John G. Bennett
Transformation oder die Kunst sich zu wandeln
Die englische Originalausgabe erschien 1978 unter dem T...
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John G. Bennett
Transformation oder die Kunst sich zu wandeln
Die englische Originalausgabe erschien 1978 unter dem Titel Transformation im Verlag Coombe Springs Press, Sherborne, Gloucestershire
Ins Deutsche übertragen von Gabriele Kuby
l. Auflage 1978 2., verbesserte Aullage 1981
© 1978 by the Estate of J.G.Bennett © der deutschen Ausgabe 1978 by Ahorn Verlag Wolfgang Furth-Kuby, Weidgarten 2, D-8091 Soyen Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages. Graphische Gestaltung: Martin Benkler Umschlagentwurf: Designgruppe Flath + Frank, München Gesetzt auf Compugraphic Editwriter 7500 Druck: Fuldaer Verlagsanstalt Printed in Germany ISBN 3-88403-001-9
»Es scheint geradezu das Ziel unserer Gesellschaft zu sein, die Menschen der Verantwortung für ihr Leben und Handeln zu entheben. Der Weg der Transformation muß das genaue Gegenteil sein. Wohin er uns sonst auch führen mag, er muß uns zu freien, verantwortlichen Individuen machen, die fähig sind, ihr Leben im Einklang mit dem größten objektiven Wohlzugestalten.«
INHALT
Vorwort
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EINLEITUNG
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Kapitel eins
DIE VIER QUELLEN 1. Lernen 2. Innerer Kampf 3. Opfer 4. Hilfe
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Kapitel zwei
NOTWENDIGES WISSEN 1. Der menschliche Körper 2. Der 'Mind' - Zentren und Energien 3. 'Mind' und Seele 4. Die universalen Gesetze
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Kapitel drei
KOMMUNIKATION 1. Zuhören 2. Sprache 3. Wortlose Kommunikation
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Kapitel vier
SUCHEN UND FINDEN 1. Ziele und Zwecke 2. Drei Wege der inneren Arbeit 3. Stufen der Transformation 4. Leitung und Fortschritt
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Kapitel fünf
DER KÖRPER ALS INSTRUMENT DER TRANSFORMATION 1. Das richtige Verhältnis zum Körper 2. Entspannung 3. Ernährung und Fasten 4. Körperhaltung — Hatha Yoga 5. Rhythmische Bewegungen und rituelle Tänze 6. Die Stop-Übung 7. 'Es arbeitet' — Das Wirkenlassen höherer Energien 8. Atemübungen 9. Sexualität und der große Akkumulator
Kapitel sechs
HARMONISCHE ENTWICKLUNG 1. Die Konstruktion des Menschen 2. Selbst-Beobachtung und Selbststudium 3. Drei grundlegende Illusionen 4. Die vier Ebenen des Selbst 5. Rollen — bewußte und unbewußte
John G. Bennett gilt als einer der wichtigsten Lehrer der Gurdjieff-Ouspensky-Tradition. Dennoch hat er nach Gurdjieffs Tod nicht aufgehört zu suchen, und sein Weg hat ihn mit anderen Schulen und bedeutenden Lehrern in engen Kontakt gebracht. Bennetts Leben war der Transformation gewidmet, doch zugleich hat er ein äußerst aktives berufliches Leben geführt. Er war Mathematiker mit langjähriger Erfahrung als Leiter industrieller Forschung. Seine veröffentlichten wissenschaftlichen Arbeiten reichen von mathematischer Physik bis zur Behandlung und Verwendung von Kohle. Während des ersten Teils seines Lebens verband er seine naturwissenschaftliche Arbeit mit der Erforschung asiatischer Sprachen und Religionen. Dies führte ihn auf ausgedehnten Reisen in den mittleren und fernen Osten. Später gab er seine rein wissenschaftliche Arbeit auf, um Direktor des Institute of the Comparative Study of History, Philisophy and the Sciences zu werden. In dieser Eigenschaft leitete er viele Jahre grundlegende Forschungen und Studiengruppen mit dem Ziel einer Versöhnung von Wissenschaft und Religion. In den letzten Jahren seines Lebens gründete er die International Academy for Continuous Education in Sherborne, Gloucestershire, England, deren Leiter er bis zu seinem Tod im Dezember 1974 war.
Vorwort f n der Einleitung zu diesem Buch bemerkt der Autor, daß zum -•-Zeitpunkt des Schreibens zwanzig Jahre vergangen seien, seit er 1948 zu Gurdjieff zurückgekehrt sei. Das bedeutet, daß das Manuskript 1968 verfaßt wurde, was mit einer handschriftlichen Datierung 1963 in Widerspruch steht. Der Autor pflegte mit solchen Angaben exakt zu sein, aber andere Stellen im Text bestätigen das spätere Datum. So finden sich häufig Hinweise, daß die Arbeit an den letzten beiden Bänden III und IV seines Hauptwerkes The Dramatic Universe* beendet sei. Diese sind 1966 und 1967 erschienen. Damit steht das Buch an einem sehr bedeutsamen Punkt im Leben des Autors: am Übergang zwischen der Vollendung einer Phase und dem Beginn einer neuen. 1968 hatte er schließlich die Arbeit beendet, die er sich als Lebensaufgabe gestellt hatte: die Verfassung eines magnum opus, das die Synthese des menschlichen Wissens anstrebte. Er hatte ein komplexes und schwieriges Werk geschaffen, von dem er hoffte und glaubte, daß es für zukünftige Generationen von Wert sein würde. Er hatte absolut kein Interesse, eine Arbeit zu verfassen, die in der literarischen oder wissenschaftlichen Welt modisches Aufsehen erregen würde, und die vier Bände von The Dramatic Universe zogen wenig Aufmerksamkeit auf sich. Diese Aufgabe war nun also beendet und er war siebzig Jahre alt — ein Alter, das für den Rest seines Lebens ein besonderes Versprechen enthielt.** Es gibt viele Gründe, die die Vermutung nahelegen, daß er zu dieser Zeit ernsthaft über den Gang seines bisherigen Lebens und die Stufen seiner eigenen Transformation nachzudenken *The Dramatic Universe, J.G. Bennett, Bd I - IV, Hodder & Stoughton, London 1956-1966; Nachdruck Coombe Springs Press 1977. ••Vgl. Witness, Autobiographie von J.O. Bennett, Turnstone Books, London 1974, S. 78.
begann. Er hat nie versucht, die vielen Fehler und vergeblichen Anläufe zu verbergen; vielmehr sagte er von sich, daß er unnötig lange gebraucht habe, um zu gewissen Verwirklichungen und Stufen zu gelangen. Er hatte jedoch das ungewöhnliche Glück, einer Reihe bedeutender Menschen zu begegnen und von ihnen Hilfe zu bekommen: Gurdjieff, Ouspensky, Shivapuri Baba, um nur drei zu nennen. Er war gerade damit fertig geworden, sich über viele schwer zu fassende Ideen über die Natur des Menschen und seine mögliche Transformation Klarheit zu verschaffen; er konnte sehen, wie weit er selbst auf dem Weg der Transformation vorangeschritten war, und sicherlich sah er tiefer als jemals zuvor, mit der besonderen Freiheit und intellektuellen Klarheit, die sich mit der Vollendung eines großen schöpferischen Werkes einstellen. Das vorliegende Buch erweckt den Eindruck, daß er aufzeichnen wollte, was von allem, das er gelernt hatte, wirklich wichtig war — so einfach und konkret ausgedrückt, daß es unmittelbare Wirkung haben könnte. Der Weg, den er dazu wählte, ist das Prinzip der Tetrade, ein System mit vier Variablen, das C. G. Jung und andere so sehr interessiert hat. Seine eigenen Forschungen hatten ihn davon überzeugt, daß zu jedem Transformationsprozeß notwendigerweise vier Quellen gehören. Diese Entdeckung drückt in ihrem Kern dieselbe Einsicht aus, zu der der späte Aristoteles mit seinem Begriff der vier aitiai kam. Man kann sagen, daß Bennetts philosophisches Werk zu Aristoteles in einem ganz ähnlichen Verhältnis steht wie das Mathnawi von Rumi zu Aesops Fabeln. Mit mehrwertigen Systemen zu arbeiten, birgt besondere Probleme. Es ist schwer, mit der tatsächlichen Situation, um die es geht, in Kontakt zu bleiben und gleichzeitig die verschiedenen Elemente des Systems in ihrer Wirkung zu erkennen. Der Autor beschreibt die wesentliche Rolle der vier Elemente der menschlichen Transformation. Er stellte sich die Aufgabe, diese Rollen durch Rückgriff auf seine eigene direkte Erfahrung zu klären, und im ersten Kapitel dieses Buches gelingt ihm das großartig. Dieses Kapitel vermittelt den wahren Charakter von dem, was 'Arbeit an sich selbst' heißen kann — vielleicht besser ausgedrückt als irgendwo sonst in seinen Schriften —, und gibt direkte Anleitung, wie man an sie herangehen kann.
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Vorwort
Besonders die Abhandlung über das Opfern führt zu neuen Einsichten, der Wirrwarr bestehender Ideen wird mit einem Schlag beseitigt und die Anatomie des Wesens des Opferns kommt zum Vorschein. Damit sind wir schon beim Buch selbst angekommen. Es empfiehlt sich zu bedenken, welche Ziele der Autor damit hatte, welche Vorstellungen von seinem Zweck und seiner Funktion und warum es nie beendet wurde. Sein Ziel war, wie immer, sehr hoch gesteckt. Er glaubte — wie im Text deutlich wird —, daß das Buch für andere, die sich wie er selbst auf dem Weg der Transformation befinden, von wirklichem praktischen Nutzen sein kann. Er greift freimütig auf seine eigenen Erfahrungen zurück, wie sie sich seiner an Tiefe gewonnen Einsicht darstellen. Er versucht in diesem Buch jene wesentlichen Erkenntnisse mitzuteilen, die er während seiner jahrelangen Suche selbst als hilfreich empfunden hätte. Aber in seiner Vorstellung von der Funktion des Buches hatte er eine sehr kühne und radikale Idee: Er glaubte anfänglich, die eigentlichen Techniken der Transformation vermitteln zu können. Weil er erkannte, daß dieses Ziel mit dem geschriebenen Wort nicht erreicht werden kann, legte er das Buch nach den ersten sechs Kapiteln zu den Akten. Tatsächlich ist ja auch die gesamte Überlieferung dagegen. Ein religiöses Manual wie die Philokalia beschreibt zwar Techniken, aber sie sollen unter Anleitung eines geistigen Lehrers gebraucht werden, wie aus dem berühmten Buch Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers klar hervorgeht. In einem Artikel, den er selbst 1969 schrieb im Zusammenhang mit einer Übersetzung eines Manuals der Naqshbandi Sufis, genannt Tanwir al-QuIub*, sagt er: "Es wird oft auf die Schaffung geistiger Bilder Bezug genommen, aber die eigentliche Technik wird anscheinend nur im persönlichen Kontakt vermittelt. Sie kann mit Worten nicht adäquat beschrieben werden, wahrscheinlich weil die Übermittlung einer Art telepathischer Kommunikation zwischen dem Lehrer und dem Schüler bedarf. Das gleiche gilt für vkr oder Meditation..." •Sufi Spiritual Techniques. J.G. Bennett, in: Systvmatics. Bd 7, Nr. 3, Dez. 1969, S. 244ff.
Vorwort
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Man könnte fragen, warum er sich überhaupt an eine solche Aufgabe gemacht hat, wenn er das wußte. Eine Antwort wäre, daß er nicht ein Mann war, der vor einer Aufgabe zurückschreckte, nur weil ihm jemand gesagt hatte, sie sei unmöglich. Er pflegte sich von Dingen in eigener Erfahrung zu überzeugen. So begann er das Buch wohl mit der Annahme, daß es ihm vielleicht zu dieser Zeit und an diesem Ort gelingen könnte. Er hatte eine besondere Begabung, Dinge zu vermitteln, und war zweifellos überzeugt, daß er Hilfe empfangen würde, wenn er zu einer Arbeit bestimmt wäre. Das obige Zitat läßt vermuten, daß er ein Jahr später erkannt hatte, daß die Aufgabe nicht zu verwirklichen sei. Das einzige vorhandene Schreibmaschinen-Manuskript enthält viele Hinweise auf spätere Kapitel, die nie geschrieben wurden; in eben diesen Kapiteln sollten die Techniken der Transformation dargestellt werden. An anderer Stelle sagt er, daß sich der Beitrag eines Lehrers bei der Anleitung zu geistigen Übungen nicht auf die mündliche Vermittlung beschränke.* Der Leser mag nun die Frage stellen, warum ein Buch, das unvollständig ist und das wichtigste Ziel, um dessentwillen es geschrieben wurde, nicht erreicht, überhaupt publiziert wird. Die Antwort ist, daß das Buch — selbst in seiner unvollständigen Form — viel enthält, das frisch und originell ist. Der Leser wird darin Einsichten und Gesichtspunkte finden, die auf viele Ideen und Tatsachen ein neues Licht werfen, deren Verständnis für jene, die ihre eigene Transformation erstreben, von wirklicher Bedeutung ist. Einige der biographischen Rückgriffe erscheinen beinahe brutal in ihrer faktischen Wahrheit und es ist gut möglich, daß der Autor sie bei einer Revision des Textes etwas gemildert hätte. Die übrigen Ziele des Buches werden erreicht — trotz seiner Unvollständigkeit. Schließlich ist dem Buch eine besondere Lebendigkeit und Intensität eigen. Der Optimismus und Schwung, mit dem es beginnt, lassen die Hoffnungen erkennen, die der Autor auf die Wirkung des Buches setzte. Man kann sich vorstellen, mit welchem Gefühl der Freiheit er sich nach Jahren der äußerst mühevollen Arbeit an The Dramatic Umverse diesem neuen Buch zugewandt hat. Große Teile sind fast in •Siehe The Sevenfold Work, J.G. Bennett, Coombe Springs Press 1975, S. 76.
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Vorwort
einem Gesprächston geschrieben, wodurch sich das Buch gut zum Vorlesen eignet — wie das 1976 während des Sommerkurses in Sherborne geschah. Der Eindruck, den das Buch bei den Zuhörern hinterließ, war mit ein Grund für seine Veröffentlichung. Da das maschinengeschriebene Manuskript nur eine erste Fassung ist, ließ sich ein gewisses Maß an Überarbeitung nicht vermeiden. Einige der Kapitelüberschriften und Untertitel wurden neu formuliert und zwei Abschnitte umgestellt. Soweit textliche Änderungen vorgenommen wurden, dienten sie der Klärung der Absichten des Autors. Hinweise auf Kapitel, die nie geschrieben wurden, sind entweder ganz herausgenommen oder durch Fußnoten ersetzt worden, die den Leser auf einschlägiges Material in anderen veröffentlichten Werken des Autors verweisen. Zitate wurden, soweit wie möglich, überpüft und korrigiert, wo es notwendig schien, und Fußnoten und der Gebrauch kursiver Schreibweise standardisiert. Bemerkung zum Gebrauch des Buches Obwohl Beschreibungen von Übungen, die wirklich eines Lehrers bedürfen, in diesem Buch nicht enthalten sind, wird der Leser immer wieder Vorschläge zu bestimmten Experimenten finden. Sie werden großen Nutzen daraus ziehen, wenn Sie tatsächlich versuchen, sie auszuführen. Sie werden nichts oder weniger als nichts gewinnen, wenn Sie nur darüber lesen. Es ist ein Fehler, irgendwelche Behauptungen, die in einem Buch dieser Art gemacht werden, als Tatsachen hinzunehmen, ohne wenigstens den Versuch gemacht zu haben, sie kritischer Prüfung zu unterziehen. Man wird manchmal selbst auf nützliche Übungen kommen, wenn man sich die Frage stellt: "Wie kann diese Aussage verifiziert werden?" Ebenso wichtig wie die Aufnahme dessen, was gesagt wird, ist es an vielen Stellen des Textes, sich über seine eigenen Ideen und deren Grundlage Klarheit zu verschaffen. Beeilen Sie sich nicht zu sehr, zum Ende des Buches zu gelangen. Vieles von dem, was es enthält, ist das Destillat von fast fünfzigjähriger Lebenserfahrung, ungewöhnlich reichhaltig wie sie war. Es lohnt sich darüber nachzusinnen.
Vorwort
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EINLEITUNG
D
ieses Buch handelt von Transformation, das heißt von dem Prozeß, durch den ein Mensch die Grenzen seiner eigenen Natur überschreiten und ein 'neuer Mensch' werden kann. Ich gehe davon aus — ohne daß ich versuche Belege vorzuweisen, die diese Annahme rechtfertigen —, daß wir alle in uns den Drang nach Selbstvervollkommnung spüren und daß es gerade dieser Drang ist, der den Menschen vom Tier unterscheidet. Der Wandel in einem Menschen, der durch Transformation entsteht, ist oft in religiösen und nichtreligiösen Begriffen beschrieben worden. Ich werde nicht damit anfangen, das Ende dieses Weges zu diskutieren — wenn es überhaupt ein Ende gibt —, denn ich glaube, daß der Transformationsprozeß, wenn er einmal begonnen wurde, seinem Wesen nach endlos ist. Der Zweck dieses Buches ist es, verschiedene Wege zu beschreiben, die ich in fünfzig Jahren eigener Suche erprobt habe. Ich behaupte nicht, daß dies eine erschöpfende Abhandlung oder Methode sei, denn es gibt andere Wege, von denen ich gehört habe, die ich aber nicht selbst gegangen bin, und zweifellos noch viele weitere, von denen ich nichts weiß. Jedoch durfte ich mehreren Männern und Frauen begegnen, deren Leben die Möglichkeit der Transformation bezeugt und von denen ich die meisten Techniken lernte, die ich hier beschreiben werde. Ich hoffe, daß es mir gelingt, theoretische Erörterungen zu vermeiden. Dazu verweise ich den Leser auf meine früheren Bücher.Ich will Erfahrungen mitteilen, die mir auf verschiedenen Stufen meines Lebens geholfen haben. Aber ich muß den Leser warnen, der versuchen will, die hier beschriebenen Methoden anzuwenden, denn was für den einen gut ist, braucht für einen anderen nicht geeignet zu sein. Darüberhinaus sollten einige der Methoden nur mit
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dem Rat und unter der Aufsicht eines Experten angewendet werden. Schließlich muß ich betonen, daß erfahrungsgemäß nichts so leicht mißverstanden wird wie die Beschreibung innerer und psychologischer Prozesse. Diese Warnungen und Einschränkungen könnten vermuten lassen, ich hätte nicht allzu viel Vertrauen in die Nützlichkeit der Methoden, die ich beschreiben will. Dazu kann ich nur sagen, daß ich oft in meinem Leben sehr dankbar gewesen wäre, wenn ich ein Buch wie das vorliegende hätte zu Rate ziehen können. Soviel ich weiß, gibt es kein modernes Werk, das sich mit dem Transformationsprozeß im allgemeinen befaßt. Es gibt eine Menge Bücher mit praktischen Ratschlägen, wie wir die eine oder andere Seite unseres Charakters verbessern können, aber das ist nicht dasselbe wie Transformation, die sich auf den ganzen Menschen beziehen muß. In Wirklichkeit ist der Mensch ein komplexes Wesen, in dem alle Teile wechselseitig aufeinander bezogen sind, so daß es unmöglich ist, einen Teil zu ändern, ohne alles zu beeinflussen. Dies ist einer der Gründe, warum man mit autodidaktischen Versuchen der Transformation in Schwierigkeiten kommt. Wir müssen bereit sein, unser ganzes Leben lang immer weiter über uns selbst zu lernen. Es ist nicht leicht, mehr zu tun, als an der Oberfläche der eigenen Unwissenheit zu kratzen. Für manche hat die Hoffnung auf Transformation schärfere Umrisse als für andere; sie werden schließlich die Lehre und Methode finden, die sie brauchen. Ihnen kann dieses Buch nützlich sein als Dokumentation eines Lebens, das mit Suchen und Experimentieren verbracht wurde. Es könnte ihnen helfen, das Wesen der Methoden zu erkennen, auf die sie stoßen. Andere sind sich zwar wohl bewußt, daß sie zu irgendeiner Form der Selbstdisziplin und zu Methoden der Selbstveränderung gelangen müssen, es ist ihnen jedoch nicht möglich, die Bedingungen irgendeiner Organisation, Kirche oder Schule, mit der sie in Berührung kommen, rückhaltlos anzunehmen. Solche Personen sind in Versuchung, den Weg allein zu gehen. Für sie kann ich nur den Ratschlag des Shivapuri Baba wiederholen, eines großen Weisen, dem ich noch kurz vor seinem Tod 1963 im Himalaya begegnen durfte: "Ein Mensch muß sich prüfen und sich selbst genau genug kennen, um zu entscheiden, ob er die Kraft, den Mut und die
Einleitung
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Durchhaltefähigkeit besitzt, um allein auf sich selbst zu vertrauen. Wenn es so ist, dann kann er ohne Lehrer auskommen und die Suche nach Wahrheit oder der letzten Wirklichkeit durchhalten, ohne Rücksicht auf das, was es ihn kostet. Sehr, sehr wenige Seelen sind dazu fähig. Ein Buddha, ein Ramana Maharshi mögen die Zielstrebigkeit besitzen, die ein Suchender haben muß, der nur auf sich selbst gestellt ist. Diejenigen, die diese Stärke nicht in sich finden können, müssen sich einen Lehrer suchen und sich seiner Leitung unterstellen. Wenn ihnen auch das nicht gelingt, sollten sie sich am besten einer Religion zuwenden." Ich hoffe, daß niemand die in diesem Buch beschriebenen Techniken und Methoden als Ersatz für Leitung und Lehre betrachtet. Es gibt Menschen, die wissen, daß sie nicht in der Lage sind, alles der Selbstvervollkommnung zu opfern. Sie sind vernünftig genug, um zu wissen, daß sie sich ohne Führung nicht ins tiefe Wasser begeben dürfen, und spüren dennoch, daß sie Techniken brauchen, um Fehler zu überwinden oder durch Lebenskrisen hindurchzukommen. Ich wäre froh, wenn sie in diesen Seiten Hilfe finden könnten. Aber sie dürfen mich nicht verantwortlich machen, wenn sie sich entschließen, eine Methode anzuwenden, ohne mit einer Person in Verbindung zu sein, die fähig ist, die Angemessenheit der Methode für ihre speziellen Bedürfnisse zu erkennen und Fehler zu korrigieren. Es gibt gewisse Übungen, die schnell zu beachtlichen Erfolgen führen und als solche nicht schädlich sind. Ich habe solche ausgelassen, bei denen die Gefahr der Selbsttäuschung besteht. Man mag glauben, große Fortschritte zu machen, weil man überwältigende innere Erfahrungen macht und anscheinend psychische Kräfte entwickelt, während man in Wirklichkeit möglicherweise nur Energien aufbraucht, die sich durch jahrelange, anscheinend nutzlose Bemühungen angesammelt haben. Ich habe oft beobachtet, daß dies zu sehr bedauerlichen Reaktionen führen kann und sogar zu psychischen Störungen, die dann nur schwer zu korrigieren sind. Diese Worte der Warnung beziehen sich nur auf einen kleinen Teil des Transformationsprozesses. Die meisten der beschriebenen Techniken können ohne Angst angewendet werden und sind höchstwahr -
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Einleitung
scheinlich von Nutzen für jene, die ohne das hochgesteckte Ziel der Transformation die Notwendigkeit spüren, Selbstdisziplin in irgendeiner Form zu üben. Mit wenigen Ausnahmen wurden mir die beschriebenen Techniken von Lehrern gezeigt, die sich in den jeweiligen Methoden spezialisiert hatten. Ich habe sie selbst ausprobiert und getestet. In mehreren Fällen konnte ich nur die ersten Stufen einer Methode lernen, denn um weiter zu gehen, hätte ich mich einem Lehrer anschließen, mich für lange Zeit in einem fremden Land niederlassen und Familie und persönliche Verpflichtungen vernachlässigen müssen. Einem Lehrer bin ich jedoch lange Zeit gefolgt — soweit ich dazu in der Lage war und er es zugelassen hat — es war Giorgios Giorgiades, allgemein bekannt als Mr. Gurdjieff, von seiner Familie und seinen Vertrauten Yorgivanitch genannt. Das erste Mal habe ich ihn 1920 in der Türkei getroffen, und zum letztenmal sah ich ihn fünf Tage vor seinem Tod am 29. Oktober 1949. Sein System für die harmonische Entwicklung des Menschen ist ein großartiges Werk, und niemand, der ernsthaft versucht hat, danach zu leben, kann an den grundsätzlichen Prinzipien zweifeln oder am Wert der Techniken, die er gelehrt hat. Es hat jedoch zwei Mängel, von denen einer mehr zufälligen Charakter hat, während der andere, wie ich glaube, die Essenz berührt. Der erste ist die Abhängigkeit von Lehrern mit entsprechender Erfahrung und persönlicher Qualität. Die Ausbildung solcher Lehrer dauert viele Jahre, und nicht alle sind bereit, die Verantwortung auf sich zu nehmen, die das mit sich bringt. Es ist mehr als fünfzig Jahre her, daß Gurdjieff in Moskau sein 'Institut für die harmonische Entwicklung des Menschen' gegründet hat, und in diesem halben Jahrhundert sind nur sehr wenige kompetente Lehrer seiner Methode hervorgetreten. Der zweite Mangel ist nicht so leicht zu formulieren. In mancher Hinsicht hing die Wirksamkeit von Gurdjieffs Methode von seiner Gegenwart ab, so daß mit seinem Tod die Triebkraft daraus entschwunden ist. Die Wirkung seiner Methode war von der Übertragung einer besonderen Energie oder Substanz abhängig, über die Gurdjieff in begrenztem Maß verfügte, die jedoch jedem aus einer unerschöpflichen Quelle zukommen sollte. Ich werde viel über diesen 'Stoff sagen müssen,
Einleitung
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dessen Vorhandensein für mich zur Gewißheit geworden ist. Er ist verglichen worden mit Wasser, das man in Eimern aus dem Fluß schöpft und mühsam zu den Pflanzen trägt; es ließe sich aber auch mit einer einmaligen Anstrengung ein Bewässerungssystem bauen; oder das Wasser, ohne das Pflanzen nicht leben können, kommt als Regen und Tau. Entsprechend dem herkömmlichen Glauben muß das innere Leben und die Transformation eines Menschen ohne diesen Stoff darben und vielleicht sogar zugrundegehen. Es wäre viel leichter gewesen, dieses Buch zu schreiben, wenn es nicht nötig gewesen wäre, auf diesen Stoff Bezug zu nehmen, oder genauer gesagt, auf diese Stoffe, die eine entscheidende Rolle im Prozeß der Transformation spielen. Ich bin jedoch davon überzeugt, daß sie der Schlüssel zum Verständnis des ganzen Prozesses sind —, und Techniken zu beschreiben, ohne auf diese Stoffe Bezug zu nehmen, ist so, als würde man einen Motor beschreiben, ohne zu sagen, daß er Brennstoff braucht. Das führt mich dazu, Subud zu erwähnen, das auf einer Technik beruht, die latihan genannt wird. Die Wirkung dieser Übung wird der 'Großen Lebenskraft' zugeschrieben. Da ich mehrere Bücher über Subud geschrieben habe*, will ich nicht im einzelnen darauf eingehen, aber ich muß einige Schlußfolgerungen erwähnen, zu denen ich nach zehnjähriger Erfahrung mit dieser Praxis gekommen bin. Bapak Muhammed Subuh, der Gründer von Subud, hat zunehmend den Wert von Wissen für die Funktion des latihans abgelehnt und darauf bestanden, daß seine Wirkung auf der direkten Intervention des göttlichen Willens beruhe. Für diejenigen, die diese Behauptung glauben können, ist die Wirkung offenkundig und machtvoll. Dieser Glaube ist jedoch nicht unbedingt notwendig. Viele haben die Wirkung des latihan erfahren, obwohl sie eingestandenermaßen an keinerlei übernatürliche Kräfte glaubten. Sicherlich haben einige hundert Menschen — verstreut in dreißig Ländern — wirklichen Nutzen aus dem Subud latihan gezogen und tun es weiterhin. Es ist aber auch erwiesen, daß es schlimme Folgen •Vgl. Conceming Subud, Hodder & Stoughton, London 1958.
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Einleitung
gegeben hat mit Geisteskrankheit und sogar Selbstmord, und außerdem viele Fälle, wo auf eine anfängliche Öffnung eine lange Phase der Passivität folgte, bis schließlich das latihan ganz aufgegeben wurde. Ich gehöre zu jenen, die sagen können, daß sie, während einer Periode von etwa drei Jahren, sehr viel durch die Praxis des latihan gewonnen haben. Danach wurde mir klar, daß das latihan keine vollständige und ausgewogene Technik ist. Zudem bin ich zu der Überzeugung gelangt, daß die Wirkung von einer spezifischen psychischen Energie herrührt, die von Person zu Person übertragen werden kann, keinesfalls jedoch einem übernatürlichen Wirken und schon gar nicht der direkten Intervention göttlichen Willens zugeschrieben werden darf. Außer den positiven persönlichen Auswirkungen, die ich anderswo beschrieben habe, verdanke ich dem latihan die feste Überzeugung, daß es Energien gibt, die von einer Person auf eine andere übertragen werden können, und daß diese Energien eine ausschlaggebende Rolle in jedem Transformationsprozeß spielen. Ich bin ihnen in verschiedener Gestalt begegnet und ich werde in diesem Buch oft auf sie Bezug nehmen. Ich habe versucht, über ihre Natur und Wirkungsweise eine Theorie zu entwickeln*, deren grundsätzliche Ideen aus der Lehre Gurdjieffs und der Sufis aus Zentralasien stammen. Die Hauptpunkte sind erstens, daß diese Energien existieren und Wirkungen in dieser Welt hervorbringen. Sie sind nicht übernatürlich, sondern natürlich. Und zweitens, daß sie von unterschiedlicher Art sind. Sie können gebündelt und konzentriert werden, sie können auch übertragen und zerstreut werden. Der Fehler von Subud liegt, wie mir scheint, darin, daß er annimmt, die Wirkung des latihan sei notwendigerweise positiv, weil es die direkte Aktion des allmächtigen göttlichen Willens darstelle. Dieser Annahme widersprechen ungezählte Tatsachen; sie steht in Gegensatz zu allen traditionellen Lehren, die sich darin einig sind, daß nur der vervollkommnete Mensch direkt unter den Einfluß des göttlichen Willens kommt. "The Dramatic Universe, Bd II, Kap. 32, und Energies, Coombc Springs Press 1964; Deutsch: Energien, Verlag Bruno Martin, Frankfurt M.
Einleitung
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Die Vorstellung von einer Großen Lebenskraft (auf Indonesisch Daja Hidup Besar) ist wahrscheinlich abgeleitet von gewissen Glaubensrichtungen fernöstlicher Völker, in deren Zentrum Mana oder der Große Geist steht. Der chinesische Glaube an das Tao hat dieselbe Quelle. Die Vorstellungen von Naturkräften, die normalerweise als 'primitiv' betrachtet werden, sind wahrscheinlich in der Realität begründet. Als ich zum erstenmal von Subud hörte und den indonesischen Botschafter in London danach fragte, versicherte er mir, daß es viele Wundertäter wie Pak Subuh in Java gäbe und sie vom Volk hoch geehrt würden. Ich zweifle, ob es noch andere gibt mit einem ebenso starken Glauben an göttliche Führung, geleitet von der Vorstellung einer universalen Mission — Überzeugungen, die Subud in der kurzen Frist von zehn Jahren über die ganze Welt verbreitet haben. Ich wünschte, ich hätte mit der Bewegung, für die soviel spricht, in Verbindung bleiben können. Der Anlaß, mich von Subud abzuwenden, war einfach der, daß ich einigen der zentralen Ansprüche von Pak Subuh nicht zustimmen konnte — insbesondere der Anspruch, daß die Praxis des latihan ausreiche, um menschliche Vollkommenheit zu erreichen, ohne daß man versuchen sollte, seine Wirkungsweise zu verstehen. Es gab eine Zeit, wo ich bereit war zu glauben, daß dies wahr sein könnte, aber wie ich im letzten Satz meines Buches Concerning Subud geschrieben habe, kann man einen solchen Anspruch nur von den Ergebnissen her beurteilen, und die Ergebnisse während eines Zeitraums von zehn Jahren haben ihn widerlegt. Es wäre großartig, wenn das Subud latihan weithin benutzt werden könnte als ein Mittel, die Verbindung zwischen den bewußten und den über bewußten Teilen der menschlichen Natur herzustellen, ohne daß man deswegen der Subud Organisation oder Bruderschaft angehören müsste. 'Nicht Dazugehören' führt zu einer wichtigen Frage. Alle, die an Transformation interessiert sind, wissen von der bemerkenswerten Leistung Krishnamurtis, der seit fast vierzig Jahren auf der ganzen Welt verkündet, daß Selbstverwirklichung (die ich Transformation nenne) möglich ist, ohne zu einer Organisation zu gehören, ohne
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Einleitung
Lehrer und Lehre. Anfang der dreißiger Jahre traf Krishnamurti mehrmals mit P.D.Ouspensky zusammen, dessen Gruppentreffen ich damals besuchte, und Ouspensky pflegte uns zu sagen, daß er noch nie einen so aufrichtigen und beharrlichen Sucher getroffen hätte. Er konfrontierte uns mit Krishnamurtis Frage: "Warum eine Schule? Warum einen Lehrer?" Ouspenskys eigene Antwort war, daß wir ohne Wissen hilflos sind und daß Wissen nur von jemandem erworben werden kann, der weiß. Ich glaube jetzt, daß die Antwort des Shivapuri Baba schlüssiger ist: "Wenn Du in Dir genügend Zielstrebigkeit findest, alles zur Seite zu stellen außer der Suche nach Wahrheit, dann geh allein; wenn nicht, mußt Du einen Lehrer finden." Ich habe einmal in einer Unterhaltung mit Krishnamurti vor etwa zwanzig Jahren eine sehr ähnliche Ansicht geäußert: "Sie berücksichtigen nicht die offenkundige Tatsache, daß Sie nie ein gewöhnlicher Mensch gewesen sind. Was für Sie möglich war, ist einfach für andere nicht möglich." Aber er wollte nichts davon hören und bestand darauf, daß jeder zu einer solchen Anstrengung fähig sei. "Manche werden langsamer gehen als andere, weil sie unentschieden sind, aber alle können Fortschritte machen, solange sie sich auf die richtige Weise darum bemühen." Es erschien mir wie auch vielen anderen, daß Krishnamurti ein wunderbarer Lehrer ist, der sich nicht Lehrer nennen will, und der eine ausgezeichnete Technik hat, die er sich weigert, Technik zu nennen. Er hat ein großes Werk vollbracht, indem er vielen tausend Menschen einen Ausweg aus der Stumpfheit des modernen Lebens gezeigt hat. Nachdem ich P.D.Ouspensky erwähnt habe, muß ich mehr über diesen bedeutenden Mann sagen. Es ist ihm gelungen, mich und Hunderte andere davon zu überzeugen, daß es möglich ist, durch Selbstbeobachtung und Arbeit an sich selbst aufzuwachen und die wahre menschliche Situation zu erkennen und zu verstehen. Obwohl er als Schüler von Gurdjieff gilt — sogar als sein Hauptschüler —, war er in Wahrheit ein origineller Denker, dessen persönliche Überzeugungen sich radikal von Gurdjieffs Lehre unterschieden, aus der er nur die Elemente entnahm, die mit seiner eigenen Weltanschauung übereinstimmten. Diese war im wesentlichen pessimistisch. Dieses Leben
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sei ein Gefängnis, in das der Mensch wieder und wieder zurückkehren müsse — nicht auf dem Wege der Wiedergeburt, sondern durch Wiederholung desselben Lebens, bis er schließlich Befreiung erlange. Der Schrecken der Existenz war beinahe eine Zwangsvorstellung für ihn. In jungen Jahren hatte er einen Selbstmordversuch unternommen — eine Episode, die in seiner autobiografischen Novelle Strange Life oflvan Osokin sehr bewegend dargestellt ist. Ouspensky war ein hervorragender Vertreter von Gurdjieffs Ideen und seinen eigenen persönlichen Überzeugungen, wenn man ihn dazu bringen konnte, davon zu sprechen. Er war ein tief religiöser Mann, der sich in heftiger Auflehnung gegen jene Religion befand, die er in seiner Jugend und bei seiner späteren Suche vorgefunden hatte. Man riskierte hinausgeworfen zu werden, wenn man den Namen Gottes in seiner Gegenwart in den Mund nahm. Sein Begriff des Absoluten, unendlich weit entfernt vom Menschen und beinahe — aber doch nicht ganz — unerreichbar für ihn, schien die Gottverlassenheit der Welt zu erklären. Er hätte vielleicht den Gott-ist-tot-Theologien unserer Zeit zugestimmt und zweifellos stimmte er mit Nietzsche überein, dessen Theorie der ewigen Wiederkehr er auf seine Weise weiterentwickelt hat. Ouspensky hat an die Realität geistiger Stoffe oder Energien geglaubt; er beschreibt, wie er ihre Wirksamkeit in seiner Kommunikation mit Gurdjieff erfahren hat. Aber er ließ jede Möglichkeit eigener Erfahrung so entfernt erscheinen, daß seine Schüler Angst hatten, über Erfahrungen zu berichten, die das Arbeiten dieser Energien bestätigt hätten. Der Unterschied zwischen seiner und Gurdjieffs Haltung gegenüber einfachem religiösem Glauben zeigt sich deutlich in ihren Büchern über das 'System': Ouspensky s Au/der Suche nach dem Wunderbaren* und Gurdjieffs All und Alles**. Während GurdJieff 'Unseren all-liebenden Schöpfer Unendlichkeit' darstellt als direkt vom menschlichen Schicksal betroffen, versichert Ouspensky, daß das Absolute nicht mehr von der Existenz der gesamten Menschheit wissen kann als wir Menschen von einem einzelnen Atom oder Elektron wissen können. "Auf der Suche nach dem Wunderbaren, P.D. Ouspensky, Barth Verlag, Weilheim Obb. 1966 und 1978. "All und Alles—Beelzebubs Erzahlungen für Seinen Enkel, 0.1. Gurdjieff, Sphinx Verlag, Basel
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Einleitung
Ouspenskys negative Haltung zur Religion hatte eine nachhaltige Wirkung auf mich, und erst als ich 1948 zu Gurdjieff zurückkehrte, fing ich an, meinen religiösen Glauben wiederzuentdecken. Und erst jetzt, zwanzig Jahre später, sehe ich, wie bedeutungsvoll das für mich war. Ich spreche davon, damit man sich ein Bild von der Schwierigkeit machen kann, mit der sich jeder unerfahrene und naive Sucher konfrontiert sieht, wenn er mit einem Lehrer zusammentrifft, dessen Wissen und Kräfte weit über seine eigenen hinausgehen. Wo der Lehrer nicht auf Glaubensbekenntnisse aus ist, sondern im Gegenteil verlangt, daß seine Schüler nichts akzeptieren, was sie nicht in ihrer eigenen Erfahrung verifiziert haben, ist die Versuchung überwältigend, das, was man so verifiziert hat, für letzte Wahrheit anzusehen. Ouspensky verdanke ich die Überzeugung, die mich bis zum heutigen Tag nicht verlassen hat, daß man bereit sein muß zu zahlen, wenn man irgend etwas von Wert gewinnen will. Dabei hat sich meine Einsicht, was zahlen wirklich heißt, tiefgreifend geändert. Ich hatte ursprünglich eine falsche Vorstellung, was mit 'Super-Anstrengung' gemeint ist. Ouspenskys eigenes Beispiel, zwanzig Meilen in einem Schneesturm zu laufen, ließ in mir das Bild einer heroischen Handlung entstehen, in der man sich bis zur Grenze des Aushaltbaren treibt. Dieses Bild wurde gleichsam auf grundierte Leinwand gemalt, denn ich bin von meiner Mutter zu dem Glauben erzogen worden, daß Selbstverleugnung und Selbstverausgabung um ihrer selbst willen gut seien. Man muß sich in acht nehmen, eine bestimmte Lehre nicht deswegen als richtig anzunehmen, weil man in der Kindheit entsprechend konditioniert worden ist. Der Dank, den ich meiner Mutter schulde, weil sie durch ihr eigenes Beispiel und Verhaltensregeln in mir die Überzeugung gefestigt hat, daß Faulheit uns zerstört und Toleranz eine der besten Tugenden ist, überwiegt bei weitem den Nachteil, daß ich mich fast sechzig Jahre lang mit der Illusion herumgeschlagen habe, daß das Unangenehme für uns besser sei als das Angenehme. Die Transformation eines Menschen ist nicht unabhängig von seinem Heranwachsen. Die formenden Jahre der Jugend haben einen bestimmenden Einfluß auf den Rest des Lebens. Die Schulung unse-
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rer willentlichen Kräfte sollte nie aufhören, auch dann nicht, wenn im Prozeß der Transformation die Entwicklung jener Kräfte hinzukommt, die unserem gewöhnlichen Blick verborgen sind. Das führt zur Frage der zwei Arten des Sehens. Bücher über die verborgenen Kräfte des Menschen sind voll mit Hinweisen auf die 'innere Schau' oder das 'dritte Auge'. Ausdrücke wie 'zweites Gesicht' und 'Hellsichtigkeit' sind uns geläufig. Diese Begriffe beziehen sich auf eine wirkliche Kraft, die wenigen Menschen auf natürliche Weise zukommt, ohne daß sie wissen wie, die aber die meisten Menschen entwickeln könnten, wenn sie den Weg wüßten und bereit wären, die Mühe auf sich zu nehmen. Ich muß hier sagen, daß ich nicht in der Lage war zu begreifen, was 'inneres Schauen' bedeutet, obwohl mir Gurdjieff viele Übungen zeigte, die helfen sollten, diese Fähigkeit zu entwickeln. Erst als ich 1952 nach Damaskus ging und dort den Naqshbandi Sheikh Emin Chikhou traf, wurde mir allmählich die Wichtigkeit dieser Art von Übung bewußt. Andere Treffen mit Sufis des Naqshbandi Ordens überzeugten mich davon, daß sie Mittel hatten, diese Kräfte zu entwickeln, und daß einige tatsächlich über sie verfügten. Mir selbst wurden manche der einfacheren Techniken gezeigt; im Zusammenhang mit dem, was ich von Gurdjieff gelernt hatte, gelangte ich zu der Überzeugung, daß er aus der gleichen Quelle geschöpft haben mußte. Es interessierte mich deswegen ganz besonders, von Pak Subuh zu erfahren, daß sein eigener Lehrer — dem er von siebzehn bis vierundzwanzig, als er anfing, das latihan zu erfahren, verbunden war — der oberste Naqshbandi Sheikh in der Region Semarang auf Java war. Subuh sah nicht, daß er diesem Lehrer irgend etwas verdankte; aber es ist offensichtlich, daß die Sprache, die er benutzt, und seine Beschreibungen, wie der Mensch beschaffen ist und funktioniert, von den Naqshbandi Sufis stammen. Ich nehme deshalb an, daß auch er, ohne sich dessen voll bewußt zu sein, Wurzeln in dieser Tradition hat, besonders in seiner Technik des 'Testens', die eine Art hellsichtige Kommunikation darstellt. Ich erwähne dies, um die Wichtigkeit von Wahrnehmungsarten zu betonen, die nicht von den fünf Sinnen oder dem denkenden Gehirn abhängen.Vor vielen Jahren hörte ich den vielseitigen Philosophen C.E.M. Joad über den nächsten Schritt in der Evolution des Men-
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sehen sprechen, der, wie er sagte, im Erwerb der Kräfte der Telepathie und Hellsichtigkeit bestünde. Diese würden sporadisch und unberechenbar in weit mehr Menschen auftreten, als dies noch vor wenigen Jahrhunderten der Fall war. Er argumentierte, daß die ungeheuerliche Komplexität der menschlichen Gesellschaft der Zukunft zu einem völligen Zusammenbruch der Kommunikation führen würde, wenn der Mensch nicht derartige neue Kräfte erwerben würde. Ich konnte nicht umhin zu denken, daß solche Kräfte leicht mißbraucht werden könnten und daß wir froh sein müssen, daß sie in unserer Gesellschaft noch nicht so leicht erworben werden können. Dies bringt mich zu dem nächsten bedeutenden Menschen, von dem ich einige der in diesem Buch beschriebenen Ideen und Methoden gelernt habe. 1961 besuchte ich den Shivapuri Baba in seinem Rückzugsort im Wald im Himalaya; er war damals nach seinen eigenen Angaben 135 Jahre alt. Ich besuchte ihn im darauffolgenden Jahr noch einmal, acht Monate bevor er starb. Ich hatte schon dreissig Jahre zuvor von ihm gehört und einige meiner Freunde hatten ihn besucht, jedoch hatte ich nicht erwartet, ihn je selbst zu sehen. Eines Abends aber kam mir eine jener ebenso untrüglichen wie unerklärlichen Mitteilungen zu, und ich wußte, daß ich diese Reise machen würde. Eine Kette glücklicher Zufälle machte es möglich. Als ich ihn traf und sagte, ich sei gekommen, weil mich sein Ruf erreicht habe, ging er darüber hinweg und meinte: "Das ist nichts weiter als Telepathie, es hat keine Wichtigkeit. Lassen Sie mich jetzt über 'rechtes Leben' zu Ihnen sprechen", und ohne Pause ging er dazu über, seine Lehre zu erklären. Rechtes Leben oder Swadharma im Sanskrit ist die denkbar einfachste Lebensweise, dennoch ist mir nie eine Lehre begegnet, die größere Anforderungen stellt. Welchen Weg man auch einschlägt, immer muß man begreifen, daß man das Ziel nur dann erreichen kann, wenn man bereit und in der Lage ist, die eigene Existenz der Erreichung dieses Zieles zu unterwerfen und alles zu opfern, was sich in den Weg stellt. Niemand hat den kompromißlosen Charakter dieser Entscheidung brutaler formuliert als Jesus mit den Worten: "So jemand zu mir kommt, und hasset nicht seinen Vater und seine Mut-
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ter, der kann nicht mein Jünger sein." Aber selbst solche Worte können als eine Frage der Einstellung interpretiert werden, eine Entscheidung, die man nur dann treffen müsse, wenn man mit der Wahl zwischen Gott und Kreatur konfrontiert sei, während der Rest des Lebens davon kaum berührt wird. Der Shivapuri Baba betonte jedoch, daß wir uns unaufhörlich entscheiden müssen, in kleinen Dingen nicht weniger als in großen, und zwar in allen drei Teilen unserer Natur: Körper, Seele und Geist. Rechtes Leben bestehe aus drei Disziplinen: eine körperliche und äußere, eine geistig-moralische und eine spirituelle durch Hingabe in der Meditation und der Suche nach der letzten Wirklichkeit. Nach meinem zweiten Besuch hielt ich in London — auf seinen Vorschlag hin — drei Vorträge über sein Leben und seine Arbeit. Einige, die an seiner Lehre des rechten Lebens näher interessiert waren, lud ich ein, mich zu besuchen. Mehrere kamen. Ich erklärte ihnen die Lehre soweit wie möglich in den Worten des Shivapuri Baba. Kein einziger erschien jemals wieder! Der Fehler lag bei mir, nicht bei ihnen. Keiner, der den Shivapuri Baba erlebt hätte, hätte freiwillig eine Gelegenheit versäumt, mehr aus seinem Mund zu hören. Der Grund, warum seine Worte so tiefe Hoffnung und Zuversicht erweckten, lag darin, daß seine Hörer nicht daran zweifeln konnten, daß er nach den Prinzipien, die er empfahl, gelebt hatte und lebte. Wenn er zu uns sagte: "Denke nur an Gott — verbanne jeden anderen Gedanken. Es ist schwer, ich weiß, aber nicht unmöglich", dann war das Wichtige gerade dieses "Es ist nicht unmöglich". Schwierigkeiten und Zweifel schienen sich in seiner Gegenwart aufzulösen. Wir dürfen nie die Wichtigkeit von darshan unterschätzen, das heißt, die Wirkung der Gegenwart eines sehr hochentwickelten Menschen. Solche Menschen sind unersetzlich. Die große Mehrheit der Menschen vertraut nicht darauf, daß Transformation überhaupt möglich sei. Sind sie aber in der Gegenwart eines transformierten Menschen, dann kann dieses Vertrauen in sie einströmen und sie sicher auf den Weg bringen. Dieser Vorgang wird manchmal Bekehrung genannt. Der Ausdruck weist auf den radikalen Richtungswandel hin, den ein Leben nehmen kann. Aber so ein Wandel ist nicht immer von Dauer. Er hängt davon ab, was die betreffende Person damit tut. Dieses Buch beschreibt einige der Mittel,
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die man anwenden kann, um den Prozeß der Transformation in der beschriebenen Richtung in Bewegung zu halten. Ich habe in dieser Einleitung zwei Faktoren nicht genannt, die in den letzten Jahren in meinem Leben sehr wichtig geworden sind. Das eine ist der Glaube und die Praxis der Römisch-Katholischen Kirche und das andere ist der aktive Einfluß des Sufismus, der von den Khwäjagän oder Meistern der Weisheit aus Zentralasien ausgeht und im Westen von Idries Shah verbreitet wird. Es hat vielleicht den Anschein, daß ich in den Fehler verfallen bin, den Gurdjieff so beschreibt: "Hier und da Stücke zusammenklauben, um seine eigene Schachermacher-Werkstatt aufzumachen." Ich kann nur antworten, daß für mich ein zielgerichteter Zusammenhang zwischen all dem besteht, was ich in fast fünfzig Jahren eigener Suche gefunden habe. Ich bin überzeugt, daß Richtungsunterschiede und Widersprüche auf die Unfähigkeit zurückzuführen sind, die Natur des Menschen und seine Transformation in ihrer Tiefe zu erkennen. Eine Fülle schlüssiger Lehren und solider Techniken ist in den unzähligen Schulen, Traditionen und Gruppen verschiedenster Art verstreut wie auch in den großen und dauerhaften Organisationen der Religion. AU dieser Reichtum bildet ein zusammenhängendes Ganzes, aber seine Einheit kann nur erkannt werden, wenn man tiefer sehen kann als die äußere Form. Wir sind auf die Frage zurückgeworfen: "Wie können wir wissen, wem wir vertrauen dürfen und was für uns richtig ist?" Können wir uns unsere eigenen Methoden heraussuchen und sie nach bestem Wissen anwenden, ohne Gefahr zu laufen, einen furchtbaren Fehler zu machen, vor dem uns vielleicht ein erfahrener Freund oder Lehrer hätte bewahren können? Ich will versuchen, auf diese Fragen im ersten Kapitel eine Antwort zu geben; aber ich muß betonen, daß es auf die Dauer nur eine Sicherheit gibt, und das ist unsere eigene Fähigkeit zur Unterscheidung.
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Kapitel eins DIE VIER QUELLEN r
Transfo^Ination ist ein Prozeß, der begonnen und durch verschie•M. dene Mittel in Gang gehalten werden muß. Es sind vier Mittel zu unterscheiden, von denen jedes für das Gleichgewicht des Ganzen notwendig ist. Wenn wir eines vernachlässigen oder übertreiben, so wird der Prozeß aus dem Gleichgewicht geworfen, und wir werden in Schwierigkeiten kommen; es kann sogar sein, daß wir den Weg ganz und gar verlieren. Wir sollten Transformation als etwas betrachten, das hier und jetzt passiert. Der Prozeß ist abhängig von dem, was wir tun, und das hängt seinerseits davon ab, was uns bewegt und leitet. Jedes der vier Mittel, die ich beschreiben werde, strömt aus einer Quelle in unser Hier und Jetzt. Deshalb nenne ich dieses Kapitel 'Die vier Quellen'.
l. LERNEN Wir beginnen von einer Position der Unkenntnis unserer selbst, unserer Möglichkeiten, der Wege, Mittel und Methoden und der Gesetze, die den Transformationsprozeß regieren. Diese Unwissenheit muß behoben werden. Wir müssen suchen und wir müssen lernen. Dazu müssen wir lernen, wie man lernt. Wir müssen lernen wollen und dürfen nicht erwarten, daß wir ohne zu lernen wissen können. Wir haben vielleicht die Vorstellung, daß wir nichts lieber wollen, als die Wahrheit über uns selbst und die Welt zu erkennen; aber immer wieder zeigt unser Verhalten, daß wir die Augen vor Wissen verschließen, das uns nicht paßt. Selbst wenn wir aufrichtig zu lernen wünschen, so folgt daraus nicht, daß wir willens sind, zum Schüler zu werden. Es gibt die Ge-
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schichte eines Wissenssuchers, der einen Sufi Meister bittet, sein Lehrer zu werden, und die Antwort bekommt: "Wenn ich bereit bin, Dich zu lehren, bist Du bereit zu lernen?" Ein Teil des Lernens muß von uns selbst kommen. Wir müssen zur Aufrichtigkeit bereit sein, sowohl bei der Beobachtung unserer eigenen inneren Zustände und verborgenen Impulse als auch unseres äusseren Verhaltens. Aber selbst aufrichtige Selbstbeobachtung muß von Wissen geleitet sein, wonach wir suchen und wie wir aus unseren Erfahrungen zu Erkenntnissen kommen können. Wie können wir lernen? Lernen ist ein endloser Prozeß — sofern es nicht doch einen Endpunkt gibt in der unio mystica, wenn wir 'erkennen, so wie wir erkannt werden'. Aber vielleicht ist die höchste Erleuchtung nur der Anfang eines neuen Lebens, in dem wir Dinge lernen werden, für die es keine Worte gibt. Ich bin davon überzeugt, daß die Fähigkeit und das Bedürfnis zu lernen so kostbar sind, daß auch der vervollkommnete Mensch danach streben wird. Lernfähig sein, heißt jung sein; solange man die Freude am Lernen in sich lebendig hält, bleibt man jung. Alles, was die Kanäle verschließt, durch die neues Wissen hereinkommen kann, macht es schwerer, aus dem Gefängnis der eigenen Unwissenheit zu entkommen. Der Unwissende ist wie ein Gefangener, der in seiner engen Zelle, die sein Grab werden wird, darbt, weil er nicht entdeckt hat, daß die Tür nicht verschlossen ist. Idealerweise sollten wir von einem Weisen lernen, der den Weg zu Ende gegangen ist, dem wir folgen wollen. Aber es ist höchst unwahrscheinlich, daß wir so einen Lehrer finden, solange wir in einem Zustand der Unwissenheit bleiben; wir wären gar nicht in der Lage, ihn zu erkennen ohne Erfahrung, auf die wir unser Urteil gründen können. Viele machen den Fehler, einen Lehrer zu suchen, auf den sie gar nicht vorbereitet sind. Das ist merkwürdig, denn kein Anfänger in Mathematik würde beanspruchen, von Einstein oder Newton unterrichtet zu werden. Früher, als das Reisen schwer war und die Bücher rar, hatte der Sucher wenig Wahl. Er mußte entweder alles hinter sich lassen und sich auf eine Pilgerreise begeben zu Orten, wo er die Existenz von
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Lehrern vermuten konnte, oder aber er mußte soviel wie möglich aus jenen Quellen lernen, die für ihn erreichbar waren. Heutzutage hat sich die Situation sehr verändert. Nach einem Flug von weniger als 24 Stunden konnte ich den Shivapuri Baba in Nepal besuchen. Jedes Jahr bekomme ich Dutzende von Büchern und Schriften, die mich über Lehrer und Lehren auf der ganzen Welt informieren. Jeder kann in eine öffentliche Bibliothek gehen und sich Bücher über Mystik, Yoga, Zen, Sufismus und alle möglichen anderen Techniken der Selbstverwirklichung besorgen, von denen jedes in der Regel einzigartige Autorität und Wirksamkeit beansprucht. Ständig werden über diese Fragen in allen Großstädten der Welt Vorträge angeboten. Wie kann der Sucher wählen? Auf wen kann er sich verlassen? Dieses Kapitel ist ein Versuch, diese Frage zu beantworten. Natürlich muß man von jemandem lernen, der weiß. Es ist nicht schwer zu entscheiden, ob jemand, den wir möglicherweise bitten wollen, uns zu lehren, wenigstens etwas über das weiß, was wir lernen wollen. Bücher lesen ist für den Anfang nützlich; aber Techniken können, wie ich schon sagte, nur sehr begrenzt über das geschriebene Wort erlernt werden. Aus Büchern können wir etwas über die Theorie der Transformation erfahren, auch können sie uns helfen, uns darüber klar zu werden, ob Transformation möglich ist oder nicht, ob sie ein Phantasiegebilde ist, und wenn nicht Phantasie, so doch eine so seltene Möglichkeit, daß weder Sie noch ich eine vernünftige Hoffnung haben, sie zu erreichen. Bücher können uns auch helfen, den Charakter unterschiedlicher Wege zu erkennen. Es gibt religiöse Wege, solche, die keinem bestimmten Glauben anhängen oder Glaubensbekenntnisse überhaupt ablehnen. Von den ersteren verlangen einige die persönliche Hingabe an den Lehrer. Der Sucher sollte sich daher die Frage vorlegen, ob er sich in der Lage fühlt, sich in Liebe und Dienen einer einzelnen Person ganz und gar zu unterwerfen. Wenn er das nicht kann, dann kann er nicht erwarten, auf diesem Weg weit zu kommen. Andere Wege erfordern eine besondere Form von Asketentum, wie zum Beispiel den Verzicht auf tierische Nahrung, geschlechtliche Enthaltsamkeit oder strenges und häufiges Fasten. Auch hier sollte der Suchende in der Lage sein, nicht nur seine eigene Stärke, sondern
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auch seine geistige Einstellung zu beurteilen. Es hat wenig Zweck, sich auf einen asketischen Weg zu begeben, von dessen Richtigkeit man nicht auch intellektuell überzeugt ist. Dies trifft freilich nicht auf alle Wege zu, nur auf jene, wo die geforderte sichtbare Handlungsweise verstanden und überprüft werden kann. Diejenigen, die sich zu einem religiösen Weg hingezogen fühlen, mögen zu der Einsicht kommen, daß es richtig ist zu akzeptieren, was sie noch nicht verstehen können, und Gehorsam zu üben, wo ihr Verstand revoltiert. Mit anderen Worten, die intellektuelle Zustimmung ist keine Garantie für die Richtigkeit eines Weges. Wir können ganz und gar überzeugt sein, daß ein bestimmter Weg für uns sowohl richtig als auch möglich ist, um erst später zu entdecken, daß wir in die Irre geleitet worden sind. Wenn wir uns auf den Rat anderer verlassen, so müssen wir vielleicht entdecken, daß das, was ihren Bedürfnissen entspricht, noch lange nicht das Richtige für uns ist. Ignorieren wir die Erfahrung anderer, so laufen wir Gefahr, das zu wählen, was unsere Einbildung oder unsere Eitelkeit und Selbstliebe anspricht. Entscheiden wir uns, der Menge zu folgen und nur solche Methoden anzuwenden, die von anerkannten Experten empfohlen werden, so finden wir unseren Spielraum kläglich eingeengt. Psychologen und Pädagogen geht es darum, Störungen zu beseitigen und "normale Leute' zu produzieren. Das ist ausgezeichnet; aber es stellt sich oft heraus, daß Normalität nur dann erreicht wird, wenn das Ziel höher als 'bloße' Normalität gesetzt wird. Dieses Buch ist für jene geschrieben, die die Möglichkeiten der Transformation erkunden wollen, und die bereits die eine oder andere Methode ausprobiert haben und unbefriedigt geblieben sind. Ich werde so gut ich kann versuchen, unparteilich zu sein, weil Unparteilichkeit ein Wert an sich ist und weil ich dadurch hoffen kann, meine eigene Unterscheidungsfähigkeit zu erhöhen, die, wie ich in der Einleitung geschrieben habe, letztlich das einzige Mittel ist, um richtig und falsch erkennen zu können. Das Studium des Lebens von Heiligen und Weisen, Weisheitsbücher und Sammlungen weiser Ratschläge helfen, die Unterschei-
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dungsfähigkeit zu entwickeln, vorausgesetzt, man liest sie mit diesem Ziel. Noch nützlicher ist es, weise und erfahrene Menschen aufzuspüren und jedes Mittel und jeden Trick zu benutzen, um ihnen ihr Wissen zu entlocken und von dem zu profitieren, was sie zu lehren haben. Darüberhinaus sollte man seine Unterscheidungsfähigkeit dadurch stärken, daß man sich zur Gewohnheit macht, das eigene Urteil über neue Ideen und Menschen aufzuschieben, um dann, wenn man genug gesehen zu haben glaubt, ohne Zögern eine klare Entscheidung zu treffen, ob man sich näher darauf einlassen will oder nicht. Wir sollten die Sitten studieren, die jahrhundertelang von verschiedenen Völkern und Kulturen befolgt wurden, und versuchen, ihren wirklichen Sinn zu verstehen. Ratschläge wie diese mögen selbstverständlich und vielleicht sogar platt erscheinen, aber es kommt darauf an, sie in die Praxis umzusetzen. Der Leser möge sich fragen, ob er irgendetwas Praktisches tut, um sein Unterscheidungsvermögen und seine Urteilsfähigkeit zu verbessern. Vielleicht stellt er fest, daß er sein Bestes tut, um jede wichtige Situation zu prüfen und die richtige Entscheidung zu treffen, daß aber sein 'Bestes' verbessert werden kann. Ich werde einige Regeln vorschlagen, die ich nützlich gefunden habe und die helfen können beim 'richtigen Lernen'. 1. Frage dich, ob das, was man dir sagt oder was du liest, verifiziert werden kann. Wenn ja, wie? Verifiziere, bevor du etwas übernimmst. 2. Wenn du keine Möglichkeit der Verifikation hast, so weise nicht zurück, was jemand zu dir sagt, ohne dich vorher zu fragen, ob es wirklich von Belang für dich ist, ob es wahr oder falsch ist. 3. Wenn es wirklich wichtig ist, dann untersuche die Quelle, von der das Wissen kommt, und frage dich, ob du bereit bist, so lange darauf zu vertrauen, bis sich eine Möglichkeit der Verifikation zeigt. 4. Betrachte nie etwas, das du gelernt hast, als endgültig. Sei immer bereit, die Sache von neuem zu betrachten. 5. Vergleiche anzustellen ist nützlich. Es kann uns mit Vertrauen erfüllen, wenn wir feststellen, daß zwei Lehren sich gegenseitig ergänzen und bestätigen. 32
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6. Aber vergiß nicht, daß man nur Aussagen vergleichen kann, die in derselben Sprache ausgedrückt sind. Es kann zu völliger Verwirrung führen, wenn wir versuchen, eine Lehre mit einer anderen zu vergleichen, solange wir nicht verstanden haben, was jede von ihnen uns mitteilen will. 7. Übe Unparteilichkeit! Laß dein Urteil nicht von Zuneigung und Abneigung beeinflussen. 8. Dennoch mußt du deinen instinktiven Reaktionen volles Gewicht geben. Diese gehen oft tiefer als deine Gedanken. 9. Das Was und das Wie des Lernens sind nicht das gleiche und dennoch können sie nicht getrennt werden. Wir wissen etwas nicht wirklich, solange wir nicht in der Lage sind, das Wissen anzuwenden. Wissen wie — das heißt, die einzelnen Schritte erlernen — wird uns nicht weit bringen, sofern wir nicht wissen, was wir tun. Mit anderen Worten, die Unterscheidung zwischen theoretischem und praktischem Wissen ist nur eine Frage der Konvention. Beides muß immer zusammengehen, wenn es zu positiven Ergebnissen führen soll. 10. Vergiß nicht, daß alles Teilwissen unzuverlässig ist. Versuche immer, das Ganze zu sehen, zu dem ein Wissenselement gehört. Selbst wenn es dir nicht gelingt, das Ganze zu erkennen, so ist es besser, sich darum zu bemühen, als sich mit einem isolierten Fragment zufrieden zu geben. 11. öffne dich mehr und mehr gegenüber Neuem. 12. Wissen, das man mit anderen teilt, kann man besser verstehen als Wissen, das man hortet. Am besten lernen wir durch Lehren, vorausgesetzt, daß wir nie unsere eigene Unwissenheit vor uns und anderen verbergen und uns daran erinnern, daß Lehren ein zweiseitiger Prozeß ist, in dem der Lehrer soviel empfängt wie der Schüler. In späteren Kapiteln werde ich konkrete Inhalte und Methoden des Lernens behandeln. Lernen ist das Mittel, mit dem wir uns zum einen mit uns selbst in Verbindung bringen (Selbsterkenntnis) und zum anderen mit dem, was wir selbst nicht sind (objektives Wissen). Wissen bringt Ordnung und Richtung in unser Leben, aber als solches transformiert es uns nicht. Dazu müssen wir weiter gehen und die zweite Quelle studieren.
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2. INNERER KAMPF Wir wollen uns ändern und transformiert werden, wir wollen unser Leben so voll und nützlich wie möglich machen und unsere Bestimmung entdecken und erfüllen. Alle diese Wünsche existieren in jedem von uns; sie sind da, weil es ein Ideal gibt. Alle Religionen und alle Lehren sind sich darin einig, daß es den idealen oder vollkommenen Menschen gibt. Diese Vollkommenheit ist nicht unsere eigene Erfindung; die Sehnsucht danach ist ein Teil unseres Wesens. Kinder suchen danach in ihren Eltern. Wenn sie erwachsen sind, nimmt das Ideal universale und objektive Gestalt an. Selbst wenn sie Religion zurückweisen und sich weigern, den idealen Menschen mit Gott in Verbindung zu bringen, so bleibt das Ideal dennoch wirksam: wir können ohne es nicht leben. Selbst ein verzerrtes und niedriges Ideal ist für den Menschen, der danach strebt, sein Ideal, und er muß versuchen es zu erreichen, ob er will oder nicht. Wir haben alle möglichen anderen Wünsche, die mit dem Ideal nichts zu tun haben. Unser Streben danach wird unablässig von unserem Körper, unseren Gefühlen und Gedanken abgelenkt. Es gibt nichts Stabiles in uns, das immer und unter allen Umständen das gleiche wünschen könnte. Normalerweise schwanken wir von einem Wunsch zum anderen, je nach dem, was unsere Aufmerksamkeit gerade anzieht oder welche Verhaltensgewohnheiten wir in Reaktion auf die Umwelt entwickelt haben. Solange das Leben so abläuft, neutralisieren sich die verschiedenen Impulse, und wir erreichen nichts, vielmehr treiben wir unmerklich zu einer allmählichen Schwächung aller Wünsche, was das Kennzeichen des Alterns ist. Wenn alle Wünsche erlöschen, gehen wir dem Tod entgegen. Das sollte jedem bewußt sein und wahrscheinlich ist es das sogar; aber in Unwissenheit, was man dagegen tun kann, verschließen die meisten Menschen die Augen vor der Situation und entschuldigen sich mit ihren Lebensumständen. Und doch ist das, was verlangt wird, ganz einfach. Man muß zwischen den verschiedenen Wünschen oder Impulsen einen Kampf organisieren. Wir verfügen zu einem gewissen Maß über die Fähigkeit
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zu wählen: vielleicht nicht so frei, wie wir uns vorstellen, aber dennoch hinreichend, um den Kampf zwischen Ja und Nein zu organisieren. Zum Beispiel kann jeder innere Einstellungen und äußere Verhaltensgewohnheiten bei sich finden, die seinen eigenen Idealen widersprechen. Er kann sich fragen, ob er das eine oder andere Merkmal behalten oder ob er davon frei sein möchte. Aus dieser Selbstbefragung kann die Entscheidung erwachsen, mit einer der untersuchten Einstellungen oder Verhaltensweisen zu kämpfen. Dieses einfache Beispiel zeigt, was mit innerem Kampf gemeint ist. Kampf ist deswegen möglich, weil wir Menschen nicht ein unteilbares Ganzes sind. Ein Teil von uns kann mit einem anderen kämpfen, aber nur unter der Bedingung des Bewußtseins innerer Loslösung. Sie läßt sich ganz einfach im Verhältnis zum eigenen Körper erfahren. Normalerweise sagen wir 'ich bin müde', wenn es offensichtlich korrekt wäre zu sagen, 'mein Körper ist müde'. Vielleicht bin 'ich' überhaupt nicht müde. Wenn es so ist, dann kann 'Ich' sich von meinem Körper lösen. Ich kann dann zu meinem Körper sagen: "Du magst müde sein, aber ich möchte trotzdem, daß du dieses oder jenes tust." Kampf kann die Folge sein und vielleicht gehorcht 'mir' mein Körper als Ergebnis des Kampfes. Dieselbe Situation kann auf tausenderlei Weise entstehen. Zusammen bilden sie die zweite große Quelle, aus der heraus der Transformationsprozeß in Gang gehalten wird. Kampf mit sich selbst kann man auch Selbstdisziplin oder 'Arbeit an sich selbst' nennen. Er kann sich auf Körper, Gefühl und Denken oder auf alle drei gleichzeitig beziehen. Die Ebene des Verstehens und der Intensität des Kampfes kann verschieden sein. Hier geht es mir nur darum, das grundsätzliche Prinzip zu erklären: Kampf beruht darauf, daß wir uns einer Trennung zwischen Ja und Nein bewußt sind. Nur bei einem Bewußtsein dieser Trennung können wir den Akt der Wahl zwischen Ja und Nein vollbringen. Es ist wichtig, sich klar zu machen, daß die Wahl absolut sein muß: entweder diese oder jene Handlung. Einen Kompromiß gibt es nicht. Der Grundsatz der Kompromißlosigkeit wird leicht mißver-
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standen. Oft wird angenommen, daß er Allgemeingültigkeit habe und für unser ganzes Leben anwendbar sei. Das ist nur für jene wahr, die eine Stufe der Transformation erreicht haben, auf der das Streben nach dem höchsten Ideal immer und unter allen Umständen von allen anderen Wünschen unterschieden werden kann. Für gewöhnliche Menschen steht eine Selbstbindung außer Frage, die über die unmittelbare Situation hinausgeht, in der ihr Bewußtsein widerstreitende Bedürfnisse erfaßt. Ich nenne diese unmittelbare Situation den gegenwärtigen Augenblick. Meistens ist unser gegenwärtiger Augenblick derart zusammengedrängt, daß kein Platz für die Trennung zwischen Ja und Nein vorhanden ist und wir, das heißt unser Wille, ganz und gar vom dominierenden Impuls des Augenblicks beherrscht sind. In so einem Zustand ist die Vorstellung, wählen zu können, eine Illusion. Er wird Identifikation oder Verhaftetsein genannt. In einem Zustand der Identifikation können wir nicht kämpfen, weil nichts da ist, das kämpfen will. Um kämpfen zu können, muß etwas in uns den Zustand der Loslösung bewirken. Jede Art von Schock kann dazu führen. Wenn es ein physischer Schock ist, dann nennen wir das 'Bemerken'. Wenn es ein geistiger Schock ist, nennen wir es 'Aufwachen der Aufmerksamkeit'. Wenn es ein moralischer Schock ist, nennen wir es 'Reue des Gewissens'. Es ist klar, daß nicht jeder innere Kampf um der Transformation willen stattfindet. Wenn wir ein Ziel verfolgen und feststellen, daß wir nicht tun, was notwendig ist, machen wir eine Anstrengung. Diese Anstrengung ist ein Kampf gegen einen schwachen oder widersetzlichen Teil unserer Natur. Manchmal kämpfen wir für ein unwürdiges oder nutzloses Ziel. Als solcher ist Kampf weder gut noch schlecht, aber er wird immer zu einem Ergebnis führen. Durch Kampf werden wir stärker; hören wir auf zu kämpfen, werden wir schwächer. Wenn wir gelernt haben, mit einer Begierde zu kämpfen, dann wird es uns leichter fallen, gegen eine weitere Schwäche in uns anzugehen. Manche beginnen den Weg der Transformation ohne die geringste Ahnung, was er bedeutet, einfach, weil sie nicht so sein wollen, wie sie sind. Diese Unzufriedenheit ist an sich eine Form der Loslösung.
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Sie merken, daß Ihnen etwas fehlt, was Sie brauchen, und so entsteht die Kraft, die den Menschen vor Stagnation bewahrt. Was er mit dieser Kraft anfängt, hängt davon ab, wieviel er verstanden hat. Aus diesem Grunde ist Wissen am Anfang der Transformation eine Notwendigkeit. Solange wir unbefriedigt sind und nicht wissen, was wir wirklich wollen, werden wir wahrscheinlich eine Menge unsinniger Dinge tun. Selbsterkenntnis und Kampf mit der eigenen Natur gehen Hand in Hand. Das Verbindungsglied zwischen ihnen ist Unterscheidungsfähigkeit. Dazu einige Regeln oder Richtlinien; 1. Vergiß nicht, daß du nur innerhalb deines eigenen gegenwärtigen Augenblicks kämpfen kannst. Außerhalb des Augenblicks, dessen du dir bewußt bist, geschieht eine Menge, und du kannst viel darüber wissen; aber du kannst nicht kämpfen. 2. Organisiere deinen Kampf: wähle, was du bekämpfen willst, und wiederhole die Handlung, so oft dir der Impuls, mit dem du kämpfen willst, bewußt wird. 3. Gebrauche deine Unterscheidungsfähigkeit. Sei nicht zu ehrgeizig. Lerne dein eigenes Vermögen einzuschätzen. 4. Beharrlichkeit wird erreichen, was mit Gewalt nicht erreicht werden kann. Steter Tropfen höhlt den Stein: ein Wolkenbruch hinterläßt kaum eine Spur. 5. Habe keine Angst zu kämpfen. Nie hat sich einer durch inneren Kampf unglücklich gemacht oder verletzt, außer er war zu ehrgeizig, tollkühn oder großsprecherisch. 6. Vergiß nicht, daß Kampf in der Gegenwart der Schlüssel zu Glück in der Zukunft ist. 7. Modifiziere deinen Plan nicht auf halbem Wege. Ein ganz bescheidener Plan, konsequent durchgeführt, kann zu erstaunlichen Ergebnissen führen. 8. Fälle Entscheidungen nur dann, wenn du sicher bist, daß du sowohl die Absicht als auch die Fähigkeit hast, sie auszuführen. 9. Wenn du im Zweifel über deine Fähigkeit bist, dann sage dir, daß du dein Bestes versuchen wirst. Dann mußt du dein 'Bestes' zu deiner Entscheidung machen.
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10. Halte dich nie damit auf. Versagen zu bedauern oder zu entschuldigen. Es liegt außerhalb deines gegenwärtigen Augenblicks und du kannst nichts mehr daran ändern. 11. Dein Körper ist unwissend, sei gerecht zu ihm. Deine Gefühle wechseln, verlaß dich nicht auf sie. Dein Denken ist flatterhaft, erwarte nicht, daß es innerhalb deines gegenwärtigen Augenblicks stabil bleiben könnte. Kurz gesagt, sei realistisch mit dir selbst. 12. Vergiß nie, daß kein anderer deinen Kampf für dich führen kann. Ich habe inneren Kampf nur unter den offenkundigen Aspekten behandelt, die von einem Anfänger auf dem Weg der Transformation erkannt werden können. Darüberhinaus hat Kampf eine tiefere Bedeutung, die mit Energie zu tun hat. Kampf verbraucht Energie, aber er produziert sie auch. Ein unbewußter Kampf geht in unserem Organismus ständig vonstatten: es ist der Kampf ums Überleben, den wir mit allem Lebendigen teilen. Wenn wir krank werden, kommt uns dieser Kampf zu Bewußtsein, und wir müssen lernen, uns ihm anzupassen. Der Geburtsvorgang ist ein großer Kampf ums Leben: Die Mutter muß sich dieser natürlichen Notwendigkeit ganz und gar hingeben, bis der aufgezwungene Kampf vorbei ist und sie ihre Kraft wiedergewonnen hat. Ich erwähne diese offenkundigen Beispiele, damit der Leser versteht, daß ohne Unterscheidungsvermögen nichts zu gewinnen ist. Törichter, unterscheidungsloser Kampf, Kampf als Selbstzweck, kann niemandem nützen. Kampf ist die Organisation der Kraft zu wünschen. Solange nicht etwas in uns kämpfen will, können wir nicht kämpfen. Der Wunsch kann unbewußt oder halbbewußt sein, aber durch Wissen können wir ihn ins Bewußtsein heben und lernen, ihn zu organisieren.
3. OPFER Soweit ist die Sache klar. Wir erkennen alle wenigstens teilweise, was mit lernen und kämpfen gemeint ist. Jetzt kommen wir zu einer Quelle, deren Wesen es ist, verborgen zu sein. Ein Opfer, das als solches ersichtlich wird, ist kein wahres Opfer. Wir erinnern uns an den
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Rat der Bergpredigt: "Habt acht auf Eure Almosen, daß Ihr die nicht gebet vor den Leuten, daß Ihr von ihnen gesehen werdet. Wahrlich, ich sage Euch, sie haben ihren Lohn dahin." Es besteht ein offensichtlicher Widerspruch zwischen diesem Vers und einem späteren, der heißt: "Lasset Euer Licht leuchten vor den Leuten, daß sie Eure guten Werke sehen etc." Der Widerspruch verschwindet, wenn man erkennt, daß der letztere Vers sich auf Kampf und Anstrengung bezieht, während der erstere Opfer und Verzicht betrifft. Bevor wir weitergehen, muß ich versuchen, zwei Fragen zu beantworten. Warum ist Opfer notwendig? Wie unterscheidet es sich von Kampf? Opfer ist notwendig, weil man für alles Besitzenswerte zahlen muß, und Opfer ist nur ein anderes Wort für Zahlen, aber es ist nicht — wie ich sogleich erklären werde — dasselbe wie Kauf. Opfer und Kampf funktionieren auf entgegengesetzte Weise. Wenn wir kämpfen, kommt erst Loslösung, dann Wahl oder Entscheidung. Wenn wir opfern, kommt die Entscheidung, uns von etwas zu lösen, dem wir verhaftet sind, zuerst. Opfer darf kein Kampf sein — was nicht auf einem freien Willensakt beruht, ist kein echtes Opfer. Es ist auch dann kein Opfer, wenn man damit einen besonderen Vorteil erreichen will. Deswegen sage ich, daß wir mit einem Opfer zahlen, ohne etwas zu kaufen. Das ist das Geheimnis — ja sogar das Mysterium des Opferns. Einerseits ist es kein Mysterium, denn zu geben in der Erwartung einer Rückgabe ist vielleicht bewundernswert, aber kein Opfer. In einem anderen Sinn ist es in der Tat ein sehr großes Mysterium, denn es ist eine besondere Form eines schöpferischen Aktes, durch den sich Möglichkeiten öffnen, die nur so geöffnet werden können. Um das Mysterium des Opferns zu beleuchten, wollen wir das einfache Beispiel des 'Nachgebens' betrachten, wenn es auf Grund einer Entscheidung geschieht und nicht aus Schwäche oder Angst. Wenn zwei Leute in Widerspruch stehen und beide den Anspruch erheben und glauben, daß sie im Recht sind, dann ist es für jeden schwer nachzugeben, sofern sie nicht von einer stärkeren Kraft dazu gezwungen werden. Wenn einer von beiden ohne Zwang nachgibt, weil
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er sich entscheidet, seinen Stolz oder sein 'Gesicht' zu opfern, dann ist die gesamte Situation verwandelt. Das Opfer schafft Möglichkeiten, die vorher nicht da waren. Sein Mysterium liegt darin, daß es äußerlich als Zeichen der Schwäche erscheint, sich jedoch als das Gegenteil herausstellt. Derjenige, der das Opfer gebracht hat, hat am Ende unfehlbar einen Vorteil davon — immer vorausgesetzt, daß er das nicht beabsichtigt hat. Gelegenheiten für Opfer entstehen ständig, aber es macht ihr Wesen aus, daß man sie nicht bemerkt. In dem angeführten Beispiel wird in 99 Prozent der Fälle keiner der beiden Widersacher den Moment erkennen, in dem es richtig wäre nachzugeben. Ein anderes Beispiel ist die anonyme Gabe. Es ist einfach, eine solche Gabe zu machen mit einem Gefühl der persönlichen Befriedigung, daß man den Dank vermieden hat, aber diese persönliche Befriedigung macht das Potential der Handlung zunichte und es ist deswegen kein wirkliches Opfer. Man darf die Sache nicht zu gewichtig nehmen.Opfern ist eine subtile Kunst, die man lernen muß. Seine Funktionsweise ist nicht leicht durchschaubar, aber doch nicht völlig unbegreifbar, wenn einmal das Prinzip verstanden ist. Die Erklärung, die ich mir selbst gebe, gründet sich auf die Vorstellung vom gegenwärtigen Augenblick als dem Aktionsfeld meines Willens. Wenn ich mich entscheide, etwas, an dem ich hänge, aus meinem gegenwärtigen Augenblick herauszunehmen, so schaffe ich eine Verbindung "außerhalb der Zeit'. Dieses 'Etwas' — gerade weil ich an ihm hänge — ist ein Teil meiner selbst geworden: indem ich mich von ihm trenne, wird es ein Kanal, durch den neue Möglichkeiten in meinen gegenwärtigen Augenblick fließen. Ich weiß, daß es schwer ist, diese Idee zu erfassen, ohne eine klare geistige Vorstellung davon, wie unser gegenwärtiger Augenblick konstruiert ist. Ich kann den Leser, der hier tiefer eindringen möchte nur auf den vierten Band von The Dramatic Universe* verweisen. Für den Zweck dieses Buches ist es nicht notwendig, die Idee des Op*The Dramatic Universe, Bd IV, S. 13ff.
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ferns ganz zu begreifen. Es genügt zu erkennen, daß ich eine besondere Kraft erzeuge, wenn ich etwas, das mir kostbar ist, von mir wegnehme. Ich kann fühlen, wie diese Kraft auf mich einwirkt, und wenn ich einige Male beobachte, wie sie arbeitet-, so werde ich selbst anfangen zu erkennen, daß das, was ich aufgegeben habe, in anderer Form zu mir zurückkommt und neue Möglichkeiten mit sich bringt. Das Wesen des Opferns ist Entscheidung. Das kommt in der Geschichte von Abraham zum Ausdruck. Gott war mit der Entscheidung Abrahams, seinen Sohn zu opfern, zufriedengestellt und schloß mit ihm das Bündnis, das auf seine Nachfahren übergehen sollte. Das Verdienst Abrahams wird üblicherweise in seinem Gehorsam gesehen, aber das verkennt, worauf es ankommt, nämlich auf die Entscheidung, sich von seinem geliebten Sohn zu trennen. Die Situation charakterisiert den Typus eines jeden Opfers, und diese altehrwürdige Geschichte belegt die Weisheit, die die Menschen vor fast viertausend Jahren besaßen. Man muß verstehen, daß die Entscheidung unwiderrufbar sein muß. Einer von Gurdjieffs russischen Schülern erzählt die lehrreiche Geschichte von Gurdjieffs Handhabung des Opferns. 1918 in Essentuki im Kaukasus, als das Leben nach der Revolution sehr schwer war, verlangte er von allen Frauen der Gruppe, ihm ihren Schmuck zu geben. Frau H. besaß einige Familienschmuckstücke, die nicht nur wertvoll waren, sondern ihre einzige Verbindung mit ihrem früheren Leben darstellten. Nach einer Phase quälenden Aufschubs brachte sie den Schmuck zu Gurdjieff, legte ihn vor ihm auf den Tisch und verließ den Raum, ohne ein Wort zu sagen. Als sie schon halb aus dem Haus war, rief er sie zurück und sagte: "Ich brauche diese Dinge nicht, behalten Sie sie." Einige Jahre später erzählte man die Geschichte in der Prieure, und kurz darauf gab Gurdjieff wieder bekannt, daß er in Schwierigkeiten sei und alles Geld brauche, das sie hätten. Eine Amerikanerin brachte ihren Schmuck und legte ihn auf seinen Tisch in der Erwartung, zurückgerufen zu werden, aber er sagte nur: "Vielen Dank", und damit hatte sie ihre Kostbarkeiten zum letztenmal gesehen. Als sie sich bitter darüber beklagte, weil sie gedacht hatte, es sei ein Test, bemerkten die anderen, daß sie so oder so
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durchgefallen sei, selbst wenn es eine Prüfung ihrer Opferbereitschaft gewesen wäre. Nicht jedes echte Opfer ist notwendigerweise freiwillig. Es kann etwas aus unserem gegenwärtigen Augenblick verschwinden ohne unsere eigene Wahl. Wenn wir stark an etwas gebunden sind, zum Beispiel wenn wir einen uns nahen und geliebten Menschen verlieren — dann können wir mit Verzicht oder Revolte reagieren. Wenn wir uns weigern, die Trennung zu akzeptieren, und in unserem Schmerz verharren in Selbstmitleid und Lebensverweigerung, dann verlieren wir die wahre Verbindung, weil wir innerhalb unseres eigenen gegenwärtigen Augenblicks bleiben. Wenn wir den Verlust annehmen und darauf verzichten, darüber zu brüten und uns zu bemitleiden, dann kann die Wirkung dieselbe sein wie bei einem freiwilligen Opfer. In der Tat kann das Ergebnis sogar außergewöhnlich sein, wenn uns dadurch eine Verbindung zu einer anderen Welt außerhalb unseres eigenen Raum- und Zeitgefüges bewußt wird. Ich wiederhole, daß wir nicht auf eine Gegenleistung hoffen dürfen, wenn wir opfern. Das bedeutet nicht, daß es keine Rückwirkungen gibt und daß man sie nicht erkennen könnte. Die Frucht des Opferns ist Freiheit. Freiheit ist ein herrlicher Seinszustand, in dem nicht weniger als die Möglichkeit zu einem schöpferischen Akt beschlossen ist. Wahre Freiheit ist so selten in unserer menschlichen Erfahrung, daß wenige Leute auch nur ihren Geschmack erkennen können. Wenn wir frei sind, dann sind wir die Herren des gegenwärtigen Augenblicks: wir sind weder an die Folgen der Vergangenheit gebunden, noch haben äußere Einflüsse Gewalt über uns. Freiheit ist fast das Allerkostbarste im Leben: aber das Wort ist derartig mißbraucht und in seiner Bedeutung herabgesetzt worden, daß wir glauben, Freiheit bedeute einen Zustand ohne äußere Einschränkungen. Der heutige Zustand der Welt straft irgendeine derartige Definition von Freiheit Lügen. Niemand ist frei, der nicht innerlich frei ist, und diese innere Freiheit entsteht im Moment des Opferns. Da unsere Opfer nur Teilopfer sind — sich also nur auf die Bindung eines Teils von uns beziehen —, dauert der Zustand innerer Freiheit, den wir erreichen können, nicht lange. Aber solange er dauert, ist er unverkennbar.
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Opfern ist nie leicht. Solange die Entscheidung nicht gefällt ist, scheint es fast unmöglich. Nicht physisch unmöglich, aber es erfordert einen Willensakt, den zu leisten wir uns weigern. Eine reiche Dame in einer von Ouspenskys Gruppen, etwa 1923, sagte einmal, daß sie um jeden Preis von sich frei werden wolle, und fragte, was sie tun könne. Ouspensky forderte sie auf, ein Besitzstück zu nennen, an dem ihr ganz besonders viel liege. "Ja", sagte sie, "ich habe ein Dresdner Teeservice, das meiner Großmutter gehört hat und das noch komplett ist." Ouspensky: "Zerschlagen Sie eine der Tassen und Sie werden wissen, was es heißt, frei zu sein." Die Woche darauf kam sie wieder, in Tränen und nah an der Hysterie, und sagte, sie habe es ein dutzendmal versucht, habe es aber nicht fertiggebracht. Ouspenskys trockener Kommentar war: "Sie sehen also, daß Ihr Wunsch nach Freiheit keine Tasse wert ist." Seine Absicht war, ihr zu zeigen, daß sie nicht 'tun' konnte, um frei zu werden. Er wollte nicht, daß sie ihr Teeservice zerstören sollte. Opfer müssen frei gebracht werden. Sie dürfen nicht über das hinausgehen, was wir ertragen können. Und sie müssen immer wieder gebracht werden. Am wertvollsten sind Opfer, bei denen wir innere Bindungen aufgeben. Jeder hängt an seinem eigenen Selbstbild. Zu diesem Bild gehört es gewöhnlich, 'im Recht zu sein'. Nur wenige können das Eingeständnis ertragen, daß sie unrecht haben. Jedesmal wenn jemand, der von dem 'Ich-bin-im-Recht-Gefühl' beherrscht wird, dieses Gefühl opfern kann, projiziert er einen Teil seiner selbst außerhalb seines gegenwärtigen Augenblicks und schafft dadurch einen Zustand der Freiheit, der so lange währt, bis er sich in Aktivität verflüchtigt. Hier sind einige Regeln, die ich beim Ausüben des Opferns nützlich gefunden habe: 1. Jede Hoffnung auf Belohnung, die sich in ein Opfer einschleicht, zerstört seinen Wert. 2. Sei intelligent bei der Wahl von Gegenständen, die du opfern willst. 3 - Opfere nichts auf Kosten von anderen, außer du kannst es mit ih"en später ins Reine bringen.
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4. Ein halbherziges Opfer ist kein richtiges'Opfer. 5. Opfere das, was im gegenwärtigen Augenblick für dich wertvoll ist. 6. Feilsche nie um ein Opfer. 7. Sei nicht tollkühn und wage dich nicht an Opfer, die du bereuen wirst. 8. Schätze ein, was du ertragen kannst; das ist das Maß für das, was du bist. 9. Entdecke deine Abhängigkeiten und frage dich, ob du bereit bist, irgendeine davon zu opfern. 10. Ein richtiges Opfer wird aus einem guten Grund, aber nicht für ein gutes Ergebnis gemacht. 11. Verbirg deine Opfer vor anderen und, wenn das nicht möglich ist, dann versuche den Anschein zu erwecken, daß du Nutzen daraus gezogen hast. 12. Opfern darf nicht das Ergebnis inneren Kampfes sein, sondern von Entscheidung. Der Akt der Entscheidung wird in einem Augenblick gemacht, und es darf kein Zögern und kein nachträgliches Bedenken geben, wenn die Entscheidung einmal getroffen ist. Opfern ist möglich, weil der Mensch freien Willen hat. Ich bin der Überzeugung, daß die einzige Form, den freien Willen zu üben, im Akt des Opferns besteht. Wenn dieser Akt ausgeführt ist, dann haben wir eine Periode der Freiheit, in der das, was wir tun und was wir sind, ein und dasselbe sind. Das löst sich wieder auf, aber es bleibt etwas zurück, und das wird wachsen, bis es zum Herzen unseres wahren Selbst, das heißt, unseres wirklichen Ich wird. Man könnte noch sehr viel mehr über Opfer schreiben. Warum kann es in seiner äußeren und rituellen Form Zehntausende von Jahren zurückverfolgt werden? Warum hat es je diese äußeren Formen angenommen? Warum ist sein wahrer Charakter nie erklärt worden? Wenigstens eine Frage muß ich beantworten, und zwar, ob Opfern eine spezifisch religiöse Handlung ist. Die Antwort heißt, daß es ganz sicher nicht ausschließlich religiös ist noch notwendigerweise 'gut', das heißt, moralisch. Es kann wenig Zweifel bestehen, daß Opfern
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für die frühen Menschen ein Wesensbestandteil von Magie war mit einem utilitaristischen Zweck: es sollte Erfolg in der Jagd sichern, die Fruchtbarkeit erhöhen, günstiges Wetter für die Ernte bringen, Unglück abwenden u. s.w. Für solche Zwecke wird es auch heute noch gebraucht. Es gibt das faustische Opfer, indem ein Mensch sein Kostbarstes, seine Seele, opfert, um in den Besitz von Schöpfungsmacht zu gelangen. Zu jeder Form der Magie gehört Opfer irgendeiner Art: ohne echtes Opfer ist Magie leer. Ich halte es für wahrscheinlich, daß es unbewußtes Opfern geben kann, indem jemand etwas aufgibt, das ihm wirklich kostbar ist, um einen imaginären Zweck zu erreichen, und in der Ausführung in eine Art Ekstase der Selbstkasteiung gerät. Ich führe das an, um noch einmal zu betonen, daß Opfern auf einem Willensakt besonderer Art beruht, der darauf gerichtet ist, etwas Kostbares dem eigenen Einfluß zu entziehen, das aber seinen Wert nicht durch das Ziel oder die Qualität der Handlung bekommt. Beides — Ziel und Qualität — bestimmen natürlich das Ergebnis, aber sie öffnen nicht den Kanal, der aus unserem gegenwärtigen Augenblick hinausführt. Zuletzt muß ich erwähnen, was den meisten Leuten überhaupt nicht als Opfer erscheint, nämlich den sexuellen Akt zwischen Mann und Frau. Der Samen des Mannes ist ein Teil von ihm und zwar ein sehr kostbarer, denn in den lebenden Zellen des Spermas und des Ovums ist die schöpferische Energie konzentriert, die neues Leben schaffen kann. Diese Energie wird im Akt frei und verläßt den gegenwärtigen Augenblick, den ein Mann und eine Frau teilen. Da die meisten Leute Begierde oder Gewohnheit zum Geschlechtsakt veranlaßt und sie sich ein besonders intensives Lustgefühl davon erwarten, scheint es mit Opfer nicht viel zu tun zu haben. Diesem Verständnis entgeht der eigentliche Zweck der sexuellen Vereinigung, nämlich die Gelegenheit zur vollständigen Aufgabe des Selbst, um den anderen zu beglücken. Wenn dieses Opfer gebracht wird, dann ist der Akt wahrhaft schöpferisch und bringt Freiheit und schöpferische Kraft ""t sich. Ohne dieses Opfer folgt der sexuellen Vereinigung ein Ge^hl der Leere oder sogar des Ekels, oft von dem Gefühl begleitet,
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daß man vom Partner mißbraucht wurde. Hier haben wir es also mit einer Handlung zu tun, deren innerste Natur das Opfer ist, die aber in aller Regel in ihrer wahren Bedeutung nicht verstanden wird. Ohne Zweifel ist das weitgehend eine Folge der Ignoranz. Es gibt kaum einen anderen Bereich des menschlichen Lebens, der so beklagenswert mißverstanden wird wie der Geschlechtsakt. Er wird wie ein Geheimnis behandelt, von dem außer den Dichtern und Psychologen niemand sprechen darf, also nur jene, die vielleicht schöpferisch sind, aber gewöhnlich selbstbezogen, und jene, die vielleicht selbstlos sind, aber nur selten schöpferisch. Gelegenheiten zu opfern entstehen in unserer normalen Lebensführung dauernd. Man muß sie nicht alle wahrnehmen, aber man sollte sie erkennen und verstehen. Wer den Wert und auch die Freude des Opferns an sich erfahren hat, der hat Zutritt zu den großen Geheimnissen des Lebens gewonnen und ist auf dem Weg der Transformation.
4. HILFE Wenn Opfern darin besteht, aus dem gegenwärtigen Augenblick etwas Kostbares herauszureißen, so besteht Hilfe darin, etwas Kostbares hereinkommen zu lassen. Es mag abwegig erscheinen, aber die Frage, ob Transformation ohne Hilfe möglich ist oder nicht, ist der Schlüssel zum Problem des menschlichen Lebens überhaupt. Ich meine nicht die Frage, ob Hilfe nützlich ist, sondern ob sie unerläßlich ist. Wenn Hilfe nicht unerläßlich wäre, dann könnten wir uns im Prinzip durch einen Prozeß ändern, der einzig und allein von unserem eigenen Willen erzeugt wird. Das bedeutet, daß unser gegenwärtiger Augenblick etwas enthalten muß, wodurch er sich radikal verändern kann, (denn wenn die Veränderung nicht radikal ist, ist sie nicht Transformation). Manche Leute meinen, daß radikale Veränderung möglich sei und daß dieses 'etwas', das sie ermöglicht, eigentlich nichts anderes als Zufall sei. Das menschliche Gehirn, so sagen sie, sei derartig kompli-
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ziert, daß Millionen und Abermillionen Kombinationen jede Minute entstehen. Eine dieser Kombinationen könnte vollkommen originell sein und neue Möglichkeiten eröffnen, ohne irgendwelche Notwendigkeit für Hilfe von außen. Ein Argument ähnlichen Typs wird benutzt, um die Idee zurückzuweisen, daß eine Große Intelligenz im großen wie im kleinen Maßstab tätig sei. Das Leben auf der Erde ist entstanden, wie sie sagen, weil sich aus den unvorstellbar vielen chemischen Reaktionen im primitiven Ozean oder der Erd-Atmosphäre ein reproduktionsfähiges Molekül durch reinen Zufall gebildet habe — Glück oder Pech, je nach dem, wie man's betrachtet. Auf dieses Argument gründet sich die gesamte atheistische und mechanistische Philosophie der Gegenwart, und deswegen meine ich, es sei der Schlüssel zum Problem des menschlichen Lebens überhaupt. Es geht uns hier nicht um das ungeheuerliche philosophische Argument, daß blinder Zufall ohne Richtung, Zweck und Intelligenz aus dem Chaos einen Zustand schaffen könnte — nämlich menschliches Leben auf der Erde —, in dem eben diese drei Qualitäten vorhanden sind. Unsere Frage erscheint viel einfacher: Ist es vernünftig zu erwarten, daß wir uns einfach durch Klugheit und Entschiedenheit ändern können? In unserem Fall ist es nicht notwendig, den Rest der Welt auszuschließen, wie es Philosophen tun müssen, wenn sie z.B. die Frage untersuchen: Kann das Leben auf der Erde aus blindem Zufall entstanden sein? Wir können uns das verfügbare Wissen über das Was und Wie des Handelns zunutzemachen. Die Frage muß deshalb vorsichtiger gestellt werden. Können wir uns mit unserem gesunden Menschenverstand ändern plus dem, was wir von anderen lernen können plus unserer Entscheidungskraft? Meine persönliche Überzeugung, die sich auf fast fünfzigjährige Erfahrung gründet, ist, daß wir 'etwas' brauchen, das sich nicht auf die bisher diskutierten drei Elemente reduzieren läßt, nämlich Lernen, Kampf und Opfer. Dieses 'etwas' ähnelt dem, was in der Chemie ein Katalysator genannt wird, der die wunderbare Eigenschaft besitzt, einen fast unmöglichen Prozeß schnell und leicht ablaufen zu lassen. Zum Beispiel hat jeder von PVC gehört, und wir alle benutzen es täglich in der einen oder anderen Form. Als es zum erstenmal vor dreissig Jahren hergestellt wurde, brauchte man dafür riesige Stahlkam-
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mern, die dem enormen Druck standhalten konnten. Dadurch wurde es so teuer, daß man es im Krieg nur für ganz besondere Zwecke benutzen konnte. Dann haben die Chemiker einen geeigneten Katalysator entdeckt, und jetzt wird PVC schnell, leicht und billig in riesigen Mengen hergestellt. Der Katalysator produziert nicht das PVC, aber er hilft, die Reaktion herbeizuführen, die es erzeugt. Ich glaube, daß die Transformation des Menschen ihrem Wesen nach ein so langsamer und schwieriger Prozeß ist, daß kaum einer unter hundert Millionen es in einer Lebensspanne erreichen könnte, daß sie aber für gewöhnliche Menschen möglich wird, weil wir Hilfe bekommen können. ^ Wie das Wissen, so muß auch diese Hilfe von außen in unseren gegenwärtigen Augenblick fließen. Aber anders als Wissen kann sie nicht durch den Kopf Einlaß finden. Darüberhinaus unterscheidet sie sich dadurch, daß sie nicht aus demselben Raum-Zeit-Gefüge kommt, in dem unser Bewußtsein und unser Körper leben. Deswegen kann man Hilfe nicht nehmen oder kaufen, so wie Wissen durch Lernen, Kraft durch inneren Kampf und Freiheit durch Opfern gewonnen werden kann. All das erscheint vielleicht sehr mysteriös, aber wir wollen einen einfachen Fall von Hilfe betrachten. Gurdjieff zeigte mir einmal eine Übung, die verlangte, daß man zu jeder vollen Stunde, und zwar keine Minute vor- oder nachher, "Ich bin" sagen sollte. Ich plagte mich verzweifelt mit dieser Übung und brachte sie absolut nicht zustande. Ich erinnerte mich höchstens fünf oder sechs Mal während der sechzehn Stunden des Tages. Ich versuchte alle möglichen Methoden, um mich zu erinnern, aber sie funktionierten immer nur kurz, und keine befähigte mich, die Übung vollständig auszuführen. Dann rief mich Gurdjieff eines Tages in sein Zimmer und sagte: "Sie können die Übung nicht machen. Ich werde Ihnen etwas von meinem Hanbledzoin leihen." Die nächsten drei Tage erinnerte ich mich fast auf die Sekunde genau, ohne irgendeine Anstrengung. Ich war mir so sicher, daß ich die Übung in der Zwischenzeit ganz vergessen konnte, und dennoch übersah ich keine einzige volle Stunde.
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Gurdjieff erklärte nichts, auch zeigte er mir nicht mit seinem Beispiel, wie man die Übung ausführen konnte. Er ermutigte mich nicht einmal. Und dennoch wußte ich, daß mir 'etwas' zugekommen war und daß ich, solange es reichte, in der Lage sein würde, das zuvor Unmögliche zu tun. Gurdjieff erklärte mir diese Art der Hilfe 1923, als ich in der Prieure war. Ich kann die Unterhaltung fast wörtlich wiedergeben, denn ich berichtete sie noch am selben Tage schriftlich meiner Frau, die den Brief aufbewahrte. Ich hatte gerade Gurdjieffs Fähigkeit, das Unmögliche für jemanden möglich zu machen, demonstriert bekommen, als er zu mir sagte: "Ein Mensch, der sich ändern will, muß die nötige Energie haben. Sagen wir, er braucht hundert Einheiten; aber mit all seinen Anstrengungen kann er nur zehn zusammenbringen. Er ist hilflos. Nehmen wir an, er trifft jemanden, der mehr Energie hat, als er für sich selbst braucht. Dieser Mensch kann ihm neunzig leihen. Dann kann er tun, was er tun will. Danach muß er zurückzahlen. Jetzt können Sie nichts selber tun, ich muß Ihnen also helfen. Es gibt einen besonderen Stoff, nennen wir ihn 'höhere emotionale Energie', den Sie brauchen. Sie wissen nicht, wo Sie diesen Stoff kriegen können, aber ich weiß es. Später werden Sie es auch wissen und Sie werden diese Arbeit verstehen. Diejenigen, die diesen Stoff anderen geben können, die ihn brauchen, gehören zur höchsten Kaste der Menschheit." Ich sagte zu ihm: "Wie kann ich die Hilfe bekommen, die ich brauche?" Er antwortete, wir sprachen Türkisch, "Wenn Sie Amar (Gnade) sagen mit Ihrem ganzen Sein. Nur dann kann Ihnen geholfen werden." Diese Unterhaltung kann den Eindruck erwecken, daß der Helfer selbst den Stoff produziert oder gar erschafft. Er ist jedoch eine Art Transmissionskanal. Sein Geheimnis und seine Leistung bestehen darin, daß er einen Weg gefunden hat, sich mit einer Quelle zu verbinden, die außerhalb seines gegenwärtigen Augenblicks liegt. Er kann Kraft übertragen, weil die Person, der er hilft, in seinen gegenwärtigen Augenblick eintritt und teilhaben kann an dem, was er empfängt. Hilfe durch die Übertragung von Stoffen kann viele Formen und
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Grade haben. Das angeführte Beispiel bewegt sich etwa in der Mitte des Spektrums. Es gibt ganz einfache Leute, deren schlichte Gegenwart einem gut tut. Wir sagen, daß sie Güte ausstrahlen, oder Zuversicht oder Glauben. Wir erkennen die Bedeutung solcher Aussprüche nicht, weil uns das Offensichtliche ständig entgeht. Nicht jeder hat die gleiche Seins-Qualität. Wenn es uns besser geht, weil wir eine Stunde mit einer gewissen Person verbracht haben, dann deswegen, weil diese Person 'etwas' hat und zwar in einem ganz wörtlichen Sinn. Solche Menschen sind mit einer unsichtbaren Quelle in Verbindung, und weil sie es wahrscheinlich nicht wissen und schon gar nicht darüber sprechen, erkennen wir nicht, wie sonderbar und wichtig das ist, In der Einleitung habe ich über das geschrieben, was die Hindus Darshan nennen und die Sufis Sohbat. Es bedeutet, sich in die Gegenwart eines heiligen Menschen zu begeben, um von seiner Kraft zu helfen berührt zu werden. Diese Kraft kann sehr intensiv sein, abersie erzeugt nur selten dauerhaften Wandel. Dennoch kann jeder, der sie gefühlt hat, bestätigen, daß sie auf einem greifbaren 'Etwas' beruht, das man fast in der Luft fühlen kann. Alle, die den Shivapuri Baba besucht haben, stimmten mit mir darin überein, daß man dieses 'etwas' fühlen konnte, sobald man sein Areal betrat, noch vor der Wegbiegung, an deren Ende man ihn sehen konnte. Ich habe mehrere Männer und eine Frau getroffen, die diese Kraft in unterschiedlichem Grad besaßen. Eine andere Form davon ist das, was die Chaldäer Hvareno* nennen, oder die Kraft, die mit der Königsherrschaft assoziiert wird. Die Ägypter haben diese Kraft in erster Linie den Pharaonen zugeschrieben, von denen, wie sie glaubten, die gesamte Wohlfahrt des Volkes abhing. Dreitausend Jahre lang glaubte man, daß wahre Könige die Kraft hätten, gewisse Krankheiten zu heilen. In England glaubte man bis zur Zeit der Stuart Könige an das 'Königs-übel'. Wahrscheinlich haben solche Anschauungen eine substantielle Begründung. Wir wollen versuchen, ein klareres Bild davon zu bekommen, was dieser Stoff oder diese Stoffe sind. Ich glaube, daß der Plural richti•Vgl. The Herald ofComing Good. 0.1. Ourdjieff, Samuel Weiser Inc., New York 1974.
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ger ist und daß es nicht nur einen Stoff gibt, der immer wirksam ist, um jede Art der Transformation zu fördern. Chemische Katalysatoren sind meist hochgradig spezifisch, jeder erzeugt ganz verschiedene Ergebnisse, und es ist bemerkenswert, daß sie umso spezifischer werden, je mehr sie sich Organismen annähern. Enzyme, wie zum Beispiel Hefe, haben eine genau definierte Funktion. Von Hormonen kann man fast mit Sicherheit sagen, daß es lebende Verbindungen sind, wenn sie in Aktion sind. Sie haben viele Charakteristika, die auf meine Beschreibung von 'Hilfsstoffen' passen, und werden heute eben für diesen Zweck von Ärzten verwandt. Ich halte die Annahme für durchaus vernünftig, daß es sogar noch potentere katalytische Stoffe gibt, die mehr den Charakter von Energie-Mustern haben als von chemischen Verbindungen. Das bemerkenswerte Phänomen der homöopathischen Medizin liefert den direkten Beweis, daß etwas außerordentlich Potentes zurückbleibt, wenn das natürliche Produkt durch Verdünnung fast gänzlich beseitigt ist. Homöopathen sprechen von einer 'Tausenderpotenz', was bedeutet, daß kaum eine Wahrscheinlichkeit besteht, daß auch nur ein einziges Molekül der ursprünglichen Substanz in der einzunehmenden Dosis vorhanden ist. Es gibt auch Grund für die Annahme — leider nicht so klar und überzeugend — daß Strahlungen, die nichts mit Licht oder elektromagnetischen Schwingungen zu tun haben, Menschen heilen können, sogar aus der Entfernung. Ich würde sie als physische Wirkstoffe klassifizieren, auch wenn sie gegenwärtig noch nicht mit wissenschaftlichen Methoden nachgewiesen werden können. Es gibt andere Formen der Hilfe, die nicht über den Organismus zu wirken scheinen, sondern direkt über die Psyche. Ich glaube, daß es sich auch hier um eine Art Stoff oder Energie handelt, mit anderen Eigenschaften und Funktionsweisen. Diese psychischen Energien können von einer Person auf eine andere übertragen werden, und wenn sie im Bewußtsein des Übertragenden aufgenommen werden, dann handelt es sich wohl um das, was Gurdjieff als Hanbledzoin bezeichnet hat. Schließlich gibt es höhere oder spirituelle Hilfen. Das führt uns in den Bereich des Übernatürlichen. Wenn wir an Wunder glauben,
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dann wäre es wohl richtig, sie diesen höheren oder spirituellen Energien zuzuschreiben. Mit diesen Definitionen, was ich mit Hilfe und Hilfsstoffen meine, will ich nun versuchen zu erklären, wie ich den Stellenwert von Hilfe in der Transformation des Menschen sehe. Wir versuchen einen harmonischen Seinszustand zu erreichen, in dem wir die Freiheit haben, den Zweck unserer Existenz zu erfüllen. Das heißt zuerst einmal, daß wir in den chaotischen Zustand unseres Innenlebens Ordnung bringen müssen. Ich hoffe, der Leser stimmt mir zu, daß wir nur wenig Kontrolle über unser Innenleben haben und daß es sehr weit von einem Zustand stabiler Harmonie entfernt ist. Wenn Unordnung aus sich selbst heraus Ordnung erzeugen kann, was man sehr bezweifeln muß, dann geschieht das jedenfalls viel zu langsam, um für unsere eigene Lebensspanne von Nutzen zu sein^ Wenn das richtig ist, dann ist Hilfe ein entscheidender Faktor, und wir müssen sehen, wo wir sie finden können. Die Art von Hilfe, nach der wir suchen, soll uns in die Lage versetzen, bei der begrenzten Zeit, die wir zwischen Geburt und Tod zur Verfügung haben, mit einer vernünftigen Aussicht auf Erfolg das zu tun, was wir zumindest theoretisch auch ohne diese Hilfe tun könnten. Ich kann keine Regeln über Hilfe aufstellen, denn sie ist ihrem Wesen nach spontan und ungezwungen. Wir können sie nicht zu uns herbeibefehlen, wir können sie nicht einmal verdienen. Wahre Hi|fe ist immer unverdient. Es existiert in der Religion eine besondere Sünde, die Simonie heißt und die von jenen begangen wird, die aus ihrer Fähigkeit zu helfen materiellen Nutzen ziehen. Es geht hier um das Prinzip, daß der Hilfsstoff nicht irgendjemandes Eigentum sein kann. Diejenigen, die Quellen von Hilfe sein können, gewähren sie sogar dann, wenn die Stoffe teilweise durch ihre eigene Anstrengung erzeugt wurden. Ich will deswegen einige der Situationen zusammenfassen, in denen ich persönlich Hilfe erfahren habe. l. Die Gegenwart von Menschen, die Transformation erreicht haben
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oder auf dem Wege dazu sind. Sie werden gemeinhin Heilige genannt. Ich habe einige Formen beschrieben, in denen sie helfen. 2. Der Besuch von Orten, an denen intensive Transformation stattgefunden hat. Das sind heilige Orte oder Heiligtümer. Ich würde den Besuch der Grabmäler von Heiligen einschließen, denn ich habe dabei selbst außergewöhnliche Erfahrungen gemacht. 3. Die Hilfe, die ein Lehrer seinen Schülern gibt. Das setzt einen Lehrer voraus, der mit einer Hilfsquelle in Verbindung steht. Diese Hilfe kann ganz spezifischen Charakter haben, denn der Lehrer kann den richtigen Zeitpunkt und Ort dafür bestimmen. Die Lehrer-Schüler Beziehung erleichtert die Übertragung. 4. Besondere Rituale oder Zeremonien, in denen die Übertragung geschieht. Sie werden Initiation oder Einweihung genannt. Jede Form der Initiation bringt den Initianden in Kontakt mit einem besonderen Hilfsstoff oder auch einer Kombination verschiedener Stoffe. Wenn die Initiation echt ist — ich muß sagen, daß das sehr selten der Fall ist — dann wird der Initiand in permanente Verbindung mit dem Ursprung der Hilfe gebracht und gelehrt, wie er Zugang finden kann, wenn es nötig ist. Ich muß meine Überzeugung betonen, daß Initiation ein spezifischer und kein genereller Kontakt ist. Ich selbst habe mehrere Initiationen empfangen und durch jede ist mir Hilfe zugekommen, aber in jedem Fall war die Hilfe ganz verschieden. Im allgemeinen wird verlangt, daß man die Einzelheiten und sogar die Tatsache der Initiation geheimhält, und deswegen kann ich sie nicht mit Namen beschreiben. Um meine Darlegungen zu veranschaulichen, sei gesagt, daß eine Initiation, die mir zuteil wurde, eine höchst überraschende und bis heute andauernde Wirkung auf meine Gesundheit und Energie hatte. Diese Initiation wurde mir nahegelegt, weil ich wichtige Arbeit zu tun hätte und dafür Kraft brauchte. Damals ging es mit meiner Gesundheit bergab, und seitdem hat sie sich sogar gebessert. In einem anderen Fall wurde der Initiation reinigende Kraft zugeschrieben, und ich kann bestätigen, daß sie mir geholfen hat, einige unerfreuliche Fehler abzulegen, die ich mit meinen eigenen Anstrengungen nicht überwinden konnte. In einem weiteren Fall sollte die Initiation Kommunikation ohne äußeren Kontakt ermöglichen. Das war vor 15 Jahren, und
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obwohl keinerlei äußerer Austausch während all dieser Zeit stattgefunden hat, kann ich die innere Verbindung mit der Quelle jederzeit erneuern. Ich will sagen, daß die unterschiedlichen Hilfen geleistet haben, was sie leisten sollten, aber nichts darüber hinaus. Der Vorgang kann mit dem Radio verglichen werden. Verschiedene Stationen senden auf unterschiedlicher Wellenlänge. Man kann lernen, die Station A zu empfangen, und dann wird man deren Programm, aber kein anderes hören. Das Problem liegt darin, daß die Leute, die sich um diese Hilfsquellen scharen, meist zuviel für sich in Anspruch nehmen. Sie erleben in eigener Erfahrung, daß wirklich etwas geschieht, und nehmen deswegen an, daß alle möglichen anderen Dinge auch möglich sein müßten. Der Mensch hat einen starken Drang zum Wunschdenken. Auf sehr schmaler Basis wird ein ganzes Gebäude dogmatischer Ansprüche errichtet. Bedauerlicherweise kommt die ganze Sache in Mißkredit, wenn die unbegründeten Ansprüche widerlegt werden.^ Dann klammern sich die fanatischen Anhänger mit noch größerer Überzeugung daran und die Enttäuschten werden übermäßig kritisch und manchmal sogar feindlich. Auf diese Weise kann Hilfe, die für die Menschen wirklich nützlich sein könnte, das, was sie ursprünglich versprach, nicht leisten. 5. Schließlich muß ich auf spirituelle oder übernatürliche Hilfe kommen. Sie wird Gnade genannt und wirkt auf zweierlei Weise, persönlich und gemeinschaftlich. Erstere berührt den Menschen in seinem innersten Wesen und befähigt ihn, ein transformiertes Leben zu führen. Letztere, charismatisch genannt, gibt Menschen verschiedene Kräfte, wie Heilen, Prophezeien, Deuten. Die charismatische Hilft wird von Paulus in verschiedenen Briefen gut beschrieben, besonders im Korinther 1,12. Ich werde mich bei übernatürlicher Hilfe nicht aulhalten, weil dies kein religiöses Buch ist. Ich kann nur meine persönliche Überzeugung äußern, daß übernatürliche, spirituelle Hilfe eine Realität ist und daß sie überall im wahrhaft religiösen Leben der Menschen wirkt, unabhängig von ihrer besonderen Glaubensrichtung. 6. Spontane und unerklärliche Hilfe. Ich muß dies in einer gesonderten Kategorie anführen, denn es ist ein seltsames Phänomen, das sich
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vor allem durch seine Nicht-Kausalität auszeichnet. "Der Geist weht, wo er will." Alle möglichen Menschen in allen möglichen Situationen haben Momente erlebt, in denen Türen sich von alleine zu öffnen schienen und das Unmögliche nicht nur möglich, sondern einfach wurde. Man kann das Inspiration nennen, aber das umfaßt nicht alle Variationen. Ich glaube, daß das menschliche Leben ohne diese Art von Hilfe bald der fortschreitenden Desintegration anheimfallen würde, von der privaten bis zur planetarischen Existenz. 7. Zuletzt komme ich auf die Hilfe, die uns in Momenten äußerster Verzweiflung zukommt. Sie unterscheidet sich von der spontanen Hilfe, denn sie ist eindeutig mit einer sichtbaren und greifbaren Situation verbunden. Gurdjieff erklärte das mit dem Ausspruch: "Natur haßt Vakuum. Wenn du Leere schaffst, wird Hilfe kommen." Diese Hilfe hat jedoch eine merkwürdig zielgerichtete Qualität. Fast alle, die ich gefragt habe — und es sind ihrer Hunderte — bestätigen, daß sie unverkennbar Hilfe dieser Art empfangen haben. Unzählige Sprichwörter und Geschichten aller Völker und Zeiten nehmen darauf Bezug; so muß es sich wohl um ein allgemeines Erbe der Menschheit handeln. Es ist, als gäbe es ein großes universelles Reservoir mit Hilfsstoffen, das wir normalerweise nicht anzapfen können, zu dem wir aber einen geheimen Kanal haben. In Momenten der Verzweiflung öffnet sich der Kanal, und Hilfsstoffe strömen ein. Damit schließe ich das Kapitel über die vier Quellen: Der Leser kann wahrscheinlich viele Lücken selbst ausfüllen. Wer sich für Systematik interessiert, findet an anderer Stelle meiner Schriften* eine Erklärung, warum es vier Quellen in dieser besonderen Relation zueinander gibt.
*The Dramatic Universe. Bd III, S. 29ff und 138ff.
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Kapitel zwei NOTWENDIGES WISSEN
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ir müssen genug über uns selbst, über Menschen im allgemeinen und über das Universum wissen, um in der Lage zu sein, unser Leben vernünftig zu organisieren und den Grad an Transformation zu erreichen, der für uns möglich ist. Dieses Wissen braucht nicht sehr kompliziert und auch nicht vollständig zu sein: wir brauchen nur das zu wissen, was für das Handeln notwendig ist. Ich werde Wege vorschlagen, wie jedes der verschiedenen Gebiete, über das wir Kenntnisse haben müssen, erforscht werden kann.
l. DER MENSCHLICHE KÖRPER Mein Körper ist die Wohnstätte, in der mein Geist und meine Seele leben müssen, von der Geburt bis zum Tod. Er ist das Hauptinstrument, mit dem ich auf die Welt wirke und meine Ziele verwirkliche. Sein gesundheitlicher Zustand und seine Einsatzfähigkeit — nicht nur jetzt, sondern für den Rest meines Lebens — werden alles beeinflussen, was ich denke, fühle, sage und tue. Damit soll gesagt werden, daß meine erste Pflicht darin besteht, dieses einzigartige Instrument richtig zu pflegen. Dafür muß ich* es erst einmal gründlich kennen. Ich muß es als lebendigen Organismus verstehen und ich muß auch die Eigentümlichkeiten dieses besonderen Körpers kennen. Ernährung Ich muß wissen, welche Nahrung gut und welche schädlich ist, wieviel und wie oft mein Körper Nahrung braucht, was ich trinke und was ich vermeide. Diese Erfordernisse sind verschieden, und jeder
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muß sie für sich selbst feststellen. Zu viel zu essen, oder zu wenig, kann unseren Körper schnell verkommen lassen. Atem Die meisten Leute atmen schlecht, weil sie nie gelernt haben zu atmen. Wir dürfen nicht vergessen, daß die sitzende Haltung für den Menschen unnatürlich ist und zu Schädigungen führt — besonders des Atmungssystems. Wir müssen lernen, richtig zu atmen. Falsches Atmen verkürzt das Leben. Körperhaltung Nicht nur die sitzende Haltung ist unnatürlich. Bei unserem Lebensstil werden Haltungen zur Gewohnheit, die den Blutkreislauf stören, unser Nervensystem belasten und unserem geistigen Zustand abträglich sind. Wir müssen lernen, unseren Körper richtig zu halten im Sitzen, Stehen, Gehen und sogar im Liegen. Sinne Die meisten Menschen wissen ihre Sinne nicht zu gebrauchen, Augen, Ohren, Geruchssinn, Geschmack und Tastsinn. Sie können sich gar nicht vorstellen, wieviel sie dadurch verlieren, daß sie ihre Wahrnehmungsorgane nicht trainieren. Bewegung Körperbewegungen verbrauchen Energie. Plumpe und überflüssige Bewegungen beeinträchtigen nicht nur das Funktionieren des Körpers, sondern beeinflussen auch unseren Gemütszustand. Wir sollten uns mit dem natürlichen Rhythmus körperlicher Bewegungen vertraut machen und lernen, sie zu kontrollieren. Die Haut Die Haut des Menschen ist eine der wichtigsten Kontaktstellen mit seiner Umgebung. Durch die Haut werden verschiedene Energien und Substanzen aufgenommen und abgegeben. Wir sollten sie in einem aktiven Zustand halten. Viel Unsinn wird mit der Haut gemacht, besonders von Frauen. Der menschliche Körper ist — im Un-
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terschied zu den meisten Tieren — mit Schweißdrüsen ausgestattet. Schwitzen ist ein wichtiges Mittel, um schädliche Stoffe aus dem Körper auszuscheiden, aber es herrscht Unverständnis über diesen und viele andere Mechanismen des Körpers, deren Funktionieren durch die Bedingungen des modernen Lebens beeinträchtigt wird. Körperliche Aktivität Wir dürfen nicht vergessen, daß sich der menschliche Körper in seiner jetzigen Funktionsweise während der Eiszeit unter sehr viel härteren Bedingungen entwickelt hat, als wir sie heute haben. Seine ganze Konstruktion ist auf physische Aktivität ausgerichtet. Wenn das vernachlässigt wird, leidet darunter nicht nur der Zustand der Muskeln, sondern auch der aller anderen Systeme: Nerven, Verdauung, Atmung und besonders der Blutzustand. Übermäßige athletische Anstrengung ist kaum weniger schädlich als ein Leben, das überwiegend sitzend zugebracht wird. Entscheidend ist, daß man die Bedürfnisse seines Körpers erforscht und in angemessenen Intervallen — vielleicht alle fünf Jahre — feststellt, wieviel physische Betätigung er braucht, um bei guter Gesundheit zu bleiben. Die Betonung der Notwendigkeit, den eigenen Körper zu kennen, mag den Eindruck erwecken, als würde ich einer zwanghaften Beschäftigung mit dem eigenen Gesundheitszustand das Wort reden, was dem psychischen Gleichgewicht bekanntlich äußerst abträglich ist. Dieser Gefahr entgehen wir, wenn wir uns daran erinnern, daß der Körper ein Instrument ist, das gebraucht werden soll. Es geht uns nicht um seine Schmerzen und Wehen, seine augenblicklichen Bedürfnisse und Impulse, sondern um sein gutes Funktionieren. Wir müssen in der Lage sein, die Leistungen einzuschätzen, die wir ihm ohne Risiko abverlangen können. Viele Leute haben Angst davor, ihrem Körper weh zu tun, sich zu übermüden oder zu verletzen. Das ist eine krankhafte Einstellung, die vermieden werden muß. Der rauhe Sport, den man als Junge treibt, hat viel für sich. Ich bin mein Leben lang dankbar, daß ich eine Leidenschaft für Rugby hatte und Arme und Knöchel gebrochen habe, ehe ich zwanzig war.Ich bin auch dankbar für meine Zeit an der Westfront 1917/18, wo ich Gelegen-
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heit hatte zu lernen, daß man in kaltem Schlamm schlafen oder 48 Stunden überhaupt nicht schlafen kann, ohne Schaden zu nehmen. Seinen Körper zu kennen, seine Kräfte und seine Grenzen, ist etwas ganz anderes als zwanghaftes Besorgtsein. Es ist leider nicht einfach, Lehrer zu finden, die uns helfen können, unseren Körper in dieser Weise zu erkunden. Wir müssen es selbst tun — durch Beobachtung und Experiment.
2. DER MIND* — ZENTREN UND ENERGIEN Wir können den mind als unser inneres Zuhause betrachten und den Körper als äußeres Zuhause. So weit unsere Erfahrung von uns selbst und der Welt geht, leben wir in unserem mind. Ich habe es so ausgedrückt, um den Unterschied zwischen Ich und meinem mind zu betonen, ein Unterschied, der so eindeutig und leicht zu verifizieren ist, wie der Unterschied zwischen Ich und meinem Körper. Ich bin nicht mein mind Bevor wir zu der Frage weitergehen, was der mind ist und wie er arbeitet, müssen wir sicher sein, daß wir die Antwort auf die Frage wissen: "Bin ich mein mindT', oder anders gesagt: "Gibt es irgendetwas in mir, das weder mein mind noch mein Körper ist?" Für mich persönlich gibt es an dieser Frage keinen Zweifel. Wenn ich beobachte, was in meinem mind vorgeht (es ist im Augenblick nicht wichtig, was wir genau mit mind meinen; nennen wir es den ganzen Strom von Erfahrung, den ich zum Teil bemerke und zum Teil nicht bemerke), so finde ich immer ein nicht-mentales Element, das ich 'Ich' nennen kann. Das führt mich zu der Behauptung, daß das Ich nicht mein mind ist, und auch nicht ein Teil davon. Ich bin nicht meine Gedanken, seien sie trivial oder erhaben, nicht meine Gefühle; nicht meine Freuden und meine Leiden, nicht meine Empfindungen von Lust und *Das englische Wort mind ist ein Begriff, der das Innenleben des Menschen im allgemeinen bezeichnet. Dafür haben wir im Deutschen nur gesonderte Begriffe: Psyche, Geist, Verstand, Vernunft. Im Text wird das Wort mind und das Adjektiv mental in diesem allgemeinen Sinn verwandt und das Wort Geist {geistig) als Entsprechung für spirit (Spiritual) vorbehalten. (G.K.)
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Unlust, nicht einmal die seltenen und wunderbaren Einsichten, die mich davon überzeugen, daß es eine höhere Realität gibt, die ich kaum hoffen kann, jemals zu erreichen. Ich bin nicht einmal von derselben Art. Deswegen sage ich, daß ich eine direkte Gewißheit habe, daß das Ich nicht mein mind ist. Unser mind ist unser inneres Zuhause In gewisser Hinsicht lebe Ich in meinem mind. Ich scheine nicht immer da zu sein; ich weiß nicht, wo ich bin, wenn ich schlafe oder in ein Koma falle. Selbst wenn ich in Tagträumen verloren oder ganz und gar auf eine handwerkliche Arbeit konzentriert bin, so daß ich meiner mentalen Prozesse nicht mehr gewahr bin, scheint es gerechtfertigt zu sagen, daß ich nicht mehr in meinem mindbm. Die Redewendung 'außer sich sein' hat hier ihre Wurzel. Es ist deswegen wohl nicht abwegig zu sagen, daß ich in meinem mind in ganz ähnlicher Weise lebe wie in meinem Haus. Ich bin gewöhnlich da und es ist das Zentrum meines Lebens, aber man trifft mich nicht immer zu Hause an. Es scheint auch Regionen im mind zu geben, die wir selten oder nie besuchen. Da gibt es das Blaubartszimmer des Unbewußten, vor dem uns Freud und seine Anhänger warnen, uns aber doch sagen, daß wir lernen müssen, damit zu leben. Es gibt auch mentale Erfahrungen, die so ungewöhnlich und wundervoll sind, daß wir uns das Leben lang an sie erinnern und vielleicht versuchen, den Weg dorthin wieder zu finden. Der mind ist wie ein altes Haus mit geheimen Zimmern und Lagerräumen und mehreren Stockwerken. Wir kennen es nicht gut genug, und der beste Teil des Lebens entgeht uns, weil wir hauptsächlich im Keller oder bestenfalls im Erdgeschoß wohnen. * Der mind hat verschiedene Funktionen Wenn man Sie fragen würde: "Wofür ist Ihr mind da?", würden Sie wahrscheinlich antworten: "Um zu denken." Aber unser Denken wird vom Zustand unseres Körpers beeinflußt, besonders dann, wenn uns sein Zustand bewußt wird. Heftiges Zahnweh, alkoholische Vergiftung oder eine Migräne setzen unsere Denkfähigkeit aus-
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ser Kraft. Starke Gefühle färben unsere Gedanken so sehr, daß sie aufhören, rational oder auch nur zusammenhängend zu sein. Ein festes emotionales Vorurteil wird uns daran hindern, auch das klarste Argument anzunehmen. Aufregende Sinneseindrücke lenken uns vom Denken ab. All das spielt sich im mind ab. Die verschiedenen Aktivitäten können nebeneinander herlaufen, ohne sich zu stören, sie können sich aber auch verbinden und gegenseitig verstärken. Die einfachste Erklärung für diese Beobachtungen ist die Annahme, daß es für das Denken, für die Gefühlszustände und für die Empfindungen des Sehens, Hörens, des Schmerzes usw. verschiedene Mechanismen gibt. Gurdjieff nennt diese Mechanismen Zentren oder Gehirne und unterscheidet grundsätzlich drei: das intellektuelle, das emotionale und das instinktiv-motorische Zentrum. Ich habe sie Mechanismen genannt, und als solche sollten sie studiert werden. Über vierzig Jahre lang habe ich das Verständnis meiner eigenen psychischen Prozesse auf dieses Erklärungsmuster gegründet und habe — wie tausend andere, die irgendeinem Zweig des Gurdjieff-Systems gefolgt sind — immer wieder festgestellt, daß es mir hilft, meine Erfahrungen zu verstehen. Das Studium der Zentren ist eine durchaus praktische Angelegenheit. Das instinktiv-motorische Zentrum Der Körper hat sein eigenes Gehirn. Vor allem hat er seine eigenen Fertigkeiten, die durch Denken oder Fühlen nicht ersetzt werden können. Er hat sein eigenes Erinnerungsvermögen an Orte, Handlungen, Zusammenhänge. Sein Gehirn arbeitet weitaus schneller als das Denken. Wir können seine Geschwindigkeit nicht nur in Krisenmomenten beobachten, sondern in vielen Situationen, wo schnelle Anpassung notwendig ist, um eine schwierige körperliche Handlung auszuführen. Tausende von Sinnesimpulsen und muskulären Anpassungen vollziehen sich in einem Zeitraum, der vielleicht für einen Gedanken ausreicht. All das gehört zum Kennenlernen des Körpers, worüber ich im vorigen Abschnitt gesprochen habe. Es ist nutzlos, dies als interessante Theorie zu betrachten; nur wenn wir sie verifizie-
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ren und uns zu eigen machen, werden diese Gedanken für uns Wert haben. Das Gefühls-zentrum Auch unsere Gefühle haben ihr eigenes Gehirn. Seine Hauptfunktion besteht darin, die treibende Energie zu konzentrieren, die uns befähigt, wirksam zu handeln. Diese Energie ist nicht blind und unterscheidungslos, vielmehr gelenkt und zielgerichtet. Unser Gefühlszentrum gibt unserem Handeln augenblicklich eine Richtung. Diese Richtung kann sich von dem, was unser Verstand anstrebt, unterscheiden oder ihm sogar entgegenstehen, und zwischen beiden kann es zum Konflikt kommen. Das Gefühlszentrum ist auch der Ort der mechanischen, unreflektierten Entscheidungen, die den größten Teil unseres Lebens beherrschen. Wir sollten erkennen, daß diese Entscheidungen selten rational sind, uns aber dennoch binden und unsere Handlungen bestimmen. Wenn unsere Gefühlsentscheidung mit dem übereinstimmt, was wir intellektuell für vernünftig und richtig halten, dann können wir mit innerem Frieden handeln, denn es gibt innerhalb des mind keinen Konflikt. Aber wir müssen uns durch Selbstbeobachtung auch davon überzeugen, daß die Gefühlsentscheidung eine Kraft hat, die auch ein noch so rationaler und klarer Gedanke nicht erzeugen kann. Das Gefühlszentrum ist die Quelle unserer Stärke. Wenn es stabil ist und einen inneren Zusammenhang hat, dann ist auch unser Verhalten stark und stimmig. Schließlich müssen wir lernen zu erkennen, daß es Einsichten des Gefühls gibt. Sie durchdringen die Komplexität einer Situation schneller und tiefer als das Denken. Durch sie gewinnen wir eine besondere Art von Wissen, das in Worten selten angemessen ausgedrückt werden kann. Dieses intuitive Wissen ist sehr wichtig, weil alles, was vom Gefühlszentrum kommt, die Qualität der Überzeugung hat. Wir wollen ihm glauben und sind bereit, jeden intellektuellen Einwand zu ignorieren, den unser Kopf vielleicht hervorbringt. Es ist deswegen wichtig, daß wir die Begrenzung des Gefühlszentrums verstehen und lernen, unseren Eingebungen nicht zu trauen, sofern wir nicht einen Weg finden, sie zu erhärten. Es empfiehlt sich zu beob-
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achten, wie oft wir feststellen müssen, daß sich unsere intuitive Gewißheit als falsch erweist. Dennoch brauchen wir Intuition: das Leben wäre ohne sie farblos und zu passiv. Worum es hier geht, ist, daß wir uns mit der Funktionsweise unseres eigenen Gefühlszentrums vertraut machen und diese Erkenntnis berücksichtigen, wenn wir lernen wollen, mit unserem Leben zurechtzukommen. Das intellektuelle Zentrum Unser Denken vollzieht sich hauptsächlich als inneres Gespräch, wobei wir die gewöhnliche Sprache gebrauchen, so als würden wir Selbstgespräche führen. Diese Art von Denken ist notwendigerweise durch das Instrument, das es gebraucht, begrenzt. Wir können nicht in Worten denken, was in Worten nicht gesagt werden kann. Das intellektuelle Zentrum ist jedoch nicht wesenhaft an Worte gebunden. Es kann jede Art von Bild oder Symbol gebrauchen: aber es kann nicht ohne eine Form der Repräsentation arbeiten. Das ist sowohl seine Stärke wie seine Schwäche. Es ist seine Stärke, weil wir uns nicht nur vergegenwärtigen können, was jetzt und hier geschieht, in diesem gegenwärtigen Augenblick, sondern auch das, was war, was sein wird oder anderswo geschieht. Das ist ein wunderbarer Vorgang und er unterscheidet wahrscheinlich den Menschen vom Tier. Mit Hilfe des Denkens können wir den gegenwärtigen Augenblick überschreiten, nicht nur in den Dimensionen von Zeit und Raum, sondern auch in den zeitlosen Dimensionen von Logik und Form. Der größere Teil unserer spezifisch menschlichen Aktivität beruht auf unserer Fähigkeit, unsere Gedanken über den gegenwärtigen Augenblick hinaus zu projizieren. Zweifellos haben Tiere ein Gedächtnis, aber es gibt keinen Hinweis darauf, daß sie aus der Erinnerung Bilder vergangener Ereignisse oder Erwartungen zukünftiger Ereignisse konstruieren könnten. Bei Tieren bedeutet 'aus den Augen' sicherlich auch 'aus dem Sinn'. Bei uns Menschen ist das nur ein relativer Zusammenhang. Wir studieren unsere Gedankenprozesse nicht mit hinreichender Objektivität. Wir haben ein großartiges Instrument zur Verfügung und verbringen Jahre damit, es zu trainieren, aber nur sehr wenig Zeit, um herauszufinden, wie es arbeitet. Es gibt verschiedene Tech-
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niken, mit deren Hilfe das intellektuelle Zentrum die Fähigkeit entwickeln kann, ohne Worte und ohne bildliche Vorstellung zu denken*. Das intellektuelle Zentrum hat wie die anderen eine Vielzahl von Funktionen und kann auf verschiedenen Ebenen arbeiten. Ein Vorgang, der erforscht und erkannt werden muß, ist der assoziative Mechanismus, mit dem wir zusammenhängende Ketten von Ideen und Worten produzieren. Diesen Mechanismus hat Gurdjieff formativen Apparat genannt, weil er zwar zusammenhängende Gedanken und Sätze produzieren, aber keine neuen und eigenständigen Vorstellungen hervorbringen kann. Weil dieser Apparat eng an das Gehirn gekoppelt ist, wird er ständig von allen möglichen Eindrücken, die von außen kommen, stimuliert und reagiert vor allem mit gewohnheitsmäßigen Wortketten, seien sie gesprochen oder ungesprochen. Wir neigen dazu, die Arbeit dieses Mechanismus' für wahres Denken zu halten, zum einen, weil er ständig aktiv ist, und zum anderen, weil er angemessene Antworten auf intellektuelle Fragen produzieren kann. Dieses formale Denken ist sehr irreführend. Es kann leicht darin geübt werden, im richtigen Moment das Richtige zu sagen. Heutzutage sind wir dieser konditionierten Schlauheit gegenüber argwöhnisch geworden. Sie führt zu Ja-Sagern, die das sagen und tun^ was von ihnen erwartet wird, zu Menschen, die der Propaganda der Massenmedien schutzlos ausgeliefert sind. Die enorme Verbreitung des gedruckten Wortes bewirkt eine ständige Wechselwirkung zwischen dem visuellen Eindruck des Wortes und dem assoziativen Mechanismus des formativen Apparats. Neben anderen Nachteilen erschwert das die Aktivierung der bewußteren und schöpferischen Teile des intellektuellen Zentrums außerordentlich. Wegen seiner mechanischen Arbeitsweise ist der formative Apparat kaum zur Initiative in der Lage und wird hauptsächlich durch sexuelle, emotionale und sinnlich-motorische Impulse in Bewegung gesetzt. Ich habe nicht versucht, die Zentren und ihre Funktionsweise er•Siehe Creative Thinking. l.G. Bennett, Coombe Springs Press 1969 und 1975.
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schöpfend zu behandeln. Es kommt darauf an, sie selbst zu erforschen. Sie sind von Mensch zu Mensch verschieden entwickelt, und jeder von uns muß die eigenen Besonderheiten herausfinden. Es erfordert spezielle Übungen, um den formativen Apparat richtig zu studieren. Die verschiedenen Ebenen der Zentren Da ich dieses Thema in mehreren Büchern und Schriften* behandelt habe, werde ich hier nur eine Zusammenfassung geben. Die grundlegenden Ideen stammen von Gurdjieff, aber sie sind aus seiner Darstellung so schwer herauszulösen, daß wir am Institut für Vergleichende Studien noch einmal von vorne angefangen haben. Nach mehreren Jahren des Experiments und der Beobachtung haben wir ein Kategoriensystem entwickelt, das, wie ich glaube, sowohl für die Erziehung und Schulung im täglichen Leben von größtem Nutzen ist als auch für jene, die nach Transformation und dem Erreichen einer höheren Seinsebene streben. Die erste Idee, die es zu verstehen gilt, ist die, daß alles, was geschieht, sei es in materiellen, lebendigen, intellektuellen oder geistigen Prozessen, auf Transformation von Energie beruht. In lebenden und unbelebten Körpern, die von Physikern, Chemikern und Biologen studiert werden, ist das offenkundig. Man kann annehmen, daß das gleiche für Prozesse gilt, die sich in unserem mind abspielen. Jeder Gedanke, jede Empfindung, jedes Gefühl wird durch Energieaustausch hervorgebracht, aber es sind andere Energien oder zumindest sind sie in einem anderen Zustand als jene Energien, die Körperbewegungen oder chemische Veränderung bewirken. Es gibt zwölf große Klassen oder Ebenen der Energie: vier in der materiellen Welt, vier in der Welt der belebten Materie und vier in der geistigen Welt**. Nur fünf sind von direkter Bedeutung für die menschliche Psyche, und ich werde deswegen nur diese fünf beschreiben, beginnend mit der obersten und mächtigsten Energie. (Von oben nach unten werden sie mit El, E2 etc. bezeichnet.) •Siehe Creative Thinking, a.a.O., und How we do things, J.G. Bennett, Coombe Springs Press; Deutsch: Wie wir Dinge tun, Verlag Bruno Martin, Frankfurt M. "Siehe Energien, Verlag Bruno Martin, Frankfurt M.
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E3: Schöpferische Energie Es handelt sich um eine über-bewußte Energie, jenseits des gewöhnlichen Funktionsbereichs des mind, und dennoch hat sie große Bedeutung für uns, denn, wie ihr Name sagt, ist sie die Quelle aller wahrhaft schöpferischen Aktivität. Sie arbeitet nicht direkt durch die drei Zentren. Wir können deswegen ihre Arbeitsweise nicht direkt beobachten und sie nur an ihren Wirkungen erkennen. Deswegen hat jede echte schöpferische Arbeit den Charakter der Spontaneität und des Unerwarteten. Der schöpferische Ein-fall kommt sozusagen 'aus heiterem Himmel'. Die schöpferische Energie kann sich in Momenten wirklich neuer, intellektueller Einsicht zeigen — wir sprechen zu Recht von Geistesblitz — oder in der direkten, wortlosen Kommunikation zwischen zwei Menschen, wenn sie entdecken, daß sie eins sind. Am direktesten wird sie in der sexuellen Vereinigung erfahren, sofern dies ein wahrer Akt des Opfers ist, wie er in Kapitel eins beschrieben wurde. Es gibt die Kreativität des Gefühls, mit deren Hilfe große Entscheidungen gefällt werden. Die instinktiv-motorische Kreativität ist ein notwendiges Element jeder schöpferischen Arbeit, sei sie künstlerisch oder wissenschaftlich. E4: Bewußte Energie Sie gehört zur höchsten Ebene der mentalen Erfahrung. Bewußtsein ist eine universale Energie, die nicht auf unseren eigenen, privaten gegenwärtigen Augenblick begrenzt ist. Wenn sich unser Ich im bewußten Bereich des mind befindet, dann kann es sich neben unsere mentalen Prozesse stellen. Es ist sehr wichtig, diese Aussage selbst zu verifizieren, weil es Sie befähigen wird, in der eigenen Erfahrung zu überprüfen, was Bewußtsein wirklich bedeutet. Unsere mentale Erfahrung gewinnt durch Bewußtsein eine zusätzliche Dimension, neben Zeit und Raum eine Dimension der Tiefe. Bewußte Energie befähigt uns, uns selbst und unsere mentalen Prozesse zu kritisieren und zu beurteilen, weil wir uns danebenstellen können. Bewußte Energie erlaubt die selbständige, konstruktive Aktivität aller drei Zentren, die sich dann in einem einzigen Feld der Erfahrung vereinigen können. Das geschieht nicht immer, weil die bewußte
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Energie auch in einem einzigen Ort konzentriert sein kann. Wenn die Zentren auf der bewußten Ebene arbeiten, dann wissen wir, daß wir die Freiheit haben, nach eigener Entscheidung zu denken, zu fühlen und zu handeln, und nicht unter dem Zwang äußerer Einflüsse und Gewohnheiten. Ich muß betonen, daß ich das Wort 'bewußt* anders verwende als es im Sprachgebrauch üblich ist. E5: Sensitive Energie Durch sensitive Energie nehmen wir wahr, was vor sich geht. Da wir üblicherweise Wahrnehmung mit Bewußtsein verwechseln, bedarf diese Definition einiger Erklärung. Ich gebrauche das Wort Wahrnehmung in einem sehr breiten Sinn, um jede Art von Erfahrung damit zu bezeichnen. Wir nehmen visuelle Eindrücke und Geräusche wahr, Schmerz, Unbehagen oder Wohlbefinden. Wir nehmen auch Gedanken, Assoziationen, Gefühle, Eingebungen und Einsichten wahr. In den seltenen Fällen, wo wir wirklich bewußt sind, nehmen wir wahr, daß wir bewußt sind. Ich würde deswegen sagen, daß alle Erfahrung Wahrnehmung ist, daß es aber verschiedene Ebenen der Wahrnehmung gibt. Die höchste Ebene ist Bewußtsein (da Kreativität jenseits des Bewußtseins ist) und die niedrigste ist Automatismus (worüber wir als nächstes sprechen werden). Meist sind wir im Zustand der Sensitivität, in dem wir nur in einem Zentrum wahrnehmen, was im gegenwärtigen Augenblick vor sich geht, während die anderen Zentren nichts davon wissen. Der gewöhnlichste Zustand ist der, daß wir nur die Aktivität des formativen Apparats wahrnehmen: wir erkennen ihn an jenem sinnlosen inneren Dauergespräch, das wir mit uns selbst oder niemandem führen. Es wird unterbrochen, wenn unsere Aufmerksamkeit von einem Anblick, einem Geräusch oder einer körperlichen Empfindung angezogen wird. Diese Beobachtung mag helfen, den Charakter der sensitiven Energie zu erkennen: sie produziert eine begrenzte Wahrnehmung und nicht ein Bewußtsein des gesamten gegenwärtigen Augenblicks. Sie kann mit einer Taschenlampe verglichen werden, die das beleuchtet, worauf sie gerichtet ist, aber nicht den ganzen Raum erhellt. Bewußtsein ist wie ein helles Licht in der Mitte des Raumes.
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Ein anderer Zugang zur sensitiven Energie ergibt sich, wenn wir sie uns wie eine klebrige Substanz vorstellen, die zwei Oberflächen zusammenhält. Wenn ein Teil eines Zentrums in dieser Weise klebenbleibt, dann nennen wir das aufmerksam sein, und den Moment des Klebenbleibens nennen wir bemerken. Wenn wir untersuchen, was beim Übergang von einem Zustand des Nicht-Bemerkens in einen Zustand des Bemerkens geschieht — was in wenigen Tagen möglich ist — so'werden wir zu der Überzeugung kommen, daß ein gewisses Etwas wirksam ist. Dieses Etwas nennen wir sensitive Energie. Nehmen wir ein Beispiel: Ich sitze an meinem Schreibtisch. Ich bemerke nicht, welche Farbe der Schreibblock vor mir hat, obwohl ich ihn eine halbe Stunde lang betrachtet habe. Plötzlich bringt mich etwas dazu, es zu bemerken. Ich nehme wahr, daß ein Kontakt entstanden ist, der einen Augenblick vorher noch nicht dagewesen ist. Diese Schwankungen der sensitiven Energie vollziehen sich ständig, und manchmal bemerken wir mit einem ziemlichen Schock, daß wir sprechen, ohne wahrzunehmen, was wir sagen, oder daß wir lesen, ohne die Bedeutung der Worte zu erfassen. Solche Beobachtungen zeigen uns, daß wir in einem Teil unseres mind sein können, ohne es zu wissen. E6: Automatische Energie Unsere Zentren können ohne wirklichen Kontakt zu dem jeweili^ gen Geschehen funktionieren, und dennoch kann die Handlung gut koordiniert und zweckentsprechend sein. Gewöhnlich gehen wir auf diese Art, ohne zu bemerken, wie wir gehen. Die meisten unserer instinktiven Prozesse funktionieren ohne Sensitivität. Von irgendeiner Energie müssen sie jedoch gespeist werden : ich nenne sie automatische Energie. Das automatische Funktionieren unserer Zentren ist die Basis unserer Existenz, ob wir schlafen oder wach sind. Wir befinden uns weit häufiger in einem Zustand des Automatismus ohne Sensitivität, als wir glauben — aus dem einfachen Grund, weil wir das automatische Funktionieren nicht bemerken. Die automatische Energie bezeichnet die Untergrenze des mind: jenseits dieser Grenze sind die Funktionen eher physiologisch als mental. Obwohl Wahrnehmung nur eine minimale Rolle spielt, gera-
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de soviel, daß sie noch als mentale Energie qualifiziert werden kann, ist die automatische Energie für das normale Funktionieren des mind dennoch notwendig. Die sensitive Energie ist ständig im Fluß — in der Form umherschweifender Gedanken ist uns dieser Zustand wohl vertraut —, so daß unsere Handlungen ihren Zusammenhang verlieren würden, wenn es keinen mentalen Mechanismus gäbe, der ohne Aufmerksamkeit funktionierte. E7: Vegetative Energie Unsere mentale Aktivität wird von physiologischen Vorgängen getragen, besonders von denen des Nervensystems und dem chemischen Leben des Blutes. Unser Organismus hat seinen eigenen regulativen Mechanismus, um das Gleichgewicht seiner hochkomplexen Funktion zu erhalten und wenn notwendig wiederherzustellen. Wir nehmen wahr, wenn dieser Regulator nicht normal funktioniert, selbst wenn das noch keine Schmerzen oder andere auffällige Symptome nach sich zieht. Wir wissen auch, was es für ein Gefühl ist, wenn wir uns in einem Zustand aktiver, normaler Gesundheit befinden. Es scheint deswegen richtig, die vegetative Energie des Organismus den Energien zuzurechnen, die mit dem mind verbunden sind. Wahrscheinlich gehört alle Aktivität im Bereich zwischen der automatischen und der vegetativen Energie zum 'unterbewußten' mind. Sie beeinflußt zweifellos den Teil des mind, den wir Bewußtsein nennen. Für alle, die lernen oder lehren, wie die mentalen Kräfte verbessert werden können oder Transformation zu höheren Ebenen erreicht werden kann, ist es meiner Meinung nach außerordentlich nützlich, sich mit dem Konzept der fünf Energien und den entsprechenden Funktionsebenen vertraut zu machen. Einen Zugang bieten Beobachtung und Experiment, einen anderen das Studium der verschiedenen Aktivitäten des Menschen, von genialen Werken der Kunst und Wissenschaft bis zu alltäglichen Routinehandlungen, indem wir feststellen, welche Kombination von Energie und Funktionen daran beteiligt ist. Diese Übung ist aufschlußreich und lohnend. Sie ist es wert, gewissenhaft ausgeführt zu werden, weil sich viele Fragen des menschlichen Lebens dabei klären.
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Unsere Untersuchungen haben ergeben, daß sich der gesamte Bereich wissenschaftlicher, menschlicher und geistiger Phänomene, der beobachtet und beschrieben werden kann, in den Kategorien von zwölf Energien fassen läßt. Sie reichen von Hitze, der untersten und am wenigsten organisierten Energie, bis zu einer vermuteten höchsten Energie, die den gesamten Prozeß des Universums lenkt. Auf jeder Ebene gibt es verschiedene Qualitäten von Energie. Zum Beispiel gibt es die Empfindungs-Energie, die Gefühls-Energie und die Gedanken-Energie, die alle zur Ebene der sensitiven Energie E5 gehören. Die Kombination und Vermischung verschiedener Energien führt zu spezifischen Ergebnissen. Es ist anzunehmen, daß sich die höheren Energien in stabiler Form organisieren können. Ich bin überzeugt, daß es Gedankenformen gibt, die durch gewisse mentale Übungen geschaffen werden können, und daß diese in der Lage sind, die gröberen Energien zu beeinflussen und zu organisieren. Der Ausdruck 'Geist über Materie' bezeichnet sicherlich eine mögliche und wichtige Realität. Das Prinzip ist einfach: Jede höhere Energie hat die Kraft, die niedrigeren zu organisieren. Sensitivität kann die automatischen Vorgänge steuern. Wenn ich sage: "Ich setze mich hin und schreibe", dann ist es die sensitive Energie, die die erforderliche Bewegungsreihe organisiert. Bewußtsein kann die Sensitivität organisieren, wenn wir zum Beispiel die Entscheidung treffen, mit einer Schwäche zu kämpfen oder unsere Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Thema zu lenken. Die Entscheidung fällt unser Wille, aber ausgeführt wird sie von der bewußten Energie, die Macht über Gedanken und Gefühle hat. Das Beispiel zeigt jedoch, daß es eine Grenze gibt, die von dem Maß an bewußter Energie gesetzt wird, welche zu einem gegebenen Augenblick zur Verfügung steht. Wir können das leicht überprüfen, wenn wir beobachten, wie wir für eine gewisse Zeit ein aktives, kritisches Ineresse an einem Buch, das wir lesen, oder einem Thema, über das wir meditieren, aufrechterhalten können, und es dann plötzlich erlöscht, wie eine Lampe, bei der das Öl zu Ende ist. Was noch vor einer Minute leicht war, ist jetzt unmöglich. Wenn wir ein paar Minuten ausruhen, oder besser eine körperliche Übung machen, merken
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wir, daß der Brennstoff wieder aufgefüllt ist. Wir werden feststellen, daß der fragliche Brennstoff nicht das Lesen und Denken als solches ermöglicht (denn dazu bedarf es keiner kritischen Aufmerksamkeit), sondern das Bewußtsein hinter dem Lesen und Denken. Wir dürfen vermuten, daß die höhere und mächtigere schöpferische Energie fähig ist, das Bewußtsein zu organisieren. Das macht die Erfahrung verständlich, von der Künstler und Denker so häufig berichten, daß in Momenten der Inspiration der intuitive Sprung eher ein Finden oder Entdecken ist als eine bewußte Konstruktion. Unter bestimmten Bedingungen kann die schöpferische Energie in mehreren Menschen gleichzeitig wirken. Deswegen werden wichtige Entdeckungen so häufig von verschiedenen Forschern gleichzeitig gemacht, die unabhängig voneinander arbeiten und nichts voneinander wissen.
3. MIND UND SEELE Der plausibelste Einwand gegen den Glauben, daß der Mensch eine Seele habe, ist der, daß wir nichts dergleichen finden, wenn wir unseren eigenen mind und sein Funktionieren betrachten. Wir können auch nicht feststellen, daß irgendein Teil unseres Verhaltens einem vermuteten nicht-materiellen, geistigen Prinzip zuzuschreiben ist, das getrennt vom mind existiert. Dennoch bleibt die Frage der Seele wichtig. Heutzutage glauben die meisten Leute, daß diese Frage durch die Wissenschaft der Psychologie ein für alle Mal überflüssig geworden sei (eine Wissenschaft der Seele in der wörtlichen Bedeutung des Begriffes, die sich rühmt, mit dieser Hypothese aufgeräumt zu haben) und daß auch der mind nur eine Aktivität des Gehirns sei. Da dieses Kapitel vom Wissen handelt, müssen wir herausfinden, ob eine Möglichkeit der Aussöhnung besteht zwischen der mechanistischen oder materiellen Vorstellung vom Menschen und dem Glauben, daß der Mensch mehr als bewegte Materie sei. Wir sollten den Versuch machen und sei es nur, weil es schwer zu glauben ist, daß unser Ich — das in uns, was Freude und Leiden erlebt, was wissen und verstehen will, worum sich das Le-
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ben dreht — nichts weiter ist als ein chemisches oder elektrisches Phänomen oder ein mechanisches Ergebnis. Es genügt nicht zu sagen: "Ich kann und will den Glauben nicht aufgeben, daß ich eine Seele habe." Es gab eine Zeit, in der die Menschen sagten: "Wir können und wollen den Glauben nicht aufgeben, daß die Erde das Zentrum des Universums ist." Einige glauben immer noch, daß der Mensch der Gipfel der Schöpfung sei und das ganze Universum für den Nutzen des Menschen geschaffen sei. Ich habe intelligente Mohammedaner getroffen, die daran keinen Zweifel hatten, die auch nicht daran zweifelten, daß alles, was in der Welt geschieht, direkt von Gott gelenkt wird, ohne daß Naturgesetze dazwischen treten. Wie können wir sicher sein, daß die Nicht-Existenz der Seele nicht in Kürze in einem wissenschaftlichen Experiment erwiesen wird, auch wenn das bisher noch nicht als unumstößliche Tatsache gilt? Den Leser, der mit frühen buddhistischen Schriften nicht vertraut ist, wird es interessieren, daß es darin heißt, Buddha habe — vor mehr als 2500 Jahren — durch einfache wissenschaftliche Tests demonstriert, daß der Mensch keine Seele habe. Das ist der Ursprung der sogenannten Avatta oder Nicht-Seelen Lehre der buddhistischen Psychologie. \ Mich hat diese Frage vollkommen verwirrt, bis ich Gurdjieffs einfache Erklärung hörte: "Der Mensch hat keine Seele, wenn und solange sie sich nicht in ihm bildet. Er hat die Möglichkeit einer Seele/ und die Materialien, aus denen sie gemacht werden kann, aber sofern er das nicht tut, haben diese Stoffe keine dauerhafte Struktur und werden sich nach dem Tode des Körpers auflösen und zu dem Ort oder dem Zustand zurückkehren, von dem sie kamen." Mir erschien diese Theorie einleuchtend. Sie war in Übereinstimmung mit meiner persönlichen Überzeugung, daß die Annahme der bedingungslosen Unsterblichkeit der Seele, wie ich das in der Schule gelernt hatte, nicht wahr sein könne. Sie führt zu der Lehre von der ewigen Erlösung oder Verdammnis aller, die mir immer ungeheuerlich erschien. Unabhängig von dem, was vielleicht Psychologen dazu sagen, waren zwei Dinge für mich sicher: Erstens, daß ich nichts in mir finden konnte, was beständig und vom physischen Körper unabhängig war. Und zweitens, daß Ich nicht mit meinem Körper oder meinem mind
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identisch war und daß dieses Ich das Potential hatte, zu mehr zu werden als einem unzuverlässigen Bewohner einer vergänglichen Behausung, sei es Körper, mind oder beides. Der Vergleich des Seelenstoffes mit Metallstaub in einem Schmelztiegel ohne dauerhafte Zusammensetzung und Form scheint mir treffend. Unter der Einwirkung von Hitze können diese Substanzen geschmolzen werden und sich zu einer stabilen Legierung verbinden, ein Gebilde mit fester Zusammensetzung und dauerhaften Eigenschaften. Ich nahm an, daß die für den Legierungsprozeß notwendige Hitze durch den Kampf zwischen Ja und Nein erzeugt werde. Zwanzig oder dreißig Jahre vergingen, eine Zeit, in der ich aufrichtige Anstrengungen machte, diesen Kampf aufrechtzuerhalten, manchmal sehr intensiv, manchmal abgelenkt von einem sehr aktiven äußeren Leben — aber die Fusion fand nicht statt und ich war mit fünfzig ebenso unstabil und Stimmungsschwankungen unterworfen wie mit zwanzig. Ich fragte mich allmählich, ob ich aufs falsche Pferd gesetzt hätte. Dann begannen verschiedene Dinge sich zu ereignen, und ich entdeckte, daß nicht nur Hitze, sondern auch ein Flußmittel nötig ist. (Das Flußmittel entspricht der Hilfe, über die ich am Ende des letzten Kapitels geschrieben habe.) Ich erkannte auch, daß es so gut wie unmöglich ist, allein durch inneren Kampf die notwendige Hitze zu erzeugen, und daß sich der Prozeß durch Opfer gänzlich veränderte. Die Erfahrung der letzten zwanzig Jahre, also nach meinem fünfzigsten Lebensjahr, hat mich überzeugt, daß Seelenbildung möglich ist und nicht so erschreckend schwer, wie es den Anschein gehabt hatte. Daß ich eine Seele habe, wurde mir zur Gewißheit, als ich entdeckte, daß sie sich aus einem Teil meines mind gebildet hatte und in der Tat fähig ist, unabhängig von meinem physischen Körper zu existieren und die Energien von Körper und mind zu kontrollieren und zu organisieren. Ich bin überzeugt, daß die Seele aus den gleichen Energien gemacht ist wie der mind, durch einen Prozeß der Konsolidierung und Organisation. Die Seele ist ein mind, der Stabilität und Unabhängigkeit vom Körper gewonnen hat. Dieser letzte Punkt ist wichtig. Die Materialien, aus denen die Seele gemacht ist — Seelenstoff scheint der beste Name dafür — sind zuerst auf den
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Körper angewiesen, so wie in Gurdjieffs Vergleich der Metallstaub im Schmelztiegel zusammengehalten wird. Wenn der Seelenstoff organisiert und stabilisiert ist, gleicht er dem Metallklumpen, der aus dem Schmelztiegel herausgenommen werden kann. Oft muß der Schmelztiegel zerschlagen werden, um die Legierung herauszulösen, und so muß gewöhnlich auch der physische Körper des Menschen sterben, um die Seele freizusetzen. Der Leser wird bemerkt haben, daß sich meine eigene Überzeugung von gefühlsmäßiger Annahme zu intellektueller Zustimmung und von dort zur Gewissheit direkter Erfahrung entwickelt hat. Er wird fragen, ob er daraus schließen soll, daß Seelenkenntnis nur durch fünfzig Jahre langes Experimentieren mit Versuch und Irrtum erworben werden könne. Die Frage ist so wichtig, daß ich sie so gut wie möglich beantworten will. Es dürfte nicht allzu schwer sein, sich von der Plausibilität der Theorie zu überzeugen, daß wir nicht mit einer vollständigen und unsterblichen Seele geboren werden, sondern daß sie sich während des Lebens allmählich bildet. Sie stimmt mit den Tatsachen unserer Erfahrung und den Erfahrungen jener überein, die eine Seele erworben haben. Sie widerspricht jedoch der üblichen Interpretation der christlichen Lehre — eine Interpretation die eher griechisch als christlich ist —, derzufolge die Seele vollständig in den Körper eintritt und ihn so, wie sie kam, wieder verläßt, allerdings angereichert mit den Konsequenzen des gerade beendeten Lebens, und daß sie in alle Ewigkeit so weiterexistieren wird. Ich glaube, daß diese Fehlinterpretation darauf beruht, daß das Ich oder der Wille oder der Geist des Menschen mit dem Gefährt oder Gefäß oder Körper der Seele verwechselt wird. Das bemerkenswerte Gleichnis vom Hochzeitskleid (Matt. 22) und viele der Aussprüche Jesu, die in den Evangelien festgehalten sind, stimmen voll mit dem Glauben überein, daß die Seele gewonnen und verloren werden kann. ("Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewänne und nähme doch Schaden an seiner Seele.") Dieses Buch ist nicht der Ort für eine erschöpfende Diskussion so heikler Fragen wie der Theologie der Seele, so daß ich zur zweiten
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Stufe übergehen werde. Kann man Experimente und Beobachtungen anstellen, die die Theorie der Seelen-Transformation bestätigen? Wenn Sie der Ansicht zustimmen, daß Ihr Ich nicht Ihr mind oder ein Teil davon ist, sondern etwas (oder jemand), das im mind lebt, ohne an einen bestimmten Ort gebunden zu sein, dann können Sie weiter gehen und sich die Frage stellen, warum der mind dem Ich manchmal gehorcht und manchmal nicht. Ich sagte, daß das mit dem Vorhandensein bewußter Energie zusammenhängt. Die bewußte Energie stattet das Ich sozusagen mit einem Hebel aus, mit dem es auf die sensitive Energie des Denkens und Fühlens wirken kann. Das Ich oder der Wille und die bewußte Energie ziehen sich gegenseitig an, so daß sie vereinigt auf andere Energien wirken können. Ich würde das als 'provisorische Seele' bezeichnen. Jedes Mal wenn diese Vereinigung zustande kommt, bleibt etwas organisierte, bewußte Energie zurück, und so bildet sich die Seele allmählich. Wichtig ist, daß wir — noch bevor wir eine wirkliche Seele erworben haben — erfahren können, wie es ist, eine Seele zu haben: so, als ob es einen inneren Meister gäbe, dem Körper, Gefühl und Denken gehorchen. Damit stellt sich ein Gefühl der inneren Freiheit ein, ein Losgelöstsein von äußeren Dingen, vom Körper und den psychischen Vorgängen. Die Stärke und Dichte des Mantels aus bewußter Energie, der das Ich umgibt, können stark variieren. Vielleicht genügt die Energie nur, um einen Zustand des Beobachtens hervorzurufen, ohne die Kraft zu handeln. Jeder kennt den Zustand, in dem wir sehen und hören, wie wir — ganz gegen den Wunsch unseres Ich — dumm oder gewaltsam handeln. Das Ich ist dann nicht mehr als ein hilfloser Zuschauer. Im anderen Extrem kann die Konzentration bewußter Energie so groß und so gut mit der Sensitivität verschmolzen sein, daß man feststellt, vollkommener Herr seiner selbst zu sein. Ich erinnere mich, wie ich das zum erstenmal 1949 erlebte, als ich eng mit Gurdjieff arbeitete. Nach einer Nacht des Kampfes und des Opfers war ich plötzlich vollkommen frei von mir; ich war fähig, jeden beliebigen Zustand willentlich herbeizuführen, ich konnte erstaunt sein, lieben, Angst empfinden, meine Gedanken kontrollieren, und vor allem wußte ich, daß dies möglich war, weil etwas in mir gegenwärtig war,
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das alle Charakteristiken der Seele hatte, nach der ich mich auf der Suche befand. Deswegen sage ich, daß wir viel tun können, um die Seelen-Theorie zu verifizieren und den Prozeß der Seelenbildung zu erforschen; er ist schließlich ein wesentlicher Teil der Transformation, die das Thema dieses Buches ist.
4. DIE UNIVERSALEN GESETZE Obwohl Selbsterkenntnis an erster Stelle stehen muß, müssen wir auch wissen, wie die Welt — und wir als Teil der Welt — funktionieren und funktionieren könnten. Ich meine damit nicht wissenschaftliche Erkenntnis, die uns nicht wirklich sagt, wie die Dinge geschehen, sondern eher, was geschieht. Der Wissenschaft geht es darum, regelmäßige und vorhersagbare Abläufe zu entdecken und damit ein Wissen zu erwerben, welches das menschliche Handeln erfolgreicher macht und neue Wege für weitere Entdeckungen öffnet. Zum Beispiel weiß die Wissenschaft ungeheuer viel darüber, was die Elektrizität bewirkt, aber so gut wie nichts darüber, wie sie wirkt. Üblicherweise empfindet das niemand als unzureichend, weil Wissenschaftler und Technologen an Ergebnissen interessiert sind, das heißt an der Frage 'Was geschieht wenn?'. Wenn wir uns ins Feld der mentalen Prozesse begeben, kommt ein unberechenbares Element ins Spiel: die Schwankungen der Bewußtseinsebene, die spontan und unkontrollierbar sind, — wovon wir uns leicht überzeugen können. Folglich können wir nie vorhersagen, was zu einem bestimmten Moment in einem bestimmten mind vor sich geht. (Ich gebrauche den Singular, weil das durchschnittliche Verhalten vorhersagbar ist. Vor allem damit beschäftigt sich die experimentelle Psychologie.) Wir müssen uns auf ein anderes Prinzip berufen als das von Ursache und Wirkung oder Wahrscheinlichkeit. Wir können durch Wiederholung nichts verifizieren, weil sich bewußte Handlungen nicht wiederholen. Das ist nicht überraschend, sofern mein Schluß richtig ist, daß die höheren Energien des Bewußtseins, der Kreativität und der Liebe universal sind und nicht isoliert und in ein
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Reagenzglas gefüllt werden können. Sie können auf uns wirken, aber wir können nicht auf sie wirken. Jeder Versuch, sie wissenschaftlich zu untersuchen, käme einem Meerschweinchen gleich, das mit dem Psychologen, der es in den Käfig gesetzt hat, Experimente machen will. Daraus folgt nicht, daß wir keine Möglichkeit hätten, zumindest die allgemeinen Prinzipien zu verstehen, wie die Dinge funktionieren. Es gibt Universalgesetze, die erforscht werden und bei der Lösung praktischer Probleme angewandt werden können. Diese Gesetze waren in der Vergangenheit bekannt und wurden unter verschiedenen Formen und mit unterschiedlicher Zielrichtung studiert. Ich verwende den Begriff Systematics, um das Studium der Gesetze zu bezeichnen, die das Funktionieren der Welt bestimmen. Diese Gesetze bestimmen auch, was die Welt tut, aber indirekt, so daß die Wissenschaft, ohne es zu wissen, ihnen doch Rechnung trägt. Das gleiche tun erfolgreiche Praktiker. Ich werde nur die drei Gesetze beschreiben, die mir am wichtigsten scheinen, um die verborgenen Prozesse unserer Transformation zu erkennen. l. Das Gesetz der Dynamik Dieses Gesetz wird auch das Gesetz der Drei genannt. Es besagt letztlich, daß Ursache und Wirkung, oder Aktion und Reaktion nicht erklären können, wie die Dinge so geschehen, wie sie es tun. Dazu müssen wir die dritte Kraft berücksichtigen. Diese dritte Kraft ist wahrhaft geheimnisvoll, weil wir sie nicht auf dieselbe Weise ermitteln oder gar berechnen können wie Aktion und Reaktion. Das heißt nicht, daß sie unwissenschaftlich ist. Ganz im Gegenteil kommt in jedem Zweig der Wissenschaft immer wieder eine geheimnisvolle dritte Kraft zum Vorschein. Betrachten wir das Beispiel der Elektrizität. Die Idee ist uns vertraut, daß sich gleiche Pole abstoßen und ungleiche anziehen. Atome bestehen aus Partikeln mit positiver Ladung (Protonen) und mit negativer Ladung (Elektronen) und wir sollten erwarten, daß sie entweder auseinanderfliegen oder sich gegenseitig aufheben, je nach dem, ob sie gleich oder ungleich geladen sind. Die Annahme ist unabweisbar geworden, daß es eine dritte Art von Kraft gibt (Austauschkraft oder Bindekraft oder Mesonenergie), die die
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Versöhnung des Widerspruchs zwischen Positiv und Negativ bewirkt. Niemand beansprucht zu wissen, was das für eine Kraft ist oder wie sie wirkt, es genügt ihnen zu wissen, daß sie wirkt. Die moderne Physik ist voller Beispiele für bemerkenswerte Ergebnisse, die durch die Beobachtung erzielt wurden, was geschieht — beim Eingeständnis der völligen Unwissenheit, wie es geschieht. Wenn man jedoch die großartigen Leistungen der modernen Physik betrachtet — die Astrophysik eingeschlossen, die uns unglaubliche Dinge über das physische Universum enthüllt hat —, können wir immer feststellen, daß drei unabhängige Faktoren beteiligt sind. Ich habe diese Faktoren die affirmative, die rezeptive und die versöhnende Kraft genannt. Das Gesetz der Dynamik besagt, daß das Wie jeder Art von Vorgang davon abhängt, auf welche Weise diese drei Kräfte zusammenwirken. Ich werde nicht weiter darauf eingehen, weil es leichter zu verstehen sein wird, wenn wir auf tatsächliche Beispiele stoßen, die wir selbst überprüfen können. 2. Das Gesetz der konstruktiven Aktivität Dieses Gesetz heißt auch das Gesetz der Vier. Es gibt uns darüber Auskunft, wie Prozesse so ablaufen, daß ein Zustand der Ordnung oder des inneren Zusammenhangs hergestellt wird. Wir sehen, daß einige Faktoren dem Prozeß seine Richtung geben und andere ihn mit den Mitteln ausstatten. Wir nennen sie die motivationalen und die instrumentalen Quellen der Aktivität. Es gibt immer ein Ideal oder ein Ziel und einen Anfangspunkt oder Grundzustand. Die Linie, die beide verbindet, bezeichnet die Richtung des Prozesses. Es gibt immer einen inneren Mechanismus und eine äußere Triebkraft, die mit Motor und Treibstoff verglichen werden können. Diese instrumentalen Faktoren können ganz verschieden sein. Im Funktionieren unseres mind nehmen sie die Form des Denkens (innerer Mechanismus) und des Gefühls (treibende Energie) an. Sofern diese vier Faktoren nicht richtig zusammengesetzt sind und sich gegenseitig anpassen, wird der Prozeß entweder auseinanderbrechen oder zum Stillstand kommen. Als Beispiel kann uns der Prozeß der Transformation dienen, wie er in Kapitel eins beschrieben wurde. Die Einflüsse, die den Prozeß in Gang halten, kommen aus vier Quel-
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len. Zwei bestimmen die Richtung: die eine ist die Erkenntnis unserer gegenwärtigen Situation und ihrer Möglichkeiten, die andere ist die Hilfe, die auch das Ideal oder das Ziel ist, auf das hin wir uns bewegen. Verschiedene Mittel stehen uns zur Verfügung: es sind Kampf und Opfer und die Verbindung von beiden. Die vier Einflüsse müssen zueinander in einer Beziehung von Richtung und Mitteln stehen. Die Mittel dürfen nicht zu Zielen werden: wir dürfen nicht kämpfen um des Kampfes willen, oder etwas Kostbares aufgeben, als wäre es ein Selbstzweck, etwas wegzuwerfen. Ebenso müssen wir erkennen, daß Wissen allein uns nicht ändern wird: es kann uns nur sagen, daß Transformation möglich ist und in welche Richtung wir gehen müssen. Wann immer man eine Unternehmung plant, sollte man sich über die vier Quellen oder Elemente Klarheit verschaffen und sie definieren. Man sollte sich davon überzeugen, daß der Austauschprozeß zwischen den vier Elementen nirgends behindert ist und sie gut aufeinander eingespielt sind. 3. Das Gesetz von Wagnis und Zufall* Jeder weiß aus Erfahrung, daß jede Unternehmung, sei sie groß oder klein, risikoreich ist. Die großen können wegen der vielen unberechenbaren Faktoren fehlschlagen; die kleinen mögen zwar vom Strom der großen getragen werden, aber sie sind Risiken jenseits ihrer Kontrolle unterworfen -.forces majeures, wie es im Französischen heißt. Wenn wir feststellen, daß in unserer Erfahrung Wagnis und Zufall immer eine Rolle spielen, dann sollten wir erwarten, daß sie universalen Charakter haben, auch außerhalb unserer Erfahrung. Mit anderen Worten, wir sollten bereit sein zu der Annahme, daß es ein Gesetz von Wagnis und Zufall gibt, das alles durchdringt. Wenn wir das Leben objektiv betrachten, dann sehen wir, daß es gerade dadurch interessant, aufregend und lebenswert wird. Wenn alles durch das strikte Gesetz von Ursache und Wirkung gesteuert wäre und man das Resultat einer Handlung immer voraussagen könnte, dann könn*Englisch: The law ofhawrd. Es ist eine der zentralen Aussagen Bennetts in TheDramatic Universe, daß Unsicherheit ein Prinzip des gesamten Universunis ist. Siehe dazu: Hawd, The Dramatic Universe Serie l, Coombe Springs Press 1976. Deutsch: Hasard — Der Risikofaktor, Verlag Bruno Martin, Frankfurt M. 1980.
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ten wir genauso gut mechanische Spielzeugpuppen sein, die aufgezogen werden, um zu gehen und zu reden, ohne Mitsprache darüber, was wir tun sollten oder lassen sollten. Ich habe mein Hauptwerk The Dramatic Universe genannt, um zu betonen, daß das Universum gerade darum interessant ist, weil es Wagnis und Zufall unterworfen ist und deswegen auf jeder Stufe offen ist für das Drama von Erfolg und Mißerfolg. Das Gesetz von Wagnis und Zufall besagt, daß jeder Prozeß mit einem bestimmten Ziel notwendigerweise durch die Reaktionen, die er hervorruft, von seiner Richtung abgelenkt wird. Werden diese Abweichungen nicht kompensiert, wird der Prozeß entweder zum Stillstand kommen oder seine Richtung so vollständig ändern, daß er sich in sein Gegenteil verkehrt. Das Gesetz besagt auch, wodurch Kompensation möglich ist: grundsätzlich durch das Zusammenwirken mit Prozessen unabhängigen Ursprungs. Manchmal kann es scheinen, als wären die beiden Prozesse widersprüchlich oder sogar im Konflikt miteinander, und dennoch werden sie nur durch ihren gegenseitigen Einfluß in Gang gehalten und behalten die Richtung. Ein vertrautes Beispiel ist das Heranwachsen eines Menschen. Vom Moment der Empfängnis an ist das neue menschliche Wesen von seinen Eltern abhängig. Ohne sie kann es nicht geboren werden, noch kann es nach der Geburt ohne Eltern oder Pflegeeltern weiterleben und sich entwickeln. Das Handeln der Eltern ist auf die Entwicklung eines reifen Menschen gerichtet, und dennoch erzeugt gerade die für den Prozeß notwendige Abhängigkeit ein 'Muttersöhnchen' oder einen unreifen Erwachsenen, sofern sie nicht durch den Unabhängigkeitstrieb aufgewogen wird, den das Kind durch seinen Kontakt mit der Gesellschaft entwickelt. Zwischen der Familie und der Welt besteht ein Konflikt, aber die Reifung wird gerade innerhalb dieser zwei widersprüchlichen Prozesse möglich. Entscheidend ist der Zeitpunkt. Der Einfluß der Welt darf nicht zu früh und nicht zu spät kommen, er darf nicht zu schwach und nicht zu stark sein. Den richtigen Einfluß nannte Gurdjieff 'Schock'. Er formulierte das Gesetz von Wagnis und Zufall als Gesetz der Oktave, die sich in ganzen und halben Tönen von Do zu Do bewegt. Die Halbtonschritte von Mi zu Fa und von Si zu Do entsprechen den
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Punkten, an denen andere Prozesse wirksam werden müssen. Gurdjieff ging soweit, es das 'erste kosmische Urgesetz' zu nennen; und wenn er auch nicht den Begriff 'Gesetz von Wagnis und Zufall' gebraucht hat, so zeigt doch seine Beschreibung*, daß es genau das meint. Seine Darstellung ist so dunkel und indirekt, daß ich das Gesetz regelrecht neu entdecken mußte, bevor ich anfing, es zu verstehen. Ich bin sicher, daß es für uns alle äußerst wichtig ist, das Gesetz von Wagnis und Zufall zu begreifen und uns so weit wie möglich von seiner Richtigkeit zu überzeugen. Es hilft uns zu verstehen, warum so viele gut gemeinte Aktivitäten zum Wohle der Menschheit scheitern oder sich sogar in ihr Gegenteil verkehren. Hitler hat zweifellos mit der Absicht begonnen, die Moral des deutschen Volkes zu heben und ihm ein neues Sinngefühl zu verleihen, und wir alle wissen, was daraus geworden ist. Der Grund ist nicht so offensichtlich. Wahrscheinlich hat die Welt-Apathie während der sieben schicksalshaften Jahre 1932 bis 1939 die Entwicklung eines starken Gegenprozesses verhindert. Es gibt viel, viel mehr über das Gesetz von Wagnis und Zufall zu sagen, aber ieh möchte so weit wie möglich vermeiden zu theoretisieren. Die vier Bereiche des Wissens, von denen ich gesprochen habe — Körper, mind, Seele und Universalgesetze — umfassen nicht alles, was wir wissen müssen. Ich habe sie ausgewählt, weil sie in unserer Erziehung vernachlässigt werden und weil sie Material liefern, das der Leser weiterverfolgen und selbst überprüfen kann. Ich möchte das Kapitel mit der Unterscheidung beenden zwischen Wissen, das nützlich ist, um in der Welt etwas zu verändern, und Wissen, das nützlich ist, um uns selbst zu ändern. Die erste Art des Wissens ist im Überfluß vorhanden. Das Wissen der zweiten Art dient in erster Linie der Transformation. Aber selbst für jene, die sich nicht dazu gedrängt fühlen, sich auf die schwierige und risikoreiche Unternehmung einzulassen, eine Seele zu erwerben, ist es nützlich zu lernen, wie der Mensch funktioniert und die Arbeit seines Körpers und seines mind verbessert werden kann. •All und Alles. Kap. 39.
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Kapitel drei KOMMUNIKATION
W
ir leben ein normales menschliches Leben, wenn wir Erfahrungen mit anderen teilen. Je mehr wir dazu in der Lage sind, umso reicher und voller ist unsere Erfahrung. Transformation zu größerer Vollkommenheit wird auch bedeuten, daß wir vollkommener teilen. Das Kennzeichen des vervollkommneten Menschen ist seine Fähigkeit, an den Freuden und Leiden, der Dummheit und Weisheit der gesamten Menschheit teilzuhaben. Wir dürfen also annehmen, daß sich die Fähigkeit zu teilen — was soviel heißt wie sich mitteilen — als integraler Bestandteil des Prozesses der Transformation mitentwickelt. In diesem Kapitel werde ich einige der Schritte aufzeigen, durch die die Kraft der Kommunikation in uns wachsen kann.
l. ZUHÖREN Beobachten Sie, wie gut Sie dem, was andere Leute sagen, zuhören. Hören wir zu, um zu kommunizieren oder um zu kritisieren und uns selbst zu bestätigen? Bemühen wir uns wirklich zu verstehen — nicht nur, was jemand sagt, sondern auch welche Absicht dahinter steht? Wir sollten uns regelmäßig in der Kunst des Zuhörens üben. Eine besondere Übung ist es, Leuten zuzuhören, die unsere Aufmerksamkeit nicht fesseln und Dinge sagen, die uns nicht interessieren. Zuhören führt uns zur ersten Bedingung von Kommunikation: Empfänglichkeit. Wir sollten unterscheiden lernen zwischen passiver Empfänglichkeit, die nah an allzu leichte Beeinflußbarkeit und unterscheidungslose Annahme von allem, was wir hören, herankommt, und dynamischer Empfänglichkeit, die uns befähigt, das, was zu uns
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gesagt wird, aufzunehmen und mit dem in Beziehung zu setzen, was wir über das Thema schon wissen und verstanden haben. Dynamische Empfänglichkeit erfordert einen positiven Willensakt. Wir müssen lernen, diesen Willensakt zu erkennen und immer dann auszuführen, wenn wir dynamisch zuhören wollen. Der Begriff des dynamischen Zuhörens läßt sich auf alle Situationen ausdehnen, in denen wir die Absicht hinter dem, was uns mitgeteilt wird, verstehen wollen. Er bezieht sich auf das Lesen genauso wie auf das Zuhören. Nur wenige wissen, wie man in einem Zustand dynamischer Empfänglichkeit liest. Es ist ein grundsätzlich anderes Lesen als entweder das passive, unkritische Schlucken von allem, was der Autor sagt, oder einer agressiv kritischen Haltung, wo man nur liest, um zu widerlegen. Da es uns um Transformation geht, müssen wir uns von Anfang an dazu erziehen, uns, wann immer notwendig, in den Zustand dynamischer Empfänglichkeit zu versetzen. Diese Fähigkeit ist immer nützlich: sie erhöht unsere Möglichkeit, günstige Gelegenheiten wahrzunehmen, die wir sonst unbemerkt vorübergehen lassen. Für die Transformation ist es mehr als nützlich: wenn wir nicht lernen zuzuhören und zu beachten, was uns mitgeteilt wird, werden wir früher oder später vor einem Hindernis stehen, das weiteren Fortschritt unmöglich macht. Das ist der Fall, wenn es für uns notwendig wird, Hilfe von außen anzunehmen und zu erfassen, was ein weiser Mensch uns mitzuteilen wünscht, wir aber dazu nicht in der Lage sind, weil uns zum Verständnis Erfahrung oder Sensitivität fehlen. Zuhören im weitesten Sinn schließt alle Arten der dynamischen Wahrnehmung ein. Wir müssen uns darin schulen, besser zu sehen. Jeder Spezialist bemerkt Dinge, die mit seinem Fachgebiet zusammenhängen, die ein Laie übersieht. Ein geübtes Auge ist für die Kommunikation nicht weniger notwendig als ein geübtes Ohr. Wir müssen lernen, den Gesichtsausdruck, die Gesten, die Haltung der Menschen zu bemerken, mit denen wir uns unterhalten. Der Wert von Übungen zum besseren Gebrauch unserer Sinnesorgane und ihrer Wahrnehmungen geht über Kommunikation hinaus; sie haben den Vorteil, daß sie greifbare Ergebnisse liefern, die jeder verifizieren kann. Sie empfehlen sich deswegen für Anfänger, die noch wenig Erfahrung haben, worauf sie sich verlassen können. Es
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sind aber nicht wirklich Anfängerübungen, denn sie können weit über die gewöhnliche Wahrnehmung hinaus vertieft werden. Es gibt ein 'inneres Zuhören', das Schwingungen aufnimmt, die üblicherweise nicht bemerkt werden, und eine Form der Kommunikation ermöglicht, die über die Kraft der Sprache hinausreicht. Manche Leute sind für die Feinheiten von Ton und Bewegung besonders sensibel, aber sie neigen dazu, nur das zu bemerken, was sie selbst gerade fühlen, so daß ihnen entgeht, was in diesen Feinheiten wirklich mitgeteilt wird. Wer von Natur aus unsensibel ist, dem fällt es schwer zu glauben, daß er nicht fähig sein sollte aufzunehmen, was er hört und sieht. In beiden Fällen ist Übung notwendig. Die Fähigkeit zum Zuhören ist sehr selten angeboren. Die meisten von uns müssen hart und beharrlich arbeiten, um einen dynamischen Kontakt mit dem, was wir sehen und hören, herzustellen. Die Beschäftigung mit Musik und. den schönen Künsten ist sicherlich ein Mittel, unsere Wahrnehmung zu schulen. Der Künstler muß kommunizieren, wenn sein Werk nicht untergehen soll. Es liegt ihm daran, eine dynamische Reaktion hervorzurufen. Es könnte deswegen scheinen, daß das, worum es uns geht, in der Kunst gefunden werden kann. Aber das ist nur teilweise richtig. Es ist möglich, ein unnachahmliches Feingefühl für Kunst und Musik und die Interpretation der Absichten des Künstlers zu entwickeln und dennoch Menschen gegenüber unsensibel und unempfänglich zu bleiben. Ein Künstler hat vielleicht ein sehr großes Potential für Kommunikation, aber er kann es verlieren, wenn er mit der persönlichen Kommunikation nicht zurechtkommt, l Kurz gesagt, wir alle müssen uns ständig in der Kunst des Zuhörens und Sehens üben.
2. SPRACHE Der Drang, seine Erfahrungen mitzuteilen ist in einem kleinen Kind klar vorhanden, noch bevor es sein erstes Wort artikulieren kann; aber es lernt, über Gegenstände und Handlungen zu sprechen, nicht über seine Gefühle und Zustände. Damit beginnt die Spaltung
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zwischen dem, was wir sagen wollen und dem, was wir sagen können, die uns unser ganzes Leben lang zu schaffen macht. So lange wir mit Kommunikation über Dinge, die wir sehen und berühren können, und Handlungen, die wir demonstrieren können, zufrieden sind, kann die Sprache ein sehr wirksames Instrument sein. Wenn wir über ungreifbare Dinge sprechen, können wir nur hoffen, daß unser Zuhörer die Worte, die wir gebrauchen so versteht, wie wir sie meinen. Leider ist es sehr schwer, viele der Worte und Ausdrücke, die sich auf unsere persönliche Erfahrung beziehen, mit präziser Bedeutung zu füllen. Manche werden ohne irgendwelche Rücksicht auf ihre mögliche Bedeutung gebraucht. Darunter sind einige Begriffe, die sich auf Erfahrungen und Prozesse beziehen, die für die Transformation von entscheidender Bedeutung sind. Wir müssen in der Lage sein, unsere inneren Probleme mitzuteilen, aber oft stellen wir fest, daß kein Wort ausdrückt, was wir sagen wollen. Wir brauchen Rat und Hilfe, um uns selbst zu verstehen, und wir brauchen präzise Anleitung, was wir angesichts unserer inneren Probleme tun sollen. Wenn wir uns dem Problem der Sprache gegenüber sehen, dann mag es scheinen, als benötigten wir Hunderte von Worten, um die sprudelnde Fülle unserer persönlichen Erfahrung auszudrücken. Wenn wir näher hinsehen, stellen wir fest, daß es nur eine relativ kleine Zahl von Worten ist, die verstanden werden und über deren Bedeutungsinhalt Einigkeit bestehen muß, um erfolgreich über Probleme der Innenwelt zu kommunizieren. Jeder sollte seine eigene Liste wesentlicher Worte aufstellen und sich ihre Bedeutung verdeutlichen. Die folgende Liste ist ein Vorschlag, wie ein Anfang gemacht werden kann; aber ich möchte betonen, daß der Wert der Übung darin besteht, seine eigenen Probleme zu erforschen und den Versuch zu machen, sie in Worte zu fassen, die jemand anders mit Sicherheit so verstehen würde, wie wir sie gemeint haben. Die 21 Worte, die ich ausgewählt habe, fallen in drei Gruppen: Wer sind wir, was erfahren wir und wie funktioniert unsere innere Welt? Ich werde sie WerWorte, Was-Worte und Wie-Worte nennen. Diese drei Gruppen passen vielleicht nicht auf jeden und gewiß würde ich nicht von jedem erwarten, daß er dieselbe Liste aufstellt.
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Schlüsselworte des menschlichen Innenlebens Wer - Worte
Ich Selbst Individualität Sein Wille mind Seele
Was - Worte Empfindung Gefühl Denken Bewußtsein Hoffnung Liebe Glaube
Wie - Worte Erinnerung Gewissen Aufrichtigkeit; Aufmerksamkeit Entscheidung Präsenz Verstehen
Diesen 21 Worten für das Innenleben möchte ich noch das unklassifizierbare Wort Freiheit hinzufügen, Schlüssel aller Schlüssel und am schwersten zu verstehen. Wir bedienen uns all dieser Worte sehr großzügig und halten nur selten inne, um uns zu fragen, welche Bedeutung sie wirklich vermitteln sollen. Es ist kaum überraschend, daß wir bei der Kommunikation über unser Innenleben so wenig Erfolg haben. Wir müssen sicher sein, daß wir wirklich wünschen und beabsichtigen zu kommunizieren und nicht nur über uns sprechen wollen, was etwas anderes ist. Es geht nicht um unsere Zuneigungen und Abneigungen, unsere Theorien und Ansichten über die Welt, unsere Abenteuer und Erfahrungen, sondern darum, wer und was wir wirklich sind und wie wir daran gehen können, unsere Situation zu verbessern. Alle Menschen sind nach dem gleichen Grundprinzip konstruiert, nicht nur ihr physischer Körper, sondern auch der Mechanismus ihres Innenlebens. Wir müssen diesen inneren Mechanismus kennen, um intelligent und erfolgreich kommunizieren zu können. Leider können wir unseren mind und unsere Seele nicht sezieren und sehen, wie die verschiedenen Teile zusammenhängen, noch können wir ihre Funktionsweise demonstrieren und die Vorgange beschreiben oder definieren. Wir sind gezwungen, uns auf das zu verlassen, was wir selbst entdecken, und daraus müssen wir eine Sprache aufbauen, die wir mit anderen teilen. Zwei Methoden stehen zur Verfügung: zum einen Selbstbeobachtung und Selbstbefragung, und zum anderen gegenseitiges Befragen
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und der Austausch von Erfahrungen. Beide müssen gemeinsam angewendet werden, um die Bedeutung der Worte scharf zu fassen, für uns selbst und für die Kommunikation mit anderen. Diese Klärungsarbeit verlangt echte Disziplin. Wir müssen um jeden Preis morbide Introspektion oder übermäßiges Interesse an uns selbst vermeiden. So wie ein Chemiker eine komplexe chemische Verbindung untersucht, ebenso sachlich sollte unser Interesse darauf gerichtet sein, den Inhalt unserer Erfahrung zu verstehen. Wenn wir die Elemente des Innenlebens mit anderen diskutieren, sollten wir das vermeiden, was Gurdjieff 'Klügeln' nannte, nämlich die Erfindung von Ideen, die wir nicht überprüfen können. Beide Fehler können durch organisiertes Selbststudium vermieden werden. Die Schöpfung einer gemeinsamen Sprache entsteht am besten als Nebenprodukt des Selbststudiums und des Austauschs von Erfahrungen. Dennoch ist eine gewisse Fixierung der Bedeutung notwendig, und ich werde für die Worte, die ich für meine Liste ausgewählt habe, Bedeutungsgehalte vorschlagen. Ich Alles, was wir beobachten oder worüber wir nachdenken können, ist nicht das Ich. Ich ist das, was beobachtet und denkt und entscheidet, und niemals das Instrument, mit dem beobachtet, gedacht und entschieden wird. Wir kommen in Schwierigkeiten, wenn wir weitere Fragen stellen, wie zum Beispiel: "Bin ich immer der oder die gleiche? Bin ich ein Ich oder viele Ichs? Existiere ich oder ist das IchGefühl nur ein Zustand meines Körpers oder meines mind?" Weil wir diese Fragen nicht durch direkte Beobachtung beantworten können, haben wir keine Möglichkeit zu verifizieren, wer oder was ich bin. Selbst Wenn ich von 'mir' (myself) spreche, was meine ich damit? Nach dieser Lehre gibt es nicht nur ein Selbst, sondern mehrere*. Mit Si•Dies ist eine der wesentlichen Aussagen der diesem Buch zugrunde liegenden Psychologie. Im Deutschen besteht die Schwierigkeit, daß es keinen Plural für das Wort Selbst gibt (Englisch seif— selves). Als Umschreibung für selves wird Ebenen des Selbst verwendet. (O.K.)
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cherheit können wir nur sagen, daß es zu jedem Moment eine Ansammlung von Gedanken, Gefühlen und Handlungen gibt, die im Hier und Jetzt mit uns verbunden sind, und daß wir dieses Konglomerat Selbst nennen, oder besser ein Selbst. Die Illusion, Sie wüßten schon, wer Sie sind, müssen Sie meiden wie die Pest, weil es nicht so ist. Individualität Ich möchte dieses Wort für das Ich des verwirklichten Menschen reservieren, der wir zu werden hoffen. Wenn unser Wille unsere Wirklichkeit ist, das heißt, unsere Macht zu wählen und zu entscheiden, dann können wir sagen, daß Individualität ein einheitlicher, stabiler Wille ist. Aber es ist sehr schwer, sich davon ein Bild zu machen, und noch schwerer, darüber zu sprechen. Wille Wenige Worte werden so sorglos und mit so wenig wirklichem Inhalt gebraucht. Wille sollte für etwas Besonderes stehen: die Fähigkeit, einen Akt der Wahl zu vollbringen. Es ist nutzlos, genau festlegen zu wollen, was wir mit Akt oder Freiheit oder Wahl meinen. Es gibt einen guten Grund, warum es fast unmöglich ist, ein klares Bild davon zu gewinnen, wofür Wille steht: Der Wille ist wie das Ich immer das Subjekt und niemals das Objekt der Erfahrung. Er hat die Eigenschaft, sich zu teilen und sich zu vereinigen, so daß wir von 'Willens-Fragmenten' sprechen können oder von einem 'vereinheitlichten Willen'. Wenn wir unsere inneren Konflikte betrachten, so ist es nicht schwer zu sehen, daß sie von widerstreitenden Willen herrühren. Es ist nicht so einfach zu erkennen, was mit Vereinheitlichung des Willens gemeint ist, denn sie kann nur durch den Prozeß der Transformation erreicht werden. Ich werde das Wort Wille für die mehr oder minder große Fähigkeit zu wählen und zu entscheiden gebrauchen. ^y Mind Manche Leute sagen, daß mind für überhaupt nichts steht. Andere sagen, er ist die Wahrnehmung dessen, was in unserem Körper vor
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sich geht. Wieder andere sehen ihn im Zusammenhang mit dem Denken und sagen, daß dort, wo kein Denken ist, auch kein mind sei. Ich werde das Wort mind benutzen, um alle inneren Vorgänge zu bezeichnen, die wir wahrnehmen können. Aber das ist keine Definition. Jeder von uns muß selbst entdecken, was mind wirklich ist. Seele
Hier sind die Zweifel sogar noch größer als bei mind. Ohne ins Einzelne zu gehen, werde ich das Wort Seele gebrauchen, um einen transformierten und unabhängigen mind zu bezeichenen. Die Seele verhält sich zum mind wie ein Topf zum Ton, aus dem er geformt und gebrannt wurde. Empfindung, Gefühl und Denken Diese Worte bezeichnen unterschiedliche Arten von Erfahrung, die in unserem mind entstehen können. In Kapitel sechs werden wir lernen, wie wir sie unterscheiden können. Bewußtsein Bewußtsein soll für eine Art Energie stehen, die unseren inneren Zustand erhellt, ähnlich wie Elektrizität einen Raum erleuchtet. So wie Elektrizität mehr tun kann als Licht erzeugen, so ermöglicht Bewußtsein eine Vielzahl von Aktivitäten. Es ist das Hauptmittel, durch das zwei Menschen direkten Kontakt herstellen können. Hoffnung, Liebe, Glaube Sie sind Auswirkungen einer noch höheren Energie, welche ich Kreativität nenne. Wichtig ist, daß wir Hoffnung, Liebe und Glauben nicht durch einen Akt der Wahl erzeugen können, so wie es zum Beispiel möglich ist, Gedanken oder sogar Gefühle willentlich hervorzubringen. Diese großen Worte werden meistens ohne den leisesten Begriff, was sie wirklich bedeuten, gebraucht. Es sind typische 'innerweltliche' Vorgänge, die wir nicht verstehen und über die wir nicht kommunizieren können, solange wir auf dem Weg der Transformation nicht weit fortgeschritten sind. Es ist sehr nützlich, über diese und andere Worte dieser Reihe nachzudenken und sich zu fra-
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gen, ob wir ihnen eine Bedeutung geben können, die auf tatsächlichen Erfahrungen und eigener Erkenntnis beruht. Die Übung der Selbstbefragung hat ein beinahe unbegrenztes Potential und dennoch kann sie wie jede andere mißbraucht werden. Wir müssen lernen, unsere Assoziationen nicht müßig um eine Frage kreisen zu lassen, und dürfen uns nicht erlauben, über Dinge zu brüten, die wir nicht verstehen können. Richtige Selbstbefragung ist ein Willensakt; er konfrontiert uns mit unserer eigenen Unwissenheit genau an dem Punkt, wo die Möglichkeit besteht, etwas Neues zu lernen. Aufrichtige Selbstbefragung kann gemeinsam unternommen werden. Sie schafft eine besondere Verbindung zwischen denen, die versuchen, Sinn und Bedeutung zu ergründen, besonders wenn es sich um Begriffe handelt, die wichtige Elemente unseres Innenlebens zum Inhalt haben. Erinnerung Wir müssen unser Erinnerungsvermögen kennen. Es fügt die Fragmente unseres Lebens zu einem Ganzen zusammen. Nur wenige Menschen haben ein totales Gedächtnis; die meisten können sich nicht gleichzeitig an all die verschiedenen Dinge erinnern, an die sie sich zu verschiedenen Zeitpunkten erinnern können. Am wichtigsten von allem ist die Selbsterinnerung. Dazu ist kaum jemand in der Lage. Eine der nützlichsten Übungen, die ich je lernte, wurde uns 1921 von Ouspensky gezeigt. Sie besteht in dem Kampf, sich bei jeder Art von Aktivität der eigenen Existenz zu erinnern. Diese Übung zeigt uns die Schwäche unseres Erinnerungsvermögens. Wir täuschen uns, wenn wir annehmen, daß wir uns erinnern können, wenn wir uns erinnern wollen, weil wir die Fähigkeit, uns gelegentlich etwas ins Gedächtnis zu rufen, mit der Fähigkeit verwechseln, uns dauernd zu erinnern. Eine zweite, sehr wichtige Erinnerungs-übung ist der Versuch, sich an Gefühlszustände zu erinnern. Wenn wir uns inmitten der Freude an Schmerz und inmitten des Schmerzes an Freude erinnern könnten, dann hätten wir innere Freiheit schon halbwegs erreicht. Aber wer hat eine solche Erinnerungskraft und wie kann sie ausgebildet werden?
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Untersuchen wir solche Fragen, beginnen wir zu verstehen, was für eine merkwürdige Sache die Erinnerung ist und wie weit wir von einer klaren Vorstellung entfernt sind, was das Wort Erinnerung wirklich heißt. Gewissen Dieses Wort wird so verschieden verstanden, daß es seine Wirkkraft verloren hat. Wir reden von schlechtem Gewissen, wenn wir unsere Reaktion auf sozialen Druck meinen oder eine in der Kindheit gebildete Gewohnheit, ein bestimmtes Verhalten als schlecht zu betrachten. Weil solche Reaktionen kaum etwas anderes sind als die Konditionierung unserer Gefühlsreflexe, werden sie berechtigterweise nicht länger als heilig betrachtet. Wir wissen auch, daß ein sauberes Gewissen die Maske von Gleichgültigkeit, Selbstbefriedigung und zerstörerischer Selbstgefälligkeit sein kann. Können wir für Gewissen einen Gehalt finden, der für alle Menschen immer der gleiche ist, und das Wort wieder mit der tiefen Bedeutung füllen, die es für unsere Vorväter gehabt hat? Ouspensky definierte Gewissen als den Zustand, in dem man gleichzeitig all seine Gefühlswidersprüche fühlt. Das Gewahrsein von Widersprüchen ist zweifellos ein wichtiges Element, aber es ist nicht alles, was Gewissen ausmacht. Gurdjieff nannte es den 'heiligsten Impuls' und den 'Stellvertreter des Schöpfers' im Menschen und das, was allein einen Menschen berechtigt, Sohn Gottes genannt zu werden. Diese Definition ist weit von der schwachen Version heutiger Psychologie entfernt, die Gewissen als emotionale Fixierung abtut. Ich bin ganz sicher, daß es der Wahrheit näher kommt, daß wir alle ein psychisches Instrument haben, welches die Wahrheit über uns kennt. Dieses Instrument wird mit Recht Gewissen genannt. Es ist ein unbequemes Instrument für jene, die der Wahrheit nicht gegenübertreten wollen, und sie entwickeln alle möglichen Schutzmechanismen, um zu verhindern, daß seine Botschaften das Bewußtsein erreichen. Diejenigen, die Transformation erstreben, müssen bereit sein, die Wahrheit zu erkennen, und für sie ist das Erwachen des Gewissens ein notwendiger Schritt. Aufrichtigkeit Ich habe gerade den Ausdruck 'Wahrheit über uns selbst' ge-
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braucht; aber was ist diese Wahrheit, wie können wir sie erkennen? Unser Denkapparat kann nur nach den Regeln arbeiten, auf die er trainiert wurde, und er hat nur die Ideen zur Verfügung, die ihm eingefüttert werden. Es ist allgemein bekannt, daß die Wahrheit des einen die Lüge des anderen ist und daß unsere Fähigkeit, uns täuschen zu lassen — und vor allem uns selbst zu täuschen —, unbegrenzt ist. Unsere Gefühle sind noch weniger verläßlich; es ist unsere Abneigung gegen unschmeichelhafte Wahrheiten, die uns gegen sie verschließt. Das Heilmittel für unsere Unfähigkeit, die Wahrheit anzunehmen, besteht darin, Aufrichtigkeit und Offenheit zu praktizieren. Dabei kann man sich leicht täuschen. Wir können Selbstbeschuldigung und sogar Selbsthaß mit Aufrichtigkeit verwechseln, während sie vielleicht gerade der Mantel sind, unter dem wir die Wahrheit verbergen. Aufrichtigkeit mit anderen kann Heuchelei, Anmaßung oder aufdringliche Einmischung in die Angelegenheiten anderer sein. Es gibt dumme Aufrichtigkeit, die darin besteht, Überflüssiges zu sagen oder zum falschen Zeitpunkt mit den falschen Leuten zu sprechen. Und doch ist Aufrichtigkeit der Schlüssel zum Gewissen und das beste Mittel, zu denen, deren Hilfe wir brauchen, eine tiefe Beziehung herzustellen. Es heißt, daß ein Schüler auf dem Weg der Transformation mit seinem Lehrer absolute Aufrichtigkeit üben muß. Solche Sätze sind irreführend, weil sie den Eindruck erwecken, gewöhnliche Menschen wären zur Aufrichtigkeit fähig. Gruppen, die unter der Leitung von jemandem arbeiten, der auf dem Weg der Transformation erfahren ist, wird zum passenden Zeitpunkt die Aufgabe gestellt, aufrichtig zu sein, das heißt, einen ^wirklich wahrheitsgetreuen Bericht ihrer eigenen Erfahrungen zu geben. Der Wert dieser Übung liegt in der Erkenntnis, daß Aufrichtigkeit nicht durch den Wunsch, aufrichtig zu sein, erreicht werden kann, sondern durch das Erlangen innerer Freiheit und der Macht zur Entscheidung, die damit einhergeht. Aufrichtigkeit ist ein Mittel der Selbsterkenntnis, sie ermöglicht echte Kommunikation und das Erwachen des Gewissens. Sie muß mit Bedacht und Intelligenz praktiziert werden, in dem Bewußtsein, daß sie trügerisch nachgeahmt werden kann und daß es in jedem von uns
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etwas gibt, das keine Aufrichtigkeit wünscht. Dieses Etwas muß dem Licht des Gewissens ausgesetzt werden. Aufmerksamkeit Wir wissen, was es heißt, aufmerksam zu sein oder unaufmerksam; aber wir wissen nicht, was Aufmerksamkeit ist und was sie kommen und gehen läßt. Die bekannte Aufmerksamkeitsübung: Wie lange kannst du den Sekundenzeiger einer Uhr beobachten ohne den geringsten Bruch in deiner Aufmerksamkeit? — wird jeden überzeugen, daß wir unsere Aufmerksamkeit kaum länger als zwei Minuten ungebrochen halten können. Wir wissen, daß Aufmerksamkeit sehr stark vom Interesse abhängt: sie wird von einem aufregenden Drama gefesselt, während sie sich bei einer langweiligen Aufgabe schnell zerstreut. Wenn wir nicht aufmerksam sind, wird uns ein Schock zurückbringen; oder unsere Aufmerksamkeit kehrt ohne offensichtlichen Grund zurück, und wir sind wieder mit dem, was wir tun, in Kontakt. All das ist Allgemeinwissen, wird aber nur wenig verstanden. Können wir die Kraft der Aufmerksamkeit entwickeln? Es gibt viele hilfreiche Übungen, aber sie reichen nicht an die Wurzel der Sache: das blackout in unserer Erfahrung, wenn die Aufmerksamkeit geht, und das Aulleuchten, wenn sie zurückkommt, so als würde elektrisches Licht ab- und angeschaltet. Die Analogie erweckt die Vorstellung, daß Aufmerksamkeit ein Energiestrom ist, der von sich aus fließt oder stoppt. Und doch ist unsere Aufmerksamkeit so sehr ein Teil von uns, daß wir die Tatsache schwer akzeptieren können, keine Macht über sie zu haben. Meine persönliche Folgerung ist die, daß Aufmerksamkeit ein Willensakt ist — der allereinfachste Willensakt, der jeder Handlung aus eigener Wahl vorausgehen muß. Wir sind unsere Aufmerksamkeit. Wo unsere Aufmerksamkeit ist, dort sind wir. Wenn unsere Aufmerksamkeit weggeht, dann gehen wir weg. Diese Auffassung ist jedoch nur eine von vielen möglichen Erklärungen der Aufmerksamkeit. Sie soll Ihnen als Ausgangspunkt für eigene Untersuchungen dienen. Was immer Aufmerksamkeit ist oder nicht ist — sie ist zweifellos wichtig. Sie hat etwas mit Energie zu tun, wahrscheinlich mit bewußter Energie, und sie hat etwas mit dem Wil-
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len und deswegen mit dem Ich zu tun. Sie sollten diese Fähigkeit selbst erforschen und Ihre eigenen Schlüsse daraus ziehen. Auch wenn Sie die Übung mit dem Sekundenzeiger schon probiert haben, versuchen Sie es noch einmal und beobachten Sie so genau wie möglich, wie die Aufmerksamkeit kommt und geht. Entscheidung Dieses Wort scheint leicht erklärbar: eine Entscheidung ist ein Willensakt. Aber wann entscheiden wir wirklich? Wir sollten das Wort Entscheidung nur gebrauchen, wenn wir uns ganz klar sind, daß ihr ein Willensakt zugrundeliegt. Wie oft sagen wir, wir hätten uns entschieden, wenn wir in Wirklichkeit doch nur aus Begierde oder Zwang gehandelt haben. Indem wir das Wort Entscheidung in unserem Denken und im Gespräch mit anderen achtlos gebrauchen, übersehen wir sowohl die Seltenheit echter Entscheidungen wie ihre große Wichtigkeit. Ich werde das Wort Entscheidung ausschließlich gebrauchen, um einen bewußten Willensakt zu bezeichnen, bei dem wir gewahr sind, daß wir zwischen zwei Alternativen gewählt haben und uns kompromißlos dazu verpflichtet haben, die Entscheidung auszuführen. Es ist sehr wichtig, daß wir das Wort Entscheidung nur in dieser Bedeutung gebrauchen und Worte wie Absicht oder Vorsatz verwenden, um einen Akt des Wählens zu bezeichnen, mit dem keine Verpflichtung zur Ausführung verbunden ist. Gegenwärtigsein Wir brauchen ein Wort, um den Zustand des 'Da-seins' zu beschreiben. Wir sprechen von Geistesabwesenheit und Geistesgegenwart, aber wir bemerken nicht, wie merkwürdig eine Situation ist, die man als 'mich ohne Ich' (me without I) bezeichnen kann. Wenn wir 'mich' als unser Zuhause betrachten, dann müssen wir zugeben, daß wir selten zu Hause sind. Wir erwarten von uns und von anderen verantwortliches Verhalten, das einen Willensakt vorausetzt, während das Ich gar nicht da ist, um einen solchen Willensakt auszuführen. Wir können die Sache auch so ausdrücken, daß wir schlafen oder wach sind. Wenn wir schlafen, können wir nicht entscheiden und sind deswegen nicht verantwortlich. Das ist der Zustand eines Men-
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sehen, den Gurdjieff Mensch-Maschine nennt; er kann nur so handeln, wie er programmiert und 'aufgezogen' ist, das heißt, entsprechend seiner automatischen Reflexe und Stimuli von außen. Wenn man einmal den Unterschied zwischen Gegenwärtigsein und Abwesendsein begriffen hat, dann wird es bald offensichtlich, daß wir nur selten zu Hause sind. Das muß den Wunsch wecken, zum Gegenwärtigsein fähig zu werden. Ich erinnere mich, daß ich dies als eine sehr reale, aber merkwürdige Furcht erfuhr: Wenn mich der Tod in einem solchen Moment der Abwesenheit überraschen würde, so fragte ich mich, was wäre dann übrig außer einem toten Körper, wo wäre ich? Später entdeckte ich, was für ein Gefühl der Sicherheit und Freiheit in mir aufkam, als ich merkte, daß ich 'wach' war und selbst im Schlaf den Kontakt mit mir nicht mehr verlor. Ich kann nicht erklären oder beschreiben, was Gegenwärtigsein ist, aber ich kann sagen, daß es nicht ein rein mentaler Zustand ist. Er ist mit meiner körperlichen Existenz im Hier und Jetzt verbunden und doch nicht von ihr abhängig. Es ist mehr als wahrnehmen, daß man existiert; es ist, als würde man einer festen Verbindung zwischen dem Ich und dem Selbst gewahr. Diese Verbindung — davon bin ich fest überzeugt — ist das, was mit Seele gemeint ist. Worauf es hier ankommt ist, daß wir für unsere Seele nichts direkt tun können, aber wir können viel für unser Gegenwärtigsein tun. Einige der wichtigsten geistigen Übungen haben den Zweck, diesen Zustand zu erneuern und aufrechtzuerhalten. Verstehen Wir brauchen ein Wort, das viel stärker ist als Wissen, um die Sicherheit auszudrücken, die sich mit Lebenserfahrung, Reflektion und Vernunft einstellt und die es möglich macht, für uns — und wenn nötig für andere — Entscheidungen zu fällen. Ich werde das Wort Verstehen mit dieser außerordentlich starken und positiven Bedeutung gebrauchen. Was wir verstehen, ist ein integraler Bestandteil dessen, was wir sind. Es kann uns nicht genommen werden. Es hat sich durch unsere Erfahrung gebildet, die durch Wissen geformt wurde. Es ist im Feuer des Lebens geprüft worden und läßt keinen Raum für Zweifel. Es hat eine so starke Überzeugungsqualität wie die Ge-
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wißheit, daß ich meine Hand verbrenne, wenn ich sie ins Feuer halte. Verstehen ist das Auge des Willens; es befähigt uns, mit einer Sicherheit zu handeln, die Wissen allein nicht geben kann. Neue Tatsachen mögen das widerlegen, was ich heute für verläßliches Wissen halte, aber sie werden mein Verstehen nicht zerstören. Wissen ist der Inhalt meines mind, aber Verstehen ist die Gestalt meines Willens. Mein Verstehen ist der Besitz meines Ich. Wenn irgendetwas, das ich in meinem Leben gelernt habe, mir nach meinem Tode bleibt, dann ist es mein Verstehen, nicht mein Wissen. Wissen kann von einer Person auf eine andere übertragen werden, nicht jedoch Verstehen. Zum Beispiel läßt sich ein Grundelement des Verstehens mit den Worten ausdrücken: Gib niemals auf! Viele werden zustimmen, daß das richtig ist, aber nur sehr wenige verstehen, was es bedeutet. Im vorigen Kapitel versuchte ich zu vermitteln, was ich unter Opfer und Hilfe verstehe, aber niemand, der damit keine Erfahrungen gemacht oder gelernt hat, wie Opfer und Hilfe möglich werden, kann ihre wirkliche Bedeutung verstehen. Es ist eine sehr nützliche Übung, das eigene Verstehen zu erforschen, wenn man auf eine neue Idee oder Handlungsmöglichkeit stößt. Wir können uns nicht zu etwas verpflichten, das wir nicht verstehen. Unser Verstehen ist die Grenze unseren Entscheidungsfähigkeit. Freiheit
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Dies ist ein eigentümliches Wort, weil wir nicht wissen können, was Freiheit ist. Wir können sie nicht erklären oder beschreiben. Wir können uns nicht einmal daran erinnern, wie es ist, wenn Freiheit fehlt. Folglich sind wir immer in einem Zustand des Zweifeins, ob das Wort Freiheit überhaupt etwas bedeutet. Und doch kommen wir nicht davon los, weil bei völliger Abwesenheit von Freiheit alles, was für uns Bedeutung hat, seinen Sinn verlieren würde. Freiheit gehört zu der Welt, die wir erreichen wollen, und nicht zu der Welt, in der wir uns befinden. Wir können sie nur verkehrt wahrnehmen. Wir denken, Freiheit sei Flucht, die Befreiung von Zwang, von Regeln und Gesetzen, die uns nicht passen. Wahre Freiheit ist Freiheit zu der wirklichen Welt, in der ich nicht länger ein Fremder bin, sondern meinen Platz gefunden habe, wo alles, was ich tue, dem
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entspricht, was ich bin. Wir haben einen Vorteil vor den Philosophen, die Ideen mit dem Verstand begreifen müssen, bevor sie sie annehmen können. Freiheit ist ein Widerspruch in sich und kann mit dem Verstand nicht erfaßt werden. Sie ist eine Eigenschaft des Willens und hat ihren Ort so wenig im mind wie im Körper. Dem Verstand erscheint Freiheit als Unfreiheit und Unfreiheit als Freiheit. Nur jene, die die Wirklichkeit einmal erfahren haben, können verstehen, was das heißt. Ich habe viel Raum mit der Diskussion von Begriffen gefüllt, die ich für wichtig halte, um über das Innenleben zu kommunizieren. Es ging mir nicht so sehr darum, sie zu erklären, als Möglichkeiten zum eigenen Studium vorzuschlagen. Sie können kalten Herzens nicht mit Gewinn erörtert werden, das heißt, losgelöst von den inneren Erfahrungen, auf die sie sich beziehen. Das Ziel von Gruppendiskussionen sollte nicht sein, über Begriffe zu reden, sondern Erfahrungen auszutauschen. Daraus ergibt sich spontan die Bedeutung der Worte, und das gegenseitige Verstehen wächst. Die Verbindung, die zwischen Menschen entsteht, die sich verstehen, kann nicht mehr zerreißen.
3. WORTLOSE K O M M U N I K A T I O N Wenn alles gesagt und getan ist, wird das gesprochene Wort ein unzulängliches Instrument, um über Erfahrungen der Innenwelt zu kommunizieren. Für die sichtbare, greifbare Welt der Dinge und Körper ist die Sprache gut geeignet und erlaubt uns, mit anderen im Umgang mit dieser Welt zu kooperieren. Weil die Sprache in ihrer eigenen Sphäre erfolgreich ist, verlangen wir zu viel von ihr und sind enttäuscht, wenn wir feststellen, daß sie uns im Stich läßt, wenn es um die Dinge geht, die uns wirklich angehen — unsere innersten Sehnsüchte und Bestrebungen, unsere geheimen Hoffnungen und Ängste. Das, was uns in der sichtbaren Welt verbindet, trennt uns in der unsichtbaren. Wir brauchen eine Art Gegensprache, die in der entgegengesetzen Weise funktioniert. Sprachliche Kommunikation ist dann erfolgreich, wenn es um klare und unzweideutige Sach verhalte
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geht. Die Gegensprache muß unpräzis und vieldeutig sein. Sie muß ihren Inhalt durch Untertöne und Obertöne mitteilen. Die gewöhnliche Kommunikation muß klar und deutlich sein. Die Gegensprache wird mit sotto voce gesprochen und nur von denen vernommen, deren inneres Ohr dafür offen ist. Meine erste Erfahrung mit dieser eigenartigen Sprache machte ich, als ich mit Gurdjieff während der letzten beiden Jahre seines Lebens zusammen war. Immer wieder sagte er Dinge von tiefer und bleibender Bedeutung, während seine Lippen komische Geschichten erzählten. Ich habe anderswo beschrieben, wie zwanzig Menschen um einen Tisch sitzen konnten und jeder individuelle Botschaften empfing in der Überzeugung, daß Gurdjieff nur zu ihm gesprochen habe. Diese Art der Kommunikation erfordert von ihren Teilnehmern einen besonderen Zustand der Sensitivität. Sie hat diesen eigenartigen Charakter der Gegensprache. Die Kommunikation ist stark und überzeugend und gleichzeitig so schwer zu fassen, daß man sich fragt, ob nicht alles Halluzination sei. Kommunikation braucht nicht intensiv und überraschend zu sein. Zwei Fremde, deren Augen sich zufällig begegnen, mögen einander schweigend erkennen und wissen, daß zwischen ihnen etwas vorgegangen ist, ohne je ein Wort gewechselt zu haben. Das läßt vermuten, daß wir alle ein Instrument für sprachlose Kommunikation haben, aber es nicht zu gebrauchen wissen. Ich bin sicher, daß eine solche Kommunikation möglich ist und daß die Fähigkeit dazu entwickelt und geschult werden kann. Eine Form heißt Telepathie, die Kommunikation zwischen zwei Menschen über Entfernung. Sie vollzieht sich selten in Worten, mehr in Bildern und Eindrücken. Zwei Menschen entdecken manchmal, daß sie oft zum gleichen Zeitpunkt das gleiche denken. Wenn zwischen Eheleuten eine tiefe Verbindung besteht, kommt diese Art der Telepathie häufig vor, und sie lernen sogar, sich darauf zu verlassen und ihr Handeln danach zu richten. Sie erreicht selten die Stufe zweiseitiger Kommunikation, wo beide Teile wissen, daß eine Botschaft übermittelt wurde, und muß deswegen als relativ unentwickelte Form eingestuft werden.
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Hellsichtigkeit oder die Fähigkeit, Ereignisse außerhalb der unmittelbaren Sinneseindrücke wahrzunehmen, ist wahrscheinlich weniger häufig als Telepathie, aber sie kommt zweifellos vor. Sie kann durch entsprechende Übungen entwickelt werden. Einige SufiBruderschaften in Asien messen der Entwicklung nichtverbaler Kommunikation große Bedeutung bei. Ich habe mehrmals für kurze Zeit mit kleinen Derwisch-Gruppen gelebt, die von sich sagten, daß sie mit abwesenden Mitgliedern und besonders mit ihrem Sheikh oder geistigen Führer in Kommunikation stünden. Sie versicherten mir, daß jeder, der überhaupt die Möglichkeit zu geistiger Entwicklung besitzt, diese Kräfte erwerben kann, wenn ihm die entsprechenden Übungen gezeigt werden. Es ist möglich, Gegensprache in der Alltagssprache zu verbergen. Ich habe Gurdjieff s Anwendung dieser Methode beschrieben. Sie ist auch mit geschriebener Sprache möglich. Ich meine damit nicht verborgene Bedeutungen, Allegorien und verschlüsselte Texte, die alle den Intellekt beanspruchen, sondern eine nichtmentale, nichtverbale Übermittlung, durch die sich ein Kontakt zwischen Willen herstellt. Das ist eines der großen Geheimnisse der Transformation: zwischen Menschen, die in einem direkten Willenskontakt stehen, kann ein ausserordentlich hoher Grad der Kommunikation erreicht werden ohne sichtbare Form. Eine andere Art der nichtverbalen Kommunikation ist die Übertragung von Energie von einer Person auf eine oder mehrere andere. Ich habe davon schon im Zusammenhang mit Einweihung und Hilfe gesprochen. Ich kann die Realität solcher Kommunikation aus eigener Erfahrung bezeugen, z.B. daß jemand in einem entfernten Land auf einen Hilferuf reagiert. Man kann lernen, mit einer Hilfsquelle, die in der Vergangenheit geschaffen wurdfc, zu kommunizieren und von ihr nicht nur Energi; zu erhalten, sondern sogar Antworten auf spezifische Fragen. Alle diese Möglichkeiten gibt es, weil wir Menschen Instrumente der Wahrnehmung und der Kommunikation haben, die nicht auf die fünf Sinne angewiesen sind. Diese Instrumente bleiben unter den Bedingungen der modernen Erziehung unentwickelt, denn sie zielt nur
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darauf, den jungen Menschen für die sichtbare und greifbare Welt der Sinneswahrnehmungen vorzubereiten. Schon 1919 konnte ich mich davon überzeugen, daß diese inneren Instrumente, jedenfalls in Afrika, bekannt sind und ausgebildet werden. Ich hörte davon von einem bemerkenswerten Mann, Tracy Philipps, der in Zentralafrika gelebt hatte und mit einigen Dorfhäuptlingen Freundschaft geschlossen hatte, die diese Kräfte der Kommunikation entwickelt hatten und sie selbstverständlich benutzten. Vielleicht ist es eine große Tragödie für die Menschheit, daß der wahnwitzige Versuch, europäische Kultur zu imitieren, so viele traditionelle Techniken der Kommunikation vernichtet hat. Ich glaube nicht daran, daß sie — außer in seltenen Fällen — zur Schwarzmagie mißbraucht wurden. Die eindrucksvollen Fälle, für die Tracy Philipps persönlich bürgte, dienten voll und ganz dem Wohl der Menschen. Die Menschheit wird die gegenwärtige Überbetonung der verbalen Kommunikation bedauern und genötigt sein, wieder nach den verlorenen Techniken zu suchen. Glücklicherweise ist viel erhalten geblieben und wird verfügbar sein, wenn die Notwendigkeit es fordert.
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Kapitel vier SUCHEN UND FINDEN l. ZIELE UND ZWECKE
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enn ich auf den Bahnhof gehe, um eine Fahrkarte zu lösen, und der Beamte fragt: "Wohin?" und ich antworte: "Überallhin!", so wird er seine Schultern zucken und mir raten, einen Arzt aufzusuchen. Er wird sich vielleicht nicht darüber klar sein, daß er damit das Gesetz der selektiven Verwirklichung zur Anwendung bringt, welches besagt, daß man nicht alle Möglichkeiten, die zu einem gegebenen Moment offenstehen, aktualisieren kann. Selbst wenn wir die Wahl nicht bewußt treffen, wird sie für uns getroffen, und wir werden am Ende der Reise an einem bestimmten Ort ankommen. Alle anderen Ziele, die am Anfang möglich waren, fallen jetzt in die Kategorie 'hätte sein können'. Wir müssen die Bedeutung der selektiven Verwirklichung erfassen, wenn wir unsere Chancen möglichst gut nutzen wollen. Als junger Mann entdeckte ich meine Begabung für Sprachen und lernte ein Dutzend ohne Schwierigkeiten. Ich begann dann mit Chinesisch und erinnere mich lebhaft an den Moment, als mir klar wurde, daß ich einige andere Vorhaben aufgeben müßte, wenn ich wirklich Chinesisch lernen wollte. Ich gab Chinesisch auf und sagte mir: "Ich werde nie Chinesisch lernen, selbst wenn ich hundert Jahre alt werde." Ungefähr zur gleichen Zeit hatte ich die Wahl, entweder in die Politik zu gehen oder in den Osten, und wieder traf ich meine Entscheidung, wohl wissend, daß ich nun nie Kabinettsminister würde. Ich war mir mittlerweile darüber klar geworden, daß ich Transformation mehr als irgendetwas anderes wollte, und war bereit, dafür auf andere Möglichkeiten zu verzichten.
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Dennoch war in meiner Haltung zur Transformation noch zuviel Verschwommenheit und Illusion, und es dauerte noch viele Jahre, bis ich erkannte, was Wählen wirklich heißt. Ich arbeitete damals mit Ouspensky, der immer wieder betonte, wie wichtig die Klarheit über das eigene Ziel sei. Er sagte, daß wir ohne Ziel keine Basis für die Entscheidung hätten.was für uns richtig und falsch sei. Ich kann dem Bahnhofsbeamten nicht sagen, daß er mir die falsche Fahrkarte gegeben hat, wenn ich nicht weiß, wohin ich fahren will. Selbst wenn ich glaube, daß es eine objektive Moral gibt, von der aus manche Handlungen gut und manche schlecht sind, berührt mich das nur, sofern ich das Ziel habe, ein guter Mensch zu sein, oder in den Augen meiner Nachbarn gut zu erscheinen. Wenn ich kein Ziel habe, sind Gott und der Teufel ohne Belang. Anfänger auf dem Weg der Transformation formulieren ihr Ziel meistens zu abgehoben und zu vage, als daß es zum Kriterium des Wählens werden könnte. Wir müssen vom Zusammenhang zwischen Ziel und Mittel eine gewisse Vorstellung haben. Wenn wir ein glückliches Alter haben wollen, so ist es so gut wie sicher, daß wir zu harter Arbeit bereit sein müssen. Wenn wir frei sein wollen, müssen wir unsere Zu- und Abneigungen überwinden. Wenn wir gesund sein wollen, müssen wir Herr unseres Körpers sein. Wenn wir eine Seele erwerben wollen, müssen wir das zu unserem einzigen Ziel machen. Wenn wir Vervollkommnung erreichen wollen, müssen wir bereit sein, alles zu opfern, was dem im Wege steht, uns selbst eingeschlossen. Es ist viel besser, ein Ziel zu wählen, das wir verstehen und dessen wir uns sicher sein können, als eines, das nicht mehr ist als eine fromme Hoffnung. Die Bestimmung des Ziels ist der erste Test der Aufrichtigkeit. Ich habe schon das Beispiel von jener Dame erwähnt, die frei von sich sein wollte und keine Teetasse opfern konnte. Wir belügen uns ständig über das, was wir wirklich wollen; aber es ist zwecklos, sich mit Selbstanklagen zu quälen. Wenn wir nicht aufrichtig sein können, aber es sein wollen, dann können wir das zu unserem Ziel machen, welches es in der Zukunft zu erreichen gilt. Wir können nicht auf Befehl aufrichtig sein. Dennoch müssen wir wenigstens versuchen, uns Klarheit zu verschaffen, was wir wirklich wollen, und zu entscheiden, welchen Preis wir bereit sind zu zahlen.
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2. DREI WEGE DER I N N E R E N ARBEIT Viele Leute meinen, ihr Ziel sei es, 'der Menschheit zu helfen' oder 'den Willen Gottes zu tun'. Da sie nicht wissen können, was die Menschheit braucht oder was Gottes Wille ist, gehen sie mit diesen Zielen auf Nummer Sicher; aber meistens ist Selbsttäuschung dahinter verborgen. Gurdjieff sagte: "Wenn du ein guter Altruist sein willst, mußt du erst lernen, ein guter Egoist zu sein." Wenn wir anderen helfen wollen, müssen wir erst lernen, uns selbst zu helfen. In Wirklichkeit ist die menschliche Natur so konstruiert, daß weder Altruismus noch Egoismus unabhängig voneinander gedeihen können. Wir brauchen andere und sie brauchen uns. Das ist nicht alles. Zwar wissen wir nicht, was Gottes Wille ist; aber wir können ziemlich sicher sein, daß die Menschheit existiert, um einem Zweck zu dienen, und daß wir nicht sehr weit kommen können, wenn wir unseren Platz in der Ordnung der Dinge außer acht lassen. So wie Egoismus in seiner Reichweite begrenzt ist, so auch ein enges, sektiererisches Ziel, das eine Gruppe vom Rest der Menschheit isolieren würde. Das ist durchaus nicht offensichtlich und für jeden annehmbar; aber wenn wir mit der Hoffnung auf Transformation beginnen, dann müssen wir davon ausgehen, daß unserer Existenz ein großer Zweck zugrundeliegt, denn andernfalls hätte Transformation keinen Sinn. Solche Überlegungen führen zu dem Schluß, daß ein objektives, vernünftiges Lebensziel drei unterschiedliche Zwecke verbinden muß: 1. Uns selbst so weit wie möglich vervollkommnen. 2. Anderen helfen. 3. Dem Zweck unserer Existenz dienen. Gurdjieff nannte das die 'drei Wege der Arbeit'. Ich weiß nicht, woher diese Formulierung stammt, aber in den vierzig Jahren, seit ich zum erstenmal davon hörte, ist meine Überzeugung mehr und mehr gewachsen, daß dies die einzig vernünftige Grundlage ist, um das eigene Leben zu planen. Es ist aufschlußreich, diese Einteilung mit den drei Disziplinen des
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Shivapuri Baba zu vergleichen, die zusammen das ausmachen, was er Swadharma oder rechtes Leben nannte: 1. Körperliche Disziplin. Erfüllung der Notwendigkeit des Körpers. Pflichterfüllung gegenüber sich selbst, der Familie und der Gesellschaft, zu der man gehört. 2. Moralische Disziplin. Praktizieren der Tugenden, wie sie in der Bhagavad Gita niedergelegt sind. Befreiung aus der Sklaverei von Zuneigung und Abneigung. Stärkung und Reinigung des Geistes. 3. Geistige Disziplin. Die Suche nach Wahrheit oder Gott. Meditation über die letzte Wirklichkeit. Loslösung von allen Verhaftungen. In dieser Aufstellung nehmen Hilfe und Dienst an anderen nur einen untergeordneten Platz in der ersten Disziplin ein. "Denke ausschließlich an Gott! Verbanne jeden anderen Gedanken aus deinem Kopf!" war das höchste Gebot des alten Mannes. Wenn wir das mit Gurdjieffs drei Wegen vergleichen, so sehen wir, wie sich der Osten und der Westen in ihrer Haltung hinsichtlich des Ziels der Existenz unterscheiden. Der Osten sieht das Leben als ein Übel, aus dem wir nach Befreiung streben müssen. Der Westen sieht es als das Feld, in dem wir Erfüllung suchen müssen. Der Widerspruch ist erheblich, aber daraus folgt nicht, daß das eine richtig und das andere falsch wäre. Der Unterschied hinsichtlich der Auswahl von Möglichkeiten ist sehr gering, welchen Entwurf man sich auch zu eigen macht. Es ist nicht die eigene Lebensphilosophie, auf die es ankommt, sondern darauf, was man von dieser Philosophie in die Praxis umsetzt. Würde man mit Beharrlichkeit und Intelligenz einer Philosophie des reinen Ego folgen, so käme man zu der Erkenntnis, daß unser eigenes Wohl von dem der anderen nicht zu trennen ist und daß weder wir noch unsere Mitmenschen Glück finden können, das nicht in Harmonie mit dem Zweck unserer Existenz ist. Im anderen Extrem wird uns die reine Suche nach Gott zu der Entdeckung führen, daß Gott in uns selbst und in unserem Mitmenschen zu finden ist — nicht in einem abstrakten Nirvana des Geistes. Uns Menschen ist ein begrenztes Maß an freier Schöpferkraft gegeben. Wir müssen einem Großen Zweck dienen, aber zum Teil tun wir das, indem wir uns selbst verwirklichen. Wir können uns eine Aufgabe
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wählen, die wir im Leben verwirklichen wollen. Wenn wir das getan haben, müssen wir sie wie eine heilige Verpflichtung behandeln. Sie wird uns zum Maßstab von Richtig und Falsch. Was uns hilft, unsere Aufgabe zu erfüllen, ist richtig, was uns hindert, ist falsch. Der Shivapuri Baba nannte das die selbstgewählte Pflicht, das heißt eine Pflicht, die wir uns durch eigene Wahl auferlegen. Gurdjieff sagte, daß wir dadurch zu einem neuen Verständnis Gottes gelangen könnten. Orage sagte, seine Wahl-Pflicht sei es, die beste literarische Zeitschrift in London herauszugeben. Meine Wahl-Pflicht besteht darin zu zeigen, daß alle menschenmögliche Erfahrung in einer einheitlichen Theorie gefaßt werden kann — und das habe ich in TheDramatic Universe versucht. Es ist unerheblich, ob man weit hinter seinem gesteckten Ziel zurückbleibt: Wichtig ist, daß ein solches Ziel mit den drei Wegen der Arbeit übereinstimmt. Ein persönliches Ziel kann sogar eine Notwendigkeit sein, damit sich die drei Wege im eigenen Leben entwickeln können. Die Wahl-Pflicht kann darin bestehen, eine gute Ehefrau oder ein guter Vater zu sein oder seinem Beruf Ehre zu machen. Erforderlich ist nur, daß sie realistisch ist und mit äußerstem Ernst als heilige Verpflichtung betrachtet wird.
3. STUFEN DER T R A N S F O R M A T I O N Eine der Inschriften im Studienhaus von Gurdjieffs 'Institut für die harmonische Entwicklung des Menschen' lautete: "Wir können nur Arbeitsbedingungen schaffen, wir können dir deine Arbeit nicht abnehmen." Damit sollte die Wichtigkeit der Bedingungen nicht geschmälert, sondern der Unterschied zwischen dem betont werden, was andere für uns tun können, und dem, was wir selbst tun müssen. Wir könnten gar nicht anfangen, wenn wir nicht von Hinweisen umgeben wären, daß vor uns Menschen nach Wegen der Selbstvervollkommnung gesucht und sie gefunden haben und uns so das Bild des vervollkommneten Menschen hinterlassen haben. Was uns vorwärts zieht, ^ind nicht abstrakte moralische Prinzipien, sondern das Ideal, wie es sich in den Helden und Heiligen früherer Zeiten verkörpert hat. Durch sie gewinnen moralische Regeln Autorität, nicht
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umgekehrt. Wir, die wir Christen sind, nehmen die christliche Ethik nicht deswegen an, weil sie logisch ist oder wissenschaftlich, oder weil sie sich als erfolgreich in der Praxis erwiesen hat — wobei viele sagen würden, daß die christliche Ethik jammervoll gescheitert ist—, sondern weil wir sie im Leben und in den Taten Jesu und der Apostel und Heiligen, die ihm gefolgt sind, beispielhaft verwirklicht sehen. Ebenso ist für Muslims, die sich wohl bewußt sind, daß die Ethik des Koran den Bedingungen der modernen Zeit nicht mehr angemessen ist, Mohammed der vollkommene Mensch, der Insan-i Kamil. Buddhisten sehen Ihn in Gotama Buddha, Juden in Abraham und Moses, Parsen in Zoroaster, Hindus in Rama und Krishna. Diese Gestalten sind das, was Gurdjieff heilige Urbilder nannte. Jeden von ihnen sehen wir als Quelle einer geoffenbarten Lehre und einer Praxis der Lebensgestaltung. Was wir jedoch nicht sehen, ist, daß jeder von ihnen eine Quelle ist, aus der ein Strom höherer Energie fließt, der die Transformation für diejenigen, welche ihnen folgen, möglich macht. Alle Mens'chen werden von diesen Energien beeinflußt, selbst wenn sie die heiligen Urbilder ablehnen, von denen diese Energien ausströmen. Auf diese Weise gewinnt das innere Potential zur Transformation, das in jedem Menschen existiert, Gestalt. Es ist das Ideal, das jeden von uns ruft. Wenn das Bild des idealen Menschen in uns Widerhall findet, sehen wir, daß wir den Weg der Transformation beschritten haben. Das muß nicht bewußt geschehen — am Anfang werden immer Phantasien und Selbsttäuschung im Spiel sein —; wenn wir aber genau hinsehen, so ist es immer der Zauber des Ideals, der unserem Leben die Richtung weist. Der nächste Schritt ist der Übergang von den allgemeinen Bedingungen zu einem spezifischen Weg. Wir lesen oder hören von einer Methode. Wir begegnen einer Person oder Gruppe, die Eindruck auf uns macht. Wir kommen in eine neue Situation mit neuen Bedingungen, die es uns ermöglichen, zu lernen, zu kämpfen und Hilfe zu empfangen. Wir sind damit konfrontiert zu wählen, ob wir dem Weg, der sich vor uns auftut, folgen oder ob wir an der Lebensweise festhalten wollen, in die wir hineingewachsen sind. Das mag Kampf und Opfer mit sich bringen. Wir sind dem Kanal, durch den Wissen und
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Hilfe übermittelt werden, nicht nah genug, um von unserer Fähigkeit zur Anstrengung vollen Gebrauch machen zu können. Viele Leute bleiben hier stecken, weil sie zwischen einer echten Lehre und künstlichen und unrealistischen Methoden nicht unterscheiden können. Es erfordert sowohl Mut wie Unterscheidungsvermögen, die Suche weiterzutreiben, weil sie ungewohnte Opfer mit sich bringen wird. Zum Beispiel kann es bedeuten, daß wir einen Fehler zugeben und bereit sein müssen, von vorne anzufangen. Vielleicht müssen wir uns von anderen Menschen trennen, die den Grund unserer Unzufriedenheit nicht verstehen können und sie Ungeduld, Eifersucht oder verletztem Stolz zuschreiben. Das Bild des Ideals muß sehr stark und klar sein, wenn wir den nächsten Schritt tun sollen. Wenn wir beharrlich bleiben, werden wir vielleicht in eine neue Situation kommen, in welcher das Muster der Möglichkeiten dem Muster unseres Wesens entspricht. Der Prozeß wird jetzt spezifischer und deswegen fruchtbarer. Wir sind vielleicht überzeugt, daß wir unseren Weg gefunden haben und daß wir nurmehr zuverlässig auf dem Weg fortschreiten müssen, den wir gewählt haben. Es gibt jedoch immer noch Fallgruben, und es ist nicht einfach, sie zu erkennen und zu vermeiden. Aus meiner eigenen Erfahrung sehe ich auf dieser Stufe hauptsächlich folgende Risiken: 1. Zu große Abhängigkeit von einer Person, bevor sich eine echte Lehrer-Schüler Beziehung entwickelt hat. Eine solche Beziehung gehört zur nächsten Stufe; aber oft glaubt ein Suchender viel zu früh, daß er als Schüler angenommen worden sei. In Wahrheit besteht auf dieser Stufe allgemeinen Lehrens — der exoterischen Stufe, wie sie manchmal genannt wird - keine persönliche Verantwortung, weder gegenüber dem Lehrer noch gegenüber dem Suchenden. 2. Methoden, welche in ihrer Reichweite zu begrenzt sind und zu starr angewendet werden. Mangelndes Verständnis, daß keine Technik universale Gültigkeit hat und daß ihre Ergebnisse von der Stufe abhängen, die der Suchende erreicht hat und von den Bedingungen, unter denen sie angewendet werden. Eine Methode kann eine Zeitlang ermutigende und sogar erstaunliche Erfolge zeitigen und im Suchenden die Überzeugung entstehen lassen, daß es die einzig richtige
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Methode für ihn sei. Wenn die Wirkungen nach einer Weile nachlassen, wird ihm oft gesagt, es sei seine eigene Schuld, er habe sich nicht genügend angestrengt oder seine Arbeit durch Unzuverlässigkeit und Mangel an Beharrlichkeit zunichtegemacht. Er mag solche Vorhaltungen für berechtigt halten und nicht sehen, daß er sich nicht mehr anstrengen kann und daß die Zweifel, die er unterdrücken soll, die legitime Ausübung seines eigenen Urteilsvermögens sind. 3. Die Unfähigkeit oder Unwilligkeit, etwas zu opfern, das im Wege steht. Das reicht von materiellen Opfern bis zum äußerst subtilen Opfer von Eigenwillen und Selbstliebe. Hat sich die erste Stufe normal entwickelt, so wird der Suchende genügend Einsicht in seine eigene Natur erworben haben, um seine Verhaftungen zu erkennen und zu verstehen, warum Opfer erforderlich sind. Wenn der Suchende den für ihn richtigen Weg gefunden hat und er vor der Möglichkeit steht, eine enge Schüler-Lehrer-Bindung einzugehen, so besteht die Gefahr darin, daß er nicht in der Lage ist, diesen Schritt zu tun, um so dem Lehrer zu gestatten, ihm zu helfen. Der Lehrer ist oft gezwungen, den Anschein zu erwecken, als würde er unvernünftige Anforderungen an den Schüler stellen oder das Interesse an ihm verlieren. Enttäuschung und Ärger machen den Suchenden für die Gelegenheit, die sich vor ihm auftut, blind. Es ist charakteristisch für die Verkehrungen auf dem Pfad der Transformation, daß ein Suchender, welcher bereit ist, sich selbst die Schuld zu geben, und sich trotz Mißerfolgs zu Beharrlichkeit verpflichtet fühlt, sich wahrscheinlich eine neue Umgebung wählen sollte; wenn er jedoch dem Lehrer die Schuld gibt und sich mißverstanden fühlt, so sollte er wahrscheinlich seine eigenen Gefühle opfern und sich den Anforderungen rückhaltlos fügen. Die vierte Stufe ist hauptsächlich durch die Art von Hilfe charakterisiert, die der Suchende empfangen kann. Um das zu verstehen, müssen wir zu der Vorstellung von einer Quelle zurückkehren. Energie fließt aus einer Quelle, aber sie bedarf eines Kanals, um nicht zu zerfließen und verloren zu gehen. Der Kanal für psychische Energien sind Menschen. Solche Menschen werden zu Recht Eingeweihte genannt. Das bedeutet nicht, daß solche Männer und Frauen die Stufe
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der Vervollkommnung schon erreicht hätten — sie können Fehler machen und sogar den Weg wieder verlieren; aber weil sie einen spezifischen Prozeß in sich zugelassen haben, sind sie zu Kanälen für die Übertragung höherer Energien geworden und können die Transformation anderer fördern. Es gibt Dutzende von Wegen, auf denen Menschen, die zu Kanälen der Übertragung geworden sind, wirksam werden können. Ich bin einigen begegnet, und jeder von ihnen ist anders. Es ist ein Merkmal der vierten Stufe, daß es kein erkennbares, stereotypes Muster mehr gibt. Alles ist wunderbar geordnet und wirkkräftig, aber immer nur unter den jeweiligen Bedingungen eines bestimmten Zeitpunktes und eines bestimmten Ortes. Ändern sich diese, so löst sich auch das Muster auf. Ich will ein Beispiel geben: Als wir einmal in Nordwest-Persien reisten, stießen wir auf eine Sufi-Gemeinschaft des Jellali Ordens, dessen Hauptzentrum in Turkestan ist. Wir wurden aufgenommen, und ich konnte nicht daran zweifeln, daß diese Gemeinschaft die Qualität eines echten Übertragungs-Kanals besaß und mit einer spezifischen Aufgabe betraut war. Die Umstände hinderten uns daran, lang genug zu bleiben, um einen wirklichen Kontakt herzustellen. In den folgenden Jahren versuchten mehrere meiner Freunde, denen ich von der Begegnung erzählt hatte, die Gemeinschaft wiederzufinden, aber sie war spurlos verschwunden. Später hörte ich, daß sie mit einer weitverzweigten Bruderschaft im Mittleren Osten verknüpft war, für die ich mich ganz unerwartet zu interessieren begann und von der ich wertvolle Hilfe erhielt. Die Geschichte zeigt zum einen, daß sich eine solche Gelegenheit zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort auftut und in der richtigen Weise wahrgenommen werden muß. Ist der Augenblick vorbei, so ist die Tür verschlossen oder überhaupt nicht mehr vorhanden. Zum anderen wird man die Gelegenheit nur erkennen, wenn man eine Stufe des eigenen Erwachens erreicht hat, auf der Hilfe gegeben werden kann. '{ Das sind keine theoretischen oder abstrakten Prinzipien: Ich habe immer wieder gesehen, wie nahe Menschen an den Punkt kamen, wo ein entscheidender Schritt vorwärts möglich wurde, und die GelegenStufen der Transformation
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heit versäumten. Oft waren gerade sie davon überzeugt, daß sie zu jedem vernünftigen Opfer bereit wären, um einen wirklichen Fortschritt zu machen, aber sie konnten nicht sehen, daß das, was von ihnen verlangt wurde, nicht nur vernünftig war, sondern offensichtlich notwendig für ihren eigenen Nutzen. Das heißt nicht, daß die Anforderungen, die beim Eintritt in die vierte Stufe an uns gestellt werden, leicht vorherzusehen wären und wir uns darauf vorbereiten könnten. Im Gegenteil, sie sind immer überraschend und können sogar im Gegensatz zu dem stehen, wonach zu suchen uns gelehrt worden ist. In Kapitel zwei sprach ich über das Gesetz von Wagnis und Zufall. Gewöhnlich versuchen wir, Gefahr und Risiko durch Vorsicht und Voraussicht zu vermeiden. In Wirklichkeit kann man ihnen nur dadurch begegnen, daß man mehr Risiken auf sich nimmt. Hilfe besteht selten darin, etwas leichter zu machen, sondern eher darin, überflüssige und sogar absurde Schwierigkeiten zu schaffen. Wir lehnen uns auf eine Krücke, und sie wird uns genommen, damit wir gehen lernen. Wir schenken einem Menschen unser Vertrauen, und er mißbraucht es, um uns zu lehren, uns selbst zu vertrauen. Wir haben uns durch eigene Erfahrungen davon überzeugt, daß eine Methode oder Technik zuverlässig ist und unserem Fortschritt förderlich: wir bekommen gesagt, daß sie ein Hindernis ist, das zur Seite geräumt werden muß. Wenn es uns gelingt, in jedem Fall richtig darauf zu antworten, so entdecken wir, daß die unvernünftige Anforderung gerade der richtige Weg war, um uns zu helfen. Das ist nicht schwer zu begreifen, wenn man einmal verstanden hat, wie das Gesetz von Wagnis und Zufall arbeitet: Nur durch das Zusammenwirken widersprüchlicher Prozesse kann der Teufelskreis sinnloser Wiederholungen gebrochen werden. Auf der vierten Stufe ist alles neu und unerprobt; die Schaffung von Bedingungen ist eine besondere Kunst, die niemand ohne die Hilfe einer sehr hohen Energie meistern kann. Ich werde nicht versuchen, weitere Stufen zu beschreiben, denn wenn die vierte durchschritten ist, ist der Prozeß völlig individualisiert und allgemeine Bestimmungen sind wertlos. Ich hatte das Glück, mehreren Männern und Frauen zu begegnen, die über die vierte Stufe der Transformation hinausgelangt waren, und habe sehen können, daß
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sie alle vollkommen verschieden waren. Gewöhnliche Menschen sind mehr oder weniger gleich. Sogar die auf der vierten Stufe fallen in deutlich unterscheidbare Kategorien oder Typen, die — wenn sie auch klein an Zahl sind — doch ein gewisses Maß an Verallgemeinerung erlauben. Aus diesem Grund wählen Schulen der vierten Stufe ihre Schüler so aus, daß eine möglichst fruchtbare Mischung der Typen gewährleistet ist. Jenseits dieser Stufe haben solche Regeln keine Geltung mehr. Je weiter sich ein Mensch der Vervollkommnung nähert, desto einzigartiger und individueller wird er. Er muß eine Aufgabe erfüllen, für die er und nur er die notwendigen Qualitäten besitzt. Wenn solche Menschen als Heilige oder Weise bekannt werden, dann wird ihre Einzigartigkeit übersehen, und in der Erinnerung werden sie zu idealisierten Bildern, welche Mustern entsprechen, die gewöhnliche Menschen erkennen und denen sie nacheifern können. Nur die Allernächsten können wissen, wer und was sie wirklich waren.
4. LEITUNG UND FORTSCHRITT Alle möchten wir uns irgendwie weiterentwickeln, auch wenn diese Entwicklung nicht Transformation bedeutet. Wir brauchen deswegen alle Wissen und vielleicht Hilfe und Rat. Wir mögen hoffen, das Wissen durch Bücher und Vorträge zu erlangen, aber was Hilfe und Führung angeht, so sind wir auf eine Person angewiesen. Von wem dürfen wir annehmen, daß er ein Experte in den Dingen ist, die wir lernen wollen, und wie können wir ihn finden? Unter professionellen Psychologen, auch unter Theologen und Philosophen werden wir unterschiedliche Grade an Qualifikation finden; aber ich nehme an, daß wir nach etwas suchen, das wahrscheinlich keiner von ihnen bieten kann. Wir wollen einen Experten in den Methoden der Selbst-Entwicklung oder Transformation. Wenn wir im Osten lebten, so könnten wir hinduistische Gurus, muselmanische Sheikhs und buddhistische Bhikkus finden; aber wir wissen alle, daß sie in ihrer Mehrzahl nur über ein begrenztes Repertoire verfügen und im wesentlichen die gleiche Funktion ausüben wie der Gemeindepfarrer in den früheren Jahrhunderten in Europa. Manche kommen in den Westen umgeben mit dem Ruf, Heiligkeit,
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Weisheit oder magische Kräfte zu besitzen, und finden eine entsprechende Gefolgschaft. Wie können wir erkennen, ob sie uns geben können, was wir brauchen? Und was brauchen wir? Nehmen wir an, daß wir einige Bücher gelesen haben und hinreichend interessiert sind, um eine der beschriebenen Methoden auszuprobieren oder eine Form der Meditation zu praktizieren, die in einem der Bücher empfohlen wird. Das wird uns mit ziemlicher Gewißheit zu der Erkenntnis bringen, daß etwas fehlt. Nach einem ermutigenden Anfang bleiben wir stecken. Nachdem ich selbst einige Bücher über solche Themen geschrieben habe und als Schüler von Gurdjieff, Mitglied von Subud, Jünger des Shivapuri Baba und Anhänger des Sufismus bekannt bin, erhalte ich aus der ganzen Welt Briefe von Menschen, die mich meistens fragen, wie sie einen Lehrer finden oder in einen dieser Wege initiiert werden können. Das vorliegende Buch ist gewissermaßen auch eine allgemeine Antwort auf diese Briefe und jene, die noch nicht geschrieben wurden. Erst einmal würde ich jedem raten, sich zu fragen, wonach er wirklich sucht. Wenn er jemanden sucht, der Entscheidungen für ihn trifft und ihm Verantwortung abnimmt, dann sollte er sich nach einem Experten in solchen Dingen umschauen — einem Psychologen oder einem Pfarrer — je nach dem, ob er wissenschaftlichen oder religiösen Rat vorzieht. Es wäre unweise, sich an eine nicht qualifizierte Person zu wenden, die sich nicht einem Verhaltenscodex unterstellt hat, der von einer Berufskörperschaft oder Kirche niedergelegt ist. Es gibt zuviele Männer und Frauen ohne wirkliche Erfahrung und Verständnis dessen, was es heißt, Entscheidungen für andere zu treffen. Dem wahren Lehrer oder geistigen Führer geht es darum, anderen zu helfen, ihre Entscheidungen selbst zu treffen und für sich selbst verantwortlich zu werden. Wenn der in Erwägung gezogene Lehrer in Anspruch nimmt, Vertreter einer bestimmten Tradition oder Lehre zu sein, dann sollte man sie studieren. Wenn sie Verantwortung abnimmt oder blinde Gefolgschaft oder Vertrauen in eine Person fordert, dann würde ich dem Suchenden sehr empfehlen, vorsichtig zu sein. Nur starke Menschen mit einem gut entwickelten Urteilsvermögen können derartige Risiken eingehen. Vergessen Sie nicht, daß sie immer noch auf der er-
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sten Stufe sind: Sie haben nicht genug Erfahrung, um sich zu binden. Sie kennen sich und Ihre wahren Bedürfnisse nicht und haben wenig Kriterien, um zu entscheiden, ob Ihnen eine Person oder eine Gruppe helfen kann. Wenn Sie sich auf etwas einlassen, dann geben Sie sich das Versprechen, es nicht für länger als sechs Monate zu tun. Das genügt, um sich eine Meinung zu bilden. Es kann auch sein, daß Ihnen eine Probezeit vorgeschrieben wird. Schrecken Sie davor nicht zurück: im Gegenteil, begrüßen Sie sie als eine Gelegenheit, soviel wie möglich in Erfahrung zu bringen, ohne sich gebunden zu haben. Verschwenden Sie keinen Augenblick. Ich habe oft gesehen, daß Leute die Probezeit als Zeitverschwendung betrachten und sich während dieser Zeit nicht als jemand sehen, der schon angefangen hat. Selbst wenn keine Probezeit gefordert wird, sollte der Suchende sie selbst festlegen — ich habe sechs Monate vorgeschlagen. Es gibt einen prinzipiellen Grund, für jede Art von Unternehmung eine begrenzte Zeitspanne festzulegen: er hat mit dem Gesetz von Wagnis und Zufall zu tun. Jeder zeitlich unbegrenzte Prozeß wird seine Richtung verlieren, sofern er nicht bewußt gelenkt wird. Die Begrenzung einer Periode stellt sicher, daß ein unabhängiger Faktor eingeführt wird; nämlich eine neue Entscheidung. Soweit es in Ihren Kräften steht, muß das eine wahre Entscheidung sein. Sie müssen wissen, daß Sie frei sind und eine freie Entscheidung treffen. Wenn Sie sich entscheiden, keine Bindung einzugehen, dann trennen Sie sich ganz und machen Sie einen neuen Versuch. Die Erfahrung wird sehr wertvoll sein. Die Ernsthaftigkeit eines solchen freien Aktes der Wahl wird in unserer modernen Welt nicht hinreichend anerkannt, wo wir inmitten von Konditionierung leben und es geradezu das Ziel der Gesellschaft zu sein scheint, die Menschen der Verantwortung für ihr Leben und Handeln zu entheben. Der Weg der Transformation muß das genaue Gegenteil davon sein. Wohin er uns auch sonst führen mag, er muß uns zu freien, verantwortlichen Individuen machen, die fähig sind, ihr Leben im Einklang mit dem größten objektiven Wohl zu gestalten. Wenn es dazu kommt, daß wir eine Bindung eingehen — immer
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noch vorläufig und zeitlich begrenzt — und wir uns der Leitung einer Person oder Gruppe unterstellen: auf was müssen wir achten? Wir dürfen keinen vollkommenen Menschen erwarten, erleuchtet und ohne jedes Eigeninteresse. Solche Menschen haben wichtigere Aufgaben, als mit Anfängern zu arbeiten. Darüberhinaus glaube ich, daß selbst der höchste und vollkommenste Führer oder Lehrer fehlbar ist: das ganze bestehende Universum ist von Wagnis und Unsicherheit durchzogen. Wir müssen an diesem Prinzip festhalten, oder wir werden in Schwierigkeiten geraten, wenn wir von einem Menschen, der uns offensichtlich an Weisheit, Kraft und Güte überlegen ist, ein Maß an Unfehlbarkeit erwarten, das dem universalen Gesetz von Wagnis und Zufall widerspricht. Mit anderen Worten, wir müssen unter allen Umständen auf Fehler und Unzulänglichkeiten in unseren Lehrern gefaßt sein. Das scheint mit dem Prinzip in Widerspruch zu stehen, daß wir unserem Lehrer vertrauen und tun müssen, was immer er von uns verlangt. Dieses Prinzip hat mit Opfer und Hilfe zu tun: es ist kein universales Gesetz. Wir müssen bereit sein, unseren Eigenwillen zu opfern, und wir müssen lernen zuzulassen, daß uns geholfen wird. Wir müssen all das rückhaltlos tun und dennoch unsere Augen offenhalten. Auf der zweiten Stufe muß es uns genügen, wenn wir Methoden lernen, die nützlich für ims sind, und in Umstände gebracht werden, die unserer Selbsterkenntnis dienlich sind. Selbst das erfordert ein Maß an Bindung, das möglicherweise schwer einzugehen ist. Wir sind daran gewöhnt, herumgestoßen zu werden, uns aber niemals freiwillig einer Disziplin zu unterwerfen, um Stärke zu gewinnen. Wir dürfen nicht vergessen, daß Zeit bemessen ist. Die zweite Stufe darf nicht lange dauern. Viel zu viele Leute geben sich damit zufrieden, immer weiter das gleiche zu lernen oder dieselbe Technik zu gebrauchen, nachdem sie schon lange ihren Zweck erfüllt hat. Meiner Meinung nach sollte man auf keinen Fall mehr als drei Jahre für diese Stufe vorsehen. Wenn wir feststellen, daß in dieser Zeit kein spezifischer und persönlicher Prozeß stattgefunden hat, dann stimmt etwas nicht. Entweder waren wir zu passiv, oder die Umgebung ist nicht die richtige. Sie kann angenehm und ermutigend sein; vielleicht haben wir gute Freunde gefunden und haben das Gefühl, nützliche Arbeit zu tun.
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All das wird uns nicht zur dritten Stufe bringen, sofern vier Faktoren: Wissen, Kampf, Opfer und Hilfe nicht unverkennbar wirksam sind. Leider finden wir nur selten im richtigen Moment die richtigen Bedingungen, um den nächsten Schritt zu tun. Vielleicht sind wir gezwungen zu warten; aber wir dürfen nicht stagnieren. Wir allein haben die Verantwortung und niemand anders. Wir dürfen weder von dem Lehrer noch von der Gruppe etwas erwarten, das sie nicht geben können. Sie mögen ernsthaft überzeugt sein, daß die Methoden, welche sie übermitteln, alles Notwendige enthalten, und dennoch bewegt sich vielleicht alles im Kreis. Ich habe das so oft gesehen, daß ich mit Gefühl darüber schreiben kann. Die Wirklichkeit des Kampfes erzeugt die Illusion des Fortschritts. Der Schüler wird dazu gebracht, sich unmöglichen Aufgaben auszusetzen, und erfährt Befriedigung aufgrund der bewußten Energie, welche im Kampf freigesetzt wird. Eine andere Art der Selbsttäuschung kann das Lernen sein. Es gibt Gruppen, die sich dem Studium esoterischer Fragen widmen und dazu die beinahe grenzenlosen Quellen der verschiedenen Traditionen heranziehen. Solche Studien sind nur in dem Maß sinnvoll, als sie Kanäle im Denken öffnen und neue Formen der Kommunikation entstehen lassen. Wird das nicht beachtet, so wird das Studium zum Selbstzweck, und die damit befaßt sind, bewegen sich im Kreise, ohne irgendwohin zu gelangen, und haben doch die Überzeugung, daß das Lernen ihnen Kraft gibt. Eine dritte Fallgrube hängt mit Einweihung zusammen. Es gibt derzeit auf der Welt viele Gruppen und Bruderschaften, die das Geheimnis einer Form der Einweihung besitzen; das heißt, die Übertragung von Hilfe durch Kontakt oder durch eine Zeremonie oder ein Ritual. Wie bei Subud kann es sich um Kontakt mit universalen Energien handeln. Oder es wird, wie bei der Geistigen Erneuerungsbewegung, ein Mantra oder ein Satz zur Wiederholung gebraucht. Ich beziehe mich hier nur auf Praktiken, die ich für echt und positiv halte und nicht auf zweifelhafte magische Einweihungen, die oft mit Geheimhaltung und sexuellem Kontakt verbunden sind. Echte Einweihung ist in ihrer Reichweite notwendigerweise begrenzt. Sie überträgt als solche kein Wissen, kann auch nicht die Bedingungen des
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Kampfes organisieren.Oft wird sogar die Idee des Opfers zurückgewiesen als überflüssig für jene, die die Einweihung empfangen haben. Das Ergebnis ist wiederum, daß sich die Wirkung einer bestimmten Methode zu wiederholen beginnt und die Illusion des Fortschritts erzeugt, weil diejenigen, die sie aufrichtig praktizieren, eine Verbesserung ihrer Gesundheit, ihrer emotionalen Stabilität oder eine Beseitigung von Fehlern beobachten können. Sie erkennen jedoch nicht, daß keine wirkliche Transformation stattfindet, außer bei den sehr wenigen, denen es gelingt, Kampf und Opfer mit der besonderen Einweihung, die ihnen aufgrund ihrer Wahl zuteil wurde, zu verbinden. Schließlich gibt es Bewegungen, die fast vollständig auf Opfer beruhen. Zum Beispiel verlangt jemand, der eine Inkarnation Gottes zu sein beansprucht, von seinen Anhängern das Opfer jedes persönlichen Besitzes und die vollständige Unterwerfung unter seine Person. Das Interesse der Anhänger kann dadurch so in Anspruch genommen sein, daß sie nicht bemerken, daß sie von der Beziehung zum Meister abhängig geworden sind, und weil diese sich nicht entwickeln kann, machen sie auch selbst keinen Fortschritt. All diese Bewegungen mögen gut und ehrenwert sein. Jede zieht bestimmte Menschentypen an, die sich von dem jeweiligen Ansatz angesprochen fühleni Aber das Problem besteht darin, daß bestimmte Praktiken häufig dazu beitragen, die Eigenheiten von Leuten zu festigen, anstatt sie zu befähigen, von sich frei zu werden. Für eine gewisse Zeit sind sie nützlich. Ich habe deshalb eine Zeitbegrenzung auf drei Jahre vorgeschlagen. Es wird soviel Potential verschwendet, weil Zehntausende hervorragender Männer und Frauen in der ganzen Welt an Gruppen und Bewegungen gebunden sind, die ihnen anfänglich etwas gegeben haben, denen sie aber — aus falscher Loyalität oder vielleicht nur aus Unkenntnis der Gesetze der Transformation — immer noch folgen, selbst wenn der Transformationsprozeß schon vor Jahren zum Stillstand gekommen ist. Es ist offensichtlich, daß für den Übergang von einer Stufe zur anderen eine jeweils andere Art von Expertenwissen und andere Fähigkeiten erforderlich sind. Um die Situation zu schaffen, die für die Transformation der vierten Stufe notwendig ist, bedarf es auf Seiten des Leh-
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rers sehr viel größerer Vielseitigkeit und Wendigkeit als für die Bedingungen der dritten Stufe. In gewissem Sinne erzeugt der Bedarf das Angebot. Es gibt Zeiten — und die gegenwärtige ist eine solche —, in welchen die Welt mehr als sonst auf transformierte Menschen angewiesen ist, und zu solchen Zeiten werden Führer oder höhere Lehrer von den Zentren, die sie vorbereitet haben, ausgesandt. Aber dazu gehört auch der Bedarf auf Seiten derer, die fähig sind, sich helfen zu lassen. Es ist nicht Sache des Lehrers, andere davon zu überzeugen, daß sie ihn brauchen: das müssen sie selbst entdecken. Nur so werden sie bereit sein, die Bindungen einzugehen, die auf der vierten und den folgenden Stufen erforderlich sind. Soweit habe ich nur über Lehrer und Führer gesprochen, die direkt mit der Lehre und der Übermittlung von Hilfe befaßt sind. Es gibt auch solche — ich würde sie 'geistige Direktoren' nennen — die nicht lehren, keine Gruppen organisieren oder Bewegungen anführen. Es sind weise, erfahrene und heilige Männer, die Kanäle für die Übermittlung der vereinigenden Energie (E2) sind und unerhört viel Gutes in der Welt tun, gewöhnlich ohne als das, was sie sind, erkannt zu werden. Ich bin zwei oder drei solchen Menschen in meinem Leben begegnet und schulde ihnen tiefsten Dank. Und doch war ich nie in einer Schüler-Lehrer Beziehung zu ihnen und gehörte nie zu dem geistigen Orden, dessen Mitglieder sie waren. Bei der Suche nach dem Muster unseres Lebens müssen wir die hohe Komplexität der unsichtbaren Gesellschaft transformierter Menschen und derer, die auf dem Weg der Transformation sind, berücksichtigen. Ich habe sie psychotelische und psychokinetische Gruppen* genannt. Es gibt die verschiedensten Wege, und sie alle sind Teil dieser komplexen Struktur. Oft ist den Mitgliedern und sogar den Führern der verschiedenen Gruppen nicht bewußt, wie notwendig sie alle sind. Es gibt dumme Eifersüchteleien, durch die viel Energie und Anstrengung verschwendet zu werden scheint. In Wirklichkeit sind Spannungen und Konflikte notwendige Mittel, um das *The Dramatic Universe, Bd III, Kap. 41.
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Gesetz von Wagnis und Zufall zu überwinden. Alles, was zu gut und zu säuberlich organisiert ist, sät die Samen seiner eigenen Zersetzung. Es gibt einen sehr hohen Grad an Weisheit, der es versteht, Chaos schöpferisch anzuwenden und Harmonie aus Konflikt entstehen zu lassen. Wir müssen uns davor hüten, etwas zu kritisieren, das wir unmöglich verstehen können. Je weiter wir auf dem Weg der Transformation fortschreiten, desto deutlicher wird es, daß unser kleines bißchen Weisheit und unsere Wissenschaft bei weitem nicht in der Lage sind zu verstehen, wie die menschliche Geschichte gelenkt wird. Dennoch haben wir alle unseren Platz darin und sollten uns nicht eher zufrieden geben, als bis wir ihn gefunden haben und wissen, daß wir ihn gefunden haben.
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Kapitel fünf DER KÖRPER ALS INSTRUMENT DER TRANSFORMATION l. DAS RICHTIGE VERHÄLTNIS ZUM KÖRPER
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ir nähern uns dem Ziel unserer Existenz erheblich — sei es, daß wir darunter Vervollkommnung, Freiheit, dauerndes Glück oder die Erfüllung unseres Schicksals verstehen —, wenn wir ein für alle Mal das richtige Verhältnis zu unserem physischen Körper herstellen. Wir müssen ihn als ein Instrument betrachten, das wir gebrauchen, ein Tier, das wir trainieren, einen Diener, dem wir befehlen, und ihn doch mit gebührender Rücksicht auf seine Würde und seine Rechte behandeln. Wenn wir diese Haltung noch nicht erworben haben, so müssen wir uns darin üben, bis wir sie uns zu eigen gemacht haben. "Dieser Körper ist nicht Ich." "Er ist nicht mein Selbst." "Er ist ein Ding, das verkommt, wenn es nicht gepflegt wird." "Er ist ein Tier, das nicht gehorcht, wenn es nicht diszipliniert wird." "Er ist mein für eine kurze Zeit, und während dieser Zeit muß ich den vollsten Gebrauch von ihm machen." "Immer und überall muß er mir gehorchen. Ich kann und werde sein Meister sein." Wenn wir über solche Vorstellungen meditieren, entwickeln wir die richtige Einstellung. Die Verbindung zwischen Geist und Körper muß durch Disziplin gefestigt werden. Es ist gut, den Körper an harte physische Arbeit zu gewöhnen und körperliche Fertigkeiten zu erwerben.
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Wir müssen die Schwächen des Körpers beobachten. Einer schläft zuviel, ein anderer ißt zuviel, ein dritter fürchtet sich vor Schmerzen. Diese Schwächen müssen überwunden werden. Das sollte schon in der Kindheit geschehen. Wenn wir nicht das Glück hatten, schon in der Jugend zu lernen, unseren Körper zu disziplinieren, so dürfen wir nicht glauben, daß es zu spät sei. Wir müssen da anfangen, wo wir sind. Es werden sich Gelegenheiten bieten: Durch Krankheit und Unfälle können wir lernen, daß physische Schmerzen der Meisterschaft über uns selbst dienlich sein können. Wir sollten uns die Aufgabe stellen, nutzlose und schädliche körperliche Gewohnheiten zu überwinden. Es mag so scheinen, als würde ich einem strengen Asketentum das Wort reden. Ich habe mein eigenes Leben zweifellos nicht in dieser Weise geführt und sehe keine Veranlassung, es jemandem zu empfehlen, der Asketentum nicht selbst als den richtigen und notwendigen Weg für sich betrachtet. Unser Körper sollte wie ein Diener behandelt werden, den wir lieben und dem wir vertrauen. Wir können und sollen seinen Bedürfnissen gerecht werden und von Zeit zu Zeit sein Verlangen voll befriedigen. Aber in erster Linie ist es eine Beziehung zwischen Diener und Herrn. Wenn ich feststellte, daß eine Gewohnheit mich in der Gewalt hatte, dann habe ich von mir verlangt, sie zu brechen, und ich bin absolut sicher, daß ich dadurch Gesundheit, Glück und das Kostbarste von allem, Freiheit erworben habe. Wenn ich meinen Körper noch mehr diszipliniert hätte, hätte ich vielleicht noch mehr gewonnen. Rückblickend kann ich sagen, daß ich während Perioden der übermäßigen Befriedigung körperlicher Bedürfnisse an Boden verloren habe und dafür zahlen mußte. Es ist durchaus nicht schwer, zu diesem Körper die richtige Beziehung herzustellen, wenn man einmal auf den Geschmack gekommen ist. Er hat erstaunliche Eigenschaften. Es ist nicht notwendig, mit einem einigermaßen disziplinierten Körper zu kämpfen. Er wird tun, was erforderlich ist, fast noch ehe wir es erkannt haben. Nehmen wir ein Beispiel: Ich fühle mich träge und entschließe mich, mich hinzusetzen und zu lesen, anstatt eine notwendige Arbeit zu erledigen; plötzlich bemerke ich, daß mein Körper aufsteht und tut, was anliegt, während ich noch in Tagträumen befangen bin. 120
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2. ENTSPANNUNG Obwohl Entspannung sich in erster Linie auf den physischen Körper bezieht, ist sie doch eine Technik mit beinahe unbeschränktem Potential. Gurdjieff zufolge gibt es sieben Grade der Entspannung; beginnend mit dem Loslassen der Spannung in den Muskeln führt sie zu immer tieferem Nachgeben der Nerven, Gefühle, Gedanken, Wünsche bis zur schließlichen, unwiderruflichen Auflösung des Selbst. In diesem Kapitel will ich nicht über körperliche Entspannungsübungen hinausgehen, die den freien Fluß der psychischen Energien erlauben. Es ist einfach, den Körper durch harte Arbeit, gute Massage, Sauna und ähnliche Mittel in einen entspannten Zustand zu bringen. Sie sind alle nützlich, führen aber nicht zu der tiefen Entspannung, um die es uns geht. Zu diesem Zweck müssen wir lernen, zwischen unserem Willen und dem Teil unseres Körpers, den wir zu entspannen wünschen, eine direkte Verbindung herzustellen. Ich habe das 'Arbeit mit der Aufmerksamkeit' genannt, aber ich habe inzwischen entdeckt, daß es um etwas viel Interessanteres und Wichtigeres geht. Ich habe bereits ausgeführt, daß die bewußte Energie direkt mit unserem Willen, das heißt mit unserem Ich verbunden ist. Diese Energie hat Macht über die sensitive Energie und kann dazu gebraucht werden, den Körper in einen bestimmten Zustand zu bringen. Lernen, sich zu entspannen, ist der erste Schritt zur willentlichen Kontrolle physiologischer und psychologischer Prozesse, von denen allgemein angenommen wird, daß sie außerhalb unserer Willenskraft liegen. Normalerweise geben wir uns damit zufrieden, auf die eingefahrenen Reflexe und anerzogenen Reaktionen zu vertrauen. Wenn ich sage, "ich werde meinen rechten Arm heben und ihn wieder fallen lassen", so treten zwar die erforderlichen Bewegungen auf, aber nicht unter der direkten Kontrolle meines Willens. Es ist allgemein bekannt, daß Yogis und andere Heilige des Ostens die Macht erwerben können, ihren Atem oder ihren Puls anzuhalten, das Blut in einem bestimmten Teil des Körpers zu konzentrieren und
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so Schwellungen und andere seltsame Effekte hervorzubringen. Diese Fähigkeiten beruhen alle darauf, so mit der bewußten Energie umgehen zu lernen, wie ich es beschrieben habe. Solche parapsychologischen Tricks sind für uns ohne Interesse, nicht jedoch die Methode der tiefen Entspannung, weil wir dadurch Zustände herbeiführen können, deren willentliche Kontrolle notwendig ist. Es gibt viele Wege, mit Hilfe der bewußten Energie zu tiefer Entspannung zu gelangen. Ich werde einen beschreiben, der sich bei den meisten Menschen als brauchbar erwiesen hat: Setzen Sie sich bequem hin mit dem Rückgrat so gerade und aufrecht wie möglich, ohne übermäßige Anstrengung. Sie können ihren Rücken am unteren Teil der Wirbelsäule stützen. Überzeugen Sie sich, daß Ihr Kopf im Gleichgewicht ist und frei auf den Schultern ruht und keine offensichtlichen Spannungen in Ihrem Körper sind. Legen Sie Ihre Hände mit den Handflächen nach unten auf die Knie. Nun werden Sie Ihrer Augen gewahr, so als wären Sie in Ihren Augen und würden sie von innen erfahren. Sie können jetzt Ihre Augen entspannen. Jetzt sehen Sie, ohne Ihren Blick auf irgendetwas Bestimmtes zu richten. Senken Sie die Augenlider, ohne sie zu schließen. Gehen Sie mit Ihrem Bewußtsein über Ihr Gesicht, in den Mund, zur Kehle mit dem Wunsch, daß sich jeder Teil entspannt. Von der Kehle zur Rückseite des Halses, so als wären Sie in den Muskeln des Halses; von dort zur rechten Schulter und den rechten Arm hinunter bis zu den Fingerspitzen, wobei Sie mit Ihrem Bewußtsein in die Muskeln eindringen. Das gleiche mit der linken Schulter und dem linken Arm. Dann zurück zur Kehle und dort durch die Speiseröhre bis zum Zwerchfell. Nun kommt die besondere Nabelempfindung; in diesem Bereich besteht eine Konzentration der vegetativen Energie (die Japaner nennen es Hara), die sich entspannen muß. Es ist notwendig, mehrere Minuten damit zu verbringen, die Bauchmuskeln zu entspannen und ein tiefes rhythmisches Atmen zu erreichen. Das Bewußtsein wandert dann in den rechten Schenkel und das rechte Bein hinunter. Machen Sie es langsam, damit ein richtiger Kontakt zwischen Ihnen und Ihrem Bein zustande kommen kann. Das gleiche wird für die linke Seite wiederholt. Wenn Sie damit fertig sind, sollte eine allgemeine Empfindung der Masse des Körpers eintreten und ein Gewahrsein der eigenen Präsenz
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im Körper. Dann wird die ganze Übung mit der Absicht wiederholt, tiefer in die Nerven und Blutgefäße einzudringen. Das verursacht ein Kribbeln oder eine vibrierende Empfindung, auf die ein Gefühl der Ganzheit des Körpers folgt. Die Übung wird so lange fortgesetzt, wie man sich wach halten kann, oder den Faden nicht verliert. Sie ist nicht einfach und muß vielleicht zwanzig oder dreißig Mal gemacht werden, bevor man sicher sein kann, daß man weiß, was 'Kontakt mit dem eigenen Körper' bedeutet. Sie sollte nie öfter als einmal täglich gemacht werden. Wenn man einmal gelernt hat, wie es geht, kann die Dauer reduziert werden und die Übung als Vorbereitung für eine der energietransformierenden Übungen benutzt werden. Es gibt viele Varianten dieser Übung; soweit ich feststellen kann, erfordern sie alle die Konzentration bewußter Energie. Das kann nicht durch Anstrengung erreicht werden: im Gegenteil, irgendeine Art von Gewalt macht Entspannung so gut wie unmöglich. Es verlangt eine besondere Fertigkeit, eine besondere Art des Kampfes: es ist harte, wirklich sehr harte Arbeit, wenn es tief gehen soll, und doch darf keine Gewalt dabei sein. Jede gewaltsame Anstrengung produziert Spannung und macht das Ziel zunichte. Das zeigt, wie wichtig es ist zu verstehen, um was es geht. Das Ziel der Entspannung besteht darin, den freien Fluß der vitalen und psychischen Energien zuzulassen. Tiefe Entspannung geht darüber hinaus und erlaubt der kreativen Energie, in uns zu wirken, den mind zu organisieren und in Seele zu verwandeln. Wir können diese Transformation nicht durch die Energien erreichen, die mehr oder weniger unter der Kontrolle des mind stehen, und deswegen müssen wir zulassen, daß die Arbeit in uns getan wird. Wer tiefe Entspannung übt — manchmal auch tiefe Meditation genannt —, wird dieser Einwirkung gewahr und lernt, damit zu kooperieren.
3. ERNÄHRUNG UND FASTEN Der Zustand der sensitiven Energie wird zweifellos durch das beeinflußt, was wir essen und wie wir essen. Maßvolles Essen ist ganz
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gewiß eine weise Regel. Der östliche Brauch, sich meistens knapp zu ernähren und gelegentlich ein üppiges Festmahl zu bereiten, ist geringem, aber konstantem Überessen vorzuziehen. Ich bin nicht sicher, ob eine besondere Diät von Vorteil ist. Ungefähr vor dreißig Jahren lebte ich ein Jahr lang vegetarisch. Als Ergebnis wurde ich, soweit ich sehen kann, schwach und krank und erholte mich erst dann wieder ganz, als ich wieder anfing Fleisch zu essen. Dennoch glaube ich, daß Fleisch nur sehr sparsam gegessen werden sollte, um gesund zu bleiben und Kontrolle über die psychischen Energien zu bewahren. Alkohol im Übermaß zu trinken, ist offensichtlich schädlich. Ich habe in muselmanischen Gemeinschaften gelebt, in denen alkoholische Getränke nicht existierten, und habe mich sehr wohl gefühlt. Dennoch muß ich sagen, daß ich nicht einem Lebensweg folgen wollte, der jeden Alkohol verbietet. Ich war sehr erschrockep, als ich Pak Subuhs älteste Tochter, eine bemerkenswerte Frau, i960 in Athen traf, und sie mir beim Abschied riet, mit dem Trinken ganz aufzuhören, weil es mein Leben verkürzen würde. Man muß sich klar darüber sein, daß auch die kleinste Quantität Alkohol das Gleichgewicht des Nervensystems stört. Gurdjieff erwartete von uns, viel zu trinken, wenn er es verlangte: aber das war eine durchaus besondere Situation. Seine langen Diners, vor denen eine Stunde oder länger vorgelesen wurde, in einem überfüllten Raum mit stickiger Luft, waren wacher Aufmerksamkeit nicht gerade zuträglich. Noch schwerer wurde es, wenn man bei jedem "Toast auf die Idioten', die jedes Mahl begleiteten, Armagnac oder Wodka trinken mußte. Gurdjieff erzählte dieselben Geschichten wieder und wieder oder verärgerte Neuankömmlinge mit seinem seltsamen Ver: halten. Dabei konnte es jeden Moment passieren, daß er uns ohne Veränderung der Stimme oder des Verhaltens etwas sagte, das wir um alles in der Welt nicht hätten versäumen wollen, und das nur in diesem besonderen Augenblick verstanden werden konnte. Um solche Gelegenheiten nicht zu verpassen, mussten wir übermenschliche Anstrengungen machen, um unsere Aufmerksamkeit wach zu halten, und allmählich erkannten wir, daß der Alkohol bei dieser Erfahrung eine unverzichtbare Rolle spielte. Er öffnet Kanäle, die normalerweise versperrt sind, und erlaubt so dem Wesen statt der Persönlichkeit
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hervorzutreten. Alkohol, der so gebraucht wird, ist offensichtlich ein machtvolles Instrument für die Selbst-Erkenntnis und die Selbstwandlung. Er hat ähnliche Wirkungen, wenn er ziellos getrunken wird, aber wir wissen nicht, wie wir davon profitieren können. Wieder zeigt sich, daß wir nicht sagen können, ob Alkohol gut oder schlecht ist, außer wenn wir wissen, was wir damit erreichen wollen. Eine andere Methode, psychische und geistige Kanäle zu öffnen, besteht darin, die körperliche Aktivität durch Fasten zu reduzieren. Es gibt verschiedene Arten des Fastens. Die alte christliche Sitte, freitags kein Fleisch zu essen, ist nichts weiter als ein Überbleibsel der jüdischen Disziplin und eine Erinnerung an das Opfer des Karfreitags. Die muselmanische Sitte, im Monat des Ramadan zu fasten, besteht darin, sich zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang allen Essens und Trinkens zu enthalten. Das erklärte Ziel ist es, allen Gläubigen die Erfahrung von Hunger zuteilwerden zu lassen, damit sie Mitleid mit jenen fühlen können, die aus Not hungern. Ausgedehntes Fasten hat eine andere Wirkung: es reinigt das Blut und führt zu einer bemerkenswerten Regeneration der Psyche. Ich habe bis zu einem gewissen Grad mit Fasten experimentiert und habe viele Vorteile festgestellt. Einige Tage totales Fasten — nur Wasser trinken — ermöglicht die Überschreitung einer Grenze und führt zu der Erfahrung wunderbarer Freiheit vom eigenen Körper und zur Geistesklarheit. Ich habe immer Gurdjieff s Rat befolgt, an einem Fasttag mindestens eine Stunde schwere körperliche Arbeit zu leisten. Er erklärte, daß die Verdauungsenzyme Blutzucker brauchen, ohne den sie unseren mentalen Zustand vergiften. In den frühen Jahren in Coombe Springs, von 1946 bis 1952, gehörte kurzes, vollständiges Fasten zum Programm unserer Sommerseminare. Die meisten Leute konnten sich überhaupt nicht damit anfreunden, aber sie gaben zu, daß die Ergebnisse nach zwei Tagen das Leiden während der 48 Stunden vorher aufwogen. Etwas später praktizierte ich für meinen eigenen Nutzen ein wöchentliches 36-Stunden-Fasten von Sonntag abend bis Dienstag früh. Ich mochte es nie und konnte meine Abneigung selbst nach sieben oder acht Monaten nicht überwinden. Ich fühlte mich immer
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schwach und mein Kopf arbeitete nicht richtig — aber am Mittwoch fühlte ich mich immer hervorragend und geistig wie psychisch außerordentlich aktiv. Ich habe nie irgendeinen Schaden durch Fasten bemerken können, und während der Zeit, in der ich es regelmäßig praktizierte — ungefähr eineinhalb Jahre —, öffnete sich meine innere Schau, und ich sah Dinge, die meine Einstellung zum Leben änderten. Ich kann es deswegen jedem empfehlen, der bereit ist, ein gewisses Maß an Unbequemlichkeit auf sich zu nehmen, um seine geistigen Kräfte zu schärfen. All das ist sehr milde. Ich habe nie mit langem Fasten experimentiert, das heißt länger als eine Woche; ich glaube hauptsächlich deshalb nicht, weil ich immer zu beschäftigt war, um mein Leben so um. zustellen, daß dafür Zeit gewesen wäre. 1962 hatten wir einen bemerkenswerten Besucher in Coombe Springs, Hasan Tahsin Bey, dem ich zuletzt 1920 in Istanbul als Polizeichef begegnet war. Er war ein Bektashi Derwisch und ein großer Vertreter des langen Fastens. Während er bei uns war — es war der bitter kalte Winter von 62/63, ^~v_ als der Schnee zehn Wochen liegen blieb —, fastete er zwei Perioden von 20 und 25 Tagen, wobei er nur ein paar rohe Äpfel und eine Handvoll Schnee zu sich nahm. Obwohl er weit über 80 Jahre alt war, arbeitete er hart draußen im Schnee während der ersten 15 Tage. Nach 20 Tagen ließen offensichtlich seine Kräfte nach, und er gab den Plan, vierzig Tage und Nächte zu fasten, mit großem Widerstreben auf. Er erläuterte uns, daß jemand, der das 'kanonische Fasten' von vierzig Tagen durchhielte, in diesem Leben vollständige und endgültige Befreiung erreichen würde. Er hatte es mehrere Male versucht, aber nie zu Ende gebracht. Daß die Gemeinschaft in Coombe Springs seine Liebe zum Fasten nicht geteilt hatte, enttäuschte ihn bitter. Er kehrte bald nach Holland zurück, und seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört. Was Ernährung im allgemeinen angeht, so will ich zum Schluß eine überlieferte, wohl bekannte Geschichte vom Propheten Mohammed wiedergeben. Nachdem der König von Persien gehört hatte, daß es Mohammed gelungen war, den Götzendienst unter seinen Anhängern abzuschaffen, und erfuhr, daß es in Arabien keine Ärzte gab,
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machte er sich Sorgen und entsandte zwei seiner besten Ärzte, um sich des Propheten und seiner Jünger anzunehmen. Nach mehreren Monaten baten die Ärzte, bei Mohammed vorgelassen zu werden, und beklagten sich, daß sie nie konsultiert worden seien. Der Prophet lud sie ein, all seine Gefährten zu untersuchen. Sie fanden keine Spur einer Krankheit und fragten voller Erstaunen, wie das in einem so ungesunden Klima möglich sei. Mohammed antwortete, daß seine Jünger seinem Rat folgten, sich immer mit einem Rest von Hungergefühl vom Tisch zu erheben. Das war der Grund, warum sie nie krank waren. Ich bin sicher, daß das ein guter Rat ist, aber ich habe mich selten strikt daran gehalten. Ich versuche mich jedoch an die Regel zu halten, nie mehr zu essen, als mein Körper wirklich will. Ich kann sagen, daß es dreißig Jahre her ist, seitdem ich zuletzt irgendeine Beschwerde der Verdauungsorgane hatte.
4. KÖRPERHALTUNG - HATHA YOGA Ein einigermaßen gehorsamer Körper muß kein besonders einsatzfähiger oder gut trainierter Körper sein. Die meisten Menschen gehen, stehen und sitzen schlecht. Ihr Körper ist unnötig gespannt, und sie machen nervöse, zappelige Bewegungen, die Energie verschwenden. Eine schlechte Haltung ist schädlich für die Atmung und die Blutzirkulation. Es lohnt sich, auf diesem Gebiet Kenntnisse zu sammeln und zu lernen, wie man diesen Fehlern abhelfen kann. Das Buch von F.M.Alexander The Use ofthe Seif enthält wertvolle Ratschläge, und seine Schüler und Anhänger in vielen Teilen der Erde geben Unterricht im richtigen Gebrauch des Körpers. Ich bin mit dieser Arbeit vertraut genug, um sie empfehlen zu können; aber natürlich sind sie nicht die einzigen Spezialisten auf diesem Gebiet. Sachkundige Unterweisung ist sehr wünschenswert, aber sie muß nicht von einem Lehrer der Transformation gegeben werden. F.M.Alexander verstand sich in seiner Weltanschauung als Materialist und bestand darauf, daß seine Methode ausschließlich dem guten Funktionieren des Organismus diene, und doch hat sie vielen Su-
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ehern auf dem Weg geholfen. Wir sollten möglichst zu dem besten verfügbaren Spezialisten gehen, wenn wir den Rat eines Spezialisten brauchen. Ich habe Anhänger eines geistigen Lehrers gekannt, die sich weigerten, außerhalb ihrer Lehre nach Hilfe zu suchen, in der irrigen Vorstellung, daß sie damit Treulosigkeit und mangelndes Vertrauen zeigen würden. Nur ein sehr dürftiger Lehrer läßt bei seinen Schülern den Glauben zu, daß er alles wisse. Es ist merkwürdig, daß in wissenschaftlichen Fragen niemand erwartet, daß jemand außerhalb seines Faches Experte sei, während es fast ein Glaubenssatz ist, daß ein wahrer geistiger Lehrer überall Experte sein muß. Die Konzentration der bewußten Energie kann erleichtert werden, wenn man verschiedene Stellungen einnimmt, die den Zustand des Nervensystems und die Blutzirkulation beeinflussen. Diese Methoden sind in Indien unter dem Namen Hatha Yoga allgemein bekannt, aber es gibt viele Varianten außerhalb der Hindu Tradition. Ich glaube, es ist für jeden nützlich, einige der einfacheren Stellungen zu üben, sei es auch nur, um Vertrauen in den eigenen Körper zu gewinnen. Die buddhistischen Mönche haben zur Sitzhaltung eine andere Einstellung als die Hindu Yogis. Sie empfehlen eine stabile und leichte Stellung mit gekreuzten Beinen als Hilfe bei der Meditation. Am Anfang ist diese Haltung für Europäer, die gewohnt sind, auf Stühlen zu sitzen, durchaus nicht leicht; aber es steht außer Frage, daß dadurch die Gedanken und Gefühle leichter zur Ruhe kommen. Das veranschaulicht ein wichtiges Prinzip, daß nämlich der Zustand eines Teils des Organismus den Zustand aller anderen Teile beeinflußt. Wir sind an eine bestimmte Sitzhaltung gewöhnt — oder besser Nicht-Haltung —, und unsere Gedanken sind damit verbunden. Wenn wir nicht in den Bahnen der Gewohnheit denken wollen, dann sollten wir unsere Stellung ändern, weil andernfalls die Angewohnheit des Körpers die assoziierten Reflexe im Gehirn auslöst. Wenn Sie überlegen, unter welchen Bedingungen Ihnen originelle und interessante Gedanken gekommen sind, werden Sie wahrscheinlich feststellen, daß Sie dann gerade nicht eine Gewohnheitshaltung einnahmen.
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5. RHYTHMISCHE BEWEGUNGEN UND RITUELLE TÄNZE . So weit ich weiß, ist Gurdjieff der einzige große Lehrer von Tempeltänzen, der in den Westen gekommen ist. Zum erstenmal sah ich eine Darbietung seiner Übungen 1920, und noch eine Woche vor seinem Tod 1949 sah ich ihn in Paris diese Tänze lehren. Von allem, was er gelehrt hat, dürfte die beinahe endlose Mannigfaltigkeit seiner bemerkenswerten Übungen oder Bewegungen mit der dazugehörigen Musik den größten Anklang gefunden haben. Er sagte, daß er ein Vierteljahrhundert in Europa, Afrika und Asien gereist sei auf der Suche nach den Geheimnissen der Tempeltänze und den Methoden der Schulung und des Ausdrucks, die von den traditionellen Schulen bewahrt wurden. Wie Entspannung, so wirken auch die rituellen Tänze auf allen Ebenen. Auf der ersten Stufe geht es darum, Körperbewußtsein zu erreichen. Bewegungen, die automatisch und unbewußt gemacht werden, mögen gewandt und sogar anmutig sein, aber sie haben kein Potential für die Transformation. Gurdjieff und andere haben den langen und langsamen Prozeß beschrieben, durch den Tempeltänzer in Zentralasien absolute rhythmische Präzision in den Stellungen und Bewegungen erreichen, indem sie sich der subtilen Harmonie der Grundstellungen bewußt werden, auf denen die rituellen Bewegungen aufgebaut werden. Solche Vollkommenheit ist nur für jene erforderlich, die den Tempeltanz zum zentralen Thema ihrer Arbeit an der Selbstvervollkommnung machen. Jedoch ist es für jeden, der auf diesem Feld irgendetwas erreichen will, notwendig zu lernen, durch bewußte Energie den direkten Kontakt zwischen dem Willen und dem Körper herzustellen. Demselben Ziel dient es, sehr schwere und komplizierte Bewegungen auszuführen oder Müdigkeit und Schmerzen zu überwinden, indem man einen anstrengenden Rhythmus so lange aufrechterhält, wie es der Körper ertragen kann. Harmonie zwischen dem instinktiv-motorischen, dem emotionalen und dem intellektuellen Zentrum wird durch Tänze und rituelle Be-
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wegungen erreicht, die gleichzeitig emotionale Zustände und universale Gesetze ausdrücken. Gurdjieff verfügte über ein erstaunliches Repertoire solcher Bewegungen, und sie sind von seiner Hauptvertreterin auf diesem Gebiet, Madame Jeanne de Salzmann, erfolgreich weiterentwickelt worden. Auf einer tieferen Ebene werden rituelle Tänze und Bewegungen benutzt, um einen Kanal für den Fluß der schöpferischen Energie zu schaffen. Wegen des Zusammenhangs der schöpferischen Energie mit der Sexualität kommt es hier leicht zu Mißverständnissen. Was dem Zuschauer als orgiastische Selbstbefriedigung erscheinen mag, kann in Wirklichkeit die kontrollierte Befreiung schöpferischer Energie sein, nicht um der ekstatischen Erfahrung willen, sondern um die Seele wachsen zu lassen. Am bekanntesten ist das Derv oder das kreisende Ritual der Mevlevi, die auch 'Kreisende Derwische' genannt werden. Ich war 1919 zum erstenmal Zeuge dieses Rituals, als der Mevlevi Orden der Sufis in den letzten Tagen des ottomanischen Reiches noch eine beherrschende Stellung innehatte und die Großen des Landes nicht nur stolz auf ihre Mitgliedschaft in dem Orden waren, sondern sich jeden Donnerstagabend aktiv an dem rituellen Tanz beteiligten. Ich sah mit eigenen Augen, daß unkontrollierte Ekstase nichts damit zu tun hatte; jedoch traten die Adepten sicherlich in bewußte Kommunikation mit einer unsichtbaren Welt. Einer der Sufis, dem meine Unterweisung oblag, erklärte, daß der Zweck des Rituals darin bestehe, die Seele vom Körper zu lösen, um so den Zustand zu erfahren, in den sie nach dem Tod gelangen würde. Er fügte hinzu, daß auf der Gewißheit der Unsterblichkeit im Paradies, welche diese Übung hervorrufe, die Furchtlosigkeit der Derwische im Kampf beruhe. Ich habe viele Vorführungen indischer, chinesischer, japanischer, afrikanischer und anderer ritueller Tänze und rhythmischer Bewegungen gesehen. Ich zweifle daran, ob sie zum Ziel hatten, den Fluß der bewußten Energie zu kontrollieren und den Seelenstoff aus seiner Abhängigkeit vom Körper zu befreien. Es ist natürlich legitim, wenigstens zu einigen der Rituale Zuschauer zuzulassen; aber öffentliche Vorstellungen sind unvereinbar mit der vollständigen Loslösung, welche die Teilnehmer erreichen müssen.
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Rituelle Bewegungen können — neben der Entwicklung des Körpers und seiner Kräfte — für viele Zwecke benutzt werden. Mohammedaner sind zu regelmäßigem, täglichem Gebet verpflichtet, wobei sie fünfzig Mal oder öfter den Boden mit der Stirn berühren. Besondere Haltungen wie Knien, Auf-den-Fersen-Sitzen, Schneider- oder Lotossitz sind alle dazu da, die Aufmerksamkeit im Gebet oder der Meditation wach zu halten. Die Aufgabe dieser traditionellen Praktiken hat ein Vakuum hinterlassen, das sich mit vielen schlechten Gewohnheiten füllt. Ein besonderer Fall ist die rituelle Waschung als Vorbereitung zu jeder Art geistiger Übung. In Kapitel zwei habe ich über die Wichtigkeit der Haut gesprochen und die Notwendigkeit, dieses Organ in einem Zustand größter Aktivität zu halten. Es ist wahrscheinlich richtig, daß die sensitive Energie durch die Tagesaktivitäten und durch jede starke emotionale oder sexuelle Erfahrung verunreinigt und durch die Haut vom Körper ausgeschieden wird. Woher diese Erklärung stammt, weiß ich nicht; aber sie stimmt mit meinen eigenen Beobachtungen überein. Unsere Haut — besonders die sensitiven und entblößten Teile — ist mit dieser ausgeschiedenen Energie überzogen, die mit kaltem Wasser abgewaschen werden kann. Das ist der ursprüngliche Grund für rituelle Waschungen, die von verschiedenen Religionen vorgeschrieben werden. Andere Gebräuche, welche heute als abergläubische Überreste erscheinen, hatten wahrscheinlich ähnlich triftige Gründe, die denen bekannt waren, die sie eingeführt haben. Außer diesen Routinepraktiken, die jeder lernen kann, erfordert die Arbeit mit Körperpositionen und rhythmischen Bewegungen Lehrer, die auf diesem Gebiet Experten sind —, und solche Lehrer sind schwer zu finden, in welchem Teil der Welt es auch sei. Leider wird Expertenwissen oft als esoterisch behandelt, und jene, die es haben, sind oft nicht gewillt, es außerhalb ihres erlesenen Kreises weiterzugeben. Dadurch werden nicht nur Möglichkeiten für Menschen beschränkt, die daraus Nutzen ziehen könnten und bereit wären, hart zu arbeiten — es gibt noch einen anderen, weniger offenkundigen Nachteil. Diejenigen, die solche besonderen Tänze und Bewegungen
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lernen ohne die Absicht, sich ganz dem Tempeltanz zu widmen, neigen dazu, mit diesen Übungen fortzufahren, nachdem sie längst ihre progressive und transformierende Funktion erfüllt haben. Gurdjieff machte in den Jahren 1918-1924 und 1924-1929 große Anstrengungen, um sein System der Bewegungen und rituellen Tänze zu lehren. Während beider Perioden war sein Ziel in erster Linie die Vorbereitung von Lehrern und die Schulung von Demonstratoren und erst in zweiter Linie die Weitergabe der Methode an seine Schüler. Das hat wahrscheinlich zu der falschen Vorstellung geführt, daß intensive Arbeit an solchen Übungen unbegrenzt mit Gewinn fortgesetzt werden könne. Madame Ouspensky, die zu Gurdjieffs loyalsten Schülern gehörte, führte die Methode 1933 in der Gruppe ihres Mannes in England ein. Sie bestimmte, daß niemand länger als zwei Jahre mit den Bewegungen arbeiten sollte. Ich habe gehört, daß in SufiGemeinschaften Übungen, welche mit der Entwicklung körperlicher Fähigkeiten zu tun haben, höchstens ein Jahr praktiziert werden und danach nur zur Auffrischung. Wenn das stimmt, dann erscheint es sehr wünschenswert, daß jene, die rhythmische Bewegungen und rituelle Tänze lehren können, ihre Klassen öffnen, damit möglichst viele davon profitieren können.
6. DIE STOP-ÜBUNG Das Ritual der Mevlevi Derwische, genannt mukabele, besteht aus drei Teilen. Zuerst die geistige Vorbereitung in sitzender Haltung durch die Praxis des zikr, das heißt der Wiederholung einer einigenden Invokation oder einfach eines Namens Gottes. Dem folgt eine Prozession vor dem Sheikh mit Musikbegleitung. Das Sema Hane oder Auditorium grenzt an die Grabmale der verehrtesten Sheikhs und Heiligen des Klosters, und jeder Derwisch bleibt davor stehen und macht eine tiefe Verbeugung, bevor er weitergeht. Dann kommt ein Signal von den Musikern, das laut und scharf sein kann oder kaum hörbar, und alle Derwische erstarren an ihren Plätzen. Alles ist totenstill. Die Musik setzt mit einem starken Rhythmus wieder ein, und die bekannte kreisende Bewegung beginnt.
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Mir wurde erklärt, daß das Stop-Signal den Moment des Todes symbolisiert, wenn die Seele der Wahrheit gewahr wird. Dieser 'Augenblick der Wahrheit' soll das gesamte vergangene Leben enthüllen. Vom Derwisch wird verlangt, sich vorzustellen, er sei gerade gestorben und die Macht der Wahl sei von ihm genommen. Die nun folgende kreisende Bewegung, derv genannt, repräsentiert die Seligkeit des Paradieses, wenn die Seele in die neue Dimension des Kreises eintritt. Einige Monate, nachdem ich das mukabele der Mevlevis erlebt hatte, wurde ich von Gurdjieff zu einer Gruppe seiner Schüler eingeladen, die er im Tempeltanz unterrichtete. Wieder begegnete mir das Stop, aber in einer ganz anderen Form. Die Schüler mußten durch den Saal rennen und mitten in der Bewegung erstarren. Einige blieben augenblicklich stehen, andere fielen vornüber und wurden steif und bewegungslos. Gurdjieff gab mir damals keine Erklärung. Einige Jahre später war ich nicht nur Beobachter, sondern nahm an seinem Institut für die harmonische Entwicklung des Menschen selbst an der Stop-Übung teil. Wir wurden angewiesen, das Stop zu benutzen, um unsere Haltung, unsere Gedanken und Gefühle zu beobachten, ohne irgendeine innere oder äußere Bewegung zuzulassen. Ich hatte Gelegenheit, Gurdjieff, der damals gut Türkisch sprach, zu fragen, ob das Ziel seines Stop das gleiche sei wie bei den Mevlevis, nämlich dem Suchenden die Erfahrung der Loslösung vom physischen Körper zu vermitteln. Er versicherte, daß dies der Fall sei, daß aber in Zentralasien der Gebrauch der Stop-Übung dem Reifegrad des Schülers angepaßt werde. Die innere Bedeutung der Übung der Mevlevis sei mir nur erklärt worden, weil ich nicht daran teilgenommen hätte. Für jene, die geschult würden, gäbe es andere innere Übungen, die sie zu lernen und während des 'Augenblicks der Wahrheit' auszuführen hätten. An die dreißig Jahre nach diesen Erfahrungen und Gesprächen begann ich in Coombe Springs meine eigenen Schüler in den rhythmischen Übungen von Gurdjieff zu unterrichten und gebrauchte auch die Stop-Übung, so wie sie Gurdjieff erklärt hatte, während der körperlichen Arbeit im Freien. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, daß diese Übung nicht nur auf die Schüler, sondern auch auf den Lehrer eine mächtige Wirkung hat. Sie sollte nur unter Bedingungen
Die Stop-Übung
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ausgeführt werden, die es zulassen, daß die freigesetzte Energie richtig verwendet wird. Aus diesem Grund besteht die allgemein anerkannte Regel, daß niemand die Stop-Übung gebrauchen darf, der nicht dazu autorisiert ist.
7. 'ES ARBEITET' — DAS WIRKENLASSEN HÖHERER ENERGIEN Der Titel dieses Abschnittes ist eine Formulierung aus meinem Buch Concerning Subud, die ich gebraucht habe, um zwischen inneren Wirkungen zu unterscheiden, die ohne jede bewußte Anstrengung unsererseits zustande kommen, und Übungen, die auf Kampf und bewußter Anstrengung beruhen. Das Subud latihan ist für ersteres ein hervorragendes Beispiel. Am Anfang steht die Öffnung oder der Kontakt mit einem Helfer oder Initiierten, wobei von demjenigen, der den Kontakt empfängt, nichts weiter erforderlich ist als aufnahmefähige Passivität oder besser die Bereitschaft, geschehen zu lassen. Ich habe keinerlei Zweifel, daß von dem, der gibt, zu dem, der den Kontakt empfängt, etwas übergeht und daß sogar eine Wechselwirkung besteht, das heißt, daß die Wirkung in beide Richtungen verläuft. Nach Pak Subuh's Erklärung wird mit der Großen Lebenskraft oder Energie — Daja Hidup Besar — Kontakt hergestellt, der belebenden Kraft des allmächtigen Gottes. Die Wechselwirkung besteht in der Freisetzung vergifteter Energien oder Unreinheiten auf Seiten dessen, der geöffnet wird. Ich war bei Tausenden von Öffnungen dabei, oft als der einzige anwesende Helfer, und muß sagen, daß meine Erfahrung mit dieser Erklärung übereinstimmt. Eine starke Kraft ist am Werk und sie setzt etwas frei oder treibt bei der Person, die geöffnet wird, etwas aus. Dieses Etwas kann so unangenehm sein, daß der Helfer sich erbrechen muß oder sich zutiefst elend fühlt. Es kann auch leicht und schön sein und Entzücken hervorrufen. Am Anfang hielt ich es für möglich, daß die Wirkung des Subud latihan rein geistig und positiv sei; aber die Erfahrung von über zehn Jahren hat gezeigt, daß die Situation sehr viel komplizierter ist. Manche haben von Anfang an davon profitiert und auch noch nach jahre-
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langer Übung, andere — und zu denen gehöre ich — haben während der ersten zwei oder drei Jahre größten Nutzen daraus gezogen und haben dann begonnen, unter negativen Wirkungen zu leiden. In meinem Fall bestanden diese Wirkungen im Verlust der Initiativkraft, schlechter Gesundheit und extremer Erschöpfung, verbunden mit dem Gefühl, daß ich meine wirkliche Pflicht im Leben vernachlässigte. Andere machten sehr starke Erfahrungen, die sie gefangen nahmen; aber sie kamen bald in Schwierigkeiten. Viele wurden psychiatrische Fälle und viel zu viele begingen Selbstmord. Viele andere erlebten wenig oder gar nichts und gaben das latihan bald wieder auf. Schließlich gab es eine große Anzahl, für die es gewinnbringend war, die aber nach einigen Jahren keine Erfahrungen mehr machten, das Interesse verloren und allmählich aulhörten, das latihan zu praktizieren. Meiner Meinung nach muß man aus diesen Beobachtungen den Schluß ziehen, daß spirituelle Praktiken, bei denen 'es arbeitet' nicht zu empfehlen sind. Tatsächlich bedürfen sie in größerem Maß erfahrener Leitung als Übungen, die auf willentlicher Anstrengung beruhen. Es bleibt noch zu erklären, warum ich das Subud latihan in einem Kapitel behandelt habe, das dem Körper und seinen Notwendigkeiten gewidmet ist. Der Grund ist der, daß das latihan — zumindest in den frühen Stadien — in und durch den physischen Körper wirkt. Es verursacht spontane Bewegungen wie Tanzen, Singen, Schreien, Gestikulieren und seltsame Körperhaltungen, die die Teilhabenden spontan einnehmen. Die positiven Ergebnisse, von denen berichtet wird, beziehen sich größtenteils auf den physischen Organismus: Verbesserung der Gesundheit, das Nachlassen von unerwünschten körperlichen Gewohnheiten und eine unverkennbare Verjüngung. Viel schwerer läßt sich sagen, ob das Subud Latihan die geistige und seelische Entwicklung günstig beeinflußt. Ich bin ziemlich sicher, daß meine geistigen Kräfte während der Zeit, in der ich das latihan regelmäßig praktizierte, nachgelassen haben, und, soweit ich es beurteilen kann, würde ich sagen, daß dies auch bei den meisten anderen der Fall war.
'Es arbeitet'
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Diese Beobachtungen scheinen ein sehr ungünstiges Urteil über meine Erfahrungen mit dem Subud latihan zu fällen, seit ich zum erstenmal 1956 damit in Berührung kam. Ich kann nur noch einmal versichern, daß ich ohne Zweifel daraus Nutzen gezogen habe und es weiterhin tue. Mir scheint die Erklärung recht offensichtlich: wie jede andere Übung ist die spontane Wirkung des latihan dann positiv, wenn man zum richtigen Zeitpunkt bei einem entsprechenden Entwicklungsgrad damit in Berührung kommt. Sein Nutzen ist zeitlich begrenzt. Wenn es darüberhinaus praktiziert wird, verliert es entweder seine Wirkung oder wird schädlich. Die Schwierigkeit besteht darin, daß drei Bedingungen erfüllt sein müssen: 1. Die Auswahl der richtigen Leute, die auf der richtigen Stufer ihrer Entwicklung geöffnet werden. 2. Die richtige Bestimmung des Zeitpunktes und der äußeren Verhältnisse für die Öffnung. 3. Die Erkenntnis, wann es Zeit ist aufzuhören und zu anderen Erfahrungen fortzuschreiten oder das latihan mit einer anderen Form der inneren Arbeit zu verbinden. Alle drei erfordern ein hochentwickeltes Verständnis, das niemand, selbst Pak Subuh nicht, zu besitzen schien. Damit sollen die bemerkenswerten Leistungen Subuds in der ganzen Welt und auch sein Gründer nicht herabgesetzt werden. Pak Subuh ist unter allen Menschen, die mir begegnet sind, in der Einfachheit und Absolutheit seines Glaubens einzigartig. Er glaubt, daß er mit einer Mission für das Wohl der Menschheit betraut ist, und hat sich ihr vierzig Jahre lang ohne Schonung gewidmet. Darüberhinaus ist er ein höchst liebenswerter und intelligenter Mann und hat mit Recht Tausende von Anhängern in der ganzen Welt.
8. ATEMÜBUNGEN Ich komme erst im letzten Abschnitt dieses Kapitels auf den Atem zu sprechen, weil zwar die Atmung eine Aktivität des Organismus ist, der Atem aber gleichzeitig Träger der höheren Energien der Sensitivi-
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tat und des Bewußtseins ist. Atemübungen sind deswegen strenggenommen keine körperlichen Übungen. Es besteht jedoch ein Mißverständnis, das hier korrigiert werden soll. Es heißt mit Recht, daß Atemübungen gefährlich sein können und nie ohne erfahrene Leitung praktiziert werden sollten. Das ist wahr, soweit es sich auf Übungen bezieht, bei denen der Rhythmus und der Charakter des normalen Atmens verändert wird. Die meisten Menschen atmen jedoch nicht normal und brauchen Übungen, die ihnen dazu verhelfen. Oberflächliches Atmen schwächt den Körper und kann sogar das Leben verkürzen. Atmung und Körperhaltung hängen eng zusammen. Man sollte sich der Wirbelsäule bewußt sein und lernen, auf den freien Fluß der Energie zu achten, der sich bei richtiger Haltung einstellt. Man sollte auch den Nutzen von tiefem, rhythmischem Atmen erkennen, wobei die gesamte Kapazität der Lungen beansprucht wird. Die Tatsache, daß eine organische Funktion normalerweise von unbewußten Instinkten kontrolliert wird, muß keineswegs bedeuten, daß wir uns diese Funktionen nicht bewußt machen könnten oder sollten. Es ist nützlich, sich des Atmens bewußt zu sein und sich davon zu überzeugen, daß es frei, tief und rhythmisch ist. Das ist für die Gesundheit erforderlich und eine wertvolle Vorbereitung für Übungen, welche durch den Atem der Psyche höhere Energien zuführen. Der Körper ist mit Reservoiren psychischer Energie ausgestattet. Gurdjieff nannte sie Akkumulatoren. Sie hängen wahrscheinlich mit den endokrinen Drüsen zusammen und den Nervenganglien, die in der Hindu Terminologie Chakras genannt werden. Wir nehmen diese Akkumulatoren bei jeder Art psychischer Aktivität in Anspruch: instinktiver, motorischer, sensorischer, emotionaler, intellektueller und sexueller.
9. SEXUALITÄT UND DER GROSSE AKKUMULATOR Ich bin überzeugt, daß die sexuelle Energie eine Form der schöpferischen Energie ist und sie deswegen einen so außerordentlichen Platz
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im menschlichen Leben einnimmt und all unsere Aktivitäten beeinflußt. Wenn Sexualität eine rein physiologische Funktion wäre, gäbe es keinen Grund, daß sie mit Supranormalen Erfahrungen in Zusammenhang gebracht wird und eine so große Rolle in der schöpferischen Arbeit des Menschen spielt. Physiologen haben gezeigt, daß Hormone einen beherrschenden Einfluß auf die Blutchemie und somit auf alle Funktionen des Körpers ausüben. Gurdjieff sagte, daß die Sexualdrüsen die großen Akkumulatoren der psychischen Energie sind und daß die Arbeit jedes Zentrums, das an das große Reservoir angeschlossen wird, sich verhundertfacht. Auf einigen Wegen der Transformation werden dem Suchenden Übungen und Aufgaben gestellt, die direkt zur Öffnung des Reservoirs sexueller Energie führen, unter der Annahme, daß alle Funktionen .unter Kontrolle gebracht werden können, wenn erst einmal der Fluß der schöpferischen Energie in irgendeiner Form willentlich reguliert werden kann. Ich habe mit solchen Wegen nie direkt Kontakt gehabt; allerdings hatte ich 1923 die erste Erfahrung der Öffnung des Großen Akkumulators und der außerordentlichen Macht, die man dadurch über sich selbst gewinnt. Seitdem habe ich verschiedene Wege studiert, wie diese Öffnung erreicht werden kann. Ich habe auch gesehen, welche verheerenden Konsequenzen es hat, wenn sie künstlich und zu früh geschieht. Meine erste Beobachtung machte ich als sechzehnjähriger Schüler in Bad Godesberg am Rhein, wo die Schüler zu starkem Trinken ermuntert wurden, um sich auf die Exzesse der Bonner Universität vorzubereiten, wie sie vor dem Krieg 1914 der Brauch waren. Ein amerikanischer Mitschüler trank sich in den Zustand des Delirium tremens, und zehn starke junge Männer waren nicht in der Lage, ihn zu halten. Seine übermenschliche körperliche Stärke hinterließ einen bleibenden Eindruck bei mir. Einen ähnlichen Effekt erlebte ich während des Krieges, als ein tödlich verwundeter Mann mit durchschossenem Magen die Deutschen mit dämonischer Energie angriff. Die Befreiung schöpferischer Energie durch gewaltsame Erfahrungen hat Wirkungen, die denen des Geschlechtsaktes ähnlich sind. Solch unkontrollierbare Zustände haben keinen Wert. Ich habe gesehen, wie sich ein Mann von seinem geistigen Potential — wie es
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schien unwiderruflich — abgeschnitten hat, indem er Sexualität und Drogen verband, um einen besonders intensiven Bewußtseinszustand zu erreichen. Alle diese Dinge müssen wie die Pest vermieden werden, wenn jemand die Hoffnung aufrecht erhalten will, die Ebene wirklichen Seins zu erreichen. Das läßt die Frage offen, welche Rolle der Sexualität als Körperfunktion zukommt. Immer wieder wird gefragt, ob sexuelle Abstinenz für jemanden, der auf dem Weg der Transformation Vervollkommnung erreichen will, förderlich oder sogar notwendig sei. In der christlichen Tradition wird hinsichtlich der geistigen Entwicklung das Zölibat der Ehe vorgezogen — vorausgesetzt, daß es nicht zu dauernder Anspannung und Abnormalität führt. Im Islam herrscht der gegenteilige Glaube. Die großen Heiligen des Islam waren alle verheiratet, während die großen Heiligen des Christentums alle im Zölibat lebten. Welchen Schluß sollen wir angesichts so widersprüchlicher Tatsachen ziehen? Beide Traditionen stimmen darin überein, daß der sexuelle Akt heilig ist und niemals zur Triebbefriedigung herabgewürdigt werden darf. Der sexuelle Akt unterliegt — wie alles andere auch — den Bedingungen von Zeit, Raum und Person. Es kann keine allgemeine Regel für das sexuelle Verhalten geben, die nicht etwas erlaubte, das schädlich ist, und etwas verböte, das richtig und sogar notwendig ist. Menschen unterscheiden sich in ihrer sexuellen Natur außerordentlich, und keine moralische oder soziale Regel kann allen gerecht werden. Dennoch ist Zurückhaltung notwendig. Meine eigene Ansicht ist, daß es in der Transformation des sexuellen Lebens von Mann und Frau vier Stufen gibt. Zuerst kommt die Stufe der Unreife, wo durch Disziplin gute Gewohnheiten erworben werden sollten. Junge Menschen sind sehr ratbedürftig, aber es kann dafür keine starren Formeln geben. Der Schlüssel ist Unterscheidungsvermögen, und Rat und Disziplin sind nur von Nutzen, wenn sie diese Fähigkeit ausbilden. Das vorliegende Buch befaßt sich nicht mit dem vorbereitenden Alter, sondern mit dem erwachsenen Leben, so daß ich nicht mehr hinzufügen werde.
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Die zweite Stufe ist die der Expansion. Das sexuelle Leben entfaltet sich spontan und unschuldig oder sollte es zumindest tun. Der junge Mann oder die junge Frau können noch nicht wissen, wie die sexuelle Aktivität reguliert wird — sofern sie nicht das Glück haben, schon in jungen Jahren Unterscheidungsfähigkeit erworben zu haben —, und Regeln sind deswegen notwendig. Oberste Regel ist Respekt für den sexuellen Akt als der Freisetzung der heiligen, schöpferischen Energie — des vornehmsten Besitzes des Menschen. Wenn es gelingt, diese eine Regel zu vermitteln, und sie aus innerer Überzeugung angenommen wird, dann kann sich die zweite Stufe der sexuellen Entwicklung in völliger Freiheit vollziehen. Die dritte Stufe bedeutet die Verbindung von Unterscheidungsfähigkeit und Erfahrung. Der Suchende hat Selbsterkenntnis erworben, die Kraft der Selbstbeobachtung. Er kann anfangen, sein sexuelles Leben entsprechend den gewünschten Ergebnissen zu regulieren. Ich spreche hier nur über den organischen Aspekt der Sexualität, das heißt über die Aktivierung der Sexualorgane, die normalerweise durch den Geschlechtsakt zwischen Mann und Frau bewirkt wird. Die psychologischen und persönlichen Aspekte des Sex gehören zu einem anderen Kapitel*. Die Regulation des physischen Aktes ist eine Frage der Selbstdisziplin; aber auch, wie ich in einem früheren Kapitel erläutert habe, eine sehr wichtige Form des Opfers. Der Mann oder die Frau, die fähig sind, sich im sexuellen Akt völlig hinzugeben und dabei die Ekstase schöpferischer Freiheit zu erfahren, sind bereit für die vierte Stufe der sexuellen Entwicklung. Das Besondere am sexuellen Akt ist, daß er gleichzeitig spontan und gesteuert sein muß, wenn er dem Wesen oder dem Willensmuster eines Menschen entsprechen soll. Normalität ist Merkmal der sexuellen Reife. Die vierte Stufe ist durch das Verständnis der wahren Bedeutung des sexuellen Aktes gekennzeichnet. Er hat an Tiefe gewonnen, das heißt, alle Ebenen der menschlichen Erfahrung können sich nun entfalten. Auf dieser Stufe sind der körperliche Akt, die Fusion der Seelen und die Vereinigung der Willen eins. •Siehe Sec.J.G.Bennett, Coombe Springs Press 1975; Deutsch: Sex, Verlag Bruno Martin, Frankfurt M., vergriffen, und in Anthologie Spirituelle Entfaltung und Sexualität, Fischer TB.
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Ich hoffe, daß es mir gelungen ist, meine Überzeugung zu vermitteln, daß unser Körper ein edles und wundervolles Instrument ist und nicht nur im äußeren Leben, sondern auch bei der inneren Transformation eine wesentliche Rolle spielt. Wir sollten lernen, unseren Körper als den abhängigen Teil unserer Natur zu lieben. Er kann kein verantwortliches Wesen sein, und wir dürfen nie zulassen, daß er unsere Psyche und unseren Geist beherrscht. Ich glaube, daß es eine Stufe der Transformation gibt, auf welcher der Körper seine wahre Rolle erfüllt und die Energie des Bewußtseins, die keine körperliche Energie ist, in sich wirken läßt. Das führt zu einer Regeneration des Körpers, die ich anderswo* die Wiederauferstehung des Körpers inmitten seiner Erdenexistenz genannt habe. Diesen Wandel begleitet eine besondere Freude. Der Shivapuri Baba nannte sie Sukha, eines der drei legitimen Ziele unserer Existenz. Wenn ich zu Recht glaube, daß ich weiß, was Sukha ist, dann möchte ich hinzufügen, daß es kein dauerhafter Zustand ist, der nicht mehr verloren werden könnte, wenn er einmal gewonnen wurde, sondern eher ein wundervoller Indikator für Stimmigkeit. Wenn diese Freude in einem aufkommt, so ist sie ein Zeichen, daß man mit seinem Körper richtig umgegangen ist. Fehlt sie, so ist das eine Warnung, daß etwas vernachlässigt wurde. Sukha könnte man als organisches Gewissen bezeichnen, das uns mit Gewißheit unterscheiden läßt, was für den Körper — und folglich für uns überhaupt — gut oder schlecht ist. Was Gurdjieff 'organische Scham' genannt hat, ist der Zustand der Sensibilität für die Gegenwart oder das Fehlen von Sukha,
*Conceming Subud, Kap. 7.
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Kapitel sechs HARMONISCHE ENTWICKLUNG
l. DIE KONSTRUKTION DES MENSCHEN •j'iner der üblichsten Irrtümer von Menschen, die einen Weg der -•-/Transformation suchen, ist die Annahme, daß der Prozeß beginnen könne, sobald sie die richtige Methode oder den richtigen Lehrer gefunden haben. Vielleicht wäre das richtig, wenn wir vom Moment der Empfängnis bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir erkennen, daß wir außerhalb unserer bestehenden Lebensumstände nach unserem Ideal streben müssen, ein normales Leben gelebt hätten. Leider entspricht ein Leben nie seinem vorgeprägten Muster, und wir alle müssen erst viel in Ordnung bringen, bevor wir sicher beginnen können. Wenn wir das Funktionieren einer komplizierten Maschine verbessern wollen, dann müssen wir wissen, wie sie konstruiert ist und welche Funktionen die verschiedenen Teile erfüllen. Wir müssen auch über eine Methode verfügen, Fehler zu erkennen, um die Gründe für ungenügende Effektivität zu diagnostizieren. Der Mensch ist die komplizierteste Organisationsform, die uns je begegnen wird, und wir müssen soviel wie möglich über sie in Erfahrung bringen, wenn wir ihre Arbeitsweise verbessern wollen. Im vorliegenden Kapitel werde ich die wichtigsten Defekte der menschlichen Natur untersuchen, die korrigiert werden müssen, wenn wir uns harmonisch entwickeln wollen. Indem wir sie studieren, lernen wir uns kennen, und indem wir mit ihnen kämpfen, erlangen wir Stärke. Zuerst müssen wir einen Unterschied machen zwischen dem, was wir sind, und dem, was wir erworben haben. Wir müssen unterscheiden lernen zwischen unserer erblichen Veranlagung und dem Einfluß
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unserer Umgebung. Diesen Unterschied müssen wir klar erkennen. Wir werden nicht fertig geboren, sondern mit einem komplexen Muster von Potentialitäten, die im Laufe unseres Lebens zu verwirklichen sind. Dieses Muster besteht aus drei Teilen, die sich unabhängig voneinander gebildet und entwickelt haben. Erstens haben wir einen körperlichen Organismus, der sich durch Vererbung gebildet und sich wie bei jedem anderen Lebewesen durch einen natürlichen Prozeß entwickelt hat. Dieser Organismus hat eine wunderbare anatomische Struktur und physiologische Dynamik. Unsere Kenntnis kann nicht die eines Spezialisten sein; aber wir können uns genug Wissen aneignen, um seine Funktionsweise zu studieren. Sie beruht weitgehend auf der charakteristischen Blutchemie und der Struktur des Nervensystems und des Gehirns, die wir nur sehr begrenzt verändern können und nur mit dem Risiko, ernsten Schaden anzurichten. Die Art und Weise, wie wir sehen, denken, hören und fühlen, ist davon abhängig, also alle Zustände und Prozesse unseres mentalen Lebens. Wir können uns nicht von unseren Vorfahren und der erblichen Veranlagung trennen, die von unseren Eltern auf uns übergegangen ist. Zweitens haben wir unseren eigenen, privaten Anteil am universalen mind-Stoff. Die Auffassung, die ich anderswo* im einzelnen darlege, geht dahin, daß es ein großes Reservoir sensitiver, bewußter und vielleicht sogar schöpferischer Energie gibt, das sich aus der vergangenen Erfahrung der menschlichen Rasse gebildet hat. Ich habe dafür den Ausdruck 'Reservoir des Seelen-Stoffes' gewählt und glaube, daß es einen ständigen Kreislauf dieses Materials gibt. Im Augenblick der Empfängnis kristallisiert sich daraus der mind-Stoff des neuen Menschenwesens. So erklärt sich, warum ein Kind Begabungen und Schwächen und sogar Erinnerungen haben kann, die mit Vererbung nicht begündet werden können. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß der Anteil an mind-Stoff'von der genauen zeitlichen und räumlichen Bestimmung des Moments der Empfängnis abhängt und daß es deswegen möglich ist, einige Chrakteristiken eines Menschen aus seinem Horoskop vorherzusagen. "The Drumatic Universt, Bd III, S. 167ff.
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Drittens hat jeder Mensch ein bestimmtes und einzigartiges Willensmuster. Dieses Muster ist seine Individualität, und es bestimmt die Art und Weise, in der unser Ich erfolgreich handeln kann. Das Muster unseres Willens prägt unser Schicksal, das heißt die Rolle, für die wir im Leben am besten geeignet sind und die uns das größte Maß an Erfüllung gewährt. Von allen drei Teilen ist es der dritte, der unsere Wirklichkeit vor allem bestimmt, aber ohne den mind und den Körper kann der Wille nicht handeln oder sich seiner selbst bewußt sein. Wille ist die Fähigkeit zu wählen, aber die Ausübung dieser Macht beruht auf der Kraft des mind. Ich habe im letzten Kapitel erklärt, daß die Verbindung zwischen Willen und mind durch bewußte Energie hergestellt wird und mit der Bildung der Seele Stabilität erlangt. Bis dahin ist der Wille von den zufälligen Verbindungen abhängig, die er mit verschiedenen Teilen des mind eingeht. Manchmal ist es das Denken, manchmal das Fühlen, manchmal das instinktiv-motorische Zentrum. Weiter unten in diesem Kapitel werde ich beschreiben, wie wir diese verschiedenen Verbindungen erforschen und selbst erkennen können. Die drei Teile Körper, mind und Wille werden zusammen geboren und bilden unser Wesen. Es fehlt ihnen jedoch an Erfahrung, das heißt am Inhalt des Gedächtnisses, und nur die instinktiven Mechanismen, die für das Leben notwendig sind, wie Atmen, Essen und so weiter, sind entwickelt. Alles übrige muß im Kontakt mit der Umwelt erworben werden. Die wichtigsten Mittel dazu sind Nachahmung und Wiederholung. Diese werden durch die Einwirkung älterer Menschen in Lehre und Schulung ergänzt. Es gibt keine Garantie, daß irgendetwas durch die Umwelt Erworbenes den natürlichen Neigungen des mind-Stoffes oder Willensmusters entspricht. Tatsächlich ist es so unwahrscheinlich, daß die drei Muster zusammenpassen, daß wir unweigerlich eine Persönlichkeit herausbilden, die dem, was wir wirklich sind, nicht entspricht. Das bedeutet, daß der Wille ein Instrument benutzen muß, das seinen Kräften nicht angemessen ist, und daß der mind nicht sein gesamtes Potential entwickeln kann. Deswegen schrieb ich am Anfang dieses Abschnittes, daß wir erst die Disharmonie zwischen den vier Teilen unserer Natur: Körper, mind, Wille und Persönlichkeit beheben
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müssen, bevor wir uns auf den Weg der Transformation begeben können. Am leichtesten ist die Persönlichkeit zu verändern, weil sie nicht angeboren ist, sondern uns durch äußere Einflüsse aufgepfropft wurde.
2. SELBST-BEOBACHTUNG UND SELBST-STUDIUM Morallehren und Regeln der Disziplin sagen uns, was wir tun sollen; aber sie sagen uns weder warum noch wie. Das ist der Hauptgrund, warum der moderne Mensch gegen allgemeine Moralvorschriften revoltiert und nach einer überzeugenderen Lebensorientierung sucht. Im letzten Abschnitt habe ich so kurz wie möglich meine Sichtweise dargestellt, daß wir aus vier unterschiedlichen Teilen bestehen. Dieses Bild braucht nicht als richtig angenommen zu werden, aber es ist auch mehr als eine Metapher, um auszudrücken, was ich sagen will. Es ist sehr wichtig, daß unser Bild von dem, was und wer wir sind, so klar wie möglich ist. Für mich ist es durchaus klar, daß wir aus vier Teilen gebildet sind — obwohl die Idee eines Seelenstoff Reservoirs natürlich nicht direkt überprüft werden kann. Worauf es ankommt, ist, daß die Unterscheidung zwischen mind, Seele, Wille und Persönlichkeit nach vollzogen werden kann; ihr Wert besteht vor allem darin, daß wir etwas tun können, um das Verhältnis der einzelnen Teile zueinander zu berichtigen. Mind ist ein vages Allzweckwort wie Körper; aber wenigstens lernen wir, wie unser Körper gebaut ist und welche Funktion die verschiedenen Glieder und Organe haben. Es gibt keinen Grund, warum wir hinsichtlich unseres mind unwissend bleiben sollten. Das Mittel, um ihn zu studieren, ist Selbstbeobachtung. Zuerst muß man verstehen, daß Sich-Beobachten etwas anderes ist als Über-Sich-Nachdenken. Wir denken und brüten viel zu viel über uns und unseren Problemen. Das bringt uns nicht weiter, als wenn
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wir über Zahnschmerzen brüten. Wir müssen lernen, uns von innen zu sehen. Am besten fangen wir mit dem Körper an. Üben Sie sich in der Beobachtung Ihrer Haltung, Ihrer Gesten und Ihrer Bewegungsgewohnheiten. Geben Sie sich nicht zufrieden, bevor Sie nicht wirklich etwas gesehen haben. Vielleicht fällt Ihnen auf, daß Sie die Brust einsinken lassen, wenn Sie sitzen, oder mit den Fingern spielen, oder daß Sie Ihr Gegenüber nicht ruhig ansehen können, wenn Sie mit ihm sprechen. Nehmen Sie sich vor herauszubringen, wie die Dinge wirklich liegen, nicht nur manchmal, sondern immer, wenn Sie in so einer Situation sind. Sie besitzen ein inneres Auge, das von innen sehen kann. Gegenwärtig arbeitet es nur unwillkürlich, wenn Sie etwas schockiert. Sie müssen lernen, Ihr inneres Auge so geschickt zu gebrauchen wie Ihre äußeren Augen. Der Ausdruck 'inneres Auge' ist vielleicht verwirrend. Sie können es auch innere Wahrnehmung oder einfach Selbstbeobachtung nennen. Entscheidend ist zu begreifen, daß es durch direkte Wahrnehmung arbeitet. So wie Sie einen Baum oder einen Tisch sehen können, wenn Sie Ihre Augen darauf einstellen, so können Sie wahrnehmen, was in Ihrem Körper vor sich geht, wenn Sie sich innerlich darauf einstellen. Sobald Sie begriffen haben, was diese innere Wahrnehmung ist und wie sie arbeitet, richten Sie sie auf Ihre Gefühlszustände. Der erste Schritt besteht darin, zwischen entspannten, friedlichen Gefühlen und angespannten, aufgeregten Gefühlen unterscheiden zu lernen. Es ist nicht so wichtig zu beobachten, was Sie fühlen, als zu erkennen, wie Sie sich fühlen. Lernen Sie, dabei objektiv zu sein. Entschließen Sie sich, erst zu sehen, wie etwas ist, bevor Sie es zu ändern versuchen. Man neigt dazu, auf jede Unbequemlichkeit dadurch zu reagieren, daß man sich von ihr befreien möchte. Dieser Mechanismus ist der Hauptgrund, warum sich unsere Kraft der inneren Schau nicht entwickelt hat. Es ist nicht angenehm, sich zu beobachten, so wie man wirklich ist, und entweder hören wir auf hinzusehen oder wir versuchen, schnell etwas zu ändern. Damit wird die Energie, die durch Wahrnehmung frei wird, sofort zerstreut. Wenn wir ertragen können, uns zu sehen, und nicht aufhören, uns zu beobachten, dann sammelt sich allmählich die bewußte Energie, und unser Wille hat nun die Mög-
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lichkeit etwas zu tun, das sehr viel wirksamer ist als unsere üblichen, mechanischen Reaktionen. Der Teil des mind, der am schwierigsten zu beobachten ist, ist das Denk-Zentrum. Manchmal sehen wir unsere Gedanken wie in einem Blitz getrennt von uns; aber wir können diesen Zustand erhöhter Wahrnehmung nicht halten, können nicht sehen, wie unser Gehirn arbeitet. Wenn wir einmal erkannt haben, was die innere Wahrnehmung ist, dann können wir uns darin üben. Wir werden feststellen, daß unser Denken kaum von unseren Absichten gelenkt ist und wir sehr viel weniger Kontrolle darüber haben, als wir glauben. Wenn wir gelernt haben, die verschiedenen Teile des mind unter innerer Beobachtung zu halten, können wir damit beginnen, unsere persönlichen Merkmale zu erforschen. Selbststudium besteht darin, die Funktionsweise des mind zu erkennen und in Erinnerung zu behalten. Zwei Fehler müssen vermieden werden: Zum einen dürfen wir nicht über dem, was wir sehen, brüten und es uns zu Herzen gehen lassen. Wir müssen die Tatsachen kennen, ob sie angenehm oder unangenehm sind. Die zweite Gefahr ist der hastige Versuch, das, was wir an uns nicht mögen, zu verändern. Im mind ist eins mit dem anderen verbunden, und wenn wir einen Teil ändern, löst das Veränderungen in allen übrigen Teilen aus. Wir mögen zum Beispiel feststellen, daß wir dazu neigen, kleine Arbeiten nicht ganz fertig zu machen. Wir sehen, daß wir damit viel Zeit und Energie vergeuden, und nehmen uns vor, diese Schwäche zu beseitigen. Vielleicht gelingt es uns sogar; aber nun stellen wir plötzlich fest, daß wir uns mehr als vorher in die Angelegenheiten anderer Leute einmischen. Diese Eigenschaft war harmlos, solange wir uns nichts Besonderes abverlangten; aber wenn wir uns dazu bringen, Arbeiten fertig zu machen, so kann es sein, daß dieser Erfolg dadurch getrübt wird, daß wir uns in intolerante Wichtigtuer verwandeln. Das soll nicht heißen, daß der Kampf mit schlechten Gewohnheiten nutzlos oder gar schädlich wäre. Im Gegenteil, es wird uns kaum gelingen, irgendeine mentale Aktivität zu beobachten, wenn wir nicht damit kämpfen. Kampf produziert bewußte Energie, die das innere Sehen möglich macht. Kampf besteht darin, die Manifestation eines mentalen Prozesses in Zaum zu halten, und das ist etwas ganz anderes, als ihn ausmerzen zu wollen.
Selbst-Beobachtung
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3. DREI GRUNDLEGENDE ILLUSIONEN Als ob natürliche Hindernisse auf dem Weg der Transformation nicht genügten, werden wir von falschen Vorstellungen über unseren Zustand abgelenkt und verwirrt. Aus den Berichten über die Prüfungen und Versuchungen der Menschheit vor zwei-, vier- oder gar sechstausend Jahren, die in den heiligen Schriften bewahrt werden, springen zwei Tatsachen in die Augen: Erstens hat der Mensch immer unter Verblendung gelitten, was seine wahre Situation angeht. Zweitens hat sich die Form dieser Verblendung mit den Zeitaltern gewandelt. Es scheint, als wäre der Mensch der Selbsttäuschung hilflos ausgeliefert; aber mit zunehmender Erfahrung, die wir Wissenschaft und Geschichte nennen, fällt jedes Illusionsgebäude zusammen, um von einem anderen, nicht weniger absurden, ersetzt zu werden. Die Illusionen früherer Zeitalter nennen wir primitive Ignoranz oder Aberglauben und sind stolz darauf, sie zerstört zu haben; dabei bemerken wir nicht, daß wir unser eigenes Verblendungssystem erfunden haben. Die Grundillusion des modernen Menschen besteht darin, daß er die von ihm erreichte Entwicklungsstufe grob überschätzt. Diese Illusion hat drei Formen: 1. Die Illusion der Einheit. Wir bilden uns ein, daß wir einen einzigen, ungeteilten Willen besitzen, und wenn wir 'ich' sagen, glauben wir, diesen dauerhaften Willen zu bezeichnen. 2. Die Illusion des Bewußtseins. Wir bilden uns ein, daß wir uns jederzeit bewußt sind, wer wir sind und was wir tun. 3. Die Illusion der Wirksamkeit. Wir bilden uns ein, daß wir tun können, was wir tun wollen, und deswegen verantwortlich sind und fähig, Entscheidungen zu fällen und sie auszuführen. Diese Illusionen charakterisieren die megalanthropische Epoche, die ungefähr 500 v.Chr. begann und im 19. Jahrhundert endete. Im 20. Jahrhundert sind sie zuerst von den Psychologen in Frage gestellt worden und heute von der großen Mehrheit junger Menschen in der ganzen Welt. Dennoch werden wir weiterhin von ihnen beherrscht. Wir verlangen von anderen, was sie unmöglich leisten können: ver-
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antwortliches, gleichbleibendes Verhalten. Wenn ein Unternehmen erfolgreich ist, so schreiben wir das dem verantwortungsvollen und wirkkräftigen Verhalten derer zu, die es leiten. Wir reden uns ein, daß der Fortschritt der Naturwissenschaft darin bestehe, Kontrolle über die Natur zu erlangen. Wir befinden uns jetzt in einer Phase des Übergangs zu einer neuen Epoche, in der zweifellos neue Verblendungen anstelle der alten aufkommen werden. Es läßt sich bereits erkennen, daß die Illusion der Unverantwortlichkeit auftaucht, die die Leute glauben läßt, sie könnten haben, was sie wollen, ohne einen Preis zu zahlen. Diese Illusion ist verhältnismäßig neu und erstaunlich für jemanden, der nach historischen Vorläufern sucht. Für uns kommt es vor allem darauf an, mit der äußersten Ernsthaftigkeit die Behauptung zu untersuchen, daß die Menschheit in einem Zustand dauernder Verblendung lebt. Wenn wir zu ahnen beginnen, daß in dieser Behauptung mehr Wahrheit steckt, als uns angenehm ist, dann sollten wir den Blick auf uns selbst richten, um diese Annahme zu verifizieren oder zu widerlegen. Wenn wir eine gewisse Fähigkeit zur Selbstbeobachtung erworben haben, dann werden wir feststellen, daß wir uns und andere ständig so behandeln, als ob wir einheitliche, bewußte und handlungsfähige Wesen wären. Selbst wenn wir jammervoll versagen, schreiben wir es nicht diesen grundlegenden Illusionen zu, sondern lieber unserem Pech oder der Böswilligkeit anderer oder allenfalls einem Mangel an Sorgfalt oder Anstrengung oder Intelligenz auf unserer Seite. Lieber klammern wir uns an irgendeine Erklärung für menschliches Versagen, als unsere grundsätzliche Verblendung einzugestehen. Wenn wir sie einmal erkannt und gesehen haben, welche Macht die Illusion über die Menschen hat, wird uns die Notwendigkeit der Transformation einsichtig werden. Auch werden wir verstehen, daß wir erst einige Klarheit gewinnen müssen, bevor wir überhaupt anfangen können. Es ist nützlich, Selbstbefragung mit Selbstbeobachtung zu verbinden, wenn wir die Grundillusionen erfassen wollen: Wer bin ich? Bin ich jetzt der gleiche wie vor einer Minute, vor einer Stunde, gestern, letztes Jahr? Wenn ich mein Wille bin, kann ich dann sagen, daß ich immer das gleiche will? Welche Rolle spielt der
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Wille in meinem täglichen Leben? Stimmt mein Verhalten mit meiner Überzeugung überein, daß ich immer die gleiche Person bin? Erkenne ich, was Bewußtsein wirklich ist? Wenn ja, kann ich sagen, daß ich bewußt sein kann, wenn ich bewußt sein will? Kann ich bewußt bleiben? Wenn ja, wie lange? Kann ich mich meiner selbst erinnern? Muß ich mir vielleicht eingestehen, daß ich in Wirklichkeit fast immer schlafe, selbst wenn ich glaube, wach zu sein? Bin ich ein handlungsfähiges Wesen? Täusche ich mich, wenn ich glaube, daß ich tue, was ich zu tun beabsichtige? Bin ich nicht der Sklave meiner mechanischen Rollen — zum Erfolg gezwungen, wenn ich etwas mechanisch gut kann, und zum Versagen verurteilt, wenn ich etwas nicht mechanisch bewältigen kann? Selbstbefragung ist eine strenge Disziplin. Wenn sie nicht ernst genommen wird, richtet man damit mehr Schaden als Nutzen an. Man darf nie davon ausgehen, daß man die Antwort auf eine Frage schon kennt; vielmehr kann man sicher sein, daß in jeder Frage eine Tiefe liegt, die man kaum ergründen wird. Eine Arbeitsweise, die ich von Gurdjieff gelernt habe und die ich empfehlen kann, besteht darin, eine Frage auszuwählen, sie auf ein Stück Papier zu schreiben und sie immer bei sich zu tragen. "Behandle sie wie deinen Gott", sagte Gurdjieff, "mache sie zum Wichtigsten in deinem Leben. Lies sie immer wieder. Denke darüber nach mit der festen Entschlossenheit, daß dein Wille die Antwort aufnimmt." Es ist zwar notwendig, aber nicht genug, sich im Kopf damit zu beschäftigen. Halten Sie eine Woche lang an einer Frage fest. Lassen Sie dann einige Wochen verstreichen und machen Sie das gleiche mit einer anderen Frage. Seit ich P.D. Ouspensky vor mehr als 45 Jahren zum erstenmal über diese Illusionen sprechen hörte, bin ich mit Hunderten von Menschen zusammengekommen, die von diesen Ideen angezogen wurden — besonders von ihrem schonungslosen Realismus — und sich mit Begeisterung und Entschlossenheit auf den Weg machten, die Wahrheit selbst herauszufinden. Aber nur sehr, sehr wenige haben die Situation wirklich erkannt und sich von den Grundillusionen befreit. Am schwersten ist es wahrscheinlich, die Aussage anzunehmen,
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daß wir nicht tun können. Selbst die behavioristischen Psychologen und Vertreter der ultramaterialistischen Doktrin, daß der Mensch, wie alles andere, eine Maschine sei und der freie Wille nicht existiere — selbst sie sprechen und handeln, als ob sie und die Menschen, mit denen sie umgehen, bewußt und willentlich zu handeln imstande wären. Es ist keine geringe Leistung, sich von diesen Illusionen zu befreien, aber wem es gelingt, der wird etwas Kostbares gewinnen: Freiheit und inneren Frieden.
4. DIE VIER EBENEN DES SELBST* Zur Illusion der Einheit gehört die Annahme, daß wir von unserem Selbst im Singular sprechen könnten. In diesem Abschnitt werde ich meine eigenen Schlußfolgerungen über das Selbst des Menschen darstellen und erläutern, wie es studiert werden kann. Interessanterweise ist über dieses Thema in der westlichen Literatur oder der christlichen Lehre so gut wie nichts zu finden. Anscheinend ist es den Griechen nicht in den Sinn gekommen, die Einheit des Menschen in Frage zu stellen, und die westliche Psychologie hat darauf die Vorstellung aufgebaut, daß die menschliche Seele ganz und unteilbar sei. Wir werden in dem Glauben erzogen, daß wir eine Person sind, weil wir einen Körper und einen Namen haben. Die Hindus nennen das die Namarupa (Name und Form) Illusion und beanspruchen, davon frei zu sein. Und dennoch folgt aus der Lehre der Reinkarnation — besonders in ihrer hinduistischen Form —, daß es ein Selbst gibt, das lebt und stirbt und wieder geboren wird, ungezählte Male, bis dieses unsterbliche Selbst schließlich die Befreiung aus Samsara, dem Kreislauf der Existenz erreicht. Auch die orthodoxe islamische Lehre betrachtet den Menschen als ein Selbst, das als Individuum zu belohnen und zu bestrafen ist. Weit realistischere Auffassungen über die Natur des Menschen finden sich in der buddhistischen Psychologie, im Sufismus und in Grundüberzeugungen zentralasiatischer Glaubensrichtungen, die zweifellos alle in ihrem Ursprung eng verbunden sind. Nach diesen Lehren •Siehe Anmerkung S. 87, Kap. 3.
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wird die menschliche Psyche nicht als Einheit aufgefaßt, sondern ist aus mehreren Seelen oder Ebenen des Selbst zusammengesetzt. Nachdem ich diese Lehren viele Jahre studiert habe, besonders mit Hilfe von Gurdjieffs Lehre und dem, was ich von Subud gelernt habe, bin ich schließlich zu der Überzeugung gekommen, daß es im Menschen vier verschiedene Ebenen des Selbst gibt. Jedes Selbst ist ein bestimmtes Muster des mind-Stoffes. Es hat sein eigenes Gedächtnis, seine Gewohnheiten, Ansichten und Werte, seine eigenen Maßstäbe für das, was ihm wichtig und unwichtig ist. Es ist passiv, solange der Wille sich nicht mit ihm vereinigt. Wenn das geschieht, macht es sich zum Herrn dessen, was wir gerade tun, und verändert es entsprechend seinen Wünschen und Gewohnheiten — wie eine Marionette, die ihre Rolle spielt, wenn jemand die Schnüre in die Hand nimmt. Die vier Ebenen des Selbst bezeichne ich als materielles, reagierendes, geteiltes und wahres Selbst. Ich empfehle dem Leser, die folgende Beschreibung zu studieren und dann durch die Beobachtung seiner selbst und anderer, durch Vergleich und Reflektion zu entscheiden, ob diese Betrachtungsweise seinem Verständnis dient oder nicht. Wenn ja, so sollte man sich daran gewöhnen zu beobachten, welches Selbst in einer gegebenen Situation am Ruder ist. l. Das materielle Selbst Wenn ein Kind bald nach seiner Geburt mit den materiellen Objekten seiner Umgebung in Kontakt kommt, beginnt das materielle Selbst sich im mind-Stoff herauszubilden. Im mind entstehen die notwendigen Verhaltensmuster und diese bilden ein Selbst, das auf die materielle Welt gerichtet ist und diese für die einzige Realität hält. Es hat keine Werte, denn diese entstehen mit den Erfahrungen des emotionalen und intellektuellen Zentrums, die im kleinen Kind noch nicht erwacht sind. Die wichtigste Leistung des materiellen Selbst ist die Sprache, die das Kind durch den Kontakt mit den optischen Eindrücken, den Geräuschen und anderen Wahrnehmungen der materiellen Welt erwirbt. Wenn wir unsere Sprache studieren, werden wir feststellen, daß sie aus der Welt materieller Objekte stammt und wir selbst dann, wenn wir über mentale Prozesse und Zustände sprechen, Worte und
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Ausdrücke verwenden, die aus dieser Welt stammen. Das materielle Selbst ist unser Instrument für die materielle Welt. Es erwirbt eine Reihe von Fähigkeiten, besonders Hand und Auge werden ausgebildet, aber es hat auch eine instinktive Neigung, sich an die Objekte zu klammern, mit denen es arbeitet. Mit dem Wachsen der Gefühlsfähigkeit, führt diese Neigung dazu, sich auf materielle Gegenstände zu verlassen und sich an sie zu binden. Die Wichtigkeit materieller Objekte bedarf keiner Betonung; durch innere Bindung an sie entstehen jedoch Werte, die auf Erwerb und Besitz gerichtet sind. Für das materielle Selbst wird Erfolg in der materiellen Welt zum Selbstzweck. Diese Materialisierung von Werten kann zu unerwünschten Ergebnissen führen. Das materielle Selbst beansprucht den Status des wahren Selbst. Der Wille bindet sich daran und die weitere Entwicklung des Selbst wird dadurch behindert. Das kann ein wirkliches Unglück sein, weil das materielle Selbst keine Sensibilität für die Gefühle anderer hat. In extremen Fällen verfolgt es seine materiellen Ziele mit roher Brutalität und betrachtet materiellen Besitz als höchstes Gut. In jedem von uns ist das materielle Selbst notwendigerweise vorhanden, weil es unser Hauptkontakt zur Außenwelt ist. Wir sollten uns deswegen prüfen und lernen, das materielle Selbst zu erkennen und zu sehen, welchen Platz es einnimmt. Die Bindung an Besitz, die Unfähigkeit, an irgendeine andere Realität zu glauben, als an jene, die wir sehen und anfassen können, Unsensibilität und vor allem das Bedürfnis, über andere Formen des Lebens zu herrschen, sind alles Zeichen dafür, daß das materielle Selbst in die Irre gegangen ist. Praktisches Geschick, Sprachbegabung, Gefühlsstabilität und schnelles Begreifen — was etwas anderes ist als Intelligenz — sind Zeichen für die wünschenswerten Aspekte des materiellen Selbst. Zu bemerken ist, daß die guten wie die schlechten Merkmale sich automatisch manifestieren — das heißt mit automatischer Energie (E6). Man könnte meinen, daß das, was ich beschrieben habe, nichts anderes ist, als ein Muster konditionierter Reflexe und keineswegs ein Selbst, aber das ist gewiß nicht alles. Das materielle Selbst kann Freude und Leid, Zuneigung und Abneigung erfahren, wenn die sensitive Energie in ihm arbeitet. Es kann alle Fähigkeiten des mind ausüben, die Kreativität eingeschlossen, die ihren Ursprung jenseits des mind Vier Ebenen des Selbst
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hat. Das ist deswegen möglich, weil der Wille sich mit den Energien des materiellen Selbst vereinigen und es zu einer 'Person' machen kann. Wenn sich der Wille mit dem materiellen Selbst vereinigt, dann hat er keine wirkliche Freiheit und ist eher der Sklave als der Meister dessen, was sein Instrument sein sollte. Wenn das materielle Selbst dauernd vorherrscht, dann wird der Mensch ein lebender Automat. Es kann sehr klug und sehr erfolgreich in der materiellen Welt sein und Macht über seine Mitmenschen gewinnen, die er behandelt, als wären sie nichts weiter als materielle Objekte, aber er besitzt kein inneres Leben und hat keine Möglichkeit zur Transformation. Man kann die unglücklichen Menschen nur bedauern, die in ihrem materiellen Selbst gefangen sind, weil ihnen alles entgeht, was das menschliche Leben lebenswert macht. Sofern ihnen nicht etwas zustößt, das sie aus dieser Situation befreit, wird ihre einzige Realität immer die von leblosen Objekten sein. Die richtige Rolle des materiellen Selbst ist die eines Instruments, das von den höheren Teilen des Selbst gebraucht wird und ihnen untersteht. Es ist richtig, die materielle Welt zu beherrschen und all unsere Fähigkeiten in dieser Welt auszubilden; wir sollten uns auch an materiellen Objekten freuen, aber wir sollten nie von ihnen abhängig werden. Selbstbeobachtung kann uns lehren, zwischen Freude und Versklavung zu unterscheiden. Wenn wir feststellen, daß materielle Objekte zu große Bedeutung für uns haben, dann müssen wir Schritte unternehmen, um unsere Abhängigkeit zu lösen. Es gibt Menschen, die von ihrem materiellen Selbst ganz frei sind. Ich habe solche Leute mit großem Interesse beobachtet. Sie haben kein Besitzgefühl und können Dinge und Geld ohne ein Gefühl des Verlustes weggeben. Sie haben gewöhnlich keinen guten Kontakt mit ihrem Körper und sind oft emotional unstabil. Ich erwähne das, um zu sagen, daß es nicht genügt, von materiellen Kräften frei zu sein. Ein höherer Teil des Selbst muß wach und aktiv sein, um an die Stelle des materiellen Selbst treten zu können, wenn es seine Macht über uns verliert. Zuletzt muß ich noch sagen, daß ich mit der Ansicht nicht übereinstimme, daß das materielle Selbst teuflisch ist. Diese Auffassung herrscht in manchen religiösen Systemen, vor allem im Christentum,
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im Sufismus und im Buddhismus. Zum Beispiel nennt Pak Subuh das materielle Selbst das satanische Selbst und sieht in ihm die Quelle allen Übels. Nicht die Existenz des materiellen Selbst ist unser Verhängnis, sondern daß es die Stellung des Meisters usurpiert. Es kann seine Macht nur ausüben, wenn es nicht beobachtet wird. Die beste Methode, es an den ihm gebührenden Platz zu verweisen, besteht darin, unser Verhältnis zu materiellen Dingen zu beobachten. Wenn sie uns wichtig sind, müssen wir auf der Hut sein. 2. Das reagierende Selbst Wenn sich der mind-Stoff im Kind zu organisieren beginnt, fängt es an mit sensitiver Energie zu reagieren, die dualistisch oder polar in ihrem Chrakter ist. Zuneigung und Abneigung, Freude und Leid, Anziehung und Abstoßung und all die anderen Gegensatzpaare beginnen im Kind zu wirken und lassen ein zweites Verhaltensmuster entstehen. Im Laufe von einigen Jahren, gewöhnlich zwischen vier und sieben, bildet sich das reagierende Selbst. Dieses Selbst hängt mit dem instinktiven und emotionalen Zentrum zusammen und wird durch Vererbung mitgeprägt. Übermäßige Sensitivität gegenüber angenehmen und unangenehmen Reizen führt zur Herrschaft des reagierenden Selbst. Wenn es an Sensitivität fehlt, ist das reagierende Selbst schwach. Das Reaktionsmuster hängt von den Einflüssen ab, denen das Kind ausgesetzt ist, und ist eng mit der Persönlichkeit verbunden. Es ist einfach zu erkennen, wenn in einem Menschen das reagierende Selbst vorherrscht. Er ist Stimmungen ausgeliefert, sieht alles schwarz oder weiß, ist übermäßig empfindlich gegenüber Lob und Tadel. Er ist genauso leicht begeistert wie niedergeschlagen. Wenn bei einem Menschen die Begeisterungsfähigkeit auf ein starkes materielles Selbst trifft, wird er über große Antriebskraft verfügen; ist das materielle Selbst schwach, so wird er wirklichkeitsfremd und unpraktisch sein. Das reagierende Selbst kann rücksichtslos, sogar grausam zu anderen sein, hochgradig sensibel für seine eigenen Gefühle und gleichzeitig unfähig zu fühlen, daß es andere verletzt oder beleidigt. Es ist empfänglich für gewaltsame und unvernünftige Vorurteile.
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Diese Art, selbstsüchtig zu reagieren, ist der negative Aspekt des reagierenden Selbst. Zu seinen guten Seiten gehören Wahrnehmungsfähigkeit, Schönheitsliebe, Herzlichkeit und Großzügigkeit. Auf intellektuellem Gebiet ist das reagierende Selbst logisch, fähig zu geordnetem Denken und zu klarem und scharfem Ausdruck. Der Hauptwert, den das reagierende Selbst für uns hat, besteht in seiner Macht, unserem Handeln Kraft zu verleihen. Wenn wir lernen können, seine mechanischen Reaktionen in Zaum zu halten, dann kann die dadurch gewonnene Energie dazu gebraucht werden, eine physische oder mentale Aktivität aufrecht zu erhalten. Wenn der Wille im reagierenden Selbst gefangen ist, werden wir von unseren Zuneigungen und Abneigungen beherrscht und sind für uns und andere eine Last. Der mind wird in das Reaktionsmuster hineingezogen, und wir beobachten, wie solche Leute ihre Vorurteile und Reaktionen mit großem Geschick und Scharfsinn rechtfertigen. Wenn sich der Wille aus dem reagierenden'Selbst zurückzieht, können wir uns immer noch an lebhaften Sinnes- und Gefühlseindrücken freuen; aber wir verlieren uns nicht in ihnen und identifizieren uns nicht mit ihnen. Wie beim materiellen Selbst, so auch hier: das reagierende Selbst ist ein schlechter Herr, aber es kann ein guter Sklave sein. Wir sollten unser reagierendes Selbst kennen. Das bedeutet, daß wir unsere Zuneigungen und Abneigungen, unsere Vorurteile und Meinungen beobachten und in Erinnerung behalten müssen. Das ist keine einfache Aufgabe, und eine nur mentale Anstrengung genügt nicht. Es ist entscheidend, daß unser Wille beteiligt ist, und deswegen müssen wir mit unseren Zuneigungen und Abneigungen kämpfen, wenn wir sie objektiv sehen wollen. Eine der wertvollsten Übungen, die P.D.Ouspensky als die Grundlage der Arbeit an uns selbst betrachtete, besteht darin, negative Emotionen nicht auszudrücken. Das reagierende Selbst beklagt sich dauernd über triviale Beschwernisse und Mißgeschicke, es ist eifersüchtig, besitzergreifend, nervös und unsicher und bringt alle diese nutzlosen und überflüssigen Reaktionen in Sprache und Mimik zum Ausdruck. Die Übung, keine dieser Reaktionen in unserem äußeren Verhalten zu zeigen, befähigt uns, sie zu beobachten und schließlich Kontrolle über sie zu erlangen.
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Eine andere sehr wertvolle Übung, die leicht mißverstanden wird, besteht darin, sich nicht zu rechtfertigen. Das reagierende Selbst haßt es, Unrecht zu haben; es bemüht sich immer, die Gründe für seine negativen Reaktionen außerhalb seiner selbst zu finden. Der mind wird von nützlicher Aktivität durch das Bedürfnis abgehalten, zu erklären, zu rechtfertigen und sich im rechten Licht darzustellen. Sobald einem die Absurdität und Schwäche eines solchen Zustandes klar wird, kann sich der Suchende die Aufgabe stellen, seine Handlungen nicht zu rechtfertigen und nicht zu erklären. Das entzieht dem reagierenden Selbst die Initiative und zwingt es, einen untergeordneten Platz einzunehmen. Es muß jedoch die Gefahr vermieden werden, stolz darauf zu sein, daß man sich nicht rechtfertigt und einem die Meinung der anderen egal ist. Ich habe gesehen, wie Leute einen unerträglichen Hochmut entwickelt haben, weil sie sich dazu erzogen haben, sich niemals zu rechtfertigen oder ihr Handeln zu erklären. Das ist das Ergebnis der Übertragung der Initiative vom reagierenden Selbst zum geteilten Selbst, ohne dessen Grenzen zu verstehen. Wenn das reagierende Selbst gut entwickelt und erzogen ist, macht es eine Person sehr anziehend, mit breiten Interessen und gutem Verstand, offen und aufnahmebereit, fähig zu harter geistiger und physischer Arbeit. Aber selbst im besten Fall ist die Fähigkeit zur Unterscheidung und Selbstkritik schwach ausgebildet. Bei normalen Menschen wird das reagierende Selbst nur dann aktiv, wenn seine Qualitäten gebraucht werden. 3. Das geteilte Selbst Das dritte Selbst kann sich irgendwann nach dem zehnten Lebensjahr entwickeln, jedoch glaube ich, daß es sich natürlicherweise vor der Pubertät und dem Erwachen der Sexualität herausbildet. Es ist durch ein inneres Empfinden für richtig und falsch gekennzeichnet, im Gegensatz zu den künstlichen Reaktionen, die dem reagierenden Selbst durch die Erziehung aufgepfropft werden. Diese künstlichen Reaktionen können die Impulse des Gewissens derartig übertönen und verzerren, daß es nicht zur Organisation des geteilten Selbst als unabhängigem Sitz des Willens kommt. Vier Ebenen des Selbst
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Ich wählte den Ausdruck geteiltes Selbst, um seine zweifache Natur zu kennzeichnen — auch wenn sich diese Bezeichnung in ihrer Bedeutung stark von den Begriffen zu unterscheiden scheint, mit denen Sufis und andere den dritten Zustand der Seele beschreiben. Wir haben zwei Arten der Wahrnehmung: einmal durch die Sinne und den assoziativen Teil des mind — unsere Verbindung mit der materiellen Welt —, zum anderen jene innere Wahrnehmung (siehe Abschnitt zwei dieses Kapitels), zu der auch das Gewissen gehört, das uns mit der geistigen Welt verbindet. Die oft gehörte Behauptung, daß der Mensch halb Tier halb Engel sei, bezieht sich auf das geteilte Selbst, bedarf aber der näheren Erläuterung. Das Tier — oder, wie ich lieber sage, das niedrige Selbst — ist menschlich, es kennt die Welt und gehört zu ihr. Das engelhafte oder geistige Selbst ist weit davon entfernt ein gehorsamer Diener Gottes zu sein, was von Engeln angenommen wird, sondern einfach der Teil unserer Natur, der in der Welt der geistigen Wirklichkeiten zu Hause ist. Wir sind zwischen Geist und Materie geteilt, aber die zwei Teile sind nicht getrennt. Deswegen nenne ich es ein Selbst, aber ein geteiltes. Diese Teilung ist eine der grundlegenden Tatsachen der menschlichen Existenz. Solange wir sie nicht erkennen, kann das menschliche Leben unmöglich einen Sinn für uns haben. Es ist sehr wichtig, hier innezuhalten und sich ernsthaft einige Fragen zu stellen: Erstens: "Habe ich einen materiellen Körper und bin ich dadurch mit der materiellen Welt verbunden? Kann ich mir eine Existenzform vorstellen, in der ich bin, was ich sein soll, aber ohne Verbindung zur materiellen Welt?" Die Antwort auf diese letzte Frage mag Ihnen zweifelhaft erscheinen, aber Ihre materielle Existenz hier und jetzt können Sie nicht leugnen. Je mehr Sie darüber nachdenken, desto mehr werden Sie sehen, daß es nicht möglich ist, sich die menschliche Existenz unabhängig von einem materiellen Körper und von Wahrnehmungsorganen vorzustellen, die uns mit der materiellen Welt verbinden. Zweitens: "Bin ich nichts anderes als mein materieller Körper und meine Wahrnehmungen der materiellen Welt? Ist meine Existenz weder mehr noch weniger als die von Tischen, Stühlen, Steinen und anderen materiellen Gegenständen? Ist die Vorstellung überhaupt mög-
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lieh, daß ich ein Wesen ohne innere Erfahrung und allem, was damit zusammenhängt, bin? Woher kommen meine Werte, wenn nicht von einer Welt, die ganz und gar anders ist als die materielle Welt?" Was ich gerade geschrieben habe, ist von viel größerer Bedeutung für unsere Suche nach Wahrheit als das intellektuelle Verständnis des geteilten Selbst. Eines der schwersten Erfordernisse für irgendeinen Versuch, unser Verständnis zu vertiefen, besteht darin, offen zu bleiben. Damit meine ich viel mehr, als Vorurteile und vorgefaßte Meinungen beiseite zu lassen. Der mind muß eine Frage aufnehmen und alles, was wir wissen, mit dieser Frage konfrontieren, ohne daß wir uns eine Meinung darüber gestatten. Wir müssen entdecken, was sich uns darstellt und nicht was wir annehmen oder glauben. Wenn Sie das auf das geteilte Selbst anwenden, so werden Sie sicherlich in der Tiefe eine zweifache Natur entdecken, die durch Argumente nicht zu beseitigen ist. Das geteilte Selbst ist nicht einfach eine Hantel mit zwei Enden. Es ist der Sitz unseres Charakters — das heißt, des Musters unseres Wesens. Dazu gehört sowohl das, was uns angeboren ist, als auch die Verfestigungen, die sich während der Kindheit gebildet haben und die uns gewöhnlich nicht bewußt sind. Sein geteiltes Selbst zu kennen, heißt also zu wissen, was für ein Mensch man ist und was für ein Leben man führen sollte. Leider können wir das geteilte Selbst nicht durch Beobachtung unserer mentalen Prozesse studieren, weil es von den Gewohnheiten des materiellen und des reagierenden Selbst verdeckt ist und in den wenigsten Menschen die Vorherrschaft hat. Fast alle Menschen leben auf den ersten zwei Ebenen des Selbst, und ihr Verhalten hat mit dem, was sie wirklich sind, wenig zu tun. Es ist deswegen ratsam, das Studium des geteilten Selbst so lange aufzuschieben, bis wir uns über den Inhalt und das Verhaltensmuster der niedrigeren Ebenen hinreichende Klarheit verschafft haben. Wenn wir das getan haben, beginnen wir zu sehen, wie wir in allem, was wir tun, in den Grenzen unseres Charaktermusters gehalten werden. Das geteilte Selbst ist der Sitz des Gewissens und der Unterscheidungsfähigkeit. Wenn wir lernen zu unterscheiden, dann helfen wir unserem geteilten Selbst, sich richtig zu entwickeln. Es ist ein KennVier Ebenen des Selbst
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zeichen des Menschen, dessen geteiltes Selbst wach ist, daß er sich der Doppelnatur seines Wesens mit aller Schärfe bewußt ist. Er sieht, wie er mit Macht in die Richtung beider Welten gezogen wird, zu denen er gehört, und er erkennt, daß es nicht in seiner Kraft steht, den Konflikt in seiner eigenen Natur zu lösen. Dieses Bewußtsein bereitet ihn auf das Erwachen des wahren Selbst vor. 4. Das wahre Selbst Die Transformation von mind in Seele vollzieht sich im Mittelpunkt des Wesens des Menschen. Ich nenne ihn das wahre Selbst und schreibe ihm eine dreifache Natur zu: Das natürliche Selbst, das geistige Selbst und die Individualität. Zu dieser Auffassung hat mich Gurdjieffs Behauptung in All und Alles geführt, daß der wahre Mensch sein eigenes Gesetz der Drei in sich trägt. Diese Anschauung liegt auch dem traditionellen Glauben zugrunde, daß der Mensch eine dreifache Natur hat und doch ein Individuum mit einem einzigen, ungeteilten Willen ist. Diese Eigenschaften gehören zu dem wahren Menschen, nicht zu dem, was Gurdjieff 'den Menschen in Anführungszeichen' nannte. Darunter verstehe ich den Menschen, der von den niedrigen Ebenen seines Selbst beherrscht wird und von seiner eigenen Wirklichkeit getrennt ist. Ich erinnere mich, wie betroffen ich war, als ich vor dreißig oder vierzig Jahren zum erstenmal die Predigten des Meisters Eckhart las und dort auf den Satz stieß: "Der Mensch muß mit all seiner Macht danach streben, das zu werden, was er wirklich ist." Dieses Paradox, daß der Mensch nichts anderes werden soll, als das, was er schon ist, aber doch anders als der Usurpator, der sich an die Stelle des wahren Menschen gesetzt hat, löst sich, wenn wir die Bedeutung der vier Ebenen des Selbst erfassen. Das wahre Selbst sollte sich in der Pubertät bilden. Es ist der Sitz der bewußten, schöpferischen Handlung und sollte im sexuellen Akt erwachen. Das ist ein Aspekt des wahren Selbst, der den Schlüssel zum Verständnis des natürlichen Selbst liefert. Der höhere oder geistige Teil des wahren Selbst kann nicht beobachtet und nicht einmal beschrieben werden, weil er nicht zur Welt von Name und Form gehört. Ich kann nur meinen persönlichen
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Glauben ausdrücken, daß das höhere Selbst das Muster von Sinn und Zweck unserer Existenz ist, das unser Leben leiten sollte. Das läßt eine Art Bauplan vermuten, den eine höhere Kraft für uns festgelegt hat; anders gesagt, es klingt nach Vorherbestimmung. Ich glaube an Prädestination, aber nicht in der Form, daß wir dabei nichts zu sagen haben, sondern als eine Entscheidung, die wir mit dem Akt des Eintritts in die Existenz gefällt haben — so, als ob wir in dieses Leben gekommen sind, um eine Aufgabe auszuführen, die wir freiwillig übernommen haben, bevor wir kamen; 'wir' meint hier nicht unseren mind, der an diesem Punkt nicht existiert; auch nicht unser Selbst, denn auch das existiert hier nicht. Es bezieht sich auf unseren Willen oder unsere Individualität, die durch einen Akt, von dem wir uns kein Bild machen können, die Entscheidung fällte, als menschliches Wesen geboren zu werden. Aus dieser Entscheidung erwächst der höhere oder geistige Teil des Selbst. Ich gestehe ohne weiteres zu, daß dies nicht mehr als mein persönlicher Glaube ist — vielleicht nicht mehr als eine Meinung —, und ich wüßte kein Mittel, mit dem er verifiziert werden kann. Sie können diese Auffassung ablehnen und doch an der Idee festhalten, daß im Zentrum unseres Wesens das wahre Selbst ist, das wir nicht kennen und das wir finden wollen. Wir können ein konkreteres Bild gebrauchen und den höheren Teil des Selbst als den idealen Menschen betrachten, der wir zu werden hoffen. Welches Bild wir auch gebrauchen, wir müssen vermeiden, dem höheren Selbst Vollkommenheit zuzuschreiben. Es ist begrenzt, unvollständig und notwendigerweise unvollkommen. Außerdem ist es nicht das gleiche wie Ich oder meine Individualität. Damit ist der dritte oder mittlere Teil des wahren Selbst gemeint. Der Schlüssel ist die Idee, daß der transformierte oder vervollkommnete Mensch die natürliche und die geistige Seite seines Selbst durch seine Individualität vereinigt hat. Das ist der 'Mensch der Seele', wie ihn Meister Eckhart nennt, der fähig ist, in der Welt der Natur so frei und voll zu leben wie in der Welt des Geistes. Es gibt ein großes und schreckliches Hindernis auf dem Weg der Transformation. Das ist der Egoismus, der den Platz der Individualität usurpiert hat. Ich werde hier nicht mehr darüber sagen, weil der Vier Ebenen des Selbst
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richtige Platz für diese Diskussion das Kapitel über die Befreiung des Willens ist.* Ich kann aber doch einen praktischen Vorschlag machen, der sich auf das wahre Selbst bezieht. Er besteht darin, sich die Aufgabe zu stellen, jeden Tag etwas Schöpferisches zu tun — etwas, dem ein Willensakt aus eigener Initiative zugrunde liegt. Wenn wir unser tägliches Leben betrachten und objektiv beurteilen, werden wir alle feststellen, daß wir im Strom von Gewohnheit und Routine schwimmen, selbst dann, wenn wir Arbeit leisten, die man originell nennen könnte. Wir bemerken nicht, wie selten wir etwas tun, das wirklich und wahrhaftig aus unserer eigenen spontanen Wahl entspringt. Wenn wir einmal erkannt haben, was Spontaneität wirklich ist, dann sollten wir uns mindestens einmal am Tag dafür öffnen. Wenn wir das tun, kommen wir dem, was wir wirklich sind, ein wenig näher. Soweit ich sehen kann, hat diese Übung keine schädlichen Folgen, sofern sie nicht grob mißverstanden wird. Zum Beispiel sollte es nicht schwer sein, zwischen einer spontanen schöpferischen Handlung und dem Eigenwillen zu unterscheiden, der darauf aus ist, sich durchzusetzen, oder zwischen schwelgerischer Zügellosigkeit und Kreativität. Die Übung schöpferischen Handelns verlangt von uns die größtmögliche Aufrichtigkeit, innere Freiheit und Mut. Sie verlangt auch einen echten Willensakt, um in unserer täglichen Routine eine Lücke zu schaffen und für spontanes Handeln Zeit zu finden. Jahrelang habe ich mir zum Ziel gesetzt, täglich eine Stunde schöpferische Arbeit zu machen. So schwer es mir fiel, das durchzuhalten, so lohnend war es. Lassen Sie mich hinzufügen, daß schöpferische Arbeit nicht nur die Arbeit des Genies meint. Wann immer es uns gelingt, uns aller Absichten zu entledigen, entstehen spontan Ideen, und wir sehen, wie sich eine schöpferische Gelegenheit vor uns auftut. Der Versuch lohnt sich, Kreativität in uns lebendig werden zu lassen, selbst wenn wir lange Zeit nicht viel damit anfangen können. Vergessen Sie nicht, daß alles, was ich in diesem Kapitel geschrie*Dieses Kapitel wurde nie geschrieben. Der interessierte Leser sei auf The Dwnatic Umvase. Bd III, S. 202ff verwiesen. (O.K.)
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ben habe, den Zweck hat, Wege vorzuschlagen, wie wir uns auf den Prozeß der Transformation vorbereiten können, indem wir einen Ausgleich zwischen den verschiedenen Teilen unserer Natur schaffen und Hindernisse beseitigen, oder zumindest lernen, wie wir sie umgehen können.
5. ROLLEN — BEWUSSTE UND UNBEWUSSTE Innerhalb der vierfachen Struktur unseres Selbst, die allen Menschen gemeinsam ist, hat jeder von uns einen Satz Verhaltensmuster, die Gurdjieff Rollen nannte. Unsere Rollen bestimmen innerhalb sehr enger Grenzen, wie wir uns in den verschiedensten Umständen verhalten. Kein gewöhnlicher Mensch ist in der Lage, sich vom mind gesteuert außerhalb seiner gewohnheitsmäßigen Rollen zu verhalten. Wir können uns davon überzeugen, wenn wir beobachten, wie oft wir ein neues Verhaltensmuster im Geiste einstudieren und in der tatsächlichen Situation doch in unsere alte Rolle zurückfallen. Wir sprechen und handeln nicht so, wie wir es beabsichtigen oder wünschen, sondern so, wie wir 'aufgezogen' sind. Dieser Punkt ist so wichtig, daß kein Zweifel zurückbleiben darf. Die einzige Möglichkeit besteht darin, daß wir uns die Aufgabe stellen, eine Rolle zu spielen, die uns fremd ist. Ich will das an einem Beispiel erläutern, das mir noch nach dreißig Jahren in lebhafter Erinnerung ist. 1940 zu Beginn des Krieges, als das Reisen schon nicht mehr so einfach war, mußte ich nach Glasgow fahren, um Gießereien zu besuchen, die nach unseren Plänen Öfen für Luftschutzbunker bauten. William R. Gordon, der Direktor des Coal Utilization Councii, ein guter Freund von mir, bat mich, ihn in seinem Büro in Glasgow aufzusuchen, um mir einige Veränderungen zu erklären, die er vornehmen wollte. Ich entschloß mich, diese Gelegenheit wahrzunehmen, um eine mir fremde Rolle zu spielen. Ich wollte mein Verhalten in seinem Büro dem seinen anpassen, so wie ich es häufig beobachtet hatte. Er war ein einfacher, durch und durch ehrlicher Mann, begeisterungsfähig und großzügig, mit seinen Mitarbeitern jedoch laut und autoritär. Ich hingegen war zurückhaltend und indirekt in meinem
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Vorgehen, konziliant und nicht darauf aus, Szenen zu machen. Als ich mit dem Lift hinauffuhr, machte ich ein Gesicht, das ich für grimmig hielt, stolzierte ärgerlich ins Büro hinein und stellte unangenehme Fragen. Es dauerte nur ein paar Sekunden, und ich fühlte mich, als müßte ich sterben. Ich zwang mich, weiter zu machen, aber nach zehn Minuten mußte ich aufgeben. Ich entschuldigte mich mit einem Telephonanruf, um die Unterhaltung zu unterbrechen, und ging danach wieder zu meinem gewohnten Rollenverhalten über. In den darauffolgenden Wochen versuchte ich mehrmals, das Experiment zu wiederholen, aber konnte mich nicht dazu bringen, es auch nur einmal richtig auszuführen. Ich war schockiert von der Demonstration meiner eigenen Impotenz. Ich habe vielen Leuten, die etwas über Rollen lernen wollten, diese Geschichte erzählt, aber ich kann mich an keinen erinnern, der verstanden hätte, warum ich die Sache so ernst nahm. Daraus lernte ich so viel wie aus meiner eigenen Erfahrung. Nicht nur sind wir unfähig, irgendeine Rolle zu spielen, die wir nicht in unserer Kindheit gelernt haben, wir sehen nicht einmal, daß uns Hand und Fuß durch unsere gewohnheitsmäßigen Verhaltensmuster gebunden sind. Psychologen beschreiben die üblichen Rollen auf verschiedene Weise. Die meisten bilden sich in unserer Beziehung zu unseren Eltern und Geschwistern und durch die Willensmuster unseres Charakters. Über dieses Thema ist von Freud und Jung und ihren Nachfolgern soviel geschrieben worden, daß es nicht notwendig ist, noch eine weitere Theorie hinzuzufügen. Eine lebendige und ausdrucksvolle Beschreibung von Rollen ist der Vergleich mit Tieren. Wir legen Tieren menschliche Eigenschaften zu und charakterisieren Menschen mit Tiernamen: eine Katze, ein Fuchs, ein Tieger, eine Ziege, ein Krokodil, eine Schlange. Diese Sprache bezieht sich nicht direkt auf Rollen, sondern auf die vorherrschende Eigenschaft einer Persönlichkeit. Es ist eine interessante und nützliche Übung zu lernen, in sich und anderen die verschiedenen Tiere zu erkennen. Alle derartigen Übungen lehren uns, wie schwer es ist, sich zu erkennen, und mit welcher Beharrlichkeit wir unsere Augen vor unseren Grenzen und Widersprüchen verschließen. Gurdjieff hatte dafür
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eine einfache Erklärung, die mit den Ergebnissen der analytischen Psychologie übereinstimmt, aber der Vorstellung viel leichter zugänglich ist. Er sagt, daß Stoßdämpfer uns davor schützen, unsere Widersprüche zu sehen; sie bilden sich während des vorbereitenden Alters, das heißt bis achtzehn oder zwanzig, als Ergebnis der instinktiven Impulse, schmerzhafte oder unangenehme Erfahrungen zu vermeiden. Diese Stoßdämpfer sind Barrieren innerhalb des mind und verhindern die Kommunikation zwischen verschiedenen Teilen der Persönlichkeit. Anstelle eines wohlgeordneten Selbst, in dem jede Ebene ihre Funktion erfüllt, haben wir mehrere getrennte Persönlichkeiten. In extremen Fällen können die Stoßdämpfer zu undurchdringlichen Barrieren werden, so daß die Persönlichkeiten voneinander isoliert sind und einen der Zustände, die als Schizophrenie bekannt sind, zur Folge haben. Es wird oft gesagt, daß eines der greifbaren Ziele der therapeutischen Psychologie die Herstellung einer integrierten Persönlichkeit ist. Nur selten führen analytische Methoden zu einem dauerhaft integrierten Selbst, weil die Stoßdämpfer meistens zu verfestigt sind, um durch Analyse aufgelöst zu werden. Gewaltsame Methoden, die die Persönlichkeit einer Schockbehandlung unterziehen, zerstören vielleicht die Stoßdämpfer, aber wenn das Selbst nicht transformiert wird, ist es unwahrscheinlich, daß aus den zersprengten Einzelteilen eine integrierte Persönlichkeit entstehen wird. Maßvolle Abschirmung der verschiedenen Brennpunkte der Persönlichkeit läßt stabile Verhaltensmuster und das, was wir einen 'normalen' Menschen nennen, entstehen. Sie sind 'normal', solange sie sich in der sozialen Umgebung bewegen, die ihren spezifischen Stoßdämpfer-Komplex produziert hat, aber in einem anderen Milieu verlieren sie sehr schnell ihre Stabilität. Stoßdämpfer sind die Antwort des menschlichen mind-Stoffes auf die Tabus der Gesellschaft, in der eine Person aufwächst. In unserer modernen Gesellschaft haben wir viele Verhaltenstabus. Es ist sozial nicht annehmbar, Unrecht zu haben und Fehler zuzugeben, außer unter Druck. Es ist nicht annehmbar, die Regeln des Stammes oder der Kaste zu brechen, zu denen wir gehören. Deswegen besteht das Tabu: "Du darfst nicht erwischt werden." Rollen — bewußte und unbewußte
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Diese Tabus wirken auf jedes Kind in der sozialen Umgebung; sie lassen es notwendig erscheinen, Schwächen und Fehler zu verbergen und sich zu rechtfertigen und Begründungen zu liefern, wann immer behauptet wird, daß man im Unrecht sei. Da wir aber wissen, daß wir Fehler machen und nicht immer willens sind, die Regeln zu halten befinden wir uns in einem Zustand des Selbst-Widerspruches, den wir schwer ertragen könnten, wenn er uns immer bewußt wäre. Wir beginnen deswegen, vor uns selbst die Wahrheit noch eifriger zu verbergen als vor anderen. Das geschieht nicht bewußt, es fängt in der frühen Kindheit an und verfestigt sich ähnlich wie ein Knorpel, der beschädigtes Gewebe schützt. Die Verfestigung entsteht im mind-Stoff, der so Stoßdämpfer entwickelt. Stoßdämpfer, die das Leben leicht machen und uns erlauben, die Widersprüche des reagierenden Selbst ohne große Unannehmlichkeit zu ertragen, sind ein Hindernis für das Erwachen des wahren Selbst. Die Beseitigung der Stoßdämpfer darf nur mit großer Vorsicht angegangen werden. Ich habe über die Jahre verschiedene Arten der Schocktherapie gesehen, und sie scheinen mir alle zu riskant. Nicht nur kann die Persönlichkeit schwer geschädigt werden, hinzukommt, daß Stoßdämpfer, die durch gewaltsame Einwirkung beseitigt werden, meistens durch neue Stoßdämpfer ersetzt werden, die sozial weniger nützlich sind, aber die psychische Entwicklung genauso hemmen. Der pharisäische Stoßdämpfer, "Ich danke Dir, Herr, daß ich nicht so bin wie diese", hat viele Formen. Er kann auch bei denen entstehen, die auf dem Weg der Transformation sind und die Augen vor ihren eigenen Fehlern verschließen. Ein anderer Stoßdämpfer ist 'Loyalität'. Es mag jemand auf seine Toleranz und seinen weiten Horizont stolz sein und sich dennoch unter gewissen Umständen engstirnig und kleinlich verhalten. Kommt es deswegen zum Konflikt, so wird er seine Intoleranz leugnen und sich mit seiner Loyalität brüsten, die ihn zwingt, gegen die Feinde jener Sache vorzugehen, der er sich verschrieben hat. Diese Art Stoßdämpfer kann sich sehr schnell entwickeln — fast bis zu einem pathologischen Grad —, wenn jemand einer Schockbehandlung unterzogen wurde.
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Es ist eine nützliche Übung, Stoßdämpfer in anderen zu beobachten und ihnen Namen zu geben, so wie ich das hier getan habe. Noch wichtiger ist es, unser eigenes Verhalten objektiv zu erkennen. An diesem Punkt müssen wir uns fragen, ob wir wirklich und aufrichtig von diesen Stoßdämpfern frei sein wollen oder nicht. Ein Teil unserer Persönlichkeit wird ohne Zögern sagen, "Ja, ich möchte den Widersprüchen ins Gesicht sehen und lernen, mit ihnen zu leben", aber ein anderer Teil wird nicht einmal wissen, daß wir überhaupt einen Widerspruch beobachtet haben. Wir müssen deswegen einen Weg finden, wie wir den abgeschirmten Teil zwingen können, seine Aufmerksamkeit darauf zu richten. Eine Möglichkeit besteht darin, den Namen des Stoßdämpfers auf ein Blatt Papier zu schreiben und sich einzuprägen, ihn dann zu lesen, wenn eine entsprechende Situation auftritt. Wenn wir z.B. sehen, daß wir den Stoßdämpfer Loyalität haben, dann sollten wir dafür sorgen, daß wir uns daran erinnern,, wenn wir 'unsere Pflicht' tun. /
Manchmal trifft uns die Absurdität unerkannter Widersprüche hart. Wir sehen, daß wir uns auf eine Weise verhalten, die unserer guten Meinung, die wir von uns hegen, ganz und gar widerspricht. Die Kraft, die durch solch unwillkürliche Schocks erzeugt wird, muß zum Guten gewendet werden. Vielleicht bitten wir sogar jemanden, der uns nahe steht, Frau, Mann, Eltern, Bruder, Schwester oder nahen Freund, uns zu erinnern, wenn sie sehen, daß wir uns nach jenem Muster verhalten, das durch den Stoßdämpfer von unserem Bewußtsein abgeschirmt ist. Wir müssen versprechen, nicht unangenehm zu reagieren. Wir werden es dennoch tun, aber das Versprechen wird unserem Freund Zutrauen geben, daß wir wissen, worum wir bitten. Wir müssen uns selbst daran erinnern, daß es unser Ziel ist, frei zu sein. Freiheit ist unvergleichlich viel wertvoller als die gute Meinung anderer und Selbstwertschätzung. Nur große Sehnsucht nach innerer Freiheit wird uns befähigen, das Leiden zu ertragen, das nicht zu umgehen ist, wenn Stoßdämpfer entfernt werden. * * *
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Bücher vom selben Autor
What Are We Living For? Crisis in Human Affairs Gurdjieff: A Very Great Enigma Energies: Material, Vital, Cosmic Christian Mysticism and Subud A Spiritual Psychology Creative Thinking Values: An Anthology for Seekers Is There "Life" On Earth? Witness: A Story of a Search (Autobiography) Gurdjieff: Making a New Worid Long Pilgrimage The Masters of Wisdom Deeper Man The Way to be Free Idiots in Paris An Introduction to Gurdjieff's Third Series, "Life is Real only then, when I AM" Journeys in Islamic Countries Vol. l Journeys in Islamic Countries Vol. 2 The Dramatic Universe Vol. I The Foundations of Natural Philosophy Vol. II The Foundations of Moral Philosophy Vol. III Man And His Nature Vol. IV History Studies from the Dramatic Universe Series Number One — Hazard Number Two — Existence Number Three — Creation
The Transformation of Man Series Number One — Gurdjieff Today Number Two — The Enneagram Number Threc — Sex Number Four — The Sevenfold Work Number Five — The Image of God in the Work Number Six — J.G. Bennett's Talks on Beelzebub's Tales Number Seven — Needs of a New Age Community The Sherborne Theme Talks Series Number One — The First Liberation Number Two — Noticing Number Three — Material Objects Number Four — Food
In deutscher Sprache sind bisher erschienen: Sex: in Anthologie 'Spirituelle Entfaltung und Sexualität', Fischer TB Energien Eine spirituelle Psychologie Ein anderes Bild Gottes Gurdjieff — Aufbau einer neuen Welt Gurdjieff entschlüsselt — Die innere Bedeutung von Gurdjieffs 'Belzebubs Erzählungen* Hasard — Der Risikofaktor Die Meister der Weisheit Der Siebenfältige Weg, erscheint 1982
-^-,^^^ --^^k Dieses Buch ist das Ergebnis fünfzigjähriger Suche nach dem, was in dieser Welt wirklich ist. John G. Bennett, Schüler von G.J. Gurdjieff und P.D. Ouspensky, preist keinen Abkürzungsweg zur Seligkeit an. Er geht von der Umwälzung aus, die wir alle durchleben, und den Anforderungen, die uns daraus erwachsen. Bennett setzt sich mit Fragen auseinander, auf die jeder stößt, der die Arbeit an der eigenen Veränderung als Notwendigkeit erkannt hat: Brauche ich einen Lehrer? Wie erkenne ich, ob ein bestimmter Weg für mich der richtige ist? Welchen Schwierigkeiten begegne ich, wenn ich ernsthaft versuche, meine Schwächen zu überwinden? — Der Weg, der hier gewiesen wird, führt nicht aus dem Leben hinaus, sondern soll dazu befähigen, selbstverantwortlich das tägliche Leben als Schule zu nutzen.
ISBN 3-88403-001-9