Kenneth Bulmer
Tod auf Widerruf Science Fiction
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Kenneth Bulmer
Tod auf Widerruf Science Fiction
scanned by AnyBody corrected by JaBay Man fliegt in vollautomatisch gesteuerten Raumgleitern. Die manuelle und geistige Arbeit ist durch die Automation auf ein Minimum reduziert. Man kennt keine Kriegs waffen mehr. Ein ausgeklügeltes Abwehrsystem sichert die Amerikaner vor jedem feindlichen Angriff. Unerklärlich bleibt, daß die Zahl der sinnlosen Morde lawinenartig anwächst. Wird der überzivilisierte Mensch zum Hobbymörder? (Backcover) SUPER-SCIENCE FICTION Nr. 101SF80 Originaltitel: THE DOOMSDAY MEN Genehmigte Taschenbuchausgabe © Copyright 1979 by Autor Herausgeber: XENOS-Verlagsgesellschaft m.b.H. & Co., Lottbekheide 17, 2000 Hamburg 65 Gesamtherstellung: Biehler Production, Hamburg Redaktionelle Produktion und verantwortlich für den Inhalt: WOLFGANG M. BIEHLER Printed in Finland 1979
1 In genau vierzig Sekunden würde James Partridge wieder tot sein - erneut ermordet. Noch schlenderte er gemächlich durch das Gewühl der nächtlichen Spaziergänger auf dem grell beleuchteten Boulevard. Seine glanzlosen Augen betrachteten die Überfülle glitzernden Souvenirtands, gleißend angestrahlt hinter Schaufensterscheiben, seine Ohren hörten das gedämpfte Druckluftpochen der Hängestraßen über ihm, seine Sohlen spürten die federnde Oberfläche des Fußwegs, seine Nase roch die anregenden Großstadtdüfte ringsumher, und seine Zunge schmeckte die beruhigende Mentholpastille in seinem Mund. Wie die meisten Menschen hielt James Partridge alle diese Vorzüge moderner Zivilisation für selbstverständlich. Vor der Nachtvorstellung mußte er sich die Zeit vertreiben, und so spazierte er wie tausend andere auf dem Boulevard dahin. Aber von all den Myriaden von Stadtbewohnern, die durch ihre vielstöckige Katakombe aus Licht eilten, mußte nur er, mußte nur James Partridge noch in dieser Minute sterben. Das hieß, verbesserte sich Robin Carver insgeheim, das hieß für den Augenblick. In dieser Nacht würden auch andere Männer und Frauen sterben, der Tod war die Hürde, die die Wissenschaft noch immer nicht bezwungen hatte, aber im Laufe dieser wiederkehrenden Minute würden James Partridge und Robin Carver diesen Tod in einer so engen Symbiose erleiden, daß im qualvollen Augenblick des Sterbens einer zum anderen werden und auch Carver jenen blutroten Augenblick der Vernichtung miterleben mußte. Das gefiel ihm nicht. Carver hatte sich stets vor den letzten Augenblicken des Todes gescheut, in denen die Symbiose zu qualvoll, zu real wurde. In diesen Augenblicken stellte sich ihm dann die Frage, warum er tat, was er tat, ein Zweifel an sich selbst, doch bereits wieder verschwunden mit dem Todesstreich, der ihn erlöste. Partridge lutschte mit der hingebenden Befriedigung des Süchtigen an seiner -2 -
Mentholpastille. Streifen greller Farben von den Schaufenstern lagen im rechten Winkel zur Straßenbeleuchtung quer auf dem Boulevard und überzogen die Gesichter der Passanten in fröhlichem, chamäleonhaftem Wechsel, was Carver aber nur an den pathetischen Glanz bemalter Mumienhüllen aus den staubigen Grabkammern Ägyptens erinnerte. Auf der rechten Seite öffnete sich ein schmaler Lieferantendurchgang zwischen Geschäften, ein enger Raum, der nicht so hell beleuchtet war wie der Boulevard, aber doch erfüllt vom safrangelben Schimmer beweglicher Werbetafeln, gigantische Farbenspiele an die Wände werfend. Partridge befand sich am Brennpunkt sechs verschiedenfarbiger, großer Schatten, als er in den schmalen Weg einbog, der Stelle entgegen, wo er den Tod gefunden hatte. Noch zwanzig Sekunden. Wie immer, wenn sich Null-Tod näherte, spürte Carver die makabre Absurdität der Tatsache, daß das Opfer völlig ahnungslos war. Trotz seiner Erkenntnis, daß das Opfer nichts wissen konnte, schauderte er vor dem entscheidenden Augenblick zurück. Im Perlmuttglanz des Durchgangs bewegte sich etwas. Zwei Schatten, verklammert, dann sich teilend, auseinanderweichend, wartend, zwei Schatten am Punkt Null. Partridge sah sie an. Seine trüben Städteraugen sahen sie als Personen, Passanten, gesichtslose Gestalten, tausendfach bemerkt und schneller vergessen als ein Regenschauer. Carver sah sie an. Carver prägte sie sich ein, jeden einzelnen Zug, jedes Merkmal, und sorgte dafür, daß er sie wiedererkennen würde. Dazu war er hier. Sie waren nach dem letzten Schrei gekleidet - supermodern, auffallend, knallig. Mit einem einzigen, alles umfassenden Blick prägte sich Carver ihre äußere Erscheinung ein. Der Jüngling scharrte mit den Füßen, sein Gesicht schlaff und feixend, seine ganze Haltung gleichzeitig unterwürfig und abstoßend.
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»Haben Sie Feuer, Bürger? Mein Feuerzeug ist leer.« »Sein Feuerzeug ist leer«, sagte das Mädchen. Das safrangelbe Licht umhüllte ihr schwarzes, strähniges Haar. »Haben Sie Feuer?« »Hm - Feuer - ja...« James Partridge suchte in seinen Taschen, aus seiner Apathie erwachend, bestrebt, sich zuvorkommend zu zeigen. Seine Finger schlossen sich um ein Gasfeuerzeug und begannen es herauszuziehen. Zehn Sekunden. »Jetzt?« fragte das Mädchen. Der Junge befeuchtete seine Lippen. Sie glänzten ungesund. Seine Hand glitt heimlich wie eine Schlange in seine Tasche. »Klar«, sagte er. »Klar, Belle.« »Ich will!« stieß Belle hervor. Ihr Brustkorb hob und senkte sich rasch, ihr Gesicht war angespannt und doch lebendig, pulsierend. »Laß mich - du hast es versprochen!« »Was ist los?« sagte Partridge, die Rechte mit dem Feuerzeug ausgestreckt. Drei Sekunden. »Ich - na gut, Belle.« Ihre Augen zeigten die Gier einer Ratte. »Danke, Marv! Danke! Das ist der Kitzel, den ich brauche!« Und immer noch hielt Partridge die Hand mit dem Feuerzeug ausgestreckt, immer noch starrte er die beiden an, immer noch hatte er keine Ahnung davon, was geschehen würde, in einer Sekunde. Belle hob ihren kurzen Rock, und das Blitzen des Messers am weißen Oberschenkel über dem fleischfarbenen Strumpf weckte Partridge endlich auf. Er ließ das Feuerzeug fallen. Er trat einen halben Schritt zurück. Seine rechte Hand stieg hoch, öffnete sich wie ein Fächer. Carver spürte, wie sein Gehirn Muskeln zu bewegen versuchte, die ihm nicht gehörten. Automatisch wollte er sich kampfbereit
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abducken, dem Mädchen das Messer entreißen, ohne dabei lange zu bedenken, ob er ihr weh tat Partridge kann sich ja nicht einmal verteidigen! »Los, Belle! Gleich schreit er!« Marv stieß das Mädchen an der Schulter an, und sie sprang vorwärts, während das schwarze Haar über die linke Seite ihres schmalen Gesichts fiel. Ihre Augen glänzten im safrangelben Licht wie die eines Tieres. Die Spitze des Messers warf einen glitzernden Funken in Partridges Augen. Er blinzelte. Er sah das Messer nicht einmal, als es zustieß. Aber er fühlte es. Carver konnte das Messer natürlich auch nicht sehen. Das Gefühl, als das Messer eindrang, verursachte ihm Übelkeit, und diese Empfindung verhinderte Dankbarkeit dafür, daß er den scharfen, beißenden Schmerz nicht spüren konnte. Partridge öffnete zum letztenmal die Augen. Sein Mund stand offen und formte Worte, die er nicht mehr zum Ausdruck bringen konnte. Der Junge und das Mädchen, Marv und Belle, die Sumos, sahen auf ihn hinunter. Das blutbefleckte Messer hing vor Partridges verdämmerndem Blick in der Luft. Die beiden weideten sich an dem Anblick. Rosige Zungen leckten trockene Lippen, Schweiß glänzte auf ihren Stirnen, eine gebannte Hingabe an den Todeskampf des Mannes, den sie ermordet hatten, verzerrte ihre Gesichter, spannte sie wie zwischen Schraubstöcke, verwandelte sie in Abbilder satanischer, gesättigter Bösartigkeit. James Partridge stürzte zu Boden. Er lag genau am T-Punkt Null, wo man ihn gefunden hatte. Wirre, einander überstürzende Eindrücke und Empfindungen drangen auf Robin Carver ein. Dies war stets ein Augenblick großer, aber gefährlicher Faszination. Er sah... aber er besaß keine Begriffe, um auch nur sich selbst stumm zu erklären, was er sah, als Partridge starb. Partridges Augen schlossen sich, er war tot, und die Dunkelheit hüllte Carver gnädig ein.
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Robin Carver öffnete die Augen, als sich die Technikerin über ihn beugte, um die Spürsonden von seinen Schläfen zu entfernen. Die Sonden glitten sanft herab, und mit ihnen verschwanden Tod und Erinnerung und die beinahe blasphemische Wiedererweckung nicht des Lebens, sondern des Todes. Die Technikerin lächelte. »Sie sind wieder zurück, Sir. Bleiben Sie noch einen Augenblick ruhig liegen, entspannen Sie sich, atmen Sie durch -« »Ich bin völlig in Ordnung und orientiert, danke!« Ganz so scharf hatte Carver nicht reagieren wollen, aber die haselnußbraunen Augen der Technikerin, ihr gewelltes blondes Haar, die roten, lächelnden Lippen und die gute Figur unter dem weißen Labormantel bildeten einen zu krassen Gegensatz zu dem brutalen Stoß des Messers in Belles junger Hand. »Verzeihung, Sir.« »Schon gut. War ja nur ein kurzer Trip. Der arme Kerl ist sowieso nur ein wandelnder Schatten gewesen -« Und Carver verstummte. Er hatte den Ausdruck unüberlegt gebraucht, um einen Menschen des grauen, modernen Großstadtlebens zu beschreiben, einen Menschen ohne Persönlichkeit, der die ihm zugemessenen Jahre nur halb bewußt durchlebte. Aber der Ausdruck hatte für die Männer und Frauen von RID besondere Bedeutung erlangt. Auch hier beging er einen Fehler, wenn er die Polizei mit RID gleichsetzte. RID - ›Rekonstruktion und Identifizierung‹. ›RID-Abteilung‹ hieß das bei anderen Dezernaten, ›RID-A‹, dabei würde es bleiben. Für den Gedanken, es mit wandelnden Schatten zu tun zu haben, hatten sie nicht viel übrig - selbst wenn es wahr gewesen wäre. »Ich brauchte nicht weit zurückzugehen«, sagte Carver erläuternd, unzufrieden mit sich selbst, weil er die Technikerin angefahren hatte. Das Mädchen war jung, eine Anfängerin, bemüht, alles recht zu machen, durchtränkt von dem Teamgeist aller Techniker, der ihnen das Gefühl völliger Übereinstimmung mit den Prüfern gab. Er war dazu gebracht worden, den Teamgeist zu akzeptieren. Er erkannte dessen Vorteile. Er -6 -
konnte auch sehen, daß das wissenschaftliche, psychologische und technische Personal von RID dieses Gefühl der Wichtigkeit und Unentbehrlichkeit benötigte, um sich darüber hinwegzuhelfen, daß sie alle in der Enge ihrer Labors blieben und die Prüfer, Leute wie Robin Carver, alleine hinausschickten. Er schaute zur zweiten Liege hinüber. James Partridge ruhte dort, ein Mann, der die grauen Sorgen seines grauen Lebens hinter sich hatte. Die Technikerin zog die Spürsonden von seinen Schläfen und ließ das Kabel zu den Geräten an den Wänden des Luftkissenfahrzeugs zurückschnurren. Die Sonden kamen neben dem Paar, das Carver getragen hatte, zur Ruhe. Er setzte sich auf und schwang die Beine über den Rand der Liege. Wie immer war Carvers Orientierung schnell zurückgekehrt, so daß er seine übrigen Pflichten sofort erfüllen konnte, im Gegensatz zu anderen, sonst erstklassigen Prüfern, deren Rückkehr aus dem Totenreich nur langsam erfolgte. Seine Bemerkung über den wandelnden Schatten bedrückte ihn, als er aufstand und mit der Hand über seine Haare fuhr. Natürlich war Partridge einer gewesen. Aber Carver war es, in gewissem Sinne, ebenfalls. Die Technikerin hatte den grünen Abschlußknopf gedrückt. Carver schaute sich in dem Raum um, sah die Wände des Luftkissenfahrzeugs, fensterlos, aus Berylliumstahl, sah die Unzahl von Geräten, deren Funktion er nur insoweit verstand, als sie ihn selbst betraf. »Alles in Ordnung, Sir?« fragte die Technikerin gepreßt. »Ja. Ja, alles in Ordnung. Sie gewöhnen sich schnell daran, angefahren zu werden, wenn wir zurückkommen. Es hat nichts zu bedeuten.« Carver lächelte. »Und es ist angenehm, dann ein hübsches Gesicht vor sich zu sehen und zu wissen, daß dieser Mensch für einen da ist.« »Ich - das heißt - wenn -« Es blieb ihr erspart, mehr zu sagen, weil plötzlich Cy Adams auftauchte. Er schob die Verbindungstür zum Vorraum auf und trat ein. -7 -
»Sie sind zurück, Robin! Gut. Sehr gut. Draußen ist alles vorbereitet. Lassen Sie sich schnell ansehen -« Adams war als Psychiater und Beichtvater der Mannschaft verpflichtet, einen zurückkehrenden Prüfer zuerst zu untersuchen. Selbst jetzt noch, obgleich RID schon das zweite Jahrzehnt bestand, umfaßte sie das Unbekannte, drohte, sie zu Fall zu bringen. Nicht alle Maschinen der Welt, nicht die umfangreichsten Planungen konnten das Risiko hundertprozentig ausschalten. Carver legte sich hin. »Das ist schneller gegangen, als wir dachten«, fuhr Adams fort. »Ich wollte gerade in ein dickes Schinkenbrot beißen, als Marjie auf den Knopf drückte. Wo sind Sie geboren?« »In Brenchley, Kent. Schade um das Schinkenbrot, Cy. Der arme Partridge hatte nicht viel Zeit, als er sterben mußte; nicht, daß es darauf ankäme. Er vegetierte auf einem sehr niedrigen Niveau dahin, auch für einen Stadtbewohner.« »So arg ist es in der Stadt nicht, Robin. Wann sind Sie geboren?« »Sechsundzwanzigster August neunundachtzig. Und zum letzten Geburtstag haben Sie mir keine Karte geschickt.« »Ich dachte, Sie wären in dem Alter, wo man zu zählen aufhört. War Partridge verheiratet?« »Ja. Sie brauchen mich nicht wie einen alten Mann zu behandeln - ich gehe auf die Vierzig zu -« »Sie scheinen fit zu sein, Robin. Aber - ich muß sichergehen. Was geschah mit Ihrer Frau?« »Sie ist - he, Moment mal -« »Was war mit Ihrer Frau, Robin?« »Sie ist mir davongelaufen.« Eine bloße Feststellung genügte nun nicht mehr; aufgefordert, zu beweisen, daß er sich nach wie vor als Robin Carver betrachtete, sprach er weiter, hastig, wie im Fieber: »Sie lief mir davon. Nachdem wir achtzehn Monate verheiratet gewesen waren. Mit einem Satelliteningenieur. Ich stand mit dem Baby da. Wollen Sie
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ihren Namen wissen? Ich sage Ihnen den Namen der hinterlistigen, heimtückischen, gemeinen -« Adams hob die Hand. »Genug, Robin. Ruhig, mein Junge, ruhig -« »Was ist?« Carver hob eine zitternde Hand ans Gesicht. »Verzeihung, Cy - dumm von mir, mich so aufzuregen. Aber irgendwie-« »Ich weiß. Vergessen Sie's. Sie haben Pech gehabt im Leben, aber das ist überstanden. Oder sollte es wenigstens sein. Im Augenblick möchte ich nur wissen, daß Sie noch Robin Carver sind. Halt, stimmt auch nicht. Robin Carver sind Sie natürlich, aber wir müssen sichergehen, daß Sie das auch selbst wissen.« Adams streckte die Hand aus und zog Carver von der Liege. »Kommen Sie. Ich weiß, daß es nur ein kurzer Trip war, aber seltsamerweise ist das ein guter Grund, Sie genauer unter die Lupe zu nehmen.« Carver stand auf und griff nach seinem Jackett. »So?« »Klar.« Adams öffnete die Verbindungstür. »Manchmal verschaffen diese kurzen Ausflüge dem Prüfer den größten Genuß. Die Disorientiertheit kann so heimlich geschehen, daß sie zunächst nicht auffällt.« Carver ging hinaus in den Vorraum und betrat das zweite, Verhören dienende Luf, wie man die Luftkissenfahrzeuge abgekürzt nannte. Er trat in grelles Licht, das auf Schreibtisch und Sessel, die Ident-Bücher, die Karteischränke und die Funkgeräte fiel. Soames, diensthabender Kriminalbeamter, hob den Kopf. Sein hartes, kantiges Gesicht mit den buschigen grauen Brauen war angespannt. »Haben Sie ihn gesehen, Robin?« »Ja. Es waren zwei - ein Junge und ein Mädchen. Sumos -« »Ach - nein!« Soames schob seinen Hut ins Genick und schüttelte angewidert den Kopf. »Nicht schon wieder!« Rawlinson, sein Mitarbeiter, zog eine Packung Zigaretten aus der Tasche. Er starrte auf den Boden. -9 -
»Wenn es die Sumos nicht sind, dann die Schlitzer - oder eine von einem Dutzend anderer idiotischer und brutaler TeenagerOrganisationen. Gehören alle an die Wand gestellt und erschossen.« »Na, na, Charlie -« Soames war Vater zweier halbwüchsiger Kinder. »Man darf nicht alle über einen Kamm scheren.« Charlie Rawlinson steckte die Zigarette zwischen die Lippen. »Deine Kinder sind in Ordnung, Bob. Du weißt es. Ich weiß es. Aber diese Sumos - das sind doch nur Kriminelle - kleine Gauner.« »Gar nicht so klein«, unterbrach ihn Carver. Er ging zur Staffelei, setzte sich davor und starrte das weiße Papier an. »Nicht mehr. Zwei Sumos haben Partridge ermordet.« Er griff nach einem Bleistift und begann zu zeichnen. »Zwei. Junge und Mädchen. Marv und Belle. Belle fragte Marv, ob sie es tun dürfe, und er willigte ein. Er tat so, als sei es eine Riesengefälligkeit von ihm, ihr zu erlauben, daß sie den Mann ermordete.« Unter seinem schnell gleitenden Bleistift nahmen Gesicht und Figur Beiles erkennbare Gestalt an. »Er wollte es selbst tun, das ist klar. Aber sie flehte ihn an, und er gab ihr großzügig die Erlaubnis.« Soames schrieb nach Carvers Angaben einen genauen Bericht. Carver ergriff einen Pinsel und begann Beiles Bild farbig auszugestalten. Dieser Teil seiner Aufgabe machte ihm Spaß. Sein Gesicht verriet intensive Konzentration, als sein eidetisches Gedächtnis Tatsache um Tatsache hervorbrachte, sie über Augen und Finger weitergab und auf dem Papier zu Marv und Beiles Ebenbildern werden ließ. Er lehnte sich zurück. »Da sind sie. Jämmerliches Paar, nicht? Aber es hat ihnen Spaß gemacht, Partridge das Messer in den Leib zu stoßen.« »Warum haben sie ihn umgebracht, Robin?« Carver säuberte sorgfältig die Pinsel. »Wenn ich sagen würde, ohne Grund, wäre das falsch. Nicht aus einem Grund, wie er für einen Polizeibeamten verständlich -1 0 -
wäre, der einen Mörder mit begreifbarem Motiv sucht. Cy würde es verstehen. Sie haben es getan -« Carver verstummte und dachte an jenen Augenblick. ›Das ist der Kitzel, den ich brauche!« hatte Belle gesagt. »Sie haben es«, sagte er schließlich langsam, »um des Nervenkitzels willen getan.« Ihre Reaktion überraschte ihn. Rawlinson schnaubte angeekelt durch die Nase. Soames lehnte sich zurück und nickte nachdenklich. »Es schält sich langsam heraus«, meinte er. »Ein abstoßendes Bild. Scheußlich. Whitcliffe macht sich seit Wochen deshalb große Sorgen. Diese neue Tat bestätigt nur -« »Sie meinen, es hat schon ähnliche Morde gegeben?« fragte Carver entgeistert. »Morde um des Nervenkitzels willen?« »Töten, um sich einen Genuß zu verschaffen«, sagte Soames. »Tod zum Spaß. Hübsch, nicht?« »Mein Gott«, sagte Carver. Seine Aufgabe als RID-Prüfer war scheinbar erfüllt, sobald er den Mörder identifiziert und seinen Kollegen alles mitgeteilt hatte, was sich als nützlich erweisen konnte. Ihm oblag es nicht, den Mörder zu jagen, den Täter der Strafe zuzuführen. Das übernahm die Kriminalpolizei, wie sie es immer schon getan hatte. Aber jetzt ging sie mit sicherem Wissen auf die Jagd. Wenn das Opfer seinen Mörder gesehen hatte, kannte ihn auch die Polizei. Wenn das Opfer den Mörder nicht gesehen hatte, mußte der RID-Prüfer aus der Vergangenheit des Ermordeten zusammentragen, was er konnte, winzige Bruchstücke zusammenfügen, aufpassen und abwarten, im Gehirn eines Toten ein Leben und einen Tod verschmelzend. Carver galt als besonders tüchtig. Er konnte selbst noch nicht genau erklären, wie er eigentlich dazu gekommen war. Aber nun gehörte er dazu, war ein Teil von RID-A, bestrebt, der Polizei bei der Ausmerzung des Verbrechens Mord zu helfen - denn selbst ein Schwachsinniger, der die Nachrichten lesen oder im Radio hören konnte, mußte bemerkt haben, wie oft die Polizei -1 1 -
heutzutage Mörder faßte. Das dankte man RID. Gewaltsamen Tod gab es noch, aber die Statistik zeigte, daß die Anzahl der Morde zurückging, wie viele andere Verbrechen auch. Ob das auf RID-A zurückzuführen war oder an dem wachsenden Bewußtsein eines gemeinschaftlichen Gewissens lag, an einem Erwachsenwerden der Menschheit, mußte abgewartet werden. Aber die Zahl der Morde war zurückgegangen. Bis jetzt. Bis zu dieser Reihe sinnloser Taten, die der Polizei Anlaß gab, hinter Teenagern herzujagen, gleichzeitig bemüht, zu begreifen, was vorging, und der Entwicklung ein Ende zu bereiten. »Das war's wohl«, sagte Soames. Er stand auf und ordnete seine Unterlagen. Auf sein Nicken hin trat die weibliche Ordonnanz an Carvers Staffelei und nahm die Bilder von Marv und Belle ab. Sie wollte zum Bildfunkgerät gehen, aber Soames winkte sie heran. Er nahm die Blätter und starrte sie an. »Dumme, kleine Bestien«, sagte er ausdruckslos. »Gut. Geben Sie sie durch. Dürften nicht allzuschwer zu finden sein.« Er reichte die Blätter zurück. »Festmachen und verstauen. Ich melde uns wieder einsatzfähig.« »Fein«, stöhnte Charlie Rawlinson. Er stand auf und drückte seine Zigarette aus. »Ich verständige die AmbulanzMannschaft. Sie soll Partridges Leiche wegschaffen.« »Ja«, sagte Soames. »Wir werden die Liege heute nacht noch brauchen.« »Sie haben Ihre Schicht hinter sich«, sagte Cy Adams, Carver anblickend. »Alec Durlston löst Sie ab, und er wird -« »Ja, ich weiß, daß mich Durlston ablöst«, sagte Carver knapp. Adams zog eine Braue hoch. Er drehte sich zur Seite und sagte: »Wie Sie wollen, Robin.« »Nichts gegen Sie, Cy-«, sagte Carver hastig. Er bemerkte, daß ihn die anderen anstarrten, und versuchte zu lächeln. »Man wird müde, auch wenn man auf dem Rücken liegt. Bin froh, wenn ich ins Bett komme.«
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»Klar, Robin«, sagte Soames. »Versteht sich. Warten Sie nur noch so lange, bis Alec hier ist.« »Er kommt immer zu spät!« sagte Carver bitter. »Keiner ist ohne Fehler«, meinte Adams. Er wechselte das Thema. »Die Ambulanz scheint hier zu sein, Charlie.« »Wenigstens etwas«, brummte Charlie Rawlinson, als er auf die Außentür zuging. Seine Hände betätigten schnell und geschickt die Sperrvorrichtungen, die schweren Türen öffneten sich und ließen kühle Nachtluft eindringen. James Partridge wurde die kurze Strecke vom RID-Luf 3 zur wartenden Ambulanz auf der Bahre getragen, und Carver sah ihm nach, als er in das Fahrzeug geschoben wurde. Er empfand Mitgefühl und Trauer für einen Menschen wie Partridge, dessen Tod in einem kleinen Kreis naher Verwandter Leid auslösen würde, dachte aber auch daran, daß es ihm nichts ausgemacht hätte, wenn die leblose Gestalt auf der Bahre Alec Durlston gewesen wäre. Er schüttelte sich plötzlich. Nun ja, er mochte Durlston nicht, und wenn seine Kollegen ehrlich waren, mußten sie zugeben, daß sie nicht anders fühlten, aber Abneigung gegen einen Menschen war ein schlechter Grund, ihm den Tod zu wünschen. Vielleicht brachte ihn sein Beruf auf solche Gedanken. Vielleicht veränderte der ständige Umgang mit dem Tod das Denken. Vielleicht sollte er aufhören, für RID-A zu arbeiten. Irgendwo in der Großstadt wurde in diesem Augenblick jemand ermordet. Irgendwo beförderte jemand einen Mann oder eine Frau, einen Jungen oder ein Mädchen brutal ins Jenseits. Seine Aufgabe war es, herauszufinden, wer das grundlegende Gebot gebrochen hatte - ›Du sollst nicht töten‹. Nur solange er sich daran erinnerte, nur solange er die Spürsonden anlegte und wartete, bis der Mörder zuschlug, um dann in die reale Welt zurückzukehren und der Polizei mitzuteilen, was er wußte, nur solange er das tat, leistete er nützliche Arbeit für die Gesellschaft. Wenn er an sich zu zweifeln begann, dann mußte er auch an der Gesellschaft und -1 3 -
an allem, was sie vertrat, zweifeln. Das durfte er nicht zulassen. Sonst war ihm auf der Welt nichts geblieben. Eine ausgebrannte Hülse von Mann; er mußte sich mit aller Kraft, mit allem Egoismus an dieses eine klammern: gute Arbeit zu leisten und damit zufrieden zu sein. Aber es war verdammt schwer.
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2 Archie Smythe-Potts trat mit dem Wildlederschuh genau auf die synthetische Bananenschale. »Sie hätten vorher Ihr Glas wegstellen sollen, Archie«, sagte Carol Burnham. Archie sah vom Boden auf. An seiner Stirn klebte eine halbe Orangenscheibe. Er bewegte die Lider. Alkohol tropfte. Aus dem rechten Ohr polkte er ein Stück Minze. »Wenn Sie keine Dame wären, Carol, würde ich Sie jetzt übers Knie legen.« »Ist das etwa kein Angebot, Carol?« rief Ralph Tzombe von der anderen Ecke herüber. Sein schwarzes Gesicht glänzte freundlich über dem Labortisch. Ein paar Laborantinnen kicherten. Der alte Harvey räusperte sich, rückte an seiner überholten Brille und versuchte, nicht erkennen zu lassen, daß es auch ihm Spaß gemacht hatte, Archies Salto zu beobachten. Die Party in den RID-Labors war gut verlaufen. Alle wußten, daß Whitcliffe davon angetan war. Die Experimente schienen Erfolg zu versprechen; jedenfalls hatte man einen wichtigen Durchbruch erzielt, was sofort Anlaß zu dieser kleinen Feier gegeben hatte. Nicht, daß Whitcliffe viel von Parties gehalten hätte. Er war, wie Carol bald nach Beginn ihrer Mitarbeit an Whitcliffes Projekt festgestellt hatte, ein Mann von solcher Besessenheit, daß nichts, aber auch gar nichts ihn von seinem Ziel abzubringen vermochte. Sie wußte nicht, worin dieses Ziel bestand, aber daß es vorhanden war und Whitcliffe veranlaßte, nicht nur sich, sondern ganz RID-A voranzupeitschen, war weder zu bestreiten noch zu übersehen. Das derzeitige Projekt konnte nach Carols Überzeugung nur ein Teil dieses beherrschenden Ehrgeizes sein. Daß er früher oder später sein Ziel erreichen würde, stand für sie fest. Bei Whitcliffe gab es keine Zweifel. -1 5 -
Nacht bedeckte die Stadt rings um das Forum, und geschwungene Lichtbögen umhüllten sie mit einem glitzernden, farbigen Netz. Kühle Luft der ersten Frühlingsabende hatte die Gesichter aller Neuankömmlinge gefärbt, die mit Luftkissenfahrzeugen, Rollstraßen oder zu Fuß zur Party gekommen waren. Archie Smythe-Potts raffte sich auf und grinste. »Immer schön aufpassen, Archie!« rief Bill Hambling, ein Glas schwenkend. Hambling war groß und schwerfällig, mit dem jovialen Gesicht eines Mannes, den Magengeschwüre nie plagen werden. »Ich werde feststellen, wer synthetische Bananen ißt«, sagte Archie. »Und dann werde ich -« »Was?« fragte Alec Durlston scharf. »Ihn damit ersticken?« Archies erster Blick galt dem Glas und der Schinkensemmel in Durlstons Fingern. Er schüttelte den Kopf. »Nein, Alec. Das nicht. Ich -« »Sie wissen also gar nicht, was Sie tun werden, nicht wahr? Warum reden Sie dann überhaupt? Feiern wir lieber weiter.« »Hat jeder zu trinken, meine Herren?« fragte Carol, als sie hinzutrat. Die kleine Gruppe von Prüfern war aufgrund des stark verbreiteten Teamgeists zu der Feier eingeladen worden. Welch zauberähnliche Träume hier in den Forensischen Labors auch verwirklicht werden mochten, am Ende waren es doch die Prüfer, die ins Unbekannte hinaus- und damit umgehen mußten. Man konnte doch keine Party geben, ohne einige Prüfer einzuladen, oder? Archie füllte sein Glas, wischte sich mit einem Papiertuch ab und warf es in den Schlucker. »Ich weiß nicht, was Sie haben, Alec. Woher soll ich wissen, was ich mit dem Kerl anstelle, der die Bananenschale hingeworfen hat?« »Ihr Problem besteht darin, Archie, daß sie quatschen, bevor Sie nachdenken«, sagte Durlston, nach der Flasche greifend. »Na hören Sie -«, begann Archie. -1 6 -
Aber Harvey kam herüber, um den Streit im Keim zu ersticken, und Archie und Bill Hambling traten in einen Kreis von hübschen Laborantinnen, die sich angesichts der leibhaftigen Anwesenheit von Prüfern kaum zu fassen vermochten. Carol stand einen Augenblick lang allein neben Alec Durlston. Sie berührte ihr dunkles Haar mit einer Bewegung, die Nervosität verriet, wie sie wußte. Sie ärgerte sich. Alec Durlston entsprach nicht ihrer Vorstellung von großen Männern, aber trotz der allgemeinen Abneigung gegen ihn bei ihren Kollegen, trotz des Gefühls des Angewidertseins zog sie irgend etwas an ihm wie auf magische Weise an. Das konnte sich nur auf körperlicher Ebene abspielen. Die moralische Seite dieses Mannes, seine Einstellung zum Leben, seine nach außen gerichtete Verachtung bildeten zu starke Hindernisse für sie, um ihn auch nur ein wenig sympathisch zu finden, aber - aber irgend etwas an der Art, wie er den Kopf hielt, ein wenig geneigt, um ihr zuzuhören, die Bewegungen seines Körpers... Verflixt - es war geradezu beängstigend... Man brauchte einen Mann nicht als geistige Größe zu bewundern, um mit ihm schlafen zu wollen. »Wenn ich Sie nicht besser kennen würde, Carol, hätte ich behauptet, daß Sie die Bananenschale absichtlich hingeworfen haben?« »So? Ich war es aber nicht. Und so komisch kam es mir nun auch wieder nicht vor.« »Das war es aber doch! Wenn jemand aufs Gesicht - oder aufs Gegenteil - fällt, ist das immer komisch. Das liegt in der menschlichen Natur. Es ist vielleicht nicht schön - aber es zeigt uns, wie wir sind.« »Und das läßt sich niemand gerne sagen.« Sie drehte sich um und griff nach einem Brötchen. »Schon gar nicht jemand, der gerade über den Unglücksraben gelacht hat.« »Natürlich, Sie haben recht.« Er lächelte sie an. »Ein bißchen heiß hier. Wollen wir auf dem Balkon ein bißchen frische Frühlingsluft tanken?« -1 7 -
Carol kaute mit verzweifelter Langsamkeit. Der glatte, verschlagene Charme dieses Mannes begann Wirkung zu zeigen; sie weigerte sich, die Rolle des von der Schlange gebannten Kaninchens zu übernehmen, aber sie mußte einräumen, daß irgend etwas an diesem Mann sie anzog. Eigentlich hätte sie nein sagen müssen. Statt dessen sagte sie: »Wenn Sie wollen.« »Ich will.« Sie trat mit Durlston auf den Balkon hinaus und sah zu den funkelnden Sternen empor. Seine Hand streifte ihren Unterarm, als sie ans Geländer traten, und er beließ sie dort, hart und fest an ihrem weichen Fleisch. »Ein weiter Weg nach unten, Carol, von hier aus«, sagte er. »Ich habe mir oft überlegt, wie es wäre, wenn man einfach hinausträte und sich fallen ließe -« Sie fröstelte. »Bitte. Nicht heute abend. Ich will heute nicht an den Tod denken. Das Leben - nur das Leben ist wichtig.« Er beugte sich über sie. »Ich kann Ihnen das Leben bieten, Carol - das volle, glühende Leben -« Sie lachte zu laut. »Whitcliffe würde uns der Blasphemie verdächtigen!« »Mag sein. Er denkt immer nur an RID. Und Sie?«. Hier bot sich ein Ausweg. Aber sie nützte ihn nicht. »Nein - sollte ich?« Es war faszinierend, mit dem Feuer zu spielen. »Sie sind zu schön, um sich in den Forensischen Labors zu vergraben. Ich weiß, daß Sie mich mögen. Und ich - mag - Sie. Warum unternehmen wir da nichts?« »Zum Beispiel?« fragte sie stockend. »Na ja, wissen Sie - ich habe Karten für den morgigen Beginn der Globusreiter-Raketenrennen. Dann könnten wir tanzen -1 8 -
gehen - ein Bissen dazwischen - zurück zum Finish der Globusreiter - und dann - wie Sie sich entscheiden.« »Es - es klingt sehr interessant.« »Interessant!« Sie wich zurück und fühlte, wie sich seine Hand fester um ihren Arm schloß. »Also gut, Alec. Es wäre herrlich.« »Meine Schicht endet nachmittags um drei Uhr. Können Sie Harvey dazu überreden, daß er Sie um vier gehen läßt?« »Bei uns ist es -«, begann sie scharf, sagte aber dann: »Ja, natürlich. Um vier.« Carol begriff selbst nicht, wie er das angestellt und warum sie so schnell zugestimmt hatte. Er war ein Charmeur. Sie mochte solche Typen eigentlich gar nicht. »He, Alec!« Archie Smythe-Potts polterte auf den Balkon. »Sie haben Nerven! Sie müssen doch zum Dienst! Erzählen Sie mir bloß nicht, daß Sie das schon wieder vergessen haben!« »Verdammt!« Durlstons Gesicht färbte sich dunkel. »Ja, ja, Archie, ich weiß, daß ich Dienst habe. Ich komme schon. Es ist wohl zu viel verlangt, wenn ich Sie bitten würde, für mich einzuspringen?« »Na, also wissen Sie -« Archie sah ihn erschrocken an. »Na ja, wenn Sie sich nicht wohlfühlen -« »Nein, nein, mir fehlt nichts.« Wie unliebenswürdig er zu anderen Männern ist, dachte Carol. Und sein Benehmen - unglücklich wurde es manchmal genannt. Sie mochte ihn nicht, das stand fest. Aber morgen würde sie mit ihm ausgehen, um die Globusreiter zu beobachten. Es gab Mädchen genug, die ihre Keuschheit gerne opfern würden, wenn sich ihnen Gelegenheit bieten würde, das zu sehen. Der Gedanke machte sie zornig. Sie zog ihren Arm zurück, und er fuhr herum und starrte sie an. Dann lächelte er. »Bis morgen, Carol?« -1 9 -
Er wartete auf eine Antwort. »Ja, Alec. Bis morgen.« »Also abgemacht.« »Kommen Sie endlich, Alec.« Archie wartete ungeduldig an der Tür. Man konnte Archie auf die Zehen treten, ihm in den Magen boxen, seinen letzten Soldar stehlen und dazu sagen: »Verzeihung, alter Knabe!« - und er würde immer noch Busenfreund bleiben. Warum konnte ein Mann wie Archie nicht das Aussehen Durlstons haben? Carol seufzte. »Adieu, Archie. War nett, Sie hier mal zu sehen.« »Adieu, Angebetete«, flötete Archie. Er lachte in sich hinein. Er war wie ein pummeliger, freundlicher Bär, ein großes, liebenswertes Tier. »Kommen Sie, Alec. Soames macht uns fertig, wenn wir wieder zu spät kommen.« »Soames kann -«, sagte Alec Durlston auf dem Weg durch die Tür. Carol spürte Erleichterung, daß sie nicht mehr hören mußte, was Alec Durlston für Soames vorgesehen hatte.
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3 Die Stadt summte und sang in abendlicher Fröhlichkeit. Männer und Frauen erholten sich, tranken, liebten sich, verfolgten die Vorstellung irgendeines der vielen Unterhaltungsmedien, speisten teuer, betrieben hektisch Sport oder spazierten einfach die Boulevards entlang, die Farben und Lichter der größten Stadt der Erde in sich aufnehmend. In vielen Etagen erstreckte sich die Stadt, wie eine Schichttorte von der untersten Luxus-Formation über die Zwischenschicht der mittleren Klassen zum Superluxus der obersten Blocks mit ihren zahllosen Dachapartments. Auf den Straßen seufzten Pneumowagen, schossen Luftkissenfahrzeuge dahin. Die Pedo-wege waren überfüllt mit Menschen, die sich mühelos dahinbewegten. Funkelnden Glanz zum Himmel strahlend, pulsierte die Stadt vor Kraft und Leben, bewußt ihre Macht über die Millionen menschlicher Ameisen in ihrem Inneren genießend. »Und was ist das schließlich alles?« murmelte Robin Carver vor sich hin. Er lehnte am Luf und starrte zu dem Ausschnitt des gestirnten Himmels hinauf, der zwischen Pedowegen und Straßen sichtbar war. »Nichts. Eine dicke, runde Null.« Und selbst das bedeutete nichts. Er war heute wirklich in schlechter Verfassung. Er hatte die große Stadt, ihre Sitten und Gebräuche, ihr vielfarbiges Antlitz und ihr eisiges Herz nie leiden können. Alec Durlston dagegen genoß die Stadt. Sie gab ihm, was sein flaches Ich vom Leben verlangte. Aber Carver konnte diesen Gedankengang nicht weiterführen, weil er wußte, daß auch Durlston ein Recht auf sein freies Leben außerhalb des Dienstes hatte, so sehr er ihm auch mißfallen mochte. Rawlinson steckte den Kopf heraus. »Wir machen uns auf den Rückweg zum Revier, Robin.« »Ich komme.«
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Er betrat das Fahrzeug und ging zu seinem Sitz neben der Tür. Soames nahm neben dem Fahrer Platz. Jemand hatte den Verbindungsgang zwischen den beiden Lufs zusammengeschoben, und die Technikerin saß neben dem Fahrer des Labor-Fahrzeugs. Druckluft zischte. Die Lufs erhoben sich fünfzehn Zentimeter vom Boden, erzitterten und setzten sich mit leisem Heulen der Turbinen in Bewegung, unauffällig in den Strom der über die Straßen huschenden Lufs gleitend. Sie ließen einen schmalen, von safrangelbem Licht durchfluteten Durchgang zwischen den Läden zurück. Ein paar morbide Neugierige lungerten noch herum. Ein San-Trupp hatte die Blutspuren beseitigt. Der Durchgang konnte wieder benutzt werden. Alles war vorbei. Die Zuschauer konnten heimgehen. Aber James Partridge würde nie mehr heimkehren. Und Marv und Belle würden nie mehr um des Kitzels willen morden, sobald man sie gefaßt hatte, was praktisch schon feststand. Robin Carver seufzte und verfluchte Alec Durlston wegen seiner Verspätung. Zum erstenmal an diesem Abend, wenn man von jenem Augenblick zorniger Aufwallung absah, als Cy Adams seine Fragen gestellt hatte, dachte er an Wendy. Die schlanke, ernsthafte, großäugige Wendy mit dem glatten, blonden Haar, das ihren Kopf wie ein Helm umschloß, in ihren Zügen der Ernst, den ein sechzehnjähriges Mädchen ohne führende Hand einer Mutter schnell lernte. Nein - er irrte sich, Wendy war schon siebzehn. Das Luftkissenfahrzeug wurde langsamer, und über dem monotonen Dröhnen der Tripelturbinen war das Fauchen der Luft zu hören. Blaues Licht flammte durch die Fenster. Das Luf hielt und senkte sich fünfzehn Zentimeter auf Beton. Rawlinson öffnete die Tür und sprang hinunter. Sie waren am Revier angelangt.
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Und die arme, bedauernswerte Belle mit ihrer Sumo-Kleidung und dem blutigen Messer, gesucht von der Polizei - sie konnte kaum älter sein als Wendy. Der Gedanke bereitete Robin Carver Übelkeit - und Angst. Er stieg aus und ging über blauschimmernden Beton zum Eingang des Polizeireviers, bemüht, diese Gedanken abzuschütteln. Gut, Wendy war ohne Mutter aufgewachsen, aber sie hatte ihren Vater gehabt und hatte jetzt das Heim. Wendy war in Ordnung. Man konnte sich auf sie verlassen. Nur Carvers grenzenlose Liebe für sie veranlaßte ihn, sich Sorgen zu machen. Früher hieß es, daß derart Bevorzugte die Eifersucht der Götter erregten. Was sollte er also tun - sie entstellen? Sie zu tarnen versuchen? Sie vom Leben abschirmen? Das ging nicht. Luf 6 fauchte an ihnen vorbei zum Tor. Johnny Petrewski beugte sich heraus und schrie: »Vergiftung im Upper Loop. Scheint eine langwierige Sache zu werden.« Er schnitt eine Grimasse. Carver hob grüßend die Hand. Er mochte Johnny Petrewski, und Vergiftungen waren nie angenehm. Bei Partridge war es wenigstens schnell gegangen. Er fuhr mit der Zunge über den Gaumen. Die faulige Süße der Mentholpastille war immer noch zu schmecken. Er haßte die Dinger. Aber im Vergleich zu einer Vergiftung... »Lieber die als wir«, sagte Charlie Rawlinson. »Geht inzwischen einen Kaffee trinken«, sagte Soames, um das Luf herumgehend. »Ich gebe inzwischen den Fall ab.« Unten in der Polizeikantine trank Carver seinen Kaffee, dankbar dafür, daß er wenigstens das noch zu schätzen vermochte. Rawlinson und die anderen aus seiner Mannschaft saßen entspannt auf den gepolsterten Bänken, bereit, aufzuspringen und mit Luf 3 den nächsten Einsatz zu fahren. »Viel zu tun heute«, sagte ein Fahrer am Nebentisch. Niemand hatte Lust, sich zu unterhalten; sie nickten, und die Worte hingen in der Luft. Geruch nach Kaffee und gebratenem -2 3 -
Speck, Zigarettenrauch und das starke Aroma einer Mentholpastille durchzogen den Raum, in dem die Luft pro Stunde viermal gefiltert wurde. Sie saßen auf ihren Plätzen, tranken Kaffee und warteten. Rawlinson reckte sich und gähnte. »Dieser Durlston ist schwer zu ertragen«, sagte er, mit einem heimlichen Seitenblick auf Carver. »Unsympathischer Kerl«, sagte ihr Fahrer, ein Schinkenbrot in sich hineinstopfend. »Ein Idiot«, sagte die weibliche Ordonnanz und stand auf. »Aber er sieht gut aus. Ich muß meine Nägel maniküren. Sie brauchen nicht zu warten, wenn ein Einsatzbefehl kommt.« »Wir werden dich nicht vermissen«, sagte die blonde Technikerin. Sie hieß Marjie, erinnerte sich Carver. Eine Neue. Eifrig. Aber nett. »Der Sender läuft ja von selbst, wie jede intelligente Maschine.« Die Ordonnanz streckte ihr die Zunge heraus. »Du bist auch nur eine intelligente Maschine, Marjie, mit ein bißchen Sex dazu. Es dauert nicht lange.« Sie stöckelte davon. Sam, ihr Fahrer, wischte sich die Hände mit einer Serviette ab. Er nahm seine Tasse und ging zu dem anderen Fahrer. »Nummer drei muckt auf«, vertraute er ihm an. »Die Turbinen werden bald durchbrennen, wenn die Werkstatt-Techniker nicht schleunigst was tun.« »Die«, sagte Alf wegwerfend. »Was haben die schon für eine Ahnung?« Die beiden Fahrer unterhielten sich gemächlich über die Nachteile ihrer Fahrzeuge. Charlie Rawlinson zündete sich die nächste Zigarette an und überlegte, ob er noch eine Tasse Kaffee trinken sollte. Marjie zog ein Buch aus der Tasche und begann zu lesen. Carver schaute sich nach Cy Adams um, aber der Psychologe schien nicht in der Kantine zu sein. Die Mannschaft von Luf 7 stand auf und verließ den Raum.
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»Wir sind bald an der Reihe«, meinte Alf, seine Tasse leerend. Seine Mannschaft begann sich vorzubereiten. Man drückte Zigaretten aus, leerte Gläser und Tassen. Alec Durlston ließ sich immer noch nicht blicken. Plötzlich fing auch Carvers Mannschaft an, sich auf den nächsten Einsatz einzustellen. Rawlinson zog eine Zigarette heraus, starrte sie an und steckte sie wieder ein. Die Ordonnanz kam zurüc k, sich die Lippen mit einem Papiertuch abtupfend. Marjie kicherte. »Alles fertig?« Soames war aufgetaucht. Er entdeckte Carver. »Immer noch hier, Robin? Wo ist Alec?« »Alec kann was erleben«, sagte Rawlinson. Die Mannschaft ging durch den Wachraum und sah ihre Vorgänger abfahren. »Viel zu tun heute«, sagte Soames, auf dem Weg zur Tür. Sie folgten ihm und bestiegen die Lufs. Carver ließ sich auf seinem Sitz neben der Tür nieder, legte den Kopf zurück und schloß die Augen. Er konnte sich eigentlich nicht einmal über seine verlängerte Schicht ärgern; in Wahrheit kam er sich verloren vor, wenn er nicht im Dienst war. Rawlinson schaltete das Funkgerät ein und überprüfte die Frequenzen. Dann sah er zu der dreidimensionalen Karte der Stadt hinauf, die schräg über ihnen hing. Die Farbkodierung der Straßen, Flugschneisen, Pedowege und Autorampen als Netz über den Boulevards verlieh ihr eine geisterhafte Pseudoschönheit. »Zwei Soldar diesmal, Robin?« Es war eine ermüdende Tradition, aber Carver fand es einfacher, sich der Herde anzuschließen, wenn er seine eigene Identität behalten wollte, statt seine Kraft damit zu vergeuden, sich die ganze Zeit über gegen die Herde zu stemmen. Manche Menschen lernten das nie. Sie beharrten darauf, Charaktere eigener Prägung zu bleiben und mußten sich unaufhörlich mit der Herde auseinandersetzen.
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»Wenn ihr wollt«, erwiderte er. »Jedesmal zwei Soldar, bis zum nächsten Zahltag.« »Abgemacht, wenn ich anfangen darf«, sagte die Ordonnanz. Carver kannte ihren Namen nicht und hatte noch nie einen Anlaß gefunden, sie direkt anzusprechen; sie schien immer zur Stelle zu sein, wenn man sie brauchte. Deshalb war sie Ordonnanz. Die Kybernetik wählte die Leute nach ihrer Eignung aus. Auch ihn - mit seinem eidetischen Gedächtnis, das er nach Wunsch ein- und abschalten konnte, mit seiner Fähigkeit, menschliche Gesichter auf Papier zu bannen. Charlie Rawlinson brummte gutmütig und warf ihr die erste Stecknadel zu. Sie hatte einen schwarzen Kopf, rund und glänzend. Sie hob den Arm und steckte die Nadel in ein Restaurant- und Vergnügungsgebiet der unteren Mittelklasse im Norden. »Diesmal haut es hin. Ich bin den ganzen Monat noch nicht in der Nähe gewesen.« »Da müßte sich bald etwas tun«, sagte Rawlinson bestätigend. Er steckte seine Nadel mit rotem Kopf in die oberste Schicht, in einen Dachhausblock über spiralenförmigen Pedowegen. »Ich riskiere gern etwas. Und die reichen Leute sind sowieso alle übergeschnappt. Wenn sie keine Geschwüre haben, die sie nicht loswerden, sammelt sich bei denen alles im Gehirn. Na, gar nicht mal so abwegig.« Für Rawlinson war das eine lange Rede. Die anderen Mitglieder der Mannschaft kamen herein, zogen saure Gesichter, als von zwei Soldar die Rede war, und steckten ihre Nadeln. Carver griff nach seiner gelben Nadel und stach aufs Geratewohl zu. Er erschrak. »Mensch!« sagte Rawlinson verblüfft. »Das ist das letzte! Genau in die Forensischen Labors! Meinen Sie, daß jemand Whitcliffe umlegen will? Das wäre mal was Besonderes.« Carver verzichtete auf eine Erklärung, ließ die Nadel aber, wo sie war. Bei diesem Spiel gewann, wer seine Nadel in größter Nähe gesteckt hatte. In der Nähe der Forensischen Labors gab es Plätze genug, wo ein Mord stattfinden konnte. Aber das -2 6 -
plötzlich hochflutende Gefühl der Panik war seltsam und unerklärlich gewesen. Das Technik-Luf - unteilbarer Zwilling des Büro-Luf -, die Kombination von Geräten, Männern und Frauen, die ausmachte, was schlicht als Luf 3 bezeichnet wurde, zeichnete sich dunkel und ein wenig unheimlich vor dem Fenster ab. Das war das Fahrzeug, auf das es ankam. Dort befand sich, gehegt und gepflegt von Marjie, die RID-Maschinerie. Dort waren die beiden Liegen und das Gerät mit den beiden Spürsondengarnituren. Nur sie und der Fahrer begaben sich mit diesem Luf zu den Einsätzen. Nicht einmal der Prüfer blieb dort. Bis auf diesen einen hier, dachte Carver. Weil Alec Durlston nicht erschienen war. Der Teufel sollte ihn holen! Herz und Hirn von RID-A war in den Lufs enthalten, während sie im Hof auf ihren Einsatzbefehl warteten. Manchmal dauerte es lange. Bei anderen Gelegenheiten, so wie jetzt, jagten sich die Einsätze mit erschreckendem Tempo und verlangten die wilde Jagd zum T-Punkt Null. Der Lautsprecher begann zu dröhnen. Alles drehte sich um und starrte ihn an. Bevor die Worte verklungen waren, erhoben sich die Lufs zischend vom Boden, auf Luftpolstern dahingleitend. »Achtung, drei. T-Punkt Null Ecke Fredericks-Montgomery. Südbezirk. Mann. Zwanzig Stockwerke tief gestürzt, sofort tot. Schwerste Schäden. Alarmstufe drei.« »Schwerste Schäden«, sagte Charlie Rawlinson. »Verdammt! Kann Schwierigkeiten geben, Robin.« »Ich komme schon zurecht«, sagte Carver. Die Tür öffnete sich. Das Luf hatte schon eine Geschwindigkeit von 15 Kilometern in der Stunde, und die Gestalt kam im Hechtsprung hereingefegt. Unterlagen flatterten auf den Boden. Soames drehte sich mit grimmiger Miene um. »Was ist denn da los? Ach - Sie sind's, Alec.« »Ich bin's«, sagte Alec Durlston. Er richtete sich auf. »Wenn ich nicht den Sprintrekord gebrochen hätte, wärt ihr ohne mich abgehauen.« -2 7 -
Natürlich drehte es sich nicht nur um das, was Durlston sagte. Es lag an seiner allgemeinen Einstellung, an dem, was er nicht sagte, was er aber meinte. Er meinte ganz eindeutig: Euer Fehler, daß ich rennen und springen mußte, warum wartet ihr nicht auf einen Mann wie mich. Natürlich waren alle dafür verantwortlich, daß er sich verspätet hatte, nur er selbst nicht. Er sah auf Carver hinunter. »Nun?« fragte er ätzend. »Hallo, Durlston«, sagte Carver. Sonst fiel ihm nichts ein. »Wollen Sie nicht aufstehen? Sie sitzen auf meinem Platz.« Carver erhob sich langsam, ohne die anderen anzusehen. Er tat es schweigend. Deswegen schämte er sich fast. Aber was konnte er sonst tun - oder sagen? Durlston wischte den Sitz mit einem Papiertuch ab, bevor er sich setzte. Carver ging zu Rawlinson hinüber, zog einen Klappsitz aus der Wand und ließ sich nieder. Sein Körper schwankte hin und her, als das Luf dahinraste. Durlston hatte Dienst, und das war der Prüferplatz, also hatte Durlston das Recht, dort zu sitzen. Aber der ganze Vorfall war so armselig, daß Carver sich maßlos ärgerte - oder es getan hätte, wenn ihm Zeit dafür geblieben wäre. Während die Sirene heulend die Nacht durchschnitt, rasten die Lufs durch den auseinanderspritzenden Verkehr, um T-Punkt Null unter drei Minuten zu erreichen. Immer schafften sie es natürlich nicht. Selten sogar, wenn man sich den Luxus zynischer Betrachtung leisten konnte. Aber es war das Ziel, das die Vorschriften verlangten; nach drei Minuten war ein nicht durchblutetes, menschliches Gehirn irreparabel geschädigt. Aber RID-A hatte nicht die Aufgabe, Gehirne zu reparieren. Nicht, wenn der Körper tot war. So schnell wie möglich an Ort und Stelle sein, die Leiche finden, sie in das Technik-Luf schaffen, auf die Liege heben, die Spürsonden anlegen - rekonstruieren. Sie waren keine Chirurgen, die ein Leben retten wollten. -2 8 -
Sam lenkte das Luf so schnell um eine Ecke, daß die magnetischen Repulsoren teilweise die Funktion verloren und das Luf kippte, wodurch die Luft fauchend abfloß. Er hatte die Tripel-turbinen voll aufgedreht und die Nachbrenner eingeschaltet. Die Lufs spien Rauch und sandten donnerndes Dröhnen durch die ganze Stadt. Freischwebende Fahrzeuge, die nicht dem vollautomatischen Verkehrsnetz angeschlossen gewesen wären, hätten an Säulen, Stützen, Liften oder Rampen zerbersten müssen. Aber solche gab es nur außerhalb der Stadt. Außerhalb der Stadt - das war die altmodische Weise der Betrachtung, eine merkwürdige, störende Weise, als sei die Stadt die wichtigste Einheit der modernen soziologischen Planung, statt die unwichtigste. Die Stadt existierte innerhalb des ländlichen Gefüges. Nur das Land, wo die Menschen wohnten, war von Wichtigkeit. Die Großstadt war ihr Spielzeug, ihr Opiat, ihre Stunde des Vergessens. Selbst so, dachte Carver mit seiner selbstgefertigten Psychologie, die Cy Adams ein geheimes Lächeln zu entlocken pflegte, selbst so brauchten sie die Stadt eigentlich nicht. O ja, es war angenehm, die Stadt zu besuchen, um sich abends zu amüsieren, um sich in den Phantasien der Vergangenheit zu verlieren, sich die Stadt wieder einmal so vorzustellen, wie sie gewesen war, als von ihren dynamischen Grenzen aus die Welt regiert worden war. Die Stadt war wie ein alter, zuschanden gerittener Dinosaurier in einer Welt von Düsenfahrzeugen. Aber sie behielt trotzdem ihr eigenes Leben und Wesen, ein Sehnen nach der Vergangenheit, die außerhalb des Vorortrings keinen Platz hatte. Seit dem Alarm waren zwei Minuten vergangen. Auf dem reproduzierten T-Punkt Null auf der Stadtkarte blinkte ein Licht, blutrot, mahnend. Das weiße Licht, das ihr Luf darstellte, schlängelte sich näher, bog um Ecken, ohne Lichtsteuerzeichen zu beachten, so daß die Radarkontrolle automatisch den anderen Verkehr zum Halten bringen mußte. Natürlich konnte es einen Zusammenstoß, einen Unfall nie geben. Das gehörte einer seltsamen, fernen Vergangenheit an, in der die Menschen -2 9 -
zugelassen hatten, daß die Zähne in ihren Mündern verfault waren, in der sie sich in Stoff geschneuzt und diesen in die Taschen gesteckt hatten, in der sie Tabak geraucht hatten, der Lungenkrebs hervorzurufen vermochte, in der sie zugelassen hatten, daß alte Menschen einsam in schmutzigen, dunklen Zimmern starben. Aber eigentlich lag diese Zeit noch gar nicht so lange zurück. Es war nur so, daß der Gedanke an sie die Erinnerung auch an die Zeit von Ritterrüstungen, Cholera und Daumenschrauben wachrief. Die Geschichte geriet durcheinander, wenn man wesentliche Hürden in Technologie und Wissenschaft überwunden hatte und erstaunt in die Dunkelheit zurückblickte, aus der man gekommen war. Mit diesen Tagen würde es in den nächsten hundert Jahren genauso geschehen. Dafür würden Wendy und ihre Altersgenossen sorgen. Die Ordonnanz hatte gewonnen. Ecke Fredericks und Montgomery Avenue, wo der T-Punkt Null auf sie wartete, lag ihrer schwarzen Stecknadel am nächsten. Die schwarze Nadel hatte ihr Glück gebracht - vielleicht ein Symbol. Jetzt blieb keine Zeit, ihr die zwei Soldar zu zahlen; das weiße Licht war dabei, mit dem roten zu verschmelzen. Durlston an der Tür stand auf, die Hände an den Prallstangen. Luf 3 besaß eine gute Mannschaft, und Alec Durlston war, was immer man sonst über ihn sagen konnte, ein guter Prüfer. Charlie Rawlinsons Kameras an ihren ausfahrbaren Armen, dreidimensionale Bilder liefernd, begannen leise zu surren. Sie zeichneten alles auf, was durch Fotografie am T-Punkt Null festgestellt werden konnte. Die beiden Fahrer warteten ungeduldig, um die Leiche holen und in das Technik-Luf schaffen zu können. Durlston hatte dieses Luf erreicht und streckte sich auf der Liege aus, die Spürsonden anlegend, während Marjie angespannt an der Tür auf die Leiche wartete. Keiner hatte eigentlich Zeit, den Tatort zu besichtigen, so, wie es die Detektive der klassischen Kriminalliteratur getan hatten.
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Die gewöhnliche Polizei, die Mordkommission würde nachkommen und die Spuren sichern. Die Leiche war zwanzig Stockwerke tief gestürzt - falsch, verbesserte sich Carver: Der Mann war zwanzig Stockwerke abgestürzt und zur Leiche geworden, als er aufprallte - und jetzt sah er nicht mehr attraktiv aus. Marjie weigerte sich, ihn auf ihre saubere Liege zu lassen. Sie wies die Fahrer an, ihn auf eine Plastikdecke unter Durlstons Liege zu legen. »Armer Teufel«, sagte Carver, halb zu sich selbst. »Ausgerutscht - oder gestoßen?« »Nur keine Unruhe, Carver. Das werde ich bald erfahren.« Durlston legte sich zurück und wartete darauf, daß Marjie die Anschlüsse herstellte. Wie das gemacht wurde, wußte Carver selbst nicht genau. Er sah ein, daß er es nie begreifen würde. Für ihn und die Polizeidezernate kam es nur darauf an, daß es geschah. Aus den Spürsonden an Alec Durlstons Schläfen, aus den Spürsonden am Kopf des Toten strömten Daten. Alles andere erledigte die RID-Maschinerie. Die Wissenschaftler, die RID geschaffen hatten, wußten, wie es zuging, und Carver hatte von Engrammen, Synapsen-Potentialen, Informationsspeicherung, der Vergessenskurve, vom permanenten Eindruck der Erinnerung in der Zellstruktur, von Veränderungen der Aminosäurenkomplexe und Kolloide gehört, die für immer festhielten, was ihnen eingeprägt wurde. Nur der Tod zerstörte diese Veränderungen, beseitigte durch Verfall der Zellen, was einst Verstand, Gehirn und Gedächtnis eines Menschen gewesen war. Kein Wunder, daß die Angehörigen von RID-A mit zugeschalteten Nachbrennern und heulenden Turbinen den TPunkten Null zustrebten, um die Toten zu erreichen, bevor die schnell zupackende Hand des Todes - drei Minuten - aus der Harmonie menschlichen Denkens ein schleimiges Chaos machte. Sie schafften es oft nicht in drei Minuten, aber in den meisten Fällen erschienen sie doch rechtzeitig genug, um das -3 1 -
Wichtigste herauszuholen. Sobald eine Person starb, erfaßte der Todesorter in der RID-Zentrale die Strahlung, und Computer schleuderten diese Information auf die Stadtkarte in dem einsatzbereiten Luf, peitschten die Kriminalbeamten und Prüfer nebst Mannschaft in die Stadt, angepeilt auf den T-Punkt Null. Ohne die unerläßliche Funktion des Todesorters in der RID-Zentrale wären die Lufs nur selten und durch Zufall rechtzeitig am T-Punkt Null angelangt. »Er ist tot.« Marjie drehte an einem letzten Knopf und lehnte sich seufzend zurück. »Vorbei. Ich dachte schon, wir würden es nicht schaffen. Der arme Kerl ist so schwer -« Carver wunderte sich über diesen weiblichen und für eine RIDTechnikerin ganz ungewohnten Kommentar und stellte erneut fest, wie jung und unerfahren diese blonde, weißbekittelte Marjie eigentlich war. Der Tote war ein Subjekt. Man betrachtete ihn nicht als menschliches Wesen. Seine schweren Verletzungen bedeuteten nur, daß es schwierig sein würde, die gestellte Aufgabe zu erfüllen. Es kam allein darauf an, den Prüfer auf den Weg zu schicken. Er sah auf Durlston hinunter, der flach atmete, und fragte sich, wo er jetzt wohl war. Dann drehte er sich um, verließ das Fahrzeug und sah zu den Gebäuden hinauf. Er versuchte sich vorzustellen, wie es sein mußte, aus dem zwanzigsten Stockwerk zu fallen. Nun, Durlston würde es bald erfahren. Carver hatte es sich zur Richtschnur gemacht, seine Fälle sofort wieder zu vergessen. Er schaltete sein eidetisches Gedächtnis ab, sobald ein Fall abgeschlossen war. Wenn er sich die Mühe genommen hätte, in seiner Erinnerung nachzuforschen, wäre er bestimmt auf Stürze von zwanzig, dreißig, hundert Stockwerken gestoßen. Ein Grund, warum er sein eigenes Gedächtnis abschirmte. Die gewöhnliche Polizei war eingetroffen und hatte den Tatort abgeriegelt. Jenseits der Absperrungen drängten sich Zuschauer. Einige Reporter zeigten ihre Ausweise und bekamen Zutritt. Carver zog sich sofort in das Luf zurück. RIDLeute sprachen mit niemandem außerhalb der Organisation. -3 2 -
Zu seiner Überraschung schoben die Fahrer, unterstützt von Rawlinson und der Ordonnanz, den Faltgang zwischen den beiden Lufs zusammen. Soames saß am Funkgerät. »Was ist los, Charlie?« Rawlinson richtete sich auf und wies auf Soames. »Sie werden sich freuen, Robin.« »So?« Aber er hatte es schon erraten. »Ja. Der nächste Einsatz. T-Punkt Null ist ganz nah - deshalb sollen wir das noch übernehmen, und weil wir zufällig einen zweiten Prüfer mithaben. Tut mir leid, Robin, es hat Sie erwischt.« Nun, dafür war er zu RID-A gegangen. Er entsann sich, daß er nicht übermäßig unglücklich gewesen war, als Durlstons Verspätung ihn gezwungen hatte, im Dienst zu bleiben. Müde mochte er sein, aber unwillig, seine Pflicht zu erfüllen - nie. »Gut, fangen wir an«, sagte er. »Ich bin bereit.«
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4 Auf der Karte blinkte das blutrote Licht neben dem glitzernden weißen Stern, der Luf 3 darstellte. »O nein!« sagte Robin Carver. »O nein! Eine Frau! Das ist nichts für mich.« »Keinen Widerspruch, Robin«, sagte Soames ruhig und geduldig. Charlie Rawlinson war am T-Punkt Null mit seinen Kameras an der Arbeit. Marjie stellte die zweite Liege auf und legte die Spürsonden bereit, die Fahrer warteten darauf, die Leiche hereinholen zu können. Luf 3 war in voller Aktion. Bis auf seinen Prüfer. »Bitte, keinen Widerspruch, Robin. Wir sind hier. Sie sind hier. Also - Sie steigen ein, ob Frau oder nicht Frau. Kapiert?« »Das nenne ich eine vernünftige Erklärung«, sagte Carver. Er spürte ein leichtes Ziehen an den Mundwinkeln und erkannte die Anzeichen eines Lächelns. Verflixt! Das war heute schon das zweite-, nein, drittemal. Zur Gewohnheit durfte das nicht werden. »Die Zentrale würde normalerweise ein anderes Luf und eine Prüferin schicken, Robin. Sie wissen aber, daß heute nichts normal läuft. Alles ist im Druck. Bei der Meldung wurde gemunkelt, daß Whitcliffe persönlich unterwegs sei.« »Wann ist er das nicht?« »Sie sehen, Robin, es geht nicht anders. Ich weiß, daß Sie alle nicht gern einsteigen, wenn es sich um eine Frau handelt, aber es bleibt nichts anderes übrig.« Carver sah Soames scharf an. Die buschigen Brauen senkten sich. »Gut, Bob«, sagte Carver. »Sie wußten, daß ich mitmache. Protestieren muß man ja schließlich, sonst ist die Gewerkschaft unzufrieden.« »Alles fertig!« Charlie winkte, und die Fahrer hoben das Mädchen auf und trugen es herein. Marjie machte sich an die Arbeit. Carver nickte Soames zu, betrat das Luf und legte sich -3 4 -
hin. Neben ihm auf dem Boden lag das Mädchen. Neben ihr, in Plastik gehüllt, die Überreste des abgestürzten Mannes. Neben diesem, auf der anderen Liege, Alec Durlston. Carver betrachtete das Mädchen. Ihr kleiner, schlanker Körper war mit einem Kleid aus silbernen Schuppen bedeckt. Sie trug noch einen Strumpf. Ihr langes, schwarzes Haar war ausgebreitet. Ihr hübsches, ovales Gesicht besaß einen olivfarbenen Teint. Bis jetzt hatte sich noch niemand die Mühe genommen, den um ihren Hals geknoteten Nylonstrumpf zu entfernen. Cy Adams steckte den Kopf zur Tür herein, befragte Marjie mit einem Blick und sagte: »Sie hieß Julie Farish. Viel Glück, Robin.« Marjie drückte auf den Startknopf. Gelierend schloß sich die Dunkelheit um Robin Carver. Das Samtkissen preßte sich hart an ihre Wange. Sie konnte den Kopf nicht drehen, um flehend zu Roger aufzusehen - warum? Warum tat Roger das? Ihre Gedanken, zuckende, wirre Splitter, Eindrücke - das würgende Gefühl der Enge um ihren Hals, enger - immer enger! Sie konnte nicht schreien - ihre Zunge zwängte sich durch die Lippen - ihre Augen schienen zu bersten - sie konnte nicht atmen - nicht atmen! Sie versuchte sich zu bewegen, hilflos, wie ein an Land gezogener Fisch, zappelnd, silbern blitzend, wie ihr neues Kleid - schwarze und rote Funken zuckten an ihren blinden Augen vorbei - das Gefühl am Hals und Nacken - das Gefühl? der Schmerz - der Schmerz war verschwunden - sie fühlte sich schläfrig - schläfrig... Roger war ein merkwürdiger Mann gewesen. Alle Männer waren verschieden - und alle gleich. Sie hatte lernen müssen, mit Männern umzugehen. Und sie hatte es gelernt. Und Roger war ihr nett vorgekommen - auf einer Wattewolke schweben - kann nicht sprechen - Ruhe! ruft die
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Lehrerin - Roger war nett gewesen, aber - merkwürdig. Kopfschmerzen. O Gott! Ich werde umgebracht! Nur Robin Carvers Gehirn erlebte Julie Farishs Tod. Er wand sich. Das - das war stets schwer zu ertragen. Und sie sah diesen Roger nicht ein einzigesmal an! In dieser Richtung war nichts mehr zu holen. Die Zeit lief ab. Ich muß umkehren, dachte er. In die Gedanken eines Sterbenden eindringen. Die Erinnerung im Augenblick des Todes anzapfen. Die Memoiren der endgültigen Auslöschung prüfen, studieren, einprägen. In den alten Geschichten stand, ein Ertrinkender durchlebe noch einmal sein ganzes Dasein. Niemand hatte je das Paradoxon lösen können, daß er, sobald diese Wiederschöpfung den Augenblick seines Todes erreichte, von neuem beginnen würde, sein Leben an sich vorbeiziehen zu sehen, in einem nie endenden, im Augenblick der Auflösung verharrenden Kreislauf. Außerdem mochte ein Ertrinkender sein vergangenes Leben nicht farbig und dreidimensional sehen. RID verlangte nur, daß der Mensch sein Leben gelebt hatte, und das bewies der Augenblick seines Todes. Der Tod bewies, daß man gelebt hatte. Selbst wenn man es nicht beweisen konnte, solange man gelebt hatte. Julie Farish war im Sterben begriffen und hatte diese Tatsache voll erkannt - und so wand sich ihr armes, gequältes Hirn, um sich von den Fesseln des nahenden Todes zu befreien, tastete sich zurück, durch die muffigen Gänge der Zeit, die Spinnweben des Vergessens wegstreifend, bestrebt, den Beweggrund nicht nur für ihren Tod, sondern auch für ihr Leben zu finden. Robin Carver überflog hastig die ersten Erinnerungen, die unglückliche Kindheit, das Waisenhaus, die ersten Männer, blätternd in den vergilbten Seiten der Erinnerung. Die Geschichte war bekannt. Bei der ersten diskreten Handlung, die diesen zum Mord führenden, ganz eigenen Ablauf von
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Ereignissen verursacht hatte, würde er einhaken. Auf den letzten Seiten ihres Lebens würde er mit Julie erwachen. Auf symbolische Weise war diese geistige Verbindung auch ein körperliches Erwachen, das Gefühl eines weichen, warmen Kissens an der Haut, das wohlige Strecken langer Glieder unter der Decke, das langsame öffnen der Lider, gleich Blüten im Frühling. Julie erwachte und streckte sich, und ihr rechter Arm streifte den nackten Rücken des neben ihr schlafenden Mannes. Sie verzog den Mund, glitt aus dem Bett und suchte sofort nach den Zigaretten und dem bereitgestellten Kaffee. Sonnenstrahlen fielen schräg durch die Jalousien mit ihren hochgestellten Lamellen, und die gelben Strohmatten schimmerten golden auf dem polierten Parkettboden. Sie gähnte, fuhr mit den Fingern durch das lange, schwarze Haar und schüttelte den Kopf, um ihr Gesicht von der wallenden Flut zu befreien. Ein neuer Tag, ein neuer Kunde, und den schnarchenden Kerl neben sich war sie auch noch nicht losgeworden. Sie war also ein Freudenmädchen - arme, verlorene Seele... Man hätte doch einen weiblichen Prüfer einsetzen sollen... Julie trank Kaffee, rauchte ihre Zigarette, zog sich an und überlegte, welches Make-up sie auflegen sollte. Dramatisch, anziehend oder sinnlich? Sie griff nach dem elfenbeinfarbigen Telefon auf ihrer Kommode, ließ aber die Bildverbindung unbetätigt. Eine Mädchenstimme von abstoßender Süßlichkeit meldete sich. »Teehaus ›Strahlendes Licht‹.« »Geben Sie mir Marcel.« »Tut mir leid, aber das ist im Augenblick nicht möglich, er -« »Hier spricht Julie. Los, schnell!« »Oh... Oh, Julie! Wie nett...« Knacken, summen, dann leuchtete das Bildfragelicht auf. Julie schaltete ihren Bildschirm nicht ein. »Julie? Das ist aber früh. - Was ist mit deiner Bildverbindung?« Marcels Stimme jagte Julie kalte Schauer über den Rücken. -3 7 -
»Termine heute, Marcel? Ich ziehe mich eben an.« »Angenehme Nacht?« Sie schnitt eine Grimasse, die Marcel nicht sehen konnte. »Ein Fettkloß. Ein Flegel. Schröpf ihn nur tüchtig - hm, ich höre ihn schon rumoren.« Sie lachte. »Hört sich an, als wäre er unter ein Luf geraten.« »Du neigst dazu, deine Klienten - hm - zu betäuben, Julie.« »Dafür bezahlst du mich doch, nicht wahr?« Sie konnte sich vorstellen, wie Marcel die Brauen zusammenzog und die Lippen spitzte, betroffen von ihrer Direktheit. »Komm gegen achtzehn Uhr vorbei«, sagte er schließlich. »Ich habe einen Sondereinsatz, der dir vielleicht zusagt - eine Party« »O nein«, fuhr Julie auf. »Nicht schon wieder! Ich bin nicht mehr jung genug, um aus einer Torte zu springen -« »Nichts dergleichen, Julie. Ich sage dir Bescheid, wenn du hier bist.« Ein scharrendes Geräusch und das Rauschen von Wasser im Schlafzimmer veranlaßte Julie, hastig Schluß zu machen. »Also gut, Marcel. Ich komme.« Sie legte auf, wobei ihr einfiel, daß sie immer noch nicht wußte, welches Make-up Marcel wünschte. Sie entschied sich für laszive Unschuld und suchte gerade nach einer Zigarette, als die Schlafzimmertür aufging und ihr Klient hereinkam. Er hielt sich den Kopf. »Au! Bitte ganz leise sein!« »Hier.« Julie gab ihm eine Tipptopp-Pille, und er schluckte sie dankbar. Sekunden später verlor er die graue Farbe, seine Augen begannen zu glänzen, und er sprach von Speck und Rühreiern. Julie geleitete ihn taktvoll zur Tür und verabschiedete ihn - freundlich. »Rühreier und Speck«, sagte sie zu sich selbst, als sie zur Küche ging, dem hintersten Raum ihrer Wohnung im zehnten
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Stock. »Hab' ich auch noch nicht gehört. Bin doch keine Wohltäterin.« Sie hatte ihn nicht Roger genannt. Aber ich habe dich in meinem Gedächtnis, mein Freund... Nach einem herzhaften Frühstück zog Julie ihren Kalender heraus. Als Robin Carver das Datum sah, schauderte er - eine Henkersmahlzeit - auch das stimmte mit der Tradition überein. Er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis sie das silberne Schuppenkleid und die Nylonstrümpfe anzog. Verdammt, verdammt! Wenn sie mir nur Rogers Gesicht kurz gezeigt hätte, bevor ich das alles miterleben muß! Aber jetzt konnte er nichts anderes tun, als warten und sich von Julies Erinnerungen mittragen lassen, bis sie den T-Punkt Null erreichte. Untertags ging Julie durch die Boulevards der Stadt und kaufte ein. Vierundzwanzig Stunden am Tag vibrierte die Stadt vor geschäftigem Leben, aber unausweichlich nahm das Tempo zu, wenn sich der Abend näherte und die auf dem Land lebende Bevölkerung mit den Düsenmaschinen eintraf, von der anderen Seite des Kontinents, von Osten, Norden und Süden, von der Westküste. Julie betrachtete sie mit den geübten Augen des Raubvogels, als Person, die von den Dummköpfen und Unerfahrenen lebte. Sie gehörte zu einer kleinen Elite-Truppe und dennoch einer benachteiligten Minderheit, der auch Robin Carver angehörte - jenen Menschen, die tatsächlich noch in der Stadt lebten. Die anderen Millionen von Vergnügungssüchtigen konnten ebensowenig in der Stadt leben wie ein von Platzangst Befallener in einer Kiste. Manchmal verwandelte sich der Stadtbewohner in die graue, teigige Un-Persönlichkeit eines Mannes, wie es James Partridge gewesen war. Manchmal wurden sie so rasiermesserscharf, daß sich selbst die besten Freunde an ihnen verletzten. Es bedurfte aller möglichen Typen, um die Vergnügungen der Stadt zu betreiben. Und es bedurfte aller möglichen Typen, um die Stadt zu überwachen. Dies eine
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wenigstens hatten Julie Farish, James Partridge und Robin Carver gemeinsam. Was sie an Wichtigem noch gemeinsam hatten, war, daß sie Vorfahren mit genug Mut - oder genug Habgier oder genug Pflichtgefühl - besaßen, die in einer Stadt geblieben waren, als alle anderen aufs Land flüchteten, zu der potentiellen Sicherheit ihrer weitverstreuten und tiefgegrabenen Atomschutzbunker. Die Antinuklearkrieg-Schutzbauten waren nie zu so großen Komplexen geworden, daß man sie hätte Städte nennen können. Das lag gerade an der Ablehnung ihrer Bewohner gegenüber dem Stadtleben. Das Wort ›Stadt‹ wurde zu einer Blasphemie, zu einem schmutzigen Ausdruck, der automatisch den Atompilz und den Gestank des Todes heraufbeschwor. Nur auf dem Land - in den weiten, sauberen Flächen des freien Landes - konnte es Leben geben. Die Menschen, die geflüchtet waren, hatten das Glück gehabt, daß sich eine technologische Zivilisation mit Hilfe der Automation und Satellitenkommunikationsmittel von vielen weit verstreuten Zentren aus steuern ließ. Kein Geschäftszweig brauchte sich mehr um eine Getreidebörse, eine Aktienbörse, eine Bank zu scharen. Es war nicht mehr nötig, daß wichtige Mitteilungen von Leuten in unbequemen Uniformen mit steifen Ledertaschen überbracht wurden. Nicht einmal das Telefon war ganz fähig gewesen, die Geschäftsleute von ihrem Herdeninstinkt zu lösen, aber Computer, Automation, Düsenflugzeuge und der unerträgliche Gestank von Millionen Auspuffen, die Kohlenmonoxyd in stagnierende, verbrauchte Luft bliesen, hatten fast erreicht, daß sich die Waage neigte. Städte starben - nicht durch die alle Vorstellungskraft übersteigende Explosion der Bombe, sondern an den Ängsten der Menschen, und nachher, als der Schutzschild erstand, an der verwunderten Erkenntnis, daß das Leben auf dem Lande angenehmer war als das Leben in der Stadt. Vorausgesetzt, daß eine Art Vergnügungszentrum vorhanden war, vorausgesetzt, daß man abends einen Ausflug dorthin unternehmen konnte, vorausgesetzt, daß ein Ort für voranschreitende Stadtentwicklung als Versprechen einer -4 0 -
helleren Zukunft noch existierte - all dies vorausgesetzt, wer wollte dann noch in einer Stadt ängstlich leben und schwitzen? Manche taten es; manche mußten, sie wurden dazu gezwungen, andere taten es freiwillig - als Julie Farish von ihrem Apartmenthaus auf den Pedoweg trat, spürte Robin Carver eine enge Kameradschaft mit diesem Freudenmädchen einer sündigen Stadt. Julie hatte auswärts gegessen. In ihrer Wohnung zog sie sich aus und schlief auf einem Formfit hinter den polarisierten Sonnenfenstern. Der Frühling draußen verlieh der Stadt einen Pointillismus grüner Schönheit. Endlich, und nicht ohne Widerwillen, wie Carver mitleidig vermerkte, duschte sie sich, legte seidene Unterwäsche an, wählte ein Paar Nylonstrümpfe aus und streifte sie über die glatten Beine. Dann kam das schimmernde, schuppenartige Silberkleid. Um halb sechs schloß Julie ihre Wohnungstür und schlenderte davon. Sie warf keinen langen, letzten Blick mehr in die Wohnung. Warum auch? Nur Carver, der in diesem Augenblick in ihrem Denken nistete, wußte, daß sie nie zurückkommen würde. »Hallo, Julie, Liebling!« Marcel trippelte aus seinem Büro, lächelnd und ölig. »So süß!« »Also, weißt du, Marcel - wenn du mir noch einmal einen Kerl wie den von gestern auf den Hals schickst, dann - dann -« »Ja, mein Kind? Was dann?« Julie verzog den Mund. »Denk doch wenigstens manchmal an mich, Marcel -« »Aber das tu' ich doch, Liebling, die ganze Zeit. Das weißt du.« »Was ist also mit dieser Party?« fragte Julie gepreßt. Sie kannte die Macht der Syndikate, eine Macht, gegen die ein junges Mädchen allein nichts auszurichten vermochte. »Bist du fertig?« »Wozu?« Marcel lächelte; es machte ihn nicht hübscher. -4 1 -
»Das wirst du sehen, wenn du dort bist. Es ist sehr wichtig. Paß auf, Julie, hör mir genau zu.« Er starrte sie scharf an. »Es ist wichtig. Ich stehe vor einem großen Geschäft. Wenn alles klappt, haben wir ausgesorgt. Du brauchst nur nett zu sein. Das ist einfach genug. Sei besonders nett - und tu, was man von dir verlangt.« »Mit Perversen will ich aber nichts mehr zu tun haben, Marcel! Ich ertrage das einfach nicht!« Er hob die Hände. »Na hör mal, Süße, du weißt, daß wir uns einig waren. Du bist nicht der Typ dafür. Es war ein Fehler, es auch nur mit dir zu versuchen. Sonia und Hebe begleiten dich. Du fährst um« - er schaute auf die Uhr - »achtzehn Uhr fünfzehn.« Punkt 18.15 Uhr senkte sich ein Luf, und die drei Mädchen stiegen ein. Marcel sah ihnen nach. Harry begleitete sie, ein riesiger Mann mit dem Gesicht eines Gorillas. Harry war sanft mit den Mädchen, ein wenig schwachsinnig. Unangenehme Kunden erledigte er mit einer Hand. Jetzt saß er zusammengekauert da und betrachtete dreidimensionale Comics durch einen Projektor. Du wirst heute abend versagen, Harry. Julie sah nicht, welchen Weg sie nahmen. Auch Carver nicht. Das Luf seufzte die Straßen entlang, eingefügt in das Radarverkehrsnetz der Stadt, das lückenlose Sicherheit für Fahrzeug und Insassen garantierte. Das Luftkissenfahrzeug senkte sich zischend herab, die Tür ging auf. Julies schneller Blick erfaßte die Zeichen von Luxus und Raffinesse, von Dekadenz und Überreife an den Früchten des Vergnügens. Carver fing Eindrücke, Gesichter, Worte, Gesten auf und verwahrte sie für den Zeitpunkt, zu dem er im Luf 3 sitzen und berichten würde. Die Party überraschte Carver. Vielleicht nicht einmal so sehr die Party als solche, vielmehr die Teilnehmer. Vom Teehaus waren drei Freudenmädchen geschickt worden, und sie dienten nicht nur zur Dekoration. Die -4 2 -
Leute hier sahen aber nicht aus, als hätten sie die Gewohnheit, Freudenmädchen zu engagieren. Dunkel gekleidete Männer und spröde Frauen kreisten in einem Vakuum von Konversation, man trank mit der Absicht, nüchtern zu bleiben. Die Leute sahen aus wie Börsenmakler, Geschäftsleute, Verleger, Beamte. Und die Frauen waren eindeutig Ehegesponse. Julie und ihre Freundinnen fanden sich offensichtlich nicht zurecht. Vor dem Schutzschild - Lob und Dank dem Schutzschild - wäre eine solche Zusammenkunft in der Stadt undenkbar gewesen. Männer und Frauen lebten auf dem Land, ungefährdet in ihren Verstecken verborgen, und ein Besuch in der Stadt wurde heimlich und mit Gewissensbissen unternommen, mit Magengeschwüren und seelischen Komplexen bezahlt. Damals hatte die Welt in der Angst vor der Bombe gelebt. Jetzt war diese Angst verschwunden - jedenfalls auf diesem Kontinent, den die Menschen heute als die Welt betrachteten - und die Menschen konnten sich entspannen, reden und lachen, ohne hastig über die Schulter zu schauen, konnten alle ihre Hemmungen im hellen Licht der Furchtlosigkeit ablegen. Und der Begriff ›Leute‹ meinte dich und mich, nicht eine amorphe Masse weißer Gesichter wie Gänseblümchen auf der Wiese; dich und mich, Julie Farish und Robin Carver, Leute, sogar James Partridge. Sie schienen sich aber nicht zu amüsieren, schienen sich nicht wohlzufühlen - obwohl man das nie genau sagen konnte. Harry schlurfte schützend vor seinen Damen her, als ein Lakai mit ölig glänzendem Haar sie über einen schimmernden, mit Perserteppichen belegten Boden zu einer indigoblauen Tür in einem Architrav aus Aluminium führte. Harry spielte nicht den Gentleman; er ließ den Damen nicht den Vortritt. Carver sah, daß die Leibwache die Linke in der Tasche behielt, und fühlte Anerkennung. Harry mochte heute abend erfolglos bleiben, aber er war ein Profi.
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Sie kamen an einer Gruppe hagerer, angemalter Frauen und fetter Männer mit Zigarren vorbei. Man unterhielt sich über Kunst und Kritik, aber Julie ließ das Geschwätz hinter sich. Der Lakai führte sie durch die Tür, einen mit einem Läufer ausgelegten Korridor entlang, wo es nach Zedernholz roch, und weiter in einen Warteraum, der luxuriös mit Formfit-Ruhen und Pedostützen ausgestattet war. »Mr. Pritchard wird Sie nicht lange warten lassen«, sagte er. Die Tür schloß sich vorsichtig hinter ihm. »Sagt mal, Puppen«, krächzte Harry, sich die dicken Lippen reibend, »was für eine Party war denn das? Lauter Spießbürger?« »Kann uns doch egal sein?« Hebe streckte sich auf einem Formfit aus und zog die Schuhe aus. Die Maschine setzte sich surrend in Bewegung, und Hebe schauderte erfreut. »Mir gefällt es hier. Zeit genug.« Hebe war groß, knochig und blond. »Wenn uns Marcel wenigstens mehr über diese Sondereinsätze erzählen würde«, fauchte Sonia. »Ich hab' jetzt schon Hunger.« Sonia war ein dunkelhäutiges, nervöses Wesen, das seinen Kunden immer unangenehme erste Minuten bereitete. Pritchard kam herein. Er erwies sich als ruhig und unauffällig, mit der perfekten Haltung des Kammerdieners und Vertrauten. Wahrscheinlich erkannte nur Carver von den fünf Personen, die ihn betrachteten, den tief verankerten Machtkomplex des Mannes, erriet nur er den zerfressenden Ehrgeiz in ihm. Er stand einen Augenblick da, den Kopf auf die Seite gelegt, und sah sie prüfend an. »Sie«, sagte er schließlich und winkte Hebe. »Ziehen Sie die Schuhe an. Kommen Sie mit.« »Moment mal -«, begann Harry. »Ich glaube nicht, daß Ihr Auftraggeber Ihre Anwesenheit wünscht, wenn Ihre Freundin sich ihr Brot verdient«, sagte Pritchard scharf. »Außerdem haben Sie die - äh - Damen
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draußen zu beschützen, nicht hier.« Er starrte Hebe an. »Kommen Sie.« Fünf Minuten später kam Pritchard zurück und holte Sonia. Harry stand auf und sah Julie forschend an. Einen angstvollen Augenblick lang glaubte Carver, er werde etwas anfangen, aber er sagte nur: »Passen Sie auf sich auf, Julie. Sie sind ein feiner Kerl - nicht wie die anderen.« Julie lachte. »Ich bin genau wie sie, und das wissen Sie auch, Harry. Es hat keinen Sinn, in diesem Spiel sentimental zu werden.« »Trotzdem«, meinte Harry. Pritchard kehrte zurück, und Julie stand auf, bevor er sie ansprach. Carver fühlte Anspannung. Eine Überzeugung, daß er bei weiterer Nachforschung Julie als widerstrebendes Freudenmädchen entdeckt hätte, erfüllte ihn mit dem Zorn des Machtlosen. »Ich bin bereit.« Im Korridor legte Pritchard den Arm um Julies Hüften und preßte sie vertraut an sich. Julie zauderte, unternahm aber nichts. Darauf kam es jetzt auch nicht mehr an. Vor ihr, wo der Korridor rechts abbog, tauchte eine Tür auf. Pritchard beschleunigte seine Schritte, und sein Arm trieb Julie schneller vorwärts. Durch die Tür drang Gelächter. Sie zeigte eine glatte Ebenholz-Oberfläche mit einem silbernen Wappenschild, auf dem ein aufgerichteter Löwe einen Stab in den Pranken hielt. Goldene Knöpfe und Scharniere verliehen der Tür eine barbarische Schönheit. Pritchard war augenscheinlich bemüht, Julie an der Tür vorbeizuschaffen, bevor sie sich öffnete. »Schnell, Mädchen!« sagte er scharf. Julie schob ein langes, nylonbestrumpftes Bein zwischen die seinen, er verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. »Ach du meine Güte, Mr. Pritchard!« rief sie erschrocken. »Verzeihung!« -4 5 -
Aber die Tür war aufgegangen, und zwei Männer wankten heraus, lachend und laut. Zwischen ihnen, die Arme um ihre Hüften gelegt, tanzte ein Mädchen. Die Arme der Männer lagen schwer auf ihren Schultern. Julie warf einen schnellen Blick an den Männern vorbei ins Zimmer. Eine gepreßte Kakophonie von Tönen, grelles Licht, verwirrendes Gemisch von Düften und der Eindruck einer dröhnenden Dampfpfeifenorgel - dies alles in dem überfüllten Raum. Hier - hier fand die Party statt. Julies Gesicht spiegelte Interesse, und sie wartete, während Pritchard sich fluchend aufraffte. Ein Mann stand an der Tür, mit geheimem Lächeln, als die beiden Halbbetrunkenen und das Mädchen, das Julie kaum wahrnahm, hinaustorkelten. Der Mann trug einen unauffälligen grauen Anzug, schwarze Schuhe, weißes Hemd und Strickkrawatte - die Uniform, die sich in oberen Beamtenkreisen durchgesetzt hatte. Julie sah ihm interessiert ins Gesicht - und Carver reagierte wie bei einem Starkstromstoß... Chris Mellor! Selbst ein Nicht-Eidetiker hätte dieses breite Gesicht mit den schwarzen Brauen, dem liebenswürdigen Lächeln und dem kräftigen Kinn kaum vergessen können. Chris Mellor, aus der Zeit, als Carver gewesen war, was Mellor immer noch zu sein schien. Unfaßbar! Er hatte Mellor längst für tot gehalten... Pritchard packte Julies Arm so fest, daß sie leise aufschrie, und zerrte sie wütend fort von der schwarzen Tür und den Geheimnissen, die sie verbarg. Herumgerissen, weggezerrt, konnte Julie nicht vermeiden, daß sie das Mädchen zwischen den beiden halbbetrunkenen Männern direkt ansah. Ihre Reaktion bedeutete Carver nichts. Er vergaß, daß er RID-Prüfer war.
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Er vergaß, daß nicht er selbst in diesem weich ausgelegten Korridor stand, während im Hintergrund donnernd eine Orgie abrollte. Er wollte vorspringen, die Fäuste in die Gesichter dieser ekelhaften Männer sausen lassen. Er wollte das Mädchen mit dem glatten, blonden Haarhelm in seine Arme nehmen, sie fortbringen, sie schützen vor dem Entsetzlichen, das ihr hier angetan wurde. Er konnte nichts tun, als weiter zusehen. Wendy! Wendy - seine Wendy - seine eigene Tochter - hier!
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5 Eine Meile weit erwärmten die Konvektionsströmungen das Meerwasser, verwandelten den Küstengürtel in ein Palmenund Sandstrand-Paradies zum Faulenzen, Schwimmen und Wellenreiten. Von der Sechzigmeter-Höhe der künstlichen, der Bucht von Neapel nachempfundenen Klippen wirkten Wellen und goldener Strand wie Spielzeugprojektionen auf einen Bildschirm. Carol Burnham streckte sich wohlig. Das Formfit paßte sich jeder Bewegung an. Die sanfte Brise fächelte von der Bucht herein, und der ferne Horizont lag als Geflimmer aus Aquamarin, Chrysopras und Malachit am träumenden Pazifik. Ralph Tzombes schwarzes Gesicht strahlte freundlich vom Nachbar-Formfit. Sein Körper war noch naß vom morgendlichen Schwimmen. Träge schaltete er das Fernsehgerät ein, und sie legten sich beide zurück, um die Nachrichten zu hören. Die wichtigste Nachricht, die von den Globusreitern, veranlaßte Carol, die Stirn zu runzeln. Mit einer heftigen Bewegung strich sie sich das Haar aus dem Gesicht. Alle anderen Meldungen hätten sich auf heute, gestern und morgen beziehen können. »Ich möchte wirklich wissen, warum uns Whitcliffe heute hierhergebracht hat«, sagte Ralph. »Doch nicht, um uns nach der Party auszunüchtern...« Er verstummte und lachte ironisch. »Er hat seine eigenen Gründe, Ralph. Er ist ein Mann, der tut, was er sich vorgenommen hat.« »Verstehe schon. Diese Villa auf den Klippen eines PseudoSorrent, zum Beispiel. In sechs Monaten hat er sie durchgesetzt. Aber das war nur eine Lappalie für ihn, eine Kleinigkeit, die ihm zwischen Kaffee und Zigarette einfiel, während er den Dienstplan der Polizei umplante und die Zukunft von RID-A regelte. Er arbeitet gleichzeitig auf mehreren Ebenen.«
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»Sehen Sie - da oben!« Carol richtete sich halb auf und zeigte zum Zenit. Lautlos tauchte hoch über dem Pazifik ein Punkt auf, sank langsam - bei 3,5 Mach langsam - zu ihnen und der schimmernden Stadt dahinter herab. »Wenn man genau hinsieht -« »Ich weiß. Passen Sie auf.« Wie beim vorüberzuckenden flüssigen Zwischenspiel der Farben, wenn eine Seifenblase platzt, wie das blasse Flimmern eines Reißverschlusses am Himmel blitzte es dort oben auf und erlosch. »Herrlich! Man kommt sich begnadet vor, wenn man das sehen darf!« hauchte Carol. Das Flugzeug schwebte über ihnen vorbei und sank tiefer. »Ich möchte wissen, wo es herkommt«, meinte Carol. »Wissen Sie es, Ralph?« »Was?« Tzombe sah sie erstaunt an. »Was haben Sie gesagt? Wo es herkommt? Nein - keine Ahnung. Gibt es hier nicht einen Flugplan? Ich glaube, Whitcliffe hat einen. Soviel ich weiß, ist er tatsächlich schon einmal irgendwohin geflogen. Woher das Flugzeug kommen könnte? Ich glaube, Japan liegt in dieser Richtung - westlich - ich bin fast sicher, daß es Japan ist, es kann aber auch Afrika sein. Die anderen Kontinente und Inseln verwechsle ich immer wieder.« »Japan«, sagte Carol und fröstelte. »Soll ich die Infrarotstrahler weiter aufdrehen?« »Nein, danke, Ralph. Aber der Gedanke hinauszufliegen, Sie verstehen - außerhalb des Schilds - macht mich ganz krank. Ein schlimmes Gefühl.« »Lob und Dank dem Schild«, sagte Tzombe automatisch. Er lächelte. »Ich wette, daß die Leute da oben die reinsten Nervenbündel sind.« »Ich habe gehört, daß in Maschinen, die außerhalb des Schilds fliegen, mehr Beruhigungsmittel gebraucht werden als Treibstoff.« -4 9 -
»Durchaus möglich.« Tzombe stand auf. »Hier kommt Whitcliffe.« Im grellen Sonnenlicht schwebten die Möwen über dem Meer, kreischten sterbende Lieder und warfen ihre Schatten auf die bernsteinfarbenen Klippen. »Guten Morgen, Doktor Burnham. Guten Morgen, Doktor Tzombe.« Whitcliffe stand in lockerer Haltung vor ihnen, ohne zu lächeln, kühl und entspannt in Weiß, Sandalen an den Füßen, Tabakasche auf einem Revers, das strohblonde Haar verwirrt. »Guten Morgen, Whitcliffe« sagten sie gemeinsam. Nichts, wonach ein gewöhnlicher Mensch seine äußere Erscheinung gegenüber den Mitmenschen beurteilt, hatte je Einfluß auf Whitcliffes Vorstellung von sich selbst gehabt. Er sah gewöhnlich aus. Wenn er nur, sagte sich Carol Burnham, wie jedesmal, wenn Whitcliffe sie mit diesem leeren Blick ansah, wenn er nur ein hervorstechendes Merkmal besäße, das bewiese, wie sehr er sich von allen anderen Menschen unterschied, ein aufblitzendes Zeichen, das die glühende Lava in dieser schlichten Hülle erkennen ließe! Es war nicht nötig, das wußte sie. Jene Männer und Frauen, die Whitcliffe nicht kannten, mochten ihn als unbedeutend, unwichtig einschätzen, als einen dem Materialismus verfallenen Menschen. Darauf kam es nicht an. Die Leute, die ihn kannten, die wußten, wer und was er war, die den versengenden Atem seines Ehrgeizes gespürt hatten, brauchten weder das kantige Kinn noch den stählernen Blick, noch die anderen Affektiertheiten eines TV-Genies. »Ich hoffe, daß Sie sich beide wohlfühlen«, sagte Whitcliffe leise. Carol hatte ihn noch nie die Stimme erheben hören. »Sehr liebenswürdig von Ihnen, uns hierherzubringen, Sir«, sagte Tzombe. »Wir haben eben die Aussicht bewundert.« »Ah ja. Die Aussicht.« Whitcliffe sprach leise, sanft, mit der Lässigkeit und Ruhe eines weisen, alten Mannes, umgeben von
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ehrwürdigen Mauern, den Ledereinbänden geliebter Bücher und dem schlichten Leben eines Mannes ohne Wünsche. Carol hätte dieser Gedanke beinahe zum Lachen gebracht. Whitcliffe ohne Wünsche...? »Die Feier gestern abend verlief sehr nett.« Whitcliffe ließ sich auf einem Formfit nieder. »Ich wollte Ihnen mitteilen, daß die Arbeit nicht schnell genug vorangeht. Ich brauche innerhalb von vierzehn Tagen positive Ergebnisse.« Die Worte trafen sie wie ein Keulenschlag. Carol spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. »Aber«, stammelte sie. »Aber - wir haben uns doch so bemüht und wir wissen, daß wir mindestens ein Jahr brauchen...« »Zwei Wochen, Doktor Burnham.« »Wir könnten es schaffen, wenn wir annähmen, daß der Erfolg feststeht.« Tzombe stand auf und ging auf dem blütenüberströmten Balkon über dem schwellenden Meer hin und her. »Wenn wir behaupten würden, was wir tun, sei richtig, wenn wir in dieser Richtung weitergingen -« »Deshalb habe ich Sie hergebeten.« Whitcliffe ließ den Kopf zurücksinken und starrte zum Himmel hinauf. Carol hatte das merkwürdige Gefühl, daß er den Schild dort oben tatsächlich sehen konnte. Behutsam und tastend sagte Carol: »Es sieht so aus: RID funktioniert. Es ist ein wertvolles Werkzeug in den Händen der Polizei, leidet aber unter einem schwerwiegenden Nachteil. Die Anwendung muß unmittelbar nach dem Tod eines Opfers erfolgen, wenn der Prüfer ein zusammenhängendes Bild von den letzten Augenblicken des Opfers gewinnen soll. Je länger der Zeitraum zwischen Tod und RID, desto schwieriger werden Kontakt und Ausforschung. Die unteren Tiefen der Erinnerung werden unzugänglich, da die Zellen durch den Sauerstoffmangel absterben.« Ralph Tzombe sprach weiter, als trage er einen eingeübten Text vor: »Um diesem Problem zu begegnen, werden die RIDPrüfer mit größter Hast zum T-Punkt Null gebracht. Der -5 1 -
Todesorter in der Zentrale kann den T-Punkt Null für uns bestimmen; unsere Aufgabe ist es, den Prüfer und das Minimum an Geräten mit der geringstmöglichen Verzögerung an diese Stelle zu schaffen.« »Aber jetzt stelle ich Ihnen die Aufgabe, die Reihenfolge umzukehren«, sagte Whitcliffe träge. »Sie versuchen, das Fehlen eines Prüfers und der RID-Maschinerie am T-Punkt Null auszugleichen. Sie werden ein Gerät herstellen, das in der Lage ist, das tote Gehirn abzutasten und aufzuzeichnen, was die RID-Anlage dem Prüfer später preisgibt. Und Sie werden dieses Gerät in eine so handliche Form bringen, daß es in der Tasche getragen werden kann, während die Spürsonden durch Ihr Gerät direkt zum Magnetband führen. Sie werden es schaffen.« Whitcliffe hatte seine Stimme nicht erhoben, aber die Worte hallten wie ein scharfer Befehl über einen riesigen Kasernenhof. Tzombe blieb stehen und richtete sich auf. »Wir werden es schaffen, Whitcliffe.« »Gut. Ich bin überzeugt davon.« Whitcliffe wurde mit ›Sir‹ oder ›Whitcliffe‹ angesprochen - nie anders. Niemand kannte seinen Vornamen. Darauf kam es nicht an. Whitcliffe war Whitcliffe, das war entscheidend. In einer Gesellschaft, die, wie Carol undeutlich erkannte, irgendwo auf dem Weg der Evolution abgeirrt sein mußte, kannte sie keinen Menschen, der gelassener war, der mehr im Einklang mit Zeit und Raum außerhalb des Kontinents stand als Whitcliffe. In einer Welt von Sumos und Schlitzern, von UnPersönlichkeiten, vom Kult der inneren Einkehr, von der Realisierung materiellen Reichtums, nach dem die vergangenen Jahrhunderte vergebens gelechzt hatten, in einer Welt, die absolute Sicherheit des Besitzes bot, waren ihre Freunde Persönlichkeiten, unter denen sie sich verstört bewegte, ahnend, daß sie anderes erstrebten als sie selbst. ›Anpassung‹ war früher das Schlagwort gewesen - im College auf den Durchschnitt zielen und weder die unpopuläre Genie-5 2 -
Ebene erstreben noch zu den verächtlichen Schwachköpfen zählen, die das Land vor den Augen der Welt im Stich ließen. Aber dann war die Welt außerhalb des Schilds verschwunden und spielte keine Rolle mehr. Sich anzupassen wurde langweilig, eine Affektiertheit mehr, die schon von Lederjacken, ›Oben-ohne‹-Kleidern und dem berauschenden Gesang eines Motorradauspuffs zerstört wurde. Auf einem Kontinent, wo Gummi, Benzin, Filetsteaks und Eiscreme zu Millionen Tonnen in den bakteriologischen Bottichen einer Riesenindustrie hergestellt werden konnten, gab es weder für den Konformisten noch für den Rebellen einen Platz. Man brauchte sich um des täglichen Brotes willen nicht mehr anzupassen. Man brauchte sich gegen die lastende Hand der Konformität nicht mehr aufzulehnen. Der Schutzschild - Preis und Ehre dem Schild - und eine automatisierte Industrie, die aus Bakterien und Viren herstellen konnte, was immer man verlangte und was die Leute aus Kunststoff, Stahl und Glas nicht zustande brachten, diese hohen Götter des modernen Lebens verhinderten, daß man sich Sorgen machen mußte. In allem, bis auf das letzte und unergründlichste aller Geheimnisse, wurde für den Menschen gesorgt. Der Tod war jedem auf den Fersen, das stand fest, aber wenigstens konnte er nun nicht mehr mit quietschenden Reifen auf glatter Straße zugreifen, oder den Körper mit einer heimtückischen Krankheit überfallen - auch nicht zupacken in den vier oder zehn Sekunden, in denen man weiß, daß der Atompilz gleich den Tod bringt. Carol hatte sich oft gefragt, wie es die Menschen in der Zeit vor dem Schild - in der dunklen, verlassenen, verzweifelten Zeit über sich gebracht hatten, Pilze zu essen. Ralph Tzombe trat an sie heran. »Wir wissen, daß es möglich ist, und wir haben die Pflicht, es in zwei Wochen zu schaffen. Gut. Wir werden es schaffen.« »O ja«, sagte Carol. »Wir schaffen es.« »Unterrichten Sie Harvey von Ihrem Beschluß und ermächtigen Sie ihn, anzufordern, was noch benötigt wird«, sagte Whitcliffe. -5 3 -
Harvey war der technische Direktor, den Wissenschaftlern verbunden und doch ihr Gegner, ein williges Werkzeug, das eigenen Willen besaß. »Das Gebäude für Forensische Wissenschaft in der Stadt ist so gut ausgerüstet wie nur irgendein Labor in Amerika. Wenn Sie etwas brauchen, müssen Sie sich nur melden.« Carol nickte dankend, aber ihr war vor allem ein Wort Whitcliffes aufgefallen, ein Wort, das, wie sie vermutete, nur er zusammen mit wenigen anderen verwendete, ein Wort, das so überholt und einst so gebräuchlich gewesen war, daß es sich in ein Schattenwort verwandelt hatte, nie gebraucht, doch stets gegenwärtig. Amerika. Whitcliffe gebrauchte es. Aber - Whitcliffe war eben Whitcliffe. Alle anderen, die Carol kannte, nannten das Land den Kontinent, das Land, die Staaten oder sogar - die Welt. Amerika. Aber nur sie besaßen den Schild - großer und ruhmvoller Schild, dem ewige Dankbarkeit galt - und alles außerhalb war weniger als nichts. Es gab ein Außerhalb. Carol wußte es sehr wohl. Hatte sie nicht erst heute früh ein Flugzeug von irgendwoher, von Japan oder Afrika oder sonstwo, heranfliegen sehen? Whitcliffe drückte eine Reihe von Knöpfen an der Steuerkonsole seines Formfits, und ein Schreibtisch glitt auf Magnethaftern heran und blieb vor ihm stehen. Sein Formfit zog sich zusammen, neigte sich und verwandelte sich in einen bequemen Bürosessel. Er griff nach einem Bericht auf gelbem Papier. »Hören Sie«, sagte er ruhig. »Gestern nacht gab es in der Stadt fünfzig Morde. Fünfzig. Im Vorjahr waren es zur gleichen Zeit dreißig. Im Jahr davor zwanzig. Der Trend geht weiter nach oben. Wir brauchen die Aufzeichner binnen einer Woche nach Abschluß Ihrer Forschungsarbeiten zum Einsatz.« Tzombe räusperte sich. »Wir können nahezu hundert Prozent Verhaftungen in Fällen nachweisen, wo der Prüfer den Mörder tatsächlich sieht. Und -5 4 -
selbst wenn er ihn nicht sieht, reichen die aus der Erinnerung des Opfers gewonnenen Hinweise in achtundneunzig Prozent der Fälle aus, um der Polizei die Festnahme des wahren Mörders zu ermöglichen.« »Und?« »Ich meine nur, daß das keine Auswirkung auf die Tatziffern, auf das Mordsyndrom zu haben scheint. Angenommen, die Öffentlichkeit würde von der Existenz von RID-A unterrichtet werden -« »Nein!« sagte Carol automatisch. »Lassen Sie ihn ausreden, Doktor Burnham.« »Wir haben RID geheimgehalten, weil wir Zeit brauchten, um die Wirksamkeit der Methode zu beweisen«, fuhr Ralph Tzombe fort. »Als wir anfingen, gab es Leute genug, die einen glatten Mißerfolg voraussagten. Aber heute - wenn jemand wüßte, daß ihn die Polizei durch die Augen des Opfers betrachten und identifizieren kann, würde er doch wohl zögern, zur Besinnung kommen, nicht morden. Die Statistik würde eine Kurve zeigen, wie wir sie uns wünschen.« »Früher glaubte man einmal, daß es keine Verbrechen mehr geben würde, wenn ein Krimineller wüßte, daß seine Fingerabdrücke am Tatort gesichert und identifiziert werden können. Was geschah?« »Handschuhe.« »Und dann?« »Erkennungsmuster von Handschuhstoffen - gefolgt von Vernichtung von Handschuhen, gefolgt von Aschenanalyse, gefolgt von totaler und geheimer Zerstörung, gefolgt von Schweißanalyse, Atemanalyse, Gestalt- und Maßanalyse - und allem übrigen.« »Aber?« »Aber Fingerabdrücke und die darauf folgenden Erweiterungen der Spurensicherungsmethoden können vom professionellen Verbrecher und dem geplanten Verbrechen neutralisiert werden.« -5 5 -
»Und?« »Gut«, meinte Ralph verzweifelt, »wir hätten wohl den vorgeplanten Mord, bei dem der Täter sich verkleidet und eine Maske trägt, aber bei allen anderen, Wut, Eifersucht, plötzliche Reaktion, wo man aufwacht, das blutige Messer und die Leiche vor sich - in solchen Fällen würden wir doch immer sehen können, wer die Tat begangen hat.« »Genau. In solchen Fällen konnten aber die Detektive von früher den Täter meistens auch entdecken. In dem einen Fall des vorausgeplanten Mordes ist der Wert von RID aber so überragend, daß wir es nicht wagen können, die Öffentlichkeit zu informieren.« »Ich glaube, daß wir einige potentielle Mörder abschrecken könnten«, meinte Carol. »Die überwältigende Mehrheit derer jedoch, die einen Mord vorhaben, würde Mittel finden, sich der RID-Technik zu entziehen, und unser Mißerfolg wäre größer als zuvor.« Tzombe ließ sich auf sein Formfit sinken. »Sie haben natürlich recht. Aber der Gedanke verspricht so viel... Was mich ärgert, ist, warum die Menschen töten wollen! Wir haben es noch nie so gut gehabt wie jetzt; alles, was das Herz begehrt, steht auf dem Kontinent zur Verfügung, und es gibt überhaupt keine Probleme mehr -« »Sie sind eine zu gesicherte Persönlichkeit, ein zu ausgeglichener Mensch, Doktor Tzombe, um die Begierden verstehen zu können, die in Ihren Mitbürgern gären. Der Schild, synthetische Herstellung von Grundnahrungsmitteln und Treibstoffen, lächerliche Preise für Kleidung, Wohnung, Transport und Luxus - all das kann verblassen, wenn das Mädchen, für das Sie sich interessieren, Sie auslacht und sich von einem anderen Mann umarmen läßt. Dann sehen Sie rot, Doktor Tzombe - und was dann passieren kann, haben Sie eben selbst beschrieben.« »Ich weiß, ich weiß«, sagte Tzombe, »aber ich meine die anderen Morde - den sinnlosen Tod von geachteten Männern und Frauen auf den Straßen, den Boulevards, am Strand, -5 6 -
irgendwo und überall. Sie stempeln unsere Lebensweise zum Un-Sinn.« »Ich habe mich einmal mit Archie Smythe-Potts unterhalten«, sagte Carol ernsthaft. »Er erzählte mir, er habe einmal einen Todesfall prüfen müssen, bei dem es sich nur um Selbstmord handeln konnte. Alles deutete auf Selbstmord hin, aber die Prüfmannschaft mußte Gewißheit haben. Archie sagte, dieses Erlebnis sei sehr unangenehm gewesen - schlimmer als die übliche Qual, ein Prüfer zu sein, meine ich. Der Mann wollte Selbstmord begehen und hatte doch entsetzliche Angst davor.« »Ich erinnere mich«, sagte Whitcliffe. »Erzählen Sie weiter, damit es Doktor Tzombe ebenfalls hört.« »Archie ist ein hervorragender Prüfer. Er sagte nüchtern, das Opfer habe die Schußwaffe ergriffen, und dann habe sich, irgendwie ganz außerhalb aller normaler Erfahrung, in einem Para-Zeit-Wechsel, die Waffe in der Hand eines brutal aussehenden, dekadenten Mannes befunden, der vor dem Opfer stand, mit der Waffe auf seinen Kopf zielte und abdrückte. Der Schuß löste sich, das Opfer stürzte zu Boden, und Archie kehrte in das Luf zurück.« Tzombe beugte sich vor, eine steile Falte zwischen den Brauen. »Das Opfer starb in der festen Überzeugung, ermordet worden zu sein. Aber Archie wußte, daß das nicht stimmen konnte - die Polizei bezeichnete einen Mord als ausgeschlossen Selbstmord war die einzige Antwort. Archie hätte sie als glatte Versager bezeichnen müssen, denn hatte er nicht den Tod des Opfers durch die Hand eines Fremden miterlebt?« »Ah ja, aber dieser Fremde -«, sagte Whitcliffe. »Ja. Archie sagte, der Mörder sei eine Phantomprojektion des Opfers selbst gewesen. Er hatte nicht den Mut besessen, Selbstmord zu begehen und das zu wissen, - also erfand sein Gehirn jemanden, der es für ihn übernahm. Und dieser Jemand war eine verzerrte Karikatur seiner selbst. Archie war seiner Sache ganz sicher. Der Mann erzeugte ein imaginäres Abbild seiner selbst - und drückte ab.« -5 7 -
»Ich weiß, was Sie meinen, Carol, aber für mein Gefühl sind Sie auf dem falschen Weg. Alle diese sinnlosen Morde können keine Selbsttötungen sein. Was die Prüfer mitteilen, ist zu eindeutig. O gewiß, ich gebe zu, daß nicht jeder Prüfer so tüchtig ist wie Archie. Aber selbst ein Anfänger könnte die Phantasieprojektion eines Selbstmörders erkennen.« »Das finde ich auch«, gab Carol zu. »Die Berichte und Beschreibungen sind so eindeutig, daß wir die Verhaftungen ja auch vornehmen und klare Urteile erzielen.« »Es wäre ein vernichtender Schlag für uns«, sagte Whitcliffe, »wenn wir entdecken müßten, daß wir Unschuldige verurteilt haben -« Das war schon seit Einführung von RID ein wunder Punkt. »Wir müssen an unsere Prüfer glauben«, sagte Carol leidenschaftlich. »Und wir glauben an sie! Wenn sie versagen, wenn sie korrupt sind, wenn sie Nachlässigkeit zeigen - ja, dann - dann -« »Dann könnten wir unsere teuren Anlagen einpacken und nach Hause gehen«, führte Whitcliffe den Gedanken für sie alle zu Ende. Das Tischtelefon läutete, und Whitcliffe meldete sich. Es war nicht der Geheimapparat, so daß Carol und Tzombe mithören konnten. »Verstehe. Ja, sehr unangenehm. Offenbar hat es nicht genügt, daß ein Kopf rollen mußte. Um den Fehler auszugleichen, ist ein zweiter erforderlich. Ja. Ich sagte ›Ja‹.« Whitcliffe sprach wie immer, und die beiden anderen sahen aufs Meer hinaus. »Schluß«, sagte Whitcliffe schließlich. »Endgültig. Adieu.« Er legte auf. »Entschuldigen Sie. Das bringt mir nur wieder in Erinnerung, daß uns die Arbeit nie freigibt.« »Uns«, sagte Tzombe, als er aufstand und sich nach seinem Handtuch umsah. »Sonst gilt das aber kaum für jemanden.« Carol lachte.
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»Das ist der Preis, den wir dafür bezahlen, daß wir zu RID-A gehören. Ich möchte nichts anderes mehr sein, und Sie auch nicht, Ralph.« »Sehr wahr.« Carol mußte plötzlich an Alec Durlston denken. Durch die neue Anweisung Whitcliffes war sie mit einer idealen Ausrede versorgt. Ihr Verstand rettete sich dankbar in diese Zuflucht, aber ihr Körper - ihr eigenwilliger, sehnsuchtsvoller Körper reagierte enttäuscht. Zum Teufel mit Alec! Als sie sich auf den Weg zu ihrem Luf machten, um in die Stadt zurückzukehren, sagte Whitcliffe noch einmal: »In vierzehn Tagen. Ich bleibe in enger Verbindung.« Kurz bevor die Turbinen ansprangen und derartige Laute ertränkten, tönte ein Möwenschrei hell über das Wasser.
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6 »Name?« »Robin Carver.« »Wo geboren?« »Brenchley, Kent.« »Wann?« »Sechsundzwanzigster August neunundachtzig.« »Wann haben Sie sich das letztemal rasiert?« »Heute morgen nach dem Frühstück.« »Wann haben Sie sich zuletzt nach einem Mann gesehnt?« »Tut mir leid, Cy, das war bei mir noch nie der Fall. Ich bin heterosexuell, zum Glück. Ich bin ein Mann, fühle wie ein Mann, handle wie ein Mann. Daran konnte die arme Julie Farish nichts ändern.« Ich denke noch nicht an Wendy - noch nicht - nicht, bis ich dieses Fahrzeug verlassen und ein Versteck finden kann, in dem ich Gelegenheit habe, mir das Gehirn zu zermartern, zu zermartern - ruhig - Mann - ruhig... »Sie sehen aus, als hätten Sie etwas Unrechtes gegessen, Cy. Ich dachte, Psychiater lächeln immer?« »Sie sind Sie selbst, Robin, in Ordnung. Aber - irgendwo stimmt hier etwas nicht. Es ist deutlich zu spüren. Wenn ich Sie nicht besser kennen würde, müßte ich sagen, Sie geben sich alle Mühe, sich selbst zu zerstören - und wenn es zutrifft, daß Sie ein traumatisches Erlebnis hinter sich haben - trifft es zu?« »Ich - nein, natürlich nicht, Cy! Ich bin nur nicht gerne im Gehirn eines schönen jungen Mädchens, das gerade seine armseligen Berufskünste ins Spiel bringen will, um dann auf brutale Weise mit dem eigenen Nylonstrumpf erdrosselt zu werden. Ist das so merkwürdig?« »Nicht merkwürdig. Ganz natürlich für einen gewöhnlichen Menschen - aber Sie sind kein gewöhnlicher Mensch, Robin. -6 0 -
Sie sind RID-Prüfer, also ein abnormes Wesen - in höchst positivem Sinn, versteht sich.« »Versteht sich.« »Ich habe nur die Aufgabe, sicherzustellen, daß Sie wissen, wer Sie sind, wenn Sie von Ihren Ausflügen zurückkommen. Sie sind in Ordnung. Also - gehen Sie hinüber und erstatten Sie Bericht. Soames wartet.« Die Liege daneben war leer, das Kunststoffpaket verschwunden. Marjie war tüchtig gewesen. Auch Julie Farish hatte man fortgeschafft, und Carver spürte maßlose Erleichterung. Er stand auf, reckte sich auffällig, um Cy Adams zu beruhigen, und ging durch den Harmonikagang in das Nachbarluf. Alle hoben mit dem gleichen erwartungsvollen, neugierigen, beinahe ehrfürchtigen Ausdruck die Köpfe. Alle - bis auf Alec Durlston, der neben der Tür saß und in einen 3 D-Projektor vertieft war. Weg mit den Gedanken an Durlston. Jetzt gab es Wichtigeres zu bedenken. »Setzen Sie sich, Robin«, sagte Soames. »Haben Sie ihn erwischt?« Carver setzte sich still auf den Sessel vor der Staffelei mit dem makellos weißen Papier. »Das erste ist, daß ich nicht genau weiß, wo sie das Bewußtsein verloren hat, Bob. Sie wurde von einem geschlossenen Luf abgeholt und konnte den Weg nicht verfolgen.« »Schade. Wir sind knapp unter vier Minuten am T-Punkt Null angekommen, aber der Ort, wo sie starb, war nicht der, wo sie das Bewußtsein verloren hat, würde ich sagen.« »Sie ist in einem Schlafzimmer überfallen worden. Gestorben ist sie aber am T-Punkt Null, wo wir sie gefunden haben, auf der Straße.« »Der Todesorter zeigte keine sichtbare Ortsveränderung an«, sagte Charlie Rawlinson und stand auf. »Wir müssen der zuständigen Polizeidienststelle genauere Angaben machen. -6 1 -
Dann packe ich ein, und wir können zur Zentrale zurückfahren. Ich brauche ein dickes Schinkenbrot und eine Tasse Kaffee.« »Nun, Robin?« Soames tippte bedeutungsvoll mit dem Schreibstift auf das Berichtsformular. »Nein.« »Nein?« brauste Soames auf. »Verdammt noch mal! Ein Mädchen kann doch nicht mit einem Mann im Bett liegen und sich von ihm erdrosseln lassen, ohne ihn zu sehen - war es dunkel?« »Nein, Bob. Aber sie nannte den Mann Roger. Nachdem sie hineingeführt worden war, nachdem sie gesehen hatte nachdem-« Soames starrte ihn an. »Ja, Robin? Weiter.« Carver schluckte. »Sie tat bei einem Mann namens Roger ihre Pflicht. Er war aber nicht der Mann, der sie ermordet hat. Hier.« Er begann zu zeichnen, hastig, beinahe wie vom Fieber geschüttelt. »Das war Roger. Er verließ das Zimmer wieder, und die Tür wurde geschlossen. Sie ging wieder auf, und Julie dachte, er käme zurück. Ich merkte aber, daß er es nicht war - Sie verstehen: Gang, Atemzüge, subtile Details, die zu erfassen man uns beigebracht hat. Sie sah ihn nicht an, dann legte sich der Strumpf um ihren Hals, und -« »Wir fangen mit diesem Roger an«, brummte Soames. »Als Ausgangspunkt ist er zu gebrauchen. Sonst noch etwas?« »Ich gehe alle Leute durch, die sie in der Zeit vor dem Beginn der entscheidenden Phase gesehen hat.« Carver begann das Porträt Rogers, der ganz Lächeln und Flüstern und gieriger suchender Mund gewesen war, farbig auszugestalten. Arme Julie! Gleichzeitig ging er alle Männer durch, denen Julie in der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft mit Robin Carver begegnet war. Bekanntschaft - nein, sie war ja tot gewesen, als er sie zum erstenmal gesehen hatte...
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Schließlich schaute er zu Soames hinüber und gab h i m das Porträt. »Das ist Roger. Ich bin alle anderen durchgegangen. Der Mörder Julies gehörte nicht zu den Menschen, denen sie in der von mir geprüften Zeit begegnet ist.« Soames seufzte. Er nahm das Bild, gab es der Ordonnanz zur Übermittlung und starrte Carver wieder an. »Erzählen Sie. Alles.« Carver berichtete. Nicht von Wendy - nicht von Wendy... »Dieser Pritchard holte die Mädchen der Reihe nach ab. Julie war die letzte. Sie verließ das Wartezimmer, betrat ein Schlafzimmer im Haremsstil und wurde dort umgebracht.« »Nein«, sagte Soames und knallte seinen Stift auf den Schreibtisch. »Es paßt einfach nicht zusammen. Die Party, die Sie da beschrieben haben. Zu solchen Anlässen läßt man sich doch keine Freudenmädchen kommen.« »Möglich wäre es, Bob. Sie kennen die Verdrängungen dieser Leute. An der Oberfläche steif und bieder, darunter wahre Lustvulkane. So ließe es sich begreifen.« »Klar. Dieser Roger wollte sich amüsieren, also geht er zu einer Party. Ja?« »Möglich, Bob.« Carver befeuchtete die Lippen. Er hatte einen Fehler gemacht, als er die ebenholzschwarze Tür mit dem silbernen Löwen verschwieg. Hatte er das? War es falsch gewesen, nichts von der dahinter stattfindenden Orgie zu erzählen? Die beiden Männer - und Chris Mellor zu unterschlagen? Von Chris konnte er, um der alten Zeit willen, nichts sagen. Ein Agent erzählt nichts von einem anderen, auch nicht beiläufig, auch nicht im Dienst, wie hier. Aber er war natürlich kein Geheimagent mehr. Sie hatten ihn hinausgeworfen. Labil. So hatten sie gesagt. Labil. Nicht mehr geeignet, Agent des Geheimdienstes in Amerika zu sein. Verflucht unfair damals, es schmerzte immer noch. Aber Chris arbeitete vielleicht noch für Amerika, und wenn es so war, -6 3 -
würde ein heruntergekommener Ex-Agent wie Robin Carver von seiner Existenz außerhalb des Geheimdienstes nichts verraten. Seine gefälschte Vergangenheit hatte stets standgehalten, auch der strengen Prüfung durch RID-A. Das Amt hatte ihn dabei nicht im Stich gelassen. Dort wußte man besser als woanders, daß ein Geheimdienstler leben muß, nachdem er geschaßt worden ist. »Hier ist etwas faul, Robin.« Soames starrte sein Berichtsformular an. »Irgend etwas stimmt nicht.« Er hatte Trost und eine Art relativen Friedens bei seinen RIDKameraden gefunden, vor allem bei den Leuten von Luf 3 wenn man Alec Durlston ausnahm -, und ihnen das antun zu müssen, schmerzte ihn. Aber das andere, von Chris Mellor und Wendy zu berichten, hätte ihn nicht nur geschmerzt, sondern völlig vernichtet. Er mußte hier weg und sich überlegen, was er unternehmen sollte. Der Tod Julie Farishs gehörte zu seinem Pflichtenbereich, zu dem, worauf er einen ernsten Eid geschworen und was er bislang für das Allerwichtigste gehalten hatte - aber das hatte mit seiner Tochter nichts zu tun. Keine Überlegung war erforderlich, um ihm klar zu zeigen, daß Wendy wichtiger war als alle Pflicht, jeder Eid, alle seelische Stabilität, die er sich erhofft hatte. »Nun, Robin? Worum geht es hier? Was für ein großes Geheimnis steckt dahinter?« »Gar kein Geheimnis, Bob, abgesehen davon, daß ich nicht weiß, wer Julie Farish getötet hat. Dieser Roger holte sich, wonach ihn gelüstete, dann ging er. Die Tür öffnete sich wieder, eine andere Person kam herein und ermordete Julie. Sie dachte, es sei dieser Roger, aber ich versichere Ihnen, daß er es nicht war.« »Schildern Sie mit allen Einzelheiten, wen Sie gesehen haben zuerst alle Männer, gleichgültig, ob Sie der Meinung sind, daß sie die Tat nicht begangen haben können. Dann nehmen wir -6 4 -
die Frauen. Sie könnten den besten Hinweis bieten, aber ich muß unterstellen, daß Sie - äh - das heißt, Robin, wir müssen zuerst alle Männer abstreichen, die Sie vorher gesehen haben. Es sei denn, der Mann, der gewartet hatte, bis Roger und Julie fertig waren, um dann hineinzugehen, sie umzubringen und das Zimmer wieder zu verlassen, wäre in diesem Haus ein völlig Fremder gewesen. Im anderen Fall müßten wir einen Hinweis finden. Das Ganze ergäbe ja überhaupt keinen Sinn mehr, wenn er mit dem Haus nicht das geringste zu tun hatte.« Carver schüttelte den Kopf. »Ich weiß, daß es niemand war, den ich gesehen habe.« Soames beugte sich ein wenig vor und zog die Brauen zusammen. »Passen Sie auf, Robin. Ich mag Sie, aber ich muß das jetzt sagen. Seit Sie zurück sind, benehmen Sie sich etwas eigenartig. Ich habe den Eindruck, daß Sie den Mörder hätten entdecken müssen, wenn Sie beim Beginn der entscheidenden Phase eingehakt hätten. Da das nicht der Fall ist, bleibt mir nur die Annahme, daß Sie bei dieser Aufgabe versagt haben. Sie haben sich nicht genug Mühe gegeben -« »Einen Augenblick mal, Bob -« »Ich weiß, wie Ihnen das vorkommen muß, aber ich bin der für diese Mannschaft verantwortliche Beamte, und wir haben noch nie einen Bericht vorlegen müssen wie diesen. Mir gefällt das ganz und gar nicht. Wir haben aber keine andere Wahl, wenn Sie nicht noch etwas anderes zutage fördern - « »Nein.« Zorn, Scham, Demütigung, das bittere Wissen, daß er ihnen etwas verschwieg, seinen Freunden - alle diese Empfindungen durchzuckten Carver. Aber er konnte ihnen nicht von Wendy erzählen. Nein... »Vergessen Sie nicht, Bob, daß Carver müde war«, erklärte plötzlich Alec Durlston. »Er hatte eben einen Trip hinter sich gebracht, außerdem befand er sich in einem weiblichen Gehirn. Zwei entscheidende Faktoren, die eine unterdurchschnittliche -6 5 -
Leistung bedingen. Man hätte nie zulassen dürfen, daß er das macht, kein Wunder, daß er auf die Nase gefallen ist.« »Hören Sie mal, Durlston -« »Regen Sie sich ab, Robin!« Soames schlug mit der Faust auf den Tisch. »Gut, Alec. Wir alle wissen, wie gut Sie als Prüfer sind. Aber Robin hat den Trip nicht nur auf meinen Befehl, sondern auf Anweisung der Zentrale unternommen. Das Thema braucht nicht mehr diskutiert zu werden.« Durlston lächelte ironisch. »Es wird aber immer wieder auftauchen«, sagte er lässig. »Verlassen Sie sich darauf.« Und er hatte recht, dachte Carver gequält, er hatte recht, und wie er recht hatte! Wie genußreich wäre es doch, die Verknotungen in Durlstons Gehirn zu lösen, sie wie Spaghetti unter dem Skalpell auszubreiten und jene bösartigen Stränge zu entfernen, die ihn zu einem so abstoßenden Wesen machten. In fasziniertem Ekel konnte Carver nicht sagen, wie er reagieren würde, wenn er gezwungen wäre, die Spürsonden anzulegen und in das Gehirn eines toten Alec Durlston vorzustoßen. Rawlinson kam zurück, nickte Soames zu, und Carver spürte, wie das Luf sich erhob und davonzischte. Er fand seinen Klappsitz und ließ sich darauf nieder. Sie waren auf dem Rückweg zur Zentrale, zu Kaffee, belegten Broten und Mentholpastillen - und zu einem höchst unangenehmen Verhör. Er schloß die Augen und gab sich Mühe, nicht an Wendy zu denken. Er konnte es natürlich nicht vermeiden. Wenigstens vermochte er seine Gedanken von jenem entsetzlichen Augenblick zu lösen, als er sie zwischen zwei betrunkenen Kerlen hatte tanzen sehen; er konnte zurückkehren zu den goldenen Tagen ihrer Kindheit - die konkret schon so schmerzlich weit zurücklagen, in seiner Erinnerung aber noch so nah schienen. -6 6 -
Sie war immer von standhafter Unabhängigkeit gewesen, und er hatte sie liebevoll darin bestärkt. Damals, als sie mit drei Jahren zum Strand getrippelt und ins Meer gelaufen war, lachend und planschend, die Wassertropfen als silbrig-seidigen Schal um die Schultern - die Geschichten, die er für sie erfunden hatte, wenn er sie ins Bett brachte und die aufsteigende Qual darüber niederkämpfte, daß sie keine Mutter zum Trösten und Streicheln hatte... die alte Puppe mit schütterem Blondhaar, von der sie sich nicht trennen wollte, die sie an einem Arm oder einem Bein hinter sich herzerrte, mit der sie raufte, die sie aber nie aus den Augen ließ... Sie war ein wunderbares Kind gewesen, ein Lebensziel, das Mut und Kraft verlieh, ein Idol, dem er alles widmen konnte... Aber er hatte ihr auch Ohrfeigen geben müssen, innerlich zerrissen, wenn seine Hand rote Male auf ihrer weichen Haut hervorrief - schon ein leichter Streich zeichnete sie für Stunden... Aber sie war gerade und aufrecht, ein lachender Kobold im Sonnenschein... Und jetzt - dies... Er fühlte sich erschöpft und ausgelaugt, obwohl er die Nacht auf einem Stuhl sitzend oder auf der Liege ausgestreckt verbracht hatte. Die Lufs erreichten die Zentrale. Alles fragte sich, wann der nächste Einsatzbefehl kommen würde. Soames bewegte ruckhaft den Kopf, und Carver folgte ihm gehorsam durch die Innentüren, während die Mannschaft zur Kantine hinunterging. »Sie haben jetzt dienstfrei, Robin. Bill Hambling löst Alec ab, und dann sind Sie wieder an der Reihe. Ich habe mit Cy gesprochen. Er schlägt vor, daß Sie eine Schicht auslassen dürfen - ich weiß nicht, was der Chef zum Fall Farish sagen wird -« »Ich hätte sehr gerne einen freien Tag, Bob -« Soames sah ihn überrascht an. »Also gut. Ich erstatte meinen Bericht. Danach soll der Chef entscheiden. Vielleicht fällt Ihnen in der Zwischenzeit etwas ein.«
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Sie wußten beide, daß das sehr unwahrscheinlich war; ein eidetisches Gedächtnis lieferte alles oder nichts. Carver hatte Soames den vollständigen Bericht gegeben und brachte noch eine weitere Stunde damit zu, alle Männer zu zeichnen, die er während seiner Reise durch Julie Farishs Erinnerung gesehen hatte. Er wollte gerade mit den Frauen beginnen, als er bemerkte, daß er Chris Mellor gezeichnet hatte. Er zerknüllte das Blatt in seiner Hand und starrte es an, ohne begreifen zu können, wie er dazu gekommen war, den Agenten zu zeichnen. Er zerfetzte das Blatt, zündete es an und warf die Asche fort. Zum Glück war gerade kein zweiter Prüfer anwesend. Er zeichnete die Frauen fertig und ging zum Wachraum, wie ein Roboter durch die sterilen Korridore wandernd. Luf 3 war im Einsatz - man hatte im Swimmingpool eines Bankiers ein junges Mädchen ertrunken aufgefunden -, und Carver preßte die Lippen zusammen, als er sich vorstellte, wie Alec Durlston in das Gedächtnis des Mädchens eindringen mußte. Man konnte leicht große Worte machen, solange man nicht selbst einsteigen mußte. Er steckte die Zeichnungen in einen Umschlag und schickte sie mit der Rohrpost zum Chefbüro. Er gähnte. Sein Dienst war beendet. Er konnte nach Hause gehen und vierundzwanzig Stunden schlafen. Aber das war natürlich nur ein Wunschtraum - er hatte etwas vor. Die Vierzimmerwohnung in der mittleren Schicht der Mittelklasse-Etagen der Stadt, die er bei der Stadtverwaltung gemietet hatte, war ihm nie weniger heimelig erschienen als jetzt, nachdem Stimmuster und Daumenabdruck das Schloß geöffnet hatten. Einfaches, zweckbestimmtes Mobiliar, eine umfassende Bibliothek, ein Bad, eine an das Speisenversorgungssystem angeschlossene Küche, ein Schlafzimmer, das nur ein Schlafzimmer und nichts sonst war, all dies hatte er für geradezu ideal gehalten, als er bei RID-A eingetreten war. Jetzt wußte er besser Bescheid. Er aß Speck mit Rührei und Pfannkuchen, duschte und rasierte sich, wobei er sich fragte, warum er sich eigentlich die Mühe machte, wenn -6 8 -
er doch allein zu Bett gehen mußte, und legte sich zwei Stunden schlafen. Er wurde mit der Morgendämmerung wach, nahm eine Aufputschpille, trank zwei Tassen Tee, zog einen anthrazitfarbenen Anzug an und warf den gleichfarbigen von gestern in den Schlucker. Er hatte Anzüge dieser Farbe und weiße Hemden abonniert - dreihundertfünfundsechzig Stück im Jahr - und war nie auf den Gedanken gekommen, hier einmal zu variieren. Er schaute sich in der Wohnung um, warf einen Blick auf die Schublade, in der seine Pistole eingesperrt war, schüttelte den Kopf und schloß die Tür hinter sich. Mit einem Luf-Taxi erreichte er den Flughafen. Jawohl, Sir, erklärte der Abfertigungs-Roboter, ein Platz Hin- und Rückflug, Flug B 32, Savannah, direkt. Der Flug verlief normal. Savannah bestand aus dem Kontrollturm, einem Hotel, einigen Dienstleistungs-Anlagen und einem Taxistand. Carver stellte seine Uhr nicht auf Ortszeit um. Er gedachte nicht lange zu bleiben. Er nahm einen Hubschrauber mit menschlichem Piloten, ohne die Mehrkosten zu bedenken. Er brauchte jemanden, mit dem er sich unterhalten konnte, denn er hatte seine Gemütsruhe wiedergefunden. Alles würde sich aufklären. Wendy war seine Wendy und würde es bleiben. Sie schwebten in geringer Höhe südwärts. Der Atlantik erstreckte sich wie eine riesige, gerippte graue Decke ostwärts. Jenseits dieser brandenden Barriere lagen andere Nationen, andere Länder, wie Carver besser wußte als die meisten seiner Mitbürger, Länder, deren Geschichte, Wirtschaft und Sozialstruktur in den staatlichen Schulen nur oberflächlich behandelt wurde. Von der Küste aus erstreckte sich das Land bis zum Pazifik und der Stadt, unsichtbar jetzt, und darum seltsam lockend. Hier sah man Farmgebäude und kleine Industrieanlagen in der Landschaft verstreut. Weiter nördlich war die Zersplitterung der Industrie noch deutlicher zu erkennen. Pläne zur Dezentralisierung von Fabrikationskomplexen hatten -6 9 -
Jahrzehnte vor ihrer Verwirklichung in den Jahren vor Errichtung des Schilds existiert, des Schilds, dem Dank und Preis.... »Auf wen tippen Sie?« Die Worte des Piloten rissen Carver aus seiner Versunkenheit. »Bitte? Auf wen ich tippe?« »Ich schätze, daß Millendorf den Sieg in der Tasche hat. Darauf habe ich auch allerhand gewettet.« Der Hubschrauber knatterte weiter durch die klare Luft, während hundertfünfzig Meter tiefer die Felder im Schachbrettmuster vorbeiglitten. Wie jeder Bürger war Carver über die Aussichten der Globusreiter durch Zeitungen und 3 D-Projektionen ausführlich unterrichtet worden. Das Rennen sollte in etwa einer Stunde beginnen. Millendorf? Pffh. »Wenn ich länger hier wäre, würde ich Ihnen Ihr Geld abknöpfen. Johnny Athearn ist überhaupt nicht zu schlagen.« Der Pilot lachte. »Mensch! Sehr lustig! Johnny Athearn hat keine Chance. Den schlägt doch sogar der Neue, Micky Mantua.« »Möglich. Ich setze zehn Soldar, hinterlasse Ihnen meine Anschrift, und Sie schicken mir den Gewinn nach. Was sagen Sie dazu?« »Athearn gegen Millendorf! Abgemacht! Ihrem Geld können Sie gleich adieu sagen.« Aus gepflügten Feldern und Marschland wurden gepflegte Weiden, auf denen Automäher dahintuckerten. Weiße Mauern und rote Dächer, silbern glitzernde Fontänen, schwarzgrüne Bäume und Efeu - Carver spürte, wie sich sein Herz verkrampfte, als er auf das Heim hinuntersah. Albern, seine Ängste - Wendy befand sich dort unten. Er zweifelte nicht mehr daran. Er konnte sich vorstellen, welche kaum unterdrückte Aufregung bei den Mädchen herrschen würde, sobald sie das Knattern des Hubschraubers hörten. Das Internat, auf dem ganzen Kontinent berühmt, war die einzige Möglichkeit für ihn gewesen, sein -7 0 -
Gewissen zu beruhigen. Da er während seiner Agentenzeit Wendy nicht hatte bei sich behalten können, war das Internat als ideale Lösung erschienen. Nach seinem Hinauswurf hatte er es nicht über sich gebracht, sie dort fortzunehmen. Ruhe, Frieden, Ordnung, Disziplin - das waren die altmodischen Tugenden, die in dem Internat gelehrt wurden. Carver glaubte an sie. Nicht mehr viele taten das in dieser frenetischen modernen Welt. Carver verließ langsam den Landeplatz, gefolgt von dem Piloten, und sah die Empfangsdame auf sich zukommen. Sie erkannte ihn sofort. »Mr. Carver! Das ist aber eine Überraschung. Wendy hat gerade Unterricht, und - aber ich bin überzeugt, daß Miss Freezer ihr gestattet, Sie während der Pause zehn Minuten zu sehen.« Carver lächelte. Diese genaue Beachtung des Protokolls belustigte und beeindruckte ihn. Man wußte hier eben sehr genau, was man zu tun hatte. Aber Carver lächelte - denn Wendy war hier! Er hätte am liebsten ein paar Purzelbäume geschlagen. Statt dessen sagte er: »Danke, Miss - Miss Kitchenside, nicht wahr? Es ist schön, wieder hier zu sein. Hier ist alles so friedlich und beruhigend.« Miss Kitchenside lachte. »Sie sollten mal zum Hockeyspiel herkommen, Mr. Carver. Von Frieden kann da keine Rede sein.« »Das glaube ich gern.« Sie hatten den vertrauten Vorraum erreicht, und Carver wartete, ganz gelassen jetzt, als Miss Kitchenside sich auf den Weg machte, um die Heimleiterin, Miss Freezer, zu verständigen. In früheren Zeiten wäre die Erziehung in einem solchen Internat wohl stark religiös betont gewesen. Carver beschäftigte sich zerstreut mit einem 3 D-Projektor auf dem Tisch und dachte erleichtert darüber nach, daß zum Glück der Schild niemals Anlaß für das Entstehen religiöser Sekten geworden war. -7 1 -
Das Leben auf dem Kontinent hätte vom richtigen Weg abirren und zur Karikatur eines freien Daseins absoluter Ungebundenheit und Furchtlosigkeit werden können. Es wäre nur zu leicht möglich gewesen, daß im Innenleben aller der Schild durch ritualistisches Gemurmel symbolisiert worden wäre. Aber jetzt war nur üblich, daß man die Existenz des Schildes mit einer kurzen Dankesformel bekräftigte. Miss Freezer war die personifizierte Pflichterfüllung aller Lehrerinnen der Welt. Ein schlichtes, blasses Gesicht mit breiten Lippen, die fröhlich lachen konnten, und Augen von großer Durchdringungskraft, verliehen ihr das Schemenhafte einer Traumgestalt. Aber ihr Wort war Gesetz. »Wie schön, Sie zu sehen, Mr. Carver.« Er stand auf und drückte ihr die Hand. »Wendy kommt in ein paar Minuten. Ihr Besuch ist unerwartet. Es gibt doch hoffentlich keine Probleme?« »Nein, Miss Freezer. Sie werden ja wissen, wie einem Vater zumute ist - ein plötzlicher Wunsch, seine Tochter zu sehen ich bitte um Entschuldigung - aber - aber ich muß Wendy sehen.« »Selbstverständlich.« »Wie haben Sie ihre Reise zur Stadt arrangiert? Wenn es Unkosten gegeben hat, werde ich sie natürlich ersetzen.« »Ich verstehe nicht, Mr. Carver. Wendy hat wie alle meine Schützlinge das Heim nicht mehr verlassen, seit Sie sie nach den Ferien zurückgebracht haben. Die Stadt? Ich begreife wirklich nicht -« »Sie ist doch gestern in der Stadt gewesen?« »Gestern? Ganz ausgeschlossen, Mr. Carver. Wendy hatte gestern einen sehr wichtigen Auftrag. Gestern fand bei uns eine hochinteressante Laser-Vorführung statt. Wendy ist gestern ganz bestimmt hier gewesen.«
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7 Erstklassige Lernmaschinen vermittelten den Schülerinnen drei Viertel des Lehrstoffes, während der Rest in den fähigen Händen eines kleinen, aber sehr eifrigen Lehrkörpers lag. Obwohl Carver wie jeder, mit Ausnahme einiger alberner Sonderlinge, an den hohen Wert maschinellen Lehrens glaubte - man brauchte ja nur zu bedenken, welche Riesenschritte Industrie, Wissenschaft und Technik jedes Jahr machten -, spürte er doch eine gewisse Sehnsucht nach Lehrern mit menschlichen Schwächen. Er glaubte sich unberührt von der unklares Denken verratenden Meinung, die maschinelles Lehren mit nicht-menschlicher Erfahrung gleichsetzte, aber der Anblick von Miss Freezer, Miss Kitchenside und der fröhlichen Miss Dock beim Umgang mit ihren Schützlingen beruhigte ihn und verlieh ihm das Bewußtsein, daß diese in guten - und menschlichen - Händen waren. Besonders diese drei, und die neue Lehrerin dazu, hatten viel zu geben. Die Maschinen lehrten Fakten und die Fähigkeit, Fakten miteinander in Beziehung zu bringen, aber nur ein Mensch konnte lehren und zeigen, wie man mit sich selbst zurechtkam. »Nein, Mr. Carver. Ich wüßte auch Bescheid, wenn Wendy sich einen Streich erlaubt hätte. Sie hat das Heim nicht verlassen. Das kann ich Ihnen verbindlich erklären.« Sein eidetisches Gedächtnis prüfte noch einmal das Mädchen mit dem glatten, blonden Haarhelm, das lachend und mit gerötetem Gesicht durch die schwarze Tür gekommen war. Das war Wendy. War das Wendy? War das Wendy?! Nein. Niemals. Er hatte gewußt, daß es nicht möglich war - aber die Ähnlichkeit war so frappierend gewesen, daß er sich hatte täuschen lassen. Und er hatte geglaubt, das arme Freudenmädchen sei seine geliebte Tochter Wendy. -7 3 -
Was für ein schäbiger Charakter war er eigentlich? Am liebsten hätte er Miss Freezer in die Arme genommen und sie herzhaft geküßt. Sie sah ihn forschend an, ohne zu ahnen, was in ihm vorging. Oder ahnte sie doch etwas? »Danke, Miss Freezer«, sagte er schließlich. »Nur ein Irrtum. Ein Bekannter glaubte sie in der Stadt gesehen zu haben.« »Und daraufhin sind Sie sofort hierher geeilt, Mr. Carver.« Sie zwinkerte ihm zu. »Aber, aber! Was Sie von uns denken müssen!« »Nein, wirklich nicht, Miss Freezer. Keine Spur - ich meine - ich wollte nur Wendy einmal sehen...« Zu allem Übel hatte er auch noch verlernt, kaltblütig zu lügen. »Da kommt Wendy schon. Ich rufe sie herein, und Sie können eine Viertelstunde mit ihr Zusammensein. Danach hat sie aber Übungsstunde mit der Judomaschine. Im nächsten Semester wollen wir zu Karate übergehen, aber die Geräte sind sehr teuer...« »Und die Arztrechnungen, wenn die Maschinen versagen«, sagte Carver, ohne nachzudenken. Er drehte sich um und hielt nach seiner Tochter Ausschau. Sie kam auf Miss Freezers Funkruf hin aus dem Klassenzimmer. Sie sah aus wie Erdbeeren mit Schlagsahne, wie eine unberührte Pralinenschachtel, wie der Schnee auf Berggipfeln, wie schäumender Champagner, wie ein glückliches kleines Kind im Bett, bis zum Kinn zugedeckt. Wendy. Miss Freezer verließ den Raum. Aber sie schwiegen eine ganze Zeit. Als sie zu sprechen begannen, geschah das heiter, übermütig, sorglos. »Ein Freund erzählte mir, er hätte dich gestern in der Stadt entdeckt, Wendy -« Sie quietschte vor Vergnügen.
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»Donnerwetter, das wäre ein Gedanke! Die Stadt! Hm! Und ob ich da gerne gewesen wäre! Wir haben bald Ferien, Paps. Wir tun wie ganz ordinäre Touristen, und du zeigst mir alles!« »Halt, halt, Moment mal, Fräulein. Wie kommst du auf den Gedanken, daß du eine Bürgerin bist?« »Na, du bist doch einer, nicht wahr? Weißt du eigentlich, daß es hier nur drei Mädchen gibt, deren Eltern in der Stadt wohnen. Drei! Ganz was Besonderes!« »Na schön«, sagte er lachend. »Wir machen dich zur Ehrenbürgerin, weil dein armer Vater sein Geld in der Stadt verdienen muß.« »Warte nur, bis ich diesmal da bin! Voriges Jahr war ich ja noch so jung! Inzwischen bin ich erwachsen geworden -« »Stimmt, Wendy. Du hast aber unendlich viel Zeit. Übereil dich nicht. Geh noch ein Weilchen neben deinem armen, alten Vater her.« Ihre Augen begannen zu funkeln. »Jetzt fängst du schon wieder an!« platzte sie heraus. »Warum machst du das? Warum -« Sie verstummte. Carver spürte einen Stich in der Herzgegend. War dies der Beginn des gefürchteten Abschieds? »Was meinst du, Wendy?« »Ach, ich bin nur mal wieder gereizt und unvernünftig. Du bist mein geliebter Paps, und nur darauf kommt es an.« Sie starrte auf den Boden. »Jetzt kommt Judo an die Reihe, Paps. Ich bin ja im Vorteil, weil ich dich als Vater habe. Die meisten Griffe kenne ich schon. Ich prahle, aber ich bin wirklich gut. Hier kommt keine an mich 'ran.« »Früher gab es farbige Gürtel, mit denen der Grad des Könnens ausgezeichnet wurde. Deiner wäre himmelblau, würde ich sagen.« »Ha, ha.« »Mit Ironie erreichst du gar nichts, mein schöner Fratz.« Er griff in die Tasche und holte Münzen heraus. »Ein bißchen -7 5 -
Taschengeld, wenn du magst. Nimm es, du kaufst dir doch sicher gerne mal was Hübsches -« Aber sie zog die Hand zurück. »Nein, Paps, wirklich - ich -« »Merkwürdig. Das ist das erstemal, daß du Geld ablehnst! Regt sich dein Gewissen?« Sie legte eine Hand auf seine Schulter, drehte ihn herum, und bevor er begriff, was sie vorhatte, lag er schon auf dem Boden. Er setzte sich auf, blies die Backen auf und starrte sie an. Das war nahezu profihaft gewesen. Er freute sich. »Das, mein lieber Vater«, erklärte sie, »war die gerechte Strafe. Noch so eine Bemerkung - und du fliegst durch das Fenster!« Und so wahr er hier saß - er glaubte es ihr sogar! Er stand langsam auf, hob den Kopf und überraschte Wendy dabei, daß sie ihn mit kritischen Augen angespannt betrachtete, als prüfe sie die Brauchbarkeit eines Reitpferdes. Er war verwirrt. Dann lächelte sie, und die Sonne schien wieder. Er fragte sich, warum er eigentlich an ihr zweifelte. Sie war hier im Heim gewesen, und das arme Freudenmädchen, das er gesehen hatte, war genau das und nichts anderes gewesen. Schon begann er an seiner eidetischen Erinnerung zu feilen, sie zu verändern. »Ich muß mich beeilen, Paps. Es war fein, dich zu sehen. Aber beim nächstenmal sagst du mir vorher Bescheid, nicht wahr?« »Klar, Wendy.« Er küßte sie. »Alles Gute. Und - paß gut auf dich auf.« Als er sich verabschiedete, kam es ihm so vor, als sei Miss Freezers Gelassenheit einer argen Belastungsprobe ausgesetzt. Sie schaute auf die Uhr und hob schuldbewußt den Kopf. Er gab ihr die Hand, lächelte und sah den Mädchen nach, die zur Turnhalle eilten. Wendy konnte er nicht mehr entdecken; sie war wohl als erste hingerannt. Miss Kitchenside begleitete ihn zurück zum Hub-Taxi. Der Pilot nickte freundlich. Die Rotorblätter begannen sich zu drehen, und sie stiegen auf. Durch den Krach glaubte Carver ein -7 6 -
brüllendes Dröhnen, wie von Raketendüsen, zu hören, aber er schüttelte den Kopf, und das Geräusch verlor sich. Das HubTaxi flog eine Kurve und glitt über dem frisch gemähten Rasen dahin. Langsam gewann das Taxi an Höhe, während das Heim unter ihnen zurück blieb und sich die Landschaft vor ihnen öffnete. Zum Glück hatte er sich also getäuscht, was Wendy anging. Aber nicht bei Chris Mellor. Bislang hatte er den unwillkommenen Gedanken beiseite geschoben, daß es für einen RID-Prüfer keine Empfehlung war, seine eigene Tochter mit einer Fremden zu verwechseln. Er schob ihn auch jetzt wieder beiseite. Noch gab es anderes zu tun. Seltsam, es war Joan Hornby gewesen, die ihm das Heim für Wendy empfohlen hatte. Joan - eine mandeläugige Schönheit mit großartiger Figur und kurzgeschnittenen roten Haaren - war damals Chris Mellors Freundin gewesen. Der Himmel wußte, was seither aus ihr geworden war. Joan war eine außergewöhnliche Agentin gewesen, aber Mädchen hielten es in diesem Beruf selten so lange aus wie die Männer - die Labilen, wie Carver, immer ausgenommen. Auch dieser Gedankengang behagte ihm nicht. Das Beste war immerhin, daß er aufzuatmen vermochte. Auf dem Rückflug zur Stadt konzentrierte er sich auf die vor ihm liegende Aufgabe. Er mußte es so einrichten, daß er die ebenholzschwarze Tür und die zweite Party im Fall Farish nachträglich einbauen konnte. Die beiden Männer, die er mit der falschen Wendy zusammen gesehen hatte, konnten jetzt identifiziert werden, auch wenn er Mellors Anwesenheit weiterhin verschwieg. Es war ein kniffliges Problem, aber von der inneren Qual, die er vorher durchlitten hatte, war nichts mehr zu spüren. Die Düsenmaschine durchschnitt die Stratosphäre, Carver verzehrte ein Feinschmeckermahl, lehnte sich zurück und dachte nach.
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Erst als er nebenbei zu ergründen versuchte, warum er sich so wohlfühlte, kam ihm die erstaunliche Wahrheit zum Bewußtsein. Er unternahm wieder etwas. Er handelte. War er denn nicht eine ausgebrannte Hülse? Ein Ex-Agent mit vernichteter Karriere? Ein Mann ohne Hoffnung und Zukunft? Ein Mann, dessen Frau mit einem Satelliteningenieur davongelaufen war? Ein Mann, den nur die Gegenwart einer heißgeliebten Tochter daran gehindert hatte, den Verstand zu verlieren? Natürlich war er das. Aber er handelte. Er hatte außerhalb seiner Tätigkeit bei RID-A einen Lebenszweck. Er konnte jetzt erkennen, daß diese Tätigkeit eine nützliche Krücke gewesen war, ein brauchbares Ersatzdasein. Er war in der Lage gewesen, sich auf der Liege auszustrecken, die Spürsonden anzulegen, in das Gehirn einer toten Person einzudringen und in schattenhafter Partnerschaft die gewaltsamen Erfahrungen und das Leben eines anderen Menschen mitzuerleben. Das war ein Pseudoleben gewesen, wenn man es so nennen wollte. Für dieses neue, prickelnde Gefühl konnte er nur das Wissen vorweisen, daß Chris Mellor noch lebte. Und seine eigene Entschlossenheit, mehr über das Geschehene in Erfahrung zu bringen. Das war es. Das war die Antwort. Er hatte sich zu einem bestimmten Vorgehen entschlossen. Er konnte planen. Er konnte sich den morgigen Tag als einen Tag vorstellen, an dem er klug zu überlegen hatte, was geschehen sollte. Er würde nicht länger ein passiv dahinvegetierendes Wesen sein. Er fühlte sich großartig. Das Gefühl blieb, als er den Flugplatz verließ und mit einem Luf-Taxi in die Stadt zurückkehrte. Er betrat seine Wohnung und erstarrte mit aufgerissenen Augen und offenem Mund. Dann riß er sich zusammen, lächelte und warf seinen leichten Mantel über die Stuhllehne. »Hallo, Soames. Ich habe nicht erwartet, Sie in meiner Wohnung zu treffen. Wie sind Sie hereingekommen?« -7 8 -
»Zerbrechen Sie sich jetzt nicht darüber den Kopf, Robin.« Soames wies mit dem Daumen auf den schlanken, eleganten Mann neben sich, der die lässige Haltung eines Berufsfechters hatte. »Das ist Mr. Lines. Wir haben von oben eine Anweisung bekommen, die Sie betrifft.« »Von oben?« fragte Carver. »Die Polizei hat vorhin zwei Männer aus dem Meer gefischt. Der Todesorter markierte ihr Ableben, aber bis am T-Punkt Null ein Luf eintraf, waren beide schon zu lange im Wasser gewesen. Köpfe und Gesichter hatte man absichtlich verunstaltet. Unsere Labortechniker fanden aber genug, um zu der Meinung zu gelangen, daß es sich um diese beiden handelt -« Soames hielt ihm zwei Blätter hin. Carver erkannte seine eigenen Zeichnungen. Pritchard, der ölige Arrangeur für die Freudenmädchen, und Roger, der Weiberheld mit dem gierigen Mund, starrten ihn an. »Beide - getötet? Und keine Rekonstruktion?« »Unmöglich. Beide Gehirne waren zerstört.« »Das ist schlimm.« Als Lines zu sprechen begann, hob Carver den Kopf. Die Stimme war ihm unsympathisch. »Die Anweisung von oben, Mr. Carver, lautet, daß die Zeit für Spielereien vorbei ist«, sagte Lines. »Sie wissen über den Fall Farish mehr, als Sie uns erzählt haben. Wir wollen alles erfahren, was Sie gesehen haben - restlos alles!«
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8 Das Rennen der Globusreiter gewann ein Außenseiter namens Paul Denny. Carol Burnham sah von den Schaltkreisen auf ihrer Arbeitskonsole auf und verfolgte die feierliche Ankunft auf dem 3 D-Gerät, sah die Hysterie der Massen, als der silberne Punkt über den Horizont sprang - und lächelte. Das hätte amüsant sein können. Sie hätte Zeugin sein dürfen. Aber sie hatte Alec Durlston mit kühler Höflichkeit davon verständigt, daß Anweisungen von oben sie daran hinderten, seiner Einladung nachzukommen. Sie hatte erklärt, ihre Absage zu bedauern. Aber was bedeutete in Wahrheit das Geschrei um die Möglichkeit, wer als Schnellster die Welt umrundete, gegen die Arbeit, die sie jetzt zu leisten hatte? Die Glücklichen im Innenkreis, wo Durlston jetzt stand, durften den Sieger begrüßen und sich sogar mit ihm unterhalten, schweißüberströmt und schmutzig, ausgetrocknet und erschöpft, wie er war. Daß das erregend war, ließ sich nicht bestreiten. Aber auch nicht die tiefere, befriedigendere Erregung, eine Schaltung zu erdenken, die Gedanken und geistige Bilder eines Toten erfassen und auf Magnetband festhalten würde, damit sie nach Wunsch und Willen des Prüfers immer wieder durchforscht werden konnten. Diese Erregung war es, die sie vorzog. Sie wußte klar und ohne Bedauern, was sie wollte. Den Globusreitern waren strenge Beschränkungen auferlegt. Sie durften keine Antriebsraketen verwenden, die sie in eine Umlaufbahn brachten, sondern mußten in festgelegten Höhen fliegen, ziemlich tief, wo die Luft ihre dünnwandigen Flugkörper bis zur Rotglut aufheizte. Sie mußten drei volle Umläufe hinter sich bringen. Es gab weitere, in technische Einzelheiten gehende Regeln. Die Wahrheit würde eine normale Person zu der Aussage zwingen, daß die von den Globusreitern gesteuerten Flugkörper uralt, überholt und in der jetzigen Zeit geradezu lachhaft waren. -8 0 -
Obwohl die Erforschung des Weltraums nach den ersten Landungen auf dem Mond fast zum Stillstand gekommen war und man die Schwierigkeiten des weiteren Vordringens bald erkannt hatte - auf der Venus war eine Kolonie elend zugrunde gegangen -, stellten die Raumschiffe der Globusreiter doch im Vergleich zu den Satelliten und den Raketen, mit denen diese versorgt wurden, völlig veraltete Modelle dar. Ralph Tzombe schnippte mit den Fingern, und Carol löste hastig den Blick vom 3 D-Gerät. »Tut es Ihnen leid, daß Sie nicht dabei waren, Carol?« »Na klar. Ich mag nichts lieber, als mich in einer Menge von Wahnsinnigen zerquetschen lassen.« »Klingt wehmütig.« »Geben Sie mir das Megohmmeter. Wir werden etwas anderes als wehmütig sein, wenn wir aus unserer verrückten Idee nicht bald etwas Konkretes machen. Whitcliffe will seine Geräte. Die Brettschaltung hier könnte sich nicht mal ein Riese in die Tasche stecken.« »Wir schaffen es schon, Carol. Nur keine Aufregung.« »Trotzdem, Ralph, die Globusreiter haben schon etwas Atemberaubendes an sich. Deshalb regen sich ja alle so auf, deshalb ist es für uns so wichtig.« »Sie meinen, weil sie hinausfliegen, über das Meer, über andere Länder und Völker. Ja, gewiß, ich kenne die Theorien. Als ich voriges Jahr das Seminar über Gruppenpsychologie besuchte, war davon die Rede. Wenn die Xenophobie sich durchsetzt -« »Das hat sie aber nicht getan. Und solange wir begreifen, was der Schild - dem ewiger Dank und Ruhm sei - für uns leistet, wird Xenophobie für uns nie ein Problem werden.« »Ich bin aber überzeugt, daß die Hälfte der Leute nur hingeht, um zu sehen, wie der Schild geöffnet wird.« »Wie heute früh vor Whitcliffes Villa. Ein unbeschreibliches, wunderbares Gefühl, nicht?«
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Ihre geschickten Hände bewegten sich über Transistoren und gedruckte Schaltungen. »Vierzehn Tage, Ralph. Mehr Zeit haben wir nicht.« »Wir schaffen es«, wiederholte Tzombe. Ein Schatten glitt über sein schwarzes, angespanntes Gesicht. »Ich möchte aber wissen, warum Whitcliffe plötzlich so ungeduldig ist«, meinte er. Rings um ihn summte, sang und brummte die RID-Zentrale mit ihren elektronischen Wunderwerken, während das ganze enorme Organ gnadenlos seiner Aufgabe nachging, Mörder der Justiz zu überliefern. Robin Carver fragte sich, welcher Art von Justiz er entgegenging. Soames und der unheimliche Lines hatten ihn stumm zur Zentrale gebracht. Selten war Carver aufgefordert worden, zu den höheren Ebenen von Verwaltung, Archiv und - in vollem Wortsinn - Exekution hinaufzusteigen. Hier herrschten die maßgebenden Leute. Aber einer Exekution schien er doch wohl nicht gegenüberzustehen. Er versuchte sich einzureden, daß sie natürlich überhaupt nichts beweisen konnten. Nur er war in den Gedanken Julie Farishs gewesen. Aber dieser Lines zeigte eine so eisige Miene, als wisse er, daß Carver etwas verschwiegen hatte. Es kam nun nicht mehr darauf an, wie die nicht beschriebenen Männer nachträglich eingebaut werden sollten, sondern, wie er sich aus dieser Patsche heraushelfen konnte. Sie –führten ihn in einen kleinen Raum mit grauen Wänden, einem staubigen Stuhl und einem schmutzigen Tisch. Sie befahlen ihm, sich zu setzen. Soames zögerte, schien etwas sagen zu wollen, warf Carver einen merkwürdigen Blick zu und ging. Lines setzte sich auf die Tischkante, nachdem er sie mit einem Papiertuch gesäubert hatte. Er betrachtete Carver mit dem lauernden Blick einer Katze vor einem Mausloch. Es gab keine Fenster, und das Licht stammte von einer Wandtafel. Sein grünlicher Schimmer verwandelte sie in Geister. Carver hatte Erfahrungen mit den Methoden der Zermürbungstechnik. Er glaubte zuversichtlich, seinen Mann -8 2 -
stehen zu können. Man mochte ihn vor ein paar Jahren aus dem Geheimdienst entfernt haben, aber er hatte seine Lektionen nicht vergessen. Nebenbei fragte er sich, was Lines wohl von einem Fausthieb ans Kinn halten würde. Bislang hatten sie den grellen Strahler noch nicht gebracht. Vielleicht kam das noch. Er bezweifelte es aber. Whitcliffe war nicht für brutale Methoden bekannt. Er war dem Mann im Verfolg seiner Pflichten gelegentlich begegnet und hatte sich von der äußeren Erscheinung nicht täuschen lassen. Im Großen und Ganzen hatte es RID-A nicht nötig, seine Angestellten scharf anzupacken. Man vermutete von Carver, daß er gegen ein Grundprinzip verstoßen hatte und wollte sich Gewißheit verschaffen. Von einem war er überzeugt. Man würde ihn nicht mit Scopolamin vollpumpen. Er bezweifelte, ob die Gegeninjektionen von früher noch wirksam sein würden. Das letzte Mittel gegen Scopolamin und andere, moderne Wahrheitsdrogen hatte er wenige Tage vor seiner Entlassung aus dem Dienst erhalten - aber es wäre angenehm gewesen, sich noch für immun halten zu dürfen. Angenehm - und lebensgefährlich. Lines zog einen Spender aus der Tasche und steckte eine Mentholpastille in den Mund. Er wollte ihn einstecken, zögerte und hielt ihn Carver hin. »Wollen Sie auch eine?« »Nein, danke. Ich nehme sie nie.« »Wie Sie wollen.« Schweigen. Na ja, dachte Carver, immerhin ein Riß in der Fassade, als bringe Lines seine Rollen durcheinander. Die Tür ging auf, und der Chef trat ein. Automatisch, aus Achtung vor Hammant, stand Carver auf. Nein, nicht aus Achtung. Carver wußte, daß Hammant ein -8 3 -
tüchtiger Mann war, der im Augenblick eine schwere Belastung zu tragen hatte. Hammant nickte knapp. »Das Ganze ist unangenehm, Carver«, sagte er. »Wir werden schon eine Lösung finden.« Er sah Lines an. »Sind Sie soweit?« »Durchaus.« »Dann kommen Sie mit. Und, Carver - tun Sie, was man von Ihnen verlangt. Sie werden bald erfahren, worum es geht.« Sie verließen den Raum und erreichten über einen Hinterausgang die kleine Privatgarage in der zehnten Etage des Gebäudes. Am Steuer eines schwarzlackierten Hubschraubers erwartete sie ein uniformierter Polizist. Sie ließen sich auf den Sitzen nieder, und der Hubschrauber rauschte davon. Carver schaute zum Fenster hinaus. Einmal wollte er Soames' vorwurfsvolles Gesicht nicht sehen, zum anderen kam es ihm darauf an, festzustellen, wohin sie flogen. Seit langem galt es als Platitüde, zu behaupten, niemand könne sich in der ganzen Stadt auskennen. Selbst damals, als die Stadt sich noch in flacher, zweidimensionaler Ausdehnung an der Küste erstreckt hatte, war es nicht einfach gewesen, sich zurechtzufinden. Durch das fortwährende Wachstum der Stadt, vor allem durch die dreidimensionale Ausdehnung, die hängenden Straßen, die Überführungen, Pedowege und Schwebebahnen, zu vielstöckigen Gebäuden Zugang gewährend, wurde eine Adresse zur Chiffre in einem Dschungel. Hub-Taxi-Piloten kannten ihr Zielgebiet und schalteten sich in die Radarlenkung ein. Niemand konnte alle Straßen und Zugänge kennen. Carver kannte sich bald nicht mehr aus. Als er seine Stellung beim Geheimdienst verloren hatte, war er auf der Suche nach einer Tätigkeit gewesen. Er hätte natürlich auch nichts tun können - in der modernen Welt mußte man nicht mehr arbeiten -, aber ein Leben im trägen Luxus oder gespielter sportlicher Aktivität hatte ihn gelangweilt. Die meisten Menschen nahmen irgendeine Tätigkeit unterschiedlicher -8 4 -
Beanspruchung und Verantwortung auf, und auf Carvers Liste war der Beruf eines Taxipiloten obenan gestanden. Ein solches Leben hätte ihm gefallen. Wie er zur neu aufgebauten RID-A gekommen war, konnte er selbst nicht genau sagen. Sein eidetisches Gedächtnis erinnerte sich der Schritte, die zu dem Gespräch mit Whitcliffe und Hammant geführt hatten, aber wie er dazu gebracht worden war, bei RID-A mitzumachen, war ihm nie ganz klar geworden. Der Hubschrauber landete auf einer Plattform, die Türen gingen auf, und Lines forderte ihn auf, auszusteigen. Sie verließen die Plattform durch eine Tür, und »He!« sagte Carver. »Genau.« Soames ging mit hochgezogenen Schultern weiter. Die anderen folgten. Er erinnerte sich daran, wie Harry seine Schutzbefohlenen über die Perserteppiche geführt hatte. Jetzt marschierte Soames voraus. Jetzt fand keine Party statt; die Räume waren leer und verlassen. Sie traten durch die indigoblaue Tür unter dem Aluminium-Architrav. Er erinnerte sich an die Gruppe von Partygästen. Sie gingen lautlos durch den Korridor und erreichten das kleine Wartezimmer. »Alles übereinstimmend bis jetzt, Carver?« fragte Hammant. »Ja.« »Dann weiter«, sagte Lines scharf. Carver nahm sich zusammen. Die Polizei hatte das Haus gefunden, wo Julie bis zur Bewußtlosigkeit gewürgt worden war, bevor man sie auf die Straße gebracht und dort getötet hatte. Die anderen beobachteten ihn, prüften alles, was er tat und sagte. Sie konnten seine Gedanken nicht lesen - noch nicht, bis er tot war. Angenehmer Gedanke. Lines ging genau so hinaus, wie es Pritchard getan hatte. Carver folgte ihm. Vor ihm bog der Korridor rechts ab. Carver verengte die Augen. Er kannte die Tür, die jetzt kommen mußte - die auch kam - mit der Ebenholz-Oberfläche, dem Schild und dem silbernen -8 5 -
Löwen. Er zwang sich, nicht die Lippen zu befeuchten, nicht mit der Wimper zu zucken, nicht durch ein Muskelzucken zu verraten, was sich in ihm abspielte. Sie mußten viel wissen. Sie mußten erraten haben, daß er ihnen nicht alles gesagt hatte. Das Erschreckende daran war die Bedeutung, die sie dem beimaßen. Hammant, der Chef selbst, bekundete persönliches Interesse. Lines, der Mann vom Sicherheitsdienst, war als potentieller Henker dabei. Aber sie schienen zuviel zu wissen! Das war der Punkt, der ihn gestört hatte. Hinter der ganzen Sache steckte erheblich mehr als ungenügende Informationen. Und er hatte noch immer nicht entschieden, was er tun sollte. »Hier ist Pritchard gestürzt«, sagte er. »Julie entschuldigte sich - aber ich hatte nicht das Gefühl, daß es ihr wirklich leid tat.« »Diese Tür haben Sie in Ihrem Bericht nicht erwähnt«, meinte Hammant ruhig. »Stimmt.« Er hatte sich entschieden. »Julie muß sich wohl losgerissen und abgewendet haben. Danach krallte Pritchard die Fingernägel in ihren Arm und schleppte sie wie einen Mehlsack weg.« »Sie schaute also nicht in das Zimmer?« »Welches Zimmer? Ach - Sie meinen den Raum, der hinter dieser Tür liegt? Wie konnte sie? Ich meine, sie wurde doch von Pritchard weggezerrt. Die Tür hat sie nicht gesehen.« Soames starrte ihn unter den buschigen Brauen an. Auf Hammants hoher Stirn spiegelte sich das Licht. Lines war zurückgewichen - offenbar, um freie Schußbahn zu haben, falls Carver Dummheiten machen sollte. »Ihr Bericht ließ erkennen, daß sie das Wartezimmer verließ und direkt zum Schlafzimmer ging«, erklärte Hammant. »Stimmt.« »Von Pritchards Sturz haben Sie nichts erwähnt.« »Nein.« Er hatte nicht vor, ihnen zu helfen oder auch nur ein einziges Wort mehr zu sagen als unbedingt nötig. »Sie hat nichts gehört?«
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»Pritchard fluchte. Er schien sich maßlos zu ärgern.« Das war doch einfach verrückt! Er benahm sich ja gerade so, als müsse er bestätigen, was ihnen Pritchard erzählt habe - dabei war Pritchard tot - gestorben, bevor man ihm die Spürsonden anlegen konnte! Sie konnten doch nicht wissen, was Pritchard zu berichten gehabt hätte - oder? Eines stand fest: Er konnte die beiden Männer, die mit dem Mädchen, das er für Wendy gehalten hatte, aus dem Zimmer gekommen waren, nicht mehr erwähnen. Das rief Gewissensbisse in ihm hervor. Chris Mellor verschwieg er bewußt, aber die anderen... Sie mochten die Auffindung des Mörders ermöglichen - und er verschwieg ihre Existenz! Carver entschied, daß er sich nicht natürlich genug benahm. Es war besser, mit der verärgerten, ratlosen Haltung eines Menschen zu reagieren, der nicht begreift, was sich abspielt, und seine Empörung nicht mehr unterdrücken kann. »Ich versteh' das alles nicht«, sagte er. »Bob sagte, der Bericht tauge nicht viel. Daran kann ich nichts ändern. Julie hat ihren Mörder einfach nicht gesehen. Warum die Geheimnistuerei? Was hat die Tür da zu bedeuten?« »Sie haben sonst nichts gehört?« »Die Party schien zu diesem Zeitpunkt lebhafter zu werden. Sie verstehen - Lachen und Plaudern, viel stärker als vorher.« »Ah.« Das war also seine Erklärung für den aufbrandenden Lärm, als sich die Tür geöffnet hatte. Sollten sie anfangen damit, was sie wollten. Die angespannte Atmosphäre blieb, aber in vermindertem Maß. Hammants Unerbittlichkeit schien sich zu verringern. Lines zog die Hand aus der Tasche. Er wirkte also glaubhaft... »Es ist Ihnen doch klar, daß wir uns vergewissern müssen, wenn ein Prüfer keinen Sichtbericht geben kann?« fragte Hammant sachlich. Carver ging nicht darauf ein. Statt dessen wölbte er den Brustkorb und zeigte eine zornige Miene. -8 7 -
»Ah! Ich verstehe! Das ist doch wohl der Gipfel! Sie glauben, ich wäre bestochen worden! Korrupt!« Er begann wild zu gestikulieren. »Na - ich bin ein RID-Prüfer! Ich lasse mich nicht bestechen! Verstehen Sie - ich habe Ihnen gesagt, was passiert ist, und es reicht nicht, um den Mörder zu fassen. Das tut mir leid! Aber ich kann nichts dafür!« Er wurde leiser, grollend wie ein Vulkan. Er hatte eine gute Vorstellung gegeben. »Na ja, hören Sie, Robin -«, begann Soames verstört. »Wir verstehen Sie sehr gut, Carver.« Hammant strich sein Kinn. »Es hat wohl nicht viel Sinn, hier noch länger herumzustehen -« »Wollen Sie nicht ins Schlafzimmer?« Lines sprach erneut bohrend. »Wenn Sie wollen, Lines.« Sie gingen durch den Korridor und betraten das Schlafzimmer mit den Spiegeln. Carver betrachtete das Bett und dachte an Julies silbernes Schuppenkleid und ihre Nylonstrümpfe - und er dachte an Roger. Die Galle stieg in ihm hoch. Aber Roger war jetzt tot - mit zerschmettertem Schädel. »Julie lag auf dem Bett. Sie hatte einen Strumpf wieder übergestreift. Sie hörte den Kerl zurückkommen und hielt ihn für Roger -« »Zurückkommen?« fragte Lines, wie aus der Pistole geschossen. »Das dachte sie. Es war aber nicht Roger. Ich spürte es. Er ergriff ihren Strumpf und -« »Okay, Robin. Wir haben Ihren Bericht.« Der gute, alte Bob Soames! Jetzt hielt er wieder zu seinem Prüfer. »Ja, hm«, sagte Hammant, sich umsehend, »hier können wir wohl nichts mehr tun.« »Was ist das überhaupt für eine Wohnung?« fragte Carver, als sie zu der Landeplattform zurückkehrten.
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»Privat-Apartment. Wir nehmen alle Leute fest, die Sie uns bezeichnet haben. Die Wohnung gehörte Roger - er hieß übrigens Roger Faller.« »Hm«, sagte Carver. »Ich dachte mir schon, daß er der Mieter sein mußte.« Hammant wartete einen Augenblick, als Soames den Hubschrauber bestieg. Lines stand als Wachhund immer noch hinter Carver. Hammant räusperte sich. »Wir wissen, daß Sie nicht bestechlich sind, Carver. Wir wissen auch, daß ein Prüfer seine Unbestechlichkeit praktisch nicht beweisen kann, sobald einmal ein Verdacht aufgetaucht ist. Nun - mehr oder weniger -« »Ich weiß. Wo Rauch ist, muß Feuer sein. Sie können Schritt für Schritt nachprüfen, was ich seit dem Fall Farish getan habe.« »Darüber brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen.« »Verstehe.« Sie hatten ihn also beschattet. Damit hatte er rechnen müssen. Es war nur logisch. »Kommen Sie, Robin. Was mich betrifft, so sind Sie entlastet«, rief Soames aus dem Hubschrauber. Sie stiegen ein. RID-A hatte sich strikt daran gehalten, nur erstklassige Leute einzustellen. Der Hauch eines Verdachts konnte die Chancen einer Person, auch nur in die engere Wahl gezogen zu werden, schon zerstören. Von selbst meldete sich ja niemand, weil die Öffentlichkeit von der Existenz der RID-Methode keine Ahnung hatte. Aber die Möglichkeit von Bestechung und Korruption war nicht übersehen worden. Zuerst hatte man sie ausschließen wollen. Wie, so konnte man fragen, vermochte ein Mann, der die Erinnerung eines Toten erforschte, von dem Mörder Schweigegeld anzunehmen? Ja - aber angenommen, Carver hatte den Mann erkannt, der Julie ermordet hatte. Angenommen, es wäre wirklich Roger gewesen, was dann? Leicht verdientes Geld. Er hätte geschwiegen, hätte behauptet, daß Julie sich abgewandt habe, daß es im Zimmer dunkel gewesen sei, daß -8 9 -
es ein anderer getan haben müsse, nicht Roger. Wie er tatsächlich erklärt hatte. Dann wäre er unauffällig, gelassen, mit dem glatten, unerträglichen Lächeln des Erpressers zu Roger gegangen, um ein Geschäft abzuschließen. Und Roger hätte bezahlt. O ja, er hätte bezahlt. Er hätte ja nicht wissen können, daß das bloße Vorhandensein von Carvers eidetischem Gedächtnis ihn für immer daran hinderte, zuzugeben, daß er eine Tatsache vergessen hatte, daß ein Gesicht seiner Erinnerung entschlüpft war, daß er nun nachträglich Roger beschuldigen werde. Seltsamerweise hatte das Verhör eine Erleichterung gebracht; er war nicht mehr dazu gezwungen, die Gesichter der beiden Männer nachzuliefern, die er mit der falschen Wendy zusammen gesehen hatte. Und man mochte sie ohne weiteres finden, wenn man die anderen Teilnehmer des Festes ermittelte. Korruption als zeitbindende Erscheinung war bei RID-A eine große Gefahr. Auch der leiseste Anschein mußte sofort untersucht werden. Immerhin hatte es auf den Fall Farish hin eine nahezu panikartige Reaktion gegeben. Darüber würde er nachdenken müssen. Es mochte sich lohnen. Der Hubschrauber schwebte davon. Carver war wieder in Gnaden aufgenommen.
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9 In den folgenden Tagen genoß Robin Carver die merkwürdige, anregende Erfahrung, außerhalb von RID-A einen Lebenszweck zu besitzen. Er hatte vergessen gehabt, welchen Reiz es hatte, Schritte zu planen, vorauszudenken, ein Vorgehen durch ein anderes zu kaschieren, sich mit der Autorität auf eine geistige Auseinandersetzung einzulassen und mit absoluter Sicherheit zu wissen, daß er siegen würde - oder untergehen mußte. Die meisten Kunstgriffe beherrschte er noch; es waren Dinge, die ein eidetisches Gedächtnis nicht vergaß - in erster Linie die geistige Haltung, Methoden, Menschen und Situationen zu betrachten, auf Reize zu reagieren -, aber sie stammten nicht alle aus dem Verstand. Nicht zum Geheimdienst zu gehen und dort nach Chris Mellor zu fragen, war offensichtlich die richtige Entscheidung. Er würde geheim vorgehen müssen. In seiner Freizeit begann er öfter auszugehen, wobei er die achtbareren Vergnügungsstätten bevorzugte. Er war stets ein Einzelgänger gewesen, auch als Agent, obwohl das Amt Kameradschaft und Kumpeltum förderte. Zwei oder dreimal hatte er sogar direkt mit Mellor zusammengearbeitet, aber das Amt erkannte seine besondere Eignung und setzte ihn vorwiegend alleine ein. Vielleicht wäre er, wenn er einen richtigen Kameraden, einen verläßlichen Freund gehabt hätte, nicht zusammengebrochen, als ihn seine Frau verlassen hatte. Wendy war damals eine Verantwortung gewesen, die er begrüßt und willig auf sich genommen hatte, aber sie hatte nicht verhindern können, daß seine Personalakte den roten Vermerk ›Labil‹ bekam. Das Amt hatte versucht, ihn zum Raumfahrtprogramm zu lenken, aber damit wollte er nichts zu tun haben. Selbst er, selbst ein Staragent des Geheimdienstes scheute davor zurück, außerhalb des Schilds zu arbeiten, und er vermutete auch, daß die Angst davor, Fremdes könne den Kontinent überfluten, eine der Hauptursachen für den mangelnden Fortschritt des -9 1 -
Weltraum-Wettlaufs war. Wer wollte sich dem Schutz des Schilds entziehen und zum Mond fliegen? Wer wollte den Schild verlassen? Er war natürlich hinausgekommen, im Rahmen seiner Pflichten. Die Erfahrung war anregend gewesen, so, als hinge man an den Fingernägeln über einem tiefen Abgrund. Nicht angenehm, aber interessant. Eines Abends, etwa zwei Wochen nach seinem knappen Entrinnen aus den Schlingen des Falles Farish, trat er mit Luf 3 seinen Dienst an und verspürte zum erstenmal seit vielen Jahren wachsende Ungeduld. Er sehnte den Dienstschluß geradezu herbei. Für diese Nacht hatte er etwas vor. Er wollte den ›Hafen der Ruhe und Erfrischung‹ aufsuchen, hatte angerufen und einen Tisch bestellt. Jetzt konnte er es kaum erwarten, dort zu sitzen und die Sängerin anzustarren. Denn die Sängerin war Joan Hornby. Ganz abgesehen von seinem eigentlichen Beweggrund freute er sich darauf, sie wiederzusehen, die schlanke Gestalt und das kurze, rote Haar zu betrachten, das leise Lachen wiederzuhören, das Chris Mellor beinahe um den Verstand gebracht hatte. Vermutlich kannte sie Chris gar nicht mehr, aber trotzdem war er auf diese Begegnung erpicht. Das blutrote Licht flammte auf der Stadtkarte auf. »Da geht es schon wieder los«, sagte Charlie Rawlinson. Luf 3 raste mit brüllenden Nachbrennern durch die Stadt. »In den unteren Mittelschichten, direkt in dem Labyrinth um Solace Gardens«, sagte die weibliche Ordonnanz. Sie griff in ihre Börse und reichte die zwei Soldar hinüber. Zufrieden steckte Charlie Rawlinson seinen Gewinn ein. »Das ist ein Riecher«, lobte er sich. »Genau getroffen.« Seine Nadel steckte in unmittelbarer Nähe des blinkenden Lichts. Dann waren sie angekommen, und es ging los. Das Opfer, fotografiert und untersucht, wurde von den Fahrern auf die
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Liege geschleppt, und Marjie legte Prüfer und Opfer die Spürsonden an. »Viel Glück, Robin«, sagte Cy Adams und zeigte den steil aufgerichteten Daumen. Nun, die Mannschaft hatte ihn jedenfalls wieder aufgenommen... Und dann wehrte er sich, erstickt und verzweifelt, kämpfte, schlug zu, versuchte seinen Revolver herauszuziehen und Lemmon, diesen dreckigen Halunken, niederzuknallen... Schwärze quoll aus der Dunkelheit herauf... Aber diese Schwärze quoll aus seinem Schädel, verschmolz mit der Dunkelheit um ihn, und er stürzte... stürzte... Na ja - ich muß weiter zurückgehen... Der Tote, Stutzy Pocher, war hinter einer automatischen Kegelhalle gefunden worden. Carver mußte die Erinnerung des Opfers zurückverfolgen, sich in den Beginn der Ereignisreihe einschalten, die zu seinem Tod geführt hatte. In der Dunkelheit der Gasse zwischen der Kegelhalle und dem Imbißlokal gegenüber hatte er die Angreifer nicht erkennen können. Nicht einmal Stutzy Pocher wußte genau, wer sie waren... Lemmon, einer davon... Pocher erwies sich als eines der kleinen Rädchen mit scharfen Zähnen, durch die sich die Räder der zweifelhaften Vergnügungen in der Stadt drehten. Er machte Botengänge, erledigte ab und zu Raubüberfälle, arbeitete sich im Dschungel der Unterwelt empor. Sorgfältig registrierte Carver alle Daten, erkannte Männer, die, wie er wußte, tot waren, Männer, die man wegen ihrer Beteiligung an Verbrechen und Lastern, die sogar der Stadtverwaltung ins Auge stachen, längst verhaftet hatte. Lemmon tauchte in Pochers Vergangenheit auf, als Pocher versucht hatte, mit Gewalt die Kontrolle über alle Kegelhallen eines Bezirks zu erlangen. Das paßte...
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Pocher und Lemmon hatten zusammen gearbeitet. Lemmon hatte ein Gesicht wie eine Zitrone, sprach mit kummervoller Stimme und war stets auf der Flucht vor der Polizei. Trotz seiner persönlichen Sorgen und Probleme, trotz seines Wunsches, Joan Hornby zu sehen, trotz seiner leidenschaftlichen Überzeugung, daß hinter den geheimnisvollen Vorgängen im Fall Farish ein weitreichender Plan verborgen war, mußte Carver sich mit seinem ganzen Wesen in Pocher und den laufenden Fall vertiefen. Er mußte sich mit dem Opfer identifizieren, alles sehen, nichts vergessen, ein geisterhafter, psychischer Zwillingsbruder werden. So trivial der Mord einem Nichtbeteiligten auch erscheinen mochte, Carver mußte tödlichen Ernst aufbringen und alles andere vergessen. Es war nicht einfach. Der entscheidende Augenblick, als der Mord unvermeidbar wurde, kam am Ende einer Stripnummer in einem schäbigen Nachtlokal mit dem Namen ›Tolle Nacht für starke Männer‹. Es gab so viele Theater, 3 D-Auditorien, Striplokale und Nachtklubs, daß man sich immer längere, ausgefallenere Namen für sie ausdenken mußte. »Du kannst Leftys Bezirk nicht übernehmen, Stutzy! Das ist doch Wahnsinn!« »Du hältst dich da 'raus, Lemmon«, fauchte Stutzy Pocher. »Wenn wir Partner sein wollen, mußt du mich schon machen lassen. Lefty ist dran!« »Du bist übergeschnappt!« Ein begeisterter Zuschauer bezahlte seine Soldars, drückte auf den Knopf und erreichte, daß die magnetischen Eisenplättchen vom Körper der Tänzerin abfielen. Die Gäste klatschten. Es war nicht so sehr, was die Nackte zeigte, als vielmehr, wie sie es zeigte. »Nellie wird dick«, meinte Lemmon. Sein plumper Versuch, das Thema zu wechseln, konnte Stutzy Pocher nicht beirren.
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»Wenn du Lefty nicht für mich abservierst, dann muß ich eben jemanden anheuern.« »Na gut, meinetwegen«, knurrte Lemmon. Es gefiel ihm nicht, aber Stutzy zahlte und kommandierte. »Wer?« »Ein Neuer, eben erst aufgetaucht. Nennt sich Zeuke. Der wird mit Lefty spielend fertig.« Dies war also das Schlüsselgespräch gewesen, das direkt zu Stutzy Pochers Tod geführt hatte. Carver verfolgte den Ablauf der Tragödie. Tragödie war, für Abschaum dieser Art, ein zu hochgestochenes Wort - aber sofort spürte Carver Schuldbewußtsein, als er überlegte, wer er selbst war. Auch sie waren Menschen. Stutzy Pocher hatte sich nie um Daten gekümmert, außer an den Zahltagen, wenn seine Leute die Kasse aus den Kegelhallen, den Striplokalen und den Protektionsgeschäften ablieferten, die mit Gummischläuchen und eingeschlagenen Fensterscheiben wirksam abgewickelt wurden. Carver wußte, daß er bei den zum T-Punkt Null führenden Zeitangaben wachsam sein mußte. Die Kriminalpolizei würde für den Bericht über Pocher und seine Genossen dankbar sein. Damit konnte man wieder ein paar kleine Gauner festnehmen und einige Nepplokale schließen. Solange aber die Stadt relativ sauber blieb, unternahm man nicht allzuviel. Das Laster hatte es immer gegeben, und solange der Mensch blieb, wie er geschaffen war, würde es weiterexistieren. Allerdings ging es den Statistiken zufolge Jahr für Jahr zurück. Vielleicht lernte die Menschheit doch - langsam und mühsam. »Wann kommt denn dein Zeuke, Stutzy?« Stutzy Pocher knallte das Geldbündel, das er gezählt hatte, auf den Tisch und funkelte Lemmon an. »Hör endlich auf damit, dir den Kopf zu zerbrechen! Zeuke kommt. Lefty ist erledigt! Er hätte mir die Halle nicht kaputtschlagen sollen.« Pocher schien ernsthaft beleidigt zu -9 5 -
sein. »Die war was ganz Besonderes! Meine erste! Ich bin früher jede Nacht hingegangen und hab' die Bahnen selber poliert, stundenlang auf den Knien, besser, als es die Roboter konnten!« »Ich hab' da immer bei zehn Würfen nur einen Treffer gehabt«, meinte Lemmon trübselig. »Na klar!« knurrte Pocher verächtlich. »Glaubst du, daß du eine gerade Bahn bekommst, wenn es Preise gibt? Du bist wohl blöd!« Er lachte. »Bei einer gewöhnlichen Halle kannst du es immer so einrichten, daß die Kugeln ein paar Kegel mehr mitreißen, damit die Tölpel sich freuen. Da sind sie begeistert! Solange es nichts kostet... Aber nicht, wenn man Preise vergibt! Mann!« Sie hockten in Pochers Behausung, einem Dachapartment auf einem an die hundert Stockwerke hohen Gebäude in den Mittelschichten der Stadt. Wie so viele der älteren Gebäude war es früher für die Unterbringung von Massen gedacht gewesen, aber nun standen viele Wohnungen leer, schon seit hundert Jahren und länger. Leute mit Geld bezogen nur Dachapartments. Durch die Fenster sah man mindestens fünfzehn von Pedowegen und Hängestraßen umgebene Wolkenkratzer. Aber für einen Mann wie Stutzy Pocher war diese Wohnung etwas Besonderes. Pocher beklagte immer noch seine zerstörte Kegelhalle, als die Besuchertafel aufflammte. Er drückte auf eine Taste. Zeuke betrat die Wohnung. Carver erkannte ihn sofort. Pocher lud ihn mit einer lässigen Handbewegung ein, sich zu setzen. »Hallo, Zeuke. Gib ihm was zu trinken, Lemmon. Das ist Lemmon, Zeuke. Ist besser, als er aussieht.« Ein aalglatter, breitschultriger Mann, dieser Zeuke, mit der Präzision und schlangenartigen Geduld des Berufskillers. Carver hatte früher mit einer Anzahl von Berufsmördern zu tun gehabt, und er kannte und achtete den Schlag - nur wegen -9 6 -
ihrer Gefährlichkeit. Er hätte sie zertreten wie irgendein Insekt, hätte er die Möglichkeit dazu gehabt. O gewiß, er erinnerte sich an Zeuke. Er erinnerte sich daran, wie er mit seinem Begleiter durch die ebenholzschwarze Tür mit dem silbernen Löwen gewankt war, den Arm um ein junges Mädchen gelegt, das er für seine Tochter Wendy gehalten hatte. Aber warum? Damit meinte er - warum war ein Berufskiller in beide Fälle verwickelt? Julie war ermordet worden, und zu diesem Zeitpunkt hatte sich ein Berufskiller in ihrer Nähe befunden, obwohl Carver davon überzeugt war, daß Zeuke sie nicht getötet hatte. »Sie möchten Lefty also ausschalten, Stutzy.« Die Stimme Zeukes klang eisig. »Soll er ein bißchen demoliert oder ganz beseitigt werden?« »Tja - hm -«, begann Lemmon. »Sie übernehmen doch nur endgültige Fälle, Zeuke«, sagte Stutzy Pocher. »Warum fragen Sie dann? Wenn ich vorhätte, ihn nur ein bißchen aufzupolieren, hätte ich mir einen jungen Schläger vom Solace Gardens geholt.« »Wahr, Stutzy.« Danach verhandelten sie über die Bezahlung. Carver beobachtete sie und vermerkte alles. Er versuchte, vorbei an den augenblicklichen Geschehnissen die Hintergründe zu erkennen. Warum Zeuke? Warum jemand aus jenem traurigen Vorfall seiner Laufbahn, als man sein Wort als RID-Prüfer angezweifelt hatte? Zufall? Es mußte Zufall sein. Aber - aber angenommen, es war kein Zufall? Konnte jemand dies bewußt arrangiert haben - seinetwegen? Wenn er in seinem eigenen Körper gesteckt hätte, wäre er ein wenig ins Schwitzen gekommen. Wie konnte jemand so etwas arrangieren? Ausgeschlossen! Das würde bedeuten, daß jemand aus RID-A beteiligt sein müßte. -9 7 -
Konnte das sein? Konnte der kalt rechnende Lines diesen raffinierten Plan geschmiedet haben, um Carver zu prüfen? Um ihn zu veranlassen, daß er erneut log? Er erinnerte sich daran, mit welcher Gelassenheit er ihnen angeboten hatte, seine Schritte nachzuprüfen, nachdem er bei Wendy gewesen war. Dabei hatte es sich um einen Bluff gehandelt. Er hatte sich ausgerechnet, daß sie ihm sehr wohl zum Heim gefolgt sein mochten. Er hatte seinen Orter herausgeholt und geprüft, ob ihm ein Sender ins Essen geschmuggelt worden war. Das schien nicht der Fall zu sein. Nicht, daß das nicht sehr einfach gewesen wäre. Ein kompletter Radiosender konnte auf die Größe eines Grapefruitkerns verkleinert und leicht geschluckt werden. Das hieß also, daß man ihn regulär hätte beschatten müssen, aber das war ihm nicht aufgefallen. Der Hubschrauberpilot konnte ein bezahlter Mann gewesen sein. Bei Miss Freezer hätte man wohl kaum Glück gehabt. Wenn Lines wußte, warum Carver seine Tochter hatte sehen wollen, wie konnte er das mit dem in Verbindung bringen, was Carver bei einer RID-Prüfung gesehen und nicht gemeldet hatte? Nachdem die Einzelheiten festgelegt waren, verließ Zeuke die Wohnung. Kurze Zeit später ging auch Lemmon. Als sich die Tür hinter ihm schloß, griff Stutzy Pocher nach seinem Glas und lachte zufrieden in sich hinein. Armer Hanswurst! Er hat keine Ahnung davon, daß sie sich gegen ihn verschworen haben... Das Unvermeidliche ergab sich mit der Geradlinigkeit einer griechischen Tragödie. In der Gasse zwis chen dem Imbißlokal und der Rückseite von Pochers Kegelhalle überfielen Zeuke und Lemmon Pocher... Es war nicht der übliche Überfall. Pocher hatte keine Chance, aber trotzdem wäre es ihm beinahe gelungen, seine Waffe zu ziehen. Als die Schwärze ihn - und Carver - einhüllte, bemühte er sich immer noch, zu begreifen... Cy Adams nahm die gewohnte Untersuchung vor, erklärte Carver für Carver, und dann ging Carver in das Nachbarluf, um gelassen Zeuke und Lemmon zu zeichnen. Wenn man ihm eine -9 8 -
Falle gestellt haben sollte, würde es sich erweisen. Er gedachte jedenfalls, sich streng an die Vorschriften zu halten. »Okay, Robin«, sagte Soames, »scheint glatt zu sein.« Sie waren zur RID-Zentrale zurückgekehrt, und Alec Durlston hatte mürrisch seinen Dienst angetreten. Carver hatte es zu eilig, den ›Hafen der Ruhe und Erfrischung‹ zu erreichen und Joan Hornby zu sehen, um die gewohnten Haßgefühle für Alec aufzubringen. Klar, der Mann war jünger als er, sah besser aus, besaß jene magnetische Anziehungskraft, die Frauen anlockt; gewiß, er war eifersüchtig auf ihn; sicher, er setzte Durlston mit jenem Ingenieur gleich, der ihm seine Frau Sheila genommen hatte; natürlich, er verachtete und beneidete den Mann - aber im Augenblick hatte er an das bevorstehende Gespräch mit der schönen Joan Hornby zu denken. Das Lokal war auf Berylliumstahlträgern dreißig Meter unter einem Pedoweg gebaut worden, und man fuhr mit einem durchsichtigen Lift zum freischwebenden Foyer hinunter. Das Lokal schien Geld zu bringen. Die Dekoration vermochte die Augen zu schädigen, wenn man sie zu lange anstarrte, aber die Beleuchtung war diskret, die Getränke konnten sich sehen lassen, das Essen war vorzüglich - es wurde über die Rohrleitungen aus den hervorragenden Küchen der Stadt heranbefördert. Man ging auswärts essen nur, um einen Szenenwechsel zu erleben, nicht wegen einer Änderung des Speisenplans. An seinem Tisch, einer Kristallscheibe auf zart geschwungenen Blütenstielen, die in Formfits endeten, bestellte er Lerchenzungen, Fasan, Beilagen, Obstkuchen. Der Gedanke, daß alle diese Speisen in riesigen Fabrikbottichen von gehorsamen Bakterien und Viren künstlich hergestellt worden waren, störte ihn nicht im geringsten; es schmeckte ausgezeichnet. Als Joan Hornby im Scheinwerferlicht auftauchte und sang, vergaß er das Essen sofort. Ihr Kleid saß wie angegossen. Eine Perlenkette um den Hals war der einzige Schmuck. Sie sah aus wie eine Eisjungfrau, wie -9 9 -
ein schimmernder Eiszapfen. Ihr rotes Haar war gewellt und länger als früher. Ich war ein Idiot, dachte Carver. Warum habe ich sie nicht schon früher gesucht? Sie erschien wesentlich jünger als Sheila, schlank, glatt und noch ohne Fältchen. Das ruhige Gesicht mit der breiten Stirn verriet nichts von ihrem Temperament. Carver fragte sich, wie schon oft, warum Chris Mellor sie eigentlich nicht geheiratet hatte. Ihr Gesang hatte großen Erfolg. Carver empfand ausgesprochenes Vergnügen dabei, obwohl er erkannte, daß die heisere Stimme keine besonderen Vorzüge aufzuweisen hatte. Sie gefiel ihm. Seine hingekritzelte Nachricht brachte sie überrascht und atemlos an seinen Tisch. Lächelnd füllte er ihr Glas, weil er wußte, daß ihn sein getreues, eidetisches Gedächtnis nicht im Stich ließ. »Wodka mit Zitronensaft, Joan?« »Robin! Na, ich - das ist aber eine Überraschung!« Er ließ die Unterhaltung ruhig dahinplätschern, ohne sie zu lenken, zufrieden damit, die Themen wie Goldfische in einem Teich an die Oberfläche steigen zu lassen. Nein, sie hatte nicht geheiratet. Sie sang gerne, am liebsten in der Badewanne... Nein, von Sheila habe sie in all den Jahren nichts gehört oder gesehen... Scheußliche Geschichte, Robin, aber damit muß man als Agent eben rechnen, so etwas muß man hinnehmen... Na klar. Was Chris anging... Carver überließ es ihr, den Namen ins Gespräch zu bringen. Hier kam es ihm darauf au, sich zu informieren, aber er war sich nur allzu genau bewußt, wie wenig er selbst wußte. Er konnte nicht beurteilen, ob Joan noch als Agentin tätig war. Sie wollte es ihm nicht sagen. -1 0 0 -
»Wirklich sehr schade, mit dir und Sheila. Das hat Chris richtig erschreckt.« »Ach, Chris... Was macht er eigentlich?« Sie machte eine vage Geste. »Ich sehe ihn gelegentlich. In letzter Zeit allerdings nicht mehr.« Sie legte die Hand auf seinen Arm, und Carver erlebte schockartig die Wirkung. Der Schock brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Er hatte Joan gern, war aber gar nicht auf den Gedanken gekommen, mit ihr zu schlafen. Und ausgerechnet jetzt - er arbeitete an einem Fall, an einem privaten zwar, aber es war ein Fall. Er durfte nicht zulassen, daß ihre dunklen Augen, ihr rotes, schimmerndes Haar, ihr weicher Körper ihn von seinem Ziel ablenkten. »Er war völlig durcheinander, als ich ihn zurückwies«, sagte sie leise. »Vielleicht war es dumm von mir, aber - nun ja - du und Sheila - das gab mir zu denken.« Carver begriff nicht ganz, aber er hatte einen entscheidenden Durchbruch erzielt. Joan hatte Chris Mellor erwähnt, war mit ihm noch in Verbindung gewesen, und das bedeutete, daß er den Spuren nachgehen konnte, ohne aufzufallen. »Ich dachte, ihr beide würdet verheiratet sein, bevor Sheila - davonlief.« »Wir haben auch darüber gesprochen. Aber ich - ich konnte nicht -« »Tja, wenn man Agent ist, hat es die Ehefrau nicht leicht. Ich weiß es.« »Aber Sheila war doch nicht dabei, oder? Ich meine - ich bin wenigstens keine Außenseiterin gewesen.« Man spürte Bitterkeit in den Worten. Joan Hornby dachte immer noch an die Zeit von damals. »Wie geht es Wendy?« Das nahm eine Viertelstunde für das Betrachten einer Menge von 3 D- und flachen zweidimensionalen Farbaufnahmen in Anspruch, die er immer bei sich trug. -1 0 1 -
»Sie wächst zu einem wunderschönen Mädchen heran«, sagte Joan schließlich seufzend. »Sie muß doch bald achtzehn sein.« »Siebzehn.« Er überlegte kurz. »Jetzt hör aber auf, Joan. So alt bist du doch gar nicht. Und du siehst großartig aus - du bist eine schöne Frau -« Sie lachte, während ihr das Blut ins Gesicht schoß. »Ach, Robin, du alter Schmeichler! Wenn du wüßtest, wie ich mich freue, dich wiederzusehen!« Jetzt begriff er doch wohl - oder nicht? Sie stand auf. »Ich muß wieder auftreten. Warte auf mich, Robin. Bitte.« »Das ist doch selbstverständlich, Joan...« Na, das war doch einfach nicht zu fassen! Die junge Joan Hornby, hoffnungslos in den alten Robin Carver verliebt! Kaum zu glauben! Das hätte er sich nicht träumen lassen! Und dann - Mensch! Er begann zu strahlen.
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10 Schleier wegzuziehen und Hindernisse zu überwinden war schwierig, aber unbestreitbar erfreulich gewesen. Mit einem langen, langsamen, befreienden Stoß zur Erkenntnis vorzudringen, war einfach herrlich gewesen. Sie war rot im Gesicht, aufgeregt und glücklich. Für den Augenblick, aber nur für einen, war sie wie ausgeleert, bar jeder Energie. »Zufrieden?« »Ja, ja, ja!« Sie entfernte die Spürsonden von Lines' Schläfen und drückte auf den grünen Abschlußknopf. Ralph Tzombe lächelte sie an. »Da haben wir es, Carol. Wir haben es geschafft, und das noch gut innerhalb von Whitcliffes Frist. Ich glaube aber nicht, daß er sich so freut wie Sie -« »Sie haben recht, Ralph.« Carol Burnham verfolgte mit kritischem Blick, wie Lines die Augen öffnete. Sie hatte wirklich alles für diese Aufgabe gegeben, sie ohne Rücksichten durchgeboxt, entschlossen, den hohen Erwartungen Whitcliffes zu entsprechen. Und sie hatte es geschafft. Dort auf dem Labortisch lag die Lösung. Sie griff danach, drehte das Gerät von der Größe einer Zigarettenpackung in den Händen, sah mit ihrem inneren Auge genau, was sich hinter der Kunststoffhülle verbarg. »Alles hier, Ralph. Man zieht einfach die Spürsonden heraus, schließt sie an den Verstorbenen an, schaltet ein, und alles, was RID braucht, wird auf dem Mikroband magnetisch aufgezeichnet. Dann - wenn man die Spürsonden selbst anlegt, ist man RID-Prüfer und nimmt wahr, was sich in der Erinnerung des Toten abgespielt hat. Und man kann es Stunden, Tage, Jahre nach dem Tod des Opfers verfolgen!« »Was -?« sagte Lines. »Nein! Nein! Zurück! Weg mit ihm!« Carol reagierte sofort und schalt sich eine dumme, eingebildete Gans.
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»Hören Sie zu, Lines! Ihr Name ist Josiah Lines! Erinnern Sie sich! Wo sind Sie geboren?« »Ah«, gurgelte Lines. »Er ging mit einem Messer auf mich los. Ich -« Er schluckte, fuhr mit der Zunge über die Lippen. »Er -« »Wo sind Sie geboren?« »Galveston, Texas. Aber das Messer - es ging einfach durch! Ich spürte es -« »Nehmen Sie sich zusammen, Lines! Wann sind Sie geboren?« »Verstehen Sie denn nicht?« Lines fuhr hoch und packte Carols Handgelenke. »Dieses gemeine Schwein hat mich umgebracht! Wo bin ich denn jetzt...? Was ist passiert?« »Sie sind in den Forensischen Labors, Lines, das wissen Sie doch! Sie haben eben einen RID-Trip hinter sich, das ist alles! Ich dachte, Sie wären ein erstklassiger Prüfer! Sagen Sie endlich, wann sind Sie geboren?« »Ah - einundzwanzigster September fünfundachtzig. Ja - ja, ich erinnere mich. Ich habe für Whitcliffe Ihre verdammte Erfindung ausprobiert. Klar. Das ist es.« »Sie sind Angehöriger des inneren Sicherheitsdienstes von RID-A. Wie war der Geburtsname Ihrer Mutter?« »Bunn. Alles in Ordnung, Doktor Burnham. Ich weiß, wer ich bin. Hat mich nur an einem wunden Punkt erwischt, als er so mit dem Messer auf mich losging. Wenn ich das gewesen wäre, hätte ich das Messer umgedreht und es dem Gorilla in den Bauch gerannt!« »Wir hatten keine Einflußmöglichkeit auf den Mord, den wir aufnehmen sollten, Lines«, sagte Ralph Tzombe ruhig. »Wir fuhren zum T-Punkt Null und legten unsere eigenen Spürsonden an, während die Luf-Mannschaft ihrer Arbeit nachging. Es scheint aber festzustehen, daß unser Gerät funktioniert!« »Es funktioniert!« sagte Carol Burnham. Lines setzte sich auf und rieb sich den Nacken. Er sah immer noch grünlich aus, aber seine Zähigkeit kehrte zurück. Als Whitcliffe hereineilte, war er wieder ganz der alte. -1 0 4 -
Nachdem sie Bericht erstattet hatten, sagte Whitcliffe: »Sehr gut. Die Serienproduktion des Geräts beginnt sofort. Ich möchte, daß jedes Streifen-Luf damit ausgerüstet ist, so daß sie den Einsatz-Lufs Zeit sparen. Durch die Lenkung des Todesorters können sie viel schneller am T-Punkt Null sein.« Sein Blick streifte Lines. »Fühlen Sie sich wohl, Lines?« »Durchaus, Sir. Ich habe nur schon lange keinen RID-Auftrag mehr ausgeführt. Brachte mich ein bißchen durcheinander. Ist aber schon überstanden.« »Wenn ein paar von unseren übereifrigen Rekruten Sie jetzt sehen könnten, Lines, würden sie vielleicht eher begreifen, warum wir mit Auswahl und Ausbildung unserer Prüfer so streng sind. Das ist kein Zeitvertreib für Kinder.« »Aber die Fälle des Beinahe-Wahnsinns gehen von Kurs zu Kurs zurück«, meinte Ralph Tzombe. »Sie kommen immer noch vor. RID-Prüfer zu sein, führt nur allzu leicht zu Labilität und Wahnsinn. Das ist der Preis, den wir zu zahlen haben, um unsere Aufgabe erfüllen zu können.« Gewöhnliche Worte, übliche Komplimente; aber Carol erkannte mit leichtem Schaudern, daß Whitcliffe sie mit übermenschlicher Wahrheit ernst meinte. Nichts würde diesen Mann aufhalten. Er konnte jeden Gegner vernichten. Die Wahrheit dieses Gedankens zeigte sich noch deutlicher in den folgenden Wochen, als die Produktion in den geheimen Fabriken von RID-A anlief. ›RID-S‹ hatte Whitcliffe als Bezeichnung für das Gerät vorgeschlagen - ›RID-Speicher‹. Alle nannten es aber ›Carol - Typ Eins‹. Während die Produktion immer mehr gesteigert wurde, fiel Carol auf, daß die Ausbildung im Gebrauch von ›Carol - Typ Eins‹ nicht aufgenommen wurde. Whitcliffe drückte sich verschwommen aus, wenn das Thema zur Sprache kam. Ralph Tzombe bestritt, daß man sich deshalb Gedanken machen müsse, und befaßte sich mit den unvermeidlichen Verbesserungen, die zu ›Carol - Typ Zwei‹ führen würden. Carol konnte aber nicht verstehen, warum Whitcliffe seine -1 0 5 -
erklärte Absicht nicht in die Tat umsetzte; es paßte gar nicht zu ihm. Sie sprach Whitcliffe eines sonnigen Vormittags im Spätfrühling an, als Gezwitscher und Getriller die Rückkunft der Vögel ankündeten. Während des ganzen Sommers würden sie schweben und singen und ihr farbiges Gefieder vorführen. Die Menschen - sogar die grauen Un-Persönlichkeiten - fühlten sich wohler, wenn die Vögel zurückkamen. »Ich warte mit Ungeduld darauf, die neuen Geräte zu verteilen, Doktor Burnham«, sagte Whitcliffe. »In diesem Fall müssen wir aber mit Bedacht vorgehen. Ein gewöhnlicher Streifenbeamter tut, was man ihm sagt. Die Ausbildung ist nicht nur schwierig, sondern auch kompliziert. Wir müssen strengstes Stillschweigen bewahren. Was, glauben Sie, wäre das Ergebnis, wenn ein solches Gerät in die Hände eines Wissenschaftlers fiele, der nichts von RID weiß?« »Ich verstehe«, sagte Carol. »Das ist aber ein Risiko, das wir von Anfang an einkalkulieren mußten. Es muß beachtet und abgeschätzt worden sein, bevor Sie den Auftrag gegeben haben-« »Ja, Doktor, durchaus. Ich versichere Ihnen, daß ich weiß, was ich tue.« Carol blieb nichts anderes übrig, als zuzustimmen, wenn das Gespräch im Rahmen bleiben sollte. Gerade sie hatte nicht den Wunsch, mit Whitcliffe in eine Auseinandersetzung zu geraten. Der Gedanke erschreckte sie. Aber da war etwas - wie sollte sie es beschreiben? - etwas Verschlagenes an Whitcliffe, das sie verstörte und ängstigte. Der Gedanke, daß Whitcliffe auch sonst mit Problemen zu tun hatte, die ihr Fassungsvermögen überstiegen, richtete sie wieder auf. Es gab Gründe für alles, was Whitcliffe tat. Warum sich Sorgen machen? Während dieser Zeit nachlassender Beanspruchung für sie fiel es ihr schwer, plausibel klingende Ausreden zu finden, um die Einladungen abzulehnen, mit denen Alec Durlston sie weiterhin bedrängte. Sie hatte längst aufgegeben, ihre Gefühle ihm gegenüber verstehen oder erklären zu wollen. Geistig war er -1 0 6 -
eine Null. Körperlich - nun, sie mußte wenigstens sich selbst gegenüber ehrlich sein - sandte der Gedanke an seine kraftvolle Männlichkeit Schauer über ihren Rücken. Sie hätte kaum Einwände. Sei ehrlich! ermahnte sie sich. Du wärst in Wirklichkeit begeistert... Die Existenz von ›Carol - Typ Eins‹, der ›Cartes‹, wie sie genannt wurden, kam den Technikern und Prüfern von ›RID-A‹ zu Bewußtsein, als Whitcliffe langsam die Verwendung der neuen Geräte in der gesamten Polizei anbahnte. Carols Telefon läutete, und sie nahm den Hörer ab. »Carol? Hier Alec.« Als hätte sie seine Stimme nicht augenblicklich erkannt! »Hallo, Alec. Nett, von Ihnen zu hören.« »Wirklich? Ich dachte, Sie wären mir ausgewichen. Kann doch gar nicht sein, nicht wahr?« »Wie kommen Sie denn darauf?« »Hören Sie zu, Carol. Unser Luf wird vierundzwanzig Stunden aus dem Verkehr gezogen - mit den RID-Geräten stimmt etwas nicht, und Marjie hat es noch verschlimmert. Ich habe sehr viel freie Zeit - die ich mit Ihnen verbringen möchte. Sie dürfen nicht nein sagen.« Sie hätte es tun können, aber ein Impuls, und mehr als das, veranlaßte sie zu einem Ja - und so fuhren sie an diesem Abend hinunter zu einer Silberschale, die zwischen den strahlenden Lichtern der Großstadt unter einem Pedoweg hing. Durlston trug einen makellosen, stahlblauen Smoking und ein blütenweißes Hemd. Er lächelte viel. Er war ein Schwerenöter und wußte es. Er strahlte unerschütterliche Selbstsicherheit aus. Und Carol - Carol wand sich wie ein Wurm am Haken, haßte sich, weil sie sich wie ein naives Schulmädchen benahm und doch das Gefühl genoß, zu tun, was ihr Spaß machte, statt das, was richtig gewesen wäre. Sie trug ein einfaches Kleid in tiefstem Nachtblau, das ihre makellose Haut besonders gut zur Geltung brachte. -1 0 7 -
»Scheint nett zu sein hier«, sagte sie, höfliche Konversation betreibend. »Ich habe das Lokal durch einen Kollegen kennengelernt«, sagte Durlston lässig, »der Mann heißt Robin Carver, ein alter, verbrauchter Typ von gestern. Hätte schon vor Jahren in Pension geschickt werden müssen. Er kommt oft her.« Während des Essens unterhielten sie sich beiläufig. Carol gewann den Eindruck, daß Durlston das Gespräch steuerte, um Informationen aus ihr herauszulocken. »Ihr neues Spielzeug, Carol«, meinte er nebenbei, den Arm über die Stuhllehne schiebend, »soll ganz enorm sein, wie ich höre. Kann man so etwas mal in die Hand bekommen?« »Es leistet, wofür es gebaut worden ist«, sagte sie vorsichtig. »Sie werden sicher bald eingeweiht werden.« Er lächelte, und sie versuchte ihn zu warnen, aber sie wußte, daß ihn die letzte Bemerkung nicht erfreut hatte. Warum sollte sie sich eigentlich Mühe geben, ihn zu erfreuen? Er besaß nur eines, wofür sie sich interessierte, und das war kein Gesprächsthema zwischen einer Dame und einem Mann - noch nicht. Sie bedauerte, seiner Einladung gefolgt zu sein. »Eine Sängerin«, sagte sie, um aus dem engen Themenkreis ihres Gesprächs auszubrechen. »Sie sieht hübsch aus.« Durlston warf einen Blick auf die von Scheinwerfern erhellte Bühne. Sie sah, wie sich seine Augen verengten, wie sein Körper erstarrte. Er beugte sich vor. »Sie ist - nett«, stieß er schließlich hervor. Die Frau auf der Bühne begann mit heiserer Stimme zu singen. Durlston betrachtete die Info-Karten auf dem Tisch. »Joan Hornby«, sagte er. »Hm.« Carol beobachtete ihn. Er erinnerte sie an eine Katze, die eben dabei war, sich über eine Schüssel Schlagsahne herzumachen. In seinem Gesicht zeigte sich eine vibrierende Anspannung, die sie störte. Die Sängerin beendete ihren Vortrag und ging zu einem Kristalltisch in einer Nische. Dort saß ein Mann von unauffälligem Äußeren. Er trug einen konservativen -1 0 8 -
anthrazitgrauen Anzug. Sein braunes Haar war zurückgekämmt. Sein Gesicht zeigte alle Spuren eines harten, gnadenlosen Lebens, das ihm beinahe eine Clownsmaske aufgeprägt hatte. Wenn er nicht seinen täglichen neuen Anzug getragen hätte, dachte Carol mit einem kleinen Stich des Mitgefühls, hätte er sicher mit geflicktem Jackett und durchlöcherten Socken dagesessen. »Donnerwetter«, sagte Durlston betroffen. »Da sitzt Carver! Jetzt weiß ich endlich, warum der alte Lüstling hier immer auftaucht!« Er stand auf, entschuldigte sich kurz und schritt davon. Er trat an den Tisch und starrte Carver an, als Joan Hornby herankam. Was er sagte, konnte Carol nicht hören. Carver erhob sich jedoch halb und schien verärgert zu sein. Joan Hornby legte ihm eine Hand auf die Schulter. Durlston sagte noch etwas und tätschelte die Sängerin am verlängerten Rücken. Carver stand auf, schob die Hand der Frau weg, und Durlston gab ihm einen Kinnhaken. Carver fiel zu Boden. Joan Hornby beugte sich über ihn. Durlston lachte, sagte noch etwas zu der Sängerin, lachte wieder und stolzierte zu Carols Tisch zurück. »Manieren haben manche Leute«, meinte er, als er sich setzte und die Beine übereinanderschlug. »Man möchte es einfach nicht glauben. Der Kerl hat wirklich Nerven! Am liebsten hätte ich ihn richtig verprügelt.« »Was hat er denn getan?« fragte Carol verwirrt. »Ach, zerbrechen Sie sich nicht Ihren hübschen, kleinen Kopf. Kommen Sie.« Er stand plötzlich auf. Carol schaute entgeistert zu dem anderen Tisch hinüber. Carver war aufgestanden, eine Hand am Gesicht, und Joan Hornby sprach drängend auf ihn ein. Carol sah den Ausdruck auf ihrem Gesicht, angespannt und unglücklich. Carver erwiderte etwas, das Carol nicht verstehen konnte, dann ging er auf Durlston zu. Sie erhob sich schnell. Durlston nahm ihren Arm. -1 0 9 -
»Ich möchte jetzt gehen«, sagte sie kalt. »Machen Sie sich keine Sorgen wegen dieses Kerls. Ein Blick zeigt doch, daß er keinen Mut hat. Sogar die Ordonnanzen schubsen ihn herum.« »Sagten Sie nicht, daß er Prüfer ist?« fragte Carol, die den herankommenden Carver immer noch wie hypnotisiert anstarrte. »Sicher. Aber ein völlig unfähiger. Kommen Sie.« »Einen Augenblick, Durlston«, sagte Robin Carver. Er spürte immer noch die Wirkung des Faustschlags. »Ich glaube, Sie sollten sich bei Miss Hornby entschuldigen.« Carol sah von einem zum anderen und war sich ganz deutlich der Haßgefühle bewußt, die beide füreinander empfanden. »Halten Sie den Mund, Carver, und gehen Sie zu Ihrem Freudenmädchen zurück. Außer Sie wollen noch einmal niedergeschlagen werden.« »Miss Hornby ist eine Bekannte von mir. Sie ist kein Freudenmädchen. Ich finde, dafür müssen Sie sich entschuldigen, Durlston.« »Verschwinden Sie. Kommen Sie, Carol.« Carver streckte eine Hand aus und packte Durlston an der Schulter. Er wirbelte ihn herum. »Sie werden sich entschuldigen, Durlston!« Durlston erstarrte. Er starrte die Hand auf seiner Schulter an. »Nehmen Sie Ihre Hand weg, Carver. Sonst schlage ich Ihnen die Nase ein. Ich habe Sie schon einmal niedergeboxt, und beim nächstenmal erwischt es Sie so, daß Sie leicht Kandidat für eine RID-Liege sein könnten!« Sie sahen sich blitzschnell um. Niemand konnte mithören. »Sie sind ein Niemand, Carver«, fuhr Durlston fort. »Die Karikatur eines Prüfers. Weg jetzt, sonst passiert etwas.« »Entschuldigen Sie sich!«
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Durlston stieß Carvers Hand weg und holte mit der rechten Faust aus. Carver blockte ab und hieb Durlston die Rechte in den Magen. Carol spürte das plötzliche, erleichternde Nachlassen der Spannung zwischen den beiden, als sei ein Geschwür endlich aufgeplatzt. Ein Geschäftsführer eilte herbei, als sich die beiden ineinander verbissen. Durlston versuchte Carver an die Schienbeine zu treten. Sein Gesicht verzerrte sich vor Wut. Er fluchte und schimpfte, als Carver auswich, Durlstons Fußknöchel packte und das Bein hochriß. Durlston fiel nach rückwärts und stieß die Gläser vom Tisch. Einen Augenblick lang schien es, als habe Carver einen Fehler gemacht, denn Durlston zog ihn mit sich und versuchte ihm die Finger in die Augenhöhlen zu stoßen. Carver öffnete den Mund, nahm Durlstons suchende Finger zwischen die Zähne und biß fest zu. Durlston brüllte auf. Dann lag Durlston plötzlich auf dem Bauch, sein rechter Arm ragte steil empor, und Carver hielt ihn fest, während er mit einem Fuß auf Durlstons Schulter stand. Carver zerrte an dem Arm. Durlston schrie. »Entschuldigen Sie sich bei Miss Hornby, Durlston, sonst drehe ich Ihnen den Arm aus und schlage Sie damit zusammen.« Durlston fluchte und versuchte die Beine zur Seite zu schwingen. Carver hob den anderen Fuß und verlagerte sein ganzes Gewicht auf den Fuß, der Durlstons Schulter niederdrückte. »Entschuldigen Sie sich!« Der Mann am Boden gab noch nicht auf. Mit der freien Hand versuchte er Carvers Bein zu packen. Carver trat ihm auf die Hand. So blieb er stehen, einen Fuß auf der Schulter, den anderen auf der Hand, während er mit enormer Kraft an dem anderen Arm zerrte. »Entschuldigen Sie sich!« »Sie reißen mir den Arm aus, verdammt!«
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»Ist ja Ihr Arm. Wenn Sie ihn behalten wollen, müssen Sie sich entschuldigen!« Und Carol wußte mit absoluter Sicherheit, daß dieser merkwürdige Mann tatsächlich Durlston den Arm auskugeln würde. Sie schauderte. Auf Durlstons Stirn bildeten sich Schweißtröpfchen. Sein Mund, der auf den Boden gepreßt war, formte Worte. Der Geschäftsführer wollte Carver wegschieben. Carver zog eine Hand zurück, packte den Geschäftsführer an der Brust und stieß ihn durch das Lokal. Der Geschäftsführer griff nicht mehr ein. »Entschuldigen Sie sich!« Und wieder ein Ruck an dem verdrehten Arm. »Ich bitte um Verzeihung! Verzeihung!« »Sagen Sie, daß Sie keinen Augenblick angenommen haben, Miss Hornby könne ein Freudenmädchen sein! Sagen Sie, daß Sie ein dreckiger, lausiger Halunke sind, weil Sie auch nur die Andeutung eines solchen Gedankens in sich entdeckt haben!« Durlston gehorchte. Joan Hornby war herübergelaufen und neben Carol stehengeblieben. »Das ist entsetzlich«, flüsterte Carol. »Können wir denn nichts tun?« »Ich glaube, Robin ist durchaus Herr der Lage.« Und Carol stellte ungläubig fest, daß Miss Hornby den Anblick auch noch zu genießen schien. Sie war offensichtlich hocherfreut! Carol konnte verstehen, daß Carver von Durlston eine Entschuldigung zu hören wünschte. Aber das hier - diese schreckliche Explosion barbarischen Zorns -, das glich eher einem zu lange hinausgeschobenen Ausbruch angestauter Gefühle. Carver glich einer kraftvollen, plötzlich losgelassenen Feder. Carver bückte sich und half Durlston auf. Carver lächelte. Durlston hatte ein blaues Auge, er blutete aus der Nase, -1 1 2 -
Kragen und Fliege hingen unter einem Ohr. Er sah aus wie eine zerquetschte Tomate, die von der Stahlfeder mit voller Wucht getroffen worden war. »Danke für die Entschuldigung, Durlston. Denken Sie beim nächstenmal daran, was für ein mieser kleiner Dreckskerl Sie sind und halten Sie in Zukunft Ihren ungewaschenen Mund. Verstanden?« Durlston öffnete den Mund, fing Carvers grimmigen Blick auf und klappte ihn wieder zu. Er tastete nach Carols Arm. »Gehen wir.« Als sie das Lokal verließen, drehte sich Carol noch einmal um. Carver stand hochaufgerichtet da, dennoch unauffällig, wirklich ein eigenartiger Mann.
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11 »Schlägerei in einem Lokal!« Hammant war außer sich. »Sie gehen mir alle beide auf die Nerven! Eines steht jedenfalls fest. In eine Mannschaft kann ich Sie nicht mehr tun. Sie müssen auseinander. So etwas Idiotisches ist mir noch nicht vorgekommen!« Hammants Aufgabe als Chef war schwer genug, aber eine Auseinandersetzung zwischen Prüfern, die sich bis zu Faustkämpfen in der Öffentlichkeit steigerte, hatte er noch nicht zu schlichten gehabt. Carver und Durlston standen in seinem Büro vor ihm und wurden systematisch fertiggemacht. Durlston sah fünfzehn Stunden nach der Prügelei immer noch demoliert aus. Die angenehme Befriedigung, die Carver erfüllt hatte, nachdem er mit Durlston verfahren war, wie jener es verdiente, hatte sich längst verflüchtigt. Er wußte, wie dumm er sich benommen hatte. Aber Durlston hatte ihn einmal zu oft herausgefordert und außerdem war der erste Schlag von ihm gekommen. Auch das war eigentlich eine Kinderei, wenn man es sich recht überlegte. Mit ätzender Verachtung von Hammant entlassen, schritten Carver und Durlston gemeinsam durch die Tür, marschierten aber im Korridor in entgegengesetzten Richtungen davon. Carver hörte Durlstons Schritte verklingen. Vielleicht war ihm das eine Lehre gewesen. Vielleicht aber auch nicht. Carver hatte das Gefühl, daß Typen wie Durlston nie aus ihren Fehlern lernten. In der Kantine sagte Soames: »Sie sind wirklich ein Narr, Robin! Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?« »Ich - ich konnte einfach nicht mehr anders, Bob.« »Ich weiß schon. Das Dumme ist, daß Sie von Luf drei abgezogen werden - « »Tut mir leid!«
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»Tut ihm leid!« warf Charlie Rawlinson ein. »Und wir? Wir haben Durlston immer noch am Hals -« Aber daran konnte Robin Carver nichts ändern. Er wurde Luf 10 zugeteilt und fügte sich recht gut in die neue Mannschaft ein, ohne sich vorzudrängen, zurückgezogen und distanziert, aber anders als früher. Soames' Posten bekleidete hier Mark Keyser, ein jovialer Mann mit rotem Gesicht und blondem Schnurrbart, der von seiner neuerbauten Ranch-Villa über dem alten Atombunker irgendwo in Arizona täglich zur Arbeit kam. Offensichtlich hatte man ihn vor Carver gewarnt. Carver gewann den Eindruck, daß man ihn wie ein rohes Ei behandelte und vom normalen Hin und Her des RID-A-Lebens abschirmte. Zu Anfang wollte er dagegen aufbegehren, aber er erkannte bald, daß ihm die scheinbare Isolierung angenehm war. Er konnte sich in Ruhe mit seinen Überlegungen beschäftigen. In Kürze waren die halbjährlichen psychologischen Tests fällig, mit den Schäkereien, wie sie bei der Halbzeit eines Fußballspiels in der Kabine vorzukommen pflegten, den Streichen und sonstigen Einfallen, die nicht nur den Untersuchern, sondern auch den Prüfern beweisen sollten, daß sie immer noch normale menschliche Wesen waren. Die alte Vorstellung, daß sich ein Psychiater mit jeweils nur einem Patienten befaßte und seine geistige Gesundheit durch ein Frage-und-Antwort-Spiel erkundete, während dieser auf der Couch lag, war längst den Weg der Dinosaurier, des Benzinmotors und des Zahnbohrers gegangen. In dieser Zeit schürfte die analytische Psychiatrie viel tiefer in die Urgründe von Angst und Neurose, als es der einzelne Psychiater früher vermocht hatte. Psychiatrie und Analyse hatten von der Arbeit auf Gruppenbasis unendlich profitiert. In Robin Carver erweckte der Gedanke an die bevorstehende Gruppentherapie jedoch Furcht - er bezweifelte, ob er gegen Cy Adams und Genossen aufkommen würde, wenn es hart auf hart ging.
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Er mußte versuchen, hinsichtlich der Situation und der Verschwörung, von deren Existenz er jetzt überzeugt war, etwas Entscheidendes zu unternehmen, bevor er in die Untersuchungen einbezogen wurde. Gerüchte über das neue Gerät, das die überstürzten Fahrten der Lufs überflüssig machen würde, kreisten durch die gesamte RID-Zentrale. ›Carte‹ hieß das Ding, was immer das bedeuten mochte. Marv und Belle, die beiden Sumos, die James Partridge ermordet hatten, waren inzwischen gefaßt worden, und Carver mußte der unerfreulichen Pflicht nachkommen, sie formell zu identifizieren. Allem Anschein nach vermochten sie für ihre Tat keine Begründung zu geben. Zur gleichen Zeit wurde auch Lemmon vorgeführt; hier hatte die Polizei schneller zugegriffen. Carver bestätigte, daß es sich bei diesen Personen um die von ihm erkannten Täter handelte. »Diese Typen lernen nie etwas«, sagte Hammant, während die kleine Gruppe von Prüfern hinter dem polarisierten Schirm auf die Vorführung der nächsten Gefangenen wartete. Natürlich waren diese Identifizierungen vor Gericht nicht als Beweismittel zugelassen; man führte sie durch, um sicherzustellen, daß keine Irrtümer vorgekommen waren. »Und Zeuke?« erkundigte sich Carver bei Hammant. »Sie wissen schon, der Berufskiller, der mit Lemmon zusammen Stutzy Pocher umgelegt hat.« »Bis jetzt keine Spur, Robin. Die Polizei hat ihn noch nicht finden können.« Hammant stützte das Kinn auf den Ellenbogen und drehte sich zu Carver um. »Ich habe Ihre Arbeit in letzter Zeit verfolgt. Sie scheinen diese merkwürdige Periode überwunden zu haben. Fühlen Sie sich besser?« »Klar«, log Carver. Ein Mann trat hinter dem polarisierten Schirm auf die Bühne, verwirrt, kopfschüttelnd, halb betäubt. »Das ist der Kerl«, sagte Alec Durlston, der sich so weit wie möglich von Carver weggesetzt hatte. Die Polizei führte den -1 1 6 -
Betäubten ab und brachte den nächsten Mann. Carver sah nicht zu Durlston hinüber. Archie Smythe-Potts nickte. »Das ist er.« Der Nächste. »Klar«, sagte Bill Hambling. Der Nächste. So ging es weiter. Die Augen des Gesetzes stellten sicher, daß die RID-Prüfer ihre Pflichten nicht vernachlässigt hatten. Eigenartig, daß die Polizei Zeuke nicht gefunden hatte. Als Carver die Ident-Halle verließ und ein Taxi wählte, das ihn zum ›H.d.R.E.‹ und zu Joan Hornby bringen sollte, war es, als bestünde zwischen diesem Gedanken und den folgenden Handlungen ein Zusammenhang. Das Luf-Taxi, das aus dem Verkehr ausscherte, glitt nicht, wie er zunächst dachte, auf ihn zu, sondern zu einem Mann, der etwa fünfzig Meter von ihm entfernt auf dem Pedoweg stand. Carver zuckte die Achseln und wählte an der Rufsäule erneut. Ein zweites Taxi löste sich aus dem Verkehrsstrom und näherte sich, durch Radarsignale das erste Taxi beiseite schiebend. Es schoß vorbei, nur wenige Meter vom Pedoweg entfernt. Der Insasse war Zeuke - Carver hegte nicht den geringsten Zweifel daran. Er sprang in sein eigenes Taxi, zögerte aber einen Augenblick. Das war Zeuke gewesen. Ganz bestimmt! Und nun? Die Polizei rufen - aber... aber! »Zum Teufel damit«, sagte Carver und gab dem Taxiroboter Anweisungen. »Dem Taxi vor uns folgen.« Die Radarsteuerung stellte sich darauf ein, und Carver konnte sich beruhigt zurücklehnen. Warum er so vorging, wußte er selbst nicht genau. Für die Verständigung der Polizei war wenig Zeit geblieben, und bis eine Luf-Streife eingetroffen wäre, hätte Zeuke das Taxi längst verlassen haben können. Carver reagierte also richtig. Dem Mörder folgen und feststellen, wo er ausstieg - und dann erst die Polizei verständigen. Aber das war eigentlich nur ein -1 1 7 -
nachgeschobenes Argument. Er folgte Zeuke, weil ihn die Polizei nicht mit Lemmon zusammen festgenommen hatte - und weil er durch eine Tür gestolpert war, ein Mädchen im Arm, das Carver für seine Tochter gehalten hatte. Dies konnte auch ein weiterer Zug in demselben Spiel sein, das den unbekannten Mann aus dem Party-Zimmer als Zeuke, den Berufsmörder, in sein Leben geführt hatte. Wenn die absurde und unmögliche Vorstellung von einem Komplott gegen ihn zutraf, war dies der nächste Schritt zum Untergang. Zeukes Taxi fegte durch die Stadt und landete auf einer Plattform vor dem Forensischen Gebäude. Carver riß Mund und Augen auf. Entweder war er auf ein überaus scheußliches Komplott gestoßen, oder man lockte ihn in eine Falle - oder Zeuke hatte den Verstand verloren. Die Wolkendecke glühte im Abendrot, als Zeuke mit schnellen Schritten einen kleinen Nebeneingang erreichte. Carver folgte ihm vorsichtig. Er war verwirrt. Jetzt konnte keine Rede mehr davon sein, daß er die Polizei unterrichten mußte. Hier, in diesem Gebäude, befand sich das Nervenzentrum der gesamten polizeiwissenschaftlichen Organisation. Das Gewirr von Räumen und Laboratorien in dieser Etage schien verlassen zu sein, als Zeuke eine Glas- und Alu-Tür nach der anderen durchschritt, immer tiefer eindringend. Nur Carvers große Erfahrung als Geheimagent erlaubte überhaupt, daß er Zeuke auf den Fersen bleiben konnte. Der Gedanke, daß Zeuke hier sein mochte, um seinen Beruf auszuüben, war Carver zwar gekommen, aber er hatte ihn sofort wieder verworfen. Wenn Zeuke einen Angehörigen von RID-A töten wollte, würde er es sicher nicht so anfangen. Trotzdem beschleunigte Carver seine Schritte, in der Hoffnung, plötzlich eine Chance zu finden - um diese Zeit mußte hier doch noch jemand arbeiten, Wachen, Aufseher, irgend jemand. Zeuke blieb vor einer glatten Holztür stehen und klopfte. Carver wurde wütend. -1 1 8 -
Lines hatte ihm also eine Falle gestellt! Das ganze Gerede, wonach der Vorfall erledigt sei, hatte also nichts zu bedeuten gehabt; Lines argwöhnte immer noch, daß Carver von dem Trip in Julie Farishs Gedächtnis nicht alles erzählt hatte, und Zeuke hatte einen weiteren Auftrag erhalten. Nun meldete er sich zurück zur Berichterstattung. Carver sah keine andere Erklärung. Die Tür öffnete sich, Carver sah die weiße Fläche eines Gesichts, ohne die Züge erkennen zu können, bemerkte eine weiße, winkende Hand, und dann trat Zeuke ein und schloß die Tür. Carver hastete hin und hörte gedämpftes Stimmengemurmel. Wenn er noch Agent gewesen wäre, hätte er mit seinen Geräten das Gespräch spielend verfolgen können. So mußte er sich anstrengen, um etwas zu verstehen. »Alles vorbereitet, Boss.« Das war Zeuke, dessen scharfe, harte Stimme deutlich durch die Tür drang. »Das Syndikat nimmt alles, was Sie liefern können.« »Mm - mmh - sehr gut - mmmh - Lieferung - mh - Vorsicht. Vergessen Sie nicht« - die monotone Stimme wurde etwas deutlicher -, »daß wir uns keinen einzigen Fehler leisten können!« »Ich sorge persönlich dafür, daß die Fahrzeuge an den Laderampen sind.« »Gut - mmh -« Die Männer schienen sich entfernt zu haben, denn Carver konnte nichts mehr verstehen. Er preßte das Ohr an die Tür und fragte sich, was er tun sollte. »Aber - Mr. Carver! Was machen Sie denn da?« Carver richtete sich auf und fuhr herum. Mit dem Ausdruck einer Dame, die unter ihrem Bett einen Mann entdeckte, stand Carol Burnham vor ihm. Unter einem weißen Labormantel trug sie ein Abendkleid. »Ha?« stotterte Carver entgeistert. »Sie sind doch Mr. Carver, nicht wahr? Was tun Sie da?« »Ich - äh - das heißt, ich habe Sie gesucht«, sagte Carver, blind nach einer Ausrede suchend. »Mich? Wozu denn?« -1 1 9 -
Carver hatte sich wieder in der Hand. Er lächelte. Das fiel ihm jetzt leichter, seit er Joan Hornby wiedergesehen hatte, »Ich wollte Sie besuchen und mich für mein Benehmen neulich entschuldigen. Sie sollten nicht den Eindruck haben, daß ich ein wilder Mann bin.« Ausgerechnet! dachte er verzweifelt. Von der anderen Seite der Tür war wieder Stimmengemurmel zu hören. »Na«, sagte sie ätzend, »Sie können mich aber nicht finden, wenn Sie an Türen lauschen. Warum sind Sie nicht zu meinem Labor gegangen?« »Ich wußte ja nicht, wo das ist. Ich wollte aber auch nicht fragen und mich mit meinem Beweggrund für diesen Besuch lächerlich machen.« Das Stimmengemurmel kam näher. Zeuke wollte das Zimmer verlassen. Er hörte den Mann sagen: »Alles geklärt, Boss. So viele wie nur möglich. Das Syndikat freut sich, daß alles so gut klappt. Sie haben klug gehandelt.« Und die trockene, kalte Stimme des anderen Mannes: »Dafür bin ich da, Zeuke. Ich tue dem Syndikat einen Gefallen, vergessen Sie das nicht! Die Bezahlung muß prompt erfolgen!« »Was ist denn, Mr. Carver? Haben Sie etwas?« »Nein - nein, natürlich nicht, Miss Burnham -« »Sie sehen so merkwürdig aus. Und die meisten Leute sagen Doktor Burnham zu mir -« Er entfernte sich von der Tür. Er mußte sehen, mit wem Zeuke gesprochen hatte, ohne von den beiden Männern entdeckt zu werden. Das Mädchen mußte ihm dabei helfen. »Hören Sie, Doktor Burnham, ich möchte mit Ihnen sprechen haben Sie Zeit für eine Tasse Kaffee - ich sehe, daß Sie ausgehen wollen.« Die Tür begann sich zu öffnen. »Tja -« »Fein!« sagte er begeistert und nahm ihren Arm. »Führen Sie mich in die Kantine oder was Sie sonst hier haben.«
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Sie starrte ihn verblüfft an. Ihre Mundwinkel zuckten, als sie seine merkwürdige, abgespannte Erscheinung betrachtete, aber sie bemerkte auch die dominierende Kraft in ihm, die Charakterstärke, von der sich jede Frau angezogen fühlt, ganz abgesehen von der rein physischen Kraft, die sie in dem Nachtlokal bei ihm entdeckt hatte. »Ich schulde Ihnen sowieso etwas«, meinte sie dunkel. Carver stellte sich so, daß er der sich öffnenden Tür den Rücken zuwandte. Die Stimmen waren verstummt. Dann sagte Zeuke ganz laut, als stehe er direkt hinter Carver: »Also auf Wiedersehen.« Er trat auf den Korridor hinaus und sah Carol und den Rücken eines Mannes. »Oh - da ist jemand. Bis später.« Erleichtert hörte Carver seine Schritte davon marschieren. Die letzten Worte waren eine Warnung für seinen Begleiter gewesen. Carol schien es nicht eilig zu haben, und da er immer noch ihren Arm festhielt, würde er sie halb herumreißen müssen, wenn er jetzt wegging. Die ruhige, trockene Stimme sagte: »Ah, Doktor Burnham, wollten Sie etwas von mir?« Carver würde sich jeden Augenblick umdrehen müssen. Er konnte dem Mann nicht länger den Rücken zudrehen, wenn Doktor Burnham mit ihm sprach; er wagte aber nicht, sich schnell umzudrehen. Er mußte warten, bis Zeuke soweit entfernt war, daß er ihn nicht mehr erkennen konnte. Nicht, daß jenem das möglich gewesen wäre; Zeuke war Robin Carver nie begegnet. Carver wollte jedoch verhindern, daß Zeuke ihn schon jetzt kennenlernte. So hatte er früher als Agent immer gearbeitet, und er sah keinen Anlaß, davon abzugehen. »Ich wußte nicht genau, ob Sie da sind, Sir«, sagte Carol. Sie versuchte, ihren Arm aus Carvers Griff zu befreien, was Carver veranlaßte, sich umzudrehen. Zeuke bog eben um eine Ecke. Carver spürte, wie eine Bedrückung wich und sofort von einer anderen ersetzt wurde. »Na, was gibt es, Doktor Burnham? Ich habe noch zu arbeiten. Es gibt viel zu tun«, sagte Whitcliffe. -1 2 1 -
12 Der Anblick Whitcliffes brachte Carol wieder den Grund für ihren Besuch in diesem abgeschlossenen Teil des Forensischen Gebäudes in Erinnerung und verhinderte gleichzeitig, daß sie sich mit dem merkwürdigen Verhalten Carvers näher befaßte. »Ich möchte Sie nicht lange aufhalten, Whitcliffe, bin aber der Meinung, daß Sie das sofort erfahren müssen. Als ich den Vorrat an ›Cartes‹ an RID-S, meine ich - nachprüfte, entdeckte ich, daß mindestens tausend Stück fehlen. Ich habe ganz bestimmt keine Freigabe unterzeichnet, und Doktor Tzombe ebenfalls nicht -« »Schon in Ordnung, Doktor Burnham. Das habe ich getan. Wir beginnen mit der Verteilung. Ihre Sorgfalt ist aber sehr lobenswert.« Sie standen zu dritt an der Tür; Whitcliffe, gelassen, freundlich, völlig beherrscht; Carol Burnham, ein wenig atemlos, nicht ganz begreifend, besorgt; und Robin Carver, immer noch bemüht, den Schock angesichts der Erkenntnis zu überwinden, daß Whitcliffe mit einem Berufsmörder zusammenarbeitete. Whitcliffe sah Carver mit einem fragenden Blick an. »Ich bin nur vorbeigekommen, um Doktor Burnham etwas zu fragen, Sir«, sagte Carver sofort. »Eine persönliche Angelegenheit, nichts Wichtiges. Es hat Zeit.« Er zweifelte daran, daß Whitcliffe ihn wiedererkannte; möglich war es, der Mann hatte ein erstaunliches Gedächtnis, aber nichts wies darauf hin, daß es eidetischer Natur war wie das der Prüfer. »Ich habe Whitcliffe offenbar grundlos gestört, Robin«, sagte Carol. »Entschuldigen Sie, Sir. Wir gehen jetzt.« »Vergessen Sie nicht, morgen pünktlich zu erscheinen, Doktor Burnham. Ich arbeite eben Pläne für das neue Gerät aus. Wir haben viel zu leisten.«
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Whitcliffe nickte zum Abschied, und Carol ging mit Carver den Korridor entlang. Carver schritt dahin, als erwarte er jeden Augenblick, daß eine Nadelpistole seine Nerven zerfetzen würde. »Ein großer Mann, Whitcliffe«, sagte Carol, als sie um die Ecke bogen. »Wenn er Sie beim Lauschen ertappt hätte, wäre der Teufel los gewesen.« »Ich wußte nicht, daß das sein -« »Hier befinden sich seine Arbeitsräume. Seine Büros sind oben auf dem Dach.« »Kann ich mir vorstellen.« »Gut, daß ich ihn erwischt habe. Also - wenn Sie mir den Kaffee spendieren wollen, dann kommen Sie. Ich brauche ihn.« Als sie auf die Plattform zugingen, sagte Carver: »Was steckt eigentlich hinter der Geschichte mit diesem Carte-Gerät, von dem dauernd geredet wird? Wissen Sie zufällig etwas davon?« Carol lachte. Carver gefiel das. »Und ob!« »Na ja«, sagte er verlegen. »Sie sind Wissenschaftlerin und gehören zu den klugen Leuten, die sich immer tollere und geheimnisvollere Geräte einfallen lassen. Sie arbeiten hier und Sie haben Whitcliffe das Verschwinden von tausend Stück gemeldet.« »Sie sind ein echter Kriminalist, wie?« Aber ihre Worte klangen nicht bösartig. Er sah sie an, betrachtete ihr schwarzes Haar, ihr Gesicht, das er nicht als hübsch definieren konnte, das aber eine besondere Anziehungskraft besaß, und ihre Augen - wenn Joan Hornby eine Zuckerpuppe war, um den in der Stadt gebräuchlichen Slang zu gebrauchen, die Wünsche im Manne weckte, dann war Carol Burnham eine Juno, die alle Wünsche eines Mannes zu befriedigen vermochte. »Ich habe bei der Entwicklung von Carte mitgeholfen«, sagte sie ohne Prahlerei. »Ein wunderbares Gerät - hier.« Sie griff in die Tasche und zeigte ihm ein flaches, metallisches Kästchen von der Größe einer Zigarettenpackung, das mit Spürsonden -1 2 3 -
ausgestattet war. »Das ist RID-S - Carol - Typ Eins - Carte. Da uns Whitcliffe erzählt hat, daß sie jetzt verteilt werden, schadet es ja nichts, wenn sie vorzeitig ein Gerät sehen.« Carver nahm den Apparat in die Hand, bemerkte das geringe Gewicht, betastete die Schalter, überlegte. Er klappte den Deckel auf und sah die Mikrospulen. »Verstehe -« Er wollte eben ausführlicher werden, als der dumpfe Knall einer Handfeuerwaffe durch den Korridor dröhnte. Der Schuß schien in der Nähe der Landeplattform gefallen zu sein. Er rannte darauf zu, bevor er Zeit gehabt hatte, seine Empfindungen zu analysieren. Die Waffe war ein gewöhnliches Modell mit festem Projektil, automatisch, dem Knall nach zu schließen, also keine Nadelpistole, die auf einen Druck hin das Nervensystem eines Menschen zerstörte. Er fegte durch die letzten Türen und kam an der Landeplattform zum Stehen. Carol hetzte hinterher, die Augen weit aufgerissen, das Gesicht leichenblaß. Ein Mann lag wie ein abgeschossener Vogel auf der Plattform. Zeuke sprang eben in sein Taxi, die Pistole noch in der Hand. Er wirbelte herum und feuerte auf Carver. Das Geschoß prallte von der Mauer ab. Carver warf sich zu Boden. Das Taxi schoß aufheulend davon, in Sekundenschnelle vom Verkehrsstrom verschluckt. Carol tauchte keuchend auf. »Was-?« »Das wird der Todesorter eben angeben«, sagte Carver. Dann dachte er an den Tag, als er seine gelbe Stecknadel aufs Geratewohl an diese Stelle plaziert hatte, und er dachte an das schaudernde Gefühl, das ihn daraufhin überfallen hatte. Er lachte leise in sich hinein. Beinahe wie in alten Zeiten. Er bückte sich, um das Gesicht des Toten zu betrachten. »Ich war schon oft am T-Punkt Null -«, sagte er, führte den Satz aber nicht zu Ende. Auch hier paßte der Satz von den alten Zeiten her.
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»Stan Eames«, flüsterte er, so daß Carol es nicht hören konnte. Dann sagte er: »Er ist tot. Für einen RID-Prüfer bleibt also nur eines zu tun.« Er schob die Spürsonde des Carte-Geräts, das er noch in der Hand hielt, über Eames' Schläfen. Carol beugte sich vor und schaltete das Gerät ein, nachdem sie an den Knöpfen gedreht hatte. Sie waren beide in die Knie gegangen und starrten einander nun an, während das kleine Gerät surrend aufzeichnete, was Stanley Eames' Gehirn gespeichert hatte. »Es wird nicht lange dauern«, meinte Carol mit überraschend fester Stimme. »Wir können die Informationen schneller aufzeichnen, als sie ein Prüfer aufzunehmen vermag. Die Maschine ist wieder einmal dem Menschen überlegen.« Sie reagierte sehr gut, dachte Carver. Zwar mochte sie täglich mit dem Tod zu tun haben, aber das war ein wissenschaftlicher, blutloser Tod. Unten in der RID-Zentrale würde das blutrote Licht des Todesorters auf der Stadtkarte eines RID-Lufs aufflammen und eine Mannschaft in den Einsatz schicken. Aber hier am T-Punkt Null lag ein neues, kleines Gerät und pickte aus dem Gehirn des Toten, was diese Mannschaft erkunden wollte. Fortschritt nannte man das. »Sie haben nicht gesehen -?« »Nein«, log Carver. »Die RID-Anlage wird es uns ja mitteilen. Aber warum hier, warum gerade jetzt auf dieser Plattform? Das ist immer die quälende Frage.« »Das könnte wieder einer dieser sinnlosen Morde von Jugendlichen sein«, meinte Carol angewidert. »Sie breiten sich über die ganze Stadt aus, wie die Pest.« »Die Halbwüchsigen morden jetzt, um sich einen Nervenkitzel zu verschaffen. Ich weiß. Scheußlich. Aber mit unserem ganzen System ist etwas nicht in Ordnung - oh, ich weiß, das wird schon seit Jahrhunderten behauptet, aber man braucht sich die Stadt doch nur anzusehen, um zu wissen, daß sich die Befürchtungen bewahrheitet haben. Wir sind dekadent,
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verkommen, ohne jeden Zweifel. Das ganze Land. Und nicht nur die Teenager. Alle sind verdorben.« Das Gespräch mochte nicht angenehm sein, aber es paßte zu der Leere dieses Augenblicks. »Ich glaube, ich habe dieses Gefühl auch schon seit geraumer Zeit.« Carol strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Es war eine zutiefst weibliche und doch auch müde, enttäuschte Geste. »Die meisten Menschen fühlen so. Aber wir versuchen alle, nicht darüber nachzudenken, ernsthaft nachzudenken, meine ich. Wir leben einfach in den Tag hinein, tun immer wieder das gleiche, versuchen, etwas daraus zu formen.« »Etwas aus dem Leben zu formen.« Carver betrachtete die rotierenden Mikrospulen, die alle Erinnerungen eines Toten für eine Nachwelt aufzeichneten, die jener nie erleben würde. »Das trifft es. Aber in welcher Verfassung sind wir? Wo ist das Ziel des Lebens? Was treiben wir eigentlich? Wo ist unser Ziel?« »Ich wollte nichts anderes, als dieses kleine Gerät hier zu vervollkommnen - nun, das habe ich getan. Und jetzt bin ich enttäuscht.« »Das war an sich ein gutes Ziel. Sie hatten Glück. Ich hatte im Leben nichts, wofür zu arbeiten sich lohnte - außer Wendy, versteht sich -« »Wendy?« »Meine Tochter.« Aber hier, bei dieser mechanisierten Totenwache, war nicht der rechte Augenblick ihr die Bilder zu zeigen und von seiner Tochter zu erzählen. »Ich habe in letzter Zeit versucht, aus unzusammenhängenden Erscheinungen ein Bild zu formen -« er mußte genau bedenken, was er sagte -, »aber als Lebenszweck ist das ungenügend.« »Vielleicht sind alle auf dem Kontinent müde?« meinte Carol. »Des Lebens müde?« »Das glaube ich nicht. Jeder giert nach dem Leben - das beweist die frenetische Hast der Stadt -, aber irgendwie ist für mich nicht wichtig, was man erstrebt, oder vielmehr nicht
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wichtig, was man erreicht. Die Menschen wollen mehr vom Leben, als es ihnen heute bieten kann.« Die Spulen kamen zum Stehen, und das grüne Lämpchen flammte auf. »Das ist alles, was wir bekommen werden«, sagte Carol. »Man kann noch nicht beurteilen, wieviel wir -« Carver war beeindruckt. »Wir sind bereits fertig, und die RID-Mannschaft ist noch nicht mal hier.« Er steckte das Gerät ein und drehte sich um, als Schritte heranhämmerten. Er mochte diese Carol Burnham. An ihr gefiel ihm vieles, die Art, wie sie den Kopf hielt, ihre Figur, das schwarzschimmernde Haar, die Tiefe ihrer Augen und die ruhige, bescheidene Weise, mit der sie sich an einem Gespräch beteiligte, ohne beeindrucken zu wollen. Sie war echt. Und hinter der glatten Stirn wohnte ein klarer Verstand, der fähig war, erstaunliche wissenschaftliche Geräte zu entwickeln, ohne dabei zu vergessen, daß es auch noch andere Dinge gab, wie der Sitz ihrer Strümpfe und Kleider. Ein weibliches Genie, nichts Geringeres. Die Schritte näherten sich. Er lächelte sie an. Er versuchte sich ans Lächeln zu erinnern, an die Art, wie er früher seine Persönlichkeit eingesetzt hatte, um zu entwaffnen, zu lenken, um den Eindruck völliger Ehrlichkeit zu erwecken und damit seine Ziele zu erreichen. Aber er schaffte es nicht. Sein Lächeln war schief. »Es hat keinen Zweck, Doktor Burnham. Ich kann Sie nicht verzaubern. Hören Sie - ich bin in Schwierigkeiten. In ernsten Schwierigkeiten, und ich brauche Ihre Hilfe -« »Aber -« »Ich möchte Sie um einen großen Gefallen bitten. Einen ganz großen.« Vor dem Hintergrund der herandröhnenden Schritte im Labyrinth hinter ihnen wies er auf die Lichter der Stadt, als das Heulen des RID-Lufs näher kam. »Sie sind hier.« »Was wollen Sie?« fragte sie ruhig. -1 2 7 -
»Die RID-Mannschaft wird den armen Kerl hier unter die Lupe nehmen, aber ich will - ich muß - selbst sehen, worum es hier geht -« »Sie wollen«, sagte Carol Burnham, während sich ihr Herz zusammenkrampfte, »Sie wollen die Aufzeichnung des Geräts in Ihrer Tasche selbst prüfen - und ich soll nicht erwähnen, daß Sie es besitzen? Stimmt das?« »Würden Sie das tun? Bitte.« Ihre Reaktion überraschte ihn zuerst, ließ ihn aber auch erkennen, daß sie ganz Frau war. »Sie sind also nicht hergekommen, um mich zu besuchen!« »Ich möchte Sie gerne anlügen, Doktor - aber ich kann es nicht. Ich möchte Sie nicht in diese Geschichte mit hineinziehen. Sie hat nichts mit Ihnen zu tun, und Sie könnten nur Schaden davontragen. Ich bin darauf angewiesen, diese Aufzeichnung auswerten zu können - sind Sie einverstanden? Ich bitte Sie dringend -« Sie zog die Mundwinkel nach unten. »Nicht betteln, Mr. Carver. Das ist nicht schön.« »Nun?« »Tja, ich -« Sie waren beide aufgestanden und von der Leiche zurückgetreten, als die Türen zur Plattform aufgerissen wurden und die Sicherheitsleute von RID-A mit erhobenen Waffen und grimmigen Gesichtern heranstürmten. Das RID-Luf senkte sich herab, und noch bevor es aufsetzte, verriet der Klang der Turbinen, welches er sehen würde. RID-Luf 3. Lines hielt Carver seine Waffe unter die Nase. »Was, zum Teufel, treiben Sie hier, Carver? Warum haben Sie den Mann umgebracht?« Charlie Rawlinson stellte seine Kameras auf, während die LufFahrer heraussprangen. Soames stand an der Tür und überwachte den Einsatz. Niemand von der Mannschaft kümmerte sich um Carver. »Los, Carver, heraus damit!« -1 2 8 -
»Ich habe ihn nicht umgebracht, Lines, wie eine RID-Prüfung gleich ergeben wird. Und nehmen Sie Ihre Kanone da weg!« Lines steckte die Pistole ein. Es war eine Normal-ProjektilAutomatik, und Carver fragte sich, warum der Sicherheitsbeamte keine Nadelpistole verwendete. Nun, er würde wohl wissen, was er tat. Vermutlich machte es ihm Spaß, Gefangene zu verhören. Lines zog einen RID-S aus der Tasche und ging zu Rawlinson. »Sie können Ihre Kameras wieder abbauen«, sagte er arrogant. »Schaffen Sie Ihre Geräte in das Fahrzeug. Wir übernehmen das selbst.« »Was?« schrie Rawlinson empört, während er versuchte, an Lines vorbei mit einer Kamera auf Eames' Leiche zu zielen. »Verschwinden Sie!« »Weg mit Ihren Apparaten«, brauste Lines auf. Er winkte seine Leute herbei, und die schwarzgekleideten Männer traten drohend vor. Lines sah Soames ins Gesicht. »Ach, Sie sind es, Soames. Der SD greift hier selbst ein. Wir nehmen die RIDPrüfung vor. Sie können sich bei Ihrer Zentrale zurückmelden.« Soames starrte ihn an. Er sah Carver, verriet aber keine Überraschung. »Wie Sie meinen, Lines.« Er drehte sich um. »Sie brauchen sich gar nicht hinzulegen, Alec. Wir fahren zurück.« Dieser letzte Vorfall paßte genau zu den vorangegangenen Ereignissen. Carver fragte sich, was Lines von Eames' Erinnerungen halten würde. Eames hatte Carver und Carol Burnham nicht gesehen, aber was war, wenn Lines bis zu den Tagen zurückging, als Eames und Carver gemeinsam Geheimagenten gewesen waren? Außerdem kam noch die Kleinigkeit hinzu, daß für Zeuke eine Erklärung gegeben werden mußte. Wenn er für den RID-SD unter Lines arbeitete - was für eine wahnwitzige Vorstellung -, würde er auch für den zweiten Mord nicht belangt werden. Die Pistole befand sich zwar nicht mehr in Lines' Faust, aber er benahm sich, als drohe er noch immer damit. -1 2 9 -
»So, Carver. Sie haben mir immer noch nicht erklärt, was Sie bei einer Leiche zu suchen haben.« »Mr. Carver kam zu mir, Mr. Lines«, sagte Carol Burnham liebenswürdig. »Es hatte nichts mit RID-A zu tun. Eine rein persönliche Angelegenheit. Wir sprachen vorhin noch mit Whitcliffe und gingen dann hierher. Wir fanden den armen Mann so -« Carver fand wunderbar, wie sie den Namen Whitcliffe einflocht. Was ihm nicht gefiel, war, daß sie Lines kannte. Sie mochte dem gegen ihn gerichteten Komplott angehören. »Verstehe«, sagte Lines mürrisch und enttäuscht. »Nun, Sie brauchen hier nicht mehr zu warten. Wenn wir Ihre Aussage brauchen, melden wir uns.« Robin Carver verspürte Lust, das Messer in der Wunde noch ein wenig zu drehen; er beschloß, kühn vorzugehen und den Naiven zu spielen. »Wer übernimmt denn die RID-Prüfung bei dem Mann, Lines? Ich bin zufällig an Ort und Stelle. Zwar nicht im Dienst, aber ich könnte -« Ein Untergebener Lines' hatte inzwischen die Spürsonde eines RID-S an Eames' Schläfe befestigt, und das Surren der Spulen klang wie das Rascheln winziger Insekten. Carver hielt den Atem an. Lines würde nicht mitmachen - aber »Danke, Carver«, sagte Lines mit bösartiger Höflichkeit. »Wir haben unsere eigenen Leute. Außerdem bin ich selbst Prüfer gewesen, wissen Sie - lange vor Ihrer Zeit.« Dagegen konnte Carver nichts einwenden. Er empfand Achtung für den Mann, der als erster in die Erinnerung toter und ermordeter Opfer eingedrungen war, ohne sich auf die beträchtlichen Erfahrungen der späteren Zeit stützen zu können. Lines war geistig immer noch gesund - wenn man seinen Charakter und seine Denkart so bezeichnen konnte -, und das erwies ihn als überaus harten Typ.
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»Wie Sie wollen.« Er wandte sich an Carol Burnham. »Na gut, gehen wir, Doktor Burnham. Ich schulde Ihnen noch einen Kaffee.« »Allerdings«, sagte sie, als sie die Plattform betraten und Carver ein Taxi rief. »Und jetzt will ich alles erklärt bekommen aber wirklich alles!«
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13 Sie erfuhr natürlich nicht alles. Carver ertappte sich jedoch dabei, daß er ihr viel mehr erzählte, als er sich vorgestellt hatte. Sie hatten ein hängendes Café mit automatischer Bedienung gefunden, sich Kaffee und Sandwiches bringen lassen und kauten jetzt, während das Taxi ziellos durch die Stadt brauste. Der Kaffee erwies sich als Lebensspender. »Sie glauben also, daß jemand Sie beseitigen will, weil Sie bei einem RID-Bericht Fehler gemacht haben? Das klingt absurd.« Er sah sie an und kaute langsam an einem Sandwich. Sie hatte ein gerötetes, verärgertes Gesicht, und er konnte sich ihre Gedanken vorstellen. Sie glaubte, er wolle sie auf den Arm nehmen. »Ich habe nicht behauptet, daß ich bei dem Bericht versagt habe. Nur, daß Lines es annimmt. Er ist offensichtlich Paranoiker und kann sich in die Überlegungen eines anderen Menschen nicht hineinversetzen. Aber -« »Aber gar nichts! Warum haben Sie vor Whitcliffes Tür spioniert?« »Hm! Nun -« Er berichtete von Zeuke, von dessen Auftauchen bei der RID-Prüfung nach Stutzy Pochers Tod, aber natürlich nicht von seinem Erscheinen im Fall Farish. Er empfand Sympathie für Carol Burnham; er fand in ihr eine herzliche Freundschaftlichkeit, die für einen einsamen Mann tröstend war, und eine gesunde Weiblichkeit, die eine Saite in ihm zum Klingen brachte, aber mit Lines und dem RID-SD war sie immer noch ohne weiteres in Verbindung zu bringen. Er wollte sich nicht selbst einen Strick drehen. »Sie erzählten mir, Sie hätten nicht gesehen, wer den armen Mann vorhin erschossen hat -« »Und ich hoffe jetzt, daß Sie verstehen können, warum.« »Ich kann Ihre Motive natürlich verstehen, aber wo bleibe ich da? Sie sagten, Sie wollten keine Schwierigkeiten, und es -1 3 2 -
komme Ihnen darauf an, daß mir nichts passiert - aber wenn Sie recht haben, stecke ich mit Ihnen bis zum Hals in dieser Sache - was immer sie sein mag!« »O nein!« Er war entsetzt. »Durchaus nicht! Niemand könnte Ihnen vorwerfen, daß Sie etwas Ungesetzliches getan haben!« »Sie kennen diesen Lines nicht.« »Ich kann es mir ausmalen.« Das Taxi stieg höher durch die Schichten der Stadt, auf dem wahllos gewählten Kurs. Lichter warfen Farbsplitter durch die Fenster und kolorierten ihre Gesichter. Carols Augen starrten ihn aus violetten Höhlen der Angst an. Er ergriff ihre Hand und spürte das leichte Zittern. Er wußte nun, daß es falsch gewesen war, dieses Mädchen mit in seine Welt des Schreckens und der Gewalt zu verschleppen. Er empfand zuviel für sie, um ihr je weh tun zu können. »Was sollen wir tun? Lines kommt bestimmt dahinter, und wenn Whitcliffe erfährt, daß ich gelogen habe -« »Hören Sie auf!« sagte er grob. »Carol, wir müssen einen ruhigen Ort finden, wo ich das RID-Magnetband auswerten kann. Ich habe das Gefühl, daß es uns sehr viel weiterbringt, wenn es uns nur gelingt, am Leben zu bleiben!« »Ja«, flüsterte sie. »O ja -« Es gab Möglichkeiten genug in dieser Stadt des Lasters. Sie fanden in den »Gewölben der Freude« ein Zwei-ZimmerApartment und trugen sich als Mr. und Mrs. Smith ein. Niemand achtete besonders auf Namen, und bei den üblichen Razzien gab es an die tausend Smith. Carver mit seinem eidetischen Gedächtnis hatte keine Schwierigkeiten, sich Namen oder Gesichter zu merken, aber in der modernen Welt mußte jeder, der eine höhere Position erreichen wollte, Namen speichern können. Es gab so viele Menschen, so viele Namen, daß man sich als ein Niemand erwies, wenn man nicht mit allen zurechtkam. Carol betrachtete den Teppichboden, die Leuchttafeln an den Wänden, das 3 D-Gerät und die Möbel, alles elegant, modern -1 3 3 -
und von der Patina ständigen Gebrauchs überzogen. Wie viele Paare waren hier schon aufgetaucht? Sie warf einen Blick auf das Bett und sah zur Seite. Sie war modern genug, um nicht rot zu werden; jedermann wußte, wozu Betten in solchen Apartments dienten. »Ich habe so etwas noch nie gemacht«, sagte sie, als sie ihren Mantel auszog und über eine Stuhllehne warf. »Und ich hätte es mir nie träumen lassen.« Carver legte den RID-S vorsichtig auf den Tisch. Er prüfte hastig die Wände, um sich davon zu überzeugen, daß weder Geheimkameras noch Abhörgeräte versteckt waren; ohne entsprechende Ausrüstung fehlte es aber an der letzten Gewißheit. Er griff nach dem Speichergerät und starrte Carol Burnham prüfend an, dann zog er das Jackett aus. »Was -?« begann sie erstaunt, die Stirn runzelnd. »Diese Apartments sind nicht unbedingt ungefährlich«, sagte er lächelnd. »Wir konnten weder meine noch Ihre Wohnung benützen, also wollen wir jetzt keinen Fehler machen.« Er löschte das Licht. »Wenn Ihnen das lieber ist. Ich lege mich ins Bett. Sie wissen wozu; Sie müssen später nachkommen, wenn ich fertig bin.« Er betete im stillen darum, daß sie wußte, was er meinte, und nicht schreiend zur Tür hinauslaufen würde. Im Bett lockerte er den Kragen und schob das Speichergerät unter das Kissen. Er zog die Bettdecke über den Kopf und griff nach den Spürsonden. Ein kaum hörbares Knistern drang aus der Mitte des Zimmers zu ihm. Dann sackte das Bett tiefer. Carol kletterte neben ihm hinein und zog die Decke hoch. Er konnte die Wärme ihres Körpers durch die Nylonunterwäsche spüren, hörte die unsicheren Atemzüge. »Wenn Sie -«, begann sie. Nach einer Pause: »Wenn Sie etwas anfangen, werde ich -« Er schwieg, schob unter der Decke die Spürsonden über die Schläfen und legte sich bequem zurecht. »Schalten Sie ein, Carol«, sagte er leise. -1 3 4 -
Ihr nackter Arm streifte seine Schulter, als sie unter das Kissen griff. »Vergessen Sie nicht, daß das hier ganz anders ist. Sie fangen nicht am Ende, sondern von vorne an. Sie müssen überspringen, was Sie nicht brauchen können, und auswählen, was Sie für bedeutungsvoll halten.« »Verstehe.« Kurz bevor sie auf den Startknopf drückte, beugte sie sich über ihn, so daß ihr Haar auf sein Gesicht fiel und ihr Parfüm ihn einhüllte. Ihr Atem streifte seine Wange. »Viel Glück, Robin.« In diesem Augenblick wünschte sich Robin Carver, er hätte bei ihr in dem riesigen Bett bleiben und die Dinge sich entwickeln lassen können, statt in die Erinnerungen eines alten Freundes vorstoßen zu müssen. Er kannte sie erst so kurze Zeit, aber schon nahm sie ebensoviel Platz in seinem Innern ein wie Joan Hornby... Das konnte noch Komplikationen geben... Die erste Stadt... aber nicht die letzte... nie die letzte... Carver überflog Eames' Geburt und Kindheit, befaßte sich oberflächlich mit den ersten Jahren seiner Tätigkeit als Agent. Ein seltsames, ersticktes, schmerzendes Heimweh überfiel ihn, als vertraute Szenen und Gesichter an ihm vorbeiglitten. Da war der alte Kamerad bei der Ausbildung, da die Lehrer, der robuste Zweikampf-Instruktor, die Schußwaffenexperten, all die alten Bilder und Vorfälle, wie in einem Traum ablaufend. Trotz der Aufgabe, die er sich gestellt hatte, oder vielleicht gerade deswegen, ließ er sich Zeit. Ein sengender Tag draußen in der Wüste; der Tag der Herausforderung, und nur drei der härtesten Ausbilder noch zu schlagen, vor der Meisterschaft. Die drei menschlichen Rammböcke, gutmütig am Start stehend, ohne Angst vor einem Versagen. Hatte man sie nicht gelehrt, wie es gemacht wurde? Die drei Männer, die gegen sie im Finale standen... Stan Eames... Chris Mellor... -1 3 5 -
Robin Carver... So habe ich also damals ausgesehen! Zu jung, zu grün, zu eingebildet! Stan Eames im Kampfanzug, den Karabiner auf dem Rücken, die Schenkelmuskeln spannend. Chris Mellor, breit grinsend, lässig sich mit Robin Carver unterhaltend, schien keine Sorgen zu kennen. Und Carver - topfit, zu allem bereit. Unheimlich - sich selbst zu betrachten! Zu jung, zu forsch, fast zu hart... Er hatte von diesem Tag natürlich nichts vergessen, und Stanley Eames auch nichts, so daß ihre Bilder bis auf die kleinste Einzelheit miteinander übereinstimmten. Aber der Unterschied in der Auslegung, die Art, wie Eames ihren Triumph gesehen hatte, die Nuancen, die Carver entgangen waren, und jene, die zwar Carver, aber nicht Eames bemerkt hatte - diese anderen Dimensionen und Färbungen einer gemeinsamen Erfahrung lieferten zwei völlig unterschiedliche Darstellungen... Ein ernüchternder Gedanke, beinahe unheimlich; selbst eidetische Erinnerungen konnten die Färbung durch Emotionen nicht verhindern, konnten nur heraustrennen, was sich ohne Scham nicht denken ließ. Dieser persönliche Vergleich zweier eidetischer Gedächtnisse im Gehirn einer Person stellte doch sicher eine Art neuen Rekords dar? Diese drei Männer, Mellor, Eames und Carver, hatten gesiegt. Sie waren besser als die drei Ausbilder gewesen, im Laufen, Schießen, Kämpfen, Denken. Sie hatten die Meisterschaft gewonnen. Nicht, daß das jetzt noch viel zu bedeuten hatte. Carver stieß in Eames' Erinnerung weiter vor, prüfte die verschiedenen Fälle, mit denen er zu tun gehabt hatte, lächelnd, als alte Freunde über die Bühne wanderten. Er verfolgte betroffen Eames' Teilnahme an der Hochzeit von Carver und Sheila... Er durcheilte diese Zeit. Sie war nicht wichtig für seine Absicht, herauszufinden, warum RID-A und Lines mehr zu wissen
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schienen, als sie sollten, und warum man sich bemühte, ihn in eine Falle zu locken. Bewußt überging Carver den ganzen nächsten Teil von Eames' Leben, weil er wußte, daß er die schmerzlichen Episoden enthielt, in denen er seine Frau und seine Selbstachtung verloren hatte, in denen er aus dem Dienst entlassen worden war und beinahe sein ganzes Leben vernichtet sah. Als er wieder hineinstieg, stand Eames gerade und aufrecht vor einem Trupp erwartungsvoller Rekruten. Sie sahen einer langen Reihe von Kursen entgegen und würden allen nur erdenklichen Strapazen ausgesetzt werden, erdacht von Männern wie Stanley Eames und Chris Mellor. »Sie sind hier angetreten, um ins Finale zu gehen«, sagte er knapp. »Sie sind jetzt Agenten. Das heißt, daß Sie sich aus freiem Entschluß einem Ziel zur Verfügung gestellt haben. Dieses Ziel ist der Fortbestand des Schilds. Dies - und nichts anderes.« Stan Eames dachte an die Zeit, als er in der Reihe gestanden und diese Worte von einem erfahrenen Agenten gehört hatte. »Sie schützen den Schild. Sie schützen ihn mit Ihrem Leben und Ihrem ganzen Willen, weit über jede normale Art der Pflichterfüllung hinaus. Wenn der Fortbestand des Schilds Ihr Leben verlangt, werden Sie es opfern.« Wie Stan das seine vorhin geopfert hatte... »Manche von Ihnen werden sich für Nachfolger der früheren FBI-Beamten halten. Das trifft nicht zu. Sie dienen nicht der Regierung. Sie dienen nur dem Schild. Die Interessen des Staates, der Regierung, sind den Interessen des Schilds unterworfen.« Im Rahmen des modernen Lebens, sicher und ungefährdet unter dem Schirm, wo Regierungen nur innerhalb dieser Struktur existieren konnten, war das sinnvoll. Niemand kam auf den Gedanken, daran zu zweifeln. Außerdem, welche Zweifel sollte man auch haben? Der Schild machte das Leben in dieser modernen, vom Thermo-Nuklear-Krieg beherrschten Welt, -1 3 7 -
möglich und angenehm, und vor dem Schild hatte das kein Staat garantieren können. Seit der Schild existierte, fürchtete sich keine Frau mehr davor, Kinder zur Welt zu bringen. Und sie ängstigten sich nicht vor dem radioaktiven Gehalt der Milch, die sie ihnen zu trinken gaben. Und die Männer wußten, daß ihre Söhne nie der Katastrophe des totalen Krieges ausgesetzt sein würden. Es lohnte sich, für den Schild zu kämpfen, weit mehr als für den sogenannten Frieden, der an den Nerven zerrte und die Taschen der Steuerzahler für Rüstungsgegenstände leerte, die in ihrer Kompliziertheit und Unmenschlichkeit der Zerstörungsgewalt immer schrecklicher wurden. Zu Beginn hatte es Opposition gegen den Schild gegeben, so unglaublich das auch jetzt erscheinen mochte, und die stets unersättlichen Kriegstreiber hatten erbittert behauptet, eine totale Verteidigung könne und werde es niemals geben. Der Schild bewies jedoch, daß sie sich irrten. Die meisten Länder der Welt besaßen heute entweder atomare Waffen oder wußten, wo sie sich diese holen konnten. Nach dem Eintritt Chinas in den Kreis der Atommächte war der Durchbruch zum allgemeinen Besitz dieser Waffen nur eine Frage der Zeit gewesen. Manche Länder hatten feierlich auf die Bombe verzichtet oder sich geweigert, ihre Einbeziehung in ihre Verteidigungssysteme zu dulden. Aber einige Länder hatten den alten Trick versucht, thermonukleare Bomben in winzigen Teilen, getarnt als Ausrüstung für Strahlungsforschung oder gar als Souvenirs, durch den Zoll zu schmuggeln. Die Agenten Amerikas hatten sie dingfest gemacht. Das Amt wurde im Kampf gegen diese Art von Herausforderung stark. Dergleichen gab es längst nicht mehr, und soviel man wußte, lebte die Welt außerhalb des Schilds friedlich zusammen. Allerdings machten sich die Menschen hier kaum Gedanken über die Welt außerhalb des Schilds. Trotzdem gab es immer noch irre, ausgefallene Komplotte aufzudecken, Verrückte ausfindig zu machen, die den -1 3 8 -
Präsidenten ermorden, die Generatoren des Schilds in die Luft sprengen oder irgendein anderes Verbrechen begehen wollten, zu dem jeglicher Kampfmöglichkeit beraubte Männer neigen. Auf der Spur eines Komplotts arbeiteten Stan Eames und Chris Mellor mit einem weiblichen Agenten, Rusty Lowke, zusammen. Eames arbeitete als Rückendeckung. Von ihrem geparkten Luf aus beobachteten Eames und Mellor Rusty Lowke, die an einem Kaffeeautomaten stand. Rusty war ein hochgewachsenes, schlaksiges Mädchen, mit einem Karate-Wurf, der einem Stier das Genick brechen konnte. Im Augenblick trug sie ein eisgrünes, tief ausgeschnittenes Kleid, das ihrer Figur beträchtlichen Reiz verlieh. Carver, der mit seinen beiden Kollegen wartete und aufpaßte, spürte ein herzbeklemmendes Bedauern darüber, daß die alte Zeit unwiederbringlich dahin war. Hier waren sie wieder, alle drei, Kameraden, vereint im Dienst. Er vergaß dabei nicht, daß er stets Einzelgänger gewesen war und nur gelegentlich Eames oder Mellor unterstützt hatte; er erinnerte sich jedoch gern an die schönen Zeiten mit ihnen. »Da kommt sie, Stan«, sagte Mellor leise. »Nicht übel«, sagte Eames anerkennend. Julie Farish ging auf Rusty Lowke zu, lächelte und nickte. Die beiden Mädchen bestiegen gemeinsam ein Taxi. Julie Farish! Das hatte er bei der RID-Prüfung von Julies Tod nicht gesehen, also stand es mit ihrer Ermordung nicht in direktem Zusammenhang. Fast wollte er schon weitergehen, aber irgend etwas hielt ihn zurück. Er wartete. Die beiden Agenten folgten den Mädchen zu Marcels Teehaus. Nach einer halben Stunde kam Rusty heraus, und die Agenten hielten sich an die gewohnten Methoden, bevor sie wieder zusteigen durfte. Niemand beobachtete sie dabei. »Nichts, meine Herren«, sagte Rusty, als sie auf den Luf-Sitz sank. »Von Marcels Unternehmungen weiß sie überhaupt nichts - abgesehen von ihrer eigenen Arbeit, die sich bei einem -1 3 9 -
Freudenmädchen natürlich in einem sehr engen Rahmen abspielt.« Mellor zog die Brauen zusammen. »Wir müssen herausbekommen, wer hinter Marcel steht. Mag sein, daß er ein übler Ganove ist, aber er hat Grips und sahnt gehörig ab.« »Durch die Gier der modernen Jugend nach Nervenkitzel können Typen wie Marcel praktisch eine eigene Gelddruckerei aufmachen«, sagte Eames langsam. »Schade, daß man noch keine Möglichkeit gefunden hat, die Funktion des Wirtschaftssystems auch ohne Geld zu garantieren. Das würde ihm doch zu schaffen machen.« »Dem nicht«, sagte Rusty. »Kerle wie der finden immer einen Ausweg. Er würde dann eben seine Dämchen gegen Naturalien arbeiten lassen.« Diese Episode schien nicht mehr viel zu versprechen. Carver forschte weiter und schaltete sich wieder ein, als Stan Eames und Chris Mellor in ihrem gemeinsamen Apartment dabei waren, sich auf eine Party vorzubereiten. Sie wählten unauffällige Kleidung. »Das ist die günstigste Gelegenheit, die sich uns bisher geboten hat«, sagte Eames, während er sich vergewisserte, daß die Waffe unter dem schwarzen Jackett nicht zu sehen war. »Rusty ist überzeugt davon, auf das Syndikat hinter Marcel gestoßen zu sein. Ich hoffe nur, daß sie sich nicht zu weit vorwagt.« »Sie kommt schon durch.« Mellor schaute sich noch einmal in der Wohnung um. »Gehen wir.« Sie holten Rusty ab, und ihr Luf brachte sie zu einer Landeplattform an einem riesigen Gebäude. Augenblicklich stürzten sie sich in eine Welt des Luxus, die sie verachteten und die Carver sofort wiedererkannte. Er war schon hier gewesen. Versteckt hinter den wachsamen Augen von Stanley Eames betrat er die vertraute, überreife -1 4 0 -
Welt des Vergnügens, zu der Harry in Kürze Julie Farish, Sonia und Hebe bringen würde. »Deine Partnerin scheint nicht hier zu sein, Chris.« Stan Eames nahm Rustys Arm, als sie durch die indigoblaue Tür schritten. »Rücksichtsvoll vom Amt, mir eine Freundin zuzuteilen, damit wir zu viert sind.« Chris Mellor schaute sich mit seinem freundlichen Lächeln um. »Wir hätten uns aber vorher wenigstens kurz treffen können.« Die Party schleppte sich in dem großen Saal müde dahin - und dort stand die Gruppe, an der Julie vorbeigegangen war. Der bekannte Lakai mit den öligen Haaren führte sie durch den Korridor zu dem kleinen Wartezimmer, wo nachher Harry mit seinen Schutzbefohlenen warten würde. Sie gingen daran vorbei, direkt auf die Ebenholztür mit dem silbernen Löwen zu. Die Tür öffnete sich, und sie traten ein. Carver war über die erste Überraschung hinweg. Er hatte Mellor bei dieser Party schon gesehen. Pures Glück hatte ihn nun auch hierhergeführt. Das war der Durchbruch, den er erhofft hatte. Julie Farish mit ihrer Erfahrung hatte richtig geraten, daß das eigentliche Fest in diesem Raum stattfand. Alles andere draußen war nur Tarnung. Hier herrschte Zügellosigkeit. All dies Orgiastische, Frenetische war Carver wohlbekannt; er hatte es oft genug gesehen. In Eames spürte er den gleichen Ekel, als der Agent die glitzernden Kostüme, das weiche, weiße Fleisch, die kostbaren Juwelen, den ganzen sybaritischen Freudenpalast betrachtete. In der Nähe platzten Lachgasballons, und Eames zog Rusty beiseite, so daß sie vorübergehend von Mellor getrennt wurden. »Furchtbar heiß hier«, sagte Rusty, die sich mit einem Fächer Kühlung zufächelte. »Wer ist wohl das Organisationsgenie hinter dem ganzen Schauspiel?« »Wenn wir das wüßten, wären wir ein gutes Stück weiter. Dein Kontaktmann wußte sonst nichts?« »Nein.« -1 4 1 -
»Na ja, wenigstens hat er uns die Einladungen besorgt.« Carver war nicht überrascht, als Zeuke herankam; daß er an diesem Fest teilgenommen hatte, wußte er bereits. »Die Konferenz findet in Kürze statt«, sagte Zeuke steif. Unter dem Jackett war seine Schußwaffe kaum zu bemerken, aber der geübte Blick des Agenten entdeckte sie sofort. »Danke.« »Aha, die Konferenz«, sagte Eames spöttisch, als Zeuke sich wieder entfernte. »Ich finde das Ganze durchaus nicht komisch, Stan«, meinte Rusty. »Nur ruhig bleiben, Rusty. Ich weiß auch, daß man bei diesem Spielchen plötzlich sein Leben einbüßen kann. Aber komisch ist es doch. Verstehst du nicht -« Eames versuchte eifrig, Rusty von seiner Ernsthaftigkeit zu überzeugen. »Man muß diese Leute wie in einer komischen Oper sehen. Sie sind Amateure. Wenn du dich auf einen Profi einstellst, schießt du übers Ziel hinaus. Du mußt dir die Leichtigkeit bewahren.« »Verstehe. - Wo ist Chris?« Sie starrten die hüpfenden, lachenden Menschen an, umgeben von Rauch- und Parfümwolken, dem Duft seltener Weine und teurer Zigarren, dem ganzen Trubel, der auf seine eigene Weise das Leben darstellte, wie es zu dieser Zeit auf dem Kontinent gang und gäbe war. »Schau dir die fetten Wänste an«, sagte Eames leise zu Rusty, ohne sein höfliches Lächeln zu verlieren. »Sie leben sich aus, pressen den letzten Tropfen heraus, leben wie Prinzen, leben -« »Leben«, sagte Lellor hinter ihnen. »Leben alle, weil es den Schild gibt. Wenn der Schild - wenn - nun, sie würden sich in eine Masse brüllender, angstgeschüttelter Irrer verwandeln.« »Sie leben nur durch die Gnade des Schilds - dem Lob und Dank sei«, meldete sich eine neue Stimme neben Mellor, weich und melodisch - eine Stimme, die Carver kannte - nur zu gut kannte! Stan Eames drehte sich immer noch nicht um. -1 4 2 -
»Wir reden nicht in der Laiensprache vom Schild«, sagte Chris Mellor leise. Stan Eames drehte sich langsam herum, um die neue Agentin zu begrüßen. Rusty lächelte das Mädchen freundlich an. »Lassen Sie sich von Chris nicht unsicher machen - jeder muß es erst lernen.« »Selbstverständlich -« Dann hatte sich Eames ganz umgedreht, und hier stand Wendy. Aber es war natürlich nicht Wendy. Carver wußte, daß sie es nicht sein konnte. Wendy war im Heim gewesen, während diese Party stattgefunden hatte, wofür sich Miss Freezer und die anderen Lehrerinnen verbürgten. Wendy war dort gewesen. Das Mädchen in dem auffälligen Kleid war nicht Wendy. Sie konnte es nicht sein, nicht wahr? Aber warum sah sie nicht nur wie Wendy aus, warum sprach sie auch so? Wer war sie? »Das ist Cora Brown«, sagte Mellor. Cora Brown drückte Stan Eames die Hand und sah zu ihm auf. Ein Schatten huschte plötzlich über ihr Gesicht, ihre Augen trübten sich, und sie fröstelte. »Ich -«, stammelte sie. »Was ist denn, Cora?« »Nichts. Ich dachte nur - wir haben uns noch nie gesehen, nicht wahr? Eben - dann kann ich Sie nicht erkannt haben. Aber -« Robin Carver, der sie mit Eames' Augen betrachtete, klammerte sich nur an diesen einen Gedanken - dieses Mädchen war nicht Wendy, konnte nicht Wendy sein. Aber sie sah ihr so ähnlich, so... Miss Brown lächelte tapfer. Sie schluckte. »Soviel ich weiß, sind wir zu der Konferenz geladen worden, weil Rusty ihren Kontaktmann davon überzeugt hat, daß wir verkommene Charaktere der Unterwelt sind -«
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»So ähnlich, Cora. Sie brauchen sich nur an mich zu halten.« Mellor schien das sehr zu begrüßen. »Wenn wir einen bestimmten Auftrag für Sie haben, erfahren sie es. Im Augenblick sollen Sie lediglich Erfahrungen sammeln.« Selbst Stan Eames wußte über diese Situation nicht so viel wie Mellor; so hielt man es immer. Eames stellte die Rückendeckung dar. Unauffällig verließen einzelne Personen den Raum und betraten ein kleineres Zimmer, wo Stühle vor einem Podium aufgestellt waren. Eames, und mit ihm Robin Carver, betrachtete die Wartenden. Er erkannte Zeuke und seinen Begleiter, der bald mit Cora Brown zur Tür hinaustaumeln würde. Die meisten Anwesenden wirkten achtbar und wohlhabend. Nur gelegentlich sah man Anzeichen dafür, daß es sich um Repräsentanten einer weitverzweigten Unterweltorganisation handelte - übertriebene Eleganz, vom Laster gezeichnete Züge, Blicke, aus denen Machtgier sprach. Diese Männer und Frauen versorgten die Stadt mit dem Laster. Viele von ihnen hatten Syndikate gebildet, durch die sie mit brutaler Gewalt und Rücksichtslosigkeit ganze Stadtteile beherrschten. Kein Wunder deshalb, daß man ein Fest arrangiert hatte, um diese Zusammenkunft zu verschleiern. Ein Mann kam mit schnellen Schritten von der Seite herein, sprang auf das Podium und wartete, bis es still wurde. Carver, der ihn durch die Augen des Toten anstarrte, fügte diesem tödlichen Puzzlespiel ein weiteres Stückchen hinzu. Lines sagte: »Sie sind heute hergebeten worden, um einen Vorschlag zu hören, der beiden Seiten Gewinn verspricht. Ich nehme an, daß man sich während der Wartezeit um Sie bemüht hat.« Bestätigendes Gemurmel lief durch das Publikum. Ein kleiner Mann mit hagerem Gesicht stand auf. »Wir haben unseren Spaß gehabt. Wie steht es mit dem Geschäft?« »Was ich Ihnen zu sagen habe, wird Sie vermutlich reich entschädigen«, erklärte Lines sachlich. »Sie alle wissen, daß in -1 4 4 -
letzter Zeit der Umsatz zurückgeht. Gewiß, die Erwachsenen bedienen sich nach wie vor Ihrer - äh - Angebote. Aber wie steht es mit den Jugendlichen?« Was die Versammelten über die Jugend dachten, ließ sich nicht wiedergeben. Alle stimmten darin überein, daß aus den Jugendlichen längst nicht mehr soviel Profit zu ziehen sei wie früher. »Der Grund dafür«, sagte Lines in das Durcheinander hinein, »der Grund dafür ist, daß sie einen neuen Nervenkitzel entdeckt haben. Sie putschen sich durch Morde auf!« Er schnitt die Einwände mit einer Handbewegung ab. »Gewiß, nicht viele, nicht in großem Maßstab - noch nicht! Wir wissen aber, daß in steigendem Maße unerklärbare Morde verübt werden. Eine Bande von Jugendlichen zieht durch die Stadt, findet ein Opfer, eine Un-Persönlichkeit, und ermordet es. Daran haben viele teil. Sie scheinen sich am Tod zu berauschen. Es geht ihnen ins Blut -« »Das ist eine uralte Erscheinung«, sagte ein schlanker Mann an der Tür. »Töten bereitet Vergnügen -« »Und die Polizei unternimmt nichts.« »Was kann sie tun?« Lines lächelte bösartig. »Die Morde erscheinen sinnlos, motivlos. Aber sie verschaffen den Tätern Befriedigung, sie sättigen eine Gier, einen Wunsch, dem Sie nichts gegenüberzustellen haben.« Das gefiel ihnen nicht. »Was sollen wir denn tun?« fragte der kleine Mann erbost. »Etwa Leute liefern, die man umlegen darf, wenn man Eintritt bezahlt?« »Nicht ganz.« Das ironische Gelächter erstarb. Die Anwesenden starrten Lines verblüfft, beinahe erschreckt an. »Was soll das heißen?« fragte ein dicker, kahlköpfiger Mann aus der hinteren Reihe. »Sind Sie übergeschnappt?« »Wenn Sie uns Humanoid-Roboter anbieten wollen, die man zum Spaß umbringen kann«, erklärte ein anderer empört, -1 4 5 -
»müssen Sie sich etwas anderes einfallen lassen. Das haben wir bereits ausprobiert. Es zieht nicht.« Lines verschaffte sich Ruhe. Er begann mit ernster Stimme zu sprechen und erläuterte sein Vorhaben. Binnen kurzer Zeit waren seine Zuhörer wie gebannt - angesichts des himmlischen Mannas, das er ihnen bot. Zusammengefaßt war es ganz einfach. Lines bot der Unterwelt die Möglichkeit RID-S zu kaufen und sie weiterzuvermieten. Die Jugendlichen - und natürlich auch alle anderen Personen - konnten damit die Gedanken eines Ermordeten verfolgen. Das war die Aufgabe der RID-Prüfer. Man hatte sie dafür ausgebildet. Und nun wollte Lines eine Flut von RID-Geräten in die Stadt pumpen, damit Halbwüchsige sich mit Todeserlebnissen aufputschen konnten. Der Plan bereitete Carver Übelkeit. Lines nannte die Speicher natürlich nur ›Geräte‹, er erwähnte keine Namen, zitierte erfundene Wissenschaftler als Gewährsleute. Eames reagierte wie auf jede neue, verderbte Form des Lasters. »Das muß wohl das Extremste an Erfahrungen aus zweiter Hand sein!« sagte Mellor. Sogar er war erschüttert. Die Zusammenkunft löste sich auf, nachdem ein Lieferplan aufgestellt worden war. Das erklärte also, worüber Zeuke mit Whitcliffe gesprochen hatte, die tausend Aufzeichner, die aus dem Lager verschwunden waren, die bestellten Laster, die verstärkte Produktion. Das Forensische Zentrum der Polizei wurde also dazu verwendet, für die Unterwelt, zu deren Vernichtung sich die Polizei verpflichtet hatte, ein neues Instrument der Lasterverbreitung zu liefern! Und Whitcliffe war aktiv an diesem Vorhaben beteiligt.
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14 Neben ihr, nur durch dünnes Nylon getrennt, lag dieser seltsame Robin Carver und atmete flach und stockend. Ihr schwarzes Haar lag über seine nackte Schulter gebreitet und streifte die Spürsonden an seiner Schläfe. Für den Augenblick hatte sie die lähmende Angst überwunden. Sie konnte sich nur zu gut ausmalen, was Lines tun würde, wenn er erfuhr, daß sie ihn belogen hatte. Selbst Whitcliffe vermochte sie dann nicht mehr zu retten. Aber sie wunderte sich nicht darüber, daß sie in einem schäbigen Zimmer mit Carver ein Bett teilte. Sie mußte sich sogar eingestehen, daß sie Zuneigung für ihn empfand, daß sie die Qualitäten des Mannes hinter der Clownsmaske, die bittere Erfahrung und Enttäuschung aus seinem Gesicht gemacht hatten, schätzen lernte. Sie wollte ihn genauer kennenlernen. Aber jetzt war nicht der richtige Augenblick dafür, trotz des äußeren Anscheins... Die Türklinke bewegte sich. Sie setzte sich erschrocken auf. Niemand außer ihr und Carver konnte diese Tür öffnen. Der Ident-Schlüssel steckte noch in Carvers Hosentasche, und ohne ihn war die Tür normalerweise nicht zu öffnen. Die Türklinke bewegte sich trotzdem, kippte nach unten, und ein schmaler Lichtstreif wurde sichtbar. Sie unterdrückte einen Aufschrei. Gerade weil sie wußte, welchem Risiko sie Carver aussetzte, drückte sie überlegt und gefaßt auf den grünen Schlußknopf und schaltete das Speichergerät ab. Das Surren der Spulen erstarb. In die Stille hinein drang das Knarren der Tür und das rasselnde, unterdrückte Atmen des Mannes, der sich langsam hereinschob. In der Erinnerung des toten Eames war die Besprechung gerade zu Ende gegangen, und er und Mellor beteiligten sich wieder an dem Fest. Eames holte Champagner für sich und -1 4 7 -
Rusty und sah Cora Brown den Kopf schütteln, als ihr Mellor ein Glas anbot. »Haben Sie die beiden Schläger neben dem Podium gesehen?« »Ja. Unangenehme Burschen«, antwortete Cora. »Ich glaube, Rusty wird sich mit dem Mann befassen, der die Rede gehalten hat. Würden Sie versuchen, aus den beiden Kerlen etwas herauszuholen?« Sie schnitt eine Grimasse - jene Art von Grimasse, die Wendy zu zeigen pflegte, wenn Carver sie daran erinnern mußte, daß die Ferien fast vorbei waren -, nickte aber. »Gut. Ich versuche mich als Mata Hari. Sie bleiben aber in der Nähe, nicht wahr? Für alle Fälle -« »Ich passe auf, Cora.« Eames beobachtete Cora Brown, als sie graziös und selbstsicher durch das Durcheinander schritt, fröhlich lachend, Luftballons zurückwerfend, sich von Papierschlangen befreiend, geschickt angebotene Getränke zurückweisend. Sie war in Ordnung. Eine Agentin Amerikas im Dienst. Sie verschwand hinter einer Gruppe hysterisch kreischender Frauen, die einen Mann entkleideten, und Eames sah die beiden Leibwachen auftauchen. Eames wußte nicht, daß einer davon Zeuke hieß, er wußte nicht, daß das Mädchen Cora bald mit den beiden zur Tür hinaustanzen und dort von Julie Farish gesehen werden würde, bevor Pritchard diese wegzerrte. Die ganze Szene verschwamm plötzlich. Der Lärm verebbte. Die Düfte verschwanden. Er mühte sich verzweifelt, zurückzukehren, wieder in Stan Eames' Erinnerung hinabzutauchen. Einen Augenblick lang schaffte er es, für Sekunden war er wieder in dem Raum, sah mit Stan Eames, wie Rusty sich an Lines heranzumachen versuchte und kühl abgewiesen wurde - dann wirbelte ihn die Dunkelheit mit sich fort.
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Jemand rüttelte an seiner Schulter; Eine Hand lag auf seinem Mund und preßte seine Lippen zusammen. Eine Stimme flüsterte ihm verzweifelt ins Ohr. »Aufwachen, Robin! Um Himmels willen, kommen Sie zurück!« Automatisch versuchte er zu sprechen, aber die Hand preßte sich fester auf seinen Mund. Die Stimme wisperte wieder an seinem Ohr. »Ich mußte Sie zurückholen! Sie sind Robin Carver, liegen in den ›Gewölben der Freude‹ mit mir im Bett - und ein Mann ist dabei, die Tür zu öffnen!« Er hob die Hand und umfaßte ihren nackten Arm. Er packte fest zu. Dann glitt seine Hand zu ihren Fingern auf seinem Mund. Der Druck ließ nach. Ihr Kopf neigte sich über ihn. »Schon gut. Ich bin Robin Carver. Ein Mann - der einbricht?« Er schaute über ihre Schulter zur Tür. Ein Lichtsplitter lag auf dem Teppich. Langsam, ganz langsam wurde er breiter. Der Einbrecher schien sie durchaus nicht vorzeitig wecken zu wollen. »Vielleicht ist das hier üblich«, flüsterte er. »Vielleicht aber auch nicht.« Vorsichtig kroch er aus dem Bett und hastete lautlos zur Tür. Vor wenigen Augenblicken war er noch bei einem Fest gewesen, auf der Suche nach einem Komplott, und jetzt schlich er durch ein dunkles Zimmer, um einen Eindringling zu überwältigen. Es hieß, daß man als RID-Prüfer flexibel sein mußte, aber diese Art von Anpassungsfähigkeit gehörte eher zu einem Agenten Amerikas. Er erreichte die Tür, blieb stehen und atmete kaum hörbar, während er lauschte. Die Tür wurde plötzlich brutal aufgerissen. Grelles Licht stach durch die Dunkelheit und flutete über das Bett. Gewölbte Muskeln an breiten Schultern schoben sich in das Zimmer, schwarz und drohend zwischen Carver und dem Licht. »Los, 'raus aus dem Bett!« -1 4 9 -
Es war nicht Zeuke. Es war sein Begleiter. Das war der Mann, den Cora Brown hatte aushorchen sollen - und was war daraus eigentlich geworden? Was tat Cora Brown jetzt? »Was soll das heißen?« Carol brauchte ihre Empörung nicht zu spielen. Sie zitterte vor Angst. »Er ist bewaffnet!« Trotz ihrer Panik schrie sie die Warnung hinaus. Sie warf sich auf dem Bett herum und wickelte sich in die Decke. Carver streckte den Arm aus und ließ die Handkante auf das Gelenk des Eindringlings niedersausen. Bevor dessen Aufschrei Carols Worte übertönte, bevor die Schußwaffe auf den Boden fiel, traf Carvers Karateschlag den Mann am Hals, und als jener stürzte, zuckte Carvers Knie hoch. Der Einbrecher blieb bewußtlos liegen. »Sie« - Carol keuchte schwer - »Sie verlieren aber keine Zeit!« Carver bückte sich und hob die Waffe auf. »Kann ich mir nicht leisten.« Er betrachtete die Pistole. Projektil-Automatik. Offenbar hatte er es mit altmodischen Typen zu tun. »Kommen Sie. Ziehen Sie sich an. Wir müssen weg.« Er schlüpfte bereits in seine Hose und steckte die Waffe in den Gürtel. Als er das Jackett anzog, drehte er sich um und sah, daß Carol schon das Abendkleid übergestreift hatte. »Vergessen Sie den RID-S nicht.« »Ich habe ihn.« Sie legte ihn in ihre Handtasche. »Ich habe noch nie jemanden so schnell von einem Trip zurückkommen sehen.« »Man muß sich anpassen. Sie hatten Anlaß genug, mich zurückzuholen - und ich habe erfahren, was ich wissen wollte bis zum nächsten Schritt. Ich bin nicht bis zu Stans Tod vorgedrungen -« Draußen mieden sie den Lift und rannten vier Treppen hinunter, bevor Carol keuchend stehenblieb und die Hand aufs Herz preßte. »Jetzt können wir den Lift benützen, wenn Sie wollen.« »Ich bin sehr dafür.«
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Eine Kugel prallte gegen die Wand über ihren Köpfen. Das nächste Geschoß hätte Carol genau getroffen, wenn Carver sie nicht herabgerissen und nach hinten geworfen hätte. Durch das Geländer konnte Carver Oberarm und Schulter des Schützen unter sich erkennen. Es war nicht Zeuke. Er schob seine Pistole durch das Geländer, schoß und hechtete die Treppe hinunter, wo er dem Schützen den Pistolenknauf ans Kinn knallte. Der Mann brach zusammen, seine durchschossene Schulter umkrampfend. »Los, Carol«, schrie Carver hinauf. »Wir müssen uns beeilen.« Gemeinsam stürmten sie die Treppe zur nächsten Etage hinunter, wo Carver den Lift heraufholte. Die Kabine war leer. Sie fuhren zum Erdgeschoß hinunter und meldeten sich beim Empfang ab, ohne behindert zu werden. Hier befanden sie sich weit unter den oberen Schichten der Stadt, in den Labyrinthen zwischen den untersten und mittleren Schichten. Hier gab es nur künstliches Licht, abgesehen von einem gelegentlich schräg einfallenden Sonnenstrahl. »Was sollen wir tun, Robin? Diese Männer -« »Wurden von Lines hergeschickt. Sie sollten uns umbringen. Er hat uns beschatten lassen. Als er Stan Eames' Gedächtnis durchforschte, erfuhr er genug, um mich beseitigen zu wollen.« »Aber warum? Sie müssen -« »Ich muß gar nichts. Eines kann ich Ihnen allerdings sagen, was ich seit Jahren keinem Menschen anvertraut habe. Ich war früher Agent Amerikas - ach, staunen Sie nicht so, ich weiß, daß Sie nie davon gehört haben. Und er vermutet, daß ich immer noch Agent bin. Wir sind seine Gegner.« Carver erzählte Carol, was Lines mit ihrer Erfindung tun wollte. Sie lauschte entsetzt. »Aber -«, sagte sie, als er verstummt war. Sie fuhr mit der Zunge über ihre Lippen. »Aber das heißt ja, daß Whitcliffe dahintersteckt! Daß er ein Verbrecher ist! Nein!« »Ich fürchte, es ist wirklich so.« -1 5 1 -
»Ich kann es einfach nicht glauben! Und doch - ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie mich anlügen -« »Nicht mehr, Carol. Ich bewundere Sie - aber dafür haben wir jetzt keine Zeit. Ich muß handeln. Zuerst brauchen wir für Sie ein sicheres Versteck, dann -« »Nein.« »Wie?« »Ich sagte, nein.« »Aber wieso nicht?« »Nein, ich verstecke mich nicht.« »Na hören Sie! Sie können doch nicht mit mir herumlaufen! Ich habe Ihnen schon genug angetan.« »Ich bin an der Sache beteiligt.« Carols Angst verwandelte sich in Zorn. »Ich habe mich gequält, um diese Geräte für Whitcliffe zu schaffen, und wofür? Damit er sie dem Syndikat verkauft, damit Heranwachsende sich einen Nervenkitzel leisten können! ›Empfinden Sie alle Sensationen des Todes - und erwachen Sie!‹ Mir ist speiübel!« Sie schoben und zwängten sich durch den Strom der Passanten. »Es paßt aber alles zusammen«, meinte Carver düster. »Ich bin den letzten Augenblicken, die das Opfer durchleben muß, immer ausgewichen, aber die Faszination, die unheimliche Lockung des Todes war nicht zu übersehen. RID-A hat sorgfältig darauf geachtet, alle Prüfer auszuscheiden, die sich daran berauschten. Die sinnlosen Morde in der ganzen Stadt, die Whitcliffe solche Sorgen machten, fügen sich nahtlos ein. So viele Menschen sind verderbt - vor allem die Jugendlichen -, daß der einzige Kitzel, der ihnen noch etwas bedeutet, mit dem Tod zusammenhängt. Und die Erlebnisse beim Töten sind sicherlich für sie nur ein fahler Abklatsch der Empfindungen, die sie beim Getötet-Werden hätten. Das ist ein altes psychologisches Rätsel, aber es erweist sich wieder einmal, daß es immer noch existiert.«
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Sie gingen ruhig, aber mit schnellen Schritten einen Pedoweg entlang, der von Blumenbeeten gesäumt war. Die Pflanzen wuchsen hier immer im künstlichen Licht und wurden von Robot-Gärtnern gepflegt. Die Laute und Farben dieser unterirdischen Stadt umtönten und umflimmerten sie. Hier war zum entsprechenden Preis - alles zu haben. Aber das galt auch in den oberen Schichten der Stadt. Dort kostete es eben mehr. »Ich weiß jedenfalls, was ich zu tun habe.« Carver tippte auf die Waffe an seinem Gürtel. Die zweite Pistole hatte er in die Tasche gesteckt. »Ich weiß nicht, was Sie vorhaben, Robin, aber ich gehe mit. Das ist endgültig.« »Klingt nicht sehr optimistisch, Carol.« Er nahm ihren Arm. »Also gut. Ich sehe die Sache so. Wir müssen zu Whitcliffe vordringen und ihn - auf irgendeine Weise - dazu überreden, diesem Treiben ein Ende zu machen. Ich glaube, daß das Ganze von selbst zusammenbricht, wenn er aussteigt. Und wenn er nicht freiwillig aufhört, helfe ich ihm.« »Und warum gehen wir nicht zur Polizei?« »Die nützt uns nichts. Whitcliffe hat sie in der Tasche. Das muß von Mann zu Mann ausgetragen werden.« »Gewiß, Sie wissen das sicher am besten« , meinte Carol. »Whitcliffe ist aber vielleicht gar nicht der Drahtzieher. Lines vielleicht steckt Lines dahinter und benützt Whitcliffe nur als Werkzeug - « »Das wäre möglich. Dann müssen wir erst recht mit Whitcliffe sprechen. Wenn er unschuldig ist, weiß er am besten, wie er Lines ausbooten muß.« Beide stellten ihre Beweggründe für dieses Vorgehen nicht in Frage. Sie hätten durchaus die ganze Geschichte vergessen, sich für unzuständig erklären und allein auf ihre Sicherheit bedacht sein können. Ein Versteck auf dem Land wäre zweifellos zu finden gewesen. Wenn Carver über diese Seite des Problems überhaupt nachgedacht hätte, wäre es ihm -1 5 3 -
dennoch als Verpflichtung jedes Bürgers erschienen, sich den Dingen zu stellen, vor allem, weil er als Agent ausgebildet worden war. Carol dagegen hatte sich schon zu tief in die Sache verstrickt; sie und Carver waren unlösbar miteinander verbunden. »Whitcliffe wird vermutlich seine Villa an der nachgemachten Bucht von Neapel aufgesucht haben«, sagte Carol. »Dorthin zieht er sich oft zum Nachdenken zurück.« »Gut, wir fahren hin. Schließlich müssen wir ihm beim Nachdenken helfen.« Sie nahmen ein Luf-Taxi, als handle es sich um einen Höflichkeitsbesuch. Kurz bevor sie die Küste erreichten, befahl Carver dem Roboter, anzuhalten. Sie stiegen aus. Über ihnen funkelten Sterne. Eine sanfte, warme Brise wehte. Sie schritten vorsichtig auf die glitzernde Villa Whitcliffes auf der Klippe zu. Carol ging voraus auf den schimmernden Stufen und erreichte eine Terrasse. Vage Umrisse, die sich lautlos bewegten, brachten sie zum Stillstand. Carver zog die Pistole aus dem Gürtel. Es waren zwei Wachtposten. Er brachte sie mit genau gezielten Karateschlägen zu Boden, bevor er Carol heranwinkte. Gemeinsam schlichen sie eine Treppe hinauf. Hängelaternen verbreiteten schummriges Licht. In den Ecken zeigten sich die geisterhaften Umrisse von Möbeln. Alle Türen waren geschlossen. Irgendwo brummte ein Generator »Er ist nicht hier«, sagte Carol verzweifelt. »Ich spüre es. Er ist fort.« Wortlos kehrte Carver um und hastete zu den bewußtlosen Männern. Das ganze Haus wirkte unbewohnt. Er schüttelte den weniger lädierten Mann, bis er zu sich kam. »Wo ist Whitcliffe?« Der andere starrte ihn finster an. »Sparen Sie sich die Mühe, Freundchen. Von mir erfahren Sie nichts.« Carver packte den Mann am Kragen. -1 5 4 -
»Sie wissen, was wir treiben. Wir bringen Tote zum Sprechen. Ich will wissen, wo Whitcliffe ist, und wenn Sie es wissen, werden Sie es mir sagen - sonst bringe ich Sie um und stelle es selber fest. Suchen Sie es sich aus - Freundchen.« Carol stand mit hämmerndem Puls daneben. Sie wußte, daß Carver es ernst meinte. Auch Whitcliffes Untergebener wußte es. Er sah es in Carvers Blick. »Ich weiß nicht, wo er ist.« »Das läßt sich nachprüfen - wenn Sie tot sind.« Carver wußte, daß er nicht zaudern würde; er fragte sich sogar, wie es sein mußte, in ein Opfer zu schlüpfen, das er selbst getötet hatte - Opfer und Henker in einem. Der Mann brach zusammen. »Sie Dreckskerl«, begann er zu schluchzen. Carver schlug ihm ins Gesicht. »Halten Sie den Mund! In Gegenwart von Damen benimmt man sich anständig. Heraus damit!« »Neu-Mexiko. Er ist nach Neu-Mexiko unterwegs.« Carol bückte sich. »Aber wohin? Wo in Neu-Mexiko?« »Ich weiß es nicht! Das ist die Wahrheit - bringen Sie mich nicht um! Bringen Sie mich nicht um! Ich weiß nicht mehr! Bitte!« »Lassen wir ihn.« Carver trat zurück. Sein Blick glitt von der Waffe zu dem Gefangenen. Der Mann schien zusammenzuschrumpfen. »Schön stillhalten«, sagte Carver und hieb ihm die Waffe auf den Schädel. Er packte Carols Arm. »Los.« »Aber wohin?« fragte sie, als sie das Freie erreichten. »NeuMexiko ist groß -« »Ja. Sehr groß. Ich glaube, ich weiß, wohin Whitcliffe will. Ich hoffe zwar in gewisser Weise, daß ich mich irre - aber ich glaube es nicht.« Er sagte sich, daß Chris Mellor, Stan Eames und das Amt sich nicht so gründlich mit dem illegalen Gebrauch -1 5 5 -
von RID-S befaßt hätten, wenn nicht noch mehr dahintersteckte. Sie riefen ein Luf-Taxi und fuhren zunächst ziellos herum. Dadurch wurde etwaigen Verfolgern die Ortung erschwert. Schließlich erteilte Carver dem Roboter einen Befehl, und das Taxi setzte sich Richtung U-Bahn in Bewegung. Er hatte einen Bahnhof am Nordostrand der Stadt gewählt und spürte eine harte, eisige Entschlossenheit in sich, als das Luf-Taxi die Stadt erreichte. »Warum die U-Bahn, Robin?« »Sie wird nicht so scharf überprüft wie der Luftverkehr. Lines ist hinter uns her. Ich hoffe, daß er nicht so schnell errät, wohin wir unterwegs sind, aber er wird dahinterkommen, das ist unausweichlich. Ich möchte einen Vorsprung haben.« »Ich mochte ihn nie.« Carol fröstelte. »Er ist schlimmer als Alec Durlston, und das bedeutet einiges.« Das Taxi glitt in den Bahnhof. »Ich hatte an sich den Eindruck, daß Sie sich mit Durlston gut verstehen.« Das Taxi hielt am Bahnsteig, und sie stiegen aus. Carver nahm ihren Arm und eilte zu den Zahlautomaten. »Er stellte mir nach. Ich -« Sie verstummte. Wie konnte sie die komplizierten Beziehungen zwischen sich und Alec Durlston erklären? Es war am besten, das ganz zu vergessen. »Mir gefällt seine Art nicht.« Carver lachte leise und kaufte zwei Karten für das Gebiet Chikago - Chikago selbst lag in Trümmern, umgeben von einer wohlhabenden, bevölkerten Provinz. »Chikago«, sagte Carol überrascht. »Ich dachte, wir wollten nach Neu-Mexiko?« »Gewiß. Es kann aber nicht schaden, Lines ein wenig Sand in die Augen zu streuen. Kommen Sie. Da fährt ein Zug ein.« Nur ein leises Dröhnen und das Zischen der Luft kündeten die Ankunft des Ein-Schienen-Zuges an. Sie stiegen ein und fanden bequeme, zurückklappbare Sitze. Die Türen schlossen -1 5 6 -
sich. Die elektromagnetischen Felder bildeten sich, und der Zug glitt lautlos davon. Carver erlaubte sich einen Augenblick der Schwäche, als er sich zurücklehnte und die Augen schloß. Die Last seiner selbstgestellten Aufgabe drückte ihn nieder. Du lieber Himmel! Warum war er eigentlich so dumm? Warum schlich er nicht einfach davon, warf dieses dumme Gefühl der Verantwortlichkeit von sich und suchte sich ein kleines Liebesnest - zusammen mit Joan Hornby? Nein - er wußte schon jetzt, nach dieser kurzen Zeit, daß er sich nur nach Carol sehnte. Er wußte aber auch, daß sie ihn mit seinem Clownsgesicht und seinem Theater als harter Mann nie begehren würde, so sehr ihr auch seine Art gefallen mochte. In diesem kurzen Augenblick kam er sich wieder so vor wie damals, als ihn Sheila verlassen und ihn das Amt gefeuert hatte - als ausgebrannt, unbrauchbar, erledigt. Dann legte ihm Carol die Hand auf den Arm und sagte: »Ich wollte Sie schon vorhin fragen, Robin - hätten Sie den Mann wirklich umgebracht und in seiner Erinnerung nachgeforscht?« Sofort war er wieder in der Gegenwart, ein Mann mit einer bestimmten Absicht. »Ja, Carol«, sagte er. »Und wohin fahren wir jetzt?« »Nach Los Alamos.«
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15 Los Alamos sah längst nicht mehr so aus wie damals, als die Menschen hier kurze Zeit die Geheimnisse des Atomkerns enträtselt und sich seine Kräfte in der H-Bombe dienstbar gemacht hatten. Über der Erde war nur noch die flache, runde Kuppel eines zu den Schutzbunkern führenden Lifts zu sehen. Sie standen im Staub und in der Kälte der Nacht und bestaunten die Kuppel. Sie hatten den U-Bahn-Zug kurz verlassen, angeblich, um einen Schluck zu trinken, und waren einfach nicht zurückgekehrt. Nun standen sie vor der Dunkelheit und der Kuppel und vor dem, was unter ihr verborgen war. Carol fröstelte. »Es ist hier - sagen Sie? Unter uns? Unfaßbar.« »Wir sind durch Radar und seismische Ortung längst ausgemacht. Das Empfangskomitee wird uns bald begrüßen. Vergessen Sie nicht - ganz natürlich benehmen, kein Zaudern zeigen. Wir müssen sie davon überzeugen, daß wir wissen, wovon wir reden.« »Ich bin froh, daß wir etwas gegessen haben«, sagte Carol. »Ich fühle mich trotzdem ganz schwach.« Carver ergriff ihren Arm und drückte ihn. »Sie haben nichts zu befürchten, Carol. Mein Wort darauf.« Der Kegel eines Scheinwerfers nagelte sie fest. Ihre Schatten verzerrten sich grotesk am Boden. Sie warteten, als die Männer auf sie zuschritten, behelmt, die Waffen im Anschlag, finsteren Blicks. »Sie beide da. Keine Bewegung.« Die Stimme klang kalt und unpersönlich, aber weder zornig noch haßerfüllt. »Was tun Sie hier? Haben Sie die Warnschilder nicht gesehen?« »Doch«, sagte Carver laut. Bevor er weitersprechen konnte, sagte die unpersönliche Stimme aus der Dunkelheit hinter dem Scheinwerfer: »Einigen -1 5 8 -
wir uns darauf, daß Sie sich verfahren haben. Wir bringen Sie zur Straße zurück. Hier ist Sperrgelände.« »Ich weiß«, sagte Carver. »Ist Morgan noch hier?« Es wurde still. Die Nacht atmete leise, der Wind flüsterte, Teil des normalen Lebens, und doch weit von ihm entfernt, durch einen unüberwindlichen Abgrund von ihm getrennt. Der andere seufzte. »Er ist hier. Wer sind Sie?« »Ein alter Freund. Sagen Sie nur, daß ich mit ihm sprechen muß - über das, was Sie und Ihre Leute hier tun, über das, was unter uns liegt - und über eine drohende Gefahr -« Der Mann trat ins Licht. Sein kantiges, hartes Gesicht wirkte unter dem Helm wie aus Stein gemeißelt. Er war groß und breitschultrig. Die Mündung seiner Waffe war auf Carvers Herz gerichtet. »Kommen Sie mit. Es ist wohl unnötig, Ihnen zu sagen, daß Sie sich Dummheiten ersparen sollen.« »Wenn sich nichts verändert hat, nicht.« »Also - « »Ja, stimmt. Gehen wir zu Morgan. Es bleibt nicht viel Zeit.« Carol klammerte sich an Carver, als sie unter der Betonkuppel zum Lifteingang geführt wurden. Sie wußte jetzt, daß der Einsatz, um den Carver spielte, viel höher war, als sie angenommen hatte, und diese Erkenntnis entsetzte sie. Im Lift rasten sie dem entgegen, was sie unten erwartete. Sie mußte die Lippen befeuchten und zweimal schlucken, bevor sie sprechen konnte. »Wer ist Morgan? Was meinten Sie mit -?« »Morgan war früher mein Chef. Ein harter Mann, aber fair. Das ist die Gewähr dafür, daß er mich anhört.« Sie wurden aus dem Lift geholt und durch schlichte Kammern und Korridore aus Beton geführt. Leuchtröhren flimmerten. Nichts hier verriet die unglaublichen Kräfte, die dem -1 5 9 -
menschlichen Gehirn gehorchten und von diesem riesigen, unterirdischen Labyrinth - dem einstigen Los Alamos - aus gesteuert wurden. Carol fing jedoch etwas auf von der Atmosphäre; sie spürte in allem die vollkommene Einheit des Zielbewußtseins, das jeden erfüllte. Morgan erwartete sie in seinem Büro. Carver schaute sich kurz um. Seine Mundwinkel zuckten. Nichts hatte sich verändert. »Sie sind es also, Robin.« Morgan stand auf und reichte ihm die Hand. Carver drückte sie und fühlte sich wieder in die alte Zeit zurückversetzt. Er wußte, daß jetzt nicht die Zeit war, wehmütig zu werden oder sich zu bemitleiden. Er konnte seine Aufgabe nur mit Hilfe dieses Mannes zu Ende führen, auch wenn Morgan ihn hinausgeworfen hatte. »Eine lange Geschichte, Morgan. Als erstes - ist Whitcliffe hier gewesen? Wissen Sie, wo er sich befindet?« »Whitcliffe?« sagte Morgan erstaunt. »Natürlich ist er hier. Wir arbeiten gemeinsam einen Plan aus. Was ist los, Robin? Ic h warne Sie -« »Die Geschichte ist wahr, Morgan, keine Sorge. Etwas Besseres haben Sie noch nicht gehört. Aber zuerst lassen Sie Whitcliffe scharf überwachen -« »Wie komme ich dazu? Weil Sie es verlangen - Sie, ein Mann, der sich als labil erwiesen hat und jetzt, Jahre danach, plötzlich auftaucht? Wer sind Sie, verglichen mit Whitcliffe?« »Hm«, sagte Carver, zu sehr mit seiner Aufgabe befaßt, um sich verletzt zu fühlen. »Ich sage nur dies. Sie werden nicht allein Whitcliffe strengstens überwachen, bevor ich die Hälfte berichtet habe - Sie werden vermutlich Alarmstufe Eins geben und ihn festnehmen lassen.« Morgan schnaubte verächtlich, ließ sich aber in seinen Sessel sinken, wies Carver und Carol zu Formfits und lehnte sich zurück. Carver erzählte ihm alles. Ohne etwas wegzulassen. Er behielt nichts für sich. In gewisser Weise war dies auch eine geistige Reinigung für ihn, eine Beichte, das Bestreben, seine Probleme -1 6 0 -
auf die Schultern eines Mannes zu legen, dessen Fähigkeiten er kannte. Als er davon berichtete, daß Whitcliffe unter dem Verdacht stand, der Unterwelt illegal Aufzeichner zu verkaufen, beugte sich Morgan vor. »Wenn nur Stan oder Chris damit gekommen wären - das ist der entscheidende Hinweis, den ich brauchte!« Morgan drückte auf eine Taste und sprach ins Mikrofon. »Alarmstufe Eins. Whitcliffe. Augenblicklich. Bringt ihn in mein Büro - spätestens in fünf Minuten.« Morgan hatte die Stimme nicht erhoben; darin glich er Whitcliffe. »Weiter, Robin.« »Sie wissen vermutlich, was Whitcliffe vorhat, wenngleich ich mir nicht vorstellen kann, was ihn dazu bewogen hat - ein Mann in seiner Position!« »Seit Sie ausgeschieden sind, Robin, hatten wir einige Fälle, in denen jemand überschnappte. Mit jedem Jahr wird es schlimmer. Und immer stecken Jugendliche mit dahinter. Traurig und erschreckend - aber wir werden unsere Pflicht erfüllen, trotz aller Drohungen.« Auf der Konsole neben dem Schreibtisch blinkte ein rotes Lämpchen. Ein Adjutant drückte auf einen Knopf, und die Lampe erlosch. Er hob hastig den Kopf. »Seltsam, Sir«, sagte er. »Alarm in Sektor Drei, aber keine Reaktion von Kameras oder Mikrofonen -« »Prüfen Sie das nach, Rod.« Der Adjutant stand auf und verließ den Raum. »Aus all den Dingen, die ich hier und dort zusammengeklaubt hatte, ergab sich für mich die eindeutige Schlußfolgerung, daß Whitcliffe die Absicht hatte, den Schutzschild zu vernichten. Mit der Überlassung der RID-Speichergeräte an die Unterwelt hatte er sich die Möglichkeit verschafft, Helfer und Anhänger zu gewinnen, die nicht allzuviel nachdenken würden. Ich war zwar durch die Umstände gezwungen, Stan Eames früh zu -1 6 1 -
verlassen, aber ich gewann doch den Eindruck, daß Chris Mellor, der auf Ihre Anweisung hin handelte, Lines im Verdacht hatte. Und Lines führte mich zu Whitcliffe.« »Wenn es um den Schild geht, denkt die Unterwelt ähnlich wie die gewöhnlichen Leute, Robin. Die verbrecherischen Organisationen, die den Schild zerstören wollen, glauben, daß sie im Recht und wir im Unrecht sind. Es sind die gefährlichsten Gruppen, die es je gegeben hat - und Sie sagen mir jetzt, daß Whitcliffe eine davon anführt!« Carol verfolgte das Gespräch wie in Trance. Für sie brach eine Welt zusammen. Ihre erste Reaktion war ein Flüstern: »Sie meinen - der Schild der Schild wird - hier erzeugt? Wir sitzen dort, wo der Schild entsteht!« Carver lächelte sie an. »Der Schild schützt Amerika vollständig gegen atomare Angriffe, Carol. Die elektromagnetischen Felder, die Strahlungsschichten müssen irgendwo erzeugt werden, sie haben einen Ursprung. Genau dort sitzen Sie jetzt.« Sie umfaßte die Armlehnen ihres Formfits. »Und - und Whitcliffe, der Mann, den ich so bewundert habe will all das zerstören! Es ist einfach unbegreiflich!« »Sie müssen noch etwas erfahren, Robin.« Morgan stand auf und begann hin- und herzugehen. »Vi elleicht hätte ich Sie unterrichten sollen, aber ich wollte nicht an Sie herantreten. Außerdem hätten Sie vielleicht nein gesagt.« Carver fragte sich, worauf sein alter Chef hinauswollte. Im übrigen wurde es langsam Zeit, daß die Wachen Whitcliffe hereinbrachten. Mit dem Schild durfte man kein Risiko eingehen. »Das Mädchen, das Sie gesehen haben, Cora Brown -« »Ja-?« Aber er glaubte schon zu wissen, was damit war. »Sie war - äh - na ja, Sie wissen wohl, daß Joan Hornby Ihnen auf meinen Befehl hin das Heim empfohlen hat. Miss Freezer -1 6 2 -
und alle Mitarbeiterinnen sind Agenten. Das Ganze ist eine Ausbildungsstätte für Agentinnen, Robin. Sie -« Er wurde von widersprüchlichen Empfindungen bedrängt. Heiseres Lachen entrang sich ihm. »Ich habe mir immer wieder gesagt, ich hätte einsehen müssen, daß es keine zweite Ausgabe -« »Miss Freezer hatte Wendy eben in Empfang genommen, als Sie auftauchten, und bei Ihrem Abflug wurde sie mit der Rakete sofort wieder abgeholt. Wir behielten Sie im Auge, seit Archie Smythe-Potts gemeldet hatte, daß Sie bei Julie Farish eine RID-Prüfung vorgenommen hatten. Chris Mellor wußte, daß Sie Wendy gesehen haben mußten.« »Archie ist Agent?« »Wir fügen schon seit geraumer Zeit zusammen, was wir über die Gruppe, die den Schild zerstören will, wissen. Auf den Gedanken, daß Whitcliffe selbst dahinterstehen könnte, bin ich aber nie gekommen.« Doch Carver dachte im Augenblick nur daran, daß Wendy, seine Tochter Wendy eine Agentin Amerikas war! Es machte ihn stolz und glücklich. Und er hatte sie doch erkannt! Nur durch die Raffinesse des Amtes hatte er sich täuschen lassen. Cora Brown! Quatsch! Aber Whitcliffe war noch immer nicht hereingeführt worden. Und Rod, der Adjutant, hatte sich noch nicht zurückgemeldet. »Ich sollte mich bei Ihnen dafür bedanken, daß Sie Ihren Vorgesetzten gegenüber Chris Mellor nicht erwähnt haben, Robin. Das wäre ungünstig gewesen. Eames haben sie ja erwischt -« Morgan wandte sich an einen anderen Adjutanten. »Was ist mit Rod? Und wo bleibt Whitcliffe? Kümmern Sie sich darum, Brett.« »Jawohl«, sagte Brett und ging zur Tür. Bevor er sie erreichte, wurde sie aufgerissen, und zwei Wachen schleppten eine schlaffe Gestalt herein. Im ersten Augenblick erkannte Carver Chris Mellor nicht.
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Mellor war leichenblaß. Er preßte die Hand auf den Brustkorb. Zwischen den Fingern rann Blut hervor. »Whitcliffe -«, stieß er hervor, als Morgan und Carver ihn auffingen und auf ein Formfit legten. Mellor hustete. »Dieser Lines hat uns übertölpelt! Sie sind hier! Im Maschinenraum! Sie wollen - wollen - alles in die Luft sprengen!« Sein Kopf rollte zur Seite, auf seinen Lippen zeigte sich Blut. »Wir müssen sie aufhalten!« Morgan stürmte mit den anderen zur Tür. Einem Adjutanten rief er zu: »Großalarm! Und kümmern Sie sich um Chris!« Carver rannte mit Morgan zum Maschinenraum-Lift. Sie mußten hundert Stockwerke tief hinunter. »Sie haben mich hinausgeworfen, weil ich als Agent verbraucht war, Morgan«, sagte er. »Sie hatten recht. Ich hätte mit meinen Informationen schon Stunden früher hier sein müssen.« Sie stürmten in den Lift, und Morgan drückte auf den Knopf. Die Gitter schlössen sich, als Morgans Untergebene herankamen. Sie sprangen zur Seite. »Ich habe eben eingesehen, wie falsch es war, Sie zu entlassen, Robin«, erwiderte Morgan. »Mensch, Robin! Sie sind doch nicht für dieses Schlamassel verantwortlich! Wir können von Glück sagen, daß wir überhaupt vorher etwas erfahren haben! Ich kann aber trotzdem nicht verstehen, warum die Wachen Whitcliffe nicht dingfest gemacht haben.« »Fährt denn der verdammte Lift nicht schneller?« zischte Carver. Eine kleine Hand legte sich auf seinen Arm. Er drehte sich verblüfft um und sah Carol vor sich, die ihn mit großen Augen anstarrte. »Was -?« begann er. Er überlegte. »Gewiß, Sie haben ein Recht darauf, dabei zu sein. Aber passen Sie auf sich auf.« Sie lehnte sich an ihn. Ihre Gefühle waren so in Verwirrung geraten, daß sie jemanden brauchte, bei dem sie Ruhe fand, der ihren verletzten Stolz wieder aufrichten, sie in die Arme nehmen und beim Untergang der Welt trösten konnte. -1 6 4 -
Sie hatte sich einmal gefragt, warum der lustige Archie SmythePotts nicht wie Alec Durlston aussehen konnte. Jetzt hatte sie genug gelernt, um zu wissen, daß es keine Rolle für sie spielte, ob Robin Carver ein Clownsgesicht hatte; was in ihm war, darauf kam es an, und dagegen fiel Durlstons äußere Erscheinung nicht mehr ins Gewicht. Der Lift hielt, und die Gitter öffneten sich. Sie betraten den Maschinenraum des Schilds. Der Schild, eine elektromagnetische Strahlung, die ein Kraftfeld erzeugte, von dem ganz Amerika eingehüllt und geschützt wurde, verbrauchte Energie in Mengen, die seiner Fähigkeit entsprachen, jede Waffe, thermonuklearer oder anderer Art, die gegen den amerikanischen Kontinent abgefeuert werden mochte, aufzuhalten und zu neutralisieren. Carol stand vor einem kleinen Teil des komplizierten und riesigen unterirdischen Gefüges, das den Schild erzeugte; kein Menschenauge konnte diese kolossale Apparatur mit einem Blick umfassen. Trotzdem fühlte sie sich verwirrt und betäubt von den wolkenkratzerhohen Anlagen, den endlosen Reihen von Schalttafeln, den Konsolen. »Wie will man dies alles in die Luft sprengen?« flüsterte sie Carver zu, während sie weiterhasteten. Sein Gesicht, von der Ahnung der nahenden Katastrophe verschattet, wandte sich ihr nicht zu. »Eine Thermonuklearbombe an der richtigen Stelle zerstört Herz und Gehirn, danach wird es keinen Schild mehr geben.« Zwischen den mechanischen Kolossen glitten die Schatten von Männern dahin, Schüsse krachten, Mündungsfeuer blitzte auf. »Wir müssen sie aufhalten!« schrie Morgan. »Verteilt euch! Schießt sie nieder! Wo, zum Teufel, ist Whitcliffe?« Für Aufgaben dieser Art war Carver zur perfekten Kampfmaschine ausgebildet worden. Alle Gedanken, die nicht damit zusammenhingen, waren wie weggeblasen. Er wußte so gut wie jeder hier, daß er kämpfte, um den Frieden zu erhalten.
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Ein aschfahler Soldat mit hängendem Arm und zerfetzter Uniform taumelte heran. »Sie sind im Sektor Vier! Sie haben sich eingeigelt und arbeiten dort wie die Wahnsinnigen -« »Sie montieren die Bombe.« Morgan begann zu fluchen, und der ganze Trupp von Agenten und Soldaten, verstärkt durch Nachschub aus den Liften, stürmte zum Sektor Vier. »Wenigstens haben wir sie jetzt umzingelt«, rief Carver, der neben Morgan lief. »Sie können nicht mehr entwischen, also auch die Bombe nicht auslösen -« »Verlassen Sie sich nicht darauf, Robin. Diese Irren haben alle den Selbstmord-Tick. Natürlich! Kann gar nicht anders sein! Sonst wären sie ja auch nicht verrückt genug, den Schild in die Luft sprengen zu wollen!« In der Luft hing Rauch, als sie sich Sektor Vier näherten. Es roch nach Pulverdampf. Tief innen bemühte man sich, einen Sprengsatz zu montieren, der Herz und Hirn des Schilds zerstören sollte. Hastig sondierte man den Verteidigungsring und begann sich vorwärtszukämpfen. Männer schrien und starben. Das Feuer der automatischen Waffen zwischen den Metallwänden schien die Trommelfelle zu sprengen. Hinter einem von Kugeln zerfetzten Block aus Instrumenten und Meßgeräten zusammengekauert, beobachteten Morgan, Carver und einige Agenten, wie alle Angriffe abgewehrt wurden. »Glauben Sie, daß Whitcliffe Vernunftgründen zugänglich ist?« fragte Carol plötzlich. »Ich spreche mit ihm!« »Aber -!«sagte Morgan. »Es ist eine Chance.« Carver zog seine Waffe heraus und legte sie auf den Boden. »Ich begleite Carol. Sie kennen uns, und wir kennen sie. Vielleicht gehen sie auf einen vernünftigen Vorschlag ein. Sie sitzen ja immerhin fest. Ich kann mir Whitcliffe als Selbstmörder einfach nicht vorstellen. Das paßt nicht zu seinem Charakter.« »Whitcliffe kann es nicht sein«, sagte Carol eigensinnig. »Er besaß alles, wofür zu leben sich lohnte. Den Schild zerstören -1 6 6 -
Gott! Was für ein entsetzlicher Gedanke! - Ich muß mit ihm sprechen!« Das Waffenstillstandsgespräch wurde mit erstaunlicher Leichtigkeit vereinbart. Kurze Zeit später gingen Carol und Carver, beobachtet von Morgan und seinen Leuten, die er zurückgezogen hatte, auf den Eingang zu Sektor Vier zu. An der Teleskopantenne eines Transistorgeräts wehte ein weißes Papiertuch. »Ich komme mir wie ein Narr vor«, sagte Carver leise. »Ich auch. Aber Whitcliffe wird die weiße Flagge respektieren.« »Natürlich. Das gibt ihm Zeit, die Bombe und den Zünder fertigzumontieren.« Wie erwartet, empfing sie Lines. Er mußte sofort hergeflogen sein und Whitcliffe Bericht erstattet haben, als Carver und Carol seinen Leuten entwischt waren. Zeuke stand neben ihm. Carver widerstand nur mühsam der Versuchung, beide niederzuboxen. Das Vergnügen würde er sich später gönnen. »Wo ist Whitcliffe?« »Ich sollte Sie an Ort und Stelle niederschießen, Carver«, sagte Lines. Er machte ein Gesicht, als verursache ihm der Anblick Carvers Übelkeit. »Daß alles schiefgegangen ist, haben wir wohl Ihnen zu verdanken!« Er holte plötzlich mit seiner Waffe aus, um Carver eins überzuziehen. Carver riß den Kopf zurück und ließ die Fußspitze vorschnellen. Sie traf Lines im Magen. »Schon gut, Zeuke -« Carver hob die Hand, als sich Zeukes Finger um den Abzug krümmte. »Das war schon lange fällig! Wir sind aber als Parlamentäre hier.« Lines lag am Boden und wand sich. »Führen Sie uns sofort zu Whitcliffe.« Zeuke zögerte. Plötzlich hörten sie Whitcliffes ruhige Stimme. »Bringen Sie Carver zu mir, Zeuke. Und Doktor Burnham auch. Ich muß zugeben, daß mich Ihre Anwesenheit ein wenig überrascht, Doktor.« Sie ließen Lines am Boden liegen. Zwei Männer, die Carver nicht kannte, bemühten sich um ihn. Die anderen begleiteten Whitcliffe und die Parlamentäre zu den Innenräumen von -1 6 7 -
Sektor Vier, wo Whitcliffe vor einer kleinen Eisentür stehenblieb. Dahinter beschäftigten sich, wie Carver vermutete, Techniker damit, die Bombe und den Zünder zu montieren. »Wir sind an einem toten Punkt angelangt«, sagte Carver. »Sie können die Bombe nicht zünden, ohne sich selbst damit in die Luft zu sprengen. Sie können nicht entkommen - und ich glaube nicht, daß Sie dumm genug sind, sich mit in die Luft zu jagen, Whitcliffe.« »Vielleicht doch, Carver, wenn man bedenkt, wie hoch der Einsatz ist.« Carol konnte sich nicht länger zurückhalten. »Warum haben Sie meine Geräte an diese schrecklichen Leute verkauft, Whitcliffe?« fuhr sie ihn an. »Ich habe Ihnen vertraut, an Sie geglaubt, Sie bewundert! Und dann - und dann tun Sie so etwas! Warum, um alles in der Welt, warum?« »Ihre jugendliche Ehrlichkeit ist erfrischend -«, begann Whitcliffe mit schwachem Lächeln. »Nein, Whitcliffe!« schrie Carol. »Damit kommen Sie nicht mehr durch! Begreifen Sie denn nicht? Sie verkörperten für mich alles, was gut und anständig ist, einen Mann, der sich bemühte, der Menschheit zu helfen, der daran arbeitete, die Welt zu verbessern. Und dann - dann verbünden Sie sich mit den gemeinsten, brutalsten, verbrecherischen -« »Ruhig, mein Kind.« Whitcliffe entfernte sich ein paar Schritte, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Neben ihm ragten die Metalltanks der Cryotron-Anlagen empor. »Ich will versuchen, Ihnen das Ganze zu erklären. Das ist auch gleichzeitig die Antwort auf Ihr Ultimatum«, sagte er mit einem Blick auf Carver. »Gut. Sprechen Sie.« »Gleich zu Anfang - ich bin nicht geisteskrank. Ich weiß so gut wie Sie, was der Schild in der Vergangenheit für dieses Land und die Welt bedeutet hat. Er gab uns Frieden. Er gab uns eine Atempause, einen Zeitraum, in dem wir die Angst von uns abschütteln konnten. Die Länder Amerikas, von Alaska bis -1 6 8 -
Mexiko, waren vor Tod und Zerstörung geschützt, die uns von außen bedrohten.« »Das erklärt aber nicht, warum Sie die Geräte verkauft haben-« »Hören Sie mir zu!« Zum erstenmal in ihrem Leben sah und hörte Carol, wie Whitcliffe seine Gelassenheit verlor, wie er beinahe normal auf Belastungen reagierte, die jeden anderen Menschen zu Boden gedrückt hätten. Aber sie rügte sich sofort dafür, daß sie Whitcliffe immer noch mit den alten Augen betrachtete... »Um zuerst auf die RID-Speichergeräte zu kommen. Sie alle wissen, daß die Sumos, die Schlitzer, die Vielzahl anderer jugendlicher Banden sich damit vergnügt haben, unschuldige Menschen zu töten. Ein brutaler Blutkult verschaffte ihnen eine entsetzliche Befriedigung. Nun - ich versuchte, dem Einhalt zu gebieten -, und zwar an der Quelle selbst. Wenn ich Speicher lieferte, würden diese Jugendlichen sich am Tod erbauen können, ohne selbst zur Gewalt greifen zu müssen. Das mag« er hob beschwichtigend die Hand - »das mag nach Dekadenz, nach Ausflucht klingen, nach einem Eingehen auf Entwicklungen, die wir aufhalten müssen. Ich mußte aber Zeit gewinnen. Diese Methode erfüllte ihren Zweck, nämlich die Gewaltsamkeit einzudämmen, die das Land überfluten würde, wenn der Schild nicht beseitigt wird.« »Aber - den Schild zu zerstören - unsere einzige Abwehr zu vernichten -« »Ja! Den Schild vernichten! Diesen Kontinent wieder für die Welt öffnen! Das ist mein Traum, mein Wunsch - und mein erklärtes Ziel!« Carver fühlte, wie ihn die Verwirrung überflutete, zu ersticken drohte. »Aber wie -?« »Wie können wir verhindern, daß dieses Land im Morast der Verderbtheit und Dekadenz versinkt? Sie alle wissen, daß unsere Gesellschaft bis ins Mark verfault ist, Sie kennen die scheußlichen Gebräuche, die Morde, die alle Grenzen sprengende Gewalttätigkeit, nicht nur in der Stadt - wo wir zum -1 6 9 -
Glück das Schlimmste verhindern können -, sondern jetzt auch auf dem Land. Wir sind so in uns selbst verstrickt, so sehr Bestandteil dieses Geschehens, daß unser Untergang besiegelt ist, wenn es uns nicht gelingt, die frische, saubere Luft der Außenwelt hereinzulassen!« »Ich gebe zu, daß wir ein unerfreuliches Bild bieten«, sagte Carver langsam. »Das fühle ich schon seit geraumer Zeit. Carol geht es genauso, und vielen Menschen auch. Aber was haben wir davon, wenn wir den anderen Nationen der Welt die Gelegenheit geben, uns in die Luft zu sprengen?« »Als China Atommacht wurde, hätten sich viele Leute am liebsten gleich umgebracht. Es gab aber andere, die etwas dagegen unternahmen, die - oh, keine Kriege! Krieg ist Selbstmord, seit es Atomwaffen gibt. Kompromisse, die Ausarbeitung von Lösungen, die nicht einfach sind. Verständnis für die Gegenseite, gleich welcher Hautfarbe, welcher Rasse, welchen Glaubens - und wenn das banal klingt, dann deshalb, weil Wahrheiten banal werden, wenn die Menschen zu ängstlich oder zu faul sind, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Wenn man danach handelt, ist die Wahrheit nicht mehr banal oder langweilig. Nur die Wahrheiten, mit denen man sich nicht auseinandersetzt, werden banal, weil sie immer und immer wieder vorgetragen werden müssen.« »Sie meinen, die Außenwelt lebt - im Frieden?« fragte Carol. »Seit Jahrzehnten schon. Ein globales Nachrichtennetz, gegenseitige Hilfsprogramme, die Entschlossenheit, dafür zu sorgen, daß diese Erde jeden ihrer Söhne und Töchter auf anständige Weise ernährt - all dies hat dazu beigetragen, daß man in der Außenwelt vernünftig leben kann. Gewiß, es gibt immer noch Probleme, immer noch Schwierigkeiten. Aber in all den Jahren, die wir uns hinter unserem Schild versteckt haben, ist die Welt an uns vorbeigezogen. Für jeden, der sie sehen wollte, sind das offen zutage liegende Wahrheiten - aber wir wagten ja nicht, unseren Schild zu verlassen und sie zu suchen, weil uns das schutzlos gemacht hätte. Und jeder, der wirklich einmal draußen war, hatte nur einen Gedanken - so schnell wie möglich unter den Schild zurückzukehren.« -1 7 0 -
Carol erinnerte sich an das Flugzeug, das sie zum Kontinent hatte zurückkehren sehen, den Durchbruch durch den Schild und die Wahrheit von Whitcliffes Worten überwältigte sie wie eine Sturzflut. Sie - nicht nur sie, alle - waren im Irrtum gewesen. »Wir sind also auf dem falschen Weg gewesen, die ganze Zeit?« »Ich fürchte, ja«, sagte Ralph Tzombe, der plötzlich hinter Whitcliffe auftauchte und Carol anlächelte. »Warum haben Sie mir nichts gesagt?« brauste Carol auf. »Ralph - er durfte Ihnen helfen -« »Glauben Sie, daß Sie akzeptiert hätten, was Whitcliffe eben gesagt hat? Nein, meine Liebe. Nur die vollendete Tatsache kann Ihre Meinung ändern, wie sie die Meinung aller Menschen auf unserem Kontinent ändern wird, die sich in Zukunft nicht mehr hinter einer undurchdringlichen Abwehr gegen eine nicht vorhandene Bedrohung verstecken müssen.« Carver trat vor. »Das klingt alles recht gut, Whitcliffe, aber es schmeckt verteufelt nach Verrat -« Whitcliffes Gesicht zeigte plötzlich die Gefühle, die in ihm tobten. »Können Sie mir nicht glauben, Carver? Ohne Ihre Einmischung - für ein Ziel, an das Sie glaubten, wofür Sie Bewunderung verdienen - hätten wir Erfolg gehabt. Sie müssen mir glauben.« »Und die Morde, die man begangen hat, um zu verhindern, daß ich die Wahrheit erfuhr?« »Dafür gibt es keine Entschuldigung. Die Verantwortung für die Gewalttaten trägt Lines, aber im Grunde muß ich die Schuld auf mich nehmen.« »Wenigstens sind Sie ehrlich... Ich beneide niemanden, der sich veranlaßt sieht, Lines zu decken.« Zeuke trat zornig vor, wie ein Stier, der in der Arena zornig die Hörner schüttelt. -1 7 1 -
»Manchmal muß man selbst die edelsten Absichten mit anrüchigen Methoden verfolgen«, sagte Whitcliffe leise. »Mir gefällt das nicht, aber neben dem Ziel - der Gestaltung einer auf Vernunft aufgebauten Welt - zählt es nicht.« Carver betrachtete dieses Thema als abgeschlossen. Es blieb ihm nichts anderes übrig. Was Whitcliffe ihm sagte, bedeutete mehr als die Beurteilung moralischer Fragen, denn es ging um den Fortbestand zweier verschiedener Welten - der Welt, die er sein ganzes Leben hindurch gekannt und hassen gelernt hatte, und der vielversprechenden Welt, die ihm Whitcliffe nun bot wenn er alles, was er je gelernt hatte, über Bord warf. Er mußte entscheiden, denn miteinander konnten diese beiden Welten nicht existieren. »Alles, an das ich geglaubt habe - gestürzt«, flüsterte Carver. Er sagte es mehr zu sich selbst als zu den anderen. Er konnte sie nicht ansehen; er schämte sich. Konnte wahr sein, was Whitcliffe behauptete? Alles, was er über diesen Mann bis vor kurzem gewußt hatte, wäre ausreichend gewesen, um ihn sofort davon zu überzeugen, daß es zutraf, aber jetzt gab es Zweifel. Niemand hatte das Recht, eine ganze Welt umzustürzen. »Hören Sie, Mann«, sagte Whitcliffe mit rauher Stimme. »Sie können nicht hinter eine Wand kriechen, die Tür hinter sich zumachen und Ihren Austritt aus der Welt erklären.« Selbst jetzt hätte Carver noch nicht akzeptiert, was er so deutlich vor sich sah. Er spürte, daß Carol jedoch von ihrem Chef überzeugt worden war. Die enge Verbindung zwischen den beiden hatte dabei sicher eine Rolle gespielt. Aber konnte er, konnte ein Mann, der mit den Agenten Amerikas bemüht gewesen war, gerade ein solches Komplott zu vereiteln, konnte er sich von Argumenten beeinflussen lassen, die vielleicht nur Scheinargumente waren? Er nahm sich zusammen. »Tut mir leid, Whitcliffe. Ich meine - ich bin beauftragt worden, mit Ihnen zu verhandeln, den Versuch zu unternehmen, Sie von der Nutzlosigkeit Ihrer Bemühungen hier zu überzeugen, Sie zu -1 7 2 -
bitten, daß Sie die Bombe demontieren und abziehen. Diesen Auftrag muß ich ausführen.« »Mir tut es auch leid, Carver. Und wenn ich mich weigere?« »Kann ich nur zurückkehren und Bericht erstatten. Aber ich flehe Sie an, Whitcliffe - lassen Sie die Bombe! Überlegen Sie sich, was geschehen wird -« »Die Bombe ist montiert, der Zünder auch, nehme ich an. Das Gespräch war nicht einseitig. Sobald ich das Funksignal gebe, kann niemand mehr die Bombe entschärfen, bevor sie explodiert. Das wissen Sie.« »Ich weiß es.« Wie auf ein Stichwort hin öffnete sich die Metalltür, und ein Mädchen trat heraus, die Tür sorgfältig hinter sich schließend. Sie trug einen verwaschenen Drillichanzug. Sie trat vor und wandte ihren blonden Haarhelm Whitcliffe zu. Sie sah nur ihn. »Die Techniker sind fertig, Whitcliffe. Es hängt nur noch von Ihnen ab. Sobald das Funksignal -« »Danke, Miss Brown«, sagte Whitcliffe leise. Das Mädchen drehte sich um, verschlossenen Gesichts, und erst jetzt sah Carver, der die Augen weit aufgerissen hatte, daß ihre Unterlippe zitterte. Dieses Mädchen war zu jung zum Sterben - auch wenn die Welt auf dem Spiel stand. »Wendy«, sagte Carver, mit jeder Faser seines Herzens hoffend, daß sie weitergehen und ihn ignorieren würde. Aber sie fuhr herum, ihre Augen weiteten sich, eine Hand flog an ihren Mund. Das Blut wich aus dem ernsten, schönen, herzzerreißend jungen Gesicht »Paps? Paps... Paps!« Und dann lagen sie einander in den Armen, klammerten sich aneinander fest, und er sprach auf sie ein wie früher, wenn er nach einem Alptraum ihre kindlichen Ängste beschwichtigt hatte. Er strich über ihr Haar und flüsterte ihr ins Ohr. Schließlich hielt Wendy den Atem an, schob Carver weg, stemmte sich gegen ihn und starrte ihn prüfend an. Die anderen verfolgten diesen winzigen Teil eines größeren Dramas, als -1 7 3 -
sähen sie die Figuren in einem 3 D-Projektor. Sie strich ihr Haar zurück und atmete tief ein. »Was willst du eigentlich hier?« »Wendy - ich dachte, du bist Agentin. - Ich - was ich hier will? Hör mal, Fräulein! Was, zum Teufel, denkst du dir dabei, ohne Erlaubnis mit einer Wasserstoffbombe zu spielen? Hm?« »Ich war Agentin, Paps. Morgan nahm mich sofort auf, nachdem man dich entlassen hatte. Die Ausbildung begann im Heim sehr früh. Ich arbeite schon lange für das Amt. Aber als Whitcliffe mir erklärte, was er vorhatte, als ich die Gründe hörte - es ist doch sonnenklar, nicht wahr? Ich meine - er hat dir Bescheid gesagt, und du bist hier, also ist alles in Ordnung. Wir heben den Deckel von dem überkochenden Topf, der aus diesem Kontinent geworden ist, seit wir uns unter dem verflixten Schild vor allen versteckt haben.«
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16 Unter dem verflixten Schild! Unfaßbar! So verächtlich vom Schild zu sprechen - dem Lob und Preis und Dank... Nein. Nicht mehr. Es war nur zu klar, daß der Ekel vor dem Lebensstil, der sich unter dem Schild entwickelt hatte, nicht auf ihn, Carol und einige andere Personen beschränkt gewesen war. Er hatte viele Menschen erfaßt. Die älteren Bürger hatten sich in zynischer Weise daran gewöhnt, sie nahmen es hin, und der Gedanke an eine Veränderung wurde zu einem leeren Traum. Heranzuwachsen war stets ein Problem gewesen, und erst als endlich die jungen Menschen des Kontinents in einem Mann wie Whitcliffe eine Chance erblickten, war der Durchbruch möglich geworden. Wendy war die Jugend. Wendy war in Ordnung. Wendy wußte, was gespielt wurde. Wendy würde sich nie von Scheinargumenten blenden lassen, nie auf einen Demagogen hereinfallen, dem es nach Märtyrertum gelüstete. In der Jugend lag der Schlüssel zu dem Ganzen: angefangen bei den Sumos und dem Mittel, das Whitcliffe ersonnen hatte, um sie vorübergehend zu beschwichtigen, bis der Kontinent dem Licht der Außenwelt geöffnet war, bis zu Wendy mit ihren eigenen Träumen und Vorstellungen vom Leben. Carver kam sich dabei doch recht alt vor. Alt - und ein wenig verschroben - so, als sei er überflüssig. Er wandte sich Whitcliffe zu. »Passen Sie auf, Whitcliffe. Wir wollen keine Märtyrer sein. Ich bin sicher, daß Carol es auch nicht will, und ich werde auf jeden Fall alles versuchen, um zu verhindern, daß Wendy und Carol in einem T-Punkt Null zugrunde gehen, wie wir ihn seit Hunderten von Jahren nicht mehr gesehen haben. Sie haben -1 7 5 -
sie überzeugt. Ich werde versuchen, Morgan zu überzeugen. Vielleicht finden wir dann einen zivilisierten Weg, den Schild zu beseitigen.« »Endlich -«, stieß Whitcliffe hervor. Die Belastung wäre fast zuviel für ihn gewesen; trotzdem wirkte er immer noch gelassen. »Sie können es versuchen, Carver. Miss Brown kennen Sie wohl?« »Hm«, sagte Carver, der trotz der drohenden Gefahr noch in der Lage war, humorvoll zu reagieren. »Vor ein paar Jahren hätte ich sie übers Knie gelegt und ihr das Hinterteil versohlt.« »Gut, wir können es versuchen«, sagte Whitcliffe. Er wandte sich an seine Leute. »Wir gehen alle einzeln hinaus. Wir ergeben uns. Wenn wir weit genug entfernt sind, zünde ich die Bombe, falls es uns nicht gelungen ist, Morgan von der Wahrheit zu überzeugen. Die Wahrheit oder die Bombe - eine andere Wahl haben wir nicht.« Sie marschierten mit der weißen Fahne hinaus und wurden mit vorgehaltener Waffe von Morgan und seinen Leuten zusammengetrieben. Es knisterte vor Spannung. »Die Bombe ist gut versteckt, Morgan«, sagte Whitcliffe ruhig. »Der erste, der sie entschärfen will, wird sie in die Luft jagen. Sie kennen sich in diesen Dingen aus, aber Sie wissen nicht genug, um diese Bombe in der verbleibenden Zeit zu entschärfen. Ich rate keinem, sich in die Nähe zu wagen.« »Alles räumen!« schrie Morgan. »Sofort das Sprengkommando einsetzen. Alle umliegenden Sektoren warnen! Für alle Fälle haben sich alle in Schutzbunker zu begeben.« Er starrte Whitcliffe verbissen an. »Sie haben eine Menge zu verantworten, bei Gott!« Man beeilte sich, stürmte in die Lifte und floh in die Wüste NeuMexikos, während langsam die Sonne heraufstieg, einen Tag ankündend, der ihr ganzes Leben verändern - oder beenden konnte. Im nächstgelegenen Atomschutzbunker trieb Morgan seine Leute zusammen. Mit den Verrätern ging man unsanft um. -1 7 6 -
Carver versuchte seine Einstellung zu erklären, aber Morgan sagte nur: »Judas!« und stieß ihn zu den anderen. Zu Carvers Überraschung tauchten Archie Smythe-Potts und Bill Hambling auf, und nach ihrem Luf erschien auch Luf 3 - mit Alec Durlston. »Ich habe RID-A angefordert«, sagte Morgan, »damit Experten zur Stelle sind, wenn ich einige von Ihren Freunden töten muß, um hinter die Wahrheit zu kommen.« Carver starrte Durlston erstaunt an. Im Gesicht Durlstons zuckte es, seine Augen waren starr und blutunterlaufen. Seine Hände zitterten. Durlston wurde von Angst geschüttelt, obwohl er in diesem Bunker vor einer H-Bomben-Explosion geschützt war. »Diesmal haben Sie sich aber richtig in die Nesseln gesetzt, Robin«, brummte Soames. »Wenn Sie sich anhören würden, was Whitcliffe zu sagen hat, wäre alles klar.« »Ruhe!« fauchte Morgan. »Einer von euch Halunken wird mir sagen, wann die Bombe explodiert. Ich bin bereit, zum äußersten Mittel zu greifen!« Carver betrachtete diese unfaßbare Szene und fragte sich, wann Whitcliffe auf den Auslöser drücken würde. Der Sender mußte bei ihm sein, irgendwo. Auch Morgan dachte daran. Man zog Whitcliffe bis auf die Haut aus, fand aber keinen Sender. »Wenn Sie uns wenigstens anhören würden, Morgan!« flehte Carver. Er trat aus der Reihe der Verräter und versuchte Morgan festzuhalten. Der grauhaarige Chef der Agenten stieß ihn zornig weg. »Ich dachte, Sie wären Agent, Carver! Ich dachte, Sie wollten uns helfen. Und jetzt jammern Sie uns vor, Whitcliffe habe recht. Mensch - wissen Sie denn überhaupt noch, was Sie sagen?« »Ja!« schrie Carver verzweifelt. »Ja, ich weiß es!« »Bringt sie alle um!« kreischte Durlston plötzlich. Er duckte sich, und in seiner Hand tauchte eine Waffe auf - eine Nadelpistole, -1 7 7 -
die auf einen Druck hin das Nervensystem eines Menschen zerstörte. »Ich kann nicht leben ohne den Schild! Niemand kann es! Es wäre unerträglich... Sie sind alle wahnsinnig! Wahnsinnig!« Einen Augenblick lang erstarrten alle. »So werden die chronisch Unterentwickelten reagieren«, erklärte Whitcliffe ruhig. »Wir wissen aber, daß es im Land nur wenige Menschen von derart labilem Charakter gibt. Wir wissen, daß wir recht haben.« Carol starrte Durlston entsetzt an und dachte, daß Whitcliffe zwar recht haben, aber dafür auch mit seinem Leben bezahlen würde. Durlston zeigte die klassischen Symptome einer Angstneurose im fortgeschrittenen Stadium. Bald würde er unfähig sein, überhaupt zu handeln, aber in der Zwischenzeit konnte nichts ihn daran hindern, Whitcliffe und seine Anhänger zu töten. »Weg mit der Waffe, Durlston!« schrie Morgan. »Wenn Sie sie umbringen, können wir die Explosion nicht aufhalten!« Die ganze Situation war durch Durlston so verändert, daß alle wie Marionetten von der psychopathischen, unkontrollierbaren Angst eines einzigen Menschen dirigiert wurden. »Die Funkzündung!« rief Wendy. »Drücken Sie auf den Knopf-« Alle standen wie zu Stein erstarrt. Niemand machte eine Bewegung. »Ein Funkauslöser!« sagte Durlston schwerfällig. »Sie werden ihn aber nicht betätigen können! Der Schild ist da, um mich mich zu beschützen!« Die Waffe zuckte, als sich Durlstons Hand krampfhaft bewegte; seine Lider flatterten, aus den Mundwinkeln drang Speichel - aber der Finger krümmte sich um den Abzug - die rötlichen Linien verschwanden - das Blut floß ab - der Knöchel wurde weiß. Carol sah das Schreckliche kommen und konnte nichts tun. Sie konnte nicht denken. Sie vermochte kaum zu atmen. Sie stand da wie eine längst vergessene Statue. Die Waffe spie Tod. -1 7 8 -
Und Robin Carver warf sich nach vorn, die Arme ausgebreitet, das Gesicht leer und hager, die Augen auf sein Ziel gerichtet, der Körper von den Befehlen des Gehirns vorangepeitscht. Carver trat in den Todesstrahl. Während sein Gehirn im sterbenden Körper noch funktionierte, befahl er sich, weiterzugehen. Aber er trat nicht in einen Kugelregen - er ging bewußt in einen Strom nervzerfetzender Nadeln - und mit zerstörten Nerven, mit dem Ausfall aller Funktionen konnte sein Körper die Befehle vom Gehirn nicht mehr befolgen, die gigantische Willensanstrengung blieb ohne Antwort. Carver stürzte zu Boden. Dann hatte Morgan Durlston die Waffe entrissen und sie in die Dunkelheit geworfen. Durlston lachte. Für Carol begann ein Alptraum. Von dem Augenblick an, als Robin Carver zu Boden gestürzt war, wußte sie, daß sie nie darüber hinwegkommen würde. Zu spät erkannte sie, was sie verloren hatte. Sie taumelte vorwärts, fiel neben dem Toten auf die Knie und spürte Wendy Carver neben sich. Niemand störte sie, als sie ihren Toten betrauerten. Soames schob Carver persönlich die Spürsonden über die Schläfen. Das Luf war nicht in den Bunker gebracht worden, so daß Carols Erfindung den Schild retten und die Menschheit vor sich selbst in Sicherheit bringen sollte. Er sah auf Carvers Gesicht hinunter. »Du hast dich immer zu weit vorgewagt, Robin. Das war dein besonderes Talent.« »Beeilen Sie sich!« schrie Morgan. »Es tut mir auch leid, daß Robin tot ist, aber es läßt sich nicht ändern. Ich muß wissen, wo der Sender ist!« Er gab den Wachen ein Zeichen. »Alle durchsuchen. Und wenn der Sender gefunden wird, so vorsichtig damit umgehen wie mit der Bombe selbst.« Sofort wurde mit der Durchsuchung begonnen, während die Mikrospulen leise surrten. Die Suche blieb ergebnislos. Alec Durlston gewann schlagartig seine Fassung wieder. Er sah auf Carver hinunter und schüttelte den Kopf.
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»Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist - ich - es tut mir leid aber -« Er fuhr herum und funkelte Morgan an. »Ich habe Ihnen nur die Dreckarbeit abgenommen. Sie wollten einen von ihnen erschießen, um zu Ihren Informationen zu kommen - und das habe ich Ihnen abgenommen. Das ist alles.« »Das ist alles«, sagte Morgan. Aber er drehte Durlston den Rücken zu und trat zu Soames, um sich leise mit ihm zu besprechen. Archie Smythe-Potts und Bill Hambling hatten den Bunker verlassen. »Sie waren Robins Freunde«, sagte Soames. »Sie wollten die Prüfung nicht übernehmen, deshalb habe ich sie gehen lassen. Durlston ist ja auch hier, ganz abgesehen von mir.« »Aber Sie sind doch kein Prüfer -« »Nein. Aber Durlston ist einer. Er hat jetzt ein besonderes Interesse daran, die Antwort zu finden. Das ist der einzige Ausweg für ihn, was mich betrifft. Im anderen Fall verhafte ich ihn wegen Mordes.« Morgan war mit seinen Gedanken zu sehr beschäftigt, um etwas einwenden zu können. Jeden Augenblick konnte die Bombe explodieren, auf versteckte Weise von dieser Gruppe irrer Nihilisten gezündet, und er schien es nach wie vor nicht verhindern zu können. Carol hob den Kopf. Sie lag immer noch auf den Knien neben Carver. Wendy kniete stumm neben ihr; ihre weit aufgerissenen Augen waren starr auf ihren toten Vater gerichtet. »Jetzt ist alles auf Band aufgenommen«, sagte Carol tonlos. »Sobald - sobald Durlston den Trip hinter sich hat, folge ich. Das bin ich Robin schuldig. Es ist alles, was mir bleibt.« Nachdem Durlston die Spürsonden angelegt hatte und die Spulen zu rotieren begannen, wurde es totenstill. Beide Seiten verharrten starr und schweigend. Carol wartete und fragte sich, wie Durlston den Mut aufbrachte, in die Erinnerung eines Mannes zu steigen, den er eben selbst getötet hatte.
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»Durlston hat immer eine Weile gebraucht«, sagte Soames, als Cy Adams neben dem bewegungslosen Durlston in die Knie ging. Adams nickte. »Robin war immer sofort da, aber Durlston hatte Mühe, sich zurechtzufinden.« Soames schaltete das Gerät ab und drückte auf den grünen Knopf. Adams beugte sich über Durlston und schüttelte ihn sanft an der Schulter. Carol streckte die Hand aus, um die Spürsonden zu ergreifen und die Aufzeichnung noch einmal abspielen zu lassen. Sie nahm das Gerät mit, aber Durlstons Aussehen veranlaßte sie stehenzubleiben. Sie erinnerte sich daran, wie Lines ausgesehen hatte, als er zurückgekommen war. Durlston stöhnte auf. Seine Lider öffneten sich und zitterten. Tief in den Augen gähnte ein endloser Abgrund, eine Leere und Ausdruckslosigkeit, die Carol verblüffte. Das Gesicht Durlstons zuckte, sein Mund öffnete und schloß sich wie der eines Neugeborenen. Er befeuchtete ungeschickt die Lippen. »Sie sind Alec Durlston«, begann Cy Adams die gewohnte Rückholtechnik. »Nehmen Sie sich zusammen. Sie sind wieder da. Wo sind Sie geboren?« Durlston gab gurgelnde Geräusche von sich. »Wo sind Sie geboren?« »Kenchley, Brent.« »Nein, nein, Mann!« Adams beugte sich tiefer über ihn. »Sie sind Alec Durlston. Wir müssen wissen, wo der Sender für die Zündung der Bombe versteckt ist. Sie sind geboren in -« Durlstons Stimme wurde kräftiger. »Brenchley, Kent.« »Was? Das ist doch Robins... Wann?« »Sechsundzwanzigster August neunundachtzig.« Durlstons Augen öffneten sich weit, und eine starke Persönlichkeit strahlte daraus hervor. Er preßte die Finger zusammen, schauderte und ließ sich wieder zurückfallen. -1 8 1 -
»Alec Durlston«, sagte er. »Ja. Ja, natürlich. Ich - verstehe jetzt.« »Sie haben immer schon lange gebraucht, Durlston. Sie verstehen doch, daß Sie Alec Durlston und nicht Robin Carver sind? Gut. Sagen Sie uns, wo der Sender ist - schnell!« Durlston setzte sich steif auf. Sofort richtete sich sein Blick auf Robin Carvers Leiche. Wendy kauerte immer noch davor. Er sah, daß Carol mit dem Speichergerät wegging und sich die Spürsonden überstreifte. »Es ist nicht -«, sagte er. Und dann: »Mein Gott! Ich glaube es nicht!« Und schließlich: »Aber ich muß!« »Wo, Mann, wo?« brüllte Morgan. »Ich habe - Carver hat es nicht bemerkt«, sagte Durlston. Er stand auf, schwankte und ging unsicher zu Carvers Leiche. Er bewegte sich wie ein Betrunkener, erreichte den Toten und fiel neben Wendy auf die Knie. »Sie haben mir - äh - ihm den Sender in die Tasche geschoben, weil sie vermuteten, daß man mich - äh - ihn am wenigsten verdächtigen würde. Er hat die Form eines Feuerzeugs. Hier.« Durlston zeigte einen Gegenstand, der wie ein normales Feuerzeug aussah. »Sie haben James Partridge um Feuer gebeten«, sagte er plötzlich. »Er zog sein Feuerzeug heraus. Er wußte nicht, daß man ihn töten würde, als er es ihnen hinhielt - wie Sie nicht wissen, was geschehen wird, wenn ich dieses Feuerzeug in der Hand halte.« »Was quatschen Sie denn da?« schrie Morgan. »Vorsicht mit dem Ding - geben Sie her.« Alec Durlston streckte die Hand aus. Sein Daumen krümmte sich über den kleinen Hebel. »Wollen Sie Feuer?« sagte er. Er drückte ihn nieder. Im Bunker würden sie zuerst die sich am Boden ausbreitenden Schockwellen spüren. In ein, zwei Sekunden. Alle - Soames, -1 8 2 -
Morgan, Wendy, Whitcliffe - starrten Durlston an. Jemand sagte etwas, aber nichts ergab mehr einen Sinn. Carol riß die Spürsonden vom Kopf und sprang auf. Ihr Gesicht verriet ein wunderbares, unfaßbares Wissen. »Das Band ist leer!« schrie sie. »Verstehen Sie denn nicht? Es ist leer! Nichts ist auf dem Band!« Whitcliffe lachte. »Ich wußte immer, daß es eines Tages passieren würde, deshalb unsere strengen Methoden bei der Rückkehr. Und Sie haben uns nicht im Stich gelassen, Carver! Sie merkten nichts, als ich Ihnen den Sender in die Tasche steckte, aber beim zweitenmal wußten Sie Bescheid. War es anstrengend, Alec Durlston zu übernehmen?« »Durlston - übernehmen - was soll das heißen?« brüllte Morgan. »Die Bombe -«, sagte Soames. »Ich weiß nicht, wie es geschehen ist«, sagte Robin Carver aus dem Körper Alec Durlstons. »Als er abdrückte, spürte ich nur zerfetzende Dunkelheit, und ich weiß, daß ich mit allen Fasern entschlossen war, zu ihm zu gelangen, ihn zu erreichen, ihn diesmal zum Schweigen zu bringen, und zwar endgültig. Ich vermute, daß mich die Gewalt des Hasses in sein Gehirn getragen hat, als er in meine Erinnerung vordrang -« »Haß, Robin?« sagte Carol. »Oder Liebe? Liebe für die ganze Menschheit?« »Ich versuche nicht darzustellen, was ich nicht sein kann.« Carver berührte Wendy an der Schulter. Er gab sich immer noch Mühe, damit zurechtzukommen, daß er künftig immer Alec Durlstons Gesicht im Spiegel sehen würde, wenn er sich rasierte. »Was die Liebe angeht - ich weiß, daß ich meine Tochter Wendy liebe - und dich, Carol. Das weißt auch du.« »Ich weiß es. Und dein komisches Clownsgesicht hat überhaupt keine Rolle gespielt -« »Ich nehme an«, sagte Wendy nachdenklich, als die ersten Druckwellen der Explosion sich ausbreiteten, »ich nehme an, -1 8 3 -
ich werde mich daran gewöhnen müssen, einen gutaussehenden Vater zu haben - mein Vater, gleichgültig, in welchem Körper auch immer, solange ich ihn habe.« Der Schutzbunker erzitterte, als eine neue Welt geboren wurde. Morgan versuchte zu sprechen, versuchte erregt zu erklären, daß die Arbeit eines ganzen Lebens in diesem Augenblick zerstört wurde. »Wir werden eine neue und bessere Welt aufbauen, Morgan«, sagte Carver. »Wir haben frische Luft hereingelassen, frische Luft und Sonne, und jetzt werden wir sehen können, wie unsere Kinder aufwachsen, ohne unter dem Schild lebendig begraben zu sein.« Draußen hob sich der Schild, dehnte sich aus, stieg zum Himmel empor. »Ihre Speichergeräte werden bei der Jugend nicht mehr beliebt sein, Carol«, sagte Whitcliffe. »Sie wird zu beschäftigt sein, gemeinsam ein vernünftiges Leben aufzubauen.« Der Schild war verschwunden. Charlie Rawlinson hatte die Fernsehkamera eingeschaltet. Sie starrten den Bildschirm an, ehrfürchtig, staunend, in fasziniertem Ekel. »Wissen Sie, was Sie getan haben?« flüsterte Morgan. »Ja, das wissen wir.« Carver begann sich in seinem neuen Körper wohlzufühlen. Er legte einen Arm um Carol, den anderen um Wendy. Er fand es wunderbar. »Wir wissen es. Wir haben unserem Volk die Gelegenheit gegeben, auf dem richtigen Weg einen neuen Anfang zu machen.« ENDE
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