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insel taschenbuch 1 6 5 8 Arthur Schopenhauer Die Kunst, Recht zu behalten
Artbur Schopenhauer, geboren am 22. Febr...
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insel taschenbuch 1 6 5 8 Arthur Schopenhauer Die Kunst, Recht zu behalten
Artbur Schopenhauer, geboren am 22. Februar I788 in Danzig, ist am 21. September I86o in Frankfurt am Main gestorben. Organ der natürlichen Boshaftigkeit des Menschen, unver zichtbares Instrument, um Diskussionen erfolgreich zu führen und auf diese Weise dem Hang zur Rechthaberei nachzukom men, mithin der Wille, Recht zu behalten, gleichviel ob man im Recht ist oder nicht- dies und nichts anderes ist für Schopen hauer Dialektik. Daher die Spezifikation in der Überschrift sei nes kleinen Traktats: Eristische Dialektik. Denn das griechische Wort erizein bedeutet »Streiten«, »Streitgespräche führen«. Schopenhauer legt die Gedanken, die in dieser zu seinen Leb zeiten nicht veröffentlichten Abhandlung zusammenkamen, zu erst in seinen Berliner Vorlesungen dar und erläutert sie später in den Parerga und Paralipomena. Die von Franeo Volpi edierte, bei Adelphi erschienene Aus gabe der Kunst, Recht zu behalten hat in Italien eine ungewöhn lich hohe Resonanz gefunden: Seit I 99 I wurden mehr als I 5o ooo Exemplare dieser Abhandlung gedruckt. Franeo Volpi ist Professor der Philosophie. Er lehrt an den Universitäten Padua und Witten-Herdecke. Er ist Herausgeber der italienischen Edition der Werke und des Nachlasses Schopen hauers bei Adelphi, Mailand.
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In achtunddreißig Kunstgriffen dargestellt
Herausgegeben von Franeo Volpi
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Insel Verlag
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Inhalt
Vorbemerkung II
Arthur Schopenhauer Eristische Dialektik 17
insel taschenbuch I 6 58 Erste Auflage 1995 ©Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 199 5 Für das Nachwort von Franeo Volpi: © 1991 Adelphi Edizioni S.P.A. Milano Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Vertrieb durch den Suhrkamp T aschenbuch Verlag Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus Umschlagillustration: Tobias Borries Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim Printed in Germany ISBN 978-3-458-33358-6
9 IO I I 12 13 14 - 14 13 12 I I IO 09
Franeo Volpi Schopenhauer und die Dialektik 79
Vorbemerkung
Die Kunst, Recht zu behalten ist ein kleines Brevier, das Schopenhauer fast zur Reinschrift brachte, ohne es je doch zu veröffentlichen. Die Niederschrift fällt wohl wie Artbur Hübscher nachgewiesen hat - in die letzten Berliner Jahre des Philosophen, also in die Zeit um r8 30/3 r. Das Manus kript, das ohne Überschrift ist, umfaßt acht durchnumerierte Foliobogen sowie einen ganzen und zwei halbe Nebenbogen, die insgesamt vierundvierzig Seiten ausmachen; das Heft befindet sich in Schopenhauers handschriftlichem Nachlaß (Karton XXIX, Nr. r4). Der Inhalt erlaubt es, die kleine Abhandlung in Ver bindung zu setzen mit den Berliner Vorlesungen über die »Theorie des gesamten Vorstellens, Denk ens und Erkennens«, namentlich mit dem Kapitel über Logik , das einen ähnlichen Stoff behandelt (vgl. Philosophische Vorlesungen, hg. von Franz Mockrauer, Teil I, Piper, München I 9 I 3; hg. von Volker Spierling, daselbst, I9 86). Dieser Zusammenhang wird außerdem durch materielle Indizien bestätigt, etwa durch das benutzte Papier, das in beiden Fällen das gleiche ist. Vereinzelte Aufzeichnungen, Hinweise, Bemerkun gen über Dialektik , die dann in der kleinen Abhand lung ausgearbeitet und systematisch dargestellt wer den, finden sich hie und da in den Werken und im· Nachlaß Schopenhauers. Der signifi kanteste Hinweis II
ist in den Parerga und Paralipomena von I 8 5 I enthal ten. Im Kapitel über »Logik und Dialektik« (Band II, Kap. 2, § 26) nimmt Schopenhauer den ersten Teil der kleinen Abhandlung wieder auf und stellt die neun er sten Kunstgriffe vor. Diese Wiederaufnahme - nach etwa zwanzig Jahren - ist deshalb wichtig, weil der Phi losoph uns hier über das Entstehen dieses merkwürdi gen Traktats sowie über den Grund Auskunft gibt, weshalb er von einer Veröffentlichung absah. Zur Ent stehung und Konzeption der Schrift äußert er sich rückblickend: »Die Schliche, Kniffe und Schikanen, zu denen sie [die Leute], um nur Recht zu behalten, grei fen, sind so zahlreich und mannigfaltig, und dabei doch so regelmäßig wiederkehrend, daß sie mir, in früheren Jahren, ein eigener Stoff zum Nachdenken wurden, welches sich auf das rein Formale derselben richtete, nachdem ich erkannt hatte, daß so verschieden auch sowohl die Gegenstände der Diskussion, als die Perso nen sein mochten, doch die se ihen und identischen Schliche und Kniffe stets wiederkamen und sehr wohl zu erkennen waren. Dies brachte mich damals auf den Gedan ken, das bloß Formale besagter Schliche und Kniffe vom Stoff rein abzusondern und es, gleichsam als ein sauberes anatomisches Präparat, zur Schau zu stellen . Ich sammelte also alle die so oft vorkommen den unredlichen Kunstgriffe beim Disputieren und stellte jeden derselben in seinem eigentümlichen We sen, durch Beispiele erläutert und durch einen eigenen Namen bezeichnet, deutlich dar, fügte endlich auch die dagegen anzuwendenden Mittel, gleichsam die Paraden
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zu diesen Finten, hinzu; woraus denn eine förmlich eristische Dialektik erwuchs« (Sämtliche Werke, hg. von Arthur Hübscher, 7 Bde., Brockhaus, Wiesbaden 3I972, Bd. VI, S. 27). Und zu dem systematischen Stel lenwert, den die Abhandlung im Verhältnis zur tradi tionellen Logik sowie in seiner Theorie des gesamten Denkens einnimmt, erklärt er: »In dieser [Dialektik] nahmen nun die soeben belobten Kunstgriffe, oder Stratagemata, als eristisch -dialektische Figuren, die Stelle ein, welche in der Logik die syllogistischen, und in der Rhetorik die rhetorischen Figuren ausfüllen, mit welchen beiden sie das Gemeinsame haben, d aß sie ge wissermaßen angeboren sind, indem ihre Praxis der Theorie vorhergeht, man also, um sie zu üben, nicht erst sie gelernt zu haben braucht. Die rein formale Auf stellung derselben wäre sonach ein Komplement jener Technik der Vernunft, welche aus Logik, Dialektik und Rhetorik bestehend, im zweiten Bande meines Haupt werkes, Kap . 9, dargestellt ist« (a. a. 0., S. 27). Bald darauf scheint aber dem Philosophen die Lust daran vergangen zu sein : »Dergleichen Stratagemata also hatte ich ungefähr vierzig zusammengestellt und ausgeführt. Aber die Beleuchtung aller dieser Schlupf win kel der, mit Eigensinn, Eitelkeit und Unredlich keit verschwisterten Beschränktheit und Unfähigkeit widert mich jetzt an; daher ich es bei dieser Probe be wenden lasse und desto ernstlicher auf die oben ange gebenen Gründe zum Vermeiden des Disputierens mit Leuten, wie die meisten sind, verweise« ( a. a. 0., s. 32).
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Die Abhandlung wurde zum erstenmal von Julius Frauenstädt veröffentlicht unter dem Titel : Dialektik, in Arthur Schopenhauers handschriftlichem Nachlaß, Brockhaus, Leipzig r864. Eine zweite, bis heute maß gebliche Ausgabe besorgte Arthur Hübscher. Sie ist in seiner k ritischen Edition des Nachlasses enthalten: Arthur Schopenhauer, Der handschriftliche Nachlaß, 5 Bde. , Kramer, Frankfurt a. M. 1 966- 75 (dann: Deutscher Taschenbuch Verlag, München I985), Bd. III, S. 666-95 . Eine dritte, um einige Anmerk ungen ge kürzte und auf einen leicht lesbaren Text geglättete Ausgabe hat Gerd Haffmans beim eigenen Verlag be sorgt: Eristische Dialektik oder Die Kunst, Recht zu behalten, in 3 8 Kunstgriffen dargestellt, Haffmans, Zü rich I 98 3 . Die jeweils unterschiedlichen Formulierungen der Ü berschrift rühren daher, daß das Manus kript wie bereits erwähnt - keine hat. Der Titel muß also den Bezeichnungen entnommen werden, mit denen Scho penhauer selbst die Abhandlung erwähnt: an der so eben zitierten Stelle aus den Parerga und Paralipomena nennt er sie einmal Eristische Dialektik, zum anderen Umriß des Wesentlichen jeder Disputation. Zu Beginn der Abhandlung bezeichnete er sie als Die Kunst, Recht '
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zu behalten. Die vorliegende Ausgabe basiert auf der Edition Artbur Hübschers, mit einer einzigen Variante zur Textgestaltung: die nichtnumerierten Bogen mit Auf zeichnungen zur geplanten Einleitung hat Hübscher an den Anfang seines kritisch edierten Textes gestellt. Da
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sie allerdings sehr fragmentarischen Charakters und hauptsächlich für die Schopenhauer-Forschung von Belang sind, habe ich sie hier an den Schluß gesetzt. Was den Text als solchen angeht, so wurden Ortho graphie und Interpunktion leicht modernisiert. Alle Er gänzungen des Herausgebers - Ü bersetzung fremdspra chiger Termini sowie Zitate und deren Nachweise - sind in eckige Klammern gesetzt worden. Das Nachwort versucht, die philosophiegeschichtlichen Hintergründe zu beleuchten, die Schopenhauers Auffassung der Dia lektik - in scharfer Opposition zu Hege! und in der Wiederan knüpfung an eine lange Tradition, die bis zu Aristoteles zurüc kreicht - besser verstehen lassen. Das Thema »Schopenhauer und die Dialektik « war im Win tersemester I994/95 Gegenstand eines Seminars am In stitut für das Studium fundamentale der Universität Witten/Herdecke, in dem ich Gelegenheit hatte, Tradi tion und Aktualität der Dialektik in ihren historischen und systematischen Aspekten zu diskutieren. Eine italienische Version dieser Ausgabe habe ich I99I für den Verlag Adelphi (Mailand) besorgt: sie hat sich dort eines unerwartet breiten Anklangs erfreut und ein neu es Interesse für Schopenhauer in Gang gebracht. Das Büchlein hat in Italien die Bestsellerliste erklommen, sich an der Spitze der meistverkauften Taschenbücher etwa einJahr lang behauptet und inzwischen die I 5. Auf lage (insgesamt I5oooo Exemplare) erreicht. Ob Scho penhauers Anleitung zur »Kunst, Recht zu behalten« auch im eigenen Land soviel Erfolg erfahren wird ? '
Franeo Volpi
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Eristische Dialektik1 ist die Kunst zu disputieren, und zwar so zu disputieren, daß man Recht behält, also per Jas et nefas [mit rechten wie mit unrechten Mitteln] .2 I
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Bei den Alten werden Logik und Dialektik meistens als Syn onyme gebraucht: bei den Neueren ebenfalls . Eristik wäre nur ein härteres Wort für dieselbe Sache.-Aristo teles (nach Diog. Laert. V, 28) stellte zusammen Rhetorik und Dialektik, deren Zweck die Überredung, 1:0 rrt3av6v, sei; so dann Analytik und Philosophie, deren Zweck die Wahrheit. �tUAcK'ttKl) 88 EO''tl 1EXY11 A-6ywv' Öt' ilc; avacrKEO
etwas widerlegen oder beweisend behaupten, und zwar mittels Frage und Antwort der Unterredner], Diog. Laert. III, 48 in vita Platonis. - Aristoteles unterscheidet zwar I . die Logik oder Analytik, als die Theorie oder Anweisung zu den wahren Schlüssen, den apodiktischen; 2. die Dialektik oder Anwei sung zu den für wahr geltenden, als wahr kurrenten - €v8o�a, probabil�a (Topik, I, I und I2)- Schlüssen, wobei zwar nicht ausgemacht ist, daß sie falsch sind, aber auch nicht, daß sie wahr (an und für sich) sind, indem es darauf nicht ankommt. Was ist denn aber dies anders als die Kunst, Recht zu behalten, gleichviel ob man es im Grunde habe oder nicht? Also die Kunst, den Schein der Wahrheit zu erlangen unbekümmert um die Sache. Daher wie anfangs gesagt. Aristoteles teilt eigentlich die Schlüsse in logische, dialektische, so wie eben gesagt: dann 3. in eristische (Eristik), bei denen die Schlußform richtig ist, die Sätze selb-st aber, die Materie, nicht wahr sind, sondern •
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l Man kann nämlich in der Sache selbst objective Recht haben und doch in den Augen der Beisteher, ja biswei len in seinen eignen, Unrecht behalten. Wann nämlich der Gegner meinen Beweis widerlegt, und dies als Wi derlegung der Behauptung selbst gilt, für die es jedoch andre Beweise geben k ann; in welchem Fall natürlich für den Gegner das Verhältnis umgekehrt ist: er behält Recht, bei objektivem Unrecht. Also die objektive Wahrheit eines Satzes und die Gültigkeit desselben in der Approbation der Streiter und Hörer sind zweierlei. (Auf letztere ist die Dialektik gerichtet .) Woher kommt das ? -Von der natürlichen Schlechtig k eit des menschlichen Geschlechts . Wäre diese nicht, wären wir von Grund aus ehrlich, so würden wir bei jeder Debatte bloß d arauf ausgehn, die Wahrheit zu Tage zu fördern, ganz unbekümmert ob solche unsrer zuerst aufgestellten Meinung oder der des Andern ge mäß ausfiele: dies würde gleichgültig, oder wenigstens ganz und gar Nebensache sein. Aber jetzt ist es Haupt sache. Die angeborne Eitelkeit, die besonders hinsicht lich der Verstandes kräfte reizbar ist, will nicht haben, daß was wir zuerst aufgestellt, sich als falsch und das
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nur wahr scheinen, und endlich 4· in sophistische (Sophistik), bei denen die Schlußform falsch ist, jedoch richtig scheint. Alle drei letzten Arten gehören eigentlich zur eristischen Dia lektik, da sie alle ausgehn nicht auf die objektive Wahrheit, sondern auf den Schein derselben, unbekümmert um sie selbst, also auf das Recht behalten . Auch ist das Buch über die Sophistischen Schlüsse erst später allein ediert: es war das letzte Buch der Dialektik.
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des Gegners al s Recht ergebe. Bienach hätte nun zwar bloß Jeder sich zu bemühen, nicht anders als richtig zu urteilen: wozu er erst denken und nachher sprechen müßte. Aber zur angebornen Eitelkeit gesellt sich bei den Meisten Geschwätzigkeit und angeborne Unred lichkeit. Sie reden, ehe sie gedacht haben, und wenn sie auch hinterher merken, daß ihre Behauptung falsch ist und sie Unrecht haben; so soll es doch scheinen, als wäre es umgekehrt. Das Interesse für die Wahrheit, welches wohl meistens bei Aufstellung des vermeintlich wahren Satzes das einzige Motiv gewesen, weicht jetzt ganz dem Interesse der Eitelkeit: wahr soll falsch und falsch soll wahr scheinen. Jedoch hat selbst diese Unredlichkeit, das Beharren bei einem Satz, der uns selbst schon falsch scheint, noch eine Entschuldigung:.oft sind wir anfangs von der Wahrheit unsrer Behauptung fest überzeugt, aber das Argument des Gegners scheint jetzt sie umzustoßen; geben wir jetzt ihre Sache gleich auf, so finden wir oft hinterher, daß wir doch Recht haben : unser Beweis war falsch; aber es konnte für die Behauptung einen richti gen geben: das rettende Argument war uns nicht gleich beigefallen. Daper entsteht nun in uns die Maxime, selbst wann das Gegenargument richtig und schlagend scheint, doch noch dagegen anzuk ämpfen, im Glau ben, daß dessen Richtigkeit selbst nur scheinbar sei, und uns während des Disputierens noch ein Argument, jenes umzustoßen, oder eines, unsre Wahrheit ander weitig zu bestätigen, einfallen werde: hiedurch werden wir zur Unredlichkeit im Disputieren beinahe genö21
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tigt, wenigstens leicht verführt. Diesergestalt unter stützen sich wechselseitig die Schwäche unsers Verstan des und die Verkehrtheit unsers Willens. Daraus kommt es, daß wer disputiert, in der Regel nicht für die Wahrheit, sondern für seinen Satz kämpft, wie pro ara et focis [für Haus und Herd], und per Jas et nefas ver fährt, ja wie gezeigt nicht anders kann. Jeder also wird in der Regel wollen seine Behauptung durchsetzen, selbst wann sie ihm für den Augenblic k falsch oder zweifelhaft scheint. 3 Die Hilfsmittel hiezu gibt einem Jeden seine eigne Schlauheit und Schlechtig keit einigermaßen an die Hand: dies lehrt die tägliche Erfahrung beim Disputieren; es hat also jeder seine na türliche Dialektik, so wie er seine natürliche Logik hat.
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3 Machiavelli schreibt dem Fürsten vor, jeden Augenblick der
Schwäche seines Nachbarn zu benutzen, um ihn anzugreifeu.; weil sonst dieser einmal den Augenblick benutzen kann, wo jener schwach ist. Herrschte Treue und Redlichkeit, so wäre es ein andres: weil man sich aber deren nicht zu versehn hat, so darf man sie nicht üben, weil sie schlecht bezahlt wird:- eben so ist es beim Disputieren: gebe ich dem Gegner Recht, sobald er es zu haben scheint, so wird er schwerlich dasselbe tun, wann der Fall sich umkehrt; er wird vielmehr per nefas verfah ren: also muß ich's auch. Es ist leicht gesagt, man soll nur der Wahrheit nachgehn ohne Vorliebe für seinen Satz; aber man darf nicht voraussetzen, daß der Andre es tun werde: also darf man's auch nicht. Zudem, wollte ich, sobald es mir scheint, er habe Recht, meinen Satz aufgeben, den ich doch vorher durch dacht habe; so kann es leicht kommen, daß ich, durch einen augenblicklichen Eindruck verleitet, die Wahrheit aufgebe, um den Irrtum anzunehmen. 22
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[Doch nur Erziehung för dert das angeborene Vermögen; Horaz, Carmina, IV, 4, 33].
4 Doctrina sed vim promovet insitam
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Allein jene leitet ihn lange nicht so sicher als diese. Gegen logische Gesetze denken, oder schließen, wird so leicht keiner: falsche Urteile sind häufig, falsche Schlüsse höchst selten. Also Mangel an natürlicher Lo gik zeigt ein Mensch nicht leicht; hingegen wohl Man gel an natürlicher Dialektik: sie ist eine ungleich ausge teilte Naturga.be (hierin der Urteils kraft gleich, die sehr ungleich ausgeteilt ist, die Vernunft eigentlich gleich). Denn durch bloß scheinbare Argumentation sich kon fundieren, sich refutieren lassen, wo man eigentlich Recht hat, oder das umgekehrte, geschieht oft; und wer als Sieger aus einem Streit geht, verdankt es sehr oft, nicht sowohl der Richtigkeit seiner Urteilskraft bei Aufstellung seines Satzes, als vielmehr der Schlauheit und Gewandtheit, mit der er ihn verteidigte. Angebo ren ist hier wie in allen Fällen das beste4: jedoch kann Übung und auch Nachdenken über die Wendungen, durch die man den Gegner wirft, oder die er meisten� gebraucht, um zu werfen, viel beitragen, in dieser Kunst Meister zu werden. Also wenn auch die Logik wohl keinen eigentlich praktischen Nutzen haben kann: so kann ihn die Dialektik allerdings haben. Mir scheint auch Aristoteles seine eigentliche Logik (Ana lytik) hauptsächlich als Grundlage und Vorbereitung zur Dialektik aufgestellt zu haben und diese ihm die Hauptsache gewesen zu sein. Die Logik beschäftigt sich mit der bloßen Form der Sätze, die Dialektik mit
ihrem Gehalt oder Materie, d�m Inhalt: dahe r eben mußte die Betrachtung der Form als des allgemeinen der des Inhalts als des besonderen vorhe rgehn . Aristoteles bestimmt den Zweck der Dialektik nicht so scharf wie ich getan: er gibt zwar als Hauptzweck das Disputieren an, aber zugleich auch das Auffinden der Wahrheit (Topik, I, 2); später sagt er wieder: man behandle die Sätze philosophisch nach . der Wahrheit, dialek tisch nach dem Schein oder Beifall, Meinung Andrer (ö6�a), Topik, I, 12. Er ist sich der Unterschei dung und Trennung d er objektiven Wahrheit eines Sat zes von dem Geltendmachen desselben oder dem Er langen der Approbation zwar bewußt; allein er hält sie nicht scharf genug auseinander, um der Dialektik bloß letzteres anzuweisen. 5 Seinen Regeln zu letzterem 5
Zweck sind daher oft welche zum ersteren eingemengt. Daher es mir s. c heint, daß er seine Aufgabe nicht rein gelöst hat. 6 Aristoteles hat in den Topicis die Aufstel lung der Dialektik mit seinem eignen wissenschafthaben; allein für sich ist dies bei der Sinnesart der Menschen nicht zureichend und andrerseits bei der Schwäche ihres Ver standes nicht durchaus notwendig: es gehören also noch andre Kunstgriffe dazu, welche, eben weil sie vom objektiven Recht haben unabhängig sind, auch gebraucht werden können, wenn man objektiv Unrecht hat: und ob dies der Fall sei, weiß man fast nie ganz gewiß . Meine Ansicht also ist, dis.Dialektik von der Logik schärfer zu sondern, als Aristoteles getan hat, der Logik die objektive Wahrheit, so weit sie formell ist, zu lassen, und die Dialektik auf das Rechtbehalten zu beschränken; dagegen aber Sophistik und Eristik nicht so von ihr zu trennen, wie Aristoteles tut, da dieser Unterschied auf der objektiven materiellen Wahrheit be ruht, über die wir nicht sicher zum voraus im klaren sein können, sondern mit Pontius Pilatus sagen müssen: was ist die Wahrheit? - denn veritas est in puteo: EV ßuSQ) 11 aA-i}Seta [Die Wahrheit steckt in der Tiefe]: Spruch des Demokrit, Diog. La ert. IX, 72. Es ist leicht zu sagen, daß man beim Streiten nichts anderes bezwecken soll als die Zutageförderung der Wahrheit; allein man weiß ja noch nicht, wo sie ist: man wird durc� die Argumente des Gegners und durch seine eigenen irregeführt.Übrigens re intellecta, in verbis simus facifes [Ist die· Sache selbst richtig verstanden, so ist es leicht, sie in Worte zu set zen]: da man den Namen Dialektik im Ganzen für gleichbe deutend mit Logik zu nehmen pflegt, wollen wir unsre Diszi plin Dialectica eristica, eristische Dialektik nennen. 6 (Man muß allemal den Gegenstand einer Disziplin von dem jeder andern rein s·ondern. ) •
Und andrerseits ist er.i m Buche de elenchis sophisticis wieder zu sehr bemüht, die Dialektik zu trennen vop der Sophistik 1Und Eristik : wo der Unterschied darin liegen soll, daß dialekti sche Schlüsse in Form und Gehalt wahr, eristische oder sophi stische (die sich bloß durch den Zweck unterscheiden, der bei ersteren <Eristik) das Rechthaben an sich, bei letztern <Sophi stik) das dadurch zu erlangende Ansehn und das durch dieses zu erwerbende Geld ist) aber falsch sind. Ob Sätze dem Gehalt nach wahr sind, ist immer viel zu ungewiß, als daß man daraus den· Unterscheidungsgrund nehmen sollte; und am wenigsten kann der Disputierende selbst darüber völlig gewiß sein: selbst das Resultat der Disputation gibt erst einen unsichern Auf schluß darüber. Wir müssen also unter Dialektik des Aristote les Sophistik, Eristik, Peirastik mitbegreifen und sie definieren als die Kunst, im Disputieren Recht zu behalten : wobei freilich das größte Hilfsmittel ist, zuvörderst in der Sache Recht zu
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liehen Geist äußerst methodisch und systematisch an gegriffen, und dies verdient Bewunderung, wenn gleich der Zweck , der hier offenbar praktisch ist, nicht son derlich erreicht worden. Nachdem er in den Analyticis die Begriffe, Urteile und Schlüsse der reinen Form nach betrachtet hatte, geht er nun zum Inhalt über, wobei er es eigentlich nur mit den Begriffen zu tun hat: denn in diesen liegt ja der Gehalt. Sätze und Schlüsse sind rein für sich bloße Form: die Begriffe sind ihr Gehalt. 7 7
Die Begriffe lassen sich aber unter gewisse Klassen bringen, wie Genus und Species, Ursache und Wirkung, Eigenscha� und Gegenteil, Haben und Mangel, u. dgl. m.; und für diese Klassen gelten einige allgemeine Regeln: diese sind die loci, -ronot. - Z. B . ein Locus von Ursache und Wirkung ist: »die Ursache der Ursache ist Ursache der Wirkung« [Christian Wolff, Ontologia, § 928], angewandt: »die Ursache meines Glücks ist mein Reichtum: also ist auch der, welcher mir den Reichtum gab, Urheber meines Glücks.« Loci von Gegensät zen: r. Sie schließen sich aus, z. B . grad und krumm. 2. Sie sind im selben Subjekt: z. B . hat die Liebe ihren Sitz im Willen (EntB-UJ.l11'ttK6v), so hat der Haß ihn auch. - Ist aber dieser im Sitz des Gefühls (�UJ.lOct88c;), dann die Liebe auch.- Kann die Seele nicht weiß sein, so auch nicht schwarz. - 3. Fehlt der niedrigre Grad, so fehlt auch der höhere: ist ein Mensch nicht gerecht, so ist er auch nicht wohlwollend. - Sie sehn hieraus, daß die Loci sind gewisse allgemeine Wahrheiten, die ganze Klassen von Begriffen treffen, auf die man also bei vorkom menden einzelnen Fällen zurückgehn kann, um aus ihnen seine Argumente zu schöpfen, auch um sich aufsie als allgemein ein leuchtend zu berufen. Jedoch sind die meisten sehr trüglich und vielen Ausnahmen unterworfen: z. B . es ist ein locus: ent
gegengesetzte Dinge haben entgegengesetzte Verhältnisse, '
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Sein Gang ist folgender. Jede Disputation hat eine The sis oder Problem (diese differieren bloß in der Form) und d ann Sätze, die es zu lösen dienen sollen. Es han delt sich dabei immer um das Verhältnis von Begriffen zu einander. Dieser Verhältnisse sind zunächst vier.
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z. B . die Tugend ist schön, das Laster häßlich. - Freundschaft ist wohlwollend, Feinschaft übelwollend. - Aber nun: Ver schwendung ist ein Laster, also Geiz eine Tugend; Narren sagen die Wahrheit, also lügen die Weisen: geht nicht. Tod ist Vergehn, also Leben Entstehn: falsch. Beispiel von der Trüglichkeit solcher topi: Scotus Eriugena im Buch de praedestinatione, Kap. 3, will die Ketzer widerlegen, welche in Gott zwei praedestinationes (eine der Erwählten zum Heil, eine der Verworfnen zur Verdammnis) annahmen, und gebraucht dazu diesen (Gott weiß woher genommnen) topus: »Omnium, quae sunt inter se contraria, necesse est eo rum causas inter se esse contrarias; unam enim eandemque causam diversa, inter se contraria efficere ratio prohibet. IY�?.n «
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allem, was einander entgegengesetzt ist, müssen die Ursachen einander entgegengesetzt sein; denn daß eine und dieselbe Ur sache Verschiedenes und einander Entgegengesetztes bewirke, verbietet die Vernunft] So! - aber die experientia docet [die Erfahrung lehrt], daß dieselbe Wärme den Ton hart und das Wachs weich macht, und hundert ähnliche Dinge. Und dennoch klingt der topus plausibel. Er baut seine Demonstration aber ruhig auf dem topus auf, die geht uns weiter nichts an. Eine ganze Sammlung von Locis mit ihren Widerlegungen hat Baco d[e] Ver[ulamio] zusammengestellt unter dem Titel Cola res boni et mali. Sie sind hier als Beispiele zu brauchen. Er nennt sie Sophismata. Als ein Locus kann auch das Argument betrachtet werden, durch welches im Symposium Sokrates dem Agathon, der der Liebe alle vortrefflichen Eigenschaften, -
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Man sucht nämlich von einem Begriff, entweder r. seine Definition, oder 2 . sein Genus, oder 3 . sein Eigentüm liches, wesentliches Merkmal, proprium, tö tov , oder 4· sein accidens, d. i. irgend eine Eigenschaft, gleichviel ob Eigentümliches und Ausschließliches oder nicht, kurz ein Prädikat. Auf eins dieser Verhältnisse ist das Pro blem jeder :Disputation zurückzuführen. Dies ist die Basis der ganzen Dialektik. In den acht Büchern dersel ben stellt er nun alle Verhältnisse, die Begriffe in jenen vier Rücksichten wechselseitig zu einander haben kön nen, auf und gibt die Regeln für jedes mögliche Verhält nis; wie nämlich ein Begriff sich zum andern verhalten Schönheit, Güte usw. beigelegt hatte, das Gegenteil beweist: »Was einer sucht, das hat er nicht: nun sucht die Liebe das Schöne und Gute; also hat sie solche nicht.« Es hat etwas Scheinbares, daß es gewisse allgemeingültige Wahrheiten gäbe, die auf alles anwendbar wären und durch die man also alle vorkommenden einzeln noch so verschiedenartigen Fälle, ohne näher auf ihr Spezielles einzugehn, entscheiden könnte. (Das Gesetz der Kompensation ist ein ganz guter locus.) Allein es geht nicht, eben weil die Begriffe durch Abstraktion von den Differenzen entstanden sind und daher das Verschiedenartig ste begreifen, welches sich wieder hervortut, wenn mittels der Begriffe die einzelnen Dinge der verschiedensten Arten anein andergebracht werden und nur nach den obern Begriffen ent schieden wird. Es ist sogar dem Menschen natürlich beim Disputieren, sich, wenn er bedrä�gt wird, hinter irgend einen allgemeinen topus zu retten. Loci sind auch die Lex parsimoniae naturae [Gesetz der Sparsamkeit der Natur]; - auch: natura nihil facit frustra [Die Natur tut nichts vergebens]. - Ja, alle Sprichtwörter sind loci mit praktischer Tende!lz.
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müsse, um dessen proprium, dessen accidens, dessen genus, dessen definitum oder Definition zu sein: wel che Fehler bei der Aufstellung leicht gemacht werden, und jedesmal was man demnach zu beobachten habe, wenn man selbst ein solches Verhältnis aufstellt (Ka -racrKED
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sache und Wirkung, Eigenschaft und Mangel usw. : und um ein solches Verhältnis soll sich jede Disputation drehen. Die meisten Regeln, die er nun eben als 't01tOt über diese Verhältnisse angibt, sind solche, die in der Natur der Begriffsverhältnisse liegen, deren jeder sich von selbst bewußt ist, und auf deren Befolgung vom Gegner er schon von selbst dringt, eben wie in der Lo gik, und die es leichter ist im speziellen Fall zu beob achten oder ihre Vernachlässigung zu bemerken, als sich des abstrakten 't01tO<; darüber zu erinnern: daher eben der praktische Nutzen dieser Dialektik nicht groß ist. Er sagt fast lauter Dinge, die sich von selbst ver stehn und au f deren Beachtung die gesunde Vernunft von selbst gerät. Beispiele: »Wenn von einem Dinge das genus behauptet wird, so muß ihm auch irgend eine species dieses genus zukommen; ist dies nicht, so ist die Behauptung falsch: z. B. es wird behauptet, die Seele habe Bewegung; so muß ihr irgend eine bestimmte Art der Bewegung eigen sein, Flug, Gang, Wachstum, Ab nahme usw. - ist dies nicht, so hat sie auch keine Bewegung. - Also wem keine Spezies zukommt, dem auch nicht das genus: das ist der 't01tO<;. « [Aristoteles, Topik, II, 4, I I I a 3 3 -b I I ] Dieser 't01tO<; gilt zum Auf stellen und zum Umwerfen. Es ist der neunte 't6rco<;. Und umgekehrt: wenn das Genus nicht zukommt, kommt auch keine Spezies zu: z. B. Einer soll (wird behauptet) von einem Andern schlecht geredet ha ben : - Beweisen wir, daß er gar nicht geredet hat, so ist auch jenes nicht: denn wo das genus nicht ist, kann die Spezies nicht sein.
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Unter der Rubrik des Eigentümlichen, proprium, l autet der 2 I 5 . locus so: »Erstlich zum Umstoßen: wenn der Gegner als Eigentümliches etwas angibt, das nur sinnlich wahrzunehmen ist, so ists schlecht angegeben: denn alles Sinnliche wird ungewiß, sobald es aus dem Bereich der Sinne hinaus kommt: z. B . er setzt als Ei gentümliches der Sonne, sie sei das hellste Gestirn, das über die Erde zieht: - das taugt nicht: denn wenn die Sonne untergegangen, wissen wir nicht ob sie über die Erde zieht, weil sie dann außer dem Bereich der Sinne ist. - Zweitens zum Aufstellen: das Eigentümliche wird richtig angegeben, wenn ein solches au fgestellt wird, das nicht sinnlich erkannt wird, oder wenn sinnlich er kannt, doch notwendig vorhanden: z. B . als Eigentüm liches der Oberfläche werde angegeben, daß sie zuerst ge färbt wird; so ist dies zwar ein sinnliches Merkmal, aber ein solches, das offenbar allezeit vorhanden, also richtig.« [Aristoteles, Topik, V, 5 , I 3 I b I9 - 3 6] - Soviel um Ihnen einen Begriff von der Dialektik desAristoteles zu geben. Sie scheint mir den Zweck nicht zu erreichen: ich habe es also anders versucht. Cicero's Topica sind eine Nachahmung der Aristotelischen aus dem Ge dächtnis: höchst seicht und elend; Cicero hat durchaus keinen deutlichen Begriff von dem, was ein topus ist und bezweckt, und so radotiert er ex ingenio [aus freier Erfindung] allerhand Zeug durcheinander, und staffiert es reichlich mit juristischen Beispielen aus. Eine seiner schlechtesten Schriften. Um die Dialektik rein au fzustellen muß man, unbe kümmert um die objektive Wahrheit (welche Sache der •
Logik ist), sie bloß betrachten als die Kunst, Recht zu behalten, welches freilich um so leichter sein wird, wenn man in der Sache selbst Recht hat. Aber die Dia lektik als solche muß bloß lehren, wie man sich gegen Angriffe aller Art, besonders gegen unredliche vertei digt, und eben so wie man selbst angreifen kann, was der Andre behauptet, ohne sich selbst zu widerspre chen und überhaupt ohne widerlegt zu werden. Man muß die Auffindung der obje ktiven Wahrheit rein tren nen von der Kunst, seine Sätze als wahr geltend zu machen: jenes ist [SacheJ einer ganz andern n payJlU'tcta [Abhandlung], es ist das Werk der Urteilskraft , des Nachdenkens, der Erfahrung, und gibt es dazu keine eigne Kunst; das zweite aber ist der Zwec k der Dialek tik . Man hat sie definiert als die Logik des Scheins: falsch: dann wäre sie bloß brauchbar zur Verteidigung falscher Sätze; allein auch wenn man Recht hat, braucht man Dialektik , es zu verfechten, und muß die unred lichen Kunstgriffe kennen, um ihnen zu begegnen; ja oft selbst welche brauchen, um den Gegner mit glei chen Waffen zu schlagen. Dieserhalb also muß bei der Dialektik die objektive Wahrheit bei Seite gesetzt oder als akzidentell betrachtet werden: und bloß darauf ge sehn werden, wie man seine Behauptungen verteidigt und die des Andern umstößt; bei den Regeln hiezu darf man die objektive Wahrheit nicht berüc ksichtigen, weil meistens unbekannt ist, wo sie liegt8: oft weiß man
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Oft streiten zwei sehr lebhaft; und dann geht Jeder mit der Meinung des Andern nach Hause: sie haben getauscht.
selbst nicht, ob man Recht hat oder nicht, oft glaubt man es und irrt sich, oft glauben es beide Teile: denn veritas est in puteo (ev ßu3cp 11 &'A i13cta [Die Wahrheit steckt in der Tiefe], Demokrit); beim Entstehn des Streits glaubt in der Regel Jeder die Wahrheit auf seiner Seite zu haben: beim Fortgang werden beide zweifel haft: das Ende soll eben erst die Wahrheit ausmachen, bestätigen. Also darauf hat sich die Dialektik nicht ein zulassen: so wenig wie der Fechtmeister berücksich tigt, wer bei dem Streit, der das Duell herbeiführte, eigentlich Recht hat: · treffen und parieren, darauf kommt es an, eben so in der Dialektik: sie ist eine gei stige Fechtkunst; nur so rein gefaßt, kann sie als eigne Disziplin aufgestellt werden: denn setzen wir uns zum Zweck die reine objektive Wahrheit, so kommen wir auf bloße Logik zurück; setzen wir hingegen zum Zweck die Durchführung falscher Sätze, so haben wir bloße Sophistik. Und bei beiden würde yorausgesetzt sein, daß wir schon wüßten, was objektiv wahr und falsch ist: das ist aber selten zum voraus gewiß . Der wahre Begriff der Dialektik ist also der aufgestellte: gei stige Fechtkunst zum Rechtbehalten im Disputieren, obwohl der Name Eristik passender wäre: am richtig sten wohl Eristische Dialektik: Dialectica eristica. Und sie ist sehr nützlich: man hat sie mit Unrecht in neuern Zeiten vernachlässigt. Da nun in diesem Sinne die Dialektik bloß eine auf System und Regel zurückgeführte Zusammenfassung und Darstellung jener von der Natur eingegebnen Künste sein soll, deren sich die meisten Menschen be33
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dienen, wenn sie merk en, daß im Streit die Wahrheit nicht auf ihrer Seite liegt, um dennoch Recht zu behal ten; - so würde es auch dieserhalb sehr zweckwidrig sein, wenn man in der wissenschaftlichen Dialektik auf die objektive Wahrheit und deren Zutageförderung Rücksicht nehmen wollte, da es in jener ursprünglichen und natürlichen Dialektik nicht geschieht, sondern das Ziel bloß das Rechthaben ist. Die wissenschaftliche Diale ktik in unserm Sinne hat demnach zur Hauptauf gabe, jene Kunstgriffe der Unredlichkeit im Disputieren qufzustellen und zu analysieren: damit man bei wirk lichen Debatten sie gleich erkenne und vernichte. Eben daher muß sie in ihrer Darstellung eingeständlich bloß das Rechthaben, nicht die objektive Wahrheit, zum Endzweck nehmen. Mir ist nicht bek annt, daß in diesem Sinne etwas ge leistet wäre, obwohl ich mich weit und breit umgesehn habe9: es ist also ein noch unbebautes Feld. Um zum Zwecke zu kommen, müßte man aus der Erfahrung schöpfen, beachten, wie, bei den im Umgange häufig vorkommenden Debatten, dieser oder jener Kunstgriff von einem und dem andern Teil angewandt wird, so dann die unter andern Formen wiederkehrenden Kunstgriffe auf ihr Allgemeines zurückführen, und so 9
gewisse allgemeine Stratagemata [Kunstgriffe] aufstel len, die dann sowohl zum eignen Gebrauch, als zum Vereiteln derselben, wenn der Andre sie braucht, nütz lich wären. Folgendes sei als erster Versuch zu betrachten.
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Nach Diogenes Laertius gab es unter den vielen rhetorischen Schriften des Theophrastos, die sämtlich verloren gegangen, eine, deren Titel war 'AyrovtcrttKov "Cfl<; 7tcpi "COU<; €ptcr"CtKoß<; A.6you<; B-cropia<; [Kampfbüchlein der Lehre von den Streit reden; s. das Nachwort des Hg.s, S. 109, Anmerkung 7]. Das wäre unsre Sache.
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Basis aller Dialektik
rung]), greifen also die Konsequenz, die Form des Schlusses an. 2. Bei der indirekten Widerlegung gebrauchen wir entweder die Apagoge oder die Instanz. a) Apagoge: wir nehmen seinen Satz als wahr an; und nun zeigen wir, was daraus folgt, wenn wir in Verbin dung mit irgend einem andern als wahr anerkannten Satze selbigen als Prämisse zu einem Schlusse gebrau chen, und nun eine Konklusion entsteht, die offenbar falsch ist, indem sie entweder der Natur der Dinge10, oder den andern Behauptungen des Gegners selbst wi derspricht, also ad rem oder ad hominem falsch ist (Sokrates in Hippia maj. et alias): folglich auch der Satz falsch war: denn aus wahren Prämissen können nur wahre Sätze folgen, obwohl aus falschen nicht immer falsche. b) Die Instanz, f:vcr-racrt�, exemplum in contrarium [Gegenbeispiel] : Widerlegung des allgemeinen Satzes durch direkte Nachweisung einzelner unter seiner Aus sage begriffner Fälle, von denen er doch nicht gilt, also selbst falsch sein muß. Dies ist das Grundgerüst, das Skelett jeder Disputa tion: wir haben also ihre Osteologie. Denn hierauf läuft im Grunde alles Disputieren zurück: aber dies alles kann wirklich oder nur scheinbar, mit echten oder mit unechten Gründen geschehn; und weil hierüber nicht •
Zuvörderst ist zu betrachten das Wesentliche jeder Dis putation, was eigentlich dabei vorgeht. Der Gegner hat eine These. aufgestellt (oder wir selbst, das ist gleich) . Sie zu widerlegen, gibts zwei Modi und zwei Wege. I. Die Modi: a) ad rem [in bezug auf die Sache], b) ad hominem [in bezug auf den Menschen, mit dem man disputiert], oder ex concessis (aufgrund der Einräumun gen des Gegners]: d. h . wir zeigen entweder, daß der Satz nicht übereinstimmt mit der Natur der Dinge, der absoluten objektiven Wahrheit; oder aber nicht mit an dern Behauptungen oder Einräumungen des Gegners, d. h . mit der relativen subjektiven Wahrheit: letzteres ist nur eine relative Ü berführung und macht nichts aus über die objektive Wahrheit. 2. Die Wege: a) direkte Widerlegung, b) indirekte. Die direkte greift die These bei ihren Gründen an, die indirek te bei ihren Folgen: die direkte zeigt, daß die These nicht wahr ist, die indirekte daß sie nicht wahr sein kann. I. Bei der direkten können wir zweierlei . Entweder wir zeigen, daß die Gründe seiner Behauptung falsch sind (nego majorem; minorem [ich bestreite den Ober satz; den Untersatz]): - oder wir geben die Gründe zu, zeigen aber, daß die Behauptung nicht daraus folgt (nego consequentiam [ich bestreite die Schlußfolge�·
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widerspricht sie einer ganz unbezweifelbaren Wahrheit gra dezu, so haben wir den Gegner ad absurdum [zum Wider sinn] geführt. '
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leicht etwas sicher auszumachen ist, sind die Debatten so lang und hartnäckig. Wir k önnen auch bei der An weisung das wahre und scheinbare nicht trennen, weil es eben nie zum voraus bei den Streitenden selbst gewiß ist: daher gebe ich die Kunstgriffe ohne Rücksicht, ob man objective Recht oder Unrecht hat; denn das k ann man selbst nicht sicher wissen: und es soll ja erst durch den Streit ausgemacht werden. Ü brigens muß man, bei jeder Disputation oder Argumentation überhaupt, über irgend etwas einverstanden sein, daraus man als einem Prinzip die vorliegende Frage beurteilen will: Contra negantem principia non est disputandum [Mit jemanden, der die Anfangssätze leugnet, ist nicht zu streiten] .
Kunstgriff I
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Die Erweiterung. Die Behauptung des Gegners über ihre natürliche Grenze hinausführen, sie möglichst all gemein deuten, in möglichst weitem Sinne nehmen und sie übertreiben; seine eigne dagegen in möglichst einge schränktem Sinne, in möglichst enge Grenzen zusam menziehn: weil je allgemeiner eine Behauptung wird, desto mehreren Angriffen sie bloß steht. Das Gegen mittel ist die genaue Aufstellung des puncti oder status controversiae [des Streitpunktes oder der Streitlage]. Exempel I. Ich sagte: »Die Engländer sind die erste Dramatische Nation.«- Der Gegner wollte eine instan tia versuchen und erwiderte: »Es wäre bek annt, daß sie in der Musik folglich auch in der Oper nichts leisten
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könnten. « - Ich trieb ihn ab, durch die Erinnerung »daß Musik nicht unter dem Dramatischen begriffen sei; dies bezeichne bloß Tragödie und Komödie«: was er sehr wohl wußte, und nur versuchte, meine Behaup tung so zu verallgemeinern, daß sie alle Theatralischen Darstellungen, folglich die Oper, folglich die Musik begriffe, um mich dann sicher zu schlagen. Man rette umgekehrt seine eigne Behauptung durch Verengerung derselben über die erste Absicht hinaus, wenn der gebrauchte Ausdruck es begünstigt. Exempel 2. A sagt: »Der Friede von I 8 I 4 gab sogar allen Deutschen Hansestädten ihre Unabhängigkeit wieder. «- B gibt die instantia in contrarium, daß Dan zig die ihm von Bonaparte verliehene Unabhängigkeit durch jenen Frieden verloren. - A rettet sich so : »Ich sagte allen Deutschen Hansestädten: Danzig war eine Polnische Hansestadt.« Diesen Kunstgriff lehrt schon Aristoteles Topik, VI II, I 2, I I . Exempel 3 . Lamarck (Philosophie zoologique [Paris I 8o9 ], Bd. I , S. 203) spricht den Polypen alle Emp findungen ab, weil sie keine Nerven haben. Nun aber ist es gewiß, daß sie wahrnehmen: denn sie gehn dem Lichte nach, indem sie sich künstlich von Zweig zu Zweig fortbewegen;- und sie haschen ihren Raub. Da her hat man angenommen, daß bei ihnen die Nerven masse in der Masse des ganzen Körpers gleichmäßig verbreitet, gleichsam verschmolzen ist: denn sie haben offenbar Wahrnehmungen ohne gesonderte Sinnesor gane. Weil das dem Lamarck seine Annahme umstößt, 39
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argumentiert er dialektisch so : »D an n müßten alle Teile des Körpers der Polypen jeder Art der Em pfi nd un g fähig sei n, und auch der Bewegung, des Wille ns , der Gedanken: Dann hätte der Polyp in jed em Punkt seines Körpers alle Organe des vollkommensten Tiere s: jeder Punkt k önnte seh n, rie ch en , sch me ck en , hören, usw. , ja de nk en , urteilen, sch lie ße n: jed e Partikel seines Kör pers wäre ein vollkommnes Tier, und der Polyp se lb st stände höher als der M en sch , da jed es Teilc he n von ihm alle Fä higkeiten hätte, die der Mensch nur im Ganzen ha t. - Es gäbe ferner keinen Gr un d, um was man vom Polypen behauptet, nicht auch auf di e Monade, das un vollkommenste aller Wese n, au sz ud eh ne n, und endlich auch auf die Pfl an ze n, die doch auch leb en , usw. « Durch Gebrauch so lch er Dialektischen Kuns tgriffe verrät ein Schriftsteller, daß er sich im Stillen bewußt ist , Unrecht zu ha be n. Weil man sag te: »ih r ganzer Leib hat Em pfi nd un g für das Li ch t, ist als o nervenart ig« : macht er daraus, daß der ganze Leib denkt.
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Omne Iumen potest extingui Intellectus est Iumen Intellectus potest extingui.
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Kunstgriff2 Die Homonymie benutzen, um die aufgestellte Be hauptung auch auf das auszudehnen, was außer dem gleichen Wort wenig oder nichts mit der in Rede ste henden Sache gemein hat, dies dann lukulent widerle gen, und so sich das Ansehn geben, als habe man die Behauptung widerlegt. Anmerkung. Synonyma sind zwei Worte für densel-
ben Begriff: - Homonyma zwei Begriffe, die durch dasselbe Wort bezeichnet werden. Siehe Aristoteles, To pik, I , I 3 . Tief, Schneidend, Hoch, bald von Körpern bald von Tönen gebraucht sind Homonyma . Ehrlich und Redlich Synonyma. Man kann diesen Kunstgriff als identisch mit dem Sophisma ex homonymia betrachten: jedoch das offen bare Sophisma der Homonymie wird nicht im Ernst täuschen.
[Alles Licht kann ausgelöscht werden, Der Verstand ist ein Licht, Der Verstand kann ausgelöscht werden .] Hier merkt man gleich, daß vier termini sind: Iumen eigentlich und Iumen bildlich verstanden. Aber bei fei nen Fällen täuscht es allerdings, namentlich wo die Begriffe, die durch denselben Ausdruck bezeichnet werden, verwandt sind und in einander übergehn . Exempel I • 1 1 A. Sie sind noch nicht eingeweiht in die Mysterien der Kantischen Philosophie.
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(Die absichtlich ersonnenen Fälle sind nie fein genug, um täuschend zu sein; man muß sie also aus der wirklichen eig nen Erfahrung sammeln. Es wäre sehr gut, wenn man jedem Kunstgriff einen kurzen und treffend bezeichnenden Namen geben könnte, mittels dessen man, vorkommenden Falls, den Gebrauch dieses oder jenes Kunstgriffs augenblicklich verwerfen könnte.) 4I
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B . Ach, wo Mysterien sind, davon will ich nichts wissen. (Exempel 2 . ] Ich tadelte das Prinzip der Ehre, nach welchem man durch eine erhaltene Beleidigung ehrlos wird, es sei denn, daß man sie durch eine größere Belei digung erwidere, oder durch Bl ut, das des Gegners oder sein eigenes, abwasche, als unverständig; als Grund führte ich an, die wahre Ehre könne nicht ver letzt werden durch das, was man litte, sondern ganz allein durch das, was man täte; denn widerfahren könne Jedem Jedes. - Der Gegner machte den direkten An griff auf den Grund: er zeigte mir lukulent, daß wenn einem Kaufmann Betrug oder Unrechtlichkeit, oder Nachlässigkeit in seinem Gewerbe fälschlich nachge sagt würde, dies ein Angriff auf seine Ehre sei, die hier verletzt würde, lediglich durch das, was er leide, und die er nur herstellen könne, indem er solchen Angreifer zur Strafe und Widerruf brächte. Hier schob er also, durch die Homonymie, die Bür gerliche Ehre, welche sonst Guter Name heißt und deren Verletzung durch Verleumdung geschieht, dem Begriff der ritterlichen Ehre unter, die sonst auch point d'honneur heißt und deren Verletzung durch Beleidi gungen geschieht. Und weil ein Angriff auf erstere nicht unbeachtet zu lassen ist, sondern durch öffent liche Widerlegung abgewehrt werden muß; so müßte mit demselben Recht ein Angriff auf letztere auch nicht unbeachtet bleiben, sondern abgewehrt [werden] durch stärkere Beleidigung und Duell. - Also ein Ver mengen zwei wesentlich verschiedener Dinge durch die •
Homonymie des Wortes Ehre: und dadurch eine muta tio controversiae (Verschiebung der Streitfrage], zu Wege gebracht durch die Homonymie.
Kunstgriff 3 Die Behauptung12 welche beziehungsweise, Kat
schluß von einer relativ auf eine schlechthin gemeinte Aus sageJ. Dies ist des Aristoteles zweiter elenchus sophisticus f:�co -cflc; AE�cco<; : - -co ärcA.&c;, Tl Jlll arcA.&<;, aA.A.a rcft Tl rcoü, il rco-c€, il rcp6<; tt A.€yccr3at [Sophistischer Gegenbeweis unabhängig
von der Diktion: daß man schlechthin, oder nicht schlecht hin, sondern mit Rücksicht auf das Irgendwie oder Irgendwo oder Irgendwann oder in bezug auf etwas redet], Sophistische Widerlegungen, 5 .
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schrieben oder wenigstens wären viele Stellen seiner Schriften solche, wo der Autor die Worte setzt, und der Leser den Sinn setzen soll. - Der Gegner unternahm nicht dies ad rern zu widerlegen, sondern begnügte sich, das argurnenturn ad horninern aufzustellen »ich hätte so eben die Quietisten gelobt, und diese hätten ebenfalls viel Unsinn geschrieben«. Ich gab dies zu, berichtigte ihn aber darin, daß ich die Quietisten nicht lobe als Philosophen und Schriftstel ler, also nicht wegen ihrer theoretischen Leistungen, sondern nur als Menschen, wegen ihres Tuns, bloß in praktischer Hinsicht: bei Hege! aber sei die Rede von theoretischen Leistungen. - So war der Angriff pariert. Die ersten drei Kunstgriffe sind verwandt: sie haben dies gemein, daß der Gegner eigentlich von etwas an derm redet als aufgestellt worden; man beginge also eine ignoratio elenchi [Unkenntnis des Gegenbewei ses], wenn man sich dadurch abfertigen ließe. - Denn in allen aufgestellten Beispielen ist was der Gegner sagt, wahr: es steht aber nicht in wirklichem Widerspruch mit der These, sondern nur in scheinbarem; also negiert der von ihm Angegriffene die Konsequenz seines Schlusses : nämlich den Schluß von der Wahrheit seines Satzes auf die Falschheit des unsrigen. Es ist also di rekte Widerlegung seiner Widerlegung per negationern consequentiae [durch Bestreitung der Schlußfolge rung] . Wahre Prämissen nicht zugeben, weil man die Kon sequenz vorhersieht. Dagegen also folgende zwei Mit tel, Regel 4 und 5 .
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Kunstgriff 4 Wenn man einen Schluß machen will, so lasse man den selben nicht vorhersehn, sondern lasse sich unvermerkt die Prämissen einzeln und zerstreut im Gespräch zuge ben, sonst wird der Gegner allerhand Schikanen versu chen; oder wenn zweifelhaft ist, daß der Gegner sie zugebe, so stelle man die Prämissen dieser Prämissen auf; mache Prosyllogismen; lasse sich die Prämissen meh rerer solcher Prosyllogismen ohne Ordnung durch einander zugeben, also verdecke sein Spiel, bis alles zugestanden ist, was man braucht. Führe also die Sache von Weitem herbei. Diese Regeln gibt Aristoteles, To pik, VIII, r . Bedarf keines Exempels .
Kunstgriff 5 13
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Man k ann zum Beweis seines Satzes auch falsche Vor dersätze gebrauchen, wenn nämlich der Gegner die wahren nicht zugeben würde, entweder weil er ihre Wahrheit nicht einsieht, oder weil er sieht, daß die Thesis sogleich daraus folgen würde: dann nehme man Sätze, die an sich falsch, aber ad horninern wahr sind, und argumentiere aus der Denkungsart des Gegners ex concessis. Denn das Wahre k ann auch aus falschen Prä missen folgen: wiewohl nie das Falsche aus wahren. I3
Gehört zum vorhergehenden.
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Eben so kann man falsche Sätze des Gegners durch andre falsche Sätze widerlegen, die er aber für wahr hält: denn man hat es mit ihm zu tun und muß seine Denkungsart gebrauchen. Z. B . ist er Anhänger irgend einer Sekte, der wir nicht beistimmen; so können wir gegen ihn die Aussprüche dieser Sekte, als principia, gebrauchen. Aristoteles, Topik, VIII, 9 ·
Kunstgriff 6 Man macht eine verstec kte petitio principii, indem man das, was man zu bew·eisen hätte, postuliert, entweder I . unter einem andern Namen, z . B . statt Ehre guter Name, statt Jungfrauschaft Tugend usw. , auch Wech selbegriffe: - rotblütige Tiere, statt Wirbeltiere, 2 . oder was im Einzelnen streitig ist, im Allgemeinen sich ge ben läßt, z. B . die Unsicherheit der Medizin behauptet, die Unsicherheit alles menschlichen Wissens postuliert: 3 . Wenn vice versa zwei auseinander folgen, das eine zu beweisen ist; man postuliert das andre: 4 · Wenn das Xligemeine zu beweisen und man jedes einzelne sich zugeben läßt. (Das umgek ehrte von Nr. 2. ) (Aristote les, Topik, VIII, I I . ) Ü ber die Übung zur Dialektik enthält gute Regeln das letzte Kapitel der Topica des Aristoteles.
Kunstgriff 7 Wenn die Disputation etwas streng und formell geführt wird und man sich recht deutlich verständigen will; so verfährt der, welcher die Behauptung aufgestellt hat und sie beweisen soll, gegen seinen Gegner fragend, um aus seinen eignen Zugeständnissen die Wahrheit der Behauptung zu schließen. Diese erotematische Me thode war besonders bei den Alten im Gebrauch (heißt auch Sokratische): au f dieselbe bezieht sich der gegen wärtige Kunstgriff und einige später folgende. (Sämt
lich frei bearbeitet nach des Aristotele� Liber de elenchis sophisticis, I 5 . ) Viel au f ein Mal und weitläuftig fragen, um das, was man eigentlich zugestanden haben will, zu verbergen. Dagegen seine Argumentation aus dem zugestandenen schne ll vortragen: denn die langsam von Verständnis sind, können nicht genau folgen und übersehn die et waigen Fehler oder Lücken in der Beweisführung.
Kunstgriff 8 Den Gegner zum Zorn reizen: denn im Zorn ist er au ßer Stand, richtig zu urteilen und seinen Vorteil wahr zunehmen. Man bringt ihn in Zorn dadurch, daß m.an unverhohlen ihm Unrecht tut und schikaniert und überhaupt unverschämt ist.
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Kunstgriff 9 Die Fragen nicht in der Ordnung tun, die der daraus zu ziehende Schluß erfordert, sondern in allerhand Verset zungen: er weiß dann nicht, wo man hinaus will, und kann nicht vorbauen; auch kann man dann seine Ant worten zu verschiedenen Schlüssen benutzen, sogar zu entgegengesetzten, je nachdem sie aus fallen. Dies ist dem Kunstgriff 4 verwandt, daß man sein Verfahren maskieren soll.
Kunstgriff I o Wenn man merkt, daß der Gegner die Fragen, deren Bejahung für unsern Satz zu brauchen wäre, absichtlich verneint, so muß man das Gegenteil des zu gebrau chenden Satzes fragen, als wollte man das bejaht wis sen, oder wenigstens ihm beides zur Wahl vorlegen, so daß er nicht merkt, welchen Satz man bejaht haben will.
Kunstgriff I I Machen wir eine Induktion und er gesteht uns die ein zelnen Fälle, durch die sie aufgestellt werden soll, zu; so müssen wir ihn nicht fragen, ob er auch die aus die sen Fällen hervorgehende allgemeine Wahrheit zugebe; sondern sie nachher als ausgemacht und zugestanden einführen: denn bisweilen wird er dann selbst glauben, sie zugegeben zu haben, und auch den Zuhörern wird
es so vorkommen, weil sie sich der vielen Fragen nach den einzelnen Fällen erinnern, die denn doch zum Zweck geführt haben müssen.
Kunstgriff I 2 Ist die Rede über einen allgemeinen Begriff, der keinen eignen Namen hat, sondern tropisch durch ein Gleich nis bezeichnet werden muß; so müssen wir das Gleich nis gleich so wählen, daß es unsrer Behauptung günstig ist. So sind z. B . in Spanien die Namen, dadurch die beiden Politischen Parteien bezeichnet werden, serviles und liberales gewiß von Ietztern gewählt. Der Name Protestanten ist von diesen gewählt, auch der Name Evangelische: der Name Ketzer aber von den Katholiken. Es gilt vom Namen der Sachen auch, wo sie mehr eigentlich sind: z. B . hat der Gegner irgend eine Verän derung vorgeschlagen, so nenne man sie »Neuerung«: denn dies Wort ist gehässig. Umgekehrt, wenn man selbst der Vorschläger ist. - Im erstern Fall nenne man als Gegensatz die »bestehende Ordnung«, im zweiten »den Bocksbeutel«. - Was ein ganz Absichtsloser und Unparteiischer etwa »Kultus« oder »öffentliche Glau benslehre« nennen würde, das nennt Einer, der für sie sprechen will, »Frömmigkeit«, »Gottseligkeit« und ein Gegner desselben »Bigottrie«, »Superstition«. Im Grunde ist dies eine feine petitio principii: was man erst dartun will, legt man zum voraus ins Wort, in die Be49
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nennung, aus welcher es dann durch ein bloß analyti sches Urteil hervorgeht. Was der Eine »sich seiner Person versichern«, »in Gewahrsam bringen« nennt, heißt sein Gegner »Einsperren« . - Ein Redner verrät oft schon zum voraus seine Absicht durch die Namen, die er den Sachen gibt. - Der Eine sagt »die Geistlichkeit« der Andre »die Pfaffen«. Unter allen Kunstgriffen wird dieser am häu fi gsten gebraucht, instinktmäßig. Glau benseifer = Fanatismus. - Fehltritt oder Galanterie = Ehebruch - Äquivoken = Zoten . - Derangiert = Ban kerott. - »Durch Einfluß und Konnexion« = »durch Bestechung und Nepotismus«. - »Aufrichtige Er kenntlichkeit« = »gute Bezahlung«. -
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Ein unverschämter Streich ist es, wenn man nach meh reren Fragen, die er beantwortet hat, ohne daß die Antworten zu Gunsten des Schlusses, den wir beab sichtigen, ausgefallen wären, nun den Schlußsatz, den man dadurch herbeiführen will, obgleich er gar nicht daraus folgt, dennoch als dadurch bewiesen aufstellt und triumphierend ausschreit. Wenn der Gegner schüchtern oder dumm ist, und man selbst viel Unver schämtheit und eine gute Stimme hat, so kann das recht gut gelingen. Gehört zur fallacia non causae ut causae [Täuschung durch Annahme des Nicht-Grundes als Grund] .
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Kunstgriff I 5 Um zu machen, daß er einen Satz annimmt, müssen wir das Gegenteil dazu geben und ihm die Wahl lassen, und dies Gegenteil recht grell aussprechen, so daß er, um nicht paradox zu sein, in unsern Satz eingehn muß, der ganz probabel dagegen aussieht. Z. B . Er soll zugeben, daß Einer Alles tun muß, was ihm sein Vater sagt; so fragen wir: »Soll man in allen Dingen den Eltern unge horsam oder gehorsam sein?« - Oder ist von irgend einer Sache gesagt »Üft«; so fragen wir, ob unter »Oft« wenige Fälle oder viel verstanden sind : er wird sagen »viele«. Es ist wie wenn man Grau neben Schwarz legt, so kann es weiß heißen; und legt man es neben Weiß, so kann es schwarz heißen.
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Wenn wir einen paradoxen Satz aufgestellt haben, um dessen Beweis wir verlegen sind; so legen wir dem Geg ner irgend einen richtigen, aber doch nicht ganz hand greiflichen richtigen Satz zur Annahme oder Verwer fung vor, als wollten wir daraus den Beweis schöpfen: verwirft er ihn aus Argwohn, so führen wir ihn ad ab surdum und triumphieren; nimmt er ihn aber an, - so haben wir vor der Hand etwas vernünftiges gesagt, und müssen nun weiter sehn. Oder wir fügen nun den vor hergehenden Kunstgriff hinzu und behaupten nun, daraus sei unser Paradoxon bewiesen . Hiezu gehört die äußerste Unverschämtheit : aber es kommt in der Er-
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fahrung vor; und es gibt Leute die dies alles instinktmäßig ausüben.
Kunstgriff 16 Argumenta ad hominem oder ex concessis. Bei einer Be hauptung des Gegners müssen wir suchen, ob sie nicht etwa irgendwie, nötigenfall s auch nur scheinbar, im Widerspruch steht mit irgend etwas, das er früher ge sagt oder zugegeben hat, oder mit den Satzungen einer Schule oder Sekte, die er gelobt und gebilligt hat, oder mit dem Tun der Anhänger dieser Sekte, oder auch nur der unechten und scheinbaren Anhänger, oder mit sei nem eignen Tun und Lassen. Verteidigt er z . B . den Selbstmord, so schreit man gleich »Warum hängst du dich nicht auf ?« Oder er behauptet z. B . , Berlin sei ein unangenehmer Aufenthalt: gleich schreit man: »warum fährst du nicht gleich mit der ersten Schnellpost ab?« Es wird sich doch irgendwie eine Schikane heraus klauben l assen.
Kunstgriff 17 Wenn der Gegner uns durch einen Gegenbeweis be drängt, so werden wir uns oft retten können durch eine feine Unterscheidung, an die wir früher freilich nicht gedacht haben, wenn die Sache irgend eine doppelte Bedeutung oder einen doppelten Fall zuläßt.
Kunstgriff 1 8 Merken wir, daß der Gegner eine Argumentation er griffen hat, mit der er uns schlagen wird; so müssen wir es nicht dahin kommen lassen, ihn solche nicht zu Ende führen zu lassen, sondern beizeiten den Gang der Dis putation unterbrechen, abspringen oder ablenken, und auf andre Sätze führen: kurz eine mutatio controver siae [Verschiebung der Streitfrage] zu Wege bringen. (Hierzu Kunstgriff 29.)
Kunstgriff 19 Fordert der Gegner uns ausdrücklich au f, gegen irgend einen bestimmten Punkt seiner Behauptung etwas vor, zubringen; wir haben aber nichts rechtes; so müssen wir die Sache recht ins Allgemeine spielen und dann gegen dieses reden. Wir sollen sagen, warum einer be stimmten physikalischen Hypothese nicht zu trauen ist: so reden wir über die Trüglichkeit des menschlichen Wissens und erläutern sie an allerhand.
Kunstgriff 20 Wenn wir ihm die Vordersätze abgefragt haben und er sie zugegeben hat, müssen wir den Schluß daraus, nicht etwa auch noch fragen, sondern gradezu selbst ziehn: ja sogar wenn von den Vordersätzen noch einer oder der 53
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andre fehlt, so nehmen wir ihn doch als gleichfalls ein geräumt an und ziehn den Schluß. Welches dann eine Anwendung der fallacia non causae ut causae [Täu schung durch Annahme des Nicht-Grundes als Grund] 1St.
identisch ansehn: und so entziehn wir ihm sein bestes Argument.
Kunstgriff 23
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Der Widerspruch und der Streit reizt zur Übertreibung der Behauptung. Wir können also den Gegner durch Widerspruch reizen, eine an sich und in gehöriger Ein schrän kung allenfalls wahre Behauptung über die Wahrheit hinaus zu steigern: und wenn wir nun diese Übertreibung widerlegt haben, so sieht es aus, als hät ten wir auch seinen ursprünglichen Satz widerlegt. Da gegen haben wir selbst uns zu hüten, nicht uns durch Widerspruch zur Übertreibung oder weitern Ausdeh nung unsers Satzes verleiten zu lassen. Oft auch wird der Gegner selbst unmittelbar suchen, unsre Behaup tung weiter auszudehnen, als wir sie geste llt haben: dem müssen wir dann gleich Einhalt tun, und ihn auf die Grenzlinie unsrer Behauptung zurückführen mit »SO viel habe ich gesagt und nicht mehr«.
Kunstgriff 2 1 Bei einem bloß scheinbaren oder sophistischen Argu ment des Gegners, welches wir durchschauen, können wir zwar es auflösen durch Auseinandersetzung seiner Verfänglichkeit und Scheinbark eit; allein besser ist es, ihm mit einem eben so scheinbaren und sophistischen Gegenargument zu begegnen und so abzufertigen. Denn es kommt ja nicht auf die Wahrheit, sondern den Sieg an . Gibt er z . B . ein argurnenturn ad horninern, so ist es hinreichend, es durch ein Gegenargument ad ho rninern (ex concessis) zu entk räftigen: und überhaupt ist es kürzer, statt einer langen Auseinandersetzung der wahren Beschaffenheit der Sache, ein argurnenturn ad horninern zu geben, wenn es sich darbietet. I
Kunstgriff 24 Kunstgriff 22 Fordert er, daß wir etwas zugeben, daraus das in Streit stehende Problem unmittelbar folgen würde; so lehnen wir es ab, indem wir es für eine petitio principii ausge ben; denn er und die Zuhörer werden einen dem Pro blem nahe verwandten Satz leicht als mit dem Problem
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Die Konsequenzmacherei. Man erzwingt aus dem Satze des Gegners durch falsche Folgerungen und Ver-· drehung der Begriffe Sätze, die nicht darin liegen und gar nicht die Meinung des Gegners sind, hingegen ab surd oder gefährlich sind: da es nun scheint, daß aus seinem Satze solche Sätze, die entweder sich selbst oder 55
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anerkannten Wahrheiten widersprechen, hervorgehn; so gilt dies für eine indirekte Widerlegung, apagoge: und ist wieder eine Anwendung der fallacia non causae ut causae [Täuschung durch Annahme des Nicht Grundes als Grund] .
Kunstgriff2 5 Er betrifft die Apagoge durch eine Instanz, exemplum in contrarium. Die en:ayroy11, inductio bedarf einer gro ßen Menge Fälle, um ihren allgemeinen Satz aufzustel len; die an:ayroyi) braucht nur einen einzigen Fall aufzustellen, zu dem der Satz nicht paßt, und er ist umgeworfen: ein solcher Fall heißt Instanz, f:vcr'!acrt<;, exemplum in contrarium, instantia [Gegenbeispiel] . Z. B . der Satz: »alle Wiederkäuer sind gehörnt« wird umgestoßen durch die einzige Instanz der Kamele. Die Instanz ist ein Fall der Anwendung der allgemeinen Wahrheit, etwas unter den Hauptbegriff derselben zu subsumierendes, davon aber jene Wahrheit nicht gilt, trnd dadurch ganz umgestoßen wird. Allein dabei kön nen Täuschungen vorgehn; wir haben also bei Instan zen, die der Gegner macht, folgendes zu beachten: I . ob das Beispiel auch wirklich wahr ist; es gibt Pro bleme, deren einzig wahre Lö-s ung die ist, daß der Fall nicht wahr ist: z. B . viele Wunder, Geistergeschichten usw. ; 2 . ob es auch wirklich unter den Begriff der auf gestellten Wahrheit gehört: das ist oft nur scheinbar und durch eine scharfe Distinktion zu lösen; 3 . ob es auch
wirklich in Widerspruch steht mit der aufgestellten Wahrheit: auch dies ist oft nur scheinbar.
Kunstgriff 2 6 Ein brillianter Streich ist die retorsio argumenti [Rück wendung des Arguments] : wenn das Argument, das er für sich gebrauchen will, besser gegen ihn gebraucht werden kann; z. B . er sagt: »es ist ein Kind, man muß ihm was zu gute halten« : retorsio »eben weil es ein Kind ist, muß man es züchtigen, damit es nicht verhärte in seinen bösen Angewohnheiten«.
Kunstgriff2 7 Wird bei einem Argument der Gegner unerwartet böse, so muß man dieses Argument eifrig urgieren: nicht bloß weil es gut ist, ihn in Zorn zu versetzen, sondern weil zu vermuten ist, daß man die schwache Seite seines Gedankenganges berührt hat und ihm an dieser Stelle wohl noch mehr anzuhaben ist, als man vor der Hand selber sieht.
Kunstgriff2 8 Dieser ist hauptsächlich anwendbar, wenn Gelehrte vor ungelehrten Zuhörern streiten. Wenn man kein argu rnenturn ad rem hat und auch nicht einmal eines ad 57
hominem, so macht man eines ad auditores [an die Zu hörer] , d . h . einen ungültigen Einwurf, dessen Ungül tigkeit aber nur der Sachkundige einsieht; ein solcher ist der Gegner, aber die Hörer nicht: er wird also in ihren Augen geschlagen, zumal wenn der Einwurf seine Behauptung irgendwie in ein lächerliches Licht stellt: zum Lachen sind die Leute gleich bereit; und man hat die Lacher auf seiner Seite. Die Nichtigkeit des Ein wurfs zu zeigen, müßte der Gegner eine lange Ausein andersetzung machen und auf die Prinzipien der Wis senschaft oder sonstige Angelegenheit zurückgehn: dazu findet er nicht leicht Gehör. Exempel. Der Gegner sagt: bei der Bildung des Ur gebirgs, war die Masse, aus welcher der Granit und alles übrige Urgebirg krystallisierte fl üssig durch ° Wärme, also geschmolzen: die Wärme mußte etwa 200 R sein: die Masse kristallisierte unter der sie bedecken den Meeresfläche. - Wir machen das argurnenturn ad auditores, daß bei jener Temperatur, ja schon lange vor her bei 8o0 , das Meer längst verkocht wäre und in der Luft schwebte als Dunst. - Die Zuhörer lachen. Um lllis zu schlagen, hätte er zu zeigen, daß der Siedepunkt nicht allein von dem Wärmegrad, sondern eben so sehr vom Druck der Atmosphäre abhängt: und dieser, so bald etwa das halbe Meereswasser in Dunstgestalt schwebt, sosehr erhöht ist, daß auch bei 2oo0 R noch kein Kochen stattfindet. - Aber dazu kommt er nicht, da es bei Nichtphysikern einer Abhandlung bedarf . -
Kunstgriff 2 9
I
Merkt man, daß man geschlagen wird, so macht man eine Diversion: d. h. fängt mit einem Male von etwas ganz anderm an, als gehörte es zur Sache und wäre ein Argument gegen den Gegner. Dies geschieht mit einiger Bescheidenheit, wenn die Diversion doch noch überhaupt das thema quaestionis [den Gegenstand des Streites] betrifft; unverschämt, wenn es bloß den Geg ner angeht und gar nicht von der Sache redet. Z. B . Ich lobte, daß in China kein Geburtsadel sei und die Ä mter nur in Folge von examina erteilt werden. Mein Gegner behauptete, daß Gelehrsamkeit eben so wenig als Vorzüge der Geburt (von denen er etwas hielt) zu Ämtern fähig machte. - Nun ging es für ihn schie f. Sogleich machte er die Diversion, daß in China alle Stände mit der Bastonade gestraft werden, welches er mit dem vielen Teetrinken in Verbindung brachte und beides den Chinesen zum Vorwurf machte. - Wer nun gleich auf alles sich einließe, ·würde sich dadurch haben ableiten lassen und den schon errungenen Sieg aus den Händen gelassen haben. Unverschämt ist die Diversion, wenn sie die Sache quaestionis ganz und gar verläßt, und etwa anhebt: »ja, und so behaupteten Sie neulich ebenfalls etc.« Denn da gehört sie gewissermaßen zum »Persönlichwerden«, davon in dem letzten Kunstgriff die Rede sein wird. Sie ist genau genommen eine Mittelstu fe zwischen dem da selbst zu erörternden argurnenturn ad personam und dem argurnenturn ad hominem. 59
I
Wie sehr gleichsam angeboren dieser Kunstgriff sei, zeigt jeder Zank zwischen gemeinen Leuten: wenn nämlich Einer dem Andern persönliche Vorwürfe macht, so antwortet dieser nicht etwa durch Widerle gung derselben, sondern durch persönliche Vorwürfe, die er dem Ersten macht, die ihm selbst gemachten stehn lassend, also gleichsam zugebend. Er macht es wie Scipio, der die Karthager nicht in Italien, sondern in Afrika angriff. Im Kriege mag solche Diversion zu Zeiten taugen. Im Zanken ist sie schlecht, weil man die empfangnen Vorwürfe stehn läßt, und der Zuhörer al les Schlechte von beiden Parteien erfährt. Im Disputie ren ist sie faute de rnieux gebräuchlich .
Kunstgriff3 o Das argurnenturn ad verecundiarn [an die Ehrfurcht gerichtetes Argument] . Statt der Gründe brauche man Autoritäten nach Maßgabe der Kenntnisse des Geg ners .
Unusquisque rnavult credere quarn judicare [Jed er will li�b er glauben als urteilen] : sagt Seneca [De vita beata, I , 4]; man hat also leichtes Spiel, wenn man eine Autorität für sich hat, die der Gegner respektiert. Es wird aber für ihn desto meh r gültige Autoritäten geb en, je beschränkter sein e Kenntnisse und Fäh igkeiten sind . Sind etwa dies e vom ersten Rang, so wird es höc hst wenige und fast gar kein e Autoritäten für ihn geb en. Allenfalls wird er die der Leute vom Fach in eine r ihm 6o
wenig oder gar nicht bekannten Wissenschaft, Kunst, oder Handwerk gelten lassen: und auch diese mit Miß trauen. Hingegen haben die gewöhnlichen Leute tiefen Respekt für die Leute vom Fach jeder Art. Sie wissen nicht, daß wer Profession von der Sache macht, nicht die Sache liebt, sondern seinen Erwerb: - noch daß wer eine Sache lehrt, sie selten gründlich weiß, denn wer sie gründlich studiert, dem bleibt meistens keine Zeit zum Lehren übrig. Allein für das Vulgus gibt es gar viele Autoritäten die Respekt finden: hat man daher keine ganz passende, so nehme man eine scheinbar passende, führe an, was Einer in einem andern Sinn, oder in an dern Verhältnissen gesagt hat. Autoritäten, die der Gegner gar nicht versteht, wirken meistens am mei sten. Ungelehrte haben einen eignen Respekt vor grie chischen und lateinischen Floskeln. Auch kann man die Autoritäten nötigenfalls nicht bloß verdrehen, sondern gradezu verfälschen, oder gar welche anführen, die ganz aus eigner Erfindung sind: meistens hat er das Buch nicht zur Hand und weiß es auch nicht zu hand haben. Das schönste Beispiel hiezu gibt der Französi sche Cure, der, um nicht, wie die andern Bürger mußten, die Straße vor seinem Hause zu pflastern, ei nen Biblischen Spruch anführte: paveant illi, ego non pavebo [mögen jene beben, ich werde nicht beben]. 14 Das überzeugte die Gemeinde-Vorsteher. Auch sind ·
14
[Das Wortspiel beruht auf der Gleichsetzung der Bedeutung von paveant und pavebo mit der des französischen Verbs pa ver, pflastern. ] 6r
allgemeine Vorurteile als Autoritäten zu gebrauchen. Denn die meisten denken mit Aristoteles ä �c:v noA.A.oi<; ÖoKc:i -catYra yc: c:tvat <pa�ev [was vielen richtig scheint, das - sagen wir - ist; Nikomachische Ethik, X, 2 , I I 7 2 b 36]: ja, es gibt keine noch so absurde Meinung, die die Menschen nicht leicht zu der ihrigen machten, sobald man es dahin gebracht hat, sie zu überreden, daß solche allgemein angenommen sei. Das Beispiel wirkt auf ihr Denken, wie auf ihr Tun. Sie sind Schafe, die dem Leithammel nachgehn, wohin er auch führt: es ist ihnen leichter zu sterben als zu denken. Es ist sehr seltsam, daß die Allgemeinheit einer Meinung so viel Gewicht bei ihnen hat, da sie doch an sich selbst sehn können, wie ganz ohne Urteil und bloß k raft des Beispiels man Meinungen annimmt. Aber das sehn sie nicht, weil alle Selbstkenntnis ihnen abgeht. - Nur die Auserlesenen sagen mit Plato -coi<; noA.A.oi<; noA.A.a ÖoKc:i [die Vielen haben viele Ansichten; Der Staat, IX, 5 76 c], d. h . das Vulgus hat viele Flausen im Kopfe, und wollte man sich daran kehren, hätte man viel zu tun. Die Allgemeinheit einer Meinung ist, im Erns t gere det, kein Bew eis, ja nicht einmal ein Wah rscheinlich keitsgrund ihre r Richtigkeit. Die, welche es behaup ten, müss en annehmen I . daß die Entfernung in der Zeit jener Allgemeinheit ihre Beweisk raft raubt: sonst müßten sie alle alten Irrtümer zurückrufen, die einmal allgemein für Wahrheiten galte n: z. B . das Ptolemäische System, oder in allen protestantischen Länder den Ka tholizism us hers telle n; 2 . daß die Entfernung im Raum 62
dasselbe leistet: sonst wird sie die Allgemeinheit der Meinung in den Bekennern des Buddhaismus, des Christentums, und des Islams in Verlegenheit setzen. (Nach Bentham, Tactique des assemblees legislatives [Genf-Paris I 8 I 6], Bd. 11, S. 76.) Was 1nan so die allgemeine Meinung nennt, ist, beim Lichte betrachtet, die Meinung Zweier oder Dreier Personen ; und davon würde n wir uns überz eugen , wenn wir der Entstehungsart so einer allgemeingültigen Mei nung zusehn könnten. Wir würden dann finden, daß Zwei oder Drei Leute es sind, die solche zuerst annah men oder aufstellten und behaupteten, und denen man so gütig war zuzut rauen , daß sie solche recht gründlich geprüft hätten : auf das Vorurteil der hinlänglichen Fä higkeit dieser nahmen zuerst einige Andre die Meinung ebenfalls an; diesen wiederum glaubten Viele andre, de ren Trägheit ihnen anriet, lieber gleich zu glauben, als erst mühsa m zu prüfen . So wuchs von Tag zu Tag die Zahl solche r trägen und leichtgläubigen Anhän ger: denn hatte die Meinung erst eine gute Anzahl Stimmen für sich, so schrieb en die Folgenden dies dem zu, daß sie solche nur durch die Triftigk eit ihrer Gründ e hätte erlangen können . Die noch Übrigen waren jetzt genö tigt gelten zu lassen, was allgemein galt, um nicht für unruhige Köpfe zu gelten, die sich gegen allgemeingül tige Meinungen auflehnten, und naseweise Bursc he, die klüger sein wollten als alle Welt. Jetzt wurde die Bei stimmung zur Pflicht. Nunmehr müssen die Wenigen, welche zu urteilen fähig sind, schweigen: und die da reden dürfen, sind solche , welche völlig unfähig eigne •
Meinungen und eignes Urteil zu haben, das bloße Echo fremder Meinung sind; jedoch sind sie desto eifrigere und unduldsamere Verteidiger derselben. Denn sie has sen am Andersden k enden nicht sowohl die andre Mei nung, zu der er sich bekennt, als die Vermessenheit, selbst urteilen zu wollen; was sie ja doch selbst nie un ternehmen und im Stillen sich dessen bewußt sind. Kurzum, Denken können sehr Wenige, aber Meinun gen wollen Alle haben: was bleibt da anderes übrig, als daß sie solche, statt sie sich selber zu machen, ganz fertig von Andern aufnehmen ? - Da es so zugeht, was gilt noch die Stimme von hundert Millionen Men schen? - So viel wie etwa ein historisches Faktum, das man in hundert Geschichtsschreibern findet, dann aber nachweist, daß sie alle einer den andern ausgeschrieben haben, wodurch zuletzt alles auf die Aussage eines Ein zigen zurückläuft . (Nach Bayle, Pensees sur les Come tes [4 . Aufl . , 1 704] , Bd. I, S. ro.)
wöhnliche Köpfe mit einander streiten, meistens die gemeinsam von ihnen erwählte Waffe Autoritäten sind: damit schlagen sie aufeinander los. - Hat der bessere Kopf mit einem solchen zu tun, so ist das Rätlichste, daß er sich auch zu dieser Waffe bequeme, sie auslesend 11:ach Ma11gabe der Blößen seines Gegners. Denn gegen die Waffe der Gründe ist dieser, ex hypothesi, ein ge hörnter Siegfried, eingetaucht in die Flut der Unfähig keit zu den ken und zu urteilen. Vor Gericht wird eigentlich nur mit Autoritäten ge stritten, die Autorität der Gesetze, die fest steht: das Geschäft der Urteils kraft ist das Auffinden des Geset zes, d. h. der Autorität, die im gegebenen Fall Anwen dung findet. Die Diale ktik hat aber Spielraum genug, indem, erforderlichen Falls, der Fall und ein Gesetz, die nicht eigentlich zu einander passen, gedreht wer den, bis man sie für zu einander passend ansieht: auch umgekehrt.
»Dico ego, tu dicis, sed denique dixit et ille: Dictaque post toties, nil nisi dicta vides.
Kunstgriff 3 1
«
[» Ich sag' es, du auch sagst es, aber schließlich sagt es -a.uch jener: I Hat man so oft es gesagt, bleibt nur noch Sage zu sehn. «] ts Nichtsdestoweniger kann man im Stteit mit gewöhn lichen Leuten die allgemeine Meinung als Autorität gebrauchen. Überhaupt wird man finden, daß wenn zwei geI5
[Motto auf dem Nebentitelblatt des polemischen Teils von Goethes Farbenlehre. ]
Wo man gegen die dargelegten Gründe des Gegners nichts vorzubringen weiß, erkläre man sich mit feiner Ironie für in kompetent: »Was Sie da sagen, übersteigt meine schwache Fassungskraft : es mag sehr richtig sein; allein ich kann es nicht verstehn, und begebe mich alles Urteils . « - Dadurch insinuiert man den Zuhörern, bei denen man in Ansehn steht, daß es Unsinn ist. So er klärten beim Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft oder vielmehr beim Anfang ihres erregten Aufsehns
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viele Professoren von der alten eklektischen Schule »wir verstehn das nicht«, und glaubten sie dadurch ab getan zu haben . - Als aber einige Anhänger der neuen Schule ihnen zeigten, daß sie Recht hätten und es wirk lich nur nicht verständen, wurden sie sehr übler Laune. Man darf den Kunstgriff nur da brauchen, wo man sicher ist, bei den Zuhörern in entschieden höherm An sehn zu stehn als der Gegner: z. B . ein Professor gegen einen Studenten. Eigentlich gehört dies zun1 vorigen Kunstgriff und ist ein Geltendmachen der eignen Auto ritiit, statt der Gründe, auf besonders maliziöse Weise. - Der Gegenstreich ist: »Erlauben Sie, bei Ihrer großen Penetration, muß es Ihnen ein leichtes sein, es zu verstehn, und k ann nur meine schlechte Darstellung Schuld sein«, - und nun ihm die Sache so ins Maul schmieren, daß er sie nolens volens [ob er will oder nicht] verstehn muß und klar wird, daß er sie vorhin wirklich nur nicht verstand . - So ist's retorquiert: er woll te uns »Unsinn« insinuieren; wir haben ihm »Un verstand« bewiesen. Beides mit schönster Höflich keit. I
Kunstgriff3 2 Eine uns entgegenstehende Behauptung des Gegners k önnen wir auf eine kurze Weise dadurch beseitigen oder wenigstens verdächtig machen, daß wir sie unter eine verhaßte Kategorie bringen, wenn sie auch nur 66
durch eine Ä hnlichkeit oder sonst lose mit ihr zusam menhängt: z. B . »das ist Manichäismus, das ist Arianis mus; das ist Pelagianismus; das ist Idealismus; das ist Spinozismus; das ist Pantheismus; das ist Brownianis mus; das ist Naturalismus; das ist Atheismus; das ist }\ationalismus; das ist Spiritualismus; das ist Mystizis mus; usw. « - Wir nehmen dabei zweierlei an: I . daß jene Behauptung wirklich identisch oder wenigstens enthalten sei in jener Kategorie, rufen also aus: oh, das kennen wir schon ! - und 2. daß diese Kategorie schon ganz widerlegt sei und kein wahres Wort enthalten könne.
Kunstgriff 33 »Das mag in der Theorie richtig sein; in der Praxis ist es falsch. « - Durch dieses Sophisma gibt man die Gründe zu und leugnet doch die Folgen; im Widerspruch mit der Regel a ratione ad rationatum valet consequentia [vom Grund auf die Folge ist die Schlußfolgerung zwingend] . - Jene Behauptung setzt eine Unmöglich keit: was in der Theorie richtig ist, muß auch in der Praxis zutreffen; trifft es nicht zu, so liegt ein Fehler in der Theorie, irgend etwas ist übersehn und nicht in Anschlag gebracht worden, folglich ist' s auch in der Theorie falsch.
Kunstgriff 3 4 Wenn der Gegner auf eine Frage oder Argument keine direkte Antwort oder Bescheid gibt, sondern durch eine Gegenfrage, oder eine indirekte Antwort, oder gar etwas nicht zur Sache Gehöriges ausweicht und wo an ders hinwill, so ist dies ein sicheres Zeichen, daß wir (bisweilen ohne es zu wissen) auf einen faulen Fleck getroffen haben: es ist ein relatives Verstummen seiner seits. Der von uns angeregte Punk t ist also zu urgieren und der Gegner nicht vom Fleck zu lassen; selbst dann, wann wir noch nicht sehn, worin eigentlich die Schwä che besteht, die wir hier getroffen haben.
Kunstgriff 3 5 Der sobald er praktikabel ist, alle übr igen entbehrlich mac ht: statt durch Gründe auf den Inte llek t, wirke man durch Motive auf den Wil len, und der Gegner, wie auch die Zuhörer, wenn sie gleiches Inte ress e mit ihm hab en, sittd sog leic h für unsre Meinung gewonnen, und wäre dies e aus dem Tollhause geb org t: denn meistens wiegt ein Lot Wille meh r als ein Zentner Ein sich t und Ü ber zeu gun g. Freilich geht dies nur unter bes ond ern Um ständen an. Kann man dem Geg ner fühlbar mac hen , daß sein e Me inu ng, wenn sie gültig wü rde , seinem In teresse merklichen Abbruch täte, so wird er sie so sch nel l fahren lass en, wie ein heißes Eis en, das er un vorsichtigerweise ergriffen hatte. Z. B . ein Geistlicher 68
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verteidigt ein philosophisches Dogma: man gebe ihm zu vermerken, daß es mittelbar mit einem Grund dogma seiner Kirche in Widerspruch steht, und er wird es fahren lassen. Ein Gutsbesitzer behauptet die Vortrefflichkeit des Maschinenwesens in England, wo eine Damp fma schine vieler Menschen Arbeit tut: man gebe ihm zu verstehn, daß bald auch die Wagen durch Damp fma schinen gezogen werden, wo denn die Pferde seiner zahlreichen Stuterei sehr im Preise sinken müssen; und man wird sehn . In solchen Fällen ist das Gefühl eines Jeden in der Regel: »quam temere in nosmet le gem sancimus iniquam. [Wie leichtsinnig stellen wir ein Gesetz auf, das gegen uns selbst spricht; Horaz, Saturae, I, 3 , 6 7.] Eben so, wenn die Zuhörer mit uns zu einer Sekte, Gilde, Gewerbe, Klub usw. gehören, der Gegner aber nicht. Seine These sei noch so richtig; sobald wir nur andeuten, daß solche dem gemeinsamen Interesse be sagter Gilde usw. zuwiderläu ft, so werden alle Zuhörer die Argumente des Gegners, seien sie auch vortrefflich, schwach und erbärmlich, unsre dagegen, und wären sie aus der Luft gegriffen, richtig und treffend finden, der Chor wird laut für uns sich vernehmen lassen, und der Gegner wird beschämt das Feld räumen. Ja die Zuhörer werden meistens glauben aus reiner Überzeugung ge stimmt zu haben. Denn was uns unvorteilhaft ist, er scheint meistens dem Intellekt absurd. Intellectus lu «
minis sicci non est recipit infusionem a voluntate et affectibus [Der Verstand ist kein Licht, das trocken,
ohne Öl, brennt, sondern er empfängt Zufluß vom Wil len und von den Leidenschaften; Bacon, Novum Orga non, I , 49] . Dieser Kunstgriff k önnte so bezeichnet werden »den Baum bei der Wurzel anfassen«: gewöhn lich heißt er das argurnenturn ab utili [Nützlichkeitsar gument] .
Kunstgriff 3 6 Den Gegner durch sinnlosen Wortschwall verdutzen, verblüffen. Es beruht darauf, daß »Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört, Es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.« [Goethe, Faust, I , 2 5 6 5 -66]. Wenn er nun sich seiner eignen Schwäche im Stillen bewußt ist, wenn er gewohnt ist, mancherlei zu hören, was er nicht versteht, und doch dabei zu tun, als ver stände er es; so kann man ihm dadurch imponieren, daß man ihm einen gelehrt oder tiefsinnig klingenden Un slhn, bei dem ihm Hören, Sehn und Denken vergeht, mit ernsthafter Miene vorschwatzt, und solches für den unbestreitbarsten Beweis seiner eignen Thesis ausgibt. Bek anntlich haben in neuern Zeiten, selbst dem ganzen Deutschen Publikum gegenüber, einige Philosophen diesen Kunstgriff mit dem brilliantesten Erfolg ange wandt. Weil aber exempla odiosa sind, wollen wir ein älteres Beispiel nehmen aus Goldsmith, Vicar of Wakefield, Kap. 7·
Kunstgriff 3 7 (der einer der ersten sein sollte). Wenn der Gegner auch in der Sache Recht hat, allein glücklicherweise für sel bige einen schlechten Beweis wählt, so gelingt es uns l�icht diesen Beweis zu widerlegen, und nun geben wir dies für eine Widerlegung der Sache aus . Im Grunde läuft dies darauf zurück, daß wir ein argurnenturn ad hominern für eines ad rem ausgeben. Fällt ihm oder den Umstehenden kein richtigerer Beweis bei, so haben wir gesiegt. - Z. B. wenn Einer für das Dasein Gottes den ontologischen Beweis aufstellt, der sehr wohl wider legbar ist. Dies ist der Weg, auf welchem schlechte Advo katen eine gute Sache verlieren: [sie] wollen sie durch ein Gesetz rechtfertigen, das darauf nicht paßt, und das passende fällt ihnen nicht ein.
Letzter Kunstgriff Wenn man merkt, daß der Gegner überlegen ist und man Unrecht behalten wird, so werde man persön lich, beleidigend, grob. Das Persönlichwerden besteht darin, daß man von dem Gegenstand des Streites (weil man da verlornes Spiel hat) abgeht auf den Streitenden und seine Person irgend wie angreift: man könnte es nennen argurnenturn ad personarn, zum Unterschied vom argurnenturn ad hominem : dieses geht vom rein objektiven Gegenstand ab, um sich an das zu halten, was der Gegner darüber gesagt oder zugegeben hat.
Beim Persönlichwerden aber verläßt man den Gegen stand ganz, und richtet seinen Angriff au f die Person des Gegners: man wird also k ränkend, hämisch, belei digend, grob. Es ist eine Appellation von den Kräften des Geistes an die des Leibes, oder an die Tierheit. Diese Regel ist sehr beliebt, weilJeder zur Ausführung tauglich ist, und wird daher häu fi g angewandt. Nun frägt sich , welche Gegenregel hiebei für den andern Teil gilt. Denn will er dieselbe gebrauchen, so wirds eine Prügelei oder ein Duell oder ein Injurienprozeß . Man würde sich sehr irren, wenn man meint, es sei hinreichend, selbst nicht persönlich zu werden. Denn dadurch, daß man Einem ganz gelassen zeigt, daß er Unrecht hat und also falsch urteilt und denkt, was bei jedem dialektischen Sieg der Fall ist, erbittert man ihn mehr als durch einen groben, beleidigenden Aus druck. Warum? Weil wie Hobbes de Cive, Kap. I , sagt:
Omnis animi voluptas, omnisque alacritas in eo sita est, quod quis habeat, quibuscum conferens se, possit mag nifice sentire de seipso [Alle Herzensfreude und alle Heiterkeit beruht darau f, daß man Menschen habe, irrf Vergleich zu welchen man hoch von sich denken kann] . - Dem Menschen geht nichts über die Befriedi gung seiner Eitelkeit und keine Wunde schmerzt mehr als die, die dieser geschlagen wird. (Daraus stammen Redensarten wie »die Ehre gilt mehr als das Leben« usw.) Diese Befriedigung der Eitelkeit entsteht haupt sächlich aus der Vergleichung Seiner mit Andern, in jeder Beziehung, aber hauptsächlich in Beziehung au f die Geisteskräfte. Diese eben geschieht effective und
sehr stark beim Disputieren. Daher die Erbitterung des Besiegten, ohne daß ihm Unrecht widerfahren, und da her sein Greifen zum letzten Mittel, diesem letzten Kunstgriff: dem man nicht entgehen kann durch bloße Höflichkeit seinerseits. Große Kaltblütigkeit kann je doch auch hier aushelfen, wenn man nämlich, sobald der Gegner persönlich wird, ruhig antwortet, das gehöre nicht zur Sache, und sogleich au f diese zurüc k lehnt und fortfährt, ihm hier sein Unrecht zu beweisen, ohne seiner Beleidigungen zu achten, also gleichsam wie Themistokles zum Eurybiades sagt: ncita�ov J.!EV, äKoucrov öe [Schlage mich, aber höre mich!]. Das ist aber nicht Jedem gegeben. Die einzig sichere Gegenregel ist daher die, welche schon Aristoteles im letzten Kapitel der Topica gibt: Nicht mit dem Ersten dem Besten zu disputieren; son dern allein mit solchen, die man kennt, und von denen man weiß, daß sie Verstand genug haben, nicht gar zu Absurdes vorzubringen und dadurch beschämt werden zu müssen; und um mit Gründen zu disputieren und nicht mit Machtsprüchen, und um auf Gründe zu hö ren und darau f einzugehn; und endlich, daß sie die Wahrheit schätzen, gute Gründe gern hören, auch aus dem Munde des Gegners, und Billigkeit genug haben, um es ertragen zu können, Unrecht zu behalten, wenn die Wahrheit au f der andern Seite liegt. Daraus folgt, daß unter Hundert kaum Einer ist, der wert ist, daß man mit ihm disputiert. Die Übrigen lasse man reden, was sie wollen, denn desipere est juris gentium [Unver ständig zu sein ist Menschenrecht], und man bedenke, •
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was Voltaire sagt: La paix vaut encore mieux que La verite [Der Friede ist noch mehr wert als die Wahrheit]; und ein arabischer Spruch ist: »Am Baume des Schwei gens hängt seine Frucht der Friede. « Das Disputieren ist als Reibung der Köpfe allerdings oft von gegenseitigem Nutzen, zur Berichtigung der eignen Gedanken und auch zur Erzeugung neuer An sichten. Allein beide Disputanten müssen an Gelehr samkeit und an Geist ziemlich gleichstehn. Fehlt es Einem an der ersten, so versteht er nicht Alles, ist nicht au niveau. Fehlt es ihm am zweiten, so wird die da durch herbeigeführte Erbitterung ihn zu Unredlichkei ten und Kniffen [oder] zu Grobheit verleiten. Zwischen der Disputation in colloquio privato sive familiari und der disputatio sollemnis publica, pro gradu [feierliche, öffentliche Disputation, zur Erlan gung einer HochschulwürdeJ usw. ist k ein wesentlicher Unterschied. Bloß etwa, daß bei letzterer gefordert wird, daß der Respondens allemal gegen den Opponens Recht behalten soll und deshalb nötigenfalls der praeses ihm beispringt; - oder auch daß man bei letzterer mehr förmlich argumentiert, seine Argumente gern in die strenge Schlußform kleidet.
Nebenbogen
I. ��- Logik und Dialektik wurden schon von den Alten als Synonyme gebraucht, obgleich A.oyi�EcrSat, überde n ken, überleg en, berechn en, und 8taA.€yccrSat, sich un terreden, zwei sehr verschiedene Dinge sind. Den Namen Dialektik (8taAE K'ttKT1, 8taAEK "CtKll npay�a "CEia [dialektische Abhan dlung] , 8taAEK "CtKO<; av11 p [dialektischer Mann] ) hat (wie Diagenes Laertius be richtet) Plato zuerst gebraucht: und wir finden , daß er im Phiidrus, Sophista, Republik Buch V I I usw. den re gelmäßigen Gebrauch der Vernunft , und das Geübtsein in selbigem darunter versteht. Aristoteles braucht 1a 8taAEK "CtKa im selben Sinne; er soll aber (nach Lauren tius Valla) zuerst A.oytKll im selben Sinne gebraucht haben: wir fi nden bei ihm A.oytKa<; 8ucrxepeia<;, i. e. argutias [logische Schwierigkeiten d. h. Spitzfindigkei ten], n po"Cacrt V A.oytKllV [logische Prämisse], anopiav A.oytKllV [logische Aporie] . - Demnach wäre 8taAeK"Ct Kll älter als A.oytKll . Cicero und Quintilian brauchen in derselben allgemeinen Bedeutung Dialectica [und] Lo
gica. Cicero in Lucullo: Dialecticam inventam esse, veri etfalsi quasi disceptatricem [Die Dialektik sei gleichsam als Entscheiderin zwischen dem Wahre n und dem Fal::- (Dies ist der rechte Anfang der Dialektik.) 75
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sehen erfunden worden] . - Stoici enim judicandi vias
diligenter persecuti sunt, ea scientia, quam Dialecticen appellant [Die Stoiker haben nämlich die Methoden des Urteilens sorgfältig verfolgt, mit Hilfe derjenigen Wis senschaft, die sie Dialektik nennen], Cicero, Topica, Kap. 2 . Quintilian [XII, 2] : itaque haec pars dialecti cae, sive illam disputatricem dicere malimus [daher wird dieser Teil der Dialektik oder, wie wir so lieber sagen möchten, Disputierkunst . . . ] : letzteres scheint ihm also das lateinische Äquivalent von 8taAcK't tK'fl . (So weit nach Petri Rami dialectica, Audomari Talaei praelectionibus illustrata, 1 5 69.) Dieser Gebrauch der Worte Logik und Dialektik als Synonyme hat sich auch im Mittelalter und der neuern Zeit, bis heute, erhalten . Jedoch hat man in neuerer Zeit, besonders Kant, »Dia lektik « öfter in einem schlim mern Sinne gebraucht als »soph istisch e Disputierkunst«, und daher die Benen nung »Logi k« als unschuldiger vorgezogen. Jedoch bedeutet beides von Haus aus dasselbe und in den letzten Jahren hat man sie auch wieder als synonym angesehn. -
11.
Es ist Schade, daß »Dialektik« und »Logik« von Alters her als Synonyme gebraucht sind, und es mir daher nicht recht frei steht, ihre Bedeutung zu sondern, wie ich sonst möchte, und »Logik« (von A.oyisc:crB-at, über denken, überrechnen, - von A6yo�, Wort und Ver nunft, die unzertrennlich sind) zu definieren, »die
Wissenschaft von den Gesetzen des Denkens, d. h . von der Verfahrungsart der Vernunft« - und »Dialektik« (von 8taA.eyc:crSat, sich unterreden: jede Unterredung teilt aber entweder Tatsachen oder Meinungen mit: d. h . ist historisch, oder deliberativ), »die Kunst zu dis putieren« (dies Wort im modernen Sinne). - Offenbar hat dann die Logik einen rein apriori, ohne empirische Beimischung bestimmbaren Gegenstand, äie Gesetze des Denkens, das Verfahren der Vernunft (des A.6yo�), welches diese, sich selber überlassen, und ungestört, also beim einsamen Denken eines vernünftigen Wesens, welches durch nichts irregeführt würde, befolgt. Dia lektik hingegen würde handeln von der Gemeinschaft zweier vernünftiger Wesen, die folglich zusammen den ken, woraus sobald sie nicht wie zwei gleichgehende Uhren übereinstimmen, eine Disputation, d. i. ein gei stiger Kampf wird. Als reine Vernunft müßten beide Individuen übereinstimmen. Ihre Abweichungen ent springen aus der Verschiedenheit, die der Individualität wesentlich ist, sind also ein empirisches Element. Lo gik, Wissenschaft des Qenkens, d. i. des Verfahrens der reinen Vernunft, wäre also rein apriori konstruierbar; Dialektik großen Teils nur a posteriori, aus der Erfah rungserkenntnis von den Störungen, die das reine Den ken durch die Verschiedenheit der Individualität beim Zusammendenken zweier Vernünftiger Wesen erleidet, und von den Mitteln, welche Individuen gegeneinander gebrauchen, um Jeder sein individuelles Denken, als das reine und objektive geltend zu machen. Denn die menschliche Natur bringt es mit sich, daß wenn beim 77
I
gemeinsamen Denken, ÖtaA.eyecrSat, d. h . Mitteilen von Meinungen (historische Gespräche ausgeschlos sen) A erfährt, daß B's Gedanken über denselben Ge genstand von seinen eigenen abweichen, er nicht zuerst sein eignes Denken revidiert, um den Fehler zu fi nden, sondern diesen im fremden Denken voraussetzt: d. h. der Mensch ist von Natur rechthaberisch; und was aus dieser Eigenschaft folgt, lehrt die Disziplin, die ich Dialektik nennen möchte, jedoch um Mißverstand zu vermeiden, »Eristische Dialektik« nennen will . Sie wäre demnach die Lehre vom Verfahren der dem Men schen natürlichen Rechthaberei.
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Schopenhauer und die Dialektik von Franeo Volpi
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I.
Welche Dialektik ?
Organ der natürlichen Boshaftigkeit des Menschen, unverzichtbares Instrument, um Diskussionen erfol g reich zu führen und auf diese Weise dem Hang zur Rechthaberei nachzukommen, mithin der Wille, Recht zu behalten, gleichviel ob man im Recht ist oder nicht dies und nichts anderes ist für Schopenhauer Diale ktik . Daher die Spezifikation in der Überschrift seines kleinen Traktats: E ristische Dialektik. Denn das grie chische Wort erizein bedeutet »Streiten«, »Streitgesprä che führen«. Schopenhauer entwic kelt eine Argumen tationstechnik, die einzig dem Zweck dient, ohne Rücksicht auf die Wahrheit aus Streitgesprächen sieg reich hervorzugehen. So behauptet er: »Meine Ansicht also ist, die Dialektik von der Logik schärfer zu son dern als Aristoteles getan hat, der Logik die objektive Wahrheit, so weit sie formal ist, zu lassen, und die Dia lektik auf das Rechtbehalten zu beschränken; dagegen aber Sophistik und Eristik nicht so von ihr zu trennen wie Aristoteles tut: . . . da man den Namen Dialektik im Ganzen für gleichbedeutend mit Logik zu nehmen pflegt, wollen wir unsre Disziplin Dialectica eristica, eristische Dialektik nennen« (vgl. oben, S. 2 5 Anmer kung) . Schopenhauer legte die Gedanken, die in dieser von ihm selbst niemals veröffentlichten Abhandlung zusammenkamen, zuerst in den Vorlesungen dar, die er als Privatdozent an der Berliner Universität hielt, und 81
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erläuterte sie später in den Parerga und Paralipo
mena. Zur selben Zeit und in derselben Stadt, ja an dersel ben Universität, vertrat Hegel auf der Höhe seines Ruhmes eine Auffassung von Dialektik, die der Scho penhauers k raß entgegengesetzt war. Dialektik war für Hegel die Art und Weise, in der sich der Geist über die tausend Wege des Wirklichen hin als absoluter entfaltet und darstellt. Dialektik hieß er also das Wissen, das das Ganze - sowohl die Wirklichkeit als auch den Gedan ken - im idealen Griff der vollkommenen Durchsich tigkeit zu erfassen vermag und sich daher als absolut erwe1st. Hegels Erfolg verblaßte jedoch rasch, nachdem er bei der Epidemie, die Berlin I 8 3 I heimgesucht hatte, früh gestorben war. Schopenhauer dagegen wußte jedes Risiko zu vermeiden und verließ eilends Berlin, bis er über Umwege nach Frankfurt gelangte. Beide, jeder auf seine Weise, hatten und behielten recht. Die Hegeische Konzeption der Dialektik hat so wohl in den verschiedenen Hegelianismen als auch durch ihre Entwicklung im Marxismus Erfolg und Ver breitung ohnegleichen erfahren. So kam es, daß sie nicht nur für ein philosophisches System stand, son dern zur Weltanschauung wurde. Noch heute denkt man vielfach, wenn in der Philosophie von Dialektik die Rede ist, an Hegels Konzeption oder an ihre Ablei tungen und somit an eine Dialektik, die sich nicht nur als Gesetz des Denkens, sondern auch als Struktur der Wirklichkeit versteht. Diese Auffassung der Dialektik •
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hat sich nun schon seit fast zwei Jahrhunderten behaup tet und besetzt fest die philosophische Bedeutung des Wortes . Schopenhauers Auffassung der Dialektik bedurfte hingegen keiner besonderen Schülerschaft, keiner Uni yersitätsphilosophien und keiner Lehrstühle, um sich zu behaupten. Er greift einen Begriff von Dialektik auf, der viel älter als jede philosophische Schule ist, zum erstenmal im politischen Leben der Griechen au ftritt und letztlich in der Natur des Menschen selbst als ver nunft- und sprachbegabten Lebewesens so tief verwur zelt ist, daß er im allgemeinen Sprachgebrauch Nieder schlag ge funden hat: Schopenhauer versteht unter Dialektik die Disputierkunst, die Kunstfertigkeit, Ge wandtheit und Beschlagenheit im Diskutieren. Doch wie ist es dazu gekommen? Wie konnten Scho penhauer und Hege! - deren Ausgangspunkt ja derselbe Denker ist, nämlich Kant - zu so unterschiedlichen Auffassungen der Dialektik gelangen ?
2.
Die Hochzeit von Merkur und Philologia
Die Entwicklung hatte lange Zeit zuvor begonnen. Sie durchlief zahlreiche Phasen und Wechselfälle, deren Leitfaden nicht immer klar erkennbar ist. Bei dem Ver such, etwas Licht in das Dun kel zu bringen, sollten zumindest einige wichtige Etappen dieser Entwicklung in Erinnerung geru fen werden. Ein besonders anschau licher Einstiegspunkt hierfür ist ein lateinischer Text
aus dem 5 . Jahrhundert n. Chr. , der eine Scharnier Funktion in der Überlieferung der heidnischen spätan tiken Bildung an die beginnende Kultur des christ lichen Abendlandes einnimmt. Diese rezipierte den Text so intensiv, daß er dauerhaften Anklang fand und von fundamentaler Bedeutung für das gesamte Mittel alter blieb . Es handelt sich um das Werk des nordafrika-: nischen Rhetorikers und Enzyklopädisten Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii. 1 In diesem Text aus der Zeit des Ü bergangs von der Antike zum Mittelalter finden wir eine repräsentative Darstellung der Dialektik und somit ein wichtiges Zeugnis für die Übermittlung des antiken corpus dialecticum an das la teinische Abendland. Das Werk stellt in seiner aus Vers und Prosa gemisch ten Form in der Tradition der menippeischen Satire einen letzten Versuch der Antike dar, ein systema tisches Kompendium der sogenannten »freien Künste« anzubieten, etwa in der Art desjenigen, das Marcus Te rentius Varro mit seinem Disciplinarum libri IX im ersten Jahrhundert v. Chr. vorgelegt hatte. Es liefert das wichtigste Schema zur Einteilung und Gliederung des Wissens und beeinflußte dadurch maßgeblich die Überlieferung des wissenschaftlichen Gedan kengutes I Das Werk liegt zum einen in der von Adolf Dick, Stuttgart 1925, betreuten Ausgabe (mit addenda von Jean Preaux, a. a. 0 . 1969, und mit addenda und corrigenda ebenfalls von J. Preaux, a. a. 0 . I978) sowie in der neueren Edition von Ja mes Willis, Stuttgart I 98 3, vor.
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durch das gesamte Mittelalter bis zur Renaissance und zur Neuzeit, als mit der Entstehung des neuen Wissen schaftsideals das antike Wissensparadigma endgültig verschwand. Martianus Capella greift Varros Vorbild einer Enzyklopädie des Wissens auf, die in »Künste« �nd »Disziplinen« gegliedert ist, welche sich durch eine je eigene Methode und einen je eigenen Gegen stand voneinander unterscheiden. Doch anders als Varro paßt er sie in seiner Darstellung in einen mythologisch-religiösen Gesamtrahmen ein, der dem Ganzen eine ausgesprochen tiefsinnige Aura verleiht. Dies er klärt vielleicht den Erfolg, den sein Werk noch im christlichen Mittelalter genoß - wie es unter anderem die Ü bersetzung durch Notk er den Deutschen bezeugt. . Die Götter des Olymp - so erzählt Martianus Ca pella - waren darauf aufmerk sam geworden, daß Mer kur, der Gott der Sprache und des Wortes, obgleich im heiratsfähigen Alter, noch keine passende Gattin ge funden hatte. Um seiner Ehelosigkeit ein Ende zu set zen, verheiratete er sich schließlich mit Philologia, einer sterblichen Jungfrau, die die Liebe zum Logos versinnbildlicht und zu ihrer Vermählung mit Merkur in den Kreis der Unsterblichen aufgenommen wird. Die Hochzeitsfeierlichkeiten fi nden vor den olympi schen Gottheiten statt, die sich sämtlich bei Zeus ver sammelt haben. Die Braut erscheint, begleitet von sieben Ehrendamen, die die sieben freien Künste ver körpern: die drei Künste der Sprache: Grammatik, Dialektik und Rhetorik (das Trivium) und die vier
Künste der Zahlen: Geometrie, Arithmetik, Astrono mie und Musik (das Quadrivium) . Jede der sieben Jungf rauen stellt die Inhalte des Wissens vor, das sie verkörpert. Am Ende der Vermählung gil t die Verbin dung Merkurs mit Philologia, d . h . der Macht der Spra che mit ihrer Struk turierung in einem wissenschaftlich geordneten Wissen als geheiligt. , Interessant für uns ist das Erscheinen der Dialektik im vierten Buch des Werkes . Sie wird verk örpert durch die Jungfrau, die als zweite nach der Grammatik heran tritt. Martianus Capella beschreibt detailliert ihr Aus sehen, ihr Benehmen und ihre Attribute.2 Sie hat ein blasses Antlitz, doch ihr Blick ist beweglich und durch dringend zugleich : ihre Haare sind dicht, ordentlich geflochten und umgeben sorgfältig und vollständig ihr Haupt; sie trägt Gewand und Pallium der Athene und häl t die Symbole ihrer Macht in der Hand : in der linken eine Schlange, die sich in angsteinflößenden Windun gen k rümmt, in der rechten einige Tafeln mit herr lichen, bunten Motiven, die durch einen unsichtba ren Hak en miteinander verbunden sind; während die Linke unter dem Pallium die gefährliche Schlange ver birgt, ist die Rechte für alle sichtbar. Die Gestalt der Dialektik ist insgesamt aggressiv und drohend; sie 2
Auf Martianus Capelias Beschreibung, zu der später die von Alanus ab Insulis im Anticlaudianus (III, r ) hinzukommt, ba sieren sämtliche Ikonographien der Dialektik. Vgl. dazu den Artikel von Ludwig Heinrich Heydenreich: Dialektik, in Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, Bd. III, Stuttgart 1954, Sp. 1 387- 1400.
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spricht mit lauter Stimme in priesterlich-weissagendem Tonfall und gebraucht unverständliche Formeln: so etwa, daß die allgemeine bejahende Aussage im Wider spruch zur partikulären Verneinung steht, daß beide austauschbar sind; darüber hinaus spricht sie von Uni v:ozität und Äquivozität und behauptet schließlich, sie allein sei in der Lage, Wahres von Falschem zu unter scheiden. Ihr Auftritt ist dramatisch, und erregt zunächst Be stürzung bei den Göttern; doch Bromios, also der »lärmende« Dionysos-Bacchus, nimmt der Situation die Schärfe durch seine Bemerkung, die Neuangekom mene ähnele einer Scharlatanischen Hexe, und ruft da mit unter den Anwesenden eine gelinde Heiterkeit hervor. Daraufhin schaltet sich die Göttin Pallas ein, die mit der Dialektik wohlvertraut ist, und macht den Anwesenden klar, wie ernst diese Kunst zu nehmen sei . Dies würde denn auch ersichtlich werden, sobald die Dialektik ihre Lehren und Kunstgriffe dargestellt habe. Jupiter fordert nun dje junge Dame auf, ihr Wissen in lateinischer Sprache vorzutragen. Die Dialektik erklärt zur Einführung, daß sie griechische Wurzeln habe, daß sie aber gleichwohl in der Lage sei, sich lateinisch aus zudrücken, und zwar dan k der wertvollen Ü bertra gungsarbeit Varros, der als erster ihre Lehren aus den Texten Platons und Aristoteles' in die Sprache der Römer übersetzt habe. Ihren Namen selbst, Dialektik , habe er jedoch griechisch belassen, und daher sei dieser in Athen wie in Rom derselbe . Die Dialektik beginnt darau f mit de� Darlegung der Inhalte ihrer Disziplin,
die nach der in den griechischen Schulen gebräuch lichen und von Varro übernommenen Sitte sämtliche Lehren der klassischen Logik umfaßt und sich folgen dermaßen gliedern läßt: 1 . de loquendo: die Lehre von der Bedeutung der Begriffe. Sie umfaßt a) die fünf Prädikabilien: Gat tung, Art, bestimmender Unterschied, kennzeichnen des (proprium) und zufälliges (accidens) Merkmal; b) die antepraedicamenta oder instrumenta categoria rum (d . h . die Unterscheidung verschiedener Bezeich nungstypen: eindeutige, zweideutige, vieldeutige, ei gene, fremde); c) die Kategorien (Substanz, Quantität, Qualität, Relation, Raum, Zeit, Tun, Leiden, Zustand, Habitus); d) die postpraedicamenta (also die vier Gegensatzformen: Widerspruch, konträrer Gegensatz, , Relativität, Privation); e) die Defi nition und f) die Un terscheidung. 2. de eloquendo: die Lehre von der Rede (oratio) und ihren Teilen, dem Hauptwort (nomen) und dem Zeit wort (verbum) . 3 . de proloquendo: die Lehre von der prädikativen AlPSsage (proloquium), welche als Verbindung (Syn these) oder Trennung (Dihairese) von Begriffen die Eigenschaft aufweist, wahr oder falsch sein zu k önnen; die differentiae proloquiorum (d. h . die bejahende oder verneinende Qualität sowie die universale oder parti kuläre Quantität der Urteile); die proloquiorum affec tiones und die Konvertierbarkeit der Aussagen. 4· de proloquiorum summa: die Lehre vom Syllogis mus als Verkettung von Aussagen, die von einer ersten 88
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Prämisse übe r eine zweite einen Sch luß folgert, sowie von sein en verschiedenen Formen (kategorisch, hypo thetisch und gemischt). 3 Nach ihre r Darlegung sch ickt sich die Dialektik an, die Leh re von den Sop hism en, den verfänglichen Argurpenten, den Trugschlüssen und den Täuschungen, die man mit Hilfe der Sprache durchführen k ann , zu ver deu tlic hen , d. h . all jene The men , die in den Sophisti schen Widerlegungen des Aristoteles behandelt wer den . Do ch an dies er Stelle unterbricht Pallas die Dialektik, nich t nur, um mö glic her Langeweile unt er den Zuh öre rn vorzubeugen, son der n auch des halb , weil die Darlegung sop hist isch er Kunstgriffe und Kniffe sich vor Zeus und den anderen Göttern nicht sch ick t. Ind em sie sich an die Dialektik wendet, spricht Pallas sie folgendermaßen an: »Da s genügt, oh edle Quelle tiefer Wissenschaft (profundae fons decens scien tiae), welche die verborgenen Wirklichkeiten durch die Rede enthüllt, indem sie nichts Unklares außer acht und nichts Uner kanntes hinter sich läßt. «4 Zwei Ansatzpunkte dieses Textes soll en hervorgeho ben werden . De r erst e: die Dia lekt ik wird als eine Qu elle wis sen sch aftli che r Erkenntnis (jons scientiae) •
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Nicht behandelt werden die anfänglich noch zur Dialektik ge hörenden Lehren von der poetischen Rede (quinta de iudi
cando, quae pertinet ad iudicationem poetarum et carminum) und von der rhetorischen Diktion (sexta de dictione, quae di cenda rhetoribus commodata est). 4 Martianus Capella, De nuptiis, IV, 4 2 3 (2o8, 1 4 - 1 6 Dick; 146, 7-9
Willis ).
angesehen und als solche mit Logi k gleichgesetzt. Der zweite: eben als Quelle der Erkenntnis wird die Diale k tik rigoros von der Sophistik und Eristik getrennt, die nur den Anschein von Erkenntnis haben. Das Vorkommen und die Bedeutung einer solchen Konzeption von Dialektik in der Zeit zwischen dem Ende der antiken Welt und dem Beginn unserer Ä ra, wie es im Werk des Martianus C4pella so anschaulich belegt wird, wird darüber hinaus von anderen, im Mit telalter sehr verbreiteten Werken bezeugt, so den Insti tutiones (Kap . 3 ) des Aurelius Cassiodorus, den Ety mologien (Buch 1 1 , Kap. 22-3 r ) des Isidor von Sevilla und De dialectica des Alkuin. Erwähnenswert ist auch die anonyme Abhandlung De dialectica (oder Principia dialecticae), die möglicherweise von Augustinus ver faßt wurde, und in der die Dialek ti k als disciplina dis ciplinarum oder scientia veritatis definiert wird. s In der Übergangszeit von der Antike zum Mittelalter ist also eine entschieden positive Einstellung zur Dia lektik verbreitet. Diale ktik wird als Quelle der Er kenntnis begriffen - eine Auffassung, die in offenbarem Kontrast zu derjenigen Schopenhauers steht, die Dia lektik von jeglicher Rück sicht auf Wahrheit abkoppelt. 5
Augustinus behauptet sogar die Übereinstimmung zwischen Dialektik und christlicher Theologie. Da die Struktur der Dia lektik disputatorisch ist, ist in der Tat jeder, der diskutiert, ein Dialektiker: also ist es auch der Heilige Paulus, wenn er mit den Juden und den Heiden redet, um das Wort zu verteidigen; sogar Gottes Wort selbst ist dialektisch, gemäß Jes. r , r 8 : ve nite, disputemus, dicit Dominus.
Es· erhebt sich die Frage: Wie war dies möglich ? Wie kam es dazu, daß man die Dialektik als Quelle der Er kenntnis ansah ?
3.
Die Dialektik in der Antike
Wir müssen mit unserer Entwicklungsgeschichte viel früher einsetzen und an die Ursprünge der Diale ktik erinnern. 6 Es gilt heute als wissenschaftlich erwiesen, daß die Dialektik im demokratischen Athen des 5 . Jahrhunderts v. Chr. entstand, als im Zusammen hang mit der politischen Freiheit die Bedingungen ein traten, die die Gedanken- und Meinungsfreiheit er möglichten. Die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz (isonomia) hat - wie Herodot, Verfechter der Demo kratie, erinnert (V, 7 8) - ihre höchste Verwirklichung in der gleichberechtigten Teilnahme an öffentlichen Dis kussionen (isegoria) , einem Recht, das, so behaupten Kritiker der Demokratie wie Isokrates (Areopagitikos, 20), verkommen sei zu der Möglichkeit, nur irgend et was zu sagen, zum Reden um des bloßen Redens willen (parresia), zum bloßen Gerede. Das für diesen Zusam menhang maßgebliche Zeugnis Platons (Gorgias, 4 6 1 e sowie Nomoi, l , 64 r e) bestätigt, daß die Rede-Freiheit (exousia tou legein) in Athen viel größer als in jeder 6
Vgl. hierzu Enrico Berti, Contraddizione e dialettica negli an tichi e nei moderni, Palermo 1 9 8 7, sowie ders., Le ragioni di Aristotele, Rom-Bari 1989.
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anderen griechischen Stadt war, so groß, daß man Athen zu recht als »Liebhaber(in) der Red�« (phi/6/o gos) oder als »Stadt der vielen Reden« (polylogos) be zeichnete. In diesem historisch-politischen Zusam menhang entwickelten sich bekanntlich die Bewegung der Sophistik und damit die Philosophien von So k ra tes, Platon und Aristoteles, in denen der Dialektik eine entscheidende Bedeutung zukommt. Was den Ausdruck »Dialektik« als solchen angeht, so wissen wir, daß das Zeitwort dialegesthai zwar be reits bei Homer bezeugt wird, jedoch erst bei Platon als Terminus mit eigener philosophischer Bedeutung ge braucht wird: Dialektik heißt hier das Disputieren im Hinblick auf den Wahrheitsgehalt einer Sache, d . h . um eine These aufzustellen und zu verteidigen, oder aber um sie anzugreifen und zu widerlegen mit dem Ziel, ihre Wahrheit oder Falschheit zu ermitteln. Insofern ist sie dem erizein, dem Streiten um des Streitens willen deutlich entgegengesetzt. Auch das Eigenschaftswort dialektik6s wird bei Platon zum ersten Mal als eigener Terminus gebraucht, um die Redekunst sowie denjeni gen, der sie praktiziert, zu bezeichnen. Doch die Dia lektik war schon auf der Welt, bevor sie ihren Namen bekommen hatte. Aristoteles, so heißt es in einem überlieferten Fragment aus einem verlore�gegangenen Jugenddialog über den Sophisten, betrachtete d�n Eleaten Zenon (Fragment 6 5 Rose; I Ross; 3 9 Gigon) als Entdecker oder Erfinder (heuretes) der Dialekt}k. Die ses Zeugnis wird durch das bestätigt, was Platon über Zenon mitteilt, der im Phaidros mit dem Beinamen
»Eleatischer Palamedes« bedacht wird, weil er wie die gleichnamige homerische Gestalt »durch Kunst so re det, daß den Hörenden dasselbe ähnlich und unähnlich erscheint, eins und vieles, ruhig und bewegt« (Phaid ros, 261 d). Zenans Kunst wird daraufhin als »Kunst d�r Antilogie« definiert, als die Kunst, Gegensätze her vorzubringen . .
4·
Die Dialektik der Sophisten
Innerhalb der Sophistik sind Protagaras und Gorgias die repräsentativen Hauptvertreter für die Dialektik Auffassung dieser Schule. Protagaras praktiziert das, was Platon später explizit als dialektische Methode bezeichnet und auf den Begriff bringt: die Gegenüber stellung und den Wettstreit von zwei gegensätzlichen Meinungen durch den Dialog zwischen zwei Gesprächsteilnehmern, die sich gegenseitig zu widerlegen suchen. Diese Methode wird in ihrer Eigenschaft als »kurzer Rede« (brachylogia) von der »monologi schen«, »langen Rede« (makrologia) der Rhetorik un terschieden. Protagaras war in der Antike bekannt als derjenige, der als erster behauptete, daß man zu jedem beliebigen Gegenstand entgeg€ngesetzte Meinungen vertreten könn e (Diels-Kranz, 8o A 1). Er soll ein heute verlorengegangenes Werk unter dem Titel Antilo gien, also »gegensätzJiche Reden«, verfaßt haben, das den Anfang einer eigenen literarischen Tradition dar stellt. Ein bedeutsames Beispiel dieser literarischen •
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Gattung ist uns in Gestalt der sogenannten Dissoi l6goi überliefert, einer anonymen Schrift, die zu einigen grundlegenden Themen (Was ist gut und was böse? Was ist gerecht und was ungerecht? Was ist anständig und was unanständig?) ihre »Zwiefachen« oder einander entgegengesetzten Thesen entwic kelt. Der philosophisehe Ansatz des Protagaras basiert nach Pl aton auf der Überzeugung, daß »alle Meinungen wahr sind« (Theai tetos, I 66 d ff. ) und daß »der Mensch das Maß aller Dinge ist« (Diels-Kranz, 8o B I ); sie kulminiert dem entsprechend in der Aufwertung der Meinung (d6xa) und der DemoKratie. Was Gorgias betrifft, so verdient er deshalb Erwähnung, weil er mit Hitfe einer dialektischen Methode argumentierte, die der des Zenon sehr ähnlich war, doch ganz andere, ja entgegengesetzte philosophische Ziele verfolgte. Er wollte nicht - wie Zenon - die These von der Unwandelbarkeit des Seins beweisen, sondern vertrat eine Art Nihilismus ante litteram, bei dem das Sein und seine Sagbark eit in Frage gestellt und verneint werden. Gorgias war nicht so sehr Philosoph als viel m-ehr Meister der Rhetorik und Eristik, also der Kunst, eine Rede ohne Rück sicht auf die Wahrheit allein mit . dem Ziel zu führen, den Zuhörer zu überzeugen oder in Diskussionen den Sieg davonzutragen. Der Logos, also die Sprache, wird in der Tat von Gorgias als »gro ßer Herr« (dyneist es megas) bezeichnet, weil es mit seiner Hilfe möglich sei, alles ebenso wie dessen Ge genteil zu behaupten. Sogar die Vortäuschung einer . herbeigezauberten Wirklichkeit liegt im Bereich seiner •
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Möglichkeiten. Der Logos vermag es schließlich sogar, den Griech en Helenas Unschuld weiszu machen , was Gorgias mit seinem Lob der Helena fertigbrachte. Er brachte die auch schon von Zenon praktizierte dialek tisch-widerlegende Methode zur Anwendung: Sie be s�and darin, die Antithese zu:r The�e, die man selbst zu vertreten beabsichtigt, zum Widerspruch zu bringe n. Durch die An�endung dieser Methode auf die Frage nach dem Seienden gelangte Gorgias in philos ophi scher Sicht schließlich dahin, in seinem Traktat Über das Nichtseiende oder Über die Natur seine drei be rühmten nihilistischen Sätze zu formulieren: Es ist Nichts; wenn auch Etwas wäre, so wäre es nicht er kennbar; und auch wenn es erkennbar wäre, so könnte es doch 'nicht ausgesprochen und mitgeteilt werden
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(anhermeneuton).
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5.
Die sokratische Dialektik
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Ein weiterer Gründervater der Dialektik ist Sokrat es, der in seinem Denken, ·wie es bei Platon, Aristoteles undJ Xenop h9n dargesellt wird, ebenfalls die dialekti sehe Methode praktiz ierte. In formaler Hinsich t ver wendete Sokrates das gleiche Dis kussionsverfahren wie die Sophis ten, das aus Frage und Antwort bestand . (Der einzige , allerdings beträchtliche äußerliche Un terschied bestand jedoch darin, daß die Sophis ten sich für ihre Lehrtätigkeit bezahlen ließen, Sokrates hinge gen ·n icht. ) Sokrates optimierte diese Metho de mittels '
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einer Reihe logischer Verfahren, insbesondere jenes der »Wi derlegung« (elenchos), das darauf zielt, die Wider sprüchlichkeit und damit die Unhaltbarkeit einer be stimmten Meinung aufzuzeigen. Es ist dies ein genuin dialektisches Vorgehen: anband geeigneter Fragen ver sucht man im Gespräch sich vom Gegner bestimmte Prämissen zubilligen zu lassen, von denen dann Schluß folgerungen abgeleitet werden können, die im Kontrast zu der vom Gegner aufgestellten Thes� stehen, und da durch bringt man ihn schließlich in den entscheidenden Widerspruch zu sich selbst. Mit Sok rates vollzieht sich ein grundlegender Wan del im Aufbau der Dialektik, der aus der unterschied lichen Einschätzung dessen, was »Meinung« ist, her vorgeht. Aus d.e r Tatsache, daß alle Meinungen im Grunde in gleicher Weise haltbar oder widerlegbar sind, gewann zunächst Protagaras die Ü berzeugung, daß die Dialektik eine Aufgabe nahe, die derjenigen der Rhetorik analog sei, also darin bestehe, ohne Rücksicht auf die Wahrheit zugunsten der einen oder der anderen Meinung überzeugend oder widerlegend zu reden. Ge genüber Protagaras bestreitet Sokrates, daß alle Mei nungen wahr seien, und behauptet dagegen: sie seien alle falsch, oder vielmehr: insofern sie ebenso wahr wie falsch sein k önnen, haben sie nicht den Status gesicher also den der ten Universalwissens (to kath6lou), Status . / Wissenschaft (episteme) . Die Aufgabe der Diale�ik ist somit eine kritische: sie darf sich nicht in den Dienst dieser oder jener Meinung stellen, um sie zu stützen oder zu widerlegen, sondern muß statt dessen alle Mei-
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nungen mit dem Ziel überprüfen, sie in ihrem unge rechtfertigten Anspruch, als wahres Wissen zu gelten, , könn· widerlegen zu e n. Damit will die sokratische Dialektik zu Einsichten führen, die nicht mehr Meinungen sind, also relative u1;1d subjektive Standpunkte zum Ausdruck bringen, sondern vielmehr deren Überwindung anvisieren und als wesentlich gelten: sie strebt Wissenschaftlichkeit an . Die sokratische Diale ktik wird also befreit von jedwe der Vermengung mit der Rhetorik, und sie wird deut lich im Hinblick auf die Gewinnung eines wissenschaft lichen Denkens betrieben, auch wenn sie nicht zu einer endgültigen Darstellung von Wissen gelangt, sondern sich allein an den methodischen Grundsatz einer in skeptischer Absicht zugestandenen Unwissenheit hält. Erst Platon wird die Dialektik im Sinne des »epistemi sehen« Wissens weiterentwic.keln. •
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6. Die Platonische Dialektik
Um die systematische Entfaltung der sokratischen dia lektischen Methode durch Platon auch nur in den Hauptlinien zu veranschaulichen, wär� eine eigene Ab handlung nötig. Hier soll es allein auf den tragenden Gedanken ankommen. Mittels der Ideenlehre bringt Platon das von So k rates gesuchte Allgemeine,. in eine nichtaporetische und systematische Form und setzt da bei die Dialektik mit der Philosophie gleich. In unse rem Kontext, in dem es vor allem auf die Beziehung 97
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zwischen Dialektik und Eristik ankommt, kann also Platon mit seiner philosophischen Dialektik kein An haltspunkt für Schopenhauer sein. Denn Pl aton ent wickelt eine Auffassung der Dialektik , die der Konzep tion Schopenhauers k raß entgegengesetzt ist: Platon tritt als der strengste und entschiedenste Gegner der sophistischen, rhetorischen und eristischen Auffassung der Dialektik hervor, denn diese ist für ihn keineswegs eine reine Argumentationstechnik, losgelöst von der Beziehung zu der in Frage stehenden Sache, sondern stellt im Gegenteil die wissenschaftlich-philosophische Methode für die Suche nach der Wahrheit dar. Kann dies zun äch st ganz allgemein gelten, so ist die pla ton isch e Auffass ung der Dialektik bei genauerem Hin seh en durchaus nic ht in allen Dialogen die selb e. Tatsächlich läß.t sich eine Entwicklung fests tell en, aus gehend bei der von Sokrates her übernommenen Auf fass ung in den frühen Dial ogen bis zur prononcierten Bes tim mu ng der Dialektik als der eigentlichen Me thode des Ph ilos oph iere ns, wie sie später in den sog e nannten »di ale kti sch en« Dialogen praktiziert wir d, die mit gutem Grund so bezeichnet werden, weil in ihnen die systematische Entfaltung und Darstellung der Dia le ktik ihren Hö hep unkt erre icht . Ein erster Hinweis auf die Dialektik findet sich im Menon ( 7 5 d), einem Dialog, der als Einführung in Pla tons Philosophie angesehen werden kann und das s kep tisch-aporetische Vorgehen des Sokrates ins Positive wendet und weiterentwickelt. In diesem Dialog über wiegt allerdings noch die sokratische Auffassung, nach I
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lcr die dialektische Methode zwar im Hinblick auf die Wa hrh eit, d. h. im Hi nbl ick auf die Bes tim mu ng des Allgemeinen (to kath6lou) und des Wesens (ti estin) vollzogen wird, dies aber mittels einer Übereinstim nl ung (homologia) mit dem Gesprächspartner zu erzie len sei. In der Politeia verläßt Platon die sokratische Ric h tung und artikuliert nun meh r sein e eigene Auffassu ng der Dia lek tik . Sie stellt hie r die höchste Stufe der Erkenntnis dar und bildet zugleich das Wissen, das die Regierenden des Idealstaats besitzen müssen. Gegen Ende des VI. Buches erläutert l)laton au f paradigrnati sche Weise die Stu fen der Erkenntnis, die er mit einer in vier Abschnitte unterteilten Linie vergleicht. Jeder Ab schnitt entspricht einer der vier Stufen der Erkenntnis: Die ersten beiden Stufen, Einbildungskraft und Glaube (eikasia, pistis), bilden die Meinung (d6xa); die anderen beiden, Verstand und Vernunft (didnoia, n6esis), bilden die Wissenschaft (episteme). Die Dialektik wird mit der wahrhaft wissenschaftlichen Erkenntnis des letzten Abschnitts gleichgesetzt, das nicht bei Hypothesen ste hen bleibt, sondern mit Hilfe derselben bis zu einem nichthypothetischen Prinzip (anhyp6theton) au fsteigt, nämlich bis zur Idee des Guten. In welcher Weise man vorgehen muß, um von den Hypothesen zu dem nicht hypothetischen Prinzip vorzustoßen, um dann wieder von diesem zu den einzelnen Ideen zurückzugehen, wird hier nicht näher erläutert, da Thema des Ge sprächs nicht die Dialektik als solche, sondern das Gemeinwesen ist. Platon deutet jedoch in einer signifi -
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kanten Passage (Politeia, V I I , 5 3 4 b ff.) an, daß die Dia lektik über Widerlegungen jeder Art (dia pdnton elen chon diexi6n) zu jenem Prinzip gelange, und daß derartige Widerlegungen es »nicht auf Meinungen, sondern auf die Sache selbst« (me kata d6xan alla kat' ousian) absehen. In den Dialogen nach der Politeia wird die Struktur der dialektischen Methode noch näher bestimmt. Im Phaidon fordert Platon, daß die Hypothesen, d . h . diejenigen Ideen, die man definiert, um über einzelne Aussagen Rechenschaft abzulegen, in ihrer Tragfähig keit überprüft werden müssen. Dies geschieht dadurch, daß man zuerst die von ihnen ableitbaren Konsequen zen untersucht, um zu prüfen, ob sie untereinander im Widerspruch stehen. Weiter führt man jede Hypothese auf eine übergeordnete, allgemeinere Hypothese zurück, bis man zu etwas gelangt, das in sich selbst befrie digend (hikan6n), also nicht mehr auf weitere Hypo thesen zurückzuführen ist (Phaidon, 1 0 1 d-e). Im Parmenides entwickelt Platon die dialektische Methode noch weiter. Er beschränkt sie hier nicht mehr auf die Ü berprü fung einer bestimmten Hypothese im Hinbl ick darauf, ob aus dieser Schlußfolgerungen ge zogen werden könne n, die untereinander oder mit an deren angenommenen Thesen in Widerspruch stehen, S
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bewiesen wird. Hieraus wird ersichtlich, daß die dia lektische Methode Platons in ihrer formalen Struktur hier eher mit der Verfahrensweise Zenons als mit der sokratischen zu vergleichen ist, insofern sie ebenso wie die erstere zwei einander entgegengesetzte Hypotheseh p�üft, obgleich Platon sie im Anschluß an Sokrates und gegen Protagaras in den Diens t der Suche nach dem Allgemeinen und der Wahrheit stellt. Diese Auffassung der Dialek tik baut Platon in seinen letzten Dialogen, also im Phaidros, Sophistes und Philebos, weiter aus, in denen die Dialektik nunm ehr als Methode der systema tischen Klassi fizieru ng der Ideen mittels der Zurück führun g (synagoge) des Beson deren auf das Allgemeine und mittels der Einteilung (dihairesis) des Allgemeinen in das Besondere bestimmt wird. Dies bringt mit sich eine Entgegensetzung von Dialektik einerseits und Eri stik, Sophi stik und Rhetorik andererseits, denn diese sind Argumentationsformen , in denen die dialektische Kunstfertigkeit zur Vortäu schun g oder gar Verneinung von Wahrhe it und Wissen verwendet wird. Diese Ent gegensetzung vertritt Platon in voller Kenntnis der äu ßerlichen Ähnlichkeit zwischen der Philos ophie, also der wahren Dialektik, und der Sophistik, denn beide nehmen die Kunst des Widersprechens und die Technik der Widerlegung in Anspruch. Die Hochschätzung der Widerlegung als Grundver fahren der Dialektik sowie ihre Ausarbeitung in posi tivem Sinn sind zuletzt im Siebenten Brief belegt: Le diglich »wenn in wohlwollenden Widerlegungen (en eumenesin elenchois) und durch aller Mißgunst entbeh•
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rende Fragen und Antworten widerlegt wird (elenx6mena), so flammt über jedes Einsicht auf und Denken« (exelampse phr6nesis peri hekaston kai nous, 3 44 b ) .
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Die Dialektik bei Aristoteles
Die Dialektik des Aristo teles ist Gegenstand so zahlrei eher Untersuchungen geworden, daß es an dieser Stelle nicht darum gehen kan n, sie no ch einmal dar zus tel len . Es mag genügen, ihre Eigentümlichkeiten nur insofern in Erinnerung zu rufen, als damit Schopenhauers An schluß an die Tradition der Eristik besser zu verstehen 1St. •
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Bekanntlich widmet Aristoteles der Erforschung der Dialektik zwei Abhandlungen seines Organon, nämlich die Topik (in acht Bü che rn) und die Sophistischen Widerlegungen , die in einigen Manuskripten als IX . Buch der Topik aufgeführt we rde n. Aristoteles rüc kt in ihnen von Platon ab und führt die dialektische Tätigkeit in den Be rei ch des Meinungshaften zur ück . Damit trifft er sic h wieder mi t der Auffa ssu ng des Protagoras - je doch mi t folgender wichtigen Ein sch rän ku ng: Aristo teles zufolge sind Meinungen zwar kein wis sen sch aft lich es Wi sse n, abe r auch keine lediglich subjektive und wi llk ürl ich e An sic ht wie bei der Sop his tik und Eris tik , · · sondern sie bil den einen konsensfähigen Standpunkt. Die Dialektik ist som it eine Methode, jedes mö gli che Argument treffend zu dis ku tie ren , ind em man von an . erkannten Meinungen (endoxa) ausgeh t - das hei ßt von .
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glaubwürdigen, wahrscheinlichen Sätzen, die allge •nein geteilt werden oder zumindest von den meisten oder aber von den Weisen und unter diesen von allen bzw. von den Anerkanntesten -, und zwar mit dem Ziel, eine These zu verteidigen oder durch den Aufweis ihrer Widersprüchlichkeit umzustoßen (Topik, I , I , r'oo a 1 - 20). Das heißt: Nicht nur Philosophen und Weise, sondern alle Menschen machen gewissermaßen von der Dialektik Gebrauch, da alle sich zu Zeiten in der Situation befinden, eine These verteidigen oder an greifen zu müssen. Während man allerdings im Alltag die Dialektik ohne jegliche Methode praktiziert, tut es der echte Dialektiker mittels einer besonderen Ar gumentationstechnik, die er speziell eingeübt hat (So phistische Widerlegungen, 1 1 , 1 72 a 2 3 - 3 6). Aristoteles rühmt sich seinerseits, die erste Abhandlung über die Methoden der erfolgreichen Argumentation überhaupt verfaßt zu haben (Sophistische Widerlegungen, 34, 1 8 3 b 1 6- 1 84 b 7) , während in anderen Wissensgebieten, zum Beispiel in der Rhetorik, bereits einschlägige Handbücher vorlagen . Wie eingangs dargestellt wurde, besteht die Eigen tümlichkeit des dialektischen Syllogismus darin, daß die Schlußfolgerung von »endoxischen«, d . h. allge mein anerkannten Sätzen im erläuterten Sinne ausgeht . Der wissenschaftliche, apodiktische Syllogismus hin gegen folgert ausgehend von notwendig wahren Prä missen, also von Prämissen, die aus sich selbst heraus und nicht kraft anderer Prämissen evident sind, wäh rend der eristische Syllogismus schließlich von Prämis103
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sen ausgeht, di e trügeri scherwei se als anerkannte Sätze vorgeführt werden, es aber tatsächl i ch gar ni cht si nd (Topik, I , I , I oo a 2 7- I O I a I ) . Aristoteles fügt neben dem eri sti schen Syllogi smus noch ei ne wei tere Form des unkorrekten Schlusses h inzu, und zwar den »Para logi smus«. Dessen Unkorrekthei t erwächst allerd i ngs ni cht aus einem bewußt vollzogenen Betrug oder ei ner Vortäuschung, sondern aus e inem logi schen Fehler i n der Schlußfolgerung. Daher wi rd der Paralogi smus vom eri sti schen Syllogi smus untersch i eden. An ande rer Stelle handelt Ari stoteles von ei nem wei teren Typus der Argumentati on, nämlich vom rhetorischen oder >>enthymemi schen« Syllogi smus, der s i ch von den anderen durch seine abgekürzte Form unterscheidet zumei st durch d i e Unterlassung ei ner Prämi sse (di e unausgesprochen, en thyrn6 blei bt). Di ese Untersuchung der versch i edenen Formen der Schluß folgerung greift Ari stoteles am Ende der Ab handlung wi eder auf. H i er schlägt er vor, den apod i kt i - ' sehen Syllogismus »Philosophema« zu nennen, den d i alekt ischen Syllogi smus »Epicheirema« (das heißt: Argumentat i on, di e gegen einen Gesprächstei lnehmer gerichtet i st), den eri sti schen Syllogi smus »Sophisma« und den di alekti schen Syllogi smus, der bei ei nem Wi derspruch, also einer Wi derlegung, endet, »Aporema« (Topik, VIII, I I , I 62 a i 2 - I 8) . Au f di ese Unterschei - . dung geht Ari stoteles auch i n den Sophistischen Wider legungen ei n . In di eser Abhandlung behauptet er, daß es »vi er Gattungen von Argumentati onen beim Di spu ti eren gi bt: didaskalische Argumentati onen s ind sol-
ehe, d ie aus den e i gentümli chen Pri nz ip ien der jeweils zu erlernenden Wi ssenschaft, n i cht aus den Mei nungen des Antwortenden schließen - denn der Lernende muß glauben; dialektische s ind solche, di e aus anerkannten Me i nungen ei nen Schluß nach der ei nen oder anderen Sei te der Kontrad i ktion ergeben; peirastische oder ver suchende solche, die aus dem schli eßen, was der Ant wortende mei nt und wi ssen muß, der di e Wi ssenschaft innehaben w i ll - �u f welche We i se, ist anders�o erklärt worden; eristische od er auf Stre it angelegte Sätze end lich s ind solche, die aus dem schli eßen, was als an erkannte Meinung gi lt, ohne d ieses Präd i kat zu ver dienen, oder Sätze, die nur zu schließen scheinen« (Sophistische Widerlegungen, 2, I 6 5 a 3 8-b 8). Wenn Ari stoteles d ie genannten Argumentati onsfor men unterschei det, so grenzt er die Di alekti k sowohl von der Wissenschaft als auch von der Eri stik und der Rhetori k deutli ch ab. Das E i gentümliche der D i alekti k wi rd außerdem im 2 . Kap itel des I . Buches der Topik näher bestimmt, und zwar über di e Angabe der ver sch iedenen Arten i hres Gebrauchs. Derer si nd dre i : I . D i e D iale kti k i st nützlich in bezug auf Übung (pros gymnasian ): s ie di ent dazu, s ich i n der Praxi s des Argumenti erens auszub ilden; 2 . si e i st nützli ch i m Gespräch (pros ta,s enteuxeis): s i e di ent dazu, alltägliche Di skuss i onen und Streitgesprä che erfolgre ich zu führen; 3 . s i e i st schli eßlich nützli ch für di e Wi ssenschaften des We ishei tsstrebens ( pros tas kata philosophian epi stemas), und zwar i n zwei erlei H ins i cht:
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3 . 1 . vor allem deshalb, weil tnan durch dialektische Übungen lernt, Schwierigkeiten nach beiden Richtun gen hin zu durchdenken ( pros amph6tera diaporesai), und man dadurch in jedem der beiden möglichen Sät ze, in These und Antithese, lej chter Wahrheit und Falschheit erkennen k ann: 3 . 2 . ferner deshalb, weil »die Dialektik als P rüfmittel (exetastike) einen Zugang zu den Grundsätzen aller wissenschaftlichen Verfahren hat« ( 1 0 1 a 3 6-b 4). Sie hilft also dabei, jene Grundsätze zu erörtern, von denen in den einzelnen Wissenschaften die apodik�ische Be weisführung ausgeht. Da die als Grundsätze fungieren den Aussagen zum Beweis dienen, können sie ihrerseits nicht bewiesen werden, denn wir begingen in diesem Fall eine petitio principii, oder aber gerieten in einen circulus vitiosus, einen Teufelskreis; sie können nur auf dialektische Weise aufge funden werden. Ohne nun auf die Bedeutung diese� möglichen Anwendungsformen der Dialektik einzugehen, ist klar, daß Aristoteles die Dialektik in den Bereich des Mei nungshaften einordnet, namentlich in den der endoxa. Dämit stellt er gegen Platon den Wert des 11einungshaf ten wieder her: im Unterschied zu Protagaras _ denkt er jedoch nicht, daß die Meinungen im Konflikt mit der wissenschaftlichen Erkenntnis stehen, s9ndern zeigt im Gegenteil, daß sie sich im Prozeß der Gewinnung von Erkenntnissen als nütz lich erweisen, da sie den vor läufi gen Boden darstellen, aus dem heraus wissen schaftliche Beweise durchgeführt werden. Daraus ergibt sich, daß auch für Aristoteles, der das
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Meinungshafte funktional rehabilitiert, die Eristik nichts anders als eine Verfallserscheinung der Dialektik ist, da sie nur zum Schein nach, und also in täuschender Absicht, von anerkannten Meinungen ausgeht. In seiner Abhandlung über die Sophistischen Widerlegun gen - Platon hatte das gleiche Thema im Euthydemos ö ehandelt - nimmt sich Aristoteles vor, die eristischen Trugschlüsse zu entlarven sowie Gegenmittel und Kunstgriffe beizubringen, damit man sich vor ihnen in Dis kussionen schützen kann. Zu diesem Zweck stellt er die fün f Fallen dar, die die Sophisten auslegen, nämlich den Widerspruch und die Widerlegung (elenchos), das Falsche (pseudos), das Paradoxe (paradoxon), den sprachlichen Irrtum o,der Solözismus und die Verleitung des Gegners zu leererp Geschwätz (adoleschesai). E� zeigt dann, wie man sie vermeidet, indem er insbe sondere dreizehn Typen von eristischen Fehlschlüssen au fzählt (sechs_ von ihnen leiten sich von der fallacia dic.tionis, von Redefehlern ab, sieben von der fallacia extra dictiQnis, also von logischen Fehlern) . Auch in diesem Zusammenhang, insbesondere in den Kapiteln 1 - 2 und 9 der Abhandlung, hebt Aristoteles die Unter schiede zwischen Dialektik und Eristik klar hervor. Schopenhauer läßt die von Aristoteles behauptete wissenschaftliche Nützlichkeit der Dialektik gänzlich fallen und ignoriert ihren Unterschied zur Eristik, um sie schließlich mit ihr zu identifi zieren. Indem er lediglich den technisch- formalen Charakter der Dialektik bei b ehält, reduziert er sie auf ein Repertorium von Kunstgriffen, au f ein reines Argumentationsinstru•
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mentarium im Dienste der Selbstbehauptung des Red ners unabhängig vom Wahr en wie vom Falsche'n, auf eine Waffe , um jensei ts von Recht und Unrecht über den Gegn er zu siegen . Aufgrund seiner Überze ugun g, daß die Dialektik als ein Instrument im Diens te der hinterhältigen und ·rechthaberischen Natur des Men schen nichts anderes als Eristik , also Streitkunst sein kann, benutzt er das Material, das die aristotelische Tradition präpariert und ihm in aller Fülle zur Verfügung stellt, doch beklagt er sich über die zu wenig eristische Weise , in der Aristoteles die Dialektik be stimmt hat. Die Dialektik hat im Grunde für ihn fol gende Hauptaufgabe: sie muß bloß lehren , »wie man sich gegen Angriffe aller Art, besonders gegen unred liehe verteidigt, und eben so wie man selbst angreifen kann, was der Andere behauptet, ohne sich zu wider sprechen und überhaupt ohne widerlegt zu werd en« (vgl. oben , S. 3 2). Da also die Dialektik bloß darauf zu sehen hat, »wie man seine Behauptungen verteidigt und die des anderen umstö ßt« (a. a. 0.), muß sie »die un redlichen Kunstgriffe k ennen ·, um ihnen zu begeg nen: ja ·bft selbst welche brauc hen, um den Gegn er mit glei chen Waffen zu schlagen« (a. a. 0.). Die Dialekti k als bloße Kuns t, Recht zu behal ten, kümmert sich daher nicht um die objektive Wahr heit, die Sache der Logik ist. So erklärt Schop enhau er in der zu Anfang erwähn ten Stelle , er wolle die Dialek tik von der Logik schärfer sondern als Arist oteles , denn während die Logik sich an Wahrheit zu halten habe, solle sich die Dialektik dage gen auf das Rechtbehalten beschränken. •
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In diesem Zusammenhang behauptet Schopenhauer, . niemand hätte vor ihm dieses Thema zureichend be handelt, wobei er über die weitreichende Bedeutung und Wirkung der Topik des Aristoteles ein fach hinweg zusehen scheint. Wahrscheinlich hat er als Quelle für s�ine philosophiegeschichtlichen Erkundungen vor al lem die Schri ft Über Leben, Ansichten und Aussprüche der berühmten Philosophen von Diagenes Laertius so wie die Dialecticae institutiones von Petrus Ramus be nutzt. Die einzige Schrift, die er indes hier anführt, ist ein verlorengegangenes Werk von Theophrast, dessen Titel uns Diagenes Laertius überliefert (in einer übri gens problematischen Form): Agonistikon tes peri tous eristikaus l6gous theorias [Kamp f�üchlein der Lehre von den Streitreden] / Aus dem Kapitel über Logi k und Dialekti k aus den Parerga und Paralipomena entneh men wir, daß Schopenhauer zwei wenig bekannte ein-
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Bereits M. Schmidt, De Theophrasto rhetore commentarius, Diss. Halle r 8 39, und in der Folge H. Usener, Analeeta Theo phrasteae, Diss. Bonn r 8 5 8 , machten auf die grammatikalisch problematische Formulierung der Überschrift aufmerksam, insbesondere auf das Neutrum Singulare Agonistik6n [bi blion?] . Die neueren Untersuchungen neigen eher zu dem Doppeltitel im Genitiv (was dann hieße: Biblion): Agonistikon e tes peri eristikaus l6gous theorias, also Buch der agonistischen Reden oder der Lehre von den eristischen Reden (vgl. Michael G. Sollenberger, Diagenes Laertius 5 . 3 6 - 5 7 : The »Vita The. ophrasti«, in Theophrastus of Eresus. On His Life and Work, hg. von William W. Fortenbaugh, New Brunswick-Oxford 1 9 8 5 , S. r -62, insbesondere S. 46f.).
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schlägige Handbücher benutzt hat: den Tractatus logi cus singularis von Friedemann Schneider ( r 7 r 8), der »manche eristische Unredlichkeiten bloßlegt«, und die Methodus disputandi von Joachim Lange ( 1 7 1 9 ) .
der Antike ist, was ist dann für die Philosophen der Neuzeit Dialektik : Wissenschaft oder Eristik? Wie karn es denn zur Dialektik von Schopenhauer und wie zu . der von Hegel?
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8. Die postaristotelische Dialektik
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Es wäre an dieser Stelle interessant, auch au f andere bedeutende Theorien der Dialektik in der Antike hin zuweisen . Bei einigen Autoren der Schule von Megara etwa wurden die Eristik und die Lehre von den Sophis men in besonderem Maße entwickelt. Man könnte auch auf die Stoiker hinweisen, die Dialektik mit Logik gleichsetzten, und schließlich auf ·Cicero mit seinem Kompendium der Topik des Aristoteles und seiner rhe torischen Auffassung der Dialektik. All dies mag je doch an dieser Stelle unberücksichtigt bleiben, da Schopenhauer offensichtlich die genannten Dialektik th eorien nicht in Betracht zieht; und die einzige dieser Theorien, über die er einige Worte verliert, nämlich die von Cicero, k ritisiert er als oberflächlich und unbefrie digend. Im übrigen scheint jetzt, zumindest für die Antike, jener Aspekt unseres Streifzugs durch die Ge schichte der Dialektik, den wir erhellen wollten, ausge leuchtet: die Beziehung zwischen der Dialektik und der wissenschaftlichen Erkenntnis einerseits und der eristi sehen Auseinandersetzung andererseits . Es ist nun an uns, hier die Frage wieder aufzugreifen, an der wir un seren Abriß entwickelt haben. Wenn dies die Dialektik
Die Dialektik in der Neuzeit
An dieser Stelle soll weder versucht werden, die Ge schichte der Dialektik im Übergang von der antiken Welt bis zum Mittelalter d arzustellen - d er von Martia nus Capella gestaltete Mythos mag dafür genügen -, noch soll es darum gehen, sich bei den Streitigkeiten, die im Mittel alter um die Dialektik und ihre Beziehung zur Theologie ausgefochten wurden, oder bei der Ent wicklung der literarischen Genres der Sophismata und Disputationes au fzuhalten. Zwar wäre gerade dieser letzte Aspekt interessant, denn man k önnte Vergleichs betrachtungen mit der eristischen Dialektik Schopen hauers anstellen. · Doch da Schopenhauer mit Aus nahme eines Hinweises au f Johannes Scotus Eriugena und auf Francis Bacon diesen Aspekt nicht in Betracht zieht, können auch wir in diesem Zusammenhang dar über hinweggehen. s Ich beschränke mich hier darauf, stellvertretend für vieles an dere, auf die immer noch nützliche Untersuchung von Martin Grabmann hinzuweisen: Die Sophismataliteratur des 1 2 . und IJ . Jahrhunderts, Beiträge zur Geschichte der Philoso- phie und Theologie des Mittelalters, Bd. 3 6, Teil r , Münster 1 949; auf den Sammelband Die mittelalterlichen Traktate »De
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E i n Glei ches gilt für di e Entwic klung der D i alekti k i m Humani smus und in der Renai ssance. H ier wären i nteressante Veränderungen in der Konzepti on der Di alekti k festzuhalten: d i e scharfe Entgegensetzung zur ari stotelisch -scholasti schen Auffassung, di e bis i ns XVII . Jahrhundert hi nei n fortlebte, wo man s i e i n den Kommentaren in universam dialecticam Aristotelis der Schule von Co imbra fi ndet; sodann d i e Rehabi liti erung der c iceroni schen Di alekti k als ars disserendi in utram que partem für di e juri sti sche Praxi s; wei ter das Entste hen des »Rhetori smus«, ei nes Phänomens, das s i ch sowohl i nfolge der verbrei teten Kenntnis des Werkes Ci ceros entwic kelte als auch deshalb, weil der Unter richt von Logik und Rhetori k parallel l i ef und di e ei ne Di szi pl i n di e andere beei nflußte. All di ese Phänomene si nd an di e Namen berühmter Humani sten geknüpft : Lorenzo Valla (Dialectica, Vened i g I499), Rudolf Agri cola (ei gentl i ch : Roelof Huysman, De inventione dia lectica, Löwen I 5 I 5 ) , Juan Lui s V ives (Adversus pseumodo opponendi et respondendi« , hg.
De R ijk , Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelal ters, Neue Folge, Teil 17, Münster r98o, der unter anderem den Thesaurus philosophorum von Aganafat und das De modo opponendi et respondendi des Pseudo-Albertus Magnus ent hält; sowie schließlich auf Sten Ebbesen, Commentators and R.
Commentaries on Aristotle's Sophistici Elenchi. A Study of post-Aristotelian Ancient and Medieval Writings on Fallacies,
Bde., Leiden 198 1 , und auf Niels ]0rgen Green-Pedersen, The Tradition of the Topics in the Middle Ages, München 1 984. 3
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dodialecticos, Selestat I 5 20) , Petrus Ramus (Dialecticae partitiones [später: institutiones], Pari s I 5 4 3 ; Aristoteli cae animadversiones, Paris I 543), Ph il ipp Melanchthon (Erotemata dialectices, Wi ttenberg I 5 4 7 ).
Für unseren phi losophi egeschichtli chen Zusammen � ang i nteressant i st d ie damali ge Bedeutung der inven tio und der Auswahl der loci als Ausgangspunkte für di e Argumentati on (sedes argumentorum), denn si e rückt in di eser Zeit i n den Vordergrund gegenüber dem ande ren Aspekt der D i alekti k, dem iudicium, also gegen über der korrek ten Form des syllogi sti schen Schli e ßens . Gerade in der unterschi edlichen Gewichtung von inventio und iudicium, von Top i k und Analyti k , li egt der Hauptuntersch ied zwi schen der aristotelisch -scho lasti schen und der human i sti sch-ci ceroni an ischen Au f fassung der Di alekti k. Für letztere i st di e Top ik , also di e Di alekti k, ke i ne Tei ldi sziplin, di e womögli ch der Analyti k rangmäßi g untergeordnet i st, da s i e von nur wahrschei nlichen Schlüssen handelt. Si e ist vi elmehr di e notwend i ge Voraussetzung der Analyti k, da s ie di e loci communes l i efert, von denen jedes Argument i eren und Räsonn ieren, das analyti sche i nbegriffen, ausge hen muß. Au f di ese Weise kristalli s iert si ch der Unter schi ed zw i schen Analyti k und Di alekti k heraus, der si ch latent b i s zu Kant fortentwickelt. Wünschenswert wäre es auch, di e Kri s i s der Di ale k tik i n der Neuzeit zu untersuchen, di e durch das si ch behauptende neue Wi ssensparad i gma, das auf der ma thematisch-analyt ischen Methode bas iert, in Gang ge bracht w i rd . D i e Dialekti k wird nun entweder au f ei ne 113
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»natürli che Di alekti k« zurückgeführt, welche di e ei n zi ge ordo ausmacht und den ei nzi g möglichen Weg wi ssenschaftli cher Forschung zei gt, näml ich denjeni gen, der von Bekanntem zu Unbekanntem h inführt so steht es berei ts bei Petrus Ramus ( Quod sit unica doctrinae instituendae methodus, Pari s 1 5 5 7) -, oder si e wi rd i mmer mehr i n den Status ei nes Scheinwi ssens ver drängt. 9 . 10.
Die Dialektik bei Kant
Der Denker, der nach Begi nn der Neuzei t das Problem der D ialekti k i n einem phi losoph i sch strengen Ansatz aufgrei ft, und der auch für Schopenhauer und Hegel entsc h ei dend wurde, i st Kant. Bekanntli ch wei st di e Kritik der reinen Vernunft i n ihrer Arch itektonik ei ne Gli ederung nach »Ä stheti k« und »Logi k« auf, wobei di e Logik i hrersei ts i n »Analyti k « und »D i alekti k« auf getei lt wi rd . Für uns i st vor allem d i ese letzte Unter schei dung wichti g, da s i ch aus i hr di e Kanti sche Auffas sung der Di alekti k ergi bt. Kant defini ert d i e Analyti k al den Teil der Logik , der di e formale Täti gkei t des Verstandes und der Vernunft auf i hre elementare Be- stand tei le, näml i ch Vorstellungen, Urtei le und Syllo9 Vgl. zu dieser philosophiegeschichtlichen Rekonstruktion: Wilhelm Risse, Die Logik der Neuzeit, 2 Bde., Stuttgart-Bad Cannstatt 1964 u. 1970; und zur weiteren Entwicklung der neuzeitlichen Dialektik: Wolfgang Röd, Dialektische Philoso phie der Neuzeit, München 2 1 986. 114
gi smen zurückführt und di ese als formale Kri teri en zur Überprüfung der Gülti gkeit jegli chen Erkennens dar
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legt (Kritik der reinen Vernunft, B 8 2 ff. ) . Nun vermag di e reine Form des Denkens nicht aus s ich selbst heraus wahre Erkenntni s hervorzubri ngen, �i e l i efert k ei nerlei objektive Sachwahrhei t, sondern er mögli cht led i gli ch, di e Gegenstände gemäß den Geset zen der Logi k i n ei nem konsistenten Zusammenhang zu denken. »Glei chwohl - so bemerkt Kant - l i egt so etwas Verlei tendes i n dem Besi tze ei ner so schei nbaren Kunst, allen unseren Erkenntni ssen d ie Form des Ver standes zu geben, ob man gleich i n Ansehung des Inhalts derselben noch sehr leer und arm sei n mag, daß jene allgerneine Logi k, di e bloß ei n Kanon zur Beurtei lung i st, glei chsam wi e ei n Organon zur wi rklichen Hervorbri ngung, weni gstens zum Blendwerk von ob jekti ven Behauptungen gebraucht und m i thin in der Tat dadurch gerni ßbraucht worden . Di e allgernei ne Logi k nun, als vermei ntes Organon, heißt Dialektik« (Kritik der reinen Vernunft, B 8 5 ) . In di esem Zusammenhang lassen s i ch zwei Feststel lungen treffen. Zunächst: Kant scheint mi t se i ner Gli e derung der Logi k i n Analyti k und D ialektik - ganz generell gesehen und unabhängi g davon, was er jewe ils unter Analytik und D i alekt ik versteht - der ari sto teli schen Trad i ti on zu folgen. D i ese sah di e Di alekti k neben der Analyti k als ei nen Teil der Logi k an, im Un tersch i ed sowohl zum »Rhetori smus« oder »Ci ceroni s mus«, der d i e D i alekti k als Voraussetzung und Basi s allen Argurnentierens betrachtete, als auch zum »Ra115
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mismus«, der Dialektik mit Logik gleichsetzte. 10 Eine Bestätigung dafür, daß sich Kant in diesem Punkt auf Aristote�es bezieht, findet sich auch in seinen Vorlesun gen zur Logik, die Gottlob Benjamin Jäsche herausgab (Königsberg 1 8oo ). Denn hier heißt es: »Die jetzige Logik schreibt sich her von Aristoteles' Analytik. Dieser Philosoph k ann als der Vater der Logik angesehen werden. Er trug sie als Organon vor und teilte sie in Analytik und Dialektik« (Akademie-Ausgabe, IX, 20) . Daß Kant im übrigen Aristoteles als Bezugspunkt •
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Giorgio Tonelli hat in seiner Untersuchung Der historische Ursprung der kantischen Termini »Analytik« und »Dialek tik « , in: »Archiv für Begriffsgeschichte«, VII, 1962, S. 1 20-
das Vorkommen der Unterscheidung von Analytik und Dialektik in der Deutschen Philosophie vor Kant nachgewie ·sen. Er behauptet, qaß in Deutschland nach dem Ausgehen des Ramismus zu Beginn des XVII. Jahrhunderts Dialektik in 'Übereinstimmung mit der scholastischen Tradition die ge samte aristotelische Logik meint. Nur über den Einfluß aus ländischer Aristoteliker wie Jacopo Zabarella und Philippe Canaye setzte sich in der Folge die Unterscheidung zwischen Analytik und Dialektik durch, die man in Handbüchern der Zeit findet. Unter diesen macht Tonelli als Quelle Kants den Traktat des Eklektikers Joachim Georg Darjes aus: lntroduc 1 39,
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tio in Artern lnveniendi, seu Logicam theoretico-practicam, qua Analytika atque Dialectica in usum et iussu auditorum suorum methodo iis commoda proponuntur, Jena 1 7 3 2 . Hier wird die Analytik als scientia inveniendi veritates probabiliter
definiert. An anderer Stelle zeichnet Darjes auch eine kurze Geschichte der Logik ausgehend von Zenon nach (wozu er Gassendi als Quelle benutzt). Auch dies wird von Kant auf genommen.
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nimmt und in hohem Ansehen hält, geht daraus hervor, daß er im Vorwort zur zweiten Ausgabe der Kritik der Vernunft in bezug auf die Logik schreibt, »daß sie seit dem Aristoteles keinen Schritt rückwärts hat tun dür fen« un d »daß sie auch bis jetzt keinen Schritt vorwärts �at tun k önnen« (Kritik der reinen Vernunft, B VIII). ' Da nun die Beziehung zur aristotelischen Tradition · festste ht, muß man zum anderen bemerken, daß Kant gegen diese Tradition, auf die er sich immerhin beru ft , der Dialektik eine negative Bedeutung zuweist, wie man aus deren Definition an der zitierten Stelle ersieht. Gemäß· seiner philosophischen Auffassung, wonach das Denken lediglich die Form unseres Erkennens be stimmt, während sein Inhalt nur durch die Sinnlichkeit beigesteuert wird, betrachtet Kant die Dialektik als den illusorischen Anspruch des menschlichen Geistes, Er kenntnis allein durch die Denkfähigkeit zu erzeugen. Daher warnt er, »daß die allgemeine Logik, als Orga non betrachtet, jederzeit eine Logik des Scheins, d . i. dialektisch, sei. Denn da sie uns gar nichts über den Inhalt der Erkenntnis lehrt, sondern nur bloß die for malen Bedingungen der Übereinstimmung mit dem Verstande, welche übrigens in Ansehung der Gegen stände gänzlich gleichgültig sind: so muß die Zumutung, sich derselben als eines Werkze:ugs (Organon) zu gebrauchen, um seine Kenntnisse wenigstens dem Vor gehen nach auszubreiten und zu erweitern, auf nichts als Geschwätzigkeit hinauslaufen, alles, was man will, mit einigem Schein zu behaupten, oder auch nach Belie ben anzufechten« (Kritik der reinen Vernunft, B 8 6). 117
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Selbst wenn er keinerlei Namen, nicht ei nmal Ari stoteles nennt, schreibt Kant offenbar jene negative Auffassung der Dialektik dem gri ech i schen Denken insgesamt zu: »So versch i eden auch die Bedeutung i st, in der die Alten di eser Benennung e iner Wi ssenschaft oder Kunst s i ch bed i enten, so kann man doch aus dem wirkli chen Gebrauche derselben sicher abnehmen, daß sie bei ihnen n i chts an�eres war, als di e Logik des Scheins. Eine soph i stische Kunst, sei ner Unwi ssenhei t, ja auch se inen vorsetzliehen Blendwerken dadurch den Anstri ch der Wahrhei t zu geben, daß man die Methode der Gründlichkeit, welche di e Logik überhaupt vor schreibt, nachahmte und ihre Topik zur Beschönigung jedes leeren Vorgehens benutzte« ( ebd. ). Dieselbe ne gative Best i mmung der D iale kti k als Logik des Scheins oder der Tauschung, als ars sophistica, disputatoria, wird i n der Logik bestätigt. H i er sagt Kant, daß »bei den Griechen die Dialektiker die Sachwalter und Red ner waren, welche das Volk lei ten konnten, wohin sie wollten, we il sich das Volk durch den Schein hinterge hen läßt. Di alekti k war also damals die Kunst des Scl1eins . In der Logi k wurde sie auch eine Zei tlang un ter dem Namen der Disputierkunst vorgetragen, und so lange war alle Logi k und Philosophie die Kultur gewisser geschwätz i ger Köpfe, jeden Sche i n zu erkünsteln« (Akademi e-Ausgabe, IX, r6 f. ) . Kant nivelli ert in diesem Sinne die anti ke D i ale ktik auf Sophistik und Eristik. Dies bedeutet aber, daß er ungeachtet seines Rückgriffs auf die aristotelische Tra dition und auf ihre Unterschei dung von Analyti k und .
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Dialektik - von der Di alekti k nur eine geringe Meinung hat. Außerdem we i st Kant ausdrücklich auch die Auf fassung der Dialektik zurück, die s i ch in der ari stoteli sehen Tradition der Neuze i t durchsetzte, der er di e Unterscheidung zwischen Analytik und Dialektik ent �ahm. In di eser Tradi tion wurde die Dialektik als logica probabilium au fgefaßt, d. h. als der Rati onali tätstyp , der für di e wi ssenschaftliche Erforschung des Kontingenten angemessen i st, insofern dieses in sei ner Un beständi gkeit keine notwendig wahre, sondern nur wahrscheinliche Erkenntnisse zuläßt. »Wahrscheinlich« heißt aber zweierlei: probabilis oder aber verisimilis. Indem Kant di e Dialektik als »Logik des Schei ns« defi niert, d. h. als Logi k des Wahrschei nlichen im Sinne des verisimile, also desjenigen, was nur dem Augenschein nach wahr dünkt, es aber nicht ist, verwirft er die Vor. stellung, daß Dialektik di e Logi k des Wahrscheinlichen im S i nne des prohabile sei , also des Kontingenten, d. h. dessen, was mi t einem bestimmten Wahrschei nl i ch keitsgrad ei ntri tt. Di e Wahrschei nli chkeitsrechnung in i hrer Eigenschaft als wahre, echte Erkenntnis gehört Kant zufolge i n die Analytik: »Wi r haben oben di e Dia lekti k überhaupt eine Logik des Scheins genannt. Das bedeutet nicht, sie sei eine Lehre der Wahrscheinlichkeit; denn di ese ist Wahrhe i t, aber durch unzurei chende Gründe erk annt, deren Erkenntni s also zwar mangelhaft., aber darum doch nicht trügli ch i st und mit hi n von dem analyti schen Teil der Logik ni cht getrennt werden muß« (Kritik der reinen Vernunft, B 349). Über das historische Interesse h i naus, die unmittel.
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baren und ferneren Quellen für Kants abwertende Auf fassung der Dialektik aus fi ndig zu machen, darf be merkt werden, daß er darin zweifellos ein Kind seiner Zeit ist. Er treibt die seit Descartes geläufi g geworderte Polemik gegen die Dialektik weiter und lehnt sie als Schein k unst scharf ab : sie, gebe vor, zu lehren, wie man über alles Mögliche diskutiere, doch anstatt ein Sach verständnis zu verschaffen, verleite sie uns dazu, uns in Gemeinplätzen zu verlieren . Solche Polemik ist letzt lich die frühneuzeitliche Polemik gegen das scholasti sehe Wissen der Aristoteliker, die im Namen der mo dernen Wissenschaft und ihrer Methode geführt wurde und bei der man nicht mehr imstande war, zwischen Aristoteles und dem degenerierten Aristotelismus der Scholastik zu unterscheiden. Das ist sogar bei Kant der Fall, wenn er Aristoteles - in offenem Widerspruch zu dessen Texten - die eigene Geringschätzung der Dia lektik als Sophistik und Eristik unterschiebt: »Man kann einen jeden Begriff, einen jeden Titel, darunter viele Erkenntnisse gehören, einen logischen Ort nen nen . Hierau f gründet sich die logische Topik des Aristo tetes, deren sich Schullehrer und Redner bedienen konnten, um unter gewissen Titeln des Denkens nach zusehen, was sich am besten für eine vorliegende Ma terie schickte, und darüber hinaus mit einem Schein von Gründlichkeit zu vernünft eln oder wortreich zu schwatzen« (Kritik. der reinen Vernunft, B 3 2 4 - 2 5 ). Vor allem interessant ist dabei die historische Erläu terung zur Gleichsetzung von Dialektik und Eristik, die Kant selbst in seinen Vorlesungen zur Logik liefert .
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Er gibt einen kurzen Abriß der Geschichte der Philos o phie und weist auf eine ursprünglich positive Bedeutung der Dialektik bei Zenon hin - einem Denker, den er in der Kritik der reinen Vernunft als »subtil en Dialektiker« lobt und gegen die von Platon erhobene Anklage, er sei ein »mutwilliger Sophis t«, in Schutz nimmt (B 5 3 0 ). Daraufhin spricht er von einer Degeneration, die die Dialektik erlitten habe, bis sie die von ihm erläuterte negative Bedeut ung angenommen habe: »Der Grund satz der eleatischen Philoso phie und ihres Stift ers Xe nophanes war: in den Sinnen ist Tiiuschung und Schein,
nur im Verstande allein liegt die Quelle der Wahrheit. Unter den Philosophen dieser Schule zeichnete sich Ze non als ein Mann von großem Verstande und Scharfsinne und als ein subtile r Dialektiker aus . Die Dialektik be deutete anfangs die Kunst des reinen Verstandesgebrauchs in Ansehung abstrakter, von aller Sinnlichkeit abgesonderter Begriffe. Daher die vielen Lobeserhe bungen dieser Kunst bei den Alten. In der Folge, als diejenigen Philosophen, welche gänzlich das Zeugnis der Sinne verwarfen, bei dieser Behauptung notwendig auf viele Subtilitäten verfallen mußten, artete Dialektik in die Kunst aus, jeden Satz zu behaupten und zu bestrei ten. Und so ward sie eine bloße Übung für die Sophi sten, die über alles raisonnieren wollten und sich darau f legten, dem Scheine den Anstrich des Wahren zu geben und schwarz weiß zu machen« (Akademie-Ausgabe, IX, 28). Nun sind wir in der Lage, die eingangs gestellte Frage zu beantworten: Wie kam es zu der Schopenhau erschen und der Hegeischen Au ffassung der Dialektik? •
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Schopenhauer versus Hegel
Es ist damit klar geworden, daß die Kantische Reduk tion der Dialektik au f eine »Logik des Scheins« oder »Logik der Täuschung«, also ihre Deutung in sophisti scher und eristischer Weise, die unmittelbare Quelle für Schopenhauers reduktive Dialektik-Konzeption dar stellt. Dem steht Schopenhauers Ablehnung der Kanti schen Auffassung nicht entgegen. So bemerkt er frei lich zur Definition der Dialektik als »Logik des Scheins« schroff: » falsch: dann wäre sie bloß brauchbar zur Vertei digung falscher Sätze« (vgl. oben, S . 32). Aber es handelt sich offenbar um eine Kritik, die eigent lich nicht die negative Auffassung der Dialektik im Sinne der bloßen Kunst, Recht zu behalten, in Zweifel zieht, sondern die vermeintliche Beschränkung ihres Anwendungsbereichs . Wir verfügen nun über den philosophiegeschicht lichen Hintergrund, um die Gleichsetzung von Dialek tik und Eristik zu verstehen, die Schopenhauer, indem er Kant voraussetzt und Hegel verschweigt, für ausge macht und selbstverständlich hält: »Also darauf (auf die Wahrheit) hat sich die Dialektik nicht einzulassen: so wenig wie der Fechtmeister berücksichtigt, wer bei dem Streit, der das Duell herbeiführte, eigentlich Recht hat: treffen und parieren, darauf kommt es an, eben so in der Dialektik: sie ist eine geistige Fechtkunst; nur so rein gefaßt, kann sie als eigne Disziplin aufgestellt wer den: denn setzten wir uns zum Zweck die reine objek tive Wahrheit, so kommen wir auf bloße Logik zurück; 122
setzen wir hingegen zum Zweck die Durchführung fal scher Sätze, so haben wir bloße Sophistik. Und bei beiden würde vorausgesetzt sein, daß wir bereits wüß ten, was objektiv wahr und falsch ist: das ist aber selten zum voraus gewiß. Der wahre Begriff der Dialektik ist al$0 der aufgestellte: geistige Fechtkunst zum Rechtbe halten im Oisputieren« (vgl. oben, S. 3 3 ). Was Hegel betrifft, den Schopenhauer auch in diesem Punkte ignoriert, so geht er ebenfalls von Kant aus. Doch »Hegel und die Dialektik« ist ein so weites und so intensiv bearbeites Feld, daß es hier nicht in Angriff geno1n1n·en werden k ann. Wir sollten zur Rechtferti gung der aufgestellten Behauptung lediglich eine kurze Betrachtung zum Kapitel über Kant nachschicken, um den Übergang zu Hegel besser zu verstehen. Nachdem Kant die Dialektik in der hier erläuterten negativen Be deutung eingefüb rt hat, stellt er fest : da die Unterwei sung einer solchen Schein kunst »der Würde der Philo sophie au f keine Weise gemäß ist«, könne er sie in seinem System nur als Insttument aufnehmen, um die Selbsttäuschungen zu zerstören, die die Vernunft da durch erzeuge, daß sie den Anspruch erhebe, die Ideen der unsterblichen Seele, der Welt und Gottes zu ken nen. Fortan bezeichnet Kant ein solches Zerstörungs werk als Dialektik in positivem Sinne und nennt sie die
»Kritik des dialektischen Scheins« (Kritik der reinen Vernunft, B 86). Kant widmet sich diesen kritischen Aufgaben, indem er zeigt, wie die dialektische Illusion unvermeidlich die Vernunft zu dem Anspruch verleitet, als objektiv erken123
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nen zu wollen, was nur Idee, d. h . leerer Begriff ist und dem keinerlei füllende Anschauung entspricht: das sind die unsterbliche Seele, die Welt und Gott als Ideen, die die Psychologie, die Kosmologie und die rationale Theologie als Gegenstände zu erkennen beanspruchen. Wichtig in unserem Zusammenhang ist der Teil der transzendentalen Dialektik, der sich mit der rationalen Kosmologie befaßt. Darin zeigt Kant, wie die Vernunft unvermeidlich eine »Antithetik« entwic kelt, also ein System von Antinomien, d . h . einander entgegenge setzten Aussagen, die beide beweisbar (oder widerleg bar) sind, ohne daß sich scheinbar ein Ausweg aus den so entstehenden Dilemmata abzeichnet. Die erste Anti nomie besteht im Beweis der These, daß die Welt end lich sei, und zugleich der Antithese, sie sei unendlich; die zweite im Beweis der These, daß jede zusammengesetzte Substanz aus ein fachen Elementen bestehe, und zugleich der Antithese, daß keine zusammengesetzte Substanz aus einfachen Elementen bestehe; die dritte Antinomie besteht im Beweis der These, daß zur Er klärung der Welt neben der Kausalität nach den Na turgesetz�n eine Kausalität aus Freiheit angenommen werden müsse, und im gleichzeitigen Beweis der Anti these, daß alles gemäß der Notwendigkeit der Naturge setze geschehe; die vierte in dem Beweis der These, daß die Welt als Grund oder Teil ihrer selbst ein notwendiges Wesen verlange, sowie im gleichzeitigen Beweis der Antithese, daß k ein solches notwendiges Wesen als Ursache der Welt existiere. Insofern sie Kritik des tran szendentalen Scheins ist, muß die Dialektik die Anti'
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nomien der Vernunft auflösen, und zwar. durch Anwen dung der von Kant sogenannten »Zetetischen« oder »skeptischen Methode«. Diese soll im Sinne des kriti sehen, nichtdogmatischen Skeptizismus verstanden werden, der zweifelnd und fragend sucht, scheinbare und illusorische Wahrheiten zu entlarven, die ja j eweils These und Antithese der Antinomien sind . Dies war auch in Kants Bedeutung die Methode Zenons . So erklärt sich, warum er Zenon schätzt und ihn gegen die von Platon erhobene Anschuldigung verteidigt, er sei ein »mutwilliger Sophist« (Phaidros, 261 d). Die An schuldigung sei ihm aus dem Grunde gemacht worden, »daß er, um seine Kunst zu zeigen, einerlei Satz durch scheinbare Argumente zu beweisen und bald darauf durch andere, ebenso starke, wieder umzustürzen suchte. Er behauptete, Gott (vermutlich verstand er darunter nichts anderes als die Welt), sei weder endlich noch unendlich, er sei weder in Bewegung noch in Ruhe, sei keinem andern Dinge weder ähnlich noch unähnlich . Es schien denen, die ihn hierüber beurteilten, er habe zwei einander widersprechende Sätze ,gänzlich ableugnen wollen, welches ungereimt ist« (Kritik der reinen Vernunft, B 5 30).11 Und Kant fügt zugleich hinzu : »Allein ich finde nicht, daß ihm dieses '
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Es sei nebenbei bemerkt, daß Kant hier Zenon eine Lehre des Xenophanes zuweist. Das kommt daher, daß er sich auf die pseudo-aristotelische Schrift Über Melissos, Xenophanes, Gorgias stützt,' die damals unter dem irrigen Titel Über Xe nophan,es, Zenon und Gorgias bekannt war. I
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mit Recht zur Last gelegt werden könne« (ebd . ) . 12 Er versteht nämlich zur Recht die von Zenon praktizierte Methode nicht als die widersinnige Verne inung zweier sich widersprecheJ!-der, also kontradi�torischer Aussa-: gen (von denen zwangsläufig eine wahr ist und die andere falsch, da zwischen widersprüchlichen Aussa gen eine dritte ausgeschlossen ist: tertium non datur), sondern im Sinne der Verneinung zweier konträr entge gengesetzter Aussagen, die ein tertium zulassen und daher, wenn sie schon nicht beide wahr sein können (aus dem Satz des zu vermeidenden Widerspruchs heraus), sie doch beide falsch sein können, so daß die •
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Wahrheit in einer dritten Aussage liegen k ann. Diesen Typus der Entgegensetzung nennt Kant »die dialekti sche Opposition« und unterscheidet sie sowohl von der »analytischen Opposition« (durch den Widerspruch) als auch von der »Realrepugnanz« oder »realen Oppo sition« (ohne den Widerspruch). Da Zenon mit Scharf sinn die konträre Opposition (durch Gegensatz) von der kontradiktorischen Opposition (durch Wider spruch) getrennt hält, zeigt er sich in den Augen Kants als subtiler Dialektiker, der in der Lage ist, mit Hilfe jener »Zetetischen« oder »skeptischen« Methode zu argumentieren, die Kant selbst schätzte und praktiz1erte. Hegel nimmt die innere Dynamik der transzenden talen Dialektik Kants auf und radikalisiert sie. Er er kennt Kant den Verdienst zu, begriffen zu haben, daß es notwendig Antinomien der Vernunft gibt. Er deutet diese sogar nicht bloß als k onträr, sondern als kontra diktorisch entgegengesetzte Aussagen, also als echte Widersprüche. Er .lastet Kant jedoch den Fehler an, die Antinomien als rein subjektiv angesehen zu haben, und das heißt: bloß als Produkte einer begrenzten Vernunft, die unfähig ist, das Ganze zu erk ennen. Daß die Ver nunft ihre eigene Antithetik entwickelt, die sich durch die Macht der Negativität und des Widerspruchs entfal tet und über die Kosmologie hinaus auf alle Ideen, Begriffe und Gegenstände ausgeweitet werden muß , besagt für Hegel, daß sie das Unendliche, das Abso lute, das Ganze erkennt, denn dieses kann nur durch den Widet;spruch ausgesagt werden. Hegel lehnt sich •
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A. a. 0 . Hiermit stellt sich Kant - über die Verteidigung Ze nons gegen Platons Anschuldigung hinaus - bewußt gegen eine Deutungstradition, deren maßgeblicher Repräsentant Pierre Bayle war. Dieser schreibt in seinem sehr verbreiteten Dictionnaire historique et critique (Rotterdam 1 697, in der Folge mehrmals wiederaufgelegt) unter dem Stichwort Ze non : »Das Schicksal dieser zenonischen Dialektik scheint es eher gewesen zu sein, alles zu verwirren als irgendetwas zu klären. Zenon bediente sich ihrer nur, um mit jedem zu dis kutieren und seine Gegner zum Schweigen zu bringen, egal ob sie behaupteten, eine Sache sei weiß oder schwarz . . . man gewinnt daraus das Bild eines Menschen, der alles kritisierte, der sehr viele Meinungen zerstörte und sehr wenige davon für sich bewahrte« (dt. Übersetzung: Peter Baylens Historisches und critisches Wörterbuch, 1-4, L�ipzig, 1 74 1 -44, versehen von Johannes Christoph Gottscheden). Daß Kant gegen diese verbreitete Meinung denkt, ist ein erneuter Beweis für die Bewußtheit, mit der er beabsichtigt, Zenons dialektische Methode als Kritik des Scheins nutzbar zu machen. .
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somit an die Kantische Dialektik in ihrem positiven Sinne an und entwickelt die Dialektik zur Logik des Widerspruchs weiter, die das pulsierende Prinzip seines Systems darstellt, ja überhaupt das Leben des Geistes ausmacht. Mit Hegel erhält so die Dialektik ihr stärkstes phi losophisches Profil . Schopenhauer setzt ihm - aus Gründen, die die angedeutete Entwicklung mit sich bringt - eine Auffassung entgegen, die der Dialektik mit gleicher Wucht ihre alten Konturen zurück geben will. Er reduziert sie auf einen minimalen Geltungsbe reich, auf einen »Machiavellismus der Rede«: Dialektik ist die Kunst, Recht zu behalten, die »Lehre vom Ver fahren der dem Menschen natürlichen Rechthaberei« (vgl. oben, S . 7 8) - wozu er das entsprechende, unübertroffene Brevier liefert. Diese Bestimmung ist vom philosophischen Standpunkt aus betrachtet vielleicht weniger tiefsinnig, sie hat sich j edoch im Wandel der Zeiten letztlich als wesentlich flexibler erwiesen. Scho penhauer hat die Dialektik ja nicht einer bestimmten Philosophie zugeordnet, mit der sie stünde und fi ele, sendern der Natur des Menschen als eines sprachbe gabten Lebewesens, oder - wie es ein Meister des desil lusionierten Denkens ungefähr zur gleichen Zeit beobachtete - als eines Lebewesens, dem die Götter das Wort gegeben haben, damit es seine Gedanken verber gen könne.
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