Das neue Abenteuer 515
Maryse Conde: Tod auf Guadeloupe
Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.0 by Dumme Pute
Titel des f...
20 downloads
613 Views
685KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Das neue Abenteuer 515
Maryse Conde: Tod auf Guadeloupe
Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.0 by Dumme Pute
Titel des französischen Originals: Pays mele Ins Deutsche übertragen von Frauke Rother Mit Illustrationen von Günther Lück ISBN 3-355-00923-7 © Maryse Conde Für die Übersetzung und die Illustrationen © Verlag Neues Leben, Berlin 1989 Lizenz Nr. 303(305/124/89) LSV 7723 Umschlag: Günther Lück Typografie: Walter Leipold Schrift: 8p Timeless Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr. 644 702 7 00025
I
Für Daniel Radford
Warum erzähle ich - womöglich ganz falsch - diese Geschichte, die nur dank meiner Vorstellungskraft und meiner geduldigen Nachforschungen noch einmal zum Leben erweckt wurde? Ich bin Arzt. Chefarzt im Krankenhaus Sainte-Hyacinthe, dem früheren Zentralkrankenhaus von Fort Pilote auf Guadeloupe. Das heißt, ich habe nicht wenig Leichen, Sterbende, Todgeweihte und Gemarterte gesehen. Ich habe nicht wenig Tragödien miterlebt. Warum also haben mich jene beiden Todesfälle mehr berührt als andere? Am 23. Januar 1984 explodierte in den Räumen der führenden Unabhängigkeitsbewegung unseres Landes eine Bombe und tötete einen jungen Mann, der dort sicherlich gerade Bereitschaftsdienst gehabt hatte. Man brachte seinen blutigen Körper zu mir. Ich konnte nur noch den Tod feststellen. Er hieß Antoine Surena und war am 24. März 1964 geboren; er war knapp zwanzig. Am nächsten Morgen wurde eine Frau eingeliefert, schmächtig und unscheinbar, die bereits im Koma lag. Ich geleitete sie zur Intensivstation, als mein Blick unwillkürlich auf das Krankenblatt fiel, das ein Medizinstudent ausgefüllt hatte: »Berthe Surena. Geboren am 28. Dezember 1945 in Fort Pilote.« Ein Krankenpfleger gab uns Auskunft. Ja, es war die Mutter des jungen Kämpfers. Bei der Nachricht vom Tod ihres Sohnes war sie ohne einen Schrei, wie ein Zugtier, das nicht mehr weiterkann, umgefallen. Verbissen machte ich mich an diesem reglosen Körper zu schaffen. Injekti-
on. Tropf. Massage. Nichts half. Hinter den Vorhängen des Krankenhauses lag Fort Pilote wie gelähmt in der brütenden Hitze und hielt in Erwartung des nächsten Attentats den Atem an. Surena? Der Name sagte mir nichts. Denn als alteingesessener Bürger von Fort Pilote bin ich ein ausgezeichneter Ahnenforscher, und es entgeht mir nichts von der Herkunft all derer, die einen Namen haben. Meine eigene Unwissenheit stachelte mich an. Ich habe zwei Jahre darauf verwandt, die Fakten zusammenzutragen und die einzelnen Fäden miteinander zu verknüpfen. Ich gebe zu, ich habe auch dazuerfinden und so manches Loch zustopfen müssen. Trotzdem bin ich zufrieden. Ich habe Berthe und ihren Sohn nicht verraten. Aber vielleicht hätten sie einen anderen Zeugen als mich verdient? Wie dem auch sei, hier also ist meine Geschichte. Vielmehr, ihre Geschichte.
Gegen 1896 erregte in unserer Stadt Fort Pilote eine Negerin, die Belle - die Schöne - genannt wurde, die Aufmerksamkeit ihrer Mitbürger. Noch vor kurzem war kaum die Rede von Fort Pilote. Erst der hier tobende Unabhängigkeitskampf hat diesen Ort, der wie die kleinen Handelsniederlassungen in den Kolonien dumpf vor sich hinzudämmern schien, aus seiner Anonymität herausgerissen. Heute vergeht nicht eine Woche, ohne daß dieser Name auf der Titelseite der Zeitungen in der ganzen Welt auftaucht. Attentate. Explosionen. Überfallene Autos. Die Freiheit hat ihren Preis. Seien wir ehrlich. Fort Pilote ist keine schöne Stadt. Ihre Einwohner, selbst diejenigen, die wie ich in sie verliebt
sind, müssen das zugeben. Außer einem Denkmal des Entdeckers, dem gleichen, das sich auf dem Columbus Circle in New York befindet, lenkt kein öffentliches oder privates Gebäude die Aufmerksamkeit auf sich, und die Touristen begeben sich eiligst zu den weißen Sandstränden, nachdem sie einmal die Place de la Victoire überquert haben. Gegen 1896 zählte Fort Pilote kaum mehr als 12000 Seelen. Die Stadt bestand aus drei Teilen. Le Bas du Bourg, wo sich kleine Häuschen, ganz ähnlich den Hütten der ehemaligen, gerade erst freigelassenen Sklaven, dicht aneinanderdrängten. La Folie, wo sich mit schmiedeeisernen Balkonen verzierte Holzhäuser im, wie wir heute sagen, »Kolonialstil«, erhoben. Und Le Carenage, eine Anhäufung von Speichern und Zweigstellen der Handelshäuser aus Bordeaux, wo Schweineschmalz, Reis und Rohrzucker ausgewogen wurden. Belle wohnte in Le Bas du Bourg; sie war Wäscherin. Wenn sie Belle genannt wurde, dann nicht wegen ihrer körperlichen Reize, denn sie war von ganz gewöhnlichem Aussehen. Es war vielmehr die Kurzform ihres Vornamens Mirabelle. Sie vermochte die Leidenschaft eines sehr bekannten Politikers zu wecken, Jean Hilaire Endomius, den die Historiker heute als einen der Begründer der Sozialistischen Partei bezeichnen. Jean Hilaire war ein imposanter Mann, ein gewaltiger Redner, unermüdlicher Pamphletist und Chefredakteur einer Zeitung, die in l600 Exemplaren erschien, Le Cri du Negre. Die Gunst eines vermögenden Mannes zu erringen, war zu jener Zeit für die meisten Frauen das einzige Mittel des sozialen Aufstiegs. Gewöhnlich versuchten sie ihn »mit
den Sinnen und mit guter Küche« an sich zu binden und kamen so zu einem Haus und einem Stückchen Land. Dann machten sie Kinder, die, auch wenn sie unehelich waren, auf die armen Schlucker, von denen sie selbst abstammten, von oben herabblickten. Belle brach ein für allemal mit dieser Tradition. Sie weigerte sich, Le Bas du Bourg gegen La Folie zu tauschen, so wie Jean Hilaire es ihr vorgeschlagen hatte, sie weigerte sich, ihr Handwerk aufzugeben. Jean Hilaire blieb hartnäckig, und wie es der Fall ist, wenn sich einem ein Hindernis in den Weg legt, entflammte er immer heftiger. Die ganze Stadt sprach bald von nichts anderem mehr als von seiner Leidenschaft und den Extravaganzen, zu denen sie ihn trieb. Er vernachlässigte seine Frau, die Tochter eines großen Industriellen, der im Generalrat die Interessen der Zuckerrohrpflanzer verteidigte, und zog das Bett Belles ganz offen dem eigenen vor. Eines Tages verschwand Belle. Jean Hilaire, der, offen gesagt, schon immer gern zum Zuckerbranntwein gegriffen hatte, verfiel ihm nun in seinem Kummer ganz und gar. Das schadete seiner Karriere indessen nicht. Obwohl stets angetrunken, gewann er 1898 die Parlamentswahlen, wurde zum Abgeordneten gewählt und verließ zum erstenmal im Leben seine Insel, um nach Frankreich zu fahren. Wir werden niemals erfahren - zumindest nicht aus ihrem Munde -, wo Belle die fünfzehn Jahre verbrachte, die sie fern von Fort Pilote lebte. Als sie wieder auftauchte, hielt sie ein schon ziemlich großes Mädchen an der Hand: acht oder neun Jahre alt. Von ebenso gewöhnlichem Aussehen wie seine Mutter, mit dem Unterschied, daß es sehr hellhäutig war und lediglich durch seinen wenig ge-
bräuchlichen Vornamen - Pourmera - hervorstach. Wo kam dieser Name her? Belle nahm ihre frühere Tätigkeit wieder auf. Nun aber lief nicht mehr sie mit Wäscheballen oder mit dem tray, dem Holzbrett, durch die Stadt. Das übernahm jetzt Pourmera.
Zu jener Zeit wuchs Fort Pilote auf nahezu 25000 Seelen an: Zu den drei Stadtvierteln, die wir bereits erwähnt haben, kam ein viertes hinzu, Le Morne Alize. Dorthin hatten sich die Weißen und die Mulatten zurückgezogen, weil sie nicht mit den »gebildeten oder halbgebildeten Schwarzen« zusammenleben wollten, die vermittels der Politik in rasendem Tempo die soziale Stufenleiter erklommen, um sie rasch einzuholen. Sobald Belle zurückgekehrt war, verfiel Jean Hilaire erneut in Abhängigkeit von ihr. Wenn er nicht gerade in der Nationalversammlung in Paris weilte, dann pendelte dieser
Mann, zu jener Zeit eine Berühmtheit in seinem Land, zwischen den verräucherten Sälen, in denen die politischen Versammlungen stattfanden, und dem bescheidenen Häuschen seiner Geliebten. So, in Hemdsärmeln auf ihrem Bett sitzend, faßte er seine Reden ab, deren berühmteste der Nachwelt überliefert ist: »Auf, Brüder, schreitet am Sonntag in dichten Reihen zur Wahlurne, damit der Name Jean Hilaire Endomius", als Sieger hervorgegangen, allen beweise, usw. usf. .« Das Verhältnis zwischen Jean Hilaire und Belle sollte erst mit dem Tod der Letzteren ein Ende nehmen.
Hätte man dagegen Pourmera nach den Jahren, die ihre Mutter fern von Fort Pilote verbracht hatte, gefragt, so hätte das Kind gewiß darüber Auskunft erteilt. Aber man schenkt ja Kindern nicht genügend Beachtung. Man stellt ihnen niemals Fragen, und so behielt Pourmera alle ihre Erinnerungen für sich. Manchmal entschlüpften sie ihr und liefen die schmutzigen Gassen von Le Bas du Bourg vor ihr her bis hin zu den Alleen, die von Hibiscus-Sträuchern, riesigen Weihnachtssternen und Sauerampferbüschen gesäumt waren und zu den Villen der Leute führten, deren Wäsche ihre Mutter wusch. Alexandra, Belles Schwester, meistens Sandrine genannt, war einer libanesischen Familie, für die sie arbeitete, nach Kali, einer kleinen Stadt in Südamerika, gefolgt. Nach zwei Jahren hatte das Fieber die Frau hinweggerafft, und der Mann war mit einem ganzen Schwärm von Kindern allein zurückgeblieben. Er tat, was so viele Männer in einem solchen Fall tun. Er ehelichte die Hausangestellte und brachte sie damit in eine Lage, die nicht ganz eindeutig, aber äußerst beneidenswert war. Auf einmal im Wohl-
stand lebend, vergaß Alexandra, Sandrine genannt, Belle jedoch nicht. Sie ließ also Belle nach Kali kommen, die fünfzehn Jahre bei ihrer älteren Schwester blieb und ihr half, die sechs Jungen und vier Mädchen, die diese geboren hatte, großzuziehen. Als ihre Schwester starb, kehrte sie, trotz der hartnäckigen Bitten des Libanesen, nach Fort Pilote zurück. Pourmera lernte ihre Umwelt in einem weitläufigen Haus mit vier Zimmern kennen, in dessen Erdgeschoß sich der Laden der Familie befand. Was wurde dort verkauft? Alles: Messer, Säbel, Stoffe, Kochtöpfe, Schlösser, Tierfutter. Wie alle Kinder im Haus nannte sie den Libanesen »Papa«, Sandrine »Mama« und ihre eigene Mutter »Belle«. Sie sprach arabisch und kreolisch, bevor sie ein bißchen französisch radebrechen konnte. Als ihre Mutter beschloß, Kali zu verlassen, brach eine Welt für sie zusammen. Sie verzieh ihr niemals, daß sie sie mitgenommen hatte, und haßte Fort Pilote nach Art der Kinder blindwütig, ungerecht, unbändig. Um der Wahrheit willen muß gesagt werden, daß Jean Hilaire Endomius nichts tat, um Pourmera zu helfen, sich in Fort Pilote einzuleben. Im Gegenteil, in seinen Augen war dieses Kind der Beweis dafür, wie wenig er in Belles Leben galt, das Zeichen seiner Schwäche und Bedeutungslosigkeit. Ein anderer Mann hätte seine Geliebte nicht so verstohlen, sondern in einem jäh aufwallenden Sinnesrausch besessen. Ein anderer Mann hätte sie offen und vor den Augen eines ganzen Wohnviertels, einer ganzen Stadt, der ganzen Welt schwanger gemacht. Ein anderer Mann hätte ihr dargeboten, was weder Gold noch Diamanten aufwiegen können, und zwischen ihnen jenes unzerstörbare Band geschmiedet - ein Kind! Daher füllten
sich seine Augen, wenn sie auf Pourmera ruhten, mit Tränen des Schmerzes und des Zorns, und er biß sich auf die Lippen, um nicht loszufluchen. Er, den es keinerlei Mühe gekostet hätte, sie in einer Lehranstalt unterzubringen, sah voller Genugtuung zu, wie sie unwissend und ungebildet heranwuchs und auf eine Zukunft zusteuerte, die sie zur Unterwerfung und Mittelmäßigkeit bestimmte. In diesem Dreipersonendrama, das nicht unbemerkt blieb, ergriffen alle diejenigen Pourmeras Partei, die Jean Hilaire haßten. Und das waren viele in Fort Pilote. An erster Stelle die Mulatten, die den sozialen und politischen Aufstieg dieses Mannes nicht geschluckt hatten, der »nahezu bar jeglicher Bildung und wirklicher Intelligenz, aber aktiv und rührig war und vor keinem Propagandamittel zurückschreckte .«, wie der Leitartikel von »La Verite« schrieb. Dann die Neger, die es seit jeher verabscheut haben, wenn sich einer der Ihren über den anderen erhob. Und schließlich die Syrier und Libanesen, die um ihre Handelsinteressen fürchteten, denn Jean Hilaire sah in ihnen »ausländische Wucherer«. Von all diesen Leuten wurde Pourmera als ihr Kind angenommen. In allen Häusern, wo sie Wäsche abholte oder hinbrachte, erwartete sie etwas zum Naschen. Man verzieh ihr ihre Stummheit, ihre seltsame Gemütsverfassung, ihre abwesende Miene, ihr zielloses Umherstreifen. Man war sich einig, daß sie ein bißchen verrückt, ein bißchen »meschugge« war, aber das brachte sie den Herzen aller noch näher. Als Pourmera siebzehn wurde, starb Belle. In jenen Zeiten, da die Frauen weder ihre Abhängigkeit
vom Mann noch ihre Fesselung an die Kinder in Frage
stellten, war Belles gesamtes Verhalten schockierend. Wir haben schon darauf hingewiesen, wie sie Jean Hilaire Endomius behandelte. Anstatt nun ihre einzige Tochter wie ihren Augapfel zu hüten, ließ sie sie barfuß herumlaufen und sich an den spitzen Steinen die Hacken abschürfen, steckte sie in ein armseliges Kleid aus verblichenem Kattun, aus dem ihr sonnverbrannter und verschwitzter Strubbelkopf hervorguckte. So streng man aber auch über sie urteilen mochte, Belle selbst urteilte über sich noch strenger. Aber das wußte niemand. Sie hatte Jean Hilaire nie geliebt, auch wenn es ihr zuweilen schmeichelte, einen solchen Mann in der Hand zu haben. Jean Hilaire dagegen rühmte sich mit einigem Recht, in einer Nacht fünf Frauen und eine Stute befriedigen zu können, und sie empfand auch tatsächlich Vergnügen in seinen Armen. Aber im selben Moment, so überraschend das bei einer Frau ihrer Erziehung auch scheinen mag, träumte sie von einer anderen Begegnung, von einer Liebe, die wie eine Flamme in ihr loderte und sie zu glühendheißer Asche in einer Urne verwandelte. Ach, könnte sie nur Fort Pilote verlassen, diesen engen Horizont hinter sich lassen! Diese kleinlichen Lästerzungen ohne Ideale! Dieses Land ohne große Männer, ohne große Siege! In einer solchen, gewissermaßen romantischen Geistesverfassung war sie dem Ruf Sandrines gefolgt. Als sie mit ihrem Korb auf dem Kopf die Laufbrücke des Schiffes hinunterstieg, nahm die Liebe, von der sie träumte, die Gestalt des Libanesen an, also des Mannes, der der Gefährte ihrer Schwester war. Wie reizvoll für einen Mann, zwei Schwestern zu besitzen, die vollkommenste und köstlichste Art der Polygamie. Doch der Libanese war auch ein guter Christ und
deshalb peinigte ihn sein Gewissen. Er versuchte also, sein Verhältnis mit Belle zu beenden, und gab sie buchstäblich an seinen Lagerverwalter, Carlos Martinez, einen aus Bogota stammenden Mestizen mit traurigen Augen, weiter. Aber offenbar schlief er deswegen nicht weniger mit Belle. Carlos Martinez, der Mestize aus Bogota, offensichtlich des Teilens überdrüssig, brach eines schönen Tages nach einer anderen Küstenstadt im Süden auf und ließ ohne Zögern seine Geliebte mit dem Neugeborenen, Pourmera, zurück, das aller Wahrscheinlichkeit nach von ihm war. II
Am Tag nach dem Tod ihrer Mutter war Pourmera wie verwandelt. Dieses junge Mädchen, das man für »meschugge«, für zurückgeblieben gehalten hatte, jedenfalls zu nichts Rechtem zu gebrauchen, ging bei den Schwestern der Konfessionsschule anklopfen. Die Oberin empfing sie äußerst kühl. Aber konnte sie denn ein Schaf ohne Hirten abweisen? Um Kost, Unterkunft und Ausbildung bezahlen zu können, wurde Pourmera der Wäschekammer zugeteilt, wo sich erwies, daß sie goldene Hände besaß. Kunststopfen, sticken, Spitzen häkeln, Waffelmuster stikken, smoken, kräuseln, alles gelang ihr. Nach drei Jahren konnte sie lesen, schreiben und rechnen. Dann verließ sie die Schwestern und machte ein Kurzwarengeschäft auf, das sie »Zum silbernen Fingerhut« nannte. Woher nahm sie das Geld, das es ihr ermöglichte, sich selbständig zu machen? Bestimmte Schriftstücke lassen die Behauptung zu, daß sie sich an ihren Adoptivvater, den Libanesen, wandte, der ihr über die Bank von Paris und den Nieder-
landen sofort eine beträchtliche Summe überwies und Waren aus Paris kommen ließ. In wenigen Jahren war aus Pourmera fast eine Dame geworden. Es sei indes daran erinnert, daß die sozialen Gruppierungen zu jener Zeit noch nicht so klar voneinander geschieden waren, denn die gesamte Gesellschaft war voller Bewunderung für Unternehmergeist, Scharfsinn und Findigkeit. Wir befinden uns mittlerweile im Jahre 1930. Die Bevölkerung von Fort Pilote beträgt 28604 Einwohner. Der Großhandel hat seine Lagerhäuser ausgedehnt und nimmt den gesamten Teil der Quais ein, die die Reede säumen. Der Klein- oder Einzelhandel floriert, es haben sich Gewerkschaften gebildet. Zumindest stellen es die Historiker so dar. Doch zurück zu Pourmera. Sie bewohnte ein schmuckes Haus im Viertel La Folie, mit vier oder fünf Zimmern, einer Bodenkammer, fließend Wasser, elektrisch Licht und einer Duschvorrichtung im Hof. Sie hatte ihre Bank in einem Seitengang der Saint-Benoit-Kathedrale. Sie nahm sich sogar ein kleines Dienstmädchen, das für sie einkaufte und mit Unmengen von Wasser ihren Bürgersteig scheuerte. Einziger Schatten auf diesem Bild allgemeinem Wohlbefindens: Pourmera lebte allein. Man wußte weder von einem Freund, einem Geliebten, noch von einem Gefährten ihresgleichen, und die braven Leute tuschelten einander zu, daß das ungesund sei. Eine Frau ist dazu da, Samen zu empfangen. Eine Frau ist dazu da, Kinder zu bekommen. - Da kam eine Art roter Neger in die Stadt, von dem niemand etwas wußte. Er hieß Abelardo, was zu der Annahme berechtigt, daß er spanischer Herkunft war. Er konnte sich aber ausgezeichnet in Kreolisch und leid-
lich in Französisch verständigen. Er ließ sieh in einem der Handelshäuser am Kielholplatz einstellen, zunächst als Laufbursche und später als Lagerverwalter. Wie kam er nun dazu, die Bekanntschaft Pourmeras zu machen, die, wie man sich erinnern wird, zu jener Zeit auf die Vierzig zuging? Wo eben die Liebe hinfällt, sagt man. So wie die Einwohner von Fort Pilote sehr bald von der Heftigkeit der Leidenschaft Pourmeras überzeugt waren, so zweifelten sie doch allesamt an den Gefühlen Abelardos. Sie sahen, wie er es sich in dem Haus in La Folie bequem machte, sich an die Kasse des »Goldenen Fingerhuts« setzte und dem Dienstmädchen Anweisungen erteilte. In der Kathedrale dagegen erschien er überhaupt nicht, denn er war ein Ungläubiger und Säufer und stieß mit Vergnügen die fürchterlichsten Flüche aus. Nach ein paar Jahren hatte er Pourmera völlig ruiniert. Sie mußte Geschäft und Haus einschließlich der Möbel verkaufen. Auf diese Weise gelangten ihre schweren Eichenholzmöbel in den Besitz einer der legitimen Töchter von Jean Hilaire Endomius, die, da sie Belle und ihre Nachkommenschaft ebenso haßte wie vor ihr ihre Mutter, darin eine Rache des Himmels erblickte. Abelardo verschwand, um in anderen Gegenden Unheil zu verbreiten. Pourmera blieb allein. Bald darauf bemerkte sie, daß sie schwanger war. Ist Mutterliebe eine Erfindung? Das Thema ist es vielleicht wert, sich damit auseinanderzusetzen. Die Generationen von Frauen, die ihre Kinder in der Gosse oder auf der Müllhalde ausgesetzt haben, bestätigen diese These. Doch widerlegen sie all jene, die die Freuden der Mutterschaft heftig verteidigen. Im Falle Pourmeras ist jeder Zweifel ausgeschlossen. Sie liebte das kleine 31 Kilo schwere Mädchen nicht, das sie an einem Dezember-
abend zur Welt brachte und das den Namen Berthe erhielt. Das heißt, sie interessierte sich einfach nicht dafür. Sie weigerte sich, es zu stillen. Eine Frau namens Martha-Schwarzauge überredete ihren Mann Marcius, Mutter und Kind bei sich aufzunehmen. Martha-Schwarzauge hatte zusammen mit Pourmera als Hilfskraft in der Wäschekammer bei den Schwestern der Konfessionsschule gearbeitet, und während der kurzen Zeit ihres Wohlstands hatte sie sie nie vergessen. Ein paar Wochen nach der Geburt von Berthe fing Pourmera an, nachts zu schreien. Beim erstenmal glaubte Martha-Schwarzauge, daß es sich um einen streunenden Hund handele, der mit dem Tod Zwiesprache hielt. Sie war drauf und dran hinauszugehen, um ihm einen Eimer kaltes Wasser überzuschütten, als ihr klar wurde, daß sie sich geirrt hatte. Sie lief ins Nachbarzimmer und fand dort Pourmera vor: nackt, der grazile Körper schweißbedeckt und angespannt wie ein Bogen. Sie hatte den Kopf zurückgeworfen, und ihre etwas kurzen, scharf geränderten Lippen ließen ihre schneeweißen spitzen Zähne sehen, zwischen denen ein grauenerregender Schrei hervorbrach. Das Baby schlief gottlob mit geschlossenen Fäusten in seinem Körbchen. Da MarthaSchwarzauge nicht wußte, was sie machen sollte, weckte sie Marcius, der eine Nachbarin holte, und es gelang ihnen recht und schlecht, Pourmera zur Ruhe zu bringen, indem sie ihr beständig Assafoetida-Mixtur einflößten und sie immer wieder mit Terpentin und Ammoniak einrieben. Dasselbe wiederholte sich in der folgenden und von da an in jeder Nacht. Es war wie eine gut aufgezogene Mechanik. Das dauerte, mit ein paar Atempausen dazwischen, bis gegen drei Uhr. Nach Ablauf von drei Monaten ent-
schlossen sich Martha-Schwarzauge und Marcius schließlich, Doktor Blonfort zu konsultieren. Nach reichlichem Hin und Her entschloß man sich, Pourmera am 28. September 1947 ins Baumettes-Krankenhaus einzuweisen. Ihre Tochter war knapp zwei Jahre alt. Gewiß hatten sich die psychiatrischen Methoden im Baumettes-Krankenhaus von Fort Pilote verbessert. Die Kranken wurden nicht mehr an Ketten gelegt und ihre Kleidungsstücke nicht mehr mit Stricken festgeschnürt. Kurzum, man wies dem- oder derjenigen, die man für geistesgestört hielt, keine Schuld mehr zu. Die Patienten wurden eingegliedert, hauptsächlich durch Arbeit. Man achtete darauf, daß sie sich betätigten, und so war es ganz natürlich, daß man Pourmera Wäsche zum Flicken und vor allem zum Besticken in die Hand gab. Sobald es Abend war, wurden ihr starke Dosen von dem, was man in der Folge als »Tranquilizer« bezeichnen sollte, verabreicht, damit sie nicht die Ruhe ihrer Gefährten störe. Ansonsten wurde sie gut beköstigt. Pourmeras Krankheit und ihre Einweisung ins Krankenhaus erregten in Fort Pilote allerhand Aufsehen. Es war, als wenn sie wieder das Kind würde, das sie einst gewesen war, Gegenstand des Mitleids und der Zärtlichkeit, Opfer und Sündenbock, dessen Leiden selbst die Hartherzigsten erweichten. Ein paar Leute sprachen davon, daß man Abelardo aufspüren und ihn vor Gericht belangen müßte. Doch weswegen sollte man ihn anklagen? Das Leben einer Frau zerbrochen zu haben? Wenn ein solches Verbrechen unter Anklage stünde, wären viele Männer hinter Schloß und Riegel. Ein junger Jurist namens Michel Desnard stellte einige Nachforschungen in dieser Richtung an. Er gab aber recht bald auf.
Die Nachforschungen, die Michel Desnard anstellte, um Abelardos Spuren zu entdecken, waren nicht ernsthaft betrieben worden. Denn sonst hätte er ihn ein paar Inseln weiter in dem Städtchen Sangre Grande gefunden. Abelardo hatte sich in einem trostlosen Hotel inmitten eines Arbeiterviertels voller Bruchbuden ein Zimmer im Hochparterre gemietet, nicht weit von den Villen aus bemaltem Holz, die von Gärten mit Eukalyptus- und Mangobäumen umgeben waren und in denen früher die reichen Leute wohnten. Zu dem Zeitpunkt, als Pourmera in die Klinik eingewiesen wurde, war gerade Regenzeit. Die Straßen von Sangre Grande verwandelten sich in schlammige Ströme, die man auf riesigen, in regelmäßigen Abständen verlegten Steinen durchwatete. Mit dem Geld von Pourmera hatte Abelardo Aktien in einer karibischen Schifffahrtsgesellschaft aufgenommen, die sämtliche Inseln des Archipels und einige Länder Mittelamerikas anlaufen sollte, ein Projekt, das nicht zu verwirklichen war, wie alle vorherigen, an denen er sich beteiligt hatte. Die Büroräume der Gesellschaft sollten im fünften Stock des einzigen, noch nicht fertiggestellten Wolkenkratzers, dem Sorocaba, eingerichtet werden, doch der Schatzmeister der Gesellschaft wie auch der Generaldirektor ließen auf sich warten. Abelardo dachte oft an Pourmera. Nicht daß er sie liebte. Er empfand für sie jenes der Zärtlichkeit recht ähnliche Mitleid, das die Männer für die Frauen fühlen, die sie benutzt und ausgenutzt haben. Aber ich verurteile ihn deswegen nicht. Er hatte nicht die geringste Ahnung von ihrer Schwangerschaft und von der Geburt Berthes. Wäre er davon unterrichtet gewesen, dann hätte er sich womög-
lich anders verhalten. Er hätte ihr gern schreiben wollen, aber er wußte nicht, wie er seinen Brief beginnen sollte. In seiner mißlichen Lage fing er an, Fort Pilote zu verklären, wobei er vergaß, wie er die Leute, ihre Sitten und Gebräuche verspottet hatte. Wenn das Projekt der Schiffahrtsgesellschaft scheiterte, wußte er überhaupt nicht mehr, was aus ihm werden würde. Sollte er etwa zur Hacienda zurückkehren und sich mit Baumwollballen abschleppen? Lieber wollte er sterben.
Und dennoch sollte der Tod, den Abelardo mit allen Fasern seines Denkens von sich wies, auf ihn zukommen. Eines Nachts leerte Abelardo in einer schmutzigen, verräucherten Kneipe ein paar Gläser Pinga, ein Zuckerrohrschnaps, der sich stark vom Rum unterschiedet und mit eingekühltem Zitronensaft gemixt wird. Er wußte, daß er einen seligen Rausch haben würde, wenn sich der Ge-
birgskamm wie ein hartes, gezähntes Blatt vom heraufdämmernden Himmel abhöbe. Er würde vergessen, daß er über kurz oder lang mit dem Rücken an der Wand stehen würde. Wir wissen nicht genau, warum am anderen Ende der Theke plötzlich ein Tumult ausbrach. Jedenfalls mischte sich Abelardo ein und bekam mehrere Messerstiche ab. Er verlor reichlich Blut und kurz darauf im Krankenhaus Maria Heimsuchung das Leben. Tod ohne Ruhm. Wer über etwas Vorstellungsvermögen verfügt, wird sicherlich gern seinen Kommentar dazu abgeben. Was wäre geschehen, wenn Abelardo an jenem Tag nicht umgekommen wäre? Wäre er, derart in bedrängter Lage, ohne einen Pfennig in der Tasche, zu Pourmera zurückgekehrt? Hätte sie das von ihrem Wahnsinn geheilt, da sie ja in Wahrheit nur auf ihn wartete? Hätte er sein Kind in die Arme genommen? Hätte er es geliebt? Hätte er die Mutter dazu gebracht, es zu lieben? Und wäre das Leben Berthes demzufolge anders verlaufen? Derlei Fragen sind gegenstandslos, denn die Wirklichkeit ist so, wie sie hier aufgezeichnet wurde. Niemand weiß, wo sich das Grab von Abelardo befindet, und niemand fragt danach. III
Berthe wurde am 28. Dezember 1945 geboren. Berthe war der Vorname der Hebamme, die versucht hatte, Pourmera zu entbinden, bevor sie den Arzt rief. Da jene nicht fähig war, einen Namen aus dem Kalender auszuwählen, entschied sie allein. Das Kind wurde als eine Surena angegeben, mit dem Familiennamen, den schon Mutter und Großmutter getragen hatten. Berthe Surena. Trotz der Umstände, die ihre Geburt begleiteten, war
Berthe bis zum Alter von fünf Jahren ein glückliches kleines Mädchen, da sie von alldem nichts wußte. Für sie war Martha-Schwarzauge ihre Mama, Marcius, ein Möbeltischler, ihr Papa. Sie wuchs in dem kleinen Garten, das ihr Häuschen umgab, heran, inmitten von Trompetenblumen und Rosen, und lernte, daß man Eisenkraut, Zitronenmelisse und Quecke nicht herausreißen durfte, da Martha-Schwarzauge daraus Kräutertee bereitete. Wenn sie genug vom Spielen hatte, ging sie in Marcius" Werkstatt, rollte sich Holzspäne um die Finger und sog den Geruch nach Terpentin und Firnis ein. Sie hatte die zarte Konstitution ihrer Mutter und ihrer Großmutter geerbt, doch ihr Gesicht war lieblicher, denn die schönen, schräg geschnittenen Augen von Abelardo wogen die allzu platte Nase und den zu schmalen Mund von Pourmera auf und gaben ihr ein rührendes Aussehen. Als sie sechs war, kam sie zur Schule. Dort müssen sie die Kinder umringt und geträllert haben: »Deine Mutter, die ist verrückt, die ist im Irrenhaus ., trallalala .«. Berthe wußte überhaupt nicht, was diese Worte bedeuten sollten. Berthe begriff lediglich, daß damit jemand gemeint war, den man ausgeschlossen hatte. Sie lief in der Vormittagshitze nach Hause, rannte durch die Gassen des Viertels, das - ehemals La Folie und Le Bas du Bourg die »Altstadt« bildete, im Unterschied zu Le Morne Alize und Le Morne Moustique, dem jüngsten Neubauviertel, wo die Neureichen in ihren von brasilianischen Architekten entworfenen neuen Villen wohnten. Ganz außer Atem, berichtete sie Martha-Schwarzauge und Marcius, was sie gerade gehört hatte. Sie waren sprachlos. Am folgenden Sonntag gingen sie mit Berthe ins Baumettes-Krankenhaus.
Das Baumettes-Krankenhaus war ein vierstöckiges Gebäude von schmutzigem Weiß und mit nackter, schmuckloser Fassade, wenn man von der Nische in Höhe des zweiten Stocks absieht, in der sich die mannshohe Statue von Francis Orlando des Baumettes befand, ehemals Gouverneur der Insel, der es 1902 im Gedenken an seine ein paar Jahre zuvor im Wahnsinn gestorbene Mutter hatte erbauen lassen. Nach hinten ging es auf einen ausgedehnten Park. Der untere Teil war mit Guayavenbäumen und Icacoplaumen bepflanzt, deren rosa Fruchtfleisch Kinderwunden ähnelt. Als Berthe Pourmera besuchte, war diese etwas über fünfzig Jahre alt. Man hätte sie für eine Kind halten können, das ohne Übergang ins Greisenalter eingetreten ist. Ihre weißen Haare waren sorgfältig mit Carapate-Öl eingefettet. Ihre Ohren und ihr Hals waren mit Bay-Rhum eingerieben, damit sie gut dufteten - so saß sie, ein bißchen in sich zusammengesunken, in einem Stuhl mit hoher Lehne. »Küsse deine Mutter .« Berthe gehorchte und drückte ihren frischen Mund auf die schlaffe, zerknitterte Wange, die weich war wie Löschpapier. Alle, die bei dieser Szene anwesend waren Doktor Blonfort, Martha-Schwarzauge, Marcius, zwei Krankenschwestern - warteten auf ein Zeichen, ein plötzliches Klick, auf eine wundersame Heilung wie die der Versehrten in Lourdes, die ihr Siechtum abwerfen und loslaufen. Nichts dergleichen geschah. Die schräg geschlitzten Augen waren ausdruckslos. Die Lippen öffneten sich nicht einmal zu einem verzerrten Grinsen, das man für ein Lächeln hätte halten können. Der Besuch dauerte nicht sehr lange, denn man war im September, das heißt
mitten in der Winterzeit. Gegen sechs Uhr kam Regen auf und trommelte wie mit spitzen Nadeln auf die Blechdächer. Am nächsten Morgen konnte Berthe nicht aufstehen. Sie klagte über einen schweren Kopf. Das Thermometer zeigte 40 Grad. Am Nachmittag wurde sie von Krämpfen geschüttelt. Doktor Blonfort, eilig herbeigerufen, mußte eingestehen, daß es falsch gewesen war, diese Begegnung zu gestatten, und er ordnete an, daß das Kind niemals mehr mit seiner Mutter zusammenkommen dürfe. Als das Fieber gesunken war, verfiel Berthe in eine unruhevolle Schweigsamkeit. Sie hielt die Augen geschlossen, aber ihre Lider flatterten. Angstvoll beobachtete Doktor Blonfort diese Schweigsamkeit und diese Unruhe. Er hätte gern in den Gedanken der Kleinen lesen mögen, während er ihr Händchen in seiner großen Hand hielt und sie fest drückte. Welche Gedanken, welche Bilder mochten ihr wohl durch den Kopf jagen? Er wurde von Gewissensbissen gepeinigt. Dabei hatte er nur angeordnet, was er für richtig angesehen hatte, denn er gehörte einer Richtung der Psychiatrie an, deren Anhänger einmal im Jahr zusammentraten und gerade einen Kongreß in Philadelphia abgehalten hatten. Diese Richtung verkündete klar und deutlich, daß die Geisteskrankheit der Patienten ein Produkt der Zerstörung durch die Gesellschaft und durch sie selbst ist, eine Maske, ein Schein, eine groteske Karikatur. Diese Richtung sprach davon, die Patienten ihren Familien und dem Leben zurückzugeben, so wie es der Fall ist in den afrikanischen Dörfern, wo sich die Kranken inmitten der gesunden Frauen und Männer frei bewegen. Hatte sie Unrecht?
Berthe schien sich allmählich von dem Besuch bei ihrer Mutter zu erholen. Sie begann wieder zu spielen, herumzulaufen, kilibibi - Antillenzucker - und kakodou - Vollmilchschokolade - zu essen. Wenn die Kinder sie in der Schule von neuem quälten, vermochte sie sich jetzt zu verteidigen und sprach weder mit Martha-Schwarzauge noch mit Marcius darüber. Da geschah es, daß der älteste Bruder von MarthaSchwarzauge starb. Mit 17 Jahren war er nach Canete, auf eine spanischsprachige Insel, ausgewandert und hatte dort eine kleine, inzwischen einträgliche Kaffeeplantage angelegt. Da er weder Frau noch Kinder hatte, fiel der gesamte Besitz an Martha-Schwarzauge. Wer hätte nicht davon geträumt, Eigentümer eines florierenden Unternehmens zu werden? Martha-Schwarzauge und Marcius zögerten nicht; die Tischlerwerkstatt brachte nichts ein. Sie beschlossen also, ihre dürftigen Habseligkeiten zu verkaufen und nach Canete überzusiedeln. Einziger Schatten auf diesem Bild: Berthe. Was tun mit diesem Mädchen von fast zehn Jahren, das eine französischsprachige Schule besuchte und an eine bestimmte Umgebung gewöhnt war? Sie in ein gänzlich anderes Land verpflanzen, in ein abgelegenes Anwesen in 1200 Meter Höhe, weit weg von jeder Stadt? Auch dieses Mal berieten sie sich mit Doktor Blonfort. Und er war es denn auch, der eine Familie fand, der sie Berthe anvertrauen konnten: die Familie Aubrun, mit der er mütterlicherseits verwandt war. Damit man begreift, um was für eine Familie es sich handelte, die bereit war, sich Berthes anzunehmen, muß man vielleicht ein ganzes Stück in unserer Geschichte zurückgehen. .
Gegen 1860 faßte die Familie Maheux de la Folie bekes, also weiße Kreolen -, die durch die Abschaffung der Sklaverei und die nachfolgende soziale Bewegung ruiniert worden war, einen Entschluß von beträchtlicher Tragweite. Sie entschloß sich, ihre Kinder an Mulatten zu verheiraten. Man sollte darin keinerlei Zeichen von Weitblick und von nicht vorhandenen Vorurteilen sehen. Es handelte sich um eine geschickte Rechnung. Jos Maheux de la Folie, Oberhaupt des Familienclans, hatte begriffen, daß die Mulatten die neue führende Klasse bildeten. Kauften sie nicht eine Rumbrennerei, eine Kaffee- und eine Kakaoplantage nach der anderen auf? War nicht erst das Anwesen Belle Eau in ihre Hände gefallen? Wieviel urbares Land besaßen sie jetzt schon? Und wieviel Land würden sie bald besitzen? Man mußte rasch handeln, bevor sie arrogant und unnachgiebig geworden wären, da sie nichts mehr zu begehren hatten. Die Mulatten aus der Gegend um Sofaya stürzten sich auf die Mädchen Maheux de la Folie, die traumhaft blond und bildhübsch waren und auf so reizende Weise die Lieder von Schubert sangen. Die Jungen Maheux de la Folie heirateten nur solche Frauen, die eine bestimmte Hautfarbe und ein bestimmtes Bankkonto besaßen. Nach längerem Zögern entschloß sich Charles Emmanuel, der älteste Sohn von Jos, um die Hand von Emma Devarieux anzuhalten. Es war eine sehr glückliche Ehe: fünf Jungen, fünf Mädchen. Die Letztgeborene, Belia, erwies sich sehr bald als ein Wunderkind. Gegen 1896, zu derselben Zeit, als Belle in Fort Pilote, also 120 Kilometer von Sofaya entfernt, die Aufmerksamkeit ihrer Mitbürger auf sich zog, veröffentlichte Belia einen Roman mit dem Titel »Unter der Sonne der Antillen«, der einen Skandal auslöste. Heute scheint es unles-
bar, da sich auch die Auffassung über das Schreiben geändert hat. Der Leser würde über manch unerträgliche, im Petrarca-Stil abgefaßte Liebesdialoge und über manch unangebrachte melodramatische Effekte lächeln. Jos Maheux hätte beinahe einen Herzanfall erlitten, als er dieses Werk las, und es wird behauptet, daß das Porträt, das seine Enkelin darin von ihm zeichnete, sein Ende beschleunigt habe. Dann entschied Belia, daß die Insel zu klein war, um ihr Genie zu behüten, und sie brach in demselben Jahr auf, in dem Belle sich nach Kali einschiffte, um ihrer Schwester zu helfen. Fünfzehn Jahre irrte Belia umher. Sie kam schließlich nach Sofaya zurück, vor der Zeit weiß geworden und ziemlich stark dem Alkohol verfallen - was die Familie bald mit Schrecken wahrnahm -, an ihrem Rockzipfel ein schönes wildes Kind, das kein Wort französisch sprach. Dieses Kind hieß Altagras. Unnötig, sich über die Kindheit und Jugend Altagras" auszulassen. Es genügt zu bemerken, daß sie nicht glücklich waren. In diesen Schichten, die sich für aristokratisch halten, kennt man keinerlei Erbarmen mit den verirrten Schafen. Belia war gebrandmarkt, und wie sie wurde auch ihre Tochter, ein uneheliches Kind, über dessen Vaterschaft das ganze Land spekulierte, verachtet, ausgestoßen, exkommuniziert. Um der Hölle ihres Daseins zu entfliehen, heiratete sie mit zwanzig Jahren, ohne ihn zu lieben, einen Neger, Tierarzt, Emmanuel, genannt Mano Aubrun. Sie hatte drei Kinder von ihm: zwei Söhne, Antoine und Jean-Francois, und eine Tochter, Dominique. Das waren also die Leute, mit denen Berthe zusammenleben würde. Theoretisch war die Rechnung von Doktor
Blonfort ganz richtig gewesen. Er legte Wert darauf, Berthe in einer bürgerlichen Familie unterzubringen, die sich um ihre Bildung und Erziehung kümmern würde, aber doch nicht allzu vermögend und dünkelhaft war und folglich versucht, sie wie eine Bedienstete zu behandeln. Im übrigen war seine Mutter die Cousine zweiten Grades von Mano Aubrun. In der Praxis jedoch erwies sich die Wahl des guten Doktors als verhängnisvoll, und so nahmen seine Entscheidungen zweimal einen ungünstigen Einfluß auf das Leben und die Persönlichkeit von Berthe. Es kann nicht oft genug wiederholt werden, daß man die Frauen in jener Zeit nicht hinreichend zu Rate zog. Wenn sich Doktor Blonfort an Altagras Aubrun gewandt hätte, wäre alles anders verlaufen. Aber er gab sich damit zufrieden, mit Mano zu sprechen, der zerstreut und äußerst beschäftigt war, und der vor allem nicht den Eindruck erwecken wollte, als wäre nicht er der Herr im Hause. Als Berthe bei ihr zu leben begann, war Altagras Aubrun eine bildhübsche Frau von vierzig Jahren. Eine Mulattin, bei der das schwarze Blut auf wundervolle Weise zur Entfaltung kam. Honigfarbene Haut, feines ebenholzschwarzes Haar, das mit der Brennschere gelegt zu sein schien, ein fleischiger Mund mit violett schimmernden Umrissen und dazu etwas Sinnliches in den Zügen, das die Andachtsübungen nicht zu verdrängen vermochten. Alle jungen Bürgersöhne, die in den zahlreichen Häusern des Clans Maheux de la Folie ein und aus gegangen waren, hatten davon geträumt, sie in ihren Armen zu halten. Doch niemand hatte um sie angehalten, und Altagras hatte mit ansehen müssen, wie sich ihre Cousinen, einen Strauß weißer Blumen in der Hand, eine nach der anderen verhei-
rateten. Sogar die kränkelnde, schüchterne Germaine. Da hatte sie begriffen und den Neger Mano Aubrun genommen. Was für eine Qual für eine Frau, ihr Lager mit einem Mann zu teilen, den sie nicht liebt! Nacht für Nacht und selbst an den heißen Nachmittagen, wenn alles im Haus schläft, seine Umarmung zu ertragen! Denn zu Altagras" Unglück gehörte Mano zu demselben Schlag von Männern wie Jean Hilaire Endomius, die sich rühmen, binnen Stunden fünf Frauen und eine Stute zu befriedigen. Deshalb mußte sie mehrmals am Tage dieses Gewicht ertragen, dieses brutale Glied in sich eindringen lassen, das ihr wider ihren Willen Lust entlockte, und zulassen, daß er die geheimsten Stellen ihres Körpers berührte. In ihrer Verzweiflung und ihrer Ohnmacht begann sie sich die schlimmsten Katastrophen auszumalen: Manos Citroen prallt gegen eine Palme in der Dumanoir-Allee. Oder: Das Pferd, auf dem Mano zu den Bauernhöfen reitet, um das Vieh zu behandeln, geht plötzlich durch und schleift den Körper kilometerweit auf dem mit Vulkangestein übersäten Weg hinter sich her. Wenn sie gerade an dem Punkt ihrer Träume angelangt war, an dem sie sich herabbeugte, um den Tod festzustellen, packte sie eine unsanfte Hand an den Schultern und eine leidenschaftliche Stimme raunte ihr zu: »Komm, meine Schöne, mach"s mir .!« Vielleicht flößten ihr diese Worte Manos noch mehr Abscheu ein als der Akt, der darauf folgte. Warum liebte Altagras Mano nicht, nach dem so viele Töchter aus den besten Familien des Landes geschmachtet hatten, auch die legitimen Töchter von Jean Hilaire Endomius? Es wäre zu vereinfacht, ein solches Gefühl der Verachtung zuzuschreiben, die die Hautfarbe ihres Mannes
hervorrufen mochte. Wir meinen eher, daß diese intelligente und stolze Frau es verabscheute, sich der Ehe zu unterwerfen, und hinzunehmen, daß es für ihr Geschlecht unmöglich war, sein Schicksal selbst zu bestimmen, all die Irrtümer zu begehen und all die Taten zu vollbringen, die dem Dasein erst Bestand verleihen. Belia, ihre Mutter, hatte ihre Freiheit zu teuer erkauft. Sie besaß nicht die Kraft, ihr nachzueifern, aber ihre Kleinmütigkeit verzehrte sie. Während sie sich auf ihrer Veranda hin- und herwiegte, sah sie sich in Paris, Madrid, Rio de Janeiro, all den Stätten, wo ihre Mutter gelebt hatte, und die Leute würden flüstern: »Das ist Altagras Maheux de la Folie. Die Verfasserin von .« Denn sie hatte einen Roman geschrieben, der weitaus bedeutender war als »Unter der Sonne der Antillen« und einen großen Literaturpreis erhalten hatte. Und dann öffnete sie die Augen und fand sich in der Rue du Sable wieder, einer sehr belebten Straße. Um sich zu trösten, hatte Altagras glücklicherweise Antoine, ihren ältesten Sohn. Denn für sie zählten die Jüngeren nicht, als wenn sich bei einemmal alle Schätze ihres Herzens bereits erschöpft hätten. Antoine war ein richtiger Maheux de la Folie, seinem Großvater mütterlicherseits, Charles Emmanuel, wie aus dem Gesicht geschnitten. Altagras Glückseligkeit war vollkommen, bis er fünf Jahre alt wurde. Sie zog ihm Matrosenanzüge an, rollte seine langen seidigen Haare zu Ringellöckchen, betupfte seinen Nacken mit ihrem parfümierten Finger und nahm ihn mit in die Kirche, damit ihn alle bewundem konnten. Unglücklicherweise befiel ihn in diesem Alter eine Gehirnhautentzündung. Er überlebte zwar, blieb aber für den Rest seiner Tage behindert. Er konnte so gut wie nicht mehr sprechen und konnte also auch nicht mehr zur Schule
gehen. Manchmal näßte er ein. Alle Augenzeugen stimmen darin überein, daß von diesem Zeitpunkt an sich der ohnehin schon schwierige Charakter Altagras" vollends umkippte. Sie wurde verbittert, sarkastisch, mied noch mehr die Gesellschaft der anderen und verließ ihr Haus in der Rue du Sable nur noch, um zur Messe zu gehen. Niemand wagte, sich nach dem Gesundheitszustand ihres Sohnes zu erkundigen, denn sie wies jeden, der mit ihr sprechen wollte, heftig zurück. Und schließlich sagte sie bald auch niemandem mehr guten Tag. Ihr Mann, Mano Aubrun, dagegen, nahm die Krankheit seines Sohnes mit sehr viel mehr Gelassenheit hin. Mano Aubrun hatte die Politik gelockt, war sie doch wie gesagt für einen Neger neben der Bildung das beste Mittel, die soziale Stufenleiter emporzusteigen. Zu der Zeit, als er das Mannesalter erreichte, also um das Jahr 1930, lagen die Dinge jedoch nicht mehr so einfach. Ein halbes Jahrhundert früher hatte es lediglich einer Gruppe von Schülern aus bescheidenen Verhältnissen bedurft, die gerade das Lyzeum in Fort Pilote abgeschlossen hatten, um eine Zeitung herauszubringen und die Sozialistische Partei zu gründen. Denn für diese jungen Leute war der Einsatz klar. Auch wenn die Gesellschaft, die auf die Abschaffung der Sklaverei folgte, die Gleichheit aller Bürger deklariert hatte, blieb die schwarze Hautfarbe ein Hemmnis. Der Sozialismus mit seiner Ideologie der Gleichheit, Tochter der großen republikanischen Grundsätze, schien die Antwort auf diesen Widerspruch zu geben. Jetzt aber hatte sich die Gesellschaft bereits in Klassen aufgespalten, und die schwarze Bourgeoisie, die sich herausgebildet hatte, war ebenso arrogant wie die der Mulatten. Mano war nicht
direkt in ihrer Mitte geboren, auch wenn sein Vater ein rechtschaffender Lehrer war, sondern eher an deren Rand. Um seinen sozialen Status zu durchbrechen, bedurfte es einer Energie und eines Talents, die er nicht hatte. Er begnügte sich mit seinem Beruf. Er war einer der ersten, die in Frankreich studierten, aber da er in Bordeaux lebte, stand er abseits von der intellektuellen Bewegung seiner Landsleute in Paris. So kam es, daß er niemals von der Negritude hörte und am beginnenden antikolonialistischen Kampf in keiner Weise beteiligt war. IV
Ich habe Berthe nicht vergessen. Sie ist fast zehn Jahre alt. Sie steht mit Doktor Blonfort, der sie an der Hand hält, am Kai und schaut der sich entfernenden »Dona Flor« hinterher, die Martha-Schwarzauge und Marcius zur Insel Canete bringt. »Weine nicht«, hat man zu ihr gesagt. »Du wirst sie in den großen Ferien wiedersehen .« Also gibt sie sich Mühe, nicht zu weinen. Am Abend vorher war ein Doktor Emmanuel Aubrun zu MarthaSchwarzauge und Marcius zu Besuch gekommen und hatte ihnen versichert, daß ihre kleine Tochter es gut bei ihnen haben würde. Wie bei den meisten Kindern siegte die Neugier auf dieses neue Dasein, das sich vor ihr auftat, über ihre Ängstlichkeit. Und außerdem sah der Doktor freundlich aus. Jetzt nimmt Doktor Blonfort sie zu seinem Auto mit, ein amerikanisches, ein Studebaker. Noch nie hat sie in einem so schönen Auto gesessen.
Die Familie Aubrun wohnte in der Rue du Sable in Fort Pilote. An dieser Stelle sollte man vielleicht ein paar Hinweise zur sozialen Struktur der Insel geben. Der gebirgige und bewaldete nördliche Teil ist seit der Verdrängung der meisten bekes von der wirtschaftlichen Szene traditionell von Mulatten besiedelt; im flachen, von Sümpfen bedeckten südlichen Teil haben sich die Neger niedergelassen und bewirtschaften winzige Parzellen, die mitunter nicht mehr als einen halben Hektar umfassen. Zwei Städte zeugen von dieser Polarisierung. Im Norden Sofaya, die Hauptstadt, überwiegend von Mulatten bewohnt, im Jahre 1840 am Ende einer prachtvollen Bucht gegründet, obwohl seine Handelsreede nicht allzu tief ist. Im Süden Fort Pilote, Handelsknotenpunkt mit einer gemischten, doch hauptsächlich schwarzen Bevölkerung. Die Maheux de la Folie hatten ihren Besitz oberhalb Sofayas, in der Gegend
von Carmel, und sahen mit Verachtung auf alle diejenigen herab, die unterhalb der Linie L"Anse Paradis - Camarene lebten, das heißt dreißig Kilometer diesseits von Sofaya. Selbstverständlich verliefen alle diese Trennungslinien in den fünfziger Jahren nicht mehr so scharf, denn die willkürliche Versetzung der Beamten, die Suche nach einem Arbeitsplatz und die Entfaltung des Tourismus hatten eine zunehmende Mobilität der Bevölkerung zur Folge. Doch Altagras hatte es wie das Symbol ihres Verfalls empfunden, daß sie von Sofaya »hinabstieg«, um bei ihrem Mann in Fort Pilote zu wohnen. Das Haus in der Rue du Sable war indessen schön, mit seinen roten Dachziegeln, die bereits Patina angesetzt hatten, und seiner glatten, weißen Fassade ohne Balkon. Sobald die Nacht hereinbrach, wurde es von einer sechseckigen Lampe erleuchtet. Es hatte zehn Zimmer und eine Bodenkammer. Als Berthe bei den Aubruns eintraf, wollte die Familie gerade essen. Der Tisch war gedeckt, und auf jedem Teller lag ein Serviettenetui, auf das der Name seines Eigentümers mit Stielstich gestickt war: Papa, Mama, Antoine, Dominique, Jean-Francois, und all das erschien Berthe wie das Symbol ihres neuen Daseins. Dann kamen alle Beteiligten herein und setzten sich auf ihren Platz. Was eigenartig war an diesem Abend: Berthe war von Altagras nicht sonderlich befremdet. Wenn sie ihr ein wenig Schrecken einflößte, dann nicht mehr als viele andere Erwachsene. Altagras hielt ein kleines Mädchen an der Hand. Ein winziger Knirps strampelte in den Armen seines Vaters. Nach einer Weile wies Altagras ein Dienstmädchen an, das neugierig seinen Kopf zwischen den Vorhängen hereinsteckte, Berthe in ihr Zimmer im zweiten Stock zu bringen. Und da saß auf der letzten Treppenstufe, das Gesicht
an das Geländer gelehnt, ein kleines Kerlchen und beobachtete die Besucher, ohne das es gesehen werden wollte. Berthe war ein ziemlich schüchternes Kind. Doch etwas in ihr gab ihr die Kühnheit zu fragen: »Wie heißt du?« Die Antwort gab das Dienstmädchen, und sie hörte sehr wohl den böswilligen Ton in ihrer Stimme heraus »Antoine. I pa sa pale, non! Er kann nicht sprechen!« Versuchen wir, die Verantwortlichkeiten abzustecken aber das Herz hat keine Verantwortung und keine Schuld. Altagras hatte keine Schuld, daß sie ihren unglücklichen Sohn, Zielscheibe des Gespötts der guten Gesellschaft, vergötterte. Berthe hatte keine Schuld, daß sie fühlte, was sie fühlte. Antoine hatte keine Schuld, daß er soviel Liebe einflößte und empfand. Versuchen wir einfach nur klarzusehen. Bis dahin hatte Altagras alles für ihren ältesten Sohn bedeutet. Sie war die einzige, die in dem Gestammel, das manchmal über seine Lippen kam, zusammenhängende Laute wahrnahm, die einzige, die seine Wutausbrüche beruhigen konnte, seine »Krisen«, wie die anderen boshaft-objektiv sagten, die einzige, die seinem schweigsamen Mund ein Lächeln entriß. Von einem Tag zum anderen mußte sie teilen, und jeder weiß, daß für einen Liebenden teilen verlieren heißt. Sie sah mit an, wie sich Antoine wie ein Schatten an die Schritte einer anderen heftete, wie er durch das Fenster ihre Rückkehr von der Schule abpaßte, um sich wie ein wilder Hund auf sie zu stürzen, und dann, zu einer Kugel zusammengerollt, in einer Ecke ihres Zimmers zu verharren, während sie fleißig ihre Hausaufgaben erledigte, und sie sah schließlich mit an, wie er in den Ferien, wenn sie nicht da war, in sich zusammenfiel. Eine Rivalin, und noch dazu was für eine? Eine kleine
Negerin ohne Vater, deren Mutter in der Anstalt war, und so eine hatte sie auf Drängen ihres Mannes in ihrem Haus aufgenommen .! Von nun an teilten sich zwei Träume Altagras" Nächte. Den ersten kennen wir bereits: Manos Citroen prallt gegen eine Palme in der Dumanoir-Allee, oder sein Pferd geht plötzlich durch und schleift ihn auf dem mit Vulkangestein übersäten Weg hinter sich her. Und der zweite: Berthe fällt einem jener Typhusfieber zum Opfer, die zur damaligen Zeit Fort Pilote dezimierten, und scheidet oben und unten fauliges Wasser aus, oder Berthe wird von einer Klapperschlange, die sich gern im Gras versteckt, in die Ferse gebissen und an einer Waldecke aufgedunsen, bläulich angelaufen und mit Schaum vor dem Mund aufgefunden. Entgegen dem, was in ihrem Kopf und in ihrem Herzen vorging, war Altagras nach wie vor eine eifrige Katholikin. Morgens eilte sie zur Kirche, legte an jedem Heiligenstandbild einen Blumenstrauß nieder, entzündete Altarkerzen und versenkte sich in einen Beichtstuhl. Vater van der Brücken erteilte ihr die Absolution und wies sie zurecht: »Schon gut, nun klagen Sie sich doch nicht zu Unrecht an! Sie werden ja wohl nicht den Tod eines Kindes herbeiwünschen, eines armen Waisenmädchens, das Sie gütigerweise bei sich aufgenommen haben. Und macht sie Ihren Sohn denn nicht glücklich?« Macht sie Ihren Sohn denn nicht glücklich? Das ist ja gerade das Verbrechen! Von den Historikern wissen wir, daß jene Jahre für das Land von großer Bedeutung waren. Mit dem Vordringen des Industriekapitalismus und der Mechanisierung der manuellen Arbeit löste sich die traditionelle Gesellschaft
auf, was Landflucht und Übervölkerung der städtischen Zentren zur Folge hatte. Die Einwohnerzahl von Fort Pilote verdreifachte sich, und am Stadtrand tauchten auf einmal Barackensiedlungen auf. Ebenso beklagen unsere Historiker den beträchtlichen Rückgang des Zuckerexports, was notwendigerweise Streiks unter den Arbeitern der Zuckerrohrplantagen auslöste. Sie verweisen auf das Anwachsen der Arbeitslosigkeit, des Analphabetismus und der Kindersterblichkeit. Sie sprechen von Rassenkrawallen, an erster Stelle von »den blutigen Oktobertagen«, die in einer Fülle von Details dargestellt werden. Ein verhältnismäßig geringfügiger Vorfall gab den Anlaß zu diesen »Tagen«. Ein alter Mann mit dem Spitznamen »Die magische Laterne« verdiente sein Brot, indem er die Schuhe der Schulkinder mit eisernen Absätzen besohlte. Um noch mehr Kundschaft anzuziehen, hatte er direkt neben dem Eingang zum »Fehpantoffel«, einem sehr schönen Geschäft, eine Art fliegenden Stand aufgebaut. Es handelte sich um einen alten Neger, höflich und rechtschaffen, aber es gefiel dem Eigentümer des »Fehpantoffel«, einem Weißen polnischer Herkunft namens Jaruzelski nun einmal nicht, daß er da auf dem Bürgersteig war. Eines Tages, als er besonders schlecht gelaunt war, sei es, weil er mit seiner Frau schlecht geschlafen oder sie mit einem Liebhaber im Bett überrascht hatte - wie böse Zungen behaupten, denn sie war eine leichtfertige Person -, eines Tages also stieß er den Alten mit dem Fuß in den Hintern und verstreute seine Nägel, seine Kneifzangen, seine Lederplättchen und seine eisernen Absätze auf der Straße . Zwei Stunden später wurde der »Fehpantoffel« geplündert, Jaruzelski hinter seinem Ladentisch hervorgezerrt und mitten auf der Straße
wie tot liegengelassen. Während der ganzen Nacht steckte eine wutentbrannte Menge die Autos der Weißen in Brand und plünderte ihr Hab und Gut. Doch dabei blieb es nicht. Ein Bauarbeiter, Jose Laran, der sich bisher im verborgenen gehalten hatte, tauchte mit einemmal auf, und vom Balkon der Handelskammer herab rief er das Volk auf, sein Schicksal in die Hand zu nehmen, die Weißen zu verjagen und wie auf einigen Nachbarinseln die Revolution auszulösen. Studenten und Intellektuelle schlossen sich ihm an. Selbstverständlich wurden diese Unruhen mit Hilfe der zur Verstärkung angerückten Truppen aus dem Mutterland im Blut erstickt. An Händen und Füßen gefesselt, wurde Jose Laran in ein Flugzeug verladen, damit er sich vor einem Sondergericht mit Sitz in Versailles, der ehemaligen Residenz der Könige von Frankreich, für sein Verbrechen verantwortete. Wer über ein solches Ausmaß an Gewalttätigkeit, hinter dem sich tiefe soziale Spannungen verbargen, verwundert ist, sollte sich klarmachen, daß in dem wirtschaftlichen Zusammenbruch der Tourismus zur einzigen Erwerbsquelle geworden war. Europäer, in erster Linie Franzosen, aber auch Kanadier und Amerikaner kamen in Scharen herangeflutet, im Winter, um sich zu sonnen und zu baden und das ganze Jahr über, um ins Kasino und in den Nachtclub zu gehen. Weiße überall. Die berühmte Toleranzschwelle, von der die Psychologen sprechen, war erreicht und sogar überschritten. Die Einheimischen fühlten sich bei sich nicht mehr zu Hause. Bedenkt man außerdem, daß eine Politik der Abwanderung der autochthonen Bevölkerung nach Frankreich verfolgt wurde ., dann begreift man die Gründe für diese
spektakulären Repressalien. Jedenfalls schreiben das die Analytiker. Was für Spuren hinterließen diese Ereignisse in Berthe? So gut wie keine. Der Lärm dieser großen politischen Kämpfe drang nur gedämpft zu ihr, wie von fern. Von den »Blutigen Oktobertagen« wird sie nur eine aufgebrachte Menge in Erinnerung behalten, die sich die Rue du Sable herabwälzt. Zusammen mit Antoine und Dominique guckte sie durch das Fenster der Bodenkammer, aber sie begriff nicht, warum es ein solches Wutgeschrei und solche Transparente gab. Das Lyzeum Felix Eboue wurde darauf für eine Woche geschlossen. Als der Unterricht wieder begann, erfuhr sie, daß bestimmte Lehrer in die Hauptstadt versetzt worden waren. Andere hatten ihren Platz eingenommen. Weiße. Wenn die politischen Ereignisse und der Anblick des Elends ihrer Landsleute keinerlei Spuren in Berthe hinterließen, was vermochte sie dann zu erschüttern? Anscheinend war es die Betrachtung der heimischen Natur. Mano Aubrun hatte von seinem Vater ein Haus in Raisins Clairs geerbt, einem Fischerdorf, das jetzt Badeort geworden war, sich aber abseits vom beginnenden Touristenboom hielt. Wenn Berthe von einer Felskuppe, die den Strand überragte, das Meer, die Palmen, den weißen Sand und in der Ferne die verschwommene Silhouette eines Inselchens vor sich sah, war sie überzeugt, daß Gott, dem sie einen solchen Geburtsort verdankte, ihr ein unermeßliches Privileg eingeräumt hatte. Und wenn sie das Schiff nach Canete bestieg und sich der Schmerz, von Antoine getrennt zu sein, gelegt hatte, erfaßte sie ebenso ein unbezähmbarer innerer Drang, ihrem Entzücken Ausdruck zu verleihen.
Sie hätte gern Gedichte geschrieben. Aber wem sollte sie sie zeigen? Antoine konnte nicht lesen.
Ich habe bisher überhaupt noch nicht von Antoine gesprochen - ich gebe zu, daß das ein Versäumnis ist. Groß, wohl gebaut für sein Alter, so wie jener Held, von dem uns Vitaliano Brancati erzählt, bei dem sich, wenn er mit den Seinen in die Saint-Benoit-Kathedrale kam, »sofort die schönsten Blicke von der Kanzel abwandten«. Aber nicht mehr, um ihn zu bewundern, wie in den ersten Jahren. Sondern um zuzusehen, wie er mit den Fingern in der Nase bohrte, wie er unruhig an seinen Locken zupfte und wütend den Kopf auf die Schulter seiner Mutter fallen ließ, damit sie der Qual, zu der sie ihn verdammte, ein Ende setzte. Denn wenn er auch zu Hause einigermaßen umgänglich war, in der Öffentlichkeit wurde Antoine unerträglich. Als er zwölf Jahre alt war, konnten Altagras und Mano ihn nicht mehr gegen seinen Willen mitnehmen. Das Haus in der Rue du Sable stieß an einen weitläufigen Garten, einen regelrechten Park, in dem Quenette-und Goyavenbäume wild durcheinander wuchsen. Dort verbrachte Antoine die meiste Zeit, halbnackt, ausgebreitet in der Sonne, sogar nachmittags, oder er drehte sich unablässig wie ein Derwisch um sich selbst. Vom Fenster ihres Zimmers aus beobachtete ihn Altagras mit Tränen in den Augen, ein törichtes Gebet vor sich hinmurmelnd: »Lieber Gott, mach, daß er wieder gesund wird .« All das nahm ein Ende, als Berthe kam, denn durch sie entdeckte er die Malerei. Niemand weiß genau, wie das geschah. Wahrscheinlich drückte sie ihm eines Tages, als er in besonderem Maße ihre Aufmerksamkeit forderte, Pinsel und Papier in die Hand und ermunterte ihn, ein
bißchen herumzuklecksen. Auf jeden Fall wurde daraus eine Leidenschaft. Während sie im Lyzeum war oder ihre Hausaufgaben erledigte, malte er unermüdlich Fresken von riesigen Ausmaßen, deren verworrene und doch poetische Formen seiner unbändigen Phantasie entsprungen waren. Bald darauf malte er auch die Gesichter um sich herum, und jeder hatte Angst davor, sich wiederzuerkennen, ähnlich und doch anders, verschlossen und entschlüsselt, undurchdringlich und durchschaut. Das Malen wurde zum Verständigungsmittel mit seiner Umgebung und insbesondere mit Altagras, denn Berthe tauchte nur wenig in seinen Bildern auf (zumindest in denen aus dieser Epoche. Er begann sie erst zu malen, nachdem er sie verloren hatte). Wenn er seine Liebe bekunden wollte, erschien Altagras als Göttin oder als Sirene, mit einem Hibiscusstrauch anstelle des Bauchnabels und mit Sternen an den Augenlidern. Wenn sie sein Mißfallen erregt hatte, wurde sie zu einem runzligen Rumpf, und ihre Brüste hingen wie Schläuche an ihr herab. Er versah sie mit zwei Köpfen, drei Füßen und einem wollüstigen Mund, aus dem wie im Märchen je nachdem Diamanten oder Kröten herausfielen. Mit einem Wort, durch seine Malerei besaß er sie ganz, wie es ihm beliebte. Es muß gesagt werden, daß die Familie diese Leidenschaft zunächst lediglich als Zeitvertreib ansah. Mano, der ein gutmütiger Kerl war, gab seinem unglücklichen Sohn großzügig die Mittel, damit er sich im »Predigerhäuschen«, dem einzigen Geschäft für Künstlerbedarf in Fort Pilote, Malzubehör kaufen konnte. Altagras hatte gut daran getan, eine bestimmte Anzahl von Bildern einzurahmen und sie im ganzen Haus verteilt aufzuhängen; das
war jedoch nicht ein Zeichen ihrer Bewunderung, sondern ihrer Liebe zu ihrem Sohn. Eines Tages nun blieb ein Freund, der gerade aus Haiti zurückgekehrt war, wie angewurzelt vor einem dieser Bilder stehen und fragte, ob das nicht das Werk eines gewissen Salnave Philippe Auguste wäre. Zu ihrem Erstaunen hörten die Eltern durch ihn zum erstenmal von der naiven Malerei in Haiti, um die sich die größten Museen der Welt rissen, und von Genies, die nie eine Schule durchlaufen hatten. Er riet ihnen, Obacht zu geben, denn vielleicht hatten sie es mit einem außerordentlichen Talent zu tun. Altagras war hell begeistert von dieser Aussicht, Mano dagegen behielt einen kühlen Kopf. V
Ich komme jetzt zu einem der schwierigsten Kapitel meines Berichtes: die Beziehungen zwischen Berthe und Antoine. Wann veränderte sich etwas zwischen ihnen? Wann wurde aus der kindlichen, bei Antoine neurotischen, Zuneigung eine Leidenschaft zwischen Mann und Frau mit allem? Unmöglich, das zu erfahren. Niemand bemerkte etwas. Mindestens so lange nicht, bis der Bauch von Berthe sich zu wölben begann. Sich wölben. Berg der Wahrheit. In diesem Jahr 1963 trugen sich in Fort Pilote bedeutende Dinge zu. Die Worte Unabhängigkeit und Revolution wurden nicht mehr von einer vorübergehend aufgeputschten Menge und rasch wechselnden Führern herausgeschrien, sondern tauchten zum erstenmal in gedruckten Manifesten auf, die ein in sich geschlossenes Programm verkündeten. Sie sollten sich bald auf allen Mauern der
Stadt ausbreiten und auf Plakaten zur Stimmenthaltung bei den Wahlen aufrufen. Berthe jedoch kümmerte sich um all das nicht. Eines Morgens, noch vor der Frühmesse, wurde sie aus dem Haus in der Rue du Sable gejagt. Es scheint, daß sie Zuflucht bei Destrella fand, einer Freundin von Martha-Schwarzauge, die sie als kleines Mädchen gekannt hatte. Dort wurde auch ihr Sohn geboren, Antoine. Antoine wie sein Vater. Ich habe versucht, Berthes Nächte bis zur Geburt ihres Kindes wieder erstehen zu lassen. Ich bin mir sicher, daß sie zu diesem Zeitpunkt anders über Pourmera, ihre Mutter, zu denken begann. Sie fühlte, wie der Schrei, den diese vor ihr ausgestoßen hatte, ihre Brust anschwellen ließ, langsam die Speiseröhre hinaufkroch, durch den Rachen bis zum Mund drang und ihr wider ihren Willen die Lippen auseinanderriß. Ja, in ihr floß das Blut dieser Märtyrerin, und bald würde sie auch deren Schicksal kennenlernen. Eingeschlossen hinter hohen Mauern. Doch der Wahnsinn sucht sich seine Opfer aus, und Berthe gefiel ihm nicht. Antoine wurde geboren. Ein schönes Kind von 4 Kilo und 280 Gramm; die Krankenschwestern umstanden sein Bett, um zu sehen, ob das wohl das Kind des Idioten aus der Familie Aubrun wäre. Meine Liebe, was für eine Geschichte! Als Berthe ihren Sohn in die Arme nahm, weinte sie. Sie hatte weder bei der Begegnung mit ihrer Mutter, noch bei der Abfahrt von Martha-Schwarzauge und Marcius eine Träne geweint, und auch nicht, als sie aus dem Haus in der Rue du Sable gejagt wurde und Antoine nichts zu ihrer Verteidigung hatte tun können. Jetzt weinte sie. Nicht aus Kummer, sondern aus Liebe. Sie hatte sterben wollen, und nun gab sie jemandem das Leben. Sie hatte sich allein und
verlassen geglaubt, und nun hatte sie einen Gefährten. Schwach, aber jetzt hatte sie die Pflicht, stark zu sein. Stark für ihn. Der Kindergarten Achille-Rene Boisneuf bewahrt keinerlei Erinnerung an ein Kind mit Namen Antoine Surena, das in demselben Jahr dort hinkam, als Fort Pilote von Tumulten seltenen Ausmaßes erschüttert wurde, eine Antwort auf die gewaltsame Niederschlagung des Streiks der Bauarbeiter. Ich selbst war zu jener Zeit Student in Bordeaux. Ganz bestürzt über die Bilder von den Plünderungen und Zerstörungen, die in den Zeitungen erschienen, hing ich nur noch am Telefon. »Hab keine Angst«, sagte meine Mutter immer wieder. »Sie haben es nur auf die aus dem Mutterland abgesehen .« Im selben Jahr erwachte unser Vulkan, den man für ruhig gehalten hatte, zu neuer Tätigkeit und spie einen Lavabrei über die Dörfer aus, so daß alle glaubten, das Ende unseres Landes sei gekommen. Man stellte einen Evakuierungsplan auf, und bald waren die Straßen verstopft von Fuhrwerken, auf denen Kinder, Matratzen und Möbel transportiert wurden. Gleichfalls in diesem Jahr kehrten auch Martha-Schwarzauge und Marcius aus Canete zurück. Da weder der eine noch der andere Geschäftssinn besaß, hatten sie nicht nur das von ihren Eltern hinterlassene Kapital verschleudert, sondern sich überdies noch mit Schulden beladen. Sie nahmen Berthe und den kleinen Antoine zu sich und gingen alle zusammen nach Port Mahault, einem hübschen Flecken an der Küste. Warum gerade Port Mahault? Ich weiß es nicht . Für den kleinen Antoine waren diese Jahre Jahre des
Glücks. Die Straße von Fort Pilote nach Sofaya, der Hauptstadt, führt in südlicher Richtung am Meer entlang. Zunächst durchquert sie ein Gebiet, wo Zuckerrohr angebaut wird und wo jetzt die Gerippe der stillgelegten Fabriken gespensterhaft emporragen, dann gelangt sie ins Bananengebiet, wo überall verstreut kärgliche Hütten stehen, die in dem grünen Gebüsch fast verschwinden. Um nach Port Mahault zu gelangen, das auf einer Art Felsvorsprung liegt, muß man die Nationalstraße verlassen und einen abschüssigen Weg einschlagen, an Felsen entlang, in die die ausgestorbenen Indianer seltsame Figuren eingeritzt haben. Das ist alles, was uns von den Ureinwohnern des Landes geblieben ist. Port Mahault hat einen kleinen Leuchtturm, Holzhütten und feste Häuser, ein paar Lebensmittelläden mit Cafebetrieb, eine Tankstelle, eine Markthalle, eine schöne Kirche und eine Schule, die durchaus nicht zu groß erscheint, wenn man weiß, daß die Kinder aus den unzähligen, in den Einbuchtungen der Küste verborgenen Dörfern dorthin kommen. Ein Platz, der von einheimischen Flammenund Mandelbäumen beschattet wird, stellt das Zentrum des Fleckens dar, und an eine mit Straßenlampen gesäumte Allee schließt sich eine Mole aus schwärzlichen Steinen an, an der sich die Brandung bricht. In Port Mahault nahm Marcius sein Tischlerhandwerk wieder auf. Doch da er kaum Aufträge erhielt, machte Martha-Schwarzauge einen Laden auf, in dem alles verkauft wurde: Öl, Zimt, Corned beef, Sardinen, Nadeln und Garn. Berthe fand eine Büroarbeit beim Bürgermeister. Im Standesamt. Um das Jahr 1972 trat ein Mann in Berthes Leben, Jean Larose, den in seiner Gemeinde alle kannten und schätz-
ten, denn er verstand es hervorragend, Geschichten zu erzählen. Ich muß gestehen, daß er mir kein sehr passender Gefährte für eine junge Frau schien, die immerhin in einer bürgerlichen Familie aufgewachsen war, zehn Jahre das Lyzeum besucht hatte und einen Verwaltungsposten bekleidete. Aber gewiß unterliege ich meinen sozialen Vorurteilen. Denn der Neger Jean Larose war in der Tat kein Durchschnittsmensch: Er war Schiffszimmermann mit Facharbeiterbrief, bei dem die Fischer aus der Umgebung ihre Boote - kleine, große oder Fockboote - in Auftrag gaben. Und er war ein außergewöhnlicher Stiefvater. Wenn sein Schiff mitten in der Nacht ablegte und mehrmals kreuzend stromabwärts zum Ozean segelte, setzte er den kleinen Antoine ins Heck und ließ ihn die Köder vorbereiten. Das Kind sog den Nachtwind ein und folgte mit den Blicken den Wellenbergen und dem Tiefflug der Seevögel. Gleichzeitig dachte er an seine Mutter, die zusammengekauert in dem großen Bett lag, das er nicht mehr mit ihr teilte. Während einer ganzen Reihe von Jahren brachte Jean Larose Berthe und ihrem Sohn Glück. Das Leben ist so, es gewährt Ruhepunkte. Wann nahm all das ein Ende? Es wird berichtet, daß sich in Port Mahault eine Gesellschaft zur technischen Unterstützung und Kooperation niederließ, die den Fischern bei der Aneignung technologischer Neuerungen, insbesondere des Außenbordmotors, helfen sollte. Die Folge: Veränderungen im Bootsbau. Die Zeit der Boote war vorbei; Jean Larose verlor sein Ansehen und seine Aufträge. Seit jener Zeit begann er auch, Berthe zu schlagen. Und seit jener Zeit begann der kleine Antoine, der gar nicht mehr so klein, sondern schon groß war, von sich reden zu
machen. Er, der täglich zweimal badete, sich den Körper mit einem Laubwedel abrieb und einen Seitenscheitel trug, der sich die Haare mit Roja-Brillantine glättete, er vernachlässigte sich jetzt, war schmutzig und roch nach Schweiß. Was kommen mußte, kam, in der Schule wurde er Allerletzter. Marcius schlug sich in seiner Tischlerwerkstatt recht und schlecht durch, und so kam man auf die Idee, den Jungen dort unterzubringen. Letzten Endes ist kein Handwerk übel, und alles ist besser, als sich auf der Straße herumzutreiben. Aber Antoine sah seiner Mutter ins Gesicht und erwiderte nur: »Ich will nicht Tischler werden.« Diese Ruhe, diese Unverfrorenheit ließen Berthe aus der Haut fahren. In einem Augenblick durchlebte sie noch einmal all die Opfer, die sie gebracht hatte, all die Schmerzen, die sie niedergedrückt hatten, seitdem ihre Augen die Erdensonne erblickten. Sie schlug ihn. Aus Leibeskräften. Mitten ins Gesicht. Antoine ging ohne ein Wort. Ich weiß, was sich in seinem Leben ereignete. Ein Jahr zuvor hatte Mike Blustein, ein an der ganzen Ostküste der Vereinigten Staaten bekannter Bilderhändler, aus Haiti kommend, wo er von den Ärmsten Kunstschätze an sich gerissen hatte, in Fort Pilote Station gemacht, um die kreolische Küche zu kosten, die von den Reiseprospekten so sehr gerühmt wird. »Der Zauber Frankreichs in einer karibischen Umgebung.« Durch reinen Zufall betrat er das »Predigerhäuschen«, zeigte dort auf ein Bild und fragte: »Von wem ist das?« »Von einem meiner Cousins. Ein bißchen .« Und der Leiter des »Predigerhäuschens« tippte sich mit einer vielsagenden Handbewegung an die Stirn.
»Gibt es noch weitere Bilder? Ich will sie sehen.« Schließlich rief er in der Rue du Sable an. Auf einen solchen Telefonanruf hatte Altagras seit mehr als zehn Jahren gewartet. Was Mike Blustein sah, überwältigte ihn. Die Sensibilität eines Salnave Philippe Auguste gepaart mit der Feinheit und der Genauigkeit des Strichs eines Philome Obin, des Begründers der Schule des Nordens, sowie mit dem Überschwang eines Hector Hyppolite. Als er wieder in New York war, organisierte Mike eine Ausstellung in der Parke Bennett Gallery. Eine Woge von Fotografen brach über Fort Pilote herein und stürzte sich auf den Künstler. Schließlich nahmen auch die Franzosen von der Existenz eines Genies in einer ihrer Besitzungen Kenntnis, und »Connaissance et arts« widmete ihm einen Artikel in seiner Nummer vom November 1976. Das Meisterwerk von Antoine Aubrun ist meiner Ansicht nach das große Gemälde mit dem Titel »Frau«. Eine in Rot gekleidete Gestalt gegenüber einem violetten Meer, ringsum Altarkerzen, die auf den Gräbern des Friedhofs stecken und deren Schein ihre glänzende Haut hell schimmern läßt. Manche Kritiker wollen darin die Verkörperung einer Göttin sehen: Erzulie-Freda-Dahomey, Agoue, Grande Bossine. Man muß sie jedoch daran erinnern, daß Antoine kein Haiitianer ist und ganz gewiß niemals etwas vom Voudou-Pantheon gehört hat. Für mich ist diese Frau Berthe. Was wußte Antoine bis zu diesem Zeitpunkt von seinem Vater? Ich denke, nicht viel. Man hatte ihm wohl gesagt, daß er der Sohn eines Mulatten aus guter Familie war, der ihn noch vor seiner Geburt im Stich gelassen hatte. So etwas ist in unseren Gesellschaften so üblich, daß er daran
womöglich nicht einen einzigen Gedanken verschwendete. Und nun prangte das väterliche Gesicht auf dem Einband luxuriöser Zeitschriften von jenseits des Ozeans. Antoine entdeckte im selben Moment, daß er der Sohn eines Idioten und eines Genies war, zwei Dinge, die sich nicht widersprechen. Man füge dem den Sturm der Pubertät hinzu. Er begann, von zu Hause wegzulaufen. Einmal flüchtete er bis nach Fort Pilote. Er streifte in der Rue du Sable herum. Jeden Tag am späten Vormittag trat Antoine Aubrun bei sengender Sonne aus dem Haus, denn er konnte jetzt allein ausgehen. Er drehte den Kopf nach rechts und nach links, bevor er über die Straße ging, die Hände in den Taschen seiner Drillichhose. Er setzte sich auf eine Bank auf der Place de la Victoire und starrte auf das ferne Meer, inmitten der Autos, die dieses einstige Paradies der Begegnungen, der unschuldigen Flirts, der Spaziergänge und verstohlenen Küsse in einen Parkplatz verwandelt hatten. Frauen mit Käppis auf dem Kopf spazierten die Alleen auf und ab und vermieden es, den Blick auf diesen schweigenden, stets in Weiß gekleideten Mann zu richten, der für sie das Leid eines Mutterherzens symbolisierte. Vater und Sohn standen sich lange einander gegenüber, wobei sich der Sohn hinter einem der ehrwürdigen Sandbüchsenbäume des Platzes verborgen hatte und auf dem verwüsteten Gesicht des Vaters die Spures seines eigenen, noch unfertigen suchte. VI
Von 1978 an ist Berthe wieder in Fort Pilote. Sie wohnt in einer jener sozialen Wohnungsbauten, die die kommunistische Stadtverwaltung am Rand der Stadt aus dem
Boden hat stampfen lassen und die sie wie mit einem Gürtel aus Betonwürfeln umgeben, hinter denen Unterhosen, Spielhöschen, Scheuerlappen und Laken herumflattern. Sie hat daran gedacht, über das BUMIDOM, das Bergwerksbüro für die französischen Übersee-Departements, das seit mehr als zehn Jahren die massenweise Auswanderung ihrer Landsleute organisiert, nach Frankreich zu kommen. Sie träumt davon, Krankenschwester zu werden, vielleicht im Gedenken an ihre Mutter, die jetzt tot ist und so lange hinter hohen Mauern eingeschlossen war. Irgend jemand bringt sie davon ab, da er ihr zu verstehen gibt, daß Paris die grausamste Stadt der Welt sei und daß ihre so sehr gepriesene Schönheit und ihre fieberhaften Nächte das Gefühl der Einsamkeit bei dem, der weder Freunde noch Familie hat, nur noch verstärken. Also arbeitet Berthe in der Buchhandlung »Schöne Bücher«. Monsieur Lucretien, ihr Chef, schätzt sie. Sie murrt nie, wenn sie bis spätabends bleiben soll. Für Madame Lucretien macht sie kleine Besorgungen. Als Dank für ein solches Entgegenkommen gibt Max, der älteste Sohn der Lucretiens, Antoine Mathematikstunden. Sonnabends, vor allem nach den Ferien, wenn die Schule wieder begonnen hat, hilft Antoine in der Buchhandlung und verdient sich so etwas Taschengeld. Antoine ist ein schöner Junge. Aber schweigsam, finster, abweisend. Die Lehrer im Lyzeum beklagen sich über seine trotzige Miene. In Französisch und Geschichte gehört er jedoch zu den ersten in seiner Klasse. Ich habe ein Gedicht gefunden, das er geschrieben hat:
»Unser Tag wird kommen - das sag ich euch so wahr wie die Sonne so rein wie die Schönheit so hart wie das Metall werden wir den Faschismus verbrennen werden wir den Rassismus verbrennen und den Imperialismus.« Junger Rebell, der seine Revolte noch nicht recht zu bezeichnen weiß! Der Worte gebraucht, die nur ungenügend sein Unbehagen beschreiben. Denn es sind die einzigen, die ihm zu Gebote stehen. Es gibt wieder einen Mann in Berthes Leben. Er arbeitet als Oberkellner im »Bananier«, eins der in Le Goulet erbauten Hotels. Er heißt Edariste. Stellen Sie sich vor, daß Le Goulet, als ich klein war, ein Fischerdorf war, ein paar Kilometer von Fort Pilote entfernt! Aber dann, seit den sechziger Jahren, wurde ein Hotel nach dem anderen eröffnet, nach amerikanischem Vorbild und mit internationalem Standard. Dazwischen reihen sich die Läden der Handwerker, die auf trübselige Weise Muscheln, ausgestopfte Schwertfische und kreolische Puppen zum Verkauf anbieten. Wie hart ist es doch, sein Land im Todeskampf liegen zu sehen! In einem Jahr während der Schulferien arbeitet Antoine auf Anraten des Geliebten seiner Mutter im »Bananier«. Man kann sich ihn in der absurden Kellnerkleidung kaum vorstellen: weiße Hose, rote Jacke mit einem gestickten Emblem auf der Tasche und Krawatte aus Madrasstoff. Und in der Tat hält er es da im Hotel »Bananier« auch nicht lange aus. Nach den ersten drei Wochen entlassen. Gewissen Informationen zufolge soll man ihm vorgeworfen haben, das untere Personal der Kellner, Servierer und
Zimmermädchen zum Streik aufgerufen zu haben. Das erscheint mir nur wenig wahrscheinlich. Ich neige eher zu einer anderen Erklärung. Nämlich, daß man ihn aufgefordert hätte, seine »Afro«-Frisur zu bändigen, woraufhin er aufgebraust und gegangen ist. Zu dieser Zeit ereigneten sich zwei Dinge, die ohne augenscheinlichen Zusammenhang waren. Berthe bekehrte sich zu den Adventisten des Siebenten Tags, und Antoine wurde der Freund von Didier Rehat. Berthe hatte nie auf die Religion gesetzt und so kommt ihre Konversion überraschend. Was bringt sie dazu, sich um die Stirn ein weißes Tuch zu binden, auf Schweinefleisch zu verzichten und in einem vor Hitze glühenden kleinen Tempel inbrünstig zu singen? Vielleicht weil Edariste sie verlassen hat, um eine Dominikanerin zu heiraten? Jedenfalls ist sie es leid, ohne Stütze durchs Leben zu gehen. Noch überraschender ist die Freundschaft zwischen Antoine und Didier Rehat. Didier war der älteste Sohn von Maximilian Rehat, dem bestgehaßten Mann des Landes. Ned, wie ihn seine engsten Freunde und alle anderen nannten, hatte eine feine Spürnase gehabt. Sobald sich der Niedergang der Zuckerindustrie abzuzeichnen begann, hatte er seinen Ländereien schleunigst die seiner Frau sowie die der benachbarten Grundbesitzer einverleibt, die mit Zustimmung der Behörden enteignet wurden oder ruiniert waren, und hatte so einen Grundbesitz von 12000 Hektar zusammengebracht, auf dem er Bananen anpflanzte. Er hatte die Geschäftsführung einer Gesellschaft anvertraut, zu deren Generaldirektor er sich ernannte, und beutete ungestraft seine Landarbeiter aus. Eng befreundet mit dem Präfekten und bestimmten Abgeordneten, war er es, der das Zepter schwang. Man kann sich unschwer
vorstellen, daß, so wie es bei den Jungen in den begüterten Schichten oft vorkommt, Didier sich gegen seinen Vater auflehnte. Er fand es gewiß reizvoll, sich mit einem halbschwarzen Bastard einzulassen, der einem sozialen no man's land angehörte. Aber hätte denn Antoine nicht auf der Hut sein müssen? Offenbar war er es nicht. Die beiden Jungen sind unzertrennlich. Sie fahren auf einem Tandem durch die verstopften Straßen von Fort Pilote, quer durch die geschwätzige Menge. Sie sind gleich groß. Sie tauschen miteinander ihre Kleidung. Sie nehmen dieselben Getränke. Sie schlafen mit denselben Mädchen. Nein, an diesem Punkt hört jede Ähnlichkeit auf. Didier versteht sich aufs Bumsen, hat immer das große Maul und macht allem, was einen Rock trägt, schöne Augen. Antoine kann nicht lächeln. Sein bohrender Blick läßt einen zurückschrecken. Er hat eine Leidenschaft für Mauriac und liest immer wieder Denn du kannst wei nen. »Nicht mehr Erlkönig zieht den Sohn mit sich fort, sondern das Kind selbst zieht seinen entthronten und geschmähten Vater zu den schlafenden Wassern am Wehr, wo im Sommer die Jungen nackt baden. Ganz nahe sind sie schon den feuchten Gestaden des Reiches .« Des öfteren, wenn er an dieser Stelle angelangt ist, weint er. Dann macht sich Didier über ihn lustig und reicht ihm ein Glas Rum, den er nicht trinkt. Im April 1981 taucht die OLP, die Bewegung für den Volksbefreiungskampf - Neue Kraft - in der politischen Landschaft auf. Ihre Losungsworte heißen nicht mehr einfach Unabhängigkeit, Revolution, sondern bewaffneter Kampf, Stadtguerilla. Man ist weit entfernt vom Salonpalaver, das Blut fließt an jeder Straßenkreuzung. Alle Ge-
spräche, vor den Kirchen, auf den Märkten, in den Bussen, kreisen um dieses Thema. »Wohin wird das noch führen?« Was mich angeht, so muß ich gestehen, daß ich diese Raserei nicht begreife und Angst habe. Trotzdem sehe ich sehr wohl, wie unser Land zerstört wird, ich sehe sehr wohl, daß wir keinerlei direkten Einfluß, keinerlei Macht über die Entwicklung unserer Gesellschaft haben und daß alle Entscheidungen anderswo getroffen werden. Ich weiß sehr wohl, worunter wir leiden. Aber ich bin nur Arzt: Der Kampf, den ich führe, richtet sich gegen Krankheit und Tod. Schon bald liebäugeln Didier und Antoine mit der OLP. Ganz offensichtlich hat der erstere auf den zweiten Druck ausgeübt. Ich habe versucht, in die Psyche Antoines tiefer einzudringen, indem ich seine Lehrer und seine Mitschüler befragt habe. Es kam immer wieder dieselbe Bemerkung: »Man spürte, daß er litt.« Aber niemand hat sich darum bemüht herauszufinden, worunter er litt. Den Abend verbrachte Antoine nie bei Didier, der in L"Etranglee in einem kleinen Haus wohnte, das ein kalifornischer Architekt mit viel Geschmack restauriert hatte. Sobald die Sonne untergegangen war, stieg er, vier Stufen auf einmal nehmend, zum fünften Stock hinauf, wo seine Mutter wohnte. Der Fahrstuhl funktioniert nicht mehr. Die Müllschlucker sind verstopft. Ein Geruch nach Brotfrüchten, Kabeljau und scharfem Urin steht im Treppenhaus. Berthe ist allein. Sie macht ihrem Sohn keine Vorwürfe mehr. Sie schlägt ihn nicht mehr wie zu der Zeit, als er noch ein Junge war. Nein, sie begnügt sich damit zu beten. Ein dichtes Schweigen hat sich zwischen diesen beiden Wesen ausgebreitet. Berthe bringt den Reis zum Kochen, wäscht und putzt die Yamswurzeln. Antoine erledigt seine
Hausaufgaben beim weißen Licht des Fernsehers, der hier, wie in den anderen zweitausend Wohnungen des Blocks, wie ein Gebieter herrscht. In Wirklichkeit hat er nur einen einzigen Gedanken: »Mutter, erzähl mir von ihm. Sag mir, wie ihr euch geliebt habt. Wie ihr euch getrennt habt. Weiß er wenigstens, daß es mich gibt?« Durch das endlich anerkannte Genie ihres Sohns vermögend geworden, hat Altagras dem neuen Kulturhaus ein Gemälde von Antoine gestiftet. Es stellt eine Frau dar. Ja, wieder eine Frau! Sie hat blaue Wangen. Sie hält einen Dolch in der linken Hand. Vor ihr ist ein mit Blut, Milch und Honig bedeckter Altar errichtet. »Paris-Match« hat vor kurzem eine lange Reportage über den »Einsamen von Fort Pilote« veröffentlicht. Antoine geht oft ins Kulturhaus, um sich vor das Fresko hinzustellen. Er hat die Fotos in der Reportage ausgeschnitten und in einer Schublade seiner Kommode versteckt. Er weiß nicht, daß seine Mutter das bemerkt hat. Ich muß gestehen, daß ich, wie die meisten Bürger von Fort Pilote, auf die Bilder von Antoine Aubrun nicht viel gebe. Für mich sind das nichts weiter als die Klecksereien eines Schizophrenen. Ich würde sie gern einmal in Ruhe betrachten können und dem Netz aus Linien und Farben einen geheimen Sinn entreißen. Ich bin wahrhaftig kein guter Richter. Man hat mich in der Bewunderung der großen Meister des Impressionismus erzogen, Cezanne, van Gogh, Monet, Renoir, Pisarro, der Gauguin vor der »Vision nach der Predigt«, das Gemälde, das er nach seiner Rückkehr von Martinique malte. Ich erinnere mich noch an meine Verzücktheit, als ich die Münchner Pinakothek besuchte. Aber als ob ich von mir zu sprechen hätte!
Die großen Ferien 1981 verbringt Antoine mit seinem Freund Didier auf der Ile aux Chevres, eine kleine Insel im Norden unseres Landes. Die Familie Rehat besitzt dort ein Landhaus. Ehemals Tabakanbaugebiet, hat die Ile aux Chevres heute aufgrund der außerordentlichen Schönheit ihres Strandes nur noch touristischen Wert. Alle Reiserouten, die unser Land zum Ziel haben, werden nicht ohne einen Tag auf der Ile aux Chevres geplant. Und deshalb wuchern die Hotels und trübseligen Handwerkerläden mehr und mehr empor. Dazu die Segler - Amerikaner, Kanadier, Skandinavier -, die in ihren Gewässern kreuzen, so daß das Meer zu bestimmten Zeiten mit Segelbooten übersät ist. Es gefällt mir gar nicht, daß Antoine zusammen mit Didier, dessen Schwestern und jüngeren Brüdern ins Flugzeug steigt. Ich ahne eine Gefahr. Unbekümmert und voller Begeisterung betrachtet er die Umrisse der Ile aux Chevres. Der Hauptort, Fond Cure, erinnert ihn an das Port Mahault seiner Kindheit. Überall Blumen: Hibiscus, Bougainvillea, Hundswürger, blühende Lianen. Die Straßen sind von einheimischen Birnbäumen mit knorrigen Stämmen gesäumt. Eine Bucht wird von einem Friedhof mit hohen weißen und schwarzen Gräbern gleich einer stolzen Totenstadt eingenommen. VII
Am 25. Dezember 1981, beim Verlassen der Mitternachtsmesse, an der er mit seiner gesamten Familiensippe teilgenommen hatte, wird Ned Rehat ermordet. Da die internationale Presse von diesen Ereignissen lang und breit berichtet hat, sind sie so bekannt, daß ich mich
nicht darüber verbreiten werde. Ich sehe mir die Begräbnisfeierlichkeiten von Ned im Fernsehen an, das ihn so behandelt wie die BBC ein Mitglied der königlichen Familie. Eine Flut von Menschen folgt dem Leichenwagen durch die Straßen, die wie ausgestorben sind, da die Ladenbesitzer aus Protest gegen die zunehmende Gewalt ihre Geschäfte geschlossen haben. Um der Zeremonie mehr Gepränge zu verleihen, hat die Familie den uralten Brauch des Pferdegespanns wieder aufgenommen, und so traben vier ganz von schwarzen Überzügen bedeckte Schimmel feierlich hinter einer Fanfare her. An jeder Kreuzung bleibt der Zug stehen, und der Trommler schlägt auf seine Trommel, wie um denen, die es nicht wissen sollten, zu verkünden, daß der Tod vorbeizieht. Neds Witwe ist in Schwarz gehüllt und wird von ihren Söhnen gestützt, auch von Didier, das Gesicht vom Kummer ganz verzerrt. Es wäre mir lieb gewesen, wenn nur Weiße an diesem Leichenbegängnis teilgenommen hätten. Aber dem ist nicht so. Die Gesichter, die auf meinem Bildschirm vorbeidefilieren, tragen alle Farben, ein Spiegelbild unseres Landes, wo es vom tiefsten Schwarz bis zum allerhellsten Weiß alles gibt. Es sind Männer, Frauen, Kinder, Alte darunter. Auf dem Friedhof von Briscaye hält der Priester eine lange Predigt. Er betet, daß unser unglückliches Land wieder Frieden finden möge. Was für eine Überraschung! Er deckt die an unseren Bauern und Landarbeitern begangene Ungerechtigkeit auf, den Konsumrausch, der die begüterten Schichten erfaßt, hat und sie dahin treibt, das Gebot der Nächstenliebe zu vergessen. Sollte die Kirche etwa das Lager wechseln? Überflüssig zu erwähnen, daß die Ermordung Neds einen guten Vorwand liefert, die OLP zu verbieten, die von
da an im Untergrund weiterarbeitet. Wichtiger - wenigstens für meine Geschichte! - ist, daß Antoine und Didier kaum noch zusammentreffen. Im Lyzeum gehen sie sich aus dem Weg. Es gibt eine mögliche Erklärung. Neds Tod hat Didier die Augen geöffnet. Ihm ist bewußt geworden, wie sehr er seinen Vater geliebt hat und wie sehr er es sich verübelt, ihm weh getan zu haben. Er hegt also ein Schuldgefühl und bricht mit allem, was ihn an seine aufsässige Vergangenheit erinnert. Ich weiß nicht, warum mich diese Erklärung nicht befriedigt. Sie erscheint mir zu einfach, zu offenkundig. Es gibt da noch etwas anderes. Antoine, der nach überstandener Pubertätskrise zu den besten Schülern seiner Klasse gehörte, wird wieder Allerletzter. Er wird oft wegen nicht angefertigter Hausaufgaben eingetragen. Einen Sonnabend taucht er im Hof des Lyzeums Felix Eboue auf und wirft trotz des Verbots der aufsichtführenden Lehrer mit Mangosteinen. Einmal wird er für drei Tage von der Schule verwiesen. Das nutzt er, um die Sozialbauwohnung seiner Mutter zu renovieren und hübsche farbige Fliesen über dem Spülbecken anzubringen. Der Kontakt zwischen Mutter und Sohn ist wiederhergestellt. Abends sehen sie sich nicht mehr die geistlosen Serien im Fernsehen an. Sie reden. Worüber? Über Antoine natürlich. Über den abwesenden, mythischen Vater. »Ich habe ihn nie als einen Kranken, einen Geisteskranken angesehen. Er redete nicht, das ist alles. Abgesehen davon bedeuteten seine Blicke, sein Gesichtsausdruck mehr als so viele oberflächliche Worte und Gemeinplätze, die die >Gesunden< von sich geben. Ich wußte, daß er nichts gegen seine Mutter vermochte, und ich stellte ihn
mir vor, wie er mit plattgedrückter Nase am Fenster stand und auf meine Rückkehr lauerte. Was hatte man ihm gesagt, um ihm zu erklären, daß ich nicht mehr da war? Oh, du kennst die Grausamkeit dieser Familien nicht!« Antoine kannte sie sehr wohl, wie ich schließlich herausgefunden habe. Am 15. September 1981 flog Elodie Rehat mit der AF 248 nach Paris. Sie reiste in der Business-Class. Bis zur Abfertigungsschranke wich ihr die ganze Familie nicht von der Seite. Augenzeugen bestätigen einhellig, daß Elodie hübsch war und nichts weiter. Den Lehrern ist sie nicht durch besondere Intelligenz aufgefallen. Nur der Englischlehrer war sehr zufrieden: Elodie hatte eine ausgezeichnete Aussprache: Immerhin, hatte sie mehrmals Sommerkurse in Sarah Lawrence in den USA besucht. Ein junges Mädchen also, ohne Probleme, das vierte Kind von Ned. Verliebt in den Gedanken an die Liebe und daher wie geschaffen für den schönen Freund ihres Bruders zu entflammen. Hat es bei der Freiheit der Sitten, wie sie unsere Epoche kennzeichnet, zwischen Elodie und Antoine mehr gegeben als eine harmlose Liebelei? Aber wie dem auch immer sei! Man könnte aus Antoine einen jungen Intriganten machen, der sich in eine bürgerliche Familie einschleicht, um deren Jungfrau zu besudeln und sich auf diese Weise für das Unrecht zu rächen, das seiner Mutter und ihm selbst angetan wurde. Das erscheint nur lächerlich. Er war zweifellos aufrichtig verliebt, Opfer einer Faszination, wie sie die wohlhabenden Klassen auf die anderen ausüben. Eine Mutter mit glatten Händen, die niemals zerlumpte Sachen gerubbelt hat. Ein anwesender Vater, der sich mit seinen Kindern über die Bücher, die sie gerade lesen, unterhält
(Die internationale Presse hat berichtet, daß Ned ein versierter Musikliebhaber war, ein großer Verehrer von Gustav Mahler, und daß er über den Ozean fuhr, um die Vorstellungen in der Met, der Metropolitan Opera in New York, zu besuchen. Seltsam, daß die Henker immer so sensible Menschen sind! Aber übertreiben wir nicht, Ned war kein Henker. Bloß ein Kapitalist.) Ein Swimmingpool, um das salzige Meerwasser abzuspülen, Rings um das Becken Liegestühle, um frischen, eisgekühlten Marakujasaft zu trinken, Sonnenschirme, blau wie das Meer in der Ferne. Elodie war Antoines Abschied von der Welt der Bourgeoisie. Der Abschied von Illusionen. Von den Wirrnissen der Jugend. Selbstverständlich hatte er Marx und Engels gelesen. Er hatte sogar an eine Wand seines Zimmers jene berühmte Stelle geheftet. »Die Bourgeoisie bat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst .« Aber er hatte es nicht begriffen. Er begriff nicht, daß die Bourgeoisie eine andere Gattung Mensch sind. Trotz seiner Großsprecherei und seiner aufwieglerischen Reden hatte Didier ihn wie einen Hund fortgejagt, als er es gewagt hatte, ein Auge auf seine Schwester zu werfen. So wie man achtzehn Jahre früher Berthe fortgejagt hatte, als sie mit ihm schwanger war. Jetzt hat er endlich begriffen. Sein Äußeres verändert sich. Kein »Afro«-Look mehr. Keine hübsche dreadlock-Frisur mehr. Er rasiert sich den Kopf. Seine Wangen sind glatt. Er sieht den Weg, den er einschlagen wird, vor sich, gerade wie eine Ackerfurche. Er geht mit großen Schritten durch die Stadt und träumt
von einer besseren Welt, von einem Leben mit dem Geschmack nach Honig. O Sohn, den ich nicht gehabt habe! Wenn du meiner gewesen wärst, hätte ich deine Schritte gelenkt, damit sie die flachen Steine der Furt finden. Statt dessen läufst du dich wund, blutest du! Eine zweite Unabhängigkeitsbewegung taucht auf, die die Gewalt ablehnt und den legalen Weg einzuschlagen beabsichtigt Antoine aber engagiert sich aktiv in der OLP. Aus ersichtlichen Gründen habe ich nicht ermitteln können, an welchen Aktionen er teilnimmt auch nicht, ob er überhaupt direkt an Aktionen teilnimmt. Vielleicht schien er noch zu jung, noch nicht sicher genug .? Im Juni 1982 fällt Antoine durchs Abitur. Er verkündet Berthe, daß er die Prüfungen nicht wiederholen wird. Die Mutter weint: Sie hatte davon geträumt, daß ihr Sohn Arzt werden würde. Antoine verbringt die Ferien in Port Mahault. MarthaSchwarzauge und Marcius sind recht alt geworden. Marcius leidet unter einem Leistenbruch, und die Kinder rufen ihn »Banjo«. Er setzt sich in den Gemüsegarten zwischen den Pfefferstrauch und den Lianen-Apfelbaum und erzählt Geschichten von früher. Er redet vom Krieg, von Sorin, der wollte, daß das Land unter der Fuchtel der schlechten Franzosen blieb. Antoine unterbricht ihn: »Es gibt nicht zwei Kategorien Franzosen, die guten und die schlechten. Es gibt nur Kolonialherren. Wir müssen uns von ihrer Vormundschaft befreien, um eine Gesellschaft ohne Klassen und ohne Farben zu errichten.« Der Alte wird böse. Er will Antoine mit seinem Stock schlagen. Der Junge lacht, läuft weg, kommt wieder und küßt den, den er »Großvater« nennt, auf die Stirn.
Port Mahault hat sich sehr verändert. Keine Fischer mehr, die den bacoua, den Strohhut, tief ins Gesicht gezogen, Netze flicken: Die sind jetzt aus Nylon und also unverwüstlich. Außerdem hat die AußenbordmotorRevolution zur Entvölkerung der Fischgründe geführt. Die Männer, die immer weiter hinausfahren müssen, um etwas zu fangen, sind resigniert und hängen ihren Beruf an den Nagel. Sie gehen in die Stadt und werden Taxifahrer. Das Fest des 15. August ist nur noch eine Darbietung für Touristen. Lediglich ein Reggaeorchester, von einer Nachbarinsel herübergekommen, verleiht ihm eine authentische Note. »The say that in the Army The girls are very fine .« Antoine setzt sich an der Pointe Cure nieder und schaut aufs Meer, dieses unendliche Blau auf dem geschundenen Körper der Erde. Er hat ein Buch bei sich, das er sehr gern hat: General Sonne. Aber er liest jetzt nicht. Er schaut aufs Meer. Er möchte wieder ein kleines Kind sein. In den Bauch seiner Mutter zurückkehren. Im Meer ihres Bauches schwimmen. Er versucht, die außergewöhnliche Verbindung seines Vaters und seiner Mutter an sich vorbeiziehen zu lassen. Wie haben sie sich bedeutet: »Ich liebe dich?« Wo haben sie sich geliebt? In der Bodenkammer zur Zeit der Siesta. Altagras dankt Gott: Mano hat dieses Mal nicht allzu lange gebraucht. Sie dreht sich auf die linke Seite, um sich von ihm abzuwenden, steckt sich den aufgelösten Dutt zurecht und drückt sich fest in ihr Kopfkissen, das in einem bestickten Bezug steckt und vom Schweiß und Kölnischwasser ganz feucht ist. Sie hält sich ein parfümiertes Taschentuch an die Nase, um den Geruch dessen, der sie gerade besprungen hat, zu vertreiben. Ein
paar Meter über ihr, über den Balken »Brot - Wein - Not«, wälzen sich Antoine und Berthe im Liebesakt. Der Abend fällt herein. Ein malfini, ein Sperber, taucht ins Meer. Antoine geht den Weg zum Ort zurück. Im September fängt er bei einem Tankwart zu arbeiten an. Eine laute Tankstelle am Stadtrand von Fort Pilote. Grell bemalt wie Flittchen, tanken hier die Autobusse, die quer über die ganze Insel fahren und die kleinsten Ortschaften mitnehmen. Maringouin. Anse Mire. L"Etranglee. Fonds Cacao. Riviere Belle-Feuille. In diesem Jahr verwüstet ein Zyklon unser Land. Der Wind verfangt sich in den auseinanderfallenden Brettern der Holzhütten. Die Blechteile verwandeln sich in fliegende Untertassen. In den Sozialwohnbauten dringt von allen Seiten Wasser ein. Ich suche die Liebe im Leben Antoines und finde sie nicht. Von Zeit zu Zeit verbringt er das Wochenende mit Leila, einer hübschen chabine, Verkäuferin im Warenhaus, die bereits einen sechsjährigen Sohn hat, Gael. Die Nachbarn sind einer Meinung. Er befaßt sich viel mit dem Kind. Er kauft ihm T-Shirts Marke »Ti Racoon«. Er nennt ihn »Ti Mal« - »Kleines Männchen« - und bringt ihm das Boxen bei. Aber ich weiß, daß sein Herz einsam ist. Es hat nur Platz für seine Mutter. Wie sehr wünscht er, daß sie im Alter glücklich sei! Daß für sie die Tage einen anderen Sinn erhalten mögen! Zum Meer hin reihen sich die Kokospalmen wie die Perlen eines Rosenkranzes aneinander. Das Jahr 1983 ist ein Rosenkranz von Attentaten. Am 1. Januar 1984 kauft Antoine Mandarinen für seine Mutter, damit sie die Kerne aufheben kann und immer viel Geld hat. Er geht seinem Tod entgegen und weiß es nicht.
VIII
Man wird mir vorwerfen, daß ich Berthe vernachlässigt habe. Ich gebe zu, daß so wie im Leben auch in meinem Denken die Jugend das reife Alter in den Hintergrund gedrängt hat. Seit Jahren verwaltet Berthe in der Buchhandlung »Schöne Bücher« die Kasse. Ehe sie morgens ihren Platz in dem verglasten Verschlag einnimmt, der sie von den Kunden und den anderen Angestellten abschirmt, trinkt sie zusammen mit Madame Lucretien einen Kaffee. Einen Kaffee schwarz wie Tinte, wie Stierblut. Die beiden Mütter haben Angst um ihre Söhne, sie seufzen: »Sie werden ihre Gründe haben!« Ein einziges Mal hatte Berthe einen schwachen Versuch unternommen, sich den »Gründen« Antoines zu widersetzen, aber sie stellte es ungeschickt an. Das war nach der Explosion des Emmelynck-Turms, in dem der Sender der Unabhängigkeitsbewegung untergebracht war. Vier Jungen und Mädchen, die von einer Zukunft ohne Herren und Diener, ohne Reiche und Arme, ohne bekes und Mutterländler, ohne Neger und Mulatten träumten, wurden unter Tonnen von Zement, Eisen, Glas und Plastik begraben. Hin- und hergerissen zwischen Schrecken und Zorn, schwebte Fort Pilote in Angst vor Vergeltung. Antoine war weggegangen, wiedergekommen, nochmals weggegangen, nachdem er an der Türschwelle geheime Absprachen getroffen hatte, während hinter dem Mauervorsprung Yellow man sang: »They say that in the Army The girls are very fine .«
Berthe lag ausgestreckt auf ihrem Bett. Ein Bett aus Courbaril-Holz und tief wie ein Sarg, das Marcius für sie getischlert hatte. Wie in Wellen tauchte die Vergangenheit wieder vor ihr auf. Antoine - war es der Vater oder der Sohn? Ihre Liebe verwechselte sie - hatte seine ein wenig klebrige Hand in der ihren, während tiefschwarze, in Lumpen gehüllte Knirpse für zwei Nüsse Zauberkunststückchen verkauften. Würde sie den Sohn ebenso gewiß verlieren, wie sie den Vater verloren hatte? Der Sohn zeigte sich um sechs Uhr morgens. Unten im Hof schüttelten sich die Hähne schnaubend in den lichtüberfluteten Pfützen. Die Sonne, die noch nicht enthauptet war, begann zu kreischen. Eine Aufwallung von Gewalt überflutete Berthe. Sie erhob sich und ging in ihrem leichten baumwollenen Nachthemd mit steifen Schritten auf Antoines Zimmer zu. Fieberhaft türmte sie vor der Tür die Truhe, den Tisch, die Guajakholzkommode im imitierten Henri-II-Stil auf, ein Überbleibsel aus dem Besitz ihrer Mutter, das in diesem armseligen Heim fehl am Platze war, wie eine zu sehr aufgedonnerte Verwandte. Halb lachend, halb empört, schrie sich Antoine die Kehle aus dem Leib: »Mama, was machst du?« Sie ließ ihn zwei Tage lang eingeschlossen. Zwei Tage ohne Essen und Trinken. Als sie die Tür wieder öffnete, fielen sie sich in die Arme. Sie schluchzte: »Möchtest du, möchtest du Pisqette-Marinade?« Nach dieser Szene ähnelte ihre Wohnung für ein paar Wochen jener Minnegrotte, von der Gottfried von Straßburg erzählt: die Mutter Dienerin des Sohns, der Sohn Diener der Mutter, sind sie aufs innigste vereint durch lautere Liebe. Das Paar Mutter/Sohn gibt das ideale Modell ab, von dem im Tantrismus die Rede ist. Die Mutter
ist die Göttin, das kosmische weibliche Prinzip. Es gibt keinen Geschlechtsakt. Jeder erlangt das Glück durch Auslöschung seines Ich. Dann wird alles wieder wie vorher. Um sieben Uhr macht sich Berthe zu den »Schönen Büchern« auf, ihre Einkaufstasche In der Hand. Gegen acht Uhr schwingt sich Antoine aufs Fahrrad und fährt zur Tankstelle. Ohne daß er es will, gehen ihm immer wieder die Worte Yellow mans durch den Kopf: »Heye, heye, heye
They say that in the Army
The guns are very fine
I asked for a M 16
They gave me a M 9 .«
Ach ja, er möchte wohl eine solche M 16 in Händen halten und damit die Welt in die Luft jagen. Und dann aus ihren Trümmern Gerechtigkeit, Freude und Schönheit errichten. Er ist bei allen Überfällen der OLP dabei. Voller Hingabe bastelt er Molotow-Cocktails.
Ich bin mit meiner, vielmehr mit ihrer Geschichte am Ende. Ich bin nicht der beste Zeuge - ein Mann in vorgeschrittenem Alter, verbarrikadiert in den Egoismus seines Junggesellendaseins, der als letzter seiner Nachkommenschaft in dem hohen Haus in der Rue d"Ennery lebt, das unsere Familie seit Beginn des Jahrhunderts bewohnt. Ich habe das Viertel La Folie noch dieses Haus nie verlassen wollen; meine Berufskollegen, die Ärzte, wohnen dagegen immer weiter draußen in Villen, die von Kubadoggen bewacht werden. Zu viele Erinnerungen halten mich hier fest, zuallererst die an meine Mutter. Über dem Klavier habe ich eine Vergrößerung des Fotos angebracht, das ich
von ihr gemacht habe, als ich sie zum letztenmal in Bordeaux sah. Sie trägt eine Pelzjacke. Fuchspelz, glaube ich. Ihre Haare sind sorgfältig entkräuselt und fallen in starren Wellen herab. Aber was erzähle ich von mir, da ich doch nur von ihnen sprechen sollte? Von ihm vor allem. Manche Leute haben in seinem Tod die gerechte Strafe der Götter sehen wollen. Denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen. Und er bricht das Herz seiner Mutter, und sein Samen trägt keine Frucht. Aber ich sehe das nicht so. Märtyrer einer Sache, die eines Tages gewiß siegreich sein wird. Im Laufe meiner geduldigen Nachforschungen habe ich an die zweihundert Augenzeugen befragt, um die einzelnen Teile dieser verstreuten Lebensläufe wieder zusammenzufügen. Die Antwort von Monsieur Hyppolite, dem Chef der Tankstelle, wo Antoine gearbeitet hat, werde ich im Gedächtnis behalten. Er hat mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Was soll ich Ihnen schon sagen? Er war ein Junge wie die anderen .«