Klaus Störtebeker Band 10 Duell mit dem Teufel von Linda Warren Klaus Störtebeker adoptiert ein kleines Mädchen. Sein E...
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Klaus Störtebeker Band 10 Duell mit dem Teufel von Linda Warren Klaus Störtebeker adoptiert ein kleines Mädchen. Sein Edelmut beschert dem hart gesottenen Piraten Gefahren ohne Ende. Doch Störtebeker ist unbeugsam. Er ist bereit zu einem waghalsigen Kampf...
Der Sturm hatte sich ausgetobt, als der ›Rote Teufel‹ die Schärenbucht an der jütländischen Küste verließ. Dort hatten Klaus Störtebeker und seine Mannschaft in sicherer Hut abgewartet, bis sich das Unwetter legte. Haushoch waren die Wellen gegangen, hatten als Brecher krachend gegen die felsige Küste geschlagen. Die Gischt war bis hoch in den Himmel geschäumt, von einem rauen und heulenden Wind getragen, der an Wotans wilde Jagd erinnerte. Es war ein schweres und grauenvolles Unwetter gewesen. Nun lag die vorher tobende See wieder ruhig und jeder wusste, dass sie oft ihr Gesicht wandelte. Nordsee, Mordsee wurde sie nicht von ungefähr genannt. »Schönes Wetter, Gerrit«, sagte Störtebeker zu seinem Bootsmann Gerrit Wigbald, der für ihn durchs Feuer ging. »Und ein günstiger Wind. Wir werden das Skagerrak bald erreichen, wo Goedecke Micheel und die anderen auf uns warten. Dann suchen wir uns ein bequemes Winterquartier.« »Ich dachte, du willst rasch wieder zurück nach Strand, wo Beret auf dich wartet?«, fragte der Bootsmann, der wie Störtebeker ein wetterfestes Wams trug und enge Kniehosen und hohe Stiefel anhatte. Das Schwert, das Wahrzeichen des freien und wehrhaften Mannes, hing ihnen an der Seite. Störtebeker steuerte die Kogge mit dem hohen Mast, den das Krähennest, der Ausguck, krönte. Am Mast oben flatterte ein neutraler Wimpel, der einen Adlerkopf zeigte. Den Totenkopf mit den zwei gekreuzten Knochen, die Piratenflagge, musste man nicht unbedingt gleich vorweisen. »Ja«, antwortete Störtebeker auf Wigbalds Frage, »es zieht mich zurück zu Beret und ihrer Sippe. Ich kann sie nicht ohne Schutz lassen. Aber zuerst muss ich mit Goedecke und den anderen Kapitänen besprechen, was es im nächsten Frühjahr zu tun gibt und wie wir die Zeit bis dahin verbringen wollen. - Für mich ist es klar.« »Ist der Schutz, den du der schönen Beret angedeihen lassen willst, der einzige Grund, weshalb du zurück zu der Insel Strand willst?«, neckte Gerrit Wigbald den Kapitän. Störtebeker lächelte in seinen blonden Bart. Er sehnte sich sehr nach Beret, die er nach altem friesischem Ritus geheiratet hatte. Es 4
hatte sich so ergeben und außerdem war er ihr zugetan. Doch bei ihr bleiben und auf den friesischen Inseln leben konnte er nicht. Es zog ihn auf See und er würde ruhelos sein solange er lebte. Er beantwortete die Frage des Bootsmanns diesmal nicht, er lächelte nur. Er dachte an Berets Liebe, an ihre Leidenschaft. An ihre Wärme und Zärtlichkeit. Wie sich ihre Augen verschleierten, wenn sie sich ihm hingab. An den Klang ihrer Stimme, ihr Lachen, die Art, wie sie sich bewegte oder mit einem Schwung das blonde Haar zurückwarf. Zuletzt hatte er sie gesehen, als das Schwarze Schiff der tom Brokes, jenes mächtigen friesischen Clans, am Hafen von Strand ablegte. Störtebeker und der Schiffsjunge Hajo, den es mit ihm nach Strand verschlagen hatte, waren an Bord gewesen. Und Beißer, der Bastardhund, mit dem sich Störtebeker auf Strand anfreundete. Beret hatte ihm nachgeschaut, die Häuser des Dorfs Brokebüll und den Himmel mit den ziehenden Wolken hinter sich. Stolz und einsam war sie ihm erschienen, doch er konnte sich denken, wie sie die Trennung schmerzte. Das Schwarze Schiff, das geheime Piratenschiff der tom Brokes, brachte Störtebeker nach Jütland, wo ihn der ›Rote Teufel‹, sein Schiff, erwartete. Eigentlich war alles anders geplant gewesen, hatte er einen Hamburger Kauffahrer den Likedeelern in die Hände spielen wollen. Doch nun war es anders gekommen. Der Abschied von Keno tom Broke, dem rauen Friesenhäuptling, seinem wenn auch nicht nach kirchlicher und Reichssitte Schwiegervater, war rau und herzlich gewesen. »Lass dich bald wieder sehen, Klaus«, hatte ihm der Hüne Keno gesagt und seine derbe Faust auf seine Schulter krachen lassen. »Bei uns hast du immer einen Platz.« »Genau wie am Galgen.« Mit rauem Gelächter trennten sie sich. Acht Tage war das nun her. Nach dem Treffen mit seinen Gefährten im Skagerrak wollte Störtebeker zurück auf die Insel Strand, um dort bei Beret und seinen Verwandten den Winter zuzubringen. Wer ihm von seiner Mannschaft dabei Gesellschaft leisten wollte, konnte das. 5
Die meisten würden jedoch in eins der Seeräubernester an der schwedischen Küste wollen oder an der deutschen, um dort in Saus und Braus mit Marketenderware und käuflichen Frauen ihr Beutegut zu verprassen. Bei den Friesen auf Strand ging es weniger ausschweifend zu. Störtebeker rechnete also damit, den ›Roten Teufel‹, sein Stammschiff, nur notdürftig besetzen zu können. Im Frühjahr konnte er seine Mannschaft dann wieder aufstocken oder die alten Kameraden an Bord nehmen. Während des Winters war es zu kalt und stürmisch für die Seeräuberei, zudem lohnte es nicht, weil die Hanse allgemein ihre Schiffe im Winter nicht segeln ließ. Zu viele wären zugrunde gegangen. Das also waren Störtebekers Gedanken, als er dem Skagerrak entgegen segelte, dem Meeresarm der Nordsee zwischen Jütland und Norwegen. Der hoch gewachsene, breitschultrige Mann mit dem kühnen, wettergegerbten Gesicht war noch jung, doch er hatte schon mehr hinter sich und erlebt wie drei achtzigjährige Männer. Er spürte die Decksplanken unter sich, das Schaukeln des Schiffes, den kalten Wind, der sein halblanges Haar wehen ließ. Und er fühlte sich stark und lebendig. Möwen flogen kreischend über ihm. Störtebeker hielt das Steuerruder, was bei dem Wetter und Seegang keine Mühe war. Ich habe es weit gebracht, dachte er, seit ich
als Sohn eines Gutsbesitzers im Mecklenburgischen die Heimat habe verlassen müssen. Der Landesherr, der Graf von Brackmühlen und
andere waren ihm feindlich gesinnt gewesen. Zudem waren ihm die heimischen Verhältnisse zu eng. Er konnte den Nacken nicht beugen, sein Starrsinn, sein Stolz und seine Gerechtigkeits- und Freiheitsliebe hätten ihm einen schändlichen frühen Tod gebracht. So war er auf See gegangen. Dort bewährte er sich rasch und stieg in den Reihen der Likedeeler oder Vitalienbrüder, wie sich die Seeräuber um Goedecke Micheel, Magister Wigbald und Hennig Wichmann nannten, rasch aufgestiegen. Trinkfest, obwohl er kein Säufer war, aus überschäumender Lebensfreude, mit gewaltigen Körperkräften, kühn, großherzig, den Frauen zugetan, ein Helfer der Armen, Schwachen und Unterdrückten, 6
so war Klaus Störtebeker. Den Kaufleuten und Schacherern von der Hanse verhasst, den Mächtigen und Tyrannen ein Feind. Geliebt und vergöttert vom einfachen Volk, obwohl es auch da Neider und Verräter gab. Gottes Freund und aller Welten Feind, lautete sein Motto und alle Welten, das waren für ihn die Unterdrückung, Ausbeutung und Tyrannei. Seinen Freunden ein treuer Freund, seinen Feinden ein mörderischer Feind und ein Schrecken. Seefahrer und Pirat. Er pfiff vor sich hin, als aus dem Ausguck der Ruf erschallte: »Schiffstrümmer backbord.« Die Küste war außer Sicht. Die See erstreckte sich bis zum Horizont und verschmolz mit ihm. Tief stand schon die Sonne. Störtebeker spähte empor zum Krähennest, in dem Hajo, der Schiffsjunge, hockte. »Was für Wrackteile sind es?« »Paar Planken und Trümmer!«, rief Hajo zurück. »Nichts von Bedeutung. Aber halt, da schwimmt eine große Truhe. Sie hat Beschläge und ist mit Schnitzereien verziert. Sie könnte aus Edelholz sein.« Hajo hatte scharfe Augen. Es wurde gemunkelt, weit, weit weg in Arabien und China würde es Fernrohre geben, durch die man, wenn man hindurchschaute, alles vergrößert sah. Aber hierzulande war ein paar Jahre vor Ende des 14. Jahrhunderts noch keines vorhanden. »Vielleicht enthält die Truhe etwas Wertvolles, Klaus«, sagte Gerrit Wigbald. »Einen Schatz.« Störtebeker schaute ihn belustigt an. »Bettwäsche halte ich für wahrscheinlicher. Oder Kleider. Frauenwäsche vielleicht.« Wigbald, der fast einen Kopf kleiner als er war und eine schiefe Schulter hatte, empörte sich. »Du machst dich über mich lustig, Klaus!«, rief er. »Ich bin noch immer der Ansicht, es ist ein Schatz in der Truhe. Wertsachen auf jeden Fall. Lass das Boot aussetzen, wenn wir nicht nachschauen, werden wir es nie wissen. - So viel Mühe ist es nun nicht.« Ein paar Matrosen, die sich an Deck befanden, stimmten ihm zu. Rasch wurde das Boot zu Wasser gelassen. Groß war es nicht, im Fall 7
eines Schiffbruchs hätten nicht alle Besatzungsmitglieder darin Platz gefunden. Störtebeker ließ das Segel reffen, damit sich der ›Rote Teufel‹ nicht zu rasch von der Stelle des Schiffsunglücks entfernte. Störtebeker bedauerte diejenigen, die hier ihr Ende gefunden hatten. Allerdings vergoss er keine Tränen über ihr Los, dafür hatte er schon zuviel erlebt und gesehen. Das war Seemannslos. Sechs starke Matrosen, angeführt von Gerrit Wigbald, ruderten zu der Truhe, die auf den Wellen schaukelte. Als sie sie erreichten, zog einer sie mit dem Bootshaken heran. Wigbald beugte sich aus dem Boot und brach mit seinem Dolch die Schlösser auf, die die Truhe verschlossen. Er setzte die Klinge als Hebel an, weil der Truhendeckel immer noch sperrte und brach ihn krachend auf. Dann schaute er in die Truhe. »Na, was ist drinnen?«, fragten die Matrosen, die den Inhalt noch nicht sehen konnten, neugierig. »Hat es sich gelohnt, sie zu bergen?« Wigbald setzte sich auf die Ruderbank nieder. Er war erschüttert. »Was ist?«, wurde er stürmisch gefragt. »Es ist ein Kind in der Truhe, ein kleines Mädchen«, sagte der Bootsmann. »Nehmt sie an Bord.« * Klaus Störtebeker schaute zum Boot, konnte jedoch nicht genau sehen, was aus der Truhe herausgeholt wurde, die man mit wieder, zugeklapptem Deckel im Wasser treiben ließ. Der blondbärtige Piratenkapitän schaute nach vorn. Erst als ein Matrose rief: »Sie haben ein Kind an Bord!«, wurde seine Aufmerksamkeit wieder auf das Boot gelenkt. Er rief einen Matrosen, das Steuer zu übernehmen, stieg vom Achterdeck herunter und trat an die Reling. Das Boot näherte sich, die sinkende Sonne im Hintergrund. Ein blondes Kind in einem nassen blauen Kleid war im Boot. Gerrit Wigbald hatte es auf dem Schoß und presste es an sich. 8
»Heiliger Gott!«, sagte Bratspieß, wie er allgemein genannt wurde, der einbeinige Koch. Seinen richtigen Namen kannte er angeblich selbst nicht mehr, dem Akzent nach musste er aber ein Däne sein. »Das Kind ist in der Truhe gewesen. Wie es aussieht, ist es ein Mädchen. Ich hatte Töchter in diesem Alter...« Er verstummte. Er sprach nie über seine Vergangenheit. Man ließ das Fallreep hinunter. Die Matrosen stiegen an Bord, das Boot wurde hoch gehievt. Wigbald trug das Kind, das drei Jahre alt sein mochte, mit sich an der Bordwand hoch. Er reichte es Störtebeker über die Reling. »Da, Klaus.« Der Pirat sah das wachsbleiche Gesicht. Kalt und leblos lag das Kind in seinen Armen, ein zierliches kleines Mädchen mit dunklem Haar. Es trug ein schön besticktes Leinenkleid mit einem weißen Kragen, in den Blumen gestickt waren und hatte eine Gemme am Kleid. An den Füßen trug es Pantoffeln. Der Kleidung und dem Aussehen nach konnte es kein Kind armer Leute sein. Wigbald griff nun in seine Tasche, die sich ausbauschte und hielt Störtebeker eine Puppe hin, ein wertvolles, schönes Stück, wenn auch etwas abgenutzt. »Das war noch in der Truhe.« Störtebeker starrte ihn an, das Kind in den Armen. »Was soll das? Hast du noch mehr Spielzeug gefunden? Bist du neuerdings kindisch geworden, dass du mir Leichen an Bord bringst, die auf dem Meer treiben? Was ist in dich gefahren?« Der dunkelhaarige, spitzbärtige Bootsmann schaute ihn an. Ebenso die anderen Matrosen, die an der Exkursion mit dem Boot teilgenommen hatten. Störtebeker tastete gewohnheitsmäßig nach der Halsschlagader des kalten, starren Kindes, das er in seinen Armen hielt. Die Truhe war mehrere Handbreit voll Wasser gewesen, das durch Luftlöcher in ihrem Deckel eindrang. Der Piratenkapitän spürte etwas. Er legte nochmals die Fingerspitzen an die Schlagader des Mädchens. Dann rief er: »Heiliger Gott, sie lebt! Das Kind ist am Leben. Rasch, bringt sie in meine Kabine, sie muss erwärmt werden, alles 9
getan, um ihr Leben zu retten. - Beeilt euch, eilt, eilt! Das Kind hat den Schiffbruch in der Truhe überlebt. Es ist kaum zu fassen.« Die Matrosen starrten ihn an wie gestochene Kälber. Sie hatten das Kind, die vermeintliche Leiche, einem Aberglauben zufolge geborgen, da sie nun schon einmal zu der Truhe gerudert waren. Sie hatten gewollt, dass dieses arme kleine Mädchen dem seemännischen Brauch folgend in Segeltuch eingenäht ein christliches Begräbnis erhielt, worauf die meisten von ihnen Wert legten. Sonst hätten sie es sich nicht verziehen. Jetzt waren sie wie vom Blitz getroffen. Der Schiffsjunge Hajo - Deich-Hajo - rannte in Störtebekers Kabine voraus, die er vorbereitete. Störtebeker folgte kurz darauf, er hatte dem Steuermann Anweisungen gegeben, welchen Kurs er halten sollte. In der Kabine brannte die Öllampe. Störtebeker scheuchte alle unnützen Gaffer weg. »Fort, an eure Arbeit und wenn ihr nichts zu tun habt, tut es woanders. Was ist mit dem Kind?« Ausgerechnet Bratspieß, der bärbeißige Koch, hatte sich des Kindes angenommen und erwies sich als guter Heilkundiger. Umsichtig gab er seine Anordnungen. »Wir müssen sie aufwärmen, sie ist stark unterkühlt. Sicher wird sie Fieber bekommen, aber das kann sie überleben. Zuallererst müssen wir sie massieren, mit Branntwein, dann wird sie in warme Decken gehüllt und bekommt einen heißen Ziegelstein an die Füße. Gut wäre es, wenn sie einer mit seinem Körper wärmte. - Menschliche Wärme und Nähe erweckt die Lebensgeister.« Wigbald schaute erst ratlos drein, dann sah er auf den Koch. »Das musst du machen, Bratspieß, du bist auch der Sanitäter an Bord.« »Ich? Mit meinem einen Bein? Du bist wohl verrückt geworden. Außerdem muss ich die Mannschaft bekochen und zurück in meine Kombüse. Ab und zu werde ich nach dem Mädchen sehen, unserer kleinen Seejungfrau, die wir da aufgefischt haben. Wenn man ihr erst etwas Warmes einflößen kann und sie es bei sich behält, heißen Tee oder Fleischsuppe, dann hat sie gute Aussichten, es zu überstehen.« 10
»Heißen Grog«, sagte Wigbald, der von Kindern sehr wenig Ahnung hatte. Der Koch nannte ihn daraufhin einen Hornochsen. Der Bootsmann verstummte beleidigt. »Du kannst sie wärmen, Klaus«, sagte der Koch zu Störtebeker. »Es ist deine Kabine.« »Ich bin hier der Käpten, kein Kindermädchen. Das soll Hajo tun. Deich-Hajo, du bist für das Wohlergehen der Kleinen und für ihre Rettung verantwortlich. Bewahre ihr Leben und ich will es dir hoch vergelten.« Hajo versprach zu tun, was er konnte. Das leblose Mädchen lag dann bei ihm in der Koje. Eiskalt war ihr Körperchen, aber in dieser Dreijährigen verbarg sich eine starke Lebenskraft. Die nassen Kleider hatte man ihr ausgezogen. Ihr unbekleideter kleiner Körper war unter den warmen Decken an Hajos gepresst. Die Öllampe gab einen düsteren Schein, sie war schwach gestellt worden. Es knarrte im Schiff, man spürte den Seegang. Schwach, ganz schwach spürte Hajo den Herzschlag des Kindes. Eine brüderliche Zärtlichkeit, wie er sie noch nie gespürt hatte, kam in dem Waisenjungen auf, den seine Mutter als neugeborenes Baby am Deich abgelegt hatte. Davon hatte er seinen Namen. Als Mündel einer Gemeinde, lieblos, Schlägen und Repressalien ausgesetzt, hatte er von klein auf hart arbeiten müssen. Um den unerträglichen Zuständen und auch Misshandlungen zu entfliehen, war er dann ausgerissen. Ein Krämer, eine echte Krämerseele, hatte ihn vorher als billige Arbeitskraft zu sich genommen. Die Krämersfrau gönnte ihm kaum die Wassersuppe und einen Kanten Brot. Ein Kind der Schande und einen Wechselbalg hatte man ihn in diesem ›frommen‹ Haus genannt, wo es sonntags jeweils zur Kirche ging, der Name des Herrn gepriesen wurde und wo werktags die Leute, die Kunden, betrogen wurden. Um die Sünde seiner Mutter, die niemand kannte, abzubüßen, war er geschlagen worden, damit aus ihm ein besserer Mensch werden sollte. Wahrscheinlich wäre er ein jung sterbender oder völlig deformierter geworden, hätte er sich nicht ein Herz gefasst, wäre ausgerissen 11
und hätte sich nach Emden durchgeschlagen. Dort hatte ihn Störtebeker aus Gnade und Barmherzigkeit an Bord genommen. Denn Deich-Hajo, der arme Teufel, hatte von dem großen Piratenkapitän gehört, der den Reichen nahm und den Armen gab und ein Herz für die Armen und Unterdrückten hatte. In Emden, Niedersachsen, halb verhungert, unterwegs von Hunden gehetzt und gebissen, hatte er tatsächlich Glück gehabt - eine Sternstunde: Störtebeker war dort mit seinem Schiff eingelaufen. Als er an Land ging, stürzte Hajo zu ihm, ein verhungertes Bündel von einem Jungen, warf sich ihm zu Füßen und klammerte sich an ihn: »Klaus, nimm mich an Bord!« Die Umstehenden hatten gelacht und gemeint, mit dem verlausten Balg, dem die Rippen unter der Kleidung hervorstachen und der klein und zurückgeblieben war, würde es nie etwas. Störtebeker jedoch hatte ihn aufgehoben und emporgehoben. »Wenn wir ihn herausfüttern, wird er sich schon berappeln«, hatte er gesagt. »Einen flinken und anstelligen Schiffsjungen kann ich immer gebrauchen.« Damit hatte er Hajo auf die Füße gestellt und ihm die schmutzstarrenden Haare zerstrubbelt. »Setzt ihn in eine Badebütte, wascht ihn, dann kann er an Bord.« Deich-Hajo vergaß das seinem Wohltäter nie. Als Schiffsjunge Störtebekers an Bord des ›Roten Teufels‹ begann ein neues Leben für ihn. Er erholte und bewährte sich. Die Mannschaft trieb erst ihre rauen Spaße mit ihm, unterließ das jedoch bald, denn er war ein netter, anstelliger, tüchtiger Junge. Nur der einbeinige Koch Bratspieß murrte, er müsste wohl mit dem Teufel im Bund sein. »Der kleine Bankert frisst mehr als drei Vollmatrosen«, brummte er, um seine Zuneigung zu Hajo zu verbergen. »Ich weiß, dass er im Wachstum ist, aber so, wie er frisst, scheint er drei Meter groß werden zu wollen.« Er gab aber Hajo Leckerbissen. Gerrit Wigbald brachte ihm Schreiben und Lesen bei, obwohl Hajo meinte, das müsste für einen Matro12
sen, der er werden wollte, nicht sein. Störtebeker redete ihm jedoch zu und für den tat er alles, das ABC und das Rechnen zu lernen. Daran dachte Hajo und es wurde ihm warm ums Herz, als er sich erinnerte, wie sich sein Leben gewandelt hatte. Das Dasein an Bord des Piratenschiffs war rau, doch er wurde als Mensch behandelt und er war frei, soweit ein Mensch dieses sein konnte. Sogar seinen Beuteanteil erhielt er, wie alle anderen, dafür sorgte Klaus Störtebeker. Jetzt konnte der Junge etwas von dem weitergeben, was ihm Gutes zuteil geworden war. Ihm war ein neues Leben geschenkt worden, jetzt wollte er dafür das des ihm unbekannten Kindes retten. Irgendwann schlief er ein. Die Wärme in Störtebekers Kabine, die ein geschlossenes Kohlebecken erwärmte und das Schaukeln des Schiffs trugen dazu bei. Als Hajo wieder erwachte, war der Körper des Kindes in seinen Armen nicht mehr eiskalt, sondern er glühte im Fieber wie ein Hochofen. Das Kind röchelte und hustete. »Heiliger Gott«, entfuhr es Deich-Hajo. Er schlüpfte aus dem Bett. In langem Hemd und Pantoffeln eilte er los, zu Störtebeker, der einen Platz in der Mannschaftslogis gefunden hatte und dem Koch Bratspieß. Letzterer schnarchte wie eine Sägerei, weshalb er abseits schlief, weil sein Geschnarche sogar für die derben Seeleute nicht zumutbar war. Deich-Hajo weckte beide. »Die Kleine hat hohes Fieber.« Es war spät in der Nacht. Kapitän und Koch eilten zur Kapitänskabine, letzterer, nachdem er sein Holzbein angeschnallt hatte, den Stelzfuß, der ihm den Unterschenkel ersetzte. Bei einem Kapergefecht schon vor Jahren war ihm der Unterschenkel mit einem rostigen Beil zerhauen worden, wegen des Wundbrands hatte er dann amputiert werden müssen. An die Schmerzen dabei würde der Koch sich zeitlebens erinnern aber er lebte noch, Brummelnd widmete er sich dann dem stöhnenden, delirierenden Kind. »Hüllt sie in nasse Tücher. Beeilt euch, das Fieber muss heruntergedrückt werden. Wenn sie freilich eine Lungenentzündung bekommt, 13
weiß ich nicht, was geschieht. – Armes kleines Wurm. - Seine Mutter oder sonst wer muss es in die Truhe gesteckt haben, als das Schiff unterging.« »Warum hat man es nicht mit ins Rettungsboot genommen?«, fragte Klaus Störtebeker, während er mit den nassen Tüchern hantierte. »Weiß ich es?«, fragte der Koch. »War ich dabei? Vielleicht hatten sie gar kein Boot, oder die Brecher haben es zerschlagen oder über Bord gespült. - Es gab keine Rettung. - Jemand, die Mutter, nehme ich an, steckte das Kind in die Truhe und ließ sie an Deck bringen. - So muss es gewesen sein.« »Und warum ist sie nicht selbst mit in die Truhe gekrochen?«, fragte Deich-Hajo. »Der Platz reichte nicht«, sagte Gerrit Wigbald, der aufgewacht war und in die enge Kabine schaute. Oben am Achterdeck stand ein Matrose am Ruder. Nur eine einzelne Laterne brannte an Deck. »Eine Erwachsene hätte nicht auch noch hineingepasst in die Truhe. - Sie oder das Kind.« Die Männer schwiegen. Störtebeker stiegen die Tränen in die Augen. Er tat, als ob es von der blakenden Öllampe wäre, deren Rauch sie gereizt hätte. Er hatte an seine eigene Mutter gedacht und an ihre Liebe, die sie ihm gegeben hatte. »Wer immer auch diese Frau war«, sagte er. »Wir müssen ihr Kind retten. Und alles tun, damit es in gute Hände und in Sicherheit kommt.« »Ja«, brummte Bratspieß, der Koch, in seiner bärbeißigen Art. »Dafür sind wir Piraten ja da - man nennt uns die Kindermädchen der See. Das ist unser Hauptanliegen. Plündern und Kapern und Menschen umbringen tun wir nur nebenher.« Der grimmige Kommentar wurde zunichte, als er rief: »Ja, zum Teufel, so packt sie doch zarter an mit euren groben Pratzen. Habt ihr denn kein Gefühl? - Gebt sie mir. - So, Kleine, ich tupfe dir den Schweiß von der Stirn. - Gebt mir den Becher, ich muss ihre Lippen benetzen und ihr ein wenig Wasser einflößen. Euch Trampel kann man 14
ja nicht mit dem Kind umgehen lassen, ihr Seelefanten, ihr gottverdammten.« Störtebeker grinste in seinen Bart. »Ich merke schon, die nächsten Tage werden wir schlechtes Essen haben«, sagte er. »Denn Bratspieß ist mit der Krankenpflege mit Beschlag belegt. Und ich kann mich auf einen weiteren Aufenthalt in der Mannschaftslogis einrichten. - Sei's drum, Hauptsache, das Kind, das wir aus der Seenot gerettet haben, überlebt.« * »Maman!« Zwei Tage waren vergangen. Das kleine Mädchen hatte die Krise überstanden, das Fieber sank und sie war auf dem Weg der Besserung. Die Vitalienbrüder auf der Kogge ›Roter Teufel‹ hatten die Kleine aufopferungsvoll gepflegt, zumindest einige von ihnen. Etwas, das man den Piraten nicht unbedingt zugetraut hätte. Nun wachte das Kind auf und schrie nach ihrer Mutter. Zuvor hatte es im Delirium Französisch und Deutsch gesprochen. Der Matrose, der am Fußende der Koje, wachte, war eingenickt und wachte nun auf. Er rief nach Störtebeker und den anderen. Gerrit Wigbald, der recht gelehrt war und Französisch konnte, erschien gleich nach Störtebeker. Sie drängten sich in die Kabine des Käptens. Das blonde Mädchen saß in einem Leinennachthemd, das ihm der Segeltuchmacher aus erbeutetem Stoff genäht hatte, aufrecht im Bett. Es presste die Puppe an sich, die es bei sich in der Truhe gehabt hatte. Der ›Rote Teufel‹ segelte dem Skagerrak entgegen, den er noch nicht erreicht hatte. Das würde noch ein paar Tage dauern. Kalt war es, Spätherbst, stürmische See. Bald würde die Winterpause der Hansekoggen beginnen - es waren nur noch wenige auf See, die auf ihren Reiserouten den Heimathäfen zustrebten. Das blutige Geschäft der Piraten war für dieses Jahr so gut wie vorbei. Das Kind in Störtebekers Koje redete auf Französisch und duckte sich voller Angst vor den fremden Männern. 15
»Was sagt sie?«, fragte Störtebeker. »Sie will zu ihrer Mutter. Sie fragt, wo sie ist.« »Aber sie spricht doch auch Deutsch«, sagte Störtebeker. Er setzte sich ans Bett des Kindes, das ihn ernst anschaute und seine Puppe an sich presste. Die beiden anderen Männer wichen zurück. Der Matrose verließ auf einen Wink des Bootsmanns die enge Kabine und passte auf, dass die Drei in der Kabine nicht gestört wurden. Das kleine Mädchen hatte ein Medaillon um den Hals getragen. Es enthielt, wenn man es öffnete, das Miniaturbildnis einer schönen dunkelhaarigen Frau. Das Medaillon befand sich in einer Schublade in dem Sekretär in der Kapitänskabine, auf dem nautische Instrumente und Seekarten lagen. Störtebeker hatte sein Kapitänshandwerk gut gelernt. Er besaß einen klugen Kopf und wenn er auch nicht der Typ eines Gelehrten war, so studierte er doch, was er musste. Das Seemännische, da es ihn interessierte, ging ihm leicht ein. Lediglich mit der Theorie und mit Berechnungen tat er sich schwer. Da verließ er sich oft lieber auf sein Gefühl und lag meist richtig damit. »Wie heißt du?«, fragte er das Mädchen und erhielt aber keine Antwort darauf. »Verstehst du mich?« Die Kleine schaute stumm. Störtebeker gab ihr einen Becher Tee, aus dem sie nach kurzem Zögern trank. Gerrit Wigbald wich zurück, soweit das in der engen Kabine möglich war der Platz an Bord war knapp - und hockte sich an die Wand. Störtebeker gelang es nicht, das Kind zum Reden zu bringen. Einer Eingebung folgend schickte er Wigbald weg und ließ stattdessen den Schiffsjungen Hajo kommen. Der war zwar kein Kind in dem Alter der kleinen Schiffbrüchigen mehr, doch sie sah ihn nicht als Erwachsenen an. »Frag du sie«, sagte Klaus Störtebeker. »Sag ihr, dass sie gerettet ist.« »Aber das weiß sie doch schon«, sagte Hajo. »Sprich mit ihr.« 16
Hajo redete, wobei er sich um eine klare und deutliche Aussprache bemühte und seinen Dialekt unterdrückte, so gut es möglich war, was ihm einfiel. Er erzählte dem Kind, wie sie sie aus dem Meer gefischt hatten und dass sie schwer krank gewesen war und am Rand des Todes geschwebt hatte. »Eine schöne Puppe hast du da«, sagte er zum Schluss. »Wie heißt sie?« »Hermione.« Das war das erste Mal, dass das Kind auf die Ansprache einging und eine an es gestellte Frage beantwortete. Die Frage, ob sie Deutsch ausreichend verstand, erübrigte sich damit. »Bravo, Hajo«, sagte Störtebeker. »Fahre fort.« »Deine Mama ist im Himmel«, sagte der Schiffsjunge, als die Kleine ihn wieder fragte. »Wann kommt sie von dort wieder?«, fragte das Kind in gut verständlichem Deutsch und dem Dialekt, den man in der Mark Brandenburg sprach. »Sie passt von dort auf dich auf«, sagte Störtebeker mit weicher Stimme. »Suche dir einen Stern am Sternenhimmel aus, kleines Mädchen und wenn du ihn ansiehst, dann denke an deine Mutter. Halte sie stets in Ehren.« »Aber warum hat sie mich in die garstige Truhe gesteckt, als der böse Wind blies?«, fragte die Kleine. »Es ist ganz, ganz furchtbar gewesen - ich hatte solche Angst. Hermione hat sich übergeben.« Störtebeker nahm zu Recht an, dass nicht die Puppe sich übergeben hatte, das konnte sie nicht. Das Kind plapperte weiter und schilderte seine Angst, wie es in der Truhe eingesperrt hin und her geworfen wurde - dass dies durch die Wogen geschah, wusste oder begriff sie nicht, wie schlecht ihr gewesen war. »Ich habe immer nach Mama gerufen, sie soll mich herausholen aus der Truhe. Aber sie ist nicht gekommen.« Sie war dann bewusstlos geworden. Sie weinte noch im Nachhinein und zitterte bei der Erinnerung. Störtebeker nahm sie in seine Arme. Bratspieß, der Koch, schaute herein. Er hatte gehört, sein Liebling, das kleine Mädchen, sei bei sich. 17
Der stelzfüßige Koch verdrückte sich wieder. An Tauen, die extra für ihn gespannt waren, zog er sich entlang. »Was ist los da unten?«, fragte ihn ein Matrose, als er im Licht der Nachmittagssonne an Deck kam. »Der Käpten redet mit unserem Kind«, sagte der stark beleibte Koch, der keineswegs friedlich aussah. Mit seinem Narbengesicht, dem Zottelbart, Glatze und roter Säufernase konnte er zart besaitete Gemüter erschrecken. »Unser Kind?«, höhnte der Matrose. »Wir hätten sie in der Truhe lassen sollen, beim Klabautermann. Sie kostet uns nur unnötig Zeit. Was nutzt uns der Balg, was sollen wir denn mit ihm?« Da packte der Koch ihn bei der Gurgel und drückte zu. Der Matrose war stark, doch Bratspieß wusste, wie er zuzupacken hatte. Seine Rechte saß an der Gurgel des Matrosen wie der Fang eines Wolfes. »Noch ein solches Wort, dann fliegst du über Bord, Jan Hermstall«, warnte er den Matrosen. »Und wage es nicht, die Kleine auch nur schief anzusehen, wenn sie mal an Deck kommt. Oder du kannst deine Knochen einzeln sortieren und dir in Zukunft deinen Fraß selber kochen. - Punktum.« Das war eine stehende Redensart des Kochs. Der Matrose wusste, dass man es mit dem Koch besser nicht verdarb. Es sei denn, man aß gern versalzenes Essen und setzte sich auch sonst noch allerlei Repressalien aus. Zudem war der alte Bratspieß kein weichlicher Typ. Ehe er sein Bein verlor, war er beim Entern der Kühnste gewesen und auch jetzt noch stand er im Kampf seinen Mann. Zudem, weil er ein wirklich guter Koch war und selbst bei Windstärke Sieben noch ein gutes Essen auf den Tisch brachte, hatte er einen starken Rückhalt in der Mannschaft. Wer es sich mit ihm verdarb, der hatte sehr schlechte Karten. »Ich habe es nicht so gemeint«, machte der Matrose, ein pockennarbiger Kerl mit einer wahren Galgenvogelvisage, einen Rückzieher, als ihn der Koch derb zurückstieß. »Es ist mir nur so herausgerutscht.« »Dann lass es wieder hineinrutschen, du Seeratte. Oder ich stopfe dir das Maul.« 18
Damit stelzte der Koch weiter, seiner Kombüse zu, die schon auf ihn wartete. Jan Hermstall murmelte Flüche und Verwünschungen, womit er jedoch wohlweislich wartete, bis der Koch wieder unter Deck war. Hermstall war eine ziemlich miese Type. Er mochte das Kind nicht, das an Bord genommen worden war. Die Mehrzahl der anderen Matrosen hatte an ihm einen Narren gefressen und um sein Leben gefiebert. Störtebeker unterhielt sich weiter mit dem Kind, dessen Namen er noch immer nicht kannte. Mit letzter Kraft, ihres eigenen Lebens nicht achtend, hatte seine Mutter die einzige Möglichkeit genutzt, die es für die Rettung ihrer Tochter gab. Die tobenden Wogen hatten die tapfere Frau dann mitsamt dem Schiff verschlungen, auf dem sie gefahren war. Störtebeker hatte die größte Hochachtung vor der ihm unbekannten Frau. »Das Schiff ist untergegangen, mit dem ihr gefahren seid«, sagte Störtebeker in der Kabine zu dem Kind. »Deine Mutter steckte dich in die Truhe, damit du nicht mit untergehst und ertrinken musst.« »Ertrinken? In dem garstigen kalten Salzwasser?«, fragte die Kleine. »Ist Maman denn ertrunken?« »Ja, leider. Du musst jetzt sehr tapfer sein, deine Mutter würde es so wollen. Du bist schon ein großes Mädchen.« »Ja, ich bin so alt.« Sie streckte drei Finger hoch. »Bald werde ich so alt.« Jetzt hob sie fünf Finger, mit dem Zählen klappte es noch nicht so ganz. »Tante Desiré sagt, wenn ich immer brav meinen Teller leer esse, bin ich bald groß.« »Tante Desiré hat Recht. Ich bin der Onkel Klaus, das dort ist Hajo, mein Schiffsjunge. Ich bin der Kapitän von dem Schiff, das dich gerettet hat. Und nachdem ich mich jetzt vorgestellt habe, kannst du mir auch deinen Namen nennen. Du weißt doch, was sich gehört.« Großäugig schaute sie ihn an und steckte den Finger in die Nase, was bei einem älteren Kind übel ausgesehen hätte. Störtebeker hob den Zeigefinger. »Das tut man nicht«, sagte er und schaute auf ihren Finger. »Wer in der Nase bohrt, ist ein Ferkel.« 19
Sie zog den Finger aus der Nase und wischte ihn an dem Tuch ab, das Störtebeker ihr gab. »Ich heiße Isabeau«, sagte sie dann. »Und ich bin kein Ferkel, höchstens du. - Meine Mutter heißt Mama, mein Papa Papa. Er ist aus Deutschland, sie ist Französin.« »Isabeau. Das ist aber ein schöner Name. Und wie heißt du noch?« »Frechdachs. Manchmal auch Prinzessin. Papa hat mich immer Prinzessin genannt.« Damit konnte man wenig anfangen. »Und wo wohnt ihr?« »Daheim natürlich, auf unserem Gut.« Störtebeker sagte sich, dass er im Umgang mit kleinen Kindern noch viel lernen musste. »Und wo ist dieses Gut, kleines Fräulein?« »Weiß nicht.« Entweder wusste Isabeau es tatsächlich nicht, oder die fremde Umgebung verwirrte sie, dass es ihr nicht einfiel. Hajo verhielt sich mucksmäuschenstill. »Wo ist dein Papa?«, erkundigte sich Störtebeker. »Im Himmel, wo Mama jetzt auch ist. Deswegen sind wir verreist, Mama und ich. Mit Anette, der Zofe - ist die auch im Himmel?« »Sie wird wohl dort sein«, sagte Störtebeker, dem ganz beklommen wurde vor lauter Himmel und Toten und Sterben und Katastrophen. Was er da hörte, war eine wahre Tragödie. »Weshalb ist dein Papa denn gestorben?«, fragte er. »Was ist ihm passiert?« »Ein Bulle ist durchgegangen. Er hat Papa umgerannt. Er hat noch ein paar Tage im Bett gelegen und konnte nicht mehr aufstehen. Er hat ganz schlimm gestöhnt und wenn er gehustet hat, ist Blut gekommen. Dann ist er gestorben.« Störtebeker schluckte. Ein Bulle hatte Isabeaus Vater also den Brustkorb eingedrückt. An den inneren Verletzungen war der Gutsherr dann gestorben, ein Unfall, wie er auf einem Guts- oder Bauernhof 20
vorkommen konnte. Das bedeutete aber auch, dass Isabeau Waise war. Es gab keinerlei Hinweis, wo sie herstammte und wer ihre Eltern waren. Auch wie das Schiff hieß, mit dem sie gereist war, wusste Störtebeker nicht. Der ›Rote Teufel‹ krängte, Isabeau war aber seefest, der Seegang machte ihr nichts aus. Man hörte das Klatschen der Wellen gegen die Bordwand und andere Geräusche in der Kabine. Eine Kogge auf See war wie ein lebender Organismus. Ganz still war es da nie. »Weißt du nicht, wo du herkommst?«, fragte Störtebeker. »Besinne dich, Isabeau. Wir wollen dich wieder nach Hause bringen.« Er hatte noch nicht darüber nachgedacht, doch unbewusst traf er jetzt eine Entscheidung. »Du darfst mich Isa nennen. Isabeau sagen sie nur zu mir, wenn ich etwas angestellt habe.« »Danke für das Vertrauen, Isa. Hat deine Mutter dir denn nichts gesagt, was du erzählen sollst, wenn man dich fragt, wo du her bist und wohnst?« Störtebeker fragte nach einer Pause, als er keine Antwort erhielt: »In deinem Zuhause, spricht man dort Deutsch oder Französisch? Parlez vous francais?« »Französisch. Doch Papa hat oft mit mir Deutsch gesprochen. Er wollte, dass ich seine Mamasprache lerne.« Sie meinte die Muttersprache. Störtebeker wendete sich an Hajo, der stumm mit dabeisaß. »Sie stammt aus Frankreich, ihre Mutter ist mit ihr verreist nach dem Tod ihres Vaters, nehme ich an. Auf der Rückreise sind sie in den Sturm geraten, das Schiff sank, sie ist die einzige Überlebende. Wie durch ein Wunder haben wir sie gefunden. - Aber Frankreich ist groß. Wie sollen wir herausfinden, aus welcher Gegend sie kommt? Wir kennen nicht einmal ihren Nachnamen. Das Medaillon dürfte uns da nicht viel weiterhelfen. Eine vertrackte Situation.« Er fragte wieder das Kind: »Isa, bitte, denk nach. Es ist sehr wichtig, dass du uns deinen Nachnamen nennst und den Namen von eurem Gut. Sehr, sehr wichtig.« 21
Isa legte die Stirn in Falten und sagte ernsthaft: »Mama hat es mir aufgeschrieben. Wir haben den Brief Hermione gegeben. Mama hat es ihr gesagt. Ihr müsst Hermione fragen.« »Wie sollen wir denn die Puppe fragen?«, platzte Hajo heraus. Störtebeker gebot ihm, zu schweigen. Isabeau lobte ihre Puppe. »Sie ist sehr klug und sie kann viel behalten. Aber sie hat auch oft Angst, da muss ich auf sie aufpassen. Und sie bekleckert sich gern beim Essen. Spinat mag sie überhaupt nicht. Pudding dagegen sehr gern, besonders mit Himbeersauce.« »Das habe ich mir fast gedacht. Deine Mama hat euch also einen Brief mitgegeben? In die Truhe?« »Ja, Hermione hat ihn. Damit jeder weiß, wer wir sind und wo wir hingehören, wenn man uns findet.« Hajo schüttelte missbilligend den Kopf. Störtebeker war scharfsinniger als der Schiffsjunge. Er ließ sich von Isa die Puppe geben, was die Kleine nach einigem Zögern auch tat und untersuchte sie. Tatsächlich, am Körper der Puppe, die mit Spänen ausgestopft war, befand sich ein Riss. Sie war schon einmal ausgebessert worden, Isa, die sie sehr liebte, schleifte und schleppte sie durch dick und dünn und hatte sie weidlich strapaziert. Am Rücken der Puppe war eine Art Tasche oder Falte. In dieser steckte ein dünnes, wasserdicht verschlossenes Röhrchen, das Störtebeker ertastete. Er zog es hervor. Es war mit Wachs versiegelt. Der Pirat erbrach es und zog einen zusammengerollten Brief hervor. Die Buchstaben waren krakelig, man sah, dass die paar Zeilen bei schwerem Seegang und in großer seelischer Erregung niedergeschrieben worden waren. Sie waren in Französisch. »Hole Gerrit«, sagte Störtebeker zu seinem Schiffsjungen. »Er soll sofort kommen.« Der Bootsmann erschien unverzüglich. Das durch das Bullauge hereinfallende Licht reichte zum Lesen aus. Gerrit Wigbald entzifferte die krakeligen Buchstaben, das Vermächtnis und den letzten Willen von Isabeaus Mutter. 22
Er übersetzte und las laut: »Um der Gnade Gottes willen, bringt meine Tochter Isabeau zu meiner Schwester Desiré am Gut Ferme à la mer bei Dieppe. Rosalie de Montaquieux.« Die beiden Männer und der Junge schauten sich an. Isa presste ihre Puppe an sich, die Störtebeker ihr wiedergegeben hatte. »Brave Hermione«, sagte sie. »Du hast gut auf Mamans Brief aufgepasst.« Störtebeker sagte: »Da haben wir es. Jetzt wissen wir, wo sie hingehört.« Und Gerrit Wigbald echote: »Und was machen wir nun?« Störtebeker räusperte sich. »Ja, nun, wir haben sie gerettet und sind somit für sie verantwortlich. Ich bin dafür, dass wir sie nach Hause bringen, zu ihrer Tante, die dann für sie sorgen soll.« »Aber das ist in Frankreich, in der Nähe von Dieppe. Wir sind unterwegs in den Skagerrak, um unsere Genossen zu treffen, die anderen Likedeeler. Wir müssen zusammenhalten, es steht viel auf dem Spiel. Die Dänenkönigin, die Eiserne Margarete, schwingt sich zur Herrin des Nordens auf. Sie liegt im Krieg mit den Schweden, die sie unterjocht hat und paktiert einmal und streitet dann mit der Hanse. Die übrigen Großen und Mächtigen kochen ihr Süppchen nach ihrem Belieben und der kleine Mann muss es auslöffeln. Die Likedeeler müssen sehr auf der Hut sein, um nicht am Galgen zu enden oder geköpft zu werden.« »Ja«, sagte Störtebeker. »Du hast Recht, Gerrit. Trotzdem bin ich dafür, Isa heimzubringen. Dann können wir immer noch ins Skagerrak segeln.« »Die Jahreszeit ist schon fortgeschritten. Goedecke Micheel wird nicht auf uns warten.« »Wir werden ihn finden.« »Das muss die Mannschaft bestimmen. In dem Fall kannst du nicht allein entscheiden, Klaus, sondern musst die Mannschaft befragen.« »So sei es.« 23
* Die Alabasterküste mit ihren über hundert Meter hohen Steilklippen erstreckte sich von Le Havre an der Mündung der Seine nach Nordosten bis hinter Le Tréport. Es war eine charakteristische Küste am Ärmelkanal, an der die Brandung toste. Zahllose Vögel nisteten in den Steilklippen, die dieser Küste ein düsteres, abweisendes Aussehen gaben. Nur gelegentlich wurden die Klippen von dem Einschnitt eines bis ans Meer reichenden Tals unterbrochen. Einige Meilen von Dieppe, der mittelalterlich befestigten Stadt an der Mündung des Flusses Arques, entfernt, lang das Gut Ferme à la mer, anderthalb Stunden Fußmarsch von der Küste entfernt. Desiré de Montaquieux war zur Küste geritten, wie sie es gern tat, wenn sie Sorgen hatte. Und derzeit hatte sie viele. Rosalie, ihre Schwester, die eigentliche Gutsherrin, war noch immer nicht von der Schiffsreise zurückgekehrt, die sie zur Mark Brandenburg unternommen hatte, im Osten des Deutschen Reiches, um dort den Nachlass ihres Mannes zu ordnen. Albrecht von Böhmer, wie er hieß, stammte von dort. Er war der Vater der kleinen Isabeau. Ein durchgehender Bulle hatte ihn umgebracht. Böhmer war ein Söldnerhauptmann gewesen und auf seinen wilden, gefahrvollen Wegen hatte es ihn in die Gegend von Dieppe verschlagen, wo er bei einem Gefecht verwundet worden war. Philipp der Kühne, Herzog von Burgund, hatte ihn ins Land geholt, weil er mit seinem Neffen Johann, dem Herzog von Burgund, sich um die Macht bekriegte. Denn der Hundertjährige Krieg zwischen Frankreich und England tobte und König Karl VI saß nur dem Namen nach auf dem Thron Frankreichs. Er war geisteskrank und zum Regieren nicht fähig. Die Engländer waren im Vormarsch, Frankreich heillos zerfallen und zerstritten. Der Sage nach sollte einmal eine Jungfrau aus der Gegend von Orleans kommen, das Reich einen und den unwürdigen Zustand beenden. Aber noch war sie lange nicht da und in Sicht. Die Willkür regier24
te, Adel und Geistlichkeit unterdrückten das Volk gleichermaßen und beuteten es aus. Die Armen wurden immer ärmer, die Reichen immer reicher. Es sah schlimm aus im Land. Der Söldnerhauptmann Böhmer war also von einem Armbrustbolzen getroffen worden. Feuerwaffen gab es noch so gut wie keine - das Pulver war zwar erfunden, man experimentierte mit Geschützen und auch mit Büchsen, aber für's Kriegshandwerk waren sie noch so gut wie nicht zu gebrauchen. Rosalie de Montaquieux hatte den Söldner, der sonst gestorben wäre, auf ihrem Gut gesund gepflegt. Sie verliebten sich ineinander, der stattliche Mann, der vom Blutvergießen und dem Kriegshandwerk ohnehin genug hatte, heiratete Rosalie und wurde Gutsherr. Er war der Jüngste von drei Brüdern und Sohn eines Landadligen, der in der Mark Brandenburg an der Grenze zu Böhmen seinen Besitz hatte. Albrecht hatte nicht damit gerechnet, ans Erbe zu kommen - laut Familiengesetz ging es an den Ältesten und sollte ungeteilt bleiben. Doch die zwei älteren Brüder starben. Albrecht von Böhmer beschloss jedoch, in Frankreich zu bleiben, wo es ihm besser gefiel, zumal das Gut Ferme à la mer größer war und mehr abwarf. Er wollte seinen Besitz in Brandenburg an den Markgrafen verkaufen. Dazu stand er schon in Verhandlungen. Doch er verstarb, ehe die Sache abgeschlossen war. Die kleine Isabeau war zu dem Zeitpunkt noch nicht drei Jahre alt. Rosalie, Albrechts Gattin und Desirés Schwester, hatte ihren Namen behalten, was ihr als Adliger zustand. Schließlich hätte es seltsam gewirkt, wenn sie als Angehörige eines angesehenen französischen Geschlechts sich plötzlich von Böhmer nannte. Sie fügte dem de Montaquieux also lediglich ein frankonisiertes de Beaumee hinzu, was in offiziellen Urkunden auftauchte. Da es unumgänglich war, der Markgraf von Brandenburg war ein sehr auf seinen Vorteil bedachter Herr, reiste die Witwe mit der kleinen Tochter zu Schiff den weiten Weg ins Herkunftsland ihres Mannes. Dort erledigte sie, was zu erledigen war. Der Markgraf bezahlte mit Wechseln und Anweisungen, Rosalie nahm nur wenig Bargeld mit auf die weite, gefahrvolle Reise. 25
Sie hatte darauf gebaut, als Witwe mit einem kleinen Kind Sympathien zu erwerben und besser abzuschließen, als wenn sie nur per Briefen und über Mittelsleute verhandelte. Zudem war sie eine gute Geschäftsfrau und misstrauisch und es gab Dokumente, die sie selbst unterzeichnen musste - mit den Vollmachten ihres Mannes, sie führte sein Siegel - und Verhandlungen, an denen sie teilnehmen wollte. Die Wechsel und Lombardpapiere, mit denen der Markgraf bezahlte und nach Dieppe anwies, hatten, wie die einen behaupteten, die venezianischen Banken und Handelshäuser erfunden. Andere sagten, es wäre der Teufel gewesen, der ehrliche Christenmenschen um ihr Hab und Gut bringen wollte. Nach langen und umfangreichen Verhandlungen und Abwicklungen begab sich Rosalie in ihrer schwarzen Witwentracht mit der kleinen Tochter wieder an die Küste. Von einer Hansestadt aus reiste sie ab. Danach musste sie noch Verwandte in Schweden besuchen, die sie nur vom Hörensagen kannte und kehrte endlich in ihre Heimat zurück. Im Skagerrak entging die Hansekogge, mit der sie reiste, den dort lauernden Vitalienbrüdern. Goedecke Micheel, der Schrecken der See, jagte sie in den Sturm hinein, vor dem er abdrehte und an der Küste Schutz suchte, worauf er ins Skagerrak zurückkehrte, zum Treffpunkt mit seinem Freund Störtebeker. Beide ahnten nicht, dass sie sich knapp verfehlt hatten - Goedecke Micheel segelte eine halbe Tagreise vor Störtebekers ›Rotem Teufel‹ an der jütländischen Küste entlang Richtung Norwegen und Skagerrak. Die Kogge jedoch, auf der die unglückliche Gutsherrin Rosalie de Montaquieux fuhr, sank im Sturm. Von furchtbarer Angst gepeitscht steckte die junge Mutter ihr Kind, das sie zum Abschied herzte und küsste, in die Truhe hinein, die sonst ihre Wäsche und Kleider enthielt. Matrosen warfen die Truhe, die bis auf ein paar Luftschlitze am Deckel wasserdicht war, ins tosende Meer. Rosalie brach weinend zusammen. Ein Brecher schmetterte sie gegen den Mast, brach ihre Glieder und raubte ihr gnädig das Bewusstsein, so dass sie das Ende nicht mehr spürte. 26
Das alles wusste Desiré de Montaquieux nicht, als sie auf der Steilklippe, oberhalb des friedlichen Tals östlich von Dieppe, vom Pferd stieg. Ein Seeadler flog hoch über ihr. Rosalie schaute über das Meer. Sie trug ein grünes, bortenbesetztes Kleid, einen Umhang und eine Kapuze, die sie nun abnahm. Schwarzhaarig war sie, 21 Jahre alt erst - ihre Schwester Rosalie war drei Jahre älter, weitere Geschwister gab es nicht, wohl aber einen Vetter - Jehan de Montaquieux - der nach dem Gut trachtete. Dieser Jehan de Montaquieux war 28 Jahre alt, ein Händelsucher, Trunkenbold, Schuldenmacher und Taugenichts, ein Ausbund an allen Untugenden, dazu noch stockhässlich. Er hatte sich auf dem Gut Ferme à la mer einquartiert, stellte den Mägden nach, von denen er schon zwei geschwängert hatte, schikanierte die Knechte und trieb nichts als Unfug und Übles. Zudem strich er um Desiré herum, die schwarzhaarig, rassig und bildschön war, mit großen braunen Rehaugen. Bei ihr vermochte er jedoch nicht zu landen. Vetter Jehan hatte vor, entweder die Witwe des Gutsherrn oder, sollte die nicht zurückkehren oder es bei ihr absolut nicht gelingen, deren jüngere Schwester zu ehelichen. Dann würde er ein gemachter Mann sein. Der entfernte Verwandtschaftsgrad störte bei der Ehe nicht, dass er schielte, Zahnlücken und einen leichten Buckel hatte, eine Rückgratverkrümmung, störte Jehan de Montaquieux nicht - er hielt sich dennoch für einen attraktiven Mann. Reich war er an Schulden. Von seinen Gläubigern waren ihm die Juden noch die liebsten, weil sie weniger Rechte hatten als andere. Auf der anderen Seite jedoch waren sie sehr gewieft und kannten, wie er schon leidvoll erfahren hatte, durchaus Mittel und Wege, um mit Zins und Zinseszins an ihr Geld zu gelangen. Mehrere Klagen liefen gegen den Lotterbuben und Chevalier, dem eigentlich nicht mal mehr sein Ross und das Hemd auf dem Leib gehörten. Wenn er sich nicht bald sanierte, sprich, eine gute Partie machte, würde er entweder in einem Schuldgefängnis verfaulen oder sonst wie ein unrühmliches Ende nehmen. 27
Der Taugenichts war jedoch nur eine von Desiré de Montaquieuxs vielen Sorgen. Die nächste, ebenfalls männliche, war Alain de Gasteaux, ein Marquis und Gutsbesitzer aus der Nachbarschaft, Mitte Vierzig schon, ein Lebemann, der es ebenfalls auf sie abgesehen hatte. Gasteaux nun hatte den einen Vorteil - wenn es einer war - dass er unbedingt Desiré haben wollte, in die er sich sinnlos verliebt hatte. Drei Frauen waren ihm weggestorben, im Kindbett oder bald danach. Es wurde gemunkelt, er habe ihnen zu bald nach der Geburt wieder beigewohnt und ganz allgemein zu wenig Rücksicht auf sie genommen. Er hatte fünf Kinder, die Desiré dann als Stiefkinder gehabt hatte - der Älteste war schon 24 - und sie hätte einen Horror davor, die vierte Ehefrau zu sein, die Alain de Gasteaux unter die Erde brachte. Last but not least gab es den Gutsverwalter Gaspard Gambardier, einen grobschlächtigen Bretonen, der in seinem Fach äußerst tüchtig war. Er rühmte sich, einen Ochsen mit der bloßen Faust niederschlagen zu können, was er manchmal, wenn es einen zu schlachten gab, auch tat. Dieser Ochsenschläger rechnete nicht mehr damit, dass Rosalie de Montaquieux, die Gutsherrin, zurückkehren würde. Er machte Desiré, die sie vertrat, unverblümt den Hof und nahm sich allerhand heraus gegen sie, weil sie auf ihn angewiesen war. Dass er nichtadelig war und sie von Adel, störte Gambardier nicht. »Wenn ich sie heirate, rücke ich in den Chevaliersrang auf«, sagte er am Tisch beim Wein zu Freunden. »Zu Recht, ein Chevalier ist ein Ritter oder ein Reiter und ich reite sie ja.« Dergleichen derbe und lose Reden und Scherze, zu denen er dann dröhnend lachte, waren bei ihm an der Tagesordnung. Als ob es der Plagen damit noch nicht genug gewesen wäre, gab es noch den fetten Fürstbischof von Dieppe, Seine Eminenz Romain de la FreigneBethussy, den jüngeren Sohn einer Adelsfamilie. Er war ein Ränkeschmied ersten Ranges, er presste das Volk aus, gab sich der Völlerei hin, wie man es nannte, gegen die er auf den Kanzeln predigen ließ. Ihn, sagte er, würde eine Drüsenstörung pla28
gen, weshalb ihm der Herr seine Körpermasse gegeben hätte, die der eines feisten Ebers entsprach. Er würde nur sehr mäßig essen. Eingeweihte wussten es besser. Er soff schon zum Frühstück anderthalb Flaschen Wein und wenn es gut ging, verspeiste er am Vormittag eine gebratene Gans. Auch Kapaune, Trüffeln und andere Delikatessen liebte er. Das Zechen und Tafeln war bei jenen, die es sich leisten konnten, überhaupt sehr im Schwang. Es war ein sinnenfreudiges, den leiblichen Genüssen zugetanes Zeitalter. Grausam und hart in seinen Bräuchen. Seine Körperfülle tat in seinem Fall dem Geschlechtstrieb des Fürstbischofs von Dieppe keinen Abbruch. Besonders hinter Jungfrauen und noch unschuldigen Mädchen, möglichst kindlichen oder sehr schönen, war er her wie der Teufel hinter der armen Seele. Heiraten kam für ihn als geistlichen Herrn natürlich nicht in Betracht. Die Sittenverderbnis war groß zu jener Zeit in Frankreich und Romain de la Freigne-Bethussy tat nichts, um sie einzudämmen - zumindest bei sich. Anderen predigte er allerdings die Keuschheit und die Enthaltsamkeit, auch das sich zu Kasteien und Fasten. Er selbst trieb das Gegenteil. Dieser Heuchler, Prasser und Mädchenjäger, unwürdige Geistliche und schlechte Charakter nun hatte Briefe aus Brandenburg erhalten, auch die wichtigen Urkunden und Dokumente. Boten des Markgrafen und des Kaisers hatten sie rascher befördert, als Rosalie de Montaquieux zu Schiff mit ihrem Kind reisen konnte. Der Landweg wäre ihr jedoch zu beschwerlich gewesen. Zudem wollte sie in Schweden eine Station einlegen, um ihre entfernten Verwandten zu besuchen. Der Fürstbischof also hatte die Dokumente in seinen Krallen und ließ sie nicht los. Dass er damit das Recht beugte, war ihm egal. Auch er rechnete damit, dass Rosalie de Montaquieux nicht mehr von der weiten und gefährlichen Reise zurückkehren würde. Und er hatte es auf Desiré abgesehen, die zwar nicht kindlich wirkte, aber ihm mit ihrer Schönheit ins Auge stach. Der Fürstbischof residierte im bischöflichen Palast in Dieppe, der Hafenstadt. Seine per29
sönlichen Gemächer waren so prächtig eingerichtet, dass sich kein König und keine Königin hätten beschweren können. Es wurde allerlei gemunkelt und es gab Kinder und arme Mädchen, die bei ihm zu bestimmten Zwecken zu Gast gewesen waren. Der unwürdige Mensch schämte sich nicht, seinen geistlichen Rang vor ihnen auszuspielen und ihnen anzudrohen, sie würden in die Hölle kommen, wenn sie ihm nicht zu Willen waren und je auch nur ein Sterbenswörtchen verrieten. Er war verkommen, auch andere waren es. Desiré de Montaquieux war jedoch unverdorben und hatte ein gutes Herz. Sie war beliebt beim Gesinde und beim einfachen Volk. Ein wenig naiv, was sie noch ablegen würde - dass sie naiv sei, hatte ihr ihr Schwager Albrecht von Böhmer mehrmals gesagt. Desiré war behütet aufgewachsen. Ihre und Rosalies Eltern lebten nicht mehr, die Pest hatte sie hingerafft, als sie eine Italienreise machten. Eine Wallfahrt nach Rom, die sie direkt ins Jenseits führte, noch bevor sie die Heilige Stadt sahen. Desiré ersehnte nichts mehr, als dass ihre Schwester wiederkehren würde. Daran hegte sie bereits Zweifel, die sie jedoch tapfer unterdrückte. Sie betete nun an der Steilküste und bat den Himmel, Rosalie bald zurückzusenden und die kleine Isa, die ihr – Desirés - besonderer Liebling war. Der Wind ließ Desirés lange schwarze Haare wie eine Fahne flattern. Abend war es. Hoch über ihr flog kreischend der Seeadler. Im Ärmelkanal schwammen ein paar Segelschiffe dem Diepper Hafen oder der englischen Küste zu. »Ich will den garstigen Fürstbischof nicht mehr aufsuchen!«, rief Desiré mit dem schönen Madonnengesicht in den Wind. »Er macht mir immer unsittliche Anträge, verklausuliert, aber deutlich, dass er viel mehr in der Erbschaftssache bewirken könnte, wenn ich ihm entgegenkäme. Auch könnte er mir gleich die Absolution für die Sünde der Unkeuschheit geben, so dass es dann keine wäre.« Desiré schaute ins Abendrot. In ihre geplagte, geängstigte Seele wollte kein Frieden einkehren wie sonst zu dieser Stunde. Eine Strecke 30
entfernt, an einen Busch angebunden, schnaubte ihr Pferd, auf dem sie im Herrensitz her geritten war, entgegen dem üblichen Brauch. »Es müsste ein Retter kommen, ein Mann, stark, klug, mutig und unerschrocken, der all diesen Bedrängern die Stirn bietet und sie in ihre Schranken weist«, bat Desiré weiter. »Ein Retter aus aller Not.« Damit meinte sie keinen Messias, sondern eine höchst weltliche Erscheinung. »Sonst ist das Gut Ferme à la mer verloren«, sagte die schöne Landadlige. »Jehan de Montaquieux würde es zugrunde richten, verspielen und auf andere Weise durchbringen. Von dem Fürstbischof habe ich Übles zu erwarten. Er plant nicht nur, mich um meine Ehre zu bringen, raffgierig, wie er ist, will er auch seine Hand auf das Gut legen und es in seinen Besitz bringen.« Auch ein geistlicher Herr hatte zu der Zeit Privatbesitz. »Der Gutsverwalter bedrängt mich. Er könnte das Gut erhalten, doch bei ihm würde ich todunglücklich. - Und der Marquis de la Gasteaux, drei Frauen hat er begraben, ich Unglückliche würde die Vierte sein - und Ferme à la mer sein Besitz.« Desiré brauchte die Schwester, mit ihr gemeinsam würde sie sich stärker fühlen. Und besser. Doch letztendlich konnten nur ein besonderer Mann oder ein Wunder sie und das Gut vor ihren Bedrängern und den zahlreichen Gefahren retten. Es war eine aussichtslose und sehr bedrängende Situation. Desiré rang die Hände. Aus eigener Kraft konnte sie keinen Ausweg finden und keine Rettung. »Rosalie!«, rief sie. Und: »Wo ist mein Retter?« Vier Männer wollten sie haben, einer war schlimmer und unsympathischer als der andere. Und das Gut, den Besitz, wollten sie auch. * Am anderen Morgen sammelte Störtebeker die Mannschaft an Deck und trug ihr vor, was zu entscheiden war. Der Steuermann hielt das Ruder. Gerrit Wigbald hatte die kleine Isa, die ihre Puppe an sich presste, auf dem Arm. 31
Bratspieß, der Koch, schnauzte sich, als Störtebeker seine Rede geendet hatte, über zwei Finger aufs Deck. Den Auswurf zertrat er mit dem Fuß. »Also, ich bin dafür, dass wir nach Dieppe segeln und Isa ihr Erbe sichern«, sagte er laut in das Pfeifen des Windes. »Außerdem mag dabei für uns etwas abfallen.« »Warum dieser Umstand?« fragte Jan Hermstall. »Warum erpressen wir nicht einfach ein Lösegeld für sie, wenn sie aus reichem Haus stammt?« Die übrige Mannschaft, bis auf zwei Mann, schaute ihn an, als ob er ein Aussätziger sei. Einer schlug gar vor, ihn über Bord zu werfen. Die Meinung der Mannschaft war gegen die Lösegeldforderung für Isa. Jan Hermstall, untersetzt, stülpnasig und mit kahl rasiertem Kopf, protestierte. »Wir sind keine Kinderbewahranstalt!«, rief er. »Gebt das Kind einer Fischerfamilie, wenn ihr kein Lösegeld für sie haben wollt, dann sind wir sie los. Und gebt ihnen ein paar Dukaten dazu, damit sie es großziehen. - Das ist schon mehr als genug, der Rest ist nicht mehr unsere Sache. — Alles andere ist viel zu ungewiss, aufwendig und unsicher.« »Es ist aber keine Fischertochter«, rief Klaus Störtebeker, »sondern sie gehört auf ein Adelsgut bei Dieppe. Das Meer hat sie uns zugespielt, es war ein Walten des Schicksals. Es bringt Unglück, wenn wir uns dem entziehen, was wir tun sollen.« »Dann sollten wir doch ein Lösegeld nehmen.« »Nein.« Die Seeleute murmelten und berieten. Sie waren allesamt abergläubisch. Gute und schlechte Vorzeichen, die Vorsehung, Schicksal, Gott und der Teufel, himmlische und niedere Mächte, Geister und Spuk, all das spielte, in ihrer Vorstellungswelt eine bedeutende Rolle. »Gott will es!«, rief ein junger Matrose und riss sich das Hemd auf, unter dem er ein Kreuz auf der muskulösen nackten Brust hängen hatte. »Wenn wir das Kind heimführen, werden wir damit einen Ablass gewinnen und unsere Sünden abbüßen.« 32
Es gab Ablässe, die auch gegen Geld gekauft werden konnten ein gutes Geschäft für die, die sie verkauften, denn im Diesseits brauchte ja keine Gegenleistung erbracht zu werden - Reliquien, Bußen und Büßer, Wallfahrtsorte und dergleichen mehr. Die Vitalienbrüder waren keine frommen Leute, aber wo nicht der Glaube war, regierte der Aberglaube. Störtebeker wusste, wie er sie zu nehmen hatte. Er selbst machte sich keine großen Gedanken und Kopfzerbrechen über religiöse und weltanschauliche Dinge. Er war in seinem Leben schon zu oft belogen und betrogen worden, als dass er den Pfaffen oder den weltlichen Mächtigen noch getraut hätte. Er folgte seinem Gewissen und dem, was ihm sein Herz sagte. Das war ihm Richtschnur genug. Die Kaufleute der Hanse verehrten den Profit und den Mammon, nach dem sie alles beurteilten und ihr Leben ausrichteten. Die weltlichen Herren gierten nur nach der Macht und Besitz hielten ihren Rang und ihr persönliches Ansehen hoch, in dem sie einander zu übertreffen suchten. Ihr persönliches Wohlergehen und das ihrer Familien, letzteres meistens, ging ihnen über alles. Solange sie Rinderkeulen abnagen konnten, konnte das Volk ruhig vor Hunger krepieren, so dachten viele von ihnen. Viele Reiche und Mächtige waren Zyniker und gewiefte Taktiker der Macht. Die Kaiser und Könige machten es ihnen vor und die kleineren Adligen taten es ihnen nach. Auch der Klerus war großenteils mehr am Weltlichen als am Geistlichen interessiert. So sah die Welt aus, in der die Vitalienbrüder die Meere durchfuhren, auf sich selbst gestellt, allenfalls mit unsicheren Kaperbriefen ausgestattet. Wölfe der Meere. Gerrit Wigbald hatte die kleine Isa aufs Deck gestellt, weil sie unruhig wurde und auf seinem Arm zappelte. Sie saß nun bei dem Aufgang zum Achterdeck und spielte mit ihrer Puppe Hermione, die sie aufs Deck gesetzt hatte. Die Segeltaue und die Rahen knarrten im Wind, der Steif und stetig blies. »Heute Abend wirst du gebadet, Hermione«, sagte die Kleine auf Französisch, das ihre Hauptsprache war, zu ihrer Puppe. »Und ich 33
muss dir die Haare kämmen. - Pfui, wie du aussiehst. Wo bist du denn wieder gewesen?« Die Puppe antwortete nicht, Isa legte aber den Kopf schräg, als ob sie das täte. »Im Laderaum? Bei den Ratten? - Wenn sie dich angefallen hätten. - Wie, die Schiffskatze hat dich vor ihnen gerettet? Dafür werde ich ihr ein Schälchen mit Milch geben.« Die Schiffskatze war der besondere Liebling des Schiffskochs Bratspieß. Den Hund Beißer, der sich Störtebeker auf der Insel Strand angeschlossen hatte, hatte das Schwarze Schiff der tom Brokes dorthin mit zurückgenommen. Jetzt war er ein Hofhund in Keno tom Brokes Felsenburg geworden. Lange hatte er hinter Störtebeker hergejault und war sogar in den Sund gesprungen, um dem ›Roten Teufel‹, mit dem sein Herr davon segelte, nach zu schwimmen. Doch die Schiffskatze hatte die älteren Rechte. Der Hund war dann umgekehrt. Noch immer erfolgte die Rede und Gegenrede innerhalb der Mannschaft, ob man mit Isa nach Frankreich segeln sollte oder nicht. Da der Käpten das Schiff nicht allein führen konnte, war er auf die Mannschaft angewiesen. Jeder hatte sein Stimmrecht und wenn die Mehrheit entschied, konnte die unterlegene Minderheit Widerspruch einlegen, so sich neue Argumente fanden, was meistens der Fall war. Dann wurde der Fall nochmals erörtert und abgestimmt. Jeder einzelne musste gehört werden, so war es Brauch. Es war ein mitunter umständliches Verfahren, das jedoch viel böses Blut wegnahm. Und sehr, einen Begriff, der damals noch nicht bekannt war vorwegnehmend, demokratisch. Bei der ersten Abstimmung war die Mehrheit dafür, mit Isa nach Frankreich zu segeln. Jan Hermstall und seine zwei Anhänger ließen es sich jedoch nicht verdrießen und brachten etwa spitzfindig neue Argumente vor. Als noch einmal abgestimmt werden sollte, brach ein Sonnenstrahl durch die dichte Wolkendecke. Er fiel auf Isa, die mit ihrer Puppe spielte. 34
Störtebeker wäre es zu dumm gewesen, doch der Koch Bratspieß rief: »Seht, das ist ein Zeichen! Wir sollen sie heimbringen, der Himmel wird es uns lohnen.« Hermstall spuckte über die Reling. »Potz Blitz und Haifisch, du hättest ins Kloster gehen sollen, anstatt ein Pirat zu werden, Pfannenschwenker. Das ist doch nicht zum Anhören.« Er trat vor, schob Isa zur Seite und stellte sich selbst in das Sonnenlicht. »Jetzt werde ich angestrahlt!« Der Koch humpelte mit seinem Stelzbein vor und zog ein langes Messer aus der fettigen Küchenschürze. »Ich schneid' dir den Hals ab! Was schubst und drangsalierst du das Kind?« Störtebeker ging dazwischen, sonst wären die zwei sich an die Kehle gefahren. Denn Hermstall, der einen großen goldenen Ohrring im linken Ohr hatte, griff schon nach dem Entermesser. »Schluss jetzt, ihr Streithähne! Es reicht. Wenn es dir nicht passt, werden wir dich an Land setzen, Jan Hermstall. Du wirst schon einen Kahn finden, der dich ins Skagerrak bringt.« »Du willst mich betrügen, es geht dir um meinen Beuteanteil!«, rief der Matrose. »Ich gehöre zur Mannschaft.« Störtebeker hielt ihm die Faust unter die Nase. »Nenne mich noch einmal einen Betrüger und du wirst meine Faust spüren. Du kannst deinen Anteil mitnehmen und einen Beutel Taler dazu, den gebe ich dir, damit ich dich los bin.« Hermstall wusste, dass ihn kein anderes Schiff der Vitalienbrüder an Bord nehmen würde, wenn Störtebeker ihn verstieß. Auch hatte Klaus Störtebeker eine glückliche Hand oder den richtigen Riecher bei seinen Beutefahrten. Es war sehr einträglich, mit ihm zu segeln und wenn einer aus seiner Mannschaft ausfiel, standen schon drei andere bereit, um seinen Platz einzunehmen. »Ich habe es nicht so gemeint, es ist mir herausgefahren«, brummte Hermstall und duckte sich. »Lass uns abstimmen, Käpten.« 35
* Diesmal waren 22 für und nur zwei gegen den Vorschlag. Eine weitere Abstimmung gab es nicht. Hermstall und der Mann, der mit ihm gestimmt hatte, wollten an Bord bleiben. »Und wie hast du es dir vorgestellt, Käpten?«, fragte Hermstall, den seine Wahlniederlage wurmte. »Willst du einfach nach Dieppe segeln und offen am Kai anlegen? Auch in Frankreich hat die Hanse ihre Verbindungen, Handelspartner und Handelsposten. Sie werden uns rasch ergreifen. - Wer regiert denn den Landstrich?« »Der Herzog von Burgund«, antwortete Gerrit Wigbald, der meist auf dem Laufenden war. »Er hält mal zu den Engländern, mal zu den Franzosen und bekriegt sich mit seinem Vetter, dem Herzog von Orleans.« »Und verkauft uns womöglich gegen gutes Geld an die Hanse oder an die Dänenkönigin Margarete, die den Vitalienbrüdern nicht grün ist und gern unsere Köpfe vor ihrem Schloss in Kopenhagen auf Pfähle gespießt sehen würde.« Störtebeker hatte schon in geheimer Mission für die Dänenkönigin gearbeitet. Doch offiziell war sie gegen die Vitalienbrüder und das würde ihm nicht helfen, wenn er in dänische Hoheitshände fiel. Er hatte sich schon überlegt, wie er in Frankreich vorgehen wollte. »Wir suchen uns eine versteckte Bucht, dort legen wir an. Ich bringe Isa mit ein paar zuverlässigen Begleitern zu dem Gut Ferme à la mer. Dann sehen wir weiter.« »Und wenn sie uns mit einem Vergeltsgott abspeisen oder gar unwirsch sind, wenn du das Kind bringst?«, fragte Hermstall. Er ließ nicht locker. »Vielleicht gehört das Gut schon jemand anders, wurde es übernommen. Und das Kind stört nur. - Was machst du dann eigentlich, Käpten?« Darüber hatte Störtebeker noch nicht nachgedacht, dass er vielleicht würde kämpfen müssen, um Isa ihr Erbe zu erhalten. Einen Moment schwante ihm, dass da allerhand auf ihn zukommen konnte. Doch er hatte sich noch nie feige aus der Verantwortung gestohlen und jetzt war abgestimmt worden. 36
»Das sehe ich, wenn ich da bin«, antwortete er kurz und bündig. »Willst du nun mitsegeln oder nicht, Jan Hermstall? - Mit Wenn und Aber ist noch nie ein Schiff aus dem Hafen gekommen.« »Aber es gingen schon manche verloren, weil man vorher zu wenig überlegt hatte«, erwiderte Hermstall. Er musste das letzte Wort haben. »Ich bleibe an Bord, Hinnerk« - das war sein engster Kumpan, der zum Schluss noch für ihn gestimmt hatte - »auch.« Damit war die Sache ausgestanden und beendet. Jan Hermstall beklagte sich in der nächsten Zeit, sein Essen würde seltsam schmecken und wäre kaum genießbar. Der Koch hätte ihm wohl hineingespuckt oder irgendetwas beigefügt, was nicht ins Essen gehörte. Bratspieß verbat sich das und schimpfte, er würde Hermstall aus demselben großen Topf schöpfen wie allen anderen auch. Jan Hermstall blieb bei seiner Behauptung und tauschte sogar probehalber sein Essen mit anderen, die freilich keinen Beigeschmack entdecken konnten. Daraufhin behauptete der Matrose, der Koch würde sein Essen verhexen oder Bannsprüche darüber murmeln, die ein ehrlicher Christenmensch nicht kennen sollte. Das glaubte ihm allerdings keiner, obwohl es zu jener Zeit eine sehr bösartige Anschuldigung war. Denn mancherorts brannten die Hexenfeuer und mancher Unglückliche war schon wegen Zauberei oder Ketzerei verbrannt worden. Bratspieß und Hermstall blieben von da an Feinde. Der Koch schwor, irgendwann würde er Hermstall an die Wand nageln. Der Matrose wiederum nahm sich vor, den Koch bei einer geeigneten Gelegenheit in dunkler und stürmischer Nacht über Bord zu werfen. Auf dem ›Roten Teufel‹ war innerhalb der Mannschaft nicht alles eitel Harmonie. Isa bewohnte weiterhin Störtebekers Kabine, die für sie, soweit nötig und möglich, eingerichtet worden war. Die meisten Matrosen mochten das Kind. Störtebeker musste einschreiten, sonst hätten sie Isa nach Strich und Faden verwöhnt und verzogen. Die rauen Kerle benahmen sich regelrecht kindisch. Einer bastelte sogar eine Rassel, bis man ihm sagte, das wäre für Babys und nicht für Dreijährige. 37
Daraufhin arbeitete er an einer Ente, die zwei Räder hatte, stilecht bemalt war, sogar Federn hatte sie und die Isa an einem Band hinter sich herziehen konnte. Die Ente hatte zwei Füße, die sich bewegten, wenn sie gezogen wurde. Isa war entzückt und drückte dem Matrosen einen feuchten Kuss auf die stopplige Wange. »Danke, Onkel Knud. Das hast du fein gemacht. Ich werde die Ente Bernice nennen.« Es gab ein Drama, als Isa die Ente auf die Bordwand setzte und sie ins Wasser fiel. Störtebeker wollte weitersegeln, schließlich, sagte er, sei Bernice ja eine Ente, da könnte sie leicht an Land schwimmen. Isa weinte, trotzte, stampfte mit den Füßen auf - sie konnte ein Trotzkopf sein - und schrie nach ihrer Ente. Die Mannschaft meuterte. Also musste das Beiboot zu Wasser gesetzt werden, das Segel wurde gerefft und sechs kräftige Matrosen, darunter der Matrose Knud, der die Ente geschnitzt hatte, ruderten zurück, um sie aufzufischen. Auf dem weiten Meer wurde sie jedoch nicht gefunden. Anderthalb Stunden lang suchten die Männer im Beiboot, bis Störtebeker Flaggenzeichen gab, sie sollten endlich zurückkommen, sonst würde er weitersegeln. Isa, die Puppe im Arm, in ihrem blauen Leinenkleid mit dem weißen Kragen und den Biesen, stand bei dem Käpten und dem Steuermann am Achterkastell. »Bernice hat vielleicht Gesellschaft im Meer gefunden«, sagte sie, als sie hörte, ihre Holzente könnte nicht gefunden werden. »Oder die Wildgänse haben sie mitgenommen«, sagte Störtebeker. »Aber sie ist doch eine Ente?« »Sie ist eine ganz besondere Ente, die Wildgänse sehen das nicht so eng.« Bernice freute sich. »Wenn es so ist, dann fliegt sie bestimmt mit den Wildgänsen zu meiner Mama und meinem Papa in den Himmel.« Da schluckte Klaus Störtebeker. »Das macht sie bestimmt. Sie wird sie von dir grüßen.« 38
Ein Kloß steckte ihm in der Kehle. Isa besaß eine lebhafte Phantasie. Sie weinte manchmal, wenn sie an ihre Eltern dachte, oder schrie im Schlaf, weshalb Hajo bei ihr in der Kabine schlief. Aber Kinder vergaßen rasch und Isa war noch zu klein, um zu begreifen, wie grausam und unwiderruflich der Tod war. Und dass sie eine Waise war, die nur noch ihre Tante und ein paar entfernte Verwandte auf der Welt hatte. Und von Gefahren bedroht war. Das Boot kehrte zurück. Knud erbot sich, eine neue Ente zu schnitzen. Isa wollte jedoch lieber ein Lamm und als dieses halb fertig war, änderte sie ihre Meinung zu einer Gans. Dann fiel ihr ein Krokodil ein, danach ein Hund. Knud, der Matrose, verzweifelte. Er zog Bratspieß zu Rat, der auch nicht wusste, wie das zu handhaben sei. So landeten die zwei Schlagetote beim Käpten, der schließlich die höchste Instanz an Bord war. »Käpten, wir haben da ein Problem.« Störtebeker hörte es sich an. »Schnitz ihr ein Krokodil«, sagte er dann zu dem bärtigen Knud. »Wenn sie das nicht will, schnitz ihr gar nichts.« »Aber ich weiß doch gar nicht, wie ein Krokodil aussieht, Käpten. Ich habe doch nie eins gesehen. Ich kenne es nur dem Namen nach.« »Dann denk dir eins aus. Oder frag Gerrit Wigbald, der weiß alles.« Es gab dann innerhalb von der Mannschaft Debatten, wie ein Krokodil aussehen würde. Über Schnauze und Schwanz wurde man sich klar, doch die Anzahl der Beine war ungewiss. Zudem meinte einer, dass es wie ein Drache Flügel oder zumindest Stummelflügel hätte. Knud schnitzte, es wurde ein untypisches Krokodil, dessen Schnauze mehr der eines Hundes glich. Der Schwanz war gewunden und es hatte einen Zackenkamm auf dem Rücken und gleich acht Beine, weil Knud meinte, lieber ein paar Beine zuviel als zuwenig. Es klapperte jedoch mit der Schnauze, die an Gelenken beweglich war und Isa war selig. Auch Hermione, die Puppe, musste das Krokodil bestaunen. Die Matrosen, außer Jan Hermstall, der sich hinterm Mast an die Stirn tippte, strahlten. 39
Bratspieß verwarnte Isa, das Klapperkrokodil wie die Ente über Bord fallen zu lassen. »Aber das ist doch ein Krokodil. Das schwimmt im Wasser, Onkel Bratspieß. Es wird sicher einmal schwimmen wollen.« »Das kann es an Bord in einem Bottich. Das ist nämlich ein Süßwasserkrokodil, die Krokodile leben alle im Süßwasser in Afrika.« »Afrika? Ist das weit weg?« »Ganz, ganz weit.« »Weiter als der Mond?« »So weit nun auch wieder nicht. Die Erde ist eine Scheibe, wie jeder weiß und man ja auch sieht. Darüber ist eine große Kuppel, an der die Sterne und der Mond und die Sonne sind. Die Hölle ist unten, der Himmel oben. - Hast du's kapiert?« »Ja, Onkel Bratspieß.« Man konnte nicht sagen, dass Isa an Bord des ›Roten Teufels‹ nichts lernte. Die Matrosen vermittelten ihr das Weltbild, das sie selbst hatten. Bratspieß warnte sie nochmals eindringlich, das Krokodil je über Bord fallen zu lassen, weil es sich im Salzwasser nicht wohl fühlen oder gar sterben würde. Isa nickte ernst. Am folgenden Tag, als Störtebeker Isa auf den Schultern des Matrosen Knud übers Deck reiten sah und einer seiner Matrosen das Klapperkrokodil zog und abwechselnd Tierstimmen nachahmte, wendete er sich an Gerrit Wigbald. »Es wird Zeit, dass wir nach Frankreich kommen, Gerrit. Bevor die Bande an Bord noch völlig veralbert. Es ist kaum zu glauben, dass das erwachsene Männer sind - außer Hajo - und gefürchtete Piraten. Kindsköpfe sind es, Kindsköpfe.« »So beschaulich und heiter wird es nicht mehr lange bleiben«, sagte der Bootsmann prophetisch. »Die raue Wirklichkeit holt uns bald wieder ein. - Isa ist ein Sonnenschein. Sie bringt das Gute in der Mannschaft zutage, dies freilich mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der sie die Kleine vergöttern und ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen, demnächst beim Entern wieder Kehlen durchschneiden werden.« 40
»Da hast du wohl Recht, Gerrit. Wir bringen Isa heim. - Und weißt du was, Gerrit? Ich werde sie vermissen.« »Das werden wir alle«, antwortete der Bootsmann, »weil sie uns an die Zeit erinnert, in der wir selbst unschuldige Kinder waren und die Welt für eine schöne Spielwiese hielten. Lange ist's her und an dieses Paradies der Kindheit, trotz Not und allem, was viele von uns erlebten, bringt sie uns die Gedanken zurück. Außer Jan Hennstall, aber der ist ein Dummkopf.« Am Mast war eine Schaukel angebracht worden. Dazu schwieg Störtebeker. Die Mannschaft hatte Isa nun mal ins Herz geschlossen und betrachtete sie als ihren Glücksbringer und Maskottchen. Jan Hermstall durfte es nicht mehr wagen, auch nur ein Wort gegen sie zu sagen oder sie schief anzusehen. Es wäre ihm übel bekommen. Störtebeker dachte oft an Beret tom Broke, was sie jetzt wohl tat. Bis er von Frankreich nach Strand zurückkehrte, würde einiges an Zeit vergehen. Trieb das Leben sie jetzt schon auseinander, nachdem sie sich kaum angehört hatten? Er wusste es nicht. Isa ließ sein Herz lachen. Er ging davon aus, dass er keine Kinder haben oder sie jedenfalls nicht würde aufwachsen sehen. Isa, die Zeit mit ihr, war nur geborgt. Die Freuden eines Familienlebens blieben Störtebeker ganz versagt. Aber das war sein Weg, den würde er gehen, bis ans Ende, gleich wie es sein sollte - blutig und gewaltsam, vermutete er - und er konnte und wollte nicht mehr zurück. »Frii es de Strönthgang, Frii es de Naght, Frii es de See, de wilde See«, summte er vor sich hin. Ein altes friesisches Lied, das er von Beret gehört hatte, besonders von ihr, er kannte es früher schon. – Frei ist der Strandgang, frei ist die Nacht, frei ist die See, die wilde See. Frei wollte er sein. Gottes Freund und aller Welten Feind. Nur seinem Gewissen und seiner Mannschaft verantwortlich, deren Käpten er war. * 41
Endlich kam Frankreichs Küste in Sicht. Der ›Rote Teufel‹ fuhr in eine abgelegene Bucht. Selten kam jemand hierher und selbst wenn, war das Schiff nicht gleich als Piratenschiff zu erkennen. Störtebeker suchte drei Männer aus, die ihn begleiten sollten. Mit ihm gemeinsam sollten sie den Gutshof Fenne à la mer an der Alabasterküste aufsuchen. Eine schmale Fahrrinne durch die himmelragenden Steilklippen führte in die windstille Felsenbucht. Die Kogge hatte gerade hindurchgepasst, mit gerefftem Segel und hatte die Flut ausgenutzt. Bei Ebbe würde sie nicht aus der Bucht herauskönnen, was ein Nachteil war. Denn wenn Bewaffnete die Bucht umstellten, konnten sie mit Armbrustbolzen, Steinen und Brandfackeln der Besatzung von oben her zusetzen. Oder die Klippen heruntersteigen und das Schiff angreifen. Doch ein gutes Versteck war besser, als irgendwo vor der Küste den Treibanker auszuwerfen oder ein besser zugänglicheres, dafür aber offensichtlicheres zu suchen. Der vielseitige Gerrit Wigbald, der schnitzerisch begabte Matrose Knud und der Schiffsjunge Hajo, das gewiefte und Störtebeker treu ergebene Kerlchen, sollten ihn begleiten. Doch Bratspieß, der Koch, protestierte. »Ich lasse Isa nicht allein gehen«, sagte er starrsinnig. »Ich muss wissen, was aus ihr wird.« Alles Zureden blieb zwecklos. »Du kommst nicht mal die Klippe hinauf mit deinem Holzbein«, sagte Störtebeker. »Pah, ich klettere wie eine Gemse. Na ja, wie eine Gemse mit einem Holzbein. Aber ich schaffe es, ich werde euch keine Last sein.« »Lass ihn«, sagte der Steuermann. »Sonst ist er total ungenießbar und versalzt uns die ganze Zeit, während ihr weg seid, das Essen, Wir werden uns ohne den Pfannenschwenker behelfen.« Die Männer stiegen über die Bordwand. Isas Gepäck wurde hinüber gehoben. Dann verabschiedete sie sich, die Puppe im Arm, ihr Krokodil in ihrem Bündel, von den rauen Männern. Manch einem glänzten die Augen feucht. 42
Isa nannte jeden beim Namen. »Onkel Steuermann. Onkel Lars. Onkel Egbert. Onkel Siegbrand. Onkel Knud.« So ging es die ganze Reihe durch. »Onkel Wanzenknacker.« Ein paar Matrosen hatten Isa angestiftet, einen von ihnen so zu nennen. Das wäre sein Lieblingsname, hatten sie ihr gesagt. Der zottige Vitalienbruder zuckte zusammen und rollte einen Moment mit den Augen. Dann jedoch strahlte er wie zuvor, dem unschuldigen, arglosen Kind konnte er nicht böse sein. »Danke, dass ihr mich mitgenommen habt. Auch Hermione bedankt sich und mein Krokodil«, plapperte Isa. »Ich werde euch nie, nie, nie vergessen. Ich habe euch alle lieb.« Auch Jan Hermstall war hierin eingeschlossen. Störtebeker hob Isa an die Klippe. Sie winkte der Besatzung zu. »Wenn es Schwierigkeiten gibt, holst du uns, Käpten!«, rief Jan Hermstall. »Dann brennen wir alles nieder. Isa steht unter unser aller Schutz.« »Du hast deine Meinung geändert?«, fragte der Steuermann den Matrosen. »Nun ja, nun«, meinte Hermstall und räusperte sich. »Man wird es sich einmal anders überlegen dürfen. Wenn wir schon einmal da sind, können wir ganze Sache machen.« Isa hatte auch sein Herz erobert. Auf einem halsbrecherischen Pfad kletterten Störtebeker, auf dessen Schultern die Dreijährige saß, die sich an ihn klammerte und die anderen höher. Der Koch keuchte. Er war nicht mehr der Jüngste. Sein beachtlicher Bauch und sein Holzbein machten ihm das Klettern schwer. Als sie endlich oben waren, keuchte er wie ein Walross und war mit seinen Kräften am Ende. Doch er verschnaufte sich nicht lange. »Nordnordwest zum Gut«, sagte er. »Wollen sehen, was uns dort erwartet.« Sie marschierten, sich nach dem Koch richtend, in Richtung Dieppe. Bei einem einsamen Gehöft hielten sie an und fragten die mürrische Bauersfrau, die mit ihrer halb blinden alten Magd dort allein war, nach dem kürzesten Weg nach Dieppe und nach dem Gut Ferme à la 43
mer. Gerrit Wigbald übernahm die Gesprächsführung, weil seine Mannschaftskameraden, auch Störtebeker, doch nur ein paar Brocken Französisch konnten. Und die waren meist für eine anständige Konversation nicht geeignet. Die schwarz gekleidete Bauersfrau zeigte bereitwillig den Weg. Sie war froh, dass es sich bei den bewaffneten, verwegen und gefährlich aussehenden Männern nicht um Räuber handelte, die es auf ihr Gehöft abgesehen hatten. Ihr Mann war mit dem Fischerboot unterwegs, die Söhne irgendwo. Die Bäuerin wunderte sich, dass die kleine Schar ein Kind mit dabei hatte, wusste und erkannte jedoch nicht, um wen es sich handelte. »Wie weit ist es bis zu dem Gut?«, fragte Wigbald. »Wenn ihr tüchtig marschiert, könnt ihr es an einem Tag schaffen.« »Habt ihr Pferde? Können wir hier in der Gegend irgendwo welche kaufen?« »Nein. Dies ist eine abgelegene, unfruchtbare Gegend, der Ödackerhof. Weiter nach Dieppe zu ist der Boden fruchtbar, dort ist gutes Land. Hätte ich doch nie auf diesen Hof geheiratet, wo man sich plagen und schinden muss und Dornen und Disteln erntet. Ohne die Fischerei, die mein Mann noch nebenher betreibt, kämen wir überhaupt nicht zurecht.« Die Vitalienbrüder hatten wenig Interesse an den Sorgen der Bauersfrau. Störtebeker zog mit seiner kleinen Schar wieder los, durch einen Wald und Gelände. Die Nacht brach herein. Unter freiem Himmel kampierten die vier Männer und das Kind. Sie zündeten ein Feuer an. Isa sprach ihr Nachtgebet. Die Männer neigten andächtig den Kopf, obwohl sie keineswegs fromm waren. Die Unschuld des Kindes rührte sie. »Und pass diese Nacht gut auf mich auf, lieber Gott und auf den Onkel Klaus und seine Mannschaft auch. Und mach, dass dem Bratspieß sein Holzbein nicht mehr weh tut.« »Amen«, sagten alle. 44
Den Koch konnte eigentlich nicht sein Stelzfuß schmerzen, sondern der Beinstumpf, an dem er festgeschnallt war, von der Klettertour und dem ungewohnten für ihn sehr mühsamen Marsch. Er hatte sich eine Krücke mitgenommen, sonst hätte er den Marsch überhaupt nicht bewältigen können. Als Isa schlief, schnallte er seinen Stelzfuß ab und rieb sich den Beinstumpf mit Branntwein ein. »Du wirst es nicht glauben«, sagte er am Lagerfeuer zu Störtebeker, »doch mich schmerzt mein nicht mehr vorhandener Unterschenkel. Das habe ich manchmal, auch bei Wetterumschwung.« »Ich glaube es schon«, antwortete ihm sein Käpten. »Ich habe dergleichen gehört. Geisterschmerzen nennt man das. Amputierte Gliedmaßen können noch Schmerzen auslösen.« Die Nacht verging. Die Männer wachten abwechselnd, Vorsicht war die Mutter des Überlebens. Störtebeker hatte die letzte Wache übernommen, die Hundewache, die am unbeliebtesten war. Er hörte Wölfe im Wald heulen. Dann vernahm er ein Brummen. Er sprang sofort hellwach auf und griff nach dem Schwert. Funken stoben vom niedergebrannten Feuer, als Störtebeker ein Scheit ergriff und schwenkte. Es flackerte auf. Wieder ertönte das Brummen. Zwischen den Bäumen befand sich ein massiger dunkler Schatten, der sich auf die Hinterbeine aufrichtete - ein gewaltiger Braunbär, wie es sie in den hiesigen Wäldern genau wie Wölfe durchaus etliche gab. Der Krieg hatte das Land verwüstet, die Verhältnisse waren unsicher. Viele Gehöfte standen leer, die Engländer und die Franzosen bekriegten sich seit Jahrzehnten, seit die Engländer meinten, durch die Erbfolge sei Frankreich an sie gefallen, was nun wieder die französische Herrscherlinie nicht wollte. Der Herzog von Burgund und der von Orleans lagen sich in den Haaren und marodierende Söldnerhorden durchzogen oft das Land. Die wilden Tiere hatten in vielen Gegenden überhand genommen. Der Bär wich zurück und es war nicht klar, ob er angreifen oder sich zurückziehen würde. 45
»Ha!«, schrie ihn Störtebeker an, schwenkte das Scheit, von dem die Funken stoben und führte ein paar sausende Lufthiebe mit dem Schwert. »Verschwinde in deinen Wald, trolle dich, Meister Petz!« Gerrit Wigbald, der Koch Bratspieß, Deich-Hajo und die kleine Isa erwachten. Isa griff gleich nach ihrer Puppe. »Du musst keine Angst haben, Hermione. Onkel Klaus passt auf uns auf.« Gerrit Wigbald und Bratspieß ergriffen die Spieße, mit denen sie außer dem Schwert noch bewaffnet waren. Der Schiffsjunge packte die Armbrust und spannte sie. »Schieß nicht!«, warnte ihn Störtebeker. »Wenn du den Bär nur verwundest, gerät er außer sich und zerreißt uns. - Du müsstest ihn genau ins Herz oder durchs Auge ins Gehirn treffen.« »Traust du mir das nicht zu, Käpten?« »Doch, aber ich möchte es nicht darauf ankommen lassen.« Auch Gerrit Wigbald und der Koch ergriffen Holzscheite und stießen Schreie aus und lärmten. Der Bär brummte wieder, wie ein Grollen tief aus der Erde hörte es sich an. Die Männer scharten sich um das Lagerfeuer. Hajo, die Armbrust in der Linken, warf mit der Rechten dürres Holz auf das Feuer, das bald aufloderte. »Ho, ho, ho, weg, alter Bär!« Der Bär schüttelte den massigen Kopf. Lärm und Feuer irritierten ihn. Er drehte sich um und lief weg, wobei das massige Tier im Wald keinen Laut verursachte. Aufatmend senkten die Männer Holzscheite und Waffen. »Siehst du, Hermione«, sagte Isa zu ihrer Puppe, »es ist gut ausgegangen.« »Das war nun ein Landbär, kein Seebär«, sagte der Koch mit Galgenhumor. »Haben wir ihn endgültig verscheucht, Käpten?« »Woher soll ich das wissen, mir hat er es nicht gesagt. Doch da ohnehin bald die Sonne aufgeht« - es war die letzte Stunde vor Morgengrauen - »können wir genauso gut gleich aufbrechen.« »Erst gibt es ein Frühstück!«, rief Bratspieß. Er räusperte sich. »Möchte mal wissen, wie sie an Bord ohne mich zurechtkommen mit 46
der Kocherei. Nahrungsmittel und Vorräte schicken wir ihnen dann ja vom Gut Ferme à la mer.« Das hatte Störtebeker der Mannschaft versprochen. Genauso wollten sie ihn unterstützten, wenn notwendig. Der Koch summte ein Lied, während er aus den Vorräten, die die Männer im Schnappsack mit trugen, das Frühstück bereitete. Dazu gab es als Trunk frisches Wasser von einer nahen Quelle. »Schönste aller Schönsten, was hör' ich von dir, ei Du willst Dich heiraten, Du schönes junges Blut Willst Du dich heiraten, Du schönes junges Blut dann wirst Du erfahren, was heiraten tut Dann bekommst Du kleine Kinder, dann hast Du große Not, diese schreien zum Vater: ›Wir haben kein Brot!‹ Wir haben keine Brötchen, wir haben kein Geld, dann wirfst Du die schöne Trompete ins Feld Die schöne Trompete, die alte Schalmei, Du mein einzig schönes Mädel, ich bleib Dir getreu.« So sang dann der Koch mit einer klaren Bassstimme. Ein altes Volkslied. Bratspieß war eine treue Seele und unter seinen fünf Fingern dick Speck auf den Rippen schlug ein gutes Herz. Für seine Freunde und die, die er mochte, ging er durchs Feuer. Manchmal war das Piratenleben durchaus beschaulich. Die vier Männer zogen dann mit dem Kind, das an Hajos Hand ging, so lange es das konnte, durch den Wald. Die Sonne ging auf und die Vögel zwitscherten. »Ein Reh!«, rief Isa in ihrer Aufregung auf Französisch. »Seht mal, da sind Rehe.« »Wir müssen zusehen, dass wir zum Gut kommen«, sagte Störtebeker. Er hob Isa auf seine breiten Schultern. Plappernd erklärte sie ihrer Puppe die Umgebung. Störtebeker fragte sich, was sie auf dem Gut erwartete. * 47
Das Tal mit dem stattlichen Gutshaus und den Ställen und Nebengebäuden lag vor den Augen der vier Wanderer und des Kindes im Sonnenglanz. Die Äcker und Felder waren schon abgeerntet. Es gab ein paar Waldstücke, eine Mühle und eine Sägemühle an dem Flüsschen und an einem Bach in dem weiten Tal, das sich bis zum Horizont dehnte. Zudem eine Imkerei mit Bienenstöcken, Ställe, Remisen für die Wagen sowie eine Schmiede und Stellmacherei für Wagenräder, eine Käserei und dergleichen. Störtebeker, der selbst von einem Landgut stammte, kannte sich aus. Er schätzte, dass ein paar hundert Leute das Tal bewohnten. Ein Stück von dem Gut entfernt sah er ein kleines Dorf am Westhang des Tals. Und weit entfernt, auf einem Berg, zwischen Dieppe und dem Gut, erkannte der Pirat klein und zierlich wie ein Spielzeug auf die Entfernung eine Burg. Sie gehörte, was er nicht wusste, dem Marquis Alain de la Gasteaux, dem Blaubart, der schon drei Frauen begraben hatte und nun seine begehrlichen Augen auf die Herrin von Gut Ferme à la mer und auf ihren Besitz warf. Von den Kriegswirren schien das Tal ziemlich verschont geblieben zu sein. Das war deshalb, was Störtebeker noch erfahren sollte, weil sein verstorbener Herr, der ehemalige Söldnerhauptmann Albrecht von Böhmer, ein wehrhafter Herr gewesen war. Mit ihm hatte keiner so leicht anbinden wollen. Die vier Männer marschierten weiter - Störtebeker trug Isa, als ob sie so leicht wie eine Feder sei. Manchmal zog sie ihn an den Haaren oder zerzauste sie ihm, wobei er gespielt aufschrie und ihr sagte, dass sie gewaltige Kräfte hätte und ihm seine Haare lassen sollte. Die Männer marschierten nun auf dem Feldweg zum Gut. Wegen Bratspieß mit seinem Stelzfuß kam man langsamer voran, als es ohne ihn der Fall gewesen wäre. Es beklagte sich aber niemand. Der Koch gab sich alle Mühe voranzukommen. Es gab keine Mauern und Wehranlagen bei dem Gut, doch das aus Bruchsteinen gemauerte, efeuberankte Gutshaus mit dem Walmdach und dem Küchengarten davor war fest und stabil gebaut. 48
Die Gruppe kam an einem Bach vorbei, wo der Schweinehirt, eine ehrwürdige und notwendige Tätigkeit zu jener Zeit, auf seine Borstentiere aufpasste. Auch eine Pferdekoppel gab es im Tal, zudem weideten Schafe und Kühe im Freien. Das Gut war gut gehalten und konnte sich selbst versorgen. Äußerlich gesehen schien hier alles zum Besten zu stehen. Der barfüßige Schweinehirt kam neugierig näher. Er zog seine grüne Mütze mit der kecken Feder daran und grüßte die Herren. »Bon dieu, Messieurs.« Den Rest verstand Klaus Störtebeker nicht mehr. Gerrit Wigbald sprang ein als Übersetzer und Wortführer. Er redete mit dem Schweinehirten, der noch näher herankam, sich die Augen rieb und auf Isa schaute. »Ei, das ist ja die kleine Herrin. Was ist sie gewachsen, seit ich sie das letzte Mal sah. Aber wo ist Madame Rosalie, ihre Mutter? Und wer seid ihr, was führt euch des Weges?« Störtebeker sah nun nicht ein, weshalb er einem Schweinehirten Rede und Antwort stehen sollte. Er hatte zwar keine Standesdünkel, doch wenn er jedem, der ihn unterwegs befragte, lang und breit erklärte, was Sache war, würde er wohl zehn Mal alles erzählen müssen. Er begnügte sich daher, was Gerrit Wigbald übersetzte, mit der kargen Auskunft: »Wir bringen das Kind nach Hause.« »Und wer seid Ihr, Herr? Was ist mit ihrer Mutter?« »Ich bin Klaas van de Störte, ein deutsch-holländischer Handelsherr und habe ein Gelübde getan, Isa heimzubringen«, antwortete Störtebeker. »Jetzt melde uns deiner Herrin an.« »Aber, wer soll denn auf meine Schweine aufpassen?« »Lasse sie auf sich selbst aufpassen.« Der Schweinehirt entschloss sich zu einem Kompromiss. Er lief ein Stück weit so schnell, dass ihm der Dreck von den Füßen platzte und pfiff schrill, was einen Kuhhütejungen herbeiholte. Der kam voller Angst, es wären Wölfe da, die das Vieh reißen wollten. Er wurde aber nur zur Gutsherrin geschickt. Die Kühe waren weniger wander- und wuselfreudig wie die quiekenden Schweine. Sie konnte man eher allein lassen. Störtebeker und 49
seine Männer hatten sich an Bord des ›Roten Teufels‹ so gut als möglich ausstaffiert, damit man ihnen den reisenden Kaufmann und seine Begleiter glauben sollte. Dass sie zu Fuß unterwegs waren, war ein Kapitel für sich. Sie wollten sich jedoch nicht zu genau dazu befragen lassen. Eine Kutsche konnte sie in die Nähe gebracht und abgesetzt haben. Gerrit Wigbald würde als Schreiber und Buchhalter auftreten, der Schiffsjunge Hajo als Helfer und Bratspieß, der Koch, den das Marschieren arg angestrengt hatte, als treues Faktotum des Kaufherrn, das bei ihm sein Gnadenbrot erhielt. Isa war noch zu klein, um zu begreifen und weiterzuvermitteln, dass sie Seeräubern - den Vitalienbrüdern - in die Hände gefallen war. Störtebeker hatte ihr erzählt, es wäre ein Spiel, dass er unter anderem Namen auftrat. Isa war darüber sehr amüsiert. »Das mache ich mit. Aber dann musst du Tante Desiré die Wahrheit sagen, denn lügen darf man nicht. Das habe ich einmal getan, als ich eine Vase zerbrochen hatte und sagte, es wäre das Kindermädchen gewesen. Da hat meine Mutter mir den Mund ausgewaschen und es hat drei Tage lang keinen Nachtisch gegeben.« »So schlimm wird es diesmal nicht kommen«, sagte Störtebeker. »Es soll bloß ein Scherz sein.« Er war sehr gespannt auf die junge Frau, die das Gut dirigierte und auf die Verhältnisse dort. * Jehan de Montaigne tat das, was er am liebsten tat, nämlich nichts. Er lungerte auf dem Gut herum, belästigte die Mägde, erklärte dem Schmied, der eine Pause von seiner schweren Arbeit machte, dass er ein Faulenzer sei und schlenderte dann an dem Spätherbsttag zum Gutshaus. Dort ging er in die Küche, wo er die Küchenmagd in den Hintern kniff und nach einem guten Imbiss und einer Kanne Bier verlangte. Das gab man ihm. Er war schließlich der Vetter der Gutsherrin und konnte sehr unangenehm werden. 50
Er setzte sich also im Wohnraum in den hochlehnigen Sessel, legte die Füße auf den Tisch und ließ es sich schmecken. Desiré de Montaquieux kam herein, in einem einfachen Leinenkleid. Sie war sich nämlich nicht zu schade, selbst zuzupacken und eine tüchtige junge Frau. »Was treibst du da, Vetter Jehan? Hat es zu Mittag nicht genug zu essen gegeben, dass du schon wieder hungrig bist?« Jehan nahm die Stiefel vom Tisch, immerhin. Er versuchte, die schöne rehäugige Desiré auf seinen Schoß zu ziehen. Doch sie entwand sich ihm. »Weshalb bist du so spröde?«, fragte der scheeläugige, zahnlückige Kerl mit der recht dunklen Gesichtsfarbe. »Wir wissen beide, dass Rosalie nicht mehr wiederkommt. Und du einen Mann brauchst, der hier die Verhältnisse regelt und dich beschützt. Das kann nur ich sein.« »Eher nehme ich einen Bettler als Mann als dich, Jehan.« Der leicht Bucklige erhob sich. Trotz seiner geringen körperlichen Behinderung war er durchaus kräftig, was er freilich nie mit harter und ehrlicher Arbeit erprobt hatte. »Ein Bettler wird dir nicht helfen können. Pass du lieber auf, dass du nicht selbst als Bettlerin durch die Lande ziehen musst. Der Fürstbischof könnte dich wohl um seinen Besitz bringen, nachdem er gehabt hat, was er wollte und deiner als Mätresse überdrüssig ist. Er ist auf einen häufigen Wechsel aus und will junges Blut in seiner Kammer, wie jedermann weiß.« »Der Marquis de la Gasteaux...« »... wird dir ein paar Kinder machen und dich unter die Erde bringen. Er ist herzlos, was Frauen betrifft und sieht sie kaum besser als Tiere an. Im Gegenteil, seine Pferde und Jagdhunde haben es besser bei ihm als die Frauen.« Desiré bekreuzigte sich. Sie wusste, dass ihr Vetter Recht hatte. »Ich weiß wohl, dass Gaspard Gambardier, der Gutsverwalter, ein Auge auf dich geworfen hat, Base. Aber er ist nicht von Adel und nicht raffiniert genug, um den fetten Fürstbischof auszutricksen, dessen Appetit nicht nur bei Tisch unersättlich ist. - Du wirst mich wohl heiraten müssen, es bleibt dir keine andere Wahl.« 51
»Du würdest Ferme à la mer zugrunde richten, du fauler Geselle.« »Gambardier kann es weiter verwalten«, höhnte Jehan. »Ich mag mir sowieso nicht mit knechtischer Arbeit die Finger schmutzig machen. Hier langweilt es mich. Wir könnten an den Hof von Burgund gehen, oder nach Orleans zu dem dortigen Herzog. Auch nach Paris, obwohl der wahnsinnige Ludwig nur ein Schattenkönig ist. Bei Hofe ist mehr los, da könnte ich gar mein Glück machen, hier auf dem Land sind meine Fähigkeiten vergeudet und fühle ich mich lebend begraben.« »Dann geh doch! Ich habe dich nicht gerufen und es hält dich keiner.« »Nicht ohne dich, Bäschen. Einkünfte muss man haben. Viele Adelsherren bei Hof leben so. Man schlachtet die Gans nicht, die einem goldene Eier legt. Das Gut zugrunde zu richten bringt nichts. Wir lassen ihnen hier schon, was sie unbedingt brauchen - du bist allerdings viel zu lasch und zu weich zu den Faulpelzen hier, was sie weidlich ausnutzen. - Man könnte viel mehr herauspressen.« Desiré schwindelte es. »Gehe mir aus den Augen, du Scheusal, ich will nichts mehr hören. Du... du... du...« Ihr fiel kein Schimpfwort ein, das stark genug war, um ihrer Abneigung gegen den Vetter, der sich ihr aufzwang, Ausdruck zu verleihen. Ehe ich seine Frau werde, sterbe ich lieber, dachte sie. Doch welche Alternative hatte sie denn - außer wirklich den Tod? »Ich gehöre hierher, ich will hier bleiben«, sagte sie. Jehan warf die halb abgenagte Rinderkeule lässig ins Kaminfeuer. »Dann bleibe doch da und versauere«, sagte er. »Doch heiraten musst du mich und mir das Geld schicken, das ich bei Hof brauche. Als dein Gatte und Gutsherr gehört alles mir. - Rosalie kehrt nicht mehr wieder. Sie ist auf der Reise ums Leben gekommen, samt ihrer Tochter. - Wir können getrennt leben, ich komme ein paar mal im Jahr oder hin wieder. Dafür hast du dann mich als deinen Gatten und Beschützer - und kannst auf dem Gut bleiben. Das denen Montaquieux erhalten bleibt - und unseren Kindern.« 52
»Die Bälger von dir würde ich in der Wiege erwürgen!«, rief Desiré, die nicht mehr an sich halten konnte, mit zornrotem Kopf. »Du... du...« ... scheeläugiges buckliges Scheusal, hatte sie ihm an den Kopf werfen wollen, doch sie besann sich im letzten Moment. Denn Jehan war jähzornig und sehr heikel, wenn ihn jemand auf seine körperlichen Gebrechen ansprach. Dann würde er Desiré wehtun. Er seinerseits merkte, dass er sie für heute genug gereizt und ihr zugesetzt hatte. Lachend ging er aus dem Raum. Desiré setzte sich an den Tisch und schluchzte bitterlich. Ihr Gefühl sagte ihr, dass ihre ältere Schwester, die schon längst hätte zurück sein sollen, nicht mehr am Leben war. Sie wollte es jedoch nicht wahr haben. Ich armes Mädchen, dachte sie in ihrer Verzweiflung, gibt es denn
keine Gerechtigkeit auf der Welt? Keinen Schützer der Waisen und Witwen und Unterdrückten? Keinen Edelmann, der ein gutes, gerechtes Herz hat? Sind es denn alles nur Schurken und ist die Welt eine einzige Wolfs- und Schlangengrube?
Da hörte sie Stimmen und Lärm im Haus. Jemand rief: »Isa ist wieder da. Ein holländischer Kaufherr hat sie zurückgebracht.« Mit klopfendem Herzen stand Desiré auf. Dann wurde die Tür geöffnet. Isabeau rannte in den großen Raum mit dem gemauerten Kamin und dem langen, gescheuerten Tisch. Ihre Zöpfe flogen. »Tante Desiré, ich bin wieder da! Ich bin zurück, Tante.« Desiré kniete nieder und umfing Isa mit ihren Armen. Sie drückte sie an sich, stand auf, herzte und küsste sie. »Kind, Kind, das Herz zerspringt mir vor Freude. Wo ist deine Mutter?« »Im Himmel, Tante Desiré, sie ist jetzt ein Engel«, antwortete Isa, als ob das selbstverständlich sei. »Onkel Klaus sagte, dass sie von da auf mich aufpasst und ich sie später wieder sehe, wenn ich brav bin.« »Wer ist Onkel Klaus?« Störtebeker trat über die Schwelle ins Zimmer, die Mütze in der Hand. Isa hatte mit ihrer Tante Französisch gesprochen. Doch der Li53
kedeeler hatte seinen Namen gehört und verstanden. Freilich verplapperte sich die Kleine, als sie ihn Klaus anstatt Klaas nannte, doch das fiel nicht auf. »Ich«, sagte er und verbeugte sich. »Ich bringe Ihre Nichte nach Hause, Demoiselle de Montaquieux. Und ich stehe zu Ihrer Verfügung.« Er sprach Deutsch. Desiré schaute ihn an wie ein Wunder. Gerrit Wigbald folgte seinem Kapitän und übersetzte, was er gesagt hatte. Desiré de Montaquieux betrachtete den großen, stattlichen Mann mit dem wettergegerbten Gesicht und den kühnen Zügen. Er sah nicht wie ein Kaufherr aus, doch andererseits gab es alle Möglichen unter den Kaufleuten, auch gut aussehende, stattliche, kräftige Männer. Und er musste ja schließlich wissen, was er von Beruf war... Desirés Herz schlug schneller, als sie Störtebeker in die blauen Augen schaute, die die Weite der See gewöhnt waren. Sein Blick ließ sie erbeben und sie spürte Gefühle, die sie vorher noch nie gehabt hatte. Was für ein Mann, dachte sie. Der könnte mir gefallen. Wären ihre innigsten Herzenswünsche erfüllt worden und war da eine Rettung ins Haus gekommen, wie vom Himmel geschickt? Desiré ermahnte sich selbst, sich nicht zu viele und zu große Hoffnungen zu machen. Sie wollte nicht bitter enttäuscht werden. * Später lag die schöne schwarzhaarige Französin im Bett und versuchte, sich über ihre verwirrten Gefühle klar zu werden. Sie hatte den angeblichen Kaufmann und seine Gefährten freundlich aufgenommen. Der hoch gewachsene Deutschholländer, für den sie Störtebeker hielt, gefiel ihr. Wenn er sie berührte, was bei Tisch schon einmal geschah, da sie seine Tischdame war, durchzuckte es sie wie ein Schlag. Ein paar mal, wenn er mit ihr sprach, was Gerrit Wigbald übersetzte, hatte sie den Kopf senken müssen, weil sie rot wurde. Störtebeker hatte ihr eine verfälschte Wahrheit erzählt, nämlich dass er mit 54
einer Hansekogge, deren Anteilseigner er wäre, auf Seereise gewesen sei. Da hätten sie die Wrackteile des Schiffs gefunden, mit dem die unglückliche Rosalie de Montaquieux untergegangen war und Isa aus der auf den Wellen treibenden Truhe gerettet. Da er, Störtebeker, zuvor ein Gelübde abgelegt habe, eine gute Tat zu tun, habe er sich des Kindes angenommen. Er sei mit Isa und seinen drei treuen Begleitern an die französische Küste gereist, von Bremerhaven aus mit einer anderen Kogge und habe sie nach Hause gebracht. »Warum haben Sie das Gelübde abgelegt, Monsieur van de Stört?«, hatte Desiré gefragt. Da küsste Störtebeker ihr die zarte Hand mit dem Rubinring und sagte, Wigbald übersetzte: »Ich habe einen Schiffbruch überlebt und wurde gerettet. Da gelobte ich es.« »Sie müssen ein frommer Mann und ein guter Mensch sein, Monsieur van de Stört.« Ja, dachte Störtebeker, wenn ich nicht gerade einem den Kopf abschlage oder Schiffe kapere, bin ich das. Er hatte Desiré nach ihren Verhältnissen gefragt, wie es auf dem Gut zugehe. Die junge Landadlige war zu zurückhaltend, um sich jemandem anzuvertrauen, den sie erst so kurz kannte. Jehan de Montaquieux hatte dabeigesessen und noch scheeler geschaut als sonst. Die vier fremden Besucher gefielen ihm nicht. Er glaubte ihnen nicht, dass sie Kaufleute waren. Ihr offener Blick und ihre ganze Art sprachen dagegen. Natürlich gab es den Seehandel und viele Hansekaufleute waren viel auf See, da sie ihre Geschäfte kontrollieren und Kontakte pflegen mussten. Besonders die jüngeren Hansehandelsherren reisten viel und oft, schon, um sich mit dem Metier vertraut zu machen und praktische Erfahrungen zu sammeln. Sonst hätten ihre Kapitäne sie leicht hinters Licht führen können. Doch Jehan konnte in Störtebeker keinen Pfennig- und Federfuchser erkennen und das waren die Pfeffersäcke der Hanse durch die 55
Bank alle. Er misstraute ihm. Zugleich spürte er, dass der breitschultrige Seebär, der er zweifellos war, für ihn eine Gefahr darstellte. Andererseits, grübelte der leicht bucklige Vetter der Gutsherrin, wenn seine Geschichte nicht stimmt, weshalb kommt er dann her und bringt Isa zurück? Dass ein Pirat und Vitalienbruder so handeln könnte, fiel Jehan im Traum nicht ein. Er hatte Störtebeker bei Tisch und später in einem Zimmer, wo Sie zusammen saßen, Fragen gestellt, über Woher und Wohin, an welchem Schiff er das Teileigentum hätte, mit dem er Isa aus dem Meer gefischt habe, wo er an Land gegangen sei an der französischen Küste und so weiter. Störtebeker hatte ihm ausweichend geantwortet. Und der schlaue Gerrit Wigbald, der ausgezeichnet Französisch sprach, hatte manchmal vorgegeben, ihn nicht zu verstehen. Desiré setzte sich schließlich ein. »Es ist unhöflich, unsere Gäste derart auszufragen, Jehan«, hatte sie ihren Vetter getadelt. »Wo sie Mühen und Umstände auf sich nahmen, um Isa zu - mir zurückzubringen. Freilich bin ich todtraurig, dass meine arme liebe Schwester verstorben ist. – Jetzt bin ich die Gutsherrin und schwöre, dass ich alles tun werde, um Isa ihr Erbe zu bewahren.« Störtebeker, der Menschen einschätzen konnte, hatte bemerkt, wie sich Jehan de Montaquieuxs Miene verfinsterte und er unterm Tisch - Störtebeker beugte sich unauffällig nieder, als ob ihm etwas heruntergefallen sei - die Rechte zur Faust ballte. Ei, ei, dachte Störtebeker, da ist noch einiges gefällig. Isa war vom Kindermädchen fertig gemacht worden, um zu Bett zu gehen. Sie kam im Nachthemd - ihre Puppe war natürlich dabei, das Hundekrokodil hatte in ihrem Zimmer seinen Platz gefunden - und knickste. Sie küsste die vier Männer, die sie hergebracht hatten, auf die Wange. »Gute Nacht, Onkel Klaus, Onkel Gerrit, Onkel Bratspieß - Hajo.« Das sind ja seltsame Namen, dachte Jehan de Montaquieux. Er beschloss, Isa demnächst ins Gebet zu nehmen. Schlau wollte er sich ihr Vertrauen erschleichen. Desiré zog sich bald zurück. 56
Sie trauerte um ihre Schwester, die dem geliebten Gatten bald hatte in den Tod nachfolgen müssen. Und sie dachte an die Verantwortung, die sie für Rosalies und Albrechts Kind hatte. Das war eine weitere Belastung für sie, die sie jedoch gern übernahm.
Ich bin es Isa und meiner toten Schwester schuldig, dass ich stark bin und mich nicht unterkriegen lasse, dachte sie. Vielleicht kann mir der deutschholländische Kaufherr helfen. Jehan de Montaquieux wiederum hatte voller Eifersucht gesehen, wie seine Base auf ›Klaas van de Stört‹, den Isa auch Klaus nannte, reagierte. Er erfasste wohl, dass sich da zarte Bande anspannen. Und er hatte Störtebeker gefragt, ob er verheiratet sei, während sie nach dem Abendessen beim Plausch saßen. Desiré war wieder errötet. »Nach den Gesetzen der Kirche nicht«, hatte Störtebeker, der eine wahrheitsliebende Natur war, geantwortet. Worauf Jehan gleich nachhakte: »Dann haben Sie also eine morganatische Ehe, Mijnheer van de Stört? Oder in jedem Hafen eine Geliebte? Oder halten Sie sich Mätressen.« »Jehan, benimm dich! Du beleidigst unsere Gäste«, hatte Desiré gesagt. »Du wirst dich entschuldigen.« Wigbald dolmetschte rasch. »Ich habe keins davon«, antwortete Störtebeker. »Und ich sehe nicht ein, Chevalier de Montaquieux, weshalb ich Sie in meine privatesten Dinge einweihen und Ihnen Rede und Antwort stehen soll. - Gute Nacht.« Damit war er gegangen. Wigbald folgte ihm. Bratspieß und Hajo befanden sich bereits in den Gästezimmern, die den vier Besuchern angewiesen worden waren. Es waren einfache, doch gut ausgestattete Räume. »Ein unverschämter Kerl ist das«, sagte Störtebeker, als er die Treppe hochstieg, zu seinem Bootsmann. »Die Tücke und Falschheit stehen ihm ins Gesicht geschrieben. Er ist der Gutsherrin unsympathisch, hast du das bemerkt?« »Sie mag ihn wie die Pocken«, antwortete Wigbald. 57
Eine morganatische Ehe oder Ehe zur linken Hand war eine Verbindung, die nicht von der Kirche, die zu der Zeit die einzig gültigen Trauungen vornehmen durfte, abgesegnet war. Auch die dauernde Verbindung mit einer Nebenfrau wurde so genannt. Besonders Adlige hielten sich oft mehrere Frauen und je höher der Rang, desto mehr nahm die Anzahl der Mätressen zu. Manch eine wollte ihr Glück machen, indem sie mit einem Herzog, Fürst oder Graf ein Kind oder Kinder in die Welt setzte. Wenn die Verbindung hielt, sorgten die Väter für ihre Bastarde wie für ihre offiziell anerkannten Kinder. Auch Wilhelm der Eroberer, der England errang, war ein unehelicher Sohn gewesen. Die väterliche Macht und die Verbindungen ebneten einem solchen Spross oft den Weg oder öffneten ihm Türen. Von der offiziellen Erbfolge des Geschlechts war er freilich ausgeschlossen. Mädchen, die in morganatischen Verbindungen zur Welt kamen, steckte man häufig ins Kloster, was in der rauen gefährlichen Zeit bedeutete, dass sie ein Dach über dem Kopf und satt zu essen hatten. Bei Frauen allerdings wurde mit anderem Maß gemessen. Zwar gab es durchaus welche, die es mit der Treue nicht genau nahmen und Liebhaber hatten. Doch was sich ein Mann leisten konnte, war bei ihnen verpönt, da mussten sie listig vorgehen und ihre Verhältnisse verbergen und tarnen. Desiré wälzte sich hin und her. Der Kummer um ihre Schwester und die Ungewissheit über ihre Zukunft setzten ihr zu. Da klopfte es an der Kammertür. Es musste nach Mittemacht sein. Desiré konnte die Zeit nur schätzen, denn die Sonnen- oder die Wasseruhr erkannte sie in ihrem dunklen Gemach nicht. Der Wind, der vom Kanal her pfiff, rüttelte an den Fensterläden der Kemenate. »Wer ist da?«, fragte Desiré. »Gerrit Wigbald, mit einer dringenden Botschaft.« Desiré glaubte, die Stimme des Deutschen zu erkennen. Sein Akzent war deutlich zu hören. Mit einer Botschaft von ›Klaas van de Stört‹, nahm sie an. Sie zündete ihre Lampe an, zog einen Umhang über. 58
»Einen Moment, Monsieur Wibaux.« Wigbald vermochte sie nicht zu sagen. Desiré entriegelte ihre Kammertür. Eine vermummte Gestalt stand vor ihr. Diese drängte sie in das Zimmer, hob die Kapuze, die ihr Gesicht beschattete - Jehan, ihr Vetter, stand vor ihr. Er hatte die Stimme des Deutschen und seinen Akzent nachgeahmt. »Jetzt wollen wir uns unterhalten«, zischte er. »Du bist doch allein? Oder ist der Deutsche schon bei dir - van de Stört?« Das mit dem Deutschholländer nahm Jehan nicht so genau. Er verriegelte die Tür. Isa schlief friedlich ein paar Zimmer weiter. Dunkel waren die Gänge, denn man sparte mit den Öllampen, die nicht die ganze Nacht brannten, oder mit Kerzenlicht. »Was denkst du von mir? Lass mich los, geh aus meiner Kammer!« Jehan packte sie hart am Arm. Desiré schrie unterdrückt auf. Der Bucklige hob drohend die Hand und drohte ihr einen Schlag an. »Jetzt ziehen wir andere Saiten auf, Base. Ich habe zu lange gefackelt und bin zimperlich und zurückhaltend gewesen. Jetzt weht hier ein anderer Wind. Ich bin der letzte männliche de Montaquieux, wenn auch aus einer entfernten Seitenlinie und du glaubst doch nicht, dass ich mir Ferme à la mer vor der Nase wegschnappen lasse? Denkst du, ich habe nicht bemerkt, wie du diesen Deutschen angeschaut hast? Er ist ein stattlicher Mann, reich womöglich auch noch, Schiffseigner, das gefällt dir, Dirne. - Aber jetzt wird nach meinen Karten und Regeln gespielt.« Er drängte sie auf das Bett. Desiré schrie um Hilfe. Doch ihr Vetter hielt ihr den Mund zu. Da biss sie ihn in die Hand und stieß noch einmal einen gellenden Schrei aus. Jehan fackelte nicht, sondern packte sie bei der Kehle und schnürte ihr die Luft ab. »Das hat mir einer gezeigt, der es wissen musste. Ein pikardischer Söldner. Wenn du die Weiber beim Schluck nimmst und fest genug zudrückst, tun sie alles, nur um atmen zu dürfen. - Das haben wir gleich. - Erst wird die Ehe vollzogen, besiegeln kann sie der Pfaffe später.« 59
Desiré schwanden halb die Sinne. Jehan, der ungeahnte Kräfte entwickelte, erwürgte sie fast. Die Gegenwehr der jungen Frau erlahmte. Jehan zerriss ihr das Nachthemd und drängte sein Knie zwischen ihre geschlossenen Beine. »Willst du wohl, so wie ich will?« Da pochte es hart an die Tür. Jemand fragte in französischen Brocken. »Weg da!«, rief Jehan. »Fort! - Geh, sch, sch, sch.« Sein Befehl war verständlich, auch wenn jemand kein Französisch konnte. Stille herrschte, der Klopfer draußen gab auf. Jehan freute sich. »Jetzt, Base, wirst du meine Frau.« Als er in sie eindringen wollte, die Hose hatte er heruntergelassen, gab es einen lauten Krach. Die Tür des Vorzimmers flog auf. * Störtebeker hatte Jehan de Montaquieux über den Flur schleichen sehen, als er noch mal aus dem Zimmer schaute und sich gefragt, wo es ihn in seinem Umhang und mit der Kapuze, die er noch nicht aufgesetzt hatte, hintrieb. Rasch hatte Störtebeker sich angekleidet - er hatte schon zu Bett gehen wollen - was etwas Zeit dauerte. Fast hätte er den krummen Jehan nicht wieder gefunden, der sich zu dem Zeitpunkt schon in Desirés Kammer befand. Doch dann hörte er ihren Hilferuf. Er pochte und erhielt Jehans Antwort. Störtebeker hatte die Stimme der jungen Gutsherrin erkannt. Er schaute sich die Tür an, eine Laterne mit einer brennenden Kerze darin hatte er mitgebracht. Dann trat er gegen die Tür, die krachend aufflog und stürmte in die Kemenate. Er trug das Schwert an der Seite, aber das brauchte er nicht. Er erkannte die Situation, riss Jehan von Desiré weg und packte ihn und warf ihn gegen die Wand, dass es krachte und der dort hängende Spiegel herunterfiel. Dann riss er den Burschen hoch und versetzte ihm ein paar schallende Ohrfeigen. 60
Desiré saß im Bett und hielt sich die misshandelte Kehle. Jehans Finger würden an ihrem Hals eine Weile zu sehen sein und blutunterlaufene Male hinterlassen. Jehan hatte immer geglaubt, durchaus wehrhaft zu sein. Doch in Störtebeker mit dessen gewaltigen Kräften hatte er seinen Meister gefunden. Der Piratenkapitän schüttelte ihn wie ein Lumpenbündel, dass ihm Hören und Sehen vergingen. Benommen tastete Jehan unter den Umhang und zog einen Dolch hervor. »Attention!«, rief Desiré. Störtebeker hatte es jedoch schon gesehen. Mit dem Ausruf »Was, Bürschchen?« drückte er Jehan das Handgelenk zusammen, dass er aufstöhnte und den Dolch fallen ließ. »Du brichst mir das Gelenk.« Störtebeker verstand ihn nicht, konnte sich jedoch denken, was er meinte. Angewidert stieß er den Halunken von sich. Er hatte gute Lust, ihm einen Fußtritt zu versetzen, jedoch war das nicht seine Art. Jehan blieb liegen, er wagte nicht, sich zu rühren. Störtebeker wendete sich an Desiré, die ihre Blößen verhüllte und schluchzte. Sie war schwer geschockt. So übel und so brutal hatte sie ihren Vetter nicht eingeschätzt, sondern einen Rest Anstand in ihm vermutet. Doch er schreckte vor nichts zurück. Die Gutsherrin klammerte sich an Störtebeker und suchte bei ihm Zuflucht. Er tröstete sie, so gut er das konnte, da sie ihn ja nicht verstand. Sie sagte auf Französisch zu ihm: »Sie haben mich aus der Gewalt dieser Bestie gerettet, Monsieur. Tausend Dank.« »Es wird alles gut.« Sie verstanden sich ohne die jeweiligen Worte zu begreifen. Störtebekers Stärke, die Wärme seines muskulösen Körpers, gaben Desiré Halt. In diesem Moment verliebte sie sich restlos in ihn und war bereit, sich ihm selbst, ihr Leben und all ihr Hab und Gut rückhaltlos anzuvertrauen. Auf dem Korridor hörte man Stimmen. Die Dienerschaft und auch Störtebekers Gefährten kamen. 61
»Was soll ich tun?«, fragte Desiré. Störtebeker hob die Schultern. Das musst du wissen, du bist die Gutsherrin, sagte die Geste. Desiré wollte keinen Skandal. Sie zog ihren Umhang über, huschte aus der Schlafkemenate und ging draußen an die Tür. Störtebeker hörte sie reden, verstand jedoch nicht, was sie sagte. Als sie zurückkehrte, bedeutete sie ihm mit Gesten und Worten, die er nicht verstand, dass sie die Dienerschaft und seine - Störtebekers - Begleiter weggeschickt hatte. Der Piratenkapitän lauschte dem wohlklingenden Klang ihrer Stimme. Ihre großen braunen Augen strahlten ihn an und sendeten Signale, die er wohl verstand. Doch noch stand Beret tom Brokes Gesicht vor seinen Augen. Er wollte ihr treu bleiben, auch wenn vor ihm ein verlockendes junges Weib stand, das ihn deutlich begehrte. Desiré war scheu, doch zugleich erfüllte sie eine innere Glut, die sie zu dem Mann vor ihr hindrängte. »Was machen wir nun mit ihm?«, fragte Störtebeker und schaute Jehan de Montaquieux an, der sich nicht zu regen wagte. Die Prügel, die er bereits von Störtebeker bezogen hatte und die derbe Behandlung reichten ihm. Sein Rücken schmerzte, nachdem Störtebeker ihn gegen die Wand geworfen hatte, als ob etwas gebrochen sei. Er konnte sich jedoch bewegen, so schlimm konnte es also nicht sein. Desiré sagte etwas auf Französisch. Sie bewegte die zierliche Hand, als ob sie etwas hinausfegen würde. Das war deutlich genug. Störtebeker packte Jehan am Kragen, zerrte ihn hoch und stieß ihn vor sich her. Er bedeutete Desiré, die Laterne zu tragen. Als Störtebeker in den Korridor schaute, war niemand mehr da. Was Desiré zuvor den draußen Stehenden erzählt hatte, weshalb die Tür aufgebrochen war, wusste er nicht. Anscheinend wusste die schöne Gutsherrin sich zu helfen. Desiré ging voran und leuchtete. Störtebeker führte Jehan, der keine Gegenwehr wagte, die Treppe hinunter. Jehan war im Grund seines Herzens ein Feigling. Frauen und Schwächeren gegenüber be62
nahm er sich brutal, doch wenn er an einen Stärkeren geriet, beutelte ihn die Angst, dass ihm die Knie schlotterten. Störtebeker hatte eigentlich vorgehabt, ihn im Keller einzusperren, wo er die Nacht verbringen sollte. Doch in der Halle unten, als er die Wandhaken sah, hatte er eine Idee. Rasch fesselte er Jehan mit seinem eigenen Gürtel die Hände auf den Rücken. Dann hob er ihn hoch und hängte ihn an seinem stabilen Jackenkragen an einem Haken an der Wand auf. Da baumelte der freche Halunke und Schmarotzer dann. Störtebeker hielt ihm die Faust vor den Mund, damit er nicht schrie. Suchend schaute er sich dann um. Schließlich zog er Jehan den rechten Schuh und den Strumpf aus. Den Strumpf stopfte er ihm in den Mund und band den Knebel mit einem Stoffstreifen fest, den er ihm aus dem Hemd riss. Der zahnlückige Mann gab nur noch erstickte Laute von sich. Störtebeker sah, dass er sich die Hose benässt hatte und rümpfte die Nase. Er wendete sich Desiré zu, sagte ihr, dass für Jehan gesorgt sei und begleitete sie artig zu ihrem Zimmer zurück. Der an der Wand Baumelnde zappelte vergeblich, um sich zu befreien. Wohl oder übel musste er hängen bleiben, bis ihn irgendwann jemand fand und er befreit wurde. Da er den Schaden hatte, brauchte er für den Spott nicht zu sorgen. Es mochte ihn sowieso niemand auf dem Gut und jeder würde ihm gönnen, was ihm passiert war. * An ihrer Zimmertür verabschiedete sich Klaus Störtebeker mit einem freundschaftlichen Wangenkuss von Desiré de Montaquieux. Sie hängte sich sofort an ihn. Ihre Lippen fanden sich und brannten aufeinander. Er spürte die zarten, verlockenden Formen ihres Körpers unter dem dünnen Nachthemd. Doch noch war Berets Bild stärker. Doch auch Klaus Störtebeker war nur ein Mann und nicht von Stein öder uralt. Früher oder später 63
würde er den Reizen der schönen Gutsherrin erliegen, er konnte nicht anders. Jetzt löste er sich von ihr. »Bonne noche, ma cherie«, sagte er steif. Damit ging er davon, zu dem Zimmer, das er bewohnte. Als er um die Ecke gebogen war, suchte Desiré ihre Schlafkemenate auf. Sie stellte einen Stuhl unter den Türdrücker, da der Riegel zerbrochen war. In ihrem Schlafgemach warf sie wütend erst ihre Pantoffeln gegen die Wand und dann sich aufs Bett. Schlimm war es für ein Mädchen, wenn ein Mann sie verführte und ihre Schwäche ausnutzte. Noch schlimmer in dem Fall, wenn er es nicht tat. Denn dann zweifelte sie nämlich an ihren Reizen und fragte sich, ob an ihr etwas verkehrt war oder bei ihm nicht stimmte. »Bonne noche, Mijnheer Klaas«, sagte Desiré. »Schlafe gut - und allein. Dummer Tölpel.« Klaus Störtebeker hörte das Kosewort nicht, das ihm zugedacht wurde. Er hatte an dem Zimmer geklopft, das Gerrit Wigbald und Hajo sich teilten. Bratspieß schlief am Korridorende allein in einer Kammer, weil sein Geschnarche niemand ertragen konnte. Man hörte ihn durch den halben Korridor ganze Wälder absägen. Auf seine Art war er ein Schnarchkünstler. Denn nach dem röchelnden Sägen fügte er bei jedem dritten Schnarcher exakt einen Triller an. Leider lobte ihn niemand für diese Kunst. Störtebeker befragte nun Wigbald und Hajo. »Die Gutsherrin sagte, sie hätte den Zimmerschlüssel verloren und jemand gebeten, die Tür für sie aufzubrechen«, erklärte der Bootsmann, der schon im Nachthemd war. »Dann schickte sie uns weg. Was ist geschehen, Käpten?« »Ich habe den krummen Jehan in seine Schranken gewiesen. Er überfiel Desiré in ihrer Kammer.« »Wo ist er jetzt?« »Er baumelt in der Halle unten an einem Haken und hängt sich den Rücken aus.« »Hast du ihn am Hals aufgehängt?« »Nein, nur am Kragen.« 64
Die Männer wünschten sich eine gute Nacht und verabschiedeten sich. Störtebeker begab sich in seinen Schlafraum, wo er sich auskleidete und ins Bett legte. Er blies die Kerze aus. Es war für ihn ungewohnt, in einem Haus an Land zu schlafen. Er vermisste den Seegang, der ihn sonst immer in den Schlaf wiegte. Als er schlummerte, träumte er von Desiré de Montaquieux, nicht von Beret, die er nach friesischem Ritus geheiratet hatte. * Am anderen Morgen fanden die Mägde, die das Kaminfeuer in der Halle entzünden wollten, Jehan am Haken hängend. Knechte wurden geholt, auch der Verwalter Gaspard Gambardier erschien. Der hünenhafte Bretagner hob Jehan hoch und vom Haken herunter. Er befreite ihn. Jehans Fesseln wurden gelöst. Er sank auf einen Stuhl, steif und übernächtigt, mit schmerzenden, verkrampften Muskeln. Natürlich hatte er am Haken hängend kein Auge geschlossen. »Was ist denn mit Ihnen passiert, Messieur de Montaquieux, edler Herr?«, fragte der unrasierte dunkelhaarige, in derben Stoff gekleidete Gutsverwalter mit falscher Freundlichkeit. »Wer hat Ihnen denn das angetan?« Jehan überlegte, ob er ihn ins Vertrauen ziehen sollte. Doch er wusste sehr wohl, dass Gambardier bei Desiré sein Rivale war. Bei ihm würde er keine Unterstützung finden. Und es war fraglich, ob er sie überhaupt suchen sollte. Die Nacht am Wandhaken hatte ihn gelehrt, einige Nummern zurückzustecken und klein und bescheiden zu sein. Es würde wohl, wenn überhaupt, besser sein, wenn er aus dem Hintergrund intrigierte, statt den derben Deutschen noch mehr zu erzürnen. »Das geht dich nichts an«, sagte er deshalb zu Gambardier. »Kümmere du dich um deine Angelegenheiten, ich will um die meinen bemüht sein.« »Ich hörte, die Kammertür der Herrin sei in der letzten Nacht aufgebrochen worden und sie habe um Hilfe geschrieen? Und jetzt findet 65
man Euch, Chevalier, wie Ihr den aufgehängten Mantel spielt. Das gibt wohl zu denken.« »Frag doch die Herrin selbst«, brummte Jehan und hinkte krumm und schief davon. In seiner Kammer fand er keine Ruhe vor Schmerzen. Er rief nach einem heißen Bad und einer Magd, die ihm die Schmerzen wegmassieren sollte. Draußen hörte er die Stimme der kleinen Isa, die auf dem Korridor lief und nach ihrem Onkel Klaus rief. Jehan ließ sich nicht blicken. Er verkroch sich, er litt Schmerzen, auch nach einem heißen Kampferbad und der Massage noch. Desiré hatte ihm keine junge Magd geschickt, die ihn sonst versorgte, sondern die derbe Elsbeth, eine alte Vettel. Elsbeth besaß sehr kräftige, derbe Hände. Sie wrang nämlich die Wäsche aus und hatte ihr Lebtag körperlich hart auf dem Feld gearbeitet. Wo sie hinpackte, wuchs kein Gras mehr. Jehan wimmerte und stöhnte. »Au, au, willst du mir die Knochen brechen? Du verbiegst mir das Rückgrat.« »Medizin muss bitter schmecken und wenn es heilen soll, muss es weh tun«, erklärte ihm die knochige Magd mit dem derben Rock und der hochgeschlossenen Bluse. »Ihr seid doch ein Mann, oder?« Bei sich dachte sie: Und zwar ein ganz typischer. Die Mannsbilder
sind alle Memmen. Wenn sie die Kinder zur Welt bringen sollten, gäbe es nur halb so viele Menschen. Jehan fügte sich in sein Schicksal. Desiré de Montaquieux saß inzwischen, ein Seidentuch um den Hals, das die Würgemale daran verbarg, in einem ihrer schönsten Kleider mit Störtebeker am Frühstückstisch. Es war ordentlich aufgedeckt worden. Die vier Seeleute Störtebeker, Gerrit Wigbald, Bratspieß und Hajo futterten, was das Zeug hielt und die Mägde, die auftrugen, kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus, was in so einen Magen hineinpasste. Desiré aß wenig, schmachtend hing ihr Blick immer wieder an dem stattlichen Störtebeker, der so tat, als würde er es nicht bemerken. 66
Isa frühstückte mit den Besuchern, mit denen sie ja auf vertrautem Fuß stand. Sie plapperte und konnte ihr vorlautes Mäulchen nicht halten. Desiré bat Störtebeker - Mijnheer van de Stört - nach dem Frühstück um eine Unterredung. »Ein Gespräch unter vier Augen kann es nicht sein«, antwortete der, was Gerrit Wigbald übersetzte. »Ich brauche Gerrit zum Dolmetschen. Doch er ist mein Freund und Vertrauter, ich habe keine Geheimnisse vor ihm.« Desiré schenkte Störtebeker einen bezaubernden Augenaufschlag, ehe sie den Kopf senkte. Sie flirtete gern. Mit Männern hatte sie keine sexuelle Erfahrung, doch es war ihr in die Wiege gelegt worden, einen Mann zu becircen und ihm den Kopf zu verdrehen. »Dann soll Monsieur Wibaux« - Wigbald konnte sie nicht aussprechen - »unser Dolmetscher sein.« Über einen Dolmetscher zu flirten, war etwas Neues und Ungewohntes. Doch was Worte nicht sagten, das konnten Blicke tun. Desiré war kein leichtfertiges Mädchen, doch sie war Französin und heißblütig. Sie hatte sich Hals über Kopf in Klaus Störtebeker verliebt und war ohnehin der Meinung, dass sie schon viel zu lange Jungfer sei. Ein Zustand, den sie gern ändern und ihre Liebe erfüllen wollte. Und wer weiß, dachte sie, vielleicht will der Kaufherr van de Stört ja
sesshaft werden. Das Gut wartet auf einen neuen Herrn. Seine Geschäfte könnte er auch von Frankreich aus betreiben.
Desiré gab sich ihren Träumen hin. Nach dem Frühstück zog sie sich mit Störtebeker und Gerrit Wigbald in ein Nebenzimmer zurück. Es war eine kleine Kemenate, mit Blumen in einer Vase am Tisch und bis zum Boden reichenden langen Vorhängen, einem Butzenglasfenster und einer gepolsterten Sitzbank sowie einem kleinen Tisch und zwei Stühlen. Dem hellen, freundlichen Raum und seinen Farben sah man es an, dass eine Frau ihn eingerichtet hatte, wie überhaupt im gesamten Gutshaus die weibliche Hand und der weibliche Geschmack unverkennbar waren. Das waren Dinge, die ein Mann nicht hinbrachte. Der männliche Geist war mehr auf das Praktische ausgerichtet, den meis67
ten Männern war es egal, ob sie ihr Essen auf einer Schmiedeesse oder am Herd kochten, oder ob sie es aus einem Napf oder von geschmackvollem Geschirr aßen. Hauptsache, sie wurden satt davon. Im Vergleich zum ›Roten Teufel‹, Störtebekers Piratenschiff, war das Gutshaus ein Schmuckkästchen. Störtebeker hätte sich hier wohl fühlen können - für eine Weile. Er war kein Mann, den man sesshaft machte, unstet war er wie der Wind und die See, die raue, stürmische See - sie würde ihn immer wieder locken und rufen. Das wusste Desiré noch nicht. Isa bat, an dem Gespräch teilnehmen zu dürfen. Doch das lehnte ihre Tante ab. »Es gibt Dinge, die nicht für kleine Kinder sind.« »Aber ich bin nicht klein, ich bin schon sooooooo groß.« Isa zeigte mit der Hand einen halben Kopf höher an, als sie tatsächlich war. »Ich kann schon lange über den Tisch sehen.« Über den Tisch sehen zu können, kein herumkrabbelnder Hosenmatz mehr zu sein, war für Isa wie für alle Kinder ein wesentlicher Schritt in ihrer Entwicklung gewesen. Desiré blieb jedoch hart. »Schatz, das musst du verstehen«, sagte sie und strich Isa über das Haar, in das eine bunte Schleife hineingeknüpft war. »Auch Onkel Klaas ist dieser Ansicht.« »Oh, diese Erwachsenen! Da hörst du es, Hermione, immer, wenn es interessant wird, müssen die Kinder weg.« Isa zog eine Schnute und trollte sich mit ihrer Puppe davon. Hermione war von Desiré und ihren Mägden einer Grundreinigung unterzogen worden, die sie nötig gehabt hatte. Sie trug auch, wie Störtebeker sah, ein anderes Kleid. In der Obhut der Piraten war die Puppe etwas angeschmuddelt gewesen, ihre kleine Besitzerin genauso. Das war jetzt nicht mehr der Fall. Isa hafte sich gleich nach ihrer Rückkehr aufs Gut Ferme à la mer einem Vollbad unterziehen müssen. An Bord des ›Roten Teufels‹ waren das Wasser und das Trinkwasser während der Seefahrten knapp. Störtebeker hielt viel von der Hygiene und wusch sich, wenn nichts anderes da war, mit Meerwasser. 68
Der Koch Bratspieß und viele andere von seiner Mannschaft misstrauten solchem Tun. Die natürliche Transpiration, das Schwitzen, würde ausreichen, um den Körper zu reinigen, meinten sie. Und Bratspieß war gar der Ansicht, dass Waschen ein höchst bedenklicher Brauch sei, die Haut dünn machen und die natürlichen Widerstandskräfte eines Mannes und sogar seine Potenz zerstören würde. Überhaupt hatte man zu jener Zeit andere Vorstellungen von Hygiene und wurde der Geruchssinn anders bewertet als zu späteren Zeiten. Männer wie Frauen rochen mitunter ziemlich streng und wer nicht gerade ein regelmäßiger Badehausbesucher war, unterzog sich nicht sehr oft einem Vollbad. In den Badehäusern wiederum herrschten derbe und sinnliche Sitten. Die Bademägde waren oft nichts anderes als Prostituierte. Sie standen unter der Fuchtel des Baders, der meist auch noch geringe medizinische Kenntnisse hatte und Zähne zog und dergleichen. An Bord des ›Roten Teufels‹ war durch Isas Anwesenheit eine Reinlichkeitsepidemie ausgebrochen. Zuerst wusch sich der Koch Bratspieß gründlich, er badete sogar regelmäßig. Das geschah, weil Isa seinetwegen die Nase gerümpft hatte. Und sich geweigert hatte, auf seinem Schoß zu sitzen. Der Koch wurde zuerst ausgelacht wegen seiner neuen Reinlichkeit und weil er sogar nach Flieder duftete, was von einer Seife kam, die bei einer Kaperfahrt erbeutet, aber kaum je angetastet worden war. Der Kasten, in dem sie sich befand, lag ganz hinten im Laderaum und hätte ohne Isas Gegenwart noch sehr lange gelegen. Doch dann wuschen sich auch noch andere Freibeuter von Kopf bis Fuß. Störtebeker kannte seine Mannschaft kaum wieder. Isa hatte einen veredelnden Einfluss auf sie. Als sie schmollend davonging, sogar ihre Haltung drückte Empörung aus, grinste Störtebeker in seinen Bart. Er hatte wohl bemerkt, wie liebevoll Desiré mit ihrer kleinen Nichte umging. Isa würde es gut haben bei ihr. Doch bis sie und ihr Erbe gesichert waren - und Desirés Stellung als Gutsherrin - galt es noch manchen Stein aus dem Weg zu räumen. 69
Desiré erzählte nun Störtebeker von ihren Sorgen. * Im bischöflichen Palais in Dieppe saß der Fürstbischof in seinem Speisesaal allein an der Tafel. Es war ein hoher Raum mit Fensternischen und Säulen. Im Hintergrund an der Wand befand sich ein thronartig erhöhter Sitz, der Saal wurde manchmal auch für Versammlungen benutzt. Dann thronte Romain de la Freigne-Bethussy, der jüngere Sohn eines Baronets von Frankreich, auf diesem Sitz. Ein Wappenschild mit den Insignien der weltlichen und der geistlichen Macht hing hinter dem Bischofsthron an der Wand. Sie zeigten den Bischofsstab, eine Mitra, eine Faust mit einem Schwert und eine Lilie, wie sie das Geschlecht derer von de la Freigne-Bethussy im Wappen führte. Romain de la Freigne-Bethussy war ein Koloss von Mann. Mit seinem Fettwanst passte er kaum an den Tisch, man hatte ihn eine runde Einbuchtung ausschneiden müssen. Er trug ein kostbares Gewand und fraß gerade den neunten Kapaun, was nur einer von mehreren Gängen war. Mit gutem Wein spülte er ihn hinunter. In seiner Gier bekam er kaum mit, was um ihn vorging. Kahlköpfig war er, mit einer Hakennase, mehreren Kinnen und stechend blickenden Augen, die in Fett eingebettet waren. Sein massiger Kopf saß wie der eines Mastebers, mit dem er auch sonst Ähnlichkeit hatte, ohne erkennbaren Hals auf den Schultern. Der Bauch war tonnenförmig und wenn der Fürstbischof ging, was er vermied, schwabbelten Speckwülste auch dort, wo normalerweise bei einem Menschen keine waren. Sein Sekretär, ein magerer, dürrer Mensch, schwarz gekleidet, trat zu ihm. Es war um die Mittagsstunde. »Es gibt Neuigkeiten von dem Gut Ferme à la mer, euer Eminenz.« »Wie, steht nun endlich fest, dass die Gutsherrin Rosalie nicht mehr wiederkehrt, was nur ein Narr jemals glaubte? Schade um das schöne Gut, das sie diesem deutschen Söldner und Mordbuben, dem 70
Albrecht von Böhmer, in den Rachen warf. Die Hand des Herrn hat ihn niedergestreckt und seine Witwe und seine sonstige Brut« - damit war Isa gemeint - »hoffentlich weggeräumt. Das Gut kann dann ja wieder in gute französische Hände fallen.« Der Fürstbischof klatschte in die fetttriefenden Hände. Er wollte den nächsten Gang auftragen lassen, Nachtigalienzungen, in einen würzigen Gelee eingelegt, einen kleinen Leckerbissen zwischendurch. Der Kammerherr tuschelte ihm ins Ohr. »Wie?«, rief Romain de la Freigne-Bethussy. Er schickte die Diener fort, die ihm bei Tisch auftrugen. »Was ist das? Rosalie de Montaquieux' Tochter ist wiedergebracht worden? Ohne die Mutter? Wer hat das getan?« »Ein deutschholländischer Kaufmann, berichtete unser Gewährsmann am Gut.« Ferme à la mer war 18 Meilen von Dieppe entfernt. Der Fürstbischof hatte überall seine Spitzel sitzen. Der Mittelsmann hatte ihm sofort einen Boten geschickt, der sich sputen musste. »Gestern sind sie angekommen.« »Das ändert die Sachlage freilich«, sagte der Fürstbischof. »Man muss das im Auge behalten. Den fetten Bissen und die kleine Gutsherrin Desiré dazu kann ich mir nicht entgehen lassen.« Der Sekretär rollte die Augen. »Herr, es ist eine Sünde, was ihr da denkt. Ihr seid geistlichen Standes.« »Ich kann mich jederzeit absolutionieren lassen. - Schweig, bist du mein Beichtvater? Manchmal hast du sehr seltsame Anwandlungen. Vielleicht sollte ich dich in ein weit entferntes Kloster schicken, damit du Gehorsam lernst.« »Nein, Euer Eminenz. Ich gehorche, Ihr könnt euch auf mich verlassen wie auf Eure rechte Hand.« »Das will ich sehr hoffen. Ein Kaufmann soll Isabeau heimgebracht haben, seltsam. Normalerweise sind die Kaufleute immer auf ihren Vorteil bedacht. Er wird wohl etwas im Sinn haben.« Romain de la Freigne-Bethussy dachte an die brandenburgischen Briefe und Urkunden, die er Desiré de Montaquieux vorenthielt. Sie waren in seinem Schreibsekretär eingeschlossen. 71
Ich werde diesen Kaufmann überprüfen lassen, dachte er. Oder, warum diesen umständlichen Weg gehen? Sollte er herkommen, lasse ich ihn festnehmen, in den Kerker werfen und dann auf die Folter spannen. Dann wird er wohl reden.
Das ränkegeübte Gehirn des Fürstbischofs lief auf Hochtouren. Desiré de Montaquieux hatte ihn des Öfteren wegen der Urkunden und Nachrichten aus Brandenburg bekniet. Vielleicht schickte sie jenen Kaufmann, möglich war es, da sie kaum einen besseren Verfechter ihrer Sache als ihn finden konnte. Er musste wohl in irgendeiner Beziehung zu der Familie de Montaquieux stehen, sonst hätte er Isa nicht wiedergebracht. So dachte der Fürstbischof. Die Nachricht von Rosalie de Montaquieux' Tod nahm er ohne Gemütsregung hin. Sie hatte ihm absolut nichts bedeutet. Er schickte den Kammerherrn weg, der ebenfalls ein Geistlicher war und am Kopf eine Tonsur hatte. Der Fürstbischof war entartet, eine Schande für seinen Stand und eine Schmach für die Kirche, der er angehörte. Er rief nach seinen Nachtigallenzungen. Nach Tisch, wenn er geruht hatte, wollte er sich mit zwei minderjährigen Mädchen in seiner Kammer hinter verschlossener Tür vergnügen. Er würde ihnen schon die Leviten lesen und sie für seine Gelüste missbrauchen, Schuft, der er war. * »Das Balg ist also wieder daheim?«, rief der Marquis de Gasteaux und schlug mit der Faust auf den Sattelknopf. Er war von seiner Burg ausgeritten, als ihm ein Diener die Botschaft brachte. Zwei seiner Söhne begleiteten ihn. Alain de Gasteaux war ein stämmiger Mann von 44 Jahren mit rötlichem Teint und brutalem Gesicht. Er trug einen Wams und eine Halskrause. Seine Söhne Humbert und Godfrey waren 24 und 22. Sie stammten von seiner ersten Frau, die schon lange verstorben war. Alain de Gasteaux zog ein langes Gesicht. Das konnte Probleme bedeuten. »Wie ist es zugegangen, dass Isabeau wiederkam?«, fragte er.
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Der Diener, der hinter ihm und seinen Söhnen her geritten war, berichtete, was er vom Gut Ferme à la mer wusste. Auch der Marquis hatte seine Beobachter dort. Er runzelte die Stirn, als er von dem deutschholländischen Kaufmann Klaas van de Stört hörte. »Der Teufel möge ihn holen!«, brauste er auf. »Warum hat er das Balg nicht ersaufen lassen?« Die Nachricht von Isas wundersamer Rettung aus einer im Meer treibenden Truhe, nachdem die Kogge mit ihrer Mutter untergegangen war, hatte sich auf dem Gut Ferme à la mer wie ein Lauffeuer herumgesprochen. »Er soll mir bloß nicht in die Quere kommen.« Isa war ohne Zweifel erbberechtigt. Alain de Gasteaux hatte bisher nur mit Desiré gerechnet und zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen wollen, indem er sie in sein Bett und ihren Besitz in seine Hand brachte. Jetzt war eine weitere Fliege da. Sie war allerdings noch sehr klein. Isa ist erst drei Jahre alt, dachte der Marquis, nachdem er eine Weile gerechnet und die Zeit überschlagen hatte. Wenn ich ihre Tante heirate, wird sie mein Mündel. Bis
sie volljährig ist, ist es eine sehr lange Zeit.
Er war beruhigt, bis ihm der Diener erzählte, die Fremden, die Isa gebracht hätten, seien handfeste Gesellen. »Der, der sie anführt, sieht eigentlich nicht wie ein Kaufherr aus, sondern wie einer, der mit dem Schwert umzugehen versteht.« Alain de Gasteaux schwante sofort Übles. Er ging von sich selber aus, erwartete von anderen also immer das Schlechteste. Wenn dieser Mann nun Desiré heiraten will, dachte er, ein reizvolles Weib ist sie ja,
dann das reiche Gut - so eine Partie muss jeden verlocken. Dann - bin ich aus dem Rennen.
Er ließ den Diener mit seinem Pferd stehen und trabte mit seinen beiden Söhnen ins Feld. Godfrey hatte den Jagdfalken, dessen Kopf eine Lederkappe trug, auf der behandschuhten Faust. Die Falknerei war eine Leidenschaft des Marquis und auch seiner zwei ältesten Söhne. »Dieser Kaufmann, oder was immer er ist, ist uns im Weg«, sagte Alain de Gasteaux geradeheraus. 73
Humbert, ein stattlicher, langlockiger Jüngling mit barettartiger Mütze, im Jagdgewand wie sein Vater und sein Bruder, hatte einen Vorschlag. »Ich kann ihn jederzeit zum Duell fordern«, sagte er. »Ein Vorwand wird sich schon finden lassen. Du weißt, ich führe die beste Klinge Frankreichs.« »Eine der besten, Humbert.« »Die beste. Ich lege dem Holländer - wie heißt er gleich? - van de Stört - seinen Kopf vor die Füße, dass er für immer das Niesen vergisst.« Der Marquis schaute ihn an. Er war ein echter Raubritter in seiner Tradition. Warum nicht, dachte er? Tote störten nicht mehr und einen toten van de Stört würde Desiré de Montaquieux nicht heiraten können. Es waren ohnehin schon zuviel Bewerber um ihre Hand da, wie der Marquis wohl wusste. »Warum nicht«, wiederholte er laut, was er leise gedacht hatte. Er würde sich jedoch nicht auf seinen Sohn allein als Fechter verlassen. Für alle Fälle sollte man noch einen guten Armbrustschützen in den Hinterhalt legen, der van de Stört einen Bolzenschuss verpasste, falls er wider Erwarten besser als Humbert kämpfte. Alain de Gasteaux wollte nichts dem Zufall überlassen. Er schickte den Diener weg. Dann ritt er mit seinen beiden Söhnen über ein frisch gepflügtes Feld für die Wintersaat. Der Bauer, der noch am Pflug ging, sah es, wagte jedoch kein Widerwort. Der Marquis war imstande, ihm sonst den Kopf abzuschlagen. Und seine Söhne, dachte der Bauer, waren nicht besser als er. Hochmütig, ein Leibeigener war für sie kein Mensch, sondern stand auf einer Stufe mit dem Vieh. Es war eine grausame, harte Zeit. * Dies spielte sich nach dem Gespräch ab, das Störtebeker mit Gerrit Wigbald als Dolmetscher mit Desiré de Montaquieux führte. Sie vertraute ihm ihre Sorgen an, wie sie bedrängt wurde und wie aussichtslos ihre Situation sei. 74
»Wie ein von Jägern und einer Hundemeute gehetztes, gestelltes Wild komme ich mir vor«, klagte sie. Sie zählte an den Fingern auf: »Da sind mein Vetter Jehan, der Verwalter Gaspard Gambardier, der Marquis Alain de Gasteaux und der widerliche Fürstbischof Romain de la Freigne-Bethussy.« Sie schilderte, welche Sorgen sie mit ihnen hatte. Störtebeker begriff, dass dies ein sehr ernster Fall und er Desirés letzte und einzige Hoffnung war. All diesen Erbschleichern, Brutalos und Ränkeschmieden konnte sie allein nicht entgehen, einem davon würde sie zur Beute fallen. Damit war dann aber, das sah Störtebeker ganz klar, Isa um ihr Erbe gebracht. »Ich werde mich der Sache annehmen«, sagte er. Wigbald verdrehte die Augen zum Himmel - wo reitet er uns da wieder hinein mit seinem Gerechtigkeitsfimmel und dem Drang, die Witwen und Waisen, Armen und Unterdrückten zu unterstützen, hieß das. Doch er übersetzte, was von ihm verlangt wurde. »Was wollt Ihr... was willst du tun?« »Das lasst meine Sorge sein.« »Und warum tust du es?« Desirés Herz klopfte. Die Antwort, die sie hören wollte, war: Nur deinetwegen. Und für unsere gemeinsame Zukunft. Doch Störtebeker antwortete anders: »Wegen Isa, ich will ihr das Erbe erhalten. Dafür muss ich dich stützen, denn du bist ihre nächste Verwandte und somit ihr Vormund. - Ich aber sehe Isa, die ich aus dem Meer fischte, wie meine eigene Tochter an. Ich habe sie in mein Herz geschlossen. Sie ist mir lieb und wert.« Bei einem anderen hätten die Worte pathetisch und lächerlich gewirkt. Nicht bei Klaus Störtebeker. »Die Vorsehung hat sie auf mein Schiff geführt«, sagte er. »Ihr traut Euch allerhand zu, Mijnheer van de Stört«, sagte Desiré nun kühl. »Wo wollt ihr denn anfangen?« »Ich habe schon angefangen. Euer Vetter Jehan de Montaquieux wird Euch nicht mehr belästigen, Demoiselle. Nachdem er die Nacht 75
über abgehangen ist, sind ihm seine Flegeleien vergangen. Wenn nicht, knöpfe ich ihn mir nochmals vor.« Desiré lächelte. »Wer wird der Nächste sein?« »Gaspard Gambardier.« Eine Weile später traf Störtebeker den grobschlächtigen Gutsverwalter in der Scheune, wo er ihn hinbestellt hatte. Wigbald wurde wieder als Dolmetscher gebraucht. Er stand da, die Hände in den Hosentaschen, als der hünenhafte, unrasierte Bretone eintrat. Mitten in der Scheune stand ein Leiterwagen, eine Leiter führte zum Heuboden hinauf, landwirtschaftliche Geräte hingen an der Wand. Eine Tür führte nach nebenan in eine Kammer, was darin war, wussten die beiden Piraten nicht. Eine Werk- und Hobelbank stand seitlich in der Scheune. Zudem war ein Hauklotz mit einem Beil, das hineingeschlagen worden war, da. »Was gibt es?«, fragte knurrig der Bretone. »Du sollst ab sofort deiner Herrin nicht mehr nachstellen«, ließ Störtebeker ihm mitteilen. »Lass sie in Frieden, sei ihr ein guter, treu ergebener Verwalter, aber erhebe nicht mehr deine Augen zu ihr. - Du bist kein Bewerber und Gatte für sie.« »Woher willst du das wissen? Ich tue, was ich will und mit mir fährt sie besser als mit jedem anderen, einschließlich dir aufgeblasenem Laffen. - Ohne mich als ihren Ehemann ist das Gut verloren. Nur ich kann sie und das Gut retten.« Gambardier glaubte das wirklich. »Du hast jetzt genug übersetzt«, sagte Störtebeker und schickte Wigbald aus der Scheune hinaus. Gambardier schaute ihn an, als Wigbald die Tür im Scheunentor hinter sich zugezogen hatte. »Non interprète?«, fragte er. »Kein Dolmetscher?« »Da hast du deinen Dolmetscher!«, sagte Störtebeker und haute ihm eins aufs Maul, das es knallte. Der Verwalter war jedoch ein grober Klotz, der einiges wegstecken konnte. Er schüttelte nur mal kurz den Kopf und ging dann auf Störte76
beker los. Es gab einen harten Kampf. Störtebeker griff nicht nach dem Schwert an seiner Seite. Er wollte den Verwalter ohne die Klinge in seine Schranken weisen. Sie rauften und schlugen sich. Gambardier war stur wie ein Ochse. Obwohl Störtebeker ihn dreimal zu Boden schlug, stand er jeweils wieder auf. Dann riss er das Beil aus dem Hauklotz. Jetzt zog Störtebeker doch sein Schwert, ein gezielter Hieb, das Beilblatt flog weg. Verblüfft betrachtete Gambardier den Stumpf von dem Beilgriff, den er in der Hand hatte. Störtebeker setzte ihm die Klinge an die Kehle. »Ergibst du dich?«, fragte er. Die Frage war eindeutig, ob sie Gambardier nun wörtlich verstand oder nicht. Er nickte und zeigte die offenen Handflächen. Doch als Störtebeker das Schwert in die Scheide steckte, wirbelte er herum und riss die Tür auf, die in die Kammer nebenan führte. Dort war eine Waffenkammer. Brüllend riss der Verwalter einen Bihänder, ein gewaltiges Schwert, das mit zwei Händen gepackt und geschwungen werden musste, von der Wand. Störtebeker musste zurückweichen. Der Flamberg, wie diese Waffe genannt wurde, war länger als sein Schwert. Der Verwalter jagte Störtebeker durch die Scheune. Mehrmals schlug er nur knapp neben ihm vorbei. Mit Wucht haute er die seitliche Sprossenstellwand des Leiterwagens durch, als Störtebeker sich wegduckte. Der Pirat erwog, auf den Heuboden hinauf zu fliehen. Doch das war ihm zu unsicher, wenn er nicht schnell genug war, erschlug ihn Gambardier auf der Leiter oder haute ihn gar in zwei Teile. Auch hätte er die Leiter entzweischlagen können, so dass ihm Störtebeker direkt vor die Füße fiel. Zudem floh der Pirat sowieso nicht gern. Als Gambardier wieder zuschlug, wich er zurück und bevor der Verwalter nach dem sausenden Hieb wieder in Gefechtstellung war, sprang Störtebeker ihn an, schnell und gewandt wie eine Katze und packte ihn. 77
Diesmal ging das Handgemenge ungut für Gambardier aus. Zu Boden geschlagen, Störtebeker hatte nur seine Fäuste gebraucht, lag er dann da. Der Pirat fesselte ihn mit einem Stück Tau. Dann rief er Wigbald herein. »Pass auf ihn auf«, sagte er. »Ich hole die Gutsherrin. Sie muss ihn sofort entlassen. Er hatte seine Chance, als ich ihm die Möglichkeit bot, Desiré nicht mehr und nicht weniger als ein treu ergebener Verwalter zu sein. Die hat er vertan. Jetzt ist hier seines Bleibens nicht länger.« »Und was soll mit dem schiefen Jehan geschehen, Desirés Vetter, der ihr Gewalt antun wollte?« »Den werden wir auch in die Wüste schicken«, sagte Störtebeker. »Jetzt wird aufgeräumt.« Er ging ins Gutshaus, nachdem er sich am Brunnen das Blut aus dem Gesicht gewaschen und seine Kleidung geordnet hatte. Der Kampf hatte ihn gezeichnet, er hatte ein paar Schmarren und Beulen. Seine Hände waren geschwollen. Mit einem Klotz wie mit Gaspard Gambardier, dem Mann, der einen Ochsen K.O. schlug, prügelte man sich nicht ungestraft. Desiré war entsetzt, als sie ihn sah. Sie fasste den Piraten am Arm, schaute sich seine Blessuren an. Er sah Angst um ihn und Liebe in ihren Augen. Beret, dachte er. Aber Beret war weit, die schöne Desiré mit ihren lockenden Reizen und ihrer Weiblichkeit nah. Endlich folgte die Gutsherrin Störtebeker, der sein Schwert an der Seite trug, in die Scheune. Sie entließ den Verwalter auf der Stelle. »Verschwinde hier, deinen Lohn für den Monat hast du schon, geh!« »Herrin, das könnt Ihr nicht machen, Ihr braucht mich, ich...« Störtebeker fasste an sein Schwert und machte eine gebieterische Geste. Da schlich sich der Verwalter, dem man die Fesseln abgenommen hatte, wie ein geprügelter Hund davon. Während er sein Bündel packte, führte die Gutsherrin in Störtebekers und Wigbalds Beisein ein Gespräch mit ihrem nichtsnutzigen Vetter Jehan. »Du hast dich hier lange genug durchgefressen, Jehan.« Desiré nahm kein Blatt vor den Mund. »Geprasst und gehurt und gesoffen, die Mägde belästigt, Geld an dich gebracht und verspielt und ver78
schleudert. - Es ist hier kein Platz mehr für dich. - Verschwinde, lasse dich nicht wieder blicken, oder Mijnheer van de Stört macht dir Beine.« »Aber, ich bin doch dein Blutsverwandter...« »Ein Schmarotzer bist du und ein Schuft. Du hast mir Gewalt antun wollen.« Störtebeker sagte und Wigbald übersetzte: »Entweder du gehst freiwillig durch die Tür, oder ich werfe dich hinaus!« »Aber... Desiré, liebe Base, hab' doch ein Einsehen. Wo soll ich denn hin?« »Von mir aus gehe zum Teufel!«, antwortete Desiré, die nicht so zart war, wie sie aussah und mit Störtebekers und seiner Männer Unterstützung einen sehr starken Rückhalt hatte. Als Jehan nicht gleich draußen war, packte Störtebeker den Zeternden am Kragen, stieß ihn zur Tür und gab ihm wie ein Schankknecht, der einen Betrunkenen vor die Tür setzte, einen Tritt in den Hosenboden. Jehan vollführte einen missglückten Sprung und landete mit der Nase im Dreck. Bald darauf sah man ihn mit Gambardier, der sein Bündel geschnürt hatte, davonziehen, in Richtung zur Burg des Marquis de Gasteaux. Dabei dachte sich niemand auf dem Gut Ferme à la mer etwas, denn die Straße nach Dieppe führte auch dort vorbei. Gambardier hatte in aller Eile und unter kühler Beobachtung der Gutsherrin, im Beisein von Störtebeker und Gerrit Wigbald, die Übergabe des Verwalteramts durchführen sollen. Es musste abgerechnet werden, eine Einweisung für den Nachfolger oder die Nachfolgerin war durchzuführen, auch wenn sie sehr knapp war, es gab laufende Vorgänge zu besprechen. Zum Beispiel, was Abmachungen mit Abnehmern betraf, Bestellungen, Absprachen, Pacht- und Zinsverträge und dergleichen, die oft nur mündlich festgelegt waren. Gambardier hatte gesagt, dafür würde er Wochen brauchen. Er klammerte sich an seinen Posten. Daraufhin verzichtete die Gutsherrin lieber. »Ich wünsche Euch für die Zukunft alles Gute, geht mit Gott«, hatte Desiré zu dem entlassenen Verwalter gesagt. 79
Aber geht, fügte sie in Gedanken hinzu. Gambardier erhielt ein
Zeugnis, Desiré war des Schreibens und Lesens kundig. Darin stand, wie lange er der Verwalter gewesen war und dass er seine Aufgaben gut erfüllt hätte. Damit und mit seinem restlichen Lohn, Desiré zahlte ihm noch was drauf, zog der Verwalter davon. Als die beiden Männer außerhalb der Sichtweite vom Gutshaus waren, schüttelte Gambardier seine Faust in dessen Richtung. »Das sollt ihr mir noch bitter bereuen«, sagte er. »Dafür setze ich euch den Roten Hahn aufs Dach.« Er meinte eine Brandstiftung. Jehan de Montaquieux hatte andere Pläne, die nicht weniger heimtückisch waren. * Am Abend speiste Desiré allein mit Störtebeker. Sie hatte ein tief ausgeschnittenes rotes Kleid angezogen. Ihre dunklen Augen schauten ihn verlockend an. Ein betörender Duft von Parfüm, eine Kostbarkeit, umgab sie. Der Pirat lauschte dem Wohlklang ihrer Stimme. Er trank roten Wein. Ein Diener, der eine schöne melodische Stimme hatte, sang draußen zur Laute und entfernte sich dann diskret. »Ich bin eine schwache Frau«, sagte Desiré, »und ich bedarf des männlichen Schutzes.« Diesmal hatte Störtebeker aus nahe liegenden Gründen keinen Dolmetscher. Desiré lächelte ihn an. Sie stand auf und er schloss sie in seine Arme, trug sie ins Schlafgemach. Beret tom Brokes Bild flackerte flüchtig vor seinem geistigen Auge auf. Dann war es, für eine Weile zumindest, ausgelöscht. Die Nacht war lang, wild, stürmisch und zärtlich zugleich. Am Morgen schlummerte die Gutsherrin selig in Störtebekers Armen. »Warum schläft Tante Desiré denn so lange?«, fragte Isa, die wie immer früh auf den Beinen war und zu ihrer Tante wollte. »Sie ist erschöpft und braucht Ruhe«, antwortete ihr der Schiffsjunge Hajo, dem sonst nichts einfiel. »Und wo ist Onkel Klaus?« »Er schläft heute auch länger.« 80
»Ich bin bei ihm in der Kammer gewesen und habe ihn wecken wollen, er ist gar nicht da.« »Tja, nun, das weiß ich auch nicht. Vielleicht unternimmt er einen Spaziergang durch die Felder.« »Ich glaube, er ist bei Tante Desiré«, erwiderte Isa, die durchaus scharfsinnig war. »Papa hat auch immer mit Mama in einem Bett geschlafen, weil sie sich gern hatten. Sie werden zusammen spielen, so wie ich mit meiner Puppe spiele, so ähnlich muss es wohl sein.« »Ja«, sagte Hajo, der knapp 14 Jahre alt war und bekam einen roten Kopf. »So stelle ich mir das auch vor.« »Ob sie ein Baby kriegen? Das wäre herrlich, da wäre ich dem seine Tante, gerade so, wie Tante Desiré bei mir die Tante ist. Ich täte es jeden Tag im Wagen spazieren fahren und es in der Wiege schaukeln.« Hajo mochte darauf keine Antwort geben. Er sagte Isa, sie sollte mit ihrer Puppe spielen, er habe keine Zeit. * Störtebeker vertraute sich, wieder brauchte man Wigbald zum Übersetzen, Desiré an, dass er der ebenso berühmte wie berüchtigte Pirat Störtebeker sei. Für Desiré war es ein Schock, den sie jedoch bald überwand. Wigbald wurde weggeschickt. »Willst du bei mir bleiben?«, fragte die schwarzhaarige junge Frau. »Als mein Mann?« Ein paar Brocken Französisch verstand Störtebeker. Gesten taten ein Übriges. Der Freibeuter staunte, das war die erste Frau, die ihm einen Heiratsantrag machte. Natürlich hätte er als Gutsherr ein schönes Leben gehabt, unter Beibehaltung seines Namens van der Stört oder vielleicht gar von dem, auf den er getauft worden war - Klaus von Althum - hätte er hier bleiben können. Albrecht von Böhmer, der Söldnerhauptmann, der der Gatte der Rosalie Montaquieux gewesen war, hatte schließlich auch eine blutige Vergangenheit hinter sich gelassen und war Gutsherr geworden. 81
Den Namen Störtebeker hatte Klaus bei den Vitalienbrüdern erhalten. Stürz den Becher, hieß es und er deutete auf seine Trinkfestigkeit hin. Ein Säufer war Klaus allerdings nicht, er zechte aus Lebensfreude und wenn es keinen Anlass dazu gab oder die Zeit nicht geeignet war, ließ er es sein. Unschlüssig hob er die Achseln. Er dachte an Beret - besondere Schuldgefühle hatte er keine - und an die See. An die raue Kameradschaft an Bord, an sein Schiff, das in der verborgenen Bucht lag und auf Verpflegung wartete. Piratenschiff oder Landgut, lautete für ihn die Alternative, Gutsherr oder Piratenkapitän. Er wusste, wie er sich entscheiden würde. Es war eine der Gabelungen auf seinem Lebensweg, an der er hätte abbiegen können. Aber ihm war sein Weg vorgezeichnet, er wollte es auch nicht anders. Desiré schloss ihn in ihre weichen Arme. Es gab noch viel zu tun auf dem Gut, Desirés und Isas Stellung mussten gesichert werden. Dann würde Störtebeker das Gut und die Frau verlassen, grausam vielleicht, doch unausweichlich, wie sich der Wind nicht mit dem Acker verbinden konnte. Mit gewohnter Tatkraft ging er daran, Desirés Verhältnisse und die auf dem Gut zu regeln. * Gaspard Gambardier, der entlassene Verwalter, wurde bei einer versuchten Brandstiftung gefasst. Das war Wigbald, Bratspieß und Hajo zu verdanken, die Wachen eingeteilt hatten und selbst aufpassten. Ais Gambardier nachts in der Scheune Feuer legen wollte, stürzten sich mehrere Männer auf ihn. Bratspieß, der Koch, war es, der ihm von hinten einen Knüppel über den Schädel schlug, weil er sich wie ein Besessener wehrte in der Scheune, die von Fackellicht erhellt war. Fast hätte man das Stroh dort mit der Fackel in Brand gesteckt. Gambardier wurde gebunden vor Störtebeker gebracht. »Nach der Scheune wollte ich die Ställe und das Gutshaus anzünden«, sagte er trotzig. »Jetzt macht mit mir, was ihr wollt.« 82
»Bringt ihn nach Dieppe zum Fürstbischof, der über ihn zu Gericht sitzen soll«, bestimmte Störtebeker am Hof, wo der Gefesselte im Fackelschein stand. »Der soll über ihn urteilen.« Er wollte Gambardiers Blut nicht vergießen noch von Desiré vergießen lassen. Der Gutsherr oder die Gutsherrin hatten die Gerichtsbarkeit in einem solchen Fall. Gambardier entsprang unterwegs beim Transport. Er verließ jedoch die Gegend und kehrte nicht wieder. Wieder einmal hatte er ein Heidenglück gehabt, dass er noch einmal davonkam. Ein weiteres Mal wollte er es nicht auf die Probe stellen. Schon bei seinem Kampf mit Störtebeker in der Scheune hätte der ihn leicht töten können. Gambardier sah ein, was gut für ihn war. Mittlerweile waren zwei Wagen voll mit Verpflegung zu der verborgnen Bucht unterwegs, wo der ›Rote Teufel‹ ankerte. Dies geschah unter strikter Geheimhaltung. Dann kündigte sich hoher Besuch an der Nachbar; der Marquis Alain de Gasteaux, gab sich die Ehre. Zuvor hatte Desiré eine Einladung in seine Burg abgelehnt. Störtebeker, der die örtlichen Verhältnisse mittlerweile gut kannte - er war nun acht Tage da - witterte zu Recht eine Falle. Die de Gasteaux' waren grausame, harte Herren. Und der Marquis, der Blaubart, der drei Frauen unter die Erde gebracht hatte, begehrte Desiré und ihr Gut. Da man davon ausgehen musste, dass er Spitzel in Ferme à la mer hatte, würde ihm bekannt sein, dass der fremde angebliche Kaufherr das Bett der Gutsherrin teilte. Dergleichen blieb dem Personal nicht verborgen, auch wenn man es nicht an die große Glocke hängte. Störtebeker hatte keine Lust, in einem Kerker der Burg des Marquis zu landen. Dessen Folterknechte verstanden ihr Handwerk und nach der Streckfolter, dem Spanischen Stiefel und was es dergleichen noch gab stand Störtebekers Sinn nicht. Von seinen Begleitern hatte er nur noch Gerrit Wigbald, den Unentbehrlichen und den Schiffsjungen Hajo am Gut zur Verfügung. Bratspieß, der Koch, begleitete die Wagen mit Vorräten zu der Bucht. Knechte vom Gut fuhren sie. Der Marquis de Gasteaux rückte also mit Begleitung und großem Gepränge an, um wieder einmal um Desirés Hand anzuhalten, die sie 83
ihm bisher verwehrt hatte. Diesmal gedachte er, Nägel mit Köpfen zu machen - dazu mussten Störtebeker und seine beiden Begleiter weg oder einen Kopf kürzer gemacht werden. Dem Freibeuter fiel wohl auf, dass Alain de Gasteaux mit starker Begleitung anreiste. Die Männer waren in Waffen. Auf einen Freundschaftsbesuch deutete das nicht hin. Doch konnte man ihnen schlecht den Zutritt zum Gut verwehren, sonst wären sie bei Nacht und mit der blanken Waffe wiedergekommen. Es war eine brenzlige Situation. De Gasteaux hatte seine beiden ältesten Söhne mitgebracht. Humbert und Geoffrey. Zudem, der sich verborgen hielt und tarnte, war Jehan de Montaquieux dabei, verkleidet als Knecht. Der Vetter der Gutsherrin hatte mit Störtebeker noch eine Rechnung offen, die er nun zu begleichen gedachte. Seine Hoffnungen, Desiré würde seine Frau, hatte er sich aus dem Kopf geschlagen. Mit Alain de Gasteaux konnte er nicht mehr konkurrieren, die Chancen waren dahin. Der Marquis und seine Söhne wurden im Gutshaus einquartiert, das musste man wohl. Der Tross des Marquis, über dreißig handfeste Kerle, hauste in Gutsgebäuden oder schlief in der Scheune oder in Zelten. Es ging zu wie in einem Heerlager. De Gasteaux' so genannte Knechte glichen eher einer Söldnerschar oder einer Räuberbande. Ehrlicher Arbeit gingen sie weit aus dem Weg, sie zwangen jedoch im Auftrag von ihrem Herrn andere dazu und pressten sie weidlich aus. Sie benahmen sich, als ob ihnen das Gut gehörte, fingen sich Hühner ein, wie sie wollten und drehten ihnen den Hals um, um sie zu verzehren, stachen zwei Schweine ab, belästigten die Mägde, die mit ihren Klagen zur Gutsherrin rannten und verprügelten Gutsknechte, die ihnen wehren wollten. Einen ließen sie Jauche trinken, was als der Pikardische Trunk bekannt war, weil er sie verfluchte. Dann ertränkten sie ihn fast im Abort. Halb tot blieb der arme Teufel liegen. »Meine Männer sind etwas ungebärdig und schlagen schon einmal über die Stränge«, sagte der Marquis de Gasteaux, als es ihm beim Mittagessen in der Halle des Gutshauses gemeldet wurde. »Euer Knecht hat meine Leute gereizt, Demoiselle de Montaquieux. Das sind 84
jedoch alles Probleme, die sich leicht lösen lassen. - Werdet meine Frau, dann nehme ich die Burschen an die Kandare.« »Das solltet Ihr sowieso tun«, antwortete Desiré, die schöner aussah denn je. »Ihr missachtet das Gastrecht, Monsieur Marquis, auf schändliche Weise.« Alain de Gasteaux zwirbelte seinen Schnurrbart. Seine beiden Söhne saßen grinsend dabei. Gerrit Wigbald übersetzte Störtebeker flüsternd, worum es ging. »Euer Antrag ehrt mich, ich kann ihn jedoch leider nicht annehmen«, beantwortete Desiré das erpresserische Angebot des Marquis. »Und warum nicht? Das ist eine Beleidigung für mich, Demoiselle, wie Ihr wisst. Ist etwas verkehrt an mir? Seht Ihr mich nicht als Ehrenund Edelmann an?« »Ihr seid ein Edelmann, aber das Herz einer Frau lässt sich nicht zwingen.« »Das sehe ich anders!«, rief der Marquis und wurde vor Zorn noch röter im Gesicht als sonst. »Ihr solltet froh sein, meine Gattin werden zu dürfen - die Marquise de Gasteaux.« »Die drei vorigen Empfängerinnen dieser Freude liegen unter der Erde!«, antwortete Desiré schneidend. »Mir ist mein Leben lieb, Herr.« Da schlug de Gasteaux mit der Faust auf den Tisch und brüllte los, dass die Fenstergläser klirrten, die bleigefassten Scheiben. Eine Unverschämtheit wäre es, ein Affront. Als Isa, die mit an der Tafel saß, zu weinen anfing und sich wegen des ›Bösen Mannes‹ beschwerte, brüllte Alain de Gasteaux noch lauter: »Halte den Mund, du verdammtes Balg! Wenn ich erst einmal das Gut regiere, werden hier andere Sitten einkehren und das wird bald der Fall sein.« Da schlug Störtebeker auf den Tisch, dass das Geschirr hüpfte. Wigbald hatte ihm zugeflüstert. Störtebekers Antwort brauchte er nicht zu übersetzen. Der Freibeuter sprang nämlich auf und warf dabei den Tisch um. Alain de Gasteaux und seine Söhne und ein paar seiner Leute saßen auf der einen Seite der Tafel, die Gutsherrin mit den Ihren auf der anderen. Geschirr, Braten, Essen und Wein stürzten und flossen über 85
den Marquis und seine Männer, die samt der Bank, auf der saßen, umstürzten. Ehe sie sich's versahen, stand Störtebeker mit gezücktem Schwert über ihnen. Getafelt hatte man ohne Waffen, doch der Freibeuter hatte sich schlauerweise seine gute Klinge hinter den Kamin gestellt, wo man sie nicht gleich sehen konnte und sie rasch geholt. Alain de Gasteaux duckte sich am Boden liegend und hob schützend den Arm, was ihm nichts geholfen hätte. Störtebekers Rede donnerte auf ihn nieder. Wigbald übersetzte. Hajo presste Isa an sich, um sie zu beschützen. »Eure Sitten kennen wir nun zur Genüge, Marquis!«, donnerte Störtebeker. »Ein Hundsfott seid Ihr und ein Frauenschinder. Unschuldige Kinder erschreckt Ihr. Isabeau ist mir lieb wie eine Tochter und die Gutsherrin steht unter meinem persönlichen Schutz. - Ihr werdet jetzt einen heiligen Eid schwören und brieflich besiegeln, dass Ihr sie und das Gut fortan nicht mehr bedrängt und in Ruhe lasst. Solltet Ihr ihn brechen, dann kehre ich wieder - und dann wird nichts und niemand Euch vor meiner Vergeltung retten.« Desiré schossen die Tränen in die Augen. Störtebekers Worten entnahm sie, dass er sie verlassen wollte. Doch jetzt war keine Zeit, sich um diesen Punkt zu kümmern. »Wer seid Ihr?«, fragte der Marquis, dem nun endgültig aufging, dass er keinen normalen Kaufherrn vor sich hatte, sondern einen wehrhaften Recken von besonderer Art. Einen von der Sorte, von denen die alten Lieder und Legenden berichteten, der zehn Männer aufwog und mehr. »Einer, die Witwen und Waisen beschützt und den Tyrannen wehrt«, antwortete Störtebeker. »Wenn Ihr unbedingt einen Namen für mich braucht, so denkt an mich als an Euren Tod, wenn Ihr den Schwur brecht, den Ihr mir leisten werdet.« »Du bist mit dem Teufel im Bund«, zischte de Gasteaux. »Das, edler Marquis und Menschenschinder, überlasse ich Euch. Wie lautet nun Eure Antwort?« »Was ist, wenn ich mich weigere?« 86
»Dann versucht, ob Ihr mit gespaltenem Schädel Euren Braten kauen könnt«, erwiderte Störtebeker. »Euer Sohn und Erbe dürfte zugänglicher sein.« Der Marquis ließ es nicht darauf ankommen, ob Störtebeker ihn tatsächlich erschlüge. Wie ein Scherzbold sah der hoch gewachsene, stattliche Mann nicht aus. »Du bist kein Kaufmann«, sagte de Gasteaux und wischte sich Wein und Speisereste von der Kleidung. »Doch so geht es nicht. Ich verlange ein Gottesurteil. Ihr sollt gegen meinen besten Fechter antreten - meinen ältesten Sohn Humbert, den man die Klinge von Frankreich nennt. Wer siegt, der soll seinen Willen haben.« Störtebeker kannte dergleichen Gottesurteile und ihre Urteilskraft. Der Stärkere oder der bessere Fechter gewann. Der Freibeuter hörte auch Desirés geflüsterte und ihm von Wigbald zugeraunte Warnung, Humbert de Gasteaux habe mehr Männer umgebracht wie die Pest. Das war eine Übertreibung, doch sehr gefährlich war der Schwarze Humbert, wie er genannt wurde. Störtebeker konnte und wollte sich dem Gottesurteil jedoch nicht entziehen. »Es sei«, sagte er. »Chevalier de Gasteaux, ich stehe zu Eurer Verfügung.« Damit war der Fall geklärt. Der Marquis und seine Söhne und Männer erhoben und sammelten sich. Humbert jedoch war noch nicht zufrieden. »Ich bin ein Edelmann und fechte nicht mit jedem Dahergelaufenen«, sagte er arrogant. »Wer seid Ihr, angeblicher Kaufherr van de Stört? Wer ist hergekommen und hat Desiré de Montaquieux unter seinen Schutz genommen? - Wer kam übers Meer?« Da warf Störtebeker sich in die Brust und antwortete: »Ich bin Klaus Störtebeker, der Löwe der See. Anführer der Vitalienbrüder, Todfeind der Hanse - vogelfrei und gehetzt. Solltest du mich erschlagen, du Wurm, kannst du von der Hanse das Kopfgeld begehren. - Ich bin Schiffskapitän - ein von steht vor dem Namen, auf den ich getauft wurde und den ich nicht nennen werde. - Kreuzt du mit mir die Klinge, oder bist du zu feig dazu?« 87
»Störtebeker, das ist Störtebeker!«, raunte es durch die Halle, als Wigbald übersetzt hatte. Humbert de Gasteaux' Blick flackerte. Er hatte zahlreiche Fehler und besaß keinen guten Charakter. Doch feig war er nicht. »Mit dir fechte ich, Störtebeker. Nicht wegen dem dreckigen Kopfgeld der Hanse, sondern für den Ruhm und die Ehre, Klaus Störtebeker erschlagen zu haben. - Mache dein Testament. Heute noch wird dich meine Klinge durchbohren.« »Ich habe«, antwortete Störtebeker stolz und gefasst, »nichts an Gütern zu vererben. Mein Schiff gehört meiner Mannschaft, sollte ich fallen, so ist es das Gesetz der Vitalienbrüder, die sich dann einen anderen Kapitän wählen werden. Mein Stolz, mein Freiheitswille und mein Gerechtigkeitssinn werden weiterleben, wenn ich einmal tot bin. Und mein Name. Doch so weit ist es noch nicht.« Sein Auf treten und die Rede beeindruckten die de Gasteaux, denn Mut wussten sie zu schätzen. Humbert neigte den Kopf. »Es ist mir eine Ehre, gegen Euch zu fechten, Herr Störtebeker.« Wigbald dolmetschte. »Trotzdem werde ich Euch umbringen und Euren Kadaver den Hunden verfüttern. Ihr hättet Frankreich fern bleiben sollen.« Störtebeker winkte ab. Es gab nichts mehr zu sagen. * Im Hof klirrten die Klingen. Anderthalb Stunden lang fochten Störtebeker und Humbert de Gasteaux ihren Kampf schon aus. Beide waren sie leicht verwundet, doch keiner hatte einen entscheidenden Vorteil erringen können. Desiré schaute im ersten Stock aus dem Fenster des Gutshauses. Sie zitterte um ihren Klaus. Plötzlich ergab sich etwas. Ein Armbrustbolzen zischte durch die Luft. Aus der Luke oben an der Scheune, zu der Strohballen mit einer Seilwinde hoch gehievt werden konnten, stürzte eine dunkel gekleidete Gestalt. Auch sie hielt eine Armbrust, mit der sie Störtebeker einen tödlichen Schuss hatte verpassen wollen. Hajo, der Schiffsjunge, hatte den 88
hinterhältigen Attentäter bemerkt, einem Wachtposten die Armbrust entrissen und auf den Heckenschützen geschossen. Männer und Frauen sammelten sich um ihn. »Es ist Jehan de Montaquieux!«, hörte Desiré sie rufen. »Er hat sich eingeschlichen und wollte Monsieur Klaus hinterrücks umbringen, der elende Schuft.« Jehan de Montaquieux krümmte sich noch eine Weile und erlag seinen Verletzungen, die er sich durch Hajos Schuss und den Sturz zugezogen hatte. Ein zweiter Attentäter war nicht zugegen, Alain de Gasteaux war der Meinung gewesen, der krumme Jehan, der sich ihm als todsicherer Schütze anpries, würde reichen. Desiré empfand keine Trauer um den Tod ihres Vetters, sie bedauerte nur, dass er so tief gesunken war, zum Meuchelmörder werden zu wollen. Trug er doch ihren Namen. Sie hatte ihn kaum je gesehen, alle paar Jahre mal, ehe er dann zu ihr aufs Gut zog und sein Unwesen trieb. Hajo indessen schlotterte an allen Gliedern. Es war das erste Mal, dass er einen Menschen getötet hatte, das machte ihm schwer zu scharfen. Gerrit Wigbald tröstete ihn. »Du musstest es tun, um Klaus zu retten«, sagte er. »Dir blieb keine andere Wahl.« Hajo war schwer geschockt. Er weigerte sich, die Armbrust noch einmal anzufassen, die er gleich nach dem tödlichen Schuss weggeworfen hatte. Er mochte oder konnte den Toten nicht ansehen. Doch er würde es überwinden. Ein kaltblütiger Mörder würde er niemals werden. Der Kampf ruhte. Als er wieder aufgenommen werden sollte, weigerte sich Humbert de Gasteaux. Unter vier Augen sprach er mit seinem Vater. »Du hast meine Ritterehre besudelt, indem du einen Heckenschützen bestelltest, Vater. Wie soll ich je wieder einem anderen Chevalier in die Augen sehen?« Alain de Gasteaux senkte den Blick. Humbert, sein ältester Sohn, hob seine Rechte, die in einem Eisenhandschuh steckte. 89
»Nimmer erhebe ich meine Hand gegen den Störtebeker, so wahr mir Gott helfe und nimmer bedränge ich die schöne Gutsherrin noch das Kind um ihr Erbe. Hierauf schwöre ich einen Eid. - Der Kampf ist beendet, ich trete ihn nicht mehr an, das Gottesurteil ist gefallen.« Der rotgesichtige Marquis starrte ihn an, als ob er bezweifelte, dass er wirklich von ihm sei. Humbert war sein Erbe und er hatte geglaubt, er wäre vom selben Schlag wie er selbst. »Wenn du meinst«, sagte er mürrisch. »Dann lassen wir sie eben in Frieden und ziehen ab.« Humbert gab mit lauter Stimme bekannt, was er beschlossen hatte und sprach auch für seinen Vater, der dies schweigend akzeptierte. Als der stattliche Humbert zu Desiré de Montaquieux schaute, sah er, dass ihre Augen wohlgefällig auf ihm ruhten. Auch sie gefiel ihm, vielleicht würde er später einmal um sie werben, doch anders als sein Vater. Und er gedachte auch nicht, seine Ehefrauen vor der Zeit unter die Erde zu bringen durch Rücksichtslosigkeit und Brutalität. Störtebeker gab ihm die Hand und umarmte ihn. »Ich glaube dir, dass du nicht wusstest, dass Jehan im Hinterhalt lauerte. Du bist ein Edelmann, Humbert de Gasteaux und ich vertraue fest deinem Wort.« Der Zweikampf war unentschieden ausgegangen, doch an dem Abend trank Störtebeker Humbert von Gasteaux derart unter den Tisch, dass dieser zu Bett getragen werden musste. Störtebeker fand seine Kammer allein. Desiré wartete in dieser Nacht vergeblich auf ihn. Auch ein Klaus Störtebeker kam an seine Grenzen. Männer, dachte die schöne Gutsherrin, ich werde sie nie verste-
hen. Erst wollen sie sich gegenseitig umbringen, dann trinken sie zusammen und verbrüdern sich. Es ist doch ein Kreuz mit dem Männervolk, sie werden wohl nie erwachsen, selbst wenn sie uralt und graubärtig sind... * 90
Die de Gasteaux waren abgezogen, Brief und Siegel von ihnen gegeben, Ferme à la mer und seine Herrinnen - auch die kleine Isa - nicht nur zu verschonen, sondern ihnen Unterstützung und Waffenhilfe zu gewähren, sollte es nötig sein. Die Jahreszeit schritt voran, es stürmte und regnete oft. Störtebeker musste bald auf sein Schiff zurück und ablegen, wollte er vor Einbruch des Winters noch Goedecke Micheel treffen oder zumindest die Insel Strand erreichen, wo Beret auf ihn wartete. Es zog ihn zu ihr und auf See. Gutsherr, das wusste er, konnte er hier nicht sein und nicht an Land bleiben. Desiré, die nachts manchmal weinte, wenn er schon schlief, wusste es auch. Eine Frau spürte so etwas und durch ihn war sie zur Frau geworden. Sie klammerte sich an die Zeit, die sie mit ihm zubringen konnte - der Strom des Lebens würde sie auseinander treiben. Viel zu rasch flog die Zeit dahin. Die Gefahr, die jetzt noch für Ferme à la mer und die Gutsherrinnen bestand, drohte vom Fürstbischof. Er sendete einen tückischen Brief, er wollte die Gutsherrin und ihre Beschützer, Störtebeker und seine beiden Freunde, bei sich sehen, um dringende Angelegenheiten zu besprechen. »Der Schrieb stinkt nach List und Tücke«, sagte Gerrit Wigbald, der das wichtig gesiegelte Dokument vorgelesen hatte. »Der Fettwanst will uns hereinlegen. Er weiß, wer du bist, Klaus und möchte dir eine Falle stellen. Uns an die Hanse verkaufen...« »Das denke ich auch«, antwortete Störtebeker. Sie schmiedeten einen Plan. Vom ›Roten Teufel‹ war Nachricht gekommen, die Mannschaft wollte bald auslauten. Die Vorräte waren an Bord, die Störtebeker vom Gut geschickt hatte. Bratspieß, der Koch, war an Bord geblieben, vielmehr die Mannschaft, des Fraßes Leid, den sie seit seinem Weggang verzehren musste, hatte ihn nicht mehr weggelassen. Freilich hätte die Mannschaft außer den Vorräten gern noch einen fetten Batzen Geld gesehen. Doch Störtebeker weigerte sich, von Desiré und auch Isa, ihrem Mündel, etwas zu nehmen und damit ihr Erbe zu schmälern. 91
Freilich, so fiel ihm ein, war der Fürstbischof ein ganz übler Schurke. Und er hatte prall gefüllte Schatzkammern, Truhen und Beutel. Diese waren genauso gemästet wie er.
Was der Fürstbischof dem Volk abpresste und zuviel hat, haben andere zuwenig, dachte sich Störtebeker. Da sollte man Abhilfe schaf-
fen. - Desiré reiste allein nach Dieppe, wo sie der Fürstbischof schmeichlerisch empfing. Er fragte die Gutsherrin, die ein wertvolles hermelinbesetztes Kleid trug, nach Klaus Störtebeker. »Ich hörte, ein berüchtigter Pirat, der sich freilich unter falschem Namen bei Euch einschlich, würde sich in Ferme à la mer aufhalten?«, fragte er in seinem Audienzzimmer, wo sein Sekretär hinter ihm stand. »Auch sonst geschah allerhand.« »Klaus Störtebeker ist abgesegelt«, antwortete Desiré mit brennenden Augen. »Ich bin eine schutzlose, schwache Frau und ich bitte Euch dringend, mir endlich die Dokumente zu geben, die meine und Isas Rechte sichern. Es ist längst überfällig.« Romain de la Freigne-Bethussy, in hermelinbesetzter, teurer Kleidung, mit Ringen an seinen Wurstfingern und einer protzigen schweren Goldkette mit seinem Siegel daran um den Hals, rieb sich die fetten Hände. »Wir können uns leicht handelseins werden, Demoiselle. So Ihr ein wenig entgegenkommend seid...« Er zog sie förmlich mit Blicken aus. Desiré schaute auf den Sekretär. Der Fürstbischof merkte, dass er sie störte und schickte ihn eilig fort. »Nun, meine Taube?« »Wir können uns... heute Abend in Euren Privatgemächern unterhalten, Euer Eminenz.« Da stand er mit seinen Fettmassen auf, ging zu ihr wie ein fetter Kater, wobei seine Speckmassen wabbelten, umfing sie und fingerte an ihrem Mieder herum. »Lasse die Eminenz weg, meine Schöne. Auch ich bin ein Mann. Seigneur genügt.«
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»Später, Seigneur, habt etwas Geduld. Ich muss mich auf den Gedanken einstimmen, Euch zu... Euch unter besonderen Umständen zu sehen. Ich bin ein unbescholtenes Mädchen.« So unbescholten nun nicht, dachte der Fürstbischof, der von ihr und Störtebeker einiges gehört hatte. Doch das erwähnte er nicht. Er betatschte sie weiter, bis sie ihn weg schob. »Später, Seigneur. Nach Eurer Abendmesse.« »Die soll heut' ein anderer halten. Mein Sekretär wird dich in meine Gemächer führen. Dort warte auf mich.« Natürlich wollte er sie übervorteilen. Der Sekretär führte Desiré fort. * An diesem Abend fraß der Fürstbischof weniger als sonst, weil es ihn nach anderen Genüssen gelüstete. Er suchte seine Gemächer auf, in einen bequemen, zeltartig großen Hausmantel gekleidet. Im Schlafgemach, das er für besondere Zwecke benutzte, waren die Vorhänge des Himmelbetts geschlossen. Lampen brannten. Die Vorhänge bewegten sich leicht. »Ha, mein Täubchen, du willst dich verstecken? Dein Romain ist schon sehr begierig nach dir. - Mein Schnuckelchen, meine Süße...« Der fette Lüstling packte den Bettvorhang. »Ah, meine Schöne, wie werde ich deinen Alabasterkörper genießen.« »Das glaube ich nicht«, antwortete ihm eine tiefe Männerstimme. Eine bärenstarke, sehnige Hand schoss zwischen den beiden Vorhängen hervor und packte ihn bei der Kehle. Die Bettvorhänge wurden zur Seite geschlagen und der Fürstbischof sah in Klaus Störtebekers grimmiges Gesicht. Störtebeker kniete auf den seidenen Pfühlen des Lotterbetts. Aus dem Nebenzimmer kamen Gerrit Wigbald und Desiré de Montaquieux, die sich dort versteckt gehabt hatten. Wigbald hatte zuvor gesprochen. Dem Fürstbischof bebten die Knie. 93
»Gnade, Erbarmen, Ihr werdet Euch doch nicht an einem geistlichen Herrn vergreifen? Das wird Euch das Seelenheil kosten.« »Um mein Seelenheil sorge dich nicht«, übersetzte Wigbald, was Störtebeker dann sagte. »Ich sollte dich auf der Stelle erwürgen. Kinderschänder, Tyrann, Fälscher und Unterdrücker, Ausbeuter und Schinder der Armen, Schande du für dein Amt, Pestbeule am Körper der Institution, der du angehörst. Aber ich schone dein, Leben, wenn du tust, was ich sage. - Du selbst sollst dein Los bestimmen.« Romain de la Freigne-Bethussy wollte überleben. Schmeichlerisch versprach er, alles zu tun, was von ihm verlangt würde. So geschah es. Störtebeker, der sich über Informanten mit der Lage der fürstbischöflichen Gemächer vertraut gemacht hatte, hatte sein Vorgehen mit Desiré abgesprochen. Er kletterte übers Dach - heimlich war er nach Dieppe gekommen. Dann seilte er sich ab zu dem Fenster, das Desiré ihm öffnete. Gerrit Wigbald hatte sich eingeschmuggelt. Sie erwarteten den Fürstbischof. Der fette Wüstling und Prasser musste die Schatzkammer und seine Truhen öffnen, was ihm fast das Herz brach. Störtebekers Dolch zwischen den Rippen, der sehr wohl sein Fett zu durchdringen vermochte, gab er die Anordnung, seine Reisekutsche sofort reisefertig zu machen. Aus seinem Gemach, ohne dass man ihn sah, gab er seine Anordnungen. Da man von ihm allerhand gewöhnt war und er gefürchtet wurde, wurde gehorcht. Störtebeker ließ Geld und Gold sowie wertvollen Schmuck in die Kutsche tragen, die voll gepackt wurde, dass die Pferde sie gerade noch zu ziehen vermochten. Da der Fürstbischof sechsspännig fuhr, war das allerhand. Arme Kinder, die er geschändet hatte, wurden freigelassen von dort, wo sie eingesperrt waren und erhielten Juwelen und Sonstiges, was ihre seelischen Narben nicht heilen würde, jedoch, wenn sie es klug anstellten, ihre irdische Existenz sicherte. Vermummt setzten sich Störtebeker, Desiré und Wigbald dann mit dem Fettwanst in seinem vollen Ornat in die Kutsche. Wigbald stieg auf den Kutschbock, als die Kutsche im Hof des Palais hielt, er würde kutschieren. Desiré hatte ihre Urkunden mit Brief 94
und Siegel sowie Briefe ihrer Schwester aus Brandenburg erhalten. Romain de la Freigne-Bethussy rückte sie heraus und unterschrieb und siegelte, was er musste. »Es dreht mir das Herz im Leib herum«, ächzte er wohl dabei. »Hoffentlich auf die richtige Seite«, übersetzte ihm Wigbald, was Störtebeker darauf antwortete. Hufschlag klapperte dann auf dem Pflaster, die eisenbeschlagenen Räder rollten. Nach Mitternacht war es, stürmisch und regnerisch, als die Kutsche des Fürstbischofs Dieppe verließ. Man fuhr aus dem Westtor, die Straße entlang Richtung Westen, kehrte dann um und nahm ein paar Meilen von der Stadt entfernt einen anderen Weg. Romain de la Freigne-Bethussy schaute angstvoll durchs Fenster hinaus. Seine Fragen wurden jetzt nicht beantwortet, aus dem einfachen Grund, weil Störtebeker sie nicht verstand. Finster war die Miene des Freibeuters. Romain de la Freigne-Bethussy mochte hoch im Rang stehen, ein geistliches Amt haben, für Störtebeker war er ein Schuft und ein Schwein. Und nicht nur für ihn. Die Kutsche hielt dann auf einer anderen Brücke. Unter dem Steinbogen floss die Arques, die Hochwasser führte. Der Fürstbischof musste aussteigen. Er duckte sich im Regen, der Wind blies ihm kalt durch den Ornat. Störtebeker und Wigbald öffneten zwei seiner Schatztruhen für ihn. Im Schein der Kutschenlaternen sah der Dicke die Pretiosen funkeln, die Geldsäcke und seine Hände zuckten vor Gier. Störtebeker fragte ihn über Wigbald: »Ihr könnt schwimmen, Seigneur?« »Ich lernte es als junger Mann.« »Dann wird es Euch jetzt gelingen. Nehmt von dem, was Euer ist, soviel wie Ihr wollt und tragen könnt. Dann springt in den Fluss, er ist ja nicht breit. Dann seht zu, wie Ihr nach Dieppe zurückkommt.« Hoffnung leuchtete in den Augen des Dicken. »Mehr wollt Ihr nicht von mir?« »Nein, da Ihr geistlichen Standes seid, wie Ihr selbst sagt.« 95
Desiré schaute aus der Kutsche. Romain de la Freigne-Bethussy zögerte. Die Gier gewann bei ihm die Oberhand. Er steckte sich Geldbeutel ein, Schmuck, Golddukaten, soviel er nur konnte, hängte sich noch schwere Goldketten um. Ich werde schon damit schwimmen, dachte er sich, wer weiß, ob
ich den Rest jemals wieder sehe. Eher nicht. Und wenn es zu schwer ist, werfe ich von dem Ballast ab. Die Arques trägt mich ans Ufer und dann werde ich diese Piraten jagen. Er wusste nun, wen er vor sich
hatte. Ob er Desiré ein Leid würde zufügen können, wusste er nicht, er ging davon aus, irgendeine Ränke würde er sich schon ausdenken und wenn er sie der Hexerei anklagte und das würde er tun. Mit seinem Ballast noch unförmiger, als er ohnehin schon war, setzte er sich auf das steinerne Brückengeländer. Er zögerte. Unter ihm rauschte der Fluss. Störtebeker zeigte ihm die blanke Klinge. »Seigneur! Oder wollt Ihr Euch erleichtern?« Der gierige Fürstbischof klammerte sich an sein Geld. Er brachte es nicht über sich, nur eine Münze zurückzulassen. Er wälzte sich regelrecht über die niedere Steinmauer. Fiel hinunter, es platschte gewaltig und dann rauschte da nur noch der Fluss. Der Fürstbischof ging wie ein Stein unter. »Diejenigen, die seine Leiche bergen, werden sich freuen«, sagte Störtebeker. »Er hat sich selber gerichtet. - Jetzt lasst uns zu der Stelle fahren, wo Pferde, ein Wagen und deine Knechte warten, Desiré.« So geschah es. *
Die Stunde des Abschieds schlug. Störtebeker würde mit Hajo und Gerrit Wigbald, dem Treuen und Findigen, das Gut für immer verlassen. Einen Teil von dem Schatz des Fürstbischofs nahm er mit, als Beute und als Entschädigung für alles, was er getan hatte. Ein anderer wurde an Arme und Bedürftige verteilt, wofür Desiré sorgen würde. Isa wollte Störtebeker ihre Puppe Hermione schenken, damit sie immer auf ihn aufpasste. »Wenn du wieder auf deinem großen Schiff bist.« 96
Störtebeker hängte der Puppe eine Goldkette um den Hals. »Das schenke ich ihr für die liebe Absicht, sie hat gewiss zugestimmt. Aber ich möchte, dass sie bei dir bleibt, ich kann auf mich selbst aufpassen.« »Kommst du bald wieder, Onkel Klaus?«, fragte Isa. »Das weiß Gott allein.« Desiré de Montaquieux umarmte Klaus Störtebeker und küsste ihn. Das Herz wollte ihr brechen, aber sie wusste, dass sie ihn nicht halten konnte. Frii es de See - frei ist das Meer. Nimmer an die Kette zu legen und zu bändigen. Frii es de Naght - frei ist die Nacht. Sie gab ihm all ihre guten Wünsche mit auf den Weg. Die Männer ritten davon, die Satteltaschen voll gepackt, mit drei Packtieren. Zwei Knechte vom Gut begleiteten sie. Zu der Bucht sollte es gehen, wo der ›Rote Teufel‹ und die Mannschaft warteten. Desirés Küsse brannten noch auf Störtebekers Lippen. »Seid Eurer Herrin Untertan«, lautete sein Abschiedswort an die Gutleute, »behandelt sie mit Respekt, fügt ihr kein Leid zu. Oder ich kehre zurück - und dann werdet ihr alle zittern.« Desiré sah ihn über den Hügelkamm reiten. Was ist das für eine Welt, in der die Piraten edel und tapfer sind, dachte sie, und die Adli-
gen und Mächtigen, sogar Mitglieder des Klerus, verkommen, hinterhältig und feig? Und wo findet man noch einmal einen Mann wie ihn?
Störtebeker, der Löwe der Meere, Schrecken der Hanse und aller Pfeffersäcke, Helfer der Armen und Unterdrückten und der starke Arm der Gerechtigkeit. Sie würde ihn immer lieben, mit einem Teil ihres Herzens, auch wenn sie irgendwann einem anderen Mann angehören würde. Später, in sehr hohem Alter, sollte Desiré, die dann einen anderen Nachnamen trug, zu ihrer Urenkelin sagen: »In meinem ganzen Leben habe ich nur zwei richtige Männer gekannt. Der eine war Georges Eisenhand, Konnetabel von Frankreich, den sie bei Hof vergifteten, weil er zu aufrecht war - der andere war Klaus Störtebeker, den ich geliebt habe mein Leben lang. Das Herz einer Frau ist unergründlich und kennt tausend Geheimnisse - du sollst wissen, in deinen Adern fließt sein Blut. Kurz waren die Tage, die wir auf dem Gut zusammen hatten 97
- ich sah ihn nie wieder, doch diese Zeit ist mir teurer als alles andere in meinem ganzen Leben. Auch wenn Humbert de Gasteaux, der mich ehelichte, wissend, dass ich ein Kind von dem Piraten erwartete, mir immer ein guter Gatte war, auch wenn es andere gab. Störtebeker war meine große Liebe, mein Retter in größter Not.« Ende
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