Annika Natus
Verschleierte Gemeinsamkeiten
Annika Natus
Verschleierte Gemeinsamkeiten Muslime sprechen über Geschlechterrollen
Tectum Verlag
Annika Natus Verschleierte Gemeinsamkeiten. Muslime sprechen über Geschlechterrollen ISBN: 978-3-8288-9728-1 Umschlagabbildung: cdk | Claudia Kutz | photocase.com Tectum Verlag Marburg, 2008
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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Inhalt
Verschleierte Gemeinsamkeiten ...........................................................9 1. Forschungsstand ....................................................................................15 1.1. Das Zitierkartell ........................................................................................15 1.2. Zwei Welten: Kulturalismus ...................................................................17 1.3. Zwischenwelten: Kulturkritik ................................................................22 1.4. Der negative Spiegel: Rassismus ............................................................28
2. Definitionen ............................................................................................33 2.1. Werte ..........................................................................................................33 2.2. Praktizierende Muslime ..........................................................................40 2.3. Geschlechterbeziehungen ........................................................................41
3. Methodik ...................................................................................................45 3.1. Frage ...........................................................................................................45 3.2. Aufgaben ....................................................................................................45 3.3. Einordnung ................................................................................................46 3.4. Prämissen ...................................................................................................47 3.5. Stichprobe ..................................................................................................48 3.6. Interviews ..................................................................................................51 3.7. Transkription .............................................................................................52 3.8. Auswertung ...............................................................................................53 3.9. Einschränkungen ......................................................................................56
4. Interview-Eindrücke ............................................................................59 4.1. Maryam ......................................................................................................59 4.2. Abid ............................................................................................................60 4.3. Jamal ...........................................................................................................62 4.4. Fatima .........................................................................................................63
5. Auswertung der Interviews ..............................................................65 5.1. Bedecken ....................................................................................................65 5.1.1. Kleidung ..................................................................................................65 5.1.2. Kopftuch .................................................................................................71 5.1.3. Gesichts- und Körperschleier ...............................................................87 5.2. Aufgaben von Mann und Frau ...............................................................90 5.2.1. Häusliche Arbeit ....................................................................................90 5.2.2. Kinderfürsorge .......................................................................................94 5.2.3. Der Mann als Oberhaupt ......................................................................98 5.3. Geschlechtertrennung und Erziehung ................................................102 5.3.1. Geschlechtertrennung .........................................................................102 5.3.2. Klassenfahrt und Reisen .....................................................................114 5.3.3. Sport und Schwimmen .......................................................................118 5.3.4. Erziehung ..............................................................................................122 5.4. Arbeit und Öffentlichkeit ......................................................................124 5.4.1. Arbeit .....................................................................................................124 5.4.2. Religiöse Autorität: Die Vorbeterin ..................................................127 5.5. Partnerschaft ............................................................................................135 5.5.1. Ehe .........................................................................................................135 5.5.2. Erwartungen der Eltern ......................................................................139 5.5.3. Liebe ......................................................................................................142 5.5.4. Konvertierung des Partners ...............................................................146 5.5.5. Vermittelte Ehen und Zwangsheirat ................................................151 5.5.6. Scheidung .............................................................................................152 5.5.7. Polygamie .............................................................................................155 5.5.8. Huri ........................................................................................................159 5.6. Sexualität ..................................................................................................162 5.6.1. Sex ..........................................................................................................162 5.6.2. Jungfräulichkeit ...................................................................................167 5.6.3. Freundschaften .....................................................................................170 5.6.4. Flirten und Verführung ......................................................................172 5.6.5. Der Blick: Schutz und Provokation ...................................................178 5.7. Gewalt gegen Frauen .............................................................................180
5.8. Ehre und Würde .....................................................................................187 5.9. Was Mann und Frau unterscheidet .....................................................192 5.10. Integration, Religion, Gesellschaft .....................................................202 5.10.1. Integration ..........................................................................................202 5.10.2. Weg zum Islam ..................................................................................213 5.10.3. Vorurteile ............................................................................................217
Resümee und Ausblick .........................................................................223 Literatur ..........................................................................................................231 Glossar .............................................................................................................241 Abkürzungen und Zeichen ..........................................................................243 Notationen der Transkription ......................................................................244 Danksagung ....................................................................................................245
Verschleierte Gemeinsamkeiten Ist die Integration von muslimischen Migranten und ihren Nachkommen gescheitert? Hitzige Debatten um gewalttätige Jugendliche, das Kopftuch bei Kindergartenkindern oder islamischen Religions- und Koranunterricht suggerieren dies bisweilen. So ist es nicht verwunderlich, dass immer mehr Deutsche Angst vor dem Islam und seinen Anhängern haben. Das wurde im Rahmen der Langzeituntersuchung „Deutsche Zustände“ des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung schon für das Jahr 2006 festgestellt. Demnach grenzen immer mehr Deutsche „Fremde“1 aus. Laut Studie ist knapp die Hälfte aller Deutschen allgemein fremdenfeindlich eingestellt. Fast jeder Dritte meinte, dass Muslimen der Zuzug nach Deutschland verboten werden sollte (vgl. Keil 2006). Die Diskussionen im Umfeld der Islamkonferenzen spiegeln die gegenseitige Skepsis, das Misstrauen, die offenen Fragen und Ängste wider. Ein Journalist brachte die Probleme, die sich für die nichtmuslimische Mehrheit angesichts einer wachsenden Zahl muslimischer Migranten ergeben, im Zusammenhang mit der zweiten Deutschen Islamkonferenz im Mai 2007 folgendermaßen auf den Punkt: „Wie halten es die Muslime mit der deutschen Werteordnung, mit der Gleichberechtigung von Mann und Frau, dem gemeinsamen Schwimmund Sportunterricht für Jungen und Mädchen? Welche Bedeutung hat das Kopftuch? Wie soll ein Islamunterricht an deutschen Schulen gestaltet werden? Was ist mit Ehrenmorden? Für wen sprechen überhaupt die islamischen Verbände mit ihren lediglich 300.000 Mitgliedern?“ (Klaschka 2007)
Die größten Ängste und meisten Diskussionen, die nicht selten die Annahme bestärken, es gebe grundverschiedene „Kulturen“ und Wertesysteme, entzünden sich an der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Immerhin handelt es sich dabei um einen fundamentalen Bestandteil sowohl der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als auch des deutschen Grundgesetzes. Vor diesem Hintergrund ist die scharfe Äußerung des ehemaligen CSU-Generalsekretärs Markus Söder durchaus legitim: „Ich bin dagegen, dass wir einen falsch verstandenen Dialog in Deutschland führen. Wer auf Dauer hier leben will, der muss sich zu unseren Werten bekennen. Wer sich nicht dazu bekennt, der hat hier keine Zukunft“, sagte er im Umfeld der zweiten Islamkonferenz (Lau 2007a). 1
Der Begriff der „Fremdheit“ wird hier nur in Anführungszeichen gebraucht, womit versucht wird, seiner Instrumentalisierung im Sinne von rassistischer Wissensbildung Rechnung zu tragen (vgl. Terkessidis 2004: 97).
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Islamische Verbände und Vereine in Deutschland bekennen sich nach menschenverachtenden Terror-Anschlägen ebenso wie bei Skandalen vom Kaliber des „Frankfurter Justizskandals“ (siehe dazu Kapitel „Gewalt gegen Frauen“) regelmäßig zu den Werten des deutschen Grundgesetzes. Das Misstrauen aber bleibt. Zu bedrohlich und zu real scheinen medienwirksame Einzelfälle, in denen der deutschen Gesellschaft offenbar immer wieder das Gegenteil bewiesen wird. Ende 2006 stach ein Iraker in München auf seine 24-jährige Exfrau ein – auf offener Straße und vor den Augen ihres sechsjährigen Sohnes. Danach übergoss er sie mit Benzin und zündete sie an. „Sie hat mich verraten, sie hat es verdient“, sagte der 36-Jährige später vor Gericht (vgl. Fischer 2007). Der Vorfall wurde in den Kontext eines Ehrenmordes eingeordnet und heizte die Diskussion um Gewalt gegen muslimische Frauen wieder an. Ähnlich auch der Frankfurter Justizskandal, in dem manche „eine systematische Aufweichung unseres Rechtssystems durch die Scharia“ (vgl. Schwarzer 2007) sahen. „Unser Rechtssystem wird seit langem systematisch von islamischen Kräften unterwandert“, warnte die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer (ebd.). Wie emotional die Debatte geführt wird und wie sehr dies ausarten kann, zeigte sich Anfang 2007: Als die Grünen-Politikerin Ekin Deligöz Musliminnen in Deutschland unter anderem zum Ablegen des Kopftuchs aufforderte, erhielt sie Morddrohungen, Droh- und Schmähbriefe (Steffen 2007). Angesichts solcher Vorfälle ist es verständlich, dass der Ton bei der zweiten Islamkonferenz schon deutlich schärfer war als noch beim ersten Treffen. Von den teilnehmenden Verbänden wurde erwartet, dass sie eindeutig Position beziehen und sich von bestimmten Praktiken distanzieren. Vor allem wurde das „lückenlose Bekenntnis“ zu den deutschen Grundwerten verlangt (vgl. Lau 2007a). Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU), kritisierte die Forderung nach getrenntem Sportunterricht für Jungen und Mädchen. Kulturelle Vielfalt ende dort, wo Deutschlands Grundwerte in Frage gestellt würden: „Die Gleichberechtigung der Geschlechter ist eines dieser nicht verhandelbaren Grundrechte.“ (Focus Online vom 30.4.2007) Die teilnehmenden Verbände wurden unter anderem kritisiert, weil sie nicht für ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis bei ihren Vertretern gesorgt hatten. Der Schriftsteller Feridun Zaimoglu wollte seinen Platz im Islamrat deshalb für eine „Neo-Muslima“ räumen, eine junge „Schamtuchträgerin“, die ein Gegengewicht zu den im Islamrat vertretenen Repräsentanten bilden sollte: „Die orthodoxen Männer und die säkularisierten Frauen – das ergibt zusammen ein sehr primitives Bild vom Islam“, sagte Zaimoglu (vgl. ebd.). Es ist das Schreckensbild von muslimischen Parallelgesellschaften, in denen das deutsche Recht durch Scharia-Gesetze ersetzt 10
wird. Von Mädchen und Frauen, die von dominanten Männern in erniedrigende Lebens- und Eheverhältnisse gedrängt werden. Von einer Religion, die auf einem anderen Wertesystem basiert, und deren Anhänger deshalb automatisch im Verdacht stehen, Staatsfeinde zu sein. Die große Mehrheit der Muslime in Deutschland, die integriert und nicht auffällig ist, aber auch keinem Verband oder Verein angehört, wird nicht vor die Kameras treten. Ihre Vorstellungen von Beziehungen zwischen Mann und Frau werden ebenso wenig gehört wie ihre Meinung zur deutschen Gesellschaft und deren Werten. Von Wissenschaft und Medien werden sie weitgehend ignoriert. In vielen Publikationen wird davon ausgegangen, dass „die” Muslime eine homogene Gruppe bilden, die – auch in der Emigration – unverändert überlieferten Bräuchen folge. So hatte sich dieses „primitive Bild vom Islam“ bis zur dritten Islamkonferenz im März 2008 noch verfestigt. Wieder zeigen sich die entscheidenden Konflikte im Bereich der Wertvorstellungen und Geschlechterbeziehungen. Und wieder wurde der Tonfall schärfer. Als „Lippenbekenntnisse“ etwa bezeichnete Necla Kelek, Mitglied im Islamrat, das Bekenntnis zu Grundgesetz und Gleichberechtigung von Mann und Frau seitens einiger Verbände im Islamrat. Die Autorin und Soziologin, die sich als Vertreterin der säkularen Muslime versteht, prangerte „SchariaGerichte“ in Deutschland an. Außerdem kritisierte sie, dass mancherorts schon Kindergartenkinder zum Kopftuchtragen gezwungen würden. Die Werteordnung der Bundesrepublik sei mit jener dieser Muslime nicht kompatibel (vgl. Phönix „live vor Ort“ vom 13. März 2008). Kelek gießt damit Öl ins Feuer der Integrationsdebatte. Die Soziologin hatte schon mit ihrem Buch „Die fremde Braut“ eine Debatte über Integration von Muslimen, insbesondere türkischer Herkunft, ausgelöst. Sie geht davon aus, dass das islamische Welt- und Menschenbild sowie das islamische Wertesystem mit der europäischen Gemeinschaft unvereinbar seien (vgl. Kelek 2006). Dabei nennt sie unter anderem Gewalt gegen Kinder und Frauen als unter Migranten „häufig auftretendes Problem“, weiterhin Rassismus und diskriminierendes Verhalten wie etwa Zwangsverheiratung, eine mangelnde Anerkennung der Schule als deutscher Sprach- und Kulturraum mit obligatorischem Sexualkunde-, Schwimmund Sportunterricht, Mehrehe sowie eine Ungleichbehandlung von Männern und Frauen im Zugang zu Veranstaltungen der Moscheevereine. Ein düsteres Bild, wahrhaft ein primitives. Ein Bild, mit dem sich Muslime hierzulande identifizieren? Die Veröffentlichung von „Die fremde Braut“ wurde von deutschen Migrationsforschern heftig kritisiert: 60 von ihnen unterzeichneten eine Petition, verfasst von Mark Terkessidis und Yasemin Karakaşoğlu, in der 11
sie Kelek Unwissenschaftlichkeit und Unseriosität vorwarfen. Ein wesentlicher Kritikpunkt war, dass „eigene Erlebnisse und Einzelfälle zu einem gesellschaftlichen Problem aufgepumpt werden, das umso bedrohlicher erscheint, je weniger Daten und Erkenntnisse eine Rolle spielen“ (Terkessidis/Karakaşoğlu 2006). Nach Ansicht von Karakaşoğlu wird auf diese Weise eine neue Art von Rassismus2 hoffähig gemacht. Unter der vorgeblichen Verteidigung von Rechten und Werten verdichte sich heute ein rassistischer Diskurs auf die Muslime „als die Anderen per Definition“ (Karakaşoğlu 2006), der nicht mehr tabuisiert sei wie noch in den 1990er Jahren. Wie auch Klaus J. Bade feststellt, „wird der Blick auf die größtenteils friedliche Entwicklung der Einwanderungsgesellschaft oft verstellt durch die Beschwörung einer allgemeinen 'Integrationskrise' mit einseitiger Konzentration auf abschreckende Stichworte wie 'Ehrenmorde', 'Zwangsheiraten', 'Genitalverstümmelungen' und 'Parallelgesellschaften', organisiert in 'ethnischen Kolonien' als Zentren von Kriminalität und häuslicher Gewalt“ (Bade 2007).3 Als problematisch sieht Bade auch an, dass solche Phänomene einseitig „dem Islam“ zugewiesen würden, da es sie auch in anderen Kulturen gebe und der Islam eine Vielfalt von Lehrtraditionen beinhalte. Er stellt fest, dass von Religiosität keine Gefahr für den Integrationsprozess ausgehe, sofern die Grundwerte und Normen nicht jenen der Rechtskultur des Aufnahmelandes widersprechen. Der Diskurs wurde hier stark verkürzt wiedergegeben, dennoch wird die Problemlage deutlich: Es fehlen wissenschaftlich abgesicherte Daten und Untersuchungen über Werte und Einstellungen von Muslimen. Dazu, dass sie auch selten verlangt werden, trägt offenbar eine neue Art 2
Auch Mark Terkessidis hat darauf hingewiesen, dass die „Rassenkonstruktion“ nicht allein aufgrund somatischer Merkmale funktioniert, sondern ebenso durch sprachliche Akzente oder das Tragen eines Kopftuchs in Gang gesetzt werden kann (vgl. Terkessidis 2004: 82): „Eine Bewertung ist immer schon implizit, wenn jemand als Mitglied einer Gruppe erkannt wird, welche von Ausgrenzungspraxen betroffen ist.“ (ebd.) Beim Rassismus gehe es ebenso wie beim Antisemitismus nicht um „Feindlichkeit“ zwischen bereits existenten Gruppen, sondern um Prozesse, in denen Gruppen „erzeugt“ würden (vgl. Ebd.: 72). Demokratie und Rassismus bezeichnet Terkessidis als „Bestandteile eines Januskopfes“: In der Moderne sei eine gesellschaftliche Ordnung der Ungleichheit nicht mehr natürlich, sondern bedürfe der Legitimation, wobei „die Natur als Explanans des rassistischen Wissens“ wiederkehre (vgl. Terkessidis 2004: 97).
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Bade warnt aber auch vor euphemistischen Verharmlosungen oder harmonistischem Schönreden dieser Phänomene und fordert, „solche unerträglichen, mit den Grundwerten und der davon getragenen Rechtsordnung dieses Landes unvereinbaren Formen von Gewaltkriminalität und abweichendem Verhalten“ gesellschaftlich zu ächten (vgl. Bade 2007).
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von Kulturrassismus bei. In den Medien und der öffentlichen Diskussion wird oft und gerne auf die unmethodische Schilderung von Einzelfällen zurückgegriffen, anstatt auf wissenschaftliche Ergebnisse, sofern sie denn existieren. Das gilt insbesondere für das Thema Geschlechterbeziehungen, wo gesicherte Erkenntnisse über Einstellungen und Wertvorstellungen praktizierender Muslime bislang Mangelware sind, da es hierzu keine umfassenden empirischen Untersuchungen gibt. Umso wichtiger erscheint es für Wissenschaftler, dieses Themenfeld zu bearbeiten. Dabei sollte das Machtverhältnis von Majorität und Minorität im Blickfeld bleiben. Einen bescheidenen Beitrag dazu möchte dieses Buch leisten, das sich im Grenzbereich zwischen Migrationsforschung, Gender-Studies und Religionssoziologie bewegt. Es erscheint wichtig, diesen übergreifenden Blickwinkel zu wählen, um den Forschungsgegenstand nicht vorab unnötig einzugrenzen.
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1.
Forschungsstand
1.1.
Das Zitierkartell
Veröffentlichungen über junge Menschen mit Migrationshintergrund und ihre Wertvorstellungen beziehen sich selten auf eigenes, neues Material. Meist wird aus älteren Studien zitiert. Publikationen aus dem Bereich der interkulturellen Pädagogik und Migrationsforschung nehmen zwar auch Geschlechterbeziehungen in den Blick, jedoch haben sie meist national-kulturelle Bezüge: Bei der Auswahl der Stichproben steht die türkisch-stämmige Bevölkerung Deutschlands im Mittelpunkt. In der Türkei gibt es aber eine lange laizistische Tradition. Wert- und Normvorstellungen türkischer Migranten müssen nicht notwendigerweise eine Verbindung zu islamischen Glaubensinhalten haben.4 Dennoch werden Studien über die türkisch-stämmige Bevölkerung in Deutschland oft und gerne herangezogen, um allgemeine Thesen über Muslime aufzustellen.5 Es verwundert, dass es bislang so wenige Studien über Wertvorstellungen von in Deutschland lebenden Muslimen gibt, die sich explizit als religiöse Menschen verstehen. In Bezug auf deren Frauen- und Männerbild wird daher allzu leichtfertig von der Situation in den Herkunftsländern pauschal auf die Religion des Islam und auf die deutschen Muslime geschlossen.6 Auch Fred-Ole Sandt stellte fest, dass es sich bei 4
Ursula Boos-Nünning hat bemerkt, dass sich z.B. die Strukturen süditalienischer Familien mit jenen decken, die türkischen Familien zugeschrieben werden. Das gilt etwa im Hinblick auf die Autorität des Vaters, Besitzansprüche des Mannes gegenüber der Frau und deren Kontrolle, die Vorstellung von der starken sexuellen Anziehungskraft der Frau, der sich der männliche Wille nicht widersetzen könne und die unwesentliche Bedeutung der individuellen Liebe (vgl. Boos-Nünning 1999: 32-33). Martina Weber gibt zu bedenken: „Wir können also eher etwas über ethnisierende Zuschreibungen erfahren, wenn Menschen soziale Merkmale attestiert werden, die ihnen aufgrund ihrer Herkunft quasi natürwüchsig anhaftend aufgefaßt werden.“ (vgl. Weber 1999: 52-53)
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Dabei wird selten berücksichtigt, dass ein beachtlicher Teil der in Deutschland lebenden Migranten aus der Türkei einen kurdischen Hintergrund hat. Einige von ihnen gehören auch in der Türkei einer religiösen Minderheit an und stehen dem sunnitischen Islam türkischer Prägung in vielen Punkten kritisch gegenüber, unter anderem was die Geschlechterbeziehungen betrifft.
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So schreibt etwa Sabine Karasan-Dirks, die Mentalität in muslimischen Ländern, „die aus der religiösen Gesetzgebung des Familienlebens entstanden ist, weist eine grundlegende Tendenz auf, nämlich die Anerkennung der prädominierenden Stellung des Mannes in Haus und Gesellschaft. Wir wissen alle, daß der Islam keine gleichberechtigten Verhältnisse zwischen den Geschlechtern anerkennt.“ (Karasan-Dirks 1980: 6) Verallgemeinerungen wie
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muslimischer Religiosität um ein „Forschungsdesiderat“ (Sandt 1996: 42) handelt, zumindest was empirische Untersuchungen betrifft: „Die in der Bundesrepublik durchgeführten, großen repräsentativen Studien zur christlichen Religiosität übergehen muslimische Orientierungen, so als ob ihnen keine Bedeutung zuzumessen sei.“7 (ebd.: 43)
Innerhalb der Migrationsforschung sei zwar die Struktur kultureller Orientierungen von Jugendlichen der zweiten oder dritten Immigrantengeneration untersucht, die Religiosität der Jugendlichen dabei jedoch nur als Randphänomen behandelt worden (vgl. ebd.: 44). Eine umfassende Studie, die sich mit den Wertvorstellungen praktizierender Muslime zum Thema Geschlechterbeziehungen befasst, wäre aber auch im Hinblick auf das Thema Integration wichtig. Zudem wären die Ergebnisse einer solchen Studie wünschenswert für eine wissenschaftlich fundierte Diskussion um Formen des Religionsunterrichts. Die Frauenforschung hat innerhalb der Migrationsforschung insbesondere die Lebenssituation türkischer Frauen und Mädchen untersucht. Die Väter und Ehemänner wurden zu diesen Themen meist nicht selbst befragt. Offenbar wird viel häufiger und lieber aus Aussagen der Frauen und Kinder „und aus fortlaufend reproduzierten stereotypen Vorstellungen deutscher Wissenschaftler/innen, Sozialarbeiter/innen und Journalist/innen ein ,Second-Hand-Bild' der ersten (männlichen) Generation weitertradiert“ (Spohn 2002: 147): „Dieses ,Zitierkartell' verbreitet nicht nur ein einseitiges Bild über die türkischen Frauen und Familienstrukturen, sondern gleichfalls über die türkischen Männer, wenn auch in noch subtilerer Form, da die Männer nicht der eigentliche Gegenstand der Untersuchung sind.“ (ebd.: 148)8
Es kann von einem ebensolchen „Zitierkartell“ in Bezug auf muslimische Frauen und Männer allgemein gesprochen werden. Die kolportierten Bilder sind hier nicht minder einseitig. diese sollten mit Vorsicht genossen werden und gerade weil „alle“ etwas wissen oder zu wissen glauben, Anlass zu näheren Untersuchungen geben. 7
Mit der 13. Shell Jugendstudie hat sich das geringfügig geändert, doch gibt es starke methodische Einwände, und der Vielfalt islamischer Orientierungen wird man allein schon im Sample der Studie nicht gerecht (vgl. Thona 2003).
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Im Rahmen dieser Untersuchung erschien es nicht zuletzt deshalb wichtig, auch Männer zu befragen. Insbesondere Veröffentlichungen, die sich auf das Ehrkonzept in der türkischen Gesellschaft beziehen, berufen sich immer wieder auf Werner Schiffauers Studien, die schon um die 25 Jahre zurückliegen. Auch Andrea Baumgartner-Karabaks und Giesela Landesberges „Die verkauften Bräute“ ist schon in der fünften Auflage erschienen, ohne dass neue Erkenntnisse erbracht würden.
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Insgesamt lassen sich in der Forschung kulturalistische und kulturkritische beziehungsweise strukturalistisch geprägte Ansätze unterscheiden. Letztere beschreiben die Unterschiede zwischen Migranten- und Aufnahmegesellschaft als Ursache von sozialstrukturellen Unterschieden und weniger von „kulturellen“ Verschiedenheiten. Laut Mark Terkessidis neigt die „hiesige Forschung zu einer Überschätzung von kulturellen Differenzen und daraus resultierenden Konflikten“ (Terkessidis 2004: 122), was seit den 1980ern wiederholt kritisiert worden sei. Das würde erklären, warum kulturalistsche Ansätze bis heute in der Forschung ein so großes Gewicht haben. Im Folgenden wird diese Position anhand von Beispielen dargestellt. Jedoch muss erwähnt werden, dass kulturalistische und strukturalistische Ansätze nicht immer klar voneinander zu unterscheiden sind, sondern sie sich gelegentlich auch überschneiden.
1.2.
Zwei Welten: Kulturalismus
Laut Nicole Kraheck werden „ausländische Mädchen“ (Kraheck 1997: 100) – sie meint damit insbesondere Mädchen aus Familien türkischer Herkunft – in der BRD mit „zwei völlig unterschiedlichen Kulturkreisen“ (ebd.) konfrontiert. Die Werte und Normen seien „gegensätzlich und nicht miteinander zu vereinbaren. Dies führt notwendigerweise zu Konflikten, da die Mädchen die traditionellen Werte nicht mehr unhinterfragt hinnehmen.“ (ebd.) Kraheck nennt die Ehre der Familie als einen solchen Wert, der sich über das Verhalten der Mädchen definiere. Diese müssten bis zur Eheschließung unberührt bleiben, sich unter die die väterliche oder männliche Autorität unterordnen und dürften keinen Kontakt zu Männern außerhalb der Familie haben (vgl. ebd.: 101). „Da viele ausländische Familien wieder in ihr Heimatland zurückkehren wollen, verstärkt sich der Druck an die Mädchen, sich an die traditionellen Werte und Normen der ausländischen Kultur anzupassen, um nicht ehrlos zu gelten.“ (ebd.)
Auch die Anpassung an deutsche Werte und Normen bringe Konflikte mit sich; fehlende Auseinandersetzungs- und Handlungsalternativen führten „bei vielen ausländischen Mädchen zum Rückzug in die innere Emigration“ (ebd.). Nach Meinung der Orientalistin Filiz Kiral, die sich ebenfalls hauptsächlich auf türkischstämmige Migranten bezieht, werden Werte, Normen und Verhaltensmuster der deutschen Kultur von den hier aufgewachse17
nen Kindern automatisch übernommen: „Der daraus resultierende Kulturkonflikt gerät zwangsläufig auch zu einem Generationenkonflikt.“ (Kiral 1997: 53) Denn die Elterngeneration könne sich oft mit den Werten der ausländischen Umgebung nicht identifizieren. Sie kapsele sich von der hiesigen Gesellschaft ab, damit ihre eigenen Werte nicht tangiert würden. Diese Generation suche Halt in islamischen Institutionen, von denen sie sich die Bewahrung nationaler und kultureller Identität in der Fremde erhoffe (vgl. ebd.: 53). Sevdiye Yldiz betrachtet kulturelle und religiöse Sozialisation als eng miteinander verflochten. Bezogen auf Mädchen mit türkischem Migrationshintergrund erklärt sie, dass oft die Werte und Vorstellungen widerspruchslos akzeptiert und ausgeführt würden: „Die kollektiven Moralvorstellungen und die Handlungsmuster werden von den Mädchen verinnerlicht und entsprechend ist die Loslösung oder die Infragestellung dieser Werte fast unmöglich. Wenn dies doch geschieht, dann ist das mit starken Schuld- und Schamgefühlen verbunden. Dadurch erleben viele Mädchen die Möglichkeit mit zwei oder mehr Kulturen aufzuwachsen nicht als eine Chance für ihre persönliche Entwicklung.“ (Yldiz 1997a: 25)
Yldiz betont aber auch, dass ihr ähnliche Konfliktbeschreibungen von süditalienischen und südportugisischen Migranten bekannt seien. Sie fragt, weshalb Menschen aus islamischen Ländern, insbesondere Türken und Marokkaner, „besonders stereotyp dargestellt und stigmatisiert werden“ (ebd.: 27) und sich Zuschreibungen auch durch neuere, entgegengesetzte Untersuchungen nicht einfach auflösen lassen. Yldiz kommt zu dem Schluss, dass nicht der Islam, sondern die männlichpatriarchale Tradition für Mädchen und Frauen eine demütigende, unerträgliche Lebenssituation schaffe (vgl. ebd.: 27-28). In einem anderen Text fällt das negative Islam-Bild der Autorin auf. Sie trägt dort dazu bei, was sie zuvor kritisiert hat: zur Stereotypisierung. Bei türkischen und marokkanischen Familien sieht Yldiz einen „Rückzug“ in Religion und Koranschulen. Diese würden „vielen MigrantInnen eine große Sicherheit mit klaren Orientierungsmustern und eine Ablehnung gegen alles ,Deutsche'“ (Yldiz 1997b: 146-147) bieten. Der so genannte Rückzug zum Islam mache jedoch eine echte Auseinandersetzung mit der jetzigen Lebensrealität unmöglich: „Die notwendigen Diskussionen über die unterschiedlichen Normen und Moralvorstellungen werden nicht zugelassen und somit besteht keine Chance für eine Verarbeitung bzw. für eine Veränderung.“ (ebd.: 147)
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Die Eltern würden „starr“ auf der Einhaltung der Regeln beharren, ohne sie erklären zu können. Die religiösen Gelehrten „lehren unkontrolliert unter Prügelstrafe, daß Mädchen und Jungen von Natur aus verschieden seien und nicht nebeneinander sitzen dürfen. Weiter lehren sie, daß Frauen ein Stück hinter ihren Männer (!) herlaufen müssen, um auch in der Öffentlichkeit zu dokumentieren, daß sie minderwertiger sind und sich dem Mann unterzuordnen haben.“ (ebd.) Die Frau solle dem Mann dienen, ihn jederzeit sexuell befriedigen, ihn von Hausarbeit befreien (vgl. ebd.: 151). Diese „islamisch geprägten“ Wertvorstellungen würden das männliche und weibliche Rollenverhalten definieren (vgl. ebd.: 148). Das „System der Ehre“ bringe einen Absolutheitsanspruch der eigenen Normen und Werte mit sich und untersage jeglichen Dialog oder Kritik (vgl. ebd.: 153). „Beide Geschlechter wachsen in ihre vorgesehenen traditionellen Rollen hinein und erlernen die Regeln, Werte und Normen ,sprachlos und implizit'.“ (ebd.) Der so genannte Rückzug zum Islam erscheint auch in vielen anderen Publikationen in einem sehr negativen Licht. Für die gläubigen Muslime, so argumentiert Karin König anhand ihrer Analyse türkischer Muslime in Deutschland, sei der Islam ein stabilisierendes Element in den Identitätskrisen, die durch die Migration verursacht würden: „Er ist geradezu ein Bollwerk in einer fremden Umwelt. Der Islam schließt aber eine Auseinandersetzung mit der deutschen Gesellschaft aus. Eine Flucht in die Religiösität kann dazu führen, daß islamische Moralregeln überbetont und westliche Wertvorstellungen völlig abgelehnt werden.“ (König 1994: 242)
Denn laut König werden die Kinder von Migranten mit zwei ganz unterschiedlichen soziokulturellen Wertsystemen konfrontiert (vgl. ebd.: 374). Die Reislamisierung der vergangenen Jahre habe auch dazu beigetragen, dass (türkische) Mädchen in der Religion eine neue Kraft finden, die sie in ihrer türkischen Identität bestärke (vgl. ebd.: 288). Der Islam selbst könne jedoch „kaum ein identitätsbildender Faktor“ (ebd.: 405) sein: „Das wäre er nur dann, wenn er sie (Anmk. d. V.: die türkischen Mädchen) nicht zum gesellschaftlichen Außenseiter machen würde.“ (ebd.) Einen Mittelweg gibt es nach Ansicht von König für diese Mädchen nicht, die sie im Gegenteil in der Pubertät als besonders belastet betrachtet: „Sie haben nicht den Rückhalt, den ihre Eltern in dem türkischen Norm- und Wertsystem finden, aber auch nicht die Freiheiten, sich wie die deutschen Mädchen an hiesigen Vorbildern zu orientieren.“ (ebd.: 376) So sind auch Mädchen, die sich äußerlich nicht von jungen
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Deutschen unterscheiden, in ihren Augen allenfalls „oberflächlich“ angepasst (vgl. ebd.: 385), bleiben also dauerhaft „Fremde“.9 Vielfach wird in der Literatur die Zerrissenheit vor allem von Mädchen thematisiert, die in ihrem Leben „zwischen zwei Kulturen“10 mit besonderen Problemen der Identitätsfindung konfrontiert seien.11 So sieht Valentina Veneto Scheib die Töchter von ausländischen Eltern einen „schwierigen Balance-Akt zwischen der Kultur des Herkunfts- und Aufnahmelandes“ (Veneto Scheib 1993: 49) vollführen. Auch wenn Veneto Scheib explizit von einem Leben „in – und nicht zwischen – zwei Kulturen“ (ebd: 53) in Bezug auf Migrantinnen spricht, so zeigt sich doch der dichotome Ansatz ihres Kulturverständnisses, in dem es offenbar nur möglich erscheint, „auf einer Art Brücke“ (ebd.) zwischen zwei unterschiedlichen Welten – der Herkunfts- und der Aufnahmekultur – zu leben, ohne jemals irgendwo richtig anzukommen. Lale Akgün räumt zunächst ein, dass jede Migrantenfamilie ihre eigene Geschichte habe. Gleich im Anschluss zeichnet sie jedoch ein stereotypes Bild von dieser als einer „Familie im Übergang“ (Akgün 1993: 57), die aus ländlich-bäuerlichen Lebensbedingungen stamme. Hier sei die Fami9
Dies ist ein ethnozentristischer Blickwinkel. Nach Mark Terkessidis ist eine Trennung zwischen Rassismus und Ethnozentrusmus „künstlich“. Dies zeigt er am Diskurs um Integration, in dem die „Entwicklung“ von Migranten in Richtung Anpassung „oft nur als oberflächlich und unnatürlich gesehen wird, als eine Art Maskerade, hinter der jederzeit das ,festgelegte' Programm einer ,fremden' ethnischen Zugehörigkeit hervorbrechen“ könne (Terkessidis 2004: 82-83).
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Terkessidis hat zu dem Begriff des „zwischen zwei Kulturen“ Lebens bemerkt: „Dieser Ort wird aber durch den Prozess der Entgleichung beharrlich erzeugt: Angeblich sind die Personen nichtdeutscher Herkunft sowohl gegenüber dem ,Deutsch-Sein' als auch gegenüber der Zugehörigkeit zum jeweiligen Herkunftsland defizitär.“ (Terkessidis 2004: 197) Berrin Özlem Otyakmaz hat dazu beigetragen, dieses Bild durch ein Bild vom Leben „in zwei Kulturen“ zu ersetzen: „So wird das Leben ,in zwei Kulturen' nicht zur unausweichlichen Konfrontation mit anderen Werten, aus der sich unüberwindbare Konflikte generieren, sondern eröffnet Chancen für individuelle Entwürfe.“ (Otyakmaz 1995: 55) Sie korrigierte auch das Bild von türkischen Mädchen als hilflose Opfer, denn Mädchen entwickeln ihr zufolge aktive Strategien, um sich mit Normen der Eltern auseinanderzusetzen, die sie oft nicht akzeptieren.
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Im Gegensatz dazu bezweifelt Martina Weber, dass die Verfügung über breit gefächerte kulturelle Ressourcen notwendigerweise zu Identitätskonflikten führt: „Kulturalisierende Zuschreibungen versperren allerdings den Blick auf die tatsächlich pluralen Lebensentwürfe von Mädchen aus eingewanderten Familien“ (Weber 1999: 67). Der tatsächlichen „Komplexität von Geschlechterkonzepten und Lebensentwürfen von Mädchen und Jungen, Frauen und Männern“ (ebd.: 68) werde man dadurch nicht gerecht.
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lienstruktur geprägt durch die Großfamilie unter patriarchalischen Bedingungen, eine hohe Geburtenrate und einen niedrigen Status der Frau. Als gesellschaftliche Werte würden die gegenseitige Abhängigkeit der Familienmitglieder, enge Familien- und Gruppenbindungen und die Bevorzugung männlicher Nachkommen gelten. In der Migration begegne die Familie „einer völlig anderen Lebensform“ (vgl. ebd.): der westlichen Wohlstandsgesellschaft. Deren Lebensbedingungen seien durch Industrie und Technik, die Kernfamilie, niedrige Geburtenraten und einen hohen Status der Frau bestimmt. Die „westliche Lebensform“ (ebd.) sei charakterisiert durch die Werte Unabhängigkeit des Individuums, Selbstverwirklichung und Individualität. Die „Übergangsfamilie“ ist laut Akgün gekennzeichnet durch „bi-kulturell“ gefärbte Werte (ebd: 58). Sowohl Familiengruppenbindungen als auch Individualität hätten einen hohen Wert und „jene westlichen Werte“ würden immer mehr an Einfluss gewinnen, „die selbständiges Vorgehen erfordern wie z.B. schulischer und beruflicher Erfolg“. Jedoch würden die Eltern „Lebens- und Familienform der Heimat“ (ebd.: 60) beibehalten und sich nur in Bezug auf Leistung und Wirtschaft der Aufnahmegesellschaft anpassen: „In ihrem Bewußtsein bleiben die Migranten Gastarbeiter, die zurückkehren möchten; sie zeigen keine Akzeptanz der neuen Gesellschaft bezüglich sozialer Normen und verspüren nicht den Wunsch, sich einzufügen.“ (ebd.)
Die Stellung von Mann und Frau sei in „den orientalischen Migrantenfamilien enorm unterschiedlich“ – gemeint ist hier offensichtlich in Bezug auf die „abendländischen“ Familien und nicht untereinander. „Männer haben das Machtmonopol in der Familie, Frauen stehen hinter den Männern zurück. Auch Söhne haben oft mehr Macht in der Familie als die Mütter.“ (ebd.) Demgegenüber müssten die Töchter „von klein auf die Mehrfachbelastung von Schule, Haushalt und Geschwisterpflege“ (ebd.: 59) auf sich nehmen. Die Jugendlichen würden in Auseinandersetzung mit der Aufnahmegesellschaft und ihrem Versuch, eine Synthese herzustellen, zu einer „Doppelmoral“ gezwungen. Diese bezeichnet Akgün jedoch als „Überlebensstrategie“, da die Kinder „Unvereinbares miteinander zu vereinbaren“ (ebd.: 58) suchten. Auch wenn dies in manchen Fällen stimmen mag, haben doch diverse Autoren darauf hingewiesen, dass dieses polarisierende Bild – etwa in Bezug auf die Türkei, auf die sich auch Akgün bezieht – nur eingeschränkt richtig ist.12 Es fallen die Verall12
So erklärt Ursula Boos-Nünning, dass die Familienstruktur und die Beziehungen zwischen Mann und Frau in der Türkei vielfältiger seien, „als man aufgrund oft stereotyper Beschreibungen annehmen könnte“ (Boos-Nünning 1999: 32). Margret Spohn hat gezeigt, dass das Bild vom türkischen Mann in der wissenschaftlichen Literatur meist das des autoritären Patriarchen und
21
gemeinerungen auf: „Die orientalischen Migrantenfamilien“ erscheinen als Einheit, die sich von okzidentalen Familien durch ihr Geschlechterrollenbild unterscheidet. Das Erziehungsverhalten türkischer Eltern in Deutschland orientiert sich Akgün zufolge automatisch an traditionellen patriarchalischen Strukturen (vgl. ebd.). Zudem beobachtet Akgün „bei den Türken“ eine starke Wendung zum Islam, „die vor wenigen Jahren in dieser Form nicht existierte“ (ebd.: 63). Sie erklärt dies folgendermaßen: „Die konservativen Kräfte erleben diese Renaissance, weil sie den Familien eine Möglichkeit bieten Geborgenheit und Zugehörigkeit zu erleben, eine Kompensation für die nicht verwirklichten Rückkehrträume.“ (ebd.)
Hier fällt auf, dass die Hinwendung zum Islam gleichgesetzt wird mit Konservatismus und in der Bezeichnung als „Kompensation“ eine Abwertung erfährt. Die Möglichkeit, in der Hinwendung zum Islam ein modernes oder sogar progressives Phänomen zu sehen, erscheint aus dieser Perspektive ausgeschlossen.
1.3.
Zwischenwelten: Kulturkritik
Es konnte gegenüber Vorstellungen vom „Kulturkonflikt“ jedoch auch immer wieder gezeigt werden, dass „die Lebensrealitäten und die Wertorientierungen von Migrantinnen in der Bundesrepublik Deutschland selbstverständlich ausgesprochen vielfältig sind“ (Weber 1999: 51). Martina Weber stellte schon 1999 fest, dass solche Veröffentlichungen aber keine so starke Verbreitung gefunden hätten, dass damit die Bilder von patriarchal unterdrückten Opfern überdeckt worden wären. Weber bezieht sich auf türkische Mädchen, aber die Erstarrung der Bilder kann Unterdrückers ist, was vielfach am Islam festgemacht werde. Frauen würden häufig als deren Opfer dargestellt (vgl. Spohn 2002). Sie fand bei ihren Befragungen türkischer Männer, die sich als Muslime definierten, heraus, dass diese bereits in der Türkei verschiedenen Familienmodellen zuzuordnen waren. Die befragten Männer stellten sich als eine Gruppe dar, die flexibel auf sich verändernde Lebensumstände reagierte, teilweise das hegemoniale Männlichkeitsmodell bereits in der Herkunftsgesellschaft in Frage gestellt hatte und deutlich realisierte, dass ihnen von Seiten des deutschen Umfelds Eigenschaften zugeschrieben wurden, die mit ihrem Selbstbild nicht übereinstimmten. Anstatt als autoritär, aggressiv, unterdrückerisch, mörderisch im Namen der Ehre und antimodernistisch nahmen sie sich als fürsorglich, warmherzig, großzügig, humanistisch, tolerant und hilfsbereit wahr (vgl. ebd. 439-442).
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nach der Durchsicht zeitgenössischer Publikationen auch für Muslime allgemein konstatiert werden. Heute wird in gesellschaftswissenschaftlichen Publikationen immer häufiger Kulturkritik geübt. Dabei wird auf die politisierende Funktion stereotyper Vorstellungen über Muslime hingewiesen. So kritisiert Ursula Boos-Nünning, dass sich der Blick bei der Problematisierung von Zuwanderung zumeist auf muslimische Mädchen ausländischer Herkunft richte. Deren Lebens- und Verhaltensweisen würden „zum Symbol für das ,Anderssein', für die fehlende Integrationsfähigkeit der Zuwandererfamilien“ (Boos-Nünning 1999: 17) gemacht. „Die Werte der Mehrheitsgesellschaft bestimmen die Bilder“ (ebd.: 21), andere Bilder würden nicht repräsentant (vgl. ebd.: 23). Die Muster und Vorstellungen der deutschen Gesellschaft würden stets als die richtigen, höherwertigen angesehen, die der Zugewanderten als die falschen, rückständigen (vgl. ebd.: 22). Ursula Mihciyazgan hat die Religiosität muslimischer Erwachsener qualitativ untersucht. Sie stellte fest, dass sich bei ihnen seit der Immigration der religiöse Wissensbestand verändert. Dabei spiele die Auseinandersetzung mit dem „westlichen“ Diskurs über den Islam eine bedeutende Rolle, die häufig durch die Kinder vermittelt werde. Die Befragten entfernten sich von ihrem ursprünglichen Wissensbestand, der zumeist vom so genannten „Volksislam“, also dem Islam der einfachen Leute, geprägt war, indem sie sich mit den Schriften des Hochislam und theologischen Ansichten der islamischen Gelehrten auseinandersetzten. So erfahre der Islam eine Reinterpretation, durch die Muslime neue Argumente finden, um den Islam im modernen Diskurs zu verteidigen (vgl. Mihciyazgan 1994). Durch eine solche Hochislamisierung des Wissens werden die Immigranten „nicht zu westlichen Individuen, sondern sie werden in der großen Mehrzahl muslimische Mitglieder unserer westlichen Gesellschaft sein, die aufgrund ihrer Religion differente Selbst- und Weltverhältnisse haben“ (vgl. ebd.: 204). Natalia Diefenbach-Popov, die muslimische Religionskultur in Frankfurt am Main untersucht hat, stellt fest, dass die „zweite Generation“ von Migranten „überwiegend eine Übergangsform von einem ethnisch geprägten zu einem deutschen Islam darstellt“. Die so genannte dritte Generation bewege sich „zwischen den zwei Polen einer geistigen Assimilation mit areligiösen Elementen einerseits und einer starken Bindung an eine traditionelle Auffassung des Islam“. Sie repräsentiere bereits einen „Islam deutschsprachiger Prägung“ (Diefenbach-Popov 2007: 17). „Diese jungen Muslime setzen sich bewusst mit ihren Rechten und Pflichten innerhalb der Gesellschaft auseinander, werden aber innerhalb
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dieser Gesellschaft angesichts der knapper werdenden sozialen Ressourcen oftmals benachteiligt bzw. vor höhere Hürden als nicht-muslimische Wettbewerber gestellt. Das gilt besonders für muslimische Frauen und Mädchen.“ (ebd.)
Laut Diefenbach-Popov werden die ethnischen Differenzen im Laufe der Zeit sekundär. Durch die Aneignung der deutschen Sprache, Mentalität und durch gemeinsame sozioökonomische Erfahrungen bilde sich zunehmend eine „neue Identität“ heraus. In dieser würden sich Menschen „als eingedeutschte Muslime begreifen, wobei jede Generation der Muslime eine Mischform verschiedener Ethnien und religiöser Richtungen innerhalb des Islam darstellt“ (ebd.: 18). Man könne nicht von einer einheitlichen „Lebensphilosophie der Muslime“ sprechen. Der Begriff Lebensphilosophie ist für Diefenbach-Popov ein Konstrukt, um die Mentalität der Muslime in Deutschland zu beschreiben: „Jeder Mensch hat seine eigene Lebensphilosophie, seine Strategien der Alltagsbewältigung und sein Wertesystem. Die Lebensweise der Muslime ist ein enges Geflecht aus Anpassung an vorhandene Lebensformen und vorgegebene gesellschaftliche Strukturen einerseits und aus bevorzugten Gestaltungselementen der Herkunftskultur andererseits. Im Lebensstil manifestieren sich Wertesysteme und Lebenseinstellungen. Man versucht, die Werte zu leben, sie im Alltag umzusetzen.“ (DiefenbachPopov 2007: 62-63)
Diefenbach-Popov sieht Muslime in der deutschen Gesellschaft „symbiotische Lebenskonzepte“ (ebd.: 65-66) infolge einer Balance zwischen liberalen und konservativen Orientierungen leben, die darauf zielen würden, „die eigene islamische Identität zu bewahren und sich gleichzeitig gesellschaftlich konform, konfliktfrei und loyal zu verhalten. Das Gleiche gilt für Frauen in ihrem Bestreben, den Anstand im islamischen Sinne zu wahren und zugleich am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren.“ (ebd.: 66) Ihr zufolge haben die meisten Muslime, die sich für einen dauerhaften Verleib entschieden haben, „eine symbiotische Religionskultur deutscher Prägung geschaffen“: „Die Islamischen Grundwerte haben sich mit ethnisch-traditionellen Eigenarten vermischt und durch den Einfluss der sie umgebenden rechtlichen und gesellschaftlichen Lebensformen, Religionen und Weltanschauungen ihre besondere Erscheinungsform gewonnen.“ (ebd.: 79)
Diefenbach-Popov rechnet daher mit der Entwicklung „autochthoner deutscher Formen der islamischen Religiosität“ und einer „islamischen Monokultur deutscher Prägung“ (ebd.). 24
Fred-Ole Sandt stellte bei seiner Befragung muslimischer Jugendlicher verschiedener nationaler Herkunft zwischen 14 und 16 Jahren fest, dass religiöse Gebote nicht immer von allen Befragten als notwendige Pflichten anerkannt wurden. So wurde auch das Kopftuchtragen von einigen als Pflicht bezeichnet, während andere es als eine mögliche aber nicht notwendige Praxis sahen: „Letztere machen dabei insbesondere auf die Differenz zwischen Religion und Kultur aufmerksam. Sie weisen vermeintlich religiöse Pflichten als kulturelle Praktiken aus und insistieren darauf, daß die Gründe solcher kultureller Praktiken in spezifischen, historisch gewachsenen Lebenssituationen liegen, nicht aber in von Gott aufgestellten Geboten. Darüber hinaus betonten befragte muslimische Mädchen die patriarchale Vermitteltheit vieler kultureller Praktiken, deren Geltungsanspruch in gesellschaftlichen Verhältnissen, nicht in religiösen Begründungen liegt.“ (Sandt 1996: 213)
Sandt stellt fest, dass die Jugendlichen den Zusammenhang von Geboten und lebensweltlichen Norm- und Wertvorstellungen als zerrissen wahrnehmen: „Den muslimischen Jugendlichen gelten viele Gebote nicht als selbstverständlich einsichtige Regeln des Alltagslebens, und es tauchen Fragen nach der Sinnhaftigkeit der Gebote auf. Dies wird durch Anfragen nichtmuslimischer Menschen an die Sinnhaftigkeit der Gebote verstärkt.“ (ebd.)
Die einen reagierten darauf, indem sie die religiöse Pflichterfüllung in eine rationale Entscheidung bezüglich des Belohnungs- und Bestrafungszusammenhangs stellten. Andere setzten sich mit dem Islam auseinander, um die Gebote als lebensweltlich sinnvolle Regeln des Alltagslebens zu begreifen (vgl. ebd.: 213-214). Die Jugendlichen orientierten sich gleichzeitig an der modernen Subjektivität wie an der „traditionell“ strukturierten Religion (vgl. ebd.: 230). Sandt bemerkte zudem, dass die Jugendlichen die heutige Gleichberechtigung von Mann und Frau besonders hervorhoben. Während einige dies direkt mit der Religion verknüpften, wiesen andere auf den kulturellen Aspekt hin und betonten die Differenz zum Islam (vgl. ebd.: 238). Gemeinsam sei beiden, „daß sie die historische Dimension von Religiosität in einem Prozeß der Individualisierung wahrnehmen“ (ebd.: 239) Auch für Jugendliche, die sich in einem „strenggläubigen“ Verhältnis zur Religion sehen, sei die modifizierte rituell-religiöse Praxis in den Säkularisierungsprozess eingebunden:
25
„Die Jugendlichen versuchen hier sowohl an der individuellen Freiheit zu partizipieren als auch pflichtgemäß nach dem Islam zu leben. Diese Jugendlichen orientieren sich an zwei divergierenden Bezugssystemen und leben oftmals in zwei Kulturen.“ (ebd.: 240)
Heidi Kondzialka beschreibt, wie kulturspezifische Norm- und Wertvorstellungen, mangelnde Sprachkompetenz und Religiosität in der aktuellen öffentlichen Diskussion zunehmend als integrationshemmend betrachtet werden (vgl. Kondzialka 2005: 7). Unter Verweis auf die Kopftuch-Debatte bemerkt sie jedoch, dass die Situation muslimischer Frauen dabei nur scheinbar ins Zentrum des Interesses gerückt sei: „Die medialen Debatten zu den Lebenssituationen junger Muslimas, ihren Werthaltungen, Einstellungen und Handlungsmotiven, lassen eine differenzierte und sozialwissenschaftlich fundierte Darstellungsweise oftmals vermissen, sei es aus einem Mangel an verfügbaren wissenschaftlichen Studien zu dieser Thematik oder aus journalistischer Vorliebe für medienwirksame Extrembeispiele.“ (ebd.: 9)
Laut Kondzialka entwickelt sich bei vielen das Bedürfnis, Werthaltungen begründbar zu machen. Normgeleitete Vorstellungen des Herkunftskontextes werden vor dem Hintergrund primär wertrationaler Haltungen der Aufnahmegesellschaft hinterfragt. „In diesem Kontext können auch zunehmende Tendenzen der Religiosität insbesondere unter Männern türkischer Herkunft in der Migrationssituation als Bewältigungsstrategie verstanden werden, die als sinnstiftende Weltbilder offenbar auch in Abgrenzung zu Sinnkonstitutionen der Aufnahmegesellschaft entwickelt werden.“ (ebd.: 33)
In Übereinstimmung mit Werner Schiffauer charakterisiert Kondzialka die Tendenzen zur Retraditionalisierung von Norm- und Wertvorstellungen innerhalb der zweiten und dritten Generation als „Tendenzen der bewussten Abgrenzung gegenüber Peers der Aufnahmegesellschaft“ (ebd.), zumeist als Folge von Zuschreibungs- und Ausgrenzungsprozessen. Sie konstruiert drei idealtypische Handlungsmuster (vgl. ebd.: 128). Im dem Handlungsmuster der „Anpassung“ verändern sich die Norm- und Wertvorstellungen gegenüber den Eltern, eine Ablösung von deren Verhaltenserwartungen erfolgt jedoch nicht. Im Muster des „Verschweigens“ werden die latenten Konflikte mit den Familien in eine oft unbestimmte Zukunft verschoben. Im Handlungsmuster der „Ablösung“ wird ein Leben in „interkulturellen Zwischenwelten“ gelebt, was Kondzialka als „integrativ“ beschreibt (vgl. ebd.: 128-130). Auch die vorliegende Arbeit orientiert sich an dem Modell der „interkulturellen Zwischenwelten“, das in der jüngeren Migrationsforschung be26
schrieben wurde. Die psychischen und sozialen Belastungen und Krisen der Migrationssituation werden dabei nicht ausgeblendet, aber als zu bewältigend wahrgenommen. Die Zwischenwelten werden nicht als Übergangsformen des Handelns bei der Transformation von einer zur anderen Gesellschaft gesehen, sondern als dauerhafte Handlungsmodi (vgl. Kondzialka 2005: 18): „Diese Perspektive geht von potentiellen Unterschieden und Gegensätzlichkeiten in verschiedenen Bezugssystemen und Orientierungsmustern von Migranten aus, legt die Akteure jedoch nicht auf eine Position innerhalb dieser Orientierungsmuster fest, sondern begreift die individuellen Handlungsorientierungen als variabel und prozesshaft. (...) Gleichzeitig eröffnet diese Perspektive die Möglichkeit, die Handlungsorientierungen der jungen Frauen nicht generell als eine ,Zerrissenheit zwischen zwei Welten' zu verstehen, sondern als eine Form der Etablierung dauerhafter, ,neuer' Handlungstypen, die jenseits etablierter Handlungsmuster des ethnischen Netzwerks und der Aufnahmegesellschaft, und damit auch jenseits polarisierender, homogener Kulturvorstellungen liegen.“13 (ebd.: 18-19)
Bislang jedoch sind polarisierende Bilder stärker gewesen als solche differenzierten Betrachtungsweisen. Duran Akbulut sieht sogar durch die Schaffung eines neuen Feindbildes mit der Bezeichnung „Fundamentalismus“ ein soziologisch neues Phänomen entstehen: „Moslemfeindlichkeit“ (Akbulut 2003: 30). Diese, vermutet er, werde künftig an die Stelle des Phänomens der Ausländerfeindlichkeit treten. Akbulut zufolge sind „Kulturkonflikte“ beim Aufeinandertreffen verschiedener Bevölkerungsgruppen „nicht allein auf den religiösen Hintergrund von Migranten zurückzuführen, sondern es entstehen generell Mißverständnisse, Ängste und Zurückhaltungen beim Aufeinandertreffen von Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Herkünften, selbst bei gleicher religiöser Prägung“ (ebd.). Das nächste Kapitel befasst sich damit, wozu dies im Extremfall führen kann. 14 13
Dies gilt in der vorliegenden Arbeit selbstverständlich auch in Bezug auf die jungen Männer.
14
Harro Honolka und Irene Götz haben in ihrer Befragung eingeborener Deutscher herausgefunden, dass die Identität der meisten Befragten starke Ambivalenzen aufweist. Im Wissen um die nationalsozialistischen Verbrechen und die Ablehnung als typisch deutsch erachteter Lebensstile komme es zu Selbstdistanzierungen. Dies nähre aber auch besondere Empfindlichkeiten, Rationalisierungen und Projektionen, wozu auch die „besondere Bereitschaft zur Konstruktion von Feindbildern und Sündenböcken“ zähle (vgl. Honolka/Götz 1999: 113). Die Identifizierung mit Deutschland ist den Forschern zufolge in andere kollektive Teilidentitäten eingebettet, etwa in die Identifizierung mit Konfessionen, Schichten oder Geschlechtern. Einzelne Gruppen von Fremden
27
Das Fazit Akbuluts indes soll nicht zu kurz kommen: Allein aufgrund ihrer religiösen Identität dürften ihm zufolge keine ernsthaften Dilemma für muslimische Jugendliche in der deutschen Gesellschaft entstehen. Im Gegenteil: „Solange den Jugendlichen ein tolerantes Islamverständnis vermittelt wird und ihre religiöse Identität darauf basiert, kann dieses sozial integrativ wirken.“ (vgl. ebd.: 99)
1.4.
Der negative Spiegel: Rassismus
Mit seiner Definition von Rassismus hat Mark Terkessidis einen bedeutenden Beitrag zum Verständnis von Ausgrenzungsmechanismen geliefert, die auch in Bezug auf Muslime wirksam werden. Da auf sein Konzept in diesem Buch mehrfach zurückgegriffen wird, soll es hier kurz erläutert werden. Terkessidis lehnt sich mit seiner Rassismus-Definition an den Soziologen Robert Miles an, erklärt Rassismus jedoch nicht als Ideologie, sondern als „Apparat“ (vgl. Terkessidis 2004: 98), womit er auf die strukturelle Dimension aufmerksam machen möchte (ebd.: 212). Dabei unterscheidet Terkessidis die Komponenten „Rassifizierung“, „Ausgrenzungspraxis“ und „differenzierende Macht“ (vgl. ebd.: 98). Rassifizierung beschreibt die Festlegung einer Gruppe mittels bestimmter Merkmale15 als natürliche Gruppe und die Formulierung von deren Verhältnis zur eigenen Gruppe. Ausgrenzungspraxis bezeichnet die „praktische Seite des Rassismus“. Damit will Terkessidis auf die Mechanik der Ungleichheitsproduktion im Zusammenhang mit der Hierarchie von Klassenverhältnissen aufmerksam machen (vgl. ebd.: 99). Die differenzierende Macht verweist auf den Aspekt von Gewalt (vgl. ebd.: 100). Als ein Element der Ausgrenzungspraxis charakterisiert Terkessidis die „kulturelle Hegemonie“. Damit ist zum einen „die Durchsetzung eines bestimmten modernen Werte- und Moralsystems“ gemeint. Dieses bekönnen mit „zentralen identifikativen Werten mehrerer Teilidentitäten“ (ebd.: 115) in Konflikt geraten, etwa „speisten und verstärkten sich in unseren Fällen verbreitete Aversionen gegen männliche Muslime gleichzeitig aus einer verfassungspatriotischen und einer emanzipierten weiblichen Identität“ (ebd.). 15
Merkmale bezieht sich bei Terkessidis auf ein Bündel von morpho-physiologischen, soziologischen (Kleidung, Gewohnheiten, Sprachen usw.), symbolischen und geistigen (Einstellungen, Lebensauffassungen, kulturellen oder religiösen Verhaltensweisen usw.) sowie imaginären Kennzeichen, die immer auch eine Wertung transportieren. „Rasse“ wird hier also nicht mehr im traditionellen Sinne verstanden (vgl. Terkessidis 2004: 98-99).
28
zeichnet Terkessidis als einen „Tugendkatalog des bürgerlichen Mittelstandes“. Er zählt darunter Werte wie Selbstbeherrschung, Fleiß, Mäßigung und Ordnung. Zum anderen zielt der Begriff auf „die Abgrenzung und Definition einer ,eigentlichen' Nation in einem Staat” sowie „auf die Abgrenzung und Definition eines dominanten Kollektivs mit dem Namen ,weiße Rasse', ,europäische Kultur' oder auch ,der Westen' im Weltmaßstab“ (vgl. ebd.: 104). Diese beiden Bereiche würden sich gegenseitig stützen (vgl. ebd.: 106). Denn mit den Grenzen der „eigentlichen“ Nation würden immer auch die Mittelstandswerte und mit den aus dem Wertesystem abgeleiteten Klischees wiederum die Grenzen der Nation verteidigt (vgl. ebd.: 107). Klischees über „die Anderen“ würden sich dabei – auch wenn sie partiell variabel seien – aus einem verhältnismäßig fest umrissenen „Pool der Werte“ herleiten. Sie bestimmen, was man zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt in einer Gesellschaft tun oder lassen solle: „Die Anderen bilden stets das spiegelverkehrte Gegenüber dieser Werte: Wenn Zivilisation in der Gesellschaft als hohes Gut gilt, dann gelten die Anderen als primitiv (...).“ (ebd.: 105) Insofern werde in der kulturellen Hegemonie auch ein „Wir“-Bild erzeugt: „Zwar hat sich die Verquickung von ,eigentlicher' Nation und Wertesystem zweifellos gelockert, aber aufgelöst hat sie sich keineswegs. In Deutschland wirkt diese Verbindung verheerend, weil die ,eigentliche' Nation so exklusiv konzipiert wird: Da die Kultur nicht als austauschbar erscheint, lassen sich auch die Werte letztlich nicht erlernen – oder höchstens in einem oberflächlichen Sinne.“ (ebd.: 107)
Als „Inventar“ rassistischer Situationen benennt Terkessidis vier „Akte“, die nicht permanent, aber kollektiv und seriell auftreten (vgl. ebd.: 198): „Entfremdung“, „Verweisung“, „Entantwortung“ und „Entgleichung“.16 Sie sind allesamt durchwirkt von einem Prozess, den er als „Spekularisation“ bezeichnet (ebd.: 172). In der Entfremdung wird Personen in so genannten „Urszenen“ von Angehörigen der Dominanzgesellschaft die Zugehörigkeit aufgekündigt (vgl. ebd. 174-176). Es gibt also keine vorgängige Differenz, sondern einen anhaltenden Prozess der Differenzierung, „den die Betreffenden auch selbst betreiben, wenn sie beginnen, auf die ,Entfremdung' zu antworten“ (ebd.: 179).17 Von den Betroffenen wird daraufhin das eigene, 16
Diese Akte lassen sich laut Terkessidis nicht exakt voneinander trennen, es gebe nur „graduelle Annäherungen an den Idealtypus“ (Terkessidis 2004: 184).
17
Die Betonung einer islamischen Identität kann in diesem Zusammenhang gesehen werden, insofern die Befragten allesamt auf ihrer Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Muslime bestehen – in Abgrenzung zu nationalen Identitäten.
29
auffällige Merkmal neu bewertet und ein anders, positives Wissen dazu konstruiert (vgl. ebd.: 174).18 Die „Verweisung“ ist ein Prozess, „der die betroffene Person an einen anderen Ort transportiert: ,Du gehörst nicht dazu', bedeutet hierzulande auch immer ,Du gehörst eigentlich woanders hin'“ (ebd.: 180). Dies ist jener „angestammte“ Ort, den es gemäß dem „Mythos von der eigentlichen Herkunft“ (ebd.: 181) für jede nationale Blutsgemeinschaft gibt. In der „Entantwortung“ werden dann dem „eigentlichen Wir“ und auch dem „eigentlichen Ort“ bestimmte Merkmale zugeschrieben. Damit werden auch die Betroffenen jeweils als Träger dieser Eigenschaften ausgewiesen. Dem Individuum wird damit die Verantwortung genommen, denn seine Taten erscheinen allein aufgrund der Gruppenzugehörigkeit vorbestimmt. Terkessidis macht darauf aufmerksam, dass die Zuschreibungen oft mit dem Geschlecht zu tun haben (vgl. ebd.: 186). Die „Entgleichung“ schließlich weist darauf hin, dass die Zuschreibungen und Klischees meistens auch den Hinweis auf ein Defizit der Betroffenen enthalten und unterstellen, dass sie einer Norm nicht genügen. Hier wird einerseits also Gleichheit verweigert und zweitens der Vergleich verhindert: „Die Unterstellung eines Defizits bringt die Person, die sie ausspricht, immer in die Position eines Richters über die Qualitäten des Anderen, und daher braucht sie sich einer realen Konfrontation erst gar nicht zu stellen. Die Entgleichung kommuniziert der Person, die sie erlebt, dass sie zur Konkurrenz überhaupt noch nicht zugelassen ist.“ (Terkessidis 2004: 195).
Ein wichtiges Instrument hierbei sei die Sprache und ihre Beherrschung.19 Der Begriff „Spekularisation“ schließlich setzt sich laut Terkessidis aus den Worten Spiegel und Spekulation zusammen. Unter Bezug auf Luce Irigaray meint er damit, dass das Subjekt „eine Art umgekehrtes alter Ego oder Negativ“ (Terkessidis 2004: 199) benötigt. Bilder, die durch die Akte rassistischer Situationen aufgerufen werden, wirken als Negativ, vor dem ein anderes Bild als Positiv erscheint (vgl. ebd.).
18
Dies soll im Kapitel „Kopftuch“ näher ausgeführt werden.
19
Der Prozess der Entgleichung wird sehr deutlich in Bezug auf die Nichtbefolgung bestimmter Werte, die Muslimen in der öffentlichen Diskussion vielfach unterstellt wird. Auch taucht in solchen Diskursen häufig das Thema angeblich mangelnder Sprachbeherrschung auf.
30
Hier kommt wieder die „institutionalisierte kulturelle Hegemonie“ (ebd.: 211) ins Spiel, durch die in einem Deutschland, das oft als kultureller Lebensraum der ethnischen Deutschen betrachtet wird, die „ausländische Familie“ stets als Sonderfall erscheine: „Indem über das Dasein der Migranten spekuliert wird, entsteht ein negativer Spiegel, in dem die Einheimischen ihre positiven Eigenschaften betrachten können: Weil ,sie', die nicht hierher gehören und eigentlich woanders leben, traditionell, sexistisch, fanatisch und kriminell sind, erscheinen ,wir' als beheimatet, weltoffen, gleichberechtigt, tolerant und anständig. So werden beide Gruppen in einem Prozess erzeugt und positioniert.“ (ebd.)
Angesichts der „geradezu obsessiven“ (ebd.: 214) Versuche in deutschen Gesellschaft, Unterschiede zu konstruieren, stellt Terkessidis fest, „dass insgesamt in der Gesellschaft immer weniger über den Zustand derselben geredet wird, sondern über die Menschen, die darin leben – über ,Wessis', ,Ossis', ,Kanaken', Aussiedler, ,Asylanten', Juden (Anmk. d. V.: selbstverständlich gilt das auch für Muslime) und noch viel kleinere Einheiten. So ist Rassismus vielleicht schon zu einer Art Modell für die Artikulation von Ungleichheitsverhältnissen in einer zersplitterten Gesellschaft geworden. Und dennoch ist das Wissen über Rassismus weiterhin gering.“ (ebd.)
31
2.
Definitionen
2.1.
Werte
Eine Definition des Wertbegriffs wird dadurch erschwert, dass er in zahlreiche Fachwissenschaften Eingang gefunden hat, unter anderem in die Philosophie, Ökonomie, Psychologie und Kulturanthropologie, aber auch in Politologie und Soziologie. Wichtig ist, ausgehend von der Philosophie, der Wertbegriff bei Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844-1900). Er identifizierte Werte „als Produkte des geschichtlich-gesellschaftlichen Zusammenlebens ungleich geratener Menschen” (Hillmann 2003: 26) und erkannte, dass sie „die grundlegenden zentralen und allgemeinen Ziele, Ideale, Sinn- und Zweckvorstellungen sowie Basisnormen für das menschliche Handeln und Zusammenleben sind” (ebd.: 24). Auch die Moral20 konstituiert sich demnach aus Werten. Nietzsche zufolge sind Werte also nicht selbstverständlich oder von einem überirdischen Gott geschaffen, sondern durch Menschen, die sie für ihre Herrschaftsinteressen manipulativ ausnutzen können (ebd).21 Jedoch sind Werte umso stabiler und einflussreicher, je mehr ihre Vertreter sie als göttlich, natürlich oder selbstverständlich empfinden. Sehr verbreitet in der sozialwissenschaftlichen Wertforschung ist die Definition des Wertbegriffs, wie sie der amerikanische Kulturanthropologe und Ethnopsychologe Clyde Kluckhohn (1905-1960) formuliert hat: „A value is a conception, explicit or implicit, distinctive of an individual or characteristic of a group, of the desirable which influences the selection from available modes, means and ends of action.” (Kluckhohn 1959: 395).
Ein Wert ist demnach also eine ausdrückliche oder stillschweigend inbegriffene Auffassung des Wünschenswerten, die charakteristisch für ein Individuum oder eine Gruppe ist und die verfügbaren Handlungsweisen, -mittel und -ziele beeinflusst. Mit dem Wort „desirable” beschreibt Kluckhohn den affektiven Charakter von Werten, der verhindert, dass sie durch rationales Denken schnell geändert werden können. Ihm zufolge können Werte nicht direkt, sondern nur in ihren Manifestationen be20
Der Soziologe Hartmut Salzwedel bezeichnet die Begriffe Moral, soziale Regel und Norm als identisch (Salzwedel 2006: 147).
21
Auch für den Soziologen Emile Durkheim (1858-1917) sind Werte „Produkte der allgemeinen Meinung“ (Durkheim 1976: 111), und ihre Objekte besitzen keinen Wert aus sich selbst heraus. Den Ursprung der Moral sieht er im Kollektiven: Die Gesamtheit von Ideen, Überzeugungen und Gefühlen machen die Gesellschaft aus (ebd.: 111-113).
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obachtet werden (vgl. ebd. 395-400). Von dem Ethnologen Wolfgang Rudolph stammt eine weitere nützliche Definition des Wertbegriffs: „Ein kultureller Wert ist ein sozial sanktionierter, kulturell typisierter und psychisch internalisierter Standard selektiver Orientierung für Richtung, Intensität, Ziel und Mittel des Verhaltens von Angehörigen des betreffenden soziokulturellen Bereichs. Sein objektives Kriterium ist Bedeutsamkeit im kulturellen Wertsystem, sein subjektives Kriterium ist Bedeutung in der individuellen Persönlichkeitsstruktur.” (Rudolph 1959: 164).
Werte sind demnach als Elemente der Kultur, des sozialen Systems und der individuellen Motivation bedeutsam. Sie sind nach Rudolph die „entscheidenden Elemente einer Kultur, ihr funktionaler Befehlsstand. Das Spezifische einer jeden Kultur entspricht dem spezifischen Charakter aller in ihr zusammenfaßten Werte in einer durch deren theoretisches und praktisches Gewicht irgendwie bestimmten Ausgewogenheit” (ebd.).22 Hillmann hat versucht, die wichtigsten Aspekte des Wertbegriffes soziologisch folgendermaßen zu fassen. Ein soziokultureller Wert sei „eine grundlegende, zentrale, allgemeine Zielvorstellung und Orientierungsleitlinie für menschliches Handeln und soziales Zusammenleben innerhalb einer Subkultur, Kultur oder sogar im Rahmen der Menschheit” (Hillmann 2003: 50). Mit „grundlegend” und „zentral” meint er in Anlehnung an Rudolph, dass Werte die „entscheidenden Elemente einer Kultur” sind (ebd.). Außerdem schreibt Hillmann Werten eine „unverzichtbare Integrationsfunktion” (ebd.: 52) zu, insofern eine Gesellschaft umso stabiler und ihre Integration um so höher sei, je mehr die gemeinsam geteilten und erfolgten Werte widerspruchsfrei sind, von den Angehörigen der Gesellschaft verinnerlicht wurden und in den gesellschaftlichen Institutionen zum Ausdruck kommen. Werte können laut Hillmann auf zwei Ebenen untersucht werden. Zum einen auf der soziokulturellen Ebene, in der Werte den Kern von Kultur, sozialer Ordnung, gesellschaftlicher Stabilität, von Institutionen und als 22
Max Weber hat den Zusammenhang von Kultur und Wertbegriff folgendermaßen beschrieben: „Der Begriff der Kultur ist ein Wertbegriff. (...) ,Kultur' ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens.“ (Weber 1988: 175 und 180) Wert, Sinn und Bedeutung sind demnach also zentrale Inhalte des Kulturbegriffes. Dieser leitet sich zunächst, betrachtet man seinen lateinischen Ursprung, von cultus ab, also von Glauben, Glaubensbekenntnis und einer Verehrung aus Glauben. Auch insofern enthält er einen Wertaspekt (vgl. Erpenbeck 1996: 100).
34
Legitimationsgrundlage für soziale Normen23 bilden. Zum anderen auf der individualpsychischen Ebene als individuelle Wertvorstellungen und Werthaltungen, die in dynamischer Weise verinnerlichte soziokulturelle Werte repräsentieren (vgl. ebd.: 53). Im Fokus der vorliegenden Untersuchung stehen Wertvorstellungen auf ebendieser individualpsychischen Ebene. Diese Wertvorstellungen und -haltungen durchdringen laut Hillmann weitgehend das Denken von Individuen: „Mit ihrer Hilfe werden Erfahrungen selektiert, geordnet und bewertet.” (ebd.: 54). Insofern bieten sie den Individuen eine allgemeine Orientierung, regulieren und steuern das individuelle Handeln und beeinflussen die Wahl der Mittel, die zur Erreichung persönlicher Ziele gewählt werden. Ferner bilden sie auch zentrale Elemente der Identität und des Selbstverständnisses einer Person. Sie sind „relativ stabile Elemente der Persönlichkeitsstruktur” (ebd.: 55) und damit auch weniger leicht veränderbar als Einstellungen,24 Meinungen oder Urteile, da sie schon früh gelernt und in der Persönlichkeitsstruktur verankert werden. Da im Rahmen dieser Arbeit nicht untersucht werden konnte, wie tief verankert im persönlichen Bewusstsein die vermeintlichen Werte und Wertvorstellungen tatsächlich sind, erschien es sinnvoll, auch auf einer allgemeineren Ebene den Begriff „Einstellungen“ in die Fragestellung mit einzubeziehen, zumal sich die gebräuchlichen Definitionen für diese Begriffe überschneiden.25 Die gegenwärtige Wertewandelsforschung geht von einer Wertpluralität in der deutschen Gesellschaft aus. Die Art und Weise, wie Wertorientierungen entstehen, habe sich geändert: Zu Beginn des 19.Jahrhunderts entwickelten sich diese noch in Anlehnung an gesellschaftliche Vorga23
Im Verständnis Franz von Kuscheras sind Werte und Wertesysteme logisch reicher als Normen und Normensysteme, da sie eine detailliertere Bewertung von Handlungen erlauben (vgl. Kutschera 1973: 125). Auch in einem sozialwissenschaftlichen Verständnis sind Werte umfassender als Normen, da letztere einen Verpflichtungscharakter haben. Ihre Nichtbefolgung wird sanktioniert, während sich Werte aus der Wünschbarkeit konstituieren (vgl. Maag 1991: 22). Normen sind als sanktionierte Werte also schon im Wertbegriff enthalten.
24
Einstellungen sind nach John Erpenbeck bereits im Begriff des Wertes beziehungsweise in wertdeterminierten geistigen Resultaten enthalten, ebenso wie Empfindungen, Gefühle, Wünsche, Hoffnungen, Haltungen, Absichten, Urteile und Vorurteile von Menschen oder Menschengruppen, die diese Resultate hervorgebracht haben (Erpenbeck 1996: 105).
25
So definiert Salzwedel Werte als „in Individuen verankerte soziale Regeln oder Einstellungen gefühlsmäßiger und/oder rationaler Art, auf denen das Handeln von Einzelnen bzw. Gruppen beruht“ (Salzwedel 2006: 145). Ihm zufolge ist der Begriff Wert eine „Sammelbezeichnung“ für „einander ergänzende oder ausschließende Deutungen von Motiven, Interessen und Zielen, insgesamt wesentlichen Grundlagen menschlicher Handlungen“ (ebd.: 147).
35
ben, heute spielten sie sich vorwiegend „im Kontext eines autozentrischen Selbstverständnisses ab“26 (vgl. Ziebertz/Kalbheim/Riegel 2003: 265): „Jugendliche müssen sich der Herausforderung stellen, in dieser Wertvielfalt einen individuell gültigen ethischen Selbstentwurf zu konstruieren. Dazu können sie aus einem breiten kulturellen Vorrat an Werten und Wertorientierungen schöpfen, müssen jedoch die für sich gültige und der aktuellen Lebenssituation angepasste Synthese selbst finden. Die Verantwortung für das ethische Selbstkonzept eines Menschen ist von der Gesellschaft auf das Individuum übergegangen.“ (ebd.: 265-266)
Menschen unterscheiden Werte also nach der Bedeutung, die sie für ihren Lebenszusammenhang haben. Überspitzt gesagt: Nicht mehr das Individuum orientiert sich an den Werten, sondern die Werte werden dem Individuum angepasst.27 Allerdings bleibt das Individuum auch in der modernen Gesellschaft auf sein soziales Umfeld bezogen, dieses ist damit auch für Wertkonzepte konstitutiv (vgl. ebd.: 289). Hillmann zufolge ist entscheidend für die Stabilität, Funktion und Leistung einer Gesellschaft, dass „die Unterschiede zwischen gesellschaftlichen Werten und individuellen Wertvorstellungen nicht zu groß sind. Gesellschaft kann nur zugunsten einer erfolgreichen Kooperation funktionieren, wenn Werte sowie Wertvorstellungen und -haltungen einen gemeinsamen Grundstock bilden.” (Hillmann 2003: 55) Hier spielt aber auch die politische Dimension von Werten mit hinein, insofern sie in Verbindung mit weltanschaulichen Orientierungen „wesentliche Stützpfeiler von Herrschaftssystemen” (ebd.: 38) sind. Sie bilden nicht nur die Fundamente politischer Parteien, auch herrschende Eliten und Führungspersönlichkeiten berufen sich auf Werte, um die bestehende Herrschaftsordnung zu rechtfertigen und zu festigen. Werte stehen im Mittelpunkt der herrschenden politischen Kultur, die „das politische bzw. politisch relevante Handeln der Angehörigen einer Gesellschaft, bestimmter Bevölkerungsteile und Personenkreise prägt und maßgeblich beeinflusst” (ebd.). Insofern kann ein Wertwandel zum Umbruch politischer Institutionen führen und ganze Herrschaftsordnungen verändern (vgl. ebd). Die Veränderung von Werten betrachtet Hillmann daher als ein „Schlüsselproblem“ (ebd.: 15) im politischen Bereich moderner Gesellschaften. Werte haben laut Hillmann eine sprachliche Dimension: „Sie 26
Diese auf den Soziologen Helmut Klages verweisende Terminologie wird im Resümee näher erläutert.
27
Was religiöse Werte betrifft, so zeigen empirische Untersuchungen, dass die Zustimmung dazu in dem Maße steigt, wie solche Werte individuelle Freiräume ermöglichen (vgl. ebd.: 423).
36
werden mit bestimmten Wortmarken bezeichnet, die sowohl kognitive, konative (den Willens- und Handlungsaspekt betreffende) wie auch emotional-affektive Bezüge aufweisen.” (ebd.: 59) Bei der Auswertung der Interviews wurde versucht, jene sprachlichen Hinweise zu identifizieren. Schwierig im Zusammenhang mit der Auswertung war die Tatsache, dass sich Werte und andere Determinanten menschlichen Verhaltens wechselseitig beeinflussen und durchdringen. So sind Werte eng verflochten mit materiellen Lebensverhältnissen, sozialen Normen, Interessen, Vitalbedürfnissen, Herrschaftsverhältnissen, Wissen, Ideen und Glaubensvorstellungen (vgl. ebd.: 62). Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt hierbei die Religion.28 Hillmann erscheint zwar der Niedergang der christlichen Kirche angesichts eines zunehmenden Wertpluralismus unaufhaltsam, jedoch stoße „die Abwertung religiöser Ideen und Werte auf Grenzen” (ebd.: 262). Als Ursache dafür macht er spirituelle und metaphysische menschliche Bedürfnisse aus. Kritisch steht Hillmann jedoch dem Islam gegenüber. Im islamischen „Kulturkreis“ erkennt er fundamentalistische Strömungen, „die in teilweise schon fanatischer Ablehnung des westlichen Liberalismus und Hedonismus rigoros islamische Glaubensvorstellungen, Werte und Normen durchsetzen wollen” (ebd.). Auch habe die im westlichen Kulturkreis hoch bewertete Toleranz „maßgeblich dazu beigetragen, dass sich in einzelnen westlichen Gesellschaften bereits große und weiterhin wachsende islamische Enklaven herausgebildet haben. Inzwischen mehren sich die Anzeichen für eine Verstärkung von Glaubenskämpfen, bei denen auch unterschiedliche, ja antagonistische Werte aufeinanderprallen.” (ebd.)
Es stellt sich hier nicht nur die Frage, wie einheitlich die Werte von Muslimen in und aus verschiedenen Ländern tatsächlich sind. Es fällt auch schwer, Hillmanns Horrorvision von den sich bekämpfenden Glaubensfraktionen und den „islamischen Enklaven“, die seiner Ansicht nach of28
Der Religionsbegriff, auf den sich die vorliegende Arbeit stützt, soll im Hinblick auf die gesellschaftliche Funktion der Religion bestimmt werden. Hier besteht bei den großen Religionssoziologen von Durkheim über Simmel und Luhmann bis hin zu Luckmann Einigkeit darin, dass diese in der Thematisierung von Fragen der Kontingenz und Transzendenz besteht (vgl. Liebsch 2001: 49): „Mit Hilfe der Religion ist es möglich, ein sinnhaftes Zentrum bzw. eine umfassende Bedeutsamkeit einer höheren Wirklichkeit zu formulieren. So ist Religion sowohl durch den Akt des Überschreitens der verfügbaren Lebenswelt als auch durch die gleichzeitige Bezugnahme auf die Lebenswelt gekennzeichnet. Dadurch werden lebensweltliche Probleme verstehbar und bearbeitbar, werden Gruppenzugehörigkeiten etabliert und utopische oder transzendente Visionen entwickelt. (...) Gruppenzugehörigkeiten werden durch Religion legitimiert, versinnbildlicht und auch symbolisiert (...).“ (ebd.)
37
fenbar zur „Wertzerstörung“ (ebd.) christlicher Orientierungen beitragen, kritiklos zu übernehmen.29 Immerhin macht Hillmann selbst darauf aufmerksam, dass Werte auch wichtige Herrschaftsinstrumente darstellen. Abschließend soll deshalb noch einmal näher auf die Verflechtung von Werten mit den Mechanismen von Herrschaft eingegangen werden. Laut Hillmann verstärken Wertkonflikte, wie sie unter anderem als Folge von interkulturellen Austauschprozessen entstehen können, einen Wertpluralismus, der die allgemeine Wertverunsicherung vorantreibt: „Das Gegeneinander von offizieller Kultur, abweichenden Subkulturen und nach Einfluss strebenden Gegeneliten führt dazu, dass sich deren unterschiedlich ausgeprägte Wertsysteme gegenseitig in Frage stellen und sich zu Lasten ihrer Geltungskraft der vermeintlichen Selbstverständlichkeit berauben.” (ebd.: 80)
Dem jeweiligen Gegner werde dann mitunter die Orientierung an „Unwerten” wie Verantwortungslosigkeit, Egoismus, Intoleranz, Menschenverachtung oder Friedlosigkeit unterstellt. Dies ist auch in der öffentlichen Diskussion von und über Muslime in Deutschland zu beobachten. Vor allem von Seiten der offiziellen Kultur wird dann laut Hillmann oft versucht, „die Bedrohung der eigenen Legitimationsbasis, Sinnwelt und Lebensweise dadurch abzuwehren, dass die Wertinnovatoren und -Kontrahenten abgewertet werden” (ebd.). Hillmann weist jedoch auch darauf hin, dass in freiheitlich-demokratischen Gesellschaften durch einen größeren „Toleranzspielraum” subkulturelle Wertsysteme begünstigt werden. Mitunter werde durch den hohen Stellenwert der Freiheit sogar die Entstehung von Sub- oder Kontrakulturen begünstigt, „die die bestehende Gesellschaft bekämpfen und deren Existenz bedrohen” (ebd.). Dieser Zerfall wird nach seiner Einschätzung aber das Bedürfnis stärken, „ein Minimum an konsensfähigen Werten soweit wie möglich mit Hilfe wissenschaftlicher Forschung zu fundieren” (ebd.: 87), da Werte für den Menschen unentbehrliche Orientierungshilfen darstellen. Die vorliegen29
So macht der französische Religionsforscher Oliver Roy darauf aufmerksam, dass die Werte im modernen Islam „transversal“ (Roy 2006) seien und sich im Wesentlichen mit den Werten der großen westlichen Religionen – Judentum, Katholizismus, Protestantismus – deckten. Ein wesentliches Element der Erneuerungsbewegung des Islam in Europa sieht er in der Entkoppelung des „traditionellen Islam“ von „der Kultur, in die er eingebettet war“ (ebd.). Dies sei auch ein Phänomen der Globalisierung, „denn Globalisierung heißt, sich aus bestimmten kulturellen Zusammenhängen zu lösen und Denkweisen zu entwickeln, die nicht länger an eine bestimmte Kultur gebunden sind – Denkweisen oder auch bestimmte Praktiken, Verhaltensweisen, Vorlieben, Konsumformen“ (ebd.). Roy bemerkt aber auch, dass damit nicht automatisch eine Bewegung zu mehr Toleranz, Gleichberechtigung der Geschlechter und Liberalität einhergehe (vgl. ebd.).
38
de Arbeit will hierzu einen kleinen Beitrag leisten, indem sie solche konsensfähigen Werte in Bezug auf Geschlechterbeziehungen zu identifizieren versucht. Individuen sehen sich ständig vor neue Präferenz- und Entscheidungssituationen gestellt. Sie eignen sich in Konfliktsituationen, also in einem emotionalen Spannungszustand, neue Werte an, insofern die bereits gelernten Werte nicht mehr zur Bewältigung der Situationen taugen (vgl. Erpenbeck 1996: 112-113). Entscheidend dafür sei jedoch, ob dies zum Erfolg führt, also es sich nicht nur emotional für den Handelnden bewährt, sondern auch in der Wertekommunikation des Handelnden mit seiner unmittelbaren Bezugsgruppe durchsetzt. Ist dies der Fall, können die Werte in das bisherige Werte- und Normensystem eingegliedert werden. Diesen Prozess bezeichnet Erpenbeck als „Interiorisation“ (ebd.: 114): „Gelebte Interkulturalität kann letztlich nur dann gelingen, wenn auch Werte der ,fremden' Kultur in einem Interiorisationsprozeß, wie ich ihn hier skizziert habe, angeeignet und damit der je eigenen Wertemenge eingegliedert werden.“ (ebd.)
Eine differente Kultur kann nach dieser Logik nicht einfach angeeignet werden, indem die Werte der ehemaligen Kultur mit jenen der neuen ersetzt werden, sondern es bildet sich zunächst eine gemeinsame Schnittmenge heraus, und letztendlich setzen sich – auf Seiten beider Kulturen – Werte durch, die sich im Alltagsleben bewähren. Um herauszufinden, inwiefern der Islam als Bezugssystem für die Generierung oder Legitimation von Werten eine Rolle spielt, erscheint es der Verfasserin zwecklos, Koransuren zur Erklärung heranzuziehen. Dies wird zwar auch in der sozialwissenschaftlichen Literatur häufig getan. Da der Koran aber auch in der innerislamischen Diskussion sehr unterschiedlich interpretiert wird und die Abwägung von Interpretationen eine Aufgabe ist, die den Theologen vorbehalten bleiben soll, werden Koranzitate im Folgenden nur genannt, um zu entschlüsseln, welche Bedeutung sie auf der individuellen Ebene für die Befragten haben. Es soll daraus keine generalisierende Betrachtung abgeleitet werden.30 Zu oft wurden Koranzitate schon missbraucht, um Machtpositionen zu verfestigen. Zweifellos gibt es auch Muslime, die am Bild von „dem Islam“ als Einheit mitzeichnen, weil sie offenbar ein Interesse an der Verallgemeinerung ihrer Position haben. 30
Dabei wurde auf die Übersetzung von Rudi Paret zurückgegriffen, die für wissenschaftliche Zwecke am besten geeignet erscheint, weil hier auf der Bedeutungsebene sehr sorgfältig gearbeitet wurde (vgl. Schröter 2002: 245).
39
2.2.
Praktizierende Muslime
In Deutschland gehören die meisten Muslime zu den türkischen Gastarbeitern und ihren Nachkommen, wobei es zwar Zahlen zur Nationalität gibt – insofern die Betroffenen eingewandert sind oder eingebürgert wurden, nicht jedoch zur Religionszugehörigkeit und erst recht nicht zum Grad der Praktizierung oder Identifikation mit der Religion. Da die Religionszugehörigkeit nur bei Volkszählungen erfasst wird und die letzte nun schon vier Jahrzehnte zurückliegt, basieren die in der Literatur gemeinhin genannten Zahlen auf Spekulation, zumal oft auch nur die in islamischen Gemeinden bzw. Vereinen organisierten Muslime erfasst werden. Laut Ursula Spuler-Stegemann machen die Muslime in der deutschen Bevölkerung gegenwärtig rund drei Prozent der Gesamtbevölkerung aus (vgl. Spuler-Stegemann 1998: 45), wobei sie annimmt, dass diese Zahl künftig durch Einbürgerungen „noch beachtlich steigen“ (ebd.: 44) werde.31 Laut Umfragen des Islam-Archivs in Soest für das Jahr 1995 bezeichneten sich damals über eine Million, genauer 1.292.000 Menschen, in Deutschland als „gläubige Muslime“, von denen wiederum 1.270.000 Personen (also knapp die Hälfte aller in Deutschland lebenden Muslime) angaben, ihren Glauben zu praktizieren. Diese Zahlen widersprechen aber offensichtlich anderen empirischen Studien, gemäß denen nur 25 Prozent der deutschen Muslime ihren Glauben praktizieren (vgl. ebd.: 46). Bei der Definition des Terminus „praktizierende Muslime“ wurde auf die Selbstdefinition der Befragten zurückgegriffen, die sich als solche bezeichneten. Sie nannten als Merkmal für praktizierende Muslime die Beachtung der „fünf Säulen“ des Islam, also das Bekenntnis zu Gott und dem Propheten Muhammad, das regelmäßige Gebet, die Almosensteuer, das Fasten an Ramadan und die Pilgerfahrt nach Mekka. Weiterhin wurde die Orientierung an Normen und Verhaltensregeln genannt. Die Be31
Solche Zahlen stehen im krassen Gegensatz zu jenen, die in islamophobischen „Schreckensszenarien“ gebraucht werden, wie sie des öfteren durch die Medien geistern. So war im Münchner Merkur unter Berufung auf den Autoren Bernhard Lewis zu lesen, es sei „eine schockierende Vision“, mit der dieser versuche, „die westliche Welt aufzurütteln“: „,Europa wird islamisch, die Christen werden zur Minderheit' – und das in wenigen Jahrzehnten.“ (Menner 2007, Münchner Merkur, Online-Ausgabe vom 2.5.2007) Deutschland werde „sicher keine Insel bilden, wenn nicht gravierende Veränderungen den Vormarsch der Muslime deutlich bremsen“. Im Jahr 2025 würden voraussichtlich schon 40 Millionen Muslime in Deutschland leben. In dem Artikel wurde behauptet: „Die Integration hatte nie eine reelle Chance.“ (ebd.)
40
fragten nannten Speisevorschriften (kein Schweinefleisch und nur geschächtetes Fleisch), den regelmäßigen Besuch des gemeinschaftlichen Freitagsgebets in der Moschee, zumindest für die Männer, sowie als islamisch bezeichnete Bekleidungsvorschriften (die Frauen erwähnten insbesondere das Kopftuch).
2.3.
Geschlechterbeziehungen
Feministische Sozialwissenschaftlerinnen wehren sich schon lange gegen eine „male bias“, eine männerdominierte Schwerpunktsetzung und Definitionsmacht in der wissenschaftlichen Forschung. Ende der 1980er Jahre erweiterte sich dieser Ansatz um die Perspektive von Geschlechterhierarchien zwischen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft (vgl. Kondzialka 2005:14): „Ein wesentlicher Kritikpunkt gegenüber der von ,westlich' sozialisierten Forscherinnen und Forschern betriebenen Migrantinnenforschung bezieht sich auf eine als ,eurozentristisch' bezeichnete Position, in deren Kontext ein ,westlicher Emanzipationsentwurf' als Maßstab für Diskriminierungs- und Unterdrückungsmechanismen von Frauen in anderen Kulturen bzw. in Migrationskontexten herangezogen wurde.“ (ebd.: 15)
Auffällig ist die einseitige Darstellung von Migranten in vielen deutschsprachigen Publikationen, in denen insbesondere muslimische Frauen als unterdrückte, unfreie Opfer gezeigt werden. Erst seit Ende der 1980er Jahre wird dieses Bild immer mehr als undifferenziert und einseitig angesehen (vgl. Gieseke/Kuhs 1999): „Es wird postuliert, daß zu unterscheiden ist zwischen einer tatsächlich vorliegenden Diskriminierung von Migrantinnen einerseits und einer solchen, die sich erst vor dem Hintergrund des (westeuropäischen) Emanzipationsbegriffs herstellt.“ (ebd.)
So bezeichnet etwa Martina Weber die Parteinahme für „türkische“ Mädchen und Frauen sogar als „pseudofeministisch“ (Weber 1999:64). Vor dem Hintergrund einer postulierten besonders extremen Frauenunterdrückung in der „türkischen“ Kultur schneide das Geschlechterverhältnis in der Dominanzgesellschaft vergleichsweise gut ab. Weber spricht sogar von einer neuen Variante des „Kulturrassismus“: „Kulturen werden nach ihrem ihnen unterstellten Grad an Sexismus bewertet. Lebensorientierungen und -praxen von Angehörigen eingewan-
41
derter Minderheiten werden seitens der Dominanzgesellschaft pauschal damit abgewertet, daß sie Frauen unterdrücken und von daher mit den Wertvorstellungen der modernen liberalen Residenzgesellschaft nicht vereinbar seien.“ (ebd.: 64-65)
Die Aufregung über diese angeblich kulturell bedingte sexistische Frauenunterdrückung wird Webers Ansicht nach aber „gerade mit einer stillschweigenden Idealisierung der Geschlechterverhältnisse innerhalb der Residenzgesellschaft verkoppelt“ (ebd.) und sei daher nicht auf wirkliche Veränderungen angelegt. Im Gegenteil: „Der gesellschaftliche Konflikt, der aus der Herrschaft der Dominanzgesellschaft resultiert, wird in dem vorherrschenden Diskurs nun in einen innerethnischen transformiert und auf die private Sphäre der Geschlechterbeziehungen reduziert. Davon profitiert allerdings die dominante Mehrheit, weil sie so ihre Strukturen bewahrt.“ (ebd.: 66-67)
Soziale Ungleichheitslagen werden durch die Struktur des Geschlechterverhältnisses sowie andere Klassifizierungen wie Klassen und Ehnien bedingt (vgl. Faulstich-Wieland 2003: 112). Die gemeinsamen Merkmale der Unterdrückung von Frauen liegen in der Organisation der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung: „Am deutlichsten ist diese Hierarchie zwischen den ,öffentlichen' Bereichen und der privaten Sphäre der Familie auszumachen – und hier widerspiegelt sich die Ordnung der Geschlechter.“ (ebd.: 113)
Um die Geschlechterhierarchie aufzuheben, muss aus dieser Perspektive die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung aufgehoben werden (vgl. ebd.). Dabei ist auch der Aspekt der Sozialisation zu betrachten. Es ist zu fragen, wie sich Geschlechterdifferenzen überhaupt konstruieren (vgl. ebd.: 118). Die Selbstverständlichkeit der Geschlechtszugehörigkeit wird durch alltägliche Praktiken hergestellt, die den Habitus eines Menschen zu einem vergeschlechtlichten machen (vgl. ebd.: 121). Die sozialen und kulturellen Differenzierungen bestimmen dabei über die Variationsbreite von Verhaltensmöglichkeiten, die erwünscht und toleriert wird. Laut Natalia Diefenbach-Popov spielen Geschlechterbeziehungen auch in der (konservativen) innerislamischen Kritik eine wichtige Rolle, „weil sie als Symbol für die Idealwelt der islamischen Ordnung stehen“ (Diefenbach-Popov 2007: 65). Eine liberale Richtung innerlislamischer Kritik richte sich demgegenüber gegen veraltete patriarchalische Sitten, da diese „das Bild der Muslime in der Öffentlichkeit verzerren und ihnen
42
damit schaden“ würden (ebd.).32 Der Autorin zufolge wird die Kritik von Muslimen an der Unterdrückung der Frau kaum wahrgenommen: „In dieser Kritik werden die egoistischen Männer, die von jeder Verantwortung befreit seien, und allein erziehende, verlassene, ältere Mütter genannt. Die westliche Frau sei dazu gezwungen, sich selbst zu versorgen, um zu überleben, und müsse deshalb oft auf die Mutterschaft verzichten.“ (ebd.: 71)
Ein weiterer Kritikpunkt von Muslimen sei die Vermarktung des weiblichen Körpers in der Werbung, eine „moderne westliche Art der Ausbeutung der Frau“ (ebd.). Die Muslime hätten eine „sozialkritische gesellschaftliche Nische“ (ebd.: 74) eingenommen, von der aus sie aus der Perspektive ihrer Wertvorstellungen gesellschaftliche Missstände kritisierten. Dabei überschneide sich ihre Kritik mit der von Vertretern der rechten oder linken Ideologie, was den Diskurs über „Werteverfall, Geburtenrückgang, Aufwertung guter Manieren usw.“ (ebd.) betrifft. Insofern sieht Diefenbach-Popov hier auch Potential für einen Dialog.33
32
Auffällig ist, dass „die arabische Welt“ oder „die islamischen Länder“ in Bezug auf die Geschlechterbeziehungen vielfach als Einheit gesehen werden, wobei die Autoren offenbar davon ausgehen, dass patriarchalisch geprägte islamische Gesellschaften überall gleich seien.
33
Diefenbach-Popov beschreibt, wie der Diskurs über die Lage der Frau im Islam Muslime, die ein patriarchalisches Verhalten an den Tag legen, dazu bewegen könne, dieses zu ändern, indem etwa als Reaktion auf die Anschuldigungen der Koran nach Versen durchsucht werde, die die Rechte und Gleichheit der Frauen hervorheben (vgl. Diefenbach-Popov 2007: 74).
43
3.
Methodik
3.1.
Frage
Die Fragestellung der Untersuchung wurde bewusst allgemein gehalten, um das Forschungsfeld nicht vorschnell einzugrenzen. Es wurde gefragt, welche Wertvorstellungen und Einstellungen praktizierende Muslime mit Migrationshintergrund in Bezug auf Geschlechterbeziehungen entwickelt haben. Um den Einfluss der Religion auf die Wertvorstellungen und Einstellungen genauer zu untersuchen, war zunächst geplant, auch deutsch-stämmige Muslime zu dem Thema zu befragen. Jedoch fehlten, um eine groß angelegte Studie durchzuführen, finanzielle Mittel und Zeit. Daher wurde die befragte Zielgruppe auf praktizierende Muslime mit Migrationshintergrund beschränkt. Wichtig erschien es, unterschiedlichste Bereiche unter dem Oberbegriff Geschlechterbeziehungen weit zu fassen, um durch die Verknüpfung von Teilbereichen möglicherweise neue Ansichten entwickeln zu können. Es zeigte sich so, dass oft bei der Thematisierung von Randthemen interessante Wertvorstellungen und Einstellungen geäußert wurden, die auch in Bezug auf den Kern der Fragestellung relevant waren. Die Fragestellung wurde im Verlauf des Forschungsprozesses präzisiert. Es wurde untersucht, wie die Befragten ihre Einstellungen und Wertvorstellungen in Bezug auf Geschlechterbeziehungen begründen oder rechtfertigen, beziehungsweise welche Funktion diese Haltungen zu haben scheinen.
3.2.
Aufgaben
Ziel qualitativer Forschung ist es, „Lebenswelten ,von innen heraus’ aus der Sicht der handelnden Menschen zu beschreiben” (Flick/von Kardorff/Steinke 2000: 14). Die Untersuchung sollte in diesem Sinne „zu einem besseren Verständnis sozialer Wirklichkeit(en)” beitragen, und „auf Abläufe, Deutungsmuster und Strukturmerkmale aufmerksam machen” (ebd.). Ein qualitativer Ansatz wurde gewählt, weil er sich gut dazu eignet, wenig bekannte Bereiche zu untersuchen (vgl. Reinders 2005: 20). Wie bereits erläutert, wurden die Wertvorstellungen praktizierender Muslime in Deutschland bislang kaum untersucht, zumindest nicht mit 45
besonderem Fokus auf Geschlechterbeziehungen. Daher stand am Anfang der Untersuchung auch keine fertige Theorie oder Hypothese, sondern die oben beschriebene Fragestellung. Der direkte persönliche Austausch in Form von problemzentrierten Interviews war ein wesentlicher Teil des Forschungsprozesses. Nicht die Welt des Forschers, sondern die Sichtweise der Befragten sollte im Vordergrund der Arbeit stehen. Denn: „Im qualitativen Paradigma wird nicht von einer objektiv existierenden, sondern von einer subjektiv konstruierten Welt ausgegangen.” (ebd.)
3.3.
Einordnung
Die Untersuchung beruht auf der Theorie des Symbolischen Interaktionismus. Dieser besagt im Wesentlichen, „daß Menschen ,Dingen’ gegenüber auf der Grundlage der Bedeutungen handeln, die diese Dinge für sie besitzen”. Jene Bedeutungen werden aus der sozialen Interaktion mit Mitmenschen abgeleitet oder entstehen daraus (vgl. Blumer 1973: 81). Dies gilt auch für den Fall, dass sich Personen nicht auf eine gemeinsame Bedeutung einigen. Die individuelle Bedeutung kann trotzdem als Ergebnis jener Interaktion gesehen werden. Die eigene Position ist Resultat einer Abgrenzung zur Meinung anderer (vgl. Reinders 2005: 24-25). Es kommt dabei „nicht darauf an, zu untersuchen was ist, sondern was die Leute glauben, dass ist“ (Lamnek 1995: 39). Objekte erhalten erst dann ihre Bedeutung, wenn sie in Interaktionsprozessen sprachlich thematisiert werden: „So lange über eine Sache keine Kommunikation stattfindet bzw. stattfinden kann, gibt es diese Sache als soziale nicht.“ (Lamnek 1995: 40). Bedeutungen sind auch nicht auf ewig festgelegt, sondern dadurch, dass sie in einem interaktiven Prozess ermittelt werden, kann auch die Realität als gesellschaftliche Konstruktion betrachtet werden (vgl. ebd.). Auch Handlungen auf Grund von solchen Bedeutungszuschreibungen müssen also als situativ betrachtet werden und sind nicht nur von subjektiven Bedeutungen, sondern auch von intersubjektiven Aushandlungsprozessen abhängig (vgl. Reinders 2005: 25). Anders gesagt: Es sind die menschlichen Interaktionen, die als Grundlage für Bedeutungen gesehen werden müssen. Jene Bedeutungen konstruieren Handlungen, welche wiederum menschliches Zusammenleben organisieren (vgl. ebd.: 26). 46
Eine wichtige Folgerung aus jenen Thesen des Symbolischen Interaktionismus ist, dass nicht die Regeln das Zusammenleben konstruieren und erhalten, sondern umgekehrt der soziale Prozess des Zusammenlebens die Regeln schafft (Blumer 1973: 99). Aus der Perspektive des Symbolischen Interaktionismus gibt es keine objektive Welt. Umso wichtiger ist es für qualitative Forschung auf Basis dieser theoretischen Grundlage, die Bedeutungen im Sinne der Beforschten zu verstehen, da diese als Grundlage für ihre Handlungen zu verstehen sind. Der Forschungsprozess sollte demnach eng an den aktuellen Erfahrungen jener Menschen orientiert sein, die im Fokus der Untersuchung stehen. Der Symbolische Interaktionismus hebt weiterhin die sprachlichen Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens in den Mittelpunkt. Demnach verständigen sich Menschen über Symbole,34 und Sprache wird als eine komplexe Form der Symbolik betrachtet (vgl. Reinders 2005: 23). Symbolik selbst unterliegt nach dieser Auffassung unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen, da Menschen Symbole dazu verwenden, ihr Handeln in einer Wechselbeziehung zueinander zu koordinieren (vgl. ebd.). Es gibt also nicht nur eine Wirklichkeit. Von anderen sozialwissenschaftlichen Theorien unterscheidet sich der Symbolische Interaktionismus dadurch, dass er sich in seiner Fragestellung vielmehr auf das Wie und Wozu konzentriert als auf das Warum. Es interessieren weniger die Ursachen eines Phänomens als seine Strukturen (vgl. Lamnek 1995: 41).
3.4.
Prämissen
Aus dem Paradigma des Symbolischen Interaktionismus folgen für die qualitative Forschung drei zentrale Grundsätze: Offenheit, Prozesshaftigkeit und Kommunikation. Offenheit: Weil im Symbolischen Interaktionismus gerade die subjektiven Bedeutungen zur Begründung einer Handlung in den Mittelpunkt rücken, können die Aussagen der Befragten nicht – oder nicht von vorneherein – in Kategorien von wahr und falsch, erwartbar und unerwart34
Symbole sind im Symbolischen Interaktionismus als Vorgänge oder Gegenstände aufzufassen, die als Sinnbilder auf etwas anderes verweisen, und werden als Kulturprodukte betrachtet. Soziale Interaktion ist dabei stark von den historischen und gesellschaftlichen Grundbedeutungen abhängig, die jedes Gesellschaftsmitglied erlernen muss (vgl. Lamnek 1995: 37).
47
bar oder relevant und irrelevant gelesen und bewertet werden (vgl. Reinders 2005: 28-30). Der Forscher hat die Pflicht, sich seine eigenen Vorannahmen bewusst zu machen, um möglichst unvoreingenommen in den Forschungsprozess zu gehen (vgl. ebd.: 36). Prozesshaftigkeit: Bedeutungszuschreibungen verändern sich gemäß der Theorie des Symbolischen Interaktionismus. Streng genommen müssten die Interviewpartner daher mehrmals befragt werden. Da dies aus Zeitgründen nicht möglich war, wurde die Technik der „retrospektiven Befragung” (ebd.: 31) verwendet. Die Interviewpartner wurden stellenweise gebeten, sich an ihre Vergangenheit zu erinnern und zu beschreiben, was sich mit der Zeit verändert hat. Kommunikation: Da Bedeutungszuschreibungen in der Theorie des Symbolischen Interaktionismus durch Kommunikation entstehen, ist die Kommunikation auch der Weg, sie im direkten Dialog nachzuvollziehen. Wichtig ist es dabei, einen gemeinsamen Bedeutungshorizont von Sprache zu entwickeln, indem der eigene Sprachgebrauch an den des Interviewten angepasst wird (vgl. ebd.: 32). Das Interview wurde möglichst nahe an einem alltäglichen Gespräch gehalten; den Befragten wurden Möglichkeiten eingeräumt, nachzufragen und selbst initiativ zu werden. Im Verlauf des Interviews wurde ihnen immer mehr die Gesprächsführung überlassen. Weiterhin wurde darauf geachtet, dass die Kommunikationssituation möglichst natürlich war (vgl. ebd.: 41-42).
3.5.
Stichprobe
Komplexe Samplingverfahren wie bei quantitativen und repräsentativen Studien entfallen bei qualitativen Untersuchungen, da deren Anliegen ein exploratives ist (vgl. Kondzialka 2005: 51). Da im vorliegenden Fall die Zahl der Befragten mit vier Personen gering war, wurde eine deduktive Stichprobenziehung vorgenommen, die Interviewpartner wurden also hinsichtlich bekannter Merkmale ausgewählt. Es wurden, zwei männliche und zwei weibliche Interviewpartner mit unterschiedlicher Nationalität der migrierten Eltern ausgewählt, da primär nicht der national-kulturelle Einfluss durch die Familie, sondern der Einfluss der Religion auf die Wertvorstellungen und Einstellungen der Befragten im Fokus stand. Bedingung war hierbei, dass mindestens ein Elternteil aus einem anderen Land nach Deutschland eingewandert ist, da dann von einem Migrationshintergrund der Befragten gesprochen werden kann. Als 48
weiteres Auswahlkriterium, das die Vergleichbarkeit ermöglichen sollte, galt das Alter, das nicht unter 18 und nicht über 30 Jahren liegen sollte. Zudem sollten die Befragten einen Großteil ihres Lebens in Deutschland verbracht haben oder von Geburt an hier aufgewachsen sein. Schul- und Bildungsabschlüsse, Schichtzugehörigkeit, Partnerbeziehungen oder Elternschaft waren keine Auswahlkriterien. Ein Interview kam über Vermittlung zustande, die anderen Befragten wurden per Zufallsprinzip in der Umgebung einer deutschsprachigen Moscheegemeinde35 ausgewählt. Alle waren sofort bereit, ein Interview zu geben. Das Gespräch mit Jamal wurde über einen Bekannten vermittelt, jedoch ist auch Jamal der Umgebung der betreffenden Moscheegemeinde zuzurechnen. Es handelt sich um einen Verein, der nicht auf eine Glaubensrichtung festgelegt ist und dessen Mitglieder aus unterschiedlichen Nationen stammen. Die Befragten waren selbst nicht Vereinsmitglieder, besuchen aber regelmäßig dort das Freitagsgebet. Allein Maryam besucht häufig auch eine marokkanische Moschee. Es ist insofern denkbar, dass die Interviewergebnisse dadurch beeinflusst sind, dass die Befragten mehr oder weniger stark dem Umfeld derselben Moschee zuzurechnen sind. Da jedoch im Rahmen einer so stark eingegrenzten Arbeit ohnehin nicht Repräsentativität beansprucht werden konnte, wurde dies in Kauf genommen. Interessant wäre jedoch eine Untersuchung, die Wertvorstellungen von Muslimen, die eine Moschee mit nationaler Ausrichtung besuchen, mit jenen von Muslimen aus einer Moschee mit internationalem Charakter vergleicht. Weiterhin muss bemerkt werden, dass der Verein laut Internetseite einen Schwerpunkt auf Informationsarbeit für Muslime und Nichtmuslime setzt und als Ziele unter anderem die Förderung eines friedlichen Zusammenlebens zwischen Muslimen, Christen und Andersgläubigen, die Integration durch aktive Teilnahme der Muslime an gesellschaftlichen Aufgaben und den „interkulturellen Dialog“ nennt. Diese offenen, nach „außen“ gerichteten Schwerpunkte mögen sich auch in den Aussagen der Befragen widerspiegeln, sofern sie sich damit identifizieren. Es mag mit ein Grund dafür gewesen sein, dass die Befragten ohne Umschweife bereit waren, lange und ausführliche Interviews zu geben, dass sie dies als „Dawa“36 – also als „Einladung zum Islam – betrachteten, was 35
Laut Natalia Diefenbach-Popov tendiert die Entwicklung muslimischer Vereine allgemein „zu einer ethnischen Mischung mit Deutsch als gemeinsamer Sprache. Deutsch wird zunehmend als künftige Sprache des Islam in Deutschland gesehen und akzeptiert.“ (Diefenbach-Popov 2007: 32)
36
Laut Ursula Spuler-Stegemann würden immer mehr junge Menschen in Deutschland für Dawa-Aktionen, „also Mission, und zur Abwehr von deutschen ,Integrationsprogrammen'“ (Spuler-Stegemann 1998: 109) geschult. Dies
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insbesondere bei Fatima und Abid, die sich sehr stark mit dem betreffenden Moscheeverein identifizieren und auch ein Dawa-Seminar dort besucht hatten, der Fall gewesen sein könnte.37 Hier ergibt sich auch ein Problem für die Forscherin: Einerseits erwarteten die Gesprächspartner – insbesondere Abid und Fatima –, dass ihre Aussagen zu einer positiven Darstellung der Muslime in der Öffentlichkeit beitragen, andererseits geboten es die Anforderungen wissenschaftlichen Arbeitens, dass die Aussagen kritisch ausgewertet wurden. Wie Mark Terkessidis hält die Verfasserin jedoch die Objektivität des Forschers für eine Illusion, da dieser als Mitglied der Gesellschaft automatisch selbst in die Konstruktionen von „Wir“ und „Ihr“, in eine „Rechtfertigung des Abstandes zwischen ethnisch markierten Gruppen in einer Gesellschaft“ eingebunden ist (Terkessidis 2004: 91).38
ist eine sehr negative Sichtweise auf Dawa-Schulungen, die mit der Abwehr von Integration gleichgesetzt werden, was jedoch nicht belegt oder begründet wird. Laut Natalia Diefenbach-Popov ist es das Ziel der Dawa, den Islam deutlich darzustellen „und so einem Nichtmuslim, der bereit ist, den Islam anzunehmen, möglichst optimale Unterstützung bei seinem Übertritt zu gewähren“ (Diefenbach-Popov 2007: 76). Von Nichtmuslimen wird Dawa daher häufig mit Mission übersetzt, wobei die Befragten betonen, dass Dawa vielmehr mit Information oder Aufklärung über den Islam zu übersetzen sei. In diesem Bedürfnis, sich mitzuteilen, so könnte man im Gegensatz zu SpulerStegemann spekulieren, mag sich der Wunsch niederschlagen, sich heimisch und integriert fühlen zu können, verstanden und akzeptiert zu werden. 37
Allerdings hat auch Fred-Ole Sandt in seiner qualitativen Untersuchung der Religiosität muslimischer Jugendlicher „die äußerst positive Bereitschaft der Interviewten festgestellt, über die Glaubensvorstellungen und die religiöse Praxis zu berichten“ (Sandt 1996: 195). Es mag also auch ein besonderes Rechtfertigungs- und Erklärungsbedürfnis bei jungen Muslimen über den von ihnen gelebten Islam geben.
38
Auch Ulrike Froschauer und Manfred Lueger weisen darauf hin, dass die Vorstellung einer „unbeeinflussten“ oder „neutralen“ Interviewkommunikation grundsätzlich falsch sei, „weil schon die Tatsache des Interviews eine spezifische Situation der Materialgenerierung provoziert“ (Lueger/Froschauer 2003: 95). Laut Terkessidis muss sich der Forscher – wie von Michel Foucault beschrieben – auf den Standpunkt der ,objektivierten' Gruppe stellen, um das „Wissen der Leute“ mit exakten wissenschaftlichen Methoden zu verknüpfen (vgl. Terkessidis 2004: 111). Dabei dürfe jedoch nicht der Fehler gemacht werden, dieses Wissen wieder auf seine „Glaubwürdigkeit“ zu untersuchen und damit zu versuchen, es objektiv zu beurteilen (vgl. ebd.: 113). Diese oft nicht einfache und deshalb vielleicht auch nicht immer geglückte Gratwanderung wurde in dieser Arbeit versucht.
50
3.6.
Interviews
Laut Reinders sind qualitative Interviews besonders geeignet, „Meinungen, Werte, Einstellungen, Erlebnisse, subjektive Bedeutungszuschreibungen und Wissen zu erfragen” (Reinders 2005: 97). Diese Informationen können anhand der Interviews aus Sicht der Befragten erhoben werden, um dann die Bedeutungszuschreibungen interpretativ zu rekonstruieren. Wichtig ist dabei, dass die Antworten der Interviewten nicht als unabänderliche Auffassung, Meinung oder Verhaltensweise aufgefasst werden dürfen, sondern als „prozeßhaft generierte Ausschnitte der Konstruktion und Reproduktion von sozialer Realität” (Lamnek 1995: 55). Laut Reinders sollte der Grad der Strukturierung eines Interviews gering gehalten werden, „um eine große Bandbreite neuer, nicht antizipierter Informationen zu ermöglichen” (Reinders 2005: 133), wenn, wie im vorliegenden Fall, in der Literatur keine oder nur wenige Hinweise und Informationen für die eigene Studie gefunden werden. Es wurde daher ein teilstrukturiertes Interviewverfahren gewählt, das die Vorteile strukturierter und unstrukturierter Techniken vereint. Die Offenheit gegenüber neuen Themen war dabei zwar weniger groß als bei unstrukturierten Befragungen, die Antworten jedoch im Vergleich zu strukturierten Interviews nicht so stark vorgegeben, da die Reihenfolge der Fragen dem Gesprächsverlauf angepasst wurde und der Fragebogen offen für Themen blieb, die die Befragten von sich aus ansprachen. So war es möglich, die Themen einzugrenzen und eine gewisse Vergleichbarkeit der Daten zu ermöglichen, aber zugleich auch die alltagssprachliche Nähe beizubehalten und offen für Aspekte zu bleiben, die aus der Forscherperspektive zunächst nicht berücksichtigt worden waren (vgl. ebd.: 99). Als Methode wurde das problemzentrierte Interview gewählt, das von der methodologischen Ausrichtung her dem Symbolischen Interaktionismus und dem Theorie generierenden Verfahren der Grounded Theory von Glaser und Strauss39 zugeordnet werden kann. Hiermit lassen sich 39
Die Grounded Theory gilt als ein universelles Modell und wird heute sehr offen gefasst, indem sie weder an ein spezielles Datenmaterial noch an bestimmte theoretische Ansätze, Interessen oder Wissenschaftsdisziplinen gebunden wird (vgl. Steinke 1999: 217). Als Erkenntnisziel qualitativer Forschung nennt die Grounded Theory die Generierung einer Theorie. Wichtig ist dabei ein unvoreingenommenes Vorgehen. Der Forscher sollte zu Beginn des Forschungsprozesses ohne feste Kategorien oder Hypothesen an das Untersuchungsfeld herangehen. Selbstverständlich hat er bestimmte soziologische Perspektiven und Hintergrundwissen im Kopf, doch sollten systematische Schritte im Vorgehen erst auf Basis vorliegender Daten eingeleitet werden (Lamnek 1995:106).
51
subjektive Wahrnehmungen gesellschaftlicher Realität und individuelle Handlungen möglichst unvoreingenommen erfassen (vgl. ebd.: 116). Die Methode lehnt sich teilweise auch an ethnografische Konzepte an (Kurzfragebogen/Beobachtungsbogen). Die Interviews lassen sich in fünf Phasen gliedern. Als erstes wurden mittels eines standardisierten Kurzfragebogens Sozialdaten wie Alter, Beruf, Nationalität, Anzahl und Alter der Geschwister, Beruf der Eltern usw. erhoben, um das Interview von Fragen im Frage-Antwort-Schema zu entlasten und Anknüpfungspunkte für das Gespräch zu finden. Eine offene Einstiegsfrage über Vorurteile, denen sich die Befragten ausgesetzt sehen, sollte anschießend den Erzählfluss in Gang bringen und ebenfalls Anknüpfungsfragen ermöglichen. Sodann wurden Sondierungsfragen aus dem Interviewleitfaden verwendet, wobei darauf geachtet wurde, an das vom Interviewpartner Erzählte anzuknüpfen und den Gesprächsfluss nicht durch abrupte und häufige Themenwechsel zu unterbrechen. Die Gesprächsführung wurde anfangs in einem hohen Maße den Befragten überlassen. Als nächstes dienten Ad-Hoc-Fragen dazu, Themen aus dem Leitfaden abzufragen, die zuvor noch nicht angesprochen wurden, um die Daten der verschiedenen Interviews später leichter vergleichen zu können. Im Beobachtungsbogen (Gedächtnisprotokoll) wurden im Anschluss an das Interview Informationen über die Rahmenbedingungen des Interviews festgehalten (vgl. Reinders 2005: 121-122) und bei der Auswertung berücksichtigt.
3.7.
Transkription
Vorangestellt werden muss, dass es sich bei Transkripten immer um selektive Konstruktionen handelt, wobei sich die Selektivität auch auf die Analyse und Interpretation der Transkripte auswirkt (vgl. Kowall, O'Connell 2000). Im Transkriptionssystem, das der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt, wurden verbale (Wortfolgen) und teilweise auch vokale parasprachliche Merkmale (Räuspern, Lachen) aus den Tonbandaufnahmen transkribiert. Gelegentlich, insofern für den Sinnzusammenhang unerlässlich, wurden auch außersprachliche Merkmale wie Gesten transkribiert. Eine Liste der verwendeten Notationszeichen ist im Anhang beigefügt. Es handelt sich bei dem verwendeten Transkriptionsystem um eine Kombination der gebräuchlichen Systeme HIAT und GAT, die teils abgewandelt wurden, etwa bei der Darstellung außersprachli52
cher Merkmale. Damit sollte erreicht werden, dass die Texte einerseits alle für die Auswertung relevanten Informationen enthalten, sie andererseits aber auch gut lesbar bleiben und sich auch der Transkriptionsaufwand in Grenzen hielt. Umgangssprache wurde teilweise aber berücksichtigt, auch grammatikalische Fehler wurden nicht korrigiert. Auf die Transkription von Hörerrückmeldungen wie „hm“, die Interviewpartner in ihrem Erzählen ermutigen sollten, wurde weitestgehend verzichtet. Fülllaute der Interviewpartner wie „äh” und Gesprächspausen wurden dagegen notiert, da erwartet wurde, dass ein Zögern auch inhaltliche Relevanz besitzen könnte. Auch Gesprächspausen und Lücken wurden aus diesem Grund möglichst genau in Sekunden wiedergegeben. Die Interviews wurden so weit anonymisiert, dass weder Rückschlüsse auf die Befragten noch auf die von ihnen genannten Personen möglich sind, da deren Namen durch Pseudonyme oder generalisierende Bezeichnungen ersetzt wurden. Ebenso wurden Ortsbezeichnungen verallgemeinert.
3.8.
Auswertung
Bei der Auswertung der Interviews wurden Verfahren der Sozialwissenschaftlichen Hermeneutik40 angewendet. Ziel des Analyseprozesses war es im Sinne der Grounded Theory von Glaser und Strauss, im Vergleich von Unterschiedlichkeiten und Ähnlichkeiten der Untersuchungsgegenstände nicht nur Kategorien, sondern auch Beziehungen zwischen diesen und damit Hypothesen abzuleiten (vgl. Lamnek 1995: 111). Diese wurden also nicht deduktiv aus einer bestehenden Theorie hergeleitet, sondern dienten – induktiv aus dem Material heraus entwickelt – selbst der Theorieentwicklung. Zunächst wurden von den Daten ausgehend gegenstandsbezogene Theorien entwickelt. Danach erst war abzu40
Der zentrale Begriff der Hermeneutik ist das Verstehen, ihr Gegenstand ist das Verstehen von Kommunikationsinhalten. Dies erfolgt durch Interpretation. Das lässt sich aber nicht auf den Forscher reduzieren, sondern die interagierenden Individuen mit ihren subjektiven Sichtweisen müssen einbezogen werden. Insofern sind Hermeneutik und qualitative Sozialforschung nicht voneinander zu trennen: „Die Hermeneutik liefert Beiträge, Probleme der qualitativen Sozialforschung zu bewältigen, insbesondere Texte zu interpretieren. (...) Sie will nicht deuten, entschlüsseln oder originale Zusammenhänge restaurieren, sondern Neues finden.“ (Lamnek 1995: 200)
53
schätzen, welche etablierten formalen Theorien für die Formulierung zusätzlicher theoretischer Aussagen herangezogen werden konnten (vgl. Lamnek 1995: 112-113). Die Sozialwissenschaftliche Hermeneutik bemüht sich, latente Sinnstrukturen von Handlungszusammenhängen aufzudecken. Dabei ist jedoch zu betonen, dass diese nicht gleichzusetzen sind mit den Motivlagen und Deutungen des Sprechers. Erst durch eine Distanz zum Forschungsgegenstand können die Strukturen subjektiver Sinndeutungen objektiviert werden (vgl. Kondzialka 2005: 43). Dennoch bleiben die Resultate hermeneutischer Interpretation auch immer perspektivisch gebunden, insofern das Wissen eines Subjekts immer situationsabhängig und nur innerhalb bestimmter sozialräumlicher Strukturen gültig ist (vgl. ebd.: 45). Eine Reflexion der eigenen „Vor-Urteile“ des Forschers, die Rekonstruktion der Struktur des „fremden“ Milieus und der anderen Lebenswelt des Befragten (das „Fremde“ zum Sprechen bringen) sowie die Zuordnung der eigenen und fremden Erfahrungsstruktur sowie Deutung zu intersubjektiv nachvollziehbaren Milieus, Kontexten und Bedeutungen (Verortung im Bedeutungsraum) erscheinen deshalb unabdingbar (vgl. ebd.: 45-46). In der vorliegenden Arbeit wurde dies dadurch versucht, indem vor jedem Interview wie auch im Rahmen der Auswertung die eigenen „Vor-Urteile“ niedergeschrieben und reflektiert wurden, was sich als schwierig, aber auch konstruktiv herausstellte. Zudem wurde angestrebt, das „fremde“ Milieu anhand von Darstellungen aus der – fachübergreifenden – Forschung zu rekonstruieren. Nicht zuletzt wurde die wissenschaftliche Ausgangsposition bestimmt (Kapitel „Einordnung“). Innerhalb der Sozialwissenschaftlichen Hermeneutik wurden die Prinzipien der Wissenssoziologischen Hermeneutik angewendet, eines kulturtheoretisch orientierten Verfahrens (vgl. Lamnek 1995: 221): „Die Wissenssoziologie ist vor aller Methodologie und Methode erst einmal eine theoretische Grundposition, die Vorstellungsinhalte und -formen bzw. deren Ausdrucksgestalten als von sozialen Strukturen und Prozessen nicht unabhängig betrachtet (Text-Kontext-Relation).“ (ebd.: 223)
Innerhalb der Wissenssoziologie wiederum wird in der vorliegenden Arbeit die Funktion von Wissen im Prozess der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit fokussiert (vgl. ebd.). Es sollte hermeneutisch in der Bedeutung von sinnverstehend vorgegangen werden, um den subjektiv gemeinten Sinn der Akteure zu erschließen, da dies für die Betrachtung des Untersuchungsgegenstandes, der Wertvorstellungen und 54
Einstellungen, am sinnvollsten erschien. Dennoch sollte auch versucht werden, unbewusste, latente oder andere tiefer liegende Prozesse und Strukturen aufzudecken (vgl. ebd.: 225). Ein wichtiges Kriterium sozialwissenschaftlicher Hermeneutik ist der Versuch eines Verstehens von Verstehen. Dazu wird explizit an „Vor-Urteilen“ der Interpreten, an subsumptiven Gewissheiten in Alltag und Wissenschaft sowie an reduktionistischen Erklärungen gezweifelt. Ziel ist es, gegen interpretative Routinen vorzugehen, also dort den Deutungsprozess aufzuklären und zu kontrollieren, wo üblicherweise mit Selbstverständlichkeit „naive Auslegungsgewissheiten“ (vgl. ebd.: 228) reproduziert werden. Wichtig ist es auch, die Darstellungen der Befragten eben als Darstellungen zu begreifen, da deren Bewusstsein nicht als unmittelbar zugänglich betrachtet werden kann (vgl. ebd.: 229). Ulrike Froschauer und Manfred Lueger definieren Interpretation als „intensive Beschäftigung mit Bedeutungen, Sinnzusammenhängen und jenen Kontexten, die eine bestimmte Sinngenerierung wahrscheinlich machen und zu einer spezifischen Sinnstruktur verknüpfen. Erst diese Sinnstruktur ermöglicht den Blick auf die verschiedenen Sicht- und Handlungsweisen, deren Verknüpfung eine kollektive Dynamik erzeugt, die sich den Zugriffen einzelner Personen potentiell entzieht (Hervorhebung im Original).“ (Froschauer/Lueger 2003: 82) Hermeneutische Aussagen sind also als Konstruktionen der Forschenden zu begreifen, die sich aus Konstruktionen der Menschen im Untersuchungsbereich ergeben. Wichtig für den Forscher ist dabei, dass er seine sprachlichen und inhaltlichen Vormeinungen, ohne die er nicht auskommt, reflektiert (vgl. ebd.: 83): „In der Analyse distanziert man sich jedoch vom eigenen Vorverständnis und tut methodisch so, als würde man nichts verstehen, weil man nur so latente Sinnstrukturen erkunden kann.“ (ebd.: 83-84)
Die Grounded Theory ist ein hermeneutisches Interpretationsverfahren, das in der vorliegenden Untersuchung mit Elementen der qualitativen Inhaltsanalyse als reduzierendes Verfahren mit hermeneutischen Komponenten (vgl. ebd.: 89) verknüpft wurde. Dabei wurde versucht, die zentralen Prinzipien qualitativer Interpretation zu berücksichtigen, wie sich Froschauer und Lueger beschreiben: Der Interviewtext als zentrale Interpretationsgrundlage wurde in Ausschnitte unterteilt, die schrittweise interpretiert wurden. Bei der Auslegung wurden Thesen über das soziale Umfeld der Befragten und die Gesprächssituation erstellt, die anhand anderer Textstellen überprüft und einer ständigen Revision unterzogen wurden. Die Annahmen wurden im Interpretationsprozess stets überprüft und umgearbeitet, wobei nicht nur auf Bestätigungen, sondern auch auf Widersprüche geachtet wurde. Interpretationen, die sich als 55
einigermaßen stabil erwiesen, wurden als vorläufig abgeschlossen angesehen. Auch der spezifische Interviewkontext wurde in die Interpretation einbezogen (vgl. ebd. 2003: 95-96). Bei der Gesprächsanalyse wurde davon ausgegangen, dass keine Aussage zufällig ist und sprachliche Äußerungen immer bewusste und unbewusste Momente enthalten (vgl. ebd. 102). Es wurde weiterhin davon ausgegangen, dass keine absolut zutreffende und allgemein gültige Interpretation möglich ist. Daher erschien es bedeutsam, hier zunächst die Regeln der Analyse sowie die inhaltliche Perspektive anzugeben. Bezogen auf die Regeln der Analyse bot sich die Themenanalyse an, da hierdurch auch die großen Textmengen leichter zu bearbeiten waren und sich die Methode eignet, um Meinungen und Einschätzungen zu erkunden (vgl. ebd.: 158). Dabei wurde zunächst eine Textreduktion vorgenommen (vgl. ebd. 159-162). Die Analyseschritte waren dann: eine Codierung der Textpassagen in Themenkategorien, deren Ausdifferenzierung in Subkategorien, die Strukturierung der Themenkategorien im Hinblick auf ihre relative Bedeutung im Text und für die Forschungsfrage, die Verknüpfung der Themen- mit den Subkategorien und eine vergleichende Analyse verschiedener Texte zur Theorienbildung (vgl. 163-164). Zu verallgemeinerbaren, repräsentativen Aussagen können qualitative Studien nur begrenzt beitragen (vgl. Kondzialka 2005: 51). Von den beobachteten Fällen und den daraus abgeleiteten Untersuchungsergebnissen kann also nicht auf Muslime allgemein geschlossen werden, sondern nur auf alle den untersuchten ähnliche Fälle.
3.9.
Einschränkungen
Lamnek hat betont, dass sowohl Interviewer als auch Befragte als Elemente der Befragungssituation an der Konstruktion von Wirklichkeit und der Aushandlung von Situationsdefinitionen mitwirken (vgl. Lamnek 1995: 62).41 Insofern ist auch darauf hinzuweisen, dass in den Interviewsituationen möglicherweise die Interaktion und die Äußerungen 41
Auch Margret Spohn bemerkt, dass sowohl Interviewer als auch Befragte in ihren gesellschaftlichen Hintergrund verwurzelt sind und dem jeweils anderen mit bestimmten Vorstellungen, Vorurteilen und Annahmen begegnen würden, was insbesondere in der interkulturellen Forschung eine Rolle spiele (Spohn 2002: 175). Objektivität hält sie im Forschungsprozess – ebenso wie Terkessidis – für unmöglich (vgl. ebd.: 176).
56
dadurch beeinflusst wurden, dass eine Angehörige der Dominanzgesellschaft eine/n Angehörige/n der „Minderheitengesellschaft“ befragte, beziehungsweise eine Frau einen Mann (insbesondere bei Abid wurde das einmal deutlich, als er darauf hinwies, mit Frauen könne man eigentlich nicht über Polygamie sprechen). Im Bewusstsein dessen wurden die Befragten daher bei der Kontaktaufnahme als „Experten“ adressiert. Damit sollten möglicherweise eine Rolle spielende „Hierarchien“ entschärft werden. In den Gesprächen wurde nur gelegentlich die eigene Meinung explizit geäußert, um die Befragten nicht zu verunsichern. Im Gegenteil wurden manchmal ihre Aussagen bestätigt, um den Gesprächsverlauf flüssig zu halten und die Befragten zur weiteren Ausführung anzuregen. Es musste vermieden werden, schichtenspezifische Wertvorstellungen oder Einstellungen mit der religiösen Orientierung zu erklären oder allgemeine Phänomene der Rollenverteilung zwischen Frauen und Männern, die sowohl in muslimischen als auch in nichtmuslimischen Kontexten vorkommen, zu ignorieren. In der Auswertung wird immer wieder auf diese Aspekte eingegangen. Wichtig war es, die Wertvorstellungen und Einstellungen der Befragten nicht pauschal als „typisch muslimisch“ zu betrachten, sondern den Migrationshintergrund und ihr soziales Umfeld soweit möglich zu berücksichtigen.
57
4.
Interview-Eindrücke
4.1.
Maryam
Maryam war zum Zeitpunkt der Befragung 27 Jahre alt und hatte nach ihrem Realschulabschluss eine Ausbildung zur Erzieherin absolviert. Sie wurde in Deutschland geboren und besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit, die sie im Alter von 21 Jahren erwarb. Ihr Vater kam in den 1970er Jahren aus Marokko nach Deutschland und ließ Maryams Mutter 1978 nachkommen. Beide Eltern haben in Marokko einen Bildungsabschluss erworben, der der Mittleren Reife entspricht. Ihr Vater arbeitete bis zu seinem Tod im Jahr 2004 im Dienstleistungsbereich, ihre Mutter war nie berufstätig gewesen. Beide Eltern bezeichnete Maryam als praktizierende Muslime. Maryam hat zwei Schwestern, die zum Zeitpunkt der Befragung 19 und 23 Jahre alt waren. Im Jahr 2000 heiratete Maryam einen Deutschen marokkanischer Abstammung, ebenfalls praktizierender Muslim, der als Jugendlicher nach Deutschland migriert war. Zum Zeitpunkt der Heirat ging Maryam noch auf die Berufsschule, um ihre Erzieherinnen-Ausbildung zu beenden. Nach der Heirat zog sie aus dem Elternhaus aus, um mit ihrem Ehemann einen gemeinsamen Haushalt zu gründen. Im Jahr 2003 eröffneten sie und ihr Mann ein Fachgeschäft für marokkanische Bekleidung, in dem Maryam tagsüber tätig ist, während ihr Mann bei einem anderen Arbeitgeber im Dienstleistungssektor beschäftigt ist. 2004 wurde ihr gemeinsamer Sohn geboren. Maryam besucht gelegentlich eine deutschsprachige Moschee sowie etwas häufiger eine Moschee mit marokkanischer Ausrichtung. Der Kontakt zu Maryam kam zustande, nachdem die Verfasserin die junge Kopftuch tragende Frau darauf angesprochen hatte, ob sie praktizierende Muslima sei und bereit wäre, ein Interview zu geben. Maryam willigte ohne Zögern ein. Das Interview fand an einem Freitagabend in dem Bekleidungsgeschäft des Ehepaars statt, als erstes Interview in der Reihe der Befragungen. Maryam nahm sich sehr viel Zeit für das Gespräch, sogar über den Ladenschluss hinaus, genauer von 18.15 bis 21 Uhr. Das Geschäft wurde in dieser Zeit kaum frequentiert, so dass der Ort der Befragung sich als angenehm ruhig erwies und das Gespräch ohne große Störungen verlaufen konnte. Nur durch Maryams Abendgebet, einen Telefonanruf und ein kurzes Gespräch mit ihrer Freundin wurde das Interview unterbrochen. Maryam erweckte einen sehr aufgeschlossenen, redefreudigen Eindruck. Sie sprach viel und schnell und schweifte manchmal vom Thema ab. 59
Anfangs wurde sehr lange über nicht-geschlechterbezogene Themen gesprochen, was sich jedoch insofern als sinnvoll herausstelle, dass dadurch eine vertraute Gesprächsatmosphäre entstehen konnte, die Maryam offensichtlich das Gefühl vermittelte, frei Themen ansprechen zu können, die sie beschäftigen. Nebenbei konnten wichtige Hintergrundinformationen über ihre Familie in Erfahrung gebracht werden. Die Gesprächsatmosphäre gestaltete sich offen, es entstand der Eindruck, dass Maryam gerne ihre Sicht der Dinge schildern wollte, um dazu beizutragen, den Islam in einem besseren Licht darzustellen. Viele Themen aus dem Leitfaden sprach sie von sich aus an, so dass die Sondierungsphase etwa zwei Stunden lang dauerte und zum Schluss nur noch einige Ad-Hoc-Fragen zu klären waren. Es stellte sich heraus, dass der Leitfaden nur in wenigen Punkten verändert werden musste. Das Gespräch trug dazu bei, den Themenbereich weiter einzugrenzen und den Blick dafür zu schärfen, wo es sich anbot gezielter zu fragen. Befürchtungen, dass Maryam Fragen über Sexualität, etwa nach Beziehungen vor der Ehe, nicht beantworten wollte, stellen sich als nicht ganz falsch heraus, da sie sich dazu sehr knapp äußerte. Auch stellte sich die Vorannahme, dass viele Fragen sehr konform mit den gängigen islamischen Lehrmeinungen – etwa im Rückgriff auf Quellen wie Koran und Sunna – beantwortet würden, als richtig heraus. Das Gespräch war flüssig und kam kaum ins Stocken. Wenn doch, wurden Pausen von Seiten der Interviewerin explizit positiv aufgenommen und erzeugten keine unangenehme Gesprächsatmosphäre.
4.2.
Abid
Abid war zum Zeitpunkt der Befragung 22 Jahre alt. Seine Mutter ist eine deutsche Krankenschwester. Der Vater stammt aus Indonesien und lebt seit der Trennung der Eltern im Jahr 2003 wieder dort. Abid gab als Nationalität indonesisch an und machte eine Ausbildung an einer Berufsschule, die er nach dem Abitur begonnen hatte. Seine Mutter bezeichnete Abid als praktizierende Christin, wenngleich sie erst seit der Trennung vom Vater ihren Glauben stärker ausübe und auch „abergläubisch“ sei, insofern sie sich offenbar auch im esoterischen Bereich orientiert. Seinen Vater beschrieb Abid als nicht praktizierenden Muslim. Abids Schwester war zum Zeitpunkt der Befragung 27 Jahre alt. Er selbst war mit 19 Jahren aus seinem Elternhaus ausgezogen und hatte wenig 60
später eine heute 23-jährige zum Islam konvertierte Deutsche aus deutsch-amerikanischem Elternhaus geheiratet. Im Jahr 2005 wurde die gemeinsame Tochter geboren. Die dreiköpfige Familie lebte zum Zeitpunkt der Befragung mit Abids Schwester in einem Haushalt. Abid übernimmt Dienste in einem Buchladen für deutsche und arabische Literatur zum Islam, der zu einer deutschsprachigen Moschee gehört. Dort fand auch die erste Kontaktaufnahme statt. Auch Abid war ohne Zögern bereit, ein Interview zu geben. Er wünschte kein Pseudonym, weil er zu seinen Aussagen stehen wolle. Um seine Anonymität zu wahren, wurde später dennoch ein Pseudonym für ihn ausgewählt. Das Gespräch fand während seiner Dienstzeit im Buchladen statt, der gelegentlich von Besuchern frequentiert wurde. Dies schien aber keinen gravierenden Einfluss auf Abids Antwortverhalten zu haben. Ein Mal wurde das Gespräch eine längere Zeit durch einen Kunden unterbrochen, der sich in das Interviewthema einschaltete, als es um die Themenbereiche Scheidung und Gewalt gegen Frauen ging (hierzu mehr im Kapitel „Gewalt gegen Frauen“). Auch durch Telefonanrufe und das Nachmittagsgebet Abids wurde das Interview unterbrochen, das insgesamt von 15.30 bis 18 Uhr dauerte. Nach den kurzen Pausen wurde das vorherige Gesprächsthema aber stets nahtlos aufgenommen. Gegen Ende der Befragung betraten zwei jüngere Freunde Abids den Laden und setzten sich zu ihm und der Interviewerin an den Tisch. Sie schalteten sich nicht ins Gespräch ein, doch ist zu vermuten, dass ihre Anwesenheit das Interview beeinflusste. Da dies aber erst in der Phase der Ad-Hoc-Fragen geschah, ist der Einfluss zu vernachlässigen. Einige Fragen konnten nicht mehr gestellt werden, weil Abid aus Zeitgründen das Interview beenden musste. Anfangs verlief das Gespräch sehr ruhig. Schon nach kurzer Zeit sprach Abid über sehr persönliche Themen wie die konfliktreiche Beziehung zu seinen Eltern und äußerte intime Gedanken über Liebe und Beziehungen, was den Erwartungen der Interviewerin widersprach. Diese hatte vermutet, dass mit ihr als Frau nicht so offen über solche Themen gesprochen würde. Beim Thema Polygamie kann aufgrund einer entsprechenden Äußerung Abids jedoch angenommen werden, dass das Geschlecht der Interviewerin dazu beitrug, dass Abid weniger offen antwortete. Die Atmosphäre gestaltete sich im Allgemeinen jedoch von Anfang an sehr offen. Im Verlauf des Interviews nahm Abid gelegentlich, offenbar wenn ihm Fragen unangenehm waren, eine offensive Haltung an, etwa, wenn es um Gewalt gegen Frauen oder das Thema Mehrehe ging.
61
Abid forderte die Interviewerin mehrmals und schon gleich zu Beginn des Gesprächs auf, auch ihre Meinung zu bestimmten Themen kund zu tun. Er bezog sich bei seinen Antworten häufig auf orthodoxe Auslegungen von Koran und Sunna und antwortete im Allgemeinen sehr rasch auf die Fragen. Abid benötigte nur kurze Gesprächsimpulse, um aus sich heraus viele Themen anzusprechen, die auch der Leitfaden vorgesehen hatte. Von Beginn an übernahm er eine aktive Rolle im Gespräch.
4.3.
Jamal
Der Kontakt zu Jamal kam über einen gemeinsamen Bekannten zustande. Der 28-jährige Deutsche pakistanischer Abstammung wurde im Alter von 18 Jahren eingebürgert. Er studierte zum Zeitpunkt der Befragung Psychologie und arbeitete nebenher in wechselnden Studentenjobs. Seine beiden Eltern besitzen die pakistanische Staatsangehörigkeit und kamen in den 1970er Jahren nach Deutschland. Der Vater arbeitete in der Dienstleistungsbranche, die Mutter war im Herkunftsland berufstätig gewesen, arbeitete aber in Deutschland als Hausfrau. Jamal hat zwei Brüder im Alter von 34 und 39 Jahren. Seine Mutter bezeichnete Jamal als praktizierende Muslima, seinen Vater als bekennenden aber nicht praktizierenden Muslim. Jamal war im Jahr 2003 aus dem Elternhaus ausgezogen, als er seine deutschstämmige Ehefrau heiratete, die zum Zeitpunkt der Befragung 25 Jahre alt und zum Islam konvertiert war. Das Interview mit Jamal fand an einem Abend, nach seiner Arbeitszeit, in einer deutschsprachigen Moschee statt. Das Gespräch war – sicher auch Dank der Vermittlung über den gemeinsamen Bekannten – von gegenseitiger Sympathie geprägt. Jamal wirkte aufgeschlossen, wenn auch im Verlauf des Gesprächs zunehmend müde und antwortete wohl vor allem aufgrund seiner Müdigkeit immer knapper. Er versuchte mehrfach die Zielrichtung der Fragen nachzuvollziehen, also die Interviewerin zu durchschauen, und bemühte sich offenbar um eine gemäßigte Darstellung seiner Sichtweisen. So relativierte er häufig seine Aussagen und versuchte, sie auch aus einem anderen Blickwinkel zu beantworten. Bevor er antwortete, nahm er sich meist kurz Zeit zum Nachdenken. Oft machte Jamal auch Witze und ironische Bemerkungen, so dass nicht immer klar war, wie ernst seine Aussagen aufzufassen waren. Die Interviewerin erhielt den Eindruck, dass dies besonders dann geschah, wenn Jamal Fragen als heikel empfand. Dennoch war die Gesprächsatmosphä62
re durchgehend sehr offen. Insbesondere auf Fragen zur Sexualität antwortete Jamal am ausführlichsten von allen Interviewpartnern, ohne dass ihm das Thema unangenehm zu sein schien. Jamal verwendete im Vergleich zu den übrigen Befragten auffallend wenige arabische Begriffe und kaum religiös geprägte arabische Wendungen. Auffällig war auch seine kritische Haltung gegenüber Hadithen, die er nur sehr selten und oft relativierend zitierte. Dagegen bezog er sich bei seinen Antworten häufiger auf Inhalte des Korans, grenzte jedoch des Öfteren – anders als beispielsweise Abid – seine eigene Sichtweise von der als „offiziell“ empfundenen Gelehrtenmeinung ab. Das Gespräch fand ungestört von Dritten statt und dauerte etwa von 18.30 bis 20.30 Uhr. Es zeigte sich, dass der Interviewleitfaden nicht weiter modifiziert werden musste, da Jamal keine Themen ansprach, die über diesen hinausgingen. Er übernahm jedoch auch weniger als die übrigen Befragten die Gesprächssteuerung. Gelegentlich lief das Interview daher Gefahr, in ein starres Frage-Antwort-Schema zu verfallen, was jedoch mit der Bitte um nähere Erklärungen und mit Warum-Fragen aufgebrochen werden konnte.
4.4.
Fatima
Fatima war zum Zeitpunkt der Befragung 22 Jahre alt und besitzt die somalische Staatsangehörigkeit. Sie flüchtete mit ihrer Familie im Alter von 12 Jahren aus dem von Bürgerkrieg versehrten Somalia in die BRD. Nach der in Deutschland erworbenen Mittleren Reife machte Fatima eine Ausbildung zur Erzieherin an einer Berufsschule und befand sich zur Zeit des Interviews in der Abschlussphase. In ihrer Freizeit leitete sie eine Mädchengruppe, der Kinder verschiedenster nationaler Abstammung angehörten, und arbeitete in einem Verein für Familienund Erziehungshilfe. Sie wohnte noch im Haushalt ihrer Eltern, plante aber die Heirat mit einem konvertierten Muslim deutscher Abstammung, mit dem sie bereits seit fünf Jahren fest befreundet war, und in dem Zusammenhang auch ihren Auszug aus dem Elternhaus. Fatima hat drei ältere Brüder, von denen zwei (26 und 29 Jahre) ebenfalls in Deutschland leben, und einer (31 Jahre) in Somalia. Der Kontakt zu Fatima kam nach einem Vortrag über berühmte muslimische Frauen in einer deutschsprachigen Moschee zustande. Fatima freute sich offensichtlich auf das Interview und hatte sich durch Recher63
chen im Internet sorgfältig auf das Thema vorbereitet, nahm das Gespräch also sehr ernst. So brachte sie auch Unterlagen mit, aus denen sie hin und wieder zitierte. Dies stellte sich insofern problematisch dar, da ja nicht die „offizielle“ Meinung zu bestimmten Themen, sondern ihre persönliche erfragt werden sollte. Mit direkten Nachfragen („Und siehst du das auch so?“) konnte dies jedoch erreicht werden. Fatima wollte insbesondere dann aus den Unterlagen zitieren, wenn sie sich bei einem Thema unsicher war. Sie betrachtete das Gespräch nach eigener Aussage als Dawa. Durch ihre Stellungnahmen hoffte sie offenbar, das Bild der Allgemeinheit vom Islam, das sie als sehr negativ empfand, verbessern zu können. Daher äußerte sie auch oft Unsicherheiten, wenn sie keine „offizielle“ Meinung zu einem bestimmten Thema angeben konnte. Fatima wollte kein Pseudonym auswählen und nannte – ähnlich wie Abid – als Grund dafür, dass sie zu ihrer Meinung stehe. Im Interesse ihrer Anonymität wurde später dennoch eines für sie ausgewählt. Sie machte einen sehr selbstbewussten Eindruck und redete sehr viel, wobei sie zahlreiche Auffassungen offenbarte, die sich im Zusammenhang mit der Fragestellung als bedeutend erwiesen. Von Beginn an übernahm Fatima die Gesprächsführung und benötigte nur geringste Impulse, um Themen anzuschneiden, die auch im Interviewleitfaden vorgesehen waren. Das Gespräch entwickelte sich sehr natürlich; die Atmosphäre war offen und trotz der gegenseitigen Unbekanntheit freundschaftlich und vertraut. Bei Fragen zur Sexualität senkte Fatima häufig ihre Stimme auf einen Flüsterton, was auch mit der Tatsache zusammenhängen könnte, dass das Gespräch in einem Gebetsraum stattfand, in dem sich gelegentlich auch betende Gläubige befanden. Inhaltlich sprach Fatima aber sehr offen über dieses Thema. Das Interview fand im Gebetsraum der erwähnten deutschsprachigen Moschee statt. Es wurde ein Mal vom nachmittäglichen Gemeinschaftsgebet unterbrochen und mehrmals für kurze Zeit von Bekannten Fatimas, die die junge Frau ansprachen. Spielende Kinder im Hintergrund beeinträchtigen während einer kurzen Phase die Verständlichkeit mancher Passagen, ein Mal wurde das Interview unterbrochen, um ein weinendes Kind zu beruhigen. Fatima nahm sich von allen Befragten am meisten Zeit für das Gespräch. Dieses dauerte von 14.15 bis 18.30 Uhr. Auffällig war im Gesprächsverlauf auch Fatimas Regelbewusstsein, das sich nicht nur in der Einhaltung von Bekleidungsvorschriften (Kopftuch), sondern auch inhaltlich ausdrückte. Hierbei differenzierte sie explizit zwischen Regeln, die sie als kulturell und solchen, die sie als religiös-islamisch begründet wahrnahm. 64
5.
Auswertung der Interviews
5.1.
Bedecken
5.1.1.
Kleidung
Immer wieder wird von den Befragten der „Reiz” insbesondere des weiblichen Körpers betont. Dies impliziert, dass auf einen Reiz als Impuls automatisch eine Reaktion folgt, die beim Mann in einer sexuellen Stimulation gesehen wird. Dementsprechend betrachtet Abid eine Bedeckung der Frau auch als Hilfe für den Mann im Sinne eines Schutzes des religiösen Bewusstseins. Zwar erwähnt Abid den Begriff der „Reize” nicht explizit, jedoch sieht er sowohl das Kopftuch als auch die „Bekleidung, die eine Frau trägt, (-) wo alles abgedeckt ist, (-) wo ein Mann nichts erkennen kann” als eine „Hilfe” für den Mann an. Die Frau wird aufgrund ihrer körperlichen Merkmale als verführerisch erlebt, was als negativ in religiösem Sinne betrachtet wird. Nach dieser Vorstellung sollte sie durch ihre Bedeckung dem Mann helfen, keine Sünde zu begehen. Es wird hier also weniger Wert auf Selbstbeherrschung des Mannes als auf Einhaltung von Kleidungsvorschriften gelegt. Bei Maryam wird ein starkes Regelbewusstsein deutlich. Dies zeigt sich in ihrer Thematisierung der religiösen„Pflicht“ zur Bedeckung, die auch sie mit der Schönheit des Frauenkörpers rechtfertigt. Indem sie aber die Bedeckung als Schutz etwa vor dem Neid anderer Frauen und als Mittel zur Selbstbestimmung deklariert, wertet sie eine Kleidungsvorschrift, die zunächst als Einschränkung der Frau erscheint, positiv. Maryam: „(…) es gibt ja auch (-) viel auch Neid unter den Frauen zum Beispiel, ja (-) oder eine Frau zum Beispiel, die hat (-) zum Beispiel also ne se’ (-) also (-) krankhafte Erkrankung irgendwo, also sei es Haare, sei es irgendwo anders ja, (.) und es müssen nicht unbedingt andere Leute einfach sehen, ja, (-) dass man da auch einfach einen Schutz für sich hat, (.) und ich kann (--) auch unter Frauen kann ich das zeigen, was ich möchte, ich muss mich nicht, (-) also ich muss mich nicht ausziehen, ich muss keine Sa’ (.) kurzen Sachen tragen, das kann ich selber entscheiden, aber was (-) vor allem, wenn man zusammen mit Männern ist, dass man schon (.) es ist mein Körper [ein männlicher Kunde betritt den Laden] und ich entscheide (-), was ich davon zeigen (.) äh möchte (…).”
Für Maryam ist die islamische Bekleidung nicht nur ein Mittel zum Schutz der Intimsphäre, sondern auch eines, um ihre persönliche Entscheidungsfreiheit auszudrücken. So erscheinen die Bedeckungsvor65
schriften in ihrer Schilderung zwar als Pflicht, aber nicht als eine, die Männer, sondern eine, die Gott auferlegt hat, und sogar als ein Garant für die Selbstbestimmung einer Frau. Auch bei Jamal werden die „Reize“ thematisiert, er nennt jedoch auch explizit männliche „Reize“ und betrachtet es als menschlich, damit zu „spielen“. Jedoch sieht er es als notwendig an, dieses Bedürfnis zu unterdrücken. Vorbildlich erscheint ihm daher geschlechtsneutrale Kleidung, sowohl für Männer als auch für Frauen, da „Keuschheit“ bei beiden Geschlechtern einen Wert für ihn darstellt. Andererseits widerspricht dieser Wert offenbar gelegentlich dem der Selbstbestimmung, den Jamal teilt und nach dem jeder Mensch in seinen Augen Entscheidungsfreiheit auch in Bezug auf die Wahl der Kleidung genießen sollte. Einen negativen Wert stellt für ihn Schamlosigkeit dar, der Begriff der Scham ist also – auch bei Männern – positiv für Jamal besetzt. Diese drückt sich jedoch für ihn nicht in erster Linie in Äußerlichkeiten aus. Durch diese Haltung gelingt es Jamal offenbar, die widerstrebenden Werte der Freiheit in der Kleidungswahl und der Wahrung der Scham zu verbinden. Ambivalenzen zeigen sich bei Jamal aber offenbar in Bezug auf eine als islamisch erkennbare Kleidung, die er in einem negativen Sinn als „heutzutage” stark auffällig bezeichnet. Dies dürfe aber niemanden davon abhalten, sie zu tragen: Jamal: „Mich (-) hält es vielleicht auch unter anderem davon ab, aber jetzt vor allem von dieser islamischen Kleidung, wie gesagt, hält mich meine Überzeugung ab. (--) Und ich denke auch, dass ein überzeugter Moslem und eine überzeugte muslimische Frau das nicht nach außen tragen muss. (-) Aber das wird halt (-) allgemeinhin so gehandhabt. (-) Sowohl von Frauen als auch Männern.”
An anderer Stelle verneint Jamal, dass er es vermeide, islamische Kleidung zu tragen, um keine negativen Zuschreibungen auf sich zu ziehen. In der zitierten Passage räumt er jedoch ein, dass man damit auffalle sei ein Grund, warum er sich lieber „westlich“ kleide. Jamal verwendet eine religiöse Argumentation, um rechtfertigen, dass Muslime sich westlich kleiden. Er schafft eine Synthese seiner Vorstellungen unter Bezugnahme auf die Religion, indem er das Nach-Außen-Tragen der Religion als unnötig beschreibt und die innere Überzeugung aufwertet. Demnach stellt Kleidung in seinen Augen auch kein religiöses Identifikationsmerkmal für ihn dar, sondern hat modischen und praktischen Aspekten zu folgen. Äußerlich möchte Jamal sich der Aufnahmegesellschaft anpassen, um nicht negativ aufzufallen, gleichzeitig versucht er auch die islamischen Kleidungsvorschriften zu erfüllen, was für ihn den positiven Wert der 66
Anständigkeit symbolisiert. Diese ist für ihn aber nicht damit verbunden, als Muslim erkannt zu werden, sondern hat den formalen Bedeckungsvorschriften zu entsprechen. Es drückt sich hierbei eine pragmatische und moderne Art aus, Werte der Aufnahmegesellschaft, die – zumindest in diesem Fall – auf Rationalität zu beruhen haben, mit Werten der religiösen Gemeinschaft, die hier auf einer nicht rational begründeten Regelbefolgung beruhen, zu verbinden. Jamal hat an seiner Arbeitsstelle die Erfahrung gemacht, dass ein Mann, der sich „schon extrem islamisch angezogen” hatte, „komisch beäugelt” wurde, auch weil er in den Arbeitspausen beten ging. Jamal leugnet zwar, dass dies der Grund sei, dass er selbst sich nicht erkennbar islamisch kleidet, sondern erklärt, er sehe keinen „Nutzen“ darin. Dennoch könnten solche Erfahrungen mit dazu beigetragen haben, dass Jamal so ablehnend auf traditionelle Kleidung reagiert, anhand der eine Zuschreibung zum Islam möglich ist. So merkt Jamal an, dass er zwar ab und an gerne mal traditionelle Kleidung trage, jedoch „nicht aus Überzeugung”, sondern nur, wenn er etwas schön finde. Das sehe dann aber „meistens nicht so aus wie das (-) Standard-Moslem-Kleid”. Optisch-modische und praktische Argumente – nicht ideologische – überwiegen bei Jamals Kleidungswahl. Traditionelle Kleidung empfindet er als „out”; indem er modische Markenkleidung trägt, die weit geschnitten ist, findet er eine Synthese zwischen islamischen Kleidungsvorschriften und deutschem Zeitgeist. Durch seine Kleidung möchte er sich nicht von Nichtmuslimen abheben, aber dennoch seine islamisch geprägte Wertvorstellung der Anständigkeit äußerlich ausdrücken. Auch die Vorschrift des Barttragens, der er äußerlich entspricht, rechtfertigt Jamal nicht mit einem Erkennungsmerkmal als Muslim, sondern dem Ideal, nicht zu sehr auf Äußerlichkeiten zu achten. Er trage seinen Bart, weil dieser zu ihm passe, sieht es jedoch auch nicht als erstrebenswert an, sich täglich zu rasieren, weil es nicht sinnvoll sei, zu viel Zeit in sein Äußeres zu investieren. Auch hier schafft Jamal eine einfallsreiche argumentative Synthese zwischen rationalen Ansprüchen der Aufnahmegesellschaft und Regelbewusstsein der religiösen Gemeinschaft. Solche Synthesen erfordern offenbar nicht nur ein hohes Maß an Kreativität, sondern auch eine gewisse Entfernung sowohl von den Idealen der Aufnahmegesellschaft als auch denen der religiösen Gemeinschaft. Dogmatismus bewertet Jamal folglich negativ, da er ihn dabei behindert, solche kreativen Lösungen zu finden. Dass Jamal äußerlichen islamischen Erkennungssymbolen keinen Wert beimisst, lässt sich mit einem hohen Zugehörigkeitsgefühl zur nichtmuslimischen Aufnahmegesellschaft erklären, in der solche Erkennungssymbole negativ bewertet werden. 67
Jamal: „Nee, ich verstehe das nicht. (--) Und (--) ja, so lauter (--) lauter Dogmen und geheuchelte Kleinigkeiten sind dann eigentlich diese Erkennungszeichen, (--) auf die ich überhaupt keinen Wert lege.”
Die stärkeren „Reize“ der Frau thematisiert auch Fatima, ebenso wie den Wert der Keuschheit. Auch in ihrer Darstellung gelten Kleidungsvorschriften jedoch für beide Geschlechter. Sie weitet dabei die gängige Kleiderordnung für Männer sogar aus, weil sie anders als islamische Gelehrte auch den männlichen Oberkörper als „Reiz“ betrachtet. Damit versucht Fatima, eine in sich geschlossene und an den Vorstellungen von der Gleichwertigkeit der Geschlechter orientierte Begründung der Bedeckungsgebote zu finden. Fatimas starkes Regelbewusstsein zeigt sich in Bezug auf Schmuck und modische Trends, von denen sie sich teilweise angezogen fühlt, die ihrer Ansicht nach aber nicht in den öffentlichen Raum gehören, weil sie ebenfalls die „Reize“ der Frau betonen. Einerseits möchte Fatima also an modischen Trends teilnehmen, andererseits empfindet sie sichtbar getragenen Schmuck bei einer Frau als eine Verletzung ihrer religiösen Pflichten. Sie trägt diesen daher im Verborgenen, so dass höchstens ein kleines Stück davon sichtbar wird. Es kann dies als ein sehr vorsichtiger Versuch betrachtet werden, westliche Vorstellungen von Mode und islamische Pflichtgefühle zu verbinden, ebenso wie sich dies bei ihrer Vorliebe für Miniröcke zeigt, die sie aber nur zu Hause anzieht. Fatima möchte von diesen modischen Trends, die sie „toll” findet, nicht komplett ausgeschlossen sein, sondern sucht eine praktikable Synthese, ohne ihrer Ansicht nach in „Extreme“ zu verfallen: Fatima: „Gibt es ja viele, die sich schöne Sachen machen, a:ber wenn die meinen, Stiefel hoch oder so einen Mini, (-) das finde ich total doof, diese (-) Extreme. (-) Ich habe auch Miniröcke, aber ich trage das für mich, weißt du, weil ich das (-) einfach weil ich das
toll finde . Ich ziehe das nie draußen an, aber irgendwie habe ich irgendwelche.”
Ihr „westliches“ Modebewusstsein lebt Fatima also nicht im öffentlichen Raum aus, weil es ihrer Identifikation mit islamischen Vorstellungen widersprechen würde. Wenn Mädchen Minirock und Kopftuch in der Öffentlichkeit kombinieren, findet sie das unverständlich und „total doof“. In diesem Zusammenhang erzählt sie von einem Vorfall in ihrer Berufsschule, bei dem ein Mädchen mit Kopftuch, das schick gekleidet sowie „total geschminkt” war und aussah „als ob sie auf die Disko gehen würde”, beim Bücken unabsichtlich ihren String-Tanga entblößte. Als besonders schlimm empfand sie die abfälligen Bemerkungen („möchtegerncool”) ihrer Klassenkameraden darüber. Ein Pflichtbewusstsein veran68
lasste sie dazu, das Mädchen darauf hinzuweisen, dass schick sein zwar „erlaubt” sei, aber ihr Verhalten nicht zu ihrer Religion passe. Ihrer Meinung nach sollte das Mädchen das Kopftuch ablegen oder die islamischen Kleidungsvorschriften ernster nehmen. Fatima empfindet offensichtlich das aus ihrer Sicht religiöse Fehlverhalten als einen Affront gegen den Islam, weil ihre Klassenkameraden schlecht von ihrer Religion denken könnten und sieht sich aufgefordert, dagegen etwas zu unternehmen. Weil sie sich selbst mit dem Islam identifiziert, möchte sie nicht zulassen, dass schlecht über ihre Religion gesprochen wird. Sie macht allerdings nicht den Mädchen einen Vorwurf, sondern deren Eltern: Fatima: „(...) aber die wollen halt irgendwie (-) ihren Eltern gefallen, indem sie das tragen, auf jeden Fall, und das andere wollen sie mit ihren Freunden (-) ja (-) alles ausprobieren. Und das Traurige daran, also was ich nicht verstehe, (-) die Eltern sind zufrieden mit diesem Mix. (-) Das verstehe ich nicht. (-) Oder zumindest kenne ich keine Eltern, die (-) dagegen was haben oder so.”
Vermutlich kennt Fatima in sich selbst das Gefühl, gerne gewisse Dinge ausprobieren zu wollen, da sie einräumt, auch sie trage „ab und zu mal enge Sachen”. Gleichzeitig möchte sie aber die Ansprüche ihrer Eltern erfüllen, die strenger als andere zu sein scheinen. Das würde erklären, warum sich ihre Antipathie nicht gegen die Mädchen richtet, die versuchen, die unterschiedlichen Ansprüche zu verbinden, sondern gegen deren Eltern, die das – im Gegensatz zu ihren – tolerieren. Sie findet es „traurig”, wenn sich Mädchen nicht nach dem islamischen Regeln richten und fragt sich, wo bei ihnen das Gewissen sei, denn „Allah hat uns ja auch Intelligenz geschenkt”. Den Kompromiss zwischen hiesiger Gesellschaft und islamischen Ansprüchen, den diese Mädchen gefunden haben, empfindet sie also offensichtlich für sich als nicht praktikabel, weil es ihrem religiösen Gewissen und ihrem starken Regelbewusstsein widersprechen würde: Fatima: „(...) dass das wieder halt Zwie’ ähm (-) Zwiespalt zwischen zwei Kulturen, weißt du (...) zum Beispiel Türkei, das sind ja meistens türkische Mädchen eigentlich oftmals halt die sich so anziehen, ja irgendwo (-) irgendwo ist da (-) irgendwo Herkunft, Kopftuch sagt darauf aus, ich bin Muslima, ja:, und ich bin Muslima, das war es schon, und andererseits (-) ja (-) irgendwie diese Mode, die wollen das kompromittieren (…)”
In ihren Augen symbolisiert das Kopftuch für diese Mädchen also die Herkunft und die Verwurzelung im islamischen Glauben. In dem Wort „kompromittieren” – um auszudrücken, dass die Mädchen Herkunft 69
und hiesige Mode kombinieren wollten – drückt sich nach Freudscher Logik möglicherweise auch aus, dass Fatima es als ein Bloßstellen ihres Glaubens und als Rufschädigung empfindet, wenn Mädchen sich nicht strikt an die islamische Kleiderordnung halten, wie an ihrem Erlebnis mit dem String-Tanga tragenden Mädchen sichtbar wurde. Fatima hat also das Bedürfnis nach einem einheitlichen Lebensbild, mit dem sie in ihrer Pubertät aber selbst gerungen hat (siehe Kapitel „Weg zum Islam“). Die Einhaltung der Kleiderordnung erlaubt es ihr, wie später zu sehen sein wird, sich in anderen Bereichen Freiheiten herauszunehmen. Für Fatima stellen Logik und Nachvollziehbarkeit offenbar Werte in Bezug auf Religion dar, ebenso wie Intelligenz und das Gewissen, wobei sie beides mit religiösen Geboten verknüpft. Hier zeigt sich ein starkes Bedürfnis, die Vorschriften des Islam vernunftmäßig zu begründen und mit dem persönlichen Gewissen – sowohl gegenüber Gott, als auch gegenüber den Eltern und der Aufnahmegesellschaft – zu vereinbaren. Die Kleidung darf dabei in Fatimas Augen aber nicht eine Zuordnung zu ihrer Herkunftsnation ermöglichen, was sie sehr negativ wertet, sondern alleine eine Zuschreibung zum Islam, um nicht in der Aufnahmegesellschaft zu stark aufzufallen. Bezogen auf sich selbst lehnt Fatima es entschieden ab, dass anhand des Kopftuchs ihre „Heimat” zu identifizieren sei. Sie trägt bewusst das Kopftuch „ganz anders“ als somalische Frauen dies traditionell tun, da sie die knalligen, kunterbunten Farben als „fürchterlich”, „schlimm“, unmodern und sogar unanständig empfindet: Fatima: „Ich auch so, Mama, trag anständig, nicht so (lacht). (-) Ja, man sieht einfach, dass eine Frau, ich weiß nicht, wie das in Deutsch heißt, Jalabib [langes Übergewand] auf Arabisch, so ein Tuch, (-) fertig. (-) Ja. (-) Finde ich nicht so (-) ist praktisch, aber naja.
Nicht Mode.
Von hier vor allem (lacht). (-) Gucken ja alle danach.”
Die traditionelle Kleidung sieht sie mit den Augen einer „westlichen“ Frau als unmodisch und unanständig an, sie macht sich damit offenbar auch Zuschreibungen von außen zu eigen. Dass andere anhand dieser traditionellen Kleidung das Herkunftsland erkennen können, empfindet Fatima anscheinend als eine Zuschreibung, die sie für sich ebenso wie für ihre Mutter nicht akzeptieren will. Sie möchte sich nicht mit Somalia, sondern mit dem Islam identifizieren lassen und nicht aufgrund ihrer Herkunft auffallen. Hier wird der Islam als primäre Identifikationsquelle deutlich. Gaby Franger sieht Kleiderordnungen sowohl in der christlichen als auch in der jüdischen oder islamischen Kultur „auf patriarchalen Mustern, auf Versuchen der Machtausübung, denen Frauen sich beugen 70
mußten, sich beugen, denen sie Widerstand entgegensetzten oder die sie verinnerlichten“ (Franger 1999: 14) basieren. Das gilt, wie sich hier gezeigt hat, offenbar nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer, die sich ebenfalls Kleiderordnungen verpflichtet fühlen, aber auch dagegen rebellieren. Kleiderordnungen scheinen nicht in die individualisierte „westliche“ Gesellschaft zu passen und können damit auch für Männer ein Hindernis darstellen, wie sich bei Jamal zeigt. Es verlangt Kreativität und die Bereitschaft zu undogmatischen Lösungen, um die individualistischen Ansprüche der Aufnahmegesellschaft und das Regelbewusstsein der islamischen Gemeinschaft zu verbinden. Dennoch gelingt dies den Befragten auf die eine oder andere Weise.
5.1.2.
Kopftuch
Alle Befragten betonten die Schutzfunktion des Kopftuchs, wobei sie es als Abwehr negativ empfundener männlicher Annäherungsversuche verstehen. Sie legen also Wert darauf, das Kopftuch nicht als ein Zeichen der Unterdrückung der Frau, sondern als ein Mittel zur Wahrung ihrer Würde darzustellen. Im Zusammenhang mit dem Kopftuch werden bei Jamal Schamgefühl und Selbstbewusstsein bei Frauen als positive Werte thematisiert. Als einziger der Befragten erachtet er das Kopftuch als nicht notwendig. Interessant ist hier, dass Jamal dies unter Bezug auf den Koran rechtfertigt, der seiner Auffassung nach das Kopftuch nicht zwingend vorschreibt. Die Religion erscheint hier als ein Mittel zur Distanzierung von traditionell-islamischen Anstandsnormen. Weit ausgeschnittene Kleidung im Dekolleté empfindet Jamal als einen „Reiz“, weshalb er der Meinung ist „man sollte schon was über die Brust werfen als Frau“. Hier nennt er ein „Tüchlein“, das „auch modisch“ sei. Insofern schafft er eine Synthese zwischen islamischen Vorstellungen und westlicher Mode und Mentalität. Die Befolgung islamischer Vorschriften erachtet er zwar als wichtig, legt diese aber in Bezug auf das Kopftuch freier aus als viele andere Muslime, was ihm selbst auch bewusst ist. So erwähnt Jamal beispielsweise, dass Musliminnen, die kein Kopftuch tragen, sowohl von muslimischen Männern als auch von Frauen islamischen Glaubens „wahrscheinlich schwer als vollwertige Muslima akzeptiert” würden. Dabei könnten Frauen mit genügend Selbstbewusstsein auch ohne Kopftuch als religiöse Frau auftreten, findet Jamal. Er thematisiert also die man71
gelnde Akzeptanz von Musliminnen, die kein Kopftuch tragen, innerhalb der religiösen Gemeinschaft und damit den Gruppendruck. Anders als Abid ist es Jamal nicht wichtig, dass sich seine Frau islamisch kleidet oder Kopftuch trägt. Auch eine Tochter würde er nicht gegen ihren Willen zum Kopftuchtragen zwingen wollen, räumt jedoch ein, dass er sie vielleicht dazu erziehen würde, ein Tuch über der Brust zu tragen. Ähnlich wie Fatima nimmt Jamal an, dass das Kopftuch nichts mit inneren Werten oder Reinheit zu tun habe, da es bei vielen Frauen nur ein Ausdruck für kulturelle Erziehung oder Gewohnheit sei. In diesem Fall habe das Kopftuch „mit Religion gar nicht mehr viel zu tun” und nicht mehr den Wert, den es seiner Meinung nach haben sollte: Jamal: „Es sollte schon eine bewusste Handlung sein, eine religiöse Handlung, und dann auch (--) mit der Absicht. Wenn es aber dann nur so ein Gewohnheitsding ist, und (--) ja:: (-) ich trage halt Kopftuch, weil, das habe ich schon immer so gemacht, seit ich sieben bin oder 14 oder wann auch immer, (--) weil meine Eltern mir das beigebracht haben, (--) dann sehe ich da eigentlich keinen Sinn drin. (--) Wenn das aber jemand aus voller Überzeugung macht und aus religiösen Gründen und nicht, (-) um (-) wichtig halt, (-) nicht, um nach außen hin seine Religion zu zeigen und sich daran aufzugeilen, wie toll man doch ist als gläubiger Mensch, das ist ganz wichtig, das darf überhaupt nicht da sein. (-) Das sollte einfach nur (--) dazu dienen, dass man, (-) dass man (--) das, was der Koran sagt, so gut wie möglich befolgen will, was Gott von einem will, so gut wie möglich dem Folge leistet.”
Für Maryam besteht der Vorteil des Kopftuchs offenbar in einer Anerkennung, die sie durch die Einhaltung dieser Anstandsnorm in islamischen Kreisen erfährt. Daher definiert sie das Kopftuch als Pflicht, auch wenn sie dies nicht aus dem Koran ableitet.42 42
Hiltrut Schröter betrachtet die Art der Bekleidungsvorschriften für Frauen als einen Gradmesser für den Fundamentalismus einer islamischen Organisation (vgl. Schröter 2002: 242). Anhand ihrer hermeneutischen Analyse des Koranverses 33:59 stellt sie die Verschleierung als ein „kulturspezifisches Instrument der muslimischen Gemeinde im siebten Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel“ (ebd.: 260) dar, mit dem sexuelle Gewalt gegen Frauen verhindert werden sollte. In der deutschen Kultur, wo Gesetze Männer bei Strafandrohung zur Selbstdisziplin zwingen würden, sei der Schleier obsolet und sogar kontraproduktiv, da daraus neue Formen der Gewalt gegen Frauen entstünden. Was ihre Analyse des Koranverses betrifft, hat Schröter einen wichtigen Beitrag – auch in theologischer Hinsicht – geleistet, der Beachtung verdient. Jedoch übersieht sie, dass der Schleier in der Selbstwahrnehmung der Frauen heute offenbar in Deutschland eine andere Bedeutung erhalten hat, bei welcher der Koran als Legitimation nur eine untergeordnete Rolle spielt.
72
Ganz ähnlich hat das Kopftuch auch in den Augen von Abid die Funktion, ihm und seiner Frau Anerkennung innerhalb der religiösen Gemeinschaft zu verschaffen. Außer dem Schutz für die Frau hat es seiner Ansicht nach auch die Funktion, einer Frau persönlichen Respekt und nicht allein Ankerkennung aufgrund äußerlicher Schönheit zu verschaffen. Abid: „(...) wenn (-) wenn jede Frau (-) sich so kleiden würde, dann würde es nicht (--) äh (--) so was geben wie (--) äh (-) Eifersucht oder wie (--) äh (-) ja. Weil wir sehen so sie (-) es gibt ja so diese Null-Acht FünfzehnFrau, die sich jeder vorstellt, die wir in den Medien (-) ein’
eingedrückt bekommen haben, (-) und deswegen gibt’s auch (--) äh (-) so (--) Bulimie und alles, weißt du. (-) Und wenn es so was nicht geben würde, dann wären diese Probleme erst weg. (-) Und (-) zum Beispiel (-) ja, diese Frauen, die so (--) die sich so schön machen, die oberflächlich sind, (--) die Männer, die interessieren sich ja nur für sie, also die respektieren (-) also (-) am Anfang achten sie nur auf Äußeres. (-) Aber wenn alle Frauen so rumlaufen würden, da’ (-) in einer islamischen (-) Be’ äh (--) Kleidung, dann (-) können die gar nicht irgendwie so (-) so voreingenommen sein. (-) Weil die müssen dann gleich auf das Herz achten. (-) Gleich auf das Charakter. Gleich auf (-) Taten, was sie hat, weißt du.”
Schönheit und Oberflächlichkeit setzt Abid in diesem Zusammenhang gleich und wertet beides ab. Interessant erscheint, dass er das Kopftuchtragen mit rationalen Argumenten begründet, die er offenbar als mit den Werten der Aufnahmegesellschaft kompatibel betrachtet. So lehnt er ein medial erzeugtes Schönheitsbild ab, da es in seinen Augen gesellschaftliche und psychische Probleme verursacht, und er betont die Bedeutung innerer Werte wie „Herz“, Charakter und Taten, deren Beachtung das Kopftuchtragen unterstütze. Auch Verantwortung des Individuums für die Gemeinschaft thematisiert Abid in diesem Zusammenhang als einen Wert. Individualismus wird hierbei negativ gewertet, Kollektivismus und Gemeinschaftssinn erscheinen dagegen positiv. Es mag sein, dass Abid das Kopftuch auch aus diesem Grund besonders wichtig ist: Er legt großen Wert auf das Urteil der religiösen Gemeinschaft sowie den Halt, den er daraus offenbar gewinnt. Abid erklärt, ihm sei es wichtig, dass seine Frau Kopftuch trage und sie habe auch genau gewusst, dass er dies wollte und wünschte. Er habe es ihr „aber nicht von meinem Verhalten auch gezeigt, dass ich das irgendwie (-) verabscheue. Weil sie weiß auch ganz genau, was sie (--) machen muss im Islam, was ihre Pflichten sind, dies und das, also musste ich ihr das gar nicht vorhalten.” Er habe seine Frau, die erst seit einem Monat Kopftuch trägt, nicht zu dieser Entscheidung gezwungen oder gedrängt. Allerdings kann davon ausgegangen werden, dass seine Frau sich doch 73
aufgrund eines – wenn auch nicht expliziten – Drucks für das Kopftuch entschieden hat, denn Abid erwähnt, sie habe manchmal Bedenken wegen des Kopftuchs und glaube, sie könne noch kein Kopftuch tragen. Abid teilt diese Bedenken nicht, denn „ich bin davon überzeugt, wenn man das macht, dann ist man auf dem (-) auf seinem Weg. Umso mehr man auf diesem Weg ist, umso mehr wird Gutes kommen.” Ob dieser Druck, den Abids Ehefrau offensichtlich verspürt, allgemein durch die innerhalb der islamischen Gemeinschaft empfundene Pflicht oder speziell durch die Wünsche ihres Ehemanns erzeugt ist, wird an dieser Stelle nicht zu klären sein, vielleicht handelt es sich auch um eine Kombination der Ansprüche. Erwähnenswert ist aber, dass offensichtlich auch Abid einen Druck seitens der islamischen Gemeinschaft empfindet. Dieser zeigt sich zum Beispiel, wenn er sich von Muslimen beäugt fühlt, wenn er, der als Muslim zu erkennen sei, sich mit einer Frau ohne Kopftuch an seiner Seite sehen lässt. Dies wird im Kapitel „Konvertierung des Partners” näher beleuchtet. Ebenso wie Abid bei seiner Ehefrau Wert aufs Kopftuchtragen legt, so wünscht er sich dies auch bei seiner Tochter. Er hält das Kopftuchtragen für eine Sache der Erziehung und räumt ein, dass er seine Tochter, sobald sie in die fünfte Klasse komme, dazu „zwingen” wolle. Dies habe er mit seiner Frau so besprochen: Abid: „Jetzt würden manche vielleicht sagen, zwingen (-) wie kannst du sie denn zwingen und so, gell. (-) Aber ja, wenn wir mal beim Arzt sind, und der muss sie mal impfen, (-) wenn ich mein Kind impfen muss, dann (-) dann schreit es auch, ja. (-) Und will das nicht. (-) Aber ich will das ihr geben, weil das (-) Gesundheit ist, weil das auch wichtig ist, weil das richtig ist. (-) Und diese Sache ist auch so. (-) Und genau in diesem Alter (-) fünfte Klasse, (-) wenn ich das da nicht mache, (-) das ist ja gerade dieses Teenager-Alter, dann ist das noch schwieriger aufzuziehen, ja, noch schwieriger später. (-) Weil dann ist es zu sehr Gewohnheit, weißt du, dann (-) weil wenn man sich daran gewöhnt, ab der Geburt, dann ist das einfach nur Gewohnheit danach.”
Abid ist sich bewusst, dass es umstritten ist, Zwang in Bezug auf das Tragen des Kopftuchs auszuüben. Er hält es jedoch für eine notwendige Maßnahme, die er mit Gesundheitsvorsorge vergleicht. Das Kopftuchtragen erscheint ihm zweifellos als „richtig”, und er sieht es als Erleichterung für seine Tochter an, sie in jüngeren Jahren dazu zu zwingen, damit sie sich daran gewöhnen könne. Später räumt Abid ein, er wolle das Mädchen mit „Weisheit” zwingen, ihr also erklären, warum er das Kopftuch für wichtig erachtet. Auf Nachfrage, was er tun würde, wenn seine Tochter sich dennoch weigern würde, zeigt Abid sich ratlos. In diesem 74
Zusammenhang erwähnt er die Vorbildfunktion der Mutter, wodurch ein weiterer Grund ersichtlich wird, weshalb Abid bei seiner Ehefrau so großen Wert auf das Kopftuch legt. Er beschreibt, wie seine Tochter bereits jetzt ihre Mutter nachahmt, indem sie sich ein Kopftuch anzieht, was die Eltern jedoch als ambivalent betrachten: Abid: „Und dann gucken wir sie an und denken so (-) gehen wir jetzt so raus mit ihr? (--) Zum Beispiel (-) ich muss mir überlegen, gehe ich so mit meiner Tochter raus, damit die Leute nicht falsch denken. (-) Dass ich ihr das aufgesetzt habe. (--) Weißt du. (-) Und die (-) ich (-) und ich muss ihr das absetzen. Aber subhana Allah, guck mal, ich kann doch nicht meinem Kind (-) ein Kopftuch absetzen. (-) Genauso wie (-) sie betet, und ich will sie hindern zu beten. (--) Weißt du. (-) Was haben wir gemacht, wir haben diese Kopftuch weggenommen und haben ihr so eine Mütze (-) die auch so (-) die auch so ist angezogen. (-) Weißt du, und dann hat sie nicht mehr so geschrien.”
Abid und seiner Frau ist das Urteil der Aufnahmegesellschaft wichtig, der zufolge es ihrer Erfahrung nach offensichtlich nicht als positiv wahrgenommen wird, wenn Eltern kleine Kinder zum Kopftuchtragen zwingen. Es entsteht ein Konflikt der Wertvorstellungen, da Abid das Kopftuch als sinnvolle religiöse Pflicht begreift, jedoch keine Ablehnung durch die Aufnahmegesellschaft erfahren möchte. Der Konflikt entwickelt sich erst dadurch, dass Abids Wertvorstellungen durch das Kopftuch seiner Frau oder Tochter nach außen hin sichtbar werden. Offensichtlich hat er das Bedürfnis nach einer „Wertkonformität” oder Kompatibilität der Werte. Daher suchen die Eltern einen Kompromiss. Ebenso zentral wie die Funktion des Kopftuchs als Schutz erscheint also auch dessen Bedeutung als Symbol für die Zugehörigkeit zur islamischen Gemeinschaft, die alle Befragten explizit oder implizit (Jamal) nennen.43 Das Kopftuch erscheint als ein Zeichen für Tugend, die in der Einhaltung der in der religiösen Gemeinschaft geltenden sozialen Normen besteht. Fatima und Jamal werten solche Normen eher negativ, insofern 43
Aus historischer Sicht lässt sich, wie Volker Neumann feststellt, dem Kopftuch „keine eindeutige symbolische Aussagekraft zuschreiben“ (Neumann 2006: 138). So könne der Schleier nicht nur als Zeichen von Zugehörigkeit zur islamischen Gemeinschaft und als religiöses Bekenntnis gesehen werden, sondern historisch auch als ein Zeichen sozialer und ökonomischer Ausgrenzung, männlicher Macht und Dominanz, Unterdrückung der Frau und Unfreiheit (vgl. Neumann 2006: 123). Martina Weber weist dagegen darauf hin, dass das Bild vom Kopftuch als Symbol für Frauenunterdrückung wie auch das Bild von der patriarchal-autoritären Familienstruktur bewirken, „daß Lebenspraxen und Wertorientierungen von Angehörigen eingewanderter Minderheiten pauschal diffamiert werden, indem behauptet wird, daß sie nicht mit den Lebensweisen einer modernen Gesellschaft zusammenpassen“ (Weber 1999: 63).
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diese eine Abwertung von nicht Kopftuch tragenden Frauen beinhalten44 und speziell Fatima die Schutzbedürftigkeit und Empfindlichkeit einer Frau bestreitet, die offenbar manche Muslime mit dem Kopftuch verbinden. Von Maryam werden diese Normen dagegen akzeptiert und von Abid sogar offen unterstützt. Das äußert sich in dem Druck, den er nicht nur auf seine Frau, sondern auch auf seine Tochter ausübt, wobei er den Druck, den er selbst von Seiten der islamischen Gemeinschaft verspürt, offenbar an diese weitergibt. Ihm ist aber auch bewusst, dass dies in der Aufnahmegesellschaft negativ bewertet ist, weshalb er betont, keinen direkten Zwang auf seine Frau ausgeübt zu haben und – in Bezug auf seine Tochter – mit seiner Forderung zum Kopftuchtragen sogar eine Erleichterung für das Mädchen zu bewirken.45 Rationale Argumente verbinden sich hier mit seinem religiös bedingten Pflichtbewusstsein. Da das Kopftuchtragen mit Respekt gegenüber einer Frau – und auch deren Mann – innerhalb der religiösen Gemeinschaft verbunden ist, die ihm offenbar sehr wichtig ist, „verabscheut“ Abid es allerdings, wenn Frauen dieser Norm nicht entsprechen. Bei Abid überwiegen deutlich kollektivistische Argumente für das Kopftuchtragen noch vor dessen individueller Bedeutung als Schutz vor sexueller Gewalt. Ihm ist dabei aber nicht nur das Urteil der islamischen Gemeinschaft, sondern auch das der Aufnahmegesellschaft wichtig. Alle Befragten lehnen eine politische Dimension des Kopftuchtragens ab und verweisen es im Gegensatz dazu in den Bereich der persönlichen Glaubensfreiheit. Religion fällt in ihren Augen also ganz offensichtlich in den privaten Einfluss- und Entscheidungsbereich. Emanzipation und Integration werden in diesem Zusammenhang insbesondere von Fatima positiv gewertet. Sie glaubt sich moralisch und intellektuell nicht von Angehörigen der Aufnahmegesellschaft zu unterscheiden. 44
Wenn Neumann annimmt, eine Kopftuch tragende muslimische Frau bringe zum Ausdruck, dass sie sich im Gegensatz zu nicht Kopftuch tragenden Frauen als rein empfinde (vgl. Neumman 2006: 139), so widerspricht dies ganz deutlich den Aussagen, die die Befragten treffen, die sich von solchen Vorstellungen ganz klar distanzieren, gleichwohl sie ihnen bekannt sind.
45
Volker Neumann folgert anhand der Tatsache, dass in vielen islamisch geprägten Ländern, aber auch teilweise in Westeuropa Frauen von Männern „unter das Kopftuch gezwungen“ werden, dass es auch „als politisches Symbol für ein tradiertes Geschlechterverständnis“ (Neumann 2006: 132-133) verstanden werden könne. Ursula Boos-Nünning kritisiert demgegenüber, es werde weitgehend ignoriert, dass Mädchen aus eigener Überzeugung Kopftuch tragen könnten und das Tuch für die Mädchen „einen hohen (auch positiven) religiösen Symbolwert“ (Boos-Nünning 1999: 21) besitze. Beide Aspekte können sich, wie hier am Fall von Abid deutlich wird, aber auch miteinander auf undurchsichtige Weise verbinden.
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Die Befragten betonen darüber hinaus die positive Funktion, die das Kopftuchtragen bei öffentlichen Personen wie Lehrerinnen im Hinblick auf die Förderung von Toleranz und Integration haben könnte. Äußerliche und religiöse Verschiedenheiten werden also innerhalb der Gesellschaft als positiv gewertet, was sicher auch mit der Minderheiten-Position in Verbindung steht, die die Befragten selbst innerhalb dieser Gesellschaft einnehmen. Bei Fatima wird deutlich, wie eine Nicht-Anerkennung beziehungsweise Wertschätzung dieser – äußerlich sichtbaren – Verschiedenheit und die daraus folgenden negativen Zuschreibungen mit Rückzug beantwortet werden können. Fatimas Bedürfnis, von der Aufnahmegesellschaft trotz dieser Unterschiedlichkeit akzeptiert zu werden, ist groß. Dies hat auch zur Folge, dass sie für das Kopftuchtragen, um sich diese Akzeptanz gleichsam zu verdienen, rationale Argumente sucht, da eine rein religiöse Argumentation nicht zur Anerkennung, sondern eher zu Konflikten führt. Weiterhin steigt das Bedürfnis nach Konsistenz des eigenen Verhaltens, das rational und in sich schlüssig sein muss, um in der Aufnahmegesellschaft akzeptiert zu werden. Die Folge ist zwar einerseits eine rationale Rechtfertigung religiös begründeter Handlungen, jedoch gleichzeitig auch eine stärkere Hinwendung zur Religion, die ja studiert werden muss, um Legitimationen für das eigene Verhalten zu finden. Dabei wird Religion aber kritisch hinterfragt und in ihrer traditionellen Form verändert, was sich etwa daran zeigt, dass Fatima die in der somalischen Gesellschaft übliche Art und Weise das Kopftuch zu tragen stark ablehnt und modifiziert. Es handelt sich also nicht um einen Rückzug in die Religion, der mit einer Ablehnung der deutschen Gesellschaft gleichzusetzen wäre, sondern die Religion erscheint als ein Mittel, um in der Aufnahmegesellschaft als Individuum anerkannt zu werden, und damit vielmehr als ein Schritt auf diese zu. Fatima hat – ebenso wie die übrigen Befragten – ein starkes Bedürfnis, ihren Glauben „gut darzustellen“, wobei sie ihren persönlichen Willen und ihre Vernunftentscheidungen als beste Argumente empfindet. Hier wird deutlich, wie stark die Aufnahmegesellschaft diese rationalen Entscheidungen und kritischen Hinterfragungen einfordert. Nur darüber kann offenbar eine Anerkennung ihrer Religion erfolgen. Das Bedürfnis nach Sinnhaftigkeit religiöser Regeln zeigt sich auch bei Jamal am Beispiel des Kopftuchs, das für ihn keinen Sinn hat, wenn es nur aus Gewohnheit getragen wird.46 46
Fred-Ole Sandt hat herausgefunden, dass sich muslimische Jugendliche aus Plausibilitätsmangel von einigen religiösen Geboten abgrenzen, wobei das vor allem in Bezug auf das Tragen des Kopftuchs geschieht und allgemeiner in Bezug auf Vorschriften des Korans zu Frauen: „Die Jugendlichen sperren sich
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Die beiden weiblichen Befragten betonen auch die nachteiligen Seiten des Kopftuchs, die sich vor allem in negativen Zuschreibungen in Bezug auf Sprachvermögen und Intellekt wie auch in Ablehnungen auf dem Arbeitsmarkt äußern. Beide erwähnen auch ihre Enttäuschung, nicht persönlich nach ihrer Einstellung gefragt zu werden, sondern aufgrund einer Äußerlichkeit bewertet und abgelehnt zu werden. Fatima hat bereits bei diversen Bewerbungen, unter anderem in einem kirchlichen Kindergarten, Ablehnung aufgrund ihres Kopftuchs erlebt und wurde aufgefordert zu erklären, ob sie Religion und pädagogische Ausbildung „differenzieren“ könne: Fatima: „(...) habe ich gemeint, ja (-) es gibt da nichts zu differenzieren, zu unterscheiden, weil mein Glaube ist mein Glaube und der Situationsansatz [Begriff aus der Pädagogik] halt der Situationsansatz. Es gibt nichts, was der Islam sagen würde, das ist falsch, und das machst du nicht. Und wenn das so wäre, hab ich gemeint, dann hätte ich auch die Ausbildung eh nicht gemacht.“
Für Fatima stellen ihr Glaube und ihr Beruf zwei voneinander unabhängige Bereiche dar; der Glaube erscheint als Privatsache. Sie betont, das Kopftuch sage nichts über ihre fachlichen Qualitäten aus oder darüber, inwiefern sie diese mit ihrem Glauben in Verbindung bringe: Fatima: „(...) also das finde ich traurig, dass man irgendwo sagt, naja, ihr sollt euch (-) integrieren, ja, Emanzipation ist ja wichtig und bla, bla, bla, andererseits werden wir (-) irgendwo eingeschränkt, wenn du dann fertige Ausbildung hast oder sogar studiert hast, Lehramt, dann darfst du nicht mehr unterrichten, nur weil du Kopftuch trägst, weil du ja eine andere (-) Funktion hättest, ja.”47 hier aus einer lebensweltlichen Motivation heraus gegen die Vorschriften. Im Verhältnis von Handlungsvorschriften und subjektiver Plausibilität wird letztere als Maßstab hervorgehoben.“ (vgl. Sandt 1996: 215). Außerdem stellte er fest, dass sämtliche Befragten die Selbstverantwortlichkeit des Individuums als Wert hervorhoben, indem die Entscheidung des Einzelnen betont wurde, ob man sich an die Gebote hält oder nicht (vgl. ebd.). Das ist auch bei Fatima und Maryam in Bezug auf das Kopftuch festzustellen. Jamal betont zudem, dass das Tragen des Kopftuchs nur sinnvoll sei, wenn der Einzelne dies um seines Glaubens und um Gottes Willen tue. 47
Was Fatima hier kritisiert, ist ein Phänomen, das auch Mark Terkessidis im Zusammenhang mit der Ausgrenzungspraxis als Element von Rassismus und als „Teufelskreis“ beschreibt, in dem sich Migranten bewegen: „Die mangelnde Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt wird ignoriert, die politische Gleichberechtigung wurde und wird zum Teil auch aktuell noch verhindert, während gleichzeitig auf dem Gebiet der Kultur eine ,Integration' eingefordert wird, die wiederum als Voraussetzung für die ökonomische und politische Eingliederung gilt.“ (Terkessidis 2004: 104)
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Das Kopftuch-Verbot im institutionellen Bereich erfährt sie als eine Einschränkung ihres Emanzipations- und Integrationswillens, der für sie darin zum Ausdruck kommt, dass sie eine Ausbildung begonnen hat. Fatima lehnt die Ansicht ab, dass ihr durch das Kopftuch eine andere Funktion zukomme. Sie ist nach der Beobachtung ihrer Kollegen der Ansicht, dass die Moralerziehung und das Gelernte Handlungen prägen, aber „nicht mein Kopftuch unbedingt”. Deutlich wird auch das Muster, dass bei Fatima Ablehnung und Kritik ebenfalls Ablehnung und Kritik erzeugen: Fatima: „(…) und da kommt man ja ins Gespräch mit den Erziehern und so, und dann sieht man, wie blöd die sind, und einer meinte zu mir, (-) ob das nicht widersprechen würde, ich würde von Integration re’ also reden, und ich trage selber Kopftuch. (-) Hab ich gemeint, ja meinen Sie etwa, ich wäre nicht integriert?48 (-) Meint er so, ich wollte Ihnen ja nicht zunahe kommen, (-) ich so, Sie sind schon bereits zunahe gekommen, so (-) nee, nee, aber ist schon für mich ein zwie’ (.) also widersprüchlich, weil du sagst, einmal Integration und ähm (-) weil Schwerpunkt wäre (-) ich habe ja gemeint, mein Schwerpunkt wäre interkulturelle Arbeit, wie ich das denn leiten würde, interkulturelle Arbeit, wenn ich schon eine (.) keine (-) Identifikation’ (-) Identifikationsfaktor wäre. (-) So irgendwas so was. (-) Wirklich, das hat sie gesagt. (-) Eine Erzieherin. Und die hat damit überhaupt nichts zu tun, weißt du.”
Als Fatima also mit der Vorstellung konfrontiert wird, Frauen mit Kopftuch seien nicht integrationsbereit und könnten keine interkulturelle Arbeit leisten, wehrt sich deutlich dagegen, da sie dies als eine persönliche Beleidigung empfindet. Dass die Kollegen sie nicht annehmen und Probleme mit Ausländern und muslimischen Familien haben, führt sie auf deren Inkompetenz zurück und meidet in der Folge den Kontakt. Gegenüber einer anderen Einrichtung zeigt sie aus Dankbarkeit Loyalität, indem sie ein besseres Jobangebot ablehnt, „weil die mich trotz Kopftuch sogar genommen“ hatten. Bei einer anderen, kirchlichen Einrichtung, mit deren Konzept sich Fatima identifizierte, hatte sie sich beworben, obwohl sie mit einer Ablehnung rechnete. Im Interview beschreibt sie je48
Laut Karakaşoğlu-Aydin unterliegt das Kopftuch seitens der deutschen Schule – aber offenbar nicht nur seitens der Schule – zwei Deutungen: Entweder werde es den Mädchen von den Eltern aufgezwungen oder als Ausdruck einer islamistischen Grundhaltung interpretiert, wobei das Kopftuch als politisches Kampfmittel gesehen wird. Vor diesem Hintergrund werde das Kopftuch als ein Angriff auf den Werte- und Normenkonsens der westlichen Gesellschaft gedeutet, seine Trägerin symbolisiere die Gegenmoderne (zit. nach BoosNünning 1999: 18). Wie die von Fatima beschriebene Argumentation zeigt, kann aus einer solchen Perspektive ein Kopftuch tragendes Mädchen also unmöglich als integriert betrachtet werden.
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doch ihre Enttäuschung darüber, dass sie nicht einmal zum persönlichen Gespräch eingeladen wurde und erklären konnte, wie sie zu Religion und Beruf stehe: Fatima: „Nein, die haben sogar mich nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Die haben mir den Abmeldebrief, Ablehnung geschickt, und Begründung war, dass es uns leid tut, dass sie mich ja genommen hätten, wenn (-) wenn ich nicht Muslima wäre, sozusagen, ne. (-) (lacht). (-) Naja, ich meine,
ich habe eh gewusst, ich wollte nur versuchen (lacht). (--) Ich dachte, ich könnte (-) was bewirken, aber (-) und das finde ich wirklich traurig. Weil das sagt nichts darauf aus, was (-) was das (-) weil das sagt mir nicht viel aus, was ich gelernt habe, oder wie ich Kindern entgegenkomme (…).”
Dass Fatima versucht, etwas zu „bewirken“ verdeutlicht, wie viel es ihr bedeutet, von der Aufnahmegesellschaft mit Kopftuch akzeptiert und angenommen zu werden. Ihr ist es offenbar auch sehr wichtig, selbst Argumente dafür zu haben, warum sie Kopftuch trägt. Zwar trage sie es schon „immer”, also ab dem Alter von etwa sechs Jahren, anfangs allerdings nur durch Nachahmung, weil auch die Frauen in ihrer Umgebung Kopftuch trugen. Erst ab einem Alter von 12 Jahren, mit ihrer Ankunft in Deutschland, begann die Auseinandersetzung damit, angeregt durch Konfrontationen, insbesondere in ihrer Schule. Anfangs habe sie versucht, die Leute mit dem Argument zum Schweigen zu bringen, dass ihr Glaube das Kopftuch vorschreibe. Diese Argumentation befand sie aber offenbar auf Dauer nicht für tauglich. Fatima schildert, dass es dann „richtig Konfrontationen” gegeben habe, die Auseinandersetzungen also ernster wurden und ihr Umfeld weitere Antworten von ihr verlangt habe. In der Folge befasste sich Fatima daher näher damit, ob ihr Verhalten und ihr Charakter übereinstimmten und versuchte, das Kopftuchtragen und islamische Verhaltensweisen in ihr Weltbild zu integrieren. Wie Fatima, so wurde auch Maryam bereits mit Nachteilen des Kopftuchs konfrontiert. So bekomme man etwa nach einem Mutterschutz-Urlaub nicht überall seinen Job wieder, wenn man zuvor kein Kopftuch getragen habe, wie sie es bei einer Freundin erlebt hat: „Das heißt, entweder du ziehst es aus, oder du kannst gehen (lacht knapp). (--) Such’s dir aus (lacht).” Offensichtlich empfindet Maryam keine echte Wahlfreiheit, sondern erlebt durch das Kopftuchtragen eine Benachteiligung. Ihre Freundin sei sogar aufgefordert worden zu kündigen, was sie aber abgelehnt habe. Maryam nennt ein weiteres Beispiel einer Freundin, deren Stelle beim Arbeitsamt gekündigt worden sei, nachdem sie sich entschieden habe Kopftuch zu tragen.49 Auch sie selbst hat schon erlebt, 49
Auch Ursula Spuler-Stegemann weist darauf hin, dass das Kopftuch zu
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dass sie wegen ihres Kopftuchs benachteiligt wurde, als sie sich in einer evangelischen Kindertagesstätte bewarb. Nach einigem Hin und Her sei sie von der Elternversammlung, ohne dass diese sie persönlich kennen gelernt habe, wegen ihres Kopftuchs abgelehnt worden. Daraufhin fügt Maryam sich dieser Entscheidung („dann soll’s halt einfach nicht sein”). Jedoch spricht aus ihrer Erzählung Enttäuschung: Maryam: „Ich mein, was soll ich den Kindern denn dann erzählen? (3) Das sind die gleichen Propheten (.) Jesus wie Abraham,
was soll ich denen anders erzählen? (--) Die sehen nur das Kopftuch. (-) Ich mein, ich kann auch Muslima sein, ohne (lacht) jetzt (-) äh (.) sag ich mal ohne das Tuch, ja (-) und (.) äh kann den Kindern was anderes erzählen. (-) Das können die ja nicht wissen. (--) So sehen die das ja, (-) dass ich Muslima bin.”
Maryam empfindet offenbar grundsätzliche Gemeinsamkeiten mit Christen. Sie erlebt das Kopftuch jedoch als Stigma. Die Kritik am Kopftuch betrachtet sie als oberflächlich, weil ihre Einstellung und ihr Verhalten gar nicht mehr wahrgenommen werden. Mit Kopftuch fühlt sie sich nicht respektiert, zumal man Zweifel an ihren fachlichen Qualitäten hege. Maryam wünscht sich mehr einklagbare Rechte für Frauen, die Kopftuch tragen.50 Sie beschreibt auch, dass sie häufig mit der Aussage konfrontiert werde, der Koran schreibe das Kopftuchtragen nicht explizit als Gebot vor.51 Entlassungen aus dem Beruf, zu Ausschluss aus der Schule und zur Verhinderung einer Anstellung im öffentlichen Dienst führen könne (vgl. Spuler-Stegemann 1998: 198). In ihrer Darstellung ist es das Kopftuch, dass dies „verhindert“ – auf die Ausschlusspraktiken deutscher Institutionen und Arbeitgeber wird in diesem Zusammenhang nicht verwiesen. 50
Susanne Boshammer sieht in einem staatlichen Verbot des Kopftuchs eine „sekundäre Diskriminierung“. Ihrer Ansicht nach wird man dem Gleichbehandlungsgebot der Religionen nicht gerecht, indem man alle religiösen Symbole verbietet, da Menschen verschiedener Religionszugehörigkeiten unterschiedlich stark betroffen seien. Ein christlicher Mann komme gar nicht in den Konflikt, auf ein Kopftuch verzichten zu müssen. Daher sei der Staat im Hinblick auf den Schutz von Minderheiten in der Pflicht (vgl. Boshammer 2003: 1347 ff.).
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Der Kopfschleier als soziale Norm wird von Muslimen zumeist vom Koran abgeleitet, obwohl dort keine präzisen Vorschriften geschildert werden. Argumente, die solche Bräuche stützen, rühren von einer wörtlichen, manchmal auch historischen Interpretation jener Verse her. Einige Verse behandeln insbesondere die Kleidung von Muslimen, wobei hier nur die Kleidung der Frau betrachtet werden soll, einige beziehen sich eher generell auf anständiges Verhalten. So heißt es etwa in Sure 33:59: „Prophet! Sag deinen Gattinnen und Töchtern und den Frauen der Gläubigen, sie sollen (wenn sie austreten) sich etwas von ihrem Gewand (über den Kopf) herunterziehen (yudnîna ‘alaihinna
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Maryam: „(...) dann erklärst du doch, (.) es steht zwar nicht Kopftuch genau, aber es steht, man soll sich bedecken, und äh mm äh da steht zwar Schleier, also Ko’ nicht Kopfschleier, aber Schleier schon, (atmet hörbar ein) und ähm du versuchst den Leuten das dann so zu erklären.”
Maryam trägt das Kopftuch also, obwohl sich aus dem Koran ein Gebot dazu nicht eindeutig ableiten lässt. Für sie ist es aber Teil einer generellen Vorschrift zur Bedeckung. Dass Maryam sagt, sie „versuche” den Leuten zu erklären, könnte bedeuten, dass andere ihre Erklärungen nicht annehmen. Es könnte aber auch darauf hinweisen, dass sie selbst im Grunde nicht überzeugt davon ist. Zumindest beschreibt Maryam, dass sie schon öfter mit dem Gedanken gespielt habe, bevor sie sich schließlich im Alter von 15 Jahren für das Kopftuch entschied. „Aber wenn man noch jung ist, dann sagt man irgendwann mal oder so.” Als sie sich mehr mit dem Islam beschäftigte, habe sie „bemerkt, dass das schon Pflicht sein sollte”. In jüngeren Jahren hatte Maryam also anscheinend Schwierigkeiten mit der Entscheidung Kopftuch zu tragen, vermutlich weil sie sich noch nicht so stark mit dem Islam identifizierte. Als dieser Prozess einsetzte, konnte sie offenbar das Kopftuch als ein äußeres Symbol der Zugehörigkeit, als „Erkennungszeichen”, akzeptieren. Bei ihr überwiegen also kollektivistische Argumente für das Kopftuch. Da sich Maryam heute sehr stark mit ihrer Religion identifiziert, betont sie, dass sie das Kopftuch sehr entschlossen trage: „Ich trag das, und ich werd’s auch (-) immer tragen (lacht).” Sie erwähnt, dass sie an dieser Entscheidung „eigentlich” noch nicht gezweifelt, aber deren Nachteile erlebt habe: Maryam: „Es ist nur halt, wenn du auf der Straße oder so halt so (.) angepöbelt wirst, ja, oder wo meistens die Leute denken halt, oah, die kann ja sowieso kein Deutsch, und sind dann erstmal total verwundert,
wenn du halt Deutsch sprichst, ja. (--) Und die haben dann halt immer noch diese (.) diese dieses Klischee im Kopf, ja, (-) Kopftuch heißt min galâbîbihinna). So ist es am ehesten gewährleistet, daß sie (als ehrbare Frauen) erkannt und daraufhin nicht belästigt werden (fa-lâ yu’daina). Gott aber ist barmherzig und bereit zu vergeben.” (Paret 1966: 350) Eine weitere wichtige Koranstelle, die sich auf die Bedeckung der Frau bezieht und mit der häufig die Verschleierung begründet wird, findet sich im Vers 24:31: „Und sag den gläubigen Frauen, sie sollen (statt jemanden anzustarren, lieber) ihre Augen niederschlagen, und sie sollen darauf achten, daß ihre Scham bedeckt ist (Anmerkung von Paret: „sie sollen ihre Scham bewahren“), den Schmuck, den sie (am Körper) tragen, nicht offen zeigen, soweit er nicht (normalerweise) sichtbar ist, ihren Schal sich über den (vom Halsausschnitt nach vorne heruntergehenden) Schlitz (des Kleides) ziehen und den Schmuck, den sie (am Körper) tragen, niemandem (Anmerkung von Paret: „nicht”) offen zeigen (…).” (Paret 1966: 288-289)
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gleich (-) ähm, (--) versteht kein Deutsch und (-) blablabla. (.) Also die (--) Vorurteile.”
Die Identifikation mit dem Islam, die sie selbst als positiv erfährt, erlebt Maryam von ihrem Umfeld als negative Beurteilung: als nicht Deutsch sprechend, „zurückgeblieben“, „hängen geblieben“, „sowieso 52 Negatives“. Einen Zwang zum Kopftuchtragen hat Maryam in ihrer Familie offenbar nicht erfahren, sie betont die Freiwilligkeit dieser Entscheidung: Maryam: „(...) das ist eine Sache zwischen dir und Gott, und keiner kann dir sagen zieh das an, oder zieh es nicht an, ja. (-) Es ist (-) deine Sache, und ähm (-) man weiß, was man Gutes tut und was man halt nicht Gutes tut. (--) Soll man für sich selber entscheiden, (--) ja. Man darf auch nicht sagen hä du trägst das nicht, und du bist ein schlechter Mensch, das darf man als Muslim sowieso nicht, ja. (-) Machen halt schon viele. (-) Ah ja, du
trägst keinen Gesichtsschleier , ich bin was Besseres, oder (-) du bist was Schlechteres, und das geht nicht, ja. (…) Ja es gibt manche, die denken, weil sie halt ein Kopftuch tragen, dass sie halt vielleicht bessere Musliminnen sind. (--) Ja. Glaub ich schon. (-) Aber (-) das (.) äh keiner kann in einen andern Menschen Herzen außer Allah weiß, was da ist, ja.“
Beide befragten Frauen sehen sich häufig unter Erklärungszwang, warum sie das Kopftuch tragen, und haben Strategien entwickelt, damit umzugehen. Die Rationalität von Entscheidungen besitzt dabei immer einen hohen Stellenwert. Fatimas und Maryams Kopfbedeckung sind ein Ausdruck für ihr entschiedenes religiöses Bekenntnis. Wie insbesondere bei Fatima deutlich wird, handelt es sich jedoch nur scheinbar um eine – wie es Mark Terkessidis ausdrückt – traditionelle und quasi vormoderne Form „der geschlechtsspezifischen ,Fremdheit'“ (ebd.). So fand auch Yasemin Karakasoglu-Aydin in Interviews mit Kopftuch tragenden Studentinnen türkischer Abstammung heraus, dass die Mädchen das Kopf52
In der westlichen Mode des 20. Jahrhunderts war das Kopftuch eher bäuerlich konnotiert: „Tracht und Kopftuch waren gleichbedeutend mit dumm, arm und provinziell.“ (Neumann 2006: 124) Dass sich diese Konnotationen bis heute erhalten haben, zeigt sich am Beispiel von Fatima und Maryam, die ebendiese Zuschreibungen schildern, denen sie sich seitens der Aufnahmegesellschaft ausgesetzt sehen. Andererseits trug die Modeschöpferin Coco Chanel in den 1920er Jahren dazu bei, Kopftücher zu einem Symbol für eine neue Frauenbewegung zu etablieren, weshalb auch heute noch Kopftuchträgerinnen ein Hauch von Chic, Extravaganz und Nostalgie umgibt (vgl. 124). Neumann kommt zu dem Schluss, dass das Kopftuch für verschiedene Kulturen zu verschiedenen Zeiten auch sehr unterschiedliche Bedeutungen hatte und daher eine „eindeutige symbolische Zuordnung mit allgemeingültigem Anspruch“ unangebracht sei (ebd.).
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tuch nicht als „kulturelle Abgrenzung“ im Sinne von religiöser Traditionalität und weiblicher Unterordnung betrachten, was sich schon an der Art zeigt, wie sie das Kopftuch tragen. Hierbei grenzten sie sich nämlich von der Trageweise ihrer Mütter ab (vgl. Karakasoglu-Aydin 1998). Ebenso stellt es sich im Falle Fatimas dar, die ihre Mutter auffordert, das Kopftuch „anständig“ zu tragen, damit sie nicht mit einer Sitte ihrer Herkunftsgesellschaft identifiziert werden kann. Da auch die religiösen Vorstellungen Fatimas alles andere als traditionell im Sinne ihres Herkunftslandes sind, kann hier übereinstimmend mit Karakasoglu-Aydin von einer „sanften Revolution“ gegen die Eltern gesprochen werden (vgl. ebd: 466). Wie klar geworden sein dürfte, zeichnet sich allgemein ein großer Unterschied in den Bedeutungen ab, die das Kopftuch für die Befragten beziehungsweise für viele Angehörige der Aufnahmegesellschaft hat. Erstere deckt sich stark mit den Theorien von Mark Terkessidis. Er sieht in dem Wunsch junger, gebildeter Muslimas, Kopftücher zu tragen das Motiv, als „Fremde“ integriert werden zu wollen. Die Entscheidung für das Kopftuch sei individuell und emanzipativ. Die Frauen wollten nicht auf das Äußere reduziert werden, sondern ihre Persönlichkeit betonen, wobei das Kopftuch ihnen offenbar Respekt garantiert (vgl. Terkessidis 2002). Terkessidis bezeichnet diese Motive für das Kopftuchtragen als „im höchsten Maße ,integriert' und ,modern'“ (ebd.). Die jungen Frauen würden eine „internationalistische, im Hinblick auf sexuelle und ethnische Differenz aktive Subkultur“ bilden, „die über den Bezug auf ein für die hegemoniale Kultur bedeutsames Zeichen via Stil Einwände formuliert. Sie wollen, dass sie gerade in ihrer Sichtbarkeit als ,Fremde' integriert werden.“ (ebd.) Laut Terkessidis findet hier eine Art Identitätsverschiebung statt, wobei Modernität und Individualität unter dem – äußerlich sichtbaren – Kopftuch gewissermaßen in der Unsichtbarkeit existieren. Im Sinne des Literaturwissenschaftlers Homi Bhabha sieht Terkessidis diese modernen jungen „Kopftuch-Frauen“ gleichsam einen „dritten Raum“ bewohnen, der nicht „zwischen zwei Kulturen“ liege, „sondern in dem jede kulturelle Äußerung immer das Eine-im-Anderen verkörpert. In ihrer sexuellen und ethnischen Identitätskonstruktion wird etwas Zusätzliches hervorgebracht, sie ist ,hybrid' in Bhabhas Sinne: Die jungen Frauen besitzen keine ,tiefe', stimmige Identität; sie sind weniger als eins und doppelt, sie spalten die scheinbar einfach gegebene Differenz auf. Sie stellen unsere Identitätsvorstellungen infrage, weil ihre Äußerung genau zwischen der Behauptung einer Identität und ihrer Infragestellung liegt.“ (ebd.)
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So sind auch „kulturelle Artikulationen von Fremdheit“ wie das Kopftuch nicht erklärbar, ohne die soziale und kulturelle Marginalisierung einzubeziehen: „Kulturelle Differenz ist niemals da, wo wir sie zu sehen glauben – denn sie ist bereits in jenen Ort eingeschrieben, von dem aus wir sehen.“ Den Grund für die „unverhältnismäßige Relevanz des Kopftuches“ (Terkessidis 2004: 210) verortet Terkessidis in dem Kulturbegriff, der in Deutschland vorherrscht. Das Kopftuch werde als Ausdruck von Fremdheit gesehen, als „Gefahr für das Einheimische ,Wir'“ (ebd.: 210). Da der kulturelle Unterschied in der deutschen Öffentlichkeit als etwas „quasi Natürliches“ (ebd.: 209) betrachtet werde, wird die Differenz zur Quelle des Konflikts: „Da Deutschland trotz der jahrzehntelangen Einwanderung oft weiterhin als kulturell homogener Raum gesehen wird, erscheinen die ,Fremden' potentiell als Bedrohung.“ (ebd.) Am Beispiel des Kopftuchs zeigt Terkessidis, dass kulturelle Differenzen jedoch in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext gesehen werden müssten, da das Kopftuch erst im Einwanderungsland Deutschland seine jetzige Bedeutung erhalte (Terkessidis 2004: 212) – zumindest gilt das für junge muslimische Frauen nichtdeutscher Herkunft. Für Konvertitinnen dürfte das Kopftuch wiederum eine andere Bedeutung haben, die genauer untersucht werden muss. Die berufliche Ablehnung und Benachteiligung, die sowohl Maryam als auch Fatima am eigenen Leib sowie bei Freundinnen erlebt haben, sollte von der Aufnahmegesellschaft ernst genommen werden. Integrationsbereite Frauen, die sich von traditionellen Geschlechterollenbildern ihrer Herkunftsgesellschaften abgrenzen, wird hier der Weg in die Ausbildung erschwert beziehungsweise die Ausübung des erlernten Berufes unmöglich gemacht. Damit wird die Chance vertan, diesen Frauen ein eigenes Einkommen und damit Selbstständigkeit und Unabhängigkeit vom Ehemann oder den Eltern sowie einen sozialen Aufstieg zu ermöglichen. Zwar könnte man von den Frauen fordern, das Kopftuch abzulegen, jedoch wäre dies nach dem Bekunden der Befragten keine Option für sie. Eher würden sie vermutlich Sozialhilfe beantragen oder sich in eine finanzielle Abhängigkeit vom Ehepartner begeben, als das Kopftuch abzulegen, das für sie ein Symbol für Zugehörigkeit zu einer Gruppe darstellt, in der ihnen Respekt entgegengebracht wird. Fatima und Maryam tragen das Kopftuch sehr selbstbewusst und betonen immer wieder ihre eigene, freie Entscheidung dafür. Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung, die von Musliminnen so häufig gewünscht, gefordert und erwartet werden, akzeptiert die Aufnahmegesellschaft in diesem Zusammenhang jedoch nicht. Als einziger Weg aus dieser „Zwickmühle“ bietet sich die Akzeptanz des Kopftuchs durch die Aufnahmegesellschaft so85
wie Respekt und Anerkennung gegenüber den Frauen als Mitglieder dieser Gesellschaft, die sie sich offensichtlich so sehr wünschen. Man mag das Kopftuch für ein Zeichen von Ungleichheit der Geschlechter halten und es ablehnen. Noch fataler als es zu akzeptieren und dem Ziel der Integration abträglich erscheint es jedoch, integrationsbereiten Frauen aufgrund dieses Stücks Stoff Hürden auf ihrem ohnehin schon steinigen Weg zu einer mit der Aufnahmegesellschaft konfliktfrei vereinbaren Identität und der stark gewünschten Selbstständigkeit zu bereiten. Selbst wenn also das Kopftuch ein Symbol für die Unterdrückung der Frau wäre, so würde es wohl wenig bringen, das Symbol anstatt der Ursachen zu bekämpfen. Indem also den Frauen ein selbstständiges, vom Mann unabhängiges Leben – auch mit Kopftuch – ermöglicht wird, kommt man dem Ziel der Gleichberechtigung näher als mit einem Verbot oder einer öffentlichen Ächtung des Tuches.53 Dem Kopftuch wird eine Sonderstellung unter religiösen Symbolen zugedacht. Anders als im hier zu Lande gebräuchlichen Kreuz wird darin ein Symbol für Unterdrückung gesehen. Denkt man an Kreuzzüge, Hexenverfolgung und Konfessionskriege, fänden sich auch Anhaltspunkte dafür, das Kreuz als Symbol für Gewalt gegen Andersgläubige und Frauen zu betrachten. Es ist offenbar auch der „weiße Blick“, der das Kopftuch als Symbol für Unterdrückung kennzeichnet. Ebenso wie es aber im Falle des Kreuzes gelungen ist, dieses Symbol positiv zu besetzen und als Zeichen von Toleranz, Grundwerten und Menschenrechten zu deuten, ist es denkbar, dass dies im Fall des Kopftuchs geschieht. Dass das Kopftuch in unterschiedlichen Ländern sehr unterschiedlich bewertet wird, ist nur ein weiterer Hinweis darauf, dass es sich um ein sehr ambivalentes und wandelbares Symbol handelt.54 Während es etwa 53
Laut Ursula Boos-Nünning streben fast alle Mädchen und Jungen ausländischer Herkunft eine Berufsausbildung an. Mädchen könnten jedoch weitaus seltener als Jungen den Übergang zu einer beruflichen Ausbildung verwirklichen (vgl. Boos-Nünning 1999: 24). Die Gründe dafür liegen ihr zufolge jedoch nicht in den Orientierungen der Mädchen oder ihrer Eltern, sondern in der Diskriminierung beim Zugang zu Arbeit und Beruf. „Die äußeren Widerstände (der Betriebe, der Lehrer und Lehrerinnen, der Berufsberater und Berufsberaterinnen) sind meistens größer und schwieriger zu überwinden als die Restriktionen in den Familien.“ (ebd: 24-25)
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Gaby Franger hat einen Beitrag dazu geleistet, die enge Bindung des Kopftuchs an die islamische Religion zu relativieren, indem sie es allgemein als einen „Ausdruck neuer fundamentalistischer Ideologien – islamischer wie christlicher“ (Franger 1999: 14) ausweist. Sie sieht in dem Kopftuch den Ausdruck eines „neuen Selbstbewußtsteins“ und das „Symbol eigener Deutungen der Moderne von diskriminierten und von Bürgerrechten ausgeschlossenen jungen Migrantinnen in Deutschland wie junger Studentinnen in Istanbul
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im Iran Khomenis als politisches Symbol instrumentalisiert wurde, gilt es in Ägypten als schick und in der Türkei vielfach als unmodern und rückständig (vgl. Neumann 2006: 138-139). Warum sollte sich also nicht in Deutschland eine ganz neue Bedeutung entwickelt haben? Wissenschaft und Gesellschaft sollten ein Interesse daran haben, solche Prozesse zu erforschen, um sich nicht nur ihrer Gefahren, sondern auch ihrer Potenziale bewusst zu werden.
5.1.3.
Gesichts- und Körperschleier
Alle Befragten lehnen kompletten Körperschleier und Gesichtsschleier ab.55 Deutlich spricht dies Jamal aus: Das sei „natürlich nur was für Hardliner, ey. (--) Das ist nur was für die ganz Harten”. Körper- und Gesichtsschleier werden als Extreme aufgefasst, die laut Jamal sogar ein falsches Verständnis der religiösen Gebote beinhalten: „(...) also da ist irgendwas
total falsch verstanden worden denke ich. (-) Das kann nicht der Sinn sein, nein.” Abid betont seinen „großen Respekt” vor Frauen, die sich komplett verschleiern und auch so arbeiten und zur Schule gehen, weil er offensichtlich voraussetzt, dass sie mit Ablehnung konfrontiert werden. Sein Respekt gilt ihrer Stärke, diese Ablehnung auszuhalten, offenbar aber auch ihrem religiösen Pflichtgefühl. Als dominierendes Argument, warum Abid Körper- und Gesichtsschleier ablehnt, erscheinen nicht wie bei Jamal religiöse Argumente, sondern die Befürchtung, der Islam werde dadurch schlecht dargestellt. Abid: „Also hier [in Deutschland] halte ich gar nichts davon, weil diese (-) sowieso (-) also (-) ich bin nicht dagegen, ja, aber (-) äh (-) es ist hier schwerer, weil sowieso der Islam (-) also (3) also (-) schlecht dargestellt wird die ganze Zeit, und dann (-) ähm (-) gibt es einen Grund mehr. Aber wenn eine Frau das trägt und auch so (-) arbeiten gehen will und auch zur Schule so geht, (...) ich hab dann so (-) großen Respekt vor dieoder Ankara“ (ebd.: 14-15). Insofern lenke das Kopftuch als Thema in politischen Auseinandersetzungen von Einwanderung, Integration, Diskriminierung und Ausgrenzung, Bürgerrechten und Grundwerten der multikulturellen Gesellschaft ab, die sie als die „eigentlichen Fragen“ betrachtet (vgl. ebd.: 15). 55
Es können drei hauptsächliche Typen von Schleiern unterschieden werden: der Gesichtsschleier (Nikab), der die untere Gesichtshälfte oder das gesamte Gesicht bedeckt, das Kopftuch, mit dem nur das Haar bedeckt wird, und der Tschador, der den gesamten Körper verhüllt (vgl. Elger 2001: 276).
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ser Person, ja. (-) Aber hier (-) also ich würde das (...) persönlich nicht so machen, aber (--) wenn jemand das so macht, dann ist das (-) OK.”
Abid nimmt die Beurteilung der Aufnahmegesellschaft als negativ wahr und passt seine eigenen Vorstellungen daran an. Auch Fatima bewertet den Gesichtsschleier explizit als „Abgrenzung in unserer Gesellschaft jetzt hier”. Zwar empfindet sie es als mutig, ihn zu tragen, „aber andererseits (-) wie willst du (-) dann Arbeit finden, wenn du schon mit Kopftuch nicht arbeiten kannst, Nikab ha::: (-). Das ist unvorstellbar.” Aufgrund der negativen Wahrnehmung in der Aufnahmegesellschaft und der beruflichen Hindernisse, die Fatima am eigenen Leib erlebt, beurteilt sie den Geschichtsschleier als Abgrenzung. Damit übernimmt sie das Bild der Aufnahmegesellschaft, in der es die Frauen sind, die sich durch einen Gesichtsschleier abgrenzen, nicht die Gesellschaft, die diese Frauen ausgrenzt. Verständnis für Frauen, die Gesichtsschleier tragen möchten, bringt Maryam auf, die dabei stark ihre Selbstbestimmung als Frau betont, das von ihrem Körper zu zeigen, was sie möchte. Es sei „OK“, wenn sich eine Frau dafür entscheide und jedem selbst überlassen. Maryam fordert auch Respekt für diese Entscheidung, was wohl auch daher rührt, dass sie persönlich Frauen kennt, die Gesichtsschleier tragen, darunter auch „viele deutsche Muslimas“. Sie erwähnt das Beispiel einer Frau, die den Gesichtsschleier selbst tragen wollte und dies sogar zur Bedingung für eine Heirat machte. Diese Selbstbestimmung und den Willen, die eigene Meinung durchzusetzen, obwohl im Umfeld dafür wenig Akzeptanz zu spüren ist, empfindet sie als bewundernswert: „Die meisten denken ja, ah, die arme Frau, die äh (-) ist ja so vom Mann gezwungen, aber ich kenne ehrlich gesagt keine Frau, die einen Gesichtsschleier trägt, die gezwungen wird, ja.” Sie erwähnt aber auch eine Abwertung seitens Frauen, die Gesichtsschleier tragen und sich für „was besseres” halten. Der Gesichtsschleier hat also bei diesen Frauen möglicherweise die Funktion, eine pflichtbewusste Religionsausübung zu demonstrieren und sich dadurch Respekt und Anerkennung in islamischen Kreisen zu erwerben. Eine implizite Abwertung von Frauen, die keinen Gesichtsschleier tragen, lehnt Maryam jedoch aus religiösen Gründen ab. Auch weist sie für sich persönlich den Gesichtsschleier zurück, weil sie ihn erstens nicht als Pflicht empfindet, zweitens weil sie ihn wie die übrigen Befragten als eine „Barriere” und als Hindernis betrachtet, mit Menschen in Kontakt zu kommen: Maryam: „(…) hier in Deutschland beziehungsweise hier überhaupt in Europa finde ich es sowieso schwierig, ja, weil (-) es ist Pflicht für einen
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Muslim oder eine Muslima Dawa zu machen, also Dawa bedeutet, du musst halt ähm (-) viel mit den (-) also wie du halt mit den Menschen umgehst, (-) du musst halt viel erklären, (.) viel reden, ja, (-) und das (.) ist schwierig halt mit einem Gesichtsschleier, finde ich, ja. (-) Das ist meine Meinung. Ich finde halt es ein bisschen schwierig, da halt an die Leute dranzukommen, weil es (-) mit Kopftuch, die haben dann (-) also wenn sie halt schon so jemand sehen, entweder in ganz in Schwarz oder sag ich mal in (-) äh auch in einer anderen Farbe, auch in Blau, aber dann mit Gesichtsschleier, dann haben die erst recht so ne (.) da ist irgendwie so ne Barriere so dazwischen, ja. (-) Und ähm, (-) ich glaub, das ist schon schwierig, ich hab’s noch nie ausprobiert, aber ich denke es ist schon schwierig, damit umzugehen (...).”
Anscheinend empfindet Maryam also schon das Kopftuch als ein Hindernis, mit Nichtmuslimen in Kontakt zu kommen. Beim Gesichtsschleier sieht sie diese Probleme verstärkt. Sie begründet ihre Suche nach einer Balance zwischen islamischen Betrachtungsweisen und Vorstellungen der Aufnahmegesellschaft damit, dass es schwierig sei, mit Gesichtsschleier andere Menschen über den Islam zu informieren und ihn gut darzustellen. Offenbar ist ihr der Kontakt zu Nichtmuslimen wichtiger als der Respekt, den sie durch einen Gesichtsschleier in islamischen Kreisen erwerben könnte, wie es ihrer Aussage nach viele deutsche – also konvertierte – Muslimas tun. Bei diesen wird eine solche Reaktion dadurch verständlich, dass sie vermutlich Akzeptanz in einer bestimmten auf religiösen Normen basierenden Gruppe suchen und daher ihren Glauben sichtbar demonstrieren wollen. Ursula Spuler-Stegemann schreibt über Musliminnen: „Welche Motive sie auch immer für ihre Gewandung haben – z.B. Bekennertum, Bewahrung heimatlicher Sitte, Schutz vor den Männern – , in unserer (Hervorhebung im Original) Gesellschaft heben sie ihr AndersSein auf diese Weise besonders hervor. Es ist immer das Problem, ob eine Gesellschaft dazu bereit und reif genug ist, mit solchen sichtbaren Zeichen gewollter Fremdheit tolerant umzugehen.“ (Spuler- Stegemann 1998: 200)
Auf den Umstand, dass die Frauen sich durch Körper- und Gesichtsschleier als „anders“ in der Gesellschaft hervorheben, haben auch die Befragten hingewiesen. Interessant ist, dass sie den Gesichts- und Körperschleier ablehnen, weil er den Kontakt zu Nichtmuslimen in der Aufnahmegesellschaft behindert. Dieser bedeutet ihnen offenbar viel. Es werden auch religiöse Argumente herangezogen, um dem Gesichtsschleier die Notwendigkeit abzusprechen, etwa wenn Jamal dies als ein sinnloses 89
und falsches Verständnis der Gebote charakterisiert, wenn Abid die Religion positiv darstellen möchte, was der Gesichtsschleier in seinen Augen verhindert, oder wenn Maryam von einem Hindernis spricht, ihren Glauben zu erklären, was sie offenbar als stärkere religiöse Pflicht empfindet als den Gesichtsschleier zu tragen. Alle Befragten betonen aber auch die notwendige Freiwilligkeit, einen Gesichtsschleier zu tragen. Wenn Frauen dies willentlich tun, bringt es ihnen in den Augen der religiösen Gemeinschaft ebenso wie in denen Abids, Fatimas und Maryams Respekt ein, da diese Entscheidung als mutig erachtet wird, angesichts der Ablehnung, die die Frauen in der Aufnahmegesellschaft erfahren und der Diskriminierungen, die sie auf dem Arbeitsmarkt zu erwarten haben. Hier werden auch sehr stark individualistische Werte betont, insbesondere bei Jamal kommen diese zum Ausdruck: „Es muss einjeder rumlaufen können wie er will, und auch in jedes Amt kommen, mit welchem Äußeren auch immer.” Bei Abid verbinden sich individualistische Werte wie Selbstbestimmung mit kollektivistischen wie dem religiösen Pflichtgefühl und der Anerkennung durch die religiöse Gemeinschaft. Auch Maryam betont stark die Selbstbestimmung einer Frau, ihren Körper zu bedecken oder zu zeigen. Wird dieser als positiv empfundene Aspekt der Verschleierung aber mit einer Abwertung weniger stark bedeckter Frauen gekoppelt, so verstößt dies nach Ansicht von Maryam den religiösen Geboten. Die Gleichwertigkeit von Frauen untereinander, unabhängig vom Grad ihrer Bedeckung, zeigt sich hier als Wertvorstellung Maryams. Ebenso erscheint die Durchsetzung des eigenen Willens, die Selbstbestimmung, als positiver Wert.
5.2.
Aufgaben von Mann und Frau
5.2.1.
Häusliche Arbeit
Alle Befragten leben in ihren Beziehungen eine mehr oder weniger gleiche Aufteilung häuslicher Arbeit oder streben diese an. Abid und Maryam begründen das mit einer aus religiösen Geboten abgeleiteten Pflicht des Mannes, im Haushalt zu helfen, Maryam bezeichnet dies sogar explizit als Gottesdienst. Im Fall Abids entsteht der Eindruck, dass seine Frau die Organisation der Haushaltsführung übernimmt, während er Aufgaben erledigt, die sie ihm aufträgt. Bei Arbeiten, die er gerne macht, fällt ihm dies offensichtlich leichter als bei unangenehmen. 90
Abid: „Ja, ja wir haben da eine gute Arbeitsteilung. Und da (-) also sie weiß, was sie mag, und sie (-) sie sagt mir dann, ja mach das jetzt, mach das, mach Staub (-) manchmal (--) also (-) brauche ich halt ein bisschen länger, um aufzustehen und was anders zu machen, aber ja (-) es klappt.”
Abid ist es von seinem Elternhaus aus gewöhnt, Hausarbeiten zu übernehmen; da beide Eltern selten zu Hause waren, teilte er sich die anfallenden Arbeiten mit seiner Schwester, zu der er eine enge Beziehung pflegt. Abid sieht als einziger der Befragten prinzipiell Hausarbeit und Kochen als eindeutige männliche Pflicht, die sich ihm zufolge von allen vier islamischen Rechtsschulen ableiten lässt. Gelernt habe er dies in einem Dawa-Seminar einer deutschsprachigen Moschee. Im Fall Abids wird also auch die Bedeutung der Moscheegemeinde für die Vermittlung solcher Begründungen deutlich. Insofern schlägt hier die Moscheegemeinde eine Brücke zwischen Ansprüchen der modernen Gesellschaft und religiösen Traditionen. Frauen haben nach Ansicht Abids nur eine unterstützende Funktion im Haushalt: Abid: „Weil es ist nirgendswo erwähnt, dass die Frau also (-) verpflichtet ist, für den Haushalt. (-) Sie ist halt (-) de’ (-) ä:h (--) der Oberhaupt in dem Haus, in dem Sinne, dass sie (-) also guckt, wo was (-) also wie (-) was alles im Haus passiert, oder wie das mit den Kindern ist, ja. (-) Aber (-) äh (-) dass sie die ganze Zeit putzt oder so, das ist auf jeden Fall nicht unbedingt gegeben.”
Die Frau sieht er also in einem traditionellen Sinne als Oberhaupt des Hauses und der Kinder, während der Mann in seinen Augen als Oberhaupt der Familie, vor allem vermutlich in außerhäuslichen Angelegenheiten, fungiert. Dies betrachtet Abid allerdings eher als eine übergeordnete Funktion der Frau in organisatorischen Angelegenheiten als in Bezug auf Hausarbeit. Wenn die Frau ihrem Mann in der Ehe die Hausarbeit abnehme und koche, so müsse der Mann dankbar sein, weil sie ihm seine Pflicht abgenommen habe, argumentiert Abid. Er vergleicht das mit dem Übertragen einer religiösen Pflicht wie dem Gebet, nimmt dies also sehr ernst: „Der Mann, der muss auf jeden Fall (-) also erkennen, was seine Pflicht ist, und er muss es (-) also (--) so gut wie möglich so erfüllen. Da gibt’s keine (-) Entschuldigung für jemand da, weißt du.” Dass diese Rechte von Frauen beziehungsweise Pflichten der Männer vielfach nicht umgesetzt werden, begründet er mit mangelndem Wissen über Islam, das von kulturell bedingten Ansichten überlagert sei. Sowohl Abid als auch Jamal haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie ihre häuslichen Pflichten nicht oder ihrer Ansicht nach unzureichend er91
füllen. Er mache nicht genug Hausarbeit, sei aber nicht stolz darauf, berichtet Jamal. Dies sei etwas, das er ändern und verbessern wolle. Sein nach eigenen Angaben mangelndes Engagement im Haushalt begründet er damit, er sei „von Haus aus (--) immer so (--) verhätschelt worden”. Hausarbeit stellt offensichtlich auch nichts Angenehmes für ihn dar, jedenfalls findet er es „nicht schlimm”, wenn man es nicht machen muss. Er räumt jedoch ein, dass seine Frau teilweise mehr als er außer Haus arbeite und „den Haushalt wirft, und dann muss ich natürlich auch helfen”. Offensichtlich bereitet es Jamal also ein schlechtes Gewissen, dass er weniger Hausarbeit macht als seine Frau, da diese ebenso wie er außer Haus arbeitet. Er strebt eine gleiche Aufteilung der häuslichen Arbeit an, auch wenn er sie noch nicht umsetzt. Ideal und Wirklichkeit klaffen also auseinander. Es kann davon ausgegangen werden, dass das Ideal der gleichwertigen Aufteilung von Hausarbeit ihm durch Vorstellungen der Aufnahmegesellschaft vermittelt wird, denen er gerecht werden möchte. Damit grenzt er sich von einem Rollenmodell ab, wie es in seiner Familie gelebt wurde, in der sein Vater der Mutter „gar nicht” bei der Hausarbeit geholfen habe. Dies begründet Jamal allerdings damit, dass diese nicht außer Haus gearbeitet habe, weil sie den in Pakistan erlernten Beruf wegen mangelnder Sprachkenntnisse nicht ausüben konnte, „also war das [Anmk. d. V.: die Hausarbeit] ihre Arbeit”. Die Aufgabenteilung im Haushalt macht Jamal also stark von außerhäuslicher Arbeit abhängig. Ebenso wie bei Jamal wird auch bei Maryam und Fatima die Verbindung zwischen außerhäuslicher Arbeit und häuslicher sichtbar, insofern sie die außerhäusliche Arbeit der Frau als eine Begründung dafür heranziehen, dass der Mann sich an der häuslichen Arbeit beteiligen müsse. Fatima betont, dass sowohl Frau als auch Mann außer Haus arbeiten können sowie sich in der Familie unterstützen und ergänzen müssten, „und nicht (-) der Mann geht arbeiten, und die Frau ist daheim 24 Stunden und hütet die Kinder”. Von dem Rollenmodell der Frau als reine Hausfrau und Mutter distanziert sie sich: Fatima: „(…) ich finde es wirklich sehr, sehr, sehr wichtig, dass Ehepartner sich ergänzen. (--) Ja. (--) Dass sie sich ergänzen und miteinander (-) und voneinander halt (-) lernen (--) und ja (-) streben und Akzeptanz und alles Mögliche. (--) Ja. (-) Das ist für mich (--) das Überpunkt (lacht).”
Gegenseitige Unterstützung, Akzeptanz und Respekt betont Fatima immer wieder als ihr wichtige Werte.
92
Für Maryam ist die außerhäusliche Arbeit offenbar sogar eine Taktik, um traditionelle Geschlechterrollenkonzepte zu vermeiden. Auch sie betont Werte wie Geduld, Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse der Frau, Anteilnahme und Hilfe für die Frau und distanziert sich von dem Rollenmodell, wie sie es früher und „vielleicht heute auch noch” in Marokko gelebt sieht, bei dem die Mädchen viel im Haushalt helfen: Maryam: „(...) und Jungs, (-) oder die Männer haben gar nichts getan, ja. (-) Ja: entweder wurden sie dann (-) äh wenn, wenn, wenn die Leute Geld hatten, waren halt in der Schule und wenn nicht, haben sie halt in der Landwirtschaft oder so geholfen und die Mädchen halt zu Hause, ja. Aber was halt nicht dem Islam entspricht, weil der Prophet, salei salam, der hat halt auch sein’ sein’ äh (.) seiner Frau oder sein’ seiner Tö’ Tochter auch viel geholfen, obwohl er so viel zu tun hatte, (.) und das hat gar nichts damit zu tun, ich bin ein Mann, ja, (-) ich mach nichts, ja, (-) und Frau macht alles, ja, (-) ist für die So’ (-) ist für die Kinder zuständig, is’ ist fü’ (.) fürs Heim, Wohlergehen, alles zuständig, (-) und das gibt es halt im Islam nicht, ja.“
Eine solche – bäuerlich-traditionelle – Aufgabenteilung, bei der die Frau für Kinder, Heim und „alles” zuständig ist, während die männlichen Familienmitglieder Bildung genießen und außer Haus arbeiten oder ihrer Ansicht nach „gar nichts” machen, betrachtet Maryam als unislamisch unter Verweis auf das Vorbild des Propheten Muhammad. Ein praktizierender Muslim würde sich anders benehmen, meint sie, und bezeichnet es in Bezug auf Hausarbeit auch als Gottesdienst für einen Mann, wenn er sich nach dem Vorbild Muhammads richte. Der Islam dient Maryam hier als ein Mittel, um ihre Ablehnung traditioneller Rollenmuster zu rechtfertigen, wie sie auch in ihrem Elternhaus gelebt wurden und die sie im Bekanntenkreis miterlebt: Maryam: „(...) alleine jetzt der Bruder von meinem Mann, der ist ganz anders, ja. Der betet zwar und fastet und so, sag ich jetzt mal die hauptsächlichen Sachen, aber alleine was (-) Benehmen, was auch sehr wichtig ist und äh (-) zum Beispiel seiner Frau helfen und so, so was macht der gar nicht, also der krümmt keinen Finger.”
Maryam betont, ein Mann sei kein besserer Mensch, weil er bete, faste, zum Freitaggebet gehe und nicht stehle. Sie stellt das Verhalten gegenüber Frau und Familie sowie anderen Menschen an erste Stelle. Auch missbilligt sie es, wenn ein Mann bestimmte Glaubensregeln einhalte, aber sich nicht für das Befinden seiner Frau und Mitmenschen interessiere. Sie kritisiert Männer, die nicht am Familienleben teilnehmen und kein Interesse für Frau und Familie zeigen, sondern ihr persönliches Freizeit93
vergnügen bevorzugen, wie sie es auch aus dem Familienkreis kennt. Die finanzielle Fürsorge des Mannes für seine Familie und dessen Sorge um das leibliche Wohl allein reichen aus ihrer Sicht nicht aus. Aufmerksamkeit, Anteilnahme und Hilfe für die Frau sieht Maryam auch als religiöse Pflicht an, die jenseitiges Glück mit sich bringt. Maryam betont, wie wichtig es ihr war, außer Haus zu arbeiten und dass sie und ihr Ehemann sich zu Hause „alles” teilen, obwohl er, als er bei seinen Eltern lebte, nicht im Haushalt helfen musste: Maryam: „(…) aber als wir dann geheiratet, das war das k’ kein Problem mehr (-) da haben wir auch öfters darüber geredet, und er hat auch viele (-) also wo wir uns da’ dann auch mehr mit dem Islam auch beschäftigt haben (-) und auch gesehen, wie der Prophet ist, weißt du, (-) und wenn jemand wirklich ähm (-) nach dem Islam leben möchte, dann (-) kann er (-) nicht (-) das äh (-) Leben vom Propheten einfach sein lassen (...).“
Die Aufgabenteilung im Haushalt war offenbar das Ergebnis von Gesprächen mit ihrem Mann, bei denen ihr das Leben des Propheten als Argumentationsgrundlage diente. Die Arbeit außer Haus scheint für Maryam auch ein Mittel gewesen zu sein, das traditionelle Rollenkonzept der Geschlechter zu vermeiden. Sie erwähnt, ihr Mann verlange keine häusliche Rolle von ihr und begründet das damit, dass sie nicht den ganzen Tag zu Hause sei, sondern wie ihr Mann außer Haus arbeite. Maryam zeigt sich froh darüber, dass die Aufgabenteilung in ihrer Ehe so gut funktioniert und beide sich Kinderbetreuung, putzen, Wäsche waschen und ähnliche Aufgaben gleichwertig teilen. Dieses Lebenskonzept wird Maryam allerdings auch durch ihre Mutter ermöglicht, die den Sohn während ihrer Arbeitszeit betreut. Alle Befragten leben ein modernes Konzept der Aufteilung häuslicher Arbeit. Ihre Vorstellungen davon unterscheiden sich nicht von jenen, die größtenteils in der Aufnahmegesellschaft vorherrschen. Die Religion dient vielfach sogar als Legitimation für solch eine Lebensführung.
5.2.2.
Kinderfürsorge
Die Befragten sehen die Frau aufgrund ihrer körperlichen Gegebenheiten in der Zeit nach der Geburt gezwungen und verpflichtet, sich um ein Kind zu kümmern. Jamal leitet dies als einziger der Befragten nicht aus einer religiösen Vorschrift ab, sondern aus der angeblich biologisch bedingten Neigung einer Frau und betont, dass der Mann sich in dieser 94
Zeit um Haushalt und finanzielles Wohlergehen der Familie kümmern müsse. Diese Rollenaufteilung sieht er allerdings auch nicht als zwingend an, sondern als einen Aushandlungsprozess. Jamal: „Wenn eine Frau ein Kind kriegt, dann kann sie halt erst mal wahrscheinlich gar nicht anders als sich ein bisschen um das Wohlergehen des Babys kümmern. In der Zeit ist die Aufgabe des Mannes auf jeden Fall, sich um den Haushalt zu kümmern und sich um (--) auch dafür zu sorgen, dass man nicht bankrott geht. (-) Wenn die Frau dafür vorher schon gesorgt hat, ist es gut. Es ist nicht zwingend die Aufgabe des Mannes, aber (--) die Aufgabe des Mannes ist auch im Haushalt zu helfen und auch solche Dinge zu tun, genauso wie es die Aufgabe der Frau ist, im Haushalt zu helfen und solche Dinge zu tun, und wenn man sich da mit (--) Wohlgefallen und mit Entgegenkommen behandelt, kommt man glaube ich auf einen Nenner immer.”
Die Neigung eines Mannes zur Kindererziehung erwacht Jamal zufolge erst, wenn dieser seine Fähigkeiten an das Kind weitergeben kann. Hier wird also die Rolle der Frau als Mutter implizit mit deren „Mutterinstinkt“ gerechtfertigt. Jamal: „Auf jeden Fall hat Gott es so gemacht. (4) Wenn die Männer Kinder kriegen würden und sie stillen würden, (--) dann hätten sie wahrscheinlich auch mehr Interesse daran. An einer Beziehung. (--) So (--) bleibt das vielleicht ein bisschen (-) in den ersten paar Jahren erst mal mehr auf der Strecke (--) und kommt dann (--) mehr zur Geltung, wenn sie (--) eine Chance sehen, ihr Handwerk an ihr Kind weiterzugeben.”
Ein sehr traditionelles Rollenmuster mit der Frau als Mutter und Hausfrau und dem Mann als Ernährer der Familie ist bei Abid zu erkennen, der dieses aus religiösen Vorschriften ableitet. Er bemüht sich, die Stellung der Frau als privilegiert darzustellen. Die islamischen Regelungen stellen gemäß seiner Argumentation für den Mann keine Ent-, sondern eher eine Belastung dar. Die Rolle der Frau als Mutter erscheint ihm auch deshalb wichtig, weil die Frau in seinen Augen eine Verantwortung für die Zukunft des Islam trägt, da Abid annimmt, sie könne Kinder zu besseren Menschen erziehen als ein Mann. Abid: „(...) das ist die beste Arbeit, die man sich vorstellen kann (-) warum? (-) Weil es ist die Zukunft, ja. (-) Also wenn du schlechte Kinder hast, dann kommen nur so Dings (-) Bankräuber und so was, weißt du. (-) Wenn du rechtschaffene Kinder groß’ also erziehst, dann werden die hier in Deutschland, also das weit (-) den Islam hier also noch weit verbreiten (...). Und (-) wenn sie das nicht machen, ja wer sonst, weißt du.
95
(-) Allah hat auch die Veranlagung euch [Frauen] gegeben in dem Sinne, dass ihr (-) geduldiger seid, und ihr seid warmherziger, ja.”
Die Rollenverteilung ist bei Abid sehr stark religiös legitimiert. Die Frau wird als Bewahrerin der Rechtschaffenheit gesehen, von der die Zukunft des Islams abhängig sei. Umgekehrt sieht Abid den Mann fest in seiner Rolle als Versorger der Familie verankert, insofern er betont, dass die Frau vom Mann für das Stillen eines Kindes Geld verlangen könne: Abid: „(...) da gibt’s einen Vers (--) die Frau selber kann für ihr Stillen Geld verlangen von dem Mann.56 (-) Warum kann sie das? Die Ernährung (.) die Ernährung, die Pflicht, von wem ist die? (--) Vom Mann. Und sie nimmt ihm halt die Pflicht ab. (--) Verstehst du? Und der [Mann] kann ja sie nicht ernähren also dieses Baby ernähren, und sie nimmt gerade diese Pflicht ab, deswegen könnte sie Geld verlangen.”
Abid erwähnt dies im Zusammenhang mit außerhäuslicher Arbeit als Männersache und der von ihm postulierten primären Rolle der Frau als Mutter. Im Interview versucht er unter Verweis auf besondere Rechte – so auch das Recht der Frau, ihr selbst erwirtschaftetes Geld zu behalten – und eine privilegierte Position der Frau als Mutter, diese als positiv hinzustellen und mit Hilfe des Korans zu rechtfertigen. Abid betont, wie weit die Rechte der Frauen reichen würden. Er selbst wünsche sich deswegen manchmal, er wäre eine Frau. Im Anschluss bemüht er sich lange, zu bekräftigen, dass Frauen im Islam viele Rechte hätten, wenn dies auch andere seien als die der Männer. Letztlich würden sie sich jedoch aufwiegen. Zwar argumentiert auch Fatima – ähnlich wie Jamal mit den körperlichen Gegebenheiten einer Frau, die ihr zufolge eine besondere Beziehung zu ihrem Kind ermöglichen und leitet daraus auch die Notwendigkeit für eine Mutter ab, mindestens ein Jahr nach der Geburt ihres Kindes nicht zu arbeiten. Sie betrachtet dies aber auch als eine religiös begründete Pflicht. Dies gilt ihr zufolge jedoch nur für die erste Zeit nach der Geburt. Danach ist es Fatima wichtig, dass beide Elternteile an der Kindererziehung teilhaben, um traditionelle Rollenmuster zu durchbre56
Hier bezieht sich Abid möglicherweise auf den Koranvers 65:6, in dem es um geschiedene Frauen geht, denen der Mann Unterhalt zahlen muss. Paret übersetzt den Vers folgendermaßen: „Laßt die (entlassenen) Frauen (während ihrer Wartezeit) da wohnen, wo ihr (selber) wohnet, so wie es euren (wirtschaftlichen) Verhältnissen entspricht (min wugdikum)! Schikaniert sie nicht in der Absicht, sie (im Wohnraum) zu beengen! Und wenn sie schwanger sind, dann macht (die nötigen) Ausgaben für sie, bis sie zur Welt gebracht haben, was sie (als Frucht ihres Leibes in sich) tragen! Wenn sie für euch (gemeinsame Kinder von euch) stillen, dann gebt ihnen ihren Lohn! Und beratet euch miteinander in rechter Weise! (...)“ (Paret 1966: 471)
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chen und damit die Integration eines Kindes in die Aufnahmegesellschaft zu ermöglichen. Fatima: „(…) es hat keinen Sinn, wenn der Papa immer nicht da ist, und dann ist die Mutter, und dann kriegt es halt nur (-) ähm (-) Zuwendung von ähm (-) der Mutter und hat so ein Heldenbild, also malt sich seinen Vater als einen Held, (-) der geht arbeiten und so was. Das entspricht vielleicht nicht der Wahrheit, was er [das Kind] sich so (-) bildet, was Mann sein und Frau sein, weil man einfach, dass das Kind von vorne herein Mama und Papa sind für mich immer da, und sind für mich eins und nicht zwei. (-) Weil dadurch entsteht auch dieses (--) spätere. (--) Man sieht ja, islamisch (-) oder muslimische Familien sieht man, die werden von den Müttern erzogen, (-) der Vater ist fast nie da, und später ist es (-) äh (-) denkt er, ah, die Frau ist immer zu Hause, und ich heirate eine Frau, die daheim ist, dann (-) prägt das sein Leben mehr oder weniger, finde ich, (-) und deswegen finde ich auf jeden Fall, dass in einer Ehe oder in einer Familie beide Elternteile sowohl für die Erziehung des Kindes als auch arbeiten.”
Ihre Argumentation legt nahe, dass sich Fatima sehr stark mit den Rollenbildern der Aufnahmegesellschaft identifiziert, jedoch auch ein religiöses Pflichtbewusstsein empfindet, der Mutterrolle zumindest in der ersten Zeit nach der Geburt gerecht zu werden. Dieses religiöse Empfinden wird aber rationalisiert, indem es durch körperliche Unterschiede von Mann und Frau legitimiert wird. Auch Maryam begründet die von ihr angenommene Pflicht der Frau, sich in der ersten Zeit nach der Geburt um das Kind zu kümmern, religiös und betrachtet ähnlich wie Abid den Mann als zuständig für die Versorgung von Frau und Kind. Die außerhäusliche Arbeit und das innerfamiliäre „Netzwerk“, sprich ihre Mutter, ermöglichten es ihr jedoch, ein anderes Rollenmodell zu leben, in dem sie und ihr Mann berufstätig sind und die Kinderbetreuung der Großmutter überlassen wird. Hier wird die Bedeutung solcher familiärer Netzwerke für eine Anpassung an die Aufnahmegesellschaft deutlich. Erkennbar wird auch, dass der von Maryam gelebte Islam von ihr als fortschrittlich betrachtet wird, insofern er den Frauen nicht nur Pflichten wie die Kindererziehung auferlegt, sondern auch Rechte, wie die Versorgung garantiert. Dies empfindet Maryam offenbar als Entlastung und Absicherung. Es stellt eine Möglichkeit für sie dar, Mutterschaft und Berufstätigkeit zu vereinen, da sie bei einer Überbelastung darauf bestehen kann, dass der Mann die Ernährer-Funktion innehat und sich aus dem Berufsleben zurückziehen könnte, andererseits aber auch ihrem Wunsch nach außerhäuslicher Arbeit 97
entsprechen kann, wenn ihre Mutter – oder eine Kinderbetreuungseinrichtung – ihr eine Entlastung ermöglichen. Maryam: „Weil äh (-) Frau auch viel andere Sachen leistet, ja, weil zum Beispiel (-) sie bekommt ein Kind, und das ist auch viel Arbeit, ja. (-) Was ganz viele Menschen nicht ähm anerkennen als Arbeit. (-) Neun Monate ein Kind auszutragen und dann das auch noch (-) äh später äh mit (-) stillen, ja, das ist (-) das ist so ne Arbeit, hab ich auch nicht vorher gedacht, dass das
so ne Arbeit ist, das Stillen , (-)
das ist wirklich ne Arbeit .”
Das so ausgelegte Rollenmodell ist also keineswegs starr und traditionell im herkömmlichen Sinne, sondern in der modernen Gesellschaft sogar sehr flexibel und ermöglicht den Frauen Handlungsspielräume, solange die Männer nicht auf einer rein häuslichen Arbeit der Frau bestehen.57
5.2.3.
Der Mann als Oberhaupt
Sowohl Fatima als auch Jamal grenzen sich von der Vorstellung des Mannes als Oberhaupt der Familie stark ab. Fatima: „Weil ich finde, in einer Familie sollte kein ein (.) ein (.) ein (-) autoritär, jemand der oben steht und sagt, ich bin Präsident, sondern in einer Familie sollten immer zwei sein (-) Elternteile zwei, (-) die Mutter soll in der Erziehung als auch sonst wo immer einbezogen werden, sie muss (-) ähm (--) unterschreiben können, die muss, (-) die muss dahinter stehen können, also wenn das nicht so ist, dann (--) ja, das hat keinen Sinn. (--) Klar, Respekt gegenüber Vater auf jeden Fall, aber gleicher Respekt gegenüber Mutter.”
57
Anzumerken ist hier auch, dass beide befragten Mädchen eine Ausbildung zur Erzieherin absolviert haben, was aber nicht allein damit begründet werden kann, dass „der Islam“ eine solche Pflicht bei der Frau sieht. So weist zum Beispiel Nicole Kraheck darauf hin, dass sich Mädchen und Frauen in Deutschland noch immer mehrheitlich in Arbeitsbereichen wiederfinden, die den so genannten Frauenberufen zuzuordnen sind (vgl. Kraheck 1997: 88). Frauen müssten nach wie vor den Reproduktionsbereich versorgen und würden durch die traditionelle Arbeitsteilung in der Familie schnell vermittelt bekommen, welche Aufgaben von ihnen erwartet würden. Männer dagegen würden sich für den Reproduktionsbereich nicht zuständig fühlen (vgl. Kraheck 1997: 89). Die gesellschaftliche Arbeitsteilung ist also kein spezifisch islamisches Phänomen.
98
Fatima kritisiert die männliche Oberhaupt-Rolle als patriarchalisch-hierarchisches Instrument in muslimischen Familien, wobei sie die Ursache dafür nicht in der Religion, sondern in einem mangelnden Selbstwertgefühl des Mannes verortet. Fatima nennt Gleichheit der Ehepartner und gegenseitigen Respekt als Werte, die sie religiös begründet. Auch Toleranz und Kompromissfindung stellen Werte für sie dar. In ihrem Fall wird auch deutlich, wie selbst eine von ihr als gegeben vermutete religiöse Vorschrift wie der Gehorsam der Frau gegenüber dem Mann unter Bezug auf eine andere religiöse Interpretation obsolet werden kann. Fatima argumentiert ebenfalls auf religiöser Basis, um die Gleichwertigkeit der Geschlechter zu begründen und zu legitimieren, warum sie eine Gehorsamspflicht der Frau ablehnt. Fatimas starke Distanzierung von der Unterordnung einer Frau unter den Mann lässt sich auch daraus erklären, dass ihr diese Hierarchie von der Mutter aus einem traditionellen Verständnis heraus vermittelt wird: Fatima: „Da gibt es so einen Spruch, den sagt meine Mutter immer, irgendwie (-) dein Paradies ist unter den Füßen deines Mannes. (-) Aha (skeptischer Unterton). (--) Ja. (…) Ich so, OK, das ist aber schön, wenn man den Mann liebt, wenn man sich respektiert und (-) wenn da Gemeinsamkeiten da, aber was weiß ich, aber wie soll ich unter den Füßen von dem Mann sein, wenn ich den doof finde (lacht). (-) Das ist wieder ein Teufelskreis, also da kann ich nicht (-) ja, was heißt gehorchen, man sollte, ich finde, ich finde, man sollte Allah allein gehorchen. Man sollte zu Allah alleine (-) hochschauen, (-) und nicht ein Mensch, der (-) auf der gleichen Ebene ist, weißt du. (--) Nee, es gibt viele Denkweisen, aber nee.”
Die Unterordnung unter den Mann, die ihre Mutter ihr vorlebt, übernimmt Fatima nicht in ihr Weltbild. Im Gegenteil erwähnt sie Werte wie Liebe, Respekt und Gemeinsamkeiten in einer Ehe und betont, man sollte nur zu Gott aufschauen, nicht zu einem Menschen. Sehr geschickt verbindet Fatima hier eine islamische Argumentation mit den Werten der Aufnahmegesellschaft. Der Islam bietet Fatima dabei also eine Beweisführung, um gegen traditionelle Werte der Herkunftsgesellschaft zu opponieren. Ihre religiöse Begründung deckt sich hier mit den Werten der Aufnahmegesellschaft und ermöglicht es, die traditionellen Vorstellungen der Herkunftsgesellschaft abzulehnen. Wie Fatima so führt auch Jamal das Beharren eines Mannes auf seiner Rolle als Oberhaupt auf fehlendes Selbstbewusstsein zurück und erklärt, dies entspreche nicht islamischen Werten.
99
Jamal: „(…) wenn der Mann irgendwie schon (-) mit sich bringt, was ein Mann von islamischen Werten mit sich bringen sollte, dann dürfte das nie ein Thema sein, dass ein Mann sich nicht irgendwie als ein vollwertiger Mann in der Beziehung fühlt. (-) Da muss man jetzt nicht von Oberhaupt oder so sprechen. (…) Ja, ich denke, viele Männer greifen zu dieser Oberhaupt-Rolle überhaupt dann erst zurück, wenn sie ihre Rolle bedroht sehen in der Fami’ in der Gese’ (-) überhaupt sich bedroht fühlen. (-) Und wenn sie Angst haben, dass die Frau sie nicht richtig respektiert, dann ist das sowieso ein grundsätzliches Problem. (--) Dann stimmt mit der Beziehung irgendwas nicht.“
Gegenseitiger Respekt in einer Beziehung ist wie für Fatima auch für Jamal wichtig. Die Oberhaupt-Position des Mannes erscheint aus seiner Perspektive als unislamisch. Jamal betont die Gleichheit der Geschlechter in einer Ehe in Bezug auf Entscheidungen und die Erziehung von Kindern, wobei er sich von dem Rollenmodell seiner Eltern abgrenzt. Dies wird ebenfalls unter Rückgriff auf die Religion legitimiert, in der er keine Rechtfertigung für das Rollenmodell seiner Eltern sieht. Konträr dazu leitet Abid die von ihm proklamierte Oberhaupt-Rolle des Mannes aus dem Koran ab: Abid: „(…) indirekt steht was da [im Koran], weil Allah sagt, und der Mann steht in Verantwortung gegenüber der Frau.58 (-) Das heißt, er (-) er ist der Oberhaupt. (-) In der Hinsicht. (-) Natürlich kann er auch was falsch machen, weißt du. (…) Natürlich (...) er ist nicht perfekt, ja. (-) Aber (-) Allah gibt klar die Regeln und äh (-) die Stellung (-) nicht Stellung, wer höher ist, sondern wer (.) wer hat was für eine Aufgabe, (-) aber beide erreichen das Ziel (-) mit dem gleichen Ergebnis, weißt du.”
Die familiäre Oberhaupt-Rolle des Mannes beinhaltet in den Augen Abids Verantwortung gegenüber der Frau: Abid: „(…) er ist das Oberhaupt und (-) aber ein Oberhaupt in dieser Hinsicht, dass er die Verantwortung für seine Familie trägt. Also (-) er muss aufpassen, also (-) er muss gucken, dass das a:lles, also dass die (3) 58
Abid bezieht sich hier offenbar auf den Koranvers 4:34: „Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott sie (von Natur vor diesen) ausgezeichnet hat und wegen der Ausgaben, die sie von ihrem Vermögen (als Morgengabe für die Frauen?) gemacht haben. Und die rechtschaffenen Frauen sind (Gott) demütig ergeben und geben acht auf das, was (den Außenstehenden) verborgen ist, weil Gott (darauf) acht gibt. Und wenn ihr fürchtet, daß (irgendwelche) Frauen sich auflehnen, dann vermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie! Wenn sie euch (daraufhin wieder) gehorchen, dann unternehmt (weiter) nichts gegen sie! Gott ist erhaben und groß.“ (Paret 1966: 69) Eine gebräuchliche Übersetzung lautet auch „die Männer stehen in Verantwortung für die Frauen“.
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ähm (-) also welche Frau er sich wählt, die (--) seine Kinder erzieht, (-) alle möglichen Sachen, (-) er ist verpflichtet, für den Unterhalt zu sorgen (--) für die Frau und Kinder, (-) er ist verpflichtet, den Haushalt zu führen und auch (-) ähm (-) zu kochen.”
So bringt die Oberhaupt-Rolle des Mannes also außer einer sorgfältigen Wahl seiner Frau, die Abid als für die Erziehung der Kinder zuständig betrachtet, die finanzielle Sorge für die Familie sowie auch die Haushaltsführung mit sich. Diese Rolle beinhaltet in erster Linie Verantwortung des Mannes für seine Frau und eine Aufgabenteilung, die Abids Ansicht nach nichts mit einer Hierarchie im Sinne einer Wertigkeit zu tun hat. Gegenüber dem Mann als Oberhaupt der Familie in außerhäuslichen Angelegenheiten erscheint die Frau als Oberhaupt in häuslichen Dingen und der Erziehung der Kinder.59 Dieses Rollenmodell wird aber im Sinne der Kompatibilität mit der Aufnahmegesellschaft modifiziert, indem der Frau zwar organisatorische Aufgaben zufallen, nicht jedoch die häusliche Reinigung (siehe Kapitel „Häusliche Arbeit“). Die Haushaltsführung wird im Gegenteil als männliche Aufgabe gesehen. Die Frau wird als häusliches Oberhaupt dargestellt: Abid: „Sie ist halt (-) de’ (-) ä:h (--) der Oberhaupt in dem Haus, in dem Sinne, dass sie (-) also guckt, wo was (-) also wie (-) was alles im Haus passiert, oder wie das mit den Kindern ist, ja. (-) Aber (-) äh (-) dass sie die ganze Zeit putzt oder so, das ist auf jeden Fall nicht unbedingt gegeben.”
Insgesamt wird deutlich, wie religiös abgeleitete Argumentationen auf sehr unterschiedliche Art und Weise eingesetzt werden können, um Rollenmodelle zu rechtfertigen und/oder neu zu definieren. Eine Neudefini59
Es zeigt sich, dass Abids Vorstellungen von der Frau sehr stark den bürgerlichen Tugenden ähneln, wie sie sich im „Abendland” seit Ende des 18. Jahrhunderts im Zuge des sich neu entwickelnden Ideals der bürgerlichen Liebesehe entwickelt haben. Im Gegensatz zur vormaligen Standeswürde entstand damals eine neue Philosophie und Moral, gemäß der die Frau persönliche Würde mit in einer Ehe bringen sollte, die sie durch Tugenden erwerben konnte (vgl. Schwarz-Schilling: 2006a, 17-18). Als solche Tugenden galten „Frömmigkeit, völlige Selbstentäußerung, Anstand, Häuslichkeit, Ergebenheit, Fleiß, Bescheidenheit” (ebd., 18), die einer Frau gesellschaftliches Ansehen gewährleisteten. Sexuelle Leidenschaft wurde für eine in diesem Sinne tugendhafte Dame zum Fremdwort und damit rein männlich besetzt: „Durch die tugendhafte Liebe adelt die Frau die Ehe. Sie verleiht dem Mann, der gestern gesellschaftlich noch ein Niemand war, einen würdigen Rahmen.” (ebd.) Wie im Kapitel „Ehre und Würde“ zu sehen ist, existiert insbesondere in traditionellen Gesellschaften wie der somalischen dieses Konzept der weiblichen Ehre, die die Würde des Mannes gewährleistet, bis heute. Dass dieses Konzept noch bis vor einem halben Jahrhundert auch in der hiesigen Gesellschaft dominierte, zeigt, dass es sich um kein rein islamisch begründbares Denkmodell handelt.
101
tion traditioneller Rollenbilder ist bei allen Befragten erkennbar und mehr oder weniger stark ausgeprägt. Immer ist für diese Neudefinition die Religion eine Legitimationsquelle.
5.3.
Geschlechtertrennung und Erziehung
5.3.1.
Geschlechtertrennung
Bei allen Befragten wird ein Zwiespalt in Bezug auf das Thema Geschlechtertrennung deutlich, die einerseits als unnatürlich und zwanghaft (Fatima und Jamal), unter gewissen Umständen aber auch als positiv beurteilt wird. So sieht Jamal die Trennung von Mann und Frau in der Öffentlichkeit offenbar als Entlastung des Mannes von dessen Aufpasser-Rolle an und äußert Verständnis gegenüber der Geschlechtertrennung als „Vorsichtsmaßnahme“. Jamal: „(…) natürlich ist es (--) also ich kann absolut diese Vorsichtsmaßnahmen verstehen, muss ich wieder betonen, (-) weil (3) ja, stell dir vor, du bist verheiratet mit einer Frau, und da kommt dann so ein [Glaubens-]Bruder an, und der fragt deine Frau, ob die schon verheiratet ist oder so. (--) Ich meine, weil er halt irgendwie Interesse an ihr hat und denkt, in der Moschee, das ist ja toll, OK, du kannst ja mal fragen. Ist ja hier eine Tauschbörse oder was weiß ich. Interviewerin: Und das findest du problematisch? Jamal: Ja, es sollte halt nicht zu so was ausarten, dass der Mann dann die ganze Zeit darauf achten muss, dass seine Frau nicht angequatscht wird oder so.”
Jamal zeigt insofern Verständnis für die Geschlechtertrennung als „Vorsichtsmaßnahme“, weil er das Interesse anderer Männer an seiner Frau als unangenehm empfindet. Er hegt die Befürchtung, eine Mischung der Geschlechter könne „ausarten” und der Mann müsse dann darauf achten, dass seine Frau nicht angesprochen werde. Jamal sieht sich also bei fehlender Geschlechtertrennung in eine Aufpasser-Rolle gezwungen. Zwar räumt er ein, eine Frau könne auch selbst darauf achten nicht angesprochen zu werden, sie könnte jedoch – möglicherweise aus Höflichkeit – „falsche Signale” aussenden. 102
Jamal: „Männer können ganz schön hartnäckig sein und denken dann vielleicht, (-) dass die (-) dass sie da trotzdem noch Chancen haben. Aber eigentlich sollte die Frau das auch selbst regeln können. (--) Ja. (--) Das stimmt schon. (-) Aber um so was zu vermeiden, ist das vielleicht auch un’ (.) unter anderem gemacht. (--) Damit der Mann sich nicht die ganze Zeit verrückt machen muss. (--) Wenn er dann weiß, die Frau ist bei den Frauen, und da kann nichts passieren.”60
Hier erscheint die Geschlechtertrennung als Schutz der Frau vor sexuellen Annäherungsversuchen und Sexismus allgemein; Männern wird ein allgegenwärtiges und forderndes sexuelles Begehren unterstellt. Andererseits reklamiert Jamal für sich selbst offenbar, dieses unter Kontrolle zu haben, da er es beispielsweise nicht als unanständig empfindet, Frauen zur Begrüßung auf die Wange zu küssen. In diesem Zusammenhang äußert Jamal auch seine Annahme von einer historisch bedingten Veränderung religiöser Regelungen, die ihm anscheinend eine offenere Auslegung religiöser Vorschriften ermöglicht. Eine besondere Bedeutung kommt der Aufrechterhaltung oder Abschaffung der Geschlechtertrennung im Umkreis der Moschee zu. Jamal betrachtet diese offenbar als einen Ort der sozialen Kontrolle, weshalb ihm Geschlechtertrennung hier als unnötig und sogar kontraproduktiv erscheint, da ohne diese leichter feste Partnerschaften zwischen praktizierenden Muslimen entstehen könnten. Die Geschlechtertrennung erscheint hier als Hindernis für übergeordnete islamische Ziele: Jamal: „Ich denke, das ist (-) sollte ganz frei sein, wenn sich (-) wer sich unwohl fühlt in der Gesellschaft mit einem Mann oder einer Frau, dann soll er gehen. (-) Und wenn es gut ist, dann kann er ja ein Gespräch anfangen, (-) wäre ja auch mal nicht schlecht. (-) Vielleicht kann man sich auch so kennen lernen, vielleicht hat man so auch mehr Kontakt. Vielleicht entsteht auch so was (-) was (.) was Tieferes, wenn es auch eine Ehe ist, (-) ist doch schön. (--) Wenn nicht so, dann halt irgendwie mit irgendeiner total (3) mit einem Partner, der vielleicht nicht so viel mit Is60
Laut Farideh Akashe-Böhme wird für die Geschlechtertrennung wie auch für die Verschleierung der Frau als rationaler Grund meist der Schutz der Frauen genannt, was hier ganz Jamals Argumentation entspricht, der offenbar auf Seiten der Männer „eine ständige Potenz und ein allgegenwärtiges Begehren unterstellt“ (Akashe-Böhme 1997: 47). Ihrer Einschätzung nach, die sich ebenfalls mit der Argumentation Jamals deckt, spielt aber auch „das patriarchale Eigentumsdenken“ (ebd.) eine Rolle. Es äußert sich bei Jamal zwar nicht so extrem, dass er fordert, Frauen sollten überhaupt nicht in der Öffentlichkeit auftreten, jedoch steckt offenbar tatsächlich eine „verschleierte(n) Männerangst“, wie Akashe-Böhme sie auch in der Praxis der Verschleierung vermutet, hinter der Geschlechtertrennung: „die Angst vor den Frauen, die sie begehren könnten, also die Angst vor ihrem eigenen Begehren“ (ebd.).
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lam zu tun hat und den man vielleicht nur (--) durch familiäre Aspekte kennen lernt, und das ist auch nicht toll. (--) Also (--) ich finde das kontraproduktiv. (--) Sich (-) da (--) drauf zu versteifen, also (-) das ist absoluter Quatsch. (--) Wenn irgendwo irgendwas äh (--) äh (--) irgendwas richtig laufen kann zwischen Mann und Frau, dann doch in der Moschee. (--) Denke ich. (-) Also die werden ja wohl nicht übereinander herfallen.”
In Jamals Argumentation wird sein Zwiespalt zwischen der AufpasserRolle, die er als Mann empfindet, und seinem Ideal eines freien Austauschs unter den Geschlechtern sichtbar. Dieser Zwiespalt wird noch deutlicher, als Jamal später über die Bedeutung der Ehe als „Vorsichtsmaßnahme“ spricht und in diesem Zusammenhang auch die Geschlechtertrennung als eine solche Vorsichtsmaßnahme bezeichnet. Die Maßnahmen der islamischen Gemeinschaft, den Kontakt von Mann und Frau außerhalb der Ehe zu vermeiden, betrachtet er zwar als „übertrieben“, aber auch als verständlich. Sie seien als Mittel gedacht, um „sexistischen Alltäglichkeiten” entgegen zu wirken, die er zwar weniger in der deutschen, dafür aber umso mehr in der amerikanischen Gesellschaft wahrnimmt und durch kulturelle Einflüsse wie Filme, Musik und Musikvideos nach Deutschland transportiert sieht. Die sexistische Einstellung, die in seinen Augen in diesen kulturellen Erzeugnissen steckt, sieht er sowohl von Männern als auch von Frauen „kultiviert”. Männer betrachtet Jamal jedoch als anfälliger als Frauen gegenüber „sexuellen Sachen”. Sie seien leichter vom Teufel verführbar, während Frauen leicht von Männern zu verführen seien. Angesichts dessen erscheinen ihm die islamischen Vorsichtsmaßnahmen „nicht mal krass übertrieben”. Abid, Fatima und Maryam beurteilen es explizit als positiv, wenn Männer und Frauen im selben Raum ohne Trennwand dazwischen beten, wobei sie religiös mit dem Vorbild des Propheten Muhammad argumentieren.61 Abid: „Und (--) jetzt eine Sache, die ich mir erkläre, also (-) von meiner Vernunft. (-) Wenn ein Mann nicht seine Blicke zügeln kann, ja, (-) das heißt, dass er draußen rumläuft und sich (-) äh (-) also nach Frauen hinterher starrt, (-) und wenn er (-) wenn er das nicht mal in der Moschee machen kann, (-) ja (-) dann kann er es auch nicht draußen.”
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Einen Einfluss auf das Antwortverhalten mag die Tatsache gehabt haben, dass die Befragten aus dem Umfeld eines Moscheevereins kommen, in dem Männer und Frauen gemeinsam in einem großen Raum beten, wobei die Frauen sich dabei im hinteren Bereich befinden. Üblich ist jedoch die Teilung der Gebetsräume nach Geschlechtern.
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Der öffentliche Raum der Moschee wird hier von anderen öffentlichen Räumen unterschieden, wobei Abid es als leichter in der Moschee wahrnimmt, seine Blicke zu „zügeln”. Dies könnte seine Ursache einerseits darin haben, dass die Moschee als ein Raum der sozialen Kontrolle wahrgenommen wird, oder aber in den Bedeckungsvorschriften, die Frauen in der Moschee eher einhalten als „draußen”. Der Kontakt zu Frauen, die sich nicht nach islamischen Bekleidungsvorschriften richten, wird in der Schule oder auf der Arbeit als notwendig empfunden, auch wenn Abid deren Verhalten als sehr „anders“, also vermutlich aufreizender, wahrnimmt als das von Musliminnen: Abid: „Und das (-) und wenn mich das [in der Schule] nicht stört, warum soll mich das [in der Moschee] dann stören. Siehst du. (-) Oder in der Arbeit oder was weiß ich was, weißt du.”
Mit dieser Aussage impliziert Abid, dass er seine Blicke kontrollieren kann und sich selbst von Frauen nicht gestört fühlt, auch wenn sie sich nicht nach islamischen Bekleidungs- oder Verhaltensregeln richten. Kurz darauf nimmt Abid aber genau den gegenteiligen Standpunkt ein: Er ist offensichtlich dagegen, dass sich Männer und Frauen nach dem Gebet in der Moschee „mischen“, selbst wenn es sich um Ehepartner handelt. Daher schlägt er vor, wenn eine Frau mit ihrem Ehemann sprechen wolle, sollten sich die beiden draußen treffen. Der direkte Kontakt mit dem anderen Geschlecht ist offensichtlich für ihn noch etwas anderes als die Begegnung über eine Distanz. Auch auf der Arbeit oder in der Schule, wo diese Distanz vermutlich nicht leicht einzuhalten ist, gelten für Abid andere Maßstäbe als in der Moschee. Dies mag damit zusammenhängen, dass er die Moschee als einen heiligen Raum wahrnimmt und/oder mit der Tatsache, dass er hier direkt mit anderen Muslimen konfrontiert ist, die eine Mischung der Geschlechter negativ beurteilten könnten. Offensichtlich ist es Abid wichtig, zur Schule und arbeiten gehen zu können, ohne dabei Einschränkungen durch religiöse Vorschriften zu erfahren, andererseits beharrt er innerhalb der islamischen Gemeinschaft auf diesen Vorschriften, da er sich dazu verpflichtet fühlt. In seinen Augen besteht überhaupt keine Veranlassung, in den Bereich des anderen Geschlechts einzudringen, da er annimmt, dass es zwischen Mann und Frau keine Freundschaft geben kann. Andere Gründe als Freundschaft, den Bereich des anderen Geschlechts zu betreten, zieht Abid nicht in Erwägung. Da er eine Übertretung der Bereiche jedoch auch für Ehepartner ablehnt, liegt der Schluss nahe, dass es auch Pflichtgefühle gegenüber der islamischen Gemeinschaft sind, die ihn zu dieser Haltung bewegen: „Wenn ich mich mit meiner Frau treffe, dann muss das nicht die ganze Gemeinde mitbekommen, dass ich was mit ihr zu besprechen habe.” Ihm 105
ist das Urteil der religiösen Gemeinschaft wichtig, die auf ihn offenbar eine starke soziale Kontrolle in sexuellen Angelegenheiten ausübt. Abid beurteilt es daher auch als nicht islamisch, seinen Ehepartner in der Öffentlichkeit zu küssen oder zu umarmen, weil „das sind intime Sachen, die darf (-) das hat mich nicht zu interessieren, weißt du. (-) Das (-) das will (-) das will ich auch nicht mal sehen.” Die eheliche Beziehung betrachtet Abid als Intimität und Privatsache, die einen besonderen Schutz vor der Gemeinschaft verlangt.62 Außerdem müsse man „die schlechten Gedanken von den Brüdern und Schwestern” zu meiden versuchen, die falsche Rückschlüsse ziehen könnten, wenn sich ein Mann und eine Frau unterhalten, da sie nicht wissen könnten, ob die beiden verheiratet sind. Es zeigt sich hier jedoch ein Bruch in Abids Argumentationslinie: Einerseits möchte er nicht, dass Ehepartner sich gegenseitig in der Öffentlichkeit ihre Liebe zeigen oder in der Moschee miteinander sprechen, andererseits erscheint es für ihn auch wichtig, dass andere Menschen erkennen, ob ein Paar verheiratet ist, um innerhalb der Religionsgemeinschaft Missverständnisse und schlechte Gedanken zu vermeiden. Das deutet auf eine Unsicherheit bezüglich des als richtig empfundenen Verhaltens hin. Nicht nur der Schutz der ehelichen Beziehung spielt offensichtlich für Abid eine Rolle, sondern auch die soziale Kontrolle durch die islamische Gemeinde, die den Kontakt zwischen Mann und Frau seinem Empfinden nach als unanständig ansieht, sofern sie nicht verheiratet sind. Abid jedoch sieht sich dabei altruistischen Argumenten verpflichtet: Abid: „(…) ich möchte nicht, dass die schlechte Gedanken haben. (-) Und ich möchte so viel [davon] abbauen wie ich kann, (-) nicht weil es mir gefällt oder so, Nein, Nein. Um denen zu helfen ein bisschen (…).”
Was Abid hier als Altruismus bezeichnet, rührt offensichtlich aus einer Unsicherheit gegenüber der Religionsgemeinschaft. So toleriert er das Gespräch zwischen Ehepartnern nicht innerhalb der Moschee, wo alle Umstehenden dies mitbekommen, sondern nur „draußen”, wo weniger 62
Für Gabriele Michalitsch manifestiert sich der Prozess der Zivilisation in der Domestizierung zu Mann und Frau: „Im Zivilisationsprozeß werden die Bereiche des Öffentlichen und Privaten voneinander getrennt und das Private als Raum der Leidenschaften wie des Weiblichen installiert.“ (Michalitsch 2006: 35) Die Abgrenzung des Bereichs der Leidenschaften von dem – öffentlichen – Bereich der Vernunft erscheint bei Michalitsch auch als ein Instrument, um eine neoliberale Wirtschaftsordnung nach Produktivitätsgesichtspunkten zu installieren (vgl. ebd.). Hier findet sich wieder ein Hinweis darauf, dass die Prinzipien der neoliberalen Wirtschaftsordnung erstaunlich gut mit traditionell verstandenen islamischen Regelungen harmonieren, was mit ein Grund sein könnte, warum diese sich auch in der Moderne so gut behaupten können.
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Augen dies sehen können und demnach auch weniger Druck ausgeübt wird. Abid meint, „islamisch ist das so geregelt”, dass Männer und Frauen unter sich bleiben. Wenn er und seine Frau zu Hause Feste feiern, laden sie zwar auch Männer und Frauen ein und sitzen im selben Raum: Abid: „(…) aber (--) ja, die Brüder wissen ganz genau, also (-) wie sie sich zu verhalten haben bei Schwestern, weißt du, (-) also wenn wir in einem Raum sitzen, aber (-) ja also (-) wenn (-) man (-) ich finde, wenn jeder (-) sich selber so kontrollieren kann und seine (-) also (-) seine Verhaltensregeln auffasst, dann (-) kann auch nichts schief laufen. (-) Aber wenn jemand schwach ist, dann braucht man das gar nicht so (--) so (3) ja, weißt du. (-) So irgendwie provozieren, dass er das (-) begehen kann, ja also (-) eine Sünde begehen kann.”
Selbstkontrolle und eine Beachtung islamischer Verhaltensregeln garantieren in den Augen Abids, dass zwischen Mann und Frau „nichts schief laufen” kann. Fehlende Selbstkontrolle bei Männern wird als Schwäche aufgefasst, auf die man aber seiner Ansicht nach Rücksicht zu nehmen habe, was die Geschlechtertrennung rechtfertigt. Allein die Anwesenheit von Frauen könnte laut dieser Argumentation für einen „schwachen“ Mann eine Provokation zur Sünde darstellen.63 Wie Jamal betrachtet also auch Abid die Moschee als Ort der sozialen Kontrolle, was aber nicht wie bei Jamal zur Ablehnung der Geschlechtertrennung in der Moschee führt, sondern zu deren Untermauerung. Eine Mischung der Geschlechter sieht er offenbar nicht als konform zu der Mehrheitsmeinung in der islamischen Gemeinschaft an, was den Verpflichtungscharakter der Geschlechtertrennung in seinen Augen bestärkt. Außerhalb der Moschee legt Abid aber weniger Wert auf Geschlechtertrennung, was es ihm ermöglicht, konfliktfrei in der Aufnahmegesellschaft zu leben. Für die muslimische und die nichtmuslimische Gemeinschaft gelten nach seiner Darstellung also unterschiedliche Regelungen. Die Geschlechtertrennung allgemein erscheint als ein Mittel zur Wahrung der Intimität der ehelichen Beziehung, eines respektvollen Verhaltens gegenüber Frauen und zur Vermeidung von sündhaftem Verhalten bei Männern. Wie Jamal unterstellt hier auch Abid den Männern ein stärkeres sexuelles Verlangen, das bei fehlender Selbstkontrolle des Mannes Sünde nach sich ziehen könne. Ebenso wie Jamal reklamiert aber auch Abid für sich, diese Selbstkontrolle zu besitzen. Schamhaftigkeit 63
Der Psychoanalytiker Wolfgang Lederer hat darauf hingewiesen, „daß extrem geschlechtsgetrennte Gesellschaften stets von einer tiefliegenden sexuellen Unsicherheit geprägt sind. Die Sexualität mit ihren Gefahren wird dadurch gebannt, daß die Frauen zu ihrer Verkörperung ernannt und aus der Öffentlichkeit entfernt werden“ (zit. nach König 1994: 259). Eine solche Unsicherheit zeigt sich offenbar auch bei Abid.
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nennt er als einen positiven Wert, auch für Männer. Bei Abid wird eine größere Unsicherheit bezüglich dem als richtig zu beurteilenden Verhalten deutlich als bei den übrigen Befragten und ein starkes Bewusstsein für die soziale Kontrolle durch die islamische Gemeinschaft, was sich durch Abids religiösen Werdegang erklären lässt (siehe dazu Kapitel „Weg zum Islam“). Für Maryam erfüllt die Geschlechtertrennung die Funktion eines Schutzes der weiblichen Intimsphäre. Wo diese nicht notwendig ist, erscheint auch die Geschlechtertrennung obsolet. Die Geschlechtertrennung scheint in ihrer Argumentation weniger eine religiöse Funktion als eine gesellschaftliche zu haben, da sie hilft, gesellschaftlich empfundene, nicht aber religiös begründbare Tabugrenzen – wie die der Sexualität – zu wahren. Den gleichgeschlechtlichen Islam-Unterricht in der Moschee beurteilt Maryam daher als positiv, weil dort ein offeneres Reden und Fragen in Bezug auf Themen junger Frauen oder intime Bereiche wie Menstruation möglich gewesen sei. Dies bespreche sie lieber mit einer Frau als mit einem Mann, wenngleich Maryam auch die Auffassung vertritt, es gebe im Islam nichts, worüber man nicht reden könne. Das unangenehme Gefühl, das Maryam bei der Behandlung von intimen, den sexuellen Bereich betreffenden Fragen in gemischten Gruppen verspürt hat, leitet sich also offensichtlich nicht aus einer religiösen Bestimmung her, sondern ist ein gesellschaftliches Tabu, das sich auch ohne religiöse Grundlage vermittelt. Dass Männer und Frauen in der bereits mehrfach erwähnten deutschsprachigen Moschee hintereinander im gleichen Raum beten, findet Maryam „OK“, weil dies auch zur Zeit des Propheten so gewesen sei. Religiöse Argumente dienen hier als eine Rechtfertigung für die räumliche Aufhebung von Geschlechtergrenzen. Maryam erwähnt jedoch auch, dass viele Frauen nicht in diese Moschee kommen würden, da sie sich nicht aufs Gebet konzentrieren könnten, wenn junge „Kerle” vor ihnen beten. Sie jedoch wertet diese Einstellung leicht ab. Dass Frauen ihren eigenen Waschraum haben, also ihre Intimsphäre wahren können, empfindet sie aber als wichtig. Es ist augenscheinlich der Schutz der weiblichen Intimsphäre, der für Maryam eine Geschlechtertrennung rechtfertigt. Auch Fatima betrachtet es als richtig, wenn Männer und Frauen im selben Raum beten. Sie sieht keinen Grund zur Trennung, was sie wie Maryam und Abid damit begründet, dass in der Moschee zur Zeit des Propheten ebenfalls die Frauen hinter den Männern, aber alle zusammen in einem Raum ohne Trennwände gebetet hätten. Warum Frauen hinter den Männern beten, begründet sie damit, dass Frauen „mehr Schamgefühle” hätten: 108
Fatima: „Wenn man sich so vorstellt, eine Frau (-) wirft sich einem Mann (-) also vor einem Mann nieder, hat sie mehr Schamgefühle als wenn ein Mann das machen würde. (-) Und deswegen also. (-) Und alhamdu-lillah dass das so ist, (-) ich meine, welche Frau lässt sich dann runterbeugen, wo dann ein Mann ist, (-) das ist sehr unangenehm für die (-) nicht für einen Mann, sondern auch für dich selber, also, wenn ich mir das vorstelle, (-) weil ich habe mir dann irgendwann vorgestellt, dass ich gedacht habe, das kann ich (-) so kann ich den anderen rüberbringen.”
Die Erklärung, dass Frauen aufgrund eines für sie unangenehmen Schamgefühls hinter den Männern beten, die räumliche Trennung also ein Vorteil in ihren Augen ist, empfand Fatima auch als praktikabel in Bezug auf eine Auseinandersetzung mit ihren Klassenkameraden. Diese hatten bei einem Besuch der Moschee die Gebetsordnung als ein Zeichen für die schlechtere Stellung der Frau im Islam gewertet, wogegen sich Fatima entschieden wehrt. Sie stellt es als eine Rücksichtnahme und nicht als Erniedrigung dar, dass Frauen hinter den Männern beten. Obwohl sie so ihre Kritiker offenbar nicht überzeugte, wie aus ihrer Erzählung hervorgeht, konnte sie das Gesprächsthema mittels dieser Begründung beenden und integrierte sie anschließend in ihren festen „Argumentationsschatz”. Es stellt sich die Frage, ob die angeblich genuinen weiblichen Schamgefühle tatsächlich angeboren sind oder erst anerzogen wurden aufgrund der in islamischen Kreisen offenbar häufig betonten Behauptung, Frauen hätten mehr „Reize“. Jedenfalls empfindet Fatima anscheinend diese Erklärung auch selbst nicht optimal, da sie einräumt, es gebe sicherlich noch andere Gründe für die Gebetsordnung, diese würden ihr allerdings nicht einfallen. Fatima beharrt nicht auf einer Geschlechtertrennung, da man im Alltag überall Männern begegne. Sie setze sich auch in der Bahn neben einen Mann, wenn anderswo kein Platz sei: Fatima: „Ähm (-) solange das wirklich islamisch korrekt ist, man islamische (-) Regelungen einhält, (--) finde ich doof, wenn das so eine Mauer (-) also ich gehe zum Beispiel in die Moschee (-) es gibt in [Stadt] eine Moschee, da sind Männer und Frauen (-) wirklich (-) getrennt, nicht so wie hier, und (-) und wenn du da läufst ja, wenn du (-) wenn die dich sehen, die gucken wirklich weg, wo ich dann denke äh [irritierter Tonfall] (--) was bin ich? Ja. Dass die (-) dass sie so extrem dann (-) weggucken. (-) Ich meine, die gehen auch zu Behörden und müssen sogar irgendwelchen die Hand schütteln. (-) Oder beim ersten, auch wenn die nicht, die müssen denen in die Augen gucken, die können nicht ja [schaut auf den Boden] (-) geht ja nicht, ja.”
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Die Trennung von Geschlechtern bezeichnet Fatima als eine „Mauer”, wobei sie dies offenbar nicht nur im wörtlichen, sondern auch im übertragenen Sinne als eine fest stehende Barriere zwischen Mann und Frau ansieht. Dass Männer ihrem Anblick in einer Moschee mit Geschlechtertrennung ausweichen, empfindet sie als respektlos, unhöflich und extrem. Islamische Verhaltensregeln sieht sie als einen ausreichenden Schutz im Umgang mit dem anderen Geschlecht an, sie sind für Fatima ein Argument, um eine räumliche Geschlechtertrennung abzulehnen. Eine alltägliche Begegnung von Männern und Frauen im öffentlichen Raum betrachtet sie als notwendig, etwa in Bezug auf Behördengänge, und empfindet es als einen Akt der Höflichkeit, hier den Blickkontakt zu wahren oder dem Gegenüber die Hand zu geben, ohne dabei auf islamische Regelungen Rücksicht zu nehmen.64 Eine Akzeptanz von und eine Teilnahme an der Aufnahmegesellschaft betrachtet Fatima also positiv und stellt dies über eine strenge islamische Auffassung von einer Trennung der Geschlechter, die sie als Hindernis wahrnimmt. Islamische Begründungen geben ihr aber andererseits die Möglichkeit, einen Kompromiss zwischen religiöser Gemeinschaft und Aufnahmegesellschaft zu finden. Diese Sichtweise wird offensichtlich vom genannten international ausgerichteten Moscheeverein unterstützt. Fatima erzählt in diesem Zusammenhang eine Geschichte, die ihr im dortigen Dawa-Seminar vermittelt wurde: Ein Junge und ein Mädchen, die während ihres Studiums regen Kontakt gepflegt hatten, versuchten sich nach ihrer Konvertierung zum Islam zu ignorieren, weil sie den Kontakt miteinander als „nicht erlaubt” ansahen. Fatima erwähnt, „dass sogar die anderen gesagt haben, sag mal (-) seid ihr jetzt total durchgeknallt”, eine strenge Trennung zwischen den Geschlechtern also in der Aufnahmegesellschaft als negativ wahrgenommen wird. Das Thema sei im Moschee-Seminar viel diskutiert worden. Dort sei dann aber eine aus dem Koran abgeleitete „Regelung” vermittelt worden, laut der Blickkontakt und Hand geben erlaubt seien, solange dies nicht „intensiv” sei. Anhand dieses Beispiels wird deutlich, dass der Moscheeverein eine wichtige Rolle in der religiösen Legitimation von Verhaltensweisen einnimmt, die als kompatibel mit der Aufnahmegesellschaft empfunden werden und eine größere Bewegungsfreiheit in dieser ermöglichen. 64
Laut Farideh Akashe-Böhme basiert die Geschlechtertrennung „auf der Vorstellung, daß die sexuelle Begierde unausweichlich ist bei jedem Kontakt zwischen Männern und Frauen, daher wird der Blick einer jungen Frau in die Augen eines Mannes im allgemeinen als Verführung gedeutet.“ (Akashe-Böhme 1997: 51) Fatima weist auf die Doppelmoral mancher Männer hin, im Umgang mit Nichtmuslimen Regeln zu missachten, auf die im Umfeld der Moschee und im Umgang mit Muslimen dann aber Wert gelegt wird.
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Damit, nach dem gemeinsamen Gebet den Bereich der Männer zu betreten, hat Fatima „kein Problem”, was aber offenbar nur eingeschränkt stimmt. Zwar erklärt sie, dass sie manchmal zu Männern gehe, wenn sie eine Frage habe, sich dies aber nur bei drei Gemeindemitgliedern traue, denn „man macht sich seine eigene Fantasie”: Fatima: „Bei den anderen denke ich, oh Gott, die denken (-) könnten was denken, ich denke, dass sie was eventuell denken könnten, weil man diese Denkweise einfach hat, ne. Aber (-) das finde ich überhaupt nicht schlimm. (-) Überhaupt nicht.”
Sie selbst empfindet es also nicht als falsch, Geschlechtergrenzen zu übertreten, sieht sich aber durch die soziale Kontrolle aus Angst vor negativen Zuschreibungen in den Bereich der Frauen verwiesen. Dieses Bewusstsein für eine Übertretung der Regeln und eine damit verbundene negative Zuschreibung entspringt aber offensichtlich nicht nur Fatimas eigener „Fantasie”. Die Ablehnung eines solchen Verhaltens von Seiten anderer Gemeindemitglieder wird zwar nicht offen geäußert, wohl aber deutlich vermittelt, insbesondere von Seiten ihres leiblichen Bruders: Fatima: „(…) ich glaube, er hätte Probleme, wenn ich dann plötzlich da hingehen würde und sagen würde, ach, [Glaubens-}Bruder [nennt den Namen einer ihrer männlichen Vertrauenspersonen], kann ich kurz mit dir reden? (-) Der [ihr leiblicher Bruder] würde gucken und sagen, hör mal, geht’s noch? (-) Erstens sind wir hier in einer Moschee, und zwotens, sprichst du mit einem Mann hier, oder was? (-) Also so denkt der also ganz [schlägt sich mit der Hand vor den Kopf]. Wie viele.”
Ihr Bruder geht jedoch – wie laut Fatima viele andere Somalier – selten in die deutschsprachige Moschee, weil dort Frauen seien und er „immer nach hinten [zu den Frauen] gucken” müsse. Fatima jedoch schätzt die deutschsprachige Moschee eben wegen dieser Offenheit: Fatima: „Wir müssen uns begegnen mit gewissen Regeln und (-) Respekt und Toleranz. (--) Und (-) deswegen komme ich auch gern, weil die (-) offener sind, meiner Meinung nach.”
Fatima betont, dass Männer wie auch Frauen eine solche eingeschränkte Sichtweise hätten, sieht sich aber im Gegensatz dazu als einen sehr offenen Menschen, „manchmal zu offen”. Bei der Übertretung der Geschlechtergrenzen fühlt sich Fatima also unwohl. Sie hat offensichtlich ein permanentes Bewusstsein für Anstandsregeln der islamischen Gemeinschaft, die nicht explizit geäußert, aber doch sehr deutlich vermittelt werden. Obwohl sich Fatima selbst von dieser Sichtweise stark distanziert, würde sie in Anwesenheit ihres Bruders eine solche Übertretung der impliziten Regeln nicht wagen. Dieser empfindet „wie viele” das 111
Eindringen in den Bereich der Männer als ungehörig, weil die Moschee anscheinend als ein besonderer, heiliger und sozial kontrollierter Raum wahrgenommen und die fehlende Distanz zum anderen Geschlecht als unanständig empfunden wird. Man kann davon ausgehen, dass Fatima die Geschlechtergrenzen – ob bewusst oder unbewusst, wenn auch nicht konfrontativ – durchbrechen möchte. Die deutschsprachige Moschee wird als Ausnahme gegenüber anderen Moscheen dargestellt. Offensichtlich hat Fatima die betreffende Moschee auch bewusst gewählt, weil sie ihr auch in Bezug auf Geschlechterbeziehungen mehr Freiheiten erlaubt als andere. Für sie als „offener Mensch” scheint das eine große Bedeutung zu haben, auch wenn sie mit der Einschränkung, sie sei manchmal „zu offen” in Bezug auf ihr Gesprächsbedürfnis, vermutlich ausdrücken möchte, dass sie dadurch von anderen negative Zuschreibungen erfährt oder befürchtet. Einen allzu engen Kontakt zwischen Männern und Frauen empfindet jedoch auch Fatima als negativ. Das zeigt sich in ihrer Erzählung von der Hochzeit ihres Bruders, der mit Gesang und Tanz gefeiert habe und in Abgrenzung zu dem sie ihre eigene Hochzeit „islamisch korrekt” feiern möchte, was sie als angemessen für den Start in eine Ehe empfindet. Auffällig häufig verwendet Fatima während ihres Interviews den Terminus „islamisch korrekt”, was jeweils meistens auf eine empfundene Norm und allgemein auf ihr stark ausgeprägtes Regelbewusstsein hindeutet. Sie äußert auch, dass sie selbst sich nicht immer „islamisch korrekt” verhalte, was sie im Zusammenhang damit erwähnt, dass sie auf der Hochzeit ihres Bruders ausgelassen getanzt habe und dies im Nachhinein bei Betrachtung der Videoaufnahmen selbst als zu freizügig und eben „nicht islamisch korrekt” beurteilt. Andererseits meint Fatima, aus Höflichkeit wollte sie den Männern auch nicht den Rücken kehren. Das Tanzen mit dem anderen Geschlecht sieht sie als eine Sünde an, weshalb sie sich vorgenommen hat, dies künftig zu unterlassen und sich nicht von der Musik mitreißen zu lassen. Im Rahmen der Hochzeit ihres Bruders wurde offensichtlich auch von Seiten ihrer Familie toleriert, dass Fatima mit Männern tanzte, da diese aus dem Familien- und Freundeskreis stammten und eine Hochzeit offensichtlich als Ausnahme gesehen wird, bei der Tanzen und Musik erlaubt sind. Fatima beurteilt Geschlechtertrennung insgesamt eher negativ, trägt aber auch zu einer Rechtfertigung einer moderaten Form der Geschlechtertrennung (Frauen beten hinter den Männern, nicht aber in einem anderen Raum) bei, was mit Hilfe des Arguments eines angeblich stärkeren Schamgefühls von Frauen geschieht. Dieses Argument wird dabei offenbar erst in Auseinandersetzung mit Angehörigen der Aufnahmegesell112
schaft konstruiert, da es eine Begründung für die räumliche Trennung von Männern und Frauen beim Gebet darstellt und nicht als Erniedrigung von, sondern Rücksichtnahme gegenüber Frauen erscheint. Persönlich betrachtet Fatima offenbar die Geschlechtertrennung als ein Hindernis im Umgang zwischen Männern und Frauen und eine mögliche Ursache für Respektlosigkeit und Unhöflichkeit gegenüber Frauen. Für sie bilden islamische Verhaltensregeln einen ausreichenden Schutz im Umgang mit dem anderen Geschlecht. Innerhalb einer religiösen Argumentation wird hier also die Geschlechtertrennung als unnötig befunden. Fatima stellt im öffentlichen Raum die Verhaltensregeln der Aufnahmegesellschaft aber über diese islamischen Verhaltensregeln, was zeigt, wie wichtig ihr die Anerkennung innerhalb der Aufnahmegesellschaft ist. Eine religiöse Rechtfertigung hierfür wird ihr vom Moscheeverein geliefert, was ihr diese Entscheidungen im Alltag erleichtert. Hier wird wieder deutlich, wie wichtig die Rolle eines Moscheevereins bei der religiösen Legitimation von Verhaltensweisen ist, die als kompatibel mit der Aufnahmegesellschaft empfunden werden. Respekt, Toleranz und Offenheit erwähnt Fatima im Umgang mit Nichtmuslimen als wichtige Werte. Wie bei Jamal und Abid erscheint aber auch bei Fatima die Moschee selbst als ein Raum der sozialen Kontrolle, in dem Männer und Frauen die stillschweigenden Grenzen der Einteilung in Geschlechterbereiche akzeptieren und offenbar auch untereinander über ihre Einhaltung wachen. Bei anderen Gemeindemitgliedern beruht das nur auf einer Vermutung, von Seiten ihres Bruders werden Fatima Geschlechtergrenzen aber auch sehr explizit vermittelt. Während sie in seiner Abwesenheit es – bei wenigen Männern – wagt, diese Grenzen zu übertreten, käme das in seiner Gegenwart für sie nicht in Frage, da ihr Bruder dies als ungehörig und unanständig empfinden würde. Insgesamt wird bei Fatima ein starkes Bedürfnis deutlich, Geschlechtergrenzen zu durchbrechen, weshalb sie sich offenbar auch eine Moschee ausgesucht hat, die ihr diesbezüglich mehr Freiheiten gewährt. Diese Freiheiten haben aber für Fatima dort ihre Grenzen, die sie auch nicht übertreten möchte, wo sie als islamisch empfundenen Normen zuwiderlaufen, etwa in Bezug auf das Tanzen mit dem anderen Geschlecht, also den direkten Körperkontakt. Eine einheitliche Haltung der Befragten gegenüber Geschlechtertrennung gibt es also nicht. Im Gegenteil stellen sich die Begründungen dafür oder dagegen sehr unterschiedlich dar, wobei bis auf Abid offenbar alle Befragten zu einer Abschaffung oder Lockerung der Geschlechtertrennung tendieren.
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5.3.2.
Klassenfahrt und Reisen
Jamal würde weder einem Sohn, noch einer Tochter die Teilnahme an einer Klassenfahrt verbieten, da er soziale Kontakte als wichtig empfindet. Jedoch gerät er insbesondere in Bezug auf die Frage, ob er eine Tochter auf Klassenfahrt fahren lassen würde, in einen inneren Konflikt, da er sich an eigene sexuelle Erfahrungen auf Klassenfahrten erinnert fühlt. Er ändert seine Antwort von einem „weiß nicht“, über „ich glaube schon, ja“ zu „natürlich“, steckt also offensichtlich in einem inneren Konflikt. Dies erklärt sich dadurch, dass Jamal „heiße Erfahrungen” auf Klassenfahrten gemacht hat, wie er betont aus seiner eigenen Entscheidung sowie der Entscheidung der Frauen heraus. Seiner Ansicht nach hätte sich eine gut erzogene Frau jedoch anders verhalten, „und ich war auch ganz gut erzogen und habe mich auch nicht so krass verhalten wie viele anderen“. Er habe zwar nie Sex auf einer Klassenfahrt gehabt, aber „Bettgeschichtchen und so sind da (-) schon gelaufen”: Jamal: „Ein Mal lag ich sogar mit ganz vielen Frauen im Bett (schmunzelt), und das war irgendwie schön. (--) Weil man das andere Geschlecht ein bisschen (--) kennen lernt.”
Diese Erfahrungen erachtet Jamal also einerseits als wichtig für das Auskundschaften von Geschlechterbeziehungen, er würde jedoch andererseits erwarten, dass seine eigene Tochter sich nicht so freizügig verhält wie er selbst. Anständigkeit und eine gute Erziehung sind für ihn die Voraussetzungen dafür, dass eine Tochter die Klassenfahrt in seinen Augen unbeschadet übersteht. Ein weiterer Grund, warum er einer Tochter Klassenfahrten nicht verbieten würde, ist das negative Beispiel freizügiger Mädchen, die einem anständigen Kind eine Lehre sein und die Bedeutung religiöser Vorschriften klar machen könnten: Jamal: „Es ist schon wichtig, soziale Kontakte zu haben, auch auf einer Klassenfahrt, ja, und damit umgehen zu lernen. (-) Vielleicht auch zu sehen, was andere Mädchen machen, und man weiß dann besser, woran man ist.”
Jamal verbindet hier – wenn auch zwiegespalten – Ansprüche der Aufnahmegesellschaft wie soziale Kontakte zu Gleichaltrigen mit religiös begründeten Werten wie Anständigkeit und sexueller Enthaltsamkeit. Eine Frau ohne Begleitung betrachtet Jamal als wehrlos, hilflos und schwach, woraus er die Notwendigkeit ableitet, dass Frauen mindestens in Begleitung einer weiteren Frau auf Reisen gehen sollten. Dies gilt in seinen Augen jedoch nicht für Geschäftsreisen und nicht aus einer religiösen Begründung heraus, sondern aus einer rationalen. Denn die Ge114
sellschaft – offenbar unabhängig in welchem Land – beschreibt er als nicht hilfsbereit gegenüber Frauen. Es dient nach dieser Argumentation also zum Schutz der Frauen, in Begleitung zu reisen: Jamal: „(…) heutzutage ist es nicht gang und gäbe, dass die Leute der Frau einfach helfen, wenn sie ein Problem hat. (--) Viele gucken einfach weg. (--) Und deswegen (--) ist eine Frau immer Gefahren ausgesetzt, wenn sie ohne Begleitung reist. (--) Wenn es ein Job ist, klar, dann mu’ (.) geht es nicht anders, (--) aber man sollte es nicht (-) grundsätzlich nicht einfach so mal aus Spaß so machen, dass eine Frau alleine verreist und (--) ohne Hilfe. (--) Ohne Begleitung. (-) Auch, wenn es nur zwei Frauen sind. (-) Das reicht schon.”
Die berufliche Karriere und Selbstverwirklichung einer Frau sind für Jamal aber offenbar wertvoller als deren Schutz, weshalb er es vertreten kann, dass Frauen auch ohne Begleitung geschäftliche Reisen unternehmen. Fatima bieten unterschiedliche Auslegungen religiöser Vorschriften seitens islamischer Gelehrter die Option, sich für eine dieser Auslegungen zu entscheiden, was ihr wiederum Bewegungsfreiheit ermöglicht. Fatima: „(…) soviel ich weiß gibt es ja von verschiedenen Gelehrten verschiedene Auslegungen zu dem Thema, (-) das verschiedene Gelehrten zu diesen verschiedenen Themen haben, und solange es diese verschiedenen Themen gibt, finde ich, kann ich mich für eines entscheiden. (-) Und wenn es wirklich, ganz ehrlich, (-) wenn das überhaupt nicht geht [alleine zu reisen], kann man nicht mich zwingen, dass (-) da unbedingt mein Vater hin mitgehen müsste, weißt du.”
Fatima stellt also den Wert der eigenen Entscheidungsfreiheit über ein hypothetisches religiöses Gebot, sich bei einer Reise von ihrem Vater begleiten zu lassen, dem sie sich nicht fügen würde. Auch in Bezug auf Klassenfahrten setzte sie sich in der Vergangenheit gegen ein Verbot ihrer Eltern durch, das offenbar auf deren Befürchtung gründete, Werte wie Kopftuchtragen, voreheliche Enthaltsamkeit und Anstandsregeln wie das Meiden von Diskotheken könnten auf einer Klassenfahrt nicht eingehalten werden. Ein „islamisch korrektes“ Verhalten, das die Einhaltung dieser erwähnten Werte beinhaltet, dient ihr als Legitimation dafür, Handlungsfreiheiten wie die Teilnahme an der Klassenfahrt zu rechtfertigen. Sie verhandelt diese Freiheit mit den Eltern aber unter Zuhilfenahme des Arguments, sie könnte auch alles heimlich machen. Fatima: „Ich habe gemeint, (-) wisst ihr überhaupt, ob ich in der Schule Kopftuch trage, oder (.) oder ob ich einen heimlichen Freund habe
hm:: (-) wirklich immer so versucht, dass ich eigentlich, (-) dass sie
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nicht mir (-) ähm (-) irgendwas verbieten können, weil ich das eigentlich heimlich auch machen kann. Klassenfahrt weniger, aber so auch andere Sachen, weißt du. Wenn ich sage, ich gehe bei eine Freundin und mache doch was Schlimmes, weißt du. Und (-) al-hamdu-li-llah, Gott sei Dank habe ich das Vertrauen bekommen.”
Für Fatimas Eltern stellen Kopftuchtragen und voreheliche Enthaltsamkeit offensichtlich wichtige Werte dar, die sie durch die Klassenfahrt bedroht sehen, ebenso wie die Maßgabe, keine Disko zu besuchen. Fatima gelingt es dennoch, die Freiheit auf Klassenfahrt zu gehen argumentativ zu erkämpfen, selbst wenn die Mutter misstrauisch bleibt und Kontrollanrufe macht. Fatima erzählte nach eigener Aussage ihren Eltern im Anschluss an die Fahrt öfter von ihren Erlebnissen, vermutlich um deren Harmlosigkeit zu betonen und sich weitere Freiheiten für die Zukunft zu ermöglichen. Sie schildert, wie das mangelnde Vertrauen ihrer Mutter aus der Befürchtung rührt, der Teufel könne sie negativ beeinflussen. Fatima betont dem gegenüber die Stärke des menschlichen Willens, keine Sünde zu begehen und bezeichnet die Haltung ihrer Mutter als Unwissenheit und „Quatsch”. Fatima argumentiert also religiös, um sich von traditionellen Vorstellungen ihrer Mutter frei zu machen. Häufig betont sie, wie sehr sich insbesondere somalische Frauen in „unheimliche Fantasien“ hineinsteigern würden, die Fatima jedoch als absurd und realitätsfern betrachtet. So erwähnt sie das Beispiel einer Bekannten, die ihre behinderte Tochter nicht mit auf Ausflüge oder Klassenfahrten fahren lassen wollte, da sie befürchtete, das Mädchen könnte mit gleichaltrigen Jungen Sex haben oder vom Lehrer missbraucht werden. Fatima setzt sich mit dieser Mutter intensiv auseinander, legt also nicht nur großen Wert auf ihre eigene Handlungs- und Bewegungsfreiheit, sondern auch auf die von anderen muslimischen Mädchen. In ihrem Umfeld versucht Fatima, wie auch in anderen Zusammenhängen deutlich wird, Handlungsmuster zu verändern, die sie als widersprüchlich zu den Werten und Auffassungen der Aufnahmegesellschaft wahrnimmt. Fatima hat offensichtlich durch ihre Ausbildung zur Erzieherin ein großes Vertrauen in die schulische Betreuung sowie in Lehrer, Erzieher und die rechtlichen Strukturen der Aufnahmegesellschaft, die Sexualität unter Kindern nicht zulassen würden. Außerdem betrachtet Fatima die kindliche Sexualität als ein Austesten und einen normalen Entwicklungsprozess, den sie von der Sexualität Erwachsener unterscheidet. In diesen Punkten grenzt sich Fatima stark von den als absurd empfundenen „Fantasien” ihres somalischen – vielfach auch in Somalia lebenden – Umfelds ab, das die deutsche Gesellschaft als sexuell freizügig empfindet und unterstellt, „die sind wie die Tiere“: 116
Fatima: „Und halt, klar, gibt es bestimmt irgendwelche perversen Leute, aber man kann nicht alles so übertragen, (-) so viele Fantasien, die die haben. (-) Wirklich, das ist (-) das ist diese Vorurteile (-) hindern, dass man etwas wagt zu machen.”
Das Vertrauen in die erzieherischen Institutionen der Aufnahmegesellschaft ermöglicht es ihr offenbar, traditionelle Bilder und daraus entstandene Ängste zu überwinden, sich selbst Freiheiten gegenüber patriarchalischen Rollenmodellen zu ermöglichen und diese in ihrer eigenen Familie aufzubrechen. Denn Fatima betont in diesem Zusammenhang wieder die Gleichbehandlung von Jungen und Mädchen, da schließlich nicht nur Mädchen ihre Sexualität ausleben könnten. Sie würde ihren Kindern nicht verbieten, auf Klassenfahrt zu gehen, „solange das islamisch korrekt ist”. Für Fatima ist es wichtig, zunächst Vertrauen aufzubauen und ein Kind „islamisch korrekt” zu erziehen, damit es von sich aus keine „Fehler” begehe. Sie argumentiert, man könne nur aus eigener Erfahrung schlauer werden, wenn man jedoch als Eltern alles verbiete, so würden die Dinge heimlich praktiziert, wie Fatima in ihrem Umfeld offenbar sehr häufig erlebt hat. Hier werden also Werte wie Vertrauen, islamische Erziehung und Eigenverantwortlichkeit eines Kindes betont. Fatima ist es wichtig, Kindern die Gründe für islamische Verbote zu erklären, empfindet also Nachvollziehbarkeit und Vernunft als Werte. Die Haltung vieler Eltern, ihren Kindern Freiheiten zu verbieten, beurteilt Fatima als Unwissenheit, mangelnde Bildung, Traditionsgebundenheit und als einen „Teufelskreis”, der sich in künftige Generationen fortpflanze. Kontakt mit Angehörigen der Aufnahmegesellschaft, etwa im Rahmen der Ausbildung, trägt also, wie Fatimas Beispiel zeigt, offenbar dazu bei, Misstrauen abzubauen. In diesem Zusammenhang erscheint es umso wichtiger, jungen Menschen mit Migrationshintergrund Ausbildungsplätze anzubieten. Ähnlich wie Jamal zeigt auch Abid Skepsis gegenüber Klassenfahrten, insofern er sich an seine eigenen Verhaltensweisen erinnert, die er offenbar in der Retrospektive als nicht islamisch betrachtet. Zunächst leitet er daraus ein allgemeines Verbot von Jungen und Mädchen für Klassenfahrten ab der siebten oder achten Klasse ab, dann modifiziert er diese Haltung jedoch unter Bezug auf die Naivität eines Jungen oder Mädchens. Wenn ein Kind naiv sei, würde er die Klassenfahrt verbieten, sei es dagegen gläubig, könnte das Kind seine Freunde vielleicht vom Islam überzeugen, weshalb er eine Reise tolerieren würde. Auf die Befragten trifft es also nur eingeschränkt zu, was Ursula SpulerStegemann schreibt: 117
„Die Beteiligung von Mädchen am koedukativen Schulsport (Hervorhebung im Original) sowie an Klassenausflügen und an Aufenthalten in Landschulheimen ist nach wie vor für traditionell und religiös orientierte muslimische Familien schwer zu akzeptieren.“ (Spuler-Stegemann 1998: 201)
So seien mehrtägige Klassenfahrten für muslimische Mädchen, aber auch für die „verführbaren Knaben“ immer problematisch: „Allerdings habe ich noch von keinem Fall gehört, der muslimische Jungen von gemeinschaftlichen Schulveranstaltungen ausschlösse. Die Angst, die Ehre der Tochter (Hervorhebungen im Original) und damit der Familie könne bei derartigen Ausflügen besudelt werden, wird auch von nicht-religiös bestimmten muslimischen Eltern geteilt.“ (ebd.: 203)
Der Hinweis, dies komme auch in nicht-religiösen Familien vor, ist ein wichtiger Fakt, der auf die nicht an Religion gekoppelte Verbindung des Ehrbegriffs verweist (siehe hierzu auch Kapitel „Ehre und Würde“).
5.3.3.
Sport und Schwimmen
Die Haltungen der Befragten zum Thema Schwimmen und Sport schwanken zwischen sehr frei ausgelegten und orthodoxen Meinungen, die jedoch immer einen Bezug zu religiösen Begründungen aufweisen. So betrachtet Jamal Schwimmen in der Öffentlichkeit zwar als schlechte Tat, die man jedoch mit einer guten wieder ausgleichen könne: Jamal: „Kann man natürlich sagen, wenn das gesellschaftlich akzeptiert ist, ist das alles nicht so arg, (--) ich bin der Meinung, es ist auf jeden Fall nicht gut, wenn ein Mensch schwimmen geht in der Öffentlichkeit und damit seine Reize preisgibt, sowohl Mann als auch Frau. (--) Ich denke, man muss es halt so sehen wie eine schlechte Tat, die man mit einer guten Tat wieder ausgleicht. (--) Das ist halt etwas, was man in Kauf nehmen kann.”
Jamal erwähnt, dass er es „leider” nicht so sehe, dass man nur in islamischer Schwimmbekleidung und unter Gleichgeschlechtlichen schwimmen gehen dürfe: Jamal: „Auch wenn ich weiß, dass es gut wäre, das so zu sehen, (--) bin ich viel zu sehr (4) westlich erzogen vielleicht, um (-) um (-) westlich aufgewachsen, um das so zu sehen. (--) Also, dass Frauen nicht schwimmen gehen dürfen und Männer nicht mit Frauen (-) also (--) nee. (--) Bin
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ich nicht so. (-) Ich denke, das ist (-) das kann man locker sehen in der Hinsicht.”
Hier wird der Zwiespalt zwischen Jamals „islamischem Gewissen” und seinem westlichen Habitus deutlich. Die Aussage, er sei „westlich erzogen” korrigiert er zu „westlich aufgewachsen”, vermutlich um auszudrücken, dass er eben nicht von seinen Eltern „westlich” geprägt wurde, sondern von der Aufnahmegesellschaft. Zentral ist bei Jamal der Begriff der Scham. Wieder zeigt sich seine Bereitschaft, den Islam sehr frei zu interpretieren, indem er erklärt, man könne es „vielleicht” vom Koran ableiten, dass sich Mann und Frau mit ihrer Scham „verhüllten”, sogar wenn sie „halb nackt” seien. Deutlich distanziert sich Jamal von islamischen Gelehrten, nach deren Meinung er als Mann nicht und eine Frau „erst recht nicht” schwimmen gehen dürfte. Jamal räumt ein, er sehe das nicht „so verbissen”, daher habe er nichts dagegen, wenn seine Ehefrau auch in geschlechtergemischten Bädern schwimmen gehe, weil dies nicht explizit im Koran verboten sei. Im Schwimmen sieht Jamal aber auch nichts „Anstrebenswertes” und ist selbst lange Zeit nicht schwimmen gegangen, „weil ich es auch nicht unbedingt (-) also (--) herausfordern will”. Beim Schwimmen stellt er den sportlichen Zweck in den Vordergrund. Er meint, man solle seine Absicht immer wieder überprüfen, ob man aus gesundheitlichen Gründen oder um seinen Körper zu zeigen schwimmen wolle, was dann ein „grundsätzliches Problem” sei, das sich nur im Schwimmen „herauskristallisiert”. Die Absicht einer Handlung betrachtet Jamal als wesentlich. Er sieht im Koran „viel Freiraum für (-) für menschliche Gedanken und (--) logische Schlussfolgerungen”, die er Hadithen vorzieht. Dies rechtfertigt Jamal wiederum mit einer Überlieferung, der zufolge der Prophet gesagt habe, wenn eine Hadith dem Herzen widerspreche, solle man ihm folgen. Menschliche Vernunft, Logik und das „Herz”, also das Gefühl, stellt Jamal über als dogmatisch empfundene Gelehrtenmeinungen und Hadithen. Dadurch gelingt es ihm, sein Bedürfnis, islamisch schlüssig und konform zu argumentieren, mit durch die Aufnahmegesellschaft geprägten Handlungsoptionen und Einstellungen zu verbinden.65 Als islamisch betrachtete Vorschriften legt Fatima weniger frei aus als Jamal. Zwar würde sie ihre Kinder zum geschlechtergemischten Sport65
Hiltrut Schröter hat in Interviews mit muslimischen Frauen herausgefunden, dass der Prozess der Säkularisierung im Sinne einer Abwendung von religiösen Autoritäten und Institutionen, von vorgeschriebenen Ritualen und Glaubensinhalten, hin zu einer selbst gestalteten Religiosität im Islam in Deutschland ebenso wie bei Christen und Juden stattfinde (vgl. Schröter 2002: 275). Eine Säkularisierung in diesem Sinne zeigt sich hier auch bei Jamal.
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unterricht gehen lassen und tendiert dazu, Mädchen bis zur vierten Klasse zum geschlechtergemischten Schwimmunterricht zu schicken, da diese für sie noch keine „Sexualobjekte“ darstellen. Allgemein und auch für sich selbst sieht sie aber das Schwimmen nur unter Gleichgeschlechtlichen und in islamischer Schwimmbekleidung als möglich an. Fatima steckt offenbar in einem Zwiespalt zwischen den islamischen Vorschriften und dem als gesellschaftlich und gesundheitlich wichtig empfundenen Schwimmen und Sport. Sie sucht Alternativen, beides zu verbinden. Frauenschwimmbäder würden ihr diese Möglichkeit bieten: Fatima: „(…) so ein Gesellschaftsschwimmen ist wichtig, Sport ist wichtig, ist A und O, ich weiß es nicht, das weiß ich ehrlich gesagt nicht, (-) vielleicht gibt es eine andere Alternative, dass man sagt, OK, wir gehen jetzt in islamische Schwimmbäder, gibt es ja jetzt auch. Frauenschwimmbäder.”
So geht Fatima auch selbst zum Frauenschwimmen, wobei sie als Schwimmbekleidung ein langes Oberteil und eine bis zu den Knien reichende Hose trägt. Sie grenzt sich dabei von „Strengen” ab, die das Schwimmen ganz ablehnen. Fatima begründet ihre gemäßigte Einstellung folgendermaßen: „Wenn man wirklich (-) sich alles einschränkt, dann erreicht man auch nichts mehr.” Eine gewisse Bewegungsfreiheit in der Aufnahmegesellschaft, nicht nur im sportlichen Sinne, ist Fatima also wichtig. Sie betont auch im Zusammenhang mit dem Schwimmen wieder die aus ihrer Sicht notwendige Erziehungsgleichheit von Mädchen und Jungen (siehe hierzu auch Kapitel „Erziehung“). Maryam achtet ebenso wie ihr Mann darauf, nur unter Gleichgeschlechtlichen zu schwimmen, sie würde darüber hinaus auch nur mit islamischer Schwimmbekleidung baden gehen. Dies begründet sie nicht nur mit den „Reizen“, die sie selbst als Frau aussendet, sondern auch mit jenen, denen sie sich – bei knapp bekleideten Männern – ausgesetzt sieht. Maryam erachtet es offenbar als einen Schutz ihres religiösen Bewusstseins, sich davon fern zu halten: Maryam: „Nein, weil es geht ja nicht nur um mich, weil es geht ja auch um das, was ich sehe ja, (-) was meine Augen sehen, und da sind nun mal (.) auch (-) Männer, die (-) ganz kurze (-) also (-) halt so (-) Tangas und so anhaben, (-) und das geht nicht. (-) Es geht mir ja nicht nur um mich als Frau, es geht ja auch um das, was ich auch sehe. (-) Und das geht nicht.”
Der Gebrauch der Wendung „das geht nicht” deutet wieder auf ein Tabu. Maryam sieht offenbar einen Schutz ihres religiösen Bewusstseins darin, sich von einer Betrachtung sexueller Merkmale fremder Männer 120
fernzuhalten. In der Grundschule hatte Maryam Spaß daran, am – gleichgeschlechtlichen – Schwimmunterricht teilzunehmen. Auch Maryams Mann achtet darauf, nur unter Männern zu schwimmen, wozu er eine „halbe Weltreise” unternimmt, um in ein Männerschwimmbad zu fahren.66 Dass Maryam dies besonders betont und ausführt, lässt darauf schließen, dass ihr die Gleichbehandlung von Männern und Frauen in diesem Zusammenhang wichtig erscheint. Auch beim Sport achtet Maryam in einem Frauen-Fitnessstudio auf Gleichgeschlechtlichkeit und islamische Bekleidung, wobei die Anwesenheit männlicher Trainer sie, sofern sie Kopftuch tragen kann, in keinen Gewissenskonflikt stürzt. Eine ähnliche Haltung wie Maryam zeigt Abid, indem er Schwimmen nur unter Gleichgeschlechtlichen und mit islamischer Schwimmbekleidung als möglich erachtet und auch bei Sportarten auf Geschlechtertrennung besteht, die Körperkontakt erfordern. Er fühlt sich beim Sport in gleichgeschlechtlichen Gruppen auch wohler. Um muslimischen Mädchen die Bewegungsfreiheit zu sichern, die ihnen ihre Eltern unter Umständen in einer geschlechtergemischten Schwimmgruppe nicht zugestehen würden, ist es überlegenswert, in Schulen gleichgeschlechtlichen Schwimmunterricht anzubieten oder Kindern die Teilnahme an Frauen- bzw. Männerschwimmkursen zu ermöglichen.67 So würde man nicht die Mädchen für die Einstellung ihrer Eltern bestrafen, die unter Zwang übergangen womöglich eher Ablehnung gegenüber der Aufnahmegesellschaft erzeugen würde als Integration. Das Schamgefühl, das die Mädchen in der Gegenwart von männlichen Altersgenossen 66
Ursula Spuler-Stegemann schreibt: „Eigentlich müßte es auch einen islamischen ,Männerbadetag' geben; denn wo sich Frauen im hautengen Badeanzug oder Bikini tummeln, sollte ein frommer Muslim doch nicht zugegen sein; aber seltsamerweise wird ein solcher ,Männerbadetag' nirgends verlangt.“ (Spuler-Stegemann 1998: 203-204) Von Maryams Ehemann wird dies als religiöse Vorschrift aber beachtet, und auch die übrigen Befragten betonen, dass das Schwimmen für einen Mann in einer öffentlichen Badeanstalt nicht mit ihren Glaubensgrundsätzen übereinstimmt, weshalb sie das Schwimmen gehen – mangels Angeboten – meiden. Auch Natalia Diefenbach-Popov weist darauf hin, dass die „streng praktizierenden“ Muslime unter anderem gemischte Saunen, Schwimmbäder und Fitnessstudios meiden würden (Diefenbach-Popov 2007: 57). Offenbar handelt es sich hier um ein Anliegen, das bislang in der deutschen Öffentlichkeit noch nicht wahrgenommen wurde.
67
Das Bundesverwaltungsgericht urteilte 1993, dass die staatliche Schulverwaltung alle organisatorischen Möglichkeiten – etwa zum gleichgeschlechtlichen Unterricht – auszuschöpfen habe, um muslimischen Schülerinnen die Teilnahme am Sportunterricht zu ermöglichen und sie keinem unzumutbaren Glaubens- und Gewissenskonflikt auszusetzen (vgl. Boos-Nünning 1999: 19).
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empfinden, sollte nicht übergangen, sondern Ernst genommen werden, zumal sich Gefühle nicht verordnen lassen. Anzumerken ist, dass das Thema muslimischer Mädchen, die angeblich vom Schwimmunterricht ferngehalten würden, von den Medien aber auch der Wissenschaft offenbar oft größer gemacht wird, als es ist: „Der Vorwurf der bewussten Integrationsverweigerung von (muslimischen) Migranten ist mittlerweile eine feste Argumentationsfigur in der deutschen Öffentlichkeit und Politik. In vielen Fällen stützt sie sich indes auf Vermutungen oder Einzelbeobachtungen.“ (vgl. Spiewak 2006).
Laut Martin Spiewak ist die Tatsache, dass eine schwerwiegende Verweigerungshaltung seitens der Muslime offensichtlich nicht gibt, auch darauf zurückzuführen, dass viele Migrantenschulen dem Problem sehr pragmatisch begegnen und gleichgeschlechtlichen Sportunterricht anbieten, beziehungsweise muslimische Mädchen zum Frauenschwimmen in öffentliche Schwimmbäder schicken. Spiewak folgert: „Die These vom breiten Unterrichtsboykott muslimischer Eltern scheint nicht haltbar.“ (ebd.) Es seien jedoch dringend empirische Untersuchungen nötig.
5.3.4.
Erziehung
Alle Befragten betonen das Ideal einer islamischen Kindererziehung, wobei aber zwischen Jungen und Mädchen kein Unterschied gemacht wird. Allein Jamal nennt das abendliche Ausgehen als ein Thema, bei dem er Jungen mehr Freiheiten als Mädchen gewähren würde. Maryam begründet ihr Ideal einer gleichen Erziehung von Söhnen und Töchtern mit dem Vorbild des Propheten Muhammad, dessen überlieferter Erziehungsstil sie in Bezug auf Geduld, Respekt und Aufmerksamkeit – insbesondere gegenüber seinen Töchtern – beeindruckt. Auch eine Vermittlung von gleichen Pflichten für Söhne und Töchter, was Hausarbeit, Glauben und gutes Benehmen betrifft, erachtet sie als wichtig. Maryam: „Sie müssen alle beide im Haushalt mithelfen, ja (-) und sie müssen alle beide äh äh ihre Gebete äh vollbringen, sie müssen alle beide draußen in der Schule also ihr Bestes geben, im Verhalten (-) alles, was soll man da groß trennen? (-) Da gibt es nichts zu trennen.”
Eine islamische Kindererziehung beinhaltet für Maryam die Wahlfreiheit eines Kindes in Bezug auf Religion, was sie auch religiös begründet. Vertrauen in Gott erscheint ihr in diesem Zusammenhang als ein bedeuten122
der Wert. Als wichtig erachtet sie auch Respekt gegenüber Eltern, Lehrern, anderen Muslimen und Nichtmuslimen, wobei sie wiederum den Propheten Muhammad als Vorbild nennt. Die Moschee als Vermittlungsort für einen solchen Respekt nimmt für Maryam eine wichtige Rolle als Erziehungs- und Integrationshelfer ein. Das gute Benehmen, das in den Moscheen vermittelt werde, erleichtere auch den Lehrern den Umgang mit Kindern, argumentiert Maryam: Maryam: „(…) die Kinder, (.) die ich kenne, die wirklich auch auch äh immer noch in die Moschee gehen und (-) was von Benehmen lernen und (-) wie man sich verhält, (--) verhalten sich auch in der (-) deutschen Schule (-) verhalten sich ganz anders als die, die überhaupt nicht ähm (-) sag ich mal so, ähm (-) so’n bisschen islamisch erzogen werden. (...) Ich kann das nicht verallgemeinern, aber die meisten ist es auch so, (-) und das haben auch äh Lehrer (-) äh (-) beobachtet, (3) und deren Meinung war auch, dass (-) dass da auch ein Unterschied zu sehen ist, (-) also dass die anders mit Lehrern umgehen, (-) äh (-) Respekt haben, (…). (…) ich wünschte es mir, dass alle Muslime in so (-) Moscheen (-) gehen würden, wo sie halt via’ (.) vieles lernen könnten, ja. (3) Und das erleichtert auch den Le’ (.) Lehrern in der Schule (-) äh mit äh mit äh mit (-) mit denen dann umzugehen. (--) Weil jemand, der ein a’ (-) also, wenn er halt eine Schwester oder einen Bruder [im Glauben] nicht respektiert, dann wird er auch nicht einen Lehrer oder eine Lehrerin respektieren in der Schule, das ist halt immer so ein Problem. (-) Der respektiert bestimmt dann auch nicht seine Eltern, wenn er älter ist.”
Die Moschee ist für Maryam eine Art Brücke zwischen den zwei „Welten“68 als die sie die islamische Lebensführung und die deutsche Kultur betrachtet und die sich in ihren Augen offenbar teilweise ausschließen. Respekt gegenüber Eltern und Lehrern, Glaubensbrüdern und Nichtmuslimen erscheint für Maryam als ein bedeutender Wert, der auch zur Integration in die Aufnahmegesellschaft beitrage. Die Moschee wird hier zum Erziehungs- und Integrationshelfer. Fatima betont besonders die Erziehungsgleichheit von Mädchen und Jungen. Dass ihre Eltern ihr weniger Freiheiten als ihren Brüdern gewährten, empfindet sie als ungerecht und kulturell motiviert. Als islamisch betrachtet sie eine Gleichbehandlung der Geschlechter. Die Religi68
Der Begriff der „Welt“ impliziert, dass es sich dabei um ein in sich geschlossenes System handelt und zu der „anderen Welt“ eine klare Grenze wahrgenommen wird. Der Begriff „Welten“, den Maryam als Synonym für „Kulturen“ gebraucht, zeigt an, dass zwei voneinander unabhängige Bereiche wahrgenommen werden. Dies weist auf Ausschließungsmechanismen hin, die der in Deutschland allgemein verbreitete Kulturbegriff beinhaltet.
123
on wird hier zur Legitimationsgrundlage für Fatimas Ablehnung von geschlechtsbedingter Ungleichheit. Abid befürchtet, dass er einen Sohn strenger als eine Tochter erziehen würde, weil er sich an seine eigenen – offenbar negativ empfundenen – Verhaltensweisen erinnern und diese bei seinem Sohn präventiv zu unterbinden versuchen würde („weil ich weiß ganz genau, wie ich war (-) als Junge und dann (lacht kurz auf) (-) da würde ich so jeden Weg zumachen”). Von seinen Eltern hat er eine weniger strenge Erziehung erfahren als seine fünf Jahre ältere Schwester, da er zum Beispiel abends länger ausgehen durfte. Dies führt Abid darauf zurück, dass seine Mutter ihn mehr geliebt habe und ihn daher anders erzogen habe, wobei seine Schwester eine Bevorzugung von Seiten des Vaters erfahren habe. Auch Abid legt großen Wert auf eine islamische Kindererziehung, wobei er einem Kind – auf Anregung eines religiösen Buches – klarmachen würde, dass er selbst als Vater der göttlichen Autorität unterworfen sei und die Verbote nicht von ihm als Mensch, sondern direkt von Gott kommen.
5.4.
Arbeit und Öffentlichkeit
5.4.1.
Arbeit
Wie unterschiedlich die Folgerungen aus religiös begründeten Pflichten sein können, zeigt sich in einem Vergleich der Argumentationen Abids und Maryams. Beide nehmen eine religiöse Pflicht des Mannes zur Ernährung der Familie an. Für Abid folgt daraus, dass der Mann seiner Frau verbieten könne zu arbeiten, sofern ihm die Arbeitsumgebung nicht zusage. Abid betont zunächst besondere Verhaltensregeln, die ihm zufolge für Männer wie für Frauen gelten und Blicke, Körperkontakt sowie Kleidungsvorschriften betreffen. Dabei macht Abid jedoch einen Unterschied zwischen Männern und Frauen, da er voraussetzt, der Mann als Ernährer der Familie habe die Pflicht zu arbeiten und dürfe deshalb auch mit Frauen zusammenarbeiten: Abid: „Also (--) ich als Mensch, wenn ich damit umgehen kann, ja (--) meine Blicke zu zügeln, dann kann ich da (-) mit der arbeiten. (-) Also mit Frauen arbeiten. (-) Warum? (-) Weil (...) Arbeit ist (-) ist was islamisches. (--) OK. (-) Als Mann. (-) Nicht als Frau. (-) Als Mann. (--) Das heißt, wenn ich als Mann irgendwo arbeite, dann habe ich einen Grund, weil ich muss meine Familie ernähren. (-) Wenn ich da mit Frauen zu tun habe, und ich habe so lange keinen Kopf’ äh (-) Körperkontakt mit
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denen, dann ist es OK. (-) Weißt du. (-) Und wenn ich meine Blicke zügeln kann, ist auch OK al hamdu-li-llah. (-) Aber als Frau ist es ja, (-) weil es nicht ihre Pflicht ist, dann muss sie nicht arbeiten. (-) Das heißt, wenn sie da arbeitet und so, und das (-) die ganze Umgebung und alles, was da ist, das gefällt dem Mann nicht, und wenn ich zu ihr sage, ja (--) ka’ (--) kannst du aufhören da zu arbeiten, das ist zum Beispiel so ein Grund, wo es heißt, und wenn er sie (-) und wenn sie ihm folgt, (--) du kannst nicht da arbeiten, also (-) arbeite woanders, oder arbeite nicht da. (-) Dann (-) wenn sie dem [Mann] dann folgt, dann ist das OK, ja. Weil das nicht islamisch ist. (...) Natürlich, wenn sie sich das wünscht, unbedingt zu arbeiten, ja (--) dann (-) muss man auch sagen, OK, in Dschannat wirst du besser haben. Was für (-) alles, was du wünschst, wirst du haben. Und sie (-) wenn sie es sich so (-) so sehr wünscht zu arbeiten, arbeitest du auch, weißt du. Du wünscht es dir eh nicht, aber (--) so Sachen dann, weißt du.”
Abid unterstellt einer Frau, dass sie es sich im Grunde nicht wünsche, zu arbeiten. Der Mann dürfe ihr eine Arbeit verbieten (freundlich formuliert: „kannst du aufhören da zu arbeiten“), wenn er mit der Umgebung nicht einverstanden sei. Die Frau müsse dann ihrem Mann folgen, weil dieser einen islamischen Grund habe, es ihr zu verbieten. Eine Frau, die dennoch arbeiten will, verweist Abid auf das Paradies, wo sie alles haben könne, was sie sich wünsche. Abid hat somit ein sehr konservatives Weltbild und legt keinen Wert auf eine berufliche Selbstständigkeit der Frau. Für einen Mann, der seine Blicke „zügeln“ könne, nimmt er andere Bedingungen an als für eine Frau, für die es in seiner Argumentation keine Rolle spielt, ob sie ihre Blicke unter Kontrolle hat oder nicht, weil die außerhäusliche Arbeit keine Pflicht für sie darstellt. Aus Abids Erzählung wird auch deutlich, dass er es nicht gerne sehen würde, wenn seine Frau mit Männern zusammenarbeitet. Maryam dagegen erachtet es auch für Frauen als möglich, mit Männern zusammenzuarbeiten. Sie stellt sich als selbstbestimmt genug dar, um Männern Grenzen aufzuzeigen und findet es wichtig, dass Nichtmuslime die Gefühle von Musliminnen respektieren, was ihrer Erfahrung nach auch häufig geschieht. Auch sie betont wie Abid die Notwendigkeit, bestimmte Verhaltensregeln wie eine angemessene Sprechweise und körperliche Distanz einzuhalten. Diese Regeln sieht Maryam offenbar als eine Erleichterung für Frauen im Umgang mit Männern an, wobei sie Frauen als besonders empfindlich oder emotional verletzlicher als Männer beschreibt. Maryam ist es lieber, wenn ihr Mann mit einer muslimischen Frau zusammenarbeitet, die diese oben genannten Regeln beachtet und Kleidungsvorschriften einhält, wodurch ihrer Ansicht nach 125
Untreue verhindert werden kann. Räumliche Nähe zwischen den Geschlechtern empfindet sie als Gefahr und Tabu. Jamal sieht die Ernährung der Familie nicht als Aufgabe des Mannes an; das sei „heutzutage absolut nicht so”. Frauen würden schließlich nicht aus Spaß studieren oder um die Zeit bis zur Heirat „totzuschlagen”, sondern weil sie einen Beruf ausüben wollten, argumentiert er. Berufliche Ambitionen von Frauen nimmt Jamal offensichtlich erst, er sieht die Rolle des Mannes in der Moderne dadurch verändert, dass Frauen studieren und arbeiten. Er sieht den Mann nicht allein in der Rolle des Versorgers: Jamal: „Ich denke, das ist schon eine Sache, die man sich teilen sollte. (--) Gerade heutzutage. (--) Und beim Propheten war es ja auch nicht, so am Anfang.”
Jamal argumentiert mit der islamischen Überlieferung, der zufolge der der Prophet seine erste Frau kennen gelernt habe, weil er für sie gearbeitet habe. Dies werde sich nach der Hochzeit der beiden nicht schlagartig geändert haben, vermutet Jamal. Die Frau des Propheten sei beruflich selbstständig und auf keinen Mann angewiesen gewesen: Jamal: „Und warum sollen das andere Frauen nicht auch anstreben. (--) Und das bei einer Ehe beizubehalten (--) das gibt ihr nur die Freiheiten, die sie brauchen, (--) um sich vom Mann jederzeit lösen zu können (lacht). (--) Falls das ein Penner ist. (--) Falls er nicht das tut, was sie wollen.”
Demzufolge schätzt Jamal die berufliche Selbstständigkeit von Frauen und ihre Unabhängigkeit von einem Mann als Werte, auch in einer Ehe. Den Propheten Muhammad sieht er auch in einem modernen Licht als Vorbild an. Die Frau sollte seiner Auffassung nach die Freiheit haben, sich vom Mann jederzeit trennen zu können, was ihr durch berufliche Selbstständigkeit ermöglicht werde. Gegenseitiger Respekt und eine höfliche Distanz zwischen Männern und Frauen stellen für Jamal generelle Werte dar, die auch in einem Arbeitsverhältnis gelten. Denn wenn diese Distanz fehle, „ist es egal, ob das auf der Arbeit ist oder sonst wo, dann wird (-) wird man immer Probleme haben.” Die freie Auslegung islamischer Vorschriften hat für Jamal dort eine Grenze, wo ein Arbeitsverhältnis körperlichen Kontakt zwischen Männern und Frauen erfordern würde. Dieser stellt für ihn ein klares Tabu dar. Wie die übrigen Befragten sieht auch Fatima gewisse Regeln als notwendig in einem Arbeitsverhältnis zwischen Mann und Frau an, wobei sie körperliche Distanz, die Sachlichkeit der Gesprächsthemen und die Öffentlichkeit des Ortes nennt. Gleichwertigkeit und Kommunikation zwischen Mann und Frau im Berufsleben sind ihr wichtig, wobei sich Fatima 126
als Feministin bezeichnet, insofern ihr Frauenrechte insbesondere im Arbeitsverhältnis viel bedeuten. Die Zusammenarbeit mit Männern, auch mit Nichtmuslimen, sieht sie als unproblematisch an, insofern die Werte der ehelichen Treue und einer „islamisch korrekten“ Verhaltensweise eingehalten werden. Fatima betont dabei, dass für Männer und Frauen gleiche Verhaltensregeln gelten würden. Höflichkeit ist Fatima wichtig, was sich in ihren Gedanken über das Händeschütteln ausdrückt: Sie nennt eine islamische „Regelung” laut der es erlaubt sei, Angehörigen des anderen Geschlechts die Hand zu geben, insofern dies nicht regelmäßig geschehe und dabei nicht fest gedrückt werde. Bei der ersten Begegnung dürfe man einem Nichtmuslim die Hand reichen, müsse aber anschließend erklären, dass es im Islam eine Regel gebe, die Männern und Frauen untereinander ebendies untersage. Dieser Grundsatz sei ihr in einem Dawa-Seminar der Moschee vermittelt worden und habe sich in der Praxis bewährt, weshalb Fatima der Moschee dankbar ist. Es sei unhöflich, verletzend und verunsichernd, jemandem nicht die Hand zu geben, der sie einem entgegenbringe, findet sie. Fatima wendet jedoch ein, sie selbst drücke beim Händeschütteln auch fester zu, weil dies „einfach höflich ist” und es ihr das Gefühl gebe, „derjenige will mir entgegenkommen”. Höflichkeit stellt für Fatima also einen entscheidenden Wert dar, den sie über eine strikte Befolgung als islamisch betrachteter Werte stellt. Auch hier zeigt sich wieder, dass dem Moscheeverein eine wichtige Rolle zukommt, indem Regelungen islamisch legitimiert werden, die den täglichen Umgang mit Nichtmuslimen, insbesondere mit Männern, rechtfertigen und erleichtern. Insofern ermöglicht die Moschee eine Vermittlung zwischen „dem islamischen und dem deutschen Gewissen“ und dient der Integration. Dass sich dies in der Praxis bewährt hat, empfindet Fatima als Erfolgserlebnis.
5.4.2.
Religiöse Autorität: Die Vorbeterin
Am Beispiel der Funktion einer Frau als Vorbeterin zeigt sich bei den Befragten sehr deutlich der Konflikt zwischen orthodoxen Auslegungen sowie den als Konsens innerhalb der islamischen Gemeinde wahrgenommenen Einstellungen auf der einen Seite und reformistischen Deutungen wie auch dem Wunsch nach Anpassung an die Wertvorstellungen der Aufnahmegesellschaft auf der anderen. Jamal löst diesen Konflikt, indem er sich von der erwarteten Mehrheitsmeinung der Muslime abgrenzt und 127
eine Idealvorstellung vertritt, in der sich Männer und Frauen nur durch ihren Rang an Bildung in ihrer religiösen Autorität unterscheiden und daher auch die Frau als Vorbeterin fungieren kann. Eine gebildete Frau sei viel kompetenter als ein „dummer Mann“, meint Jamal, der also Bildung, nicht Geschlecht, zum entscheidenden Kriterium für religiöse Autorität macht. Er denkt jedoch auch, dass die meisten Männer Frauen als Vorbeterinnen nicht gutheißen würden. Sich selbst grenzt er hier also wie häufiger von einer tatsächlichen oder erwarteten Mehrheitsmeinung der Muslime ab. Anders als die übrigen Befragten hätte Jamal auch nichts dagegen, wenn Frauen räumlich vor Männern beten. Dies begründet er damit, dass sich auf der Pilgerreise nach Mekka Männer und Frauen ebenfalls mischen würden. Daran sehe man, „dass es auch so nicht schlimm wäre“, wenn Frauen in Sichtweite von Männern beten. Frauen betrachtet er nicht als Ablenkung beim Gebet. Wenn jemand dies so empfinde, bete er nicht richtig, urteilt Jamal. Die Frau wird hier nicht aufgrund ihrer „Reize“ in einen anderen Bereich verwiesen, sondern die Ursache für eine Ablenkung beim Mann selbst gesucht. Jedoch wendet Jamal ein, es sei möglicherweise dennoch besser, die Geschlechtertrennung in der Moschee beizubehalten: Jamal: „(…) ich meine, (--) es wäre nicht tragbar, denn die Männer würden reihenweise durchdrehen und die Frauen wahrscheinlich auch, (--) wenn man es (-) mischen würde in der Moschee. (--) Die würden dann gar nicht mehr aufhören sich zu beschweren. (--) Vor allem Leute, weißt du, die eigentlich überhaupt keinen Grund haben, sich zu beschweren, weil sie sowieso keine Reize mehr ausscheiden, meiner Meinung nach. (-) Die beschweren sich dann besonders. (--) Keine Ahnung, wieso. (--) Eigentlich ist es (-) halte ich es für Quatsch. (--) Es sollte wie in der Kirche sein, (-) Männer, Frauen, alle gemischt, was soll denn das. (--) Das ist Quatsch.”
Jamals persönliches Ideal einer Aufhebung der Geschlechtertrennung nach dem Vorbild christlicher Kirchen kollidiert hier mit dem Verhalten der islamischen Gemeinschaft, die seiner Vermutung nach eine Mischung der Geschlechter nicht tolerieren könnte. Das Ideal scheitert seiner Ansicht nach also an den realen Gefühlen von muslimischen Männern und Frauen. Es sind seinem Empfinden nach vor allem Leute, die selbst keine „Reize” ausstrahlen, die auf einer Geschlechtertrennung pochen. Jamal betrachtet es als „falsche Frömmigkeit”, wenn Frauen in der Moschee hinter den Männern beten. Er wendet sich auch gegen die erlebte Norm, dass es für Männer besonders erstrebenswert sei, die ersten Reihen beim Gebet in der Moschee zu besetzen, ebenso wie für die Frauen die letzten Reihen, was Jamal als Dogmatismus betrachtet: 128
Jamal: „Kann sein, dass es so ist, aber (--) es spricht mein Herz nicht wirklich an. (…) Das (--) das ist (--) spricht mich nicht so wirklich an. (--) Ich weiß nicht, das klingt für mich nach (.) nach so (-) Dogmatismus. (--) Nach irgendwas (-) an den Haaren Herbeigezogenes. (--) Unwichtiges. (--) Aber es wird als ganz hoch gepriesen unter den Gelehrten.”
Jamal urteilt hier offensichtlich unorthodoxer über in der islamischen Gemeinschaft praktizierte Normen als die übrigen Befragten. Für ihn ist entscheidend, ob sein „Herz” angesprochen wird, also ob die Norm sich in seine Gefühlswelt integrieren lässt, aber auch, ob sie logisch nachvollziehbar ist. Dogmatismus ist für Jamal negativ besetzt. Maryam und Fatima machen im Gegensatz zu Jamal ihre Auffassungen sehr viel stärker von der erwarteten Mehrheitsmeinung, also dem Konsens innerhalb der islamischen Gemeinschaft, abhängig. In ihrer Argumentation wird die Frau durch ihren Körper zur Verführerin, die den Mann zu sexuellen, als unrein empfundenen Gedanken verleitet: Maryam: „Das äh sollte eine Frau nicht machen, aus dem Grunde, (.) da halt auch egal, was eine Frau sag ich mal jetzt anhat, (-) eine Frau ist ne Frau, ja. Und (-) äh das verleitet die Männer schon an (-) äh schle’ (.) also (-) sag ich mal schlechte Gedanken, ja, (-) negativen Gedanken sag ich mal, die eigentlich ähm (-) im Gebet nichts zu suchen haben. Also wenn da ne Frau steht, (-) vor einem Mann, (--) das ist egal,
wie religiös der ist, ja, (-) also äh, du kann’ (.) ähm man kann nicht sagen, (-) ich meine, Allah hat uns Menschen (-) erschaffen, und er weiß ganz genau, was in einem (-) Mann vorgeht und was in einer Frau geht (.) vorgeht, und es ist nicht umsonst, dass die Männer vorbeten (-) äh sollen und müssen und äh nicht die Frauen. (-) Also wenn’s nur Frauen sind, dann äh (-) kann man’s auch so machen, dass s’ (-) dass eine vorbetet, (-) jetzt nicht unbedingt vorgeht, sondern in einer Reihe, ja, (-) aber äh dass die vor Männern vorbetet, nein, (-) ja. Alleine we’ wenn man sich bückt und (--) also nee. (-) Es e’ ähm im Gebet sollte es so sein, du sollst nur an Allah denken, und du sollst versuchen alle deine schlechten (-) Gedanken, negativen Gedanken und a’ oder auch (-) sei es auch gute Gedanken, ja was halt (-) wa’ (.) was an deine Kinder oder an an (.) an an Arbeit, (-) aber du sollst alles (-) vergessen, du sollst wirklich dich a’ an Allah konzentrieren, (-) und ich kann mir gut vorstellen (lacht), wenn eine Frau vor Männern beten (-) nein, das geht nicht gut (lacht).”
Allein durch ihr weibliches Wesen wird die Frau dieser Argumentation zufolge zur Verführerin, die den Mann zu negativen, also sexuellen, als unrein empfundenen Gedanken verleitet. Dabei spielen für Maryam weder der Grad der Bedeckung des weiblichen Körpers noch der Grad der 129
Religiosität des Mannes eine Rolle. Maryam argumentiert hier mit der göttlichen Vorsehung, aufgrund der eben nur die Männer vorbeten sollten. Alternative Deutungen spielen entweder in der Vermittlung durch die Moscheevereine keine Rolle, oder sie werden aus der Argumentation ausgeblendet, um Schlüssigkeit zu erzeugen.69 Maryam fügt sich hier ganz in die als islamischer Konsens wahrgenommene Auffassung und rechtfertigt diese, indem sie patriarchalische Argumente integriert. Allein die Gebetshaltung wird bei der Frau mit sexuellen Konnotationen verknüpft. Durch ihre permanent wahrnehmbare Sexualität ist die Frau laut dieser Argumentation per se eine Ablenkung für den Mann, die dessen religiöse Versenkung beeinträchtigt. Die Frau erscheint in dieser Betrachtungsweise sogar für andere Frauen als „Reiz“ oder körperliche Gefahr, da sie Maryam zufolge auch in ihrer Sichtweite nicht vorbeten sollte. Umgekehrt rechtfertigt Maryam das Vorbeten der Männer vor Frauen folgendermaßen: Maryam: „Aber ich kann mir (-) ja, aber Frauen, können sich eher (-) denk ich mal zusammenreißen als Männer. (…) Allein wenn schon Sigmund Freud70 sa’ (lacht). (-)
Allein wenn wir in die Psychologie gehen, ja, (-) sehen wir so vieles, ja, (-) können auch vieles nachlesen, (--) also das das ist für mich so ne Sache (-) so (-) hundertprozentig klar ist, ja. Es ist nicht umsonst (-) gemacht. (-) Viele sagen würden
ah ,
(-) wie negativ, (-) die Frau wird da wieder äh (-) vernachlässigt, oder es ist nicht äh (.) gleich, aber man muss es ja verstehen, man muss ja erst mal wissen erstmal, warum. (-) Warum es geht. (--) Und ich find’s schon sehr gut, dass es (--) es is’ es gibt’s nichts, das umsonst ist, und es gibt’s keine Sache im Islam, die nicht aufgeklärt ist, (--) also (-) man (.) man muss suchen, aber man findet auf jede Frage eine Antwort. (4) Das ist (-) ja. (-) Man findet auf jede Frage ne Antwort.”
Frauen nimmt Maryam unter Verweis auf Sigmund Freud und „die Psychologie” als selbstbeherrschter wahr als Männer. Offensichtlich findet 69
Zu den unterschiedlichen Meinungen, die islamische Gelehrte zum Thema Vorbeten einer Frau einnehmen vgl. Huda 2005: Eine Frau als Vorbeterin für das Freitagsgebet.
70
Fatima Mernissi weist darauf hin, dass sich die Vorstellungen des Psychoanalytikers Sigmund Freud (1856-1933) und einiger islamischer Theologen bezüglich der Komplementarität der Geschlechter decken. So vertritt Abbas Mahmoud al-Aqqad ähnlich wie Freund die Theorie, die vorherrschende männliche Eigenschaft sei der Wille zu Macht und Eroberung, die Frau dagegen wolle nicht erobert, sondern beherrscht und unterworfen werden (vgl. Mernissi 1987: 14): „Die ,machistische' Theorie weist dem Mann die Rolle des Jägers und der Frau die der Beute zu; sie wird heute weitgehend von Männern und Frauen geteilt, und ist im Selbstverständnis des jeweiligen Geschlechts tief verwurzelt.“ (ebd.: 15)
130
sie für diese Auffassung unter westlichen Psychologen Bestätigung. Für sie stellt sich dies daher als „hundertprozentig klar” dar. Atheistischwissenschaftliche Argumentationen eines Nichtmuslims nimmt Maryam hier als einen Beweis für die göttliche Vernunft an, die hinter einer religiösen Praxis steckt. Das ist eine sehr „westliche“ Denkweise und beweist, dass ihr die Auffassungen der Aufnahmegesellschaft vertraut sind. Sie findet offensichtlich mit Hilfe dieses angeblich wissenschaftlichen Fundaments für sich eine Legitimation religiöser Vorschriften und ein Mittel, um Kritik aus der Aufnahmegesellschaft zu begegnen. Offenbar nimmt sie es als sehr befriedigend wahr, wenn eine als religiöse Vorschrift empfundene Regel und eine wissenschaftliche Argumentation übereinstimmen. Ein Rückbezug auf rationale Argumente erscheint notwendig, um den Vorstellungen der Aufnahmegesellschaft gerecht zu werden. Eine wissenschaftliche Argumentation ist für Maryam der Beweis, dass alles im Islam „aufgeklärt” und nichts „umsonst” sei, also dass es auf jede kritische Frage eine religiöse, befriedigende Antwort gibt – oder zumindest geben kann. Denn Maryam erwähnt auch, man müsse diese suchen. Es wird hier deutlich, dass es eine Anstrengung erfordert, auf kritische Fragen befriedigende religiöse Antworten zu finden, also einen Konsens zwischen (erwarteten) Auffassungen der islamischen Gemeinschaft und jenen der Aufnahmegesellschaft herzustellen. Fatima gerät beim als schwierig erlebten Thema Vorbeten in einen inneren Konflikt. Nachdem sie sich, weil sie in der Schule damit konfrontiert worden war, im Internet informiert hatte, ist sie unsicher, ob die Seiten, die sie gelesen hatte, „so islamisch korrekt” seien, weil sie offensichtlich auf sehr unterschiedliche Meinungen dazu stößt. Auf die Meinungsvielfalt reagiert sie mit Rückzug. Sie meidet die als unorthodox empfundenen Beiträge, da sie es als unerträglich empfindet, wenn eine Meinung selbst konstruiert und nicht von religiösen – als wahr und verlässlich empfundenen – Grundlagen abgeleitet ist. Das ist ein grundsätzlich sehr verschiedener Umgang mit neuen und Konflikt beladenen Themen als er bei Jamal festzustellen ist. Fatima legt bei der Meinungsbildung offensichtlich sehr viel mehr Wert darauf, dass ihre Ansicht von der religiösen Mehrheit getragen wird und nicht wie Jamal auf individuelle Gründe wie Herz und Verstand. Dass Frauen überwiegend nicht als Vorbeterinnen fungieren, ist für Fatima ein Anlass, anderen Denkmodellen zu misstrauen. Dies mag seine Ursache darin haben, dass Fatima – ähnlich wie Abid, der zum Themenkomplex des Vorbetens aus Zeitmangel nicht befragt wurde – in der islamischen Gemeinschaft stärker Halt zu suchen scheint als etwa Jamal, der sich in vielen Ansichten von dieser distanziert. Auf ihre persönliche, gefühlsmäßige Antwort angesprochen, ant131
wortet Fatima mit dem Konzept der Schamhaftigkeit und dem „Reiz“ des weiblichen Körpers: Fatima: „Ja (-) das ist wieder dieses Schamgefühl. (-) Frau steht da vorne, (-) macht (-) ihre Stimme, macht (-) anders aus (-) ich glaube, vielleicht, ich weiß nicht
Sex
ja (lacht), keine Ahnung. Dann bückt sie sich und dann (-) hinten Männer.”
Fatima assoziiert offenbar schon die Stimme der Frau mit einem sexuellen „Reiz“.71 Körperhaltungen wie das Bücken bringt sie bei Frauen ebenso wie Maryam mit sexuellen Posen in Verbindung. Hier wird wieder einmal deutlich, wie eine Zuschreibung, die von außen – in diesem Fall von der islamischen Gemeinschaft – getroffen wird, von den Benachteiligten selbst übernommen werden kann. Dadurch werden Machtstrukturen von den benachteiligten Individuen selbst verfestigt. Seinen sprachlichen Ausdruck findet dieser Prozess bei Fatima dadurch, dass sie eine Handlung als „islamisch nicht korrekt” bezeichnet. Dieser Mechanismus wird auch deutlich, als Fatima eine islamische Gemeinde in den USA erwähnt, in der eine Frau ohne Kopftuch als Vorbeterin vor einer geschlechtergemischten Gruppe fungiert hatte.72 Fatima findet für diesen Vorfall, den sie als „Knaller” bezeichnet, zunächst schwer Worte. Im Zusammenhang damit, dass er in vielen islamischen Ländern als religiöser Verstoß aufgefasst wurde, erwähnt sie, das Vorbeten sei nicht „korrekt” abgelaufen: Fatima: „Das war (.) das war (.) das war, (.) also da sind vi:ele muslimische Länder (-) oh, (-) das ist haram. (-) Das war ja auch nicht korrekt, die hatte echt auch kein Kopftuch an. Ja (-) und (-) da war ein Mann (-) und Frau [legt die Hände dicht beieinander], Mann, Frau (-) so richtig gemischt, nicht so (-) weißt du, nicht so getrennt, sondern wirklich. (…) Da war ja das Thema (-) riesenlange. (-) Und zu der Zeitpunkt war ja das Thema bei uns im Politikunterricht wieder Thema (-) oah (-) bla, bla (-) 71
Die Historikerin Angela Degand hat bei einer Untersuchung der islamisch-juristischen Literatur des 13. bis 15. Jahrhunderts festgestellt, dass die akustische Wahrnehmung einer Frauenstimme als Versuchung für den Mann gesehen wurde, weshalb ihr in den Vorschriften zum islamischen Kult auch verboten wurde, beim gemeinsamen Gebet die Aufgaben eines Muezzin zu übernehmen, um die Männer nicht von ihrer Vorbereitung aufs Gebet und der dafür notwendigen inneren Sammlung abzulenken (Degand 1988: 44-45). Fatima argumentiert offenbar mit orthodoxen und tief in der traditionellen Literatur verankerten Normen.
72
Fatima bezieht sich auf die amerikanische Universitätsprofessorin Amina Wadud, die im März 2005 in New York erstmals als Vorbeterin und Predigerin vor einer geschlechtergemischten Gemeinde fungierte, was großes Aufsehen erregte (vgl. Dietrich 2005).
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da habe ich mich halt auseinandergesetzt, und letztendlich (-) also (-) ich bin da nicht schlau geworden, aus das, was ich gelesen habe. (-) Und (-) aber (-) anscheinend ist das halt nicht so, und (-) das hat mit Schamgefühl zu tun. (-) Denke ich.”
Dass die Vorbeterin kein Kopftuch trug, empfindet Fatima als einen religiösen Verstoß. Auf die Frage, ob das Vorbeten einer Frau akzeptabel wäre, wenn diese Kopftuch trage, antwortet sie nicht eindeutig: „Mit Kopftuch, das wäre auch, (-) also das ist so (-) richtig politisch (…)”. Offensichtlich ist sich Fatima der gesellschaftspolitischen Dimension der Diskussion bewusst. Sie nimmt wahr, dass davon auch die Bewertung der Rolle der Frau im Islam seitens der Aufnahmegesellschaft abhängt. Einerseits empfindet Fatima Loyalität gegenüber der islamischen Gemeinschaft, die eine Frau als Vorbeterin nicht akzeptiert. Andererseits wird sie, weil es auch innerhalb der islamischen Diskussion sehr unterschiedliche Haltungen gibt, nicht „schlau” aus dem Thema, kommt also für sich zu keinem eindeutigen Ergebnis. Sie möchte Vorstellungen der Geschlechtergerechtigkeit ebenfalls gerecht werden und sucht eine Synthese. Daher erwähnt sie zum Abschluss des Themas eine religiöse Überlieferung, laut der Zainab, Ehefrau des Propheten, stellvertretender Imam gewesen sei, also offensichtlich auch vor Männern vorgebetet habe. Fatima erwähnt jedoch auch ihre Unsicherheit, aus welcher Quelle diese Überlieferung stamme. Obwohl sie offensichtlich großen Respekt vor der Autorin des Textes hat, betont sie, dass Vorsicht nötig sei, solange religiöse Grundlagentexte nicht eindeutig seien. Um glauben und auch innerhalb der islamischen Gemeinschaft überzeugend vertreten zu können, dass Frauen mit Kopftuch vor Männern vorbeten können, würde Fatima ein religiöses Fundament benötigen. Auf Meinungsvielfalt zu dem Thema reagiert sie mit Rückzug zur orthodoxen Meinung, die von einer Mehrheit innerhalb der islamischen Gemeinschaft getragen wird, in der Fatima offenbar stärker als Jamal Halt sucht. Den Wahrheitsgehalt religiöser Überlieferungen zu beurteilten, empfindet Fatima daher als „sehr sehr sehr schwierig”: Fatima: „Aber (-) wir vertrauen auf Allah und (--) nur manchmal kommt doch der Shaitan und sagt, ach [wiegt den Kopf zweifelnd hin und her] (--) weißt du (lächelt). Wirklich, ich habe so das Gefühl, dann denke ich a::h (-) a-udu-billahi-mina-shaitani-r-ragim {Arabisch für ,beschütze mich vor dem verfluchten Satan’} (lacht). (-)
Und dann versuche ich zu beten. Weil irgendwie, (-) ich bin schon eh ein kritischer Mensch, und manchmal (-) wenn man vor allem kein Wissen hat, weißt du, dann (-) versucht man alles zu analysieren und so. (…) Ist nicht schlecht, eigentlich schon, ja, aber manchmal (-) ach (-) genauso (-) ist es überhaupt
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so? Weißt du? Weil (--) und vor allem, ich glaube meine Ausbildung macht mich noch verrückter als ich bin (lacht). (-) Weil (-) es (-) so diese Konstruktivismus-Theorie sagt sowieso (-) man (--) nur das, was man für richtig hält, denkt man auch, dass es so ist halt, weißt du. Zum Beispiel (-) oder oder (-) das hat auch viel mit Wahrnehmung, mit eigenen Gefühlen und alles zu tun, kulturelle (-) also alles (…). (...) Wenn man das (-) auf die Hadithen überträgt, dann wird das u:h. (-) Also dann also (-) einmal habe ich (-) also da kam ich auf diese Fantasie, dass ich da mal eine Untersuchung mache (-) aber keine Gelehrte also (lacht), (-) versuch dann nicht mit deinem Psycho-Ding da dauernd, das du gelernt hast, (-) das auf jede (-) Lebensart zu übertragen. (-) Ist schon (--) die sagen ja auch, es gibt keine Wahrheit, (-) es gibt keine objektive Wahrheit, sondern nur die eigene subjektive Wahrheit so. (...) Und das ist schon wahr halt. Ganz ehrlich. (-) Aber (-) das sind die (-) naja (-) komischen (lacht) (-) Theoretiker, die auf diese Idee kamen, ist natürlich nicht schlecht, so was zu wissen, aber (--) ja (-) manchmal, wenn meine Mutter erzählt, erzählt, erzählt, erzählt, ja (-) und dann tut sie mir echt leid, dann hinterfrage ich, und dann ist sie platt. Dann ist sie sauer auf mich, und dann (-) ja. (…) Shaitan kann ja auch einen dazu bringen zu sagen (-) ja hm, guck mal (-) was hat da der gesagt, was hat der gesagt, was hat der (-) andere gesagt? Hmm. (--) Dieses Unbefriedigende.”
Fatimas Zwiespalt ist umso stärker, da sie einerseits Vertrauen in Gott und eine objektive Wahrheit als wesentliche Werte annimmt, andererseits jedoch diese durch Theorien, die ihr im Rahmen ihrer Ausbildung vermittelt werden, relativiert sieht. Dabei versetzt Fatima die konstruktivistische Kritik einerseits in die Lage, sich gegenüber traditionell-orthodoxen Äußerungen ihrer Mutter argumentativ zur Wehr zu setzen und wird von ihr in diesem Zusammenhang positiv bewertet. Andererseits verursacht der damit verbundene Relativismus auch eine als negativ empfundene Unsicherheit. Zweifel an religiösen Überlieferungen empfindet Fatima als unbefriedigend, offenbar auch weil sie dadurch in Konflikt mit Vorstellungen ihrer Familie gerät. Bei ihrem Versuch der Synthese kommt sie zu keinem eindeutigen Ergebnis. Die Loyalität gegenüber der als Konsens wahrgenommenen Auslegung überwiegt offensichtlich solange, bis alternative Deutungen eine als ausreichend wahrgenommene religiöse Rechtfertigungsgrundlage haben. Erst dann könnte Fatima beim Thema Frau als Vorbeterin den Konflikt zwischen den Wertvorstellungen der Aufnahmegesellschaft – mit einer den Männern ebenbürtigen Frauenrolle – und dem islamischen Wert einer Loyalität zu religiösen Überlieferungen auflösen, die dieser Ebenbürtigkeit in diesem Fall anscheinend zuwiderlaufen. Solange eine solche Rechtfertigungsgrundlage nicht in Sicht ist, hält Fatima am Konzept der Scham fest und 134
untermauert damit die patriarchalisch geprägte Wahrnehmung vom Frauenkörper als Körper, der nicht in öffentliche Funktionen gehört. Es handelt sich also um einen Teufelskreis, der nur durch Mut zu alternativen Deutungen zu durchbrechen wäre, die sich religiös schlüssig begründen lassen. Das ist allerdings eine theologische Aufgabe, die in einen islamwissenschaftlichen Diskurs gehört. Eine politische Frage dagegen ist, ob und wie man Moscheevereine dazu bewegen kann, solche alternativen Deutungen zuzulassen, die den inneren Konflikt vieler Muslime auflösen und zu einem besseren Verständnis auch innerhalb der Aufnahmegesellschaft beitragen könnten.
5.5.
Partnerschaft
5.5.1.
Ehe
Für alle Befragten stellt die Ehe einen besonderen Wert dar. Jamal bezeichnet sie als „heilig“ und wesentlich für einen Muslim: Jamal: „Ja, und ich unterstelle jedem, der nicht heiratet, dass er keine ernsthafte Absicht hat. (--) Ja. (-) Das Heiraten ist sehr wichtig im Islam und (-) macht einen Moslem eigentlich erst zu (-) einem
richtigen Moslem, kann man so sagen, weil vorher ist er noch sehr anfällig für viele Dinge. (...) Die Natur des Mannes ist da viel schlimmer. Deswegen muss die Frau sich auch so hüten, weil die Frau so leicht verführbar ist, und der Mann (--) so leicht vom Teufel verführbar ist. (--) Ein einzelner Mann, sowieso nicht in der Gemeinde, ist im Islam sowieso wie (-) sehr leicht anfällig (-) für teuflische Dinge. (-) Und äh (-) der Mann an sich sowieso, was sexuelle Sachen angeht, sehr stark, (-) und deswegen sind die Vorsichtsmaßnahmen sehr übertrieben im Islam. (-) Aber (-) für Frauen, die damit Erfahrung gesammelt haben und Männer auch, kann man eigentlich sagen, sind diese Vorsichtsmaßnahmen nicht mal krass übertrieben. (--) Weil hier, in dieser Gesellschaft (...) passieren prekäre Sachen, also (--) in Deutschland ist man ja noch gut dran, Amerika ist ja so ein (-) übertriebenes Beispiel für für (.) für das, was passieren kann. (-) Jetzt diese sexistischen (--) Alltäglichkeiten. (…) Ich denke, dass (.) dass gerade, was (-) ähm (-) Filme und Musik angeht, sieht man, was aus Amerika rüberschwappt schon eine Einstellung, die sehr sexistisch ist. (-) Und (-) sowohl von Männern als auch von Frauen kultiviert wird, in Musikvideos und in Filmen und in allem drum und dran.73 (--) Und dem 73
Jamal greift hier ein Argument auf, das auch feministisch orientierten
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entgegen zu wirken, ist diese islamische Gesellschaft halt so extrem vorsichtig. (--) Dass Männer und Frauen so gut wie gar keinen Kontakt haben sollten. (-) Außerhalb der Ehe. (-) Damit sie nicht in Versuchung geraten, so ausschweifend zu werden.”
Die männlichen Befragten weisen auf die Schutzfunktion der Ehe hin. In der Argumentation Jamals spielt dabei auch der Teufel eine Rolle, der den Mann zu verführen trachte, wovor die Ehe schütze. Der Mann erscheint hier als ein – durch die Einflüsterungen des Teufels – sexuell leicht beeinflussbares Wesen, die Frau als leicht vom Mann verführbar und damit indirekt ebenfalls den Ränken des Teufels ausgesetzt. Um die sexuell-aggressive Natur des Mannes zu zähmen und dem Sexismus in der Gesellschaft entgegen zu wirken, wird die Ehe als „Vorsichtsmaßnahme“ präsentiert. Enthaltsamkeit außerhalb der Ehe und Respekt vor der Frau beziehungsweise ihr Schutz zeigen sich in Jamals Erklärungen als Werte. Dabei sieht er es als Übertreibung an, den Kontakt zwischen Männern und Frauen vor und außerhalb der Ehe ganz zu vermeiden. Jedoch kann er diese Haltung nachvollziehen, insofern der von ihm in der Aufnahmegesellschaft verortete Sexismus solche Einstellungen geradezu provoziere. Sich selbst bezeichnet Jamal jedoch als „locker“, was wieder darauf hindeutet, dass für ihn der Konsens der islamischen Gemeinschaft eine geringe Bedeutung hat. Auch in der Argumentation Abids erfüllt die Ehe den Zweck eines Schutzes vor als unzüchtig beurteiltem Verhalten, sorgt für ein geregeltes Sexualverhalten und führt die Gläubigen dadurch näher zu Gott. Die Ehe wird insofern als religiöse Zweckgemeinschaft, als Vertrag,74 charakterisiert. Den idealen Weg eines „islamischen“ Kennenlernens, den Abid vertritt und der die Vermittlung durch einen Glaubensbruder beinhaltet, ist er selbst in seiner Ehe nicht gegangen. Es handelt sich also offenbar um einen Idealzustand, der ihm als Norm von der islamischen Gemeinschaft vermittelt wird. Seine eigenen Gefühle erlebt Abid als unkontrolForscherinnen nicht fremd ist. So erklärt Karin König: „Festzuhalten ist, daß die Kleidung von Frauen in der modernen westlichen Gesellschaft fremden Bestimmungen folgt. So zeigt sich die Frau in ihrer Bekleidung als sexuell verfügbares Wesen, indem ihre Kleidung ihren Körper und ihre Geschlechtsmerkmale betont. Die Frau ist Ausdruck des männlichen Prestiges.“ (König 1994: 180) Freilich verweist Jamal nicht nur auf die männliche Dominanz über Frauen und den negativ bewerteten Sexismus, sondern auch auf die Gefahr, „ausschweifend zu werden“ und auf die Verführbarkeit des Mannes. 74
Laut Farideh Akashe-Böhme ist die Ehe im Islam „kein Sakrament wie im Katholizismus, sondern ein Rechtsvertrag zwischen Mann und Frau. Dieser soll das Zusammenleben zwischen Mann und Frau regeln und der Erzeugung von Kindern dienen. Die Ehe gilt als eine moralische Verpflichtung jedes Muslims, unterwirft er sich doch damit dem Willen Gottes“ (Akashe-Böhme 1997: 33).
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lierbar und empfindet es als notwendig, durch Ehe, Geschlechtertrennung und Verhaltensregeln diese „Gefahr“ zu bannen: Abid: „Wenn ich das nicht mache [Anmk. d. V.: wenn es nicht zur Hochzeit kommt] (-) danach (-) ist der Kontakt vorbei. (-) Ich lösche ihre Nummer, ich (-) ich vergesse sie gleich, weißt du? (--) So (-) so ist die Beziehung. Also davor hat man gar keine Beziehung zu einer Frau. (-) Nur (-) das bleibt nur unter [Glaubens]Brüdern, die Schwestern (-) oder unter [Glaubens]Schwestern, weil das (-) man hat Angst, (-) dass (...) sich das zu sehr (...) mischt (...) weil du Gefühle hast du nicht unter Kontrolle.”
Eine Gefahr verortet Abid dort, wo er sein Ideal von der ehelichen Treue bedroht sieht, was ihn von dem Weg zu Gott abbringen und auch seinen Stand innerhalb der islamischen Gemeinschaft gefährden würde. Die Ehe wird als ein Mittel auf dem Weg ins Paradies gesehen. Außerdem würde Abid mit einer Missachtung der ehelichen Treue möglicherweise die Loyalität seiner muslimischen Bezugspersonen verspielen. In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass Abid offenbar nicht immer die Ehe als so bedeutend erachtete. Er lebte mit seiner jetzigen Frau schon zusammen, als beide noch unverheiratet waren und ehelichte sie dann auf Drängen einer Glaubensschwester, die für ihn eine relevante Bezugsperson ist. Daraufhin änderte sich Abids Einstellung gegenüber dem Heiraten und Zusammenleben, was wieder auf die Bedeutung verweist, die für ihn die religiöse Gemeinschaft und folglich auch deren Normen einnehmen. Die Normen und Werte dieser Gemeinschaft, zu denen auch die Ehe gehört, sind für Abid offenbar auch deshalb so wichtig einzuhalten, weil er in der Gemeinschaft Halt findet. Fatima und Maryam haben einen Weg des Kennenlernens gewählt, der die als islamischer Konsens präsentierten Regeln versucht einzuhalten, ohne jedoch auf die Vermittlung durch Eltern oder Verwandte zurückzugreifen. Dabei spielten bei Fatima das Internet sowie Telefongespräche und bei Maryam Telefongespräche wie auch Briefe eine wichtige Rolle. Die modernen Kommunikationsmittel erleichterten es Fatima, ihren Partner selbst auszusuchen und dabei die als islamisch empfundenen Vorschriften für das Kennenlernen einzuhalten. Die Moschee bot sowohl Fatima als auch Maryam darüber hinaus einen – sozial kontrollierten – Raum, den zukünftigen Partner auch persönlich zu treffen. Bei Maryam ist auch die häusliche Umgebung und die mütterliche Kontrolle ein Garant dafür, dass das Kennenlernen in einem „islamischen Rahmen“ stattfindet. Maryam beschreibt, wie wichtig es ihr war, Einstellung und Wesen ihres künftigen Mannes kennen zu lernen. Sie hatte Angst, ein Ehemann könnte von ihr die Rolle einer Hausfrau erwarten und ihr verbie137
ten zu arbeiten oder zu studieren, weshalb sie sich zeitweise nicht vorstellen konnte zu heiraten: Maryam: „(…) irgendwie (--) war da irgendwie gar kein Interesse (-)
von meiner Seite aus (lacht). (-) Ganz komisch. (4) Ich hab auch immer gedacht, ach nee, (-) ich heirate niemals. Interviewerin: Weil du so hohe Erwartungen hattest, vielleicht? Maryam: Kann sein, weil (...) das gibt’s ja ähm (-) wirklich auch Männer, die sagen, nee, ich möchte wirklich so (-) wie so äh ne Frau, die halt wirklich so nur zuHause ist, ja (-) möchte nicht, dass sie arbeiten geht (...). Und das war für mich (--) nee. (-) Also mit so jemanden ko’ würde ich gar nicht klarkommen. (--) Weil äh ich bin ähm jahrelang zur Schule gegangen und hatte auch (-) es gibt’s Leute (-) es gibt auch Mädels, die ich kenne, und Frauen, die sagen, ich möchte gar nicht mehr, ich hab keine Lust mehr zu arbeiten oder irgendwas zu machen. Ich möchte gerne zu Hause sein. (-) Aber ich war dann halt nicht so. (-) Ich wollte halt gerne äh (-) studieren und Schule fertig machen (...).”
Berufliche Selbstständigkeit und Unabhängigkeit vom Ehemann sind Maryam wichtig. Sie achtet bei dem Kennenlernen ihres Mannes jedoch darauf, keine religiösen Tabus zu brechen. Ausschlaggebend für die endgültige Entscheidung für eine Ehe ist der Segen Gottes, den die beiden im Gebet erbitten. Für Maryam stellen auch Familie, eine dauerhafte Partnerschaft sowie Sicherheit, Verlässlichkeit und Vertrauen innerhalb der Ehe wichtige Werte dar. Diese, vermutet sie, seien bei muslimischen Männern stärker ausgeprägt als bei Nichtmuslimen. Aber nicht nur wegen dieser Werte, sondern auch wegen eines durch die islamische Gemeinschaft vermittelten Verbotes beharrt sie darauf, Frauen dürften keine nichtmuslimischen Männer ehelichen. Dies begründet sie mit einem angeblich schwächeren Durchsetzungsvermögen von Frauen, die gefühlsbetonter und feinfühliger seien, während Männer in ihrer Darstellung als vernunftbetont und durchsetzungsfähig erscheinen: Maryam: „Weil Frauen auch viel mit mi’ mit dem Herzen denken, also ni’ nicht nur mit dem Kopf, sondern wirklich mit dem Herzen, die sind viel feinfühliger als Männer, (-) und irgendwann aufgeben würden (-) gegen (...) deinen Partner oder gegen den Vater deines Kindes zu kämpfen und dann eher die Gefahr besteht, dass dein Kind nicht islamisch erzogen wird, ja. (...) deshalb ist es äh (-) am besten, wenn alle beide Muslime sind, dann kann so was gar nicht entstehen. (-) Aber ein Mann darf trotzdem eine äh (-) ä:h Nichtmuslima heiraten, also Jüdin jetzt oder Christin, weil sie auch an Gott glaubt, (...) da sch’ äh besteht eine kleinere Gefahr als wenn jemand überhaupt nicht an Gott glaubt, weil
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dann ist es (-) erst recht problematisch, mit dem Partner zusammenzuleben.75 Wie willst du jemanden, der überhaupt nicht an Gott glaubt, (...) also dein Mann oder deine Frau sagt, es gibt’s keinen Gott, und du sagst doch,
es gibt einen (lacht). (--) Also das arme Kind dann, ja. (-) Also was man dem Kind dann antut.”
Dass ein Kind unterschiedliche Glaubensansichten von den Eltern vermittelt bekommt, erscheint in dieser Argumentation als schädlich. Aus dem gleichen Grund lehnt Fatima solche Eheschließungen ab. Hier werden islamische Glaubensgrundlagen also rational begründet.
5.5.2.
Erwartungen der Eltern
Alle Befragten sahen sich von Seiten ihrer Eltern mit Erwartungshaltungen konfrontiert, die vorrangig die Nationalität des Ehepartners betrafen. Bis auf Maryam, die einen Marokkaner geheiratet hat, opponieren jedoch alle gegen solche Vorstellungen, wenngleich sie – ausgenommen Abid – auch Verständnis für ihre Eltern aufbringen. Bei Jamal und Abid werden die Erwartungen von der Mutter, bei Fatima von beiden Elternteilen und bei Maryam mehr vom Vater geäußert. Jamal begründet die Erwartungen seiner Mutter und anderer pakistanischer Eltern mit einer Bequemlichkeit, die in seinen Augen aus dem Wunsch rührt, die pakistanische Kultur, Sprache und das traditionelle Rollenbild aufrechtzuerhalten. Eltern, die sich eine Schwiegertochter aus Indien oder Pakistan wünschten, gehe es „vor allem um die pakistanische Kultur, (-) und die Sprache, dieses (-) zu Hause alles machen, um die Kinder kümmern, (--) ja (-) kochen können, Kaffee (.) Tee bringen, meine ich, (--) und so Faxen. (-) Darum geht es. (-) Die wollen Bequemlichkeit.” Jamal wertet diese Einstellung ab. Das traditionelle Rollenbild der Frau als Hausfrau und Mutter sowie ein Verhaftetsein in der Herkunftskultur und Sprache bedeuten für ihn Bequemlichkeit. Er betrachtet dies als zwiespältig: „(...) da habe ich nicht drauf gepocht. (-) Ich denke,
es hat alles Vor- und Nachteile”. Jamal beurteilt dieses Rollenbild also nicht ausschließlich negativ, sondern erkennt darin auch Vorteile. 75
Nach Meinung der meisten islamischen Theologen dürfen muslimische Männer Nicht-Musliminnen heiraten, sofern sie zu den „Schriftbesitzern“ gehören, also einer monotheistischen Religion angehören, was häufig auf Jüdinnen und Christinnen beschränkt wird. „Nach islamischem Recht ist hingegen die Ehe eines Nicht- Muslims (Hervorhebung im Original) mit einer Muslimin verboten.“ (Spuler-Stegemann 1998:188)
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Dennoch handelt er, seinem Liebesideal folgend, diesen Erwartungshaltungen zuwider, was zu Konflikten mit der Mutter führte: Jamal: „(…) es gab auf jeden Fall Probleme. (-) Vor allem, weil sie halt (3) nicht wollte, dass ich wegen einer anderen Frau jetzt von diesem (--) Vorhaben [eine Pakistanerin zu heiraten] ablasse, das sie sich da schon vorgenommen hatte. (3) Sie hat mir auch schon viele Frauen vorgestellt gehabt und so weiter. (…) Ja, nachdem ich halt mit einer Frauzusammen war, die ich geliebt habe, und mit der (--) ich glücklich war, wollte ich (-) nicht (--) einfach alles kaputt machen. (--) Und vor allem (-) wäre das nicht fair gewesen.”
Dass bereits seine Brüder gegen die Vorstellungen der Mutter opponiert und keine pakistanischen Frauen geheiratet hatten, verstärkte den Druck auf Jamal, seiner Mutter einen Gefallen zu tun. Nachdem er sich bereits in ihre Vorstellungen gefügt und seine Mutter ihm pakistanische Frauen vorgestellt hatte, war es für ihn offenbar umso schwieriger, diesen Erwartungen letztlich doch nicht zu entsprechen und eine deutsche Frau zu heiraten. Die Werte Liebe und Fairness gegenüber dieser Frau überwogen offenbar das Loyalitätsempfinden gegenüber seiner Mutter. Auch bei Fatima dominieren die Werte der Selbstbestimmung und Liebe, weshalb sie sich gegen den Willen ihrer Eltern durchsetzt und eine Heirat mit einem Deutschen anstrebt. Diese ist offenbar für sie auch die Möglichkeit, traditionellen Rollenbildern zu entfliehen, die sie durch das Verhalten vieler somalischer Männer verfestigt sieht. Fatima lehnt eine vermittelte Heirat stark ab und ist dafür auch bereit, Sanktionen seitens der Eltern auszuhalten, die Vorbehalte gegenüber ihrem Freund haben: Fatima: „Ähm (-) ja, erstmal war der deutsch, (-) die können sich das nicht vorstellen, auch, wenn er jetzt Moslem ist, hm (-) das ist für sie (--) schwierig. (-) Aber insha Allah also jetzt, wenn ich meine Ausbildung fertig habe und ich hundertprozentig auch dahinter stehe, ich habe dann irgendwas (-) vorzulegen, und dann kann ich sagen, (...) jetzt will ich heiraten, es wird auch Zeit (-) und dann insha Allah. (-) Ich denke mal. Interviewerin: Meinst du, sie akzeptieren ihn auch? Fatima: Sie müssen. (--) Ja (lacht). (--) Sie werden nicht davon begeistert sein oder sind jetzt nicht jetzt zurzeit begeistert, aber (--) ich denke mal, (-) was können sie mehr machen als (-) als (-) ich will ihn, er will mich, wir verstehen uns hier.”
Dass ihre Eltern den deutschen Schwiegersohn ablehnen, begründet Fatima mit deren Vorstellung, dass die Kulturen und Denkweisen unvereinbar miteinander seien. Fatima betrachtet dies als egoistisch von 140
ihren Eltern. Sie selbst habe durch ein Leben in beiden Kulturen gelernt, Kompromisse zu finden und eine Vereinbarkeit erreicht: Fatima: „Weil (--) die haben auch (--) ich denke mal, das Problem ist, warum die dann auch eine Abneigung gegen (-) einen deutschen Mann haben, weil sie denken, ach, wir haben verschiedene Kulturen, auch wenn er Moslem ist, ja, hm, hm (-) wir haben verschiedene Denkweisen und so weiter und so fort, (-) die denken eigentlich an sich, also (-) also (-) und denken nicht dabei an mich (lacht), (-) weil ich mittlerweile kann für mich trennen, (-) also das ist meine (-) also da komm ich her, und hier lebe ich, also ich bin zwischen äh (-) diesen zwei Kulturen sozusagen, weißt du, (-) ich kann sowohl (-) ja (-) deutsch denken als auch somalisch denken, ja, und finde für mich immer wieder diesen Kompromiss und (--) ja.”
Die Heirat eines deutschen Muslims ist offenbar für Fatima ebenfalls ein solcher Kompromiss, insofern sie einerseits ihren individuellen Vorstellungen von Liebe, Selbstbestimmung und einer Gleichwertigkeit von Mann und Frau entsprechen kann, andererseits aber auch Normen der islamischen Gemeinschaft gerecht wird, da sie einen gläubigen Muslim heiratet. Sie kann sich also gegen die ihr widerstrebenden Einstellungen der Eltern auflehnen und gleichzeitig ihre Identität als Muslima und damit eine Legitimation für ihr Verhalten wahren. Eine „sanfte Revolution“ gegenüber traditionellen Vorstellungen zeigt sich bei Maryam, die zwar den Erwartungen ihres Vaters und ihres marokkanischen Umfelds entspricht, indem sie einen marokkanischen Muslim heiratet. Dass dieser jedoch nicht aus derselben Region in Marokko wie ihre Familie stammt, stellt eine Auflehnung gegenüber Erwartungshaltungen von außen dar: Maryam: „(…) aber dann (-) äh gibt es manche (-) Marokkaner, die dan halt sagen, nee, nur aus dem bestimmten Dorf [darf der Ehemann kommen], ja. (...) weil in Marokko gibt es über zehn Dialekte, (-) ja, das heißt, die aus dem Norden können die, (-) wenn se’ (-) wenn sie kein Arabisch, das Amtsarabisch, sprechen, (...) ist es ein Problem, die überhaupt zu verstehen. (...) Und dann heißt es nee, was willst du (-) wa’ da vom Süden da heiraten, die kennen wir doch gar nicht, und wer weiß, wie die sind? (-) Ja, und dann haben sie Angst, und dann sagen die immer gleich Nein (-).“
Es ist zu vermuten, dass solche Vorstellungen in dem Maße schwinden, wie Deutsch als Verkehrssprache in den migrierten Familien zur Normalität wird und damit auch der Einfluss fremdsprachlicher Dialekte schwindet, was bereits in Maryams Generation der Fall ist. Für sie waren 141
individuelle Gründe für die Hochzeit entscheidend, nicht die Herkunft. Die Religionszugehörigkeit ist ihr aber wichtig, weil daraus ihrer Ansicht nach Verständnis für ihre Lebensweise resultiert, was sie bei einem Nichtmuslim nicht vermutet. Eine solche Heirat hätte sie jedoch auch gegenüber ihrem Vater nicht durchsetzen können: Maryam: „Aber in einen Nichtmuslim (-) nee, also das wäre von mir aus schon schwierig. (-) Weil (-) wir würden uns ja gar nicht da irgendwie verstehen (3) ja, (3) nee. (--) Ich weiß jetzt (-) also ist bei mir noch nie passiert,
deshalb kann ich da jetzt gar nicht so viel sagen. (-) Aber von mir zu Hause wär’s auch ein Problem gewesen, weil die dann gesagt haben (-) äh hätten (--) äh was das denn, kommt gar nicht in die Tüte oder so. (--) Jetzt nicht von meiner Mutter, aber mehr von meinem Vater. (--) Ja, doch. (5) Weil der würde sich ja dann gar nicht mit den islamischen Regeln äh (.) auskennen, also wenn er dann Muslim wäre, das wäre dann kein Problem, egal aus welchem Land. (--) Aber dann ein Nichtmuslim, (-) nein. (3) Nee.”
Abid empfindet die Erwartungshaltungen seiner christlich-deutschen Mutter als widersprüchlich. Diese hatte sich eine Indonesierin zur Schwiegertochter gewünscht, gleich welcher Religionszugehörigkeit, was Abid verwundert, da seine Mutter dagegen war, dass er selbst zum Islam konvertierte und daher auch die Ablehnung einer muslimischen Schwiegertochter erwartet hätte. Es erweckt insgesamt oft den Eindruck, als ob die Unbeständigkeit, die Abid von Seiten seiner Eltern erlebt, sein Festhalten an konservativen Regelungen bestärkt, die er vielfach religiös begründet. Auch Abid lehnte sich aber gegen elterliche Erwartungen auf, indem er eine Muslimin deutsch-amerikanischer Abstammung heiratete. Deutlich zeigt sich die Wahl des Ehepartners, sofern er oder sie nicht dem Idealbild der Eltern entspricht, als ein Mittel, um gegen traditionelle Vorstellungen zu rebellieren und für sich selbst ein anderes Rollenverständnis und andere Werte in der Beziehung zu installieren.
5.5.3.
Liebe
Sowohl für Fatima als auch für Jamal ist Liebe eine Bedingung für die Ehe. Jamal erwähnt jedoch, dass dies zwar für ihn selbst gelte, aber Menschen ohne diesen Anspruch durchaus eine intakte Ehe führen könnten:
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Jamal: „Es gibt bestimmt (-) also es gibt bestimmt genug Leute, die das machen, einfach so zu heiraten, und die funktioniert (-) funktioniert ja bei denen. (--) Mehr oder minder gut. (-) Also denke ich (--) es gibt Leute, die haben gar keinen Anspruch, so eine Ehe führen zu wollen, und dann geht es vielleicht auch, aber (-) für mich ist es auf jeden Fall der Anspruch.”
Verliebt sein unterscheidet Jamal dabei von Liebe, wobei er sich letztere nur bei einer Frau vorstellen kann, die sein Interesse an Religion teilt. Das Ausleben von Schwärmereien für andere Frauen ist für ihn in einer Ehe tabu, Treue ist für ihn offenbar ein ernst zu nehmender Wert. Für Fatima stellt Liebe in einer Beziehung auch deshalb einen Wert dar, weil sie voraussetzt, man müsse sich dem Mann „ergeben“.76 Dafür setzt sie aber gegenseitigen Respekt und Akzeptanz für die Handlungen des Ehepartners voraus. Liebe unterscheidet sie von Freundschaft oder Wertschätzung, wobei sich letztere auch im Nachhinein entwickeln könnten, Liebe dagegen nicht. Eine Ehe ohne Liebe sieht sie als einen Kompromiss gegenüber den Vorstellungen der Eltern an, den sie nicht bereit ist einzugehen, was sie auch ihren Eltern deutlich vermittelt: Fatima: „Deswegen werde ich auch diesem Mann insha Allah, so Gott will (-) heiraten, also wenn das (-) natürlich (-) für mich bestimmt ist, werde ich diesen Mann heiraten, aber das ist (-) Liebe natürlich das A und O. Weil (-) wie sollte man jemanden heiraten oder sich ergeben, den man gar nicht für etwas empfindet, also (-) davon halte ich echt (-) überhaupt nichts, wenn junge Frauen dann (-) äh zur Liebe ihrer Eltern oder (-) oder, keine Ahnung, um jemand einen Gefallen zu tun, jemanden heiraten, (-) und (--) da versteht man sich gar nicht. (-) Wie soll ich jemand respektieren oder akzeptieren oder (-) oder (--) dahinter stehen einfach, (-) was er macht, ähm (-) wenn ich
gar (-) gar keine Liebe empfinde,
nur Sympathie oder so (-) nee, also.”
Zwar ist Liebe auch für Abid ein Ideal, jedoch keine Bedingung für eine Ehe. Der Glaube einer Frau ist ihm wichtiger, wobei sich Abid offenbar sehr gespalten fühlt. Er empfindet noch immer Liebe für ein nichtmuslimisches Mädchen, das seinem Ideal von Schönheit – ebenso wie dem 76
Erst Ende des 18. Jahrhunderts entstand im „Abendland“ das Ideal der bürgerlichen Liebesehe, das sich ausgehend von der Philosophie der Aufklärung und dem Postulat der Gleichheit aller Menschen entwickelte. Dadurch wurden auch die Standesunterschiede zwischen Mann und Frau gelockert; die Liebesehe war sogar Ausdruck einer Revolution gegen die Standesgesellschaft. Es entstanden für Frauen durch das neue Ideal der Liebesehe jedoch neue Abhängigkeiten (vgl. Schwarz-Schilling, 2006a: 17-20): „Das neue Ideal der Ehefrau war eher das einer Untertanen ,aus Liebe‘ – analog zum männlichen Untertanenideal ,aus Vaterlandsliebe‘.“ (Schwarz-Schilling, 2006a: 20)
143
Schönheitsideal seiner männlichen Peer-Group – entsprach und deren charakterliche Eigenschaften er schätzte.77 Abid: „Da denke ich mir (-) wenn jemand so denkt, (-) da (-) das ist ja schon Liebe, ja, das ist ja nicht nur, (-) dass du sie hübsch fandest und so, ja. (-) Dass sie ein Objekt für dich war, ja. (-) Aber (-) wenn ich selber nachdenke, dann denke ich, das ist widersprüchlich, weißt du.”
Abid belasten diese Gefühle, weil er offenbar von seinem Umfeld vermittelt bekommt, die Ehefrau habe die einzige geliebte Frau zu sein. Mehrfach betont Abid, dass er auch seine Ehefrau liebe. Weil das Mädchen seine Gefühle damals nicht erwiderte, ging Abid die Beziehung zu seiner jetzigen Frau ein. Gleichzeitig verschoben sich seine Wertvorstellungen und er stellte den Wert des Glaubens über den der Schönheit einer Frau. Dennoch hat Schönheit bis heute einen hohen Stellenwert für Abid. Da seine Ehefrau Glaube und Schönheit offenbar nicht in einer – in seinen Augen – optimalen Weise vereint, verschiebt sich sein Ideal von Schönheit in romantisierte Paradiesvorstellungen: Abid: „(…) und wenn du stirbst, (-) sag ich so (-) am Tag des Jüngsten Gerichts, und (-) wenn Allah dich also ins Paradies ge’ also schickt, (--) dann bekommst du ja Huris (-) diese Frauen, ja. (-) Du bekommst die (-) ja, OK. (-) Und da wird eine Frau plötzlich kommen (-) und diese Frau, (-) wenn du sie anguckst, die wird so schön sein, so schön hast du noch keine Frau gesehen auf der Welt. (-) Erstens. (-) Wenn du sie anguckst, deine Liebe wird zu ihr steigen und steigen und steigen, die ganze Zeit. (-) Aber, wenn du sie erstmal anguckst, dann weißt du erstmal nicht, wer sie ist. (-) Du guckst sie an, (--) also bist in Dschannat, du guckst sie an, (-) und dann guckst du wieder runter [auf den Boden]. (-) Und dann sagst du zu ihr, (-) wer bist du? (-) Und dann wird sie sagen, ja erkennst du mich denn nicht? (...) Und dann guckst du noch mal, und dann denkst du (-) oah, wie schön, und dann guckst du aber noch mal runter, aus (-) aus dieser Demut (-) Schamhaftigkeit, ja. (-) Und dann sagst du (-) nein, ich weiß nicht, wer du bist. (-) Und sie (-) ja, ich bin deine Frau, (-) und dann guckst du sie an, und die Liebe steigt und steigt und steigt 77
Das Bild der Frau als Heiliger existiert, wie Schwarz-Schilling ausführt, auch in den Köpfen moderner Männer. Jedoch konkurriert damit das Bild der Frau als Hure, zuständig für die erotischen Fantasien (vgl. Schwarz-Schilling: 2006a: 20). Wie sehr aber das Bedürfnis zu verehren manchmal dem Begehren widerspricht, zeigt sich hier am Beispiel Abids. Sowohl durch die Idealisierung der Frau als Heilige – bei Abid als „Dienerin Allahs“, als auch durch das Bild der Frau als Hure – oder bei Abid das Bild der schönen, begehrenswerten Frau – wird laut Schwarz-Schilling das Konstrukt der Frau als der „Anderen” verfestigt, was wiederum dazu instrumentalisiert werden kann, Frauen gleiche Rechte zu verweigern (ebd.).
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und immer mehr, weißt du. (-) Und das ist aber gegensätzlich so. (-) Das heißt, wenn der Mann so (-) auch nicht der Frau so gefällt, das wird dann auch so sein in Dschannat, weißt du. Weil ich (-) da wird’s nicht irgend so was geben wie Eifersucht oder Ehe oder irgend so was, ja. (-) Ja, man wird nur noch diese Liebe so verspüren. (…) Weil (-) wenn man den Islam so versteht, dann weiß man, OK, das ist nur eine Reise, ich muss das so bestehen, weißt du. (-) Und ich heirate nicht, weil (-) weil ich (-) sie (-) weil sie gut aussieht. Nein, ich heirate sie, weil ich (-) gerade das für mich als Schutz brauche, (-) damit ich nicht die ganze (-) irgend so was mache, und weil wir auch gleichzeitig näher zu Allah kommen.”
Die Ehe erscheint als Zweckgemeinschaft, die nicht von weltlichen Eigenschaften wie Schönheit abhängig gemacht werden darf, um die jenseitige, paradiesische Liebe zu erreichen. Fehlende Liebe in der diesseitigen Welt ist für Abid kein Hindernis für eine Ehe. Die Romantisierung und Verschiebung des Liebesideals ins Jenseits gibt Abid die Möglichkeit, die Ideale seiner Peer-Group betreffend der Schönheit einer Frau, die er offensichtlich für sich übernommen hat, mit den islamischen Glaubensregeln zu vereinbaren. So wird der Schutz - höchstwahrscheinlich vor Unzucht – als primäres Ziel der Ehe angesehen, nicht die Liebe. Sie sei „nicht so die Bedingung“ für eine Ehe, „weil (-) die Liebe, die setzt Allah. (-) Wenn er will, setzt er sie, und wenn er nicht will, dann setzt er sie nicht”, man könne dies als Mensch nicht „kontrollieren”. Die Liebe wird als göttlichen Ursprungs betrachtet und liegt deshalb außerhalb des menschlichen Einflussbereiches: Abid: „Das ist so im Islam. (-) Also (-) so viel ich von Islam weiß, (-) lieben wir oder hassen wir sowieso keine Menschen. (-) Weil wenn du einen Mensch hasst, dann sagst du auch nicht zu demjenigen, ich hasse ihn, sondern du sagt, ich hasse diese Eigenschaft, die Allah ihm gegeben hat. (-) Ja. (…) Da haben wir (-) haben wir [unter den Glaubensbrüdern] auch so gesprochen, ich so, was ist Liebe, was (-) richtige Liebe. (-) Richtige Liebe ist die Liebe zu Allah, und dass du Menschen liebst wegen Allah. (…) Und diese Liebe habe ich (-) zu meiner Frau (-) sehr stark. Weil ich liebe sie, weil ich sehe, was (-) was sie so für Allah macht. (-) Ja. (-) Und was für eine Beziehung sie hat (-) zu ihm. (-) Deswegen liebe ich sie so sehr, weißt du. (-) Und (--) weil da kam jemand zu mir und hat dann gemeint, ja (-) äh (-) wegen Ehe und so (-) ja und er will sich scheiden lassen und so (-) und da hab ich gesagt, guck mal (-) diese Liebe ist nur deswegen (-) ja. Also du liebst sie nicht, weil sie schön ist, du liebst sie nicht wegen Geld, du liebst sie nicht wegen was anderem (-) du
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liebst sie, weil sie (-) also wegen (-) weil sie Allah dient, weil sie eine Dienerin Allahs ist.”
Menschen können dieser Argumentation zufolge nicht das primäre Objekt von Liebe sein, sondern nur deren von Gott gegebene Eigenschaften, letztlich also Gott selbst. Aus dieser Perspektive erscheint die Liebe zu einer gläubigen Frau, einer „Dienerin Allahs“, als die wahre Liebe. Auch Abid hält also wie Fatima und Jamal das Liebesideal in der Ehe aufrecht, deutet es aber religiös, damit er auch den Ansprüchen der islamischen Gemeinschaft gerecht werden kann. Jamal und Fatima haben das Ideal der Liebesehe fest in ihre Vorstellungswelt integriert, was ihnen offenbar die Möglichkeit eröffnet, sich aus traditionellen Abhängigkeiten zu lösen. Der Volkswirtin und Soziologin Marie-Luise Schwarz-Schilling zufolge hat die Liebesehe aber keine empanzipative Wirkung, sondern genau das Gegenteil zur Folge: Die romantische Liebe habe Frauen nicht befreit, sondern sogar unsicherer und unselbstständiger gemacht. Die emanzipatorische Haltung, die von Männern wie von Frauen heute oft zur Schau getragen werde, betrachtet Schwarz-Schilling als die „Oberfläche” (vgl. Schwarz-Schilling: 2006a: 20.), die das romantische Spiel verklärt, das auch einen hierarchischen Anspruch in sich trage. Wie Schwarz-Schilling ausführt, besteht seit Anfang des 19.Jahrhunderts „die Ehre der Frau vor allem darin, dass sie liebt. Nur wenn sie liebe, dürfe sie mit jemandem schlafen. Das Gebot der Liebe habe die Pflicht zum Gehorsam ersetzt – bei Fatima zeigt sich dies sehr anschaulich in ihrer Vorstellung, sich dem Mann zu „ergeben“, die aus einem Gehorsams-Ideal entspringt und in die Vorstellung von der Liebesheirat gewissermaßen „mitgenommen“ wird. Wie sich in den Interviews, insbesondere im Falle Fatimas, zeigt, liegen jedoch auch Chancen im Liebesideal, sich – wenigstens vorübergehend und partiell – von Abhängigkeiten zu befreien. Zumindest eröffnet die Liebe Fatima die Chance, selbst zu wählen, in welche Art von Abhängigkeit sie sich begeben möchte. Die Abhängigkeit vom selbst gewählten Ehemann wird dabei offenbar als die positivere betrachtet.
5.5.4.
Konvertierung des Partners
Für Jamal, Fatima und Abid war die Konvertierung des Partners zum Islam beziehungsweise dessen Glaube sehr wichtig und ermöglichte es erst, eine dauerhafte Beziehung aufzubauen, die auch vom Umfeld mehr 146
oder weniger stark akzeptiert wird. Das Interesse seiner Ehefrau an der islamischen Religion und an seiner Familie ermöglichte bei Jamal erst die Ehe, die dadurch den Erwartungen seiner Eltern, insbesondere der Mutter, gerecht werden konnte. Jamal: „Das war schon wichtig, denke ich, weil meine Frau (-) nicht so ist wie viele Freundinnen vor ihr waren von mir, dass sie halt gar kein konkretes Interesse an meiner Religion gezeigt haben und auch kein konkretes Interesse an meiner Mutter oder meiner Familie gezeigt hätten (.) ha’ (.) haben. (-) Das war bei meiner Frau jetzt anders, weil bei den Frauen davor, war das oft so (-) kein Interesse an Religion. (--) Und das (--) ist nichts, was ich auf Dauer irgendwie (-) als leidenschaftliche Beziehung mir vorstellen könnte mit einer Frau, die (--) keine Interessen mit mir teilt. (--) Und Religion ist mein grundsätzliches Interesse. (3) Ich vergleiche auch gern andere Religionen und (--) ich werde auch oft gefragt, ob ich meine Frau auch geheiratet hätte, wenn sie Christin geblieben wäre, oder (-) keine Muslima geworden wäre, (--) und meine Antwort darauf ist immer unterschiedlich, wie ich gerade drauf bin, aber (-) so immer in der Richtung, dass es (-) auf jeden Fall (-) schon, dass ich sie schon geheiratet hätte, weil (-) es ja auch erlaubt ist. (-) Es ist auch erlaubt, Christinnen und Jüdinnen zu heiraten. Also warum sollte ich das nicht tun?”
Eine Atheistin hätte Jamal nicht heiraten können, weil dadurch die Beziehung zu seiner Familie gefährdet worden wäre. Bei Fatima war die Konvertierung ihres Freundes wesentlich dafür, eine Ehe mit ihm eingehen zu können, was für sie als Frau noch dadurch verschärft wird, dass Ehen muslimischer Frauen mit nichtmuslimischen Männern laut der islamischen Mehrheitsmeinung als unzulässig gelten: Fatima: „(…) und äh (-) al-hamdu-li-llah, es hat geklappt einfach, dass er auch einfach (-) davon überzeugt war, ich habe ihn ja nicht gezwungen, sondern (-) ich habe gemeint, bitte schau dir das an und (--) ob dir das gefällt. (…) Ja, und (-) ja, und dann hat er sich damit beschäftigt, und al-hamdu-li-llah, also jetzt ist er sogar gläubiger als ich (lacht).”
Die Beziehung zu einem konvertierten Mann stellt sich für sie dennoch schwierig dar, da ihr Freund von Familie und Bekannten nicht als Muslim akzeptiert wird. Ihm wird ein rein sexuelles Interesse unterstellt: Fatima: „Man sagt ja, zum Beispiel die Aussage betreffen auch viele somalische Mädels, ich weiß nicht, wie die anderen Araber dazu stehen, (-)
wenn eine Frau durch einen Mann zum Islam kommt, dann ist die Beziehung stabil.
Also (-) richtig islamisch, zum Beispiel (-) du bist durch deinen Mann zum Islam gekommen, ne, (-) und du bist sozu-
147
sagen wahrhaftige Muslima. (-) Aber der [Name ihres Freundes], der durch mich (-) ja (-) sozusagen zum Islam konvertiert ist, kann nicht so wahrhaftig sein, weil (-) weil ich ja eine Frau bin, ja, und weil er das ja eigentlich gemacht hat, ne, (-) damit er mich kriegt. (...) Das finde ich (--) das finde ich unter aller Sau, weißt du. (-) Das finde ich echt (-) weißt du, wie viele Diskussionen ich darüber hatte? Mittlerweile diskutiere ich mit den Leuten gar nicht, also (--) wenn wir telefonieren, dann sagt er manchmal, ich kann jetzt nicht, ich muss noch Magrib beten (lacht). Da weiß ich nicht, was er da treibt, aber (-) er sagt zumindest, ne. (-) Und (--) das ist schon (-) das ist dieses (--) das ist dieses Denkweise. Das ist so (-) also zumindest somalische Leute (…).”
Fatima möchte solche Zweifel ausräumen, indem sie die Frömmigkeit ihres Freundes betont. Die „Denkweise”, die dem Mann ein sexuelles Interesse unterstellt, aufgrund dessen er seinen Glauben vortäuschen könnte, weist sie entschieden zurück, auch in direkter Auseinandersetzung mit ihrem somalischen Umfeld. Im Interview erscheint es Fatima wichtig, die Glaubensstärke und das Normenbewusstsein ihres Freundes zu betonten. Sie erwähnt, dass ihr Freund faste und sogar im Büro regelmäßig bete, wovor sie Respekt habe. Diesen Respekt fordert sie auch von ihrem Umfeld ein. In diesem gibt es ihr zufolge wenige Ehen zwischen Muslimen, bei denen der Mann konvertiert sei; solche Beziehungen würden oft nicht lange halten. Für Fatimas Freund ist das Pflichtbewusstsein in der Einhaltung islamischer Glaubenspraxen vermutlich auch wichtig, um von Fatima, ihrer Familie und der islamischen Gemeinschaft anerkannt zu werden.78 Wie bereits im Kapitel „Erwartungen der Eltern” deutlich wurde, vermutet Fatima Sanktionen seitens ihrer Eltern, die sie im Zusammenhang mit einem ganz anderen Thema, nämlich Homosexualität, näher ausführt. Hier erwähnt sie, dass sie es traurig finde, wenn Eltern ihre Kinder aufgeben: Fatima: „Weil, wenn du aufgibst, dann ist das so, dass derjenige gestorben ist. Weißt du, das finde ich traurig, bei verschiedenen Familien. 78
Laut Spuler-Stegemann pflegen Konvertiten, die aus Überzeugung ihren Glauben gewechselt haben, „ihre neue Religion besonders intensiv zu leben und streng zu befolgen. Weil sie mit der Religion ja auch die fremde Kultur bis hin zum Vornamen und zur Kleidung, zu Grußsitten und zur Neuerlernung der Geschlechterrollen übernehmen, ist für sie die Situation sehr komplex und muß besonders eingeübt werden.“ (Spuler-Stegemann 1998: 304) Auch wenn hier die Verallgemeinerung, die Vermengung von Religion und Kultur sowie die Annahme, dass alle Konvertiten nicht nur Umgangsformen, sondern auch Geschlechterrollen „neu erlernen“, sehr undifferenziert sind, weist Spuler-Stegemann damit auf einen wichtigen Vorgang hin, den man bei Fatimas Freund – ebenso wie auch bei Abid – auch als eine Suche nach Anerkennung definieren könnte.
148
Dass man sagt (-) sie ist zum Beispiel, oftmals bei somalischen Familien, dass Frauen nichtmuslimische Männer heiraten, zu sagen halt, dass sie die Ehre der Familie (-) kaputt gemacht haben, die Familie mit dieser Frau dann nichts (-) zu tun haben möchte, weißt du
nichts. (--) Das finde ich traurig. (--) Das ist traurig. (-) Vielleicht wird er ja irgendwann Muslim. Und auch wenn er nicht wird. (-) Sie ist ja immer noch deine Tochter, weißt du. Oder (-) wenn einer, das verstehe ich auch nicht, wenn ein Moslem heiratet eine Nichtmuslima, (-) das ist zwar islamisch irgendwie (-) zu nachvollziehen, (...) weil (...) die Frau kann den Mann nicht beeinflussen irgendwie, keine Ahnung, war ja irgendwas, habe ich mal gehört hier in einem Vortrag. (-) Ähm (-) das finde ich schwierig, dass man da: toleriert.”
Zwar erwähnt Fatima den Kontaktabbruch seitens der Eltern nur in den Fällen, in denen muslimische Frauen nichtmuslimische Männer heiraten oder männliche Muslime Nichtmusliminnen, jedoch lässt sich spekulieren, dass ihr ein ähnlicher Fall von Ehrverletzung von ihrer Familie vorgeworfen werden könnte, da ihr Mann als Deutscher offensichtlich nicht als vollwertiger Muslim akzeptiert wird. Fatima kritisiert demgegenüber, dass die Beziehungen muslimischer Männer mit Nichtmuslimas toleriert würden. Ebenso thematisiert sie die Ungleichbehandlung im Fall von unehelichen Beziehungen, die sie missbilligt79 (mehr dazu im Kapitel „Freundschaften“). In Fatimas Entscheidung, einen deutschen Muslim zu heiraten, drückt sich also auch eine Rebellion gegen traditionelle Vorstellungen aus, die Fatima strikt ablehnt und gegen die sie auch in ihrem Umfeld anzugehen versucht. Wie bereits erwähnt, lehnt Fatima viele Verhaltensweisen ab, die sie bei somalischen Männern beobachtet. Dass sie ihren Freund kennen und lieben lernt, bietet ihr die Möglichkeit, sowohl gegen die elterlichen Vorstellungen zu rebellieren als auch – Dank seiner Konvertierung – islamisch zu handeln. Wie für Fatima und Jamal ist auch für Abid die Nationalität seiner Frau, deren Eltern deutscher und amerikanischer Abstammung sind, nicht wichtig, da er den Glauben als bedeutsamer empfindet. Nationalismus ist seiner Schilderung nach sogar unislamisch, weil der Prophet Muhammad diesen verboten habe. Ihm zufolge führt Nationalismus gar zum Ausschluss aus der islamischen Gemeinschaft:
79
Schon Sigmund Freud und Helmut Schelsky (1912-1984) verweisen auf die „doppelte Moral“, gemäß der im Gegensatz zu Frauen bei Männern außereheliche Sexualkontakte geduldet werden. Nach Heidi Kondzialka zeigen sich hier in den Vorstellungen mancher Muslime Parallelen zur Sexualmoral im bürgerlichen Familienmodell (vgl. Kondzialka 2005: 28).
149
Abid: „Weil der [Prophet] sagt, also wenn jemand nationalistisch ist, gehört er nicht zu uns [Muslimen]. (-) In einer Hadith Allah sagt, und der Gottesfürchtigste unter euch ist der (-) also der Beste unter euch ist derjenige, der am gottesfürchtigsten ist. (-) Ja, das kann jemand sein aus China, aus (-) aus (-) der Eskimos oder irgendwo sein, ja.“
Aufrichtigkeit im Glauben, der nicht nur von den Eltern übernommen, sondern auch gelebt wird – unabhängig davon, ob das der christliche, jüdische oder islamische Glaube ist – erscheint Abid bei einer Ehefrau enorm wichtig: Abid: „Also es war mir sehr wichtig, dass (-) dass sie (-) dass sie gläubig ist vom Herzen. (--) Nicht, dass sie sagt, ich bin Christ oder Jude, oder ich bin Muslima (-) und (-) irgendwas, weißt du, ich hab das von meinen Eltern. (-) Nein, nein, das war mir sehr wichtig, (-) also diese Aufrichtigkeit war mir sehr wichtig.”
Seine jetzige Ehefrau betrachtete Abid bereits vor seiner Partnerschaft mit ihr als in diesem Sinne „vom Herzen” gläubige Muslimin, obwohl sie damals noch nicht offiziell konvertiert war. Von Seiten der muslimischen Gemeinschaft hat Abid aber offensichtlich negative Zuschreibungen und Unverständnis erfahren, als seine Frau noch kein Kopftuch trug, was er als problematisch empfindet: Abid: „Also mit meiner Frau (-) manchmal hatten wir auch Probleme, weil (-) ich laufe dann mit meiner Frau rum, sie trägt kein Kopftuch, (--) und bei mir kann man so halbwegs erkennen, dass ich Muslim bin, (-) und dann gucken die meisten Leute. (-) Selbst selbst die (Glaubens-)Schwestern mit Kopftuch gucken dann so, (-) was macht der so, ja (-) mit so einer Frau, weißt du. (-) Ja, aber sie ist Muslima, (-) was wollt ihr (-) was wollt ihr von mir, würde ich dann am liebsten sagen.”
Schon durch die Blicke anderer Muslime wird Abid also offensichtlich bedeutet, dass er eine Regelverletzung begeht, indem vermutet wird, dass seine Frau Nichtmuslima ist, da sie – zumindest früher – kein Kopftuch trug. Möglicherweise deutet er die Blicke aber auch nur so, ohne dass dies der Wahrheit entspricht. Dass Abid jedoch so sensibel für diese Blicke ist, die er als störend und problematisch empfindet, zeigt ein weiteres Mal, wie wichtig ihm die Anerkennung durch die islamische Gemeinschaft ist.
150
5.5.5.
Vermittelte Ehen und Zwangsheirat
Alle Befragten sehen in Zwangsverheiratung80 ein klares Tabu, das Jamal und Maryam unter Verweis auf das Vorbild des Propheten Muhammad religiös begründen und das auch Abid als unislamisch bezeichnet. Fatima und Maryam lehnen auch vermittelte Ehen ab. Für alle Befragten ist die Mitbestimmung bei der Partnerwahl wichtig. Auch Jamal, der vermittelte Ehen nicht generell ablehnt und beinahe eine solche eingegangen wäre, äußert den Wert der Mitbestimmung in Bezug auf Männer wie auch Frauen: „Das ist auch islamisch, das wollte der Prophet auch. (-) Dass Frauen nicht verheiratet werden, sondern selbst sich Männer aussuchen dürfen.” Die freie Wahl des Ehepartners wird hier, anders als häufig dargestellt, sogar religiös legitimiert, da der Prophet Muhammad als Gegner von Zwangsverheiratung gesehen wird. Für Jamal stellen Fairness und Gleichheit in Bezug auf vermittelte Ehen Werte dar: Jamal: „Man sollte nicht (-) einen Jungen nehmen, der sein ganzes Leben hier (--) mit irgendwelchen Frauen irgendwelche Geschichtchen hatte, und die Eltern wissen es wahrscheinlich dann auch oder bekommen es mit, (-) wissen ja, was das für ein Typ ist, der Junge, und dann holen sie sich eine arme, unschuldige Pakistanerin (-) vom Land oder was weiß ich, von der Stadt auch, die halt noch ni:e Kontakt mit einem Mann hatte, und das ist dann nicht islamisch, meiner Meinung nach, weil im Koran drin steht, dass reine Mann’ reine Männer zu reinen Frauen und unreine Männer zu unreinen Frauen. (-) Das ist ein explizites Gebot, und (-) da sollte man nicht so:: un’ äh (.) ungleich werten zwischen Männern und Frauen, was halt viel zu oft gemacht wird.”
Gleichwertigkeit der Geschlechter betont Jamal als Ideal. Er lehnt vermittelte Ehen nicht generell ab, sondern betont, dass dies gleich und fair vonstatten gehen sollte, indem nicht ein Mann, der (mit Wissen der Eltern) bereits vorehelichen Sex hatte, mit einer „reinen”, also jungfräulichen Frau verheiratet werde. Dies begründet Jamal mit einem entsprechenden Gebot im Koran (siehe dazu auch Kapitel „Sex“). Jamal distanziert sich damit von einer seiner Wahrnehmung nach häufig vorgenommenen Praxis. Er betont aber auch, die meisten Pakistaner beziehungsweise pakistanischstämmigen jungen Männer, die er kenne, würden sich 80
Yasemin Karakaşoğlu weist darauf hin, dass man zwischen Zwangsverheiratungen und arrangierten Eheschließungen unterscheiden müsse, wobei letztere über Vermittlung der Eltern zustande kämen. Vermittelte Ehen bezeichnet Karakaşoğlu als „eine relativ verbreitete Form der Ehepartnerfindung nicht nur in islamischen Ländern, sondern auch in Ländern des Südostens und des Fernen Ostens“ (Karakaşoğlu 2006).
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nicht so verhalten, sondern lebten selbst enthaltsam und würden dann auch auch enthaltsame Frauen heiraten: Jamal: „(…) da wurde das eigentlich eher so gemacht, (--) ja, so dass ein Mann, der hat nie (-) ich denke mal, die Männer haben nie irgendwie Sex gehabt mit Frauen oder sonst was, (-) heiraten halt eine Pakistanerin, (-) und das finde ich jetzt gar nicht so schlimm. Finde ich ja (-) ganz interessant auch. (--) Die kommen hierher, lernen hier Deutsch, leben hier (--) mit ihren Männern, (--) ganz normal.”
5.5.6.
Scheidung
Wie sich in den Interviews gezeigt hat, existieren sehr unterschiedliche Auffassungen vom Ablauf einer Scheidung sowie von islamischen Regelungen dazu und ebenso verschiedene Wertungen, die damit verbunden sind.81 Fatima rechtfertigt unterschiedliche Regelungen für Frauen und 81
Farideh Akashe-Böhme schildert aus einer orthodoxen islamischen Perspektive, dass eine Ehe jederzeit geschieden werden könne durch die Verstoßung der Frau durch den Mann (vgl. Akashe-Böhme 1997:34): „Mit der Aussprechung der Talag-Formel verzichtet der Ehemann auf seine Rechte an der Frau. Das Verstoßungsrecht hat nur der Mann. Die Frau kann im Ehevertrag ihr Recht auf Scheidung festhalten lassen. Sie kann sich auch unabhängig vom Ehevertrag scheiden lassen bei ständiger Abwesenheit des Mannes, Impotenz, Geisteskrankheit und wenn der Unterhaltspflicht nicht entsprochen wird.“ (ebd.) In anderen Publikationen werden auch Armut des Mannes, Faulheit, Gewaltanwendung und „Ablehnung gegenüber dem Mann aufgrund von sonstigen Eigenschaften des Mannes, die der Frau subjektiv schlichtweg nicht möglich machen, weiter mit ihm zusammenzuleben“ (Islam.de, FAQ) genannt. Es gibt also offenbar auch innerislamisch eine lebhafte Diskussion über Gründe, die eine von der Frau ausgehende Scheidung rechtfertigen. Im Unterschied hierzu schildert Ursula Spuler-Stegemann, dass die Frau eine Ehe nach den „Grundsätzen der Scharia“ nicht von sich aus scheiden lassen könne: „Der Frau bleibt als einziger Ausweg der khul', der ,Freikauf', mit dem mahr, dem Brautgeld, unter der Voraussetzung, daß der Ehemann zustimmt.“ (Spuler-Stegemann 1998: 195) Eine zivilrechtliche Scheidung sei religiös gesehen nicht relevant, da das Ehepaar nach der Scharia weiterhin verheiratet bleibe (vgl. ebd.). Da sich aber, wie die Befragungen zeigen, nicht alle Muslime nach den geschilderten Grundsätzen der Scharia richten, ergibt sich ein anderes Bild. Wie der Journalist Jörg Lau herausstellt, hat auch das deutsche Rechtssystem einen Anteil daran, dass gelegentlich nach Grundsätzen geurteilt wird, die von der Scharia abgeleitet sind, sofern die Ehepartner nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen: „Denn regelmäßig werden in der Bundesrepublik lebende Ausländer, die längst integriert sind, in Verwaltungsund Gerichtsverfahren an dem Recht ihrer Herkunftsländer ,festgehalten'.
152
Männer in Bezug auf Scheidung mit angeblich naturgegebenen Unterschieden zwischen den Geschlechtern, wobei Frauen als emotional, unüberlegt und unvernünftig dargestellt werden und Männer als vernunftbestimmt und besonnen. Sie nimmt dabei sich selbst als Beispiel dafür, dass sie, wenn sie wütend wäre, beispielsweise weil ihr Mann sie betrügen würde, „sofort, auf der Stelle” die Scheidung aussprechen würde. Fatima hat offensichtlich das Bedürfnis zu rechtfertigen, dass es unterschiedliche Scheidungsregelungen für Männer und Frauen gibt. Sie begründet diese mit einer naturgegebenen Unterschiedlichkeit der Geschlechter. Frauen erscheinen in ihrer Darstellung als emotional, unüberlegt und unvernünftig – was hier als negativ dargestellt wird, selbst für den Fall, dass der Mann untreu wäre, also nach islamischer Auffassung eine Sünde beginge. Im Umkehrschluss werden Männer als vernunftbestimmt und besonnen dargestellt. Eine Rechtfertigung lässt sich am besten unter Bezug auf die eigene Erfahrung vertreten – eine Taktik, die Fatima hier anwendet, um eine religiöse Regelung zu begründen. Allerdings stellt sich die Frage, was zuerst da war: das Gefühl, sich von Männern in emotionaler Hinsicht zu unterscheiden, oder die Zuschreibung von außen, die diese Unterschiedlichkeit erzeugt. Fatima empfindet es als positiv, dass Scheidungen bei ihren „Landsleuten“ offenbar schnell gehen und verbreitet sind, da sie meint, man sollte sich in einer Beziehung nicht quälen. Sie hat daher auch schon vielen Frauen zur Scheidung geraten. Dennoch ist sie sich dabei unsicher, da sie es als Sünde beurteilt, Eheleute auseinander zu bringen. Ihre Einmischung erscheint ihr jedoch dadurch gerechtfertigt, dass auch das Ansehen des Islam beschädigt wird, wenn muslimische Frauen in einer gewaltbestimmten Beziehung leben. Jamal glaubt zu wissen, die islamische Scheidung sei für beide Geschlechter leicht, was er positiv beurteilt. Ihm zufolge sollten sowohl Ehe als auch Scheidung erleichtert werden: Jamal: „(…) so ist es halt (-) eigentlich so, dass jede Beziehung, die ein Mann mit einer Frau eingeht, (-) ein Moslem mit einer Muslima oder Nichtmuslima dann, (--) eine Hochzeit ist. (--) Oder sein kann. (-) Und das sollte auch so sein. (-) Warum sollte man miteinander gehen wollen oder was weiß ich was, wie man das nennen will, wenn man nicht irgendwas aufbauen will. (-) Ich meine, das weiß man ja recht schnell, Und dies, obwohl die wirtschaftlichen und sozialen Lebensumstände der in Deutschland lebenden Ausländer oft keinerlei Bezug mehr zu den Prämissen aufweisen, die den Wertungen der Rechtsordnungen ihrer Herkunftsländer zugrunde liegen.“ (Lau 2007b)
153
nachdem man zusammen ist, ob das klappt oder nicht. (--) Oder klappen kann oder nicht, und zu welchem Preis.”
Jamals Auslegung zufolge hat die Frau die Freiheit, sich scheiden zu lassen, auch wenn sich der Mann islamisch verhalte, „weil es geht nicht um (-) um Ratio oder um religiöse Dogmen oder was weiß ich was, sondern es geht um (-) Herzensangelegenheiten”. Das Liebesideal, das Jamal vertritt, hat also offensichtlich auch Einfluss auf seine Interpretation „religiöser Dogmen” und führt zu einer Vertretung gleicher Rechte für die Frau innerhalb der Ehe und in Bezug auf die Scheidung. Sobald die Frau von ihrem Mann „Gefahr wittert oder keinen Bock mehr auf ihn hat, ist die Trennung möglich”, meint Jamal. Vor der Scheidung dürfe sie auch getrennt leben und dem Mann untersagen, sie zu sehen. Scheidung bewertet Jamal jedoch grundsätzlich negativ, da diese ein Instrument des Teufels sei. Gott beurteile Scheidung als das „Schlimmste“. Der Teufel freue sich über jede Scheidung laut einer Hadith, die Jamal ernst nimmt, „mehr als über alles Leid der Welt”. Es müsse also alles versucht werden – unter Umständen sogar mit Gewalt, um die Ehe zu retten. Dies erwähnt Jamal im Zusammenhang mit der Rechtfertigung einer Koranstelle, in der es um das Schlagen einer Frau geht und für die Jamal schon fast verzweifelt Begründungen zu finden versucht. Daher bleibt fraglich, inwiefern diese Ansicht Jamals innerem Empfinden entspricht oder der islamischen Mehrheitsmeinung, der er sich hier aus Gründen der Rechtfertigungsnot anschließt. Abid zitiert eine Hadith, gemäß der eine Frau zum Propheten kam, die ohne ihre Einwilligung verheiratet worden war. Zwar sei sie mit ihrem Mann zufrieden gewesen, habe aber wissen wollen, „ob sie ihr Recht bekommt”. Der Prophet habe erklärt, „diese Ehe ist dann nichtig (--) als wäre sie nicht existent”. Eine Entscheidung, die hier im Grunde gegen die Zwangsehe gerichtet ist, nimmt Abid als Rechtfertigung dafür an, dass auch eine Frau sich scheiden lassen dürfe. Als hilfreich empfindet Abid auch, dass er gelesen habe, die Frau bilde das Fundament einer Ehe, die er als Vertrag bezeichnet: Abid: „Ja, weil bei ihr (-) ihr Wort ist dieses Fundament. (-) Wenn man sich das jetzt anguckt wie einen Kaufvertrag, dann ist sie die Verkäuferin. (-) Sie bildet die Fu’ (-) die Grundlage, was zu verkaufen. (-) Du [als Mann] bist nur derjenige, der sagt Ja oder Nein. (…) Wenn sie das umgekehrt nicht mehr will, dann (-) ist dieser Vertrag auch zunichte. (…) So einfach ist es, und so ist das auch in der Ehe.”
Die Frau dürfe deshalb die Scheidung auch nicht leichtfertig aussprechen, „weil als Frau (-) zählt das (-) krasser als beim Mann”. Der Ver154
gleich mit einem Kaufvertrag verweist die Frau in eine passive Rolle, die Abid jedoch als stärker und wichtiger als die des Mannes und somit positiv beurteilt. Der Mann wird in einer aktiven Rolle als Entscheidungsträger gesehen, die Frau jedoch in einer Machtposition als „Verkäuferin”. In dieser anscheinend frauenfreundlich gemeinten Aussage steckt jedoch ein zutiefst patriarchalischer Gedanke und damit der Kern für die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung. Denn immerhin werden härtere Scheidungsregelungen für die Frau geltend gemacht, da sie als „Fundament“ des Vertrages eine besondere Verantwortung trage. Abids Argumentation ist in sich verworren und offenbart seine Unsicherheit, da er anscheinend einerseits die Frau nicht als rechtlos darstellen möchte – vermutlich den Wertvorstellungen der Aufnahmegesellschaft folgend, andererseits aber versucht, eine rechtliche Ungleichbehandlung in der islamischen Praxis zu rechtfertigen.
5.5.7.
Polygamie
Die Polygynie82 erschien Jamal anfangs als eine Möglichkeit, sowohl den Ansprüchen seiner Mutter gerecht zu werden, die sich eine Pakistanerin als Schwiegertochter wünschte, als auch seinem eigenen Anspruch einer Liebesheirat. So ging er seine Ehe unter der Bedingung ein, eine zweite Frau heiraten zu dürfen: Jamal: „Ich habe die Beziehung angefangen damals unter der Bedingung (lacht). (--) Weil ich damals in der Phase dringesteckt habe, mittendrin, wo meine Mutter mir unbedingt eine Pakistanerin suchen wollte. Und da dachte ich, bevor ich hier einem Mädchen was antue, kläre ich lieber gleich die Fronten, das ist ja am Anfang noch möglich.”
Dadurch, dass Polygamie jedoch in der Aufnahmegesellschaft und von seiner damaligen deutschen Freundin, seiner späteren Ehefrau, negativ bewertet wird und die Mutter sich mit dieser arrangierte, gab Jamal sein Vorhaben auf. Die Option zur Mehrehe möchte er sich grundsätzlich dennoch offen halten, möglicherweise für den Fall, dass sich der Druck durch die Mutter wieder verstärkt und weil er dies als Vorteil ansieht. So beurteilt Jamal Polygynie auch nicht als negativ. Er sieht in Auslegungen von islamischen Gelehrten, die Polygynie als unmöglich bewerten, weil 82
Polygynie bezeichnet eine Form der Polygamie (Mehrehe), bei der ein Mann mehrere Frauen heiratet. Die Polyandrie ist eine Eheform, bei der eine Frau mehrere Männer heiratet.
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man mehrere Frauen nicht gleich behandeln könne, dies aber im Koran vorgeschrieben sei, eine Konzession an die deutsche Gesellschaft: Jamal: „Verschiedene Gelehrte haben da verschiedene Meinungen dazu. (-) Da gibt es Gelehrte, die (-) wenn du die befragst, dann machen die daraus [aus der Polygynie] auch so ein Ding der Unmöglichkeit, dass es sowieso nicht möglich ist, gerade die, die in Deutschland schleimen wollen.”
Eine Mehrehe sieht Jamal als gerechtfertigt an, wenn sie Leid vermindere, wobei er nicht näher ausführt, worin dieses Leid bestehen könnte. Er betont zudem die Notwendigkeit einer Gleichbehandlung der Frauen, auch in Bezug auf Liebe,83 die in einer polygamen Beziehung sein Anspruch wäre. Polyandrie lehnt Jamal unter Verweis auf angeblich substanzielle Unterschiede zwischen Männern und Frauen ab: Jamal: „(...) da wird (-) ich denke, da wird vorne und hinten das mit dieser Ehebeziehung nicht mehr stimmen. (…) Ich denke, mehrere Männer, die würden sich vielleicht irgendwann umbringen.”
Zugleich mystifiziert Jamal eine sexuelle „Energieübertragung“ mit dem Mann als Gebendem und der Frau als Nehmender, die sich seiner Ansicht nach auch auf das Wesen der Geschlechter überträgt. Die Frau als von mehreren Männern Nehmende würde dieser Argumentation zufolge die Ehebeziehung destabilisieren und die männliche Aggressivität und Eifersucht entfesseln. Die Polyandrie betreffend stellt Jamal die Sexualität in den Vordergrund. Die „entfesselte“ Sexualität der Frau wird als destruktiv empfunden und kann diesem Denkschema folgend nur in einer Ehebeziehung gezähmt werden. In der Natur des Mannes sieht Jamal jedoch einen Trieb zur Polygynie, weshalb diese als legitime Ehebeziehung zum Schutz vor Sünde religiös gerechtfertigt erscheint. Da bei 83
Jamal bezieht sich in seiner Argumentation offenbar auf die Koranverse 4:3 und 4:129. Ersterer wird von Paret folgendermaßen übersetzt: „Und wenn ihr fürchtet, in Sachen der (eurer Obhut anvertrauten weiblichen) Waisen nicht recht zu tun, dann heiratet, was euch an Frauen gut ansteht (?), (ein jeder) zwei, drei oder vier. Und wenn ihr fürchtet, (so viele) nicht gerecht zu (be)handeln, dann (nur) eine, oder was ihr (an Sklavinnen) besitzt! So könnt ihr am ehesten vermeiden, unrecht zu tun.“ (Paret 1966: 64) In Sure 4:129 heißt es: „Und ihr werdet die Frauen (die ihr zu gleicher Zeit als Ehefrauen habt) nicht (wirklich) gerecht behandeln können, ihr mögt noch so sehr darauf aus sein. Aber vernachlässigt nicht (eine der Frauen völlig, so daß ihr sie gleichsam in der Schwebe laßt! Und wenn ihr euch (auf einen Ausgleich einigt und gottesfürchtig seid (ist es gut). Gott ist barmherzig und bereit zu vergeben.“ (Paret 1966: 81) Die islamischen Reformisten legen die Koranstelle so aus, dass daraus ein praktisches Polygamie-Verbot resultiert, weil man laut ihrer Argumentation mehrere Frauen unmöglich gleich behandeln könnte (vgl. AkasheBöhme 1997a: 32).
156
Frauen dieser Trieb als abnormal dargestellt wird, ist für sie jener Logik folgend die Mehrehe gar nicht notwendig. Die angeblich aggressiv-kriegerische, eifersüchtige und besitzergreifende Natur des Mannes und die demgegenüber als friedfertig gesehene Natur der Frau erscheinen als Legitimation für die patriarchalische Institution der Polygynie. Konkurrenz unter Frauen in einer polygynen Beziehung stellt Jamal im Gegensatz dazu sogar als positiv dar. Frauen wird unterstellt, sie würden kein Verlangen nach anderen Männern verspüren, wenn ihr Mann sie glücklich mache, während das sexuelle Verlangen bei Männern auch in einer glücklichen Beziehung existent sei: Jamal: „Wenn der Mann die Frau glücklich macht, vielleicht will sie dann keinen anderen. (-) Während ein Mann (-) vielleicht mehrere Frauen glücklich machen will. (--) Warum es im Islam so ist, dafür wird es einen Grund geben, denke ich.”
Von der aus dem Koran entnommenen Erlaubnis zur Polygynie schließt Jamal auf einen notwendigen Grund, der jedoch konstruiert werden muss, um die Glaubwürdigkeit der Offenbarungsschrift zu untermauern. Jamals Empfinden nach handelt es sich – den Wertvorstellungen der Aufnahmegesellschaft folgend – bei dieser Regelung um eine Ungleichheit. So erscheint es nur naheliegend, dass diese auch mit einer wesenhaften Verschiedenheit der Geschlechter begründet werden muss. Fatima lehnt Polygamie ab. Sie empfindet dies als schwieriges Thema, weil sie fürchtet, wegen eines falschen Wortes in die Hölle zu kommen und sich zudem stark mit den Werten der Aufnahmegesellschaft identifiziert. Sie sucht daher innerhalb der Religion nach Argumenten gegen Polygynie, wobei die Koranstelle nur für eine bestimmte Zeit als gültig erklärt, mit ihrem Liebesideal argumentiert, den Propheten und die Menschen zu seiner Zeit idealisiert sowie Zusatzregelungen aufstellt, durch die Polygynie unmöglich erscheint. Für Fatima wäre der Wunsch eines Mannes, eine zweite Frau zu heiraten, ein Trennungsgrund: Fatima: „Ich persönlich würde das (-) nicht persönlich meinem Mann erlauben. (...) Hört sich ein bisschen blöd an, sehr selbstsüchtig, aber ich stehe dazu (lacht). (-) Nö, ganz ehrlich, nö, (-) wozu braucht der das, weißt du? (...) von mir aus können andere Männer das machen, aber mein Mann (--).”
In ihrer ablehnenden Haltung wurde Fatima offenbar schon mit dem Vorwurf der Selbstsucht konfrontiert oder befürchtet diesen. Umgekehrt wirft sie ihrem Onkel Selbstsucht vor, der in einer Mehrehe lebt. Fatima erkennt ein angeblich sexuelles Bedürfnis des Mannes nicht an, dass es nötig machen würde, mehrere Frauen zu heiraten. Sie grenzt sich stark 157
von der Mehrehe ab, die in ihrer Familie praktiziert wird, auch weil sie es als nicht islamisch ansieht, wenn ein Mann seine Frauen nicht versorgen könne. Weiterhin ist ihr Ideal eines guten Vaters, das sie religiös begründet, in ihren Augen ein Hindernis für die Mehrehe. Fatima identifiziert sich offenbar stark mit der Wertvorstellung einer monogamen Ehebeziehung, die im Aufnahmeland vorherrscht. Einzig Kinderlosigkeit in Kombination mit der Unmöglichkeit von Adoption würden in ihren Augen eine polygame Beziehung rechtfertigen, in der sie sich jedoch nicht wohl fühlen würde. Polygamie würde ihren Ansprüchen und Werten, vorrangig dem Liebesideal, widersprechen. Polyandrie erscheint Fatima ebenso wie Polygynie als Tabu, was sie mit angeblichen psychologischen und körperlichen Unterschieden von Mann und Frau und mit dem göttlichen Willen rechtfertigt: Fatima: „Das ist ja auch von (-) psychologischem Denken unmöglich, eine Frau teilt da (-) vier Männer, und das geht nicht. Also das ist für mich tabu, genauso wie das andere, und (-) unvorstellbar ist das für mich, nee. (--) Ja, dann hätte ja Allah (-) hätte ja seine Gründe dann gehabt, dass er (-) dass er da gesagt hat, der Mann darf, die Frau nicht.”
Die angebliche Emotionalität der Frau erscheint ihr als ein brauchbares Erklärungsmodell für rechtliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Abid lässt gegenüber der Interviewerin Unsicherheit in Bezug auf das Thema Polygamie erkennen, da er annimmt, dass Frauen in der deutschen Gesellschaft diese ablehnen. Er betrachtet diese Regelung in ihrem historischen Zusammenhang, wobei die islamische Polygynie sogar als Begrenzung der Anzahl von Ehefrauen für Männer erscheint, also als Verbesserung der Verhältnisse. Auch betont Abid die Wahlfreiheit des Mannes, sich für oder gegen Polygynie zu entscheiden. Diese erscheint ihm sogar als verboten, wenn der Mann Angst habe, seine Ehefrauen nicht gleich behandeln zu können, wobei eine solche Gleichbehandlung für ihn in materiellen Zuwendungen, nicht in Liebe, besteht. Hierbei zeigt sich, dass das Liebesideal für Abid offenbar keine so große Rolle spielt wie für die übrigen Befragten (siehe hierzu auch Kapitel „Liebe“). Die islamisch begründete Polygynie erscheint ihm als fortschrittlich, da er sie als Lösung für das „Problem“ eines angeblichen Frauenüberschusses in vielen Ländern sieht. In diesem Zusammenhang wird sie sogar positiv als Recht der Frauen dargestellt, da laut Abid jede Frau einen guten Ehemann und jedes Kind einen guten Vater brauche. Seine Ablehnung der Polyandrie begründet Abid mit der Pflicht des Mannes zur Ernährung der Familie, das er zuvor als Recht der Frau deklariert hatte. Im 158
Zusammenhang mit der Polygamie wird es zu einer Beschränkung für sie umgedeutet, indem der Frau indirekt unterstellt wird, sie könne für die Ernährung der Familie nicht aufkommen. Die Zuweisung unterschiedlicher Aufgaben für Männer und Frauen dient hier dazu, ein patriarchalisches System zu legitimieren. Auch biologische Gründe wie die nicht eindeutig zuzuordnende Vaterschaft sind laut Abid ein Hinderungsgrund für Polyandrie, ebenso wie die angeblich fehlende „Veranlagung“ von Frauen, da ihr sexuelles Bedürfnis schwächer sei.84 Wie hier deutlich wird, passt sich die Argumentation Werten und Vorstellungen an, die teils auch auf Tabus gründen.
5.5.8.
Huri
Der koranischen Erwähnung von Jungfrauen (Huri)85, die auf die gläubigen Männer im Paradies warten, stehen sowohl Fatima als auch Jamal kritisch gegenüber. Insbesondere in Fatimas Stellungnahme wird deutlich, dass sie das Thema als provokant empfindet, weshalb sie sich, als sie in der Schule damit konfrontiert wird, dem Gespräch zu entziehen versucht. 84
Laut Schwarz-Schilling entstand die Ehe und damit die Begrenzung der „Samenaufnahme“ bei der Frau und ihre sexuelle Kontrolle mit dem Patriarchat. Zuvor hatten Mann und Frau mehrere Geschlechtspartner, es galt als unwichtig, welchen Vater ein Kind hatte, da der Mann mit den Kindern seiner Schwestern verwandt war. Die Institution Ehe wurde mittels des männlichen Samens als Herrschaftsinstrument gefestigt (Schwarz-Schilling 2006b: 113).
85
Im Koran sind die Huri in den Versen 44:54 sowie 55:70-74 erwähnt. In Sure 44:54 heißt es: „Und wir geben ihnen großäugige Huris als Gattinnen (...).“ (Paret 1966: 415) In 44:70-74 steht: „Darin befinden sich (auch) gute und schöne weibliche Wesen. Welche von den Wohltaten eures Herrn wollt ihr denn leugnen? Huris, in den Zelten abgesperrt (so daß sie den Blicken von Fremden entzogen sind). Welche von den Wohltaten eures Herrn wollt ihr denn leugnen? (Weibliche Wesen) die vor ihnen (Anmerkung von Paret: d.h. Vor den (männlichen) Insassen des Paradieses, denen sie nunmehr als Gattinnen zugewiesen werden.) weder Mensch noch Dschinn (gann) entjungfert hat.“ (ebd.: 449) In letzterer ist die Vorstellung enthalten, dass eine Frau mit einem Djinn, also einem Geisterwesen, sexuellen Verkehr haben könne, die – wie Farideh Akashe-Böhme ausführt – auch in der christlichen Tradition existierte. Dort war zeitweise die Vorstellung verbreitet, Frauen könnten als Hexen mit dem Teufel sexuellen Verkehr haben (vgl. Akashe-Böhme 1997: 45): „In jedem Fall bedeutet diese Vorstellung eine Radikalisierung der Keuschheitsforderung, nämlich ihre Verlegung nach innen: Es geht nicht bloß um leiblichen Vollzug, sondern schon um die Gedanken und Begierden.“ (vgl. ebd.)
159
Fatima: „Das weiß ich nicht, also (-) das ist für mich eines der schwierigsten Themen überhaupt. Das mit dem Schlagen fand ich immer schwierig halt auch, habe ich mich immer irgendwie rumgedrückt, wenn das unser Thema war.”
Dies wird dadurch verständlich, dass Fatima persönlich die Vorstellung von Huri ablehnt, da sich ihr der Sinn dieser Regelung nicht erschließt, sie also nicht einsieht, wozu ein Mann mehrere Frauen braucht. Jedoch sieht sie sich auch einem Druck seitens der Aufnahmegesellschaft ausgesetzt, die Vorstellung von Huri zu rechtfertigen oder zumindest Stellung dazu zu nehmen, wobei sie den Islam aber nicht schlecht darstellen möchte.86 Fatima möchte „gute Dawa“ machen, also vermeiden, dass Nichtmuslime schlecht über den Islam denken. Mit Kritik zum Thema Huri wird sie auch durch die Medien konfrontiert. In der islamischen Gemeinschaft scheint die Huri-Regelung jedoch kein vorrangiges Gesprächsthema zu sein. Fatima bezeichnet es als ein „komisches Gefühl“, keine feste Meinung zu einem Thema und keine „gute Antwort“ zu haben, mit der sie einen Kompromiss finden kann, der sowohl mit Wertvorstellungen der Aufnahmegesellschaft als auch mit islamischen Vorstellungen vereinbar ist: Fatima: „Weil ich fand das echt schlimm, ich finde das echt (--) (seufzt), (-) ich weiß es nicht. Weil bis jetzt hatte ich immer (-) eine gute Antwort gehabt, und dann (-) emem [schüttelt mit dem Kopf]. (-) Das ist schon ein komisches Gefühl, weil ich ja nicht, wie gesagt, also hundertprozentig dahinter stehe, weil (-) also (-) wozu (-) wozu braucht der Mann, also (-) ts:::.” 86
Es stellt sich die Frage, ob Fatimas Lehrer, der das Mädchen offenbar bei jeder Thematisierung des Islams ins Kreuzfeuer nimmt, nicht etwas mehr „kulturelle Selbstreflexion“ zeigen sollte, wie sie etwa Martina Weber unter Bezug auf Renate Nestvogel im schulischen Rahmen fordert (vgl. Weber 1999: 69). Dadurch sollten ihrer Ansicht nach die eigenen Bedeutungszuschreibungen und Bewertungen differenter Geschlechterkonstruktionen relativiert werden, da Emanzipationskonzepte, die Universalität beanspruchen würden, im „multikulturellen Klassenzimmer“ entgegen der Absicht, Hierarchien abzubauen, ebendiese erst erzeugen können (vgl. ebd.). In diesem Kontext ist es auch zu sehen, wenn Fatima bei jeder Gelegenheit dazu aufgefordert wird, Stellung zum Islam – offenbar insbesondere zum Geschlechterverhältnis – zu beziehen, wobei sie sich deutlich gegen eine Ungleichbehandlung von Mann und Frau wehrt, aber für sich selbst noch keine religiös begründete Antwort auf diese Fragen gefunden hat. In den Augen ihrer Klassenkameraden erzeugt eine solche Bloßstellung wohl nur eine weitere Abwertung ihrer Religion und damit auch ihrer Person, obwohl Fatima offenbar dieselben Werte teilt wie ihre Klassenkameraden. So sieht sich Fatima teilweise gezwungen, Vorstellungen zu rechtfertigen, die sie selbst nicht teilt.
160
Ein ähnliches Gefühl beschreibt in einem anderen Zusammenhang Abid, als er in der Schule aufgefordert wird zu erklären, warum Polyandrie im Islam nicht erlaubt sei. Bei der Ungleichbehandlung von Männern und Frauen in Bezug auf Polygamie gemäß religiöser Überlieferungen – ob im Diesseits oder Jenseits – tun sich also Konflikte zwischen Wertvorstellungen der Aufnahmegesellschaft und jenen der islamischen Gemeinschaft auf. Auch Jamal findet keine Erklärung dafür, warum Huri für Männer, aber nicht für Frauen im Koran erwähnt sind, was er zunächst versucht ironisch zu behandeln. Seine ausweichenden Antworten wirken gezwungenermaßen spontan konstruiert und durcheinander, da es auch Jamal offenbar schwer fällt, islamische Regelungen mit seinen Wertvorstellungen und jenen der Aufnahmegesellschaft zu vereinen. Ein Kompromiss in diesem Sinne wäre für ihn die Übersetzung des Begriffs Huri mit „Partnerwesen“, was sich wiederum zwar mit seinen Wertvorstellungen – da auch für Frauen geltend – aber offenbar nicht mit dem Koran nahtlos in Verbindung bringen lässt. Bei Jamal wird deutlich, dass seinen Wertvorstellungen eine Gleichbehandlung von Männern und Frauen, auch im Jenseits, entsprechen würde. Er erklärt sich die Huri-Regelung damit, dass sie für Männer ein Ansporn sein könnte, sich im Diesseits gut zu verhalten. Zugleich hält er es für möglich, dass – wenn Jünglinge im Jenseits auch für Frauen ein Ansporn für ein positives Verhalten im Diesseits seien – der Begriff Huri im Koran mit „Partnerwesen“ zu übersetzen ist. Offensichtlich sucht Jamal also wie Fatima nach einer Auslegung, bei der Frauen keine Benachteiligung entsteht, die nicht mit ihren Neigungen erklärbar und in diesem Fall in seinen Augen hinnehmbar wäre. Abid hat eine stark romantisierte Vorstellung von Huri, wobei er annimmt, seine Ehefrau werde ihm als die Schönste der Paradiesjungfrauen erscheinen (siehe Kapitel „Liebe“). So findet er einen Weg, seine Vorstellung von Liebe und die Huri-Regelung, die offenbar auch für ihn erklärungsbedürftig ist, in seiner Jenseitsvorstellung zu verbinden. Deutlich wird auch, dass die Huri-Regelung und die damit verbundene Paradiesvorstellung offenbar dem Wert der Liebe in einer monogamen Beziehung zuwider läuft und wohl deshalb auch nur schwer von der Aufnahmegesellschaft akzeptiert werden kann. Die starke Kritik an den muslimischen Glaubensvorstellungen in Bezug auf Huri, führt – anders als Fred-Ole Sandt in seinen Befragungen in Bezug auf andere Themen vielfach festgestellt hat – bei den Befragten nicht zu einer Distanzierung oder Ablehnung der muslimischen Religion (vgl. Sandt 1996: 218), sondern zu einer Neuinterpretation des Islams. Die innere Logik der Kritik, so hat auch Sandt bemerkt, führt dazu, dass die 161
Glaubensvorstellungen zum einen mit rationaler Kritik konfrontiert werden („wozu braucht ein Mann das“), zum anderen wird der in den Glaubensvorstellungen festgestellte Herkunftscharakter kritisiert. So erwähnt Fatima bei ihrer Kritik an der Polygamie, dass diese Regelung ursprünglich aufgestellt worden sei, damit sich die Muslime in der Anfangszeit des Islam vermehrten. Auch diese Kritik folgt rationalen Argumenten. Insbesondere bei Fatima und Jamal zeigt sich am Beispiel der Huri also das Bedürfnis nach einer Rationalisierung der Religion.
5.6.
Sexualität
5.6.1.
Sex
Jamal erwähnt, er habe Respekt vor Sexualität, was er auf seine – vor allem mütterlich geprägte – Erziehung zurückführt: Jamal: „Weil, das war in Gegenwart (-) meine Freunde haben mich für bescheuert erklärt, damals. (--) Ich verstehe es ja auch, ich würde mich ja selbst für bescheuert erklären, wenn ich mich so von außen betrachte (brummt). (--) Das war halt so, (-) Sex war für mich ein Tabu. (--) Ich habe das irgendwie überhaupt nicht wahrnehmen wollen. (-) Ich habe das jetzt (-) so übersehen, einfach. (--) So, als wäre es gar nicht vorhanden, als wäre es gar nicht möglich. Interviewerin: Ist es dir dann auch nicht schwer gefallen, darauf zu verzichten? Jamal: Es wäre (-) schwer gefallen, es zu tun. (--) Deswegen (-) habe ich es nicht getan. (--) Das war für mich (--) das war für mich (-) äh (-) etwas absolut (-) übertrieben Krasses, was ich einfach so nicht machen kann mit jeder Frau, vor allem mit irgendeiner Frau, (-) die ich danach nicht (--) mit einer festen Beziehung irgendwie festhalten will. (-) Oder heiraten will, sage ich mal. Interviewerin: Und aus heutiger Sicht findest du das übertrieben? Jamal: (3) Keine Ahnung (lacht). (--) Wahrscheinlich würde ich wieder so handeln. (--) Aber (3) wenn man das von der Gesellschaft her betrachtet, ist das absoluter Unsinn, also (--) wenn die Frau es will, (--) warum soll der Mann es dann nicht wollen? Interviewerin: Auch außerhalb einer Ehe wäre das OK?
162
Jamal: Nein, eigentlich nicht. (--) So (--) ist es ja nicht. (--) Auf der einen Seite ist da der Moslem, der weiß, dass es nicht OK ist, aber auf der anderen Seite ist da der Mann, der (-) der denkt, bist du bescheuert? Bist du schwul, (--) oder wieso nicht? (--) Wenn die Frau es will, (--) wieso willst du dann nicht? (--) Oder (-) warum wolltest du dann nicht? (--) Keine Ahnung, es ist (--) äh (-) ich weiß, dass es das Richtige ist, und ich bin froh zu der Zeit, dass ich es halt nicht getan habe, aber (--) ich finde es (-) selbst ein bisschen (-) verdutzend (lacht).”
Das Tabu vorehelichen Geschlechtsverkehrs war bei Jamal offenbar so stark, dass es auch gegenläufige Einstellungen seiner Peer-Group und seine Vernunft überwog. Gemäß dieser – den Werten der Aufnahmegesellschaft entsprechenden – Vernunft hätte es kein Hindernis gegeben, auf Sexualität zu verzichten, sofern Mann und Frau einverstanden sind. Das Tabu, das ihm seitens seines Elternhauses vermittelt wird, lässt jedoch Sexualität nur als etwas erscheinen, das in eine feste Beziehung oder Ehe gehört. Demnach drückt es für Jamal Respekt vor Frauen aus, in einer Beziehung ohne Zukunftsaussichten darauf zu verzichten. Als Mann erscheint es ihm wichtig, zu Gunsten der Frau verantwortungsvoll mit Sexualität umzugehen. Die deutsche Gesellschaft beurteilt Jamal in Bezug auf das freie Ausleben von Sexualität negativ. Ihr werden voreheliche Enthaltsamkeit und die Qualität platonischer Beziehungen als Werte gegenübergestellt: Jamal: „Das ist halt die Gesellschaft, das ist anders hier (--) als in Pakistan, und (--) ich wurde vielleicht zu pakistanisch erzogen. Interviewerin: Ja, findest du die Gesellschaft hier insofern besser, dass sie freier ist? Jamal: Nee. (--) Ich wurde zu pakistanisch erzogen, um mich in dieser Gesellschaft frei auszuleben, was ich ja auch ganz gut finde. (--) Finde ich sehr gut. (--) Dass das noch irgendwie Früchte getragen hat.”
Den Zwiespalt zwischen den Werten von Aufnahmegesellschaft und Elternhaus löst Jamal, indem er seine sexuellen Bedürfnisse bis zum Alter von 23 oder 24 Jahren ignoriert. Er betont mehrfach die Unvernunft dieser Entscheidung, da sie offenbar auch zu Konflikten mit seiner nichtislamischen Peer-Group sowie seiner eigenen Vernunft führte. In Bezug auf Sexualität identifiziert sich Jamal offenbar mehr mit den Werten seiner Religion als mit jenen der Aufnahmegesellschaft. Dies gilt aber nur für den individuellen, persönlichen Bereich da er bei gesellschaftlich wichtig empfundenen Dimensionen von Sexualität – wie noch im nächsten Kapitel zu sehen sein wird – die Perspektive der Aufnahmegesellschaft einnimmt. 163
Für Fatima ist Sexualität ein Tabu, das ihr von Seiten ihres somalischen Umfelds vermittelt wird. Sie selbst empfindet dieses Tabu jedoch als lächerlich sowie unnötig und provoziert damit ihre Umgebung: Fatima: „(...) also (-) ich habe nur so [Sex] erwähnt, und da psst (-) [legt den Zeigefinger vor die Lippen],
also Sex und so was
ja, (-) das gehört nur in den vier Wänden, ja. Und ich so OK (lacht). (-) OK (lacht).”
Entschieden wendet sich Fatima gegen eine Ungleichbehandlung von Männern und Frauen in Bezug auf Sexualität, was sich unter anderem an ihrer Ablehnung der Steinigung von Frauen in Somalia zeigt. Hierbei betont sie die Gleichheit vor dem Gesetz von Männern und Frauen sowie Gerechtigkeit als Werte. Den Islam lehnt sie als Legitimationsquelle für Steinigung ab; diese wird – wie auch das Beharren auf Jungfräulichkeit – bei einer Frau sogar als Schaden für das Ansehen des Islam angesehen: Fatima: „(…) alle Faktoren, die dazu führen, dass der Islam so schlecht ist, sind (-) nicht aus den islamischen Quellen, sondern die Menschen, die Menschen machen den Islam oder (-) oder uns Muslime zu Grunde, weißt du, indem sie halt (-) (seufzt) keine Ahnung, so dummes Zeug machen oder (-)
ja, ich will eine Jungfrau heiraten, ne (--) oah (stöhnt).”
Fatima teilt hierbei offenbar die Werte der Aufnahmegesellschaft. Abid nimmt eine Veranlagung des Mannes zu sexuellen Gedanken und Bedürfnissen an, die stärker als die der Frau sei: Abid: „Das kann ich nicht anders erklären. (-) Jetzt nicht genetisch oder geboren, aber irgendwie ist das so, und ich weiß nicht, warum. (--) Ich sage, das ist eine Prüfung von Allah, (--) da (-) deswegen hat er uns auch (-) also die (.) die Ehe auch als Schutz gegeben, ja.”
Demgegenüber haben Frauen in seinen Augen eine größere Verführungskraft, auch wenn sie sich selbst weniger leicht verführen ließen als Männer.87 Dies wird religiös begründet – als göttliche Prüfung für den 87
Laut Fatima Mernissi ist die muslimische Gesellschaft durch einen Widerspruch zwischen einer Betrachtung der weiblichen Sexualität als aktiv und passiv gekennzeichnet. Die „explizite Theorie“ behaupte, die männliche Sexualität sei aggressiv und die weibliche passiv, die „implizite Theorie“, die heute eher verdrängt werde, gehe davon aus, dass die Zivilisation auch eine Anstrengung darstellt, um die „zerstörerische, alles verschlingende Macht der Frau in Grenzen zu halten“ (Mernissi 1987: 13): „Die Überwachung und Beherrschung der Frau soll verhindern, daß die Männer sich von ihren gesellschaftlichen und religiösen Pflichten abwenden. Der Fortbestand der Gesellschaft verlangt Institutionen, die die männliche Herrschaft begünstigen, also z.B. die Geschlechtertrennung und das Recht des Gläubigen, mehrere Frauen gleichzeitig zu haben.“ (ebd.)
164
Mann, da Sexualität für Abid mit Sünde besetzt ist, zumindest wenn sie im unehelichen Rahmen stattfindet. Bekleidungsvorschriften und die Ehe gelten für ihn als Schutz davor. Abid legitimiert auch die von ihm vertretene Pflicht verheirateter Frauen zum Beischlaf mit ihrem Ehemann religiös. Die Frau würde sündigen, wenn sie sich weigere, da das sexuelle Bedürfnis des Mannes unkontrollierbar sei und ein unbefriedigter Mann gemäß dieser Argumentation fast schon gezwungen sei, Ehebruch und damit eine Sünde zu begehen: Abid: „(…) es gibt ja auch einen Hadith, da sagt der Prophet Muhammad salei salam, und es werden welche (-) bestimmt die Frauen (-) nicht hören wollen (-) ungern hören wollen, (-) und wenn der (...) [Mann] die Frau ruft (-) also, wenn er sie zum Ehebett ruft, und sie weigert sich, dann fluchen (-) dann verfluchen die Engel sie. (-) Warum in diesem Sinne? Weil (-) ja, weil (3) er ha’ (-) er hat gerade das Bedürfnis und kann das nicht kontrollieren, und dadurch, wenn sie das nicht eingeht, (-) bekommt kann (-) kann es vielleicht zu dieser (-) äh (-) Folge kommen, dass er sich (-) dass er Angst hat, Ehebruch zu begehen. (-) Oder, dass er sich an anderen Frauen orientiert oder so, weißt du.”
Anhand der Schilderung einer Diskussion in der Moschee stellt Abid den Geschlechtsverkehr für die Frau als grundsätzlich schön dar, auch wenn dies unter Zwang geschehe, weil Sex der Fortpflanzung diene: Abid: „Da kam ein Mann, (-) ich mag den sehr, der ist auch sehr weise, weißt du, (-) da sagt er so (-) guck mal, [Glaubens]Schwester. (--) Wenn du jetzt mit deinem Mann schläfst, (-) das kann immer noch schön werden. (--) Ja. (-) Es kann immer noch irgendwas entstehen. (-) Ein Kind (-) irgendwas. (-) Auch wenn du das nicht willst. (-) Auch wenn du dich zwingst, ja. (--) Aber bei einem Mann, da geht gar nichts, wenn er nicht will, nicht kann, dann geht nichts. (...) Und das war für mich auch so (-) ja, der hatte Recht in dem Sinne.”
Es wird vorausgesetzt, die Frau habe kein beziehungsweise ein weniger starkes sexuelles Bedürfnis. Die Anatomie von Mann und Frau dient Abid dabei zur Rechtfertigung der patriarchalischen Einstellung, dass die Frau ihrem Ehemann sexuell zu Willen sein müsse, die Abid als einen Konsens innerhalb der islamischen Gemeinschaft – zumindest unter Männern – darstellt. In Abids Schilderung wird eine orthodoxe islamische Sichtweise deutlich, wie sie Farideh Akashe-Böhme beschreibt. Sie stellt die islamische Haltung zur Sexualität als „eine offene und zustimmende“ dar, „sie gilt als eine positive Energie und ein Trieb, dessen Befriedigung für ein harmonisches Dasein im Diesseits legitimes Recht des Mannes wie der Frau ist“ (Akashe-Böhme 1997: 44). In der Praxis je165
doch, „im Kontext der sozialen Beziehungen und der sozialen Ordnung erhält die Sexualität ihr normatives Gewicht“ (ebd.: 46), und es werde die Asymmetrie zwischen Mann und Frau deutlich: „Die Sexualität kann ,schädlich' für das soziale Gefüge sein, wenn das Individuum von der Sexualität dominiert wird, andererseits aber dient die Sexualität der islamischen Gemeinschaft, wenn sie im institutionell vorgegebenen Rahmen, d.h. in der Ehe befriedigt wird“ (ebd.: 46). In der die Sexualität neutralisierenden Funktion der Ehe erkennt Akashe-Böhme eine Parallele zum Christentum (vgl. ebd.: 47).88 Die weibliche Sexualität beschreibt sie „nach islamischer Auffassung“ als destruktiv, da sie zu Chaos und Unordnung führe. Das Ausleben der weiblichen Sexualität schade dem sozialen Gefüge, wenn Männer von dieser Sexualität beherrscht würden, weshalb sie davor durch Geschlechtertrennung oder Verhüllung des weiblichen Körpers geschützt werden müssten (vgl. ebd.: 46). Ganz ähnlich argumentiert Abid. Akashe-Böhme zieht hier eine Parallele „zum Konstrukt der ,femme fatale'“ (ebd.: 47), in dem Frauen ebenfalls eine gefährliche Anziehungskraft zugeschrieben werde, die den Männern die Möglichkeit zur Selbstkontrolle nimmt. Die dem Mann gemäß einer islamischen Deutung auferlegte sexuelle Befriedigung der Frau erscheint aus dieser Sicht also nicht als ein Dienst an der Frau, sondern als eine Kanalisation der gefährlichen männlichen Triebhaftigkeit (vgl. ebd.). In den beschriebenen Einstellungen der Befragten, insbesondere jener von Abid, zeigen sich starke Parallelen zur fundamentalistischen und unter jungen Leuten populären christlichen Bewegung „Wahre Liebe wartet“, die Katharina Liebsch untersucht hat: „Das zentrale Anliegen der religiösen Gemeinschaft (...) ist die Verbreitung einer neuen Schamhaftigkeit und der Mäßigung und Kontrolle von vorehelicher Sexualität.“ (ebd.: 245) Die ins Wanken geratene patriarchale Geschlechterordnung solle dadurch neu stabilisiert werden.89 Frauen schließen sich, wie Liebsch herausstellt, unter anderem deshalb dieser Bewegung an, da die 88
Ursula Boos-Nünning bezeichnet es als „fraglich“, ob der Islam und der traditionelle Katholizismus im Hinblick auf ihr Frauenbild so weit entfernt seien wie allgemein angenommen: „In beiden Religionen führt die grundsätzliche Angst vor einer ,gefährlichen' Sinnlichkeit der Frau zu der Forderung nach Passivität und bewirkt die Regulierung des weiblichen Sexualverhaltens, in beiden Religionen wird die Geringschätzung der Frau durch ihre Minderwertigkeit begründet, und die Frau wird auf den privaten Bereich eingeschränkt“ (Boos-Nünning 1999: 33) Sie vermutet als Ursache „vorindustrielle, agrarisch bestimmte Strukturen“ (vgl. ebd.).
89
Martin Riesebrodt hat den – islamischen wie christlichen – Fundamentalismus als „patriarchalische Protestbewegung“ gekennzeichnet, die sich argumentativ um den moralischen Verfall der Gesellschaft und die Frau als potenzieller Verführerin des Mannes zur Sünde dreht (vgl. Riesebrodt 1990: 239).
166
Kontrolle weiblicher Sexualität als Schutz empfunden wird: „Sie entlastet von sexuellen Anforderungen und gewährt ihnen Möglichkeiten zur Entwicklung und Entfaltung von Selbst-Bildern jenseits von Erotisierung und Exotisierung.“ (Liebsch 2001: 246) Die Kontrolle der Körper und der Seuxalität stellt insofern „ein gewähltes und sinnstiftendes Instrumentarium zur Gestaltung und Regulierung zwischenmenschlicher Beziehungen“ dar (ebd.): „Zentriert auf einen als ,natürlich und gegeben deklarierten Geschlechtsunterschied und eine ebensolche Sexualität wird das Prinzip männlicher Autorität über den moralischen Gruppenkodex zum Ausdruck gebracht und reproduziert.“ (ebd.: 249)
Hier wird also verständlich, warum auch die befragten Frauen sich in die Kontrolle der weiblichen Sexualität durch Geschlechtertrennung und Bedeckungsvorschriften mehr oder weniger stark fügen, denn auch Maryam und Fatima betonen häufiger den Schutz und die Entlastung, denen ihnen diese Regelungen gewähren.
5.6.2.
Jungfräulichkeit
Jungfräulichkeit ist sowohl für Abid, als auch für Fatima und Jamal wichtig – in Bezug auf Männer ebenso wie auf Frauen. Jedoch wenden sich Fatima und Jamal strikt gegen eine ungleiche Bewertung von Jungfräulichkeit bei Männern und Frauen. Jamal rechtfertigt dies unter Bezug auf den Koran, in dem Ehen zwischen „reinen“, also jungfräulichen Partnern, beziehungsweise „unreinen“ Partnern, nicht aber deren Vermischung befürwortet würden („reine Frauen sind für reine Männer, und unreine Frauen sind für unreine Männer“). Jamal bezeichnet es als unislamisch, dass von Frauen voreheliche Enthaltsamkeit im Allgemeinen vehementer als von Männern verlangt werde. Seiner Auffassung nach bestraft Gott Ehen, in denen solche ungleiche Wertungen zum Maßstab gemacht werden und beispielsweise ein „unreiner“ Mann eine jungfräuliche Frau heirate: Jamal: „(…) ich habe aber auch immer gemerkt, das geht dann ganz in die Hose, das geht dann ganz schief. (-) Dem Mann geht es nicht gut, der wird (-) die Frau wird nie zufrieden sein, (-) nicht weil jetzt wegen dem Sex oder sonst was, sondern weil ich denke, dass Gott (--) ganz von oben da die Strafe sendet für solches Verhalten.”
167
Er betont jedoch, man dürfe kein Dogma daraus machen, weder indem man Ehen zwischen einem „reinen“, also jungfräulichen, Mann und einer „unreinen“ Frau prinzipiell ablehne, noch umgekehrt. Es könne also von dem aus dem Koran abgeleiteten Gebot auch Ausnahmen geben; man dürfe sich nur nicht auf die Jungfräulichkeit „versteifen“: Jamal: „(…) ich laufe jetzt nicht mit einem Schild rum und sage, ich suche eine Frau, die schon Sex vor der Ehe hatte, nur weil ich schon Sex vor der Ehe hatte. (-) Aber ich versteife mich jetzt nicht darauf, dass ich eine Frau ohne jemals Sex vor der Ehe gehabt zu haben mir suche, weil ich (-) so eine tolle reine Frau will oder so. (--) Das finde ich dann Quatsch.”
Dass Jamal sexuell enthaltsame Menschen als „Übermenschen“ bezeichnet, weist auf die Schwierigkeit hin, die für ihn die Einhaltung dieser Enthaltsamkeit offenbar darstellte. Durch die verbreitete Heiratsmigration, also Hochzeiten von Männern pakistanischer Abstammung (und meist deutschem Pass) mit pakistanischen Frauen, geschieht es seiner Ansicht nach automatisch, dass Männer häufig sexuelle Erfahrungen hätten, Frauen jedoch nicht, was er mit deren traditioneller Erziehung im Herkunftsland begründet. Jungfräulichkeit stellt zwar für ihn einen Wert dar, jedoch wird sie zugunsten einer Vorstellung der Aufnahmegesellschaft abgewertet, die eine Gleichberechtigung und Gleichbehandlung von Frauen in Bezug auf Sexualität voraussetzt. Dabei dient der Koran als Legitimationsquelle. Ganz ähnlich argumentiert Fatima, die sich ebenfalls strikt gegen eine Ungleichbehandlung von Männern und Frauen in Bezug auf Jungfräulichkeit ausspricht. Voreheliche Sexualität sieht sie als einen menschlichen Fehler an, den Allah vergeben könne. Sie betrachtet es als ungerecht, dass bei Männern das freie Ausleben von Sexualität vor der Ehe toleriert werde, es bei Frauen aber zur Folge habe, dass sie als nicht heiratsfähig gelten, als schmutzig angesehen würden und dadurch ihr späteres Leben beeinträchtigt sei, wie sie es im Bekanntenkreis erlebt: Fatima: „(...) a::ber muss ich wirklich wieder sagen, weil ich finde das wirklich total doof (-) oder total sag ich mal falsch, dass das nur von den Frauen verlangt wird, dass sie rein ist, und er hat sich dann halt irgendwo rumgetrieben, hatte drei, vier, fünf Beziehungen, dann kommt er und verlangt er nach einer reinen Frau, (-) was ist das für eine (-) eine (--) für eine (-) Denkweise? Wo ich dann denke, was soll denn das? Oder dass er dann also (-) also
sogar nachfragt, hattest du schon mal [Sex]?
(-) Ja und, (-) auch wenn ich hatte, es ist mein Fehler, den ich begangen habe, und wenn ich Muslima bin und nach dem Islam lebe,
168
natürlich sollte man keine Fehler begehen und (-) ähm (-) auch keine
Sex vor der Ehe
(sehr leise flüsternd) haben, ja (-) sollte man, (-) aber, wenn das mal passiert, weil man ist ein Mensch und (...) dann sollte nicht dadurch mein Leben beeinträchtigt werden. (--) Allah (-) kann mir vergeben, und (-) ähm (-) dadurch irgendwie (-) schmutzig zu sein oder (-) also das (-) das verstehe ich ehrlich gesagt nicht. (-) Wenn da eine Frau nicht geheiratet wird oder (-) keine Heiratsanträge kriegt, weil sie schon mal hatte (lacht). (-) Und was ist mit ihm dann, frage ich (…).“
Die göttliche Gerichtsbarkeit stellt Fatima über die menschliche, was ihre Ablehnung dieser Ungleichbehandlung rechtfertigt. Auch bemängelt sie die fehlende Mitverantwortung des Mannes für „Fehler“ wie außereheliche Sexualität, die sie in der Herkunftsgesellschaft im Zusammenhang mit Steinigung kritisiert: Fatima: „Ein Mensch kann Fehler unter (.) untergehen, ja, aber (-) wenn er daraus lernt, sollte es kein Hindernis sein, (-) dass sie keinen Mann kriegt (-) oder so, also (-) bei uns zu Hause in Somalia weiß ich, dass es wirklich sehr sehr sehr schwierig ist, (--) ähm (-) dass wenn eine Frau schon mal irgendwie (-) einen Fehler hatte oder einen Fehler gemacht hat, dass sie (-) dafür bestraft wird, und der Mann, der
mit ihr
das auch gemacht hat, irgendwie davonkommt, also das verstehe ich
ehrlich gesagt nicht.
(-) Oder diese Steinigung, das verstehe ich auch nicht. Das ist aber auch die Denkweise von den (-) ja:: (-) von diesen Kulturen einfach. Die Frau hat das und das und das zu sein, und wo bleibt der Mann?”
Sexuelle Enthaltsamkeit ist für Fatima keine Voraussetzung für eine Heirat. Ein Mann, der auf Jungfräulichkeit großen Wert legt und sie selbst nicht praktiziert, entspricht nicht ihrem Idealbild. Fatima lehnt sich gegen traditionelle Denkmuster in ihrem Umfeld auf und versucht, diese zu verändern, vermutlich, weil sie selbst stark davon betroffen ist. Demgegenüber nimmt sie die Position der Aufnahmegesellschaft ein: Fatima: „Also wirklich, deswegen habe ich auch oft Konflikte mit meinen Landsleuten, weil sie immer denken, die Frau, die Frau, die Frau, immer immer über die Frau gemeckert wird, und (--) und wo bleibt der Mann? Weil immer ein Fehler (-) ja, man macht immer einen Fehler, und der Mensch ist nicht alleine, es gibt immer Einflüsse, die das prägen (…).”
Auch für Abid stellt Jungfräulichkeit keine Bedingung für eine Eheschließung dar. Sie ist für ihn aber dennoch ein Wert, der jedoch auch für einen Mann gelte. Dass er vor seiner Ehe viel sexuellen Verkehr mit Frauen hatte, bewertet er aus heutiger Perspektive als negativ. Gottes169
furcht stellt Abid jedoch über den Wert der Jungfräulichkeit und unterstreicht wie Fatima, dass Allah vergeben könne, wenn man Reue zeige.
5.6.3.
Freundschaften
Für Fatima, Jamal und Maryam sind Freundschaften zwischen Männern und Frauen ein von ihren Eltern vermitteltes Tabu. Seinen früheren regen Kontakt zu Frauen bezeichnet Jamal aus heutiger, vermutlich von der islamischen Mehrheitsmeinung geprägter Perspektive als „krass“. Er betrachtet platonische Freundschaften zwischen Männern und Frauen jedoch auch in einer Ehe als möglich, was er religiös rechtfertigt, da er auf diese Weise den Frauen – insbesondere Freundinnen seiner Frau – den Islam erklären könne. Dennoch sollte seiner Auffassung nach bei Freundschaften mit Angehörigen des anderen Geschlechts eine gewisse Vorsicht gewahrt werden, da die Möglichkeit bestehe, vom Teufel zu illegitimen sexuellen Beziehungen verführt zu werden: Jamal: „(…) man sollte es meiden, denke ich, (...) man sollte jetzt nicht sagen, das ist zu gefährlich, (...) das ist ja auch Quatsch, also (--) kann es mal (--) kann es ganz vorsichtig einfach angehen. (-) Man sollte halt immer wieder sich (-) seine eigene Einstellung überprüfen, weil (--) der Teufel ist halt doch da im Islam, und gerade, (--) heißt es ja, dass er bei Mann und Frau alleine im Raum immer der Dritte ist [bezieht sich auf eine Hadith], und (-) da (--) das finde ich gar nicht mal so dumm, also (--) wenn man hört, was so alles passiert (…)”
Auch Fatima bekommt von ihren Eltern Beziehungen zu Männern als Tabu vermittelt, sofern diese sich nicht als künftiger Ehemann vorstellen. Einen Jungen mit nach Hause zu bringen ist für sie unvorstellbar: Fatima: „(...) dann stöße ich an (-) wirklich (--) Grenzen, ja. (-) Das geht nicht. (…) Die würden erst mal gucken, meine Mutter, die würde
hä: (-) was machst (--) (lacht) die würde erst mal, (-) denke mal, (-) habe ich noch alle Tassen im Schrank oder (lächelt)? Mein Vater (-) ist so für mich sogar (-)
unvorstellbar, dass ich das nicht (-) wagen würde, ja.”
Ähnlich äußert sich Maryam: Maryam: „Nein, nein, nein, nein, nein. (--) Nee das wa’ (-) also ehrlich gesagt, das war bei mir jetzt noch nie Thema. (--) Ich hab daran auch noch nie gedacht, weil ich ganz genau weiß, das geht nicht (lacht). (-)
170
Nee. (--) Das ist ganz klar, dass so was nicht geht, und von vorneherein denkt man nicht daran.“
Freiheiten nahm sich Fatima daher heimlich, indem sie sich mit einem Jungen außerhalb des Hauses traf, was jedoch Sanktionen ihrer Eltern nach sich zog. Für Fatima bedeutete dies ein Austesten von Grenzen, das sie im Rückblick aber als unislamisch betrachtet. Dass sie ihr Verhalten heute negativ bewertet, rührt vermutlich daher, dass sie dies nicht als praktikables Handlungsmuster erlebte. Sie hat ein sehr genaues Bewusstsein dafür entwickelt, in welchem Rahmen sie sich bewegen kann und wo unüberwindbare Tabu-Grenzen liegen, die sie jedoch auszureizen versucht. Islamisch begründete Regelungen geben Fatima offenbar eine gewisse Sicherheit für diesen Handlungsrahmen und die Chance, ihn sukzessive auszuweiten. Sie geben ihr einerseits eine Rechtfertigung gegenüber den Eltern, andererseits ziehen sie bei Nichtbefolgung starke Sanktionen nach sich. Für ihre Brüder gelten dabei andere Regeln bezüglich Freundschaften mit dem anderen Geschlecht als für sie als Mädchen. Dies veranlasst Fatima – anhand von religiösen Begründungen – dazu, sich dagegen zu wehren, sowohl gegenüber ihren Eltern, als auch in ihrem somalischen Umfeld. Freundschaften zu Männern außerhalb der Ehe lehnt Fatima ab, weil nach ihrer Ansicht immer sexuelle Spannung zwischen den Geschlechtern bestehe. Sie räumt jedoch ein, dass manche Menschen dies vielleicht differenzieren könnten. Für Abid stellen Freundschaften zu Frauen ein – nicht von den Eltern, aber von Seiten der islamischen Gemeinschaft vermitteltes – Tabu und eine Gefahr dar: Abid: „Die Gefahr ist da viel zu groß. Weil (-) Allah sagt auch im Qur’an (-) und (5) ja das (--) und komme Zina nicht nahe (-) Zina ist ja diese Ehebruch oder so oder (-) dieser Kontakt zwischen Mann und Frau (-) vor der Ehe. (-) Und wenn da heißt nicht nahekommen, dann ist das schon (-) ganz klar.”
Abid nimmt an, dass die Anwesenheit von Frauen Männer auf unzüchtige Gedanken bringt und dass Scherzen und Reden ebenfalls zu „Unzucht“ führen könne. Interesse an einer Frau als Person lässt Abid nicht als islamischen Grund für eine Freundschaft gelten. Die Beziehung zur Ehefrau ist für ihn die einzige legitime zum anderen Geschlecht. Auch Maryam wird von ihren Eltern ein striktes Tabu vermittelt, keine Männerfreundschaften einzugehen, es sei denn, dass sich daraus eine Ehe entwickelt. Beziehungen zum anderen Geschlecht bezeichnet sie als religiöses Verbot. Freundschaften mit Männern werden negativ beurteilt, 171
da sie in ihren Augen Gefahren wie die plötzliche Trennung, Krankheiten oder ungewollte Schwangerschaft beinhalten: Maryam: „Weil, ähm (-) Allah sagt, (-) das Beste für euch ist na’ (-) natürlich Mann und Frau, sonst hätte er Mann und Frau nicht ent’ nicht erschaffen, (...) aber (...) als Heirat, das heißt als Familie und gleichzeitig entsteht bei euch Baraka, (-) Baraka heißt glaube ich (--) Segen? Genau. (-) Und (-) äh (-) und hat nichts äh Negatives, das heißt, euch kann da auch nichts pa’ (.) Schlechtes passieren, ja (-) wiederum als (-) ähm (--) wenn man jetzt einen Freund hat ähm (-) könnte vieles sein. (-) Es könnte sein, dass er mich von (-) oder ich ihn verlasse von mo’ von heute auf morgen, ja. (...) Es kann sein, dass (-) ich irgendeine Krankheit bekomme, ja, (-) Allahu ‘alem, weiß ich nicht, ja. (-) Oder er von mir, (-) pf:, ja. (-) Oder ä:h (3) (…) Ja, Schwangerschaft zum Beispiel, ja. (-) Wo sich je’ nicht jeder Mann darüber freut (lacht). (--) Also vieles, was eher Negatives ist als positiv, deshalb ist die Ehe (-) im Islam an erster Stelle.”
Andererseits wehrt sich Maryam dagegen, dass Freundschaften mit Angehörigen des anderen Geschlechts von manchen Eltern – insbesondere bei Mädchen – sanktioniert werden; dies bezeichnet sie als unislamisch. Bei allen Befragten zeigt sich also eine Wahrung von Tabu-Grenzen, die ihnen von den Eltern oder der islamischen Gemeinschaft vermittelt werden, wobei Jamal, Fatima und Maryam durch religiöse Argumentationen leichte Abweichungen von traditionellen Handlungsmustern rechtfertigen.
5.6.4.
Flirten und Verführung
Insbesondere die männlichen Befragten thematisieren den angeblich notwendigen Schutz einer Frau und deren mögliche Verführung in Zusammenhang mit dem abendlichen Ausgehen. Jamal erscheint ein Mädchen dabei besonders schutzbedürftig durch ein männliches Familienmitglied, da er annimmt, Mädchen seien leichter als Jungen verführbar, was sich auch aus deren körperlichen Gegebenheiten ableite: Jamal: „Ich denke, das liegt leider, so traurig und blöd das immer wieder klingen mag, in der Natur, dass es der Frau leider (--) gegönnt ist, immer mehr Verehrer zu haben (-) Verehrer freundlich ausgedrückt, äh (-) die (.) die mehr (--) ja, während Männer nicht so das Problem haben, so viele Frauen zu haben, die ihnen nachstellen, die auch irgendwas Be-
172
stimmtes von ihnen wollen und um das zu kriegen auch bereit sind, ziemlich viel (--) Ideen sich einfallen zu lassen.”
Die „Natur“ der Frau erscheint als verführerisch, die des Mannes als berechnend, fordernd und gewalttätig. Sich selbst nimmt Jamal von diesen Charaktereigenschaften jedoch aus. Verführung betrachtet er als erlernbar und setzt diese mit sexueller Belästigung gleich, die jedoch durch eine richtige Erziehung vermeidbar erscheint: Jamal: „Es ist ja nicht so, dass ich dem Mädchen nicht vertrauen würde, wenn ich es (-) weggehen (.) nicht weggehen lasse. Es wären die Umstände, ich würde dem Mädchen halt nicht zutrauen, dass es die Umstände so gut einschätzen kann, dass sie sich nicht in Gefahr begibt. (-) Weil es halt ein Mädchen ist. (…) Ein Junge kommt ja nicht in die Situation, wird ja nicht verführt so leicht. (-) Verführen selbst (-) ist etwas, das man erst mal lernen muss. (-) Und wenn der Junge schon so viel Ambitionen entwickelt hat, ein Mädchen zu verführen, dann ist meine Hilfe also (-) wahrscheinlich sowieso schon zu spät.”
Das von Frauen ausgehende Begehren wird als weniger aggressiv betrachtet, als regulierbar und harmloser, wodurch die Frau als Opfer für männliche Täter erscheint. Dabei nimmt Jamal pauschale Zuschreibungen gegenüber „Ausländern“ vor, die er als anzüglicher und aggressiver Frauen gegenüber als Deutsche betrachtet: Jamal: „Weil (--) nicht in dieser Gesellschaft ist das nicht so (-) schlimm, also die Deutschen sind nicht so die großen Anbaggerer, wenn ich das mal so sagen darf, (-) aber es gibt natürlich auch viele (-) Ausländer hier. (-) Und die sind schon (-) gut dabei.”90
Ein Mädchen kann ihm zufolge Gefahren nicht so gut einschätzen und sei naiver als ein Junge. Aus diesen angeblichen Verschiedenheiten leitet 90
Hier zeigt sich, dass Menschen von rassistischen Zuschreibungen und Prozessen nicht nur betroffen sein können, sondern zugleich auch aktiv daran mitwirken können. Jamal schreibt hier „den Ausländern“ die Eigenschaft sexueller Aktivität zu, beziehungsweise die Rolle des „Anbaggerers“, während „die (männlichen) Deutschen“ also im Gegensatz dazu also eher eine sexuell passive Rolle spielen. Terkessidis erklärt dazu: „Tatsächlich ist es oft schwer, sich der Entantwortung zu entziehen. Wenn man ständig mit jenen Zuschreibungen konfrontiert wird und diese zumeist auch bewertet werden – ob positiv oder negativ – , dann ist es kaum verwunderlich, dass Personen sich teilweise oder ganz mit den ihnen zugeschriebenen Eigenschaften identifizieren.“ (Terkessidis 2004: 192) Das gilt aber, wie im Falle Jamals deutlich wird, nicht nur für direkt Betroffene von diesen Zuschreibungen, immerhin ist Jamal kein Ausländer, sondern Deutscher. Es verweist aber generell auf den Gemeinschaftsaspekt von rassistischen Prozessen: Wenn Zuschreibungen immer wieder produziert und reproduziert werden, ist es schwer, sich ihnen zu entziehen.
173
Jamal rechtliche Unterschiede in Bezug auf das Ausgehen ab. Alkohol trinken wird ein negativer Aspekt des abendlichen Ausgehens betrachtet, weshalb Jamal bei seinen eigenen Kindern, sowohl bei einem Jungen als auch bei einem Mädchen, das Ausgehen in jungen Jahren nicht tolerieren würde. Mit zunehmendem Alter würde er jedoch bei beiden Geschlechtern auf Erziehungserfolge hoffen und auch Mädchen zutrauen, dass sie auf sich selbst aufpassen könnten. Diese seien jedoch in jungen Jahren noch unbeholfen und müssten es erst lernen, sich gegen Annäherungsversuche zu wehren. Jamal versucht offenbar einen Mittelweg in der Erziehung von Jungen und Mädchen zu finden, der sowohl islamischen Ansprüchen von einer „Keuschheit“ und Alkoholabstinenz genügt, als auch dem in der Aufnahmegesellschaft wichtigen Wert individueller Freiheiten. Dabei betont er, dass er das Handeln aufgrund von Vernunft als besser ansieht als das Handeln aufgrund von Verboten. Das Ausgehen selbst, insbesondere in die Disko, erscheint ihm nicht erstrebenswert. Ihm zufolge fällt es aber in einen Bereich, der weder als islamisch, noch als unislamisch bezeichnet werden könne, da er sich außerhalb dieser Kategorien bewege. Das Ausgehen erscheint als eine schlechte Tat, die man mit einer guten wieder ausgleichen könne: Jamal: „Aber (3) ich finde, es gibt Dinge, die sind nicht (-) islamisch, und die sind auch nicht unislamisch, weil in dieser Kategorie bewegen die sich nicht. (-) Die sind vielleicht nicht so toll, nicht gut, nicht anstrebenswert, (-) vielleicht sogar eine schlechte Tat, (-) die man mit einer guten Tat wieder ausgleichen kann, (--) aber (--) es ist nicht verboten.”
Diese Betrachtungsweise ermöglicht es Jamal, seinen Glauben nicht verleugnen zu müssen, wenn er an Freizeitbeschäftigungen der Aufnahmegesellschaft partizipiert. Für Fatima erscheint das abendliche Ausgehen als familiäres Tabu, wobei sie eine starke Ungleichbehandlung gegenüber ihren Brüdern wahrnimmt, bei denen ihre Eltern offenbar auch „unislamische“ Freizeitbeschäftigungen stillschweigend tolerieren. Da Fatima aber ein Bedürfnis verspürt auszugehen, organisiert sie mit Freundinnen eine Frauendisko, um Ansprüche von Aufnahmegesellschaft und familiärem Umfeld zu verbinden. Da dies von ihren Eltern akzeptiert wird, kann geschlossen werden, dass es der Kontakt ihrer Tochter zu Männern ist, den sie zu vermeiden suchen. In diesem Zusammenhang wird auch die Verletzung der weiblichen Ehre von den Eltern thematisiert, was im Kapitel „Ehre und Würde“ ausgeführt werden soll. Fatima versucht den Traditionen der Herkunftsgesellschaft entgegenzutreten, indem sie sich gegenüber der Mutter offensiv gegen eine Ungleichbehandlung im Vergleich zu ihren Brüdern wehrt, offenbar jedoch erfolglos: 174
Fatima: „(…) ich mache meiner Mutter immer noch so Vorwürfe, sag ich, das war nicht in Ordnung, weil Mädchen und Junge soll man gleichermaßen erziehen, die haben das Recht, und du hast sogar die Pflicht, die beide gleich zu erziehen. Und da hat sie gemeint (-) oah ja:, (-) und da kommt wieder diese Ehre auf, (-)
Mädchen (--) können schnell (--) die Ehre verletzen ich so Mami, aber weißt du, auch, wenn ich viel rede und (-) Vorträge halte zu Hause, das klappt nicht.”
Fatimas Vorstellung von Erziehung beinhaltet eine Gleichbehandlung von Jungen und Mädchen, womit sie dem Konsens von Geschlechtergleichheit in der Aufnahmegesellschaft entspricht. Interessant ist, dass Fatima sowohl von muslimischen (somalischen) als auch von nichtmuslimischen (deutschen) Männern offenbar aufgrund ihres Kopftuchs und ihrer Herkunft beziehungsweise Hautfarbe ähnliche Zuschreibungen erfährt, die sie im Zusammenhang mit Flirten thematisiert. So werden ihr Eigenschaften wie Bravheit, Mütterlichkeit und Hausfrauenmentalität zugeschrieben, weiterhin Unkompliziertheit und Willigkeit, die Fatima jedoch für sich als unpassend ablehnt: Fatima: „Die
denken dann halt Kopftuch, eine Brave bin ich.
Und was noch (-) ja und (-) ja, bist bestimmt eine gute Mutter, (-) eine Hausfrau und so, (-) also die eine [Freundin ohne Kopftuch] (-) ja, die (...) tickt genauso wie ich auch, die denkt viele Sachen sogar (-) einfacher als ich, wo ich da denke, nee, das lasse ich mir nicht so sagen. Also das Bild,91 diese Fantasie, die ich mir von Frauen mache, die ist ja manchmal falsch, ne. Die denken dann [von mir], ach, die ist ja noch lieb oder so, masha Allah, mit der kann man viel (-) machen und so.”
Im Zusammenhang mit dem Flirten wird deutlich, dass für Fatima das Kopftuch auch eine Identifikation mit gewissen Verhaltensregeln im Umgang mit Männern ausdrücken soll, gegenüber denen es sexuelle Enthaltsamkeit und Distanz signalisieren soll. Nicht von allen (nichtmuslimischen) Männern wird diese Symbolik aber verstanden oder akzeptiert.92 Fatima sucht die „Schuld“ für Flirts auch bei sich, indem sie ihren 91
Der Begriff des Bildes zeigt laut Mark Terkessidis, dass die Betroffenen die Anwesenheit von jemanden spüren, „der in ihnen etwas sah, mit dem sie nicht übereinstimmten. Sie befanden sich offenbar an einem anderen Ort als dem, wo dieser Blick sie zu erfassen glaubt.“ (Terkessidis 2004: 198) Terkessidis hat beschrieben, wie die Akte rassistischer Situationen, die er beschreibt – Entfremdung, Verweisung, Entantwortung und Entgleichung – von Bildern herrühren.
92
Ursula Mihciyazgan fand heraus, dass muslimische Migrantinnen mit dem Kopftuch ihre religiöse Zugehörigkeit demonstrieren, aber auch öffentlich zeigen wollen, dass sie eine besondere Bedeutung von Körperlichkeit und weiblicher Identität in Abgrenzung zu der westlichen verteidigen möchten (Mih-
175
Blick oder ihr Lächeln als Auslöser betrachtet. So erzählt Fatima von einer Begegnung in der Bahn, als ein Mann, den sie betrunken glaubt, sie angesprochen habe. Die Ursache dafür sucht sie bei sich, obwohl sie den Blick gesenkt gehalten habe. Den Blick zu senken als Schutz vor Anzüglichkeiten betrachtet Fatima also offenbar als ihre Pflicht als Frau. Dass der Mann sie als deutscher Nichtmuslim dennoch toll gefunden habe, empfindet sie als unpassend: Fatima: „Ich so OK:: (-) Muslima, Kopftuch, du bist deutsch, blond, blauäugig, was willst du von mir, so ungefähr, das passt ja gar nicht. (-) Wenn man überlegt, (-) und das war nicht das erste (-) also die erste Erfahrung.”
Das Gespräch bricht Fatima dann höflich mit einer Entschuldigung und Verweis auf ihre Verlobung ab. Einen ähnlichen Vorfall schildert sie, als sie mit ihrer Frauengruppe ein Büfett organisiert und ein Mann sich wieder nur für sie interessiert habe, obwohl offenbar auch Frauen ohne Kopftuch anwesend waren: Fatima: „Wo ich dann dachte, sag mal, denkt der, ich trage das [fasst an ihr Kopftuch] aus Mode, oder was denkt der, ne? Dann habe ich den auch gefragt, was er denn sich darunter vorstellt. Dann meint er ja, ich (-) ich mache einen guten Eindruck, ich so, ja, Danke,
Sie machen auch einen guten Eindruck, aber ich habe kein Interesse an Sie. Meint er ja, und wieso denn und bla? Und hör doch auf, mich zu siezen? Ich so, aber ich möchte Sie nicht duzen, ne. So Kleinigkeiten, ne, (-) ich bin schon, ich bin schon komisch (lacht). (-)
Ich bin schon eine Fiese (lacht) Fiese. (--) Ja so Kleinigkeiten.”93 ciyazgan 1994:100). Ursula Boos-Nünning hat überdies darauf hingewiesen, dass das Kopftuch manchen Mädchen auch eine größere Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit garantiert, da sie hiermit ihr Bekenntnis zu islamischen Werten und Normen demonstrieren und sich „unantastbar“ für die Annäherungsversuche männlicher Jugendlicher machen würden (vgl. Boos-Nünning 1999: 22). Diese Intention hegt offenbar auch Fatima, was ihre Überraschung und Entrüstung erklärt, als dies von nichtmuslimischen Männern missachtet oder nicht erkannt wird. 93
Fatima erfährt hier von deutschen Männern offenbar rassistische Zuschreibungen, die sich vermutlich an ihrem Kopftuch und an ihrer dunklen Hautfarbe festmachen. Wie Mark Terkessidis festgestellt hat, erfahren Mädchen nichtdeutscher Herkunft häufig die Zuschreibung als „exotisch“, wodurch sie begehrenswert erscheinen und was er als einen Teil des Prozesses der „Entantwortung“ als Instrument rassistischer Situationen charakterisiert: „Am konkreten Individuum wird konsequent vorbeigeblickt – es wird entantwortet.“ (Terkessidis 2004: 191) In Kombination mit dem Kopftuch wirkt das „exotische“ Merkmal der dunklen Hautfarbe offenbar auf einige Männer besonders begehrenswert, da auch hier wieder Zuschreibungen vorgenommen
176
Auffällig ist hier, dass der Fremde Fatima respektlos duzte. Sie empfindet dies zwar als eine „Kleinigkeit”, vermutlich weil dies von anderer Seite so bewertet würde, und räumt ein, sie sei „schon komisch” und „eine Fiese”, weil sie sich offenbar gegenüber dem nichtmuslimischen Mann verpflichtet fühlt. Dass sie Zuschreibungen aber nicht fraglos übernimmt, zeigt sich dadurch, dass sie den Mann mit der Frage konfrontiert, was das Kopftuch für ihn bedeute. Für Fatima ist das Kopftuch ein Signal für Männer, Distanz zu wahren, das der Fremde in der beschriebenen Situation aber nicht versteht oder akzeptiert. Im Gegenteil scheint sie auf ihn – vermutlich wegen ihres Kopftuchs – einen „guten Eindruck“ zu machen. Fatima geniert sich aber offenbar, in solchen rassistischen und/oder anzüglichen Situationen unhöflich zu werden. Auch bei Blickkontakt mit Männern auf der Straße sucht sie die Ursache zunächst bei sich, weil sie die Leute „provokant” anschaue oder anlächele. Muslimische Männer dagegen würden sich bei ihr – aufgrund des Kopftuchs – nicht trauen, auf diese Weise zu flirten, sondern islamische Themen wählen, um mit ihr ins Gespräch zu kommen. Sich selbst empfindet sich Fatima gegenüber nichtmuslimischen Männern manchmal als „zu ehrlich”, da sie befürchtet sie „abzuschrecken”, also offenbar von ihrer Religion ein zu strenges Bild zu vermitteln. Abid sieht es sowohl für Männer als auch für Frauen als falsch an, abends auszugehen, was er mit den Gefahren der Dunkelheit begründet, die er religiös aus Koran und Hadithen ableitet. Insbesondere für Mädchen, die allein unterwegs sind, erscheint ihm der Abend als gefährlich. Abid betont, dass er ein Verbot für beide Geschlechter gelten lassen würde, sofern die Sunna nicht andere Regelungen vorschreibe. Maryam lehnt Diskobesuche als sinnlos ab. Der damit verbundene Spaß ist für sie relativ unwichtig: „Ich mein, du hast deinen Spaß in der ersten oder zweiten Stunde, ja. Aber danach, ja? (--) Was hat das denn für einen Sinn?” Ihre Ausführungen lassen den Eindruck entstehen, dass sie durch die stärkere soziale Kontrolle, die sie zu Lebzeiten ihres Vaters und in der islamischen Gemeinschaft erlebt hat, das Bedürfnis nach abendlichem Ausgehen nicht entwickelt oder unterdrückt hat. Bis auf Abid argumentieren die Befragten nicht aufgrund von religiösen Argumenten gegen abendliches Ausgehen, sondern aufgrund von gesellschaftlichen Gegebenheiten. Es erscheint daher plausibel, dass es sich werden: Fatima macht einen „guten Eindruck“ – es liegt also nahe, das hier genau die Zuschreibungen wirksam werden, die Fatima auch in der Begegnung mit somalischen Männern beschreibt: gute Mutter, Hausfrau, brav. Interessant ist hier auch die Tatsache, dass Fatima automatisch geduzt wird, was sie als respektlos empfindet und was zeigt, dass hier gleichzeitig mit den Zuschreibungen auch eine Hierarchisierung zum Ausdruck kommt.
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bei den Argumenten, die ein Ausgehen für Frauen als gefährlicher bezeichnen und mit ihrer „Verführbarkeit“ in Verbindung bringen, um Normen ihres muslimischen Umfelds handelt. Diese werden zwar prinzipiell übernommen, jedoch – zumindest im Falle von Jamal und Fatima – gelockert, soweit es der „islamische“ Handlungsrahmen erlaubt, um an Freizeitbeschäftigungen der Aufnahmegesellschaft partizipieren und diese auch mit nichtmuslimischen Freunden teilen zu können. Dass sich dieses Verhaltensmuster gerade bei Fatima und Jamal zeigt, verwundert nicht, da beide mehr nichtmuslimische als muslimische Freunde haben.
5.6.5.
Der Blick: Schutz und Provokation
In den Befragungen zeigte sich, dass der Moscheeverein und die islamische Gemeinschaft als Ganzes eine wichtige Rolle bei der Vermittlung von Normen einnehmen, die in Bezug auf den Blickkontakt zwischen Männern und Frauen sehr deutlich hervortreten. Diesen Blickkontakt gilt es laut Fatima, Abid und Jamal (Maryam wurde dazu nicht befragt) zu vermeiden, was offenbar Schamgefühl ausdrücken und zugleich Keuschheit bewahren helfen soll. Fatima und Abid wurden gewisse Gesprächsregeln für den Umgang zwischen Mann und Frau, wozu sie auch das Senken der Blicke zählen, in einem Moschee-Seminar vermittelt. Wie hoch die Einhaltung dieser Verhaltensnorm bewertet wird, zeigt sich darin, dass sich Fatima dafür schämt, wenn sie – um sich besser auf das Gesagte zu konzentrieren – den Prediger ansieht, während alle anderen Frauen den Blick gesenkt halten.94 Das Schamgefühl entsteht also, als sich Fatima mit anderen Gemeindemitgliedern vergleicht, die (tatsächlich oder ihrem Eindruck nach) Regeln beachten, welche sie selbst nicht annehmen kann oder möchte. Daher stellt sich Fatima als wesenhaft verschieden gegenüber diesen anderen Frauen dar, denn zum Wesen der Frau wird offenbar die Selbstbeherrschung gezählt, und ein abschweifender Blick wird als 94
In diesem Zusammenhang spielt auch der Koranvers 24:30 eine Rolle, auf den sich Fatima offenbar bezieht: „Sag den gläubigen Männern, sie sollen (statt jemanden anzustarren, lieber) ihre Augen niederschlagen, und sie sollen darauf achten, daß ihre Scham bedeckt ist (Anmerkung von Paret: sie sollen ihre Scham bewahren). So halten sie sich am ehesten sittlich (und rein) (Anmerkung von Paret: das ist lauterer für sie). Gott ist wohl darüber unterrichtet, was sie tun.“ (Paret 1966: 288-289)
178
unbeherrscht empfunden. Fatima nimmt jedoch eher die Perspektive der Aufnahmegesellschaft ein, wenn sie etwa erklärt, es sei normal, wenn eine Frau gelegentlich auch einen Mann ansehe und im Gegensatz dazu „verklemmt“, als Mann dem Blick einer Frau auszuweichen. Dadurch fühlt sie sich offenbar nicht respektiert. Fatima betrachtet sich in dieser Haltung jedoch als provokant: Fatima: „Die Leute sind so verklemmt. Wo ich dann denke, sorry, aber wenn ich mit jemanden rede, das Blickkontakt ist nicht (-) manchmal gucke ich auch in die Luft, weil ich dann erzähle und nachdenke, (-) aber wenn einer [mich anspricht] so eh, Schwester, ne, [schaut zur Seite], ja, (-) ne (-) und dann links und dann rechts [schaut] (-) äh, (-) dann fühle ich mich nicht (--) nein. (…) Nee, nee, nee, nee, nee. (-) Ich bin wirklich gar nicht (-) [ich] bin provokant, ja (-) ich gucke die Leute an.”
Offenbar findet in Bezug auf das Thema Blicke senken ein Widerstreit zwischen Vorstellungen der Aufnahmegesellschaft und den Normen der islamischen Gemeinschaft statt. Fatima nimmt dabei eher die Haltung der Aufnahmegesellschaft ein, was jedoch nicht den sozialen Druck durch die islamische Gemeinschaft mindert. Auch in den Aussagen Abids wird deutlich, dass es sich bei dem als unerlaubt betrachteten Kontakt zwischen Mann und Frau um ein Tabu innerhalb der islamischen Gemeinschaft handelt, da Abid selbst Gespräche peinlich sind, die den formalen Regeln, die er nennt, entsprechen. Laut Farideh Akashe-Böhme wird der Blick einer jungen Frau in die Augen eines Mannes gemeinhin als Verführung interpretiert: „Den Augen und dem Blick der Frauen wird eine starke erotische Macht zugeschrieben: Frauen können mit Blicken dem Mann den Kopf verdrehen. Daher wird von den Frauen erwartet, daß sie, wenn sie mit einem Mann sprechen, stets den Blick senken.“ (Akashe-Böhme 1997:51)
In den Aussagen insbesondere von Abid wird deutlich, dass dies auch von einem Mann erwartet wird, und in der Abneigung Fatimas dagegen, dass Männer ihrem Blick häufig ausweichen, zeigt sich, dass manche Männer diese Norm auch konsequent umsetzen. Ira Spieker hat in einem Aufsatz über das „weibliche Delikt“ und den „männlichen Blick“ die Inszenierung von Weiblichkeit und Macht am Beispiel des Diskurses zur Prostitution beleuchtet (vgl. Spieker 2003). Sie schreibt: „Wenn wir andere Menschen betrachten, sehen wir genau das, was wir zu sehen gelernt haben. Wir ziehen klare Grenzen und nehmen Personen – im Gegensatz zu uns – als „anders“ wahr; wir machen eventuelle Unterschiede an Äußerlichkeiten fest. Dadurch bietet sich die Möglich-
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keit, versteckte Ängste zu kanalisieren und auf andere zu projizieren.“ (ebd.: 123)
Die Kontrolle über eine „vermeintlich entfesselte Sexualität“ (ebd.: 126) und die versteckte Angst davor sind auch in der Diskussion um ein Senken der Blicke erkennbar. Farideh Akashe-Böhme hat darauf hingewiesen, dass die Praxis der Verschleierung – man müsste ergänzen, dass dies zunächst einmal nur dann gilt, wenn die Verschleierung von Männern vehement gefordert wird und nicht, wenn sie von Frauen freiwillig praktiziert wird – ihre Ursache in einer „verschleierten Männerangst“ (Akashe-Böhme 1997:47) habe, also in der Angst der Männer vor Frauen, die sie begehren könnten, letztlich vor ihrem eigenen Begehren. Das gilt offenbar noch viel mehr als für den Schleier für die Praxis des Blickesenkens, da hier nicht nur eine Norm für Frauen durchgesetzt wird, sondern eine, die für beide Geschlechter gelten soll.
5.7.
Gewalt gegen Frauen
Alle Befragten haben Schwierigkeiten und Unsicherheiten in Bezug auf den Koranvers, in dem erwähnt ist, ein Mann dürfe seine Frau unter bestimmten Umständen schlagen. Für Jamal ist diese Erwähnung im Koran kein Grund dafür, dass sich eine Frau nicht scheiden lassen dürfe, wie es im „Frankfurter Justizskandal“95 nahe gelegt worden war: Jamal: „Sondern wenn der Mann sich in eine Situation gebracht hat, wo die Frau ihn nicht mehr liebt, (-) dann kann er das erstens mit Schlägen niemals beheben, (--) und das hat er [der Ehemann der betroffenen Frau] anscheinend probiert, und dann ist das Schlagen sowieso unangebracht, (--) wann es angebracht ist, ist ein anderes Thema. Aber das kann man nicht (-) erörtern, denke ich. (-) Mir würde auch kein passendes 95
Der Journalist Jörg Lau stellte fest, dass der „Frankfurter Justizskandal“ nirgendwo stärker als in den türkischen Zeitungen und von den islamischen Verbänden kritisiert worden sei. Letztere fanden sogar, dass sich die Richterin mit ihrer Deutung „auf die Stufe der Taliban“ gestellt habe (vgl. Lau 2007b). Er stellt außerdem fest, dass Kultur zur Ausrede für Diskriminierung werden könne, was der Frankfurter Justizfall, aber auch der „kulturelle Rabatt“ zeige, der in manchen Fällen mordenden Männern aufgrund von „Ehrentaten“ gewährt werde: „Solcher Kulturalismus ist nichts anders als eine weiche Form des Rassismus. Der ,Kulturkreis' wird zur Falle, wenn das Recht mit Verweis auf die Tradition relativiert wird. Kulturrelativisten machen – ob sie es wissen oder nicht – mit Fundamentalisten gemeinsame Sache, weil auch sie sich Kulturen als statische Blöcke vorstellen, an die man nicht rühren darf.“ (ebd.)
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Beispiel einfallen. (-) Es kann nur etwas auf emotionaler Ebene passieren, wo vielleicht ein Schlag nicht die Liebe zerstört, sondern vielleicht der Frau noch zeigt, dass der Mann sie noch liebt oder sie (--) noch irgendwas für sie übrig hat, und irgendwie sich (-) was weiß ich was, ja. (--) Keine Ahnung.”
Jamal empfindet den Koranvers offenbar als unverständlich, weshalb er verschiedene Erklärungen zu konstruieren versucht, die zum Ziel haben, den Koran als göttliche Offenbarung in Schutz zu nehmen und die Regelung zu rechtfertigen, obwohl Jamal selbst findet, man sollte niemanden schlagen: Jamal: „Ich probiere gerade, einen Grund herauszufinden, wann es irgendwie (-) gerechtfertigt sein könnte, und mir fällt nichts ein. Mir fällt höchstens ein, dass der Mann die (-) Frau zurückhalten könnte von irgendwas, ja. (-) Aber das ist ja nicht gleich mit Schlagen gleichzusetzen, eigentlich. (-) Ich weiß es nicht.”
Jamal fällt es schwer, eine schlüssige Begründung zu konstruieren. Weil er offenbar seine bisherigen Erklärungen als unbefriedigend wahrnimmt, ist seine Suche nach einer befriedigenden Deutung noch nicht abgeschlossen und wurde durch das Frankfurter Gerichtsurteil auch neu angeregt. Jamals neuester Erklärungsversuch stellt Frauen als emotionaler und unvernünftiger als Männer und mit einem Hang zur Hysterie dar, was aus seiner Sicht das männliche Gewaltmonopol legitimieren könnte: Jamal: „Nein!
Man soll niemanden schlagen, deswegen weiß ich halt auch nicht, aber (--) ich meine, (--) das, was ich mir letztens gedacht habe, ist vielleicht auch nicht so dumm. (-) Auch, wenn es (-) alle fü’ (-) mich dafür wahrscheinlich auslachen würden. (-) Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, wenn diese Hemmschwelle da ist, wenn die Frau Angst hat davor, dass der Mann sie schlagen könnte. (--) Und sich deswegen nicht total bescheuert benimmt, manchmal.”
Jedoch empfindet er auch diese Erklärung als nicht optimal, da sie offenbar entweder zur islamischen Gemeinschaft oder vermutlich noch vielmehr zur Aufnahmegesellschaft als inkompatibel angesehen wird. Auch bei dem Versuch zu begründen, warum umgekehrt Frauen keine Männer schlagen dürften, ist Jamal unsicher und führt dies zunächst auf die körperliche Überlegenheit des Mannes zurück: Jamal: „Das ist jetzt kein Grund, dass ein Mann eine Frau schlagen sollte, aber (-) aber wenn eine Frau einen Mann schlägt, dann wird er (-) also ich meine, eine Frau kommt gegen einen Mann einfach nicht an, die kann noch so fest schlagen. (--) Und da kann auch kein religiöses Gebot
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rechtferti’ äh sagen, OK (-) die Frau darf dich schlagen, und du schlägst nicht zurück. (--) Ich meine, was wäre das denn für eine Klausel?”
Jamal zieht eine Hadith heran, um zu erklären, dass auch der Prophet nicht mit dem Koranvers einverstanden gewesen sei, Gott es aber so gewollt habe. Gott ist für Jamal die höchste Instanz, wenngleich seine Ausführungen zeigen, dass der koranische Passus auch für einen gläubigen Muslim konfliktträchtig ist. Seiner Ansicht nach empfindet jeder „aufgeklärte“ Mensch diese Koranstelle als gravierend und kommt dadurch ins Zweifeln. Jedoch lehnt Jamal freiere Auslegungen und Abschwächungen des Verses ab, etwa die Maßgabe, Frauen nur mit einem Tuch oder dem Miswak, einer Art Zahnbürste, schlagen zu dürfen, wie sie gemäßigte Gelehrte vertreten: Jamal: „
Am besten noch mit Wattebällchen (grinst). (--) Weil (--) das ist absoluter Quatsch. (-) Das entkräftigt ja alles, dann wäre das ja absoluter Quatsch, dann würde man ja sagen, (-) der Koran, der steckt voller (--) voller Klauseln. (3) Meiner Meinung nach Quatsch. (--) Ich denke nicht, dass (-) dass diese ganzen Gelehrten da (-) dem Westen in den Arsch kriechen wollen, indem sie da irgendwelche Pseudo-Meinungen erstellen
Zahnbürste und was weiß ich, und den ganzen Frauen in den Arsch kriechen wollen, ich glaube nicht, dass dann (-) sich die dann einen Gefallen damit tun, oder ihrem Islam oder ihrer Religion, indem sie da so (-) komische Rechtfertigungen (-) halbherzig zusammenbasteln.”
Jamal sieht Abschwächungen des Verses als eine Konzession an „den Westen“ an und dadurch die Glaubwürdigkeit und Autorität des Korans untergraben. Jamal: „Ich meine, (-) warum sollte man so etwas Gravierendes da reinschreiben, etwas, was jeden Menschen erstmal grübeln lässt, der (-) aufgeklärt ist, (--) und auch irgendwie zweifeln lässt vielleicht, (--) um ihn dann mit so was zu vertrösten wie (...) das ist ja kein richtiges Schlagen. (-) (stöhnt) Ich denke, Gott würde so was nicht machen. (-) Ich denke, Gott schreibt lieber etwas Krasses da rein, um den Menschen zu zeigen (-) hier, (--) das Leben ist nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen, (-) es kann passieren, dass es hart auf hart kommt, und dann ist das Harte besser als sich scheiden zu lassen. (...) Probiere alles, um die Ehe zu retten, bevor du dich scheiden lässt, weil (-) Scheidung ist das Schlimmste.”
Der Koran wird als vollkommenes Wort Gottes und höchste Autorität betrachtet. Daher nimmt Jamal Regelungen im Koran auch dann an, wenn sie seiner Vernunft widersprechen, während Hadithen für ihn demgegenüber logisch begründbar sein müssen. Der Koran ist also ge182
wissermaßen der Vernunft übergeordnet. Das Schlagen wird deshalb als Realismus, wenn auch nicht als erstrebenswert, akzeptiert. Auch Fatima gerät durch die Koranstelle in Konflikte, da sie nach dem Frankfurter Gerichtsurteil in der Schule mit dem Thema konfrontiert wird. Daraufhin informiert sie sich im Internet und nimmt für sich die Erklärung an, das Schlagen sei nicht wörtlich zu übersetzen. Sie lehnt es ab, dass Frauen geschlagen werden, versteht die Koranstelle nicht und findet sie widersprüchlich. Denn ihr zufolge dürfe ebenso wenig im Glauben wie in der Ehe Zwang bestehen, was Fatima religiös begründet: Fatima: „(...) wenn Allah sagt, es gibt kein (-) äh (-) in der Glaube kein Zwang, dann gibt es auch in der Ehe keinen Zwang. (--) Ja. (--) Und (-) ähm warum sollte man schon handgreiflich werden, (--) wenn es so: große Befremdung gibt, und (-) und so einen Zwiespalt gibt, man muss nicht (-) dann mit Hand hochheben oder sogar gewalttätig werden, sondern einfach sich trennen. (-) Das ist der beste Weg. (-) Wenn man sich nicht versteht, dann braucht man sich auch darüber nicht kämpfen.”
Für Fatima ist Scheidung bei Ehekonflikten der beste Weg. Die Ehe sieht sie offenbar – anders als Jamal – nicht als ebenso heilig und schützenswert an, wobei sie anscheinend den Traditionen ihrer Herkunftsgesellschaft folgt, in der ihr zufolge Scheidungen leicht und häufig seien. Was eheliche Konflikte betrifft, weicht Fatima von der im Koran geschilderten Reihenfolge ab („vermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie“, Vers 4:34), die als Lösung für Konflikte dienen soll. Das im Koran erwähnte Schlagen ignoriert sie und ersetzt es durch ein Gespräch mit den Eltern, woraufhin, wenn dies keine Lösung bringe, sofort die Scheidung folgen könne. Dies zeigt ihr großes Bedürfnis, ihren Wertvorstellungen von Gleichwertigkeit und Respekt zwischen Mann und Frau gerecht zu werden, die jenen der Aufnahmegesellschaft entsprechen und denen Gewalt gegen Frauen zuwiderläuft. Fatima betrachtet die Koranstelle auch als Widerspruch zur Praxis des Propheten Muhammad, der Frauen niemals geschlagen habe. Dass ein Mann seine Frau schlägt, kann sich Fatima nur daher erklären, dass dieser sein Selbstwertgefühl stärken wolle und die Frau als minderwertig betrachte, was ihr zufolge unislamisch ist. Die Ursache dafür liege im männlichen Ego und in kulturell, nicht religiös begründetem Denken. Fatima betont, sie würde sich niemals schlagen lassen und wisse sich zu verteidigen. Es war Fatima offenbar auch wichtig, sich einen Freund auszusuchen, von dem sie solche Gewalt nicht zu erwarten hat. In Bezug auf den „Frankfurter Justizskandal“ empfindet Fatima Mitleid mit der betroffenen Frau. Sie bedauert aber auch, dass die Angelegenheit in die Öffentlichkeit getragen wurde, 183
weil sie infolgedessen auch in der Schule mit dem Thema konfrontiert wurde: Fatima: „(…) dass alle jetzt denken, ach (-) Islam, ja (-) der (--) das (.) das macht mich traurig, schon. Ich (-) ich hatte in der Schule so: viele Diskussionen, das so (-) die eine sogar so (-) ah, wie pervers, und ähm (-) wo ich dann gesagt habe, nein, und warum denn? Nur weil das so ist und viele so auslegen, aber wieso denn schlagen? (-) Dann (.) dann bin ich selber an meinen Grenzen, dann denke ich ach, (-) wisst ihr was, wenn ihr nicht auf mich hören könnt, dann [schnalzt mit der Zunge] dann geh halt. (-) Wenn man nicht den anderen überzeugen kann, wo man selber so (-) so wütend darauf ist, warum kann ich das jetzt nicht so erklären, wie ich gerne hätte? (-) Ich finde das traurig.”
Fatima hat selbst keine Erklärung für die Koranstelle, möchte aber ihre Religion rechtfertigen, die für sie oft eine Hilfe zur Bewältigung von Konflikten zwischen der Aufnahme- und der Herkunftsgesellschaft darstellt. Angeregt durch das Frankfurter Gerichtsurteil und die dadurch entstandene als negativ empfundene Darstellung des Islam in der Öffentlichkeit versucht Fatima nun auch in ihrem persönlichen Umkreis Gewalt gegen Frauen zu verhindern, die sie zuvor ignoriert hatte: Fatima: „(...) weil (-) das [Schlagen] war für mich (-) ganz ehrlich also vor einem Jahr ganz schwierig gewesen also dieses Thema einfach (-) zu reden oder einfach so (-) ich habe das ignoriert, und das war ein Fehler gewesen. Aber jetzt will ich daraus
das Beste machen (…).”
Damit das Ansehen des Islam nicht dadurch Schaden nimmt, dass Probleme von Muslimen in Beratungsstellen der Aufnahmegesellschaft getragen werden, wünscht Fatima sich eine islamische Beratungsstelle für Frauen. Dies würde sie auch persönlich entlasten, weil sie häufig mit Problemen Rat suchender Mädchen konfrontiert wird. Fatima empfindet das als Belastung, da sie ihre Ratschläge als zu „westlich“ orientiert ansieht und unsicher ist, ob sie im Rahmen der islamischen Normen handelt: Fatima: „Weißt du, ich habe das Gefühl, ich würde sagen, ach ja, der schlägt dich? Ach komm, ruf mal (-) ruf mal im Frauen’ (lacht) Frauenhaus an oder keine Ahnung (-) Polizei oder so. (-) Weil wenn ein Mann wirklich so: schlägt, dass sie blau und rot wird, nee (-). Nee, weißt du wie (--) vernünftig muss man sein, weißt du, (-) du musst eine Ruhe (-) souverän sein, du musst islamisch so handeln können, dass (-) dass du nicht sagst, äh (--) ihr trennt euch, sondern irgendwie Mittelwege finden, was weiß ich. (-) Ich will ja nicht unbedingt eine Frauenrechtlerin werden, (--) es geht ja [um] Islam (-) dahinter stehen. Und (--) um das
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machen zu können, müsste ich den Islam studieren. (--) Das ist ein langer Prozess, und insha Allah (-) das habe ich auch vor, insha Allah, wenn es klappt (lacht).”
Fatima fühlt sich in solchen Konflikten noch nicht souverän genug, da sie keinen religiösen Fehler machen will, was sie mit ihrer Furcht vor der Hölle begründet. Sie wünscht sich Hilfe von einer muslimischen Organisation oder eine Fortbildungswoche des Moscheevereins zu diesem Thema, da sie mit nichtmuslimischen Organisationen selbst schlechte Erfahrungen gemacht hat. In einer solchen Beratungsstelle hatte Fatima einen Vertrauensmissbrauch erlebt, da die Schweigepflicht gebrochen wurde und ihre Lehrerin von ihrem familiären Problem erfuhr (siehe hierzu auch Kapitel „Vorurteile“). Sie wertet die Menschen ab, die in solchen Beratungsstellen arbeiten und unterstellt ihnen, sie hätten „echt Spaß daran“ einen gläubigen Menschen „zu ruinieren“ oder dazu veranlassen „seinen Glauben zu verlassen”. Dieser Pessimismus ist aus ihren negativen Erfahrungen erklärbar: Von der Beratungsstelle erfuhr Fatima keine praktische Hilfe, sondern eine Abwertung ihres Glaubens und ihrer Familie, woraufhin sie den Kontakt abbricht. Ihr Problem habe sie dann mit Hilfe ihres Glaubens bewältigt. Es erscheint als nicht sinnvoll von Seiten der Beratungsstelle, Fatima diesen Halt im Glauben zu nehmen, der in einem positiven Sinne als Hilfe und Bewältigungsstrategie für Probleme dienen kann. Auch von einer Telefonberatung fühlt sich Fatima enttäuscht, da sie keine praktische Hilfe erfahren habe und die Beraterin als unwissend in Bezug auf den Islam empfand. Es wird deutlich, dass den Moscheevereinen eine wichtige Rolle in der Unterstützung von Rat suchenden Frauen zukommen könnte. Hierbei erscheint es angeraten, dass Beratungsinstitutionen sich mit Moscheevereinen vernetzen. Auch Maryam bezeichnet Gewalt gegen Frauen oder Kinder als unislamisch. Die nichtmuslimische Gesellschaft erlebt sie als unehrlich, da Frauen dort nach ihrer Ansicht stärker als in muslimischen Familien unterdrückt und auch geschlagen würden, was aber in den Medien dem Islam unterstellt werde. In ihrer Idealvorstellung wird das Schlagen, obwohl es im Koran als Möglichkeit erwähnt ist, nicht praktiziert – sie vergleicht es mit Strafen für Ehebruch wie der Steinigung, die als Abschreckungsmaßnahme gedacht seien. Insofern zeigt sich ein ähnliches Argumentationsmuster wie bei Jamal. Anders als dieser nimmt Maryam jedoch religiöse Überlieferungen, die den Koranvers abschwächen, als hilfreich an. Der Vers ist für sie so zu verstehen, dass der Mann seine Frau verbal ermahnen dürfe. Dies akzeptiert sie offenbar als geringeres Übel im Vergleich zum Schlagen, das stärker mit den Werten der Aufnahmegesellschaft kollidiert. Wie Fatima und Abid erwähnt auch 185
Maryam, dass der Prophet seine Frauen niemals geschlagen habe und man sich nach dessen Vorbild richten müsse. Abid wirft den Medien vor, sie würden den Koranvers auf das Schlagen reduzieren und damit Zündstoff liefern, wodurch der Islam seiner Ansicht nach falsch dargestellt wird. Er betont demgegenüber die Verantwortung der Männer gegenüber Frauen, die er aus derselben Koranstelle ableitet, und die einzuhaltende Reihenfolge: Der Mann sollte seine Frau zunächst ermahnen, dann den Geschlechtsverkehr mit ihnen meiden, und erst danach, wenn der Konflikt nicht beendet sei, dürfe der Mann sie schlagen. Ähnlich wie Jamal nimmt er dabei an, Frauen könnten widerspenstig sein und müssen vom Mann gleichsam gezähmt werden. Auch für Abid hat der Koran höchste Autorität, was er – wie Jamal – mit einem Ausspruch des Propheten begründet, in dem dieser das Schlagen zwar abgelehnt, sich der göttlichen Regelung jedoch gefügt habe. Das Schlagen schwächt Abid jedoch unter Verweis auf religiöse Überlieferungen ebenso wie Maryam so weit ab, dass er es schon nicht mehr als ein Schlagen ansieht, über das sich eine Frau beschweren könne, sondern vielmehr als eine Art Erziehungsmaßnahme. Dies erscheint für Abid akzeptabel, da er sich noch immer im Rahmen der Religion bewegt, aber damit den Wertvorstellungen der Aufnahmegesellschaft annähert. Umgekehrt zeigt Abid Ratlosigkeit, warum Frauen keine Männer schlagen dürften. Er erklärt sich das schließlich so, dass der Mann Verantwortung gegenüber Frauen habe, also nicht nach der Wertigkeit, aber in Bezug auf Aufgabenverteilungen das Oberhaupt in der Familie sei. Demnach erscheint der Mann als der vernunftbestimmte Erzieher und die Frau als die sich seinen Anordnungen Fügende. Bei allen Befragten wird also deutlich, dass der betreffende Koranvers ihren persönlichen Auffassungen widerstrebt, da Gewalt gegen Frauen nicht den Wertvorstellungen der Befragten entspricht. Es muss eine große interpretative Anstrengung unternommen werden, um diese Regelung plausibel und rational begründbar zu machen, wobei fast schon gezwungenermaßen mehr oder weniger stark auf patriarchalisch geprägte Erklärungsmuster zurückgegriffen wird. Dies erscheint den Befragten aber notwendig, da der Koran als höchste Autorität begriffen wird. Andererseits soll der Islam in der Aufnahmegesellschaft auch keinen Imageschaden erleiden, weshalb teilweise auf religiöse Überlieferungen zurückgegriffen wird, um die Koranstelle abzuschwächen. Die Moscheevereine könnten hierbei die wichtige Aufgabe übernehmen (und tun dies, wie sich bei Fatima zeigt, bereits), entsprechende religiöse Überlieferungen zu verbreiten und damit den Konflikt zwischen religiös begründeten Dogmen und Werten der Aufnahmegesellschaft abzumil186
dern. Es dürfte eine Aufgabe islamischer Theologen sein, Muslimen auch religiöse Rechtfertigungen für ihre den Dogmen widerstrebenden Wertvorstellungen an die Hand zu geben, und eine Aufgabe der islamischen Gemeinschaft – insbesondere dort, wo diese in der Minderheit ist, jene religiösen Deutungen zur Norm zu machen. Die Bereitschaft und das Bedürfnis dazu ist vorhanden, wie im Fall der Befragten deutlich wird. Es gehört, wie Schwarz-Schilling ausführt, jedoch – auch in nichtislamischen Gesellschaften – immer noch insgeheim zur männlichen Ehre, „das Weib in die Schranken zu weisen“ (Schwarz-Schilling 2006b, 118). Daher erscheint eine auf dieser Vorstellung begründete Argumentationsfigur Abid und Jamal offenbar auch eher plausibel als die – in der Aufnahmegesellschaft tabuisierte – körperliche Gewalt gegenüber Frauen. Schwarz-Schilling erklärt dies folgendermaßen: „Das alte Junktim, dass männliche Ehre an die geringere Würde des Weiblichen geknüpft sei, hält sich hartnäckig im limbischen System beider [Hervorhebung im Original] Geschlechter – das heißt in dem für das Werten und Fühlen zuständigen Teil unseres Gehirns. Aus Sicht vieler Männer müssen Frauen erst beweisen, dass sie bei gleicher Würde keine Gefahr für ihre Männlichkeit darstellen“ (ebd.).
5.8.
Ehre und Würde
Auf das Konzept der Ehre wird oft und gerne in der wissenschaftlichen Literatur verwiesen, wenn es um Muslime mit Migrationshintergrund, insbesondere jene türkischer Herkunft geht. Daher soll dieses Thema hier vergleichsweise kurz abgehandelt werden, zumal das fast schon gebetsmühlenartig wirkende Zitieren von Werken beispielsweise Schiffauers (vgl. König 1994, Kiral 1997, Kondzialka 2005), ohne dass auf nennenswerte neue Erkenntnisse verwiesen würde, nach Ansicht der Verfasserin zur Stereotypisierung von Bildern beiträgt, die möglicherweise unangemessen sind.96 96
Auch Martina Weber weist – unter Bezug auf Ursula Boos-Nünning – auf diese Gefahr hin, dass populäre Bilder über Migranten in Form eines Zirkelschlusses reproduziert werden und sich der Diskurs aus sich selbst heraus stabilisiert: Im Alltag und über Verallgemeinerung von Einzelerfahrungen entstehen Deutungsmuster über die Lebensrealität von Migranten aus selektiven Wahrnehmungen und Wertungen; Massenmedien stabilisieren jene Alltagsstereotype und fügen neue hinzu; wissenschaftliche Veröffentlichungen von Angehörigen der Dominanzgesellschaft werden davon inspiriert, und ältere stereotypenbildende Untersuchungen werden immer wieder aufgegrif-
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Schwarz-Schilling sieht im Bedürfnis nach Ehre eine anthropologische Konstante, ein angeborenes Bedürfnis des Menschen als Sozialwesen, das sich mit dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit decke (Schwarz-Schilling 2006b: 116-117). In den meisten heutigen Gesellschaften würden mit der Ehre verknüpfte Wesensunterschiede (also die Idee der angeborenen ungleichen Würde) zwischen Männern und Frauen wahrgenommen, „in westlichen Kulturen verdeckt, in islamischen Kulturen öffentlich“ (Schwarz-Schilling 2006b: 114-115). Weibliche Würde und männliche Ehre sieht sie als die „letzten – inoffiziellen – Bastionen der untergehenden Geburtshierarchien“ (ebd.: 115). Ehre erscheint dabei heute meist im Kontext der Gruppenmoral, die sich mit der Identität einer Person verbindet, da Ehre immer vom „Anderen“ abhängt. Sie kann sich insofern auch auf Familien beziehen, wie insbesondere in Südeuropa oder in islamischen Ländern verbreitet (vgl. ebd.). Fatima grenzt sich von den Befragten am deutlichsten von einem solchen tradierten Ehrbegriff ab, mit dem sie durch ihr somalisches Umfeld offenbar auch am stärksten konfrontiert wird. Sie durchschaut das Ehrkonzept in seinem gemeinschaftsbezogenen strukturellen Zusammenhang, in dem Normenverletzungen insbesondere durch Frauen (etwa in Bezug auf abendliches Ausgehen, Wohnen außerhalb des Familienkreises oder sexuelle Kontakte außerhalb der Ehe, insgesamt also Normenverletzungen, welche die Geschlechtsidentität betreffen)97 auf die Ehre der Familie bezogen werden: Fatima: „(…) das legt immer so den Fokus auf die Familie. (-) Natürlich, Familie ist wichtig, auf jeden Fall, ich meine (-) a:ber wo ist denn die Beziehung zwischen Allah und dem einen, der Fehler macht (…).”
Fatima betont im Gegensatz dazu die individuell-persönliche Bedeutung von Ehre und Würde, die unabhängig von der Ehre und Würde anderer Menschen sei. Zwar sind ihr Familie und Ehre wichtig. Ehre und Würde fen (vgl. Weber 1999: 51-52): „Solche Publikationen aus der Wissenschaft tragen dann – da sie mit der Autorität der Wissenschaft ausgestattet sind – dazu bei, den Bildern von den Opfern Wahrheitscharakter zu verleihen.“ (ebd.: 52) 97
Fatima grenzt sich jedoch von dem weiblichen Tugendideal ab, das ihr von Seiten der Eltern vermittelt wird und sehr stark den bürgerlichen Vorstellungen ähnelt, wie sie sich seit Ende des 18. Jahrhunderts im „Abendland” entwickelt haben. Die Frau wird im Sinne dieses Tugendideals von klein auf dazu erzogen brav zu sein und Tugenden wie Frömmigkeit, Häuslichkeit, Ergebenheit, Anstand und Selbstentäußerung zu entwickeln, die das Gesamtkonzept der weiblichen Ehre untermauern. Für ein Mädchen, das im Sinne dieser Tugenden erzogen wird, gilt es als ehrlos, sich außerhalb des Familienkreises aufzuhalten, sowohl was das abendliche Ausgehen betrifft als auch das Wohnen außerhalb des Kontrollbereichs der Eltern. Skepsis wird ihr entgegengebracht, wenn sie sich – etwa auf Klassenfahrten – diesem häuslichen Familienkreis entzieht (vgl. Schwarz-Schilling 2006b:105).
188
besitzt ein Mensch in ihren Augen aber nur dann, wenn er sich „korrekt“ verhält, also andere Menschen nicht verletzt. Auch betont sie die persönliche Beziehung zwischen Allah und den Menschen, wobei Allah Fehler vergeben könne, auch wenn die Familie diese nicht verzeihen kann. Ehre wird als göttlichen Ursprungs gesehen und unabhängig von Geschlecht, was Fatima anhand einer Koranstelle begründet: Fatima: „Er [Anmk. d. V.: Gott] hat uns vom gleichen Substanz erschaffen, und nicht er hat mehr Ehre, und sie muss (-) da irgendwie dafür arbeiten, dass seine Ehre bleibt und (-) ja (-) also stabil ist, (-) das finde ich Quatsch. Also ich finde echt, das stört die Ehre, indem er auch irgendwie mit einer andern Frau ins Bett springt. (--) Aber dass die sich unterscheiden, das ist diese Denkweise, das ist diese Unwissenheit, dieses (-) ähm (--) dieses (-) falsch auslegen im Koran, die hören durch Dritte und nicht gleich die Quelle, und nicht wie lese ich, und wie interpretiere ich, ja, (-) und wie offen bin ich, das ist (.) das (.) das ist so ein Teufelskreis, weißt du. (-) Bin ich bereit, was besseres zu machen, dann bin ich natürlich bereit, und dann (-) suche ich meine Wege. Aber wenn ich dann mir ähm (--) ähm (-) die Wege zumache, dann (-) dann (.) dann finde ich sie auch nicht.”
Auch ihre Ablehnung von Ehrenmorden rechtfertigt Fatima – ebenso wie Maryam und Abid – religiös. Fatimas Verständnis von Ehre unterscheidet sich unter Bezugnahme auf den Islam deutlich von dem von ihrer Familie vermittelten, das sie als unislamisch bezeichnet. Für sie ist das traditionell tradierte Ehrkonzept Ursache für einen „Teufelskreis“, der sich in folgende Generationen fortpflanze. Die islamische Religion bietet ihr eine Rechtfertigung, aus diesem Teufelskreis auszubrechen, der als einschränkend und diskriminierend gegenüber Frauen erlebt wird und gegen den sie sich entschieden wehrt: Fatima: „So was finde ich total doof, dass man das dann so (--) ja, unterschiedlich, dass man sagt, ach, Mädchen erziehe ich super streng, (--) damit sie unsere Ehre nicht verletzen, aber ein Junge kann ja die Ehre nicht verletzen (…).”
Wie schwierig es aber für Fatima ist, die traditionellen Vorstellungen in ihrer Familie zu verändern, zeigt sich, als sie von der Ungleichbehandlung gegenüber ihren Brüdern erzählt: Fatima: „Und da hat sie [ihre Mutter] gemeint (-) oah ja: (-) und da kommt wieder diese Ehre auf, (-)
Mädchen (--) können schnell (--) die Ehre verletzen, ich so Mami, aber weißt du, auch, wenn ich viel rede und (-)Vorträge halte zu Hause, das klappt nicht.”
189
Der Bezug auf Koranstellen bietet Fatima die Möglichkeit, sich Wege aus der Tradition zu eröffnen, um – wie sie es ausdrückt – „was Besseres zu machen“. Das Ehrkonzept erscheint also anders als vielfach in der Literatur dargestellt nicht als ein per se islamisches.98 Die Argumentation Fatimas zeigt, dass eine Entkoppelung des traditionellen Ehrkonzeptes von der islamischen Religion möglich ist und der Begriff der Ehre mit Hilfe dieser Religion neu besetzt werden kann. Auf diese Weise versucht Fatima Argumente zu finden, die ihr zur Abgrenzung vom traditionellen Ehrbegriff dienen und in Diskussionen mit ihren Eltern hilfreich erscheinen. Solche Versuche, die Einstellung der Eltern zu verändern, sind zwar offenbar nicht immer erfolgreich, verleihen Fatimas Einstellung und ihrer Betonung von Werten wie Selbstständigkeit, Selbsterkenntnis und Individualität aber eine gewisse Autorität. Diese Wertvorstellungen, die jenen der Aufnahmegesellschaft entsprechen, geraten offenbar in einen Konflikt mit den von den Eltern vertretenen, im Ehrkonzept mündenden Wertvorstellungen: Fatima: „Und bei mir (-) nee, da kommt wieder die Ehre. (-) Die Ehre kommt da wieder und (-) ja. (-) Die Ehre wieder. (-) Ich habe letztens gesagt, Mama, bevor ich heirate, ich würde mal (-) wirklich mal versuchen wollen, selbstständig mal irgendwo einen Haushalt zu führen. Weil wieder, wenn ich heirate, bin ich wieder an jemanden gebunden, und (-) ich würde mal wirklich ein Jahr versuchen, alleine zu leben, das finde ich cool und so. (-) Das Wort cool war schon (-) das war schon mein Feind. (-) Cool findest du das? (-) Dann pack deine Sachen und geh, so (-). 98
Farideh Akashe-Böhme deutet das Ehrkonzept offenbar als ein genuin islamisches (vgl. Farideh-Böhme 1997a: 46-47). Es ist nicht zu leugnen, dass es etwa in Bezug auf islamische Phänomene wie Verschleierung, Geschlechtertrennung und voreheliche Keuschheit diverse Anküpfungspunkte für eine Verbindung des Ehrkonzeptes mit Regeln islamischer Religiosität gibt. In den Antworten der Befragten, besonders deutlich bei Fatima, zeigt sich jedoch, dass auch eine Entkoppelung des Ehrkonzeptes von der islamischen Religion möglich ist. Auch Heidi Kondzialka weist darauf hin, dass die Konzepte von Ehre kein Spezifikum islamischer oder ruraler Gesellschaften sind, sie hätten lediglich im mitteleuropäischen Raum im Zusammenhang mit der Aufklärung, Individualisierung und Industrialisierung weitgehend an Bedeutung verloren (vgl. Kondzialka 2005: 21). Es lassen sich aber auch in industrialisierten Gesellschaften noch subkulturelle Formen von Ehrkonzepten finden, insbesondere in männerdominierten Bereichen innerhalb urbaner Lebensverhältnisse (vgl. ebd.). In der gesellschaftlichen Kontrolle der weiblichen Sexualität, wie sie sich etwa im „türkischen“ Ehrkonzept zeige – aber offenbar auch im „somalischen“ Ehrkonzept – , gibt es ihr zufolge Parallelen zur traditionellen Sexualmoral des Christentums und zum Sexualmonopol der Ehe im bürgerlichen Familienmodell. Diese Sexualmoral sei auch in Deutschland noch bis über die 1950er Jahre hinaus im bürgerlichen Familienmodell bestimmend gewesen (vgl. ebd: 22).
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Weißt du. (-) So Ironie, weißt du. (-) Das (-) das (-) das könnte ich niemals, weißt du. (-) Egal, wenn ich mich auf den Kopf stellen würde, die wären nicht zufrieden damit. Und (-) man soll nicht ähm (--) der Amar [muslimischer deutscher Rapper] hat mal so ein Lied gesungen, das finde ich ganz cool, der hat gesagt, ja, sollte man den Zorn nicht erreichen, von den Menschen, sondern ihre Herzen bewegen
oder so .”
Das traditionelle Ehrkonzept wird auch von Maryam und Abid als unislamisch zurückgewiesen, da beide hiermit Ehrenmorde verbinden, die sie nicht als religiös gerechtfertigt ansehen.99 Die Normen der Ehre entstanden mit dem Feudalismus in Eurasien und strahlten auf bürgerliche Schichten aus. Ehre ist demnach kein Attribut der Person, sondern wird verdient oder per Geburt erworben. Würde dagegen kann – gemäß einem der wichtigsten Prinzipien des deutschen Grundgesetzes – keinem Menschen genommen werden (vgl. SchwarzSchilling, 2006b: 105).100 Insbesondere bei Fatima zeigt sich, dass sie offenbar diesen Wert der unantastbaren menschlichen Würde verinnerlicht hat, was sie religiös mit der Gott gegebenen menschlichen Würde begründet. Anders stellt es sich offenbar im Fall der Ehre dar, da Fatima betont, dass sich diese ein Mensch durch sein korrektes Verhalten erwerbe, indem er andere nicht verletze. Damit offenbart sie ein sehr demokratisch geprägtes Verständnis von Ehre. So erklärt SchwarzSchilling: „Erst mit dem Rechtsstaat und der Demokratie löste sich die unheilvolle Verschränkung von Ehre und Würde. Nach den heute in westlichen Ländern geltenden sozialen Regeln verliert ein Mensch seine Ehre, wenn er einem anderen die Würde nimmt.” (ebd.: 119).
Genau dieselbe Argumentation zeigt sich bei Fatima, die also – in Abgrenzung zu der patriarchalischen undemokratischen Gesellschaft ihres 99
Yasemin Karakaşoğlu weist darauf hin, dass Ehrenmorde unter anderem in traditionell christlichen Gesellschaften Südeuropas oder Südamerikas ebenso verbreitet seien wie beispielsweise in Südostanatolien, was sie in einer „Fortführung von Stammesstrukturen und -traditionen, die im Einzelfall dann auch von den Betroffenen religiös begründet werden, aber nicht auf Kenntnis der Religion, sondern auf dem, was sie von Eltern und Großeltern als religiös richtig überliefert bekommen haben“ begründet sieht. (Karakaşoğlu 2006)
100
Frauen wurden lange Zeit auch auf deutschem Boden nicht die gleichen Menschenrechte zugestanden wie Männern, da ihre Würde und ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit eingeschränkt waren. Die Ursache dafür sieht Schwarz-Schilling – aus dem Blickwinkel patriarchalischer Gesellschaften – im weiblichen Körper, genauer im weiblichen Schoß. Würde konnte eine Frau nur erlangen, wenn sie „unberührt oder die gehorsame Dienerin eines Ehemannes“ (Schwarz-Schilling, 2006b: 107) war.
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Herkunftslandes – sehr stark die Werte von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie bejaht. Dass sie dies aber unter Hinweis auf ihre Religion tut, zeigt, dass auch im Islam Tendenzen erkennbar sind, die eine gleichberechtigte Würde und Ehre der Frau legitimieren können. Solche Argumentationsstränge auszuarbeiten und religiös zu fundieren, wäre die Aufgabe islamischer Theologen, insbesondere solcher, die in der „Diaspora” leben. Sie könnten es ermöglichen, das Konzept von männlicher Ehre, das aus traditionellen, stark patriarchalischen Gesellschaften entstammt und vielfach religiös gerechtfertigt wird, von der Religion zu lösen. Eine solche Befreiung der Religion von patriarchalischen Denkmustern würde auch zur Folge haben, dass sich Muslime leichter an die demokratischen Aufnahmegesellschaften anpassen könnten, ohne ihre religiöse Identität zu verlieren, was – wie sich im Falle Fatimas zeigt – ihren Bedürfnissen entgegenkommen könnte.
5.9.
Was Mann und Frau unterscheidet
Alle Befragten betonen Unterschiede zwischen Männern und Frauen, die sie aus ihren körperlichen Gegebenheiten herleiten. Mit der körperlichen Unterschiedlichkeit von Mann und Frau, die mit dem göttlichen Willen erklärt wird, begründen die Befragten auch angebliche Unterschiede im Wesen von Mann und Frau. Nach Ansicht von Jamal gibt es keine „grundsätzlichen” Unterschiede zwischen den Geschlechtern, „aber so Details machen es halt aus.” Seiner Ansicht nach sind es körperliche Unterschiede, die auch eine Verschiedenartigkeit im Wesen mit sich bringen: Jamal: „(...) dass eine Frau halt diejenige ist, die begehrt wird von (-) Jungs, (3) während äh (-) die Jungs, die begehrt werden, von einem Mädchen halt, das ist (-) beschränkt sich meist auf so was wieGetuschele und Gelach’ (.) Gelächele. Vielleicht auch mal ein bisschen betrunken machen. (-) Aber das sind Dinge, die kann man eher regulieren, und die sind halt nicht so (-) gefährlich sag ich mal wie anders herum. Es gibt halt genug, die halt nichts besseres zu tun haben, als (3) ja (--) ein Opfer zu suchen für ihre Gelüste.”
Die Frau erscheint hier aufgrund ihrer körperlichen Merkmale als die Begehrenswerte, als „Opfer“ für männliche „Gelüste“, deren Annäherungsversuche leichter zu „regulieren” sind, während der Mann als der Begehrende als „gefährlich“, also gewissermaßen als Täter und Angrei192
fer dargestellt wird. Jedoch verneint Jamal beispielsweise ein schlechtes Erinnerungsvermögen bei Frauen, wie es häufig als Auslegung für einen Koranvers angegeben wird, in dem es heißt, dass Frauen nur zu zweit vor Gericht als Zeugen erscheinen dürften. Er gibt an, dass ihm auch Männer mit schlechtem Erinnerungsvermögen einfallen würden und diese Auslegung nicht ernst zu nehmen sei. Jamals Theorie zur Begründung des betreffenden Koranverses ist, dass Frauen damit entlastet werden sollen, um nicht als einzige Zeugin erscheinen zu müssen und möglicherweise bedroht zu werden. In diesem Zusammenhang konstatiert Jamal eine leichtere Anfälligkeit von Frauen für Bedrohungen. Dahinter steht die Vorstellung, Frauen seien weniger wehrhaft als Männer und besonders schutzbedürftig, wie sie in Jamals Interview auch im Zusammenhang mit dem Verreisen ohne männliche Begleitung oder dem abendlichen Ausgehen zum Ausdruck kommt. Jamals Aussagen können als Versuch betrachtet werden, Auslegungen des Korans, die eine wesenhafte Ungleichheit von Frauen und Männern betonen, abzuschwächen. So nennt Jamal auch einen schlechteren Orientierungssinn bei Frauen als geschlechtsbedingten Unterschied, den er allerdings als erlernt und nicht als angeboren betrachtet. Jamal ist sich offenbar bewusst, dass die Ungleichheit von Männern und Frauen in der Aufnahmegesellschaft kritisch beurteilt wird und nimmt deshalb einen Standpunkt ein, der die Frau nicht als von ihrer Natur her minderwertig, aber dennoch als verschiedenartig beurteilt, um unterschiedliche islamische Regelungen für Mann und Frau wie im genannten Koranvers zu rechtfertigen. Jamal betont, dass auch „der Rest der Welt”, also auch Nichtmuslime, einen solchen Standpunkt vertreten würden, offenbar um die Annahme der Verschiedenartigkeit von Mann und Frau nicht als etwas spezifisch Muslimisches darzustellen. In Bezug auf Polygamie treten für Jamal die Unterschiede zwischen den Geschlechtern am deutlichsten hervor. Indem er versucht zu begründen, warum die Mehrehe nur für Männer legitimiert ist, greift er auf ein Erklärungsmodell zurück, das substanzielle Unterschiede zwischen Mann und Frau proklamiert: Jamal: „Ja::: (-) es ist halt so (-) es ist halt etwas sehr sehr (-) es ist halt etwas sehr sehr sehr schwierig, dieser Punkt. Ich denke halt, (--) dass es da ans Essenzielle geht. (--) Dann geht es wirklich an die Substanz bei diesem Thema. (--) Dann geht es zurück darauf, wi::e ist das mit dem Mann, und wie ist das mit der Frau, und (-) da kommen die Unterschiede am deutlichsten hervor, denke ich. (-) Und man kann diese Unterschiede verneinen, man kann es auch bejahen, man kann es gesellschaftlich irgendwie rechtfertigen, dass sie durch Prägung von der Gesellschaft entstanden sind, aber ich denke, grundsätzlich ist es doch so, dass der Mann
eher der Gebende ist (--) und die Frau die Nehmende .
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Interviewerin: In sexueller Hinsicht? Jamal: Ja, auch in sexueller Hinsicht. (-) Also vor allem in sexueller Hinsicht. (-) Aber das Sexuelle spiegelt dann auch den Rest wider. Und damit meine ich jetzt aber nicht finanziell oder arbeiten gehen oder was auch immer, sondern halt diese Energieübertragung. (-) Auf eine ganz mystische Art und Weise. (-) Aber vor allem bei Sex auch.”
Bei diesem Thema gerät Jamal offensichtlich in Erklärungsnöte, da er einerseits wahrnimmt, dass man Unterschiede zwischen Mann und Frau durch Prägung „gesellschaftlich irgendwie rechtfertigen” kann, andererseits aber den Koranvers begründen möchte. Dabei mystifiziert er eine sexuelle „Energieübertragung” mit dem Mann als Gebendem und der Frau als der Nehmenden, die sich auf „den Rest”, also offenbar das männliche oder weibliche Wesen, übertrage. Für Jamal unterscheiden sich Männer und Frauen stark in sexueller Hinsicht. Die Natur des Mannes empfindet er als „viel schlimmer”, weil der Mann leicht vom Teufel verführbar und deshalb eher als die Frau anfällig „für sexuelle Sachen” sei. Damit begründet er „Vorsichtsmaßnahmen” wie Geschlechtertrennung, die er zwar ablehnt, weil er sie als „übertrieben” empfindet, jedoch auch verstehen kann. Jamals Frauenbild101 ist offenbar das eines schutzbedürftigen, weniger wehrhaften und für Bedrohungen und Verführung anfälligen Wesens. Frauen sind in den Augen Jamals begehrenswert, haben einen schlechten Orientierungssinn, kaufen gerne ein und haben ein weniger starkes sexuelles Bedürfnis als Männer. Außerdem haben sie seinem Empfinden nach die Tendenz zu – unvernünftiger – Emotionalität. Männer erscheinen in Jamals Ausführungen demgegenüber als leicht vom Teufel verführbar, als Täter, als sexuell aktiver und „viel schlimmer“. Es ist insgesamt also ein sehr negatives Männerbild, das Ja101
Für die unterschiedlichen Sichtweisen dessen, was in der jeweiligen Epoche und unter verschiedenartigen sozioökonomischen wie kulturellen Bedingungen als männlich und weiblich definiert wird, haben Kay Deaux und Brenda Major den Begriff „gender-belief-system“ eingeführt. Laut Bob Connell gibt es aber innerhalb des Geschlechts „Mann“ – und dasselbe kann mit Sicherheit für das weibliche Geschlecht gelten – verschiedene „Maskulinitäten“ – beziehungsweise „Feminitäten“ (vgl. Spohn 2002: 28-29): „Was für Männer und die Gesellschaft ,Mann sein' bedeutet, kann abhängig sein von der (historischen) Gesellschaft, dem Lebensalter, den eigenen Erfahrungen den Reaktionen der Umwelt. Mit anderen Worten: es ist durch das ,gender-beliefsystem' definiert.“ (ebd.: 29). „Das Männerbild“ – ebenso wie „das Frauenbild“ – existiert also in dieser Reinform nicht. Es muss daher vielmehr von einer „hegemonialen Männlichkeitsvorstellung“ (ebd.: 32) – und analog dazu von einer „hegemonialen Vorstellung von Weiblichkeit“ – gesprochen werden und von konkurrierenden Formen von Männlichkeiten und Weiblichkeiten.
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mal zeichnet. Gegenüber der Frau wird der Mann aber auch als vernunftorientierter dargestellt. Aus körperlichen Unterschieden leiten die Befragten teils unterschiedliche Rechte und Pflichten für Männer und Frauen her. Maryam und Abid nennen zum Beispiel die Versorgungspflicht des Mannes innerhalb der Familie oder die Pflicht der Frau zur Bedeckung. Maryam verneint zunächst, dass es Unterschiede zwischen Männern und Frauen gebe, obwohl sie im Verlauf des Interviews dann solche nennt, beispielsweise die zumeist körperliche, nicht jedoch geistige Überlegenheit der Männer, welche diese zur Ernährung der Familie befähige und verpflichte. Dies sei „extra von Allah so (.) aufgeteilt“. Weiterhin nennt sie eine höhere Feinfühligkeit von Frauen, beziehungsweise ihr Denken „mit dem Herzen”, womit sie die islamische Regelung begründet, dass Frauen keinen nichtmuslimischen Mann heiraten dürften. Mit der größeren Schönheit des weiblichen Körpers rechtfertigt Maryam die Bedeckungsvorschrift für Frauen. Damit, dass sich Frauen „eher zusammenreißen” könnten, begründet sie, warum Männer in der Moschee räumlich vor den Frauen beten. Wie Jamal, so sieht auch Maryam eine grundsätzlich verschiedene Natur der Geschlechter gegeben. Es sei schließlich „nicht umsonst”, dass der Mann für seine Familie sorgen und arbeiten müsse, während Maryam bei der Frau keine Pflicht zum Arbeiten außerhalb des Hauses sieht, da für sie an erster Stelle Familie und Kinder stünden. Religiös abgeleitete Bestimmungen rechtfertigt Maryam also mit einer göttlich gegebenen Verschiedenartigkeit der Geschlechter. So lehnt sie auch ab, dass homosexuelle Paare Kinder adoptieren dürften, da sie Homosexualität im Islam negativ bewertet sieht und Kinder eine Mutter ebenso wie einen Vater bräuchten. Auch hierbei wird offenbar vorausgesetzt, dass sich Männer und Frauen grundsätzlich unterscheiden. Maryam betrachtet Frauen als feinfühliger, emotionaler und weniger vernunftorientiert als Männer. Frauen sind ihr zufolge zudem schöner als Männer und können ihre Leidenschaften – insbesondere die sexuellen – leichter beherrschen. Wie die übrigen Befragten nennt auch Abid zunächst physische Unterschiede zwischen Mann und Frau: Abid: „Also klar (-) also Mann und Frau ist in erster Linie (-) sind nicht gleich, ja. (-) Wer das behauptet, würde ich sogar sagen, die (-) also (-) dieserjenige lügt. (-) Ja. (-) Weil die Frau (-) also zum Beispiel kann der Mann (-) der kann nicht stillen, der Mann wird nicht schwanger, die Frau ist (-) äh (-) in der Regel also (-) physischer (-) also von der Kraft (-) unterlegener als der Mann, ja. (-) Also ich rede jetzt nicht von diesen
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Wrestlerinnen (-) so aber (-) in dieser Hinsicht (-) also (-) physisch sind die auf jeden Fall also nicht gleich. (-) Die unterscheiden sich.”
Aus diesen körperlichen Unterschieden leiten sich für ihn ähnlich wie für Maryam verschiedene Aufgaben, Rechte und Pflichten her: „Wenn der Mann seine Pflichten erfüllt, erfüllt er gleichzeitig ihre Rechte. (-) Wenn die Frau ihre Pflichten erfüllt, erfüllt sie gleichzeitig seine Rechte.“ Werden diese Rechte nicht im Diesseits erfüllt, so bekomme man sie von Allah am Tag des Jüngsten Gerichts gewährt (siehe hierzu auch Kapitel „Der Mann als Oberhaupt“). Abid betont dabei die Gleichwertigkeit der Geschlechter, die sich für ihn in einem gleichen Anrecht auf das Paradies und einer gleichen Bewertung der Taten durch Gott beweist. Abids Frauenbild ist das eines körperlich dem Mann unterlegenen und durch den „Mutterinstinkt“ zu Geduld und Warmherzigkeit veranlagten Wesens. Geduld, Sanftmut und Warmherzigkeit nennt er aber auch als männliche Idealeigenschaften, ebenso wie Kompromissbereitschaft, Unterstützung, Verständnis und Verantwortung für die Familie. Unter Bezug auf eine Hadith nennt er Schönheit, Folgsamkeit und geistige Unterwürfigkeit unter die Meinung des Ehemannes als weitere weibliche Idealeigenschaften. Demgegenüber stellen für den Mann ein guter Charakter, gutes Benehmen und eine gute Behandlung der Ehefrau „offiziell“ geprägte Werte dar, die Abid einem religiösen Buch, einer Sammlung von Hadithen in deutscher Übersetzung, entnimmt. Auch Abid nennt wie Jamal stärkere sexuelle Bedürfnisse des Mannes. Die Frau erscheint als Verführerin, während sie selbst betreffend Sexualität standfester sei als Männer. Als hauptsächliche Pflicht des Mannes nennt Abid, als „Oberhaupt“ der Familie die Verantwortung zu tragen, indem der Mann für den Unterhalt zu sorgen, den Haushalt zu führen und zu kochen habe (siehe Kapitel „Häusliche Arbeit”). Weiterhin müsse der Mann „aufpassen (..) welche Frau er sich wählt, die (--) seine Kinder erzieht”, da Kindererziehung als „richtig große Pflicht” der Frau neben anderen kleineren Pflichten gesehen wird. Dies begründet er mit einer weiblichen „Veranlagung” zur Geduld und Warmherzigkeit im Unterschied zu Männern, was die Frau zur Kindererziehung prädestiniere. Als Beispiel dafür nennt Abid einen „Mutterinstinkt”, der seine Frau anders als ihn selbst dazu veranlasse, sofort aufzustehen, wenn ihr Kind schreie, oder mehr Geduld beim Spielen mit der Tochter aufzubringen. Gleichzeitig betont Abid aber auch, dies tue ihm manchmal Leid und wolle sich damit nicht entschuldigen. Es lässt sich also trotz aller Betonung der weiblichen Instinkte ein Schuldbewusstsein bei ihm feststellen, da er anscheinend auch für sich als Vater eine Pflicht zur emotionalen Sorge um seine Kinder sieht. Ob 196
diese aus einem religiösen Pflichtgefühl oder einer Erwartungshaltung der Aufnahmegesellschaft herrührt, wird hier nicht zu klären sein. Jedoch erscheint es in diesem Zusammenhang nicht verwunderlich, dass Abid auf die Frage nach Eigenschaften muslimischer Männer mit Geduld, Sanftmut und Warmherzigkeit antwortet – also jenen Eigenschaften, die er zuvor als Veranlagung der Frau beschrieben hatte und die er auch dem Propheten Muhammad als seinem Vorbild zuschreibt. Weiterhin nennt er Kompromissbereitschaft, Unterstützung und Verständnis als männliche Idealeigenschaften. Als weibliche Eigenschaften nennt Abid die Frauen des Propheten als Vorbilder. Er beruft sich ausgehend von einer Hadith zu der Frage, was „die beste Frau“ kennzeichne, auf den Propheten, wobei er aus einer religiösen Publikation zitiert: Abid: „Er [Anmk. d. V.: der Prophet Muhammad] antwortete, die Frau, die ihren Gatten erfreut, (-) wenn er sie ansieht, (-) die ihm folgt, wenn er ihr etwas aufträgt, und die nicht in Bezug auf sich selbst und ihr Hab und Gut eine Meinung vertritt, die er [unverst. 1 Sek.] verabscheut. (4) Ja und (-) der beste Mann natürlich, [liest weiter] die Vollkommensten im Glauben sind unter den Gläubigen die Besten an Charakter und Benehmen, und die Besten von euch sind die, die ihre Frauen am besten behandeln.”
Anhand einer religiösen Bezugsquelle wird die Frau im Unterschied zum Mann als idealerweise erfreulich anzusehen (schön), folgsam und sich der Meinung ihres Gatten anschließend, also geistig unterwürfig dargestellt, während ihr der Mann im Umkehrschluss Anordnungen und Aufträge erteilen kann, denen sie Folge leisten sollte. Beim Mann werden ein guter Charakter und gutes Benehmen betont sowie eine gute Behandlung der Frau. Abid hat diese Hadith anscheinend bereits in sein Weltbild integriert, wobei er betont, die Frau sollte ihrem Mann nur in Ansichten folgen, wenn diese islamisch seien. Ein weiterer Unterschied, den Abid im Zusammenhang mit Bekleidungsvorschriften erwähnt, ist die „Veranlagung” von Männern zu sexuellen Gedanken und Bedürfnissen. Er vermutet, dass Frauen dies beim Mann wohl nicht als Veranlagung bezeichnen würden, er selbst sich die angeblich stärkere Neigung von Männern zu Sexualität aber nicht anderes erklären könne. Der Frau schreibt Abid eine größere Verführungskraft zu als dem Mann, während sie selbst gegenüber sexuellen Versuchungen als standfester empfunden wird. Dieser Themenkomplex wird im Kapitel „Sex” näher beleuchtet. Insbesondere bei Jamal zeigt sich die Auseinandersetzung mit innerhalb der Aufnahmegesellschaft häufig kritisierten Koranauslegungen, in deren Folge er alternative Deutungen sucht. Sowohl Jamal als auch Fatima betonten die Sozialisation als Ursache für Unterschiede zwischen den 197
Geschlechtern. Alle Befragten sehen die Frau gegenüber dem Mann nicht als minderwertig an, sondern nennen wechselseitige Stärken und Schwächen und betonen zwar nicht Gleichheit, jedoch Gleichwertigkeit von Mann und Frau. Sowohl Fatima als auch Maryam und Jamal weisen dabei auch explizit auf die intellektuelle Gleichwertigkeit von Männern und Frauen hin. Abid thematisiert dies nicht. Deutlich distanziert sich Fatima von Unterschieden, die ihre Eltern Männern und Frauen zuschreiben: „die haben (--) eine andere Denkweise. (-) Frau hat das zu sein, Mann das”. Sie betont ihr Unverständnis etwa dafür, dass ihre Mutter in Streitigkeiten mit ihrem Vater schnell nachgebe und sich entschuldige. Auch lehnt sie die von ihrer Mutter vertretene intellektuelle Minderwertigkeit von Frauen entschieden ab. Fatima beschreibt, wie sie sich darüber mit ihrer Mutter auseinandersetzt und sie provoziert. Dies hat aber auch zur Folge, dass Fatima mit deren als „asozial gegenüber der Frau” und „frauenfeindlich” empfundenen Aussagen konfrontiert wird, etwa dass die Geburt einer Tochter mehr Schmerzen bereite und ein „blödes Gefühl” sei im Vergleich zur Geburt eines Sohnes. Dass Fatima die Zuneigung ihrer Mutter offensichtlich stärker sucht als ihre Brüder, könnte ursächlich darin begründet sein, dass sie – wie später noch zu sehen sein wird – eine starke Ungleichbehandlung gegenüber ihren Brüdern erfährt und diese als mangelnde Liebe deutet. Umso stärker ist ihre Ablehnung der mütterlichen Einstellung, die sie als persönliche Beleidigung erlebt. Ihre Verletzung überspielt sie mit der Deutung, dass ihre Mutter sich in Bezug auf ihre angeblich schmerzhaftere Geburt „irgendwas zusammen gespinnt” habe. Fatimas striktes Bestehen darauf, dass es keine intellektuellen Unterschiede zwischen Männern und Frauen gebe, sondern dies eine Frage der Erziehung und Schulbildung sei, rührt vermutlich auch von der starken persönlichen Konfrontation mit solchen Vorstellungen her: Fatima: „Nein, um Gottes Willen, Nein. (--) Es gibt gebildetere Frauen als Männer. (-) Das ist Erziehungssache. -) Das ist einfach (-) in Entwicklungsländern ist es natürlich so, dass man (-) dass das, was ich auch schade finde, (-) man bringt die Jungs in die Schule, und die Mädchen nicht. (-) Bei uns in Somalia genauso. (…) Aber (-) das das das (-) also das ist auch natürlich, dass dieses (-) dieses (-) ähm (-) dieses Bild gibt, von den Medien. Ja. Also ungebildet, (-) klar, wenn ich von vorneherein (-) anders erzogen werde, dann bin ich halt bisschen blöder und ja (-) und lasse mich unterdrücken und lasse mir irgendwas erzählen, was gar nicht stimmt, ne. (-) Lasse mir alles verbieten dann. (-) Das (-) das (-) das ist traurig, ja.”
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Wichtig erscheint hier, dass offenbar die Mutter bei der Beharrung auf Unterschieden zwischen Männern und Frauen sich nicht nur auf religiöse Legitimationen, sondern auch auf Sprichwörter oder kulturelle Konventionen bezieht. Die Abgrenzung davon seitens Fatima kann nicht nur als Folge der Migration gedeutet werden, sondern erscheint auch als eine entwicklungspsychologisch normale Ablösung von den Eltern. Hier muss in Bezug auf die vorliegende Untersuchung aber kritisch erwähnt werden, dass die Eltern der Befragten zu ihren Einstellungen und Werthaltungen nicht selbst befragt wurden. Die getroffenen Spekulationen beziehen sich allein auf die Aussagen der Söhne und Töchter. Es handelt sich also um ein Bild aus zweiter Hand. Das Bild, das sich jedoch hier ergibt, ist nicht das einheitliche der patriarchalischen Väter, die ihre Töchter – und Söhne – unterdrücken. Sowohl bei Fatima, als auch bei Abid und Jamal spielen die Mütter eine besondere Rolle in der Vermittlung von Wertvorstellungen, bei Fatima auch explizit patriarchalischer Vorstellungen. Maryam thematisiert die Einstellung ihrer Eltern in diesem Zusammenhang kaum. Auch Isil Yönter hat darauf hingewiesen, dass den Müttern bei dem Erhalt patriarchalischer Regeln häufig eine bedeutende Rolle zukomme: „Häufig sind es gerade die Mütter, die sich gegen Veränderungen sträuben bzw. überkommene Strukturen aufrechterhalten.“ (Yönter 1997: 123) Intellekt ist für Fatima auch von persönlicher Stärke, Selbstwillen und Strebsamkeit abhängig, was sie als positive Werte definiert und in Verbindung mit Kultur bringt. Von einer Darstellung „der“ muslimischen Frau als ungebildet, die ihr sowohl in der traditionellen Herkunftsgesellschaft als auch in westlichen Medien begegnet, distanziert sie sich deutlich. Anders als Maryam, die eine schlechteres Durchsetzungsvermögen von Frauen annimmt, glaubt Fatima, dass Männer leichter als Frauen beeinflussbar seien. Dies begründet sie damit, dass sie ihrem festen Freund vom Islam überzeugt habe, obwohl dieser zunächst sehr kritisch gegenüber Muslimen gewesen sei. Die Argumentation, dass Frauen leichter beeinflussbar seien als Männer und deshalb Musliminnen keine Nichtmuslime heiraten dürften, ist ihr allerdings von einem Moschee-Vortrag bekannt. Fatima distanziert sich jedoch auch deshalb davon, weil sie aus dem somalischen Bekanntenkreis häufig mit der Ansicht konfrontiert wird, eine Frau, die durch einen Mann konvertiert sei, habe einen stabileren Glauben als umgekehrt ein Mann, der durch eine Frau zum Islam gekommen sei. Sie selbst findet eine solche Betrachtung „unter aller Sau” und räumt ein, dass sie darüber viele Diskussionen geführt, wenn auch mittlerweile resigniert habe. Für Fatima stellen insgesamt persönliche Stärke, Selbstwillen und Strebsamkeit positive Werte dar, offenbar insbesondere bei Frauen. Im Kontrast dazu erscheinen Dummheit, Un199
terdrückung und die Bereitschaft sich unterdrücken zu lassen, Beeinflussbarkeit und das Fügen in irrationale Verbote bei ihr als negative Werte. Fatima betont, dass es aus ihrer Sicht außer körperlichen keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern gebe. Es wird jedoch eine deutliche Veränderung in ihrer Haltung sichtbar, als sie sich mit der „offiziellen” islamischen Meinung konfrontiert sieht, also aus ihrem mitgebrachten Ordner mit Texten aus dem Internet folgende Passage zitiert: Fatima: „(…) die Arbeitsaufteilung ist vielmehr eine Konsequenz der Erschaffung von Mann und Frau mit verschiedenen physischen Gegebenheiten und psychologischen Rahmenbedingungen und dergleichen Dispositionen. (-) Der Mann wurde nicht mit (-) äh mütterlichen Gefühlen ausgestattet, was ich vorhin gesagt habe, während die Mutter äh (-) die Frau diese Dispositionen hat. (-) Gott legt auf die Menschheit eine besondere Lebenssystem. (-) Das heißt wohl, (-) ich hab mal lange (-) vor einem Jahr ein Referat darüber gehalten, das heißt für mich (-) also natürlich gibt es gewisse Unterschiede. (-) Gewisse (--) äh (-) ja, weil wir vom (-) vom (-) unserem System her ganz anders gibt es natürlich für mich (-) oder (-) ähm (-) das hat der Mann zu machen und das die Frau. (-) Aber trotzdem, im Großen und Ganzen sollen wir uns gegenseitig ergänzen. (--) Ja, abgesehen von dem (-) was die Rahmenbedingungen sagen.”
In dieser zitierten Passage wird die Unterschiedlichkeit der Geschlechter aufgrund ihrer verschiedenen körperlichen Gegebenheiten als gottgegeben dargestellt, aus der mütterliche Gefühle als weibliche Veranlagung abgeleitet werden. Nach der Lektüre dieser Passage ändert Fatima mit einem Mal ihre Meinung, indem sie erklärt, „natürlich” gebe es Unterschiede zwischen den Geschlechtern, „einfach von der Natur her”, weil Frauen ein anderes „System” hätten als Männer. Außer der Mütterlichkeit einer Frau fallen Fatima jedoch keine weiteren naturgegebenen Unterschiede der Geschlechter ein, was wohl darauf deutet, dass dies nicht ihrem persönlichen Erleben entspricht, sondern sie sich hier der „offiziellen“ Ansicht der islamischen Gemeinschaft anpasst. Es lässt sich abschließend die Hypothese wagen, dass sich Einstellungen, die eine grundsätzliche, natürliche und gottgegebene Verschiedenheit der Geschlechter und damit teilweise auch unterschiedliche Aufgabenbereiche rechtfertigen, gerade deshalb so hartnäckig halten, weil sie eben nicht nur traditionell im Sinne von rückständig sind,102 wie häufig 102
Der Begriff Tradition soll nicht als ein Synonym für „rückständig“, sondern als Hilfestellung verstanden werden, um die Widersprüche der Moderne zu kompensieren: „Sie soll der Neu-Etablierung von Werten und Normen dienen
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unterstellt, sondern in höchstem Maße „modern“ und der neoliberalen Form von marktförmiger Männlichkeit und häuslicher Weiblichkeit entsprechen. So hat Gabriele Michalitsch unter Bezug auf den Philosophen und Ökonomen John Stuart Mill (1806-1873) aufgezeigt, wie die Verknüpfung von Markt und Männlichkeit die Geschichte des ökonomischen Denkens durchzieht und die „neoliberale Domestizierung des Subjekts“ gerade auf Geschlechtlichkeit beruht: Das Männliche beschränkt sich „auf den öffentlichen Bereich und schließt das weiblich definierte Private aus. Andererseits figuriert Vernunft als männliches Attribut. Frauen wird jene Instanz abgesprochen, der die Bezwingung der Leidenschaften obliegt, und daraus die Notwendigkeit weiblicher Subordination abgeleitet“ (vgl. Michalitsch 2006: 149). Der Neoliberalismus impliziert ihr zufolge Patriarchalismus, weil die im Modell immanenten Geschlechtergrenzen „unterschiedliche Anforderungen an Männer und Frauen hervorbringen und Geschlechterdifferenzen in neuer, marktgerechter Form reproduzieren“ (ebd.). Insofern lässt sich sagen, dass die islamische Ideologie, insofern sie auf „traditionellen“ Interpretationen beruht, durch den marktwirtschaftlichen Neoliberalismus heutiger Prägung offenbar geradezu gestützt und aufrechterhalten wird. Ökonomisch betrachtet scheint es keinen Zwang zu geben, diese „traditionellen“ Deutungen zu überwinden, sie werden im Gegenteil noch durch das ökonomische Modell „westlicher“ Gesellschaften gestützt.
wie auch spezifische Institutionen von Autorität, Status, Familie und Identität erhalten helfen.“ (Liebsch 2001: 44) Traditionalistische Orientierungen lassen sich in Werten, Glaubensüberzeugungen, der Artikulation kollektiver Ziele, der Struktur von Handlungen, Rollen und Normen ausmachen: „Inhaltlichthematisch zielen Traditionen darauf ab, Autoritäten, soziale Unterschiede, familiäre Strukturen, die das Verhältnis zwischen den Generationen und das zwischen Geschlechtern regeln, wie auch die Identitätsentwürfe der Individuen zu regulieren und zu legitimieren. Diese Legitimation kann sowohl gewohnheitsmäßig und unreflektiert wie auch bewusst und differenziert sein.“ (ebd.: 44-45)
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5.10. Integration, Religion, Gesellschaft 5.10.1. Integration103 Jamal sieht seine Eltern in einer „Parallelgesellschaft“ leben, die er nationalistisch, also durch soziale Kontakte zu anderen Pakistanern charakterisiert. In seiner Ausführung zeigt sich deutlich die Wechselwirkung zwischen dem Erlernen der deutschen Sprache und sozialen Kontakten zu Deutschen. Da seine Eltern Deutsch nicht beherrschen, beschränken sich ihre Freundschaften auf Angehörige der Herkunftsgesellschaft beziehungsweise ihres Sprachraumes: Jamal: „Und beide können jetzt leider nicht so gut Deutsch deswegen. Das ist schon so eine Art Parallelgesellschaft. Aber harmloser Natur, in der meine Eltern immer verkehrt haben, um soziale Kontakte zu pflegen. (-) Zu anderen Pakistanern.”
Umgekehrt erscheint der fehlende Kontakt zu Deutschen auch wieder als die Ursache für die Nichtbeherrschung der deutschen Sprache. Für Jamal, der sich für seine Eltern diesen Kontakt zu Deutschen offenbar gewünscht hätte, stellt Deutsch die primäre Verkehrssprache dar. Auch hat er ein positives Deutschland-Bild, wobei er die BRD in Bezug auf die Religionsausübung als freier als andere Gesellschaften ansieht. Jamal möchte die „Parallelgesellschaft“ seiner Eltern nicht dramatisiert sehen und betrachtet diese offenbar auch als integriert, weshalb er als einziger der Befragten die Sprache auch nicht als Merkmal für Integration nennt. Diese definiert er als ein Beachten der Gesetze einer Gesellschaft und ein konfliktfreies Verhalten in dieser sowie als eine Anpassung an sie: Jamal: „Integraio::n bedeutet für mi::ch, (--) dass man (3) dazu erzogen wird, beziehungsweise, dass einem beigebracht wird, (3) äh (--) zu einer Gesellschaft hin kompatibel sich zu verhalten, ohne in Konflikte mit den Bewohnern dieser Gesellschaft, (3) ja, oder der Polizeikräfte zu geraten.”
Wie alle übrigen Befragten betrachtet sich Jamal als integriert. Dabei definiert er sich aber weder als Deutscher, noch als Pakistaner. Er entscheidet sich vielmehr für multiple nationale Teil-Identitäten (deutsch, pakis103
Weder in der öffentlichen, noch in der wissenschaftlichen Diskussion wird der Integrationsbegriff eindeutig oder übereinstimmend verwendet (Akbulut 2003: 22). Der Begriff leitet sich vom lateinischen „integro“ ab, was auf deutsch Wiederherstellung oder Vervollständigung bedeutet. Auf Personen bezogen soll sie in der vorliegenden Arbeit definiert werden als „Eingliederung eines Individuums in eine soziale Gruppe bei gleichzeitiger Anerkennung als Mitglied“ (Bernsdorf 1969:469).
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tanisch, indisch, amerikanisch) und für eine Gesamtidentität als Muslim, um das Aufwachsen mit verschiedenen Kulturen zu verarbeiten: Jamal: „(…) also jetzt wahrscheinlich nicht jedes [Land], aber die, die ich kenne, die größeren Länder, haben schon (-) gute Seiten, selbst Amerika, und (--) ich fühle was Amerikanisches in mir, durch die ganzen Filme und diese ganzen Leute, die man kennt, ich fühle auch was Pakistanisches, was Indisches, auch sogar was Deutsches. Interviewerin: Sogar auch (lächelt)? Jamal: Sogar, aber (--) es ist nichts wirklich so: schwerwiegend, dass ich dazu irgendeine Liebe (-) dafür irgendeine Liebe empfinden könnte. (--) Überhaupt nicht. (--) Überhaupt nicht. (--) Ich liebe Deutschland nicht, ich liebe aber auch Pakistan nicht.”
Nationalität als Identifikation lehnt Jamal zugunsten seiner Religion als unwichtig ab, woraus man schließen könnte, dass ihm auch religiös begründete Werte wichtiger sind als deutsche oder pakistanische. Bei der Analyse des Interviews zeigte sich aber, dass sich Jamal sowohl sehr stark mit Werten der Aufnahmegesellschaft als auch mit islamisch begründeten Werten identifiziert, die er häufig auf einfallsreiche Weise miteinander verbindet. Werte der Herkunftsgesellschaft seiner Eltern lehnt er dagegen ab, insofern er sie als nicht religiös, sondern kulturell begründet ansieht. Fatima beteuert, zwischen Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft gut trennen zu können und für sich immer einen „Kompromiss“ zu finden: Fatima: „(…) die [Anmk. d. V.: ihre Eltern] denken eigentlich an sich, also (-) also (-) und denken nicht dabei an mich (lacht), (-) weil ich mittlerweile kann für mich trennen, (-) also das ist meine (-) also da komm ich her, und hier lebe ich, also ich bin zwischen äh (-) diesen zwei Kulturen sozusagen, weißt du, (-) ich kann sowohl (-) ja (-) deutsch denken als auch somalisch denken, ja, und finde für mich immer wieder diesen Kompromiss und (--) ja.”
Ihr Gefühl „zwischen“104 zwei Kulturen zu leben rührt offenbar daher, dass ihre Eltern und somalische Verwandte Ansprüche an sie stellen, die 104
Laut Mark Terkessidis wird der Ort „zwischen zwei Kulturen“ durch den Prozess der Entgleichung beharrlich erzeugt und verweist darauf, dass die Betroffenen sowohl gegenüber der Herkunfts- als auch gegenüber der Aufnahmegesellschaft defizitär seien (vgl. Terkessidis 2004: 197). Dass Fatima hier erwähnt, sie könne diese beiden „Kulturen“ trennen und „sowohl deutsch denken als auch somalisch denken“, zeigt vielmehr, dass sie sich „in“ beiden beheimatet fühlt, sich aber auch Spannungen auftun, da sie ja Kompromisse finden muss, also etwas in Einklang bringen muss, was sich unterschiedlich darstellt.
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sie als inkompatibel zu den Werten der Aufnahmegesellschaft empfindet, insbesondere was Geschlechterbeziehungen betrifft. Fatima setzt sich aber mit ihren somalischen Verwandten und Eltern intensiv über solche verschiedenartigen Werte auseinander und versucht mittels religiöser Rechtfertigungen zugunsten von Werten der Aufnahmegesellschaft zu argumentieren. Der Islam wird zur Argumentationshilfe für ein Rollenbild, das sie in Deutschland schätzen gelernt hat, weil es sie als Frau nicht ausschließlich auf die Mutterrolle reduziert und beispielsweise die Mehrehe abgelehnt wird. Bei der Gesprächsanalyse zeigt sich, dass Fatima vielmehr „in“ zwei Kulturen lebt, sich also gewissermaßen ähnlich wie ein Chamäleon zwischen diesen unterschiedlichen Ansprüchen bewegt und gelernt hat, sie zu verbinden und sich anzupassen. Das Aufwachsen in einem nichtmuslimischen Staat beurteilt Fatima positiv, weil es in ihren Augen die Toleranz fördert und sie zum „Fachmann für zwei Kulturen“ macht. Dies empfindet sie als Bereicherung, auch weil dadurch persönliche Stärke, Selbstbewusstsein und Weltoffenheit gefördert würden, die sie als Werte ansieht. Weiterhin erscheinen Toleranz, Religiosität, Glaubensfreiheit und deutsches Recht in Fatimas Argumentation als Werte. Integration definiert sie als eine Beherrschung der deutschen Sprache, die Beachtung der Gesetze und den Besuch einer Schule beziehungsweise Ausübung einer Arbeit oder Ausbildung im Aufnahmeland. Letztere sind für sie offenbar auch deshalb so wichtig, weil sie sich davon eine Anerkennung in der Aufnahmegesellschaft erhofft. Integration trennt Fatima entschieden von Anpassung in Bezug auf Religion: Fatima: „Das, was eigentlich (-) einen Mensch ausmacht, ist Integration. Also Integration heißt für mich nicht, Kopftuch abzusetzen, weil das ist eher ähm (-) Anpassung. Und (-) ja (--) Integration (-) was will man mehr, also wenn man in die Schule geht, äh (--) ja. (--) Es gibt ein Lied davon, das habe ich auch auf meinem Handy, das ist so toll, das können wir später hören, wenn wir rausgehen (lacht). (-) Von Amar [muslimischer deutscher Rapper], ich mag den Kerl ja. Und ja, (-) sagt er, warum meinen wir, warum sollen wir uns integrieren, wir sind hier geboren, wir sind zwar nicht blond und blauäugig, ja, ähm (-) (-) äh (-) nicht deutsche Väter irgendwie,
ich kann halt nur den Sinn so wiedergeben, ne (lacht). Ähm (--) ähm (-) ja (-) und nur, weil wir Muslima sind und halt beten, also wirklich, wir (.) wir gehen zur Arbeit, zur Schule, alles, was die Deutschen normalerweise machen, ja, wir bezahlen die Steuern, wir gehen arbeiten und so weiter (-) und ähm (-) ja, (-) und was will man mehr? (-) Also (-) nur, weil Moslem bin oder (.) oder anders aussehe, heißt das nicht, dass ich nicht integriert bin. (-) Oder Kopftuch trage, ja. Das ist ja das Ding. (-) Im Kindergarten wurde ich ja ange-
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sprochen. Integration heißt für mich (--) so sein, wie man normal lebt, ja. Ausbildung, Sprache, (-) Gesetz, dahinter stehen.”
Deutlich wird, dass Fatima die Normen der Aufnahmegesellschaft anerkennt, sich in dieser aber aufgrund ihrer Religion als abnormal dargestellt sieht. Gegenüber ihren deutschstämmigen Mitschülern sieht sie sich auf negative Weise aufgrund ihrer Religion hervorgehoben. Fatima versucht, sich gegen nationale Zuschreibungen zu wehren, was sich beispielsweise in ihrer Ablehnung traditioneller Kleidung zeigt, die sie als Somalierin erkennbar macht. Zwar zeigt Fatima eine hohe Akzeptanz der Werte des Aufnahmelandes und bezeichnet sich als integriert, andererseits spricht sie – oft in einem negativen Zusammenhang – von ihren „Landsleuten“, wobei sie jedoch diesen gegenüber meist den Standpunkt der Aufnahmegesellschaft einnimmt. Es entsteht der Eindruck, dass sie sich in vielerlei Hinsicht als Deutsche fühlt, die Zuschreibung als „Fremde“ von Seiten der Aufnahmegesellschaft aber sehr deutlich erlebt und sich auch nicht vollständig von ihrer Herkunftskultur distanzieren möchte: Fatima: „Ja, das ist so ein Zwiespalt. Einmal denke ich, oah, ey, das ist ja wohl unglaublich, da könnte ich meine Landsleute irgendwie (-) aber andererseits denke ich (-)
hm, (-) das ist vielleicht nicht schlecht,
diese Denkweise. (-) Aber ich bin, ganz ehrlich, ich bin (-) so Fünfzig, Fünfzig. Also ich wurde auch in der Schule, wir haben da so ein Fach, der heißt interkulturelle Arbeit, und darüber wird ja viel über so (-) Identifikation und so geredet, und da war ich ein Thema gewesen, wieder mal (lacht). Leider (lacht). (-) Weil ich die einzigste Ausländerin bei mir in der Klasse bin, und daher muss ich (-) und vor allem die einzigste Muslima. Ausländerin wäre ja nicht schlimm. (-) Ich bin immer (-) falle immer ins Auge.”
Obwohl sich Fatima im schulischen Zusammenhang bezüglich ihrer Einstellungen als Deutsche „beweist“, ändert dies nichts daran, dass sie als Ausländerin gesehen wird, da sie aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit als – offenbar oft negativer – Sonderfall behandelt wird. So erwähnt Fatima auch die Behandlung des Themas Identität im Unterricht, wo der Lehrer zur Frage „Wie deutsch bin ich” eine Art Test für alle Schüler vorbereitet hatte: Fatima: „Und (...) da ist mir zum ersten Mal im Leben bewusst geworden, dass ich deutsch denke (...) und nicht irgendwie somalisch, (-) der Lehrer hat mich gefragt, und ich so öh (-) keine Ahnung, (-) dann (.) dann habe ich überlegt,
und dann, während ich überlegt habe, habe ich deutsch überlegt (lacht). Habe ich gemeint, also jetzt habe ich
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deutsch überlegt, meint er, a:h, (-) dann überleg mal (-) weiter. (-) Und dann (-) ja und dann mussten wir uns hinstellen, und dann war 90 Prozent dass ich halt deutsch war, anhand von diesem Band [Anmk. d. V.: eine Art Maßband, auf dem die Werte der Schüler registriert wurden], ne. Und daher, wie gesagt. Interviewerin: Wie deutsch waren die Deutschen? Fatima: Nicht so deutsch (lacht). Ich war die einzigste Deutsche komischerweise (lacht). Wie viele (-) das finde ich toll, manchmal, aber ich habe hundert Prozent (-) Pünktlichkeit, also ich bin ein sehr, sehr pünkt’ also sogar überpünktlich (-) ich war mal ja, hundert Prozent, und mein Lehrer, hm: (-) 95 Prozent (lacht), und die anderen Schüler, oah, ja, 50, 60, (lacht) (-) und da habe ich schon, ah, ja (-) wenn eine Nichtdeutsche halt (-) richtig Deutsche ist (lacht) (-) und da (-) halt Pünktlichkeit war ich hundert Prozent, daher (-) war schon witzig.”
Bei Fatima zeigt sich ein anderes Bild als jenes, das Musliminnen mit Kopftuch häufig zugeschrieben wird: das der Integrationsunwilligkeit und Abgrenzung von der deutschen Gesellschaft. Im Gegenteil sucht Fatima die Anerkennung der Aufnahmegesellschaft, weil – oder weshalb – sie deren Werte teilt. Ihr wird diese Zugehörigkeit aber immer wieder aufgekündigt. Einerseits wird ihr zwar aufgrund ihrer Herkunft interkulturelle Kompetenz im Umgang mit (als „asozial“ betrachteten) muslimischen Familien zugeschrieben, andererseits wird sie dadurch offenbar auch mit ebendiesen Familien identifiziert und erfährt selbst eine negative Zuschreibung. So sei sie im Rahmen einer Hospitanz gezielt in einen „Problem-Kindergarten” geschickt worden: Fatima: „Da leben halt viele Marokkaner, Türken und so weiter, und diese Kita hat momentan viele Probleme mit den (-) Familien, weil sie (-) aus asozialen Verhältnissen kämen, ne. Und (-) ich wurde deswegen geschickt, weil ich (-) ja (-) da passe. Wirklich (lacht). Naja (-) nicht in diesem Sinne, aber einer von (-) oben hat gemeint, sie schickt mich dann, weil ich (-) eine Bereicherung wäre, ne (lacht). (…) an diesem Tag, ich habe hospitiert, das war acht Stunden lang, und dann wurde ich mit Integration, mit Frau im Islam, Unterdrückung, Männer sind blöd, die sind alle asozial (-) damit konfrontiert. (-) Und dann wirklich, anhand von diesen Gesprächen, weiß man, dass die nur (-) ja keine (-) Fakten haben, sondern einfach so Vorurteile, weißt du.”
Eine „Urszene“ (vgl. Terkessidis 2004: 174) in diesem Zusammenhang schildert Fatima, als sie von einer Erzieherin im Kindergarten mit dem Vorwurf konfrontiert wird, ihr Kopftuch weise sie als nicht integriert auf, da der Islam offenbar mit Radikalität in Verbindung gebracht wird: 206
Fatima: „Und ähm (-) und da kommt man ja ins Gespräch mit den Erziehern und so, und dann sieht man, wie blöd die sind, und einer meinte zu mir, (-) ob das nicht widersprechen würde, ich würde von Integration re’ also reden, und ich trage selber Kopftuch. (-) Hab ich gemeint, ja meinen Sie etwa, ich wäre nicht integriert? (-) Meint er so, ich wollte Ihnen ja nicht zunahe kommen, (-) ich so, Sie sind schon bereits zunahe gekommen, [er] so (-) nee, nee, aber ist schon für mich ein zwie’ (.) also widersprüchlich, weil du sagst, einmal Integration und ähm (-) weil (...) ich habe ja gemeint, mein Schwerpunkt wäre interkulturelle Arbeit, wie ich das denn leiten würde, interkulturelle Arbeit, wenn ich schon eine (.) keine (-) Identifikation’ (-) Identifikationsfaktor wäre. (-) So irgendwas so was. (-) Wirklich, das hat sie gesagt. (-) Eine Erzieherin. Und die hat damit überhaupt nichts zu tun, weißt du. (…) Also da kam es in Diskussionen, wo ich dann gesagt habe, ja, also (-) Integration heißt nicht, (-) also
ich verstehe die deutsche Sprache, ich spreche die deutsche Sprache, ich bin in eine deutsche Schule gegangen, und so weiter und so weiter, und (-) äh (-) ich lerne, mache sogar eine Ausbildung dafür, (-) was mit der Pädagogik zu tun hat, und da soll ich nicht integriert sein? (-) Und da habe ich gemeint, was für sie denn Integration heißt. Da hat sie erzählt, hat sie gemeint, sie hat eine Gruppe, und da muss man sich eingliedern und bla, (-) da habe ich gemeint, das ist für mich Anpassung. Da habe ich definiert, was Anpassung und was Integration heißt, (-) und letztendlich kamen wir nicht auf den gleichen Nenner. (-) Weil sie (-) nicht einsichtig war.”
Auch als Fatima vorschlägt, eine Fortbildung zum Thema Islam zu organisieren wird sie mit dem Vorwurf der Radikalität konfrontiert: Fatima: „Da hat der gemeint, das war frech, da müssten wir ja eine Islamistin einladen, die uns referiert. Ich so (-) wie bitte? (lacht) So (-) wie bitte, wen müssten Sie einladen? (lacht) Ich hätte am liebsten (-) ich hab das in der Schule erzählt, die haben sich kaputt gelacht. Ich so (-) ja, wie bitte? Die war wirklich so strohdoof, diese Frau. Ich habe gemeint, Islamisten,
das sind doch (-) ein (-) von Medien geleitetes Form,
(-) Islam gibt es, (-) es gibt keinen Islamismus, Islamismus hat eher was Negatives, ne. (-) Ja, nee, ich meine, wir müssen da so jemanden einladen wie du, der referiert.”
Das Aufwachsen in zwei Kulturen betrachtet Fatima aber trotz solcher negativen Erlebnisse als positiv: Fatima: „(…) ich finde, (-) es tut gut, wenn man hier ist und (-) vor allem, (--) den Willen hat, etwas zu lernen, weißt du. (--) Zwei Kulturen, das ist doch (-) schadet nicht, ja. Das ist doch überhaupt nicht, das (-) berei-
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chert, und da kannst du sowohl mit verschiedenen Menschen arbeiten, mit denen in Dialog kommen und die Grenzen ja (-) herausziehen und (-) äh (-) was da gleich ist und was Islam ist, was was somalische Kultur ist und was (-) wie die Leute so ticken, und das ist wirklich so, (-) ich finde das echt schön.”
Das Aufwachsen in Deutschland stellt Fatima als wesentlich dar für die Entwicklung eines islamischen Bewusstseins, das sie von kulturell bedingten Verhaltensweisen abgrenzt: Fatima: „Also mich bereichert es, ich lerne viele Sachen, die ich in Somalia niemals gelernt hätte. (--) Ich würde daheim sitzen und jetzt mit meinen 22 Jahren sechs Kinder haben und (-) ja, vielleicht mein Mann hätte noch drei (-) verschiedene Frauen, und ich würde das toll finden wahrscheinlich, ja. Mit denen Schwätzchen halten und (-) beten und fasten, und das war’s, ja. (-) So ein (-) äh (-) Leben zu führen, das ist nicht finde ich islamisch. (-) Das ist nur kulturell.”
Maryam fühlt sich weder in der Herkunftsgesellschaft ihrer Eltern, noch in der Aufnahmegesellschaft akzeptiert, da sie sich immer mit wechselseitigen nationalen Zuschreibungen konfrontiert sieht, was zu einer Ablehnung der Nationalität generell und zur Identifikation als Muslima führt. Maryam: „Ist schwierig, weil äh (-) du bist (-) weder bist du hier (-) anerkannt, ja (3) (räuspert sich) als äh (-) als äh Muslima sowieso nicht, ja, dass du (-) äh Deutsche bist (-). Aber ich f’ fühle mich ähm (-) jedem Land doch (.) verbunden, also Marokko, da meine Eltern aus Marokko sind und so halt so ein bisschen Familie dort auch lebt (-) und hier, weil ich hier halt geboren bin und aufgewachsen bin. Ich kann mir halt auch nicht vorstellen irgendwie woanders zu leben, sag ich mal jetzt nach Marokko oder irgendwo anders, in einem anderen Land, (-) weil ich mich doch (-) ähm (--) zu Deutschland sehr verbunden fühle. (-) Und wiederum, wenn ich in Marokko bin, würde ich auch nicht als Marokkanerin kan’ anerkannt werden, weil die sagen (-) eh, die Deutsche, ja, (-) die aus Deutschland kommt. (--) Also, du bist irgendwie (-)
weder noch, ja (-) so ein halb (-) halb-halb irgendwie (lacht). (--) Nirgendswo bist du anerkannt (lacht hoch). (--) Ja, also (-) für mich ist es auch nicht wichtig. (-) Ich finde, Glaube ist wichtiger, weil sie stärkt dich. (3) Ich kann mir gar nicht vorstellen, wenn ich he’ jetzt an an (.) an nichts glauben würde. (--) Ich glaube, ich würde da schon längst untergehen (lacht).”105 105
Maryam benutzt hier nicht den oft reproduzierten Ausdruck vom Leben „zwischen den Kulturen“, sondern bezeichnet sich als „halb-halb“. Sehr deutlich drückt sie auch aus, warum sie sich nicht mit einer Nationalität identifizieren kann: „Nirgendswo bist du anerkannt.“ Hier zeigt sich, dass die Prozesse der
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Ihren Glauben empfindet Maryam als Problem lösenden, sinnstiftenden Halt für das alltägliche Leben, die Identifikation mit dem Islam hilft ihr, individuelle Krisen zu überwinden und die Ablehnung von Seiten der Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft leichter zu verarbeiten. Die deutsche und die marokkanische Kultur erscheinen ihr als zwei „Welten“, zwischen denen sie sich gespalten fühlt, wobei die Moschee in ihren Augen aber eine Integrationshilfe leistet. Wie bereits im Kapitel „Erziehung” erläutert, empfindet Maryam die Moschee als einen wichtigen Ort zur Erziehung von Kindern, die gerade durch eine islamische Erziehung mehr Respekt gegenüber Lehrern, Eltern, Glaubensbrüdern und Nichtmuslimen zeigen würden. Jedoch ist ihr bewusst, dass die Aufnahmegesellschaft dem Religionsunterricht in Moscheen seit den Attentaten vom 11. September 2001 noch skeptischer als zuvor gegenübersteht.106 Verweisung und Entgleichung als Instrumente des Rassismus sowohl in Deutschland als auch auch in Marokko wirksam werden: In Marokko ist sie die Deutsche, in Deutschland die Marokkanerin. Diese mangelnde Anerkennung führt offenbar dazu, dass Maryam die Zugehörigkeit auch nicht wichtig ist. Sie findet in ihrem Glauben einen Halt, der daraufhin zum wichtigsten „Identifikationsraum“ wird – einem nicht an Grenzen gebundenen, ideellen Raum. 106
Auch vor den Attentaten vom 11. September 2001 war jedoch Ablehnung gegenüber Koranunterricht deutlich spürbar. So schrieb Ursula Spuler-Stegemann: „Während man bei den islamischen Schulen einige Vorbehalte haben kann, ob sie tatsächlich zur Abkapselung gegenüber der deutschen Gesellschaft führen, fördern die meisten Korankurse eindeutig die Desintegration. Korankurse bieten ausnahmslos (Hervorhebungen im Original) alle Moscheen an.“ (Spuler-Stegemann 1998: 240) So werden hier die Moscheen zum Hort der Desintegration hochstilisiert, zwischen einem reinen Koran-Unterricht, in dem der Koran auf Arabisch rezitiert wird, und einem islamischen Unterricht wird zudem nicht unterschieden. Wie am Beispiel von Maryam deutlich wird, kann der Religionsunterricht in Moscheen von den Betroffenen im Gegenteil sogar als integrationsförderlich gesehen werden. Dass durchaus auch Ansichten vermittelt werden können, die von der deutschen Öffentlichkeit als kritisch betrachtet werden, soll hier nicht geleugnet werden. Jedoch ist es wichtig zu berücksichtigen, dass islamischer Religionsunterricht von staatlicher Seite eben nicht zugelassen ist und die Eltern deshalb fast schon gezwungen sind, ihre Kinder in die Obhut von Vereinen zu geben, wenn sie ihnen die islamische Religion vermitteln wollen, diese aber selbst nicht unterrichten können. So weist Natalia Diefenbach-Popov darauf hin: „Da es keine übergeordnete Lehrerausbildung gibt, sind die Kinder der privaten Einstellung der Lehrer zum Islam ausgesetzt. Es können also auch Inhalte vermittelt werden, die in der deutschen Öffentlichkeit als konservativ oder extrem gelten.“ (Diefenbach-Popov 2007: 46) Mit der an der Frankfurter Universität eingerichteten Stiftungsprofessur für Islamische Religion ist ein wichtiger Schritt getan worden, die Ausbildung von professionellen Lehrkräften in der Aufnahmegesellschaft zu fördern, wenngleich diese erst dann tätig werden können, wenn der islamische Religionsunterricht von staatlicher Seite aus zugelassen wird (vgl. ebd.).
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Wie Fatima definiert Maryam Integration als Beherrschung der Landessprache, Kontakt zu Nichtmuslimen und Nichtmarokkanern, Arbeit sowie Beachtung und Respekt gegenüber „Regeln“ und Gesetzen, wobei sie letzteres auch als islamische Pflicht definiert, insofern man seine Religion dabei nicht vernachlässige. Die Identifikation mit dem Islam steht also für Maryam an erster Stelle, sofern dadurch niemand verletzt oder negativ beeinträchtigt wird. Seitens der Aufnahmegesellschaft sieht sie den Anspruch an sich gestellt, sich in ihrer Religion anzupassen, diese also abzulegen, was Maryam jedoch ablehnt, da der Islam für sie wie beschrieben ein zentrales Identifikations- und Konfliktlösungsmittel darstellt: Maryam: „Weil erwartet, auf der einen Seite wird erwartet, dass du (-) ä:h (-) die Sprache halt beherrschst, dass du dich hier ausdrücken kannst, dass du die Gesetze achtest, (--) ähm (-) aber wiederum (-) passt es ja vielen nicht, dass du dann halt (-) äh sagst (-) äh (-) zum Beispiel ja ich bin Muslima, ja (-) dass du halt äh (-) eine andere Religion hast, (-) dass du sagst (-) ich (-) möchte danach leben (--) wird auch nicht ä:h (-) wird auch nicht respektiert, (-) und äh sagst halt ich lebe hier oder ich lebe schon seit Jahren hier, und ich möchte halt sag ich mal i’ (-) in die Moschee gehen, weil ich möchte, oder ich möchte (-) jetzt zum Beispiel diesen (-) Religionsunterricht haben für meine Kinder und so, (-) das wird ja alles nicht respektiert, und ich finde, da äh (-) ist ja äh (-) fehlt (-) fehlt was vo’ vo’ von Gegenseitigkeit. Man verlangt was, aber gibt nichts zurück, verstehst du? (-) Das finde ich äh fehlt. (-) Also man sollte auch ein bisschen was zurückgeben, damit da’ damit die Leute sehen, die versuchen, sich zu integrieren, dass (-) es ankommt.”
Religionsfreiheit erscheint Maryam – ebenso wie Jamal – als bedeutender Wert, der ihr jedoch ihrem Empfinden nach von der Aufnahmegesellschaft nicht zugestanden wird. Wichtig für Maryam ist es, auch als religiöser Mensch anerkannt zu werden. Maryam: „Und wenn nichts zurückkommt, dann (-) irgendwann gibst du das auf. (-) Dann sagst du, ach, (-) die wollen sowieso nichts mit uns zu tun haben, fertig, was soll ich dann mit denen, (-) ja, (-) fertig aus. (...) Und (...) natürlich ä:h gibt es auch genug Muslime, die sich nicht integrieren, ja, (-) die halt (-) und das finde ich halt falsch, (-) die zum Beispiel nicht die Sprache (-) darüber können wir ja reden, (-) was die Sprache angeht, was (-) was das Verhalten angeht, was die Gesetze angeht (-) das finde ich ja alles richtig, (-) ja. (...) Aber solange (-) ich als ä:h (-) Mensch anerkannt werde und meine Religion ist es OK. (-) Aber wenn es dann heißt, (-)
nee, (-) warum zieht die denn ein Kopftuch an? (-) Und das ha’ (-) das hat ja nichts mit Integration zu tun, ich ich ve’ (-) ver-
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stehst du doch nicht nach irgendwelchen Regeln. (--) Oder ich ich tu den Menschen ja nichts Schlechtes, weil ich mein Kopftuch anhabe.”
Was Maryam hier beschreibt, verweist auf die Hartnäckigkeit, mit der rassistische Zuschreibungen und Prozesse produziert und reproduziert werden. Sie erwähnt, dies geschehe nicht nach „Regeln“, also selbst wenn die geforderten Eigenschaften wie Sprachbeherrschung, Gesetzestreue und eine Anpassung im Verhalten erbracht werden, werden die Betroffenen nicht als integriert betrachtet, was sich an ihrer Religionszugehörigkeit festmacht. Laut Mark Terkessidis würde selbst eine radikale Assimilation – die auch eine Anpassung in punkto Religion beinhalte – den Prozess der „Entantwortung“, den er als Instrument rassistischer Situationen beschreibt, nicht beenden (vgl. Terkessidis 2004: 193). Das verweist auf die Mechanik der Produktion von Ungleichheit im Zusammenhang der Hierarchie von Klassenverhältnissen als Element des Rassismus. Auch Abid identifiziert sich in erster Linie mit dem Islam und nicht mit einer nationalen Identität, wobei er wie Maryam beschreibt, dass er sowohl in Indonesien als auch in Deutschland wechselseitige nationale Zuschreibungen erfährt. Auf die Frage, welcher Nation er sich zugehörig fühle, antwortet er: Abid: „Äh (-) gar nix. (-) Genau deswegen sage ich, ich fühle mich mehr als Muslim. (-) Weil, also (-) ja, ich bin hier aufgewachsen, und wenn ich dort [in Indonesien] bin, dann bin ich mehr (-) deutsch, und wenn ich hier [in Deutschland] bin, bin ich Ausländer. (--)
Ja.
Ich glaube, Allah hat es mir da so (-) leicht gemacht. Also das ist gut, denke ich, (-) dass ich diesen Nationalstolz nicht habe. (-) So wie manche andere.”
Nationalismus lehnt Abid auch aus religiösen Gründen ab, wodurch es ihm offenbar leichter fällt, die Zuschreibungen als „Fremder“ zu ertragen, die er sogar als göttlichen Willen und Erleichterung für sich positiv umdeutet. Es fällt also auf, dass sich die Befragten – insbesondere Jamal und Abid – vielmehr als Muslime denn als Angehörige einer nationalen Gruppe identifizieren. Dies erscheint logisch, wenn man sich die Prozesse in Erinnerung ruft, die Mark Terkessidis als Elemente des Inventars rassistischer Situationen charakterisiert hat (siehe Kapitel „Der negative Spiegel: Rassismus“): Im Zuge der „Entfremdung“, der „Verweisung“ und der „Entantwortung“, von denen die Befragten offenbar hier alle betroffen sind, werden die Betroffenen insbesondere im Prozess der „Entantwortung“ vielfach gezwungen, sich zu positionieren: „Dabei gibt es zum einen die Möglichkeit, sich dem ,Wir' der Ausländer zu entziehen und sich als etwas anderes zu definieren. Zum anderen
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können die Personen nichtdeutscher Herkunft den Anwalt dieses ,Wir' spielen.“ (Terkessidis 2004: 188)
Insbesondere Jamal und Abid, aber ebenso Maryam und in mancher Hinsicht auch Fatima scheinen sich hier für die erste Option entschieden zu haben, indem sie sich als Muslime definieren und den Islam als antinationalistisch charakterisieren. Der Glaube wird bei den Befragten also zum Halt, zu einem wichtigen – ideellen – „Identifikationsraum“, der nicht an nationale Grenzen gebunden ist.107 Wie in den Aussagen der Befragten deutlich geworden sein dürfte, bestätigen diese ausdrücklich ihr Bekenntnis zu dem Rechtsstaat und dem Grundgesetz. Jedoch bedarf die Zustimmung zu Werten des Grundgesetzes bei Muslimen weiterer, genauerer und umfassenderer empirischer Untersuchungen, denn in der vorliegenden Arbeit lag der Fokus schließlich allein auf Werten in Bezug auf Geschlechterbeziehungen. Wie Dieter Oberndörfer und Uwe Berndt ausführen, kann der Islam jedenfalls kein prinzipielles Integrationshindernis sein, da im Grundgesetz das Recht auf Religionsfreiheit garantiert sei, das auch für Muslime gelten müsse. Jedoch sehen die Autoren „anders als bei dem heute privatisierten und individualisierten christlichen Religionsverständnis, die Möglichkeit von schärferen Wertekonflikten“ (Oberndörfer/Berndt 1992: 35). Kulturelle Freiheit darf nach Boos-Nünning dabei aber keinesfalls mit einem Werterelativismus gleichgesetzt werden: Sie finde ihre Grenzen in den Grundwerten der Verfassung und ihrer Rechtsordnung, „aber nur in dieser“ (vgl. Boos-Nünning 1999: 40).
107
Zu simpel ist die Erklärung, die Ursula Spuler-Stegemann für die – offenbar als nicht gelungen betrachtete – Integration speziell von Muslimen formuliert: „,Integration' bedeutet für fromme Muslime jedenfalls in der Regel ,Eigenständigkeit' und ,Abgrenzung' und führt in die ,Ghettoisierung'.“ (SpulerStegemann 1998: 232) Der Tenor dieser nicht selten vertretenen Argumentation lautet: Die Muslime sind selbst schuld, wenn sie sich nicht integrieren; wenn sie auf ihrer religiösen Eigenständigkeit beharren, werden sie ausgegrenzt.
212
5.10.2.
Weg zum Islam
Die Hinwendung zum Islam war für die Befragten – ausgenommen für Maryam – ein längerer Prozess. Jamal bezeichnet sich erst ab einem Alter von 20 Jahren als praktizierender Muslim, davor habe er sich auch intensiv mit anderen Religionen auseinandergesetzt. Durch das Vorbild seines Bruders habe er dann begonnen zu beten, wobei er die Regelmäßigkeit dabei als positiv und ausgleichend erlebt. Dass er durch seine Mutter mit immensem Druck, eventuell auch mit Schlägen, dazu gezwungen wurde das Gebet zu lernen, beurteilt er im Rückblick als positiv, weil er dadurch letztlich eine Erleichterung erfahren habe. Bei seinen eigenen Kindern würde Jamal jedoch Wert auf Erklärungen und Übersetzungen sowie eine Wahlfreiheit in Bezug auf Religion legen, worin eine Rationalisierung zum Ausdruck kommt. So schildert Jamal auch, dass in Pakistan seiner Ansicht nach die Religion unbewusst ausgeübt werde und erst im Aufnahmeland eine Reflexion beginne, was er offenbar positiv beurteilt: Jamal: „(…) meine Eltern haben es hier dann auch nicht gemacht, als sie hierher [nach Deutschland] gekommen sind, genauso wie viele, von denen ich weiß, die aus anderen islamischen Ländern kommen, dass sie [die Religion] erst mal nicht praktizieren, wenn sie hierher kommen, (--) zwar (-) immer das Gefühl haben, dass sie es doch sollten und sich vornehmen, es auch irgendwann wieder zu machen, aber (-) irgendwie machen sie es dann erst mal nicht.”
Ähnlich beschreibt es auch Fatima, die in Somalia die Religion als konfliktfreie Normalität erlebt hatte, ohne ihren Glauben zu reflektieren oder zu hinterfragen: Fatima: „Als wir in Somalia gelebt haben,
ja, du siehst
, dass die
ganze Familie betet, dann betest du irgendwann mit und (-) äh (-) stellt sich da hin und (lacht) (-) und betest halt einfach mit, und (--) das war einfach so, hm, jetzt (-) gibt es etwas, und das wird gemacht oder (-) also automatisch, ja.”
Der Prozess des Hinterfragens setzte bei Fatima erst ab einem Alter von 17 Jahren ein, als sie sich seitens der deutschen Gesellschaft mit Fragen konfrontiert sah, aufgrund derer sie sich stärker mit dem Islam auseinandersetzte: Fatima: „Und aber mit der Zeit irgendwann dachte ich mir, ja, du bist Muslima, du glaubst an Allah, aber
warum, (-) wieso, weshalb? Und ich musste mich mal damit auseinandersetzen. Und ich muss sagen, seit etwa (-) fünf Jahren, (-) ja, setze ich mich damit intensiv auseinander, nicht nur geborene Muslima zu sein, sondern auch (-) äh zu
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hinterfragen, warum ist es so, weshalb, wieso äh (-) wieso ähm (-) wieso denken wir so, oder wieso handeln wir so, und warum ist jenes und dieses verboten und dieses erlaubt und so weiter.”
Zunächst aber, als ihre Mutter in Deutschland begann, ihre religiöse Erziehung zu forcieren – offenbar um zu verhindern, dass Fatima sich zu stark an Verhaltensweisen deutscher Mädchen anpasst, habe sie dagegen rebelliert. Die Konflikte mit ihren Eltern kamen im Alter von etwa 15 oder 16 Jahren auf, als Fatima sich Freiheiten heimlich versucht hatte zu nehmen, da sie die hiesige Kultur als reizvoll erlebte: Fatima: „(…) weil das war andere Kultur, das war (-) cool (lacht), bisschen
ja, das war halt (-) andere (-) Zusammenhänge, also Fernseher und (--) ähm (-) mit Freundinnen ausgehen, und äh (-) das (.) das war für mich natürlich was Reizvolles.”
Die Hinwendung zum Islam geschah dann im Alter von 17 Jahren, offenbar auch durch die Freundschaft zu einem deutschen Mann, dem sie ein Vorbild sein wollte, um ihm vom Islam zu überzeugen. Dies erschien nötig, um die Beziehung zu ihm aufrecht zu erhalten. Fatima betrachtet sich durch die Auseinandersetzung mit dem Islam als selbstbewusster, begeisterter und neugieriger auf Religion. Der islamische Glaube ist offenbar eine Identifikationsquelle, durch die es ihr ermöglicht wird, sich einerseits nicht zu stark von den Vorstellungen der Eltern zu entfernen, andererseits aber auch an den Freiheiten der deutschen Gesellschaft zu partizipieren und sich dabei von der traditionellen Einstellung, die ihr durch die Mutter vermittelt wird, insbesondere in Bezug auf die Gleichbehandlung und Gleichwertigkeit der Geschlechter zu emanzipieren.108 108
Hiltrut Schröter folgert anhand von Interviews mit Musliminnen, dass die Zunahme an Wissen, Rationalität und Kritikfähigkeit die innere Entfernung von Traditionen bewirke, die dem Bewahren des Gewohnten, Bewährten, aber auch des Unzeitgemäßen, Irrationalen diene: „Zur Veränderung im Denken gehört auch eine kritische Auseinandersetzung mit tradierten Geschlechtsrollenzuweisungen.“ (Schröter 2002: 273) Die deutsche Rechtsordnung und die – man müsste ergänzen formale – Gleichberechtigung der Geschlechter, die Freiheit und Verantwortung des Individuums würden für die muslimischen Frauen „die Befreiung aus kulturtraditionaler Unterdrückung, die in islamischen Ländern verbreitet ist“ (ebd.) bedeuten: „Im Zuge zunehmender Rationalisierung der Lebenspraxis in Verbindung mit der Gleichberechtigung der Frauen, und folglich ihrem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, verändert sich auch die Moral.“ (ebd.) Genau dieser Prozess zeigt sich auch bei Fatima, die die Rechtssituation und den Pluralismus der deutschen Gesellschaft als Bereicherung empfindet und sich sehr stark gegen überlieferte Traditionen wehrt, die ihr nicht vernunftmäßig einleuchten. Aus persönlicher Rücksichtnahme könne das individuierte Subjekt zwar im Handeln den Wünschen der Eltern nachgeben, es gäbe aber kein Zurück in die Traditionalität: „Im Gegenteil, gerade individuelle Rücksichtnahme ist ein
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Maryam bezeichnet sich als Muslima von Geburt an, wobei sie sich ihr Wissen über den Islam aus deutschsprachigen Büchern angeeignet hat. Hierbei legt sie Wert auf die inhaltliche Kontrolle durch den Moscheeverein, was Ausdruck für ihr Bedürfnis nach Konsens mit der islamischen Gemeinde zu sein scheint. In Bezug auf ihre Mutter schildert Maryam eine Hinwendung zu islamischen Normen wie dem Kopftuchtragen, seit die Familie in Deutschland wohnt und der Glaube bewusst gelebt wird. Maryams Ausführungen legen den Schluss nahe, dass es für das Tragen des Kopftuchs bei der Mutter keine kulturellen Gründe gab, sondern diese durch den Moscheeverein in Deutschland vermittelt wurden. Maryams Mutter nahm die Norm offenbar an, um die Zugehörigkeit zu der islamischen Gemeinde zu symbolisieren und zu bestärken. Wie sich hierbei wieder zeigt, haben die Moscheevereine eine wichtige Rolle bei der Vermittlung von Normen und Werten. Für Abid stellte die Hinwendung zum Islam nicht nur einen spirituellen, sondern auch einen sozialen Anker dar, mit dem er Konflikte und die von den Eltern erlebte Abweisung kompensieren konnte, da er neue Bezugspersonen fand, die Interesse und Fürsorge für ihn zeigten. Ein muslimischer Klassenkamerad nimmt bei ihm insofern eine väterliche Ersatzfunktion ein und führt ihn in die islamische Gemeinschaft ein. Er liefert Abid auch Argumente, um eine Existenzkrise im Alter von 18 oder 19 Jahren zu überwinden: Abid: „Und dann (-) hab ich angefangen eine (--) da hatte ich zum ersten Mal einen Ansprechpartner (-) für meine Fragen. Und dann hab ich ihm immer weiter Fragen gestellt (-) und (...) da (...) ist mein Interesse so gekommen. Dann hat er mir ein Buch geschenkt (-) von dem Propheten Muhammad, dann hab ich sein Leben gelesen. (-) Noch wie es zum Christentum stand, und dann (-) war dieser Glauben also (-) wurde dann ersetzt irgendwann durch Wissen. (-) Durch (-) diesen Iman.”
Abid nimmt den Islam aber offenbar auch deshalb an, da er von seinem Umfeld – auch in der Zeit, in der er sich selbst noch nicht als Muslim betrachtet hatte – als Muslim identifiziert und mit Fragen konfrontiert wird, die er nicht beantworten kann: Abid: „Und dann sitze ich da, (--) und dann komm’ (.) da kam nichts raus (-) OK? (--) Und dieses Gefühl, das war so (--) das war so ekelhaft, und da habe ich mir gedacht, (-) hab ich mir (-) hab ich mir geschworen, diese Situation soll niemals wieder vorkommen, ja (-). Auch für meine Mitschüler nicht, ja (-). Dass ich so ein unsicheres Gefühl hab. (--) NatürZeichen für Individuierung und damit für einen Bildungsprozess im Sinne der Moderne.“ (ebd.: 274)
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lich, also (-) dieses Wissen kommt von Allah, aber (-) ich möchte nicht mehr so was verspüren. Und somit habe ich angefangen, so mir mehr weiter (.) Wissen anzueignen, so dass ich auf so Fragen (--) halt auch mehr Erklärungen für mich selber finde. (...) Weil wenn das nicht (.) wenn ich nicht davon überzeugt bin, dass es das Wahre ist, dann kann ich mich auch nicht als richtig Gläubiger nennen, ja.”
Um dieses Gefühl der Unsicherheit, das Abid als „ekelhaft“ beschreibt, künftig zu vermeiden und eine in sich geschlossene Identität zu formen, eignet er sich aus deutschsprachigen Büchern Wissen über den Islam an. Die neue Identität ist gleichwohl nicht unproblematisch, da sie zu Konflikten mit Abids Mutter führt und ihn in Gewissensnöte, Schuld- und Angstgefühle stürzt.109 Jedoch erlebt er durch die Hinwendung zum Islam eine persönliche Verbesserung seiner Situation, die er auch auf eine Veränderung seiner Verhaltensweisen zurückführt. Deutlich zeigt sich also insbesondere bei Fatima und Abid die Hinwendung zum Islam als Konfliktbewältigungsstrategie, die auch dadurch nötig wird, weil sie von ihrem nichtmuslimischen Umfeld als Muslime identifiziert werden und von ihnen Wissen über den Islam erwartet und Stellungnahmen eingefordert werden. Von allen Befragten wird die Ausübung der Religion als Erleichterung und Verbesserung ihrer Lebenssituation und als identitätsstiftend empfunden. Abid und Fatima finden dadurch Argumente, um sich gegenüber Zuschreibungen und Fragen von Nichtmuslimen zu behaupten. Insbesondere bei Abid und Maryam wird die gemeinschaftsbildende Funktion der islamischen Religion deutlich, die für beide sehr wichtig zu sein scheint. Dass für Jamal dieser Gemeinschaftsfaktor eine weniger große Rolle spielt und er sich auch mit anderen Religionen auseinandergesetzt hat, gibt ihm offenbar die Freiheit, islamische Regelungen offener zu interpretieren als die übrigen Befragten. Bei Fatima wird die Religion auch in ihrer Funktion als Emanzipationsvehikel deutlich, da sie sich mit ihrer Hilfe von traditionellen Vorstellungen abgrenzt. Die Interviews mit Abid, Jamal und Fatima zeigen auch, dass der in der Aufnahmegesellschaft vorherrschende Wert rationalen Handelns sich auf ihre Form der Religionsausübung auswirkt.
109
Abid und seine Schwester bekommen von Seiten der Mutter sehr stark die Zugehörigkeit zur familiären Gemeinschaft wie auch zur „christlichen Wertegemeinschaft“ aufgekündigt. Da Abid jedoch individuell starke Verbesserungen seiner Situation wahrnimmt, bleibt er bei seiner Entscheidung für die muslimische Gemeinschaft, die ihm ja auch eine Art Familienersatz zu sein scheint.
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5.10.3.
Vorurteile
Alle Befragten sind von den Prozessen der „Entfremdung“, „Verweisung“, „Entantwortung“ und „Entgleichung“ betroffen, die Mark Terkessidis als Inventar rassistischer Situationen charakterisiert hat. Sie werden mit Vorurteilen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit konfrontiert, wobei sich diese bei den Männern am Vollbart und bei den Frauen am Kopftuch festmachen. Insbesondere Abid, Fatima und Maryam nennen die Medien als Produzenten von Vorurteilen.110 Die Zuschreibungen, von denen sich die Befragten betroffen fühlen, sind dabei sehr ähnlich. So nennt Abid Vorurteile, die sich häufig auf das Geschlechterverhältnis beziehen wie Ehrenmorde, Zwangsehe, Gewalt und Diskriminierung der Frau. Dies alles bezeichnet er jedoch als nicht islamisch und sieht die Ursache für solche Vorurteile in der Art, wie der Islam in manchen islamisch geprägten Ländern gelebt werde, wo die Religion seiner Auffassung nach falsch verstanden wird. Seinen Bart betreffend wird Abid nicht nur in Deutschland, sondern auch in Indonesien und im Kreise seiner Familie mit negativen Zuschreibungen konfrontiert.111 Seine Reaktion auf Vorurteile, die ihn persönlich betreffen, verortet er zwischen Vergessen, Verzeihen und Wut.112 Wie Abid so führt auch Maryam negative Zuschreibungen darauf zurück, dass der Islam, wie er in anderen Ländern gelebt wird, auf hiesige Verhältnisse übertragen 110
Auch Mark Terkessidis beschreibt, dass die Befragten in seiner Studie von einem Denken in „Bildern, „Schubladen“ oder „Vorurteilen“ sprachen, das Personen nicht als Individuen sehe, sondern in bereits vorhandene Kategorien einordne. Zu deren Bildung, meinten die von ihm Befragten, würden vor allem die Medien beitragen (vgl. ebd.: 205): „Alle hatten das unbestimmte Gefühl, dass diese Bildproduktion etwas Systematisches hat.“ (ebd.) In der wissenschaftlichen Literatur wird in den letzten Jahren zunehmend auf diesen Faktor hingewiesen. So beschreibt auch Ursula Boos-Nünning die Wirkung von Zeitungen, Fernsehen und Filmen als „stabilisierend oder auch stereotypenproduzierend“ (Boos-Nünning 1999:26).
111
Auch in der indonesischen Gesellschaft werden hier die Prozesse der „Entfremdung“, „Verweisung“ und „Entantwortung“ deutlich. Abid wird aufgrund eines äußerlichen Merkmals, des Bartes, einer bestimmten Gruppe – möglicherweise gewaltbereiten Muslimen – zugerechnet, die als nicht zugehörig identifiziert werden. Vollbart tragenden Menschen werden offenbar Eigenschaften zugeschrieben, die Abid nicht als auf sich zutreffend empfindet.
112
Hier zeigen sich indirekt die Prozesse der „Entfremdung“, „Verweisung“ und „Entantwortung“ (vgl. Terkessidis 2004). Aufgrund äußerlicher Merkmale, seines „nicht-deutschen“ Aussehens, werden Abid offenbar Eigenschaften zugeschrieben, mit denen er sich jedoch nicht identifizieren kann. Dass dieser Prozess bei den Betroffenen Aufregung und Wut mit sich bringt, hat auch Terkessidis in seinen Befragungen festgestellt (vgl. ebd.: 187).
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werde. Sie nennt als Vorwürfe mangelnde Anpassung oder Integration, Rückständigkeit und Nichtbeherrschung der deutschen Sprache sowie „zurückgeblieben“ sein.113 Maryam: „Es ist nur halt, wenn du auf der Straße oder so halt so (.) angepöbelt wirst, ja, oder wo meistens die Leute denken halt, oah, die kann ja sowieso kein Deutsch, und sind dann erstmal total verwundert,
wenn du halt Deutsch sprichst, ja. (--) Und die haben dann halt immer noch dieses Klischee im Kopf, ja, (-) Kopftuch heißt gleich (-) ähm, versteht kein Deutsch und (-) blablabla. (.) Also die (--) Vorurteile.”
Als belastend empfindet sie es, dass sie meist keine Möglichkeit hat, sich zu solchen Vorwürfen zu äußern: Maryam: „Du kannst halt schlecht die Leute
so packen so, [unverst. 1 Sek.]. Der Islam ist doch gar nicht so, oder was was denken Sie? Also mit den Leuten kannst du meistens gar kein Gespräch führen.”114
Ihre Reaktion auf Pöbeleien und Vorurteile beschreibt Maryam als geschockt und ratlos. Solche negativen Zuschreibungen erfährt sie aber nur von Fremden, während Freunde Interesse an ihrer Religion zeigen und sie ihnen gegenüber die Möglichkeit hat, sich dazu zu äußern. Auch Jamal nennt die Existenz von Vorurteilen, erwähnt aber, dass auch Muslime gegenüber Nichtmuslimen wahrscheinlich Vorurteile hätten. Als negative Zuschreibungen gegenüber Muslimen nennt er Gewalttätigkeit, dass der Islam als Religion mit nationalem oder territorialem Charakter und dass der Gott der Muslime als ein anderer als jener der Christen betrachtet werde: Jamal: „(…) Allah ist der Name, und man stellt sich dazu vielleicht, keine Ahnung, einen Mann mit Kopftuch vor, aber (-) es ist (-) es ist (-) Allah ist ja nur ein arabisches Wort für Gott, und das ist ein Vorurteil, das die Nichtmuslime haben, dass sie nicht begreifen, dass das einfach 113
Es handelt sich hier um den von Terkessidis beschriebenen Prozess der „Entfremdung“, mit denen Maryam aufgrund ihres Kopftuchs konfrontiert wird. Allein aufgrund dieses äußerlichen Merkmals wird ihr mangelnde Integration zugeschrieben; sie wird als „andere“ konstruiert und aus der „Wir“-Gruppe der Dominanzgesellschaft ausgegrenzt. Gleichzeitig zeigt sich der Prozess der „Entantwortung“, indem den Muslimen Rückständigkeit zugeschrieben wird, der „Wir“-Gruppe im Umkehrschluss also Modernität.
114
Terkessidis beschreibt, wie der Prozess der „Entantwortung“ mit einer Entkleidung der Individualität der Person einhergeht und die Betroffenen der Möglichkeit zum Dialog beraubt: „Die Menschen nichtdeutscher Herkunft werden schlicht nicht als Gesprächspartner anerkannt – ein Bild hat sich quasi vor sie geschoben.“ (vgl. Terkessidis 2004: 193)
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nur das arabische Wort für Gott ist. (-) Sonst würden die christlichen Araber ja nicht auch Allah sagen. ”
Besonders stört Jamal, dass der Islam als orientalische Religion gesehen werde, „mit Kamelen und drum und dran”, obwohl es sich nicht um eine Religion mit nationalem oder territorialem Charakter handele.115 Jamal vermeidet es, Religion in die Öffentlichkeit zu tragen, um sich – aus Furcht vor Abweisung und Unverständnis – der Aufnahmegesellschaft anzupassen. Auch bei Jamal ist der Vollbart, offenbar besonders in Kombination mit seinem nichtdeutschen Aussehen und mehr noch in Verbindung mit traditionell pakistanischer Tracht – ein Merkmal, anhand dessen er sich exotisiert fühlt und an dem sich negative Zuschreibungen festmachen. Auch Jamal reagiert mit Ratlosigkeit, wenn ihn Vorurteile persönlich betreffen. Fatima nennt die Unterdrückung der Frau, Radikalität und mangelnde Bildung als Vorurteile gegenüber Muslimen und fühlt sich persönlich auch von der Zuschreibung mangelnder Deutschkenntnisse betroffen, was offenbar insbesondere an ihrem Kopftuch, vielleicht auch an ihrer dunklen Hautfarbe festgemacht wird: Fatima: „(…) zum Beispiel, vor ein paar Tagen saß ich im Bus, und eine Frau stand da, und ich saß da, und ähm (-) dann habe ich ihr den Platz angeboten, und da sagt sie, Sie sprechen aber gut Deutsch. In einem Satz hat sie schon ähm (-) herausgehört, dass ich gut Deutsch spreche. Und ich so OK, also das ist so hm: [macht mit der Hand eine abweisende Geste], also die haben ein Bild, eine Frau mit Kopftuch (-) oh (--) da ist sie nicht so gebildet, und dieses (-) dieses Vorurteile begegnen mir persönlich also immer wieder.”116 115
Auch Johannes Twardella weist auf die Gefahr hin, den Islam zu „orientalisieren“ und damit als irrational abzuqualifizieren (vgl. Twardella 2004: 13) wie es seiner Erklärung zufolge der „Orientalismus“ tut: „Der ,Orientalismus' stellt den Islam als ein irrationales Gebilde hin, konstruiert ihn als ein ,Anderes', komplementär zu dem ,Eigenen', der Kultur des Westens, die als rational, freiheitlich und verkollkommensunfähig begriffen wird.“ (ebd.) Hier wird auch deutlich, wogegen sich Jamal mit seinem Argument wehrt: gegen den von Terkessidis beschriebenen Prozess der „Verweisung“ als Instrument rassistischer Strukturen, gemäß dem Muslime als nicht zugehörig zur deutschen Gesellschaft betrachtet werden, sondern als Menschen, die „naturgemäß“ in die „Länder der Kamele“ gehören.
116
Fatima schildert hier dieselben Zuschreibungen, die auch an Maryam herangetragen werden. Aufgrund ihres Kopftuchs und anderer Merkmale wird offenbar eine mangelnde deutsche Sprachbeherrschung voraussetzt. Mark Terkessidis hat die Thematisierung der Sprachbeherrschung als ein Element der „kulturellen Hegemonie“, als Ausgrenzungspraxis, beschrieben. Es handelt sich ihm zufolge hierbei nicht bloß um „neugierige Erkundigungen oder
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Fatima reagiert auf solche Vorurteile nach eigener Aussage „ganz neutral“ und versucht zu beweisen, dass es auch gebildete Frauen mit Kopftuch gibt. Ihre Taktik ist also offenbar die Abwehr solcher Zuschreibungen, indem sie sich gewissermaßen zur Anwältin der von Vorurteilen betroffenen Gruppe macht (vgl. Terkessidis 2004: 188). Fatima beschreibt aber auch ihre Trauer über solche Zuschreibungen, bei denen Muslime in einen Topf geworfen würden. Anhand ihrer Erlebnisse in einer nichtmuslimischen Beratungsstelle zeigt sich außerdem, wie Fatimas Religionszugehörigkeit dazu führt, dass sie aufgrund eines nicht näher genannten Problems als Opfer dargestellt wird. Dadurch sind sie, ihre Religion sowie ihre Familie automatisch von negativen Zuschreibungen betroffen, weshalb sie die Beratung abbricht:117 Fatima: „Die haben mich so (-) meine ganze Familie irgendwie schlecht gemacht, wirklich, also den Islam, und, ja, und also plötzlich mich so so (-) also dann Opfer dargestellt. Ich habe gemeint, ich will wissen, wie ich handeln soll, und Sie sollen mir nicht erzählen, was ich (-) wer ich bin, ne. Sie analysieren mich gerade.“
freundliche Feststellungen, sondern sie betonen eine Grenze: Sie markieren, wer zur ,eigentlichen' Nation gehört und wer nicht.“ (Terkessidis 2004: 106) Dabei handelt es sich um die Prozesse der „Entfremdung“ und „Verweisung“, die er beschreibt: Aufgrund des Kopftuches wird den Mädchen gewissermaßen die Zugehörigkeit zu der Dominanzgesellschaft „aufgekündigt“. Ethnizität und Sprachbeherrschung werden so verkoppelt, dass die Tatsache der guten Sprachbeherrschung sich mit der nichtdeutschen Herkunft der Mädchen nicht mehr verträgt (vgl. ebd: 183). Indem Fatima für ihr Deutsch gelobt wird, wird die „Normalität“ der Sprachbeherrschung in Frage gestellt (vgl. ebd.); der Einheimische macht sich zum natürlichen Inhaber der Sprache, „zum Richter über die Sprachkompetenz einer Person“ (vgl. ebd.: 184). 117
Valentina Veneto Scheib beschreibt in ihrer Analyse der psychosozialen Versorgung ausländischer Frauen und Mädchen in der BRD, dass die bestehenden Angebote zur Beratung kaum angenommen würden und es hohe Kontaktabbruchquoten gebe. Sie kommt zu dem Schluss, dass Beratungsstellen bei Ratsuchenden „eine Sensibilität für ihre Normen und Werte, für die Verhaltensregeln und Tabus auch in ihrer Widersprüchlichkeit“ zeigen müssten, um „den Sinn mancher Beschwerden und die Art, wie diese sich akut äußern, im Zusammenhang mit der Dynamik des Migrationsgeschenens zu verstehen“ (Scheib 1993: 51). Scheibs Folgerung erscheint sinnvoll, Fachkräfte in Beratungsstellen zu beschäftigen, die sich mit den Verhaltensregeln und Tabuisierungen der Herkunftskultur auskennen und respektvoll damit umgehen könnten (vgl. ebd: 52), beziehungsweise einen kontinuierlichen Dialog zwischen ausländischen und deutschen Fachkräften zu pflegen (ebd: 53). Ob dies tatsächlich immer „ausländische“ Fachkräfte sein müssen, und ob „ausländische“ Fachkräfte quasi per se, allein aufgrund ihrer Herkunft, auch interkulturelle Expertinnen sind, sei jedoch bezweifelt.
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Was Fatima hier beschreibt, kann als ein Beispiel für die „Entantwortung“ charakterisiert werden, die Mark Terkessidis als ein Element des Inventars rassistischer Situationen beschreibt. Er hat festgestellt, dass insbesondere Zuschreibungen aufgrund des Geschlechts hier eine bedeutende Rolle spielen (vgl. Terkessidis 2004: 189). Offenbar wird Fatima von den Angestellten der Beratungsstelle als „Opfer“ ihrer Familie dargestellt – eine Rolle, mit der sie sich selbst nicht identifizieren will, da sie nur eine Handlungshilfe erwartet. Stattdessen sieht sie sich mit der Zuschreibung zu der Gruppe der unterdrückten muslimischen Mädchen konfrontiert und damit auch zu einer „anderen“ gemacht und „analysiert“. Wie Terkessidis festgestellt hat, wirken die Bilder und Klischeevorstellungen, die insbesondere bei Mädchen häufig wirksam werden, kontraproduktiv, da in ihnen der reale Emanzipationsprozess vieler Mädchen negiert werde (vgl. ebd.: 190). Es erscheint hier insbesondere für Beratungsstellen angeraten, eine Sensibilität für die Normen, Werte, Verhaltensregeln, Tabus und die tatsächlichen Lebenssituationen von Mädchen zu entwickeln, um ihnen nicht den Islam als wichtigen Halt zu nehmen und dadurch abschreckend zu wirken. Insofern erscheint es sinnvoll, geschulte Muslime in Beratungsstellen zu beschäftigen oder in Kontakt mit Moscheevereinen zu treten,118 um Vertrauen zu schaffen und nicht einen Rückzug in familiäre, traditionelle und unausgebildete Kreise zu fördern. Dies könnte dazu beitragen, Konflikte nicht weiter zu verschärfen, sondern im Gegenteil die Integration und Vertrauensbildung zu Institutionen der Aufnahmegesellschaft zu fördern.
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Laut Duran Akbulut hat die Gründung von Moscheen und religiösen Einrichtungen es Muslimen ermöglicht, „sich geregelt zusammenzufinden und zugleich der deutschen Gesellschaft zu öffnen. Die Bedeutung dieser Organisationen liegt soziologisch in ihrem Beitrag zur Interaktion und damit zur Integrationserleichterung.“ (Akbulut 2003: 61) Für die Eltern ermöglichten die Moscheen zudem, ihre Kinder nach islamischen Wertvorstellungen zu erziehen (vgl. ebd.: 62). Zwar räumt Akbulut ein, dass durchaus Wertekonflikte zwischen Älteren und Jugendlichen entstehen könnten, wenn ein Prediger zur säkulär-pluralistischen Gesellschaft negativ eingestellt sei (vgl. ebd.: 100), jedoch sieht er zumeist in den Moscheen eher eine Vorbereitung auf das Leben in dieser Gesellschaft, wobei Jugendliche auch vor Gefahren wie Alkoholismus, Drogen, Sexismus und Kriminalität gewarnt würden (vgl. ebd.).
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Resümee und Ausblick Die Befragten weisen eine hohe Akzeptanz von Werten und Einstellungen auf, die auch in der Aufnahmegesellschaft in Bezug auf das Geschlechterverhältnis vorherrschen. So betonen alle Befragten die Gleichwertigkeit von Mann und Frau. Weitere Werte sind eheliche Treue, Selbstbestimmung bei der Partnerwahl, Liebe, voreheliche Keuschheit und Schamgefühl beziehungsweise der Schutz des religiösen Bewusstseins, den die Befragten durch Normen wie Geschlechtertrennung oder das Kopftuch gewahrt sehen. Diese „islamischen Werte“ werden auf individueller Ebene ausgelebt; sofern sie aber als unvereinbar mit „westlichen“ Werten wahrgenommen werden, wird mit Hilfe der islamischen Religion eine Synthese gefunden, die für die Befragten sowohl innerhalb der islamischen Gemeinschaft als auch in der Aufnahmegesellschaft vertretbar ist. Es stellt sich hier also ein ganz anderes Bild dar als das oft reproduzierte vom Zusammenprall der islamischen und „westlichen“ Werte und deren Unvereinbarkeit. Im Gegenteil hilft die islamische Religion sogar vielfach den Befragten, die Werte ihrer Herkunftskultur, die oft noch von den Eltern stark vertreten werden, mit denen der Aufnahmegesellschaft, welche die Befragten in ihr Weltbild integriert haben, zu verbinden.119 Je mehr die Werte der Herkunftsgesellschaft mit Repressionen und Ungleichbehandlung der Frau verbunden sind, desto stärker distanzieren sich die Befragten davon und postulieren demgegenüber Werte wie individuelle Freiheit und Gleichberechtigung. Differenzen zwischen Werten der Aufnahmegesellschaft und islamisch begründeten Glaubensgrundlagen werden – wie sich insbesondere anhand der Themen Huri, Polygamie, Vorbeten und Gewalt gegen Frauen zeigt – deutlich wahrgenommen. Die Konsequenz ist aber nicht die Ablehnung der Werte der Aufnahmegesellschaft, sondern eine mehr oder weniger starke Anpassung der Glaubensvorstellungen an diese. Häufig geschieht dies mithilfe von fantasievollen Neuinterpretationen religiöser Dogmen und kann funktionieren, weil sich auch die Eltern – beziehungsweise bei Abid die Bezugspersonen – mit dem Islam identifizieren, die 119
Der Soziologe Helmut Klages unterscheidet im Umgang mit Wertpluralität zwei Typen: Nomozentriker und Autozentriker. Nomozentriker gestalten ihr Leben in Übereinstimmung mit den Überzeugungen, die in ihrem sozialen Umfeld vorherrschen und orientieren ihre individuellen Wertkonzepte an den Wertehierarchien dieser Gemeinschaft, während die Autozentriker sich als selbstbestimmtes Individuum sehen und den einzelnen Wertsystemen ihres sozialen Umfelds in funktionaler Weise Bestandteile entnehmen, die den eigenen Bedürfnissen entsprechen und die sie zu einer individuellen Wertorientierung vereinen (vgl. Klages 1988). Es spricht viel dafür, dass die Befragten eine Mischform zwischen diesen beiden Typen gefunden haben.
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Religion also nicht nur als individuelle Identifikation, sondern auch in ihrer sozialen Dimension bedeutend für die Befragten ist. Religiöse Grundlagentexte werden im Sinne der Wertvorstellungen der Aufnahmegesellschaft interpretiert und Überlieferungen, die ein patriarchalisches Denkmuster zu vertreten scheinen, umgedeutet.120 Es zeigt sich darin der Prozess der „Interiorisation“, den John Erpenbeck beschrieben hat (vgl. Erpenbeck 1996: 114). Die Befragten eignen sich in Konfliktsituationen neue Werte an, insofern die gelernten Werte, also die der Herkunftsgesellschaft der Eltern, nicht mehr zur Bewältigung von Situationen taugen (vgl. ebd.: 112-113). Ein weiteres Untersuchungsergebnis ist, dass die Befragten das Bedürfnis haben, Glaubensvorstellungen rational zu begründen, was auch von der Aufnahmegesellschaft gefordert und gefördert wird. Werte der Herkunftsgesellschaft der Eltern werden abgelehnt, insofern sie nicht rational begründbar oder religiös zu rechtfertigen sind, sondern in den Augen der Befragten einen kulturellen Ursprung haben. In diesem Prozess werden die Werte der Aufnahmegesellschaft oft in islamische Glaubensvorstellungen integriert, um sie gegenüber Angehörigen der Herkunftsgesellschaft überzeugend vertreten zu können. Religiöse Werte werden also neu besetzt, wie sich anhand des Themenkomplexes Ehre und Würde gezeigt hat, und anders als im traditionellen Verständnis legitimiert. Der Islam scheint wie ein Baukasten zu sein, der das Werkzeug liefert, um Vorstellungen entweder auszuformen oder „einzureißen“. Insofern können Glaubensvorstellungen dazu verwendet werden, patriarchale Verhaltensmuster entweder zu legitimieren oder diese zu verändern und dies gegenüber Angehörigen der Herkunftsgesellschaft zu rechtfertigen. Die Befragten grenzen sich deutlich von den Lebensentwürfen ihrer Eltern in Bezug auf das Rollenverhalten von Mann und Frau ab, was sich insbesondere in ihren Vorstellungen von der Ehe, der häuslichen Arbeitsteilung und der außerhäuslichen Arbeit zeigt. Sie opponieren gegen Erwartungen ihrer Eltern bezüglich der Ehe, wobei die Liebe in einer Be120
Claus Leggewie betont die identitätsstiftende Funktion des Islam für Immigranten in der Bundesrepublik, die aus der Kombination von als bedrohlich empfundenen Modernisierungsprozessen, Diskriminierung und rassistischer Ausgrenzung resultiere. Im Islam finden die Menschen religiösen Rückhalt, der zur Lebensbewältigung beiträgt, und ein soziales Netzwerk, das hilft, Individualisierungstendenzen aufzufangen (vgl. Leggewie 1993: 276). Im Verhältnis zu seiner traditionellen Form werde der Islam jedoch modifiziert durch pragmatische Lockerung, Neuinterpretation oder Verstärkung orthodoxer Auffassungen – wobei diese Veränderungsprozesse sehr modern geprägt seien. Sie seien „jedes Mal Ausfluß einer bewußten Wahl und liegen jenseits der theologischen Üblichkeiten und rituellen Selbstverständlichkeiten“ (vgl. ebd.: 281).
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ziehung einen hohen Stellenwert in ihren Vorstellungen einnimmt. Das Liebesideal wird für die Befragten zu einem Instrument der Selbstbestimmung, um gegen traditionelle Vorstellungen zu rebellieren und in ihren Beziehungen andere Werte zu installieren als die der Herkunftsgesellschaft ihrer Eltern. Insbesondere bei Jamal und Fatima ist hier auch eine Ablösung von Abhängigkeiten und ein Individualisierungsprozess erkennbar. Es hat sich gezeigt, dass selbst die vier Befragten keine einheitlichen Einstellungen in Bezug auf Geschlechterbeziehungen vertreten. Es kann also davon ausgegangen werden, dass dies erstens auch für andere Themenbereiche gilt, und dass es zweitens problematisch wäre, von „den“ Muslimen zu sprechen oder einen islamischen Konsens vorauszusetzen, weil es ihn offensichtlich schon in einer kleinen Stichprobe nicht gibt. Deutlich zeigt sich bei den Befragten auch ein Konflikt zwischen orthodoxen islamischen Auslegungen beziehungsweise dem – vermuteten – Konsens innerhalb der islamischen Gemeinschaft auf der einen Seite sowie dem Wunsch nach Anpassung an die Wertvorstellungen der Aufnahmegesellschaft auf der anderen Seite, was beispielsweise beim Themenkomplex Vorbeten einer Frau deutlich wird. Hier zeigt sich, dass patriarchale Machtstrukturen von den benachteiligten Personen – also den Frauen – selbst gefördert werden können, indem sie sich Begründungen anschließen, die ihnen offenbar die Sicherheit geben, sich im Rahmen der Normen der religiösen Gemeinschaft zu bewegen. Wie sich bei den Themenkomplexen Geschlechtertrennung und Bekleidung zeigt, fügen sich die Frauen auch in die Kontrolle der weiblichen Sexualität, weil sie dies als Schutz und Entlastung empfinden. Jedoch kann der oben beschriebene Konflikt auch zu einer Neuinterpretation der Religion führen, wobei die Befragten, sofern sie sich stark mit den Werten der Aufnahmegesellschaft wie auch islamisch begründeten Werten identifizieren, diese auf häufig sehr einfallsreiche Weise miteinander verbinden. Insofern kann für die Befragten bestätigt werden, was Natalia Diefenbach-Popov für Muslime in Frankfurt festgestellt hat: Sie haben „eine symbiotische Religionskultur deutscher Prägung geschaffen“ (vgl. Diefenbach-Popov 2007: 79). Es kommt vor, dass aus religiösen Grundlagen, insbesondere aus dem Koran, der für die Befragten als Wort Gottes höchste Autorität besitzt, Regelungen abgeleitet werden, die mit Werten der Aufnahmegesellschaft nicht kompatibel zu sein scheinen. Dies geschieht etwa in Bezug auf Scheidung, Polygamie, Huri, Gewalt gegen Frauen und die religiöse Autorität von Frauen. Wo unterschiedliche Regelungen für Männer und Frauen religiös begründet werden, aber den Werten der Gleichbehand225
lung und Gleichberechtigung zuwider laufen, die alle Befragten mehr oder weniger stark teilen, werden diese rechtlichen Unterschiede mit angeblich naturgegebenen Verschiedenheiten von Mann und Frau legitimiert. Es wird ein Grund für diese religiös gerechtfertigten rechtlichen Verschiedenheiten konstruiert, um die Glaubwürdigkeit des Korans als vollkommenes Wort Gottes zu untermauern. Dabei zeigt sich, dass einige dieser religiösen Regelungen für die befragten Gläubigen sehr konfliktreich sind, eben weil sie ihren Werten und jenen der Aufnahmegesellschaft offenbar zuwider laufen. Um ihre Glaubensvorstellungen aber rational zu rechtfertigen, was von Seiten der Aufnahmegesellschaft eingefordert wird, muss fast schon gezwungenermaßen eine wesenhafte Verschiedenheit der Geschlechter konstruiert werden. Nicht selten greifen die Befragten jedoch auf sich als flexibel erweisende religiöse Überlieferungen (Hadithen) zurück, um Koranstellen (etwa in Bezug auf Gewalt gegen Frauen) abzuschwächen oder sie neu zu interpretieren (so beim Thema Huri). In diesem Zusammenhang lässt sich die Hypothese wagen, dass sich Einstellungen, die eine grundsätzliche, natur- oder gottgegebene Verschiedenheit der Geschlechter und damit auch teilweise unterschiedliche Pflichten, Rechte und Aufgaben legitimieren, gerade dadurch so gut behaupten lassen, weil sie nicht traditionell, sondern sogar in einem hohen Maße modern sind und der neoliberalen Form von marktförmiger Männlichkeit und häuslicher Weiblichkeit entsprechen. Die islamische Ideologie wird offenbar, insofern sie auf „traditionellen“ Interpretationen beruht, durch den marktwirtschaftlichen Neoliberalismus heutiger Prägung gestützt, der auch einen Patiarchalismus impliziert. Es wäre die Aufgabe von Moscheevereinen und islamischen Theologen, Deutungen zu liefern, die Konflikte zwischen islamisch begründeten Vorstellungen und Werten der Aufnahmegesellschaft zu bewältigen helfen. Offenbar tragen manche Moscheevereine schon jetzt dazu bei, so wie sie auch insgesamt eine wichtige Rolle bei der Vermittlung von Werten und Normen zu spielen scheinen. Insofern erscheint es angeraten, die religiöse Bildung in Moscheevereinen staatlicherseits nicht zu verteufeln, sondern vielmehr zu fördern und die Vereine als Teil der pluralistischen Gesellschaft zu Bündnispartnern der Integration zu machen. Gleichzeitig erscheint islamischer Religionsunterricht in Schulen wichtig, um diesen Prozess der Angleichung von Werten der Zivilgemeinschaft an Wertvorstellungen der islamischen Gemeinschaft beziehungsweise alternative Koranauslegungen und Deutungen von Hadithen zu fördern.121 121
Die Umsetzung wird freilich durch ein Paradox erschwert. „Den Muslimen“, die sonst so häufig als Einheit dargestellt werden, wird die mangelnde Einig-
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Es kann davon ausgegangen werden, dass Muslime der zweiten Einwanderergeneration solche Deutungen gerne annehmen würden, die konform mit Werten der Aufnahmegesellschaft wären, weil sie teils händeringend danach suchen, um ihr Denken und Handeln in Einklang zu bringen. In einem staatlichen Religionsunterricht müssten verschiedene Auslegungsmöglichkeiten aufgezeigt werden, damit das Gefühl der Deutungsfreiheit bestärkt wird. Gleichzeitig darf die Religion nicht verunglimpft werden, weil sie einen wichtigen sozialen Halt bietet. Wie die Interviews vermuten lassen, ist es nicht mangelnde Anpassungsbereitschaft, die die Befragten in Denkgewohnheiten verharren lässt, welche gemeinhin als unvereinbar mit Aufnahmegesellschaft angesehen werden, sondern die Angst vor einem Verlust von Zugehörigkeit und Identität. Es ist eine Aufgabe der islamischen Theologie, den in Deutschland aufgewachsenen Muslimen Deutungen anzubieten, die mit beiden „Welten“ vereinbar sind. Dies würde Muslime, die sich von Traditionen abgrenzen, die mit Werten der Aufnahmegesellschaft unvereinbar sind, auch in der Auseinandersetzung mit ihren muslimischen Mitmenschen bestärken. So könnten sie gleichsam als Katalysatoren für die Wahrnehmung von Gemeinsamkeiten innerhalb der muslimischen Gemeinschaft und der Aufnahmegesellschaft wirken. Ein Zugehörigkeitsgefühl zu der islamischen Gemeinschaft ist ein Identitätsbezug, der nicht automatisch eine Abgrenzung von „westlichen Werten“ bedeutet, wie sich deutlich gezeigt hat, sondern von den Individuen in Synthese zu ihrem Bezug zur Aufnahmegesellschaft gebracht werden muss. Diese Synthese müssten muslimische wie nichtmuslimische Institutionen fördern, damit es – von beiden Seiten – nicht zum Rückzug und zur Abgrenzung von Werten und Einstellungen sowie zum Beharren auf Andersartigkeit kommt. keit zum Hinderungsgrund für die Anerkennung als Religionsgemeinschaft gemacht, was die Voraussetzung für staatlichen Religionsunterricht wäre. So schreibt Ursula Spuler-Stegemann: „Der Anerkennung der islamischen Religionsgemeinschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts steht die mangelnde Einigkeit unter den Muslimen entgegen. (...) Die Muslime müssen sich auf eine Repräsentanz (Hervorhebung im Original) einigen können, einen ,Lebensverband' auf religiöser Grundlage mit einem Mindestmaß an ,amtlicher' Organisation.“ (Spuler-Stegemann 1998: 223) Die mangelnde Einigkeit wird hier nicht als schätzenswerte Vielfalt der Meinungen, sondern als „Mangel“ gewertet, gemessen an den deutschen Rechtsgrundlagen. Paradoxerweise führt das dazu, dass nur die in Verbänden organisierten Muslime im Koordinierungsrat der Muslime vertreten sind, wodurch orthodoxe Meinungen dominieren. Auch die muslimische Frauenrechtlerin Seyran Ates hat den Koordinierungsrat als unbrauchbares Instrument kritisiert, da sich dadurch nur maximal 15 Prozent der Muslime repräsentiert fühlten: „Verbände können nicht für mich sprechen, zumal wenn dort Männer bestimmen wollen, was der Islam ist.“ (epd-Artikel vom 25.4.2007)
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Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch, dass die Befragten ausnahmslos von rassistischen Prozessen betroffen sind, die sich bei den Männern vielfach am Vollbart und bei den Frauen am Kopftuch festmachen. Die Zuschreibung von außen als Muslime bewirkt, dass sich die Befragten stärker mit dem Islam auseinandersetzen. Sie werden gezwungen, sich zu positionieren, wobei sie aber nicht mit nationalen Zugehörigkeiten „antworten“, sondern mit der Hinwendung zur Religion. Sie entziehen sich dabei gewissermaßen dem „Wir“ der „Ausländer“, indem sie sich als Muslime definieren. Dabei charakterisieren sie den Islam als anti-nationalistisch und nicht an einen Ort gebunden. Der Islam macht die Befragten zu „Weltenbürgern“ und ermöglicht somit die Konstruktion eines neuen Identitätsraumes, unabhängig von nationalen Zuschreibungen und damit auch unabhängig von Wertvorstellungen, die diesen nationalen Räumen zugeordnet werden.122 Insofern bietet die Religion einen spirituellen Halt und ermöglicht vielfach die Legitimation für die Ablösungen von Traditionen der Eltern, die als unvereinbar mit Werten der Aufnahmegesellschaft verstanden werden. In der Religiosität der Befragten kommt also nicht eine Integrationsunwilligkeit, sondern vielmehr eine Bejahung der deutschen Gesellschaft und ihrer Werte zum Ausdruck. Außerdem hilft ihnen die Religion offenbar, eine in sich „geschlossene“ Identität zu formen und Konflikte zu bewältigen. Die Befragten erfahren durch die Hinwendung zum Islam eine persönliche Verbesserung und Stabilisierung ihrer Lebenssituation und finden Argumente, um sich gegenüber Zuschreibungen und Fragen von Nichtmuslimen zu behaupten. Es stellt sich, wie sich am Rande der Untersuchung in Bezug auf Fatima gezeigt hat, insofern auch als problematisch dar, wenn nichtmuslimische Beratungsstellen die Identifikation mit dem Islam als Halt für die Hilfesuchenden und die damit verbunden Wertvorstellungen nicht ernst nehmen und die Betroffenen stereotyp als Opfer darstellen. Sie könnten dadurch eher abschreckend als helfend wirken. Eine Beschäftigung geschulter Muslime in Beratungsstellen oder eine Vernetzung mit Moscheevereinen bei der Beratung insbesondere von muslimischen Frauen 122
Die Selbstbezeichnung der Befragten als Muslime kann nur im Verhältnis zum Nicht-Muslimisch-Sein und zu den Klischees über Muslime begriffen werden. Das Muslimische ist die Konstruktion eines neuen Erfahrungsraums, wie sie auch von Mark Terkessidis beschrieben wurde. Anhand seiner Studie von Migranten der zweiten Generation, stellte er fest, dass sich die Befragten in einem Prozess der „Subjektivierung“, der „permantenten Auseinandersetzung“ befinden, „und dabei schaffen sie einen neuen Raum für sich, in dem ,Heimat', Herkunft, Tradition, Kultur etc. eine völlig neue Bedeutung erhalten. Es wäre wichtig, dass diese aktive Herstellung von neuen Lebensformen gewürdigt wird und als Ansatzpunkt dient.“ (Terkessidis 2004: 213).
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erscheint sinnvoll, um Vertrauen zu schaffen und nicht einen Rückzug in familiäre, traditionelle und unausgebildete Kreise zu fördern. Dadurch könnten die Integration in und das Vertrauen zu Institutionen der Aufnahmegesellschaft gefördert werden. Weiterhin sollte in der öffentlichen Diskussion berücksichtigt werden, dass Meinungen wandelbar sind, was sich auch bei der vorliegenden Untersuchung gezeigt hat, da die Prozesshaftigkeit berücksichtigt wurde. Einstellungen und Werte wachsen in der gegenseitigen Interaktion. Es scheint daher auch nicht sinnvoll, etwa Muslime durch Ausschließungsmechanismen, wie sie in Bezug auf das Kopftuch wirksam werden, von einer pädagogischen Funktion abzuhalten, da sich schon im Rahmen der Ausbildung und der Interaktion mit Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft traditionelle Vorstellungen der Herkunftsgesellschaft zugunsten von solchen der Aufnahmegesellschaft auflösen können. Der Kontakt zu Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft, etwa im Rahmen einer beruflichen Ausbildung, ist auch wichtig, um gegenseitiges Misstrauen abzubauen. Vor diesem Hintergrund erscheint es wichtig, jungen Leuten mit Migrationshintergrund Ausbildungsplätze zu garantieren. Es wäre auch ein Schritt aufeinander zu, muslimischen Frauen mehr Freiheiten für die Berufs- und Freizeitgestaltung zu ermöglichen, etwa durch FrauenSchwimmstunden in öffentlichen Bädern, aber auch die Akzeptanz von Frauen mit Kopftuch als Erzieherinnen oder Lehrerinnen, um Schnittstellen mit der Aufnahmegesellschaft zu schaffen und Freiräume, die sich die Frauen teilweise schwer erkämpft haben, nicht wieder zu verschließen. Die Aufnahmegesellschaft kann dabei unter Umständen von der kulturellen und religiösen Kompetenz dieser Frauen auch profitieren. Wie sich gezeigt hat, kann es vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion um Werte in Deutschland nicht darum gehen, kulturelle Unterschiede oder solche zwischen Muslimen und Nichtmuslimen gewissermaßen „wegzudiskutieren“ oder zu negieren. Auch liegt es der Verfasserin fern, tatsächliche Unterdrückungen oder Zwangsverheiratungen, Ehrenmorde, Beschneidung und ähnliche Gewaltverbrechen zu bagatellisieren. Es sollte jedoch deutlich geworden sein, dass im Bewusstsein der Existenz einer neuen Ausdrucksform von Rassismus eine besondere Sensibilität für die Art und Weise vonnöten ist, in der diese Unterschiede, sofern vorhanden, thematisiert werden. Sie dürfen nicht als etwas Natürliches gesehen werden, sondern müssen – wie es Terkessidis ausdrückt – „in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext artikuliert
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werden und in diesem Kontext auch ihre Relevanz erhalten“ (Terkessidis 2004: 212).123 Da im Rahmen der vorliegenden Untersuchung lediglich Befragte ausgewählt wurden, die im Umfeld einer international ausgerichteten, deutschsprachigen Moschee verkehrten, könnte ein Vergleich mit Werten und Einstellungen von Muslimen im Umfeld national ausgerichteter, nicht deutschsprachiger Moscheen zusätzliche Erkenntnisse bringen. Von Interesse wäre auch ein Forschungsvorhaben, das die Werte und Einstellungen in Bezug auf das Geschlechterverhältnis innerhalb verschiedener Generationen von eingewanderten Muslimen untersucht, vielleicht sogar innerhalb derselben Familien. Um nicht ein Bild von Muslimen als „den Anderen” zu verfestigen, das möglicherweise erst dadurch konstruiert wird, dass man „Problemfälle“ untersucht, und um die Rolle der Religion genauer zu bestimmen, wären vergleichende Studien mit Angehörigen anderer religiöser Gruppen oder Atheisten anzuraten. Vielleicht würde man dort ähnliche Vorstellungen von angeblich naturgegebenen oder wesenhaften geistigen beziehungsweise emotionalen Unterschieden zwischen Mann und Frau finden.124 Am Rande der Untersuchung zeigte sich, dass es ein Defizit bei Beratungsstellen in Bezug auf den Umgang mit muslimischen Mädchen geben könnte. Auch hier wären weitergehende Forschungen nötig.
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Auch Ursula Boos-Nünning weist darauf hin: „Gut oder richtig (bzw. vorsichtiger ausgedrückt: funktional für die Anforderungen der Industriegesellschaft) sind Werte, Normen und Orientierungen der Majorität, schlecht, bemitleidenswert, dysfunktional die Vorstellungen der anderen, der Minderheiten.“ (Boos-Nünning 1999: 37) Eigenschaften und Einstellungen, die diesen „Anderen“ zugeschrieben werden, würden als Grund für ihre Ablehnung und Aussonderung angeführt. Damit werde die Ausgrenzung dieser Gruppe legitimiert, was es erlaube, „das durch das Ausländerrecht gestützte völkische Staats- und Kulturverständnis aufrechtzuerhalten“ (ebd.).
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Darauf lassen nicht nur die Popularität von Büchern wie „Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken“ schließen, sondern auch aktuelle naturwissenschaftliche Debatten. So beschrieb die US-amerikanische Neuropsychiaterin Louann Brizendine jüngst Männer und Frauen als hormongeprägte Wesen, die sich in ihrer Gehirnstruktur wesentlich unterscheiden (vgl. von Bredow 2007).
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Glossar Al-hamdu-li-llah
Arabisch für „Lob sei Gott“
Allahu ‘alem
Arabisch für „Gott weiß (es am besten)“
Baraka
Arabisch für „Segen“
Dawa
Information bzw. „Einladung“ zum Islam
Djinn
Dämon, Geist
Dschannat
Arabisch für „Paradies“
Fatwa
Islamisches Rechtsgutachten, das von religiösen Autoritäten herausgegeben wird
Hadith
Überlieferungen über Aussagen und Handlungen des Propheten Muhammad
Hadj
Pilgerreise nach Mekka
haram
Arabische Bezeichnung für aus religiösen Gründen Verbotenes
Hijab
Arabisch für „Vorhang, Schleier“; bezeichnet das Kopftuch
Huri
Jungfrauen, die der Koran Männern im Paradies verspricht
Imam
Vorbeter beim islamischen Gebet
Iman
Arabisch für „verinnerlichter Glaube“
Isha
Nachtgebet (eines der fünf täglichen Pflichtgebete)
Insha Allah
Arabisch für „So Gott will“
Jalabib
langes Übergewand für Frauen
Magrib
Abendgebet (eines der fünf täglichen Pflichtgebete)
Masha Allah
Arabisch für „Gott sei Dank“
Miswak
Stöckchen vom Arak-Baum, das in arabischen Ländern als Zahnbürste verwendet wird
Nikab
Gesichtsschleier
Ramadan
Neunter Monat des islamischen Jahres, in dem von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang gefastet wird 241
Salat
Fünf liturgische Gebetszeiten im Islam
Salei Salam
Abkürzung der arabischen Wendung für „Der Segen und Friede Allahs sei mit ihm”, geläufige Wendung unter Muslimen, wenn der Name des Propheten Muhammad genannt wird
Schahada
Glaubensbekenntnis, das besagt, dass es nur einen Gott gibt und Muhammad sein Prophet sei
Scharia
Gesetzeskodex, der Vorschriften enthält, die islamische Gelehrte aus Koran und Sunna abgeleitet haben
Shaitan
Arabisch für „Teufel”
Subhana Allah
Arabisch für „Ehre sei Gott”
Sunna
überlieferte Worte und Taten des Propheten Muhammads und der „vier rechtgeleiteten Kalifen“
Talag
Arabische Bezeichnung für die Ehescheidung/Verstoßungsformel
Tschador
Schleier, der den gesamten Körper bedeckt
Umma
arabisch für „Gemeinschaft“, „Volk“; zumeist auf die Gemeinschaft der Muslime bezogen
Zakat
jährliche Entrichtung von Almosen an Bedürftige
Zina
arabisch: Unzucht, Ehebruch
242
Abkürzungen und Zeichen (!)
Hinweis auf Rechtschreibfehler im Original
(...)
Auslassung eines Satzes oder Satzteils
Anmk. d. V.
Anmerkung der Verfasserin
bspw.
beispielsweise
d.h.
das heißt
ebd.
ebenda
ff.
fort folgend
Hrsg.
Herausgeber/in
Nr.
Nummer
S.
Seite
Sek.
Sekunde
usw.
und so weiter
unverst.
unverständlich
vgl.
vergleiche
z.B.
zum Beispiel
243
Notationen der Transkription :, ::, :::
Vokaldehnung, die über die erwartete Länge des Vokals hinausreicht (je nach Länge der Dehnung ein, zwei oder drei Doppelpunkte)
‘ (Glottalverschluss)
nicht beendetes Wort
(.)
kurze Sprechpause, etwa bei Wortwiederholungen
(-), (--), (---)
längere Sprechpause mit geschätzter Dauer von ein bis zwei Sekunden
(3)
geschätzte Sprechpause in Sekunden
,
leise Äußerung innerhalb der Zeichen
,
laute Äußerung innerhalb der Zeichen
,
auffallend hohe Stimmlage innerhalb der Zeichen
,
auffallend tiefe Stimmlage innerhalb der Zeichen
,
lachend ausgesprochenes Wort oder Satzteil
(grinst)
parasprachliche Vorgänge oder Handlungen
[Kommentar]
vom Transkribierenden eingefügter, interpretierender Kommentar oder Zusatz im Sinne der Verständlichkeit des Gesagten
[unverst., x Sek.]
Länge eines nicht verständlichen Interviewteils in Sekunden
{Erklärung}
Begriffserklärung
244
Danksagung Ich danke den Interviewpartnern für ihre offenen und ausführlichen Antworten, die für diese Untersuchung die Grundlage bilden. Gleichzeitig hoffe ich, dass meine Interpretation der Lebenswirklichkeit der Befragten so nahe gekommen ist wie möglich. Meinen Professoren, Kollegen, Eltern, Freunden sowie den Mitarbeitern des Verlags danke ich für ihre wertvollen Hinweise und Anregungen, die aus der Studie ein Buch entstehen ließen.
245