Freder van Holk Vorhof der Unterwelt
1. Grau, verwittert und halb zerfallen schob sich die alte Mole von Maracaibo in...
26 downloads
546 Views
727KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Freder van Holk Vorhof der Unterwelt
1. Grau, verwittert und halb zerfallen schob sich die alte Mole von Maracaibo in die dunkle Lagune hinein. Ein kleiner, alter Dampfer schaukelte neben ihr auf der öligen schwarzen Flut der Lagune. Das Gewirr vielfältiger Geräusche einer abendlichen Stadt drang nur als dumpfes Brausen zu dem steinernen Damm hin. Weit draußen zogen sich drei Männer an den nassen Blöcken empor und schwangen sich auf die Mole. Während sie die Bündel von ihren Köpfen schnallten, in denen sie ihre Kleidung über das Wasser getragen hatten, schüttelten sie die Nässe von sich ab. Zahllose Menschen hatte die alte Mole getragen, aber wohl noch nie einen Mann, der so vollkommen ebenmäßig und so wundervoll durchgebildet war wie Sun Koh. Neben ihm stand Nimba, der dunkelhäutige Hüne mit dem mächtigen Brustkorb und den drohenden Muskeln. Hal Mervin, der dritte im Bund, wirkte neben ihm schmächtig, obgleich er ungemein sehnig und zäh war. Sein helles, sommersprossiges Gesicht verriet, daß er seine Talente einzusetzen wußte. Über der Lagune dröhnte es auf. Die Maschine, die sie in die Lagune gebracht hatte, flog zurück. Sie waren hinter Vincente Micero her, einem 4
Freund Juan Garcias, der sich neuerdings wieder bemerkbar machte. Es hieß von Micero, daß er Wissenschaftler aus aller Welt in seiner Gewalt hatte, die freiwillig oder unfreiwillig für ihn arbeiteten. Möglicherweise zeichnete er dafür verantwortlich, daß in den letzten Jahren mancher namhafte Gelehrte spurlos verschwunden war. Für Sun Koh genügte es, sich die Liste dieser Verschwundenen anzusehen. Hier ballte sich eine Gefahr für sein eigenes Werk zusammen. Vincente Micero war nicht besser als Juan Garcia, und wenn er noch unbekannte technische Hilfsmittel in die Hand bekam, verwendete er sie bestimmt nicht zum Wohle der Menschheit. Die Nachforschungen hatten zwei Möglichkeiten ergeben. Die Wissenschaftler befanden sich vermutlich auf einer Besitzung Miceros am Rio Cascable, dem Fluß der Hornklapperschlange, doch war auch nicht ausgeschlossen, daß sie in gewissen Höhlen von Honduras festgehalten wurden. Sun Koh hatte sich entschlossen, zunächst am Rio Cascable nachzuforschen. Der Weg führte über Maracaibo, dem Zentrum der Macht Miceros. Er galt als sehr reich und beherrschte nicht nur das Öl, sondern auch die Wirtschaft, die Politik und die Behörden seines Landes. Und er war ebenso rücksichtslos wie gefährlich. Die drei auf der Mole kleideten sich an, während das Geräusch des Flugzeugs immer schwächer wurde. 5
Als sie die Pistolen in den Taschen versenkten, räusperte sich nicht weit von ihnen ein Mann. »Hallo, Gentlemen, ich hoffe, daß Sie nun fertig angezogen sind, so daß ich meine schamerfüllten Augen wieder aufmachen kann.« Die drei zuckten herum. Der Mann, der in einer Nische zwischen zwei Blöcken der Molenwand auftauchte, hatte kaum ausgesprochen, als Sun Koh auch schon neben ihm stand. »Wer sind Sie?« »Donald Covington.« Sun Koh zog die Taschenlampe heraus und leuchtete den anderen wortlos ab. Covington war stämmig und nicht schlecht gebaut, aber die Kleider konnten selbst einen Lumpenhändler kaum noch reizen. Eine überaus schmierige, oft geflickte und ausgefranste Hose, ein verschlissenes Hemd. Unter dem Strohhut drang wirres, rötliches Haar hervor. Das Gesicht war braunrot verwettert, wirkte aber trotzdem nicht gesund. »Zufrieden?« fragte Covington während der Prüfung. »Ich sehe genauso aus wie einer, der sechs Monate Gefängnis und einige Monate Hungerleben hinter sich hat. Die sechs Monate verdanke ich unserem gemeinsamen Freund Micero, auf den Sie ja nicht gerade gut zu sprechen sind.« Sun Koh nannte seinen Namen, worauf Covington murmelte: »Die beiden dort sind Nimba und Hal, das habe ich schon gehört.« 6
»Sie haben uns belauscht?« »Tja, das war nicht zu vermeiden, da Sie sich nun einmal unterhalten haben. Ich konnte doch nicht ahnen, daß Sie Wert auf Anonymität legen. Ich habe geschlafen und bin erst munter geworden, als Sie sich wieder angezogen haben. Hoffentlich haben Sie alles nachgezählt, damit ich nicht in Verdacht gerate, Ihre Taschen ausgeleert zu haben, während Sie im Wasser waren.« »Sie haben zwischen den Steinen geschlafen?« Covington hob die Schultern. »Nicht das schlechteste Quartier, wenn man sich einmal daran gewöhnt hat. Wenn in meiner Tasche einige Bolivars steckten, würde ich natürlich lieber im Hotel schlafen.« »Waren Sie auf den Ölfeldern tätig?« »Ja, als Driller. Ich leitete die Bohrungen, wovon ich als Ingenieur allerhand verstehe. Ich habe die Petroleumbarrels zu Millionen aus der Erde gezaubert, alles für die Universal Oil Company, also für Micero. Die Gesellschaft ist scheinbar amerikanisch, aber in Wirklichkeit hat dieser plattgesichtige Venezolaner alles in der Hand. Ich könnte ja heute noch für ihn arbeiten, aber wahrscheinlich hätte ich ihm meine Meinung auch gesagt, wenn ich gewußt hätte, wer er ist.« »Sie hatten einen Zusammenstoß mit ihm?« fragte Sun Koh. 7
»Das kann man schon sagen«, bestätigte Covington. »Er kam mit einigen Leuten von der Direktion, als wir gerade ein neues Feld angestochen hatten. Wie gewöhnlich ging es ein bißchen toll zu, kein Mensch hatte Zeit, sich um die feinen Herren zu kümmern. Einer von den Rohrlegern nahm sich doch die Zeit und war dafür im Handumdrehen halb zerquetscht. Micero paßte es nicht, daß wir uns deshalb ein paar Minuten aufhielten. Nun, ich habe ihm meine Meinung gesagt und ihm Richtung gegeben. Am nächsten Tag hatte ich meine Papiere. Ich bin schleunigst zum Verwaltungsgebäude hier in Maracaibo gezogen um dem Kerl meine Meinung noch einmal gründlich zu sagen. Das war eine Dummheit, die mir sechs Monate wegen Hausfriedensbruchs eingetragen hat. In der Ölprovinz gibt es natürlich keine Arbeit mehr für mich. Ich stehe auf der schwarzen Liste.« »Sie haben gehört, daß wir keine Freunde Miceros sind?« fragte Sun Koh. »Den Eindruck hatte ich allerdings«, sagte Covington. »Sonst hätte ich mich nämlich gar nicht gerührt. Ich dachte mir, Sie könnten vielleicht einen guten Ratschlag brauchen. Sagten Sie nicht, daß Sie sich erst nach einem Hotel umsehen wollten?« »Ja.« »Wenn Sie wirklich mit Micero anbinden wollen oder mit ihm was gehabt haben, müssen Sie sich 8
mächtig in acht nehmen. Micero hat seine Hände überall, davon kann ich ein Lied singen. Gehen Sie vor allen Dingen nicht in ein Hotel, denn da sind Sie gleich verkauft. Wollen Sie lange hierbleiben?« »Nicht länger, als nötig ist, um eine Ausrüstung für eine Urwaldfahrt zusammenzustellen.« Covington schob den Kopf vor. »Wieso? Wollen Sie auf die Ölsuche gehen?« »Nein. Micero hat einige Leute entführt, für die ich mich interessiere. Ich vermute, daß sie auf seiner Besitzung am Rio Cascable gefangengehalten werden. Unsere Fahrt gilt ihrer Befreiung.« Covington stieß einen kurzen Pfiff aus. »Hm, der Rio Cascable ist ein kleiner Fluß, der in die Lagune mündet. Er ist meines Wissens überhaupt noch nicht erforscht. Sumpf und Urwald können keinen Menschen reizen. Vor allem aber sitzen dort noch wilde Stämme der Indios Motilones. Ich glaube, den Chaparros gehört jenes Gebiet. Eine böse Gegend, in der man auf hundert Arten umkommen kann und keine anständige Möglichkeit zum Leben findet. Ich halte es für ausgeschlossen, daß Micero dort eine Besitzung hat.« »Der Rio Cascable kommt vom Gebirge herunter.« »Wenn schon. Dort oben könnte man wohl ganz hübsch leben – in drei- bis viertausend Meter Höhe kommt man sich unter dem zehnten Breitengrad wie 9
in einem Luftkurort vor –, aber man kommt gar nicht hin, weder von dieser Seite noch vom Magdalenenstrom her.« »Sie vergessen die Flugzeuge.« »Allerdings, mit Flugzeugen wäre es nicht schwer. Aber warum nehmen Sie dann nicht selbst ein Flugzeug? Haben Sie kein Geld?« »Das schon, aber unter Urwaldbäumen läßt sich zuviel verstecken. Wir wollen es lieber so versuchen.« »Na ja, aber Sie kommen überhaupt nicht hin. Sobald Sie sich hier ausrüsten, erfährt er davon.« »Vielleicht nicht, wenn Sie uns helfen. Ich erwäge eben, daß Sie alles für uns einkaufen könnten. Oder wird Micero auch Sie nicht fortlassen wollen?« Covington lachte. »Er wird nichts dagegen haben, wenn ich auf Ölsuche gehe. Als ehemaliger Angestellter seiner Gesellschaft bin ich ganz in seiner Hand. Alle Funde, die ich mache, gehören ihm, selbst wenn ich nicht mehr zur Gesellschaft gehöre. Das habe ich unterschrieben. Man darf ihm natürlich nicht gerade erzählen, daß ich zum Rio Cascable will. Also daran würde es nicht liegen, und ich will Ihnen auch gern behilflich sein, aber – wie denken Sie sich das? Sie können doch nicht mit mir von Laden zu Laden gehen. Wenn Sie zum Rio Cascable kommen wollen, darf kein Mensch ahnen, daß ich die Ausrüstung für 10
Sie besorge. Ich werde natürlich sagen, daß ich selbst mit zwei Freunden einen Versuch machen will. Das ließe sich ordnen. Aber die Ausrüstung kostet allerhand, und auf meine schönen Augen hin wird mir kein Mensch was geben.« Sun Koh zog seine Brieftasche und nahm einige Scheine heraus. »Wird das genügen?« »Nicht, wenn Sie gute Gewehre mitnehmen wollen, was unbedingt nötig sein wird.« Sun Koh ergänzte die Summe um das Doppelte. »Sie wollen mir doch nicht etwa so ohne weiteres das Geld aushändigen? Wenn ich nun einfach durchbrenne?« »Dann habe ich zweihundert Pfund verloren«, sagte Sun Koh. »Das macht nicht viel aus. Schlimmer wäre es, wenn Sie mein Vertrauen enttäuschen würden!« Covington streckte seine Hand hin. »Sie sind mächtig anständig. Und Sie werden sehen, daß es keine größere Sicherheit gibt, als jemandem Vertrauen zu schenken.« Sun Koh drückte die gebotene Hand. »Essen Sie sich vor allem einmal satt, und vergessen Sie auch nicht, sich einzukleiden.« »Damit werde ich vorsichtig sein«, meinte Covington. »Die Leute werden leicht stutzig, wenn ich mich in Schale werfe. Aber essen, das ist kein Fehler. 11
Drei Mahlzeiten auf einmal, wenn es geht. Ich werde Ihnen eine Ausrüstung besorgen, die sich gewaschen hat. Aber wir müssen da noch manches besprechen. Wollen Sie wirklich in ein Hotel?« »Wissen Sie eine bessere Möglichkeit?« »Ein Bekannter von mir hat ein kleines Gasthaus, dort könnten Sie leidlich unterkommen, wenn Sie nicht zu große Ansprüche stellen. Er ist Deutscher, ein anständiger Kerl, auf den Sie sich verlassen können.« »Wo wohnt er?« »Suchen Sie den Plaza Baralt auf. Wenn Sie von ihm aus den Boulevard Baralt hinuntergehen, müssen Sie in die zweite Querstraße links einbiegen, dann sehen Sie das Schild schon. Harling heißt er. Grüßen Sie ihn von mir, und sagen Sie ihm, daß Micero nichts von Ihnen erfahren soll, dann wird er schon für alles sorgen. Ich komme dann heute oder morgen nach. Auf den Straßen darf man uns nicht zusammen sehen, sonst ist die Sache gleich verraten.« »Gut«, sagte Sun Koh. »Und denken Sie daran, daß wir einige Leute suchen. Vielleicht hören Sie etwas darüber.« Covington schüttelte den Kopf. Seine Stimme klang verändert, fast feindlich. »Zwecklos, völlig zwecklos. Ich treibe mich seit Monaten in jeder Gasse herum, um jemand zu finden, den Micero verschleppt hat. Sie sind der erste, 12
der den Rio Cascable erwähnt. Sie wissen mehr als ich.« »Ein Freund?« »Ein junges Mädchen«, antwortete Covington rauh. »Die Tochter Harlings. Wir sind verlobt. Micero hält es wohl für ratsam, eine Geisel in der Hand zu haben, solange er mich noch in der Gegend weiß. Soll ich vorangehen, oder wollen Sie die Mole zuerst verlassen?« »Warten Sie hier, das ist besser.« Die drei hatten die Mole kaum verlassen und den hellen Lichtfleck einer Bogenlampe durchquert, als mit hastigen Schritten ein uniformierter Guardia, ein Polizist, an sie herantrat. Er mußte im Dunkeln gestanden und die Umgebung beobachtet haben. »Einen Augenblick, Senhores«, sagte er höflich. »Kamen Sie nicht eben von der Mole her?« Sun Koh antwortete ausweichend: »Wir sind am Strand entlang spazierengegangen.« »Ah, das war leichtsinnig von Ihnen. Es gibt hier allerlei Gesindel. Aber Sie sind fremd in der Stadt?« »Wir sind heute erst angekommen«, sagte Sun Koh. »Caracas?« Sun Koh sah den Mann fest an. »Vielleicht. Wünschen Sie ein Verhör anzustellen?« Der Polizist wußte offenbar nicht recht, was er sa13
gen sollte. Er stotterte einige Worte und platzte schließlich heraus: »Sie wohnen doch hier?« »Im Hotel Roja«, sagte Sun Koh knapp. Er hoffte insgeheim, daß dieses Hotel, dessen Namen er in Caracas zufällig gehört hatte, für gewöhnlich auch von Ausländern besucht wurde. Gerade diese Städte mit überwiegend spanischer Bevölkerung unterschieden nämlich scharf zwischen den Hotels für Fremde und für Eingesessene. Der Name schien zu beruhigen. Der Polizist salutierte. »Sie werden den Weg sicher wiederfinden. Diese Straße geht es hinauf, bis Sie das Almacen, das Kaufhaus, erreichen. Dort müssen Sie links abbiegen, denn rechts kommen Sie zum Plaza Baralt. Ich will Ihnen auch gern einen Wagen besorgen. An der Calle di…« »Danke«, unterbrach Sun Koh, »wir möchten zu Fuß weitergehen.« Sie entfernten sich langsam. Der Polizist blickte ihnen nach, dann setzte er sich hastig in entgegengesetzter Richtung in Bewegung. »Er beeilt sich«, stellte Sun Koh fest. »Micero wird wahrscheinlich schon in wenigen Minuten von unserer Ankunft erfahren.« »Sie denken wirklich, daß Micero den Polizisten für uns aufgestellt hat?« erkundigt sich Hal verwundert. »Das kann ich mir gar nicht denken. Er kann 14
doch nicht einfach befehlen, daß sie Spitzeldienste für ihn leisten. Behörde bleibt doch schließlich Behörde.« »Eben«, sagte Sun Koh. »Der Polizist wird kaum etwas anderes tun, als seinem Vorgesetzten zu melden, daß drei verdächtige Personen gesehen worden sind. Die Nachricht wird an die Zentrale weitergeleitet, von dort aus wird Micero sie erhalten. Er kann nun seine eigenen Leute in Bewegung setzen, oder, falls ihm das besser erscheint, einen Tatbestand gegen uns schaffen, der die Polizei zwingt, uns festzunehmen.« »Wir können aber unsere Unschuld nachweisen.« »Vielleicht – wahrscheinlich aber nicht… Micero hat zuviel Geld. Auf alle Fälle wären wir wehrlos, solange wir uns im Gewahrsam der Polizei befänden. Wir müssen unter allen Umständen versuchen, Bewegungsfreiheit zu behalten.« Schweigend gingen sie mit schnellen Schritten weiter. Die Straßen waren noch ziemlich belebt. Läden und Kaufhäuser zeigten beleuchtete Schaufenster, aus Gaststätten schlugen Speisegerüche heraus. Die meisten Häuser waren zweistöckig, vom landesüblichen spanischen Kolonialstil. Dazwischen wuchteten einige neue Gebäude. In kaum unterbrochenem Strom schlenderten Menschen müßig durch die Straßen. Ungehindert erreichte Sun Koh mit seinen beiden 15
Begleitern die Calle die Acuaca, jene schmale Seitenstraße, in der Harling seinen Gasthof führte. Freilich, von einem Gasthof konnte man eigentlich nicht gut reden. Es handelte sich um eine der kleinen Bars, von denen es in der Stadt eine ganze Menge gab. Harling verabreichte nur außer den Getränken auch noch Speisen nach heimatlichen Rezepten. Schließlich besaß er noch drei Räume, die er im Bedarfsfall Gästen zur Verfügung stellen konnte. Harling war ein ruhiger, etwas schwerer Mann, der nur noch den rechten Arm besaß. Er kam sofort an den Tisch heran, an dem sich die drei niederließen, blickte jeden einzelnen forschend an und reichte ihm die Hand. »Willkommen«, sagte er mit tiefer Stimme. »Sie sind neu in der Stadt, wie ich sehe. Wollen Sie etwas trinken oder essen?« »Beides«, erwiderte Sun Koh leise. »Vor allem möchte ich Sie von einem gewissen Covington grüßen.« Harling zog die Brauen hoch. »Sie hätten ihn mitbringen sollen. Der Junge hat sicher seit drei Tagen nichts Ordentliches gegessen.« Sun Koh war beruhigt. »Er wird es nachholen. Ferner möchte ich Sie bitten, uns für einige Tage aufzunehmen. Wir legen Wert darauf, daß Micero nichts von uns erfährt.« Harling blickte Sun Koh prüfend in die Augen. 16
»So steht es?« murmelte er. »Nun, ein Zimmer habe ich frei. Wenn Ihnen das genügt?« »Es genügt.« »Dann würde ich Ihnen aber nicht raten, sich erst lange hierherzusetzen. Kommen Sie mit.« Sie folgten ihm. Harling machte sie an der Küchentür mit seiner Frau bekannt, dann brachte er sie in ein etwas lichtarmes, aber sauberes Zimmer. »Ich schicke Ihnen alles hoch, was Sie brauchen«, sagte er. »Sie können dann unbesorgt schlafen. Sollte etwas vorfallen, was mit ihnen zusammenhängt, erhalten Sie rechtzeitig Nachricht. Für alle Fälle – diese Treppe führt zum Hinterausgang, außerdem können Sie über das Schuppendach leicht in den Hof kommen.« »Sie bedenken mehr als wir selbst«, sagte Sun Koh lächelnd. Harling nickte. »Ja, das mag sein. Ich weiß ja nicht, was Sie mit Micero haben, aber ich kannte einen, der von Micero gehetzt wurde. Der arme Kerl hat es mit seinem Leben bezahlt, daß er den zweiten Ausgang nicht fand.« Sun Koh streckte ihm die Hand hin. »Wir sind gekommen, weil wir Micero stellen und ihm eine Beute abnehmen wollen.« Harling blickte verblüfft. »Bis jetzt habe ich immer nur Leute gekannt, die von Micero gehetzt wurden, weil er ihnen etwas ab17
nehmen wollte. Sie müssen ihn entweder sehr schlecht kennen oder sehr viel Mut haben.« An der Tür drehte er sich noch einmal herum und sagte rauh: »Was auch immer geschieht, Sie können auf mich rechnen, solange es gegen Micero geht.« Damit ging er hinaus. Sun Koh fand die ganze Lage, in die er halb wider Willen geraten war, ziemlich eigenartig. Gewiß, er hatte wenig Wert darauf gelegt, daß Micero von seiner Ankunft erfuhr, um nicht in der Handlungsfreiheit beengt zu werden, aber es lag nicht in seinem Sinn, nun wie ein Flüchtiger, in völliger Verborgenheit, versteckt zu bleiben. So gefährlich dünkte ihm Micero nun auch wieder nicht. * Das Verwaltungsgebäude der Universal Oil Company war ein weißer Palast, an dem man mit Marmor nicht gespart hatte. Er galt allgemein als der bedeutendste Bau Maracaibos. Man sprach es allgemein offen aus, daß von diesem Haus aus zumindest die Provinz regiert werde. Micero beherrschte die Stadt. Ganz abgesehen davon, daß ihm letzten Endes jeder Polizist diente, daß jeder Angestellte und Arbeiter der Company sein gefügiges Werkzeug war, besoldete er einen ganzen Stab von Leuten, die ausschließlich für seine beson18
deren Zwecke arbeiteten. Über das Nachrichtennetz der Company wie über seine persönlichen Nachrichtenstellen erfuhr er von jedem einigermaßen wesentlichen Ereignis und konnte dank seiner zahlreichen Untergebenen in allen Lagen schnell und wirksam den Ereignissen gemäß handeln. Er hatte in den letzten Jahren, in denen sich die Ölgeschäfte in ruhiger Einträglichkeit langsam weiterentwickelten, von seinen Möglichkeiten wenig Gebrauch gemacht, aber jetzt befand sich alles, was ihm diente, in Alarmzustand. Micero wollte die drei, deren Ankunft in Maracaibo ihm gemeldet worden war, fangen und vernichten. Er wollte ihnen seine Macht zeigen. Dutzende von Leuten fahndeten nach Sun Koh und seinen Begleitern. Früher oder später mußten sie entdeckt werden. Micero selbst hatte die Beschreibung geliefert. Sie war dürftig, soweit sie Sun Koh und Hal betraf. Aber der dritte Mann war ein schwarzer Riese. Das genügte, zumal die drei gemeinsam aufzutreten pflegten. Irgendwo in der Stadt… Miceros Leute rechneten so wenig wie Micero selbst damit, daß einer von den dreien zum Verwaltungsgebäude der Company kommen könne. So viel Nichtachtung konnte man nicht voraussetzen. Kein mißtrauischer Blick traf Sun Koh, als er am Vormittag des nächsten Tages unmittelbar vor dem 19
Eingang des Palastes aus einem Mietwagen stieg. Der Türsteher öffnete ihm höflich die Tür, ein betreßter Diener führte ihn nach oben. Dort nahm sich einer der Sekretäre Miceros seiner an. Er stellte fest, daß der Besucher weder wie ein Bittsteller noch wie ein randalierender Ölmann aussah, und erkundigte sich höflich nach seinen Wünschen. »Ich möchte Senhor Micero sprechen«, erklärte Sun Koh mit ruhiger Bestimmtheit. »In welcher Angelegenheit?« fragte der Sekretär weiter. »Senhor Micero empfängt nur in dringenden Angelegenheiten selbst.« »Ich habe meine Angelegenheit nur mit Senhor Micero selbst zu besprechen«, entgegnete Sun Koh kurz. »Sagen Sie ihm, daß ich aus Honduras komme und mit ihm über Atomgewichte sprechen will.« Der Sekretär starrte ihn verständnislos an. »Ja, aber…« »Haben Sie nicht verstanden?« erkundigte sich Sun Koh kühl. »Beeilen Sie sich. Ich glaube nicht, daß Senhor Micero Angestellte um sich duldet, die die Wichtigkeit gewisser Dinge nicht erfassen können.« Das Auftreten Sun Kohs überzeugte. Der Sekretär verbeugte sich, murmelte etwas und verschwand. Nach einer Minute trat der Sekretär wieder ein. »Senhor Micero läßt bitten.« Sie durchschritten einen Raum, in dem mehrere 20
Sekretäre arbeiteten, dann wurde vor Sun Koh eine Polstertür geöffnet. Es war eine Doppeltür. Die zweite Tür klinkte der Sekretär nur rasch auf und trat dann zurück: Die beiden Türen wurden gleichzeitig von verschiedenen Seiten wieder geschlossen. Der Fluch, den Micero beim Anblick seines Besuchers ausstieß, drang nicht mehr hinaus. Micero stand unmittelbar neben seinem Tisch und hielt die Hand auf dem Schaltbrett, von dem aus er Dutzende und Hunderte von Menschen herbeirufen konnte. Außerdem hatte er eine Pistole herausgerissen. »Sie können Ihre Leute hereinrufen«, sagte Sun Koh, während er auf Micero zuschritt. »Aber es gibt Dinge, die man nur unter vier Augen besprechen kann. Sie würden dann niemals erfahren, warum ich zu Ihnen gekommen bin.« Hinter Sun Koh wurde die Tür schon wieder aufgerissen. Zwei Männer stürzten herein. »Sie haben gerufen, Senhor?« Micero deutete mit der linken Hand auf Sun Koh. »Dieser Mann heißt Sun Koh, ihr Schafsköpfe«, sagte er eisig. »Seht nach, ob er Waffen bei sich trägt!« »Halt!« Sun Koh wandte sich nicht nach den beiden um, sondern blickte Micero unablässig ins Gesicht. »Sie haben entweder das Vergnügen, Ihren Befehl ausgeführt zu sehen, oder wir unterhalten uns 21
einige Minuten. Sobald Ihre Leute mich berühren, werden Sie nie etwas über gewisse Dinge hören, die Sie stark angehen, wie zum Beispiel über die Sonnenstadt.« Micero zögerte, dann machte er eine abwehrende Bewegung. »Hinaus! Verständigt die Leute in der Stadt und haltet euch für alle Fälle draußen bereit.« Hinter Sun Koh klappten Türen. Micero hob die Pistole wieder hoch, die er beim Eintritt seiner Leute gesenkt hatte. »Nun können Sie sprechen«, sagte er. »Ich brauche Ihnen wohl nicht zu versichern, daß ich bei einer verdächtigen Bewegung sofort schießen werde.« »Ich hoffe, daß Ihnen Ihre Vorsichtsmaßnahmen genügend Beruhigung verschaffen«, erwiderte Sun Koh mit einem Anflug von Spott. »Ich bin in erster Linie gekommen, um von Ihnen etwas über einige Wissenschaftler zu erfahren, die von aller Welt vermißt werden, zum Beispiel über einen gewissen Perkins.« Micero lachte höhnisch auf. »Sie versuchen es mit Unverschämtheiten. Garcia hat Sie richtig beschrieben. Aber mich bluffen Sie nicht. Sie glauben doch nicht etwa im Ernst, daß ich in Maracaibo ein Dutzend Leute versteckt halte. Wenden Sie sich gefälligst an die Polizei.« Er ahnte nicht, daß er eine wertvolle Auskunft ge22
geben hatte. Wenn sich die gesuchten Männer in Maracaibo befunden hätten, wäre seine Reaktion anders gewesen. Sun Koh hatte damit praktisch schon erreicht, was er erreichen wollte. »Besten Dank für den guten Rat«, sagte er höflich. »Noch einfacher ist es, wenn Sie mir verraten, wo sich Perkins und die anderen befinden.« »Ich verstehe nicht, wovon Sie sprechen«, parierte Micero kalt. »Ich kenne diese Leute nicht, die Sie suchen. Sie wollten mir etwas über die Sonnenstadt erzählen?« »Sobald Sie die Männer freigelassen haben.« Micero blieb beherrscht. »Ich nehme an, daß ich es mit einem Verrückten zu tun habe.« Er drückte auf einen Knopf. Sun Koh hörte Geräusche hinter sich. Die beiden Männer waren wieder da. »Bringt den Mann hinaus«, befahl Micero. »Er kann das Haus verlassen.« Damit wandte er sich ab und verschwand durch eine Seitentür. Sun Koh rechnete mit einem Überfall, aber die beiden an der Tür benahmen sich jetzt wie Diener. Sie warteten, bis er sich entschloß, und sie unterließen jede verdächtige Bewegung. Sie brachten ihn stumm bis zu dem Wagen, mit dem er gekommen war. Niemand hielt ihn auf, als er losfuhr. Die Männer 23
vom Portal sprangen allerdings in einen zweiten Wagen und folgten ihm. Die Straße führte geradewegs in die Stadt hinein. Abbiegen war vorläufig nicht möglich. Wenn Micero seine Leute an der Straße hatte … Die ersten Häuser kamen in Sicht, verstreute Villen. Die Straße selbst war kaum belebt. Aus einer Toreinfahrt rollte ein großer Personenwagen quer über die Straße und blieb mitten auf ihr stehen. Unmöglich, den eigenen Wagen, dessen Tachometernadel auf hundert schwankte, noch zum Halten zu bringen. Die Bremsstrecke war zu kurz. Und der Wagen war kaum zufällig in den Weg gerollt. Sun Koh trat die Bremse. Kreischend minderte der Wagen seine Geschwindigkeit fast auf die Hälfte. Dann das Steuer kurz herum, Bordkanten waren glücklicherweise nicht vorhanden. Gas – der Wagen schnellte zwischen dem Hindernis und dem Zaun durch, pendelte schrammend rechts gegen den Zaun, brachte links den Wagen zum Drehen. Gas, und der Durchbruch war geglückt. Die Glasscheibe vor Sun Koh splitterte, man hatte ihm wohl einen Schuß nachgeschickt. Sun Koh fuhr mit geringerer Geschwindigkeit weiter. Die Falle hatte er umgangen. Es würde eine Weile dauern, bevor die Verfolger den Weg wieder frei hatten. Außerdem kam er jetzt in den Bereich stärkeren Verkehrs. 24
Das beobachtende Auge sammelte hundert Eindrücke zugleich. Eine Kreuzung. Weshalb reckte sich der Mann aus dem Fenster des ersten Stockes, als warte er auf die Annäherung des Wagens? Sun Koh blickte nach dem Fenster. Fast entging ihm, daß sich der Oberleitungsdraht der Straßenbahn ein Stück vor ihm löste. Gerade noch aus dem Augenwinkel heraus erfaßte er den fallenden Kupferdraht. Blitzschnell reagierten seine auf höchste Gefahr eingestellten Sinne. Die Oberleitung fiel. Sun Koh trat das Gas. Wie ein scheuendes Pferd schnellte der Wagen vor, in die Kreuzung hinein. Sun Koh duckte sich, da es schien, als wolle der fallende Draht seinen Kopf streifen. Der verkrampfende Schlag blieb aus, der Wagen war gerade noch über die Gefahrenstelle hinweggekommen. Hinter sich hörte Sun Koh einen gellenden Aufschrei und splitterndes Krachen. Sun Koh wußte nun, daß Micero sich nicht auf eine Falle verließ. Er hielt es nicht für ausgeschlossen, daß neue Hindernisse auf ihn warteten. Deshalb hielt er die Augen offen und beobachtete sehr sorgfältig. Aber alle Aufmerksamkeit nütze nichts. Ganz überraschend hob sich der Boden mitsamt der Straßendecke kurz vor seinem Wagen, eine grelle Stichflamme schoß hoch, der Wagen stauchte mit fünfzig Kilometer Geschwindigkeit in ein Loch hinein. Sun Koh duckte sich im bewußtseinsfreien Instinkt 25
der Schrecksekunde zusammen. Der Stoß des abkippenden Wagens warf ihn über das Lenkrad nach vorn, der Körper prallte jenseits der Grube auf, rollte vor dem sich überschlagenden Wagen weg und schnellte auf die Füße. Einen Augenblick lang stand Sun Koh reglos, sah das Chaos eines Verkehrsunglücks wie eine Zeitlupenaufnahme zusammenfließen, spürte die stechende Lohe im Rücken, dachte flüchtig an den Benzintank und lief los. Tags darauf berichteten die Zeitungen, daß die Calle di Comercio von einem furchtbaren Unglück heimgesucht worden sei. Ein Hauptrohr der Gasleitung sei undicht geworden und explodiert, wodurch mehrere Menschen getötet worden seien. Während sich das Entsetzen ausbreitete, verschwand Sun Koh in einer Nebengasse. Er vergewisserte sich, daß er nicht verfolgt wurde, und suchte sich dann abseits von allen Hauptverkehrsadern den Weg zu der schmalen Gasse, die der Calle die Acuaca parallel lief, aber ein Stück vor der Hauptstraße blind endete. Sie war nicht mehr als ein schmaler Pfad zwischen Zäunen und Rückfronten, der den Hinterausgang des HarlingGrundstücks mit dem Straßennetz verband. 2. Der Tag brachte keine weiteren Ereignisse. In der Nacht kam Covington. 26
»Mein Gott, Sie leben tatsächlich noch.« Er seufzte, »Ich wollte es kaum glauben, als mir Harling das eben sagte. Man hat Sie für tot erklärt.« »Wieso?« Covington zog eine Zeitung aus der Tasche. »Hier haben Sie es schwarz auf weiß, daß ein Ausländer bei der Gasexplosion in der Calle di Comercio verunglückte und mit seinem Wagen verbrannte. Ich horchte ein bißchen herum und erfuhr, daß ein Mann von Ihrem Aussehen bei Micero gewesen war und vorher einige Zwischenfälle überstanden hatte. Darauf machte ich mir meinen Vers.« »Man hat mich wohl verwechselt. Die Explosion wird verschiedene Opfer gefordert haben.« »Sie waren aber bei Micero?« »Ja.« Covington schüttelte den Kopf. »Nun, die Hauptsache ist, daß Sie es geschafft haben. Und nun hält Micero Sie für tot. Auch nicht schlecht.« »Unter Umständen ein großer Vorteil für uns«, sagte Sun Koh. »Er wird nicht mehr nach uns suchen lassen.« »Wenigstens nicht nach Ihnen«, schränkte Covington ein. »Seine Leute sind noch unterwegs und horchen herum. Micero wird kaum locker lassen, bevor er Ihre beiden Begleiter hat.« »Wie weit sind Sie mit Ihren Vorbereitungen?« 27
»Ziemlich fertig«, erwiderte Covington voll Genugtuung. »Ich bin den ganzen Tag unterwegs gewesen und habe eingekauft. Hier ist meine Liste.« Sie gingen die umfangreiche Liste durch. Sun Koh ergänzte sie noch, dann schob er Covington einige Scheine zu. »Das ist Ihr Fahrgeld nach England. Den Restbetrag, der Ihnen von den Einkäufen bleibt, können Sie dazuschlagen. Nehmen Sie das Geld für alle Fälle gleich an sich.« Covington schob es zurück. »Ich werde Sie begleiten, wenn Sie nicht allzuviel dagegen haben.« »Zum Rio Cascable?« Covington nickte. »Ja, und noch weiter. Warten Sie einen Augenblick, bevor Sie ablehnen. Ich will nicht davon reden, daß mich die Angelegenheit persönlich berührt, sondern will Ihnen nur klarmachen, daß es anders überhaupt nicht geht. Die Ausrüstung nützt Ihnen nämlich gar nichts. Sie müssen auch von hier fortkommen, und zwar so, daß Micero nicht erfährt, wohin Sie wollen. Ich habe mit einem gewissen Gonjas Rücksprache genommen. Er fährt einen alten Küstendampfer, der wie durch ein Wunder immer noch nicht auseinandergefallen ist. Sein ganzer Kasten ist Familienunternehmen, das heißt, es ist keiner an Bord, der nicht zu Gonjas’ Familie gehört. Gonjas 28
will mich mitnehmen, falls sich die Sache für ihn lohnt – mich und meine Freunde. Wenn Sie allein kämen, würde er sich auf die Hinterbeine stellen. Sehen Sie, deshalb müssen Sie mich wohl oder übel schon mitnehmen.« Sun Koh blickte ihn forschend an. »Unsere Fahrt könnte gefährlich werden.« »Eben, eben. Es ist geradezu leichtsinnig, zu dritt loszufahren. Sie brauchen unbedingt einen vierten Mann, und vor allen Dingen einen, der die Verhältnisse kennt.« Sun Koh lächelte. »Also, schließen Sie sich an, wenn Sie die Gefahr nicht scheuen.« »Ich wußte ja, daß ich Sie breitschlagen würde. Deshalb habe ich meine Passage gleich mit angelegt. Hier ist der Zettel für mich.« »Feiner Kunde!« knurrte Nimba entrüstet. »Legt unser Geld einfach an, ohne uns zu fragen.« »Laß nur«, tröstete Hal, »den Jüngling werden wir uns schon noch ziehen.« Covington grinste. »Na, da paßt nur auf, daß ihr nicht zuvor über eure kurzen Hemdchen stolpert.« »Wann können wir die Stadt verlassen?« fragte Sun Koh. »Morgen nach Sonnenuntergang fährt die ›Santa Maria‹ los. Unsere Sachen befinden sich fast alle schon an Bord oder werden im Laufe des Tages hin29
gebracht. Ich habe sie in einer Hütte aufgestapelt, aus der sie von Gonjas’ Leuten abgeholt wurden?« »Wir gehen erst morgen abend an Bord?« »Ja, besser ist besser. Wenn schon etwas herauskommt, so soll Micero im unklaren bleiben, wer fährt. Wir könnten aber vielleicht schon heute nacht zum Hafen übersiedeln. Man weiß ja nie, ob morgen alles klappt und ob Sie auf dem Weg durch die Stadt aufgehalten werden. Gonjas aber fährt zu seiner Zeit los, ob Sie nun da sind oder nicht.« »Wir können nicht einen Tag lang am Hafen herumlungern.« »Natürlich nicht. Gonjas hat einen Lagerschuppen mit einer anschließenden Bude. Dort läßt sich’s schon einen Tag lang leben. Man wird Sie dort kaum vermuten. Außerdem ist dort freie Sicht. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich vorschlagen, dorthin zu gehen. Wir kommen dann morgen unbeobachtet auf das Schiff.« Sun Koh nickte. »Gut, ich bin einverstanden.« * Sie waren nicht so fahrlässig, zu dritt durch die Straßen zu gehen, sondern nahmen so viel Abstand, daß sie den Vorangehenden gerade noch beobachten und im Notfall decken konnten. Die Schwierigkeit lag bei 30
Nimba. Seine hünenhafte Erscheinung war immerhin so auffällig, daß sie am leichtesten Aufmerksamkeit erregen konnte. Hal übernahm die Spitze. Er hatte sich als Venezolaner herrichten lassen und schlenderte so lässig los wie nur einer der verbummelten, jungen Burschen, die seinen Weg kreuzten. Nimba folgte. Er trug einen langen Mantel, der einmal Harling in dessen Jugendjahren geziert hatte. Außerdem hatte er einen breitrandigen Hut rief in die Stirn gedrückt. Sun Koh hielt sein Gesicht ebenfalls durch einen großen Hut beschattet, hatte aber sonst auf Veränderungen verzichtet. Es gab genug Leute in der Stadt, die ähnlich angezogen waren wie er. Wider alle Erwartung war es Hal, der auffiel. An der Einbiegung einer Nebenstraße standen zwei Männer, die einen Gegenstand in ihren Händen betrachteten. Als Hal an ihnen vorbeischlenderte, trat einer der Männer unerwartet zurück. Hal konnte nicht mehr ausweichen. Er stieß mit dem Mann zusammen, worauf klirrend etwas zu Boden fiel. Vielleicht war der Gegenstand kostbar oder der Mann jähzornig, jedenfalls setzte der Mann mit einem Sprung hinter Hal her und schlug nach ihm. Hal bemerkte es erst im letzten Augenblick. Er wich aus. Der Schlag traf seinen Hut, warf ihn auf die Straße und entblößte seinen hellen Haarschopf. 31
Während der Angreifer zu einem zweiten Schlag ausholte, stutzte der andere. »Donnerwetter!« rief er. »Das ist ja ein komischer Kerl! Sieht glatt nach Verkleidung aus. Das wird doch nicht…« Der Rest ging unter, denn inzwischen hatte der erste fluchend zugeschlagen. Hal war wieder ausgewichen und hatte ihm einen Fausthieb ins Gesicht gesetzt, so daß jener rückwärts taumelte. Nun griff der zweite Mann ein. Hal mußte sich gegen beide verteidigen. Einige hastige Ausrufe bewiesen ihm, daß es sich um Leute Miceros handelte, die in ihm genau den sahen, den sie suchten. Er drosch wütend drauflos, einmal nach vorn und einmal nach hinten, wie es gerade nottat. Seine Schläge trafen jedoch nicht hart genug, und die beiden hatten den Vorteil, von zwei Seiten angreifen zu können. Hal begann bald zu schwitzen. Da nahte Hilfe. Der eine Mann flog gegen die Wand, der andere rutschte über die Straße. Nimba hatte eingegriffen. »Danke!« sagte Hal. »Immer gut, wenn jemand in der Nähe ist.« »Kein Baby sollte ohne Amme ausgehen«, brummte Nimba. »Wer ist denn das?« »Leute von Micero.« »Dann aber schleunigst weiter.« Der Mann an der Wand keuchte. 32
»Das sind sie, die …« »Mund halten!« unterbrach Nimba. »Geh weiter, Hal, ich komme gleich nach.« Hal ging weiter. Nimba beruhigte den Mann und lehnte ihn wieder gegen die Wand, dann sprang er zu dem anderen hin, der eben eine Waffe aus seiner Tasche ziehen wollte. Als er auch diesen gegen die Wand gelehnt hatte, kam Sun Koh heran. »Was ist?« »Zwei von Micero, Sir. Sie haben uns erkannt.« »Fort!« befahl Sun Koh. »Hinter Hal her.« Ein Trupp Männer kam auf der Straße herangelaufen. Er hielt kurz bei den beiden Betäubten an und folgte dann Sun Koh. Es konnten harmlose Leute sein, aber auch Beauftragte Miceros. Sun Koh ließ den Trupp ein Stück herankommen und bog dann in eine Gasse ab, deren Benutzung in Covingtons Plan nicht vorgesehen war. Es schien ihm besser zu sein, die Verfolger nicht auf der Spur Hals und Nimbas zu lassen. Die hastigen Bemerkungen der Männer gaben Aufschluß, um wen es sich handelte. »Das ist er!« »Das ist der große Blonde, der Anführer.« »Der ist doch tot!« »Wir kriegen ihn. Er steckt in einer Sackgasse.« Das stimmte. Nicht weit vor Sun Koh riegelte ein Haus die Gasse ab. 33
Er wandte sich um. Sie kamen zu fünft heran, aber sie scheuten im letzten Augenblick vor seiner Ruhe zurück. »Was wollen Sie?« fragte Sun Koh. »Wir haben – Sie sind doch …« »Er ist es!« »Sie sind Sun Koh?« fragte ein dritter ziemlich naiv. Sun Koh gewann mit zwei Schritten das freie Ende der Gasse. Die fünf standen jetzt zwischen ihm und dem abriegelnden Haus. »Ich bin Sun Koh.« Fünf Ausrufe klangen auf und zehn Hände griffen zu. Der Kampf war da. Sun Koh wischte den Vordersten spielerisch gegen zwei andere, wandte sich gegen die beiden Angreifer von links und wechselte die Front wieder. Er hatte es nicht schwer. Diese Männer waren keine Boxer und störten sich gegenseitig. Der Kampf tobte wie ein Windwirbel, der einige welke Blätter auftanzen und gleich wieder zusammensinken läßt, durch die Gasse. Als Sun Koh innehielt, dämmerten fünf Männer am Boden einem schmerzensreichen Erwachen entgegen. Sun Koh setzte seinen ursprünglichen Weg fort. Niemand folgte ihm mehr. Ungehindert und unbeobachtet erreichte er den Lagerschuppen am Strand, in dem ihn die anderen erwarteten. Die Nacht verging. Der Tag verstrich. Die Zwischenfälle blieben aus. 34
Als sich die Nacht wieder dunkel und weich über die Lagune legte und von der ›Santa Maria‹ heiser eine Glocke herüberschepperte, gingen Sun Koh und seine Begleiter an Bord. Sie betraten jedoch nicht die Mole, sondern bestiegen ein Boot, das sie an die Längsseite des Küstendampfers brachte, während dieser bereits in langsamer Fahrt von der Mole wegstrebte. Covington hatte nicht übertrieben, als er den Zustand dieses Schiffes beschrieben hatte. Die Nacht deckte zwar manches mit ihrem dunklen Schleier, aber was man sah und hörte, genügte völlig für bedenkliche Erwägungen. Fast war es ein Wunder, daß sich die schweren Schaufelräder noch drehten. Sie ächzten und stöhnten und kreischten und rasselten, als wollten sie im nächsten Augenblick asthmatisch und altersmüde ihren Dienst aufgeben. Im Kesselraum bullerte und zischte und fauchte eine uralte Dampfmaschine wie ein böser Geist, der Minuten später gegen die Wände springen will. Und was man sonst von der rostzerfressenen Reling bis zu den schwammigen Wandverkleidungen noch wahrnahm, konnte insgesamt nur zur Bewunderung nötigen – zur Bewunderung jener verwegenen Leute, die sich mit einem derartigen Schiff auf die offene Lagune hinauswagten, und zur Bewunderung für Kapitän Gonjas, der dieses Wrack überhaupt noch zum Fahren brachte. Gonjas sah wie ein alter, böser Eisenfresser aus. 35
Das schmale Gesicht war verwettert, vergerbt und verrunzelt und schien nicht von Haut, sondern von schimmligem Pergament überzogen zu sein. Grauweißes Haar und ein ebensolcher Spitzbart schienen sich ständig widerborstig zu sträuben, und die Augen funkelten in den Höhlen, als kündigten sie jederzeit einen Wutausbruch an. Das täuschte aber. Er erlaubte sich keine Zornanfälle und sprach eigentlich nie laut. Freilich klang es dafür um so gefährlicher, wenn er leise sprach. Die Schiffsbesatzung, die sich aus Söhnen und Enkelkindern zusammensetzte, zog die Köpfe ein, wenn er die Stimme dämpfte. Er begrüßte seine Fahrgäste mit bissiger Freundlichkeit und hoffte, daß die »senhores pasajeros« sich wohlfühlen würden. Sun Koh und seine Begleiter hofften das auch, schreckten aber doch zurück, als sie in ihre Kabinen traten. Diese finsteren, moderduftenden Löcher mit viel Schmutz und allerlei Hausgetier war selbst für einen ausgewachsenen Optimismus eine reichlich starke Belastungsprobe. Nach fünf Minuten Aufenthalt stiegen die vier wieder auf das Deck hinauf und suchten sich dort ein erträgliches Plätzchen. * In den ersten Stunden der Fahrt und mit dem beginnenden Tag hielten die vier eifrig Ausschau nach et36
waigen Verfolgern. Es ließ sich jedoch niemand sehen. Micero hatte nichts erfahren. Die großen, hellen Tankdampfer der Universal Oil Company, die das Öl zur Raffinerie auf die Insel Curacao hinausbrachten, fuhren stolz vorüber und kümmerten sich kaum um den verdreckten Invaliden der Lagune. Nacht und Tag, Tag und Nacht verstrichen. Mit der Sorge um die Gefahr schliefen die Sinne ein. Zwischen lauer, märchenraunender Kühle der Nacht und dumpfheißer, glühender Schwüle des Tages wurde die Fahrt zu einem schier endlosen, verdämmerten Traum. Die vier Mann atmeten auf, als sich das Schiff endlich der Küste stärker näherte. Der überzitterte Streifen des Ufers wurde zu einer dunkelgrünen und schwärzlichen Wand verfilzter Mangroven, deren Luftwurzeln in phantastischem Gewirr aus dem Sumpf herausstiegen. An einer Stelle stieß ein offener Keil mit verschwommenen Umrissen in die grüne Wand hinein. Nicht weit davon rasselte die Kette trocken scheppernd ins Wasser hinunter. »Der Rio Cascable!« Gonjas deutete mit der Hand. »Dort müssen Sie hinein.« Dann blickte er zum Himmel, der von einer weißgrauen, gleichförmigen Decke überspannt war. »Sie können gleich ausschiffen, das Wetter wird vorläufig so bleiben. Oder haben Sie sich’s inzwischen anders überlegt?« 37
»Nein«, sagte Sun Koh. Gonjas nickte nur und gab dann seine Befehle. Hal stieß Nimba an und deutete auf die lehmgelbe Brühe, die der Fluß gegen das grünliche Wasser der Lagune drückte. »Feine Gegend. Die Soße müssen wir trinken, falls unser Wasser alle wird.« »Deine Sorgen«, murmelte Nimba abweisend. Dabei war ihm aber selbst nicht besonders wohl zumute. Diese starrenden Mangrovenwände mit der verschwommenen, weißüberdunsteten Landschaft dahinter, über der die Sonne lastend brütete, kam ihm nicht ganz geheuer vor. Etwas unsagbar Bedrückendes lag vor ihnen. Die Landschaft atmete Feindseligkeit und Bösartigkeit. Sun Koh sah wohl, was Nimba und Hal bedrückte. Er drückte ihnen die Gewehre in die Hand und sagte freundlich: »Der Rio Cascable sieht nicht sehr verlockend aus, aber denkt daran, daß er als klares Wasser aus den Bergen entsprungen ist. Verschließt euch gegen die Stimmung der Landschaft. Man muß das, was feindselig ist, aus sich herausstellen, nur dann kann man dagegen kämpfen.« Die beiden nickten und warfen die Gewehre über die Schultern. »Machen wir, Sir«, antwortete Hal mit frischen Augen. Das Boot ging zu Wasser. Die Blechkanister mit 38
Trinkwasser, die Decken, Beile und all die Dinge, die zur Ausrüstung gehörten, wurden im Boot verstaut. Fertig zur Abfahrt. Gonjas schüttelte jedem einzelnen die Hand. »Macht’s gut«, knurrte er. »Ihr seid verrückt, euch den Rio Cascable auszusuchen, aber es muß wohl solche Verrückte geben, wenn die Welt weiterkommen will.« 3. Rio Cascable – Fluß der Hornklapperschlange. Ein schmaler, vielfach gewundener Schnitt von kaum fünfzig Meter Breite, der sich zwischen einem hochrückigen Ausläufer der Anden und der Lagune von Maracaibo durch die unendliche Selva, durch den undurchdringlichen, verfilzten Urwald der Niederung zieht, ist der Rio Cascable. Die Karte zeigte nicht mehr als seinen mutmaßlichen Lauf, denn noch wurde der Fluß nicht erforscht und vermessen. Die Weißen, die ihn auf der Suche nach Abenteuern und nach Öl aufwärts fuhren, kamen nicht zurück. Rio Cascable. Schon den dritten Tag arbeitete sich das schwerfällige Boot unter den steten Paddelschlägen schwitzender Männer flußaufwärts. Die Strömung war nicht stark, aber das manchmal lehmgelbe, manch39
mal grünschwarze Wasser glich einer dicken Brühe, die sich nur widerwillig teilen wollte. Nimba und Donald Covington waren an den Paddeln. Gleichmäßig spannten sich ihre Körper, die Muskeln wölbten sich unter dem schweißnassen, klebenden Hemd, leise schwappend tauchten die Paddel aus dem Wasser wieder hoch und griffen nach vorn, während die Tropfen in einschläferndem Rhythmus vom Holz ins Wasser fielen. Die Gesichter der beiden glühten rot und glänzten vom Schweiß, der salzig brennend am Gesicht herunterlief und sich in den Mundwinkeln sammelte. Es waren weniger die Last und die Anstrengung, die die beiden Männer mit jedem Atemzug leise keuchen ließen. Die Hitze war es vor allem, diese mörderische, feuchte Hitze, die den Schweiß aus allen Poren trieb, die Muskeln schlaff und weich machte, die Lunge zum quälenden Pressen zwang und um die Stirn harte, drückende Reifen legte. Dabei war die Sonne nicht zu sehen. Sie stand nur als verschwommene weißliche Scheibe hinter unendlichen Massen von Wasserdampf über den Köpfen. Sun Koh und Hal hatten eine Viertelstunde zuvor die Paddel abgegeben. Hal hockte hinten. Das Gewehr stand zwischen seinen Füßen, die Augen starrten nach dem grünen Gewirr der Uferwände. Aber sie starrten ins Leere, und die Schultern Hals hingen müde nach vorn. Es war schwer, den Kopf oben zu 40
behalten, wenn man erschöpft vom Paddeln und erdrosselt von der Treibhausglut nichts anderes wünschte, als sich schlaff auszustrecken. Sun Koh kniete vorn. Das Gewehr lag im Anschlag, die Augen spähten unablässig an den Ufern entlang. Die Anstrengung des Paddelns war bereits von ihm abgefallen. Er sah kaum anders aus als vor zwei Tagen, Licht und einen Hauch von Kühle um sich verbreitend, höchstens etwas schärfer und gesammelter im Ausdruck. Seine Wachsamkeit entschied. Noch immer hatten sich die Chaparros nicht gezeigt, die dieses Flußgebiet beherrschten und bisher gegen Weiße abgeschlossen hatten. Jede Stunde, jede Minute konnte einen Überfall bringen. Es ließ sich nicht erraten, was im Urwald vorging. Man würde die Indianer erst in der letzten Sekunde bemerken. Langsam schob sich das Boot vorwärts. Der Strom veränderte sich kaum, aber die Kulissen des Ufers wechselten immer einmal. Die Zone der Mangrovensümpfe mit ihrem phantastischen, spukhaften Gewirr von Luftwurzeln, mit ihren Scharen träge blinzelnder Kaimans und Millionenschwärmen von Mücken lag weit zurück. Der Boden war fester geworden, das Land lag etwas höher. Zeitweise schob sich sogar ein Stück festes Ufer aus dem Wald heraus und bis an das Wasser heran. Aber das geschah nur ganz selten. Fast immer wurde die Grenze des Wassers durch die 41
grüne, undurchdringliche Wand des Urwaldes gebildet. Süßlicher Duft drang aus dem Wald herüber. Die Luft roch nach faulendem Wasser, nach Moder und dumpfer Erde. Zeitweise trug sie den betäubenden Hauch giftiger Orchideen. Allmählich wich der Wald zurück. Schilfdickichte und weite Felder von starrem Bambus lösten ihn ab, über die graue Reiher strichen. Auf sanft verlaufenden, halb überspülten Schlammbänken lauerten Alligatoren, kaum unterscheidbar von den halb vermoderten Baumstämmen, die der Fluß hier abgesetzt hatte. Ein Rudel schwarzer, struppiger Wildschweine wühlte zwischen Schilf und Wasser, ein Stück weiter fiel ein Schwarm wilder Enten ein. Der Wald kam wieder heran. Von neuem schlossen die hohen Schluchtwände des Urwalds den Fluß ein, gegen den schweißüberströmte, keuchende Männer das Boot trieben. »Verdammter Fluß!« schrie Covington plötzlich auf und knallte das Paddel ins Boot, daß es fast zerbrach. »Das ist ja zum Verrücktwerden!« Sun Koh wandte sich um. Das rotglühende Gesicht Covingtons wirkte dunstig, seine Augen flackerten. »Ruhe, Covington«, mahnte er mit sanfter Eindringlichkeit. »Die Hitze nimmt Sie mit. Kommen Sie vor, wir wollen ablösen.« Aber Covington hatte kein Ohr für den Vorschlag. 42
»Ablösen?« fauchte er gereizt. »Wollen Sie damit sagen, daß ich schlapp bin? Wollen Sie sich etwa als der Stärkere aufspielen?« Nimba legte das Paddel ebenfalls in das Boot und schlug seine Große Hand um Covingtons Nacken, so daß der Oberkörper des ehemaligen Drillers nach vorn schlug. »Ruhe, Bursche«, grollte er. »Das ist ein Anfall von Koller, Herr. Wird gleich vorüber sein.« Covington fluchte lästerlich, wurde aber bald ruhig. Nimba ließ ihn los. Während er sich aufrichtete, trat Sun Koh heran, um das Paddel zu übernehmen. Endlich kam die Nacht. Die graue Decke über den Köpfen wich allmählich. Der Himmel färbte sich dunkel und blau, flimmernd brachen die ersten Sterne durch, Vorläufer der Myriaden, die wenig später als funkelndes, kaltes Geschmeide den Ausschnitt des Flusses mit schwachem Licht übersprühten. Der kleine Anker wurde mit dem Ballastsack ausgeworfen. Das Boot trieb ein Stück zurück, dann straffte sich das Tau und das Boot lag fest in der Strommitte. Die Nachtruhe begann. Geröstetes Fleisch, Bratbananen, Konserven, Zwieback und ein Stück Traubenzucker sowie ein Schluck Wasser bildeten das Abendbrot der vier, das sich von den anderen Mahlzeiten in nichts unterschied. Ein dürftiges Gespräch über Vergangenes und Zukünftiges, dann übernahm einer der Männer die Wache, während sich 43
die anderen drei ausstreckten, so gut es ging, um in den unruhigen Schlaf der Erschöpfung und der gefahrumspülten Nerven zu sinken. * Als sich die violetten Fieberschleier aus dem Wald heraus über das Wasser schoben, als fahlhell der neue Tag aufzuckte, wurde die Fahrt fortgesetzt. Der vierte Tag. »Vielleicht kommen wir heute oder morgen zum Ziel«, sagte Sun Koh, als die ersten Tropfen von den Paddeln rannen. »Wir haben zwar große Bogen nach Süden und Norden fahren müssen, aber nach meiner Schätzung dürften wir die größere Hälfte unseres Weges hinter uns haben.« Seine Begleiter nickten nur. Sie wußten es so gut wie Sun Koh, daß es nicht mehr als eine Hoffnung war. Die Entfernung ließ sich fast ebenso schlecht schätzen wie die Geschwindigkeit. Vielleicht hatte man schon zwei Drittel des Weges geschafft, vielleicht aber auch nur ein Drittel. Die großen Windungen, die in mühsamen Stunden ausgefahren werden mußten, machten eine sichere Schätzung fast unmöglich. »Achtung!« rief Sun Koh, der zusammen mit Hal die Paddel führte. Nimba riß vorn das Gewehr hoch und schoß in das 44
grüne Dickicht hinein. Da schnellten auch schon ein Dutzend und mehr dünne, buntgefiederte Pfeile über den Fluß. Die meisten fielen ins Wasser, zwei schlugen ins Boot, einer blieb leicht zitternd dicht neben der Hand Sun Kohs auf dem Griff des Paddels stekken. Covington schoß ebenfalls. »Halt das Boot in der Mitte«, sagte Sun Koh zu Hal und griff zum Gewehr. Wieder zischten Pfeile. Die Indianer schossen gut, jeder Augenblick konnte Treffer bringen. Die drei Männer feuerten in schneller Folge in das Dickicht hinein. Von dem Gegner war kaum etwas zu sehen, die grüne Wand verbarg zu gut. Wenn trotzdem zwei gellende Aufschreie kurz hintereinander Treffer meldeten, so war das mehr, als man den Umständen nach erwarten durfte. Das lebhafte Gegenfeuer half. Weitere Pfeile blieben aus. Sun Koh griff wieder zum Paddel. Nimba, der außer ihm noch über die meisten Kräfte verfügte, mußte Hals Stelle einnehmen. Es war besser, so schnell wie möglich hier fortzukommen. Der Fluß erweiterte sich wieder, ohne seine frühere Breite zu gewinnen. Die natürliche Verengung bei Annäherung an den Oberlauf machte sich nun doch bemerkbar. Während einer Ruhepause untersuchten die Männer die Pfeile, die in das Boot gelangt waren. 45
»Vergiftet«, murmelte Covington und wies auf einen schwärzlichen Überzug an der Pfeilspitze. »Curare oder solches Zeug. Ein Hautritzer genügt.« »Wir müssen versuchen, ihnen einen nachhaltigen Schreck einzujagen«, erwog Sun Koh. »Jetzt waren sie durch den Wald offenbar stark im Zielen behindert, sonst hätten sie wohl besser getroffen. Es kann leicht sein, daß sie uns zukünftig von günstigeren Standpunkten aus belästigen.« »Wollen Sie etwa gegen die Chaparros oder die Motilones angehen?« erkundigte sich Covington. Sun Koh nickte. »Man muß ihnen zeigen, daß sie dicht am Ufer nicht sicher genug sind. Wenn ein neuer Überfall erfolgt, dann halten die beiden, die gerade am Paddeln sind, schnellstens auf das Ufer zu, damit wir die Indianer nachdrücklich zur Flucht zwingen können. Verstanden?« Die Männer nickten. »Ja«, fragte Hal, »wie heißen sie denn nun eigentlich? Sind es Chaparros oder Motilones?« »Beides«, gab Covington Auskunft, »wenn es nicht zufällig ein anderer Stamm ist, den man überhaupt noch nicht kennt. Indios Motilones ist der Sammelname für alle Indianer um die Lagune herum. Sie unterscheiden sich nach zwei großen Gruppen, den Mapes und Chahes, diese wieder zerfallen in einzelne Stämme, die sich untereinander bekämpfen. 46
Da sind die Tucucos, die Irapes, die Pariries, die Chaparros und was weiß ich. Einige Dutzend verschiedener Stämme wird es schon geben.« »Und wir haben es mit den Chaparros zu tun?« »Wahrscheinlich. Und wenn es ein anderer Stamm ist, so macht es für uns nichts aus. Darin sind sich die Indios nämlich alle gleich, daß sie die Weißen bekämpfen und töten, wo sie diese treffen können. Sie haben mächtig schlechte Erfahrungen gemacht.« »Kein Grund, uns dafür büßen zu lassen«, brummte Nimba. »Fahren wir weiter«, ordnete Sun Koh an. Die Paddel tauchten ein, das Boot trieb vorwärts. Nach einer Stunde erfolgte der zweite Angriff. Er kam aber anders, als die Männer erwartet hatten. Dicht hinter einer Biegung spannte sich eine Hängebrücke über den Fluß. Drei Lianenseile gingen in tiefem Bogen von Baum zu Baum. Dünnes Fasergespinst verband dürftig das tieferhängende Fußseil mit den Handseilen. So luftig und schwankend erschien dieses Bauwerk, daß man ihm kaum zutraute, einen Menschen tragen zu können. Und man mußte wohl ein Indio sein, um seinen Fuß auf das Seil setzen zu können, ohne abzustürzen. Den Männern blieb zu Betrachtungen nicht viel Zeit. Die Brücke war besetzt. Auf jeder Seite stand dort, wo sich die Hängebrücke vom Wald löste, rund ein Dutzend Indianer. Sie standen dicht nebeneinan47
der, einen Fuß auf dem Tragseil, den anderen im Bindewerk eingestemmt, den Bogen zum Schuß gespannt. Sun Koh, der vorn an der Spitze stand, bemerkte sie als erster. »Achtung!« gab er gedämpft zurück. »Nimba, das Paddel an Hal. Ihr beiden an die Gewehre. Hal, das Boot mit scharfen Schlägen im Zickzack über die Mitte treiben. Vorn …« Der Rest seiner Worte ging in ohrenzerreißendem Geheul, einer Art Kampfruf der Chaparros, unter. Es erschallte nicht nur von vorn, von der Brücke aus, sondern klang auch hinter dem Boot von zwei Uferstellen rechts und links auf, die fünfzig Meter zurücklagen. Ein Hagel von Pfeilen stiebte durch die Luft. Aber Hal drückte mit seinem ersten Paddelschlag das Boot gerade scharf nach rechts, so daß die Pfeile ausnahmslos links in das Wasser fuhren. Und dann ratterten die Gewehre der drei Männer. Covington schoß nicht schlecht. Nimba schoß gut und Sun Koh hätte es mit einem Kunstschützen aufnehmen können. Und die Ziele standen frei sichtbar. Die Wirkung war vernichtend. Ein stählerner Besen fegte über die Brücke. In Sekunden war sie frei, bevor noch die Indianer dazu kamen, zum zweitenmal die Bogen zu spannen. Sun Koh wandte sich um. 48
»An die Paddel«, sagte er zu Nimba und Covington. »Vorwärts!« »Wollen wir nicht umkehren und die anderen …«, setzte Nimba an. »Nein«, unterbrach Sun Koh schroff. »Das hier war unvermeidlich, aber es wird genügen, um die anderen abzuschrecken. Voran!« Kurz darauf griffen die Paddel wieder gleichmäßig durch das Wasser. Die Hängebrücke blieb zurück. Von der zweiten Gruppe der Indianer war nichts mehr zu bemerken. »Und doch haben wir weiter nichts als Glück gehabt«, bemerkte Covington später. »Wenn Hal zufällig das Boot nach links gedrückt hätte, wären wir aus dem Pfeilhagel nicht herausgekommen. Glück muß man eben haben.« »Glück!« Hal schnaufte verächtlich. »Manchem tut der Mund weh, wenn er mal was anerkennen soll. Ich hatte eben die Lage rechtzeitig durchschaut.« »Mit den Hühneraugen vielleicht«, knurrte Nimba. »Wenn du so ein Lagendurchschauer bist, hättest du die Wasserbehälter festgebunden, bevor sie hinausfielen.« Sie schwiegen. Die Bemerkung hatte die größte Not fast übermächtig zu Bewußtsein kommen lassen. Wasser! Was bedeuteten diese Indianer, die man mit den Gewehren verjagen konnte, gegen den Durst, der in 49
jeder Fiber brannte? Seit gestern gab es Wasser nur noch schluckweise. Sie sahen es ein, daß es sein mußte, daß es nicht anders möglich war, aber was bedeutete ein Schluck für einen Körper, der nach Eimern lechzte? Die Sonne glühte so unbarmherzig wie alle Tage durch die weißen Dunstschleier hindurch, daß der Schweiß von dem Körper triefte, aber Wasser gab es nur schluckweise. Dabei hieß es paddeln, paddeln. Sun Koh prüfte die Ufer. »Der Boden ist noch höher geworden. Wir wollen versuchen, gegen Abend an Land zu kommen. Vielleicht können wir dann Wasser destillieren.« »Vielleicht entdecken wir eine Wasserliane«, meinte Hal. Seine Hoffnung erfüllte sich jedoch nicht. Nirgends war einer dieser Stränge zu sehen, die natürliche Wasserbehälter sind und dem verschmachtenden Selvasfahrer köstliche, wassergleiche Flüssigkeit in reichen Mengen bieten. Dafür fand man jedoch festes Land, rötlichen, schweren Boden, der das Ufer bildete. Er war mit verfilzten! Gestrüpp bedeckt, doch das machte nichts aus. Man konnte es beseitigen. »Vorsicht!« mahnte Covington, als Hal sich unbedenklich vordrängte. Da schlenkerte dieser auch schon seine Hand und wischte einen Haufen von winzigem Ungeziefer, das 50
sich auf seinem Handrücken niedergelassen hatte, herunter. Es handelte sich um eine Art Zecken. Man sah sie kaum, aber sie bohrten sich blitzschnell und unter lebhaftem Jucken in die Haut ein. »Schlange?« Sun Koh fuhr herum. »Juckpulver!« erwiderte der zurückspringende Hal. »Sie hätten auch vorher warnen können, Covington. Das Zeug brennt wie der Teufel.« »Herzeigen«, befahl Covington. »Ich dachte mehr an Schlangen. Das sind harmlose Zecken. Halt still, da haben sich schon ein paar eingebohrt!« Hal hielt still. Er fand jedoch, daß es schönere Vergnügen gab, als sich mit einer Stecknadel einige schwarze Punkte aus der Haut polken zu lassen. Minuten später machte Sun Koh eine hastige Bewegung. Ein Schuß krachte. Covington fuhr nachträglich zurück. Dicht vor ihm lag eine kleine schwärzliche Schlange mit zerschmettertem Kopf. »Danke«, murmelte Covington, nachdem er sich die Schlange angesehen hatte. »Eine der giftigsten Vipern.« Sie arbeiteten mit doppelter Vorsicht weiter, aber außer einem giftigen Hundertfüßler trafen sie auf kein gefährliches Getier mehr. Mit den Haumessern und mit Feuer schafften sie sich bis zur Baumgrenze hin einen offenen, sauberen Platz, auf dem man es wagen konnte, sich für die Nacht niederzulassen. Nach vier Tagen Bootsfahrt war das schon eine 51
ungewohnte Köstlichkeit. Dazu kam warmes Essen und vor allem eine gründliche Lösung des Durstes. Mit Hilfe von zwei Kanistern und einem Bambusrohr wurde eine einfache Destillationsanlage gebaut. Der eine Kanister wurde mit Flußwasser aufs Feuer gesetzt. Das verdampfte Wasser gelangte durch mehrere Rohrstücke in den anderen Kanister und schlug sich dort nieder. Groß war die Ausbeute nicht und fade genug schmeckte dieses Wasser, aber der Erfolg stundenlanger Bemühungen bestand doch wenigstens darin, daß sich jeder einmal leidlich satt getrunken hatte. Die Nacht war für den, der gerade wachen mußte, nicht leicht, aber sie verlief ohne ernstliche Störung. Die Fahrt ging weiter. Der fünfte Tag quälte sich vorwärts. Der Fluß war zwar enger geworden, sein Wasser hatte an Klarheit und Frische etwas gewonnen, aber bis zu den Bergen schien es noch weit zu sein. 4. Als die Sonne hochkam, arbeitete sich das Boot wieder auf dem Rio Cascable aufwärts. Die Gegenströmung war etwas fühlbarer, aber die Luft auch kühler als sonst, so daß die Männer trotz des fehlenden Schlafes gut vorankamen. Sun Koh machte zuerst auf die vereinzelten Schaumbrocken aufmerksam, die auf dem Fluß schwammen. 52
»Das läßt fast auf einen nahen Katarakt schließen«, sagte er. »Das Wasser ist übrigens auch bedeutend klarer geworden.« Minuten später schon fingen die Ohren ein unbestimmtes, fernes Brausen. Allmählich verstärkte es sich, schwoll über alle anderen Geräusche hinweg und wurde zum murrenden Dröhnen, als das Boot in eine lange, gerade Strecke einbog. Am Ende der geraden Strecke wirbelte und schäumte es weiß in ansteigender Bahn. Die Männer wechselten die Plätze. Sun Koh und Nimba nahmen die Mitte, Covington setzte sich paddelbewehrt ans Ende, Hal mußte nach vorn. Schon war das Wasser ringsum mit Schaumfetzen bedeckt. Das Boot tänzelte auf den aufgeregten, wirbelnden Wogen. Voraus drohte die lange Stromschnelle mit spitzstarrenden, dunklen Felsen, zwischen denen sich das Wasser brausend hindurchdrängte. Wolken von zerstiebtem Wasser lagen dicht über der Schnelle, in die die Sonne bunte Regenbogenfarben hineinzauberte. Mit kraftvollen Armen drückten die Männer das Boot in die beachtliche Strömung hinein. Ihre Gesichter zeigten heitere Zuversicht. Diese Schnelle kündete ja nichts anderes, als daß die flache Fieberebene vorüber war, daß sie sich den Bergen und damit ihrem Ziel näherten. Die Gesichter wurden bald ernst und verbissen. 53
Die Strömung holte alle Kraft nun heraus, und die spitzen Felsen, die beim Anprall unweigerlich das Boot aufgeschlitzt hätten, erforderten schärfste Aufmerksamkeit. Covingtons verzweifelter Paddeldruck rettete wiederholt in letzter Sekunde. Minutenlang schien das Boot inmitten der Strömung stillzustehen, aber dann siegte doch die Kraft der beiden Männer. Das Boot glitt weiter. An Ruhe und Entspannung war freilich nicht zu denken. Im Wasser lagen Felsblöcke und Riffe, denen man ausweichen mußte. Eine Gegenströmung faßte das Boot und trug es rasch flußaufwärts, dann prallte die Hauptströmung auf, warf einen Wasserschwall in das Boot und drehte es halb herum. Erst danach konnten die Arme für eine Weile rasten. Aber nicht lange. Wenige hundert Meter weiter folgte eine zweite Stromschnelle. Mühsam wurde sie überwunden. Das Boot war im Verhältnis zu breit und zu schwer. Es erforderte sehr viel Kraft, um es gegen eine derartige Schnelle stromaufwärts zu bringen. Auch die zweite Stromschnelle wurde geschafft. Die Landschaft hatte sich nun bereits bedeutend verändert, vor allem hatte der Uferwald viel von seiner filzigen, schwammig wuchernden Undurchdringlichkeit verloren. Die Luft war weniger feucht, klarer und frischer. Der zweiten Stromschnelle folgte in geringem Ab54
stand ein regelrechter Wasserfall von annähernd zwanzig Meter Höhe. Da half auch Kraft und Zähigkeit nichts mehr. Der Fall mußte umgangen werden. Dicht am Ufer entlang zwangen die Männer das Boot durch die schäumenden Wirbel bis fast an den Absturz heran, dann zogen sie es mit vereinten Kräften auf eine Landzunge hinauf. Nimba und Hal blieben als Wache beim Boot. Sun Koh und Covington beluden sich und suchten den Weg aufwärts. Der Wald war erfreulich licht, so daß man einen heimtückischen Überfall nicht zu fürchten brauchte. Die schweren Haumesser brauchten auch nicht oft in Tätigkeit gesetzt zu werden, um einen Weg für den Transport des Bootes zu schaffen. Sun Koh und Covington drangen bis zu einer Stelle oberhalb des Wasserfalles vor, legten dort ihre Lasten ab und kehrten zurück. Dann nahmen die drei Männer das Boot auf die Schultern und schleppten es fort. Es war kein leichtes Stück, sich mit dem Boot zwischen den Stämmen hindurch den Steilhang aufwärts zu arbeiten. Sun Koh legte eine längere Ruhepause ein, als das Boot wieder am Wasser angelangt war. Das klare Wasser lockte. Es war etwas Köstliches, den Körper zu baden und all den Schweiß und Schmutz der letzten Tage herunterzuwaschen. Weiter ging’s. Der Fluß schien nur noch aus Stromschnellen zu bestehen. Drei Stück noch schaff55
ten die vier, dann war der Tag vorüber. Der Kampf gegen die Schnellen fraß die Zeit. Dabei kam aus der Ferne schon wieder das leise Dröhnen eines neuen Falls. Covington fing mit viel Geschick Fische, die unbeweglich in der Strömung standen. Die Abendmahlzeit geriet sehr üppig. Und in der Nacht holte jeder nach, was er an Schlaf versäumt hatte. Frisch und ausgeruht begannen sie die Weiterfahrt. Das war gut, denn der Fluß hatte jetzt ständig merkbares Gefälle und brachte sehr bald die erste Stromschnelle, der fast ohne Abstand eine zweite folgte. Dann tauchte, ebenfalls wieder nur in geringem Abstand, ein Wasserfall auf. »Na, gute Nacht«, murmelte Hal unwillkürlich, als die Sicht auf diesen Wasserfall frei wurde. Die Männer an den Paddeln hielten staunend an. Vor ihnen stieg unvermittelt das Gebirge in einer Stufe von mindestens fünfhundert Meter auf, und zwar in zwei fast gleich hohen Absätzen. Über der obersten Stufe wurden weiter zurückliegende Felspartien sichtbar. In der oberen Stufe befand sich eine tiefe Kerbe, die die Wand bis zur halben Höhe spaltete. Aus dieser Kerbe heraus schoß das weißstrudelnde Band des Flusses. Frei stürzten die Wasser in die Tiefe, zerstiebten zu sprühenden Wolken und donnerten dann in herrlichem, schmalem Fall in einen tiefen Kessel 56
hinein, der einige hundert Meter vor dem Boot lag. Minutenlang verharrten die Männer in bewunderndem Genießen. »Großartig«, sagte Covington endlich, »aber …« »Etwas hoch für unsere Waschwanne«, fiel Hal ein. »Wir müssen sie aufgeben«, sagte Sun Koh. »Es wäre sinnlos, sie über diese Höhe bringen zu wollen.« »Viel werden wir ohnehin nicht mehr zum Fahren kommen.« »Aber später, wenn wir wieder fort wollen?« »Dann wird sich ein Weg finden. Wir müssen das Boot jetzt aufgeben.« Sie zogen das Boot ans Ufer. Waffen, Macheten, etwas Mundvorrat und sonstige Kleinigkeiten nahmen sie an sich, alles andere überließen sie denen, die es finden würden. Der Aufstieg ins Gebirge begann. Es war nicht möglich, einfach in der Nähe des Wasserfalls zu bleiben. Die oft senkrecht ansteigenden, pflanzenlosen Wände zwangen zu immer weiteren Umwegen. Das Donnern des Falles blieb jedoch stets in den Ohren. Aus der Ferne hatte das Gebirge wie eine geschlossene Wand gewirkt. Das war eine Augentäuschung gewesen. Je höher sie kamen und je weiter sie vordrangen, um so stärker gliederten sich die 57
Massen. Die scheinbar glatte Front löste sich zu seitlich in das Massiv hineinführenden Kämmen auf, die auf den Hauptzug des Gebirges stießen. Sun Koh versuchte immer wieder, an den Fluß heranzukommen. Wenn auch die Angabe, wonach Miceros Besitzung am Rio Cascable liegen sollte, viel Spielraum ließ, so blieb doch der Fluß einstweilen der einzige Anhalt. An ihm entlang mußte man zuerst suchen. Es war nicht leicht, wieder an den Fluß heranzukommen. Alle natürlichen Wege, Schluchten und Hanglinien führten von ihm weg oder wahrten wenigstens die Entfernung. Erst nach Stunden und nach mancher Enttäuschung wurde die überraschende Form dieses Gebirgsteils richtig klar. Die Felswände, aus denen der Wasserfall herausstürzte, schwangen im sanften Winkel zurück auf das Massiv. Wenn man zum Fluß kommen wollte, durfte man nicht den Tälern und Schluchten folgen, sondern mußte sie queren und wohl oder übel die ansteigende Wand direkt in Angriff nehmen. Covington seufzte, als Sun Koh das seinen Begleitern eröffnete. Ihm machte die Bewegung in bergigem Gelände den geringsten Spaß. Auf halber Höhe legte Sun Koh an einer günstigen Stelle abermals eine Rast ein und übernahm bei dieser Gelegenheit Gewehr, Machete und das Bündel, das Covington auf dem Rücken trug. 58
Sie setzten ihren Weg fort. Sun Koh führte. Er prüfte die Wand durch und suchte die besten Möglichkeiten zum Aufstieg. Hal folgte dicht hinter ihm. Als dritter kam Covington. Nimba hielt sich unmittelbar hinter ihm. Sun Koh hatte ihm einen Blick zugeworfen. Nimba wußte, daß er zuzugreifen hatte, falls Covington fehltreten würde. Aber es ging alles gut, trotz der stechenden Hitze, trotz der manchmal abrollenden Steine, trotz der gelegentlichen scharfen Windstöße. Einer nach dem anderen schwang sich auf den breiten Grat der Kette hinauf. Die vier blickten nicht nach der Ebene, die tief unten sich unter Dunstschleiern in der Ferne verlor, sie blickten voraus, in das ovale Tal hinein, das sich hundert Meter und tiefer vor ihnen ausstreckte. Es war ein Hochtal, das von den beiden zurückschwingenden Felskämmen eingefaßt wurde. Ziemlich spitz setzte es dort an, wo der Fluß durch den Felsen hindurchbrach, um dann als Wasserfall in die Tiefe zu stürzen. Von der Spitze aus weitete es sich, den einfassenden Felsen folgend, wurde immer breiter und verlor sich in der Ferne, wo es anscheinend durch aufstrebende Felswände einen Abschluß fand. Der Boden war mit saftig grünem Gras bedeckt, stellenweise aber auch mit Büschen und Baumgruppen, im Hintergrund sogar mit einem regelrechten Hain. Fast genau durch die Mitte schlängelte sich hell der Fluß. 59
Ungemein friedlich und anziehend war das Bild dieses Hochtales. Kein Wunder, daß Hal die Redensart von dem Ort, wo man Hütten bauen solle, mißbrauchte und daß Covington erklärte, auch ohne Rast gleich absteigen zu können. Auch Nimba fühlte sich stark hinuntergezogen. Sun Koh hielt die Augen beschattet und suchte sorgfältig das Tal ab. Seine scharfen Augen entdeckten manches, was denen seiner Begleiter entging. »Ich glaube, wird sind am Ziel«, sagte er endlich leise. »Dort hinter jenem Wald, wo die Felswand in das Tal vorspringt, dürften Häuser stehen.« Nimba, Hal und Covington starrten in die gewiesene Richtung. »Nichts zu sehen«, meldeten alle drei enttäuscht. »Das Haus ist allerdings nicht zu sehen«, sagte Sun Koh. »Haltet euch weiter links an den Fluß.« »Hm«, murmelte Nimba, »recht komische Form dort. Das sieht bald aus wie ein Schwimmbad mit Sprungturm.« »Eben«, sagte Sun Koh. »Und was sich dort bewegt, dürften Menschen in hellen Sachen sein.« »Tatsächlich!« stieß Hal heraus. »Donnerwetter, dann hätten wir es doch geschafft! Aber – wenn die uns hier oben sehen?« Sun Koh schlug ihm auf die Schulter. »Wir werden uns bestimmt gut abheben.« Sie stiegen ab, trotz aller Erregung und Erwartung 60
sehr vorsichtig. Die Höhe war nicht beträchtlich, aber die Wand hatte es in sich. Endlich standen sie unten im kniehohen, saftigen Gras. Die Luft war ungewöhnlich mild hier unten, dabei wundervoll würzig. Es war schwer, sich noch der fieberdampfenden Selva zu entsinnen. Der Tag war zu Ende. Während sie zum Fluß vordrangen, senkte sich die Nacht. Der anstrengende Tag wirkte sich aus. Nachdem der Durst gelöscht und der Hunger notdürftig gestillt worden war, streckten sich die Begleiter Sun Kohs schleunigst zum Schlafen aus. Sun Koh kam nicht zur Ruhe. Als sich Nimba nach Stunden erhob und seine Wache übernahm, verständigte Sun Koh ihn kurz und machte sich auf den Weg, um sich noch in dieser Nacht Aufschlüsse zu holen. Er hielt sich an den Fluß, der jetzt nur wenige Meter breit war und durch seine kristallene Durchsichtigkeit und schnelle Strömung die nahe Quelle verriet. Es war sehr still in dem weiten Tal. Gelegentlich schreckte ein Wild auf, einmal torkelte auch ein Schwarm schwerer Bodenvögel ein Stück weg, aber sonst beherrschte das murmelnde Gurgeln des Wassers die Nacht. Die Luft war weich und würzig, von angenehmer Kühle. Der Himmel spannte sich als schwarzsamtene Wölbung über das Tal, Abertausende von Sternen funkelten. 61
Durch das kniehohe Gras liefen dann und wann schmale Bahnen zum Fluß hin. Es ließ sich jetzt nicht feststellen, ob es Spuren von Tieren oder Menschen waren. Sun Koh erreichte ein kleines Gehölz, das sich im Halbkreis an den Fluß legte. Zwischen den Bäumen standen Buschgruppen. Die ganze Anlage wirkte wie von Menschenhand geschaffen. Natürlich. Die Bäume umschlossen ein offenes Halbrund. Darauf stand eine Bank. Langsamer und vorsichtiger ging Sun Koh vorwärts. Von Menschen war weder etwas zu sehen noch zu hören, aber dort begann schon das Waldstück, hinter dem menschliche Wohnstätten zu vermuten waren. Er verließ den Fluß, durchquerte das Gras und ging dann am Rand des Waldes weiter. Dieser Wald hatte jedoch mit dem Urwald der Selva nichts mehr gemein. Es war ein lichter Mischwald, wie er in den gemäßigten Breiten zu finden ist. Der Waldrand bog um. Der Blick auf die andere Seite dieser Talhälfte wurde frei. Sun Koh blieb stehen und sah sich die zauberhafte Landschaft an. Die schwarze Felswand schwang sich, nachdem sie das Tal eben scharf eingeschnürt hatte, in einem tiefen Bogen zurück, um später wieder etwas vorzutreten. In dieser Ausbuchtung stand, einige hundert 62
Meter von Sun Koh entfernt, ein sehr breit gelagertes, höchstens zweistöckiges Haus. Die Umrisse waren kaum zu ahnen, aber im unteren Stock waren nicht weniger als vierzehn breite, dicht nebeneinanderliegende Fenster, hell erleuchtet und bildeten eine festliche Front. Rechts und links davon glaubte Sun Koh einige Nebengebäude zu erkennen. Das Haus stand auf einer Terrasse. Unterhalb davon brannten – offenbar zwischen vereinzelten Räumen aufgehängt – buntfarbige Lampions, einige Dutzend mildglühende Kugeln in roten, blauen und gelben Farben. Einschmeichelnde Musik drang durch die stille Nacht, hell klang ein fröhliches Lachen hinein. Märchenhaft! Und um so märchenhafter, als man sich in einem Hochtal befand, das ringsum durch undurchdringliche Wildnis von aller zivilisierten Welt abgeschlossen wurde. Lange betrachtete Sun Koh dieses zauberische Bild. Doch dann riß er sich zusammen und ging weiter. Micero feierte Feste. Gefahren befürchtete man sicher nicht. Nirgends standen Wächter, nirgends befanden sich Schutzvorrichtungen irgendwelcher Art. Der Wald lichtete sich immer stärker zu einem Park mit geschorenen Rasenflächen und Steingruppen. Ein Tennisplatz mußte umgangen werden. Blumenbeete dufteten. Sun Koh blieb an einem Baum stehen, an dem ihn 63
das Licht noch nicht traf, während er den lampiongeschmückten Garten und die Hausfront übersehen konnte. Die Musik aus dem Lautsprecher schmolz weich in die Nacht hinaus. Durch die offenen Fenster eines Seitenflügels drang das Klappern von Geschirr. Dort befand sich eine Küche. Er konnte einen Streifen davon einsehen. Rechts davon lag ein dunkles, niedriges Gebäude, losgelöst vom Hauptbau. Ein Schuppen oder ähnliches. Er achtete nur flüchtig darauf. Sein Hauptaugenmerk galt den erleuchteten Fenstern, der Terrasse und dem Garten. Die Fenster verrieten eine lange Flucht prächtig ausgestatteter Wohn- und Gesellschaftsräume in einem neuzeitlichen, sachlichen, aber sehr geschmackvollen Stil. Langgestreckte, niedrige Schränke aus Edelhölzern, Vitrinen mit kostbarem Porzellan, seidenbespannte Wände, wuchtige Zierkamine, tiefe Sessel, Wandplastiken und exotische Zimmergärten gaben diesen Räumen ein ungemein luxuriöses Gepräge. Die Bewohner des Hauses befanden sich im Freien. Einige wandelten über die Terrasse und hoben sich nur dunkel gegen die helle Fensterfront ab. Die meisten gruppierten sich zwanglos um einen großen Tisch, der unter den Lampions stand. Sun Koh zählte insgesamt fünfzehn Personen, sieben Männer und acht Frauen. Die Unterhaltung hielt eine neckische, beschwingte Linie ohne Tiefen und 64
Bedeutung, wie sie sorglosen, vergnügten Menschen entspricht. Zu dieser ersten Feststellung kam die zweite, daß sich Micero nicht unter den fünfzehn Menschen befand. Als sich die Gesellschaft erhob und plaudernd und scherzend durch die großen Glastüren in das Haus hineinging, als die Lichter verloschen und andere im oberen Stockwerk aufflammten, wandte sich Sun Koh ab und ging gedankenverloren den Weg zurück, den er gekommen war. Nimba seufzte erleichtert, als er Sun Koh vor sich sah. Er stellte eine Frage, aber Sun Koh schüttelte den Kopf und erwiderte: »Frage nichts, Nimba. Ich muß noch über manches Klarheit gewinnen. Leg dich schlafen.« »Covington ist an der Wache. Soll ich ihn wekken?« »Nein, ich will selbst wachen. Wir brauchen auch um unsere Sicherheit nicht besorgt zu sein.« Nimba blickte ihn an, schwieg aber und legte sich nieder. Sun Koh durchwachte die Nacht. Hell und strahlend kam der neue Tag. Hal und Covington ahnten nichts von dem nächtlichen Ausflug Sun Kohs, und Nimba schwieg sich aus. So wurden keine Fragen gestellt. Hal meinte nur vorwurfsvoll: »Sie haben mich nicht geweckt, Sir. Sicher haben Sie die ganze Nacht nicht geschlafen und allein Wache 65
gehalten, um uns schlafen zu lassen. Man sieht es Ihnen an, daß Sie nicht ausgespannt haben.« Sun Koh lächelte flüchtig. »Manche Nächte sind doppelt lang, Hal«, sagte er, »aber…« Nimba griff hastig nach seinem Arm. »Sir, dort kommt jemand!« Sun Koh blickte flußaufwärts. Nimba hatte recht. In der Nähe des Flusses bewegten sich Reiter. Pferde und Reiter wurden schnell deutlich. Fünf Menschen waren es, zwei Männer und drei Frauen. Sie näherten sich in schnellem, jagendem Ritt. Ein Stück vor den anderen ritt… »Ursula!« schrie Covington auf. »Das ist doch Ursula!« Die vier blieben einfach stehen. Die Reiter näherten sich so schnell, daß es keinen Zweck hatte, davonzulaufen oder sich verstecken zu wollen. Ihre Entdeckung erfolgte prompt. Ursula Harling stutzte, wandte sich nach den anderen um und kam dann mit ihnen in langsamerem Tempo heran. Covington winkte ihr zu und rief sie an, aber ohne rechten Erfolg. Kurz vor Covington brachte sie ihr Pferd zum Stehen. Sie war hübsch, besonders jetzt, wo ihre sonnengebräunten Wangen glühten und in den Augen noch die Freude des wilden Ritts leuchtete. Covington stand unbeweglich. Kein Ton kam über seine festgeschlossenen Lippen. 66
Ursula Harling schien weder ihn noch die anderen zu kennen. »Hallo!« rief sie lachend und unbekümmert. »Das nenne ich eine Überraschung am frühen Morgen. Fremde in unserem Paradies! Wie sind Sie denn hereingekommen, und wer sind Sie?« »Ich bin Don, Donald Covington«, antwortete Covington verwirrt. »Covington?« wiederholte sie lächelnd. »Ein schöner Name, ich muß ihn schon einmal gehört haben.« »Gehört haben?« schrie Hal. »Er ist doch …« Zwingend und fest legte sich die Hand Sun Kohs auf seinen Mund. »Warum lassen Sie ihn nicht weitersprechen?« fragte Ursula Harling. »Und warum sind Sie alle so ernst?« Sun Koh wollte antworten, aber schon mischte sich einer der beiden Männer ein, freundlich, heiter und lächelnd. »Die Herren sind vielleicht über das Gebirge gekommen und werden anstrengende Tage hinter sich haben, Miss Ursula«, erklärte er. »Ich halte es für vordringlich, sie vor allem zum Haus zu führen und ihnen dort Gelegenheit zu geben, sich zu erholen. Unterhalten können wir uns später noch. Meine Herren, darf ich Sie bitten, uns zu folgen und unsere Gäste zu sein?« Sun Koh verneigte sich kurz. »Wir nehmen Ihre Gastfreundschaft mit Dank an.« 67
Die Reiter warfen die Pferde herum. Schweigend nahmen Sun Koh und seine Begleiter ihre Gewehre auf und schlossen sich an. Ursula Harling verhielt ihr Pferd genügend, so daß Covington an ihrer Seite bleiben konnte. Sie lächelte versonnen auf ihn herab, er blickte ernst und düster geradeaus. Sie blieben dicht beieinander, aber nie war die Kluft zwischen ihnen größer gewesen als jetzt. Covington hatte das junge Mädchen gefunden, und doch war sie weiter von ihm entfernt als in den Tagen, da noch der Urwald zwischen ihnen lag. 5. Covington stand unter der Wirkung eines Schocks. Dieses junge Mädchen, neben dem er schritt, war gegen ihren Willen verschleppt worden. Micero hatte sie in dieses einsame Hochtal gebracht. Er, Covington, hatte den Weg durch unerforschten Urwald nicht gescheut, um sie zu befreien, sie aus Not, Gefangenschaft und schmählicher Gefahr zu erretten. Und jetzt? Ursula Harling war heiterer und fröhlicher, als sie je gewesen war. Sie lachte und scherzte vergnügt, als habe nie Kummer ihre Seele belastet. Sie betrachtete die Menschen, mit denen sie zusammenlebte, als Kameraden und Freunde. Sie fühlte sich nicht gefangen und nicht bedrängt, sie wartete nicht auf Retter und Befreier. 68
Das stauchte wie ein harter Sturz. Aber dafür mußte sich eine Erklärung finden lassen. Und eine Erklärung zu finden, bedeutete nichts anderes, als die Mittel zu entdecken, mit denen Micero dieses Verhalten bewirkt hatte. Micero. Er war der Besitzer dieses Tales, er hatte Ursula hergebracht. Das besagte alles. »So still und nachdenklich?« fragte Ursula mit freundlicher Wärme und beugte sich etwas von ihrem Pferd herunter, um Covington ins Gesicht zu blicken. »Dort ist das Haus.« Dieses sehr breitgelagerte zweistöckige Haus mit seiner breiten Fensterfront und seinen gutgepflegten Anlagen vor der Terrasse war ein Bau, der sich wirkungsvoll von der Rundkulisse der dahinter aufsteigenden Felswand abhob. »Gefällt es Ihnen?« erkundigte sich das junge Mädchen. »Es ist sehr hübsch eingerichtet und enthält eigentlich alles, was man braucht. Sogar Schwimmbad und Tennisplatz sind vorhanden, und der Blumengarten ist ganz entzückend.« »In der Tat sehr hübsch«, sagte Covington. »Sie müssen viel Personal hier haben, um das alles in Ordnung zu halten.« »Aber nein, das machen wir alles selbst. Sie sollten uns nur einmal sehen, wenn wir arbeiten. Nur was wir nicht schaffen können, läßt Capete durch die beiden Männer mit ihren Frauen erledigen.« 69
»Ist Capete der Besitzer dieses Hauses – oder sind Sie etwa selbst die Besitzerin?« »Aber nein.« Sie lachte. »Ich nicht und Capete nicht. Er ist der Hausverwalter. Das ganze Tal hier gehört Vincente Micero. Wir sind alle nur seine Gäste.« Covington tastete sich vorsichtig weiter. Ursula gab ihre Antworten mit größter Harmlosigkeit und Unbefangenheit. Vielleicht gab sie damit Hinweise, die der Lösung mancher Rätsel dienten. »Sie kennen Senhor Micero?« »Nur ganz flüchtig.« »Trotzdem sind Sie sein Gast?« Sie stutzte. »Ja – eben – eigentlich ist das sonderbar.« Doch schon wischte sie mit einer Handbewegung alles weg. »Aber was wollen wir uns darüber Gedanken machen. Die Welt und vor allem dieses Tal ist so schön …« »Die Welt ist nicht allein hier schön«, sagte Covington. »Sie wohnen doch sonst sicher woanders, nicht wahr?« Ganz flüchtig huschte ein Grübeln über ihr Gesicht, doch dann lachte sie neckend. »Vielleicht. Ich glaube, ich habe es vergessen.« Covington stellte keine weiteren Fragen mehr, da man sich schnell dem Haus näherte. Er wußte aber nun wenigstens, daß sich die Gäste dieses Hauses 70
wohl alle in dem gleichen Zustand befanden wie das junge Mädchen. Es war abzuwarten, ob das auch für diesen Capete zutraf. Und ferner wußte er, daß mit diesem eigentümlichen Zustand eine starke Schwächung des Gedächtnisses verbunden war. Sie waren vom Haus aus bemerkt worden. Frauen und Männer kamen ihnen entgegengelaufen, grüßten sie mit lebhafter Freundlichkeit wie Kinder, die ein neues Spielzeug finden, und stellten Fragen voll harmloser Neugier. Die Frauen waren ausnahmslos junge, hübsche Geschöpfe, deren Gesichter weder durch Sorgen noch durch tiefere Gedanken gezeichnet waren. Sie machten ganz den Eindruck, als lebten sie tändelnd, scherzend und lachend in den Tag hinein. Fröhlich und gutgelaunt gaben sich auch die Männer, aber ihr Verhalten und ihre Art paßten einfach nicht zu dem, was in ihren Gesichtern geschrieben stand. Diese jungen Frauen waren wohl oberflächliche Geschöpfe, deren Schönheit, auch unter anderen Umständen, durch irgendwelche Tiefen der Seele, nicht geformt und gefährdet worden wäre. Die hübschen Gesichter waren glatt und leer und gaben deshalb einen vollkommenen und ungetrübten Spiegel der inneren Heiterkeit ab. Die Gesichter der Männer dagegen waren gezeichnet. 71
Nimba, Hal und Covington hielten sich dicht bei Sun Koh. Diese vier wirkten mit ihren ernsten Gesichtern inmitten der lachenden, schwatzenden Schar recht düster. Aber das schien nicht aufzufallen. Diesen fröhlich bewegten Gemütern schien überhaupt wenig aufzufallen. Sie stellten wohl neugierige Fragen, aber sie nahmen die Antworten leicht hin, begnügten sich gern mit Ausflüchten und machten sich keine Sorgen über Zusammenhänge. Sie fanden es neckisch, daß die vier durch die fiebernde Hölle des Urwalds hindurch den Weg zu ihnen gefunden hatten, aber sie besaßen offenbar keine rechte Vorstellung von den Schrecken einer Urwaldfahrt und grübelten nicht darüber, warum ihre Besucher gekommen waren. Kurz vor der Terrasse kam hastigen Schrittes ein Mann auf die Gruppe zu, hinter dem in geringem Abstand zwei andere folgten. »Das ist Capete«, erklärte Ursula. »Er sieht immer sehr ernst aus, aber darum brauchen Sie sich nicht zu kümmern. Wir lachen viel über ihn.« Man mußte sich wohl schon in der Verfassung des jungen Mädchens befinden, um über Capete lachen zu können. Der Mann sah nicht nur ernst, sondern gefährlich und drohend aus. Er war von Mittelgröße, bewegte sich aber mit auffallender Geschmeidigkeit. Sein schwarzes Haar, die kupferbraune Haut und die stark vortretenden Backenknochen deuteten auf in72
dianischen Einschlag hin. Der Mund war sehr groß. Die ungewöhnlich dicken Lippen ließen sogar einen Schuß Negerblut vermuten. Insgesamt wirkte das Gesicht gewalttätig und finster. Der Mann und seine beiden Begleiter, die ebenfalls keine erfreulichen Erscheinungen waren, standen bestimmt nicht unter den erheiternden Einflüssen wie alle die anderen ringsum. Capete schob die Leute, die ihm im Weg standen, einfach beiseite. Dicht vor Sun Koh pflanzte er sich auf und fragte herrisch: »Wie kommen Sie hierher? Wer sind Sie?« »Ich heiße Sun Koh«, erwiderte der Gefragte gelassen. »Das sind meine Begleiter Nimba, Covington und Hal. Wir befinden uns auf einer Forschungsreise und fanden dieses Tal. Sind Sie der Besitzer?« »Ich bin der Verwalter«, gab Capete ruhiger Auskunft. »Ist das Ihre ganze Expedition?« »Alles, was von ihr geblieben ist.« »So? Und was wollen Sie nun hier?« »Ich hoffe, daß Sie uns für heute und morgen Unterkunft geben. Wir sind durch die Anstrengungen ziemlich mitgenommen.« Capete starrte lange auf Sun Koh und seine Begleiter. Sein Mißtrauen war greifbar stark. Und seine Feindseligkeit war deutlich zu spüren. »Sie sind selbstverständlich meine Gäste«, sagte er mit überraschender Höflichkeit. »Bitte, folgen Sie 73
mir. Sie werden das Bedürfnis haben, zu ruhen.« Sun Koh nickte. Aber die Schar ringsum zeigte sich weniger befriedigt. Lachend und schreiend wurde Einspruch erhoben. »Hoho, das gibt es nicht, Capete. Die Herren müssen uns erst ein bißchen Gesellschaft leisten«, sagte einer der Männer, der sich zum Wortführer machte. »So müde sind sie sicher nicht, daß sie sich gleich zu Bett legen müssen.« Capete schob die Einwände mit einer verächtlichen Handbewegung beiseite. »Was versteht ihr Narren davon«, sagte er. »Die Herren müssen vor allen Dingen ruhen.« Geste und Tonfall stellten eine grobe Beleidigung dar, aber das wurde nicht empfunden. Man gab sich freilich auch nicht zufrieden, sondern erhob neuen Einspruch. »Die Damen und Herren haben schon recht«, sagte Sun Koh. »So erschöpft sind wir denn doch nicht, um nicht wenigstens erst essen und trinken zu können.« Capete warf ihm einen ärgerlichen Blick zu, fügte sich aber. »Na schön, dann will ich Sie der Gesellschaft überlassen. Man wird ihnen zu essen bringen, inzwischen werden Ihre Zimmer gerichtet.« Er wandte sich ab, gab seinen beiden Begleitern einen Wink und ging davon. 74
Sun Koh und seine Begleiter wurden von der Schar in den Garten geführt. Eine eifrige Unterhaltung setzte ein, die von Sun Koh und seinen Getreuen, denen er verstohlen eine Anweisung zugeflüstert hatte, eifrig genutzt wurde. Später wurde durch zwei einfache, etwas mürrische Frauen ein ausgiebiges Essen gebracht. Capete befand sich während dieser ganzen Zeit nicht in der Nähe. Er verließ, wenige Minuten nach dem Gespräch mit Sun Koh, das Haus, ohne sich weiter um die Gesellschaft zu kümmern. In seiner Begleitung befanden sich wieder die beiden Männer. Die drei ritten auf dem Weg fort, auf dem Sun Koh gekommen war. Während des Essens sah Sun Koh sie auf dem Berggrat stehen, von dem aus er gestern das Tal überblickt hatte. Wahrscheinlich wollte sich Capete überzeugen, daß sie tatsächlich nur zu viert und zu Fuß gekommen waren. Unmittelbar nach seiner Beobachtung regte Sun Koh durch einige Bemerkungen eine Besichtigung des Hauses an. Wenige Minuten danach führten Ursula und einige andere die Besucher durch sämtliche Räume. Das Haus enthielt Dutzende von Zimmern. Sun Koh wollte eigentlich nur ein einziges sehen, und seine Führer waren harmlos genug, seinen Wünschen auf halbem Weg entgegenzukommen. Verhältnismäßig schnell stand er in dem Raum, in dem Capete 75
gewöhnlich zu finden war, wenn man ein Anliegen an ihn hatte. In einer größeren Nische befanden sich Schalttafeln mit zahlreichen Hebeln und Apparaten. Von hier aus wurde offenbar die elektrische Anlage des Hauses gesteuert. In der gleichen Nische stand der Sender, den Sun Koh suchte. Sun Koh nahm davon Kenntnis und verließ dann mit den anderen den Raum wieder. Im nächsten Zimmer murmelte er jedoch etwas von sofortiger Rückkehr, warf Hal einen bedeutungsvollen Blick zu und verließ die Gesellschaft. Zwei Minuten später tauchte er wieder auf, überzeugt, daß der Sender in der nächsten Zeit nicht arbeiten würde. Als Capete zurückkehrte, saßen alle wieder harmlos vergnügt im Garten. Capete war besserer Laune als vorhin. Er grinste sogar freundlich, als er sich erkundigte, ob die Herren immer noch nicht müde seien. Sun Koh bejahte diesmal, worauf; Capete die Ankömmlinge unverzüglich nach oben führte. Er wies ihnen zwei sehr luxuriöse Doppelschlafzimmer mit zugehörigen Bädern an, versprach, zum Abendbrot zu wecken, und ging davon. Wenig später saßen die vier zusammen und beratschlagten. Sie sprachen dabei sehr leise, weil sie nicht wußten, ob sie belauscht wurden. »Ich bin bald verrückt geworden«, gestand Hal. 76
»Was sind das überhaupt für komische Leute hier? Manchmal kamen sie mir wie Verrückte vor.« »Was habt ihr im Laufe des Gesprächs erfahren?« fragte Sun Koh. »Es handelt sich dabei vor allem darum zu erfahren, wer diese Leute sind, woher sie kommen und in welchem Verhältnis sie zu Micero stehen.« Covington antwortete als erster. »Sie sind zweifellos alle mit Micero befreundet. Einer – der Mann mit dem auffallenden Gelehrtenkopf – erzählte mir, daß er seit Jahren für Micero arbeite. Er nannte dieses Tal das ›Tal des Vergessens‹ und behauptete, nicht zum erstenmal hier zu sein. Der Mann scheint überhaupt der Klarste und Vernünftigste von allen zu sein. Andererseits meinte er freilich, daß er sonst unter der Erde lebe.« »Wo?« »Das hat er nicht gesagt.« »Geben Sie ihm das Stichwort Honduras oder noch besser Truxillo, wenn Sie wieder mit ihm sprechen. Ich bin neugierig, wie er sich dann verhält. Haben Sie sonst noch etwas erfahren?« Covington schüttelte den Kopf. Nimba meldete sich. »Aber ich. Die Frauen müssen schon längere Zeit hier sein, während die Männer erst vor einigen Wochen gekommen sind. Ich hörte eine Unterhaltung an, wobei eine Frau erwähnte, daß ihr Partner da77
mals, vor einigen Wochen, noch nicht im Tal gewesen sei. Einer der Männer trug eine kostbare Uhr. Er zeigte sie mir. Als ich ihn fragte, ob sie von Micero sei, wies er mit Stolz auf die Widmung, die auf dem Innendeckel eingraviert war. Sie lautete: V.M. seinem treuen Gehilfen. Übrigens sehen die Leute ganz so aus, als ob sie Micero dienten. Dann war da noch einer, der im Gesicht noch ziemlich gescheckt aussah. Ich fragte ihn deswegen. Er erzählte mir, daß er sich in den ersten Tagen einen tüchtigen Sonnenbrand geholt habe. Sie hätten sich ja alle etwas übernommen, weil sie sonst nur bei künstlichem Licht lebten, aber seine Haut sei besonders empfindlich.« »Der Hinweis auf das künstliche Licht würde zu dem passen, was der andere von einem Leben unter der Erde andeutete«, sagte Sun Koh nachdenklich. »Ist dir etwas Besonderes aufgefallen, Hal?« »Eine ganze Masse«, erwiderte Hal. »Ich hatte den Eindruck, daß die Männer nicht nur Micero, sondern auch sich untereinander schon lange kennen. Sie wichen aber immer aus, wenn ich nach ihrer Vergangenheit fragte. Sie taten es aber nicht absichtlich, sondern es war, als hätten sie es selbst vergessen und fänden es nicht der Mühe wert, darüber nachzudenken. Aber manches habe ich doch herausbekommen. Einige von den Männern sind sehr mit Pistolen vertraut. Einer wunderte sich sogar, daß er unbewaffnet sei, wo er doch sonst sogar mit den Waffen schlafen 78
würde. Ein anderer, dem die halbe Hand fehlte, erwähnte, die habe ihm ein blinder Riesenmaulwurf abgebissen. Er lachte aber dabei, und ich weiß nicht, ob er das ernst gemeint hat. Der gleiche Mann erwähnte, daß Miss Ursula als letzte gekommen sei.« »Das Bild rundet sich«, stellte Sun Koh fest. »Ich selbst habe manches gehört und gesehen. Ich glaube behaupten zu können, daß alle diese Männer im Dienst Miceros stehen. Sie befinden sich hier vorübergehend zu Erholung. Micero genügt damit nicht dem Drang einer Menschenfreundlichkeit, sondern die Männer müssen für gewöhnlich unter so schweren Bedingungen leben – zum Beispiel unter der Erde –, daß er ein starkes Gegengewicht geben muß, um sie für dauernd an sich zu binden. Dieses Gegengewicht ist der Aufenthalt in diesem Tal. Das Tal läßt auf irgendeine, noch unbekannte Weise alles oder fast alles vergessen und gibt eine kindliche Fröhlichkeit, die sonst in diesen Menschen nicht wohnt. Es ist durchaus denkbar, daß dieses Tal in der Erinnerung wie das Paradies selbst erscheint und daß eine unbändige, starke Sehnsucht bleibt, die wie die Gier nach einem Rauschgift alles ertragen läßt, um nur wieder in den Genuß zu kommen. Ich kann das nur vermuten. Die eigentümliche Seelenhaltung dieser Menschen steht fest. Auch Miss Harling ist den Einflüssen des Tales erlegen, Capete und seine beiden Vertrauten dagegen sind es nicht. Es besteht 79
wohl kein Zweifel, daß wir es nicht mit irgendwelchen geheimnisvollen Einflüssen der Natur zu tun haben, sondern mit sehr gewollten Veränderungen, die sicher durch Capete im Auftrag Miceros bewirkt werden.« »Sie denken an Hypnose?« fragte Covington. Sun Koh schüttelte den Kopf. »Hypnose ist ausgeschlossen. Denkbar wäre ein Gift, das mit den Speisen verabreicht wurde.« »Gibt es ein solches Gift?« »Vielleicht, aber ich glaube nicht einmal, daß diese Vermutung richtig ist. Wir haben alle gegessen und getrunken. Spürt irgend jemand Veränderungen?« »Nein«, brummte Nimba, »nur mein Magen tut mir weh.« »Du hast ja auch für drei gegessen«, erinnerte Hal. »Die Wirkung kann natürlich später eintreten«, erwog Sun Koh, »aber es hat mich stutzig gemacht, daß Capete uns sofort zum Schlafen einlud. Ein Mann in seiner Lage müßte doch vor allem versuchen, solche Neuankömmlinge wie uns in den gleichen Zustand der Harmlosigkeit zu bringen wie die anderen. Folgerichtig hätte er uns zum Essen nötigen müssen, wenn die Beeinflussung durch Beimengungen der Speisen erfolgte. Da er uns ziemlich hartnäkkig drängte, zunächst auszuruhen, liegt die Vermutung nahe, daß die Beeinflussung während des Schlafes erfolgt.« 80
»Spritzen?« warf Covington hin. »Strahlen«, erwiderte Sun Koh ebenso lakonisch. »Das ist Miceros Stärke. Er verfügt in noch unbekanntem Umfang über Kräfte der Atomzertrümmerung, zugleich über Kräfte künstlich aufgebauter Stoffe. Die vielfältigen Wirkungen solcher Elemente oder Strahlungen lassen sich kaum ahnen. Der Vermutung sind jedenfalls keine Grenzen gesetzt.« »Dann sollten wir lieber nicht schlafen«, regte Hal an. »Doch«, widersprach Sun Koh, »denn sonst können wir ja nicht feststellen, wie die Einwirkung erfolgt. Wir sind jedoch vier Mann und können die Bedingungen vierfach verändern. Du schläfst im Bett, Hal, du nebenan auf dem Boden neben der Tür, Nimba. Sie müssen sich mit der Wanne Ihres Bades begnügen, Covington, und ich werde mir einen Stuhl neben das Fenster rücken.« »Hm«, murmelte Covington, »und wenn man uns nun mit Gas bearbeitet?« »Sie lassen das Fenster des Bades weit auf und schließen die Verbindungstür. Auf jeden Fall müßten Sie dann wenigstens verschont bleiben.« »Und wenn wir trotzdem alle auf irgendeine Weise beeinflußt werden?« »Wir müssen die Gefahr, uns auf diese Weise der Selbstbestimmung zu berauben, in Kauf nehmen. Ich hoffe, daß selbst im schlimmsten Fall die Wirkung in 81
diesen wenigen Stunden nicht gleich so stark ist, daß wir uns selbst vergessen. Und nun auf die Plätze. Wer bei Vernunft bleibt, hat dafür zu sorgen, daß die anderen zurückfinden und vor allem nicht wieder unter den gleichen Bedingungen schlafen.« Nimba und Covington verließen vorsichtig den Raum, um sich nebenan in der vorgeschriebenen Weise niederzulegen. Hal warf sich aufs Bett, Sun Koh setzte sich in einen Stuhl. Sun Koh wachte, während Hal sehr schnell einschlief. Nebenan wurde es still. Von unten kam gelegentlich ein Gesprächsfetzen oder ein Lachen. Den beiden Türen näherte sich nichts. Verdächtige Geräusche blieben aus. Trotz sorgfältigster Selbstbeobachtung konnte Sun Koh keine Veränderung an sich feststellen. Nach Stunden, als die Nacht sank, erhob er sich und ging zu den beiden anderen hinüber. Sie befanden sich beide an ihren Plätzen, waren aber wach. »Wir haben vor Aufregung nicht recht schlafen können«, berichtete Nimba, während er Decken und Kissen wieder ins Bett packte. »Gemerkt haben wir beide nichts.« »Keine Veränderung?« wandte sich Sun Koh an Covington. »Nicht die Spur.« Sun Koh nahm sie beide mit in sein Zimmer hinüber. 82
Hal schlief noch immer. Er lächelte im Schlaf. »Hal hat die meisten Aussichten, Wirkungen zu spüren«, sagte Sun Koh. »Das Bett hat Spiralfedermatratze, und in dem vorgebauten Betthimmel, der in allen Schlafzimmern zu finden ist, ließen sich schon dünne Drähte einbringen. Ich will ihn wecken. Sollte er sich verändert haben, so verliert kein Wort über unsere Angelegenheiten, damit er nichts ausplaudern kann.« Er rüttelte den Jungen. Hal schlug die Augen auf, blickte geistesabwesend auf die Männer und murmelte: »Wo bin ich denn?« Dann setzte er sich auf, strich sich über die Stirn und meinte zufrieden: »Ich habe gut geschlafen. Ich glaube, das macht die gute Luft. Ich habe wohl recht lange geschlafen?« »Drei Stunden«, antwortete Sun Koh. »Drei Stunden nur? Wie sind wir denn nur … Ach ja, wir waren doch im Urwald, nicht wahr? Was war doch gleich – komisch …« Er grübelte, wischte dann aber mit einer Handbewegung alles weg und lachte. »Ach, Unsinn, es wird nicht so wichtig sein. Haben Sie Leibschmerzen, weil Sie so ein komisches Gesicht ziehen, Co – Co … Komisch, jetzt habe ich glatt Ihren Namen vergessen.« »Covington«, half Sun Koh nach. »Auf, wasch dich, wir wollen hinuntergehen.« 83
Während Hal im Baderaum plätscherte, sagte Sun Koh: »Hal ist also betroffen worden. Capete wird Verdacht schöpfen, wenn wir uns nicht verhalten wie Hal. Also bitte recht heiter und freundlich unten, dazu einen guten Schuß Vergeßlichkeit.« Die Männer versprachen, ihr Möglichstes zu tun. Nach einer Weile gingen sie zu viert hinunter. Unten auf dem Flur trat ihnen Capete entgegen. »Na, gut geschlafen?« erkundigte er sich lauernd. Sun Koh nickte. »Sehr gut, Mister – wie heißen Sie doch gleich?« »Capete.« »Richtig.« Sun Koh lächelte. »Hoffentlich kommen wir nicht zu spät zum Abendessen. Wir haben alle Hunger.« »Furchtbaren Hunger«, rief Hal vergnügt. »Capete, alter Schwede, rücken Sie mit Ihren Leckerbissen heraus.« Nimba und Covington zogen schreckliche Grimassen. Capete grinste. »Draußen sind die andern, dort gibt’s auch zu essen. Wer hat sich denn an meinem Radio vergriffen?« Sun Koh wunderte sich vorschriftsmäßig. »Radio? Wozu brauchen Sie Radio? Singen Sie sich doch eins!« »Wir werden ein Quartett singen«, schlug Hal eilfertig vor. 84
Nimba und Covington hoben die Mundwinkel, daß ihnen die Wangenmuskeln schmerzten. »Also nicht.« Capete grinste wieder. »Na, auch nicht schlimm. Schert euch hinaus!« Er nahm die vier nicht mehr ernst, und die waren ihm nicht böse darüber. * Nach einigen Stunden, die für die drei Männer nicht leicht waren, zog sich die ganze Gesellschaft zurück. Auch Sun Koh begab sich nach oben. Hal wollte es sich schleunigst auf dem Bett bequem machen, aber Sun Koh holte ihn schnell herunter. »Unterhalten Sie sich noch ein bißchen mit ihm, Covington«, bat er. »Ich werde bald wieder da sein. Komm, Nimba!« »Ich bin müde«, maulte Hal, der bereits einiges von seiner Heiterkeit eingebüßt hatte. »Leg dich auf den Fußboden«, riet Sun Koh kurz und ging hinaus. Capete befand sich in seinem Zimmer. »Was wollt ihr denn?« erkundigte er sich barsch, ohne sich von seinem Stuhl zu erheben. »Wird Zeit, daß ihr ins Bett kommt!« »In diesem Haus ist man besser beraten, wenn man sich nicht ins Bett legt.« Jetzt ruckte Capete herum. 85
»Was – was wollen Sie damit sagen?« Die Miene Sun Kohs verriet ihm wohl alles, denn er fuhr nach kurzer Pause fort: »Verdammt, haben Sie etwa heute nachmittag nicht geschlafen?« »Sie haben es erraten«, sagte Sun Koh. »Halten Sie bitte Ihre Hände ruhig. Ich bin bewaffnet und ziehe sicher schneller als Sie. Haben Sie Micero von unserer Ankunft verständigt?« »Nein – doch.« »Also nicht, denn der Sender ist immer noch nicht in Ordnung, soviel ich sehe. Was hier vorgeht, ist mir ziemlich klar. Welche Folgen hat es, wenn man einem dieser Menschen hier die Strahlen plötzlich entzieht?« Capete blinzelte tückisch. »Glauben Sie, ich lasse mich von Ihnen ausfragen? Scheren Sie sich zum Teufel. Ich verstehe überhaupt nicht, wovon Sie reden. Sie tun ja gerade, als ob hier etwas nicht in Ordnung sei. Dabei sollten Sie doch froh sein, daß ich Sie hier als Gäste aufgenommen habe.« »Das war die einfachste Art, um uns unschädlich zu machen. Sie wissen aber eins nicht, Capete. Wir sind keine Teilnehmer einer Forschungsexpedition, sondern wir sind eigens durch den Urwald hierhergekommen, um Miss Harling zu holen, die von Micero entführt wurde.« »Pest«, knurrte Capete, »das hätte ich wissen sol86
len. Aber Sie irren sich, wenn Sie glauben, daß die junge Dame entführt worden ist. Sie befindet sich freiwillig hier, das müßten Sie doch inzwischen festgestellt haben.« »Freiwillig?« Sun Koh lächelte. »Sie unterschätzen uns noch immer, Capete. Ich glaube, es ist nutzlos, unser Gespräch weiterzuführen. Kommen Sie!« Er faßte den Mann bei der Schulter und riß ihn hoch. Capete hielt wohl seine Gelegenheit für gekommen, denn er stieß mit der einen Hand wild zu und riß gleichzeitig mit der anderen die Waffe aus der Tasche. Ein kurzer, harter Schlag ließ seinen Kopf nach hinten rucken. Die Pistole fiel zu Erde. Capete lehnte benommen an der Wand. »Ich warnte Sie«, erinnerte Sun Koh. »Nimba, hol die Gardinenschnüre herunter!« »Was haben Sie mit mir vor?« Capete keuchte. »Sie werden heute nacht in meinem Bett schlafen. Morgen dürften Sie sich dann sehr heiter fühlen.« »Sie sind …« »Sparen Sie sich starke Worte«, schnitt Sun Koh ab. Capete schwieg. Er ließ sich auch widerstandslos binden. Sun Koh trug ihn nach oben, während Nimba als Wache im Flur blieb. Capete wurde auf das Bett gebunden, dann eilte Sun Koh wieder hinunter. Die beiden Gehilfen Capetes bewohnten in dem 87
Nebengebäude, das auch die Küche enthielt, mit ihren Frauen kleine Wohnungen. Den einen traf Sun Koh kurz vor der Haustür. Er machte nicht viel Federlesens mit ihm. Bevor der Mann sein Erstaunen noch recht zum Ausdruck gebracht hatte, legte Sun Koh ihm die Arme fest, und Nimba hielt ihm den Mund zu. Nach einem schwächlichem Versuch gab der Mann jede Gegenwehr auf und ließ sich nach oben tragen. Sun Koh stieg zum drittenmal in Begleitung Nimbas hinunter. Er fand den zweiten Gehilfen Capetes in einer recht unglücklichen Lage. Seine handfeste, recht energisch auftretende Frau hielt ihm eine Vorlesung, in der viel von ungebührlichem Anstarren hübscher Fratzen und dessen Folgen für die häusliche Gemütlichkeit die Rede war. Sun Koh klopfte an das Fenster, worauf der Mann die günstige Gelegenheit benutzte und schleunigst hinauseilte. Sun Koh nahm ihn in Empfang und übergab ihn Nimba, der ihn weiterbeförderte. Dann trat Sun Koh in den Raum, den der Mann eben verlassen hatte. »Was wollen Sie?« rief die Frau unwirsch. »Wie kommen Sie hier rein? Wo ist mein Mann?« »Ich möchte mit Ihnen ein ruhiges und vernünftiges Wort reden«, erwiderte Sun Koh höflich. »Es wäre gut, wenn Ihre Nachbarin gleich mit dabei wäre. Wir könnten zu ihr hinübergehen.« 88
»Wo ist mein Mann?« beharrte die Frau. »Wir haben ihn, seinen Kameraden und Capete einstweilen gefesselt. Die drei sind unsere Gefangenen, es wird ihnen jedoch nur wenig geschehen. Ich muß vielleicht auch Sie gefangennehmen, da Sie aber einen ruhigen, vernünftigen Eindruck machen, hoffe ich einstweilen noch, mich mit einer Aussprache mit Ihnen begnügen zu können.« Die Frau sah ihn unsicher an. Schließlich nickte sie: »Kommen Sie!« Zwei Minuten später saß Sun Koh den beiden Frauen gegenüber. Sie hatten starke Ähnlichkeit miteinander. »Wir sind Schwestern«, erklärte die Frau, mit der er schon gesprochen hatte. »Ich heiße Rosita, sie Manuela. Sagen Sie, was Sie uns zu sagen haben.« »Vincento Micero hat ein junges Mädchen entführt und hierhergebracht«, begann Sun Koh. »Sie heißt Ursula Harling. Ich bin mit drei Begleitern hierhergekommen, um sie zu befreien. Selbstverständlich mußte ich vor allen Dingen die Männer unschädlich machen, die unseren Plänen hätten Widerstand leisten können, nämlich Capete und Ihre beiden Männer.« Rosita wandte sich lebhaft an ihre Schwester: »Habe ich dir nicht gleich gesagt, daß das junge Mädchen gegen ihren Willen hierhergebracht worden ist? Sie zeigte ja ganz offen, was sie von Micero hielt.« »Hat Micero selbst sie hergebracht?« 89
»Nein, zwei von seinen Leuten. Sie kamen im Flugzeug, hielten sich aber nur eine Stunde auf.« Die Bereitwilligkeit der beiden Frauen, mit ihm über die Angelegenheiten dieses Tales zu sprechen, war so stark, daß Sun Koh einfach weiterfragen konnte. »Sie sind Angestellte Miceros, nicht wahr?« »Unsere Männer«, sagte die etwas schüchterne Manuela. »Wir versorgen die Küche und halten das Haus sauber.« »So ist es«, bestätigte Rosita lebhaft. »Sie dürfen nicht etwa denken, daß wir viel von Senhor Micero halten. Er ist ein großer Herr, aber ein widerlicher Kerl. Wir können ihn alle beide nicht leiden. Unsere Männer werden aber gut bezahlt, und hier ist es ganz schön, so daß es uns wenig kümmert, was er für ein Gesicht hat.« »Sie wissen aber, daß hier ungesetzliche Dinge vorgehen?« Rosita schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist doch nicht schlimm, wenn die Leute hier ein bißchen vergnügt sind. Manchmal benehmen sie sich ja mächtig albern, aber das geht uns nichts an, wenn es denen Spaß macht. Die Hauptsache ist, daß sich unsere Männer nicht darum kümmern, vor allem nicht um die Mädchen.« »Diese Menschen werden hier durch besondere Strahlen beeinflußt«, wandte Sun Koh ein. 90
»Da ist doch nichts dabei«, wunderte sich die Frau. »Das gibt es doch auch in jedem anderen – wie heißt es doch gleich – ach ja, Sanatorium. Es ist doch hübsch, wenn sich die Leute hier erholen. Sie sollten nur einmal sehen, wie sie hierherkommen, ganz blaß, ganz müde und verdrossen. Nach einigen Tagen sehen sie ganz anders aus. Und es sind doch alles Angestellte von Senhor Micero, und sie kommen freiwillig her. Freilich, wenn dieses junge Mädchen gegen ihren Willen hierhergebracht wurde, so ist das etwas anderes. Wir sind anständige, rechtschaffene Frauen und bestimmt die letzten, die ein solches Unrecht dulden werden.« »Und Ihre Männer?« »Die sind auch nicht schlecht«, kam die Antwort mit Überzeugung. »Sie tun eben, was ihnen von Capete befohlen wird, aber sie haben nichts Unrechtes getan.« »Trotzdem werde ich sie wohl in Gewahrsam nehmen müssen«, sagte Sun Koh. »Die Schwierigkeit liegt für uns darin, daß wir das Tal verlassen müssen und einige Tage Vorsprung brauchen. Es wird wohl genügen, wenn ich die Männer einige Tage lang der Kur unterwerfe, die nach Ihrer eigenen Meinung völlig harmlos ist.« »Sie brauchen doch nur so mit ihnen zu reden, wie Sie mit uns reden. Es sind schon vernünftige Kerle.« »Capete oder Micero würden sie zur Verantwor91
tung ziehen, wenn sie nicht alles aufbieten würden, um uns zu halten.« Die beiden Frauen schwiegen. Nach einer Weile meinte Manuela: »Der Senhor hat recht.« »Ja«, meinte Rosita, »es ist wohl besser so. Aber eigentlich müßten Sie uns dann auch einsperren.« »Nein.« Sun Koh lächelte. »Wer sollte sich dann um Küche und Haushalt kümmern? Außerdem würde es mir widerstreben, gegen eine Frau feindlich zu handeln.« »Sie sind ein Caballero«, sagte Rosita. »Wir werden jedenfalls unsere Arbeit weiter verrichten. Ein Mann wie Sie wird unseren Männern schon nichts tun.« Sun Koh verabschiedete sich beruhigt. Capete und seine beiden Gehilfen lagen gefesselt auf den Betten. Capete schlief nicht. Er blickte böse auf Sun Koh, als dieser an ihn herantrat, und knurrte: »Da werden Sie ja morgen Ihren Spaß an mir haben, wenn ich mich wie die anderen benehme. Wahrscheinlich schließen wir Brüderschaft. Aber bilden Sie sich ja nichts darauf ein. Wenn Senhor Micero kommt…« »…sind wir längst fort«, ergänzte Sun Koh. »Vielleicht auch nicht«, grinste Capete. »Danke. Ich werde meine Vorbereitungen treffen.« »Wieso… Ach, verdammt, geht das schon los?« Er wandte den Kopf ab. 92
Sun Koh verließ das Zimmer, ging den Gang ein Stück hinunter und klopfte an die Tür, hinter der Ursula Harling schlief. »Ja?« Ihre Stimme klang schlaftrunken. »Bitte, ziehen Sie sich an«, bat Sun Koh. »Ich muß dringend mit Ihnen sprechen. Hier ist Sun Koh.« »Mister Sun Koh?« rief sie verwundert. »Sie? Ja, was ist denn?« Er hörte einige Geräusche, dann öffnete sie bereits, nur in einen Morgenrock eingehüllt, die Tür. Sie lächelte und wollte eine Frage aussprechen, aber schon griff Sun Koh nach ihrem Arm und zog sie heraus. »Fragen Sie bitte nicht. Es ist unbedingt nötig, daß Sie heute nacht unten auf einem der Sofas schlafen. Kommen Sie!« »Aber…« Sun Koh wußte, daß Auseinandersetzungen wenig Zweck hatten. Er sagte deshalb nur: »Sie müssen Vertrauen zu mir haben. Der Aufenthalt in Ihrem Zimmer ist ungesund. Sie verstehen das jetzt nicht, aber Sie müssen sich meinen Anordnungen fügen. Bitte, vertrauen Sie mir.« »Aber ja«, entgegnete sie. »Sie sind ein sonderbarer Mensch, aber ich finde Sie sehr vertrauenswürdig.« Damit hängte sie sich in seinen Arm und folgte willig. 93
Sun Koh verständigte im Vorbeigehen Nimba, der dann auch wenig später einen Berg Betten hinunterbrachte und in einem der Wohnräume ein Lager richtete. Eine Viertelstunde später schlief das junge Mädchen bereits unbekümmert wie ein Kind weiter. Auch die drei Gefangenen schliefen nun. Hal lag auf der bloßen Erde zu Covingtons Füßen und träumte. Sun Koh trug ihn hinunter und legte ihn auf ein Liegesofa. Covington bekam unmittelbar daneben ein zweites eingeräumt. Nimba machte es sich bei den Gefangenen bequem. Sun Koh bereitete sich ein Lager neben dem Raum, in dem das junge Mädchen schlief. 6. Der neue Morgen trug seltsame Gesichter. Als erster rekelte sich Hal. Er blickte sich um und stieß dann Covington, der neben ihm lag, herzhaft den Finger in die Rippen. »Was ist?« »Das will ich gerade von Ihnen wissen«, sagte Hal verdrossen. »Was soll das nun wieder bedeuten? Gestern abend haben Sie mich nicht ins Bett gelassen, und jetzt liege ich hier unten. Hier geht wohl der dreidimensionale Rappel um, was?« »Bei dir gestern bestimmt.« Covington gähnte. »Wie fühlst du dich sonst?« 94
»Überhaupt nicht«, murrte Hal. »Wo ist denn der Herr? Bei mir hat Capete anscheinend Strahlen eingeschaltet, die einen melancholisch wie eine verwaiste Ölsardine machen.« »Augenblick!« Covington eilte hinaus und kam wenig später mit Sun Koh wieder zurück. »Da ist er.« Er deutete auf Hal. »Und er scheint eine Stinkwut im Leib zu haben.« »Katzenjammer wäre schon richtiger«, maulte Hal. »Dabei waren wir doch gestern abend so vergnügt…« »Ja«, bestätigte Sun Koh, »du warst sehr vergnügt. Das machten die Strahlen. Wir ließen dich nicht ins Bett, um dich dem Einfluß wieder zu entziehen. Das scheint ja auch ziemlich gelungen zu sein.« »Heiter fühle ich mich bestimmt nicht«, sagte Hal. »Mir ist eher zum Heulen.« »Weine, mein Sohn«, regte Covington sanft an. »Quatsch«, fuhr Hal hoch. »Wenn Sie mir aus dem Horizont herausgehen, wird’s schon besser werden.« Covington grinste. »Der ist wieder gesund.« »Scheint mir auch so«, meinte Sun Koh. »Kommen Sie, Covington, Ihre Verlobte wird Sie brauchen.« Das junge Mädchen war in der kurzen Zwischenzeit munter geworden. Als Covington an ihrer Tür lauschte, hörte er hemmungsloses Schluchzen, worauf er schleunigst eintrat. 95
Ursula Harling kauerte auf ihrem Lager, hielt das Gesicht in den Händen verborgen und weinte. Sie sah nicht auf, als Covington eintrat. Erst als er dicht vor ihr stand und sie anrief, hob sie das tränenüberströmte Gesicht. Unsicherheit ging darüber hin, dann schluchzte sie auf: »Sie – du bist es, Don?« Sie schlug die Hände wieder vor das Gesicht und weinte von neuem. Er kniete neben ihr nieder. »Nicht weinen, Ursula«, bat er sanft. »Erkennst du mich?« »Ja – du bist doch Don. Oder – ich weiß nicht – ich habe wohl geträumt – da war doch noch ein anderer … Wo bin ich eigentlich? Wie kommst du hierher?« »Ich komme aus Maracaibo, um dich zurückzuholen. Du bist eine Gefangene Miceros.« Flüchtig ging ein Schauer über ihren Körper. »Micero, ja – aber es ist doch eigentlich schön hier und …« Wild weinte sie wieder los. »Warum weinst du?« »Ich bin so traurig!« Sie schluchzte verstärkt. Er strich über ihr wirres Haar. Diese tiefe Traurigkeit war wohl ein notwendiger Rückschlag gegen die künstliche Heiterkeit, ein unvermeidlicher Übergang. Das überreizte Gemüt entspannte sich. Und ihre einsetzende Erinnerung, wenn sie auch noch lückenhaft und verwirrt war, bewies doch, daß die Entziehung bald zur Heilung führte. 96
Covington redete dem jungen Mädchen tröstend zu, aber die Wirkung blieb geringfügig. Das Weinen ließ zwar nach, aber an seine Stelle trat eine dumpfe, taube Hoffnungslosigkeit, die gefährlicher wirkte als der Schmerzausbruch. Covington wußte sich keinen Rat mehr und holte lieber Sun Koh herein. Während Sun Koh nachsann, wie man das junge Mädchen über diesen Zustand hinwegbringen könne, winkte Nimba von der Tür aus. »Capete will aufstehen«, berichtete er flüsternd. »Was soll ich tun?« »Wie benimmt er sich?« »Er ist in bester Stimmung, nennt mich dauernd seinen alten Freund und lacht viel ohne Grund. Die Bestrahlung scheint gründlich gewirkt zu haben.« »Binde ihn los«, wies Sun Koh an, »beobachte ihn aber einstweilen weiter. Er wird wohl harmlos sein.« »Und die beiden anderen?« »Wenn bei ihnen die Bestrahlung auch gewirkt hat, kannst du sie freilassen. Ich überzeuge mich dann selbst noch. Jetzt schicke Hal herüber.« »Sofort, Sir!« Sun Koh wartete an der Tür. Er nahm den Jungen bei der Schulter. »Höre, Hal«, sagte er leise, »du mußt dich jetzt um Miss Harling kümmern. Du bist zwar selber nicht gut aufgelegt, aber sieh zu, daß du sie unterhältst, bis ich zurückkomme.« 97
»Was ist denn mit ihr los?« »Das gleiche wie vorhin bei dir, ein starker Rückschlag. Sie ist hemmungslos traurig.« »Traurig? Das werden wir gleich haben.« Sun Koh schloß die Tür hinter sich. Hal würde es mit seiner unbekümmerten, rauhen Kameradschaftlichkeit besser als irgendwer verstehen, den finsteren Bann zu brechen. * Sun Koh wollte erst nach Capete sehen und sich dann um die beiden Frauen kümmern, die für die Küche zu sorgen hatten. Durch eine der Türen hindurch vernahm er Schluchzen. Er lauschte. Tatsächlich, hinter der Tür weinte eine Frau so herzzerbrechend, wie es Ursula Harling getan hatte. Kurz entschlossen riß er die Tür auf. Die junge Frau war so in ihren Schmerz eingesponnen, daß sie nur den Kopf schüttelte, als Sun Koh sich nach der Ursache erkundigte. Und als er zum zweitenmal dringlicher fragte, schluchzte sie: »Ich bin so traurig!« Über das Gesicht Sun Kohs ging ein unruhiges Grübeln, das zunehmender Starre wich. Die Frau hatte unter unveränderten Bedingungen geschlafen. Sie hätte also so heiter und froh erwachen müssen wie all die Tage zuvor. Da das nicht der Fall war, mußte die 98
Bestrahlung – falls eine solche vorlag – bei ihr ausgesetzt haben. Die Gesamterscheinung war die gleiche wie bei Miß Harling. Sun Koh horchte an einer der nächsten Türen. Da schritt jemand schwer hin und her. Sun Koh klopfte und trat auf Zuruf ein. Der Mann mit dem Gelehrtenkopf bewohnte den Raum. Er stand mitten im Zimmer und blickte verstört auf seinen Besucher. Verstört war alles an ihm, von dem zerrauften Haar bis zur Haltung. Nichts mehr zeugte von seiner gestrigen Heiterkeit. »Was ist geschehen?« fragte er heftig. »Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen und werde bald verrückt vor Melancholie. Warum arbeiten die Strahlen nicht? Ist es nötig, daß man uns vor der Zeit aus dem großen Vergessen herausreißt? Genügt es nicht, daß wir bei der Rückkehr aus dem Tal diesen Übergang durchmachen müssen?« Sun Koh wollte etwas sagen, aber schon fuhr der andere gereizt fort: »Schweigen Sie! Ich bin nicht das erste Mal hier und weiß Bescheid. So etwas ist noch nicht passiert. Ich werde mich bei Micero beschweren. Ich habe die längste Zeit dieses Hundeleben unter der Erde geführt, wenn während der kurzen, glücklichen Zeit solche Dinge vorkommen. Wenn die Strömung nicht sofort beseitigt wird, kehre ich nicht nach Truxillo zurück.« Sun Koh wußte genug. 99
»Ich werde mich darum kümmern«, sagte er hastig und verließ den Raum. Er hastete durch den Gang. Hier gab es nur eine Erklärung. Die ganze Anlage war abgestellt worden. Entweder die Frauen der beiden Männer oder Capete selbst. Er hatte gestern immerhin Gelegenheit gehabt. In seiner Nähe hatten sich verschiedene Hebel befunden, die er durch eine unauffällige Körperbewegung hatte umlegen können. Wenn die Anlage sich außer Betrieb befand, dann war aber Capete bei klaren Sinnen. Und Nimba hatte Anweisung erhalten, ihn loszubinden. Die Tür flog zurück. Da lag Nimba mitten im Zimmer. Gerade wälzte er sich schwer herum. Sun Koh kniete neben ihm nieder, riß seinen Oberkörper hoch. »Nimba?« »Sie haben mich niedergeschlagen, Capete und der andere«, stöhnte Nimba, stemmte sich dabei aber schon wieder hoch. »Mein Kopf! Ich hielt sie doch für harmlos. Sie kamen von hinten.« »Komm!« Sun Koh lief weiter. Capete hatte Nimba die Waffen abgenommen. Flüchtig blickte Sun Koh in das Nebenzimmer. Der dritte Mann fehlte natürlich ebenfalls. Capete mußte sehr schnell gehandelt haben, während Sun Koh noch unten gewesen war. Ursula Harling! Wenn Capete sie als Geißel in die 100
Hand bekam, wurde er leicht zu stark. Da – ein Ruf und dumpfer Lärm. Sun Koh lief hinunter. Auf dem Gang drängte es sich. Covington lag auf der Erde. Die beiden Gehilfen hatten rechts und links das junge Mädchen gepackt und zerrten sie fort. Ursula Harling wehrte sich stumm und verbissen. Capete selbst suchte mit Hal fertigzuwerden. Der Junge hatte ihn angesprungen, seine Beine klemmten sich um die Hüften Capetes, seine Fäuste trommelten auf den Kopf. Capete versuchte ohne rechten Erfolg den Jungen abzuschütteln und die sicher schmerzhafte Schlagserie, die ihn ebenso wütend wie blind machte, zu stoppen. Sun Koh jagte in langen Sprüngen heran. Einer der Männer bemerkte ihn, stieß einen Warnruf aus, zog seine Pistole und schoß. Sun Koh überschlug sich nach vorn, rollte über die Schulter hinweg, kam zum Stand und schmetterte seine Faust vor, die die Wucht der Bewegung besaß. Hart kippte der Mann nach hinten. Der zweite fuchtelte mit der Waffe und suchte gleichzeitig Deckung hinter dem Mädchen. Die Waffe flog unter einem Schlag weg, der Mann hob die Hände. Sun Koh drehte ihn mit dem Gesicht zur Wand. »Nicht rühren, sonst…« Immer noch schob sich Capete mit Hal hin und her. Der Junge hing an ihm wie eine Wildkatze, die sich verbissen hat. Hal trommelte mit kurzen Schlä101
gen auf den Kopf Capetes und stieß dabei heisere, fauchende Laute aus. Capete aber glich fast einem geblendeten Büffel, wie er zusammengezogen und den Kopf tief gesenkt herumfuhr und den Jungen abzuschütteln versuchte. »Hal!« Hal hörte einfach nicht. Sun Koh griff zu. Seine Hand schloß sich um den Nacken Capetes und drückte ihn hinunter. Die linke Hand fing die wild arbeitenden Arme Hals auf und riß den Jungen von seinem Opfer weg. Capete lehnte sich gegen den harten Druck auf, aber die übermächtige Kraft zwang ihn. Aufstöhnend brach er in die Knie. Nimba kam heran, Covington rappelte sich auf. Sun Koh gab ein Zeichen. Nimba übernahm Capete. Hal lehnte zitternd an der Wand. »Das Schwein!« flüsterte er stoßweise. »Das Schwein! Er wollte sie verschleppen! Totgeschlagen hätte ich ihn!« Sun Koh löste die verkrampfte Rechte und drückte sie. »Tief atmen, Hal. Du bist ein Held.« »Der Kerl!« japste Hal noch, dann drückte er die Hand und seine Augen leuchteten auf. »Dem habe ich’s aber gezeigt!« * 102
Gegen Mittag des folgenden Tages standen sie zu fünft auf dem Bergrücken, der das Tal des Vergessens nach Westen zu abschloß. Hunderte von Metern unter ihnen lag das Tal. Weit entfernt, ganz am Rand des Blickfeldes, lag das Haus. Zu Fuß waren das immerhin einige Stunden Marsch. Die fünf hatten sich freilich klugerweise der Pferde bedient und waren so schnell an die abriegelnde Querwand gekommen. In mühsamer Kletterarbeit waren sie bis zu dem sattelförmigen Einschnitt aufgestiegen, von dem aus sie weiter nach Westen dringen wollten. Nachdenklich blickten sie zurück. Dort unten vergnügte sich jetzt Capete inmitten einer frohen Gesellschaft. Sun Koh hatte jene Strahlen, deren Natur nach wie vor unbekannt war, wieder eingeschaltet und damit den Leuten Miceros Frieden und Harmlosigkeit zurückgegeben, wie sie es sich wünschten. Selbst wenn die Frauen Capete und ihre Männer dem Einfluß wieder entzogen, mußte es ein oder zwei Tage dauern, bevor Capete an eine Verfolgung denken konnte. Sun Koh wandte sich nach Westen, wo jenseits des Sattels die Hauptkette des Gebirgszuges gegen den Himmel stand. »Wir wollen versuchen, noch heute auf die Hauptkette hinüberzukommen.« »Da werden uns die Beine aber wackeln«, murmelte Covington ahnungsvoll. 103
»Es wird nicht so schlimm werden«, beruhigte Sun Koh. »Die Mühe beginnt erst wieder, wenn wir in die sumpfige Niederung jenseits des Gebirges absteigen müssen.« »Zum Magdalenenstrom hin?« »Hätten wir nicht den Weg nehmen können, auf dem ihr gekommen seid?« fragte Ursula Harling. »Nein«, antwortete Sun Koh. »Er ist uns zwar bekannt, aber erstens ist er länger, und zweitens finden wir auf dem Magdalenenstrom leicht einen Dampfer, während wir an der Lagune wochenlang auf eine Gelegenheit warten müßten.« »Und außerdem«, ergänzte Nimba, »würden wir auf der Lagune oder in Maracaibo geradewegs unserem Freund Micero in die Arme laufen.« »Er kann uns auch in Baranquillo abfangen.« »Das ist Kolumbien und nicht mehr Venezuela. Er dürfte es auf alle Fälle erheblich schwerer haben.« Sun Koh gab ein Zeichen, zu schweigen. Er horchte angestrengt. Die anderen horchten mit. Ein feines Summen, wie von einer fernen Stechmücke, lag in der Luft. Die Augen Sun Kohs suchten am Himmel, der sich weißblau über die Felsenwelt spannte. Nicht weit über dem Horizont stand ein Pünktchen in der Luft. Sie beobachteten eine Weile, dann wandte Sun Koh die Augen ab. 104
»Ein Flugzeug. Das könnte Micero sein. Vorwärts, zur Wand hinüber, dort finden wir genügend Dekkung.« Sie nahmen ihre Sachen auf und wechselten über den Sattel. An der aufsteigenden Wand konnten sie sich leicht gegen Sicht von oben schützen. »Sollten wir uns nicht lieber auf die Beine machen?« fragte Covington. »Je mehr Vorsprung wir gewinnen, desto besser für uns.« »Selbst die größte Anstrengung könnte uns dem Flugzeug gegenüber nicht genügend Vorsprung verschaffen«, erwiderte Sun Koh ablehnend. »Wir müssen vor allem feststellen, ob das Flugzeug Micero gehört.« Die nächste Viertelstunde löste jeden Zweifel daran. Das Flugzeug flog genau auf das Tal zu, senkte sich hinein und landete in der Nähe des Hauses. »Wenn Micero selbst drin sitzt, wird er schön die Augen aufreißen«, sagte Hal grinsend. »Er wird sich kaum damit begnügen«, ergänzte Nimba trocken. »Ich denke, wir haben ihn bald auf den Fersen.« »Na wenn schon«, meinte der Junge geringschätzig. »Mit dem Flugzeug holt er uns zwar schnell ein, er kann aber nicht viel ausrichten. So groß war die Maschine nicht. Wenn er wirklich ein halbes Dutzend Männer in den Weg stellen kann, brauchen wir noch lange keine Angst zu haben. Ich denke aber, er 105
wird hier im Gebirge noch nicht einmal landen können. Das Vergnügen, uns auf die Köpfe zu spucken, können wir ihm schon gönnen. Bomben wird er ja nicht gleich geladen haben.« »Dann wird er eben seine Leute nüchtern machen und hinter uns herhetzen.« »Bleiben glatt zwei Tage Vorsprung.« »Wenn er nicht einen Landeplatz voraus findet und uns mit einigen Flügen den ganzen Trupp auf den Weg setzt.« »Auch möglich. Eigentlich schade, daß wir jetzt nicht mehr dort unten sind, nicht wahr, Sir? Wir hätten uns doch verstecken und dann das Flugzeug stürmen können.« »Du hast eine verwegene Phantasie, Hal.« Sun Koh lächelte. »Es wird übrigens nicht lange dauern, und wir bekommen das Flugzeug aus der Nähe zu sehen. Wenn Micero gekommen ist, wird er vor allem unsere Spuren feststellen wollen. Nutzen wir also unsere Zeit. Der Spalt dort ist breit genug, um das Nachtlager aufzuschlagen.« »Wollen wir denn bis morgen hierbleiben?« fragte Ursula Harling erstaunt. »Wenn das Flugzeug die Gegend absucht, müßten wir ohnehin stilliegen. Weit würden wir also doch nicht kommen. Da ist es schon besser, wenn wir gleich Vorsorge für die Nacht treffen.« Sie zogen sich in den Spalt, der eine Sicht vom 106
Flugzeug aus unmöglich machte, zurück. Von Vorbereitungen für ein Nachtlager konnte ja eigentlich nicht die Rede sein, dazu war ihre Ausrüstung zu geringfügig. Zwei Stunden später dröhnte das Flugzeug über ihnen. Es war eine sehr starke Maschine mit zwei Motoren, dabei aber ein ausgesprochenes Sportflugzeug. Mehr als ein halbes Dutzend Leute konnten sicher nicht in ihm untergebracht werden. Das Flugzeug zog immer wieder Kreise über dem Sattel und der weiteren Umgebung. Sicher prüfte man von oben her mit Ferngläsern die Landschaft. Da es unmöglich war, in den Spalt einzublicken und andererseits der Fels keine Spuren hielt, konnten sich die Suchenden höchstens wundern und Vermutungen aufstellen. Nach langer Suche kehrte das Flugzeug in das Tal zurück und landete wieder in der Nähe des fernen Hauses. Dann kam die Nacht. Sun Koh teilte die erste Wache Nimba zu. Er selbst legte sich mit nieder. Als die anderen jedoch eingeschlafen waren, erhob er sich leise und winkte Nimba beiseite. »Du mußt die nächste Wache mit übernehmen«, sagte er. »Ich will versuchen, an das Flugzeug heranzukommen.« »Sir!« murmelte Nimba erschrocken. »Bevor die Nacht verstreicht, bin ich zurück – mit 107
oder ohne Flugzeug.« »Und – wenn Sie nicht zurückkommen?« »Dann setzt ihr euren Weg unter allen Umständen fort. Du übernimmst die Führung. Die Entscheidungen müssen nach den Verhältnissen getroffen werden. Aber ich glaube nicht, daß ich ausbleibe.« »Wollen Sie nicht wenigstens mich mitnehmen?« »Nein. Leb wohl.« Er drückte Nimba die Hand und glitt davon. Es war noch sehr zeitig. Das war gut, denn so lag die ganze Nacht noch vor ihm; aber es hatte den Nachteil, daß der Mond noch nicht aufgegangen war. Das Licht fehlte gerade im gefährlichsten Stück des Weges, nämlich beim Abstieg zum Tal. Sun Koh mußte sich mehr auf seine Erinnerung und auf sein Tastgefühl verlassen als auf seine Augen. Zweimal löste sein tastender Fuß kleine Steinschläge aus, aber sonst kam er sicher hinunter. Als die grasige Ebene erreicht war, begann er zu laufen. Es wäre nicht nur für den Laien, sondern auch für den Sachverständigen ein hoher Genuß gewesen, diesen Mann laufen zu sehen. Seine Beine und Schultern bewegten sich mit der ruhigen Sicherheit und Gleichmäßigkeit einer Maschine. Er lief mit der Geschwindigkeit eines Sprinters und der Ausdauer jener Tarahumara-Indianer der Sierra Madre, die ihre dreihundert Kilometer ohne Pause zurücklegen und dabei auch noch eine Eichenkugel vor sich herstoßen. 108
In einer Stunde hatte Sun Koh die ganze Strecke zurückgelegt, zu der andere mehrere Stunden Marsch benötigt hätten. Und als er in vorsichtigen Schritt überging, da ging sein Atem nicht heftiger als gewöhnlich. Das Haus lag in vollem Lichterglanz. Die breite Fensterfront wirkte, mit den bunten Lampions zusammen, geradezu feenhaft. Das Flugzeug stand etwa fünfzig Meter vor dem Haus neben dem breiten Weg, der zum Schwimmbad führte. Es stand im Streulicht des Hauses, nicht hell genug beleuchtet, um jede Möglichkeit auszuschließen, aber auch nicht genügend im Dunkeln, um einfach herangehen zu können. Außerdem standen einige Leute in seiner Nähe. Sun Koh nutzte das hohe Gras, um ein Stück weiter heranzukommen. Micero stand bei der Gruppe. Seine Stimme klang laut und wütend. »Halten Sie den Mund, Capete! Ich kann Ihr dummes Lachen nicht mehr ausstehen. Machen Sie, daß Sie fortkommen. Morgen früh, wenn Sie nüchtern sind, werden wir weiter miteinander reden!« Capete ging zum Haus. Einer der Männer machte eine halblaute Bemerkung, worauf Micero herrisch auffuhr: »Das weiß ich selber. Aber habe ich ihn angestellt, daß er sich übertölpeln läßt? Ich kann solche Leute nicht gebrauchen!« 109
Langsam rückte Sun Koh vor. »Ihr beide übernehmt die erste Wache«, befahl Micero. »Haltet eure Augen offen. Ich habe die Flüchtigen nicht gesehen und traue dem Frieden nicht. Dieser Kerl bringt es fertig und kehrt um.« »Das würde ihm aber verdammt schlecht bekommen«, brummte einer. »Rede nicht so albern«, fuhr ihm Micero gereizt über den Mund. »Ich habe ihn auch zu leicht genommen. Der Teufel soll euch holen, wenn ihr nachlässig seid. Ihr anderen könnt euch schlafen legen.« Zwei Mann steuerten auf das Haus zu. Micero ging zum Flugzeug, stieg hinein und blieb eine Weile drin. Dann kam er wieder heraus, wechselte einige Worte mit seinen beiden Wächtern und … Nein, er wandte sich nicht dem Haus zu, sondern schritt fast in entgegengesetzter Richtung davon, in der gleichen Richtung, in der Sun Koh im Gras lag. Drei Meter seitlich von Sun Koh blieb er stehen und blickte das Tal entlang. Sun Koh lag unbeweglich am Boden. Es war nicht möglich gewesen, sich zurückzuziehen. Jetzt nahm Micero doch Richtung auf das Haus. Diese Richtung schnitt aber genau den Körper Sun Kohs. Die Entscheidung fiel schneller, als Sun Koh gewünscht hatte. Drei Schritte machte Micero, dann schnellte ein Schatten vor ihm hoch. Ein Aufschrei riß im Entste110
hen ab, dumpf krachte die Faust Sun Kohs, Micero schlug nach hinten um. »Was ist denn?« rief einer der Wächter. Die beiden reckten die Köpfe, griffen nach den Gürteln. Sun Koh flog über die kurze Strecke heran. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als alles einzusetzen. Etwas Hartes schlug gegen seinen Arm, Schüsse knallten. Die beiden schossen in der Aufregung und dank der Dunkelheit ganz erbärmlich. Eine lange Rolle brachte Sun Koh dicht an die beiden heran. Die Schultern Sun Kohs rammten gegen die Beine des einen, seine Hände griffen schnell nach den Füßen vor, so daß der Mann, wie ein Pfahl gestreckt, nach hinten schlug. Der andere wagte nicht zu schießen oder hatte sein Magazin schon geleert, er griff jedenfalls mit beiden Händen zu, bevor Sun Koh wieder hochkam. Jähes Aufschnellen beraubte ihn seines Standes, eine Armbewegung riß die Klammer entzwei. Kurze Sekunden rollten sich die beiden Gestalten hin und her, dann wurden die Arme des zweiten Wächters schlaff. Sun Koh blieb geduckt neben dem Flugzeug hokken. Es nützte ihm nichts, jetzt hineinzuspringen. So schnell brachte man ein fremdes Flugzeug nicht in Fahrt. Da liefen sie schon heran, die mit Micero gekommen waren, hinter ihnen das neugierige Gedränge der Hausbewohner. 111
Die beiden waren vorsichtig. Sie duckten sich hinter Bäume. »Senhor Micero!« schrie einer. »Was ist los?« »Dort ist ein Fremder!« rief der andere. »Ein Überfall! Hände hoch!« Sun Koh zog seine Waffe. Jetzt blieb ihm schon nichts anderes übrig, als zu schießen. Die beiden schossen bereits. Die Kugeln spritzten gegen das Flugzeug. Rechte Schultern und Arme der beiden hoben sich gut gegen den hellen Hintergrund ab. Zweimal zuckte das Feuer aus der Hand Sun Kohs. Ein doppelter Aufschrei zeigte die Treffer an. Die Männer griffen nach ihren Schultern, schwankten aus der Deckung heraus und liefen verwirrt davon. Sun Koh dachte nicht mehr daran, hinter ihnen herzuschießen. Außerdem steckten die beiden schon Sekunden später in dem Haufen der anderen. Die beiden Wächter waren noch bewußtlos. Sun Koh lief zu Micero hinüber. Es war gerade die richtige Zeit, denn Micero kam eben zu sich. Er zeigte eine Anwandlung, ein Handgemenge zu beginnen, aber Sun Koh hob ihn einfach auf, schlug ihm auf die Hände und trug ihn zum Flugzeug hin. Um ein Haar wäre alles schiefgegangen. Micero kam gerade an einer Stelle zu liegen, an die die Pistole eines Wächters geflogen war. Sun Koh beachtete das nicht, aber Micero nutzte seine Gelegenheit. Er 112
griff sofort zu, riß den Arm hoch und schoß aus geringster Entfernung. Sun Koh wich zur Seite. Micero befand sich im Pech. Er hatte die Pistole ergriffen, deren Magazin der Wächter in toller Aufregung leergefeuert hatte. Der Hahn klickte dünn, mehr ereignete sich nicht. Micero konnte sich aber erst viel später darüber Rechenschaft ablegen, denn Sun Koh hatte seiner Ausweichbewegung einen Schlag folgen lassen, der Micero das Bewußtsein zum zweiten Male nahm. Nun strömten die anderen heran, Männer und Frauen, etwas betroffen, sehr neugierig, aber im Grunde immer heiter. Sie fürchteten keine Gefahr für sich, weil sie die Lage überhaupt nicht in ihrem Ernst erfassen konnten. »Das ist doch Mister Sun Koh!« schrie eine Frau. »Mister Sun Koh?« wiederholten andere und beschleunigten ihren Schritt. »Sieh da, Mister Sun Koh«, stellte auch Capete fest, der sich mit an der Spitze befand. »Das ist ja witzig! Sie waren doch fort. Und nun haben Sie sich mit Micero …« Er brach ab und dachte nach. So ganz einwandfrei schien ihm die Lage denn doch nicht zu sein. Sun Koh wehrte die Fragen, die auf ihn eindrängten, mit ruhiger Freundlichkeit ab. »Es tut mir leid, meine Damen und Herren«, erklärte er, »wir müssen unsere Unterhaltung auf später 113
verschieben. Nein, diesen Herren ist nichts Ernstliches passiert, sie werden Ihnen bald Gesellschaft leisten können. Bitte, treten Sie zurück.« Jetzt endlich stieg er in die Maschine hinein. Die Zündung war gesperrt, er mußte wieder hinaus und sich den Zündschlüssel aus einer der Taschen Miceros holen. Die Zuschauer folgten jeder Bewegung mit wohlwollender Anteilnahme. Einige äußerten Bedenken, aber sie erschienen ihnen selbst nicht so wichtig, um daraufhin zu handeln. Sun Koh atmete auf, als das Flugzeug endlich dröhnte und wie vor Ungeduld leise zitterte. Der Streich war gelungen. Noch einmal ging er hinaus, um die Neugierigen aus der Bahn zu drängen und die drei Männer beiseite zu tragen. Der eine wurde dabei munter. »Bleiben Sie ruhig liegen«, riet ihm Sun Koh mit ernstem Nachdruck, »Sie gefährden sonst unnütz Ihr Leben. Sobald ich fort bin, können Sie sich um die anderen kümmern.« »Wer sind Sie?« ächzte der Mann. »Sun Koh.« »Sun Koh?« schnappte der andere. »Dann – dann ist es nur gut, daß der Senhor selbst mit dabei war. Aber – Sie können sich auf was gefaßt machen!« »Ich werde es mit Fassung tragen«, erwiderte Sun Koh kurz. Wenig später kletterte der Motorensang des Flug114
zeugs höher und höher. Die Maschine kam auf Touren, das Flugzeug rollte langsam an, stieß schneller vor, die Motoren heulten urgewaltig auf, der Boden fiel zurück. Unten winkten Männlein wie Weiblein freundlich hinterher. Ein ganzes Stück vor der Felswand, wo der Boden noch eben und frei von großen Geröllbrocken war, landete Sun Koh. Noch war nicht alles geschafft. Micero und seine Leute konnten jetzt schon bei Bewußtsein sein. Wenn sie sich auf die Pferde warfen und schleunigst hierher ritten, konnten sie schnell da sein. »Nimba!« Langgezogen stieg der Ruf an der Felswand nach oben. »Sir!« »Herunterkommen!« »Wir kommen!« Sun Koh mußte wohl oder übel bei dem Flugzeug bleiben. Er legte den Kopf auf die Erde. Mit dem einen Ohr lauschte er, ob sich Pferde näherten. Durch den Boden hindurch mußte er das Geräusch der aufschlagenden Hufe auf größere Entfernung wahrnehmen. Mit dem anderen Ohr prüfte er die Geräusche nach, die die Absteigenden verursachten. Als erster kam Hal herangestürzt. »Sie haben es, Sir!« jubelte er. »Warum liegen Sie dort unten?« 115
Sun Koh zog ihn herunter. »Hör mal, ob Pferde kommen. Dann sofort melden!« Hal legte sich hin. Sun Koh lief den anderen entgegen und half über das letzte Drittel hinweg. Als alle beim Flugzeug waren, stand Hal auf. »Immer noch keine Pferde, Sir, aber ein Ameisenhaufen muß in der Nähe sein.« »Einsteigen«, befahl Sun Koh. »Jetzt kann Micero getrost kommen.« Micero hatte wohl von vornherein auf jede Verfolgung verzichtet. Auf der mondbeschienenen Ebene bewegte sich nichts, als das Flugzeug darüberschwebte. Das Flugzeug schoß durch die Nacht. Sun Koh blieb am Steuer. Während er sich den Arm verbinden ließ, der durch einen glatten Fleischdurchschuß verletzt worden war, gab er einen kurzen Bericht von dem, was geschehen war. »Und wir haben geschlafen«, murrte Covington dazu. »Da hätte ich dabei sein mögen.« »Andere auch«, knurrte Nimba. Hal schüttelte mißbilligend den Kopf. »Micero haben Sie aber zu sanft behandelt, Sir. Dem hätte ich erst einmal die Hammelbeine gründlich langgezogen.« »Du würdest dich wahrscheinlich noch jetzt mit ihm unterhalten«, sagte Sun Koh lachend. 116
»Zu sagen hätte ich ihm allerdings einiges«, meinte Hal. »Das Gesicht möchte ich sehen, das er jetzt macht.« »Ihr seid schreckliche Männer«, sagte Ursula Harling mit lächelndem Vorwurf. »Wenn es sich um solche gefährliche Kämpfe handelt, dann leuchten eure Augen.« »Bei Ihrem Verlobten nicht«, warf Hal ein. »Bei dem leuchten sie, wenn er Sie ansieht.« Sie lief rot an und lächelte zu Covington hin. Zwei Tage später verabschiedete sich Sun Koh von dem jungen Paar. Auf dem Rollfeld stand die Düsenmaschine, die Covington und Ursula Harling nach England bringen sollte. Er hatte Covington so gut ausgestattet, daß er es sich leisten konnte, genügend Abstand von Micero zu nehmen. Er wollte sich immer noch bedanken, aber Sun Koh wehrte auch jetzt ab. »Sie waren ein guter Kamerad«, sagte er. »Und vielleicht werde ich Sie eines Tages brauchen. Viel Glück.« »Und Sie?« fragte Covington. Sun Koh lächelte. »Unser Weg ist noch nicht zu Ende. Wir müssen die Männer, die wir kennenlernten, noch unter der Erde besuchen.«
117
7. »Schluß für jetzt!« Sun Koh wies auf ein schattiges Fleckchen. »Uff«, stöhnte Hal erleichtert und ließ seinen Pakken von der Schulter gleiten. »Das nächstemal nehme ich mir einen Sonnenschirm mit.« »Ich einen Ziegenbock für diese verrückte Kletterei.« Nimba rutschte behutsam zusammen. »Mir wackeln die Knie.« »Dann bring sie nur zum Stillstand, wenn sie zufällig gerade sind«, schlug Hal vor, »dann bist du die krummen Beine los.« »Hast du einen Sonnenstich?« fragte Nimba vorsichtig. »Vor Lachen.« Hal setzte die Flasche an. Er schluckte, dann schüttelte er sich. »Brr – das Wasser ist lauwarm. Wir hätten uns Wasser suchen sollen, Sir. Wenn Nimba noch einigermaßen einen Vortrag hält, ist es schlecht!« Nimba zuckte nur verächtlich mit den Schultern. Sun Koh kostete das Wasser. »Warm genug, aber bis zum Abend kommen wir noch hin. Länger suchen wir hier nicht.« »Wir geben auf?« »Wenigstens hier. Wenn wir unsere Ausrüstung vervollständigt haben, versuchen wir es an einer anderen Stelle.« 118
Hal pendelte mit dem Kopf. »Hm, eigentlich schade. Ich dachte, wir würden schon gestern den Zugang finden.« »Wir mußten immerhin mit einer Enttäuschung rechnen, als wir in Truxillo von dem neuen Erdrutsch hörten, den es in der letzten Zeit hier gegeben haben soll. Dabei ist der Zugang, den Morley benutzt hat, wohl mit verschüttet worden. Jedenfalls haben wir, bis auf jenes Reststück vor uns, die ganze Umgebung der Stelle abgesucht, an der vor zwei Jahren die amerikanische Expedition verschüttet wurde.« Sie saßen schweigend. Anderthalb Tage waren sie durch Wald und Felswüste gestiegen, geklettert und gerutscht, dieses verrückte Gelände verwünschend, das eine Riesenfaust durcheinandergeschüttelt zu haben schien. Sun Koh suchte den Eingang zu der Höhlenwelt, die unter dem Bergland von Honduras verborgen sein sollte. Die Bewohner dieses Landes raunten seit Jahrhunderten von riesigen Höhlen, ohne jemals mehr zu tun, als zu raunen und alles Böse und Seltsame auf die geheimnisvolle Unterwelt zurückzuführen. Vor zwei Jahren endlich hatten es Amerikaner unternommen, den Gerüchten auf den Grund zu gehen, die Höhlen zu finden und zu erforschen. Sie meldeten der Öffentlichkeit, daß sie einen Zugang gefunden hätten, einen Tag später jedoch brach der Berg über ihnen zusammen und verschüttete sie ohne 119
Ausnahme. Niemand kehrte zurück, um zu berichten, was er gesehen hatte. Vor kurzem war dann ein Mann in New York aufgetaucht, ein gewisser Morley, der behauptete, die Höhlen kennengelernt zu haben. Er wollte einen Vortrag darüber halten und eine Expedition ins Leben rufen. Jetzt lag er hilflos im Bett. Zwei schwere Wunden hatte ihm sein Beginnen eingebracht, und nur dem Eingreifen Sun Kohs war es zu verdanken, daß Morley nicht ein Opfer jener Leute geworden war, die eine Erforschung der Höhlen zu vermeiden wünschten. Sun Koh hatte bereits in Venezuela auf eine Höhlenwelt geschlossen. Er hatte den Eindruck mitgenommen, daß Vincente Micero, der mächtige Venezolaner, in Honduras, und zwar in der Nähe von Truxillo, zahlreiche Leute in einer Höhle für sich arbeiten lasse. Schon damals war sein Entschluß geboren worden, dieser Höhle nachzuspüren. Der Schatten rückte weiter. »Auf!« Der zermürbende Klettermarsch begann von neuem. Nach einer Weile blieb Sun Koh stehen und beschattete seine Augen. Seine beiden Begleiter folgten seinem Beispiel. »Mächtig komisch!« fand Hal das, was er sah. »Eine Stiefelspitze«, stellte Nimba sachlich fest. »Dort haben sie einen zur Hälfte begraben«, vermutete Hal. 120
»Es liegt jemand hinter dem Felsblock«, berichtigte Sun Koh. »Leise heran!« Behutsam näherten sie sich dem niedrigen Block, über den die Spitze eines ziemlich verbrauchten Schuhs ragte. Die Lage der Stiefelspitze veränderte sich auch nicht, als die drei herantraten und über den Block hinwegblickten. Zu dem Stiefel, durch dessen Sohle man stellenweise das nackte Fleisch sah, gehörte ein Fuß und alles andere, was zu einem Menschen nötig ist. Am oberen Rand des Schuhs wellte sich eine schmutzige, buntfarbige Socke, dann kam ein Stück bloße Wade, dann eine ausgefranste Hose, die durch ein verschwitztes Hemd und eine zerknitterte Jacke abgelöst wurde. Ein Mann lag da, eigentlich mehr ein Männchen. Sein Kopf war in die tiefste Stelle des Bodens gebettet, der Körper lag in leichter Schräge nach oben. Das rechte Bein war über das angezogene linke Knie geschlagen, so daß die Stiefelspitze neugierig über den Felsblock lugen konnte. Das Männchen schlief. Zwischen Bart und Stoppeln stand der Mund wie ein Krater offen. »Man reiche mir einen Eimer kaltes Wasser«, flüsterte Hal. »Ein Landstreicher in dieser Gegend?« Nimba schüttelte den Kopf. 121
Sun Koh wies auf einen erstaunlich neuen und in mancher Hinsicht merkwürdigen Tornister mit breiten Gurtbändern und Schnallen, der neben dem Schläfer lag. »Ein seltsamer Landstreicher. Wenn ich nicht irre, ist das ein Fallschirm.« »Donnerwetter!« »Ein Englein fiel vom Himmel.« Hal bohrte stillvergnügt mit dem Finger in ein Loch des Stiefels hinein. Der Fuß wippte hoch, das Männchen riß die Augen auf, schob sich schleunigst in sitzende Stellung und schimpfte auch schon los: »Was fällt Ihnen ein, mich an den Fußsohlen zu kitzeln? Ich kann das nicht vertragen, verstanden? Außerdem haben Sie mir meinen ganzen Schuh verdorben!« Er reckte seinen Schuh flüchtig hin und zeterte weiter: »Das kostet Sie einen Haufen Geld. Ein Paar neue Schuhe plus ein Paar seidene Socken mit Fersenverstärkung. Was fällt Ihnen ein, mich in meinen Betrachtungen zu stören?« Er schwatzte, aber seine Augen gingen wieselflink und scharf prüfend von einem zum anderen. Er sah sich seine Leute genau an. Ein Landstreicher war das sicher nicht. Die Stirn verriet ausgeprägte Klugheit, die Sprache den Amerikaner. Etwas verrückt, aber ernstzunehmen, das war Sun Kohs Eindruck. 122
»Betrachtungen? Bei uns nennt man das Schlaf.« »Schlaf!« schnaubte das Männchen verächtlich. »Sie schlafen vielleicht, während andere nachdenken. Ich schlafe überhaupt nicht bei Tag. Das Fleisch ist willig, aber der Geist ist wach. Geistig gearbeitet habe ich, geliebter, jugendlicher Flegel.« »Geschnarcht haben Sie, verehrungswürdiges Sauerkrautmännchen«, gab Hal bissig zurück. »Sauerkrautmännchen?« schnappte der Fremde. »Das muß ich mir aufschreiben! Und geschnarcht! Daß ich nicht lache! Das war die musikalische Unterstreichung meiner geistigen Tätigkeit.« »Ich bedaure, daß wir Sie im Nachdenken gestört haben«, sagte Sun Koh. »Das haben Sie nicht«, sagte der Kleine. »Ich habe regelrecht geschlafen. Aber ich konnte es doch dem Jungen nicht zugeben, wegen der Autorität, verstehen Sie. Haben Sie sich verlaufen, Mister Sun Koh?« Sun Koh beugte sich jäh vor. »Woher kennen Sie meinen Namen?« Der Fremde legte den Kopf auf die Seite und schielte belustigt zu Sun Koh hinauf. »Ja, woher?« fragte er sich. »Warten Sie, ich glaube, ich habe Ihren Namen irgendwo gehört. Ich weiß aber nicht, wo!« Der komische Kauz lud sich den Tornister auf und schnallte sich die breiten Bänder um. »Kommen Sie ein Stückchen mit?« Sun Koh nickte. 123
»Sie möchten wohl gern wissen, was hier drin ist?« fragte das Männchen. »Ein Fallschirm«, brummte Nimba. »Haben Sie denn einen Zugang zu den Höhlen gefunden?« fragte das Männchen unvermittelt. »Nein«, erwiderte Sun Koh ruhig, »ich hoffe aber, daß Sie uns den Zugang zeigen werden.« »Ich?« entrüstete sich der andere. »Was weiß ich denn von Höhlen?« »So viel, wie man bei längerem Aufenthalt in Höhlen erfährt.« »Wollen Sie etwa behaupten, daß …« »Ja.« »Und wie kommen Sie zu der Behauptung?« »Das werde ich Ihnen verraten, sobald Sie mir sagen, wie Sie zu unseren Namen kommen.« »Gemacht. Ich habe ein Gespräch belauscht. Einige Leute unterhielten sich über Sie und Ihre Begleiter. Zu dritt sollten Sie sein, ein Neger dabei. Nun, so stark ist Truxillo und Umgebung nicht mit Fremden gesegnet, daß ich nicht meine Schlüsse hätte ziehen können, als Sie auftauchten.« »Was sprachen die Leute über mich?« »Sie sorgten sich sehr darum, daß Sie keinen Zugang zu gewissen Höhlen fänden. Im übrigen waren sie sich einig, Ihren Sterbetag zu verschieben, bis der Chef des Hauses nähere Weisungen erteilt habe.« »Wo haben Sie die Leute belauscht?« 124
»Nicht doch«, wehrte der Kleine jetzt ab, »alles mit Maßen. Jetzt sind Sie erst einmal dran. Wieso haben Sie…« »Man riecht es«, sagte Sun Koh lächelnd. »Ihre Kleider tragen den Modergeruch feuchter Höhlen an sich.« »Hm«, sagte das Männchen bestürzt. »Wie geht es Perkins?« fragte Sun Koh. »Perkins?« fragte das Männchen verwundert zurück. »Wer ist das?« Der Tonfall war echt. Sun Koh erkannte, daß er auf dem falschen Weg war. Er stieß aber sofort wieder vor. »Ein Freund von Micero.« Das Männchen schüttelte den Kopf. »Micero? Kenne ich auch nicht. Meinen Sie etwa die Leute, die in den Höhlen … Nein, Schluß jetzt!« »Ich würde jetzt an Ihrer Stelle einiges über mich erzählen.« »Und ich würde an Ihrer Stelle schleunigst abreisen. Es gibt keine Höhlen in der Gegend, nicht eine einzige, winzige Höhle, Sie brauchen sich also wahrhaftig nicht anzustrengen.« »Warum nicht?« »Ich kann Sie hier nicht brauchen, weil sonst Ihretwegen der ganze Zauber einfach in die Luft gesprengt wird. Ich bin aber mit meiner Arbeit noch nicht fertig. Kommen Sie in einem Jahr wieder, dann 125
können Sie tun, was Sie wollen. Aber jetzt verschwinden Sie, ich gebe Ihnen später auch alles zu lesen, was ich hier festgestellt habe. Hand darauf, daß Sie morgen das Land verlassen?« Sun Koh lächelte flüchtig. »Ich denke nicht daran.« »Sie sind ein Narr!« schrie der Kleine. »Sie werden die Höhlen ohnehin nicht finden.« »Früher oder später doch.« »Bis dahin sind Sie tot!« »Halten Sie es nicht für besser, wenn wir uns zusammentun?« »Nein«, sagte der Kleine wild. Leise kam es hinterher: »Als ob ich mir das nicht gleich gedacht hätte. Eigentlich müßte ich Sie wegen Nötigung anzeigen.« »Es ist einfacher, wenn Sie mir einen Zugang zu den Höhlen zeigen.« »Glauben Sie, man kann da so einfach hineinspazieren? Nein, das machen wir nicht. Lieber nehme ich mir das Leben und springe in den Krater hinein.« Sie schwiegen nun längere Zeit. Der Berg wurde steil und strengte an. Schließlich standen sie nebeneinander am Rand des Kraters, dessen Innenwände dicht vor ihnen lotrecht abfielen. Der Krater war kreisrund. Ein Ausbruch konnte, nach den umgebenden Gesteinsmassen zu urteilen, seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten nicht mehr stattgefunden haben, der Vulkan befand sich jedoch in recht beachtlicher 126
Tätigkeit. Aus dem unsichtbaren Grund drangen ununterbrochen dicke Wolken von Rauch, Schwefeldämpfen und Wasserdampf, die über den Kraterrand hinaus nach oben stiegen. Der Grund selbst war an keiner Stelle zu sehen. Die dichte Decke der Dämpfe verwehrte den Durchblick. »Hübsch, was?« fragte der Fremde, nachdem er wieder zu Atem gekommen war. »Dort unten brodelt’s ganz hübsch. Haben Sie Mut? Wie wäre es mit einem Sprung dort hinunter?« »Sie vergessen, daß im Mut auch ein Stück Vernunft liegt!« »Faule Ausrede«, sagte der Kleine. »Hier herumzuschnüffeln und mich zu ärgern, dazu reicht’s, was? Klemmt der Reißschirm eigentlich noch?« »Nein.« Der Kleine angelte nach hinten und zog den kleinen Fallschirm, der den großen schneller herausreißen sollte, auf, so daß er locker herunterhing. »Tatsächlich«, sagte er erfreut, »alles in Ordnung. Na, da kann’s ja losgehen. Wenn Sie nach Truxillo zurückkommen, sehen Sie sich mal die Häuser von San Martino an. Vielleicht erkundigen Sie sich bei dieser Gelegenheit einmal nach dem verrückten Senhor Carlos. Machen Sie ihm einen Besuch, aber nur bei Nacht, wenn es niemand sieht. Sie haben ein kluges Köpfchen, Sie werden das schon richtig machen. Gehen Sie getrost hin, und bestellen Sie ihm, Sie hät127
ten mich in den Tod getrieben.« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Sie sind ein seltsamer Kauz, Senhor Carlos.« »Was!« schrie das Männchen. »Sagte ich nicht, daß Sie ein kluges Köpfchen haben? Zu klug, viel zu klug. Sie bringen es sogar noch fertig, daß ich Ihnen die Höhlen zeige. Ich ziehe es vor, eines natürlichen Todes zu sterben.« Einen Schritt machte er vorwärts, dann sprang er mit erstaunlich großem Satz in den Krater hinein. Nimba und Hal griffen unwillkürlich nach vorn, Sun Koh ebenfalls, aber nur, um seine beiden Begleiter zurückzuhalten. Der Fremde stürzte, wenige Meter von der senkrechten Wand entfernt, jäh in die Tiefe. Der Reißschirm wölbte sich prall über ihm und riß das lange, schmale Stoffbündel des Fallschirmes heraus. Aber es war unsinnig, hoffen zu wollen, daß der Fallschirm den Sturz abfangen könne. Die weiße Dampfdecke lag nur fünfzig Meter unter dem Kraterrand, die Höhe war also viel zu gering. Der Mann schlug denn auch wie ein Stein hinein und verschwand. Nach ihm glitt nicht weniger schnell der dünne Kegel des Fallschirms mit der winzigen Rundkuppel des Reißschirms in den Brodem hinein. Nach Sekunden verriet nichts mehr, daß ein Mann in den Krater gesprungen war. »Der ist ja wahnsinnig!« schrie Hal. 128
»Verrückt!« sagte Nimba fassungslos. Sun Koh nahm seinen Packen von der Schulter und begann ihn zu öffnen. Er bedeutete den beiden, das gleiche zu tun. »Gebt eure Schnüre heraus.« »Ja?« meinte Hal bereitwillig und zugleich fragend. »Ich habe durchaus nicht den Eindruck, daß dieser Mann verrückt ist«, nahm Sun Koh wie im Selbstgespräch Stellung. »Seine Augen blickten viel zu klug und lebendig. Er trieb wohl seinen Scherz mit uns, aber mehr auch nicht.« Hal schüttelte lebhaft den Kopf. »Er muß wahnsinnig gewesen sein! Man springt doch nicht zum Vergnügen in den Krater.« Sun Koh nahm die Bündel, die ihm gereicht wurden. Es waren dünne Seile von der Stärke einer Gardinenschnur, aber aus tragfähigster Seide, eine Spezialschnur, die trotz der geringen Stärke einen Mann tragen konnte. Sorgfältig knüpfte er die drei Seile zusammen und band dann an das eine Ende einen Stein. Dabei ging das Gespräch weiter. »Vielleicht hat er uns auch damit zum Narren gehalten«, erwog Sun Koh. »Habt ihr euch den Fallschirm genau angesehen?« Nimba nickte. »Er war ziemlich neu, aber bestimmt nicht mehr fabrikneu. Er ist schon früher benutzt worden.« 129
»Gut beobachtet. Aber wo sollte er benutzt worden sein? Wenn der Mann kein Flugzeug besitzt, stellt dieser Krater mit seinen außergewöhnlichen senkrechten Wänden eigentlich die einzige Gelegenheit dar, die er zur Verfügung hat.« Hal verzog die Lippen zum Vorwurf. »Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß er schon öfter in den Krater gesprungen ist? Dann müßte er doch schon längst tot sein.« »Davon will ich mich eben überzeugen«, erwiderte Sun Koh. »Ist euch die Asche nicht aufgefallen?« »Asche?« »Ja«, sagte Hal. »Jetzt wo Sie es sagen, entsinne ich mich. In den Falten und in den Schnallenwinkeln, saß ein grauer Belag. Sei strichen vorhin darüber hinweg und sahen ihn sich an.« »Ganz recht. Ich hatte Asche am Finger. Der ganze Schirm machte den Eindruck, als habe er in der Asche gelegen und sei abgeklopft worden.« »Das bedeutet?« Sun Koh hob die Schultern. »Warten wir noch mit der Deutung. Einstweilen dürfen wir annehmen, daß sich dort, wo der Mann den Fallschirm zuletzt benutzte, größere Aschenmengen befanden.« Hal schielte in den Abgrund hinunter. »Hm, jetzt wird weder vom Mann noch vom Fallschirm was übrig sein.« 130
»Das bezweifle ich«, erwiderte Sun Koh. »Eins steht fest, und das ist das Entscheidende: Ein Mann mit solchen Augen nimmt sich nicht freiwillig das Leben. Mir scheint es besser, an dem Krater zu zweifeln als an unserem seltsamen Bekannten.« »Sie wissen eben mehr, als Sie uns verraten wollen«, beklagte sich Hal. »Nicht mehr, als auch du wissen könntest.« »Aus dem Kerl wurde man ja nicht klug. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich ihn erst einmal übers Knie gelegt und ihm etwas Vernunft eingetrichtert. Er hätte dann schon von sich erzählt.« »Das hat er doch schon getan«, meinte Sun Koh. »Er hat sich wohl verrückt benommen, aber so sehr zurückhaltend war er eigentlich nicht. Wenn sich ein Mensch wie ein Narr benimmt, muß man eben stillschweigend den Narren abziehen. Ist dir aufgefallen, daß er uns erwartet hat?« Hal blickte verdutzt. »Er schlief doch.« »Nur scheinbar. Erstens pflegt ein Mensch kaum mit derart übereinandergeschlagenen Beinen einzuschlafen, zweitens legt man sich kaum in der brütenden Sonne zum Schlafen nieder, zumal nicht auf solchen Steinen, und drittens war der rechte untere Ärmel des Mannes auffallend mit Felsstaub beschmutzt. Da sich gerade in der richtigen Höhe eine Lücke zwischen den Blöcken befand, vermute ich 131
stark, daß er unser Herannahmen beobachtet und sich erst im letzten Augenblick schlafend gestellt hat.« »Donnerwetter«, brummte Nimba, »mir ist der Ärmel auch aufgefallen, aber ich habe mir nichts dabei gedacht.« »Allerhand«, meinte Hal etwas schmerzlich, »das nächstemal werde ich besser aufpassen. Aber warum sollte er auf uns gewartet haben – und wer ist der Mann überhaupt?« »In der Vorstadt San Martino wird er wohl der verrückte Senhor Carlos heißen. Und er wird wohl auf uns gewartet haben, weil er sich nirgends unbeobachtet mit uns in Verbindung setzen konnte. Wahrscheinlich fürchtet er allzu aufmerksame Augen und Ohren.« »Aber dann mußte er doch über uns Bescheid wissen.« »Natürlich, er kannte ja sogar unsere Namen, unsere Absichten.« »Woher?« »Vielleicht hat er wirklich das Gespräch belauscht, von dem er sprach. Aber ich halte es auch nicht für ausgeschlossen, daß Morley ihn verständigt hat. Wenn Morley längere Zeit hier gewesen ist, dürfte er diesen Mann gekannt haben.« Hal schlug sich an die Stirn. »Eben.« Sun Koh trat dicht an den Absturz heran und ließ 132
die Schnur durch die Hände gehen. Der Stein senkte sich in langen Rucken hinunter. »Sie wollen die Tiefe abloten, Sir?« fragte Hal. »Ja, Hal. Bis auf hundertfünfzig Meter kommen wir.« »Ich glaube nicht, daß der Kratergrund so tief ist. Und wenn die Fallhöhe wirklich ausreichen würde, hätte der Mann doch unten verbrennen müssen, falls er nicht schon vorher erstickt ist, nicht wahr?« »Wenn man den Selbstmord bezweifelt, bleibt nichts übrig, als auch die Wirklichkeit dieses Kraters zu bezweifeln.« Nimba und Hal schüttelten die Köpfe. Sie verstanden Sun Koh nicht mehr. Der Stein verschwand im Brodem. Sun Koh gab mit gleichmäßigen Bewegungen das Seil ab. »Hundert Meter«, bemerkte er beim zweiten Knoten. »Der Stein hängt noch frei.« Hundertfünfzig Meter. Sun Koh griff bis zum letzten Stück durch, dann holte er wieder auf. Seine Augen prüften sorgfältig den Strang, und Nimba und Hal halfen eifrig mit. Endlich kam der Stein in Sicht. Das Seil war an keiner Stelle verbrannt, angesengt oder verrußt. Nur feucht war es, überraschend feucht. »Hm.« »Hm.« »Also doch«, sagte Sun Koh befriedigt und löste 133
die Knoten. »Der Mann beging bestimmt keinen Selbstmord.« »Hundertfünfzig Meter sind zu wenig Sturzhöhe.« »Er hatte sicher das Mehrfache zur Verfügung. Das Seil zeigt nicht die geringste Spur von Erhitzung. Der Grund des Vulkans muß also außerordentlich tief liegen.« »Aber einmal muß er doch auf die feuerglühende Masse kommen.« »Oder auf festen Boden. Diese Wolken können harmlose, nur leicht geschwefelte Wasser dämpfe sein, die aus Spalten aufsteigen.« »Aber er fiel zu dicht an der Wand. Der Fallschirm konnte sich ja gar nicht entfalten.« »Vielleicht weicht die Wand später zurück?« Hal malte mit dem Zeigefinger eifrig Linien in seinen Handteller, dann nickte er wiederholt vor sich hin. »Jetzt hat’s aber geschnappt«, verkündete er. »In diesem Gebiet soll doch eine große Höhle liegen, nicht wahr? Wie nun, wenn dieser ganze Berg hohl ist und nichts anderes darstellt als die Kuppel einer Riesenhöhle unter unseren Füßen? Das gäbe eine ausreichende Höhe. Dieser Krater wäre dann gar kein Krater, sondern nur eine Esse, das Abzugsloch an der höchsten Stelle. Der Mann ist nicht in den Krater gesprungen, sondern in die Höhle.« »Mitten in die Spalten und in die flüssige Lava 134
hinein, die dann unten sein muß«, wandte Nimba bissig ein. »Das ist noch lange nicht gesagt«, verteidigte Hal seine Meinung. »Wenn es vulkanische Ausbruchstellen gibt, so können die auch seitwärts liegen, also nicht unmittelbar unter dem Krater. Die Dämpfe steigen natürlich zur Decke und ziehen durch das Loch. Das würde erklären, warum sie eigentlich alle dort drüben auf der Seite hochquellen. Was sagen Sie zu dieser Sache, Sir?« »Du hast genau meine eigenen Überlegungen getroffen«, entgegnete Sun Koh. »Nur diese Annahmen erklären, was sonst unerklärlich bleibt. Doch nun macht euch fertig, wir wollen so schnell wie möglich nach Truxillo zurück.« »Senhor Carlos aufsuchen?« »Ja.« 8. San Martino lag im Westen von Truxillo und bildete den Übergang zwischen der Stadt und der offenen Landschaft. Es war ein ärmliches Viertel, das mehr aus Hütten als aus Häusern bestand. Viele Indianer wohnten hier, dazu viele Mischlinge, verkommenes Volk, das auf irgendwelche wunderbare Weise vom Faulenzen und Herumschlendern lebte. Sun Koh schritt in der übernächsten Nacht mit sei135
nen Begleitern durch die schmutzigen Gassen. Er hatte außerhalb der Stadt gewartet, bis es dunkel geworden war, um etwaige Beobachter in der Stadt nicht aufmerksam zu machen. Zwischen den Hütten gab es auch zu dieser späten Stunde allerlei Leben. Mancher abschätzende Blick traf die drei Fremden, manches Geflüster setzte hinter ihnen ein. Sun Koh hielt einen älteren Mann an, der den Weg kreuzte. »Kennst du den Mann, den man den verrückten Senhor Carlos nennt?« erkundigte er sich in dem hierzulande gebräuchlichen Spanisch. Der Mann bekreuzigte sich. »Der verrückte Senhor Carlos? Gewiß, ich kenne ihn, ich habe ihn schon einmal gesehen.« Schon schlug er wieder das Kreuz, so daß Sun Koh fragte: »Warum bekreuzigst du dich?« Der Indianer verneigte sich unterwürfig. »Entschuldigt, Senhor, aber es ist nicht gut, von ihm zu reden. Es bringt Krankheit. Als ich ihn vor einem halben Jahr sah, bekam ich die Schmerzen im Bein, die noch nicht vergangen sind. Er ist ein böser Zauberer.« »Kannst du mir seine Wohnung zeigen?« Der Mann zögerte. »Ich weiß, wo er wohnt, Senhor, aber es ist ein schlechter Weg, und er hat schreckliche Geister mit 136
großen Flügeln, die jeden töten, der an die Hütte kommt. Ich bin ein kranker Mann und …« »Es genügt, wenn du mir die Wohnung aus der Ferne zeigst.« »Vielen Dank«, murmelte der Mann. »Ich werde Sie führen.« »Dieser Carlos scheint ja einen netten Ruf zu haben«, meinte Hal, während sie hinter dem Indianer herschritten. »Der Kerl wollte doch nur ein Trinkgeld schnorren«, brummte Nimba. »Na, er scheint Carlos aber doch für einen Zauberer zu halten.« »Na ja«, gab Nimba nun zu, »diese Leute sind eben mächtig abergläubisch. Für einen, der hier von der Neugier verschont bleiben will, ist es sicher kein schlechter Gedanke, sich durch ein bißchen Hokuspokus als Zauberer verschreien zu lassen.« Der Indianer führte sie aus den Gassen heraus ins Freie. Ein Pfad lief durch kümmerliche Felder und stieß auf den Wald. Am ersten Baum hielt der Indianer an und wies in das Dunkel hinein. »Dort hinein, Senhor, vielleicht noch eine Viertelstunde lang. Wo der Pfad aufhört, steht die Hütte, in der er wohnt.« »Willst du uns nicht weiter führen?« Der Mann schüttelte den Kopf und bekreuzigte sich. 137
»Nein, nein, es ist gefährlich!« In der Abwehr lag so viel ernste Besorgnis, daß Sun Koh ihn umkehren ließ und mit seinen Begleitern allein weiterging. Der Pfad wand sich schmal und halbüberwuchert durch den Wald. Ganz abgesehen von allem Geisterspuk war es schon verständlich, daß die Bewohner von San Martino den Pfad bei Nacht scheuten. Für Menschen, die die Naturverbundenheit ihrer Vorfahren verloren, aber alle abergläubische Scheu vor dem Undeutbaren bewahrt hatten, mußte der dunkle Wald mit seinen unbestimmten Geräuschen voll drohender Schrecken sein. Der Pfad weitete sich auf ansteigendem Gelände zu einer kleinen Lichtung, die von einer Felsterrasse abgeschlossen wurde. Dicht am Felsen stand eine baufällige Hütte. Bei Tag mochte sie leidlich romantisch wirken. Jetzt zeigten die weißen Lichtbündel der Handscheinwerfer erbarmungslos die Kümmerlichkeit und Dürftigkeit dieser Behausung. »Schöne Bude«, meinte Nimba. »Das sieht nicht so aus, als ob hier jemand wohnt«, flüsterte Hal. Sun Koh wies auf einige Fußspuren. »Unbenutzt scheint sie aber doch nicht zu sein. Hallo!« Erschreckend laut hallte der Ruf über die Lichtung. In der Hütte rührte sich nichts. Die drei traten 138
vollends heran. Sun Koh klopfte gegen die Tür. »Senhor Carlos?« Jetzt regte es sich in der Hütte. Unbestimmbare Geräusche drangen heraus, schwaches Licht kam aus einem halbblinden Fenster, Schritte schlurften, dann fragte eine Männerstimme: »Wer ist draußen?« »Freunde von Senhor Carlos«, gab Sun Koh zurück. »Uns schickt ein Mann, der in einen Krater sprang.« »Warten Sie bitte«, schallte es höflich durch die Tür. Wieder gingen Schritte, das Licht verschwand. »Sie ist von innen verriegelt«, stellte Hal fest, nachdem er die Tür näher in Augenschein genommen hatte. »Ein Tritt genügt«, schlug Nimba vor. »Warten wir ab.« Minuten vergingen. Endlich regte sich der Mann in der Hütte wieder. Ein Riegel wurde zurückgezogen, die Tür ging auf. »Bitte, treten Sie ein.« Sun Koh blieb im Rahmen der Tür stehen. Er hatte das eigene Licht abgeschaltet, so daß der Raum nur durch die leicht flackernde Öllampe des Bewohners erhellt wurde. Wahrhaftig, es war kein Wunder, wenn ein Eingeborener bei einem derartigen ersten Anblick in panischem Schrecken floh. 139
Kurz hinter der Tür schwebte ein phantastisches Ungeheuer im Raum. Es war eine Art Fledermaus von riesigen Ausmaßen. Die weitgespannten Flughäute reichten, mit rund vier Meter Länge, fast von einer Wand zur anderen. Plump und schwer hing ein dickhaariger Leib zwischen ihnen. An ihm saßen zwei kurze Füße, deren einzelne Zehen jedoch mit spannenlangen, gebogenen Krallen besetzt waren. Wie scharfe, spitze Dolche waren diese Krallen, Mordwerkzeuge, die wohl einen Menschen mühelos zerfleischen konnten. Schrecklicher noch war der Kopf dieses Ungeheuers. Er saß auf einem langen, offenbar sehr beweglichen Schwanenhals. Seine Form erinnerte an den Kopf einer Hyäne. In seiner unförmigen Gedrungenheit wollte er nicht recht zu dem schlanken Hals passen. Das geschlitzte, weit aufgerissene Maul wies ein mörderisches Gebiß mit den starken Fangzähnen eines Wolfes auf. Große Augen glühten in unheimlichem, fahlem Grün. Über den Augen schwankten fast meterlange, dünne Fühler wie vereinzelte Riesenhaare. Eine scheußliche Bestie. Und das unruhige, unbestimmte Licht gab ihr mit den wandernden Schatten eine gespenstische und zugleich drohende Lebendigkeit. Sun Koh stand in der Tür und blickte auf das schwebende Ungeheuer. Es war ihm selbst kaum bewußt, daß er die Hand unwillkürlich auf den Pistolenkolben gelegt hatte. 140
»Sie ist nur ausgestopft«, bemerkte der Mann, der die Tür geöffnet hatte. »Bitte, treten Sie ein.« Hal schüttelte sich und steckte seine Waffe, die er im ersten Schreck herausgerissen hatte, wieder weg. Sun Koh blieb noch stehen. Was sonst noch in der Hütte zu sehen war, entsprach dem äußeren Bild. Sie war innen so verwahrlost wie außen. Einiges Gerümpel lag am Boden, zwei Regale hingen schief an den Wänden. Rechts stand ein niedriges Lager mit einigen Decken. Der Bewohner dieser Hütte wartete seitlich neben der Tür. Das Licht der Lampe, die er in der Hand hielt, fiel voll auf sein Gesicht. Das war nicht das Gesicht jenes Mannes, der in den Krater gesprungen war. Dieser hier mochte ein Indianer oder ein Mischling sein. Zahllose Runzeln, graustruppiges Haar und die gebückte Haltung verrieten ein ziemlich hohes Alter. In den Augen lag sehr viel Gleichmut. Die Kleidung war genauso abgerissen und vernachlässigt, wie man von dem Bewohner dieser Hütte erwarten konnte. »Sind Sie Senhor Carlos?« »Ich bin sein Diener Zapa«, erwiderte der Alte ruhig. »Senhor Carlos erwartet Sie. Ich führe Sie gleich zu ihm, doch müssen Sie erst die Tür schließen.« Sun Koh trat ein, seine beiden Begleiter folgten. Zapa riegelte mit Sorgfalt die Tür zu. Hal griff inzwischen vorsichtig nach dem stellen141
weise noch unter Kopfhöhe hängenden Untier. »Ausgestopft natürlich«, murmelte er. »Aber gibt es denn so etwas wirklich?« »Es scheint so.« Sun Koh hob die Schultern. »Wenn es keine Montage ist, dürfte es sich um einen unbekannten Bewohner der Höhlen handeln.« Zapa schlurfte zur Rückwand. Dort öffnete er eine Tür, die im Halbdunkel nicht sichtbar gewesen war. Sie bestand, wie Sun Koh flüchtig bemerkte, aus doppelter Holzlage. Der Hütte waren morsche Bretter zugekehrt, auf der anderen Seite gaben gefügte, feste Bretter einen besseren Halt. Eine knapp mannshohe Öffnung gähnte dunkel. Sie war unten kaum einen halben Meter breit, bauchte weiter oben stark aus und schloß sich dann zu einer Spitze. Es handelte sich um einen Spalt im Fels, der von menschlicher Hand nicht bearbeitet worden war. Zapa ging mit seinem Lämpchen voran, die drei folgten. Nach zehn Metern klaffte seitlich ein Felsriß im weiterführenden Spalt. Ein dicker Stoffvorhang verbarg, was dahinter war. Zapa zog den Vorhang beiseite und bat höflich: »Bitte, treten Sie hier ein.« Der Raum hinter dem Vorhang war eine natürliche Ausweitung des Spalts. Er war einfach, aber recht sauber und sogar behaglich eingerichtet. Die Härte und Kahlheit der Wände wurde durch buntfarbige, große Decken, offenbar indianische Handarbeit, ge142
mildert. Tisch und Stuhl verrieten die ungeübten Hände, aber die zahlreichen Matten auf dem Boden und die Decken auf einem breiten, niedrigen Lager wirkten anheimelnd. Die angenehmste Überraschung war der verrückte Senhor Carlos, der seine Besucher in diesem Raum erwartete. Es war der gleiche Mann, den die drei hatten in den Krater springen sehen. Er grinste über das ganze Gesicht, während er Sun Koh die Hand entgegenstreckte. »Herzlich willkommen. Also haben Sie doch hergefunden. Was sagen Sie zu dem verrückten Don Carlos?« »Ich vermutete, daß Don Carlos doch nicht so verrückt sein würde, wie es den Anschein hatte.« »Habe ich mir gedacht«, sagte der andere. »Sie gehören zu den Leuten, die nicht einmal an den Tod glauben, wenn sie einen Knochenmann mit Sense sehen. Ah, da sind ja auch die beiden anderen, das grüne Gemüse und der schwarze Raubritter!« Hal schüttelte herzlich die Hand, die ihm der Kleine unvorsichtigerweise hingehalten hatte. Als er losließ, wollte Nimba zugreifen, aber Senhor Carlos winkte wehleidig ab. »Nehmen wir Platz. Die ganze Hand wird dick. Es ist wohl am besten, wenn ich Ihnen zunächst einige Aufklärungen gebe.« 143
»Bitte.« »Zunächst heiße ich natürlich nicht Carlos, sondern Montberry, Charles Montberry. Ich war Professor in Philadelphia und schloß mich vor rund zwei Jahren der Expedition an, die sich die Erforschung der Höhlen in Honduras zum Ziel gesetzt hatte. Sie wissen, daß die Expedition verschüttet wurde.« »Ich hörte davon.« »Die Mitglieder der Expedition wurden von Verbrechern ermordet«, fuhr Montberry ernst fort. »Nicht ein Naturereignis, sondern Sprengstoffe lösten die Katastrophe aus. Ich entging mit Zapa, den ich mir in Truxillo als Führer und Diener angeworben hatte, wie durch ein Wunder dem Tod. Während die andern noch in einem Spalt frühstückten, drang ich weiter vor. Die Explosion erfolgte, als wir beide eben die große Höhle gefunden hatten. Sie warf uns in die Höhle hinein, so daß wir am Leben blieben. Später fanden wir, nachdem wir fast alle Hoffnung aufgegeben hatten, wieder einen Ausgang ins Freie. Der Spalt, durch den wir uns retteten, wurde durch eine Hütte verdeckt. Wir besetzten die Hütte und leben seitdem hier. Ich habe mich in Truxillo nicht wieder sehen lassen. Zapa besorgte allen Verkehr mit der Außenwelt. Es ist mir so gelungen, meine Existenz vor gewissen Leuten zu verbergen.« »Sie blieben, um die Höhlen erforschen zu können?« 144
»Ja. Das Leben hier war nicht leicht, aber ich darf sagen, daß ich viel erreicht habe.« »Sie besitzen also unmittelbare Verbindung zu der Höhle?« fragte Sun Koh. »Zu der ersten Höhle, gewiß. Es besteht große Wahrscheinlichkeit dafür, daß das ganze Festland unterhöhlt ist. Daß diese erste Höhle ihre Fortsetzung findet, habe ich festgestellt, es ist mir jedoch nicht gelungen, weiter vorzudringen. Sie werden das später verstehen.« »Sie sagten vorhin, daß Sie von hier aus die Höhle erreichen könnten. Warum sprangen Sie dann mit dem Fallschirm in den Krater?« Montberry grinste flüchtig. »Der Sprung in den Vulkan? Es war jammerschade, daß ich Ihre Gesichter nicht sehen konnte. Die Kerle hatten mir nämlich mein letztes Boot gestohlen.« »Ein Boot? Enthält die Höhle Wasser?« »Einen ganzen See. Die östliche, also die uns zugelegene Seite, ist mit Wasser bedeckt. Ich habe immer ein Boot benutzt. Vor ein paar Tagen lief ich um ein Haar jenen Leuten in die Hände, als ich zum Boot wollte. Sie sprachen über Sie und suchten die Wände nach Rissen ab. Ich stand am Anfang meiner Spalte. Sie werden später verstehen, warum sie diese nicht entdeckten. Aber das Boot fanden sie. Es war ja eins, das eigentlich ihnen gehörte, und sie nahmen 145
an, daß es aus Versehen liegengeblieben sei, als vor zwei Jahren die Explosion vorbereitet wurde. So blieb mir nichts übrig, als mit dem Fallschirm in die Höhle zu springen und das Boot vom anderen Ufer zurückzuholen.« »Welche Höhe besitzt die Höhle?« Am Vorhang erschien Zapa, beide Hände voll beladen. »Achthundert«, sagte Montberry und winkte seinem Diener. »Herein, Zapa, tafle auf.« Er wandte sich wieder an Sun Koh. »Ich hoffe, daß Sie meine Gäste sein und auch etwas hier ruhen werden. Später will ich Ihnen dann die Höhle zeigen.« * Montberry ließ seine Gäste lange schlafen. Erst nach mehr als zwölf Stunden verließ der kleine Trupp die Höhlenbehausung und drang in dem Spalt weiter vorwärts. Montberry hielt die Spitze, sein Diener Zapa machte den Schluß. Der Spalt war stellenweise gerade noch breit genug, um einen Mann durchzulassen, stellenweise erweiterte er sich zu langgezogenen Höhlen. Er wies lange, übersichtliche Strecken auf, brach sich aber dann wieder einmal in schnell wechselnden Kurven. Eine halbe Stunde marschierten sie vorwärts, dann 146
wandte sich der Spalt in scharfem Winkel spitz zurück und endete nach zehn Metern vor einer Wand. Der Abschluß war freilich nur scheinbar, links führte ein mannsbreiter Spalt weiter. »Jetzt vorsichtig«, gab Montberry nach hinten. »Sie brauchen zwar kein Abrutschen zu befürchten, aber der Weg führt durch das Wasser.« Sobald sie sich nach links wendeten, senkte sich der bis dahin ebene Boden schnell ab und verschwand schon nach einem Meter in schwarzem, stillem Wasser. Die Senkung setzte sich jedoch nicht fort. Fünfzig Meter wateten sie durch knöcheltiefes Wasser, dann traten sie wieder auf trockenen Fels. Nun kamen sie zur Umschau. Sie standen in einer riesigen Höhle, von der sie gerade nur die Umrisse dieses Teils ahnen konnten, in dem sie sich befanden. Dort, wo der Spalt geendet hatte, bildeten schräg aufsteigende Wände einen rechten Winkel. Obgleich Sun Koh von seinem jetzigen Standpunkt aus das helle Licht seiner Lampe darauffallen ließ, war nichts mehr von dem Spalt zu entdecken. »Da können Sie lange suchen«, meinte Montberry, der mit der guten Laune auch den Spott wiedergefunden hatte. »So haben die Leute vor einigen Tagen auch schon die Ecke abgeleuchtet, ohne den Spalt zu finden. Ein Glück, daß das Felsband unter Wasser läuft.« 147
Die Lichtbündel glitten umher. Schwarzgrau und überraschend glatt setzte überall die Wand auf dem Wasserspiegel auf, führte in leichter Wölbung nach oben und verlor sich an den Grenzen des Lichts. Nur dort, wo die Männer jetzt standen, bildete der Fels eine Plattform von etwa hundert Quadratmeter Größe, die langsam ins Wasser verlief. Auf ihr lag ein kleines Boot, das zur Not ein halbes Dutzend Männer tragen konnte. Die Luft war feucht und atmete den Geruch einer größeren Wasserfläche. Sie war aber vor allem außerordentlich kühl. In dieser Kälte einer weltabgeschiedenen Gruft lag alles Erstarrende und zugleich Unheimliche, das den Besucher von Gräberhallen frösteln und erschauern läßt. Dazu kam jener unbestimmbare Modergeruch, der überall zu finden ist, wo der Atem des Lebendigen fehlt. Beklemmend wirkte auch die Dunkelheit des gewaltigen Raumes, der sich vor den Männern streckte. Als die sinnlos in eine Unendlichkeit hinausgeworfenen Lichtpfeile erloschen, starrten die Augen in eine absolute Schwärze hinein, die menschliche Augen sonst nicht kennenlernen. Hier fehlten selbst diese letzten Spuren von Licht. An die Wölbung der Augen preßte sich eine pechige, tote Schwärze, die die Sinne wie den Menschen fürchterlich beengte. Und hinter dieser Schwärze schienen im Nu tausend Gefahren zu lauern. 148
Den Ohren ging es fast ähnlich wie den Augen. Ringsum stand wie eine Mauer eine fast unbegreifliche Stille, so unbegreiflich, daß das Bewußtsein den Sinnen mißtraute. Wenn nicht die Atemzüge und gelegentliche Bewegungen hörbar geworden wären, so hätte jeder dieser Männer sich wohl für taub gehalten. »Eine scheußliche Dunkelheit!« sagte Hal nach einer Weile. »Man denkt, daß man überhaupt nicht mehr da ist.« Er ließ seine Lampe aufflammen, aber Montberry legte sofort die Hand darüber. »Noch nicht. Löschen Sie wieder aus.« Hal gehorchte, und Montberry fuhr mit der hohlen Klangfärbung, die die Höhle jedem gesprochenen Wort gab, fort: »Man gewöhnt sich schnell an diese – hm – eigenartige Umgebung. Wir wollen einstweilen noch ohne Licht stehenbleiben, bis sich unsere Sinne etwas umgestellt haben. Sehen Sie ruhig geradeaus, Sie werden dann schon merken, daß wir es doch nicht mit einer hundertprozentigen Tonnenschwärze zu tun haben. Die Augen müssen nur erst nachtsichtig werden.« »Ich sehe«, sagte Sun Koh plötzlich. »In weiter Entfernung befindet sich ein schmales Lichtband. Oder ist das eine Sinnestäuschung?« »Nein«, antwortete Montberry mit einer gewissen Feierlichkeit. »Sie sehen wirklich.« 149
»Ich sehe immer noch nichts«, brummte Nimba. »Was ist das?« fragte Sun Koh. »Sie sehen das andere Ende der Höhle oder wenigstens das Licht, das jenes Ende kennzeichnet. Dort leuchten die feuerglühenden Massen, die sie im Krater vergeblich gesucht haben. Zwanzig Kilometer sind es bis dorthin.« »Jetzt sehe ich das Licht auch!« riefen Nimba und Hal gleichzeitig. »Zwanzig Kilometer?« wiederholte Sun Koh staunend. »Eine einzige Höhle?« »Ja«, bestätigte Montberry. »Zwanzig Kilometer Länge und an der breitesten Stelle fast fünfzehn Kilometer Breite. Der Boden bildet eine Ellipse von ziemlicher Regelmäßigkeit. Über ihr wölbte sich die Decke der Höhle in allmählichem Anstieg. Die Kuppelstelle ist mit rund achthundert Metern jene Krateröffnung, die Sie bereits von außen kennengelernt haben. Sie liegt nicht in der Mitte, sondern nur zwei Kilometer vom hinteren Ende entfernt. Die Wölbung der Decke ist dort entsprechend stärker, die Decke führt auch nicht wieder zum Boden herunter. Ich sagte Ihnen ja schon, daß die Höhle weiterführt. Ich vermute, daß das gesamte Bergland von Honduras unterhöhlt ist. Sie wissen ja vielleicht, daß dieser ganz schmale Streifen Mittelamerika, von dem wiederum Honduras das Mittelstück darstellt, unter ganz ungewöhnlichen Umständen sein heutiges Gesicht 150
bekommen hat. Ich denke da nicht so sehr an die Gestaltung durch die zahlreichen Vulkane, als an die Folgen der ungeheuren Zusammenbrüche, die einst hier stattgefunden haben. Was sich heute Westindien, Karibisches Meer, Golf von Mexiko nennt, was heute zwischen Nord- und Südamerika über oder unter dem Wasser liegt, war einst zweifellos ein ganzer Erdteil, der vor Jahrhunderttausenden oder Jahrzehntausenden in gewaltigen Katastrophen abgebrochen ist. Die Erschütterungen jener Zeit mögen diese Höhlenwelt geschaffen haben, so daß das Bergland von Honduras heute einem Schwamm gleicht, der durch die feste, aber dünne Decke verborgen gehalten wird, durch die Decke eines Faltengebirges, das mit allzu großer Wucht gegen das durchlaufende Rückgrat gedrückt wurde und dabei die Verbindung mit dem Urgestein verlor. Wo die Decke einbrach, sind dann Bildungen, wie der riesige Nicaragua-See, entstanden. Doch nun wollen wir weiter. Greif zu, Zapa.« Sie griffen alle zu, um das Boot ins Wasser zu schieben. Während sie einstiegen, fragte Sun Koh: »Gibt es in der Höhle nicht gefährliche Tiere?« »Nein.« »Wir sahen in der Hütte …« »Ich weiß«, unterbrach Montberry. »Sie meinen die Höhlenfledermaus, diesen interessanten Bastard von Fledermaus, Raubvogel und Hyäne. Das war eine gefährliche Bestie, von der mich Zapa durch einen 151
guten Schuß befreit hat. Wenn sie auch noch hätte sehen können, wäre es uns allen beiden wahrscheinlich schlecht bekommen.« »Hatte sie keine Augen?« Montberry lachte kurz auf. »Künstliche. Ich habe ihr zwei phosphoreszierende Scheiben vorgebunden, wegen der besseren Wirkung auf neugierige Leute, die sich in der Hütte immer umsehen wollen.« »Es gibt also keine derartigen Tiere mehr in der Höhle?« »Ich habe nur dieses eine kennengelernt. Es muß sich aus einer anderen Höhle hierher verirrt haben. Hinter der Feuerwand der vulkanischen Risse, die diese Höhlen abschließen, muß es Höhlen mit Lebewesen geben, die alle phantastischen Vorstellungen übertreffen.« »Dann wundert es mich, daß diese Höhle frei ist.« »Sie werden das verstehen, wenn Sie das andere Ende gesehen haben.« »Die Höhle ist demnach völlig tot?« »Tot nicht, aber was hier lebt, ist harmlos.« Sie stießen ab. Das Boot glitt über die dunkle, grenzenlose Fläche des unbewegten Wassers. Die Lampen waren abgeschaltet. Die Insassen schwiegen. Nur die Atemzüge und die Bewegungen der Ruder waren hörbar. Es lag etwas Gespenstisches in dieser Fahrt. So glitten wohl nach der Vorstellung 152
der Antike die toten Seelen in die Unterwelt hinein. Da nur zwei Ruder zur Verfügung standen, blieb es bei mäßiger Geschwindigkeit. Eine Stunde verging, bevor das suchende Licht, das nach oben zu schon lange keine Decke mehr erreichte, auf den Seiten keine Wände mehr traf, auf festes Land fiel. Sie stiegen aus und zogen das Boot hoch. Der Boden, auf den sie trafen, war Fels, aber über diesem lag eine graue Schicht, in der sich die Schuhe abdrückten. »Etwas Flugasche«, erklärte Montberry beiläufig. »Es ist so wenig, daß die Luft davon frei zu sein scheint, aber im Laufe der Jahrtausende hat es sich schon gesammelt. Später werden Sie mehr davon bewundern können.« Hal leuchtete am Ufer entlang. Plötzlich ruckte er scharf zusammen, riß seine Pistole heraus und rief: »Da!« »Nicht schießen!« schnappte Montberry hastig. »Das Tier ist völlig ungefährlich.« »Teufel noch mal«, murmelte Hal, »ich war aber erschrocken. Das Vieh sieht wahrhaftig nicht so ungefährlich aus. Aber Sie müssen es ja wissen.« Montberry schritt auf Zehenspitzen an das Tier heran, das halb auf dem Strand und halb im Wasser lag. »Es ist eine Art Molch«, erläuterte er dabei, »vollkommen blind und vermutlich auch gehörlos, aber 153
sehr empfindlich im Tastsinn. Gehen Sie nicht zu dicht heran.« Ein Molch konnte es sein, aber einer, der ins Riesenhafte übersetzt war. Das Untier, dessen glatte, kellerbleiche Haut widerlich im Lichtschein aufleuchtete, besaß fast zwei Meter Länge. An dem unförmigen Kopf, der die unmittelbare Fortsetzung des walzenförmigen Leibes darstellte, hingen rechts und links lange, stark verästelte Kiemenbüschel über dem breiten, lippenlosen Maul, wie ein verwirrter Bart, dicke und dünne Tastfäden, die unruhig nach allen Seiten gierten. Diese schlangenhaft beweglichen Tastorgane standen in gespenstischem Gegensatz zu der toten Ausdruckslosigkeit des Kopfes und der leichenhaften Bewegungslosigkeit des farblosen Leibes. Man konnte es Hal nicht verdenken, daß er bei diesem Anblick aufgeschrien hatte. Der Molch war ungefährlich, aber er bot einen Anblick, der vor Ekel schütteln machte. »Hübsch, was?« fragte Montberry, der solchen Eindrücken gegenüber abgestumpft war. »Essen kann man das Fleisch nicht, es ist ziemlich giftig. Mir ist es jedenfalls schlecht bekommen, als ich es versucht habe.« »Pfui Teufel!« »Sie werden sich bald an den Anblick gewöhnen. Ich habe mich auch daran gewöhnt. In der ersten Zeit freilich ist es mir kalt über den Rücken gelaufen.« 154
Sie schwiegen. Sun Koh und seine Begleiter begriffen sehr wohl, was in dem unscheinbaren Männchen steckte. Es gehörte mehr als gewöhnlicher Mut dazu, ganz allein im Grabesdunkel einer unbekannten Riesenhöhle vorzudringen und mit Erscheinungen dieser Art, wie überhaupt mit allen nie erlebten Schrecknissen fertigzuwerden. Mochte Montberry aussehen wie ein Landstreicher und reden wie ein Narr, er besaß den zähen Willen des echten Forschers und die unerschrockene Seele eines echten Helden. Eine Bewegung machte den Molch mißtrauisch. Er wälzte sich plump herum und glitt in das Wasser, um fast sofort zu verschwinden. Montberry machte eine ausholende Bewegung nach dem fernen Lichtstreifen zu, der jetzt schon erheblich deutlicher geworden war. »Ich schlage vor, daß wir uns zunächst das andere Ende der Höhle ansehen. Hier ist das meiste bereits durch mich getan, wenigstens habe ich leidlich die Maße genommen und die Tier- und Pflanzenwelt – es gibt nämlich auch einige Pflanzen weiter vorn – festgestellt. Die entscheidende Frage ist die, ob es jemals gelingt, in die anschließenden Höhlen vorzudringen. Ich habe es nicht fertiggebracht, aber vielleicht finden Sie eine Möglichkeit.« »Gehen wir«, sagte Sun Koh. Sie beluden sich mit den Vorräten, den Waffen 155
und was sie sonst mitgenommen hatten, dann traten sie den Marsch an. Die Feuer, die in weiter Entfernung loderten, gaben jetzt wenigstens schon so viel Helligkeit ab, daß man die nächste Umgebung einigermaßen erkennen konnte. Sie hielten sich zunächst nach Nordwesten, schräg auf die rechte Seitenwand der Höhle zu. Die dünne Ascheschicht verlor sich bald, ihre Füße trafen glatten Fels, der zwar etwas schleimig und schlüpfrig war, dafür aber keine Hindernisse mit Geröll oder Rissen bot. »Wir müssen erst einmal aus dem Bereich der Asche heraus«, erklärte Montberry gelegentlich. »Wenn es der Zufall will, entdecken die anderen unsere Spuren und jagen uns. Ich glaube zwar nicht, daß sie jemals wieder hierherkommen werden, aber wir sind besser vorsichtig.« »Das Land steigt an?« fragte Sun Koh. »Ja, wir überqueren einen Hügelrücken, der sich durch die Höhle zieht.« Nach einer Stunde traf das letzte Scheinwerferlicht auf die nahe Höhlenwand. Sie wechselten nun die Richtung, so daß sie stets in ungefähr gleicher Entfernung blieben. Nach abermals einer halben Stunde hielt Montberry an und wies auf eine fahlhelle Stelle, die in weiter Entfernung hoch oben schwebte. »Das ist die Öffnung, durch die ich in die Höhle gesprungen bin, der vermeintliche Krater also. Es ist 156
das Abzugsloch für die Dämpfe, die aus dem Hintergrund der Höhle kommen. Sie spüren sicher die leichte Bewegung der Luft?« Sun Koh bejahte. Die Veränderungen waren wirklich stark genug. Sie beschränkten sich nicht darauf, daß jetzt ein feiner Wind zu fühlen war. Die Luft war auch erheblich wärmer geworden, hatte den Kellergeruch etwas verloren und dafür an einer gewissen Schärfe gewonnen. »Zwischen dem Abzugsloch und den Feuerspalten tut sich’s natürlich noch ein bißchen anders als hier am Rand«, fuhr Montberry fort. »Dort gibt es meistens ganz hübsche Wirbel von Kalt- und Heißluft und Asche. Unter dem Schlot befinden sich ausgedehnte Aschefelder, die freilich zum großen Teil durch Pflanzenwuchs gebunden sind. Es handelt sich um eine Dornenart und eine Art Gras mit messerscharfen, sehr harten Halmen.« »Es ist erstaunlich, daß bei dieser geringen Lichtzufuhr überhaupt Pflanzen bestehen können.« Montberry hob die Schultern. »Ein bißchen blaß sehen sie schon aus, aber sie leben. Die Natur kennt so leicht keine Bedingungen, denen sich das Lebende nicht anzupassen vermöchte. Übrigens ist es dort unter dem Krater ganz hübsch hell. Nach dieser Dunkelheit würde es Ihnen taghell vorkommen. Außerdem gibt ja die Feuerwand auch Licht.« 157
Das war richtig. Die Feuerwand, die noch einige Kilometer entfernt lag, gab sogar ziemlich viel Licht. Flammen sah man freilich nirgends. Was Montberry als Feuerwand bezeichnete, war ein düsterrot überglühter Vorhang von gut zwei Kilometer Breite, der den Hintergrund abriegelte. Unten leuchtete das Rot kräftig, nach oben zu erstickte es mehr und mehr in Grau und Schwarz. Die Männer blickten sich um. Vor ihnen lag das ewige Feuer, hinter ihnen lastete schwarz und tot die ewige Nacht. Oder? Scharf beugten sich alle vor, reckten die Köpfe in die Dunkelheit hinein, aus der sie gekommen waren. War das nicht eben ein kurzer, roter Feuerblitz gewesen, weit, weit hinten, am anderen Ende der Höhle, ein Aufzucken von Licht? »Was –was war das?« stieß Montberry heraus. »Was war denn das?« brummte Nimba. »Habe ich was gesehen oder war das eine optische Täuschung?« erkundigte sich Hal. »Ein Feuerschein dort hinten?« fragte Sun Koh sich selbst. »Wie weit sind wir von unserer Ausgangsstelle entfernt?« »Über fünfzehn Kilometer«, antwortete Montberry. Und plötzlich schrie er auf: »Teufel noch mal, das sah bald wie eine Explosion aus. Die Kerle werden uns doch nicht unseren Ausgang gesprengt haben?« 158
»Wir wollen noch warten, ob wir etwas hören«, schlug Sun Koh vor. »Da der Schall in einer Sekunde dreihundert Meter zurücklegt, werden fünfundvierzig Sekunden vergehen, bevor er hierherkommt. Er wird uns verraten, ob dort eine Explosion stattgefunden hat.« Sie lauschten. Sie Sekunden verstrichen sehr langsam. Doch dann murrte es dumpf aus dem gewaltigen Schalltrichter der Höhle heraus, schwoll fast zum langgezogenen Donner an und fiel prasselnd wieder ab, bis nur noch gedämpfte Unruhe wogte. »Doch eine Explosion«, stellte Sun Koh verhalten fest. »Dann gnade uns Gott«, murmelte Montberry dumpf. »Ich dachte es mir, daß Ihr Auftauchen die Kerle in Bewegung bringen würde!« »Es tut mir leid, daß wir Ihnen solche Ungelegenheiten gebracht haben.« Montberry lachte ärgerlich auf. »Unsinn! Denken Sie etwa, ich mache mir um meinetwillen Gedanken? Halten Sie mich gefälligst nicht für so minderwertig. Um Sie handelt es sich. Wenn unser Ausgang nämlich gesprengt ist, sitzen wir lebenslänglich in dieser Höhle fest. Und bilden Sie sich ja nicht etwa ein, daß es Ihnen leichtfallen wird, sich in einer anständigen Haltung an die Wand zu setzen und bloß noch dafür zu sorgen, daß irgendein Nachfahre ein guterhaltenes Gerippe findet.« »Na, na«, meinte Hal, »so schnell setzen wir uns 159
nicht zur Ruhe.« »Wir müssen wohl erst feststellen, was geschehen ist«, erwog Sun Koh. »Ich begreife unsere Lage vollkommen, Mister Montberry, aber wir wollen auch keine Tragik vorempfinden, die noch nicht vorliegt. Unsere Vermutungen können durchaus in die Irre gehen.« »Mächtig wenig wahrscheinlich«, erwiderte Montberry ruhiger. »Wenn gewisse Leute von Ihrer Ankunft in Truxillo erfahren haben, so haben sie jedenfalls nach Ihnen geforscht. Und da man Sie nicht mehr fand, hat man wohl Augen und Ohren aufgemacht. Eine Kleinigkeit kann genügt haben, um die Leute zu meiner Hütte zu führen.« »Immerhin müssen wir uns erst überzeugen.« »Natürlich, vor allen Dingen, wir müssen doch wissen, woran wir sind.« »Gut, dann werde ich umkehren und Nimba mitnehmen. In sechs Stunden können wir wieder da sein.« »Ja, ich will doch aber auch …« »Halten Sie es wirklich für nötig, daß wir alle umkehren? Es bedeutet eine überflüssige Anstrengung, außerdem verlangsamen wir zum Beispiel die Bootsfahrt übermäßig.« Montberry ließ sich überzeugen. Hal ließ sich nicht überzeugen, aber er fügte sich selbstverständlich der Entscheidung und blieb mit dem Professor und Zapa zurück, während Sun Koh und Nimba sich 160
auf den Rückweg machten. Vier Stunden schlichen für die Zurückbleibenden quälend hin. Sie hockten auf ihren Packen und starrten vor sich hin. Zapa schwieg sich völlig aus. Montberry und Hal tauschten dann und wann Bemerkungen, aber zu einem Gespräch wollte es nie reichen. Nur als Hal die Gelegenheit zu weiterem Vordringen benutzen wollte, gab es einen heftigen Streit zuungunsten Hals. Vier Stunden. Zapa stieß endlich einen Laut aus, die beiden anderen sprangen jäh hoch. Unter dem fahlen Fleck, der die Krateröffnung kennzeichnete, stand plötzlich ein grünleuchtender, verzerrter Punkt, der sich langsam senkte. Von ihm ging ein schmaler Lichtkegel senkrecht in die Tiefe hinunter. »Das sind sie«, flüsterte Montberry. Die große Entfernung ließ nicht viel erkennen. Der grüne Punkt zog eine Schleife, schoß schräg nach unten in die Feuerwand hinein und kam nicht wieder. Hal faßte den Professor am Arm. »Wen meinen Sie? Was wissen Sie von diesem grünen Punkt?« Montberry machte sich frei. »Das waren eben die Leute, die selbst einen Mord nicht scheuen, um die Geheimnisse dieser Höhle zu wahren. Der grüne Punkt ist eine Art Luftschiff, nicht größer als zehn Meter, aber sehr schnell. Ich 161
habe es schon einmal gesehen, als ich mich fast unter der Krateröffnung befand. Damals kam es von dort hinten und stieg ins Freie. Damals bin ich erst richtig daraufgekommen, daß es in den anderen Höhlen noch Menschen geben muß. Es ist ein merkwürdiges Luftschiff.« Fünf Stunden. Sechs Stunden. Endlich kamen die beiden Männer zurück. Durch Lichtzeichen meldeten sie ihre Ankunft, durch Lichtzeichen wurde ihnen der Weg gewiesen. Montberry lief Sun Koh ungeduldig ein Stück entgegen. »Was ist?« »Ihre Vermutungen waren richtig«, sagte Sun Koh ernst. »Es gibt jenseits des Wassers keinen Ausgang aus der Höhle mehr.« »Gesprengt?« »Ja. Das erste Stück des Spalts ist erhalten geblieben, dann riegelt der niedergegangene Berg alles ab. Es besteht keine Aussicht, dort jemals wieder durchzukommen.« »Das – diese Schufte!« preßte er heraus. Sun Koh legte ihm die Hand auf die Schulter. »Fügen wir uns in das Unabänderliche. Da uns jener Ausgang versperrt ist, werden wir mit entsprechend größerer Anstrengung versuchen, weiter vorzudringen.« Montberry ließ die Arme sinken. 162
»Natürlich«, sagte er leise, »nur … Nun, ich will Ihnen die Sache nicht unnötig schwermachen. Wir müssen schon tragen, was an uns herankommt.« Sun Koh erfuhr durch Hal vom Auftauchen des grünen Flugkörpers. Er sagte wenig dazu, obwohl ihm die Nachricht genauso wichtig war, wie Hal vermutet hatte. Sie holten das Essen nach, das sie bis jetzt hinausgeschoben hatten, dann drangen sie gegen die Feuerwand und gegen die schnell zunehmende Wärme vor. Bereits nach einer Viertelstunde waren sie weit genug heran, um zu sehen, was vorlag. Die Felswände schnürten die Höhle bis auf rund zwei Kilometer Breite ein, während sich gleichzeitig die Decke bis auf annähernd hundert Meter herabsenkte. In dieser Enge war der Boden auseinandergerissen. Mächtige Spalten von fünfzig bis hundert Meter Breite lagerten sich quer vor. Diese Spalten stellten wohl die magmaführenden Gänge vor, durch die der blinde Krater einst mit den Feuernestern der Erdrinde in Verbindung gestanden hatte. Die Verbindung war abgerissen, jetzt brodelten feuerflüssige Massen im Grunde dieser Spalten. Sie warfen glutroten Schein, Gase und viel Wasserdampf – irgendwo mußte Wasser einfließen – nach oben. Die ganze riesige Toröffnung über den Spalten war ein unruhig wallender Vorhang, der sich oben an der Höhlendekke entlangzog und mit einem spitzen Ende an der 163
Krateröffnung hing. Das Auge vermochte nicht, ihn zu durchdringen, wahrscheinlich aber nur deshalb nicht, weil es dahinter völlig dunkel war. Es handelte sich nicht um einen einzigen Querriß, sondern um mehrere Risse. Sie lagen nicht in einer Reihe nebeneinander, sondern spalteten den Boden schräg und griffen gegenseitig über, so daß für die oberflächliche Betrachtung das Feuerband keine Unterbrechung zeigte. Tatsächlich befanden sich aber zwischen den Spalten feste Gesteinsbrücken von ziemlicher Breite, die sich zwischen den Spalten hindurchschlängelten. »Dort müßten wir durchkommen«, meinte Nimba. »Nur mit Gasmasken«, schränkte Montberry ein. »Zapa hat es versucht. Es war ein Glück, daß ich ihn angebunden hatte und ihn zurückziehen konnte. Nach meinen Untersuchungen gibt es nur eine einzige Stelle, an der wir gewisse Aussichten hätten. Ich will sie Ihnen zeigen.« Er führte dicht an der Wand entlang weiter heran. Der letzte Spalt stieß unmittelbar auf die anstehende Wand, aber er verengte sich so stark, daß die Breite nur noch fünf Meter betrug. »Hier!« wies Montberry. »An der Wand ist nichts zu erhoffen, sie ist zu glatt. Aber ein guter Springer könnte hinüberkommen, zumal die Gase hier nicht zu fürchten sind. Sie werden schräg fortgezogen. Dicht an der Wand ist die Luft eigentlich ganz gut. Aber 164
fünf Meter sind eine ganz hübsche Entfernung, außerdem ist sehr die Frage, ob man drüben genügend Anlaufgelände hat.« Hal winkte groß ab. »Fünf Meter mach ich mit dem kleinen Finger. Ich denke, es ist wunder wie schwer, aus der Höhle herauszukommen?« »Es ist sogar unmöglich für jemand, der nur vier Meter springt«, sagte Sun Koh leicht verweisend. »Gib dein Seil heraus!« »Sie wollen hinüberspringen?« fragte Montberry. »Es wird aber schwer sein, Sie rechtzeitig herüberzuziehen, falls der Sprung mißglückt.« Sun Koh lächelte flüchtig. »Er mißglückt nicht«, erwiderte er. »Ich nehme die Leine nur mit, um eine Verbindung zu haben.« Er faßte das eine Ende der Leine, das Hal ihm reichte, nahm kurz Anlauf und federte über den glühenden Grund hinweg. Leicht und sicher landete er drüben hinter dem dünnen Vorhang der aufsteigenden Dämpfe. Seine Lampe flammte auf. Die Lichtstrahlen glitten über Felsboden und verloren sich im Dunkel. »Eine zweite große Höhle, die sich vorläufig in nichts von unserer unterscheidet«, rief er zu den Wartenden herüber. »Sie können gleich herüberkommen, Mister Montberry.« »Wie stellen Sie sich das vor?« 165
»Nimm die Leine auf zehn Meter Entfernung straff, Nimba«, sagte Sun Koh. »Sie legen Gepäck und Waffen ab, Mister Montberry, dann haben Sie weiter nichts zu tun, als sich in der Mitte der Leine mit Händen und Füßen festzuhalten.« Montberry begriff. »Sie wollen mit gewissermaßen hinübertragen?« »Ganz recht. Wenn Sie den Atem etwas anhalten, kann es Ihnen nichts schaden. Die Luft ist auf meiner Seite erträglich.« Montberry klammerte sich an der angegebenen Stelle ans Seil. Sun Koh und Nimba wechselten im Laufschritt ihre Stellung um fünf Meter oder etwas mehr. Montberry sackte etwas durch und schlurfte über die jenseitige Felsenkante, aber dann stand er sicher drüben. Als zweiter folgte Zapa, dem diese Beförderung Vergnügen zu bereiten schien, denn er zeigte zum erstenmal so etwas wie ein Lächeln. Dann wurden die Packen und die Waffen eingeknotet und ebenfalls über den Spalt gebracht. Hal und Nimba sprangen gleichzeitig hinüber. Zu fünft standen sie nun nebeneinander, hinter sich das Feuerband, vor sich das ewige Dunkel einer unbekannten Höhlenwelt. Hinter ihnen glühte noch wärmend und vertraut das Feuer der Tiefe, vor ihnen lauerte in der Grabeskälte unerforschter Bereiche das Unheimliche und die Gefahr, gespenstische und ge166
fährliche Tiere verflossener Epochen der Erdgeschichte, wie Menschen mit den technischen Mitteln kommender Jahrhunderte. Langsam tappten sie in die Unterwelt hinein. 9. Mit dem Sprung über das Feuerband, mit dem sie die erste Riesenhöhle verlassen hatten, glitt die Führung ganz von selbst auf Sun Koh über. Der kleine Professor Montberry und sein ernster indianischer Diener Zapa, Nimba und Hal blickten wartend auf Sun Koh, dessen edles Gesicht zwischen rotglühendem Feuer und stumpfer Schwärze seine eigene kühle Lichtheit bewahrte. Sun Koh wies voraus. »Die zweite Höhle. Wir marschieren hintereinander. Ich nehme die Spitze, Nimba am Ende. Die Pistolen sind schußbereit zu halten. Wir halten uns in der Hauptrichtung nach Westen. Einige Stunden dringen wir noch vor, dann legen wir Schlafrast ein.« »Sie nehmen an, daß diese Höhle ebenfalls sehr groß ist?« fragte Montberry. »Jede Annahme steht in unserem Belieben«, entgegnete Sun Koh. »Sie wissen ja besser als ich, daß wir ebensogut in einer halben Stunde wie in drei Stunden das andere Ende der Höhle erreichen können. Wir haben vorerst keine Anhaltspunkte.« 167
»Am anderen Ende werden wir genau wissen, wie lange man braucht«, sagte Hal. »Wenn es hier Höhlen in häßlichen Mengen gibt, so kommt es ja auch gar nicht darauf an, ob wir drei kleine oder eine große vor uns haben.« »Danke.« Montberry kicherte. »Ich fühle mich durch solche Verschwendung von Geist zu meinen Gunsten schrecklich geehrt.« »Regen Sie sich wieder herunter«, sagte Hal. »Recht habe ich doch?« »Senkrecht«, antwortete Nimba. »Es kippt bald über.« Hal zuckte nur verächtlich mit den Schultern und wandte sich an Sun Koh. »Eigentlich ist das doch eine merkwürdige Sache, daß wir dort oben das Gebirge haben und daß hier unten solche großen Höhlen sind? Wahrhaftig, wenn ich mal Großvater bin und das meinen Enkelkindern erzähle, werden sie es mir nicht glauben, daß es unter der festen Erde solche Höhlen gibt.« »Deine Sorgen!« erwiderte Nimba. Sun Koh lachte. »So selten sind Höhlen denn wohl doch nicht, daß dich deine Enkelkinder für einen Aufschneider halten müssen. Es gibt in allen Erdteilen Stellen, an denen die Erde auf größere Strecken unterhöhlt ist. Kleinere Höhlengebiete kennt wohl jedes Land. Ich denke zum Beispiel an die Adelsberger Grotten oder an die ausgedehnten Höhlengebiete 168
der Blauen Berge in Australien oder gar an die Mammuthöhlen in Kentucky, die sich ebenfalls über mehrere hundert Kilometer erstrecken.« »Also ist das hier gar nicht so außergewöhnlich?« »Nicht so außergewöhnlich, um deine Glaubwürdigkeit in Zweifel zu ziehen.« »Das beruhigt mich ungemein.« »Schön, dann vorwärts.« Hal schloß sich an Sun Koh an. Montberry und Zapa reihten sich ein. Der Lichtkegel aus der Lampe Sun Kohs glitt voraus und blendete die nächsten fünfzig Meter auf. Sun Koh blickte gelegentlich nach dem Kompaß, um die Richtung zu wahren. Der Wert dieser Richtungssuche war natürlich sehr fragwürdig, da sich die Fortsetzung dieser Höhlenwelt in ganz anderer Richtung befinden konnte und außerdem eine Mißweisung der Kompaßnadel nicht ausgeschlossen schien, aber man hatte doch wenigstens einen Anhalt für den zurückgelegten Weg. Die tonnenschwarze Höhlennacht stand wie eine Schale um die Wandernden herum, fast wie eine festanliegende Haut, die die Welt unmittelbar um den Körper herum enden ließ. Die Sinne verloren mit den gewohnten Maßstäben ihre innere Sicherheit und arbeiteten unter einer Überreizung, die ihre Zuverlässigkeit erheblich einschränkte. Das Gehör haftete sich schnell fest an die Atemzüge und die kleinen Geräusche der Körper und empfand sie bei der son169
stigen völligen Stille des Raumes als gewaltige Eindrücke, die keine anderen mehr zuzulassen schienen. Es war, als füllte ein Atemzug, ein Wort alles ringsum mit Lärm und Brausen. Und die Augen hafteten mit zunehmender Starre an dem Streifen, den das Lichtbündel jeweils der Spur voraus aufhellte, aus der absoluten Schwärze scharfkantig und ohne Streuung herausschnitt wie einen Grat, den rechts und links Abgründe begrenzen. Die Luft war kühl, aber nicht feucht. Sie trug den unbestimmbaren Geruch eines Grabmales in sich. Schaurig stark drängte sich das Bewußtsein auf, daß in dieser Luft nie ein lebendes Wesen geatmet hatte. Nach einer Stunde, in der sich die fünf mangels jedes äußeren Ereignisses peinigend stark selbst erlebten, stießen sie auf eine aufstrebende Felswand, die sich sanft zur Decke zurückwölbte. Sie hatten das Ende der Höhle erreicht. »Nur wenige Kilometer Durchmesser«, stellte Sun Koh fest. »Wir müssen die Öffnung suchen, durch die wir weiterkommen.« »Am besten wird sein, wenn wir uns teilen«, schlug Montberry vor. »Wir können dann nach beiden Seiten zugleich suchen.« Plötzlich war es nicht mehr ganz still. Irgendwo sprang ein feines Summen auf. Man konnte es für das gedämpfte Summen eines Motors halten, es klang aber auch wie Sturm. 170
Vielleicht kam dieser Eindruck nur daher, daß der Ursprung und der Ort des Geräusches nicht festzustellen war. Es erfüllte trotz seiner Feinheit die ganze Höhle, so daß man unmöglich sagen konnte, aus welcher Richtung es kam. Eine Frage klang auf. Niemand beantwortete sie. Das Summen wurde stärker und schärfer. Es schwoll an, die Tonhöhe stieg zugleich. Ein dünner Pfeifton mischte sich ein und veränderte die Klangfarbe zu einem Heulen, das von dumpfem Brausen untermalt war. Dabei blieb es vorläufig. Die Höhle war voll von diesem Geräusch, aber dabei war in der Höhle nichts zu spüren, was als Erklärung hätte dienen können. Das Brausen meldete nur ein rein örtliches Ereignis, das sich irgendwo in der Höhle oder am Rand der Höhle abspielte. Wieder kam eine Frage. »Es klingt fast wie ein Sturm«, antwortete Sun Koh. »Wir werden die Erklärung vielleicht dort finden, wo wir den Ausgang der Höhle entdecken. Gehen wir auf die Suche!« Er hielt sich mit seinen beiden Begleitern nach links, Montberry hielt sich mit Zapa nach rechts. Nach zehn Minuten leuchtete die Lampe Sun Kohs eine Öffnung in der Felsenwand ab, aus der das mit Pfeiftönen untermischte Brausen herausdrang. Sie besaß etwa zwanzig Meter Höhe und annähernd die gleiche Breite. Der Lichtstrahl, den Sun Koh hineinschick171
te, traf nach fünfzig Metern eine abschließende Wand. Auf den ersten Blick schien es sich um eine große Nische zu handeln. Das tastende Licht zeigte aber bald, daß die Seitenwände der Nische durchbrochen waren, und zwar von Öffnungen, die fast die Breitenund Höhenmaße der Nische hatten. Wohin diese Öffnungen führten, ließ sich nicht absehen. Dort, wo sie sich gegenüberstanden, war der Boden wie eine Flutrinne tief ausgehöhlt. Während Nimba durch kreisende Lichtzeichen den anderen Trupp von der Entdeckung verständigte, schritt Sun Koh langsam vorwärts, dicht gefolgt von Hal. Je weiter sie an die seitlichen Öffnungen herankamen, um so stärker rissen Luftwirbel an ihren Sachen. Das heulende Brausen drückte auf die Trommelfelle. Als sie ziemlich an der Rinne standen, war es ihnen, als kämen sie an eine feste Wand, die sich schnell vorschob. Durch die Seitenöffnungen der Nische glitt mit ziemlicher Gewalt ein starker Luftstrom. Diese Luft war kalt, aber frisch. Sie trug den Geruch der freien Natur. Sun Koh und Hal leuchteten in die Seitenkanäle hinein, ohne mehr zu sehen als dunklen Felsen. Als Hal in die Rinne hineinwollte, riß Sun Koh ihn zurück und führte ihn wieder aus der Nische heraus. »Das war leichtsinnig, Hal«, sagte er ernst, als 172
seitlich der Öffnung die Verständigung wieder möglich wurde. »Der Luftstrom hat die Kraft eines Sturmes.« »Ich wollte nur etwas mehr sehen«, entschuldigte sich Hal schwach. »Wo kommt denn die Luft her?« Sun Koh hob die Schultern. »Irgendwo aus dem Freien. Es schien mir frische Nachtluft zu sein. Von welcher Stelle sie kommt, kann ich dir natürlich nicht sagen.« »Aber wir müssen doch eigentlich weitersuchen«, machte Hal aufmerksam. »Das ist doch keine Fortsetzung der Höhlen, wir kommen doch im besten Fall ins Freie.« »Eben. Wir müssen Montberry doch mindestens auf diese Gelegenheit hinweisen und ihn möglicherweise hinausbringen. Seine Ziele sind nicht unbedingt die unseren.« Montberry, der nach einer Viertelstunde eintraf, war jedoch anderer Meinung. Entrüstet meinte er: »Sie wollen mich also gewissermaßen an die Luft setzen. Kommt gar nicht in Frage. Mich schieben Sie durch die Luftröhre ab, und Sie gehen allein auf Entdeckungen aus? Daraus wird nichts, ganz entschieden nichts.« »Ich werde mich freuen, wenn Sie bei uns bleiben«, erwiderte Sun Koh, »aber ich hielt mich für verpflichtet, Sie auf diese Möglichkeit aufmerksam zu machen. Das Ende unserer Expedition läßt sich 173
noch nicht absehen.« »Eben«, grinste Montberry, »eben deshalb. Sie meinen wohl, ich könnte getrost vor Neugier platzen. Ich bleibe!« »Gut«, entschied Sun Koh, »dann wollen wir weiter nach der Fortsetzung der Höhlen forschen. Aber zunächst werden wir einige Stunden schlafen.« »Kein Fehler«, stimmte Montberry zu. »Der Tag hat doch ziemlich angestrengt.« Sie warfen ihre Lasten ab. Große Vorbereitungen waren ja nicht zu treffen. Jeder konnte sich nur in eine Decke wickeln und auf den Boden legen. Sun Koh lag kaum wenige Minuten, als er sich wieder erhob. »Es läßt mir keine Ruhe«, sagte er zu den anderen, die sich ebenfalls aufrichteten. »Ich möchte den Windkanal doch auf ein Stück hin untersuchen. Komm, Nimba, nimm dein Seil mit.« Sie folgten alle vier. Sun Koh band sich das Seil um den Leib und stieg vorsichtig in die Rinne hinein. Der Luftstrom preßte sich gewaltsam gegen seinen Körper, so daß er sich stemmen mußte. Er wählte zunächst den Weg gegen den Luftstrom. Die vier sahen ihn in dem Kanal verschwinden. Langsam, meterweise rutschte das Seil, dessen Ende Nimba in seinen starken Händen hielt, davon. Nach langen Minuten straffte es sich flüchtig, dann wurde 174
es wieder locker. Sun Koh kam zurück. Er schüttelte den Kopf, als er an der Gruppe vorüberschritt, kam nicht erst hoch, sondern verschwand nach der anderen Seite. Dreißig, vierzig Meter glitt das Seil weg, dann blieben die Schleifen, die Nimba vor seine Füße gelegt hatte, ruhig liegen. Sun Koh drang nicht weiter vorwärts. Die vier tauschten besorgte Blicke untereinander, später schrien sie sich Bemerkungen zu, die keiner genau erfaßte, aber im Sinn wohl verstand. Warum blieb er so lange an einer Stelle? Was war geschehen? Hatte er gar das Seil abgelegt? Nimba holte vorsichtig ein. Er atmete auf, als sich das Seil straffte und ein Gegendruck kam. Dann glitt das Seil weiter ab, noch zehn, zwanzig Meter. Endlich blendete wieder Lichtschein heraus. Sun Koh wurde sichtbar. Er stieg hoch, winkte den vieren und ging in die Höhle voran. Erst am Lagerplatz machte er Halt. »Meine Vermutung war richtig«, sagte er mit außergewöhnlichem Ernst. »Die Fortsetzung der Höhlenwelt befindet sich hier. In einer Entfernung von vierzig Metern beginnt in der jenseitigen Wand eine ähnliche Nische wie hier. Sie mündet in eine Höhle, deren Ausmaße sich nicht übersehen lassen.« »Fein!« freute sich Montberry. Sun Koh sah mit einem merkwürdigen Blick zu 175
ihm hin. »Ich fürchte, Freund Montberry, daß Ihre Freude schlecht am Platz ist. Wir haben die Fortsetzung zwar gefunden, aber es ist sehr fraglich, ob wir durch jene Höhle wandern können.« »Warum nicht?« »Ich sah beim flüchtigen Hineinleuchten mehrere Gegenstücke von dem Untier, das in Ihrer Hütte ausgespannt war.« »Dann kann es allerdings heiter werden.« * Die Uhren wiesen den neuen Morgen an, als der Trupp aufbrach. Die Luft strömte in dem Windkanal nur noch mit mäßiger Geschwindigkeit, so daß sie ohne Sicherungen vordringen konnten und mühelos die Gegennische erreichten. Als sie die jenseitige Rinne verlassen hatten, blieben sie zwischen Kanal und neuer Höhle unter dem Felsenbogen stehen und witterten mit allen Sinnen in das Unbekannte hinein. Die Luft war nicht mehr so kellerhaft wie bisher, sondern besaß eine spürbare Wärme. Sie wurde freilich nur deshalb so stark empfunden, weil sich die Männer auf die stille Kühle der ersten Höhle eingestellt hatten. Wenn man aus der Außenwelt gekommen wäre, hätte man es vermutlich auch hier noch 176
recht kühl gefunden. Es ging ihnen wie Leuten, die aus frostiger Nacht in ein Zimmer treten und es brutwarm finden, obwohl es tatsächlich kaum geheizt ist. Die Luft war warm und dazu dunstig. Sie enthielt ziemlich viel Wasserdampf. Die Wände der Nische glänzten denn auch vor Feuchtigkeit. Vor allem aber trug die Luft einen beißenden, fast atemversetzenden Geruch von Kalk, Kot und tierischen Ausdünstungen, untermischt mit dem dumpffauligen Geruch von Morast. Es war Luft, die die Ausdünstung von Lebewesen trug. Leben will Licht. In dieser Höhle war es nicht mehr so vollkommen dunkel. Weit voraus, schätzungsweise einige Kilometer entfernt, brannte eine Flamme von durchsichtiger Bläue, in die gelegentlich gelbliche Lichter hineinzuckten. Es sah aus, als stände dort eine niedrige Kerze von mächtigen Ausmaßen. Die unbekannte Entfernung ließ alle Irrtümer zu, aber es sah ganz so aus, als sei diese Flamme mehrere Meter hoch und entsprechend breit. Sie vermochte den riesigen Raum ringsum nicht etwa aufzuhellen – dazu war sie im Verhältnis zu winzig und zu lichtschwach – aber sie lockerte doch die Dunkelheit etwas auf, gab einen Richtungspunkt und ließ die Augen ahnen. Freilich gab sie wohl gerade deshalb dieser Höhle etwas Geisterhaftes. Seltsam spukhaft wirkte eine Erscheinung, die sie 177
nach wenigen Sekunden zum ersten-, aber nicht zum letztenmal beobachteten. Von der blauen Flamme glitten plötzlich schmale Lichtfunken weg und zündeten in einiger Entfernung bläuliche Lichtbündel an, die unverzüglich wieder erloschen. Bald hier, bald dort zuckten in verschiedenen Abständen von der Flamme diese Lichter auf. Es sah aus, als huschten Irrlichter tanzend über eine weite Fläche. Sekunden währte dieses hüpfende Spiel, dann brannte ruhig und unbewegt allein die blaue Flamme. Nimba warf hastig seinen Arm vor. »Da!« Aus der Dunkelheit schwebte es mit nachlässigen, etwas unbeholfen wirkenden Bewegungen heran. Zwei gewaltige Flughäute schlugen lautlos, wie gewaltige Ruder, nieder. Eine Höhlenfledermaus, ein Gegenstück zu jenem Ungeheuer, das ausgestopft in Montberrys Hütte gehangen hatte. Vier Meter maß das Ungetüm ungefähr. Der dickbehaarte Leib hing wie zu schwer zwischen den grauen Flughäuten. Zwei kurze Füße streckten sich vor. An ihnen saßen lange, gebogene Krallen, die scharfgeschliffenen Dolchen glichen. Der übernatürlich lange und gar nicht fledermausähnliche Hals pendelte in leichten Schwingungen suchend hin und her. Der gedrungene Kopf einer Hyäne, mit dem weitgeschlitzten, mörderisch bewehrten Maul eines Wolfes saß auf ihm. Über dem Maul zitterten und schwankten, wie ver178
einzelte Riesenhaare, meterlange, dünne Fühler mit knopfartigen Enden. Kurze, spitze Ohren standen seitlich weg. Die Augen waren wie trübe Scheiben, aber als das Licht der Scheinwerferlampen in sie hineintraf, glühten sie rötlich auf wie Albino-Augen. Eine widerwärtige Bestie, ein scheußlicher Spuk war das, der kalte Schauer über den Rücken laufen ließ. Kein Wunder, daß die Männer plötzlich alle die Pistolen schußbereit in den Händen hielten. Die Fledermausbestie schien die Anwesenheit der fünf nicht zu bemerken. Sie torkelte vor der Nische auf und ab und verschwand dann wieder seitlich in dem Dunkel, aus dem sie gekommen war. Hal atmete auf. »Gut, daß ich nicht schlafe. Das Vieh würde mir bestimmt zum Alpdruck werden.« »Scheußlich«, murmelte Nimba. »Wenn es hier mehr von der Sorte gibt…« »Ich habe gestern mehrere gesehen«, sagte Sun Koh knapp. »Mister Montberry, ziehen Sie es nicht doch vor, auf die weitere Teilnahme zu verzichten?« »Nein!« bellte Montberry entschieden. »Warum gibt es diese Tiere nicht auch in den anderen Höhlen, Sir?« erkundigte sich Hal. Sun Koh deutete zurück. »Diese dauernde und meist sehr starke Luftströmung bildet eine unüberwindbare Grenze.« »Bei diesen Flughäuten?« 179
»Es handelt sich weniger um die Kraft. Die Flugtiere sind auf ihre Tastorgane, auf ihre Fühler angewiesen. Sie empfinden den Luftstrom noch ungleich stärker, als wie eine feste Wand, vor der sie zurückschrecken. Strömende Luft ist ein vorzüglicher Verschluß.« Ein schriller Schrei ließ das Gespräch abreißen. Dieser Schrei setzte wie das Winseln eines jungen Hundes an und steigerte sich zu einem scharfen, hellen Kreischen. Es begann mit einer weinerlichen Klage und endete mit gehässiger Drohung. Kaum brach er ab, stieg ein neuer Schrei auf, andere mischten sich ein, und dann schien die ganze Höhle von diesen furchtbaren, nervenzermürbenden Lauten erfüllt zu sein. Es wurde wieder still. »Wir halten uns jetzt dicht zusammen«, ordnete Sun Koh an. »Sollte ein Angriff dieser Bestien erfolgen, schließen wir uns nach Möglichkeit zu einem Kreis zusammen. Kommt!« Die Augen trafen sich flüchtig, die Körper reckten sich, dann rückte der kleine Trupp in die Höhle hinein. Vielleicht waren die Aussichten, leidlich durchzukommen, doch größer, als es zunächst den Anschein hatte. Fünf Minuten, zehn Minuten vergingen. Der Boden senkte sich leicht. Der Fels verschwand. Die Fü180
ße drückten Spuren ein. Weicher, lockerer Boden fing die Schritte auf. Die Lampe zeigte schwarzen Humus. Dann und wann lief quer oder schräg eine Aufwölbung wie ein niedriger Damm durch das Land. Wenn man darauftrat, sank man tief ein. Der Boden war an diesen Stellen unterhöhlt. Irgendwo im Raum geisterten die fliegenden Wölfe. Eine Viertelstunde. Wenige Meter seitlich sauste es weich durch die Luft. Ein dumpfer Schlag, dann stieß ein schriller, triumphierender Schrei empor. Dunkles, wütendes Fauchen mischte sich in ihn hinein, dann unbestimmte Geräusche. Da fiel der suchende Lichtschein auf die Stelle, von der die Schreie kamen. Einer der flachen Dämme zog sich dort hin. Er war zerrissen und aufgewühlt. Dicht über dem Loch schlug eine Fledermaus heftig mit den Flughäuten und bemühte sich, eine dunkle Masse herauszuziehen, in die sie die langen Krallen hineingeschlagen hatte. Die dunkle Masse war ein Tier, ein Maulwurf von mehr als einem Meter Länge. Er wälzte und schnellte sich in seiner Grube herum. Das spitze Maul mit der scharfen Kette von Zähnen schnappte verzweifelt nach dem fliegenden Feind und versuchte, den mörderischen Wolfsbiß abzuhalten. Aber die Krallen saßen wohl schon zu tief im Fleisch, und der bewegliche Hals des Flugtieres ermöglichte den An181
griff dort, wo keine Abwehr möglich war. Ein kurzer, grausiger Kampf unter spitzen Schreien und verzweifeltem Keuchen, dann zerrte die Fledermaus ihr Opfer vollends heraus. »Achtung!« Der scharfe Ruf Sun Kohs zerriß den Bann, der über dem Trupp Menschen lag. Plötzlich spürten sie und sahen sie alle, daß die Höhle ringsum lebendig geworden war. Über und neben ihnen sausten die weiten Flughäute, gespenstisch groß taumelten Fledermäuse aus allen Richtungen heran, wohl, um an dem Schmaus mit teilzunehmen. »Nieder!« Zu spät, schon hatte eine Flughaut Zapa gestreift, schon war einer der schwankenden Fühler mit Nimbas Kopf in Berührung gekommen. Zwei, drei Fledermäuse wandten die Köpfe auf die Gruppe. Sie stießen kleine Schreie aus, worauf sich andere ebenfalls den unbekannten Feinden näherten. Die langen Hälse spürten wie pendelnde Schlangenleiber vor, die Fühler gierten. Die weiße Helligkeit der Lampen warf sich gegen die scheußlichen Körper. Sie bogen sich zurück, aber dann kamen sie wieder vor, immer näher. »Schießen!« befahl Sun Koh. Seine Stimme klang heiser. Aus dem Dunkel schienen Dutzende, Hunderte und vielleicht Tausende heranzutaumeln. Begann jetzt die Schlacht, die mit der letzten Patrone endete? 182
Dumpf peitschten die ersten Schüsse auf. Die Ziele befanden sich in allernächster Nähe, und die Männer schossen gut. Die suchenden Hälse wurden jäh schlaff, die Flughäute klappten ein, die Leiber schlugen schwer nieder. Sie fielen vor die Füße der Männer, die die Zähne aufeinanderbissen, um nicht vor Ekel und Entsetzen zur Seite zu springen. Ringsum taumelten die anderen Bestien unsicher hin und her. Ihre Augen und Ohren vermochten wohl mit der plötzlichen Fülle des Lichts und des Lärms nichts anzufangen. Sie streckten die Fühler wieder vor in die Richtung, die ihnen gewiesen worden war, und von hinten drängten andere gegen die Stelle an, an der sie Blut witterten. Die Männer schossen weiter. Sie sahen die mörderischen Krallen und die furchtbaren Gebisse ständig vor ihren Augen, aber sie bekamen beide noch nicht zu spüren, weil die Bewegungen dieser Fledermäuse verhältnismäßig langsam und schwerfällig waren und eigentlich kein zielbewußter Angriff erfolgte. So viele auch tot niedersackten – die anderen schienen es nicht zu fassen. So nahe sich die Gegner auch waren – die Fledermäuse schienen bis zu dem Augenblick, in dem ihre Fühler Berührung bekamen, ihre Gegner höchstens zu ahnen. Dutzende fielen, Hunderte drängten sich nach. Sun Koh erfaßte endlich das Entscheidende. »Wir verschwenden unsere Munition«, rief er 183
durch das wirre Schrillen hindurch. »Achtung, wir schießen eine Gasse nach vorn, dann laufen wir weg. Hal schließt ab. Los!« Eine Salve knatterte nach vorn, der Ring öffnete sich. »Lauft!« Die Männer schnellten sich auf, rannten hinter Sun Koh her, immer weiter in das Dunkel hinein, fünfzig, hundert, zweihundert Meter. Hinter ihnen wirrten die Leiber der Fledermäuse ineinander. »Licht aus und Ruhe!« Wie Salzsäulen standen die fünf in der bläulichen Dämmerung. Nirgends ringsum war eine Fledermaus zu sehen. Von hinten kamen unruhige Laute, unbestimmte Geräusche mit gelegentlichen Schreien. »Gott sei Dank«, sagte Sun Koh aufatmend. »Sie sind dortgeblieben.« »Ich glaube, jetzt fressen sie ihre eigenen Toten auf«, flüsterte Hal schaudernd. »Sie konnten uns wohl nicht sehen?« »Unser Licht blendet sie. Ganz ohne Gesicht sind sie sicher nicht, da es aber dieser Dunkelheit angepaßt ist, dürfte jeder Lichtstrahl aus unseren Lampen die Reizhöhe weit überschreiten. Das gleiche wird für das Gehör dieser Tiere gelten. Es ist den geringen und feinen Geräuschen der Höhle angepaßt. Unsere Schüsse haben so ähnlich gewirkt, wie Kanonen184
schüsse auf uns aus nächster Nähe wirken.« »Dann werden Sie uns aber immer wieder hören und sehen und neu angreifen.« »Das ist freilich leicht möglich. Ich denke mir jedoch, daß bei diesen Tieren auch die Sicht- und Hörweite ziemlich begrenzt ist. Zur Gefahr werden sie jedenfalls erst, wenn sie mit ihren Fühlern an uns herankommen. Notfalls müssen wir das Verfahren, das wir eben anwandten, wiederholen.« »Was war das für ein Tier in der Erde?« fragte Nimba. »Es sah fast aus wie ein Maulwurf.« »Es war ein Riesenmaulwurf«, übernahm Montberry die Antwort. »Weiter!« Die Lichtbahn wanderte voran. Die blaue Flamme wuchs, die irren Lichter, die dann und wann durch das Dunkel zuckten, wurden deutlicher. Sun Koh blieb plötzlich stehen und wies auf einen Abdruck im Boden. Breit, plump und massig lag da die Fährte eines großen Tieres. »Das sieht fast wie die Fährte eines Bären aus«, sagte Hal. »Bären in dieser Höhle?« Montberry schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen!« Sie schritten weiter. Knack, knack – irgend etwas schlurfte mit feinen Knackgeräuschen in der Nähe. Der Lichtkegel suchte und blieb auf einem fast meterlangen Tier haften, das 185
aus zahllosen harten Gliedern und Füßen bestand. Es glitt langsam seitlich voraus, der Kopf mit langen Fühlgliedern bewegte sich dabei sichernd nach allen Seiten. »Die Natur scheint hier außergewöhnliche Größenmaße zu bevorzugen!« »Vorsicht, er könnte giftig sein!« Sie ließen das gepanzerte Untier seitlich vorüber und setzten ihren Weg fort. Der Boden wurde immer weicher und feuchter. Wieder hielt Sun Koh an. Er leuchtete auf seinen Stiefel, der eben bis zum Knöchel eingesunken war. »Wir müssen die Richtung wechseln. Was vor uns liegt, ist Sumpf.« »Meine Vermutung«, platzte Montberry heraus. »Hinterher sind auch die Dummen gescheit«, stichelte Hal. »Manche nicht einmal hinterher«, hieb Montberry zurück. »Meinen Sie nicht, Mister Sun Koh, daß diese blaue Flamme brennendes Methan sein könnte?« Sun Koh nickte. »Sumpfgas wohl auf jeden Fall. Die Irrlichter ließen ja gleich auf etwas Ähnliches schließen. Wir wollen versuchen, um den Sumpf herumzukommen.« Er trat zur Seite, warf sich aber schnell wieder zurück. Sein Fuß sank fast widerstandslos ein. An jener Stelle deckte nur eine dünne Narbe grundlosen Boden. 186
»Auf der Spur zurück.« Behutsam schritten sie zurück, bis sie einigermaßen festen Boden unter sich fühlten. Dann suchten sie sich den Weg am Rande des Sumpfes entlang. Das war ein Marsch, der Menschen mit schwächeren Herzen und empfindsameren Nerven bald zermürbt hätte. Links geisterten die fahlen Lichter über dem tückischen Sumpf, rechts dehnte sich undurchdringliche Nacht bis zu einer unendlich fernen Wand. Ringsum geisterte und spuckte grausiges Leben. Immer wieder fächelte der weiche Schlag von Flughäuten irgendwo in der Nähe, immer wieder spitzten sich die hellen, durchdringenden Schreie aus einem klagenden Winseln auf. Es schlürfte und knackte und tapste bald hier, bald dort. Unbestimmbare, gespenstische Geräusche gingen durch die Luft, die Nacht blieb unaufhörlich voll drohender Gefahren. Lebewesen bewegten sich in der Höhle. Einige kannte man, aber welche gefährlichen und abscheulichen Bestien konnten ringsum lauern, die noch kein Lichtstrahl getroffen hatte? Jeder der fünf stand unter unablässiger, schärfster Anspannung aller Sinne. Essen und Trinken, Schlaf und Ruhe? Keiner dachte daran. Irgendwo mußte diese Geisterhöhle ein Ende nehmen. Irgendwo und irgendwann. Aber niemand wagte zu sagen, ob nach einer oder nach zehn Stunden. Jenseits des Scheinwerferlichts begann für alle die Un187
endlichkeit. Es war ein Marsch durch das Grauen, das rechts und links neben der schmalen Lichtbrücke stand und in jeder Sekunde über die Männer herfallen wollte. 10. Endlos die Wanderung. »Das ist unmöglich!« stellte Sun Koh endlich unmutig fest und verhielt zugleich den Schritt. »Der Kompaß zeigt einfach nicht mehr richtig an. Wir müßten unsere Westrichtung schon längst wieder erreicht haben.« »Der Sumpf scheint ziemlich rund zu sein, die blaue Flamme blieb fast immer in gleicher Entfernung.« »Eben, und wir haben schon ein ganzes Stück mehr als die Hälfte zurückgelegt, wenigstens nach meiner Schätzung. Nach dem Kompaß fehlen noch immer dreißig Grad. Wir müssen auf ihn verzichten und uns allein nach der Flamme richten.« »Dabei können wir uns ganz hübsch verlaufen.« »Irgendwann müssen wir die Felswand erreichen, wenn wir das Licht im Rücken lassen. Vorwärts in dieser Richtung!« Eine Stunde lang setzten sie Fuß vor Fuß. Einmal streifte eine Fledermaus dicht heran, kehrte zurück und stieß auf den Trupp zu. Ein Schuß tötete sie. Die 188
Männer eilten hastig von der Stelle weg. Nach einer Stunde tappten die Füße auf felsigen Boden. Die blaue Flamme im Sumpf lag weit zurück. Kam nun bald die jenseitige Felswand? Eine Viertelstunde verging, eine halbe Stunde. Nichts begrenzte die Höhle. Im Rücken verschwand die blaue Flamme hinter einer Bodenwelle, die sich durch die Höhle zog. Irgendwo voraus trug die Luft, die inzwischen wieder kühler geworden war, ein Rauschen. Waren sie im Kreis gelaufen und näherten sich wieder jenem Windkanal? Sun Koh schüttelte den Kopf. »Das klingt nach fallendem Wasser. So stark können wir uns auch unmöglich verirrt haben.« Und dann war die Wand da, fast zu plötzlich, fast erschreckend. Und doch atmeten alle auf, als sie nach der Grenzenlosigkeit die Begrenzung vor sich sahen. Links oder rechts? »Links!« entschied Sun Koh. »Wo Wasser fließt, befinden sich vermutlich Öffnungen. Und außerdem können wir frisches Wasser gebrauchen.« Sie gingen an der Wand entlang. Dann und wann scheuchten sie einige der fledermausähnlichen Bestien auf, aber die Tiere wurden offenbar durch den nahen Felsen irre und tasteten sinnlos daran herum. Es genügte, einfach weiterzugehen. Sie gingen dem Wasser entgegen, bis sie auf den 189
Wasserfall stießen. Wie ein breites, schimmerndes Seidentuch hing der Fall über eine Strecke von ungefähr dreißig Metern zwischen den dunklen Felsen. Er war ganz dünn. Kein dicker Schwall Wasser stürzte sich herunter, sondern ein feiner Schleier zarten Wasserstaubs glitt aus etwa fünfzig Meter Höhe in die Tiefe. Sun Koh trat unter den stiebenden Fall. Die Felswand setzte sich nicht fort. Hinter dem Wasser befand sich eine Öffnung, die zu einer neuen Höhle hinüberführte. Minuten später standen sie zu fünft auf der anderen Seite. Die Lampen glitten über feuchte Felswände. Die starke Krümmung verlockte, ein Stück vorzugehen und die Krümmung zu verfolgen. So kamen sie schnell zu der Feststellung, daß sie in eine sehr kleine Höhle von höchstens hundert Meter Durchmesser geraten waren. Die Decke lag freilich sehr hoch. Ein Ausgang war nicht zu sehen. »Jetzt haben wir uns verlaufen.« »Hier kommen wir nicht weiter.« »Um so besser und ungestörter können wir frische Kräfte sammeln«, tröstete Sun Koh. »Wir wollen die weitere Untersuchung verschieben und vor allem rasten. Seit vierzehn Stunden sind wir unterwegs.« Plötzlich spürten sie alle diese vierzehn Stunden. Die Spannung fiel ab, Hunger und Durst machten sich bemerkbar, die Muskeln schmerzten. Sun Koh 190
brauchte seine Aufforderung nicht zu wiederholen. Stunden bleiernen Schlafes vergingen. Als Nimba erwachte, vermißte er Sun Koh, an dessen Seite er sich niedergelegt hatte. Er richtete sich auf. »Sir?« Keine Antwort. Außer dem eintönigen Brausen des stürzenden Wassers war nichts zu hören. Nimba stand auf und leuchtete mit seiner Lampe umher. Als er Sun Koh immer noch nicht entdeckte, entschloß er sich zu einem Rundgang durch die Höhle. Sun Koh befand sich nicht in ihr. »Sir?« »Was ist denn?« Hal kam schlaftrunken hoch. »Warum schreist du denn in der Gegend herum?« »Sun Koh ist verschwunden!« »Was?« Hal sprang auf. Nun wurden auch Montberry und Zapa munter. »Ich kann ihn nicht finden«, teilte Nimba bekümmert mit. »Dabei habe ich schon die ganze Höhle abgesucht und gerufen.« »Aber er kann sich doch nicht einfach in Luft aufgelöst haben!« »Vielleicht ist er durch das Wasser zurück«, sagte Montberry. »Was sollte er denn dort? Wir wollen noch einmal rufen.« 191
Sie taten es, aber die Antwort blieb aus. Nun gingen sie in die Höhle zurück, die sie gestern durchwandert hatten, leuchteten hinein, riefen und feuerten schließlich einen Schuß. Das einzige Ergebnis bestand darin, daß ein Schwarm Fledermäuse an den Fall heranstrich. Mit gesenkten Köpfen kehrten sie in die kleine Höhle zurück. »Ich glaube nicht, daß er die Höhle wieder aufgesucht hat«, meinte Hal. »Er hat sich jedenfalls freiwillig entfernt. Und zu welchem Zweck? Nun, doch nur, um inzwischen einen Weg zu suchen, der weiterführt. Und er muß einen solchen Weg gefunden haben.« »Ja, aber durch die große Höhle hindurch.« »Dann hätte er uns mitgenommen. Hast du hier die Wände genau abgesucht?« »Ich glaube«, machte Montberry aufmerksam, »dort oben geht es weiter.« Die Lichtbündel strahlten an der jenseitigen Wand hoch. Dort befand sich, etwa dreißig Meter über dem Boden, tatsächlich eine scheunentorgroße Öffnung im Felsen. »Hm«, brummte Nimba. »Wie sollte Sun Koh dort hinaufgekommen sein?« Sie starrten auf die überhängende, glatte Wand. Es war unmöglich, sich hinaufzuarbeiten. »Dann ist er eben nicht hinauf«, sagte Hal nach ei192
ner Weile heftig. »Es muß noch einen zweiten Ausgang geben.« »Und wenn nicht?« »Es muß einfach«, beharrte Hal. »Die einfachste Überlegung und der gesunde Menschenverstand beweisen das.« »Na, suchen wir mal.« Sie gingen langsam an der Wand entlang. So konnte ihnen der mannshohe, enge Spalt, der in den Berg hineinführte, nicht entgehen. »Also hat mein gesunder Menschenverstand doch recht behalten«, stellte Hal mit Genugtuung fest. Hal wollte in den Spalt hineinschlüpfen, aber Nimba riß ihn zurück. »Augenblick, laß mich voran.« »Spiel dich nicht so auf«, erboste sich Hal. Er konnte es aber nicht mehr verhindern, daß Nimba als erster verschwand. Der Spalt erweiterte sich schnell auf zwei Meter Breite. Er führte mit leicht abschüssigem Boden etwa zwanzig Meter waagerecht in den Felsen hinein, dann schräg in die Tiefe. Boden und Wände waren auffallend glatt. Nimba blieb an der Knickstelle stehen und wies hinunter. »Eine richtige Rutschbahn. Vielleicht ist Sun Koh dort hinunter?« »Hier ist schwer wieder hochzukommen«, sagte 193
Hal. »Aber dort unten scheint auch schon Schluß zu sein. Soll ich mal hinunterrutschen?« »Laß es dir ja nicht einfallen«, warnte Nimba. »Wenn es nun dort weitergeht?« »Wir müssen auf alle Fälle weiterforschen«, drängte Montberry. »Aber schön mit Bedacht«, wehrte Nimba ab. »Unsere Sachen haben wir natürlich draußen gelassen. Hol die Seile, Hal!« »Schön, aber ich komme ans Seil.« »Auf deine Kräfte hätte ich mich ohnehin nicht verlassen.« Hal lief los und kam zurück. Nimba legte ihm mit aller Sorgfalt die Seilschlingen um den Leib. Dann ließ er den Jungen langsam ab. Hal rutschte über die Stelle hinaus, die wie der Abschluß des Spalts ausgesehen hatte. Fast hundert Meter liefen ab, bevor der Signalruck kam, auf den hin Nimba wieder einholte. Das Gesicht Hals war mächtig verkniffen, als er endlich wieder zwischen den anderen Männern stand. »Na?« drängte Nimba, als Hal sich Zeit nahm. »Das ist eine Rutschbahn, wie sie im Buch steht«, berichtete Hal. »Dort an dem Knick geht sie wenige Meter waagerecht, dann führt sie ohne jede Krümmung, in einem Winkel von ungefähr dreißig Grad, in die Tiefe. Es ist eine Röhre von einem Meter 194
Durchmesser, der Boden so rund wie die Decke und alles spiegelglatt. Ich habe auf der ganzen Strecke keine Handbreit gefunden, wo man sich hätte festhalten oder bremsen können.« »Ja und? Wo mündet sie?« »Die Mündung befindet sich an einer glatten Felswand. Zwanzig Meter darunter ist Wasser, ein See. Der See liegt in einer neuen Höhle. Sie ist ebenfalls dunkel, aber…« »Aber?« »Einige hundert Meter entfernt habe ich am Rand des Wassers Lichter gesehen. Es waren Bogenlampen.« »Was heißt Bogenlampen?« »Vielleicht handelt es sich auch um etwas anderes, jedenfalls sah ich leuchtende Kugeln am Ufer, die ein Stück über dem Boden unbeweglich schwebten. Sie gaben ziemlich viel Licht. Neben einer der Lampen stand ein flaches Haus. Mir war es, als ob sich dort Menschen bewegten.« Nimba legte die Hand auf Hals Stirn. »Fieber hast du nicht? Du bist auch mit dem Kopf nicht irgendwo angeschlagen?« »Quatsch!« Hal machte sich mit heftiger Bewegung frei. »Was ich gesehen habe, habe ich gesehen. Dort drüben befinden sich Lampen, Häuser und auch Menschen. Wir sind ziemlich am Ziel!« »Und Sun Koh?« 195
»Nichts von ihm zu bemerken.« »Wahrscheinlich ist er gleich zu lebhaft auf das Ziel zugeschossen«, meinte Montberry trocken. »Wenn er wirklich auf die Rutschbahn geraten ist, dürfte er sich jetzt schon bei diesen Leuten befinden.« »Wir müssen hinterher.« »Natürlich.« Montberry nickte. »Ich kann mir zwar kein Vergnügen dabei denken, im Eiltempo aus der Rutschbahn herauszuschießen und aufs Wasser zu klatschen, aber …« »Das kommt überhaupt nicht in Frage«, unterbrach Hal entschieden. »Wir wissen nicht, in welche Lage Sun Koh geraten ist. Wenn wir einfach in das Wasser plumpsen, machen wir die Leute doch aufmerksam. Unseren Waffen würde ein derartiger Sturz auch nicht gerade gut bekommen. Wir müssen versuchen, unauffällig hinüberzukommen.« »Aber wie?« »Am Seil. Es reicht bis aufs Wasser. Wir befestigen es hier oben und lassen uns daran herunter.« »Dann müssen wir die Seile aufgeben.« »Das ist nicht zu ändern.« Viel mehr war nicht zu sagen. Während Hal, Montberry und Zapa die Sachen aus der Höhle heranschafften, legte Nimba das Seil am Beginn des Spaltes um eine geeignete Zacke herum fest. Dort mochte es hängenbleiben, bis es abfaulte. 196
Sun Koh war tatsächlich aufgebrochen, um einen Ausweg aus der Höhle zu suchen. Da die anderen noch fest schliefen, stahl er sich geräuschlos davon. Er entdeckte die Öffnung in der Höhle und fand später den Spalt, der in den Felsen hineinführte. In dem Bestreben, den schräg führenden Gang so weit wie möglich abzuleuchten, kam er ins Rutschen. Trotz aller Bemühungen gelang es ihm nicht, die Schußfahrt zu hemmen. In sausendem Bogen glitt er aus der Rutschbahn heraus, entdeckte Lichter und Häuser und schlug dann in die Wasserfläche hinein. Als er, benommen vom Sturz und von der durchdringenden Kälte des Wassers, wieder hochkam, hielt er auf die lichtumsäumte Uferseite zu. Das war ein Fehler. Kaum fand er Grund und richtete sich auf, als die weiße Lichtfülle eines großen Scheinwerfers auf ihn stürzte, so daß er geblendet die Augen schließen mußte. Eine grobe Stimme rief: »Da ist ein Mann!« »Ein Fremder!« ergänzte eine zweite Stimme mit hartem Tonfall. »Komm heraus, Fremder. Beweg dich aber vernünftig, sonst müßte ich dich ein bißchen durchlöchern.« »Stop! Das Licht weg, John!« Der Scheinwerfer verlosch. Es blieb trotzdem hell genug, denn Sun Koh stand jetzt unmittelbar unter einer leuchtenden Kugel, die von oben herab weißes Licht warf. 197
Mehrere Männer traten auf Sun Koh zu und umringten ihn. Sie trugen blaue, ziemlich schmutzige Overalls und runde Filzkappen, die wohl aus alten Hüten zurechtgeschnitten worden waren. Einen von diesen Männern kannte Sun Koh. Dieser Mann trat jetzt als erster auf ihn zu. »Hallo«, grüßte er mit der gleichen scharfen Stimme, die Sun Koh vorhin schon gehört hatte, »haben wir uns nicht schon einmal gesehen? War das nicht – natürlich, im Tal des Vergessen war es. Wie war doch gleich Ihr Name?« »Sun Koh. Sie haben recht, Baxter, wir lernten uns schon im Tal des Vergessens kennen.« Baxter lächelte dünn, während er dicht herantrat. »Nett von Ihnen, daß Sie es nicht abstreiten. Wenn ich bedenke, wie Micero hinter Ihnen hergeflucht hat, hätte ich’s vielleicht doch getan. Mir scheint, es ist Ihr Pech, daß Sie hier gelandet sind. Wie kommen Sie denn plötzlich hierher?« »Ich suchte einen Ausgang aus den Höhlen«, antwortete Sun Koh zurückhaltend. »Irgendwo bin ich abgestürzt.« »Das haben wir gehört«, sagte Baxter. »Sie müssen eine gute Haut haben, daß sie Ihnen nicht bei der Gelegenheit geplatzt ist. Wie sind Sie in die Höhlen hineingekommen?« »Bei Truxillo.« Baxter zog die Brauen hoch. 198
»Dann haben Sie ja allerhand hinter sich. Hieß es nicht, daß die Fremden bei der Sprengung erledigt worden seien?« »So hat es geheißen«, bestätigte einer der Männer. »Ich war schon in der ersten Höhle, als die Sprengung erfolgte«, sagte Sun Koh. »Habt ihr keinen wärmeren Fleck, an dem man sich unterhalten kann? Ich bin völlig naß.« Baxter ließ sich ablenken. Er stellte die verfängliche Frage nach etwaigen Begleitern nicht, sondern winkte. Er führte Sun Koh in die Baracke hinein. Die anderen Männer drängten neugierig nach. Der Raum, den sie betraten, war betäubend warm. An den Wänden standen elektrische Heizkörper, an der Decke brannte eine Lampe. »Setzen Sie sich«, sagte Baxter. »Nein, lassen Sie erst einmal sehen, was Sie für Waffen bei sich haben. Besser ist besser. Ihnen nützen sie so wenig, wie sie uns schaden können, aber Micero soll uns keinen Vorwurf machen.« Sun Koh legte die nasse Pistole, die ohnehin in diesem Zustand nicht zu benutzen war, auf den Tisch. »Sie können sie haben«, sagte er lächelnd. »Hoffentlich beruhigt Sie das.« Baxter winkte ab. »Von mir aus können Sie eine ganze Sammlung 199
mit sich herumschleppen. Erstens sind wir zu sechst, und zweitens würde es Ihnen nicht das geringste nützen, wenn Sie gegen uns angehen wollten. Aus den Höhlen kommen Sie ohne Miceros Erlaubnis doch nicht wieder heraus.« »Seid ihr die einzigen Bewohner dieser Höhlen?« »Hier sind wir die einzigen«, übernahm Baxter die Antwort, »aber drüben im Westen gibt es noch eine ganze Menge Leute, die in den Höhlen stecken. Wir haben nichts mit ihnen zu tun.« »Sie können mir trotzdem erzählen, was Sie von ihnen wissen.« Baxter hob die Schultern. »Nun, schaden kann’s ja schließlich nicht. Es ist Miceros Sache, dafür zu sorgen, daß Sie nicht reden. Schätze, er wird Ihnen wohl keine Gelegenheit geben. Tut mir leid, Fremder, daß ich das sagen muß, aber ich kenne Micero einigermaßen und weiß, daß er eine Stinkwut auf Sie hat.« »Machen Sie sich keine Sorgen darüber«, entgegnete Sun Koh. »Vorläufig ahnt er nichts von meiner Anwesenheit.« »Er wird es aber erfahren. Und ich selber werde ihm Mitteilung machen. Wir haben nichts gegen Sie, aber es ist unsere Pflicht. Sie können es uns schließlich nicht verdenken, wenn wir uns um Ihretwillen nicht mit Micero überwerfen wollen, denn dann würden wir um unser Gold geprellt sein und vielleicht 200
für immer hier unten stecken. Ohne Micero kommen wir nämlich nicht heraus.« »Ich will euch nicht in die Gefahr bringen«, beruhigte Sun Koh. »Was sind das für Leute, die in den anderen Höhlen leben?« »Tja«, gab Baxter zögernd Auskunft, »das ist nicht einmal so einfach zu sagen. Zu Micero gehören sie alle. Wir haben es nur immer mit der einen Sorte zu tun gehabt. Das sind Männer, die wie wir von Micero angestellt worden sind. Aber daneben gibt es noch andere, das sind Wissenschaftler. Sie gehören eigentlich mehr zu einem gewissen Perkins. Diese Leute arbeiten an irgendwelchen Erfindungen, elektrische Sachen, was weiß ich. Das Luftschiff, das die Verbindung zu uns unterhält, ist auch eine Erfindung dieser Wissenschaftler.« »Habt ihr diesen Perkins schon einmal gesehen?« »Nein.« »Er soll nicht besonders gut mit Micero stehen«, mischte sich ein anderer ein. »Ich glaube, Micero haut ihn übers Ohr. Unsere Verbindungsleute erzählen doch manches, aus dem man sich ein Bild machen kann. Wenn ich so ein Wissenschaftler wäre, würde ich jedenfalls nicht an einer Stelle arbeiten, wo ich praktisch Miceros Gefangener bin.« Sun Koh nickte. »Ich würde es auch nicht tun, wenn ich Goldgräber wäre.« 201
»Teufel noch mal, man merkt, daß Sie Micero nicht leiden können«, brummte einer. Die anderen blickten nur betroffen vor sich hin. Die Männer mußten wohl schon mehr als einmal Befürchtungen in bezug auf Micero gehegt haben. Baxter erhob sich. »Wir müssen an die Arbeit. Ich will die Zentrale verständigen, daß Sie eingetroffen sind. Was Sie dann machen, wenn Sie allein sind, geht uns nichts an. Sollten Sie zufällig …« Er sprach nicht zu Ende. Die Tür flog auf, gleichzeitig sprang klirrend das Fenster. In der Tür wurde Nimba sichtbar, am Fenster grinste Hal hinter seiner Pistole. »Hände hoch, Herrschaften!« Die Hände der Männer gingen widerwillig in die Höhe. »Verdammt«, murrte Baxter, »wer ist denn das nun wieder?« »Nehmt die Hände wieder herunter«, wies Sun Koh ruhig an. »Die Pistolen, die ihr bei euch tragt, legt ihr neben meine auf den Tisch. Seid vorsichtig, meine Leute schießen gut.« »Ihre Leute?« ächzte einer. »Los, Nimba«, hetzte Hal vom Fenster, »fang an, die Kerle zu binden. Zapa hat Stricke. Ich halte die Brüder schon zusammen.« »Hier wird nichts gebunden«, wehrte Sun Koh ab 202
und schob die Waffen, die die Männer ablegten, auf einen Haufen. »Kommt herein. Setzt euch wieder, Leute. Wir wollen uns in aller Ruhe weiter unterhalten.« »Weiter unterhalten?« murmelte Nimba hörbar. »Waren Sie nicht Gefangener hier, Sir?« »Nur sehr beschränkt«, sagte Sun Koh. »Bis auf eine Winzigkeit sind wir die besten Freunde.« »Kam mir genauso vor«, sagte Baxter grinsend. »Schätze, wir werden uns auch unter diesen Bedingungen einig werden.« * Sie wurden sich einig. Baxter versprach, die Ankunft Sun Kohs vorläufig nicht zu melden. Vorsichtshalber drehte Sun Koh jedoch auch noch die Lampen aus dem Apparat heraus. Baxter ging später mit seinen Kameraden an die Arbeit, Sun Koh machte sich mit seinen Begleitern an die Erforschung der Höhle. Sie war nicht groß. Nach einigen Stunden hatten sie einwandfrei festgestellt, daß es nur einen Ausgang gab. Eine breite, torähnliche Öffnung in über fünfzig Meter Höhe. Die Wand, die dort hinaufführte, war ziemlich senkrecht, aber nicht unbesteigbar. Da Baxter nicht über genügend zuverlässige Seile verfügte, nahm Sun Koh den Weg durch die Rutsch203
bahn zurück, löste die eigenen Seile aus der Befestigung und ließ sich noch einmal auf das Wasser hinausschleudern. Mit den so geretteten Seilen stieg er dann an der jenseitigen Wand zur Felsenöffnung hinauf und holte seine Begleiter nach. Sie verzichteten auf Ruhe und Schlaf. In scharfem Marsch ging es vorwärts. Nur Montberry trippelte mit kleinen Schritten, aber mit nicht geringerer Ausdauer. Das Gelände bot so gut wie keine Schwierigkeiten. Der Tunnel erweiterte sich bald. Eine sanfte Schräghalde führte in die nächste Höhle über, die gleich durch mehrere Öffnungen mit der folgenden in Verbindung stand. Eine Höhle reihte sich an die andere, alle gleich dunkel, gleich kühl und gleich still. Zwei Stunden, vier Stunden, sechs Stunden. Mitternacht. Sun Koh legte eine Stunde Rast ein. Weiter! Abermals zwei Stunden. Sie marschierten durch eine offenbar sehr große Höhle, deren Boden unentwegt langsam anstieg. »Baxter muß sich mächtig verschätzt haben«, murrte Hal. »Immer noch nichts zu sehen.« Da glühte es wenige hundert Meter vor ihnen auf, matt rötlich zunächst, dann sich aufhellend und immer weißer werdend. Jetzt lag es wie eine mächtige, leuchtende Zigarre von zehn Meter Länge vor ihnen. Nicht weit davon begann ein ganz ähnlicher Körper zu glühen. Stimmen schrien auf, von irgendwoher 204
tauchten Menschen auf und liefen ziellos durch das zunehmende Licht. Sun Koh und seine Begleiter standen wie gebannt. Was dort glühte, konnte nichts anderes sein, als die geheimnisvollen Luftschiffe, deren sich Micero bediente. Aber was sollte es bedeuten, daß sie so aufbrannten? Grell und blendend flutete das Licht nach allen Seiten. »Fort«, gebot Sun Koh, »wir wollen uns vorläufig nicht sehen lassen!« Sie eilten von dem nachflutenden Licht weg, seitlich auf die Felswand zu. »Dort ist ein Tor!« machte Hal aufmerksam. Sun Koh zog Nimba an den Torspalt. »Halt Wache, ich will mich umsehen.« Er lief nach hinten. Am Ende schloß ein zweiter, kleiner Raum an. Auch hier keine Menschen, obwohl alles aussah, als hätten sich noch vor Minuten hier Menschen aufgehalten. An der Seite hielt sich ein Vorhang an einem letzten Halt, daneben gähnte ein Loch. Sun Koh beugte sich hinein. Ein senkrechter Schacht führte endlos nach oben. Die Wände schimmerten seltsam kristallisch. Kalte Luft fiel von oben herunter. »Sir!« Der Ruf riß Sun Koh zurück. Der Vorderraum war hell geworden. Einige der Apparate glühten bereits 205
weißlich, auch aus den Nischen oder Nebenräumen drängte weißer Glutbrodem. »Hinaus!« Das Tor flog auf. Drei Männer, die eben darauf zueilten, prallten zurück. Draußen siegte bereits die Dunkelheit von neuem. Die langen Flugkörper waren nur noch rötlich glühende, formlose Massen. »Was…« Das Sehe inwerf er licht schlug auf die drei ein, Sun Koh, Hal und Nimba federten vor. »Hände von den Waffen!« »Verdammt!« würgte einer der drei verdutzt heraus. »Was soll das bedeuten? Sind Sie das, Doktor?« »Nein«, erwiderte Sun Koh, »wir sind Fremde. Was geht hier vor?« »Fremde?« entgegneten die anderen verständnislos und ließen sich dabei willig die Waffen abnehmen. »Teufel!« schrie einer. »Sie haben die Luftschiffe angebrannt!« »Das Laboratorium brennt ebenfalls!« schrie der Nachbar noch lauter auf. »Sprechen Sie leiser«, mahnte Sun Koh scharf. »Ich lege keinen Wert darauf, daß die anderen aufmerksam werden. Das Licht aus, Hal. Seien Sie vorsichtig mit Ihren Bewegungen. Und nun sprechen Sie!« Dunkelheit umfing die Gruppe. »Sie sind ein Satan«, ächzte einer. »Dort drinnen 206
verbrennen ein Dutzend Menschen.« »Wer?« »Die Gelehrten, die Leute von Perkins!« »Dort drin befand sich kein Mensch. Das Feuer ist auch nicht von mir angelegt worden. Es ist überhaupt kein gewöhnliches Feuer.« »Wir müssen fort.« »Nicht rühren«, warnte Sun Koh scharf. »Wer sind Sie?« »Wir sind hier angestellt.« »Von Micero?« »Ja.« »Hier unten hat eine Gruppe von Leuten gelebt, die als Gefangene gehalten wurden?« »Vielleicht.« »Unter Führung eines Mannes, der Perkins heißt?« »Ja, aber Perkins ist schon länger unterwegs.« »Er ist der Partner Miceros?« Einer der Männer lachte kurz auf. »Partner? Na ja, so recht einig waren sie sich wohl nicht. Micero hat nicht umsonst dafür gesorgt, daß die Leute hier unten bleiben. Er hatte seinen Partner damit in der Hand.« »Und jetzt?« »Jetzt sind sie geflohen«, schnaubte der Sprecher wütend. »Und ich schätze, Micero wird von seinem Partner wohl nichts übrigbehalten als einen Haufen ausgebrannter Trümmer.« 207
»Gut. Wie kommen wir ins Freie?« »Sucht euch den Weg selber!« Rufe und Schreie dröhnten hohl durch den Raum, kleine Scheinwerfer blitzten hier und dort auf. Einer der Männer stieß einen lauten Ruf aus, während er sich gleichzeitig zur Seite warf. Nimba sprang hinter ihm her. Die anderen hielten die Gelegenheit wohl für günstig und stürzten sich auf ihre Gegner. Dumpf prallten sie zusammen. »Eins, zwei, drei«, zählte Hal ab. »Die bleiben eine Weile liegen.« »Vorwärts. Wir wollen versuchen, in der allgemeinen Verwirrung durchzukommen. Der Ausgang muß dort drüben liegen!« Die Richtung, die sie einzuhalten hatten, wurde bald klar. Von einer bestimmten Stelle kamen Männer gelaufen, während andere nach jener Stelle zuhielten. Taschenlampen und Fackellichter zeichneten den Weg. Dann glühte eine mäßige Helligkeit auf. Im Laufschritt hielten sie sich parallel zu der Spur der anderen. Der helle Schein rückte heran. Es war, als brenne dort ein Feuer, das in die Höhle hineinleuchtete. Seitlich tauchte eine Felswand auf. Sie drückte die Männer an die Laufrichtung der anderen heran. Von drüben kam die Gegenwand. Man befand sich in einem breiten Gang oder in einer engeren Höhle. »Stop!« 208
Sie preßten sich an die Wand. Ihnen entgegen kam eine Gruppe von vier Männern mit starken Handscheinwerfern. Zwei andere, die seitlich gelaufen kamen, stießen auf die Gruppe. Zehn Meter von Sun Koh entfernt blieben die Männer stehen. Eine harte, unglaublich durchdringende Stimme, die man nur einmal hören braucht, um sie nie wieder zu vergessen, klang auf: »Steht, ihr verfluchten Narren. Was ist denn nun eigentlich los?« »Alles zum Teufel, Chef!« rief einer. »Die Flugkörper sind verbrannt, das Laboratorium ist verbrannt, die Kraftzentrale ist verbrannt!« »Und das Haus draußen brennt lichterloh!« fiel einer, der von draußen gekommen war, ein. »Seid ihr des Teufels!« fuhr Micero wütend hoch. »Die Flugschiffe können überhaupt nicht brennen, und das andere auch nicht. Wo sind die Leute von Perkins?« »Verbrannt oder verschwunden. Im Labor ist alles ausgeglüht. Wir haben die Leute nicht gesehen. Drei von den unseren müssen beim Labor liegen, wenigstens hörten wir das noch.« Ein gräßlicher Fluch. »Das – das also?« preßte Micero, heiser vor Wut, hinterher. »Deshalb hat alles, was wichtig war, von selber zu brennen begonnen. Sie sind geflohen. Perkins hat mich überlistet!« Und dann lachte er auf, als ob er wahnsinnig ge209
worden wäre. »Überlistet! Sie haben ganze Arbeit gemacht. Und ich – ich wollte Herr der Erde werden. Verdammt, was glotzt ihr mich an? Vorwärts, ich will sehen, was übriggeblieben ist!« Die Gruppe lief in die Höhle hinein. Wenig später setzte sich Sun Koh in entgegengesetzter Richtung in Bewegung. Zwei Männer rannten ihnen entgegen, stutzten und taumelten benommen zur Seite, bevor sie noch recht gesehen hatten. Links gloste ein länglicher Haufen, vor kurzem wohl noch ein Flugschiff. Ein heller Weg schob sich in den Hintergrund. Dort stand ein Auto, ein leichter Lastwagen. Menschen waren bei ihm nicht zu sehen, wie überhaupt nicht hier draußen. Wahrscheinlich war alles in die Höhlen gestürzt oder hielt sich jenseits des brennenden Hauses auf. Hinauf auf den Wagen. Der Starter schnurrte. Bremse frei, Gang und Gas, schon ruckte der Wagen vor. »Jetzt kann sich Micero die Beine abwetzen«, strahlte Hal, als der Wagen die abschüssige Straße hinunterrollte. »Uns kriegt er nicht mehr.« »Uns nicht mehr und die anderen auch nicht mehr«, sagte Sun Koh. »Wenn sich Perkins und seine Leute seiner Gewalt entzogen und ihn gleichzeitig aller technischen Hilfsmittel beraubt haben, muß Micero heute die schwerste Schlappe seines Lebens ein210
stecken. Für uns endet dieses Abenteuer freilich auch nicht gerade erfolgreich.« »Na, hören Sie mal…« »Wir gingen in die Höhlen, um jene Männer zu finden, die heute nacht verschwunden sind. Und es dürfte uns nicht viel leichter als Micero fallen, ihre Spur wiederzufinden.« »Ach so?« dehnte Montberry. »Ich dachte …« »Was Sie auch gedacht haben«, unterbrach Hal, »Sie haben bestimmt falsch gedacht. Wohin fahren wir, Sir?« Die Antwort gab zwei Stunden später ein Ortsschild: Comayagua. Von hier aus boten sich genügend Möglichkeiten, das Land zu verlassen. ENDE Bitte beachten Sie die Vorschau auf der nächsten Seite.
211
Als SUN KOH-Taschenbuch Band 32 erscheint:
Gold in den Katakomben von Freder van Holk Cora Spedding ist ein Mädchen, von dem ein Mann nur träumen kann. Das mag auch der Grund sein, warum George Macroft blind in die Falle läuft, die für ihn aufgebaut wurde. Macroft ist einer der Männer, die einen riesigen Goldschatz bewachen, den Sun Koh der Bank von Frankreich zur Aufbewahrung übergeben will. Die »Schatten« von Lissabon sind unterwegs, und wie es scheint, sitzen überall ihre Aufpasser und Mittelsmänner. Durch einen atemberaubend raffinierten Coup bringen sie Sun Kohs Geld an sich, doch sie haben nicht damit gerechnet, daß Sun Kohs Intelligenz die gefährlichste Waffe ist, mit der sie zu rechnen haben. Eine Jagd quer durch Europa nimmt ihren Anfang … Die SUN KOH-Taschenbücher erscheinen vierwöchentlich und sind überall im Zeitschriftenund Bahnhofsbuchhandel erhältlich.