auf Renatas Schulter. »Möchten Sie ins Krankenhaus? Ich fahre Sie hin.« Die Sirene heulte auf, als der Krankenwagen die Route 60 erreichte.
»Nein, es ist aus zwischen uns.« Renata atmete tief durch. »Ich habe ihm das nicht gewünscht, aber ich gehöre nicht dorthin.« Tränen traten ihr in die Augen. Sie legte ihre Hand auf Harrys, die auf ihrer Schulter lag, sagte aber nichts mehr. Larry ritt zum Einlasstor, saß ab, und Joan gab ihm einen Kuss. »Die zwei haben versucht, sich gegenseitig umzubringen.« Sein gerötetes Gesicht verriet seine tiefe Erregung. »Ist mit Point Guard alles in Ordnung?« Joans erster Gedanke galt dem Pferd. »Joan, wenn er heute Abend Zweiter werden konnte bei allem, was sich auf der Bahn abgespielt hat, dann wird er sich nie aus der Ruhe bringen lassen.« Larry ließ sich schwer auf einen Regiestuhl fallen; Manuel und die Helfer sattelten Point Guard rasch ab und und rieben ihn trocken. Schweiß rann 190
Larry über die Stirn, von der Anstrengung ebenso wie von der Erregung. »Die waren verrückt.« »Ich weiß«, sagte Joan nur. Frances und Paul kamen in den Stall. Paul sagte ruhig: »Ich denke, wir sollten etwas schneller als üblich zusammenpacken und nach Hause fahren.« »Du hast recht, Daddy.« Joan wusste nicht recht, was hier gespielt wurde, wollte aber nicht dabei sein, wenn noch mehr geschähe. »Kann ich irgendwie helfen?«, fragte Fair. »Nein, aber ich finde, wir sollten so bald wie möglich aufbrechen, ehe noch mehr passiert«, sagte Joan. »Wir können uns morgen in Verbindung setzen.« Harry sagte zu Fair: »Einen Moment noch.« »Wozu?« »Die Brosche.« »Oh.« Die hatte er ganz vergessen. Harry lief in Bootys Stall. Booty und Senator waren noch nicht zurück. Miss Nasty auch nicht. Kein Wunder. Sie wusste, dass sie sich großen Arger eingehandelt hatte. Fair hatte die zwei Katzen in ihre Kiste gesteckt - gut so, weil sie sonst bloß wieder Miss Nasty in Rage gebracht hätten -, doch Tucker und Cookie folgten Harry, die in Charlys Stall rannte. Sicher, sie suchte Miss Nasty, aber sie wollte einen Blick in Charlys Stall werfen, bevor Carlos und die anderen kamen. Als sie in den Stall trat, konnte sie den Affen, der auf einem Dachbalken saß, nicht übersehen. Niemand war im Stall - kein Mensch jedenfalls. Tucker rief: »Spike.« »Jaha.« Spike steckte den Kopf aus dem Verpflegungszelt, wo er und andere Katzen Speisen gekostet und für lecker befunden hatten. »Charly ist tot.«
»Ach.« Spike war, was Charly anbelangte, ziemlich leiden 191
schaftslos, doch seinen Speisen war er durchaus zugeneigt. Für Spikes ausgeprägte Katzen-Sensibilität war Charly von zu viel Dramatik umgeben. »Ist hier vor der Prüfung irgendwas Absonderliches vorgefallen?« »Booty hat Champagner gebracht, als Friedensangebot. Charly wollte keinen Frieden schließen. Ward ist reingekommen. Haben sich die Klinke in die Hand gegeben, sozusagen.« Tucker schnupperte eingehend, dann sah sie die beschlagene Champagnerflasche auf der blauroten Satteltruhe in der Stallgasse. Eine Sektflöte lag auf der Seite. Die Corgihündin ging an das Glas heran, während Harry die Sattelkammer und den Erfrischungsraum inspizierte. Als sie zurückkam, sah sie ihren Hund winselnd bei dem Glas stehen. Harry trat zu Tucker, froh über die Innenbeleuchtung; denn draußen war es jetzt stockfinster. Sie berührte die Champagnerflasche, aber als Nichtkennerin ahnte sie nicht, dass sie besonders kostbar war. »Riech an dem Glas, Mom«, bellte Tucker leise. Harry nahm den Stiel des Glases zwischen Zeigefinger und Daumen und hielt es an ihre Nase. Dann blinzelte sie und stellte es ab. »Komisch.« Sie hatte nicht allzu viel gerochen, bemerkte aber gelbe Kristalle am Boden, wo das bisschen verbliebene Flüssigkeit in der Hitze getrocknet war. Um ganz sicherzugehen, nahm sie die Champagnerflasche und roch an der Öffnung. Fast konnte sie das delikate, fruchtige Getränk schmecken, zu dessen Bouquet eine zutiefst verlockende Mischung anderer Bestandteile beitrug, die sie nicht einordnen konnte. Sie roch noch einmal an dem Glas, rümpfte die Nase, hustete einmal und stellte es hin. Sie lief, um einen Beamten zu holen, den Sheriff, irgendwen vom Polizeidienst. Sie dachte überhaupt nicht mehr an Miss Nasty, die alles beobachtet hatte. 191
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D
er Erfrischungsraum in Stall Fünf war überfüllt, als Harry hineinplatzte
und Fair herauswinkte. Joan und Larry, die von Gästen umringt waren, beobachteten es aus dem Augenwinkel. Frances sah das gerötete Gesicht von Harry, die sonst immer so gelassen war, und sprach endlich wieder mit Joan: »Joan, du solltest dich um Harry kümmern.« Renata entwand sich den Leuten, die sie umringten. »Was gibt's, Schatz?«, fragte Fair. »Ich kann keinen Polizisten finden.«
»Die sind vermutlich auf der Reitbahn oder«, er hielt inne, »bei den Feiern nach dem Turnier. Da haben sie viel zu tun.« »Fair, Charly wurde vergiftet, da bin ich mir ziemlich sicher.« »Was?« »Komm mit.« Joan und Renata kamen zusammen heraus, gerade als jemand, der es vermutlich gut meinte, Pewter und Mrs. Murphy aus der Kiste befreite. Die zwei Katzen stürmten in den Hauptgang hinaus. »Los, hinter Mom her!« Mrs. Murphy folgte Harry, Fair und Tucker. Cookie wartete auf Joan. »Komm, komm!«, bellte die Jack-Russell-Dame dringlich und lief im Kreis um Joan und Renata herum. Joan verstand den Wink und eilte Harry und Fair hinterher. Das kleine Aufgebot zog zu Charlys Stall. Zur gleichen Zeit bewirtete Booty eine große Zahl Gratulanten. Er hatte Senator, verziert mit einer dreifarbigen Schleife - in Übergröße, damit sie für alle sichtbar war -, seinem Stallburschen überlassen und sonnte sich in seinem Ruhm. Ward schaute herein, um ihm zu gratulieren. »Schon was von Charly gehört?«, fragte Booty laut und deutlich. 192
»Nein, aber Charly ist zu boshaft, um einfach so zu sterben.« Die Umstehenden lachten, und Ward fuhr fort: »Es würde mich allerdings nicht wundern, wenn Charly in diesem Moment auf dem Operationstisch läge und einen Bypass oder einen kleinen Ballon in eine Arterie verpasst kriegte. Er war blau im Gesicht.« »Charly hat kein Herz«, scherzte jemand, jedoch mit einem bissigen Unterton. »Jedenfalls hat er heute Abend versucht, mich in den Dreck zu werfen«, sagte Booty triumphierend. »Hey, Konkurrenz ist es, die ein gutes Rennen ausmacht, oder? Er ist in Louisville bestimmt wieder dabei. Übrigens, hat jemand Miss Nasty nach ihrem unmöglichen Auftritt gesehen?« »Nein.« Benny meldete: »Als ich sie das letzte Mal sah, war sie auf dem Weg zu Charlys Stall.« Bootys Gesicht zeigte einen erschreckten Ausdruck. »Immer ist sie da, wo sie nicht hingehört. Eine der wirklich tollen Sachen an Miss Nasty ist, dass sie, im Gegensatz zu der echten Miss Nasty, nicht über meine Kreditkarten verfügen kann.« Das rief stürmische Heiterkeit hervor, weshalb Booty auf diese Tour fortfuhr. Er wollte aber seinen Affen bei sich haben. Spike verzog sich, als die Menschen in Charlys Stall traten, dann aber kam er hinzu und setzte sich auf einen Regiestuhl. »Riecht mal an dem Champagner.« Harry zeigte auf die Flasche.
Nacheinander rochen Fair, Joan und Renata an dem immer noch verlockenden Champagner. »Kein Wunder, dass er vom Pferd gefallen ist«, witzelte Joan. »Trinkt er immer vor einem großen Turnier? Um seine Nerven zu beruhigen?«, erkundigte sich Fair. »Ich habe ihn nie vor einem Turnier Alkohol trinken, eine Zigarette rauchen oder an einem Joint ziehen gesehen«, er 193
klärte Renata. »Aber er hatte Schmerzen. Seine rechte Hand war womöglich gebrochen.« »Dann riecht mal hier dran.« Harry zeigte auf das Glas, griff sich einen roten Lappen und hob es am Stiel auf. Fair nahm als Erster vorsichtig das Glas mit dem Lappen in die Hand. »Riecht nicht wie Champagner.« Er bemerkte die sich immer noch bildenden gelben Kristalle. »Riecht wie Gift.« Joan roch als Nächste. »Ich weiß nicht, was das ist.« Dann roch Renata. »Woher wissen Sie, dass es Gift ist?« Fair antwortete: »Ich habe mit einer Menge Wirkstoffe zu tun, die Pferde töten können. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das hier Gift ist, ein natürliches Gift. Charly hat sich nicht ans Herz gegriffen. Sein Gesicht ist ein bisschen blau angelaufen, und meine Vermutung ist, dass er entweder gebissen wurde oder Schlangengift getrunken hat. Eine tödliche Dosis bringt das Atemsystem zum Stillstand. Und wenn Schlangengift trocknet, kristallisiert es. Gießt man Flüssigkeit drüber, löst es sich wieder auf.« »Ich hab nirgends einen Polizisten gesehen. Ich wollte Fair dran riechen lassen, damit ich keinen Fehler mache«, sagte Harry. Sie wusste, dass Booty Schlangen hielt, und die anderen wussten es auch. Jetzt ging es darum, die Beute aus dem Versteck zu scheuchen. »Hast du nicht. Hat jemand ein Handy dabei? Meins ist im Auto. Vielleicht können wir den Sheriff rufen.« Die Damen hatten ihre Handys auch nicht dabei, weil ihre Kleider keine Taschen hatten. Miss Nasty rief von oben: »Ich weiß, wo ein Handy ist.« Joan blickte hoch und fragte sich, ob sie die Brosche jemals wiederbekommen würde; allerdings war die Sektflöte unter den gegenwärtigen Umständen wichtiger. »Ich geh meins aus dem Stall holen. Es ist in der Garderobe.« »Wo ist das Handy?«, fragte Tucker den Affen, der von den Dachsparren auf das obere Ende eines Boxenbalkens rutschte. 193
»Ich hab euch gesagt, ich hab die Brosche«, sagte Miss Nasty großspurig und sehr zufrieden mit sich, ohne auf die Frage einzugehen.
»Wo ist das Telefon?«, fragte Mrs. Murphy. »Ich hab gesagt, ich weiß, wo es ist, ich hab nicht gesagt, dass ich es euch sage.« Miss Nasty grinste. »Ich töte sie.« Pewter tänzelte auf den Hinterpfoten. »Sei still«, riet ihr die Tigerkatze. »Und steig nicht auf den Boxenpfosten.« In Stall Fünf schob sich Joan lächelnd durch die vielen Menschen und sagte immer wieder: »Entschuldigung, ich muss was erledigen.« Sie trat schließlich in die Garderobe, nahm ihre Handtasche von der Satteltruhe und griff sich ihr schmales Telefon. Ihre Mutter steckte den Kopf herein und fragte: »Joan, stimmt was nicht?« Joans Höflichkeit den vielen Menschen gegenüber täuschte ihre Mutter nicht. »Ich hab Miss Nasty gefunden. Ich muss die Brosche kriegen, Mom.« Frances sah Joan ins Gesicht, dann auf das Telefon. »Mit einem Telefon?« »Das erklär ich dir später.« Joan ging hinaus. Zu Leuten, die sie auf ein Schwätzchen aufhalten wollten, sagte sie: »Ich bin gleich wieder da.« Frances ging hinaus und sah Paul mit etwa sechzig Leuten in der Hauptgasse stehen. Sie wies zu Joan hinüber, die schon den kleinen Hang hinunter zu Charlys Stall unterwegs war, und sagte. »Paul, da stimmt was nicht.« Paul sah hin und sagte: »Erst mal abwarten. Hab einen Haufen Leute hier, Schatz.« Sie widmeten sich wieder ihren Gastgeberpflichten. 194
Als Joan zügig losging, trat Booty, der vor den Horden in seiner Hauptgasse und seinem Erfrischungsraum mal kurz an die Luft flüchten musste, für einen Moment nach draußen, allerdings immer noch von Leuten umringt. »Haben Sie Miss Nasty gesehen?«, rief er Joan zu. »Sie ist in Charlys Stall.« Jetzt war es an Booty zu versprechen, er werde gleich wieder da sein. Joan, nicht dumm, klappte ihr Handy auf und rief den Sheriff an, bevor sie bei dem Stall ankam. In dieser Shelbyville-Woche hatte sie dauernd unter Hochspannung gestanden. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Sie wusste nicht warum, aber sie verließ sich auf ihren Instinkt. Ward und Benny, die Shaq versorgten, hatten zuvor Harry, Fair, Joan und Renata vorbeigehen gesehen. Dann war Joan wieder den Hang hinaufgekommen. Jetzt kam sie wieder hinunter, Booty hinterher. »Benny, etwas sagt mir, hier geht ein Spiel zu Ende, und der Ausgang ist ungewiss. Komm mit.« Benny sah noch einmal nach Shaq und einem anderen Pferd, dann machten sich die zwei Männer auf den Weg. Joan kam in den Stall. »Ich habe den Sheriff angerufen. Er wird gleich hier sein.« »Gut.« Renata wirkte unendlich erleichtert. Carlos kam in den Stall und sah alle erstaunt und betrübt an.
Die stets zuvorkommende Joan fragte: »Carlos, können wir irgendwas für Sie tun?« Er schüttelte den Kopf. Um nicht zu heulen - denn er mochte Charly, der ein guter Boss war -, ging er in die Box von Friedrich dem Großen und rieb das Pferd ab, das die großen Augen auf Miss Nasty gerichtet hielt. Die Schande, den Affen auf dem Rücken getragen zu haben, machte ihm arg zu schaffen. Was Charly betraf, hatte Friedrich riechen können, dass 195
er tot war, als er auf die Erde fiel. Er würde Charly nicht vermissen, denn der hatte ihn zu hart rangenommen. Tatsächlich war Friedrich ganz froh, dass er tot war. Booty kam herein, alsbald gefolgt von Ward und Benny. Die anderen sahen sie an, sagen aber nichts. Booty nahm die Champagnerflasche in die Hand. »Trinken wir auf Charlys Genesung. Es würde ihm nicht passen, wenn wir den verkommen ließen.« Er reichte Joan die Flasche, aber sie lehnte höflich ab. Harry, Fair und Renata dankten ebenfalls. »Ich glaube nicht, dass Charly wieder gesund wird«, erklärte Renata. »Doch, bestimmt.« Booty bot Ward die Flasche an, der einen kräftigen Zug nahm. »Er ist zäh wie Juchtenleder.« Darauf trank Benny einen Schluck von dem herrlichen Champagner. »Er ist tot«, sagte Renata. »Wie kommst du darauf?« Booty wollte nicht, dass die Stimmung noch weiter in den Keller sackte. Er nahm einen tiefen Schluck, als Benny ihm die Flasche zurückgab. »Hast du im Krankenhaus angerufen? Die hätten es dir eigentlich nicht sagen dürfen, weil du keine Angehörige bist.« »Ich weiß es einfach.« Sie konnte nicht weinen, sie fühlte sich wie betäubt. »Ach was, Renata, er kommt wieder auf die Beine. Ich weiß, du bist wütend auf ihn und ...« »Und wo bleibe ich!«, kreischte Miss Nasty. »Ist ja gut, meine Hübsche.« Booty gab vor, nicht wütend auf sie zu sein. »ICH, ICH, ICH, und ich hab das Glitzerding an der Brust!« Sie kam langsam hinunter, den Blick auf Pewter gerichtet, hielt sich jedoch eben außerhalb Bootys Reichweite. Mit der Flasche in der Hand beschwatzte er sie. »Braves Mädchen.« Dann sah er die Baccarat-Sektflöte auf der Seite liegen. »Wie dumm von mir. Hätte das Glas benutzen können.« Er hob es 195
auf und schenkte etwas Champagner ein, ehe ihn jemand hindern konnte. Er hielt Miss Nasty das Glas hin, um sie zu locken, hatte aber nicht die Absicht, es ihr zu geben. Sie war jedoch viel schneller und stärker, als Booty
ahnte, packte das Glas gierig mit beiden Händen und riss es ihm aus den Fingern. Sie stürzte den halben Inhalt hinunter und verschüttete den Rest. »Nein!«, schrie Booty. Darauf sprang sie im Kreis herum, um die Katzen herauszufordern, hielt aber Abstand, damit Booty oder wer auch immer nicht nach ihr greifen konnte. Sie verhielten sich still, aus Entsetzen und auch, weil sie sonst wieder zu den Dachsparren stürmen würde. Sie stolzierte zu Pewter. »Ich hab dir ja gesagt, ich hab die Brosche. Was hast du? Würmer!« Mit entzückten Schreien sauste sie um die graue Katze herum, während Mrs. Murphy, Tucker und Cookie sich angespannt bereithielten, sie zu packen, wenn sie in die Nähe käme. »Kackfleck«, zischte Pewter. »Der Kackfleck warst du. Der Pferdeapfel stand dir gut. Solltest du öfter tragen.« Miss Nasty drehte sich herum und wollte in eine Box flitzen, um ein passendes Stück Kacke zu suchen. Sie stieß direkt mit Spike zusammen, der leise hinter ihr herangeschlichen war. »Hallo, meine Hübsche«, sagte er drohend. Er benutzte Bootys Namen für sie, während er sich auf sie stürzte, beide Vorderpfoten um sie legte und die Reißzähne in ihren Hals versenkte. Sie heulte auf, Arme und Beine, sogar der Schwanz, standen steif ab, dann war sie tot. »Hurra!«, jubelte Pewter. Spike schüttelte sie wie eine Stoffpuppe, dann ließ er sie fallen. »Tod dem Geschmeiß!« Booty lief verzweifelt zu seinem Liebling. Pewter lief auch hin. »Pewter, komm sofort hierher«, befahl Harry. 196
»Ich will bloß sichergehen, dass sie tot ist.« Pewter blieb auf halbem Weg zu ihrem Ziel stehen. »Los, treiben wir ihr einen Pfahl durchs Herz«, schlug Cookie vor. Booty hob den leblosen Affen auf und sagte: »Oh, Miss Nasty.« Endlich traf Sheriff Howlett ein. Renata und Ward bemerkten ihn, als er von den anderen Ställen herüberkam. »Was will denn der Sheriff hier?«, fragte Ward verwundert. Harry hätte den Mund halten sollen, aber sie platzte heraus: »Booty, Sie wollten Miss Nasty davon abhalten, aus dem Glas zu trinken.« Während er Miss Nasty in seinen Armen hielt wie ein Baby, sah er Harry fest an. »Ich ...« Ward begriff plötzlich und sagte. »Du Schuft, du hast versucht, mich umzubringen!« Er ging auf Booty los. Sosehr Booty Miss Nasty geliebt hatte, tot war tot. Er musste sich retten. Er warf Ward ihren Leichnam ins Gesicht, drehte sich um und wollte hinten aus dem Stall laufen.
Cookie und Tucker hielten mühelos mit ihm Schritt und bissen ihm beim Rennen in die Knöchel. »Tod von den Knöcheln abwärts.« Joan konnte nicht anders, sie brach in Lachen aus. Benny raste hinter Ward her, der sein Gleichgewicht wiedererlangt hatte und Booty verfolgte. Sheriff Howlett ging in den Stall, sah zu Miss Nasty hinunter und erhaschte gerade noch einen Blick auf Benny am anderen Stalleingang. Fair sagte: »Booty. Es ist Booty. Sie sind hinter ihm her.« Der Sheriff zog seine Waffe, schritt den Stall der Länge nach ab und rief dabei seine Leute an. Früher oder später würde man Booty erwischen. Pewter stürzte sich auf Miss Nastys Leiche. »Tot! Juhu!« Spike grinste sein zahnlückiges Grinsen. Die Katzen mussten nicht vorgeben, nicht freudetrunken zu sein, weil Miss Nasty von Spike und dem Gift ins Jenseits be 197
fördert worden war. Mrs. Murphy, Pewter, Spike und die Stallkatzen umringten das verhasste Geschöpf. Harry schritt hinzu. »Lasst sie.« Sie löste die Brosche und gab sie Joan. Renata sagte: »Der rote Kater wird doch nicht sterben? Ich meine, weil er Miss Nasty gebissen hat.« »Keine Sorge.« Fair war sicher, dass Spike nicht an ihr herumgekaut oder rief hineingebissen hatte. Auf dem Parkplatz ertönte ein Schuss. Alle liefen rechtzeitig ans andere Ende des Stalls, um Booty, dem Blut am Bein herunterlief, davonhumpeln zu sehen. Ward und Benny griffen sich ihn, und Ward zog ihm den rechten Arm auf den Rücken. Sheriff Howlett trat hinzu, und aus der anderen Richtung kam der Beamte, der auf Booty geschossen hatte. Pewter, Mrs. Murphy, Spike und die Stallkatzen waren ebenfalls ans Ende des Stalls gerannt. Mrs. Murphy sah von Booty zu Miss Nasty. »Schluss mit dem Affentheater.«
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er weiße Transporter stand beladen und abfahrbereit in der Kalarama-
Zufahrt. Harry und Fair waren am Sonntagmorgen um neun Uhr gekommen, um sich von Joan und Larry zu verabschieden. Gegen zehn Uhr würden sich Reiter und Kunden einfinden. In den zwei Wochen zwischen Shelbyville und Louisville liefen die Geschäfte auf Hochtouren, ebenso in den Wochen nach dem Kentucky State Fair.
Krista war auf dem Posten und hatte das Wohnzimmer in Schuss gebracht. Ein kleines Frühstücksbüfett war auf die Anrichte gequetscht, vor ihrer Bürotür blubberte schon der Wasserkessel. 198
Harry, Fair, Joan und Larry tranken Kaffee oder Tee und aßen Doughnuts. Harry, die sonst nicht besonders scharf auf Süßes war, gierte heute Morgen nach Zucker. Harry und Fair saßen auf dem Sofa, Mrs. Murphy, Pewter, Tucker dicht bei ihnen. Joan saß gegenüber, und Larry huschte ständig von der langen Hauptgasse, wo er sich mit Manuel beriet, herein und wieder hinaus. »Hättest du das gedacht?«, fragte Harry Joan, die die Beteiligten besser kannte als sie. Beide waren gestern Abend auf den Parkplatz gerannt, als Booty sich aus dem Staub machen wollte. Nachdem er angeschossen war, konnte er sich nicht mehr fortbewegen. Sie waren nahe herangegangen und hatten alles mit angehört. Joan klopfte an den Rand ihres dicken rotbraunen Bechers, der an der Seite mit »Kalarama« in Gold verziert war. »Zuerst dachte ich, es war Ward. Er ist jung, braucht Geld, und er hat Queen Esther bei Jorge abgeholt - das war eine Vermutung, aber ich war mir ziemlich sicher, dass es so war, und jetzt wissen wir es.« Unter Schmerzen, und weil er wusste, dass das Spiel aus war, hatte Booty ein Geständnis abgelegt, während er auf dem Parkplatz auf die Sanitäter wartete. Wie so viele Menschen hatte er, als es keine Hoffnung mehr gab, einfach drauflosgeredet. Ward, der direkt dabeistand, leugnete nicht, mit Booty und Charly Geschäfte gemacht zu haben, zumal Booty mit dem Finger auf ihn gezeigt hatte. Lieber das Einschleusen von illegalen Arbeitern zugeben, als für einen Mörder gehalten werden. Ward gestand die volle Wahrheit über den sogenannten Diebstahl Queen Esthers. »Ich finde es bedauerlich, dass Ward beteiligt war«, sagte Harry. »Alles Geld, das er verdient hat, geht jetzt für Anwälte drauf.« »Meinst du, er muss ins Gefängnis?«, fragte Fair. »Ich kenne die Richter in Kentucky nicht. In Virginia sind sie ziemlich konservativ.« 198
»Das sind die meisten hier auch.« Joan überlegte lange. »Ich glaube nicht, dass er ins Gefängnis muss. Er wird eine Geldstrafe zahlen müssen, zu gemeinnützigem Dienst verurteilt werden. Ward war ja nur der Fahrer, nicht der führende Kopf. Er hat Benny schon entlastet, der gesagt hat, er wusste von nichts.« »Ah, gut für Ward«, sagte Fair. Harry lachte. »Gut für Benny.« »Und Renata sagt, sie wird Ward bezüglich Queen Esther beistehen. Die Katze ist nun aus dem Sack.«
»Ich muss doch sehr bitten«, murrte Pewter. »Wie schlimm wird es für sie?«, fragte Fair. Larry huschte herein, hörte die Frage und sagte: »Noch mehr Publicity von der falschen Sorte.« In diesem Moment fuhr Renata vor und kam herein. Sie schenkte sich Kaffee ein und schnappte sich ein Doughnut. »Wir haben gerade über Sie gesprochen«, sagte Joan. »Ich kriege, was ich verdiene.« Sie wollte gerade in den Doughnut beißen, hielt dann aber kurz inne. »Charly hat es nicht verdient zu sterben.« »Booty war da anderer Meinung.« Harry lehnte sich zurück. »> Welche wirren Netze spinnt, wer ungeübt auf Täuschung sinnt.«< Joan stellte ihren Becher ab. »Booty behauptet, Jorge wollte mehr Geld, deswegen hat er sich an diesen Soundso in Texas gewandt. Booty sagt, Jorge kannte den Mann, der selbst Mexikaner ist.« »Der Schleuser-Agent? Wie soll man so einen nennen?«, fragte Renata. »>Agent< klingt gut.« Joan lächelte Renata an. »Dieselbe Funktion, eine andere Branche als bei Ihnen.« »So groß ist der Unterschied nicht.« Renatas Ton triefte von Sarkasmus. »Dann hat Jorge nicht mit Charly oder Ward gesprochen?« Larry war gestern Abend so müde gewesen, dass er sich nicht mehr an alles erinnerte, was er gehört hatte. 199
»Ward war lediglich der Fahrer, weiter nichts. Booty und Charly haben das Geld verwaltet, aber Booty hat Jorge Anweisungen erteilt, und Charly hat die Arbeiter an Leute vermittelt. Arbeitsteilung«, sagte Joan. »Jorge ist zu Booty gegangen. Das war sein großer Fehler. Hätte er sie alle um mehr Geld gebeten, würde er heute vielleicht noch leben. Charly hätte einem Mord nicht zugestimmt, ganz sicher nicht. Carlos mag von dem Menschenschmuggel gewusst haben, aber er hatte nichts damit zu tun. Er war so klug, nicht zu reden, aber Booty hat ja so viel geredet, wer hätte da zu Wort kommen können? Ich vermute, er hat auch die Hauptlast getragen. Komisch, er dachte wirklich, er würde damit durchkommen.« »Booty hat Jorge umgebracht«, bemerkte Larry. »Er hätte eine einfachere Möglichkeit finden können.« »Das war es ja eben«, warf Harry ein. »Booty wollte es grausig und dramatisch. Das Doppelkreuz im Handteller war eine theatralische Note.« »Da wusste Charly, dass Jorge ein doppeltes Spiel mit ihnen getrieben hatte. Er konnte sich natürlich denken, dass Jorge mit Booty gesprochen hatte, aber er konnte nicht sicher sein, dass er nicht auch mit Ward gesprochen hatte. Charly war zu klug, um sich Booty vorzuknöpfen, jedenfalls nicht während des Turniers.« Er würde Booty und Ward vielleicht hinterher zur Rede gestellt haben, hatte sich aber während Shelbyville bemüht, die Dinge
nicht ausufern zu lassen. Viele Schüler von ihm ritten bei dem Turnier, was mit ein Grund war, weswegen er über Jorges Ermordung so erschüttert war. Konnte Booty oder Ward so kaltblütig sein? Joan führ fort: »Seltsam, wie jemand Mauern um sich errichten kann, so wie Booty es getan hat, und dann stürzen sie ein. Er konnte gestern Abend nicht aufhören zu reden. Es war irgendwie peinlich.« »Er kann froh sein, dass Ward ihn nicht umgebracht hat.« Renata hatte ihren Doughnut regelrecht verschlungen, denn sie hatte seit gestern Mittag nichts mehr gegessen. »Schließlich hat Booty versucht, Ward umzubringen, und dann wollte 200
er es Charly in die Schuhe schieben. Er war wirklich kaltblütig. Er konnte doch tatsächlich auf die Bahn gehen und einen großartigen Ritt hinlegen.« »Das finde ich so was von dumm.« Harry hob die Hände. »War nicht schon genug schiefgegangen? Nachdem Jorge mehr Geld von Booty verlangt und Booty es abgelehnt hat, hat Jorge gedroht, den INS zu rufen. Ihr hättet Booty darüber reden hören sollen. Er dachte, er hätte Jorge rechtzeitig umgebracht, auch wenn das mit dem INS vielleicht nur eine leere Drohung war. Und am nächsten Abend sah er dann, dass es anders gelaufen war.« »Vielleicht arbeitet der Verstand so«, sagte Joan langsam. »Vielleicht, weil das, was man macht, kriminell ist, auch wenn viele Leute das nicht so sehen - illegale Arbeiter einschleusen, meine ich. Aber jeder, der in ein Verbrechen verwickelt ist, führt ein Doppelleben. Das ist das eigentliche Doppelkreuz. Man ist irgendwie in seinem Denken blockiert. Wie kann man dann richtig begreifen, was real ist und was aus Angst geboren? Booty hätte Jorge nicht umbringen müssen. Und wenn der INS bei dem Turnier eine Razzia durchführte, hatten Booty und Charly genug Geld, um sich gute Anwälte zu leisten. Die Razzia fand statt; niemand hat gesagt, sie hätten illegale Arbeiter eingeschleust, es hieß nur, dass sie sie eingestellt haben. Ich glaube, er ist einfach durchgedreht.« Sie tippte sich mit dem rechten Zeigefinger an die Schläfe. »Also ich denke, es war Habgier.« Harry zuckte die Achseln. »Das Geschäft war bis Shelbyville reibungslos gelaufen. Booty wollte den ganzen Profit einstreichen.« »Oder beides zusammen. Ich glaube, Joan hat recht; Bootys Urteilsfähigkeit hat versagt.« Fair verschränkte die Finger. »So was Sinnloses«, fasste Larry es zusammen, dann wandte er sich an Renata: »Was werden Sie tun?« »Wards Strafe bezahlen, falls die Sache mit Queen Esther zur Verhandlung kommt. Was ich nicht glaube. Aber ich lasse ihn nicht hängen. Er hat einen Fehler gemacht, von Charly 200
und mir angestiftet. Der Transport der illegalen Arbeiter, das war ein größerer Fehler, und er sollte tunlichst daraus lernen. Die Strafe dafür werde ich nicht bezahlen.« Harry kam auf Larrys Frage zurück. »Aber was werden Sie jetzt mit sich anfangen?« »Oh.« Renata blies Luft aus. »Man wird sich eine Weile über mich lustig machen, aber ich habe keine Schnapsflaschen auf Köpfen zerschlagen und keine Videos beim Sex gedreht, solche Sachen. Mir scheint, das amerikanische Publikum ist eher für so etwas zu haben.« Sie hielt plötzlich inne. »Ich habe mich selbst satt. Wenn ich so was Dummes tun musste wie Queen Esther stehlen, um mich wieder ins Gespräch zu bringen, wissen Sie, dann muss ich abtreten. Ich kann mich selbst nicht leiden.« »Sie meinen nicht, von der Erde abtreten, Sie meinen, von Hollywood abtreten, ja?« Harry bekam es mit der Angst zu tun. »Ja. Harry, ich bin kein selbstmörderischer Typ. Und«, sie atmete tief ein, »ich bin immer abweisend gewesen und habe mich unbekümmert darüber hinweggesetzt, und ich denke, ich brauche Hilfe, eine Therapie. Das ist Nummer eins. Nummer zwei ist, ich will nach Hause. In Hollywoods Fleischbeschau kann ich nicht zu mir finden.« »Gut für Sie.« Fair drehte sich um und blickte nach oben. »Ich war drei Jahre in Therapie, das war das Beste, was ich je für mich getan habe. Aber Himmel, es kann sehr schmerzhaft sein.« »Ohne Schmerz kein Nutzen«, fasste Larry zusammen, indem er einen Leitsatz des Gesundheitsgurus Jack La Lanne zitierte. »Und wer hätte gedacht, dass dies alles damit anfangen würde, dass Großmutters Brosche gestohlen wurde, und damit enden, dass sie gefunden wurde?«, sinnierte Joan, dann sah sie Harry an. »Erinnerst du dich, wie ich gesagt habe, ich weiß nicht, ob uns gefallen wird, was wir mit ihr finden?« Harry nickte. »Ja.« 201
»Schatz, wir haben acht Stunden Fahrt vor uns.« Fair lächelte Harry an. »Momentchen noch. Geburtstagsgeschenk.« Joan stand auf, ging ins Büro und kam mit einer dunkelgrünen Plastiktüte zurück, auf der eine dicke rosa Schleife prangte. »Alles Gute zum Geburtstag von Larry, Mom, Dad und mir. Ich hoffe, du hast mindestens noch vierzig Geburtstage vor dir.« Sie gab die Tüte Harry, die fühlen konnte, was es war. Harry öffnete die Tüte und hielt einen schönen Zügel von Fennells in die Höhe. »Genau den habe ich mir gewünscht. Oh, ihr Lieben.« Sie ließ den geölten Zügel wieder in die Tüte gleiten, stand auf und gab Joan, dann Larry einen Kuss. »Sie kriegen auch einen. Danke noch mal für Shortro.« Sie gab Renata einen Kuss.
»Das war wenigstens eine Sache, die ich richtig gemacht habe.« Renata lächelte. »Alles Liebe zum Geburtstag, Harry.« Fair stand auf. »Heute ist der letzte Tag, an dem du neununddreißig bist. Morgen kriegst du dein Geburtstagsgeschenk von mir.« »Wie kann das meinen Zügel oder Shortro überbieten?«, neckte sie ihn. »Hm«, er verdrehte die Augen zur Decke, dann sah er Harry wieder an, »es kommt von mir.« »Es gefällt mir jetzt schon.« Die Tiere erhoben sich, Cookie ging mit hinaus zum Wagen, um Lebewohl zu sagen. »So was wie Miss Nasty werden wir wohl nie wieder zu sehen kriegen. Stellt euch vor, wie Booty zumute gewesen sein muss, als sie ihm das Glas wegschnappte, in das er Schlangengift getan hatte. Sie war schneller und stärker, als ihm klar war«, sagte Cookie. Mrs. Murphy rief sich den Anblick in Erinnerung. »Komisch, nicht, was er für ein Gesicht gemacht hat, als sie sich das Glas schnappte, und wie er sie auf den Arm nahm, als sie tot war. Er hat sie geliebt.« »Ein Herz und eine Seele«, sagte Pewter kichernd. 202
Liebe Leserinnen und Leser, ist Miss Nasty nicht einfach hinreißend? Karin Slaughter liebt Affen, deshalb habe ich Miss Nasty für sie geschaffen. Ich persönlich mag keine Affen, aber ich liebe Pferde. Ich habe es überwiegend mit Vollblütern zu tun, doch es gibt ein junges SaddlebredPferd auf der Farm, Blue Sky, und es ist ein Schatz. Zumal er anerkennt, dass ich viel intelligenter bin als unser Mensch hier. Ich hoffe, alles ist bestens bei euch. Vergesst nicht, den Tieren bei euch Obdach zu geben. Mit freundlichen Katzengrüßen, Sneaky Pie
Liebe Leserinnen und Leser,
es ist sinnlos, auf Sneakys gigantisches Ego einzugehen. Tatsächlich erledige ich etliches von dem, was hier an Arbeit anfällt. Auf immer Ihre
Danksagung
Wie immer hat Ruth Dalsky, die für mich recherchiert, alles ertragen. Nur gut, dass sie Sinn für Humor hat. Nachdem ich mit Mrs. Mary Tattersall O'Brien, meiner Freundin und Ärztin, über diverse Tod und Zerstörung auslösende Wirkstoffe gesprochen habe, wundert es mich, dass überhaupt noch jemand von uns am Leben ist. Autoren schreiben ja gerne: »Eventuelle Fehler habe einzig und allein ich zu verantworten.« Ich gebe lieber Obengenannten die Schuld.