EDNA FERBER
Eine Frau allein
ROMAN
GEBRÜDER WEISS VERLAG
BERLIN-SCHÖNEBERG
Originaltitel: SO BIG Übertragung aus...
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EDNA FERBER
Eine Frau allein
ROMAN
GEBRÜDER WEISS VERLAG
BERLIN-SCHÖNEBERG
Originaltitel: SO BIG Übertragung aus dem Amerikanischen: Gertrud von Hollander Einband- und Umschlagentwurf: Wernec Bürger
Deutsche Erstausgabe 1962 2. Auflage 1964 Alle deutschen Rechte beim Gebrüder Weiß Verlag, Berlin-Schöneberg Copyright,' 1924, by Doubleday & Company All Rights reserved. Copyright, 1923,1924, by the Crowell Publishing Company Satz und Druck; Graphische Betriebe W. Büxenstein GmbH, Berlin 61 Printed in Germany
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Erst mit zehn Jahren wurde er diesen Namen los. Es war ein regelrechter Kampf für ihn. Aus So Groß (der Name rührte von frühen kindlichen Zärtlichkeiten her) war schließlich zusammengezogen Sogroß entstanden, und Sogroß DeJong war er geblieben, wenn es auch noch so holprig klang, bis er zehn Jahre alt wurde und in jenem unglaublich holländisch gebliebenen Bezirk südwestlich von Chikago zur Schule ging, die früher Neu-Holland hieß und später High Prairie. Mit zehn Jahren endlich erwarb er sich redlich, mit Fäusten, Zähnen, nagelbeschlagenen Stiefeln und Wutausbrüchen, das Recht, bei seinem richtigen Namen gerufen zu werden, nämlich Dirk DeJong. Natürlich tauchte der alte Spitzname manchmal wieder auf; durch eine kurze, aber hef tige Prügelei mußte er ihn dann aus der Welt schaffen. Seine Mutter hatte ihn zuerst so genannt; sie war daher an allem schuld. Wenn sie sich versprach, so konnte er mit ihr doch unmöglich so umgehen wie mit den Schul kameraden! Dafür schmollte und trotzte er um so nach 5
drücklicher und gab überhaupt keine Antwort, wenn sie ihn rief, obwohl ihre Betonung des Wortes Sogroß einen Stein hätte rühren können. Aber zehnjährige Jungen sind nun einmal keine Engel! Der Spitzname war aus den ersten und etwas törichten Fragen entstanden, wie man sie kleinen Kindern stellt und auf die sie mit unermüdlicher Geduld immer wieder antworten. Flink wie ein Wiesel rannte Selina DeJong in ihrer Küche umher, vom Waschzuber zum Backbrett, vom Herd zum Tisch. Oder sie schuftete draußen auf ihren Gemüsefeldern wie ein gelernter Arbeiter. Gönnte sie sich dann einen Augenblick Ruhe, um den lahmen Rük ken aufzurichten von den dichtgesäten Mohren-, Rübenoder Spinatreihen, so hatte sie die Angewohnheit, mit gekrümmtem Arm die Schweißtropfen von Stirn und Nase zu wischen. Ihre wunderschönen dunklen Augen suchten dann das Kind, das stolz auf einem Haufen leerer Kartoffelsäcke thronte. (Auch seine Kleidung bestand aus nichts anderem.) Immer wieder krabbelte es von dem Sandhaufen herunter und wühlte und grub in der köstlichen warmen Gartenerde. Selina DeJongs Tagewerk ließ ihr nicht viel Zeit für Zärtlichkeiten. Stets brannte ihr die Arbeit auf den Nägeln. Damals war Selina eine junge Frau in einem blauen, etwas verschossenen und erdbeschmutzten Kat tunkleid. Ihr üppiges dunkles Haar hatte sie zu einem Knoten zusammengedreht. Aus ihm lösten sich beständig weiche Ringel und Strähnen, die sie mit der gleichen hastigen Armbewegung zurückstrich. Ihre Hände konnte sie dazu nicht gebrauchen, sie trugen meistens die Spuren der Arbeit am Erdboden. Neben ihr spielte das zweijährige Kind, schmutzig, braungebrannt und ständig be
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deckt von Beulen, Insektenstichen und Schrammen. Es ging ihm nicht anders als allen kleinen Landkindern, deren Mütter vor Arbeit nicht aus noch ein wissen. Und doch! Sobald die Mutter das Kind nur ansah, mitten in den warmen, feuchten Frühlingswiesen oder in der arbeitsreichen Küche drinnen im Farmhause - immer war zwischen ihnen und um sie herum eine schwingende, leuchtende Welle, ein warmes Strahlen, das sie beide und ihre ganze Umwelt geheimnisvoll einhüllte in Glanz und Schönheit. »Wie groß ist mein Kindchen?« Selina fragte es schon halb gedankenlos. »Wie groß ist der kleine Mann?« Sofort hörte das Kind auf, mit seinen ungeschickten kleinen Fingern in der herrlichen schwarzen Erde zu wühlen. Es lachte, wie es nur konnte, und breitete beide Ärmchen weit aus. Auch die Mutter öffnete weit ihre müde gearbeiteten Arme. Dann kam es gleichzeitig aus beider Mund - der seine war rosenrot wie eine Blumenknospe, der ihre bebte in Zärtlichkeit und heimlichem Vergnü gen: »Soooo groß!« Wobei es darauf ankam, die Stimme auf dem langen oooo ganz hoch zu machen und sie bei dem zweiten Wort ebenso plötzlich wieder sinken zu lassen. So sehr war das Kind an diese Frage gewöhnt, daß es manchmal gar nicht auf sein Stichwort wartete, wenn Selina zufällig mitten aus ihrer Arbeit zu ihm hinsah. Auch ohne die längst vertraute Frage jauchzte es halb unbewußt sein »Sooo groß«, warf das Köpfchen zurück und brach in ein triumphierendes Gelächter aus. Dann rannte sie zu dem Kleinen hin und riß ihn an sich. Sie barg ihr heißes Gesicht in seinem warmen kleinen Nacken und tat, als wollte sie ihn mit Haut und Haar auffressen. So groß!
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Aber natürlich stimmte es nicht, er war gar nicht »so groß«. Er wurde auch später und in Wirklichkeit nie mals so groß, wie die weit ausgebreiteten Arme ihrer Liebe und Sehnsucht ihn haben wollten. Schließlich hätte sie zufrieden sein können, später, als er Dirk DeJong war, als man seinen Namen schön graviert oben auf schwerem gelben Leinenpapier prangen sah - später, als er seine Kleider bei Peter Peel, dem englischen Herrenschneider, machen ließ, als sein Auto nur noch auf den besten französischen Achsen lief, als in seinem Weinkel ler süßer italienischer Wermut und spanischer Sherry lagen - als ein japanischer Diener für seine Bequemlich keit sorgte, kurz: als er in jeder Hinsicht ein wohlhaben der, angesehener republikanischer Bürger geworden war. Aber sie machte sich aus alledem nichts. Sie war sogar mehr als unzufrieden. Reue und Unwillen überfielen sie eines Tages, als ob man sie, die einfache Gemüsehändlerin Selina DeJong, wegen seiner Erfolge tadeln müßte, als ob sie auf diese Weise ihren Jungen beinahe verloren hätte. Als Selina DeJong noch Selina Peake hieß, hatte sie mit ihrem Vater in Chikago gelebt. Sie hatten aber noch in vielen anderen Städten gewohnt: in Denver, während der unruhigen achtziger Jahre; in New York, als Selina zwölf Jahre alt war; in Milwaukee einige Monate. Ein kurzer Aufenthalt in San Franzisko war Selina nur undeutlich in Erinnerung geblieben und hatte mit einer so jähen Abreise geendet, daß sich selbst Selina, die doch an plötzliches Kommen und Gehen gewöhnt war und sich keine Gedanken darüber machte, gewundert hatte. »Geschäfte«, sagte der Vater. Erst am Tage seines Todes * 8
erfuhr sie, welcher Art diese Geschäfte eigentlich gewesen waren. Simeon Peake war mit seiner kleinen Tochter ständig unterwegs. Von Beruf war er einfach ein Spieler - ein Spieler seinem Temperament und seinen Anlagen nach. Wenn es ihnen gut ging, lebten sie fürstlich, wohnten in erstklassigen Hotels und aßen die besten Leckerbissen, gingen viel ins Theater und fuhren stolz in einer gemieteten Kutsche (zweispännig, versteht sich; wenn Simeon Peake sich keinen zweispännigen Wagen leisten konnte, ging er lieber zu Fuß!). Verhüllte das Schicksal sein Haupt, so wohnten sie in bescheidenen Pensionen, aßen am Pensionstisch und trugen die Kleider, die sie in guten Zeiten gekauft hatten. Während dieser ganzen Zeit ging Selina zur Schule, in gute und schlechte, in Privatschulen und in öffentliche, und zwar mit verblüffender Regelmäßigkeit, wenn man ihr nomadenhaftes Herumreisen bedenkt. Es kam vor, daß stattliche mütterliche Damen das dunkeläugige, ernstblickende kleine Mädchen allein in einem Hotelvorraum sitzen sahen oder im gemeinsamen Wohnzimmer irgendeiner Pension, und daß sie sich freundlich mit der teilnahmsvollen Frage an sie wandten: »Wo ist denn deine Mama, du kleines Ding?« »Sie ist tot«, war Selinas höflich-gelassene Antwort. »Ach, du armes kleines Ding!« Und weiter, mit plötzlicher Wärme: »Willst du uns nicht einmal besuchen und mit meinem Töchterchen spielen? Sie spielt so gern mit kleinen Mädchen.« »Nein, vielen Dank. Ich warte auf meinen Vater. Er wäre sehr traurig, wenn er mich nicht hier finden würde.« Die guten Damen gaben sich ganz unnötige Mühe. Selina war vollkommen glücklich. Nur an drei Jahre ihres Le
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bens erinnerte sie sich nicht gern, weil es ihr vorkam, als sei sie damals aus einem warmen, behaglichen Zimmer in ein dunkles, eiskaltes gekommen; sonst aber war ihr Leben frei, interessant und recht bunt gewesen. Sie durfte Entscheidungen treffen genau wie die großen Leute. Sie suchte ihre Kleider allein aus. Sie konnte ihren Vater um den Finger wickeln. Sie verschlang alle Bücher, die ihr in den Pensionslese zimmern, in den Hotels und in den öffentlichen Leihbüchereien in die Hände fielen. Täglich war sie stunden lang allein. Um sie in ihrer Einsamkeit zu trösten, brachte Simeon Peake ihr ganze Stöße von Büchern mit. Se lina feierte wahre Leseorgien. Mit genießerischem Behagen blätterte sie in den verschiedenen Büchern, ehe sie sich endgültig auf eines stürzte. So kannte sie mit fünfzehn Jahren bereits den ganzen Byron, Jane Austen, Dickens, Charlotte Bronte, Felicia Hemens. Selbstver ständlich erst recht die besonders von Dienstmädchen so heiß geliebte »Freundin der Dämmerstunde«, in deren Geschichten Fabrikmädchen und Herzöge so unvermeid lich zusammenkamen wie Beefsteak und Zwiebeln. Diese Lektüre erhielt sie auf Umwegen; sie borgte sie von freundlichen Wirtinnen, Zimmermädchen und Kell nerinnen auf der Reise von Kalifornien nach New York. Drei trübe Jahre, von neun bis zwölf, verbrachte sie bei ihren beiden unverheirateten Tanten, Fräulein Sarah und Fräulein Abbie Peake, in dem düsteren, wohlgeord neten alten Vermonter Haus, das den Peakes gehörte und aus dem ihr Vater, das schwarze Schaf der Familie, schon in seiner Jugend davongelaufen war. In einem plötzlichen Anfall von Hilflosigkeit und Reue nach dem unerwarteten Tode seiner Frau hatte Simeon 10
Peake seine kleine Tochter zurück in die östliche Heimat geschickt. Er hatte Glück und stieß bei seinen beiden Schwestern auf Milde und christliche Barmherzigkeit. Die beiden frommen Damen waren die waschechtesten alten Jungfern, wie sie in keinem puritanischen Roman schöner vorkommen können. Es gab bei ihnen Halbhandschuhe ohne Finger, Sofaschoner, dicke Bibeln, eine richtige gute Stube, eine ehrwürdige alte Katze, die niemals Junge gehabt hatte. Und stets hieß es: »Das schickt sich nicht für kleine Mädchen.« Wenn man die beiden alten Fräulein ansah, mußte man unwillkürlich an zwei alte verhutzelte Äpfelchen denken, die innen schon nicht mehr ganz gut sind. Einmal hatte Selina so einen Apfel irgendwo in einem unaufgeräumten Pult gefunden. Sie hatte lange daran gerochen und die verhutzelten, trok kenen rosa Bäckchen betrachtet; schließlich hatte sie dann kühn hineingebissen, freilich nur um den Bissen augenblicklich wieder auszuspucken. Innen war alles schwarz und faulig gewesen. Wahrscheinlich hatte sie es fertiggebracht, ihrem Vater in einem heimlichen Brief ihre Verzweiflung zu gestehen. Jedenfalls war er ohne Anmeldung eines Tages plötzlich da. Bei seinem Anblick bekam Selina den ersten und einzigen hysterischen Anfall ihres ganzen Lebens. Von ihrem zwölften bis zu ihrem fünfzehnten Lebensjahr ging es ihr außerordentlich gut. 1885 waren sie nach Chikago gekommen, kurz nachdem sie sechzehn Jahre alt geworden war. Dort blieben sie. Selina besuchte Fräulein Fisters Privatschule für junge Damen erster Kreise. Als ihr Vater sie dort anmeldete, erregte er geradezu einen Sturm in Fräulein Fisters jungfräulichem Gemüt: er war so liebenswürdig und verbindlich! Schon der leicht melancholische Ausdruck seines Gesichts nahm 11
für ihn ein; geradezu unwiderstehlich aber war sein Lächeln. Er sei Kaufmann, setzte er ihr auseinander. Aktien und so. Witwer. Fräulein Fister beteuerte, sie sei durchaus im Bilde. Niemand hätte Simeon Peake den Spieler angesehen in seiner Aufmachung war nichts davon zu merken. Allerdings trug er eine Nadel mit einem auffallend klaren weißen Diamanten im Vorhemd. Und sein Hut saß gern ein bißchen auf der einen Seite. Aber schließlich, beides war damals modern und fiel daher nicht weiter auf. Im übrigen war er ein stiller, sehr angenehmer Mensch, schmächtig und fast ein bißchen schüchtern. Er sprach nur wenig, mit altmodischem Akzent. Er hieß eben wirklich Peake und stammte aus Vermont. Chikago war die richtige Stadt für ihn. Da gab es Leben und Reichtum! Die beiden mit rotem Plüsch und Spiegeln überladenen Spielsäle von Jeff Hankins und Mike MacDonald in der Clarkstraße sahen hin täglich. Er gewann und er verlor, aber er brachte es immerhin fertig, daß Selinas Schulgeld stets pünktlich bezahlt wurde. Seinem ewig gleichmäßigen Gesicht — es war das Gesicht eines echten Spielers — konnte niemand je Bewegung oder gar Erregung ansehen. Wenn er viel Geld hatte, aßen sie im Hotel Palmer junge Hähnchen oder gebratene Wachteln, köstliche legierte Suppe und natürlich den Apfelauf lauf , dem das Hotel seine Berühmtheit verdankte. Die Kellner flogen nur so für Simeon Peake, obwohl er kaum mit ihnen sprach und sie nicht im geringsten beachtete. Selina war glücklich. Ihr Umgang erstreckte sich lediglich auf die jungen Mädchen in Fräulein Fisters Schule. Von Männern wußte sie, da sie ja nur ihren Vater kannte, genauso viel wie eine Nonne, eher noch etwas weniger. Denn selbst Nonnen müssen wohl oder übel schon aus 12
der Bibel eine ganze Menge über Art und Wesen der männlichen Leidenschaften lernen. Das Hohelied Salomonis allein ist doch schon eine ganz großartige Erzie hung zur Liebe und zur Leidenschaft. Aber die Bibel ge hörte nicht zu Selinas zusammengesuchtem Leseschatz, und der »Christliche Bote« kam damals noch nicht bis in die Hotels. Ihre beste Freundin war Julia Hempel. Deren Vater, August Hempel, besaß eine Fleischerei in der Clarkstraße. Wahrscheinlich haben heute die Glücklichen unter uns alle wenigstens ein paar Hempelaktien, mindestens aber essen sie Hempelschen Speck und Hempelschen Schinken. Wer in Chikago 1885 noch Fleischer war, konnte es schon fünf Jahre später zum Großhändler gebracht haben. Da Selina viel allein war, fand sie sich, immer mehr auf ihre Phantasie angewiesen. Schon als ganz kleines Kind hatte sie es verstanden, dem Leben den Reiz abzugewinnen, der sich nur dem phantasiebegabten Menschen erschließt. »Jetzt tue ich dies, jetzt tue ich das«, so sagte sie mitten im Spiel zu sich selbst. Sie schaute also zu und war doch gleichzeitig mitten darin. Vielleicht hing damit auch ihre Vorliebe fürs Theater zusammen. Während die anderen Mädchen ihres Alters noch nicht daran dachten, dorthin zu gehen, saß Selina schon auf einem Theaterplatz wie ein erwachsener Mensch. Ihr Gesicht mit den großen dunklen Augen leuchtete fast in seiner durchscheinenden Blässe, wenn sie hingerissen und stolz neben ihrem Vater saß. Simeon Peake hatte eine leidenschaftliche Neigung für das Theater, war er doch selbst ein Spieler mit all den dramatischen Fähigkeiten, ohne die er es in seinem Metier nie zu etwas gebracht hätte. »Ich finde es herrlich, daß irn Theater und in Büchern
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alles möglich ist. Einfach alles! Man weiß nie, was kommt«, sagte Selina nach einem solchen Abend. »Gerade wie im Leben auch«, versicherte Simeon Peake. »Du ahnst gar nicht, was alles mit dir geschehen kann, wenn du nur stille hältst und wartest.« Das sagte Simeon Peake nicht etwa, weil er es nicht besser wußte, sondern mit aller Sicherheit und in voller Absicht. Er war für seine Zeit ein sehr moderner Vater. »Ich habe es gern, wenn du möglichst viel siehst«, erklärte er ihr. »Du sollst dahinterkommen, daß die ganze Geschichte eigentlich nur ein großartiges Abenteuer ist. Erstklassiges Theater! Der Witz dabei ist nur, gleichzeitig mitzuspielen und zuzusehen!« »Welche ganze Geschichte?« »Das Leben; diese ganze bunte Mischung, dieses Drunter und Drüber. Je mehr Sorten von Menschen du kennen lernst und je mehr du unternimmst, um so mehr erlebst du, um so reicher bist du. Auch wenn nicht gerade alles ein Vergnügen für dich ist. Denke immer daran, was auch kommt, ob Gutes oder Schlechtes, schließlich ist doch alles nur« - unwillkürlich entschlüpfte ihm der Spielerausdruck - »Va banque.« Aber Selina hatte ihn verstanden. »Du meinst, lieber al les andere als Tante Sarah und Tante Abbie?« »Na ja, so ungefähr. Schließlich kommt es in der Welt nur auf zwei Sorten von Menschen an: die einen schaffen die Grundlagen des Lebens in mühsamer Arbeit, die anderen bringen Schönheit in die Welt.« Selina hatte »Pride and Prejudice« gelesen und beschloß, die Jane Austen ihrer Zeit zu werden. Sie tat plötzlich ungeheuer geheimnisvoll und war, freilich nur vorüber gehend, durchaus unbeliebt in Fräulein Fisters Schule. Sie hatte es sich angewöhnt, geradezu aufreizend vor sich
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hinzulächeln und in einer Art grüblerischer Versonnenheit einherzuwandeln, als ob sie in Visionen versunken wäre, die gewöhnlichen Sterblichen auf ewig verschlossen sind. - Ihre Freundin Julia Hempel war vollkommen im Recht, wenn sie sich über Selina ärgerte und sie kurzerhand vor die Wahl stellte, entweder mit ihrem Geheimnis herauszurücken oder für alle Zeit und Ewigkeit auf ihr treues Herz zu verzichten. Selina nahm ihr ein feierliches Schweigeversprechen ab. »Schön, ich will dir alles sagen. Ich werde ... Romane schreiben!« Julia war offensichtlich schwer enttäuscht. Immerhin rief sie: »Selina« und stellte sich tief beeindruckt. Gleich darauf aber sagte sie vorwurfsvoll: »Und warum tatest du so geheimnisvoll?« »Davon verstehst du nichts, Julia. Schriftsteller müssen das Leben an der Quelle studieren. Und wenn die Menschen merken, daß man sie beobachtet, verlieren sie gleich ihre Unbefangenheit. Siehst du, du hast mir ja auch was von einem jungen Mann in eurem Geschäft erzählt, daß er dich immerzu angesehen und auch mal gesagt habe...« »Selina Peake, wenn du so unverschämt bist und das in deinem Roman schreibst...« »Da haben wir's! Ich denke gottlob gar nicht daran. Aber siehst du, das meinte ich vorhin.« Julia Hempel und Selina Peake waren beide gleich alt, nämlich neunzehn Jahre, und beide waren sie wirklich tadellose Produkte der Fisterschen Erziehung. An einem schönen Septembertag war Selina den ganzen Nachmittag bei Julia gewesen. Gerade hatte sie ihren Hut genommen und wollte nach Hause gehen. Julias dringende Einladung zum Abendbrot wehrte sie lachend
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mit zugehaltenen Ohren ab. Sicherlich war die Aussicht auf das unvermeidliche Montagabendessen bei Frau Trebbit (Simeon Peake hatte augenblicklich kein Glück im Spiel) kein Grund für Selinas Weigerung. Im Gegenteil, bei Julias raffinierter Schilderung der guten Dinge, die es an diesem Abend bei Hempels gab, konnte Selina einen kleinen begehrlichen Seufzer nicht unterdrücken. »Es gibt junge Hähnchen - drei Stück! Ein Farmer hat sie meinem Vater mitgebracht. Mutter füllt sie, und dazu macht sie Korinthensauce. Nachher Sahnenzwiebeln und Tomaten. Zum Nachtisch Apfelpfannkuchen.« Selina zupfte an dem Gummiband, das ihren kleinen hohen Hut unter dem Haarknoten festhielt. Sie seufzte noch einmal inbrünstig. »Montag abend gibt's bei Frau Trebbit Kohl mit kaltem Hammelfleisch. Und heute ist leider Montag.« »Kleines Schaf! Warum bleibst du dann nicht hier?« »Vater kommt um sechs nach Hause. Er ist jedesmal enttäuscht, wenn ich nicht da bin.« Die untersetzte blonde Julia versuchte es nicht länger, mit Schmeicheleien Selinas Entschluß ins Wanken zu bringen, sondern setzte hart auf hart: »Er geht ja doch gleich nach dem Essen wieder fort. Und du bist jeden Abend bis um zwölf oder gar noch länger allein.« »Ich sehe nicht ein, was das damit zu tun hat«, sagte Selina abweisend. Julias Härte kam nicht aus dem Herzen und schmolz sofort. »Natürlich gar nichts, mein Goldkind. Ich dachte bloß, du könntest ihn dieses einzige Mal allein lassen.« »Er ist wirklich traurig, wenn ich nicht da bin. Und die gräßliche Frau Trebbit himmelt ihn an! Er ist sehr ungern dort.«
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»Dann begreife ich nicht, warum ihr nicht auszieht. Ihr wohnt nun schon vier Monate dort, und ich finde es da scheußlich. Der ewige dumpfe Geruch und das häßliche Linoleum auf der Treppe.« »Meinen Vater geht es augenblicklich geschäftlich nicht gut.« Ihre Kleidung sah danach aus. Selina war freilich ganz nach der damaligen Mode ausstaffiert, ihr Hut mit hohem Kopf und schmaler Krempe stammte aus New York mit seiner Garnierung von Federn, Blumen und Bändern. Aber alles war schon im Frühling gekauft, und jetzt schrieb man September. Im Laufe des Nachmittags hatten sie zusammen das neueste Modenheft durchgeblättert. Das Mißverhältnis zwischen Selinas Anzug und den dort abgebildeten Modeschöpfungen war ungefähr so groß wie der Unter schied des Trebbitschen und des Hempelschen Abendessens. Schließlich nahm Julia trotz ihrer Niederlage zärtlichen Abschied von ihrer Freundin. Selina legte das kleine Stück von Hempels Haus bis zur Pension Trebbit in der Dearbornstraße schnell zurück. Ihr Zimmer lag in der zweiten Etage. Sie nahm den Hut ab und rief nach ihrem Vater. Er war jedoch noch nicht da, und sie atmete auf. Sie hatte schon befürchtet, zu spät zu kommen. Sie betrachtete mißbilligend ihren Hut, der ihr plötzlich nicht mehr gefiel. Kurz entschlossen machte sie sich daran, die verblichenen Rosen abzutren nen. Aber schon nach den ersten zwei Schnitten merkte sie, daß der Hut noch mehr verschossen war als die Rosen und daß man unter der Garnitur deutlich eine dunkle Stelle sah. So suchte sie sich eine Nadel und nähte die arme Rose wieder am alten Platz fest.
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Dicht am Fenster hockte sie auf einer Stuhllehne und nähte mit flinken, geschickten Stichen. Da plötzlich hörte sie ein Geräusch. Sie vernahm diesen Ton zum erstenmal in ihrem Leben. Es war ein ganz bestimmtes Geräusch: harte, unheilverkündende Schritte. So gehen Männer, die eine schwere, leblose Masse schleppen, die mit unendlicher Sorgfalt einen Gegenstand tragen, dem doch nichts mehr geschehen kann. Nie im Leben hatte Selina etwas Ähnliches gehört und wußte doch sofort, was es war. Jähe Herzensangst, ewiger, geheimnisvoller weiblicher Instinkt verrieten ihr, was da so unheimlich herannahte. Schritt für Schritt kam es langsam die enge Treppe herauf, den Gang entlang. Selina erhob sich. Schwer wie Blei lag die Nadel in ihrer Hand, fiel zu Boden. Ihre Augen starrten ins Leere ... die Lippen standen halb offen. Sie lauschte fieberhaft ... wußte alles. Wußte alles längst, bevor sie eine heisere Stimme sagen hörte: »Hebe da an der Ecke mal ein bißchen höher. Vorsicht, langsam!« Und da schrie auch schon Frau Trebbit: »Sie dürfen ihn hier nicht hereinbringen! Sie hätten mir ihn überhaupt nicht ins Haus bringen dürfen.« Selina holte wieder Atem. Ihr Herz ging stoßweise. Sie riß die Tür auf. Da brachten sie ihre stille, leblose Last. Der Körper war zum größten Teil mit einem Überzieher bedeckt, den man achtlos auch über das Gesicht geworfen hatte. Nur die Füße wackelten in ihren breiten Schuhen sinnlos hin und her. Die blanken Stiefel fielen Selina auf — er war immer so eigen mit seinen Sachen gewesen. An diesem Nachmittag um fünf Uhr war Simeon Peake in Jeff Hankins' Spielsalon erschossen worden. Und es war eine Ironie des Schicksals, daß die Kugel nicht ein mal für ihn bestimmt gewesen war. An ihrem verirrten 18
Lauf war eine Frau schuld. Eine jener überspannten Damen hatte sie abgeschossen, die durch ihre Exzentrizitäten Leben in den eintönigen Alltag brachten und mit Revolver und Reitpeitsche gewöhnlich dann ihre Ehre verteidigten, wenn es dazu längst zu spät war. Sie hatte einen sehr bekannten Zeitungsverleger treffen wol len, der in allen Blättern, nur nicht gerade in seiner eigenen Zeitung, allgemein ein »Lebemann« genannt wurde. Die Dame hatte aus Rache geschossen. Sie war mit sich und der Welt fertig. Mit ihrer zweiten Kugel zielte sie besser und entzog sich so den Unannehmlichkeiten eines Prozesses. Als Vermächtnis hinterließ Simeon Peake seiner Tochter zwei auffallend klare blauweiße Diamanten (als Spieler hatte er auch eine Leidenschaft für Diamanten) und 497 Dollar in bar. Es war rätselhaft, wie er eine solche Summe hatte zurücklegen können. Der Umschlag hatte offensichtlich einmal eine größere Summe enthalten. Er war versiegelt gewesen und später aufgerissen worden. Auf der Außenseite stand in Simeon Peakes schöner, fast weiblicher Handschrift: »Für meine kleine Tochter Selina Peake, falls mir irgend etwas zustoßen sollte.« Darunter ein Datum, das sieben Jahre zurücklag. Selina stand vor der Wahl, entweder selbst ihren Lebensunterhalt zu verdienen oder wieder nach Vermont zu gehen und dort ein verwelkter alter Apfel zu werden, staubig und modrig im Herzen wie ihre beiden Tanten Sarah und Abbie Peake. Sie schwankte keinen Augenblick. »Aber was willst du tun?« fragte Julia. »Was kannst du überhaupt arbeiten?« Frauen von Selina Peakes Art brauchten doch nicht zu arbeiten! »Ich — ich kann Stunden geben.«
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»Stunden? Worin denn?« »In allen Fächern, die ich bei Fräulein Fister gehabt habe.« Man sah es Julia an, daß sie von Fräulein Fisters Aus bildung nicht sehr viel hielt. »Und wem willst du Stunden geben?« »Kindern natürlich. Als Hauslehrerin. Oder auch an Schulen.« »Vorher aber mußt du aufs Seminar gehen oder an eine Volksschule aufs Land, ehe du an eine städtische Schule kommen kannst. Die Lehrerinnen dort sind fast alle ur alt. Mindestens aber fünfundzwanzig oder gar dreißig Jahre.« (Julia mit ihren neunzehn Jahren konnte sich ein Alter über dreißig überhaupt nicht vorstellen.) Daß Selina sich nur schwach verteidigte, war bezeichnend für ihren halb betäubten Zustand. Ein Glück, daß sie keine Ahnung hatte, welche Energie Julia aufbringen mußte, um überhaupt noch mit ihr zusammenzukom men. Frau Hempel hatte ihr kurzerhand jeden Verkehr mit der Tochter des toten Spielers verboten. Sie hatte sogar an Fräulein Fister einen Brief geschrieben und ihr deutlich die Meinung gesagt über eine Schule, die ihre sämtlichen Zöglinge in Verruf bringen werde, wenn sie je wieder solche zweifelhaften jungen Damen in ihren erlesenen Kreis aufnehmen sollte. Selina machte sich nichts aus Julias Einwänden. »Dann unterrichte ich eben an einer Dorfschule. Ich kann ganz gut rechnen. Das weißt du ja.« Und ob Julia das wußte. Selina hatte ihr alle Rechenaufgaben für Fräulein Fister gelöst. »In der Dorfschule lernt man hauptsächlich Rechnen, Grammatik und Geographie.« »Du Lehrerin in einer Dorfschule!«
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Sie betrachtete Selina. Sie sah ein verführerisch zartes Gesicht, eine schmale, tadellose Kopfform. Die Backenknochen waren ein wenig zu hoch. Oder vielleicht sah es auch nur so aus, weil die ungewöhnlich dunklen sanften Augen sehr tief in ihren Höhlen lagen. Anstatt nach unten zu in einer weichen Linie schmäler zu werden, entwickelte dieses Gesicht plötzlich eine ganz unerwartete kraftvolle Festigkeit in der Kinnpartie. Nur Kampfnaturen haben diesen stahlharten, klaren Zug im Gesicht. Julia verstand nicht die Kunst, in anderer Leute Gesichtern zu lesen, und kam nicht dahinter, was alles in diesen Zügen geschrieben stand. Selinas Haar war von wundervoller Üppigkeit, so daß sie es leicht in die vielen kunstvollen Locken der damaligen Mode aufstecken konnte. Ihre Nase war tadellos. Beim Lachen krauste sich der schmale Nasenrücken ein wenig. Das sah allerliebst aus und eine Spur boshaft. Bei flüchtigem Zusehn wirkte sie etwas unscheinbar. Aber die Augen fielen sofort auf und ließen einen nicht mehr los. Selina konnte sprechen, mit wem sie wollte: alle sahen unwillkürlich tief in diese Augen hinein. Selina stellte oft verlegen fest, daß die Leute ihr gar nicht recht zuhörten. Wahrscheinlich war die Weichheit ihrer samtdunklen Augen daran schuld, daß man die Festigkeit der unte ren Gesichtshälfte leicht übersah. Die nächsten zehn Jahre gingen unsanft genug mit Selina um. Eines Tages traf Julia sie ganz zufällig in der Prairie-Allee, wie sie gerade leichtfüßig von einem Gemüsekarren heruntersprang. Eine braungebrannte, von Wind und Wetter hart mitgenommene Frau. Ihr reiches Haar hatte sie zu einem einfachen Knoten zusammengedreht und mit einer langen grauen Haarnadel aufgesteckt. Der Saum ihres weiten Kattunkleides hatte das 21
schmutzige Wagenrad gestreift. Ihre schmalen Füße steckten in alten Männerschaftstiefeln, auf dem Kopf trug sie einen geradezu unwahrscheinlich abgenutzten alten Filzhut (er stammte von ihrem Mann). In den Armen hielt sie ganze Bündel von Maiskolben, Mohren, Rettichen und roten Rüben. Ihre Zähne waren nicht mehr ganz tadellos, ihre Brust eingesunken; schwer hing die Tasche in ihrem weiten Rock. Julia hatte sie angestarrt und sofort an ihren Augen erkannt. Und war zu ihr hingerannt in ihrem seidenen Kleid und dem kostbaren Federhut mit dem lauten Aufschrei: »O Selina, liebe, liebe Selina.« Und hatte gleich danach erschrocken und jammervoll aufgeschluchzt: »Meine Selina!« Selina, Mohren, Rüben, Rettiche - alles zusammen schloß sie in ihre Arme. Neben ihnen auf dem Pflaster lagen die Gemüse verstreut, gerade vor Julia HempelArnolds großem steinernen Haus in der Prairie-Allee. Und sonderbar genug, Selina war es schließlich, die Julias seidene Schulter tröstend streichelte und immer wieder sagte: »Komm! Es ist ja alles gut. Weine doch nicht! Warum weinst du nur? Still! Ist doch alles gut.«
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Selina betrachtete sich als einen Glückspilz, weil sie die Stelle an der niederländischen Schule in High Prairie sofort bekommen hatte. High Prairie lag nur zehn Mei len von Chikago entfernt, und dreißig Dollar im Monat waren auch nicht zu verachten. Es war ausgemacht worden, daß sie bei dem Gemüsehändler Klaas Pool Wohnung und Kost bekommen sollte. Selbstverständlich steckte niemand anders dahinter als August Hempel oder vielmehr Julia, die ihrem Vater Selinas wegen unaufhörlich in den Ohren gelegen hatte. August Hempel war damals fünfundvierzig Jahre alt. Sein Fleischergeschäft in der Clarkstraße war weit und breit berühmt. Er kannte jeden Farmer und Viehzüchter meilenweit in der Runde. So war es für ihn verhältnismäßig leicht, Selina an der holländischen Schule unterzubringen. Zum ersten Male kam eine Frau an die Bezirksschule nach High Prairie. Bisher waren immer nur männliche Lehrkräfte dort gewesen. Zufällig war der für dieses Jahr in Aussicht genommene junge Kandidat kurz vor Schulbeginn zurückgetreten, da sich ihm eine günstigere Stellung geboten hatte. In High Prairie fing das Schuljahr erst im November richtig an. Den ganzen Frühherbst hindurch mußten alle Farmerkinder über sechs Jahre schon auf den Feldern mitarbeiten, und andere Leute als Gemüsefarmer, die ihre Kinder hätten zur Schule schicken können, gab es in der ganzen Gegend nicht. Selina mußte zwei Jahre dort unterrichten, dann konnte sie an einer städtischen Schule angestellt werden. August Hempel hatte ihr zu verstehen gegeben, daß er auch das für sie später in Ordnung bringen werde. 23
Nach Selinas Meinung war der schlaue Fleischermeister mit dem derben roten Gesicht ein prachtvoller Mensch. Und sie hatte auch völlig recht. Mit siebenundvierzig Jahren errichtete er aus eigenen Mitteln das berühmte Hempelsche Großversandgeschäft. Mit fünfzig war er eine wichtige Persönlichkeit im Großhandel und hatte Filialen in allen größeren Städten. Zehn Jahre später leuchtete einem auf der ganzen Strecke von Honolulu bis Portland auf jedem Warenschuppen und jeder Fabrik in Riesenbuchstaben der Name »Hempel« ent gegen: »Hempels Schinken ist der beste.« Er produzierte in seinen zahllosen Fabriken einfach alles: Schweine- und Ananaskonserven, Schmalz und Obstsaft. Er kannte keine Hindernisse auf seinem Weg und schlug gelegentlich selbst dem Gesetz ein Schnipp chen. Es war bezeichnend für seinen Charakter, daß die Far mer, die ihn mit vierzig Jahren als einfachen Fleischer gekannt hatten, ihn noch als sechzigjährigen Millionär kurzweg August nannten. Mit fünfundsechzig Jahren setzte er es sich eines Tages in den Kopf, Golf spielen zu lernen, und nach kurzer Zeit war er seinem Schwiegersohn Michael Arnold darin weit überlegen. Er war ein prächtiger alter Pirat, der vergnügt sein Schiffchen auf den hochgehenden Wogen der gefährlichen neunziger Jahre steuerte und seine Beute längst in Sicherheit gebracht hatte, als der naseweise Senat mit Kommissionen und Untersuchungen ankam und die schwarze Handelsflagge durchaus weißwaschen wollte. Für ihre Jugend und Unerfahrenheit traf Selina ihre Vorbereitungen erstaunlich umsichtig. Sie verkaufte einen ihrer beiden kostbaren Diamanten. Ihre geerbten 497 Dollar brachte sie unangetastet auf die Bank. Sie
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kaufte vernünftige derbe Stiefel und zwei Kleider. Das eine nähte sie selbst aus festem braunem Tuch mit weißem Kragen und Manschetten (natürlich wurden in der Schule schwarze Schutzärmel aus Satin übergezogen), das andere aus weinrotem Kaschmir für besondere Gelegenheiten hatte sie sich fertig gekauft. Sie war sich freilich unerhört üppig dabei vorgekommen, aber es war auch gar zu hübsch. Natürlich las sie vorher noch alles, was sie über ihre neue Heimat auftreiben konnte. In der früher als NeuHolland bekannten Gegend lebten offenbar ausschließlich Gemüsefarmer. Sie waren genauso waschechte Holländer wie ihre Brüder drüben in den Niederlanden, aus denen sie oder ihre Väter ausgewandert waren. Sie trugen Holzschuhe, wenn sie auf ihren nassen Feldern arbeiteten. Selina las viel von phlegmatischen, handfesten und doch fleißigen Bauern in vielfenstrigen, wet terfesten Häusern, die sie genau nach dem Vorbild der nordholländischen Häuser drüben in der alten Heimat gebaut hatten. Viele von ihnen waren aus Schoorl oder Umgebung gekommen, andere aus der Amsterdamer Gegend. Selina bedauerte die arme Julia von Herzen, daß sie in dem langweiligen grauen Chikagoer Einerlei bleiben mußte, während sie selbst so herrlichen Dingen entgegenging; sie träumte sogar des Nachts von wogenden goldenen Kornfeldern, von knusprigen Ölkrapfen und leckeren wilden Enten; von dicken Scheiben saftigen Rauchfleischs und Kürbispudding, von Tänzen im Freien und apfelbäckigen Farmerkindern. An einem der letzten Oktobertage fuhr sie endlich ab. Sie saß vorn neben Klaas Pool auf dem zweispännigen Gemüsewagen, mit dem er wöchentlich mehrere Male nach Chikago auf den Markt fuhr, und kauerte auf
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ihrem hohen Sitz wie ein frecher kleiner Spatz neben einem schwerfälligen Ackergaul. So ging es gemütlich im Zuckeltrab die endlose Halsteder Landstraße entlang. Die Umgebung von Chikago sah damals harmlos und friedlich aus. Es gab noch keine endlosen Schlackenhaufen, keine qualmenden Essen und Hochöfen. Weit gedehnt lag die Landschaft in den letzten Strahlen der untergehenden Herbstsonne, über die sich langsam der aufsteigende Seenebel wie ein durchsichtiger goldener Schleier breitete. Nichts als Kohlfelder, soweit das Auge reichte. Jadegrün hoben sie sich gegen den dunklen Erdboden ab; ebenso unübersehbar Rotkohlfelder vom schönsten Burgunderrot mit schwarzen Adern. Dazwischen lag das Korn in Hocken in der Sonne zum Trocknen aufgeschichtet. Wälder tauchten gelegentlich am Horizont auf; braun und bronzefarben leuchteten Ahorn und Eichen herüber. Selinas schönheitsdurstige Augen nahmen dieses Bild voller Entzücken in sich auf. Schließlich schlug sie die Hände in den billigen schwarzen Baumwollhandschuhen zusammen. »Oh, Mr. Pool«, rief sie, »Mr. Pool! Hier ist es wunderschön!« Klaas Pool lenkte sein Gespann auf der schmutzigen Landstraße und sah nicht nach rechts noch links. Seine Blicke schienen an einer unsichtbaren Stelle zwischen den beiden Ohren seines Handpferdes festgewachsen zu sein. Er war kein Mann von besonders schnellem Verstand, und sein Körper reagierte nur langsam auf die Botschaften, die ihm von seinem Gehirn übermittelt wurden. Um das zu wissen, brauchte man nur seine porzellanblauen Augen anzusehen. Auf seinem roten runden Vollmondgesicht wuchs ein ganzes Stoppelfeld von eigensinnigen kleinen Haaren. Der Kopf schien mit 26
den breiten Schultern und dem stämmigen Nacken so fest verwachsen zu sein, daß man ängstlich hinstarrte, wenn er wie eben jetzt den Kopf drehte: jeden Augenblick war man darauf gefaßt, alle Muskeln krachen zu hören. Und was am seltsamsten war: er wandte Selina den Kopf zu und hielt die Augen weiter starr geradeaus gerichtet. Offensichtlich hörten Kopf und Augen auf verschiedene Befehle. Es dauerte noch eine Weile, ehe er sich endlich dazu entschloß, auch die Richtung seiner Augen soweit zu ändern, daß sie ihr feingeschnittenes Profil erreichten. Selina leuchtete förmlich vor Entzücken über die ganze Umgebung und vor Stolz über das bevorstehende Abenteuer. Sie sah genauso aufgeregt und froh aus wie damals neben Simeon Peake im Theater, wenn sich der Vorhang hob und das Stück begann. Ein dicker Mantel und ein warmer Schal schützten sie vor dem scharfen Oktoberwind, dazu hatte sie sich ein wollenes Tuch um Knie und Leib gewickelt. Ihr gewöhnlich so blasses Gesicht war von der frischen Luft rosig angehaucht, und ihre Augen glänzten groß und dunkel. Neben diesem zartschimmernden Mädchengesicht wirkten Klaas Pools derbe Züge wie aus anderem Stoff geformt. Seine blaßblauen Augen blickten verständnislos. »Wunderschön«, wiederholte er erstaunt, »was soll wunderschön sein?« Selinas schlanke Arme kamen aus Mantel, Tuch und Schal hervor und beschrieben einen weiten Kreis um die abendlich vergoldete Landschaft. »Alles. Der... der Kohl.« Langsam dämmerte es in den blaßblauen Augen. Ein verräterisches Zucken lief von den Augenwinkeln zu den breiten Nasenflügeln und den vollen Lippen, die sich lautlos öffneten. Ein unwiderstehlicher Lachreiz
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packte und schüttelte die schweren Schultern und kitzelte die gutgepolsterte Mitte, bis sich schließlich der ganze Klaas Pool in einem schwerfälligen inneren Gelächter wand und krümmte. »Kohl wunderschön.« Er schielte fast vor Vergnügen. »Kohl wunderschön.« Jetzt lachte er aus vollem Halse. Soviel stand fest, wenn Klaas Pool erst einmal lachte, dann hörte er so bald nicht wieder auf. »Kohl« - er verschluckte sich und mußte husten. Endlich wandte er seinen Blick wieder den Pferden und der Straße zu. Und genau wie vorher drehte er erst den Kopf und dann die Augen. So blieben sein rechtes Auge und die eine rote Backe mit den blonden Bartstoppeln Selina noch eine kleine Weile allein zugewandt. Das sah ebenfalls komisch aus. Selina mußte lachen, aber sie blieb bei ihrer Meinung. »Tatsächlich«, wiederholte sie hartnäckig, »er ist wirklich wunderschön. Genau wie Nephrit und Burgunder! Nein, eigentlich mehr noch wie Chrysopras und Porphyr. Die vielen Kohlfelder mit dem Korn dazwischen und dem Rübenkraut sehen wie ein einziger großer Perserteppich aus.« So etwas konnte auch nur Selina zu einem holländischen Gemüsefarmer sagen. Schließlich hatte sie nicht umsonst schon mit siebzehn Jahren Byron gelesen. Für Klaas Pool freilich waren Chrysopras und Porphyr böhmische Dörfer. Und Byron erst recht. Und wenn er von Nephrit und Burgunder eine Ahnung hatte, so doch jedenfalls nicht in diesem Zusammenhang. Aber seinen Kohl kannte er dafür um so besser, den weißen wie auch den roten. Er kannte ihn vom Samen bis zum fertigen Sauerkraut und wußte genau Bescheid, welche Sorte auf dem und dem Boden am besten gedieh. Aber 28
daß Kohl »wunderschön« wäre, daß er wie Edelsteine und Perserteppiche aussähe, das wollte ihm nicht in den Kopf. Und wozu auch! Was in aller Welt hat ein Kohl kopf oder, in unserem Falle, ein echter, rechter Bauern schädel mit solchem Unsinn zu tun wie Chrysopras, Nephrit, Burgunder und Perserteppichen! Eintönig ging die Reise weiter. Hin und wieder schüttelte sich die schwere Masse neben Selina in unterdrück tem Lachen, und halblaut kam es zwischen den Bartstoppeln hervor: »Kohl! Kohl und ...« Sie war nicht beleidigt; sie hätte heute überhaupt nidits übelnehmen können. Die letzten schweren Wochen mit ihren traurigen Eindrücken waren vergessen, noch viel weniger dachte sie im Augenblick daran, daß sie mit ih ren neunzehn Jahren mutterseelenallein in der Welt stand. Sie begriff nicht mehr, wie sie sich noch vor ein paar Stunden vor ihrer neuen Heimat und den vielen fremden Menschen hatte fürchten können. Ein wohliger Schauer lief ihr den Rücken hinab; endlich war der große Augenblick gekommen: das ersehnte Abenteuer hatte begonnen. Wie hatte doch Simeon Peake immer gesagt: »Das Ganze ist nur ein einziges großes Abenteuer.« Selina hatte Herzklopfen vor freudiger Aufregung: die Sache war jedenfalls für sie ein Wagnis, und die alten Tanten in Vermont wären sicherlich zu Stein erstarrt, wenn sie etwas von dem Vorhaben ihrer mutigen Nichte geahnt hätten. Ihre Jugend nahm sie mit auf den Weg, ihre Unternehmungslust und ihre stählerne Gesundheit. Ferner ein braunes Tuchkleid und ein weinrotes aus Kaschmir. In der Bank lagen gut verwahrt die 497 Dollar, und in ihrer Brust schlug ein fröhliches, unerschrockenes Herz. - Dieses Herz war niemals unterzukriegen. Selbst dann nicht, als es seine
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Besitzerin auf seltsame Wege trieb und in eine pfadlose Wüste lockte, aus der sie nur mühsam zurückfand. Aber stets waren Weiß- und Rotkohl für sie wie Nephrit und Burgunder, wie Porphyr und Chrysopras. Einer solchen Frau konnte kein Schicksal etwas anhaben. Der Wagen holperte gleichmäßig seines Weges. Selina betrachtete zufrieden die Landschaft um sich her. Klaas Pools schallendes Gelächter war freilich nicht besonders ermutigend gewesen. Sie mußte erst einen kleinen Anlauf nehmen, ehe sie sich von neuem ihrem schweigsamen Begleiter zuwandte. Sie war eine lebhafte, mitteilsame kleine Person, und seine Unzugänglichkeit wur de ihr nachgerade unbehaglich. Ein flüchtiger Blick auf sein Gesicht machte ihr Mut: es sah eigentlich ganz freundlich aus. Sie entdeckte sogar um Mund und Augen eine Reihe vergnügter kleiner Fältchen. Erleichtert atmete sie auf. Immerhin saß Klaas Pool im Schulvorstand, und sie sollte in seinem Hause wohnen. Wahrscheinlich hätte sie das über den Kohl lieber nicht sagen sollen. Aber sie wollte alles wiedergutmachen und sich in Zukunft wie eine richtige Lehrerin benehmen. So setzte sie sich möglichst würdevoll auf ihrem Sitz zurecht. »Hmhm. Nicht wahr, Mr. Pool, Sie haben drei Kinder? Gehen sie alle zu mir in die Schule?« Das war für Klaas Pool zuviel auf einmal gefragt. Er dachte so angestrengt nach, daß auf seiner Stirn eine senkrechte kleine Falte entstand. Selina hatte der Unterhaltung eine würdige Wendung geben wollen, aber mit ihrer doppelten Frage hatte sie ihren Wirt offensichtlich nur in Verlegenheit gebracht. Umsonst gab er sich die größte Mühe, seinen Kopf gleichzeitig in zwei Richtungen zu bewegen, nämlich zustimmend auf und ab und verneinend hin und her.
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Selina unterdrückte mit Mühe einen Lachanfall. »Sie wollen sagen, daß es nicht drei sind... oder daß sie nicht alle drei... oder ...« »Ich habe drei Kinder. Sie gehen nicht alle drei in die Schule.« »Ach? Warum nicht? Welches denn nicht?« Dieses Kreuzfeuer von Fragen erwies sich als verhängnisvoll. Sofort verstummte das bißchen Konversation, das er sich mühsam abgerungen hatte. In tiefem Schweigen ratterten sie weiter. Wohl eine halbe Stunde lang sprach keiner ein Wort. Vergebens biß sich Selina die Lippen wund, vergebens beschwor sie sich selbst, um Gottes willen nicht zu lachen. Es half alles nichts: die Komik der Situation war überwältigend. Hell und fröhlich stieg ihr Lachen empor wie schwirrender Vogelflug im Abendrot. Und siehe da! Neben ihr fing jemand an zu dröhnen und endlich überzusprudeln wie Wasser in einem Kessel, das lange nur gesummt hat. Sie lachten zusammen: das eingeschüchterte junge Ding, das sich so würdevoll hatte benehmen wollen, und der langweilige schwerfällige Bauer, weil das schmale kleine Persönchen neben ihm auf dem Sitz ihn endlich richtig bei seinem langsam arbeitenden Sinn für Humor gepackt hatte. Ein Stein fiel Selina vom Herzen. »Ach, und jetzt erzählen Sie mir doch, welche in die Schule gehen und welche nicht.« »Geertje geht in die Schule. Jozina geht in die Schule. Rolf hilft in der Landwirtschaft.« »Wie alt ist Rolf?« Sie fragte wie ein richtiger Schulmeister. »Rolf ist zwölf Jahre.« »Nicht älter! Und geht schon nicht mehr in die Schule? Aber warum denn nicht?«
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»Rolf hilft in der Landwirtschaft.« »Ja, geht er denn nicht gern in die Schule?« »Doch, doch.« »Ja, finden Sie denn nicht selbst, daß er noch hineingehört?« »Doch, doch.« Einmal im Zuge, konnte sie nun nicht mehr zurück: »Wäre es denn Ihrer Frau nicht auch lieber, wenn er noch in die Schule ginge?« »Maartje? Doch, doch.« Sie nahm allen Mut zusammen und wagte die letzte Frage: »Aber warum in aller Welt geht er denn dann nicht in die Schule?« Klaas Pools blaue Augen starrten schon wieder unverwandt geradeaus. Sein Gesicht blieb unbewegt. »Rolf arbeitet in der Landwirtschaft.« Selina gab den Kampf auf. Ihre Gedanken aber beschäftigten sich weiter mit dem Jungen. Wie er wohl aussah? Die beiden Mädchen hießen also Geertje und Jozina. Geertje bedeutete natürlich Gertrud, Jozina Josephine. Maartje? Das konnte von Martha kommen. Jedenfalls war es interessant. Und da hätte sie nach Vermont gehen und ein verhutzelter alter Apfel werden sollen? Tiefer und tiefer brach die Dämmerung herein. In dichten Schwaden trieb der Nebel über die Wiesen und legte sich über die frostbetauten Stoppelfelder und die entlaubten Bäume. Das letzte schwache Licht vom Himmel fing sich darin und umwob Bäume und Erdboden, den schweigsamen Mann und das blasse Gesicht des Mäd chens mit einem geheimnisvoll opalisierenden Schimmer. Selina bemerkte verwundert das seltsame Leuchten
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ringsum. Schon wollte sie den Mund zu einem entzück ten Ausruf öffnen, da besann sie sich und preßte noch rechtzeitig die Lippen zusammen: sie hatte ihre erste Lektion in High Prairie erhalten.
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Das Poolsche Haus unterschied sich in nichts von den zwanzig oder dreißig anderen, an denen sie schon in der Dunkelheit vorbeigekommen waren. Die holländisch-amerikanischen Bauern hatten ihre Häuser genau so flach und viereckig gebaut, wie sie es von ihrer alten Heimat, den Niederlanden, her kannten, und so waren in Amerika, im Staate Illinois, eine Anzahl typisch holländischer Dörfer und Gehöfte entstanden. Man konnte sich in die Gegend von Amsterdam oder Haarlem versetzt glauben. Genau wie drüben standen steife Reihen gekappter Weiden zu beiden Seiten der Landstraße. Gleich bei der Einfahrt in den Hof fielen Selina die vie len unwahrscheinlich blanken Fensterscheiben auf. Das Haus hatte zahllose Fenster, aber jede Scheibe war nicht größer als ein Taschentuch. Nie im Leben hatte Selina so blitzende Fensterscheiben gesehen, das ließ sich sogar in der Dunkelheit erkennen. Damals konnte sie noch nicht wissen, daß fleckenlose Fensterscheiben in High Prairie der Maßstab für die soziale Stellung der Bewohner waren. Hof und Wohnhaus waren von geradezu geometrischer Regelmäßigkeit und sahen aus, als hätte man sie frisch aus einer Spielzeugschachtel aufgebaut. Allerdings wur 33
de der Eindruck des Ganzen durch eine längs des Hauses ausgespannte Wäscheleine beeinträchtigt, an der eine bunte Reihe mehr oder weniger schöner Wäschestücke baumelte. Selina kam bald dahinter, daß jede Bauersfrau Tag für Tag ihren Hof so lieblich dekorierte. Noch immer saß sie oben auf ihrem hohen Sitz und wartete darauf, daß Klaas ihr beim Heruntersteigen helfe. Der aber dachte gar nicht daran und lud schon eifrig die vielen leeren Kisten und Körbe ab. So raffte sie Tücher und Mantel zusammen und kletterte vorsichtig am Rad hinunter. Neugierig sah sie sich in dem dunklen Hof um. Wenn Simeon Peake sie so gesehen hätte! Wie ein verirrter kleiner Vogel stand sie in der fremden Umgebung. Inzwischen hatte Klaas die Scheunentür geöffnet. Jetzt kam er zurück und gab dem einen Pferd einen tüchtigen Klaps auf den Schenkel. Gehorsam trottete das Gespann in den Stall. Nun nahm er wirklich ihren kleinen Koffer in die Hand. Sie ergriff ihre Reisetasche und folgte ihm über den dunklen Hof. Als Klaas Pool die Tür zur Küche aufriß, leuchtete ihnen der Feuerschein aus dem offenen Herdloch ein freundliches Willkommen entgegen. Am Herd stand eine Frau mit einer Gabel in der Hand. Die Küche war sauber, aber unaufgeräumt, wie Küchen sind, in denen viel und eilig gearbeitet wird. Aus den Kochtöpfen roch es vielversprechend. Jetzt drehte die Frau sich um, und Selina machte große Augen. Das konnte doch nicht Maartje sein. Das war ja eine alte Frau! Aber schon rief Klaas: »Maartje, hier ist die Lehrerin.« Die Frau streckte ihr bedächtig eine rauhe, verarbeitete Hand entgegen und lächelte freundlich. Selina sah mit 34
Bestürzung, wie schadhaft und mißfarbig ihre Zähne waren, wie dünn das Haar, das sie mit einer schnellen Bewegung aus der Stirn strich. Offensichtlich war sie verlegen, denn ihre Finger zupften nervös an ihrem sauberen blauen Kattunkleid. »Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen«, war ihre förmliche Begrüßung. »Hoffentlich werden Sie sich bei uns wohlfühlen.« Klaas war inzwischen hinausgestapft und hatte die Tür hinter sich zugeworfen. »Pool hätte auch wirklich mit Ihnen vorn hereinkommen können. Bitte, legen Sie doch ab.« Selina schälte sich mühsam aus ihren vielen Umhüllungen. Mit ihrer eleganten kleinen Erscheinung paßte sie wahrhaftig nicht in diese Küche. Das braune Kleid umschloß eng ihre schlanke Taille, nach unten zu bauschte sich der Rock mit vielen Falbeln. »Himmel, wie jung Sie sind!« rief Maartje. Neugierig kam sie näher und strich vorsichtig über den Stoff von Selinas Kleid. Und plötzlich sah Selina, daß die Frau vor ihr ganz jung war. Sie sah nicht mehr die schlechten Zähne und die dünnen Haare, sie vergaß das häßliche Kleid und das früh gealterte Gesicht, weil sie in zwei junge, mädchenhafte Augen blickte. Um alles in der Welt, die Frau ist ja höchstens achtundzwanzig Jahre alt, dachte sie erschrocken. Maartje öffnete ihrem Gast die Tür. Offensichtlich war sie als Hausfrau aus dem Konzept gebracht, weil Klaas die neue Lehrerin gleich in die Küche geführt hatte anstatt zunächst in die gute Stube. Hinter dem Ofen im Nebenzimmer steckten kichernd zwei flachshaarige kleine Mädchen. Geertje und Jozina natürlich. Selina ging freundlich zu ihnen hin. »Welche von euch beiden ist 35
Geertje? Und welche Jozina?« Aber da wurde aus dem Kichern ein Quieken. Und schon waren sie wieder hinter dem schützenden Ofen verschwunden. Obwohl der Abend bitter kalt war, brannte in dem schwarzen Ungetüm von Ofen kein Feuer. Das lange, blankgewichste Ofenrohr lief oben über die ganze Brei te des Raumes und verschwand dann in der Decke. Se linas Augen durchwanderten schnell das ganze Zimmer. Auf einem grün gestrichenen Holzuntersatz am Fenster standen ein paar kümmerliche Topfgewächse, an der Wand ein Sofa mit einem faltigen Kattunbezug, daneben drei bauchige Lehnstühle. Über dem Sofa hingen ein paar Kreidezeichnungen holländischer Vorfahren. Ihre hartgeschnittenen Gesichter paßten vorzüglich zu der ganzen Umgebung. Alles war sauber, steif und nichts weniger als schön. Aber Selina nahm es gelassen hin; sie hatte nicht umsonst jahrelang in häßlichen Pen sionszimmern gewohnt. Maartje hatte inzwischen eine Petroleumlampe angezündet. Der Zylinder war genauso blank geputzt wie die Fensterscheiben. Aus dem Wohnzimmer führte eine steile Treppe nach oben in Selinas Schlafzimmer. Sie stiegen in einer richtigen kleinen Prozession hinauf. Voran ging Frau Pool mit der Lampe. Dann folgte Selina mit ihrer Handtasche. Und den Schluß bildeten Jozina und Geertje. Ihre schweren nägelbeschlagenen Schuhe vollführten einen Höllenlärm auf den hölzernen Stufen. Schließlich gelangte man über einen schmalen, dumpfen Korridor in Selinas Schlafzimmer. Darin war es so eisig kalt, daß Selina förmlich zurückprallte. Drei Gegenstände fielen ihr sofort als ungewöhnlich auf. Da war zunächst das Bett, ein wahres Mausoleum aus Nußbaumholz, unförmig groß, aber durchaus nicht häßlich. 36
Es reichte mit seinem geschnitzten Oberende beinahe bis an die Zimmerdecke. Zu diesem prunkvollen Aufbau paßte die Matratze wenig, denn sie war schlecht und recht mit Stroh und Maishülsen gestopft. Aber Frau Pool hatte barmherzig ein dickes Federbett daraufgelegt, und Selina schlief den ganzen Winter hin durch weich und warm wie ein Vogel im Nest. Der zweite auffallende Gegenstand im Zimmer war eine prachtvoll geschnitzte alte Truhe. Ehemals braun, war sie jetzt ganz schwarz vor Alter. Selina hockte sich davor hin und sagte zum zweiten Male an diesem denkwürdigen Tage: »Wie wunderschön!« Aber gleich darauf sah sie ängstlich Maartje an, ob sie am Ende auch lachte wie vorher ihr Mann. Nein, Frau Pool strahlte genau wie Selina selbst. Sie beugte sich mit ihr zusammen über die Truhe und hielt die Lampe so, daß der gelbe Lichtschein auf die vielen Schnörkel und Ranken des geschnitzten Deckels fiel. Mit ihrem Zeigefinger verfolgte sie die kühn geschwungenen Linien. »Sehen Sie? Hier kommen Buchstaben heraus.« Selina bückte sich noch tiefer. »Tatsächlich! Der erste ist ein S.« »Freilich ist es ein S. Das soll Sophia bedeuten. Es ist nämlich eine alte holländische Brauttruhe. Und sehen Sie, hier steht ein K. Und da kommt ein großes D. Das Ganze bedeutet Sophia Kroon DeVries. Die Truhe ist mindestens zweihundert Jahre alt. Ich bekam sie von meiner Mutter, als ich heiratete, und sie bekam sie von ihrer Mutter, als sie heiratete, und die wieder bekam sie von ihrer Mutter ...« »Ich verstehe schon«, entschlüpfte es Selina ungewollt. »Ist denn auch etwas drin - und was? Da hinein gehört doch eigentlich ein altes, vergilbtes Brautkleid?« 37
»Ist ja auch drin«, schrie Maartje triumphierend und schnellte so plötzlich in die Höhe, daß die Lampe gefährlich ins Schwanken geriet. »Nicht möglich!« Und schon knieten die beiden neben einander vor der Truhe und lachten sich wie zwei Schulmädchen gegenseitig an. »Hier, halten Sie doch mal!« Selina bekam die Lampe in die Hand gedrückt. Maartje hob den Truhendeckel in die Höhe und kramte in einem Haufen alten Zeitungspapiers. Schließlich zog sie mit hochrotem Gesicht ein holländisches Mieder heraus und einen weiten seidenen Rock, eine vergilbte Haube mit steif abstehenden gestickten Flügeln und ein Paar hölzerne, über und über geschnitzte Schuhe, die rotbraun gebeizt waren wie die Segel der Vollendamer Fischerboote. Brautkleid, Brauthaube, Brautschuhe - nichts fehlte. »Ach«, schrie Selina begeistert wie ein kleines Mädchen, »darf ich das wohl mal anziehen?« Maartje war über diese Zumutung betroffen. Hastig faltete sie die Kleider zusammen. »Brautkleider darf man nur anziehen, wenn man auch wirklich heiratet. Sonst gibt es ein Unglück.« Und als Selina liebkosend über die starre weiße Seide strich, setzte sie scherzhaft tröstend hinzu: »Aber wenn Sie einen Holländer aus High Prairie heiraten, dann will ich Ihnen die Sachen gerne borgen.« Über diese verrückte Idee mußte sie von neuem lachen. Selina fand, daß sich ihr Lehrerinnenabenteuer verheißungsvoll anließ. Das sollte sie mal ihrem Vater erzählen! Aber ... er war ja tot! Sie schauerte leicht zusammen. Müde stand sie auf. Mit einem Male war sie ganz durchkältet und abgespannt. Wie fremd das doch alles 38
war! Sie hatte die quälende Vorstellung, daß sie gleich in Tränen ausbrechen würde, und blinzelte verzweifelt. Da fielen ihre Augen auf den dritten auffallenden Gegenstand im Zimmer. Es war ein dickbauchiger Zylinder aus schwarzem Eisenblech. Er glänzte genauso tiefschwarz wie unten das lange Rohr im Wohnzimmer. Die beiden mußten irgendwie zusammenhängen. »Was ist eigentlich das?« fragte sie und zeigte auf den unförmigen Gegenstand. Maartje wollte eben hinuntergehen und hatte schon die Lampe auf Selinas kleinen Waschtisch gestellt. »Das ist eine Wärmeröhre«, sagte sie mit augenscheinlichem Stolz. »Eine Wärmeröhre?« »Um Ihr Zimmer zu heizen.« Selina tippte mit dem Finger gegen das schwarze Blech. Es war eiskalt. »Wenn nämlich unten geheizt ist«, fügte Maartje hastig hinzu. In Gedanken verfolgte Selina das Rohr unten im Wohnzimmer. Dort lief es friedlich an der Decke entlang wie ein richtiges braves Ofenrohr. Offenbar war es nur des halb in die Decke gekrochen, um hier oben wieder her auszuquellen. Leider mußte sie die Erfahrung machen, daß die wärmenden Eigenschaften dieser sogenannten Wärmeröhre mystisch waren und blieben. Wenn der Ofen im Wohnzimmer unten noch so gemütlich prasselte, so veränderte sich die Temperatur in ihrem Zimmer auch nicht um einen halben Grad. Ein junges Mäd chen kann gegen einen stürmischen oder unwillkomme nen Liebhaber nicht unempfindlicher sein, als es diese tugendhafte Wärmeröhre gegen den sie umwerbenden Ofen war; sie reagierte auf alle seine Bemühungen mit 39
eisiger Kühle. Diese traurige Tatsache störte Selina in ihren liebsten Gewohnheiten; vorbei war es mit dem stundenlangen nächtlichen Schmökern, vorbei mit dem heißgeliebten Bad am Morgen. Sie mußte froh sein, wenn sie abends gelegentlich einen Krug warmes Wasser bekam, um sich in aller Eile neben der Pseudowärmeröhre gründlich zu waschen. »Maartje«, kam es von unten. Das war der hungrige Herr des Hauses. Gleichzeitig roch es aus der Küche deutlich nach verbrennendem Fett. »Du meine Güte«, schrie Maartje und schlug die Hände überm Kopf zusammen. Weg war sie, die beiden Hängezöpfe fluchtartig hinter ihr drein. Auf dem Korridor wurden Schritte laut und näherten sich der Tür von Selinas Zimmer. Sie hielt beim Auspacken ihrer Reisetasche inne und sah auf der Schwelle einen Zwerg. Unten erblickte sie weiter nichts als ein Paar kurze krumme Beine. Darüber ihren Koffer. Bei näherem Zusehen dann ein faltiges, graubärtiges Gesicht mit ausdruckslosen Augen. Der Zwerg hatte offenbar menschliche Gewohnheiten, denn er stellte sich ihr vor, indem er etwas wie »Jakob Hoogendunk« zwischen den Zähnen murmelte. Er balancierte den Koffer auf seinem Rücken und sah sie von unten herauf fragend an. Sie lächelte ihn freundlich an. »Kommen Sie bitte herein! Hier an der Wand können Sie ihn sehr gut hinstellen, nicht wahr, Herr — Herr Hoogendunk?« Jakob Hoogendunk grunzte etwas Unverständliches, aber sicher Gutgemeintes vor sich hin und humpelte mühsam mit seinen krummen Beinen durchs Zimmer, wobei der Koffer auf seinem Rücken gefährlich schwankte. Schließlich setzte er ihn mit einem hörbaren 40
Plumps nieder und fuhr sich mit dem Handrücken aufatmend über die Nase. »Vielen Dank, Herr Hoogendunk. Ich bin Selina Peake.« In Wirklichkeit war der Zwerg nichts als ein ganz ge wöhnlicher alter Knecht mit gichtverzogenen Gliedern, der unverkennbar nach Mist und anderen schönen Din gen roch. Sie aber sah natürlich sofort einen drolligen kleinen Wichtelmann aus dem Märchen in ihm. Die ko mische Häßlichkeit seines Namens bestärkte sie noch in ihrer lustigen Vorstellung. Sie lachte und streckte ihm die Hand entgegen. Der Alte nahm ihr Lachen nicht übel. Er lachte mit und gab sich alle Mühe, so unbefangen wie möglich auszusehen. Im Grunde aber wand er sich vor Verlegenheit beim Anblick der kleinen weißen Hand, die sich ihm so freundlich entgegenstreckte. Verstohlen wischte er seine eigenen Hände an der Hose ab. Der Erfolg schien ihm jedoch nicht zu genügen, denn er schüttelte treuherzig seinen dicken Kopf. »Ich bin zu schmutzig. Will mich lieber erst waschen.« Damit drehte er sich um und schlurfte hinaus. Selina stand noch mitten im Zimmer und sah ein bißchen ratlos auf ihre ausgestreckte Hand. Seine schweren Holzschuhe klapperten auf der Treppe, als ritte eine ganze Abteilung Kavallerie auf einer gefrorenen Land straße. Wieder allein im Zimmer, schloß Selina ihren Koffer auf und nahm zwei Photographien heraus. Auf der einen war ein freundlich blickender Mann, der den Hut leicht auf das eine Ohr geschoben hatte. Auf der ande ren eine Frau, die man für eine sechs Jahre ältere Selina hätte halten können, wenn nicht das Kinn auf dem Bilde viel weicher gewesen wäre.
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Es war nicht leicht, einen Platz für die beiden ihr so teuren Bilder zu finden. Eigentlich müßte ich sie oben auf die blödsinnige Wärmeröhre stellen, dachte Selina halb im Spaß und stellte sie gleich darauf wirklich dorthin, weil sie keinen besseren Standort finden konnte. Vielleicht würde ihr Jakob Hoogendunk gelegentlich ein kleines Regal für ihre Bücher zimmern, dann konnten auch die Bilder dort stehen. Selina packte, wie alle Frauen, sehr gern aus. Obgleich sie ihren Koffer erst am Morgen zugeschlossen hatte, enthielt er jetzt für sie doch lauter Überraschungen. So bekommen vertraute Gegenstände in neuer Umgebung ein vollständig anderes Gesicht und werden gleichsam neuer und schöner. Sie nahm einen tüchtigen Packen wollener Unterwäsche heraus und die neuen festen Stie fel. Liebevoll strich sie die zerdrückten Falten des weinroten Kaschmirkleides glatt. Sie breitete es in seiner ganzen Pracht auf ihrem Bett aus und war der festen Meinung, daß es ihr niemals ganz schlecht gehen könne, solange sie dieses prachtvolle Kleidungsstück besäße. Es dauerte gar nicht lange, und der Raum sah schon bewohnt und traulich aus. Das Kleid lag als leuchtend roter Fleck noch immer auf dem Bett. Die Photographien standen auf der Röhre. Die Kleider waren bequem an Haken hinter einem schützenden Kattunvor hang untergebracht, und ihre kleine Bibliothek hatte einstweilen auf dem zugeschlossenen Koffer einen ganz annehmbaren Platz gefunden. Unten in der Küche brutzelte es vielversprechend. Selina wusch schnell Gesicht und Hände in dem eiskalten Wasser und ordnete ihre Haare, so gut es vor dem halbblinden Spiegelchen über dem Waschtisch gehen wollte. Dann zupfte sie ihren ehrbaren kleinen Halskragen zu
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recht und strich noch einmal über die Manschetten ihres braunen Tuchkleides. Die enge Taille war vom Hals bis an den Gürtel mit Knöpfen geschlossen. Aber die zarte Schönheit ihres schmalen Kopfes besiegte das steife, unkleidsame Gewand. Die damalige Mode war nach unseren heutigen Begriffen allzu überladen. Daß Selina trotz des unvorteilhaften Kleides immer noch schlank und geschmeidig aussah, war ein vollständiger Triumph des Geistes über die Materie. Sie blies die Lampe aus und stieg die steile Holztreppe hinunter. Die Tür zur Küche war nur angelehnt. Hungrig schnuppernd hob sie die Nase: es gab Schweinefleisch zum Abendessen. Sie kam bald dahinter, daß es jeden Tag Schweinefleisch zum Abendessen gab. Je mehr der Winter fortschritt, um so widerlicher wurde ihr dieses Gericht. Zudem hatte sie früher einmal gelesen, daß die Ernährungsweise mit der Zeit die menschliche Gesichtsbildung entscheidend beeinflusse. Wochenlang beobachtete sie ängstlich ihre Züge in dem kleinen Spiegel: wurde ihre reizende kleine Nase etwa gröber, wurden ihre schönen dunklen Augen nicht schon klein und schief? Aber ihr Spiegelbild beruhigte sie. Einen Augenblick blieb sie noch in der Dunkelheit stehen. Dann stieß sie entschlossen die Küchentür auf. Ein Rauchschwaden kam ihr entgegen. Allmählich unterschied sie runde blaue Augen und ein Gewirr von fremdartig klingenden Lauten. Es roch nach verbranntem Fett, nach Stall und frischgewaschener wollener Wäsche. Jetzt öffnete sich auch die äußere Küchentür, und ein Strom kalter Zugluft trieb die blauen Rauchschwaden in der Küche durcheinander. Ein Junge mit einem Arm voll Holz war von draußen hereingekommen, ein hübscher brünetter Junge mit dunklen Augen, die groß zu 43
Selina herüberschauten. Sie erwiderte seinen Blick, und zwischen der neunzehnjährigen jungen Frau und dem Zwölfjährigen schien ein elektrischer Funke überzuspringen. Das ist bestimmt Rolf, dachte Selina und tat unwillkürlich ein paar schnelle Schritte auf ihn zu. »Mach schnell mit dem Holz«, zeterte Maartje vom Ofen her. Der Junge warf das Holz in den Kasten und klopfte mechanisch Rock und Ärmel ab, ohne die Augen von Selina zu wenden. Offensichtlich war es sein Amt, für den unersättlichen Bauch des Holzkastens zu sorgen. Klaas Pool saß schon am Tisch und pochte ungeduldig mit seinem Messer auf die Platte. »Setzen Sie sich, Fräulein.« Selina zögerte mit einem Blick auf Maartje. Die Frau hielt eine Bratpfanne mit einer Hand hoch in die Luft, während sie mit der anderen ein neues Stück Holz auflegte. Auch die beiden kleinen Mädchen saßen bereits. Auf dem Tisch lagen eine rotgewürfelte Decke und Messer und Gabeln mit Horngriffen. In der äußersten Küchenecke schnaubte und prustete Jakob Hoogendunk wie ein Walroß über einem zerbeulten Waschbecken. Dabei war das Gefäß so klein, daß man gar nicht begriff, wie er sich so geräuschvoll darin waschen konnte. Endlich war er fertig und setzte sich neben Klaas. Rolf stülpte seine Mütze über einen Wandhaken und nahm ebenfalls Platz. Nur Selina und Maartje standen noch immer. »Aber so setzen Sie sich doch, Fräulein«, forderte Klaas Pool sie noch einmal freundlich auf. »Wie war das doch gleich mit dem Kohl?« Er grinste und blinzelte bedeutungsvoll dem Knecht zu. Jakob Hoogendunk wieherte vor Vergnügen, und die beiden Hängezöpfe kicherten um die Wette. Selbst über 44
Maartjes Gesicht huschte ein schwaches Lächeln. Es war klar, daß es Klaas Pool das Herz abgedrückt hätte, wenn er seinen schönen Witz hätte für sich behalten sol len. Nur Rolf blieb ernst. Selina machte gute Miene zum bösen Spiel und setzte sich lächelnd an den Tisch, obwohl ihr das Blut in die Wangen stieg und ihr eigentlich gar nicht zum Lachen zumute war. Maartje stellte eine große Schüssel mit Bratkartoffeln und eine Platte mit gesalzenem Schweinefleisch auf den Tisch. Brot stand zum allgemeinen Zulangen in unförmig dicken Scheiben daneben. Dazu gab es Selbstgebrannten Kornkaffee ohne Milch und Zucker. Von allem war reichlich da. Selina mußte an das Essen bei Frau Trebbit denken. Selbst an den berüchtigten Montagabenden war es gegen diese Mahlzeit hier lukullisch gewesen. Sie hatte großen Hunger, aber sie brachte nur mit Mühe und Not ein paar Bissen hinunter. Sie schnitt das Fleisch so klein wie möglich und schluckte es, ohne zu kauen. Sie war über sich selber wütend und schalt sich heimlich eine wählerische Zimperliese. Wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt saß sie im gelben Lampenlicht unter den fremden Menschen und würgte tapfer das ungewohnte Essen hinunter. Ihre Blicke gingen dabei von einem zum ändern. Sie beobachtete die ruhelos zwischen Herd und Tisch umhergehende Frau und den hübschen Jungen mit den aufgesprungenen roten Händen und den schwermütigen Augen, die pausbäckigen kleinen Mädchen und ihren breitschultrigen Vater mit den vollen Lippen in dem roten Gesicht, den gierig schlingenden Jakob Hoogendunk nicht zu vergessen. Zum mindesten ist es anders, als ich mir's vorgestellt habe, dachte sie. Das Ganze nennt sich Gemüsefarm,
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aber kein Mensch ißt Gemüse. Warum eigentlich nicht? Wie jammerschade, daß sie sich in ihrem Aussehen so gehen läßt. Wenn sie auch eine Farmersfrau ist und auf dem Lande lebt, so sollte sie doch ihre Haut pflegen und ihre Haare nicht so garstig zusammendrehen. Was hat sie bloß für ein schauderhaftes Kleid an! Das muß ja den hübschesten Menschen entstellen. Der Junge paßt überhaupt nicht in die Familie. Er wirkt ganz fremdländisch, beinahe wie ein Italiener. Bilde ich es mir ein, oder reden sie wirklich so komisch? Alle sprechen durch einander, und was sie für seltsame Sätze drechseln! Ich glaube wirklich, sie übersetzen erst alles aus dem Holländischen ! Nach dem Essen lehnten sich die Männer gemütlich mit ihren Pfeifen in ihren Stühlen zurück. Maartje deckte den Tisch ab, Geertje und Jozina halfen ihr mit viel Ge schrei und wenig Erfolg. Jakob Hoogendunk führte das Wort. »Man muß eben guten Humusboden haben, sonst kriegt man lauter jäm merliches, holziges Zeug. Davon hat es am Freitag auf dem Markt gerade genug gegeben. Gemüse bleibt Ge müse; von dem neumodischen Zeug halt' ich gar nichts. Sellerie! Was heißt Sellerie! Das ist kein Gemüse und ist auch kein Kraut. Denkt nur an Vorheer. Der hat allein anderthalb Zentner Natronsalpeter in sein Land gesteckt; den natürlichen Dünger wollen wir gar nicht rechnen. Und was ist dabei 'rausgekommen? Lauter kümmerliches, holziges Zeug. Man muß eben guten Humusboden haben!« Selina horchte auf. Bisher hatte sie immer gedacht, Ge müse wüchse von selbst. Man brauchte nur den Samen oder besser noch gleich die Pflanzen in die Erde zu stek ken, dann kämen Kartoffeln, Kohl, Zwiebeln, Mohren 46
und Rüben hervor. Wozu in aller Welt brauchte man dabei Natronsalpeter? Wahrscheinlich bestand zwischen ihm und dem Trebbitschen Schmorkohl doch irgendein geheimnisvoller Zusammenhang, und sie hatte bisher nur noch nichts davon gewußt. Sie beugte sich voller Interesse vor. »Was ist natürlicher Dünger?« Klaas Pool und Jakob Hoogendunk starrten sie sprach los an. Selina hielt tapfer ihrem Blick stand, nichts als Wißbegier in ihren hübschen klugen Augen. Klaas schob mit einem Ruck den Stuhl zurück, machte die Ofentür auf und spuckte in die Asche. Darauf machte er den Ofen ebenso umständlich und nachdrücklich wieder zu. Vielsagend blinzelte er Hoogendunk zu. Der Knecht zwinkerte bedeutungsvoll zurück. Dann wandten sie sich beide der kühnen Fragerin zu, die ein Gespräch zwischen Männern zu unterbrechen gewagt hatte. Pool nahm die Pfeife aus dem Mund, blies eine dünne Rauch wolke in die Luft und fuhr sich mit der Hand über die Lippen. »Natürlicher Dünger ist — natürlicher Dünger.« Hoogendunk nickte feierlich Beifall. »Ja, aber was ist denn drin?« beharrte Selina. Klaas machte eine Bewegung mit seiner großen Hand, als wolle er ein lästiges Insekt verscheuchen. Er sah Maartje an. Aber Maartje hatte nur Sinn für ihre Arbeit. Geertje und Jozina waren längst hinter dem Ofen in eines ihrer Lieblingsspiele vertieft. Rolf saß und las in einem dicken Buch. Seine Hand lag zerschunden auf dem Tischtuch. Mit Verwunderung stellte Selina fest, daß er ungewöhnlich lange, schmale Finger mit gut ge formten Nägeln hatte, die freilich durch viele schwere Arbeit arg mitgenommen waren. »Aber was ist denn drin?« wiederholte sie ihre Frage. Plötzlich unheimliche Stille, als ginge ein Engel durch 47
die Küche. Beide Männer runzelten die Stirn; Maartje vor ihrer Aufwaschschüssel drehte sich halb herum; die beiden Mädchen schielten hinterm Ofen hervor, und auch Rolf sah von seinem Buch auf. Selbst der Schäferhund, der vor dem Ofen lag und schlief, streckte unvermittelt die Zunge heraus und blinzelte schläfrig mit einem Auge. Nur Selina selbst hatte keine Ahnung von der Wirkung ihrer Frage und wartete immer noch unschuldig auf Antwort. Woher hätte sie denn auch wis sen sollen, daß die Frauen in High Prairie niemals ohne weiteres die gewichtige Unterhaltung der Männer unter brechen durften! Jakob und Klaas starrten sie voll schweigender Mißbilligung unverwandt an. Ihr wurde nachgerade etwas unbehaglich zumute. Da erhob sich Rolf und ging zu dem Schrank in der Küchenecke. Er nahm ein dickes, grün eingebundenes Buch heraus und gab es Selina. Das Buch roch abscheulich. Sein Einband war vom häufigen Gebrauch ganz fettig geworden. Die Seitenränder zeigten deutliche Spuren von unsauberen Fingern und waren braun und abgegriffen. Auf der Seite, die Rolf aufgeschlagen hatte, stand folgendes: Guter Dünger für Obst- und Handelsgärten Und darunter: Natronsalpeter, Ammoniumsulfat, getrocknetes Blut Sie machte das Buch zu und gab es mit spitzen Fingern zurück. Getrocknetes Blut! Sie starrte die beiden Män ner an. »Was heißt das, getrocknetes Blut?« Klaas antwortete halsstarrig: »Getrocknetes Blut - ist getrocknetes Blut. Man tut es in die Felder und düngt den Kohl damit. Und Zwiebeln und Kürbisse.« Er sah in ihr entsetztes Gesicht und grinste schadenfroh. 48
»Na, finden Sie Kohl jetzt immer noch wunderschön?« Selina stand auf. Sie war nicht etwa beleidigt, aber sie hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, allein zu sein. Sie sehnte sich nach ihrem stillen Zimmer mit dem gro ßen Nußbaumbett, der nicht wärmenden Wärmeröhre und der märchenhaften Brauttruhe und begriff nicht, daß sie sich noch vor einer Stunde von dort fortgewünscht hatte. Jetzt erschien es ihr wie ein unendlich begehrenswerter Zufluchtsort. Sie wandte sich an Frau Pool: »Ich ... ich möchte jetzt gern hinaufgehen. Ich bin sehr müde. Es war ja auch eine lange Reise. Ich bin nicht daran gewöhnt ...« Ihre Stimme wurde immer leiser. »Gewiß«, war Maartjes kurzeAntwort. Sie war endlich mit Abwaschen fertig. Aber schon holte sie sich eine große Schüssel, Mehl und ein Backbrett. »Gehen Sie nur hinauf. Ich muß meinen Brotteig ansetzen und habe auch sonst noch zu tun.« »Kann ich vielleicht ein bißchen heißes Wasser bekommen?« »Rolf, hör gefälligst mit Lesen auf und zeige der Lehrerin, wo das heiße Wasser ist. Geertje, Jozina! Was fällt euch heute bloß ein! So was ist ja noch nicht dagewesen!« Und schon hatte Geertje einen gehörigen Puff weg. Ein Wehgeheul erschallte. Selina zitterte vom Kopf bis zu den Füßen. Wäre sie nur schon draußen! Inzwischen hatte Rolf ein altes Zinnkrüglein vom Haken genommen und hinten am Herd einen eisernen Dekkel hochgehoben. Eine Wolke von Wasserdampf stob heraus. Er tauchte das Gefäß in den winzig kleinen Wasserbehälter, der dort zum Vorschein gekommen war. Selina griff nach dem Krug, aber der Junge kam ihr zuvor. Noch ehe sie ein Wort hätte sagen können, hörte sie ihn mit schnellen Schritten die Treppe hinauf eilen. 49
Sie wäre ihm gern gefolgt. Aber vorher mußte sie unbedingt wissen, in was für einem Buch er die ganze Zeit so eifrig gelesen hatte. Zwischen ihr und dem Buch auf dem Tisch befanden sich jedoch eine ganze Reihe von Hindernissen: Klaas Pool, Hoogendunk, der Hund, die beiden Mädchen und Maartje. Schließlich faßte sie sich ein Herz und zeigte mit dem Finger auf den grünen Band. »Was ist das für ein Buch, in dem Rolf gelesen hat?« Maartje warf einen großen Teigklumpen auf das Brett. Ihre Arme waren mehlbestäubt. Mit geübten kräftigen Griffen bearbeitete sie die Brotmasse. »Ein Woordenboek. Ein Woordenboek! Langsam dämmerte ihr die Bedeutung des holländischen Wortes. Aber das konnte doch wohl nicht stimmen. Sie ging rasch an den beiden Män nern vorbei, die ihr willig Platz machten, stieg mit einem großen Schritt über den schlafenden Hund hinweg und langte über den Tisch. Woorden = Wörter. Boek = Buch. »Wörterbuch!« »Er liest im Wörterbuch«, entfuhr es Se lina laut. »Er liest tatsächlich in einem Wörterbuch.« Sie war nahe daran, laut loszulachen, und hätte doch zu gleicher Zeit weinen mögen. Frau Pool sah auf. »Rolf hat es voriges Jahr im Frühjahr von seinem Lehrer zum Abschied geschenkt bekommen. Es ist ein sehr gutes Wörterbuch, und es stehen mehr als hunderttausend verschiedene Wörter darin.« Selina brachte mit Mühe ein undeutliches »Gute Nacht« hervor und lief die Treppe hinauf. Rolf sollte alle ihre Bücher bekommen. Sie wollte ihr ganzes Monatsgeld für Bücher ausgeben und sie alle Rolf schenken. Er hatte nichts weiter als ein Wörterbuch! Rolf hatte den Krug mit heißem Wasser auf den kleinen
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Waschtisch gestellt und die Petroleumlampe angezün det. Zum erstenmal sah ihn Selina aus der Nähe und stellte mit Erstaunen fest, daß er eigentlich noch ein kleiner Junge war. Unten in der überfüllten Küche hatte er ganz männlich ausgesehen. Jetzt, da der helle Lam penschein sein Profil klar hervortreten ließ, merkte sie, daß Wangen, Mund und Kinn noch kindlich weich wa ren. Ungeschickte Hände hatten einfach ein Paar Män nerhosen für ihn abgeschnitten; sie waren ihm viel zu weit und schlotterten um seine dünnen Schenkel. Er ist wirklich noch ein ganz kleiner Junge, dachte Selina be stürzt. Gesenkten Kopfes wollte er an ihr vorüber zur Tür gehen. Sie aber streckte die Hand aus und berührte vor sichtig seine Schulter. Da sah er zu ihr auf. Und sie erschrak beinahe vor der Lebendigkeit in seinem Gesicht und vor dem Glanz seiner Augen. Jetzt fiel ihr auch ein, daß sie ihn bisher überhaupt noch nicht hatte sprechen hören. Ihre Hand lag noch immer leicht auf seinem Arm. »Kohl... Kohlfelder ... was Sie gesagt haben... sie sind wirklich wunderschön«, stammelte er. Es war ihm heiliger Ernst. Ehe sie ein Wort erwidern konnte, war er draußen und stürzte die Treppe hinunter. Selina aber stand noch immer an demselben Fleck und schaute ihm nach. Ihr Herz war plötzlich warm und froh, und das trostlose Gefühl von Verlassenheit war verschwunden. Vergnügt planschte sie in der viel zu kleinen Waschschüssel. Leise vor sich hinsummend löste sie ihre weichen dunklen Haare und schlüpfte in ihr langärmeliges, hochgeschlossenes Nachthemd. Ihr letz ter Blick, ehe sie die Lampe ausblies, galt dem schwarzen Ofenungetüm, das wie ein geduldiger Haremswächter in der Ecke stand. Jetzt konnte sie schon darüber lachen.
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Aber kaum lag sie im Dunkeln in ihrem unförmigen Bett, als das beklemmende Gefühl der Verlassenheit sie von neuem überfiel. Ach, es war Nacht, und sie war in einem fremden Hause unter lauter fremden Menschen. Wie ein erschreckter kleiner Vogel lag sie bis an die Nasenspitze zugedeckt und lauschte mit weit aufgerissenen Augen angstvoll in die Dunkelheit. Durch das offene Fenster wehte die frische Novemberluft herein; roch sie nicht nach getrocknetem Blut? Sie schauderte entsetzt zusammen. Von unten kamen Geräusche: Stimmen, rauh und schrill. Schließlich verstummte das Sprechen. Andere Laute wurden lebendig, die sie in der Stadt noch nie des Nachts gehört hatte: ein Hund fing an zu bellen, ein anderer antwortete. In der Ferne pfiff ein Zug. Pferdehufe stampften dumpf gegen den Scheunenboden. Der Wind heulte in den kahlen Bäumen vor ihrem Fenster. Unter dem Kopfkissen tickte getreulich ihre Taschenuhr. Simeon Peake hatte sie ihr zum achtzehnten Geburtstag geschenkt. Nach dieser geliebten kleinen Uhr tastete Se lina in der Dunkelheit und hielt sie tröstend an ihre Wange. Sie wußte genau, daß sie in dieser Nacht kein Auge zutun würde. Sie wußte genau ... Als sie erwachte, dämmerte es gerade. Ein klarer, kalter Novembermorgen. Von unten her tönten Kinderstimmen; Pferde wieherten, überall rief und pfiff es. Bis nach oben roch es nach gebratenem Speck. Im Hühner hof gluckste und quakte es durcheinander. Es war sechs Uhr. Selinas erster Tag als Lehrerin in High Prairie! In zwei Stunden würde sie ein ganzes Zimmer voll rund äugiger Geertjes und Jozinas und Rolfs vor sich haben. Es war zum Verzweifeln kalt im Schlafzimmer, und es gehörte ein gewaltiger Mut dazu, die Bettdecke beiseite
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zu werfen. Überhaupt stellte Selina fest, daß man zu diesem Leben einen mühseligen Anlauf nehmen mußte. Und da hatte Simeon Peake von einem großartigen Abenteuer gesprochen.
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Den ganzen November hindurch war es jeden Morgen dasselbe. Früh um sechs Uhr rief es von unten: »Fräu lein Peake! Fräulein Peake!« »Ich bin schon auf«, schrie Selina mit klappernden Zähnen krampfhaft fröhlich zurück. »Kommen Sie doch lieber herunter, und ziehen Sie sich neben dem warmen Ofen an!« Durch das vergitterte Loch im Fußboden, da wo sich das Ofenrohr aus dem Wohnzimmer so protzig zu der Wärmeröhre verdickte, konnte Selina undeutlich Frau Pool erkennen, die unten stand und zu ihr hochsah. Als diese freundliche Aufforderung zum erstenmal an Selina ergangen war, schwankte sie zwischen Entsetzen und Belustigung. »Ich friere wirklich nicht. Außerdem bin ich schon beinahe fertig. Ich komme sofort hinunter.« Wahrscheinlich hatte Maartje Pool Selinas Stimme etwas angemerkt. »Pool und Jakob sind schon lange hinaus aufs Feld. Hier hinter dem Ofen sind Sie ungestört.« Selina zitterte am ganzen Körper vor Kälte, aber sie wollte keinesfalls nachgeben. Die eigensinnige kleine Linie am Kinn trat noch schärfer hervor als sonst. »Fällt mir ein«, murmelte sie mit klappernden Zähnen, »hinter den warmen Ofen zu kriechen und mich dort wie 53
die Bauern in den schauderhaften russischen Romanen anzuziehen ... Sei nicht hochnäsig, Selina ... Pools sind so nett und anständig ... aber mit einem Packen Wäsche und Kleidern unterm Arm verkrieche ich mich trotzdem nicht hinterm Ofen ...« Geertje und Jozina kannten solche jungfräulichen Bedenken nicht. Jeden Morgen rafften sie schleunigst ihre kleinen wollenen Röckchen zusammen und flohen eiligst in die warme Küche. Dabei lag ihr Schlafzimmer direkt neben dem Wohnzimmer und war beileibe nicht so eisig wie Selinas feuchtkalte Kammer. Und überdies schliefen die beiden seelenvergnügt in den warmen Kleidungsstücken, die sie auch am Tage unmittelbar auf dem Kör per trugen, und hatten sich morgens nur mit einem ganzen Haufen wollener Unterröckchen, mit Strümpfen und Überstrümpfen herumzubalgen. Und mit allerlei heimtückischen Strippen, Bändern und Haken. Ihre Hemden waren unbarmherzig kratzig und hart: die härenen Hemden der ersten Märtyrer waren flaumweich dagegen. In High Prairie zog sich jedermann hinter dem warmen Ofen an und fand nicht das geringste dabei. Im Dezember wurde es noch schlimmer. Um sechs Uhr war es natürlich noch stockfinster. Selinas reizende, sonst so alabasterweiße kleine Nase war über Nacht von demselben Zauberpinsel rot angestrichen worden, der das Schlafzimmerfenster über und über mit zierlichen Palmwedeln, gezackten Farnkräutern und prachtvollen silbernen Blumen bemalt hatte. Zoll für Zoll kroch die Kälte vom Fenster her tiefer herein. Schließ lich protestierten auch Pools gegen den eisigen Luftzug, der über die offene Treppe bis zu ihnen herunterwehte und sogar in ihr hermetisch verschlossenes Schlafzimmer drang. 54
Fast jeden Morgen war das Wasser im Krug eingefroren. Schon abends zuvor legte Selina sich ihre Kleider so zurecht, daß sie am Morgen möglichst schnell hineinschlüpfen konnte, aber sie waren mörderisch kalt. »Hinter den Küchenherd krieche ich trotzdem nicht«, schwor sich Selina und betrachtete wütend die Karikatur von einem Ofen in ihrem Zimmer. Noch nach vielen Jahren standen Öfen in ihrer Erinne rung an den Winter in High Prairie an erster Stelle. Und nicht ohne Grund, denn ein Ofen sollte in ihrem Leben noch eine große Rolle spielen. Vom ersten Tage an war der Schulofen ihr Sorgenkind. Stets ragte der schwarze Ofentyrann groß und drohend aus dem Wirrwarr dieses ersten Schuljahres hervor. Von der Poolschen Farm bis zur Schule war es über eine halbe Meile Wegs. Selina lernte die Landstraße in jeder Verfassung kennen: bei lebensgefährlichem Glatteis, halb verweht im Schnee und bei trostlosem Regen mit riesigen Schmutzpfützen. Schon nach ihrer ersten Schulwoche hatte es Selina heraus, wie sie das Rechenexempel ihres morgendlichen Aufstehens auf den kleinsten Generalnenner bringen konnte. Um sechs Uhr hieß es heraus aus dem Bett und Hals über Kopf hinein in die eiskalten Kleider. Hastig schlang sie ihr Frühstück hinunter: Brot, Käse, manchmal ein Stück Speck und den unvermeidlichen Kornkaffee ohne Milch und Zucker. Dann fuhr sie in Mantel, Fäustlinge, Mütze, Schal und Gummischuhe. Und nun hinaus auf die Landstraße, dem eisigen Präriewind entgegen, der ihr die Tränen in die Augen trieb, durch fußhohe Schneewehen hindurch. Bei klarem Frostwetter konnte man auf den harten Gleisen und gefrorenen Furchen entlangschlittern. 55
Aber ihre Gedanken waren in Sonnenschein oder Regen, in Wind oder Schnee schon bei dem greulichen Schulofen. An der Schultür ging der Kampf mit dem riesigen verrosteten Schlüssel los. Endlich sprang die Tür auf. Der typische Schulgeruch schlug ihr entgegen und nahm ihr fast den Atem. Es roch nach kalter Asche, nach Petroleum und schlecht gewaschenen Kin dern; nach Mäusen, Staub und Kreide; nach Brennholz, Frühstücksresten und ähnlichen Dingen. Mit Todesverachtung stürzte sich Selina hinein und zog noch im Gehen Schal und Handschuhe ab. Im Vorraum stand ein Kasten mit dicken Holzkloben und ein zweiter mit trockenen Maishülsen. Daneben eine Kanne mit Petroleum. Die Maishülsen dienten als Feueranzünder. Man tunkte ein Dutzend oder noch mehr in Petro leum und stopfte sie in den dickbauchigen Ofen hinein. Dann hielt man ein Streichholz darunter, und schon flammten die Maishülsen auf. Nun mußte man schnell ein kleines Stück Holz auflegen, ein zweites flog zur Gesellschaft hinterher. Alle Zug- und Luftklappen auf. Rauch, atemlose Spannung: wird's oder wird's nicht? Eine Flamme leckte um sich. Dann knackte und knisterte es. Das Holz war angegangen. Nun konnte man schon ein großes Stück Holz darauf werfen. Nach einer Weile noch eins. Und nun zu mit der Tür. Gottlob! Für heute brannte der Schulofen. Ganz allmählich taute das Zimmer auf, und Selina legte nach und nach ihre Oberkleider ab. Als nach einer kleinen halben Stunde die ersten Kinder kamen, konnte man es schon im Schulzimmer aushaken. Natürlich brieten die Kinder, die nahe am Ofen saßen, und die in der Nähe der Fenster froren. Je mehr sich das Zimmer erwärmte, um so unerträglicher wurde den 56
armen Kindern ihr kratziges wollenes Unterzeug. Die ganze Klasse fing an, sich zu jucken, und saß nicht einen Augenblick mehr still. Selina war einfach in Ver zweiflung. Sie hatte es sich so wunderhübsch ausgedacht, mit wieviel Würde und Langmut sie ein ganzes Zimmer voll engelhaft artiger holländischer Kinder in die Grundbegriffe der Schulweisheit einführen würde. Wo aber nimmt man Würde und Langmut her, wenn man selber qualvoll an Frostbeulen leidet? Jedes Kind im Zimmer empfand genau den gleichen unerträglichen Juckreiz an Zehen und Hacken. Selina saß an ihrem schäbigen kleinen Tisch oder ging im Zimmer auf und ab. Wenn es der Wind zu toll trieb oder der Ofen seinen störrischen Tag hatte, nahm sie ihren schwarzwol lenen Schal um und sah in diesem dunklen Kleidungsstück noch blasser aus als gewöhnlich. Ihre Hände waren längst genauso rauh und aufgesprungen wie die ihrer Schüler. Das älteste ihrer Schulkinder war dreizehn, das jüngste viereinhalb. Von halb neun Uhr morgens bis nachmittags um vier kommandierte Selina dieses jammervolle Häufchen: ein erbärmlich geheiztes Zimmer voll halbverschlafener, niesender, hustender, sich unaufhörlich juckender Kinder. »Aggie van der Sijde, zerlege den Satz: Der Erdboden ist naß, weil es geregnet hat.« Aggie van der Sijde, elf Jahre alt, warf den Hängezopf nach hinten und erhob sich mit fliegendem Röck chen. »Erdboden ist Subjekt, ist naß Prädikat, weil...« Selina setzte ihr schönstes Lehrerinnengesicht auf und hörte ermutigend und beifällig zu. »Jan Snip, zerlege den Satz: Die Blume welkt, wenn man sie pflückt.« In braunem Leinwandkleid und schwarzem Wollschal, 57
die Kreide in der Hand, so stand sie vor ihren Schülern. Nur eine Phase, ein kurzes Kapitel ihres Lebens. Das große Abenteuer, das Wunder war gewiß schon unter wegs. Das Leben wartete auf sie! In fünf Jahren, in zwei - womöglich schon in einem würde sie vielleicht an so einem kalten Wintermorgen unter einer seidenen Daunendecke und auf spitzenbesetztem Kopfkissen er wachen. Weiche, rosafarbene Vorhänge würden das Tageslicht nur gedämpft hereinfallen lassen. (So ähnlich hatte sie es unzählige Male in Romanen gelesen.) »Wie spät ist es, Celeste?« »Eben elf Uhr, gnädige Frau.« »Erst!« »Wünschen gnädige Frau gleich ihr Bad, oder wollen gnädige Frau noch etwas ruhen?« »Bringen Sie mir erst meine Schokolade, Celeste. Ich bade später. Geben Sie mir meine Briefe herein ...« »Und wenn ist das Bedingungswort...« Gleich zu Beginn des Winters war Selina auf die unglückliche Idee verfallen, in jeder Pause die zugefrorenen Schulfenster für ein paar Minuten öffnen zu lassen und mit den Kindern Freiübungen zu machen. Im Handumdrehen war die Luft im Zimmer frisch, waren die Köpfe klar und die Glieder erholt. Wild wogten die vielen kleinen Arme durch die Luft, die kurzen Beine flogen auf und ab, und für ein paar Augen blicke war das ganze Zimmer voller Leben und Bewegung. Am Ende der Woche aber erhoben mindestens zwanzig Elternpaare mündlich oder schriftlich energischen Protest. Jan und Cornelius, Kathrina und Agathe gingen in die Schule, um lesen, schreiben und rechnen zu lernen, aber nicht um sich im Winter bei offenem Fenster den Tod zu holen.
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Bei Pools hatte man mit der Winterarbeit begonnen. Klaas fuhr nur noch einmal in der Woche mit Wintergemüse nach Chikago. Im übrigen mußten Kartoffeln, Kohl und Rüben in Mieten untergebracht, mußten Zäune ausgebessert, Kästen für die ersten Frühlingspflanzen gezimmert und Samen aussortiert werden. Rolf hatte Selina das Feueranmachen in der Schule beigebracht. Er hatte sie auf ihrem ersten Schulweg begleitet und den Ofen für sie instand gesetzt, die Was serpfanne gefüllt und sie in die Geheimnisse von Maiskolben, Petroleum und Luftklappen eingeweiht. Selina hatte den stillen, schüchternen Jungen vom ersten Tage ins Herz geschlossen und gab sich viel Mühe, seine Freundschaft zu gewinnen. »Rolf, ich habe oben ein herrliches Buch. Es heißt >Ivanhoe<. Willst du's mal lesen?« »Gern, aber ich habe leider wenig Zeit.« »Du kannst es behalten, solange du willst. Es bleibt ja im Hause. Und wenn du damit fertig bist, habe ich noch eins. Es heißt »Die drei Musketieren« Er gab sich die größte Mühe, seine Freude zu verbergen und so gleichgültig und ungerührt auszusehen wie die Leute, von denen er abstammte. So viel stand für Selina fest, daß einer seiner holländischen Vorfahren, ein Fischer oder ein Matrose, in längst vergangener Zeit nach einem spanischen oder italienischen Hafen verschlagen worden war und sich von dort eine Frau mitgebracht hatte. Deren Augen und Haut und deren Schönheitssinn hatten Generationen braver Niederländer übersprungen, um endlich bei diesem nachdenklichen, feinfühlenden Jungen wieder zum Vorschein zu kommen. Selina hatte mit Jakob Hoogendunk wegen eines Re 59
gals für ihre Bücher und Bilder gesprochen. Er hatte ihr ein paar grobe Bretter reichlich plump zusammengenagelt; schließlich aber war es besser als nichts. Als Selina eines Nachmittags im Schneegestöber nach Hause kam, war das Regal verschwunden. An seiner Stelle stand ein anderes, glatt poliertes mit kunstvoll geschnitzten Konsolen. Rolf hatte es in vielen fleißigen Abendstunden für sie gezimmert. Neben der Küche hatte er eine kleine, zugige Werkstatt mit allen möglichen Geräten. Am Tage arbeitete er wie ein Erwachsener in Hof und Feld, und wenn am Abend alle anderen längst im Bette lagen, konnte man ihn noch stundenlang hämmern und sägen hören. Für Geertje und Jozina hatte er ein Puppenhaus gemacht, das den Neid aller anderen kleinen Mädchen erregte. In Klaas Pools Augen waren das alles Narrheiten. Rolf sollte in seiner Werkstatt Blumenkästen und Mistbeetrahmen machen. Aber der Junge hatte Besseres im Sinn. Sooft es anging, ließ er seine langweilige Arbeit liegen und beschäftigte sich nach seiner eigenen Phantasie, sehr zum Ärger seines Vaters, der sich ständig über die »Albernheiten« seines Sohnes aufregte. In High Prairie hielt man den jungen Pool, gelinde gesagt, für etwas merkwürdig. Er wußte wohl manchmal selber nicht, was er sagte. Sein gottloses Urteil über die neue holländisch-reformierte Kirche zum Beispiel hatte geradezu Aufsehen erregt. Als man den pompösen gelben Backsteinbau mit den grellgelben Kirchenstühlen endlich einweihte, als der Reverend Vaarwerk zur feierlichen Festpredigt aus Neu-Haarlem gekommen und ganz High Prairie voll berechtigten Stolzes versammelt war, hatte dieser unverschämte Bengel wahrhaftig zu ein paar Freunden ganz laut gesagt, er würde die Kirche 60
eines Nachts bestimmt anstecken. Es werde einem übel, wenn man sie ansehe. Eigenartig war der Junge auf jeden Fall. Selina hatte keine große Menschenkenntnis, aber soviel sah sie doch, daß sich hier etwas ganz Besonderes entwickelte, daß etwas in dem Jungen steckte, das sorgfältig gepflegt und gefördert werden sollte. »Rolf, laß endlich die Dummheiten sein und hole deiner Mutter lieber Holz herein. Was hast du nur ewig über diesem Unsinn zu hocken! Mache erst deine Blumenkästen fertig. Ich werde dir schon noch deine Dummheiten austreiben, mein Junge!« Rolf nahm die Drohung nicht tragisch. Er hielt wohlweislich den Mund und kehrte bei der ersten Gelegen heit zu seiner eigenen Beschäftigung zurück. Maartje und Klaas Pool waren durchaus keine unfreundlichen, hartherzigen Menschen. Sie wußten nur nichts Rechtes mit dem seltsamen Jungen anzufangen, den sie, unerklärlich genug, in die Welt gesetzt hatten. Irgendwelche sichtbaren Zärtlichkeitsbeweise waren ihrer verschlossenen Natur fremd. Zarte Regungen wollten in ihrem harten Dasein nicht recht gedeihen. Und schließlich wa ren sie eben Niederländer, phlegmatische, zurückhaltende Charaktere seit Generationen. Klaas kam vor lauter Arbeit in Feld und Hof kaum zur Besinnung. Und Maartje ging vollständig in der Tretmühle ihres Hausfrauenberufes unter. Den ganzen Tag mußte sie kochen, schrubben, waschen und stopfen. Im Sommer stand sie um vier, im Winter um fünf Uhr auf. Abends fiel sie lange nach allen anderen todmüde in ihr Bett. Selina sah sie niemals einem ihrer Kinder einen Kuß geben. Aber eines Tages überraschte sie Frau Pool dabei, wie sie auf einem ihrer zahllosen Gänge zwischen 61
Herd und Tisch zärtlich durch Rolfs dichten schwarzen Haarschopf fuhr, wie ihre Hand liebevoll unter sein Kinn faßte und sie ihm voll tiefer Zärtlichkeit in die Augen blickte. Ganz flüchtig war die Bewegung und beinahe verlegen, aber eine ganze Welt von Liebe lag darin. Manchmal wandte sie sich sogar gegen Klaas, wenn er Rolf auszankte. »Laß doch den Jungen in Ruhe, Klaas. Er tut doch nichts Unrechtes.« Sie hat ihn von allen ihren Kindern am liebsten, dachte Selina. Sie würde sich gern mit ihm beschäftigen und ihn zu verstehen suchen, wenn sie nur Zeit dazu hätte. Die Bücher, die sie ihm geliehen hatte, verschlang er gierig und hatte sich im Handumdrehen durch ihren kleinen Vorrat hindurchgelesen. Nach dem Abendessen verschwand er meistens gleich in seine kleine Werk statt. Selina nahm Maartjes alten Schal vom Wand haken und leistete ihm Gesellschaft. Stundenlang saß sie neben ihm, während er hämmerte und sägte, unter hielt sie sich mit ihm, soweit es der Lärm seiner Werk zeuge zuließ, oder las ihm vor. Sie wandte ihre ganze Beredsamkeit an und sprühte vor Laune und guten Ein fällen, um den zurückhaltenden und weit über seine Jahre ernsthaften Jungen zum Reden zu bringen. Und sie war ordentlich stolz, wenn er auftaute und sein Gesicht einen strahlend lebendigen Ausdruck annahm. Oft er schien Maartje Pool auf der Schwelle, wenn sie zusam men laut und herzlich lachten. Sie blieb ein Weilchen stehen und lächelte den beiden freundlich, aber ver ständnislos zu. Beide Arme hatte sie zum Schutz gegen die Kälte in ihre blaue Küchenschürze gewickelt. »Na, ihr seid ja recht fidel!« »Kommen Sie doch herein, Frau Pool! Da, ich mache
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Ihnen Platz auf der Kiste. Und gebe Ihnen auch die Hälfte von meinem Schal ab. Aber Sie müssen mit lachen!« »Du heiliger Himmel! Als wenn ich nichts Besseres zu tun hätte!« Und schon war sie wieder draußen. Immer langsamer glitt Rolfs Hobel über das spiegelblanke Eichenbrett. Schließlich hörte er ganz zu arbeiten auf und wickelte sich nachdenklich einen Hobelspan um den Finger. »Wenn ich groß bin und eine Menge Geld verdiene, dann kaufe ich meiner Mutter ein seidenes Kleid. So eins, wie ich's in der Stadt im Schaufenster gesehen habe. Das muß sie alle Tage anziehen, nicht nur am Sonntag. Und dann soll sie darin in einem Lehnstuhl sitzen und Handarbeiten machen wie die Witwe Paarlenberg.« »Und was willst du noch tun, wenn du groß bist?« Sie war neugierig und erwartete eine ganz besondere Antwort. »Dann will ich ganz allein mit dem Wagen auf den Markt fahren.« »Aber Rolf!« »Jawohl, das tue ich ganz bestimmt. Ich bin schon dreimal dort gewesen, zweimal mit Jakob und einmal mit meinem Vater. Sobald ich siebzehn oder achtzehn Jahre alt bin, kann ich schon ganz allein fahren. Nachmittags um fünf Uhr fährt man los und ist etwa um neun Uhr auf dem Heumarkt. Man bleibt die ganze Nacht im Freien und schläft auf dem Wagen. Die Gaslampen brennen. Und die Männer würfeln und spielen Karten. In aller Frühe, so gegen vier Uhr, muß man sich fertigmachen, denn dann kommen gleich die Käufer. Das ist großartig!« »Rolf!« Sie war unsagbar enttäuscht. 63
»Ich werde Ihnen etwas zeigen.« Eifrig kramte er in einer staubigen alten Schachtel und brachte ihr hochrot und verlegen ein Stück zerfetztes braunes Packpapier, worauf er in groben Zügen, aber ungeheuer ausdrucks voll eine Skizze entworfen hatte. Selina erkannte sofort den Heumarkt in Chikago: hochbeinige Pferde und schwerbeladene Gemüsekarren, dazwischen Männer in blauen Schurzfellen und Manchesterhosen und brennende Gaslaternen. Das Ganze hatte er mit wenigen Bleistiftstrichen lebendig und naturgetreu wiedergegeben. Der Eindruck war erstaunlich: ein moderner Impressionist hätte es kaum besser machen können. So verging der November. Das ganze Familienleben spielte sich in der Küche ab, wo es nach Pfeifenrauch und dem Inhalt der Kochtöpfe roch. Der Ofen im Wohnzimmer wurde nur bei ganz besonderen Gelegenheiten geheizt. Selina saß am Küchentisch und korrigierte Schulaufgaben, Rechenarbeiten oder Diktate auf schmierigen Zetteln. Manchmal hätte sie gern ein gutes Buch gelesen oder ein bißchen für sich genäht, aber im Schlafzimmer war es entschieden zu kalt. Und in der Küche saßen die Männer oder stapften ein und aus. Geertje und Jozina spielten eines ihrer meistens recht geräuschvollen Lieblingsspiele, und Maartje lief wie ge wöhnlich ruhelos zwischen Tisch und Herd hin und her und machte viel Lärm mit ihren schweren Schuhen. Anfang Dezember fuhr Selina in die Stadt. Ein plötzlicher Widerwille gegen ihre ganze Umgebung und eine fast krankhafte Sehnsucht nach den lärmerfüllten, staubigen Straßen Chikagos hatte sie überfallen. Auf ihre Bitte fuhr Klaas Pool sie bereitwillig an einem Sonnabendmorgen die fünf Meilen bis zur nächsten Eisenbahnstation. Sie hatte die Absicht, bis Sonntag abend 64
auszubleiben. Schon zehn Tage vorher hatte sie an Julia Hempel geschrieben, aber keine Antwort erhalten. Sie ging geradewegs vom Bahnhof zu Hempels. In der Diele traf sie Frau Hempel. Sehr kühl und zurückhal tend wurde ihr erklärt, daß Julia verreist sei und eine Freundin in Kansas besuche. Selina wurde nicht zum Essen eingeladen. Man bot ihr noch nicht einmal einen Stuhl an. Als sie das Haus verließ, schienen ihre schönen Augen noch größer geworden zu sein und tiefer denn je in den Höhlen zu liegen. Jeder Muskel in dem weißen Gesicht war schmerzhaft gespannt, und nur mit Mühe hielt sie die Tränen zurück. Plötzlich haßte sie die Stadt, die nichts mehr von ihr wissen wollte, die so laut und rücksichtslos an ihr vorbeibrauste und ihre nur noch an ländliche Stimmen gewöhnten Ohren mit uner träglichem Lärm erfüllte. »Na, wenn schon«, sagte sie tapfer zu sich selbst. »Mir soll es recht sein. Warten wir ab! Meine Zeit kommt noch. Dann wird man sich den Hals nach mir ausrek ken. Was, Sie kennen die berühmte Selina Peake nicht? Sie soll ja mal Dorfschullehrerin gewesen sein, in einem eiskalten Zimmer geschlafen und dreimal am Tag Schweinefleisch gegessen haben ... So, jetzt weiß ich auch, was ich tue. Ich bestelle mir ein großartiges Früh stück mit den tollsten Leckerbissen. Vielleicht gehe ich ins Hotel Palmer, wo ich mit Vater ... Nein, das bringe ich doch nicht fertig. Ich gehe lieber ins Blackstone und bestelle mir Eis, Hühnerbouillon, Windbeutel mit Schlagsahne, alle Arten Gemüse, kleine Lammkoteletten in Papierservietten und goldenen Pecoeblütentee.« Das alles bestellte sie tatsächlich, ohne etwas zu verges sen. Eine ganze Schar neugieriger Kellner lungerte um 65
ihren Tisch herum. Sie aß ihr Eis und trank Pecoetee dazu (sie liebte ihn hauptsächlich seines Namens wegen, er erinnerte sie an Chrysanthemen und Kirschblüten, an fremdländische Gewürze, bestickte Fächer und mandeläugige Mädchen). Sie stürzte sich so gierig auf einen köstlichen Salat wie ein Kanarienvogel auf ein Lattichblatt und verspeiste die Lammkotelettchen mit liebevoller Andacht. Schließlich hinterließ sie als echte Tochter ihres Vaters auf dem Tisch ein so stattliches Trinkgeld, daß der Kellner große Augen machte und seine Abneigung gegen alleinspeisende Damen vorübergehend vergaß. Aber das Frühstück war trotzdem keine reine Freude gewesen. Eigentlich hatte sie ebenso großartig zu Mittag speisen wollen, die Lust dazu war ihr indessen ver gangen. Zwischen eins und drei kaufte sie allerlei kleine Geschenke für die gesamte Familie Pool, vor allen Din gen Bananen für Geertje und Jozina, da sie deren Leidenschaft für diese Früchte kannte. Um vier Uhr fünfunddreißig saß sie glücklich wieder im Zug. Halb erfroren und todmüde kam sie nach stundenlangem Fuß marsch zu Hause an, von allem Getier auf dem Poolschen Hofe mit großem Gequake und Gegrunze stür misch begrüßt. Sie wunderte sich selbst, wie glücklich es sie machte, in die warme Küche zurückzukehren, und vor allem in ihr stilles Zimmer. Selbst die verhaßte Wärmeröhre hatte plötzlich in ihrer vertrauten Unförmigkeit beinahe etwas Gemütliches.
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Auf die High Prairier Bauernburschen machte Selina keinen besonderen Eindruck. Für deren robusten Geschmack war sie viel zu klein und zerbrechlich. Natürlich hatte ihre Ankunft in der weltabgeschiedenen Gemeinde zunächst gewaltiges Aufsehen erregt. Sie wäre sehr erstaunt gewesen, wenn sie geahnt hätte, wie sie von allen Seiten beobachtet wurde. Ihre Kleider, ihre Haltung, ihre ganze Erscheinung wurden ausgiebig besprochen und kritisiert. War sie am Ende eine eingebildete Stadtgans? War sie übermodern? Mit unheimlicher Schnelligkeit verbreiteten sich hundert interessante Einzelheiten über sie von Farm zu Farm. Man wußte, wie viele Bücher auf ihrem Bücherbrett standen. Ja man war sogar genau darüber unterrichtet, daß sie ihre Untertaille mit einem rosa Bändchen zuschnürte. Sie hatte Kohlfelder wunderschön gefunden. Sie las dem dämlichen Rolf Pool aus ihren Büchern vor. Sie schneiderte für Maartje ein ebensolches modisches Kleid, wie sie selbst es (töricht genug) für die Schule anzog. Das alles wußte man in High Prairie. Sooft sie einem Wagen auf der Landstraße begegnete, grüßte sie freundlich. Bisweilen gab der Mann auf dem Bock ihren Gruß zögernd zurück. Meistens aber starrte er sie bloß verwundert an. Die Frauen traf sie fast nie, wahrscheinlich kamen sie nicht aus ihrer Küche heraus. An ihrem fünften Sonntag in High Prairie ging sie mit Pools zum erstenmal zur Kirche. Maartje sah im Kirchgang, was sie selbst betraf, nur eine Zeitverschwendung. Aber Klaas hatte darauf bestanden, den großen Wagen anzuschirren und die ganze Familie mitzunehmen. Zum ersten Male sah Selina Frau Pool ohne ihr
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blaues Küchenkleid. Maartje in ihrem besten schwarzen Kleid kam ihr ebenso fremd vor wie Klaas in seinem feierlichen Sonntagsstaat. Rolf hatte durchaus zu Hause bleiben wollen und für seine Halsstarrigkeit beinahe Prügel bekommen. Während des Gottesdienstes hatte er regungslos auf seinem Platz gesessen und unverwandt auf das gelbrote Kirchenfenster gestarrt. Selinas Eintritt hatte natürlich allgemeine Aufmerksamkeit erregt. Paarweise oder zu dreien kamen die Kirchgänger herein. Selina wurde an einen Holzschnitt in einem alten illustrierten Buch erinnert. Nur auf Bildern hatte sie bisher Männer mit solchen bäuerisch-steifen Sonntagshosen und -rocken gesehen. Und die Frauen sahen alle gleich aus: alle trugen dieselben verschossenen schwarzen Mützen und dieselben großen Umschlagtücher. Die jungen Mädchen, obwohl nicht häßlich, waren viel zu breit, und ihre Gesichter wirkten trotz der hübschen roten Backen langweilig und nichtssagend. Zu dieser eintönigen Versammlung gesellte sich zu guter Letzt noch ein verspäteter Kirchenbesucher. Mit rauschenden Röcken kam eine stattliche Frau herein und bewegte sich langsam und wiegend wie eine Fregatte mit vollen Segeln die Stuhlreihen entlang. Statt des Umschlagetuches trug sie einen städtischen Mantel, und ihr kostbarer Federhut stammte ganz gewiß nicht aus High Prairie. Sie war eine üppige Person mit derben Schenkeln, schneeweißer Haut und einem vollen blutroten Mund. Die Augen verschwanden fast unter den schweren Lidern. Bei ihrem Eintritt ging ein Rascheln und Hälserecken durch die Gemeinde. Die Frau hatte wahrhaftig genug an und wogte nur so von Falbeln und Rüschen, und doch mußte Selina sofort an die trägen
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weißen Kurtisanen auf Bildern aus dem sechzehnten Jahrhundert denken. Damals malten die Künstler mit Vorliebe solche Frauen nackt bei der Morgentoilette. »Wer ist das?« wisperte sie Maartje zu. »Die Witwe Paarlenberg. Sie ist steinreich.« »Ja?« Selina war ganz Ohr. »Nun sehen Sie bloß, wie sie mit ihm kokettiert.« »Mit wem denn?« »Mit Pervus DeJong. Er sitzt neben Gerrit Pon und hat ein dunkelblaues Hemd an. Der mit dem ernsten Gesicht.« Selina reckte sich fast den Hals aus. »Ach so, der. Das ist aber ein hübscher Mensch.« »Gewiß ist er das. Die Witwe Paarlenberg ist ja auch ganz verrückt auf ihn. Nun sehen Sie nur, wie sie ... pst, der Pastor sieht her. Ich erzähle es Ihnen nachher.« Selina beschloß, von nun an öfter zur Kirche zu gehen. Es wurde abwechselnd englisch und holländisch gepre digt. Aber Selina hörte gar nicht zu, weil sie immerfort an die Witwe Paarlenberg und an Pervus DeJong den ken mußte. Sie hatte endlich herausgefunden, an wen sie die dicke Witwe erinnerte: sie glich aufs Haar dem fetten rosa Mastschwein auf Klaas Pools Hof. Schade, daß man sie nicht auch Weihnachten schlachten konnte. Die Witwe Paarlenberg drehte sich lächelnd um. Selina fand, daß ihre Augen einfach gemein waren. Ihr Mund stand offen und war in dem einen Winkel nach unten gebogen, wodurch ihr Gesicht einen lüsternen, verliebten Ausdruck bekam. Mit einem einzigen Ruck beugte sich die Gemeinde in ihren Bänken nach vorn. Alle wollten genau sehen, wie Pervus DeJong auf diesen öffentlichen Gunstbeweis rea 69
gierte. Aber er blieb ernst, mit unbewegtem Blick, gab das Lächeln nicht zurück. Unverwandt hingen seine Augen an dem außerordentlich langweiligen Pfarrer Dekker. Es ist ihm nicht recht, dachte Selina und war merkwür digerweise über diese Tatsache froh. Ich bin freilich keine Witwe, aber ich würde mich auch dann nicht so benehmen. Wie er wohl aussieht, wenn er lacht? Eigentlich hätte Pervus sich jetzt unter dem Banne ihres Willens umdrehen und sie bezaubernd anlächeln müs sen. Aber er gähnte nur herzhaft und ausgiebig. Die Gemeinde war um ihre Sensation betrogen und lehnte sich enttäuscht in den Bänken zurück. Selina fand ihn wirklich hübsch. Aber wahrscheinlich war Klaas Pool vor zehn Jahren ebenso hübsch gewesen. Nach beendetem Gottesdienst redeten alle durcheinander. Man unterhielt sich übers Wetter, über Gemüsepflanzen und Viehzucht. Maartje dachte sorgenvoll an ihr Sonntagsessen und drängte durch das dichtgefüllte Seitenschiff nach dem Ausgang. Hin und wieder wurde Selina schnell einer Bekannten vorgestellt. »Frau van der Sijde, erlauben Sie, daß ich Ihnen die neue Lehre rin vorstelle.« »Ach, Sie sind Aggies Mutter?« wollte Selina eine förmliche Unterhaltung beginnen, aber schon hatte Maartje sie weitergezogen. »Frau van Mijnen, dies ist die neue Lehrerin.« Selina fühlte prüfende Blicke auf sich ruhen. Sie lächelte und nickte liebenswürdig. Zwi schen all den gesetzten Leuten kam sie sich unerhört jung und leichtfertig vor. Sie kamen an die Kirchentür und sahen gerade, wie Pervus DeJong seinen alten lahmen Gaul losband. Der Wagen paßte zu dem Pferd, er war alt und auf der 70
einen Seite ganz schiefgesessen. Während des Gottes dienstes hatte Pervus dem Tier einfach alle vier Beine zusammengebunden. Trübselig wartete es mit hängendem Kopfe auf seinen Herrn und schien an den wackeligen alten Karren angewachsen zu sein. DeJong band schnell die Zügel los und sprang in den Wagen. In dem selben Augenblick kam die Witwe Paarlenberg in voller Geschwindigkeit die Kirchentreppe heruntergesegelt. Mit fliegenden Röcken und wehenden Federn rauschte sie geradewegs auf ihn zu. Maartje ergriff Selina aufgeregt beim Arm. »Da, sehen Sie! Jetzt lädt sie ihn bestimmt zum Mittagessen ein. Und er schüttelt tatsächlich den Kopf.« Die ganze Gemeinde sah dem Auftritt ungeniert zu. Selina stellte also nicht allein fest, daß er die Aufforderung unzweifelhaft abgelehnt hatte. Der ganze Pervus schien nein zu sagen: der hübsche Kopf, die breiten Schultern und die kräftigen Beine in den schlechtsitzenden Sonntagsstiefeln strebten offensichtlich von der hübschen Witwe fort. Und schon ergriff er die Zügel und fuhr so schnell wie möglich davon. Die Witwe Paarlenberg konnte zusehen, wie sie vor ganz High Prairie mit ihrer Niederlage fertig wurde. Nun, sie brachte dieses Kunststück mit be wundernswerter Haltung zustande. Ihrem runden, rosigen Gesicht war nichts von Unwillen oder gar von Beschämung anzumerken, und ihre großen Kuhaugen blickten genauso mild wie zuvor, während sie ruhig zu ihrem Wagen ging. Selina gab ihren ersten Vergleich mit dem rosa Mastschwein auf. Sie fand jetzt mehr Ähnlichkeit mit einer falschen Angorakatze, die Sam methandschuhe über ihre spitzen Krallen gezogen hat. Behend stieg die hübsche Witwe in ihren tadellosen Wa
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gen und fuhr hocherhobenen Hauptes in schnellem Trab auf der festgefrorenen Landstraße davon. »Bravo«, schrie Selina, als wäre sie im Theater und hätte soeben den ersten Akt eines aufregenden Stückes gesehen. Sie holte tief Atem. Und mit ihr atmete die be obachtende Gemeinde auf. Auf dem Heimweg erzählte Maartje breit und behaglich die versprochene Geschichte. Pervus DeJong hatte vor zwei Jahren seine Frau verloren. Kaum zwei Monate später war auch Lendert Paarlenberg gestorben. Er hinterließ seiner Witwe die reichste Farm in der ganzen Gemeinde. Pervus DeJong hingegen hatte von seinem Vater, dem alten Johannes DeJong, knapp zwanzig Acker kärglichen Bodens ge erbt, das schlechteste Land in ganz High Prairie. Im Frühjahr stand gut die Hälfte davon unter Wasser. Per vus DeJong pflanzte und säte mit unermüdlicher Geduld. Woche für Woche fuhr er unverdrossen seine spärliche Ernte zum Markt, ohne daß er im geringsten weiterkam. Und das wollte in dieser blühenden hollän dischen Gemeinde, wo jeder es leicht zu einem bescheidenen Wohlstand bringen konnte, etwas heißen. Das Schicksal und die Natur schienen gegen ihn im Bunde zu sein. Seine Saaten gingen nicht auf; sein Vieh wollte nicht gedeihen; sein Kohl war von Würmern zerfressen, und in seinem Rharbarber hausten mit Vorliebe die Rüsselkäfer. Baute er in der Hoffnung auf ein feuchtes Frühjahr viel Spinat, so war die ganze Zeit über be stimmt trockenes Wetter. Versuchte er es im folgenden Jahr mit Bataten, weil alle Anzeichen auf einen trocke nen Frühling und Sommer deuteten, so regnete es bestimmt so viel wie schon zehn Jahre nicht mehr. Unge ziefer und Schimmel gediehen offenbar unabänderlich gerade auf seinen Äckern am besten. Wäre er klein und
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unbedeutend gewesen, so hätte man ihn wahrscheinlich wegen seines steten Mißgeschicks bemitleidet. So aber wirkte er immer noch eindrucksvoll wie ein gefällter Riese, und nicht einmal Mitleid wagte sich an ihn heran. Zu allem Überdruß wurde sein Haushalt von einer ältlichen Verwandten höchst unzulänglich geführt. Alle Hausfrauen in High Prairie regten sich darüber auf, was für graues Brot und was für schlechten Kuchen sie Pervus vorsetzte. In diesen Pervus DeJong hatte sich nun zufällig die Witwe Paarlenberg verliebt, die Frau mit dem reichsten Hof und dem stattlichsten Haus im ganzen Dorfe, die Frau mit der dicken goldenen Halskette und den seidenen Kleidern, mit den weichen weißen Händen und den sagenhaften Kochtalenten. Sie machte aus ihrer Neigung kein Hehl und stellte ihm so hartnäckig nach, daß jeder andere Mann wahrscheinlich den Kopf verloren hätte. Es war allgemein bekannt, daß sie ihm jeden Montag einen ganzen Wochenvorrat an Kuchen und Brot ins Haus schickte. Sie drängte ihm die besten Sämereien von ihren eigenen Äckern auf, sie ließ ihm die schönsten Stecklinge und Pflanzen aus dem Mistbeet bringen. Er schickte ihr ungerührt alles zurück. Sie wandte alle erdenklichen weiblichen Listen an und versuchte ihn auf jede mögliche Weise zu umgarnen. Am liebsten hätte sie ihn zu jeder Mahlzeit eingeladen. Schließlich fragte sie ihn sogar um Rat — die raffinierteste Art, wie eine Frau einem Manne schmeicheln kann. Sie wollte tausend Dinge von ihm wissen und fragte ihn über alles aus: über Umpflügen, über Humusdüngung und über Samenwahl. Dabei war in der ganzen Gemeinde bekannt, wieviel sie selber von allem verstand und daß sie auf einem einzigen Acker mehr erntete als Pervus 73
auf zehn. Ihr Knecht Jan Bras wurde unter ihrer Aufsicht vortrefflich mit der ganzen Farmarbeit fertig. DeJong merkte lange Zeit nichts von den Fallstricken der reichen Witwe. Er fand nichts dabei, wenn sie mit ihrer tiefen, zärtlichen Stimme zu ihm sagte: »Ach, Mr. DeJong, darf ich Sie mal in einer Kleinigkeit um Rat fragen? Ich stehe so allein, seitdem mein guter Lendert nicht mehr lebt, und bin ganz auf fremde Menschen angewiesen. Und was fragen die danach, was aus meinem Land wird. Es handelt sich nämlich um meine Radieschen. Und um den Salat. Und um die Rüben. Im letzten Jahr sind sie mir gar nicht recht geraten. Es war lauter zähes, faseriges Zeug. Daran ist nur Jan Bras schuld. Wenn's nach ihm ginge, so wüchsen die Gemüse noch viel langsamer. Und dabei müssen Radieschen und Spinat doch besonders schnell wachsen. Bras behauptet, mein Dünger sei schlecht. Aber das ist Unsinn. Wie denken Sie darüber, Mr. DeJong?« Unglücklicherweise bekam Jan Bras Wind von diesen Unterhaltungen und verbreitete sie aus Rache im ganzen Dorf. Pervus wurde auf der Straße von den Männern angehalten: »Na, DeJong, ausgerechnet du gibst der Witwe Paarlenberg so gute Ratschläge?« Das Jahr war nämlich dieses Mal ganz besonders schlecht für seine Felder gewesen. Und er mußte erst so derb in die Rippen gestoßen werden, ehe er merkte, daß er auf die schlaue Witwe hereingefallen war. Allmählich aber erwachte in ihm eine ehrliche Wut gegen diese listige Evastochter, die glaubte, ihn hinters Licht führen zu können. Als sie wieder einmal zu ihm kam und ihn mit der größten Liebenswürdigkeit über Entwässerung und Anpflanzung um Rat fragte, antwortete er grob: »Das weiß ich nicht. Wenden Sie sich bitte an Harm Tien.« 74
Harm Tien war der Gemeindeidiot. Ein armes, blödes Geschöpf, das mit dreißig Jahren noch den Verstand eines kleinen Kindes hatte. Da Pervus mit der Zeit dahinterkam, daß ihn die ganze Gemeinde gern mit der reichen Witwe verkuppeln wollte, wurde er kopfscheu wie ein störrischer Stier und ging ihr von nun an ganz aus dem Wege. Zwar litt er nicht wenig unter seiner Einsamkeit und seinem ungemütlichen Zuhause. Aber von ihr wollte er nun einmal nichts wissen. Eitelkeit, Stolz und Groll — von allem sprach wohl etwas bei seiner Weigerung mit. Der Zufall fügte es, daß Pervus beim ersten Zusammentreffen mit Selina dem Mädchen einen Ritterdienst erweisen konnte. Und da ihre Bekanntschaft so romantisch begann, war eigentlich schon das Ende vorauszusehen. Außerdem hatte Selina ihr rotes Kleid an und Tränen in den Augen. Und das bei einem Fest, auf dem ganz High Prairie versammelt war. In Adam Ooms' Saal nämlich fand ein großartiges Fest mit Ball statt. Auf Maartjes dringendes Zureden hin und schließlich neugierig geworden, hatte Selina sich endlich bereit erklärt, mitzugehen. Alle Farmerfamilien aus der Umgebung würden da sein. Da bekanntlich der Zweck die Mittel heiligt, war die neue Kirchenorgel der Vorwand für dieses Wohltätigkeitsfest. Es kostete eine Kleinigkeit Eintritt. Den Saal hatte Adam Ooms umsonst zur Verfügung gestellt, und auch die drei Mu sikanten spielten den ganzen Abend umsonst. Es war Sitte, daß die Frauen das Abendbrot selber mit brachten und zu diesem Zweck appetitlich in Körben und Schachteln verpackten. Diese »Futterkörbe« wurden versteigert, und jeder durfte mit der Schönen zu Abend essen, deren Korb er erstanden hatte. Dazu gab 75
es in Unmengen billigen heißen Kaffee zu kaufen. Der ganze Reinertrag kam der Kirchenorgel zugute. Es war stillschweigende Vereinbarung, daß sich die Ehemänner untereinander nicht überboten. Jede Farmersfrau kann te natürlich ihren eigenen Korb unter Tausenden her aus, und sowie er zur Versteigerung kam, nannte der dazugehörige Ehemann einen angemessenen, selbstver ständlich nicht allzu hohen Preis, der ihn automatisch zum glücklichen Besitzer des Korbes machte. Nieman dem fiel es ein, daß die Sache hätte anders vor sich ge hen können. Auf die Körbe der unverheirateten Frauen wurde dafür um die Wette geboten. Maartje hatte ihren Korb schon mittags gepackt und war mit Klaas und Rolf bereits um vier Uhr fortgefahren. Sie gehörte zum Festkomitee und hatte tausend ehrenvolle Ämter wie Kaffeekochen, Geschirrspülen usw. Klaas und Rolf mußten wohl oder übel mithelfen. Die beiden Mädchen aber schlitterten stundenlang mit einem Dutzend kreischender Freundinnen auf dem glatt gebohnerten Fußboden im Saal hin und her, bis alle Gäste beisammen waren. Jakob Hoogendunk sollte Selina zum Fest fahren, sobald er mit seiner Arbeit fertig wäre. Sie mußte also ihren Abendbrotkorb allein zurechtmachen. Selbstverständlich kam er dann mit denen der anderen jungen Mädchen zur Versteigerung. Noch im Abfahren hatte ihr Maartje ein paar eilige un zusammenhängende Anweisungen gegeben: »Schinken ... die kleinen runden Plätzchen aus dem Tontopf ... Mixed Pickles, sehen Sie zu, daß sie nicht durchweichen ... eingemachte Pflaumen ...« Maartje selbst hatte ein wahres Ungetüm von Korb gepackt. Der Inhalt war verblüffend und hätte für ein halbes Regiment Soldaten ausgereicht: faustdicke, hochbelegte Butterbrote, riesige 76
Kloben von Gurken und ganze Berge von Plätzchen und Kuchen. Für Selina war ein etwas kleinerer Korb vorbereitet worden. Trotzdem erschien er ihr einfach lächerlich in seinem Umfang, und sie beschloß, sich etwas anderes zu suchen. In ihrem Koffer hatte sie eine alte weiße Schuh schachtel, die mußte ihrer Meinung nach für zwei Personen vollauf genügen. Wenigstens hatten sie und Julia Hempel auf ihren Sonnabendausflügen niemals mehr mitgenommen. Die ganze Sache war ihr überhaupt etwas unheimlich, und im Grunde genommen hatte sie nicht die geringste Lust, mit irgendeinem wildfremden Mann aus High Prairie zusammen zu Abend zu essen. Es konnte doch ganz gut geschehen, daß kein Mensch auf ihre Schachtel bot. Sie beschloß jedenfalls, auf Maartjes derben Proviant zu verzichten und ein Abendessen nach ihrem eigenen Geschmack einzupacken. Sie konnte ungestört in der Küche herumwirtschaften. Jakob war noch nicht vom Felde zurück. So nahm sie zunächst ihre Schuhschachtel und legte sie säuberlich mit Seidenpapier aus. Dann streifte sie beide Ärmel hoch und holte sich eine Schüssel, Mehl und kleine Kuchenformen. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, sechs nette kleine Napfkuchen zu backen. Prachtvoll braun kamen sie auch aus dem Ofen heraus, aber leider waren sie ein bißchen zu fest geraten. »Ach was«, tröstete sie sich, »immer noch besser als die alten, aufgeweichten Pasteten, die ich durchaus mitnehmen sollte.« Dann kochte sie Eier ganz hart, halbierte sie und machte aus den Dottern eine pikante Farce. Darauf füllte sie diese Mischung sorgfältig wieder in die weißen Hälften, klappte sie zu und spießte sie zur Vorsicht noch mit einem Zahnstocher zusammen. Schließlich wickelte sie 77
jedes Ei für sich in Seidenpapier ein und drehte oben und unten die Enden zusammen. Ihre Abendbrotschachtel sollte von außen und innen in erster Linie appetitlich sein. Sie schnitt papierdünne Brotscheiben ab, bestrich sie mit Butter und belegte sie an Stelle des ewigen Schinkens mit Obstgelee. Eigentlich gehörten in eine richtige Picknickschachtel unbedingt Bananen, aber wo sollte sie die hernehmen? Sie nahm statt dessen zwei saftige rotbäckige Äpfel und polierte sie so lange mit einem weichen Tuch, bis sie über und über glänzten. Alle diese Herrlichkeiten packte sie sorgfältig in ihre Schachtel. Endlich wickelte sie sie in ein sauberes Papier und band sie mit einem lustigen roten Band zu, das sie zufällig in ihrem Koffer gefunden hatte. Zu guter Letzt pflückte sie von dem Taxusbaum im Hof einen kleinen Zweig ab und steckte ihn oben auf die Schachtel in den roten Schleifenknoten. Prüfend betrachtete sie ihr Werk von allen Seiten und fand es sehr eindrucksvoll. Als Jakob Hoogendunk sie schließlich abholte, erwartete sie ihn schon in Mantel und Kapuze vor der Tür. Offenbar waren sie die letzten Gäste, denn vor Ooms' Saal standen im Freien schon eine Unmenge Wagen und Schlitten. Die Ställe reichten bei weitem nicht für die vielen Pferde. Die Nachzügler mußten zusehen, wo sie ihre Tiere anbinden konnten. So herrschte vor dem Gebäude ein lautes Getriebe von Fahrzeugen, Schellengeklingel und stampfenden Pferden. Selina hielt ihre Schachtel sorgfältig in der Hand und öffnete die Tür zu der hölzernen Treppe, die zu dem Saal im zweiten Stockwerk emporführte. Ein ohrenbetäubender Lärm schallte ihr von oben entgegen. Sie schrak unwillkürlich zurück, und wenn es außer einem fünfstündigen Fußmarsch durch hohen Schnee eine Möglich 78
keit gegeben hätte, wieder nach Hause zu kommen, wäre sie sofort umgedreht. Statt dessen faßte sie sich ein Herz und stieg die Treppe hinauf. Offensichtlich war die Versteigerung in vollem Gange. Alles schrie und sprach durcheinander, und wahrscheinlich war soeben wieder ein Korb glücklich an den Mann gebracht wor den. Aber im selben Augenblick verstummte das Stimmengewirr, denn von neuem schlug der Hammer des Auktionators mit dröhnendem Krach auf den Tisch. Selina konnte zwischen den vielen Menschen in der Tür hindurch undeutlich ein kleines Männchen neben einem großen Haufen voller Körbe auf einem Stuhle stehen sehen. Als Tisch diente ihm ein Faß auf einer leeren Kiste. Der Auktionator war Adam Ooms selbst, früher Lehrer, jetzt Kaufmann in High Prairie. Ein kahlköp figes Männchen mit einem verschlagenen Fuchsgesicht und einer hohen Fistelstimme, der komischste Kauz im ganzen Dorf. Nach außen hin benahm er sich gern so albern wie möglich, in Wirklichkeit aber war er grund gescheit. Außerdem war er weit und breit wegen seines Mundwerks gefürchtet. Selina klopfte das Herz. Vergebens sah sie sich nach einem geeigneten Platz für ihre Überkleider um. Auf jedem Stuhl und jedem Tisch lagen schon ganze Haufen von Kleidungsstücken. Endlich entdeckte sie in einer Ecke eine scheinbar leere Kiste. Kurz entschlossen rollte sie Mantel, Schal und Kapuze fest zusammen, um das ganze Bündel einfach in die Kiste zu werfen. Aber vol ler Überraschung fuhr sie zurück: aus der Tiefe des Ka stens leuchteten ihr die runden, rosigen Gesichter der friedlich schlummernden Kuyperschen Zwillinge entgegen.« Aus dem großen Saal erschallte von neuem Geschrei und Händeklatschen. Wieder war ein Korb an den 79
Mann gebracht. Was tun! Selina legte kurzerhand ihr Bündel in die nächste Ecke und glättete sorgfältig die Falten ihres weinroten Kaschmirkleides. Mit ihrer Schachtel in der Hand lief sie eilig zur Tür wie ein Kind, das zu spät kommt und gern noch mitspielen möchte. Wie sollte sie in dieser Menschenmenge Maartje und Klaas Pool finden! Bis zur Tür war sie glücklich gelangt, hier aber versperrten lauter breite schwarze Männerrücken den Weg. Auf der Schachtel stand deutlich ihr Name. Aber wie sollte sie an Adam Ooms herankommen? Ratlos betrachtete sie das nächste breite Hindernis gerade vor sich und beschloß in ihrer Verzweiflung, mit einer Ecke ihrer Schachtel dagegenzurennen. Sie stieß zu, so derb wie sie nur konnte. Der Rücken zuckte schmerzhaft zusammen. Sein Eigentümer fuhr herum. »Au! Was für ein ...« Selina blickte empor in Pervus DeJongs wütendes Gesicht. Pervus DeJong schaute hinab in Selina Peakes erschrokkene Augen. Die waren von Natur schon groß genug, jetzt aber leuchteten sie einfach unheimlich aus ihrem schreckensbleichen Gesicht. »Es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid. Ich wäre so gern ... ich kann meine Abendbrotschachtel nicht hineinbekommen ... bei einer solchen Menschenmenge -.« Sie ahnte gar nicht, wie reizend sie sich in ihrem roten Kaschmirkleid neben den üppigen High-Prairier Dorfschönen ausnahm. Dafür sah es der Mann um so deutlicher. Er wandte den Blick nur zögernd von ihrer schlanken Erscheinung zu der Schachtel in ihrer Hand und staunte noch mehr. »Das soll eine Abendbrotschachtel sein?« »Ja, für die Versteigerung. Ich bin die neue Lehrerin. Selina Peake.« 80
Er nickte. »Ich habe Sie am Sonntag in der Kirche gesehen.« »Wirklich? Das hätte ich nicht gedacht.« »Bleiben Sie hier stehen. Ich komme gleich wieder. Blei ben Sie nur stehen.« Er nahm ihr die Schuhschachtel ab. Sie rührte sich nicht von der Stelle. Mit beiden Ellenbogen bahnte er sich einen Weg zu Adam Ooms. Ohne daß irgend jemand etwas merkte, stellte er die Schachtel neben einen rie sengroßen Eßkorb, der mit einem Dutzend anderer auf Ooms' Ausrufen wartete. Darauf zwängte er sich zu Se lina zurück, sagte wieder nichts als: »Bleiben Sie ste hen!« und sprang mit großen Sätzen die hölzerne Treppe hinunter. Selina war mit einem Male gar nicht mehr traurig, daß sie Pools nicht in der Menge finden konnte, obwohl sie ständig auf Zehenspitzen Ausschau hielt. Und schon kam Pervus mit einer leeren Seifenkiste zurück. Er stellte sie gleich hinter der Tür im Rücken der fest eingekeilten Menge senkrecht hin. Selina kletterte hinauf und überragte nun sogar den langen Pervus um eine Kleinigkeit. Jetzt konnte sie den ganzen Saal bequem übersehen. Dort standen auch Pools. Sie winkte ihnen lächelnd zu. Rolf machte ein paar Schritte nach ihr hin, aber Maartje hielt ihn am Rockzipfel fest. Selina suchte krampfhaft nach einem passenden Gesprächsstoff. Sie sah auf Pervus hinunter. Sein Nacken war vor Anstrengung rot angelaufen. Instinktiv dachte sie: Lieber Himmel, er möchte auch etwas sagen und weiß nicht was. Sie verlor mit einemmal alle Befangenheit: sie würde einfach warten, bis er anfing. Inzwischen aber wurde sein Nacken immer röter. Plötzlich geriet die sich vor ihr stauende Menge aus irgendeinem Grund 81
in Bewegung und drängte unerwartet zurück, so daß Selina auf ihrer Kiste gefährlich ins Schwanken geriet. Unwillkürlich griff sie angstvoll in die Luft, aber schon faßte seine große Hand stützend ihren Arm. »Ein schlimmes Gedränge, nicht wahr?« Gottlob, der Bann war gebrochen, und das Rot in sei nem Nacken ebbte langsam zurück. »Ja, es ist sehr voll.« »Sie sind nicht alle aus High Prairie. Manche kommen weit her, sogar aus Haarlem.« »Tatsächlich?« Pause. Neuer Anlauf. »Wie geht es denn mit der Schule?« »O danke, ganz gut.« »Eigentlich sind Sie für eine Lehrerin zu klein.« »Klein!« Sie reckte sich auf ihrer Seifenkiste in die Höhe. »Ich bin größer als Sie!« Die Antwort erschien ihnen ungemein witzig, und sie wollten sich ausschütten vor Lachen. Aber schon krachte der Auktionshammer von neuem. »Meine Damen! (krach!) Meine Herren! (krach!) Herrschaften, sehen Sie sich gefälligst diesen Korb an!« Er war allerdings sehenswert. Ein wahres Ungetüm von Eßkorb und voll zum Platzen. Eine blendendweiße Damastserviette war sorgfältig darüber gebreitet. Unter dieser schneeigen Decke lagen vermutlich die auserlesensten Leckerbissen: goldbraun gebratenes Geflügel, smaragdgrüne Pfeffergürkchen, rubinrote eingemachte Erdbeeren und mit glitzerndem Puderzucker bestreute Kuchen, ganz zu schweigen von den handfesteren Genüssen wie Kartoffelsalat, Käse, kleinen Kaffeekuchen und Plinsen. 82
(Krach!) »Achtung, meine Damen und vor allen Dingen meine Herren! Hier habe ich den Korb der Witwe Paarlenberg. Witwe Paarlenberg habe ich gesagt! Ich weiß nicht, was drin ist. Und Sie ebensowenig. Aber wozu brauchen wir das auch zu wissen! Wer einmal die gebratenen Hühnchen der Witwe Paarlenberg versucht hat, der weiß genug. Wer einmal den Kuchen der Witwe Paarlenberg versucht hat, der weiß genug! Meine Herren, was bieten Sie mir für diesen Korb? Was bieten Sie?« (Krach!) Keine drei Fuß von ihm entfernt saß die Witwe Paarlenberg selbst auf einem Stuhl an der Wand. Sie sah hübsch aus in ihrem schwarzen seidenen Kleid, das mußte ihr der Neid lassen. Eine goldene Halskette fiel schwer auf ihren Busen, der sich jetzt in angenehmer Aufregung hob und senkte. Bald blickte sie errötend in ihren Schoß, bald schlug sie mit meisterhaft gespielter Unschuld die Augen auf. Adam Ooms ließ seine Blicke suchend durch den ganzen Saal schweifen. Er lehnte sich weit vornüber und blinzelte vielsagend von der gewichtig neben ihm thronenden Witwe zu den jungen Dorfbursehen, aber auch zu den würdigeren Herren, den Witwern und den Jungge sellen, hinüber. Jetzt kam der Höhepunkt des ganzen Festes! Weiter gingen seine Augen im Halbkreis umher, bis sie endlich Pervus DeJongs hochragende Gestalt in der Tür gefunden hatten. Seine Augen bohrten sich in Pervus' unbewegliches Gesicht, bis sie zu schielen anfingen. Der Arm mit dem Hammer flog hoch, und jeder Mann im Saal starrte auf den blonden Kopf im Türrahmen. »Nur Mut, ihr Burschen! Mut, Pervus DeJong. Wer bietet?«
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»Fünfzig Cent«, schrie Gerrit Pon von der anderen Saalecke. Das war für den Anfang schon ein erstaunliches Gebot. In dieser Gegend war ein Dollar viel Geld, meistens der Reingewinn aus einer ganzen Gemüsefuhre. Krach! machte der Hammer. »Fünfzig Cent zum ersten. Will keiner fünfundsiebzig bieten? Wer bietet fünfundsiebzig?« »Sechzig.« Das war der alte Johannes Ambuul, ein Witwer, der mehr Jahre zählte, als er Cents geboten hatte. »Siebzig«, Gerrit Pon. »Ssssiebzig«, zischte Adam Ooms. »Herrschaften, das möchte man am liebsten gar nicht laut sagen. Das ist ja eine Sünde und eine Schande. Sie sehen selbst, was das für ein Korb ist, und dann sagen Sie siebzig!« »Fünfundsiebzig!« schrie der vor sichtige alte Ambuul... Eine verräterische Röte strafte die scheinbare Unbefan genheit der schönen Witwe Lügen. Pervus DeJong dagegen stand ruhig neben Selina und tat, als ginge ihn das Ganze überhaupt nichts an, obwohl alle Augen voll Erwartung an seinem Gesicht hingen. Die Witwe Paarlenberg biß sich auf die roten Lippen und warf herausfordernd den Kopf in den Nacken. High Prairie, New Prairie und Haarlem warteten in atemloser Spannung auf die weitere Entwicklung der Dinge. Es war genau wie im Theater, und da sonst in High Prairie wenig Aufregendes passierte, genoß man das Schauspiel ganz besonders. »Herrschaften!« schrie Adam Ooms vorwurfsvoll, als wäre er in der Seele gekränkt. »Herrschaften!« Mit gut gespielter Andacht lüftete er einen Zipfel der Damastserviette und schielte in den Korb. Der Anblick mußte überwältigend sein, denn er prallte in sprachlosem Ent 84
zücken zurück. Er verdrehte die Augen, schmatzte mit den Lippen und strich sich mit beiden Händen über den Magen, kurz er führte ein richtiges kleines Theater auf, um den Leuten Appetit auf den Korbinhalt zu machen. »Achtzig!« quetschte unvermutet der dicke Goris van Vuuren hervor. Er war der Sohn eines reichen Farmers aus Neu-Haarlem und in der ganzen Gegend als Viel fraß verschrien. Adam Ooms rieb sich vergnügt die Hände. »Na also, wer bietet mehr? Wer bietet einen Dollar? Es wäre ja eine Affenschande, wenn euch für diesen Korb ein Dol lar zu schade wäre.« Er schielte noch einmal vorsichtig unter den Deckel und war von neuem überwältigt. »Herrschaften, wenn Frau Ooms doch nur nicht im Saale wäre! Ich würde gleich einen Dollar bieten, und das Geschäft wäre gemacht. Ein glänzendes Geschäft. Einen Dollar. Wer bietet einen Dollar? He, Pervus DeJong, hast du nicht eben einen Dollar gesagt?« Pervus aber stand unbeweglich und zuckte nicht mit der Wimper. Seine offensichtliche Gleichgültigkeit wirkte geradezu ansteckend, und der Korb schrumpfte sichtbar zusammen vor soviel Nichtachtung. »Achtzig, wirklich immer noch achtzig? Herrschaften! Ich will Ihnen etwas sagen. Ich will Ihnen ein Geheimnis zuflüstern.« (Mit verzücktem Spitzbubenlächeln:) »Herrschaften, hören Sie alle zu - in dem großartigen Korb stecken nicht etwa gebratene Hühner.« Dramatische Pause. »Gefüllte Ente ist drin!« Adam Ooms sank zurück und wischte sich den Schweiß von Stirn und Kinn. Er hatte seinen letzten Trumpf ausgespielt. »Fünfundachtzig!« grölte der fette Goris van Vuuren. 85
»Fünfundachtzig. Herrschaften, bedenken Sie doch bloß, fünfundachtzig! Fünfundachtzig zum ersten (krach), fünfundachtzig zum zweiten (krach), fünfundachtzig zum dritten und zum - letzten Male« (krach). Die ganze Gesellschaft seufzte erleichtert auf. Aber das war nur die Ruhe vor dem Sturm. Dann brach ein wahrer Höllenlärm los. Alles sprach und schrie durcheinander. Die Witwe Paarlenberg mußte mit dem großen, fetten Goris zu Abend essen, und in der Tür stand Pervus DeJong und unterhielt sich mit der neuen Lehrerin, als kenne er sie schon wer weiß wie lange. Es war das reine Theater. Adam Ooms kochte vor Wut. Mit verkniffenem Gesicht und unsicheren Fingern suchte er unter den übrigen Körben nach einem besonders kläglichen Behälter. Als er sich wieder aufrichtete, grinste er übers ganze Gesicht. Seine kleinen Schweinsaugen leuchteten boshaft, als er mit seinem Zepter Stillschweigen gebot. Hoch über seinem Kopfe balancierte er auf den Fingerspitzen Selinas kleine weiße Schuhschachtel mit dem roten Band und dem Taxuszweig. Dann nahm er sie mit übertriebener Sorgfalt herunter, las den daraufgeschrie benen Namen und hielt sie grinsend von neuem hoch. Er sagte gar nichts. Er hielt nur mit einem albernen Lächeln die Schachtel hoch in die Luft und drehte sich im Kreise, damit man ihn von allen Seiten sehen konnte. Die Leute hatten noch das Bild des riesigen, vollgestopften Korbes vor Augen, den er eben erst heruntergereicht hatte. Der Gegensatz war zu kraß. Ein halbunterdrücktes Gekicher ging durch den Saal ... gleich darauf brach tobendes Gelächter los. Ooms setzte sein feierlichstes Gesicht auf. An seinem elegant gekrümmten kleinen Finger ließ er die Schach
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tel hin- und herbaumeln. Den ganzen Saal beherrschte er mit seinen kleinen schwarzen Jetaugen. Er wartete, bis das Gelächter seinen Höhepunkt erreicht hatte. Dann hob er ruhegebietend die Hand. »Ah ... !« Er räusperte sich mit so viel Umständlichkeit, daß die Menge schon wieder zu lärmen begann. »Meine Damen und Herren! Hier habe ich etwas ganz Leckeres. Das ist nicht nur ein Magen-, das ist gleichzeitig ein Augenschmaus! Na, Jungens, wenn die Portion für euch vorhin zu groß war, dann ist diese wohl gerade richtig. Und solltet ihr nicht ganz satt werden, so dürft ihr eurer Dame das rote Band in die Haare binden und euch selbst das Sträußchen ins Knopfloch stecken. Was wollt ihr mehr? Aber es kommt noch bes ser! Die Dame selbst gehört ja mit dazu! Und was für eine Dame! Zu der Schachtel paßt natürlich kein Dorfmädchen. So etwas bringt doch selbstverständlich nur ein Stadtfräulein fertig. Und wie heißt sie? Von wem stammt diese reizende kleine Schachtel, die gerade groß genug für zwei ist?« Er betrachtete das Abendbrot paket feierlich von allen Seiten und fügte nach einer kleinen Pause nachdenklich hinzu: »Allerdings dürfen sie nicht zu hungrig sein.« Er blickte sich listig um. »Wer ist es?« Selinas Wangen waren röter als ihr Kleid. Ihre Augen wurden ganz groß von verhaltenen Tränen. Warum war sie auch auf diese alberne Seifenkiste gestiegen? Was hatte sie auf diesem gräßlichen Fest zu suchen, und warum war sie überhaupt nach High Prairie gekommen? Warum in aller Welt? »Fräulein Selina Peake ist diejenige welche. Fräulein Se - li - na Peake!«
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Mit einem einzigen Ruck wandten sich ihr Hunderte
von roten runden Gesichtern zu. Der ganze Saal schien
auf sie zuzukommen, und unwillkürlich streckte sie ab-
wehrend beide Hände aus.
»Immer los, meine Herren, ein Herz gefaßt! Wieviel
bieten Sie für diesen allerliebsten kleinen Happen?
Immer 'ran an den Speck!«
»Fünf Cent«, quiekte der alte Johannes Ambuul in den
höchsten Tönen. Erneutes brausendes Gelächter. Selina
fühlte plötzlich ein sonderbares leeres Gefühl im Ma
gen. Wie durch einen Nebel sah sie das breit lächelnde
Gesicht der Witwe Paarlenberg, die mit einem Male
ihren eigenen Kummer vergessen zu haben schien. Sie
sah auch Rolfs dunklen Kopf. Er hatte plötzlich ein
ganz männliches Gesicht und gab sich offensichtlich die
größte Mühe, sich bis zu ihr durchzudrängen, aber er
konnte gegen die vielen kräftigen Gestalten um ihn
herum nichts ausrichten und war gleich wieder in der
Menge eingekeilt. Sie verlor ihn aus den Augen. Wie
heiß es im Saale war ... Ein Arm legte sich schützend
um ihre Taille. Pervus DeJong stand plötzlich neben
ihr auf der Kiste. Sie spürte ihn kaum, und doch ging
von der ruhigen großen Gestalt neben ihr eine unend
liche Sicherheit auf sie über. Ihr Kopf reichte gerade
bis zu seiner Schulter: ganz High Prairie sah sie so auf
der Seifenkiste in der Tür zusammen stehen.
»Fünf Cent sind für den aparten kleinen Leckerbissen
hier geboten worden, den unsere neue Lehrerin mit
ihren hübschen Händen zurechtgemacht hat. Fünf
Cent, fünf ...«
»Einen Dollar.« Pervus DeJong.
Ganz High Prairie sperrte wie auf Kommando Mund
und Ohren auf.
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Jetzt brauchte sich Selina nicht mehr zu verkriechen. Jetzt trug sie den Kopf wieder hoch. »Und zehn«, brummte der alte Ambuul. Man sah es Adam Ooms an, daß er innerlich einen schweren Kampf ausfocht. Aber er war viel zu schlau, um nicht zu merken, daß die Sache jetzt plötzlich eine Wendung nahm, und ein viel zu guter Auktionator, als daß er nicht sein möglichstes getan hätte, um diese ver änderte Konstellation für sich auszunutzen. Er geriet förmlich in Verzückung, als er die Schachtel von neuem betrachtete. »Ein Dollar zehn für diese Schachtel mit dem roten Band, das noch röter ist als das Kleid seiner schönen Besitzerin. Herrschaften, bedenkt doch, ihr kriegt das Band, das Essen und das Mädchen dazu! Und dafür soll ein Dollar zehn genug sein? Herrschaften, Herrschaften! Ihr seht wohl nicht, daß das nicht nur was zu essen ist - das ist ein richtiges Bild! Was fürs Auge. Wer bietet mehr?« »Für die fünf Bissen.« Der Ausruf kam von Barend de Roo aus Low Prairie. Ein hübscher junger Kerl, dem alle Frauen nachliefen. Aaltje Huff hatte aus Wut über seine Gleichgültigkeit einen anderen geheiratet. Von der schönen Cornelia Vinke aus New-Haarlem ging das Gerücht, daß sie aus unglücklicher Liebe zu ihm am liebsten sterben wollte. Er fuhr mit seinem Gemüse jede Woche in die Stadt und spielte die ganze Nacht hindurch auf dem Wagen unter den Gaslaternen Karten. Alle Straßenmädchen aus der Umgebung waren umsonst hinter ihm her. Er war beinahe zwei Meter lang, und sein rotes Gesicht leuchtete wie ein Vollmond über der Menge. »Anderthalb Dollar!« schrie plötzlich eine klare, hohe Knabenstimme — Rolfs Stimme. 89
»Um Himmels willen nicht«, sagte Selina laut. Aber kein Mensch hörte sie in dem Stimmengewirr. Rolf hatte ihr eines Tages anvertraut, daß er sich in den letzten Jahren dreieinhalb Dollar gespart habe. Sobald er fünf besaß, wollte er sich einen großen Werkzeugkasten kaufen. Selina sah, wie auf Klaas Pools Gesicht Erstaunen und Ärger abwechselten und wie Maartje Pool Rolf am Arm ergriff, um ihn zurückzuhalten. »Zwei Dollar.« Das war Pervus. »Zwei Dollar!« schrie Adam Ooms begeistert. »Und zehn«, kam Ambuul vorsichtig hinterher. »Zwei und einen viertel Dollar.« »Zwei und einen halben«, Pervus DeJong. »Drei Dollar.« Das war wieder die hohe Knabenstimme. Sie schnappte auf der letzten Silbe über, und alles lachte. »Drei Dollar. Drei zum ersten.« »Und einen halben.« Pervus DeJong. »Drei sechzig.« »Vier!« De Roo. »Und zehn.« Die Knabenstimme war verstummt. »Wenn sie doch nur aufhören wollten«, flüsterte Selina. »Fünf!« Pervus DeJong. »Sechs!« De Roo mit puterrotem Kopf. »Und zehn.« »Sieben!« »Es sind doch nur Geleebrote«, sagte sie fassungslos zu Pervus. »Acht!« Der alte Ambuul mußte verrückt geworden sein. »Neun!« De Roo. »Neun! Neun sind geboten. Neun! Bietet keiner ...«
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»Lassen Sie's ihm doch. Die Kuchen sind ganz zusam
mengefallen. Bitte nicht ...« »Zehn!« sagte Pervus DeJong. Barend de Roo zuckte mit den Achseln. »Zehn! Zehn! Keiner mehr? Keiner elf? Zehn! Herrschaften! Zehn zum ersten, zehn zum zweiten, zehn zum dritten und zum letzten Male. Hier, Pervus DeJong. Das Geschäft ist gemacht.« Zehn Dollar. Adam Ooms wußte ebensogut wie alle anderen im Saale, daß es hier um mehr ging als um zehn Dollar. Kein Eßkorb der Welt wäre in High Prairie zehn Dollar wert gewesen, selbst wenn lauter Nachtigallenzungen, die goldenen Äpfel der Hesperiden oder die auserlesensten Weine darin gewesen wären. Zehn Dollar! Wieviel Schweiß, wieviel mühselige Schinderei steckten darin! Wie viele Stunden in der glühend heißen Mittagssonne und im unbarmherzigen Frühlingsregen, wie viele Nächte auf dem Markt, in denen man kaum ein Auge zutat, und wie viele mühselige Fahrten auf den grundlosen Straßen zwischen High Prairie und Chikago. In einer Saalecke aßen sie zusammen zu Abend. Selina machte ihre Schachtel auf und holte die pikanten Eier heraus und die Napfkuchen, die ein bißchen zu fest geraten waren, und die Äpfel und die hauchdünnen Butterbrote. Vor den neugierigen Augen von ganz High Prairie mußte sie ihren bescheidenen kleinen Vorrat auspacken. Das Butterbrot, das sie Pervus reichte, verschwand geradezu in seiner riesigen Faust. Selina hatte plötzlich ihre Verlegenheit vollständig vergessen. Wie ein vergnügtes kleines Schulmädchen kam sie gar nicht mehr aus dem Lachen heraus. Sie biß mit ihren kleinen festen Zähnen in eines der komischen Butterbrote und
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sah ihn an, ob er nicht auch lachen mußte. Aber er lachte nicht, sondern starrte mit rotem Gesicht unverwandt auf das kleine Stückchen Brot in seiner Hand. Er biß hinein und kaute ernst daran herum. Selina dachte: Der gute große Junge! Jetzt hätte er gebratene Entenbrust essen können ... Zehn Dollar! Laut sagte sie: »Warum haben Sie das nur getan?« »Ich weiß selber nicht. Sie sahen so winzig aus. Und die ändern lachten so dämlich.« »Und deswegen haben Sie zehn Dollar zum Fenster hinausgeworfen? Das war sehr töricht von Ihnen.« Er schien gar nicht zugehört zu haben und biß nach denklich in einen Kuchen. »Ich kann kaum schreiben. Höchstens meinen Namen und so was.« »Können Sie denn lesen?« »Wenn ich alle Wörter einzeln buchstabiere, geht's zur Not. Aber ich habe sowieso keine Zeit dazu. Wenn ich wenigstens rechnen könnte. Das fehlt mir sehr. Ein bißchen verstehe ich wohl davon, aber die Bande auf dem Heumarkt haut mich zehnmal übers Ohr. Die rechnen im Kopf, daß einem schwindlig werden kann.« Selina beugte sich lebhaft vor. »Ich werd's Ihnen beibringen. Ich gebe Ihnen Stunden.« »Stunden? Wie meinen Sie das?« »Ich kann Ihnen doch abends Unterricht geben.« Er betrachtete seine großen verarbeiteten Hände, dann sah er auf. »Und wieviel soll ich für die Stunde bezahlen?« »Bezahlen? Ich nehme keinen Pfennig.« Ein plötzlicher Einfall erhellte sein Gesicht. »Wissen Sie was? Ich wohne doch neben der Schule, gleich hinter Bouts. Da könnte ich Ihnen jeden Morgen in der Schule Feuer machen. Und Wasser pumpen und hinein
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tragen. Jetzt fahre ich sowieso nicht zum Markt, da paßt es mir sehr gut, den ganzen Winter hindurch bis etwa zum März. Und ich könnte dreimal in der Woche zu Pools kommen und Stunden nehmen.« In ihr stieg ein warmes, mütterliches Gefühl auf. Er sah ernsthaft und komisch zugleich aus, wie er mit nachdenklich gefurchter Stirn und großen runden Au gen dasaß und nachdachte und dabei einen lächerlich kleinen Napfkuchen in seiner Riesenfaust zerdrückte. Sie mußte plötzlich hell auflachen, und nach einer kleinen verwunderten Pause lachte er zur Gesellschaft mit. »Also Sie kommen dreimal in der Woche. Oh, ich freu' mich drauf. Ich freu' mich drauf.«
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Man einigte sich auf Dienstag, Donnerstag und Freitag. Um halb sieben war man bei Pools mit dem Abend essen fertig. Gegen sieben kam Pervus. Er unterließ es nie, ein frisches Hemd anzuziehen und seine Haare so lange mit einer Bürste zu bearbeiten, bis sie über und über glänzten. Er war sehr verlegen und hatte eine feierliche Miene aufgesetzt; sein Hut drohte beständig herunterzufallen, und wenn irgendwo ein Stuhl stand, so stieß er bestimmt dagegen. Selina wußte nicht, ob sie über ihn lachen oder ob sie ihn bedauern sollte. Wenn er wenigstens ein ordentliches Mundwerk gehabt hätte! Ein stattlicher Mann, der aufschneidet, setzt einen in die Defensive. Gegen einen sanften Riesen aber hat man einfach keine Waffen. 93
Selina holte ihre Grammatik und ihre Rechenbücher hervor, und die Arbeit konnte beginnen. Zunächst bestimmten sie Wörter, rechneten aus, wieviel Tapete man für einen Raum von gegebener Größe braucht und was sechs Arbeiter in acht Tagen verdienen, wenn sie zu einem festgesetzten Stundenlohn einen Brunnen ausschachten. Aber sie merkten bald, daß man am Küchen tisch mit der ganzen Familie Pool ringsherum unmög lich arbeiten konnte. So machte Jakob im Wohnzimmer Feuer. Lehrerin und Schüler saßen nun gemeinsam vor dem Ofen und stellten ihre Füße behaglich nebeneinander auf die blankgeputzte Nickelstange, die um den Rost herumlief. Als Pervus zum erstenmal zur Stunde kommen sollte, hatte Rolf während des ganzen Abendessens kein Wort gesprochen und war dann sofort in die Werkstatt verschwunden. Gleich darauf war ein tolles Pochen und Sägen losgegangen. Er und Selina waren sich immer näher gekommen und verbrachten drinnen und draußen viel Zeit miteinander. Sie liefen Schlittschuh oder rodelten auf selbstgezimmerten Schlitten. Bei schlechtem Wetter lasen oder arbeiteten sie zusammen. So ver gingen nicht nur die Sonntage, sondern auch mancher Abend in der Woche. Selina wollte Rolf seinen schwer fälligen ländlichen Dialekt abgewöhnen. Er sollte zumindest alles das mit ihr teilen, was sie mehr oder weniger gründlich bei Fräulein Fister gelernt hatte. Sie, die beinahe Zwanzigjährige, nahm den zwölfjährigen Jungen durchaus für voll und ließ ihn niemals die geringste Überlegenheit spüren. Er aber verehrte Selina im stillen. Sie hatte bald herausgefunden, daß er einen ausgeprägten, für seine Jahre ungewöhnlichen Sinn für alles Schöne hatte. Die Berührung eines seidenen Ban
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des, das Orange und Rosenrot eines Sonnenunterganges, die weichen Falten ihres roten Kaschmirkleides, die Musikalität eines gesprochenen Verses konnten auf seinem Gesicht einen geradezu erstaunlichen Ausdruck von Verzückung hervorrufen. Seit dem Fest und der Versteigerung war er mürrisch und verdrossen gewesen. Er hatte ihr keine Antwort gegeben, als sie ihn wegen seines Mitbietens für ihren Korb gefragt hatte. Auf ihr Drängen hin hatte er endlich ausweichend gesagt: »Ach, ich wollte nur den alten Ooms wild machen.« Nun war Pervus also wirklich gekommen, und Rolf bot das rührende und traurige Schauspiel eines eifersüchtigen kleinen Jungen, der sich in diesem Gefühl selber nicht zurechtfindet. Selina hatte ihn zu den abendlichen Stunden aufgefordert und darauf bestanden, daß er neben Pervus am Wohnzimmerofen saß. Und auch Maartje hatte gleich bei Pervus' erstem Besuch gesagt: »Rolf, setz dich nur dazu und lerne mit. Es kann dir gar nichts schaden, wenn du auch was lernst. Da hat die Lehrerin ganz recht!« Klaas Pool war ebenfalls einver standen, erstens kostete es ja nichts, und zweitens lagen die Stunden so, daß Rolf seine Arbeit auf der Farm nicht versäumte. Aber leider hatte Rolf keine Lust. Er benahm sich schlecht, warf die Türen zu, pfiff, so laut er konnte, und hatte tausend geheimnisvolle Gänge durchs Wohnzimmer und die Treppe hinauf, immer mit dem größtmöglichen Lärm. Schließlich mußten auch noch Geertje und Jozina daran glauben: er ärgerte sie so lange, bis es Streit und Tränen gab. Selina war außer sich. Sie konnte bei diesem Getöse unmöglich Unterricht geben. »So was habe ich hier
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noch nicht erlebt«, klagte sie Pervus, halb in Tränen. »Ich weiß nicht, was in sie gefahren ist! Es ist schauer lich!« Pervus sah ruhig von seiner Schiefertafel auf und lächelte. »Lassen Sie nur. Bei mir zu Hause ist es abends viel zu still! Sie werden sehen, das nächste Mal geht es besser.« Es ging wirklich besser. Gleich nach dem Abendessen verschwand Rolf in seine Werkstatt und kam erst lange nach Pervus DeJongs Aufbruch wieder zum Vorschein. Der Anblick der großen Gestalt über der kleinen Schiefertafel, den winzigen Stift in der mächtigen Faust, erweckte in Selina die seltsamsten Empfindungen. Mit leid überflutete sie. Wenn sie hätte ahnen können, aus welcher Wurzel dieses Mitleid kam und wohin es sie treiben sollte, so hätte sie Pervus wohl einfach die kleine Schiefertafel weggenommen und ihm statt dessen ein Schreibheft gegeben, und ihr ganzes Leben wäre anders verlaufen. Armer Kerl, dachte sie, armer Junge. Und sie schalt sich selbst, weil sie sich über seinen kindlichen Eifer im stillen amüsierte. Er gab sich die denkbar größte Mühe, aber ein beson ders guter Schüler war er trotzdem nicht. Sie ließen das oberste Zugloch am Ofen gewöhnlich offen, und der Feuerschein übergoß sein Gesicht mit einem rosigen Schimmer. Er war mit vollkommenem Ernst bei der Sache und dachte so angestrengt nach, daß sich seine Stirn in Falten legte. Mit unermüdlicher Geduld wiederholte Selina denselben Satz, dieselbe Aufgabe, bis sich sein gespanntes Gesicht wie unter der Berührung einer leichten Hand glättete und ein Lächeln es verwan 96
delte. Er konnte lächeln wie ein Kind, und jedesmal wurde es Selina dabei eigentümlich warm ums Herz. Sie erwiderte sein Lächeln. Er war so stolz, als hätte er wer weiß was für eine Ent deckung gemacht. »Es ist ja so leicht«, sagte er, »wenn man es erst einmal begriffen hat.« Gewöhnlich ging er um halb neun oder um neun Uhr nach Hause. Pools lagen meist schon lange im Bett. Se lina aber hatte noch keine Lust zu schlafen und machte sich allerlei zu schaffen. Sie holte heißes Wasser und wusch sich und bürstete ihr Haar aus Leibeskräften. Dabei fühlte sie sich froh und niedergeschlagen zugleich. Manchmal gerieten sie ins Plaudern. Seine Frau war im zweiten Jahr ihrer Ehe bei der Geburt eines Kindes gestorben. Und auch das Kind war nicht am Leben geblieben. Es war ein kleines Mädchen gewesen. Er hatte eben kein Glück. Mit der Farm war es genau das selbe. »Im Frühjahr steht das Land halb unter Wasser. Ausgerechnet mein Stück. Bouts hat neben mir sein Feld, das liegt schon wieder hoch und hat guten Boden. Er braucht nicht halb so tief zu pflügen wie ich. Bei dem geht alles wie von selbst. Im Frühling ist es gleich getrocknet. Und dann kann es regnen, soviel es will. Er tut seinen Dünger hinein, ganz gleich, was für welchen, und die Pflanzen kommen nur so hochgeschossen. Mein Feld ist nichts für Gemüse. Es ist zu naß. Immer und ewig naß. Und im Sommer so hart, daß ich mit Hacken und Pflügen gar nicht nachkomme. Dreckboden!« Selina überlegte. Sie hatte Jakob Hoogendunk und Klaas Pool an so manchem langen Winterabend zugehört. »Können Sie denn gar nichts tun, nicht dafür sorgen, daß das Wasser abläuft? Kann man nicht einen 97
Damm machen oder einen Graben anlegen oder so etwas Ähnliches?« »Jaaa, das ginge wohl. Aber drainieren kostet Geld!« »Aber so ist es erst recht kostspielig, das müssen Sie doch zugeben?« Er dachte lange und umständlich darüber nach. »Das mag schon stimmen. Aber man braucht wenigstens kein bares Geld, wenn man das Land so liegen läßt. Zum Drainieren aber braucht man welches.« Selina schüttelte ungeduldig den Kopf. »Das ist sehr töricht und kurzsichtig gedacht.« Er sah sie so hilflos und kläglich an, daß sie ihre Schroffheit sofort bereute und in Mitleid zerfloß. Verlegen betrachtete er abwechselnd sie und seine beiden großen Hände. Was Pervus DeJong vor allem anzie hend machte, war, daß seine Augen vieles sagten, was sein Mund verschwieg. Frauen glaubten immer, er werde im nächsten Augenblick das aussprechen, was in seinen Augen geschrieben stand, aber er tat es nie. Das machte auch eine noch so langweilige Unterhaltung mit ihm reizvoll und erregend. Er war alles andere als klug und gewitzt. Seine Achtung vor Selina grenzte an Verehrung. Und doch hatte er ihr eins voraus: er war verheiratet gewesen und hatte zwei Jahre mit einer Frau zusammengelebt. Sie hatte ihm eine Tochter geboren. Selina dagegen war an Erfahrung ein Kind; sie wußte noch nichts davon, daß sie als Frau großer Leidenschaft fähig war. Leidenschaft gab es nicht bei Frauen, noch weniger sprachen sie davon. Sie existierte einfach nicht. Bei Männern war es etwas anderes, aber auch da schämte man sich ihrer und betrachtete sie als ein Übel, ähnlich wie ein unbeherrschtes Temperament oder einen schwachen Magen. 98
Anfang März war er so weit fortgeschritten, daß er ein beinahe fehlerfreies, wenn auch etwas langsames Eng lisch sprach. Mit einfachen Rechenaufgaben wurde er schon sehr gut fertig. Mitte März etwa sollten die Stunden aufhören. Dann war zuviel zu tun auf der Farm, bis in den späten Abend hinein. Selina wollte es nicht wahrhaben, daß die Stunden aufhören würden, und versuchte, nicht an die Zeit nach dem Fünfzehnten zu denken. Es war an einem der letzten Februarabende, als Selina plötzlich eine seltsame Entdeckung machte. Sie ertappte sich nämlich dabei, daß sie ihre Augen von etwas fernhalten wollte und nicht dazu imstande war. Sie versuchte, nicht auf seine Hände zu sehen. Sie hatte ein wahnsinniges Verlangen, diese Hände zu berühren, sie an ihrem Halse zu fühlen, mit ihren Lippen langsam auf seinem Handrücken entlangzugleiten. Entsetzen packte sie: Ich werde verrückt, ich verliere den Verstand. Es muß etwas mit mir geschehen sein. Wie ich wohl aussehe? Es muß in meinem Gesicht geschrieben stehen. Sie sagte irgend etwas, nur damit er sie ansähe. In sei nem Blick war jedoch nichts von Überraschung oder gar Schrecken zu lesen. Also konnte man ihr die häßlichen Gedanken nicht ansehen. Von nun an wandte sie kein Auge mehr von dem Buch. Um halb neun klappte sie es plötzlich zu. »Ich bin müde. Offenbar liegt mir der Frühling in den Gliedern!« Sie quälte sich ein Lächeln ab. Er stand sofort auf und reckte sich in seiner ganzen stattlichen Größe. Selina fühlte, wie sie erschauerte. »Nur noch zwei Wochen«, sagte er, »dann sind die Stunden zu Ende. Glauben Sie, daß ich etwas gelernt habe?« 99
»Sie haben eine ganze Menge gelernt«, erwiderte Selina möglichst gelassen. Sie fühlte sich sehr müde. In der ersten Märzwoche wurde er krank und kam nicht. Er hatte einen seiner häufigen Rheumatismusanfälle. Seinem Vater, dem alten Johannes DeJong, war es ebenso ergangen - das Los der Gemüsefarmer. Wahrscheinlich war die Arbeit auf den nassen Feldern daran schuld. Nun hatte Selina abends wieder Zeit für Rolf. Sie nahm sich allerlei Näharbeiten vor, las, half Frau Pool im Haushalt und fand seltsamerweise Befriedigung darin. Zu guter Letzt schrieb sie Briefe, sogar einen an die beiden alten Tanten nach Vermont. An Julia Hempel zu schreiben, hatte sie inzwischen aufgegeben, weil sie niemals eine Antwort bekommen hatte. Sie hatte nur gehört, daß Julia einen Herrn Arnold aus Kansas heiraten sollte. Die ganze erste Märzwoche verstrich, ohne daß Pervus sich eingestellt hätte. Ebensowenig kam er am folgenden Dienstag und Donnerstag. Nach einem qualvollen Kampf mit ihrem Stolz ging Selina Donnerstag früh nach der Schule an seinem Hause vorbei. Er konnte ja annehmen, daß sie in der Gegend etwas zu besorgen hätte. Sie verachtete sich selbst und konnte doch nicht anders handeln, fand aber eine selbstquälerische Befriedigung darin, an dem Haus vorbeizugehen und nicht hinzusehen. Sie war bestürzt, unstet, aus dem Gleichgewicht. Die ganze Woche hindurch hatte sie ein sonderbares Gefühl gehabt - sie war ein Opfer widerstreitender Empfindungen. War ihr eben noch zum Ersticken heiß gewesen, so konnte im nächsten Augenblick eine vollständige innere Leere über sie kommen, als hätte man ihr das Mark aus den Knochen gesogen. Zeitweise litt sie unter 100
körperlichen Schmerzen, dann fühlte sie ein Loch an Stelle ihrer Eingeweide. Sie hatte keinen Augenblick Ruhe und doch zu nichts Lust. Hatte sie an dem einen Tage fieberhaft gearbeitet, so mochte sie am nächsten keinen Finger rühren. Maartje tröstete sie und schob al les auf den Frühling. Selina aber glaubte wirklich, krank zu werden. So war ihr im ganzen Leben nicht zumute gewesen. Sie hätte weinen mögen. Die Kinder in der Schule konnten ihr nichts mehr recht machen. Am Sonnabend - es war der vierzehnte März - kam er endlich. Es war gerade sieben Uhr. Klaas, Maartje und Rolf waren zu einer Versammlung nach Low Prairie gefahren. Selina blieb mit Jakob und den beiden kleinen Mädchen allein zu Hause. Sie hatte ihnen versprochen, Bonbons für sie zu machen, und war mitten drin, als er an die Küchentür klopfte. Das Blut schoß ihr ins Gesicht, und ihr Herz klopfte wie rasend. Er kam herein. Und schon hatte sie ihre Ruhe und Selbstbeherrschung vollständig wiedererlangt, und ihre Lippen formten fast von selbst die üblichen nichtssagenden Begrüßungsworte: »Guten Tag, Herr DeJong, wie geht es Ihnen? Nehmen Sie doch Platz! Im Wohnzim mer ist leider nicht geheizt.« Er half mit beim Bonbonmachen. Selina wartete umsonst darauf, daß Geertje und Jozina mit ihrem Gequietsche aufhörten. Es wurde halb neun, bis sie glücklich mit einem Teller voll Bonbons ins Bett verfrachtet waren. Sie nutzten die ungewohnte Freiheit von der elterlichen Aufsicht reichlich aus und vollführten einen Heidenlärm. »Na, Kinder, denkt daran, was ihr euren Eltern versprochen habt«, rief Selina ihnen zu. Deutlich hörte man, wie Geertje ihr nachäffte: »Denkt 101
daran, was ihr euren Eltern versprochen habt.« End loses unterdrücktes Gekicher. Pervus mußte in der Stadt gewesen sein, denn er zog eine Tüte mit einem halben Dutzend Bananen aus seiner Manteltasche. Zwei davon schälte Selina halb ab und brachte sie zu den Kindern hinein. Sie verschlangen sie mit einem wahren Jubelgeheul und waren gleich nach den letzten Bissen fest eingeschlafen. Pervus DeJong und Selina saßen am Küchentisch vor ihren aufgeschlagenen Büchern. In dem ganzen Raum roch es köstlich nach Bananen. Selina holte die Lampe mit dem Nickelfuß aus dem Wohnzimmer, damit es heller würde. »Sie wollten nicht nach Low Prairie? Herr und Frau Pool sind hingefahren.« »Nein. Ich bin zu Hause geblieben.« »Warum?« Er wollte nicht mit der Sprache heraus. »Ich bin zu spät fertig geworden. Ich war in der Stadt, und dann wurde es zu spät. Wir wollen morgen früh Tomaten in die Mistbeete säen.« Selina schlug ihre Grammatik auf und räusperte sich wie ein richtiger Schulmeister. »Also wir zerlegen den Satz: Blücher kam auf dem Schlachtfeld von Waterloo an, gerade als Napoleon zum letzten Schlage gegen Wellington ausholte. >Gerade< steht hier als näheres Bestimmungswort. Das heißt: >Gerade< bedeutet hier: zu der Zeit als... Und Wellington ist...« So ging es eine halbe Stunde lang weiter. Selina blickte unverwandt in ihr Buch. Geduldig zerlegte Pervus indessen seine langweiligen Sätze. Selina hörte kaum, was er sagte. Sie lauschte nur auf den Klang seiner tiefen Stimme, die in ihrem Inneren ein geheimnisvolles Echo weckte, so wie eine Harfe antwortet, wenn eine Hand 102
leise über ihre Saiten streicht. Oben wirtschaftete der alte Jakob noch eine Weile in seiner Kammer herum. Dann lag das Haus in tiefstem Schweigen. Selina starr te in ihr Buch. Und obwohl sie gar nicht zu Pervus hin blickte, sah sie die ganze Zeit über seine großen, starken Hände mit dem goldenen Haarflaum, der nach den Ge lenken zu dunkler wurde. Und plötzlich begann sie zu beten, um Kraft zu flehen gegen ihre Schlechtigkeit, ge gen die Sünde, in die sie verstrickt war. Sie betete inbrünstig und stark, wie sie es aus der Bibel gelernt hatte: »O Gott, halte meine Augen und meine Gedanken von ihm fern. Fern von seinen Händen. Hilf mir, daß ich meine Augen und meine Gedanken von den goldenen Härchen an seinen Handgelenken abwenden kann. Laß mich nicht mehr an seine Handgelenke denken ...« »Ein Bauer verkauft ein Stück Land von zwanzig Qua dratruten. Wieviel bekommt er dafür, wenn der Acker hundertfünfzig Dollar kostet?« Die Aufgabe brachte er glücklich zustande. Jetzt sollte er die Quadratwurzel aus fünfhundertsechsundsiebzig ziehen. Quadratwurzeln brachten ihn um. Sie wusch die Schiefertafel mit dem kleinen Schwamm ab. Er beugte sich weit vornüber, um keine der teuflischen kleinen Zahlen zu übersehen, die unter ihrem sachverständigen Stift fügsam aufmarschierten. Sie schnurrte das Ganze geläufig herunter. »Der Rest muß das doppelte Produkt aus Zehnern und Einern plus dem Quadrat der Einer enthalten.« Er sah sie ratlos an. »Und«, fuhr Selina munter fort, »das doppelte Produkt aus Zehnern und Einern plus dem Quadrat der Einer ist dasselbe wie die Summe der doppelten Zehner und der Einer, multipliziert mit den Einern. Daher« — jetzt kam's! — »muß man vier Einer zu vierzig hinzu 103
zählen und den Rest mit vier multiplizieren. Also ist die Quadratwurzel aus fünfhundertsechsundsiebzig gleich vierundzwanzig.« Sie war ganz außer Atem. Das Feuer im Küchenofen prasselte gemütlich. »Also jetzt versuchen Sie es mal selbst! Wir wischen das aus. Da! Was muß der Rest enthalten?« Er fing an, zögerte, stotterte ... Das Haus ringsum war so bedrückend still. Kein Laut außer seiner eigenen Stimme. »Der Rest... zweimal... Produkt... Zehner ... Einer ...« Etwas in seiner Stimme, eine Schwingung, ein Tonfall, war anders als sonst. Sie fühlte ein seltsames Schwanken, als ob das ganze Haus sich um sie drehte. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt, wohlige kleine Schauer liefen ihr die Arme hinauf, die Beine hinunter, über das Rückgrat... »plus dem Quadrat aus den Einern ist dasselbe wie die doppelte Summe der Zehner ... doppelte Summe der Zehner ...« Seine Stimme brach ab. Ihre Augen stürzten sich unbezwinglich auf seine Hände, und sie erschrak: die Hände waren zu Fäusten geballt. Ihre Blicke flogen weiter von diesen geballten Fäusten zu dem Gesicht des Mannes neben ihr. Ihr Kopf hob sich ihm entgegen, beugte sich zurück. Ihre weit geöffneten, verschreckten Augen begegneten den seinen, einer blendenden blauen Glut in seinem gebräunten Gesicht. Mit dem letzten Rest klaren Bewußtseins, der ihr geblieben war, nahm sie es auf. Dann lösten sich seine geballten Fäuste. Die blaue Glut versengte sie, hüllte sie ein. Ihre Wange empfand die harte, kühle Berührung einer männlichen Wange. Sie spürte den starken, erregenden, durchdringenden Duft seiner Nähe, eine Mischung aus Tabakrauch, seinem Haar, 104
frischgewaschener Wäsche, einen undefinierbaren Körpergerudi, der sie zugleich abstieß und anzog. Dann fühlte sie seine Lippen auf den ihren, und das Unglaubliche geschah, daß sie seine Küsse verlangend und hingegeben erwiderte.
7
Sie heirateten zwei Monate später, im Mai. In High Prairie endete der Schulunterricht praktisch mit dem Erscheinen der ersten grünen Schößlinge, das heißt, sobald Zwiebeln, Spinat und Radieschen aus dem schwarzen Boden hervorsproßten. Selinas Klassen lichteten sich täglich mehr. Und schließlich war aus der Schule ein richtiger Kindergarten geworden, denn nur die Fünfjährigen krabbelten noch im Schulsaal durcheinander. Alle Fenster standen weit offen, so daß die warme Frühlingsluft hereinströmen konnte. Es roch nach Erde und blühenden Wiesen. Der Schulofen stand rot vom Rost und kalt da, und die Wärmeröhre in Selinas Schlafzimmer vermochte sie nicht mehr zu verhöhnen. Selinas Stimmung schwankte noch immer zwischen Unruhe, Auflehnung und Zufriedenheit. Nach außen hin rettete sie sich gern in eine Art Galgenhumor. Im tiefsten Herzen aber hatte sie Angst. High Prairie war im Mai eine einzige Farbensinfonie in Grün, Gold, Rosa und Blau. Bunte Frühlingsblumen blühten auf allen Feldern und in allen Straßengräben. Leuchtend hoben sich Veilchen, Butterblumen, Alraunen und Leberblumen von dem frischen Grün der Wie 105
sen ab. Vom See her wehte es weich und kühl. Selina hatte niemals zuvor einen ländlichen Frühling erlebt. Sie litt fast körperlich unter den ungewohnt starken Eindrücken. Sie ging den ganzen Tag wie in halber Be täubung umher. Es kam ihr vor, als würde sie von einer geheimnisvollen Macht gegen ihren Willen und gegen alle eigenen Pläne zu etwas getrieben, was süß und schrecklich zugleich war. Nur wenn sie mit Pervus zusammen war, wurde sie vergnügt und mitteilsam. Er selbst redete nicht viel; ihm genügte es, wenn er sie an sehen durfte. Eines Tages brachte er ihr einen halbverwelkten Strauß Lilien mit. Tränen traten ihr in die Augen — er war stundenlang nach diesen Blumen gelaufen, nur weil sie eines Tages davon gesprochen hatte, wie sehr sie Lilien liebte. Da es sehr heiß war und er sie so lange hatte in der Hand halten müssen, waren sie schlaff und welk geworden. Er stand unten auf den Stufen, die in die Küche führten, sie in der offenen Küchentür. Sie nahm die Blumen und legte ihre Hand zärtlich auf seinen Kopf. Er war wie ein guter großer Hund, der im Hofe einen alten Knochen ausgegraben hat und ihn seinem Herrn vor die Füße legt. Es gab Tage, an denen ihr alles das unwirklich vorkam. Es konnte doch wohl nicht wahr sein, daß sie einen Ge müsefarmer heiraten und ihr ganzes Leben in High Prairie verbringen sollte? Das konnte, das durfte nicht sein! Wo blieb das große Abenteuer, von dem ihr Vater immer gesprochen hatte? Was wurde aus ihren heimlichen Luftschlössern, was aus ihren ganzen stolzen Zukunftsplänen? Der Winter in High Prairie hatte ja nur eine Episode sein sollen. Aber doch nicht ihr Leben selbst. Sie dachte an Maartje. Oh, so brauchte sie trotz 106
dem nicht zu werden. Das war unnötig und dumm. Sie würde im Hause nur rosa oder blaue Kleider tragen, bluten weiße Vorhänge an den Fenstern haben und natürlich Blumen in allen Zimmern. Sie faßte schließlich Mut und vertraute Maartje ihre geheimen Ängste und Kümmernisse an. »War Ihnen eigentlich auch so . . . so unheimlich ums Herz, wenn Sie ans Heiraten dachten, Frau Pool?« Maartjes Arme steckten bis zu den Ellbogen in einem Riesenklumpen Brotteig. Sie walkte und knetete aus Leibeskräften. Zwischendurch hielt sie den Teig mit einer Hand hoch, um mit der anderen frisches Mehl über das Backbrett zu stäuben. Bei Selinas Frage lachte sie kurz auf. »Ich bin sogar davongelaufen.« »Tatsächlich? Sie sind wirklich davongelaufen? Aber warum? Hatten Sie Klaas denn nicht lie ... gern?« Maartjes Gesicht war mit Röte übergössen. Es war nicht sicher, ob das von der Anstrengung des Knetens oder von Selinas Frage herrührte. Jedenfalls sah sie im Augenblick ganz anders aus als sonst, auffallend jung und mädchenhaft. »Natürlich hatte ich ihn gern. Sogar sehr.« »Und trotzdem liefen Sie davon?« »Ich lief ja nicht weit. Und kam auch wieder. Es hat noch nicht einmal jemand gemerkt. Aber ich lief eben weg.« »Warum sind Sie denn wiedergekommen?« Maartje erläuterte ihre Philosophie, ohne zu ahnen, daß man ihre Erklärungen mit einem so hochtrabenden Ausdruck hätte bezeichnen können. »Man kann überhaupt nicht weit genug fortlaufen. Vor dem Leben kann man nicht davonlaufen, oder man hört gleich ganz zu leben auf.« 107
Der mädchenhafte Ausdruck ihres Gesichts war ver schwunden. Plötzlich sah sie uralt und weise aus. Sie ließ die starken Arme einen Augenblick von der Arbeit ruhen ... Es fiel Selina nicht leicht, Rolf von neuem für sich zu gewinnen. Er war wie ein scheues kleines Tier, das un gerechterweise von seinem Herrn schlecht behandelt worden ist und nun nichts mehr von ihm wissen will. Sie verschwendete mehr Zärtlichkeit an diesen drei zehnjährigen Knaben, als sie dem Mann, den sie heiraten würde, je gewährt hatte. Rolf fragte sie eines Tages gerade heraus: »Warum heiraten Sie ihn eigentlich?« Den Namen sprach er nie aus. Sie dachte lange über die Antwort nach. Was sollte sie sagen? Der Junge konnte sie doch nicht verstehen. Da fiel ihr ein Vers aus »Lancelot und Elaine« ein, und sie erwiderte: »Um ihm zu dienen und ihm durch die gan ze Welt zu folgen.« Sie war stolz auf ihre poetische Antwort. Aber Rolf wies sie prompt zurück. »Das ist kein Grund. So was steht nur in Büchern. Ihm durch die ganze Welt zu folgen, ist sowieso Blödsinn. Er bleibt ja doch sein Leben lang in High Prairie.« »Woher willst du denn das wissen?« entgegnete Selina ärgerlich und überrascht. »Das weiß ich ganz genau. Er geht bestimmt nicht weg.« Und doch konnte er ihr nicht lange widerstehen. Sie brachten zusammen Pervus' kleinen Vorgarten in Ord nung, gruben und pflanzten mit Feuereifer. Pervus hat te aus der Stadt allerlei Blumensamen mitgebracht: Mohn, Astern, Iris und Clematis. Diese sollten an Stelle von wildem Wein zu beiden Seiten der Gartenpforte 108
gesät werden, weil sie so schnell wuchsen. Selinas Kenntnisse von den einzelnen Blumensorten waren die eines richtigen Stadtkindes; sie wußte nur, daß sie einen altmodischen Blumengarten haben wollte mit Ringelblumen, Nelken, Reseda und Phlox. Das DeJongsche Gehöft fiel selbst unter diesen bescheidenen Häusern als besonders häßlich auf. Die anderen hoben sich von ihm durch ihre tadellose Sauberkeit ab. Das Haus war schon über dreißig Jahre alt, ein alter, verwitterter Kasten aus grauem Fachwerk mit einem Mansardendach und einer geschmacklosen, kahlen Vor derfront. Es hätte neu angestrichen werden müssen. Alle Zäune waren wackelig, die Fenstervorhänge schief. In der Wohnstube roch es feucht und muffig. Die alte Frau, die für Pervüs den Haushalt führte, schlurfte den ganzen Tag mit einem Eimer und einem nassen grauen Lappen umher. Stets sah man auf dem Tisch einen Berg von schmutzigem Geschirr, der niemals abnahm; denn wenn sie noch mitten im Abwaschen war, wurde es schon wieder Zeit zur nächsten Mahlzeit. Das ganze Haus war unwohnlich und kahl und verriet auf Schritt und Tritt das Fehlen einer liebevollen weiblichen Hand. Selina versicherte sich und Pervüs, daß alles bald anders werden würde. Sie sah sich schon im Geist mit einem Pinsel und einem Topf weißer Farbe am Werk, um überall Schönheit zu verbreiten, wo vorher nur Häßlichkeit gewesen war. Ihre Aussteuer war denkbar bescheiden. Pervüs hatte in seinem Haushalt reichlich Wäsche und Möbel. Viel schwieriger war die Frage des Brautkleides. Aber Maartje kam ihr zu Hilfe und schlug ihr vor, sich in der holländischen Brauttracht aus der alten Truhe trauen zu lassen. 109
»Dann sind Sie eine richtige holländische Braut«, sagte Maartje. »Das wird Ihrem Mann gefallen!« Pervus strahlte wirklich vor Entzücken, und Selina fühlte sich in seiner Liebe so wohl wie ein Kätzchen im Sonnenschein. Das alte holländische Brautkleid war ihr natürlich viel zu weit. In den Rockbund hätte sie zweimal hineingepaßt. Ihre schmalen, zarten Schultern ver schwanden fast in dem reichlich geschnittenen Oberteil, aber die Wirkung des Ganzen war unsagbar eigenartig und rührend. Die Flügel der reichgestickten weißen Haube umrahmten malerisch ihr blasses Gesichtchen, aus dem die Augen noch größer und dunkler leuchteten als sonst. Sie hätte gar zu gern auch die handgeschnitzten Schuhe angezogen; aber sie gab den Gedanken gleich beim ersten Versuch auf. Ihre Füße waren darin so verloren wie ein kleiner Stichling in einem großen Ruder boot. Die Hochzeit wurde bei Pools gefeiert. Klaas und Maartje hatten es sich nicht nehmen lassen, das Hoch zeitsessen auszurichten. Es gab Schinken, gebratene Hähnchen, Würste, Kuchen, Eingemachtes und Bier. Pastor Dekker traute sie. Selina schämte sich noch lange hinterher, daß sie von der Predigt so gut wie nichts be halten hatte, weil sie immerfort auf seinen struppigen kurzen Bart hatte blicken müssen, der bei jedem Wort hin und her wackelte. Man sah es Pervus an, daß er sich in seinen steifen, feierlichen Sonntagskleidern gar nicht wohl fühlte - in seinen gewöhnlichen Manchesterhosen und seinem einfachen blauen Hemd sah er tausendmal hübscher aus. Mitten in der Trauzeremonie hatte Selina wieder einen ihrer Angstanfälle: sie sah sich plötzlich laut schreiend aus der Kirche stürzen und auf der Land straße davonrennen, so schnell sie ihre Füße trugen. So 110
stark war diese Vorstellung, daß sie später nie begriff, wie sie hatte stehenbleiben und an der richtigen Stelle »Ja« sagen können. Das kostbarste ihrer wenigen Hochzeitsgeschenke war eine Hängelampe von Pools, wie sie sich jede Farmersfrau im Traume wünscht, ein scheußliches gelbes Ungetüm mit rosa Rosen auf dem Schirm und baumelnden Glasprismen. Sie sollte im Wohnzimmer über dem Tisch hängen und ließ sich hinauf- und herunterbewegen. Von der Witwe Paarlenberg kam ein Bowlenservice aus mattiertem Glas, das in allen Farben vom hellsten Rosa bis zum tiefsten Pupurrot schimmerte. Rolf schenkte ihr eine Brauttruhe. Wochenlang hatte er abends heimlich daran gearbeitet und sich genau an das Vorbild der alten Truhe in Selinas Schlafzimmer gehalten. Er hatte sogar auf die Vorderseite ihre Initiale geschnitzt, die denen auf der alten Truhe so merkwürdig ähnlich waren: S. P. D., daneben die Jahreszahl - 1890. Es war für einen dreizehnjährigen Knaben eine außerordentliche handwerkliche Leistung, die jedem Mann Ehre gemacht hätte. Neben den anderen unschönen Hochzeitsgeschenken sah die Truhe doppelt wundervoll aus. Selina hatte sich mit Tränen in den Augen bei ihm bedankt. »Rolf, versprich mir, daß du mich oft besuchen wirst. Oft!« Als er nicht gleich antwortete, fügte sie hinzu: »Ich werde dich brauchen. Du bist ja alles, was ich habe.« Für eine Braut entschieden ein merkwürdiger Ausspruch. »Ich komme«, hatte Rolf so kühl und gleichgültig wie möglich geantwortet. »Ich komme bestimmt bald mal.« Gleich nach der Hochzeit fuhren sie nach Hause. Im Mai kann ein Gemüsefarmer seinen Garten keinen einzigen Tag lang im Stich lassen. Das Haus war für ihre 111
Ankunft vorbereitet worden. Die alte Haushälterin hatte ausgewirtschaftet. Ihr Schlafzimmer neben der Küche stand leer. Während des ganzen Hochzeitsessens hatte Selina lauter beängstigend törichte und absonderliche Gedanken gehabt: Jetzt bin ich also wirklich verheiratet. Ich bin Frau Pervus DeJong. Ein hübscher Name. Würde gar nicht übel auf einer eleganten kleinen Visitenkarte aus sehen: FRAU PERVUS DEJONG freitags zu Hause
Später, als sie, Frau Pervus DeJong, nicht nur freitags, sondern auch sonnabends, sonntags, montags, dienstags, mittwochs und donnerstags zu Hause war, mußte sie oft voll Galgenhumor an diese Phantasien zurückdenken. Sie fuhren die Landstraße entlang zur Farm. Selina mußte sich immer wieder vorsagen, daß sie mit ihrem Mann auf dem Weg nach Hause sei, daß sie seine Schulter an der ihren fühle. Sie wäre froh gewesen, wenn er etwas gesagt, wenn er sich mit ihr unterhalten hätte. Aber Angst hatte sie doch wohl nicht mehr? Pervus' Marktwagen stand mit herabhängender Deichsel im Hof. Eigentlich hätte er heute zum Markt fahren müssen. Morgen würde er es ganz gewiß tun, und zwar zeitig am Nachmittag, um sich einen guten Platz auf dem Heumarkt zu sichern. Im Laternenlicht erschien ihr der Wagen geradezu symbolisch. Sie hatte ihn vorher schon oft gesehen, jetzt aber gehörten sie beide eng zusammen, der DeJongsche Marktwagen und sie, Frau 112
DeJong. Erst jetzt kam ihr zum Bewußtsein, was für ein jämmerlicher alter Karren er war gegen den hüb schen festen Wagen im Poolschen Hof mit dem lustigen grünen Anstrich und den roten Buchstaben darauf: »Klaas Pool, Handelsgärtnerei«. Pervus half ihr vom Wagen. Dabei legte er den Arm um sie und hielt sie so einen Augenblick fest. Selina sagte: »Du mußt den Wagen anstreichen lassen, Pervus, und die Federn unter dem Sitz müssen festgemacht werden, und das Brett an der Seite ist entzwei.« Er war sprachlos. »Den Wagen?« »Ja, er sieht geradezu unmöglich aus!« Das Haus war leidlich aufgeräumt, sauber war es deshalb noch lange nicht. Pervus machte Licht. Im Küchenofen brannte Feuer, obwohl der Maiabend warm war. Die Luft im Hause erschien dadurch nur noch dumpfer. Selina dachte an ihr kleines Zimmer bei Pools, das ihr nun nicht mehr gehörte, und wie herrlich kühl und still es jetzt dort sein mußte. Pervus brachte das Pferd in den Stall. Das Schlafzimmer lag hinter dem Wohnzimmer. Das Fenster war natürlich geschlossen. Selina hatte im letzten Jahr gelernt, schon am Abend zuvor alles so für den nächsten Morgen zurechtzulegen, daß sie beim Aufstehen möglichst wenig Zeit verlor. Mechanisch verfuhr sie jetzt ebenso. Sie zog ihre weiße, gestickte und gefälbelte Unterwäsche aus, die drei steifgestärkten Unterröcke, die kleine Untertaille, und tat alles in die Kommode, die sie selbst in der vorhergehenden Woche gesäubert und mit Papier ausgelegt hatte. Sie bürstete genauso sorgfältig wie sonst ihr Haar und ordnete die Kleider für den kommenden Tag. Endlich zog sie ihr
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langärmeliges, hochgeschlossenes Nachthemd an und schlüpfte in das fremde Bett. Sie hörte, wie Pervus DeJong die Küchentür zumachte; die Klinke schnappte ein, der Schlüssel drehte sich im Schloß. Schwere schnel le Schritte auf dem kahlen Küchenfußboden. Dieser Mann kam jetzt gleich in ihr Zimmer... »Man kann überhaupt nicht weit genug fortlaufen«, hatte Maartje Pool gesagt. Als Pervus sie am nächsten Morgen um vier Uhr weckte, war es noch dunkel. Sie fuhr mit einem leisen Schrei in die Höhe und saß aufrecht im Bett, angespannt lauschend, mit weit geöffneten Augen. »Bist du's, Vater?« Sie war wieder die kleine Selina Peake, und Simeon Peake war eben nach einer durchspielten Nacht angeregt und guter Dinge nach Hause gekommen. Pervus lief schon in Strümpfen durchs Zimmer. »Wie ... wie spät ist es denn? Was ist los, Vater? Warum bist du noch nicht im Bett?...« Dann fiel ihr alles wieder ein. Pervus DeJong lachte und kam näher zu ihr. »Aufstehen, kleiner Faulpelz. Es ist schon vier vorbei. Die ganze Arbeit von gestern wartet auf mich, und die von heute dazu. Schnell, mach Frühstück, kleine Lina. Du bist jetzt eine Farmersfrau.«
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Anfang Oktober erzählte es in High Prairie eine Frau der anderen, daß Frau DeJong in anderen Umständen sei. Am 15. März wurde Dirk DeJong in dem Schlafraum hinter dem Wohnzimmer geboren, von einer ver störten und etwas ungnädigen, aber tief berührten Mutter. Der Vater trug in seinem närrischen Stolz eine Siegermiene zur Schau, die in keinem Verhältnis stand zu der geringfügigen Rolle, die er in der ganzen langwierigen und beschwerlichen Angelegenheit gespielt hatte. Mit dem Namen Dirk verband Selina die Vorstellung von etwas Großem, Aufrechtem und Schlankem. Pervus hatte ihn ausgesucht. Sein Großvater hatte so geheißen. In den ersten Monaten nach ihrer Heirat mußte Selina oft an ihren ersten Winter in High Prairie denken. Sie hatte weder ihr eiskaltes Schlafzimmer mit der frostigen Wärmeröhre noch den Schulofen, ihre Frostbeulen und das unvermeidliche Schweinefleisch vergessen, und trotzdem erschienen ihr die Wochen bei Pools wie ein lieblicher Traum, wie eine Zeit voller Behagen, Freiheit und sorglosem Glück. Das eiskalte Schlafzimmer hatte ihr gehört; der weite Schulweg war auch an bitterkalten Wintermorgen ein Spaziergang gewesen und der widerspenstige Schulofen die reinste Spielerei. Pervus DeJong liebte seine hübsche junge Frau ebenso wie sie ihn. Aber junge Liebe braucht Wärme und Schönheit zu ihrem Gedeihen. Sie wird prosaisch und verliert ihren heimlichen Zauber, wenn jeder Tag unweigerlich morgens früh um vier beginnt; wenn man unausgeschlafen nach seinen Kleidern tastet, die an Stuhl oder Bettpfosten baumeln; und wenn man abends
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um neun mit tauben Gliedern und erschlagen vor Müdigkeit nach siebzehn Stunden schwerer körperlicher Arbeit ins Bett fällt. Es war ein nasser Sommer. Pervus' sorgsam ausgewähl te Tomatenpflanzen, die er in der Hoffnung auf einen trockenen Sommer so sorgfältig gepflanzt hatte, standen trostlos und halb verfault in einer Schlammwüste. Das ganze Feld trug schließlich eine einzige Tomate, so groß wie eine Kindermurmel. Im übrigen hatte Pervus eine einigermaßen gute Ernte. Aber mit welch harter Arbeit war sie erkauft! Er und sein Tagelöhner Jan Steen hatten keinerlei landwirtschaftliche Maschinen, sondern gebrauchten den Handpflug und den Handsäer. Sie kamen Selina wie Sklaven der unzähligen kleinen Keime und Schößlinge vor, die mit hunderttausend Stimmen unaufhörlich riefen: »Laßt mich heraus, laßt mich heraus!« Auch bei Pools hatte sie gesehen, daß Klaas, Jakob und Rolf von früh bis spät zu tun hatten. Aber sie war im Winter dort gewesen, und im Winter hat der Gemüsefarmer ja bei nahe Ferien. Im November war sie hingekommen, im Mai hatte sie geheiratet. Von Mai bis Oktober aber verlangten die Felder eine Anspannung der Kräfte, die schon an Wahnsinn grenzte. Selina hatte früher keine Ahnung davon gehabt, daß es Menschen gab, die sich so für ihren Lebensunterhalt abrackern mußten. In High Prairie erlebte sie das zum erstenmal. Jetzt sah sie täglich, wie ihr eigener Mann unter Schweiß und unsäglicher Mühe mit der Kraft seiner Muskeln dem Boden das Notwendigste abrang. Im Sommer strotzte der gute schwarze Boden meilenweit in der Runde von Fruchtbarkeit wie ein einziges überquellendes Gewächshaus. In dieser Zeit wurde in 116
Selina eine Liebe zur Erde wach, die ihr Leben lang an hielt. Vielleicht hing es auch mit dem Kind in ihrem Leibe zusammen. Sie fühlte sich tief im Innern mit dem Erdreich verwandt, das soviel Kraft verschwendete und so reiche Erfüllung verhieß. Manchmal hielt sie in der Hausarbeit einen Augenblick inne und stand in der of fenen Küchentür, das erglühende Gesicht den Feldern zugewandt. Welle auf Welle von sattem Grün, Welle auf Welle, bis alles zu einem einzigen blühenden See zusammenfloß. Genauso wie Kohl für Klaas Pool eben Kohl war und nichts weiter, sah auch Pervus in seinen Mohren, Rüben, Zwiebeln und Radieschen nichts als Gemüse, das man pflanzen, pflegen, ernten und zu Markt bringen mußte. Aber für Selina wurden sie in diesem Sommer ein lebendiger Teil in dem Riesenmechanismus der gan zen Welt. Pervus, Erde, Sonne, Regen - lauter Elementarkräfte, die für Millionen Lebewesen Nahrung schaff ten. Der schmutzige kleine Bauernhof wurde zu einem Königreich, die behäbigen holländisch-amerikanischen Gemüsefarmer zu Hohenpriestern, die im Dienst der Gottheit Erde standen. Sie dachte an die vielen tausend Kinder in Chikago. Wenn sie rote Backen, helle Augen und einen klaren Verstand besaßen, so hatten sie das alles Pervus zu verdanken, der ihnen zu ihrer richtigen Ernährung verhalf. Man sprach damals noch nicht so viel von Eisen, Arsen und Vitaminen in Zusammenhang mit der menschlichen Ernährung. Und doch ahnte Selina, was es bedeutete, wenn die zahllosen, unermüd lich arbeitenden Gestalten auf den Feldern mit gebeugtem Rücken tagaus tagein geduldig die gleiche schwere Arbeit verrichteten. Sie versuchte zuweilen, ihre Gedanken Pervus mitzuteilen.
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Aber er starrte sie ohne einen Schimmer von Verständnis in seinen blauen Augen an. »Farmarbeit nennst du wundervoll! Farmarbeit ist das Trostloseste, was es gibt. Für den ganzen Wagen voll Mohren habe ich gestern nicht einmal so viel bekommen, daß ich dir die Sachen für das Kind hätte mitbringen können, damit du ihm etwas anziehen könntest, wenn es zur Welt kommt. Am besten wirft man alles gleich dem Vieh vor!« Pervus fuhr jeden zweiten Tag nach Chikago auf den Markt. Im Juli und August kam er manchmal eine ganze Woche nicht aus den Kleidern. Gleich nach dem Mittagessen lud er mit Jan Steen zusammen das Gemüse in den Wagen. Um vier fuhren sie ab. Auf dem historischen alten Heumarkt in Chikago westlich der Randolfstraße versammelten sich alle Gemüsegärtner aus der Umgebung. Hier stellten sie ihre Wagen auf, damit der Verkauf gleich früh am nächsten Morgen beginnen könne. In drei Reihen standen die Karren nebeneinander, zwei Reihen an den Bordsteinen entlang, die dritte in der Straßenmitte. Wer zuerst kam, erwischte den besten Platz, eine feste Verteilung der Standplätze gab es nicht. Pervus versuchte es möglichst so einzurichten, daß er stets vor neun auf dem Heumarkt war. Oft aber zwangen ihn die schlechten Straßen zu beträchtlichen Umwegen, und er kam zu spät. Das bedeutete dann gewöhnlich für den nächsten Tag ein schlechtes Geschäft. Die Männer schliefen zum größten Teil auf ihren Wagen. Sie legten sich, so gut es eben ging, auf den vorderen Sitz oder streckten sich auf den Säcken aus. Die Pferde hatten es tatsächlich besser als ihre Herren, denn sie wurden in benachbarten Schuppen und Ställen untergebracht. In den gegenüberliegenden, mehr als be 118
scheidenen kleinen Gasthäusern konnte man für fünf undzwanzig Cent ein Zimmer bekommen. Aber die Zimmer waren klein und muffig, nicht besonders sauber, und die Betten nicht viel bequemer als die Wagen. Und überdies, fünfundzwanzig Cent! Soviel bekam man für einen halben Zentner Tomaten und für einen ganzen Sack Kartoffeln. Ein Sack Zwiebeln brachte fünfundsiebzig Cent ein, und wenn man für hundert Kohlköpfe zu je fünf Pfund zwei Dollar bekam, konn te man froh sein. Fuhr man mit zehn Dollar in der Ta sche nach Hause, so war der Verdienst im Grunde gleich Null; man mußte schon zusehen, daß man mehr ein nahm. Nein, man warf nicht fünfundzwanzig Cent zum Fenster hinaus, nur um in einem Bett schlafen zu dürfen. An einem schönen Junitag, ungefähr einen Monat nach ihrer Hochzeit, fuhr Selina mit Pervus nach Chikago. Sie saß in ihrem besten Staat neben ihrem Mann vorn auf dem Sitz, eine kleine, auf dem hoch mit Frischgemüse beladenen Karren etwas seltsam wirkende Gestalt. Sie waren am Nachmittag schon vor vier Uhr fortgefahren und kamen um neun in der Stadt an. Eine mühselige Fahrt, denn die Straßen waren von den letzten Mairegen her noch aufgeweicht — sozusagen ihre Hochzeitsreise. Selina hatte seit ihrem Hochzeitstag die Farm nicht verlassen. Die Sonne meinte es gut. Selina hatte ihren Sonnenschirm aufgespannt und sah sich ver gnügt und voller Interesse nach allen Seiten um. Ihr Mund stand keinen Augenblick still. Ihr Kopf flog bald nach rechts und bald nach links, und sie hatte tausenderlei zu fragen. Sie wünschte sich manchmal, daß Per vus auf ihre gute Laune mehr einginge. Sie war ein leb haftes, gesprächiges kleines Personellen und schien ihn 119
zu umkreisen wie ein munterer kleiner Foxterrier einen schwerfälligen Bernhardiner. Auf der Fahrt rückte sie endlich auch mit den großarti gen Plänen heraus, mit denen sich ihre Phantasie in den vergangenen vier Wochen unaufhörlich beschäftigt hatte. Aber sie hatte keine vier Wochen - sie hatte wahrscheinlich keine vier Tage gebraucht, um dahinterzu kommen, daß ihr großer breitschultriger Mann im Grunde ein Kind war. Er war zartfühlend und gut, doch er hatte auch nicht eine Spur Unternehmungslust oder Phantasie. Sie wunderte sich jetzt noch darüber, woher er damals bei der Versteigerung den Mut genommen hatte, auf ihren Korb mitzubieten. Es schien un glaublich, obwohl er selbst gern darauf zurückkam mit einem männlich selbstgefälligen Kopfnicken und einem breiten Grinsen. Er war trotz allem ein ziemlich dumpfer, schwerfälliger Mensch. Selinas sprühendes Temperament, ihre gesunde Durchtriebenheit und ihre Abenteuerlust blieben ihm immer unverständlich. Das Feuer werk ihrer Worte ließ er mit gemischten Gefühlen halb Stolz, halb Unbehagen - über sich ergehen. Mit der Tatkraft Jungverheirateter Frauen ging Selina daran, ihren Mann umzumodeln. Ihr hübscher, gutmütiger Pervus war langsam, konservativ und verschlos sen. Sie aber wollte ihn durchaus unternehmungslustig, wendig und draufgängerisch haben. So setzte sie ihm jetzt während der rumpligen Fahrt auf der Halsteder Straße in großen Zügen ihre Pläne auseinander. »Pervus, sowie die Sommerarbeit vorbei ist, müssen wir das Haus anstreichen lassen. Am besten im Oktober, ehe der Frost einsetzt. Weiß wäre hübsch, mit grünen Fensterläden. Aber vielleicht ist Weiß nicht sehr praktisch. Man könnte auch Grün nehmen, mit dunkelgrü
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nen Fensterläden. Das wäre ein entzückender Hinter grund für die Stockrosen. Und dann wollen wir mit Drainieren anfangen.« »Ach, drainieren«, murmelte Pervus, »bei dem Lehm boden! Da kannst du drainieren, soviel du willst. Es ist und bleibt harter Lehmboden.« Aber Selina ließ sich nicht einschüchtern. »Das weiß ich auch. Du mußt eben richtige Tonröhren legen. Und ... einen Augenblick ... Humus brauchen wir. Ich weiß, was Humus ist ... verfaultes Gemüse. Neben der Scheune liegt immer ein ganzer Haufen. Und du hast ihn auf das gute Land getan! Mit dem Lehm ist es gar nicht so schlimm; ein Teil davon ist guter Mutterboden. Er muß bloß drainiert und ordentlich gedüngt werden. Auch mit Pottasche und Phosphorsäure.« Pervus ließ ein breites Lachen hören, das Selina gegen ihn aufbrachte. Er legte eine seiner großen braunen Hände beschwichtigend an ihre rot gewordene Wange und kniff sie leicht hinein. »Laß das!« sagte Selina und wandte unwillig den Kopf ab. Es war das erstemal, daß sie eine Liebkosung von ihm zurückwies. Pervus lachte nur noch mehr. »Sieh einer an, aus dem Schulmeister ist ein Bauer geworden, was? Ich wette, die Witwe Paarlenberg weiß nicht halb soviel wie mein kleiner Farmer von« - er prustete von neuem los »von Pottasche und - wie hieß das andere Zeug? Ja, sag mal, kleine Lina, wo hast du denn diese ganze Weisheit her?« »Aus einem Buch«, sagte Selina ziemlich schnippisch. »Ich habe es mir aus Chikago kommen lassen.« »Aus einem Buch!« Er schlug sich aufs Knie. »Ein Gemüsefarmer aus einem Buch!« 121
»Warum eigentlich nicht? Der Mann, der das geschrieben hat, versteht mehr vom Gemüsebau als ganz High Prai rie zusammen. Er weiß über alle neuen Methoden Bescheid. Du bewirtschaftest die Farm noch genauso, wie du es von deinem Vater gelernt hast.« »Was für meinen Vater gut genug war, ist auch für mich gut genug.« »Nein«, rief Selina, »das ist es nicht! In dem Buch steht zum Beispiel, daß Lehmboden sich für Kohl, Erbsen und Bohnen gut eignet. Man muß eben nur wissen, wie man's macht! Das steht ja gerade drin!« Sie war ganz außer sich über seine Schwerfälligkeit und hätte ihn am liebsten bei den Schultern genommen und geschüttelt. Einmal im Zuge, fuhr sie fort: »Wir brauchten dringend ein zweites Pferd für den Marktwagen. Überlege nur, wieviel Zeit du dadurch sparen würdest, die dir bei der Feldarbeit zugute käme! Zwei Pferde und einen neuen Wagen, am liebsten grün und rot wie der von Klaas Pool.« Pervus starrte zwischen den beiden Pferdeohren hindurch geradeaus auf die Straße. Selina mußte an ihre erste Fahrt mit Klaas Pool denken. »Das ist doch Geschwätz!« »Gar kein Geschwätz. Das sind Pläne! Du mußt planen.« »Geschwätz!« »Ah!« Selina kochte innerlich vor Wut. Es fehlte nicht viel, und sie hätten sich zum erstenmal gezankt. Dabei sah es wirklich so aus, als ob Pervus recht behalten sollte. Denn nach zwei Jahren waren die Äcker noch dieselbe zähe, lehmige unergiebige Masse. Und das alte 122
Haus starrte noch ebenso schäbig und ungestrichen aus den dichten Weiden am Straßenrand. Sie schliefen in dieser Nacht für fünfundzwanzig Cent in einem Logierhaus. Das heißt, nur Pervus schlief. Die Frau lag wach und horchte auf die ungewohnten nächtlichen Geräusche der großen Stadt. Sie starrte so lange in das blauschwarze Rechteck des offenen Fensters, bis es zu dämmern begann. Vielleicht weinte sie ein wenig. Aber am Morgen hätte Pervus - wäre es ihm gegeben gewesen, solche Beobachtungen zu machen - bemerken können, daß sich jene feine Linie am Kinn nachdrücklicher denn je abzeichnete: Selina dachte nicht daran, auch nur einen einzigen ihrer Plane fallenzulassen. Sie stand wie Pervus kurz vor vier auf und war froh, als sie aus dem dumpfen kleinen Zimmer mit der fleckigen grünen Tapete und den wackeligen alten Möbeln herauskam. Unten im Gastzimmer tranken sie eine Tasse Kaffee und aßen eine Schnitte Brot dazu. Selina wartete, bis Pervus das Pferd versorgt hatte. Fünfundzwanzig Cent bekam der Wächter, der in der Nacht auf den Wagen aufgepaßt hatte. Es war noch beinahe dunkel, als der Verkauf begann. Selina sah vom Wagen aus, der mit Hunderten anderer auf dem Heumarkt in einer Reihe stand, aufmerksam zu. Immer deutlicher kam ihr zum Bewußtsein, von wie vielen widrigen Zufällen diese rückständige Art des Verkaufens abhing: und dafür hatte Pervus mit schmerzendem Rücken und müden Armen arbeiten müssen. Aber sie sagte nichts. Das ganze erste Jahr hindurch und auch das zweite kam sie kaum aus dem Hause. Pervus hatte bestimmt, daß seine Frau niemals wie viele andere Frauen und Mäd chen aus High Prairie auf dem Felde arbeiten dürfte. Bares Geld war fast nie im Hause. Pervus brachte mit 123
Mühe und Not den geringen Monatslohn für den halb kindischen Jan Steen auf, der im Sommer bei ihm arbeitete. Selina lernte viel in diesem ersten Jahr, aber sie sprach nicht darüber. Sie hielt das Haus in Ordnung und brachte es trotz der vielen groben Arbeit wie durch ein Wunder fertig, stets frisch und sauber auszusehen. Jetzt verstand sie Maartjes vernachlässigte Kleidung, ihr gehetztes Gesicht, ihre Ruhelosigkeit besser. Schon im Juli verzichtete sie endgültig auf ihre Pläne von hübschen Blumentöpfen in allen Fenstern. Und es lag nur an Rolfs treuer Pflege, wenn die mit soviel stolzen Hoffnungen angelegten Blumenbeete nicht gänzlich verküm merten. Rolf kam oft. Die Stille und der Frieden im Hause hat ten es ihm angetan. Selina hatte das von ihrem Vater geerbte kleine Bankguthaben für die Verschönerung des Hauses ausgegeben. Aber sie besaß noch einen der wei ßen Diamanten. Sie hatte ihn in den Saum eines alten wollenen Unterrockes eingenäht. Eines Tages hatte sie ihn Pervus gezeigt. »Wenn ich den verkaufe, dann können wir vielleicht genug Geld dafür bekommen, um die Felder zu drainieren.« Pervus wog den Stein zweifelnd in seiner großen Hand und blinzelte unsicher wie immer, wenn er von einer Sache nichts verstand. »Wieviel bekommt man dafür? Höchstens fünfzig Dollar. Ich brauche aber mindestens fünfhundert.« »Soviel hatte ich auf der Bank liegen.« »Na, vielleicht nächstes Frühjahr. Jetzt habe ich zuviel zu tun.« Das schien Selina kaum ein stichhaltiger Grund. Aber 124
sie war zu jung verheiratet, um ihren Willen mit Gewalt durchsetzen zu wollen, zu verliebt und noch zu unerfahren in landwirtschaftlichen Dingen. Aber es reichte wenigstens zu einem Topf mit weißer Farbe und zu einem ordentlichen Pinsel. Wochenlang war es im DeJongschen Hause gefährlich, sich irgendwo hinzusetzen oder sich anzulehnen. Selina hätte sich sogar mit einer Riesenkanne Farbe und einem zwei Meter langen Pinsel an die Außenseite des Hauses gewagt, wenn Pervus sich nicht ins Mittel gelegt hätte. Sie nähte hübsche weiße Vorhänge und bunte Überzüge für das Wohnzimmersofa und die Stühle und abonnierte eine Zeitschrift mit dem Titel »Haus und Garten«. Rolf und sie vertieften sich gemeinsam in diese spannende Lektüre. Mit leidenschaftlichem Interesse und teils begeisterten, teils kritischen Ausrufen verschlangen sie lange Artikel über Terrassen, Teiche, Butzenscheiben, kattunbezogene Möbel, Kamine, Eibenbäume, Gartenlauben und Springbrunnen. Selina schwankte, wofür sie sich entscheiden sollte: für ein englisches Schlößchen mit Säulengang, Erkern und Fliesen oder für ein italienisches Landhaus mit einer breiten Terrasse, auf der sie im schleppenden weißen Gewände mit einem russischen Windhunde stehen würde. Ein Glück, daß niemand diese Unterhaltungen belauschte, diese Gespräche zwischen der jungen Frau, die ihr Leben lang ein Kind bleiben sollte, und dem Bauernjungen, der nie ein richtiges Kind gewesen war. Die guten High Prairier hätten wahrscheinlich mit dem Schrei »Gerechter Himmel« beide Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Selina hatte überhaupt seltsame Einfälle: sie stellte zum Beispiel Rolfs schöne geschnitzte Truhe so auf, daß ihr Kind sie morgens beim 125
Erwachen sofort sehen mußte. Die Truhe war ihr kostbarster Besitz. Sie hatte auch ein unvollständiges altes holländisches Tonservice, das von Pervus' Großmutter stammte. Davon aßen sie jeden Sonntagabend, obwohl es Pervus nicht recht war. Dirk erhielt seine Milch in einer der wundervollen rubinroten Tassen, was Pervus reichlich verrückt vorkam. Selina stand jeden Tag um vier Uhr auf. Das Anziehen besorgte man rein mechanisch so schnell wie möglich. Das Frühstück mußte auf dem Tisch stehen, wenn Pervus und Jan aus dem Stall kamen. Dann hieß es sauber machen, Hühner füttern, nähen, waschen, plätten und kochen. Sie rechnete sich aus, wie sie die Anzahl der notwendigen Schritte auf ein Mindestmaß beschränken und sich die Arbeit erleichtern könne. Sie sah immer deutlicher, wie schlecht die kleine Farm bewirtschaftet wurde, daß es an Umsicht, Anpassungsfähigkeit und - sie gab es tapfer zu - an einer klugen Leitung fehlte. Sie hatte den großen, schwerfälligen guten Jungen, den sie geheiratet hatte, von Herzen gern. Aber durch den Schleier ihrer Liebe sah sie ihn mit erstaunlicher Klarheit so, wie er wirklich war. Mit einer Art von sechstem Sinn erwarb sie sich Kenntnisse von Farmarbeit, Gemüseanbau und Marktwesen. Sie machte Augen und Ohren auf und lernte stillschweigend eine ganze Menge über Pflanzen, Bodenbeschaffenheit, über Witterungseinflüsse und Verkaufsbedingungen. Die ganze Plage des Farmlebens kannte sie jetzt zur Genüge; von seiner Großzügigkeit und Fülle aber, wie sie etwa auf den weiten Kornfarmen in Illinois oder Kansas zu finden war, merkte sie nichts. Sie war sich völlig darüber klar, daß eigentlich jede Krume Land aufs äußerste hätte ausgenutzt werden müssen. Statt dessen blieben ganze 126
Äcker einen großen Teil des Jahres über so gut wie ohne Ertrag, und es war kein Geld da, um sie zu drainieren oder sonst etwas für ihre Verbesserung zu tun; viel weniger noch konnte man von dem benachbarten guten Land etwas hinzukaufen. Sie kannte den Ausdruck »intensive Bodenbewirtschaftung« nicht, aber genau das schwebte ihr vor. Pervus kam es nicht in den Sinn, dem tückischen Klima im Gebiet der Großen Seen mit künst lichen Schutzmaßnahmen zu begegnen. Bald herrschte eine solche Bruthitze, daß die Erde dampfte und die Pflanzen förmlich aus dem Boden hervorschossen, so daß man sie buchstäblich wachsen sehen konnte. Dann wieder wehte ohne Vorzeichen ein eisiger Wind vom Michigansee herüber und vernichtete heimtückisch alle zarten grünen Triebe. Mistbeete, Blumenkästen und Ge wächshäuser wären am Platze gewesen. Fast nichts von alledem war da. Das alles sah Selina wohl, aber sie gab sich keine Rechenschaft darüber. Sie hatte genug im Hause zu tun. Ihr körperlicher Zustand beherrschte ihre Stimmung: halb verträumt und halb glücklich tat sie ihre Arbeit. In den ersten kühleren Herbstwochen ging sie manch mal gegen Abend zu Pervus und Jan hinaus aufs Feld. Die Männer waren eifrig bei ihrer Arbeit. Selina stand da und sah ihnen zu. Der Wind zerzauste ihr das Haar und spielte in ihren Röcken. Sie hob ihr braungebranntes Gesicht wie eine Blume der Sonne entgegen. Bisweilen hockte sie wie ein kleiner Vogel auf einem Haufen leerer Säcke oder auf einem ungekehrten Korb, aber niemals ohne eine Näharbeit in den Händen. Das wa ren ihre glücklichsten Stunden, nicht gerechnet den Stich, den es ihr gab, wenn sie die dunklen Schweißflecke auf Pervus' blauem Hemd sah. 127
So war sie auch an einem schönen Herbstnachmittag hinaus aufs Feld gegangen. Sie fühlte sich froh und leicht. Rolf Pool war in seiner Freizeit, die immer seltener wurde, gekommen und hatte ihr bei den Päonienwurzeln geholfen, die ihr Pervus aus Chikago mitgebracht hatte. Er hatte einen tiefen Graben ausgehoben und reichlich Kuhdünger hineingetan. Dann hatte er die Wurzeln eingesetzt und Erde um jede einzelne gehäu felt. Die Pflanzen sollten in zwei Reihen vorm Hause am Weg entlang stehen. Selina konnte die Zeit bis zum nächsten Frühjahr kaum erwarten und sah schon in Ge danken die dicken roten Blumenbälle im Garten leuchten. Jetzt ging Rolf Pervus und Jan beim Einbringen der letzten Rüben und Radieschen zur Hand. Es war ein wundervoller warmer Herbsttag mit goldenen, blauen und scharlachroten Farbtönen. Die abgeernteten Gemüsebeete lagen tiefschwarz zwischen all dem Grün und Gelb. Bündelweise war das herausgenommene Gemüse am Wege aufgeschichtet und wartete darauf, in die Körbe eingesammelt zu werden. Selinas Augen weideten sich daran, wie das kräftige Korallenrot der Radieschen sich gegen das fette schwarze Erdreich abhob. »Ein Rubin, Pervus!« rief sie. »Ein Rubin in einem Ne gerohr!« Pervus sah auf. »Wie?« fragte er freundlich, aber verständnislos. Rolf lächelte. Er wußte, was Selina meinte. Plötzlich bückte sie sich und hob eines der grünen und scharlach roten Bündel auf. Lachend zog sie eine Haarnadel her aus und steckte die Radieschen in ihren Haaren hinter dem Ohr fest. Sie sahen aus wie ein Busch roter Rosen. Selinas Wangen waren von der heißen Sonne rot über 128
glüht. Aus ihren schönen dunklen Haaren hatten sich ein paar weiche Strähnen gelöst und wehten ihr ums Gesicht. Ihr Kleid ließ Hals und Nacken frei. Ihre Gestalt war voller geworden, der Busen hatte sich sanft ge rundet, denn sie trug das Kind schon vier Monate. Auf einen leisen Ausruf Rolfs hoben Pervus und Jan den Blick. Selina hatte beide Arme emporgestreckt und machte in einem langsamen, wiegenden Rhythmus ganz in sich versunken ein paar Tanzschritte: eine unsäglich liebliche, lockende bacchantische Erscheinung in den Feldern unter dem sengend heißen blauen Himmel. Da überkam Pervus einer seiner seltenen Leidenschafts ausbrüche. Seit dem Abend vor Monaten in der Poolsclien Küche hatte Selina diesen blauen Glanz in seinen Augen nicht mehr gesehen. Aber damals war es ein heißes, loderndes Blau gewesen wie das des Himmels am heutigen Tage, nicht bitter, kalt und frostig wie das stählerne Blitzen von Eis in der Sonne. »Nimm sofort die Dinger aus dem Haar! Schämen soll test du dich!« Mit ein paar Schritten war er neben ihr, riß ihr das Büschel aus dem Haar, warf es auf die Erde und trat es mit seinem schweren Absatz in den weichen Erdboden hinein. Bei seinem ungestümen Griff hatte sich eine lange Strähne ihres seidigen Haares gelöst und ringelte sich über ihre Schulter. Sie stand wie angewurzelt und sah ihn mit unnatürlich großen schwarzen Augen an. Kein Tropfen Blut war mehr in ihrem Gesicht. Sein Zorn entsprang der Angst aller ein wenig engherzigen und einfältigen Menschen vor dem Gerede der Leute. Er wußte, Jan Steen würde in ganz High Prairie herumerzählen, daß sich Pervus DeJongs junge Frau rote Radieschen ins Haar gesteckt habe und wie eine leichtfertige Person über die Felder getanzt sei. 129
Selina hatte sich umgedreht und war wie gejagt nach Hause geflohen. Es war ihr erster ernster Streit. Sie konnte tagelang nicht über das Vorgefallene hinwegkommen, so sehr fühlte sie sich verletzt, beschämt, niedergeschlagen. Sie versöhnten sich natürlich wieder. Pervus war zerknirscht und fast untröstlich. Aber ein Stück ihrer Jugend war Selina an diesem Tage verlorengegangen. Den ganzen Winter hindurch litt sie unter ihrer Einsamkeit. Sie empfand ein unstillbares Verlangen nach Gesellschaft. Sie, die Fröhlichkeit und Menschen um sich herum liebte, saß hier in diesem verschneiten Farmhaus begraben, mit einem Mann, der nicht mehr sprach, als unbedingt nötig war. In diesem Winter lernte sie die ganze Trostlosigkeit des Landlebens kennen. Mit Pools kam sie nur selten zusammen; wochenlang sah sie außer Pervus und Jan keine Menschenseele. Im Wohnzimmer war es bitter kalt. Manchmal aber legte sie sich ein Tuch um und schlüpfte hinein, nur um an dem zugefrorenen Fenster zu sitzen und aufzupassen, ob nicht zufällig ein Wagen oder ein Fußgänger vorbeikäme. Sie bemitleidete sich nicht selbst und bereute nicht, was sie getan hatte. Körperlich ging es ihr während ihrer ganzen Schwangerschaft recht gut, und Pervus war liebevoll und aufmerksam, wenn er sie auch nicht immer verstand. Sie kämpfte tapfer, um die kleinen Annehmlichkeiten und Rücksichten des täglichen Lebens aufrechtzuerhalten. Sie liebte das Aufleuchten in Pervus' Augen, wenn sie mit einem hellen Bande oder einem frischen Kragen erschien, obwohl er niemals etwas darüber sagte und sie es sich vielleicht nur einbildete, daß er es merkte. Ein 130
oder zweimal hatte sie die anderthalb Meilen beschwerlichen Fußmarsches auf der glitschigen Landstraße nicht gescheut, war zu Pools gegangen und hatte mit Maartje in ihrer warmen, gemütlichen Küche geplaudert. Es erschien ihr fast unglaublich, daß sie vor wenig mehr als einem Jahr in ihrem modernen braunen Tuchkleid in eben diese Küche gekommen war, ganz durchfroren von der langen Wagenfahrt, aber berstend vor Unternehmungslust, Neugierde und Tatendrang. Und jetzt saß sie hier in derselben Küche und war wirklich und wahrhaftig Frau Pervus DeJong, die Frau eines Gemüsefarmers, und würde in kurzer Zeit ein Kind zur Welt bringen. Wo war das große Wunder geblieben? Wo das Leben, das sie sich erträumt hatte? Wo die Liebe zum Abenteuer, die sie von ihrem Vater geerbt hatte? An die zwei Jahre nach Dirks Geburt dachte Selina später zurück wie an einen Traum, in dem Glück und Entsetzen untrennbar verschmelzen. Dirk war ein fester kleiner Junge, der sich heiter mit sich selbst beschäftigte, wo seine Mutter ihn auch hinsetzen mochte. Er war genauso blond wie sein Vater, hatte aber Selinas Lebhaftigkeit geerbt. Mit zwei Jahren war er ein durchschnittlich entwickeltes, körperlich kräftiges Kind, das stets guter Laune war und fast nie schrie. Er war ein Jahr alt, als Selinas zweites Kind — ein Mädchen - tot zur Welt kam. Pervus hatte seit ihrer Heirat zweimal seine Rheumatismusanfälle gehabt, und zwar jedesmal im Frühjahr, wenn er beim Pflanzen oft bis zu den Knöcheln im Wasser gestanden hatte. Er mußte viel aushaken und war in dieser Zeit so reizbar wie ein verwundeter Stier. Selina wunderte sich nicht mehr, daß halb High Prairie vom Rheumatismus krumm und steif war.
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Während Pervus' Krankheit standen ihnen alle Dorfbewohner bei. Die Männer halfen auf den Feldern, obwohl sie gerade im Frühjahr mit ihren eigenen Saaten alle Hände voll zu tun hatten. Die Frauen schickten allerlei für die Küche. Der hübsche Einspänner der Witwe Paarlenberg hielt beinahe jeden Tag an den Weiden in Pervus DeJongs Hof. Die Paarlenberg, immer noch Witwe, brachte Suppen und Hühner und Kuchen, die Selina nur deshalb nicht in der Kehle stecken blieben, weil sie sie nicht anrührte. Die Witwe Paarlenberg hatte sozusagen ein gutes Herz. Sie war am glücklichsten, wenn es ändern recht schlecht ging. Sobald sie etwas von einer Krankheit oder einem Unglücksfall erfuhr, schlug sie mit dem Schrei »Hilf Himmel« die Hände überm Kopf zusammen und kam den Betroffe nen so schnell wie möglich mit einem Topf kräftiger Suppe zu Hilfe. Sie gehörte zu der Sorte von mitleidigen Frauen, die mit eigenen Augen sehen wollen, wie ihre Wohltaten Früchte tragen. Wenn sie jemandem morgens um zehn Uhr Suppe brachte, so wollte sie auch sehen, wie ihre Suppe aufgegessen wurde. Das Unglück im DeJongschen Haus erfüllte sie mit einer gewissen Befriedigung, die sie freilich unter dem Mantel tiefsten Mitgefühls verbarg. Selina, die nach ihrer zweiten Niederkunft blaß und schwach im Bett lag, hatte dennoch die Kraft, die Krankensuppen der Witwe zurückzuweisen. Frau Paarlenberg kam mit rauschenden Seidenröcken in das bescheidene kleine Schlafzimmer und sah Selina mit Augen an, in denen Mitleid und Schadenfreude heftig miteinander stritten. Selina war nichts als eisig höfliche Ablehnung. »Sie sind sehr freundlich, Frau Paarlenberg, aber ich mache mir nichts aus Suppe.« 132
»Es ist Bouillon von einem ganzen Huhn.« »Gerade Hühnersuppe kann ich nicht essen. Und Per vus ebensowenig. Aber Frau Voorheers wird sich sicher sehr darüber freuen.« Das war Pervus' alte Haushälterin, die vorübergehend zur Aushilfe gekommen war. Es war wirklich kein Wunder, daß das Haus noch im mer nicht angestrichen war, daß die Zäune schief hin gen, daß der Wagen in allen Fugen krachte und das eine Pferd noch immer allein zum Markt trottete. Im dritten Jahre ihrer Ehe ging Selina zum erstenmal mit zur Arbeit aufs Feld. Pervus hatte sich mit Händen und Füßen dagegen gesträubt, obwohl das Gemüse am Boden verdarb. »Laß es meinetwegen verfaulen«, sagte er. »Die DeJongschen Frauen haben niemals auf dem Felde gearbeitet. Nicht einmal in Holland. Meine Mutter nicht und meine Großmutter nicht. Es ist keine Arbeit für Frauen.« Selina war jetzt wieder stark und kräftig, nachdem sie zwei Jahre gekränkelt hatte. Auch ihr Lebensmut war zurückgekehrt, der beste Beweis für ihr körperliches Wohlergehen. Schon lange hatte sie vorausgesehen, daß es eines Tages so kommen würde. Darum gab sie ihm nur kurz zur Antwort: »Unsinn, Pervus. Feldarbeit ist auch nicht anstrengender als Waschen oder Plätten oder Scheuern oder als im August am heißen Ofen stehen. Frauenarbeit! Hausarbeit ist das Schlimmste, was es gibt. Deshalb will ja auch kein Mann etwas davon wissen.« Sie nahm den kleinen Dirk am liebsten mit aufs Feld und setzte ihn im Schatten auf einen Haufen leerer Kartoffelsäcke. Schon nach kurzer Zeit kletterte er jedesmal von diesem bescheidenen Thron herunter und 133
grub und wühlte in dem warmen schwarzen Erdboden. Er wollte sogar schon seiner Mutter helfen und zupfte so lange aus Leibeskräften mit seinen unnützen kleinen Fingern an den eben gesetzten Pflanzen, bis sie nachgaben und er sich mit einem Plumps auf den Boden setzte. »Sieh! Er ist schon ein richtiger kleiner Farmer«, sagte Pervus. Nein, nein! wehrte Selina im stillen ab. Während der ganzen Sommermonate arbeitete Pervus nicht nur von morgens bis abends, sondern auch nachts bei Mondschein, und Selina half ihm. Oft schliefen sie kaum drei oder vier Stunden. So vergingen zwei, drei Jahre - vier. Im vierten Jahr ihrer Ehe verlor Selina ihre einzige Freundin in High Prairie. Maartje Pool starb im Kindbett. Das Kind war tot zur Welt gekommen. »Man kann gar nicht weit genug davonlaufen«, hatte Maartje gesagt. Nun, dieses Mal war sie weit genug gelaufen. Rolf war jetzt sechzehn Jahre alt, Geertje zwölf, Jozina elf. Was sollte nun aus dem Haushalt werden ohne die Frau, die sich ihr ganzes Leben lang für ihn geopfert hatte? Wer sollte die beiden Mädchen in saubere Kleider und Schuhe stecken? Wer sollte begütigend dazwischentreten, wenn Klaas in Wut geriet über das, was er Rolfs »dämliche« Art und Weise nannte, und zu ihm sagen: »Ach Klaas, laß den Jungen endlich in Ruhe. Er tut doch nichts Böses!« Und wer sollte Klaas selbst, diesen rauhen kindlichen Riesen, versorgen? Klaas antwortete auf diese Fragen neun Monate spä ter damit, daß er die Witwe Paarlenberg heiratete. High Prairie stand vor Überraschung kopf. Monate 134
lang war diese Heirat das Tagesgespräch in der ganzen Gegend. Sie machten eine Hochzeitsreise zu den Niagarafällen; Pools Gehöft sollte ausgebaut, das Haus vollständig neu eingerichtet werden; nein, sie zogen in das große Haus der Witwe Paarlenberg (dieser Name blieb ihr für immer); Pool ließ ein Badezimmer einbauen mit einer Wanne aus weißen Kacheln und mit fließendem Wasser; nein, sie kauften die Stikkersche Farm zwischen dem Poolschen und dem Paarlenbergschen Hof und machten eine einzige große Farm daraus, die größte in ganz High Prairie, Low Prairie und NewHaarlem. Ein alter Esel treibt's am schlimmsten. Unter der großen Portion Klatsch, die die High Prairier mit unersättlicher Neugier verschlangen, war die Nachricht von Rolfs Flucht nur ein Körnchen. Selina hatte Bescheid gewußt. Eines Abends um acht, als Pervus in der Stadt war, hatte Rolf geklopft. Er trug seinen besten Anzug, den er zum Begräbnis seiner Mutter bekommen hatte. Er stellte seinen billigen gelben Koffer neben sich auf den Fußboden. »Ach, du bist's, Rolf!« »Ich gehe fort. Ich kann nicht mehr bleiben.« Sie nickte. »Wohin willst du?« »Nur fort. Vielleicht nach Chikago.« Er war sehr bewegt, obwohl er gleichgültig tat. »Gestern abend sind sie nach Hause gekommen. Ich habe noch ein paar Bücher von Ihnen.« Er wollte den Koffer aufmachen. »Nein, nein! Behalte sie!« »Leben Sie wohl.« »Leb wohl, Rolf.« Sie nahm seinen Kopf zwischen beide Hände, hob sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn. Er wandte sich zum Gehen. »Warte noch einen Augenblick, nur einen Augenblick.« 135
Sie besaß etwas Geld - lauter kleine Münzen, alles in allem vielleicht zehn Dollar -, das sie heimlich in einer Büchse auf ihrem Büchergestell aufbewahrte. Sie holte sie hervor. Aber als sie mit der Büchse in der Hand zurückkam, war er schon fort.
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Dirk war acht Jahre alt. Er trug einen Anzug, den ihm seine Mutter aus einem Stück Sackleinwand zusammengenäht hatte, ein blondes, braungebranntes Kerl chen mit Beinen, die von Mückenstichen übersät waren und nie stillstanden. Von einem Träumer hatte er nicht das geringste an sich. Die Schule mit dem einen Klassenzimmer, wie sie Selina noch erlebt hatte, war inzwischen durch ein stattliches zweistöckiges Backsteinhaus ersetzt worden, auf das High Prairie außerordentlich stolz war. Der verrostete alte eiserne Ofen hatte einer Zentralheizung weichen müssen. Dirk ging von Oktober bis Juni in die Schule. Pervus protestierte gegen diesen »Unsinn«, der Junge könne ihm von April bis November auf dem Feld schon zur Hand gehen. Aber Selina kämpfte mit aller Kraft für seinen Schulbesuch und setzte schließlich ihren Willen durch. Ihr Junge sollte kein Gemüsefarmer werden, ausgesogen und zermürbt von der unerbittlichen Arbeit, ein Sklave des Bodens. Sie sprach nicht darüber, aber sie wußte, daß sie sich dagegen wehren würde, solange sie atmete ... wenn die Zeit kam. Selina war inzwischen eine richtige Farmersfrau gewor 136
den. Sie näherte sich den Dreißigern. Die Arbeit hatte sie kleingekriegt, genau wie Maartje Pool auch. Sie stand genau wie jede andere Frau frühmorgens um vier Uhr auf, fuhr aufs Geratewohl in die Kleider, drehte mit zwei schnellen Griffen ihr schönes lockiges Haar zu einem einfachen festen Knoten zusammen und steckte ihn mit einer grauen Haarnadel am Hinterkopf fest. Darauf tauchte sie schnell Gesicht und Hände in kaltes Wasser und stürzte an den Herd. Immer brannte ihr die Arbeit auf den Nägeln, fertig wurde sie nie. Ganze Körbe voll Flickwäsche türmten sich auf und ängstigten sie noch nachts im Traum. Wer sie so sah, hätte glauben können, die alte Selina Peake mit ihrer frohen Laune und ihrer Unternehmungslust sei für immer verschwunden. Und doch war das alles noch da. Sogar das weinrote Kaschmirkleid exi stierte noch, obwohl es längst altmodisch geworden war. Sooft Selina es wieder unter die Hände bekam, strich sie liebkosend über die weichen Falten. Und jedesmal war wie mit einem Zauberschlag Frau Pervus DeJong weggewischt, und an ihrer Stelle stand die neunzehnjährige Selina Peake auf den Zehenspitzen auf einer Seifenkiste im Oomsschen Saal. Sie hatte wohl manch mal flüchtig daran gedacht, das Kleid zu zerschneiden oder es zu färben und sich ein Sonntagskleid daraus zu machen. Aber sie ließ es immer wieder sein. Wie gern würden wir berichten, daß Selina in den acht oder neun Jahren wahre Wunder auf der DeJongschen Farm vollbracht hätte, daß das Haus von oben bis unten in neuer Schönheit erstrahlte, daß das Gemüse wunderbar gedieh und glatte Rinder die Ställe füllten. Aber es entpräche nicht der Wahrheit. Es ließ sich zwar nicht leugnen, daß manches sich geändert hatte, aber 137
das Erreichte stand in keinem Verhältnis zu der aufgewendeten ungeheuren Mühe. Eine weniger hartnäk kige Natur hätte an Selinas Stelle den Kampf längst aufgegeben. Das Haus hatte wirklich einen neuen Anstrich bekommen, bleigrau, weil es so am billigsten war. Und es gab ein zweites Pferd; sie hatten die altersschwache Mähre für fünf Dollar von einem Milchhändler erstanden, der sie sonst für drei Dollar an den Schin der verkauft hätte. Nach einem Monat Ruhe und guter Pflege hatte sich das Tier so weit erholt, daß es kaum wiederzuerkennen war. Selina hatte den Handel abgeschlossen und war dafür von Pervus hart angefahren worden. Jetzt spannte er es mit vor den Marktwagen und stellte fest, daß es besser zog als sein anderes Pferd; aber er nahm sein Urteil nicht zurück. Das meinte er nicht böse. Pervus war nun einmal so. Ihr größter Triumph war die Bebauung des Lehmbodens. Es dauerte Jahre, ehe ihr Plan in bescheidenem Rahmen verwirklicht wurde. Aber wie hatte sie ihrem Mann auch zugesetzt! »Warum pflanzen wir eigentlich keinen Spargel?« »Spargel!« Der reinste Luxus, etwas, womit sich ein High Prairier Gemüsefarmer überhaupt nicht abgab. »Und drei Jahre auf die Ernte warten!« »Ja, dann hätten wir's aber auch geschafft! Und die Plantage trägt zehn Jahre lang, wenn es erst einmal so weit ist!« »Plantage? Was heißt Plantage? Ich habe bisher nur was von Spargelbeeten gehört.« »So machte man's früher. Ich habe darüber nachgelesen. Nach der heutigen Methode pflanzt man Spargel in Reihen, wie Rhabarber oder Korn. Immer sechs Fuß Zwischenraum, möglichst gleich vier Äcker.« 138
»Vier Äcker! Kannst du mir vielleicht verraten, wo? Auf dem Lehmboden?« Er lachte kurz and bitter auf. »Bücherweisheit!« »Jawohl, den Lehmboden meine ich«, sagte Selina spröde. »Bücherweisheit? Meinetwegen! Jeder Farmer in High Prairie baut Kohl, Rüben, Bohnen, Zwiebeln und Erbsen, und zwar bessere als wir. Der Lehmboden bringt dir ohnedies nichts ein, was macht es also aus, selbst wenn ich unrecht habe! Bitte, laß mich mein eigenes Geld hineinstecken, Pervus. Ich habe alles genau durchdacht. Wir legen Entwässerungsröhren. Zunächst nur in fünf oder sechs Äckern. Wir düngen kräftig - so viel wie wir aufbringen können — und bauen fürs erste zwei Jahre Kartoffeln an. Im dritten Frühling setzen wir dieSpargel, einjährige Samenpflanzen. Ich verspreche dir, daß ich die Anlage ganz allein mit Dirk jäte und in Ordnung halte. Dirk ist dann ja schon ein großer Junge.« »Wieviel Dünger?« »Oh, zwanzig bis vierzig Tonnen je Acker -« Er schüttelte widerspenstig den Kopf. »— aber wenn ich Humus nehmen darf, brauche ich lange nicht soviel. Laß es mich doch wenigstens versu chen, Pervus. Laß mich bitte versuchen!« Schließlich ließ er ihr den Willen, denn einmal hatte Pervus viel zuviel mit seiner eigenen Arbeit zu tun, um ihr lange zu widersprechen, zweitens aber war er immer noch, so wenig er es zeigte, in seine lebhafte, kluge Frau verliebt, mochte er auch gegen ihr beständiges Anspornen und Pieken nicht empfindlicher sein als ein Elefant gegen einen Stecknadelstich. Er blieb jahraus, jahrein derselbe und machte alles genauso weiter, wie er es von seinem Vater gelernt hatte. Seine unwandelbare Ruhe 139
und Gleichmäßigkeit konnten Selina fast zur Verzweiflung bringen. Dann stürzte sie auf ihn zu, fuhr mit beiden Händen in seine dicken Haare, die schon mit einzelnen grauen Fäden durchzogen waren, und schüttelte ihn in ohnmächtiger Wut an den Schultern. »Pervus, Pervus! Wenn du doch nur einmal wild werden wolltest! Richtig wild! Toben! Alles kurz und klein schlagen! Prügele mich doch! Verkaufe die Farm! Lauf davon!« »Was ist das nun wieder für ein Blödsinn!« Er sah sie würdevoll-mißbilligend durch eine ganze Wolke von Tabakrauch an und paffte ruhig weiter. Sie arbeitete nicht weniger als jede andere Frau in High Prairie und war auch nicht besser angezogen; Pervus aber sah in ihr immer noch einen Luxus, ein auserlesenes Spielzeug, das er in einem Anfall von Verrücktheit für sich selbst begehrt hatte. »Kleine Lina« nannte er sie nachsichtig, zärtlich. Man hätte sie verwöhnen, sie auf Händen tragen müssen. Sooft sie von moderner Landbewirtschaftung oder von Büchern über Gemüsebau sprach, wurde er ungeduldig, wenn er sich nicht einfach darüber lustig machte. Landwirtschaftliche Kurse an Hochschulen hielt er für Unsinn. Von Linne hatte er in seinem ganzen Leben noch nichts gehört. Kopfsalat war für ihn eine alberne Spielerei. Selina sprach oft davon, Kopfsalat anzubauen und ihn auf dem Markt anzubieten, obwohl doch jedes Kind wußte, daß richtiger Salat Blattsalat war, den man mit Essig und etwas Zucker anmachte oder mit einer Sauce aus zerlassenem Speck. Er warf ihr auch vor, daß sie den Jungen verwöhne. Vielleicht steckte Eifersucht dahinter. »Immer der Junge; immer der Junge«, murmelte er vor sich hin, wenn 140
Selina für Dirk Pläne machte und seine Partei ergriff (nicht immer zu Recht). »Du wirst ein Muttersöhnchen aus ihm machen, wenn du ihn so verhätschelst.« Von Zeit zu Zeit machte er einen Versuch, Dirk abzuhärten. Der Erfolg war meistens kläglich. In einem Fall wäre die Sache beinahe schlimm ausgegangen. Es war in den großen Sommerferien. Der ganze Wald hinter High Prairie schimmerte blau von Heidelbeeren. Überreif hingen sie an den Büschen. Geertje und Jozina wollten Beeren suchen gehen und hatten eingewilligt, Dirk mitzunehmen. Aber die letzten Tomaten auf den Feldern waren ebenfalls reif und mußten gepflückt wer den. Rot und prall hing eine neben der anderen, gute Ware für den Markt in Chikago. Dirk konnte beim Pflücken helfen. So bekam er auf seine Frage: »Kann ich Beeren suchen gehen?« von seinem Vater nur ein Kopfschütteln zur Antwort. »Die Tomaten sind auch reif, mein Junge, und die sind wichtiger als die Heidelbeeren. Bis heute nachmittag um vier müssen sie alle abgenommen sein.« Selina hob den Kopf, sah erst ihren Mann, dann den Jungen an und sagte nichts. Dirk wurde rot vor Enttäuschung. Sie saßen beim Früh stück. Der Tag dämmerte erst. Dirk blickte still auf sei nen Teller; seine Lippen zitterten, und seine langen Augenwimpern lagen schwer auf den Wangen. Pervus stand auf und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. »In deinem Alter war ich froh, wenn ich einen ganzen Tag lang nichts Schwereres zu tun hatte, als Tomaten abzunehmen!« Dirk blickte schnell auf. »Wenn ich damit fertig bin, kann ich dann gehen?« »Du hast daran den ganzen Tag zu tun!« 141
»Aber wenn ich mit dem ganzen Stück fertig bin - und wenn's dann noch Zeit ist, darf ich dann gehen?« Pervus sah in Gedanken das Tomatenfeld vor sich, das schon mehr rot als grün war, so dicht hingen die Früchte an den Stöcken. Er lächelte. »Ja. Du nimmst erst die Tomaten ab, dann kannst du gehen. Aber daß du sie nicht in die Körbe schmeißt und Mus daraus machst!« Selina nahm sich vor, Dirk zu helfen, aber sie würde erst am Nachmittag dazu kommen. Bis zu den Blaubeeren waren es gut drei Meilen. Dirk mußte spätestens um drei Uhr nachmittags fertig sein, wenn er noch hinkommen wollte. Noch vor sechs war er mit fieberhafter Eile an der Arbeit. Die abgenommenen Tomaten stapelte er in kleinen Haufen am Wege. Scharlachrot leuchteten die überreifen Früchte in der Sonne. Das Kind arbeitete wie eine Maschine und vermied ängstlich die kleinste unnötige Bewegung. Unbarmherzig stach die Augustsonne vom wolkenlosen Himmel. Die Haare klebten ihm feucht an der Stirn, Schweiß rann ihm die Wangen herunter, die sich mit jeder Stunde röter färbten. Zum Essen schlang er nur ein paar Bissen hinunter und war sofort wieder draußen in der kochenden Mittagshitze. Selina ließ das Geschirr unabgewaschen auf dem Tisch stehen und wollte ihm helfen, aber Pervus mischte sich ein. »Der Junge soll es allein machen«, beharrte er. »Er kann es nicht, Pervus. Er ist erst acht Jahre!« »Als ich acht Jahre war -« Um drei Uhr war Dirk tatsächlich fertig. Er rannte zum Brunnen und stürzte sich auf das kalte Wasser; er trank zwei Schöpfkellen voll auf einen Zug aus und schlürfte gierig wie ein junges Pferd. Dann goß er sich 142
zwei weitere über seinen heißen Kopf und Nacken, ergriff einen kleinen Eimer für die Beeren und rannte auf der staubigen Landstraße und über die Felder davon. Seine Beine flogen trotz der zitternden Hitzewellen, die zwischen dem glühenden Himmel und der ausgedörrten Erde zu tanzen schienen. Selina stand in der Küchentür und blickte hinter ihm her. Er sah sehr klein und sehr zielbewußt aus. Er fand Geertje und Jozina im Walde auf dem Rücken liegen. Sie konnten sich kaum mehr rühren, soviel Bee ren hatten sie gegessen; Gesicht und Hände waren blau, die Schürzen von Brombeerranken zerrissen. Er pflückte von den dicken blauen Beeren, aber er aß sie ohne rechten Appetit und eigentlich nur aus Prinzip: einmal war er ja dazu hergekommen, und zweitens hatte er den Dickkopf seines Vaters geerbt. Als Geertje und Jozina kaum eine Stunde später nach Hause gehen wollten, hatte er nichts einzuwenden. Er fühlte eine ungewohnte Schwere in allen Gliedern und trottete mühsam dahin. Sein Eimer war nur halb gefüllt. Er fühlte sich schwindlig und übel. Zudem tat ihm der Kopf weh. In dieser Nacht wand er sich in Fieberphantasien, wollte durchaus nicht im Bett bleiben und war dem Tode ge fährlich nahe. Selinas Herz schlug wie ein Hammer. Schrecken, Haß und Todesangst tobten in ihrem Blut. Haß auf ihren Mann, der dem Jungen das angetan hatte. »Du bist schuld! Du ganz allein. Er ist noch ein kleines Kind, und du hast von ihm verlangt, daß er wie ein Mann arbeitet. Wenn er stirbt! Wenn er mir stirbt...« »Wie konnte ich wissen, daß der Junge so eigensinnig ist! Ich habe ihn nicht geheißen, erst Tomaten abzuneh men und dann noch in die Beeren zu gehen. Er fragte
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mich, ob er's dann noch dürfe, und ich sagte ja. Wenn ich nein gesagt hätte, wäre es wahrscheinlich auch nicht richtig gewesen.« »Es ist immer dasselbe. Denke doch nur an Rolf Pool. Aus dem wollten sie auch durchaus einen Farmer machen und haben ihn damit zugrunde gerichtet.« »Du hast deine Ansichten sehr geändert. Früher sprachst du nicht so. Da fandest du die Farmarbeit wundervoll.« »O ja, und ich bleibe auch dabei. Sie könnte wundervoll sein. Sie ... doch wozu jetzt davon reden! Sieh ihn doch an! Nicht doch, Dirk. Nicht doch, mein Liebling! Wie sein Kopf glüht! Horch! Ist das Jan mit dem Doktor? Nein. Noch immer nicht. Senfpflaster, weißt du be stimmt, daß sie das richtige sind?« Damals gab es noch nicht wie heute in jedem Farmhaus Telefon und ein Auto. Es konnten Stunden vergehen, ehe Jan im Dorf anlangte und mit dem Doktor zurück kam ... Aber nach zwei Tagen war der Junge wieder auf den Beinen; noch etwas bleich zwar, aber die Erfah rung schien ihm nicht geschadet zu haben. So war Pervus. Kleinlich und genau wie der ganze Schlag, aber nicht ebenso schlau. Und sparsam an der unrichtigen Stelle. Das war es schließlich auch, was frühzeitig seinen Tod herbeiführte. Während der September in Illinois gewöhnlich eine einzige Kette von goldenen Tagen und neblig schimmernden Abenden ist, war er in diesem Jahre kalt und regnerisch. Der große, kräftige Pervus wurde von Rheumatismusanfällen geplagt. Er war schon über vierzig, aber immer noch ein Riese an Kraft. Ihn leiden zu sehen, zerriß Selina das Herz. Dreimal wöchentlich machte er die mühsame Fahrt zum Markt, 144
denn der September war der letzte Monat für den Gemüsefarmer. Dann kamen schon die ersten Nachtfröste, die nur die härteren Pflanzen überlebten; außer Kohl, Rüben, Mohren und Kürbissen war alles abgeerntet und untergebracht. Die Landstraßen waren ein einziger Morast, so daß die Wagen bis an die Achsen im Schlamm versanken. Saß man erst fest, so blieb einem nichts weiter übrig, als zu warten, bis ein anderes Gespann vorbeikam und einem heraushalf. Pervus brach in diesen Tagen zeitiger auf als sonst und machte meilenweite Umwege, um die schlechtesten Stellen zu vermeiden. Jan war zu dumm, zu alt und viel zu unerfahren, als daß man ihm den Verkauf auf dem Heumarkt hätte anvertrauen können. Selina stand vor der Tür, als Pervus den wackeligen alten Wagen zurechtmachte und alles Gemüse sorgfältig mit Segeltuch zudeckte. Er selber aber war naß, noch ehe er auf den Sitz kletterte. Für ihn schien das wasserdichte Segeltuch nie zu reichen. »Pervus, nimm es gleich von den Säcken fort und lege es dir selber um!« »Da sind die weißen Zwiebeln drin. Die letzten! Ich kann ein schönes Stück Geld dafür kriegen, aber nicht wenn sie durch und durch naß sind.« »Schlafe heute nacht nicht im Wagen, Pervus. Nimm dir ein Zimmer. Für alle Fälle! Das ist keine Verschwendung. Du weißt, das letztemal hast du eine ganze Woche im Bett gelegen.« »Es wird sich aufklären. Siehst du, dort hinten wird's schon wieder ganz hell.« Die Wolken verzogen sich wirklich am Spätnachmittag; die Sonne schien trügerisch und heiß. Pervus schlief draußen im Wagen. Die Nacht war 145
schwül und feucht. Gegen Mitternacht kam ein kalter Seewind auf und trieb Regenwolken vor sich her. Am nächsten Morgen war Pervus durch und durch naß; er klapperte vor Frost und fühlte sich jämmerlich. Er trank um vier Uhr eine Tasse heißen Kaffee und eine zweite um zehn, nachdem der Ansturm auf dem Markt vorbei war. Aber es wurde ihm nicht wohler davon. Nachmittags um drei war er zu Hause. Sein Gesicht schimmerte unter der bronzenen Haut graublaß. Selina brachte ihn ins Bett. Sie packte ihn von Kopf bis Fuß zwischen Wärmflaschen und legte ihm ein heißes, in Flanell gewickeltes Eisen an die Füße. Aber an Stelle des befreienden Schweißausbruches setzte plötzlich starkes Fieber ein. Selbst in seiner Krankheit sah er noch röter und robuster aus als die meisten gesunden Menschen. Selina aber fühlte plötzlich, wie sich ihr Herz in eisigem Entsetzen zusammenkrampfte; lauter schwarze Linien standen ihm, wie mit einem Stichel gezogen, um Augen, Mund und Wangen. Pervus' Kampf gegen die Krankheit war verloren, noch ehe der Wagen des Doktors in den Hof rumpelte, wo er während der ganzen langen Nachtstunden stehenblieb. Damals sah man Lungenentzündung noch als Lungenfieber an und behandelte sie mit einer Schwitzkur bei geschlossenen Fenstern. Gegen Morgen ließ der Doktor sein Pferd von Jan Steen in den Stall bringen. Die Nacht war schwül, es wetterleuchtete am Horizont. »Ich glaube, wenn Sie die Fenster aufmachten«, sagte Selina zu dem alten Doktor, »könnte er besser Luft bekommen. Er atmet so ... er atmet so ... mühsam.« Sie lauschte in verzweifelter Angst auf seine Atemzüge, und jeder der rasselnden Töne zerriß ihr das Herz. 146
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Der Anblick des gefällten Riesen, der majestätisch und fremd in den ungewohnten schwarzen Kleidern im Sarge lag, war vielleicht nicht einmal das Ergreifendste in den folgenden Tagen. Auch nicht der kleine Junge, der doch bei allem Entsetzen die allgemeine Aufregung als erhebend und angenehm erregend empfand. Ebensowe nig die kümmerliche kleine Farm, die im Brennpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit noch mehr in sich zu sammenzuschrumpfen schien. Es war Selina: sie, die Witwe, hatte keine Zeit zum Weinen. Die Farm war da und forderte ihr Recht. Krankheit, Tod, Kummer - der Garten mußte besorgt, die Gemüse mußten herausge nommen, zum Markt gefahren und verkauft werden. Vom Garten hing die Zukunft des Jungen, hing ihre eigene ab. In den ersten Tagen nach dem Begräbnis fuhren benachbarte Farmer den DeJongschen Wagen zum Markt und halfen dem gänzlich verstörten Jan auf den Feldern. Aber jeder hatte mit seiner eigenen Arbeit genug zu tun. Am fünften Tag mußte Jan Steen allein mit dem Gemüse nach Chikago fahren. Selina ahnte nichts Gutes. Aber sie fand ihre schlimmsten Befürchtungen übertroffen, als Jan Steen am näch sten Tage spät zurückkam, den Wagen noch halb voll, mit einer so geringen Einnahme, daß der Reinverdienst gleich Null war. Die verwelkten Überreste des Gemüses kamen auf einen Haufen hinter die Scheune, um später als Dünger verwendet zu werden. »Diesmal ging's nicht so gut«, erklärte Jan, »weil ich keinen richtigen Platz auf dem Markt kriegte.« »Sie sind doch früh genug fortgefahren!« 147
»Ja, aber sie haben mich 'rausgedrängt. Sie haben gleich gemerkt, daß ich zum erstenmal da war, und in der Zeit, wo ich fort war und die Pferde in den Stall brach te, haben sie den Wagen herausgedrängt.« Selina stand in der offenen Küchentür, Jan bei den Pferden im Hof. Sie hatte das Gesicht den Feldern zugewandt; ein aufmerksamerer Beobachter als Jan hätte bemerkt, daß die eigensinnige Kinnlinie sich scharf abzeichnete. »Montag fahre ich selbst.« Jan starrte sie an. »Selbst? Wohin?« »Auf den Markt.« Das konnte doch wohl nur ein Scherz sein. »Auf den Markt!« Sie hatte ihn noch nie so aufgeregt gesehen. »EineFrau geht doch nicht auf denMarkt! EineFrau-« »Diese Frau tut es eben.« Um drei Uhr morgens stand sie am Montag auf und jagte Jan aus dem Bett. Um fünf kam Dirk zu ihnen hinaus aufs Feld. Zu dritt machten sie eine Wagenladung Gemüse aus und banden es zusammen. »Ordnet sie nach der Größe«, befahl Selina, als sie an die Radieschen, Rüben und Mohren kamen. »Und bindet sie nicht zu locker zusammen. Zweimal herum mit dem Strick und durchgeschlungen. Und wir wollen sie gründlich abwaschen.« In High Prairie wusch man das Gemüse nur sehr oberflächlich; meistens auch überhaupt nicht. Selina schrubbte die Mohren unter dem Brunnen ab und fand, daß sie nach dem ungewohnten Bad wie pures Gold glänzten. Jan war wie vor den Kopf geschlagen. Er wollte es einfach nicht glauben, daß sie ihre Worte wahrmachen würde. Eine Frau - eine Farmersfrau aus High Prairie - wollte wie ein Mann zum Markt fahren! Und nachts 148
allein auf dem Markt schlafen oder, was auch nicht viel besser war, in einem der billigen Gasthöfe! Schon am Sonntag war die Nachricht von Selinas unglaublichem Vorhaben überallhin durchgesickert. Ganz High Prairie war in der Kirche und brannte vor Neugierde, Selina zu sehen und zu sprechen. Aber Frau DeJong kam nicht zum Morgengottesdienst. Das waren ja nette Zustände. Und Pervus lag kaum eine Woche unter der Erde! Am Sonntagnachmittag erschien Pfarrer Dekker auf seinem Weg zum Abendgottesdienst bei Selina. »Ich höre von allen Seiten, Frau DeJong, daß Sie auf den Heumarkt fahren wollen. Sie als alleinstehende Frau!« »Dirk fährt mit!« »Sie wissen nicht, was Sie tun, Frau DeJong. Der Heumarkt ist kein Aufenthaltsort für anständige Frauen. Und für das Kind erst recht nicht. Man spielt da Karten, es wird getrunken - nichts als Schlechtigkeit, wohin man sieht. Das Laster lauert auf den Gassen, und die Töcher Jesabels treiben zur Nacht auf dem Markt ihr schamloses Wesen.« »Nicht möglich«, sagte Selina. Es klang aufreizend nach zwölf Jahren auf der Farm. »Sie dürfen nicht fahren.« »Die Gemüse verfaulen im Boden. Und Dirk und ich müssen leben.« »Denken Sie an die Sperlinge auf dem Dach. Es fällt nicht einer zu Boden ohne ... Matthäus X, 29.« »Ich sehe nicht ein«, antwortete Selina schlicht, »was das dem Sperling hilft, wenn er erst einmal unten liegt.« Am Montagnachmittag zwischen vier und fünf, in der Stunde, in der gewöhnlich die Wagen nach Chikago 149
vorbeikamen, bewegten sich die Wohnzimmervorhänge in jedem Farmhaus an der Halsteder Straße, als wäre ein Zugwind in sie hineingefahren. Beim Mittagessen hatte sich auch Klaas Pool über Selinas beabsichtigte Fahrt halb mißbilligend und halb mitleidig geäußert: »Es schickt sich nicht, daß eine Frau zum Markt fährt.« Frau Pool (bei den Leuten hieß sie noch immer die Witwe Paarlenberg) lächelte so süß und falsch wie nur je. »Was hast du denn anderes erwartet? Denke nur dar an, wie sie sich von jeher benommen hat!« Klaas hatte nicht zugehört. Er verfolgte seine eigenen Gedankengänge. »Es ist kaum zu glauben. Als sie hierherkam als Lehrerin, habe ich sie selbst hergefahren. Wie ein Heinzelmännchen hat sie neben mir auf dem Wagen gesessen. Sie sagte - das weiß ich noch, als war' es gestern gewesen -, Kohl sei wunderschön! Jetzt wird sie es bestimmt besser wissen!« Klaas Pool war im Irrtum. Selina hatte offensichtlich in den zwölf Jahren nichts dazugelernt. Sie stand im Hof vor dem hochbeladenen Gemüsewagen und betrachtete ihr Werk mit leuchtenden Augen. Kaum eine Woche war sie Witwe und konnte beim Anblick eines Gemüsewagens strahlen. Sie hatten unter dem Spätgemüse nur das beste ausgesucht und zusammengebunden: die festesten, rötesten Radieschen, die rundesten, saftigsten Rü ben; Mohren von mindestens sieben Zoll Länge, fehlerlos gewölbte grüne Wirsingköpfe, lange saftige Gurken und schneeweiße Blumenkohlköpfe, die sie auf eigene Verantwortung trotz Pervus'Widerstand gepflanzt hatte. Selina trat einen Schritt zurück und betrachtete die Farbenpracht von Hellrot, Grün, Weiß, Gold und Purpur. »Wie wunder-wunderhübsch! Dirk, sieh doch nur, wie hübsch das aussieht!« 150
Dirk, der vor Aufregung über die bevorstehende Fahrt ruhelos herumhüpfte, schüttelte ungeduldig den Kopf. »Was? Ich sehe nichts Wunderhübsches! Was ist wunderhübsch?« Selina breitete die Arme aus. »Der ... der ganze Wagen. Der Kohl.« »Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte Dirk. »Komm, Mutter, wir wollen fort. Geht's denn noch nicht los? Du hast gesagt, sobald der Wagen fertig wäre.« »O Sogroß, du bist genau wie dein -« Sie hielt inne. »Wie mein ... wen meinst du?« »Jetzt fahren wir gleich, mein Junge. Jan, hier habe ich Ihnen kaltes Fleisch zum Abendessen hingestellt. Und Kartoffeln, schon geschnitten, Sie brauchen sie nur auf zubraten. Waschen Sie aber das Geschirr gleich ab, daß es nicht schmutzig in der Küche herumsteht. Und sehen Sie zu, daß Sie bis zum Abend die letzten Kürbisse hereinbekommen. Vielleicht kann ich sie gleich im ganzen los werden und brauche sie gar nicht in die Stadt zu fahren. Ich werde sie einem Händler anbieten. Ich gebe sie eben billiger, wenn es nicht anders geht.« Sie zog dem Jungen einen Anzug an, der aus Pervus' Kleidern genäht war. Einen Mantel aus derbem Sackleinen und ein altes schwarzes Umschlagetuch steckte sie zuletzt noch unter den Wagensitz, denn sie wußte, wie wenig man dem Wetter im September trauen durfte. Behend schwang sich Selina in ihrem weiten schwarzen Wollkleid auf den Sitz, ergriff die Zügel, überzeugte sich mit einem raschen Blick, daß Dirk bequem neben ihr Platz gefunden hatte, und trieb die Pferde an. Jan Steen sah ihr sprachlos nach. Selbst als zwanzig Jahre ins Land gegangen waren, pflegte er noch von jenem denkwürdigen Tag zu erzählen, an dem Selina 151
DeJong wie ein Mann zum Markt gefahren sei, mit ei nem ganzen Wagen voll selbstgewaschenem Gemüse und dem kleinen Dirk neben sich auf dem Sitz. Der Anblick war ja auch merkwürdig genug. Alte, wak kelige Gemüsewagen gab es reichlich auf der Halsteder Straße, die schmächtige Frau aber auf dem Wagensitz mit den glänzenden Augen in dem blassen Gesicht, in dem unscheinbaren schwarzen Kleid und mit dem alten zerbeulten Filzhut auf dem Kopf fiel sofort als ungewöhn lich auf. Ihr Gesicht mit den hohen Backenknochen wirkte eher streng als anziehend, denn sie hatte die Haare straff zurückgestrichen, und ein ungenauer Beob achter konnte die feine kleine Nase und die fast unna türlich großen, wundervollen Augen leicht übersehen. Der neunjährige Junge neben ihr mit den Sommer sprossen in dem braungebrannten Gesicht, in dem un förmigen selbstgemachten Anzug hatte die gleichen leuchtenden Augen wie sie. Zu ihren Füßen lag Pom, der Hund, eine merkwürdige Mischung. Er lag und schlief mit gutem Gewissen, denn nachts ließ ihm die Pflicht keine Zeit dazu, weil er auf den Wagen aufzupassen hatte. Schäbig genug sah die kleine Fuhre aus. Selina selbst aber kam sie eher prächtig vor. War es nicht besser, auf der Halsteder Straße in die Stadt zu fahren, anstatt zu Hause im Wohnzimmer die Beileidsbesuche von ganz High Prairie über sich ergehen zu lassen? Je länger sie auf der heißen, staubigen Straße entlangzottelten, um so stärker wallte in ihr ein frohes, erhebendes Gefühl empor. Sie rief sich selbst zur Ordnung: »Selina Peake, schämst du dich denn gar nicht? Du bist eine herzlose Frau. Du kannst dich schon wieder fast freuen, statt traurig zu sein. Der arme Pervus ... die Farm ... Dirk 152
. .. und du kannst froh sein? Schämen solltest du dich!« Aber sie schämte sich nicht und gab es tapfer zu. Und sie dachte daran, wie sie vor mehr als zehn Jahren mit Klaas Pool zum ersten Male diese Landstraße entlang gefahren war und dieselbe freudige Spannung in sich gespürt hatte wie heute, obwohl sie eben erst ihren Vater verloren hatte, obwohl sie ganz allein auf der Welt stand und ihr vor der Fremde und den fremden Menschen graute. »Das Ganze ist weiter nichts als ein großartiges Abenteuer«, hatte Simeon Peake gesagt. Und genau wie damals war sie im Begriff, etwas Unherkömmliches und Gewagtes zu tun, etwas, was die Leute mit Schrecken und Abscheu betrachteten. Auch heute rechnete sie mit sich selbst ab. Die Jugend war dahin, aber Gesundheit und Mut waren ihr geblieben; sie hatte ihren Jungen und fünfundzwanzig Morgen kümmerliches Land. Wohnhaus und Ställe waren nicht in bestem Zustand; ihr Herz aber war noch immer das gleiche unbesiegliche und unternehmungslustige, obwohl es sie seltsame Wege führte und sie sich oft am Ende in einer pfadlosen Wüste wiederfand, aus der sie sich nur mühsam zurücktastete. Aber stets war Kohl für sie wie Jade und Burgunder, wie Chrysopras und Porphyr. Über eine solche Frau hat das Leben keine Macht. Und das weinrote Kaschmirkleid! Sie lachte laut auf. »Worüber lachst du denn, Mami?« Das brachte sie zur Besinnung. »Ach, über nichts, Sogroß. Ich habe gar nicht gemerkt, daß ich gelacht habe.« Weiter ging es die Landstraße entlang. Selina war ernst geworden. Die Begräbniskosten mußten bezahlt werden, der Arzt, Jans Lohn. Sie dachte an die vielen großen und kleinen Ausgaben, die das Leben auf der Farm mit sich brachte. 153
»Dort an der Tür sitzt Frau Pool, Mami. Mit dem Spinnrad.« Tatsächlich, die frühere Witwe Paarlenberg saß vor der Haustür und spann. Sie starrte den knarrenden alten Gemüsewagen an, den Jungen auf seinem hohen Sitz und die ärmlich gekleidete Frau, die das klägliche Gefährt lenkte. Frau Pools Gesicht strahlte vor Freundlichkeit. »Wo wollen Sie denn hin, Frau DeJong, bei dem heißen Wetter?« Selina richtete sich gerade auf. »Nach Bagdad, Frau Pool.« »Nach ... Wo ist das? Was wollen Sie dort?« »Meine Juwelen verkaufen, Frau Pool. Und Aladin besuchen und Harun al Raschid und Ali Baba. Und die vierzig Räuber.« Frau Pool ließ ihr Spinnrad stehen und kam die Stufen herunter. Der Wagen fuhr schon an der Pforte vorbei. Sie machte ein paar Schritte und rief hinter ihm her: »Das habe ich noch nie gehört. Bag ... Wie kommt man denn dahin?« Selina rief über die Schulter zurück: »Man geht so lange geradeaus, bis man an eine verschlossene Tür kommt, dann ruft man: Sesam, öffne dich, und schon ist man da.« Frau Pools Gesicht war starr vor Staunen. Als der Wagen weiterratterte, hatten sie die Rollen vertauscht: jetzt war Frau Pool ernst, und Selina lächelte. Weiter ging die Fahrt. Ab und zu erschien ein Kopf am Fenster, stand eine Frau in der Tür. Frau van der Sijde lehnte in der offenen Gartenpforte und fächelte sich das erhitzte Gesicht mit ihrer Schürze; Cornelia Snip band im Hofe eine herunterhängende Kletterrose hoch und sah dem Gespann neugierig nach. 154
Lauter kalte, feindselige Frauenaugen. Es wurde fünf ... sechs. Dirk kletterte über das Rad hinunter und holte aus einem Brunnen einen Becher "Wasser. Sie aßen und tranken im Weiterfahren, denn sie hatten keine Zeit zu verlieren, Brot und Fleisch und Gurken und kalte Pastete. Der Junge hatte sich den ganzen Tag über trotz Hitze und Staub wacker gehalten. Jetzt wurde er müde. Die Dämmerung brach herein. Plötzliche Kühle überfiel sie vom See her. Nebelschwaden zogen über die Wiesen und ließen die Umrisse der herbstlichen Stoppelfelder verschwimmen, löschten den Staub auf der Landstraße und hüllten Weiden und Häuser in immer dichtere Schleier. Selina strich die Krumen fort, packte die Überreste an Fleisch und Brot sorgfältig in den Korb und legte eine Serviette darüber. Dirk konnte in der Nacht aufwachen und Hunger bekommen. »Müde, Sogroß?« »Nein. Keine Spur.« Dabei fielen ihm die Lider zu. Gesicht und Körper entspannten sich. Die Sonne stand schon tief. An dem westlichen Horizont flammte es noch einmal orangefarben und rot auf, dann erloschen die letzten Strahlen. Die Dämmerung breitete sich aus. Der Kopf des Kindes lag schwer an ihrem Arm. Sie breitete Dirk das alte schwarze Um schlagetuch über die Schultern. Er riß die Augen noch einmal auf und zerrte an der warmen Hülle. »Will das alte Ding nicht ... bin kein Mädchen ...«, schlief mit einem Seufzer wieder ein und kuschelte sich eng an sie. Weiß schimmerte im Zwielicht der Staub auf Busch und Gras. Irgendwo in der Ferne läutete melodisch eine
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Kuhglocke. Pferdehufe klapperten hinter ihnen auf der Straße, ein Wagen fuhr in einer Staubwolke an ihnen vorbei. Neugierige Blicke streiften sie, ab und zu wurde ein Gruß gewechselt. Sie feuerte die Pferde an und wollte es nicht wahrhaben, daß sie plötzlich voller Angst an den weiteren Ver lauf ihres Unternehmens dachte. Lichter flammten in den Häusern zu beiden Seiten des Weges auf, und immer dichter rückten sie aneinander. Sie wickelte die Zügel um die Peitsche, hielt den schlafenden Jungen mit einer Hand fest und langte nach dem Mantel unter dem Sitz. Sie hüllte ihn warm hinein, faltete einen leeren Sack zu einem Kopfkissen zusammen, hob Dirk in die Höhe und legte ihn sanft auf einen Haufen Kartoffelsäcke, unmittelbar hinter das Sitzbrett im Wagen. Er schlief fest und rührte sich nicht. Es war inzwischen vollends Nacht geworden. Langsam knarrte der alte Wagen Chikago zu. Die Gestalt der Frau sank ein wenig in sich zusammen. Wie ein kleiner schwarzer Schatten hockte sie auf ihrem Sitz, ein Tuch um die Schultern. Den schwarzen Filzhut hatte sie abgenommen. Der Abendwind zerzauste ihr das Haar. Sie wandte ihr leuchtend weißes Gesicht dem Himmel zu. Ich werde ruhig mit Sogroß im Wagen schlafen, überlegte sie. Das schadet uns nichts. Auf dem Markt mitten in der Stadt ist es sicherlich warm. Fünfundzwanzig Cent - für uns beide womöglich fünfzig - im Gasthof ausgeben! Fünfzig Cent fürs Übernachten. Wie viele Stunden muß man dafür arbeiten! Sie war jetzt auch müde. Die Nachtluft wehte köstlich weich und beruhigend. Unbestimmt empfand sie den Geruch von Äckern, von taunassem Gras, von feuchtem 156
Staub, von Vieh; Zweige streiften ihr Gesicht, und hin und wieder roch es betäubend nach wildem Phlox. Sie holte tief Atem; ihr Körper und ihr Geist waren in der Dunkelheit von gesteigerter Empfänglichkeit für Töne, Gerüche und selbst Formen. In den letzten Wochen hatte sie viel durchgemacht; wenig geschlafen und nichts gegessen; war zwischen Schrecken, Ratlosigkeit, Todesangst und Kummer hin und her geworfen wor den. Jetzt kam die Entspannung. Sie fühlte eine seltsame Leichtigkeit im Kopf. Die Erschütterungen der letzten Tage hatten wie ein Reinigungsprozeß gewirkt. Ihr Hirn war klar, ihre Empfindungsfähigkeit aufs äußerste geschärft. Sie war wie ein hochempfindliches elektrisches Empfangsgerät, das die feinsten Schwingungen im Äther registriert. Hinter ihr schlief das Kind ruhig und fest auf seinem harten, unbequemen Lager. Die Lichter in den Farmen verlöschten eins nach dem ändern. Dunkelheit ver schluckte die Häuser. Immer näher kamen die Lichter der Stadt. Die fünfunddreißigste Querstraße. Noch anderthalb Stunden bis zum Heumarkt ... Nein, sie hatte keine Angst mehr. Schließlich würde sie das Gemüse so gut wie möglich verkaufen ... Dirk sollte es einmal anders machen als sie. Sie würde dafür sorgen, daß er sich nicht so treiben ließe, sondern sich ein festes Ziel steckte. Für seine Mutter war es nun zu spät... zweiundzwanzigste Querstraße ... zwölfte. Was für eine Menge Menschen ... Und trotz allem Bitteren, was sie erlebt hatte, machte es ihr Spaß. Warum es leugnen? ... Sie mußte ihn nun wecken ... »Dirk, Dirk! Wir sind gleich da. Sieh doch nur die vielen Menschen und die Lichter! Wir sind gleich da.« 157
Der Junge wachte auf, richtete sich halb empor, sah sich um, blinzelte, fiel zurück und rollte sich wie ein Igel zusammen. »Will keine Lichter sehen ... keine Leute ...« Selina lenkte die Pferde durch die Vorstadtstraßen. Sie sah sich aufmerksam um. Andere Wagen ratterten vorüber. Eine ganze Reihe fuhr vor ihr her. Neugierige Blicke streiften sie. Man rief sich gegenseitig an und zeigte mit dem Finger nach ihr hin, aber sie achtete nicht darauf. Nur wollte sie den Jungen jetzt neben sich auf dem Bock haben. »Dirk! Komm, wach auf. Setz dich neben mich!« Verschlafen kletterte er auf den Sitz, gähnte und rieb sich mit den Knöcheln die Augen. »Was machen wir hier?« »Unser Gemüse verkaufen, damit wir Geld bekommen.« »Wozu?« »Damit du in die Schule gehen und lernen kannst.« »Ach! Ich gehe doch schon in die Schule.« »Ich meine eine andere, viel größere.« Er war jetzt ganz wach und sah sich aufmerksam um. Sie bogen in den Heumarkt ein. Ein Getriebe und Getöse von Pferden, Wagen und Menschen. Von Norden her kamen die deutschen Farmer mit ihren Wagen, von Südwesten, wie Selina, die holländischen. Ganze Wagenladungen von Obst und Gemüse, so daß der alte historische Marktplatz bald vollgestopft war. Eine friedliche Armee, die einer großen Stadt zu essen brachte. Hier und in der South-Water-Straße stapelten sich die grünen Gewächse, die Chikagos Millionen zu ihrer Ernährung brauchten. Selina fühlte ein wenig Stolz in dem Bewußtsein, daß auch sie dazu beitrug. Geschickt lenkte sie ihr Gefährt durch die sich stauende 158
Menge. Seit ihrer ersten Fahrt nach Chikago am Anfang ihrer Ehe war sie nicht mehr als etwa zwölfmal mit Pervus in der Stadt gewesen. Aber sie hatte aufgepaßt und wußte genau Bescheid. Ihr schwebte eine bestimmte Stelle vor, wo sie hinstrebte: nämlich mitten hinein in die doppelte Wagenlinie und nahe an die Ecke der einen großen Querstraße. Hier hatten die Gemüsehändler und Kaufleute am leichtesten Zugang zu den Wagen. Hier konnte sie ihre Waren am sichersten an den Mann bringen. Gerade gegenüber lagen Chris Spanknoebels Gastwirtschaft und Logierhaus. Christian kannte Selina; er hatte Pervus von Kind auf gekannt und auch seinen Vater; er würde ihr gewiß zu Hilfe kommen, wenn es nötig sein sollte. Dirk war jetzt völlig wach. Die vielen Lichter, die fremden Menschen, die Pferde, das Stimmengewirr und das Gläserklirren aus den Gasthöfen zu beiden Seiten der Straße waren für ihn ungewohnte und aufregende Eindrücke. Unter den großen Laternen an den Straßenecken standen überall Buden, in denen Schokolade, Zigarren, Kra genknöpfe, Hosenträger, Schuhbänder und allerlei andere kleine Artikel verkauft wurden. Je mehr man sich aus dem Bereich der grellen Laternen entfernte, um so unheimlicher wirkten die Männer in dem Halbdunkel: braungebrannte, derbe Gesichter, das Weiß der Augen sehr hell, die Schnurrbärte tiefschwarz, klobige Schultern. Hier spielten zwei Männer unter einer Laterne Karten, dort schäkerten Mädchen mit einem Polizisten. »Hier ist ein feiner Platz, Mutter! Sieh doch, der Hund auf dem Wagen sieht genau wie Pom aus.« Pom hörte seinen Namen, erhob sich und sah Dirk an. Er wedelte aufgeregt mit dem Schwanz und fing an zu 159
bellen. Pom kannte das Nachtleben auf dem Heumarkt zur Genüge, und doch versetzte es ihn jedesmal wieder in Erregung. Unzählige Male hatte er in Pervus' Abwesenheit auf den Wagen aufgepaßt. Sprungbereit stand er auf dem Sitzbrett und knurrte drohend, sobald jemand ein Radieschen auch nur anzufassen wagte. »Still, Pom! Leg dich!« Selina wollte nicht die Aufmerksamkeit auf sich und den Jungen lenken. Es war noch früh. Sie hatte gute Fahrt gemacht. Pervus war unterwegs meistens ein bißchen eingenickt und hatte die Pferde laufen lassen, wie sie wollten. Selina aber hatte sie angetrieben, so daß sie eine halbe Stunde früher als sonst angekommen waren. Ein Stück weiter erkannte sie schon die Stelle, wo sie hinwollte. Aber von der ent gegengesetzten Seite kam ein anderer Gemüsewagen, offenbar in derselben Absicht. Zum erstenmal während der ganzen Fahrt nahm Selina die Peitsche und zog den beiden erschrockenen Gäulen eins über. Mit einem jähen Ruck setzten sie sich schwer fällig in Galopp. Zehn Sekunden zu spät durchschaute der andere Farmer ihre Absicht. Er nahm die Peitsche und hieb auf seine müden Pferde ein. Aber schon ver sperrte ihm Selinas Wagen den Weg. »Machen Sie gefälligst Platz, Sie -« brüllte er. Dann erst merkte er in der halben Finsternis, daß sein Konkurrent eine Frau war. Er stotterte und starrte sie mit offenem Mund an. Nun versuchte er es auf andere Weise. »Da dürfen Sie nicht hin, Frau.« »O ja, das darf ich wohl.« Ihr Wagen stand bereits. »Jawohl, das dürfen wir!« schrie Dirk herausfordernd. Köpfe tauchten hüben und drüben aus den Wagen her vor. »Wo ist Ihr Mann?« wollte der besiegte Farmer wissen. 160
»Hier«, sagte Selina, die Hand auf Dirks Kopf. Der andere zog die Zügel an. Wahrscheinlich steckte der dazugehörige Mann irgendwo in der Nähe, vielleicht bei Christian Spanknoebel, oder er verhandelte mit einem Bekannten wegen der Marktpreise, anstatt auf seinen Wagen aufzupassen. So nützte er die Abwesenheit ihres natürlichen Beschützers aus und machte seiner Wut Luft. »Frauen haben auf dem Heumarkt nichts zu suchen. Ihnen täte es auch besser, wenn Sie zu nachtschlafender Zeit in Ihrer Küche blieben, wo Sie hingehören!« Gerade das konnte Selina am wenigsten vertragen. Zu oft hatte sie in den vergangenen Tagen dieses gedankenlose Gerede über sich ergehen lassen müssen. Jetzt riß ihr die Geduld. Der deutsche Farmer glaubte seinen Ohren nicht zu trauen, als ihn die kleine Person in dem zerbeulten schwarzen Filzhut unvermittelt anschrie: »Behalten Sie Ihre Weisheit gefälligst für sich, Sie Dummkopf! Soll ich vielleicht in meiner Küche sitzen bleiben und mit dem Jungen zusammen verhungern? Ich muß Geld verdienen! Ich verkaufe hier mein Gemüse, und das geht keinen Menschen etwas an! Machen Sie schleunigst, daß Sie weiterkommen, sonst zeige ich Sie noch an!« Behend kletterte sie vom Wagen herunter, um die Pferde abzuschirren. Wer weiß, was ihr der verdutzte Bauer noch alles zutraute. Obwohl er von der schmächtigen Frau bestimmt nichts zu fürchten hatte, nahm er die Zügel und machte sich aus dem Staube. »Teufel! Das ist ein Weib!« Und schon war er in der Dunkelheit verschwunden. Selina beeilte sich. »Du bleibst mit Pom hier, Dirk. Mutter ist gleich wieder da.« Sie trieb die Pferde vor 161
sich her zum Stall, wo sie für fünfundzwanzig Cent untergebracht wurden. Als sie zurückkam, fand sie Dirk in eifriger Unterhaltung mit zwei Frauen. Sie waren noch jung, hatten rote Blusen an und lang schleppende karierte Röcke. Auf ihrer modischen hohen Frisur saß schief und kokett ein Matrosenhut. »Komm weiter«, sagte die eine. »Es ist schon nach neun und noch kein -« sie wandte sich um und sah gerade in Selinas weißes Gesicht. »Da ist meine Mutter«, rief Dirk triumphierend. Die drei Frauen betrachteten einander stillschweigend. Die zwei sahen den abgeschabten Filzhut und das altmodische Kleid und wußten Bescheid. Selina sah die roten Blusen und die geschminkten roten Lippen - und wußte auch Bescheid. »Wir haben nur ein bißchen mit dem Kleinen geschwatzt«, sagte das eine Mädchen, als müsse sie sich verteidigen. »Wir wollten nur wissen, wie er heißt und so.« »Er heißt Dirk«, sagte Selina freundlich. »Es ist ein niederländischer Name - stammt aus Holland. Wir kommen aus High Prairie. Ich bin Frau DeJong.« »So«, sagte das andere Mädchen. »Ich heiße Elsie. Und ich bin aus Chelsea. Los, Mabel. Schwatz nicht soviel.« Sie war blond und laut. Die andere war älter und dunkel und sah keineswegs verdorben aus. Sie musterte Selina eingehend. Aus dem Wagen nebenan kamen kräftige Schnarchtöne. Weiter unten stritten sich Männer beim Würfelspiel. »Was machen Sie hier?« »Ich will morgen früh hier mein Gemüse verkaufen.« Mabels Verstand arbeitete etwas langsam. »Und wo ist Ihr Mann?« 162
»Mein Mann ist vor acht Tagen gestorben.« Selina begann ihr Lager für die Nacht zurechtzumachen. Sie zog einen Sack voll Heu unterm Sitz hervor und schüttete ihn vorn im Wagen aus, nachdem sie das Sitzbrett her untergenommen und als Kopfkeil gegen die eine Wagenseite gelehnt hatte. Über das Heu legte sie ein paar alte Säcke. Der große wollene Schal sollte als Decke dienen. Mabel beobachtete diese Vorbereitungen aufmerksam. Allmählich glomm Verständnis in ihren Augen auf. Und Schrecken. »Sagen Sie, Sie wollen doch nicht etwa mit dem Kleinen hier draußen schlafen?« »Doch.« »Was! Um alles . . .« Ihre Augen wurden rund und starr. Sie wandte sich zum Gehen, kam zurück. An ihrem flott nach unten gezogenen Gürtel baumelte ein ganzes Arsenal von kleinen metallenen Gegenständen: eine Börse, ein Bleistift, ein Spiegel und ein Taschenkamm. Sie öffnete die Börse, nahm einen Silberdollar heraus und reichte ihn mit einer beinahe schroffen Bewegung Selina hin. »Hier, stecken Sie den Kleinen in ein anständiges Bett. Und sich selber auch.« Selina starrte die runde, glänzende Silbermünze an. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Das macht uns gar nichts aus, hier draußen zu schlafen. Aber ich danke Ihnen wirklich sehr für Ihre Freundlichkeit- Mabel.« Das Mädchen steckte den Dollar verlegen wieder ein. »Na ja, es gibt so'ne und so'ne. Ich dachte immer, mir ginge es dreckig, aber wenn ich Sie dagegen sehe, hab' ich's gar nicht mal so schlecht. Ein Bett zum Schlafen hab' ich immer noch, wenn's auch . . . na, gute Nacht. Nun hör' einer bloß diese Elsie an, was die ruft! Ich komme ja schon! Mach nicht so'n Krach!« 163
Beide entfernten sich lachend und schwatzend Arm in Arm. »Komm, Dirk!« »Schlafen wir hier?« Dirk strahlte. »Jawohl, mein Herz. Wie zwei Handwerksburschen im Heu.« Das Kind legte sich hin, strampelnd vor Vergnügen. »Wie die Zigeuner. Gelt, Mami?« Sie legte sich neben ihn. Er war viel zu aufgeregt zum Schlafen. »Die Mabel gefiel mir besser. Sie war die net teste, nicht?« »O ja, sehr nett«, sagte Selina, legte den Arm um ihn und zog ihn dicht an sich. Und plötzlich hörte sie ihn tief und ruhig atmen — er war eingeschlafen. Es wurde stiller auf der Straße. Gespräche und Geläch ter verstummten. Bei Christian Spanknoebel erlosch ein Licht nach dem anderen. Hin und wieder verrieten Hufeklappern und Räderrollen die Ankunft eines ver späteten Farmers, der irgendwo noch ein Plätzchen suchte. Es war angenehm kühl, nicht kalt. Über ihnen, zwi schen den Backsteinhäusern, war ein breiter Streifen Himmel zu sehen. Zwei Männer kamen laut singend vorbei. »Mund halten«, schrie es aus einem Wagen. Der Gesang verstummte. Es mußte zehn Uhr sein oder vielleicht später. Selina hatte Pervus' alte Nickeluhr bei sich, aber sie konnte das Zifferblatt nicht erkennen und wollte kein Streichholz opfern. Regelmäßige Schritte kamen und gingen: die nächtliche Polizeistreife. Sie lag und sah mit trockenen Augen zum Nachthimmel auf; Tränen hatte sie nicht mehr. Sie dachte: Da liege ich, Selina Peake, und schlafe in einem Wagen im Stroh, wie ein Muttertier mit seinem Jungen. Und habe
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doch einmal von seidenen Decken und spitzenbesetzten Kopfkissen geträumt. Jetzt habe ich Männerstiefel an den Füßen und trage ein selbstgefärbtes Kleid . . . Wie lang, wie lang ist es noch bis morgen früh . . . Ich muß versuchen einzuschlafen . . . Ich muß versuchen einzuschlafen .. . Sie schlief wirklich ein. Die Sterne schienen blinkend auf sie herab. Wie sie so schlafend da lag, ihr Kind im Arm, kam Friede in ihr angespanntes Gesicht, und die müden Glieder lösten sich.
II
Um drei Uhr früh wachte Selina auf. Es war noch stockfinster, aber auf den Straßen wurde es schon lebendig. Sie klopfte das Heu von ihrem Rock und säuberte sich, so gut es ging. Dirk ließ sie ruhig weiterschlafen und befahl Pom, den Wagen zu bewachen. Dann ging sie über die Straße zu Christian Spanknoebels Gastwirtschaft. Christian würde gewiß nichts dagegen haben, daß sie sich unterm Wasserhahn Gesicht und Hände abspülte. Auch wollte sie gern für sich und Dirk eine Tasse heißen Kaffee zur Belebung kaufen. Butterbrote waren noch vom vorhergehenden Abend übrig. Christian Spanknoebel stand wohlbeleibt und freundlich lächelnd hinter seinem Büfett und wischte die Platte mit einem Tuch ab. Im Nu war der Tisch trocken und funkelte vor Sauberkeit. Später durfte Dirk bisweilen dieses Geschäft übernehmen — worauf er nicht wenig stolz war. Christian Spanknoebel schien niemals zu 165
schlafen. Trotzdem war sein Gesicht stets rosig und seine blauen Augen blitzblank. Noch der letzte Farmer, der spät in der Nacht hereinkam und eine Tasse Kaffee, ein Glas Bier oder ein Butterbrot haben wollte, fand Christian, so wie jetzt, in seiner weißen Schürze mit rosa Bäckchen hinter dem Schenktisch stehend und mit seinem Tuch über die blitzblanke Platte wischend. Als Selina den langgestreckten Raum betrat, empfand sie den Anblick Christians als beruhigend und ermutigend. Von der Küche im Hintergrund her hörte man es vielversprechend zischen und brutzeln, auch roch es köstlich nach Kaffee, gebratenem Fleisch und Kartoffeln. Die Männer vom Markt saßen bereits zum Frühstück an den Tischen, tranken dampfenden Kaffee und verzehrten eilig ungeheure Portionen: dicke Schinkenenden, hartgekochte Eier, Bratkartoffeln und riesige Brotscheiben, die sie reichlich mit Butter bestrichen. Selina ging auf Christian zu. Wie die Sonne aus dem Nebel, so leuchtete sein rotes rundes Gesicht aus dem Tabakrauch. »Na, wie geht's denn immer?« Erst jetzt erkannte er sie. »Ach, das ist ja Frau DeJong!« Er wischte sorgfältig seine Hand an einem Tuch ab und streckte sie teilnehmend der Witwe entgegen. »Ich habe es gehört«, murmelte er, »ich habe es gehört.« »Wir sind mit dem Wagen hier, Herr Spanknoebel. Mein Junge und ich. Er schläft noch. Darf ich ihn wohl hier bei Ihnen ein bißchen waschen, ehe wir frühstücken?« »Aber selbstverständlich!« Dann, mit ungläubigem Staunen: »Sie haben doch nicht etwa im Wagen geschla fen, Frau DeJong? Um Gottes willen!« »Doch. Es ging ganz gut. Der Junge hat die ganze Nacht geschlafen, und ich habe ein bißchen geduselt.«
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»Warum sind Sie nicht hereingekommen? Warum -« Er sah Selina ins Gesicht und wußte den Grund. »Sie hätten mit dem Jungen umsonst hier schlafen können.« »Das wußte ich. Deshalb bin ich nicht gekommen.« »Reden Sie keinen Unsinn, Frau DeJong. Die Hälfte der Zimmer steht sowieso leer. Sie hätten mir für sich und den Jungen meinetwegen zwanzig Cent geben können und nicht gleich zu bezahlen brauchen, sondern wenn es mal gepaßt hätte. Aber Sie wollen doch wohl nicht regelmäßig zum Markt kommen? Das ist nichts für Frauen!« »Es bleibt mir nichts anderes übrig. Ich könnte höchstens Jan schicken, aber dann könnten wir auch gleich ganz zu Hause bleiben. Im September und Oktober, denke ich, werde ich fahren. Später vielleicht -« Ihre Stimme brach plötzlich ab. Es ist nicht so einfach, mor gens früh um drei Uhr mit nüchternem Magen hoffnungsfroh in die Zukunft zu blicken. Sie wusch und kämmte sich in dem kleinen Waschraum und fühlte sich sofort um vieles besser. Als sie zum Wagen zurückkam, fand sie Dirk in heller Verzweiflung. Er war aufgewacht, und seine Mutter war verschwunden! Eine Viertelstunde später saßen sie beide an einem Tisch, auf dem aufgetragen war, was Christian Spanknoebel als angemessenes Frühstück betrachtete. Ein verheißungsvoller Anfang für den Tag, aber ein trüge rischer. Denn die Käufer wollten Selina DeJongs Gemüse nicht haben. Von Frauen kaufte man nicht, man verkaufte nur an sie. Gemüsehändler und kleine Kaufleute kamen scharenweise um vier Uhr früh auf den Markt, Griechen, Italiener. Sie kauften mit allen erdenklichen Listen und Schlichen und betrogen, wo sie konnten. Sie ver 167
tauschten die Tomatenkisten, sobald man den Rücken drehte, oder stahlen einen Kopf Blumenkohl. Es fehlte an Aufsicht und an einer strengen Regelung. Selina hatte die Decken von den Gemüsekörben heruntergenommen. Frisch und farbig kam der Inhalt zum Vorschein. Aber sie wußte, wie entscheidend es war, das Gemüse schnell an den Mann zu bringen. Sobald die Blätter welkten, sobald die Ränder der Blumenkohlköpfe sich krausten und braun und schlaff wurden, sank ihr Wert sofort auf die Hälfte, mochten die Köpfe auch noch so weiß und fest sein. Die Käufer gingen von Wagen zu Wagen; schwarzäugige fette kleine Gestalten, Männer in Hemdsärmeln und Schurzfellen, Kautabak im Munde; derbe, rote holländische Köpfe; schmale dunkle fremdländische Gesichter. Lärm, Geschrei, Durcheinander. »He! Nehmen Sie gefälligst Ihren Gaul da fort! Donnerwetter noch eins!« »Was soll der ganze Zentner kosten?« »Haben Sie Bohnen? Nee, Blumenkohl will ich keinen. Bohnen!« »Taugt nichts!« »Behalten Sie sie. Ich will sie nicht haben.« »Einen Vierteldollar für den Sack.« »Was! Das sind keine Fünf-Pfund-Köpfe. Ich will mich hängen lassen, wenn die mehr als vier wiegen.« »Geben Sie meinetwegen fünf Bund her.« Lebensmittel für Millionen Menschen, in Wagen aufgehäuft und zwischen den Rädern und Pferdehufen verstreut. Barfüßige Kinder mit Körben sammeln das heruntergefallene Gemüse vom Pflaster auf. Eine ausge mergelte Frau wühlt im Straßenschmutz nach verlorenen Kartoffeln, Zwiebeln und Äpfeln. Zu niedrigen 168
Preisen kauft eine dicke Person leicht angewelkte Mohren, Petersilie, Rüben und Bohnen, macht kleine Bün del daraus und veräußert sie als Suppengrün an die Händler weiter. Die Sonne ging rot am Horizont auf. Der Tag würde feucht und warm werden. Man mußte zusehen, daß man sein Gemüse schnell los wurde. Am Nachmittag würde es nichts mehr wert sein. Selina stand neben ihrem Wagen. In ihrer Nähe sah sie die bekannten Gesichter von einem halben Dutzend Far mern aus High Prairie. Sie riefen ihr zu oder kamen einen Augenblick herüber und maßen ihre Waren mit prüfenden Blicken. »Na, Frau DeJong, wie geht's? Hübsches Gemüse haben Sie! Halten Sie sich dran, daß Sie's bald verkaufen! Es wird verteufelt heiß heute!« ihr Ton war freundlich und doch mißbilligend. Ihr Blick sagte: Kein Ort für eine Frau. Die Händler betrachteten neugierig ihre Gemüsebündel, aber sie gingen weiter. Nicht aus Unfreundlichkeit, son dern aus einer gewissen Scheu vor dem Ungewohnten. Sie sahen sehr wohl ihr blasses Gesicht mit den großen, dunkel umschatteten Augen, die zierliche Gestalt in dem einfachen schwarzen Kleid, die angstvoll zusam mengepreßten Hände; das Gemüse der Frau war bestechend schön - aber sie gingen vorüber in einer in stinktiven Abneigung gegen das Außergewöhnliche. Es wurde neun, und das Geschäft ließ nach. Verzweifelt rechnete Selina aus, daß sie für kaum zwei Dollar verkauft hatte. Wenn sie bis Mittag stehenblieb, konnte sie die Summe vielleicht verdoppeln, mehr aber schlug sie auf keinen Fall heraus. So schirrte sie die Pferde an, lenkte sie vorsichtig aus dem Getriebe des Heumarktes hinaus 169
und schlug die Richtung nach der South-Water-Straße im Osten Chikagos ein. Dort lagen die Kommissionsgeschäfte. Allenthalben versperrten ebensolche hochbeladenen Wagen und Karren den Weg, aber man handelte in ganz anderem Maßstab. Sie wußte, daß Pervus hier oft seine ganze Fuhre einem Händler in Kommis sion überlassen hatte. Auch der Name - Talcott - fiel ihr wieder ein; es konnte nicht schwer sein, ihn zu finden. »Wo fahren wir denn jetzt hin, Mami?« Der Junge war bisher bemerkenswert brav und geduldig gewesen. Er hatte die überwältigenden Eindrücke der ungewohnten Umgebung mit der Anpassungsfähigkeit des Kindes in sich aufgenommen. Tapfer hatte er neben seiner Mutter am Wagen gestanden und ihr bei ihrem kläglich geringen Verkauf geholfen; er hatte die welken Blätter abgezupft und die schönsten und frischesten Gemüse herausgesucht. Aber genau wie das Gemüse hinten im Wagen unter der Hitze und der Trennung vom heimatlichen Boden zu leiden hatte, so ließ auch Dirk den Kopf jetzt hängen. »In eine andere Straße, Sogroß -« »Dirk!« »— Dirk, zu einem Mann, der vielleicht unser ganzes Gemüse auf einmal kauft. Wäre das nicht fein? Dann fahren wir sofort nach Hause. Komm, hilf mir den Namen auf dem Ladenschild suchen. Talcott . . . T-a-1c-o-t-t-.« Die South-Water-Straße hatte ihren Charakter mit dem Wachstum der Stadt geändert. Früher hatte man lauter amerikanische Namen gesehen: Flint - Keen - Rusk Lane. Jetzt fand man statt dessen Cuneo - Meleges Garibaldi - Campagna. Und da stand es auch schon: »William Talcott. Obst und Gemüse«. 170
Von der kühlen Toreinfahrt zu seinem großen, hallenartigen Lager aus beobachtete William Talcott das fieberhafte Gedränge auf der Straße. Er war die Ruhe selbst. Vierzig Jahre arbeitete er schon im Proviantgeschäft. Er trug das unerschütterliche Benehmen eines Mannes zur Schau, der weiß, daß die Welt braucht, was er zu verkaufen hat. An jedem Wochentag türmten sich in seinen Kellergewölben schon morgens um sechs ganze Berge von Säcken, Körben, Kisten und Tonnen, aus denen grüne Blätter herauslugten, scharlachrote Tomaten oder tiefgelbe Gurken. Er kaufte nur das Beste ein und verkaufte es zu den höchsten Preisen weiter. Er hatte Pervus gekannt und seinen Vater und sie als rechtschaffene Männer geschätzt. Von ihrem Gemüse freilich war er weniger entzückt gewesen. Die Schleppkähne vom Michigansee brachten ihm täglich auserlesene Pfirsiche und Trauben; riesengroße Lastwagen kamen mit eisgekühlten Früchten und Gemüse aus Kalifornien für diejenigen Käufer, die sich den Luxus von frischen Erdbeeren und Ananas zu jeder Jahreszeit leisten konnten. Talcott trug schwarzweißkarierte Hosen; seine weißen Hemdsärmel stachen von den blauen Hemden und Overalls der anderen Männer auffallend ab. Eine dicke goldene Uhrkette spannte sich über seine behäbige Mitte. Eine erstklassige Zigarre hing unangezündet in seinem Mundwinkel. Er hatte scharfe blaue Augen und nur wenig Haare, ungefähr von der Farbe seines Anzuges. Feist und schweigsam wie ein chinesischer Buddha stand er in der Toreinfahrt und prüfte die Früchte der Erde, die die Händler ihm anboten. »Ausgeschlossen, Jakob. Keine Verwendung. Hm! Na - nimm die lieber wieder mit, Tunis. Die Blätter sehen schon braun aus. Welkes Zeug.«
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Chikagos erste Hotels schickten ihre Küchenchefs zu William Talcott zum Einkaufen. Zu ihm kamen die Händler, die ihre Waren an die reichen Familien im Norden und in der Umgebung der Prairie Avenue im Süden der Stadt weiterverkauften. Jetzt entdeckte er die schmächtige Gestalt in verschossenem Schwarz mit den großen eingesunkenen Augen in dem überanstrengten Gesicht. »DeJong? Habe mit Bedauern von Ihrem Verlust ge hört. Pervus war ein Prachtkerl, wenn er auch nicht besonders viel vom Gemüsebau verstand. Also Sie sind die Witwe? Hm.« Er sah sofort, daß er keine einfältige Bauersfrau vor sich hatte. Höflich kam er an ihren Wagen und kniff Dirk in die Wange. »Tja, Frau DeJong, da haben Sie ja einen ordentlichen Wagen voll Gemüse, und es sieht recht hübsch aus. Nichts dagegen zu sagen. Sie kommen nur zu spät! Es ist schon bald zehn!« »O nein!« rief Selina. »O nein! Nicht zu spät!« In ihrer Stimme lag soviel Verzweiflung, daß er sie scharf ansah. »Ich werde Ihnen etwas sagen: vielleicht kann ich die Hälfte davon für Sie loswerden. Gemüse hält sich bloß nicht bei dem Wetter. Wird gleich welk und bleibt liegen . . . Zum ersten Male hier, was?« Sie fuhr sich übers Gesicht. Es war feucht und eisig kalt. »Zum ersten Male.« Sie konnte plötzlich kaum Atem holen. Er rief in den Lagerraum hinein: »George! Ben! Bringt mal das Zeug hier 'rein! Die Hälfte! Sucht das Beste aus! Ich schicke Ihnen gleich morgen einen Scheck, Frau DeJong. Sie haben einen schlechten Tag erwischt für Ihre erste Fahrt!« 172
»Sie meinen, es ist zu heiß?« »Ja, heiß ist es auch. Aber ich meine, an so einem Feier tag wie heute kauft kein Grünkramhändler viel ein.« »Feiertag?« »Ja, Sie wußten doch, daß heute ein jüdischer Feiertag ist? Nein? Ja, du lieber Himmel! Der ungünstigste Tag im ganzen Jahr. Alle jüdischen Händler stecken heute in der Kirche, und ihre Kunden haben schon am Sonn abend für zwei Tage eingekauft. Die ganzen Geflügel läden unten in der Straße haben sie leergekauft. Die Juden essen doch das meiste Geflügel auf der ganzen Welt! . . . Tja . . . Sie fahren am allerbesten gleich nach Hause und werfen den Rest auf den Mist, meine gute Frau DeJong.« Selina legte eine Hand auf den Sitz und machte Miene, wieder auf den Bock zu steigen. Der eine Fuß in dem lächerlichen alten Männerstiefel stand bereits auf dem Rade. »Wenn Sie mein Gemüse nur kaufen, weil ich Ihnen leid tue -« Der Peakesche Stolz. »Geschäft ist Geschäft. Kann ich mir nicht leisten. Meine Tochter studiert Gesang. Augenblicklich ist sie in Italien und kostet mich ein Heidengeld. Alles, was ich zusam menkratze, verbraucht Karoline.« Die Farbe kehrte in Selinas Wangen zurück. »Italien! O Mr. Talcott!« Soviel Entzücken stand in ihrem Gesicht, als wäre sie selbst wer weiß wie oft dort gewesen. Dann bedankte sie sich bei Talcott. »Nichts zu danken, Frau DeJong. Ich sehe, daß Sie das Zeug auf besondere Art zusammengebunden haben, al les nach Größe. Wollen Sie es weiter so machen?« »Ja. Ich dachte . . . es sähe so hübscher aus . .. natürlich brauchen Gemüse ja eigentlich nicht hübsch auszusehen -« sie brach verlegen ab.
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»Madien Sie es nur weiter so zurecht, und bringen Sie es gleich zu mir, oder schicken Sie es mir. Meine Kundschaft verlangt etwas Besonderes. Jawohl.« Als sie davonfuhr, sah sie ihn wieder kühl und unbeweglich im Torweg stehen, die unangezündete Zigarre im Mundwinkel. Um ihn herum türmten sich Fässer und Kisten, Wagen ratterten dröhnend vorbei, alles schrie und rief durcheinander. »Fahren wir jetzt nach Hause?« fragte Dirk. »Ich habe Hunger!« »Ja, mein Herz.« Zwei Dollar in der Tasche! Dafür all die Plackerei gestern und heute und die monatelange Arbeit vorher. ZweiDollar! »Wir kaufen uns unterwegs etwas zu essen. Milch und Brot und Käse.« Die Sonne stach unbarmherzig. Sie nahm seine Mütze herunter und strich ihm mit der zarten, verarbeiteten Hand das feuchte Haar aus der Stirn. »Na, war das nicht fein?« sagte sie. »Ein richtiges Abenteuer! Denk nur an all die freundlichen Menschen, die wir getroffen haben! Herrn Spanknoebel und Herrn Talcott -« »Und Mabel.« Zögernd: »Und Mabel.« Plötzlich hätte sie ihn küssen mögen, aber sie wußte, daß er Zärtlichkeiten verabscheute. Der Junge in ihm und das holländische Erbteil wehrten sich dagegen. Sie entschloß sich, noch in den Osten und dann in den Süden der Stadt zu fahren. Pervus hatte manchmal ganz zuletzt in den abgelegenen Läden Glück gehabt. Jans Gesicht, wenn sie mit dem halben Wagen voll Gemüse nach Hause kam! Und was sollte aus den unbezahlten Rechnungen werden? Sie besaß alles in allem vielleicht dreißig Dollar. Und schuldete vierhundert 174
oder noch mehr. Pervus hatte im April Stecklinge gekauft, die im Herbst bezahlt werden mußten. Und es war schon Herbst. Furcht überfiel sie. Sie suchte sich damit zu beruhigen, daß sie müde und nervös sei. Die aufregende Woche, die hinter ihr lag. Und dazu der heutige Mißerfolg. Die fürchterliche Hitze. Bald würden sie zu Hause sein. Wie kühl und still es dort sein mußte! Sehnsüchtig dachte sie an ihre Küche, an ihr sauberes kleines Schlafzimmer mit dem schwarzen Nußbaumbett, an das Sofa im Wohnzimmer mit dem zerknitterten Kattunbezug. Es schien Jahre her, seit sie das alles gesehen hatte. Dort war Trost und Frieden ... Keine Arbeit für eine Frau. Vielleicht hatten sie recht. Sie fuhren die Wabash-Allee entlang. Über ihre Köpfe hinweg donnerten die Züge. Die Pferde, schon vorher scheu geworden von dem ungewohnten Lärm, bäumten sich und waren zu keiner ruhigen Gangart mehr zu bewegen. Der wackelige Farmwagen paßte schlecht in diese Umgebung von Läden, Straßenbahnen, Droschken, Autos, Lastwagen und Fahrrädern. Die Hitze wurde von Stunde zu Stunde unerträglicher. Dirk sah mit großen Augen um sich. »Bald haben wir's geschafft. Hier ist die Prairie-Allee. Große schöne Häuser mit Rasenplätzen davor. Und so schön ruhig.« Sie brachte sogar ein Lächeln zustande. »Zu Hause gefällt mir's besser.« Sie kannte Gemüsehandlungen in der Nähe der 18. Querstraße und von da an beinahe an jeder Straßenecke. Die großen Steinhäuser zu beiden Seiten stammten fast durchweg aus den neunziger Jahren und sahen sich auffallend ähnlich; fast alle hatten die gleichen Türmchen und Giebel, Säulen und Kuppeln, Gewächshäuser, 175
Erker und Bogenfenster. Hier wohnten die reich ge wordenen ehemaligen Schlächter, Getreidehändler und Warenhausbesitzer. Sie hatten mit den Erzeugnissen Handel getrieben, die die Bevölkerung der Riesenstadt am nötigsten brauchte. Gerade wie ich, dachte Selina voller Galgenhumor. Dann kam ihr ein neuer Einfall. Ihr Gemüse war unter den schützenden Segeltuchdecken frischer als das auf den benachbarten Märkten. Warum sollte sie nicht den Versuch machen, wenigstens einen Teil davon in den großen Häusern zu verkaufen? Vielleicht könnte sie in einer Stunde ein paar Dollar verdienen, wenn sie Klein verkaufspreise nahm, die immer noch ein wenig hinter den Preisen der benachbarten Gemüsehandlungen zurückblieben. An der 24. Querstraße machte sie halt, sprang behend herunter und warf Dirk die Zügel zu. Die Pferde dach ten ebensowenig ans Fortlaufen wie ihre hölzernen Kol legen auf einem Karussell. Sie füllte einen Korb mit dem schönsten und frischesten Gemüse, hob ihn auf den Arm und besah sich das Haus, vor dem sie stand. Es war aus braunem Sandstein, hatte vier Etagen und eine häßliche steile Freitreppe. Unter den Stufen befand sich ein besonderer Eingang: Für Lieferanten. Sie wußte, daß es einen zweiten Eingang zur Küche, an der Rückseite des Hauses, gab, aber den wollte sie nicht benutzen. So stieg sie kurz entschlossen die paar Stufen zum Erdgeschoß hinab. Man brauchte nur an der Klingel zu ziehen, dann läutete es drinnen im Flur. Selinas Hand lag am Klingelknopf. Zieh, sagte sie sich voller Ver zweiflung. - Ich kann nicht, ich kann nicht, schrie das Peakesche Blut in ihr. - Schön. Dann verhungere und laß Dirk und die Farm im Stich. 176
Endlich packte sie zu und zog an dem Knopf. Schritte näherten sich in der Halle. Die Tür ging auf, und es erschien eine derbknochige Frau in einer Arbeits schürze. »Guten Morgen«, sagte Selina. »Brauchen Sie frisches Gemüse?« »Nein.« Sie hatte die Tür schon halb wieder zugemacht. Dann öffnete sie sie wieder und fragte: »Haben Sie frische Eier oder Butter?« Selina verneinte; die Tür fiel ins Schloß, der Riegel wurde vorgeschoben. Drinnen entfernten sich schwere Fußtritte in der Richtung nach der Küche. Das war in Ordnung; nichts Erschreckendes dabei. Sie brauchten eben kein Gemüse. Also weiter, ins nächste Haus. Und ins übernächste. Auf der einen Seite der Straße hinauf und auf der anderen herunter. Viermal konnte sie ihren Korb frisch füllen. In einem Haus verkaufte sie Gemüse für einen Vierteldollar. In einem anderen für fünfzig Cent. Für zwanzig Cent hier, für fast fünfzig dort. Jedesmal sagte sie in demselben klaren und freundlichen Tonfall: »Guten Morgen.« Und wurde fast stets verwundert angestarrt. Selten warf man ihr einfach die Tür vor der Nase zu. »Wissen Sie keine gute Stelle für mich?« fragte ein Küchenmädchen. »Hier ist's nicht besonders. Ich bekomme nur drei Dollar statt vier wie viele andere. Vielleicht kennen Sie eine Herrschaft, die ein gutes Mädchen sucht?« »Nein«, antwortete Selina. »Nein.« In einem anderen Hause bot ihr die Köchin nach einem Blick in ihr abgespanntes, blasses Gesicht eine Tasse Kaffee an. Selina dankte höflich. Etwas über vier Dollar hatte sie jetzt im Geldbeutel. Dirk war müde und hungrig und kämpfte mit den Tränen.
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»Das ist das letzte Haus«, versprach ihm Selina. »Wir kaufen uns unterwegs etwas zu essen, und dann schläfst du ein bißchen, kleiner Dirk. Ich spanne das Segeltuch über dich und mache es hinten fest. Dann liegst du darunter wie in einem Zelt. Und wir sind im Nu zu Hause.« Das letzte Haus war ein neues großes Gebäude aus grauem Sandstein, aber über und über schmutzig von dem Rauch der Vorortzüge. Große Bogenfenster glänzten in der Sonne. Auf dem gepflegten Rasenplatz vor dem Haus standen mehr kostbare als schöne Statuen, dahinter lag ein Gewächshaus. Ein hohes eisernes Gitter umschloß das Gebäude und gab ihm ein gesichertes, wachsames Aussehen. Selina betrachtete den handgeschmiedeten Zaun. Sie hatte die deutliche Empfindung, daß er sie abwehrte, daß er sich drohend vor ihr aufreckte und sie nicht hineinlassen wollte. »Nur noch fünf Minuten«, sagte sie zu Dirk und gab sich die größte Mühe, ihren Ton hell, ihre Stimme fröhlich zu machen. Sie nahm einen Armvoll Gemüse vom Wagen und füllte ihren Korb von neuem. Da sagte eine Stimme hinter ihr: »Wo haben Sie Ihren Erlaubnisschein ?« Sie drehte sich um. Ein Polizist stand einen Schritt vor ihr. Sie sah ihn verwundert an. Er war ungewöhnlich groß und hatte ein sehr rotes Gesicht. » Erlaubnisschein ?« »Hören Sie nicht gut? Ihren Erlaubnisschein für den Verkauf von Gemüse. Ich nehme an, Sie haben einen?« »Nein.« Sie sah ihn immer noch erstaunt an. Sein Gesicht rötete sich noch mehr. Selina wurde beinahe ängstlich. Wenn es noch röter würde . . . 178
»Ja, was fällt Ihnen denn ein? Keinen Erlaubnisschein! So eine Unverschämtheit! Machen Sie, daß Sie weiterkommen, und sehen Sie zu, daß ich Sie nicht zum zweitenmal hier erwische!« »Was ist denn los, Wachtmeister?« fragte eine Frauenstimme. Ein flotter offener Zweispänner hielt neben ihnen. Zwei braune Pferde tänzelten unruhig in silberbeschlagenem Geschirr. Verächtlich musterten die beiden stolzen Traber Selinas armselige Klepper, die ein paar Grashalme von den gepflegten kleinen Rasenstükken zwischen Straße und Gehsteig abzupften. »Was ist denn los, Reilly?« Die Frau stieg aus dem Wagen. Sie trug ein elegantes schwarzseidenes Kleid und einen schwarzen Hut mit einer Straußenfeder. »Ach, nur eine Frau, die ohne Erlaubnis Gemüse verkauft, Frau Arnold. Man muß aufpassen wie ein Schießhund ... Marsch, machen Sie, daß Sie weiterkommen.« Er faßte Selina bei der Schulter und versetzte ihr einen leichten Stoß. Das war zuviel für Selina. Sie zitterte von Kopf bis Fuß vor leidenschaftlicher Empörung. Die ganze Straße, der Wagen, die Dame im seidenen Kleid, die Pferde und der Polizist verschwammen vor ihren Augen in einem einzigen Nebel. Ihr weiblicher Stolz flammte auf bei der Berührung der groben fremden Hand. Jeder Blutstropfen war aus ihrem Gesicht gewichen. Schwarz und unwahrscheinlich groß glühten ihre Augen, und sie schien einen Kopf gewachsen zu sein. »Lassen Sie mich sofort los.« Schneidend und stahlhart kam es von ihren Lippen. »Wie können Sie es wagen ... Lassen Sie mich sofort los —!« Er ließ sie los. Langsam kehrte das Blut in ihr Gesicht
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zurück. Schwer atmend stand sie vor ihm. Eine braungebrannte, von Wind und Wetter hart mitgenommene Frau. Ihr reiches Haar war zu einem einfachen Knoten zusammengedreht und mit einer langen grauen Haarnadel aufgesteckt. Der Saum ihres weiten Kattunkleides hatte das schmutzige Wagenrad gestreift. Ihre schmalen Füße steckten in alten Männerschaftstiefeln, auf dem Kopf trug sie einen geradezu unwahrscheinlich abgenutzten alten Filzhut (er stammte von ihrem Mann). In den Armen hielt sie ganze Bündel von Maiskolben, Mohren, Rettichen und roten Rüben. Ihre Zähne waren nicht mehr ganz tadellos, ihre Brust eingesunken. Und doch hatte Julia sie sofort an ihren Augen erkannt. Und stürzte auf sie zu in ihrem seidenen Kleid und dem kostbaren Federhut mit dem lauten Aufschrei: »O Selina, liebe,liebe Selina.« Und schluchzte gleich danach erschrocken und jammervoll auf: »Meine Selina!« Selina, Mohren, Rüben, Rettiche - alles zusammen schloß sie in ihre Arme. Neben ihnen auf dem Pflaster lagen die Gemüse verstreut, gerade vor Julia HempelArnolds großem steinernen Haus in der PrairieAllee. Und sonderbar genug, Selina war es schließlich, die Julias plumpe seidene Schulter streichelte und immer wieder beruhigend sagte, wie man zu einem Kinde spricht: »Komm! Es ist ja alles gut, Julia. Weine doch nicht. Warum weinst du nur? Still! Ist doch alles gut.« Julia hob den Kopf, fuhr sich über die Augen und putzte sich geräuschvoll die Nase. »Machen Sie, daß Sie weiterkommen«, sagte sie zu dem Schutzmann Reilly und gebrauchte dieselben Worte, die 180
er zu Selina gesagt hatte. »Ich werde Herrn Arnold über Sie Bescheid sagen, das kann ich Ihnen versprechen. Und Sie wissen, was das heißt.« »Ja, aber ... Frau Arnold, ich habe doch nur meine Pflicht getan. Ich konnte wirklich nicht ahnen, daß diese ... diese Dame eine Freundin von Ihnen ist. Weiß Gott ... ich -« Seine Augen musterten ratlos Selina, den Karren, die beiden Klepper und die halbverwelkten Gemüse. »Wie hätte ich das ahnen sollen, Frau Arnold!« »Und weshalb nicht?« fragte Julia mit großartigem Unverstand. »Weshalb nicht, das möchte ich gern wis sen. Machen Sie, daß Sie weiterkommen!« Tief gekränkt in seiner Unschuld zog er sich zurück. Und jetzt war es Julia, die Selina, den Karren, Dirk, die beiden Gäule und die traurigen Gemüseüberreste ratlos musterte. »Selina, um alles in der Welt! Was tust du denn mit -« Ihr Blick fiel auf Selinas unförmige Schaftstiefel, und sie fing von neuem an zu weinen. Auch Selina konnte sich nicht mehr beherrschen; ihre überreizten Nerven gaben nach, und sie brach in ein hysterisches Gelächter aus. Julia starrte sie voller Entsetzen an. »Selina, hör auf! Komm mit mir ins Haus! Worüber lachst du denn? Selina!« Mit zitternden Fingern zeigte Selina auf das am Boden verstreut umherliegende Gemüse. »Siehst du den Kohl, Julia? Weißt du noch, wie ich mich über Frau Trebbit lustig machte, weil sie Montag abends immer Kohl kochte?« »Das ist doch kein Grund zum Lachen. Hör sofort auf zu lachen, Selina Peake!« 181
»Ich höre ja schon auf. Ich habe ja nur über meine eigene Dummheit lachen müssen. Jedes bißchen Kohl ist mit Blut und Schweiß, mit Gesundheit und Jugend erkauft. Wußtest du das, Julia? Wenn man das erst weiß, macht man sich nicht mehr über Kohl lustig. - Komm, klettere herunter, Dirk. Siehst du, diese Dame habe ich schon vor vielen, vielen Jahren gekannt, als ich noch ein kleines Mädchen war, ja vor tausend Jahren.«
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Es ist für Dirk am besten so. Der Satz kam in den fol genden Tagen immer wieder in Selinas Worten vor. Julia Arnold wollte ihn durchaus zu sich nehmen, ihn wie einen kleinen Lord kleiden und in die Privatschule schicken, die ihre beiden Kinder, Paula und Eugen, besuchten. Es war fast genauso wie damals bei Simeon Peakes Tod: Selina mußte es sich gefallen lassen, daß Julia ihre augenblickliche Ratlosigkeit und Abspannung ausnutzte und ihr Schicksal in die Hand nahm. Und genau wie damals spannte sie ihren allmächtigen, ihr sklavisch ergebenen Vater vor den verfahrenen Karren. Ihren Mann ließ sie mit freundlicher Geringschätzung aus dem Spiel. »Michael«, hatte sie gleich am ersten Tage ihres Wiedersehens Selina erklärt, »ist in Ordnung, sobald du ihm sagst, was er zu tun hat. Aber Papa denkt und organisiert. Er ist der General und Michael sein Ad jutant. Also, Papa kommt morgen hinaus und ich 182
wahrscheinlich mit. Ich habe zwar eine wichtige Zu sammenkunft, aber schließlich kann ich —« »Du sagst ... sagtest du, dein Vater käme hinaus? Wo hinaus denn?« »Auf deine Farm.« »Und was soll er da? Es sind lumpige fünfundzwanzig Morgen, und die Hälfte davon steht noch dazu meistens unter Wasser.« »Papa wird das in Ordnung bringen, das kannst du mir glauben. Er macht nicht viele Worte, aber er wird sich die Sache gründlich überlegen. Und dann wird alles in Ordnung kommen.« »Es ist sehr weit weg. Halb aus der Welt.« »Na, wenn du es mit deinen Pferden hast schaffen können, dann werden wir es mit Papas beiden Grauen ja wohl auch fertigbringen. Oder wir nehmen das Auto. Papa kann es freilich nicht leiden. Michael ist der einzige in der ganzen Familie, der gern fährt.« Ein häßlicher Stolz ergriff von Selina Besitz. »Ich brauche keine Hilfe. Wirklich, Julia, ich werde allein fertig. So wie heute ist es noch nie gewesen. Noch nie! Pervus und ich kamen ganz gut vorwärts. Als Pervus dann so plötzlich starb, verlor ich den Kopf. Dirks wegen. Er sollte nichts entbehren, er sollte schöne Dinge um sich haben. Ich wünschte so sehr, daß er es gut hätte im Leben. Das Leben kann so widerwärtig sein, Julia. Du kannst das nicht wissen, Julia, nein, du kannst es nicht wissen.« »Deshalb sage ich ja, wir kommen hinaus, Papa und ich. Dirk soll es gut haben. Dafür laß uns nur sorgen.« Da aber fuhr Selina auf: »Aber das ist es ja gerade. Ich will selber für mein Kind sorgen. Und ich kann es auch. Ich will ihm alles das selbst geben.«
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»Das ist egoistisch.« »Egoistisch will ich nicht sein. Ich will nur das Beste für Dirk.« Bald nach Mittag fuhr ganz High Prairie bei dem ungewohnten Geräusch eines Motors in die Höhe und stürzte an die Fenster oder vor die Tür. Männer, Frauen und Kinder standen und starrten mit offenen Mündern: Selina DeJong mit ihrem zerbeulten alten Filzhut und Dirk, seine Mütze schwenkend, fuhren in einem prachtvollen, roten Automobil vorbei, ihrer Farm zu. Von den DeJongschen Pferden, dem Hunde Pom und dem Gemüsewagen war weit und breit nichts zu sehen. Während der nächsten vierundzwanzig Stunden war man in High Prairie zu keiner vernünftigen Arbeit fähig. Julia hatte die Heimfahrt im Auto angeordnet, und Selina hatte es sich gefallen lassen, weil sie viel zu erschöpft war, um sich gegen irgend etwas oder irgend jemand zur Wehr zu setzen. Wenn Julia ihr zugemutet hätte, auf einem Elefanten in High Prairie einzuziehen mit einem Neger als Treiber, so hätte sie auch eingewilligt - oder jedenfalls nichts dagegen zu sagen ver mocht. »Dann bist du wenigstens schnell zu Hause«, hatte Julia erklärt. »Du siehst wie ein Geist aus, und der Junge kann sich nicht mehr wachhalten. Ich rufe gleich Papa an, daß er mir einen Mann herausschickt, der deinen Wagen zurückfährt. Dann kann er um sechs dort sein. Überlaß das alles ruhig mir.« Dirk hatte sich schnell an die ungewohnte Fahrgelegenheit gewöhnt und sogar großartig erklärt: » Wenn ich groß bin, kauf ich mir auch ein Auto. Aber eins, das viel schneller fährt!« 184
Der gute Jan verlor vor Schrecken fast die Sprache. Er hielt den Wagen und die Pferde so lange für unwiederbringlich verloren und Pervus DeJongs Witwe für rettungslos verrückt geworden, bis das Gespann tatsächlich abends um sechs in den Hof fuhr. Als am nächsten Tag August Hempel mit Julia in einem eleganten leich ten Zweispänner mit zwei schlanken, feurigen Grauschimmeln vorfuhr, war Jan außerstande, sich weiterhin zu wundern. Von nun an hielt er einfach alles für möglich. In den zwölf Jahren des Übergangs vom Fleischer zum Großkaufmann hatte August Hempel eine gewisse Gesetztheit und Würde angenommen. Jetzt, mit fünfundfünfzig, war er grauhaarig, was den Eindruck seines allzu roten Gesichts etwas milderte. Er sprach fast ohne Akzent das landläufige kräftige Amerikanisch, das er täglich von seinen zahllosen Angestellten hörte. Während der letzten Jahre hatte er auf einem Ohr das Gehör verloren, so daß er während der Unterhaltung sein Gegenüber durchdringend anzusehen pflegte. Das hatte ihm den Ruf besonderen Scharfsinns und unfehlbarer Menschenkenntnis eingetragen, während er doch nur zu eitel war, um seine Schwerhörigkeit zuzugeben. Seine altmodischen, teuren grauen Anzüge stammten von einem erstklassigen Schneider, und trotzdem sah er in ihnen stets so aus, als trüge er die abgelegten Sachen eines viel größeren Mannes. Er betrachtete Selinas kleines Besitztum mit scharfen Blicken und wußte sofort Bescheid. »Wollen Sie verkaufen?« »Nein.« »Das ist recht. In ein paar Jahren wird das Land den zehnfachen Wert haben.« Er hatte in einer knappen 185
Viertelstunde das ganze Gehöft mit Feldern, Ställen und Haus bis ins kleinste gemustert. »Also worauf wol len Sie hinaus, Selina?« Sie saßen in dem kleinen Wohnzimmer. Das prachtvolle alte holländische Tongeschirr funkelte in der Glasvitrine, hübsch gebundene Bücher standen auf kleinen Regalen an der Wand; der Raum sah überraschend wohnlich und behaglich aus. Dirk war mit einem der van Ruysschen Jungen im Hof und hütete die beiden Grauen, als ob sie ihm gehörten. Jan jätete auf dem Felde. Selinas Hände lagen fest ge faltet im Schoß - Arbeitshände, denen man das Graben und Wühlen im Erdboden ansah. Die Nägel waren kurz, mißfarbig und spröde, die Handflächen rauh und schwielig. Die ganze Geschichte ihrer letzten zwölf Lebensjahre stand in ihren beiden Händen geschrie ben. »Ich möchte hierbleiben, die Farm bewirtschaften und etwas daraus machen. Ich kann es auch. Im nächsten Frühjahr fängt der Spargel an zu tragen und Geld einzubringen. Das gewöhnliche Gemüse, das jeder in High Prairie baut, will ich nicht mehr ziehen oder jedenfalls nicht viel davon. Ich will mich in den feineren Gemüsen spezialisieren — wie sie die Kommissionäre in der South-Water-Straße verlangen. Und dann möchte ich unser nasses Land drainieren und Tonröhren legen. Das Land ist jahrelang in Ruhe gelassen worden und müßte eigentlich sehr gut tragen, wenn es richtig drainiert wäre. Ich würde Dirk gern in die Schule schicken. In eine sehr gute Schule. Mein Sohn soll niemals auf den Heumarkt fahren. Niemals, niemals!« Julia rückte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, ihr seidenes Kleid knisterte, und ihre kostbaren Perlen 186
klirrten. Die eiserne Entschlossenheit in Selinas Stimme begann sie zu beunruhigen. »Ja, aber was wird aus dir, Selina?« »Aus mir?« »Ja, aus dir. Du sprichst, als zähltest du überhaupt nicht ... ich meine dein eigenes Leben, das, was dich glücklich machen könnte.« »Mein Leben zählt auch nicht mit, oder wenigstens nur soweit, wie es für Dirk wichtig ist. Ich habe mit allem abgeschlossen. Oh, ich will damit nicht sagen, daß ich den Mut verloren hätte, daß mich das Leben enttäuscht hätte oder etwas dergleichen. Ich meine nur, daß ich von falschen Vorstellungen ausgegangen bin. Jetzt weiß ich es besser! Und ich bin dazu da, Dirk vor den Fehlern zu bewahren, die ich selber gemacht habe.« August Hempel hatte die ganze Zeit breit und behäbig in seinem Stuhl gesessen und Selina unverwandt ange sehen. Jetzt wandte er den Blick nach draußen, wo die beiden Grauen standen, unbeweglich wie lebende Statuen. Nachdenklich und ohne jede Schärfe im Ton wi dersprach er: »So kann man das nicht anpacken. Mit den Fehlern ist es eine eigene Sache. Jeder muß seine Fehler selbst machen, und damit nicht genug: will man anderen Fehler ersparen, so werden sie erst recht verrückt dabei.« Er pfiff leise durch die Zähne und trom melte mit den Fingern einen Marsch auf der Stuhl lehne. »Ach - das Schöne wollte ich!« rief Selina fast leidenschaftlich aus. Und als August Hempel und Julia sie verständnislos ansahen, fuhr sie lebhaft fort: » Ich habe immer geglaubt, wenn man Schönheit nur ersehne wenn man sie heiß und zuversichtlich genug herbeiwünsche -, so müßte sie zu einem kommen. Man 187
brauchte nur zu warten und sein Leben so gut wie möglich zu leben in der festen Überzeugung, daß das Schöne schon hinter der nächsten Ecke zu finden sei. Man brauchte nur zu warten - und eines Tages wäre es plötzlich da.« »Schönheit!« rief Julia leise. Sie starrte Selina an und war offensichtlich des Glaubens, diese hagere, abgearbeitete Frau beklage sich über den Mangel an persönlicher Schönheit. »Ja. Alle Dinge, um derentwillen es sich zu leben lohnt. Räume im Kerzenlicht. Freie Zeit. Farben. Reisen. Bücher. Musik. Bilder. Und Menschen — Menschen jeder Art. Arbeit, die man gern tut. Und Wachsen. Wachsen! Menschen größer werden sehen! Alles stark empfinden und dieses Gefühl entwickeln, bis ... bis etwas Schönes und Großes daraus wird.« Ehe die Begriffe »persönliche Kultur« und »Wohnkultur« modern wurden, hatte Selina sie für sich selbst entdeckt. Sie machte mit beiden Händen eine weite, unbestimmte Bewegung: »Das verstehe ich unter dem Schönen. Und das alles soll Dirk haben.« Julia blinzelte und nickte verständnisvoll, obwohl sie kein Wort begriffen hatte. August Hempel räusperte sich. »Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen, Selina. Genauso ist es mir damals mit Julia ergangen. Sie sollte alles haben, was das Leben schön macht. Und sie bekam es auch. Und wenn sie den Mond vom Himmel begehrt hätte, so hätte ich ihn ihr heruntergeholt.« »Nie im Leben habe ich so was bekommen, Papa.« »Hast's ja auch nicht haben wollen, soviel ich weiß.« »Aber um alles in der Welt«, rief Julia und besann sich auf den Zweck ihres Kommens, »jetzt wollen wir end
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lich mit Reden aufhören und lieber was tun. Lieber Himmel, man braucht doch wirklich nicht viel Geld, um Bücher und Kerzen und Bilder und Reisen zu haben. Wenn das alles ist! Also handeln wir! Papa, du hast doch ganz gewiß deine Pläne schon fertig im Kopf. Rücke endlich damit heraus. Selina war eine der beliebtesten Schülerinnen in Fräulein Fisters Schule und nach Ansicht verschiedener Leute sogar die hübscheste. Und sieh sie dir jetzt an!« Eine Spur ihres früheren sprühenden Temperamentes flammte in Selina auf. »Schmeichelkatze«, murmelte sie. August Hempel stand auf. »Wenn Sie glauben, daß Sie den Jungen glücklich machen können, indem Sie Ihr ganzes Leben dafür opfern, ihn glücklich zu machen, sind Sie nicht der Mensch, für den ich Sie gehalten habe. Man kann nicht das Leben eines anderen für ihn leben!« »Ich will ja gar nicht sein Leben für ihn leben. Ich will ihm nur zeigen, wie er sein Leben einrichten muß, damit er den vollen Wert daraus schöpfen kann.« »Was hat es für einen Zweck, wenn Sie ihm durchaus den Heumarkt ersparen wollen? Woher wissen Sie denn, daß der Heumarkt nicht der richtige Ort für ihn ist? Kein Mensch kann in die Zukunft blicken. Ich bin jeden Tag draußen auf den großen Viehhöfen, in den Ställen und Gehegen, unterhalte mich mit den Treibern und Hirten und komme mit vielen Käufern zusammen. Ich brauche nur einmal hinzusehen, dann weiß ich, wie viel ein Eber oder ein Stier wiegt und wieviel er wert ist. Mein Schwiegersohn, Michael Arnold, sitzt den ganzen Tag in seinem Büro und diktiert Briefe. Dafür riechen seine Kleider auch nicht nach Stall wie meine ... 189
Nein, nein, Julia, ich sage ja nichts gegen ihn. Aber ich schwöre Ihnen, mein Enkel Eugen« - er wiederholte den Namen und betonte ihn so, daß man merkte, wie sehr er ihm mißfiel — »Eugen wird einen großen Bogen um jeden Viehstall machen, sobald er erwachsen ist und ins Geschäft eintritt, und er wird sein Büro in einem großen neuen Bürohaus in einer schönen Straße haben mit Aussicht auf den See. So ist das Leben! Man hetzt sich ab, und am Ende weiß man nicht, wie man es herumgebracht hat.« »Laß ihn reden«, flüsterte Julia. »Das ist sein Lieblingsthema. Immer die alten Viehställe!« August Hempel biß die Spitze von seiner Zigarre ab und wollte das Ende im Bogen auf die Erde spucken, besann sich jedoch eines Besseren und steckte es in seine Westentasche. »Ich möchte nicht mit Mike tauschen, nicht —« »Bitte, Papa, nenne ihn nicht Mike!« »Na, dann mit Michael. Nicht um zehn Millionen. Obwohl ich im Augenblick zehn Millionen dringend nötig hätte.« »Wahrscheinlich«, sagte Selina lebhaft, »wird Ihr Schwiegersohn, Michael Arnold, in Ihrem Alter seinem Sohn Eugen erzählen, wie schwer er es in seinem Büro gegenüber den Viehställen in der guten alten Zeit gehabt habe. Das wird dann eben die gute alte Zeit sein.« August Hempel lachte gutmütig. »Sie mögen recht haben, Selina. Es wird wohl so kommen.« Er kaute an seiner Zigarre und kam endlich auf das Nächstliegende zu sprechen. »Also Sie wollen drainieren und Tonröhren legen. Und erstklassiges Gemüse ziehen. Sie brauchen einen tüchtigen Mann, der etwas von der Sache 190
versteht, und nicht so einen Schafskopf, wie wir ihn vorhin auf den Feldern getroffen haben. Und ein paar ordentliche Pferde, einen Wagen.« Er kniff nachdenklich die Augen zusammen. Tausend listige kleine Falten bildeten sich in den Winkeln. »Ich wette, daß ich noch die Zeit erlebe, wo ihr Gemüsefarmer eure Waren auf großen Lastkraftwagen in die Stadt fahrt. Und weniger als eine Stunde Zeit dazu braucht. So kommt es, das ist nicht mehr aufzuhalten. Das Pferd hat ausgedient, daran läßt sich nicht rütteln.« Unvermittelt fuhr er fort: »Ich werde Ihnen die Pferde auf dem Viehmarkt besorgen.« Er zog ein langes flaches Scheckbuch aus der Tasche und schrieb darin mit einem Federhalter, der schon mit Tinte gefüllt zu sein schien und an dem man oben und unten herumschrauben mußte. Er blickte schief durch den Rauch seiner Zigarre nach unten; das Scheckbuch lag auf seinen Knien. Mit einem Ruck riß er den Scheck heraus und reichte ihn Selina. »Um die Sache in Schwung zu bringen«, bemerkte er. »Na also«, rief Julia triumphierend. »Nun geschieht endlich etwas.« Aber Selina nahm den Scheck nicht. Sie saß still mit gefalteten Händen in ihrem Stuhl. »Das ist nicht der übliche Weg«, sagte sie. August Hempel schraubte den Verschluß auf seinen Füllfederhalter. »Nicht der übliche Weg? Was meinen Sie damit?« »Ich borge das Geld. Ich nehme es nicht geschenkt. Ge borgt nehme ich es mit Dank an. Ich käme sonst nicht weiter. Das weiß ich seit gestern zu genau. Oh, gestern! Aber in fünf Jahren — oder in sieben — werde ich es zurückzahlen.« Auf Julias halblauten Protest fuhr sie fort: »Sonst kann ich es überhaupt nicht annehmen. Ich 191
tue es ohnedies nur Dirks wegen. Aber ich werde es herauswirtschaften ... und zurückzahlen. Ich hätte gern einen ... einen Wechsel darüber, ein schriftliches Versprechen, Ihnen das Geld zurückzuzahlen, sobald es mir möglich ist. So ist es ein richtiges Geschäft, nicht wahr? Und dann muß ich unterschreiben.« Sie hatte Freude an ihrer eigenen Geschäftstüchtigkeit. »Freilich«, sagte August Hempel und schraubte seinen Füllfederhalter zum letzten Male auf. »Freilich, so ist es ein richtiges Geschäft.« Mit todernstem Gesicht kritzelte er eifrig auf einem Stück Papier. Ein Jahr später kam Selina halb lachend und halb weinend zu August Hempel ins Büro. Sie hatte in diesem einen Jahr viel gelernt, unter anderem auch, daß Zins und Zinseszins nicht nur in Rechenbüchern stehen, um unglückliche Schüler zu ärgern. »Sie haben damals mit keiner Silbe von Zinsen gesprochen. Mit keiner Silbe. Für was für eine dumme Gans müssen Sie mich gehalten haben!« »Zwischen Freunden«, protestierte August Hempel. Aber Selina ließ nicht locker. »Nein«, sagte sie, »sonst muß ich Ihnen das Geld zurückgeben.« »Wenn Sie darauf bestehen, weiter so geschäftsmäßig mit mir zu verkehren, werde ich am Ende selber eine Bank aufmachen müssen.« Zehn Jahre später war er tatsächlich Vorsitzender im Aufsichtsrat einer großen Bank. Und Selina bewahrte jene Quittung in ihrer alten geschnitzten Truhe sorgfältig auf, zusammen mit anderen Heiligtümern, die sie törichterweise immer noch wie einen Schatz hütete, lächerliches altes Zeug, das nur für sie allein Wert und Bedeutung hatte: eine kleine Kinderschiefertafel (die, 192
auf der Pervus schreiben und rechnen gelernt hatte); einen vertrockneten Lilienstrauß, ein altmodisches rotes Kaschmirkleid; ein Paar alte Männerschaftstiefel; eine rohe, halb verwischte Zeichnung auf einem Fetzen braunen Packpapiers, auf der der Heumarkt zu sehen war - Rolfs kindliche Skizze. Unter diesem Plunder kramte sie von Zeit zu Zeit. Noch zwanzig Jahre später erwischte Dirk sie dabei. »Tatsächlich wieder über deinen Herrlichkeiten. Was seid ihr doch für eine sentimentale Generation, Mutter! Wenn das Haus mal abbrennen sollte, so würdest du wahrscheinlich zuallererst den alten Kram retten! Dabei ist das ganze Zeug nicht einen roten Heller wert.« »Wahrscheinlich nicht«, sagte Selina langsam. »Immerhin ist eine Skizze von Rolf Pool dabei. Letzte Woche hat man für eine seiner Skizzen in New York tausend Dollar bezahlt. Und das war keine sorgfältig ausge führte Zeichnung, sondern nur ein skizzenhafter Entwurf zu einem Denkmal.« »Dagegen sage ich ja auch nichts. Aber der übrige Kram, den du so sorgsam aufhebst... wertloses altes Zeug. Ja, wenn es wenigstens schön wäre!« »Schön!« sagte Selina und schloß den Deckel der alten Truhe. »Ach Dirk - Dirk! Du hast ja keine Ahnung, was schön ist, und wirst es nie im Leben wissen.«
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Wenn so schwer bestimmbare Kennzeichen wie gute Lebensart, Anmut, Liebenswürdigkeit, Sicherheit im Auf treten und Anziehungskraft das sind, was wir unter Charme verstehen, und wenn der Besitzer dieser Eigenschaften aufs beste ausgerüstet ist für das, was unsere Philosophen den Lebenskampf nennen, dann war Dirk DeJong ein Glückspilz, dann lag das Leben verheißungsvoll vor ihm. Zweifellos hatte er Charme, und zweifellos hatte er Grund, zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. Seine Freunde pflegten zu behaupten, daß ihm alles in den Schoß falle. Das fand er selbst auch. Aber es lag nicht in seiner zurückhaltenden Natur, sich damit zu brüsten. Er sprach überhaupt nicht viel. Das war vielleicht eine seiner charmantesten Eigenschaften. Dafür verstand er gut zuzuhören; seine Gesellschaft war so beruhigend wenig anstrengend. Er hörte zu, während die anderen sich unterhielten, den feinen Kopf ein wenig dem Sprecher zugeneigt. Man hielt ihn für außergewöhnlich intelligent und verständnisvoll. Diese Gabe, liebenswürdig und schweigsam zuzuhören, war mehr wert, als wenn er wer weiß welche anderen geselligen Talente besessen hätte. Er selbst ahnte nicht, wie sehr ihm diese Eigenschaft später noch zugute kommen sollte in einer Zeit, da es eine Seltenheit wurde, wenn jemand einen anderen überhaupt einen Satz zu Ende sprechen ließ. Besonders ältere Herren stellten wohlwollend fest, daß er ein junger Mann sei, der seinen Weg machen werde. Und zwar sagten sie das überraschenderweise nach einer Unterhaltung mit ihm, zu der er außer »Ja« oder »Nein« oder »Wahrscheinlich haben Sie recht, Herr X« kein einziges Wort beigetragen hatte. 194
Selinas Gedanken drehten sich ausschließlich um Dirks Zukunft. Und wenn ihr im Laufe des Tages tausender lei durch den Kopf ging - Pläne für die Farm oder für das Haus - der Grundton in dem vielfältigen Zusam menklang ihrer Gedanken war und blieb Dirk. Er kam auf dem Gymnasium recht gut vorwärts. Er war nicht gerade ein glänzender Schüler, vielleicht nicht einmal ein guter. Aber seine Leistungen genügten, und Lehrer und Schüler hatten ihn gern. Während Dirk sorglos seine Kindheit genoß und zu einem fünfzehnjährigen Jungen heranwuchs, verwandelte seine Mutter die vernachlässigten und heruntergewirtschafteten DeJongschen Äcker mit ihrem kärglichen Ertrag, der nur zu Schleuderpreisen abzusetzen war, in eine blühende Mustergärtnerei. Die Kommissionäre in der South-Water-Straße bestellten ihr Gemüse ein Jahr im voraus. Der DeJongsche Spargel mit seinen dicken weißen Stangen, die sich nach der Spitze zu zartgrün und lila verjüngten, war in ganz Chikago berühmt. Ebenso die Tomaten, die scharlachrot und saftig im Februar aus den Gewächshäusern kamen und für die die höchsten Preise gezahlt wurden. Während dieser sechs oder sieben Jahre hatte Selina rastlos gearbeitet. Sie trugen ihr keinen rauschenden Erfolg ein, der sie als großartige Geschäftsfrau auswies. Nein, der Kampf war hart und mühsam gewesen wie bei allen Plänen, deren Verwirklichung vom Grund und Boden abhängt. Sie rang dem Boden buchstäblich mit ihren eigenen zwei Händen den Lebensunterhalt ab. Sie holte das letzte aus sich selbst heraus. Und trotz dem wäre niemand auf den Gedanken gekommen, die schlanke, zielbewußte Frau von fünfunddreißig oder vierzig Jahren zu bemitleiden. Soviel wirkliche Größe
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ging von ihr aus, soviel Sicherheit. Selina DeJong war eine Persönlichkeit - darin lag das Geheimnis ihres Er folges. Wer weiß, ob sie ohne August Hempels Geld und ohne seinen klugen Rat je hätte vorwärtskommen können. Oft unterhielt sie sich mit ihm darüber. Er widersprach: »Leichter ist es wahrscheinlich so gewesen. Aber Sie wären Ihren Weg trotzdem gegangen. Julia nicht. Aber Sie ganz gewiß. Sie haben's in sich. Genau wie ich auch. Sehen Sie, viele, die wie ich vor zwanzig Jahren in der Clarkstraße Fleischer waren, sind es heute noch und schneiden immer noch ihre Beefsteaks und Koteletts ab.« Hempels Aktiengesellschaft hatte sich mittlerweile in ein Riesenunternehmen entwickelt und sich überall in Südamerika und in Europa festgesetzt. Hin und wieder erschien in einer der weitverbreiteten Zeitschriften eine Karikatur vom alten August Hempel als Polyp mit kalten Fischaugen und hundert gierigen Fangarmen. Hempel ärgerte sich nicht wenig darüber, obwohl er es nicht zugab. »Was fällt ihnen eigentlich ein, solch ein Biest aus mir zu machen? Ich verkaufe anständiges Fleisch und nehme, was ich dafür bekommen kann. Das ist nun mal mein Geschäft.« Auch Dirk hatte seine Pflichten auf der Farm. Darauf hielt Selina. Aber sie waren nicht schwer. Um acht Uhr morgens fuhr er zur Schule. Es wurde später Nachmit tag, ehe er zurückkam. In der Zwischenzeit hatte Selina für zwei gearbeitet. Während der Hochsaison hatte sie ständig zwei Arbeiter auf dem Feld und eine Frau zur Hilfe im Hause. Der alte Jan wirtschaftete noch in den Ställen herum; er sah nach den Mistbeeten und Gewächshäusern und hatte den ganzen Tag zu klopfen
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und auszubessern. Er mißtraute Selinas neuen Methoden, musterte geringschätzig jede moderne Maschine und prophezeite Unheil, als Selina die angrenzende Boutssche Farm mit zwanzig Morgen Land hinzukaufte. »Bei Ihnen sind die Augen größer als der Magen«, sagte er zu ihr. »Sie werden noch an der Suppe erstik ken, die Sie sich da einbrocken.« Wenn Dirk gegen Abend nach Hause kam, war die schlimmste Arbeit getan. Stets fand er einen appetitlich gedeckten Tisch mit reichlichem guten Essen vor. Das ganze Haus war tadellos imstande und sehr behaglich. Selina hatte ein Badezimmer einrichten lassen - nun gab es zwei in High Prairie! Die Nachbarschaft hatte sich noch nicht von ihrem Schrecken darüber erholt, als Jan mit einer neuen, aufregenden Nachricht herausrückte: Selina und Dirk verzehrten ihr Abendbrot bei Kerzenlicht. High Prairie wälzte sich vor Lachen. »Kohl ist wunderschön«, sagte der alte Klaas Pool, als die Nachricht auch zu ihm kam. »Kohl ist eben wunderschön!« Niemals hatte Selina Dirk zu einer Entscheidung über seine Zukunft gedrängt. Das würde schon von selber kommen, meinte sie. Als die Farm sich gut entwickelte und sie etwas aufatmen konnte, suchte sie auf alle mögliche Weise herauszubekommen, ob nicht eine Neigung zu diesem oder jenem Beruf oder eine besondere Bega bung in ihm steckte. So wie sie selbst in den schlechte sten Zeiten sich lieber ein gutes Buch als ein Paar Schuhe gekauft hatte, gab sie auch jetzt alles Geld, für das sich eine andere Frau schöne Kleider oder Schmuck gekauft hätte, für Bücher aus. Die vielen Jahre persönlicher Entbehrung hatten ihre Vorliebe für schöne seidene 197
Stoffe, zarte Farben und auserlesene Werkstücke nicht zu töten vermocht. Aber sie brachte es nicht mehr übers Herz, alle diese Dinge für sich selber zu begehren. Sie sah sie gern an, nahm sie wohl auch einmal in die Hand. Aber tragen oder gebrauchen konnte sie sie nicht mehr. Jahre später, als sie sich sehr wohl einen Hut aus den teuersten Putzgeschäften in der Michiganstraße hätte leisten können, sah sie sich die Kostbarkeiten aus Samt und Seide, die wie exotische Blumen in den Schaufen stern prangten, aufmerksam an - und kaufte sich für 2,95 Dollar eine ungarnierte Form in einem billigen Warenhaus. Man bricht nicht so schnell mit den Gewohnheiten eines Menschenlebens. Einmal ging sie hin und erstand eine dieser extravaganten Kostbarkeiten aus Seide und Spitzen. Kalt entschlossen tätigte sie den Kauf, wie ein Mann, der sich einmal in seinem Leben betrinkt, nur weil er diese Erfahrung machen will. Sie setzte den Hut niemals auf. Bis zu seinem sechzehnten Jahr ließ sie Dirk sich so natürlich wie möglich entwickeln und unbewußt die Eindrücke sammeln, die sie mit viel List und Überlegung auf ihn einwirken ließ. Sie schmuggelte Bücher in seine kleine Bibliothek, die von dem Leben und der Entwick lung großer Männer handelten, Bücher über Lincoln, Washington, Gladstone, Disraeli und Voltaire, Werke über Geschichte und Malerei, über Archtitektur, Jura und sogar Medizin. Sie abonnierte zwei der besten technischen Zeitschriften und richtete ihm einen Schuppen als Werkstatt ein, wo er alle erdenklichen Werkzeuge vorfand. Nach ein paar Wochen ging er kaum noch hin ein. Er interessierte sich freundlich und mäßig für alles, was seine Mutter ihm vorsetzte; auf die Dauer aber fesselte ihn nichts. 198
Selina hatte bei der Einrichtung der kleinen Werkstatt an Rolf denken müssen. Nur ein einziges Mal hatten Pools etwas von dem ältesten Sohn gehört. Eines Tages war ein Brief aus Frankreich gekommen. Darin lag eine Geldsumme für Geertje und Jozina — eine lächerlich geringe Summe, um sie so weit übers Meer zu schicken, meinte man im wohlhabenden Poolschen Haushalt. Geertje war mit Gerrit van der Sijde verheiratet und wohnte auf einer Farm in Low Prairie. Jozina dagegen hatte es sich in den Kopf gesetzt, in der Stadt eine Stelle als Kinderfräulein anzunehmen. Rolfs bescheidene Geldsendung machte keinen besonderen Eindruck auf sie. Sie erfuhren niemals, wie mühsam der mittellose Pariser Kunstschüler das Geld in kleinen Münzen zusammengespart hatte. Selina hatte nie wieder etwas von Rolf gehört. Aber eines Tages kam sie mit einer Zeitschrift zu Dirk gelaufen. »Sieh«, rief sie und zeigte auf ein Bild. Er hatte sie selten so aufgeregt, so außer sich gesehen. Das Bild zeigte die Reproduktion einer Skulptur. Die Unterschrift lautete: La Seine. Eine weibliche Gestalt von schlangenartiger Geschmeidigkeit, anmutig, wundervoll, beunruhigend, aufreizend, grauenhaft. Das Gesicht lokkend, unersättlich, großmütig, tückisch - alles in einem. Das war die Seine, die grüne Täler und Wiesen speiste; die Seine, die Tausende von aufgeblähten leblosen Dingen mit sich führte; das war die rotäugige Furie von 1793 und die schelmische Kokette von 1650. Unter dem Bilde standen ein paar erklärende Zeilen: Rolf Pool. . . Salon . . . Amerikaner . . . neuer Stern am Kunsthimmel . .. »Das ist Rolf!« rief Selina. »Rolf. Der kleine Rolf Pool!« Tränen standen in ihren Augen. Dirk zeigte nicht 199
mehr als höfliches Interesse. Schließlich hatte er ihn kaum richtig gekannt, nur seine Mutter von ihm sprechen hören . . . Selina fuhr eines Abends mit dem Bilde zu Pools hinüber, um sie zu überraschen. Frau Pool erstarrte ge radezu vor Entsetzen über die nackte Frauenfigur und stieß einen Schrei aus: »O Himmel!« Sie schien der Meinung zu sein, daß Selina das Bild nur mitgebracht hätte, um sie zu ärgern. Wollte sie es vielleicht in ganz High Prairie herumzeigen? Selina verstand sich jetzt schon besser auf die High Prairier, wenn auch nach zwanzig Jahren des Miteinanderlebens noch nicht gut genug. Sie waren kühl von Natur, aber gutmütig. Mißtrauisch, aber freigebig. Sie hielten unverrückbar am Althergebrachten fest, aber sie kamen doch durch Sparsamkeit und unermüdliche Arbeit voran. Nüchtern und phantasielos lebten sie Generationen lang dahin — bis schließlich ein Rolf Pool aus ihnen hervorging. Sie bemühte sich, die Bedeutung der meisterhaft model lierten Figur zu erklären. »Sie müssen sich vorstellen, daß das der Seinefluß sein soll. Die Seine fließt durch ganz Paris hindurch und weiter durch die Landschaft nördlich davon bis ins Meer. Die Geschichte von Paris, ja von ganz Frankreich verkörpert sich sozusagen in der Seine, ist untrennbar damit verflochten. Schönes und Ungeheuerliches. Sie fließt am Louvre vorbei und an der Bastille. Und bildet mitten in Paris eine große Insel, darauf steht Notre-Dame. Ach, was hat die Seine nicht alles gesehen, Frau Pool!« »Unsinn!« unterbrach sie die einstige Witwe. »Ein Fluß hat keine Augen, das weiß jedes Kind.« Dirk war siebzehn Jahre alt, als Selina eines Tages mit 200
ihm über seine Ausbildung sprach. Er sollte eine Universität besuchen. Aber welche? Und was wollte er stu dieren? Ja, das war nicht so einfach. Zunächst eine Art allgemeine Bildung. Sprachen, ein bißchen Französisch vielleicht, Nationalökonomie und etwas Literatur und Geschichte. »Oh«, hatte Selina geantwortet. »Das ist nicht schlecht. Allgemeine Bildung. Freilich, wenn jemand z. B. Architekt werden will, geht er am besten nach Cornell. Jura studiert man in Harvard und Naturwissenschaften auf der Technischen Hochschule in Boston und -« O ja, wenn man wirklich darauf aus war. Immerhin keine schlechte Idee, erst einmal allgemeine Kurse mit zumachen, bis man sich für etwas Bestimmtes entschied. Sprachen und Literatur und dergleichen. Selina war durchaus einverstanden. Sie wußte, daß man es in England so machte. Man schickte seinen Sohn nicht auf die Universität, um sofort lauter naturwissenschaft lichen Kram in ihn hineinzustopfen oder um ihn mit Theorie für einen bestimmten Beruf zu füttern. Man schickte ihn vielmehr dorthin, damit er in die Atmosphäre von Büchern und Gelehrsamkeit langsam hineinwüchse und genußreiche Stunden in der Gesellschaft von Männern verlebte, denen das Lehren und Unterrichten ein Fest war, die den jungen Studenten zu sich ins Haus einluden und ihm in einem Gespräch vorm Kaminfeuer mehr Weisheit beibrachten, als er im Hörsaal im ganzen Semester mitbekam. So stand es in den englischen Romanen. Sie hatte von Oxford und Cambridge ge lesen, von efeuumrankten Universitäten, von Bootsfahrten, von Spitzbogenfenstern, schönen Büchern, Dis kussionen und literarischen Klubs. So war es in England - eine ältere Kultur, gewiß, aber 201
etwas Ähnliches mußte es doch auch an den amerikani schen Universitäten geben. Und wenn Dirk danach ver langte, so machte es sie glücklich. War es doch ein Stre ben nach reiner Schönheit. Von der Midwest-Universität in Chikago hörte man viel Gutes. Sie war freilich noch neu. Aber seltsamerweise wirkten diese gotischen Gebäude schon nach ver hältnismäßig kurzer Zeit alt und ehrwürdig. (Der Rauch und der Ruß von den zahllosen Vorortzügen und der Kohlenstaub aus den tausend benachbarten Schornsteinen brachten hauptsächlich dieses Wunder zu stande.) Und überdies wuchs tatsächlich Efeu an den Wänden. Und Spitzbogenfenster waren auch da. Der Gedanke kam von Dirk, nicht von ihr. Die Gebüh ren waren erschwinglich. Harvard? Yale? Nur etwas für Millionärssöhne. Eugen Arnold paßte dorthin mit seinem Auto. Die Midwest-Universität in Chikago, im Süden dicht am See gelegen, war unbedingt das richtige. Dirk konnte dort zunächst die allgemeinen Vorlesungen belegen. Die ganze Welt stand ihm offen. Er konnte es sich mit dem alten Kindervers an den Knöpfen abzählen, was er werden wollte: Kaiser, König, Edelmann, Bürger, Bauer, Bettelmann. Aber sooft sie auch zusammen abzählten — nie kam das selbe heraus. Eugen Arnold wollte in Yale Jura studieren. Das brauche er später fürs Geschäft, behauptete er. Zu Dirk redete er anders darüber; da sprach er nur von dem verdammten alten Schweinegeschäft. Pauline (sie wollte durchaus Paula genannt werden) war am Hud 202
son in einem Mädchenpensionat — in einer jener Schulen, zu denen nur wenige Auserlesene Zugang haben. So bezog Dirk mit achtzehn Jahren die Midwest-Universität. Es war auf jeden Fall billiger, als wenn man eine andere Universität weiter östlich gewählt hätte. Einer seiner früheren Schulkameraden fragte ihn: »Gehst du nach Wisconsin? Du willst wohl Landwirt schaft studieren?« »Gott bewahre«, hatte Dirk erwidert. Er erzählte es lachend Selina. Aber sie blieb ernst. »Ich würde selbst gern Vorlesungen über Landwirtschaft hören, wenn du's wissen willst. Sie sollen großartig sein.« Plötzlich sah sie ihn an. »Dirk, hast du wirklich keine Lust dazu? Hast du noch nie daran gedacht?« Er sah sie groß an. »Ich! Nein . . . Aber wenn du es gerne möchtest, dann tue ich es natürlich sofort. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß du dich hier auf der Farm abplagst, während ich auf die Universität geschickt werde. Ich komme mir geradezu schlecht dabei vor, wenn ich meine Mutter für mich arbeiten lasse. Meine Kameraden —« »Ich arbeite das, woran ich Freude habe, und ich tue es für den Menschen, den ich am meisten auf der Welt liebe. Ohne die Farm käme ich mir unglücklich und überflüssig vor. Wenn die Stadt wirklich bis zu uns her auskriecht, wie sie immer prophezeien, so weiß ich überhaupt nicht, was ich anfangen soll.« Aber Dirk hatte seine eigene Meinung über diese Sache. »Chikago denkt nicht daran, sich bis zu uns auszudehnen, da doch im Süden all die häßlichen Fabriken und Schornsteine stehen. Man wird im Norden leben wollen. Soweit ist es jetzt schon!« »Wer wird im Norden leben wollen?« 203
»Die Leute, die Geld haben.« Sie lachte so, daß sich an ihrer Nasenwurzel krause Fältchen bildeten. »Na, dann werden wir ja noch einige Zeit hier im Süden wohnen bleiben.« »Warte nur, Mutter, bis ich ein gemachter Mann geworden bin, dann brauchst du keinen Finger mehr zu rühren.« »Was meinst du damit, Sogroß, ein gemachter Mann« Sie hatte ihn seit vielen Jahren nicht mehr so genannt. Jetzt aber kam ihr der alte Spitzname von selber auf die Zunge, vielleicht weil sie von seinen Erfolgen und von seiner Zukunft sprachen. »Reich will ich werden. Eine Unmenge Geld verdienen.« »Ach nein, Dirk! Nein! Damit ist es nicht getan. Das ist kein Erfolg. Sieh Rolf an, Rolf Pool, der hat es zu etwas gebracht.« »Ja, aber wenn man Geld genug hat, kann man sich alle Sachen kaufen, die er macht, und sie behalten. Das ist beinahe genauso gut, nicht?« — Die Midwest-Universität war buchstäblich fast über Nacht entstanden, und zwar aus einem Gebäudekomplex, der während der großen Weltausstellung von 1893 der Sitz eines Vergnügungsparkes gewesen war. Die Millionen eines einzigen Mannes hatten aus einem kahlen Stück Prärie eine Stätte der Gelehrsamkeit und des Lerneifers hervorgezaubert. Die Universitätschronik sprach von ihm verehrungsvoll als von dem edlen Gründer und Wohltäter. Die Studenten unter sich erwähnten ihn mit geringerer Ehrfurcht. Sie nannten ihn den 01johann. Dreißig Millionen hatte er bereits der Universität gestiftet, und der unersättliche Magen des gelehrten Institutes verlangte immer noch nach mehr. Sobald die 204
Petroleumaktien nur um einen Viertelcent stiegen, hieß es bei den Studenten: »Na, dann läßt Öljohann wieder ein Milliönchen für uns springen.« 1909 begann Dirk sein Studium auf der Midwest-Universität. Das erste Jahr war, wie es meistens zu sein pflegt, nicht sehr ergiebig. Immerhin fand er sich ganz gut hinein. Ein auffallend großer Prozentsatz der männlichen Studenten hatte Jura gewählt. Daraus erklärt sich, warum in späteren Jahren so viele Grundstücksmakler und Versicherungsagenten in Chikago und Umgebung tätig waren. Noch ehe sein erstes Semester zu Ende ging, war Dirk überall beliebt. Er hatte in jedem Examen Glück und erwarb sich viele Preise und Auszeichnungen. Jeder fertig gekaufte Anzug saß ihm so, als hätte er ihn beim allerersten Schneider nach Maß machen lassen. In seinem Wesen lag viel natürliche Liebenswürdigkeit. Seine Kameraden hatten ihn gern und die Mädchen ebenfalls. Er versäumte nur selten eine Vorlesung. Er wäre sich seiner Mutter gegenüber schlecht und undankbar vorgekommen. Manchmal hänselten ihn seine Kameraden wegen seines Pflichtbewußtseins. »Du machst es ja beinahe wie die Unklassifizierten.« Die Unklassifizierten waren in der Regel ernsthafte und nicht mehr junge Studenten, die erst spät mit dem Studium begonnen hatten. Meistens waren sie gar nicht regelrecht immatrikuliert; oder sie arbeiteten für zwei. Sie galten allgemein als Aschenbrödel und Kümmerlinge im Tempel der Gelehrsamkeit. Die Klassifizierten dagegen waren sämtlich immatrikuliert und nahezu gleich alt, nämlich zwischen siebzehn und dreiundzwanzig Jahren. Sie nahmen das Studium auf die leichte Achsel. Die Klassifizierten und die Unklassifizierten kamen 205
kaum zusammen. Der Altersunterschied war zu groß, und ihre Interessen gingen auseinander. Die Klassifizierten waren fast durchweg junge Männer mit Sportmützen, Pullovern und Shagpfeifen, die sich für Fußball, Baseball und Mädchen interessierten; oder sehr junge Mädchen in durchsichtigen weißen Blusen und weiten Faltenröcken, die, wenn sie Arm in Arm über die Spielwiesen gingen, nur so wippten und flogen. Ihre Gespräche drehten sich ebenfalls um Fußball, aber auch um hübsche Kleider, junge Männer und allerlei Albernheiten. Sie schwänzten die Vorlesungen bei jeder Gelegenheit. Das also war die Studentenschaft. Zu Tausenden entließ sie die Midwest-Universität jährlich in die Welt, und alle glichen sich untereinander wie die niedlichen, appetitlichen Würstchen, die in August Hempels Fabrik reihenweise aus der Wurstmaschine kamen und bei denen man auch das vorhergehende von dem nächstfolgenden nicht unterscheiden konnte. Hunderte bestanden die Prüfungen in dem einen Jahr, Hunderte im nächsten. Von Zeit zu Zeit wollte ein widerspenstiges Würstchen nicht gut tun und wurde ohne viel Federlesens hinausgeworfen. Sie besuchten die Universität, weil ihre Eltern — kleine Ladeninhaber, Fabrikanten, Kaufleute, Handwerker und deren brave Ehegattinnen - ihren Kindern eine gute Erziehung geben wollten. Weil sie ehrgeizige Pläne mit ihnen hatten: »Mir selbst blieb es versagt, und ich habe es immer bedauert. Jetzt soll wenigstens mein Sohn (oder meine Tochter) etwas Ordentliches lernen, damit er für den Lebenskampf gerüstet ist. Unsere Zeit braucht Spezialisten!« Fußball, Dummheiten, Flirt! Die Unklassifizierten dachten ebensowenig daran, eine 206
Vorlesung auszulassen, wie sie ihren kärglichen wöchent lichen Zuschuß in die Gosse geworfen hätten. Wenn es physisch möglich gewesen wäre, hätten sie wahrscheinlich zwei Kollegs auf einmal gehört, zu gleicher Zeit in zwei Seminaren gesessen und zwei Referate dafür prä pariert. Die Frauen waren ernst und unscheinbar. Sie legten keinen Wert auf modische Frisuren und hübsche Kleider und trugen ausgetretene, geflickte Schuhe. Die Männer waren gesetzt, schlecht angezogen, oft mit Brille. Ihre gefurchten, ängstlichen Gesichter stachen von den frischen, sorglosen Knabengesichtern der Klas sifizierten auffallend ab. Viele von ihnen hatten zehn oder fünfzehn Jahre gearbeitet und jeden Heller zusammengespart, um dieses verspätete Studium zu ermöglichen. Der eine unterstützte dabei noch seine alte Mutter, der andere hatte seine jüngeren Brüder und Schwestern zu versorgen. Sie kamen zur Universität wie zu einem Altar; ihr Herz war eine einzige Opferflamme. »Nimm mich hin«, rief es in ihnen. »Ich bringe dir alles, was ich habe: Ehrerbietung, Hoffnung, Wissensdurst, gläubige Dankbarkeit. Gib mir nur Brot - das Brot der Wissenschaft!« Aber die Universität gab ihnen Steine statt Brot. »Schon wieder so ein Streber«, spotteten die Klassifizierten, wenn sie an ihnen Vorbeikamen. Den Professoren waren sie vielleicht um eine Spur zu eifrig, zu wißbegierig: sie fragten zuviel. Sie verließen den Hörraum nicht mit den anderen, sondern stellten zahllose Fragen. Sie gaben keine Ruhe. Und sie hielten lange Reden, die meistens mit den Worten begannen: »Nach meiner Erfahrung ist es fast stets so gewesen, daß . . .« Aber der Professor wollte die Vorlesungen lieber selber 207
halten. Und wenn von Erfahrungen gesprochen wurde, dann sollte es vom Katheder aus geschehen und nicht von den Bänken der Studenten her. Im übrigen störten diese Leute nur den gewohnten Gang der Dinge und hielten einen ungebührlich lange auf. Es schellte zur Pause, und man hatte noch nicht die Hälfte des Pensums erledigt. In seinem ersten Universitätsjahr beging Dirk einen beinahe verhängnisvollen Fehler: er freundete sich mit einer der unklassifizierten Damen an. Sie saß in dem Kolleg über Nationalökonomie neben ihm. Ein großes, breit gebautes, gutmütiges Mädchen von etwa achtunddreißig Jahren, mit einer ungepuderten glänzenden Haut und einer Unmasse dicken Haares, das einen unangenehmen Geruch nach billigem Haaröl ausströmte. Ihre Kleider waren nach Ansicht der Klassifizierten ein fach unmöglich. Dafür hatte sie freilich einen scharfen, schnellen, ausgeglichenen und beinahe kritischen Verstand. Sie wußte stets aufs genaueste, welche Vorlesun gen gut waren und welche nicht, wie man sich am besten für das Kolleg am nächsten Tag vorbereitete und wo man Informationen für das wöchentliche Referat herbekam. Sie hieß Schwengauer - Mathilde Schwengauer. »Hören Sie«, sagte sie hilfsbereit zu Dirk, »Sie brauchen die Bücher nicht alle durchzulesen. Sparen Sie sich die Mühe! Es genügt vollständig, wenn Sie im Blaine Seite 256 bis 273, in Jaeckel Seite 549 bis 567 und von Trowbridge's Grundriß die ersten elf oder zwölf Seiten durchlesen.« Dirk nahm ihre guten Ratschläge dankbar an. Ihre Notizen waren stets vollständig und tadellos. Sie ließ ihn bereitwillig abschreiben. Häufig verließen sie gemein 208
sam den Hörsaal und gingen im Kamp auf und ab. Sie erzählte ihm einiges von sich. »Sie stammen vom Lande!« Erstaunt musterte sie seine gutsitzenden Kleider, seine gepflegten schmalen Hände und seine eleganten Schuhe. »Ich bin auch auf einer Farm groß geworden! In lowa. Bis zu meinem siebenundzwanzigsten Jahr bin ich nicht von Hause fortgekommen. Ich wäre gern auf die Schule gegangen, aber wir hatten nie das Geld dazu, und ich konnte mir auch nichts verdienen, weil ich die Älteste von neun Geschwistern war und meine Mutter seit der Geburt meiner jüngsten Schwester kränkelte. Mama war sehr dafür, daß ich ginge, und Papa hatte nichts dagegen, aber es gab keine Möglichkeit. An ihnen hat's wahrhaftig nicht gelegen. Ein Jahr war es so heiß und trocken, daß das Getreide auf den Halmen verdorrte. Im nächsten regnete es unaufhörlich, und das Saatgetreide verfaulte im Erdboden. Als ich sechsundzwanzig Jahre alt war, starb meine Mutter. Die Kleinen waren schon ziemlich herangewachsen. Papa heiratete wieder nach einem Jahr, und ich ging nach Des Moines zur Arbeit. Ich blieb sechs Jahre dort. Aber ich konnte meines Bruders wegen nicht viel sparen. Er taugte nämlich nicht viel. Nach Papas Heirat war er auch nach Des Moines gekommen, weil er sich mit der Stiefmutter nicht vertrug. Seit etwa fünf Jahren bin ich nun in Chikago. Ich glaube, es gibt keine Arbeit, die ich nicht kennengelernt habe, nur in einem Kohlenbergwerk war ich noch nicht. Aber ich hätte mich auch davor nicht gescheut, wenn es hätte sein müssen.« Sie erzählte das in ihrer freimütigen, einfachen Art. Dirk fühlte sich zu ihr hingezogen. Sie tat ihm leid. Er war von Natur aus warmherzig und schloß sich schnell 209
an andere an. Was sie dann noch sagte, verwunderte ihn nicht nur, sondern gab ihm auch einen kleinen Stoß. »Sie können sich gar nicht vorstellen, was es für mich bedeutet, daß ich hier bin! Jahrelang habe ich mir das ausgemalt. Und noch jetzt kommt es mir wie ein Märchen vor. Ich nehme alles, was um mich herum vorgeht, mit vollem Bewußtsein auf, und doch kann ich nicht daran glauben. Wissen Sie, gerade als ob Sie etwas Wunderschönes träumten - und aufwachten, und es wäre wirklich wahr! Ich könnte einfach verrückt werden vor Freude. Ich habe es erreicht, sage ich mir jeden Tag. Ich bin Studentin auf der Midwest-Universität und höre wundervolle Vorlesungen!« Ihr Gesicht glänz te. Sie sah ordentlich hübsch aus. »Ja, das ist wirklich großartig«, war alles, was Dirk darauf erwidern konnte. Er erzählte seiner Mutter von ihr. Gewöhnlich fuhr er Freitag abends nach Hause und blieb bis montags früh. Sein erstes Kolleg fing montags erst um zehn an. Selina hörte ihm sehr aufmerksam zu. »Glaubst du, daß sie einmal über Sonnabend und Sonntag zu uns herauskommen würde? Sie könnte doch sehr gut mit dir Freitag herfahren und Sonntagabend zurück sein, wenn sie nicht länger Zeit hat. Sonst kann sie ja Montag früh mit dir zurückfahren. Wir haben doch jetzt ein hübsches Fremdenzimmer. Und sie könnte tun und lassen, was sie will. Ich würde sie gern mit Sahne und frischem Obst und Gemüse füttern. Meena könnte Kokosnußmakronen backen. Ich lasse eine frische Kokosnuß aus der Stadt mitbringen.« Mathilde kam wirklich eines Freitagabends mit Dirk zusammen heraus. Es war Ende Oktober: Spätsommer in Nordamerika, die schönste Zeit des Jahres. Himmel 210
und Erde waren von einem milden gelben Licht überflutet. Die Luft war wie flüssiges Gold, und man sog Leben und Freudigkeit ein mit jedem Atemzug. Die Gurken und die Kürbisse über dem warmen braunen Erdboden leuchteten im Sonnenschein mit den herbstbunten Ahornblättern um die Wette. Die Landschaft in ihrer üppigen, gelassenen Fülle glich dem Bilde einer schönen Frau, die ihre Kinder gesund und blühend zur Welt gebracht hat und nun voll tiefer Zufriedenheit heiter und leuchtenden Auges ausruht. Mathilde Schwengauer strahlte vor Entzücken. Als sie und Selina sich die Hände schüttelten, sah ihr die Frau betroffen ins Gesicht. Später sagte Selina leise zu Dirk: »Hast du mir nicht erzählt, sie sei häßlich?« »Ja, das ist sie doch auch. Findest du nicht?« »Sieh sie dir doch nur an!« Mathilde Schwengauer unterhielt sich mit Meena Bras, die seit ein paar Jahren Selina in der Wirtschaft half. Mathilde stand neben ihr, die Arme in die Seiten gestemmt, mit zurückgeworfenem Kopf, und lachte, daß ihre festen weißen Zähne blitzten. Eine neue Zentrifuge war der Gegenstand ihrer Unterhaltung. Mathilde lachte sorglos und unbekümmert wie ein junges Mädchen. Zwei Tage lang tat sie, was ihr gefiel: sie half Gemüse im Garten ernten, die Kühe melken und die Pferde anschirren. Ohne Sattel und Zaumzeug ritt sie zur Weide. Sie wanderte die Landstraße entlang. Sie raschelte durch die welken Blätter im Wald und steckte sich ein purpurrotes Ahornblatt ins Haar. Sie schlief von zehn bis sechs wie ein Murmeltier und verzehrte Riesenportionen Sahne, Obst, Gemüse, Eier und Kuchen. 211
»Damals bei uns zu Hause habe ich das alles zuletzt nicht mehr ausstehen können«, sagte sie ein wenig schuldbewußt. »Wahrscheinlich weil es alle Tage für mich dasselbe war. Aber jetzt kommt die Erinnerung zurück, und ich genieße dieses Leben unendlich, vielleicht weil es mir so sehr vertraut ist. Jedenfalls waren es für mich köstliche Tage, Frau DeJong. Nie im Leben habe ich es so gut gehabt wie hier bei Ihnen.« Ihr Gesicht leuchtete auf und wurde beinahe schön. »Wenn ich Ihnen das glauben soll«, sagte Selina, »so müssen Sie bald wiederkommen.« Aber Mathilde Schwengauer kam niemals wieder. In der folgenden Woche trat ein junger Student auf Dirk zu. Er hatte schon mehrere Semester hinter sich und war bei seinen Kameraden allgemein sehr angesehen. Außerdem gehörte er zu der Verbindung, in die Dirk demnächst eintreten wollte. »Hören Sie, DeJong, ich habe mit Ihnen im Vertrauen zu reden. Also Sie können unmöglich länger mit diesem Fräulein Schwengur, oder wie sie heißt, verkehren. Sonst wird es nichts mit der Verbindung.« »Was heißt das? Nicht mit ihr verkehren? Was hat sie denn verbrochen?« »Verbrochen? Sie ist doch eine von den Unklassifizierten! Und wissen Sie, was sie tut? Sie hat es übrigens selbst einem anderen Mädchen erzählt, nämlich wie sie es anfängt, Geld zu sparen. Sie behält beim Baden ihre Unterwäsche und ihre weißen Strümpfe an, um die Waschseife zu sparen. Wäscht sie am eigenen Leibe aus! Ungelogen!« Dirk sah in Gedanken das große Mädchen in einer halbvollen Badewanne in ihrer zerknitterten Unterwäsche und ihren weißen Strümpfen vor sich, wie sie 212
alles das und sich selbst zusammen abschrubbte. Ein zugleich komisches und abstoßendes Bild; auch mitleiderregend, aber das gestand er sich nicht ein. »Man stelle sich das vor!« sagte sein zukünftiger Vereinsbruder. »Es ist natürlich ausgeschlossen, daß jemand aus unserer Verbindung mit einem solchen Mäd chen zusammenkommt. Sie müssen jeden Verkehr mit ihr abbrechen oder auf die Mitgliedschaft verzich ten.« Einen Augenblick ging es Dirk durch den Kopf, Haltung zu zeigen und zu sagen: Jawohl, ich verzichte. Sie ist mehr wert als euer ganzer Verein. Der Teufel hole euch alle miteinander! Statt dessen sagte er zögernd: »Na gut. Von mir aus ...« Er suchte sich einen anderen Platz im Hörsaal, vermied es, Mathilde anzusehen, und schoß zur Tür hinaus, sobald die Vorlesung zu Ende war. Eines Tages sah er sie auf dem Spielplatz auf sich zukommen und ahnte, daß sie stehenbleiben und ihn anreden, ihm vielleicht im Scherz Vorwürfe machen wollte. Da ging er schneller und bog ein wenig aus. Als er an ihr vorbeikam, zog er mit einer kleinen Verbeugung seine Mütze und sah starr vor sich hin. Er konnte noch mit einem schnellen Seitenblick erkennen, daß sie einen Augenblick unentschlossen stehenblieb. — Dirk wurde in die Verbindung aufgenommen. Seine Vereinsbrüder mochten ihn vom ersten Tage an gut leiden. Selina fragte ihn ein- oder zweimal: »Warum bringst du eigentlich nie mehr deine Kameradin Mathilde mit? Sie ist ein so nettes Mädchen - besser gesagt, eine so nette Frau. Aber hier lebte sie ja auf und wurde richtig jung! Und was für einen scharfen Ver
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stand sie hat! Die wird noch vorwärtskommen im Le ben, du wirst sehen! Bringe sie doch nächste Woche mit, ja?« Dirk räusperte sich und wich ihrem Blick aus. »Oh, meinetwegen. Ich habe sie die ganze letzte Zeit nicht gesehen. Wahrscheinlich hat sie andere Freunde gefunden.« Er ließ sich nicht gern an sein Verhalten erinnern, denn er schämte sich vor sich selbst. Aber er versuchte mit einem: Was ist schließlich dabei? darüber hinwegzu gehen. Nach einem Monat fing Selina von neuem an: »Lade doch Mathilde zum Erntedankfest ein, das heißt, falls sie nicht nach Hause gefahren ist, was ich aber nicht glaube. Bei uns gibt es Truthahn und Kürbispudding und alles, was dazu gehört. Sie wird begeistert sein.« »Mathilde?« Er hatte ihren Namen tatsächlich vergessen. »Ja, natürlich. So hieß sie doch - Mathilde Schwengauer?« »Ach die! Die habe ich schon lange nicht mehr gesehen.« »O Dirk, du hast dich doch nicht etwa mit dem netten Mädchen gezankt?« Da entschloß er sich, mit der Wahrheit herauszurücken. »Hör mal zu, Mutter. Siehst du, bei uns an der Universität gibt es eine Menge verschiedener Klubs. Und Mathilde Schwengauer gehört zu keinem einzigen. Sie ist wirklich ein nettes und kluges Mädchen, aber sie gehört eben nicht dazu. Das verstehst du wahrscheinlich nicht; aber es ist nun einmal so. Wenn man mit so einem Mädchen befreundet ist, lassen einen alle anderen links liegen. Übrigens ist sie ja gar kein Mädchen mehr.
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Sie ist eine Frau in mittlerem Alter, wenn wir mal ehrlich sein wollen.« »Lassen einen die anderen links liegen!« Selinas Stimme klang kühl und beherrscht. Dirk sah sie noch immer nicht an. »Weißt du, mein Junge, Mathilde Schwengauer gehört mit zu den Menschen, derentwegen ich dich auf die Universität geschickt habe. Der Umgang und die Unterhaltung mit ihr hätten für dich sehr wertvoll sein können. Damit will ich nicht sagen, daß du nicht auch mit hübschen jungen Mädchen deines Alters befreundet sein solltest. Es wäre ja unnatürlich, wenn das nicht der Fall wäre. Aber diese Mathilde ... siehst du, sie ist das Leben selbst.« Selina schrieb an Mathilde und lud sie herzlich zum Erntedankfest ein. Aber Mathilde lehnte ab. »Ich werde immer in Liebe und Dankbarkeit an Sie denken«, schrieb sie in ihrem Brief.
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Ein ganzes Jahr lang war Dirk nun schon Student. Aber noch kein einziges Mal war es zu einer geistreichen, zwanglosen Unterhaltung vorm Kamin in dem Arbeitszimmer eines Professors gekommen, der ein solcher Ausbund von klassischer Gelehrsamkeit und moderner Bildung gewesen wäre, daß er für seine Studenten eine Offenbarung bedeutete. Die Herren Professoren hielten ihre Vorlesungen genauso, wie sie sie in den letzten zehn oder zwanzig Jahren gehalten hatten und sie weiter halten würden, bis der Tod oder die Verset 215
zung in den Ruhestand sie davon befreite. Die jüngeren Professoren und Privatdozenten unterschieden sich von ihren älteren Kollegen durch elegante graue Anzüge und farbenfreudige Krawatten. Sie legten Wert darauf, mit den Studenten kollegial zu verkehren, und gingen darin leicht zu weit. Sie benahmen sich, als wären sie noch nicht zwanzig Jahre alt, und gebrauchten mit Vorliebe burschikose Ausdrücke, um die Jungen zum Lachen und die Mädchen zu einem begeisterten Kichern zu bringen. Dirk waren seltsamerweise die pedantischen älteren Herren lieber als diese. Er mochte es nicht, wenn sie eine Besprechung über Universitätsereignisse etwa mit den Worten einleiteten: »Also hört mal zu, Kommilitonen —« Bei den kleinen Tanzereien und Festlichkeiten hielten sie es durchaus nicht für unter ihrer Würde, ihren hübschen jungen Zuhörerinnen den Hof zu machen. Unter Dirks Lehrern befanden sich auch zwei weibliche Professoren. An den beiden gelehrten ältlichen Damen waren nur die Augen lebendig geblieben. Stets trugen sie dieselben dunklen Kleider aus irgendeinem undefinierbaren braunen oder schmutziggrauen Stoff. Sie hatten langweilige, glatt nach hinten gestrichene Haare und knochige, dürre Hände. Sie unterrichteten schon wer weiß wie lange. Immer wieder saß ein Hörsaal voll neuer junger Gesichter vor ihnen, die nach kurzer Zeit schon wieder verschwanden, um den Folgenden Platz zu machen, die ebenso jung, ebenso frisch und ebensowenig voneinander zu unterscheiden waren wie ihre Vorgänger. Die ältere der beiden Damen ge riet hin und wieder wenigstens noch einmal in Feuer, wie ein ausgebrannter Krater unter der Asche. Sie besaß Humor und einen gewissen trockenen Witz, der er 216
staunlicherweise die ganzen dreißig Jahre ihrer abstumpfenden Lehrtätigkeit überlebt hatte. Zudem war sie sehr klug und für alles Neue aufgeschlossen, soweit das innerhalb des konventionellen Rahmens ihrer Umgebung und bei ihrer angeborenen altjüngferlichen Veranlagung möglich war. Dirk fiel es schwer, den beiden Damen zuzuhören. Er rutschte in ihrem Kolleg verzweifelt auf seiner Bank hin und her und krampfte die Hände zu Fäusten. Schließlich konnte er sich nur dadurch helfen, daß er die ganze Zeit über den Schatten beobachtete, den ein Eichenzweig vorm Fenster auf die gegenüberliegende Zimmerwand warf. In den ersten Frühlingstagen sprachen Dirk und Selina wieder einmal von der Zukunft. Sie saßen gemütlich vor dem Kamin im Wohnzimmer beieinander. Selina hatte sich den Kamin vor fünf Jahren bauen lassen, und ihre Liebe zum Feuer war fast zur Anbetung geworden. Sie ließ den Kamin den ganzen Winter hindurch heizen und ebenso an kalten Frühjahrsabenden. War Dirk in der Stadt, so konnte sie stundenlang still davor sitzen, nachdem alle anderen im Hause längst zur Ruhe gegangen waren. Der alte Pom lag zu ihren Füßen und genoß den Luxus, den er sich in seiner Jugend nicht hatte träumen lassen. Die guten Leute aus High Prairie sahen den rosigen Feuerschein von Frau DeJongs Kamin auf der Hauswand tanzen und wärmten sich daran, obwohl sie natürlich auch dabei etwas auszusetzen fanden. »Sie hat doch einen ordentlichen Ofen, aber nein, sie muß durchaus ein offenes Feuer auf einem Rost haben. Immer tut sie etwas Ausgefallenes. Sie muß sich doch langweilen, wenn sie mit dem Hund allein davorsitzt!« 217
Sie ahnten freilich nicht, mit wie vielen guten Bekann ten sich Selina an diesen langen Winterabenden vor ihrem Kamin unterhielt - mit wie vielen alten und neuen Freunden. Da war der kleine Sogroß, von oben bis unten mit Erde beschmiert. Und der zehnjährige Dirk DeJong. Und Simeon Peake, freundlich und gutmütig spottend wie immer, mit seinen glänzend gewichsten Stiefeln und dem stets ein wenig auf der Seite sitzenden Hut. Pervus DeJong war da, groß und breit, im blauen Hemd, mit kräftigen sanften Händen, die ein goldener Haarflaum bedeckte. Die Schauspielerin Fanny Davenport, das Idol ihrer Jungmädchenzeit, kam lächelnd und nickend zu ihr zu Besuch. Neben die ser prächtigen Erscheinung stand Maartje Pools nimmermüde, geduldige Gestalt. Selina sah sie wieder in der Tür zu Rolfs Werkstatt auftauchen, die Arme in die Schürze gewickelt. Und Rolf, der temperamentvolle dunkeläugige Junge, den niemand verstand, Rolf, der nun ein großer Künstler war, stellte sich immer ein. Oh, Selina DeJong war nicht allein an diesen Winterabenden vor dem Kamin. Sie und Dirk saßen dort an einem klaren, kühlen Aprilabend nebeneinander. In der letzten Zeit war Dirk nicht mehr so regelmäßig übers Wochenende nach Hause gekommen. Eugen und Paula Arnold verbrachten ihre Osterferien bei den Eltern in Chikago. Julia hatte Dirk zu den Partys in der Prairie-Allee eingeladen. Er war sogar schon zweimal über SonnabendSonntag dort geblieben. Sein kleines Schlafzimmer auf der Farm kam ihm neben dem Luxus des Arnoldschen Hauses bedrückend kahl und dürftig vor. Selina hörte ohne Neid, was er von diesen Besuchen erzählte, und fand viel Vergnügen daran, sie in Gedan 218
ken nachzuerleben; wahrscheinlich sogar mehr als Dirk, der dabeigewesen war. »Nun erzähle, was ihr zu essen bekommen habt«, konnte sie neugierig wie ein Kind fragen. »War es üppig? Ich hörte von Julia, daß sie jetzt einen Hausmei ster hätten. Ich bin neugierig, was August Hempel darüber denkt.« Er schilderte ihr gehorsam die Spezialitäten der Arnoldschen Küche. Sie fiel ihm atemlos ins Wort: »Mayonnaise! Zu frischem Obst! Oh, das würde ich sicher nicht mögen! Dir hat es geschmeckt? Dann sollst du es bei mir auch haben, wenn du nächste Woche herauskommst. Ich lasse mir von Julia das Rezept geben.« Er glaubte nicht, daß er nächste Woche würde kommen können. Einer der jungen Leute, die bei Arnolds verkehrten, hatte ihn in das Haus seiner Eltern eingeladen. Es lag am See, und er besaß ein Boot. »Das muß ja herrlich sein!« rief Selina nach einer fast unmerklichen Pause, hinter der sie ihre Bestürzung verbarg. »Ich werde auch versuchen, mich nicht anzustellen wie eine alte Glucke, wenn ich weiß, daß ihr auf dem Wasser seid ... Aber erzähle doch noch ein bißchen, Sogroß. Also erst gab's Obst mit Mayonnaise, ja? Und was für Suppe?« Er war von Natur aus nicht besonders gesprächig. Aber seine Schweigsamkeit hatte nichs Mürrisches und wirkte nicht bedrückend; sie war ein Erbteil seiner holländischen Vorfahren. Dieses Mal jedoch ging er mehr aus sich heraus als sonst. »Paula ...« kam ständig in seinen Erzählungen vor. »Paula .. .« und wieder »Paula«. Er schien sich dessen gar nicht bewußt zu sein, aber Selina hatte scharfe Ohren. »Ich habe sie nicht gesehen, seit sie von Hause fort
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kam«, sagte Selina. »Sie muß jetzt - ja, laß mich ausrechnen, sie muß neunzehn Jahre alt sein, denn sie ist ja ein Jahr älter als du. Ich habe sie als ein kleines mageres Dingelchen in der Erinnerung. Zu schade, daß sie nicht Julias hübsches Äußere und ihre wundervollen Farben geerbt hat an Stelle von Eugen, der es wirklich nicht nötig hätte.« »Oh«, sagte Dirk lebhaft, »da machst du dir ein ganz falsches Bild. Sie ist dunkel und schlank und ... ja ... sinnlich« - Selina fuhr in die Höhe und hielt schnell die Hand vor den Mund, um ein Lächeln zu verbergen - »wie Kleopatra. Sie hat sehr schöne, große dunkle Augen, die ein bißchen schräg stehen. Keine Schlitzaugen, aber sie sind wirklich ein bißchen schräg. Und unnatürlich groß. Ich habe solche Augen überhaupt noch nicht gesehen.« »So? Meine Augen galten früher allgemein als schön«, scherzte Selina. Aber er hörte gar nicht hin. »Alle ändern Mädchen sehen neben ihr gewöhnlich aus.« Er schwieg einen Augenblick. Auch Selina sagte nichts, und es war kein beglückendes Schweigen. Als ob er einen Gedankengang laut fortsetzte, sagte Dirk plötzlich: »... nur ihre Hände nicht.« Selina gab sich Mühe, so ruhig und unbeteiligt wie möglich zu sprechen: »Wie sind denn ihre Hände, Dirk?« Er dachte mit zusammengezogenen Brauen angestrengt nach. Schließlich sagte er zögernd: »Ja, ich weiß selbst nicht recht. Braun und schrecklich dünn und .. . ich möchte sagen habgierig. Ich meine, ich kann sie gar nicht ansehen. Sie machen mich nervös. Und sie sind immer heiß, wenn man sie anfaßt, auch wenn sonst alles an ihr kalt ist.« Er sah die Hände seiner Mutter
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an, die eine Näharbeit hielten. Sie säumte ein winziges seidenes Kindermützchen, das Geertje van der Sijdes zweites Baby bekommen sollte. Ihre rauhen Finger blieben ständig an der weichen Seide hängen. Arbeit, Wasser, Sonne und Wind hatten ihre Spuren an diesen Händen zurückgelassen, hatten die Knöchel vergröbert und die Handflächen gerötet. Und doch - wie sicher sie waren, wie stark und kühl und zuverlässig! Und wie sanft und zart! Und plötzlich sagte Dirk: »Aber deine Hände, Mutter! Deine Hände liebe ich.« Sie legte schnell ihre Arbeit hin; sie war rot geworden wie ein junges Mädchen. »Wirklich, Sogroß?« sagte sie leise. Nach einer Weile fuhr sie fort zu nähen. Sie sah froh und mädchenhaft aus wie damals, als sie mit Klaas Pool auf der ausgefahrenen Landstraße entlanggerollt war und Kohl wunderschön gefunden hatte. Sooft sie glücklich und freudig erregt war, hatte ihr Gesicht den gleichen Ausdruck wie damals. Und deshalb fanden alle, die sie liebten und die diesen Ausdruck in ihrem Gesicht hervorzurufen vermochten, sie schön, während die, die sie nicht liebten, ihn nie zu sehen bekamen und sie deshalb für eine recht unscheinbare Frau hielten. Wieder herrschte eine Zeitlang Stillschweigen zwischen ihnen. Dann sagte Dirk: »Mutter, was würdest du davon halten, wenn ich im Herbst auf eine andere Universität ginge und Architektur studierte?« »Möchtest du das denn, Dirk?« »Ja, ich glaube wohl -« »Dann könntest du mir keine größere Freude machen. Ich ... oh, allein der Gedanke daran macht mich glücklich.« »Aber es würde eine Menge Geld kosten.« 221
»Das laß nur meine Sorge sein. Wie kommst du auf Architektur?« »Ich weiß es selbst nicht genau. Die neuen Gebäude in der Universität - Neugotik, weißt du - sehen neben den alten so merkwürdig aus. Und Paula und ich haben uns neulich über allerlei unterhalten. Sie kann ihr Haus in der Prairie-Allee - den alten, grauen verräucherten Steinkasten - nicht ausstehen. Sie möchte so gern, daß ihr Vater im Nordviertel ein italienisches Landhaus oder ein Rokokoschlößchen bauen ließe. Alle ihre Bekannten ziehen aus dem scheußlichen Südviertel weg und bauen sich Häuser am See ohne Freitreppen und Erker und Türmchen.« »Nun ja«, widersprach ihm Selina freundlich, »ich mag die Steinkästen ja gern. Ich habe wahrscheinlich unrecht. Aber für mich haben sie etwas Natürliches, Solides und Ungekünsteltes an sich, wie August Hempels Anzüge. Sie sind genauso viereckig und massiv. Für mich sind das anständige, praktische Häuser. Sie mögen meinetwegen plump sein - aber jedenfalls sind sie nicht lächerlich. Sie haben eine handfeste Großzügigkeit. Und sie gehören nach Chikago. Diese französischen und italienischen Spielereien passen nicht hierher. Das ist genauso, als käme Abraham Lincoln plötzlich in rosaseidenen Kniehosen, Schnallenschuhen und Spitzenmanschetten daher.« Dirk lachte. Aber er widersprach trotzdem: »Eine ein heitliche bodenständige Architektur gibt es noch nicht, und die eben brauchen wir. Du kannst doch nicht die rauchgeschwärzten alten Steinkästen mit den eisernen Zäunen, den Gewächshäusern und dem ganzen Drum und Dran eine einheimische Architektur nennen?« »Nein«, gab Selina zu. »Aber italienische Villen und 222
französische Schlösser passen ebenso in die Vorstädte Chikagos wie ein Abendkleid aus lauter Spitze in die Wüste Arizona. Sie sind nachts nicht warm und tagsüber nicht kühl genug. Meiner Meinung nach entwikkelt sich eine einheimische Architektur ganz von selbst, wenn sich die Bauweise den Anforderungen anpaßt, die das Klima und die Lebensbedürfnisse der Bevölkerung an sie stellen. Selbstverständlich darf man die ästhe tischen Gesichtspunkte nicht außer acht lassen. Giebel und Türme brauchen wir heute ebensowenig wie Zugbrücken und Wallgraben. Sie hatten gewiß einstmals ihre Berechtigung und waren notwendig für das Land, das sie zuerst einführte; aber schließlich fällt es ja heute keinem mehr ein, seinen Nachbarn mit einer Rotte Spießgesellen zu überfallen und ihm seine Frau, seine kostbaren Gobelins und seine goldenen Becher wegzunehmen.« Dirk hörte aufmerksam und angeregt zu. Er liebte solche Gespräche mit seiner Mutter. »Wie denkst du dir denn so ein richtiges Haus in Chikago?« Selina war so schnell mit der Antwort bei der Hand, als hätte sie schon oft darüber nachgedacht und sich in Gedanken ein solches Wohnhaus an Stelle der gemütlichen alten DeJongschen Farm ausgemalt. »Vor allen Dingen müßte es große Veranden bekommen, die während der heißen Tage und Nächte im Sommer den Südwestwind aus der Prärie auffangen. Veranden und Terrassen, die an der Südseite des Hauses liegen und am besten auch noch an der Ostseite, damit man sich die köstliche frische Seeluft nicht entgehen läßt, wenn man vor Hitze umkommt. Im übrigen müßte das Haus viereckig und gegen unsere kalten Nächte und scharfen Nordostwinde recht solide und dicht gebaut sein. Und natürlich sollte 223
es Schlafterrassen haben. Schlafterrassen sind für Amerika das Gegebene-also baue sie. Die Engländer mögen ihren Fünfuhrtee auf der Veranda trinken, die Spanier mögen ihre Säulenhallen haben, die Franzosen ihren Hofraum und die Italiener ihre weinbewachsene Pergola. Die Amerikaner aber brauchen überdeckte Schlafterrassen, wo sie während der ganzen warmen Jahreszeit die Nacht an der frischen Luft zubringen können. Es sollte mich wundern, wenn der Mann, der zuerst darauf gekommen ist, am Tage des Jüngsten Gerichts nicht besser abschneiden würde als die Erfinder des Flugzeugs, des Phonographen und des Telefons. Denn schließlich hatte er nichts anderes im Sinn als die Gesundheit des Menschengeschlechts.« »Mutter, du bist großartig. Aber ich fürchte, deine Häuser würden ausschließlich aus Terrassen und Veranden bestehen!« Selina ließ sich durch soviel überlegene Kritik nicht einschüchtern. »Oh, man kann in jedem Haus ganz gemütlich wohnen, das neben einer genügenden Anzahl Terrassen noch zwei oder drei Badezimmer und mindestens acht Wandschränke hat.« Am nächsten Tag sprachen sie ernsthafter miteinander. Der Universitätswechsel und die Architektenlaufbahn schienen beschlossene Sache zu sein. Selina war zufrieden, ja glücklich. Dirk machte sich nur wegen der Kosten Sorgen. Er kam darauf zu sprechen, als sie beim Frühstück saßen (das heißt, nur Dirk frühstückte, seine Mutter war schon lange auf und saß jetzt eine Weile neben ihm, während er seinen Kaffee trank und die Morgenzeitung las). Sie hatte draußen auf dem Felde das Versetzen der jungen Tomatenpflanzen vom Mistbeet ins freie Land beaufsichtigt. Sie trug einen alten 224
grauen, hoch geschlossenen Pullover, denn es war noch kalt draußen. Auf dem Kopf hatte sie einen alten weichen Filzhut, genau wie damals auf dem Heumarkt vor über zehn Jahren, nur daß er dieses Mal von Dirk stammte. Von dem Gang durch die frische Morgenluft waren ihre Wangen zart gerötet. Sie schnupperte. »Der Kaffee riecht köstlich. Ich glaube, ich kann nicht widerstehen!« Sie goß sich eine halbe Tasse ein mit einer Miene, als hätte sie lieber eine ganze getrunken. »Ich habe es mir überlegt«, fing er an, »die Ausga ben -« »Schweine«, sagte Selina ruhig. »Schweine?« Er fuhr in die Höhe und sah seine Mutter entgeistert an. »Die Schweine werden es scharfen«, erklärte Selina. »Ich will sie schon seit drei oder vier Jahren einführen. Die Idee stammt von August Hempel. Ich hätte besser Eber sagen sollen.« Dirk wiederholte im gleichen Ton wie vorher: »Eber?« »Jawohl. Masteber. Im Augenblick sind sie ihr Gewicht in Gold wert, und das wird auch in den nächsten Jahren so bleiben. Ich will mich nicht etwa nur noch mit Schweinezucht beschäftigen. Nur soviel, wie nötig ist, um aus Dirk DeJong einen Architekten zu machen.« Nach einem Blick in sein Gesicht fuhr sie fort: »Sieh nicht so bekümmert drein, Kind. Schweine haben durchaus nichts Abstoßendes - wenigstens meine nicht, deren Stall so sauber sein wird wie ein gekacheltes Badezim mer und die mit Korn gefüttert werden. Ein Schwein ist ein hübsches, ansehnliches Tier, sofern man es nicht wie ein Schwein behandelt.« Er sah niedergeschlagen aus. »Eigentlich möchte ich lie 225
her nicht weiterstudieren, wenn es nicht ohne Schweine geht.« Sie nahm den Filzhut vom Kopf und warf ihn neben sich auf einen Stuhl. Mit der flachen Hand strich sie ihr Haar zurück, das schon mit vielen grauen Fäden durchzogen war. Aber ihre Augen waren so schön und klar wie je. »Ich will dir was sagen, Sogroß. Die Farm wirft jetzt genug ab - soweit man das von einer Gemüsefarm verlangen kann. Wir sind schuldenfrei, das Land ist in gutem Zustand, und die Pflanzen haben vielversprechend angesetzt. Aber von der Gärtnerei kann man heutzutage nicht reich werden. Dazu sind die Löhne und die Transportkosten zu hoch und die Marktpreise im Verhältnis zu niedrig. Jeder Gemüsefarmer, der sein Auskommen hat, muß zufrieden sein.« »Das weiß ich wohl.« Es klang verzagt. »Na also. Ich will dir nichts vorjammern, mein Junge. Im Gegenteil! Ich bin ein gutes Stück vorwärtsgekommen. Wenn ich sehe, wie die Spargelplantagen, die ich vor zehn Jahren angelegt habe, zu tragen anfangen, dann bin ich so glücklich, als wenn ich auf eine Goldmine gestoßen wäre. Ich muß noch manchmal daran denken, wie mir dein Vater damals davon abgeraten hat! So ein April auf dem Lande, wenn alles grün wird und alles ringsumher zu treiben beginnt — nein, es gibt überhaupt nichts Schöneres für mich. Und wenn ich mir dann vorstelle, daß mein Gemüse auf den Markt kommt und Tausende ernährt, daß es den Leuten Gesundheit und Kraft und Stärke gibt, so möchte ich mit niemandem tauschen. In Gedanken höre ich die Mütter zu ihren Kindern sagen: Du ißt deinen Spinat bis zum letzten Bissen auf, sonst bekommst du keinen Nach tisch! ... Von Mohren bekommst du helle Augen, mein 226
Liebling ... Daß du mir die Kartoff ein nicht liegenläßt. Wie willst du sonst groß und stark werden?« Selina lachte und errötete leicht. »Ja, aber wie ist es mit den Schweinen? Denkst du dar über geradeso?« »Natürlich!« sagte Selina entschieden. Sie schob ihm eine kleine Platte hin, die neben ihr auf dem weißen Tischtuch stand. »Nimm noch ein bißchen Schinken, Dirk. Da, dieses leckere kleine Scheibchen würde ich nehmen!« »Danke, Mutter, ich bin fertig.« Er stand auf. Im folgenden Herbst begann er in Cornell Architektur zu studieren. Er nahm es sehr ernst mit der Arbeit und setzte sie sogar in den Ferien fort. Im Spätsommer kam er nach Hause. Jeden Tag saß er mehrere Stunden an seinem langen Arbeitstisch und seinem Reißbrett. Vor ihm lagen die Reißschiene, ein Winkelmaß von fünfundvierzig und ein zweites von sechzig Grad; daneben Zirkel und Kompaß. Selina sah ihm gern über die Schulter, wenn er mit Bleistift und Zeichenpapier han tierte. Die einheimische Architektur war nun vollends abgetan für ihn. Vor allem kam er immer wieder auf die neuen Mietshäuser zu sprechen, die in Chikago wie Pilze aus der Erde schössen. Man nannte sie nicht etwa Mietswohnungen, sondern vornehm »Appartements«. Gewöhnlich gehörten sechs solcher »Appartements« zu einem Haus, und jedes hatte vorn nach der Straße zu einen kleinen runden Anbau mit Glaswänden, der als »Wintergarten« bezeichnet wurde. Hier suchte man Zu flucht, wenn der Himmel grau war und voller Wolken hing, wenn Regen, Nebel und Rauch die Stadt verdüsterten. Hier versank man in ein Meer von gelben und rosafarbenen Seidenkissen. Zartfarbige Lampen 227
schirme und köstliche Blumen verbreiteten Stimmung und Behagen. Hinter diesen gläsernen Wänden las halb Chikago seine Zeitung, spielte Bridge, machte Handarbeiten - frühstückte sogar. Und niemand fiel es ein, die Vorhänge zu schließen. »Unausstehlich!« schimpfte Dirk. »Sie sind schon an und für sich häßlich genug und kleben vorn an den Häusern wie drei Paar Brillen. Und jeder kann hineinsehen! Nächstens werden sie auch noch darin baden! Sie scheinen noch nie etwas von den Leuten im Glashaus gehört zu haben.« In seinem ersten Jahr in Cornell sprach er viel und eifrig über die »Schönen Künste«. Selina lachte nicht darüber. Wer weiß! dachte sie. Warum soll er nicht nach ein oder zwei Jahren im Büro ein weiteres Jahr in Paris studieren, wenn er dadurch vorwärtskommt! Als Dirk 1913 in lthaka seine Abschlußprüfung machte, fuhr Selina hin, obwohl die Prüfung in die arbeitsreichste Zeit auf der Farm fiel. Er war jetzt zweiundzwanzig Jahre alt, und Selina zweifelte nicht daran, daß er von seiner ganzen Klasse am besten aussah. Er war groß und gut gewachsen wie sein Vater und ebenso blond. Nur seine Augen waren braun — nicht so dunkel wie die Selinas, aber ebenso groß und glänzend. Sie ga ben seinem Gesicht mehr Ausdruck und einen lebhaften faszinierenden Blick, ohne daß er sich dessen bewußt war. Frauen, die diese feurigen dunklen Augen auf sich ruhen sahen, lasen daraus Gefühle, an denen Dirk un schuldig war - sie ließen sich von der Form und Farbe seiner Augen täuschen. Auch ist ja der Blick eines schweigsamen Menschen immer eindringlicher als der eines redseligen. Selina stach in ihrem schwarzseidenen Kleid und dem 228
einfachen schwarzen Hut beträchtlich von den anderen lebhaften geputzten Mamas ab. Und doch machte ihre bescheidene kleine Erscheinung Eindruck. Dirk brauchte sich ihrer nicht zu schämen. Sie betrachtete die behäbi gen, wohlhabenden Väter und mußte mit einem jähen Schmerzgefühl an Pervus denken: wieviel hübscher hätte er ausgesehen als diese hier, wäre er noch am Le ben gewesen. Dann fragte sie sich unwillkürlich — nicht ohne sich sogleich selbst zurechtzuweisen -, ob dieser Tag überhaupt möglich gewesen wäre, wenn Pervus noch gelebt hätte. Nach Chikago zurückgekehrt, trat Dirk in das Büro der Architekten Hollis 8t Sprague ein. Er war froh, bei einer Firma anzukommen, die ihr möglichstes tat, um der Bauweise mehr Stil zu geben. Ihr Verdienst war es, wenn der Michigan-Boulevard schon eine ganz andere Silhouette angenommen hatte. Aber Dirk wurde die untergeordnete Arbeit eines Zeichners zugewiesen, und man zahlte ihm dafür ein Entgelt, dem man mit dem Ausdruck »Gehalt« zuviel Ehre erwies. Und doch hatte er seine eigenen großartigen Ideen über Architektur. An den Wochenenden, die er bei Selina auf der Farm ver brachte, konnte er seinen unterdrückten Gefühlen Luft machen. »Barock« war der Ausdruck, mit dem er das neue Strandhotel kurzerhand abtat. Der Musikpavillon im Lincoln-Park sehe wie eine Eskimohütte aus, behauptete er. Und der Stadtrat solle das Potter-PalmerPalais abreißen lassen, weil es die Landschaft verunstalte. Er wurde ausfallend, wenn er auf die Ostfront der Stadtbibliothek zu sprechen kam. »Laß gut sein«, beruhigte ihn Selina. »Die ganze Stadt ist viel zu schnell gebaut worden. Vergiß nicht, daß Chikago noch gestern oder vorgestern ein indianisches 229
Dorf war mit Wigwams, wo heute Türme stehen, und mit Pfützen an Stelle unserer Asphaltstraßen. Von heute auf morgen kann nichts Schönes entstehen. Auch Schönheit braucht zu ihrer Entwicklung Zeit. Vielleicht haben wir all die Jahre auf solche jungen Männer, wie du einer bist, gewartet. Und vielleicht fahre ich eines schönen Tages mit einem berühmten Gast den MichiganBoulevard entlang - mit Rolf Pool zum Beispiel - und er fragt mich: >Wer hat dieses Gebäude entworfen? Das ist wundervoll! So fest und doch so leicht! So anmutig und dabei so vornehm!< Und ich antworte: >Ach das! Das ist einer der ersten Entwürfe meines Sohnes.<« Aber Dirk sog mißmutig an seiner Pfeife und schüttelte den Kopf. »Ach Mutter, wer weiß, ob es je so weit kommt. Es geht so verteufelt langsam. Ich habe jahre lang studiert. Und was bin ich? Nicht viel mehr als ein Bürodiener bei Hollis & Sprague.« Während seines Studiums war Dirk oft mit Paula und Eugen Arnold zusammengekommen. Manchmal erschien es Selina, als ob er jetzt diesen Zusammenkünften und Einladungen aus dem Wege ginge. Sie war es zufrieden, denn sie vermutete, daß er sich des Geldes wegen zurückhielt. Es schadete nichts, wenn ihm der Unterschied klar wurde. Eugen und Paula hatten jeder ihr eigenes Auto - im ganzen standen fünf in der Arnoldschen Ga rage. Paula war eine der ersten Frauen in Chikago, die selbst fuhren, und sauste schon in rasendem Tempo durch Chikago, als sie fast noch ein Kind war und kurze Röckchen trug. Sie fuhr wie der Teufel, geschickt, unbekümmert und unglaublich entspannt. Sie faszinierte Dirk. Selina wußte es. In den letzten ein oder zwei Jahren hatte er kaum noch von Paula gesprochen. Daraus schloß Selina, daß er die Sache ernst nahm und heimlich litt. 230
Paula und Eugen besuchten Dirk und seine Mutter manchmal auf der Farm. Sie legten den Weg von ihrem neuen Haus im Nordviertel bis zu den DeJongs in einem atemberaubenden Tempo zurück. Eugen erschien meistens in einer flotten Sportmütze, einer weiten englischen Jacke, Kniehosen und Sportstiefeln und trug bewußt eine elegante Nachlässigkeit zur Schau. Paula dagegen lehnte Sportkleidung ab. Das passe nicht zu ihr, erklärte sie. Sie hatte eine Vorliebe für schöne Kleider aus Crepe de Chine und Chiffon, die ihre schlanke dunkle Erscheinung zur Geltung brachten. »Ich muß nach Geld heiraten«, erklärte sie rundheraus. »Seit sie unseren alten Großpapa nicht mehr Fleischbaron nennen und ihm wer weiß wie viele Millionen abgenommen haben, sind wir bettelarm geworden.« »So siehst du aus!« sagte Dirk, und es war Bitterkeit in seinem Ton. »Ja, es ist trotzdem wahr. Und wie sind sie über ihn hergezogen die letzten zehn Jahre! Mir hat mein armer Vater leid getan. Na, weißt du, Großpapa hat's aber auch hinter den Ohren! Eigentlich sollte er sich in seinem Alter lieber ein bißchen vorsehen! Schließlich ist er über siebzig, und andere Leute fangen dann langsam an, sich über den Lohn in einer besseren Welt Gedanken zu machen. Aber ein alter Seeräuber wie Großpapa denkt gar nicht an so was. Er wird brandschatzen und rauben und plündern, bis er mit seinem Schiffe untergeht. Und es sieht mir gerade so aus, als ob sich das alte Boot augenblicklich stark nach Steuerbord überneigte. Vater sagt selbst, daß die ganze Großversandindustrie bald ein Leck bekommt, falls nicht ein Krieg ausbricht oder sonst etwas passiert - was äußerst unwahrscheinlich ist.« 231
»Gut gebrüllt, Löwe«, murmelte Eugen. Paula, Dirk, Selina und Eugen saßen zusammen auf der geräumigen Terrasse, die Selina an der Südwestseite ihres Hauses hatte anbringen lassen. Paula lag natürlich im Schaukelstuhl. Hin und wieder tippte ihr schmaler Fuß auf den Boden, um dem Stuhl neuen Schwung zu geben. »Nicht wahr? Na, dann läßt du mich vielleicht noch ausreden. Jedenfalls ist also unser geliebter Großpapa ein verwegener alter Kapitän. Bei unserem Papa hat's nur bis zum zweiten Steuermann gereicht. Und du, Bruderherz, kannst froh sein, wenn du's bis zum Schiffs jungen bringst.« Eugen war vor einem Jahre in das Geschäft eingetreten. »Was kannst du mehr von einem Jungen verlangen, der Pökelfleisch verabscheut und überhaupt alles, was vom Schwein kommt?« Er machte aus seiner Abneigung gegen die Viehhöfe kein Hehl. Selina erhob sich und ging ans Ende der Terrasse. Sie hielt Ausschau über die Felder und schützte dabei ihre Augen mit der vorgehaltenen Hand. »Da kommt Adam mit der letzten Fuhre. Er fährt gleich in die Stadt. Kornelius ist schon seit einer Stunde unterwegs.« Selina schickte jetzt bereits zwei große Fuhren zur Stadt. Sie erwog die Anschaffung eines schweren Lastwagens statt der um soviel langsameren Pferde. Sie stieg die Treppe hinab, um Adam Bras' Fuhre zu begutachten. Auf der letzten Stufe wandte sie sich noch einmal um. »Wollt ihr nicht zum Abendessen bleiben? Ihr könnt euch bei Tisch gemütlich weiterzanken und in der Abendkühle nach Hause fahren.« »Vielen Dank«, sagte Paula, »ich bleibe gern. Aber nur wenn Sie mir recht viel gekochtes und rohes Gemüse vorsetzen. Das gekochte in Rahm und Butter geschmort. 232
Und dann muß ich aufs Feld gehen und mir selbst holen dürfen, was ich will. Fehlt nur noch der Schäferhut und der Hirtenstab für das ländliche Schäferspiel im Stil von Marie Antoinette.« In ihren Pumps mit französischen Absätzen und ihren hauchzarten Seidenstrümpfen stolzierte sie hinaus aufs Feld. Dirk trug ihr den Korb. »Spargel«, befahl sie zuerst. »Aber wo ist er denn? Soll er das etwa sein?« »Er steckt doch im Erdboden, du kleines Schaf«, sagte Dirk. Er bückte sich und nahm das eigentümlich gebogene scharfe Messer aus dem Korb, womit man Spargel sticht. »Man muß die Stangen fünfzehn oder zwanzig Zentimeter tief unterm Erdboden abschneiden.« »Oh, das will ich mal versuchen!« Schon kniete sie auf der Erde, verdarb eine ganze Menge schöner, zarter Spargel und gab auf. Sie sah Dirk zu, wie er sachverständig das Messer handhabte. »Jetzt wollen wir Radieschen holen und Salat und Tomaten und Erbsen und Artischocken und -« »Artischocken wachsen in Kalifornien, aber nicht in Illinois.« Er war noch schweigsamer als sonst und sichtlich verstimmt. Paula merkte es. »Weshalb diese tragische Miene?« »Das hast du doch nicht ernst gemeint, was du vorhin sagtest? Daß du einen reichen Mann heiraten wolltest?« »Natürlich habe ich es ernst gemeint. Wen sollte ich wohl sonst heiraten?« Er sah sie schweigend an. Sie lächelte. »Sag selbst, zu einem Farmer würde ich doch großartig passen!« »Ich bin kein Farmer.« »Na, dann zu einem Architekten. Deine glorreiche Tä 233
tigkeit bei Hollis & Sprague bringt dir doch höchstens fünfundzwanzig Dollar in der Woche ein.« »Fünfunddreißig«, sagte Dirk ingrimmig. »Was hat denn das damit zu tun?« »Nichts, Liebling.« Sie streckte einen Fuß aus. »Diese Schuhe kosten dreißig.« »Ich werde ja auch nicht mein ganzes Leben lang fünfunddreißig Dollar in der Woche verdienen. So schlau bist du doch selbst. Eugen würde nicht soviel bekommen, wenn er nicht der Sohn seines Vaters wäre.« »Wenn er nicht der Enkel seines Großvaters wäre«, verbesserte ihn Paula. »Und ich weiß nicht, ob er nicht auch, selbst genug verdienen könnte. Eugen ist der geborene Ingenieur, wenn sie ihm nur freie Hand ließen. Er interessiert sich für nichts anderes als Maschinen und sol chen Kram. Aber nein .. . der Sohn eines Millionärs als Arbeiter im eigenen Geschäft! Bilder von Eugen in Overall und Arbeitermütze in sämtlichen Illustrierten. Dabei fährt er um zehn Uhr ins Büro und kommt um vier nach Hause und kann im übrigen keine Kuh von einem Ochsen unterscheiden.« »Eugen interessiert mich augenblicklich nicht die Spur. Ich rede von dir. Du hast Spaß gemacht, nicht wahr?« »Aber nein! Ich hasse Armut, ja sogar mittelmäßigen Reichtum. Ich bin an Geld gewöhnt - an Geld wie Heu. Und ich bin vierundzwanzig Jahre alt. Es wird Zeit, daß ich mich nach einer guten Partie umsehe!« Er versetzte einem unschuldigen Rübenblatt einen kräf tigen Fußtritt. »Du hast mich aber doch lieber als alle anderen Männer, die du kennst.« »Bestreite ich gar nicht. Dafür kann ich nichts.« »Siehst du!« 234
»Zunächst wollen wir mal das Gemüse ins Haus bringen und es in Sahne schmoren lassen.« Sie tat, als ob sie den schweren Korb aufheben wollte. Dirk riß ihn ihr so heftig aus der Hand, daß sie leicht aufschrie und vorwurfsvoll den roten Fleck auf ihrem Handrücken betrachtete. Er faßte sie bei der Schulter und schüttelte sie. »Hör zu, Paula. Willst du mir wirklich einreden, daß du einen Mann heiraten könntest, nur weil er zufällig eine Menge Geld hat?« »Vielleicht nicht nur deshalb. Aber es würde sehr ins Gewicht fallen. Und bestimmt wäre er mir lieber als ein Mann, von dem ich mich wie ein Kartoffelsack auf den Feldern umherstoßen lassen muß.« »O verzeih, Paula. Aber . . . versteh mich recht . . . du weißt, wie . . . Und dabei stecke ich in einem Architektenbüro, und es können Jahre vergehen, bis ich . ..« »Ja, aber ebenso wahrscheinlich werden Jahre vergehen, bis ich den gewünschten Millionen begegne. Also wozu sich das Leben schwer machen? Und selbst wenn es an ders kommt, können wir gute Freunde bleiben.« »O sei still. Verschone mich bitte mit Redensarten. Und vergiß nicht, daß ich dich nun schon bald vierzehn Jahre lang kenne.« »Also müßtest du nachgerade wissen, was für ein schwarzes Herz ich habe. Du brauchst wirklich eine ganz andere Frau, ein nettes, gutes Mädchen, das auf den ersten Blick Spargel von Erbsen unterscheiden kann und das am liebsten mit dir von hier bis in die Küche um die Wette laufen würde!« »Gott behüte!«
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Sechs Monate später heiratete Paula Arnold Herrn Theodor A. Storm, einen Mann in den Fünfzigern, einen Geschäftsfreund ihres Vaters. Er stand an der Spitze von so vielen Gesellschaften, war Hauptaktionär von so vielen Banken und hatte so viele Unternehmungen unter sich, daß sogar der alte August Hempel gegen ihn ein Waisenknabe war. Theodor Storm war eine große, breite Erscheinung. Dabei wirkte er eher schlaff als kräftig. Wäre er kleiner gewesen, so hätte er wahrscheinlich Fett angesetzt. Er hatte ein großes, weißes, ernsthaftes Gesicht, und seine dicken, dunklen Haare begannen bereits zu ergrauen. Sie nannte ihn niemals Teddy. Er zog sich sehr geschmackvoll an, abgesehen von einer Neigung für ziemlich weibische Krawatten. Er ließ für Paula ein Haus in der Stadt bauen, natürlich in der allerbesten Gegend, im sogenannten Millionenviertel. Das Haus sah genauso kalt und unpersönlich aus wie eine Bibliothek oder ein Museum. Außerdem besaßen sie einen Landsitz weiter draußen im Norden, der bis zum See hinunterreichte und von weiten, herrlich gepflegten Wäldern umgeben war. Dort gab es alles, was sich die Phantasie verwöhnter Menschen ausdenken kann: breite Al leen, Hohlwege, Bäche, Brücken, Gewächshäuser, Ställe, eine Rennbahn, Gärten, Springbrunnen, schattige Wege, Meiereien und eine Verwalterwohnung, die allein zwei mal so groß war wie Selinas Farmhaus. In drei Jahren bekam Paula zwei Kinder. »Das wäre also erledigt«, sagte sie. Sie hatte mit ihrer Heirat einen Fehler begangen, und sie wußte es. Denn ein paar Monate nach ihrer Hochzeit brach der Krieg von 1914 aus, und die Hempel-Arnoldschen Einnahmen stiegen ins Märchenhafte. Ungezählte Tonnen von amerikanischem 236
Rind- und Schweinefleisch wurden nach Europa verschifft. Und nach kaum zwei Jahren war das Hempelsche Vermögen größer, als es je gewesen war. Paula steckte bis über beide Ohren in freiwilliger Hilfsarbeit für Belgien. Das ganze Millionenviertel desgleichen. Neue Überschrift: »Die wunderschöne Frau Theodor A. Storm sammelt Liebesgaben für das blutende Belgien.« Dirk hatte sie monatelang nicht gesehen. Überraschend rief sie ihn eines Freitag nachmittags bei Hollis & Spra gue an. »Komm doch zu uns heraus und bleibe übers Wochenende, ja? Ich fahre heute nachmittag hinaus und kann dich gleich mitnehmen. Ich habe so genug von Belgien, du kannst es dir nicht vorstellen. Die Kinder fahren schon heute morgen. Ich hole dich um vier Uhr im Büro ab.« »Ich werde über Sonntag nach Hause fahren. Meine Mutter erwartet mich.« »Bringe sie mit.« »Das tut sie nicht. Du weißt, sie kann die vielen um sie herumschleichenden Dienstboten nicht ausstehen.« »Oh, wir leben da draußen wirklich ganz einfach, ganz wie auf dem Lande. Komm doch, Dirk. Ich muß auch Verschiedenes mit dir besprechen . . . Was macht die Arbeit?« »Oh, es geht. Es wird jetzt wenig gebaut.« »Kommst du also mit?« »Ich glaube nicht -« »Ich hole dich jedenfalls um vier Uhr ab. Ich halte unten vor dem Hause. Aber laß mich nicht zu lange warten, ja? Die Polizisten werden ungemütlich, wenn man seinen Wagen während der Hauptverkehrszeit in der City eine Weile stehen läßt.«
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»Fahre nur mit!« sagte Selina, als er sie anrief. »Das wird dir gut tun. Du bist die ganze letzte Zeit über ein rechter Miesepeter gewesen. Wie steht es mit reinen Hemden? Du hast auch noch vom letzten Herbst her ein Paar neue weiße Tennishosen hier liegen. Brauchst du sie vielleicht?« Dirk bewohnte in Chikago ein großes Vorderzimmer mit einem kleinen Erker im dritten Stockwerk eines hübschen, altmodischen Dreietagenhauses. Er benutzte den vorderen Raum als Wohnzimmer und schlief im Erker. Selina hatte mit ihm zusammen das Zimmer ein gerichtet und gleich alle Möbel, die ursprünglich darinstanden, hinausgeworfen bis auf das Bett, einen Tisch und einen behäbigen alten Lehnstuhl. Als er seine Bücher in offenen Regalen an der einen Wand aufgestellt hatte, als auf Tisch und Schreibtisch Lampen mit zartfarbigen seidenen Schirmen standen, sah das Zimmer wohnlich und behaglich aus. Solange sie mit der Ein richtung zu tun hatte, war Selina öfters auf einen Tag oder zwei in die Stadt gekommen und hatte in den Auktionshallen und Antiquitätenhandlungen gestöbert. Das tat sie mit Begeisterung und einem besonderen Spürsinn, während sie die funkelnagelneuen Möbel, die nach Lack und Firnis rochen, nicht leiden konnte. »Jedes Möbelstück, mag es noch so schön sein, muß erst eine Zeitlang mit einem gelebt haben, muß angestoßen und abgescheuert, mißhandelt und aufpoliert, herumgerückt und abgestaubt worden sein, man muß darauf gegessen, darin geschlafen oder darauf gesessen haben, ehe es seinen eigentlichen Charakter enthüllt und ehe man weiß, was es wirklich wert ist«, pflegte Selina zu 238
bemerken und fuhr fort: »Es geht ihm so wie den meisten Menschen auch. Mir ist mein alter Ahorntisch, den Pervus' Vater selbst vor siebzig Jahren zusammengeleimt hat und der vom vielen Scheuern und vom täglichen Gebrauch schon recht mitgenommen ist, immer noch lieber als die ganze Mahagonieinrichtung in der Wabash-Allee.« Sie fand an diesen gelegentlichen kleinen Ausflügen nach der Stadt ein beinahe kindliches Vergnügen. Dirk lud sie ins Theater ein, und sie war hingerissen, genau wie damals, als sie neben ihrem Vater im Parkett gesessen hatte. Da ihr eigenes Leben, wenigstens nach Ansicht anderer Leute, so unromantisch und ereignislos verlief, hätte sie eigentlich gern ins Kino gehen müssen. Aber sie hatte eine entschiedene Abneigung dagegen. »Die aufwühlenden Eindrücke, die ich aus dem Theater mitnehme, und das, was ich im Kino sehe, sind für mich überhaupt nicht zu vergleichen. Es ist genauso, als spielte man mit albernen Papierpuppen statt mit einem richtigen lebendigen Baby.« Allmählich gewöhnte sie es sich immer mehr an, die abgelegensten Ecken und Winkel der riesigen Stadt aufzusuchen, und wirklich schien sie jedesmal ein neues Wunder zu entdecken. Schon nach kurzer Zeit kannte sie Chikago besser als Dirk - besser sogar als der alte August Hempel, der doch ein halbes Jahrhundert dort gelebt hatte. Freilich war er die vielen Jahre hindurch auch nur zwischen seinem Haus und den Viehhöfen hin- und hergependelt. Alles was ihr an Chikago besonders aufregend und schön erschien, war für Dirk offensichtlich nicht interessant. Manchmal nahm sie auf ein oder zwei Tage in Dirks Pension ein leerstehendes Zimmer. »Was glaubst 239
du wohl«, rief sie ihm eines Tages ganz außer Atem entgegen, als er abends aus dem Büro nach Hause kam. »Ich bin ganz weit drüben im Nordwestviertel gewesen. Das ist ja eine andere Welt! Das ist Polen! Da gibt es Kathedralen und Läden und Männer, die den ganzen Tag in den Gastwirtschaften sitzen und lesen, Kaffee trinken und Domino spielen. Und was glaubst du wohl, was ich erfahren habe? Chikago hat die zweitgrößte polnische Bevölkerung von allen Städten der Welt, Dirk!« - »Tatsächlich?« antwortete Dirk zerstreut. Aber als er an diesem Nachmittag mit seiner Mutter telefonierte, war er ganz bei der Sache. »Bist du wirk lich nicht traurig, wenn ich dieses Mal nicht komme? Ich komme dann bestimmt am nächsten Sonnabend. Oder auch schon früher, mitten in der Woche, und bleibe über Nacht. Geht es dir gut?« »Ausgezeichnet . . . Sieh dir Paulas neues Haus genau an, daß du es mir beschreiben kannst. Julia hat mir er zählt, es sei so, wie es in Romanen geschildert wird. Der alte Hempel sei nur einmal draußen gewesen und nicht mit zehn Pferden wieder hinzubringen, selbst nicht, um seine Enkelkinder zu besuchen.« Für einen Märztag war es recht warm. Der Frühling, der in dieser Gegend gewöhnlich so spröde ist, hatte sich dieses Mal nicht lange bitten lassen. Als die schwere Drehtür Dirk ins Freie beförderte, sah er Paula in ihrem niedrigen Rennwagen dicht am Bürgersteig halten. Sie war von Kopf bis Fuß in tiefes Schwarz gekleidet. Jede Frau der eleganten und mittleren Chikagoer Kreise trug Schwarz. Jede Frau der eleganten und mittleren Kreise in ganz Amerika trug Schwarz. Die zwei Kriegs jahre hatten den Frauen in Paris ihre Gatten, Brüder und Söhne entrissen, und ganz Paris ging in Schwarz. 240
Amerika, das gänzlich unberührt geblieben war, borgte sich erfreut die elegante Trauerkleidung mit dem Erfolg, daß der ganze Michigan-Boulevard und das ganze vornehme Nordviertel sich in schwarze Seide und schwarzen Chiffon hüllten; man trug schwarze Hüte, schwarze Handschuhe und kokette schwarze Lackschuhe. Nur Schwarz war in diesem Jahre schick. Paula stand Schwarz nicht gut. Sie war eine Spur zu bleich für so dunkle Farben, obwohl sie den düsteren Eindruck durch eine Perlenkette von erlesener Form und Farbe und durch einen neuen unsichtbaren Gesichtspuder aufzuheben versuchte. Sie lächelte Dirk zu und wies einladend auf den Ledersitz zu ihrer Linken mit einer Hand, die in einem unförmig dicken Pelzhand schuh steckte. »Es ist kalt beim Fahren. Knöpfe deinen Mantel fest zu. Wo sollen wir deinen Koffer abholen? Wohnst du noch in deiner alten Pension?« Er wohnte noch dort. Er kletterte in den Sitz neben ihr. Für junge schlanke Menschen war das ein Vergnügen — Theodor Storni mit seinem stattlichen Umfang versuchte es gar nicht erst, sich wie ein Taschenmesser zusammenzuklappen, um neben seiner Frau im Auto Platz zu fin den. Bei diesem Modell kam es nur auf Schnelligkeit und nicht auf Bequemlichkeit an. Man saß sehr flach und ungefähr in einer Linie mit seinen ausgestreckten Beinen. Paulas Füße, die Bremse und Kupplung bedienten, steckten in schwarzen Seidenstrümpfen und schmalen Lacklederschuhen mit Schnallen. »Du bist nicht warm genug angezogen«, hätte ihr Mann gesagt, nicht ganz mit Unrecht. »SolcheSchuhe sind fürs Auto Wahnsinn.« Dirk sagte nichts. 241
Es grenzte an Zauberei, wie sie mit dem Lenkrad umging. Das Auto glitt durch die dichtbelebten Straßen, als wäre es überhaupt kein fester Körper, geräuschlos wie ein Vogel in der Luft. »Ich kann hier noch nicht Gas geben«, sagte Paula. »Warte, bis wir hinter dem Lincoln-Park sind.« Als sie vor seinem Haus hielten, erklärte sie: »Ich komme mit hinauf. Tee kann man wohl nicht bei dir trinken?« »Lieber Himmel, nein! Für was hältst du mich? Für einen jungen Mann aus einem englischen Roman?« »Na, sei mal nicht so kleinstädtisch und spießig, mein lieber Junge.« Sie stiegen zusammen in die dritte Etage hinauf. Sie sah sich um und nickte befriedigt. »Das ist gar nicht übel. Wer hat es eingerichtet? Sie natürlich. Sehr hübsch. Aber eigentlich müßtest du ein kleines Appartement für dich haben und einen japanischen Diener, der für dich sorgt. Das z. B. wäre schon eine Arbeit für ihn.« »Warum nicht?« sagte er grimmig. Er packte seinen Koffer und warf nicht etwa die Kleider unordentlich hinein, sondern faltete sie geschickt zusammen, so wie der Sohn einer praktischen Mutter packt. »Mein Gehalt würde gerade für seine weißen Leinenjacken reichen.« Sie ging im Zimmer auf und ab, ergriff ein Buch, legte es wieder hin, nahm eine Aschenschale in die Hand, sah zum Fenster hinaus, betrachtete eine Photographie und rauchte eine Zigarette aus der Schachtel auf seinem Tisch. Ruhelos und von einer nervösen Lebhaftigkeit, wie sie immer war. »Ich werde dir ein paar Sachen für dein Zimmer schicken, Dirk.« »Um Gottes willen nicht!« »Warum nicht?« 242
»Es gibt zwei Arten von Frauen auf der Welt, soviel weiß ich noch von der Universität her. Die einen wollen einem durchaus immer etwas schenken, und die ändern lassen es glücklicherweise bleiben.« »Jetzt bist du grob, Dirk.« »Du hast es ja wissen wollen. Da! Ich bin fertig.« Er schloß den Koffer zu. »Leider habe ich dir gar nichts anzubieten. Ich habe nichts da! Nicht mal ein Glas Wein und — wie heißt es immer in Büchern? — ah, richtig: ein Biskuit.« Sie nahmen wieder im Auto Platz und glitten rasch auf der Fahrstraße dahin, bogen in die Sheridanstraße ein und nahmen haarscharf die lebensgefährliche Kurve vor Evanston. Bald lagen die sauberen kleinen Vor städte Wilmette und Winnetka hinter ihnen, wo sich der Mittelstand Chikagos niedergelassen hatte. Auch die nervenaufreibenden Kurven der Hubbard-Woods-Berge meisterte Paula mit ruhiger Sicherheit. Den Rest des Weges legte sie in einem stetigen Siebzigkilometertempo zurück. »Unsere Besitzung heißt Sturmwald«, erklärte Paula. »Und niemand außer der lieben Familie ahnt, wie gut der Name paßt. Mach kein so finsteres Gesicht. Ich werde dir nichts über meine unglückliche Ehe erzählen. Und sage nicht, daß ich es so gewollt hätte . . . Wie geht's im Büro?« »Trostlos.« »Macht es dir keinen Spaß? Ich meine die Arbeit dort?« »Die Arbeit gefällt mir wohl, nur . . . ja, siehst du, wir kommen von der Universität und bilden uns ein, wir wären künftige Stanford Whites oder Cass Gilberts und bauten gleich einen Woolworth-Wolkenkratzer und 243
würden über Nacht berühmt. Aber gestern und heute habe ich z. B. nichts anderes getan als ausgerechnet, wie man in dem neuen sechsstöckigen Bürohaus, das an der Ecke der Milwaukee-Straße entstehen soll, Raum für Toiletten gewinnt.« »Und in zehn Jahren?« »In zehn Jahren darf ich vielleicht den ganzen Kasten allein entwerfen.« »Warum läßt du es dann nicht sein?« Er starrte sie verwundert an. »Wie meinst du das?« »Wirf das Ganze hin. Tue etwas, was dich schneller zum Ziel führt. Heutzutage kann man nicht lange warten. Was hast du denn davon, wenn du in zwanzig Jahren wirklich ein großartiges gotisches Bürohaus entwirfst und damit den neuen herrlichen Michigan-Boulevard beglückst, von dem sie soviel Geschrei machen? Bis dahin bist du ein Mann mittleren Alters, wohnst in einem mittelmäßigen Haus in einer mittelmäßigen Vorstadt und hast eine mittelmäßige Frau.« »Kann sein .. .« leicht verärgert. »Vielleicht bin ich aber auch der Sir Christopher Wren von Chikago.« »Wer ist denn das?« »O du lieber ... Wie oft bist du in London gewesen?« »Dreimal.« »Wenn du das nächste Mal dort bist, dann wirf doch mal einen Blick auf ein hübsches kleines Bauwerk mit Namen St.-Pauls-Kathedrale. Ich habe sie selber nie gesehen, aber desto mehr davon gehört.« Sie fuhren durch das große offene Tor, hinter dem der Stormsche Besitz begann. Obwohl Büsche und Bäume noch vollständig kahl waren, leuchtete am Boden schon hier und da frisches grünes Gras. Bisweilen sah man im Zwielicht den See durch die Büsche schimmern. Gerade 244
ging die Sonne unter. Der Himmel funkelte durchdringend saphirblau in der Dämmerung. Noch einmal bogen sie um die Ecke. Dann nahm sie eine Allee mit mächtigen Bäumen auf. Ein massiges Haus mit Pfeilern und einer Säulenhalle kam schnell näher. Die Tür sprang auf, als sie vor dem Eingang hielten. Ein Mädchen in weißer Schürze und Haube erschien auf der Schwelle. Neben dem Auto stand plötzlich wie aus dem Boden gewachsen ein Diener, der Paula ehrerbietig grüßte und den Wagen übernahm. In der Halle flakkerte ihnen einladend das Kaminfeuer entgegen. »Der Diener wird deinen Koffer hinaufbringen«, sagte Paula. »Was machen die Kinder, Anna? Ist Herr Storni schon hier?« »Er hat angerufen, Frau Storm. Er könne erst spät herauskommen, um zehn oder noch später. Sie möchten nicht mit dem Abendessen auf ihn warten.« Jetzt erinnerte nichts mehr an die knabenhafte Frau, die waghalsig und furchtlos ihr Auto gesteuert hatte. Jetzt war sie ganz Dame des Hauses, sorgte aufmerksam für ihren Gast und wies die Dienstboten mit einem Wink ihrer Augen oder einer leichten Kopfbewegung an. Möchte Dirk gleich in sein Zimmer gehen? Oder besuchte er lieber die Kinder, ehe sie ins Bett gebracht würden? Vorausgesetzt, daß das Kinderfräulein ihn nicht gleich hinauswürfe. Das Abendessen sei um sieben Uhr. Er brauche sich nicht umzuziehen. Aber ganz wie er wolle. Es gehe bei ihnen ganz einfach und ländlich zu. (Dirk zählte bis zum nächsten Morgen dreizehn Dienstboten und war doch weder in die Küche noch ins Waschhaus noch in die Molkerei gekommen.) Sein Zimmer fand er grauenhaft; ein viereckiger Raum mit schmalen, niedrigen Fenstern, die nach Art mittel
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alterlicher Butzenscheiben mit Blei eingefaßt waren. Durch das eine konnte er eben noch einen Schimmer vom See erwischen - aber nur einen Schimmer. Offen sichtlich lagen die Schlafzimmer der Familie zum See hinaus. Dirk war es von Hause her nicht anders gewöhnt, als daß man den Gästen die schönsten Zimmer anwies; bei den reichen Leuten aber war es anscheinend so, daß die Familie es ihren Gästen zwar behaglich machte, aber doch die eigene Bequemlichkeit voran stellte. Das war für ihn eine neue Erfahrung. Er fand es befremdend, aber im Grunde ganz vernünftig. Sein Koffer war schon ausgepackt worden, ehe er heraufkam. Er fand seine Sachen sorgfältig in Wandschränke eingeräumt vor. Das muß ich Mutter erzählen! beschloß er erheitert. Er sah sich prüfend im Zimmer um. Die Einrichtung schien französischen Stils zu sein. Sie erweckte in ihm die Vorstellung, aus Versehen in das Zimmer einer Madame Recamier geraten zu sein. Rosa Brokat mit goldfarbenem Tüll, Cremespitzen und Rosenknospen. Ein Boudoir für einen Mann, dachte er und stieß mit dem Fuß gegen ein zierliches Schemelchen. Spiegel bis an die Decke, silberfarbene Seidenvorhänge, cremefarbene Wände. Das Bett hatte einen Himmel aus lauter Spitzen, die Steppdecke war aus rosa Seide und feder leicht. Er untersuchte auch das nebenan liegende Badezimmer. Es war wirklich ein Zimmer, viel größer als sein Schlaferker und mindestens ebenso geräumig wie sein Schlafzimmer zu Hause auf der Farm. Die Wände waren blitzblank weiß und blau gekachelt. Die Wanne war ungeheuer groß und so solide, als ob das Haus darum herum gebaut worden wäre. Es gab Handtücher über Handtücher in Blau und Weiß in allen Größen, 246
von winzigen bestickten Läppchen bis zu molligen Badetüchern von Teppichgröße. Dirk war sehr beeindruckt. Er machte sich bereit, ein Bad zu nehmen, und zog sich dann doch zum Essen um. Als ihm Paula unten in dem strahlend hellen Zimmer, das sie die Bibilothek genannt hatte, in schwarzem Chiffon gegenübertrat, war er froh, seinen Smoking angezogen zu haben. Dirk fand sie außerordentlich schön in dem durchsichtigen Kleid mit der Perlenschnur um den Hals. In dem herzförmig geschnittenen Gesicht brannten die großen dunklen, etwas schrägstehenden Augen verführerischer denn je; weiß und untadelig stieg der schmale Nacken aus dem duftigen schwarzen Stoff. Ihr dunkles Haar trug sie nach oben eingeschlagen, so daß die kleinen Ohren frei blieben. Dirk beschloß, nichts von alledem zu erwähnen. »Du siehst außerordentlich gefährlich aus«, sagte sie. »Bin ich auch«, erklärte Dirk, »aber ich habe bloß Hunger, und dann sieht mein sonst so sanftes Gesicht immer wild aus. Also warum nennst du dieses Zimmer Bibliothek?« Leere Bücherregale gähnten einem von allen Wänden entgegen. Der Raum war für Hunderte von Büchern gedacht. Kaum fünfzig oder sechzig standen ängstlich aneinandergelehnt in den Fächern oder lagen hilflos auf dem Rücken. Paula lachte. »Sie sind etwas spärlich vertreten, nicht? Theodor hat die ganze Besitzung gekauft, wie sie lag und stand. Drinnen in der Stadt haben wir natürlich genug Bücher. Aber hier draußen komme ich gar nicht zum Lesen. Und Theodor! - Ich glaube, er hat außer Kriminalgeschichten und Zeitungen in seinem ganzen Leben noch nichts gelesen.« Dirk sagte sich, Paula habe genau gewußt, daß ihr 247
Mann nicht vor zehn Uhr kommen würde und es mit Absicht so eingerichtet, daß sie beide beim Essen allein wären. Und er war, ohne es sich einzugestehen, leicht enttäuscht, als Paula sagte: »Ich habe Emerys zum Essen eingeladen. Später wollen wir alle zusammen noch Bridge spielen. Du weißt doch, wer Philipp Emery der Dritte ist? So steht es auf seiner Visitenkarte, als wäre er ein König!« Emerys waren Kaufleute; seit sechzig Jahren handelten sie mit Kurzwaren und zählten längst zu Chikagos Geldaristokratie. Sie hatten eine ausgesprochene Vor liebe für alles Englische und ritten Treibjagden in roten Röcken auf den biederen Wiesen nördlich und östlich von Chikago, die sich so etwas nicht hätten träumen lassen. Ihr Landgut lag am See nicht weit von Sturm wald. Sie trafen mit einiger Verspätung ein. Dirk hatte den alten Philipp Emery auf Bildern gese hen (Philipp den Ersten, dachte er belustigt) und stellte angesichts der recht bleichsüchtigen dritten Ausgabe fest, daß das erlauchte Blut der Emerys entschieden einer Auffrischung bedürfe. Frau Emery war blond, steif und vollständig reizlos. Paula glühte neben ihr wie ein düsterer Edelstein. Das Essen war vorzüglich, aber überraschend einfach; Selina würde ihm kaum weniger vorgesetzt haben, wenn er heute abend bei ihr gegessen hätte. Die Unterhaltung war oberflächlich und ziemlich langweilig. Und dieser Mann ihm gegenüber hatte Millionen, sagte sich Dirk. Millionen! Der brauchte sich nicht in einem Architektenbüro herumzu drücken. Frau Emery interessierte sich lebhaft für die korrekte Aussprache der Straßennamen in Chikago. »Es ist skandalös«, sagte sie. »Man sollte sich wirklich zusammentun und dafür sorgen, daß die Straßennamen 248
richtig ausgesprochen werden. Man müßte es den Leu ten beibringen und den Kindern in der Schule. Sie sagen >Gerty< für Goethestraße und sprechen in >Des Plaines< alle s aus. Nicht einmal Illinois können sie richtig aussprechen.« Sie nahm diese Frage sehr ernst. Ihr Busen hob und senkte sich stürmisch. Hastig aß sie ihren Salat. Dirk fand, daß sich üppige Blondinen besser nicht aufregen sollten. Sie bekamen zu leicht einen roten Kopf dabei. Nach Tisch spielten sie Bridge. Philipp der Dritte erwies sich als würdiger Sohn seines tüchtigen Vaters und gewann Dirk mehr Geld ab, als dieser sich eigentlich leisten konnte zu verlieren. Dazu trug Frau Emery als Dirks Partnerin redlich das Ihre bei. Paula spielte mit Emery gerissen und waghalsig. Theodor Storni kam um zehn Uhr herein und sah ihnen zu. Als die Gäste fort waren, saßen sie zu dritt vorm Kamin. »Möchen Sie etwas trinken?« wandte sich Storm an Dirk. Dirk dankte, aber Storni mischte sich einen starken Whisky-Soda und trank gleich noch einen zweiten hinterher. Der Alkohol machte sein unbewegliches weißes Gesicht um keine Spur röter. Er sprach so gut wie nichts. Dirk in seiner angeborenen Schweigsamkeit wirkte neben ihm geradezu gesprächig. Aber während Dirks Schweigen nichts Bedrückendes oder Unnatürliches hatte, war Storms Wortkargheit nervenaufreizend. Sein Wanst, seine großen weißen Hände, sein großes weißes Gesicht wirkten so, als säße man einer ausgebleichten, leblosen Fleischmasse gegenüber. Ich verstehe nicht, wie sie es mit ihm aushält, dachte Dirk. Mann und Frau schienen auf der Basis höflicher Freundlichkeit miteinander zu verkehren. 249
Storm zog sich bald zurück und entschuldigte sich mit Müdigkeit. Man werde sich ja noch morgen sehen. Als er fort war, sagte Paula: »Er hat dich gern.« »Sehr wichtig«, bemerkte Dirk, »wenn es überhaupt stimmt.« »Es ist wichtig. Er kann dir eine Menge helfen.« »Mir helfen? Ich will nicht —« »Aber ich. Ich will, daß du vorwärtskommst, ich will es! Und du kannst es auch. Das merkt man auf den ersten Blick, an der Art und Weise, wie du dich bewegst, wie du sprichst oder nicht sprichst. Wie du die Leute ansiehst. Ich glaube, man nennt das Elan. Jedenfalls hast du es.« »Hat es dein Mann?« »Theodor! Nein. Das heißt -« »Das wollte ich nur wissen. Ich habe den Elan, aber er hat das Geld.« »Du kannst beides haben.« Sie beugte sich vor. Ihre großen Augen leuchteten in der halben Dämmerung. Die Hände - diese schmalen, nervösen Hände - lagen ineinandergeschlungen in ihrem Schoß. Er sah sie ruhig an. Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Sieh mich nicht so an, Dirk.« Sie lehnte sich fröstelnd in ihren Stuhl zurück und sah plötzlich elend und gealtert aus. »Natürlich ist meine Heirat ein Fehlschlag. Das sieht ein Blinder.« »Du hast es ja vorher gewußt, oder nicht?« »Nein. Ja. Oh - was weiß ich! Was hilft das auch jetzt? - Ich will nicht in dein Leben eingreifen, Dirk. Ich habe dich einfach gern - das weißt du ja -, und ich möchte dich groß und erfolgreich sehen. Es ist wahrscheinlich eine mütterliche Regung.« 250
»Wozu hast du eigentlich zwei Kinder? Genügt das nicht für deinen Muttertrieb?« »Oh, ich kann nicht außer mir geraten über zwei gesunde, rosige Babys. Ich habe sie natürlich lieb, aber sie brauchen ja nichts weiter, als daß man ihnen von Zeit zu Zeit eine Flasche in den Mund steckt, daß man sie badet, anzieht, an die Luft führt und schlafen legt. Dazu gehört weiter nichts als eine gewisse Routine. Ich kann mich nun mal nicht als begeisterte Babymutter aufspielen und den ganzen Tag um zwei niedliche kleine Fleischklümpchen herumlaufen.« »Was hast du eigentlich mit mir vor, Paula?« Sie wurde lebhaft und zeigte, wieviel Anteil sie an ihm nahm. »Es ist alles so lächerlich. Alle die Männer mit ihren dreißig-, vierzig-, sechzig- oder hunderttausend Dollar Einkommen haben im Grunde nicht mehr Fähigkeiten als die anderen auch, die es nicht über fünftausend bringen. Der Arzt, der Theodor nach der Geburt jedes meiner Kinder eine Rechnung über tausend Dollar schickte, hat im Grunde nicht mehr geleistet, als es jeder einfache Landarzt an seiner Stelle auch getan haben würde. Aber er wußte, was er bekommen konnte, und forderte es. Irgend jemand muß eben die Fünfzigtausend-Dollar-Gehälter bekommen, irgendein Reklamechef oder Bankfachmann. Du brauchst nur an Philipp Emery zu denken. Wahrscheinlich könnte er einem Schulmädchen keinen Meter rosa Seidenband richtig verkaufen, wenn man's von ihm verlangte. Oder sieh Theodor an! Er sitzt da und blinzelt und sagt kein Wort. Aber wenn der richtige Zeitpunkt da ist, ballt er seine fetten weißen Hände und murmelt: >Zehn Millio nen oder >Fünfzehn Millionen<, und schon hat er sie.« 251
Dirk lachte, um die Erregung zu verbergen, die in ihm aufstieg. »So einfach ist es wahrscheinlich nicht. Es gehört mehr dazu, als der Außenstehende sieht.« »Ach was! Ich kenne doch die ganze Gesellschaft! Schließlich bin ich nicht umsonst zwischen lauter Geldsäcken aufgewachsen, nicht wahr? Zwischen Konservenfabrikanten, Produzenten von Gas und elektrischem Licht, Schweinefleisch-, Weizen- und Kurzwaren händlern. Mein Großvater ist von der ganzen Bande der einzige, der mir wirklich imponiert. Er ist derselbe geblieben, der er immer war. Er läßt sich nichts weismachen. Er weiß, daß er genau den richtigen Zeitpunkt erwischte, um in den Großhandel mit Schweine- und Rindfleisch einzusteigen - nämlich als dieser Handel noch ein neues und gewinnbringendes Spiel in Chikago war. Und sieh ihn dir heute an!« »Immerhin muß man mindestens wissen, wann der richtige Zeitpunkt ist, das wirst du zugeben«, widersprach er. Paula stand auf. »Wenn du's nicht selber weißt, so will ich es dir sagen. Gerade jetzt ist der richtige Zeitpunkt! Ich habe deinetwegen mit Großpapa und Vater und Theodor gesprochen. Wenn du durchaus Architekt bleiben willst, so mußt du's eben tun. Es ist an sich kein unebener Beruf. Aber du müßtest schon ein Genie sein, wenn du es darin zu etwas bringen willst. Tu dich mit ihnen zusammen, Dirk, und in fünf Jahren ...« »Was meinst du?« Jetzt standen sie beide und sahen sich an, sie straff und gespannt, er gelassen, aber im Innern nicht so kühl, wie er sich den Anschein gab. »Versuche es, und du wirst es selber sehen. Willst du, Dirk?« 252
»Ich weiß es nicht, Paula. Ich glaube fast, meine Mutter würde nicht viel davon halten.« »Was versteht sie schon davon! Oh, ich will nichts gegen deine Mutter sagen. Sie ist eine prachtvolle Frau. Und ich hänge sehr an ihr. Aber von Erfolgen versteht sie nichts. Sie versteht darunter ein neues Spargel- oder Kohlfeld oder einen neuen Küchenherd. Und dabei habt ihr sogar Gas in High Prairie.« Unbestimmt empfand Dirk, wie sehr er in ihrer Macht war, daß sie ihn ganz in ihren herrschsüchtigen schma len Händen hatte, obwohl sie sich fast fremd gegenüberstanden und sich mit beinahe feindseligen Blicken maßen. Als er sich an diesem Abend in seinem rosaseidenen Gemach auskleidete, dachte er: Was hat sie mit dir vor? Nimm dich in acht, alter Junge! Gleich nach seinem Eintritt ins Zimmer aber war er vor den hohen Spiegel getreten und hatte sich sorgfältig von Kopf bis Fuß gemustert, ohne zu ahnen, daß Paula in ihrem eigenen Zimmer genau das gleiche tat. Er fuhr mit der Hand über sein scharf rasiertes Kinn und betrachtete prüfend den Sitz seines Smokings. Er hätte ihn vielleicht doch lieber bei Peter Peel, dem englischen Schneider am Michigan-Boulevard, machen lassen sollen. Aber Peel war so unverschämt teuer. Na, vielleicht das nächste Mal... Er lag in dem weichen Himmelbett, unter der rosaseidenen Daunendecke. Und wieder ging es ihm durch den Kopf: Was mag sie mit mir vorhaben? Er erwachte am folgenden Morgen um acht mit einem Bärenhunger. Es war ihm nicht recht klar, wie er zu seinem Frühstück kommen sollte. Sie hatte gesagt, daß man es ihm auf sein Zimmer bringen werde. Er dehnte 253
sich behaglich, sprang aus dem Bett, ließ Wasser in die Wanne und badete. Als er nach einer knappen Viertelstunde in Pyjama und Morgenschuhen wieder zum Vorschein kam, hatten unsichtbare Hände das Frühstücks brett hereingebracht und einen fahrbaren kleinen Tisch appetitlich für ihn gedeckt. Ein Satz kleiner überdeckter Schüsseln und ein reizendes originelles Kaffeeservice warteten auf ihn. Ebenso die Morgenzeitung. Auf seinem Teller lagen ein paar Zeilen von Paula: »Gehst Du um halb neun ein Stück mit mir spazieren? Komm doch, wenn Du fertig bist, in die Ställe. Ich möchte Dir mein neues Pferd zeigen.« Der Weg vom Haus bis zu den Ställen war schon ein hübscher kleiner Spaziergang. Paula, im Reitkostüm, wartete auf ihn. Jung und knabenhaft stand sie neben dem stämmigen Pat, dem ersten Stallknecht. Sie trug Reithosen aus braunem Whipcord, eine Jacke aus dunklerem Stoff und einen kleinen runden Filzhut mit aufgebogener Krempe. Sie gab ihm die Hand. »Ich bin schon seit zwei Stunden draußen, habe einen Morgenritt gemacht.« »Ich hasse es, wenn einem die Leute gleich morgens erzählen, daß sie schon zwei Stunden auf sind.« »Wenn du so gute Laune hast, dann wollen wir dir das Pferd lieber gar nicht zeigen, was, Pat?« Pat war nicht so hartherzig. Er zeigte Dirk die neue Stute so stolz und zärtlich, wie eine Mutter ihr jüngstes Kind vorführt. »Sehen Sie sich den Rücken an«, sagte Pat. »Danach können Sie ein Pferd am besten beurteilen. Nach der Rückenlänge. Ja, da staunen Sie, Herr! Das ist ein Bild von einem Pferd.« 254
Paula sah Dirk an. »Reitest du nicht auch?« »Früher bin ich ohne Sattel auf unseren alten Kleppern geritten.« »Du mußt es unbedingt lernen. Wir wollen es ihm beibringen, was, Pat?« Pat musterte prüfend Dirks schmale, biegsame Gestalt. »Das ist kein Kunststück.« »Na, na«, protestierte Dirk. »Dann habe ich wenigstens jemanden, der mit mir reitet. Theodor ist auf kein Pferd zu bringen. Sport ist überhaupt nichts für ihn. Er sitzt nur ständig in seinem großen fetten Automobil.« Sie gingen in den Wagenschuppen, ein großes, luftiges Gebäude mit weiß gestrichenen Wänden. Überall hingen schimmernde Pferdegeschirre und silberne Sporen an den Wänden. Daneben in einem Gestell rote, gelbe und blaue Pokale, Bänder und Siegestrophäen. Dieser Schuppen hatte für Dirk beinahe etwas Entmutigendes. Nie im Leben hatte er etwas Ähnliches gesehen. Schon daß kein einziges Auto darin stand, war für ihn befremdend. Er hatte vergessen, daß man auch anders als im Auto fahren konnte. Ein Pferd auf Chikagos Boule vards hätte zum Lachen gereizt. Und eine elegante Equipage mit zwei feurigen Rappen davor hätte auf der Michigan-Allee wahrscheinlich ebensoviel Aufsehen erregt wie ein von zwei Zebras gezogener römischer Siegeswagen. Hier aber stand eine solche Equipage, an der alles blitzte und blinkte. Daneben ein cremefarbiger eleganter Jagdwagen mit fransenbehangenem Dach. Und leichte zweirädrige schnittige Dogcarts. Ein Coupee. Zwei Ponywagen. Beim Anblick dieses Raumes hätte man glauben können, daß es noch keine Autos auf der Welt gäbe. All die
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vielen eleganten Gefährte aber waren nichts gegen ei nen hochmütigen Vierspänner, der alles in den Schatten stellte, was Dirk bisher gesehen hatte. Er war vollstän dig gebrauchsfertig, die Kissen tadellos, die Seiten spiegelblank. Das Trittbrett glitzerte. Dirk sah ihn an und lachte gerade heraus. Das war zu prächtig, es war absurd! Übermütig wie ein Schuljunge kletterte er die drei Stufen hinauf und setzte sich in die rehfarbenen Kissen. Er machte sich recht hübsch darin. »Ein Viererzug - heißt es nicht so? Gibt es vielleicht noch mehr Überraschungen bei dir?« »Möchtest du ihn mal fahren?« fragte Paula. »Heute nachmittag? Traust du es dir zu? Bedenke, vier Pferde!« Sie lachte zu ihm hinauf und wandte ihm ihr dunkles Gesicht zu. Dirk sah auf sie hinab. »Nein.« Er kletterte herunter. »Ich glaube, als man hier viere lang fuhr, schaffte mein Vater auf seinem alten Karren sein Gemüse zum Heu markt.« Er mußte sich über irgend etwas geärgert haben. Ob er warten wolle, bis sie sich zum Spaziergang umgezogen habe? Oder wollte er lieber in ihrem Wagen fahren? Sie gingen zusammen ins Haus. Ihm wäre es lieber ge wesen, wenn sie ihn nicht so eindringlich nach seinen Wünschen gefragt hätte. Es machte ihn mißmutig und ungeduldig. Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Dirk, hast du mir übelgenommen, was ich dir gestern abend gesagt habe?« »Nein.« »Was hast du gedacht, als du auf dein Zimmer gingst? Sag mir's. Was hast du gedacht?« »Ich dachte: Sie kann ihren Mann nicht ausstehen und 256
wirft ihre Netze nach mir aus; ich werde mich in acht
nehmen müssen.«
Paula lachte entzückt.
»Du bist wenigstens ehrlich ... Und was hast du noch
gedacht?«
»Daß mein Smoking nicht besonders gut sitzt und daß
ich mir gern meinen nächsten bei Peel machen lassen
würde, wenn ich mir's leisten könnte.«
»Du kannst es«, sagte Paula.
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Es erwies sich, daß Dirk für die nächsten anderthalb Jahre der Sorge um den Sitz seines neuen Smokings enthoben war. Während dieser Zeit trug er nämlich einen einfachen olivgrünen Rock wie Millionen seiner Altersgenossen. Er sah sehr gut darin aus und trug ihn mit der selbstverständlichen Sicherheit eines jungen Mannes, der weiß, daß er breite Schultern, eine schlanke Taille, schmale Hüften und gerade Beine hat. Fast die ganze Zeit über war er auf Fort Sheridan, zunächst als Offiziersanwärter und später als ausbildender Offizier. Er eignete sich ausgezeichnet für dieses Amt. Gewisse einflußreiche Personen hatten ihn dahin versetzt und hielten ihn dort fest, obwohl er selber lieber an die Front gegangen wäre. Fort Sheridan liegt nicht weit von Chikago entfernt. Und keine elegante Abendgesellschaft im vornehmen Nordviertel wäre jetzt ohne mindestens einen Major, einen Oberst, zwei Hauptleute und ein paar neugebak 257
kene Leutnants denkbar gewesen. Ihre hohen Lackstiefel glänzten zu verführerisch im Ballsaal. Während der letzten sechs Kriegsmonate (natürlich wußte er nicht, daß es die letzten waren) gab Dirk sich verzweifelte Mühe, nach Frankreich zu kommen. Er hatte plötzlich das Soldatenspielen zu Hause gründlich satt, ebenso die Abendgesellschaften und das olivgrüne Auto, das ihm jede Minute zur Verfügung stand, seit er Hauptmann geworden war; es machte ihm keinen Spaß mehr, den vielen jungen Damen die Köpfe zu verdrehen, und schließlich war er auch Paulas und selbst seiner Mutter überdrüssig. Zwischen ihm und Selina war der erste Riß entstanden. »Wenn ich ein Mann wäre«, sagte Selina, »so könnte ich mich nur auf zwei Arten zu diesem Krieg stellen. Entweder machte ich ihn mit, etwa so, wie unser alter Jan einen Misthaufen umschichtet, weil die schmutzige Arbeit nun einmal erledigt werden muß, oder ich würde überhaupt nichts damit zu tun haben wollen, weil ich nicht aus Überzeugung dabei sein könnte. Ich würde kämpfen oder jeden Kriegsdienst aus Überzeugung verweigern. Eine andere Stellungnahme gibt es nicht für einen Mann, es sei denn, er wäre alt, krank oder verwundet.« Paula war sprachlos, als sie das hörte. Ebenso Julia, die laut gejammert hatte, als Eugen bei den Fliegern eingetreten war. »Wollen Sie wirklich, daß Dirk hinübergeht und dort verwundet oder totgeschossen wird?« fragte Paula. »Nein. Wenn Dirk totgeschossen würde, so wäre auch mein Leben zu Ende. Ich würde vielleicht nicht daran sterben, aber mit dem Leben hätte ich für alle Zeiten abgeschlossen.« Jedermann half, so gut er konnte. 258
Selina hatte lange überlegt, wo für sie in diesem Kriegs wirrwarr das geeignetste Arbeitsfeld wäre. Am liebsten wäre sie nach Frankreich in ein Lazarett gegangen. Aber das wäre ihrer Ansicht nach zu selbstsüchtig gewesen. »Meine Aufgabe ist es«, sagte sie, »so schnell wie mög lich Gemüse und Schweine zu ziehen.« Sie lieferte umsonst Nahrungsmittel an zahllose Familien, deren Männer im Felde waren. Und sie arbeitete selber wie ein Mann an Stelle ihres Knechtes, der eingezogen worden war. Paula stand die Rote-Kreuz-Uniform entzückend. Sie überredete Dirk, sich an der Kriegsanleihepropaganda zu beteiligen. Dank seines ruhigen, sicheren Auftretens hatte er überraschende Erfolge. Und seine Uniform tat das Ihrige. Paula hatte nun ganz von ihm Besitz ergriffen; sie spielte nicht mehr - sie liebte ihn tief und leidenschaftlich. Als Dirk 1918 die Uniform auszog, trat er in eine große Kreditgesellschaft ein, an der Theodor Storni maßgebend beteiligt war. Als Grund für seinen Berufswechsel gab er an, daß ihm der Krieg seine Illusionen geraubt habe. Viele führten das als Grund oder Entschuldigung an, wenn sie vom normalen Weg ab wichen. »Was hast du eigentlich vom Krieg erwartet?« sagte Selina. »Eine allgemeine große Reinigung? Das ist noch nie der Fall gewesen.« Es verstand sich von selbst - so dachte wenigstens Selina -, daß Dirk nur vorübergehend seinen eigentlichen Beruf aufgab. Sonst zog sie so schnell ihre Schlüsse aus allen Ereignissen; dieses Mal aber merkte sie viel zu spät, daß ihr Sohn niemals im Leben Häuser bauen 259
würde und daß die schönen Gebäude, von denen sie geträumt hatte, Luftschlösser waren und bleiben würden. Die ersten beiden Monate seiner neuen Tätigkeit brachten ihm mehr ein, als er früher bei Hollis & Sprague in einem ganzen Jahre verdient hatte. Als er das Selina triumphierend erzählte, sagte sie: »Ja, aber das kann dir doch unmöglich Spaß machen, solche Papiere zu verkaufen? Bauen, das muß herrlich sein. Beinahe genauso schön, wie ein Drama zu schreiben und es auf geführt zu sehen ... die Gestalten der Phantasie lebendig mit eigenen Augen zu sehen. Man entwirft ein Gebäude auf dem Papier ... macht hier ein paar Zeichen und dort ein paar Linien, Zahlen, Berechnungen, Messungen, Entwürfe ... und eines Tages steht das Haus aus Stahl und Stein wirklich da, und drinnen pochen Maschinen, als hätte es ein richtiges Herz, und Menschen gehen ein und aus. Ein Teil einer Stadt! Man hat der Welt ein Stück wahre Schönheit geschenkt! O Dirk!« Der lebendige, begeisterte Ausdruck ihres Gesichts gab ihm einen Stoß. Er versuchte sich zu entschuldigen: »Ich verkaufe statt dessen Hypotheken, die diese Gebäude erst möglich machen. Das ist vielleicht nicht das Schlechteste.« Aber sie wehrte beinahe verächtlich ab: »Was für ein Unsinn, Dirk! Das ist genau dasselbe, wie wenn man in einem Theater an der Kasse sitzt und für das Stück Karten verkauft.« Dirk hatte in den letzten anderthalb Jahren viele neue Freundschaften geschlossen. Darüber hinaus hatte er eine neue Haltung angenommen: eine ruhige Würde und Sicherheit. Die Architektenlaufbahn hatte er vollständig begraben. Während des Krieges war überhaupt nicht gebaut worden, Material und Löhne waren uner 260
schwinglich; vielleicht würde die Bautätigkeit jahrelang stocken. Er gab es Selina gegenüber nicht zu. Aber nach einem halben Jahr in seiner neuen Stellung wußte er schon, daß er nie zurückgehen würde. Er hatte von Anfang an Erfolg. Nach einem Jahr war er so weit, daß man ihn von hundert anderen erfolgreichen jungen Geschäftsleuten kaum mehr unterscheiden konnte. Genau wie diese ließ er seine Anzüge bei Peel machen; sein Kragen war unwahrscheinlich weiß trotz der von Ruß und Staub erfüllten Luft; er speiste im Noon-Klub auf dem Dache der Nationalbank, wo die Millionäre von Chikago Corned-beef-Haschee aßen, sooft dieses plebejische Gericht auf der Speisekarte erschien. Er war nicht wenig aufgeregt, als er zum erstenmal in diesem Klub speiste, zu dem nur die ganz Großen der Geldaristokratie als Mitglieder zugelassen wurden. Jetzt imponierten sie ihm schon gar nicht mehr. Er kannte den alten Hempel natürlich schon viele Jahre, ebenso Michael Arnold und seit einiger Zeit auch Philipp Emery, Theodor Storm und andere. Aber er hatte sich von diesen Männern eine ganz andere Vorstellung gemacht. Paula hatte ihren Mann gefragt: »Theodor, warum nimmst du Dirk nicht mal in den Noon-Klub mit? Es wäre sehr gut für ihn, wenn er mit den großen Ka nonen zusammenkäme.« Dirk war einigermaßen befangen. In dem mächtigen vergitterten Fahrstuhl fuhren sie bis auf das Dach der goldenen Festung. Die Klubhalle war seine erste Enttäuschung. Sie sah aus wie das Raucherabteil eines Pullman-Wagens. Die Stühle waren mit schwarzem Leder oder rotem Plüsch gepolstert. Die Möbel, aus imitiertem Mahagoni, waren aufdringlich rot, der Teppich grasgrün. Blankgeputzte Spucknäpfe aus Messing standen 261
neben den Rauchtischen. Die Speisen waren sorgfältig zubereitet - ein Essen für Männer. Neun Zehntel dieser Männer besaßen Millionen. Das waren keineswegs die amerikanischen Dollarkönige aus den Witzblättern und Hintertreppenromanen, keine schlappen, nervösen magenkranken Kreaturen, die nur von Milch und Brei lebten. Es gab zwei verschiedene Typen. Die einen waren die älteren Herren zwischen fünfzig und sechzig. Große, vollblütige, rotgesichtige Erscheinungen. Viele von ihnen hatte der Hausarzt vor zu hohem Blutdruck, Arterienverkalkung, Herzüberanstrengung und Nierenleiden gewarnt. So gaben sie nun auf sich acht, nahmen sich Zeit bei ihren reichlichen Mahlzeiten, rauchten und plauderten. Ihre Gesichter waren bewegungslos, ihre Augen klug und kalt. Sie unterhielten sich ungezwungen, und es unterliefen ihnen gelegentlich kleine Ungenauigkeiten in Grammatik und Aussprache. Die meisten von ihnen hatten in ihrer Jugend keine Zeit zum Spielen gehabt. Dafür spielten sie jetzt, nachdrücklich und ein bißchen betrübt, aber mit dem Eifer von Leuten, für die das Geschenk der Muße eigentlich zu spät gekommen ist. Sonnabend nachmittags sah man sie in englischen giftgrünen Überstrümpfen und schottischkarierten Anzügen auf den Wiesen am Fluß oder am See Golf spielen. Sie ruinierten ihren Gaumen und ihren Geschmack durch starke Zigarren - Zigaretten und Pfeifen waren ihnen zu gewöhnlich. »Nehmen Sie eine Zigarre«, war ihre Begrüßungsformel, ihre Parole, ihr »Sesam, öffne dich«. Nur wenige unter ihnen waren so reich, daß sie es sich leisten konnten, leichte, billige Sorten zu rauchen. August Hempel war einer von ihnen. Dirk konnte beobachten, daß dessen seltene Be
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suche im Klub Aufsehen erregten und daß man ihm mit besonderer Hochachtung begegnete. Er war fast fünfundsiebzig. Aber er hielt sich noch immer kerzengerade und verstand das Leben zu genießen - ein prächtiger alter Seeräuber unter der minder hervor ragenden Mannschaft. Er hatte sein Leben lang nicht viel Federlesens gemacht - schwupp! und seine Gegner flogen über Bord. Die Jüngeren betrachteten ihn mit heimlicher Belustigung und doch voller Respekt. Diese jüngeren Leute zwischen achtundzwanzig und fünfundvierzig waren Kaufleute nach dem neuen System. Sie hatten ihre Universitätsprüfungen bestanden. Sie waren als zweite oder dritte Generation im Luxus aufgewachsen. In ihren Gesprächen kam das Wort »Psychologie« häufig vor. Sie übten Selbstbeherrschung. Und sie kannten die Macht der Suggestion. Während der alte August Hempel noch die Freibeuterflagge geschwungen hatte, hielten sie sich ans Periskop. Dirk merkte bald, daß diese Leute beim Essen niemals von Geschäften sprachen, es sei denn, sie wären eigens zu diesem Zweck zusammengekommen. Sie ließen sich zu allen Dingen reichlich Zeit, fand Dirk, und wenn sie angeblich eine wichtige Besprechung hatten oder wenn ihre Sekretäre kurz angebunden erklärten, daß sie zu tun hätten und auf keinen Fall vor drei Uhr zu spre chen seien, schliefen sie gemütlich ein halbes Stündchen oder auch mehr in ihrem eleganten Privatbüro. Sie waren die Söhne oder Enkel jener bärtigen, zerlumpten und nicht gerade Zutrauen erweckenden Burschen, die 1835 oder 1840 aus den Grafschaften Limerick und Kilkenny oder aus Schottland oder vom Rhein her ein gewandert waren und das neue Land mit ihren kräfti gen Fäusten geformt hatten. Und wenn ihre Nachkom 263
men in Symphoniekonzerten und in Segel- oder Golfklubs Freude und Entspannung fanden, so hatten sie das diesen tätigen Händen zu verdanken. Dirk hörte zu, was man sich im Noon-Klub erzählte. »Ich habe es in sechsundachtzig Minuten geschafft. Das ist für das Kanu-Rennen gar nicht so schlecht.« »... ich erwischte gerade noch den Expreß von New York um zwei Uhr fünfundvierzig und war zeitig genug hier, um mein neues Pferd im Park auszuprobieren. Für die Stadt ist es noch reichlich nervös, aber wir siedeln ja nächste Woche nach Lake Forest über -« »... eine ganz beachtliche Aufführung, aber sie schickten nicht die Originalbesetzung her, das ist der Nach teil ...« »... aus London. Ein hübsches Grün, nicht wahr? Solche Krawatten gibt es einfach nicht bei uns, ich weiß nicht, warum. Ich habe mir das letztemal drüben gleich zwölf gekauft. Ganz recht, Plumbridge in der Bond Street...« Dirk beteiligte sich recht gewandt an der Unterhaltung. Er hörte ruhig zu, nickte, lächelte, stimmte bei oder widersprach höflich. Er beobachtete alles aufmerksam. Auf Taille geschneiderte Jacken; tadellose Bügelfalten; feine Linien erfahrener Klugheit, die strahlenförmig an den Augenwinkeln entsprangen. Der Chef einer größeren Reklamefirma speiste mit einem Bankier; ein Börsenmakler unterhielt sich mit einem bekannten Bibliophilen, und der Bildhauer Horatio Craft saß mit einem Konservenfabrikanten an einem kleinen Tisch. Nach ziemlich kurzer Zeit hatte auch Dirk gelernt, den Expreß zu erwischen, um ein oder zwei Stunden schnel ler von New York nach Chikago zu kommen. Peel er 264
klärte, es sei ein wahres Vergnügen, seiner vollendet gebauten Figur einen Anzug anzumessen. Seine Haut farbe, eine Erbschaft seiner rotbäckigen, in der frischen Seeluft der holländischen Tiefebene aufgewachsenen Vorfahren, war frisch und klar. Selina strich mit ihrer rauhen, verarbeiteten Hand voll heimlichen Entzükkens über seine breiten Schultern und seinen kräftigen, geraden Rücken. Er war zweimal im Ausland gewesen. Er nannte das genau wie die anderen Herren im NoonKlub: »Einen kleinen Sprung nach Europa tun.« Zu alledem hatte er kaum zwei Jahre gebraucht, ein in Amerika durchaus übliches Tempo. Selina war etwas ratlos dem neuen Dirk gegenüber, der sein Leben so gänzlich ohne sie verbrachte. Manchmal bekam sie ihn zwei oder drei Wochen lang nicht zu Ge sieht. Er schickte ihr Geschenke, die sie entzückt betrachtete und sorgsam beiseite legte; wundervolle weiche seidene handgearbeitete Sachen — die sie nicht tra gen konnte. Die harten Jahre hatten ihr Werk getan. Obwohl sie immer eine Frau von feiner Lebensart und verwöhntem Geschmack gewesen war, hatten sie doch die ersten Jahre ihrer Ehe in eine allzu harte Schule genommen. Sie trug auch jetzt noch einen einfachen Unterrock aus schwarzem Satin und eine geflickte Untertaille. Sie verwendete keines der künstlichen Hilfs mittel einer in die Jugend vernarrten Zeit. Nicht umsonst hatte sie die vielen Jahre hindurch Sonne, Wind und Regen, Hitze und Kälte getrotzt. Ihre Haut war gebräunt und vom Wetter gegerbt, ihr Haar grau und spröde. Um so überraschender in diesem Rahmen wirk ten ihre Augen in ihrem ruhigen, reinen Feuer. Es wa ren die wundervollen Augen eines klugen jungen Mäd chens in dem Gesicht einer nicht mehr jungen Frau. Das
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Leben erschien ihr noch immer neu und voller Verheißung. Sie besaß fast beängstigend wenig persönliche Hab seligkeiten. Ihre Kommode sah aus, als gehöre sie einer Nonne: außer Kamm und Bürste und einem Stoß einfacher weißer Wäsche war nichts darin. Auf dem Wandbrett im Badezimmer lagen ihre Zahnbürste, Vaseline und eine Büchse Talkpuder. Nichts von jenen künstlichen Mitteln, mit denen die alternde Frau sich einbildet, die Welt hinters Licht führen zu können. Sie trug schon seit langem gut gearbeitete englische Straßenschuhe mit bequemen Absätzen, einfache Hemd blusen und einen dunklen Rock oder ein blaues Tuchkleid. Eine Frau in mittleren Jahren, die langsam zu altern begann, eine Frau mit schönem Gang und freier Haltung, die einen gerade, aber niemals hart ansah. Das war alles. Und doch war etwas Anziehendes an ihrer Erscheinung, etwas Zwingendes, dem nicht so leicht jemand widerstand. »Ich weiß nicht, wie du das machst«, beklagte sich Julia Arnold eines Tages, als Selina sie nach langer Zeit wieder einmal in der Stadt besuchte. »Deine Augen sind so klar und glänzend wie die eines Babys, und meine sehen wie tote Austern aus.« Sie saßen in Julias Ankleidezimmer in dem neuen Haus im Nordviertel - in dem neuen Haus, das jetzt schon wieder das alte war. Julias Toilettentisch war ein verwirrender Anblick. Selina DeJong in ihrem hübschen schwarzen Kleid und ihrem einfachen schwarzen Hut saß da und betrachtete ihn aufmerksam. »Bei dir sieht es aus wie in der Abteilung für Toilettenartikel in einem Warenhaus oder wie in einem Operationssaal vor einer großen Operation«, sagte sie lächelnd.
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Da standen große Glasbüchsen mit weißem und braunem Puder. Und ganze Reihen von Dosen mit Massage creme, Schönheitscreme und Reinigungscreme. Kleine Porzellanbehälter mit roter, weißer und gelblicher Schminke. Zarte kleine Läppchen in einer Glasschale zum Verreiben. Und die verschiedensten Parfüms, Gesichtswasser, Zerstäuber, Seifen, Salben, Pasten. Das war schon mehr ein Laboratorium als ein Toilettentisch. »Findest du!« rief Julia. »Dann solltest du erst mal Paulas Ausrüstung sehen! Im Vergleich zu ihrer Toilet tenzeremonie ist meine nur ein Planschen im Küchenausguß.« Sie rieb mit beiden Zeigefingern Cold-Cream in die Haut um die Augen herum ein und wandte dabei einen geübten Strich nach oben an. »Das sieht fabelhaft aus«, rief Selina. »Das muß ich unbedingt auch versuchen. So manches, was ich noch nie im Leben getan habe, probiere ich gern spaßeshalber aus. Stell dir vor, Julia, ich habe mich noch nie maniküren t lassen. Aber ich tue es bestimmt noch mal! Ich werde dem jungen Mädchen sagen, daß sie mir die Nägel rot anmalen soll. Dafür soll sie auch fündundzwanzig Cent Trinkgeld haben. Diese kleinen Dinger sind so hübsch mit ihren kurzen Haaren und ihren blanken Augen. Du hältst mich wahrscheinlich für glatt verrückt, wenn ich dir gestehe, daß ich bei ihrem Anblick selbst wieder jung werde.« Julia massierte immer noch. Sie schien an etwas ganz anderes zu denken. Plötzlich sagte sie: »Hör mal, Selina, Dirk und Paula sind zuviel zusammen. Man redet über sie.« »So?« Das Lächeln verschwand aus Selinas Gesicht. »Ich bin, weiß Gott, nicht engherzig. Das habe ich mir
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längst abgewöhnt. Wenn mir früher einer gesagt hätte, daß ich es erleben müßte, wie . . . nun seit dem Kriege scheint alles möglich zu sein. Aber Paula ist zu unvernünftig. Jeder weiß, wie sehr sie hinter Dirk her ist. Für Dirk ist das gleich, aber Paula ... Sie geht nirgends hin, wo Dirk nicht auch eingeladen ist. Natürlich, Dirk ist ungeheuer beliebt. Es gibt wirklich nicht viele junge Männer in Chikago, die soviel Erfolg haben und die so hübsch und gut erzogen sind wie Dirk. Die meisten können sowieso nicht schnell genug nach Europa kommen und lassen ihrem Vater keine Ruhe, bis er ihnen drüben eine Filiale oder etwas Ähnliches einrichtet... Jedenfalls stecken sie die ganze Zeit zusammen. Ich habe sie gefragt, ob sie sich von Storm scheiden lassen wolle. Nein, sie habe nicht genug eigenes Vermögen, und Dirk verdiene zu wenig. Es seien zwar schon einige Tausende, sie aber sei an Millionen gewöhnt.« »Sie haben schon als kleine Kinder zusammen gespielt«, unterbrach sie Selina schwach. »Sie sind keine Kinder mehr. Sei nicht so töricht, Selina. So jung bist du doch auch nicht mehr.« Nein, so jung war sie wirklich nicht mehr. Als Dirk sie das nächste Mal besuchte - er kam sehr selten in der letzten Zeit —, rief sie ihn in ihr Schlafzimmer. Es war derselbe kühle, einfache Raum mit dem alten schwarzen Nußbaumbett, in dem sie vor mehr als dreißig Jahren als Pervus DeJongs Braut gelegen hatte. Sie hatte ein kurzes Strickjäckchen über ihr strenges Nachthemd gezogen. Ihr immer noch üppiges Haar lag in zwei langen Zöpfen auf dem weißen Kissen. Dirk hatte seine Mutter selten so jung und mädchenhaft gesehen wie jetzt, als sie ihn mit ihren großen, warmen Augen liebe voll ansah.
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»Dirk, setz dich noch ein paar Minuten an mein Bett,
wie früher.«
»Ich bin müde, Mutter. Ich habe den ganzen Nachmittag
Golf gespielt.«
»Und jetzt tun dir alle Knochen weh - das kenne ich. So
ist es mir oft genug gegangen, wenn ich den ganzen Tag
draußen auf dem Felde Gemüse gepflanzt oder ausge
macht hatte.«
Er schwieg.
Sie ergriff seine Hand. »Du bist verstimmt. Weil ich das
eben gesagt habe. Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht
damit beschämen.«
»Das weiß ich, Mutter.«
»Dirk, weißt du auch, was ich heute in der Rubrik >Aus
der Gesellschaft über dich in der Zeitung gelesen habe?«
»Nein, ich lese das nie. Was war es?«
»Du seist eine der liebenswürdigsten Erscheinungen der
Jeunesse doree.« Dirk grinste. »Tatsächlich?«
»Das heißt goldene Jugend - soviel Französisch kann
ich noch von der Schule her.«
»Ich golden! Das ist gut! An mir klebt nicht mal ein
Flitterchen Gold!«
»Dirk«, sie sprach ganz leise und ihre Stimme bebte, »ich
möchte nicht, daß du zur Jeunesse doree gezählt wirst.
Dirk, dafür habe ich nicht in Hitze und Kälte die vielen
Jahre hindurch gearbeitet. Versteh mich recht, ich mache
dir keinen Vorwurf, die Arbeit war mit nicht lästig.
Aber, Dirk, ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß
mein Sohn zur Jeunesse doree gezählt wird. Nein! Nicht
mein Sohn!«
»Aber Mutter, das ist doch unsinnig, so etwas zu sagen.
Du sprichst wie eine Mutter in einem Melodrama, deren
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Sohn auf Abwege geraten ist. Ich arbeite wie ein Pferd.
Das weißt du selbst. Du siehst alles ganz schief. Kein
Wunder, denn du bist hier festgenagelt auf deiner klei-
nen Farm. Warum kommst du nicht in die Stadt, suchst
dir eine nette Bleibe und verkaufst die Farm?«
»Soll ich vielleicht bei dir wohnen?« fragte Selina spöt
tisch.
»O nein. Das würde dir nicht gefallen«, wehrte er hastig
ab. »Ich bin nie zu Hause - den ganzen Tag im Büro und
abends aus.«
»Und wann liest du deine Bücher?«
»Ach ... das ...«
Sie setzte sich im Bett auf und sah ihn forschend an.
»Dirk, was verkaufst du eigentlich in deinem eleganten
Büro? Daraus bin ich nie so recht klug geworden.«
»Wertpapiere, Mutter. Das weißt du ganz gut.«
»Wertpapiere.« Sie dachte einen Augenblick nach. »Las-
sen sie sich schwer verkaufen? Wer kauft sie denn?«
»Das kommt darauf an. Jeder kauft sie, das heißt...«
»Ich zum Beispiel nicht. Ich glaube, alles Geld, das ich
je in die Finger bekommen habe, ist immer wieder in die
Farm zurückgeflossen für Maschinen, Reparaturen, Sä
mereien, Vieh oder Neuerungen. Das ist bei allen Far-
mern so, selbst wenn es sich nur um eine kleine Gemüse-
farm wie die unsere handelt.« Wieder sann sie still vor
sich hin.
Er rückte unruhig hin und her und gähnte herzhaft.
»Dirk DeJong ... handelt mit Wertpapieren.«
»Das klingt, als wäre es ein schweres Verbrechen.«
»Dirk, manchmal denke ich wirklich, wenn du nun hier
auf der Farm geblieben wärst...«
»Um alles in der Welt, Mutter! Was soll das?«
»Oh, ich weiß nicht. Zeit zu träumen, Zeit zu... nein,
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ich glaube, das gibt es heute nicht mehr. Die Tage sind
vorbei, an denen der Schutzgeist auf der Farm sein We-
sen trieb. Die Maschine hat seine Träume zerstört. Er
pflegte stundenlang auf dem Kutschbock zu sitzen, die
Zügel locker in der Hand, während die Pferde der Stadt
zutrotteten. Jetzt braust er in einem Motorwagen vor
bei. Mähmaschinen, Dreschmaschinen, Traktoren - er ist
zum Mechaniker geworden. Wahrscheinlich hätte Lin-
coln, wenn er in unserer Zeit geboren wäre, statt mit Axt
und Säge mit einer summenden, knarrenden Holzschnei
demaschine sein Holz klein gemacht, und abends wäre
er in die Stadt gesaust und hätte sich seine Bücher aus
einer öffentlichen Leihbibliothek geholt und sie beim
Schein einer elektrischen Birne gelesen anstatt vorm flak-
kernden Holzfeuer auf dem Bauche liegend ... Ja ...«
Sie lehnte sich zurück, sah zu ihm auf. »Dirk, warum
heiratest du nicht?«
»Ach... ich wüßte niemanden, den ich heiraten möchte.«
»Niemanden, der frei ist, meinst du das?«
Er stand auf. »Ich meine niemanden.« Er bückte sich und
küßte sie leicht auf die Stirn. Sie schlang ihm die Arme
um den Hals. Die Hand mit dem dicken goldenen Trau
ring drückte seinen Kopf fest an ihr Herz. »Sogroß!« Er
war wieder ein kleines Kind.
»So hast du mich seit Jahren nicht mehr genannt.« Er
lachte.
Sie wiederholte das alte Spiel aus seiner Kinderzeit.
»Wie groß ist mein Sohn? Wie groß?« Sie lächelte, aber
ihre Augen waren traurig.
»So groß!« antwortete Dirk und maß einen winzigen
Raum zwischen Daumen und Zeigefinger. »So groß!«
Sie sah ihn fragend an und richtete sich im Bett sehr
gerade auf. »Dirk, willst du eigentlich jemals wieder
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Architekt werden? Der Krieg ist Vergangenheit. Du mußt dich jetzt entscheiden. Bald wird es zu spät sein. Gehst du zur Architektur zurück? Zurück in deinen Beruf?« Einmal mußte es gesagt sein - eine klare Ablehnung: »Nein, Mutter.« Sie zuckte zusammen, als hätte sie ein Strahl eiskalten Wassers ins Gesicht getroffen. Plötzlich sah sie alt und müde aus. Ihre Schultern zogen sich fröstelnd zusammen. Er stand auf der Schwelle und wartete darauf, daß sie ihm Vorwürfe machte. Aber als sie zu sprechen begann, war es nur, um sich selber anzuklagen: »Dann habe ich alles falsch gemacht.« »Was für ein Unsinn, Mutter. Ich bin mit meinem Schicksal zufrieden. Du kannst doch nicht das Leben eines anderen Menschen leben. Ich weiß noch, daß du mir früher erzählt hast, das Leben sei nicht nur ein Abenteuer, das man nehmen müsse, wie es komme, in der Hoffnung, daß hinter der nächsten Ecke schon etwas Wunderbares auf einen warte. Du sagtest, du habest in dieser Weise gelebt, und es sei nicht eingetroffen. Du sagtest...« Sie unterbrach ihn mit einem leichten Aufschrei. »Ich weiß, ich weiß, daß ich das gesagt habe.« Plötzlich hob sie warnend die Hand. Ihre Augen sahen leuchtend in geheimnisvolle Fernen. »Dirk, du kannst sie nicht so im Stich lassen.« »Wen im Stich lassen?« Er verstand sie nicht. »Die Schönheit. Die Selbstentfaltung oder wie du es sonst nennen willst. Warte nur. Eines Tages werden dir die Augen aufgehen. Eines Tages wirst du nach ihr verlangen, und sie wird nicht mehr da sein.« Er bereute im stillen längst, daß er es überhaupt zu dieser Aussprache hatte kommen lassen. Seine Mutter traute 272
ihm nicht viel zu, während fremde Leute ihn und seine Erfolge anerkannten. Er hatte auf ihre halb scherzhafte Frage geantwortet: »So groß« und mit Daumen und Zeigefinger ein winzig kleines Maß angegeben, aber er war nicht aufrichtig gewesen. Er fand ihren Standpunkt lächerlich altmodisch und außerdem unvernünftig. Aber er wollte sich nicht mit ihr zanken. »Warte du nur auch ab, Mutter«, sagte er lächelnd. »Eines Tages wird dein widerspenstiger Sohn ein Treffer sein. Warte nur, bis die Millionen gerollt kommen. Dann werden wir uns wieder sprechen.« Sie legte sich nieder, kehrte ihm entschlossen den Rücken zu und zog sich die Decke über die Schultern. »Soll ich das Licht ausdrehen, Mutter?« »Das besorgt Meena wie immer. Sag ihr nur Bescheid ... Gute Nacht!« Dirk wußte, daß er es im Bankwesen schon weit gebracht hatte. Mancherlei Beziehungen waren ihm dabei von Nutzen gewesen, auch das wußte er. Aber er schloß ab sichtlich die Augen vor Paulas Machenschaften, und ob wohl er ahnte, daß sie es war, die die Fäden seines Schicksals in der Hand hielt, gestand er es sich nur un gern ein, daß er seine Erfolge zum großen Teil ihr verdankte. Paula selbst war klug genug, zu wissen, daß sie ihn nur würde halten können, wenn er sich ihr nicht ver pflichtet fühlte. Sie wußte, daß der Schuldner seinen Gläubiger haßt. Nachts lag sie oft viele Stunden wach und machte Pläne für Dirk und dachte sich neue Möglichkeiten für sein Vorwärtskommen aus. Sie verstand es dann so geschickt, ihm diese Pläne einzureden, daß er glaubte, sie stammten von ihm selbst. Es waren ihr kürzlich Bedenken gekommen, daß die wachsende Vertrau lichkeit zwischen ihnen beiden Dirk schaden könne, falls 273
man öffentlich darüber redete. Und doch mußte sie ihn unbedingt täglich sehen oder sprechen. In ihrem großen Stadthaus lagen ihre eigenen Zimmer: Wohn-, Schlaf-, Ankleide- und Badezimmer, ganz für sich wie eine abgeschlossene Wohnung. Sie hatte einen privaten Telefonanschluß in ihrem Schlafzimmer. Das erste, was sie morgens, und das letzte, was sie abends tat, war, Dirk anzurufen. Ihre Stimme veränderte sich, wenn sie mit ihm sprach; sie wurde leise, schwingend, nahm einen Tonfall an, der sie für einen Außenstehenden unerkennbar machte. Ihre Worte waren alltäglich, aber für sie selbst voller Bedeutung: »Was hast du heute getrieben? War es ein schöner Tag? ... Warum hast du mich nicht angerufen? ... Hast du daran gedacht, was du wegen Kennedy unternehmen wolltest? Ich halte den Gedanken für ausgezeichnet! Du bist wunderbar, Dirk, weißt du das?... Du fehlst mir so ... Wirklich? .. .Wann? ... Warum nicht zum Mittagessen? ... Oh, nicht wenn du eine geschäftliche Verabredung hast... Wie wäre es um fünf?... Nein, da lieber nicht... Oh, ich weiß nicht recht. Da ist soviel Betrieb ... Ja ... Leb wohl... Gute Nacht... Gute Nacht...« Sie trafen sich immer häufiger an entlegenen Orten. Sie aßen in kleinen Vorstadtlokalen, wo sie keine Bekannten trafen. Sie saßen ganze Nachmittage lang in der schlechten Luft mittelmäßiger Kinos, weit hinten, und sahen nichts von dem Film, sondern unterhielten sich lebhaft, im Flüsterton, um die wenigen Besucher nicht zu stören. Wenn sie zusammen ausführen, wählten sie möglichst unbekannte Straßen im Südviertel und fühlten sieh dort vor jeder Beobachtung so sicher, als ob sie in 274
Afrika wären, denn für die Leute im Norden Chikagos war das Südviertel das Hinterland der Zivilisation. Man fand allgemein, daß Paula sehr schön geworden sei. Das geheimnisvolle Leuchten, das starke Strahlen, die Glut der Frau, die liebt, gingen von ihr aus. Oft forderte sie Dirk heraus. Dann wurde er noch stiller als gewöhnlich und zog sich merklich zurück. Je abwei sender er wurde, um so mehr drang sie auf ihn ein. Manchmal glaubte er sie zu hassen - ihre unruhigen hei ßen Hände, ihre glühenden forschenden Augen, ihren roten dünnen Mund, ihr blasses herzförmiges Gesicht, ihre parfümierten Kleider und ihre Besitzermiene. Das war das schlimmste! Die Selbstverständlichkeit, mit der sie von ihm Besitz ergriff. Mit jedem Blick und jeder Be wegung riß sie ihn an sich, selbst wenn sie ihn überhaupt nicht anrührte. Sie hatte so etwas Gieriges, Schwüles. Wie der heiße Präriewind, der manchmal über die Gras steppen wehte - er blies und blies, aber er brachte keine Erfrischung; man fühlte sich ausgetrocknet, leer und ge reizt davon. Bisweilen fragte sich Dirk, was wohl Theo|dor Storm dachte, wieviel er von alledem wußte hinter seiner qualligen unbeweglichen weißen Maske. Dirk kam mit vielen jungen Mädchen zusammen. Paula war klug genug, dafür zu sorgen. Sie lud sie in ihre Thea terloge und zu ihren Gesellschaften ein. Und tat, als |wäre es ihr gleichgültig, ob sie Eindruck auf ihn machten. Aber sie litt, wenn er sich mit einer von ihnen unterhielt. »Dirk, warum lädst du nicht einmal die hübsche deine Farnham ein?« »Ist sie hübsch?« »Ja, findest du nicht? Du hast dich doch auf dem Kirkschen Ball lang genug mit ihr unterhalten. Worüber habt ihr gesprochen?« 275
»Über Bücher.« »Ach so! Sie ist wirklich sehr hübsch und intelligent. Ein reizendes Mädchen!« Sie fühlte sich plötzlich glücklich. Über Bücher! Die kleine Farnham war tatsächlich reizend. Sie gehörte zu den vielen jungen Mädchen, in die man sich eigentlich verlieben müßte und in die man sich doch nicht verliebte. Sie war genauso wohlerzogen wie hundert andere junge Mädchen in Chikago. Ebenso hübsch, aufrichtig, klug, freimütig, zugänglich und anziehend und im Grunde ebensowenig aufregend. Haare von einer Farbe, wie Haare sie haben, gute Zähne, klare Augen, eine reine Haut, mittelgroße gepflegte Hände und Füße; sie lief gut Schlittschuh, tanzte gut, und man konnte sich gut mit ihr unterhalten. Sie las die Bücher, die man selbst gerade gelesen hatte. In ihrer Gesellschaft fühlte man sich wohl. Sie hatte sehr viel Geld, sprach aber nie davon. Sie war viel gereist, gab einem herzhaft die Hand eine gleichgültige Hand; ihr Druck jagte keinen elektrischen Strom durch einen hindurch bis mitten ins Herz. Aber wenn Paula neben einem stand und einem etwa ein Buch zeigte, so paßte sich ihr Arm irgendwie der Kurve des eigenen Armes an, und man fühlte bewußt den Kontakt mit ihrem zarten, schlanken Körper. Er kannte viele junge Mädchen. Es gab einen ganz bestimmten Typ im Nordviertel: groß, schlank, gut gewachsen; eine hübsche kleine Nase, eine hohe sanfte, etwas nasale Stimme, Ohrringe, Zigarette im Mund. Dirk fand, daß sie sich alle unheimlich ähnlich sähen und alle die gleichen Ausdrücke gebrauchten. Sie sprachen leidlich gut Französisch, kannten jedes Theater- und Kinostück, lasen jedes neue Buch und machten die gleichen Handarbeiten. Ihre burschikosen Redensarten gli 276
chen denen der kleinen Büromädchen fast Wort für Wort. Sie machten es zu einem Sport, offen und ungeniert zu sein. In einer Zeit, in der man allgemein in schreienden Schlagzeilen redete, hielten sie es für erforderlich, jede ihrer Bemerkungen rot zu unterstreichen, um überhaupt Beachtung zu finden. Die stärksten Aus drücke kamen harmlos über ihre hübschen Lippen, gesprochen von den sanften, hohen Mädchenstimmen. Sie waren alle furchtlos, frei und ohne Vorurteil. Das sei die Hauptsache, erklärten sie. Manchmal fand Dirk sie allzu vergnügungssüchtig. Sie konnten ohne Maskenbälle, Gartenpartien, Liebhaberaufführungen und große Wohltätigkeitsfeste nicht leben. Mit krampfhafter Selbstüberwindung nahmen sie gelegentlich eine Stellung an oder versuchten sich in eigenen Geschäftsgrün dungen. Selbst Paula fand Gefallen daran, auf diese Weise der Konvention zu trotzen. Sie und ihre Freundinnen eröffneten jeden Tag ein anderes Geschäft für Damenmoden, richteten Kunstgewerbeläden ein und verfielen sogar auf Teestuben, die sie grasgrün, hochrot, orange und schwarz dekorierten. Ein Anzeigenbüro machte für sie Reklame. Diese abenteuerlichen Unternehmen blühten, welkten und vergingen. Sie waren eine Folge der Nachkriegszeit und ihrer Ruhelosigkeit. Viele dieser jungen Damen waren 1917/18 unermüdlich tätig gewesen: sie hatten Dienstautos gesteuert, Lazarette geleitet, Kinder gehütet, gescheuert oder Kantinen geführt. Ihnen fehlte die Befriedigung und die Anregung einer geregelten Tätigkeit. Sie standen alle mit Dirk auf gutem Fuß und gönnten ihn Paula durchaus nicht. Sie unterhielten sich mit ihm, tanzten, ritten und flirteten mit ihm. Und daß er so unerreichbar für sie war, machte ihn nur noch begehrens 277
werter. Diese Paula Storm hatte ihn mit Beschlag
belegt.
Er kümmerte sich nicht um junge Mädchen.
»Oh, Herr DeJong«, sagten sie zu ihm, »Sie heißen
Dirk? Das ist aber ein fescher Name. Was bedeutet
er?«
»Wahrscheinlich gar nichts. Es ist ein holländischer
Name. Meine Vorfahren väterlicherseits stammten
nämlich aus Holland.«
»Ach? Wie interessant! Jedenfalls klingt Dirk sehr kühn
und sehr grausam!«
Dirk errötete leicht (eine Eigentümlichkeit von ihm) und
lächelte und sah sie dann schweigend an. Das genügte,
fand er.
Er kam jetzt immer rascher vorwärts.
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Diese jungen Damen und die Mädchen, die in seinem Büro arbeiteten, waren einander so ähnlich, daß sich Dirk immer wieder darüber wunderte und amüsierte. »Bitte schreiben Sie, Fräulein Roach«, sagte er zu einer hübschen jungen Dame, die ebenso schlank und ebenso tadellos war wie die jungen Mädchen, mit denen er tags zuvor getanzt oder Tennis gespielt hatte oder spazierengeritten war. Die Kleider der Büroangestellten waren vollendete Nachahmungen. Sie benutzten sogar das gleiche Parfüm wie die Millionärstöchter. Dirk fragte sich manchmal, wie sie das zustande brächten. Sie waren alle nicht älter als achtzehn, neunzehn oder zwanzig Jahre, 278
ihr Gesicht und ihre Figur, ihre Wünsche und ihre natürliche Veranlagung ließen ihre Anwesenheit in einem Büro als paradox, als absurd erscheinen. Dabei hatten sie unbestreitbar bestimmte, rein mechanische Fähigkeiten. Ihre Arbeit war mechanisiert. Sie bedienten das Te lefon, drückten auf Hebel und Knöpfe, notierten, stenographierten, tippten. Sie waren ohne Zweifel entzükkende Geschöpfe mit einem vierzehnjährigen Verstand. Sie hatten alle die gleichen tadellos gewellten Haare, glänzend, fein, weich und gelockt wie bei einem kleinen Kind. Ihre Körper waren knabenhaft schmal und eigentümlich geschlechtslos. Sie waren klug, von der Klugheit der Schlangen. Sie trugen entzückende kleine Pullover mit flachem Bubikragen und lächerlich brave Schuhe und Strümpfe. Ihre Beine waren schlank und doch kräftig. Und alle hatten den gleichen weichen kleinen roten Mund, die Unterlippe ein wenig zurückgebogen wie bei einem Baby, das sich sattgetrunken hat. Ihre Augen standen weit auseinander, waren leer und doch wissend. Ihre persönlichen Angelegenheiten regelten sie mit der Umsicht eines Generals. Sie waren kühl, zurückhaltend und hochmütig - Piraten, Briganten, Desperados, die alles nahmen und wenig gaben und ihren Freund zur Verzweiflung bringen konnten. Die meisten von ihnen stammten aus ärmlichen Verhältnissen, und doch beherrschten sie auf unerklärliche Weise alle Künste und Kniffe, die Paula anwendete. Sie trugen keine Mieder, waren biegsam, unberechenbar, reizend und gefährlich. Bei ihren Mahlzeiten bevorzugten sie ein grausiges Gemisch von allzu Süßem und beißend Scharfem und hatten trotzdem eine Haut wie Samt und Seide. Ihre Stimmen waren dünn und gewöhnlich, ihre Gesichter erinnerten an die Bilder von Greuze oder Fragonard. Sie
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unterhielten sich untereinander in einem unverständlichen Slang. Inmitten dieser Mädchen arbeitete Dirk unangefochten und ungerührt. Er wäre wahrscheinlich überrascht gewesen, hätte er gewußt, daß er bei ihnen als Eiszapfen galt. Sie lobten seine Strümpfe, seine Krawatten, seine Fingernägel, sein Gesicht und seine Figur in dem Peelschen Anzug. Sie bewunderten und kritisierten ihn. Und es war auch nicht eine unter ihnen, die nicht im geheimen von dem Tag träumte, an dem er sie in sein Büro rufen, die Türe schließen und zu ihr sagen würde: »Loretta« — ihre Namen waren fast durchweg so hochtrabend, weil sie sich selbst nach ihren eigenen Schönheitsbegriffen umgetauft hatten -, »Loretta, ich beobachte Sie schon eine lange, lange Zeit, und es ist Ihnen sicher nicht entgangen, wie sehr ich Sie verehre.« Solche Dinge kamen vor. Das wußten sie alle vom Kino her. Dirk hatte nicht die leiseste Ahnung, wie unbarmherzig er von allen Seiten ausgeforscht wurde. Er wäre wahrscheinlich noch erstaunter gewesen, hätte er erfahren, wie eingehend sie über alle seine privaten Angelegenheiten unterrichtet waren. So wußten sie z. B. ganz genau über Paula Bescheid. Auch Paula bewunderten und kritisierten sie zugleich. Sie erkannten sachlich ihre tadellose Eleganz an, stellten aber mit tiefer Befriedigung fest, wieviel sie ihr durch ihre Jugend und ihre frischen Farben voraushatten. Sie verachteten sie, weil sie ihre Gefühle für Dirk so offen zeigte. Woher sie das wußten, blieb ein unlösbares Rätsel, denn Paula kam fast nie in sein Büro und hielt auch ihre Anrufe geheim. Sie fanden, daß er fabelhaft zu seiner Mutter sei - Selina war vielleicht zweimal in seinem Büro gewesen. Jedesmal hatte sie etwa fünf Minuten mit Ethelinda Quinn geplaudert, 280
die das Gesicht eines Leonardo da Vincischen Cherubs und die Seele eines menschenfressenden Haifisches hatte. Selina unterhielt sich mit allen Menschen gleich freundlich. Sie hörte mit Vergnügen zu, wenn Straßenbahnschaffner, Waschfrauen, Hotelwirtinnen, Büroangestellte, Portiers, Polizisten und Chauffeure erzählten. Irgend etwas an ihr brachte die Leute zum Reden. Sie erschlossen sich ihr wie die Blumen der Sonne. Wahrscheinlich fühlten sie Selinas Interesse, ihre Zuneigung. Sie unterbrach die Eröffnungen mit: »Tatsächlich?« oder »O wie schrecklich!«, und ihre Augen glänzten vor Teilnahme. Selina hatte Dirk gleich beim Eintritt in sein Büro zugerufen: »Junge! Wie kannst du nur mit soviel hübschen jungen Geschöpfen zusammenarbeiten und kein Sultan werden! Ich möchte mir mal ein paar übers Wochenende nach Hause einladen!« »Lieber nicht, Mutter, sie würden es falsch auffassen. Ich sehe sie kaum. Sie gehören für mich mit zur Büroeinrichtung.« Als Selina gegangen war, gab Ethelinda Quinn sachverständig ihrer Meinung Ausdruck: »Sie ist zehnmal so nett wie der alte Eiszapfen. Ich finde sie in Ordnung. Habt ihr den scheußlichen Hut gesehen? Aber sagt selbst, bei ihr macht es gar nichts aus. Jede andere Frau würde in der Aufmachung komisch wirken, aber sie kann alles tragen. Sie hat Haltung. Das ist noch mehr als Stil. Und nett ist sie. Sie sagt, ich sei ein hübsches kleines Ding. Hat man Töne? Aber darin hat sie nicht so unrecht, das bin ich wirklich.« »Nehmen Sie bitte ein Diktat auf«, sagte Dirk eine halbe Stunde später. Er hatte von alledem nichts gemerkt. 281
Bei dem Ansturm soviel junger lockender Weiblichkeit blieb er unerschüttert. Paula, die jungen Damen aus dem vornehmen Norden, wohlerzogene Kaufmanns- und Beamtengattinnen, mit denen er gelegentlich geschäftlich zu tun hatte, und die verführerischen kleinen Nymphen in seinem eigenen Büro erprobten an ihm ihre Verführungskünste. Kühl, ruhig und sicher bewegte er sich unter ihnen. Vielleicht hatte sein plötzlicher Aufstieg etwas damit zu tun - und sein stiller Ehrgeiz, seinen eigenen Erfolg noch zu überbieten. Denn niemand machte ihm seinen Erfolg mehr streitig, selbst in der turbulenten Chikagoer Geschäftswelt, in der kometenhaft ein Stern nach dem anderen aufging. Die Mütter im Nordviertel betrachteten sein Einkommen und seine Karriere mit Respekt und machten im stillen ihre Pläne. Unter seinen Postsachen auf dem korrekten kleinen Tisch in der korrekten kleinen Wohnung mit dem Blick auf den See (sie lag in einer korrekten Straße, nahe, aber nicht zu nahe am See), die ein korrekter kleiner japanischer Diener in Ordnung hielt, befand sich immer ein sauberer kleiner Stoß von Einladungen. Dieses Mal hatte Paula bei der Einrichtung der Wohnung geholfen. Sie war mit Dirk zusammen zum Innenarchitekten gegangen. »Aber du mußt auch nach deinem eigenen Geschmack aussuchen«, hatte Paula gesagt, »da mit die Räume eine individuelle Note bekommen.« Es waren zum größten Teil Renaissancemöbel aus dunkler Eiche oder Nußbaum, sehr massiv, aber doch etwas unverbindlich. Der Gesamteindruck war düster und nicht besonders überzeugend. Bücher gab es nur wenige. Ein kleiner Vorraum, ein großes Wohnzimmer, Schlafzimmer, Speisezimmer, eine Küche und ein Loch von Kammer für den Diener. 282
Dirk war nicht viel zu Hause. Manchmal saß er tagelang nicht im Wohnzimmer und ging nur flüchtig hindurch, wenn er vom Büro kam und sich im Schlafzimmer eilig für den Abend umzog. Sein Aufstieg war nichts als eine Tretmühle: Büro ... Wohnung ... Abendessen ... Tanz. Er kam nur mit wenigen Menschen zusammen und immer mit denselben. Er hatte ein prächtiges Büro in einem prächtigen Bürohaus. Er fuhr mit dem Auto hin und zurück durch die breiten Straßen. Er benutzte immer dieselben Wege. Den ganzen brausenden, dröhnenden, glühenden, schreienden, stampfenden, mächtigen, häßlichen stählernen Giganten, der Chikago war, kannte er so wenig, als hätte er tausend Meilen von ihm entfernt gelebt. Selina hatte bei der Ausstattung der Wohnung nicht mitgewirkt. Dirk führte sie triumphierend hindurch. »Nun, Mutter«, fragte er, »wie gefällt es dir?« Sie hatte mitten zwischen den vielen massiven Tischen, Stühlen und Truhen gestanden, eine kleine, einfache Gestalt. Ein Lächeln kräuselte ihre Lippen. »Ich finde, es ist bei dir so gemütlich wie in einer Kirche.« Manchmal stimmte Selina mit ihm nicht überein, obwohl sie sich in der letzten Zeit sehr zurückhielt. Sie fragte ihn nicht mehr nach der Einrichtung der Häuser, in denen er verkehrte, oder nach den fremdländischen Leckerbissen, die er auf den üppigen Diners vorgesetzt bekam. Ihre Farm gedieh. Zwar rückten ihr die großen Eisengießereien und Fabriken im Südviertel immer näher, aber bis zu ihren fruchtbaren grünen Äckern reichten sie doch noch nicht heran. Sie war jetzt schon recht berühmt wegen der Güte ihrer Farmerzeugnisse und ihrer musterhaften Viehzucht. Die Speisekarten aller füh renden Hotels verzeichneten den DeJong-Spargel. 283
Manchmal neckten Dirks Freunde ihn damit, und er gab nicht immer zu, daß die Namensgleichheit nicht rein zufällig war. »Dirk, du kommst immer nur mit diesen Leuten zusammen«, sagte ihm Selina in einem der selten gewordenen Gespräche, in denen sie an ihm Kritik übte. »Du bringst dich selber um den vollen Duft des Lebens. Du solltest eine ganz gewöhnliche Neugier auf Menschen und Dinge haben, gleichviel welche. Statt dessen drehst du dich Tag für Tag in demselben Kreis.« »Ich habe keine Zeit. Ich kann mir die Zeit dafür nicht leisten!« »Du kannst es dir nicht leisten, keine Zeit dafür zu ha ben.« Bisweilen kam Selina auf eine Woche oder für zehn Tage in die Stadt, um, wie sie es nannte, eine Orgie zu feiern. Jedesmal forderte Julia Arnold sie dringend auf, in ei nem ihrer vielen Fremdenzimmer zu wohnen, oder Dirk bot ihr sein Schlafzimmer an und versicherte ihr, daß er auf dem großen Sofa im Wohnzimmer schlafen oder im Klub übernachten könne. Aber sie lehnte stets ab. Sie nahm viel lieber ein Hotelzimmer, bald im Süden, bald im Norden. In dem frohen Bewußtsein, einen Ferientag vor sich zu haben, streifte sie umher wie ein kleiner Schuljunge, der sich am Sonntagmorgen ohne Plan und Ziel auf den Weg macht, weil er genau weiß, daß er nur zwischen tausend Herrlichkeiten rechts und links zu wählen braucht. Sie ging den Michigan-Boulevard ent lang und betrachtete die Schaufenster, in denen sich hochmütige Damen aus Wachs in schimmernden Gesell schaftskleidern präsentierten, in elegant gespreizten Fingern einen Fächer oder eine Rose haltend, und herablas send auf die vielen Neugierigen hinunterlächelten, die 284
sich die Nasen an den Scheiben plattdrückten. Empfänglich für jeden Eindruck, genoß Selina die Lichter, die Farben, die Eile und den Lärm um sich her. Die harten Jahre, die hinter ihr lagen, hatten ihre Freude am Leben nicht töten können. Sie schlenderte durch die entlegenen Stadtviertel, wo die Ausländer — Italiener, Chinesen und Juden - wohnten. Ja sie drang sogar bis zu der schwarzen Zone der Neger vor. Zu Tausenden lebten sie gedrängt hier in Chikago und vermehrten sich von Tag zu Tag. Selina hatte die unheimliche Empfindung, als befände sich die schwarze Masse in unaufhörlicher Bewegung, als quelle sie nach allen Seiten auseinander und rüttelte wütend an den Schranken, über die sie eines Tages hin wegfluten würde. Selinas Gesicht, ihre ruhige Art und ihr freundliches Interesse waren ihr bester Schutz. Vielleicht hielt man sie für eine Fürsorgerin, die sich für die Befreiung der schwarzen Rasse einsetzen wollte. Sie kaufte sich den »Independent«, die Zeitung der Neger, in der Pflanzendoktoren Zauberwurzeln anpriesen. Sie schickte sogar die fünfundzwanzig Cent für eine Schachtel solcher Wundermittel ein, weil die Namen es ihr angetan hatten: Adam-und-Eva-Wurzel, Meister der Wälder, Drachenblut, Johann der Eroberer, Wurzel der Jezabel, Paradieskörner. »Das geht nicht, Mutter«, protestierte Dirk. »Du kannst nicht so umherwandern. Es ist zu gefährlich. Du bist hier nicht in High Prairie. Wenn du durchaus alles sehen willst, dann kann Saki dich fahren.« »Das wäre sehr nett«, sagte sie freundlich. Aber sie machte nie von seinem Angebot Gebrauch. Manchmal kam sie auch in die South-Water-Straße, die freilich 285
kaum wiederzuerkennen war und sich so vergrößert hatte, daß sie ihre Grenzen zu sprengen drohte. Selina bummelte mit Vorliebe auf dem Gehsteig zwischen den dort aufgestellten Kisten und Körben umher, in denen Obst und Gemüse und Geflügel feilgehalten wurden. Man sah in der Hauptstraße dunkle, fremdländische Gesichter. Die rotbäckigen Männer im blauen Overall von ehemals waren verschwunden; statt dessen sah sie magere, muskulöse Gestalten in alten Soldatenhemden und -hosen und Wickelgamaschen Wagen schieben, Kisten abladen und in großen ratternden Lastwagen die Straße hinuntersausen. Harte, scharfgeschnittene Gesichter, wortkarge Burschen. Sie bewegten sich geschmeidig und ohne eine Geste zu verschwenden. Jeder dieser Arbeiter, überlegte Selina, war kraftvoller und natür licher und betätigte sich nützlicher und ehrlicher als ihr erfolgreicher Sohn Dirk DeJong. »Wo gibt's Bohnen?« »Weiter unten.« »Dreckzeug.« »Bessere gibt's nicht.« »Behalt sie!« Viele der älteren Händler kannten Selina von früher, schüttelten ihr die Hand und schwatzten ein paar Minuten mit ihr. William Talcott, etwas ausgedörrter und faltiger als damals und mit vollständig weiß gewordenem Haar, lehnte immer noch im Eingang seines Lagerraumes in Hemdsärmeln und schwarzweiß karierter Hose und Weste, hatte eine billige, nicht angezündete Zigarre im Mundwinkel und dieselbe schwere goldene Uhrkette überm Magen. »Na, Frau DeJong, Ihnen ist es bestimmt gut gegangen. 286
Wissen Sie noch, wie Sie mit Ihrem Wagen zum ersten-
mal hierherkamen?«
O ja, sie wußte es noch sehr gut.
»Ihr Sohn hat ja auch seinen Weg gemacht. Es geht ihm glänzend, was? Tja, das ist eine große Befriedigung, wenn die Kinder so gut geraten. Tja, das will ich meinen! Sehen Sie, meine Tochter Karoline -« Das Leben in High Prairie hatte auch seine kleinen Ereignisse. Oft sah man seltsame Gäste bei Selina - Jungen und Mädchen, die acht oder zehn Tage blieben und ihre blassen Wangen bald verloren; abgearbeitete, schmalschultrige Frauen, die Selinas Sahne tranken und ihr herrliches Gemüse und ihr zartes Geflügel so gierig hinunterschlangen, als könnte es ihnen im nächsten Augen blick wieder weggenommen werden. Selina las ihre Besucher in den verrufensten Winkeln auf. Dirk war es gar nicht recht. Selina gehörte jetzt zum High Prairier Schulvorstand. Sie fuhr oft mit einem wenig vertrauenerweckend aussehenden Fordwagen über Land und steuerte phantasievoll und geschickt selber. Sie gehörte zur Straßenkommission, und der Gemüsefarmerverband hörte in allen wichtigen Fragen gern Frau DeJongs Meinung. Ihr Leben war reich und ausgefüllt.
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Paula hatte eine Idee, wie man Frauen für den Kauf von Aktien interessieren könnte. Eine glänzende Idee. Sie wußte sie Dirk wieder einmal so zu suggerieren, daß er sie für seine eigene hielt. Dirk war jetzt Chef der 287
Aktienabteilung der großen Handels- und Kreditbank in dem neuen weißen Gebäude am Michigan-Boulevard. Die weißen Türme schimmerten im Seenebel beinahe rosa. Dirk behauptete, es sei ein gräßliches, schlecht ge gliedertes Bauwerk und sehe aus wie eine Riesenportion Vanilleeis mit Himbeersauce. Sein neues privates Reich glich eher einer Bibliothek ohne Bücher als einem Büro. Es war mit mattpolierten, reichverzierten Nußbaummöbeln eingerichtet; daneben gab es eine Menge Klubsessel, weiche Teppiche und abgeblendete Leuchten. Besondere Rücksicht und Aufmerksamkeit widmete man den Kundinnen. Sie wurden in ein eigens für sie bestimmtes Zimmer mit niedrigen, bequemen Stühlen und Sofas, mit Schreibtischen und reizenden kleinen Lampen geführt, das ganz in Lila und Rosa gehalten war. Für dieses Zimmer hatte Paula die Einrichtung ausgesucht. Zehn Jahre früher hatte man so etwas zwi schen lauter Büroräumen absurd gefunden. Jetzt ge hörte es selbstverständlich dazu. Dirks Privatbüro war beinahe so schwer zugänglich wie das des Staatspräsidenten. Visitenkarten, Telefon, Bürodiener und Sekretärinnen standen zwischen dem Besucher und dem Chef der Aktienabteilung Dirk DeJong. Man fragte nach ihm, indem man den Namen des Chefs dem zwei Meter langen Geheimpolizisten ins Ohr flüsterte, der als Portier verkleidet in der marmornen Pförtnerloge stand und jeden Besucher mit den Blicken zu durchbohren schien. Auf Gummiabsätzen ging er lautlos vor einem her und übergab einen sofort einem untadelhaften Bürodiener, der den Namen des Besuchers zu wissen begehrte. Man wartete. Er kam zurück. Man wartete. Gleich darauf erschien eine junge Dame mit fragend hochgezogenen Augenbrauen. Sie forschte einen 288
aus. Sie verschwand. Man wartete. Sie kam wieder. Man wurde in Dirk DeJongs großes, elegantes Privatbüro geführt. Von da an gab es keine Formalitäten mehr. Dirk bekundete, daß er sich freue, den Besucher zu sehen, und versicherte ihn seines besonderen Interesses. Er hörte aufmerksam zu, wenn man sein Anliegen vorbrachte. Erstaunlich viele Frauen wandten sich an die Kreditund Handelsgesellschaft. Dirk war zartfühlend und hilfsbereit - und es kam stets zu einem Abschluß. Frauen in dem modischen Schwarz der Trauerkleidung wallfahrteten in Scharen zu Dirk DeJong. Seine Vorschläge (sie stammten fast alle von Paula) verhalfen der diskreten Beratungsstelle der Handels- und Kreditbank zu den schönsten Erfolgen. Ansprechende kleine Broschüren über Sparen und Kapitalanlage wurden eigens für Frauen geschrieben. »Sie haben es nicht mit einer seelenlosen Einrichtung zu tun«, hieß es da. »Können wir Ihnen helfen? Sie brauchen mehr als einen nur freundschaftlichen Rat. Ehe Sie handeln, sollten Sie Ihren Entschluß durch eine Organisation von Fachleuten prüfen lassen. Sie besitzen zwar gewiß Verwandte und Freunde, die Ihnen gern bei der Anlage Ihres Kapitals helfen würden. Aber vielleicht haben Sie das durchaus richtige Gefühl, daß diese am besten so wenig wie möglich über Ihre finanziellen Angelegenheiten erfahren. Kredite zu geben und für die Sicherheit der Witwen und Waisen zu sorgen, ist unser Geschäft.« Erstaunlich genug — diese Geschäfte beliefen sich bald auf Millionen. »Die Frauen lernen es von Tag zu Tag besser, mit Geld umzugehen«, sagte Paula schlau. »Bald werden sie ebenso wichtige Kunden sein wie die Männer. Aber im Durchschnitt verstehen die Frauen von Wert 289
papieren gar nichts. Sie wagen es nicht, selbst welche zu kaufen, weil sie es für eine mysteriöse und riskante Sache halten. Man muß sie erziehen! Hast du mit mir nicht neulich über Finanzkurse für Frauen gesprochen, Dirk? Man könnte eine halb soziale Angelegenheit daraus machen, Einladungen verschicken und verschiedene Bankleute - Männer, die einen Namen haben - als Redner gewinnen.« »Aber werden die Frauen kommen?« »Und ob sie kommen werden! Frauen nehmen ohnedies jede Einladung auf schwerem Elfenbeinpapier an.« Die Handels- und Kreditgesellschaft hatte bereits eine Filiale in Cleveland und eine in New York im vornehmsten Geschäftsviertel. Der Werbefeldzug, mit dem man Frauen zum Ankauf von Aktien gewinnen und sie in Gelddingen unterweisen wollte, war ein Unternehmen, das sich über das ganze Land erstrecken sollte. Man mußte in Zeitungen und Magazinen Reklame machen. Die Vorträge für Frauen über Finanzwissenschaft fanden alle vierzehn Tage in der Halle des Blackstone-Hotels statt und hatten ungeheuren Erfolg. Paula hatte recht gehabt. Von August Hempels Schlauheit und geschäftlicher Umsicht war ein gutes Teil auf sie übergegangen. Scharenweise kamen die Frauen — Witwen, die ihr Vermögen anlegen wollten, Angestellte, die mühsam einen Teil ihres Gehaltes gespart hatten, vermögende Damen, die ihr Geld selbst verwalten wollten oder zu ihrem Mann nicht viel Zutrauen hatten. Manche kamen aus Neugierde, andere, weil sie nichts Besseres zu tun hatten. Und wieder andere, weil sie den bekannten Bankdirektor oder Rechtsanwalt oder Geschäftsmann sehen wollten, der laut Ankündigung sprechen sollte. Auch Dirk sprach im Laufe des Winters drei- oder vier 290
mal, und man merkte sofort, wie bekannt und beliebt er war. Die Frauen in eleganten Kreppkleidern, Schneiderkostümen und hübschen kleinen Hüten flüsterten sich Bemerkungen über den Redner zu, während sie seinem sorgfältig ausgearbeiteten Vortrag lauschten. Er sah auf dem Rednerpult sehr hübsch, gepflegt und vornehm aus in seinem tadellos sitzenden Anzug, eine kleine weiße Blume im Knopfloch. Die Worte flössen ihm klar und leicht von den Lippen. Die Fragen, die man nach dem Vortrag an ihn stellte, beantwortete er mit der richtigen Mischung von nachdenklichem Zögern und zuversichtlicher Bestimmtheit. Man hatte beschlossen, daß für die Werbung im großen ein Plakat entworfen werden sollte, das die Aufmerksamkeit der Frauen erregte und sie für die Sache interessierte. Dirk fand, daß man sich am besten an Dallas O'Mara wendete, dessen seltsam krakeligen Namenszug man unter den meisten auffallenden Plakaten sah. Paula war von diesem Vorschlag wenig entzückt gewesen. »Hm - hm - sie kann ja sehr viel«, hatte sie vorsichtig erwidert, »aber gibt es am Ende nicht noch bessere?« »Sie?« hatte Dirk gerufen. »Es ist eine Frau? Das wußte ich nicht. Der Name sagt nichts.« »O ja, es ist eine Frau. Und sie soll sehr anziehend sein.« Dirk schickte nach Dallas O'Mara. Sie ließ ihm sagen, daß sie in vierzehn Tagen zu einer Besprechung zur Ver fügung stehe. Dirk wollte keinesfalls so lange warten; er forderte andere Graphiker auf, sah sich ihre Arbeiten an, ließ sich Vorschläge machen und war mit keinem zufrieden. Die Zeit drängte. Zehn Tage waren schon verstrichen. Er ließ Dallas O'Mara von seiner Sekretärin 291
anrufen. Ob sie um elf Uhr in sein Büro kommen könne? Nein, bis vier Uhr habe sie in ihrem Atelier zu tun. Könne sie dann um halb fünf zu ihm ins Büro kommen? Ja, aber sei es nicht vielleicht besser, wenn er zu ihr ins Atelier käme? Er könne sich dann gleich über die verschiedenen Möglichkeiten — ob öl, Radierung oder Bleistiftzeichnung - unterrichten. Sie mache in der letzten Zeit hauptsächlich Bleistiftzeichnungen. Das alles gab die Sekretärin sofort halblaut an Dirk weiter. Wütend warf er seine Zigarette in einen Aschenbecher, blies die letzte Rauchwolke entrüstet in die Luft und nahm seinen eigenen Hörer auf. »Eine von diesen Beinahe-Künstlern, die sich einbilden, etwas zu sein«, murmelte er, die Hand auf dem Mundstück. »Ich werde selber mit ihr sprechen, Fräulein Rawlings. Verbinden Sie mich bitte.« »Hallo, Fräulein - hm - O'Mara. Hier DeJong. Mir wäre es lieber, wenn Sie zu mir ins Büro zur Besprechung kämen!« (Das war deutlich.) Ihre Stimme: »Gewiß, wenn es Ihnen lieber ist. Ich dachte, wir würden beide auf die andere Weise Zeit sparen. Ich bin also um halb fünf Uhr dort.« Ihre Stimme war gelassen, tief und voll. Eine herrliche Stimme. »Schön. Halb fünf«, sagte Dirk kurz und warf den Hörer auf die Gabel. So mußte man's mit ihnen machen. Schauderhaft, solche ältlichen emanzipierten Malweiber mit liederlichem Haar und einer Zeichenmappe unterm Arm. Das ältliche Malweib mit liederlichem Haar und einer Mappe unterm Arm wurde pünktlich um halb fünf gemeldet. Dirk ließ sie absichtlich fünf Minuten im Vor 292
zimmer warten. Er hatte sich wirklich geärgert. Um vier Uhr fünfunddreißig trat ein hochgewachsenes, schlankes Mädchen herein in einer tadellosen kurzen Kostümjacke und pelzverbrämtem Rock, mit einem schwarzen Hut, der so fesch und doch so einfach war, daß ihm sogar ein Mann sofort seine Pariser Herkunft ansah. Sie hatte keine Mappe mit Zeichnungen unterm Arm. Dirk flogen eine Reihe ungeschäftsmäßiger Gedanken durch den Kopf: Teufel, sind das Augen! ... Wenn sich doch alle Frauen so anziehen wollten ... Sie sieht müde aus ... Nein, das sind wohl nur die Augen ... Malt wahrscheinlich zuviel ... Hübsches Mädchen ... nein, überhaupt nicht ... doch, sie ... Laut sagte er: »Sehr liebenswürdig von Ihnen, Fräulein O'Mara.« Gleich darauf fand er seinen Ton viel zu freundlich und fügte kurz hinzu: »Setzen Sie sich.« Fräulein O'Mara nahm Platz. Fräulein O'Mara sah ihn ruhig mit ihren dunkelblauen Augen an, die wirklich etwas müde aussahen. Fräulein O'Mara sagte gar nichts. Sie betrachtete ihn freundlich, ruhig, gelassen. Er wartete darauf, daß sie sagte, sie komme gewöhnlich nicht in Geschäftsbüros; sie habe höchstens zwanzig Minuten Zeit; es sei ein warmer oder kalter Tag; er habe ein entzückendes Büro; die Aussicht auf den Fluß sei bezaubernd. Fräulein O'Mara aber sagte nichts. So begann er etwas hastig die Unterhaltung. Dies war nun für Dirk DeJong eine ganz neue Erfahrung. Gewöhnlich überfielen ihn die Frauen gleich mit einem Wortschwall. Selbst ruhige Frauen wurden gesprächig unter dem Einfluß seiner Schweigsamkeit, und redselige Frauen schwatzten unaufhörlich. Aber hier saß eine Frau, die noch weniger sprach als er selbst, die gelassen und ungezwungen schwieg. 293
»Ich werde Ihnen auseinandersetzen, was wir brauchen, Fräulein O'Mara.« Er tat es. Wahrscheinlich würde sie ihn nun sofort mit drei oder vier Plänen überfallen. Die ändern hatten es jedenfalls so gemacht. Als er geendet hatte, sagte sie: »Ich werde ein paar Tage darüber nachdenken und inzwischen eine andere Arbeit vornehmen. So mache ich es immer. Ich entwerfe gerade ein Plakat für Olivenseife. Nächsten Mittwoch kann ich dann mit Ihrem beginnen.« »Aber ich möchte es sehen - das heißt, ich möchte wenig stens eine Ahnung haben, wie Sie sich das Plakat vorstellen.« Bildete sie sich ein, daß er sie darauf losarbeiten lassen würde, ohne daß er sein Urteil abgegeben hätte? »Oh, es wird Ihnen schon recht sein. Aber kommen Sie doch bei mir vorbei, wenn Sie wollen. Eine Woche werde ich wohl daran zu tun haben. Ich wohne am Ontario in dem alten Atelierhaus. Sie erkennen es an den vielen Backsteinen, die herausgefallen sind und auf dem Fußweg verstreut liegen.« Sie lächelte ein leichtes, offenes Lächeln. Ihre Zähne waren gut, doch ihr Mund war zu groß, fand Dirk. Aber wie warm und angenehm sie lächelte! Zu seiner eigenen Verwunderung gab er ihr Lächeln zu rück. Dann wurde er wieder geschäftlich. Sehr geschäftlich. »Wieviel ... an welches Honorar hatten Sie ge dacht?« »Fünfzehnhundert Dollar«, sagte Fräulein O'Mara.
»Unsinn.« Dann sah er sie an. Vielleicht scherzte sie.
Aber sie war ganz ernst. »Meinen Sie fünfzehnhundert
Dollar für eine einzige Zeichnung?«
»Für so eine, ja.«
»Ich fürchte, wir werden nicht soviel bezahlen können,
Fräulein O'Mara.«
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Fräulein O'Mara stand auf. »Das ist mein Preis.« Sie war nicht eine Spur verlegen. Er stellte im stillen fest, daß er soviel Ungezwungenheit noch nie erlebt hatte; er war es, der mit den Gegenständen auf seinem Schreib tisch zu spielen begann, mit einem Federhalter, einem Notizzettel, einem Löschblatt. »Leben Sie wohl, Herr DeJong.« Sie streckte ihm freund lich die Hand hin. Er nahm sie. Ihr Haar war golden - nicht glänzend, son dern mattgolden, und sie trug es im Nacken zu einem großen Knoten verschlungen. Er erhob sich. Er nahm ihre Hand. Die müden Augen sahen zu ihm auf. »Ja, wenn das Ihr Preis ist, Fräulein O'Mara! Auf einen solchen Betrag war ich nicht gefaßt -, aber die Spitzen klasse kann sich wohl solche irrsinnigen Preise leisten.« »Nicht irrsinniger, als Sie sie für Ihre Arbeit erhalten.« »Immerhin sind fünfzehnhundert Dollar eine Menge Geld.« »Auch für mich. Übrigens ist alles, was über neun Dollar liegt, für mich eine Menge Geld. Ich habe jahrelang für fünfundzwanzig Cent pro Stück Hüte entworfen.« Sie hatte Charme, das war unbestreitbar. »Und jetzt sind Sie am Ziel. Sie haben Erfolg.« »Am Ziel! Um alles in der Welt! Ich stehe noch am Anfang.« »Und wer bekommt für eine Zeichnung mehr als Sie?« »Niemand, soviel ich weiß.« »Was wollen Sie dann noch mehr?« »Das erzähle ich Ihnen ein andermal.« Sie war fort. Ethelinda Quinn und ihre Kolleginnen erörterten anerkennend Fräulein O'Maras Kleidung, von ihrem nach Maß gearbeiteten Schuhwerk bis zu ihrem 295
französischen Modellhut, und unterzogen bereits im Geist ihre eigenen Kleider einer Auffrischung. Dirk DeJong in seinem Privatbüro kam es zum Bewußt sein, daß er unbesehen für fünfzehnhundert Dollar eine Zeichnung bestellt hatte und sich auf allerlei Fragen von Paula gefaßt machen mußte. »Bitte notieren Sie, Fräulein Rawlings, daß wir Fräulein O'Mara am Donnerstag anrufen wollen.« In den nächsten Tagen erfuhr er, daß erstaunlich viele Leute erstaunlich viel über Dallas O'Mara wußten. Sie stammte aus Texas, daher auch der seltsame Name. Sie war achtundzwanzig ... fünfundzwanzig ... zweiunddreißig... sechsunddreißig Jahre alt. Sie war wunderhübsch. Sie war häßlich. Sie war eine Waise. Sie hatte sich durch die Kunstschule hindurchgehungert. Sie hatte keine Ahnung vom Wert des Geldes. Vor zwei Jahren war sie plötzlich durch ihre Zeichnungen bekannt ge worden. Sie malte am liebsten in öl. Sie arbeitete wie ein Galeerensklave, spielte wie ein Kind; hatte zwanzig Verehrer und keinen Liebhaber; ihre männlichen und weiblichen Freunde waren Legion, und in ihrem Atelier ging es zu wie in einem Taubenschlag. Zu jeder Tages stunde fand man bei ihr Besuch: von Bert Colson, dem schwarzen Operettenstar, bis zu Frau Robinson Gilman aus Lake Forest und Paris, von Leo Mahler, dem ersten Geiger des Symphonieorchesters, bis zu Fanny Whipple, die Kleider für Carson entwarf. Sie unterhielt eine ganze Sammlung unglücklicher Brüder und unversorgter Schwestern in Texas und einigen Orten im Westen. Fräulein Rawlings verabredete einen Atelierbesuch für Donnerstag um drei. Paula erklärte, mitkommen zu wollen. Sie zog sich für diese Gelegenheit sehr elegant an. Dallas machte manchmal eine Porträtskizze in Bleistift 296
oder sogar in öl und hatte für das Bildnis der Frau Robinson Gilman auf der letzten Porträtausstellung in der Akademie einen Preis bekommen. Es war eine Art Aus zeichnung, wenn sie jemanden bat, ihr zu sitzen. Also hatte Paula ihren Hut auf Haarfarbe und Profil abgestimmt und den Halsausschnitt und die Perlen dazu pas send gewählt. Fräulein O'Mara konnte diese Herausforderung nicht übersehen. Dallas hockte in ihrem Atelier auf einem hohen Stuhl vor der Staffelei. Neben ihr stand ein Tischchen mit Bleistiften jeder Art und Größe. Sie bot einen seltsamen Anblick, aber das schien sie nicht im mindesten zu stören. Freundlich nickte sie Paula und Dirk zu und fuhr unbeirrt fort zu arbeiten. Ein elegant gekleidetes junges Mädchen saß ihr Modell. »Hallo!« sagte Dallas. »Das ist es! Glauben Sie, daß es Ihnen gefallen wird?« »Oh«, sagte Dirk, » ... das?« Weiter nichts als die angefangene Zeichnung des elegant gekleideten Modells. »Das soll es sein?« Fünfzehnhundert Dollar! »Hoffentlich haben Sie nicht erwartet, ich würde Ihnen ein Bild mit einer aktienkaufenden Dame vorsetzen?« Sie arbeitete eifrig weiter. Sie kniff das eine Auge zu, nahm einen komischen kleinen Spiegelscherben auf, sah von der Seite hinein und warf ihn wieder hin. Danach machte sie mit einem Bleistift einen Strich auf den Karton und verwischte ihn mit dem Daumen. Sie hatte einen alten Malkittel an, der so reichlich mit Tusche, Bleistiftspuren, farbigem Kreidestaub und Farbspritzern bedeckt war, daß das Ganze zu einem weichen Nebel, ähnlich der Chikagoer Atmosphäre, zusammenfloß. Der Kragen einer weißen, nicht besonders sauberen Seiden 297
bluse schaute daraus hervor. An den Füßen trug sie aus getretene Lederhausschuhe mit Pompons. Ihr mattgoldenes Haar war nachlässig zu dem großen lockeren Knoten am Hinterkopf zusammengerollt. Auf der einen Wange hatte sie einen schwarzen Fleck. Wirklich, dachte Dirk, sie sieht unmöglich aus. Dallas O'Mara zeigte mit einer einladenden Handbewe gung auf ein paar Stühle, auf denen Hüte, Kleidungs stücke und Zeichenkartons bunt durcheinanderlagen. »Setzen Sie sich doch.« Sie rief das junge Mädchen, das ihnen vorhin die Tür aufgemacht hatte: »Gilda, schmeißen Sie das Zeug herunter. Das sind Frau Storm und Herr DeJong - dies ist Gilda Hanan.« Ihre Sekretärin, wie Dirk später erfuhr. Das Zimmer war unordentlich, beinahe ärmlich. Und trotzdem gemütlich. Ein altes Piano stand in der einen Ecke. Ein riesiges Glasfenster bildete die halbe Decke und die nördliche Zimmerwand. Ein Mann saß neben einem jungen Mädchen auf einem Sofa in einer anderen Ecke und redete auf sie ein. Am Piano spielte ein dunkelhaariger, fremdländisch aussehender Mann, der Dirk irgendwie bekannt vorkam, eine gedämpfte Melodie. Das Telefon klingelte. Fräulein Hanan nahm den Hörer ab, übermittelte die Botschaft an Dallas, empfing die Antwort und wiederholte sie. Dallas kauerte die ganze Zeit über auf ihrem Stuhl. Den einen Fuß im Lederpantoffel hatte sie auf die Staffelei gestellt und arbeitete konzentriert und ernsthaft weiter. Eine Haarlocke fiel ihr über die Augen. Sie strich sie mit der Hand zurück und hinterließ auf ihrer Stirn einen zweiten schwarzen Fleck. Ihre Gleichgültigkeit gegen alles, was um sie herum vorging, die Art, wie sie sich in ihre Arbeit vertiefte, hatte etwas Umwerfendes. Sie sah 298
und hörte nichts als ihre Arbeit. Ihre Nase glänzte. Seit Jahren hatte Dirk kein Mädchen mit einer glänzenden Nase mehr gesehen. Ständig nahmen sie die kleinen Do sen zur Hand und betupften sie mit dem Zeug, das darin enthalten war. »Wie können Sie nur mit den vielen Menschen um sich herum arbeiten?« »Oh«, sagte Dallas mit ihrer tiefen, beruhigenden Stim me, »es gehen immer zwischen zwanzig- und dreißig-«, sie warf einen scharlachroten Strich auf den Karton und radierte ihn sofort wieder aus, »tausend Leute in der Stunde hier aus und ein ... ja, ungefähr soviel. Das mag ich gern. Freunde um mich herum, wenn ich schufte.« Weiß Gott! dachte er. Sie ist... »Wollen wir gehen?« fragte Paula. Er hatte sie ganz vergessen. »Ja, ja, schon recht.« Draußen fragte Paula: »Glaubst du, daß dir das Bild gefallen wird?« Sie stiegen in ihren Wagen. »Oh, ich weiß nicht. Man kann jetzt noch nicht viel dar über sagen.« »Zurück ins Büro?« »Gewiß.« »Sie ist reizend, nicht?« »Findest du?« Nun ja, er war auf der Hut. Paula warf heftig die Tür zu und stellte den Hebel auf den zweiten Gang. »Ihr Hals war schmutzig.« »Farbe«, sagte Dirk. »Nicht unbedingt«, antwortete Paula. Dirk wandte sich halb zur Seite, um sie anzusehen. Ihm kam es vor, als sähe er sie zum erstenmal. Sie erschien ihm plötzlich so spröde, hart und unnatürlich-kümmer299
lich, mit einem Wort. Nicht körperlich, aber als Persönlichkeit. Das Bild wurde innerhalb zehn Tagen fertiggestellt und abgeliefert. Zwischendurch kam Dirk zweimal in Dallas' Atelier. Dallas schien nichts dagegen zu haben. Andererseits blieb sie reichlich gleichgültig. Beide Male arbeitete sie angespannt. Er beschäftigte sich in Gedanken viel mit Dallas O'Mara und sprach mit anderen Leuten in einer, wie er meinte, nachlässig überlegenen Weise von ihr. Er sprach gern von ihr. Auch seiner Mutter erzählte er von Dallas. Zu ihr konnte er offener sprechen als zu den anderen, so daß sie ihn nachdenklich ansah und sagte: »Ich möchte sie kennenlernen. So ein Mädchen ist mir noch nie begegnet.« »Ich will sie fragen, ob ich dich einmal mit ins Atelier bringen darf, wenn du in der Stadt bist.« Es war einfach unmöglich, sie auch nur einen Augenblick allein zu sprechen. Das erboste ihn. Stets strömten Men schen bei ihr ein und aus - eigenartige, bedeutende, ungewöhnliche Menschen; aber auch unscheinbare, heruntergekommene, ärmlich gekleidete Leute. Eine mittellose Kunstschülerin mit rotem Haar, die Dallas bei sich aufgenommen hatte, bis das Mädchen von Hause Geld bekam; eine perlenüberladene Operndiva, die sich zu einem vierzehntägigen Gastspiel an der Oper in Chikago herabließ. Dirk hatte nicht gewußt, daß Dallas sich auch mit Musik beschäftigte. Einmal kam er später als sonst und überraschte sie mit Bert Colson, dem dunkelhäutigen Komödianten, am Klavier sitzend. Colson sang Schmachtfetzen von sprossenden Veilchen im Aprilregen und stiller Sehnsucht nach... Aber wenn er sie sang, klangen sie gar 300
nicht so unerträglich. Es war etwas an diesem schmächtigen, düsterblickenden Komödianten, ein schneidendes Pathos, ein vollendetes Gefühl für Rhythmus, etwas Unwägbares, was jeden für ihn einnahm. Auf der Bühne brauchte er nur an die Rampe zu treten, und schon war das Publikum hingerissen. Er sprach wie ein Nigger und sang wie ein Engel. Dallas saß am Piano, er lehnte sich darüber, und sie spielten zusammen einen Blues. Beide waren in Ekstase: 7 got the blues ... 7 said the blues ... I got the this or that. . . the somethingorother .,. bluehoo-hoos. Sie bemerkten Dirk kaum. Dallas hatte ihm flüchtig zugenickt und weitergespielt. Colson sang den billigen, sen timentalen Schlager wie die Ballade eines untergegangenen Volkes, die Arme ausgebreitet, mit verzücktem Gesicht. Als es zu Ende war, sagte sie: »Schauerlich, nicht? Ich bin verrückt darauf. Bert will es heute abend ausprobieren.« »Wer — hm — von wem ist es?« erkundigte Dirk sich höflich. Dallas spielte bereits wieder. »Wie? Ach, von mir.« Sie fingen wieder von vorn an. Dirk beachteten sie nicht mehr. Und doch lag in ihrer Gleichgültigkeit nichts Beleidigendes. Sie interessierten sich eben nur für das, was sie gerade taten. Er ging fort und schwor sich im stillen, nie wiederzukommen. Was hatte er sich auch in einem Atelier herumzutreiben. Aber am nächsten Tag war er wieder da. »Hören Sie, Fräulein O'Mara« - er hatte sie wirklich eine Sekunde allein erwischt - »wollen Sie nicht mal mit mir zusammen zu Abend essen? Und ins Theater gehen?« »Mit dem größten Vergnügen!« 301
»Wann?« Tatsächlich, er zitterte vor Erwartung. »Heute abend.« Er hatte eine wichtige Verabredung. Unbedenklich ließ er sie fallen. »Heute abend. Wunderbar! Wo wollen Sie essen? Im Kasino?« Das war der eleganteste Klub in Chikago, ein kleiner rosa, stucküberladener Renaissancesaal in einem Hotel in der Strandstraße. Dirk war geradezu stolz darauf, daß er es sich leisten konnte, sie als seinen Gast dorthinzuführen. »Ach nein, ich mag diese künstlichen kleinen Restaurants nicht. Ich gehe viel lieber in ein großes Hotel, wo alle möglichen Menschen hinkommen. In einem Klub hat man lauter Leute um sich, die sich kaum voneinander unterscheiden. Da sie in demselben Klub sind, versteht es sich von selbst, daß sie sich alle für Golf interessieren, oder daß sie auf derselben Universität studiert haben, oder daß sie zu derselben politischen Partei gehören, oder daß sie alle Schriftstellern, malen, über fünfzigtausend Dollar im Jahr verdienen oder sonst etwas. Mir ist es lieber, wenn die Menschen durcheinandergewürfelt sind. Ein Speisesaal voller Spieler, Versicherungsagenten, Schauspieler, Kaufleute, Taschendiebe, Rechtsanwälte, Halbweltdamen, Ehefrauen, Globetrotter, Spitzel und Millionäre - das nenne ich auswärts essen. Abgesehen natürlich von einer Einladung bei guten Freunden.« Eine ausnahmsweise lange Rede für sie. »Vielleicht essen Sie auch einmal bei mir in meiner kleinen Wohnung? Mit höchstens vier oder sechs guten Freunden zusammen. Oder auch -« »Vielleicht.« »Wollen Sie heute abend in den Drachen gehen?« »Ach - müssen Sie da nicht auch immer an ein römisches 302
Bad denken? Die Pfeiler stören mich. Gehen wir doch lieber ins Blackstone. Für meinen Provinzgeschmack ist nun mal der französische Saal im Blackstone der Inbegriff der Eleganz.« So gingen sie ins Blackstone. Der Oberkellner kannte ihn. »Guten Abend, Herr DeJong.« Dirk fühlte sich im geheimen geschmeichelt, dann merkte er zu seiner Bestürzung, daß der Kellner Dallas und daß Dallas den Kellner anlächelte. »Sieh da, Andre«, sagte Dallas. »Guten Abend, Fräulein O'Mara.« Der Wortlaut seiner Begrüßung war so korrekt, wie es sich für einen Oberkellner im Hotel Blackstone ziemte. Aber seine Stimme klang beschwingt, und seine Augen strahlten. Und er geleitete Dallas zu einem Tisch, als wäre sie eine Königin. Mit einem Blick auf Dirks Gesicht erklärte sie: »Ich habe ihn damals in Frankreich bei der Armee kennengelernt. Er ist in Ordnung.« »Waren Sie in ... was haben Sie denn in Frankreich gemacht?« »Ach, so allerhand.« Sie trug ein sehr elegantes Abendkleid, aber das seidene Achselband, das auf der einen Seite zum Vorschein kam, war nicht ganz sauber. Paula würde ... aber nein, Paula war, was Kleidung anbetraf, schlechthin vollkommen. Es gefiel ihm, wie das Kleid scharf an den Schultern abschloß und ihre festen weißen Arme frei ließ. Es war mattgold, genau wie ihr Haar. Das war die eine Dallas. Es gab deren ein Dutzend ... hundert. Und doch war sie immer dieselbe. Niemals war man sicher, ob man den Gassenbuben im zerknüllten Malkittel mit beschmiertem Gesicht oder die entzückende junge Dame in der eleganten Pelzjacke antraf. Manch 303
mal fand Dirk, daß sie mit ihren breiten Backenknochen, den tiefliegenden Augen und den großen begabten Händen wie ein schwedisches Landmädchen aussehe. Dann wieder erinnerte sie ihn an eine Göttin, wie man sie mit einem Füllhorn in der Hand auf Bildern sieht. Sie hatte etwas Geniales, Erdhaftes und Elementares an sich. Er stellte fest, daß sie kurzgeschnittene und nicht besonders sorgfältig gepflegte Nägel hatte - sie waren weder so spitz noch so grausam scharf noch so schauderhaft rötlich poliert wie die Paulas. Auch das gefiel ihm. »Wie wäre es mit Austern?« schlug er vor. »Hier sind sie bestimmt frisch. Oder Früchtecocktail? Dann Hühnerbrust in Gelee und eine Artischocke?« Sie sah ein bißchen verlegen aus. »Wenn Sie ... ach, bestellen Sie das doch für sich. Ich möchte viel lieber ein Beefsteak und Bratkartoffeln und russischen Salat.« »Gut.« Dirk war begeistert. Er bestellte zweimal dasselbe, und sie verzehrten es bis auf den letzten Rest. Sie aß Brot und Butter. Sie machte keine Bemerkung über das Essen, sondern sagte nur nebenbei, daß es ihr schmecke und daß sie über ihrer Arbeit ganz das Mittagessen vergessen habe. All das fand Dirk erfrischend und beruhigend. Er konnte es nicht leiden, wenn Frauen ständig von ihrem Gewicht, ihrer Figur und ihrem Aussehen sprachen. Paula lehnte immer dies oder jenes ab. Er fühlte sich unbehaglich, wenn er ihr bei Tisch gegenübersaß und ausgiebig zulangte, während sie an winzigen Toastscheiben knabberte und ein Salatblatt und eine halbe ungezuckerte Pampelmuse verzehrte. Dann schmeckten ihm seine Austern, sein Beefsteak und sein Mokka auch nicht. Zudem fand er, daß sie sein Gericht trotz ihrer betonten Gleichgültigkeit immer ein 304
wenig begehrlich betrachtete. Sie sah auch hager genug aus. »Das Theater ist gleich vor der Tür«, sagte er. »Wir können ruhig bis um acht hierbleiben.« »Das ist angenehm.« Sie rauchte ihre Zigarette und trank ihren Kaffee mit offensichtlichem Behagen. Er sprach viel von sich selbst. Er fühlte sich glücklich und entspannt. »Sie wissen, daß ich Architekt bin oder zumindest war. Vielleicht treibe ich mich deshalb so gern in Ihrem Atelier herum. Ich habe eine Art Heimweh nach Zeichenbrett und Bleistiften - das ist's.« »Warum haben Sie es dann aufgegeben?« »Es springt nichts dabei heraus.« »Wie meinen Sie das?« »Kein Geld. Nach dem Krieg wollte niemand bauen. Oh, wenn ich dabei geblieben wäre —« »Und dann sind Sie zur Bank gegangen, hm. Na, da gibt's doch wohl Geld genug?« Er war etwas ärgerlich. »Man wird ja nicht gleich Bankdirektor. Ich war zuerst Bankkaufmann.« Dallas runzelte die Stirn. Ihre Augenbrauen waren dicht und scharf gezeichnet und stießen fast an der Nasenwurzel zusammen. Paulas Brauen waren eine tadellose schwarze Linie — ein sorgfältig nachgezogener Halbkreis über ihren Augen. »Ich würde«, sagte Dallas langsam, »lieber eine Hintertür an einem Hause entwerfen und damit ganz bescheiden am schönen Aussehen unserer Stadt mitwirken, als alle diese Wertpapiere zu verkaufen, die man braucht, um ... ja, Gott weiß, wozu man die Dinger eigentlich nötig hat.« Er versuchte sich zu verteidigen. »Früher dachte ich ebenso. Aber sehen Sie, meine Mutter hat soviel für 305
meine Erziehung getan. Sie hat nur für mich gearbeitet. Ich konnte nicht immer so weitermurksen, gerade nur soviel verdienen, um mich über Wasser zu halten. Ich wollte ihr etwas schenken können. Ich wollte —« »Hat sie denn das verlangt? War sie dafür, daß Sie mit der Architektur aufhörten und zur Bank gingen?« »Nun ... sie ... ich wüßte nicht, daß sie ausdrücklich ...« Er war zu anständig, immer noch zu sehr Selina DeJongs Sohn, als daß er die Unwahrheit hätte sagen können. »Sie sprachen doch davon, daß ich sie einmal kennen lernen würde.« »Darf ich sie zu Ihnen mitbringen? Oder fahren Sie vielleicht sogar mit mir zusammen auf die Farm hinaus? Sie würde sich bestimmt sehr freuen.« »Das täte ich gern.« Er lehnte sich plötzlich vor. »Hören Sie, Dallas, was denken Sie eigentlich von mir?« Er mußte es wissen. Er ertrug die Ungewißheit nicht länger. »Ich halte Sie für einen sehr netten jungen Mann.« Das war vernichtend. »Aber ich will nicht, daß Sie mich für einen netten jungen Mann halten. Ich will, daß Sie mich gern haben - sehr gern sogar. Sagen Sie, was fehlt mir, was Sie glauben, das ich haben müßte? Warum schütteln Sie mich so oft ab? Niemals habe ich das Gefühl, Ihnen ganz nahe zu kommen. Was fehlt mir?« Er war untröstlich. »Ja, wenn Sie es durchaus wissen wollen! Ich verlange allerdings von den Leuten, mit denen ich öfter zusammenkomme, daß sie wenigstens eine Andeutung von echtem Goldglanz in ihrer Aufmachung haben. Manche bestehen zu neun Zehnteln aus Glanz und nur zu einem Zehntel aus Flitter, andere zu neun Zehnteln aus Flitter 306
und zu einem Zehntel aus Glanz. Aber es gibt auch welche, die sind durch und durch rosa ohne einen einzigen Fleck königlichen Purpurs.« »Und dazu gehöre ich, nicht wahr?« Er war unsagbar enttäuscht, verletzt, gedemütigt. Und auch ein bißchen wütend. Schließlich hatte er auch seinen Stolz. Was wollte sie eigentlich? War er nicht Dirk DeJong, der Tüchtigste und Erfolgreichste unter all den jungen Männern in Chikago? Hatten ihn nicht alle gern? Was tat sie schließlich anderes als Reklamebilder entwerfen? »Was wird eigentlich aus den Männern, die sich in Sie verlieben? Was fangen sie an?« Dallas rührte nachdenklich in ihrer Kaffeetasse. »Meistens erzählen sie es mir.« »Und was weiter?« »Dann geht es ihnen schon etwas besser, und wir werden dicke Freunde.« »Aber verlieben Sie sich denn niemals in einen von ihnen?« Sie war ihrer selbst so sicher. »Sie verlieben sich wohl niemals?« »O doch, fast immer«, erwiderte Dallas. Dirk war sprachlos. »Vielleicht könnte ich Ihnen doch manches bieten, was Sie nicht haben, wenn ich auch nur ein rosa Nichts bin.« »Ich gehe im April nach Frankreich. Nach Paris.«
»Was soll das heißen? Nach Paris! Weshalb?«
»Ich will arbeiten. Lernen. Porträts malen. In öl wo-
möglich.«
Er war bestürzt. »Können Sie das nicht hier ebenso-
gut?«
»O nein. Hier finde ich nicht, was ich brauche. Ich habe
schon eine Zeitlang hier studiert, dreimal in der Woche
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abends in der Kunstschule Akt gezeichnet, nur um in der Übung zu bleiben.« »Also da stecken Sie immer am Abend.« Er war seltsam erleichtert. »Darf ich nicht einmal mitkommen? Bitte.« Sie nahm ihn eines Abends wirklich mit und steuerte ihn geschickt an dem langen Iren vorbei, der den Zugang zu den unteren Klassenzimmern zu beaufsichtigen hatte. Sie holte aus ihrem Schließfach Malkittel und Pinsel und lief eilends mit ihm in den Saal. »Sprechen Sie nicht«, warnte sie ihn, »es stört die anderen. Die würden sich wundern, wenn sie mal in meine Bude gerieten!« Sie traten in ein schmales, unbarmherzig helles, überheiztes Zimmer mit weiß getünchten Wänden. Staffele! stand dicht an Staffelei. Davor Männer und Frauen, Pinsel in der Hand, in ihre Arbeit vertieft. Dallas ging auf ihren Platz und machte sich sofort ans Werk. Dirk blinzelte in dem grellen Licht, dann sah er nach dem Podium hin, auf das sie alle von Zeit zu Zeit die Blicke richteten. Eine nackte Frau lag darauf. Dirk verlor beinahe die Fassung. »Um Himmels willen, sie hat ja überhaupt nichts an«, sagte er zu sich selbst. »Donnerwetter, das ist ein starkes Stück. Sie hat nicht das geringste am Leibe.« Trotzdem gab er sich die größte Mühe, gleichmütig und kritisch auszusehen. Überraschenderweise war er nach kurzer Zeit, nachdem er den ersten Schrecken überwunden hatte, soweit, daß er nicht nur unbefangen aussah, sondern sich auch tatsächlich so fühlte. Die Klasse malte die ganze Figur in Öl. Das nackte Mädchen vorn auf dem Podium hatte eine Haut wie Samt. Ungezwungen glitt sie ganz von selbst in die richtigen Stellungen. Ihre Haare waren in künst 308
liehe Wellen gelegt, ihre Nase einfach gewöhnlich, und die Perlengehänge an ihren Ohren stammten aus einem billigen Warenhaus, aber ihr Rücken und ihre Brüste hätten der schönen Helena Ehre gemacht. Nach zwanzig Minuten empfand Dirk bereits ein sachliches Interesse für Töne, Schattierungen, Farben und Linien. Er hörte die mit leiser Stimme vorgetragenen Erklärungen des Professors und prüfte sorgfältig mit zusammengekniffenen Augen, ob ein bestimmter Schat ten auf dem Magen des Modells wirklich braun oder doch lieber blau gemalt werden sollte. Sogar er konnte sehen, daß Dallas' Zeichnung denen der anderen Kunstschüler und -Schülerinnen fast beleidigend überlegen war. Unter dem Fleisch auf ihrem Zeichenkarton waren Muskeln, und unter den Muskeln Blut und Knochen. Man spürte sofort, daß sie wie ein Chirurg über die menschliche Anatomie Bescheid wußte. Das war es auch, was ihre Werbeplakate so wirksam machte. Die Zeich nung, die sie für die Aktienabteilung der Handels- und Kreditgesellschaft entworfen hatte, war im Thema durchaus konventionell. Aber durch die Ausführung, die Technik fiel sie aus dem Rahmen. Dirk zweifelte nicht daran, daß ihre ölporträts, falls sie jemals welche machen sollte, ungemein lebendig und überzeugend werden müßten. Ach, es wäre ihm lieber gewesen, wenn sie nicht danach gestrebt hätte, Ölbilder zu malen. Er wünschte sich ... Es war nach elf, als sie aus dem Kunstinstitut heraustraten. Sie blieben einen Augenblick oben auf der breiten Steintreppe stehen und betrachteten die Welt zu ihren Füßen. Dallas sagte nichts. Plötzlich überflutete Dirk die Schönheit der Nacht und überwältigte ihn. Glanz und Flitter, Farbe und blauschwarze Dunkelheit. 309
Zur Rechten ragte der weiße Turm des Wrighley-Gebäudes geisterhaft gegen den Hintergrund des purpurfarbenen Himmels empor. Auf der ihnen zugewandten Seite funkelte eine Schar koboldartiger weißer und scharlachroter Lichter ihre Botschaft in die Welt. Zuerst in Weiß: Besuchen Sie Danach schwarze Finsternis, während man gegen seinen Willen wartete. Dann in Rot: die Weltausstellung Wieder Finsternis. Endlich in einer wahren Lichtflut von beiden Farben in großen Buchstaben: SIE SPAREN GELD
Unmittelbar vor ihnen spannte sich über die Adamstraße der Stadtbahnbogen wie eine venezianische Brücke, und darunter floß der schwarze Kanal des Asphalts träge dahin. Der Widerschein aus den erleuchte ten Fenstern von Kaffeehäusern und Tabakgeschäften säumte beide Ufer des Kanals mit schimmernden Lichtpunkten. »Schön«, sagte Dallas. Ein tiefes Atemholen. Sie war ein Teil von alledem. »Ja.« Er fühlte sich ausgeschlossen. »Wollen Sie ein Butterbrot? Sind Sie hungrig?« »Ich habe einen Hunger wie ein Wolf.« Sie aßen ein belegtes Brot und tranken eine Tasse Kaffee in einer der stets geöffneten Imbißstuben, weil Dallas fand, daß ihr Gesicht für eine vornehme Gast 310
Stätte zu schmutzig sei, und weil sie sich nicht erst noch waschen wollte. Sie war an diesem Abend viel zugäng licher als sonst; ein bißchen müde; weniger tatkräftig und unabhängig als gewöhnlich. Das gab ihr beinahe einen Anflug von Hilflosigkeit, von Abspannung, was Dirks Zärtlichkeit erweckte. Sie lächelte ihn an, und ein Strom tiefer Glückseligkeit überflutete ihn - bis er bemerkte, daß sie genauso freundlich den jungen Mann anlächelte, der über den funkelnden vernickelten Kaf feebehälter herrschte, während sie ihm versicherte, daß sein Kaffee großartig sei.
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Alles hatte plötzlich für Dirk an Bedeutung verloren, was ihm noch vor kurzem wichtig erschienen war. Mit einem Male fand er die Leute langweilig, an deren Bekanntschaft ihm bisher soviel gelegen hatte. Die Spiele, mit denen er sich beschäftigt hatte, kamen ihm jetzt töricht vor. Er sah alles mit den klugen, schönheits liebenden Augen von Dallas O'Mara an. Aber seltsam, er kam noch immer nicht dahinter, daß das Mädchen dem Leben gegenüber fast genau denselben Standpunkt einnahm wie seine eigene Mutter. In den letzten paar Jahren hatte ihn Selina durch ihre Einstellung zu seinen wohlhabenden und einflußreichen Freunden häufig vor den Kopf gestoßen. Sie mißbilligte die Art, wie sie sich benahmen, wie sie lebten und sich amüsierten. Er wiederum fand an den Gewohnheiten seiner Mutter manches auszusetzen. Sooft er sie draußen auf der Farm
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besuchte — es war in der letzten Zeit recht selten vorgekommen -, fand er irgendeine weibliche Jammergestalt in der Küche oder im Wohnzimmer oder auf der Veranda, ein Häufchen Elend mit trostlosen Augen, das unzählige Tassen Kaffee hinunterstürzte und Selina sein Leid klagte. Diese Frauen rochen aufdringlich nach Pfefferminz, Schweiß und Armut. »Und er hat nicht ein bißchen Arbeit mehr seit November -« »Wirklich? Wie schrecklich.« Manchmal fuhr der alte Hempel hinaus zu Selina, und Dirk überraschte die beiden, wie sie mit boshaftem Spott über die Leute im Nordviertel herzogen. Selina kicherte zuweilen wie ein ungezogenes kleines Mädchen über Dinge, die Dirk vollständig ernst genom men hatte. Über die Fuchsjagden zum Beispiel. Die Leute von Lake Forest waren plötzlich auf Fuchsjagden verfallen und hielten sich Meuten. Paula hatte im Sturmwald ein Jagdfrühstück gegeben, und es war ein großer Erfolg gewesen, wenn auch die Amerikaner ein bißchen auf die gerösteten Nieren geschimpft hatten. Mit dem Essen hatte man sich nämlich so weit wie möglich nach englischem Vorbild gerichtet: es gab die gleichen kraftlosen, schwabbeligen Fleischspeisen wie bei den englischen Jagdfrühstücken, die in lauwarmem Dampf zubereitet werden, bis sie fast nicht mehr genießbar sind. Den Fuchs - ein verstörtes und elend aussehendes Geschöpf — hatte man sich in einem Korb aus dem Süden kommen lassen. Als man ihn freiließ, setzte er sich freilich in das nächste Kornfeld, anstatt davonzulaufen und Deckung zu suchen. Am Ende der Jagd hatte man das peinliche Gefühl, eine Küchenschabe erlegt zu haben. Dirk hatte Selina davon erzählt. Das war doch einmal etwas Besonderes! Eine Fuchsjagd. 312
»Eine Fuchsjagd! Worauf?« »Worauf? Ja worauf jagt man bei einer Fuchsjagd?« »Ich kann es mir nicht vorstellen. Früher wollte man wohl damit die Gegenden von schädlichem Raubzeug befreien. Gibt es denn eine Fuchsplage in Lake Forest?« »Na, Mutter, sei nicht komisch.« Er erzählte ihr von dem Frühstück. »Ja, aber es ist doch wirklich zu albern, Dirk. Es ist durchaus richtig, wenn man einem anderen Volk das nachmacht, was es besser versteht als man selbst. England hat viel bessere Gärten und Holzfeuer und Hunde und Stoffe und Sportschuhe und Pfeifen und viel mehr gesellige Kultur als wir. Aber ihre lauwarmen, ausgelaugten Jagdfrühstücke! Das liegt doch nur daran, daß die meisten Leute dort auf dem Lande kein Gas haben. Keine Bauersfrau aus Kansas oder Nebraska würde sich solch eine Küche gefallen lassen - keine Minute würde sie es darin aushaken. Und die Knechte und Mägde würden über solchen Speck fluchen!« Sie kicherte. »Nun, wenn du so darüber sprichst...« Aber Dallas O'Mara dachte genauso. Dallas schien seit dem Porträt von Mrs. Robinson Gilman bei den Leuten im Millionenviertel in Mode gekommen zu sein. Es reg nete Einladungen zu Diners, Gesellschaften und Bällen. Aber sie erklärte Dirk, daß das Gehabe dieser Leute sie langweile. »Sie sind ja sehr nett«, sagte sie, »aber sie haben keinen Humor. Jeder versucht etwas zu sein, was er im Grunde gar nicht ist. Und das ist recht anstrengend. Die Frauen erklären einem beständig, daß sie nur in Chikago wohnten, weil ihre Männer dort ihr Geschäft hätten. Sie verstehen von allem etwas — sie tanzen, malen, 313
reiten, singen und schreiben —, aber nichts von alledem können sie wirklich. Sie sind berufsmäßige Dilettanten, die sich bemühen, etwas auszudrücken, was sie gar nicht fühlen oder nicht so stark fühlen, daß es der Mühe wert wäre, es auszudrücken.« Sie mußte allerdings zugeben, daß sie wenigstens die Leistungen anderer Leute zu würdigen verstanden. An erkannte Schriftsteller, Maler, Gelehrte und Sportsleute wurden in ihren italienischen, englischen, spanischen oder französischen Palästen großzügig und gastfreund lich aufgenommen. Vor allen Dingen ausländische Be rühmtheiten. Seit 1918 war ein Heuschreckenschwarm von solchen Leuten über Chikago (und ganz Amerika) hereingebrochen. Scharenweise kamen sie in New York an, strömten von dort nach Westen und nahmen von dem Dollarsegen soviel mit, wie sie konnten. Nach Eu ropa zurückgekehrt, schrieben sie über das, was sie ge sehen hatten, und das Ergebnis zeugte nicht gerade von gutem Geschmack. Die Hausfrauen im Nordviertel rissen sich um die Ehre, diese Berühmtheiten zu bewirten. Und Paula ging aus diesem Wettstreit sehr oft als Siegerin hervor, denn sie war hübsch, klug, reich und gerissen. Ihr letzter Fang war Emile Goguet - General Emile Goguet, der Held der Champagneschlacht, einarmig, mit steifem weißen Bart und zahllosen Orden. Er war offiziell als Gast der amerikanischen Division gekommen, die zusammen mit den französischen Truppen in der Champagne gekämpft hatte. In Wirklichkeit aber sollte er die freundschaftlichen Beziehungen zwischen seinem Lande und den etwas gleichgültigen Vereinigten Staaten wiederherstellen. »Und rate«, frohlockte Paula, »rate, wer mit ihm 314
kommt, Dirk. Rolf Pool, der berühmte französische Bildhauer! Goguet wird bei mir zu Gast sein. Pool soll eine Büste von dem jungen Quentin Roosevelt machen nach einer Photographie, die Mrs. Theodore Roosevelt ...« »Was heißt das - französischer Bildhauer! Er ist ebensowenig Franzose, wie ich einer bin. Er ist keine zwei Meilen von unserer Farm auf die Welt gekommen. Seine Angehörigen waren holländische Gemüsefarmer. Sein Vater hat in High Prairie gewohnt und ist vor einem Jahr an einem Schlaganfall gestorben.« Als er Selina von Rolfs bevorstehender Ankunft erzählte, errötete sie wie ein junges Mädchen. Das tat sie noch manchmal, wenn sie sehr erregt war. »Ja, ich habe es in der Zeitung gelesen. Ich bin gespannt«, fügte sie still hinzu, »ob ich ihn sehen werde.« An demselben Abend sah man sie mit gekreuzten Beinen vor der alten geschnitzten Truhe sitzen und die verblichenen, unansehnlichen Gegenstände, an deren Aufbewahrung Dirk Kritik geübt hatte, einen nach dem anderen in die Hand nehmen: die unbeholfene Skizze vom Heumarkt, das weinrote Kaschmirkleid, ein paar verwelkte Blumen. Paula gab am zweiten Abend ein Diner. Sie traf die Vorbereitungen besonders sorgfältig und war voll angenehmer Erwartung. »Es heißt«, erzählte sie Dirk, »Goguet esse nichts als hartgekochte Eier und Zwiebäcke. Und sein Steckenpferd sei seine Farm in England. Pool ist wundervoll - dunkel und ernst. Mit sehr weißen Zähnen.« Paula war die ganze Zeit über in Hochstimmung. Dirk fand das übertrieben. Ihre nervöse Geschäftigkeit war unerschöpflich - und beanspruchte einen bis zur Er-
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Schöpfung. Dirk wollte es sich nicht eingestehen, wie müde er ihres vornehmen blaßgelben herzförmigen Gesichts, ihrer schmalen braunen gierigen Hände und ihrer Besitzermiene war. Alles was mit ihr zusammenhing, begann er zu hassen, ähnlich wie einem ungetreuen Gatten die unschuldigen Angewohnheiten seiner ahnungslosen Frau auf die Nerven fallen können. So scheuerte sie zum Beispiel beim Gehen leicht mit den Hacken aneinander. Dies brachte ihn zur Verzweiflung. Dallas machte ihn niemals kribbelig. Sie wirkte im Gegenteil eher beruhigend auf ihn. Er mochte sich noch so gegen sie wappnen, eine Minute später versank er doch dankbar und widerstandslos in die ruhigen Tiefen ihres Wesens. Manchmal glaubte er, ihre Gelassenheit sei nur gespielt. »Diese Ruhe - diese Unbeschwertheit bei Ihnen ist Pose, nicht wahr?« »Teilweise«, hatte Dallas freundlich erwidert. »Aber eine hübsche Pose, finden Sie nicht?« Was sollte man mit so einem Mädchen anfangen! Das war die Frau, die ihn hätte fesseln können, und sie streckte noch nicht einmal den kleinen Finger aus, um ihn zu halten. Er rüttelte an der Mauer, die ihre Gleichgültigkeit zwischen ihnen aufrichtete, und verwundete sich nur die Hände dabei. »Haben Sie mich deshalb nicht gern, weil ich ein guter Geschäftsmann bin?« »Aber ich habe Sie wirklich gern!« »Also finden Sie mich deshalb nicht anziehend?« »Oh, ich halte Sie für einen außerordentlich anziehenden Mann ... für geradezu gefährlich.« »Ach, spielen Sie nicht die Unschuld mit den großen, erstaunten Augen. Sie wissen ganz genau, was ich meine. Ich bin Ihnen ausgeliefert, und Sie wollen nichts von 316
mir wissen. Wäre es anders, wenn ich kein tüchtiger Kaufmann, sondern ein berühmter Architekt wäre?« Er mußte daran denken, was seine Mutter vor ein paar Jahren in der denkwürdigen Unterhaltung an ihrem Bett zu ihm gesagt hatte. »Ist es das? Können Sie wirklich nur für einen Künstler tieferes Interesse haben?« »Lieber Himmel, nein! Eines Tages werde ich wahrscheinlich einen Mann mit schwieligen Arbeitshänden heiraten, und gerade deshalb wird er mich gewinnen. Männer, die sich alles haben hart erkämpfen müssen, sind etwas Besonderes ... ich weiß nicht, was es ist, vielleicht ein Blick in ihre Augen oder ein Händedruck. Sie brauchen es nicht unbedingt weit gebracht zu ha ben - aber tatsächlich sind sie meistens erfolgreich. Ich weiß nicht. Ich kenne mich auf psychologischem Gebiet nicht aus. Ich weiß nur, daß der Mann, den ich ... Sie tragen keine Zeichen an sich. Kein einziges. Sie haben die Architektur, oder was es sonst war, an den Nagel gehängt, weil sie seinerzeit eine ziemlich aussichtslose Sache war. Ich sage nicht etwa, daß Sie hätten dabeibleiben sollen. Denn soviel ich weiß, waren Sie nicht gerade ein hervorragender Architekt. Aber wenn Sie dabeigeblieben wären, wenn Sie genug Liebe zur Sache gehabt hätten, um durchzuhalten, um den Kampf aufzunehmen und nicht locker zu lassen ... dann würde man die Spuren dieses Kampfes heute in Ihrem Gesicht lesen können - in Ihren Augen und an Ihrem Kinn, an Ihren Händen und an Ihrer Art zu gehen und zu stehen, zu sitzen und zu sprechen. Hören Sie, ich will Sie nicht kritisieren. Aber Sie sind zu glatt. Mir ist das Ruppige lieber. Ich weiß, das klingt sehr schroff. Es ist auch nicht eigentlich das, was ich meine. Ich meine ...« »Oh, es macht nichts«, sagte Dirk mühsam. »Ich glaube, 317
ich weiß, was Sie meinen.« Er betrachtete seine Hände - wohlgepflegte weiße Hände ohne Schrunden und Schwielen. Plötzlich und ohne Zusammenhang mußte er an ein anderes Händepaar denken ... an die Hände seiner Mutter, die vergröberten Knöchel, die aufgesprungene Haut - ausdrucksvolle Hände, in denen die Geschichte ihres Lebens geschrieben stand. Schrunden! Da waren sie. »Hören Sie, Dallas. Wenn ich wüßte ... nehmen Sie an, ich ginge zurück zu Hollis & Sprague und finge zu vierzig Dollar die Woche von vorn an. Glauben Sie, daß Sie dann ...« »Tun Sie das nicht!«
2O
General Goguet und Rolf Pool waren bereits eine Nacht und einen halben Tag in Chikago. Dirk war noch nicht mit ihnen zusammengetroffen. Er sollte sie an diesem Abend auf Paulas Diner kennenlernen. Er war auf Pool sehr gespannt. Der General war ihm ziemlich gleichgültig. Ruhelos, unglücklich, voller Sehnsucht nach Dallas (er gestand es sich mit Bitterkeit ein) ging er schließlich zu einer ungewohnten Zeit gleich nach dem Mittagessen zu ihr und hörte schon vor der Tür vergnügte Stimmen und Gelächter. Warum konnte sie auch nie allein arbeiten und hatte ständig dieses Gesindel um sich! Dallas, im schmutzigen Kittel und in den alten Hausschuhen, unterhielt sich mit zwei von der Chikagoer Gesellschaft Gefeierten: General Emile Goguet und 318
Rolf Pool. Alle drei waren in ausgelassener Stimmung. Sie stellte Dirk so beiläufig vor, als ob die Anwesenheit der beiden das Natürlichste von der Welt wäre. »Dirk DeJong - General Emile Goguet. Wir waren zusammen in Frankreich. Dasselbe gilt von uns beiden, nicht wahr, Rolf?« General Emile Goguet verbeugte sich förmlich, aber mit lustig zwinkernden Augen. Rolf Pools dunkles Gesicht leuchtete vor Überraschung und Freude. Er kam schnell auf Dirk zu und ergriff seine Hand. »Dirk DeJong! Kennen Sie mich denn nicht? Ich bin Rolf Pool!« »Ich sollte Sie wohl kennen«, sagte Dirk. »Oh, ich bin freilich ... ich habe Sie gekannt, als Sie noch ein ganz kleines Kind waren. Sie sind Selinas Dirk! Nicht wahr? Meine Selina. Ich will heute nachmittag hinausfahren und sie besuchen. Ihretwegen bin ich hauptsächlich hier. Ach, wie ich mich freue!« Er sprach und lachte aufgeregt durcheinander wie ein kleiner Junge. »Sie sind ausgerissen«, erklärte Dallas. »Obwohl man für heute nachmittag ein glänzendes Programm für sie vorbereitet hatte. Ich weiß wirklich nicht, wie die Franzosen in den Ruf besonderer Höflichkeit gekommen sind. Der General ist ein richtiger Bär. Frauen kann er nicht ausstehen. Im übrigen ist er der einzige französische General, der sich die Mühe gemacht hat, Englisch zu lernen.« General Goguet nickte beifällig und lachte dröhnend. »Und Sie?« fragte er Dirk in tadellosem Englisch. »Sie sind auch ein Künstler?« »Nein«, sagte Dirk, »kein Künstler.« »Was sind Sie dann?« 319
»Ja, hm ... Kaufmann. Im Bankwesen.« »Aha«, sagte General Goguet höflich. »Aktien. Nicht schlecht. Wir Franzosen mögen Aktien sehr gern. Vor amerikanischen Aktien haben wir großen Respekt — wir Franzosen.« Er nickte und blinzelte und wandte sich wieder Dallas zu. »Wir fahren alle zusammen«, verkündete Dallas und stürzte in das kleine Schlafzimmer neben dem Atelier. Das war ja nun wieder reichlich formlos. »Wohin?« verlangte Dirk zu wissen. Auch der General schien erstaunt. Rolf erklärte freundlich: »Es ist ein Komplott. Wir wollen alle hinaus zu Ihrer Mutter fahren. Sie kommen mit, ja? Sie müssen einfach mitkommen.« »Mitkommen?« warf jetzt General Goguet ein. »Wohin sollen wir denn? Ich dachte, wir blieben gemütlich hier? Hier ist es schön still, kein Empfangskomitee weit und breit.« Man hörte an seinem Ton, wie enttäuscht er war. Rolf machte ihm die Sache klar. »Herrn DeJongs Mutter hat eine Farm. Erinnern Sie sich nicht? Ich habe Ihnen doch unterwegs im Schiff alles über sie erzählt. Sie war unendlich gut zu mir, als ich noch ein kleiner Junge war. Der erste Mensch, der mir die Augen dar über öffnete, was Schönheit ist. Sie ist wundervoll. Sie zieht Gemüse.« »Ach richtig, eine Farm! Ich bin auch ein Farmer.« Er schüttelte Dirk von neuem die Hand. Zum erstenmal schien er ihm etwas Aufmerksamkeit zu schenken. »Natürlich gehe ich mit. Weiß meine Mutter, daß wir kommen? Sie hoffte so sehr, Sie zu sehen, aber sie dachte, Sie wären so berühmt geworden -« »Warten Sie nur, bis ich ihr alles erzählt habe. Wie ich mit fünf Franken in der Tasche in Paris landete. Nein 320
sie weiß nicht, daß wir kommen, aber sie wird doch sicher zu Hause sein? Ich habe es im Gefühl, daß sie da sein wird, genau dieselbe wie früher.« »Sie ist bestimmt zu Hause.« Es war Frühlingsanfang, die Zeit, wo es auf der Farm am meisten zu tun gab. Dallas kam in Mantel und neuem Frühjahrshut wieder zum Vorschein. Sie winkte ihrer getreuen Sekretärin lachend zu. »Sag allen Leuten, die etwas von mir wollen, der Frühling habe mich hinausgelockt. Und wenn der Junge kommt und das Bild holen will, so sage ihm, es sei erst morgen fertig.« Sie liefen die Stufen hinunter und stiegen in das mäch tige Auto, das man den Gästen zur Verfügung gestellt hatte. Sie bogen in die Michigan-Allee ein und wandten sich dann nach Süden. Während Chikago sonst im April oft grau und trübe aussieht, prangte es heute in Gold und Blau. Die Luft war scharf, aber in dem herben Frühlingswind lagen tausend freundliche Verheißungen. Dallas und Pool vertieften sich in Pariser Pläne und Erinnerungen. »Wissen Sie noch, wie wir ... alle zusammen hatten wir nur sieben Francs und das Essen kostete ... Sie kommen doch bestimmt im Juni ... Ölfarben ... Sie haben das gewisse Etwas, Dallas ... Sie werden eine Berühmtheit ... Denken Sie daran, was Vibray sagte ... Studium ... Arbeit...« Dirk fühlte sich elend. Er machte General Goguet auf alle möglichen interessanten Dinge aufmerksam. Sech zig Meilen Boulevard. Das Parksystem, das beste in Amerika. Grand Boulevard, Drexel-Boulevard, Jack sonpark. Überlandzüge in Illinois - abscheulich. Aber man würde sie bald alle elektrifizieren, dann würde es viel weniger Schmutz geben. Die Halsteder Straße, die längste der Welt. 321
»Aha«, sagte der General höflich. »Soso. Gewiß. Höchst interessant.« Da war schon rechts und links die gute schwarze Gar tenerde von High Prairie. Die ersten grünen Spitzen lugten hervor. Mistbeete. Gewächshäuser. Die Farm. Hübsch und schmuck sah sie aus. Weiß mit grünen Fen sterläden (Selinas Traum hatte sich erfüllt) winkte das Haus zwischen den Weidenbäumen, die unter dem Hauch eines milden Frühlings schon ausgeschlagen waren. »Aber sprachen Sie vorhin nicht von einer ganz kleinen Farm?« sagte General Goguet, als sie aus dem Wagen stiegen. Er musterte die Felder. »Sie ist klein«, beteuerte Dirk. »Nur etwa vierzig Mor gen!« »O ihr Amerikaner! In Frankreich wirtschaften wir in viel kleinerem Maßstab. Wir haben nicht das Land. Die großen weiten Flächen.« Er schwenkte den rechten Arm. Selina war nicht in dem hübschen stillen Hause. Auch nicht auf der Veranda oder im Hof. Meena Bras, phleg matisch und gleichgültig wie immer, kam aus der Küche. Frau DeJong sei auf dem Felde. Sie werde sie rufen. Das tat sie, indem sie dreimal und noch dreimal in ein Hörn stieß, das an einem Haken an der Wand hing. Sie stand in der Küchentür, dem Felde zugewandt, und blies, daß ihre roten Backen sich aufblähten. »Jetzt kommt sie gleich«, versicherte sie und ging wieder an ihre Arbeit. Die vier standen auf der Veranda und erwarteten Selina. Dirk war ein wenig geniert und schämte sich zu gleich, daß er so empfand. Dann sahen sie sie kommen. Dunkel hob sich ihre kleine 322
Gestalt gegen Sonne, Himmel und Erde ab. Sie ging eilig, aber mit schweren Schritten, denn die feuchte Erde blieb an ihren Schuhen kleben. Die vier auf der Veranda sahen ihr entgegen. Als sie näherkam, konnte man erkennen, daß sie ihren dunklen Rock über den Knöcheln hochgesteckt hatte, und doch war er ringsum mit Schmutzflecken bespritzt. Ein derber, grauwollener Pullover umschloß eng ihren geraden, schmalen Oberkörper. Auf dem Kopf trug sie einen zerbeulten schwarzen Filzhut. Die Füße in den breithackigen bequemen Schuhen hob sie hoch aus dem zähen, klebrigen Boden. Sie nahm den Hut ab und hielt ihn auf der einen Seite gegen die Sonne, um besser sehen zu können. Ihre Haare wehten in der Frühlingsluft, Ihre Wangen waren zart gerötet. Sie kam jetzt den Fußweg herauf und konnte die Gesichter unterscheiden. Sie sah Dirk; lächelte und winkte ihm zu. Fragend ging ihr Blick zu den anderen - dem Weißbärtigen in Uniform, dem hochgewachsenen Mädchen und dem schlanken Mann mit dem lebendigen, dunklen Gesicht. Dann blieb sie plötzlich stehen und fuhr wie in jähem Schrecken mit der Hand nach dem Herzen. Ihre Lippen standen halb offen, und ihre Augen erschienen unnatürlich groß. Als Rolf schnell auf sie zuging, lief sie ihm wie ein junges Mädchen entgegen. Er nahm die leichte Gestalt in dem schmutzbespritzten Rock, dem derben grauen Pullover und dem zerbeulten alten Hut fest in die Arme.
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Sie tranken im Wohnzimmer Tee. Dallas stöhnte fast vor Entzücken über das alte holländische Tonservice. Selina unterhielt ihre Gäste mit so strahlender Miene, als wäre sie in Samt und Seide gekleidet. Sie und General Goguet hatten auf den ersten Blick Freundschaft ge schlossen, zumal sie sich auf der gemeinsamen Basis der Spargelkultur trafen. »Und wie dick?« hatte er gefragt, denn er besaß selbst Spargelbeete auf seinem Gut in England. »Wie dick sind sie unten?« Selina beschrieb einen Kreis mit Daumen und Zeigefinger. Der General brummte vor Neid. Er fühlte sich sehr behaglich und nahm Unmengen von Tee und Kuchen zu sich. Seine Augen sagten Selina die größten Schmeicheleien. Und Selina hatte Grübchen in den Wangen und errötete und lachte wie ein junges Mädchen. Aber im Grunde hatte sie nur Augen und Ohren für Rolf. Nur mit ihm beschäftigten sich ihre Gedanken, wenn sie schwieg und die anderen sprachen. Es war so, als wäre ihr einziger Sohn nach Hause zurückgekehrt. Ihr Gesicht leuchtete und war schön. Dallas, die neben Dirk saß, flüsterte ihm zu: »Sehen Sie, das meine ich! Das meine ich, wenn ich sage, ich möchte Porträts malen. Nicht Porträts von Damen mit Perlenkette und einer lilienweißen, in den Falten ihres seidenen Kleides halb verborgenen Hand. Ich meine Charakterköpfe von Männern und Frauen, die wirklich vornehm und besonders aussehen - besonders amerikanisch zum Beispiel - wie Ihre Mutter.« Dirk warf ihr einen raschen Blick zu, ungewiß, ob sie im Scherz oder im Ernst spräche. Aber sie lächelte nicht. 324
»Meine Mutter!« »Ja, wenn sie es mir erlauben würde. Was hat sie für ein wundervolles Gesicht, von innen heraus leuchtend! Und diese Linie am Kinn wie bei den ersten Frauen, die mit der >Mayflower< herübergekommen oder in einem Planwagen durch den ganzen Kontinent gefahren sind. Und ihre Augen! Und das ruppige alte Ungetüm von Hut und die weiße Hemdbluse und dann die Hände. Sie ist schön. Sie würde mich mit einem Schlag berühmt machen. Sie würden schon sehen!« Dirk starrte sie sprachlos an. Er schien sie nicht zu verstehen. Dann wandte er sich in seinem Stuhle um und betrachtete unverwandt seine Mutter. Selina unterhielt sich mit Rolf. »Du hast Büsten von fast allen berühmten Männern in Europa gemacht, Rolf! Wenn man sich das vorstellt! Du hast die ganze Welt gesehen und sie dir erobert. Der kleine Rolf Pool. Und ganz allein. Allen Hindernissen zum Trotz.« Rolf beugte sich zu ihr und legte seine Hand auf ihre. »Kohl ist wunderschön«, sagte er. Und sie lachten beide wie über einen köstlichen Spaß. Dann wurde er wieder ernst. »Aber was für ein reiches Leben haben auch Sie gehabt, Selina. Ein Leben voller Reichtum und Erfüllung!« »Ich!« rief Selina. »Ach Rolf, ich habe die ganzen Jahre hier in High Prairie gesessen, an derselben Stelle, wo du mich damals verlassen hast. Ich glaube, ich habe noch dasselbe Kleid an und denselben Hut auf. Ich bin nirgends gewesen, habe nichts getan und nichts gesehen. Wenn ich daran denke, was ich alles sehen wollte! Und was ich alles tun wollte!« »Sie sind überall in der Welt gewesen«, sagte Rolf. »Sie haben alles gesehen, was schön und licht ist. Erinnern Sie sich, Sie erzählten mir einst, was Ihr Vater Ihnen in
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Ihrer Jugend gesagt hat: daß es in der Welt nur zwei Sorten Menschen gäbe, auf die es wirklich ankomme. Die einen schaffen die Grundlagen des Lebens in mühsamer Arbeit, die anderen bringen Schönheit in die Welt. Sie gehören zu den ersten, Selina!« »Und du zu den anderen, Rolf Pool.« Der General hörte interessiert zu, verstand aber offenbar nicht, wovon sie sprachen. Jetzt warf er einen Blick auf seine Armbanduhr und fuhr in die Höhe. »O je, das Diner! Unsere freundliche Gastgeberin, Frau Storni! Es macht Spaß, davonzulaufen, aber einmal muß man wohl oder übel zurückkehren. Was soll unsere schöne Gastgeberin von uns denken!« »Sie ist sehr schön, nicht wahr?« sagte Selina. »Nein«, erwiderte Rolf schroff. »Der Mund ist kleiner als die Augen. Bei Frau Storm ist von hier bis da« - er wandte sich zu Dallas und berührte erklärend leicht ihre Lippen und ihre Augen mit seinen schlanken, kräftigen Händen - »weniger Abstand als von hier bis da. Wenn der Mund kleiner ist als die Augen, kann man nicht von wahrer Schönheit sprechen. Sehen Sie dagegen Dallas an -« »Jawohl«, unterbrach ihn Dallas lachend. »Mein Mund dürfte groß genug sein. Wenn ein großer Mund für Sie der Inbegriff der Schönheit ist, dann muß ich Ihnen so schön wie Helena vorkommen, Rolf.« »Das tun Sie auch«, sagte Rolf einfach. Eine Stimme in Dirk wiederholte unaufhörlich: Du kannst dich begraben lassen, Dirk DeJong. Du kannst dich begraben lassen. — Wieder und wieder. »O diese Diners!« rief der General. »Ich will gewiß nicht undankbar sein, aber diese Diners! Wieviel lieber bliebe ich hier auf dieser ruhigen, schönen Farm.« 326
Auf den Stufen der Veranda wandte er sich um,
klappte die Hacken zusammen, verbeugte sich tief,
nahm Selinas rauhe, verarbeitete Hand und küßte sie.
Und als sie errötend lächelte und nicht wußte, was sie
sagen sollte, küßte ihr Rolf ebenfalls zart die Hand.
»Himmel«, sagte Selina mit einem weichen, vibrieren
den Lachen, »noch nie im Leben hat mir ein Mensch die
Hand geküßt!«
Sie stand auf den Verandastufen und winkte ihnen zu,
als sie rasch davonfuhren, eine schmale, aufrechte kleine
Gestalt in der einfachen weißen Bluse und dem
schmutzbespritzten Rock. »Sie kommen doch wieder?«
hatte sie Dallas gefragt. Und Dallas hatte ja gesagt, aber
hinzugefügt, zunächst gehe sie zum Studium nach Paris.
»Darf ich Sie malen, wenn ich zurückkomme?«
»Mich?« rief Selina verwundert.
Als sie nun alle vier auf der asphaltierten Halsteder
Straße nach Chikago zurückfuhren, waren sie zufrieden
und ein wenig müde. Sie überließen sich dem berau-
schenden Duft des Frühlings, der in der Luft lag.
Rolf Pool nahm den Hut ab. In der grausam hellen
Frühlingssonne sah man, daß sein schwarzes Haar
schon an vielen Stellen grau schimmerte. »An solchen
Tagen wie heute mag ich einfach nicht glauben, daß
ich schon fünfundvierzig Jahre alt bin. Dallas, sagen
Sie mir, daß ich noch nicht fünfundvierzig bin.«
»Sie sind noch nicht fünfundvierzig«, sagte Dallas mit
ihrer ruhigen, liebkosenden Stimme.
Rolfs schmale braune Hand schloß sich herzlich um
Dallas' kräftige weiße Finger. »Wenn Sie es so sagen,
Dallas, hört es sich an, als ob es wahr wäre.«
»Es ist wahr«, erwiderte sie.
Das Auto setzte zuerst Dallas vor ihrem schäbigen alten
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Atelier ab, dann Dirk vor seiner eleganten kleinen Wohnung und fuhr weiter. Dirk drehte den Schlüssel im Schloß herum. Saki, der japanische Diener, schlüpfte geräuschlos in die Halle und begrüßte seinen Herrn mit kleinen Zischlauten. Auf dem vorschriftsmäßigen kleinen Tisch in der Diele lag ein säuberlich aufgeschichteter kleiner Stoß von Briefen und Einladungen. Dirk ging durch das Renaissance-Wohnzimmer ins Schlafzimmer. Der Japaner folgte ihm. Der korrekte Abendanzug (von Peel, dem englischen Herrenschneider am Michigan-Boulevard) lag tadellos ausgebreitet auf dem Bett - Oberhemd, Hose, Weste und Rock. »Was Neues, Saki?« »Frau Storm hat angerufen.« »So. Hat sie etwas ausrichten lassen?« »Nein. Sie will noch einmal anrufen.« »Gut, Saki.« Er entließ ihn mit einer Handbewegung. Der Diener ging und schloß die Tür leise hinter sich, wie es sich für einen japanischen Diener gehört. Dirk zog Rock und Weste aus und warf sie über den nächsten Stuhl. Er stand neben seinem Bett und sah auf den von Peel geschneiderten Gesellschaftsanzug hinab, auf die schimmernde gestärkte Hemdbrust. Ein Bad, dachte er stumpf und automatisch. Dann warf er sich plötzlich auf das Bett mit der kostbaren seidenen Steppdecke und lag dort, das Gesicht nach unten, ohne sich zu rühren. So lag er nach einer halben Stunde noch immer da, als das Telefon schrill und anhaltend läutete und Saki sanft und ehrerbietig an die Tür klopfte.
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